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Full text of "ZEITSCHRIFT FUR PADAGOGISCHE PSYCHOLOGIE, PATHOLOGIE UND HYGIENE."

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ZEITSCHRIFT 
FÜR 

PADAGOGIS. 
PSYCHOLOG. 
PATHOLOGIE 





FERINAND 
KEMISIES UND 
LEO ... 



Boston 
Medical Library 



8 The Fenway 



Zeitschrift 

für 

Pädagogische Psychologie, 

Pathologie und Hygiene. 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlatt. 




<^<^. IX. Jahrgang. -^5^> 



Berlin W. 

Hermann Walther Verlagsbuchhandlung O. m. b. H. 

1007. 




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Inhalt des neunten Jahrganges. 

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A. Abhandlungen. 



Albert Eulenburg, Schülcrselbstmorde . . . 1 — 31 



Nicolai Wolodkewitsch, Eine Untersuchung der höheren Geistes ~ 

fähigkeiten bei Schulkindern. V, VI, VII (Schluß) . . . . 32—58 

Erster Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge, Berlin, 
Oktober 1906: 

— Ufer, Kinderforschung und Pädagogik . . . . . . 59 — 61 

■ — Eduard Martinak, Wesen und Aufgaben einer Schülerkundc . (31 — 67 



— Engclsperger und Ziegler, Beitritte zur Kenntnis der physischen 

lind psychischen Natur der sechsjährigen, in die Schule ein- 
tretenden Münchencr Kinder 67 — 70 

— W. Fürstenheim, Reaktionszeit im Kindcsalter 70 — 71 

— B. Delitsch, Ucbcr die individuellen Hemmungen der Aufmerk- 

~ samkeit im Schulalter 7 71 — 72 

— Karl L. Schacfer, Ucber Farbenbeobachtungen bei Kindern . 72 

— H. Schmidkunz, Die oberen Stufen des Jugendalters ... 72 — 74 

— F. Schmidt, Haus- und Prüfungsaufsatz 74 — 77 

— W. Stern, Grundfragen der Psychologie 77 — 80 



— Pabst, Die psychologische und pädagogische Bedeutung des 

" praktischen Unterrichts . . . 7 7 80 — 82 

— Plaß^ Arbeitserziehung . . . . . . . . . . • • • • 82 — 84 

— L. Bernhard, Beiträge zur Kenntnis der Schlafvcrhältnisse Ber- 

lincr Gemeindeschüler 81 — 8G 



— Th. Heller, Ucber psychasthenische Kinder . . . 86 

— Ueber die Möglichkeit einer Beeinflussung abnormer Ideen- 

assoziation durch Erziehung und Unterricht , . . ■ ■ 87 — 88 

— W, Pix, Ucber hysterische Epidemien in deutschen Schulen 88 — 91 

— F. Weigel, Bildungsanstalten des Staates, der Provinzen bezw. 

Kreise und der Kommunen für Schwachsinnige im Deutschen 

Reiche 91—93 

— F. Lorcntz, Die Beziehungen der Sozialhygiene zu den Pro- 

^blemcn sozialer Erziehung 7 ..... . 93 — 95 

— G. Riem arm, Die Taubstummen- Blinden ......... 95-97 

— H. Gutzmann, Die soziale Fürsorge für sprachgestörte Kinder ^7- 9 ( J 
Theodor Fritzsch, Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906 100—1-10 
Marx Lobsien, Ueber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit , 161 — 168 

Eduard Schulze, Erziehung und Arbeit 169 — 190 

Erster Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge (Forts) 

— W. Kulemann, Die kriminalistische Behandlung der Jugend- 

liehen ...... .7 . ... .191—198 

— von Rohden, Jugendliche Verbrecher 199 — 202 

— Felisch, Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend ... 203 -217 

— Hanna Mecke, Frönelsche Pädagogik und Kinderforsi hung 217—225 

— Wilhelm Amcnt, Eine erste Blütezeit der Kinderscelenkundc 

um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert ...... 225—226 

— Ferdinand Kemsics, Zur Frage der Kindcrlügen .... 226 — 227 



IV 



Joseph Frühling, Meteorologische Beobachtungen an Schulen . 257 — 268 

P. Osterloh, Ueber anatomische Modelle . 269—274 

Heinrich Stadelmann, Der Stand des Unterrichts an den Schulen 

für Schwachbefähigte m Deutschland 275—290 

F. Weigl, Aufklärungsarbeit über die Bewahrung der Jugend vor 

den Genußgiften ...... ; . 291—301 

Hans Plecher, Zur Psychologie der Schulprüfungen ...... 302 — 311 

Albert Moll, die forensische Bedeutung der modernen Forschungen 

über die Aussagepsychologie 417 — 444 

Georg Flatau, Zur Psychologie der nervösen Kinder ...... 445—457 



B. Sitzungsberichte. 
Gesellschaft für Psychologie in Wien. 

S. Kornfeld, Ueber energetische Auffassung psychischer Vor- 
gänge auf Grund der Blutdrucksmessung 142 — 144 

Idem, Unfallsneurosen 144 

A. Stöhr, Der Ablauf des Lebens nach W. Fließ 144—147 

W. Jerusalem, Der Kongreß für experimentelle Psychologie zu 

Würzburg, April 1906 147 

W. Peters, Versuch einer Messung der Aufmerksamkeitskonzen- 
tration 

W. Schultz, Psychologische Methoden zur Erforschung der antiken 

Philosophie 148-149 

Berliner Verein für Schulgesundheitspflege. 

Paul Ritter, Die Bedeutung einer gesunden Mundhöhle für die 

allgemeine Gesundheit 228 — 230 

A. Baginsky, Soll man während des Unterrichts im Winter die 

Fenster öffnen? 231—232 

Th. Sommerfeld, Schule und Tuberkulose . 232 — 234 

F. Kemsies, Ueber den Eindruck der vom Verein gestifteten 

Gesundheitsregeln auf Realschüler 234 — 235 

Th. Benda, Hygienische Trinkvorrichtungen . 235 — 236 

E. Haumann, Die Organisation der Berliner Pflichtfortbildungs- 

schule und die Anforderungen^ die sie an die .Vbeitskraft 

der Schüler stellt 237—239 

A. Baginsky, Körperliche Ucbungen während des Unterrichts . 240—241 
Eulenburg, Schülerselbstmorde 141 

F. Kemsies, Zur Frage der sexuellen Aufklärung der Jugend . . 242 — 244 

Psychologische Gesellschaft zu Berlin. 

Gramzow, Fechner 245—247 

Rudolf Lehmann, Poetik als Psychologie der Kunst ..... 312—315 

Hochdorf, Artistische Weltanschauung 315—318 

Albert Moll, Ueber den Einfluß der Medizin auf die moderne 

Psychologie 319—321 

Hennig, Ueber Narurgenuß 321—323 

Frischeisen-Köhler, Psychologie des Schreibens ....... 323—327 

Dessoir, Zur Theorie der Hypnose 327—331 

Gramzow, Ibsen als Psychologe 331 — 332 

Leppmann, Zur Psychologie der internationalen Verbrecher . . . 332—335 



V 



Hohenemser, Ueber das Seelenleben der Blindgeborenen und der 

früh Erblindeten 335—338 

Barwald, Zur Psychologie des Klavierspiels 338 — 340 

Moll, Ueber die sexuelle Entartung im Spiegel der Weltlitteratur 340—342 

Samuel Sänger, Philosophie auf Schulen 342 — 344 

Moser, Zur Psychologie des Klaviertones 344—346 

Hochdorf, Zur Psychologie der Presse 346—349 

Berthold, Symptome exzentrischer Zeitregungen ....... 349 — 350 

Vortragsplan des Wintersemesters 1907/08 ... 351 
Frischeisen-Köhler, Die Bedeutung der Psychologie für die Geistes- 
wissenschaften ...... 458 — 159 

Hennig, Okkultismus und wissenschaftliche Forschung .... 459 — 461 
Dessoir, Die Psychologie der Aussage, angewendet auf okkul- 
tistische Berichte 462—463 

Schleich, Psychophysik des Rhythmus 463—464 

YI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Char- 
lottenburg (3.-5. April 1007). 

Horrix, Der Personalbogen in der Hilfsschule ....... 352 — 353 

Frenzel, Die schriftlichen Arbeiten in der Hilfsschule ..... 353 

Stier, Ueber den Militärdienst der geistig Minderwertigen . . . 353 — 355 
Fuchs, Die Organisation und die Erfolge der Fortbildungsschule 

für Schwachbeanlagte in Berlin 355 — 356 

San dt, Die Neuorganisation der Charlottenburger Gemeindeschulen 
mit Rücksicht auf die minderbegabten und minder leistungs- 
fähigen Schüler 356 

Berichte und Besprechungen. 

F. Burckhardt, Psychologische Skizzen zur Einführung in die 

Psychologie. 6. Aufl 248 

O. Gerlach. Pädagogische Psychologie und Logik 248 

L. Hohmann, Pädagogische Psychologie usw. 249 

C. G. Jung, Psychologische Diagnose des Tatbestandes 
Olberg, Bericht über die ersten 100 Sitzungen d. forcns.-psychiatr. 

V. usw 249—250 

Aschaffenburg, Ueber die Stimmungsschwankungen der Epileptiker 250 — 251 

L. Habrich, Pädagogische Psychologie . 357 — 363 

E. Zuhlsdorff, Die Psychologie als Fundamentalwisscnschaft der 

Pädagogik 364— 366 

G. Voigt, Lehrbuch der pädagogischen Psychologie ..... 367 — 36'.» 

H. Walsemann, Die Anschauung . . . 370 — 377 

I. van der Torren, Ueber Auffassungs- und Unterscheidungsver- 

mögen für optische Bilder bei Kindern 377 — 378 

Schuyten, Over Gehengenvariatie bij Schoolkinderen ..... 378 

Id., De opperolakte van het Geschrift . 378—380 

Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesaitc rs ...... 380 — 381 

E. Schlesinger, Schwachbegabte Schulkinder ....... 381—382 

O. Pfungst, Das Pferd des Herrn von Osten . 382— 38f> 



F. Gansberg, Streifzüge durch die Welt der Großstadtkinder . 385—380 
Frenzel, Schwenk und Schulze, Kalender für Lehrer und Leh- 
rerinnen an Schulen und Anstalten für geistig Schwache, 
III. Jahrg. 1907/08 j ...... . 386—387 



Neter, Das einzige Kind und seine Erziehung 465—466 

Scupin, Bubis erste Kindheit 466 — 467 

Niehusen, Musik für unsere Kleinen 467 — 468 

Foerster, Jugendlehre. — Lebenskunde 468 — 470 



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VI 



Mitteilungen. 

Deutscher Gymnasialvercin 150 — 151 

Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatric in 

München April 1906 151 

Bund für Mutterschutz 152 

Konferenz über die Wirksamkeit des preußischen Fürsorgeer- 
ziehungsgesetzes ... 152 — 157 

Fürsorgeerziehung oder Gefängnis? 157 — 160 

XIV. Internationaler Kongreß für Hygiene und Demographie 252 — 256 

Deutscher Lehrertag 388—404 

34. Deutscher Aerztctag in Halle . . 404 — 406 

Italienische Schulzustände 406—408 

Reform des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter- 
richts 408 — 409 

Gesellschaft für experimentelle Psychologie 409 — 411 

Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammel- 
forschung , 411 — 414 

Petition an den Herrn Minister usw., betr. Unterrichtszeit und 

häusliche Arbeiten an den höheren Schulen ...... 414—416 

Schulärztliches 471—473 

Statistik der Krüppclkinder 473—478 

Die schlechten Schüler und ihre verspätete Entwicklung . . . 479—480 



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Pathologie und ßygient. 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff. 
Jahrgang IX. Berlin, April 1907. Heft l/2. 



SchUlerselbstmorde. 

Von 

Albert Eulenburg. , 

Vortrag.im Berliner Verein für S c h u 1 g e s u n d h e i t s p f 1 e g e 

am 26. Februar 1907. 

Die unheimliche Erscheinung des Selbstmordes, der 
freiwillig erkorenen Verzichtleistung auf das Dasein, hat von 
jeher die Aufmerksamkeit und das ungeschulte, wie das religiös 
und philosophisch geschulte Nachdenken im höchsten Maße 
angeregt und beschäftigt. Nur dem obersten, intelligentesten 
aller Lebewesen, dem Menschen, ist diese schrof feste Form der 
Lebensverneinung eigen; denn was man an Analogien dafür 
in der Tierwelt hat ausfindig machen wollen, ist längst als Irr- 
tum, als Mißdeutung, wenn nicht als phantastisch ersonnene 
und ausgeschmückte Fabel erkannt worden. Um so tiefer klafft 
aber gerade beim „vernunftbegabten" Menschen der unversöhn- 
bare Widerspruch zwischen der sich aufdrängenden Er- 
kenntnis eines als elementare Macht das Ichwesen be- 
stimmenden und beherrschenden, ja vielleicht den innersten 
Kern seines Wesens ausmachenden dunkeln Lebenswillens 
und der scheinbar zuwiderlaufenden Betätigung freiwillig er- 
strebter, gewaltsamer Selbstvernichtung. Nicht mit 
Unrecht hat freilich schon der geniale Denker der Willens- 

ZeiUchrift für pädagogische Ptychologie, Pathologie u. Hygiene. 1 



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2 



Albert Eulenburg. 



Philosophie, hat Schopenhauer in seinen Betrachtungen über 
den Selbstmord hervorgehoben, daß der Selbstmörder durch 
seine Tat nur die Fortdauer und Fortbetätigung dieser indi- 
viduellen Aeußerungsform des Lebenswillens, nicht aber den 
Lebenswillen an sich verneine; daß er also auch vom Stand- 
punkte einer auf Weltverneinung gerichteten Philosophie im 
Grunde zweckwidrig oder mindestens unzulänglich handle. 
Für uns, die wir ohne solche an ein bestimmtes System 
gebundene metaphysische Voraussetzung an die gegebenen 
Erfahrungstatsachen unbefangen prüfend herantreten, knüpft 
sich das Hauptinteresse naturgemäß an die Frage, welche be- 
wußt angestellten Erwägungen oder welche unbewußt dunkeln 
Antriebe es im Einzelfalle sein könnten, die das (gesunde oder 
kranke) Individuum mit unwiderstehlicher Gewalt der Ent- 
scheidung zudrängten, das Leben als wertlosen Besitz oder 
als eine nicht länger zu ertragende Last von sich zu werfen. 
Behält nun aus diesem Gesichtspunkte betrachtet schon der 
Selbstmord Erwachsener für uns häufig genug einen rätsel- 
haften und unverständlichen Rest, so verstärkt dieser Eindruck 
sich fast bis zu dem des schlechthin Unbegreiflichen und jeder 
verstandesmäßigen Erklärung Spottenden, wenn wir es mit 
Handlungen noch im kindlichen oder in frühem 
jugendlichen Alter stehender Selbstmordopfer zu tun 
haben. Denn für diese, dem späteren Rückblick paradisisch 
verklärte Zeit des erwachenden „Lebensfrühlings" scheinen ja 
alle das Leben freudig bejahenden Triebkräfte des Seelen- 
lebens in freiester Entfaltung zu stehen, alle feindseligen 
Dämonen noch grollend fernab zu weilen — scheint das Leben 
sich in unabsehbarer Perspektive zu einer von glänzendem 
Hoffnungsschimmer umkleideten, märchenhaften Zukunftsland- 
schaft verlockend auszubreiten. So müssen denn die leider 
keineswegs seltenen Selbstmorde gerade dieser Altersstufen dem 
Menschen- und Seelenforscher, wie dem ernstgestimmten Beob- 
achter unseres gesellschaftlichen Lebens und seiner Krankheits- 
erscheinungen in der Tat eine ungewöhnliche Teilnahme ab- 
gewinnen und ihn zu eindringlicher Vertiefung in Hergang 
und Entstehung jedes Einzelfalles ganz besonders auffordern. 
Nur auf diesem Wiege können wir ja hoffen, eine klarere und 
vollkommenere Einsicht in die lebensfördernden und hemmen- 
den Antriebe, in das so schwer durchschaubare Spiel der seeli- 



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Frhülcrselbstmorde. 



3 



sehen Reizungen und Motivbildungen des kindlich-jugendlichen 
Alters auch in Fällen dieser Art zu erlangen und damit den 
zur Zerstörung, zur Selbstvernichtung treibenden dunkeln 
Seelenmächten wirksam vorbeugend zu begegnen. Bei der 
modernen Verstaatlichung des gesamten Erziehungswesens und 
dem damit zusammenhängenden allgemeinen Schulzwange trifft 
es sich nun, daß die Selbstmorde kindlich jugendlicher, vor 
oder in den Entwicklungsjahren stehender oder wenig über 
diese hinausgelangtcr Individuen sich, wenn nicht durchweg, 
so doch zu einem sehr ansehnlichen Teile als von schul- 
pflichtigen und schulbesuchenden jungen Leuten ver- 
übt darstellen und aus diesem Gesichtspunkte der Beurteilung 
unterliegen. So sind wir zu dem Schlagwort der „Schüler- 
selbstmorde" gelangt — womit sich durch eine naheliegende 
Ideenverbindung offen oder insgeheim der Gedanke verknüpft, 
daß die Schule mit den eigenartigen Bedingtheiten ihrer viel- 
angefochtenen Organisation, mit ihrem unablässig auferlegten 
Pflichten und Anforderungen und den dabei unvermeidbaren 
Rückwirkungen auf das körperliche und geistige Leben der 
ihr überlieferten Zöglinge wohl in irgend einer Weise die Hand 
im Spiele haben, bei dem Zustandekommen dieser betrübenden 
Ereignisse mittelbar oder unmittelbar ursächlich beteiligt sein 
müsse. Ob diese Annahme, dieser „Verdacht" möchte ich 
sagen, überhaupt und in welchem Umfange allenfalls er be- 
rechtigt ist, das wird sich bei näherer Untersuchung und Prü- 
fung, die natürlich ein einwandfreies Beobachtungsmaterial 
vorausgesetzt, erst ausweisen müssen. Somit erscheint eine den 
sachlichen Anforderungen gerecht werdende, eingehende Be- 
schäftigung mit den „Schülerselbstmorden" als eine nach ver- 
schiedenen Seiten wichtige und bedeutsame, ganz besonders 
aber schulhygienisch nicht abzuweisende Aufgabe. Ja, 
man kann sie vielleicht, ohne zu übertreiben, in gewissem Sinne 
an die Spitze aller hierher gehörigen Aufgaben stellen. Denn 
wenn es sich für die Schulhygiene darum handeln muß, alle 
mit dem Schulbetriebe zusammenhängenden gesundheitschä- 
digenden Einwirkungen nach Möglichkeit auszuschalten, so 
würde das gewiß in noch höherem Maße von Einflüssen und 
Einwirkungen seitens der Schule zu gelten haben, die den 
Lebenswillen selbst in seinem innersten Kern zu treffen und 
zu gefährden, die somit nicht nur die Gesundheit, sondern 



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Albert Eulenburg. 



das Leben ihrer Zöglinge von innen heraus verhängnisvoll 
zu bedrohen vermöchten. So bedarf es denn wohl keiner 
weiteren Rechtfertigung» wenn in unserer, den Zwecken der 
Schulgesundheitspflege dienenden Vereinigung auch 
einmal die „Schüler sei bstmorde" zum Gegenstande der 
Erörterung gemacht werden — sicher nicht (wie kaum be- 
merkt zu werden braucht) aus irgend welcher Voreingenommen- 
heit zuungunsten der Schule, sondern im Gegenteil aus pietät- 
voller Liebe zu ihr und, wie ich gleich vorausschicken darf, 
vielfach erhobenen Vorwürfen und Anschuldigungen gegenüber 
im großen und ganzen auch zu ihrer Rechtfertigung und Ent- 
lastung. 

Bei den Mitteilungen, die ich Ihnen hierüber zu machen 
habe, bin ich in der glücklichen Lage, mich auf ein außer- 
ordentlich umfangreiches und durchaus einwandfreies amt- 
liches Material stützen zu können, mit dessen Durcharbeitung 
ich mich seit länger als vier Jahren beschäftige. Dank dem 
verständnisvollen, über naheliegende Bedenken sich hinweg- 
setzenden Entgegenkommen der preußischen Unterrichts- 
verwaltung, der ich nicht verfehle, an dieser Stelle meinen 
warm empfundenen Dank auszusprechen, war es mir gestattet, 
das gesamte Aktenmaterial des Ministeriums der geistlichen, 
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten über Schüler- 
selbstmorde aus den Jahren 1880 — 1903 für diesen Zweck zu 
verwerten. Dieses ansehnliche Aktenmaterial umfaßt aus 24 
Jahrgängen nicht weniger als 1152 Selbstmordfälle, wovon 
allerdings nur 284 in Form eingehender und selbständiger, 
auf die Bekundungen von Direktoren, Klassenlehrern, Mit- 
schülern, Angehörigen, Aerzten usw. aufgebauter Einzel- 
berichte vorliegen. Während diese 284 Fälle ausschließlich 
höheren Lehranstalten (Gymnasien) entnommen sind, ent- 
stammt das gesamte Material teils niederen, teils höheren 
Schulen, und zwar kommen auf die niederen Schulen ins- 
gesamt 812 Fälle (alle den Altersklassen unter 15 Jahren an- 
gehörig), auf die höheren Schulen insgesamt 340 Fälle. Ich 
habe zur rascheren Orientierung einige Uebersichtstafeln an- 
fertigen lassen, die ich Ihnen hier vorführen und an die ich 
zunächst einige erläuternde Bemerkungen kurz anknüpfen 
werde. 



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ßchüleraelbsttnorde 



5 



Tabelle I. 

Schülerselbstmorde 
an höheren und niederen Schulen. 



Jahres- 
zahl 


Im Alter 
unter 15 Jahren 


Im Alter 
unt. 20 Jahren 


Ge- 
samt- 
zahl 


Bemerkungen 


N!*d«reSoftulan| Höhere Sohulen 


HObere Sobuleo 


mlnaL 


— 

welbl. jj m&QDl. 


weibL 


mäonl. 




1880 
1881 
1SS2 
1883 
1884 
1 385 
J8*6 
1887 
1S88 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 

1895 
1896 
1897 

1898 

1899 
1900 

1901 

1902 
1903 


33 

19 

23 

30 

24*) 

34*) 

31 

36 

33 

31 

27') 

31*) 

33') 
36') 

32») 

33 
38*) 

33') 

33 
33*) 


i 6 

8 
7 
6 
9 
10 

»') 

9 

8 
5 

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10 
10 

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14 

6 

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1 

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3 
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1 


1 
1 

2") 
1 


13 
12 

9 

7 
15 

8 
13 

8 
11 
17 
13 
16 

5 

10") 
16 

5") 

10 
11 

12"") 

14") 
17") 


1 
1 

1 

1 
1 


9*) 
13') 

5*) 
58 
41 
40 
44 
51 
56 
56 
56 
55 
55 
51 
54 

44 

54 

66 

45 

53 
71 

60 

59 
56 


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*) dar. 2 unt. 10 Jahr. (9) 
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„ 3 ttb. 20 
•) 2 unt. 10 (9) 
") „ 4 5b. 20 ., 
') „ 2 unt. 10 
") „ 3 fib. 20 „ 




633 


159 || 61 | 5 


242 5 


1152 | 





Tabelle I erstreckt sich auf 24 Jahrgänge (1880 bis 
1903); jedoch ist zu bemerken, daß die Ziffern aus den nie- 
deren Schulen nur für 21 Jahrgänge (1883— 1903) angegeben 
sind, für die drei ersten Jahrgänge (1880 — 1882) dagegen 
fehlen, so daß also die Gesamtzahl der Schülerselbstmorde in 
Zeit von 24 Jahren und eine danach berechnete Durchschnitts- 
zahl etwas zu klein ausfallen. Zieht man lediglich die 21 Jahr- 



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Albert Eulenburg. 



gänge 1883 — 1903 in Rechnung, so beläuft sich die Gesamt- 
zahl für diese Jahrgänge auf 1125; es ergibt sich daraus eine 
Durchschnittszahl von 53,57 oder fast 54 Schülerselbst- 
morden im Jahre. 

Für eine Statistik der gesamten Jugendselbstmorde und 
für deren Verteilung nach Altersklassen und Geschlecht kann 
die Tabelle natürlich nur in begrenztem Maße herangezogen 
werden, nämlich soweit es sich um die Altersklassen unter 
15 Jahren handelt, mit welchem Alter die Zugehörigen der 
niederen Lehranstalten ausscheiden und die der höheren Lehr- 
anstalten ausschließlich fortgeführt werden. Für diese Alters- 
klassen unter 15 Jahren nun ergibt sich aus niederen und 
höheren Schulen zusammen in 21 Jahrgängen eine Gesamt- 
ziffer von 878, also eine Durchschnittszahl von 41,9 oder 
fast 42 Selbstmorden im Jahre; es ergibt sich ferner für die 
niederen Schulen ein Verhältnis der männlichen zu 
den weiblichen Selbstmördern von 653:1 59 oder von 
4,16:1; ein Ergebnis, das mit dem schon früher von Baer 
berechneten Verhältnis (4:1) und ebenso mit "den Gutt- 
stadt sehen Zahlenangaben (240:49) ziemlich nahe überein- 
stimmt. Die Jahresschwankungen sind, wie Sie aus der Ta- 
belle ersehen, recht beträchtlich, und zwar sind sie bei den 
höheren Schulen — auf die Tabelle ; II besonders Bezug 
nimmt — verhältnismäßig größer als bei den niederen (4:21 
gegen 27:57). Die Jahreszahl der Schülerselbstmorde aus 
beiderlei Anstalten zusammen ist, wie Sie sehen, im Schluß- 
jahre 1903 nicht höher, sondern im Gegenteil etwas niedriger 
als im Anfangsjahre 1883 (nämlich 58 gegen 56) trotz der 
inzwischen so bedeutend angewachsenen Bevölkerung und 
entsprechenden Zunahme der hierhergehörigen Altersklassen, 
was immerhin als ein einigermaßen beruhigendes Ergebnis an- 
zusehen sein dürfte. 

Tabelle II umfaßt ausschließlich die höheren Schulen, 
mit einer Gesamtzahl von 340 Selbstmorden in 24 Jahrgängen 
oder fast genau 14 (14,17) im Jahre. Auffallend sind dabei 
die überaus starken Jahresschwankungen, zwischen 4 (1898) 
als Minimum und 21 (1901) als Maximum; eigentümlicher- 
weise, bekundeten die Jahre 1898— 1900 überhaupt eine sehr 
erhebliche Abnahme (4, 8, 7), worauf .denn in den Jahren 



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Schüler Selbstmorde. 



7 



Tabelle II. 

Schülerselbstmorde 
an höheren Schulen. 



TahrM- 


Im Alter unter 


Im Alter unter 


Ge- 




j <tui Ca* 

xahl 


15 Jahren 


20 Jahren 


samt- 


Ucmcrkuntren 


mannt. J| weibl. 


männl. 


weibl. 


zahl 












1 bH(J 


| 








9 





1881 










13 




1H82 










5 




1 Q C 1 

1883 


4 


1 


13 


1 


19 






2 1 


— 


12 





14 




Ibbo 


• 
1 




9 





10 




1886 


1 




7 1 


— 


8 




1887 


3 




15 j 


— 


18 




1888 


3 








12 






7 : 




13 


1 


20 




1 ft«'JO 
lo."' 


3 




8 ' 




1 1 
1 1 




1891 


3 




11 1 




14 




1892 


2 




17 




19 




1893 


2 




13 j 




15 




1894 


2 








19 




1895 


2 ! 


1 






8 




1896 


1 1 




10*) 1 




11 


•) darunter 2 unter 25 Jahren 


1897 


3 1 




16 | 


1 


20 


1898 


2 




5') 




7 


•) darunter 1 unter 25 Jahren 


1699 


3 




10 




13 


1900 


7 




11 


1 


19 




1901 


6 


2 


12 


1 


21 




1902 


3 




14') i 
17') 




17 


") darunter 4 Ober 20 Jahren 
*) darunter 3 über 20 Jahren 


1903 


1 


i 1 




19 




61 


! 5 


242 


1 5 


| 340 





1901 — bis 1903 wieder ein bedeutendes, allerdings nicht stetiges 
Anschwellen (21, 17, 19) unmittelbar folgte. 

Für das Verhältnis der Altersklassen unter 15 zu der 
Altersklasse über 15 Jahre ergibt sich aus 21 Jahrgängen eine 
Gesamtziffer von 66 : 247 oder, wenn wir die weiblichen Ge- 
schlechtsangehörigen ihrer geringen Zahl halber außer Be- 
tracht lassen, von 61:242; d. h. also, auf den höheren 
Lehranstalten für Knaben sind die Selbst- 
morde im Alter über 15 Jahre fast genau vier- 
mal häufiger als unter 15 Jahren. 

Auf die Zahl der Schülerinnenselbstmorde und 
auf das hierbei obwaltende Verhältnis zwischen den ver- 
schiedenen Altersklassen läßt sich bei der Spärlichkeit des 
amtlichen Materials in dieser Hinsicht kein Schluß ziehen, da 
anscheinend nur die öffentlichen höheren Töchterschulen, nicht 
aber die Privat schulen in die amtliche Statistik einbezogen 



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8 



Albert Eulenburg. 



worden sind, und auch kasuistische hierher gehörige Mit- 
teilungen in den Akten nicht vorliegen. 

Tabelle In. Ursathen 

der Selbstmorde von Schülern höherer und niederer Schulen 

tod 1883—1903. 



Höhere|N 
Schulen 



Zurückstellung von der Abiturientenprufung 

Abneigung gegen den Schulbesuch 

Verweigerte kirchliche Absolution 

Aerger, Zorn, Mißmut, Trotz 

Aerger, da er Geschwister beaufsichtigen sollte 

Aerger, infolge Verweises 

Harte Behandlung seitens der Eltern, bezw. Verwandten u. Lehrer 

Erlaogungsyerweigerung einer Buchhalterinstelle 

Schlechte Zensur 

Diebstahlsverdächtigung 

Amerikanisches Duell 

Gekränktes Ehrgefühl 

Gekränkter Ehrgeiz 

Eigensinn 

Anfall von Epilepsie 

KrankhaAe Erregung 

Verwahrloste Erziehung 

Fälschung eines Schulzeugnisses 

Fieberwahnsinn 

Entziehung der Freischule 

Furcht vor dem Examen, nicht bestandenes Examen und nicht 

erfolgte Versetzung 

Furcht vor dem Besuche der Stadtschule 

Furcht vor Strafe 

Geisteskrankheit, bezw. Störung 

Verweigerung seitens der Eltern der Rückkehr zur Großmutter 

Jähzorn 

Verweigerte Erlaubnis zum Kirmesbesuch 

Lebensüberdruß 

Körperliche Leiden 

Bekanntwerden eines Liebesverhältnisses 

Liebesverhältnis, Nachlässigkeit dadurch in der Schule und zu 

erwartende Ausweisung 

Liebesverhältnis mit einer Ehefrau 

Unglückliche Liebe 

Abweisung vom Missionardieost 

Geistige Ueberspannung durch vieles Romanlesen 

Wollte nicht Geistlicher werden 

Mittellosigkeit 

Nervenschwäche, plötzliche Erregtheit, nachdem er stets bei ge- 

ringffigigen Ursachen gesagt, er wolle sich aufhängen . . . 

Nervenüberreizung 

Pessimismus 

Religiöse Schwärmerei, bezw. echter religiöser Wahnsinn . . . 
Rübenarbeit, sollte dazu nicht mitgehen 

») In 



1 

19 
16 

1 
1 

1 

2 
1 

46 

19 
29 

1 

7 



1 

2 
1 

13 
1 

1 
1 



■ — 



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1- 
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II, 8 
8 1 
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1 — 



2. — 

ll- 
240 7o 

33 f. 



1 
1 



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Schüiersclbstmorde 



9 



Rücksicht auf seine Schwester, die, in ungünstigen Verhältnissen, 
sein Vermögen erben sollte 

Rüge in der Schale 

Falsches Schamgefühl, sollte unerlaubt gekaufte Bücher zurück- 
bringen 

Schulden, bezw. Liebesgram 

Sonstige Schulgrüude 

Schlechtes Schulzeugnis 

Vlterliche Erlaubnisverweigerung zur Seefahrt 

Sonstige Gründe 

Spielerei 

Sa alz tirück Versetzung 

Tiefsinn, bezw. Schwermut 

Tod des Vaters 

Verweigerte Mitnahme zur Treibjagd 

Trotz gegen seine Mutter, da er sich schon etwas verdienen sollte 

Trübsinn, erzeugt durch Nervenfieber und Gehirnerschütterung . 

Geistige Ueberanstrengung 

Unachtsamkeit 

Unbekannte Veranlassungen 

Unzufriedenheit mit seiner Lage 

Sittliche Verwahrlosung 

Verweisung von der Schule 

Willensverweigerung 

Zerwürfnis mit den Eltern, bezw. Lehrern 

Zorn, durfte eine neue Mütze nicht tragen 

Um sich der elterlichen Zucht zu entziehen 

Körperliche Züchtigung durch die Eltern, bezw. Lehrer . . . 

Zureden der Mutter zum gemeinschaftlichen Selbstmord . . . 

Zorn (Gemfitsaufregung) 

Um nicht mit den Eltern an einen anderen Wohnort zu ziehen 



z ) Epileptisch. 



Höhere|Niedere 
Schulen 



I 



3 
9 
2 
1 
3 
1 

15 



2 — 



69 
1 
1 

6| 
2 



1 



I 

0 



9 
1 

2 
38 
1 

13 
1 
1 
1 
1 

1 

2H 

5 

1 

1 
1 



37 
1 



6 1«) 

- 1 

31 — 
-I 1 



301 ( 9|65l|l56 



Diese im Ganzen 1117 Fälle, und zwar 310 aus höheren, 
807 aus niederen Lehranstalten umfassende Tabelle bezieht 
sich auf die angenommenen Motive oder die unmittelbaren 
ursächlichen Momente der Schülerselbstmorde, und zwar sind 
diese hier mit genau denselben Bezeichnungen wiedergegeben, 
wie sie in den amtlichen Jahreszusammenstellungen Aufnahme 
gefunden haben. Ein Blick auf diese Bezeichnungen wird Sie 
überzeugen, daß dabei wesentlich nur die nächsten, zu- 
fälligen und gelegentlichen Ursachen und Be- 
weggründe, nicht aber die tiefer liegenden allge- 
meinen und prädisponierenden Ursachen in Be- 
tracht gezogen werden, für deren Feststellung und Würdigung 



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10 



Albert Eulenburg. 



wir somit auf die weiterhin zu besprechenden 284 Einzel- 
berichte aus höheren Lehranstalten hauptsächlich 
angewiesen bleiben. Immerhin ermöglichen jedoch auch schon 
die Angaben dieser Tabelle einige nicht uninteressante und 
zu allgemeineren Schlußfolgerungen berechtigende Ergebnisse. 
So erreicht z. B. die Zahl der auf Furcht yor Strafe un- 
mittelbar zurückgeführten Selbstmorde die geradezu schrecken- 
erregende Höhe von 336 — eine Zahl, die wahrscheinlich noch 
weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, da noch verschiedene 
andere, auf dem Gebiete der Schuldisziplin und der häuslichen 
Zucht liegende Motivierungen hier eingereiht werden müßten. 
So die Rubriken: Rüge in der Schule (1), Straf zurückver- 
setzung (1), Verweisung von der Schule (6), ferner harte Be- 
handlung seitens der Eltern, Angehörigen und Lehrer (24), 
Züchtigung durch Eltern und Lehrer (9. — darunter ein epilepti- 
sches Mädchen! — ), Furcht vor dem Examen oder nicht be- 
standenes Examen und nicht erfolgte Versetzung (46). Das 
wären 423. — Jedenfalls also weit mehr als der 
dritte Teil aller Schülerselbstmorde wurde aus 
Furcht vor Bestrafung wegen Schul vergehen 
oder wegen geringen Schulerfolges begangen! 
— Frappierend ist ferner die verhältnismäßig große Zahl der 
Fälle, in denen unmittelbar „Geisteskrankheit" oder 
„Geistesstörung" als Ursache angeschuldigt wird, nämlich 
70 — wozu offenbar noch die aJs religiöser Wahnsinn (3), 
Tief sinn (30) und Trübsinn (1) verzeichneten Fälle, sowie 
die von Epilepsieanfall (1) und Fieberwahnsinn (3) hinzu- 
gezählt werden müssen; also im ganzen mindestens 108 unter 
11 17, oder fast 10 (9.67) °/o. Rechnet man auch die Fälle 
von „Nervenschwäche mit plötzlicher Erregtheit 41 (1) und von 
„Nervenüberreizung" (2) hierher, so ergeben sich 11 1 Fälle 
unter 11 17, oder ziemlich genau 10 0/0. 

Es liegt doch die Vermutung nahe, daß gerade diese Fälle 
bei geschärfterer Beobachtung in Haus und Schule, noch mehr 
bei ausreichender schulärztlicher Kontrolle — die für die Periode 
dieser Statistik entweder ganz fehlte oder kaum in den ersten 
Anfängen vorhanden war — wohl eine andere Wendung hätten 
nehmen und vor dem Aeußersten bewahrt bleiben können. — 
Motivierungen von der Art, wie „amerikanisches Duell" (1) 
oder „Liebesverhältnis mit einer Ehefrau" u.dgl. geben an sich 



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Schülerseihst morde. 



Manches zu denken; wir werden später bei Betrachtung der 
Einzelfälle noch auf Vorkommnisse dieser Art näher einzu- 
gehen haben. „Liebe" — oder was sich unter diesem schön- 
klingenden Namen verbirgt — wird außerdem noch in 18 
Fällen auls unmittelbare Ursache bezeichnet; tatsächlich ist 
sie es wohl noch weit häufiger, wie aus den Einzelberichten 
hervorgeht, und unter den „unbekannten Veranlassungen", die 
in der Tabelle mit nicht weniger als 265 Fällen 'vertreten sind, 
dürfte wohl gerade dieses Motiv einen ziemlich breiten Raumj 
einnehmen. In einer überraschend großen Reihe von Fällen 
endlich finden wir als unmittelbare Selbstmordanlässe ganz un- 
bedeutende, harmlose, anscheinend fast kindische Dinge 
namhaft gemacht (Aerger 11, verweigerte Erlaubnis zur Rüben- 
arbeit, zum Kirmesbesuch, zur Seefahrt, zum Tragen einer 
neuen Mütze, verweigerte Mitnahme zur Treibjagd je 1, Spielerei 
40 usw.). Derartige auch in den Zeitungsnotizen über Jugend- 
selbstmorde immer und immer wiederkehrende Angaben be- 
stätigen zunächst, daß hinter den unbedeutenden und winzigen 
offenliegenden Motiven, die in so gar keinem Ver- 
hältnisse zur Tat zu stehen scheinen, erst die allge- 
meineren, in Anlage, Konstitution und Umgebung wurzeln- 
den tieferen Ursachen aufzusuchen sind; sie weisen überdies 
darauf hin, wieviel uns noch für ein feinfühlig erfassendes Ver- 
ständnis und ihm sich anpassende Behandlung dieses Alters 
zu tun bleibt, dessen hochgesteigerte Empfänglichkeit und oft 
ans Krankhafte streifende Ucberempfindlichkeit selbst auf 
minimale seelische Reizungen die angesammelten Spannkräfte 
nur zu leicht explosiv in selbstzerstörerischen Reaktionen ent- 
ladet. 



Wenden wir uns nun zu den aus höheren Lehranstalten 
stammenden 284 Einzelberichten, so ist dafür wenn möglich 
eine gewisse und übersichtliche Anordnung und Gruppierung 
des Materials anzustreben, ein Versuch, der erklärlicherweise 
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat und unter allen 
Umständen nur unvollkommenes Gelingen verspricht. Immer- 
hin ergeben sich bei wachsender Beherrschung des Stoff- 
gebietes doch gewisse Haupttypen — oder genauer ge- 



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12 



Albert Eulenburg. 



sprochen gewisse Hauptrichtungen, die für eine solche vor- 
läufige Einordnung der zum Teil recht verwickelten und in 
kein Schema widerspruchpos einzuzwängenden Einzelfälle eine 
brauchbare Grundlage bieten. 

Eine sich verhältnismäßig leicht abhebende, der ärztlichen 
Betrachtung besonders naheliegende Gruppe umfaßt die Fälle, 
in denen wir — soweit die allerdings nicht immer genügenden 
und beweiskräftigen Bekundungen über diesen Funkt reichen — 
auf das Vorhandensein geistiger Störungen als mutmaß- 
licher Selbstmordursache mit größerer oder geringerer Sicher- 
heit schließen dürfen. Es sind das immerhin 29 Fälle unter 284, 
also etwas über 10 (10.02) 0/0. Von den Selbstmördern 'dieser 
Kategorie endeten 19 durch Erschießen — das, wie ich gleich 
bemerke, bei den Schülerselbstmorden überhaupt die weit- 
aus bevorzugte Todesart ist — 7 durch Erhängen, 2 durch 
Ertränken (bei einem ist die Art der Entlcibung nicht ange- 
geben. Von den Erhängten hatte einer, ein I4jähriger Knabe, 
mit ungemeiner Hartnäckigkeit operiert, indem er sich erst 
zu erschießen suchte, dann, da die Waffe versagte, sich mit 
einem Messer den Hals abzuschneiden begann und, als das 
Messer sich als zu stumpf erwies, mit dem Strick |die Tat 
beendete. Die Art der Geistesstörung ist aus den meist ziemlich 
allgemein gehaltenen ärztlichen und nichtärztlichen Angaben 
nicht immer erkennban; doch scheinen die verschiedendsten 
Formen der dem jugendlichen Alter eigenen Seelenstörungen, 
mit und ohne Intelligenzdefekte, besonders erworbene Defekt- 
psychosen, hebephrenische Demenz usw. vorgelegen zu haben. 
In einem Falle ist von einer, längere Zeit anhaltenden jGemüts- 
depression, in einem anderen von großem Hang zur Einsam- 
keit, Schwermut die Rede. In einem Falle ergab die (auf 
dem pathologischen Institut in Kiel vorgenommene) Ob- 
duktion eine ungewöhnlich starke schleichende Entzündung der 
weichen Hirnhäute, dazu Anzeichen einer beginnenden akut 
fieferhaften Krankheit, so daß (wie es in dem Berichte heißt) 
„eine Störung der Hirntätigkeit in hohem Maße wahrscheinlich 
ist". Genauere Einsicht gewährt uns der Fall eines Unter- 
primaners, der sich mit dem väterlichen Revolver eine Schuß- 
wunde am Kopfe beibrachte und schwerverletzt dem Kranken- 
haus in H. zugeführt wurde; der leitende Arzt dieses Kranken- 
hauses berichtet darüber wörtlich: 



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Sch Hier Selbstmorde. 



13 



„Die Tat ist im Zustande geistiger Störung verübt. Dafür 
spricht das Verhalten ... 's vor und nach der Tat. Vor der 
Tat umgürtete er sich zu seiner persönlichen Sicherheit mit 
einem Degen seines Vaters, um bei seinem nächtlichen Gange 
nach dem Tatorte etwaige Angriff Anderer abwehren zu 
können. Dabei führte er bereits den Revolver mit sich, mit 
dem er sich töten wollte. Auch die Art der jVerwundung 
ließ auf geistige Störung schließen. In der Tasche des .Ver- 
wundeten fand sich nach Angabe des Vaters ein Zettel, in 
dem er bat, ihn da zu bestatten, wo man ihn fände. Solke 
die Presse über den Vorfall berichten, so möge man über den 
Bericht die Aufschrift „Ein jugendlicher Selbstmörder" setzen. 
Wenn aber jemand für gut befände, sich öffentlich über die 
Motive zu äußern, so sollte man ihm einen Mühlstein an den 
Hals hängen und ihn ersäufen wo es am tiefsten «ei. Das 
Schreiben enthielt kein Wort des Abschiedes an die Seinen 
und keine Angabe des Grundes der Tat". Einige Tage nach 
der Einlieferung ins Krankenhaus traten Tobsuchtserschei- 
nungen ein, die zur zeitweiligen Unterbringung des Kranken 
in einem Isolierraum nötigten. Bei seiner, auf Wunsch des 
Vaters erfolgten Entlassung dauerte die geistige Störung noch 
fort. — Der Arzt glaubte die geistige Erkrankung auf die 
unverdaute Lektüre philosophischer Schriften" (Schopenhauer 
und Nietzsche) und die daraus entspringende Neigung zum 
Pessimismus zurückführen zu dürfen. Ich bin der Meinung, 
daß es sich bei dieser Annahme wohl um eine .Verwechslung 
von Ursache und Wirkung handelt, denn auch bei den geistigen 
Krankheitsübertragungen spielt ja, wie bei den körperlichen, 
die Disposition eine noch entscheidendere Rolle, als der 
sogenannte „Krankheitserreger" selbst. Ich werde übrigens 
auf diesen in den Berichten ziemlich häufig wiederkehrenden 
und stark betonten Umstand noch an späterer Stelle zurück- 
kommen. Seinen Mitschülern gegenüber soll sich X. selbst 
dahin ausgesprochen haben, daß seine geistige Beanlagung 
anormal sei. 

Ich will noch einen zweiten in die gleiche Kategorie ge- 
hörigen Fall anführen, der in gleicher Weise die Ueber 
zeugung erwecken muß, daß durch eine schärfere Aufsicht und 
ein rechtzeitiges Eingreifen von Haus und Schule das traurige 
Ende vielleicht zu vermeiden gewesen wäre. Der Fall betraf einen 



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14 



Albert Eulenburg. 



15jährigen, offenbar schon familiär belasteten Gymnasiasten. 
Sein Verhalten in der Schule fiel allerdings wenig auf; nur 
wurde bemerkt, daß ihm bei jeder kleinen Rüge, oder wenn ihm 
ein Versuch nicht gelang, das Blut sofort in den Kopf trat. 
Der Vater machte den Eindruck eines schwachen Mannes, 
die häusliche Erziehung war mangelhaft und schwankend. Ein 
Bruder des Selbstmörders litt seit frühester Kindheit an 
geistiger Schwäche, war auch zur Zeit der Tat noch „geistig 
sehr beschränkt". Bei dem ebenfalls geistig schwach veran- 
lagten Selbstmörder stellte sich — ich zitiere wörtlich nach 
dem Gutachten des Hausarztes — „in den letzten Jahren immer 
mehr Zunahme einer geistigen Gestörtheit ein, die sich zeit- 
weise in sehr grellem Lichte darstellte, besonders in Wutaus- 
brüchen und in seinem krankhaft gestörten Blick. Die geistige 
Gestörtheit, eruptiv auftretend, blieb den Eltern nicht unbe- 
kannt, vielmehr sprachen diese, sowie auch die kürzlich ver- 
storbene Großmutter mir gegenüber ihr großes Bedenken aus 
über das auffallende Wesen und Benehmen des Kindes. Des- 
gleichen habe ich auch den Eltern schon früher erklärt, das Kind 
leide an einer wahrscheinlich angeborenen geistigen Störung". 

Soweit der ärztliche Bericht, der wohl keines Kommentars 
bedarf. Man fragt sich verwundert, wie ein so beschaffenes 
Kind auf dem Gymnasium belassen werden, wie es den Lehrern 
dort nicht auffallen, wie es durch seine Leistungen auch nur 
„genügen" konnte. Aber solcher Rätsel werden uns in dieser 
traurigen Selbstmordkasuistik zu viele und in zu ermüdender 
Gleichförmigkeit aufgegeben, um bei den einzelnen in langer 
Betrachtung zu verweilen. In lebhafter Erinnerung ist mir ein 
Fall, in dem ich selbst zu dem sterbenden Selbstmörder hinzu- 
gerufen wurde und erfuhr, daß dieser schon seit Monaten 
mit den Eltern und Geschwistern kein Wort mehr gewechselt 
und im Hause völlig sich selbst überlassen in offenbar schwer 
melancholischem Gemütszustande gelebt habel 

Eine zweite, der Zahl nach noch ansehnlichere Gruppe 
wird durch die Fälle gebildet, in denen zwar eine Jausgesprochene 
Geisteskrankheit (oder akute Geistesstörung) als unmittelbare 
Selbstmordursache nicht nachzuweisen war — immerhin aber 
eine angeborene, zumeist ererbte, mehr oder minder schwere 
nervös-seelische Belastung, eine „Minderwertigkeit", 



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Schüler Selbstmorde. 



15 



wie der ehedem so beliebte, jetzt allmählig außer Kurs 
kommende Ausdruck lautet, unzweifelhaft vorlag. ' Es sind 
das mindestens 51 Fälle — zusammen mit den auch 
wesentlich auf krankhafte Veranlagung zurückzuführenden 
29 Fällen der ersten Kategorie, also nicht weniger als 
80, oder etwas über 28 (28.2) 0/0 der Gesamtzahl. In 
38 Fällen dieser zweiten Gruppe wurde der Selbstmord durch 
Erschießen vollzogen, sechsmal durch Ertränken, fünfmal durch 
Erhängen, einmal durch Vergiftung mit einer großen Zahl 
von Schlafpulvern. Auch zwei der Erschossenen hatten früher 
Vergiftungsversuche, mit Cyankalium und mit Chloroform, bei 
sich unternommen. Ein anderer hatte sich auf einer Fußreise 
in den Ferien erst an der linken Hand mit einem Messer, 
dann durch einen Streifschuß an der rechten Schläfe und durch 
eine eingedrungene Kugel an der Brust verwundet und suchte 
nach seiner Auffindung diese Verletzungen als durch Ueberfall 
eines Strolches beigebracht darzustellen, gab aber nachträglich 
den Selbstmord-Versuch unumwunden zu. 

Die meisten der hierher gehörigen Selbstmörder hatten in 
ihrer Ascendenz mehr oder weniger schwere Fälle von Nerven- 
leiden, Geistesstörungen, Epilepsie, Trunksucht; auch mehr- 
facher Selbstmord in der Ascendenz oder bei nahen Verwandten 
begegnet nicht selten. In mehreren Fällen hatten die Väter, 
in einem Falle beide Großeltern, in einem anderen der Groß- 
vater mütterlicherseits, und ein Bruder des Vaters durch Selbst- 
mord geendet, und es hatten diese Ereignisse, die im Kreise 
der Familie viel besprochen und anscheinend allzu mild be- 
urteilt wurden, einen nachhaltigen Eindruck auf die jugend- 
lichen Gemüter hinterlassen ; einer dieser Knaben prahlte seinen 
Mitschülern gegenüber förmlich mit der Androhung des Selbst- 
mordes, den er dann auch — und zwar gerade am festlich be- 
gangenen Geburtstage seiner Mutter ! — tatsächlich vollführte. 

In einem Falle wird der Vater als religiöser Asket ge- 
schildert, der eine Verpflanzung des Knaben wider dessen 
Neigung ins Kloster plante, die Mutter als aufgeregt und von 
krankhaft maßlosem Wesen ; in einem anderen war die Mutter 
gemütskrank, der Sohn litt von früh auf an periodischen Kopf- 
krämpfen ; in einem dritten war der Vater Epileptiker gewesen, 
und an Schwindsucht gestorben; in einem vierten lebten die 
Eltern getrennt, der Vater hatte zeitweilig in einem Trinker- 



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16 



Albert Eulenburg. 



asyl untergebracht werden müssen. In einem fünften war 
die Mutter sehr exaltiert, auch ihre Schwester galt in 'der 
(jüdischen) Gemeinde des Ortes als überspannt und „spleenig" 
— der Sohn selbst, frühreif, verzogen und an Kopfkongestionen 
leidend, war der Typus eines Neurasthenikers. In einem sehsten 
Falle finden wir in der mütterlichen Verwandtschaft Geistes- 
krankheit und Epilepsie, in der väterlichen Verwandtschaft 
Selbstmord in vermeintlich plötzlicher geistiger Umnachtung. 
Und so weiter, in infinitum! 

Die unmittelbare Veranlassung, die „Gelegenheitsursache" 
zum Selbstmorde wurde bei den in solcher Weise Ver- 
anlagten nicht selten durch ganz geringfügige, als reine 
Lappalien erscheinende Dinge geliefert. Noch öfter freilich 
spielt Furcht vor Nichtversetzung, vor drohenden Schul- und 
Hausstrafen, vor einem aufgezwungenen Berufe dabei wesent- 
lich mit; oder es handelt sich um Entladungen krankhaft 
gesteigerter Empfindlichkeit — schroff abgewiesene Liebes 
anträge (bei einem Untersekundaner), heftiger Streit mit der 
Schwester, Hänseleien von Seiten eines Lehrers, der den Knaben 
einmal — es lag dies schon 5 Jahre zurück — in einem 
Wirtshause eine Portion ..Eisbein" hatte verzehren sehen und 
auf dieses Eisbein wiederholt in geschmacklosen Neckereien 
zurückkam. Auch in einem anderen Falle gab der Selbstmörder 
in einem hinterlassenen Zettel der höhnischen Behandlung 
seitens eines Lehrers Schuld an seiner Tat ; dieser Lehrer soll, 
nach einer Aeußerung des Direktors, wohl zu einer gewissen 
„Schnoddrigkeit" geneigt gewesen sein und witzige (oder witzig 
sein sollende) Bemerkungen nur schwer unterdrückt haben. 
Fälle dieser Art führen uns in überzeugender Weise vor Augen, 
welche unendliche Vorsicht, welche stetige und strenge Selbst - 
Überwachung zumal im Verkehr mit ungünstig beanlagten 
Schülern allem pädagogischen Wirken als Richtschnur dienen 
muß und zu wie furchtbaren Konsequenzen ein Zuwiderhandeln 
gegen diese eigentlich selbstverständliche Voraussetzung nur 
allzuleicht führen kann. Von anlaßgebenden Motiven seien 
noch hervorgehoben: Verzweiflung über organische Leiden, 
über eine Verkrüppelung der Hand, die auch nach chirurgischer 
Behandlung ungeheilt war; über die Bedrängtheit häuslicher 
Verhältnisse, die soweit ging, daß die Mutter, eine arme Witwe, 
den Sohn mit Kleidung und Büchern nicht genügend, seinem 



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Sch üler selbst morde. 



17 



Ehrgefühl entsprechend, auszustatten vermochte. Zuweilen er- 
scheint dies jugendliche Ehrgefühl arg mißleitet oder an Klein- 
lichkeiten hängend. Ein Untersekundaner, von väterlicher Seite 
belastet und ein sehr unzuverlässiger Schüler, begehrte von 
seiner Mutter Geld, um seinen Geburtstag im Kreise seiner 
Kameraden zu feiern, erhielt nur drei Mark, entfernte sich in 
äußerster Aufregung ohne Ueberzieher und Kopfbedeckung, 
ohne wiederzukehren und wurde nach länger als drei Wochen 
mit zwei Mauersteinen beschwert im Mühlbache ertränkt auf- 
gefunden ! 

Auch gewisse Sonderbarkeiten und Bizarrerien sind bei 
Individuen von so bedenklicher Veranlagung wohl zu beachten ; 
dahin gehört zum Beispiel die öfters zur Schau getragene 
Neigung für den Besitz und Gebrauch von Schieß waffen, der 
von häuslicher Seite viel entschiedener entgegengetreten werden 
sollte. Ein Obertertianer, der sich erschoß, verfügte über ein 
ganzes Arsenal von Schießwaffen; in seinem Zimmer fand 
man vier Revolver und eine große Menge Patronen, außerdem 
hatte er im Hause eines befreundeten Mitschülers drei ihm ge- 
hörige Gewehre stehen ; er soll fast täglich dort geschossen und 
eine große Menge Patronen verbraucht haben; selbst in der 
Turnstunde führte er gelegentlich einen Revolver mit sich. Auf 
welche Unzulänglichkeit der geübten Aufsicht, auf wie un- 
angebrachtes Vertrauen lassen solche keineswegs vereinzelte 
Vorkommnisse mit Notwendigkeit schließen ! 

Noch einen Fall will ich, zugleich als Musterfall schwerer, 
auf Alkoholismus in der Ascendenz beruhender familiärer Be- 
lastung kurz anführen. Ein Obersekundaner hatte seinem 
Pensionshalter, einem Gymnasialprofessor, aus dessen ver- 
schlossenem Schreibtisch die deutschen Texte zu den 
lateinischen und griechischen Extemporalien entwendet und 
zwei Mitschülern übergeben, die sie hektographiert und allen 
übrigen Klassengenossen zugänglich gemacht hatten. Er selbst 
hatte ferner aus dem Konferenzzimmer einen neuen, dem 
Gymnasium gehörigen Schapirographen entwendet und den 
erwähnten Mitschülern übergeben, die den Apparat alsdann 
durch Feuer zerstörten. Er wurde von der Anstalt verwiesen 
und der Beschluß in schonendster Weise zur Kenntnis des 
Vaters gebracht, von dem bald die kurzgefaßte Nachricht ein- 
ging, daß sich sein Sohn nach Ablegung eines offenen Ge- 

ZeiUchrifl fllr pgdaffojrlscli© Psychologie, Pathologe u. Hygiene. 2 



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18 



^ CJ% 1^ ^ 4 



ständnisses das Leben genommen habe., — Der Großvater dieses 
jungen Menschen, ein Oberst, war wegen Neigung zum Trunk 
pensioniert worden; zwei Brüder des Vaters hatten frühzeitig 
ihren Tod durch Alkoholismus gefunden, und der Vater selbst 
war in einer Periode seines Lebens dem Untergange durch 
Trunksucht sehr nahe. Der Knabe hatte, wie sich heraus- 
stellte, schon lange Zeit vor der Katastrophe zu seinen Mit- 
schülern geäußert, er werde sich, wenn die Geschichte heraus 
komme, erschießen. Und er hat Wort gehalten! — Es bedarf 
wohl kaum der Erinnerung, daß sich gerade die aus Trinker- 
f a m i 1 i e n stammenden Kinder durch besonders bedenkliche 
nervös-seelische Beanlagung, durch Neigung zu schweren Ner- 
ven- und Geisteskrankheiten, Verbrechen, Selbstmord vielfach 
in unerfreulicher Weise kennzeichnen. Immerhin würde aber 
doch selbst in derartigen Fällen eine rechtzeitige Erkenntnis 
der Sachlage und ein verständnisvolles Ineinandergreifen ent- 
sprechender pädagogischer und hygienisch ärztlicher Maßregeln 
oft genug der traurigen Weiterentwicklung vorbeugen und 
wenigstens die äußersten, schlimmsten Konsequenzen abzu- 
wenden vermögen. 



Es folgen nun zwei sehr umfangreiche, nach Zahl und 
Bedeutung voranstehende Gruppen, bei denen mehr noch als 
bei den vorherigen die besonderen Beziehungen zwischen der 
Schule und der für ihre Aufgaben und Ziele nicht an- 
passungsfähigen oder ihnen direkt widerstrebenden Indivi- 
dualität des Schülers in den Vordergrund treten. Diese 
beiden Gruppen umfassen 137 (die eine 67, die andere 68), 
also etwas über 48 °o der näher untersuchten Einzelfälle — 
beide Gruppen demnach ziffermäßig fast gleich stark, innerlich 
freilich ganz von einander verschieden, in gewissem Sinne fast 
gegensätzlich. 

Bei den Selbstmördern der ersten Gruppe handelt es sich 
im Wesentlichen um eine von vornherein mangelhafte, den 
Anforderungen und Zwecken der höheren Lehranstalt nicht 
oder nur unvollkommen gewachsene Begabung ; infolge davon 
ungenügende Schulleistung und nur zu oft das innere Gefühl, 
nicht in die Schule hinzupassen, ihr selbst bei Anspannung 



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SchiUerselbtttmorde. 



19 



und zeitweiliger Ueberspannung der Kräfte nicht ge- 
nügen zu können, trotzdem aber durch äußeren Zwang 
darin festgehalten zu werden. Dies sind die armen 
Opfer unpassender Schul- und Berufswahl, elterlicher 
Verständnislosigkeit und unberechtigtem, oft auch zu ver- 
kehrter Strenge führenden elterlichen Ehrgeizes. Diese Fälle 
sind im Grunde die einförmigsten von allen. Es fehlt den 
Schülern an Energie, um sich aufzuraffen, um vorwärtszu- 
kommen, die Hindernisse zu überwinden; sie sind dabei wenig 
widerstandsfähig folgen leicht dem gegebenen traurigen Bei- 
spiel. So hatte ein Obertertianer der sich wegen bevorstehender 
Nicht Versetzung ertränkte, besonders intim mit einem anderen 
Schüler verkehrt, der sich vier Wochen früher aus ähnlichem 
Grunde erschoß. — Ein sechzehnjähriger Real-Quartaner, der 
unter seinen weit jüngeren und kleineren Klassengenossen eine 
komische Figur spielen mußte und der gern zur Landwirtschaft 
übergegangen wäre, dem aber dieser Wunsch nicht erfüllt 
worden war, hinterließ zur Erklärung des verübten Selbstmordes 
nur die lakonischen Brief worte: „Es ist besser so". Ein 
i8jähriger Unterprimaner, der nur noch mit Unlust die Schule 
besuchte, erschoß sich, weil der Vater seinem Wunsche, 
Offizier' zu werden, nicht stattgeben wollte, bevor er nicht 
das Abturientenexamen gemacht hätte. Ein Untersekundaner 
der sich wegen Nichtversetzung erschoß, „um seinen 
Eltern weitere Schande mit ihm zu ersparen", war 
für Malerei begabt und vernachlässigte über der oft 
drei bis vierstündigen täglichen Beschäftigung damit seine 
Schulpflichten. — Handelte es sich in diesen Fällen um ein 
zwang weises Verbleiben auf der Schule und Verhindert werden 
an einer der eigenen Neigung entsprechenden Berufswahl, so 
war es in anderen Fällen die unmittelbare Furcht vor der bei 
mangelndem Schulerfolg ihrer wartenden, angekündigten harten 
Bestrafung, die den unglücklichen Schwachbegabten die tod- 
bringende Waffe in die Hand drückte. Ein solcher, der sich 
eines besonders verständnislosen und lieblosen Vaters erfreute, 
erschoß sich in dem Augenblick, wo er wegen einer im lateini- 
schen Extemporale erhaltenen Nummer 4 in das väterliche 
Arbeitszimmer gerufen wurde. Ihm war schon früher einmal 
die Waffe fortgenommen worden ; er hatte aber bei den fortge- 
setzten strengen Bestrafungen förmliche Selbstmordstudien ge- 

2* 



20 



Albert Eulenburg. 



macht, sich. z. B. mit den Zirkelspitzen und mit einem Messer 
an der Pulsader verletzt, um, wie er zu einem Kameraden 
äußerte, „zu sehen, wie das wäre". Der zerknirschte Vater 
erklärte nach der Tat selbst, daß die Schuld an dem Selbst- 
mord lediglich in der übergroßen Strenge und den „nicht 
mehr schönen" Züchtigungen, die er gegen das Kind ange- 
wandt habe, liege. — Auch von ziemlich verkehrter väterlicher 
Behandlung scheint ein anderer Fall Zeugnis abzulegen. Bei 
einem Quartaner mit mäßigen Anlagen, nicht tadellosem Be- 
nehmen, zeitweise aber genügendem Fleiße heißt es wörtlich : 
„Der wohlhabende, gutmütige Vater ließ es dem Knaben gegen- 
über weder an guten Lehren und Mahnungen, noch auch, 
wenn er es für nötig hielt, an Schlägen fehlen 
ohne indessen das rechte Maß zu überschreite n". 
Der Erfolg sprach jedenfalls nicht für die Richtigkeit dieser 
Erziehungsmethode. Der Vater verlangte nämlich von dem 
Sohne die Vorlegung seines lateinischen Heftes, das der Sohn 
in der Schule vergessen zu haben behauptete, wahrscheinlich 
aber der mangelhaften Arbeiten wegen nicht vorlegen wollte. 
Erregt zieh ihn der Vater der Lüge und schloß mit den Worten : 
„mach dich auf dein Zimmer, du nichtsnutziger Bengel, und 
komme mir fürs Erste nicht wieder unter die Augen". Der 
Sohn ging hin und erhängte sich an einer aus seinem Bücher- 
riemen gebildeten Schlinge an der Türklinke. Das Heft konnte 
trotz aller Bemühungen später nicht aufgefunden werden. — - 
Solche Beispiele, die ich nicht unnütz häufen will, sind geradezu 
typisch, und sie lehren unwidersprechlich, daß die 
Schuld an der traurigen Endkatastrophe in weit über- 
wiegendem Maße das Haus, die nächsten Familien- 
angehörigen belastet, während der Schule meistens in derartigen 
Fällen gewiß nicht übertriebene Härte, im Gegenteil eher zu 
weitgehende Milde und Schonung vorgeworfen werden kann, 
insofern sie ungeeignete, mangelhaft begabte und den ge- 
steckten Unterrichtszielen nicht gewachsene Zöglinge überhaupt 
aufnimmt, oder, aus übel angebrachter Rücksichtnahme und 
zur eigenen schwersten Schädigung der Betroffenen, alluzlange 
in ihrer Mitte erträgt. Nicht verschweigen will ich allerdings, 
daß auch Einzelfälle vorkommen, in denen eine direkte Mit- 
schuld, wenn nicht der Schule, so doch einzelner Lehrer an 
dem Selbstmord vorzuliegen scheint, so bei einem für seine 



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Schüler Selbstmorde. 



21 



Klasse zu alten, energielosen und dabei überaus reizbaren, von 
krankhaftem Ehrgefühl erfüllten Obertertianer, den der 
Ordinarius zu hart behandelte und am Todestage, wie es heißt 
„sogar an den Haaren faßte, um den niedergebeugten Kopf in 
die Höhe zu heben". Der Vater, ein Pastor, erließ in den 
Blättern eine öffentliche Erklärung, worin er den Selbstmord 
auf diese unzulässige Züchtigungsweise unverblümt zurück- 
führte. — 

Wenden wir uns nun zu der anderen, ziffernmäßig gleich 
starken Gruppe, so finden wir hier im Allgemeinen keineswegs 
mangelhafte nicht selten im Gegenteil gute und selbst her- 
vorragende Begabung, die aber durch Fehler und Schwächen 
des Charakters und im Zusammenhange damit durch mehr 
oder weniger ungeeignete Lebensführung, vielfach durch 
Excesse erotischer und alkoholist ischer Natur u. dgl. von den 
Schulzielen abgelenkt und einem frühen Zerfalle, einem körper- 
lichen und seelischen Zusammenbruch entgegengetrieben wird. 
Es sind das zum Teil jene früh- und scheinreifen, bei hoch- 
gesteigerter nervöser Reizbarkeit willensschwachen und inner- 
lich haltlosen, zum Teil auch durch großstädtisches Treiben — 
dem man aber nicht allzuviel Schuld geben darf, denn die- 
selben Dinge ereignen sich auch bei Kleinstadtschülern ! — ver- 
wirrten und fortgerissenen, zur Nachahmung verführten und 
verdorbenen Naturen. VorzeitigeLiebes Verhältnisse, 
aus denen die Ergriffenen nicht den rettenden Ausweg zu 
finden, deren Schlingen sie sich nicht zu entreißen vermögen, 
spielen dabei, meist im Verein mit noch anderen gefährlichen 
Einflüssen besonders oft eine seelisch verwirrende, die Kata- 
strophe unmittelbar herbeiführende oder beschleunigende Rolle. 

Davon nur einzelne Beispiele. Ein katholischer Ober- 
tertianer hatte ein Verhältnis mit der 16jährigen Schülerin 
einer katholischen Töchterschule angeknüpft. Der Religions- 
lehrer erfuhr davon, machte dem Schüler (selbständig, ohne 
Befragen des Direktors) auf seinem Zimmer Vorwürfe, erteilte 
in der Folge auch der Mutter der Schülerin den dringenden 
Rat, ihre Tochter nach 6 Uhr abends nicht mehr allein aus- 
gehen zu lassen. Die Verliebten haben sich trotzdem noch 
getroffen und sich Karten geschrieben. Der Schüler, dem seine 
Lehrer bis zuletzt nichts Ungewöhnliches anmerkten, nahm 
sich das Leben mit Hinterlassung eines Briefes an seine Mit- 



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Albert Eulenhurg, 



Schüler, worin er diese auffordert, seinem Beispiel nicht zu 
folgen, an seinem Begräbnisse aber teilzunehmen — wobei 
zu bemerken ist, daß am Tage vorher das glänzende Begräbnis 
eines Sextaners stattgefunden hatte. Ein gewisser Größen- 
wahn scheint mit im Spiele gewesen zu sein, der ihm u. a. die 
Worte in den Mund legte : „was würden die Leute sagen, wenn 
sich jemand in der Anstalt totschösse?" Auch soll er mit 
seinem Unglauben renommiert und sich gerühmt haben, nicht 
einmal die zehn Gebote zu kennen. — Ein Obertertianer, 
der sich gleichfalls erschoß, verkehrte viel mit Unteroffizieren 
der Garnison, ging sogar als Soldat verkleidet mit Mädchen 
spazieren und unterhielt gleichzeitig Verhältnisse mit zwei 
Mädchen, von denen er die eine, durch ihren liederlichen 
Lebenswandel bekannte, als seine Braut bezeichnete ; er konnte, 
da seine Leistungen infolge dieser Lebensführung zurück- 
gingen, nicht versetzt werden, und verfluchte in einem hinter- 
lassenen Schreiben seinen Rcligionslehrer, der an seiner Nicht- 
versetzung vermeintlich Schuld sei — erbat daneben auch Ver- 
zeihung wegen des gestohlenen Geldes zum Ankauf des Re- 
volvers ! 

Ein 2ojähriger Oberprimaner hegt, der Schule satt, den 
Gedanken Schauspieler zu werden und läßt sich gleichzeitig 
mit einer jungen Dame in ein Liebesverhältnis ein. Da seine 
nächste Zensur schlecht ausfällt und er damit nicht vor den 
Vater zu treten wagt, bemächtigt sich seiner eine ungemeine 
Aufregung; er faßt den Vorsatz, sich vor den Augen seiner 
Geliebten zu erschießen, um so mit einem gewissen Eclat aus 
der Welt zu scheiden. Er bestellt sie zur Mittagstunde an eine 
Kirchhofmauer, geht ein paar Schritte mit ihr, murmelt einige 
unverständliche Worte und zieht dann den Revolver aus der 
Tasche, bei dessen Anblick das Mädchen erschreckt hilfe- 
schreiend davonläuft, während er vier» Schüsse hintereinander 
abfeuert, von denen zwei nur das Straßenpflaster und die 
Kirchhofsmauer, zwei ihn selbst an Stirn und Schläfe schwer, 
aber nicht tötlich verletzen — mit Zurückbleiben einer Kugel 
im Kopfe. t 

Ein i8jähriger Unterprimaner, von früh auf der Onanie 
und dem Alkoholgenuß ergeben und seitens der Eltern grenzen- 
los verwöhnt und verzogen, hat mit der Bonne im Hause 
eines Beamten eine Liebschaft angeknüpft. Er schreibt dieser 



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Sch ülertelbstmordc. 



23 



einen Brief folgenden Inhalts: „Ich habe dich gestern mit 
einem anderen gesehen, das ertrage ich nicht, ich werde mich 
morgen um 9 Uhr erschießen" — und bringt sein Vorhaben 
tatsächlich zur Ausführung. 

Wiederholt begegnen uns .in dieser Kasuistik Fälle von 
Doppelmord oder von Doppelselbstmord der beiden Liebenden, 
wozu ja in diesem Alter der Entschluß ganz besonders leicht 
reift und zur Tat wird. Ein i8jähriger Primaner erschießt 
in einem Gasthause zuerst das Mädchen, mit dem er ein Ver- 
hältnis unterhielt, und dann sich selbst. Ein Oberprimaner 
erschießt sich in der Nähe der Strandhalle eines Ostseebades, 
nachdem er vorher der Nichte des Kurhauspächters, die als 
Büffetdame in der Strandhalle tätig war, eine schwere Schuß- 
wunde beigebracht hatte. Aus verschiedenen Aeußerungen des 
jungen Mädchens war zu schließen, daß sie mit dem jungen 
Manne in den Tod zu gehen entschlossen war; auch soll 
sie den Revolver in Verwahrung gehabt haben. Die beiden 
jungen Leute betrachteten sich als Verlobte, und die Mutter 
des Schülers hatte am Abend vorher den Kurhauspächter auf- 
gefordert, ihrem Sohn den Verkehr mit seiner Nichte und den 
Aufenthalt in seinem Anwesen zu verbieten, was den un- 
mittelbaren Anlaß zur Tat gab. — Noch tragischer ist die 
Selbstmordgeschichte eines 19jährigen Oberprimaners, der sich 
zusammen mit seiner Geliebten, der von ihrem Manne getrennt 
lebenden Frau eines Arztes, ums Leben brachte. Der genügend 
begabte, nüchterne und fleißige, unmittelbar vor dem Examen 
stehende junge Mensch wurde bei einem Rendezvous 
mit der Dame von dem Ehemann überrascht, der dem 
Direktor des Gymnasiums brieflich davon Anzeige machte 
und auf Bestrafung des Schülers antrug. Es muß 
hinzugefügt werden, daß der Ehemann 67 Jahre alt, 
die Frau nicht weniger als 40 Jahre jünger war, {und eine 
gerichtliche Scheidung der getrennt lebenden Gatten bisher 
nicht erfolgt war. In einem späteren Schreiben erklärte der 
Ehemann, Brief und Antrag bis auf Weiteres zurückziehen 
zu wollen. Der Direktor behandelte die Sache sowohl dem 
Schüler, wie dessen Eltern gegenüber sehr vorsichtig und 
diskret, konnte aber doch den gewaltsamen Ausgang nicht 
verhindern. Es stellte sich heraus, daß die beiden Selbst- 
mörder bereits seit einem halben Jahre ein Liebesverhältnis 



24 



Albert Eulenburg. 



in aller Form unterhalten, auch zusammen eine sechstägige 
Ferienreise nach München unternommen hatten. Am Halse 
der Frau fand man ein Medaillon mit der Photographie ihres 
Liebhabers und den gemeinsamen Haarlocken ; dieses Medaillon 
sollte ihr, einem an ihre Freundin gerichteten Abschiedsbrief 
zufolge, mit ins Grab gegeben werden. Die Schlußscenen dieses 
Liebesdramas — die Tat wurde auf einem Reiseausfluge, nach 
Uebernachten in einem Hotel und gemeinsam in bester Laune 
dort eingenommenem Frühstück auf einer Aussichtshöhe voll- 
bracht — erinnern in manchen Einzelheiten an Gottfried Keller's 
„Romeo und Julia auf dem Dorfe". Nur fehlt jede Naivität 
der Stimmung. Die ältere Frau hatte den jungen Mann offenbar 
mit dem für dieses Alter gefährlichsten Bindemittel, mit un- 
zerreißbaren Banden der Sinnlichkeit an sich zu fesseln gewußt, 
sodaß er nicht von ihr abzulassen im Stande war; die Eltern 
hatten der Entwicklung und allmählichen Zuspitzung des ihnen 
nicht unbekannt gebliebenen .Verhältnisses mit schwer be- 
greiflicher Sorglosigkeit, jedenfalls selbst ohne den Versuch 
eines pflichtbewußten rechtzeitigen Eingreifens rat- und tat- 
los gegenübergestanden. 

So also nimmt sich das berühmte „Frühlingserwachen*', 
wovon wir in Bühnenwerken und Romanen neuerdings so viel 
und meist in recht einseitiger Auffassung zu hören bekommen, 
im Spiegel der Wirklichkeit aus — und so auch findet es nicht 
allzu selten seinen erschütternden Abschluß. Ich muß es mir 
leider versagen, auf dieses einer besonderen Behandlung be- 
dürftige Problem in diesem Zusammenhange hier näher einzu- 
gehen. Ich übergehe auch einen Fall, in dem anscheinend gleich- 
geschlechtliche (homosexuelle) Veranlagung und damit zu- 
sammenhängende abnorme Triebrichtung zu dem Selbst- 
morde — diesmal in der Form von Strychninvergiftung — 
die nächste Veranlassung gaben. — Dagegen möchte ich noch 
kurz Bezug nehmen auf die ziemlich stattliche Zahl der Fälle, 
in denen eine durchweg verkehrte, mit allerlei physischen und 
moralischen Schädigungen verbundene Lebenshaltung, ver- 
frühte Nachäffung studentischen Treibens, ungeeignete und 
unverdaute Lektüre, verfrühter und unbefriedigter Drang zu 
eigener artistischer und literarischer Betätigung, Unglaube und 
Durchdrungensein von der gänzlichen Wertlosigkeit des Daseins 
ihren verhängnisvollen Einfluß auszuüben schienen. Es zieht 



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Schülertelbstmorde. 



25 



sich durch so manches Jugendleben eine hartgeschmiedete Kette 
unbekämpfter oder unausrottbarer, ineinandergreifender Tor- 
heiten und Verfehlungen: Onanie, verfrühter und unmäßiger 
Genuß hauptstädtischer Vergnügungen, ausschweifendes 
Wirtshausleben, Verbindungstreiben, Anknüpfung von Ver- 
hältnissen, Schuldenmachen, Veruntreuungen usw. mit den auf 
die Dauer unvermeidlichen Folgen in Schule und Haus und 
mit dem Revolverschuß als Ende. Namentlich erweist die 
frühzeitige Studenterei bei schwächeren Naturen ihren 
verhängnisvollen Einfluß. Ein Obersekundaner einer rheini- 
schen Großstadt erschien in seiner Schülerverbindung mit 
studentischen Abzeichen und Rapier; in trunkenem Zustande 
heimkehrend griff er Nachts um 3 Uhr einen ruhig seines Weges 
gehenden Mann an und mißhandelte ihn tätlich; von einem 
Schutzmanne gestellt und um seinen Namen befragt, wider- 
setzte er sich und lief mit den Worten "ehe ich meinen Namen 
nenne, springe ich in den Rhein" unter Abwerfung mehrerer 
Kleidungsstücke an den Fluß und stürzte sich hinein. Auch in 
anderen Fällen spielen Alkoholgenuß und Verbindungstreiben, 
die ja untrennnbar zusammenhängen, gemeinschaftlich 
ihre verderbliche Rolle. — Auf der anderen Seite 
finden wir die Erscheinungen einer in diesem Lebens- 
alter nicht seltenen geistigen Ueberreife und Scheinreife, die 
mit Allem fertig zu sein glaubt, keine Autoritäten mehr aner- 
kennt, jmit den Götzen auch die Götter längst von ihrem 
Postamente gestürzt hat und das Leben selbst als wertlos ,tind 
zwecklos, als ein leicht wegzuwerfendes Gut betrachtet. Gerade 
reichbegabte Naturen verfallen und unterliegen oft diesem 
gefährlichen Hange. Man denke an die einer nur wenig höheren 
Altersstufe angehörigen, aus ganz ähnlicher Quelle ent- 
sprungenen Selbstmorde eines Weininger, eines Walter Cale* 
und Anderer, die neuerdings so viel Aufsehen erregten. Von 
mehreren und zwar besonders beanlagten Schülern, wovon 
einige die Theologie zu ihrem Berufsstudium erkoren hatten, 
wird in unserer Kasuistik erzählt, daß sie unter den für sie 
verhängnisvollen Einfluß der Lektüre von Schopenhauer, 
Nietzsche und Ibsen geraten seien und, diesem einmal hinge- 
geben, nicht mehr die geistige und sittliche Energie gefunden 
hätten, um sich von den Ideen der Skepsis und Verneinung, 
auch des eigenen Daseins wertes, frei machen zu können. Lehr- 



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Albert Eulenburg. 



■ 



reich ist der Fall eines jüdischen Oberprimaners in einer Klein- 
Stadt des Ostens, der sich von einem Eisenbahnzug überfahren 
ließ. Der als sehr begabt und befähigt geschilderte junge 
Mensch zeigte im Betragen eine sozusagen passive Renitenz, 
namentlich seinem Religionslehrer gegenüber ; er galt nach 
seinem ganzen Denken als von Grund aus „materialistisch", 
in seiner politischen Gesinnung radikal, bereits sozialdemo- 
kratisch. Er, wie andere seiner reiferen und begabteren Mit^ 
Schüler gerierten sich als erklärte Atheisten und als begeisterte 
Anhänger Haeckels, dessen Schriften sie mit Enthusiamus 
studierten. Der betagte Ortsrabbiner und langjährige Religions- 
lehrer der Anstalt äußerte dem Direktor gegenüber nach dem 
Selbstmord, „er müsse sich schämen, zu gestehen, daß er auf 
die dortige jüdische Jugend gar keinen Einfluß habe. Zum 
Gottesdienst komme sie widerwillig, höchstens an den Haupt- 
festen. Bestelle er einen von ihnen, beim Gottesdienst eine 
Rolle aus der Thora zu lesen, oder einen Segensspruch zu 
sprechen (was als hohe Ehre gilt), so schicke man ihm eine 
freche Antwort und komme nicht". — Ich möchte übrigens 
bei dieser Gelegenheit die Bemerkung einschalten, daß die 
prozentuale Beteiligung der Juden bei den Schülerselbstmorden 
keineswegs überraschend groß ist; so finden sich z. B. unter 
39 Selbstmördern aus höheren Lehranstalten in *ien Jahrgängen 
1902 und 1903 nur 4 Juden. Dem konfessionellen Moment kann 
Überhaupt, soweit ersichtlich, eine besondere Bedeutung nicht 
zugesprochen werden. 

Einen recht typischen Fall der zuletzt besprochenen Kate- 
gorie möchte ich noch kurz anführen. Er betrifft einen als sehr 
tüchtig und begabt geschilderten Unterprimaner, der sich aus 
dem Dachfenster auf den Hof hinabstürzte. Ueber die Motive 
seiner Tat gaben die Angehörigen übereinstimmend Folgendes 
an: „Sie hätten nichts mit ihm anfangen können, er 
habe sich ihnen nicht fügen wollen, habe selbständig gelebt, 
habe an Größenwahn gelitten, habe immer nur alles Mögliche 
gelesen und studiert, Zeitschriften, Bücher — u. A. auch Zola — 
Zeitungen ohne Wahl, habe sich u. A. in den letzten Tagen 
in leidenschaftlicher Weise um den Streit Wagner- Schmoller 
gegen Stumm bekümmert, habe für Zeitungen geschrieben und 
besonders sich immer mit dem Wahn getragen, bald ein großes 
Aufsehen erregendes Werk zu verfassen". Eltern und Ge- 



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Sch Hier selbst morde . 



27 



schwister scheinen den frühreifen Knaben mehr bewundert, als 
geleitet und in seinen Neigungen beschränkt zu haben. Der 
Bericht des Direktors schließt mit der Bemerkung : „X. war so 
recht ein Kind unserer Zeit, in der es jedermann so überaus 
leicht gemacht wird, jeglichem Bildungsstoff nach seinem 
Belieben nachzujagen und denselben vielleicht äußerlich sich 
anzuhängen". Indessen diese Betrachtung allein, so zutreffend 
sie sein mag, würde uns doch noch keinen Schlüssel zur Ver- 
ständlichmachung des Selbstmordes in diesem, wie in ähn- 
lichen Fällen liefern. Hier kommt vielmehr, wie ich glaube, 
noch ein Anderes hinzu — daß nämlich diese, wie wir zu 
sagen pflegen, frühreife Jugend in Wahrheit schon recht alt 
ist, sich selbst wenigstens recht alt, übersättigt und dabei zu 
ihrer Verzweiflung völlig ohnmächtig fühlt, aus dem in über- 
wältigender Fülle herandrängenden und aufgenommenen Stoffe 
des Lebens etwas Persönliches und Wirksames aus eigener 
Kraft zu gestalten. Diese Bedauernswerten kranken an ihrer 
Ueberbildung und der daraus hervorgehenden Schwäche zum 
Leben. Und dieses sich immer wieder aufdrängende Gefühl 
allzufrühen Fertiggewordenseins und tief innerster Ohnmacht 
dem Leben gegenüber ist es, dem diese Selbstmorde gerade 
talent begabter und scheinbar zu allen Hoffnungen be- 
rechtigender Jünglinge in unserer Zeit hochgespannter 
Intelligenz und schwacher Willenskraft als unentrinnbares End 
ergebnis entspringen. 



Es bleibt nun nach den bisher geschilderten Haupttypen 
noch eine immerhin beträchtliche Zahl von Einzelfällen übrig 
— im Ganzen 67 unter 284, also fast 24 (23,9) °/o — in denen 
sich so auffällige Beziehungen und intime seelische Ver- 
knüpfungen der Tat selbst mit der individuellen Eigenart und 
Entwicklung des Täters nicht aufweisen lassen. Fälle, in denen 
uns zum Teil nur Vermutungen bleiben, die auf den Ein- 
fluß äußerer, zufälliger und gelegentlicher Anlässe der ver- 
schiedensten Art, unbefriedigender häuslicher Verhältnisse 
u. dgl. hinauslaufen — oder in denen die Tat für uns 
völlig unerklärt und in ihrer anscheinenden Motivlosigkeit 
rätselhaft dasteht. In einem Falle schien religiöse Ueber- 



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Albert EuUnburg. 



Spannung mitzuwirken, insofern die Familie des Schülers in 
enger Beziehung zu einer Sekte der „Engelsbrüder" stand und 
von deren Anschauungen von der Wertlosigkeit des irdischen 
Daseins durchdrungen sein sollte. In einem anderen Falle 
wurde ein geheim gebliebener Ehrenhandel vermutet, in einem 
dritten hinterließ der Selbstmörder einen Zettel, worin in ge- 
heimnisvollen Andeutungen von einem vor Jahresfrist be- 
gangenen Vergehen die Rede war, dessen Entdeckung ihm 
„allgemeine Verachtung" zuziehen würde. In einem vierten 
Falle war ein nicht aufgeklärter Diebstahls verdacht die un- 
mittelbare Ursache; der Knabe, ein I5jähriger Unter- 
sekundaner, erschoß sich in Gegenwart des mit der Rekognos- 
zierung beauftragten Schutzmannes. In noch anderen Fällen 
wurden Furcht vor häuslicher Bestrafung wegen Schulsünden, 
Abneigung gegen den bevorstehenden (kaufmännischen) Beruf, 
unglückliche Liebe als Beweggründe angegeben. Wären wir 
über die innere seelische Struktur der Selbstmörder hier überall 
genau genug unterrichtet, so würden wir diese Einzelfälle 
wahrscheinlich auch in den früher gekennzeichneten Haupt- 
gruppen größtenteils unterbringen können. In einer leider nicht 
geringen Anzahl von Fällen scheinen ärmliche und unbe- 
friedigende häusliche Verhältnisse, unerfreuliche Beziehungen zu 
Eltern und Stiefeltern und lieblose Behandlung von seiten der 
nächsten Angehörigen den Ausschlag gegeben zu haben. Cha- 
rakteristisch in dieser Hinsicht ist die Aeußerung eines Vaters, 
der auf die Nachricht vom Selbstmord seines Sohnes, eines 
Tertianers, — der Unglückliche hatte sich von einem Eisen- 
bahnzug überfahren lassen — dem Direktor gegenüber kurzweg 
meinte : „Ach, schade ist es um den Jungen nicht, es ist gut, 
daß er fort ist. Gott sei Dank, für das J^eben war er doch 
nichts nütze". In einem Falle litten die Kinder schwer unter der, 
durch eheliche Untreue erzwungenen Scheidungsklage des 
Vaters gegen die Mutter; die beiden Söhne dieses Paares 
planten, „um sich von aller Schmach zu befreien", gemein- 
samen Selbstmord, den aber nur der eine von ihnen auszuführen 
den Mut hatte. — In einem, nicht zu diesem Aktenmaterial 
gehörigen, mir von außerhalb mitgeteilten Falle, der den 
iojährigen Schüler einer Volksschule betraf, nahm dieser sich 
(durch Ertränken) das Leben, unter Zurücklassung eines Ab- 
schiedsbriefes an die Mutter, worin er als Grund angab, daß 



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Sch ülcr sdhsttfiorilc 



29 



er die „Geschichte mit dem Vater", der täglich betrunken 
heimkehrte, nicht mehr mit ansehen könne. Man wird bei 
solchen Vorkommnissen an die trüben Worte in Anzengruber's 
„viertem Gebot" erinnert: „Vater und Mutter ehren? Ja — 
aber Vater und Mutter müssen auch danach sein". Es .er- 
öffnen sich hier oft genug Ausblicke in wahrhaft trostlose 
Abgründe des Familienlebens. Ich will und kann die Einzelfälle 
trotz des hohen Interesses, das sie der sociologischen und 
individualpsychologischen Betrachtung unstreitig bieten, an 
dieser Stelle nicht weiter verfolgen. — Suchen wir das vorläufige 
Endergebnis uzsammenzufassen und den Verhältnisanteil, den 
Haus und Schule am Zustandekommen der Schülerselbst- 
morde haben, mit möglichster Unbefangenheit abzuschätzen, 
so muß sich die Wagschale unzweifelhaft tief zu Un- 
gunsten des Hauses herabsenken. Gewiß ist auch die 
Schule nicht von Mitschuld freizusprechen — und ich 
habe schon im Vorhergehenden einzelne Fälle namhaft 
gemacht, ,jn denen eine unmittelbare Verschuldung 
wohl kaum bestritten werden kann, wenn auch das 
Anstoßgebende dabei mehr auf Seiten einzelner ungeeigneter 
Lehrerpersönlichkeiten, als in der Natur der Schuleinrichtungen 
und des Schulbetriebes im Allgemeinen gesucht werden mußte. 
Freilich über eines wird die Klage so leicht nicht verstummen, 
die anscheinend nicht ohne eine gewisse Berechtigung der 
jetzigen Schule gegenüber immer und immer wieder erhoben 
wird, nämlich über ihre viel zu geringwertige Berücksichtigung 
der Schülerindividualitäten und ihre diesen Individualitäten 
gegenüber vielfach so ganz versagende erzieherische Leistung. 
Allein wir müssen uns doch fragen, ob dabei nicht von der 
heutigen Schule etwas verlangt wird, was sie nach ihrer ganzen 
geschichtlich gewordenen und durch staatliche Notwendigkeit 
bedingten Beschaffenheit gar nicht zu geben vermag und in 
dem beanspruchten Sinne und Umfange auch keineswegs zu 
geben beansprucht. In der Tat kann es ja Aufgabe und Pflicht 
der heutigen Schule oder, wie sie selbst sich mit Vorliebe 
zu nennen pflegt, „Lehranstalt" schwerlich sein, dem Hause 
die eigentliche erzieherische Leistung abzunehmen und 
sie an ihren Zöglingen nach allen Richtungen hin zu ver- 
wirklichen. Die Schule wird natürlich schon, durch ihren 
Betrieb und innerhalb dieses Betriebes eine gewisse er- 



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Albert Eulenburg. 



zieherische Wirkung zu üben vermögen, die aber doch vor- 
zugsweise in der Leitung und Eingewöhnung, in der bestenfalls 
erweckten Anteilnahme und freudigen Hingebung an die 
Zwecke dieses Betriebes gipfelt, oder darüber wenigstens nicht 
erheblich hinausgeht. Das liegt im Begriffe und Wesen der 
eben in diesem Sinne als erzieherisch betrachteten Schul- 
d i s z i p 1 i n , die eine methodische Gewöhnung an Arbeit und 
Pflichterfüllung, an Unterordnung unter Gesetz und Autorität 
und ein gewisses kameradschaftliches Verhalten zu Genossen 
und Mitschülern als fast selbstverständliche Forderungen um- 
schließt. Aber darüber hinaus kann sie im Allgemeinen nicht 
gehen. Was die notwendige Voraussetzung und den wesent- 
lichen Faktor jeder Erziehung bildet, liebevolle Ver- 
senkung in die individuelle Eigenart des Zög- 
lings, und worauf jede wahre Erziehung vor Allem hinsteuern 
muß, Charakter- und Willensfestigung und Ge- 
mütsvertiefung — das ist von der heutigen Schule allein 
nicht, oder doch in ausreichendem Maße nicht zu erwarten. 
Und daran wird auch keine noch so schöne Reform der Lehr- 
pläne und des Unterrichtsbetriebes, so sehr sie zu wünschen 
und so freudig sie im einzelnen zu begrüßen sein mag, etwas 
Wesentliches ändern. Gerade da also, wo das Recht der indi- 
viduellen Unterschiede sich am fühlbarsten macht, beginnt die 
erzieherische Pflicht und die größere und weitere Aufgabe 
des Hauses. Und daß das Haus sich dieser ihm obliegenden 
erzieherischen Aufgabe in zahlreichen, viel zu zahlreichen 
Fällen nicht genügend bewußt und oft nicht im mindesten ge- 
wachsen zeigt — das ist wohl das betrübendste der Ergebnisse, 
zu denen wir auf Grund dieser unerbittlichen Selbstmord- 
kasuistik wider Willen gelangen. Noch immer sind — um 
einen Ausdruck derEbner-Eschenbach anzuwenden — die 
Kinder für ihre Eltern die großen Unbekannten. So vielen 
Vätern, so vielen Müttern möchte man immer und immer wieder 
zurufen: „Lernt eure Kinder doch kennen I studiert sie auf's 
Gründlichste! Vor Allem versetzt euch in sie hinein! Gewinnt 
Einblick in ihre Leiden und Freuden, ihre Empfindungen und 
Stimmungen, in die ganze Anschauungswelt, die Interessen und 
Strebungen dieser heranwachsenden Generation, die von 
denen des reiferen Alters durch eine so weltweite Kluft ge- 
trennt sind, über die nur das liebende Verständnis oder die 



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SchiilerseWtimordr 



31 



verstehende Liebe eine tragfähige Brücke zu schlagen ver- 
mögen ! Scheut namentlich auch vor den Untiefen, den ge- 
fährlichen Auswüchsen und krankhaften Ausartungen des 
kindlich-jugendlichen Seelenlebens nicht zurück; versucht im 
Gegenteil hier erst recht in schonendster Weise die vorsichtig 
bessernde, die mildernde und heilende Hand anzulegen, statt, 
wie leider so oft, mit planlos rohem und täppischem Ein- 
greifen blind zerstörend zu wirken ! — Dann werden wenigstens 
so grelle Begehungs- und Unterlassungssünden künftig ver- 
mieden und wird den düsteren Endkatastrophen trüber Jugend- 
schicksale, mit denen wir uns hier zu beschäftigen hatten, wirk- 
samer vorgebeugt werden. Dann, aber auch nur dann, werden 
die „Schülerselbstmorde" endlich aufhören, einen mahnenden 
Selbstvorwurf für alle näher und ferner Beteiligten und eine 
schmähliche Tributzahlung jugendlicher Menschenleben als 
Opfer unserer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung 
bedeuten zu müssen. 



Eine Untersuchung der höheren Geistesfähigkeiten 

bei Schulkindern. 

Von 

N icolai Wolodke witsch, Kiew. 
(Uebertragcn aus dem Russischen ins Deutsche von Fr. Aldinger.) 

(Schluß.) 

V. 

Alle bisherigen Schlüsse sind auf Grund der Voraus- 
setzung gezogen, daß die Kraft der Bindungen den Wieder- 
holungsfällen dieser Bindungen proportional sei. Dieses Prin- 
zip ist so angewandt worden, daß wir (die durchschnittlichen 
Wiederholungsfälle der Verbindungen irgend einer Fähig- 
keit mit anderen Fähigkeiten bestimmten und diejenigen Ver- 
bindungen, deren Wiederholungsfälle diese durchschnittlichen 
Wiederholungsfälle übersteigt, im Vergleich mit den seltener 
auftretenden, als die normaleren angenommen haben. 

Es wurden also hier nur zwei Größen in Betracht ge- 
zogen: die Zahl derjenigen Schülerinnen, die eine gewisse 
„Paarung" von Fähigkeiten aufwiesen und die („Steigerung ") 
Entwicklung der Fähigkeit über oder unter Durchschnitts- 
größe für alle 60 Schülerinnen. Man kann aber die Untersuchung 
über die Verbindbarkeit der verschiedenen Fähigkeiten auch 
so anstellen, daß man von einer ganz entgegengesetzten Vor- 
aussetzung ausgeht: wenn zwischen den verschiedenen Fähig- 
keiten gewisse Wechselbeziehungen bestehen, so muß die über- 
wiegende Entwicklung einer derselben die einen verstärken 
und die anderen abschwächen. Wenn wir nun untersuchen, 



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Eine Untersuchung der höheren Geistes fUJugkeiten usw. 



33 



welche Fähigkeiten in ein und derselben und welche in der 
entgegengesetzten Richtung sich verändern, so dürfen wir in 
bezug auf ihre Verwandtschaft oder auf ihren Gegensatz resp. 
Abstoßung einen Schluß ziehen. Als Gruppierungsprinzip er- 
scheint hier also nicht die Gleichheit der Verbindungen der 
Fähigkeiten, sondern die Gleichheit ihrer Entwicklung. Es 
ist klar, daß beide Untersuchungsmethoden sehr verschiedene 
Wege darbieten, und wenn sie zu identischen oder auch nur 
annähernd gleichen Resultaten führen, so gewinnt ihre Rich- 
tigkeit an Kraft. 

Diese zweite Untersuchungsart, welche die Methode der 
begleitenden Veränderung heißt, im gegebenen Fall aber 
Methode der Prozentzahlen genannt werden könnte, wurde 
von mir auf folgende Weise angewandt. Alle Schülerinnen 
wurden nach dem ^Maximum und Minimum irgend einer 
Fähigkeit in zwei Gruppen eingeteilt; in jeder von diesen 
Gruppen wurden die durchschnittlichen Prozentzahlen für jede 
Fähigkeit festgesetzt und die Abweichung von der mittleren 
Prozentzahl jeder Fähigkeit für alle 60 Schülerinnen be- 
rechnet (s. letzte horizontale Spalte, Tabelle I). Nach den 
Veränderungen der anderen Fähigkeiten, welche die Verän- 
derung einer Fähigkeit vom Maximum bis zum Minimum be- 
gleiten, wird man nun erkennen, ob diese letztere und jede 
andere Fähigkeit sich miteinander verbinden oder ob sie 
einander entgegengesetzt sind. Diese Untersuchungsart bietet 
den Vorteil, daß die Resultate der Analyse mittelst einer Kurve 
deutlich dargestellt werden können. In der folgenden Tabelle 
sind die Schülerinnen nach dem Maximum und Minimum jeder 
Fähigkeit in Gruppen eingeteilt. Tabelle IX bringt die Eintei- 
lung der Schülerinnen nach den Gegenständen. Wie oben, 
bleibt auch hier aus dem oben angegebenen Grunde das 
ästhetische Gefühl unberücksichtigt. Die Abweichungen der 
einzelnen Fähigkeiten von den Durchschnittszahlen der Ta- 
belle I zeigen, daß mit dem Steigen der Prozentzahl für 
„Gegenstände" die Prozentzahlen für „wo" merklich, für 
„Kenntnisse" etwas geringer steigen, die übrigen Fähigkeiten 
dagegen sinken. 

Kurve I stellt diese Verhältnisse anschaulich dar; die 
Größen der Abweichungen sind auf den Ordinaten eingetragen 
— die positiven nach oben, die negativen nach unten von der 

Zeitschrift fUr p&dagogisohe Psychologie, Pathologie u. Hyplene. 3 



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34 



Nicolai Wolodkewitsch. 




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36 



Nicolai WolodkcwitHch. 



mittleren Linie; die Abszissenachse bringt die Deckungsfälle 
mit der Durchschnittsgröße, d. h. das Nichtvorhandensein 
einer Abweichung; natürlich kann eine solche Kurve keine 
analytische sein; sie dient nur zur deutlicheren Darstellung 
der betreffenden Verhältnisse. 



Tabelle IX. 



Gegenstände + (26 Schülerinnen). 



Ii 



05. 



o 

Summe .... 1188,77 61234 67637 

Arithmet Mittel . 453 19,71 22,17 

Abweichung . . + 63 — 3,96 -f 1,68 

Gegenstände — (34 Schalerinnen). 

Summe .... 1146,77 907,48 655.56 

Arithmet. Mittel . 83,73 26,19 19,28 

Abweichung . . - 6,11 + 2.52 - 1,26 



I 

13137 
6,04 

— 0,22 



5,42 
+ 0,16 



"§6 
«2 



00 

59,16 
2.27 
— 0,69 



11837 
3,48 
+ 03 





• 

'S • 






w - 


o 

E 
W 


O cd 

a it 


q • 


<o 


■ = 

o* 


00,31 


52,96 


1234 


U>.*> 


9j62 


23 


2.04 


0,48 


0,42 


3S45 


2,18 


+ 0,07 


— 13 


+ 0,10 


- w* 



210,07 
6,18 
-f 1.68 



653 
1.92 
- 006 



92,79 
2,73 
+ 0,97 



17,41 
0,39 

- <m 



Bestimmungen + (27 Schalerinnen). 

. . . 965.97 838,92 61137 
littel . 36,40 30.70 18.94 
Abweichung . . — 8,44 + 73 — 1,60 
Bestimmungen — (33 Schülerinnen). 

Summe .... 1374,67 681,00 720,77 
Arithmet Mittel . 41,65 17,60 21,84 
Abweichung . . + 2JBI — 6,07 + 13 



Tabelle X. 



114,72 
43 
— 1,01 

200,60 
6,08 
+ 082 



67,61 
2,60 
- 0,46 

109,92 

3,33 
+ 0,37 



11833 
438 
- 0,12 



152,06 
4,61 
+ 0,11 



35^8 


44,69 


11,41 


131 


1.65 


0.42 


- 0,66 


- 0,11 


— 035 


82.77 


60,64 


1635 


231 


13* 


031 


+ 034 


+ 0,12 


+ 034 



Wo -f (32 Schülerinnen). 

Summe .... 127337 700,60 
Arithmet Mittel . 3930 2139 
Abweichung . . -f 0,96 — 1,68 

Wo — (28 Schülerinnen). 

Summe .... 1056,67 71932 
Arithmet Mittel . 37,74 26,69 
Abweichung . . — 1,10 + 232 



Wo + (20 Schülerinnen). 

Summe .... 74434 396,05 
Arithmet Mittel . 3734 1930 
Abweichung . . — 1,70 — 337 

Wo — (40 Schülerinnen). 

Summe .... 1585.70 102337 
Arithmet Mittel . 3934 2539 
Abweichung . . + 030 + 132 



Tabelle XI. 



81738 
2636 
-1- 631 


1423 
4.44 

- 032 - 


77,14 
2,42 
034 


100,63 
3,14 

- 13 


51,67 
1,61 

— 03 


24,63 
0,77 
- 0,99 


9,bo 

03 
- 0,17 


414,46 

1430 
- 5,74 


17339 
6,18 

+ 032 j- 

Tabelle 


99.89 
337 
0,61 

XII. 


169,76 
636 
+ 13 


66,68 

23 
+ 0,41 


80,70 
23 
+ 1.12 


1831 
0,66 
+ 0,19 


35339 
17,67 

- 237 


1923 
9.66 

+ 43 + 


7637 
3,76 
03 


123,72 
6.19 
+ 13 


48,60 
2.48 
+ 0.46 


56,11 
23 
+ 13* 


83 
032 
- 0,05 



Schlußfolgerungen 

Summe .... 880,20 
Arithmet Mittel . 38.27 
Abweichung . . — 0.67 



877,76 1223 1023 

21,94 3,06 23 

4- 1,40 - 23 - 0,41 

Tabelle XIII. 

4- (23 Schülerinnen). 

48637 403,17 133,93 12932 

21,16 173 53 6,63 

- 2,51 -3,01+03 -f 237 



69,66 493 193 
33 1J4 13 0,49 
-034-03-03+0,02 



Schlußfolgerungen — (37 Schülerinnen). 

Summe .... 146034 9333 828,97 1813 48,01 
Arithmet Mittel . 39,19 253 22,40 4,90 13 

Abweichung . . + 03 + 13 + 136 - 03 - 13 



1313 65.19 
6,72 2.83 
- 13 + 1,06 



238,76 633 
3.75 1,43 
- 0,75 - O34 



Emotion — (24 Schülerinnen). 

Summe .... 855,25 640.19 418,16 1333 

Arithmet Mittel . 35,63 2231 17,42 63 

Abweichung . . — 3,21 — 1,16 - 3,12 + 03 



Tabelle XIV. 



833 
3,47 
+ 031 



228,06 
9,50 
+ 53 



47.46 

1,98 
+ 0,01 



693 937 
23 0,40 
- 0,83 — 037 



45.67 183 
13 0.51 
- 0,63 + 034 



763 17,41 
3 17 0,72 
+ 1,41 + 03 



1U* 
41,9 

- 2.67 



13J1 
42^ 

4- 3,1! 



691 
UM' 
4> 



823 
35,78 
■ X8> 



343 
- 4.78 



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£iw Uermtku« der höheren GeutalähigkeiUn w». 37 



Ii *i 



5 f 

I 



O 



I 



3 *» 



Knjotioa — (36 Schülerinnen). 

Sunae ... 14764» 879,73 813,98 1833« 944» 

Arilhmet Mittel . 4038 34,48 2231 6,06 2,62 

Abweichung . + 2,14 + 0,76 — 2,07 — 0,20 — 034 

Tabelle XV. 

Kenntnisse + (28 Schülerinnen). 

Summe .... 1087.00 560.21 54831 15239 102,68 

AnthmeL Mittel . 3832 21/» 19,41 5,46 3.G7 

. _ 0,02 - 239 - 1,13 + 03) + 0,71 

Kenntnisse — (82 Schülerinnen). 

124334 879/» 688,53 162,58 7436 

3836 26,92 21,62 5,08 234 

, - 0j02 + 236 + 04« - 0,18 - 0,62 

Tabelle XVI. 

PT.Auusie -i~ (16 Schülerinnen). 

54637 377,09 279,83 7033 61,41 

34.18 23,57 17,49 439 3.84 

- 4.66 - 0.10 - 8,06 - 0.87 + 038 



4232 7030 
1,17 137 

333+0 



111,46 109,27 
3,98 330 
- 0,52 -t- 1,93 



. « 
< - 



2933 10^5 
0J81 03) 
- 0,95 - 0.17 



lr 



8736 
3,14 
+ 138 



158,92 
4,98 
+ 0.48 - 



8,98 17.47 
038 0^5 
1,69 - 1,21 



1437 1002 
031 35.78 
+ 0,04 -336 



i :»,*•» 

0,43 
- 034 



i'hentasie - (U .Schülerinnen). 

Saiame .... 17*337 1042,98 96232 244,91» 116,12 
Arilhmet. Mittel . 4033 23,70 213« 537 2,64 
. . +■ 1,69 -j- 0/JB -f- 1,10 + 031 - 033 

Tabelle XVII. 
GcüxniLanjreben (30 Schülerinnen). 



9447 55,48 
53»* 3,47 
+ 138 + 130 



17631 «2,77 
4,00 1,42 
- 030 - 035 



UC.11 12,15 606 
638 0.76 3737 
4,62 + 0.29 - 1,16 



3,22 16,11 
037 03« 
- 1,69 - 0,11 



>ttainie .... 
Anthroetr. Mittel 
Abweichunjr . . 



112634 —82433 —687,79 



37.^1 
— 1453 



2749 - 
332 



• iesamUnfir»ben — (30 Schülerinnen). 

I2OÖ30 -59639 -54435 



r. Mitlel 

Avr«eh:in$r . . 



— 180,96 


— 84.6:$ 


— 7239 




41,70 


- 19,91 


— 1036 


- 436 


- 2.82 


2,42 




139 


— 036 


- 036 


- 0,90 


— 0,14 


- 2,08 




038 


— 1,10 


- 0,11 


-18436 


93,00 


-197,78 




1636 


— 85,42 


- 17.41 


— 6,15 


- 3,10 


- 639 




23Ö 


- 236 


— 03S 


+ 039 


+ 0,14 


+ 239 


+ 


038 


+ 1.09 


- 0,11 



Tabelle XVIII. 



--üitände . . 


^17,7 




16,7 


+ 


73 






43 






233 




- 48,4 


Bntinunnnjren 


- 83 


+ 


29,7 




73 






193 






153 




- 2,6 


* f > 


+ 23 




7,1 


+ 


24,4 






163 






183 




- 303 


Wu 


-4,1 




16.3 




133 


+ 


834 






27,0 




r 37.5 


Sohioftlol^erung . 


- 13 




103 




14,6 


- 




10,6 






903 




- 27,1 


Horton . . . . 


- 83 




43 




15.1 






»3 




- 


173 




-111.1 


Kf-ataisse . , . 


+ 0 




10,9 




53 






33 






24,0 




- 113 


PbtaUffie . . . 


~ 123 




0,4 




143 






163 


+ 


29,7 


+ 303 


fJ^ttmtangsben . 


- V 


+ 


16,1 


- 


113 




17.1 




4,7 


- 463 



+ 83 


- 72.7 


+ 213 


— 333 


— f.,2 


— 10.46 


- 183 


- 50 2 


- 383 


+ 233 
+ 68.7 


+ w,i 


- 10,0 


+ 47.0 


— 14,9 


+ 03 


+ 80,1 


+ 68,2 


r 98.0 
+ 76,1 


4- 783 


+ 83 


+2623 


— 61,7 


-29,3 


- 623 


-23,4 



—153 
+ 73 
+ 8,1 
-U.4 

- 83 
-123 

- 83 
-2,9 



Tabelle X und Kurve II stellen die Einteilung der Schü- 
lerinnen nach den Maxima der Bestimmung dar. Mit der 
Steigerung der Prozentzahl für Bestimmungen sinken die Pro- 
zentzahlen für alle übrigen Fähigkeiten, am meisten für die 
Kategorie „Gegenstände", dann für „wo" und schließlich 
für „Kenntnisse". „Emotion" und „Phantasie" sinken sehr 
wenig. „Gesamtangaben" steigen bedeutend. Im ganzen 
stimmen diese Resultate mit den aus der Tabelle VI gefolgerten 
Ergebnissen überein. 

Tabelle XI und Kurve III stellen die Einteilung der Schü- 
lerinnen nach den Maxima und Minima ,,wo" dar. Mit der 



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38 



Nicolai Wolodkewitsch. 



Steigerung der Prozentzahl für „wo" steigen „Gegenstände" 
und „Gesamtangaben", alle übrigen Fähigkeiten sinken. 

Tabelle XII und Kurve IV stellen die Einteilung der 
Schülerinnen nach den Maxima und Minima für die Kategorie 
„was" dar. Mit der Steigerung dieser Fähigkeit sinken „Be- 
stimmungen", „wo", „Gegenstände" und „Gesamtangaben", 
alle übrigen Fähigkeiten — „Emotion", „Phantasie", „Schluß- 
folgerung", „Kenntnisse" — steigen. 

Tabelle XIII und Kurve V stellen die Einteilung der 
Schülerinnen nach der Kategorie „Schlußfolgerung" dar. Mit 
der Steigerung dieser Fähigkeit steigen: „Emotion", „Kennt- 
nisse", „Phantasie" und „was"; dagegen sinken: „Gegen- 
stände", „wo", „Bestimmungen" und „Gesamtangaben". 

Tabelle XIV und Kurve VI stellen die Einteilung der 
Schülerinnen nach dem Minimum und Maximum der Kate- 
gorie „Emotion" dar. Mit der Steigerung der „Emotion"" 
steigen „Phantasie", „Schlußfolgerung" und „was"; fast un- 
verändert bleiben „Kenntnisse"; „Gegenstände", „wo", „Be- 
stimmungen" und „Gesamtangaben" sinken. 

Tabelle XV und Kurve VII bringen die Einteilung der 
Schülerinnen nach den Maxi .na und Minima der Kategorie 
„Kenntnisse". Mit der Steigerung der „Kenntnisse" steigen 
folgende Fähigkeiten: „Phantasie", „Schlußfolgerung" und 
„was"; fast unverändert bleiben „Gegenstände"; „Bestim- 
mungen", „wo", „Gesamtangaben" und „Emotion" sinken. 

Tabelle XVI und Kurve VIII bringen die Einteilung der 
Schülerinnen nach den Maxima und Minima der Kategorie 
„Phantasie". Mit der Steigerung der „Phantasie" steigen: 
„Kenntnisse", „Emotion", „Schlußfolgerung"; „Gegenstände", 
„wo", „Gesamtangaben", „was" und „Bestimmungen" sinken. 

Tabelle XVII endlich bringt die Einteilung der Schü- 
lerinnen nach dem Maximum und Minimum der Kategorie 
„Gesamtangaben". Mit der Steigerung der Gesamtangaben, 
d. h. der Gesamtsumme des von der betreffenden Schülerin 
gelieferten Materials, steigen „Bestimmungen" und „wo"; 
alle übrigen Fähigkeiten sinken. 

Die Abweichungen der Prozentzahlen der verschiedenen 
Fähigkeiten sind in der Art, wie wir sie in den vorstehenden 
Tabellen bringen, untereinander nicht vergleichbar; es kann 
in der Tat eine und dieselbe absolute Größe einer Abweichung 



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Eine Untersuchung der höheren Geistetfähigkeiten tutic. 



39 



nicht die gleiche Bedeutung haben für die Fähigkeiten, welche 
im Bewußtsein der Schülerin einen vorherrschenden Bewußt- 
seinsinhalt bilden, wie z. B. die Fähigkeit, Gegenstände zu 
sehen, und für weniger entwickelte Fähigkeiten, wie z. B. 
Phantasie. Um diese Abweichungen untereinander vergleich- 
bar zu machen, drückte ich die absolute Größe der Abweichung 
in Prozenten der ursprunglichen Durchschnittsgröße aus, 
welche die Entwicklung einer gewissen Fähigkeit darstellt; 
z. B. die Abweichung — 4,66 für Gegenstände, welche die 
Entwicklung der Phantasie von Ueberdurchschnitts- 
große um -f 4,62 begleitet, ist im Prozentsatz der ursprüng- 
lichen Durchschnittsgröße, welche die Fähigkeit, Gegenstände 

zu sehen, ausdrückt gleich 38,84 (s. Tab. XVI), -^gp = 12 %. 

Die Abweichung von der mittleren Größe um -f- 4,62, was 
eine fast ebensolche absolute Größe darstellt, beträgt für 
Phantasie, in Prozenten vom Mittel ausgedrückt, gleich 
46 200 

— = 262,5 %• Die Entwicklung der Phantasie von über- 
normal um 262,5 % hat also ein Sinken der Fähigkeit, Gegen- 
stände zu sehen, um 12 0/0 gegen normal zur Folge. Alle diese 
Berechnungen sind in der Tabelle XVIII enthalten. 

Auf Grund dieser Tabelle kann man die einander be- 
gleitenden Fähigkeiten in der abnehmenden Ordnung ihrer 
Verbindungsfähigkeit eintragen. In der unterstehenden Ta- 
belle sind die auf Grund der in den Tabellen VI und XVIII 
enthaltenen Resultate einander gegenübergestellt. 

Tabelle der xnsammenfallenden Fähigkeiten (XIX). 



>»< ten»l*odo 

Bf 

W© . 
Tu 



Auf Grund der Tabelle VI. 

Wo.Gesamtangaben'.Kennt- 

nlM«. 

Gesarotangaben, (Wo"), 
(Emotion*}. 

Gesamtangab., Gegenstände, 
Konnnisse*. 

Emot, Kenntnisse, Schluß- 
folgerungen. 

Kenntnisse, Emotion, Wn. 



Was, Schlussfolg ; , Kc ^» tn t - 
Schlußfolgerungen, Wo», 



IL 

Auf Grund derTabelle XV III. 

Wo, Kenntnisse. 

Uesa tntangaben. 

Geeamtangab.,Gegenstando. 

Phantasie*, Emot», Schluß- 
folgerungen. Kenntnisse. 
Kenntnisse, Phantasie*, 

Emotion, Was. 
Phantasie, Hchluflfolge- 
Was, (Kenutn.). 



Was* 



Stimmungen *. 

Wo, 



lol 



Bestimmungen, Wo. 



III. 

DurohschnitUresultat aus 
beiden Tabellen. 

Wo, Kenntnisse. (Gesamt- 
angaben). 
Gesarotangaben, (Emotion). 

Gesamtangab .Gegenstände. 

Phantasie, Eraot., Schloß- 
folgerungen, Kenntnisse. 

Kenntnisse, Phantasie, 
Emotion, Was. 

Phantasie, Schlußfolge- 
rungen, Was .(Kenntnisse), 
(Bestimmungen). 

Phantasie, Schlußfolge- 
rungen, Wa», (Wo). 

Kenntnisse, Emotion, 
Schlußfolgerungen, (Be- 
stimmungen). 

Bestimmungen, Wo, (Gegen- 
stände). 



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40 



Nicolai Wolodkewitsch. 



Die Fähigkeiten sind in abnehmender Reihenfolge ihrer 
Verbindungsfähigkeit geordnet; am häufigsten verbinden sich 
z. B. Gegenstände mit „wo", am seltensten mit „Kenntnisse". 

Im ganzen zeigen die in beiden Tabellen enthaltenen Re- 
sultate große Aehnlichkeit. Beide LFntersuchungsmethoden 
haben 44 zusammenfallende Fälle zutage gefördert und 
nur 11, welche von der einen Methode gefunden, von 
der anderen nicht entdeckt worden sind; diese nicht über- 
einstimmenden Fälle sind mit einem Sternchen versehen. 
Einige von diesen Abweichungen lassen sich jedoch erklären. 
Der Umstand z. B., daß die Gruppenmethode (Tabelle VI) 
zwei zusammenfallende Fälle: „Was" und „Schlußfolgerung** 
mit „Phantasie" nicht entdeckt, erklärt sich daraus, daß es 
nach dieser Methode schwer ist, das Korrespondieren der- 
jenigen Fähigkeiten aufzufinden, welche überhaupt weniger 
entwickelt sind; „Phantasie" kommt im Maximum nur 16 mal 
vor, „Kenntnisse" und „was" 20 mal, „Schlußfolgerung" 23 
mal, weshalb das Korrespondieren dieser Fähigkeiten bei der 
ersten Untersuchungsmethode unbemerkt geblieben ist. Aus 
demselben Grunde steht „Phantasie" in zwei Korrespondenz- 
fällen mit „Emotion" und „Kenntnisse" hinter allen übrigen 
Fähigkeiten zurück, während sie nach der Prozentzahlen- 
methode den ersten Platz einnimmt. Umgekehrt neigt die 
Gruppenmethode bei den häufiger vorkommenden Fähig- 
keiten zur Erweiterung ihrer Zusammenfallung; so zeigt z. B. 
diese Methode einen Deckungsfall zwischen „Bestimmungen" 
und „Emotion" und einen zwischen „Emotion" und 
„Phantasie" mit „Bestimmungen", während die Prozentzahlen- 
mcthode diese Deckungsfälle nicht aufweist. Betrachtet man 
die Kurven, so kann man sich leicht überzeugen, 
daß Kategorie „Bestimmungen" in Wirklichkeit gleich auf 
das Steigen und Sinken von „EJmotion" und Kategorie 
„Phantasie" in den Kurven 1 und 3 folgen und mit „Phan 
tasie" und „Emotion" ihre Maxima erreichen („Phantasie" 
steigt hier mit der Kategorie „Kenntnisse"); in der zweiten 
Kurve nähern sich „Emotion" und „Phantasie" der mittleren 
Linie, zugleich mit dem Maximum der „Bestimmungen"; in 
den Kurven VI und VIII steigen „Bestimmungen" mit 
.,Emotion" und „Phantasie". Die beiden Tabellen sind 
also in dieser Hinsicht einander nicht entgegengesetzt. 



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Eine Untersuchung der höheren Geistesfähigkeiten usw. 



41 



Ebenso erklärt sich der durch die Gruppenmethode ent- 
deckte Deckungsfall „Gegenstände" mit „Gesamtangabe" 
und „Gesamtangabe" mit Gegenstände" — nämlich durch 
das häufige Auftreten dieser Fähigkeiten. In Wirklich- 
keit findet auch die andere Methode diese Fähigkeiten 
nicht als absolut einander entgegengesetzte, da ja das Maximum 
..Gesamtangaben" das Maximum „Gegenstände" nur um 3.4 0/0 
der Durchschnittsgröße geringer erscheinen läßt. Ferner 
erweisen sich nach der Gruppenmethode die Kategorien „wo" 
und „Kenntnisse" als gleichzeitig auftretende Fähigkeiten; 
einen gewissen Parallelismus dieser Fähigkeiten findet auch 
die Prozentzahlenmethodc, wie aus den Kurven I, II, III und 
VI zu erkennen ist. Auf diese Weise bliebe also als wirklicher 
Widerspruch nur ein von der Gruppenmethode entdeckter 
Deckungsfall „Bestimmungen" und „was", welch letzteren die 
Methode der Prozentzahlen nicht aufgefunden hat. Die durch 
beide Untersuchungsmethoden erhaltenen Resultate sind in 
der dritten Spalte der Tabelle XIX der zusammenfallenden 
Fähigkeiten enthalten, wobei die schwankenden und die im 
Parallelismus der Abweichungen zutage tretenden Halb- 
Deckungsfälle in Klammern beigefügt sind. Diese letzte Ta- 
belle dürfte als der der Wahrheit am nächsten kommende 
Schluß oder Endresultat vorstehender Betrachtungen ange- 
sehen werden. 

VI. 

Die Untersuchung über die Richtigkeit dieser Endresul- 
tate ist auf folgende Weise angestellt worden: Die Tabellen 
IX -XVI bringen die Gruppierungen nach dem Maximum und 
dem Minimum jeder einzelnen Fähigkeit; jede von diesen 
Gruppen wurde wieder in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar 
nach dem Maximum und dem Minimum einer anderen Fähig- 
keit. Nach dem oben Gefundenen ist zu erwarten, daß dabei 
die zweite Fähigkeit, welche zur Einteilung der Gruppe in 
Untergruppen diente, ihren spezifischen Einfluß auf die 
anderen Fähigkeiten ausüben wird, welche sich auf diese 
Weise durch einen gemeinschaftlichen, bald korrespondieren- 
den, bald entgegengesetzten Einfluß zweier Fähigkeiten ver- 
ändern werden, nämlich durch den Einfluß derjenigen Fähig- 
keit, die der Einteilung in Gruppen als Basis diente und der- 



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42 



Nicolai Wolodkewitsch. 



jenigen, die der Einteilung in Untergruppen als Basis diente. 
Wenn diese Einflüsse den in Tabelle XIX, Spalte 3 zusammen- 
gefaßten Resultaten entsprechen, so müssen diese Schlüsse 
richtig sein. Als Basis der weiteren Einteilung der Gruppen 
in Untergruppen diente uns die topographische Fähigkeit, als 
einer der charakteristischsten. Für Gegenstände ist eine 
solche Einteilung nicht vorgenommen worden, da diese zwei 
Fähigkeiten (Gegenstände sehen und zugleich auch ihre Lage 
und Ort angeben) zusammenfallen und ihre einander wider- 
sprechenden Verbindungen ihre Erklärung in anderen Ein- 
flüssen finden müssen. Auf diese Weise sind folgende 6 Ta- 
bellen (XX — XXV) zusammengestellt; die Zeichen + (pl us ) 
und — (minus) drücken (auf Grund der Tabelle XIX, Spalte 3) 
die Einflüsse derjenigen Fähigkeit aus, welche zur Einteilung 
der Gruppe in Untergruppen als Basis diente. 



2 r 



a ■ 

000 



I 



5! "fB 

Wo - (17 Schül.) 

591.69 642,21 
343) 31,90 

- 4,01 + 8,23 

Wo + (10 SchUl.) 

36438 296,71 

3)U3 29,67 

- 2,41 + 6,00 

- + 

Wo - (11 Schill.) 
464,98 177,11 
42,27 16,10 
3.43 — 7,67 



Wo + (22 
90939 
4134 

+ 2.50 

+ +' 



SchUl.) 
40339 
1836 
- 5,41 



0 


Tabelle XX. 

» 4 .< 

* 23 1 
1* ■ 


Ii 


253,22 
14,89 

- 5,65 


8232 
«JBB 
- 0,41 

- + 


5838 
3,44 

4- 0,48 
- + 


94.74 

537 
f 1,07 
- + 


3136 
136 
- 0,11 
- + 


258,16 

Sgl 

+ w 


32,») 
3,22 
- 2,04 


9.03 
0,90 
- 2.06 


- 2,14 


3,92 
039 
- 038 


16134 
14,66 

- 538 


9037 
833 
4-^2,97 


4131 

3,7ß 

+ +°S 


75,01 
6,82 

V? 


35,12 
8,19 
+ 132 
+ + 


55933 
26,43 
- 4^9 


110.03 

5,00 

— 036 

+ - 


68.61 
3,12 
4- 0,16 
-f 


77,04 
330 
-1,00 


47,65 
2,16 
-J- 0.19 



! 



:i5,80 
2,10 
+ 034 



839 
0,89 



44,90 
4,08 

V? 

15,74 
0.71 
- 1,05 

+ - 



V 

934 
0,54 

^-0.07 



2,17 
032 



937 
0,85 
+ 038 



7,48 
034 

-0.13 



Tabelle XXI. 



9 



•1 



Wo 4- 
26333 
37,62 

- 1.22 

Wo^- 
48131 
37,04 

- 130 

Wo + 
101034 
40,42 

+ If 

Wo — 
676,16 
:m,:vi 

- 030 

+ - 



(7 



Schül.) 
116,82 
16,69 

- 638 



(13 Schal) 
279,23 
21,48 
-2,19 

(26 SchUl.) 
583,78 
2335 
- 032 

+ - 
(15 SchUl.) 
440,0!) 
2934 

XT 



158,91 
2-2,70 
+ 2,16 


63,4? 

337 
+ 3,81 


30,02 
4,29 

V- 


4635 
6,48 

+ 138 


12,69 

13*» 
- 0,17 

+ - 


430 

0.57 

- + M. 


5,26 
0,75 
+ 038 


194,48 
14,96 

" 538 


12932 

+ Jto 


46,20 
3,48 


7837 
6,03 
+ 133 
+ +• 


36.01 
2,77 

++1 


52,11 
4,01 


3.12 

034 


667,77 
2631 
+ 5,77 


78,76 
346 
- 2,11 


47,62 
1,90 
- 136 


55,28 
231 
- 2,29 


38,98 
136 
- (Ml 


20,63 

O33 
- 0,93 


439 

0,17 


21938 
14,66 

- 638 


4337 
2,90 
- 236 


54,64 

3,64 
+ 038 


9138 
6,09 
+ 1.69 

h 


30,67 
2,04 
+ 037 


2839 
1,90 

+ <U4 


15,4» 

1,03 



Digitized by Google 



Eine Untersuchung der höheren Geietesfähigkeiten usu: 



43 



Tabelle XXII 



i 4\ 



Wo + (9 Sohtil.) 
347,77 162,93 
38^4 18,10 
-030 - 6^7 

Wo — (U ScbOl.) 
632,43 323,64 
38,08 23,13 

- 031 - 034 
--• - + 

Wo + (23 Schill.) 
926.10 537,67 
4036 2334 
+ 1,42 — 033 
+ + +- 
Wo - (U ScbOl.) 
62434 396,68 
37,44 2836 

- 1,40 — 439 

+ - T + 



0 


l 


3 u 

¥ 


W 

O 

1 


Ü 


ä • 

Ü 


« 
< 


216,91 
24.10 

+ 336 


6137 
6,77 
+ ^51 


67,08 
634 

+ 338 


29,66 
3,29 

-?1 


2136 
239 
+^,42 


11,74 
130 

-0* 


0 
0 

-0,47 


18^26 
1330 
- 7,24 


81,96 

636 

\T 


72,44 

M7 
+ 2.21 


10137 
7.28 

++ , ? 


43,01 

3,13 
+ 1,16 
+ + 


47,92 
3,42 

+ , ? 


937 
037 
+ 0,20 


600,77 
20.12 

+ 538 


9036 
3,92 

-w 


2036 
039 
- 2,07 


70.98 
3,08 
- 1,42 


29,99 
1.30 

- 0,67 


12,89 

036 
- 130 


9,66 
0,42 
-0,06 


22»^) 
163TI 
- 4,24 


91,13 
631 

+ 0,66 

- + 


27,46 
1,96 
- 1.00 


67,78 
4.K1 
+ 034 


23j07 
136 

— 033 

- + 


32,78 
234 
+ 038 

- + 


934 
0,00 
+ 0,19 



Tabelle XXIII. 



Wo + (8 Schül.) 
29645 147,27 
3732 18^1 

- 132 - 636 
-+ (+)- 

Wo - (16 ScbOl.) 
56940 39232 
W.94 24.66 

— 33O + 039 
<+) + • 

Wo + (24 ScbOl.) 
977,72 663,33 
40,74 23.06 
+ 130 - 0,62 
+ +' (-)-' 
Wo - (12 Schttl.) 
49737 320,40 
41,46 2730 
+ 232 + 333 
+ - (-> + 



16132 
2236 
+ 2,11 


40,40 
5,0', 

- 031 
+ _ 


2834 
333 
+ + 037 


7335 
930 
+ 4,70 


1433 
1.78 
- 0,19 

<+)- 


13,14 
1,64 


5.20 
0,66 

+ 049 


23634 
14,M 

- 5,73 


92.86 
6,80 
+ 034 
+ r* 


',5,0t 
3^4 

xr- 


154,41 

935 
+ 5,15 


3332 
2,08 

+ 0.11 

(+)+• 


02,86 
3,93 


124/1 
+ 039 


«36,46 
2062 
+ 5,98 


10133 

4.24 

- 1,02 


49,40 

2,06 
- 0,90 


26.9* 
1.12 

- 338 


8734 
135 
- 042 
(-)- 


1149 

0,48 
- 138 


439 

0,18 

-039 


177,62 
14,79 

- 5,75 


8033 
6.69 
+ 1.43 

f- 


4435 
3,74 
+ 0,78 

_ + 


1534 
138 

- 332 


33,46 
2.79 
+ 032 


1734 
1,49 
- 037 


6,46 
034 

+ 0,07 



Tabelle XXIV. 



Wo -I- (14SchÜJ.). 



56936 265,09 


35-1,96 
2535 


04,64 


47,49 


44,91 


46,« 


14,62 


2 22 


4037 1832 
+ 136 - 6,45 


4,62 
- ^034 


o\39 


331 


332 


1,04 


0,'l6 


+ 431 




-_139 


+ + W* 


- 0,72 


- 031 


















Wo — (14 Schal.) 
















51736 856.15 


188,65 


88,15 


66,19 


6635 


02,84 


7834 


12,15 


3638 23,94 
- 136 + 037 


13,4« 
- 736 


639 


334 

+ r. 


4,75 


4,49 


&34 


0,7* 


+ 138 


+_0,25 


+ 232 


+ 348 


+ 0,40 




+ + 






+ + 


Wo + (14 Schttl ) 
















70432 46631 


462,72 


7739 


30,15 


56,72 


544 


1041 


7,43 
0,41 


39,14 34,76 
+ 030 +1,08 

,,+ +* + - 


25.71 


431 


1,67 


339 


038 


036 


+ ö,17 


— 036 


— 139 


— Ml 


— 139 
• 


- 130 


— 0,06 








+ - 






Wo — (14 Schül.) 
















53932 884,17 


22631 


8434 


44,70 


10830 


3.H4 


736 


6,46 


3H30 2744 


16,13 


6,07 


3,19 


737 


037 


032 


0,46 


- 034 + 3,77 


- 4^1 


+ 031 


+ 033 


+ 2,87 


- 1,70 


- 1,24 


- 0,01 


+ - + + 




- + 


- + 


+ + 


- + 







Digitized by Google 



44 



Nicolai Wolodkcicitseh. 



Tabelle XXV. 



I: 



JiS 
a. 



I HS 



Wo -f (5 8chül.). 
172,03 110.23 
84,41 22,04 

- 4,43 — 1,63 

-+, (+)- 
Wo — (11 Schill.) 
374,94 266,76 
34/16 24,25 

- 4.7« -f 038 

- ~ (+) +' 
Wo + (27 Schill ) 
110134 590^7 
4031 2136 
1,97 — 131 

+ + (-) - 
Wo — (17 Schül.) 
681.73 452,56 
40,10 26,62 
+ 1,26 + 2,95 
+ - (-) + 





1 


^1 
0*- 

M 


Emot. 


1 

e tu 


c 0 

-Sä 

0.2 




128,24 
26,64 

4- MO 


2139 

4,28 
- 0,98 


18,79 
2,56 
- ^0,40 


-VI OA 

436 

+ 036 


939 
1.88 
-^0,09 


21,41 
4,28 


0 

- 0,4- 


151,58 
— 6,76 


48,94 
4,45 
- 031 

- + 


4832 
4,42 

-n 


6937 
635 
+ 135 
+ + 


4639 
4.19 


80.70 

73* 

4- 638 


12,15 
1,10 
4- 0,63 


689,44 
2533 
+ 4,49 


12034 
4,47 
- 0,79 
+ - 


6435 
2,40 
- 0,56 


7633 
232 
- 1.G8 


42,18 
136 
- 0,41 


8£2 
0.12 
- 1,64 


9,46 
03« 
— 0,09 


26238 
15,46 
- 5,08 


124,15 
730 
+ 2,04 
+ + 


51,27 
3,02 
+ 0,06 
- + 


99,88 
6,87 
+ 137 
- 4- 


2039 
1,21 
— 0,76 
_ + 


0 
0 

- 1,76 


6,60 
036 
- 0,11 



Aus diesen Tabellen ist ersichtlich, daß in der über- 
wiegenden Mehrzahl der Fälle den Einflüssen die größten 

Abweichungen nach der negativen Seite hin, den Einflüssen 
-f + dagegen die größten Abweichungen nach der positiven 

Seite hin entsprechen; die Einflüsse H und h rufen 

Abweichungen hervor, die in der Mitte zwischen den maxi- 
malen Abweichungen liegen. Die Berechnung zeigt, daß 
unter allen 144 notierten Fällen nur 18 oder 12,50/0 sind, 
die mit den Abweichungen in der Tabelle XIX nicht im Ein- 
klang stehen, d. h. wo den größten positiven oder den größten 
negativen Einflüssen auch nicht die größten Abweichungen ent- 
sprechen. Alle diese Fälle sind mit einem Sternchen versehen. 
Dagegen sind mit der Tabelle in Einklang stehende Fälle 
126 oder 87,5 0/0 notiert worden. Man darf also annehmen, 
daß die Angaben der Tabellen XX — XXV die Richtigkeit der 
Resultate bestätigen, zu welchen wir oben gekommen sind, 
und daß, nach der oben ausgesprochenen Voraussetzung, jede 
Fähigkeit in allen möglichen Kombinationen den ihr eigenen 
Einfluß auf andere Fähigkeiten bewahrt. 

Die emotionale Fähigkeit ist der topographischen ent- 
gegengesetzt; ich habe deshalb für „Gegenstände" und „Be- 
stimmungen" noch eine Gruppierung nach dem Maximum 
und dem Minimum der Emotion vorgenomen; die Gruppierung 
„wo" zu Emotion" ist mit der Gruppierung „Emotion" zu 
„wo" identisch und ist in Tabelle XVIII enthalten. In den 
nachstehenden Tafeln XXVI und XXVII sind die Gruppie- 



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Eine Untersuchung der täheren Geistesfähigkeiten usu\ 



45 



rungen der „Gegenstände" 
„Emotion" gegeben. 



und der „Bestimmungen" zu 



Tabelle XXVI. 



- - 

H 

6~ 



3 i 

i z 

Ii 

c 



H 
H 

Emot 

+ m 

Emot 

4JU9 

+üb 

Emot. 

59634 
33J07 

- 5.77 

Emot. 

■MJ>> 

- 438_ 



all 

■Sa 
+ (6 8cb01.) 

raus 



10737 
ILM 

+ - 



19.11 



21.69 

— l.'.w 

— (20ScbüL) 

23.» 6 

+ i^n 

-(-) f 4- 

4- (IS ScböL) 
4T>T7>1 310,59 
,>?.2H 1755 

— 139 — ~33?9 
-(-) -- 

— QG Schill.) 
497,4«; 34438 

21,66 

+ 732 -J- 1.02 
+ (+) - ~ 



■ 

e 



Ii 

5- 

2 8 
2 Cd 

Ig 

» 
X 



Emot, 
334,75 292,64 

-457 + 639 



4- (10 Schal.) 

168,22 

— Tj7 



Emot — (17 Schül.) 
62152 54658 3M.1:. 

3*i.54 32.13 20,77 
- 22JQ -^MS +"0; 



Emot -f (14 Schül.) 
r.r.a? 2tT/>6 259,94 

■r,m 1738 "TvT7 

- 1.76 — TÖK5 - ~" 27T> 

+- +- 

Kmot — (19 SchUJ ) 
865.40 460,88 
4-..H2 T735 J4_; r . 

- »U8 — 602 4- 8.71 



Tabelle XXVII. 



-PF 



6a.'.«t 

639 

003 

60.79 



7933 
3,1,7 

"++* 

12157 

633 
4- 1,12 



2734 '.tt.ls 

■ üjZI 4- fiSJ 

40.07 35.15 

236 L4> 

£j7> - 3,02 



56.74 
— 0,11 

_i 



i:u>* 

9,Ui 

4- 5^3 



17.17 
!>7>ö 
— 330 





= ü 

- ~- 

- ^ 

X 


c 
= 


— ■ t 
a " 

•S « 

X 


21,1« 
3.52 
— 1.74 

- + 


12,69 
2.11 
— 036 
- + 


42,46 

7.07 
4- 2237 


11.12 

1,86 
— 0.12 
+ <+) 


10931 

5.40 

4. 0.2:1 

* 


4t.,47 
232 
— 0,64^ 


1736 
o.w> 

- 3.hl 


+ + w 


112,13 
65! 

+ 037 

+T 


71£9 
3.98 
-V 1,02 

+ + 


1S6.6O 
1031 

+ 5,81 


3633 
232 
4- 0,06 

-(-) 


72,12 
■1.61 

— MB 
+ - 


47,78 

2,98 
+ 0,02 


•24,47 

— 237 


28,'.«} 
1,81 

— o.it; 
-(-) 



8.52 
1.42 
034 



- IM 



(V7JH 

3,75 
2631 

— öol 

+ - 



11. '0 2436 
150 2,48 
— 0.77 4- ÖJ2 



2,137 
139 



KM 61,15 

2,6-1 3,65 

- 037 4- 135 

-r-f +~T 



« 
< 

655 
1,04 

4- Ö£7 



43a 

- PJJ4 



11.16 
0,62 
-f 0J6 



G.25 
039 
- 0 : -> 



2,78 



8.63 



4- 



14,*>i 
1.04 
+ 037 



4753 -'.4'-' 2,>2 

2j8 035 tiE 

-J- 031 — 157 — 036 



Von den in den zwei vorstehenden Tabellen untersuchten 
48 Fällen sind nur 5 oder 10,4 % solche, die mit der Tabelle 
der Abweichungen nicht übereinstimmen ; diese sind mit einem 
Sternchen versehen. Wenn man als Deckungsfälle auch nur 
diejenigen zählt, in welchen die größten Abweichungen ge- 
meinsamen gleichartigen Einflüssen entsprechen, die übrigen 
alle außer acht läßt, auch dann erhält man ganz befriedigende 
Resultate: die Zahl der Nichtdeckungsfälle bleibt iS und $j 
sie macht im Verhältnis zur Gesamtzahl der gleichwirkenden 
Einflüsse (72 und 24) 25 0/0 resp. 20,8 °/o. Durchschnittlich be- 
trägt nach beiden Gruppierungsarten, nach Kategorie 



Nicolai Wolodketvitsch. 



„wo" und „Emotion", die Zahl der in Tafel XIX 
nicht übereinstimmenden Fälle 22,9 o/ 0 , der überein- 
stimmenden 77,1 0/0. Bei den äußerst komplizierten Ver- 
hältnissen der Wechselbeziehungen, die hier in Betracht 
kommen, dürfte ein solches Resultat für befriedigend gelten. 

VII. 

Es erübrigt noch die Frage zu lösen, ob sich die erhal- 
tenen Resultate zu einer Klassifikation der Schülerinnen nach 
ihren Fähigkeiten und zur Feststellung geistiger Typen ver- 
wenden lassen. Wenn man die Tabelle XIX betrachtet, so ist 
leicht zu ersehen, daß alle aufgezählten Fähigkeiten in zwei 
verschiedene Gruppen zerfallen: Die erste Gruppe bilden: 
Gegenstände, wo , Bestimmungen, Gesamtan- 
gabe und teilweise Kenntnisse; die zweite Gruppe bilden: 
was, Schlußfolgerung, Emotion, Phantasie, 
Kenntnisse und teilweise Bestimmungen. Jedes Auf- 
treten der Fähigkeiten der zweiten Gruppe (mit Ausnahme von 
Bestimmungen) erscheinen als Resultat innerer Geistes- 
tätigkeit; die Zentralfähigkeit der ersten Gruppe ist die 
Fähigkeit, Gegenstände zu sehen (die beschreibende 
Fähigkeit); die Zentralfähigkeit der zweiten Gruppe ist 
Emotionalität; die erste Gruppe kann die der be- 
schreibenden, die zweite die der emotionalen Fähig 
keiten genannt werden. Jede Fähigkeit der einen 
und der anderen Gruppe tritt in die verschiedensten Ver- 
bindungen mit den übriigen Fähigkeiten derselben Gruppe. Die 
Fähigkeiten, Bestimmungen zu liefern, d. h. nicht nur 
Gegenstände zu sehen, sondern auch deren Eigenschaften wahr- 
zunehmen und Kenntnisse zu benutzen, erscheinen als Ueber 
gangs- und beide Gruppen verbindende Fähigkeiten. Es ist 
klar, woher dieser zweideutige Charakter beider Fähig 
keiten rührt: die Fähigkeit, Bestimmungen zu liefern, deutet 
mehr auf eine tiefere, innere Geistestätigkeit hin, als auf eine 
unmittelbare, äußere Tätigkeit; wenn wir einen Gegenstand 
nennen, so apperzeptieren wir ihn gleichsam mit einem see- 
lischen Akt; weisen wir dagegen auf seine Eigenschaften hin, 
so setzen wir eine ganze Reihe unserer seelischen (geistigen) 
Kräfte in Bewegung: hier wirkt die Urteilskraft, die Ver- 



Eine Untersuchung der höfterm Geistesfähigkeiten usw. 47 

gleichling, das Streben, den betreffenden Gegenstand von 
anderen Gegenständen derselben Gattung zu unterscheiden, ein 
gewisses Interesse, ein Aufmerken unter dem Einfluß des 
emotionalen Gefühls und anderes mehr; es erweist sich 
also, daß diese Fähigkeit, insofern sie als Resultat der 
gewohnten Tätigkeit — des Strebens nach Genauigkeit und 
unabhängig von den Motiven dieses Bestrebens — erscheint, 
zu der Gruppe der beschreibenden Fähigkeiten gehört; insofern 
sie aber durch das Vorhandensein des von dem emotionalen 
Gefühl getragenen Interesses und der Aufmerksamkeit bestimmt 
wird, gehört sie zu der Gruppe der emotionalen Fähigkeiten. 
Eine ausgesprochene Neigung, Kenntnisse zu benutzen, kann 
ebenfalls einen doppelten Grund haben: ein schwerfälliger, 
unbeholfener und träger Verstand benutzt gern fertiges 
Material zum Ausdruck seiner Gedanken, nur um nicht 
selbst denken zu müssen, mit einem Wort, um aktive Arbeit zu 
vermeiden. Es müssen also die auf Grund dieser Ursache gelie- 
ferten Kennmisse der Gruppe der beschreibenden Fähigkeiten 
zugezählt werden. Dagegen müssen zur Gruppe der emotio- 
nalen Fähigkeiten gerechnet werden: die Verwertung der 
Kenntnisse, wenn bei der Verarbeitung dieses Materials die 
Schülerin, getragen von dem emotionalen Gefühl des Inter- 
esses, unter dem Einfluß der Phantasie, schöpferisch tätig ge- 
wesen ist, d. h. durch ihre Kombinationsgabe Neues ge- 
liefert hat. 

Es treten also zwei intellektuelle Haupttypen klar zutage 
— ein beschreibender oder Objekt-Typus und ein emotionaler 
oder schöpferischer Typus. Diese zwei Grundtypen stellen 
jedoch, je nach der größeren oder geringeren Teilnahme 
der übrigen Fähigkeiten, eine fast endlose Anzahl von 
Untergruppen dar. Wie groß die Verschiedenheit der 
Kombinationen sein kann, zeigen die hier in Betrachtung 
gezogenen Arbeiten: 60 Schülerinnen lieferten 44 ver- 
schiedene Kombinationen der Maxima - Fähigkeiten, und 
nur 9 Kombinationen wiederholten sich: 6 zweimal, 1 drei- 
mal, 1 viermal und 1 sechsmal; es haben also nur 16 Schü- 
lerinnen Verbindungen wiederholt, die von den übrigen 44 
geliefert wurden. Daraus geht hervor, daß alle möglichen 
Kombinationen erschöpfen und jede als besonderen intellek- 
tuellen Typus darstellen wollen, eine ganz hoffnungslose Aufgabe 



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48 



Nicolai WoUydkewiiHch. 



ist. Das einzige, was von Bedeutung sein kann, 
ist, die Hauptgruppen — die beschreibende und die 
emotionale Gruppe — , in Untergruppen nach einer oder 
nach zwei scharf ausgesprochenen, charakteristischen 
Fähigkeiten zu bringen, z. B. nach der topographischen. Von 
diesem Gesichtspunkt geleitet, verfuhr ich folgendermaßen: 

Zuerst brachte ich alle Schülerinnen in zwei Gruppen nach 
dem Maximum und dem Minimum der von ihnen gelieferten 
Gesamtangaben. Da sich die Gesamtangaben hauptsächlich 
aus „wo", „Bestimmungen" und „Gegenstände' auf- 
bauen, so traten die emotionale und die beschreibende Gruppe 
sofort klar hervor: 

I. Gruppe (ihre Gesamtangaben sind unter 39,03): No. 29, 

3i> 32, 33» 34, 35» 4L 43» 45» 47, 5°> 5 1 » 53, H4» "5» »7» 
118, 119, 120, 121, 122, 124, 125, 127, 128, 130, 135, 

! 37, ! 43, *44 (i m ganzen 30 Schülerinnen). 

II. Gruppe (ihre Gesamtangaben sind über 39,03): No. 30, 
36, 37, 38, 39, 40, 42, 44, 46, 48, 49, 54, 112, 113, 115. 
123, 126, 129, 131, 132, 133, 134, 136, 138, 139, 140, 141, 
142, 145, 146 (im ganzen 30 Schülerinnen). 

In der I. Gruppe müssen sich die meisten emotionalen 
Schülerinnen befinden; diejenigen aber, die kein Maximum 
der Emotion oder der Phantasie aufweisen, werden den größten 
Mangel an geistigem Inhalt zeigen, um so mehr, da diese 
Gruppe ein Minimum auch der beschreibenden Fähigkeiten 
aufweisen. Auf diese Weise erhalten wir Gruppe I : 

I. Gruppe: 

Gesamtangabe — , Emotion — , Phantasie — (10 Schüle- 
rinnen): No. 29, 31, 43, 50, 51, 116, 117, 118, 121, 128. 

Die II. Gruppe der emotionalen Schülerinnen, die aus den 
übrigen 20 Schülerinnen bestehen, teilen wir nach dem 
Maximum und dem Minimum der topographischen Fähig- 
keiten in zwei Untergruppen; mit dem Sinken dieser 
Fähigkeit werden alle diejenigen Fähigkeiten steigen, 
welche sich um die emotionale Fähigkeit herum grup 
pieren und umgekehrt: eine Erhöhung der topographischen 
Fähigkeit wird ein Sinken der Emotion zur Folge haben; 
auf diese Weise muß die erste Untergruppe (wo — ) die 



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Eine Untersuchung der höheren Geistesfähigkeiten usw. 49 

entwickeltsten Schülerinnen aus der Zahl der Emotionalen in 
sich schließen; in die zweite Untergruppe (wo -f) werden 
diejenigen zu bringen sein, welche sich durch einen weniger 
ausgeprägten Charakter auszeichnen. 

II. Gruppe: 

a) Gesamtangabe — , (Emotion oder Phantasie +), wo — 
(15 Schülerinnen): No. 32, 33, 34, 41, 45» 47, 53, 1*4, H9> 
124, 125, 130, 137, 143, 144. 

b) Gesamtangabe — , (Emotion oder Phantasie -f), wo -f- 
(5 Schülerinnen): No. 35, 120, 122, 127, 135. 

Die Gesamtangaben der übrigen Schülerinnen übersteigen 
das Mittel (39,03). Aus diesen Schülerinnen sind zunächst die- 
jenigen auszuscheiden, bei denen Emotion und Phantasie das 
Mittel übersteigen; im Vergleich mit denjenigen, welche die 
Gruppe II bildeten, werden diese ausgeschiedenen natürlich 
die Minderzahl bilden. Diese Schülerinnen nun bilden die 
dritte Gruppe ebenfalls emotionaler Schülerinnen, die sich 
aber durch großen Reichtum an geistigem Inhalt auszeichnen. 
Wenn wir diese Gruppe nach dem Maximum und dem Mini- 
mum wo in zwei Untergruppen teilen, so zählen zur ersten 
Untergruppe (wo — ) die begabtesten unter allen 60 Schüler- 
innen, und zur zweiten Untergruppe (wo +) diejenigen, welche, 
den ersteren hinsichtlich der Entwicklung nachstehend, sich 
dem geistigen Typus der Gruppe 11 b nähern. 

III. Gruppe: 

a) Gesamtangabe +, Emotion oder Phantasie -h wo — 
(5 Schülerinnen): No. 46, 123, 131, 133, 138. 

b) Gesamtangabe -f , Emotion oder Phantasie -f-, wo + 
(5 Schülerinnen): No. 30, 40, 48, 49, 132. 

Alle übrigen Schülerinnen gehören zu dem beschreibenden 
Typus und bilden die IV. Gruppe. Wir teilen sie in zwei 
Untergruppen nach der topographischen Fähigkeit; in die 
erste Untergruppe (wo — ) bringen wir diejenigen, welche sich 
durch eine größere Entfaltung des seelischen Lebens aus- 
zeichnen ; in die zweite Untergruppe (wo -f) diejenigen, welche 
sich durch die größte geistige Trockenheit auszeichnen. 

Zeiwchrilt f«r pftdagogiaehe Psychologe, Pathologie u. Hygiene. 4 



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50 



Nicolai Wolodkewitsch. 



IV. Gruppe: 

a) Gesamtangabe -f, Emotion und Phantasie — , wo — 
(5 Schülerinnen): No. 112, 115, 140, 142, 145. 

b) Gesamtangabe -f, Emotion und Phantasie — , wo -f- 
(15 Schülerinnen): No. 36, 37, 38, 39, 42, 44, 45, 113, 126, 
129, 134, 136, 139, 141, 146. 

Zur bequemeren Fixierung der auf diese Weise fest- 
gestellten hervorragendsten Charakterzüge dieser Gruppe 
bringe ich in Tabelle XXVIII die durchschnittliche Prozent- 
zahl jedes einzelnen Charakterzuges. 



Tabelle XXVIII. 









0 


3 


A 

s u 


«J 
0 


■ 

C <a 


H 


Ii 




II 


p&Ji 






Sehl 
fol 


2 


O * 

M 


K- 3 






49.66 

4- 


16,27 


2133 
+ 


636 


234 


036 


3,16 

+ 


0 


0 






2339 


14,70 




339 


9.76 




6 ? 


031 










T 


+ 








Gruppe IIb 


. . 38,56 


1638 


22,0« 


T 


3,14 

+ 


9.74 

+ 


1,45 




1,05 


Gruppe lila . . 


. . 34,06 


34,21 


15,48 


8,43 


3.73 


532 


2,14 


1.68 


0 






+ 






T 


+ 


+ 






Gruppe Illb 


. . 35,79 


20,43 


27.18 




3,81 


3,08 


234 


135 


0 






+ 


+ 


+ 




+ 






Gruppe IV» . . 


. . 37,61 


36.09 


16,03 


431 


23 


1.97 


03 


0 


0.29 


Grupp« IVb . . 


.. 39.19 


24J1 


263 


435 


236 


1,41 


MO 


0.21 


039 



Diese Zahlen geben den Anteil an, welchen jede einzelne 
Fähigkeit in dem Bewußtscm^.kr l^irchschnittsschülerin der 
betreffenden Gruppe eii^t^C^ie^^rS^Die Zeichen -f und 
— zeigen das Steigen o(©f Sinken im Ver/Jjäch mit den Durch- 
schnittzsahlen (dem Mittel) Oe^l^03^9|8hületinnen (s. Tab. I). 
Außer dieser Tabelle bringe ich noch zwMydie eine (Tabelle 
XXIX) gibt die Gesamt^h^ pt^^^yk^mtel derjenigen An- 
gaben, die von den SchuTcrTMlffri der betreffenden Gruppe 
für jede Gedankenkategorie geliefert worden sind; 
die andere (Tabelle XXX) zeigt das Verhältnis der 
Gesamtzahl der Gesamtangaben für die Fähigkeiten der 
ersten Gruppe (beschreibende Fähigkeit) zu der Ge- 
samtzahl der Gesamtangaben für die Fähigkeiten der 
zweiten Gruppe (emotionale Fähigkeit). In dieser Tabelle ist 
das Verhältnis der absoluten, sowie der Prozentzahlen gegeben. 



d by Googl 



Eine Untersuchung der höheren Geistes fähigktiten usw. 



51 



Tabelle XXIX. 



122 
123 



46 
4,6 



C.ruppe IIa 163 III 
103 7,4 



Ub 68 27 
12,6 6,4 



>DIt 78 78 

15^ 16,6 

-I- + 

Gruppe 111b 83 48 

16,6 9,6 

+ + 

Gruppe IV a 96 4» 

193 18.6 

4- + 



IVb 289 
193 



181 
12,1 



66 
W 

71 
4.7 

86 
73 

36 

73 



42 

8.4 

+ 

1*1 

*0 



I 

16 
13 

26 

!f 

10 

«, 

8 

13 
18 

¥ 

n 

23 

+ 

32 



I Ii 




S 

I 



6 


1 


7 


0 


0 


263 


03 
— 


0,1 

— 


0,7 

— h 


0 

— 


0 


263 

— 


16 


45 


12 


34 


4 


471 


13 


33 

+ 


03 
+ 


1.6 

+ 


03 


31,4 


6 


16 


2 


2 


2 


162 


13 


? 


03 


0,4 


0.4 


32,4 














j» 


12 


6 


4 


o 


230 


13 


' 2,4 


13 


03 


0 


46.0 


4- 


+ 


+ 


+ 




+ 


9 


7 


6 


4 


<) 


233 


¥ 


M 




°f 


0 


44.0 






x % 






+ 


6 


5 


1 


0 


8 


257 


13 


13 


03 


0 


0,6 


51,4 


+- 










4- 


18 


10 


8 


2 


2 


786 




0,7 


03 


0,1 


0,1 


4 + 



Summe der Ge- 
samtangaben nach 
den eioxelnen Kate- 
gorien für alle 60 
Schülerinnen und das 
Mittel: 

Qegenstde. 893 - 14,9 
Reatimragn. 584 - 9,7 

Wo ... 487- 83 
Was ... 116 ~ 1.9 
69- 1,15 
95- 13 
41- 0,7 
Phantasie. 36—03 
Aemth. Qt>t. 11-03 



Tabelle XXX. 



Summe der G esain Umgaben 
Beschreib. 
Fähi K k 

Oruppe 1 . . 223 
IIa . . 22,9 

Ub . . 253 

, lila . . 34,4 

. Iüb . . 383 

- IVa . . 463 

» IVb . . 



Fahigk. 

8,0 
8,4 
73 
73 
73 
53 
4.7 



Verhältnis 

738 
2.72 

330 

5,06 
4,98 

*m 

9,15 



Hümme der Proiontiahlon 



Bosehroib 
Fahigk. 

8736 
72,48 
76,91 
83,75 
83,40 
89.78 
90,19 



KmoL 
Fahigk. 

12,72 
27,48 
22,97 
1630 
1637 
1034 
9.82 



G.8G 
2,63 

835 
5,17 



Die Summe der Gesamtangaben auf «der linken Hälfte 
der Tabelle XXX ist auf Grund der in Tabelle XXIX ge- 
gebenen Daten zusammengestellt. Die Summe der Prozent- 
zahlen auf der rechten Hälfte der Tabelle XXX auf Grund der 
Tabelle XXVIII, z. B. für die erste Gruppe ist die Summe für 
die beschreibenden . Fähigkeiten 1 2,2 4>6 ~h 5,5 = 22,3; für 
die emotionalen Fähigkeiten: 1 ,6 -f- 0,6 + o, 1 -f- 0,7 — 3,0; das 
Verhältnis beider Summen = 7,43, ganz ebenso für die Pro- 
zentzahlen. An der Hand der in den zwei letzten Tabellen ent- 
haltenen Angaben kann man jede Gruppe und jede Untergruppe 
charakterisieren. 

Die Schülerinnen der ersten Gruppe erscheinen äußerst 
entwickelt für Gegenstände und Kenntnisse, für Emotion und 
Phantasie dagegen äußerst schwach. Zugleich stehen sie nach 
den (Tabelle XXIX) von ihnen gelieferten Gesamtangaben, 
ausnahmslos durch alle Kategorien hindurch, hinter den übrigen 
Schülerinnen zurück; nur die absolute Zahl für Kenntnisse ent 
spricht bei ihnen genau dem Mittel. Die entsprechenden Pro- 

4» 



52 



Nicolai Wolodkewitsch. 



zentzahlen (für Gegenstände und Kenntnisse) sind bei ihnen 
am höchsten; folglich haben diese beiden Gedankenkategorien 
den größten Anteil ihres Bewußtseins in Anspruch genommen. 
Das Verhältnis der Summe der von ihnen gelieferten Gesamt- 
angaben für die beschreibenden Fähigkeiten zur Summe 
der Gesamtangaben aller übrigen Gesamtangaben (7,43), so- 
wie das Verhältnis der Prozentzahlen für beide Fähigkeiten 
(6,86) gehört mit zu den höchsten; in dieser Hinsicht {steht 
die erste Gruppe nur der Gruppe IV nach. Alle diese Tat- 
sachen charakterisieren die Schülerinnen der ersten Gruppe 
als die unentwickeltsten, als die an geistiger Entwicklung am 
niedrigsten stehenden. Die Gegenstände haben in ihrer Be- 
schreibung nur deshalb einen so hervorragenden Raum ein- 
genommen, weil diese vor allem die Aufmerksamkeit der Schü- 
lerinnen auf sich gezogen haben; dafür aber sind sie fast 
gänzlich ohne nähere Bestimmung, wie hinsichtlich der Eigen- 
schaften, so auch, was die Lage derselben betrifft. Es ist 
auch erklärlich, warum Kenntnisse bei ihnen ebenfalls eine be- 
trächtliche Entfaltung erreichen: von Natur schwerfällig, 
haben die Schülerinnen dieser Gruppe zur Füllung ihrer 
Blätter nur diejenigen Mitteilungen (Kenntnisse) benutzt, die 
sie von mir vor dem Vorzeigen des Bildes gehört haben, 
ohne davon einen weiteren Gebrauch zu machen. 

Die zweite Gruppe zeichnet sich durch eine scharf aus- 
gesprochene Entwicklung der Emotionalität aus; damit steigt 
auch der ganze Komplex der emotionalen Fähigkeiten. Nach 
dem relativen Steigen oder Sinken der topographischen Fähig- 
keit zerfällt diese Gruppe in zwei Untergruppen; in jeder 
Untergruppe steht die Gruppe der beschreibenden Fähigkeiten 
nach den absoluten Zahlen unter dem Mittel; nach den Pro- 
zentzahlen aber unter dem Mittel nur in der ersten Unter- 
gruppe (IIa); in der zweiten Untergruppe {IIb) dagegen wuchern 
„Gegenstände" und „wo" auf Kosten von „Phantasie" und 
„Bestimmungen". Das Verhältnis der beschreibenden 
Fähigkeiten zu den emotionalen ist für die erste Untergruppe 
am geringsten und beträgt für die absoluten Zahlen 2,72 und 
für die Prozentzahlen 2,63; das weist auf ein Vorherrschen 
innerer Geistestätigkeit vor äußeren Eindrücken. Kenntnisse 
erreichen hier eine bedeutende Entwicklung, aber im Gegen- 
satz zur ersten Gruppe benutzen die Schülerinnen diese Kennt- 



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Eine Untersuchung der höheren GeietesfähigkeHen usw. 53 

nisse nicht passiv, sondern als Material zum schöpferischen 
Gebilde mit Hilfe der Phantasie. Diese Untergruppe erklärt 
uns die Verwandtschaft der Phantasie und Kennmisse, 
auf welche in der Tabelle der miteinander korrespondieren- 
den Fähigkeiten (Deckungsf al le) hingewiesen worden 
ist, wo Kenntnisse mit Phantasie in Verbindung treten 
und der enge Zusammenhang zwischen Kenntnissen und 
Phantasie dürfte dadurch erklärbar sein. Und so dürften 
die Charakteristika dieser zweiten Gruppe bestehen 
in dem Vorherrschen einer inneren seelischen Tätigkeit, 
welches hervorgerufen wurde durch eine scharf ausgesprochene 
Entwicklung der Emotion und der Phantasie; alle übrigen 
Fähigkeiten stehen im Dienst dieser beiden Zentralfähigkeiten. 
Die zweite Untergruppe, die sich durch ein Sinken der Phan- 
tasie und durch starke Entwicklung der beschreibenden Fähig- 
keiten auszeichnet, bildet den Uebergang zur vierten Gruppe. 

Die dritte Gruppe schließt die begabtesten Schülerinnen in 
sich. Die absolute Zahl der Gesamtangaben für alle Fähig- 
keiten ist überdurchschnittlich (über dem Mittel); nur in vier 
Fällen (für wo, was, Bestimmungen und Emotion) 
ist die Zahl etwas unter dem Mittel; dieser Umstand dürfte 
durch die geringe Schülerzahl dieser Gruppe (nur 10 Schü- 
lerinnen in beiden Untergruppen) zu erklären sein; bei einer 
größeren Schülerzahl würden sich diese Fähigkeiten wahr- 
scheinlich über dem Mittel erwiesen haben. Die Prozent- 
zahlen weisen auf ein in ihrem Bewußtsein relatives Vor- 
herrschen der Fähigkeiten der emotionalen Gruppe hin. Das 
zeigt auch das Verhältnis der beschreibenden Fähigkeiten zu 
den emotionalen Fähigkeiten, welches für die absoluten Zahlen 
gleich 5,05 resp. 4,98, für die Prozentzahlen gleich 5,17 resp. 
5,03 ist. Es zeichnen sich also diese Schülerinnen durch die 
vielseitigste Entwicklung aller Geistestätigkeiten aus. Gleich- 
mäßig entwickelt ist bei ihnen sowohl das auf Kenntnisse und 
Phantasie begründete innere Geistesleben als auch die be- 
trachtende und beschreibende Fähigkeit. Wenn sie der zweiten 
Gruppe in der Entwicklung der emotionalen Fähigkeiten nach- 
stehen, so übertreffen sie diese an größerer Entwicklung der 
beschreibenden Fähigkeiten; verglichen mit der vierten 
Gruppe, nehmen sie eine umgedrehte Stellung ein: sie über- 
treffen diese Schülerinnen an Entwicklung der emotionalen 



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54 



Nicolai Wolodkewilsch. 



Fähigkeiten "und stehen ihnen in der Entwicklung der be- 
schreibenden nach. Die zweite Untergruppe bildet, bei ge- 
schwächter emotionaler und erhöhter Entwicklung der topo- 
graphischen Fähigkeit, den Uebergang zur vierten Gruppe. 

Die vierte Gruppe stellt das vollständige Gegenteil von der 
zweiten dar; in ihr sind die Fähigkeiten, welche in der zweiten 
Gruppe gerade die höchste Entwicklung erreichen, geschwächt, 
und umgekehrt, am höchsten entwickelt sind diejenigen, welche 
in der zweiten Gruppe eine untergeordnete Bedeuteng haben. 
Das Verhältnis zwischen den beschreibenden und den emotio- 
nalen Fähigkeiten erreicht in dieser Gruppe den höchsten Grad : 
es tritt ein scharf ausgesprochenes Vorherrschen der ersteren 
zutage. Fähigkeiten dagegen, die einer inneren Geistestätigkeit 
entsprechen, bilden bei den Schülerinnen einen Bewußt- 
seinsinhalt von 10,24 resp. 9,82, also nurf 'ein Zehntel. Nur 
fünf Schülerinnen haben eine topographische Fähigkeit 
im Maximum. Die Abschwächung dieser Fähigkeit wird 
durch eine äußerst entwickelte beschreibende Fähigkeit 
ersetzt. Diese Untergruppe stellt einen rein beschreiben- 
den Typus dar. In die zweite Gruppe kommen die- 
jenigen Schülerinnen, welche sich durch die höchst 
entwickelte topographische Fähigkeit auszeichnen; mit 
der Entwicklung dieser; Fähigkeit übersteigen sie die Norm 
der Fähigkeit, Gegenstände zu sehen und ihnen Bestimmungen 
zu geben. Diese Untergruppe kann als topographischer Typus 
hingestellt werden — ein Typus, der sich durch größte Geistes- 
trockenheit und durch die peinlichste Genauigkeit in der Be- 
schreibung auszeichnet. 1 *) 

Die vorstehende besprochene Gruppierung stellt in Wirk- 
lichkeit nur eine Einteilung der Schülerinnen in zwei Typen 
dar: in einen beschreibenden und einen emotionalen. Die 
Gruppe I besitzt im wesentlichen alle Merkmale der vierten 
Gruppe, nur in geschwächtem Maßstabe. Die Gruppe IIa 
ist der vierten direkt entgegengesetzt und die übrigen Gruppen 



14 ) Nachdem ich die Schülerinnen auf die oben beschriebene Weise in 
Gruppen gebracht, setzte ich statt der Nummern deren Namen; es stellte 
sich heraus, daß die auf diese Weise gemachte objektive Klassifikation der 
Schülerinnen in der Tat ihren geistigen Fähigkeiten entspricht, insoweit diese 
letzteren von mir und ihrem Lehrer der Muttersprache und Literatur beob 
achtet worden sind. 



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Eine Untersuchung der höheren Geistesfähigk-rilm usw. 



55 



sind als Uebergangsgruppen zwischen diesen beiden zu be- 
trachten. Diese Gruppierung scheint mir die natürlichste zu 
sein. Sie gründet sich auf die Einteilung nach zwei miteinander 
verbundenen Fähigkeiten — der Emotion und der Phan- 
tasie. Die topographische Fähigkeit wurde nur zur Bildung 
von Untergruppen herangezogen; die übrigen Fähigkeiten wur- 
den bei der Gruppierung gar nicht in Betracht gezogen, trotz- 
dem zeigen ihre Abweichungen, die sie von der einen zur 
anderen erleiden, eine merkwürdige Regelmäßigkeit, die wohl 
kaum als zufällige angesehen werden dürfte. Die auftretenden 
Abweichungen bleiben vor der Hand entweder unaufgeklärt 
oder sie müssen der geringen Zahl der Versuchsobjekte zuge- 
schrieben werden. Betrachten wir zunächst diese Regelmäßig 
keiten. Die Gesamtzahl der Gesamtangaben wurde nur ein- 
mal zu der ersten Einteilung aller Schülerinnen in zwei 
Gruppen verwendet, unabhängig von der Entwicklung der 
einen oder der anderen Fähigkeit, und doch sehen wir nach der 
vollzogenen Einteilung in Gruppen und Untergruppen, daß die 
Gesamtzahl der Gesamtangaben sich regelmäßig verändert, 
indem sie von der ersten bis zur letzten Gruppe von der 
kleinsten Größe 25,3 bis zur äußersten Größe 51,4 allmählich 
steigt und nur in der letzten Gruppe etwas sinkt (bis 49,1). 
Gegenstände verändern sich vollkommen analog, mit dem 
Unterschied nur, daß in der ersten Gruppe ihr absolutes 
Mittel etwas steigt ; von der Gruppe I Ia an aber steigen sie 
bis zur äußersten Höhe (von 10,8 bis 19,3). Die topographische 
Fähigkeit und die Fähigkeit, Bestimmungen zu liefern, können 
keine solche regelmäßigen Veränderungen aufweisen ; die erste 
schon deshalb nicht, weil sie absichtlich im Maximum und 
Minimum in jeder der Gruppen (ausgenommen der ersten) 
zu ihrer Einteilung in Untergruppen genommen wurde, die 
zweite, weil sie sich der ersten proportional entgegengesetzt ver- 
ändert. Infolge einer solchen herrschenden Wechselbeziehung 
zueinander zeigt sich eine regelmäßige Veränderung der Ge- 
samtsumme der beschreibenden Fähigkeiten: sie steigt von 
der Gruppe I bis zur Gruppe IVa, und zwar von 22,3 bis 
46,2; nur in der letzten Gruppe IV b ist ein unbedeutendes, 
Sinken bis zu 44,4 bemerkbar. Die Summe der Prozentzahlen 
für alle diese Fähigkeiten verändert sich ebenfalls ziemlich 
regelmäßig: mit Ausnahme der Gruppe I, wo sie eine Verän- 



56 



Nicolai Wolodkewitsch. 



derung bis zur letzten Gruppe hinauf, eine langsame, stufen- 
weise Erhöhung bis 72,48 und 90,19 erreicht; und nur in der 
Gruppe III b zeigt sich statt des Steigens ein merkliches Sin- 
ken. In der Veränderung der Emotion herrscht eine voll 
kommene Regelmäßigkeit, mit Ausnahme der Gruppe I; hier 
nimmt die Emotion allmählich von 3,0 bis 0,7 ab ; fast ebenso, 
nur etwas unregelmäßiger, verändert sich „Phantasie". 
„Schlußfolgerung" verändert sich regelmäßig: nach beiden 
Seiten von der dritten Gruppe an mit sinkender Tendenz. Die 
Kategorie „Kenntnisse" weist keine regelmäßigen Veränderun- 
gen auf, dank ihrem doppeldeutigen Charakter, einerseits als 
Material für die Arbeit der Phantasie und andererseits als 
Mittel, etwas zu sagen, ohne geistige Anstrengung. Die Ver- 
änderimg der Kenntnisse laufen deshalb den Veränderungen 
der Phantasie in Gruppe IIa bis zur Gruppe IVa parallel, 
erreichen die höchste Entwicklung in der Gruppe lila und er- 
scheinen zugleich in den Gruppen I und IVb als ziemlich ent- 
wickelt. Die Summe der emotionalen Fähigkeiten verändert 
sich regelmäßig: für die Gruppe IIa ist die Summe am höchsten, 
für Gruppe I und IV am niedrigsten. Die Durchschnittsgröße 
der Summe ist in den Gruppen IIb bis Illb gegeben. Die 
Veränderung der emotionalen Fähigkeiten äußert sich in der 
Summe ihrer Prozentzahlen; mit Ausnahme der ersten Gruppe 
nimmt diese Summe von der Gruppe IIa bis zur letzten ab, 
mit geringer Abweichung in Gruppe III b, was wahrscheinlich 
durch die geringe Größe dieser Gruppe zu erklären sein dürfte. 

Ganz ebenso verändert sich auch das Verhältnis zwischen 
beiden Gruppen von Fähigkeiten. Eine solche Regelmäßigkeit 
ihrer Veränderungen weist auf einen allmählichen Uebergang 
von dem emotionalen Typus zu dem beschreibenden — einen 
Uebergang, der sich in einer ununterbrochenen Abschwächung 
der emotionalen und in einer ununterbrochenen Zunahme der 
beschreibenden Fähigkeiten äußert. Schließlich muß ich noch 
bemerken, daß alle beobachteten Regelmäßigkeiten keine ein- 
zige Abweichung aufweisen, wenn man die Zahlen nicht für 
die einzelnen Untergruppen, sondern für die Gesamtgruppen 
nimmt. 

Eine solche Permanenz in den Veränderungen der Eigen- 
schaften beim Uebergang von einer Gruppe zur anderen zeigt, 
daß ihr ein gewisses Gesetz zugrunde liegt, dessen Natur uns 



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Eine Unter sttchung der höheren Geistes fähigkeilen usw. 57 

noch dunkel ist. Sie dient uns als Beweis dafür, daß die vor- 
genommene Klassifikation die natürlichste ist und bestätigt 
die Richtigkeit aller früheren Voraussetzungen in betreff der 
Verbindungsfähigkeit der verschiedenen Fähigkeiten. Die 
gegebene Klassifikation stellt im Vergleich mit den früheren 
Gruppierungen eine neue Gruppierung dar, und wenn sie neue, 
früher nicht entdeckte Regelmäßigkeiten ans Licht bringt, so 
darf man den Schluß ziehen, daß die Prinzipien, worauf sie 
sich gründet, richtig abgeleitet sind. 

In der gegenwärtigen Abhandlung begnüge ich mich mit 
den gefundenen Resultaten; die Lösung der übrigen, am Ein* 
gang dieser Untersuchung gestellten Fragen sowie die theo- 
retische Abschätzung der erhaltenen Resultate soll späteren 
Abhandlungen überlassen bleiben. Ich bemerke schon hier, 
daß ich, wie ich glaube, die erhaltenen Resultate durch meine 
zuletzt angestellten Versuche wesentlich vervollständigt und be 
stätigt habe. Nachdem nämlich die Schülerinnen ihre Ge- 
danken zu Papier gebracht hatten, forderte ich sie auf, mir 
offenherzig, ohne Namensunterschrift, auf einem besonderen 
Bogen Papier folgende Fragen zu beantworten : i . „M i t wel- 
cher Aufmerksamkeit haben Sie das Bild be- 
trachtet?" 2. „In welcher Reihenfolge haben Sie 
den Inhalt des Bildes erschöpft?" 3. „Mit wel- 
chem Interesse haben Sie Ihre Arbeit ausge- 
führt?" 

Soviel ich nach flüchtiger Durchsicht der mir von den 
Kindern gelieferten Antworten schon jetzt sehen kann, haben 
sowohl die Mädchen als auch die Knaben die von mir ge- 
stellten Fragen vollständig ernst behandelt und ganz treuherzig 
beantwortet. Die Verarbeitung dieses Materials dürfte wert- 
volle Resultate liefern. Eine andere Ergänzung bestand darin, 
daß ich nach Verlauf der 10 Minuten, die den Kindern zum 
Niederschreiben ihrer Eindrücke gegeben waren, die Kinder 
einen Strich unter das Geschriebene machen ließ und sie 
aufforderte, noch drei Minuten zu schreiben. Es ist inter- 
essant, daß sogar diejenigen Schüler und Schülerinnen, die 
ihre Antworten schon vor Ablauf der 10 Minuten abgeben 
wollten, auch noch nach dieser Frist neues Material lieferten. 
Aus der Vergleichung des Materials, welches die Kinder in 
den ersten 10 Minuten lieferten, mit demjenigen, welches von 



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58 



> 

Nicolai Wolodkewitsch. 



ihnen in den drei Minuten nach Verlauf der ersten 10 Mi- 
nuten geliefert worden war, dürfte es möglich sein, ganz inter- 
essante Schlüsse zu ziehen. 15 ) 



1& ) Ich bemerke hier, daß mir (in der 20. Nummer des Journals 
„Populär Science Monthly" 1901, Dezember) Herrn Mendenhalls Artikel 
„A mechanical Solution of a literary problem" zu Gesicht kam. In diesem 
Artikel versucht der Autor die Lösung einer Frage durch eine Unter- 
suchungsmethode, die an die von mir in der gegenwärtigen Arbeit angewandte 
erinnert Herr Mendenhall suchte nämlich durch Summierung einiger hundert- 
tausend Wörter aus Shakespeares Werken die relative Zahl der von Shake- 
speare gebrauchten Wörter aus zwei, drei und mehr Buchstaben zu be- 
stimmen: drückt man diese Zahlen durch eine Kurve aus, so stellt es sich 
heraus, daß die Kurve für das erste Hunderttausend von Wörtern mit der 
Kurve für alle übrigen Hunderttausend vollkommen übereinstimmt. Daraus 
schließt Herr Mendenhall vollständig richtig, daß eine solche Kurve den 
Stil Shakespeares vollkommen charakterisiert und ihn — den größten Dichter, 
von allen anderen Schriftstellern unterscheidet, von denen jeder seine eigene 
Kurve besitzen muß. Nachdem Herr Mendenhall für. die Werke Bacons 
von Verulam eine Kurve ausgearbeitet hatte, fand er, daß sich diese 
von der Kurve Shakespeares scharf unterscheidet. Auf diese Weise ent- 
scheidet er den alten Streit darüber, ob die Shakespeare zugeschriebenen 
Werke auch wirklich von Shakespeare geschrieben worden sind, oder von 
Bacon, zugunsten des ersteren. Es will mir scheinen, daß eine solche me- 
chanisch-statistische Metbode der Psychologie wichtige Dienste erweisen 
könnte; so dürfte z. B. die Summierung verschiedener Epitheta, Bilder, 
Figuren und andere stilistische Eigentümlichkeiten im allgemeinen wert- 
volle psychologische Anhaltspunkte zur Charakteristik der betreffenden 
Schriftsteller beizutragen imstande sein. 



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Erster Kongress 
für Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

Berlin, Oktober 1906. 
I. Autorreferate. 

Kinderforschung und Pädagogik. 

Von 

* 

Mittelschulrektor Ufer, Elberfeld. 

Das pädagogische Leben der Gegenwart zeigt eine große 
Unbeständigkeit. Das angeblich oder wirklich Neue wird in 
seiner Tragweite vielfach überschätzt und der Zusammenhang 
mit der Vergangenheit geht verloren. Auch betreffs der Kinder- 
forschung zeigen sich bereits Spuren der Ueberschätzung in 
pädagogischer Hinsicht, insofern man von ihrem Einflüsse 
einen völligen Umschwung erwartet. Man meint bisweilen, erst 
die Kinderforschung werde der Pädagogik eine sichere Grund- 
lage geben dadurch, daß sie genau den Gang der kindlichen 
Seelenentwicklung aufzeigen. Ob sie das kann, steht 
noch dahin, Die gegenwärtige, doch schon recht ansehnliche 
Literatur spricht nicht dafür. Am meisten ist bis jetzt das 
Seelenleben von der Geburt bis zum 6. oder 7. Jahre erforscht 
worden, und der Ertrag ist wertvoll für das Haus und den 
Kindergarten. Betreffs des schulpflichtigen Alters sind die 
Ergebnisse in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht dürftig und 
unvollständig und werden es vielleicht bleiben, sei es, weil 
sich die Schwierigkeiten zu sehr mehren, sei es weil möglicher- 
weise, natürlich von dem Einflüsse der Pubertät abgesehen, eine 
eigentliche Entwicklung in dem früheren Sinne nicht mehr statt- 
findet, sondern mehr eine Erstockung. Die Pädagogik wird 
daher wohltun, das von der Vergangenheit ererbte Gut nicht 



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60 Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge 



achtlos bei Seite zu werfen, zumal in ihm doch auch Ergebnisse 
der Kinderbeobachtung verwertet sind, dabei aber Neues, falls 
es wirklich neu ist, freudig anzuerkennen und zu benutzen. Es 
wird sich dann vielleicht zeigen, daß auf dem Gebiete der 
Pädagogik nicht ganz so leicht Lorbeeren zu holen sind, wie 
manche zu glauben scheinen. 

Eine weit größere Bedeutung kommt der Kinderforschung 
in pädagogischer Hinsicht zu, wenn es sich um das 
Gebiet der unterschiedlichen Beanlagung und Be- 
fähigung handelt. Die Psychologie der Geschlechter steckt 
leider noch in den Anfängen, obwohl wir ihrer in dem 
gegenwärtigen Streite um die Neugestaltung des weiblichen 
Bildungswesens so dringend bedürften. Was aber die Kinder- 
forschung in dieser Beziehung beigebracht hat, mahnt die 
eifrigen Reformer entschieden zur Vorsicht. Schließlich wird 
das Wort Goethes auch hier wahr bleiben, daß wir die Kinder 
nicht lediglich nach unserm Willen formen können. So wie 
Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, sie er- 
ziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren. Diese Worte 
werden allerdings, wie ich glaube, häufiger angeführt, als 
richtig verstanden. Man darf sich ihren Sinn doch wohl nicht 
so vorstellen, daß erst die Erziehung ihr Werk tun und daß 
hierauf das Gewährenlassen anfangen solle. Stellt man aber 
das Erziehen und das Gewährenlassen nebeneinander, so steht 
man vor einer ungemein schwierigen Aufgabe, zu deren Lösung 
die Kinderforschung nur einen allerdings sehr wichtigen Bei- 
trag liefern kann : die Kenntnis der Individualität. 

Von besonderer Bedeutung ist die Berücksichtigung der 
Individualität, wenn Psychopathisches ins Spiel kommt; daher 
muß es dankend anerkannt werden, daß die neuen Bestimmungen 
für die Lehrerbildung in Preußen auch der krankhaften Er- 
scheinungen des kindlichen Seelenlebens gedenken. Je mehr 
die Kenntnis phychopathischer Erscheinungen des Kindes- und 
Jugendalters fortschreitet und sich ausbreitet, um so richtiger 
wird man manche Dinge beurteilen, die heutzutage nicht selten 
gänzlich verkannt werden. Bei groben Ausschreitungen oder 
gar schaudererregenden Verbrechen, deren sich Jugendliche 
leider so oft schuldig machen, wird man sich hüten, schlankweg 
von den Früchten einer angeblich entchristlichten Schule oder 
einer angeblich muckerischen Erziehung zu reden. Psychopa 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 61 

thisch veranlagte Kinder bedürfen einer besonders vorsichtigen 
Behandlung ; sie bedürfen kundiger Lehrer und kundiger, d. h, 
in diesem Falle auch psychiatrisch gebildeter Schulärzte, 
die ihre Eigenart verstehen. 

Die pädagogische Bedeutung der Kinderforschung darf 
freilich nicht dahin übertrieben werden, als vermöge sie aus sich 
selber Ziele für die Erziehung aufzustellen. Das ist ganz be- 
sonders zu betonen, weil es auch in unserer Zeit Inicht an 
pädagogischen Männlein fehlt, die zu den Kindlein nieder- 
kauern, anstatt sie zu sich emporzuziehen. Erziehung ist An- 
passung an die Gesellschaft, nicht unbehindertes Sichausleben, 
und daher wird es bei ihr niemals völlig an Druck fehlen, auch 
wahrscheinlich niemals an Klagen über diesen Druck, und 
diese Klagen werden natürlich auch in der Zukunft bei solchen 
am lebhaftesten sein, die sich in ihrer Jugend infolge be j 
sonderer wohl psychopathischer Veranlagung am schlechtesten 
anpassen konnten. Ich sage mit Bedacht : auch in der Zukunft, 
denn ich bin allerdings der Meinung, daß uns eine Psycho- 
graphie oder gar Pathographie über gewisse, zeitgenössische 
Schriftsteller, soweit sie es ehrlich meinen, überraschenden 
Aufschluß geben könnte. 

Freilich gehören zu einer ausgiebigen Berücksichtigung der 
Individualität auch noch Vorbedingungen, die nicht auf dem 
Gebiete der Kinderforschung liegen. Es treten uns vielfach 
Hemmnisse entgegen, die zwar, wie wir hoffen, immer mehr 
schwinden werden, die uns aber einstweilen wenigstens die 
Klage Questenbergs in den Piccolomini nahe legen : O, daß wir 
von so ferner, ferner Zeit und nicht von morgen, nicht von 
heute sprechen. 



Wesen und Aufgaben einer Schülerkunde. 1 ) 

Von 

Dr. Eduard Martinak, Universitätsprofessor in Graz. 

Der Vortragende bestimmt die Aufgabe dessen, was sich 
füglich am besten unter dem Terminus „Schülerkunde" zu- 
sammenfassen läßt, dahin, dasgesamtekörperlicheund 

— . — — 

t) Vollständig erschienen in den „Beiträgen zur Kinderforschung und 
Hfcileniehung", Heft XXV, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 1907. 



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62 Erster Kongress f. Kinderforachung und Jugendfürsorge. 

geistige Leben de« Schülers zu durchforschen 
mitbesondererBetonungallerjenerErscheinun- 
gen, die mit dem Schulleben als solchem inkau - 
salem Zusammenhange stehen. Die zeitliche Grenze 
nach unten ist durch den Beginn der Schulpflicht klar gegeben, 
die obere Grenze schwankt zwischen vollendeter Schulpflicht, 
beendeter höherer Schule (Abirurientenexamen) und allenfalls 
erreichter Wehrhaftigkeit, und läßt sich nur ungefähr in die 
Nähe des 20. Lebensjahres ansetzen. 

Daß eine „Schülerkunde" neben der schon reich entwickel- 
ten Kinderpsychologie und Kinderforschung (child-study) be- 
rechtigt ist, ergibt sich erstens daraus, daß die Kinderforschung 
in der Regel um das 10. Lebensjahr herum schon abschließt, 
ferner aus der so überragenden Wichtigkeit der Schulzeit für 
die gesamte Entwicklung der großen Mehrzahl unserer Jugend 
und schließlich aus dem hierbei in erster Linie stehenden 
pädagogischen Interesse, das mit dem der theoretischen 
Psychologie sich nicht immer deckt. 

Auch weist der Vortragende darauf hin, daß gerade in 
unserer Zeit, die so gerne und so reichlich an der Schule Kritik 
übt, eine Klage als Grundton fast überall herausklingt: man 
verstehe die Kindes-, die Knaben-, die Jünglingsnatur zu wenig. 
Und da könne Eines ruhig zugestanden werden: zu viel ^n 
Kenntnis der jugendlichen Psyche und ihrer Entwicklungs- 
tendenzen und -Phasen haben wir gewiß nicht und können wir 
gar nicht haben. Dabei sei Kenntnis der jugendlichen Indivi- 
dualität allerdings durchaus nicht gleichzusetzen mit Nachgeben 
und weichem Sichanschmiegen. Auch die unentbehrliche 
strenge Gegenwirkung verlange möglichste Kenntnis der Natur 
des Zöglings. i 

Schließlich gibt der Vortragende seiner festen Ueber- 
zeugung Ausdruck, daß Pflege der Schülerkunde, beobachten- 
des und forschendes Mitarbeiten in ganz besonderem Maße 
segensvoll auf den Lehrer und Erzieher zurückwirke. Nicht 
nur seine Einsicht, sein Können und sein Tun werde gefördert, 
sondern vor allem werde er dadurch seiner gewiß schweren 
Berufsarbeit neuen Reiz und unversiegbares Interesse ab- 
gewinnen. 

Hierauf gedenkt der Vortragende dessen, was auf diesem 
Gebiete schon geleistet worden ist, so besonders der Bemühun- 



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Erster Kougres» f. Kinderforechung und Jugendfürsorge. 63 

gen der Herbart sehen Schule um Kenntnis und Beachtung 
der Schülerindividualität, der trefflichen Anregungen und Bei- 
träge von Wilh. Münch (bes. in seinem „Geist des Lehramts") 
und dann der weitreichenden Tätigkeit Stanley Halls in Nord- 
amerika, als deren gereiftes Ergebnis uns nun sein großes, 
zweibändiges Werk „Adolescence" (London 1905) vorliegt. 

Zur Mitarbeit an der Schülerkunde seien vor allem Lehrer 
und Erzieher berufen, dann die Eltern und z. T. die Schüler 
selbst, insofern sie entweder direkt Auskunft geben, oder in- 
direkt durch ihre schriftlichen Ausarbeitungen und dergleichen. 
Wertvoll wäre statistisches Material über die Lebensschicksale 
ehemaliger Schüler, ferner Aufbewahrung lückenloser Reihen 
Von Arbeitsheften je eines Schülers während seiner ganzen 
Studienzeit, Anlegung von Individualitätenlisten, Charakter- 
bildern, biographischen Skizzen u. ä. m. 

Als Vorbereitung des Lehrers für erfolgversprechende Mit- 
arbeit an der Schülerkunde muß in erster Linie das Studium 
der Psychologie bezeichnet werden — dann aber auch Pflege 
der eigenen Jugenderinnerungen, Verkehr mit Kindern und 
jungen Leuten auch außerhalb der Schule, beim Spiel und der- 
gleichen, dann sorgsames, wenn auch recht vorsichtiges Be- 
achten der einschlägigen belletristischen Werke, so der jetzt 
modernen Erziehungs- und Schülerromane, Schülerdramen und 
dergleichen. 

Der Stoff der Schülerkunde läßt seiner Natur nach zweierlei 
Anordnung zu, entweder chronologische Längsschnitte, 
bezw. biographische Darstellung und anderseits Quer- 
schnitte durch einen oder durch mehrere wichtige Zeitpunkte 
des ganzen Entwicklungsverlaufes. 

Die erstere Darstellungsart schildert entweder die Ge- 
sa m t entwicklung eines konkreten Individuums, oder die des 
typischen Durchschnittsmenschen, oder sie faßt nur den Ent- 
wicklungsgang einer einzelnen Komponente des psychi- 
schen oder physischen Lebens ins Auge, also etwa die des 
Intellekts, der ästhetischen Gefühle, der Phantasie, der Muskel- 
kraft u. s. f. 

Schildert man, nach der zweiten Art, einzelne Etappen der 
Entwicklung, so erhebt sich sogleich die wichtige Frage nach 
natürlichen Abschnitten oder Epochen des Jugend- 
lebens. Trotz aller Verschiedenheit der Ansichten hierüber 



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64 Erster Kongrats f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

können Zahnwechsel und Pubertätsentwicklung als deutliche, 
von der Natur gegebene Marksteine festgehalten werden. 

Das sachliche System des ganzen reichen Stoffes ist vor 
allem durch die Sonderung physischer und psychischer Tat- 
sachen gegeben. Das Studium der erstercn fällt wohl haupt- 
sächlich in das Arbeitsgebiet des Arztes, der Lehrer kann hier 
nur durch Herbeischaffung von Daten mitwirken. Der I, Band 
des erwähnten Werkes von St. Hall bringt hier schon reiche 
Ergebnisse. Bei der so engen Wechselwirkung körperlicher 
und seelischer Vorgänge ist natürlich diese Grenzscheide nicht 
immer klar zu ziehen. Speziell in die Grenzzone fallen alle direkt 
psychophysischen Ermittelungen — ebenso das weite Gebiet 
der Anormalitäten, der geistigen Erkrankungen und „Minder- 
wertigkeiten". 

Innerhalb des rein Psychischen kann das System der 
Schülerkunde sich einerseits dem System der wissenschaftlichen 
Psychologie anschließen. Soweit Arbeiten exakt experimenteller 
Art vorliegen und soweit derlei Arbeiten aus rein theoretisch- 
psychologischem Interesse heraus unternommen sind, ist dies 
einfach selbstverständlich. 

Da aber die theoretische Psychologie gezwungen ist, über- 
all auf die Erforschung der einfachsten, elementarsten Tat- 
sachen zu dringen, und alles Komplexe einer möglichst weit- 
gehenden Analyse zu unterwerfen, wird die Schülerkunde neben 
dem, was ihr die Psychologie bietet, gezwungen sein, auch 
die so vielen, weit komplexeren Tatsachen des Seelenlebens 
der Schüler, wenigstens vorläufig, in ihrer Komplexheit zu 
beobachten, zu beschreiben und dabei sogar von dem strengen 
Systeme der wissenschaftlichen Psychologie abzuweichen. Die 
Fülle des Stoffes spottet ja dermalen noch so oft jeder exakten 
Analyse. In diesem Falle bleibt nichts übrig, als sich nach 
anderen, ich möchte sagen provisorischen, Gesichtspunkten für 
eine Gliederung und Anordnung des Stoffes umzusehen. Als ein 
solches ordnendes Prinzip bietet sich recht ungezwungen die 
Beobachtung des Schülers nach den wichtigsten äußeren 
Lebenskreisen und den Tatsachengebieten, mit denen er in 
Berührung kommt. Also etwa: 

1 . Der Schüler und das tägliche Leben (Tagesordnung, 
Schlaf, Mahlzeiten, Reinlichkeit, Kleidung, Ordnung . . .) 

2. Der Schüler und die Familie .. . 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 65 



3. Der Schüler und die S c h u 1 e (Zentralgebiet) 

a) sein Verhältnis zum Lehrer und zur S c h u 1 e , 

b) zu den Mitschülern, 

c) zu dem Lehrstoffe (Interessenkreis des Schülers, 
I nterströmungen im geistigen Leben des Schülers), 

d) Rückwirkung des Schullebens auf das Gesamtver- 
halten des Schülers. 

4. Der Schüler und die Natur und zwar 

a) die Natur als Erkenntnis objekt, 

b) die Natur als Gegenstand ästhetisch - ethischen 
Fühlens, 

c) Einfluß der Natur (Klima, Witterung, Jahreszeit) auf 
den Schüler. , 

5. Der Schüler und die Kunst und das Schöne über- 
haupt. (Kunsterziehung! . . .) 

6. Der Schüler in seinem Verhältnis zur Religion (inner- 
liche Wandlungen und Kämpfe gerade im beginnenden Jüng- 
lingsalter! . . .) 

7. Der Schüler zum Nebenmenschen, (Freundschaft, 
Egoismus, Altruismus; seine Stellung zu Arm und Reich, Alt 
und Jung, Hoch und Nieder, zu Kranken, soziale Regungen, 
Vereine, Verbände, Parteien, Korpsgeist . . .) 

7a. Speziell die Stellung zum andern Geschlechtc 
(erwachende Neigungen, Liebe; coeducation . . .) 

8. Fehler, Verbrechen, Laster... (des Körper- 
lichen Ichs: Gesundheit, Reinheit, Kraft, Schönheit . . ., seines 
geistigen Ichs : Selbstgefühl, Ehrgefühl, depressive Zustände der 
Selbstanklage; Wahrheit, Strenge gegen sich selbst . . .) 

Aber auch mit dieser Gruppierung wird man sein Aus- 
langen nicht immer finden, oder manches, was aus andern 
Gründen zusammengehört, auseinanderzerren müssen, so daß 
es sich empfehlen dürfte, außerdem — mit vielleicht noch 
weitergehendem Verzicht auf systematische Strenge — eine 
Reihe von B e t ä t i g u n g e n u n d L e b e n s ä u ß e r u n g e n des 
Schülers einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Dit 
wichtigsten der im folgenden aufgezählten sind übrigens da 
durch legitimiert, daß sie schon vielfach monographische Be 
handhing erfahren haben. 

Zeitschrift für pidagogisehe Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 



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66 Erster Kongrcsa f. Kinderforschung und Jugendfürsorge, 

i 

! 

1 . Die Sprache des Schülers. Was für die Kindersprache 
bereits geleistet ist, müßte fortgeführt werden bis zur Reife. 
— Sprachunarten, Sprachspielereien, Sprachkrankheiten. 
Sprachcharakter, sprachliches „Gewissen" ; Fähigkeit der freien 
Rede u. s. w. 

2. Die Schrift im engeren Sinne und der schriftliche 
Ausdruck, Stilentwicklung, Binets Typen u. s. f. 

3. Das Lesen: Lektürstoffe und Qualität des Lesens . . . 

4. Das Spiel, hinaufgeführt bis ins Alter der Reife. 

5. Das Sammeln. 

6. Die Geldgebarung. 

7. Der Schüler und die Strafe, Wirkung der Strafen . . . 

8. Hehler, Verbrechen, Laster... 

9. Politisches Verständnis und Interesse . . . 

10. Der Schüler- und der gesellschaftliche Ver- 
kehr, Umgangsformen . . . 

11. Ideale der jungen Leute (persönlich konkrete, oder 
abstrakt typische, menschliche oder berufliche, Dauerhaftigkeit 
oder Flüchtigkeit der Ideale . . .) 

Auch diese Reihe ist natürlich eine offene und durchaus er- 
weiterungs- oder verbesserungsfähige und soll nur einer vor- 
läufigen Orientierung in dem so schwer übersehbaren Stoff- 
reichtum dienen. 

Nach einem warnenden Hinweis auf die Gefahr derartiger 
Materialsammlungen, in Kleinlichkeit zu verfallen, betont 
der Vortragende nochmals den leitenden Gesichtspunkt des 
pädagogischen Interesses. Als höchst wünschenswert wird eine 
Konzentration einschlägiger Arbeiten bezeichnet, wozu etwa ge- 
eignet erschiene 1) die Zeitschrift f. Kinderforschung, 
herausgegeben von Koch, Trüper und Ufer, die Zeitschrift 
f. pädagog. Psychologie, herausgegeben von Kemsies 
oder die Zeitschrift für Philosophie u. Pädagogik, 
herausgegeben von Flügel, Just und Rein. 

Auch Programmabhandlungen der höheren Schulen 
könnten diesem Zwecke vortrefflich dienen. 

Mit dem Hinweise auf die Wichtigkeit, Tatsachen zu er- 
mitteln, schließt der Vortragende: in dem dermaligen Chaos 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 67 



von durcheinander schwirrenden Meinungen in Erziehungs- und 
Schulfragen werde man später einmal auf sicherer Grundlage 
stehend, mit ungleich mehr Nachdruck und Festigkeit Stellung 
nehmen können. 



Beiträge zur Kenntnis der physischen und psychischen 
Natur der sechsjährigen, in die Schule eintretenden 

Münchener Kinder. 

Von 

Dr. Engel sperger und Dr. Ziegler. 

Die an ca. 500 sechsjährigen Münchener Kindern unter- 
nommenen Untersuchungen gliedern sich in einen anthropo- 
logischen und psychologischen Teil. Was den ersteren be- 
trifft, so konnte bei der Kürze der verfügbaren, Zeit nur über 
Körperlänge und Gewicht referiert werden. 

Bezüglich der Körperlänge ergaben sich folgende Re- 
sultate: die größte Zahl der in die Schule eintretenden Kinder 
gruppiert sich bei den Knaben um die Körperlänge von 107 
bis 118 cm (Durchschnittsgröße m cm), bei dejn Mädchen 
von 105 — 117 cm (Durchschnittsgröße 110,03 cm )- Die weit- 
aus größte Zahl der Knaben wies Gewichte von; 15,50 kg 
bis 21 kg auf. Fast dieselben Verhältnisse zeigten die Mädchen. 
Durchschnittsgewicht der Knaben 18,39 kg, der Mädchen 
18,22 kg. Die durchgeführte Scheidung nach den sozialen 
Lebensverhältnissen ergab für die Kinder schlechter situierter 
Stände hinsichtlich der Länge wie des Gewichts kleinere Maße. 
Ferner zeigte es sich, daß die noch nicht sechs Jahre 
alten Kinder beträchtlich geringere Werte als ihre älteren 
Kameraden aufwiesen. Somit fanden die aus der Praxis des 
Schullebens heraus mit Rücksicht auf den physischen und 
psychischen Entwicklungsstand häufig geltend gemachten Be- 
denken gegen eine Aufnahme noch nicht sechs Jahre alter 
Kinder hinsichtlich Körperlänge und Gewicht zahlenmäßige 
Belege. Auch Untersuchungen über die Muskelkraft, gemessen 
am Dynamometer ergaben eine bedeutende Ueberlegenheit der 
älteren Kinder Jgegenübcr den noch nicht sechs Jahre alten 
Schulneulingen. Weitere Untersuchungen über die G e w i c h t s- 

5* 



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68 



Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



Verhältnisse nach achtwöchentlichem SchuJ- 
besuch veranlaßten den Wunsch, zu erfahren, ob der eine 
so große Aenderung in der bisherigen Lebensweise des Kindes 
verursachende erste Schulunterricht einen merklichen Ausdruck 
im Gewicht finde. Zirka 850/0 sowohl der Knaben als der 
Mädchen wiesen Gewichtszunahmen von 0,05 kg bis 1,5 kg 
auf. Ein nicht unbedeutender Rest zeigte Gewichts a b n ah - 
raen bis zu 1 kg. Diese auch anderweitig gefundene Tat 
sache verdient alle Beachtung. 

Wenn wir die Ursachen dieser Erscheinung betrachten, 
so darf wohl manches auf Rechnung der elterlichen Er- 
ziehung gesetzt werden, die bisher ihre Kinder im Sinne 
einer körperlichen und geistigen Abhärtung vielleicht auf das 
Schulleben zu wenig vorbereiteten. Gewöhnung an Spazier- 
gang nicht bloß bei günstiger Witterung, fleißige Spiele, be- 
sonders im Freien, Fernhaltung von Schädlichkeiten in der 
Ernährung, Alkohol, Gewöhnung an Gehorsam, Zucht usw. 

Diese letzteren Bemerkungen möchten wir nicht so auf- 
gefaßt wissen, als ob damit gleichsam einer schulgemäßen Er- 
ziehung das Wlort geredet werden sollte, das Schicksal be- 
wahre jedes Kind davor. Wir betonen das besonders denen 
gegenüber, die in wohlmeinender Absicht ihre Kinder zur 
Schule etwas vorbereiten wollen und den Kleinen neben Zu- 
fügung verschiedener Schädlichkeiten in unterrichtlicher oder 
anderer Hinsicht auch schon die Schule schrecklich machen, 
ehe sie ein Schulzimmer gesehen haben. Je naturgemäßer das 
Leben im Vorschulalter, desto bessere Aussicht besteht für die 
spätere körperliche und geistige Tüchtigkeit. So können im 
Rahmen eines normalen Familienlebens auf oben angegebene 
Weise die Eltern in nicht unbeträchtlicher Weise zur Er- 
höhung der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit ihres 
Kindes, zur Förderung der Schulreife desselben beitragen und 
damit auch den an sich schroffen Uebergang vom Elternhaus 
zur Schule mildern. Daß ein gut geleiteter Kindergarten für 
nicht wenige Kinder ein Vorteil wäre, beweist die Erfahrung. 

Eine wichtige Pflicht ist es für Staat und Gemeinde, 
die Schädlichkeiten von den Schulanfängern nach Möglichkeit 
fernzuhalten und zwar durch Errichtung hygienisch ein wands- 
freier Schulhäuser, Verkleinerung der Schulbezirke und damit 
Verkürzung der nicht immer für Erwachsene, geschweige denn 



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Ersttsr Kongreß f. Kinderfor$chung und Jugendfür sorgt. 



69 



für Kinder, zuträglich weiten Wege, Mitwirkung des Schul- 
arztes bei der Auswahl der Schulanfänger, Ueberwachung der 
Schüler während des Jahres. 

Und sollten alle diese Wünsche erfüllt sein, so bliebe noch 
ein wichtiger Faktor. Das ist der Schulbetrieb selbst. 
Es muß eine Hauptsorge der Schulverwaltung sein, der geistig 
und körperlich geringen Widerstandskraft der Kindsnatur 
Rechnung zu tragen bei der Auswahl der Lehrgegenstände, 
Aufstellung der Lehrziele, durch Verkürzung der Schulzeit im 
ersten Jahre und wieder besonders in den ersten Monaten 
desselben, durch tägliche Einschaltung von Turn- oder 
Spielzeiten u. -dergl. Wichtiger als die möglichst rasche Er- 
lernung des Schreibens und Lesens schon im ersten Schuljahr 
ist die Gesundheit der Kinder, und diese wird geschädigt 
durch zu langes Sit/en, durch den frühzeitigen Schreib- und 
Leseunterricht, der die Atmungstätigkeit und damit das all- 
gemeine Befinden ungünstig beeinflußt. 

Ein heitergestimmter, nervenstarker Lehrer, der Herz 
und Sinn für die kleine Welt um sich hat, der durch eine 
kindliche Methode den Lebensprozeß zu erleichtern und durch 
Fernhaltung alles Drills den Kindern die Arbeit zu einer freud- 
vollen zu machen versteht, wird dadurch manche Schädigung 
physischer Natur vermeiden oder doch verringern können. 

Bezüglich des psychologischen Teiles der Unter- 
suchungen wurde folgendes ausgeführt. Der Uebertritt vom 
Elternhaus in die Schule ist von besonders tiefgehendem Ein- 
fluß auf das kindliche Seelenleben. Für die Kinderpsychologie 
und Pädagogik ist' es eine dringende und schwierige Aufgabe, 
unsere Kenntnisse von den psychischen Anlagen und Fähig- 
keiten der Schulanfänger zu vermehren. Mehrfach sind die 
Wege, die bei Erforschung des kindlichen Seelenlebens ge- 
gangen werden können. Eine Gruppe von Arbeiten beschäftigte 
sich mit der Feststellung des Vorstellungskreises 
des Kindes beim Eintritt in die Schule. Dabei wollte 
man zahlenmäßige Anhaltspunkte gewinnen, wieviele und 
welche für den ersten Unterricht in Betracht kommenden An- 
schauungen und Vorstellungen aus dem zoologischen, botani- 
schen, lokalgeographischen, sozialen, religiösen usw. Sach- 
gebiete vorhanden seien. Es wurden Fragen gestellt wie : 
Hast du einen Hasen laufen sehen? Die kritische Betrachtung 



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70 



Erster Kongreta f. KinderforscJmng und Jugendfürsorge. 



zeigte, daß diesen Untersuchungen Mängel in stofflicher und 
methodologischer Hinsicht anhaften. Deshalb konnten sich 
auch die an diese Analyse geknüpften Hoffnungen praktisch 
pädagogischer Art nicht oder nur teilweise erfüllen. Es muß 
gefordert werden, daß derartige Forschungen zunächst von 
dem weiteren Standpunkte der Kindespsychologie aus 
unternommen werden. Auch kann es sich dabei nicht um 
eine Erforschung des gesamten kindlichen Vorstellungs- 
kreises, sondern nur um eine Auswahl einzelner Vorstellungs- 
komplexe handeln. Weiter schließt die Verschiedenheit der 
Untersuchungsziele von selbst das Vorhandensein einer für 
alle Fälle verwendbaren Methode aus. Es muß die dem, 
jeweiligen Sachgebiet adäquate Methode angewendet werden. 
Bezüglich der Methode und Ergebnisse des psychologischen 
Teiles der Untersuchungen sei verwiesen auf die Zeitschrift: 
„Experimentelle Pädagogik" von Professor Meumann und Lay, 
in welcher obige, noch nicht ganz abgeschlossenen Unter- 
suchungen erschienen sind bezw. erscheinen werden. 



Reaktionszeit im Kindesalter. 

Von 

Von Dr. med. W. F ü r s t e n h e i m. 

Dr. Fürstenheim berichtet über das Ergebnis von über 
30000 Reaktionszeitmessungen, die er im Sommer 1905 und 
im Winter 1905-06 im psychologischen Laboratorium der Kgl. 
Nervenklinik (Geh. Rat Ziehen) an 7 — 10 jährigen Volksschul- 
kindern angestellt hat. Es handelt sich um die ersten derartigen 
Messungen an normalen Kindern, welche die Uebung, p!ie 
Richtung der Aufmerksamkeit während der Reaktion usw. 
systematisch berücksichtigen. 

Die durchschnittlichen Werte der acust. neutral. Reaktions- 
zeit betragen mit großer Uebereinstimmung bei den Knaben 
0,14 — 0,16 sec, bei den Mädchen 0,16 — 0,18 sec; charakteri- 
stische individuelle Verschiedenheiten der Kinder erhält man 
durch eine Anordnung der erhaltenen Werte in zeitlicher 
Reihenfolge (Zeitkurven) : neben ruhigen, stetigen Kindern mit 



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Erster Kongres* f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 71 

gleichmäßigem Uebungsfortschritt finden sich unstetige, bei 
denen der Uebungsfortschritt durch periodische Rückschritte 
verzögert oder ganz verhindert wird. Bei einigen Kindern 
zeigt sich der Fortschritt durch das allmähliche Flacher- 
werden der periodischen Schwankungen, ohne daß diese sich 
bei fortschreitender Uebung völlig verlieren. 

Sehr interessant ist nun, daß die hier aufgedeckten Ver- 
schiedenheiten der Kinder sich nicht auf die Reaktionsleistung 
beschränken, sondern ^durchgreifende sind: bei jeder psychi- 
schen Betätigung — auf dem Gebiete des Intellekts, wie dem 
des Charakters — lassen sie sich teils durch freie Beobach- 
tung, teils durch das Verhalten der Kinder bei der pädagogisch- 
psychologischen Untersuchung mit sog. „Testmethoden" nach- 
weisen. 1 ) 

Der Wert der Methode liegt darin, daß sie ein mehrfach 
auf dem Kongreß formuliertes Problem der Lösung entgegen- 
führt : sie vermag organisatorische Verschiedenheiten der Kinder, 
die unabhängig von Milieu, Erziehung und Unterricht in der 
ersten Anlage des Kindes begründet sind, aufzudecken, zu 
messen und die Grenzen ihrer Veränderlichkeit durch Uebung 
und äußere Beeinflussung darzustellen. 



Ueber die individuellen Hemmungen der Aufmerksamkeit 

im Schulalter. 

Von , 

Dir. B. D e 1 i t s c h , Plauen. 

Intensiv und lange aufmerken können nur begabte, gesunde 
Naturen. Die individuellen Hemmungen der Aufmerksamkeit 
sind psychische Folgen von Krankheiten und Gebrechen. Ent- 
weder krankhafte Organempfindungen lenken die kindliche 
Aufmerksamkeit ab ; oder die sensorische Aufmerksamkeit wird 
durch Sinnesmängel eingeschränkt; oder die assoziative Auf- 
merksamkeit wird durch zentrale Hemmungen gestört. Der 



*) Die Bedingungen, unter denen diese Tatsache eine Einschränkung 
erfährt, werden in der für den Druck bestimmten Abhandlung genauer 
erörtert. 



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t 

72 Erster Kongreß f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

Lehrer kann am ersten individuelle Hemmungen im Schulalter 
erkennen. Er ist verpflichtet, sie unter Beratung mit den 
Schülereltern und dem Schularzte diagnostisch zu erfassen und 
pädagogisch zu berücksichtigen. 



Ueber Farbenbeobachtungen bei Kindern. 

Von 

Prof. Dr. Karl I.. Schaefer, Privatdozent an der Universität 

Berlin. 

Aus der bisherigen Literatur über Farbenbeobachtungen 
bei Kindern ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine be- 
stimmte Reihenfolge in der Entwicklung der einzelnen Farben- 
empfindungen. Vielmehr weist alles darauf hin, daß die 
Empfindungs- und Unterscheidungsfähigkeit für die Haupt- 
farben in einem gewissen Stadium der Entwicklung gleich- 
zeitig und gleichartig eintritt. Wann geschieht nun das? Nach 
den Versuchen des Vortragenden an seinem eigenen zweieinhalb- 
jährigen Sohn, die mit einigen früheren, weniger systematischen 
Beobachtungen anderer in Einklang stehen, vermag das Kind 
die Hauptfarben bereits lange, bevor es sie tadellos richtig 
benennen lernt, zu unterscheiden. Redner kommt schließlich 
zu dem Resultat, daß das Farbenempfindungs- und Farben- 
unterscheidungsvermögen überhaupt nicht eigentlich — etwa 
durch Uebung oder Unterricht — entwickelt wird, sondern 
angeboren ist. Von einer Erziehung des Farbensinnes kann 
höchstens in Bezug auf Schärfung der Aufmerksamkeit, der 
Selbstbeobachtung, überhaupt der geistigen Verwertung des 
Empfindungsmaterials die Rede sein. 



Die oberen Stufen des Jugendalters. 

Von 

Dr. Hans Schmidkunz, Berlin-Halensee. 

Der Vortragende begründet, erstens, seine Thema- 
stellung, indem er ausgeht von dem Bedauern über die Vernach- 
lässigung des Gegenstandes und über die Schwierigkeit,, bereits 
jetzt etwas Festes über ihn mitzuteilen. t Es handelt sich um 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



73 



ein Teilgebiet der Entwicklungsgeschichte der menschlichen 
Seele, also der sogenannten Psychogenesis, und zwar um die 
Lebensstufe zwischen der beginnenden oder vollendeten Pubertät 
und dem vollendeten Wachstum (vom 14. oder 16. bis etwa 
zum 24. Lebensjahr). Bezeichnet man die gesamte Frühzeit 
des Menschen ajs sein Jugendalter, so bildet diese Periode 
dessen obere Stufe; schränkt man jene Bezeichnung auf die 
ebengenannte Zeit ein, so lassen sich als ihre oberen Stufen 
etwa die ersten Jahre des dritten Lebensjahrzehntes bezeichnen. 
Von diesem gilt das im folgenden Gesagte hauptsächlich. 

Zweitens fragt es sich nach den Grenzen und Methoden 
des hier möglichen Erkennens. Verengt werden jene durch 
die Verwickeltheit unseres Objektes sowie durch die Schwierig- 
keit, jedesmal Natur und Kultur zu unterscheiden. Als, Methoden 
zur Erforschung des Jugendalters lassen sich anführen : 1 . die 
gewöhnliche oder Popularbeobachtung, die möglichst kritisch 
zu verwerten ist ; 2. die wissenschaftliche Beobachtung; 3. das 
Experiment; 4. die Verwertung dessen, was bisher literarisch 
an Jirgendbekenntnissen und an Jugendbeobachtungen nieder- 
gelegt worden ist. An die Lehrer und Erzieher der Jugend, 
zumal an die Hochschuldozenten, ergeht der Appell, durch 
tagebuchartige Aufzeichnungen über die Personen ihrer Ein- 
wirkung die Erkenntnis der Sache zu erweitern. 

An ^dritter Stelle wird versucht, für eine nähere Be- 
schreibung eine Grundlage durch folgendes zu geben. Der 
Jüngling ist entwickelter als das rvind ; folglich kommen für 
ihn diejenigen Partien der Psychologie überhaupt in besonderen 
Betracht, welche die entwickelteren Inhalte des psychischen 
Lebens behandeln, ebenso wie für die Kindespsychologie haupt- 
sächlich elementarere Partien in Betracht kommen. Dies 
verlangt allerdings einen bisher noch wenig durchgeführten 
Aufbau der Psychologie von den Elementen bis hinauf zu den 
höchsten Kombinationen, also ansteigend von den Sinnes- 
empfindungen usw. bis zu den reichen und mannigfaltigen 
Verflechtungen verschiedenartiger seelischer Bestandteile. Eine 
wichtige Rolle spielt dabei der Ueberbau einer „intellektuellen" 
Erkenntnis über einer „sensualen". 

Viertens der eigene Versuch einer Beschreibung des 
Jugendalters. Er nimmt zunächst die drei etwa zu unter- 
scheidenden Hauptklassen psychischer Erscheinungen durch: 



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74 



Erster Kougrcss f. Kinder forschung und Jugendfürsorge. 



das Vorstellen, das Urteilen, und die Gesamtheit der Gemüts- 
bewegungen; er zeigt, wie hier der Weg von der Kindheit 
zur Jugend analog ist dem Wege der Psychologie vom Ein- 
facheren zum Zusammengesetzteren; er legt Gewicht auf das 
Interesse des Jugendalters an den großen Weltfragen, das 
allerdings innere Konflikte begünstigt, und im Zusammenhang 
damit auf eine Analogie zu der Pubertätszeit („zweite Flegel- 
periode"). 1 

An fünfter Stelle fragt es sich, zumal im Anschluß an 
Erscheinungen, die mit dem letzterwähnten in Verbindung 
stehen, wie weit hier Normales und Abnormes zu unterscheiden 
ist; wobei das stärker Abnorme am besten einer eigenen Be- 
trachtung verbleibt. Mehr Beachtung verdient vorerst die 
Frage nach den in dieser Zeit sich äußernden besonderen An- 
lagen und nach ihrem Verhältnisse zu dem, was von außen 
herangebracht wird; also kurz die Talentfrage. . 

Der Vortragende gibt weiterhin, sechstens, ohne An- 
spruch auf historische Uebersicht, einige Proben dessen, was 
verschiedentliche Autoren zu seinem Thema beigetragen haben. 
Aus älterer pädagogischer Literatur von deutscher Seite werden 
hier Trapp, Schwarz, Graser, Kirchner, Lasaulx, 
Schreber erwähnt ; vom Auslande kommen van Heusde, 
Necker de Saussure, Stanley Hall zur Erwähnung ; 
und aus neuester deutscher Literatur treten I. Baumann, 
R. Lehmann, W. Münch hervor. 

An siebenter und letzter Stelle erscheint, nachdem bis- 
her nur von der theoretischen Erkenntnis die Rede war, die 
Frage nach der praktischen Behandlung der Jugend. Eine 
isolierte Beantwortung dieser Frage erscheint nicht aussichts- 
voll ; um so aussichtsvoller jedoch die Einfügung dieses Themas 
in das Sondergebiet einer akademischen oder Hoch- 
schulpädagogik, zu der eben die hier angeregte aka- 
demisch-pädagogische Psychologie gehört. Nötig 
ist allerdings eine endliche Ueberwindung der Gleichgültigkeit, 
die jenem Teilgebiete der Pädagogik noch immer entgegen- 
gebracht wird. Mit einem lebhaften Appell an die für das 
Wohl der Jugend Interessierten, sich dieses Gebietes anzu- 
nehmen, schloß der Vortragende. 



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{ Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 75 

Haus- und Prüfungsaufsatz. 

Von 

Dr. phil. Friedrich Schmidt in Würzburg. 

Die Anschauungen praktischer Schulmänner über die quan- 
titative und namentlich qualitative Seite des Aufsatzes als 
Haus-, Klassen- und Prüfungsaufsatz gehen heute noch weit 
auseinander und doch ist die Frage nach dem Prüfungsaufsatze 
schon wegen ihrer außerordentlichen Tragweite für unsere 
schulentlassene Jugend nach vielen Seiten hin und gewiß auch 
vom Standpunkte der Schulgerechtigkeit aus wertvoll genug, 
um einmal gründlich untersucht zu werden. Zu diesem Zwecke 
wurde ein Aufsatzmaterial aus den vier oberen Mädchen- und 
Knabenklassen der Würzburger Pestalozzischule unter relativ 
gleichen Bedingungen in Haus und Prüfung angefertigt. Das- 
selbe wurde hierauf einer gewissenhaften Korrektur unter- 
zogen, die sich ergebenden Fehler in materielle und formelle 
gruppiert und jeder Fehjerart innerhalb der orthographischen, 
grammatischen und stilistischen Gruppe eine Wertziffer bei- 
gesetzt. Die Aufsätze wurden an der Hand von Einzel- und 
Gesamtvergleichen gemessen. Aus den Fehl^rtabellen wurden 
die stilistischen Fehlerwerte isoliert und die Stilqualitäten in- 
direkt gemessen. Wir verweisen behufs Einsichtnahme in das 
methodologische Verfahren auf die grundlegende Arbeit des 
Referenten : „Experimentelle Untersuchungen über die Haus- 
aufgaben des Schulkindes", Engelmann, Leipzig 1904, das in 
der fachmännischen Literatur durchaus anerkannt wurde. 
Referent zeigte mit großer Gründlichkeit, unter welchen all- 
gemeinen Bedingungen (sozialen Milieu) der Hausaufsatz an- 
gefertigt wurde. Dieser kam in Beziehung zum Verhalten der 
Eltern und Geschwister, zu den häuslichen Arbeitsräumen und 
der Arbeitszeit. Dazu kamen die inneren Bedingungen, die im 
Kinde selber liegen, wie Aufmerksamkeitsverhältnisse, Störun- 
gen, Ablenkungen, Begabung, Stilnote u. a. Die Kinder wurden 
mittels der Fragebogenmethode erforscht. Wir heben aus dem 
Material hervor, daß rein äußerliche Störungen wie Kinder- 
lärm auf der Straße gar keinen Einfluß auf die Qualität des 
Hausaufsatzes ausübten, daß sogar solche Störungen durch 
die Aufmerksamkeit überkompensiert wurden und eine vor- 



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76 Erster Kongrtsg f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

zügliche Leistung verursachten. Die freie Wahl der häus- 
lichen Arbeitszeit und das gemütliche häusliche Arbeitstempo 
wirkten besser als die vorgeschriebene Prüfungszeit mit ihrer 
beschleunigten Arbeitsweise. Das Unlustgefühl wegen der 
Hausarbeit wurde fast allgemein konstatiert, doch siegte der 
kindliche Wille in Hinsicht auf die Schülerpflicht. Selten auf- 
tretende intellektuelle Lustgefühle führten eine Vertiefung und 
bessere Qualität herbei. Die Knaben zeigten im allgemeinen 
einen größeren Gleichmut als die Mädchen. Doch arbeiteten 
letztere infolge ihrer Aengstlichkeit besser als jene, die offenbar 
einen gewissen Leichtsinn verrieten. Interessant war das Spiel 
der mittleren Variationen nach der quantitativen und quali- 
tativen Seite der Leistungen um das arithmetische Mittel, der 
psychologische Nachweis über zuweit gefaßte Aufsatzthemata, 
Unfruchtbarkeit in bezug auf stilistische Produktion und nament- 
lich die Motivierungen der praktischen Fälle der Fehlerskala, 
welches Verfahren Herr Seminardirektor Dr. Andreae in der 
Debatte als vorbildlich bezeichnete für den Psychologiebetrieb 
in den Seminarien, der fast ausschließlich Kapitel auswendig 
lernen ließe, was den angehenden Lehrer ratlos mache in der 
Beurteilung praktischer Fälle in der Schule. Dr. Schmidt faßte 
seine Ergebnisse wie folgt zusammen : Die Tatsache, daß eine 
Knabenklasse bei ihrer Abgangsprüfung aus der Volksschule 
einen schlechteren Stil geschrieben hat als zu Hause, die 
Mädchenklasse jedoch einen besseren, erschüttert den Wert 
der Prüfungsaufsätze und mahnt zur Vorsicht bei Qualifika- 
tionen der Stilleistung im Prüfungszeugnis. Die Probeaufsätze 
oder Skriptionen zeigten in ihren Stilwerten nicht den wahren, 
sondern einen niedrigeren Stand des stilistischen Könnens, 
täuschten demnach den Prüfungsanteil und sind deshalb zu 
verwerfen. In formeller Beziehung taten sich die Schluß- 
prüfungsaufsätze hervor; die Probearbeiten sind auch formell 
hicht sorgfältig und verfehlen ebenfalls von dieser Seite auä 
ihren Zweck. Der Prüfungsstil zeigt mit seinem Bestreben, 
quantitativ viel und formell Schönes zu bringen, eine gewisse 
Oberflächlichkeit. Der Hausstil dagegen hat bei nicht ganz 
ungünstigen Bedingungen in seiner unschöneren Form und 
Kürze bessere stilistische Qualitäten. Darum ist der Haus- 
aufsatz wohl zu pflegen. Der Prüfungsgedanke dringt in das 
weiche Gemüt des Mädchens tiefer ein als auf die mehr Gleich- 



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Erster Kongres* f. Kinder (or$chung und Jugendfürsorge. 



77 



mut bewahrenden Knaben. Jenes bringt aber infolge seiner 
Aengstlichkeit bessere Ergebnisse hervor, als der sich mehr 
gleichgültiger und auch leichtsinniger zeigende Knabe. Es ist 
methodisch falsch, weitgefaßte Aufsatzthemata den Volks- 
schülern zu geben ; nur enggefaßte entsprechen ihrer geistigen 
Verfassung und entbinden ihre produktiven Kräfte. Zu einem 
gänzlichen Wegfall von Aufsätzen in der Abgangsprüfung ist 
Referent auf Grund dieser Untersuchungen nicht gekommen. 
In der unmittelbar sich anschließenden Debatte wurde dem 
Vonragenden in allen Punkten beigestimmt von Fachleuten, 
die sich als langjährige Prüfungskommissäre über die Materie 
aussprachen, und einer regte an, ähnliche Untersuchungen in 
größeren Gemeinde wesen zu unternehmen, um den Einfluß 
dieses Milieus auf die Qualität auch feststellen zu können. 
Prof. Dr. Martinack und das zahlreich vertretene Auditorium f 
spendeten den gründlichen Ausführungen großen Beifall. 



Grundfragen der Psychogenesis 

Nach 

Dr. W. Stern, Privatdozent a. d. Universität Breslau. 

Die Psychogenesis, d. h. die wissenschaftliche Erforschung 
der seelischen Entwicklung ist noch sehr jung und unvoll- 
kommen; sie muß deshalb auf ihre Grundfragen beschränkt 
werden, welche für die Kindespsychologie, die Pädagogik und 
die Kulturwissenschaft von hoher Bedeutung sind. Die 
seelische Entwicklung kann sowohl biographisch als auch 
monographisch behandelt werden, obgleich in letzterem Falle 
eine künstliche Isolation vom geistigen Gesamtorganismus 
vorliegt. 

Wie bei jeder Entwicklung, so können wir auch die 
psychische in quantitativer, qualitativer und zeitlicher Hinsicht 



*) Ucber die inhaltliche Verwertung eines Teiles des Materiales sprach 
Dr. Schmidt in der freien Vereinigung für philosophische Pädagogik auf 
der deutschen Lchrervcrsammlung zu München, Pfingsten 1906 mit bestem 
Erfolge. 



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78 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



betrachten. Die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse, der Grad der 
Leistungsfähigkeit, die von Erinnerung und Erwartung um- 
spannte Zeitgröße gehören zum quantitativen Wachstum. Die 
qualitative Entwicklung ist eine Folge von Metamorphosen mit 
fortwährender Verschiebung der Verhältnisse. Als Gesichts- 
punkte können wir — wie Sigismund — die jeweilig vor- 
herrschende Funktion nehmen. So unterscheidet man in den 
Anfangsjahren das Kind als „Säugling", „Greif-" und „Sprech- 
ling." Die Entwicklungszeit vor der Pubertät ist mehr 
rezeptiv. Sie ist das Alter des Auffassens und Erlernens. Die 
folgende Entwicklung ist dagegen mehr spontan, der aufge- 
nommene Stoff wird verinnerlicht und weiter gebildet. 

Die Phasenfolge der seelischen Entwicklung ist nicht so 
scharf zu fixieren wie die biologische Entwicklung. Abge- 
sehen davon, daß die Unterschiede der Phasen viel feiner 
sind, decken sich die Entwicklungsprozesse einzelner Indivi- 
duen sehr oft nicht, sowohl in den Auftrittszeiten wie in der 
Reihenfolge der Individuen. Trotzdem wird schließlich ein 
fester Schematismus der psychogenetischen Grundzüge zu 
finden sein. 

Bei der zeitlichen Betrachtung der seelischen Entwicklung 
ist ein ständiger Wechsel von schnell und langsam zu ver- 
zeichnen. Sie gleicht dem Wellenspiel. So können wir zum 
Beispiel für den jugendlichen Entwicklungsprozeß drei Haupt- 
wellen von je 6—7 Jahren erkennen: Kindheit, Knaben- und 
Jünglingsalter. Jedes dieser Stadien zeigt zunächst einen starken 
Fortschritt, in der zweiten Hälfte dagegen ein langsames Tempo. 

Bei der Frage nach den Ursachen der Psychogenesis 
müssen wir, da sowohl Stativismus wie Empirismus schwer- 
wiegende Momente für sich haben, äußere als auch innere 
Faktoren annehmen. Der Phonograph gibt alle hineinge- 
sprochenen Worte wieder; das sprechenlernende Kind aber 
ahmt nicht alle Wörter der Umgangssprache gleichmäßig nach, 
sondern nur diejenigen, die dem Stande seiner geistigen Ent- 
wicklung jeweilig entsprechen. Auf dem Innenfaktor beruht 
die Potentialität, er bereitet gewisse Ziele des Werdens vor. 
Der Außenfaktor führt dagegen zur Realität; er determiniert 
Zeit, Art und Grad einer Betätigung. 

Methodologisch sind indessen die Ursachen von Veran- 
lagung oder Umweltbeeinflussung oft schwer zu unterscheiden, 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 79 

da beide häufig gleichmäßig wirken. So kann z. B. die frühe 
musikalische Betätigung eines Kindes die Folge seiner musi- 
kaiischen Veranlagung sein; sie kann aber ebensogut auf den 
Druck zurückgeführt werden, den die musikalischen Eltern 
mit ihrem ständigen Vorbild auf das Kind ausüben. 

Bei der Ausarbeitung einer Methodologie kommen haupt- 
sächlich die ersten Lebensjahre des Kindes in Betracht, wo die 
Umweltseinflüsse noch einigermaßen vollständig zu kontrol- 
lieren sind. Entwickeln sich z. B. zwei Kinder bei gleicher 
Milieubedingung verschieden, so muß die Ursache hierzu wohl 
in angeborenen Faktoren zu suchen sein. Finden wir ferner 
bei mehreren Kindern in verschiedenem Milieu gewisse Ent- 
wicklungsgleichungen, so müssen wir den Grund dazu auch 
in einer inneren Entwicklungstendenz erblicken. 

Die Frage nach dem psychogenetischen Parallelismus, ob 
zwischen der gattungsmäßigen und der individuellen Entwick- 
lung Parallelen bestehen, kann auch erst auf Grund der 
modernen Kindespsychologie wissenschaftlich näher beant- 
wortet werden. Jetzt bestehen noch zwei sich widersprechende 
Ansichten, wovon die eine für einen Parallelismus auch in der 
seelischen Entwicklung eintritt, während die Gegenpartei in 
etwaiger Uebereinstimmung nur Zufallsprodukte sieht. Sowohl 
bei der Totalentwicklung des Kindes wie bei der Partialent- 
wicklung einer einzelnen Funktion sprechen viel wichtige 
positive Tatsachen für den Parallelismus. So können wir z. B. 
dem Säuglingsstadium des Kindes (reines Instinkt- und Trieb- 
leben, Fehlen der Sprache, Vorherrschaft der vegetativen Funk- 
tionen usw.) die vormenschliche Periode der Gattung gegen- 
überstellen. Nach der eigentlichen Menschwerdung um die 
Wende des ersten Jahres durch die Erwerbung der beiden 
typisch menschlichen Funktionen: der Sprache und des auf- 
rechten Ganges, folgt dann das dem Naturvolk analoge Stadium 
des „Spielalters" mit der naiven Allbeseelung (Märchen = 
Mythos, Puppe = Fetisch), mit der Unfähigkeit, Spiel von 
Ernst, Schein von Wirklichkeit zu trennen, mit der unbekümmer- 
ten Hingebung an die unmittelbare Gegenwart usw. usw. 

Da nun den vielen Uebereinstimmungen auch eine große 
Zahl stärkster Abweichungen gegenübersteht, müssen wir wie bei 
der Frage nach der Ursächlichkeit den vermittelnden Weg ein- 
schlagen, und zwar können wir auch hier die doppelte Ursäch- 



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80 Erster Kongrtss f. Kinder forachung und Jugendfürsorge. 

lichkeit zu Grunde legen. Soweit bei der Entwicklung die 
innerliche Veranlagung in Frage kommt, können wir gewisse 
allgemeine Regeln annehmen ; dagegen müssen die Entwicklun- 
gen in demselben Maße von einander abweichen, als die 
äußeren Faktoren der Umwelt bei der Entwicklung in gegen- 
sätzlicher Weise mitwirken. 



Die psychologische und pädagogische Bedeutung des 
praktischen Unterrichts. 

Von 

Direktor Dr. Pabst (Leipzig). 

Nachdem der Vortragende einleitend das Verhältnis der 
Psychologie zur Pädagogik berührt hatte, wobei er sich gegen 
die verbreitete Meinung aussprach, daß die letztere ihre Direk- 
tiven ausschließlich von der erstehen zu erhalten habe, wies 
er in eingehender Weise nach, wie sich aus der modernen 
Psychologie die Notwendigkeit des praktischen Unterrichts als 
eines Erziehungsmittels begründen läßt. Die Ausbildung des 
Gehirns als des Organs nicht bloß für das Denken, sondern 
auch für das Wollen und Handeln des Menschen erfolgt nur 
unter Mitwirkung der Sinne und der körperlichen Betätigung 
des Kindes. Die sensorischen Zentren (Empfindungszellen) und 
ebenso die motorischen Zentren (Bewegungszellen) des Gehirns 
entwickeln sich durch Uebung und bleiben unentwickelt, wenn 
diese Uebung fehlt. Die übliche Unterscheidung zwischen 
Kopfarbeit un4 Handarbeit ist falsch, denn es gibt keine Art 
der Handarbeit, die nicht zu gleicher Zeit mehr oder weniger 
Kopfarbeit erforderte, und der Unterschied zwischen beiden 
Arten der Arbeit ist nur ein solcher dem Grade nach, soweit 
die Tätigkeit des Gehirns dabei in Frage kommt. Deshalb 
sind körperliche Bewegungen, Spiel, Turnen und Handarbeit 
notwendig zur Entwicklung des Gehirns, sie sind Mittel zur 
Gewinnung der motorischen Begriffe, die den Menschen zum 
Handeln führen und das Wesen seines Charakters begründen. 
Aber die feinere Handarbeit wirkt anders auf das Gehirn ein 



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Erster Kongress f. Kinder for$chung und Jugendfürsorge. 



81 



wie die grobe Arbeit bei der Bewegung großer Muskelgruppen, 
und die ausgebildete Hand ist ein feines Sinnesorgan, ähnlich 
wie Auge und Ohr. Die Handgeschicklichkeit hat ihren Sitz 
nicht eigentlich in der Hand, sondern im Kopf und Gehirn, 
und geeignete Handübungen sind eine Form geistiger Er- 
ziehung. Außer dem Gehirn kommt für die motorischen Be- 
wegungen noch das Rückenmark in Frage, von dem aus die 
unbewußten Reflexbewegungen dirigiert werden. Die erzieh- 
liche Einwirkung auf beide Organe kann nur im jugendlichen 
Alter stattfinden, und deshalb ist die Einführung geeigneter 
Hand be tätigung im System der Jugenderziehung zu fordern. 
Die Notwendigkeit einer solchen läßt sich, ganz abgesehen 
von der psychologischen Begründung, auch auf pädagogischem 
Wege nachweisen. Die Erfahrung lehrt, und alle großen, 
genialen Erzieher (Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel u. a.) 
haben es erkannt, daß die körperliche Erziehung mit der 
geistigen Hand in Hand gehen muß, und daß die körperliche 
Betätigung des Kindes eine Vorbedingung ist für seine geistige 
Entwicklung, von der sie sich nicht trennen läßt. Die Her- 
stellung einfacher Gegenstände, wie sie im sogenannten Hand 
fertigkeitsunterrichte geübt wird, ist durchaus keine mecha- 
nische Sache, die für die Erziehung wertlos wäre oder etwa 
nur dem Zweck dienen könnte, für eine handwerksmäßige 
Tätigkeit vorzubilden. Man kann im Gegenteile behaupten, 
daß in einer solchen Betätigung unter Umständen mehr geist- 
bildende Momente liegen, als in manchen Formen des Sprach- 
unterrichts. Psychologisch ausgedrückt ist das Sprechen als 
eine motorische Erregung gewisser Muskeln von der Hand 
betätigung nur darin unterschieden, daß beide Arten der mo- 
torischen Erregung von verschiedenen Gehimzentren ausgehen ; 
somit sind auch für die Ausbildung des Geistes beide Prozesse 
im Grunde genommen gleichwertig. Auch der Prozess des 
Denkens vollzieht sich vielfach, wie z. B. beim Künstler, Tech- 
niker, Naturforscher usw. durchaus nicht in den sprachlichen 
Formen, der Komptonist denkt in Tönen, der Künstler und 
Techniker in Raumformen, der Naturforscher in den Formen 
sinnlicher Erscheinungen, die mit der Sprache nichts zu tun 
haben. Aber wie wir in unserer Kultur überhaupt das Wort 
und das sprachliche historische Wissen überschätzen, so geht 
auch unsere Erziehung einen verkehrten Weg, wenn sie die 

Zeitschrift für pldBgoftoohe Ptycholotf«, Pathologie u. Hytfen«. 5 



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82 



Ertter Kongrtss f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



Ausbildung der Hand und die der Sinnesorgane vernachlässigt. 
Die Erziehung der Zukunft wird hierauf Rücksicht nehmen 
müssen, und zugleich wird sie als eine Erziehung, zur Arbeit 
und durch Arbeit eine Reihe von pädagogischen und sozialen 
Gesichtspunkten in den Vordergrund stellen müssen, die in 
unserem heutigen Erziehungssystem nicht zur Geltung kommen 
können. Der praktische Unterricht in seinen verschiedenen 
Formen erscheint geeignet, die Mängel unseres gegenwärtigen 
Erziehungssystems auszugleichen. 



Arbeitserziehung. 

Von 

Direktor Plass, Zehlendorf bei Berlin. 

Die Schule hat vor allem die Aufgabe, die in dem Menschen 
vorhandenen Anlagen und Triebe harmonisch und allseitig zu 
entwickeln. Ohne Arbeitserziehung ist dies nicht möglich. Die 
Pflege des gebräuchlichsten Organes, der menschlichen Hand, 
wird durch Zeichnen und Schreiben nur einseitig gefördert. 
Die Handarbeit schafft gegenüber dem abstrakten Doktrina- 
rismus und der Ueberbürdung durch rein geistige Arbeit einen 
wohltuenden Ausgleich. Selbständige Herstellung eines Gegen- 
standes ist ein potenzierter Anschauungsunterricht. Durch 
Arbeit erworbenes Wissen und Können ist ungleich wertvoller 
als das durch rein geistige Uebung gedächtnismäßig einge-. 
paukte. Die moderne Bewegung zur Pflege der ästhetischen 
Bildung, zur Förderung des Kunstgeschmackes, findet durch 
planmäßige Arbeitserziehung die kräftigste Unterstützung. Be- 
sonders dient die Arbeit zur Schulung des Willens und erzieht 
zum Fleiß, zur Geduld, zur Sorgfalt und zur Selbstsucht. Die 
Arbeitsfreudigkeit ist einer der stärksten sittlichen Triebe. 
Ein Verwahrloster kann dann als gerettet betrachtet werden, 
wenn es gelingt, ihn arbeitstüchtig und arbeitsfreudig zu 
machen. In einer arbeitsfreudigen Seele keimen schöpferische 
Ideen. Die Arbeitserziehung ist die Grundlage, auf der die 
Hebung des Handwerks aufgebaut wird. Da die Meister wegen 
des Konkurrenzkampfes meist auf Spezialarbeit angewiesen sind, 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 83 

so sind in den fachlich zu organisierenden Fortbildungsschulen 
Arbeitslehrgänge zur Ergänzung der Ausbildung unentbehrlich. 
Die mechanischen Arbeitsleistungen müssen durch produktive 
Arbeit Ergänzung finden. Die fabrikmäßig auf dem Prinzip 
der Arbeitszerlegung aufgebaute mechanische Arbeit hat keine 
Poesie und befriedigt den Arbeitenden nicht. Aus dieser Quelle 
stammt die arbeitsfeindliche Genußsucht, der jährlich tausende 
von Familien und Existenzen zum Opfer fallen. Das Kinder- 
schutzgesetz vom 30. März 1903 will nicht alle Kinderarbeiten 
beseitigen, sondern nur die, durch welche Gesundheit und Aus- 
bildung gefährdet und geschädigt wird. Es bedarf dieses) 
negative, präventiven Zwecken dienende Gesetz daher einer 
Korrektur durch ein Arbeitserziehungsgesetz, wie solches andere 
Nationen bereits besitzen. Lehrreich für die Bedeutung der 
Arbeitserziehung ist die Fürsorgeerziehung. Die Ursachen 
der Ueberweisung der Jugendlichen zur Zwangserziehung 
wurzeln entweder in der Arbeitsausbeutung oder in der Arbeits- 
vernachlässigung, dem Müßiggange. Die Schulentlassenen 
können gegen eine verfehlte Berufswahl besser geschützt wer- 
den, wenn sie selbst praktische Arbeit in der Schule getrieben 
haben. Die Geringschätzung der Arbeit, die doch alle kultu- 
rellen Güter erzeugt, ist für unser Volk verhängnisvoll. Ihr ist 
die Ueberschätzung der sogen, geistigen Berufe und das Wachs- 
tum des geistigen Proletariats aufs Schuldkonto zu schreiben. 
Durch richtige Wertschätzung der physischen Arbeit werden 
Klassen- und Standesgegensätze gemildert. Der Lehrer ist der 
berufene Kulturmissionar die Arbeitserziehung auszubauen. Er 
hat mit Hilfe der Meister das zum Teil noch wenig beackerte 
Gebiet zu kultivieren. Warenkunde, Werkzeugkunde, Maschi- 
nenkunde und Arbeitslehrgänge können ohne Mitwirkung des 
Lehrers nicht ausgebaut werden. Von ihm sind auch Museen 
und Apparate zur Erlernung der Arbeitsmethoden zu schaffen. 
Die Behandlung der gewerbegeschichtlichen, gewerbehygieni- 
schen, kunstgewerblichen, gewerbeliterarischen Fragen gehört 
zu den spezifischen Aufgaben der Sozialpädagogik. Eine Be- 
teiligung der Lehrerschaft an der Lösung dieser Kulturaufgaben 
-widerspricht nicht der Würde ihres Standes, sondern muß nur 
dazu beitragen, denselben sozial zu heben, was im Interesse 
unseres Volkes zu wünschen wäre. Als letztes Ziel der Ent- 
wicklung der Arbeitserziehung wären obligatorische Kinder- 

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Erster Konpress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



horte und obligatorischer Arbeitsunterricht für niedere und 
höhere Schulen, für Schulpflichtige und Schulentlassene, für 
die männliche und die weibliche Jugend anzustreben, eine Auf- 
gabe, die ohne Gründung sozialpädagogischer Seminare nicht 
zu lösen sein wird, eine Aufgabe, an deren Lösung erst dann 
der Staat herantreten kann, wenn in sozialer Wohlfahrtspflege 
einzelne Kommunen genügend vorgearbeitet haben. Wer an 
der Arbeitserziehung der Jugend mitarbeitet, arbeitet mit an der 
Erneuerung des gesamten Volkes. 



Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner 

GemeindeschUler. 

Von 

Dr. L. Bernhard. 

Nach eingehender Würdigung der Bedeutung des Schlafes 
für die Erhaltung des physiologischen Körperzustandes auf 
Grund der Arbeiten von Verworn u. a. wird vom Vortragen- 
den die besondere Wichtigkeit ausreichenden Schlafes für das 
kindliche Alter erörtert. Der schnell wachsende kindliche 
Organismus erfordert besonders reiche Zufuhr von Nähr- 
material, einerseits als Ersatzmittel für die im Stoffwechsel ver- 
brauchten Stoffe, andererseits zum Aufbau der sich rasch ent- 
wickelnden Organe. Da aber im Schlaf der Zerfall der leben- 
digen Substanz bedeutend herabsinkt, und ihre Neubildung in 
gesteigerter Weise zur Geltung kommt, so schädigt unzureichen- 
der Schlaf ganz besonders das Gedeihen des Kindes und ist 
eine physiologische Versündigung gegen die Jugend. 

Deshalb haben Aerzte und Schulmänner vielfach warnend 
darauf hingewiesen, daß unserer Jugend unter dem Einfluß 
mannigfacher Ursachen die segensreiche Einwirkung genügen- 
den Schlafes verloren geht. 

Der Redner erörtert ausführlich diese Ursachen und kenn- 
zeichnet die Folgen, welche sich bei gewohnheitsmäßig un- 
zureichendem Schlafe am kindlichen Organismus bemerkbar 
machen. 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 85 



Die große Zahl von blassen und nervösen Kindern, welche 
der Vortragende in seiner schulärztlichen Tätigkeit beobachtete, 
veranlaßte ihn, zu untersuchen, wie die Schlaf Verhältnisse der 
Gemeindeschulkinder in seinem Bezirke beschaffen sind. Die 
Beobachtungen beziehen sich auf 6551 Kinder aus Berlin C. 
und sind in ca. drei Jahren so sorgfältig wie irgend möglich 
gemacht worden. 

In verschiedenen Tabellen legt der Redner die Resultate 
seiner Untersuchungen dar, welche ergeben, daß die Schlaf- 
zeit für alle Altersklassen der Kinder ganz erheblich hinter 
der von Axel Key u. a. als notwendig festgesetzten zurück- 
tritt. Die Unterschiede betragen für den einzelnen Tag bis; 
1,40 Stunden, d. h. ein Teil der Kinder schläft 608 Stunden im 
Jahre zu wenig. Sollte die verlorene Schlafzeit nachgeholt 
werden, so müßten sie ca. 25 Tage ununterbrochen Tag und 
Nacht schlafen. 

Die Ursachen der geringen Schlafdauer liegen weniger in 
Teberbürdung mit Schularbeiten oder krankhafter Schlaflosig- 
keit der Kinder, als in der Lässigkeit und; in dem Unverstand 
vieler Eltern einerseits und in den mißlichen sozialen Verhält- 
nissen andererseits. 

Der Vortragende geht auf die schlechte Gewohnheit vieler 
Eltern ein, ihre Kinder bis in die späte Nacht auf der Straße 
spielen zu lassen oder sie bis zum frühen Morgen zu Vergnügun- 
gen mituznehmen. Er erörtert sodann die sozialen Ursachen, 
verbreitet sich über die Heimarbeit, den Straßenhandel und 
führt einige besonders traurige Beispiele an. Er konnte Schlaf- 
minima bis zu fünf Stunden feststellen. 

Sodann beschreibt der Redner die Schlaf räume und die 
Lagerstätten der Kinder. Auch hier gibt er Tabellen, welche 
die Verhältnisse grell beleuchten: Bis zu neun Personen 
schliefen in einem Zimmer und bis zu vier in einem Bett. 

Zur Besserung der Verhältnisse bedarf es nach dem Vor- 
tragenden vor allem der aufklärenden Mithilfe der Presse ! Die 
Eltern müssen auf die Wichtigkeit genügenden Schlafes für 
die Kinder und der Staat und die Kommune auf die Dringlich- 
keit einer Lösung der Arbeiter-Wohnungsfrage immer wieder 
hingewiesen werden. 

Von der Schule verlangt der Redner, daß der Schulbeginn 



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Erster Kongress f. KinderforscJtung und Jugendfürsorge. 



zum wenigsten für die Kinder der Unterstufe im Sommer nicht 
vor acht, im Winter nicht vor neun Uhr festgesetzt wird, und 
als wichtigstes Einführung des Unterrichts in die Hygiene. 



Ueber psychasthenische Kinder. 

Von 

Dr. TheodorHeller, Direktor der Erziehungsanstalt Wien- 

Grinzing. 

Der Vortragende beschreibt eine Kategorie psychopathischer 
Kinder, bei denen jede längere oder komplizierte Arbeits- 
leistung auf körperlichem oder geistigem Gebiet schwere Unlust- 
gefühle (Dysphorie) auslöst, die nicht überwunden werden 
können und sich unter Umstanden als psychische Hemmung 
geltend machen. Hierher gehören jene Kinder, die mit keiner 
Arbeit fertig werden, und bei denen sich eine eigenartige Er- 
wartungsneurose („Prüfungsangst") einstellt. Das pathologische 
Unlustgef ühl wächst oft dermaßen an, daß es bis zu „psychasthe- 
nischen Krisen" kommt, in denen die Kinder planlos herum- 
irren, Eigentumsdelikte begehen, sogar Selbstmorde verüben. 
Die falsche Beurteilung der Psychasthenie als moral insanity 
führt zu schweren pädagogischen Mißgriffen. Ebenso ist die 
Psychasthenie von der Dubilitat, Hysterie und Hobephrenie 
wohl zu unterscheiden. Psychastheniker, die nicht rechtzeitig 
einer heilpädagogischen Behandlung unterworfen sind, stellen 
das Hauptkontingent zu den problematischen Naturen und 
schiffbrüchigen Existenzen. Der Vortragende spricht sich für 
eine planmäßige Beschäftigungstherapie bei vollständiger Aen- 
derung des Milieus aus, die in leichten Fällen am besten in 
einem Landerziehungsheim, in schwereren Fällen in einer Heil- 
erziehungsanstalt stattzufinden hätte. 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 87 

Ueber die Möglichkeit einer Beeinflussung abnormer 
Ideenassoziation durch Erziehung und Unterricht. 

Der Vortrag brachte typische Beispiele für : 

I. vorherrschend verbal gerichtete Ideenassoziation, 

II. die Ideenflucht, 

III. von Zeit und Zahl regierte Ideenassoziation, 

IV. von wertbegriff sermangelnder Ideenassozia- 
tion, 

V. durch kontrastierende Gefühlstöne be- 
herrschte Ideenassoziation, 

VI. durch Ueberwertigkeit einer Vorstellung 
gehemmte Umsetzung der Ideenassoziation in 
Handlungen. 

Aji der Hand der Beispiele wurden die abnormen Er- 
scheinungen auf ihre psycho-physischen Ursachen zurück- 
geführt, doch nur insoweit, als dieselben für die heilpädagogische 
Behandlung praktische Bedeutung haben. Besonderer Wert 
wurde dann darauf gelegt, die Grenze des durch die pädago- 
gischen Maßnahmen Erreichbaren für jede charakteristische 
Form der besprochenen Ideenassoziation zu ziehen. Es ergab 
sich dabei, daß die unter Nummer I, IV und V aufgeführten 
abnormen Assoziationen — nachdereigenenbisherigen 
Erfahrungl — fast jeder Beeinflussung trotzen. Auch die 
verbale Ideenassoziation bleibt in den Fällen, wo eine aus- 
gesprochene Stumpfheit des Gefühls-, Tast- und Muskelsinnes 
vorliegt, ziemlich stationär. Der Geist arbeitet hier in der 
Hauptsache mit Klangvorstellungen und Klangassoziationen. 
Ist dagegen die Sinnesstumpfheit nicht zu hochgradig, so lassen 
sich dem einzelnen Debilitätsgrade entsprechende Erfolge er- 
zielen. Die Behandlung dabei läßt sich kurz als eine mit 
pädagogischem Geiste erfüllte, bäuerliche Erziehungsweise 
charakterisieren und zwar in einem Erziehungsheime, das als 
pädagogisches Dorf ausgebaut erscheint. Selbstverständlich ist 
dabei in jeder Hinsicht an ideale Einrichtungen zu denken. 

II. Für die Ideenflucht heißt das pädagogische Problem: 
Das vorhandene und an sich gesunde Vorstellungsmaterial zu 
logischen Zusammenhängen verknüpfen. Es sind erfreuliche 
Erfolge zu erzielen, wenn neben ärztlicher Behandlung der 



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88 Erster Kongress /. Kinder forschung und Jugendfürsorge. 



krankhaften Reizbarkeit eine geeignete Beschäftigungs- 
therapie an ruhigem Orte eintritt, die vor allem zur Ver- 
körperung zusammenhängender Gedanken führen muß. Vor 
allem ist auch im Unterricht auf Korrektheit der Gedanken- 
gänge und in den Freizeiten auf die Aufmerksamkeit konzen- 
trierende Spiele, Sammlungen usw., zu halten. Wichtig siryd 
auch besondere Aufmerksamkeitsübungen. 

V. Für die Entkräftung der überwertigen Vorstellung leistet 
die besten Dienste die Erzeugung einer interkurrenten Vor- 
stellungsweise, um dadurch eine veränderte Konstellation für 
den Ablauf der Ideenassoziation zu schaffen. Wie die Erzeu- 
gung dieser Vorstellungsweise anzubahnen ist, richtet sich nach 
dem Typus des Falles. Eine große Rolle spielt in der Be- 
handlung auch die Suggestion. 



Ueber hysterische Epidemien in deutschen Schulen. 

Von 

Lehrer Wa 1 1 h e r D i x , Meißen. 

A. Geschichtliches. 
I. Meißener Zitterepidemie. 

Im Oktober 1905 erkrankte ein 13 jähriges Mädchen an 
hysterischem Zittern. Sehr bald folgten andere nach. Trotz 
der Weihnachtsferien mußten am 24. Februar 21 Klassen ge- 
schlossen werden. Die Osterferien brachten auch keine Besse- 
rung. Die Zahl der Erkrankten stieg auf 237. Am 17. Mai 
erlosch die Epidemie. 

Bei allen Kindern wurde ein kurzschlägiges Zittern beob- 
achtet, daß den ganzen Körper oder nur Arme und Beine, be- 
sonders den rechten Arm ergriff. Das Zittern war oft so 
heftig, daß die Kinder vor Schmerzen weinten. In fast allen 
Fällen, mit wenig Ausnahmen, war eine Aura vorhanden, 
reißende, zuckende Schmerzen in den Muskeln der Arme und 
Beine usw. In einigen Fällen wurden veitstanzähnliche Zuckun- 
gen der Gesichtsmuskulatur beobachtet. Die Dauer der An- 
fälle war verschieden. Etliche währten nur Minuten, andere 



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Erster Kongre*$ f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



89 



Stunden. Die Häufigkeit der Anfälle war verschieden. 
Bei etlichen traten täglich mehrere auf; bei anderen fanden 
während der Woche ein bis zwei Anfälle statt. Die Anfälle 
waren morgens am heftigsten. Sie stellten sich regelmäßig 
in der Schule ein, wenn sie zu Haus auch ausgesetzt hatten. 
Als Ursachen sind zu nennen: Anblick einer zitternden Mit- 
schülerin, Angst, Schreck, Anstrengung im Turnen, Schreiben, 
Zeichnen, Handarbeiten, Memorieren (psychische Erregung 
dabei). 

Das Zittern befiel Kinder aus allen Lebenskreisen, 
starke und schwächliche, vom 7. — 14. Lebensjahr, vor- 
wiegend Mädchen. 

II./III. Baseler Zitterepidemien. 

Wie in Meißen erkrankten das erste Mal 62, das zweite 
Mal 27 Mädchen an jenem hysterischen Zittern. (Dr. Aeusmer, 
Dr. Zollinger), 

IV. Erkrankung von Schulkindern in Braun- 
schweig. 

42 Kinder erkrankten an hysterischen Schlaf zuständen. 
Achttägiger Schulschluß brachte keine Besserung. (Schul- 
inspektor Oppermann.) 

V. Schulepidemie im Dorfe Wildbad. 

26 Mädchen erkrankten an hysterischer Chorea, darunter 
fünf Fälle echter Chorea minor. (Dr. Wichmann.) 

VI. Eine Epidemie von hysterischen Krämpfen 
in einer Dorfschule. 

In Groß-Tinz bei Liegnitz erkrankten 20 Mädchen an hyste- 
rischem Zittern. (Prof. Dr. Hirt.) 

VII. Eine psychische Seuche in derobersten 
Klasse einer Mädchenschule in Biberach. 

13 Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren erkrankten an 
hysterischen Schlaf zuständen, worunter auch Fälle von Hystero- 
Epilepsie vorkamen. (Dr. Palmer.) 

VIII. Akute psychische Kontagion in einer 
Mädchenschule. 

Im Gegensatz zu den andern Epidemien zeigt diese einen 
äußerst schnellen Verlauf; an einem Vormittag trat sie auf 
und wurde sofort coupiert. (Med.-R. Dr. Rembold.) 



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Erster Kongrus f. Kiuderforschung und Jugendfürsorge. 



B. Kennzeichen. 

Alle Erkrankungen sind hysterischer Natur — mit 
Chorea hysterica. Für die Fälle in Basel und Meißen ist in 
Rücksicht auf die Kardinalsymptome und um eine Verwechslung 
durch den Namen mit Chorea minor vorzubeugen, der Name 
Tremor hystericus gewählt worden. Daß die Erkrankungen 
hysterischer Natur sind, geht aus folgendem hervor : i . Durch 
Suggestion konnten die Anfälle coupiert oder ausgelöst werden. 
2. Nicht alle Funktionen fallen weg. 3. Das Eintreten der An- 
fälle läßt sich auf bestimmte Gelegenheitsursachen zurück- 
führen. 4. Ueberall ein Mißverhältnis zwischen Ursache und 
Wirkung. 5. In fast allen Fällen trat Aura ein. 6. Die Aus- 
breitung erfolgte auf dem Wege der Imitation. 7. Der psy- 
chische Zustand der Kinder zeigte Depressionen. 

Simulation mag wohl mit vorkommen, ist aber nicht 
das wesentliche Moment. Bei den Zitterkrankheiten ist 
sie ausgeschlossen, wenn man sich nur überlegt, welche Energie 
und Muskelanstrengung erforderlich wären, diese Anfälle 
minuten- oder stundenlang zu simulieren. Die Kinder baten 
auch oft weinend, sie nicht nach Hause zu schicken; sie ver- 
suchten, das Zittern durch Setzen auf die Hände zu hemmen, 
wobei auch die Rumpfmuskulatur ergriffen wurde. 

C. Ursachen. 

Dabei sind zu nennen als 1. vorbereitende: a) hereditär 
neuropathische Belastung, b) schlechte Ernährungsweise, 
c) Blutarmut, Tuberkulose, d) Pubertätsentwicklung; 

als 2. gelegentliche, direkt auslösende: a) viele außerhalb 
der Schule liegende (Schreck, Angst usw.), b) in der Schule 
durch die gesamte Einrichtung, deren Betrieb, auch die Person 
des Lehrers, c) die Ueberbürdung durch die Volksschule. Sie 
darf als auslösendes Moment der Nervenleiden — Nervosität 
i. e. S. — die ein günstiger Boden für solche Epidemien sind, 
nicht übersehen werden. 

D. Behandlung. 

Hier kommen für den Pädagogen folgende Maßnahmen in 
Betracht : 1. Isolierung der erkrankten Kinder. Ob Er- 
richtung von „Sarrtmelklassen für Zitternde" — Basel — zu 
empfehlen ist, ist fraglich. Am besten Unterbringung ins 



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Erster Kongress f. Kindelforschung und Jugendfürsorge. 



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Krankenhaus. 2. Große Schonung empfiehlt sich im Turnen, 
Schreiben, Handarbeiten, Memorieren. 3. Als Hemmung emp- 
fehlen sich leichte Freiübungen zu Anfang der Stunde. 4. Weil 
aber die Krankheit psychischen Ursprungs ist, wird auch am 
zweckmäßigsten psychisch auf die Kinder einzuwirken sein. 
„Die Ueberrumpelungsmethode' 4 und „zweckmäßige Nicht- 
beachtung 4 * zeigte sich besonders bei Knaben sehr erfolgreich. 
5. Uebertriebene Teilnahme ist nicht am Platze. 6. Strafe 
und Schläge verschlimmern die Zustände. 7. Stärkung des 
Körpers, Bewegung in frischer Luft. 

E. Verhütung. 

Für den Pädagogen gibt es zwei Mittel: 1. schnelles, rich- 
tiges Erkennen der nervösen Störung. 2. Zweckmäßige Be- 
handlung der Kinder im Unterricht. 

Für 1 ist zu fordern, daß der Pädagoge alle nervösen 
Erscheinungen und alle somatisch krankhaften Zustände der 
Kinder wegen ihrer Entstehungsweise und wegen der Möglich- 
keit ihrer psychischen Beeinflussung genau kenne und beachte. 

Für 2 sind drei Forderungen zur Verhütung der Nervosität 
zu erfüllen: 

a) Sorge für Beruhigung der Kinder, wodurch das Sicher- 
heitsgefühl, ein positiver Gefühlston, erzeugt wird, das über- 
strahlt auf alle anderen Vorstellungen. 

b) Bewahre das Kind vor Affekten! 

c) Härte das Kind im Affektleben ab! (Prof. Ziehen.) 
Die öffentliche Schule ist der geeignete Ort für 

nervöse Kinder, da der Umgang mit gesunden abhärtet und 
schließlich zur Selbstbeherrschung führt. 



Bildungsanstalten des Staates, der Provinzen bezw. 
Kreise und der Kommunen für Schwachsinnige im 

Deutschen Reiche. 

Von 

Lehrer F. W e i g c 1 , Herausgeber d. „Päd. Zeitfrage", München. 

Schon vor 13 Jahren hat Trüper auf die nervenzerrütten- 
den Schädigungen von Alkohol, Kaffee und Tee hingewiesen 
und auf die in deren Verfolg liegende Gefahr geistiger Minder- 



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Erster Kongress f. Kinder forsch ung und Jugendfürsorge. 



Wertigkeit ; U n i v. - P r o f . D r. Strümpell hat inzwischen den 
Mißbrauch der Verabreichung der genannten Genußmittel an 
Kinder als Ursache psychopathischer Erscheinungen aufs 
schärfste gegeißelt; Direktor Dr. Heller verbannte in ernsten 
Mahnworten „Russischen Tee und Bohnenkaffee" gleich dem 
Alkohol von der Ernährung dieser Kinder; Anstaltsarzt 
Dr. Heyn wies in 17,60/0 der Fälle von Schwachsinn Alkohol- 
und Kaffeegenuß der Kinder als Ursache nach. Trotz dieser 
klaren Verurteilung der Genußmittel in der Ernährung der 
Kinder durch die Männer der Wissenschaft wie der Praxis, 
und trotzdem wir in Milch, Malzkaffee, Fruchtlimonaden und 
einheimischen Teearten besten Ersatz für jene Getränke haben, 
wird doch wenig auf diese Verhütungsmaßregel des Schwach- 
sinns geachtet. Aehnlich ist es mit dem Schutz der Kinder 
vor Kopfverletzungen und mit Verhütung von Mißgriffen 
in der geistigen Erziehung. So ist es kein Wunder, daß immer 
wieder eine große Zahl von geistig minderwertigen Kindern 
aus der Normalschule ausgewiesen und eigenen Bildungs 
Stätten zugeführt werden muß. Deutschland hat gegenwärtig 
an solchen Instituten 81 geschlossene Anstalten mit 5219 
Schülern, 162 Hilfsschulen für Schwachsinnige mit 14073 
Kindern und 22 Städte mit Sonderklassen nach dem Mann- 
heimer System. S t a a t s anstalten sind hiervon nur acht ge- 
schlossene Anstalten mit 903 Schülern ; P r o v i n z i a 1 anstalten 
sind fünf mit 458; städtisch sind zwei geschlossene An- 
stalten mit 251 Schülern. Der größte Teil der Arbeit 
bleibtalso privater Wohltätigkeit, charitativen 
Einrichtungen zu tun. Es ist dies bedauerlich, da 
Privatanstalten mit der Schwierigkeit der Gewinnung erster 
Lehrkräfte zu rechnen haben, da ferner die finanzielle Fun- 
dierung die rechte Ausgestaltung der Bildungsarbeit oft beein- 
trächtigen muß, besonders aber, weil die private Hilfe immer 
unzureichend bleibt. Trotzdem Bayern allein 17 Anstalten für 
diese Kinder besitzt, mußten doch in einem einzigen der acht 
Kreise Bayerns nach der Statistik von 1902 über 200 solcher 
Unglücklichen unversorgt bleiben. Für Preußen wird diese 
Zahl auf ca. 2000 angegeben. Aehnlich wie bei den Taub- 
stummen und Blinden müssen daher auch hier Staat und 
Provinzen bezw. die Kreise eintreten. Die Städte sind zum 
weiteren Ausbau des Hilfsschulwesens verpflichtet. 



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Erster Kongreu f. Kinder for gehung und Jugendfürsarge. 93 

Nach den statistischen Feststellungen könnten etwa 600 
deutsche Städte an die Einrichtung von Hilfsklassen gehen; 
162 haben den Schritt erst getan. Weiter kommt für große 
Städte mit mehrfach parallel aufsteigenden Klassensystemen 
die Einrichtung von Sonderklassen im Sinne des Mannheimer 
Systems in Betracht. Und kleine Städte, selbst größere Land- 
gemeinden sollten als Ersatz der Hilfs- und Sonderklassen 
Nachhilfestunden durch Lehrkräfte einrichten lassen, 
denen Gelegenheit gegeben wird, sich mit Theorie und Praxis 
der Heilpädagogik etwas vertraut zu machen. 



Die Beziehungen der Sozialhygiene zu den Problemen 

sozialer Erziehung. 

= Von 

F. Lorentz, Berlin. 

Bei dem Fortschreiten der Kultur tritt immer mehr das 
Bestreben zutage, stets weitere Kreise unseres Volkes zu be- 
fähigen zur Anteilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten. 
Soll sich die Menschheit entwickeln zur höchsten Blüte, so 
muß bereits die Jugenderziehung all ihre Kräfte daran setzen, 
ein an Leib und .Seele gesundes und kräftiges Geschlecht 
heranzubilden. Zu Kämpfern für die Fortentwicklung der 
Kulturwerte will die soziale Pädagogik die Zöglinge heran- 
bilden und richtet dabei ihr Hauptaugenmerk auf die Ge- 
staltung der Willenserziehung. Sie findet eine segensreiche 
Mithelferin in der Sozialhygiene, welche auch den Schüler be- 
wahren will vor den gesundheitlichen Schädigungen, welche 
die heutige Gesellschaft in ihren Organisationen ausübt. Die 
Betonung und Berücksichtigung des sozialen Milieus, in dem 
das Kind aufwächst, ist in erzieherischer und hygienischer Hin- 
sicht von hoher Bedeutung, 

Zahlreich und schwer sind die Schädigungen des Fa- 
milienlebens, welche die fortschreitende Zivilisation mit sich 
bringt. Die umgeänderten Lohn- und Erwerbsverhältnisse 
verfehlen nicht ihren Einfluß auf die Erziehung und Gesund- 



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94 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

heit im Elternhause. Das Bestreben der Sozialhygiene, durch 
gesetzliche Maßnahmen dahin zu wirken, die Frauen immer 
mehr von der Fabrikarbeit auszuschließen; die vereinte Arbeit 
von Eltern, Lehrern und Aerzten zur Durchführung, des 
Kinderschutzgesetzes, die Einführung des Haushaltungsunter- 
richtes an Mädchenschulen, und vor allem die Schülerspeisun- 
gen erscheinen recht geeignet, das gesundheitliche Befinden 
nicht nur einer kleinen Schülergemeinde, sondern unseres ge- 
samten Volkskörpers zu heben. 

Zur Frage der Schulorganisation liefert ebenfalls die Sozial- 
hygiene gewichtige Argumente. Die Einrichtungen des Staates 
und der Gemeinden zur Erziehung und Ausbildung der geistig 
Schwachen und Hilfsbedürftigen müssen sich immer zahl- 
reicher gestalten zu notwendigen Aggregaten unseres Volks- 
schulkörpers. Besonders die in Mannheim durchgeführte 
Schulorganisation des dortigen Stadtschulrats Prof. Dr. Sickin- 
ger erweist sich als eine hochbedeutsame sozialhygienische 
Institution. 

Die 'Nervosität unseres Zeitalters, sich auch zeigend in 
mancherlei krankhaften Störungen bereits unter den Schülern 
und Schülerinnen, erfordert zu ihrer Abhilfe der Mitarbeit der 
Schule und der Lehrer. Die schon mehrfach geforderte all- 
gemeine Volksschule dürfte sich zu einer Einrichtung für die 
soziale Wohlfahrt gestalten, besonders, wenn man bedenkt, wie 
in unserer heutigen Zeit so manche Schülerpersönlichkeit in 
körperlicher und geistiger Hinsicht einem falschen vorgesteck- 
ten Bildungsziele durch den Unverstand und die Eitelkeit seiner 
Eltern in einer, seinen geistigen Anlagen nicht entsprechenden 
Bildungsanstalt geopfert wird. 

Zur Abstellung gesundheitlicher Schäden und zur Förde- 
rung sanitärer Zustände sind gesetzliche Verordnungen und 
Maßnahmen allein niemals ausreichend. Diese müssen von 
den weitesten Volkskreisen in ihrer Zweckmäßigkeit erkannt 
und von ihnen in verständnisvoller Weise in die Tat umgesetzt 
werden. Hier kann bereits die Schule helfen, die durch manche 
Voreingenommenheit und Indolenz herabgeminderten sozialen 
Lebensbedingungen zu bessern und den Sinn für Gemeinschaft 
in die Kinder pflanzen. Dann wird es gelingen, die Volks- 
krankheiten zu bekämpfen, und insonderheit auch die am Marke 
unseres Volkes zehrende Tuberkulose zu unterdrücken. Ein 



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Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



95 



gesundes, kräftiges und fruchtbares Geschlecht wird dann 
unserm Volke erwachsen. Dazu muß jedes Glied mit Hand 
anlegen, wenn nicht anders „das Staatsschiff unter dem Minier- 
werk des Wurmes der depenzierten Volkskraft zugrunde 
gehen soll." (Breitung.) 

Die soziale Pädagogik erstrebt eine Ausbildung von Gegen- 
wartsntenschen, die ihre Kräfte in den Dienst des Ganzen 
stellen. Dabei kann sie aber nicht achtlos an den Maßnahmen 
vorübergehen, welche die gleichfalls auf die soziale Wohlfahrt 
hinzielende Sozialhygiene zur Erhaltung der Kollektivgesund- 
heit vorgezeichnet hat. Durch die Sozialpädagogik in Gemein- 
schaft mit der sozialen Hygiene wird der Geist der Solidari- 
tät in die Glieder einer Gemeinschaft gepflanzt zur gedeih- 
lichen Fortentwicklung derselben, in wahrer Betätigung des 
Pestalozziwortes : 

„Nicht mir, sondern den Brüdern, 
Nicht der eignen Ichheit, sondern dem Geschlechter* 



Die Taubstumm-Blinden. 

Von 

G. R i e m a n n , Königl. Taubstummenlehrer. 

Der Vortragende weist zunächst darauf hin, daß durch 
die Schrift von Helen Kellers „The Störy of my life" das 
gebildete Publikum mit der Möglichkeit der Ausbildung Drei- 
sinniger bekannt geworden sei, hob dann den sonstigen Wert 
dieses Buches hervor und kennzeichnete die Verhältnisse, unter 
denen Helen Keller eine so gute Ausbildung erlangen konnte. 
Er nannte diese so günstigen Verhältnisse treffend „ein Ge- 
meinschaftsleben" zwischen Schülerin und Lehrerin. 
Darauf beleuchtete er einige Uebertreibungen, die im Anschluß 
an das dort Erreichte ausgesprochen wurden und sprach von 
den sonst bekannt gewordenen Einzelfällen des Unterrichts 
Taubblinder. Als statistisches Material führte er an, daß nach 
der vorletzten Zählung in Preußen 215 Taubblinde vorhanden 
-waren, wovon 40 im Alter von 3—20 Jahren standen. Der 



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96 



Erster Kougres* f. Kindel forsch ung und Jugendfürsorge. 



Vortragende unterschied drei Kategorien dieser Unglückliche n : 
i. Taubblinde von Geburt; 2. Taubblinde, die bei Eintritt der 
Katastrophe schon Sprache hatten, diese aber auch wieder 
verloren und sie nun auf künstliche Weise wieder- oder neu- 
erlernen müssen, und 3. Taubblinde, denen die Sprache er- 
halten blieb. Die Methode, die beim Unterricht solcher Kinder 
angewendet werden muß, stellte er dar, indem er auf den 
Unterricht der beiden anwesenden Schülerinnen einging. Die 
jüngste Schülerin, Johanna Schlottmann, die im Alter von vier 
Jahren nach der Genickstarre ertaubte und erblindete und seit 
vorigen Herbst Unterricht hat, konnte schon kleine Sätzchen 
im ' Fingeralphabet sprechen und sprach dann auch in der 
Lautsprache Laute, Silben und Worter, die sie bisher durch 
das Gefühl wiedererlernt hat. Die zweite Schülerin, Hertha 
Schulze, ist 1876 geboren und verlor ebenfalls im vierten 
Lebensjahr nach einer Gehirnhautentzündung Gefühl und Ge- 
hör. Sie war vollständig taubstumm geworden und hat dann 
Unterricht im Fingeralphabet, der Lautsprache und Gebärden- 
sprache erhalten, der es ermöglichte, daß sie vor fünf Jahren 
konfirmiert wurde. Genaueres über ihren Bildungsgang findet 
sich auch im II. Jahrgang unserer Zeitschrift. Sie hatte dies- 
mal das Gedicht von Schwab „Das Gewitter" gelernt. Riemann 
richtete in der Gebärdensprache auf den Inhalt gehende 
Fragen an die Schülerin, die von dieser in der Lautsprache 
beantwortet wurden. Die Antworten zeigten, daß H. Schulze 
volles Verständnis für die Sache hatte. Der Kürze der Zeit 
wegen mußte sich der Vortragende auf die pädagogische Be- 
handlung der Kinder beschränken, empfahl aber für psycho- 
logische Fragen seine 1 ) und andere Schriften über diesen 
Gegenstand. Besonders hob Riemann noch hervor, wie wich- 
tig eine Spezialanstalt für solche Kinder sei und teilte mit, daß 
am 2. Juli v. J. eine solche in Nowawes bei Potsdam 1 geweiht 
werden konnte, deren Entstehen dem lebhaften Eintreten des 
Herrn Landesdirektor, Exzellenz, Freiherrn v. Manteuffel und 
des Herrn Laridessyndikus Gerhard für eine solche Spezial- 
anstalt zu danken ist. Man hofft, daß nach dem Vorbilde 



*) G. Riemann, Taubstumm und blind zugleich. (Wiegandt u. Griiben- 
Berlin.) 1,50 M. Psychologische Studien an Taubstumm-Blinden. (Fröhüch- 
Berlin NO.) 1 M. 



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Erster Kongrcts f. Kinder forackung und Jugendfürsorge. 



97 



der Provinz Brandenburg auch bald andere Provinzen eine 
geregelte Unterstützung der Anstalt zusagen werden. Riemann 
schloß seine Ausführungen mit einem warmen Appell an alle 
Anwesenden, mit dafür zu sorgen, daß alle Taubstumm-Blinden 
ein menschenwürdiges Dasein und besonders ein menschen- 
würdiges Wissen unid Denken gesichert werde. 



Die soziale Fürsorge für sprachgestörte Kinder. 

Von 

H. Gutzmann. 

Der Vortragende berechnet die Gesamtzahl der stotternden 
Schulkinder im Deutschen Reiche auf nahezu iooooo, d. h. 
auf io/o aller Schulkinder, ein Resultat, das auch in anderen 
Ländern durch statistische Erhebungen sich ergeben hat, so 
in Dänemark, in Ungarn, in Nordamerika, in Belgien. Unter 
den Erwachsenen ' nimmt der Verfasser bei den Frauen 
0,0250/0 und bei den Männern 0,2250/0 Stotternde an, so daß 
auf 1000 erwachsene Männer mindestens 2,25 Stotterer 
kommen; das ergibt, da wegen schweren Stotterns eine Ein- 
stellung in das Heer nicht erfolgen kann, ^für Deutschland 
jährlich wenigstens 1000 Mann, die nur wegen Stotterns 
dienstuntauglich sind. Aber nicht allein die Diensttauglich- 
keit, sondern fast alle Berufe erfordern eine normale Sprache; 
das ist tier Grund, weswegen seit ungefähr 20 Jahren in 
Deutschland von den Gemeinden und Behörden Einrichtungen 
getroffen sind, um bereits in der Schule das Stottern zu be- 
kämpfen. Vortragender gibt einen Ueberblick über die Ein- 
richtung dieser in Deutschland zuerst eingeführten Schulkurse 
und ihre Resultate, weist aber darauf hin, daß in andern 
Staaten eine einheitlichere Organisierung der Fürsorge für 
sprachgestörte Kinder getroffen ist, so besonders in Dänemark 
und in Ungarni Der Vortragende hält die einheitliche 
Leitung der gesamten Fürsorgeeinrichtungen für die sprach- 
gestörten Kinder auch für Deutschland oder wenigstens für 
die einzelnen Bundesstaaten für erstrebenswert, ferner schlägt 

Zeitschrift fUr pKdafroffiscbe Psychologe. Pathologe u. Hygiene. 7 



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98 Erster Kongress f. Kindrrforschung und Jugendfürsorge. 



er vor, daß eine systematische Bekämpfung besonders des 
Stotterns, aber auch der Aussprachefehler bereits in den Kinder- 
gärten eintreten solle, also in der vorschulpflichtigen Zeit, damit 
das Kind mit einer normalen Sprache in die unterste Schul- 
klasse eintrete. Anfänge, diese Vorschläge zu verwirklichen, 
sind bereits in Frankfurt a. M. gemacht worden. Auch die 
Schuleinrichtungen selbst könnten größere und dauernde Er- 
folge erzielen, \venn nicht nur einzelne Lehrer mit dem 
Wesen und der Behandlung der Sprachstörungen vertraut ge- 
macht würden, sondern, wenn bereits auf dem Seminar alle 
zukünftigen Volksschullehrer diese Unterweisimg erhielten. 
Vortragender wünscht daher, daß bereits auf den Seminarien 
Vorträge über Sprachstörungen, ihre Entstehung, Verhütung 
und schulgemäße Bekämpfung gehalten würden, daß die 
Lehrer dort über die Grundsätze der Sprachphysiologie aus- 
führlicher instruiert würden. Auf diese Weise würden sie ein 
besseres Verständnis für die so häufig in der Schule auf- 
tretenden Sprachhemmungen bekommen. Dazu würde es ge- 
nügen, wenn für diesen Zweck geeignete Seminarlehrer an ein 
Zentrum, z. B. an die Universität Berlin für gewisse Zeit ab- 
kommandiert würden, wo sie für ihre Seminarvorträge in einem 
längeren Kursus vorbereitet würden. Ebenso sollten auch die 
Lehrer der höheren Schule auf der Universität diesen Teil 
der pädagogischen Pathologie kennen lernen; endlich sollten 
die sprachgestörten Kinder in Rücksicht auf die meist neuro- 
pathologische Basis ihres Uebels besonders bei der Auswahl 
zu Ferienkolonien berücksichtigt werden. In Berlin besteht 
ein besonderer Verein dafür, stotternde Kinder in die Ferien- 
kolonien zu schicken. Aeußerst wichtig wäre schließlich die 
Durchführung einer allgemeinen Statistik der Sprachstörungen 
wenigstens für die Schulkinder. Erst eine sorgsame allgemeine, 
einheitlich durchgeführte Statistik wird auch die Fürsorge für 
die sprachgestörten Kinder allgemein machen. Vortragender 
schließt seine Ausführungen mit folgenden Schlußsätzen: Da 
die Sprachstörungen eine hervorragende soziale Schädigung 
ausmachen, so müssen die öffentlichen und privaten Maß 
nahmen gegen die Verbreitung derselben weit mehr ausge- 
dehnt werden. Nur in gemeinschaftlicher Tätigkeit von Lehrer 
und Arzt kann das erwünschte Ziel erreicht werden. Dazu 
hat sich einerseits die Ausbildung des Lehrers auf dem Seminar 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



99 



auch auf Sprachphysiologie, Sprachhygiene und Sprachstörun- 
gen der Schulkinder zu erstrecken, andererseits muß dem 
Arzte während und nach seiner Studienzeit Gelegenheit ge- 
boten werden, sich hierin möglichst ausführlich zu instruieren; 
ganz besonders der Schularzt muß auf diesem Gebiete um- 
fassende Kenntnisse besitzen; dazu ist es notwendig, daß eine 
zentrale Einrichtung in Form eines staatlichen Ambulatoriums 
für Sprachstörungen geschaffen wird. Endlich ist eine all- 
gemeine und gleichartige Statistik über das Vorkommen der 
einzelnen Sprachstörungen im Deutschen Reiche anzustreben; 
die dazu nötigen vorbereitenden Schritte müssen von einer 
aus Aerzten und Schulmännern gleichmäßig zu bildenden Kom- 
mission beraten werden. 



Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 

Von 

Theodor Fritzsch. 

I. Allgemeines. 
Staaten, Landschaften, Städte. 

Allgemeine Ueberblicke über die wichtigsten Veröffent- 
lichungen in unserem Gebiete geben die „Mitteilungen der 
Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte", 
die sich unter Alfred Heubaums umsichtiger Leitung zu 
einem Sammel- und Mittelpunkte aller jener Bestrebungen ent- 
wickelt haben, die in den Ländern deutscher Zunge auf Durch- 
forschung der Erziehungs-, Unterrichts- und Schulgeschichte 
gerichtet sind. In dem sechzehnten Jahrgang findet sich ein 
fortlaufender „Jahresbericht" in folgender Verteilung: I. Das 
Mittelalter (Richard Galle, S. 50 ff.). II. Das Zeitalter 
des Humanismus (Rudolf Wolkan, S. 70 ff.). III. Die 
Reformationszeit (Georg Mertz, S. 89 ff.). IV. Die Neu- 
zeit (Alfred Heubaum, S. 170 ff). V. Geschichte der 
deutschen Universitäten (Hermann Michel, S. 278 ff.). 
VI. Geschichte der höheren Schulen (Martin Wehrmann, 
S. 333 ff.). VII. Geschichte der Volksschule und Lehrerbildung 
(Eduard Clausnitzer, S. 347 ff.). — Ueber die 
Programme und Dissertationen gibt schnelle und sichere 
Nachricht der „Bibliographische Monatsbericht über neu er- 
schienene Schul- und Universitätsschriften 44 (Dissertationen, Pro- 
grammabhandlungen, Habilitationsschriften usw.). Unter Mit- 
wirkung und mit Unterstützung mehrerer Universitätsbehörden 
herausgegeben von der Zentralstelle für Dissertationen und 
Programme der Buchhandlung Gustav Fock G. m. b. H. 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 101 



in Leipzig. Seit 1889 erscheinen jährlich 12 Nummern (über 
200 S. 8°, 3,50 Mk.) mit einem systematischen Sachregister, 
welches den Gebrauch wesentlich erleichtert. In den ersten 
16 Jahrgängen sind nicht weniger als 62713 Abhandlungen 
verzeichnet. Pädagogische Abhandlungen enthält der 16. Jahr- 
gang: 227. — Ein systematisch geordnetes Verzeichnis der 
österreichischen Mittelschulen, in dem auch sehr viel Material 
zur Geschichte der Pädagogik steckt, hat Josef Bittner, k. k. 
Professor am II. Staats-Gymnasium in Czernowitz, Zusammen- 
gestellt. (III. Teil: Die Arbeiten aus den Jahren 1890 — 1905 
enthaltend. Selbstverlag. 175 u. 27 S. 8°.) — Von dem be- 
kannten Soziologen und Pädagogen an der Leipziger Universi- 
tät, Paul Barth, ist ein Buch erschienen, das sich betitelt: 
„Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre. Auf 
Grund der Psychologie der Gegenwart dargestellt." (Leipzig, 
Ambr. Barth XII u. 516 S. 8°, 7,20 M.) Wenn es auch 
nicht unmittelbar in diesen Bericht gehört, so muß es doch 
an dieser Stelle erwähnt werden, weil das Buch außerordent- 
lich viel wertvolles geschichtliches Material enthält, so daß 
man ihm den Untertitel geben könnte: „Auf historischer und 
psychologischer Grundlage dargestellt." Gerade dies fort- 
gesetzte Bezugnehmen auf die Vergangenheit bedeutet einen 
großen Vorzug des Buches in einer Zeit, wo man das, was 
die Pädagogik bisher geleistet hat, für nichts achtet und alles 
Heil vom Experiment erwartet. In der Einleitung werden Be- 
griff und Ziel der Erziehung, Psychologie und Ethik als Grund- 
lagen der Erziehungs- und Unterrichtslehre und die Macht 
der Erziehung behandelt. Die allgemeine Erziehungslchrc zer- 
fällt in Bildung des Willens und Bildung des Gefühls. Die 
allgemeine Unterrichtslehre oder Bildung des Geistes zeigt die 
psychologischen Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichts 
(Anschauung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis. Urteil, Fertig- 
keiten) und die organisatorischen Bedingungen des Unterrichtes 
(Lehrplan und Lehrgang). Die spezielle Erziehungs- und Unter- 
richtslehre bildet den zweiten Hauptteil des Buches, in dem 
bei Behandlung der einzelnen Fächer die Literatur bis in die 
jüngste Zeit hinein sorgfältig benützt worden ist. Wie geschickt 
Barth geschichtliche Stoffe zu verwerten weiß, sei an einem 
Beispiele gezeigt. In dem Kapitel über „Die Macht der Er- 
ziehung" gibt er zunächst in einer geschichtlichen Uebersicht 



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102 



Theodor Fritxsch. 



die Ansichten der führenden Geister über diesen Punkt von 
den Tagen des Alterrums bis* in die jüngste Zeit wieder, charak- 
terisiert sodann den Standpunkt der Gegenwart und schließt 
mit folgenden Worten: „Diese drei Klassen von Tatsachen: 
die Umwandlung der tierischen Instinkte, die Wirkungen der 
Suggestion sowohl im pathologischen wie im normalen Zustande, 
und die Erfolge an geistig' und sittlich minderwertigen Kindern 
sind geeignet, das Vertrauen zur Macht der Erziehung wieder- 
herzustellen. Und so findet es sich auch hier, daß die Größen 
der Menschheit trotz allem Wandel der Anschauungen im 
großen und ganzen recht behalten. Sokrates, Plato, Aristoteles, 
Leibniz, Kant haben doch tiefer gesehen als Schopenhauer, 
Zola und Ibsen." (S. 29.) Barth stützt sich aber nicht allein auf 
die Vergangenheit : sein Buch baut sich auch mit den Mitteln des 
modernen Denkens auf. Die Fortschritte der Psychologie sind 
überall herangezogen und genügend verwertet worden. Ver- 
wiesen sei da besonders auf die Kapitel Aufmerksamkeit und 
Gedächtnis. Barth bespricht z. B: die Beeinflussung der höhern 
Zentren durch Gifte, die Ermüdung, ihre Messung und Be- 
kämpfung, die Vermeidung der Ermüdung ; beim mechanischen 
Memorieren behandelt er den Einfluß der Länge der Reihen, 
Erlernen und Behalten, die Folge der Glieder einer Reihe, die 
rhythmische Gliederung der Reihen, die Qualität des Memo- 
rierstoffs, das komplikative Gedächtnis, den Einfluß der Uebung 
auf das Gedächtnis. Außer der modernen Psychologie ist auch 
die jüngste Wissenschaft, die Soziologie, zu Rate gezogen 
worden, soweit sie bisher sichere Ergebnisse geliefert hat. Be- 
sonders muß auch hervorgehoben werden, daß Barth bei Ab- 
fassung seines Buches alle Arten der Schulen im Auge gehabt 
hat. Er widmet es allen „Arbeitern an der Menschenbildung, 
Künstlern mit dem Willen und dem Geiste — in der Hoffnung, 
daß sie, was an der Theorie etwa unvollkommen oder unvoll- 
ständig ist, aus den Eingebungen ihrer Erfahrung ergänzen 
werden". Doch findet auch die Praxis ihre Rechnung. Aus- 
gezeichnet in Form wie im Inhalt ist z. B. die Darstellung 
der Herbart-Zillerschen Formalstufen S. 303 — 323. Aeußerst 
scharfsinnig weist er hier u. a. nach, daß der Aufbau der 
Schillerschen Abhandlung über „Anmut und Würde" der Folge 
der formalen Stufen entspricht. Volles Lob verdienen auch 
die beiden ausgeführten Lehrbeispiele. Der Praxis vermögen 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



103 



ferner die nach seiner Anweisung gefertigten Geschichtstabellen 
gute Dienste zu leisten. Bei der Fülle des gebotenen Stoffes 
ist es natürlich schwer, einzelnes herauszugreifen, anderseits 
ist es selbstverständlich, daß man in manchem anderer An- 
sicht sein kann. Hier möge dieser kurze Hinweis genügen, das 
vortreffliche Buch uneingeschränkt zu empfehlen. Keiner wird 
es ohne Gewinn studieren. Möchte es nur recht viele Leser 
finden I Die Geschichte der Pädagogik, die der gelehrte 
Verfasser schon früher vom soziologischen Standpunkt aus be- 
leuchtet hat (s. Bericht des Vorjahres I), soll nun von ihm in 
einem größeren Werke dargestellt werden, das besonders die 
Wechselbeziehungen der Erziehung zu den Veränderungen der 
Gesellschaft verfolgen will. Hoffentlich geschieht dies recht 
bald! — Als Jubiläumsgabe ist zu betrachten das 100. Bänd- 
chen der Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Dar- 
stellungen aus allen Gebieten des Wissens „Aus Natur und 
Geisteswelt" :FriedrichPaulsen, Das deutsche Bildungs- 
wesen in seiner geschichtlichen Entwicklung. 
(Leipzig, B. G. Teubner. IV u. 192 S. 8°, geh. 1 Mk., geb. 
1,25 Mk.) Einer Empfehlung bedarf das Büchlein nicht, Paul- 
sens Name genügt, ihm weiteste Verbreitung zu verschaffen. 
Es seien nur aus dem Vorwort einige Sätze herausgehoben : 
Eine solche Skizze hat den Vorteil, „daß sie die großen Richt- 
linien der Bewegung schärfer hervortreten läßt, zugleich drängt 
sie dahin, den Blick vorwärts zu wenden und jene Richtlinien 
in die Zukunft zu verlängern. Vielleicht gelingt es auf diese 
Weise, die Geschichte des Bildungswesens, die so leicht in 
uferlose Breite oder in ziellose Ausgraberei sich verliert, in den 
Dienst der Bildungspolitik der Gegenwart zu bringen. Daß 
bei dieser Fassung der Aufgabe die Darstellung über die 
früheren Zeiten rascher hinweggeht, mit der Annäherung an 
die Gegenwart an Ausführlichkeit gewinnt, wird nicht miß- 
billigt werden." — In der Sammlung Göschen (Leipzig. 
G. J. Göschen) ist als No. 275 und 276 ^herausgekommen : 
Friedrich Seiler, Geschichte des deutschen 
Unterrichtswesens. I. Bändchen: Von Anfang an bis 
zum Ende des 18. Jahrhunderts. (1 16 S. 8°, geb. 80 Pf.) II. Bänd- 
chen : Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. 
(120 S. 8°, geb. 80 Pf.) Die Büchlein sind geeignet, schnell 
und gut über die Schulen und Schulkämpfe der Gegen- 



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104 



Theodor Fritzgch. 



wart zu orientieren. — In derselben Sammlung ist in 
zweiter Auflage erschienen No. 145: H. Weimer, Ge- 
schichte der Pädagogik. (148 S. 8°, 80 Pfennig). — 
Seitdem die preußischen Bestimmungen verlangen, daß 
die Hauptwerke der pädagogischen Literatur ganz oder 
in den wichtigsten Abschnitten zu lesen sind, sind eine ganze 
Reihe von Lesebüchern zur Geschichte der Päda- 
gogik entstanden, so z. B. : „Lesebuch zur Geschichte der 
Pädagogik. Zunächst für Seminarzöglinge sowie für Lehrer 
und Lehrerinnen. Herausgegeben von Karl Kretschmer." 
(Habelschwerdt, Franke [J. Wolf], 528 S. gr. 8°, 5 Mk., geb. 
5,75 Mk.) Wenn es im Vorwort dieses Buches heißt: „Nun 
macht aber die Beschaffung der nötigen Quellenschriften wegen 
der hohen Kosten erfahrungsgemäß nicht geringe Umstände," 
so muß darauf hingewiesen werden, daß dies neuerdings, seit- 
dem eine Anzahl pädagogischer Quellenschriften bei Reclam 
erschienen sind, nur zum Teil zutrifft. — In zweiter Auflage 
liegt vor : Jos. Schiffeis, Auswahl pädagogischer Klassiker. Aus- 
führliche Inhaltsangabe pädagogischer Quellenschriften nebst 
vielen wörtlich angeführten Kernstellen. Ein Lesebuch für 
die Geschichte der Pädagogik. (Paderborn, Ferdinand Schö- 
ningh, IV u. 421 S. 8°, 3,60 Mk.) Das Buch ist das erste dieser 
Art auf katholischer Seite. — In sechster Auflage ist erschienen : 
„K. Heilmann, Handbuch der Pädagogik. III. Band. Ge- 
schichte der Pädagogik. Mit Abbildungen und Kartenskizzen.* 4 
(Leipzig, Dürr. 335 S. gr. 8°. Geh. 4 Mk., geb. 4,60 Mk.) Zu 
diesem Buche ist auch ein Wiederholungsbuch erschienen: 
„Tabelle der Geschichte der Pädagogik" von K. Heilmann. 
(Leipzig, Dürr, 54 S. 8°, geb. 1 Mk.) Ob sich solche Tabellen 
die Schüler nicht besser selbst anfertigen? — Endlich ist auch 
zu erwähnen: „Schorns Geschichte der Pädagogik in Vor- 
bildern und Bildern." 23. Auflage, bearbeitet von Friedrich 
von Werder. (Leipzig, Dürr, 525 S. gr. 8°, 4,60 Mk.) — 
Der Verlag von C. Bertelsmann in Gütersloh bringt in vierter 
Auflage: O. Fischer, Leben, Schriften und Bedeutung der 
wichtigsten Pädagogen bis zum Tode Pestalozzis übersichtlich 
dargestellt. Ein Hilfsbuch für Examinanden. Vierte Auflage 
bearbeitet von R. Schulz. VII u. 226 S. 8°, 3 M., geb. 3,50 M.) 
„Dieses Buch ist für Lehrer bestimmt, die sich auf das zweite 
Examen nach den norddeutschen Bestimmungen vorzubereiten 



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Dk Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



105 



haben, wird aber auch an Seminaren benutzt. Verfasser be- 
handelt die bedeutenderen Pädagogen des Altertums, der 
Griechen und Römer, sodann die christlichen vor und nach 
Karl dem Großen und schließt mit Pestalozzi. In gedrängter 
Kürze wird deren Leben dargestellt, ihre Schriften und ihr 
Wirken nach den Anschauungen der Neuzeit auf ihren Wert 
geprüft, auch der Schattenseiten wird gedacht, und so den 
Kandidaten ein übersichtliches Bild vermittelt." Als Fort- 
setzung des FischersChen Buches ist zu nennen: R. Schulz, 
Leben, Schriften und Bedeutung der wichtigsten Pädagogen 
des neunzehnten Jahrhunderts übersichtlich dargestellt. Ein 
Hilfsbuch für Examinanden. Mit einem Plan für einen 
Mustervolkskindergarten. (VI u. 296 S. 8°, 3,50 M., geb. 4M.) — 
Von den interessanten „kleinen Beiträgen zur Ge- 
schichte der Pädagogik", die der verdienstvolle Leiter 
des Berliner Schulmuseums, A. Rebhuhn, in der literarischen 
Beilage zur Pädagogischen Zeitung gibt, sind diesmal zu er- 
wähnen: 1. Bildliche Darstellungen aus dem Gebiete der Er- 
ziehung (1906, No. 3). 2. Karrikaturen aus dem Schulleben 
(1906, No. 9). 3. Denkmünzen (1906, No. 11 u. 12). Die beiden 
ersten Aufsätze bringen ein Verzeichnis der bildlichen Dar- 
stellungen, die sich in den „Monographien zur deutschen 
Kulturgeschichte" nicht finden, die aber im deutschen Schul- 
museum aul bewahrt werden. Die Zusammenstellung der Denk- 
münzen, die sich auf die Schul- und Erziehungsgeschichte be- 
ziehen, gibt zugleich eine dankenswerte Anregung, dieses stark 
vernachlässigte Gebiet in Angriff zu nehmen. — „Beiträge zur 
Geschichte des Lehrerstandes" nennt sich bescheiden ein 
hochbedeutsames Werk von Wohlrabe, welches bereits in 
dritter Auflage vorliegt und unter dem Titel erschienen ist: 
,.Der Lehrer in der Literatur." (Osterwieck a. Harz, A. W. 
Zickfeldt, XVI u. 563 S. 8°, elegant geb. 5,50 Mk.) In drei 
Abteilungen — Biographisches, Romanliteratur, Dramatisches 
- läßt der Verfasser über 50 Dichter und Schriftsteller mit 
ungefähr 100 ihrer Geistesprodukte zu Worte kommen, um 
zu zeigen, welche Einschätzung dem Lehrerstand in alter und 
neuer Zeit zu teil geworden ist. In einleitenden und verbinden- 
den Worten wird das Notwendigste zur Orientierung mitgeteilt. 
So ist wirklich ein pädagogisches Lesebuch aus der klassischen 
und schönen Literatur gewonnen worden, wie es in unserer 



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106 



Theodor Fritzach. 



Literatur einzig dasteht. Es wird zugleich der Unterhaltung 
und Belehrung dienen, da es auch dem Forscher auf dem 
Gebiete der Geschichte der Pädagogik vieles Neue und Inter- 
essante bietet. — In der Zeitschrift für Bücherfreunde (1906/07, 
S. 114 ff.) würdigt Hans Schmidtkunz die Bedeutung der Co- 
menius-Bibliothek, die in Leipzig ein eigenes Heim erhalten 
hat, in dem Aufsatze: „Pädagogisches Buchwesen." — Von 
Karl Langes klassischem Buche: „Ueber Apperzep- 
tion. Eine psychologisch-pädagogische Monographie," ist die 
neunte Auflage erschienen. (Leipzig, R. Voigtlaender, 257 S. 
8°, geheftet 3 Mk., geb. 3,60 Mk.) Das Werk, das bereits in 
mehrere fremde Sprachen übersetzt worden ist, hat in dem 
Abschnitte über die formalen Stufen des Unterrichts erheb- 
liche Aenderungen und Zusätze erfahren. 

Staaten, Landschaften. Die „Pädagogischen Zeit- 
fragen", eine Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete 
der Erziehung, herausgegeben von Franz Weigl, bringen 
als Heft 7 eine Jubiläumsgabe von dem Herausgeber: „Die 
Schulzustände Bayerns bei seiner Erhebung zum Königreich." 
(München, J. J. Lentner, E. Stahl jun. 64 S. 8°. 80 Pfg.i — 
P. Schramm veröffentlicht in der Bayrischen Lehrerzeitung 
(1906, 1 — 4) einen Aufsatz über „Die bayerische Volks- 
schule unter den Königen Bayerns." — „Das Schul- 
wesen im Fürstentum Corvey unter oranischer Herrschaft 
1 803 — 1 807 behandelt Schumacher in einem Programm. 
(Höxter a. d. W., 21 S. 4 0 .) — G. Zipp hat zum Gegenstand 
einer Tübinger Dissertation gewählt: „Die Entwicklung des 
französischen Volksschulwesens in den letzten beiden Jahr- 
zehnten." (1905. 61 S. 8°.) — Heinrich Theodor 
Kimpel, Geschichte des hessischen V olksschul- 
wesens von seinen ersten Anfängen bis zum Jahre 1800. 
(Kassel, R. Röttger, VII u. 380 S. 8°, geb. 4 Mk.) Das Buch 
ist als Vorband zu einer Geschichte des hessischen Volksschul- 
wesens im neunzehnten Jahrhundert gedacht. Das gesamte 
Werk soll das Werden und Wachsen, die Leiden und Freuden 
der hessischen Volksschule und des hessischen Volksschul- 
lehrerstandes schildern. Verfasser hat viel Material herbei- 
geschafft und vieles davon zum ersten Male veröffentlicht. 
Auch hier zeigt sich wie anderwärts: Die Anfänge des Volks- 
schulwesens geben Zeugnis von Verkennung und Mißachtung. 



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Die Geschieht* der Pädagogik im Jahre 1906. 



107 



Erst das staatliche Eingreifen bringt Besserung in den Schul- 
verhältnissen. Wenn auch der Verfasser, wie er selbst her* 
vorhebt, nur Teilarbeit leisten konnte, weil das Material noch 
nicht genügend vorhanden war, so ist es ihm doch gelungen, 
eine schöne Vorarbeit zu liefern. Hoffentlich folgen recht viele 
seiner Aufforderung: „Man wird jeder einzelnen Schul- 
stelle von ihren ersten Anfängen an nachgehen müssen. Zu 
solcher Arbeit aber gehören die Kräfte vieler I" — Beiträge 
zur hessischen Schul- und Universitätsgeschichte. Im Auftrage 
der Gruppe Hessen, der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- 
und Schulgeschichte, herausgegeben von W. Diehl u. A. 
Messer. (Gießen, Emil Roth. 127 S. 8°.) Band I, 1. Heft 
enthält folgende Aufsätze: 1. Beiträge zur Geschichte des 
mittelalterlichen Erziehungs- und Unterrichtswesen in den 
linksrheinischen Gebieten der ehemaligen Bistümer Mainz und 
Worms von Franz Falk. 2. Stärke und Zusammensetzung 
der Studentenschaft in der Frühzeit der Universität Gießen 
(1607—1624) von Wilhelm Martin Becker. 3. Beiträge 
zur Schulgeschichte der Pfälzer Aemter Starkenburg, Groß- 
Umstadt und Oetzberg aus den Kompetenzbüchern von 1566, 
1595, 1605 und 1608 von Wilhelm Diehl. 4. Kleinere Mit- 
teilungen von Wilhelm Diehl: a) Ein Gutachten über die 
Nebenbeschäftigungen von Schulmeistern aus der Zeit um 1675. 
b) Eine poetische Meldung um Versetzung 1743. c) Protokoll 
einer Vernehmung Fr. Chr. Laukhardts über die Gießner Stu- 
dentenorden 1792. d) Stimmen der Väter. — „Das Volksschul- 
wesen in Mark und Cleve unter Steins Verwaltung (1787 
bis 1804)" behandelt Wilhelm Meiner in den „Mitteilungen 
der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte". 
(16. Jahrg., S. 113 — 130.) — Heft XVII der „Schriften des 
Vereins für Geschichte der Neumark" bringt eine Arbeit von 
Paul Schwartz über „Die neumärkischen Schulen am 
Ausgang des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts". 
(Landsberg a. W. 1905 in Kommission bei Fr. Schaeffer & Co. 
[W. Ogoleit & H. Scharf], 221 S. 8<>.) Schwartz behandelt auf 
Grund urkundlichen Materials erst die Stadt- und Landschulen, 
sodann die Beschaffung der Geldmittel zur Besserung des 
Schulwesens, ferner die Abiturientenprüfungen von 1789 bis 
1806, endlich das Schullehrerseminar in Züllichau. Ein Anhang 
bringt eine Anzahl von Nachweisen, wovon in unseren Tagen 



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103 



Theodor Fritzsch. 



besonders die Verhältnisse der an Preußen gefallenen pol- 
nischen Provinzen interessieren. — In der Statistischen Bei- 
lage zur Pädagogischen Zeitung (Febr. 1906, No. 2) teilt Fr. 
Wienecke „Preußische Schulstatistiken aus alter Zeit" mit. Es 
sind die Durchschnittseinkommen und Stellenzahlen an Stadt- 
und Landschulen von 1787 und 18 19. — P. Machule be- 
handelt in einer Programmarbeit : „Die Entwicklung des öffent- 
lichen Schulwesens der alten Provinzen des preußischen Staates 
von 181 6— 1901. Statistische und andere Notizen." (Teil I. 
Ratibor 1906. 24 S. 4 0 mit einer Tabelle.) — Beiheft 12 zu 
den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und 
Schulgcschichte, herausgegeben von der Gruppe Schweiz, 
bringt: „Die bernische Schulordnung von 1591 und ihre Er- 
läuterungen und Zusätze bis 161 6" von Adolf Fluri. (Berlin, 
A. Hofmann & Komp. 71 S. 8°, 1,20 Mk.) — Beiheft 11 zu 
den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und 
Schulgeschichte, herausgegeben von der Gruppe Württemberg, 
enthält: 1. Julius Brügel: Die Gruppe Württemberg. 2. J. 
Eitle: Die einstigen Klosterschulen und jetzigen niederen 
evang.-theologischen Seminarien in Württemberg. 3. Emil 
Schott: Gedruckte Quellen zur Geschichte des höheren Schul- 
wesens in Württemberg. 4. F. Raunecker: Einige Fälle 
von Disziplinaruntersuchungen gegen Lehrer an württember- 
gischen Gelehrtenschulen aus dem 18. Jahrhundert. 5. Eugen 
Schmid: Das württembergische Volksschulwesen im 16. Jahr- 
hundert. (Berlin, A. Hofmann & Komp., IV u. 144 S. 8°, 
3 Mk.) -— Raun eck er gibt in einer Programmarbeit „Bei- 
träge zur Geschichte des Gelehrtenschulwesens in Württem- 
berg im 17. und 18. Jahrhundert". (Teil I. 1905. 77 S. 8°.) — 
Städte. Als Band XXXV der Monumenta Germaniae Paeda- 
gogica ist bei A. Hofmann & Komp. in Berlin erschienen : 
G i 1 o w , Dr. Herrn., Das Berliner Handelsschulwesen 
des 18. J a h r Ii u n d e r t s im Zusammenhange mit den 
pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit dar- 
gestellt (XII u. 341 S., 10 M.) Ein Werk von grundlegender 
und symptomatischer Bedeutung! Letzteres wegen des Zu- 
sammenhangs, in welchem das Buch erschienen ist. Es ist 
hocherfreulich und für die Zukunft verheißungsvoll, daß auch 
Fragen der Facherziehung in den monumentis Germ, paed., den 
vornehmsten pädagogischen Publikationen, eine Stätte gefunden 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



109 



haben und damit für die päd. (Wissenschaft gewissermaßen hof- 
fähig geworden sind. Verdienstlich ist ferner, daß der Ver- 
fasser in breitestem Umfange nachgewiesen und gezeigt hat, 
von welch' hervorragendem Einflüsse eine pädagogische 
Strömung, hier der Philanthropinisnuus, auf die Entwicklung 
des Handelsschulwesens gewesen ist. Das ist um so erfreulicher 
und von großem praktischen Werte, als in der Folgezeit bis in 
unsere Tage herein, leider gefördert durch die Gleichgültigkeit 
der Pädagogen, für diese Fragen die 'Auffassung vorherrschte, 
die in Handelsschulen lediglich ein Mittel der Gewerbeförderung 
sah. Durch Arbeiten wie die vorliegende können alle die er- 
mutigt werden, die auch im Fachschulwesen einen organischen 
Bestandteil des gesamten Erziehungswerkes sehen. Die 
„nahe bevorstehende" Eröffnung der Berliner Handelshoch 
schule (Oktober 1906) gibt dem Verfasser Anlaß, nach den 
.Anfängen des kaufmännischen Unterrichtswesens in der 
Reichshauptstadt zu forschen. Auf Grund eines ausgedehnten 
gründlichen Quellen- und Archivstudiums zeichnet er ein an- 
schauliches Bild der damaligen Verhältnisse, nicht nur des 
lokalen Berlins, sondern des deutschen Handelsschulwescns in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt. Damit 
erhebt er das Buch zur wichtigsten Quellenschrift für die Ge- 
schichte des deutschen Handelsschulwesens. Es gebührt ihm 
das Verdienst, neben Männern wie Zieger u. a., bis jetzt am 
meisten dieses dunkle Gebiet erhellt zu Jiaben. Das Berliner 
Handelsschulwesen des 18. Jahrhunderts, wie das Deutschlands 
überhaupt, ist charakterisiert durch den Einfluß des Merkantilis- 
mus und des Philanthropinismus, einer wirtschaftlichen und 
einer pädagogischen Strömung. Jener, auf unserm Gebiete ver- 
treten durch einen Marperger u. a., fand seinen Ausdruck 
in der Idee der Realschule. Deshalb behandelt der Verfasser 
im 1. Abschnitt des 1. Kapitels (S. S. 15 — 45) den handelswissen- 
schaftlichen Unterricht in der Realschule J. J. Heckers, „als Be- 
standteil des Lehrplans einer Universalschule" unter diesem 
selbst (1747—68, S. 15—39), seinem Nachfolger Silberschlag 
(1768—84, S. 35~45) und des Stifters Neffen A. J. Hecker 
(1784 — 1819), unter dem die reale Abteilung der Anstalt immer 
mehr zurückgeht. Bedeutungsvoller war der Einfluß des 
Philanthropinismus. In dessen Charakteristik des Verfassers 
kommen auch einige wohl ungerechte, wenn auch allgemein ver- 



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110 



Theodor Fritssch. 



breitete Urteile über diesen vor, z. B. über die „Unterschätzung 
der idealen Momente des Lebens". Die direkte Verbindung 
zwischen Merkantilismus und Philanthropinisnuis wird herge 
stellt durch die Bekanntschaft Basedows mit Büsch, dem Be- 
gründer der ersten deutschen eigentlichen Handelsschule in 
Hamburg (1768), der ihm Wolke zuführt. (S. 48). In Dessau 
finden kaufmännische Disziplinen eine Stätte. G. weist nach, 
daß dabei „vier nacheinander in Geltung gewesene Formen 
des Gesamtlehrplans der Anstalt zu berücksichtigen sind." 
(S. 50). Einer der Dessauer Lehrer für Handelswissenschaften 
war J. M. Fr. Schulz, der der Begründer der Berliner 
Handelsschule werden sollte. Ein deutliches Bild dieser 
interessanten Persönlichkeit gezeichnet zu haben, ist ein be- 
sonderes Verdienst Gilows. Geboren 1753 in der Priegnitz, 
kam er schon 1760 nach Berlin, gehörte 1765 — 71 der Hecker- 
schen Realschule an, bezog 1771 die Universität Halle, wirkte 
einige Jahre als Lehrer in Halle, als Schriftsteller in Berlin, 
und wurde 1780 nach Dessau berufen, wo er bis 1791 blieb. Er 
übernimmt dort bald die Handelswissenschaften, knüpft aber 
ebenso bald Verbindungen mit Berlin wegen Errichtung 
eines Handelsinstituts an. Am 4. Mai 1791 wird die 
„Berlinische Handlungsschule" eröffnet. Sie bestand bis 
1803. Die Darstellung ihrer äußeren und inneren Ver- 
fassung und ihrer Entwicklung nimmt den größten 
Teil des Buches ein. (S. 93 — 184). An dieser Stelle 
kann darauf nicht weiter eingegangen werden. Widrige 
Umstände allgemeiner und persönlicher Art brachten die 
Anstalt nach und nach zurück. Nach jahrelangen Verhand- 
lungen (G. S. 187 — 199) kam im Januar 1803 die Umwandlung 
der Anstalt in eine „Königliche Handlungsschule" zustande, 
die 1806, nachdem Schulz kurz vorher ausgeschieden war, ein- 
ging. Einen besonderen Wert hat das Buch durch die sahi- 
reichen Beilagen erhalten, in denen seltene Aktenstücke, Denk- 
schriften, Lehrpläne usw. ganz oder teilweise abgedruckt sind. 
(Dir. jTh. Blum, Dessau). — Bern, s. Schweiz. — 
Armin Reiche behandelt in einem Programm der Bremer 
Realschule in der Altstadt „Die Entwicklung des Realschul- 
wesens in Bremen, insbesondere der Realschule in der Alt- 
stadt". Ein geschichtlicher Rückblick. (105 S. 8°.) — Julian 
Kustynowicz gibt in einem Programm des Brodyer Gymna- 



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Die Gerichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



111 



siums die Entstehungsgeschichte des k. k. Rudolf -Gymna 
siums in Brody (II. Teil, 26 S. 8«). — Das Dresdner Volks- 
schulwesen im 18. Jahrhundert. Nach den Quellen des 
Dresdner Ratsarchives bearbeitet von Paul Schulze. (Dresden, 
0. & R. Becker, VIII u. 91 S. 8», 1,25 Mk.). lieber die An- 
fänge des deutschen Schulwesens in Dresden liegt bereits eine 
Arbeit vor (von Georg Müller im Archiv für sächsische Ge- 
schichte, Bd. 8). Die vorliegende Abhandlung führt in die 
neuere Zeit, sie gibt erst einen Ueberblick über das Dresdner 
Volksschulwesen im 16. und 17. Jahrhundert, spricht dann von 
der Gründung der Armenschulen durch Löscher, von der äuße- 
ren und inneren Organisation derselben, und berichtet über die 
Schule des Waisenhauses, Garnisonschulen und andere deutsche 
Schulen Dresdens. Zum Schlüsse forscht der Verfasser nach den 
Ursachen des (allerdings erstaunlich) geringen Fortschrittes 
von 1700 — 1800, die vor allem in den fehlenden Mitteln zu 
suchen sind. Da weiß Mangner aus der Leipziger Schul- 
geschichte desselben Zeitraumes Erfreulicheres zu berichten. 
(S. Mangner, Leipziger Winkelschulen.) In den „Beilagen" 
(S. 59 — 91) sind eine Anzahl Aktenstücke abgedruckt worden. 
Alles in allem: Das Buch bildet einen wichtigen Baustein zu 
einer zukünftigen Geschichte des sächsischen Volksschulwesens. 
— „Zur Geschichte des Realgymnasiums des Johanneums" in 
Hamburg ist eine Hamburger Programmarbeit von F. T e n d e - 
ring betitelt (125 S. 8°). Ferner bringt C. W. G. Wege- 
haupt „Beiträge zur Geschichte des Wilhelm-Gymnasiums zu 
Hamburg" in einem andern Programm. (63 S. 4 0 , mit zwei 
Tafeln.) — Mitteilungen über die Fürstenschule zu Jo- 
achimsthal gibt Lindner in der Wissenschaftlichen Beilage 
der Leipziger Zeitung (1906, No. 24). — Es ist erfreulich, daß 
man neuerdings in den Geschichtsvereinen mehr als sonst der 
Schulgeschichte Aufmerksamkeit schenkt. So enthält Bd. VIII 
der Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs die 
„Geschichte der Leipziger Winkelschulen". Nach 
archivalischen Quellen bearbeitet von C. F. Eduard Mang- 
ner. (Leipzig, Ferdinand Hirt & Sohn. VIII u. 232 S. 8°, 
5,50 Mk.) Mit Recht hebt der Verfasser S. 25 hervor, daß die 
Geschichte des Winkelschulwesens einer Stadt wie Leipzig nicht 
allein ein wichtiges Kapitel der Geschichte der Pädagogik, 
sondern der Kulturgeschichte überhaupt ist. Waren es doch 



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112 



Theodor Fritzsch. 



die verachteten Winkelschulen (schon der Name enthielt eine 
Brandmarke, vgl. Winkelpresse, Winkeladvokat 1), die jahr- 
hundertelang allein für die Unterweisung von Hunderttausenden 
von Kindern unseres Volkes gesorgt haben. Auf Grund ein- 
gehendster Studien und vieler beigebrachter Aktenstücke schil- 
dert Mangner das Leipziger Winkelschulwesen von den älte- 
sten Zeiten bis zum Eingehen der letzten Winkelschule in der 
Mitte des vorigen Jahrhunderts. Auch hier ergibt sich, daß 
die Volksschule eine Schöpfung des letzten Viertels des 18. 
und des 19. Jahrhunderts ist. Daß Leipzig dabei einen Ehren- 
platz einnimmt, verdankt es seiner Ratsfreischule, die 
„Vorläufer und Herold des gesamten deutschen Bürgerschul- 
wesens, die erste Stimme des beginnenden Frühlings einer höhe- 
ren Volksbildung geworden ist. 4 * Wie an andern Orten, so 
ist auch in Leipzig ein Einfluß Pestalozzis auf die pädago- 
gischen Neuerungen nicht nachweisbar. Auf die Ideen des 
Schweizer Pädagogen wird von den Schöpfern der Leipziger 
Volksschule nirgends Bezug genommen. Auch die hervorragen- 
den Schulmänner Plato und Gedike erwähnen Pestalozzi nicht. 
Wohl aber berufen sie sich auf die Philanthropinisten, von 
denen sie ihre Anregungen empfangen haben. Mangners tüch- 
tige und sorgfältige Arbeit kann aufs beste empfohlen werden l 
— A. von Sanden gibt in einem Programm von 1905 Bei- 
träge zur Geschichte der Lissaer Schule 1555 — 1905 (104 S. 
4°, mit Abbildungen). — Eine „Geschichte der Mainzer Real- 
schule" hat Beck in einem Mainzer Programm (24 S. 4 0 ) 
gegeben. — Das 10. Beiheft zu den Mitteilungen der Gesell- 
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, heraus- 
gegeben von der Gruppe Bayern, enthält: „Geschichte der 
Ludwigskreisrealschule in München" von Georg Widen- 
bauer. (Berlin, A. Hofmann & Komp., XI u. 220 S. 8°, 
3 Mk.) — „Zur Geschichte des Pirnaer Schulwesens von der 
Reformation an bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Als Bei- 
trag zu einer sächsischen Schulgeschichte nach urkundlichen 
Quellen bearbeitet," ist der Titel einer Dissertation von C. 
Walt her. (Leipzig 1905. 123 S. 8°.) — Im Archiv für Kultur- 
geschichte, herausgegeben von Georg Steinhausen, be- 
findet sich eine Arbeit des verstorbenen Ad. Hofmeister 
über „Rostocker Studentenleben vom 15. bis 19. Jahrhundert". 
(IV. Bd. Heft 1 ff.) — Die „Schulordnung des Grafen Otto 



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Die Geschichte der fädagoyik im Jahre 1906. 



zu Schaumburg und des Rates zu Stadthagen für die im Jahre 
1565 neuerbaute Schule zu Stadtliagen" vom Jahre 1571 teilt 
0. Zaretzky in den „Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche 
Erziehungs- und Schulgeschichte 44 (XVI. Jahrg. S. 163—169) 
mit. — „Die Geschichte des Städtischen Lehrerinnen-Seminars 
zu Thorn" von C. Maydorn. (Thorn 1906. 20 S. 8°.) — Teil IV 
der „Geschichte des Troppauer Gymnasiums' 4 von K. Kna- 
flitsch ist erschienen. Programm Troppau 1905. 12 S. 8°.) — 

II. Persönlichkeiten, Korporationen, 

Richtungen. 

In zweiter Auflage sind erschienen: Alkuins pädago- 
gisc heSchriften. Uebersetzt, bearbeitet und mit einer Ein- 
leitung versehen von Joseph Freundgen. (Bd. IV der 
Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus 
alter und neuer Zeit. Herausgegeben von Hansen, Keller u. 
Schulz. Paderborn, Ferdinand Schöningh. 180 S. 8°, 
1.20 Mark). — Basedow, s. Philanthropinismus. — Der 
XXXI. Band der Sammlung der bedeutendsten päda- 
gogischen Schriften aus alter und neuer Zeit, herausgegeben 
von Hansen, Keller, Schulz, enthält: „Basilius der Große. 
Rede an die Jünglinge, wie sie mit Nutzen heidnische Schrift- 
steller lesen können. Ueber die Aufnahme und Erziehung der 
Kinder im Kloster. Johannes Chrysostomus. Seine pädago- 
gischen Grundstäze, dargestellt in ausgewählten Kapiteln und 
Zitaten aus seinen Homilien über die paulinischen Briefe. Bear- 
beitet von Aloys Hülster. 44 (Paderborn, Ferdinand Schö- 
ningh, VI u. 55 S. 8°). — In einem Braunschweiger Progranun 
behandelt F. K o 1 d e w e y : „Paränetische Gedichte des Huma- 
nisten Johannes Caselius". (1905, 56 S. 8°.) — Conrad Celtes 
s. Humanismus. — Ueber Leopold Clausnitzer, der in diesem 
Jahre verschieden ist, bringen Nekrologe: W. Lahn in der 
Preußischen Schulzeitung (1906, No. 3), E. Oppermann, Allg. 
Deutsche Lehrerzeitung, herausgegeben von Kießling u. Mitten- 
zwey (1906, No. 2) und C. Röhl, Pädagogische Zeitung (1906, 
No. 6). — Johann Arnos Comenius' didactica magna. 
Uebersetzt und herausgegeben von Walt her Vorbrodt. 
(Leipzig, Dürr. 182 S. gr. 8°, geheftet 2 Mk., in Leinewand 
gebunden 2,60 Mk.) Nach dem Titel könnte es scheinen, als 

Zeitschrift für pSdagojösche Psychologie, PaUio'otrie u. Hygiene. 8 



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114 



Theodor FriUich. 



ob es sich um eine ungekürzte Ausgabe dieses grundlegenden 
Werkes handele. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Heraus- 
geber wollte des Comenius Didaktik in einer Form bieten, durch 
die es Lehrern und Seminaristen „ein stets bereites Brevier, ein 
handliches Vademekum ihrer hohen Kunst und ein lieber 
Lebensfreund werden möchte". Der Umfang des Buches ist 
durch Kürzungen fast auf die Hälfte beschnitten worden. Dies 
gereicht dem Werke zum Vorteile und Vorzuge, da wirklich 
kein bedeutsamer Punkt ausgefallen oder dem Buche Gewalt 
angetan worden ist. Auch was sich Vorbrodt sonst nach der 
Vorrede vorgenommen hat, ist ihm gelungen : Die feine und edle 
Latinität des Comenius ist in die Formen unseres heutigen 
Deutsch umgegossen worden. Er hat sinngetreu übersetzt. 
Dabei merkt man wenig vom „Uebersetzungsdeutsch". Die 
Einleitung bringt eine Lebensbeschreibung des großen Mähren, 
die die neuesten Arbeiten darüber benützt hat. Ein Literatur- 
verzeichnis hätte übrigens nichts geschadet. Da das Buch auch 
für Eltern bestimmt ist, hat der Leser vielleicht das Bedürfnis, 
sich weiter zu informieren. Die Anmerkungen erklären das 
nötigste. (S. 61 ist auf eine Anmerkung verwiesen, die nicht 
vorhanden ist.) Dem Buche ist die größte Verbreitung zu 
wünschen. Es wird zu denjenigen Büchern gehören, die den 
Unterricht in der Geschichte der Pädagogik an unseren Semi- 
naren wirklich fruchtbringend und belebend zu gestalten ver- 
mögen I - Von Th. Kerrls Comenius, der im vorigen Bericht an- 
gezeigt wurde, ist der 4. Teil erschienen. (Halle, H. Schrocdel, 
VIII u. 103 S. kl. 8°.) Er enthält: „Die Bedeutung des Co- 
menius." — Ludwig Keller behandelt in einem erweiterten Ab- 
druck aus den Monatsheften der Comenius-Gesellschaft (Band 
XV) „Die Schriften des Comenius und das Konstitutionen- 
buch. Nach den Forschungen Karl Christian Friedrich 
Krauses." (Berlin SW., Weidmann, 1 5*S. gr. 8°.) — In denselben 
Monatsheften (Band XV, Heft 5) weist Theodor Fritzsch nach, 
daß es nicht richtig sei, wenn Kerrl u. a. behaupten, die 
Philanthropinisten hätten Comenius nicht gekannt. Aus Stellen, 
die Fritzsch anführt, geht hervor, daß sie seine Schriften ge- 
kannt und benutzt haben, sich auch zur Verteidigung eigener 
Grundsätze auf ihn berufen haben. — In einer Leis- 
niger Programmarbeit (131 S. 8°) von P. H aller ist „Co- 
menius und der naturwissenschaftliche Unterricht" zum Thema 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 115 

gewählt worden. S. auch Redinger. — Zum Gedächtnis 
an Friedrich Dittes (f 16. Mai 1896) findet sich in der All- 
gemeinen Deutschen Lehrerzeitung (1906, No. 19) ein anonymer 
Aufsatz. — Einen Beitrag zur Geschichte der englischen Päda- 
gogik gibt H. J. Scougal mit der Jenenser Dissertation: 
„Die pädagogischen Schriften John Durys" (1 596 — 1680). (Jena 
1905, 66 S. 8°.) — Horst Keferstein benützt die Jahr 
hundertfeier zur Erinnerung an die Schlacht bei Jena, die 
Hauptgedanken Fichtes über Erziehung wieder kurz vorzu- 
führen. (Ueber Fichtes pädagogische Ideen. Allgemeine 
Deutsche Lehrerzeitung 1906, No. 45.) — In einer Straßburger 
Dissertation (1905, 196 S. 8°) wird von M. Raich erörtert: 
„Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Problem des In- 
dividualismus." — F. Klinkhardt macht in der Zeitschrift 
„Natur und Schule" (1906, No. 5) auf einen vergessenen Metho- 
diker des naturkundlichen Unterrichts, auf den Magister G. K. 
Fischer, aufmerksam. — Heft 2 des Archives für Schweizerische 
Schulgeschichte, herausgegeben von Ernst Schneider, enthält: 
„Johann Rudolf Fischer von Bern und seine Beziehungen 
zu Pestalozzi von Prof. Dr. Rudolf Steck." (Bern, 
Gustav Grünau 1907, 63 S. gr. 8°, 1,50 Mk.) Diese treffliche 
Abhandlung von Rudolf Steck, dem wir schon eine wertvolle 
Bereicherung der Herbart-Literatur („Der Philosoph Herbart 
in Bern," Berner Taschenbuch für 1900, S. 6 ff) zu danken haben, 
stützt sich auf den Briefwechsel Fischers mit seinen beiden 
Freunden Steck und Zehender aus dem Nachlasse des erste- 
ren, des Großvaters des Verfassers. Außerdem wurden die 
Akten des helvetischen Archivs und Fischers eigne Schriften 
benützt. Fischer gehörte zu den Ersten, die im Kanton Bern 
dem Werke Pestalozzis Verständnis entgegenbrachten. „Er hat 
auf dem nämlichen Gebiete gearbeitet wie jener und den Ein- 
fluß seiner Persönlichkeit und seiner pädagogischen Grund- 
sätze stark empfunden." Aber auch zu dem jungen Herbart 
hat Fischer in enger Beziehung gestanden. Mit ihm hat er 
in Jena studiert, mit ihm dem „Bund der freien Männer" an- 
gehört. Fischer hat auch Herbart für die Familie Steiger als 
Hauslehrer gewonnen. So bietet diese Studie viel des Neuen 
und Interessanten für den Pestalozzi- und Herbartforscher. 
Aber auch für die Schulgeschichte der Schweiz ist sie von 
großer Bedeutung. Denn Fischer hat dort zuerst die Grün- 

8» 



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Theodor Fritzgeh. 



dung eines Lehrerseminars gefordert. Er beruft sich dabei 
ausdrücklich auf ähnliche Unternehmungen in Deutschland, 
die er bei seinen Reisen (z. B. bei Rochow) kennen gelernt 
hätte. Freilich Kriegswirren und andere ungünstige Umstände 
ließen seinen Plan vorerst scheitern, er selbst starb auch schon 
mit 28 Jahren, aber später ist seine Saat doch aufgegangen. — 
Die Universalbibliothek, die erfreulicherweise neuerdings auch 
die Pädagogik mehr und mehr berücksichtigt, bringt als 
Nummer 4820: „August Hermann Franckes kurzer und 
einfältiger Unterricht. Nach dem Drucke vom Jahre . 1748 mit 
Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Theodor 
Fritzsch." (Leipzig, P h i 1 i p p R e c lam jr. 95 S. 8°, 20 Pfg.) 
In der Einleitung kommt meist Francke selbst zum Wort, so 
daß sie dem Unterricht in der Geschichte der Pädagogik als 
„Quellenstück" zugrunde gelegt werden kann. Die Büchlein 
der Universalbibliothek (bisher sind erschienen : Basedow, Her- 
bart, Herder, Jean Paul, Pestalozzi, Salzmann; Locke u. a. 
sind in Vorbereitung) sind wohl geeignet, Leitfäden und Lehr- 
bücher zu ersetzen. Ihre Wohlfeilheit ermöglicht es, nun alle 
Schüler zur Quelle zu führen und den Unterricht lebendiger 
und interessanter zu gestalten. Aber auch zum Privatstudrum 
können die Bücher verwendet werden, da durch zahlreiche An- 
merkungen der Text erläutert wird. Der Verlag hat trotz des 
niedrigen Preises das Titelblatt des Originals faksimiliert. Da 
der Text auch sonst nicht geändert ist, kann das Buch den 
selten gewordenen Urdruck ersetzen. — In dritter Auflage ist 
herausgekommen : „Die Franckeschen Stiftungen zu Halle a. S. 
in ihrer gegenwärtigen Gestalt." Mit 30 Textabbildungen und 
einem Uebersichtsplan. (Buchhandlung des Waisenhauses in 
Halle a. S. 34 S. 8°.) — Als Beitrag zur Geschichte des Pie- 
tismus haben Berthold Schmidt und Otto Meusel 
A. H. Franckes Bricfean den Grafen Heinrich XX I V. 
j. L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleo- 
nore aus den Jahren 1704 bis 1727 herausgegeben (IV u. 
170 S. in gr. 8°, 3 Mk., Leipzig, Dürr 1905). Abgesehen von 
den Briefen Franckes an Spener (f 1705) sind verhältnismäßig 
wenig Briefe von Francke bisher veröffentlicht worden. Die 
vorliegenden sind erst vor kurzem aufgefunden worden ; F r i c k 
hat allerdings schon früher die Vermutung ausgesprochen, daß 
Briefe Franckes an den Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



117 



vorhanden sein müßten. Verlag und Herausgeber haben sich 
mit dieser Veröffentlichung ein Verdienst erworben; denn die 
Briefe sind nicht nur für die Geschichte des Pietismus von 
Wert, sondern auch für die Lebensgeschichte A. H. Franckes, 
da durch das in ihnen enthaltene Material biographische Lücken 
ausgefüllt werden. Die Einleitung und Anmerkungen orien- 
tieren vorzüglich über den Inhalt der Briefe, die Ausstattung 
des Buches ist vornehm. — Die philosophische Grundlage der 
Pädagogik Friedrich Fröbels ist Gegenstand einer Leipziger 
Dissertation (1905, 123 S. 8°) von J. Schulz. S. auch Herbart. 
— A. Walther handelt über „Goethe und Pestalozzi" in 
der „Deutschen Schule" (1906, No. 9 u. 10). Er legt eine An- 
zahl Fäden bloß, die von dem einen zum andern hinüberführen. 
Namentlich wird pestalozzianischer Einfluß in Goethes „Wahl- 
verwandtschaften" nachgewiesen ; doch handelt sich's dabei nur 
um Anregungen stofflicher Art, die Goethe durch Pestalozzis 
und Niederers Aufsätze in der Jenaischen Allg. Literatur- 
Zeitung empfangen hat. — Joh. Casp. Goethe als Erzieher 
ist der Titel eines Aufsatzes von Osw. Kahnt im Praktischen 
Schulmann (1906, No. 5). — „Die Pädagogik Johann Bap- 
tist GraserB in ihrer besonderen Bedeutung für den Taub- 
stummenunterricht" hat durch Arthur Zetzsche eine ganz 
vorzügliche Bearbeitung erfahren. (Leipzig, Carl Merseburger. 

S. 8°, 2,40 Mk. Zugleich Leipziger Dissertation.) 
Der Verfasser gibt in dem gut geschriebenen Buche 
erst eine Schilderung von Grasers Persönlichkeit und 
gruppiert dann seinen Stoff unter folgenden Ueberschriften : 
I. Die wichtigsten Grundzüge seiner Erziehungslehre. II. Histo- 
riseher Ueberblick über die Methoden des Taubstummenunter- 
richts bis zum Jahre 1829. III. Grasers Ansichten über die 
Erziehung der Taubstummen. IV. Der Einfluß der Kombina- 
tionsidee auf die äußere Entwicklung des Taubstummen-Bil- 
dungswesens. V. Lieber sprachliche Ausdrucksmittel und die 
(»rasersche Schreiblesemethode. VI. Grasers Theorie des 
Taubstummenunterrichts. VII. Der Einfluß der Unter- 
richtstheorie Grasers auf die innere Entwicklung des 
Taubstummen - Bildungswesens VIII. Kritik der Graser- 
schen Theorie des Taubstummenunterrichts. (Die Ton-, 
Gesichts-, Gebärden, Schriftsprache.) In begreiflicher Be- 
geisterung für Graser hat sich der Verfasser verleiten 



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118 



Theodor Fritzsch. 



lassen, in einzelnen Punkten die Bedeutung seines 
Pädagogen zu überschätzen Schon vor Graser ist 
die konfessionslose Schule gefordert worden. Die Erdkunde 
hat man vor Graser schon auf die Heimatkunde gegründet. 
Hier wie auch bei der „Schreibmethode 4 ' hätten die Philan- 
thropen (bes. Trapp) erwähnt werden müssen. Solche Aus- 
stellungen können dem Gesamturteile keinen Abbruch tun. — 
„Johann Georg Hamanns Bedeutung für die Pädagogik 44 
ist der Titel eines lesenswerten Aufsatzes von Karl Seiler 
in den Pädagogischen Studien, herausgegeben von M. Schilling 
(1906, No. 3 u. 4). — Vor hundert Jahren erschien Herbarts 
„Allgemeine Pädagogik 44 . In mehreren Aufsätzen ist dieses 
„Jubiläums 44 gedacht worden. In erster Linie ist zu nennen 
WilhelmMünchs prächtiger Aufsatz : „Aus J. Fr. Herbarts 
pädagogischem Gedankenschatz. Zum Gedenktag seines Her- 
vortretens 44 . (Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben 
der Gegenwart, begr. von J. Lohmeyer, V. Jahrg. Heft 3 u. 4.) 
W. Münch verbindet damit zugleich noch einen andern Zweck, 
wie aus folgenden Worten hervorgeht : „Der feinsinnige, hoch- 
strebende Mensch, der in aller Stille warm Empfindende, der 
verständnisvolle Freund der zu bildenden Jugend, der um- 
sichtige Beurteiler der Welt und der Menschen, und endlich 
auch der Meister in eigenartig edler Sprache scheint den meisten 
fremd zu bleiben; man hört davon selten etwas rühmen. Und 
doch wäre, wenn jener eine Herbart, der Systematiker, nicht 
dagewesen oder nicht noch da wäre, dieser andere sicher 
wert, gekannt und gerühmt zu werden. Diesen anderen in einem 
gewissen Zusammenhang zu zeigen, sei der Zweck der folgenden 
Seiten, wobei es denn erlaubt sein muß, unter Auflösung des 
sorgsam strengen Gedankengewebes der „Allgemeinen Päda- 
gogik 4 ' auf andere, freie Weise, durch Aufreihung und Ver- 
knüpfung zahlreicher einzelner, aus ihren Stellen heraus- 
gehobener Urteile neuen Zusammenhang herzustellen." — Ein 
anderer Aufsatz, der zur Erinnerung an das Erscheinen der 
Allgemeinen Pädagogik geschrieben ist („Herbarts Pädagogik 
in englischer Beleuchtung" von Th. Fritzsch in der All- 
gemeinen Deutschen Lehrerzeitung No. 14), knüpft an ein eng- 
lisches Werk an, das gleich hier mit erwähnt werden soll : 
„Drei historische Erzieher : Pestalozzi, Fröbel, Her- 
bart. Von F. H. Hayward. Autorisierte Uebersetzung aus 



Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



119 



dem Englischen von Gustav Hief/' (London, A. Owen & Co. 
62 S. 8°, geh. 1,60 M.) Eine uns Deutschen ungewohnte Apper- 
zeptionsweise tritt uns oft in dem Buch entgegen, wiederholt 
wendet sich der Verfasser treffend an englische Dichter und 
Gelehrte, an englische Sitten und Gewohnheiten. Obwohl Pesta- 
lozzi und Fröbel verhältnismäßig kurz behandelt und nur zwei 
Hauptgedanken aus der Fülle der Herbartschen Lehren her- 
ausgehoben werden, obwohl ferner die Uebersetzung hin und 
wieder nicht ganz treffend zu sein scheint, ist das Buch höchst 
lesenswert. (S. auch den Aufsatz von Hans Zimmer in der 
Dorfschule, herausgegeben von Melinat, II. Jahrg. No. 8: „Drei 
deutsche Erzieher in englischer Beleuchtung. 44 ) — Hier ist 
auch noch zu erwähnen: „Herbarts Allgemeine Pädagogik 1806 
bis 1906" von E. von Sallwürk sen. („Die deutsche Schule 44 , 
herausgegeben Von R. Rißmann, Dez. 1906, S. 729—741. 
Leipzig J. Klinkhardt.) — Karl Kehrbach hatte bekanntlich 
seine große H er ba rt - Ausgabe die 1887 begonnen 
wurde, nicht vollendet. Von vielen Seiten wurde das 
mit Recht beklagt. Aber schon — kaum ein Jahr nach seinem 
Tode — liegen der 1 1. und 12. Band vor. Die Verlagsbuchhand- 
lung hat es für eine Ehrenpflicht gehalten, dafür Sorge zu tragen, 
daß das Werk im Sinne des Verstorbenen zu Ende geführt 
wird. Der beste Herbartkenner der Gegenwart, O. Flügel, 
wird in Zukunft die Herausgabe leiten. Damit ist von vorn- 
herein eine Gewähr gegeben, daß die Ausgabe allen Ansprüchen, 
die man an sie stellt, genügen wird. Der 11. Band 
bringt: 1. Commentatio de Realismo Naturali aus dem Jahre- 
1837. II. Erinnerung an die Göttingischej Katastrophe 1837 
(1842). III. Psychologische Untersuchungen. 1839. Der ur- 
sprüngliche Plan ist insofern abgeändert worden, daß die Aus- 
gabe nicht nur 12, sondern 15 Bände umfassen wird. Diese 
Aenderung machte sich nötig, weil außerordentlich viel neues 
Material aufgefunden worden ist, Material, welches zum Teil 
geeignet ist, an verschiedenen Punkten die Herbartforschung 
wesentlich zu beeinflussen. Der vorliegende 12. Band bringt 
den ersten TeiJ der Rezensionen, unter denen sich eine An- 
zahl bisher unbekannter befindet. Der nächste Band wird die 
Rezensionen und die Nachträge enthalten. Rudolf Hartstein wird 
dann den Band bearbeiten, der die ungedruckten Schriftstücke 
über Herbarts Tätigkeit in der Königsberger Schuldeputation 



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120 



Theodor Fritzsch. 



und im pädagogischen Seminar enthält. Den Schluß bildet der 
Briefwechsel, dessen Bearbeitung Th. Fritzsch obliegt. Hoffent- 
lich bleibt nun auch für die Verlagsbuchhandlung, welche die 
größten Opfer für das Unternehmen nicht gescheut hat, der 
äußere Erfolg nicht aus. — O. Flügel veröffentlicht in den 
Deutschen Blättern für erziehenden Unterricht, herausgegeben 
von Friedrich Mann (1906/07, No. 9 f.) auf Grund neu aufge- 
fundener Quellen einen Aufsatz mit der Ueberschrift : „Herbart 
über Fichte im Jahre 1806." — Ueber „die Grundlage der Ethik 
Herbarts" Spricht M. Schultz in der preußischen Schul- 
zeitung (1906, No. 66, 67). Zu diesem Aufsatze macht einige 
treffende Bemerkungen G. G i 1 1 e in derselben Zeitung (1906, No. 
71). Eine tiefgründige Arbeit über: „Schön und gut nach Her- 
bart", hat O. Flügel in der Volks- und Jugendschriften-Rund- 
schau, herausgegeben von Sydow (Benzinger, Stuttgart, 1906, 
No. 8 — 10) veröffentlicht. Endlich findet sich in der Wissen- 
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung (1906, No. 95) eine 
wertvolle Abhandlung von Hans Zimmer: Herbart und die 
Göttinger Sieben. Auf Grund eingehender Studien kommt 
Zimmer zu einem gerechteren Urteil, als man es gewöhnlich 
über Herbart fällt, er schreibt: „Herbart war nie unter der 
Majorität, urid bange Furcht blieb dem stolzen, vornehmen 
Manne ebenso fremd wie unedles Handeln. Wer es weiß, 
wie sehr Herbart stets ausschließlich seiner Wissenschaft lebte, 
wie er ganz aufging in seinem Beruf als Universitätslehrer, 
wie heilig es ihm war mit der Verbreitung seiner Philosophie, 
der wird seinen Standpunkt verstehen, mag sein Herz auch der 
mutigen Tat der Göttinger Sieben noch so sehr entgegen- 
schlagen: Herbart war stets ein Ganzer, und er blieb es auch 
damals". S. auch J. R. Fischer, Strümpell, Waitz u. III. 
— Eine kritische Studie über die pädagogischen Ideale 
des jungen Herder" ist die Programmarbeit von 
O. Maas. (Rastenburg 1906, 45 S. 8°.) — Die dem Leipziger 
Philosophen Max Heinze zum 70. Geburtstage gewidmete 
Festgabe enthält u. a. einen für die Geschichte der Pädagogik 
bedeutsamen Aufsatz von Georg Müller über einen ver- 
gessenen Pädagogen des 18. Jahrhunderts unter der Ueber- 
schrift: „Karl Heinrich Heydenretch als Universitätslehrer 
und Kunsterzieher." „Was Heydenreich erstrebte, ist zunächst 
unausgeführt geblieben. Die in jener Zeit in Leipzig bestehen- 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



den und neu entstehenden pädagogischen Seminare vertraten 
andere Ziele und Methoden. Einer spätem Zeit war es vor- 
behalten, seine Gedanken, wenn auch in wesentlich anderer 
Gestalt, zur Ausführung zu bringen, und damit die allgemeinen 
und großen Wirkungen vorzubereiten, die sich Heydenreich 
von dem Einflüsse der Kunst auf die deutsche Nation ver- 
sprach." — Dem Gedächtnis Dietrich Horns, eines nieder- 
rheinischen Schulmannes, der am 24. Februar 1906 verschieden 
ist, sind folgende Aufsätze gewidmet: „Zur Erinnerung an 
Rektor D. Horn." (Deutsche Blätter für erziehenden Unter- 
richt, herausgegeben von Friedrich Mann (1906/07, XXXIV. 
Jahrg. No. 1 1 ff.). Derselbe Verfasser, W. Dams, zeichnet auch 
ein kurzes Charakterbild des Verstorbenen in der Einladungs- 
schrift zur 43. Hauptversammlung des Vereins für Herbartsche 
Pädagogik in Rheinland und Westfalen. Endlich enthält das 
Juniheft des von Dörnfeld begründeten „Evangelischen Schul- 
blattes" Reden und Aufsätze über Horn von Achinger, Rum 
Scheidt, Kielmann, Abendroth und von Rhoden. — Humanismus. 
In einem Aufsatze (von Ludwig Keller?): „Der deutsche Huma- 
nismus im Kampf um die Weltanschauung" in den Monats- 
heften der Comenius-Gesellschaft, herausgegeben von L. Keller, 
wird wieder darauf hingewiesen, daß es sich in dem Ringen 
zwischen Humanismus und Scholastik nicht um einen Kampf 
um Sprache und Literatur, sondern um den Kampf zweier Welt- 
anschauungen handle. Eine wichtige Unterlage für die Beur- 
teilung der Weltanschauung der Humanisten besitzen wir in der 
großen Rede, die Conrad Celtes am 31. Aug. 1492 in 
Ingolstadt gehalten hat, die von Gustav Bauch seinerzeit 
im Auszuge veröffentlicht worden ist. S. auch Caselius, Rein- 
hard. — Susanne Rubinstein veröffentlicht im 272. Heft 
des Pädagogischen Magazins, herausgegeben von Friedrich 
Mann, eine Abhandlung über „Die Energie als Wilhelm von 
Humboldts sittliches Grundprinzip." (Langensalza, Hermann 
Beyer & Söhne, 14 S. 8°, 20 Pfg.) — „Den Manen August 
Israels", des bekannten Pestalozzi-Bibliographen und pädago- 
gischen Geschichtsforschers, ist ein Aufsatz von G. Berger in 
den „Pädagogischen Blättern für Lehrerbildung" (T906, No. 1 1), 
herausgegeben von Karl Muthesius, gewidmet. — Auch im 
„Pestalozzianum" (1906, No. 9) ist ein Aufsatz über Israel von 
Ernst Ebert. — N. Tonroff, Jenn Paul als Pädagoge. 



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Theodor Fr it zieh. 



(Lausanne, E. Frankfurter. 93 S. gr. 8°. 1,50 Mk.) Die Schrift 
behandelt zunächst Jean Paul als praktischen Erzieher und 
pädagogischen Schriftsteller und gibt im zweiten Teile eine 
systematische Darstellung der Gedanken Jean Pauls über Haupt- 
fragen der Erziehung nach folgenden Gesichtspunkten: I. Phy- 
sische Erziehung. II. Disziplin. III. Sittliche Erziehung. IV. In- 
tellektuelle Erziehung im Zusammenhang mit der ästhetischen. 
V. Mädchenerziehung. — In „Natur und Schule" (Leipzig, 
Teubner, 1906, No. 8) veröffentlicht E. Oppermann einen Auf- 
satz über den verstorbenen Reformator des naturkundlichen 
Unterrichts Friedrich Jnnge. — In den Büchern der Weisheit 
und Schönheit, herausgegeben von Freiherr von Grotthuss, 
die an anderer Stelle in diesem Berichte gewürdigt werden, 
finden sich auch zwei Bände, „Kant," nämlich die „Kritik 
der reinen Vernunft in verkürzter Gestalt (mit Abschnitten 
aus den Prolegornenen)" (VII u. 188 S. 8°) ,und „Kants Ethik 
und Religionsphilosophie" in ausgewählten Abschnitten. (VII 
u. 161 S.) Beide Bände hat August Messer bearbeitet. 
Sie sind vortrefflich geeignet, Kants Philosophie in weitere 
Kreise zu tragen. (Verlag von Greiner und Pfeiffer in Stutt- 
gart. Preis eines Bandes in bester Ausstattung: 2,50 M.). — 
Dasselbe gilt von einem Bändchen der Sammlung: „Aus 
Natur- und Geisteswelt", welches eben erst erschienen ist: 
„Immanuel Kant" Darstellung und Würdigung von Os- 
wald Külpe." (Leipzig, C. G. Teubner, VIII u. 152 S. 8°, 
geh. 1 M„ geschmackvoll geb. 1,25 M.). Dem Verfasser ist es 
vortrefflich gelungen, auf dem beschränkten Räume das 
Leben und Wirken des großen Weisen zur Darstellung 
zu bringen. — L. Wenigers Weimarer Programm- 
arbeit betitelt sich: ..Johannes Kromayer. Zwei Schul- 
schriften von 1629 und 1640." (15 S. 4 0 .) — Als Band XXIV 
der Monumenta Germaniae Paedagogica ist erschienen : „Die 
Jugend und Erziehung der Kurfürsten von Branden- 
borg und Könige von Preußen. Von Archivrat Dr. Georg 
Schuster, Kgl. Preuß. Hausarchivar, u. Prof. Dr. Friedrich 
Wagner (f)." Erster Band: Die Kurfürsten Friedrich I. und IL, 
Albrecht, Johann, Joachim I. und II. (Berlin, A. Hofmann 
& Comp. XXIII u. 608 S. gr. 8°, mit vielen Bildern und faksi- 
milierten Schriftstücken, geb. 22 Mk.) Ursprünglich bestand 
die Absicht, eine Erziehungsgeschichte der Hohenzollern zu 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



123 



schreiben. Da aber das Material für die früheste Zeit ein sehr 
beschränktes ist, entschlossen sich die Bearbeiter, das ursprüng- 
liche Programm zu einer Jugendgeschichte zu erweitern. 
Leider ist Fr. Wagner, im Begriff, die letzte Hand an das 
Schlußkapitel seines Manuskriptes zu legen, verschieden, so daß 
nun Georg Schuster die Herausgabe allein übernehmen mußte. 
Der vorliegende erste Band beginnt mit dem Begründer des 
preußischen Staates, mit dem Kurfürsten Friedrich I. und 
schließt mit Kurfürst Joachim II. Er umfaßt also diejenigen 
Fürsten, „welche noch im Sinne und der Weise der alten Kirche 
erzogen worden sind, ehe der Einfluß Luthers und Melanch- 
thons auf Schule und Unterricht einsetzte." Bis zu diesem 
Zeitpunkte haben sich keine Instruktionen für die Schularbeit, 
sondern nur einzelne Lehrbücher erhalten. Band II soll mit 
dem Kurfürsten Johann Georg beginnen, dem ersten branden- 
burgischen Hohenzollern, der eine Universität bezogen hat, und 
mit dem Großen Kurfürsten abschließen. Der Schlußband end- 
lich wird die Zeit der Könige bis zu Kaiser Wilhelm I. be- 
handeln. Nach langen mühsamen Vorarbeiten wird uns also 
ein Gebiet der Geschichte erschlossen, welches bisher fast un- 
bekannt war. Da das Buch zudem nicht im Tone trockener 
Belehrung, sondern lebendig und frisch geschrieben ist, wird 
es nicht nur von Geschichtsforschern, sondern auch von Laien, 
die sich für geschichtliche Dinge interessieren, gekauft werden. 
Zahlreiche Anmerkungen und Anlagen, sowie mehrere sorg- 
fältige Register beschließen den ersten Band, dessen vorzüg- 
liche Ausstattung mit reichem instruktiven Bildermaterial noch 
besonders hervorgehoben werden muß. — „Der Geographus 
Laurentinus, ein kursächsischer Schulpoet," ist der Titel einer 
interessanten Studie von Ernst Schwabe in den Neuen 
Jahrbüchern für das klassische Altertum (1906, II. Abteilung, 
S. 292 ff). Es wird darin über eine Gedichtsammlung eines 
Anonymus (jedenfalls ist es Georg Heinrich Sappuhn) berichtet, 
in der die verschiedenen Feste geschildert werden, die auf 
der alten Klosterschule (St. Afra), der er einst als Schüler 
angehörte, gefeiert wurden und zum Teil noch gefeiert werden. 
— In dritter „vermehrter und verbesserter" Auflage liegt vor: 
Als Band II von Greßlers Klassikern 'der Pädagogik, heraus- 
gegeben von H. Zimmer: Lot her als Pädagog" von Ernst 
Wagner. (Langensalza, Schulbuchhandlung, Xu. 195 S. 8 0 „ 



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Theodor Fritzsrh. 



2.50 M.). — „Der deutsche Name Melanchtons" ist die Ueber- 
schrift einer Mitteilung Albert Ruppersbergs in 
den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum (1906, 
II. Abt. S. 60 f.). Melanchthons Name „Schwarzerd" ist danach 
offenbar ein Ortsname. Schwarzerden ist ein Dorf in der Pfalz, 
aus dem jedenfalls die Vorfahren Melanchthons stammten. 
Diese Feststellung ist gegenüber Strauß' und Martfelders ab- 
sprechenden Urteilen über die Etymologie zu Reuchlins Zeiten 
wichtig. — Einen Beitrag zur Schulgeschichte des 
Mittelalters gibt R. Hillmann mit seinem Aufsatz: „Deutsches 
Schulwesen vom Ende der Karolingerherrschaft bis zur Blüte 
des Städtewesens (1000 — 1400)" in den Pädagogischen Monats- 
heften, herausgegeben von AI. Knöppel (1906, No. 3, 4, 5, 6). 
— Die bedeutendsten Pädagogen des 15. Jahrhunderts, zu- 
nächst in Italien (Dominici, Vergerius, Guarino von Verona, 
Fr. Filelfo, A. Dati, L. B. von Arezzo, F., Barbaro, L. B. 
Alberti, M. Palmieri, F. Patrizi, Gr. Correo, N. Perotti, A. 
Ivani, J. Porzia, A. Poliziano, N. Kempf), behandelt A. St. in 
derselben Zeitung (7 ff.). — „Analekten zur Schulgeschichte des 
Mittelalters" betitelt sich ein Aufsatz von Max ManitiuS 
in den „Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- 
und Schulgeschichte" (16. Jahrg. S. 35—49), in dem er mit- 
teilt, was er an Ergebnissen bei der Durchforschung von Biblio- 
theks-Katalogen des 14. Jahrhunderts gewonnen hat. Die Fort- 
setzung dieser Zusammenstellung schulgeschichtlichen Materials 
aus denselben Quellen bildet der Aufsatz desselben Verfassers : 
„Zur Ueberlieferungsgeschichte mittelalterlicher Schulautoren' 4 
(ebenda S. 232 — 277). — „Die pädagogischen Ansichten in 
den Schriften deutscher Rechtsphilosophen und National- 
ökonomen aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts," stellt Kahl 
in den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- 
und Schulgeschichte (16. Jahrg. S. 199 — 231) dar. — In den 
„Büchern der Weisheit und Schönheit," herausgegeben von J. E. 
Freiherr von Grotthuss, die durch ihre vorzügliche Bearbeitung, 
ihre sorgfältige Auswahl und elegante Ausstattung schnell 
weiteste Verbreitung gefunden haben, ist neben Kant, Grimm, 
Goltz, Montesquieu, Lucian, Gobineau, Plato, Darwin u. a. auch 
erschienen: „Montaigne in Auswahl herausgegeben von Erich 
Meyer." (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer, 153 S. 8°, geb. 2,50 Mk.) 
Die Ausgabe schließt sich den anderen würdig an. Da sie 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 125 

auf gelehrtes Beiwerk verzichtet, wird diese Auswahl auch in 
Kreisen eine Stätte finden, in denen solche Bücher sonst nicht 
gelesen werden. — Zur Feier von Karl Philipp Moritz* 
150. Geburtstag (15. Sept.) ist in der Universalbibliothek eine 
Ausgabe von dem bekannten „psychologischen Roman" Anton 
Reiser erschienen. (Neu herausgegeben und mit Einleitung 
und Anmerkungen versehen von Hans Henning. Mit einem 
Bildnis Moritz'. Leipzig, Philipp Reclam jr. 476 S. 8 °, 80 Pfg., 
geb. 1,20 Mk.) In der Einleitung gibt der Herausgeber eine 
treffliche Lebensbeschreibung von K. Ph. Moritz, er zeigt darin 
auch seine Stellung in der Literaturgeschichte und l>erichtet 
über das Werk selbst und die Beurteilung, die es erfahren 
hat. Da „Anton Reiser" auch für die Geschichte der Päda- 
gogik von Bedeutung ist, so wird das Werk in dieser schönen 
und wohlfeilen Ausgabe bald weiteste Verbreitung und hoffent- 
lich recht viele Leser finden. — Karl Philipp Moritz, über 
den im Vorjahre eine Leipziger Dissertation erschienen ist, 
wird in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum 
(1906. II. Abt. 1. Heft) von Rudolf Windel dargestellt als 
pädagogischer Schriftsteller, ohne daß allerdings auf die Arbeit 
Altenbergers Rücksicht genommen ist. — Ueber K. Ph. Moritz 
„Magazin der Erfahrungsseelenkunde" (1783fr) macht Hans 
Zimmerin der „Dorfschule" (1906, No. 16), herausgegeben von 
Melinat, interessante Mitteilungen. — H. Grosse behandelt 
Ed. Möricke als Lehrer in den Deutschen Blättern für erziehen- 
den Unterricht. (1906, No. 49—52.) — Der bekannte Münchner 
Lyriker und Schriftsteller Ernst Weber hat „Die pädago- 
gischen Gedanken des jungen Nietzsche im Zusammen- 
hange mit seiner Welt- und Lebensanschauung" in einem Buche 
dargestellt, welches in äußerst geschmackvoller Ausstattung bei 
Ernst Wunderlich in Leipzig erschienen ist. (1907. XVI u. 
169 S. 8°, geh;. 2 «M. f geb. 2,50 M.). Er widmet das 
Werk seinen Lehrern Max Heinze in Leipzig und 
Wilhelm Rein in Jena. Leicht war die Aufgabe sicher nicht, 
die sich der Verfasser gestellt hatte. Nietzsche ist ja bereits 
von den verschiedensten Seiten her betrachtet worden, zum 
ersten Male wird er als Pädagog behandelt. Bekanntlich war 
Nietzsche von 1869 bis 1877 im Nebenamt als Lehrer am 
Baseler Pädagogium tätig. Doch entspringen seine pädago- 
gischeu Gedanken nicht seiner Praxis, sondern seinen philo- 



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126 



Theodor Fritzsch. 



sophischen, insbesondere seinen kulturellen Problemen. So 
schickt Weber auch der Darstellung des pädagogischen 
„Systems" Nietzsches zwei Abschnitte voraus mit den Ueber- 
schriften: „Die philosophischen Gedanken des jungen 
Nietzsche" und „Das Kulturproblem des jungen Nietzsche". 
Dann erst folgt: „Das Bildungsproblem des jungen Nietzsche" 
und eine Kritik der pädagogischen Gedanken des Philosophen. 
Auch in der Pädagogik war Nietzsche groß als Vernichter. 
„Seine Bedeutung liegt zunächst in seinen Negationen." Mit 
Geschick hat er auf die Schäden unseres Bildungswesens hin- 
gewiesen, aber auch die Werte hervorgehoben, die zu ihrer 
Begegnung vonnöten sind. Die einzelnen Steine seines Systems 
„werden ihren Zukunftswert behalten; denn sie sind edles 
Material aus dem besten Felsbruch deutschen Wesens." Weber 
hat es verstanden, den spröden Stoff übersichtlich und klar, 
dazu in schöner Sprache zur Darstellung zu bringen, so daß 
sein Buch nicht nur in der Nietzsche-Literatur, sondern auch 
in der Geschichte der Pädagogik einen Ehrenplatz einnehmen 
wird. — Friedrich Nietzsche als Pädagog behandelt H. Heine 
im Praktischen Schulmann (1906, No. 4). — Oskar Pache, 
dem verdienten Organisator und Reformator der deutschen 
Fortbildungsschule, der in diesem Jahre verstorben ist, sind 
Aufsätze gewidmet in der Brandenburgischen Fortbildungs- 
schule (1906, No. 6) und der Leipziger Lehrerzeitung (1906, 
No. 35). — P. Natorps Pestalozzi liegt nun ganz vor. (Greßlers 
Klassiker der Pädagogik, herausgegeben von Hans Zimmer, 
Bd. 23 — 25, Schulbuchhandlung von F. G. L. Greßler, Langen- 
salza.) Der erste Band (XXII u. 421 S. 8°, mit einem Bildnis 
Pestalozzis, 5,50 Mk.. geb. 6,20 Mk.) enthält Pestalozzis Leben 
und Wirken, die beiden anderen (II. Bd.: VI u. 344 S. 8°, 
5 Mk., geb. 5,70 Mk., III. Bd.: VI u. 511 S. 8°, 6 Mk., geb. 
6,70 Mk.) folgende Auswahl aus seinen Schriften: I. lieber 
die Erziehung seines Söhnchens. II. Die Abendstunde eines 
Einsiedlers (1780). III. Aus „Lienhard und Gertrud. Ein Buch 
für das Volk". IV. Aus „Christoph und Else. Mein zweites 
Volksbuch" (1782). V. Aus dem „Schweizerblatt" (1782). VI. 
Aus „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in 
der Entwicklung des Menschengeschlechts" (1797). VII. Pesta- 
lozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz 
(1799). VIII. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Ein Versuch, 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 127 

den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unter- 
richten, in Briefen. (1801). IX. Kleinere Stücke aus den Jahren 
1800 — 1805. X. Ansichten und Erfahrungen, die Idee der Ele- 
mentarbildung betreffend (1805). XI. Ueber Körperbildung 
(1807). XII. Aus den „Reden an mein Haus*'. — Es unterliegt 
keinem Zweifel, daß der Zeitpunkt, dem deutschen Volke einen 
neuen Pestalozzi zu schenken, von dem verdienten Herausgeber 
außerordentlich günstig gewählt worden ist. Einerseits war 
es nötig, daß das umfangreiche Material, welches die Pesta- 
lozziforschung der letzten Jahre zutage gefördert hat, kritisch 
verarbeitet werden mußte, sollte es nicht ein totes Kapital sein ; 
anderseits wies die Zeitströmung mit dem Schlagwon „Sozial- 
pädagogik" geradezu auf den großen Schweizer Pädagogen. 
In Paul Natorp wurde der richtige Mann gefunden, der beiden 
Aufgaben in ganzem Umfange gerecht wurde. Die größte 
Schwierigkeit bestand bei der Arbeit, wie der Verfasser selbst 
hervorhebt, in der Beschränkung : nicht zu viel und dabei doch 
alles zu geben, was erforderlich ist, um von dem Wesen des 
Mannes und seiner Leistung für die Menschheit einen vollen 
Begriff zu bekommen. Das ist ihm trefflich gelungen. Er hat 
uns ein Gesamtbild Pestalozzis vor die Augen gestellt, welches 
uns die ganze Größe des Mannes nicht nur ahnen, sondern 
wirklich erkennen läßt. Das ist ihm vor allem dadurch möglich 
geworden, daß die beiden Teile des Werkes, Leben und 
Schriften, in das Verhältnis gegenseitiger Ergänzung und Be- 
leuchtung gesetzt wurden : in der Darstellung des Lebens wurde 
all das kürzer behandelt, wovon die ausgewählten Schriften 
einen Begriff zu geben hinreichend sind ; was aber in der Aus- 
wahl der Schriften nicht oder bruchstückweise aufgenommen 
werden konnte, wurde im ersten Teile eingehender behandelt. 
Natorp hat so tatsächlich ein Buch geschrieben, welches ge- 
eignet ist, Pestalozzi zum Eigentum nicht nur jedes Lehrers, 
sondern auch jedes Erziehers, ja des ganzen Volkes deutscher 
Zunge zu machen. Im einzelnen ließe sich vieles aus dem 
überreichen Inhalte herausheben, manches auch im ablehnenden 
Sinne. Der vorliegende Bericht soll aber mehr orientieren als 
kritisieren. In der Darstellung des Lebens ist, unseres Wissens 
überhaupt zum ersten Male, das Verhältnis Pestalozzis zu 
Rousseau richtig dargestellt worden. Auch der Abschnitt 
„Fichte und Kant" verdient hervorgehoben zu werden. In der 



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128 



Theodor FriUwh, 



Auswahl der Schriften hat uns insbesondere der äußerst ge- 
lungene Versuch interessiert, die vier Bände von „Lienhard 
und Gertrud" auf einen halben Band zusammen zu ziehen, so 
daß das Werk nur gewonnen hat und auch für vieles andere 
dadurch Platz geschaffen wurde. Auch sonst bringen die beiden 
Auswahlbände manches Neue und stellen vieles richtig. Reiche 
Nachweise enthalten die Anmerkungen, von denen wir aller- 
dings gewünscht hätten, daß sie nicht am Ende zusammen- 
gestellt, sondern auf die betreffenden Seiten verteilt würden, 
zu denen sie gehören. — „Pestalozzi auf dem König- 
steine," heißt eine Abhandlung von Albert Klemm in 
der Sächs. Schulzeitung vom 6. April 1906 (No. 14). Das Gäste- 
buch der Feste Königstein in Sachsen aus den Jahren 1740 
bis 1793 war abhanden gekommen, tauchte aber 1903 in Berlin 
wieder auf und befindet sich jetzt in der K. S. Armeesammlung 
in Dresden. In diesem Gästebuch stehen nun unter dem 
4. Mai 1786 eingetragen: „Geßner, Füßli, Pestalozzi, 
Pfister." Bisher nahm man an, daß Pestalozzi nur einmal in 
Deutschland war (1792 in Erbschaftsangelegenheiten in Leipzig], 
nach den Mitteilungen Klemms weilte P. 1786 in Dresden. 
Dort soll er mit Schiller zusammen gekommen sein. Auch 
mit der Namengebung des Gebirgs („Sächs. Schweiz") werden 
die Schweizer Gäste in Zusammenhang gebracht. Die Kom- 
bination betr. der Industrieschulen, die P. in Sachsen angeregt 
haben soll, ist jedoch anzuzweifeln, da solche Schulen schon 
zum Programm der Philanthropen gehören. Ferner schreibt 
Hunziker in der „Deutschen Schule" (Okt. 1906): „Von einer 
Reise Pestalozzis mit Geßner und Füßli findet sich im Tage- 
buche der Frau P. nicht das geringste. Und Füßli und Geßner 
gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so viele in 
Zürich, daß man bei jener Eintragung nicht nötig hat. an 
Pestalozzis Freunde dieses Namens zu denken. Wahrscheinlich 
ist dieser „Pestalozzi" ebensowenig unser Johann Heinrich, als 
der „Pestaluz aus Zürich", der nach dem Briefwechsel Goethes 
mit Lavater 1775 ersteren.in Frankfurt a. M. besucht hat. 
(Vgl. Deutsche Schule, Sept. 1906, S. 541)." — Richard 
Köhler spricht „Ueber die bleibende Bedeutung Pestalozzis' 4 
in der Pädagogischen Warte (12. Jahrg. Heft 1). — Eine sehr 
brauchbare Schulausgabe von Heinrich Pestalozzis „Wie Ger- 
trud ihre Kinder lehrt" hat Hermann W alsemann ge- 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



129 



schaffen. (Schleswig, Johs. Ibbeken, 143 S. 8°). S. auch Leipzig, 
J. R. Fischer, Herbart, Goethe. — Philanthropinismus. Her- 
mann Lorenz behandelt in den „Mitteilungen der Gesell- 
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte", heraus- 
gegeben von Alfred Heubaum, „Die Lehrmittel und Hand- 
arbeiten des Basedowschen Philanthropins" (nebst 12 Tafeln 
mit Abhandlungen der wichtigsten in Dessau noch heute vor- 
handenen Reste). Betr. des Verhältnisses Comenius* zu den 
Philanthropen sei noch verwiesen auf die Arbeit von Th. Fritzsch : 
„Comenius und die Philanthropinisten" in den Monatsheften 
der Comenius-Gesellschaft, herausgegeben von L. Keller. (1906, 
3. Heft). — Von demselben Verfasser ist ein Aufsatz: 
„Zur Geschichte der Dorfschule" (in der Melinatschen Zeit- 
schrift „Die Dorfschule" (II. Jahrgang No. 5) zu erwähnen, 
in dem gezeigt wird, daß die Philanthropen größere Verdienste 
um die Entwicklung der Landschule haben, als ge- 
wöhnlich angenommen wird. — Ueber einen Gehilfen 
des Arnos Comenius, Johann Jakob Redinger, handelt Hugo 
Blümner in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Alter- 
tum (1906, II. Abt. S. 361 ff.). — Ernst Schwabe zeigt in 
einer wertvollen Abhandlung, wie groß der Einfluß F. V. 
Reinhards auf das Unterrichtswesen Kursachsens, insbesondere 
das höhere, war. Reinhard ist es gewesen, der die neuhuma- 
nistische Bewegung für Sachsen nutzbar zu machen wußte, 
der aber auch den Volksschulen und Schullehrerseminaren seine 
Fürsorge angedeihen ließ. („Der Dresdener Oberhofprediger 
Franz Volkmar Reinhard und sein Einfluß auf das höhere 
Unterrichtswesen Kursachsens" in den „Mitteilungen der Ge- 
sellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte", XVI. 
Jahrg. S. 1—34). — Als Separatabdruck aus der „Monats- 
schrift für Innere Mission", herausgegeben von Theodor 
Schäfer (26. Jahrg. 1906) ist erschienen: „Fr. Eberhard 
v. Rochow. Ein Bild seines Lebens und Wirkens von Ernst 
Schäfer." (Gütersloh, Bertelsmann. 100 S. gr. 8°. 1,50 Mk., 
geb. 2,25 Mk.) Das Vorjahr hat mit seinen Rochow-Feiern, 
-Aufsätzen und -Abhandlungen (cf. den vorigen Bericht I) 
das Interesse an der Tätigkeit des märkischen Edel- 
mannes wieder aufleben lassen. Aber an einer Arbeit 
wie der vorliegenden fehlte es noch. Wie der Ver- 
fasser im Vorwort mit Recht vermerkt, läßt die bisherige 

Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene 9 



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130 



Literatur über Rochow eine kritisch gearbeitete Biographie 
durchaus vermissen und krankt außerdem an einer gewissen 
Einseitigkeit, indem sie über dem Pädagogischen die viel- 
seitige humanitär-nationalökonomische Tätigkeit Rochows fast 
völlig außer acht läßt. Schäfer hat nun in seiner vortreff- 
lichen Abhandlung das Theoretisch-Pädagogische weniger be- 
rücksichtigt, dafür aber von dem wackeren Mann ganz neue 
Seiten gezeigt: denn Rochow ist nicht nur Pädagog gewesen, 
er war auch Menschenfreund im allgemeinen und großen Sinne 
des Wortes. „Mich jammert des Volks," war die Losung für 
sein ganzes arbeitsreiches Leben. Schäfer schildert auf Grund 
umfassender archivalischer Studien Rochows Jugendjahre, zeigt 
ihn als Gutsherrn, als Reformator des Armen- und Schulwesens 
und gibt dann am Schlüsse eine Charakteristik. Vorzügliche 
Dienste leistet ein umfängliches Literaturverzeichnis, welches 
auch dankenswerte bibliographische Notizen bringt. So wird 
das Buch nicht nur dem Pädagogen, sondern auch dem Histo- 
riker und Nationalökonomen von größtem Werte sein, aber 
auch für jeden Gebildeten eine genußreiche Lektüre bilden, 
da es außer den schon genannten Vorzügen auch gut ge- 
schrieben ist. — Fr. Bamberg behandelt „Eberhard von Rochow, 
den Reformator der neueren Landschule". (Pädagogische Warte, 
12. Jahrg. Heft 10.) — Albert Geyers „Gedenkblatt zu 
Robert Beinicks 100. Geburtstag" (Pädagogische Warte, 
12. Jahrg. Heft 4) ist noch zu dem vorjährigen Bericht nach- 
zutragen. — Aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburts- 
tags von Roßmäßler sind eine Anzahl Aufsätze erschienen. 
In erster Linie ist zu nennen : „Emil Adolf Roßmäßler als Päda- 
gog. Von Gustav Schneider." (279. Heft von dem Päda- 
gogischen Magazin, herausgegeben von Fr. Mann. Langensalza, 
H. Beyer u. Söhne, 65 S. 8 °, 90 Pfg.) Die Abhandlung orien- 
tiert vorzüglich über die Bestrebungen Roßmäßlers. Ferner sind 
folgende Arbeiten über Roßmäßler zu erwähnen: Von G. 
Schneider in den Deutschen Blättern für erziehenden Unter- 
richt, herausgegeben von Fr. Mann (1905/06, No. 14), von 
ErnstSchockin den Pädagogischen Warten, herausgegeben 
von Beetz und Rüde (1906, Heft 5); von — r— in der Päda- 
gogischen Zeitung (1906, No. 9: „Eine Dankesschuld der 
deutschen Volksschullehrer"); von Horn in der Deutschen 
Schule (1906, No. 3); von H. Morich in der Deutschen 



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DU Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



131 



Schulpraxis (1906, No. 8). — Heft 34 der „Beiträge zur Lehrer- 
bildung und Lehrerfortbildung", herausgegeben von K. Mu- 
thesius, enthält : „Rousseau als Klassiker der Sozialpädagogik. 
Entwurf zu einer Neudarstellung auf Grund seines Emile." Von 
Albert Görland. (Gotha, E. F. Thienemann, 24 S. 8°, 
40 Pfg.) — Grave 11 zeigt „Rousseau in neuer Beleuchtung" 
(Pädagogische Warte 12. Jahrg. Heft 3.) S. auch Salzmann. — 
„Geschichte der I. deutschen Gymnastischen Lehranstalt, er- 
öffnet an der Universität Erlangen im Frühjahr 1806 durch 
Dr. Joh. Adolf Carl Roux" ist der Titel einer lesenswerten 
Abhandlung von Hermann Kühr. (Leipzig, Paul Eger, VI u. 
82 S. 8°, 1,50 Mk., auch Erlanger Dissertation.) Roux bildete 
die notwendige Ergänzung zu Jahn und Guts Muths, „als er 
das von ersterem ins Volk getragene und von letzterem auf 
wissenschaftliche Basis gestellte Turnen gewissermaßen hof- 
fähig machte, indem er ihm eine Heimstätte an der deutschen 
Universität bereitete und seine Existenzberechtigung an dieser 
mit unerschütterlicher Ueberzeugungstreue und bewunderns- 
wertem Mannesmut gegenüber den akademischen Kreisen, 
gegenüber Regierungen und Königen zu vertreten verstand." 
Die frisch geschriebene Broschüre fußt allenthalben auf archi- 
valischen Studien und fördert infolgedessen viel Neues und 
Interessantes — auch vom kulturgeschichtlichen Standpunkte 
aus — zutage. — „Die ideale Ausgestaltung der Persönlich- 
keit im Sinne Friedr. Rfickerts" ist der Titel eines Aufsatzes 
von P. Hähnel im Praktischen Schulmann (1906, No. 6). Eine 
andere Abhandlung von demselben Verfasser in derselben Zeit- 
schrift (1906, No. 3) heißt: „Friedrich Rückert über sittliche 
und über religiöse Bildung des Menschen." — Ruhnkenius, s. 
Fr. A. Wolf. — „Der heilige Johann Baptist de la Salle 
als Pädagog" ist der Titel eines Buches von Bern ad in 
D illinger. (Dülmen i. W., Laumann, 136 S. 8°, brosch. 
1,20 Mk.) Dieser große französische Pädagog wurde im Jahre 
1900 von Papst Leo XIII. heilig gesprochen. Nach Dillinger 
war dies „eines der wichtigsten Ereignisse der Jahrhundert- 
wende." Zur Charakterisierung des Schriftchens noch einige 
Sätze: „Die Worte . . . zeigen uns die Verheerungen der 
Reformation im Schulwesen Frankreichs." „Hier ist mehr 
als Francke und Pestalozzi I Der heilige de la Salle hat die ge- 
nannten großen und mit Recht berühmten Pädagogen nicht bloß 

9* 



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132 



Theodor FriUsch. 



an Hochherzigkeit und Opferwilligkeit, sondern auch an organi- 
satorischem Talente übertreffen" u. s. f. — In einer Erlanger 
Dissertation (58 S. 8°) beantwortet E. Thiem die Frage: „Wie 
weit erscheint Christian Gotthilf Salzmann von Jean Jac- 
ques Rousseau beeinflußt?" — Briefe eines alten 
Schulmannes. Aus dem Nachlasse des Provinzial-Schulrates 
und Geh. Regierungsrats Dr. Carl Gottfried Scheibert, 
herausgegeben von Friedrich Schulze. (R. Voigtländers 
Verlag in Leipzig. V u. 312 S. 8 °. Mit einem Bildnis Scheiberts. 
Geh. 5 Mk., geb. 6 Mk.) Wie das Vorwort mitteilt, geht der 
Plan dieser Publikation auf den Verleger zurück. Wir müssen 
ihm dafür danken, daß er weiteren Kreisen Gelegenheit ge- 
geben hat, von den schönen Briefen Kenntnis zu erhalten. Es 
ist zwar nur der sechste Teil des vorhandenen Materials ab- 
gedruckt worden, aber schon dies genügt — dank der sorg- 
fältigen Auswahl des Herausgebers — ein scharfes Bild des 
„alten Schulmannes" zu zeichnen. Auch manche aktuelle Frage 
erfährt dabei eine treffende Beurteilung. Dem Buche ist 
weiteste Verbreitung zu wünschen! — Als Nachklänge zum 
Schillerjahr liegen zwei Arbeiten thüringischer Schul- 
männer vor : 1 . Schillers Idealismusund Lehrerschaft 
und Schule der Gegenwart. Stimmungsvortrag, gehalten 
1905 auf der 26. allgemeinen meiningischen Landes-Lehrerver- 
sammlung von Direktor Dr. H ä n ß e 1 - Saalfeld a. S. (Verlag 
von Richard Böhm, Leipzig-Plagwitz. 12 S. 8°.) Redner findet 
Schillers Vermächtnis an die Lehrer im Festhalten am Optimis- 
mus, im Eifer um innere Klärung und im Ringen nach innerer 
Freiheit, seine Bedeutung für die Schule der Gegenwart aber 
in dem hohen Ziele der Erziehung, ästhetisch-moralische 
Menschen zu bilden, ferner in der schönen Aufgabe des Unter- 
richts, wahre Kunst in die Schule hineinzutragen, und endlich 
in dem herrlichen Ideale einer Schule, in welcher Lehrer und 
Kind durch liebende Hingabe, die Lehrer unter sich aber durch 
gemeinsames Pflichtbewußtsein verknüpft sind. Die Arbeit 
atmet Schillerschen Idealismus in der Schwungkraft ihrer Ge- 
danken und ihrer Sprache. 2. Schiller und seine Be- 
deutung für die Schule, insbesondere für die Volks- 
schule. Eine Würdigung seines Lebens und seiner Werke vom 
pädagogischen Standpunkte aus. Von Rektor Otto Eismann- 
Eisenberg. (Langensalza. Schulbuchhandlung von F. G. L. 



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Di« QuchichU der Pädagogik im Jahre 1906. 133 



Gießler. 1906. 55 S. 8°, geh. 50 Pfg.) Diese Arbeit bemüht 
sich, mehr in die Breite gehend, Schillers Bedeutung für die 
Schule hervorzuheben und untersucht zu diesem Zwecke den 
pädagogischen Wert 1 . seiner philosophisch-ästhetischen Schrif- 
ten, 2. seiner dichterischen Werke und 3. seines Lebens und 
seiner Persönlichkeit. Der 1. Teil: „Zum Gedächtnisse Schülers" 
kann ohne Schaden wegfallen. (H. Schanze.) — Die Programm- 
arbeit des II. deutschen Staatsgymnasiums in Brünn handelt 
über die Beziehungen zwischen Ethik und Aesthetik in Schülers 
philosophischen Schriften (28 S. 8 °). Ihr Verfasser ist Benno 
Krichenbauer. — „Die Abhängigkeit der Ethik Sehleier- 
machers von der Metaphysik" ist Gegenstand einer Erlanger 
Dissertation von W. Schwaz (34 S. 8°). — Das deutsche 
Schullesebuch und Christoph von Schmid. Eine kri- 
tische Studie als Beitrag zur Lesebuch- und Jugendschriften- 
frage von Paul Lang, Würzburg. (Leipzig, Verlag von Ernst 
Wunderlich. 175 S. 8°, geh. 2 Mk., geb. 2,50 Mk.) Durch sehr 
gründliche und umfassende Einzeluntersuchungen gelangt Ver- 
fasser zu dem Ergebnis, daß sich die „Kleinen Erzählungen" 
Schmkls hauptsächlich ihrer inneren Unwahrheit wegen als 
Jugendlektüre verbieten. Aesthetische und pädagogische 
Gründe führen zu diesem scharfen Urteil. Lesebücher besonders 
sollten weder die Erzählungen selbst noch ihre verschiedenen 
Bearbeitungen durch Lesebuchverfasser aufnehmen ; denn „das 
Lesebuch soll eine Sammlung des Besten sein, was die schön- 
geistige Arbeit unseres Volkes auf literarischem Gebiete ge- 
leistet hat" und „die Erzählungen Schmids gehören nicht dazu", 
Den „Hamburgern" ist in diesem süddeutschen Kämpen ein 
kundiger und zielbewußter Mitstreiter erstanden, dessen Werk 
insbesondere von allen Lesebuchverfassern studiert werden 
möchte. (H. Schanze.) — Max Schmidt stellt Schopen- 
hauer» Bemerkungen über Erziehung und Unterricht zu- 
sammen. (Pädagog. Warte, 12. Jahrg. Heft 16.) — Heft 280 
des Pädagogischen Magazins, herausgegeben von Friedrich 
Mann, enthält : „Schopenhauers pädagogische Ansichten im Zu- 
sammenhange mit seiner Philosophie" von Otto Arnold. 
(Langensalza* Beyer & Söhne, VI u. 129 S. 8°, 1,60 Mk., zu- 
gleich Leipziger Dissertation.) Endlich muß noch auf die 
Schopenhauer- Ausgabe verwiesen werden, die in den Büchern 
der Weisheit und Schönheit, herausgegeben von J. E. Freih. 



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134 



Theodor Fritzich, 



von Grotthuß, erschienen ist und den Titel führt: „Arthur 
Schopenhauer. Sein philosophisches System nach dem Haupt- 
werk „Die Welt als Wille und Vorstellung, vorgeführt von 
Otto Siebert." (Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer. 182 S. 8°, eleg. 
geb. 2,50 Mk.) Das bei „Montaigne" Gesagte gilt auch von 
diesem Bande. — Trapp, s. u. III. — A. Hackemann be- 
handelt Adalbert Stifter als Schulmann in der Zeitschrift für 
den deutschen Unterricht (1. Heft) und in der Pädagogischen 
Warte (12. Jahrg. Heft 20) hat er einen Aufsatz: „Zur Er- 
innerung an Adalbert Stifter." — In einem Aufsatze der Zeit- 
schrift für Philosophie und Pädagogik (14. Jahrg. 2. — 4. Heft) 
der sich betitelt: „Die arithmologischen und wahrscheinlich- 
keitstheoretischen Kausalitäten als Grundlagen der Strfimpell- 
schen Klassifikation der Kinderfehler," zeigt W. G. 
Alexejeff in Dorpat, daß die Strümpellschen klassischen Unter- 
suchungen über die Kinderfehler in ihren Grundlagen von 
Hauptideen der Herbartschen Philosophie nicht ab- 
weichen. — Prof. Theodor Vogt, der verdienstvolle Vorsitzende 
des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, der durch 25 Jahre 
hindurch diesen Verein geleitet und seine Jahrbücher und die 
anderen Publikationen redigiert hat, ist am] 10. Nov. in Wien 
gestorben. Nachrufe finden sich in der Zeitschrift für PhÜo- 
sophie und Pädagogik, herausgegeben von Flügel, Just und 
Rein, und in den Deutschen Blättern für erziehenden Unter- 
richt (1906/07 No. 11). Einer seiner Schüler (Prof. Falbrecht 
in Wien) zeichnet ein warmempfundenes Bild seines Lebens 
und Wirkens in den Pädagogischen Studien, herausgegeben 
von M. Schilling (28. Jahrgang, 1. Heft) und einen Nekrolog 
Vogts mit einem Verzeichnis seiner Schriften und Aufsätze 
gibt Theodor Fritzsch in den Mitteilungen der Gesellschaft 
für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte (17. Jahrg., 1. 
Heft). — Th. Waitzs pädagogische Grundanschauungen stellt 
in ihrem Verhältnis zu seiner Psychologie, Ethik, Anthropologie 
und Persönlichkeit — zum Teil auf Grund ungedruckten 
Materials — dar O. Gebhardt in einer Leipziger Dissertation 
(140 S.). Im Anschlüsse daran zeigt 'Otto Flügel in feiner 
größeren Abhandlung („Herbart und Th. Waitz", Zeitschrift 
ür Philosophie und Pädagogik, 14. Jhrg. 5. Heft), daß Waits durchaus 
jnicht soweit sich von Herbart entfernt hat, wie es Gebhardt annimmt.— 
Auf einen vergessenen Pädagogen der Aufklärungszeit, Johann 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



135 



Kar! Wezel (1747— 1 8 19) macht Theodor Fritzsch aufmerk- 
sam in der Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik, heraus- 
gegeben von Flügel, Just und Rein (13. Jahrg. 11. Heft). In 
dem Aufsatze : „Zur Geschichte der Kinderforschung und 
Kinderbeobachrung" weist er nach, daß es nicht richtig ist, 
wenn man D;. Tiedemann als den Begründer der Kinder- 
psychologie bezeichnet. Vor ihm haben die Philanthropen schon 
Erhebliches auf diesem Gebiete geleistet. Insbesondere ist 
Wezel zu nennen, der als einer der ersten, eine jexakte Be- 
gründung der Pädagogik gefordert hat. — Winkelmann. Wil- 
helm D i e h 1 , der schon durch die Herausgabe der 
„Schulordnungen des Großherzogtums Hessen'* und 
durch andere Arbeiten sich um die Geschichte der Päda- 
gogik verdient gemacht hat, bringt als drittes Heft seiner 
„Quellen und Studien zur hessischen Schul- und Universitäts- 
geschichte" einen Neudruck einer unbekannten, aber wirklich 
bedeutenden Schulschrift Hessens aus dem 17. Jahrhundert: 
„Einfaltiges Bedencken und Anzeige, Woher es komme, daß 
heutiges Tages die Jugend sehr verzogen, Sprachen und freye 
Künste nichts geachtet, und in Erlernen deroselben grose Müh, 
lange Zeit und viel Kosten öfters vergeblich angewendet werden. 
Darbey allerhand Gattungen und Mittel gezeiget werden, auf 
was Weise eine gute Gott wolgefäll ige Kinderzucht anzustellen; 
Wie die Studien wieder in Aufnehmen zubringen; und wie die 
Sprachen und freye Künste mit geringerer Müh und Kosten 
in kurtzerer Zeit, als bißherr geschehen, zulernen seyen. Durch 
Johan-Justum Wynkelmann von Gicssen." Mit einem 
Vorwort, Nachwort und Register. (Selbstverlag des Heraus- 
gebers Dr. theol. Dr. phil. Wilh. Dichl, Pfarrer zu Hirsch- 
horn a. Neckar. 208 S. 8°.) Winkelmann war ein Schüler 
von Balthasar Schuppius, der Historiker an der Marburger 
Universität war, als Winkelmann dort als Stipendiat studierte. 
Schuppius hat, wie Diehl berichtet, den jungen Studenten 
gerade auf diejenigen Probleme gebracht, die ihn selbst in 
seiner Marburger Professorentätigkeit jahrelang beschäftigten. 
Das „Einfältige Bedenken'* wurde in Frankfurt geschrieben, 
wo Winkelmann sich einer „herrlichen Bibliothek" und „reicher 
Buchladen" bedienen durfte. So konnte er unter Benutzung 
der Ausführungen vieler pädagogischer Scriftsteller der Ver- 
gangenheit und Gegenwart seine eigenen Gedanken darlegen. 



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136 



Theodor Fritstch. 



Auf seinen Reisen hatte er zudem den furchtbaren Nieder- 
gang im Bildungswesen kennen gelernt, den der Krieg 
dem hessischen Gebiete, „in dem früher sogar die Dorfschul- 
meister zumeist lauter studierte Leute gewesen waren," gebracht 
hatte. Winkelmann zitiert in seinem Buche außerordentlich 
viele Schriftsteller. Dadurch wird der Geschichte der Päda- 
gogik wieder ein großes Feld der Forschung eröffnet. Die 
ganze Schrift enthält viele Gedanken, die uns ganz modern 
anmuten (z. B. S. 105 über den Handfertigkeitsunterricht). So 
kann man sich dem Wunsche des Herausgebers anschließen : 
„Dem herrlichen Büchlein, dessen Preis so niedrig wie möglich 
gesetzt worden ist, wünsche ich, daß es in seiner neuen Gestalt 
recht viele Leser findet, die es nicht bloß als Dokument aus 
der Vergangenheit, sondern auch als Buch für die 
Gegenwart recht eifrig studieren und seine Gedanken bc 
herzigen." Der Festschrift zum Jubiläum der Universität Gießen 
aber, die 1907 aus der Feder des gelehrten Herausgebers zu 
erwarten ist, sehen wir mit Spannung entgegen. — Referate 
über dasselbe Buch und seine Bedeutung gibt Kahl in zwei 
Aufsätzen („Monatsblätter für die Schulaufsicht" VI. S. 75 ff. 
und „Kehrs Pädagogische Blätter" XXXV. S. 20 ff. u. S. 122 ff. 
Gotha, Thienemann). K. Credner feiert „Ludwig Wiese 
als praktischen Schulmann" zur Hundertjahrfeier seiner Ge- 
burt in einem Jüterboger Programm (33 S.4°). — Als IV. Bändchen der 
Sammlung „Kultur und Katholizismus" herausgegeben von Martin. 
Spahn, erschien: O. Willmann und seine Bildungs- 
lehre von J. B. Seidenberge r. (München und Mainz, 
Verlag von Kirchheim & Co. VIII u. 89 S. kl. 8°. In moderner 
Druckausstattung mit einer Titelgravüre elegant kartoniert 
1,50 Mk.) Im Jahre 1903 trat Otto Willmann in den Ruhe- 
stand. Von Prag siedelte er nach Salzburg über. Gewiß haben 
unerquickliche politische Verhältnisse diesen Schritt beschleu- 
nigt. Denn in Wirklichkeit finden wir Willmann nicht im 
„Ruhe"stande, sondern in rastloser Tätigkeit. „Es scheint mit 
mir," schreibt er selbst in einem Brief, „wie mit Gladstone 
zu gehen, der erst nach Ueberschreitung des 60. Jahres im- 
pulsiv wurde. Wenn nur die Kraft anhält." Die vorliegende 
vorzügliche Studie macht uns nicht nur mit dem Leben des 
hervorragenden Gelehrten bekannt, sondern führt auch in sein 
Werk, insbesondere in die „Didaktik als Büdungslehre" ein. 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



137 



„Sie sucht die Gnindzüge der Willmannschen Bildungslehre 
faßlich wiederzugeben und sie verstehen zu lehren im Gesamt- 
gefüge des geistigen Ringens unserer Zeit." Sie orientiert über 
die Zeit- und Streitfragen in der Didaktik, über ihre Sprache 
und geschichtliche Stellung, über den Anteil des Katholizismus 
an Willmanns Werk, vor allem auch über die Wirkung auf 
größere pädagogische Werke der Gegenwart. Dabei erweist 
sich der Verfasser nicht nur als gründlicher Kenner der Will- 
mannschen Gedankenwelt, er versteht es auch, diese Gedanken 
einem größeren Leserkreis nahe zu bringen. Mancher Leser 
dürfte dadurch veranlaßt werden, das großartig angelegte und 
einheitlich durchgeführte Werk Willmanns selbst zu studieren. 
Druckfehler finden sich S. 13, S. 40, S. 54. — Siegfried 
Reiter behandelt in den Neuen Jahrbüchern für das klassische 
Altertum (1906. II. Abt. 1 ff. u. 83 ff). Friedrich August Wol£ 
und David Ruhnkenius. Einige ungedruckte Briefe Wolfs sind 
beigefügt. Reiter plant eine Ausgabe der Briefe Wolfs und 
bittet Besitzer von Wolfschen Briefen, ihm hiervon Kenntnis 
zu geben. — Berthold Schulze handelt im Pädagog. Archiv (1906, 
E 12) „über Heinrich Kleists Universitätslehrer Wünsch". — In den 
Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum (herausg. v. Ilberg 
u. Gerth, Jahrg. 1906, II. Abt. 6. Heft, S. 305 ff.) behandelt 
Gerhard Budde „Tuiskon Zillers Gedanken über eine 
aktuelle Frage der gegenwärtigen Gymnasialpädagogik". Ziller 
verlangt bekanntlich, daß an allen Schulen den Hauptklassen 
Nebenklassen beigegeben werden. Die Hauptklassen haben den 
Gesichtspunkt der Erziehung rein zu verfolgen, die Neben- 
klassen müssen als Vorbereitungsstätten für die Pflege der 
speziellen Interessen des Lebens und der Gesellschaft, für den 
künftigen Beruf dienen. Dadurch würde die Individualität ge- 
schont und ihr freie Bewegung gewährt, das allgemein Not- 
wendige aber nicht versäumt. Neuerdings wird von zwei vor- 
tragenden Räten im preußischen Kultusministerium der Ge- 
danke der größeren Berücksichtigung der individuellen Eigen- 
art der Schüler und einer dadurch bedingten freieren Gestal- 
tung des Oberkursus lebhaft verfochten. Auch hatte das säch- 
sische Ministerium auf die Tagesordnung der Rektorenver- 
sarnrrüung in Dresden (2. Juli) die Frage gesetzt : „Wie stellen 
sich die Rektoren zu der sogenannten „Bewegungsfreiheit" im 
Unterricht der obersten Klassen?" S. auch unter III. 



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138 Theodor FriUach. 

III. Fächer und Methoden. 

BrunoTittmann hatim Praktischen Schulmann ( 1 906, 
1. Heft) „Trapps Methode, fremde Sprachen zu 
lehren" einer eingehenden Analyse und Kritik unterzogen. 
Damit hat er einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des 
fremdsprachlichen Unterrichts geliefert. Er kommt zu dem 
Schlüsse, daß Pinloche dem Philanthropen in keiner Weise 
gerecht wird, wenn er seine Methode als Methode empirique 
und Methode des gouvernantes bezeichnet. — Als Fortsetzung 
der im vorigen Berichte angezeigten „Geschichte der fremd- 
sprachlichen schriftlichen Arbeiten an den höheren 
Knabenschulen von 18 12 bis auf die Gegenwart 44 von G. 
Budde, sind nun Buddes Reformvorschläge erschienen in der 
Schrift: „Zur Reform der fremdsprachlichen schriftlichen Ar- 
beiten an den höheren Knabenschulen von Gerhard Budd e.' 4 
(Halle a. S., Buchhandlung des Waisenhauses. 56 S. 8°, geh. 
1 Mk.) — Max Brethfeld liefert einen Beitrag „zur Geschichte, 
Kritik, Theorie und Praxis der Herbart-Zillerschen Unter- 
richtsmethode, besonders der Formalstufen" in der Zeitschrift 
„Der Praktische Schulmann" (1906, 2. Heft). — Lesen 
s. Schmid. — Naturgeschichte, s. G. E. Fischer, 
F. Junge. — Friedrich Franke setzt seine Kritik der 
y. Sallwttrkschen Normalformen in äußerst scharf- 
sinniger Weise in den Pädagogischen Studien, heraus- 
gegeben von Max Schilling (1906, 5. Heft, S. 321 — 345, cf. 
Jahrg. 1903, 6. Heft, S. 402 — 425) fort. Hier soll nur das 
herausgegeben werden, was Franke vom historischen Stand- 
punkte aus einzuwenden hat: 1. Ziller kam zu seiner Durch- 
arbeitungsnorm nicht durch Mißverständnis der Lehre Her- 
barts, wie v. Sallwürk jetzt immerfort behauptet, sondern durch 
Kritik und Fortbildung derselben, und Zillers Schule hat den 
Unterschied zwischen den beiden Theorien nicht so allgemein 
verkannt, wie v. Sallwürk behauptet, sondern die gründlichste 
Auseinanderlegung derselben gegenüber der Vermischung von 
anderer Seite ist gerade von der Zillerschen Schule (Glöckner 
u. a. im Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, 
Jahrg. 1891) geleistet worden. Diese Anklagen hat v. Sall- 
würk auch erst in neuerer Zeit erhoben, früher dagegen im 



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Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1906. 



139 



wesentlichen dieselben Ansichten vertreten, die er jetzt der Ver- 
mengung beider Theorien anklagt. 2. Im einzelnen hat v. Sall- 
würk über Zillers Methode vielfach falsch berichtet, so über 
Zillers Herausarbeiten, über die Benutzung der fachwissenschaft- 
lichen Lehrbücher, über das Verhältnis der Schulwissenschaften 
zu den reinen Fachwissenschaften und der psychologischen 
Unterrichtsmethode überhaupt zur Logik. 3. E. v. Sallwürks 
eigene Durcharbeitungsnorm deckt sich vielfach mit Zillers for- 
malen Stufen (wie auch Paul Barth in seinen „Elementen" 
[s. o.] hervorhebt); aber indem er auf seiner Ergebnisstufe 
fordert, dem Schüler solle das „Ergebnis in vollständig durch- 
gearbeiteter und gereinigter Form mitgeteilt werden," tut er 
einen bedenklichen Rückschritt, denn das „Mitgeteilte" ist tat- 
sächlich zum Teil eine Form für einen Inhalt, den der Schüler 
noch nicht besitzt. — „Die Neperschen Rechenstäbchen 
aus dem 17. Jahrhundert" und ihre Anwendung beschreibt 
Joseph Heigenmooser in den „Mitteilungen der Gesell- 
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte". (XVI. 
Jahrg. S. 131 — 162.) — Schulgesnndhcitspflege. Ueber die 
älteste Hygiene der geistigen Arbeit, die Schrift des Marsilius 
Ficinus de vita sana sive de cura valetudinis eorum, qui in- 
cumbunt studio litterarum vom Jahre 1482 referiert ausführ- 
lich Wilhelm Kahl in den Neuen Jahrbüchern für das 
klassische Altertum u. Pädagogik. (Neunter Jahrgang, XVIII. 
Band, Heft 8 ff.) — „Herbartianismus und Turnunter- 
richt" von R. Reischke ist der Titel des 270. Heftes des Päda- 
gogischen Magazins, herausgegeben von Friedrich Mann. 
(Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 24 S. 8 °, 30 Pfg.) Doch 
ist die Darstellung in bezug auf Herbart nicht ganz ein wands- 
frei, da Herbart auch noch an andern Stellen als in den an- 
gezogenen vom Turnen redet. — Im 276. Heft des Pädagogi- 
schen Magazins, herausgegeben von Friedrich Mann, befindet 
sich eine kritisch-historische Quellenstudie von A. Haustein: 
„Der geographische Unterricht im 18. Jahrhundert." 
(Langensalza, Hermann Beyer & Söhne. 58 S. 8°, 80 Pfg.) 
In zweiter Auflage ist erschienen Heft 169 desselben Maga- 
zins : „Die neuen Bahnen des erdkundlichen Unterrichts. Streit- 
fragen aus alter und neuer Zeit. Von R. Fritzsche." (Ebenda, 
121 S. 8», 1,50 Mk.) 



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140 Iheodor Fritzich. 

IV. Schulgattungen. 

Fürstenschulen: S. Joachimsthal, Geographus Lau- 
rentinus. Gymnasien, Realgymnasien, Gelehrten- 
schulen: S. Allgemeines, Neumark, Württemberg, Baden, 
Hamburg, Troppau. Handelsschulen: S. Berlin. Real- 
schulen: S. Bremen, Mainz, München. Seminare: S. 
Thorn. Taubstummenanstalten: S. Graser. Univer- 
sitäten: S. Allgemeines, Hessen, Rostock, Roux. Volks- 
schulen^. Allgemeines, Bayern, Frankreich, Hessen, Mark, 
Preußen, Württemberg, Dresden, Leipzig, Philanthropinismus, 
Rochow, Roßmäßler. 



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Sitzungsberichte. 



Gesellschaft für Psychologie in Wien. 

Vor kurzem ist das erste Bestandsjahr der Gesellschaft für Psychologie 
in Wien abgelaufen, deren konstituierende Generalversammlung am 
»5- Januar 1906 stattgefunden hat. Diese Neugründung in Wien', wo 
bekanntlich seit vielen Jahren eine Philosophische Gesellschaft 
»n der Universität (zurzeit unter dem Vorsitz von Professor Jodl) ihre 
rege Tätigkeit entfaltet, spiegelt im kleinen eine offenkundige Tatsache in' 
der großen modernen Wissenschaftsentwicklung wieder : Die nach und nach 
immer mehr sich vollziehende Loslösung der Psychologie von der Philosophie 
und Ausgestaltung zur völlig selbständigen Fachwissenschaft. Dem ent 
spricht es auch insbesondere, daß die neugegründete Gesellschaft im Gegen- 
tttie zur philosophischen, die gerade das Interesse für ihr Arbeitsgebiet 
in weiteren Kreisen zu vertiefen bemüht ist, eine mehr geschlossene Arbeits- 
-geseilschaft darstellt, die als ordentliche Mitglieder nur im Fachgebiete 
literarisch sich Betätigende zuläßt. Sowie es aber in der früher heran- 
gezogenen natürlichen Entwicklung wünschenswert ist. daß die Psychologie 
ihre Zusammenhänge mit den allgemeineren philosophischen Problemen' nie- 
mals gänzlich unterbinde, so beabsichtigt auch die Gesellschaft für Psychologie 
» Wien dieses Verhältnis zur Philosophie stets im Auge zu behalten, 
wenngleich sie vorzugsweise den speziellpsychologischen Gebieten, insbesondere 
der infolge höchst ungünstiger äußerer Verhältnisse in Wien bisher stark 
vernachlässigten experimentell-physiologischen Psychologie ihre Aufmerksam- 
keit schenken will. Als ein gutes Omen, gerade auch nach dieser Richtung, 
darf es wohl angesehen werden, daß Professor Stöhr, der Vertreter der 
«perimentellen Psychologie an der Wiener Universität, das Präsidium der 
Gesellschaft übernommen hat, und neben Vertretern der Psychologie und 
Philosophie auch zwei Aerzte in den Ausschuß eingetreten sind. 

Der eine von diesen beiden, Herr Primarius Dr. S. Kornfeld, 
*ar es auch, der in der ersten Gesellschafts-Versammlung, am 23. Februar 
'9°6, den Reigen der Vorträge bezw. Referate eröffnete. Dr. Kornfelds 
Th«na lautete: f 



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142 



Sitzungsberichte. 



Ueber energetische Auffassung psychischer Vorgänge 
auf Grund der Blutdrucksmessung. 

Die durch mehrere Jahre systematisch fortgesetzten Messungen des 
arteriellen Blutdrucks am Menschen haben ergeben, daß die Gemüts- 
stimmung von wesentlichem Einfluß auf die Höhe des Blutdrucks ist und 
zwar in dem Sifcine, daß regelmäßig mit Uebergang von guter zu schlechter 
Srimmung eine Erhöhung, von schlechter zu guter Stimmung eine Er- 
niedrigung eintritt; daß Lustgefühle jeder Art von Erniedrigung, Unlust- 
gefühle von Erhöhung des Blutdrucks begleitet sind; daß insbesondere 
die Affekte des Schrecks, der Angst, des Kummers und des Zorns mit 
starken Erhöhungen einhergehen ; ferner daß jedem Gefühle der Anstrengung 
eine Blutdruckserhöhung parallel geht, deren Maß dem Grade der An- 
strengung entspricht. Jede mit einem WHIensimpuls oder mit Aufmerksam- 
keit einhergehende — körperliche oder geistige — • Tätigkeit geht mit einer 
Blutdruckssteigerung einher, welche, wie sich mittels Dynamometer versuche, 
aber auch mittels einfacher geistiger Arbeitsleistungen, z. B. Rechnen, Aus- 
wendiglernen und dergl. überzeugend dartun läßt, mit dem Grade der 
subjektiven Anstrengung zugleich zunimmt oder abnimmt. Die einer be- 
stimmten, objektiv meßbaren Arbeitsleistung entsprechende Blutdrucks- 
steigerung ist bei verschiedenen Individuen, aber auch bei demselben In- 
dividuum, je nach seiner augenblicklichen physischen und psychischen Ver- 
fassung, verschieden. Wird der Blutdruck künstlich erhöht, was z. B. durch 
Sinnesreize, die unangenehm empfunden werden, wie Kälteeinwirkung auf 
die Haut oder die Schleimhäute, hohe Stimmgabeltöne, schmerzerzeugende 
Mittel leicht gelingt, so ist die einer bestimmten Arbeitsleistung entsprechende 
Blutdruckssteigerung höher, als bei niedrigerem Ausgangsdrucke ; wird hin- 
gegen der Blutdruck künstlich erniedrigt, was u. a. durch Einwirkung elek- 
trischer Ströme leicht zu bewirken ist, dann ist die derselben Leistung ent- 
sprechende Blutdruckserhöhung geringer. Allgemein gilt der Satz, daß, 
je höher bei demselben Individuum der Ausgangsdruck ist, um so höher 
auch die mit der gleichen Arbeitsleistung einhergehende Blutdruckssteige- 
rung ausfällt. Diese ist aber auch von dem Grade der Uebung abhängig; 
mit zunehmender Uebung nimmt die mit einer bestimmten Leistung ver- 
bundene Blutdruckssteigerung, entsprechend der verminderten subjektiven 
Anstrengung, ab. 

Mit Vollendung der Arbeit erfolgt Absinken des Blutdrucks, welches 
tief unter den Ausgangsdruck gehen kann, in welchem Falle die Vollendung 
der Arbeit von lebhaften Lustgefühlen begleitet ist, oder auch das ursprüng- 
liche Niveau nicht erreicht, wie dies für die Ermüdung charakteristisch ist. 
Mit eintretender Ermüdung werden die den gleichen objektiven Arbeits- 
leistungen entsprechenden Blutdruckssteigerungen immer größer, während 
das nachfolgende Absinken immer geringer wird, so daß die Blutdrucks- 
erhöhung länger andauert. So vermag die Blutdruckssteigerung als ob- 
jektives Maß für die Ermüdung zu dienen. Die Kurven, welche die mit 
der Vollbringung einer Arbeit einhergehenden Aenderungen . der Blutdrucks- 
höhen versinnlichen, geben Anhaltspunkte für die Vergleichung der Leistungs- 
fähigkeit verschiedener Individuen auf demselben Gebiete, wie auch des- 
selben Individuums auf verschiedenen Gebieten. 



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Sitzungsberichte. 



145 



Was von der Muskelarbeit und der geistigen oder intellektuellen Arbeit 
im engeren Sinne gilt, rindet allgemein auf alle Leistungen des Organismus 
Anwendung, insbesondere läßt sich zeigen, daß die Atmung, die Herztätig- 
keit, die chemischen Vorgänge im Organismus um so schwerer und mangel- 
hafter von statten gehen, je höher der Blutdruck bereits ist. Auch bezüglich 
der Drüsentätigkeit lehrt die Erfahrung, daß ebenso wie bei der Muskel- 
arbeit und der geistigen Arbeit mit Vollendung derselben, also mit jeder 
wirklich vollbrachten Sekretion der Blutdruck absinkt. Wird der Blutdruck 
künstlich erhöht, so treten von einer gewissen — individuell verschiedenen 

— Grenzte an, ohne daß eine weitere Erhöhung gelingt, individuell ver- 
schiedenartige Phänomene auf und zwar Bewegungserscheinungen, oft rhyth- 
mischer Art, oder Sekretionsvorgänge oder endlich — allgemein ausgedrückt 

— Förderungen im Vorstellungsablauf. Dieselben Phänomene sind auch 
bei Bbutdruckssteigerung durch Unlustgefühle oder durch Affekte zu be- 
obachten und können nur als Entlastungsvorgänge aufgefaßt werden, durch 
welche die innere Erregung ausgeglichen wird; denn sie sind stets mit 
einem Absinken des Blutdrucks oder mit einer Hemmung des weiteren 
Anstiegs bei Fortwirken der drucksteigernden Momente verbunden. So wie 
die der gewollten Arbeit entsprechende subjektive Anstrengung durch die 
mit ihr einhergehende Blutdruckssteigerung gemessen wird, so kann der 
subjektive Arbeitswert der unwillkürlich sich einstellenden, durch innere 
Spann ungszuständc hervorgerufenen intellektuellen Vorgänge, zu denen die 
„Einfälle", wie überhaupt die Phantasievorgänge gehören, ferner der Drüsen- 
und der Muskelphänomene mittels des durch dieselben herbeigeführten Ab- 
falls des Blutdrucks gemessen werden. Intellektuelle Tätigkeit, Muskd- 
und Drüsentätigkeit erscheinen nun in einem bestimmten Aequivalenzverhältnis 
und können auf ein einheitliches Maß, welches in der Beeinflussung des 
Blutdrucks gegeben ist, zurückgeführt werden. Damit eröffnet sich auch 
der Ausblick auf die Möglichkeit, die zu einer konkreten intellektuellen 
Leistung verbrauchte Arbeit in einem absoluten Maße, in Kalorien aus- 
zudrücken. Eine allgemeine Umrechnung der verschiedenen Arten intellek- 
tueller Tätigkeit auf ein solches Maß ist dem Gesagten zufolge nicht 
möglich; denn die jeweilige Konsumtion des Organismus oder der jeweilige 
Arbeitsverbrauch ist wie bei der Muskel- und bei der Drüsentätigkeit von 
einer Reihe von subjektiven Faktoren abhängig, die jeweüs in dem Aus- 
gangsdruck und in der die Leistung begleitenden Blutdrucksänderung zur 
Geltung kommen. Der in jedem Zeitmoment bestehende Blutdruck ist die 
algebraische Summe der Wirkungen aller in dem gegebenen Moment im 
Organismus von statten gehenden, den Blutdruck erhöhenden oder erniedrigen- 
den Vorgänge; er beeinflußt jeden einzelnen dieser Vorgänge und wird auch 
von jedem einzelnen beeinflußt. Er darf somit als Ausdruck der in jedem 
Moment herrschenden Stimmung gelten. Die jeden einzelnen dieser Vor- 
gänge begleitende Erhöhung oder Erniedrigung des Blutdrucks ist zugleich 
der Maßstab für das diesen Vorgang begleitende Unlust-, resp. Lustgefühl; 
die mit allen aktiven oder passiven Acnderungen der Funktionen des Organis- 
mus einhergehenden Blutdrucksschwankungen stellen zugleich das Maß für 
die Ergriffenheit des Gemütes dar. So kann also die Blutdrucksmessung 
wie für die Willensanspannung und für die intellektuelle Tätigkeit auch 
für das Gemütsleben im ganzen einen Maßstab bieten, einerseits indem sie 



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144 Sittungaberiditc. 

die Intensität der Lust- und der Unlustgefühle objektiv ru messen ermög- 
licht, Andererseits indem sie die Erregbarkeit des Gemütes durch Reize 
bestimmter Art objektiv anschaulich macht und so eine — totale oder 
partielle — erhöhte oder verminderte Erregbarkeit des* Gemütes dem objek- 
tiven Nachweis zugänglich macht. 

Unfallsneurosen. 

Am 9. März demonstrierte Primarius Dr. Kornfeld im Anschluß an 
den vorstehenden Vortrag zwei Fälle von sog. Unfallsneuroseri, welche 
geeignet waren, einen Teil der vorgetragenen Sätze zu illustrieren'. In dem 
einen Falle handelte es sich um eine hochgradige beiderseitige konzentrische 
Einengung des Gesichtsfelds (bis auf 2 0 nach allen Richtungen), um Un- 
fähigkeit, die Augäpfel willkürlich zu bewegen und um Aufgehobensein der 
Schmerzempfindung in ausgedehnten Partien der Haut. Plötzlich einwirkende 
Reize auf die unempfindlichen Netzhautpartien, welche sonst Ueberraschungs* 
affekte hervorrufen, bleiben ohne jeden Einfluß auf den Blutdruck; ebenso 
Versuche die Aufmerksamkeit auf derartige Reize zu lenken. Dies gelingt 
erst, wenn solche Reize auf die empfindlichen Netzhautstellcn fallen. Auf- 
forderungen, die Augen in bestimmter Richtung zu bewegen, haben eben- 
falls nicht den geringsten Einfluß auf den Blutdruck; dabei fehlt jegliches 
Gefühl der Anstrengung. Im Gegensatze hierzu wurden Fälle erwähnt, 
bei denen Augenbewegungen nur mit Schwierigkeit erfolgen und immer von 
erheblicher Blutdruckssteigerung begleitet sind. Bestreichung der Haut 
beider Vorderarme mit dem faradi3chen Pinsel bei Anwendung maximaler 
Stromstärke ruft weder Schmerzempfindung hervor noch übt sie irgend 
welchen Einfluß auf den Blutdruck, während der Gegenversuch bei einem 
gesunden Individuum schon bei viel geringerer Stärke des Stroms beides 
in deutlichem Maße erkennen läßt. In dem zweiten Falle fehlt in dem 
rechten Arm bei erhaltener Ausführbarkeit sämtlicher Einzelbewegungen und 
boi unverändertem Verhalten der Muskulatur sowohl peripheren Reizen gegen- 
über als auch hinsichtlich des Ernährungszustandes die Fähigkeit zu jeder 
erheblicheren Kraftleistung. Ein Dynamometerversuch ergibt linkerseits einen 
Händedruck von 35 kg mit gleichzeitigem Anstieg des Blutdrucks von 
70 auf 85 mm, während rechterseits nur ein Druck von 3 kg ausgeübt 
werden kann, wobei der Blutdruck nur einen Anstieg um 2—3 mm erfahrt. 
Es fehlt somit, vom subjektiven Gesichtspunkt, die Fähigkeit zur Anstrengung. 

Der Ablauf des Lebens nach W. Fließ. 

In der dritten Versammlung, am 21. März 1906, sprach Herr Prof. 
Dr. A. St Öhr über das Werk von Wilhelm Fließ, Der Ablauf des 
Lebens. Leipzig und Wien 1906, Fr. Deuticke, 584 S. 

Das Grundthema des umfangreichen Werkes bilden die Periodizität 
aller Lebenserscheinungen und die Zweigcschlechtigkeit einer jeden Zelle. 

Die durchgängige Doppelanlage eines jeden Organismus ist eine Ab- 
nahme, die zur Zeit des ersten Auftretens der Weismannschen Hypothesen" 
nahegelegt war und die Erklärung zahlreicher Tatsachen erleichterte. Lange 
vor dem Erscheinen von 0. Weiningers „Geschlecht und Charakter" war 
diese Ansicht durch mündliche Tradition verbreitet. Auch ich habe mich 



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145 



schon 1897 dazu bekannt*) und sogar für Ausnahmefälle wie Bienen, Ameisen, 
Termiten eine größere Zahl von parallelen Gesamtanlagen angenommen. 
Ich glaube heute noch, daß eine dritte, vielleicht sogar eine vierte Gesamt- 
anlage gute Erklärungsdienste leistet, wenn es sich um eine besondere 
Entwicklung des Gehirns handelt. 

Andererseits wurde die Periodizität der Lebenserscheinungen vor vielen 
Jahrzehnten als „Rhythmus der Lebensfunkttonen" bezeichnet. Der Glaube 
an eine durchgängige Periodizität geht in ganz fernliegende Zeiten zurück. 

Das Charakteristische und Neue an der Arbeit von Fließ liegt in 
der originellen Verbindung der Periodizität mit der 
Doppelanlage. 

Fließ geht aus von der Periodizität der Menstruation. Nehmen wir 
die Intervalle mit 28 Tagen, so können wir 28 Tage die weibliche Periode 
nennen. Wenn mm jede Zelle in jedem Organismus zugleich männliche 
und weibliche Elemente enthält, so wird auch im männlichen Organasmus 
die 28 tagige Periode vorhanden sein, wenngleich sie sich anders als durch 
Menstruation wird äußern müssen. Andererseits werden auch die männ- 
lichen Elemente periodische Erscheinungen hervorbringen, deren Intervall 
nicht notwendig auch 28 Tage sein muß. Da der weibliche Organismus 
auch männliche Elemente enthält, so wird sich im weiblichen Organismus 
eine zweite Periodizität bemerkbar machen können. Wenn sich diese zweite 
Periodizität mit anderen Intervallen im weiblichen Körper ebenfalls durch 
Menstruation äußert, so muß sich die Größe dieser Intervalle durch mathe- 
matische Analyse finden lassen. 

Ich zitiere hier als Beispiel für die von Fließ befolgte Methode eine 
Menstruationstabelle (Seite 3): die Intervalle lauten: 23, 21, 26, 24, 21, 
25, 16, 16, 13, 22. Nehmen wir als das eine von der Theorie geforderte 
Intervall 28 Tage, und als das andere versuchsweise 23. 

Wir beginnen mit 1 X 23. Das nächste Intervall 21 ist für die Theorie 
z*u spröde. Lassen wir es vorläufig beiseite und addieren wir 21 zu 26. 
Wir erhalten 47 = 2 X 23 -f- 1. Der dritte Termin stimmt daher wieder 
mit Vernachlässigimg eines Tages. Der vierte Termin 24 kann als 23 -f- I 
aufgefaßt werden. Lassen wir den fünften Termin vorläufig außerhalb 
der Ordnung und addieren wir 21 mit 25 zu 46 = 2 X 23, so ist der sechste 
Termin wieder an einem gehörigen Platze. Zählen wir 16, 16 und 13 zu- 
sammen, so erhalten wir 45 = 2 X 23 — 1, und es stimmt rvorläufig der 
neunte Termin mit der Differenz von einem Tage und ebenso der zehnte. 
Wir haben im ganzen zwei Abweichungen von je -j- 1 Tage, und zwei Ab- 
weichungen von je — • 1 Tage, was* sich sozusagen aufhebt. 

Addieren wir zu dem siebenten Intervalle 16 die vier vorhergehenden, 
so erhalten wir 16 -J- 25 -f- 21 -f* 2 4 + 2 ^ = 112 p= 4 X 28. Der zweite 
und der siebente Termin gehören zu einer Periode. Addieren wir ferner 
zum achten Intervalle 16 die zwei vorhergehenden, so erhalten wir 
16 -f 16 -f 25 = 57 =1 2 X 28 -f 1. Es ist also auch der fünfte und der 
achte Termin in eine Ordnung gebracht. 

Diese Methode der Periodenzählung befremdet den Mathematiker, den 
Naturforscher und den Logiker. 

l ) Letzte Lebenseinheiten, Leipzig und Wien 1897, Seite 173. 
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 10 



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146 



Sitzungsberichte. 



Zunächst das Mathematische. Nehmen wir an, daß von einem iden- 
tischen N"ullpunkte eine 28 tägige und eine 23 tägige Intervallreihe ru laufen* 
beginne. Der 23. Tag wird ein Tennin für ein Ereignis seitf, ebenso der 
28. Wenn wir femer eine Korrektur ^ 1 vornehmen dürfen, so wird auch 
der 22., 24., 27. und 29. Tag ein Termintag sein können. Von o bis 44 
einschließlich haben wir dann 6 Termintage und 38 terminfreie Tage. 
Sobald aber die Zahl der Tage 203 erreicht oder überschreitet, sobald ist 
jeder Tag ein Termin, belogen auf diesen Nullpunkt. Es ist 203 = 4 X 23 

4-. 4 X 28 — 1 ; 204 =i 4 X 23 + 4 X 28; 205 = 4 X 23 + 4 X 28 + 1 ; 
206 = 9 X 23 — 1 ; 207 =» 9 X 23 und so fort. 

Naturwissenschaftlich wird 28 kaum ein Intervall für das Individuum 
sein, sondern vielmehr eine Durchschnittszahl aus der Menge. Abgesehen, 
davon, wirkt es befremdend, daß zwei Eiablösungen, die durch vier da- 
zwischenliegende getrennt sind, als zwei aufeinanderfolgende Erscheinungen 
behandelt werden, deren Intervall wie in diesem Beispiele 1 1 2 Tage beträgt. 
Naturwissenschaf dich kann man höchstens das arithmetische Mittel aus den 
Intervallen zwischen zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Ablösungen ziehen. 

Logisch wird man klare Begriffe verlangen. Was\ liegt« der männlichen 
Periode zugrunde? Wie äußert sich die männliche Periode im männlichen 
Organismus? Wenn sich die männliche Periode im weiblichen Organismus 
gleichfalls durch Menstruation äußert, warum heißt sie dann männlich? 
In der Zusammenfassung (S. 342) heißt es, allen Lebensvorgängen liegen 
zwei Arten lebendiger Substanz zugrunde, die männliche und die weibliche 
Substanz, deren elementare Verbände 23 beziehungsweise 28 Tage Lebens- 
zeit besitzen. Was ist unter dem „elementaren Verband" gemeint, und 
was bedeutet der Ausdruck „Lebenszeit"? 

leb glaube, alle diese und andere Einwendungen hängen damit zu- 
sammen, daß Fließ die Theorie festhält, daß seine fleißige Arbeit das Er- 
gebnis einer exakten mathematischen Analyse ziffernmäßig ausgedrückter 
Tatsachen mit Ausschluß jeder Hypothese sei. Das soll offenbar die Arbeit 
empfehlen. Den Hypothesen begegnet man mit Mißtrauen. In Wirklich- 
keit schadet nach meiner Meinung diese hypothesenfrei sein sollende 
rechnerische Einkleidung der Verbreitung der interessanten Ideen. 

Hätte Fließ offen eine Hypothese aufgestellt, so wären die Einwände 
gegen die Hypothese nicht leicht zu machen. Die „Elemente" sind dann 
letzte Lebenseinheiten; die „elementaren Verbände" sind dann Verbände 
der letzten Lebenseinheiten, die sich zwar beständig durch Wachstum und 
Selbstteilung vermehren, aber zunächst zu einem Verbände genähert und 
vereinigt halten, vielleicht auch nur unvollkommen getrennt sind. Nach 
28 Tagen löst sich die eine Art, nach 23 Tagen die andere Art von Ver- 
bänden auf, indem die Einheiten schwärmen und wieder in anderer Weise 
zur Ruhe kommen. Die eine Klasse der männlich genannten Elemente 
bilden die kurzdauernden Verbände, die andere Klasse der weiblich ge- 
nannten die längerdauernden'. 

In dieser Weise geformt hätte die Hypothese ein anderes Ansehen. 
Jetzt erscheint jeder Tag, an dem die eine oder die andere Klasse 



Sitzungsberichte. 



von Verbänden oder beide zugleich sich im Schwärmzustand befinden, ein! 
kritischer Tag für den gesamten Organismus. Es ist dann ein Tag des 
geringeren Widerstandes gegen alle Eingriffe und Schädlichkeiten 1 . 

In dieser Art wird es begreiflich, daß man bei der Periodenzählung 
einen Tag wegnehmen oder zugeben darf. Die Losung der elementaren 
Verbände ist nicht identisch mit der Menstruation, nicht mit dem Durch- 
brechen des ersten Zahnes, nicht mit dem ersten Laufversuche, nicht mit 
der Geburt und nicht mit dem Tode. Es besteht nur ein ursächlicher 
Zusammenhang (in der Hypothese) zwischen vielen physiologischen Ereig- 
nissen und den kritischen Tagen. Ein' kritischer Tag 1 beschleunigt den Ein- 
tritt des Ereignisses, die Abwesenheit verzögert ihn. 

Die Auflösung der Verbände ist nicht eine Auflösung der ganzer] 
Zelle, sondern nur eine Auflösung der Verbände lebendiger Lebenseinheiten, 
während andere Lebenseinheiten bereits die Vermehrungsfähigkeit eingebüßt 
haben und in einen Dauerzustand eingetreten sein können. Diese können 
dann das starre oder mindestens zusammenhaltende Gerüste abgeben; inner- 
halb dessen sich die periodischen Auflösungen vollziehen. 

Ich bin überzeugt, daß die Ideen Fließ' in der bescheidenen Form 
einer Hypothese mehr Anwert finden würden, als in der Form einer mathe- 
matischen Analyse ziffernmäßig ausgedrückter Tatsachen. 

Kongreß für experimentelle Psychologie. 

In der vierten Gesellschaftsversammlung am 21. Mai 1906 berichtete 
Herr Prof. Dr. W. Jerusalem über den im April 1906 zu Würzburg 
abgehaltenen zweiten Kongreß für experimentelle Psycho- 
logie. 

Aus den zahlreichen Vorträgen und Referaten, über die der Vor- 
tragende berichtete, hob er insbesondere hervor : das Referat von K ü 1 p e 
über experimentelle Aesthetik, den Vortrag des Lehrers Pfeiffer aus 
Würzburg, ferner den Bericht von Dr. A,ch aus Marburg über eigene 
Experimente, die eine Art von Maß für die Willenskraft herstellen sollten 
und die auch für den Unterrichtsbetrieb wertvolle Anregungen ergaben ; 
endlich die Versuche B ü h 1 e r s über kompliziertere Denkvorgänge. — Im 
allgemeinen fand der Berichterstatter, daß sich die experimentelle Psychologie 
jetzt erfreulicherweise nicht mehr ausschließlich mit den elementaren, sondern 
bereits mehr mit den komplizierteren Seelenvorgängen beschäftige. Die 
vom Würzburger Institut ausgegangene Methode der Selbstbeobachtung unter 
genau festgesetzten Bedingungen gibt ein Mittel zur Untersuchung der 
Komplexe. Diese Methode ist allerdings erst in den Anfängen, verspricht 
aber in ihrer Weiterentwicklung manche Aufklärung zu bringen 1 . Nur ist 
davor zu warnen aus negativen Aussagen der Beobachter zu viel zu schließen. 
Der Vortragende erwähnt zum Schlüsse noch seine eigenen Mitteilungen, 
die er auf dem Kongresse gemacht hat über zwei Erlebnisse (Erinnern und 
Vergessen), von denen das eine eine Theorie Freuds über das Vergessen 
teüweise zu bestätigen scheint. 

W 



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148 



Sitzungsberichte. 



Versuch einer Messung der Aufmerksamkeitskon- 
zentration. 

In der fünften Gesellschaf tsversammhmg am 31. Mai 1906 hielt Herr 
Dr. W. Peters ein Referat über eigene Arbeiten unter dem Titel: 
Versuch einer Messung der Aufmerksamkeitskonzen- 
tration, wobei er im wesentlichen folgendes ausführte : 

Bekanntlich steigt die Reizschwelle für einen Reiz, wenn die 
Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt und einem anderen Bewußtseinsinhalt 
zugekehrt ist. — Ist nun die Erhöhung der Reizschwelle (= die Herab- 
setzung der Empfindlichkeit) um so größer, je stärker die Aufmerksamkeit 
auf den anderen Bewußtseinsinhalt konzentriert ist, so haben wir in ihr 
ein Maß für die Konzentrationsstarke. 

Ich konnte tatsachlich eine bei verschiedenen Bewußtseinsinhalten und 
verschiedenen Personen verschiedene Erhöhung der auf die übliche Weise 
bestimmten Reizschwelle nachweisen. — Ich fand ferner, daß die Reiz- 
schwelle auch dann schon steigt, wenn die Aufmerksamkeit nicht durch 
einen anderen Inhalt abgelenkt, aber auch nicht auf den betreffenden 
Schwellenreiz eingestellt war, wenn dieser nicht „erwartet" wurde. — Die 
Einstellung der Aufmerksamkeit bewirkt also eine Schwellenherabsetzung — 
„Schwellenbahnung", wie ich es nenne — , die Ablenkung derselben durch 
einen anderen Bewußtseinsinhalt eine Schwellenerhöhung, „Schwellen- 
hemmung". — Aus den übrigen Versuchsresultaten noch das eine: einzelne 
Versuchspersonen können besser ihre Aufmerksamkeit durch Willensimpulse 
z^ir Konzentration bringen, bei andererf scheint die „unwillkürlich" herbei- 
geführte Konzentration die tiefere zu sein. 

(Vgl. ausführlichen Bericht über die Versuche im „Archiv für die 
gesamte Psychologie", VIII. Bd., 3. und 4. Heft 1906.) 

Psychologische Methoden zur Erforschung der antiken 

Philosophie. 

In der sechsten Gesellschaftsversammlung am 8. Juni 1906 sprach 
Herr Dr. W. Schultz über: Psychologische Methoden zur 
Erforschung der antiken Philosophie, hn Anschlüsse an 
Hillschers Aufsatz „Völker- und Individualpsychologische Untersuchungen 
über die ältere griechische Philosophie" in Meumanns Archiv V (1905). 

Der Schwerpunkt der insbesondere in Sachen der antiken' Philosophie 
auf da» wärmste zu begrüßenden Arbeit von Dr. H. Hülscher, liegt darin, 
daß derselbe 1. die Lücken in der Ueberlieferung zum klassischen Alter- 
tum in Analogie zu den entsprechenden EpocheS anderer Völker aus 
zufüllen, 2. die Entstehung der Philosophen» individualpsychologisch nach- 
zukontrollieren sucht (S. 146), und daß er sich 3. bemüht, die „Perspektive 
des Altertums" nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu bestimmen. 
(S. 150.) Keiner dieser Gesichtspunkte ist vollständig neu, wohl aber ihre 
Verbindung zu einem mehr oder minder in sich gegliederten System. Der 
Vortragende zeigt an eigenen Beispielen, daß das älteste Denken' der 
Hellenen durchwegs objektiv, gegenständlich, ja kosmologisch war und daß 



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149 



der moderne Forscher eben dies zuerst verkannt. Der Drang nach dem 
Gegenständlichen geht aber so weit, daß die Alten den Begriff des er- 
kennenden Subjekts ebensowenig kennen wie anwenden. Es scheint dann 
oft, als ob sie Subjektives objektivierten. In Wirklichkeit haben sie das 
Subjektive vom Gegenstand noch nicht losgelöst. So kann naij die 
Kosmologie der Alten im Hinblick auf ihren theore- 
tischen Inhalt direkt auch als objektive Psychologie, 
die Mythologie selbst als die eigentliche Völkerpsycho- 
logie bezeichnen, sofern in ihr die Psyche des betreffen- 
den Volkes in ein objektives System gebracht wird. Im 
Anschlüsse an diesen Satz ergibt sich das -Problem: Ob alsdann das 
„historische Gesetz" sich nicht schließlich in ein 
„psychologisches Gesetz" uftn wandle. 

Für den 22. Juni 1906 war endlich noch ein Referat des Herrn 
Dr. J. Herz: Ueber rassenpsychologische Arbeiten aus der politisch- 
anthropologischen Revue und dem Archiv für Rassen- und Gesellschafts- 
biologie (1906) angekündigt, das jedoch infolge Vertagung der siebenten 
Gesellschaftsversammlung nicht erstattet wurde. 



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Kleine Mitteilungen. 



Deutscher Gymnasialverein. 

Die 18. Jahresversammlung des Allgemeinen deutschen Gymnasial- 
vereins fand am 6. Juni in der Aula des Wilhelmsgymnasiums unter 
Vorsitz des früheren Direktors dieser Anstalt, Geheimrat Kubier, statt. 
Stadtschulrat Michaelis begrüßte die Versammelten im Namen der 
stadtischen Behörden und sprach aus, daß diese bei aller Vermehrung der 
realistischen stadtischen Anstalten den Bestand humanistischer Schulen fest 
wahren und jeder eingreifenden Aenderung ihres Lehrplans angesichts 
seiner hohen Bewährung mit größter Vorsicht gegenüberstehen würden. 
Geheimer Hofrat U h 1 i g von Heidelberg teilte die Grüße einer Anzahl 
abwesender Mitglieder mit Der Redner nannte sodann die seit der 
letzten Versammlung verstorbenen Mitglieder. Manche Förderung haben 
die Bestrebungen des Vereins im vorigen Jahre erfahren durch die glänzende 
Versammlung der Berliner Freunde des humanistischen Gymnasiums im 
Dezember und durch die Gründung des Österreichischen Vereins der für die 
humanistische Schulbildung Eintretenden, der sich besonders aus nicht- 
schulmännischen Kreisen gebildet hat und rasch angewachsen ist. Auch hat 
der Allgemeine deutsche Verein seit vorigem Jahre wieder einen Zuwachs 
erhalten. 

Es folgte ein mit vielem Beifall aufgenommener Bericht des Universität*- 
bibliothekars Dr. Frankfurter aus Wien, der im Auftrag des öster- 
reichischen Vereins genauere Mitteilungen über seine Entstehung und sein 
Wachstum gab, und des Direktor; Lück von Steglitz, der sich im Namen 
der Berliner Vereinigung über das enge Verhältnis dieser zu dem allgemeinen 
Verein aussprach. 

Hierauf ergriff Stadtschulrat Michaelfs das Wort zu einem Vor- 
trag über die Frage: „Welche Grenzen müssen bei einer freieren Gestaltung 
des Lehrplans für die oberen Klassen des Gymnasiums innegehalten werden ?**, 
eine Frage, die von der obersten preußischen Unterrichtsbehörde mehreren 
Direktorenkonferenzen zur Erwägung gegeben ist. 

Folgender von dem Prediger an St. Marien, Prof. Dr. Scholz, formu- 
lierter Antrag fand nach einer angeregten Debatte, an der sich besonders auch 
Herren aus Oesterreich sowie der Landtagsabgeordnete Prof. Dr. Berndt 
beteiligten, die Zustimmung aller Anwesenden: 



A! itleilunaen 



151 



„Ohne jetzt schon zu den in Betracht kommenden Vorschlägen im 
einzelnen Stellung zu nehmen, schließt sich die Versammlung den Thesen 
des Referenten nach ihrem wesentlichen und grundsatzlichen Sinne an." 

Nach einer halbstündigen Pause folgte sodann ein Vortrag des Gym- 
nasialdirektors D. Dr. Bellermann über die Frage: „Inwieweit kann 
durch den griechischen und lateinischen Unterricht den Schulen ein wesentlich 
tieferes Verständnis der modernen Literaturen, insbesondere der deutschen, 
vermittelt werden ?" Beide Vorträge werden nebst der Diskussion in dem 
Organ des Vereins, dem „Humanistischen Gymnasium", gedruckt werden. 
Die nächstjährige Versammlung findet im Zusammenhang mit der Versamm- 
lung deutscher Philologen und Schulmänner zu Basel statt 



Jahres- Versammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in München 

am 20. und 21. April 1906. 

Die Interessen unserer Zeitschrift berührt unter den gehaltenen 
Vorträgen ganz besonders der Bericht eines Ausschusses, der von dem Verein 
eingesetzt worden ist, um die Fragen der Idioten-Forschung und -Fürsorge 
unter ärztlichen Gesichtspunkten zu fördern. 

T u c z e k (Marburg) berichtet im allgemeinen über die Tätigkeit dieses 
Ausschusses, dem von einem anderen Verein (von Idiotenanstaltsdirektoren, 
Pädagogen und Geistlichen) entgegengewirkt werde. Dieser letztere Verein 
lasse es nicht an Energie und Zielbewusstsein fehlen, die Idiotenfürsorge 
pädagogischen und seelsorgerischen Kräften zu erhalten bezw. zuzuführen. 
Demgegenüber weist Ref. auf eine Reihe von Gesichtspunkten hin, die die 
Idiotenfürsorge als eine zum 'größten Teil ärztliche Aufgabe erscheinen 
lassen. (Die weitgehenden körperlichen Abnormitäten der Idioten, die Heil- 
erfolge bei den myxoedematösen Idioten, die geringe Wirkung psychischer Einflösse, 
bei Idioten usw.). 

Weygandt (Würzburg): Unter den 108 Anstalten für jugendliche 
Schwachsinnige in Deutschland stehen nur ca. 1 Dutzend unter ärztlicher 
Aufsicht. Zu erstreben sei unter allen Umständen die Verstaatlichung der 
Idiotenanstalten und die Errichtung neuer Anstalten unter ärztlicher Leitung 
von behördlicher Seite. Eine neue Schöpfung, die kgl. sächsische Landes- 
erziehungsanstalt für Schwachsinnige und Blinde in Altendorf, sei — wenig- 
stens für entlassungsfähige und erziehungsfähige Imbecille — recht gut. 
Die ärztliche Tätigkeit an dieser, wie in allen zu errichtenden Anstalten 
müsste aber vorwiegend psychiatrischen Charakter haben. Auch die Er- 
richtung von Idiotenabteilungen an den psychiatrischen Kliniken und von 
psychologischen Laboratorien an den Hilfsschulen großer Städte sei zu 
erstreben. 

Auch Möller (Berlin) tritt für die Stellung der Idiotenanstalten 
unter ärztliche Aufsicht ein und beschreibt die Methoden des Unterrichts 
für Idioten, Imbecille und Schwachbegabte. 



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152 



Mitteilungen. 



Der Bund, für Mutterschutz hat samtlichen deutschen Kultus- 
ministeriell eine Eingabe unterbreitet, in welcher die Einfügung der ge- 
schlechtlichen Belehrung in den Schulunterricht gefordert wird. Die Ein- 
gabe weist auf die allgemein herrschende Entartung und Zügeüosigkeit 
des geschlechtlichen Lebens hin und fährt fort: 

„Leider haben bis jetzt die Behörden nur durch polizeiliche und 
medizinische Maßnahmen dem Uebel zu steuern versucht. Beide Mittel 
müssen sich aber als unzulänglich erweisen, denn beide wenden sich gegen 
die vollendete Tat oder ihre Folgen; die Ursache des Uebels lassen 
sie unberührt. Eine der Hauptursachen der Entartung des geschlecht- 
lichen Lebens liegt unseres Erachtens nur darin, daß man die Jugend auf 
diesem Zentralgebiete des Menschendaseins völlig führerlos läßt. So fällt 
sie der gemeinsten Form der Aufklärung anheim und steht jeglicher Ver- 
führung wehrlos gegenüber. Das Schweigen aller zur Erziehung berufenen 
Faktoren wirkt weiter dahin, daß das Kind sich gewöhnt, das geschlechtliche 
Leben als etwas Gemeines zu betrachten. So wird Ehrfurcht vor den 
Quellen des Lebens bei Jung und Alt unmöglich. Damit ist aber dann 
jeder seelischen wie physischen Entartung des Geschlechtslebens der Boden 
bereitet. Der Jugend in ernster und würdiger Form die elementaren Kennt- 
nisse des Geschlechtslebens zu vermitteln, erscheint als erstes und dringendes- 
Erfordernis jeder Reformtätigkeit auf sexuellem Gebiet." Dies zu tun, 
sei in erster Linie Aufgabe der Schule. 

Den Eltern fehlt die Möglichkeit, diese Belehrung methodisch und stufen- 
gemäß zu vollziehen. Unter gleichzeitiger Ueberreichung einer Schrift von 
Maria Lyschnewska und eines Literaturverzeichnisses bittet der Bund, „die 
bundesstaatlichen Ministerien möchten einen Ausschuß einsetzen, welcher 
die Fragen praktisch weiter verfolgt." Unter den Unterzeichnern finden 
wir Prof. v. L i s z t , Graf Hoensbroech, Hedwig Dohm, Marie 
Stritt, Prof. Franke, Prof. F o r e 1 und andere. Die Petition 
mit Literaturverzeichnis ist zu beziehen durch das Bureau für Mutterschutz,. 
Wilmersdorf, Rosberitzerstr. 8. 



Konferenz Ober die Wirksamkeit des preußischen Fürsorgeerziehungs- 
gesetzes. 

Auf Einladung der Zentralstelle für Jugendfürsorge in Berlin waren 
die in der Fürsorge arbeit stehenden Persönlichkeiten am Freitag, den 
1 5. Juni d. J. in der alten Bauakademie zu einer Beratung zusammenge- 
treten. 

Professor v. Soden eröffnet als Vorsitzender der Zentralstelle für 
Jugendfürsorge, von der die Einladung zu dieser Tagung ausging, die Ver- 
sammlung mit einer Begrüßung der anwesenden Regierungsvertreter und 
Gäste und geht näher auf die im Anschluß an das Inkrafttreten des Für- 
sorgeerziehungsgesetzes geschaffene Zentralstelle ein, die ein Bindeglied 
zwischen öffentlicher und privater Jugendfürsorge und Beraterin und Helferin 
der gefährdeten Jugend in Groß- Berlin sein will. Aus der Zusammenarbeit 
so vieler Vereine und Behörden ergab sich das Bedürfnis nach einem Aus- 



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Mitteilungen. 



153 



tausch der in der Praxis mit dem Fürsorgeerziehungsgesetz in Preußen ge- 
machten Erfahrungen. Die Diskussionen werden sich besonders um zwei 
Fragen drehen: I. Genügen die gesetzlichen Bestimmungen, das Ziel der Für- 
sorgegesetzgebung zu erreichen? 2. Ist die Handhabung der Bestimmun- 
gen des Fürsorgeerziehungsgesetzes, die Praxis im engeren Sinne, die 
rechte? Auch hier ergeben sich zwei Fragen: 1. Welche Erziehungsweise 
verspricht Erfolg? 2. Sind Garantien vorhanden, daß die Aufgaben der 
Fürsorgeerziehung von den damit beauftragten Stellen richtig gelöst werden ? 

Zunächst nahm Landesrat G e r h a rd - Berlin das Wort zu seinem 
Referat: Ist eine Aendcrung des Fürsorgeerziehungsgesetzes und der Armen- 
gesetzgebung nötig, um wirksamer als bisher die Verwahrlosung unserer 
Jugend zu bekämpfen? Der Redner trat für finanzielle Entlastung der oft 
wenig leistungsfähigen Ortsarmenverbände ein und polemisierte dann gegen 
die Rechtsentscheidungen des Kammergerichts. Die ganze Fürsorgeerziehung 
basiert bekanntlich au fden §§ 1666 und 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuches. 
Nach diesen Paragraphen wird dem Vormundschaftsgericht das Recht ge- 
geben, Fürsorgeerziehung zu beantragen, wenn das Wohl des Kindes es 
verlangt. Der Zweck des Gesetzes ist ja gerade, vorzubeugen, Verwahrlosungen 
zu verhüten. Daher spricht es gegen den Sinn des Gesetzes, wenn das 
Kammergericht allzuoft die Aufgaben der Fürsorge der Armenpflege auf- 
bürdet. Wenn das Fürsorgegesetz auch die ultima ratio sei, so sei damit nur 
gemeint, daß es die einschneidendste Maßregel sei, aber nicht, daß Für- 
sorge immer erst dann eintreten solle, wenn der Versuch mit der Armen- 
pflege mißglückt sei. An einer Reihe von Beispielen weist Referent nach, 
wie falsch es ist, die Sorge für das Kind der Armenpflege statt der Für- 
sorgeerziehung anzuvertrauen. 

In der Diskussion stellt zunächst Geheimrat Krone fest, daß das 
Fürsorgegesetz Klärung über die unter unserer Jugend herrschende sittliche 
Verwahrlosung gebracht habe. Stadtrat Dr. Münsterberg, der Dezer- 
nent der Berliner Armenpflege, spricht gegen den Begriff der völligen sitt- 
lichen Verwahrlosung, den das Bürgerliche Gesetzbuch allein kennt; das 
Fürsorgeerziehungsgesetz soll doch gerade der Verwahrlosung vorbeugen. 
Auch ist es nötig, auf die Gesetzgebung der Einzelstaaten zurückzugehen. 
Für eine Abänderung des Gesetzes zugunsten der gefährdeten Kinder tritt 
Magistratsassessor Dr. Schiller- Breslau ein, dagegen wünscht Dr. Klura- 
c k e r • Frankfurt a. M., eine landesgesetzliche Umgestaltung der kleinen 
Ortsarmenverbände, bei deren schwacher finanzieller Leistungsfähigkeit ein 
ausreichender Kinderschutz unmöglich ist. 

Gegen die Forderung des Stadtrats Dr. Münsterberg, den Begriff der 
völligen sittlichen Verwahrlosung auszuschalten, wendet sich Amtsgerichts- 
rat Dr. Köhne vom richterlichen Standpunkt aus, da er im Reichs- 
gesetz festgelegt und deshalb durch Landesgesetz nicht abzuändern sei. 
Auch er hält die Judikatur des Kammergerichts für nicht weitgehend genug, 
tritt aber im großen und ganzen dafür ein. Stadtrat Jackstein-Potsdam 
wünscht, daß noch weitere Erfahrungen gesammelt und die Frage alljährlich 
aufs neue diskutiert werde. 

Fräulein Lüttke als Vertreterin des Sozialausschusses des Landes- 
vereins preußischer Volksschullehrerinnen weist darauf hin, daß in Lehrerin- 



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154 



Mittelungen. 



nenkreisen eine Revision des Gesetzes und Beschleunigung des Verfahrens 
gewünscht wird. 

Dagegen hält Amtsgerichtsrat Krön er das Gesetz nicht für ände- 
rungsbedürftig und die Kammergerichtsbeschlüsse für segensreich, da wir 
ohne ihre Abwehr statt 30000 bisher 200000 Fürsorgezöglinge hätten. 
Aus seinen in Westpreußen gemachten Erfahrungen könne er bestätigen, 
daß die Ortsarmenverbände die hilfsbedürftigen Kinder gern abschöben, 
und die Lehrer, die sich nicht gern mit ungezogenen Kindern plagen, 
den Antrag auf Fürsorgeerziehung stellen, ohne klar zu wissen, was Für- 
sorgeerziehung sei. 

Im Namen der Lehrer und Lehrerinnen legt der Vertreter des Rektoren- 
vereins, Rektor K a 1 i s c h e r - Berlin, gegen diese Unterstellung Ver- 
wahrung ein, worauf Amtsgerichtsrat Kroner in persönlicher Bemerkung 
erwidert, daß er nicht die hiesigen Verhältnisse, sondern die west preußischen 
(im Kreise Marienwerder) gemeint habe, für die er seine Behauptungen auf- 
recht erhalte. 

Nach einer Pause erhält Amtsgerichtsrat K ö h n e - Berlin das Wort 
zu seinem Vortrage: Erscheint eine Aenderung des Verfahrens in Für- 
sorgeerziehungssachen geboten? Der Referent unterzieht an der Hand eines 
durch Verteilung von Fragebogen an 36 Gerichtshöfen gesammelten Materials 
die Art des Verfahrens einer Kritik. Dasselbe ist ein dreifaches, in Klein- 
städten meist ein mündliches, in Mittelstädten ein gemischtes, in Groß- 
städten meist ein rein schriftliches Verfahren. Das letztere hat große 
Schattenseiten, da die Beschaffung des Materials durch die Verwaltungsbe- 
hörden einen längeren Zeitaufwand erfordert. Auch ist das so beschaffte 
Material oft minderwertig und gibt dem Richter nicht den wünschenswerten 
klaren Einblick in die Verhältnisse. Auch Amtsgerichtsrat Köhne wünscht 
keine Abänderung des Gesetzes, wohl aber wünscht er die Aufmerksamkeit 
der Justizbehörden darauf zu lenken, daß mit ihrer Unterstützung die Richter 
sich auch in Berlin das nötige Material mehr selber beschafften. Die Ver- 
waltungsbehörden müßten dann in den mündlichen Verhandlungen ihr Urteil 
durch besonders qualifizierte Beamte abgeben. Dies mündliche Verfahren 
sei bei der Ueberlastung der Richter und durch die Gerichtszerschlagung 
schwierig, aber nicht unmöglich. Das Ideal seien Jugendgerichtshöfe, die 
die Gewalt des Strafrichters und des Vormundschaftsrichters in eine Hand 
legten. Aber auch jetzt könnte man ohne Gesetzesänderung ähnliches 
schaffen. Bei Ernennung der Vormundschaftsrichter müßte nicht der blinde 
Zufall walten, sondern dieser Posten Spezialisten anvertraut und für ihr 
Wirken Zentralstellen geschaffen werden, auf denen sie in längerer Wirk- 
samkeit Erfahrungen sammeln könnten. Bei einer Revision des Gesetzes 
müßte das Recht der Mutter auch des unehelichen Kindes durch Erteilung 
des Beschwerderechtes gewahrt werden, und die „vorläufige Unterbringung" 
dürfe die Rechtskraft nicht fähig sein. 

Stadtrat K 1 u n c k e r verteidigt die längere Dauer der Fürsorgeer- 
ziehungsverfahren ; durch das Schwebenlassen sei oft eine erziehliche Wirkung 
auf die ganze Familie auszuüben. Er befürwortet die Berufung von Für- 
sorgern nach Art der amerikanischen „Probation officers" und wünscht die 



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Mitteilungen. 



155 



Vereinigung der Befugnisse des Strafrichters und Vormundschaftsrichters in 
«ner Hand. 

Pastor Seifert beklagt es, daß den über vierzehn Jahre alten Für- 
sorgezöglingen der Fürsorgeerziehungsbeschluß zugestellt werden müsse, da 
das Urteil die zugrunde liegenden Mißstände so unverblümt berichte, daß eine 
Einsichtnahme des Zöglings nicht pädagogisch wünschenswert sei. 

Assesor Hermann - Berlin hält die Auslieferung der Beschluß Urkunde 
für gesetzlich geboten. 

Eine sehr lebhafte Diskussion entfesselte der Angriff auf die Material- 
beschaffung durch die Verwaltungsbehörden. Oberlehrer S ch war z -Char- 
lottenburg trat für die Wabenräte ein und forderte die Mitarbeit der Lehrer, 
D*. L e v y - Berlin wünschte, daß hier mehr soziale Arbeit privatim ge- 
leistet werde, Assessor Liese von der städtischen Waisenverwaltung und 
Regierungsassessor Lindemann vom Polizeipräsidium brachen Lanzen 
für die Arbeit der Schutzleute und sonstigen Polizeiorgane bei Herbei- 
schaffung des nötigen Materials. 

In einem Resümee stellte Professor v. Soden fest, daß es zwar 
nicht an Angriffen auf die Auslegung des Fürsorgeerziehungsgesetzes ge- 
fehlt habe, aber daß die allgemeine Meinung der Juristen und Laien doch 
dahin ginge, daß noch eine Reihe von Möglichkeiten vorhanden sei, das 
Gesetz besser zu interpretieren. Man solle deshalb von einer Reso\utk>n ab- 
sehen. Mit einem Dank gegen die Redner schloß er um 3 1 /» Uhr den ersten 
Verhandlungstag. 

Am Sonnabend Nachmittag soll eine Besichtigung der Fürsorgeer- 
ziehungsanstalten in Strausberg stattfinden. 

Am zweiten Verhandlungstag sprach zunächst Direktor Pastor Plaß- 
Zehlendorf über: Welche Forderungen sind an die Anstaltserziehung und 
welche an die Familienerziehung zu stellen? An der Hand von Leit- 
sätzen führte der Referent ungefähr folgendes aus: 

Die Ursache der drohenden oder bereits eingetretenen Verwahrlosung 
ist eine dreifache; sie wurzelt weniger in dem schuldhaften Verhalten des 
Zöglings oder in seiner angeerbten pathologischen Belastung, sondern ist 
vielmehr ein Produkt der sittlichen und erwerblichen Verhältnisse des Eltern- 
hauses und der gesamten sozialen Umgebung. Die Fürsorgeerziehung in 
Anstalt und Familie hat daher vor allem den Zöglingen bessere familiäre 
und soziale Lebensverhältnisse zugänglich zu machen. Bei der Durchführung 
der Fürsorgeerziehung ist der erziehliche Zweck des Gesetzes mehr zu 
berücksichtigen und den noch immer verbreiteten Gedanken, daß es sich 
wie bei dem alten Zwangserziehungsgesetz auch um eine strafpolitische 
Maßnahme handle, entgegenzutreten. Der Gefängnischarakter, den einzelne 
Anstalten bei den sogenannten schweren Fällen nicht entbehren zu können 
meinen, und der vereinzelt in gewissen Erziehungsmaßnahmen zur Erscheinung 
kommt, ist zu beseitigen dadurch, daß man auf solche Zuchtmittel Ver- 
zicht leistet, die nicht in dem Rahmen der väterlichen Erziehung liegen, 
dem berechtigten Bedürfnis des Kindes nach Lebensfreude besser entspricht, 
das wirtschaftliche Interesse der Anstalt dem erziehlichen unterordnet, und 
daß man endlich dem individuellen und kollektiven Selbstbctätigungsdrange 
des Zöglings besser Rechnung trägt. 



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156 



Mitteilungen. 



Bei der Unterbringung und erziehlichen Behandlung der Zöglinge 
bedarf es einer eingehenderen Berücksichtigung der Individualitat der- 
selben. Entsprechend nicht nur dem Alter, dem Geschlechte, dem reli- 
giösen Bekenntnis, der Veranlagung sowie dem Grade der Verwahrlosung, 
sondern auch dem Stande der bisherigen Bildung und des spateren Be- 
rufes sind die Fürsorgeerziehungszöglinge — in schwierigen Fällen nach 
zuvoriger Beobachtung in einem Depot oder Beobachtungshause — in ge- 
eigneter Weise unterzubringen. Bei Zöglingen aus Industriezentren soll die 
Werkstattsausbildung Platz greifen, da diese Zöglinge doch in die Industrie 
zurückkehren. Sehr wichtig wäre deshalb die Einrichtung eigener Werk- 
stätten; leider haben von 800 deutschen Anstalten nur 16 Handfertigkeits- 
werkstätten für schulpflichtige Kinder. 

In außerordentlich schwierigen Fällen psychopathischer Minderwertig- 
keit sowie für ältere, dem gänzlichen sittlichen Verfall nahestehende Burschen 
und Mädchen sind besondere Anstalten freier Liebestätigkeit zu wählen 
oder zu errichten, die über intensiv und extensiv gesteigerte Fürsorge kraft e 
verfügen und Psychiater und Heilpädagogen verwenden. 

Der Korreferent Anstaltsdirektor Müller legt großen Wert auf die 
körperlich gesunde Erziehung des Fürsorgezöglings. Auch bei der Unter- 
bringung in Familien sollte die gesundheitliche Ueberwachung eine größere 
Rolle spielen. 

Als erster nimmt in der Debatte das Wort der Vorsitzende des 
Erziehungsvereins Paderborn, Pfarrer Bartels. Man hat in Westfalen die 
Erfahrung gemacht, daß der Fürsorgezögling erst in einer Durchgangs- 
station gereinigt und beobachtet, sozusagen familienfähig gemacht werden 
muß. Sie bleiben dort sechs bis acht Wochen in der Anstalt und kommen 
dann in Familienpflege. 

Pastor Seifert (Strausberg) wendet sich gegen die These des Pastors 
Plaß, daß Anstaltserziehung der Familienerziehung nicht gleichwertig sei. 

Pastor Fritz Jahn (Züllchow) tritt für mehr Freiheit in der Anstalts- 
erziehung ein. 

Pastor Petersen (Hamburg) hält mehr von der Familienerziehung. 
Jedenfalls solle sie den Uebergang von der Anstalt zum Leben durch ein 
Lehr- oder Dienstverhältnis bilden. 

Direktor Meyer (Zehlendorf) tritt für ganz kleine Anstalten mit Pavillon- 
system und Trennung von Bestraften und Nichtbestraften ein. 

Pastor Backhausen (Hannover) führt aus, daß die Erziehung zur Frei- 
heit nicht nur Ideal, sondern schon Praxis sei. Auch selbst bei schlimmen 
Achtzehnjährigen macht man noch gute Erfahrungen mit freier Erziehung. 

Herr Gilberg vom Verein Dienst an Arbeitslose plädiert dafür, daß 
entflohene Fürsorgezöglinge bei freiwilliger Rückkehr straffrei sein sollen. 

Direktor Dr. Kluge (Potsdam) weist darauf hin, daß, wo bei psychisch 
anormalen Kindern der Pädagoge machtlos ist, die Behandlung unter Leitung 
des kundigen Irrenarztes oft eine ganz leichte ist. 

Lehrer Frauendienst wünscht besondere Anstalten für die Schwach- 
sinnigen. 

Pastor Buschmann (Teltow), der Leiter der Magdalenenanstalt, be- 
klagt es auch, daß wir keine Anstalten für Psychopathische haben. Auch 



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Mitteilungen. 



157 



sei Trennung der Gebiete in der Magdalenenarbeit notwendig. Die Prosti- 
tution der Jugendlichen zu bekämpfen, ist die wichtigste Aufgabe. 

Nach der Pause nimmt Geheimer Regierungsrat Landesrat Dr. Osius 
(Kassel) das Wort zum letzten Referat: Wie ist eine wirksame Aufsicht 
über die Anstaltserziehung zu erzielen? 

Der Referent scheidet aus seinem Referat die Staats- und die Pro- 
vinzialanstalten aus und beschäftigt sich nur mit den privaten, von Ver- 
einen, Korporationen, Kirchengesellschaften gegründeten Anstalten. Die Auf- 
sicht erscheint ihm als eine genügende. 

Die Besichtigung geschieht teils durch Inspektoren, teils durch Ver- 
trauensmänner; zum Teil sind auch Mitglieder der Landesverwaltung Vor- 
standsmitglieder. Ferner werden die Zöglinge jährlich ein- bis zweimal 
durch den Kreisarzt untersucht. 

In der Diskussion wendet sich Amtsgerichts rat Könne gegen die Viel- 
heit der Revisionsinstanzen, die leicht Verwirrung stiften. Die Ansichten 
über die besten Erziehungsmethoden gehen heute weit auseinander. 

Stadtrat Dr. Klumcker (Frankfurt) schließt sich dieser Forderung an 
und beklagt besonders das schlechte Lehrermaterial in den Anstalten; hier 
müßte gerade die Aufsicht Wandel schaffen. Besonders wichtig ist die 
Mitwirkung des Psychiaters. 

Auch Landesrat Schmidt weist auf die Unzuträglichkeiten hin, die 
sich aus den verschiedenartigen Ansichten der verschiedenen Revisoren 
ergeben. 

Geheimer Rat Krohne weist auf den Board für die Rcxue-Schools 
in England hin, dessen Blaubuch sogar oft dem Parlament vorliegt, und 
das ein eingehendes Material über die Pfleglinge enthält. Eine solche Be- 
hörde war vorgeschlagen, aber die führenden Parteien wollten die Staats- 
aufsicht nicht <. 

Fräulein v. Wilczeck tritt dafür ein, bei Bildung solcher Kommissionen 
auch die Frauen hineinzunehmen. 

Geheimer Rat Krohne erwähnt darauf, daß in England in dieser 
höchsten Behörde eine Frau sei. 

Magistratsassessor Gordan tritt für Entschädigung der Fürsorger ein. 

In seinem Schlußwort betont Landesrat Dr. Osius, daß die einzelnen 
Aufsichtsbeamten sich schon jetzt öfter zu einer Kommission vereinen. 
Mit einem Dankeswort an die Regierungsvertreter, Referenten und Gäste 
schließt Professor v. Soden die Tagung, die vielfache Klärung gebracht 
habe und erkennen lasse, daß in den Fürsorgeerziehungsanstalten der alte 
Geist des Zwanges immer mehr im Begriffe sei, dem der Liebe und 
der Achtung vor der Individualität auch des minderwertigsten Zöglings 
rj weichen. 



Fürsorge-Erziehung oder Gefängnis? 

Amtsvorsteher W i c h e r (Wohlau) faßte seine Ausführungen auf dem 
allgemeinen Fürsorge-Erziehungstag in Leitsätzen zusammen, in denen es 
heißt: 



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158 



Mitteilungen. 



1. Die Bestrebungen der Neuzeit, Verbrechen vorzubeugen und die 
gefährdeten Jugendlichen vor dem sittlichen Verfall zu bewahren, sind 
mit großer Freude zu begrüßen und zu unterstützen; doch kann durch 
alle diese Maßnahmen, selbst durch eine ideal gedachte Handhabung des 
Fürsorge-Erziehungsgesetzes nicht immer verhindert werden, daß ein Teil 
der Minderjährigen der sittlichen Verwahrlosung und dem Verbrechertum! 
anheimfällt. 

2. Fürsorge-Erziehung und Gefängnis stehen darum häufig in Wechsel- 
beziehung zueinander. 

3. Aeltere Fürsorgezöglinge ziehen manchmal das Gefängnis der Für- 
sorge-Erziehungsanstalt vor und begehen Verbrechen, nur um ins Gefängnis 
hineinzukommen. 

4. Die Ursachen dieser unnatürlichen Erscheinung sind mannigfaltig'. 

5. Dem Uebelstande, der Furcht der gefährdeten Jugendlichen vor 
der Fürsorgeerziehung und den Erziehungsanstalten muß nach Kräften ent- 
gegengearbeitet werden, und zwar : 

a) durch eine angemessene Erziehung und Belehrung der gefährdeten 
Jugendlichen, besonders durch Weckung des in ihnen schlummernden Ehr- 
gefühls, 

6) durch Vermeidung von gerichtlichen Anzeigen bei kleinen Ver- 
gehen der Jugendlichen, 

c) durch ausgiebigere Anwendung der Aussetzung der Strafvollstreckung 

und der bedingten Begnadigung, 

d) durch Unterbringung der jugendlichen Uebeltäter, wenn es durch- 
aus sein muß, in Gefängnisse für Jugendliche und Schaffung einer be- 
sonderen Hausordnung für diese Strafanstalten, 

e) durch Beseitigung des Gefängnischarakters einzelner Erziehungs- 
anstalten wie durch Vermehrung aller Maßnahmen, welche die Erziehung 
der jugendlichen Verwahrlosten fördern können. 

6. Im Interesse der verwahrlosten Jugend ist der Unterbringung der- 
selben in Fürsorge-Erziehung vor der Intemierung in ein Armenhaus, Kor- 
rektionshaus oder Gefängnis der Vorzug zu geben. 

7. Die Fürsorge-Erziehung darf nur in seltenen Fällen durch Ver- 
büßung von Gefängnisstrafen unterbrochen werden, da sie dadurch nur 
ungünstig beeinflußt wird. 

8. Die Zöglinge müssen mit Liebe, Geduld und Nachsicht und vor 
allem unter Berücksichtigung ihrer Individualität behandelt werden; dann 
wird die Furcht vor der Fürsorge-Erziehung aus den Köpfen der jugend- 
lichen Verwahrlosten schwinden. 

Gefängnisdirektor Hülsberg (Wohlau): Der Prügelstrafe werde nie- 
mand das Wort reden wollen. Man habe in früheren Jahren mit der 
Prügelstrafe nichts erzielt. Als internes Dfeziplinarmittel bei ganz außer- 
gewöhnlichen Roheiten wäre die Prügelstrafe für jugendliche Gefangene 
vielleicht wünschenswert. Eine betrübende Erscheinung sei es, daß aus der 
Fürsorgeanstalt Entwichene auf ihrer verbotenen Wanderschaft Straftaten 
begehen, um nicht zurück in die Erziehungsanstalten, sondern ins Ge- 
fängnis zu kommen. Fast bei jeder Neueinlieferung erlebe man es, daß 
die Burschen auf die Frage nach dem Grunde ihres Entlaufens und ihrer 



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Mitteilungen. 

i 



159 



Straftat in freimütig frivoler Weise erklären: Ich wollte ins Gefängnis, 
in die Erziehungsanstalt bringt mich keiner mehr hinein. Allerdings sei 
dies die Hefe der Zöglinge. Oftmals haben ihm jugendliche rückfällige 
Verbrecher erklärt: ,.Wenn mir das erstemal die Strafe erlassen worden 
und ich dafür gleich in eine Erziehungsanstalt gekommen wäre, so wäre 
ich jetzt ein ordentlicher Junge, hätte etwas Tüchtiges gelernt und wäre 
vielleicht nie mehr vor den Strafrichter gekommen." Es empfehle sich 
auch, jugendliche Strafgefangene nach Verbüßung ihrer Strafe anstatt in 
eine Erziehungsanstalt in eine geordnete Familienpflege bei einem Bauer 
oder Handwerker unterzubringen. Die strafunmündigen Kinder müssen einer 
sorgfältigen, geordneten Erziehung zugeführt, die aus der Schule Ent- 
lassenen in Fortbildungsschulen zusammengehalten, in Jünglirigsvereinen ge- 
sammelt werden. 

Unbedeutende Vergehen von Schulkindern dürften nicht auf gericht- 
lichem Wege, sondern auf dem der Schulzucht geahndet werden. Für- 
wahr, es ist eine Härte, solchen ungezogenen Jungen, die vermöge ihres 
unklaren Sittlichkeitsbewußtseins und ihrer unbestimmbaren Charakterbil- 
dung leicht bestimmbar sind, wegen geringfügiger Vergehen für ihr ganzes 
Leben den Stempel von Verbrechern aufzudrücken. Und welche Gefahr 
erwächst aus der Rückkehr eines Knaben aus dem Gefängnis in die Schule 
seines Heimatsortes für seine Kameraden? Es ist dringend notwendig, 
daß der Richter von dem § 57 des Strafgesetzbuches, dem sogenannten 
Einsichtsparagraphen, den weitesten Gebrauch mache. Es empfiehlt sich 
nach dem Vorbilde anderer Staaten die Einrichtung von Jugendgerichten, 
auch für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren bei erstmaligem Fehltritt. Fast 
5000 Jugendliche werden jährlich bestraft, das sind 9 Proz. aller Gesetzes- 
brecher überhaupt. 24 Proz. sind bereits ein- oder mehreremal vorbestraft, 
Als Strafverbüßungsanstalten für Jugendliche dürfen selbstverständlich nur 
solche Gefängnisse in Frage kommen, die entweder ausschließlich für Jugend- 
liche bestimmt sind, oder eine Jugendabteilung aufweisen, in der die In- 
sassen von jedem Verkehr mit erwachsenen Verbrechern ausgeschlossen sind. 

Die wichtigste Frage im Strafvollzug an den Jugendlichen ist: Was 
soll mit den Entlassenen geschehen? Er versuche es mit der Unter- 
bringung in einer Dienst- oder Lehrstelle. Jungen, die sich im Gefängnis 
gut geführt und fleißig gearbeitet haben, sollte man nicht nachträglich, 
gewissermaßen als Nachkur, in eine Erziehungsanstalt bringen. Zum mindesten 
sollte man vorher ein Gutachten der Gefängnisdirektoren über ihr Ver- 
halten einholen. Sehr zu empfehlen sei es, die Zöglinge in den Erziehungs- 
anstalten so zu behandeln, daß sie zu der Einsicht kommen, die Anstalt 
wolle ihnen das Vaterhaus ersetzen. Es müsse den Jungen gesagt werden, 
H aft ihnen beim Eintritt in die Anstalt kein „Willekum" (Prügel) winkt. 
Gänzlich falsch sei es, Zöglinge zur Straf verbüßung aus der Erziehungs- 
anstalt ins Gefängnis zu führen. Es müßten Einrichtungen getroffen werden, 
kurze Gefängnisstrafen in den Anstalten abbüßen zu lassen. Durch solches 
Eintreten für die Zöglinge wachse ihr Vertrauen und sie gewinnen die 
Anstalt und ihren Leiter lieb. Letzterer müsse überhaupt in engster Be- 
ziehung zu den Zöglingen stehen, so daß sie zu ihm aufblicken, wie zu 
einem Vater, dem sie zu jeder Zeit alle ihre großen und kleinen Sorgen 



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Mitteilungen. 



und Wünsche ohne Scheu vortragen. Wenn die Erholungszeit der Zög- 
linge nicht zu knapp bemessen werde, wenn mit den Zöglingen größere 
Spaziergänge unternommen, tägliche Turnübungen und Bewegungsspiele, bei 
festlichen Gelegenheiten theatralische und musikalische Aufführungen ver- 
anstaltet werden, wenn ihnen gute Unterhaltungsbücher und Spiele zur 
Verfügung stehen, kurz, wenn die Zöglinge in allen Einrichtungen und Ver- 
anstaltungen sehen, daß man ihnen das Elternhaus möglichst ersetzen wolle, 
dann werden sie die Anstalt als ihre zweite Heimat ansehen. (Lebhafter, 
langanhaltender Beifall.) 

Pastor Seiffert (Strausberg) befürwortete folgenden Antrag: „Der All- 
gemeine Fürsorge-Erziehungstag spricht den Wunsch aus, daß die Straf- 
sachen gegen Jugendliche, soweit es irgend möglich ist, demselben Richter, 
wie die Vormundschaftssachen, überwiesen werden, und daß für eine zweck- 
mäßige Schulung dieser Richter Sorge getragen wird." 

Pastor Backhausen (Hannover) befürwortete folgenden Antrag: 

„Der Allgemeine Fürsorge Erziehungstag richtet an den Herrn Justiz- 
minister die Bitte, die Strafrichter anzuweisen, daß ein Jugendlicher, wenn 
er in die Fürsorge-Erziehung überwiesen ist, wegen derjenigen Vergehen, 
die seine Ueberweisung in die Fürsorge-Erziehung herbeiführten, nicht auch 
zugleich bestraft wird, sondern das Verfahren gegen ihn einzustellen ist, 
falls die Art des Vergehens es irgendwie zuläßt." 

Auf Antrag des Oberlehrers Blunk (Ohlsdorf) wurde beschlossen, sämt- 
liche Anträge dem Vorstande zur Berücksichtigung zu überweisen. 

Nachmittags sprach noch Pastor Blochwitz (Frankfurt a. O.) über: 
„Die Schwierigkeit der Erziehung der älteren weiblichen Fürsorge-Zöglinge, 
insonderheit der Prostituierten." Der Redner legte seinem Vortrage folgende 
Leitsätze zugrunde: 

1. Die Größe der Schwierigkeit wird offenbar, wenn das Ziel der 
Aufgabe, die Zöglinge zu religiös-sittlichen Persönlichkeiten zu erziehen, 
mit dem Zustand religiös-sittlicher Verkommenheit verglichen wird, in dem 
die Mädchen den Erziehungsanstalten zugeführt werden. 

2. Die sittliche Verkommenheit der Zöglinge nat meist in der Ver- 
derbtheit aller sittlichen Anschauungen ihren Grund und tritt in dem lügen- 
haften, heuchlerischen, trägen und ungehorsamen Wesen der Zöglinge zutage. 

3. Große Schwierigkeit für die Erziehung bieten die verderblichen 
Einflüsse, die von sittlich verkommenen Familienangehörigen auf die Zög- 
linge ausgehen. Auch können diese unter sich einen verderblichen Einfluß 
aufeinander ausüben. 

4. Sofern die Fehler der Zöglinge nicht auf krankhafter Natur- 
anlage beruhen, ist eine Besserung durch die Erziehungsanstalten möglich 
und erfahrungsgemäß bei der größeren Zahl der Zöglinge eingetreten. 



KehrifUeitung: F. Kerasies. Weissensee, Königs - Chaussee 6. u. L. Hirscblaff, Berlin W., 
Habsburgerstr. 6. — Verlag von Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung-, G. m. b. H., Berlin 
W. 90, NollendorfplaU 7. — Verantwortlich für Geschäftliche Mitteilungen und Inserate: 
Pr. Pascbe-Berlin. — Druck: Pass & Garleb G. m. b. H., Berlin W. 35. Steglitierstr. 11. 



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Zeitschrift 

für 

Pädagogische Psychologie, 

Pathologie md fi%\m. 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff. 
Jahrgang IX. Berlin, Juli 1907. Heft 3. 



Ueber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit. 

Von 

Marx Lobsien. 

I. Aufgabe. 

Die nachfolgenden Untersuchungen haben sich zur Auf- 
gabe gemacht, zu prüfen, ob Zahlengedächtnis und Rechen- 
fertigkeit in Beziehung zu einander stehen, etwa derart, daß 
erhöhte Zahlengedächtnisleistungen und größere Rechenfertig- 
keit zusammen gegeben sind. Die Aufgabe soll, soweit es 
möglich ist, auf experimentellem Wege gelöst werden. 

Erfolgt eine bejahende Antwort, so erhebt sich sofort eine 
für die praktische Pädagogik nicht unwichtige weitere Frage: 
geht mit einer Steigerung der Merkfähigkeit für Zahlen ohne 
weiteres eine Steigerung der Rechenfertigkeit einher? oder 
dient die Steigerung der Rechenfertigkeit einer Steigerung des 
Gedächtnisses für Zahlen? Die vorliegenden Beobachtungen 
berücksichtigen nur die zuerst genannte Frage. 

II. Methode. 

Versuchspersonen waren 40 Schüler im Durchschnitts- 
alter von zehn Jahren. Untersuchungen über die Gedächtnis- 
entwickelung bei Schulkindern haben dargetan, daß um das 

Zeitschrift für pid&gogiscbe Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 1 



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162 



Marx Lobsten 



zehnte Lebensjahr herum das Zahlengedächtnis — relativ — den» 
größten Zuwachs erfährt.*) Das bestimmte mich, gerade dieses 
Lebensalter den vorliegenden Untersuchungen zu unterwerfen, 
hoffend, so deutliche Resultate zu erzielen. Eine umfängliche 
fernere Untersuchung muß selbstverständlich auch die andern 
Altersstufen berücksichtigen. 

Gedächtnisprüfung. Die nächste Aufgabe bt, das 
Zahlengedächtnis der Versuchspersonen zu erkunden. Ich 
entschied mich für folgendes Verfahren : Den Kindern wurden 
zunächst zehn zweistellige Zahlen laut und deutlich vor- 
gesprochen. Auf den Befehl, schreibt! verzeichneten sie, was 
sie im Gedächtnis aufbewahrt hatten auf einem bereitgehaltenen 
Blatt Papier. Selbstverständlich wurde straffe Disziplin be- 
obachtet und wo auch nur der leiseste Verdacht vorlag, bei 
dem Nachbar möchten Anleihen gemacht worden sein, xward 
der Zettel vernichtet. — Für eine weiteres Versuchsfolge wurden 
10 zweistellige Ziffern in hinlänglicher Größe und Deutlichkeit 
auf schwarze Tafeln verzeichnet. Sie wurden den Kindern 
während eines Zeitraums von 30 Sekunden (nach Taschenuhr) 
gezeigt. Die Beobachter wurden veranlaßt, während des Hin- 
sehens und Schreibens die Zungenspitze zwischen die Vorder- 
zähne zu klemmen, um nach Möglichkeit Bewegungsempfin- 
dungen in der Sprachmuskulatur auszuschalten. Auf das 
Kommando: schreibt 1 projizierten die Schüler das Behaltene 
auf die bereitgelegte Schreibfläche. 

Durch diese Zweiteilung hoffte ich, den Leistungen des 
akustischen und optischen Zahlengedächtnisses nachgehen zu 
können. 

Wertung. Eine vorläufige Wertung der gefundenen 
Resultate geschah so, daß die Blättchen durch den Lehrer mit 
der Rechenzensur jedes Schülers versehen wurden. (Ich be- 
merke, daß der Lehrer während 2 1 /, Jahre Gelegenheit hatte, 
die Leistungen seiner Schüler gründlich zu studieren.) Diese 
Zensuren und die zugehörigen Resultate der Gedächtnisprüfung 
wurden zunächst zusammen geordnet. 

Im Interesse einer weiteren Differenzierung der Versuch s- 
ergebnisse wurde in einer neuen Versuchsgruppe folgender 

*) Vergl. d. V. : Experimentelle Untersuchungen über Gedichtnisentwicklong 
bei Schulkindern. Ztschr. f. Psych, u. Phyi. d. Sinnesorgane (Ebbinghaus König). 
Bd. 27. S. 47 f. 



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Leber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit. 



163 



Weg eingeschlagen: Den Schülern wurden Rechenaufgaben 
gestellt. Zwei Beispiele greife ich zur Illustrierung heraus: 



a 

17. 19 
15. 18 
167-j- 85 
98-4-146 
63. 12 
14 . 28 
37. 13 
^9. 14 
17 . 21 
15. 19 



o 

18. 17 

19. 15 
185+ 79 

89-|-264 

12. 98 
17 . 28 

13. 42 
15. 27 
21 . 18 
16 . 17 



Die a-Gruppe enthält Aufgaben, die einzeln den Schülern 
deutlich von dem Versuchsleiter vorgesprochen wurden. Nach 
dem Vorsprechen einer Aufgabe erfolgte ihre Lösung .„im 
Kopfe" und die Niederschrift des Resultats. Die Aufgaben 
der o-Gruppe standen einzeln auf schwarzen Tafeln. Sie wurden 
den Schülern einzeln je 30 Sekunden lang gezeigt, dann mußten 
sie die Aufgabe lösen und das Ergebnis niederschreiben. Bei 
der Lesung und Lösung der Aufgaben war wieder die Zungen- 
spitze festgelegt. Für die Lösung der ^Aufgaben wurden je 
i 1 /* Minuten Zeit gewährt. 

III. Versuchsergebnisse, 
a. 

Nachstehende Tabelle offenbart das Resultat der ersten 
Versuchsanordnung. G, m und s bedeutet gute, mittlere und 
schlechte Rechenfertigkeit (eine eingehendere Differenzierung 
der Rechenleistungen vermied ich aus naheliegenden Gründen), 
f bedeutet Fehlangaben, r die Anzahl der richtig verzeichneten 
Reproduktionen. 



Rechenfertigkeit 



m 

s 



4,18 



2.64 



3.00 


6,82 

1 


3,94 


1.81 


5.0 V 

f 


3,50 


2.18 


h.94 

1 


3,27 


; 1,82 


5,31 


2.45 


5.45 


1 


4.27 





2.91 



2,18 



Achtet man zunächst auf die Gesamtresultate (r und f), 
so erfährt man, daß durchgehends die a- Werte höher liegen als 
die o-Werte. 

1* 



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164 



Marx Lobsien. 



Es interessiert zunächst das Gesamtergebnis, daß 
die inittelbegabten Rechner höhere Gesamtleistungen, mehr 
Fehler aufwiesen als die guten und schlechten. Wir finden 
hier, zumal bei o, gehäufte Versuche, nicht oder unklar erfahrene 
Zahlen ,zu erraten. Den guten Rechner hindert daran die 
schärfere Beobachtungsgabe, den schwächeren die mangelnde 
geistige Regsamkeit. 

Achtet man auf die Anzahl der unter 10 möglichen Angaben 
richtig reproduzierten Zahlen, so ersieht man eine Ueberenv 
Stimmung zwischen Rechenfertigkeit und Zahlengedächtnis 
derart, daß starkes Gedächtnis und bedeutende Rechenfertigkeit 
zusammen gegeben sind. Auffallend ist der große Sprung von 
m:g, zumal bei o. 

Wesentlich ist das Resultat, daß die Leistungen auf dem 
o-Gebiet erheblich hinter den verglichenen a-Leistungen zurück- 
stehen. Man könnte einwenden, daß die Typen ,von vornherein 
nicht räumlich gesondert worden waren, daß also minimale 
Leistungen des Akustikers auf optischem Gebiete mit ,guten 
des Optiker zusammen verrechnet wurden. Aber dasselbe 
trifft doch auch für die a-Ergebnisse zu. 

Nun, es handelt sich hier um absolute Werte, möglich,, daß 
sich das Bild ändert, wenn man die Anzahl der richtigen 
Wiedergaben in Beziehung setzt zu der Anzahl der überhaupt 
niedergeschriebenen Zahlen, also der richtigen und Fehl- 
reaktionen. Das geschieht aber am einfachsten nach der 
Formel Sterns 





r 






T+t 




Rechenfertigkeit 


a 


0 


m 
s 


0.613 
0.432 
0,400 


0,571 
0.341 
0,426 



Die Tabelle bestätigt für die a-Gruppen das oben gewonnene 
Resultat; doch stehen bei o die Mittelbegabten den anderen 
Gruppen erheblich nach. 



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Leber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit. 



165 



b. 

So bezeugen die Beobachtungen, daß allerdings zwischen 
dem Zahlengedächtnis und der Rechenfertigkeit ein Zusammen- 
hang derart besteht, daß beide zu einander in geradem Verhältnis 
stehen ; das gilt sowohl von dem optischen wie dem akustischen 
Zahlengedächtnis ; nur offenbaren die Mittelbegabten bei o ein 
abweichendes Verhalten. Es erhebt sich die Frage, ob möglich 
ist, diesen Unterschieden auf experimentellem Wege genauer 
nachzugehen. Dieser Aufgabe sollte der Rechenversuch dienen. 
Auf Grund der gelösten Aufgaben wurden die Schüler nach 
Begabung und Typen gesondert. 3 Typen wurden unter- 
schieden, außer a und o der a/o-Typus, ein Mischtypus, der 
eine deutliche Sonderung nach a und o nicht zuläßt. Inner- 
halb dieser Typen wurde die Rechenfertigkeit gewertet nach 
den Graden gut (g), mittel (m) und schlecht (s). 

Die Resultate lege ich in folgenden Tabellen nieder: 



Rechenfertigkeit 


Typus a 




Abs. 

g _ r ._ 

Abs. 
ra » 

r + ( 
Abs. 

s r 

r + f 1 


8,00 4,25 
0,853 0,444 
5,67 2,34 
0,601 0,259 
2,00 0.50 
| 0,222 0,053 



Rechenfertigkeit 


Typus 0 


0 






a 




Abs. 


7.80 






4.60 


8 


r 

r-M 
Abs. 


0.867 
4.8 






0,500 
2,2 


m 


r 

r+ * 
Abs. 


0,600 

1.0 




1 


0,244 

1.0 


s 


r 

r + f 


0,167 






0,111 



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166 



Marx Lobsieu. 



Rechenfertigkeit 



m 



Abs. 
r 

r+f 
Abs. 
r 

Abs. 



Typus m 



7,3 

0.768 

4.25 

0.500 

1.00 

0.128 



7.3 

0.759 

5,25 

0.567 

0.83 

0.119 



Die drei Tabellen zeigen ausgeprägte Typenunterschiede. 
Der Optiker zeigt dem Akustiker gegenüber kaum nennenswerte 
Nachteile da, wo ihm erlaubt ist, die Zahlbilder nach seiner 
Weise durch das Auge aufzunehmen; dagegen sinkt die 
Leistungsfähigkeit im Rechnen oft um mehr als die Hälfte, 
wenn er genötigt wird, allein durch das Dhr die Ziffern seinem 
Gedächtnis einzuprägen. Aehnliches gilt auch vom Akustiker • 
auch er ist in seiner Rechenfertigkeit stark gebunden, wenn 
man ihn zwingt, andere als ihm eigentümliche Wege zu gehen. 
Ganz anders der m-Typus 1 Er ist dem Akustiker auf optischem, 
dem Optiker auf akustischem Gebiete stark überlegen, überragt 
jenen im schriftlichen, diesen im Kopfrechnen und macht so 
vieles zu seinen Gunsten in den Rechenleistungen wieder wett. 
Das beweist folgende Zusammenstellung der Gesamtergebnisse, 
die die Begabungsunterschiede außer Bewertung läßt, dazu 
auch die Typendifferenzen : 



Typus 


Typus 


Gesamt 


eigener 


fremder 


a 


0.559 


0,252 


0.451 


o 


0.545 


0,285 


0.415 


m 


0.465 


0,482 


0.478 



In den Gesamtleistungen beobachtet man also ein, wenn 
auch nicht sehr erhebliches, Uebergewicht des m-Typs, im 
besonderen aber bleibt er in seinen Leistungen hinter den 
ausgeprägten Typen zurück, wenn sie ihre eigenen Wege 
beschreiten dürfen. 

Die Leistungen der schwachen Rechner bleiben ganz er- 



lieber Zahlengedächtnis und Rechenfertigkeit. 



167 



heblich hinter den besseren zurück; das gilt für alle Typen. 
Während aber bei o und m die minimalen Ergebnisse nicht 
große Unterschiede aufweisen für a und o, leisteten die 
schwachen akustischen Rechner auf optischem Gebiete weitaus 
das "geringste. 

IV. 
a. 

Versuchen wir nunmehr die Gedächtnisreihen und die Re- 
sultate der Rechenversuche einander einzuordnen. Dabei sollen 

nur die -Werte Verwendung finden, auch finden nur die 

Typen a und o Berücksichtigung. 



Typus a 



Leistung 




Wert 






m 


s 


Gedächtnis 
Rechnen 


613 
853 


432 
601 


400 
222 




Typus o 




Leistung 


Wert 


r « 


m 


s 


Gedächtnis 
Rechnen 


571 
867 


341 

600 


426 

167 



Bei der Wertung dieser Tabellen darf nicht unberück- 
sichtigt bleiben, daß der m-Typus bei den Gedächtnisprüfungen 
nicht besonders herausgehoben ward. So erklärt sich, daß 
die Zahlen bei s relativ hoch liegen. Trotzdem beweist der 
abwärts gerichtete Kurvenverlauf, daß der tüchtige Rechner 
durchgehends über ein besseres Zahlengedächtnis verfügt. 

b. 

Die Wertung der Rechenleistungen geschah oben auf Grund 
der Zensur des Lehrers. Sie umschloß mehr als die Ein- 
schätzung einfacher, mechanischer Rechenfertigkeit auf demf 
durch die gestellten Multiplikations- und Additionsaufgaben 
vorgesehenen beschränkten Gebiet. Nun versuchte ich, lediglich 



■ 

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168 



Marx Lobsien. 



die Resultate dieser einfachen Rechenlei- 
stungen, unbekümmert um die Schulzensur, als Maßstab 
der Rechenfertigkeit zugrunde zu legen. Innerhalb der Gruppen 
g, m, s wurde durch neue umfängliche .Gedächtnisprüfungen 
die Merkfähigkeit (unmittelbare) der Typen a, o und m bestimmt. 
Das Ergebnis dieser Prüfung zeigen die folgenden Tabellen: 



r 

r-f f 
Typus a 


Rechenfertigkeit 


GeHächtnisleistung 


o 


a 


g 
tn 
s 


0,452 
0,243 
0,264 

Typus o 


0,459 
0,418 
0,411 


Rechenfertigkeit 


Gedäcbtnisleistunj? 


0 


a 


ra 

s 


0,500 
0,500 
0,429 

Typus m 


0.350 
0,284 
0,142 


Rechenfertigkeit 


Gedächmisleistung 


a 


o 


g 
ra 

s 


0,499 
0,400 
0^424 


0,533 
0.315 
0,400 



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Erziehung und Arbeit. 

Unsere Stellung zur sog. Knabenhandarbeit und ihrer Literatur. 

Von 

Eduard Schulze. 
I. 

Die Freunde der Handarbeit treten ein für einen um 
seiner selbst willen gepflegten Handarbeitsunterricht, stellen 
im Interesse der Zöglinge bestimmte, abgeschlossene Arbeits- 
aufgaben, keine bloßen technischen Uebungen und wünschen 
seine Einführung in die Schule, um bei der Erziehung der 
Knaben neben der Schulung des Verstandes und neben der 
Pflege einer mehr abstrakt-geistigen Tätigkeit auch der Aus- 
bildung der Sinne, des Anschauungs- und Darstellungsver- 
mögens zu ihrem Recht zu verhelfen, um die körperlichen 
Kräfte der Knaben zu schulen, um Schaffensfreudigkeit so- 
wie praktisch-geistige Fähigkeiten zu wecken, endlich um zur 
werktätigen Arbeit zu erziehen. Die Gegner der Handarbeit 
haben ihr die Schultore verschlossen, obgleich auch sie von 
dem Nützlichkeitswerte, wie ihn die Anhänger der Arbeit 
preisen, wohl überzeugt sind. Freilich ist das zähe Festhalten 
und die Verfechtung der Selbständigkeit dieses Unterrichts- 
faches und seiner selbständigen Lehrgänge für die Ausbreitung 
und Förderung der Idee der Arbeit im allgemeinen taktisch 
und strategisch am Platze gewesen, andererseits geben wir 
gerade dieser einseitigen Auffassung des Bildungswertes der 



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170 



Eduard Schulze. 



Arbeit und ihrer Betonung die Schuld, daß die Gegner von 
der Berechtigung der Arbeit, von der Notwendigkeit ihrer 
Einführung in den Unterricht nicht überzeugt worden sind. 
Denn solange man den Handarbeitsunterricht als selbständiges 
Fach mit Lehrgängen, die nach technischen Schwierigkeiten 
geordnet sind, zur Einführung in die Schule empfiehlt, so- 
lange man die Arbeit nicht in durchgängige organische Ver- 
bindung mit dem theoretischen Unterrichte bringt, sondern 
höchstens dann und wann an einigen Punkten eine Verbindung 
herstellt, solange man hauptsächlich auf technische Fertigkeit 
hinzielt, eben so lange wird man auf die Zustimmung der 
Pädagogen auf Einführung dieses Faches in die Schule ver- 
geblich warten. 

Welche Stellung nimmt die Heilpädagogik ein, die von 
jeher infolge ihrer schwierigeren Aufgabe, ihres Gefühles der 
Not, einen sicherern und ungetrübterem Blick für die Mängel 
und Schäden der Didaktik hatte als die Normal pädagogik ? 
Aus den seit 1892 in den Fachzeitschriften erschienenen 
Artikeln, sowie aus den in Augsburg über diese Frage ge- 
pflogenen Verhandlungen des Hilfsschul Verbandes ist ersicht- 
lich, daß man auch dem Arbeitsunterricht als selbständigem 
Fache das Wort redet. 

Beide Parteien, die bisher über die Frage der Arbeit ver- 
handelten, haben das Wesen derselben nicht zu Ende gedacht, 
haben sich nur darum gestritten, ob der Haufen der Lehr- 
fächer noch um eines vermehrt werden soll. Es kommt uns 
vor allen Dingen — besonders beim Unterrichte der Schwachen 
— auf die Qualität der Bildung an, das ist die größtmöglichste 
anschauliche Vorführung und die bildende Verarbeitung des 
Stoffes. Soll eine Lehreinheit anschaulich vorgeführt, bildend 
verarbeitet werden, so bedarf sie eben der Darstellung in irgend 
einer Arbeitsform. Das Darstellen, bildliches und körperliches, 
ist ein besseres Mittel der Aneignung und des Ausdrucks als 
das bisher gebrauchte, die Sprache. Die Begriffe, die wir den 
Kindern durch umständliche Erklärungen beizubringen suchen, 
lernen sie durch Tun, durch Arbeit von selbst, aus eigner 
Vernunft und Kraft; der Weg durch die Sprache zu den 
Sachen ist ein Umweg; eine Stunde Arbeit lehrt mehr als 
eine tagelange Auseinandersetzung. „Nicht logische Ueber- 
führung, sondern sinnliche Ueberzeugung ist das Ziel des 



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Erziehung und Arbeit. 



171 



Unterrichts" (Lay). Die neueren physiologischen und psycho- 
logischen Forschungen weisen uns unbedingt darauf hin, daß 
zu einem bildenden Unterrichte neben den bisher bekannten 
und in den meisten Fällen wohl auch geübten Lehroperationen 
noch das Tun, das Arbeiten, das Darstellen kommen muß, 
und die bisherigen Unterrichtserfolge zeigen uns, daß es nicht 
überflüssig ist, daß dieses Mehr der Durcharbeitung einer- 
seits, der Einprägung andererseits wirklich notwendig ist. „Ein 
Eindruck ohne Ausdruck, eine Anschauung ohne Darstellung 
durch Sprache, Schrift, Zeichnung, Modell, Experiment ist 
physiologisch unvollständig, unnatürlich und entbehrt der 
Vollendung der Anschauung nach Deutlichkeit, Klarheit, Ge- 
wandtheit, Gedächtniskraft und Willensreiz." 1 ) Erst wenn 
dieser rechte Begriff von dem „Didaktischen Grundprozeß" 
zur unumwundenen Anerkennung gelangt ist, werden wir zu 
besseren Unterrichtsresultaten kommen. 

Diejenigen nun, die immer noch meinen, das Darstellen 
sei überflüssig für eine richtige und lebendige Anschauung, 
erinnere ich an ihr von jeher betriebenes eigenes Tun, an 
das Vermittelnwollen einer richtigen Anschauung durch Bilder. 
Gewiß tragen Bilder einiges zum richtigen Verständnis einer 
Sache bei, da aber das Bild nur einen Moment, eine Seite 
der Sache veranschaulichen kann, muß zur Vermittlung des 
Verständnisses noch die Sprache kommen. Beide, Bild und 
Sprache, sind nützlich und können sich nicht gegenseitig er- 
setzen. Anders beim Darstellen. Die Darstellung in irgend 
einer Form muß für die Anschauungsvermittlung, für das 
Zeigen des Verständnisses höher bewertet werden, höher als 
das Bild, schon weil die körperliche Darstellung mehr räum- 
liche Ausdehnung besitzt, sie muß höher bewertet werden als 
die sprachliche Darstellung, weil sie diese einerseits entbehr- 
lich machen kann, andererseits sie ohne weiteres zur Folge 
hat; denn wer sein Verständnis, seine richtige Anschauung 
durch das körperliche Darstellen gezeigt hat, dem wird es 
nicht zu schwer fallen, diese Vorstellungen in richtiger, ge- 
wandter, fließender sprachlicher Darstellung wiederzugeben. 
Daher ja die Mangelhaftigkeit der sprachlichen Fertigkeit 
unserer Schüler : sie sprechen nicht, weil sie keine Vorstellungen 



») Dr. W. A. Lay, Experimentelle Didaktik. 



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172 



Eduard Schuhe. 



haben, sie sprechen mangelhaft, weil sie nur unzureichende, 
unrichtige, falsche Vorstellungen haben. 

Bei der Erziehung durch Arbeit kommt es uns nicht darauf 
an, daß die Kinder „zur werktätigen Arbeit erzogen" werden, 
sondern darauf, daß sie durch die Arbeit ihren Geist bilden; 
auch nicht die „technische Fertigkeit", die bloße Abrichtung 
der Finger, die Ausbildung der Hand ist uns die Hauptsache 
— ebenso wie z. B. im Schreibunterrichte uns nicht das Buch- 
stabennachmalen, das sog. Schönschreiben, als das Hauptsäch- 
lichste gilt — , wäre das Technische das Ziel der Arbeit, so 
könnte man überhaupt nicht von „erziehlicher Arbeit" sprechen, 
denn wir reden nur da von Erziehung, wo es sich um geistiges 
Leben, um Bereicherung, Stärkung, Vervollkommnung, Ver- 
edelung und sittliche Gestaltung desselben handelt. Außerdem 
ist es falsch, wenn man meint, daß das Darstellen hauptsäch- 
lich durch die Geschicklichkeit der Hand bedingt sei; die 
Hand bedarf wohl der Uebung, aber die Richtigkeit der Arbeit 
ist im wesentlichen doch abhängig von dem richtigen An- 
schauen und Vorsteilen. 

Die Arbeit hat also keinen Selbstzweck, sie ist zuerst und 
vor allem Mittel zu dem Zwecke, dauernde, vollständige, klare 
und deutliche Vorstellungen zu erzeugen; ihre Bedeutung liegt 
besonders in den Diensten, die sie der Entwicklung, Bereiche- 
rung und Ordnung des Geisteslebens leistet. 

Es sei mir gestattet, an dieser Stelle auch der pädagogischen 
Klassiker zu gedenken. Die nachfolgenden Zeugnisse und Aus- 
sprüche verschiedener Pädagogen und Volksfreunde zeigen, 
daß man von jeher neben der Ausbildung des Geistes auch 
die Bildung des Körpers, neben dem Denken das Tun betonte, 
daß man den innigen Zusammenhang zwischen körperlichem 
Tun und geistiger Arbeit und den förderlichen Einfluß der 
Arbeit auf die Entwicklung und Ausbildung des Geisteslebens 
ziemlich klar erkannte. Die Begründung ihrer Forderungen 
müssen wir natürlich als unzulänglich bezeichnen, da ihnen 
die Entwicklungsprozesse des menschlichen Geistes nicht 
genügend bekannt waren. 

Comenius schreibt in der Scholae Pansophicae Delineatio : 
„Dem Wißbaren ist das Ausführbare beizufügen, in dem unsere 
Schüler geübt werden sollen, d. h. der Kenntnis der Dinge 
ist die Aktivität der Handlungen anzuschließen." 



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Erziehung und Arbeit. 



173 



Rousseau behauptet im III. Buche seines Emil: „So viel 
man kann, muß man durch Tatsachen sprechen und nur sagen, 
was man praktisch ausführen kann. 44 

„Wenn ich ein Kind, anstatt es an Bücher zu fesseln, in 
einer Werkstätte beschäftige, arbeiten seine Hände zum Nutzen 
seines Geistes; es wird ein Philosoph und glaubt nur ein 
Arbeiter zu sein. 44 

Der Publizist Joh. Gottfr. Groß in Nürnberg betont in 
einer seiner Schriften, „daß man bei dem Dozieren die Jugend 
auch in Aktivität zu setzen suche, das ist, daß man sie ge- 
wöhne, das, was sie siehet und lernet, auch nachzumachen 
und zu verfertigen. 44 

Bernh. Heinr. Blasche, Lehrer in Schnepfenthal, der ganz 
besonders die intellektuelle Bildung durch mechanische Be- 
schäftigungen fordern will, meint: „Der Unterricht erscheint 
bei diesem Gange der Erziehung den Kindern als Mittel zur 
vollkommeneren Erreichung nahliegender Zwecke ; sie ge- 
winnen die Unterrichtsgegenstände lieb, weil sie mit ihren 
Beschäftigungen, in denen sie leben und weben, in so naher 
Verbindung stehen. 44 

Joh. Heinr. Gottl. Heusinger, Dozent der Pädagogik an 
der Universität in Jena, später Lehrer in Eisenach und Dresden, 
kritisiert die damalige Erziehungsmethode mit den Worten: 
„Die Erwerbung von Kenntnissen durch eigenes Anschauen, 
durch eigene Versuche, durch eigenes Arbeiten ist etwas, wo- 
zu die Erziehung den Kindern entweder noch gar keine An- 
leitung, oder doch nur in Nebenstunden, gibt, weil man, dem 
Schulgeiste gemäß, noch immerfort glaubt und handelt, als 
sei das Lernen die Hauptsache bei der Erziehung, 44 über sein 
Bestreben berichtet er, „das Prinzip der Tätigkeit ist es, das 
ich überall in der Erziehung einzuführen versuche und nach 
welchem ich den ganzen Plan der Erziehung entwerfe. 44 

Auch Pestalozzi spricht für uns, wenn er feststellt : ., Durch 
je mehr Sinne du das Wesen oder die Erscheinungen einer 
Sache erforschest, je richtiger wird deine Erkenntnis über 
dieselbe. 44 

Fröbel, der unser Erziehungsideal am klarsten mit erkannt 
hat, schreibt über sein Erziehungsziel: „Die Anstalt (Helba) 
geht in ihrer Wirksamkeit vom Selbsttun, dem Selbstdarstellen 
aus und setzt dies somit wieder in sein uraltes Recht als den 



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174 



Eduard Schulze. 



Grund alles wahren Erkennens und aller echten Bildung ein, 
erhebt es so, geeint mit Sinnigkeit, zu einem unmittelbaren 
Bildungs-, mit Denken geeint zu einem unmittelbaren Lehr- 
mittel, und ordnet so das Arbeiten selbst mit unter die Lehr- 
mittel ein." „Die Natur schon lehrt es jedem, wie das Auf- 
nehmen und Auffassen der Sache im Leben und Handeln bei 
weitem mehr entfaltend, ausbildend und stärkend ist als das 
bloße Aufnehmen in Worte und Begriffe. So ist auch das 
Gestalten an und durch Stoff im Leben, im Handeln und Tun, 
geknüpft an Denken, Gedanken und Wort, für die Entwicklung 
und Ausbildung des Menschen weit höher als die Darstellung 
durch Begriffe und durch Wort ohne Gestaltung." „Von der 
Tat, dem Tun, muß die echte Menschenerziehung, die ent- 
wickelnde Erziehung der Menschen beginnen; in der Tat, dem 
Tun keimen, daraus hervorwachsen, darauf sich gründen." 
,.Weil uns in dem Gange der Vorsehung bei Entwicklung und 
Ausbildung des Menschengeschlechts als klar entgegentritt, 
daß das Handeln, Darstellen, Tun früher war als das Nach- 
denken, das Denken darüber, und so früher als das Erkennen 
und Wissen, und daß zweitens das Nachdenken, das Denken, 
das Erkennen und Wissen sich sogleich wieder am Tun, am 
Darstellen, am Ausüben prüfte, fortentwickelte und ausbildete, 
so . . . geht denn auch bei unserm Erziehungs- und Lehr- 
geschäft das Darstellen, Tun dem Erkennen und Wissen vor- 
aus, und der Zögling bildet und schafft sich . . . selbst sein 
Erkennen und Wissen, welches sonach ein lebendiges, Leben 
gebendes, Leben weckendes, sich aus und durch sich selbst 
lebendig fortentwickelndes und ausbildendes Wissen und 
Können ist." 

Dr. Daniel Georgens, Leiter einer Erziehungsanstalt bei 
Wien, forderte schon vor ungefähr 50 Jahren die Aufnahme 
„pädagogisch geregelter Arbeitsübung" in die Volksschule. 
Die Arbeit betrachtet er als „ein absolut notwendiges Bildungs- 
mittel", welches „den passiv empfangenden Schüler zu einem 
aktiven machen und aus reiner Aktivität ihn produktivfähig 
heraustreten lassen soll". Die Arbeitsübung muß aber, um 
diesen Zweck zu erreichen, „in organische Verbindung" mit 
dem theoretischen Unterricht treten, d. h. „aus der praktischen 
Uebung muß sich das Wissen entwickeln und dieses in jener 
seine Anwendung finden." 



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Erziehung und Arbeit. 



175 



Der jüngst verstorbene Dr. Ernst Barth in Leipzig, der 
ebenfalls den Arbeitsunterricht in engste Verbindung mit ein- 
zelnen Unterrichtsfächern bringen will, betrachtet denselben 
„als eine notwendige Ergänzung dessen, was die Schule als 
Erziehungsschule zu leisten habe". 

Welche Vorteile erhoffen wir nun von einem auf dem 
Prinzip der Arbeit ruhenden Unterricht? 

Zunächst erwarten wir davon großen Gewinn für die 
Pflege eines wirklichen Interesses. Ein richtig betriebener 
Unterricht soll nicht nur das Vorstellen üben, er soll auch 
Stimmungen, Gefühle, Regungen, Handeln erwecken. Nichts 
hilft die Freudigkeit im Lernen, dem Streben nach weiterer 
Erkenntnis besser auf als das Gefühl, man habe wirklich etwas 
gelernt, man könne das Geforderte leisten. Wenn es schon 
für jeden Menschen der sehnlichste Wunsch ist, zu sehen, 
daß er etwas fertig bringt, so ist eine solche Erkenntnis für 
den Schüler der Hilfsschule um so ermutigender, je weniger 
er beim jetzigen Unterrichte die Früchte seiner Mühe gewahr 
wird. Unsere Schüler sind oft nur deshalb so stumpf und 
teilnahmlos, weil gerade das im Unterrichte fehlt, wofür sie 
zu haben sind, woran die Lust am Lernen überhaupt sich 
wecken läßt. Bei dem bloßen Reden über eine Sache fühlt 
sich das Kind, besonders das geistig schwache, unbefriedigt 
und gelangweilt, weil es nicht soviel geistige Kraft besitzt, 
um sich aus der konkreten in die abstrakte Welt zu erheben. 
Langweilig zu sein ist aber die größte Sünde des Unterrichts. 
Darum wird ein rechter Lehrer immer und immer bemüht 
sein, durch seinen Unterricht in dem Kinde die innere Nötigung, 
die es zum Lernen treibt, zu wecken, er wird vielfältige Ge- 
legenheit geben zu frischer, aus dem Innersten heraufquellender 
Tätigkeit. Und wodurch könnte er das wirksamer als durch 
einen auf dem Prinzip der Arbeit beruhenden Unterricht? Die 
Arbeit ist ganz besonders geeignet, eine wertvolle Ueberleitung 
des Unterrichtseindruckes von den erkennenden zu den streben- 
den Kräften der Seele zu bilden. Durch das Tun erlangen die 
Schüler eine genaue und sichere Erkenntnis, die verbunden 
ist mit einem Gefühl der Lust, mit einem Anreiz zu weiterer 
Tätigkeit,*) und dieser Trieb wird um so stärker sein, je 

*) „Das GefUhl des klaren Auffassens hielt ich längst für die einzige und 
chte Würze des Unterrichts." 



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176 



Eduard Schulze. 



lebendiger der Eindruck, die Vorstellung ist, die Stärke und 
Wärme aber des Antriebs wird wieder um so reger sein, je 
fester die Aufgaben in die Individualitätssphäre des Kindes 
eingreifen. Aus diesem Grunde betrachten wir nur die Arbeit 
als pädagogisch wertvoll, die ihre Direktiven aus den sach- 
unterrichtlichen Fächern erhält. Wohl zeigen die Schüler auch 
bei einem selbständig betriebenen Handarbeitsunterrichte 
Interesse an der Arbeit; dasselbe ist aber ganz anderer Art 
als bei unserem Unterrichte. Hier ist die freudige Hingabe 
des Schülers bedingt durch das vom übrigen Unterrichte her 
angeregte lebendige Interesse. Wie beim Rechnen nicht das 
reine Zahknrechnen, sondern das richtige Sachrechnen, 
wie in der Raumlehre nicht die reinen mathematischen 
Formeln, sondern die angewandten Aufgaben aus dem 
täglichen Leben, wie im Zeichnen nicht ein systematischer 
Lehrgang nach Stuhlmann, sondern das Darstellen von Stoffen 
der Wissensfächer, wie im Singen nicht die Stimm- und Treff- 
übungen, sondern das Singen der Lieder im Anschluß an die 
Stoffe des übrigen Unterrichts dem Schüler ein höheres und 
stärkeres Interesse abgewinnen können, so kann auch nur die 
Arbeit von Nutzen sein, die mit dem sonstigen Schaffen des 
Kindes in engster Verbindung steht; so nur wird ihm die 
Arbeit einleuchten, so nur wird ihm die Notwendigkeit der 
Kenntnisse überhaupt klar werden. Es kann nichts gediegen 
sein, als was in allen Stücken zusammenhängt. 

Selbst bei dem Lehrer wird sich eine Steigerung des Inter- 
esses an den Sachen bemerkbar machen, insofern sein Suchen, 
Ueberlegen und Auswählen nach den verschiedenen Be- 
ziehungen der Arbeit zu den sachunterrichtlichen Fächern ihn 
den wertvollen Inhalt und den Gewinn, der beiden Teilen durch 
das gegenseitige Ineinandergreifen zugute kommt, recht er- 
kennen läßt. Wie lähmend und entmutigend ist es für den 
Lehrer, wenn er nach vielen Mühen und Anstrengungen zu- 
guterletzt doch gewahren muß, daß seine nach der herkömm- 
lichen Methode verrichtete Arbeit zum größten Teile umsonst 
gewesen ist, wenn er sehen muß, daß seine Hoffnung auf 
eine bescheidene Ernte vergebens war. Gerade der Lehrer 
der Schwachen wird solche Erfahrungen oft machen; sollte 
er darum nicht dankbar jedes Mittel ergreifen, das ihn vor 
diesen bitteren Enttäuschungen bewahren kann? 



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Erziehung und Arbeit. 



177 



Endlich wird sich auch das Interesse des Lehrers für die 
Kinder erhöhen, da er häufig die Beobachtung machen wird, 
daß die Schüler, die er wegen ihrer geringen geistigen Kapa- 
zität für formale Darbietungen schon gänzlich aufgegeben hatte, 
daß diese auf dem Gebiete der Tat, des Handelns, der Willens- 
energie sich besser erweisen als die „Musterknaben" der Schul- 
stube — wenn wir von solchen in der Hilfsschule reden dürfen. 
Durch das Tun der Kinder erhält der Lehrer nun auch Kennt- 
nis davon, „wie der psychische Mechanismus in dem Kinde 
wirkt", namentlich wie weit auch das von den Sinnen her- 
kommende Empfinden und Wahrnehmen bei ihm gesund und 
die daraus erwachsenden Vorstellungen ausgebildet sind. 

Mit dem Interesse steigern wir die Lernlust des Schülers 
und heben dadurch gerade bei unsern Schwachbegabten 
Kindern das auf, um deswillen wir sie von den normalen be- 
sonders genommen haben, die psychische Passivität. Das 
Interesse, das wesentlich durch den Stoff und durch die Tätig- 
keit an dem Stoffe bedingt ist, wird unbedingt zum Denken 
treiben, wird die Energie des Denkens, die unsern Schülern 
hauptsächlich abgeht — darum schwach im Sinnen — , un- 
gemein fördern. 

Eine weitere Folge eines lebhaften Interesses ist die Auf- 
merksamkeit. Vielen unserer Kinder fehlt diese Tätigkeitsform; 
deshalb nennen wir sie unaufmerksam, unruhig, undiszipliniert; 
darum sind ihre Wahrnehmungen blaß und ungenau, ab- 
geschwächt und unbestimmt ; deswegen sind ihre Vorstellungen 
mangelhaft und das Bilden von Begriffen kommt nicht zu- 
stande. Jede intellektuelle Tätigkeit setzt ja doch jene psychische 
Tätigkeit, die alle Funktionen des Geistes verdichtet und 
konzentriert, setzt die Tätigkeit der Aufmerksamkeit voraus, 
und je leichter und sicherer diese sich einstellt, desto leichter 
und sicherer wird auch die Ideenbildung sein. Als bestes Mittel 
zu einer leichten und richtigen Einstellung der Aufmerksam- 
keit bietet sich nur die Arbeit, das Tun an. Beim Tun wird 
ein schärferes Aufmerken, d. i. eine gesteigerte Einstellung 
aller in Betracht kommenden Sinnesorgane, ein schärferes 
Sehen, ein besseres Hören, ein genaueres Betasten usw. nötig. 
Durch die Arbeit bewirken wir, daß unsere Kinder genauer, 
deutlicher und bestimmter wahrnehmen, daß sie Dinge wahr- 
nehmen, die sie in anderem Falle leicht übersehen oder über- 

Zeitochiift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 2 



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178 



Eduard Schulze. 



hört hätten, daß sie Sinnesempfindungen apperzipieren, die 
sonst spurlos an ihrem Bewußtsein vorübergegangen wären 
und dasselbe nicht mit neuen Inhalten bereichert hätten. Ebenso 
•werden wir bei unseren Kindern durch Tun einen Zuwachs 
der Energie der Sinne erreichen, der sich darin äußern wird, 
daß die physiologische Zeit des Wahrnehmungsablaufs von 
immer kürzerer Dauer wird. 

Im engsten Zusammenhange mit dem Interesse steht das 
Gedächtnis. Der Psychologe Goethe kennzeichnet diesen Zu- 
sammenhang mit den Worten: „Wo der Anteil sich verliert, 
verliert sich auch das Gedächtnis." Das Gedächtnis, die un- 
veränderte Wiederkehr der Vorstellungen, Vorstellungsverbin- 
dungen, Gedanken, Gedankenreihen, der Gefühle und Be- 
strebungen, ist die erste Voraussetzung aller Bildung. Je nach 
dem Umfange, der Treue, der Dauerhaftigkeit und Dienstbar- 
keit des Gedächtnisses werden auch Umfang und Inhalt der 
Bildung verschieden sein. Man hält es für einen Vorzug der 
heutigen Unterrichtsmethode, daß sie gerade das Gedächtnis 
am wirksamsten pflege; man anerkennt auch, daß die heutige 
Schule diese Seite der Seelentätigkeit am stärksten in Anspruch 
nimmt; da man aber nur unzusammenhängende Einzelheiten 
lehrt, da man den inneren gesetzlichen Zusammenhang der 
Stoffe dabei zum großen Teile außer acht läßt, so kann von 
einer wirksamen Pflege des Gedächtnisses, von seiner rechten 
Ausbildung nicht gut die Rede sein, im Gegenteil: infolge der 
falschen Inanspruchnahme hat es sich bisher stets als ein un- 
zuverlässiger Wurzelboden aller Bildung erwiesen. Darum 
haben es sich die Schulmänner auch zu allen Zeiten angelegen 
sein lassen, nach einem nachhaltigen und wirksamen Mittel 
zur Pflege eines guten Gedächtnisses auszuschauen. Um da- 
bei keinen Fehlgriff zu tun, müssen wir fragen: welches sind 
denn *die Bedingungen, unter denen die Vorstellungen resp. 
Vorstellungsverbindungen, nachdem sie aus dem Bewußtsein 
entschwunden, unverändert in dasselbe zurückkehren? Es sind 
Stärke und Rhythmus des geistigen Geschehens überhaupt, 
es ist der Stärkegrad des speziellen psychischen Vorganges, 
der bestimmt wird durch die Qualität des Objektes, es ist die 
Zahl der Wiederholungen dieser seelischen Prozesse/ es ist 
die Verknüpfung der Vorstellungen mit schon vorhandenen, 
es ist der Grad der physischen und psychischen Frische, der 



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Erziehung und Arbeit. 



179 



Einfluß der physischen und psychischen Disposition und der 
durch diese hervorgerufenen Stimmung, es ist die Zahl der 
apperzipierenden Vorstellungen, welche alle den Verlauf sowie 
die Wirkung der unveränderten Reproduktion — des Gedächt- 
nisses — beeinflussen. Worin besitzt nun die heutige Didaktik 
ein besseres und umfassenderes Mittel zur Erlangung eines 
möglichst günstigen Einflusses all der genannten Faktoren auf 
das Gedächtnis als in der Arbeit, in dem Handeln, in dem Tun?! 

Durch den auf dem Prinzip der Arbeit aufgebauten Unter- 
richt passen wir uns auch mehr als es gegenwärtig im Unter- 
richte geschieht den verschiedenen Sinnestypen unserer Schüler 
an. Mit der Veranschaulichung unserer Unterrichtsstoffe ist 
es keineswegs so einfach bestellt als wir zu glauben scheinen, 
wenn wir die Vorstellungen und deren innere Verarbeitung 
nur durch einen Sinn, etwa durch den Gesichtssinn, erwerben 
lassen wollen: wer vorwiegend mit dem Auge aufnimmt, wird 
nicht immer genau so gut die Gehörs-, Tast- oder Bewegungs- 
vorstellungen perzipieren. Bei der Vorstellungsaufnahme zeigen 
sich besonders bei unsern Kindern die verschiedensten indivi- 
duellen Besonderheiten, und dann denke man noch weiter auch 
an die vielen mit körperlichen Defekten behafteten Kinder 
der Hilfsschule, an die Kurzsichtigen, Schwerhörigen, Ge- 
lähmten usw. All denen werden wir gerecht, wenn wir den 
Unterrichtsstoff durch Arbeiten erwerben lassen, d. h. wenn 
wir ihn auf dem Wege der Gesichts-, Gehörs-, Tast- und Be- 
wegungsvorstellungen an unsere Schüler heranbringen. 

Von dem Gedächtnis, der unveränderten Reproduktion, 
gehen wir über zur Phantasie, zur veränderten Reproduktion 
der Vorstellungen. Sie ist für die Bildung des Geistes von 
größter Bedeutung. Goethe nennt sie eine „Vorschule des 
Denkens"; andere reden von ihr als von der „Lunge der 
Seele" und Hippel sagt: seelenhektisch ist jeder, dessen Ein- 
bildungskraft auf schwachen Füßen steht, ein Ausspruch, dem 
die Erfahrung an unseren Schwachen zustimmen muß. Da- 
gegen sprechen wir von einer gesunden Seele, von einem 
Reichtume des Seelenlebens, sobald sich die Veränderung der 
Vorstellungen mit Leichtigkeit vollzieht, sobald die veränderte 
Reproduktion der Vorstellungen einen gewissen Umfang hat. 
Hierfür von entscheidendem Einfluß ist es, ob das Leben des 
Zöglings dürftig oder reich, einförmig oder wechselvoll ist, 

2* 



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Eduard Schulze. 



ob die gewonnenen Vorstellungen scharf, klar und geordnet 
oder unbestimmt und verworren sind. Denn gleichwie die wirk- 
lichen Ernährungsmittel auf unsern Körper einen bestimmenden 
Einfluß ausüben, also ist auch die Nahrung des geistigen Lebens 
— Vorstellungen resp. Vorstellungs Verbindungen — nicht ohne 
Bedeutung für die Phantasie: dürftige Ernährung wird die 
Phantasie dürftig lassen, reichliche Nahrung wird ihre Ge- 
bilde reicher gestalten. Unsere Schüler sind meist arm an 
Phantasie; sie besitzen diese Seelentätigkeit fast gar nicht oder 
doch nur in sehr bescheidenem Maße. Das können wir täg- 
lich beobachten an ihrem Spiel, in den Unterrichtsfächern, 
die oft unwillkürlich zur freien Reflexion auffordern wie z. B. 
Zeichnen, beim sog. darstellenden Unterrichte sowie auch bei 
rein praktischen Dingen. Aus diesem Grunde kann ich auch 
dem Märchenunterrichte für die unteren Stufen, sowie dem 
darstellenden Unterrichtsverfahren auf allen Stufen der Hilfs- 
schule nicht das Wort reden. Warum zeigen nun gerade unsere 
Schüler eine gewisse Armut in der Phantasie? Weil ihnen 
die beiden wichtigsten Voraussetzungen für diese Tätigkeit 
fehlen: ein Schatz vorhandener Vorstellungen und die Fähig- 
keit des Schaffens neuer Vorstellungsverbindungen. Fehlt die 
erste Voraussetzung, das durch die Anschauung gebotene 
Mittel, der Reichtum an sinnlich-lebendigen Vorstellungen, 
die Deutlichkeit, Klarheit und Intensität derselben, so kann 
auch das schaffende, freie Schalten und Walten mit den auf- 
gespeicherten Mitteln, die Beweglichkeit und Regsamkeit des 
geistigen Lebens überhaupt nicht statthaben. Um nun hier 
einiges zu erreichen, muß unser Unterricht für zweierlei sorgen : 
i . für Vorstellungen, 2. für Bewegung der Vorstellungen. Da- 
zu kann aber nicht unser bisher betriebener Wortunterricht 
beitragen, sondern einzig und allein ein Unterricht, der die 
Nötigung zum richtigen Sehen, zum genauen Betasten, zum 
klaren Erfassen mit allen möglichen Sinnen in sich hat, der 
auch hinreichend Raum, Gelegenheit und Anlaß zu freier, 
selbsttätiger Reflexion des Schülers bietet. Und das ist ein 
Unterricht durch Arbeit, ein Unterricht durch körperliche, 
sprachliche, zeichnerische Darstellung der Stoffe im engsten 
Anschluß an die sachunterrichtlichen Fächer. 

Wir kommen nun zu den Vorteilen, die das Sprechen, 
die Sprachbildung unserer Schwachen, unserer spracharmen 



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Erziehung und Arbeit. 



181 



und sprechgebrechlichen Kinder aus einem Unterrichte ziehen, 
der das Prinzip der Arbeit berücksichtigt. Die geistige Reife 
eines Menschen beurteilen wir neben anderem auch nach der 
„Fertigkeit im mündlichen Ausdruck", darum muß in der 
Schule neben den Fertigkeiten des Lesens und Schreibens auch 
die des Redens gepflegt werden. Bei unsern Schülern suchen 
wir Sprachfertigkeit zu erreichen durch besondere Sprech- 
übungen, die meist losgelöst sind von allem übrigen Unter- 
richte, die oft sogar jeglichen Inhaltes bar sind. Dieser bis- 
her eingeschlagene Weg hat sich als ein Umweg erwiesen, 
eben weil man die Sprache von der Sache trennte. Woher 
kommt es denn, daß unsere Schüler so mangelhaft sprechen 
oder überhaupt nicht sprechen? Bei den wenigsten liegt dieser 
Mangel in einem Fehler der Sprechorgane ; weitaus die meisten 
unserer Schüler sind spracharm, sprechen nicht, weil sie nichts 
zu sprechen haben, weil sie gedankenarm sind; ihre Sprache 
ist schwerfällig und unbeholfen, weil sie ihre Vorstellungen 
schwer erwerben, weil sie mit den erworbenen Vorstellungen 
nicht rationell zu arbeiten verstehen, weil ihnen manchmal auch 
für die etwa vorhandenen Vorstellungen die passenden Aus- 
drücke fehlen. Diese Wortarmut, Schwerfälligkeit und Un- 
beholfenheit ist wieder eine Folge der Trennung des Wortes 
von der Anschauung, des „Maulbrauchens", das schon von 
Pestalozzi in die Acht getan ward, des Verbalismus, der seit 
je das größte Schulübel ist, der aber auch heute noch sogar 
in unsern Schulen herrscht. Eine wertvolle, rechte Sprach- 
bildung werden unsere Kinder nur in und mit der Sachbildung 
sich aneignen. „Gebt uns Sachen, Sachen," ruft Rousseau, 
„mit unserer schwatzhaften Erziehungsweise bilden wir nichts 
als Schwätzer!" Diese Gefahr ist auch in der Hilfsschule vor- 
handen und Unerfahrene lassen sich durch solches Schwatzen 
einer bestimmten Kategorie Schwachbegabter leicht über den 
geistigen Besitz derselben täuschen. — Jedes Kind hat das 
unabweisbare Bedürfnis in sich, mit den Worten, die es ge- 
braucht, auch einen Sinn zu verbinden, bei dem, was es hört, 
sich etwas vorzustellen. Wird es vom Lehrer nun nicht auf 
den rechten Sinn geführt, so dürfen wir uns nicht wundern, 
wenn es auf den tollsten Unsinn kommt. In dieser Erkenntnis 
Hegt für jeden Pädagogen die Forderung : erst die Sache, dann 
das Wort, liegt für jeden Lehrer der Schwachen die Mahnung : 



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182 



Eduard Schulze. 



setze nichts voraus, veranschauliche jeden Begriff. Das 
Kriterium des sprachlich richtigen Ausdruckes liegt stets in 
der Uebereinstimmung mit der Sache, und bei dieser steht 
immer die letzte Entscheidung. — Sprache ist Denken, und 
die materielle Seite des Denkens besteht in den Anschauungen, 
Vorstellungen und Begriffen, mit denen das denkende Wesen 
arbeitet. Das Bilden der Begriffe, der Urteile und Schlüsse 
hängt wiederum ab von der Genauigkeit, Deutlichkeit, Be- 
stimmtheit und Sicherheit der Vorstellungen. Sobald der 
Unterricht diese Qualitäten der Vorstellungen herbeiführt, 
vermag der Schüler sich auch auszusprechen und zwar recht 
und fertig auszusprechen, denn auch hier ist es so, daß nur 
dem der Mund überfließt, des das Herz (der Kopf) voll ist. 
Den entgegengesetzten Fall, daß unsere Schüler wohl die Vor- 
stellungen in ihrem Besitze haben, aber sie nicht mündlich 
auszudrücken vermögen, diesen Fall können wir wohl seltener 
beobachten. Welches ist nun der rechte und sicherste Weg 
zu einer gewissen Fertigkeit im mündlichen Ausdruck? Er 
geht durch einen auf dem Prinzip der Arbeit beruhenden Sach- 
unterricht. Denn die Verknüpfung der Begriffe, den sprach- 
lichen Ausdruck und eine gewisse Fertigkeit in demselben 
können wir von unsern Schülern erst dann erwarten, wenn 
sie genug Dinge besitzen, die sie sich durch eingehende, viel- 
seitige und ausgedehnte Anschauung — eben durch Darstellung 
— zu eigen gemacht haben. Wenn wir so durch Arbeit auf 
die Beschaffung eines den anzueignenden sachlichen Kennt- 
nissen entsprechenden Vorrats von Begriffen, von Ausdrucks- 
mitteln bedacht sind, werden unsere Schüler auch eine Fertig- 
keit im Ausdrucke selber erlangen. Durch die Arbeit kommen 
Begrifle zur Darstellung, die das schwachsinnige Kind auf 
anderm Wege nur höchst langsam oder spät erwirbt; bei der 
Arbeit wird das Sprachmaterial, die Fülle der Wort- und Rede- 
formen am anschaulichsten und damit am sichersten dem Geiste, 
dem Ohre und dem Munde eingeprägt. Darum also Arbeiten 
und dann Aussprechen: wo es so gehandhabt wird, da ist 
dann dieses Aussprechen kein mangelhaftes und unbeholfenes, 
es ist auch kein Sprechen über die Sache, sondern ein Sprechen 
aus der Sache und darum zugleich die beste Einführung in 
die Sache; das Verständnis der Sache hat nicht minder dabei 
gewonnen als die Technik der Sprache. — Ein besonders 



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Erziehung und Arbeit. 



183 



wichtiger Abschnitt in der Sprachentwicklung ist die Betätigung 
des Nachahmungstriebes auf sprachlichem Gebiete. Viele 
unserer Schwachsinnigen und Schwachbegabten sind über 
diese Stufe noch nicht^hinweg. Was liegt nun näher, als das 
lautrichtige und deutliche Vorsprechen von Wörtern und Sätzen, 
die sich an die Beschäftigung des Kindes, an sein Tun, an 
seine Arbeit anschließen ? 1 In dem Maße, in dem hierdurch 
das Sachverständnis fortschreitet, werden auch Sprachverständ- 
nis und Sprechfertigkeit besser werden. Zum Schluß dieses 
Abschnittes zusammenfassend, machen wir uns das ceterum 
censeo Dörpfelds in bezug auf die Sprachbildung zu eigen 
und sagen mit ihm: Wer dem Kinde eine tüchtige (auf das 
Prinzip der Arbeit gegründete) Sachbildung mit ins Leben gibt, 
der hat es zugleich mit den wirksamsten Sprachbildungs- 
mitteln versorgt! 

Von demselben Kapitale, von dem die Sprachfertigkeit 
zehrt, erhält auch die „Fertigkeit im schriftlichen Ausdrucke" 
ihren Hauptzuschuß. Der größere oder geringere Reichtum 
an Sachvorstellungen ist auch maßgebend für die Gewandtheit 
und Schönheit des schriftlichen Ausdruckes. Wir suchen sie 
ebenfalls am besten zu fördern durch einen in obigem Sinne 
betriebenen Unterricht durch Arbeit. 

Weil ein Unterricht durch Arbeit immer und immer wieder 
auf den Inhalt der Sache, auf das Wesen der Wahrheit dringt, 
wird er auch zur Wahrheit erziehen, und die so Erzogenen 
werden in ihren Worten jede Phrase vermeiden, sie werden, 
wenn auch in schlichten und einfachen Worten, den Kern 
der Sache treffen, sie werden jeden Wortschwall, alles Nebeln 
und Schwebein hassen wie das Böse. 

Zu den Unvollkommenheiten unseres bisherigen Unter- 
richts müssen wir auch die Tatsache rechnen, daß er durch 
den unvermittelten Üebergang aus dem einen Unterrichtsfache 
in das andere, durch die Ausbildung unverbundener Vor- 
stellungsmassen, durch die Beschäftigung mit einem zusammen- 
hanglosen Allerlei zur Förderung der Einheit des Bewußtseins, 
zur Einheit der Person, einem Bildungsziel, das gerade für 
unsere leicht ablenkbaren, zerstreuten Zöglinge von ganz be- 
sonderer Bedeutung ist, dessen Erreichung gerade bei der 
Erziehung unserer Schwachen mit ganz besonderen Schwierig- 
keiten verknüpft ist, nicht nur nichts beiträgt, sondern sie 



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Eduard Schulze. 



direkt ausschließt. Deshalb müssen wir den Unterricht durch 
Arbeit freudig begrüßen als das beste und sicherste Mittel 
zur Herstellung großer, zusammenhängender Gedankenmassen. 
Denn wie die Arbeit einerseits dient zur Aufhellung des Sach- 
lichen, so wird andererseits sie selbst nur dann recht gedeihen, 
kann sie selbst ihre Bildungskraft nur dann im vollsten Maße 
entfalten, wenn sie sich stellt auf die sachunterrichtlichen 
Fächer. Dabei wird es vorkommen, daß infolge der klar durch- 
gearbeiteten Verhältnisse sachliche Schwierigkeiten für das 
Tun nicht mehr vorhanden sind, daß dann das ganze Schwer- 
gewicht auf das Technische gelegt werden kann; es ist auch 
möglich, daß mit dem einen Sachgebiete eine ganze Anzahl 
von Arbeiten geleistet werden kann, wodurch wir eine Zer- 
streuung, wie sie durch den bisher betriebenen Handfertigkeits- 
unterricht immer vorhanden war, vermeiden. Die aus diesem 
gegenseitigen Dienen sich ergebenden mannigfachen Ver- 
knüpfungen und vielfachen Beziehungen der Vorstellungen 
untereinander werden zur Bildung eines einheitlichen Gedanken- 
kreises wesentlich beitragen, werden Oberflächlichkeit und 
Arbeitsunlust, wie sie durch die oft heterogenen Stoffe des 
heutigen Unterrichts hervorgerufen werden, nicht aufkommen 
lassen. Indem wir den natürlichen Zusammenhang des kon- 
kreten Tuns mit den sachunterrichtlichen Fächern auf das 
Sorgfältigste beachten und pflegen, wird sich auch das Sinnen, 
das Denken unserer Schwachsinnigen, deren Gedanken haupt- 
sächlich am Konkreten, am Realen haften und nur von hier 
aus zu bilden sind, reichlicher und kräftiger gestalten. Denken 
und Handeln, Sachverstand und Tat sind zu gleicher Zeit auf 
die Welt gekommen, — darum wollen sie auch zusammen ge- 
schult seinl 

Solange man über Erziehung und Unterricht nachgedacht, 
hat man auch die Möglichkeit des Erfolges in der rechten 
Behandlung der Eigenart, der Individualität des Schülers er- 
blickt. Der Unterricht durch Arbeit ist so recht geeignet die 
Kunst des Individualisierens zu üben. Gerade hierbei können 
wir auf die so überaus ungleichmäßige intellektuelle Ent- 
wicklung, auf die verschiedenartige körperliche Entfaltung 
Rücksicht nehmen, gerade hierbei zeigt sich, daß das Schema, 
auf dem die selbständigen Lehrgänge für den Arbeitsunter- 
richt beruhen, für unsere Kinder nicht paßt. Das Recht der 



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Ersiehung und Arbeit. 



185 



Individualität und in der Ausbildung ihrer eigentümlichen 
Kräfte und Anlagen unterstützt zu werden, glauben wir ihnen 
am besten in dem „Lernen durch Arbeiten" zu sichern. 

Die Anhänger der Handarbeit als eines selbständigen 
Unterrichtsfaches suchen das Notwendige dieser Selbständig- 
keit damit zu begründen, daß sie sagen, sie wollten unsere 
Schwachen dadurch für das Leben vorbereiten; sie halten es 
für möglich, an dem Grade der technischen Fertigkeit, an 
den Neigungen des Knaben nach dieser Seite hin während 
der Schulzeit einen Einfluß üben zu können im Hinblick auf 
seine zukünftige Berufswahl. Ich meine, daß der Junge, wenn 
man ihm auf den Grad und die Art seiner technischen Fertig- 
keit hin einen Rat erteilt in bemg auf die Wahl eines Berufes, 
daß dann der Junge herzlich schlecht beraten ist, daß der 
Junge, nachdem er diesen oder jenen Beruf auf den Rat seines 
Lehrers ergriffen, bald einsehen wird, daß er seinen eigent- 
lichen Beruf verfehlt hat. Und dann sehe man sich die Berufs- 
arten an, die unsere Knaben erwählen, und sage mir, was 
sie für diese Berufe aus dem selbständig betriebenen Hand- 
fertigkeitsunterrichte verwerten können, inwiefern man sie zu 
diesem Berufsleben durch den selbständigen Arbeitsunterricht 
vorbereitet hat. Man verstehe mich nicht falsch: wenn ich 
mich gegen dieses „fürs Leben vorbereiten" wende, so denke 
ich ebensowenig wie die Befürworter dieses Zwecksatzes etwa 
an eine Vorbereitung auf den Beruf des Tischlers durch die 
sog. Hobelbankarbeit oder auf den Beruf eines Buchbinders 
durch den Betrieb der Papparbeit; diese Deutung schließe 
ich von vornherein aus, und doch halte ich auch jenes „Vor- 
bereitenwollen fürs Leben" durch einen selbständig betriebenen 
Handarbeitsunterricht für eine Phrase, für ein völliges Ver- 
kennen unseres Erziehungszieles, für einen Irrtum, für den- 
selben Irrtum, der sich auch ausspricht in der Ansicht: wir 
wollen unsere Schüler für das Leben vorbereiten durch Unter- 
richtsfächer, die seinem zukünftigen Leben nützlich und nötig 
sind, das sind Fächer wie Lesen, Schreiben, Rechnen, diese 
braucht er im späteren Leben, andere nicht, darum können 
wir diese andern vom Stundenplane streichen. Wer so spricht, 
der hat von der Theorie eines Lehrplans, die qualitative und 
quantitative Vollständigkeit der Fächer verlangt, noch nichts 
erfahren, der hat die Aufgabe der Schule überhaupt noch nicht 



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186 



Eduard Schulze. 



erfaßt. (Als geschichtliches Beispiel der Gefährlichkeit dieser 
Irrtümer sei erinnert an die Aera der Regulative.) Für das 
Leben vorbereitet nenne ich einen Schüler, wenn ihm die 
Schule durch eine rationelle Durcharbeitung der sachlichen 
Stoffe wertvolle, genaue und richtige Vorstellungen mitgegeben 
hat, wenn die Schule ihr Werk vollführt nach der anerkannten 
Wahrheit, daß die Höhe der Schulbildung gemessen wird, 
nicht quantitativ an der Größe des Wissensumfangs, sondern 
qualitativ an der psychologisch vertieften Durcharbeitung der 
Stoffe, wenn die Schule demgemäß den Schüler ausbildet zu 
einem gründlichen Sachdenker und nicht zu einem oberfläch- 
lichen Wortdenker. „Unter praktischer Richtung verstehe ich 
nicht die unausgesetzte Berücksichtigung des künftigen und 
unmittelbaren Bedarfs im engen Lebenskreise, sondern die Art 
des Unterrichts, welche dem Schüler nichts gibt, ihn zu nichts 
anleitet, was weder für die Erhellung des Kopfes, noch für 
die Stärkung der Willenskraft eine Bedeutung hat," so zeichnet 
uns Diesterweg das Ziel der Schulbildung. Und das glauben 
wir zu erreichen durch unsere oben geschilderte Art der Arbeit. 
Bloßes Wissen, namentlich oberflächliche, oft nutzlose, un- 
verbunden bleibende, zu keiner eigentlichen Erkenntnis 
führende Kennmisse, können wir nicht als eine wertvolle Mit- 
gift für den aus der Schule Entlassenen und ins Leben Tretenden, 
ansehen. Denn wie im Leben selber jedem Menschen die Auf- 
gabe, die er zu lösen hat, aus dem Leben hervorgeht, so sind 
auch schon in der Schule nur solche Aufgaben zu stellen, 
„welche im Zusammenhang stehen mit dem was auf der Schule 
getrieben wird oder in dem gemeinsamen Leben so vorkommt, 
daß er die Jugend beschäftigt und auch in dem Kreise liegt, 
daß sie ein Recht hat, darüber zu sprechen; eine Aufgabe, 
abgerissen für sich und ohne Zusammenhang mit dem, was 
in der Reihe der lebendigen Gedanken vorgeht, kann nicht 
zum Ziele führen" (Schleiermacher). Dabei kommt es uns 
weniger auf die Pflege der Fertigkeit an sich an; denn daß 
diese das Haupt- und Endziel einer wahren Bildung ist, wird 
ein einsichtiger Schulmann, ein Lehrer der Schwachen nicht 
behaupten wollen. Die technischen Handgriffe, die Geschick- 
lichkeit der Hand, die genaue Anpassung der Bewegung, das 
sichere Auge usw. erhält der Schüler auch durch die von uns 
betriebene Arbeit; es ist hier wie überall: wer vor allem nach 



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Erziehung und Arbeit. 



187 



der Hauptsache trachtet, nach einer gründlichen Sachkenntnis, 
dem wird das andere, die technische Fertigkeit, von selber 
ruf allen. 

Die Erziehung durch Arbeit ist aber nicht bloß zu pflegen 
wegen der unermeßlichen Vorteile, die sie dem Unterricht 
einträgt, sie ist auch notwendig zur Pflege einer rechten 
Willens- und Charakterbildung. Durch das heutige System 
wird gerade diese Seite der Erziehung zum ganzen Menschen 
entweder arg vernachlässigt oder wohl gar gewaltsam unter- 
drückt und Wandel wird hierin nur dadurch geschaffen werden, 
daß das Prinzip der Arbeit in der Erziehung ausgiebig berück- 
sichtigt wird. Wir Heilpädagogen haben diese Vorzüge der 
Arbeit schon lange erkannt, uns ist sie schon längst: „Der 
Unterricht mit der größten Heilkraft für das Handeln," 
uns ergeht es ähnlich wie dem Schulmeister von Bonnal, 
von dem Pestalozzi sagt: „Mit jedem Tage ward ihm klarer, 
die Arbeitsamkeit, die physische Tätigkeit unseres Geschlechts 
sei das wahrhafte, heilige und ewige Mittel der Verbindung 
des ganzen Umfangs unserer Kräfte zu einer einzigen gemein- 
samen Kraft, zur Kraft der Menschlichkeit." Das ist's, was 
wir vor allem unsern Schwachen mit auf den Lebensweg 
geben wollen I 

Hat denn nun der bisherige Unterricht die Muskeltätig- 
keit noch nicht benutzt als eines der wirksamsten Mittel zur 
Entwicklung und Disziplinierung der Gehirntätigkeit? Wohl 
hat man bisher schon durch sportliche Uebungen, durch Jugend- 
spiele, durch Turnunterricht Bewegungen vornehmen lassen 
in der Absicht, dadurch bestimmte Muskeln zu entwickeln und 
zu stärken, aber man hat noch nicht gewußt, daß man damit 
auch das dem betreffenden Muskel entsprechende Gehirn- 
zentrum vervollkommnet und auf diese Weise auch auf den 
Intellekt einen bildenden Einfluß ausübt. 

Wohl hat man in Schülerwerkstätten und einigen Schulen 
Handarbeit als selbständiges Unterrichtsfach getrieben; und 
wo man sie eingeführt, war man sich ihrer Bedeutung — so- 
weit man sie eben kannte — wohl bewußt, aber die haupt- 
sächlichste Bedeutung der Arbeit als der Grundlegung alles 
Geisteslebens wurde von den Anhängern der Knabenhand- 
arbeit übersehen. 

Wohl rühmt sich die jetzige Schule eines anschaulichen 



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ISS 



Eduard Schulze. 



Unterrichts, sie fordert für jedes Unterrichtsfach die An- 
schauung als die Grundlage aller Erkenntnis, und doch stellt 
sich nur allzu oft heraus, daß die vom' Lehrer gewollten Vor- 
stellungen in der Seele des Schülers nicht entstanden sind, 
auch nicht entstehen konnten, weil man eben glaubte, daß 
er nur aus Kopf und Gehirn bestehe. Sollten die „Nurunter- 
richter", welche die Pflege des Gehör- und Gesichtssinnes durch 
besondere Uebungen — genannt Anschauungsunterricht — 
anerkennen, nun nicht konsequent bleiben und auch die Not- 
wendigkeit einer Pflege der Tast- und Bewegungs- und der 
ihnen entsprechenden Empfindungsapparate als eine Vervoll- 
kommnung der Methode, als eine höhere Bewertung des Satzes 
von der Anschauung als der Grundlage aller Erkenntnis 
einsehen ? 

Weiter hat die bisherige Praxis des Unterrichts auch 
Darstellen lassen. Man hat die sprachliche Darstellung, die 
Zusammenfassung, als eine bestimmte Stufe der Durch- 
arbeitungsoperationen bei jeder Unterrichtsarbeit geübt; man 
hat auch — wiewohl nicht überall — die Ergebnisse des Unter- 
richts oft zeichnerisch darstellen lassen. Bei beiden genannten 
Darstellungsformen übersah man, daß sie des eigentlich kon- 
kreten, des körperlichen entbehrten; denn sowohl die sprach- 
liche als auch die zeichnerische Darstellung setzen einen ge- 
wissen Abstraktionsprozeß voraus, so daß wir von einer wirk- 
lichen Durchführung des Anschauungsprinzips bis in seine 
tiefsten Tiefen, von einer handelnden Anschauung nicht reden 
können. Zu derselben Erkenntnis führt uns auch die oft über- 
aus dürftige sprachliche Zusammenfassung und die ebenso 
mangelhafte zeichnerische Darstellung der Schüler. Ehe wir 
in unserer Schularbeit zu diesen letztgenannten Darstellungs- 
formen kommen, müssen eben die andern von uns hier befür- 
worteten schon angewandt sein. 

Zum Schlüsse werden die Leser fragen: ist der vor- 
geschlagene Weg auch gangbar? Hat die Schule die nötige 
Zeit zu solchem „Tun" ? Hat sie nicht Wichtigeres zu be- 
wältigen? Dem entgegne ich, daß gerade durch dieses „Zeit- 
vergeuden" viel Zeit gewonnen, viele bis jetzt weggeworfene 
Kraft erspart wird; denn wieviele Vorstellungen entstehen 
erst durch dieses „Tun", die bisher nur durch langweilige 
Wiederholungen — das ist die eigentliche Vergeudung von 



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Erziehung und Arbeit 



189 



Zeit und Kraft sowohl von Seiten des Lehrers als auch der 
Schüler — gebildet werden konnten, wieviele falsche Vor- 
stellungen werden durch dieses „Machen" sofort berichtigt — 
das ist Ersparnis an Zeit und Kraft — , die der Geist des 
Schülers sonst erst nach langem Irrtume aus eigener Vernunft 
und Kraft richtig stellt, wieviele Vorstellungen werden durch 
dieses „Handeln" gefestigt, die früher infolge ihrer geringen 
Intensität bald unter die Schwelle des Bewußtseins sanken 

— das ist Bereicherung der Kraft! 

Es ist mir gewiß, daß alle Kollegen, die sich mit mir 
zu Pestalozzis Prinzip der Anschauung bekennen, von der 
Richtigkeit und Durchführbarkeit meiner Vorschläge über- 
zeugt sind und eine baldige Neuform unserer Methodik nach 
dieser Seite hin wünschen. Denjenigen strebsamen Lehrern, 
deren Bemühen immer dahin gerichtet war, die größtmöglichste 
Anschaulichkeit der Vorstellungen, eine möglichst vollkommene 
Durcharbeitung des Stoffes und eine möglichst innige Ver- 
bindung der einzelnen Lehrfächer herbeizuführen, die Schüler 
fortwährend und bei jeder Gelegenheit anzuleiten, „von einer 
Scienz in die andere" zu blicken, um auf diese Weise eine 
durch die andere zu fördern, solchen Lehrern wird es immer 
unverständlich bleiben, wie man das Prinzip der Arbeit bis- 
her unberücksichtigt lassen konnte. Deshalb lebe ich der 
Hoffnung, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der das Prinzip 
der selbsttätigen physischen Arbeit zur Anerkennung gelangt 

— vor allem in unsern Schulen für Schwachbegabte, wie dies 
auch schon der geschätzte Kollege Weiß, Zwickau, aus- 
gesprochen hat in seinem empfehlenswerten Aufsatze über 
„Die Raumanschauung in ihrer Bedeutung tür die geistige 
Entwicklung", der meine Ausführungen wesentlich ergänzt. 

Auch bei dieser Frage wird es so sein, daß das, was 
heute noch vielen als unüberwindliche Schwierigkeit erscheint, 
in kürzerer oder längerer Zeit, wenn der Boden dafür zu- 
bereitet ist, mit Leichtigkeit durchzuführen ist. Die Anfänge 
zeigen sich schon; denn im Jahrgange 1903 der Zeitschrift 
für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer lesen 
wir, daß der Kollege Frenzel in seinem Berichte über den 
IV. Verbandstag der Hilfsschulen der Schererschen Forderung: 
in der Hilfsschule muß die Handarbeit „geradezu zur Grund- 
lage alles Unterrichts" werden, eine „gewisse Berechtigung'* 



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190 



Eduard Schulzr. 



zuspricht, und 20 Seiten weiter finden wir in derselben Zeit- 
schrift zu unserer großen Freude die Nachricht, daß man in 
der Wormser Hilfsschule zu der Erkenntnis gekommen ist, 
daß der „ganze Unterricht in der Hilfsschule auf Anschauen 
und Darstellen beruhen und der Muskelsinn eine sorgfältigere 
Ausbildung erfahren muß", daß „das Formen den ganzen 
Unterricht, alle Disziplinen durchweben und unterstützen muß". 



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Erster Kongress 
für Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

I. Autorreferate (Fortsetzung). 

Die kriminalistische Behandlung der Jugendlichen. 1 ) 

Von 

W. Kulemann, Landgerichtsrat in Bremen. 

Der Grundfehler der heutigen Gesetzgebung liegt in ihrem 
unrichtigen Ausgangspunkte, der in der Vorschrift zu- 
tage tritt, daß bei Personen zwischen ,12 und 18 Jahren, die 
eine Straftat verübt haben, geprüft werden soll, ob sie bei 
deren Begehung die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforder- 
liche Einsicht besessen haben. Je nach Beantwortung dieser 
Frage werden sie bestraft oder freigesprochen. Einsichtsfähig- 
keit ist, wie das Wort sagt, ein rein intellektua listisches 
Moment. Von ihr die Scheidung zwischen Erwachsenen und 
Unerwachsenen abhängig machen darf nur derjenige, der ent- 
weder das Wesen des Menschen, wenigstens soweit es sich 
um Verbrecher handelt, ausschließlich im Intellekt findet, oder 
der Ansicht ist, daß nur hinsichtlich seiner eine Fortentwicklung 
mit dem Lebensalter stattfindet. Beides ist falsch. Haben 
wir auch die Lehre der älteren Psychologie von den Seelen- 
vermögen aufgegeben, so bedeutet das doch nur, daß wir 
sie nicht mehr als selbständige Provinzen des Geisteslebens 
anerkennen, schließt aber nicht aus, in ihnen die Hauptrich- 
tungen seiner Betätigung zu sehen. Ebenso zweifellos findet 

>) Auf Wunsch der Herren Herausgeber dieser Zeitschrift gebe ich 
im folgenden eine Skizze meines auf dem Kongreß für 1 Kinderforschung 
und Jugendfürsorge gehaltenen Vortrages : „Die forensische Behandlung 
der Jugendlichen," dessen Titel ich aus dem Grunde geändert habe, weil 
der Vortrag nur die kriminalistische Seite der Frage behandelt. Der Vor- 
trag ist als Heft XXVI : „Beiträge zur Kinderforschung und Heil- 
«mehung" (Verlag Hermann Beyer Je Söhne in Langensalza) erschienen. 



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192 



Kuhmann, Kriminalist. Behandl. d. Jugendlichen. 



nicht bloß hinsichtlich des Intellektes, sondern insbesondere 
auch beim Willen eine Fortentwicklung statt, und gerade 
auf ihm, auf der Fähigkeit, den andringenden Versuchungen 
Widerstand zu leisten, beruht offenbar in erster Linie der 
Entschluß des Täters, nicht auf der intellektuellen Unterschei- 
dung zwischen Recht und Unrecht. , Wenn heute der Fall 
höchst selten ist, daß Jugendliche wegen mangelnder Ein- 
sichtsfähigkeit freigesprochen werden, so ist daraus den Ge- 
richten ebensowenig ein Vorwurf zu machen, wie daraus, daß 
sie nicht bei der Entscheidung pädagogische und medizinische 
Sachverständige zuziehen, denn die Frage, die der Gesetzgeber 
stellt, ist in der Tat ohne deren Hilfe und fast stets im Sinne 
ihrer Bejahung zu beantworten, denn ein zwölfjähriges Kind 
weiß ausnahmslos, daß eine Straftat unerlaubt ist. Aber der 
Fehler liegt eben darin, daß diese Frage überhaupt gestellt 
wird. Deshalb ist der Angriff nicht gegen die Gerichte, sondern 
gegen den Gesetzgeber zu richten. 

Will man den hier gerügten Fehler vermeiden, so muß 
man an Stelle der nur die intellektuelle Seite berücksichtigenden 
Einsichtsfähigkeit die allgemeine Kategorie der geisti- 
gen Reife setzen. Damit wäre ein großer Fortschritt er- 
zielt, aber man wird sich zu einem noch radikaleren Bruche 
mit dem bisherigen System entschließen müssen. 

Es handelt sich im Strafrecht um zwei Dinge, nämlich 
einerseits die Straftat, bei der wir wieder den objektiven 
und den subjektiven Tatbestand unterscheiden, und anderer- 
seits die staatliche Reaktion, als deren Hauptarten Strafe 
und Erziehung in Betracht kommen. Das bisherige Gesetz 
nimmt bei der Begriffsbestimmung der Jugendlichen seinen 
Ausgangspunkt von der Straftat, und zwar von ihrer sub- 
jektiven Seite; man muß aber vielmehr 'statt dessen die Art 
der staatlichen Reaktion zugrunde legen, d. h. man soll,, 
wie in den Leitsätzen gesagt ist, den bisherigen anthropo- 
logischen durch den pädagogischen Gesichtspunkt er- 
setzen. Wer das ablehnt, müßte davon ausgehen, daß Per- 
sonen von gleicher Einsichtsfähigkeit oder überhaupt von 
gleicher Stufe der geistigen Entwicklung auch hinsichtlich 
der Mittel staatlicher Reaktion gleich zu behandeln seien. 
Niemand, der die menschliche Natur kennt, wird das behaupten. 
Bei der Frage, ob man gegenüber einem Verächter der staat- 



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Ersfn Kotigims f. K Inder fortchung utul Juyendfiirsonje. 193 



liehen Ordnung besser zu Strafen oder zu Erziehungsmaßregeln 
greift, entscheidet nicht allein die geistige Reife, sondern vor 
allem die individuelle Eigenart, mag sie auf natürlicher 
Veranlagung oder auf den Einflüssen der Umgebung beruhen. 

Bei Durchführung dieses Grundgedankens ergibt sich fol- 
gendes: Im allgemeinen ist die Erziehung für Kinder, die Strafe 
für Erwachsene bestimmt, so wenig beide Begriffe absolute 
Gegensätze sind, denn wie die Erziehung nicht der Strafe ent- 
behren kann, so verfolgt die Strafe neben dem Zwecke der 
Vergeltung zugleich auch den der Erziehung. Da nun beide 
Klassen nicht scharf voneinander getrennt werden können, so 
wäre das Nächstliegende, die Entscheidung, ob Erziehung oder 
Strafe als das richtigere Mittel anzusehen ist, in jedem Einzel- 
falle dem Richter zu überlassen. Aber wollte man das einer- 
seits bei fünfjährigen Kindern und andererseits bei dreißig- 
jährigen Männern tun, So würde man offenbar unpraktisch 
handeln, denn für so extreme Fälle kann der Gesetzgeber 
selbst eingreifen durch eine allgemeine Norm. Nur in den 
Grenzgebieten bedarf er der Hilfe des Richters, nämlich in den 
Altersklassen, wo eine gesetzliche Regelung nicht möglich ist. 

Aber auch in den Fällen, in denen die Frage zwischen Er- 
ziehung oder Strafe zugunsten der letzteren entschieden ist, 
wird noch außerdem hinsichtlich ihrer Art und Höhe ein Unter- 
schied zu machen sei, wie es schon das heutige Gesetz tut, 
indem es gewisse Strafen, wie Zuchthaus und Todesstrafe bei 
Jugendlichen überhaupt ausschließt, dagegen den Verweis nur 
bei ihnen gestattet und endlich bei den übrigen Strafarten 
Abweichungen in der Höhe der Strafe vorschreibt. 

Hiernach ist das Ergebnis: Zwischen den beiden Klassen 
der Erwachsenen, bei denen die normale Art der Bestrafung, 
und der Kinder, bei denen an Stelle jeder Strafe nur Erziehungs- 
maßregcln stattfinden, ist eine dritte, die der Jugendlichen ein- 
zuschalten, bei denen im Einzelfalle durch den Richter unter 
Berücksichtigung der näheren Umstände der Tat und der 
Persönlichkeit des Täters zu unterscheiden ist, einerseits, ob 
überhaupt Strafe oder Erziehung den Vorzug verdient, und 
andererseits, welche Mittel der einen oder der anderen Art 
innerhalb des gesetzlichen Rahmens als geeignet anzusehen 
sind. — 

Handelt es sich nun darum, auf dieser Grundlage die 

Zeiu>chriU fltr plldagogisohe Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 3 



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194 Kulemann, Kriminalist. Behandl. d. Jugendlichen. 

Altersgrenze der drei Klassen zu bestimmen, so können 
die heutigen Vorschriften nicht als befriedigend anerkannt 
werden. 

Daß die untere Grenze von 1 2 Jahren zu niedrig gezogen 
ist, wird fast allgemein zugegeben. Wenn man ihre Erhöhung 
auf 16 Jahre gefordert hat, so würde dem zuzustimmen sein, 
wenn es sich, wie bisher, darum handelte, eine Grenze zu ziehen, 
oberhalb deren niemals Erziehung, sondern stets Strafe 
einzutreten hätte. Hat aber, im Sinne der bisherigen Aus- 
führungen, die untere Grenze die Bedeutung, daß unterhalb 
ihrer jede Bestrafung ausgeschlossen sein soll, so scheint das 
Alter von 16 Jahren zu hoch gegriffen; es ist vielmehr das 
14. Lebensjahr aus dem Grunde zu empfehlen, weil hier fast 
in ganz Deutschland die Schulpflicht endet und ein Schulkind 
niemals in das Gefängnis gesteckt werden sollte. 

Daß die obere Grenze von 1 8 Jahren eine Erhöhung 
fordert, wird durch die Praxis der Gerichte bewiesen, die auch 
dann, wenn das Gesetz es vorschreibt, höchst selten gegen 
Personen im Alter von 18 — 20 Jahren auf Zuchthaus erkennen, 
sondern mit Hilfe mildernder Umstände zu Gefängnisstrafen 
gelangen. Läßt aber, wie bei der Todesstrafe, das Gesetz keine 
Abweichung zu, so pflegt ausnahmslos im Gnadenwege eine 
Umwandlung zu erfolgen. In der Tat muß man davon aus- 
gehen, daß 'das Alter der vollen Verantwortlichkeit für die 
eigenen Handlungen im Strafrecht nicht niedriger liegen darf, 
als im Zivilrecht, da die Rechtsgüter, um die es sich handelt, 
bei jenem von höherem Werte sind als bei diesem. Deshalb 
ist die obere Grenze auf das 21. Lebensjahr festzusetzen. 

Was die zur Anwendung zu bringenden Mittel erziehe- 
rischer und strafrechtlicher Art betrifft, so sind teils grund- 
sätzliche Aenderungen nicht vorzuschlagen, teils wird diese 
Frage von anderen Rednern behandelt werden. Entscheidender 
Wert ist nur darauf zu legen, daß Maßregeln beider Art nicht 
nur e 1 e k t i v , sondern auch kumulativ zulässig sein müssen. 
Allerdings ist es zu verwerfen, einer durchgeführten Zwangs- 
erziehung noch Strafvollziehung nachfolgen zu lassen, denn 
das könnte nur vom Standpunkte des reinen Vergeltungsge- 
dankens verteidigt werden, der aber gerade bei Jugendlichen 
vor dem Besserungszwecke durchaus zurücktreten muß. Wenn 
man auch das Umgekehrte, die Anknüpfung erzieherischer 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



195 



Maßregeln an vorhergegangene Bestrafung, angegriffen hat, 
so ist das nicht überzeugend; schlechte Erfahrungen werden 
auf die unrichtige Art der Strafvollziehung, insbesondere auf 
mangelnde Einzelhaft zurückzuführen sein. — 

Die besten Gesetze verfehlen ihren Zweck, wenn ihre Hand- 
habung ungeeigneten Organen anvertraut wird. Die heutigen 
Strafgerichte sind solche. Ihrer Tätigkeit wird mit Recht der 
Vorwurf des Formalismus und des handwerksmäßigen Schema- 
tismus gemacht, wie sie denn selbst für die reformerischen 
Ideen der modernen Straf rechtswissenschaf t kein Verständnis 
beweisen und sich ihnen gegenüber auch da ablehnend ver- 
halten, wo ihnen im Rahmen des heutigen Rechts Rechnung 
getragen werden könnte. Aber wäre wirklich in dieser Hin- 
sicht auf Besserung zu hoffen, so bleibt stets der Uebelstand, 
daß die Strafgerichte naturgemäß ganz überwiegend mit Er- 
wachsenen zu tun haben, so daß es ihnen an Erfahrung und 
Uebung auf dem durchaus andersartigen Gebiete der Behand- 
lung Jugendlicher fehlt. Umgekehrt besitzen diese Uebung 
und Erfahrung die Vormundschaftsrichter, die taglich über 
Erziehungsfragen zu entscheiden haben. In ihre Hand muß 
deshalb die Aburteilung jugendlicher Verbrecher gelegt werden, 
wobei man gut tut, ihnen noch .Sachverständige, insbesondere 
pädagogisch und medizinisch gebildete Laien nach Art der 
Schöffen zur Seite zu stellen und nach dem Vorbilde von Nord- 
amerika und Norwegen besondere Jugendgerichte zu 
schaffen. 

Für das Verfahren vor diesen Jugendgerichten bieten 
sich insofern große Schwierigkeiten, als sie nach dem Gesagten 
einen gemischten Charakter tragen, während das Verfahren 
vor den Strafgerichten einerseits und vor den Vormundschafts- 
gerichten andererseits auf völlig gegensätzlichen Prinzipien auf- 
gebaut sind. Bei jenem herrscht das Anklageprinzip, der Partei- 
prozeß, Oeffentlichkcit und Anklagemonopol der Staatsanwalt- 
schaft; bei diesem gibt es überhaupt keine Anklagebehörde und 
es gilt im allgemeinen das frühere Inquisitionsverfahren. Da 
nun das Hauptgewicht darauf zu legen ist, daß die Jugend- 
gerichte nach ihrem Ermessen Strafen oder Erziehungsmaß- 
regeln zu verhängen haben und sie ihre Entscheidung selbst- 
verständlich erst am Schlüsse der Verhandlungen treffen 
können, so ist es unmöglich, je nachdem diese Entscheidung 

3* 



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196 



Kulemann, Kriminalist. Befiandl. d. Jugendlichen. 



ausfällt, das eine oder das andere Verfahren vorzuschreiben. Es 
bleibt kein Ausweg, als für die erste Instanz, wo die erzieherische 
Einwirkung im Vordergrunde stehen muß, grundsätzlich und 
vorbehaltlich gewisser Einschränkungen das vormundschaft- 
liche Verfahren zu übernehmen, die zweite Instanz dagegen, 
in der es sich in der Regel überwiegend um Beweis Würdigung 
und Rechtsfragen handelt, dem strafgerichtlichen Vorbilde an- 
zupassen. 

Leitsätze. 
I. 

Die Abgrenzung der Klasse der Jugendlichen in der 
heutigen Strafgesetzgebung ist zunächst insofern verfehlt, als 
ihr das rein intellektualistische Moment der Einsichts- 
fähigkeit in die Strafbarkeit der begangenen Handlung zu- 
grunde liegt und der Willensfaktor unberücksichtigt ge- 
blieben ist. Eine Verbesserung würde deshalb darin bestehen, 
daß an Stelle dieser Einsichtsfähigkeit die allgemeine geistige 
Entwicklung gesetzt würde. 

II. 

Aber es erscheint richtiger, diesen Ausgangspunkt ganz 
aufzugeben und die bisherige anthropologische durch die 
pädagogische Grundlage zu ersetzen, d. h. das Unter- 
scheidungsmoment zu entnehmen nicht aus der Person des 
Täters, sondern aus der Art der staatlichen Reaktion 
gegen das begangene Unrecht. Diese hat freilich auf die Per- 
sönlichkeit des Täters Rücksicht zu nehmen, sich aber nicht 
nach ihr allein, sondern daneben nach der Art und den näheren 
Umständen der Tat zu bestimmen. 

III. 

Als staatliche Reaktionen kommen in Betracht: Er- 
ziehung, Bestrafung und Unschädlichmachung. 
Die letztere ist lediglich bestimmt für geistig normale, d. h. 
solche Personen, auf welche weder Erziehung, noch Bestrafung 
mit Aussicht auf Erfolg anwendbar ist. Sie entfallen aus der 
vorliegenden Erörterung. 



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Erster Kongre»» f. Kindtrfortchung und Jugendfürsorge. 197 



IV. 

Kinder unterliegen ausschließlich der Erziehung; Er- 
wachsene ausschließlich der Bestrafung. Jugendliche 
Personen bilden eine Mittelklasse, bei der nicht durch den 
Gesetzgeber allgemein im voraus, sondern nur durch den 
Richter im Einzelfalle nach Maßgabe der Individualität sowie 
der Art und den näheren Umständen der Tat entschieden wer- 
den kann, ob und in welchem Umfange Erziehung oder Be- 
strafung am Platze ist. 

V. 

Die Grenze zwischen Kindern und Jugendlichen ist auf das 
vierzehnte, diejenige zwischen Jugendlichen und Erwachsenen 
auf das einundzwanzigste Lebensjahr festzusetzen. 

VI 

Gegen Jugendliche sind im Falle einer Verletzung der 
Strafgesetze folgende Maßregeln zulässig: 

A. Erzieherische: i. Ueberwachung und Beeinflussung der 
Erziehung bei den bisherigen Erziehern; 2. Unterbringung 
bei fremden Erziehern; 3. Aufnahme in eine Erziehungs- 
anstalt. 

B. Strafrechtliche: 1. Verweis; 2. Geldstrafe; 3. Haft; 
4. Gefängnis. 

Haft- und Gefängnisstrafe sind nicht allein in besonderen 
Anstalten oder mindestens in besonderen, ausschließlich für 
Jugendliche bestimmten Räumen, sondern auch möglichst 
weitgehend in der Form der Einzelhaft zu vollziehen. 

Erzieherische und strafrechtliche Maßregeln können mit- 
einander verbunden werden. 

VII. 

Die Verhängung der unter VI bezeichneten Maßregeln ist 
besonderen Behörden (Jugendgerichten) zu übertragen. 
Sie werden gebildet aus dem Vormundschaftsrichter als Vor- 
sitzendem und einer Anzahl von Beisitzern. Unter diesen soll 
sich stets ein Arzt und ein Lehrer befinden. 



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198 



KuUmann, Kriminalist Behandl. d. Jugendlichen. 



VIII. 

Das Verfahren ist nach dem Vorbilde des schöffen- 
gerichtlichen zu gestalten. Der Erlaß eines Strafbefehls 
findet nicht statt. 

Die Oeffentlichkeit kann auch dann ausgeschlossen werden, 
wenn das Gericht von ihr eine ungünstige Wirkung auf den 
Angeklagten befürchtet. 

Die Einleitung des Verfahrens ist durch den Antrag der 
Staatsanwaltschaft nicht bedingt, vielmehr ist der Vorsitzende 
auf Grund einer an ihn gelangenden Anzeige oder von Amts 
wegen zum Eingreifen befugt, doch hat er hiervon der Staats- 
anwaltschaft Mitteilung zu machen. Diese ist zur Beteiligung 
an dem Verfahren berechtigt, aber nicht verpflichtet. 

Die Abgabe eines Eröffnungsbeschlusses findet nicht statt. 
Hält der Vorsitzende nach dem Ergebnisse der angestellten 
Ermittelungen die Verhängung einer der unter VI bezeich- 
neten Maßregeln für geboten, so hat er Termin zur Haupt- 
verhandlung anzusetzen und hiervon der Staatsanwaltschaft 
Kenntnis zu geben sowie den Angeklagten, dessen gesetzlichen 
Vertreter und die erforderlichen Auskunftspersonen zu laden. 
Im Termin hat der Vorsitzende den Inhalt der Beschuldigung 
vorzutragen, den Angeklagten zu vernehmen und die Beweise 
zu erheben. 

Die Zulassung eines Verteidigers unterliegt dem Ermessen 
des Gerichtes. 

Ein auf Strafe lautendes Urteil kann bestimmen, daß die 
erkannte Strafe nicht vollzogen werden soll, wenn der Ver- 
urteilte innerhalb einer gewissen Frist sich eines weiteren Ver- 
stoßes gegen die Strafgesetze nicht schuldig macht. 

* 

IX. 

Gegen die Entscheidungen des Gerichtes und des Vor- 
sitzenden finden dieselben Rechtsmittel statt, wie im 
schöffengerichtlichen Verfahren. Ueber die Berufung ist von 
der Strafkammer des Landgerichts in der Besetzung von zwei 
Richtern und drei Schöffen zu entscheiden. Zu den letzteren 
soll stets ein Arzt und ein Lehrer gehören. 

Dem Angeklagtan ist, falls er nicht selbst einen Verteidiger 
gewählt hat, von Amts wegen ein solcher zu bestellen. 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



199 



Jugendliche Verbrecher. 

Von 

Dr. von Rohden, Düsseldorf. 



Bei dem Problem der Behandlung jugendlicher Verbrecher 
handelt es sich um das Dilemma: Kriminalstrafe oder Er- 
ziehung ? 

i. Ueber die großen Schädlichkeiten des strafrechtlichen 
Verfahrens gegen Jugendliche sind alle Sachverständige einig. 
Das System der kriminellen Repression ist nämlich durchaus 
nur auf Erwachsene angelegt und seine Anwendung auf 
Kinder kann pädagogisch nur ungünstig wirken. Sowohl der 
gewichtige Apparat des öffentlichen Strafprozesses, wie 
das fast ausschließlich zur Verfügung stehende Straf mittel 
der Freiheit-Entziehung, wie der Strafbegriff selbst im 
Sinne von Vergeltung und Sühne läßt sich auf geistig und 
sittlich unreife Kinder nicht ohne schwere formale umd sach- 
liche Bedenken und schlimme Folgen anwenden. Aber auch 
der Strafzweck der Besserung ist durch die kriminelle Be- 
handlung, insbesondere durch die in der Regel verhängten 
nur kurzen Freiheitsstrafen durchaus nicht zu erreichen, viel- 
mehr geht dadurch meist der Respekt vor dem Gefängnis und 
der Staatsautorität verloren. — Kurz, „manwirderkennen 
müssen, daß dort, wo noch Erziehung notwen- 
dig, Kriminal straf e nich t am Platze ist" (Prof. 
Wach). Kinder sollten, wie überhaupt, so auch für ihre U ebel- 
taten nicht als Erwachsene angesehen und behandelt, sie sollten 
bevormundet und erzogen werden. 

Das Recht der verwahrlosten Jugend auf Erziehung und 
die Pflicht der Gesellschaft, das nachwachsende Geschlecht 
erziehlich nicht zu vernachlässigen, sollte aber schon zur Gel- 
tung kommen, bevor die Gefährdeten strafbare Handlungen 
begehen. Die sozialen Verhältnisse erschweren in weitem Um- 



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200 



v. Rohden, Jugendliche Verbrecher. 



fange eine normale Zeugung und Erziehung und führen mit 
der überhand nehmenden Familienzersetzung und den verderb- 
lichen Volksschäden der Trunksucht und Unzucht einerseits 
die sittliche Schwäche und schlimme Veranlagung — erbliche 
Belastung — der jungen Anwärter des Verbrechens, unter 
denen sich ein großer Prozentsatz geistig Minderwertiger be- 
findet, anderseits eine frühzeitige Ungebundenheit und Zucht- 
losigkeit mit sich. „Die Gesellschaft ist der verwahrlosten und 
straffällig gewordenen Jugend gegenüber in Schuld, die sie 
nur durch eine besondere Fürsorgepolitik, die vom Zwecke der 
Besserung ausgeht, zu lösen imstande ist." (Baernreither 
Jugend-Fürsorge.) 

Wird nun die gerichtliche Strafe mehr und mehr aus ihrer 
bisherigen formalen Isolierung befreit und in den großen Zu 
sammenhang einer gesunden Kultur- und Gesellschaftspolitik 
gestellt, so ergibt sich die Wichtigkeit des Grundsatzes der 
Prophylaxe gegenüber der bloßen Repression in seiner be- 
sonderen Anwendung auf die Jugendlichen ganz von selbst. 
Dem Verbrechen muß man ernstlicher an die Wurzel gehen, 
das Unkraut ausjäten, nicht nur abschneiden. Nicht Repression, 
sondern Prävention sei die Losung für unser Problem, nicht 
gerichtliche Strafe, sondern Erziehung; nicht der Strafrichter, 
sondern der Vormundschaftsrichter habe gegenüber jugend 
liehen Verbrechern das erste entscheidende Wort! 

2. Die Geschichte unseres Problems in den letzten 
Jahrzehnten ist die Geschichte des Ringensdieserbeiden 
Maximen der Bestrafung und Erziehung mitein- 
ander. Sie zeigt zugleich, wie schwer sich auch richtige Er- 
kenntnisse und Forderungen durchsetzen. Die Hauptschwie- 
rigkeit liegt in diesem Falle darin, daß die pädagogischen und 
die Rechtsprinzipien grundsätzlich nicht leicht miteinander in 
Einklang zu bringen, daß sie disparater Natur sind. Schon 
das Allgemeine Landrecht erhob die Erziehungsmaxime zu 
einer staatlichen Maßnahme; da es aber den Eltern die Kosten 
der erforderlichen anderweitigen Erziehung auferlegte, blieb 
die bezügliche Bestimmung wirkungslos. Das Reichsstraf- 
gesetzbuch erkennt die Erziehungsmaxime an, indem es die 
Kinder unter 12 Jahren für strafunmündig erklärt und die jungen 
Uebeltäter von 12 bis 18 Jahren der Zwangserziehung über- 



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Erster KongrtM f. Kindcrfortehung und Jwje.idfürsorijc. 



201 



weist, falls sie ohne Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Hand- 
lung delinquiert haben. Die mit Einsicht straffällig Gewor- 
denen werden aber als Jugendliche wesentlich gelinder be- 
straft als Erwachsene, kommen also auch mit ihrer kurzen 
Freiheitsstrafe sehr viel besser davon als die Beschränkten. 
Darin liegt der erste Widerspruch (§§ 56 und 57 RStGB.), den 
man sowohl in der gerichtlichen Praxis durch zwar pädago- 
gische, aber rechtlich nicht einwandfreie Anwendungen, wie 
in Kongreßvorschlägen durch prinzipiell nicht völlig geklärte 
Auskunftsmittel vergeblich zu lösen versucht hat. Der zweite 
Widerspruch knüpft an den ersten an: die für die Strafun- 
mündigen bis zum 12. Lebensjahre (§55) und die Uneinsich- 
tigen bis zum 18. Jahre vorgesehene Zwangserziehung wird 
als Strafmittel verhängt und empfunden; Erziehung ist aber 
Wohltat und keine Strafe. 

Dieser Widerspruch wird nicht beseitigt durch das Für- 
sorge-Erziehungsgesetz, wenn dieses auch wesentliche 
pädagogische Fortschritte brachte, wie sie schon in dem Titel 
Fürsorge-Erziehung statt Zwangserziehung und die Ausführung 
durch den Vormundschaftsrichter gekennzeichnet sind. Aber 
die rein pädagogische, also präventive Tendenz des Gesetzes 
tritt doch alsbald wieder in den Hintergrund, sowie sein nur 
subsidiärer Charakter als ultima ratio, namentlich durch die 
Kammergerichtsbeschlüsse, wenn auch gewiß mit guten Grün- 
den pointiert und maßgebend gemacht wird. Die Fürsorge- 
Erziehung sinkt dadurch wieder zum Strafmittel herunter. 

Am deutlichsten erweist sich die auch dem neuen Gesetze 
anhaftende unklare Verquickung von Erziehung und Strafe 
an der beklagenswerten Tatsache, daß viele ältere Fürsorge- 
Zöglinge schwere Straftaten begehen, um aus der Besserungs- 
Anstalt ins Gefängnis zu kommen. Sie widerstreben nicht ein- 
zelnen Erziehungs-Maßregeln, sondern der Erziehung als 
solcher; sie wollen nicht mehr wie Kinder erzogen, sondern 
lieber die Strafe der Erwachsenen erleiden. Die besondere 
erziehliche Behandlung hat also zu spät bei ihnen eingesetzt, 
das Selbstbewußtsein war schon zu stark entwickelt und sie 
fügen sich nur noch der physischen Gewalt. Legt es nun 
aber die grundsätzliche Handhabung des Fürsorge-Gesetzes 
nahe, bis zum letzten mit seiner Anwendung zu warten, also 



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202 



v. Rohden, Jugendliche Verbrecher. 



gerade die Altersklasse, die ursprünglich wohl nur ausnahms- 
weise unter es fallen sollte, das 16. bis 18. Lebensjahr vorzugs- 
weise zu berücksichtigen, so kommt dadurch der prophylak- 
tische Zweck des Gesetzes erst recht zu kurz. 

Es wird demnach eine pädagogisch-psychologisch richtigere 
Klassifizierung der jugendlichen Uebeltäter geboten sein, in- 
dem man den Haupteinschnitt bei dem 16. Lebensjahr macht 
und gemäß früheren Vorschlägen, vor allem dem durchdachten 
ersten Entwurf der Intern. Kriminalist. Vereinigung, Landes- 
gruppe Deutsches Reich von 1891, die Strafunmündigkeit bis 
zu diesem eigentlichen Abschluß der Kindheit hinaufrückt und 
für die Zeit vom 16. bis 20. Lebensjahre zwischen Zwangs- 
erziehung und Kriminalstrafe die Wahl stellt. Gewiß bildet 
die Zeit zwischen dem 14. bis 16. Jahre physiologisch und 
geistig den U ebergang von der Kindheit zur Adolescenz, aber 
gerade diese „Flegeljahre" bedürfen der pädagogisch bevor- 
mundenden Einwirkung am meisten; gerade kriminell muß 
dieses gefährliche Alter von den Maßregeln für Erwachsene 
scharf geschieden werden. Also für den Strafmündigen, bis 
zum 16. Lebensjahr, Behandlung durch den Vormundschafts- 
richter in Verbindung mit dem etwa auf grund der Fürsorge- 
organisation auszugestaltenden Erziehungsamt nach nor- 
wegischem Muster und Erziehung der Straffälligen und Ge- 
fährdeten in Familien oder familiär geleiteten offenen privaten 
Erziehungsanstalten; für die Strafmündigen vom 16. bis 20. 
Lebensjahr nach Ermessen des Strafrichters nicht zu kurze 
Freiheitsstrafen oder Unterbringung in geschlossene staatliche 
Zwangsanstalten. Kurz: für die Strafunmündigen Prävention, 
für die Straf mündigen Repression. 



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Erster Kongres» f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 203 



Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. 

Von 

Geh. Admiralitätsrat Dr. Felisch. 

Meine Damen und Herren ! Wenn ich die Ehre habe, heute 
über die Fürsorge für die schulentlassene Jugend vor Ihnen 
zu sprechen, so ist es meine erste Aufgabe, den Begriff der 
schulentlassenen Jugend festzulegen. 

Wir haben im allgemeinen in Deutschland als den Schul- 
entlassungstermin das 14. Lebensjahr; Bayern entläßt aber die 
Volksschüler bereits mit dem 13. Lebensjahre. An diesen Schul- 
entlassungstermin haben wir, trotzdem die Straf mündigkeit 
schon mit dem 12. Lebensjahre beginnt, mit unserer Fürsorge 
anzuknüpfen und sie während derjenigen Jahre fortzusetzen, 
welche im Sinne der Wohlfahrtspflege als die besonders schutz- 
bedürftigen erkannt worden sind. Die Erfahrung hat gelehn, 
daß es sich im allgemeinen um vier Jahre handelt. Wir ver- 
stehen also unter der schulentlassenen Jugend die jungen Leute, 
Knaben und Mädchen, während der ersten vier Jahre nach 
der Schulentlassung, aber nicht die gesamte Jugend, sondern 
nur die erwerbstätige. Das sind rund 3 Millionen Personen 
in Deutschland oder 5,2 Prozent der Bevölkerung. 

Ist so der Begriff der einen Hälfte unseres Themas fest- 
gelegt, so ist das Gleiche für die andere Hälfte, für den Be- 
griff der Schutzfürsorge, in diesem Kreise, in dem 
er ausreichend bekannt ist, nicht erforderlich, und ich kann 
mich sogleich dazu wenden, die in der Frage der Für- 
sorge für die schulentlassene Jugend ruhenden 
Probleme vor Ihnen zu entwickeln. 

Ich bin der Meinung, daß die Unzahl der sich hier dar- 
bietenden Probleme ihre letzte Wurzel in dem Umstände hat, 
daß die Umbildung der Stände, die nach Auflösung des alten 
Dreiständestaates und unter der Nachwirkung der französi- 
schen Revolution jetzt vor einem Jahrhundert durch die Stein- 
Hardenbergsche Gesetzgebung bei uns in Preußen und ähnlich 
in den weitaus meisten übrigen deutschen Staaten einsetzte, 
noch nicht derartig abgeschlossen ist, daß die neu gewonnenen 



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204 



Fdisch, Fürsorge f. d. schxüentlasnene Jugend. 



Verhältnisse schon vollständig gefestigt wären. Die Um- 
bildung, die sich in diesem abgelaufenen Jahrhundert vollzogen 
hat, ist in sich dadurch verzögen worden, daß sich als die 
unterste Schicht eine solche der Deklassierten bildete. Außer- 
dem ging neben der Neuformung der Stände einher : die große 
Neubildung der Staaten und ihrer Grundlagen, das Durchringen 
zur deutschen Einheit, die allmähliche Anbahnung einer Ent- 
wicklung des Staates zu einem Rechtsstaate, die Neugestaltung 
des Wirtschafts- und Verkehrslebens durch den Einfluß der 
Naturwissenschaften, durch die großen Entdeckungen und Er- 
findungen, die Aenderungen der gesamten Lebenshaltung und 
das Auftauchen neuer sozialer Fragen. Mit diesen gewaltigen 
Prozessen mußte sich eine Reihe von Folgeerscheinungen ver- 
binden, weiche auflösend wirkten und deshalb einen Ersatz 
oder aber Ergänzungen erforderten, ohne daß solche in unserer 
Gesellschaft schon vollständig gefunden wären. Hierher ge- 
hören die Auflösung der alten patriarchalischen Verhältnisse, 
die Stockungen in der Stetigkeit der Arbeit, die Bildung eines 
zahlreichen Proletariats, die Einwirkungen des vermehrten Wett- 
bewerbes, die Ueberfüllung der Berufe, das Darniederliegen 
zahlreicher Erwerbszweige, die Ausbeutung Jugendlicher, die 
Lehrlingszüchterei, die Zunahme ungünstiger Beeinflussung 
durch Not, Elend und Versuchungen aller Art, das Anwachsen 
der Kriminalität der Jugendlichen, die Vermehrung der Vor- 
bedingungen für sittliche Gefährdung, Verrohung und Verwahr- 
losung eines Teiles der Jugend und das Stellen auf die eigene 
Erwerbstätigkeit in einem sehr jungen Alter bei gleichzeitiger 
Abschwächung oder völligem Versagen der ehemaligen Für- 
sorgemittel. Denn infolge der besseren äußeren Gestaltung 
der Lebensführung tritt an die männliche und an die weibliche 
Jugend heut nicht bloß in der Großstadt, sondern auch auf dem 
platten Lande Versuchung und Verführung in vermehrter Zahl 
und in verfeinerter Gestalt heran, während die alten Erziehungs- 
faktoren, der feste sittliche Halt einer klaren Weltanschauung, 
der Einfluß einer starken religiösen Ueberzeugung, das innige 
Gefüge des Familienlebens, die patriarchalische Zucht des Lehr- 
herrn immer schwächer und unwirksamer wurden. Es war 
und ist geboten, aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus für 
die schwindenden bisherigen erziehlichen Momente neue an 
die Stelle zu setzen, insoweit die Neubelebung der alten nicht 



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Erster Kongrcss f. Kinder forschuug und Jugend fürxorgr. 205 

möglich ist. Dies wird um so mehr notwendig, als man heut 
nicht mehr an der Scholle klebt. Selbst die Landwirtschaft 
macht heute durch ihre Nebenindustrien Zu- und Abzug von 
Arbeitern erforderlich, und die große Zahl der ungelernten 
Arbeiter, die besonders unter dem Einflüsse des Schlafstellen- 
wesens und auch des Alkoholmißbrauches leiden, vermehrt die 
vorhandenen Schwierigkeiten. 

So sind wir vor die Frage gestellt: soll hier eine Hilfe 
durch die bürgerliche Gesellschaft selbst für diese heran- 
wachsende Jugend eintreten? Ich glaube, wir können sie hier 
in unserem Kreise mit einem „Ja" beantworten, ohne dies 
,,Ja" weiter zu begründen. Das Schwierige ist nicht, ob die 
Hilfe erforderlich ist, sondern die Frage: wie soll die Hilfe 
eintreten? Nicht die Selbstsucht darf durch sie gefördert 
werden, sondern es muß durch die Fürsorge eine organische, 
auf festem Fundament ruhende und nicht eine äußerliche Hilfe 
geschaffen werden. Der Ausgangspunkt muß sein, daß man 
die Erziehung nicht mit der Schulzeit beendet sein läßt, sondern 
daß an die Schulerziehung eine weitere Erziehung angeknüpft 
wird : die Erziehung der heranwachsenden Jugend durch die 
bürgerliche Gesellschaft selbst. Und hierfür gilt es, die Leit- 
sätze zu finden. Eine jede Erziehung will auf Freiheit beruhen 
und ganz besonders eine solche durch die bürgerliche Gesell- 
schaft erfolgende Erziehung der Jugend, bei der doch der 
Selbstbetätigungsdrang ein durchaus berechtigter ist. Die Er- 
ziehung wendet sich zunächst an den Naturmenschen, der durch 
die Naturordnung auf den Kampf gestellt ist. Der Kampf aber 
zwingt zur höchsten Anspannung der Kräfte, und diese läßt 
den Naturmenschen zum Kulturmenschen werden. Unsere Auf* 
gäbe ist es, die Entfaltung der Kulturkräfte zu fördern und 
Menschen mit festgeprägter Weltanschauung zu erziehen, die 
innerhalb der heutigen Kultur tätig sind und an ihr mitarbeiten. 

Wenn wir so an diese Frage herangehen, gewillt, unsere 
Verpflichtung zu sozialer Arbeit anzuerkennen, dann dürfen 
wir ein weiteres großes Problem nicht übersehen. Wir ge- 
wöhnen uns im bürgerlichen Leben leider viel zu sehr daran, 
die Dinge nur von der einen Seite zu beschauen, und vergessen, 
daß jedes körperliche Ding und auch jede geistige Vorstellung 
eine zweite Seite besitzt. Es gilt aber, mit geistigen Röntgen- 
strahlen hindurch zu dringen durch diese sinnlichen Erschei- 



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206 



Feltich, Fürsorge /. d. sdtuUntlassene Juge*\d. 



nungen und durch diese geistigen Vorstellungen, um das Rück- 
bild zu erblicken und zu erfassen. Wir müssen uns dazu 
zwingen, von den Dingen gleichzeitig die subjekitve und die 
objektive Vorstellung, die sinnliche und die geistige für uns 
zu erhaschen; dann werden wir dessen inne werden, daß die 
anscheinenden Gegensätze sich vereinigen. Wir müssen uns 
klar darüber sein, daß die materialistische Anschauung auf 
die Vielheit blickt und die idealistische auf die Einheit, daß 
aber beide zusammen doch trotz oder vielmehr wegen der 
fortwährenden Verwandlungen in einer großen Gesamtheit auf- 
gehen. Es darf der Idealismus nicht außer acht lassen, daß, 
wenn er mit seinen hohen Zielen an eine Aufgabe herangeht, 
er des Realismus nicht entbehren darf. Es wäre falsch, immer 
nach den Sternen zu schauen und zu vergessen, daß der Fuß auf 
dem festen realen Boden stehen muß, und daß man Schritt für 
Schritt, von Bülte zu Bülte schreiten muß, um vorwärt zu kom- 
men. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß auch der Materialismus 
für ein bestimmtes Gebiet seine volle Berechtigung hat. 

Und so soll der Altruismus nicht etwa den Egoismus 
beseitigen — denn dieser ist nötig — , sondern auf ein ver- 
ständiges Maß zurückführen. Man soll sich klar darüber 
werden, daß beide in der wahren Sittlichkeit sich vereinen. 

Die Gesellschaft stellt eben die Gesamtheit der Beziehun- 
gen der Menschen zur Güterwelt dar und wird deshalb durch 
die vielfachen Abhängigkeitsverhältnisse beeinflußt, aus denen 
der Kampf der abhängigen Nichtbesitzenden oder Minder- 
besitzenden gegen die Besitzenden entspringt. Aufgabe des 
Staates ist es, durch seinen Zwang dahin zu wirken, daß der 
Einzelne über seine persönlichen Interessen hinaus sich in den 
Dienst von an sich ihm fernliegenden Interessen stellt und 
dadurch der Allgemeinheit dient. Der Zweck dieses Zwanges 
ist, einen Ausgleich der Gegensätze herbeizuführen, die sich 
widerstreitenden Interessen miteinander zu versöhnen. Die 
bürgerliche, d. h. die staatlich organisierte Gesellschaft hat 
die Pflicht, aus sich heraus von der Vielheit zu der Einheit 
zu gelangen, aus sich heraus den großen Kulturaufgaben ge- 
recht zu werden und sie zu lösen. Schaut man sich so die 
Dinge an, so kommt man zu der Ueberzeugung, daß zwischen 
Staat und bürgerlicher Gesellschaft nicht ein Gegensatz ist, 
sondern daß diese beiden zusammengefaßt werden in einer 



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Ergter Kongress f. Kinderforsdiung und Jugendfürsorge. 



207 



großen Einheit zu großen Aufgaben. Und ebenso muß dann 
das Vorurteil schwinden, daß ein Gegensatz der verschiedenen 
Stände vorhanden sei, der eine gedeihliche Entwicklung 
hindere. Nicht um Gegensätze der Stände handelt es sich, 
sondern um verschiedene Abstufungen, um aufeinander ge- 
lagerte Schichtungen, die aufeinander angewiesen sind und 
gemeinschaftlich ein organisches Ganzes bilden. Wer Gegen- 
sätzlichkeit da hineinträgt, wo liebevolle Forschung und vor- 
urteilsloses Verständnis geboten ist, versündigt sich am 
Volkswohle. Freilich kann nicht geleugnet werden, daß eine 
Entfremdung zwischen den Gebildeten und den Mindergebil- 
deten und Ungebildeten eingetreten ist, die tief beklagenswert 
genannt werden muß. Aber die Schuld hieran trifft beide 
Teile gleichmäßig: die Erstgenannten deshalb, weil sie die 
Fühlung mit den eigenen Volksgenossen verloren haben, und 
die Letztgenannten deshalb, weil ihnen das Gefühl für ihre 
Verpflichtungen gegenüber dem Staatsganzen abhanden ge- 
kommen ist, und sie sich in eine Gehässigkeit gegen Besser- 
gestellte haben hineindrängen lassen. Weil aber auf beiden 
Seiten Schuld liegt, läßt sich die Versöhnung ermöglichen. 

Unter dieser Betrachtung will jede. Wohlfahrtspflege ver- 
standen werden. Die Wohlfahrtspflege ist ein sittlicher Zwang 
für jeden, der sich in ihren Dienst stellt. Aus dieser sittlichen 
Notwendigkeit heraus, aus der Pflicht zum sozialen Schaffen, 
die man in erster Linie gegen sich selbst und erst in zweiter 
gegen seine Mitmenschen hat, soll die Arbeit auch auf dem 
Gebiet der Fürsorge für die schulentlassene Jugend erwachsen. 
Geschieht dies, dann werden wir nicht im Zweifel darüber 
sein, daß auch auf diesem Felde das große Gesetz der Ent- 
wicklung das ausschlaggebende ist, und daß wir nicht von 
den Dingen und Ideen, die von außen hineingetragen werden, 
die Lösung zu erwarten haben, sondern daß eine organische 
Entwicklung von innen heraus erfolgen wird. Wir können 
dessen gewiß sein: sie wird kommen, und es wird langsam 
die Lösung sich durch die Tätigkeit der bürgerlichen Ge- 
sellschaft finden. Denn die Probleme sind bereits im Prinzip 
gelöst, und es handelt sich nur darum, sie immer allgemeiner 
zu erkennen, und das, was sich aus ihnen ergibt, auszubauen. 
Es muß die Ueberzeugung in die weitesten Kreise getragen 
werden, daß die Gesellschaft die Pflicht zu erfüllen hat, zwecks 



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208 



Fetisch, Fürsorge f. d. schulentlassene Jugend. 



Lösung der einzelnen Probleme und der aus ihnen entsprin- 
genden Aufgaben eigene Tätigkeit zu entfalten. Dann wird 
der Teil der sogenannten sozialen Frage, der überhaupt lösbar 
ist, keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr bieten; denn alle 
anscheinend getrennten Fragen : Fortbildungsschulzwang, 
Volksbildung, Aufbesserung der Wohnungsverhältnisse, der ge- 
samten Lebenshaltung usw. usw. gehen untereinander und mit 
unserer Frage Hand in Hand. 

Ich habe vor einiger Zeit meinen engeren Kollegen, den 
Juristen, gesagt, was nach meiner Meinung ihre sozialen 
Pflichten sind. Ich habe öffentlich eine anklagende Stimme 
erheben müssen., weil so viele davon unerfüllt sind. Aber man 
muß darüber hinaus an die Gesamtheit der bürgerlichen Ge- 
sellschaft eine flammende Anklage richten, daß sie zwar be- 
lehrt sind, aber weder selbst weiter lehren wollen, noch auch 
nur das Gelernte zu betätigen die Lust haben. Ich spreche 
nicht von den „Wenigen, die 'was davon erkannt" haben, 
die man im Dienste sozialer Bestrebungen, auf den Kongressen 
und auch beim Zahlen immer wieder findet. Ich .spreche nicht 
von den Allzuvielen, die da lau und träge sind, und die sich 
nicht aufrütteln lassen wollen, um durch persönliche Arbeit 
zu helfen, die beim Brande des Nachbarhauses nicht glauben, 
daß es sich um ihre eigene Angelegenheit handelt. 

Nach diesen allgemeinen Darlegungen komme ich zu den 
Grundsätzen, nach welchen zur Erfüllung der 
aus den Problemen erwachsenden Aufgaben die 
Fürsorgetätigkeit sich zu entwickeln hat. 

Zunächst ist eine Abgrenzung gegen Staat und 
Kirche erforderlich. Diese haben gesonderte Aufgaben. Der 
Staat hat die Macht und kann den Zwang ausüben. Die Kirche 
hat den Glauben und die Fähigkeit, gerade durch den Glauben 
begeisterte, tüchtige Hilfe von Glaubensgenossen und ge- 
meiniglich auch nur für diese zu finden. Staat und Kirche, 
Macht und Glauben wollen unterstützt werden durch die freie 
Liebestätigkeit der bürgerlichem Gesellschaft. Diese drei 
müssen einander gegenseitig befruchten. Weil das so ist, darum 
kommt für die gesellschaftliche Fürsorge nicht die Konfessio- 
nalität in Frage, und darum ist es unmöglich, für sie die 
Grenzen zu ziehen nach der Partei oder nach dem Berufe. 
Die Interkonfessionalität ist geboten, weil die er- 



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I 



Erster Kongreß f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 209 

zieherischen Mittel, mit denen zu rechnen ist, ebensowenig 
konfessionell sind wie all die tausend Einrichtungen, mit denen 
das große Leben selbst das heranwachsende Geschlecht er- 
zieherisch und wirtschaftlich heranbildet. Das Gleichnis vom 
barmherzigen Samariter stammt nicht aus einem heidnischen 
Fabelbuche, sondern aus dem Munde des Herrn. Es ist daher 
zur Fürsorge jedermann berufen und hat sie auszu- 
üben, der im Stande ist, für einen andern zu sorgen, einge- 
schlossen diejenigen, welche die Jugend soeben aus der Schule 
entlassen haben, die Lehrer und Lehrerinnen, und mit ihnen 
Dienstherren und Arbeitgeber, Beamte und Rentner, ein jeder, 
der über einen gewissen Schatz von Bildung oder von Besitz 
oder von Gemüt verfügt, vor allem die Frauen, die die geborenen 
Helferinnen auf diesem Gebiete sind. Erforderlich ist nur: 
selbstlose Menschenliebe, Umsicht, Takt und Bereitschaft zur 
Hilfegewährung durch persönliche Dienstleistungen. 

Welches ist nun der Umfang der Fürsorgetätig- 
keit? Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend muß um- 
fassen das sittliche, das geistige, das leibliche und das wirt- 
schaftliche Wohl. In diesen vier Dingen eingeschlossen ist 
zugleich die rechtliche Fürsorge, die eine große Reihe von 
neuen Forderungen an Staat und Gesetzgebung stellt. Ich 
erinnere daran, daß augenblicklich der Drang nach Jugend- 
gerichten ganz besonders lebhaft und auch begründet ist. Und 
dieser große Umfang der Fürsorgetätigkeit hat zu seinem 
Arbeitsfelde die Bekämpfung aller derjenigen Erscheinungen, 
welche gegenüber dem sittlichen, geistigen, leiblichen oder wirt- 
schaftlichen Wohle schädigend wirken können. Gegenüber 
dem sittlichen durch die Abwehr der Gefährdungen des Berufes, 
des privaten und des öffentlichen Lebens und der Lockerung der 
Familienzusammengehörigkeit. Gegenüber dem geistigen 
durch die Bekämpfung der Vernachlässigung der Fortbildung. 
Gegenüber dem leiblichen durch Vorbeugung betreffs der 
Schäden, die ein falsch ergriffener Beruf mit sich bringt, ins- 
besondere durch ärztliche Feststellung, ob der Jugendliche 
wirklich in den erwählten Beruf eintreten darf. Gegenüber 
dem wirtschaftlichen durch das Entgegenwirken gegen alle 
diejenigen Erscheinungen, welche die Ausbildung und das Er- 
werbsleben der Jugend ungünstig gestalten. 

Indem so das Negative gegeben ist, ist das Positive da- 

Zeitachrift für pitda^ofrische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 4, 



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210 



Eraitr Kongrat f. Kindcrfortchurtg und Jugend fünorgt. 



durch begrenzt, daß alle Mittel zu ergreifen sind, welche dahin 
zielen, nicht nur Schaden zu beseitigen, sondern auf allen vier 
Gebieten das vorhandene Gute zu festigen und zu mehren und 
günstige Bedingungen für eine gedeihliche Entfaltung zu ver- 
schaffen. Dieser große Umfang der Fürsorgetätigkeit muß 
ferner in der Weise ausgefüllt werden, daß man sich klar 
darüber ist, daß nicht jeder Jugendliche gleichartig mit dem 
andern behandelt werden darf, daß vielmehr eine große Zahl 
von Schattierungen und von Abstufungen sich findet, die eine 
individuelle Behandlung erheischen. Ich nenne die Waisen, 
die sonstigen Verlassenen und die Verführten, diejenigen, 
welche mit körperlichen oder geistigen Schäden behaftet sind, 
insbesondere die Stotternden, Tauben, Blinden, die Tuber- 
kulösen, Rhachitischen, Epileptischen und Verkrüppelten, die 
geistig Minderwertigen und die geistig Schwachen, endlich die 
Bettler und Landstreicher, die Gefährdeten, die Verwahrlosten 
und die Verbrecher. Indem ich so eine Anzahl von Klassen 
herausgreife, entrollt sich Ihnen von selbst das Bild, wie die 
Behandlung verschiedenartig gestaltet werden muß, und wie 
hierbei erbliche Belastung und persönliche Veranlagung, 
soziale Einflüsse, namentlich die der Umgebung, und eigenes 
Verschulden in Rücksicht zu ziehen sind. 

Hiermit hängt die Frage nach der Art der Fürsorge- 
tätigkeit zusammen. 

Nicht zu empfehlen ist für unsere deutschen Verhältnisse 
das romanische Patronagesystem, das mehr oder minder ein 
Almosensystem ist. Almosen geben ist das Schlechteste, was 
man der Jugend überhaupt antun kann. Das Beste wäre, nur 
zu helfen durch Rat und durch Unterstützung mit persönlicher 
Tat. Damit allein kommen wir aber in Notfällen nicht aus, 
und darum darf eine gewisse finanzielle Unterstützung hinzu- 
treten, aber nichfc in Gestalt des Almosens, sondern in der 
Gestalt der Zweckspende. Ich darf Gelder nur zu einem be- 
stimmten Zwecke geben, und das Erstrebenswerte ist, daß ich 
selbst den Zweck mit dem Gelde erfülle und dadurch in natura 
dem Unglücklichen helfe. Wenn ich dem Bettler Suppe ver- 
abreiche, so ist das eine Zweckspende zur Stillung des Hungers ; 
aber wenn ich ihm ein Zehnpfennigstück aushändige, so weiß 
ich nicht, ob er es zum Ankauf von warmer Suppe oder von 
Schnaps verwendet. Und darum muß ich mir klar darüber 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 211 

sein, daß ich durch ein Almosen die Gefahr der Verschlech- 
terung des Beschenkten herbeiführe. Almosengeben bedeutet 
einen Mangel an sozialen Kennmissen oder an Nachdenken 
oder aber eine falsche Bequemlichkeit. 

Im Gegensatze zu der gedankenlosen Gewährung von 
Almosen wird die Bereitschaft erfordert, so zu helfen, wie 
man sich selbst oder einen Angehörigen helfen würde. Der 
Entschluß muß gefaßt werden, den Einzelkampf gegen das 
Uebel aufzunehmen. Und als solches darf nicht die Armut 
an sich erscheinen, deren drohendes Schreckgespenst man 
durch eine milde Spende verscheucht. Die innere Gesinnung 
muß auf «Beseitigung der Entfremdung zwischen den be- 
sitzenden und den nichtbesitzenden Klassen gerichtet sein, und 
das äußere Verhalten muß sich dem zweckentsprechend an- 
passen. Es gibt nichts Verkehrteres, als wenn man sich mit 
dem Automobil in das Armenviertel begibt, um in rauschenden 
Seidengewändern Ermittelungen vorzunehmen. 

Geht man von diesen Grundsätzen aus, so gibt es nur 
ein einziges System, das Hilfe zu bringen vermag, und dies 
ist das Pflegersystem, das wir schon lange haben, und 
das nur des Ausbaues bedurfte, den es auch gefunden hat. Ich 
hoffe, nicht ruhmredig gescholten zu werden, wenn ich einschalte, 
daß dieser Ausbau des Pflegersystems am besten in dem Ber- 
liner „Freiwilligen Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen'* 
gelungen ist. Ich bin zwar dessen Leiter, aber ich darf wohl 
anführen, daß er der größte interkonfessionelle Erziehungs- 
verein in Deutschland ist, und daß er die Grundsätze, die 
ich Ihnen soeben entwickelt habe, folgerichtig durchzuführen 
versucht hat. Er ist ein Verein, der 1500 bis 1600 Waisen- 
kinder in jedem Jahr unterbringt und je vier Jahre in Pfleg- 
schaft behält, ebensoviel Pfleger und Pflegerinnen hat und 
durch 150 Vereinsärzte unentgeltliche Untersuchung und Be- 
handlung der Pfleglinge sowie durch 100 fachmännische Bei- 
stände Rat und Belehrung für die einzelnen Zweige der ver- 
schiedenen Berufe gewährt. Ich habe mir erlaubt, eine Anzahl 
von Drucksachen ^mitzubringen, und ich bitte Sie, diese in 
Empfang zu nehmen. Weitere Exemplare übersendet gern 
jederzeit das Vereinsbureau. 

Ich habe mit dieser Abschweifung auf einen bestimmten 
Verein nur sagen wollen, daß dasjenige, was ich vom Pfleger- 

4* 



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212 



Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



System erwarte, nicht theoretische Gedanken sind, sondern daß 
diese in der Praxis schon längst Betätigung gefunden haben, 
und daß ihre Ausgestaltung nachgeahmt werden kann, wie 
sie tatsächlich schon vielfach nachgeahmt worden ist. 

Dieses Pflegersystem ist das System der werktätigen Hilfe 
durch die eigene Arbeit, durch eigenes Herangehen an die 
Jugend; es erfordert, daß man selbst in die Häuser der Hilfs- 
bedürftigen sich begibt, daß man die Umwelt, in der diese 
leben, erforscht und unter Zuhilfenahme dieser Kenntnis das 
einzelne Kind beurteilt und demnächst es individuell behandelt, 
um ihm richtig zu helfen. 

Welches sind nun die Mittelder Fürsorge? Leitende 
Grundsätze müssen sein : Zusammenarbeiten aller beteiligten 
Behörden, Körperschaften und Vereine, Gewährung von Unter- 
stützungen nur im Falle unbedingter Notwendigkeit, gleich- 
mäßige Berücksichtigung von Knaben und Mädchen, Vermei- 
dung eines Wechsels in der Person des Pflegers und möglichst 
auch in der Wahl des Berufes, Ausdehnung der Fürsorge auf 
vier Jahre. 

Die erste Aufgabe ist die Ermittlung der Hilfsbedürftigen, 
die am leichtesten dann durchzuführen ist, wenn man mit der 
Schul Verwaltung sich ins Einvernehmen setzt, um zu erfahren, 
weiche Jugendlichen ein halbes Jahr später die Schulen ver- 
lassen werden. Und hat man die Bedürftigen ermittelt, so 
handelt es sich vor allem darum, Beistand bei der Berufs- 
wahl zu leisten. Die Berufswahl ist ausschlaggebend für die 
gesamte Lebensführung der Jugendlichen, für die jungen 
Knaben wie für die jungen Mädchen, die ins Leben hinaus- 
treten, ungeleitet, schlecht behütet, oft gefährdet durch die 
eigene Umgebung und in manchen Fällen gar von Böswilligen 
zum Schlechten angehalten. Hier handelt es sich darum, durch 
die Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft dafür zu sorgen, 
daß eine verständige und richtig geleitete Berufswahl statt- 
findet, daß unsere Jugend nur in solche Berufe eintritt, für 
die der Einzelne nach Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen, 
nach körperlicher und sittlicher Beschaffenheit wirklich be- 
stimmt ist, und daß das Ergreifen eines falschen Berufes ver- 
mieden wird. Außerdem auch darum, daß eine ärztliche 
Untersuchung auf die körperliche Geeignetheit stattfindet. Das 
ist ein sehr schwieriges Kapitel, und es sind die wenigsten 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 213 

Aerzte ohne weiteres im Stande, zu sagen, welcher Beruf der 
passendste für ein ihnen vorgestelltes Kind ist; da hat der 
freiwillige Erziehungsbeirat durch die Herausgabe eines „Weg- 
weisers für die Berufswahl" ein außerordentlich gutes Aus- 
kunftsmittel allen Beteiligten an die Hand gegeben. Dieses 
Buch ist das Ergebnis von 20000 versandten Fragebogen, 
deren Verarbeitung Professor Sommerfeld, Privatdozent Dr. 
Jaffe* und Dr. Sauer sich unter Mitwirkung vieler Fachleute 
unterzogen haben. Es ist dort alles zusammengetragen über 
die Erfordernisse jedes einzelnen, für die erwerbstätige Jugend 
in Betracht kommenden Berufes in körperlicher und geistiger 
Hinsicht, über die Berufsgefahren, über den Gang der Aus- 
bildung, über die Aussichten des Berufes, über das Kapital, 
das erforderlich ist, um sich in dem betreffenden Berufe selbst- 
ständig zu machen, über die Lehrstellen- und Arbeitsnach- 
weise usw. 

Auf solcher Grundlage wird eine richtige Berufswahl ge- 
troffen werden, wenn man eine gute Ausbildung höher stellt 
als schnelles Geld verdienen. Besonderen Neigungen des 
Kindes wird Rechnung zu tragen sein, jedoch nicht ohne Vor- 
sicht und nur dann, wenn Wollen und Können miteinander 
in Einklang stehen. Ein Herabsinken unter den Stand der 
Eltern wird möglichst zu vermeiden, ein unverhältnismäßiges 
Erheben darüber nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu 
fördern sein. 

An die Berufswahl muß sich die Beschaffung einer ge- 
eigneten Lehr-, Dienst- oder Arbeitsstelle anschließen, und da 
ist die HÜfe fachmännischer Beistände ratsam, die zu sagen 
vermögen, was in dem einzelnen Falle das Rechte ist. Die 
sogenannten gelernten Berufe sind den ungelernten unter allen 
Umständen vorzuziehen. Bei ersteren ist geeignetenfalls die 
Mitwirkung der Innungen und kaufmännischen Körperschaften 
herbeizuführen, ebenso die von gemeinnützigen Stellennach- 
weisen. 

Dann kommt die Prüfung der mehreren, zur Verfügung 
stehenden Stellen und erforderlichen Falles die Beschaffung 
des Zuschusses, ohne den der Antritt der Stelle dem dazu 
Tauglichen aus wirtschaftlichen Gründen verschlossen bleiben 
würde. Darnach ist es die Aufgabe, diejenigen, welche körper- 
lich nicht ausreichend im Stande sind, den erwählten Beruf 



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214 



Erster Kongrtss /. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



zu ergreifen, in einen andren Beruf hineinzubringen, und die- 
jenigen, welche zurzeit überhaupt nicht erwerbsfähig sind, auf 
das Land hinauszuschicken, damit sie dort, falls sie nicht über- 
haupt da bleiben, was in vielen Fällen das Wünschenswerteste 
ist, Kräftigung finden, um später erwerbstätig werden zu 
können. Ist das geschehen, so muß sich eine liebevolle Be- 
ratung für die nächsten vier Jahre anschließen, die dafür 
sorgen soll, daß der Einzelne mit seinem Meister oder sonstigen 
Lehrherrn in guten Beziehungen steht, daß ein Besuch der 
Fortbildungsschule, von dem wir alle hoffen, daß er bald im 
ganzen Deutschen Reiche für beide Geschlechter obligatorisch 
werde, ein Besuch der Fachschule, sowie ganz allgemein eine 
geordnete Ausbildung stattfindet. Um dies zu erreichen, ist 
es nötig, nach festgelegten Grundsätzen bei der Schaffung und 
Regelung der Einrichtungen für die Ausbildung der Jugend- 
lichen vorzugehen. Ich erinnere an die Lehrwerkstätten, an 
die hauswirtschaftliche Unterweisung der jungen Mädchen, an 
die Dienstlehrstellen usw. Daneben gehen die weiteren großen 
Aufgaben sozialer Art. Zu ihnen gehört die Wohnungsfürsorge, 
die für die schulentlassene Jugend die besondere Gestalt der 
Lehrlingsheime, der Fabrikpensionate, der Mädchenheime, der 
Arbeiterheime usw. annimmt. Weiter gehen damit Hand in 
Hand die Fragen der Volksbildung, die bei der Jugend zunächst 
damit einzusetzen nat, daß sie für ihren Beruf tüchtig und 
geschickt werde; ferner die verständige Ueberwachung des 
Verkehrs und die Herbeiführung einer guten Geselligkeit, sei 
es durch Einzelmaßnahmen, sei es durch Volksunterhaltungs- 
abende, Lehrlingsversammlungen und dergleichen. Das Herbei- 
schaffen einer guten Lektüre ist besonders wichtig, ebenso 
die Weckung des Sparsinnes, die Verbesserung der Spar- 
gelegenheiten, die Förderung der Mäßigkeitsbestrebungen usw. 
So trifft eine große Reihe von sozialen Aufgaben zusammen, 
von denen viele, wie z. B. die der Volkshygiene, hier nicht 
einmal genannt werden können; aber sie alle erheischen eine 
eigene Lösung der Frage nach den Zweckbestimmungen für 
das besondere Gebiet der Jugendfürsorge. 

Sind nun schon die Mittel der Fürsorge so mannigfaltig, w i e 
soll das alles ausgestaltet werden bei der unend- 
lichen Verschiedenheit von Stadt und Land? Oder 
kommt das Land etwa nicht in Betracht ? Im Gegenteile 1 Ich bin 



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Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 215 



tief davon durchdrungen, daß die «Fürsorge für die Jugend 
ebenso eine sittliche Pflicht für den Gutsvorsteher auf dem) 
kleinsten Gute ist wie für die Angehörigen der Reichshaupt- 
stadt. Allerdings wird die praktische Durchführung eine gana 
verschiedene sein müssen. Auf dem Gute wird der Guts- 
vorsteher allein oder mit einer oder der anderen Person sich] 
des einzelnen Kindes annehmen. In den kleinen Land- und 
Stadtgemeinden wird der Orts- oder Amtsvorsteher, der Waisen- 
rat oder der Bürgermeister die wenigen Ortsgenossen, die 
solchen Fragen Verständnis entgegenbringen oder für sie 
interessiert werden können, um sich sammeln, um für be- 
stimmte hilfsbedürftige Jugendliche zu sorgen. In größeren 
Städten kann sich ein der gesamten Jugend sich widmender, 
Verein bilden; in noch größeren kann eime Trennung nach! 
einzelnen Klassen der Jugendlichen, in den größten sogar nach 
Klassen der Schulentlassenen eintreten. In jedem Falle ist 
aber allüberall die Fürsorge für die schulentlassene Jugend 
mehr als bisher zu betätigen und in erster Linie den Verwaisten 
und Verlassenen zuzuwenden. Wer dazu mithelfen will, muß 
die Wege ebnen, damit die Jugendlichen nicht im wirtschaft- 
lichen Kampfe ums Dasein straucheln, und zugleich den sitt- 
lichen Halt stahlen, damit sie, wenn sie erwachsen sind, als 
zielbewußte Männer, als tüchtige Frauen sich selbst die Gasse 
durch das Wirrsai des Lebens bahnen und selbst sich das 
Ziel setzen, dem sie zustreben. „Höchstes Glück der Erdenr 
kinder ist doch die Persönlichkeit." Darum sollen die Heran- 
wachsenden Personen und nicht maschinenartige, nur dem 
Erwerb und dem Essen obliegende Lebewesen werden. 

Das alles sind Aufgaben nicht für Pessimisten, sondern 
für Optimisten, wie denn auch bisher die Lösung der Auf- 
gaben auf diesem Gebiet uns immer noch von denjenigen ge- 
kommen ist, die mit gesundem Optimismus die Dinge an- 
geschaut haben, und nach meiner Meinung auch von andern 
nicht kommen kann. Jeder, der sich in den Dienst dieser 
Sache stellt, ist Idealist und damit ein Stück Prophet. Und 
da möchte es vielleicht nicht eine Anmaßung sein, den Schleier 
der Zukunft ein weinig prophetisch lüften zu wollen. 

Es fragt sich, ob das von ihr Erwartete nicht Phantome 
sind, oder ob wir wirklich eine viel ausgedehntere Betätigung 
einer Schutzfürsorge zu gewärtigen haben, als es bisher der 



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216 



Erster Kongras f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



Fall gewesen ist. Ehe darauf eine Antwort erteilt werden 
kann, ist eine Vorbemerkung' notwendig. Wenn es wahr ist, 
daß Gegenwart und Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft die 
große Aufgabe stellen, die Jugend so durch eigene werktätige 
Mithilfe zu erziehen, daß die Jugendlichen selber zu Kultur- 
trägern werden, so kann die Erreichung eines solchen Zieles 
von niemand gefördert werden, der mit selbstischen Interessen 
an die Dinge herangeht. Man muß vielmehr, davon durch- 
drungen (sein, daß man lediglich um des Dienstes an der 
Jugend und um des Gemeinwohles willen zu arbeiten hat. Das 
kann aber niemand, dem nicht das hohe Lied der Menschen- 
liebe so erklungen ist, daß es einen Widerhall in seiner Brust 
gefunden hat. Wir haben ein durstendes Land vor uns, und 
es gilt, es zu tränken mit den befruchtenden Segensgaben der 
Liebe. Die Kraft des Erbarmens muß gewonnen werden, das 
herzliche Sichversenken in den andern, das die Samaritertat 
erzeugt. Aber manchen, der sich dazu aufraffen möchte, 
schreckt ein Bild auf die Richtung der gegenwärtigen Zeitläufte 
zurück. Denn, täuschen wir uns nicht darüber: die Fabrik- 
jugend ist frnit Sicherheit für die nächsten Jahrzehnte einer 
bestimmten Partei die neue Armee. Soll man da nicht, so 
meint man, durch die Wohlfahrtspflege eine Beeinflussung der 
Jugend zu bestimmten parteipolitischen Zwecken erstreben oder 
sich noch lieber bei solchen Aussichten aller Tätigkeit ent- 
halten? 

Wer so denkt, den kennzeichne ich als einen Menschen, 
der sich weigert, seine Schuld zu tun. Wer innerhalb dieser 
Arbeit darnach hinschielt, auf welches politische Gebiet sich 
dereinst die heranwachsende Jugend begeben wird, anstatt es 
als seine Aufgabe zu betrachten, sie zu tüchtigen Menschen 
heranzubilden, wer mit dem Vorhaben an die Lösung nuserer 
Frage herangeht, aus persönlichen Gründen oder seiner Partei 
zu Liebe selbstische Beeinflussung auf einem Gebiete zu ver- 
suchen, das nur der selbstlosen Hingabe erschlossen sein sollte, 
der schändet die Wohlfahrtspflege, der bleibe zu Hause 1 

Man soll sich lediglich in den Dienst des Menschenkindes 
stellen und soll sich nach getaner Arbeit sagen können : dieses 
Menschenkind habe ich mitentwickeln helfen zu einem tüch- 
tigen Kulturmenschen. Und gehen wir in dieser Grundan- 
schauung an die Aufgabe heran, dann wird die Zukunft dem 



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Erster Kongress f. Kinder forschung und Jugendfürsorge. 



217 



großen Gedanken gehören, daß es für die bürgerliche Gesell- 
schaft eine sittliche Notwendigkeit ist, aus freier Entschließung 
heraus und <lurch eigene Tätigkeit unsere Jugend einem besseren 
Lose dadurch entgegenzuführen, daß das Erziehungswerk der 
Schule als ein Liebeswerk der Gesellschaft planmäßig fort- 
gesetzt wirdl Die Wahrheit und die Vernunft haben noch 
immer auf die Dauer gesiegt und das vernunftmäßige An- 
schauen der in Wahrheit vorhandenen Dinge muß dahin 
führen, daß die bürgerliche Gesellschaft anders als bisher in 
werktätiger Liebe die Schulentlassenen auf ihrem Lebenswege 
sittlich, geistig, körperlich und wirtschaftlich in den entschei- 
denden Jahren der ersten Selbständigkeit führen und fördern 
wird. Nicht, um die Jugend sich zu erobern, sondern um ihr 
zu dienen ! In solcher Auffassung der Lebenspflichten und des 
Gesetzes der Entwicklung der Gesellschaft und des Staates 
kann es kein Traum sein, wenn wir erhoffen, daß die Zukunft, 
die unserer schulentlassenen Jugend beschieden ist, eine 
goldene Zukunft sein wird! 



Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung. 

Referat von Hanna Mccke, 

Leiterin des Ev. Fröbelseminars in Cassel. 

Rednerin weist bei Fröbel nach, daß ein Genie weit- 
schauend intuitiv erkennt, was auf langsamem Wege der Beob- 
achtung und Erfahrung die Wissenschaft logisch begründet. 
Die Natur, deren Offenbarungen das Genie ist, kann sich nicht 
anders als auf natürlichem Wege natürlich äußern. Die Aeuße- 
rung der Kindesnatur hat zu allen Zeiten nicht nur 
die Berufenen, Pädagogen, anziehend gefunden, sondern es 
ist erwiesen, daß alle genialen Menschen Interesse und Liebe 
für Kinder gehabt. In Deutschland ist der Kontakt der 
Wissenschaft der Kinderforschung mit der pädagogischen 
Praxis noch nicht hergestellt. Ueber der Erkenntnis des 
Wesensneuen sollte die Pädologie die gemeinsame Wesens- 
wurzel, die in der Pädagogik liegt, nicht vernachlässigen. 
Mit der Popularisierung der Psychologie durch die Pädagogik 



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218 Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 

wird der Wissenschaft ein großer Dienst geleistet; sie wird 
veranlaßt, ihre Ergebnisse dem inneren Zusammenhange nach 
aufzudecken und auf die einfachste Formel zu bringen. Die 
Geschichte bestätigt das besonders beim Blick auf die 
Fröbelsche Pädagogik und die Kinderforschung. 

Trotzdem die Anfänge der Kinderseelenkunde in Deutsch- 
land liegen, wird das Interesse für die seelische Eigenart des 
kleinen Kindes in Deutschland erst allgemeiner bei Gelehrten 
und pädagogischen Praktikern, seit die genetische Psychologie 
im Auslande sich entwickelt und in ihre Heimat zurückgetragen 
wird. In Deutschland krankt die Pädagogik an dem Irrtum, 
das Kind als kleinen Erwachsenen anzusehen, der möglichst 
rasch auf die Stufe gegenwärtiger Kultur zu heben sei. Das 
ist eine der Quellen des Konflikts zwischen Wollen und 
Können, der als Unfrieden auf so vielen Menschen lastet. 

Nicht nur in der theoretisierenden, auch das Originale in 
ein System bringenden Art der Deutschen ist die Ursache dieser 
Geringachtung des „Seelenbinnenlebens" im Kinde zu suchen, 
sondern auch in zeitlichen Ursachen: das Naturevangelium 
eines Rousseau hat im 18. Jahrhundert in Deutschland viel 
Widerhall gefunden; Herders Offenbarungen in seinen Ideen 
zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zeigen, wie 
der einzelne sein Selbst entdecken kann; der Philantropen 
Wertlegen auf die Lustgefühle wird durch Pestalozzis Erkennt- 
nisse vom Wesen der Menschennatur ergänzt; Herbart betont 
die Wichtigkeit des vielseitigen, gleichschwebenden Inter- 
esses; Fröbel entdeckt den Spieltrieb als die elementare, 
schaffende Kraft im Menschen, aus der sich die Arbeit ent- 
wickelt, während Schiller zeigt, daß der Mensch nur da ganz 
Mensch ist, wo er spielt. Fröbel findet — wonach Pestalozzi 
Zeit seines Lebens gesucht hat : das Abc der Kunst. Es bietet die 
Mittel zur allseitigen Kräfteentfalrung durch frei schaffendes 
Tun. Er sieht die Hauptaufgabe des Erziehers darin, den 
Keim herauszuhorchen und aus dem Kinde herauszulocken, 
damit nicht gleich der erste Zuschnitt — wie Kant sagt — 
schon in den ersten Leben sanfängen, dem' akademischen 
Triennium, verfehlt werde; vielmehr sollen die Kräfte empor- 
schießen, indem die Unlust weggenommen wird. 

Statt das Werk seiner Vorgänger zu krönen, scheitert 
Fröbels Mission äußerlich an dem Widerstand derjenigen, deren 



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Erster Kongrcss f. Kinder forsehung und Jugendfürsorge. 



219 



Verstehen mehr auf die Wirkungen als auf die Ursachen 
gerichtet war. Auch unterstützten die politischen Verhältnisse 
das reaktionäre Betonen der geprägten Formen. Dazu kam, 
daß Fröbels, erst unserer Geistesrichtung entsprechende Ideen, 
nicht in eindrucksvoller Anschaulichkeit gesprochen und 
geschrieben wurden, daß es ihnen an charakteristischer Formu- 
lierung der Grundgedanken fehlte. 

Die deutschen Frauen, an welche er sich vornehmlich 
wandte, schlummerten noch in dem Vorurteil vom angeborenen 
pädagogischen Talent, der steten psychologischen Erleuchtung 
der Mutter; ihr Persönlichkeitsbewußtsein hatte sich, ent- 
sprechend dem romantischen Frauenideal, noch nicht zum 
Begriff geistiger Mütterlichkeit geklärt. 

Ins Ausland getragen, werden Fröbels Schriften knapp 
übersetzt und gut kommentiert; sie erscheinen den aller 
Traumpädagogik abgewandten Amerikanern als eine Fund- 
grube praktischer Weisheit. Die Förderung Fröbelscher Päda- 
gogik wird als ein Staatsinteresse aufgefaßt; dieselbe wird 
Lehrfach auf den Universitäten; Tausende von Müttern 
sammeln sich zu den „Motherscouncils" ; unzählige Kindergärten 
werden gegründet und als integrierender Teil der Schulen den 
Colleges angeschlossen. Sie bilden nicht nur direkt einen Damm 
gegen die sozialen Nöte, sondern werden auch eine gesunde 
Mutterschule und psychische Lehrerklinik, wo Kindeswesen 
beobachtet und naturgemäß behandelt wird — unter der 
Aegide einer nicht fordernden, sondern von der Natur des 
Kindes geforderten Methode. Die Child-studies eines Stanley 
Hall, Baldwin, Tracy finden infolgedessen allgemeines Interesse. 

In Deutschland, dem Mutterlande der wissenschaftlichen 
Kinderforschung und der prychologischen Kinderklinik, wie 
Virchow den Kindergarten genannt, gehen unterdes Fröbels 
Ideen durch handwerksmäßigen, geistlosen Betrieb der meisten 
Kindergärten fast verloren, während in den Kleinkinderschulen 
ein Kleinhandel mit dem Wissen Erwachsener getrieben und 
dem unreifen Kindesgeiste aufgepfropft wird. 

Mangelnde wissenschaftliche Ausbildung der Anstalts- 
leiterinnen werden die Ursache, daß sich als Dressur eine 
Methode darstellt, durch welche Fröbel nichts weniger als 
harmonische, freie Entwicklung aller körperlichen, geistigen 
und sittlichen Kräfte anstrebt. 



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220 Erster Kongress f. Kinder forschung und Jugendfürsorge. 

Inzwischen schicken die deutschen Regierungen, z. B. bei 
Gelegenheit der Weltausstellung in Chicago und St. Louis, 
deutsche Gelehrte nach Amerika. Sie berichten mit Bewunde- 
rung vom amerikanischen Erziehungs- und Unterrichtssystem, 
sie empfehlen amerikanische Bücher — die Fröbels Grund- 
sätze praktisch den Zeitforderungen anzupassen verstehen — 
als Wegweiser einer neuen Methode: Diese Methode, in der 
FrÖbel wie kaum ein anderer Pädagoge versucht, die elemen- 
taren Triebe des Menschen in Kultur zu nehmen ; dabei immer 
den Blick gerichtet auf die Kulturforderung der Gesamtheit, 
durch die kleinen Beiträge des einzelnen. Auch seine Arbeit 
war, wie Pestalozzi von der seinen sagt, ein Pulsgreifen der Kunst. 

In Deutschland hat diese Pädagogik bisher noch nicht 
viele, aber begeisterte, wissenschaftliche Vertreter gefunden. 
Schon 185 1 sagte Diesterweg: „Dieser Spielmann der Kleinen 
gleicht einem Seher; er schaut in das Innere der Kindesseele, 
wie vor ihm keiner. Er ist in Wahrheit der Entdecker der 
Psychologie des unbewußten Kindheitslebens." Sein 1903 ver- 
storbener begeisterter Interpret, Professor Eugen Pappenheini, 
hier, urteilt: Fröbel wäre längst vergessen, wenn er nur ein 
pädagogischer Schwärmer gewesen wäre. Aber er ist einer von 
denen, welche wirken, gestalten über ihre Zeit hinaus. Und 
diese — die wahren Idealisten — waren von jeher die Erzieher 
der Menschheit. 

Im zweiten Teil weist Rednerin dann nach, 
inwiefern die Fröbelsche Pädagogik die wissenschaftlichen 
Forderungen der Kinderseelenkunde praktisch erfüllt: Wie 
Fröbel ganz auf dem Boden der biologischen Forschung, der 
empirischen Methode steht; er findet im Spiegel der Natur und 
Kulturgeschichte die Methode und des Erziehers Aufgabe : An- 
regung und Entwicklung des sich bewußt werdenden, denkenden 
Wesens zur reinen und unverletzten Darstellung des Göttlichen 
mit Bewußtsein und Selbstbestimmung. 

Der Charakter des Kindergartens wird geschildert, wo den 
Erscheinungen des Kindeslebens in ihren innersten Gründen 
gefolgt werden soll; besonders wichtig sei dies beim Anfang 
des religiösen Lebens im Kinde, das dem Samenkeimen im 
Frühling gleiche, lange vorher da sei, ehe es unserem Auge 
sichtbar werde; deshalb die Notwendigkeit der Pflege durch 
äußere Eindrücke: vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. 



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Erster Kongress f. Kindt rforschung und Jugendfürsorge. 



221 



Die dreifache Tätigkeit der Seele besteht, indem Aeußer- 
Jiches innerlich, Innerliches veräußert und für beides sich die 
Einheit bildet. Die moderne Pädologie bestätigt Fröbels An- 
sicht, daß die kräftige und vollständige Entwicklung jeder 
folgenden Stufe von der vollständigen und eigentümlichen Ent- 
wicklung aller und jeder einzelnen vorhergehenden Stufe ab* 
hängt. Naturwissenschaft und Geschichtsphilosophie bestätigen, 
was Fröbel seinerzeit nur ahnen konnte, daß „aus dem anfangs. 
Kleinsten in der Natur und im Entwicklungsgange des 
Menschen das später so umfassend Wirkende hervorgeht". 
Deshalb fordert er für die allererste Erziehung auch denkende 
und pädagogisch geschulte Mütter. Er gibt ihnen auch prak- 
tische Mittel neben der Anleitung für ihre Arbeit. Weiter weist 
Rednerin nach, wie Fröbel Flechsigs Erkenntnisse über die 
Sinnesleitungen, Sinneszentren, über die Stärkungen des 
Gedächtnisses nach Quantität und Qualität vorahnend an- 
gewandt, wie ernst er die Mütter mahnt, vom Lebensanfang 
an die von Natur egoistisch gerichteten Triebe, welche die 
sensorischen und motorischen Apparate regeln, so zu pflegen, 
daß sie von vornherein den höheren, altruistisch gerichteten 
dienstbar werden. Schon im ersten Spielen berücksichtigt 
Fröbel die besonders von Baldwin und Groos formulierten 
Wahrheiten; z. B. die lebhafte Neigung des Kindes für Rhyth- 
mus und Reim, diesen Befreier der Phantasie und Einteiler 
der Zeit ; ferner die Freude am Wohlklang der Melodie, diesen 
stimmlichen Ausdruck der Gemütsbewegung. Er wendet an, 
was Fechner das Prinzip der Hilfe nennt; er berücksichtigt 
schon vor 70 Jahren die Eindruckstheorie Ziehens, indem er 
z. B. in den einfachen ersten seiner Gaben zum ersten Ins 
augefassen Grundformen und Grundfarben gibt, daran das 
Kind das erste Prüfen, Wägen und Vergleichen vornehmen, 
kann. Dann beim Erwachen des spekulativen Interesses die 
weiteren Gaben, damit das Kind das Innere erforschen und 
nach Anschauung des Ganzen dasselbe in seine Teile zerlegen 
kann, und wie bei den folgenden flächen-, linien- und punkt- 
artigen Gaben, bei den wiederholten Erfahrungen über die 
Elemente der Form, Zahl, Farbe sich die Lustgefühle, 
die das als Spiel geübte Selbsttun des Kindes schafft, unwill- 
kürlich einstellen und das Interesse erweitern und der Sprache 
einen Inhalt geben. So gelangt das Kind, von Stufe zu Stufe 



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222 Erster Kongrus f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



fortschreitend, zur Stoffbewältigung, Stoffverwandlung und 
Stoffvergeistigung, dem frei schaffenden Tun. Fröbel schreibt : 
dunkle Ahnung bewußten Lebens in sich, wie des Lebens um 
sich und somit Kräfte üben, prüfen und so vergleichen, Selb- 
ständigkeit üben, prüfen und so vergleichen: das ist der 
äußerste Punkt und innerste Grund aller Erscheinungen des 
ersten, frühsten Kinderlebens, der frühsten Kindertätigkeit. Im 
Kräfteüben ist charakteristisch das enthalten, worauf Fröbel 
durch seine Beschäftigungen hinzuwirken sucht. Im Kräfte- 
prüfen werden wir an die Wirksamkeit der Spielleiterin gemahnt, 
welche das Maß der Leistungsfähigkeit erkennen muß und 
zum Selbstgebrauch zu leiten hat. Im Kräftevergleichen ist 
lebendig das Aufeinanderwirken der Kinder verborgen: ein 
wesentliches Moment im Kindergarten. Compayre* urteilt von 
der Bedeutung des Spieltriebes: „Mit Fröbel ist das Spiel zum 
wesentlichen Bestandteile der Erziehung und zur Kunst 
geworden." 

In der unscheinbaren Form des Spiels wird alles, was 
der Entwicklung des Kindes geboten wird, sofort in den 
ganzen Lebenszusammenhang gebracht. „Dem Menschen 
muß frühe die Natur in ihrer Einheit, als großes, lebendiges, 
gleichsam einen Gedanken Gottes darstellendes Ganzes, als 
eine Lebensgestalt dargestellt werden." Comenius geht in 
seinem Einheitsgedanken, z. B. im Orbis pictus, von Gott aus 
und zu Gott zurück durch Natur und Menschheit. Sein kon- 
zentrischer Lehrgang ist nur insoweit naturgemäß, als im Kinde 
durch die Anschauung Tätigkeit ausgelöst wird, welche auf 
Selbstbeobachtung und Selbsterfahrung sich gründet. Fröbel 
hingegen will nicht in die ganze Fülle des Seins, sondern in die 
Elemente einführen. 

Weil er das Kind als Glied der Menschheit erkennt, so 
muß es frühe den höchsten Lebensgesetzen gemäß behandelt 
werden; also muß auch in seinen Spielen und Spielmitteln 
der Zusammenhang beachtet und jede Lücke vermieden werden. 
Erziehung und Unterricht müssen, wie das Leben selbst, 
ineinander greifen. Das im Spiel Dargestellte wird zum innersten 
Regulator des Wissens und Könnens und hilft den Erziehern, 
neue Probleme aus den gewonnenen Tatsachen zu ziehen, des 
Kindes Horizont zu erweitern, ohne ihm künstlich etwas auf- 



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Erster Kongreu f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



223 



zu drängen. Dabei kommt's wenig auf eine große Ansammlung 
von Kenntnissen an, wohl aber darauf, daß sofort zu ver- 
wertender Stoff da ist; denn sicherlich wird der Erwachsene 
immer die passenden Mittel finden, wenn seine Kräfte ent- 
faltet und gestählt sind. 

Der echte Kindergarten, welcher solche Aufgaben erfüllt, 
wird ein Vorbild für die Schule der Zukunft werden. Er ver- 
dient das Interesse der Familie, die er zu ergänzen und zu unter- 
stützen sucht ; er verdient das Interesse des Kinderpsychologen, 
dessen Forschungsresultate er unmittelbar zur Ausgestaltung 
und Weiterentwicklung der FrÖbelschen Pädagogik verwerten 
kann. Er verdient aber auch die Förderung der Sozialpädagogen 
und Nationalökonomen: Er gewöhnt das Kind an den Um- 
gang mit Menschen; er entwickelt alle sozialen Tugenden 
und bekämpft die Einseitigkeit und die Fehler der 
Familienerziehung, indem er zugleich das Familiengefühl zu 
stärken sucht. 

Er baut soziale Brücken, denn er sammelt die Kinder aller 
Stände, aller Konfessionen, und — was heut unendlich wichtig 
ist — er erzieht zur Freude an der Arbeit, indem er vom 
Spiel, als dem Urtrieb menschlicher Tätigkeit, ausgeht und 
das Kind auf die von der Natur selbst gesetzten Durchgangs- 
stufen der Menschheitsentwicklung führt. Jedes Kind, jedes 
Himmelsstrichs, nimmt freudig die gebotenen FrÖbelschen 
Beschäftigungsmittel auf, welche Wiederholungen der Tätig- 
keiten der Rasse sind, durch die dieselbe ihre geistige und 
manuelle Fertigkeit gewonnen. Sie sind zugleich auch Vor- 
übungen, welche der spätere Arbeiter, ob Handwerker oder 
Künstler, braucht. Als Beispiel nenne ich nur das Flechten. 

Je mehr die Maschinen dem Menschen die rohe Arbeit 
abnehmen, je weiter die Mechanik sich entwickelt, desto 
wichtiger ist frühe Kräftigung und Verfeinerung der 
Hand einerseits — und andererseits ist's wichtig, daß der 
Arbeitende frühe, wie es das Fröbelsche System erzielt, zum 
sittlichen Bewußtsein des Zusammenhangs seiner Arbeit mit 
den Leistungen der Kultur gebracht werde. 

Rednerin weist auf des Amerikaners Dewey interessantes 
Buch, das die gleichen Gedanken vertritt und eine Reform der 
Schule im Sinne Fröbels anstrebt. Er meint : „Ehe wir nicht 
in den Jahren der ersten Kindheit und Jugend die Triebe des 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



Schaffens systematisch ausbilden, ihnen eine allgemein soziale 
Richtung geben, wozu der Kindergarten den Anfang macht, 
eher sind wir nicht in der Lage, die Quelle unserer wirtschaft- 
lichen Uebelstände einzudämmen, geschweige denn diese 
Uebelstände gründlich zu beseitigen.'* 

Wieviel mehr würde bei dem Streben, zur Hebung des 
Volkes ihm die Kunst durch die Schule zu bringen, erreicht 
werden, wenn man die von Fröbel der beweglichen Phantasie 
des Kindes schon im Kindergarten gebotenen Mittel benutzte, 
Schönheitsformen vom Kinde selbst schaffen zu lassen, und 
so das ästhetische Genießen als innerliches Erleben ermög- 
lichte; die Beschäftigungsmittel sind dazu wahre Zaubermittel. 
Solange sich aber die Schule vorwiegend an den intellektuellen 
Teil unserer Natur wendet, wird der Kernpunkt derselben nicht 
berührt: Er offenbart sich nur im eigenen Tun. — 

Alle, welche, wie Goethe, in der Kindheit von heute die 
Menschheit von morgen sehen, werden vom Interesse am Kinde 
auch auf die soziale Seite der Frauenbewegung hingewiesen 
und als wichtigste Aufgabe derselben die Ausbildung von 
Müttern und Kindergärtnerinnen, die ihren menschheitbildenden 
Aufgaben gewachsen sind, erkennen. Denn „es ist Bestimmung 
des Menschen, nicht nur instinktiv, wie die Tiere, sondern mit 
Bewußtsein von Ziel, Weg und Mitteln der Erziehungskunst 
zu wirken". 

Mir scheint, daß die in die Wissenschaft der Mütter ein- 
geführten Frauen wohl geeignet wären, der wissenschaftlichen 
Kinderforschung Helferdienste zu tun. Meine jahrelangen Be- 
obachtungen beim psychologischen und pädagogischen Unter- 
richt im Fröbelseminar in Cassel beweisen mir immer wieder, 
daß meine Schülerinnen — es sind junge Mütter und junge 
Mädchen — für kaum ein Fach mehr Interesse haben als für 
pädagogische Psychologie; sie bildet das Zentrum allen Unter- 
richts. Der Eifer tut wohl nicht alles — aber doch viel. Hieran 
anschließend fordert Rednerin obligatorische weibliche Fort- 
bildungsschulen, ein sozial - pädagogisches Einjährig - Frei- 
willigenjahr statt des Vergnügungspensionsjahres und berichtet 
von den erfreulichen Erfolgen, welche man in Cassel mit 
solchem Reformpensionat habe, wie es schon vor 70 Jahren 
Fröbel organisierte, „um geistig klare, still sinnige und praktisch 
tätige Frauen zu bilden". 



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Erster Kongress f. Kinderforichung und Jugendfürsorge. 



225 



Die Entwicklung der Wissenschaften im allgemeinen und 
die Kinderforschung im besonderen zeigt uns je mehr und 
mehr, wie tief Fröbel in seiner Arbeit sah; sein Werk gewinnt 
im Lichte unserer Tage eine ganz andere, viel umfassendere 
Bedeutung. Wir werden Schritt für Schritt zu dem Bekenntnis 
gezwungen, daß er die ernste Berücksichtigung aller Kräfte, 
ihre Ursachen und Endziele richtig erkannt und eingeschätzt 
hat und den Weg gefunden hat, welchen wir, wollen wir die 
Ergebnisse der Kinderforschung befolgen, einschlagen müssen : 
den Weg, durch Produktivität den Geist auf die Höhe, den 
Menschen zur Sittlichkeit zu führen. Dieses Naturevangelium 
hat Fröbel gefunden. Deshalb verdienen seine Ideen auch 
das regste Interesse und die kräftigste Förderung aller derer, 
welche die Wissenschaft nicht nur als Selbstzweck lieben, 
sondern die auch Tatmenschen genug sind, sie ans Leben 
anzuknüpfen und für die Kultur der Menschheit dienstbar zu 
machen. 

Literatur: Hanschmann : ,,Fr. Fröbel und die Entwicklung seiner 
Erziehungsidee in seinem Leben", Eugen Pappenheim: „Aufsätze über 
Fr. Fröbel" und „Menschenerziehung und Pädagogik des Kindergartens" 
von Fröbel, Ausgabe von Dr. W. Lange. Ziehen: „Physiologie und Psycho- 
logie", Wundt; „Grundriß der Psychologie", Amern : „Literaturberichte" 
und „Die Seele des Kindes". 



Eine erste Blütezeit der Kinderseelenkunde um die 
Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. 

Von 

Dr. phil. Wilhelm Ament, Würzburg. 

Die moderne, um das Kind entstandene Bewegung ist 
nicht die erste. Die Beobachtungen von Tiedemann 1786 
sind nämlich nicht die einzigen ihrer Art im 18. Jahrhundert 
gewesen, die Kinderforschung erlebte vielmehr damals schon 
als Folgeerscheinung des durch Rousseaus Emile 1762 an- 
geregten Aufschwungs der Pädagogik im Philanthro- 
pin i s m u s einerseits und des durch den philosophischen Empi- 
rismus, namentlich Locke 1690, angeregten Aufschwungs der 
Erfahrungsseelenkunde andererseits eine förmliche 
erste Blütezeit, die aber bis auf wenige Spuren wieder in Ver- 
gessenheit geriet. Nach einigen zerstreuten Vorläufern setzte 

Zeitschrift für pftdagogUche Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 5 



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226 



Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 



sie etwa zwischen 1770 — 80, namentlich mit Basedows und 
Camp es philanthropischem Journal „Pädagogische Unter- 
handlungen" seit 1777 und Campes „Allgemeiner Revision 
des gesamten Schul- und Erziehungswesens" seit (1784) 1785 
ein und erstreckte sich in langer Entwicklungskette bis etwa 
nach 1830. Tiedemann erscheint mit großer Wahrschein- 
lichkeit in Abhängigkeit von Rousseau und den Philanthropen. 
Ganz wie die moderne Bewegung begann die damalige zuerst 
mit Kinderbeobachtungen und sogar Kindertagebüchem 
(Pestalozzi, Tiedemann, Dillenius, Manchart, 
Jean Paul u. a.) und führte über vergleichende Lebens- 
geschichten (Weiller, Schwarz, Grohmann) schließlich 
zu systematischen Gesamt vor Stellungen (Sickel, Handel). 
Daneben behandelte sie mancherlei Einzelfragen, mit Vor- 
liebe, z. B. Fähigkeiten (Huart, Ruder, Garve, Nie- 
meyer), Charaktere, Kindheitserinnertmgen (Moritz, 
Pockels) u. a. Dem Berufe nach sind die Kinderforscher 
außer Pädagogen namentlich Philosophen bezw. Psychologen, 
Aerzte, Theologen, aber auch diese vielfach mit pädagogischem 
Interesse. Hinsichtlich der Methode trotz des frühen Rufes 
T r a p p s nach Experimenten ( 1 780) und trotz einiger Kindertager 
bücher im allgemeinen auf nichts weiter als der subjektiven 
Gemeinerfahrung fußend, hatte sich die Kinderforschung jener 
Tage in diesen Werken bald erschöpft und nicht die Kraft, sich 
gegen den Ansturm der nach Kant wieder neu auflebenden 
spekulativen Systeme, besonders jenes Herbarts, zu halten. 
Mit der Erfahrungsseelenkunde wurde von diesen auch ihr 
Sprößling hinweggefegt. 

(Der Vortrag wurde durch eine Austeilung der Literatur 
der Kinderseelenkunde von Locke 1690 bis Preyer 1882 in 
Erstlingsausgaben ergänzt.) 



Zur Frage der Kinderlügen. 

Von 

F. Kemsies. 
In einer Reihe von Vorträgen und Berichten hat der Verein 
für Kinderpsychologie zu Berlin zur Frage der Kinderlügen 
Stellung genommen und zurzeit 12 einschlägige Publikationen 
unter dem gemeinsamen Titel: „Beiträge zur Psychologie und 



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Erster Kongress f. Kinderforschung und Jugendfürsorge. 227 



Pädagogik der Kinderlügen und Kinderaussagen" in der Zeit- 
schrift für Pädagogische Psychologie herausgegeben. Die nach- 
folgende kleine Untersuchung gt hört in denselben Rahmen. 

Eine Schlägerei zwischen achtjährigen Schülern auf dem 
Schulhofe in einer Zwischenpause wurde zum Gegenstand eines 
dreimaligen Verhörs der Beteiligten und ihrer Zeugen gemacht. 
Der Vorgang war denkbar einfach und konnte aus den Zeugen- 
aussagen mit großer Wahrscheinlichkeit rekonstruiert werden. 
Zwei Schüler Ka und Ki liefen beim Spiel unabsichtlich gegen- 
einander, worauf sofort die Tätlichkeiten begannen, nämlich 
je ein Schlag mit der Hand, darauf ein verhängnisvoller dritter 
Schlag, der Ka s Nase traf, so daß sie blutete. Es lassen sich 
drei Phasen mit je vier Momenten unterscheiden. Die drei 
Verhöre beziehen sich nur auf die Handlungen und Vorgänge, 
nicht auf die begleitenden Umstände, Worte oder die räumf 
liehe Umgebung; sie liegen zeitlich ca. je vier Monate aus- 
einander. 

Die Angaben variieren sowohl bei den zwei Hauptpersonen 
wie bei den Zeugen, wie es scheint, in typischer Weise. Der 
Kern der Handlung, die drei Schläge, ist fast in Frage gestellt, 
während das Nasenbluten nicht bestritten wird. Bemerkens- 
wert ist das Verhalten des einen Zeugen, der in der zweiten 
Vernehmung Personen und Vorgänge verwechselt, jedoch vier 
Monate später in der dritten Vernehmung die zweite Aussage 
für unrichtig in allen Teilen erklärt („er verstehe sich selbst 
nicht"), und die ersten Aussagen vor 7 1 /* Monaten für die allein 
zutreffenden gehalten wissen will. Die Momente der ersten 
Phase sind allgemein besser behalten, obwohl sie nichts Cha- 
rakteristisches besitzen. Die Momente der zweiten und dritten 
Phase sind teilweise in der Erinnerung ausgelöscht und durch 
suggerierte, oder hineinexaminierte Vorstellungen ersetzt. 

Es wird gefolgert, daß der Trozeß der Ausgestaltung einer 
Aussage nach der sachlichen und sprachlichen Seite hin eine 
wissenschaftliche Leistung ersten Ranges ist, für die Kinder 
von acht Jahren nicht befähigt erscheinen; vielmehr sind sie 
als ganz unzuverlässige Zeugen anzusehen. 



6* 



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Sitzungsberichte. 



Berliner Verein für Schulgesundheitspflege. 

Sitzung vom 30. Oktober 1906, abends 8 Uhr, 
im Bürgersaal des Rathauses. 

Vorsitzender : Herr A. B a g i n s k y. 
Schriftführer : Herr T h. B e n d a. 

Herr Baginsky eröffnet die erste Sitzung des Wintersemesters, 
teilt mit, daß eine Reihe recht wichtiger Themata vorliege und gibt der 
Hoffnung auf regen und lebhaften Zuspruch seitens der Mitglieder Aus- 
druck. Alsdann widmet er dem verstorbenen Geheimrat Hermann 
Cohn- Breslau, „einem der besten Kämpen auf dem Gebiete der 
Schulhygiene", warmherzige .Worte ehrenden Gedenkens. Cohn beschäf- 
tigte sich auch, wie Baginsky hervorhebt, sehr wesentlich mit; der Frage 
der Schulärzte. Nach einem von ihm über die Einführung der Schulärzte 
gehaltenen Vortrage ist die Schularztfrage nicht wieder aus den Debatten 
geschwunden. Der Vorsitzende bat die Anwesenden, sich zu Ehren des 
Verstorbenen von den Plätzen zu erheben. (Geschieht.) 

Alsdann sprach Zahnarzt Dr. Paul Ritter über: 

„Die Bedeutung einer gesunden Mundhöhle 
für die allgemeine Gesundhei t'\ 

Zy den Pflichten des Arztes gehört es, das große Publikum darauf 
aufmerksam zu machen, wie es hygienisch richtig lebt. Di© meisten der 
Infektionskrankheiten werden durch Sproßpilze hervorgerufen, deren Schäd- 
lichkeit festgestellt ist. Auch in der Mundhöhle entfalten diese Pilze eine 
für den örtlichen wie für den allgemeinen Gesundheitszustand höchst be- 
deutsame Rolle. An einem an sich gesunden Gewebe können sie keine 
Schädlichkeiten anrichten; dazu gehört ein locus minoris resisteritiae. Durch 
hohle Zähne und entzündetes Zahnfleisch wird eine Ansammlung der Pilze 
befördert. Die Zähne bleiben nur so lange gesund, als sie von dem um- 
gebenden Zahnschmelz geschützt sind. Gehen Speisereste in Zersetzung 
über, so bilden sich chemische Stoffe, Säuren, welche die Oberfläche der 
Zähne angreifen und dem Eindringen der Bakterien freie Bahn schaffen. 
Infolgedessen bildet sich die Zahnkaries, die häufigste aller Erkrankungen. 



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Sitzungsberichte. 



229 



Als Folgen der Zahnkaries treten auf Zahnschmerzen, Gesichtsschmerzen, 
Ohrenschmerzen, Abszeßbildungen, Kiefererkrankungen, langwierige Fisteln; 
auch Lymphdrüsenschwellungen kommen häufiger vor. Seltener werden 
die Nachbarorgane der Mundhöhle, wie die Oberkieferhöhle, betroffen. 

Die Vorteile einer gesunden Mundhöhle für die allgemeine Gesund- 
heit sind außerordentlich groß, eine gesunde Mundhöhle ward wesentlich dazu 
beitragen, das Individuum gesund und kraftig zu erhalten. Infolge schlechter 
Zähne entstehen durch das Hinunterschlucken nicht gekauter Speisen Magen- 
und Darmerkrankungen, Appetitlosigkeit, in deren Folge Blutarmut und 
Nervosität auftreten. Es kommen die Schädigungen hinzu, die für die Atmungs- 
organe durch den die Mundhöhle passierenden Luftstrom herbeigeführt 
werden. Bei Erkrankungen in der Mundhöhle ist die Möglichkeit der 
Erwerbung ansteckender Krankheiten besonders groß, so der Tuber- 
kulose, Diphtherie, Influenza. Eine besondere Bedeutung hat die Mund- 
hygiene bei der Akquisition und Propagation der sogenannten Gewerbe- 
krankheiten, vor allem der Phosphor-, Blei- und Quecksilbervergiftung. 
Die Gifte können nur dann festen Fuß fassen, wenn ein gut 
präpariertes Feld in der schlechten Mundhöhle gegeben ist. Einige 
Krankheitsbehandlungen lassen sich bei schlechten Zähnen fast gar nicht 
durchführen, weil das Medikament auf die Mundkrankheit verschlimmernd 
wirkt. In erster Linie trifft dies bei der Behandlung der Syphilis mittels 
Quecksilber zu. 

Aus alledem folgt die dringende Notwendigkeit einer sachgemäßen 
Mundpflege und frühzeitigen Behandlung von Zahnkrankheiten, die schon 
bei dem Kinde einsetzen muß. Erkrankte Zähne müssen gefüllt und, wenn 
dies unmöglich, entfernt werden. Die Einführung von Schulzahnärzten ist 
dringend erforderlich, und wenn auch bisher der Antrag Ritter in der Stadt- 
verordnetenversammlung keinen Erfolg hatte, so ist doch das Interesse für 
diese Frage wachgerufen worden und wird erhalten bleiben, bis der An- 
trag verwirklicht ist. Die Statistik der Untersuchungen der Kinder hat 
traurige Resultate ergeben, und es steht fest, daß die Karies die ver- 
breitetste Krankheit ist, die wir kennen, und besonders auf den jugendlichen 
Körper von sehr schädigendem Einfluß ist. Es ist ferner eine bekannte 
Tatsache, daß mit Zahnschmerzen behaftete Kinder dem Unterricht nur 
sehr schwer folgen können, unaufmerksam sind und häufig aus der Schule 
fortbleiben, so daß also auch die Schulmänner an der Lösung der Schul- 
zahnarztfrage großes Interesse haben müssen. 

In der Diskussion weist Herr Dr. Auerbach auf die Momente 
hin, welche die Bildung der Zähne erschweren bezw. schlechtere Zähne bei 
den Kindern entstehen lassen (Rhachitis), und führt besonders an, daß die 
nicht gestillten Kinder schlechtere Zähne haben wie die natürlich ernährten. 

Herr Schularzt Dr. Cohn sieht die Ursache des schlechten Zustandes 
der Schulkinder besonderers darin, daß unser Volk in hygienischer* Be- 
ziehung leider völlig ununterrichtet ist. In achtjähriger schulärztlicher Tätig- 
keit hat er kaum i °/o der Kinder mit gesunden Zähnen gefunden. Die 
Mütter wissen nicht, wie sie die Zähne der Kinder pflegen müssen, zudem 
werden die Kinder unzweckmäßig ernährt. Auch nach der zweiten Den- 
tition läßt die Zahnpflege noch sehr viel zu wünschen übrig. Die Schul- 



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Sitzungsberichte. 



ärzte hätten die Pflicht, immer und immer wieder die Kinder auf die Pflcgt- 
der Zähne hinzuweisen, und die Kommunen werden nicht umhin können, die 
Errichtung von Schulzahnkliniken anzustreben. 

Herr Rektor Rupnow hält es für ausreichend, wenn der Schularzt 
und der Lehrer für die Aufklärung der Kinder sorgen, hauptsächlich in 
prophylaktischer Beziehung betreffs der Art der Ernährung, der Warnung 
vor allzu heißem Essen und Trinken usw. Eine unentgeltliche oder billige 
Stelle für die Zahnbehandlung wäre allerdings sehr wünschenswert. 

Herr Dr. Lennhoff will im Gegensatz zum Vorredner nicht zu viel 
der Selbsthilfe anvertrauen ; wenn die Selbsthilfe nicht genug geübt 
wird, so muß ein gelinder Zwang ausgeübt werden. Der Schulzahnarzt soll 
nicht ein integrierender Teil des Schulkörpers werden. 

Herr Zahnarzt Li p schütz verweist auf die Schulzahnkliniken in 
Straßburg und vielen anderen Orten Deutschlands, deren glänzende Erfolge 
er hervorhebt. Nach zahlreichen Erfahrungen werden die Kinder infolge 
der Zahnbehandlung für den Unterricht wieder aufnahmefähig gemacht, 
und es ist ferner festgestellt, daß die Zeit, welche die kranken Kinder 
zur Behandlung nötig hätten, nicht so umfangreich ist wie die Zeit, welche 
die Kinder von der Schule wegen Zahnschmerzen fortbleiben müßten. 
Beklagenswert ist es, daß in Berlin keine einzige Stellei geschaffen ist, 
wo die Kinder unentgeltlich zahnärztlich behandelt werden können. 

Herr Piper betont die Bedeutung der Zahnpflege mit Rücksicht 
auf die Sprachentwicklung; besonders groß ist der Wert der Zahnpflege 
bei den Stammlern. 

Herr Zahnarzt Lazarus vertritt den Standpunkt, daß die Kranken- 
kassen die Schulzahnkliniken einrichten müßten. 

Herr Rektor Ulbrich tritt ebenfalls dafür ein, daß die Kommunen 
die Schulzahnkliniken errichten müssen; er hat auch Bedenken, außer dem 
Schularzt noch einen Zahnarzt in die Schule hineinkommen zu lassen. 

Frl. Dr. Prof 6 beklagt die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte 
in Anatomie und Physiologie, denn auf diesen Fächern baut sich die 
Hygiene auf. 

Herr Oberlehrer Dr. Junge hält die Belehrung der Kinder durch 
den Zahnarzt für ersprießlicher als durch den Lehrer. 

Herr Prof. Baginsky erachtet es nicht für zweckmäßig, mit direkten 
Anträgen an die Behörden betreffs Schulzahnkliniken zu gehen. Er be- 
tont noch, daß es nach Auffassung der Kinderärzte keine. Erkrankungen 
infolge der Dentition gibt. 

In seinem Schlußwort erwidert Herr Dr. Ritter, daß die Ge- 
lehrten sich über die Frage, ob es Erkrankungen infolge des Zahnwcclisels 
gibt, noch nicht einig sind. Die Stadt Berlin wird, nicht die Möglich* 
keit haben, alle zahnkranken Kinder behandeln zu können. Die anzu- 
stellenden Schulärzte sollen nur die Untersuchungen vornehmen und die 
Eltern auf die Defekte der Gebisse aufmerksam machen. Für wohlhabende 
Leute und Wohlfahrtsinstitute ist hier ein weites Feld gegeben, Legate zur 
Errichtung von Schulzahnkliniken zu spenden. Diese Institute könnten 
sicher auf städtische Zuschüsse rechnen. 



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Sitzung »berich te. 



9 . t ' 

Den rweitcn Vortrag hielt alsdann Herr Baginsky über die Frage: 

„Soll man während des Unterrichts im Wjinter die 

Fenster öffnen?" 

Der Referent kommt zur Verneinung dieser Frage. Die teils infolge 
der Ausatmung der vielen Kinder, teils durch Uebcrhitzung schlechte Luft im 
Schulzimmer bedarf allerdings der Erneuerung. Die natürliche Lüftung durch 
die Fensterlücken und durch die Wände und Türen reicht für ein Schul- 
zimmer nicht aus, wenn eine Anzahl Kinder vorhanden ist. Wird jedoch ein 
Fenster geöffnet, so dringt die kalte Luft in das Zimmer hinein, senkt 
sich zunächst auf den Boden, drückt allmählich die warme Luft in die 
Höhe und treibt diese hinaus. Es kommt in jedem Falle ein Luftstrom 
zustande, der in dem Maße stärker ist, als die Differenz zwischen der 
kalten Außenluft und warmen Innenluft groß ist. Im Sommer, gibt es 
kaum eine Differenz, deshalb nützt im Sommer oft das Oeffnen der Fenster 
gar nichts. Im Winter tritt dagegen ein mächtiger Luftstrom auf beim 
Oeffnen der Fenster, ein Luftstrom, der sich schon geltend macht durch die 
Wände hindurch, nur nicht so fühlbar ist, weil hier die Widerstände so groß 
sind, daß der Luftstrom zum Teil aufgehalten wird. Durch das Oeffnen der 
Fenster kommt es infolge des rapiden Luftwechsels zu heftigen Erkäl- 
tungen derjenigen Schulkinder, die am Fenster sitzen. Die Bazillen werden 
infolge der durch die Erkältung herbeigeführten Unregelmäßigkeit in der 
Zirkulation mobil gemacht und es kommt je nach dem locus minoris re- 
sistentiac zu Halsentzündungen, Brustfell-, Lungen-, Ohrenentzündungen usw. 
Der Lehrer kann sich in der Klasse bei geöffnetem Fenster bewegen, 
während die Kinder an ihren Plätzen sitzen bleiben müssen. Die künst- 
lichen Lüftungsverfahren, wie Aspirations Ventilation, Pulskmsventilaäon sind 
bisher nur in sehr wenigen Schulen eingeführt, sie erfüllen auch oft ihren 
Zweck 'nicht; ihre Funktion wird »fort vernichtet, sobald ein Fenster 
aufgemacht wird. Referent tritt deshalb nachdrücklich dafür ein, die Fenster 
im Winter während des Unterrichts geschlossen zu halten und nur 
während der Zwischenpausen öffnen zu lassen. Zulässig ist allenfalls das 
Oeffnen hochgelegener Fensterklappcn, durch welche die Luft im Zickzack 
langsam eindringen kann. 

In der Diskussion hebt Herr Dr. Auerbach hervor, daß 
Lüftungsanlagen wegen ihrer Kostspieligkeit in ,den Schulen unverwendbar 
sind. Bei Klappeneinrichtungen an den Fenstern kannf, wo Zentralheizung 
vorhanden, die eintretende Luft vorgewärmt werden. 

Herr Direktor K e m s i e s wirft die Frage der Abhärtung auf ; er 
kennt bei seinen Schülern keine Krankheitszustände, die infolge des 
Oeffnens der Fenster herbeigeführt sind. 

Herr Schularzt Dr. Cohn bestätigt, daß die künstlichen Lüftungs- 
anlagen oft versagen, die Heizung der Schulzimmer ist meist unzu- 
reichend. Die Klappenvorrichtungcn an den oberen Fenstern funk- 
tionieren meist sehr gut, aber sie reichen nicht aus. Wahrend des größten 
Teiles des Jahres ist es nach seiner Meinung möglich, die Fenster zu 
öffnen. Notwendig sei eine bessere Ausnützung der Zwischenpausen, die 
nach 45 Minuten Unterricht stets auf zehn Minuten bemessen werden 



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Sitzungsberichte. 



sollten. Bei solcher Einteilung würde jede Ventilationsanlage überflüssig 
werden. 

Herr Prof. Keesebiter tritt ebenfalls dafür ein, die Pausen, zur 
guten Lüftung des Schulzimmers zu verwenden, 

Herr Rektor Rupnow empfiehlt, falls das Oeffnen der Fenster 
während des Unterrichts unvermeidbar sei, die Kinder sich während dieser 
Zeit im Klassenzimmer bewegen zu lassen. 



Sitzung vom 20. November 1906, abends 8 Uhr, 
im Architektenhaus. 

Vorsitzender : Herr K e m s i e s. 
Schriftführer: Herr Th. Benda. 
In seinem Vortrage über: 

„Schule und Tuberkulose" 

ging Professor Dr. Th. Sommerfeld davon aus, daß man die Tuber- 
kulose, diesen mächtigen Feind der Menschheit, von allen Seiten zu um- 
zingeln und zu erdrücken suchen muß und daß hierbei der Schule, die 
in diesem Kampfe noch ziemlich abseits steht, eine wesentliche Rolle mit- 
zuspielen bestimmt ist. Nach der preußischen Sterbestatistik ergibt sich 
zweifellos, daß sich andauernd in jeder Schule stets eine recht erhebliche 
Anzahl von tuberkulösen Kindern befindet. Der zahlenmäßige Nachweis, 
inwieweit die Schule als Quelle der Infektion in Betracht kommt, ist 
allerdings recht schwer zu erbringen. Jedenfalls kann die Schule zur 
mittelbaren und selbst zur unmittelbaren Quelle der Tuberkulose werden. 
Es ist deshalb unerläßlich, daß Schädlichkeiten ferngehalten werden, 
welche den Körper schwächen. Dies kann die Schule bewirken, indem 
sie einerseits ihre eigenen Verhältnisse möglichst günstig ausgestaltet, 
andererseits durch Belehrung die Zöglinge zur gesundheitsgemäßen Lebens- 
weise anhält. 

Die Luft im Schulzimmer muß andauernd gut sein; das» Tageslicht 
muß bequem Eingang finden, da die Sonne ein vortreffliches Desinfektions- 
mittel ist, um die Bazillen unschädlich zu machen, Decken, Wände und Boden 
des Zimmers müssen abwaschbar sein. Der Fußboden muß täglich gründ- 
lich gereinigt werden. Tische und Bänke müssen behufs Reinigung 1 ver- 
schiebbar sein. Die Kinder dürfen selbstverständlich nicht selbst die Rei- 
nigung übernehmen, was auf dem Lande noch vielfach geschieht. Auf 
Lüftung und Heizung des Schulzimmers ist sorgfältig acht zu geben. Die 
Temperatur der Klasse ist im allgemeinen auf 15 0 R zu erhalten; nicht 
der Kalender, sondern die Witterungsverhältnisse müssen hier ausschlag- 
gebend sein. Die Luft darf nicht zu trocken sein, um eine Reizung der 
Luftwege zu verhüten. Von hoher Bedeutung ist die Besetzung der 
Schulräume und die Haltung der Kinder. Ein Luftkubus von 45 cbm pro 
Person ist zu verlangen. Die Fenster müssen in jedem Falle in (den 



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Sitzungsberichte. 



233 



Zwischenpausen geöffnet werden, die Kinder müssen das Schulzimmer in 
der Pause verlassen; bei ungünstiger Witterung müssen sie sich in hellen, 
gut gelüfteten Korridoren oder in besonderen Wandelgängen aufhalten. 
Als Ausgleich gegen die schädliche Haltung kommt ferner die zweckmäßige 
Einrichtung der Schulbänke in Betracht. Lehrplan und Lehrmethode sind 
darauf zuzuschneiden, daß eine Ucberbürdung der Kinder vermieden wird 
und ihnen Zeit bleibt, sich im Freien zu ergehen. Zweckmäßig geleiteter 
Turnunterricht, Schulausflüge, in mäßigen Bahnen gehaltener Schwimm- 
und Rudersport sind von nöten. Diese Maßnahmen können der Tuber- 
kulose einen gewissen Damm entgegensetzen. 

Eine fernere Aufgabe der Schule ist es, die Kinder mit der gesund- 
heitsgemäßen Lebensführung vertraut zu machen. Der Tuberkulose ist 
im naturwissenschaftlichen Unterricht mehr Aufmerksamkeit zu schenken. 
Die Kinder sind über das Wesen der Tuberkulose und die Wege 
ihrer Verbreitung aufzuklären, damit sie sich selber schützen und andere 
nicht .gefährden. Die Schule muß die Tuberkulosefälle ihrer Zöglinge 
kennen, sie muß sich diese Kenntnis verschaffen durch eine systematisch 
durchgeführte Musterung der Kinder und ständige Kontrolle seitens des 
Schularztes. Das sich zur Schulaufnahme meldende tuberkulöse Kind ist 
von der Einschulung zurückzustellen. Ist ein eingeschultes Kind während 
der Schulzeit erkrankt, so sind die Eltern über den' Befund in Kenntnis 
zu setzen; der Schularzt muß die Eltern aufklären und' mit ihnen die 
Maßnahmen zur Heilung des Kindes beraten. Entleert das Kind Aus- 
wurf, so muß es vom Schulbesuch ferngehalten werden, bis die Absonde- 
rung aufgehört hat. Ist diese Maßregel nicht durchführbar, so< müssen 
diese Kinder vom Lehrer sorgfältig beobachtet werden, das freie Ent- 
leeren des Auswurfs oder das Speien in das Taschentuch) ist ihnen bei 
Strafe zu verbieten. Die Anschaffung von Spuckfläschchen ist «inzuordnen, 
bei Bedürftigkeit der Eltern müssen diese Fläschchen von der Stadtver- 
waltung zur Verfügung gestellt werden. In den Schulzimmern und Korri- 
doren sind Spucknäpfe aufzustellen und deren Benutzung zu überwachen. 
Den Kindern ist zu verbieten, sich mit Bleistiften und Federhaltern aus- 
zuhelfen, weil diese Gegenstände noch oft in den Mund genommen werden. 
Die Benutzung gemeinsamer Trinkbecher ist streng zu verbieten Sache 
der ^Schulleitung ist es, tuberkulöse Lehrer so lange von der Schule fern- 
zuhalten, bis ihr Auswurf aufgehört hat. Dem Schularzt soll,v wie bereits 
erwähnt, die Pflicht obliegen, die Eltern über die einzuschlagende Behand- 
lung der Kinder zu unterrichten. Es stehen Lungenheilstätten, Seehospize, 
Ferienkolonien, Waldcrholungsstätten, Waldschulen zur Behandlung zur 
Verfügung. Die Bedeutung der Ferienkolonien ist sehr gering, weil die in 
Frage kommende Zeit zu kurz ist, um einigermaßen Erfolg, zu erzielen. 
Das gleiche gilt von den Seehospizen, wenn nicht von vornherein auf 
eine Kurdauer von 3 — 6 Monaten Bedacht genommen ist. Am zweck- 
mäßigsten sind die Lungenheilstätten, deren Zahl in Deutschland noch sehr 
klein ist. Als Notbehelf für diese wirken die Walderholungsstätten recht 
günstig. Eine große Bedeutung kommt auch den Waldschulen zu, deren 
Unterricht keineswegs die Wirkung der Kur beeinträchtigt. 

Als letztes Geschenk kann endlich die Schule noch den Kindern 



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Sitzungsberichte. 



ihren Beistand leihen bei der .Wahl des Berufs. In einem gemeinsamen 
Konsilium mit dem Schularzt und den Eltern soll diq künftige Beschäf- 
tigung für die zu entlassenden Knaben und Mädchen ausgewählt werden. 

Nach alledem ist also die Schule imstande, bei der Bekämpfung der 
Tuberkulose eine recht wichtige, zuweilen eine führende Rolle zu spielen. 
Daß sie dieses mit allergrößter Sorgfalt tun muß, dazu müßte sie die ein- 
fache Erwägung drängen: „Wer für unsere Kinder sorgt, sorgt für die 
Zukunft!" 



Alsdann gab Herr Direktor Professor Kemsies einen Bericht über 
den Eindruck der vom Verein gestifteten Gesundheitsregeln auf Realschüler. 

Die Art der Abfassimg der Rjegeln erschien den Schülern sehr inter- 
essant; alle Schüler haben die Tafeln gern und mit Interesse gelesen. 
In der Unter- und Obertertia wurden die Tafeln zum Gegenstande einer 
halbstündigen Besprechung gemacht. Nach einem halben Jahre wurde 
festgestellt, was die Schüler davon behalten hatten. Es wurde ein Be- 
richt in Form einer Klassenarbeit den Schülern aufgegeben, auch 
wurden die Tafeln zum Gegenstand eines Verhörs gemacht. Die Kinder 
gaben an, daß die Regeln schwer zu erlernen seien, weil ihnen . die 
Gruppierung fehle; sie fügten auch einige neue Regeln hinzu, wie den 
täglichen Spaziergang. Beim Verhör ergab sich, daß die Schüler alles 
wußten, was in den Regeln stand. Die Nichtbeachtung der Regeln bezog 
sich bauptsächlich auf Alkohol und Nikotin; alle Schüler hatten; schon 
geraucht. Durchgehends forderten die Schüler eine Begründung der 
Regeln. 

Redner faßt seine Ausführungen dahin zusammen: Bei einer Neu- 
anlage der Tafeln sollte berücksichtigt werden: i. die Uebersichtlichkeit 
der Anordnung; 2. die Ergänzung der Regeln; 3. diej Begründung der 
wichtigsten Regeln. Redner empfiehlt noch, derartige Enqueten auch in 
anderen Schulen vorzunehmen, da sich hierdurch eine Feststellung über 
das hygienische .Wissen und Verständnis verschiedener Altersstufen er- 
möglichen lassen werde. 

In der beiden Vorträgen gemeinsamen Diskussion weist 
Dr. Radziejcwski darauf hin, daß die bei den Realschülern erzielten 
Erfolge bei den Gemeindeschülern nicht zu erwarten stehen, da den letz- 
teren im Hause keine Anregung zur Betätigung der Regeln gegeben werde. 
Zunächst müsse für die Kreise gesorgt werden, welche erst hygienisch er- 
zogen werden sollen. 

Schularzt Dr. Bernhard ist der Ansicht, daß die Merktafeln, nur 
verdienstvoll wirken können, wenn sich Lehrer und Leiter der Schulen 
finden, die sich auch darum kümmern, das Wissen in die Köpfe der 
Kinder zu bringen; auch der Schularzt kann zur Verbreitung des hygie- 
nischen Wissens bei seinen Schulbesuchen beitragen. In dem Kampfe 
gegen die Tuberkulose ist seitens der Schulen bisher noch nichts geleistet 
worden, obwohl die Zunahme der Sterblichkeit gerade im schulpflichtigen 
Alter vom 6.— 15. Jahr eine sehr erhebliche ist. Die tuberkulösen Kinder 
werden zwar von der Einschulung zurückgestellt, müssen aber nach Ab- 



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235 



lauf des gewährten Urlaubs, selbst wenn sich der Zustand nicht wesent- 
lich gebessert hat, doch einmal eingeschult werden. Die Infektion findet 
bei der Mehrzahl der Kinder nicht in der Schule, sondern im Hause statt; 
deshalb werden ohne staatliche Wohnungsaufsicht kaum Erfolge zu 
erzielen sein. 

Dr. Lennhoff hält es für notwendig, das Erforderliche im Kampfe 
gegen die Tuberkulose mit aller Schärfe zu betonen; ob zunteit durch- 
führbar oder nicht, dürfe keinen Gesichtspunkt bilden, die Forderung 
nicht vorzubringen. Die Merktafeln sollten in den Schulen immer wieder von 
neuem eingeprägt werden. 

Alsdann werden noch einige Vorschläge zur weiteren Verbreitung der 
Gcsundheitsregeln gegeben. Es wird empfohlen, die Gesundheitsregeln den 
Eltern bei Einschulung der Kinder zu geben, bei den Elternabenden von 
den Schulärzten Vorträge über die Regeln halten zu lassen, auch in der Form 
von Merkblättern in den höheren Schulen diese Tafeln anzubringen; durch 
den Verein zur Anregung zu bringen, daß den Kindern Aufsätze über einzelne 
Regeln gegeben werden, daß überhaupt in den Gemeindeschulerf der Gesund- 
heitspflege im Anschluß an den Lehrplan ein besonderer Raum gewährt 
werden möge. ,» 

Direktor Kerns ies weist noch auf die Möglichkeit hin, die Regeln 
als Wandfries in den Klassen zu geben oder auch in die Schreibhefte 
eindrucken zu lassen. 



Sitzung vom 4. Dezember 1906, abends 8 Uhr, 
im Hofmannhaus, gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft 
für öffentliche Gesundheitspflege. 

Herr Wehmer eröffnet die Sitzung mit dem Hinweis, daß die beiden 
Vereine heute zum dritten Male zusammen tagen, und spricht die Hoff- 
nung aus, daß die gemeinsame Arbeit wieder wie bisher besonders anregend 
wirken möge. 

Alsdann sprach Sanitätsrat T h. B e n d a über : 

„H ygienische Trinkvorrichtunge n." 

Redner weist auf die großen gesundheitlichen Schädigungen hin, die 
durch einen gemeinsamen Trinkbecher in den Schulen, in Fabriken, auf 
den Bahnhöfen usw. angerichtet werden können. Diese Schädigungen Hegen! 
in der Uebertragung ansteckender Krankheiten, wie dies für den Abend- 
mahlkelch Prof. Möller in seinen Untersuchungen dargetan hat. Redner 
hat durch den Bakteriologen Dr. Paul Sommerfeld prak- 
tische Untersuchungen anstellen lassen, um nachzuweisen, daß das Ab- 
spülen der Trinkbecher zur Ausschließung der gesundheitlichen Gefahren 
nicht genügt. Die Experimente wurden an drei Fällen von Diphtherie — zwei 
frischen Fällen, einem Rekonvaleszenten — angestellt. In allen Fällen 
erwies sich das zweimalige Spülen der Becher als durchaus ungenügend, 
denn in einem Falle fanden sich an dem Rand des Glases zahlreiche Diphtherie- 



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Sitzungsberichte. 



bazillen, in allen Fällen aber fanden sich mehr oder weniger, zahlreiche Kokken, 
darunter auch solche pathogener Natur. Deshalb ist der gemeinsame 
Trinkbecher überall da, wo er nicht gründlich gereinigt werden kann, 
zu beseitigen. Von den besonders für die Schulen gemachten Verbcssc- 
rungsvorschlägen verwirft Redner die Anordnung eines eigenen, in einem 
verschlossenen Schulschrank aufzubewahrenden Bechers für jeden Schüler, 
da auch hier die gründliche Reinigung aller Becher nicht vorgenommen 
werden könnte; er hält ferner den Papierbecher für unannehmbar, der 
monatelang mit Speichel und Speiseresten täglich verunreinigt und naß 
in einem Kuvert herumgetragen wird. Auch die Kosten — drei Pfennig 
inkl. »Kuvert — würden sich bei zweimonatlichem Wechsel des Bechers 
zu hoch stellen. Auch ein dritter Vorschlag, die Hohlhand zum Trinken 
fcu benutzen, muß abgewiesen werden, da die menschliche Hand stets 
stark bazillär verunreinigt ist. Dagegen empfiehlt er als einzige hygienisch 
einwandfreie Trinkart zur Versorgung größerer Menschenmassen das Trinken 
von sprudelndem Wasser direkt ohne Vermittlung eines Trinkgefäßes. 
Derartige Einrichtungen bestehen bereits in Italien, in den Vereinigten 
Staaten, je eine in Berlin (Kgl. Luisengymnasium in Moabit) und in Wien 
in einer Staatsrealschule. Das Wesentliche der Einrichtung besteht darin, 
daß aus einem Becken ein feiner Wasserstrahl bis zur Höhe von 5 — 10 cm 
emporsteigt, in einem kleinen Bogen in das Becken zurückfällt und in das 
Abflußrohr geht. Der Trinkende hat nur den Kopf über den Wasser- 
strahl zu beugen. Der allgemeinen Verbreitung dieser Brunnen stehen die 
bedeutenden Anschaffungskosten entgegen, da für größere Menschenmassen 
natürlich nicht e i n Brunnen mit einem Wasserstrahl ausreicht ; im Winter 
sind diese im Freien stehenden Trinkquellen in unserem Klima völlig unge- 
eignet. 

Redner schlägt eine Konstruktion vor, die das Prinzip der Trink- 
brunnen in ganz vereinfachter Form beibehält, unabhängig von der Jahres- 
zeit funktionieren kann und finanziell und bautechnisch leicht ausführbar 
ist. In Schulen, Fabriken, Kasernen usw. sollen an den Wänden der 
Korridore im Anschluß an die Wasserleitung oder in Verbindung mk einem 
Reservoir nach aufwärts gebogene Röhren, etwa zehn nebeneinander, von 
geringem Querschnitt (3 mm) angebracht werden, aus denen feine Wasser- 
strahlen emporsteigen und in ein allen gemeinsames Abflußbecken zurück- 
fallen. In den Schulen braucht das Wasser nur während der Zwischen- 
pausen zu strömen, in Fabriken, Bahnhöfen müßte der Verschluß jedesmal 
geöffnet werden. Auf den Straßen ließen sich solche Trinkquellen leicht 
am Rande der Springbrunnen, an der Fassade der Häuser, oder für den 
Winter z B. in den Wartehallen für Straßenbahnen anbringen. Der Wert 
der Einrichtung ist ein mehrfacher: sie ist hygienisch einwandsfrei, der 
Trinkende wird durch sie zu rationellerem Trinken gezwungen; in ge- 
sundheitsschädlichen Gewerbebetrieben wird das so dringend erforderliche 
Mundausspülen sehr erleichtert; und schließlich wird vielleicht infolge dieser 
Einrichtung dem Alkoholismus entgegengewirkt. 



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Sitzungsberichte. 



237 



Alsdann spricht Herr E. Haumann, Direktor an der Pflichtfort- 
bildungsschule, über das Thema: 

„Die Organisation der Berliner Pflichtfortbildungs- 
schule und die Anforderungen, die sie an die Arbeits- 
kraft der Schüler stellt.' 4 

Redner geht davon aus, daß sich zutreffende Schlüsse betreffs des 
zweiten Teiles des Themas nur aus der genauen Kenntnis der Verhält- 
nisse ziehen lassen, und gibt deshalb eine ausführliche Uebersichc über 
die Organisation der Pflichtfortbildungsschule, deren inneres Weseri 
und ihre Aufgaben Höhere Anforderungen an Wissen und Können, anderer- 
seits aber mangelnde Gelegenheit zu ihrer Erlangung haben mit Not- 
wendigkeit zur Errichtung der Pflichtfortbildungsschule geführt, welche im 
Gegensatz zur allgemein bildenden Schule, der Gemeindeschule, eine Be- 
rufsschule ist, ihre Wissensstoffe nur aus dem Beruf entnimmt oder nur 
auf den Beruf bezieht. Der Unterricht in der Pflichtfortbildungsschulc 
bietet dem Lehrling eine Ergänzung der Meisterlehre in technologischer, 
kaufmännisch- wirtschaftlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht. Durch die 
Stoffauswahl und die Art des Unterrichts wird dafür gesorgt, daß an die 
Arbeitskraft der Schüler nicht zu große Anforderungen gestellt werden. 
Die Schüler haben wöchentlich vier Stunden, falls sie am Zeichnen teil- 
nehmen müssen, sechs Stunden Unterricht. Die Bestimmung der geeig- 
netsten Zeit für den Unterricht ist in vielen Fällen sehr schwer. Am 
zweckmäßigsten wäre natürlich, den Unterricht früh, vor der Arbeiti in 
der Werkstätte, zu erteilen. Die feste Regelung der Unterrichtszeiten wird 
sich erst ermöglichen lassen, wenn die Pflichtfortbildungsschule über 
eigene Lehrer und eigene Schulhäuser verfügen wird. Die Pflichtfort- 
bildungsschule ist nicht nur eine Angelegenheit bestimmter Berufskreise, 
sie ist eine Angelegenheit der Allgemeinheit, und deshalb kann, sie nur 
gedeihen, wenn sie getragen wird von der verständnisvollen und opfer- 
willigen Teilnahme und Fürsorge aller Kreise der Bevölkerung. Die 
Schulhygieniker werden bei der Betätigung ihres Interesses für die 
Pflichtfortbildungsschule im allgemeinen auch leicht die besonderen Auf- 
gaben für ihre Bestrebungen auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege 
herausfinden. 

Diskussion: 

Herr Dr. Muskat wünscht Auskunft über die Strafmittel der Di- 
rektoren, um Störungen des Unterrichts zu verhüten. 

Hen Direktor H a u m a n n erwidert, daß bisher in sehr wenigen 
Fällen Schwierigkeiten entstanden sind. Meist genügte eine väterliche Er- 
mahnung seinerseits, wenn die Kraft des Lehrers nicht ausreichte, dem 
Schüler sein Unrecht zu zeigen. Die Pflichtfortbildungsschule kann nur 
als Berufsschule vor den Schwierigkeiten der Disziplin bewahren; natürlich 
kommt alles auf die Persönlichkeit des Lehrers an. Dem Lehrling soll 
die Schule eine Heimstätte werden. Strafen können gegen die Arbeitgeber, 
Schüler und eventuell auch gegen die Eltern verfügt werden. Falls die 
Arbeitgeber den Bestimmungen des Ortsstatuts zuwiderhandeln, so erhalten 
sie Strafmandate bis zur Höhe von 20 Mark. Gegen die Schüler steht der 



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238 



Sitzungsberichte. 



Schule noch kein offizielles StTafmittel zur Verfügung, auf polizeilichem Wege 
kann eine Geldstrafe gegen den Schüler angeordnet werden. In der Hau- 
mannschen Schule war die Zahl der Strafanträge gegen die Schüler sehr 
gering, gegen die Arbeitgeber betrug sie seit April etwa 100. 

Herr Hauptmann v. Ziegler tritt dafür ein, den Zeichenunterricht 
öfters ins Freie zu legen. 

Direktor Haumann erklärt dagegen, daß der Unterricht in den 
allermeisten Fällen an den Zeichensaal gebunden sei. Das Arbeiten in 
der Natur liegt nicht im Rahmen der Fortbildungsschule. 

Herr Prof. Baginsky ist der Ansicht, daß man von schulhygienischer 
Seite aus vor ganz neuen Aufgaben stehe, da es sich um in der Pubertät 
stehende Kinder bei den Pflichtfortbildungsschulen handelt. In Zukunft 
wird man sich mit diesem Gegenstand eingehender befassen müssen. Er 
sieht nicht ein, weshalb man nicht das fachmännische Zeichnen ins Freie 
verlegen kann; nach seiner Ansicht sollte der Unterricht auch so organi- 
siert werden, daß gewisse allgemeine Unterrichtsgegenstände den Schülern 
gemeinsam erteilt werden. 

Herr Regierungsrat und Gewerbeschulrat Dr. Mayer ist im Gegenteil 
der Ansicht, daß die Schule in erster Reihe immer wieder den Beruf be- 
tonen muß. Je mehr die Berufskunde spezialisiert werden kann, desto besser 
wird es sein. In mittleren Städten wird es allerdings möglich sein, daß der 
allgemeine Unterricht für größere Gruppen von Schülern zusammen- 
gefaßt wird. Das Ideal ist jedenfalls, daß man die Schüler in einer 
Klasse nur von einem Beruf hat. Die ungeteilte Schulzeit hat nach 
seiner Ansicht große Bedenken, in pädagogischer Hinsicht ist sehn zu 
wünschen, daß die jungen Leute im Alter von 14 — 17 Jahren vielleicht 
dreimal wöchentlich in die Schule kommen. Zwei Rechensrunden hinter- 
einander ist nach ihm eine Zumutung, die man nicht ungestraft wird an 
die Schüler stellen können. Das Fachzeichnen muß unter Aufsicht des 
Lehrers und nur an einem Zeichentisch im Saale erfolgen. Er weist noch 
auf die Notwendigkeit für die Pflichtfortbildungsschule hin, eigene Räume 
zu haben, da auch für die erwachsenen Menschen die Tische und Sitze 
anders eingerichtet werden müssen. 

Frl. Dr. Prof 6 hält es für dringend erforderlich, auch für Mädchen 
Pflichtfortbildungsschulen einzurichten, da diese im gewerblichen und kauf- 
männischen Leben sehr unter einer schlechten Ausbildung leiden. 

Herr Dr. Radziejewski hebt hervor, daß gesundheitliche 
Schädigungen besonders in der Zeit der Pubertät auftreten. Man' sollte 
deshalb dafür sorgen, daß die Schüler in dieser Zeit weiter Turnunterricht 
genießen. 

Herr Oberlehrer Dr. Junge vertritt die Ansicht, daß das* spezielle 
Rechnen besonders anregend wirkt und daß deshalb die beiden Rechen- 
stunden hintereinander nicht zur Ermüdung führen werden. 

Herr Direktor Haumann fügt noch im Schlußwort hinzu, daß die 
Einrichtung von Pflichtfortbildungsschulen für Mädchen ölur verschoben 
ist und wahrscheinlich Ostern 1908 die Eröffnung erfolgen soll. 
Die Pflichtfortbildungsschulen besitzen schon fünf freie Schulhäuser, 
die Stadt konnte beim besten Willen in der Kürze der Zeit 



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Sitzungsberichte. 



239 



noch keine eigenen Schulhäuser erbauen. Es ist in Aussicht genommen, 
einen Leseraum einzurichten, jeden zweiten Sonntag soll vor den Schülern 
ein Vortrag gehalten werden, gemeinsame Ausflüge sind beabsichtigt, so 
daß die Schüler in der Schule eine Heimstätte finden werden. Gelegen- 
heit zum Turnen finden die Schüler reichlich in den bereits bestehenden 
großen Turnvereinigungen. Es ist auch Vorsorge getroffen, daß in allen 
Klassen Unterricht in der Gesundheitslehrc erteilt wird. 

Die Diskussion zu dem Vortrag des Herrn Sanitätsrat Dr. 
Th. Ben da über „Hygienische Trinkvorrichtungen" fand in der Februar- 
sitrung der „Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege" statt. 

Herr Hermann Scherk bezeichnet den Vorschlag Bcndas als 
unzweckmäßig und hält es auf Grund der im Luisengymnasium in Moabit 
gemachten Erfahrungen für ausgeschlossen, daß diese Einrichtung eine 
allgemeine werden könnte. Er empfiehlt die von ihm zurzeit beim Ma. 
gistrat von Berlin in Vorschlag gebrachten Taschenbecher aus "wasser- 
dichtem Papierstoff, welche im Kuvert, das öfters gewechselt werden muß, 
monatelang getragen werden können, ohne schmutzig zu werden. Eine 
Elberfelder Firma liefert diese Becher mit 15 Mk. pro) Tausend. Redner 
bittet, auch seinen dem Magistrat im Jahre 1906 gemachten, aber ab- 
gelehnten Vorschlag in Erwägung zu ziehen, ob nicht deni Trinkhallen- 
gesellschaften bei Nachsuchung von Konzessionen die Bedingung auferlegt 
werden sollte, frisches Wasser zu billigstem Preise abzugeben. 

Herr B e n d a (Schlußwort) erwidert, daß er den Trinkbrunnen auf 
dem Hofe des hiesigen Luisengymnasiums mehr oder weniger als Spielerei 
bezeichnet und aus verschiedenen Gründen einer allgemeinen Einführung 
desselben widerraten habe. Er habe doch in seinem Vortrag eine andere 
Art von Trinkvorrichtungen vorgeschlagen. Die Kosten der Papierbecher 
würden sehr erhebliche sein, da es mit der einmaligen Anschaffung, wie 
erwähnt, nicht abgetan ist und der Becher mindestens fünfmal im Jahre 
erneuert werden müßte. 



Ordentliche Hauptversammlung 
vom 22. Januar 1907, abends 8 Uhr, im Architektenhaus. 

Vorsitzender: Herr Baginsky. 
Schriftführer: Herr Benda. 

Herr Baginsky gibt zunächst den Jahresbericht. Er weist darauf 
hin, daß der Verein auch in diesem Jahre wieder in Vorträgen und Dis- 
kussionen manche wichtige Frage in Behandlung genommen habe. Das 
ergebe sich aus den Sitzungsthemen, die Redner einzeln aufführt. Die 
hygienischen Merktafeln des Vereins haben überall große Aner- 
kennung gefunden. Mit der Verlagshandlung Quelle & Meyer ist in- 
zwischen ein Vertrag zustande gekommen, wonach die Firma die Verviel- 
fältigung der Tafeln übernimmt. Auch das preußische Kultusministerium 

hat sich für die Tafeln interessiert, will sich zunächst aber noch abwartend 

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Sitzungsberichte. 



verhalten. Der Verein ist jedenfalls in der Oeffentlichkeit zu guter Wirksam- 
keit gelangt. Der Vorsitzende schließt seinen Bericht mit einem Nachruf 
an die verstorbenen Mitglieder Dr. Wolf Becher und Geheimrat 
Dr. Hermann Cohn - Breslau. * 

Herr S i 1 e x gibt alsdann den Kassenbericht. Der Verein hatte Ende 
1905 einen Ueberschuß von 850 Mk. zu verzeichnen. Unter Hinzurech- 
nung dieses Ueberschusses beliefen sich die Eingänge des Jahres 1006 
auf 1416 Mk., die Ausgaben auf 1 153 Mk., so daß Ende 1906 ein Kassen- 
bestand von 263 Mk. verbleibt. Die Decharge wird bewilligt. 

Die Neuwahl des Vorstandes ergibt Wiederwahl durch Akklamation. 
Statt des ausgeschiedenen Prof. Dr. Lehmann wird Frl. Dr. Prof c 
vorgeschlagen und gewählt. 

Herr Baginsky spricht alsdann über : 
„Körperliche Uebungen während des Unterrichts." 

Gegen zweckmäßig ausgeführte Freiübungen mitten in den Stunden 
wird, wie Redner ausführt, kein verständiger Schulhygieniker etwas einzu- 
wenden haben. Das Sitzen, selbst in der bequemsten Haltung, ist eine 
ermüdende Tätigkeit, und es ist gewiß nur von Vorteil, die Kinder auf 
kurze Zeit aus dieser ermüdenden Haltung herauszubringen. Dagegen 
können die Turnstunden schädlich wirken, welche zwischen die Stunden 
geistiger Arbeit eingeschoben werden. Die Muskeln haben physiologisch 
eine bestimmte Leistungsfähigkeit; sie werden nicht nur ermüdet durch 
die Tätigkeit, die ihnen durch die Funktion zukommt, sondern auch durch 
die geistige Arbeit. In der Muskelcrmüdung ist somit zugleich ein Maß 
der geistigen Ermüdung zu finden. Nach angestellten Messungen hat sich 
ergeben, daß die Turnstunden mehr ermüden als geistige Arbeit. Mes- 
sungen mit dem Ergographen ergaben, daß die Muskeln am allermeisten 
versagten, wenn körperliche und geistige Uebungen auf einen Schul tag 
zusammenfielen. Somit ist große Vorsicht geboten mit der Einrichtung 
von turnerischen Uebungen zwischen den Unterrichtsstunden. 

Herr Hauptmann v. Z i e g 1 e r glaubt, daß die Ermüdung bei unserem 
Turnunterricht in den Prinzipien desselben begründet sei, und daß man 
zu dem bewährten griechischen Turnunterricht zurückkehren müßte. 

Herr Keesebiter pflichtet den Ausführungen Baginskys bei. Statt 
der dritten Turnstunde hätte eine Spielstunde zur Einführung gelangen 
sollen. K. läßt im zweiten Teil der Unterrichtsstunde die Fenster öffnen, 
die am Fenster sitzenden Schüler beiseite treten und zwei Minuten hin- 
durch Freiübungen machen. Die Schüler werden hierdurch vollständig 
frisch. 

Herr Muskat empfiehlt körperliche Uebungen und Bewegungs- 
spiele in den Freiviertelstunden. Vielleicht lassen sich auch Uebungen 
nach Art der schwedischen Gymnastik (passive Bewegungen) anstellen. 

Herr Junge tritt dafür ein, in der Oeffentlichkeit bekannt zu geben, 
unter welchen Bedingungen die Fenster während des Unterrichts im 
Winter geöffnet werden können. 

Herr Silex hält die Nachteile der Turnstunde, selbst während der 
Stunden geistigen Unterrichts, nicht für so groß. Nach seiner Meinung 
kommt es wohl wesentlich auf die Art des Turnunterrichts an, ob er er- 



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Sitzungsberichte. 



241 



müdend wirkt oder nicht. Er wie auch die Herren Keesebiter und 
Baginsky sowie Frl. Dr. Prof 6 wenden sich gegen die empfohlenen 
passiven Bewegungen und treten für die möglichst freie Bewegung, der 
Schüler in den Zwischenpausen ein. 

Herr Baginsky regt an, seitens des Vereins Erhebungen 
über die unzureichende Ernährung armer Schulkinder anstellen ru lassen 
und Maßnahmen zu erwägen, wie in dieser schulhygienisch sehr bedeut- 
samen Frage geholfen werden kann. Sein Vorschlag, eine Kommission 
ad hoc zu ernennen, wird angenommen. Nach kurzer Debatte werden in 
diese Kommission die Herren Baginsky, Benda, Strelitz, 
Lennhoff, Fischer und Auerbach entsandt. 



Sitzung vom 26. Februar 1907, abends 8 Uhr, 
im Bürgersaal des Rathauses. 

Vorsitzender : Herr Kemties. 
Schriftführer: Herr Benda. 

Herr Geh. Med-Rat Prof. Dr. Eulenburg: 

„Schülerselbstmord e." 

(Der Aufsatz ist in extenso im Heft 1/2 der Zeitschrift abgedruckt und 
liegt den Verhandlungen bei.) 

Diskussion: 

Herr Dr. Muskat fragt an, ob bei der Statistik auf etwaige kör- 
perliche Gebrechen der Kinder geachtet worden sei, da bekanntlich solche 
Kinder viel empfindlicher gegen Unbilden seien, die ihnen zugefügt werden. 
Diese Frage sei von außerordentlicher Bedeutung nicht nur für die Selbst- 
morde, sondern auch für die ganze seelische Entwicklung der Kinder. 

Herr Eulenburg gibt das Vorkommen derartiger Fälle zu und 
erklärt sich bereit, bei der noch nicht abgeschlossenen Bearbeitung des 
Aktenmaterials auf diese Frage seine Aufmerksamkeit zu richten. 

Herr Kemsies regt eine Vervollständigung der Statistik dahin an, 
auch die Fälle zu zählen, wo Neigung und Dispositionen zu Schädigung 
der Person, nicht zum Selbstmord, führen (Davonlaufen junger bestrafter 
Leute usw.). 

Herr Eulenburg glaubt, daß sich noch manches dem ihm vor- 
liegenden Material in dieser Beziehung entnehmen lassen werde, wenn 
auch die Akten bezüglich des Vorlebens nicht sehr ergiebig seien. 



Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 6 



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Sitzungsberichte. 



Sitzung vom 19. März 1907, abends 8 Uhr, 
im Architektenhaus. 

Vorsitzender : Herr Baginsky. 
Schriftführer: Herr Bernhard. 

Herr Kemsies: 

„Zur Frage der sexuellen Aufklärung der Jugend." 

Herr Baginsky teilt einleitend mit, daß in einer früheren Sitzung 
eine sehr eingehende Diskussion über die sexuelle Aufklärung der Jugend 
stattgefunden habe und alle vier Redner darin übereingestimmt hätten, daß 
etwas in dieser Frage getan werden müsse. Zurzeit sei; eine Kommission 
mit den Vorarbeiten betraut worden, diese habe sich jedoch noch nicht in 
Tätigkeit gesetzt, weil man sich nicht über die Art des Vorgehens einig 
gewesen sei und Herr Kemsies zuvor noch einige Thesen habe geben 
wollen. 

Herr Kemsies legt zunächst noch einmal den Gang der vier 
Referate und der Diskussion über die Frage der sexuellen Aufklärung dar. 
In der Oeffentlichkeit seien inzwischen zustimmende und ablehnende Aeuße- 
rungen zu dieser Frage bekannt geworden. Dr. Flachs wendet sich gegen 
die frühzeitige Aufklärung der Jugend. Auch in bezug auf die Frage, 
wann die Aufklärung erfolgen solle, seien Meinungsverschiedenheiten vor- 
handen, vor allem aber bezüglich des Punktes, ob die sexuelle Aufklärung 
das treffe, was der Verein beabsichtige, nämlich die sexuelle Erziehung 
der Kinder. Inzwischen habe sich auch die Deutsche Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten dieser Frage angenommen und 
für ihren am 24. und 25. Mai er. in) Mannheim tagenden Kongreß zehn 
Referenten bestellt, welche diese Frage für niedere und höhere Schulen 
behandeln sollen. Von diesem Verein sei auch die einschlägige Literatur 
zusammengestellt worden, welche weit über 100 Bücher bereits umfaßt. 
Die Gesellschaft der deutschen Naturforscher und Aerzte verhalte sich ab- 
lehnend und wünsche nicht die Aufklärung, auch die Wiener Gesellschaft 
für Schulgesundheitspflege habe eine ablehnende Stellung eingenommen. 
Redner bespricht alsdann noch eine in neuester Zeit erschienene beachtens- 
werte Schrift von Höller, welcher von gesellschaftlich ästhetischen und 
ethischen Gesichtspunkten sowie vom hygienischen Standpunkt aus für die 
sexuelle Aufklärung eintritt und den Lehrer als Aufklärer bevorzugt, während 
Geistlicher und Arzt mitwirkende Kräfte sein sollen; nach ihm soll der 
Unterricht in der Naturgeschichtsstunde erfolgen. 

Redner stellt alsdann folgende 8 Thesen zur Diskussion: 

1. Während der Kinder- und Entwicklungsjahre soll durch das 
Vorstellungs-, Gemüts- und Willensleben der Sexualtrieb idealisiert werden. 

3. Die gelegentliche sexuelle Aufklärung in Schule und Haus 1 ist 
daher genau zu regeln. 

3. Die wichtigsten Entwicklungsvorgänge der Pflanzen und Tiere 
bis hinauf zu den Säugern sind in der höheren Lehranstalt in 
exakter Weise auf allen Stufen zu behandeln, Begattungsvorgänge indessen 
grundsätzlich auszuschließen. 



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Sii zunuxheruhte 



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4. In den unteren Klassen sind die Begriffe: männliches, 
weibliches Geschlecht, Eltern, Vaterschaft, Mutterschaft, Bestäubung;, Be- 
fruchtung, Außen- und Innenbefruchtung aus den Tatsachen abzuleiten. 

5. Die tierischen Fortpflanzungsorgane werden nicht beschrieben, je- 
doch werden sexuell-prophylaktische Weisungen in geeigneter Form und in 
geeigneten Momenten angebracht und durch ethische und ästhetische Dar- 
legungen vertieft. 

6. In den Mittelklassen ist gleichzeitig auf die Gefahren 
sexueller Verfehlungen hinzuweisen. 

7. In den oberen Klassen werden die mikroskopischen Vor- 
gänge der Zell- und Kernteilung, der Eibefruchtung, und ihre Bedeutung 
für Vererbung, natürliche und künstliche Auslese ausführlich dargelegt. 

g. Für Abiturienten werden Belehrungen über Begattungs Vor- 
gänge bei den Säugetieren, über die Gefahren sexueller Verfehlungen und 
Ausschweifungen, sowie über die intrauterine Entwicklung des Fötus emp- 
fohlen. 

Diskussion: 

Herr Dr. .Wreschner spricht sich ebenfalls dafür aus, daß die 
Belehrung auf naturwissenschaftlicher Basis stattfinden soll, dagegen ist er 
nicht mit These 8 einverstanden. Der Abgang der Schüler ist zwar eine 
sehr geeignete Zeit, um ihnen die Gefahren des Lebens vorzuführen, trotz- 
dem hält er es für unnötig, die Begattungsvorgänge zu lehren. Unnötig 
einmal deshalb, weil die meisten Schüler bereits aufgeklärt sind, und zweitens 
deshalb, weil es sehr peinlich ist, jungen Leuten gegenüber derartige Dinge 
in extenso zu behandeln, wo man doch nicht individualisierend 1 vorgehen 
kann. Ob These 7 schon in der Sekunda und Prima darzulegen ist, möchte 
Redner bezweifeln. Er vermißt einen Hinweis auf die Volksschule, und 
doch ist dieser Teil der wichtigste. Gerade in den Volkskreisen ist die 
Aufklärung seitens der Eltern nicht möglich. Es ist vor allem eine indi- 
vidualisierende Aufklärung anzustreben. Der Arzt kann die Aufklärung nicht 
geben, weil es das Institut der Familienärzte kaum mehr gibt. Der Lehrer 
wird auch nicht immer die Schüler so genau kennen, daß er es wagen 
kann, die Vorgänge darzustellen. Es blieben also die Eltern übrig, mit 
deren Aufklärung begonnen werden müßte. Von großer Wichtigkeit für 
die Lösung der ganzen Frage ist auch die Wohnungsfrage, in welcher 
allerdings nur der Staat helfend eingreifen könnte. 

Herr Dr. Bernhard erklärt sich mit den Thesen im großen Ganzen 
einverstanden. Der naturwissenschaftliche Unterricht hat eigentlich mit der 
sexuellen Aufklärung nur einen gewissen losen Zusammenhang, der 
springende Punkt ist der direkte Hinweis auf das Sexuelle beim Menschen. 
Er hält es für unendlich schwierig, auf schlechte Leistungen oder blasses 
Aussehen hin die Schüler zu examinieren, und erachtet es für richtiger, 
die Kinder, bei denen der Verdacht auf Onanie besteht, den Eltern ru 

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Sitzungsberichte. 



nennen. These 5 und 6 berühren sich; es erscheint stets geeigneter, den 
Eltern Mitteilung ru machen, bevor der Lehrer eingreift. Die Abiturientcn- 
belehrung ist sehr zweckmäßig, auch in einigen Schulen bereits zur Ein- 
führung gelangt. In manchen Schulen ist es den Eltern freigestellt, daran 
teilzunehmen. Das Material der Gemeindeschulen ist unendlich different, 
und hier ist es viel notwendiger, die sexuelle Aufklärung vor dem Ab- 
igang aus der Schule zu geben, da die entlassenen Schüler sofort ins 
Leben eintreten und mit älteren Arbeitskollegen sofort zusammenarbeiten, 

Herr Prof. Baginsky hat seinen negierenden Standpunkt nicht 
aufgegeben. Vom naturwissenschaftlichen Unterricht zum sexuellen Leben 
gibt es keine Brücke. Der naturwissenschaftliche Unterricht soll so* tief 
wie nur möglich sein, aber den Begattungsvorgang und alles, was sich 
auf den Menschen bezieht, sollte man daraus fortlassen. Durch Aufklärung 
werden die Kinder niemals von Verfehlungen zurückgehalten werden, nur 
durch dauernde geistige und körperliche Beschäftigung bis zur Ermüdung 
können sie abgelenkt werden. In der Sekunda und Prima erwacht schon 
das Sittlichkeitsmoment, und die jungen Menschen fangen an, sieht zu 
beherrschen. Ein dringendes Gebot ist, die Jünglinge und Mädchen vor 
dem Schulabgang auf Schäden aufmerksam zu machen, denen sie ent- 
gegengehen. Redner hält das Aufwerfen der Frage der sexuellen Auf- 
klärung für nichts weiter als eine Modesache, der Sexualunterricht muß 
heraus aus der Schule, er hat nichts mit der Schule zu tun. 

Herr Dr. Wreschner kann den negierenden Standpunkt Ba- 
ginskys nicht billigen. Durch Aufklärung können die Kinder sehr 
wohl vor Schaden bewahrt werden. Der Schaden der Mastur- 
bation ist gar nicht so gering anzuschlagen und legi/ ohne Zweifel oft 
den Grund zu Nervenkrankheiten, welche später zum Ausbruch kommen. 
Der echte Masturbant wird, selbst wenn er bis zur Ermüdung beschäftigt 
wird, nicht von seiner Gewohnheit lassen. Bei ernster Belehrung dürften 
sich diese Kinder aber doch beeinflussen lassen. 

Herr Kemsies ist der Ansicht, daß sittliche Einsicht auch sitt- 
liche Willensvorgänge nach sich ziehen kann, daß sexuelle Einsicht auch 
ein gewisses sexuelles Verhalten zur Folge haben kann. Sittliche» Kräfte 
werden nur durch Vorstellungen ausgelöst. Weil die Vorstellung ein Aus- 
gangsglied ist für Handlungen, deshalb ist die Aufklärung anzustreben. 
Darunter ist die Aufklärung über anatomisch-physiologische Vorgänge, über 
hygienische und die anschließenden ethischen und ästhetischen Fragen 
zu verstehen. Redner vermag nichts von seinen Ausführungen zurück- 
zunehmen, die heutige Diskussion gibt ihm sogar Veranlassung, seinen 
Standpunkt noch zu verschärfen und zu vertiefen. 



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Sitzungsberichte. 



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Psychologische Gesellschaft zu Berlin. 

Donnerstag, den 27. April 1906. 
Beginn: 8Va Uhr. 

Vorsitzender: Herr Moll. 
Schriftführer: Herr Westmann. 

Herr Dr. Curt Adam ist ausgetreten. 
Herr Gramzow spricht über: 

„Fcchne r." 

Die nachkantische Philosophie von Fichte bis Schopenhauer 
sucht die Identität von Leib und Seele nachzuweisen. Fechneri sagt: 
Die wissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt setzt ausnahmslose Herrschaft 
der Weltgesetze voraus. Die Folge wäre ein starrer Ursachenzusammen- 
hang. Gilt dieser Ursachenzusammenhang nur für die Körperwelt, dann 
bleibt ein unheilbarer Riß zwischen Körper- und Geisteswelt. Gilt der 
Ursachenzusammenhang nur für Empfindungen und Vorstellungen, dann 
gibt es kein Wissen von der äußeren Wirklichkeit. Um auf ein letztes um- 
fassendes Gesetz zu kommen, formuliert Fechner für die Begriffe Be- 
wegung und Gesetz, ferner Empfindung und Bewußtsein neue Fassungen: 
Gesetz von Ursache und Wirkung. Wie sich die Umstände,, die als Ur- 
sache gelten sollen, wandeln, ist gleichgültig. Sie ziehen bestimmte Er- 
scheinungen als Wirkungen nach sich. Ursachen sind nur vorhanden' beim 
Geschehen. Wo Geschehen, da Bewegung, wo Bewegung, da setzt das 
Denkbedürfnis der Menschen eine Ursache. Die Kraft an sich ist nichts 
Wahrnehmbares, wir nehmen nur Bewegungen wahr, Kraft ist eine Hypo- 
these. Diese Bewegung gilt für das ganze Universum, für die organische 
und anorganische Welt. In die Stoff Wechselprozesse des Organismus wer- 
den anorganische Prozesse hineingezogen. Die Grenzen ziehen wir nach 
dem Zweck, nach der Verhältnismäßigkeit, damit wir die praktische Teil- 
erscheinung entdecken. 

Daß wir Bewußtsein haben, ist eine Tatsache. Weil wir Bewußtsein 
haben, werden wir unserer selbst bewußt, wissen wir, daß die Welt da ist. 
Wir dürfen nicht fragen: Wie kommt das Bewußtsein in die Welt? Wir 
müssen fragen: Wie kann etwas ohne Bewußtsein bestehen? Daß ich mit 
Bewußtsein bestehe, ist kein Rätsel. Fechner erweitert den Bewußt- 
seinsbegriff nach unten. Das spezifisch menschliche Bewußtsein geht den 
Bewegungen des Gehirns parallel. Indessen ist ein Bewußtsein geringeren 
Grades denkbar, weniger kompliziert als das menschliche Bewußtsein. Jedes 
Geschehen ist von der einen Seite gesehen physisch, von; der anderen 
Seite gesehen psychisch. Wer sieht, wer das beobachtende Subjekt ist, 
sagt Fechner nicht. Die ganze Welt ist ein Stufenbau psychophysischer 
Wesen. AH es Geschehen ist physisch, es untersteht dem Ursachen- und 
Wirkungsbegriff, es ist psychisch, wir erklären die Natur nach Zwecken. 



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Sitzungsberichte ^ 



Zweck heißt bei Fechner nicht Absicht, Absicht ist nur auf der hohen 
Stufe des Menschen anzunehmen; es kann etwas zweckvoll sein, ohne daß 
eine zwecksetzende Absicht im Sinne unseres Bewußtseins festzustellen 
wäre. Jede Zweckursache wirkt als End- oder Finarursache. 

Im Gegensatz zu der spekulativen Philosophie, welche von einem 
einzigen Prinzip ausgehend die Einzelheiten aus dem Begriff herleitet, 
geht Fechner von der Gesamtheit der Erfahrungen, der Einzelerkenntnis 
aus und sucht diese zusammenzufassen. Fechner ist Schöpfer der 
induktiven Metaphysik geworden. 

Fechner illustriert die Allbeseelung der Natur in folgender Weise: 
Daß Tiere, z. B. Hunde, welche eine der menschlichen! ähnliche Organi- 
sation besitzen, Empfindung haben, nehmen wir wahr. Den Pflanzen 
schreiben wir wegen der anders gearteten Organisation nicht Empfindung 
zu, weil ihnen die willkürliche Bewegung, die Nervenorgane und; Sinnes- 
bewegungen fehlen. Indessen die Grenze zwischen Tier und Pflanze be- 
steht nicht, Empfindung muß nicht an ein Nervensystem gebunden sein, 
die Pflanzen handeln nach Zwecken, sie durchsuchen den Boden, nach 
Nahrung, treffen unter den vorhandenen Nahrungsstoffen Auswahl, drängen! 
sich zum Lichte, arbeiten an einer Art von Fortpflanzung.) Der tierische 
Körper ist zentralisiert, vom Zentralnervensystem sind alle Funktionen des 
Körpers einheitlich geregelt. Im Pflanzenkörpcr ist Dezentralisation. Der 
Pflanze als einem ganzen Organismus kann Bewußtsein nicht zukommen, 
sondern nur der Zelle. Dieses Zellbewußtsein schließt aber ein einheit- 
liches Lebensbewußtsein der Pflanze nicht aus. Die Pflanze hat einen 
Trieb zur Freiheit. Dieser hegt in der Unregelmäßigkeit der Pflanze. 
Freiheit heißt: das Lebewesen empfindet den Antrieb zu einer Tätigkeit 
als einen eigenen Antrieb. 

Dieselbe Gesetzmäßigkeit, dieselben Kräfte lassen sich nachweisen in 
der kleinen Welt der Atome, wie in der Sternenweh des Alls. Fechner 
zieht daraus den Analogieschluß, daß die Weltkörper beseelte Körper sind, 
indessen sei die Erde nicht als vergrößerte Menschenseele aufzufassen, 
sondern als ihrem eigenen Organismus angemessene Seele. Die Erde sei 
das größere System, das die kleinere Seele umschließt. Die Erde müsse 
schon aus dem Grunde ein Individualleben besitzen, weil aus ihrem 
Schöße viele bewußte Geschöpfe hervorgehen. Unsterblichkeit vei nichts 
weiter als einheitlicher Fortbestand der Wirkung, die Geschöpfe gehen in 
den Schoß der Erde zurück. 

Psychische und physische Vorgänge gehen einander parallel, sind zwei 
Seiten desselben. Die Gesetzmäßigkeit des einen Vorganges bedingt die 
des anderen. Fechner hat den Versuch gemacht, die Empfindung zu 
messen. Er sagt: Wir können nur Großen durch gleiche Größen messen. 
Wir können nicht Längen durch Gewichte messen. Das Maß der Emp- 
findungen werde gefunden durch den Zuwachs, der nötig sei, damit eine 
Empfindung stärker sei als eine, die vorhergehe. 

Bis dahin war man der Meinung, daß, wenn eine absolute Reiz- 
größe zu einem Reiz hinzutritt, die Empfindung um dieselbe wachse. Ernst 
Heinrich Weber hat diese Ansicht bereits erschüttert. Reiz ist Be- 
wegung in der Außenwelt. Gewöhnlich ist der Reiz mit einer Empfindung 



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verbunden. Es gibt auch Reize, mit denen keine Empfindung verbunden 
ist. Jeder Reiz muß eine gewisse kleinste Größe erreichen, wenn er eine 
Empfindung auslösen soll. Diese kleinste Größe ist die Reizschwelle. Diese 
Reizschwellen suchte man festzustellen. Soll ein Reiz von einem andern 
unterschieden werden, dann muß auch der Reizunterschied eine gewisse 
Größe erlangt haben. Diese Unterschiedsschwelle gibt das Maß der Emp- 
findungen ab. Die Empfindungen wachsen wie die natürlichen Zahlen 
in arithmetischer Progression, die Reize wachsen wie die Logarithmen 
der natürlichen Zahlen. Die Empfindung wächst wie der Logarithmus des 
Reizes (W eber-Fechner sches Gesetz). Dieses Gesetz ist die Grund» 
läge der experimentellen Psychologie geworden. Es gilt nicht ausnahmslos, 
sondern nur für mittlere Empfindungsstarken. 

In der Aesthetik lehrt Fechner, daß dasjenige, was schön sein 
soll, eine gewisse Größe haben muß. In der Kunst müssen die verschie- 
denen Mittel, die für sich allein niemals zu einem ästhetischen Eindruck 
führen, miteinander so verbunden werden, daß sie einen ästhetischen 
Eindruck hervorrufen. (Prinzip der ästhetischen Hilfen.) Drei Prinzipien: 
i. Harmonische Verschmelzung der Teile, keine Widersprüche; 2. Wahr- 
heit: man darf nichts Unmögliches verlangen; 3. Klarheit: alles Einzelne 
muß sich dem Ganzen unterordnen, darf ihm nicht widersprechen. Sub- 
jektiv ist der ästhetische Charakter bestimmt durch den assoziativen Cha- 
rakter. Mit einem bestimmten Eindruck, z. B. der Apfelsine, assoziieren 
sich die verschiedensten Bewußtseinselemente, die wir in uns Laben. Diese 
Bewußtseinselemente nennt Fechner den assoziativen Charakter. 

Eine Diskussion fand nicht statt. 

Schluß der Sitzung 9 Uhr 50 Min. 



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Berichte und Besprechungen. 

Ferdinand Burckhardt: Psychologische Skizzen zur 
Einführung in die Psychologie. 6. Auflage. 1903. 
318 Seiten. 

Das Buch ist speziell mit Rücksicht auf die Pädagogik verfaßt. Der 
Titel ist insofern nicht ganz richtig, als das Buch eigentlich ein abge- 
schlossenes Lehrbuch darstellt. Es schließt sich im ganzen der Herbart- 
schen Psychologie an, wenn es auch nicht streng auf Herbartsc hem Boden 
steht. Die allerdings sehr populäre Form rechtfertigt sich durch den 
Zweck des Buches. Es behandelt drei Seiten des psychischen Geschehens: 
das Vorstellungsleben, das Gefühlsleben und das Willens- 
leben. 

Die Beispiele sind meistens den Klassikern entnommen. Wesentlich 
neue Gesichtspunkte treten nicht hervor. Leider haben die neueren psycho- 
logisch-pädagogischen Arbeiten, außer sehr dürftigen Andeutungen, so wenig 
Berücksichtigung erfahren, daß die sehr große Verbreitung des Buches 
von unserm Standpunkte aus zu beklagen ist. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



Otto Gerlach: Pädagogische Psychologie und Logik 
Breslau 1906. 436 Seiten. 

Das Buch ist geschrieben sowohl für die lernenden Seminaristen und 
Seminaristinnen, als auch zum Selbstunterricht für Lehrer und Erziehende. 
Der Verfasser weist die Vermögenstheorie ab, nimmt aber zwischen ihr 
und der Herbartschen Psychologie insofern eine Mittelstellung ein, daß 
er eine ursprünglich vorhandene, aber freilich der Befruchtung durch die 
Vorstellungen benötigende Anlage der Seele zum Fühlen und Wollen an- 
nimmt. Dem Wundtschen Standpunkt der zwei Grundtätigkeiten stimmt G. 
zwar zu, aber er hält sich ,,aus Zweckmäßigkeitsgründen'' an die Ein- 
teilung Vorstellen, Fühlen, Wollen; er betont aber, daß eine solche Trennung 
in Wirklichkeit niemals stattfindet. Einen spezifischen, präzisen, prin- 
zipiellen Ausdruck über die Prinzipienfragen aus dem Buch herauszulesen, 
ist mir nicht gelungen. ' 

Zu tadeln ist auch hier, daß die neuere Psychologie viel zu wenig 
Berücksichtigung gefunden hat. Auch hier bestehen die Beispiele zumeist 
aus Zitaten aus den Klassikern. Der logische Teil ist ein kurzer Abriß der 
Schullogik. Beigefügt ist ein Literaturnachweis, in dem durch Sternchen 
angegeben ist, welche Bücher sich zum Selbststudium eignen und welche nicht. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



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Berichte und Besprechungen. 



249 



Ludwig Hohmann: Pädagogische Psychologie, darge- 
stellt unter Berücksichtigung der Pädagogik so- 
wie ihrer Grenzwissenschaften. Breslau 1906. 
468 Seiten. 

Das Buch schließt sich im wesentlichen der alten pädagogischen 
Praxis an, ist aber durch die neueren experimentellen Arbeiten zeitgemäß 
berichtigt und ergänzt worden. Es umfaßt nicht nur das Nötige aus der 
allgemeinen und Kinderpsychologie, sondern auch die gesamte pädagogische 
Grundlegung und das Wichtigste aus der allgemeinen Erziehungs- und 
Unterrichtslehre. — Im ersten Teil sind ausführliche, klare und doch 
populäre Ausführungen über die Anatomie und Physiologie des Nerven- 
systems und der Sinnesorgane gemacht, die hier, im Gegensatz zu den 
anderen besprochenen Lehrbüchern, von zahlreichen instruktiven Abbil- 
dungen begleitet sind. Sehr brauchbar ist, daß unmittelbar aus diesen 
Ausführungen heraus die Schlüsse auf das Kindesleben gezogen werden. 
Auf das Uebrige brauche ich nicht näher einzugehen, ich würde sonst 
nur das wiederholen müssen, was bei dem Buche von Zühlsdorf ge- 
sagt ist. Letzterer hat aber vor dem ersteren den großen Vorzug der 
Uebersichtlichkeit und besseren Stoffanordnung voraus, während es uns 
scheint, als ob Zühlsdorf auf seinen wenigen kleinen Seiten mehr gebracht 
habe, als Hohmann auf 468. Ich glaube, daß das Buch durch seine Fülle 
von theoretischen Auseinandersetzungen nicht gewonnen hat. Es ist daher 
auch weniger als Lehrbuch für den Seminaristen, als für den praktischen 
Lehrer geeignet. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



Jurist.-psychiatr. Grenzfragen. IV. B d. H al 1 e , M a r hol d. 
1906. C. G. Jung: Psycholog. Diagnose des Tat- 
bestandes. Ilberg: Bericht über die ersten 100 
Sitzungen d. forens. - psych. V. usw. 

In der ersten Abhandlung gibt Jung eine ausführliche Darstellung 
der Methodik der Assoziationsexperimente in ihrer Anwendung zur 
Oiagnostizierung eines bestimmten objektiven Tatbestandes. An einer Reihe 
von Beispielen sucht er zu beweisen, daß es gelinge, aus bestimmten Merk- 
malen, die sich bei den Assoziationsrcaktionen der verschiedenen Ver- 
suchspersonen zeigen, bestimmte Rückschlüsse zu ziehen auf die Vor- 
stellungskomplexe, die das Seelenleben der Personen im Moment beein- 
flussen, konstellieren. Diese Merkmale beziehen sich auf den Inhalt der 
Reaktions Wörter, auf die Länge der Assoziationszeit, auf die Richtigkeit 
der Reproduktion und auf die Erscheinung der sog. Perseveration, bei der 
durch die Gefühlsbetonung bestimmter Reiz- oder Reaktionswörter länger 
oder kürzer andauernde Veränderungen später folgender Assoziationen ge- 
schaffen werden. Aus dem Auftreten dieser Merkmale, die Jung, wie 
w selbst zugibt, in sehr weitherziger Weise zur Anwendung bringt, bei 
bestimmten „kritischen" Assoziationen versucht er dann zu einer Deutung 
des Vorstellungskomplexes zu gelangen, der das Denken und Fühlen der 
Versuchsperson beherrscht. Neben einigen rein experimentellen Beispielen 



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250 



bespricht er ausführlich die Anwendung dieser „neuen Forechungsraethode", 
die sich eng an die „genialen" Psychoanalysen und Traumdeutungen 
Freuds anschließe, in einem kriminellen Falle, in dem durch dieses 
Vorgehen die Entdeckimg des Schuldigen herbeigeführt wurde. Leider muß 
Jung freilich rugeben, daß die nachträgliche Kontrolle der Versuchs* 
ergebnissc an zwei unschuldigen Versuchspersonen nur wenig abweichende 
Tatsachen zutage förderte, so daß er sich zur Rechtfertigung seines ver- 
urteilenden Ediktes schließlich auf „ein Etwas berufen muß, das sich 
nicht aufs Papier bannen läßt, auf jene Imponderabilien des menschlichen) 
Verkehrs, jene unzähligen und unmeßbaren mimischen Aeußerungen", die 
zum Teil nur unser Unbewußtes affizieren. Aus diesem „deprimierenden' 4 
Ergebnis zieht Jung den Schluß, vor einer unberufenen Anwendung der 
psychologischen Tatbestandsdiagnostik in der Gegenwart warnen zu sollen, 
während er für die Zukunft dieser „unvergleichlich feinen psychologischen 
Forschungsmet hode" eine „nicht abzusehende Entwicklungsfähigkeit" zu- 
spricht. Nach Ansicht des Ref. sollte die Warnung vor der Anwendung 
dieser Methode eine ganz prinzipielle, allgemeine und andauernde sein. 
Denn es laßt sich in der Tat nicht absehen, auf welche Irrwege eine 
solche völlig haltlose, willkürliche und im höchsten Grade unzuverlässige 
„Experimentalmethode• , führen kann, bei deren Anwendung der Kunst des 
Rätselratens und Hineindeutens keinerlei Schranken gesetzt sind. 

Die zweite Abhandlung enthält einen sachlichen Ueberblick über die 
bisherigen Arbeiten der forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden, 
denen einige treffende Bemerkungen über die zukünftigen Aufgaben ähn- 
licher Vereinigungen angefügt sind. 

Berlin. L. Hirschlaff. 



„Ueber die Stimmungsschwankungen der Epileptiker." 
Von Dr. Aschaffenburg, Köln. (Sammlung zwang- 
loser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- 
und Geisteskrankheiten, VII. Bd., I. Heft.) Verlag 
von Marhold, Halle 1906. Preis i,6o Mk. 

Aschaffenburg nimmt in dieser Arbeit ein Thema wieder auf» 
das er bereits im Jahre 1895 als einer der ersten behandelt hatte Nach 
einer orientierenden Uebersicht über die moderne Fassung des Epilepsie- 
begriffes und der speziellen Literatur über die Frage der periodischen 
Stinunungsschwankungen der Epileptiker wirft er folgende Fragen auf: 
j. Sind die periodischen Stimmungsschwankungen ein charakteristisches 
Symptom der Epilepsie? 2. Wodurch unterscheiden sich die Verstim- 
mungen der Epileptiker von denen der Psychopathen überhaupt? — Die 
erste dieser beiden Fragen bejaht A«chaffenburg auf Grund einer 
Statistik von 50 Fällen meist krimineller Epileptiker, von denen er den 
größten Teil klinisch zu beobachten Gelegenheit hatte. Bei 21 Epilep- 
tikern mit Krampfanfällen beobachtete er in 20 Fällen Verstimmungen 
(meist Depression oder Reizbarkeit), die 13 mal von körperlichen Erschei- 



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Berichte und Betfreehungen. 



251 



nungcn begleitet waren; bei 29 Epileptikern ohne Krampfanfälle fanden 
sich in 15 Fällen Verstimmungen, 7 mal begleitet von körperlichen Erschei- 
nungen. Nach dieser Statistik wären die Stimmungsschwankungen ein über- 
aus häufiges Symptom der Epilepsie, das sich in 70 0/0 sämtlicher Epilepsie- 
fälle findet und an Häufigkeit alle anderen als charakteristisch geltenden 
Symptome der Epilepsie 2. T. sehr erheblich übertrifft — Bei der Dis- 
kussion der zweiten oben aufgeworfenen Frage versucht Aschaffen- 
burg die Stimmungsschwankungen der Epileptiker hauptsächlich von 
denen der Hysterischen abzugrenzen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß 
die epileptischen Verstimmungen ausgezeichnet sind 1. durch den Mangel 
an psychologischer Begründung; 2. durch eine Reihe schwerer, körper- 
licher Begleiterscheinungen vorzugsweise vasomotorischer Natur (Herz- 
klopfen, Blässe, Schweißausbruch usw.); 3. durch die Intoleranz gegenüber 
geringen Mengen Alkohol. In einem Anhange werden die Kranken- 
geschichten der 50 beobachteten Fälle kurz mitgeteilt. 

So überzeugend im ganzen die vortrefflich vorgetragenen Unter- 
suchungen Aschaffenburgs wirken, so ist Ref. doch geneigt, in 
manchen einzelnen Fragen mit Heilbronncr einen! etwas schärfer 
formulierten Standpunkt einzunehmen. Wenn schon die Diagnose der 
Epilepsie ohne Krampfanfälle zu manchen Bedenken Veranlassung gibt, 
so sind doch vor allem zwei Schwierigkeiten besonders hervorzuheben, 
die eine Uebertragung der gewonnenen Ergebnisse auf das große Gebiet 
der Epilepsie Bchlechthin nicht zuzulassen scheinen: ad 1 handelt es sich 
bei den Fällen Aschaffenburgs fast ausschließlich um kriminelle Pa- 
tienten, deren Stimmung an sich doch wohl noch anderen Faktoren spezi- 
fischer Art unterhegt, als es gemeinhin der Fall ist; ad 2 scheint die In- 
tensität der Stimmungsschwankungen nicht immer genügend berücksichtigt 
zu sein. In den Tabellen wenigstens, die der Untersuchung eingefügt sind, 
findet sich darüber keine Angabe, während doch die Intensitätsunterschiede 
der Stimmungsschwankungen gerade für ihre pathologische und patho- 
gnomonische Wertung nach Ansicht des Ref. eine ausschlaggebende Wür- 
digung verdienten. 

Berlin. L. Hirschlaff. 



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Mitteilungen 



XIV. Internationaler Kongress für Hjgiene und Demographie. 

Unter dem allerhöchsten Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin fand 
vom 23.-29. September 1907 in Berlin der XIV. Internationale Kongreß 
für Hygiene und Demographie statt. Das Organisationskomitee, dem die 
ersten Gelehrten aller Länder angehören (Vorsitzender: Bumm, Prä- 
sident des Kaiserlichen Gesundheitsamts ; Generalsekretär : Dr. N i e t n e r, 
Berlin W. 9, Eichhornstr. 9), versandte zu diesem Zwecke Einladungs- 
schreiben und umfangreiche Mitteilungen in den drei Verhandlungssprachen : 
Deutsch, Französisch und Englisch, aus denen wir uns begnügen müssen, 
aus Mangel an verfügbarem Raum nur das Verzeichnis der Sektionen und 
der Verhandlungsgegenstände wiederzugeben: 

Sektion I. 
Hygienische Mikrobiologie und Parasitologie. 

Verhandlungsgegenstande. 

i. Aetiologie der Tuberkulose. 
2. Die Bazillen der Typhusgruppe. 
3. Meningokokken und verwandte Bakterien. 
4. Aetiologie der Syphilis. 
5. Krankheitserregende Protozoen. 
6. Krankheitserregende Spirochäten. 
7. Insekten als Verbreiter von Krankheiten. 
8. Bericht über die Methoden der Serumprüfung. 
9. Ueber neuere Immunisierungsverfahren. 



Sektion II. 
Ern&hrnngshygicne und hygienische Physiologie. 

Verhandlungsgegeiistande. 
1. Bericht über den Stand der Nahrungsmittel - 
Gesetzgebungund -Ueberwachunginden verschiedenen 

Ländern. 



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Mitteilungen. 



253 



2. Der Stand der Verwendung von Konservierungs- 
mitteln für Nahrungs- und GenußmitteL 
3. Ueber die Bedürfnisse der Nahrungsmittel- 
gesetzgebung. 
4- Die volkswirtschaftlichen Wirkungen der Armenkost. 
5. Die Frage des kleinsten Eiweißbedarfs. 
6. Der Alkoholismus. 
7. Einwirkung des Badens auf die Gesundheit. 



Sektion III. 
Hygiene des Kindesalters und der Schule. 

Verhandlungsgegenstande. 

1. Das Fürsorgewesen für Säuglinge. 
2. Säuglingsheime und ihre Erfolge. 
3. Hebung des Hebammenstandes durch Fortbildung 
in der Säuglingshygiene. 
4. Herstellung tadelloser Kindermilch. 

5. Erfahrungen über das System der Schulärzte. 

6. Die Frage der Ucberarbcitung in der Schule. 

7. Die zweckmäßigste Regelung der Ferienordnung. 
8. Fürsorge für Schwachsinnige. 



Sektion IV. 

Berufshygiene und Fürsorge für die arbeitenden Klassen. 

Verhandlungsgegenstände. 

1. Die Ermüdung durch Berufsarbeit. 
2. Ueberblick über die Erfolge der Unfallverhütung. 
3- Hygienische Vorbildung der Gewerbeinspektoren. 

4. Arbeiterwohnhäuser. 
5. Fabrikbäder und Volksbadeanstalten. 
6. Die gewerbliche Bleivergiftung. 
7. Neuere Erfahrungen, betreffend die Staub- 
verhütung im Gewerbebetriebe. 
3. Die Gefahren des elektrischen Betriebs und Hilfe 
bei Unglücksfällen durch Starkstrom. 
9. Wie können die gesundheitlichen Gefahren bei 
Heimarbeitern herabgesetzt werden? 
10. Die Ankylostomafrage. 
11. Ersatz der Quecksilbersekretage durch unschädliche 

Prozeduren. 

12. Die Berufskrankheit der Caissonsarbeiter. 
13. Hebung der Hygiene der arbeitenden Klassen 
durch die Invalidenversicherung. 



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254 MitUüungen. 

Sektion V. 

Bekämpf nag der ansteckenden Krankheiten und Fürsorge für Kranke. 

Verhandlnngsgegenstände. 

i. Einheitliche Regelung der Prüfungsmethodik für 
Desinfektionsapparate und Desinfektionsmittel 
2. Kontrolle der Desinfektion. 
3. Die Krankenversicherung und ihr sanitärer Erfolg. 

4. Bekämpfung der Tuberkulose, Fürsorge für 

P h t h i s i k e r. 

5. Schutzimpfung gegen Typhus, Pest, Cholera. 

6. Bekämpfung der übertragbaren Genickstarre. 

7. Verbreitungsweise und Bekämpfung der Pest. 

8. Moderne Typhusbekämpfung. 
9. Verhaltungsmaßregeln bei Impflingen zur 
Verhütung weiterer Ansteckung. 
10. Die allgemeine Durchführung der Fleischbeschau 
mit Rücksicht auf Krankheitsverhütung. 



Sektion Via. 

Wohnungshygiene, Hygiene der Ortschaften und der Gewässer. 

Verhandln ngngege ns t ä nde. 

I. Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte. 

2. Die Ledigenheime. 
3. Bericht über die Erfolge der mechanischen, 
chemischen und biologischen Abwässerklärung. 

4. Die bisherigen Erfahrungen über T r e n n u n g s s y s t e m e 

der Abwässer. 

5. Verwertung und Beseitigung des Klärschlammes aus 

Reinigungsanlagen städtischer Abwässer. 
6. Ueber den Einfluß geklärter Abwässer auf die 

Beschaffenheit der Flüsse. 
7. Neuerungen auf dem Gebiete der Trinkwasser- 
filtrationstechnik. 
8. Ozonosicrung des Wassers. 
9. Erfahrungen über Talsperrenwasser. 
10. Ueber moderne Bclcuchtungsarten und ihre 
hygienische Bedeutung. 

II. Bedeutung der künstlichen Ventilation. 

12. Die Rauch plage in Großstädten. 
13. Ueber Straßenhygiene. 



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Mitteilungen. 



255 



Sektion VIb. 

Hygiene des Verkehrswesens. Rettungswesen. 

Verhandlnngsgegenstände. 

i. Einwirkung der Berufstätigkeit im Verkehrswesen 

auf die Gesundheit. 
2. Ueherwachung der Verköstigung im Eisenbahn- 
betrieb. 

3. Seuchengefahr und ihre Verhütung im Eisenbahn- 
betrieb. 

4. Ueber die Gefahren nervenkranker Bediensteter 

für den Eisenbahnbetrieb. 

5. Die Verletzungen im Eisenbahnbetrieb und ihre 

Verhütung. 

6. Erste Hilfe und Verkehr. Allgemeines Rettungswesen. 

7. Acrztliche Mitwirkung bei den Schutzmaßregeln 
gegen die Gefahren des Verkehrs. Aerztliches Rettungs- 
wesen. 



Sektion VII. 
Militärhygiene, Kolonial- und Schiffshygiene. 

Verhandlungsgegenstände. 

1. Die Wasserversorgung für eine Armee im Felde. 

2. Welche Erfahrungen sind mit den Typhusschutz- 

impfungen in der Armee gemacht? 

3. Die Beurteilung der Tropendiensttauglichkeit bei 

Offizieren und Mannschaften. 

4. Die Beseitigung der Abfallstoffe in militärischen 

Lagern und im Felde. 

5. Massenerkrankungen in der Armee durch Nahrungs- 

mittel 

6. Beziehungen der Erkrankungen an Lungentuber- 
kulose zu funktionellen Störungen der Herztätigkeit 

vornehmlich bei Soldaten. 
7. Ueber Pestrattenschiffe. 
8. Schlafkrankheit. 
9. Malariabekämpfung. 
10. Ventilation und Heizung auf Kriegs- und Handels- 
schiffen. 

11. Schutzpockenimpfung in den Kolonien. 
12. Ueber Sanatorien in den Tropen. 
13. Die Gelbfieberbekämpfung. 
14. Ständige Gesundheitsüberwachung der Häfen. 
15. Wasch-, Bade- und Abort-Einrichtungen an Bord 

der Kriegsschiffe. 



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256 



Mitteilungen. 



16. Wärmeregulation des Körpers und ihre Erschwerung 
und Behinderung im Schiffs- und Tropendienst. Hitz- 
schlag, Heizerkrämpfe, Sonnenstich. 
17. Bekämpfung der Infektionskrankheiten an Bord. 



Sektion VIII. 

Demographie. 

Verhandlungswege n stände. 

1. Sterbetafeln: a) Für das Deutsche Reich. 

b) Für Preußen, 
c) Für Großstädte. 

2. Die Lebensdauer der Bevölkerung. 

3. Säuglingssterblichkeit: 
a) Methode der Säuglingssterblichkeitsstatistik 
b) Ernährungsweise und deren Einfluß. 

Milchkontrolle, 
c) Selbststillen der Mütter. 

4. Bearbeitung der Bevölkerungsbewegung durch die 
Statistischen Aemter im Deutschen Reich einschließ- 
lich der Mehrlingsgeburten. 

5. Familienstatistik. 

6. Rekrutenstatistik. 

7. Binnenwanderung. 

8. Aus - und Einwanderung. 
9. Schulhygiene und Statistik. 
10. Berufs-Morbidität und -Mortalität 
11. Krankheitsschema für Krankheits- und Todes- 
ursachenstatistik. 
12. Sterblichkeit und Wohlhabenheit. 

13. Wohnungsstatistik und Wohnungspflege, 
a) Wohnungspflege, 
b) Wohnungsstatistik. 

14. Vergleiche zwischen den Volkssterbetafeln und den 
Tafelnder Lebens-, Renten - und Pensions Versicherung. 

15. Unfallhäufigkeit und Unfallfolge nach den neuesten 

Erhebungen. 
16. Entwicklung der Fruchtbarkeit. 



SchrifUaitnng : F. KemaiM, Wotßonsee, Kflnij?« - Chaussee 6, u. L. Hirsohlaff, Berlin W, 
Habsburcerstr. 6. — Verlag 1 von Hermann Walthar Varlapsbuchhandlunfj G. m. b. Hj 
Berlin W. 80, Nollendorfplata 7. — Verantwortlich für Geschäftliche Mitteilung» ond 
I nsarate: Fr. Paasche-Berlln. — Druck: Faß fc Qarleb G. m. b. Berlin W. 67, Bttlowgtr. 06. 



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Zeitschrift 

für 

Pädagogische Psychologie, 

PalMogit und BväKn«. 

Herausgegeben 
von 

Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff. 
Jahrgang IX. Berlin, November 1907. Heft. 4/5. 



Meteorologische Beobachtungen an Schulen. 

Vorschläge von Joseph Frühling. 

In den letzten Jahrzehnten hat die Meteorologie wie die 
verwandten Wissenschaften einen so bedeutenden Aufschwung 
genommen, daß einige Kenntnis derselben von jedem Gebil- 
deten erwartet werden darf. Dementsprechend ist auch in den 
„Lehrplänen und Lehraufgaben für die höheren Schulen in 
Preußen von 1901" in der Physik die Anwendung der Wärme- 
lehre auf Meteorologie verlangt, allerdings nur in der Ober- 
sekunda des Gymnasiums. Die Meteorologie soll, wie aus dem 
Wortlaut des Lehrplanes „Wärmelehre nebst Anwendung auf 
Meteorologie" hervorgeht, auf der Schule nicht als selbständige 
Wissenschaft gepflegt, sondern nur als Teil der Physik be- 
handelt werden. Dies dürfte wohl auch für Schulen das Richtige 
sein, da die Einführung der Meteorologie als selbständiger 
Wissenschaft auch etwa zwei Stunden wöchentlich in den oberen 
Klassen erfordern würde und dieser Zeitaufwand wohl kaum 
von dem Nutzen, den diese Stunden bringen würden, auf- 
gewogen werden dürfte. Aber es muß dem Schüler eine 
reellere, umfassendere Kenntnis der Meteorologie beigebracht 
werden. Denn bisher beschränken sich die Kenntnisse gewöhn- 
lich auf eine einfache Erklärung des Wesens und der Ent- 

Zeitschrift für pftd&gogfeohe Ptycholofi«, Pttholofi* u. Hygiene. 1 



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258 



Joseph Frühling. 



stehung der einzelnen Witterungselemenle, jedoch ohne die 
näheren Beziehungen zwischen diesen, die uns die praktische 
Anwendung der Meteorologie, die praktische Witterungskunde, 
lehrt. Und doch dürfte gerade einige Kenntnis dieser dem 
Schüler besonderen Nutzen bringen, auf der Schule besonders 
durch die Mittel, die zum Erwerb dieses Wissens dienen, später 
durch die Anwendung dieses Wissens, nämlich durch leichteres 
Verständnis der von den Wetterbureaus herausgegebenen 
Wetterkarten und damit in Verbindung mit den ge- 
lernten Beobachtungen durch eigene Aufstellung von einiger- 
maßen zuverlässigen L o k a 1 prognosen, die nicht nur für die 
meisten Erwerbszweige nötig sind, sondern auch dem Ge- 
nießenden, dem Touristen und selbst dem anspruchslosesten 
Spaziergänger immerhin erwünscht sind. — Es wird sich so- 
mit darum handeln, dem Schüler eine umfassendere Kenntnis 
der Meteorologie ohne besondere Stunden beizubringen 
und gleichzeitig die Mittel, die zum Erwerb dieser Kenntnisse 
dienen sollen, so z\i wählen, daß der Schüler auch für die 
anderen Disziplinen hieraus Nutzen gewinnt. In dieser doppelten 
Hinsicht will ich im folgenden einige Vorschläge machen, dabei 
aber auch kurz auf den Nutzen, den die Meteorologie aus einer 
etwas intensiveren Bearbeitung auf der Schule finden kann, 
eingehen und endlich den Wert für die pädagogische Psycho- 
logie im Anschluß hieran hervorheben. 

Die Vermittlung der Kenntnis der Witterungskunde an 
den Schüler geschieht am zweckmäßigsten zunächst durch von 
den Schülern selbst anzustellende Beobachtungen der einzelnen 
Elemente und im Anschluß hieran in den oberen Klassen durch 
Erklärung der Witterung des Tages an Hand der von den 
Wetterbureaus herausgegebenen Wetterkarten unter besonderer 
Berücksichtigung der an der Schule angestellten Beobach- 
tungen, ohne jedoch eine Prognose hinzuzufügen, da diese 
meiner Ansicht nach den durch das Ziel der Schule über- 
haupt geforderten Wissensumfang überschreitet. — Die Beob- 
achtungen der einzelnen Elemente erfordern nur einen ver- 
hältnismäßig ganz geringen Aufwand an Zeit und Kosten, 
letztere bedingt durch Anschaffung von Apparaten, auf die 
ich zunächst eingehen möchte. 

Zur Beobachtung und Messung der Luftdruck- 
schwankungen bedient man sich des Barometers. Je nach 



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Meteorologische Beobachtungen an Schulen. 



259 



der Einrichtung unterscheidet man Gefäß-, Heber- und Ane- 
roidbarometer. Für genauere Beobachtungen nimmt man ein 
Gefäßbarometer mit reduzierter Skala, bei deren Teilung die 
Schwankungen des Quecksilberniveaus im Gefäß berück- 
sichtigt sind, so daß zur Ablesung nur eine einzige scharfe Ein- 
stellung des an der Röhre verschiebbaren Nonius nötig ist, 
ein sogenanntes Stationsbarometer, dessen Preis 110 bis 150 Mk. 
beträgt. Um große Temperaturschwankungen zu vermeiden, 
die bei der Ablesung mit berücksichtigt werden müßten, hängt 
man das Barometer im Keller auf. 

Für die Temperaturmessungen dient ein Minimum- 
thermometer, gewöhnlich ein Weingeistthermometer, in dessen 
Röhre ein Schwimmer bei sinkender Temperatur vom Wein- 
geist mitgenommen wird, bei steigender Temperatur liegen 
bleibt, ferner ein Maximumthermometer, in der Regel ein 
Quecksilberthermometer, dessen Faden durch eine vermittels 
eines eingeschmolzenen Glassplitters erzeugte Verengerung der 
Röhre unmittelbar über der Kugel bei sinkender Temperatur 
abreißt, und endlich ein einfaches Quecksilberthermometer mit 
V 2 bis 1/5° Einteilung (Celsius). — 

Zur Berechnung der Luftfeuchtigkeit benutzt man 
die Ablesungen eines einfachen Quecksilberthermometers, wozu 
man das letztgenannte benutzen kann, in Verbindung mit den 
Ablesungen eines zweiten, gleichartigen Thermometers, dessen 
Kugel mit Musselin umwickelt ist und durch einen Baumwoll- 
docht, der in der Wicklung befestigt ist und in einen kleinen 
Wassernapf taucht, ständig feucht gehalten wird, des so- 
genannten „feuchten** Thermometers. Beide Thermometer zu- 
sammen ergeben das „Psychrometer* 4 . Die Kosten dieser 
Apparate betragen etwa : für das trockene und feuchte Thermo- 
meter in V2 0 Teilung je 9, in 7s 0 je 17 Mk., für das Maximum- 
Thermometer 11, für das Minimum-Thermometer 10 Mk. 

Diese vier Thermometer findet man meist an einem Gestell 
zusammen befestigt, das trockene und feuchte vertikal, die 
beiden anderen horizontal. Zum Schutze gegen direkte oder 
indirekte Sonnen- oder sonstige Wärmestrahlung, sowie gegen 
Regen und Schnee sind die Thermometer von einer Schutz- 
vorrichtung umgeben, die der Luft freien Zutritt läßt. Diese 
Schutzvorrichtung besteht entweder aus einer Holzhütte mit 
jalousieartigen Wänden, die im Garten oder Hof aufgestellt 



260 



Joseph Frühling. 



wird, oder aus einem Blechgehause, das an einem Fenster der 
Nordseite des Gebäudes etwa Ys m von der Wand entfernt 
angebracht ist und sich durch einen durchgehenden Riegel 
ohne Oeffnung des Fensters zur Ablesung öffnen läßt. Stativ 
18 Mk., Holzgehäuse 30 Mk., Blechgehäuse 60 bis 85 Mk.) 

Ein Psychrometer, Verbindung eines trockenen und eines 
feuchten Thermometers, das auch ohne Hütte, sogar im 
hellsten Sonnenschein, unabhängig von der Sonnenstrahlung, 
funktioniert, falls nur die eingesaugte Luft nicht gerade von 
einem erwärmten benachbarten Gegenstand herkommt, ist das 
Aßmannsche Aspirationspsychrometer. Bei diesem Apparat 
werden durch ein Uhrwerk im oberen Teile zwei ziemlich dicht 
übereinanderliegende Scheiben in Rotation versetzt, schleudern 
hierdurch die zwischen ihnen befindliche Luft infolge der 
Zentrifugalkraft heraus und saugen durch das Innere des 
Apparates neue Luft an, die in fortwährender Strömung die 
beiden Thermometer passiert und ihnen die Luftwärme 
mitteilt. 1 ) 

Die Windbeobachtungen zerfallen in die der Wind- 
richtung und der Windstärke. Zur Beobachtung der Wind- 
richtung dient eine hoch und frei, auf dem Dache oder einem 
Flaggenmast befestigte Windfahne mit Richtungskreuz, die sich 
recht leicht in ihren Lagern dreht. Die Ablesungen erfolgen 
nach den vier Hauptrichtungen und zwölf eingeschalteten 
Zwischenrichtungen, z. B. S. (Süd), W. (West), SSW., SW., 
WSW. — Eine solche Windfahne mit durchgehender Stange, 
so daß die Ablesungen im Innern des Gebäudes vorgenommen 
werden können, kostet etwa 36 bis 42 Mk. — Die Windstärke 
wird gewöhnlich geschätzt, und zwar bedient man sich zur 



*) Da die Beziehungen zwischen Luftfeuchtigkeit und dem Temperatur- 
minimum weniger bekannt sein dürften, möchte ich hier einschalten, daß aus 
der Beobachtung des feuchten Thermometers zu einer bestimmten Nach- 
mittagsstunde mit ziemlicher Sicherheit auf das Temperaturminimum der 
folgenden Nacht geschlossen werden kann, besonders an windstillen Tagen, 
wo eben nicht durch den Wind stärkere Feuchtigkeitsveränderungen ru 
erwarten sind. Dies ist von größter Bedeutung für die Möglichkeit, im Früh- 
jahr Nachtfröste, die ja meist in klaren, windstillen Nächten entstehen, 
voraussagen zu können. 



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Meteorologische Beobachtungen an Schulen. 



261 



Bezeichnung der verschiedenen Windstärken meist der Beau- 
fort-Skala (o bis 12).*) 

Mann kann allerdings auch die Wildsche Stärketafel oder 
das Robinsonsche Schalenkreuz benutzen, doch ist die An- 
schaffung dieser Apparate für die Schule nicht notwendig, 
sogar nicht einmal ratsam, da für die praktische Anwendung 
die geschätzten Stärken genügen und die Schüler daran gewöhnt 
werden müssen, auch Schätzungen genau vorzunehmen. 

Zur Beobachtung des Wolkenzuges bedient man sich 
des Wolkenspiegels, eines nach der Windrose in Felder ein- 
geteilten Spiegels, an welchem man die Bewegung der Wolken 
gegen die auf dem Spiegel angebrachten Linien abliest (Preis 
etwa 15 Mk.). 

Zur Beobachtung der Wolkenformen und der Aus- 
dehnung der Bewölkung, der Himmelsbedeckung, bedient man 
sich keiner Apparate. Die Wolkenformen werden nach inter- 
nationalem Uebereinkommen in zehn Klassen (Typen) unter- 
schieden als: 

1.1 Cirrus 2. J Cirro-Stratus 3. f Cirro-Comulu« 4.1 Alto-Cumulus 
{Federwolke. (Schleierwolke. \Schifchen- Wolke. (Dickere Wolkenballen. 

5.f Alto-Strahn 6.f Strato-Camulus 7.f Nimbus 8. ( Cumulus 
(Hohe Schichtwolke. \Dunkle Wolken wülste. (Regenwolke. \ Haufenwolke. 
9. fCumulo-Nimbus 10. ( Stratus 

\ Gewitterwolke. \Gehobene Nebel. 

*) Die Bedeutung der Skalenteile ist: 

0 = Windstille. 

1 = leiser Zug, Rauch steigt fast gerade empor. 

2 = leichter Wind, für das Gefühl eben bemerkbar. 

3 s= schwacher Wind, bewegt einen leichten Wimpel, auch die Blatter 
der Bäume:. 

4 = mäßiger Wind, streckt einen Wimpel, bewegt kleine Zweige 
der Bäume. 

5 e= frischer Wind, bewegt größere Zweige der Bäume, wird für das 
Gefühl schon unangenehm. 

6 = starker Wind, wird an Häusern und anderen festen Gegenständen 
hörbar, bewegt große Zweige der Bäume. 

7 = steifer Wind, bewegt schwächere Baumstämme, wirft auf 
stehendem Wasser Wellen auf, die oben überstürzen. 

8 = stürmischer Wind, ganze Bäume werden bewegt, ein gegen den 
Wind schreitender Mensch wird merklich aufgehalten. 

9 — Sturm, leichtere Gegenstände, wie Dachziegel, werden aus ihrer 
Lage gebracht. 

10 = starker Sturm, Bäume werden umgeworfen. 

11 = heftiger Sturm, zerstörende Wirkungen schwerer Art. 
13 — Orkan, verwüstende Wirkungen. 



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262 



Joseph Frühling. 



Zur Vergleichung und Einübung ist die Anschaffung von 
Wolkenabbildungen zu empfehlen, so des „Atlas international 
des nuages. — Paris 1896" — oder der „Wolkentafeln von 
K. Singer". 

Die Angabe der Himmelsbedeckung erfolgt in der 
Art, daß man schätzt, welcher aliquote Teil der ganzen sicht- 
baren Himmelsfläche von den Wolken überdeckt erscheint; 
in der Regel gibt man den Grad der Himmelsbedeckung nach 
einer Skala von o bis 10 an. 

Beobachtungen der Dauer des Sonnenscheines haben 
für die Schule zu wenig Wert, um den dazu nötigen Apparat 
zu beschaffen. 

Zur Messung des Niederschlages bedient man sich 
des Regenmessers, eines mit einem Deckel verschließbaren zylin- 
drischen Blechgefäßes mit 200 qcm oberer Oeffnung, das einen 
Blechtrichter enthält; unter diesem steht die Sammelflasche. 
Zweckmäßig wendet man zwei Regenmesser an, läßt jedoch 
nur einen offen und benutzt den zweiten hauptsächlich als 
Reserve, z. B. bei Schneefall, da zur Messung des nieder- 
gefallenen Schnees der Regenmesser erst in die warme Stube 
zum Schmelzen des Schnees gebracht werden muß. Bei der 
Aufstellung der Regenmesser ist zu berücksichtigen: 

1. daß die Niederschläge von allen Seiten freien Zutritt 
haben, 

2. daß der Regenmesser nicht allzusehr dem Winde aus- 
gesetzt ist, 

3. daß die Auffangefläche etwa 1 V 2 m über dem Erdboden 
sich befindet. 

Die Kosten eines Regenmessers belaufen sich auf 7,50 bis 
19 Mk. 

Von der Messung der Luftelektrizität gilt das gleiche 
wie das von der Sonnenscheindauer gesagte. 

Wann sind nun die Beobachtungen anzustellen? Die 
meteorologischen Institute verlangen eine dreimal tägliche Be- 
obachtung, und zwar um 7ha, 2b p, 9b p, oder um 8ha, 2b p, 
8b p. Das letztere dürfte vorzuziehen sein, um die Ablesungen 
mit den Wetterkarten vergleichen zu können, außerdem aber, 
weil für die Schüler der 7b aTermin im Winter reichlich früh, 



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Meteorologische Beobachtungen an Schulen. 263 



der 9bp-Termin reichlich spät sein dürfte. Da die Ablesungen 
nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, können die Morgen- 
und Nachmittag-Beobachtungen in der 8b- resp. 2b-Pause erledigt 
werden. Man wird zweckmäßig die Beobachtungen der 
einzelnen Elemente an verschiedene Schüler verteilen und dann 
wöchentlichen oder zehntägigen Wechsel eintreten lassen, so 
daß im Laufe des Jahres sämtliche Schüler einer Klasse (von 
Untersekunda an) etwa zwei- bis mehreremal die Beobachtungs- 
woche für jedes Element haben. Ein Wechsel ist ratsam, um 
die subjektiven Beobachtungsfehler genau erkennen zu können ; 
doch ist ein täglicher Wechsel zu vermeiden, da hierbei die 
subjektiven Fehler unkontrollierbar werden. Eine Dauer von 
etwa einer Woche oder einer Dekade genügt vollkommen, um 
die Fehler in subjektive, längere Zeit hindurch konstante 
Beobachtungsfehler und zufällige Ablesefehler zu sondern und 
die Kontrolle derselben zu ermöglichen. Bei den meteoro- 
logischen Beobachtungen tritt der Unterschied zwischen den 
Beobachtern so deutlich und intensiv hervor, daß man ihn der 
persönlichen Gleichung der Astronomen in bezug auf den Wert 
für die Psychologie an die Seite stellen kann. Die Zugehörig- 
keit bestimmter Beobachtungsfehler zu gewissen Veränderungen 
der Stimmung und des Lebensgefühles der einzelnen Beob- 
achter, zu ihrem Temperament, tritt so deutlich hervor, daß 
man, wie ich aus eigener Erfahrung 3 ) behaupten kann, nach 
mehrmaligem Wechsel zwischen einer bestimmten Anzahl Per- 
sonen aus den Beobachtungen sofort den Beobachter selbst 
angeben kann. Werden die Ablesungen aber außerdem, wie 
es an der Schule sich von selbst ergibt, nicht nur nach den 
Wetterkarten kontrolliert, sondern vom Lehrer stets selbst mit 
ausgeführt, so sind auch die feineren Nuancen der Stimmung, 
auch gelegentliche, vorübergehende Aenderungen der Stimmung 
und des Lebensgefühles deutlich zu erkennen, besonders bei den 
Beobachtungen durch Schätzung. — 

Da die Beobachtungen genau zu bestimmten Zeiten aus- 
geführt werden müssen, werden die Schüler an Pünktlichkeit 
gewöhnt. Weiter aber werden sie durch die Schnelligkeit des 
Beobachtens, durch die erforderliche Genauigkeit der Ab- 



8 ) Der Verfasser war mehrere Jahre an der Deutschen Seewarte in 
Hamburg. 



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264 Joseph Frühling 



lesungen zu schnellem, exaktem Arbeiten veranlaßt. Es wird 
bei diesen Beobachtungen nicht nur der Verstand in Anspruch 
genommen und geschärft, das Gedächtnis gestärkt, sondern 
besonders die schnelle Konzentration des Geistes auf eine 
bestimmte Arbeit bewirkt. Dazu kommt noch, daß durch die 
Reduktionen, Korrektionen und die Tabellenaufrechnung 4 ) das 
Rechnen, besonders das Kopfrechnen, in welchem die Mittel* 
und Oberklassen trotz aller Repetition in den Mathematikstunden 
doch mehr oder weniger stark aus der Uebung gekommen 
sind, besonders geübt wird. Durch die ohne Apparate vor- 
zunehmende Schätzung der Windstärke, der Wolkenform, der 
Himmelsbedeckung usw. wird die Beobachtungsgabe in den 
Schülern geweckt und durch andauernde Uebung verstärkt, 
kurz: der Schüler lernt durch die Ablesungen und die Beob- 
achtungen exakt zu arbeiten und seinen Geist auf eine bestimmte 
Arbeit, ohne sich durch andere Gedanken ablenken zu lassen, 
zu konzentrieren und alles, auch die scheinbar unwichtigen 
Dinge zu beachten und für sich und seine Arbeiten nutzbar zu 
machen. Dadurch kommt ihm die geringe Mehrarbeit, zu der 
er durch die meteorologischen Beobachtungen gezwungen wird, 
für die anderen Fächer zugute. 

Die Beobachtungen können von den Schülern von Unter- 
sekunda an ausgeführt werden. Eine einfache Erklärung 
des Wesens und der Entstehung der meteorologischen 
Elemente dürfte auch schon in Untersekunda gegeben 
werden, woran sich in Obersekunda ein genaueres Ein- 
gehen auf diese angliedern könnte, zum Beispiel über 
die Ablenkung der Windrichtung durch die Rotation der 
Erde, die Bildung von Zyklonen und Antizyklonen, Ursachen 
für die Aenderungen des Luftdrucks u. a. Dies könnte in der 
Physik in einigen wenigen Stunden leicht besprochen werden 
und würde eine gute Vorbereitung auf die in Prima vorzu- 
nehmende Erklärung des Wetters an Hand der Wetterkarten 
bilden. Die Wetterkarten, die für diese Besprechungen dienen 

*) Wie schon oben gesagt, sind die Beobachtungen und Messungen der 
meteorologischen Elemente dreimal täglich vorzunehmen, außerdem aber 
in ein besonderes Beobachtungsheft und in Monatstabellen mit den anzu- 
bringenden Korrektionen und Reduktionen einzutragen. Ferner sind außer- 
terminlich noch Gewitter, Hagelfälle, Regenschauer, Sonnen- und Mond- 
höfe zu beobachten und auch einzutragen. 



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Meleorologitche Beobachtungen an Schulen. 265 



sollen, können entweder die vom Berliner Wetterbureau — 
Leitung Herr Privatdozent Dr. Less — herausgegebenen sein, 
die sich durch klaren Druck und gute Uebersichtlichkeit aus- 
zeichnen (Abonnementspreis vierteljährlich 4,50 Mk.), oder aber 
die vom Reichswetterdienst für 0,50 Mk. monatlich verbreiteten, 
die jedoch nicht so reichhaltig sind .*) — Die vom Berliner 
Wetterbureau herausgegebenen Wetterkarten geben auf der 
ersten und letzten (vierten) Seite eine allgemeine Erläuterung 
der Wetterkarten überhaupt; auf der zweiten Seite stehen zu- 
nächst die Morgenbeobachtungen desselben Tages von über 
50 deutschen und ausländischen Stationen, und zwar der Baro- 
meterstand in ganzen Millimetern, Windrichtung und Wind- 
stärke, Wetter (ob wolkenlos, heiter, Regen usw.), dann die 
Temperatur in ganzen Graden Celsius und endlich bei 16 bis 
17 Stationen die Höhe des in den letzten 24 Stunden gefallenen 
Niederschlags in Millimetern. Unten auf der Seite ist der 
Verlauf der Witterung seit dem Morgen des voraufgehenden 
Tages unter besonderer Berücksichtigung der Aenderung des 
Luftdrucks, der Verlagerung der Zyklonen und Antizyklonen, 
sowie der Wärmeänderung kurz gekennzeichnet. Die dritte 
Seite enthält oben die eigentliche Wetterkarte, deren Einrich- 
tung wohl bekannt ist, die ich aber im Zusammenhang ganz kurz 
erwähnen möchte. — Die schwarzen Linien auf der Karte sind 
Isobaren, d. h. die Verbindungslinien der Orte gleichen Luft- 
drucks (von5 zu 5 mm), die beigeschriebenen Zahlen die Tempe- 
raturgrade (Celsius), die Ausfüllung der Ortskreise das Wetter 
(O wolkenlos, (3 heiter, (J hal ^ bedeckt, wolkig, £ bedeckt, 
• Regen, * Schnee, 00 Dunst, = Nebel, Gewitter) und schließ- 
lich die Pfeile die Windrichtungen (die Pfeile fliegen mit dem 
Winde) und deren Befiederung die Windstärke (eine Fieder 
entspricht der Windstärke 2, zwei Fiedern der Windstärke 4). 
Wir sehen die Isobaren um Zentren gruppiert, nämlich rings 
zusammenlaufend um die Zyklonen, Gebiete relativ niedrigen 
Luftdrucks, und Antizyklonen, Gebiete relativ hohen Luftdrucks. 
Die Winde wehen nach der Zyklone (Depression) hin, doch 
wird die Windbewegung durch die Rotation der Erde eine 
spiralförmige, mit einer dem Uhrzeiger entgegengesetzten 



■) Die von der Seewarte herausgegebenen Wetterkarten sind für die 
Schule zu teuer (vierteljährlich 15 Mk.). 



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266 



Joseph Frühling. 



Drehung, dagegen aus der Antizyklone in spiralförmiger 
Drehung im Sinne des Uhrzeigers heraus, so, daß die Winde 
bei schwachen Gradienten (d. h. bei weitem Abstand der Iso- 
baren) den Isobaren fast parallel wehen, während bei steilen 
Gradienten (d. h. bei engem Abstand der Isobaren) die Be- 
wegung mehr gerade erfolgt und der Winkel zu der Isobare 
größer wird. — 

Diese Erklärungen, selbstverständlich ausführlicher und 
genauer, müßten den Primanern zuerst gegeben werden, woran 
sich dann anzuschließen hätten die Lehren, daß die Verteilung 
des Luftdrucks sich fortwährend ändert, daß die Zyklonen 
gewisse Bahnen (van Bebbers Zugstraßen) zu bevorzugen 
scheinen, welches Wetter auf der Vorder- und auf der Rück- 
seite der Zyklonen vorwiegt, v/elche Aenderungen beim Heran- 
nahen und Vorüberziehen einer Depression eintreten, welche 
Witterung bei gewissen, ähnlichen, häufiger wiederkehrenden 
Luftdruckverteilungen (van Bebbers Wettertypen) zu erwarten 
ist, nebst Erläuterungen der Isobarenformen (Keil, Zunge, 
Gewittersäcke usw.). Dann würde man dazu übergehen müssen, 
diese Erläuterungen an Kartenbeispielen zu veranschaulichen 
und von den Schülern die Morgenbeobachtungen der Schule 
in die Karten eintragen, event. sogar die in den Wetterkarten 
des Berliner Wetterbureaus mitgeteilten meteorologischen Ele- 
mente der 50 Stationen in besondere Karten eintragen und die 
Isobaren selbst ziehen zu lassen, so daß die Schüler schließlich 
selbst imstande sind, aus der Wetterkarte die Erklärung der 
tatsächlichen Witterung ungefähr zu geben. ■ — 

Der Nutzen, den die Schüler der oberen Klassen aus diesen 
Erläuterungen erzielen würden, dürfte zunächst darin bestehen, 
daß sie kennen lernen, welchem Zwecke zum Teil die auch 
auf der Schule angestellten Beobachtungen dienen, außerdem 
aber in dem Verständnis der Wetterkarten selbst, ohne welche 
ein richtiges Verstehen der von den Instituten herausgegebenen 
Prognosen nicht möglich ist, da die Prognosen stets für ein 
größeres Gebiet allgemein gelten und erst durch eigene Be- 
obachtung in Verbindung mit dem Studium der Wetterkarte zu 
einer zuverlässigen Lokalprognose ergänzt werden müssen. — 
Solche Prognosen für ein größeres Gebiet sind z. B. bei den 
vom Berliner Wetterbureau herausgegebenen Karten auf der 
dritten Seite unterhalb der Wetterkarte gegeben. 



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Meteorologische Beobachtungen an Schulen. 267 

Kurz zusammengefaßt: Zur Einrichtung des meteoro- 
logischen Apparates an der Schule wären etwa 250 bis 400 Mk. 
erforderlich. An laufenden Kosten wären nur die Beschaffung 
der Beobachtungshefte und Monatstabellen, event. von Blanko- 
karten, sowie der Bezug der Wetterkarten (6 bis 18 Mk. jährlich) 
vorhanden. An Zeit würde dreimal täglich eine Zeitspanne von 
10 Minuten erfordert, außerdem müßte die Physik einige wenige 
Stunden der Meteorologie opfern. 8 ) Der Nutzen, den das 
Studium der Meteorologie dem Schüler bringt, dürfte somit 
wohl den geringen Aufwand an Zeit und Geld aufwiegen. 

Auch die Meteorologie, oder vielmehr die praktische Witte- 
rungskunde, dürfte großen Nutzen hieraus gewinnen, da die 
Prognose an sich nur begrenzten Wert hat, wenn nicht als 
Ergänzung die Wetterkarte selbst hinzukommt. Nur dann kann 
man die allgemeine Prognose unter Berücksichtigung örtlicher, 
meist konstanter Abweichungen zu einer zuverlässigen Lokal- 
prognose umwandeln. Dazu gehört aber vor allem, daß die 
große Masse der vom Wetter Abhängigen, Landwirte, 
Handeltreibende usw., auch die Karte verstehen. Und wie läßt 
sich leichter das Verständnis der Karten verbreiten als durch 
die Schulen, die als Erziehungsinstitute gleichsam eine Brücke 
zwischen dem Laien und dem Fachgelehrten bilden? Kennen 
erst die Schüler der oberen Klassen höherer Lehranstalten, 
sowie der Landwirtschaftsschulen u. a. die Wetterkarten und 
verstehen sie zu deuten, so darf man mit Gewißheit erwarten, 
daß die Verbreitung der Wetterkarten mehr zunimmt, als durch 
Vorträge in landwirtschaftlichen und anderen Vereinen, da diese 
Vorträge allein eine zu kurze Ausbildung geben, als daß diese 
zu einem wirklichen Verstehen des Vorgetragenen führt, oder 
die billige Verausgabung von Wetterkarten allein, und man 
darf hoffen, daß damit auch das Vorurteil gegen die Zuverlässig- 
keit der Prognosen, die meist noch immer als Lokalprognosen 



') Es könnte der Vorwurf erhoben werden, daß die Pausen zur Er- 
holung dienen sollen, somit nicht der Beobachtung dielten können. Dem- 
gegenüber möchte ich hier hervorheben, daß durch die Ablesungen der 
Schüler selbst bei schlechtem Wetter immerhin zu einer Bewegung inner- 
halb des Gebäudes in verschiedenen Stockwerken gezwungen wird, die 
ebensogut wie ein langsames Umhergehen eine Erholung gewährleistet. 



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268 



Joseph Frühling. 



für den jeweiligen Ort des Empfängers aufgefaßt werden und 
so zu Irrtümern Anlaß geben, verschwindet. 

Doch auch der Wert für die Psychologie dürfte, wie schon 
früher hervorgehoben, nicht gering anzuschlagen sein. Er- 
fahrungen nach diesen Richtungen hin hoffe ich demnächst 
vorlegen zu können. 



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Ueber anatomische Modelle. 

Von 

P. Osterloh. 

Wenn der Laie auf einer Lehrmittelausstellung die 
im Handel vorkommenden anatomischen Modelle kennen 
lernt, so mag er vielleicht verwundert sein über die 
prächtigen Mittel, mit denen heutzutage unsere Schulen 
ausgestattet werden: Herz-, Ohr-, Augen- und Kehl- 
kopfnachbildungen finden sich in den mannigfachsten Aus- 
führungen und Preislagen vor. Es müßte für den Lehrer eine 
wahre Lust sein, mit Hilfe derartiger Lehrmittel die Schüler zu 
unterweisen und ihnen die wichtigsten Organe fast so gut wie 
in natürlichem Zustande vorführen zu können. 

Der anatomische Unterricht stützt sich hauptsächlich auf 
Abbildungen und Modelle, weil natürliches Material schwer zu 
beschaffen ist, und es auch nicht immer angebracht erscheint, 
es den Kindern direkt vorzuführen. Ob aber die Modelle korrekt 
sind, kann der Lehrer schwer beurteilen, da sie ein eingehen- 
deres Studium der natürlichen Organe voraussetzen. Es werden 
anatomische Modelle meist auf Treu und Glauben von Schulen 
gekauft. Viele freuen sich, im Besitze schöner und wertvoller 
Objekte zu sein, die, näher betrachtet, doch recht unwissen- 
schaftlich, mitunter sogar falsch sind. Es dürfte daher ange- 
bracht sein, wo heute doch jede Volksschule danach strebt, 
Modelle der wichtigsten Organe zu erwerben, sie vom wissen- 
schaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Ich scheide von 
vornherein die aus Gips hergestellten aus, weil das Material 
manches nicht zuläßt, was in Papiermache*-Ausführung mög- 
lich ist, die auch jetzt wegen größerer Haltbarkeit mehr ein- 
geführt ist. Es kommen die von Dr. Benninghofen und 



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270 



P. Osterloh. 



A. Sommer in Berlin, und die von Marcus Sommer, 
jetzt Fritz Sommer, in Sonneberg verfertigten hauptsäch- 
lich in Betracht. 

1. Das Kehlkopfsknorpelmodell.*) An diesem Modell ist ziem- 
lich alles falsch wiedergegeben ; nicht einmal die äußern Formen, 
Kehldeckel, Schildknorpel, Ring- und Stellknorpel, bei denen 
Gelenkflächen nicht zum Ausdruck kommen, sind korrekt. 
Gänzlich verfehlt ist die Funktion. Man erwartet, daß das 
Modell das Oeffnen und Schließen der Stimmritze veranschau- 
licht. Wie aber die Stimmritze geöffnet wird, darüber gibt das 
Modell keinen Aufschluß. Ueber den Verschluß belehrt uns 
Benninghofen in naiver Weise, daß ein Zug hinten am 
Ringe, wo eigentlich der Musculus cricoarytaenoideus post. das 
Oeffnen der Stimmritze bewirken müßte, in diesem Falle durch 
Drehung der Stellknorpel die Stimmritze schließt. Es werden 
dabei zwei Lappen, die sonderbarerweise am Schildknorpel 
angeheftet sind, über dem Hohlraum des Ringes zusammen- 
gezogen. 

Wenn zwei Konkurrenzfirmen dieselben Fehler begehen, 
so liegt die Annahme nahe, daß die eine der andern nach- 
gearbeitet hat. Es ist ja freilich leichter, andere Sachen nach- 
zuahmen, als sich eigenen wissenschaftlichen Studien hinzu- 
geben. So basieren unsere bisherigen anatomischen Modelle 
entweder auf den alten Bock'schen Gipsmodellen, die aber 
in der Tat in vielem Besseres leisten, als die modernen, oder auf 
älteren französischen Modellen. Und doch haben alle Nach- 
ahmungen dieser Modelle nicht den Geist erfaßt, den sie be- 
sitzen ; in den Bockschen den pädagogischen Wert, in den fran- 
zösischen die wunderbar künstlerische Technik; nur die Fehler 
sind getreu aufgenommen worden. Ich sollte meinen, die 
Arbeiten von Luschka, Grützner, Pansch, Herrmann 
und die Dissertation von Dr. Will (1895) im anatomischen 
Institut des Herrn Geheimrats Prof. Dr. S t i e d a in Königsberg 
müßten allen Fachmännern bekannt sein, die wissenschaftliche 
und nicht bloß kaufmännische Institute gründen. Ich will da- 
von absehen, daß sich unter meinen anatomischen Modellen 
das unter spezieller Anleitung von Geheimrat Prof. Dr. S t i e d a 

*) Im Kataloge von Dr. Benninghofen und A. Sommer wird es als neues 
Modell in einzelne Teile zerlegbar, die Stimmritze beweglich, zum Preise von 
25 Mk„ bei Marcus Sommer, Sonneberg mit 123 Mk. angeboten. 



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Utber anatomische Modelle 



271 



angefertigte Stiedasche Kehlkopfknorpelmodell befindet, das 
wegen seiner Korrektheit die weitgehendste Verbreitung und 
Anerkennung gefunden hat. Bereits 1891 gibt Pansch in 
seinem Grundriß der Anatomie des Menschen, 3. Auflage, eine 
genaue Darstellung der Verhältnisse, die jedes Modell zu berück- 
sichtigen hat. „Die Gelenke zwischen cartilago cricoidea und 
cartilago arytaenoidea sind als zylindrische zu bezeichnen. Die 
Achse steht schräg. Denken wir uns die Achsen beider Gelenke 
verlängert, so müssen sie sich hinten oben in der Medianlinie 
schneiden. (Nach Dr. Will im Winkel von 50—60°.) Die Gieß- 
kannenknorpel auf dem Ringe erzeugen das Senken des Pro- 
cessus muscularis und das Heben des Processus vocalis; da 
die Achse aber schräg steht, so wird mit der Hebung des 
Processus vocalis auch eine Bewegung zur Seite stattfinden. 
Das Resultat ist: die Stimmbänder werden voneinander ent- 
fernt (Heben des Processus vocalis) oder einander genähert 
(Senken des Processus), dadurch wird die Stimmritze ge 
schlössen. 4 ' Ich verweile beim Kehlkopfs- Modell länger, weil 
es auch beim Gesangnnterricht für jede Schule eine höchst 
willkommene Gabe ist. 

2. Das Herzmodell ist durch Oeffnung der rechten 
und linken Herzkammer von vorn und durch Wegnahme der 
in der Mitte durchschnittenen Vorkammern von oben so zu 
öffnen, daß man sofort einen Ueberblick über die Ostien und 
die halbmondförmigen Klappen der Aorta und Arteria pulmo- 
nalis erhält. Gegen den Schnitt läßt sich nichts einwenden. 
Allein Benninghofen sollte als Arzt nicht ein solches 
Modell als typisch geben, das an so erschreckenden Herz- 
fehlern leidet, mit denen ein Mensch kaum leben könnte. Ihm 
müßte doch vor allem die Stellung der drei Semilunarklappen 
in der Aorta und Arteria pulmonalis auffallen. Jeder, der schon 
ein natürliches Präparat gesehen hat, wird es in folgender 
Stellung beobachtet haben. In der Pulmonal- Arterie steht die 
eine halbmondförmige Klappe nach vorn, daher sie jeder Ana- 
tom Valvula semi 1 u n a r i s pulmonalis anterior nennt, die 
andern rechts und links als semilunaris dextra oder sinistra 
bezeichnet. Bei der Aorta gibt es eine hintere Valvula semi- 
lunaris aortae posterior, sowie eine rechte und linke. Das 
Benninghofensche Modell belehrt uns oder Schulen eines 
Besseren. An seinem Modell gibt es eine valvula semilunaris 



272 P- Osterloh. 

■ 

pulmonalis posterior und eine valvula semilunaris aortae 
anterior! — Was die großen Herzeinmündnngen betrifft, 
so sind diese in dem hier geöffneten Zustande der Bicuspidal- 
und Mitralklappe so jämmerlich verengt, daß ihr Lumen nicht 
größer als der Durchschnitt der Aorta ist. Jeder Laie 
würde am Naturpräparat die großen Unterschiede in den Ver- 
hältnissen bemerken, ohne Mediziner zu sein oder geschickter 
Modelleur, wie doch A. Sommer sein will. So ist auch die 
rechte Herzkammer, die jedes gewöhnliche Schulbuch als ge- 
räumiger und dünner wie die linke beschreibt, viel zu eng, 
ihr gegenüber die linke zu weit. Obendrein ist noch ein ganz 
besonderer Raum in der linken Herzkammer vor der zweizipf 
liehen Klappe geschaffen, der an keinem Naturherzen zu finden 
wäre. Wahrscheinlich ist es geschehen, um die Basis der Aorten- 
wurzel, die von der linken Herzkammer aus in der Natur 
sehr versteckt liegt, sichtbar zu machen. In bildlicher Dar- 
stellung wird es leider oft gemacht, daß man bei etwas er- 
öffneter linker Kammer die Aortenbasis mit ihren Klappen, 
ich möchte sagen, um die Ecke herum zeichnet. In der Plastik 
ist es gar nicht nötig, wissentlich solche Fehler zu machen, 
weil man von allen Seiten in das Präparat hineinsehen kann. 
Gute Abbildungen, wie im Atlas von Prof. Spalteholz, 
Fig. 425, werden so etwas auch selbst bildlich nicht zeigen. 
Uebrigens leistet, beiläufig gesagt, Marcus Sommer in 
dieser Beziehung an seinem Herzmodell zu 13,50 Mark für 
Schulen noch Unglaublicheres. Er läßt die Aortenwurzel an 
der hinteren Herzwand zwischen den Papillarmuskeln ein 
münden, von anderen Fehlern gar nicht zu reden. In gleich 
oberflächlicher Weise sind bei dem Benninghofenschen Modell 
9d l die Herzvorkammern behandelt. Auf Größenverhältnisse 
scheint er gar keine Rücksicht zu nehmen. Rechte wie linke 
Herzvorkammer sind gleich groß und plump in der Wand, 
während die rechte größer wie die linke sein müßte, ihre Wan- 
dungen müßten viel dünner sein. Ferner läßt er ganz richtig 
in die linke Vorkammer linkerseits zwei Lungenarterien ein- 
münden, rechts äußerlich aber drei einmünden, die innen sogar 
in eine zusammenfließen, während man nur zwei Hauptstämme 
kennt. Wie oberflächlich dieses Herzmodell gemacht ist, sieht 
man auch in den Details, die allerdings nach der Katalogangabe 
vorzüglich fein sein sollen. Die Firma scheint sich nicht recht 



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Veber anatomische Modelle. 



273 



klar über die Einmündungen der Herzgefäße in die Aorta 
zu sein. Sie könnte sonsft nicht die Einmündung der Arteria 
ooronaria dextra an der Grenze zweier zusammenstoßenden 
Klappen angeben, während die coronaria sinistra ganz oberhalb 
der falsch gestellten vorderen Klappe einmündet. Ich möchte 
Dr. Benninghofen doch auf den Atlas von Prof. Spalte- 
holz, Fig. 426, zum näheren Studium verweisen. Ein solches 
Modell wie 9d* ist kaum ein schematisches zu nennen, ge- 
schweige, daß es nach Naturpräparat gearbeitet sein soll. Von 
anderen Details will ich absehen, aber wenn ein Modell der- 
artige grobe Fehler aufweist, wie müssen da erst die Modelle 
in geringeren Preislagen von 25 Mark bis zu 8 Mark sein ? Daß 
dieselben Mängel in noch viel plumperer und roherer Weise 
zum Ausdruck kommen, brauche ich wohl nicht erst zu er- 
wähnen. Ich sehe daher von einer näheren Beschreibung des 
Modells 9d u. a. ab, ebenso von denen der Firma Marcusi 
Sommer. Solche Modelle, namentlich wenn sie von einem 
Arzte herausgegeben werden, von dem man erwarten sollte, daß 
er die Wissenschaft fördert, stehen sicher nicht auf dem heutigen 
Standpunkte der Wissenschaft, nicht einmal auf einer mittel- 
mäßigen Stufe. Nach diesen Erörterungen glaube ich nicht 
erst nötig zu haben, andere Schulmodelle, wie Ohr und Auge, 
heranzuziehen, da ich ja nicht durch Korrekturen jenen Firmen 
nützen, sondern Aufklärung schaffen will, die der Wissenschaft 
Nutzen bringt. Unsere deutsche Schule, von der Volksschule 
an, steht heute auf einer ganz anderen Stufe, als vor 30 Jahren, 
wo man froh war, wenn man ein mittelmäßiges Modell besaß. 
Es mögen meine Erörterungen vielleicht manchen Lehrer be- 
fremden, weil er selbst sich bisher nicht so eingehend von der 
Oberflächlichkeit Rechenschaft gegeben hat. Unterstützt ist 
allerdings die Oberflächlichkeit viel dadurch worden, daß 
manche glauben, für die Schule genüge es, wenn es nur ungefähr 
so ist. Wenn indes ein Schüler nur in einem deutschen Auf- 
satz soviel grobe orthographische Fehler machte, was würde 
da wohl ein Lehrer sagen ? Bei so wichtigen Lehrmitteln aber, 
die jede Schule gebraucht und die unseren Organismus be- 
treffen, ist man aber bisher so nachsichtig gewesen, führt sie 
nicht nur einem Schüler, sondern einer ganzen Klasse mit 
ihren Fehlern vor und der Schüler staunt über die Kunstwerke 
der verpfuschten Natur. 

ZelUchrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 2 



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274 



V. Osterloh. 



Daß darüber sich endlich einmal die Stimme eines Fach- 
mannes, der in seiner Meinung nicht vereinzelt dasteht, erheben 
muß, ist wohl begreiflich, um besseren Objekten Bahn zu 
brechen. Andererseits wird weder Dr. Benninghofen noch 
Sommer meine Auseinandersetzungen über das Kehlkopfs- 
modell, begründet durch die angeführten Autoren, bestreiten 
können, noch wird Dr. Benninghofen die Fehler der mir 
zur Hand gestellten Herzmodelle 9d*, 9d wissenschaftlich 
irgendwie verteidigen können. 



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Der Stand des Unterrichts an den Schulen für 
Schwachbefähigte in Deutschland. 

Referat, erstattet beim II. internationalen Kongreß für Schul- 
hygiene in London 

Von 

Heinrich Stadelmann. 

Zwecks Berichterstattung „über den gegenwärtigen Stand 
des Unterrichts in den Schulen für Schwachbefähigte in 
Deutschland" schickte ich an 163 Orte, in denen solche Schulen 
bestanden, Fragebogen aus. Die Adressen entnahm ich dem 
von Frenzel, Schwenk und Schulze herausgegebenen und bei 
Scheffer in Leipzig für den Jahrgang 1907/08 erschienenen 
„Kalender für Lehrer und Lehrerinnen an Schulen und An- 
stalten für geistig Schwache". 

Von 107 Orten erhielt ich seitens der Schulleiter die ge- 
wünschte Auskunft. Da an vielen Orten mehrere Hilfsschulen 
sind, erhielt ich im ganzen 118 Fragebogen beantwortet. 
32 Fragebogen kamen unbeantwortet zurück, mit der Bemer- 
kung, daß behördlicherseits keine Erlaubnis bestehe, über 
Schulangelegenheiten Auskunft zu erteilen. 24 Fragebogen 
blieben unbeantwortet beziehungsweise von 24 Orten lief keine 
Beantwortung ein. Die an die betreffenden Schulleiter gerich- 
teten Fragen waren folgende: 

Wie viele Klassen hat die Hilfsschule? 

Wie viele Kinder sind in einer Klasse vereinigt ? 

Werden Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet? 

Angabe des Stundenplanes. 

Wie werden die Pausen verwendet? 

2* 



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276 



Heinrieh Stadrhrtann. 



Werden Speisen in der Schule verabreicht? 
Angabe des (wenn auch nur allgemein gehaltenen) Lehr- 
planes : 

Werden Sprachheilübungen vorgenommen? 
Behält der Lehrer die Kinder mehrere Klassen hindurch? 
Wie lange? 

Wie lange verbleiben die Schüler in der Hilfsschule? 
Welche Arten von Kindern werden aufgenommen? 
Welches ist das Aufnahme verfahren ? 
Existieren Fragebogen? Welche? 

Werden beim Eintritt in die Schule Intelligenzprüfungen 
bei den Schülern vorgenommen? Nach welcher Methode? 

Werden Schemata für eine Schülercharakteristik gebraucht ? 
Welche ? 

Werden Ermüdungsbestimmungen vorgenommen? Nach 
welcher Methode? 

Welche Ermüdungserscheinungen werden festgestellt? 

Werden Schulprüfungen (am Ende des Schuljahrs) vor- 
genommen? In welcher Weise? 

Welches sind die Erfolge nach Entlassung der Schüler 
aus der Hilfsschule ? Wodurch werden diese Erfolge festgestellt? 

Wie sind die Fortschritte der geistigen Gesundheit? Wie 
und in welchen Zwischenräumen werden sie festgestellt? 

Werden Intelligenzprüfungen oder Schülercharakteristiken 
am Ende eines Schuljahres beziehungsweise beim Austritt aus 
der Hilfsschule vorgenommen? 

Die Gedanken, die mich bei der Aufstellung des Frage- 
bogens leiteten, waren folgende: 

Wenn medizinischerseits über den Stand des Unterrichts 
in den Schulen für Schwachbefähigte referiert werden soll, 
muß die Frage zur Beantwortung kommen, inwieweit die 
geistige Leistungsfähigkeit der geistig schwachen Schüler durch 
den Unterricht gefördert wird. Die geistige Leistungsfähigkeit 
hängt von mancherlei Faktoren ab. Sie ist einerseits bestimmt 
durch die individuelle Veranlagung, sowie andererseits durch 
Einflüsse, die auf diese Anlage einwirken. 

Um eine Hebung der geistigen Leistungsfähigkeit bewerk- 
stelligen zu können, bedarf es also einer Kenntnis der Anlage 
und der diese irgendwie in der Leistungsfähigkeit fördernden 
oder beeinträchtigenden Faktoren. 



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Der Stand dts Unterrichts an den Schulen für 8chwachbefähigU usw. 277 



Das Referat wird sich somit zu befassen haben: 

1. mit den Abweichungen von der Norm bei dem Schüler- 
material in den Schulen für Schwachbefähigte; 

2. mit der psychologischen Analyse dieses Materials; 

3. mit den Förderungserfolgen bei den Schülern; 

4. mit der Unterrichtsmethode, der Lehrzeit, der Lehr- 
dauer, dem Lehrplan und dem Lehrziel ; 

5. wird das Referat unter Zugrundelegung von gewonnenem 
Tatsachenmaterial aus der Praxis Perspektiven zu geben 
haben. 

Es sollen diese Themen der Reihe nach behandelt werden. 
Das erste Thema betrifft also das Schülermaterial, das Auf- 
nahme findet in der Schule für Schwachbefähigte ; diese Fest- 
stellung fällt zum Teil zusammen mit dem zweiten Thema, das - 
von der psychologischen Analyse des Materials handelt, in- 
sofern nämlich das Schülermaterial vor der Aufnahme psycho- 
logisch untersucht wird. 

Unter 116 Schulen für Schwachbefähigte nehmen 108 die- 
jenigen Schüler auf, die nach Ablauf von 2 Jahren in der 
Normalschule das Ziel der Unterschule nicht erreicht haben; 
3 Schulen nehmen die Kinder bereits nach einem Jahr des Ver- 
bleibes in der Normalschule auf ; 3 Schulen nach 1 — 2 Jahren ; 
1 Schule teilt mit, daß sie die Kinder bereits während des 
ersten Schuljahres, wenn nötig aufnimmt ; 1 Schule bringt die den 
Anforderungen nicht genügenden Schüler nach 1 Jahre in die 
Förderklasse und danach erst in die Hilfsklasse; 1 Schule er- 
wähnt noch, daß sie auch spätere Jahrgänge der Volksschule 
berücksichtige; 5 erwähnen, daß sie sich Ausnahmen vorbe- 
halten. 

Die aufzunehmenden Schüler sind Schwachsinnige, 
Schwachbefähigte, Imbezille. Es ist wohl anzunehmen, daß diese 
Bezeichnungen nicht an allen Orten für das gleiche Material 
Geltung haben. 28 Schulen betonen ausdrücklich, daß sie keine 
Idioten, Epileptiker, Schwerhörige, Taubstumme, Blinde, sitt- 
lich Verwahrloste aufnehmen; auch nicht Tuberkulöse, Lue- 
tische, mit ekelerregenden Krankheiten Behaftete. — 2 Schulen 
nehmen laut Angabe leichte Grade von Epilepsie auf ; 1 Schule 
betont, daß sie jede Form der Psychopathie aufnimmt. 

Die Bildungsfähigkeit des Schülermaterials wird fast von 



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278 Heinrich Staddmann. 

jeder Schule betont, wenn die Aufnahme der Schüler in Frage 
kommt. 

Das Aufnahmeverfahren ist ein sehr verschiedenfaches. Der 
Aufnahme geht eine Beobachtung beziehungsweise Prüfung 
des Schülers voraus, die ausschlaggebend sind für dessen Auf- 
nahme in die Hilfsschule. Es beteiligen sich bei der Begut- 
achtung zwecks Aufnahme in die Hilfsschule Lehrkräfte der 
Normalschule, der Hilfsschule, sowie Aerzte an 74 Hilfs- 
schulen ; darunter sind 5 Schulen, an denen die Prüfung zwecks 
Ueberweisung zur Hilfsschule auf Antrag des Arztes geschieht. 
An 31 Hilfsschulen entscheidet zur Aufnahme nur eine voraus- 
gegangene Prüfung und Beobachtung durch Lehrer von Nor- 
malschulen und Hilfsschulen. An 6 Hilfsschulen ist zur Auf- 
nahme nur der Entscheid des Lehrers der Normalschule nötig; 
an zwei Schulen entscheidet nur der Hilfsschullehrer; an 
1 Schule der Lehrer der Normalschule mit dem Arzt; an 
1 Schule wird in zweifelhaften Fällen der Arzt zu Rate gezogen ; 
an 1 Schule wird in besonderen Fällen ein Psychiater befragt. 

Mit der Beobachtung und Prüfung des Materials gelangen 
wir zu Thema II, das von der psychologischen Analyse des 
Materials handelt. 

Meine Rundfragen ergaben, daß vor Aufnahme, beziehungs- 
weise beim Eintritt in die Hilfsschule an 52 Hilfsschulen 
Intelligenzprüfungen vorgenommen werden. Diese Prüfungen 
werden nach verschiedenen Methoden vorgenommen. — 
7 Hilfsschulen bedienen sich der Schülercharakteristik nach 
Kläbe, 4 des von Horrix-Düsseldorf vorgeschlagenen Musters, 
3 prüfen nach Frankfurter, 3 nach Stolper Methode; 2 ver- 
wenden die diesbezüglichen Angaben Ziehens; 1 Schule richtet 
sich nach Kändlers Personalbogen ; Koller, Marr, Trüper, Lieb- 
mann sind je einmal vertreten, ebenso einmal die in Zwickau, 
Köln, Mannheim, Berlin, Leipzig, Hannover gebräuchlichen 
Fragebogen; in 2 Hilfsschulen werden zu Aufzeichnungen die 
Charakteristikbogen der Normalschule verwendet. Andere 
Hilfsschulen haben eigene Bogen, um sich entsprechende 
Notizen bezüglich der Intelligenz machen zu können. Ferner 
existieren noch sogenannte Gesundheitsbogen und Personal- 
bogen. 38 Hilfsschulen bedienen sich keiner Formularien für 
die ursprünglichen Aufzeichnungen bei der Sichtung des 
Schülermaterials; es werden dort die dem Lehrer jeweils auf 



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Der Stand des Unterrichts an den Schulen für Schwachbefähigte usw. 279 



fällig und abnorm erscheinenden Befunde in ein Buch ein- 
getragen. Eingehende Intelligenzprüfungen werden nicht vorge- 
nommen. Es erstreckt sich diese Prüfung meist auf allgemeine 
Angaben über Farbensinn, Formensinn, Zahlbegriffe, Zeit- und 
Raumvorstellung; Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache; auch 
die Reaktionszeit ist mitunter berücksichtigt. 

In 30 Hilfsschulen, in denen Intelligenzprüfungen nicht 
angewandt werden, werden sogenannte Charakteristiken ge- 
führt, die über das Verhalten des Schülers in der Schule, über 
Aufmerksamkeit, Fleiß, Betragen, Fortschritte berichten. In 
10 Hilfsschulen werden weder besondere noch allgemeine In- 
telligenzprüfungen vorgenommen, noch Charakteristikbogen 
gebraucht. 

Als beobachtete Ermüdungserscheinungen bei den Schulern 
während des Unterrichts wurden angegeben intellektuelle und 
motorische Dissoziationen, Kopfschmerz, blasse Gesichtsfarbe, 
Unruhe, Teilnahmslosigkeit, Zittern der Hände beim Schrei- 
ben, gesteigerte Schwerfälligkeit im Auffassen, Behalten und 
Sprechen; Ungehorsam, Streitsucht. In einem Falle wurde 
erwähnt, daß die Kinder nur Vi Stunde lang dem Unterricht 
folgen können, s /i Stunde ist schon zuviel. 

Ermüdungsmessungen wurden an einer Hilfsschule vor- 
genommen, und zwar nach der Additionsmethode und mit der 
Zirkelspitze. 

Zu Thema III, den Förderungserfolg der Schüler betreffend, 
ist zu bemerken: Die Fortschritte der geistigen Gesundung 
werden im allgemeinen festgestellt durch eine fortlaufende 
Buchführung über den einzelnen Schüler, ohne daß ein be- 
sonderes Zeitintervall eingehalten wird; in 3 Hilfsschulen ge- 
schehen die Einträge zur Ergänzung der Charakteristik im 
Jahre viermal; in 1 Hilfsschule dreimal; in 21 Hilfsschulen 
zweimal; in 10 Schulen einmal im Jahre; in 3 Schulen erst 
bei der Entlassung des Schülers. Von 6 Schulen wird berichtet, 
daß der Arzt zu diesen Eintragungen herangezogen wird; in 
1 Schule wird eventuell auch ein Psychiater konsultiert, wenn 
es nötig erscheint. Eigene Intelligenzprüfungen und Auf- 
steilungen von Schülercharakteristiken bei der Schulentlassung 
werden vorgenommen in 12 Hilfsschulen. Schulprüfungen 
werden vorgenommen in 45 Hilfsschulen. In 1 Hilfsschule er- 



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280 



Heinrich Stadel mann. 



halten die Schüler ein Schulzeugnis; in einer anderen halb- 
jährige Zensuren. 

Die Erfolge nach der Entlassung der Schüler aus der 
Hilfsschule werden durch den jeweiligen Grad der Erwerbs- 
fähigkeit bestimmt. 10 Hilfsschulen machen darüber genaue 
Angaben: 2 geben 100<>/o als erwerbsfähig an; 2 = 90%; 
i = 80o/o ; 1 = 40<>/o völlig, 55% teilweise, 5°/o nicht erwerbs- 
fähig; und 1 Schule gibt als erwerbsfähig nach der Entlassung 
80% an, dazu 12% teilweise, 8% nicht. 

Unter 108 Hilfsschulen ist die geringste Durchschnittszahl 
der Lehrstunden in einer Woche 22; die größte 25. 

Die geringste Stundenzahl pro Woche ist 11 bei einer Zahl 
von 15 Schülern; diese Stundenzahl ist unter 108 Hilfsschulen 
einmal vertreten. Die größte Stundenzahl ist 30 bei einer Durch- 
schnittszahl von 27 Schülern; diese Stundenzahl ist 19 mal ver- 
treten. 

Die Unterrichtszeit fällt auf den Vormittag; in 29 Schulen 
wird vormittags und nachmittags unterrichtet. Der Beginn der 
Schule geschieht in 24 Schulen um 7 Uhr morgens; in den 
übrigen um 8 Uhr beziehungsweise 9 Uhr und 10 Uhr je 
nach Schülerklasse. Die Unterrichtsdauer ist Vs — 1 stündig. 
— Pausen. 

Der Unterricht trägt fast ausschließlich erziehlichen Cha- 
rakter; er „sucht die Kinder für das tägliche Leben tüchtig 
zu machen und ihre Erwerbsfähigkeit anzubahnen". Das Lehr- 
ziel gipfelt in dem Gedanken „den Schülern einen bescheidenen 
Bildungsabschluß für das praktische Leben mitzugeben*', wie 
die diesbezüglichen Mitteilungen lauten, oder „vom Notwen- 
digen das Notwendigste, dieses aber sicher". 

Die Unterrichtung der Schüler basiert auf einer möglichst 
breiten Anschauung. 24 Hilfsschulen haben diesen Gedanken 
besonders hervorgehoben. 

Als Unetrrichtsfächer sind angegeben : Religion, Deutsch, 
Rechnen, Geschichte, Schreiben, Turnen, Handarbeit, Zeichnen, 
Anschauung, Heimatkunde, Geographie, Naturkunde, Singen, 
Handfertigkeit, Weltkunde, Fröbelbeschäftigung, Sprachheil- 
übungen. 

Sätze wie: „Alles mit geringster Belastung" oder „Gram- 
matik auf das äußerste Minimum beschränkt" ; oder : „mehrere 
kurze Sätze logisch und grammatisch richtig aneinander reihen 



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Der Stand des UnterricJtts an den Schulen für Schwachbefähigte utw. 281 

können"; oder „die Kinder sollen befähigt werden, die in 
Wort und Schrift dargelegten Gedanken anderer und ihre 
eigenen richtig aufzufassen und auszudrücken"; oder „rich- 
tiges Sprechen und Schreiben des Sprachschatzes der unteren 
Stände"; oder „die im täglichen Verkehr am häufigsten vor- 
kommenden Rechenfälle zum Verständnis bringen"; oder „die 
schlummernden und verkümmernden körperlichen und geistigen 
Kräfte des Kindes zu wecken und möglichst harmonisch zu 
Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln" solche Sätze, die 
bei der Frage nach dem Lehrplan unter den Antworten sich 
finden, sprechen für die Rücksichtnahme auf das kranke In- 
dividuum und auf eine spätere Betätigung im künftigen Leben. 
Als methodologisch wichtig für den Unterricht gibt eine Schule 
an: „jede Unterrichtsstunde läuft in bestimmte, innerlich zu- 
sammenhängende Ergebnissätze aus". Eine andere betont: 
„Leicht faßliche Stoffe werden als Ausgangspunkt für den 
Unterricht in den üblichen Fächern genommen"; eine dritte 
Schule spricht direkt von diesen Stoffen und nennt Märchen, 
Robinson, Nibelungen; oder: es wird überhaupt die Umgebung 
des Kindes zum Ausgangspunkt genommen oder auch die 
Person des Kindes. 

Neben den üblichen Fächern, die der Hilfsschüler im all- 
gemeinen bei seiner Entlassung soweit beherrschen soll, daß 
er ein Wissen hat, wie es ungefähr der Mittelstufe der Volks- 
schule entspricht, gibt es neben den bereits genannten noch 
in 1 Hilfsschule statt Turnen auch Baden ; in je 2 Hilfsschulen 
werden noch Gartenarbeiten geübt und Hobelbankarbeiten. 

Bezüglich des Lehrplans seien noch einige Sätze erwähnt, 
die eine Lehrordnung an einer Hilfsschule als Vorbemerkungen 
aufstellt: „In der Hilfsschule ist die Persönlichkeit des Lehrers 
von noch größerer Bedeutung als in den Normalklassen. Der 
Lehrplan darf deshalb nicht allzu detailliert sein, sondern muß 
der Wirksamkeit des Hilfsschullehrers einen größeren Spiel- 
raum lassen. Je nach der Klassenfrequenz und der Begabung 
der Kinder wird der Lehrstoff sich im einzelnen gestalten 
müssen. Ferner wird die praktische Erfahrung dem Hilfsschul- 
lehrer Richtpunkte für die Auswahl und Anordnung des Lehr- 
stoffes geben. Aus diesen Gründen ist die nachstehende Lehr- 
ordnung mehr nach allgemeinen Gesichtspunkten als Einzel- 
vorschriften ausgearbeitet." 



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282 



Heinrich 8 tadelmann. 



Beginnen wir bei der Durchsicht und Besprechung dieses 
zusammengestellten Tatsachenmaterials auch wieder mit dem 
Schülermaterial. Vom ärztlichen Standpunkt aus betrachtet ist 
das Schülermaterial, das Aufnahme findet in der Hilfsschule, 
ein sehr verschiedenes ; vom pädagogischen Standpunkt aus 
ist es ein einheitliches, insofern bei der Aufnahme als Regel 
gilt, daß Kinder herangezogen werden, die nach Ablauf von 
zwei Jahren in der Normalschule das Ziel der Unterstufe nicht 
erreicht haben. Während also nach der ersten Betrachtungs- 
weise verschiedene Ursachen einer herabgesetzten geistigen 
Leistungsfähigkeit sich konstatieren lassen werden, kommt 
vom andern Standpunkt aus nur die Tatsache der geistigen 
Minderleistung in Betracht. 

Ein Unterscheiden der Schüler nach der Ursache der 
Minderleistung wird jedoch sowohl für die unterrichtliche Be- 
handlung selbst von ausschlaggebender Bedeutung sein, als 
insbesondere für die Voraussage der gedeihlichen Weiterent- 
wicklung des Kindes nach der Entlassung aus der Schule, 
denn die Erfolge der erziehlichen und unterrichtlichen Be- 
handlung der Schüler nach dem Austritt aus der Hilfsschule 
richten sich nach dem Grad der Erwerbsfähigkeit. 

Schwachbegabte, Schwachbefähigte, Imbezille, heißt es 
durchschnittlich, sind diejenigen, die in die Hilfsschule geschickt 
werden. Diese Bezeichnungen sind jedoch sehr dehnbar. Die 
geringere geistige Leistungsfähigkeit beruht sowohl auf der 
Veranlagung als auch auf äußeren Einflüssen. Die geistige 
Veranlagung hat vielerlei Abstufungen. Auch gestattet be- 
kanntermaßen die geringere Leistungsfähigkeit bezüglich der 
Schulfächer keinen Rückschluß auf das Vorhandensein von 
Schwachsinn, denn ein starkes Innenleben, wie es die gemein- 
hin als Träumer bezeichneten Schüler haben, deutet im all- 
gemeinen auf eine stark entwickelte aktive Apperzeption und 
aktive Aufmerksamkeit hier zum Nachteil einer passiven; so 
kommt es, daß den von außen kommenden unterrichtlichen 
Beeinflussungen wenig Interesse seitens solcher Kinder ent- 
gegengebracht wird. In anderen Fällen besteht Begabung und 
Interesse nur für geistige Betätigungen, die nicht ni den 
Schulfächern gehören. 

Die Ursachen der geistigen Minderleistung liegen nicht 
nur in der mangelnden geistigen Begabung, die dem „Schwach- 



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Det Stand des Unterrichts an den Schulen für Schtcachbefähigte uiw. 283 



sinnigen*' eigen ist, sie können in einer psychopathischen Ver- 
anlagung überhaupt zu suchen sein, fernerhin in körperlichen 
Schwächezuständen nach überstandenen Krankheiten oder dergl. 
Die psychopathische Veranlagung muß nicht geistige Minder- 
leistung ergeben; sie kann sie zur Folge haben, und zwar für 
anhaltend lange Zeit, oder in Zwischenräumen periodisch wieder- 
kehrend. Diese psychopathische Veranlagung, die sich formal 
von der Schwachsinnsanlage unterscheidet, neigt wie diese 
sehr leicht zu Ermüdung. Das Wesentliche bei den Symptomen 
dieser abnormen Anlagen ist die relativ zu leicht und zu rasch 
auftretende Ermüdung. Hat diese Anlage mehr unter dem 
ersten Stadium der Ermüdung zu leiden, unter dem der ge- 
steigerten Reizbarkeit, dann mag sogar eine geistige Ueber- 
leisrung resultieren. Erst das Studium der herabgesetzten 
Reizbarkeit bringt die Anlage zu den Aeußerungen, die die 
Schwachsinnsanlage von vornherein zeigt. Sind auch diese 
beiden Anlagen wesensgleich, so sind sie doch formal sehr 
verschieden und bedürfen einer verschiedenen unterrichtlichen 
Beeinflussung. Zu der psychopathischen Veranlagung gehört 
auch die Anlage der epileptischen Kinder, die namentlich an 
periodisch wiederkehrenden Ermüdungen leiden und das eine 
Mal mehr gesteigerte, das andere Mal mehr herabgesetzte 
geistige Reizbarkeit haben, die sie das Ziel der Unterstufe der 
Normalschule nach zwei Jahren nicht erreichen lassen. 

Nach der Schwachsinnsanlage und der quantitativ von ihr 
unterschiedenen psychopathischen Veranlagung, die selbst 
einige Typen hat, die als Ursache des Zurückbleibens mancher 
Kinder in der Schule angesehen werden muß, und neben an- 
deren geistig oder körperlich gebrechlichen, die aus besonderen 
Gründen nicht in der Hilfsschule Aufnahme finden können, 
sind die Ursachen des Zurückbleibens auch in äußeren Dingen 
zu suchen, die sekundär schwächend auf das kindliche Gehirn 
wirken und es in seiner Leistungsfähigkeit stören. Es sind 
häusliche Unzweckmäßigkeiten und Vernachlässigungen, die 
das Kind bezüglich seiner Ernährung erfährt, Erregungen 
gemütlicherseits durch unerquickliche Familienverhältnisse; 
Alkoholmißbrauch; mangelnder Schlaf; Heranziehen der Kin- 
der zur Erwerbsarbeit und die durch solche nicht hygienische 
Vorkommnisse erzeugten Ermüdungen und Erschöpfungen des 
Gehirns, die die geistige Leistungsfähigkeit herabsetzen. 



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284 



Heinrich Sladelmann. 



Es ist gewiß von großer Wichtigkeit, neben der Tatsache 
der geistigen Minderleistung im einzelnen Falle auch deren 
Ursache genau festzustellen, und zwar im Interesse des unter 
richtenden und erziehenden Lehrers und im Interesse des 
einzelnen Schülers und der Mitschüler. 

Die Grade des Schwachsinns sind sehr weit ausgedehnt; 
von völliger geistiger Stumpfheit angefangen bis hinauf zu 
dem Schwachsinn, den ich mehr als Feinsinn bezeichnen möchte 
wegen der gesteigerten Reizbarkeit, ist eine große Skala. Der 
erfahrene Lehrer kennt wohl aus seiner Praxis die Unterschiede 
und bildet sich selbst gewissermaßen Typen einzelner Schwach- 
sinnsformen und schafft sich so eine Grundlage, die er zum 
Ausgangspunkt seines Wirkens nimmt. 

Allein im Interesse einer wissenschaftlich und nicht nur 
empirisch-praktisch begründeten Pädagogik, sowie einer wissen- 
schaftlichen Forschung überhaupt erscheint es angezeigt, daß 
Analysen der verschiedenen Grade der Schwachsinnsanlagen 
vorgenommen werden. 

Wie meine Einholungen ergeben haben, werden an 
66 Schulen Prüfungen und Untersuchungen nach bestimmter 
Methode vorgenommen, die in Form von Fragebogen nieder- 
gelegt sind. Es sind, wie mir bekannt wurde, 19 Muster von 
solchen Fragebogen in Gebrauch. An 32 Schulen, erfuhr ich, 
hat der Lehrer seine eigene Methode zur Erforschung des 
geistigen Zustandes. An 42 Schulen existieren gar keine Frage- 
bogen, die die Ergebnisse einer methodischen Intelligenz- 
prüfung aufnehmen. Eine Schule bemerkte, „jede Frage ist 
eine Intelligenzprüfung, das beste Experiment ist der ent- 
wickelnde Unterricht". Dieser Ausspruch ist gewiß sehr richtig; 
allein der Wissenschaft dient er nicht, soweit diese methodische 
Forschung ist. Denn nicht das subjektive Beurteilen der Kinder 
kommt hier in Frage, sondern das objektive Unteruchungs- 
ergebnis. Soll dieses Ergebnis allgemeine Giltigkeit besitzen, 
dann muß es gewonnen werden aus einer exakten methodischen 
Untersuchung. Das methodische Untersuchen hat aber nur 
dann allgemeinen Wert, wenn die gleiche Methode bei allen 
Kindern angewandt wurde. 

Ist auch hierbei eine Reihe von Versuchsfehlern nicht zu 
umgehen, so muß doch die Anwendung des gleichen objektiven 



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Der Stand des ünterriektt an dm Schulen für Schwachbefähigte usw. 285 



Maßstabes die brauchbarsten Ausblicke für die Behandlung 
des Materials ergeben. 

Denn nicht alle Unterrichtenden haben in gleichem Grade 
die nämlichen Fähigkeiten in sich, geistige Defekte oder 
geistige Wucherungen zu erkennen, wenn auch reiche Er- 
fahrung hier einen gewissen Ausgleich schafft. 

Auszuführen, wie geprüft werden soll, würde über den 
Rahmen dieses Referats hinausgehen. Es soll nur erwähnt 
werden, daß die Frage der Intelligenzprüfungen ihre letzte 
Beantwortung noch nicht gefunden hat, namentlich die metho- 
dische Prüfung des kindlichen Intellekts. Für die Feststellung 
des geistigen Inhalts gibt es wohl eine Anzahl recht brauch- 
barer Methoden, die darauf abzielen, ein geistiges Inventar 
gewissermaßen aufzustellen. Bei einem solchen Inventar der 
menschlichen Intelligenz handelt es sich darum, die Perzep- 
tion und Apperzeption bezüglich aller Sinnesgebiete festzu- 
stellen; inbegriffen ist das Gedächtnismaterial. Es begreift 
also eine derartige Untersuchung nur die Empfindungen und 
Vorstellungen in sich, allerdings auch in ihrer gegenseitigen 
Verknüpfung. Für die Untersuchung der geistigen Kombination 
jedoch ist eine derartige Methode nicht anwendbar. Hier 
müssen andere Methoden einsetzen, wie überhaupt überall da, 
wo der subjektive Faktor, das Gefühl, in Frage kommt. Es 
sei hier nur darauf hingewiesen, daß die Feststellung des Wahr- 
genommenen bei einem Menschen nicht allein ausschlaggebend 
sein kann für die Beurteilung seiner Intelligenz, sondern viel- 
mehr noch die Untersuchung der Gefühle, die gerade für die 
Verknüpfung der Vorstellungen und für das Gedächtnis von 
ganz besonderer Bedeutung sind. 

Daß bei einer derartigen Feststellung nur ganz genaue 
Prüfungen eine methodische Unterrichtung ermöglichen, 
braucht nicht erwähnt zu werden. Allerdings verursachen diese 
Prüfungen viel Mühen und sind sehr zeitraubend. Es sollte 
jedoch diese psychologische Kleinarbeit nicht umgangen 
werden. Die daraus sich ergebenden Vorteile wiegen die Mühen 
wieder auf. 

Es wird auf Grund eingehender Intelligenzprüfungen sich 
ermöglichen lassen, die bezüglich der geistigen Leistungs- 
fähigkeit gleichgearteten Kinder besser zusammenzustellen als 
es bisher der Fall war. 



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286 



Heinrich Staddmann. 



Der Lehrer spart Kraft und Zeit, wenn er ein verhältnis- 
mäßig gleichmäßiges Material beisammen hat. Es mag sein, 
daß dieses Vorgehen sich noch nicht überall wird durchführen 
lassen können, namentlich da, wo der Ort klein ist und nur 
eine Hilfsschule besteht, aber auch hier wird die vorgenom- 
mene exakte Intelligenzprüfung dem Unterrichtenden große 
Dienste tun. Zu fragen ist hier noch, wer eine derartige Methode 
der Intelligenzprüfung aufstellen soll. Da es sich um psycho- 
pathische Kinder handelt, ist notwendig, daß Aerzte und 
Pädagogen zusammen sich beraten über die Aufstellung des 
Schemas, das bei der methodischen Untersuchung in Anwen- 
dung kommen soll. Das Schema soll jedoch so beschaffen sein, 
daß es demjenigen, der prüft, keine Fesseln anlegt. 

In Betracht kommt noch, wie oft derartige Intelligenz^ 
Prüfungen vorgenommen werden sollen. Damit ist schon 
Thema III, die Frage nach den Förderungserfolgen, ange- 
schnitten. 

In wissenschaftlichem Interesse ist es gelegen, daß die 
Erfolge der Behandlung schwachbefähigter Schüler nicht nur 
duroh den Grad der Erwerbsfähigkeit bestimmt werden. Wenn 
auch gehobenere geistige Leistungsfähigkeit eine erhöhte Er- 
werbsfähigkeit nach sich zieht, so ist doch bei der bisherigen 
Beurteüung der Förderungserfolge auch hier ein subjektiver 
Faktor in Rechnung gesetzt, an dessen Stelle ein objektiver 
treten könnte. Wenn Prüfungen der Intelligenz in bestimmten 
Zeitintervallen vorgenommen werden nach der stets gleichen 
Methode, wird sich dieser Forderung am besten gerecht werden 
lassen. Ob jedesmal bei diesen Untersuchungen die nämlichen 
Reize gegeben werden sollen, ist eine weitere Frage, die hier 
nicht beantwortet werden soll. Es ist nur darauf aufmerksam 
zu machen, daß es sehr viel für sich hat, den stets gleich- 
bleibenden Reiz zu nehmen bei den Versuchen; man darf 
jedoch nicht vergessen, daß dann die Gewöhnung eine Rolle 
spielen wird als Versuchsfehler, abgesehen davon, daß die 
Kinder inzwischen intellektuelle Fortschritte gemacht haben. 
Den Förderungserfolg der geistigen Leistungsfähigkeit durch 
eine Prüfung festzustellen, wie sie in der Normalschule am 
Ende eines Schuljahres geübt wird, ist für die Hilfsschule noch 
weit unzweckmäßiger als für die erstgenannte Schule. Unter- 
liegt das normale Kind schon Schwankungen bezüglich der 



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Der Stand des Unterrichts an den Schulen für Schwachbefähigte usw. 287 



Aufmerksamkeit, wievielmal mehr das abnorme Kind. Es ist 
deshalb auch von besonderem Wert, Intelligenzprüfungen oder 
Teile derselben hinsichtlich der Gebiete, wo ein Kind besondere 
Defekte hat, öfter vorzunehmen als nur einmal im Jahre. Es 
ist ja gewiß, daß die Hilfsschule für die Praxis zu arbeiten 
hat; allein gerade deshalb vielleicht sollte nicht allein der 
Grad einer Erwerbsfähigkeit ausschlaggebend sein für die Be- 
urteilung des Erfolges, sondern das Resultat von wiederholten 
Intelligenzprüfungen, weil dieses immer wieder Ausgangspunkt 
sein kann für die weitere fordernde Beeinflussung, die zu einem 
möglichst hohen Grad der Erwerbsfähigkeit führen will. 

Es ist deshalb von großer Bedeutung, möglichst brauch- 
bare Methoden bei der Förderung der geistigen Leistungs- 
fähigkeit der Schwachbeanlagten zu besitzen. Bei der Be- 
sprechung des IV. Themas, das vom Unterricht selbst handelt, 
ist medizinischerseits, d. h. ärztlich-psychiatrischerseits, insbe- 
sondere die Methode, die beim Unterricht in Frage kommt, 
von Wichtigkeit. Da sich aber der zu behandelnde Stoff oft 
eng in die Methode schließt, ist auch der Wissensstoff hier zu 
berücksichtigen. Dem Psychiater handelt es sich bei der Unter- 
richtung der Schwachbefähigten um eine Therapie, eine Psycho- 
therapie im weiteren Sinne. Durch diese Psychotherapie soll 
die Möglichkeit zu denken erleichtert werden; unter mög- 
lichster Schonung der vorhandenen Energien soll die geistige 
Leistungsfähigkeit gehoben werden. 

Das schwachbefähigte Kind ist sehr leicht zur Ermüdung 
geneigt. Aus den Ermüdungen kommen die Dissoziations- 
erscheinungen, die zu Fehlern im Denken führen. Ermüdung 
verursacht unrichtige Vorstellungs- und Gedankenverbindungen. 
Denk-, Sprech-, Lese-, Schreib- und Rechenfehler sind die 
Folge. Die Aufmerksamkeit zerfällt. In ihrer weitesten Folge 
sind die psychischen Dissoziierungen Symptome eines psycho- 
tischen Menschen. Als Kinderfehler sind die Ermüdungs- 
erscheinungen Analoga zu den Symptomen der Psychose. 

Diejenige Unterrichtsmethode wird also die beste sein, die 
möglichst der Entstehung psychischer Dissoziationserschei- 
nungen vorbeugt. Die Ermüdungsgrenze der Individuen ist 
in erster Linie zu berücksichtigen. Wenn auch bei Nichtberück- 
sichtigung der Ermüdung die Natur sich gewissermaßen hilft, 
um keine Dissoziationserscheinungen zustande kommen zu 



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288 



lassen, indem sie die Aufmerksamkeit und das Interesse er 
lahmen läßt, so ist es doch aus mancherlei Gründen nicht rat- 
sam, über die individuelle Grenze der Ermüdung beim Unter- 
richt hinauszugehen. 

Wie aus dem Tatsachenmaterial hervorgeht, wird auf die 
Ermüdung der Schüler stets gebührende Rücksicht genommen 
durch Kürze der Lehrstunden, durch Einschalten von Pausen, 
durch Wechseln im Lehrstoff. Auf diese Weise wird geistige 
Kraft geschont und die Dissoziierung möglichst vermieden. 
Durch eine Lehrmethode, die zu assoziieren sucht, wird der 
Dissoziierung direkt vorgebeugt. Die Assoziierung der Vor- 
stellungen und Gedanken beim Unterricht ist erleichtert, wenn 
der Konzentrationsgedanke den Unterricht leitet. Dadurch wird 
ebenfalls Kraft gespart; die Assoziationen gehen rascher und 
leichter vor sich, die Erinnerung an den beigebrachten Wissens- 
stoff haftet besser, wie das Experiment ergeben hat. 

Wie das schwachbefähigte Kind schwer zu unterrichten ist, 
ist es auch schwer zu erziehen. Es ist hier besonders zu unter 
scheiden zwischen Erziehung und Dressur; denn schwächte 
fähigte Kinder sind mitunter leicht an das Befolgen von Geboten 
zu gewöhnen, wenn ihre Schwäche eine sogenannte Befehls- 
automatie in geringem Grade in sich schließt, die eigenes 
Denken als Gegenmotiv für ein Gebot nicht aufkommen läßt. 
Bei der Erziehung ist vor allem die Einsicht des! Kindes maß- 
gebend, das lernen soll zu beurteilen, warum es gut ist in 
einem gegebenen Falle in bestimmter Weise zu handeln. Die 
Erziehung zu dieser Einsicht verlangt einen ganzen und 
psychisch geschlossenen Menschen. Den schwachbefähigten, 
aber insbesondere den Kindern mit der psychopathischen Ver- 
anlagung und deren gesteigerter Reizbarkeit fällt es schwer, 
wenn sie sich auf sich selbst konzentrieren sollen. Ihre Er- 
müdungsanlage und die auf dieser basierenden Dissoziierungen 
erschweren dem Lehrer und dem Zögling sehr die Aufgabe. 
Die Methode der Erziehung kann hier nur die nämliche sein, 
wie beim Unterricht : eine Assoziationsmethode, die die Gefühle 
zu einer Einheit schließen soll. Die Ermüdung bringt die Im- 
pulsivitäten und die Gegensätzlichkeiten hervor; es kann also 
auch hier bei der Erziehung, wie dort beim Unterricht, die 
Rücksichtnahme auf die Ermüdungsgrenze viel Gutes stiften. 

Es darf an dieser Stelle nicht übergangen werden zu be- 



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Der Stand des Unterricht* an den Schule* für Schwachbefähigte usw. 289 



merken, daß „moralische Minderwertigkeiten" vielfach zu den 
Frühsymptomen der genuinen Epilepsie gehören, auch ihre 
Begleitsymptome sind oder Aequivalente eines Anfalles dar- 
stellen; ähnlich bei einer sich entwickelnden Hysterie, wenn 
auch die Symptome der moralischen Minderwertigkeit hier 
wegen einer anderen Wertungsmöglichkeit des eigenen Ich 
und der Umgebung sich scharf von den analogen Symptomen 
der epileptischen Anlage abheben können. 

Um zu der richtigen Beurteilung des Schülermaterials ge- 
langen zu können, sowie die hierfür nötigen Untersuchungen 
vorzunehmen, und den Unterricht entsprechend der Veran- 
lagung der Kinder erteilen zu können, bedarf es besonderer 
Erfahrung, die sich am besten fundieren läßt durch ein be- 
sonderes Studium, das dem Lehrer die Arbeit erleichtern kann. 

Der Unterricht an den Hilfsschulen ist, wie bekannt, mit* 
großen Mühen für den Lehrer verbunden. Viel Kraft und 
Geduld wendet der Lehrer auf, den Armen im Geiste gerecht 
zu werden. Deshalb sollen die nachfolgenden Sätze, die auf 
Grund der gewonnenen Tatsachen Perspektiven geben für die 
Weiterentwicklung des Unterrichts in der Schule für Schwach- 
befähigte, als Vorschläge angesehen werden, dem Lehrer die 
mühevolle und oft wenig lohnende Arbeit zu erleichtern. 

V. 1. Das Schülermaterial in den Schulen für Schwachbe- 
fähigte wird im Interesse des Lehrers und der Schüler besser 
zu sortieren sein; insbesondere sind die psychopathischen Kinder 
mit der gesteigerten psychischen Reizbarkeit zu sondern von 
den Psychopathen, deren Symptome hauptsächlich durch herab- 
gesetzte Reizbarkeit veranlaßt sind. Mögen auch gesteigerte und 
herabgesetzte Reizbarkeit bei einem Kinde oft wechseln, so 
kann doch hier die Unterscheidung nach der vorwiegend ge- 
steigerten oder herabgesetzten Reizbarkeit getroffen werden. 

2. Die Analyse des vorliegenden psychischen Materials 
wird noch genauer vorgenommen werden können, um für die 
Praxis besser sondern zu können und bezüglich des wissenschaft- 
lichen Interesses die Schwachsinnsformen besser zu gruppieren. 

3. Die Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit wird 
durch mehr objektive Methoden sich feststellen lassen können. 

4. Die Unterrichtsmethode wird Rücksicht nehmen auf die 
leichte Ermüdbarkeit der Psychopathen, wie es bisher fast 
allgemein schon durchgeführt wird. Es läßt sich nach besserer 

Zeitschrift für pKd*gogisohe Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 3 



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290 



Heinrich Stadelmann. 



Sichtung des Materials die Unterrichtszeit kürzen, auch der 
Schulbeginn mancherorts nicht so frühzeitig einführen wie 
bisher. 

5. Die an Hilfsschulen tätigen Lehrer sollten vor ihrer 
Wirksamkeit einen Kursus durchmachen, durch den sie in den 
Stand gesetzt werden, das Schülermaterial bezüglich der Ur- 
sachen der herabgesetzten geistigen Leistungsfähigkeit zu er- 
kennen, um sich selbst eine Voraussage geben zu können und 
um sich danach Lehrziel, Lehrplan und Lehrmethode selbst bis 
zu einem gewissen Grade aufstellen zu können. 

Auch die an den Hilfsschulen tätigen Aerzte sollten eine 
besondere psychiatrische Vorbildung, namentlich eine Kenntnis 
der psychologischen Untersuchungsmethoden besitzen. Durch 
die Errichtung von „Musterhilfsschulen", vielleicht in Verbin- 
dung mit einem Internat, von Hilfsschulseminaren, an denen 
praktiziert werden könnte und von denen aus die gedachten 
Kurse gehalten werden könnten, wäre die Verwirklichung der 
angegebenen Vorschläge nähergerückt. 

Es ist auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens viel, sehr viel 
Ersprießliches geleistet worden, wie die Tatsachen ergeben. 
Ein relativ junges Unternehmen kann nicht vollendet dastehen : 
es kann wachsen und wird wachsen. Die Lehrer der Hilfs- 
schule sind berufen, an einem großen sozialen Werke mitzu- 
arbeiten, dessen Schöpfung sich vor unseren Augen vollzieht: 
Die geregelte Fürsorge für Anwärter auf Geisteskrankheit und 
Verbrechertum. 

Hier ist das Feld, wo der Lehrer mit dem Arzt zusammen 
zu arbeiten eine Befriedigung finden kann. Es ist bei den 
gegebenen diesbezüglichen Verhältnissen heute noch nicht das 
Band so geschlossen, wie es wünschenswert und notwendig 
erscheint; allein es läßt sich gewiß ein Modus finden, der 
Lehrer und Arzt bei gegenseitig unabhängiger Stellung zu- 
sammenführt zu gemeinsamer Arbeit. 

In der Erstehung von Vereinigungen, die das pädagogisch 
psychiatrische Gebiet bearbeiten in Form von Vorträgen, Dis- 
kussionen, Demonstrationen usw. liegt eine Möglichkeit, die 
hier angedeuteten Wünsche und Forderungen zu erfüllen, be- 
züglich der gedeihlichen Weiterentwicklung des schon kräftig 
blühenden Hilfsschulwesens in Deutschland. 



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Aufklärungsarbeit Uber die Bewahrung der Jugend vor 

den Genußgiften. 

Autorreferat über den Vortrag auf dem II. internationalen 
Kongreß für Schulhygiene in London. 

Von 
F. Weigl. 

Meine Berufstätigkeit in der Erziehung und Bildung 
körperlich und geistig minderwertiger Kinder, die Tätigkeit 
im Münchener Männerverein zur Bekämpfung der öffentlichen 
Unsittlichkeit, in dessen Arbeit ich mich besonders auch um 
die positiven Mittel des Schutzes vor sexueller Gefährdung 
der Jugend tekümmerte, endlich mannigfache soziale Tätig- 
keit hat mich immer wieder an die Notwendigkeit gemahnt, 
daß dafür Sorge zu tragen sei, die breitesten Volkskreise über 
die Schädigungen der Jugend durch Alkohol, Koffein und 
Nikotin aufzuklären. 

Diese Erkenntnis hat mich veranlaßt, im Herbst des vorigen 
Jahres ein Preisausschreiben für ein Heft meiner Broschüren- 
sammlung „Pädagogische Zeitfragen" zu erlassen über die drei 
besten Beantwortungen der Frage: „Wie läßt sich die Auf- 
klärung der breitesten Volksschichten über die Schädigung 
der Jugend durch Genußgifte am besten erreichen?" Hervor- 
ragendste Kräfte unseres deutschen pädagogischen, hygie- 
nischen und sozialen Lebens, Geheimer Medizinalrat, ordent- 
licher Universitätsprofessor Dr. A. Eulenburg, Hof rat 
Universitätsprofessor Dr. Otto W i 1 1 m a n n , Seminardirektor 
Dr. Alwin P a b s t , Frau Kommerzienrat Hedwig H e y 1 hatten 

3* 



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292 



P. Weigl. 



sich mir für das Preisrichteramt zur Verfügung gestellt und 
lockten auch die tüchtigsten Kräfte in Kreisen der Lehrer, 
Aerzte, Geistlichen, Sozialpolitiker zur Bearbeitung an. 67 Ar- 
beiten wurden eingeliefert, die einstimmig oder fast einstimmig 
vier große Gesichtspunkte betonten, die ich mir auch für die not- 
wendige Aufklärungsarbeit zurechtgelegt hatte und auf die ich 
an dieser Stelle besonders die weiten Kreise der Schulhygie- 
niker^ aufmerksam machen will. 

Dadurch, daß die vier Grundforderungen durch die große 
Zahl durchwegs gründlich wissenschaftlich bearbeiteter und 
auf reicher praktischer Lebenserfahrung aufgebauter Preis- 
bewerbungsarbeiten gestützt werden, 1 ) glaube ich den Aus- 
führungen besonderes Gewicht zu geben, namentlich für jene 
Kreise, denen der Löwenanteil an der Aufklärungsarbeit zu- 
kommen muß — für die staatlichen Behörden, die nicht gerne 
auf das Urteil eines einzelnen hin Maßnahmen treffen wollen, 
vielmehr ihre Entschließungen auf der breiten Basis eines 
reichen Gutachtenmaterials aufbauen. 

Der erste leitende Gedanke nun, der mir durch die sämt- 
lichen Preisarbeiten bestätigt wurde, ist der: 

Die Antialkoholbewegung ist zur Antigenußgiftbewegung 
auszubauen, da auch Koffein und Nikotin, namentlich bei der 
Jugend, erwiesenermaßen schwere physische und psychische 
Störungen hervorrufen. 

Es braucht keines Beweises, daß die heutige Abstinenz- 
und Temperenzbewegung insofern einseitig vorgeht, als sie 
ausschließlich Bier, Wein, Schnaps, kurz alkoholhaltige Ge- 
tränke bekämpft, während sie Kaffee und Tee unberücksichtigt 
läßt, ja vielleicht sogar als Ersatzgetränke für die Alkoholika 
empfiehlt und auch an dem Tabakmißbrauch achtlos vorüber- 
geht. 

Nicht nur Vereine, die sich in lobenswerter Weise gebildet 
haben zur Verbreitung von Aufklärung über die Schäden des 
Alkohols und zur Stärkung und Festigung derjenigen, welche 
sich gegenseitig zur Alkoholabstinenz oder Temperenz ver- 
pflichten, sondern auch städtische und staatliche Behörden 

haben den breiten Weg der Volksgesundheit verlassen, der 

- 

!) Die drei besten Arbeiten sind abgedruckt in Heft 16 der „Päd, 
Zeitfragen", München, Höfling, 1907. 



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Auflclärungwrbeit über di« Bewahrung der Jugend vor Genus* giften. 293 



auf die Bekämpfung sämtlicher Genußgifte weist, und einen 
Seitenweg eingeschlagen, der sich in einem Teilziel verliert. 
Sie haben beispielsweise Merkblätter gegen den Alkohol hinaus- 
gegeben, obwohl gerade für die Jugend ebenso wichtig Merk- 
blätter gegen Kaffee-, Tee- und Tabakgenuß wären. Ich will 
darauf näher eingehen. 

Mancherorts hat man sich schon an dem Ausdruck ,, Genuß- 
gifte" gestoßen, indem man in ihm eine Uebertreibung finden 
wollte. Demgegenüber sei zunächst auf die Erfahrung ver- 
wiesen, die von jeher diese Auffassung geltend machte, wenn 
man auch jederzeit lieber den harmloseren Titel Genußmittel" 
den fraglichen Stoffen beilegte. Wie z. B. vor einem halben 
Jahrhundert schon ihre Giftwirkung wissenschaftlich energisch 
betont wurde, erzählt Universitätsprofessor Eulenburg in 
dem Vorwort, das er der Broschüre „Genußmittel — Genuß- 
gifte? Betrachtungen über Kaffee und Tee auf Grund einer 
Umfrage bei den Aerzten" von Dr. med. W. Röttger,*) 
gewidmet hat. Er sagt dort: „. ... Es war mir dabei (bei 
Prüfung der Röttgerschen Untersuchungen. D. V.) unmög- 
lich, nicht meines verehrten Lehrers, des großen Berliner 
Chemikers Eilhart Mitscherlich, zu gedenken, der in 
seinen Vorlesungen (vor fast einem halben Jahrhundert) nicht 
müde wurde, gegen die mörderische, universalgiftige Dreiheit : 
Kaffee, Tee und Tabak sein vernichtendes wissenschaftliches 
Anathema zu schleudern." Auch in den auf Röttgers Umfrage 
eingelaufenen ärztlichen Gutachten spielt die Erfahrungstat- 
sache von der Giftwirkung des Kaffees, Tees und Tabaks 
gleich dem Alkohol übereinstimmende Rolle. 

Es stehen indessen auch exakte Untersuchungen für die 
Berechtigung dieses Terminus zur Verfügung. Ich will hier 
besonders mit Bezug auf den jugendlichen Organismus 
sprechen, für den Dr. med. J. Weigl in der Broschüre 
„Jugenderziehung und Genußgifte" 3 ) das bezügliche Material 
gesammelt hat. 

Bezüglich des Alkohols schreibt er: ,,Die Giftwertigkeit 
des Alkohols ist den Zellen des jugendlichen Körpers gegen- 
über sehr viel deutlicher ausgeprägt als gegenüber jenen des 

>) Berlin, £. Staude, 1906. 

') München, Höfling, 21.— 25. Tausend, 1907. 



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294 Weigl. 

erwachsenen. Zufolge unserer Beobachtungen in der gericht- 
lichen Medizin wissen wir, daß für Kinder unter 10 — 12 Jahren 
die akut gifttödlich wirkende Einzelabgabe ungefähr 15 g 
reinen Alkohol — also etwa ein bis drei Eßlöffel Branntweins 
— beträgt! Zur chronischen Alkoholvergiftung genügen für 
jugendliche Individuen kleinste Mengen, um so eher, wenn 
sie in regelmäßiger Wiederkehr Tag für Tag gegeben werden. 
Man beobachtet schwere entzündliche Vorgänge in den Ver- 
dauungswegen, hartnäckige Magendarmkatarrhe mit Neigung 
zu Erbrechen und schwächenden Diarrhöen, Störungen im 
Lymphsystem, Erkrankungen des Herzens, der Blutgefäße, 
Nieren, Leber; Hemmungs Vorgänge in der Blutbildung; all- 
gemeine und örtliche Kreislaufstörungen; Neigung zu krank 
haftem Fettansatz und anderen Stoff Wechselerkrankungen 
infolge gestörter Ausnutzung der Nahrung. Ein solcher Körper 
steht dauernd unter dem Eindrucke der Unterernährung. Im 
Gesamtwachstum bleibt er zurück. Das Aussehen ist gedunsen, 
schwammig, das Knochengerüst schwach. Das Gehirn, dessen 
Zellen und Faserzüge noch in der Ausbildung begriffen sind, 
wird in seiner normalen Entwicklung gehemmt und furiktions- 
schwach. Der ganze Körper zeigt eine geringe Widerstands- 
fähigkeit gegen äußere Schädlichkeiten, besonders auch gegen- 
über Infektionskrankheiten. Ermüdung tritt rascher und 
leichter ein. Schon geringe Anstrengungen machen schnell 
müde und abgeschlagen; Mattigkeit in den Knochen und 
Muskeln, Kopfschmerzen stellen sich ein. Als die natürliche 
Folge der mangelhaften Entwicklung des Zentralnervensystems 
ergibt sich ein mehr oder weniger stark von der Norm ab- 
weichendes Seelenleben." 4 ) 

Nicht weniger trifft die Giftwirkung für Koffern zu. Nach 
eingehenden Untersuchungen des gleichen Autors über „Das 
Koffein"*) ist dieser Stoff schon in sehr kleinen Dosen ein 
starkes Gift, und zwar handelt es sich dabei um Bruchteile 
von Grammen. Bei Erwachsenen, welche dieses Rohstoffes 
ungewohnt sind, und bei jugendlichen Personen rufen bereits 
0,02 g eine nachweisbare Störung des Wohlbefindens hervor. 
In den angestellten Untersuchungen wurde kurze Zeit nach 



*) a. a. O. S. 16 ff. 

») Reichsmedizinalanzeiger (für Deutschland}, Berlin 1905, Nr. 3 u. 4- 



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Aufklärungsarbeit über die Bewahrung der Jugend vor Genussgiften. 295 



Einnahme der genannten Gaben Herzklopfen, Beschleuni- 
gung des Pulses, Zittern der Hände, Aufschrecken, Unruhe, 
allgemeines Unbehagen gefunden. Gaben von 0,1 g riefen 
bei den bezeichneten Individuen ausgesprochene akute Ver- 
giftungserscheinungen hervor. Diese bestanden in Magen- 
schmerzen mit Uebelkeit und Erbrechen, Verlangsamung des 
Pulses, Herzangst, Eingenommenheit des Kopfes, Ohrensausen, 
Zittern der Glieder, Muskelkrämpfen, Schwindel, delirienähn- 
lichen Aufregungszuständen. Die Gabe von 0,02 g mindestens 
ist enthalten in einer Tasse Kaffee, wenn auf drei Tassen von 
zusammen 500 ccm Wasser 8 — 9 g Bohnen genommen werden, 
oder in einer Tasse Tee, welche aus 1 g Blätter aufgegossen 
wird. Der vermeintliche dünne Familienkaffee und Five 
o'clock tea erweisen sich demnach als nicht so harmlos, wie 
meistens von den Frauen angenommen wird. Ferner muß 
berücksichtigt werden, daß die gewöhnlichen billigen Sorten 
von Kaffee und Tee durchschnittlich mehr Koffein enthalten 
als die feinen Marken. 

Auch der dritte der fälschlich als Genußmittel bezeich- 
neten Stoffe, das Nikotin, kann den Giftcharakter nicht ver- 
leugnen. Mit allen sogenannten narkotischen Giften teilt das 
Nikotin die Eigenschaft, erst die Nerven zu erregen und dann 
zu lähmen. Schon kleinere Dosen desselben bewirken heftige 
Krämpfe; die Atmungstätigkeit wird gehemmt, der Puls un- 
regelmäßig, Erblassen des Gesichtes, Erkalten der Hände und 
Füße tritt ein und der Verdauungsapparat zeigt die Reaktion 
wie bei anderen schweren Vergiftungen. 

Angesichts dieser Giftwirkungen von Alkohol, Koffein und 
Nikotin — zunächst auf das physische Leben — ist wohl die 
Bezeichnung Genußgifte für alle drei Stoffe gerechtfertigt. 
Wir haben aber auch reiches Erfahrungsmaterial und exakte 
Untersuchungen über die physischen Schädigungen der Genuß- 
gifte in der Literatur gesammelt. Ich darf mich hier beziehen 
auf eine Zusammenstellung, die ich für einen Vortrag auf dem 
„Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge" in Berlin 
(vom 1.— 4. Oktober 1906) über Bildungsanstalten für Schwach- 
sinnige im Deutschen Reiche 6 ) gemacht habe. 



•) Offizieller Bericht über die Verhandlungen des Kongresses von 
K. L. Schafer, Langensalza, Beyer & Söhne, S. 307 ff. 



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296 



F. Weigl. 



Demzufolge hat T r ü pe r in seiner Schrift „Psychopathische 
Minderwertigkeiten im Kindesalter" 7 ) schon vor 13 Jahren auf 
die nervenzerrüttende Wirkung von Alkohol, Koffein und 
Nikotin und die damit bedingte geistige Minderwertigkeit hin- 
gewiesen. Inzwischen hat der bekannte Strümpell sich 
dahin geäußert : „Unter den akuten wie unter den chronischen 
Vergiftungen, sofern sie Ursache sind für das Eintreten nicht 
nur flüchtiger, sondern auch länger dauernder psychopathischer 
Erscheinungen, spielt die größte Rolle die Vergiftung mit 
Alkohol und überhaupt mit Reiz- und Genußmitteln (Kaffee, 
Tabak). Dieser Mißbrauch ist besonders unter Kindern sehr 
gefährlich und ruft unter ihnen eine übergroße Zahl von Er- 
krankungen mit psychopathischen Folgen hervor." 8 ) Und 
Dr. Heller schließt „russischen Tee und Bohnenkaffee" 
gleich dem Alkohol für die Ernährung dieser Kinder aus. Er 
schreibt: „Diese Genußmittel müssen unter allen Umständen 
entzogen werden, selbst wenn sie zunächst keinen ungünstigen 
Einfluß auf das körperliche und geistige Befinden auszuüben 
scheinen. Die ungünstige Wirkung der erwähnten Genußmittel 
gelangt häufig erst nach einiger Zeit zum Ausdruck, wenn 
die hierdurch veranlaßten Schädlichkeiten eine gewisse Höhe 
erreicht haben. Hierbei lassen sich folgende Symptome be- 
obachten: hochgradige Reizbarkeit, gesteigerter Bewegungs 
drang, Schlaflosigkeit, Unaufmerksamkeit, Gedächtnisschwäche, 
bei den Kindern in der Pubertätsentwicklung auch sexuelle 
Erregungszustände und dadurch bedingte Masturbation."») 

Welchen Umfang diese Schädigungen angenommen haben, 
zeigt — um auch noch exakte statistische Forschungen sprechen 
zu lassen — ein in der „Psychiatrisch- Neurologischen Wochen- 
schrift" *°) erschienener „Statistischer Beitrag zur Aetiologie 
der Idiotie" von Dr. F. Heyn, der in 17,C Prozent der Fälle 
die falsche Ernährung der Kinder mit alkohol- und koffein- 
haltigen Getränken als Ursache des Schwachsinns feststellt. 

Dieses Erfahrungsmaterial samt den wissenschaftlich er- 
kundeten Tatsachen begründet wohl die Berechtigung der 
ersten hier gestellten Forderung. 

7 ) Gütersloh, Bertelsmann, 1895, S. 59. 

8 ) Pädag. Pathologie, Leipzig, 1899, S. 325. 

9 ) Grundriß der Heilpädagogik, Leipzig, 1904, S. 154. 
i°) Halle, Marhold, Bd. VIII, 1906, Nr. 19, S. 173 ff- 



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Aufklärungsarbeit über die BaoaJtrung de)- Jugend vor Genussgiften. 297 

Der nächste leitende Gedanke, der sich in der Erörterung 
der Frage aufdrängt, ist der: 

Zur Aufklärung des Volkes über die Giftwirkung von Al- 
kohol und Koffein muß die Bekanntmachung mit den besten 
Ersatzstoffen — für Alkohol Fruchtlimonaden, für Bohnen- 
kaffee Malzkaffee — treten. 

Die Bedeutung der Ersatzstoffe ist in der Abstinenz- und 
Temperenzbewegung allgemein anerkannt. Wer praktisch in 
der Sache arbeitet, wird immer vor die Frage gestellt: was 
gibst du mir an Stelle dessen, was du mir nimmst? Was nun 
zunächst das Rauchen betrifft, so erledigt sich diese Frage 
hier einfach. Ich spreche immer von der Aufklärung über 
die Schädigung der Jugend durch die Genußgifte. Da stößt 
nun die Belehrung darüber, daß Kinder und unreife Jugend 
überhaupt des Rauchens sich zu enthalten haben, auf keinen 
Widerstand. Das natürliche Volksempfinden ist dafür noch 
zu gesund, als daß es der Darbietung von Ersatzstoffen hierfür 
bedürfte. Anders ist es bei den alkohol- und koffeinhaltigen 
Getränken. Mit dem! Hinweis auf die natürlichen Getränke — 
Milch und Wasser — ist es nicht getan, die breite Masse 
verlangt für die Genußgifte wenigstens unschädlich wirkende 
Genußmittel, die in ihren Eigenschaften mindestens den 
ersteren Getränken ziemlich nahe kommen, und sie bevorzugt 
jene Ersatzmittel, die dem gewohnten Getränk am meisten 
ähnlich sind. 

Für die auch der Jugend ausgiebigen zugänglichen, alko- 
holischen Getränke (Bier, W T ein, Most) gelten als bevorzugte 
Eigenschaften der kühlende, erfrischende, durstlöschende und 
wohlschmeckende Charakter. Dieser ist am meisten eigen den 
natürlichen Fruchtlimonaden. Die Herstellung mit frischem 
Brunnen- oder Leitungswasser sichert die kühlende erfrischende 
Wirkung; die in den Fruchtsäften enthaltene Obstsäure erhöht 
die durstlöschende Wirkung und der natürliche Zuckergehalt 
der Fruchtsäfte samt dem jeder Fruchtart eigenen Aroma 
macht die natürlichen Fruchtlimonaden zum besten Ersatz für 
die alkoholischen Getränke. Zu den verschiedenen Obstsäften 
ist in neuerer Zeit gekühlter Malzkaffeeabsud getreten, der 
sich rasch Verbreitung verschafft hat, da er die genannten 
Eigenschaften in hervorragender Weise in sich vereinigt. 

Die Malzkaffeefabrikation hat überhaupt erfreulicherweise 



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298 



F. Weigl. 



der Notwendigkeit der Darbietung von Ersatzgetränken die 
rechte Bahn gewiesen. Während lange Zeit die Alkohol- 
abstinenzbewegung Gefahr lief, an Stelle des einen Giftes Al- 
kohol ein neues, das Koffein, in Bohnenkaffee und Tee ins 
Volk zu werfen, ist mit dem Fortschritt, der in der Herstellung 
von Malzkaffee zu verzeichnen war, das Mittel gefunden worden, 
das den weitestgehenden Ansprüchen an ein Ersatzgetränk ent- 
sprach. Für den Bohnenkaffeersatz ist die Frage heute voll- 
ständig gelöst. Bekanntlich wurde sogar das Aroma des Bohnen- 
kaffees beim Malzkaffee erzielt, ohne des ersteren schädliche 
Stoffe zu übernehmen. Damit ist ein Ersatzgetränk geschaffen, 
das wir leider in gleicher Güte für die alkoholischen Getränke 
nicht besitzen. Wir müssen der Industrie dankbar sein, daß 
sie uns in dieser wirksamsten Weise der Bewahrung von den 
Genußgiften zu Hilfe kam und die Aufklärung über die rechten 
Ersatzstoffe mit der Aufklärung über die Schädigungen durch 
die Genußgifte verbinden ließ. 

Wenn wir uns des Umfanges der Schädigungen erinnern, 
die für Alkohol, Koffein und Nikotin in der ersten Forderung 
skizziert wurden, so ergibt sich als weiterer leitender Gedanke : 

Angesichts der Bedeutung dieser Aufklärung für die Volks- 
gesundheit und für das soziale Leben hat der Staat die Pflicht, 
sich an der Aufklärungsarbeit zu beteiligen. Er kann sie am 
besten vermitteln lassen: 

a) bei der standesamtlichen Anmeldung der Neugeborenen 
durch ein belehrendes Merkblatt oder sonstige Belehrung; 

b) in der Schule durch unterrichtlichc Maßnahmen für 
die Kinder und durch belehrendes Material für die Eltern; 

c) in der Militärdienstzeit durch Belehrung mit Flug- 
schriften, Vorträge und durch praktische Gewöhnung. 

Diese Forderung braucht keine umfangreiche Begründung. 
Liegt die Aufklärung im Interesse des Volkswohles, was ange- 
sichts der in der Begründung des ersten Leitsatzes geschilderten 
Schädigung der Genußgifte nicht zu verkennen ist, so darf 
sie nicht dem Zufall überlassen bleiben ; es muß vielmehr darauf 
Bedacht genommen werden, daß systematisch an alle inter- 
essierten Kreise die Aufklärung herankommt. Bei der Tätig- 
keit der Presse, von Vereinen usw., auf deren nicht zu unter- 
schätzenden Wert ich noch zu sprechen kommen werde, ist 



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Aufklärungsarbeit über die Bewaiitung der Jugend vor GenussgifUn. 299 



namentlich ein Erreichen aller Interessenten ausgeschlossen. 
Dieses ist nur dem Staat ermöglicht, der bei gewissen Anlässen, 
alle Interessenten an eine seiner Amtsstellen, zu einem seiner 
Organe heranbringt, so bei der standesamtlichen Anmeldung 
der Neugeborenen und bei der Anmeldung der Kleinen für 
die Schule. Bei diesen Gelegenheiten ist noch dazu das Gros 
des Publikums in einer geistigen und Gemütsverfassung, in 
der es der Belehrung über das körperliche und geistige Wohl 
der Kinder und über Schädigungen derselben warmes Interesse 
entgegenbringt. Daher ist zu fordern, daß bei der standes- 
amtlichen Meldung, ähnlich wie es mancherorts schon über 
das Stillen der Säuglinge, allgemeine Körperpflege, Alkohol- 
abstinenz u. a. geschieht, allgemein an die Anmeldenden auch 
Aufklärungsmaterial über die Wirkungen aller Genußgifte, 
namentlich auch Behütung der Kleinen vor Bohnenkaffee ab- 
gegeben wird. Ob dieses nun in Form eines Antigenußgift- 
Merkblattes oder durch Aufnahme bezüglicher Belehrungen 
in schon bestehenden Aufklärungsschriftchen geschieht, hängt 
von den lokalen und prinzipiellen Verhältnissen ab. 

Für die erste Schulaufnahme der Kleinen hat sich im all- 
gemeinen bezüglich des Alkohols die Merkblattform bewährt; 
sie ist unter Ausdehnung auf Koffein und Nikotin beizubehalten. 
An die Kinder selbst kann die Schule bei Dutzenden von Ge- 
legenheiten mit Aufklärung herankommen. Ich möchte durch- 
aus kein neues Fach oder eine neue Stunde, oder eigens darauf 
zugeschnittene Lesestücke empfehlen, sondern der gelegent- 
lichen wirksamen Belehrung das Wort reden. Schon im 
Anschauungsunterricht, wenn von Körperpflege oder Lebens- 
gewohnheiten die Rede ist, kann der kluge Lehrer intensiv 
in dieser Beziehung auf die Kinder einwirken; mehr noch im 
naturkundlichen Unterricht, hier wiederum speziell in den 
Lektionen vom menschlichen Körper, von Gesundheitspflege 
und Lebenskunde. Auch die religiöse Unterweisung mit ihrer 
Forderung des gesundheitlichen Schutzes gibt Gelegenheit. Es 
ist nur zu wünschen, daß Weisung für Berücksichtigung aller 
drei Genußgifte an den Schulen hinausgeht, wie dies für den 
Alkohol von verschiedenen Behörden schon geschah. 

Ich habe in diesem Leitsatz noch die Militärzeit genannt. 
Für sie kommt es hauptsächlich auf die dabei gegebene Gelegen- 
heit zur praktischen Gewöhnung an. Wenn der junge Mann 



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300 F. Weigl 



in den Kantinen, die gute alkoholfreie Getränke für billiges 
Geld zu führen haben, den Segen der Alkoholabstinenz oder 
-temperenz an sich kennen lernte, wenn er statt des üblichen 
schwächenden Bohnenkaffees am Morgen wohlschmeckenden 
und zugleich nährenden Malzkaffee längere Zeit erhielt, so 
wird er auch später nicht mehr von den neuen guten Gewohn- 
heiten lassen. 

Ich möchte nun aber, wie schon erwähnt, diese Tätigkeit 
für Volksgesundheit und soziales Wohl nicht zum Monopol 
der Staaten machen; im Gegenteil vertrete ich als letzten 
leitenden Gedanken : 

Unterstützt soll die Aufklärungsarbeit werden durch das 
öffentliche Vortragswesen, durch Vereine und die Presse. 

Das öffentliche Vortragswesen nimmt in den heutigen 
Bildungsorganisationen eine bedeutsame Stelle ein und in 
Deutschland ersetzt es zum guten Teil die großen nordischen 
Volkshochschulen. Seinen Tendenzen nun, Aufklärung in die 
breitesten Kreise des Volkes zu tragen, ist die Arbeit für Schutz 
der Jugend vor Alkohol, Koffein und Nikotin besonders ent- 
sprechend. 

Von den Vereinen kamen in erster Linie die populär- 
gesundheitlichen Vereine, so die Organisationen des „Roten 
Kreuzes*' und die Volkshygienevereine in Betracht. Großes 
Interesse haben auch die pädagogischen Vereinigungen aller 
Art an der Aufklärungsarbeit, wenn wir uns der geistigen 
Schädigungen erinnern, die die Genußgifte hervorrufen. Die 
charitativen Vereine werden ebenfalls diese prophylaktische 
Arbeit nicht verschmähen und die Vereine gegen die Aus- 
wüchse der Unsittlichkeit, so die in Deutschland entstandenen 
„Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlich- 
keit", werden das Stück positiver vorbeugender Arbeit, das 
ihnen mit der Bekämpfung der Genußgifte zukommt, zu wür- 
digen wissen. Die wissenschaftlichen Forschungen haben ja 
ergeben, daß nicht nur der Alkohol geschlechtlich erregend 
wirkt, was ja allgemein bekannt ist, sondern daß dies auch bei 
Bohnenkaffee der Fall ist. Privatdozent Dr. med. E. Reich 
schreibt in seiner „Nahrungs- und Genußmittelkunde" 11 ) fol- 
gendes: „. . . . Schon C. G. Lehmann sah nach Koffein- 



") Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, S. 101. 



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Aufklärungsarbeit über die Bewahrung der Jugend vor Genussgiften. 301 



gebrauch geschlechtliche Aufregung erfolgen, und ich mache 
seit einigen Jahren bereits an mir selbst die Beobachtung, 
daß der Kaffeeabguß sexuelle Erregung und Vermehrung der 
Harnausscheidung hervorbringt, daß sogenannter starker 
Kaffee, spät abends getrunken, wollüstige Träume und Pollu- 
tionen verursacht." Der Generaloberarzt Dr. W. F. Nicolai 
bringt in seiner Schrift: „Der Kaffee und seine Ersatzmittel*' 1 *) 
folgendes Urteil : . . . Ebenso schädlich ist den Kindern der 
Kaffee aus dem gleich näher zu erörternden Grunde, nämlich 
der Reizung des Rückenmarkes und der Harn bereitenden und 
ausführenden Organe, womit eine vorzeitige Erweckung und 
Reizung des Geschlechtstriebes verbunden ist. Nichts aber 
ist mehr geeignet, das Nervensystem eines heranwachsenden 
Knaben und Mädchens zu zerrütten und zu kränkelnder 
Empfindsamkeit herunterzubringen, als die vorzeitige Er- 
weckung eines dunklen Triebes, von dem sie sich entweder 
keine Rechenschaft geben können, oder der sie, falls sie die Ent- 
deckung des Grundes ihrer quälenden Empfindungen machen, 
zu noch unheilvolleren Folgen, zu lasterhaften Mißbräuchen 
treibt." 

Der Vereinstätigkeit tritt unterstützend noch zur Seite die 
Presse. Hier wären besonders die bestehenden feuilletonisti- 
schen Korrespondenzen zu gewinnen, die auch ungemein viel 
belehrendes Material gerade durch die kleinen Zeitungen in 
die breitesten Volkskreise bringen. 

Wird so in systematisch umfassender Weise durch die Be- 
hörde einerseits und in freiem gelegentlichen Schaffen durch 
Vereine und Presse andererseits die geschilderte Aufklärung 
hineingetragen in jeden Palast und in jede Hütte, wo Kinder 
aus und ein gehen, so ist damit eine prophylaktische Arbeit 
geleistet, die unzählbares und unwägbares physisches und 
psychisches Elend hintanhält. Darum möge von dieser Stätte 
aus der Ruf mit Macht hinausgehen in weite Lande und alle 
wecken, die es angeht 1 

**) Braunschweig, Vieweg, S. 36. 



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Zur Psychologie der Schulprüfungen 



Von 

Hans Plecher. 



Interessant sind die Versuche, welche Lobsien-Kiel anstellte und 
in den „Pädagogisch-psychologischen Studien" (Beilage zur „Schulpraxis") 
veröffentlichte. Veranlaßt durch die auch von der Vulgärbeobachtung oft 
bestätigte Tatsache, „daß die Sonderindividuen sich der Prüfung gegenüber 
überaus ungleich verhalten", schrieb er auf eine Schultafel 20 einfache 
Rechenaufgaben (47 -f 49, 95 — 63 usw.), welche von 54 Knaben im 
Alter von 8 Jahren gelöst werden sollten. Das Experiment wurde zweimal 
gemacht : der Normalversuch (N) glich einer gewöhnlichen Rechen- 
stunde mit stillem Rechnen. Vor Beginn des Kasualversuches (K) 
aber wurde den Kindern gesagt, daß ihre Arbeit als Prüfungsarbeit 
angesehen werde und als Grundlage für die Bestimmung der Zensuren 
dienen solle. Es ergab sich folgendes: Bei N wurden 39<yo, bei K 50^0 
der Aufgaben falsch gelöst. Der Prüfungscharakter wirkte demnach ver- 
schlechternd auf die Gesamtleistung. Dabei machten sich auch die Unter- 
schiede der Begabung bemerkbar. Begabte Schüler zeigten bei 
K gegenüber N ein Minus von 22%, mittelbegabte von 170/0 und 
schlechtbegabte von 22%. 

Um eine „sorgsamere Fehleranalyse" zu ermöglichen, machte er 
später einen ähnlichen Versuch mit Diktatstoffen. Zur Verarbeitung kamen 
diesmal die Aufgaben von 48 Schülern, wovon 14 gut (g), 21 mittelmäßig \m) 
und 13 schlecht (schl) begabt waren. Natürlich mußten beim N- und 
K-Versuch die Anforderungen objektiv möglichst gleich gestellt werden. 
Er wählte daher für den N-Versuch 27, für den K-Versuch 23 Wörter 
aus, für die nach allen Richtungen die Möglichkeit von Verfehlungen in 
annähernd gleichem Maße vorhanden war. Es zeigte sich folgendes pro- 
zentuale Ergebnis (um einen Vergleich mit dem Vorversuch zu 



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Zur Psychologie der Schulprüfungen. 



303 



ermöglichen, wurde neben den absoluten Werten eine Verrechnung 

r 4- f 

gegeben nach der Formel — r = richtig, f = falsch.) 



Begabung 


Mit Examens Wirkung 


Ohne Examenswirkung 


Fehler (%) 




Fehler (%) 


r 

r + f 




30 


70 


11 


89 


m. 


51 


49 


30 


70 


schl. 


65 


35 


40 


60 




49 


51 


27 


73 



Begabte Schüler: Mittelbegabte: 
N = 89 N = 70 

K - 70 K = 49 

Differenz = 19 = — 22 % der Differenz = 21 = — 30 % der 

Normalleistung. N-Leistung. 
Schwachbegabte: 
N = 60 
K^35 

Differenz = 25 = — 42 °/ 0 der N- Leistung. 

Es wurde demnach das erste Resultat bestätigt; die Prüfung ergab 
in allen Fällen eine Verdunkelung der tatsächlichen Leistungsfähigkeit; am 
stärksten trat diese bei den schwachen Schülern hervor. 

Lobsien dehnte seinen Versuch auch noch auf die qualitative Fehler» 
wertung aus, indem er diejenigen Diktatstoffe, die am längsten getrieben 
wurden, mit dem Multiplikator 4, die anderen mit 3, 2 und 1 versah. 
Da zeigte sich z. B. die Tatsache, daß beim K-Versuch die Fehlerxahl 
bei der Gleichschreibung um 32,740% stieg, bei den Wörtern, die im 
Wortklang deutliche Hinweise für eine abweichende Schreibung ent- 
halten, um 42,738 °/o, während sie bei Wörtern, die nach bestimmten 
Regeln geübt wurden, um 6,508 °/o fiel, bei Wörtern endlich, die durch 
Abschreiben oder Memorieren eingeprägt waren, um 2,269 °/o stieg. Doch 
im allgemeinen dürfte einer qualitativen Fehlerwertung weniger Gewicht 
beizulegen sein. Sie hängt so sehr von äußeren Umstanden ab, von der 
Art und Weise, wie der Lehrer die einzelnen Wörtertypen übt, resp. wann 
er sie geübt hat, von der Aussprache des Diktierenden usw. Dazu 
kommen die vielen Ausnahmen bei allen orthographischen Regeln, daß 
eine einigermaßen zutreffende Würdigung ziemlich ausgeschlossen erscheint. 

B<*i den Versuchen, die ich selbst machte, um die Ergebnisse Lob- 
siens auf ihre Richtigkeit zu prüfen, sah ich deshalb von der Fchler- 
qualität ab und erstreckte sie lediglich auf die absolute Wertung, die ja 
auch bei den usuellen Schulprüfungcn fast ausschließlich angewandt wird. 
Als Versuchspersonen dienten 43 zwölfjährige Mädchen, 40 zwölf- 
jährige Knaben, 44 elfjährige Mädchen und 57 elfjährige Knaben, je in 
einer Schulklasse. Sic erhielten zuerst ein Diktat in einer gewöhnlichen 
Rechtschreibstunde, und zwar aus dem für die betreffende Klasse vor- 
geschriebenen und bereits behandelten Lehrstoff, nach einiger Zeit unter 



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304 



Hans Pltcher. 



möglichst gleichen Bedingungen ein anderes, mit gleichviel und ähnlich 
schweren Wörtern und Ausdrücken, das ihnen als Prüfungsschrift, als be- 
stimmend für ihre Noten bezeichnet ward. Natürlich machte die Aus- 
wahl der Wörter große Schwierigkeiten; es wurde aber immerhin eine 
relative Konformität erzielt. Um das Milieu möglichst zu wahren, er- 
folgten die Rechtschriften im letzten Drittel des Schuljahres, und zwar 
immer am gleichen Tage von zwei aufeinanderfolgenden Wochen, jedesmal 
von 9 — 10 Uhr. Sämtliche Fehler wurden, wie dies auch bei den offi- 
ziellen Prüfungen erfolgt, mit i bewertet — all das, um eine tunlichst 
sichere Vergleichsbasis zu schaffen. 

Die zwölfjährigen Mädchen (A) und Knaben (B) erhielten die gleiche 
Arbeit, je 72 Wörter. Das Resultat war folgendes: 



Absolute Fehlertabelle. 
A. B. 



BegabuDg 


Gesamtzahl 
der Wörter 


Fehlerzahl 


Begabung 


Gesamtzahl 
der Wörter 


Fehlerrabl 


K- Vera. |N- Vera. 


K-Vers. 


N-Vfn. 


29 m. 
6 schl. 


576 
2088 
432 


20 
156 
46 


14 

151 
50 


* g- 

30 m. 

6 schl. 


288 
2160 
432 


6 
169 
43 


5 
145 
40 


43 


3096 


222= 
+7 


215 


40 


2880 


218= 
4-28 


190 



Prozentuale Berechnung. 
A. B. 



Begabung 


Fehler (%) 


Differenz 
°/o 


Begabung 


Fehler (%) 


% 


K-Vera. 


N-Vers. 


K-Vera. | K-Vera. 


g- 
m. 

schl. 


3,5 
7,4 
10,65 


2,4 
7,2 
11,55 


4-1,1 
4-0,2 
-0,9 


g- 
m. 

schl. 


2,08 
7,82 
10,00 


1.74 
6,71 
9,29 


+ 0,34 
-1,11 
--0.71 




21,55 _ 


21,15 


4-0,4 




19,90 


17,74 


2.1* = 


3 

7,18 


3 ~~ 
7,05 


3 

+ 0,13 


3 

6,6 


3 

5,91 





Den elfjährigen Mädchen (C) wurden 52, den achtjährigen Knaben (D) 
25 Wörter diktiert: 

Absolute Fehlerberechnung. 

C. D. 



Begabung 


Gesamtzahl 


Fehlerzahl 


Begabung 


Gesamtzahl 


Fehlerzahl 


der Wörter 


K-Vers. 


N-Vere. 


der Wörter 


K-Vera. 




6 g- 
25 m. 
13 schl. 


312 
1300 
676 


8 

110 
110 


9 
94 
90 


8 g- 

42 TD. 

7 schl. 


200 
1050 
175 


17 
224 
74 


12 
163 
61 


44 


2288 


228- 
+ 35 


193 


i " 


1425 


315 = 
+79 


236 

*f - ■ 



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Zur Psychologie der Schulprüfungen. 305 



Prozentuale Berechnung. 

C. D. 



Begabung 


Fehler (•/») 


Differenz 


Begabung 


Fehler (%) 


Differenz 




K-Vers 


N-Vers. 


% ; 


K-Vers. 


N-Vers. 


% 


g- 

EQ. 

schl. 


2.56 
8,5 
16,27 


2.9 
7,2 
13,3 


— 0,34 

+ 1,3 
_j_ 2,97 


g- 
m. 

schl. 


8,5 
21,3 


6 

15,5 


+ 2,5 
+ 5.8 




27,33 


23.4 


3,98 




72,0 


56,5 


15,5 




9,11 


3 "~ 
7.8 


3 

+ 1,31 


: | 2 * 


18.8 


5.16 



Die schlechtbegabten Mädchen bei Gruppe A und die gutbegabten bei 
Gruppe C erzielten in der Prüfung bessere Leistungen; sonst ergab sich 
allenthalben eine Minderung. Sämtliche Versuchspersonen, ausgeschieden 
nach der Begabung, ließen sich folgende Durchschnittswerte konsta- 
tieren : 



Begabung 


DnrchschnitUprozente der Fehler 


Differenz 


Utsprünglicbe 
Fehlerzahl 


K -Versuch 


N-Versucb 




4,16 


3,26 


+ 0.9 = + 


27,6 o/o 


m. 


11,25 


9.15 


+ 2,1 = + 


23,0 % 


schl. 


19,8 


17.3 


+ 2,5 = + 


°/o 



Während also im Hinblick auf die Fehlerzahl die gutbegabten 
Schüler relativ die größte, die Schwachbegabten die kleinste Prozentual- 
zunahme aufzuweisen haben, ist das Verhältnis in bezug auf die Nor- 
malleistung (im positiven Sinne) umgekehrt. Es zeigen die guten 
Schüler die geringste, die schlechten die bedeutendste Abnahme der ur- 
sprünglichen Leistung — dasselbe Ergebnis also, welches von Lobsien 
festgestellt wurde. 

Bezüglich des Geschlechtes der Versuchspersonen ist zu be- 
merken, daß die beiden kleinen Abteilungen, welche, wie schon erwähnt, 
bei der Prüfung bessere Leistungen erzielten als bei dem Normalversuch, 
den Mädchenklassen angehörten. Ein Vergleich zwischen Knaben und 
Mädchen läßt sich bloß anstellen bei den Gruppen A und B, wo die 
Altersstufen, die Prüfungsstoffe und -zeiten vollständig gleich sind. Im 
allgemeinen ergab sich bei den Mädchen eine geringere Differenz zwischen 
Normal- und Prüfungslcistung als bei den Knaben; hinsichtlich der Be- 
gabung waren die Ergebnisse zum Teil direkt umgekehrt. Allerdings resul- 
tieren diese Zahlen aus einem einzigen Versuche und kommen infolge- 
dessen mehi oder minder als Zufallsergebnisse in Betracht. 

Auffallend ist das rasche Hinaufschwellen der Fehlerzahlen bei den 
achtjährigen Schülern gegenüber den elf- und zwölfjährigen. Es kommen 
da allerdings verschiedene Umstände in Betracht : geringere Adaption der 
Aufmerksamkeit, Mangel an mechanischer Fertigkeit usw. Immerhin 
leigte sich der Prüfungseinfluß bei den Kleinen am 
stärksten und mit den Jahren abnehmend. 

ZeiUchrilt lür pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 4 



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■ 



306 Hans Pleeher. 

Bei den Rechtschriften waren die Schüler immer an die Zeit ge- 
bunden. Um nun den Einfluß der Schulprüfungen auf die Arbeits- 
dauer zu konstatieren, machte ich später denselben Versuch mit einer 
Aufgabe aus dem schriftlichen Rechnen, und zwar unter den 
gleichen Bedingungen. Eine Anzahl 13 jähriger Knaben (beim N -Versuch 
waren es 38, beim K-Versuch 36) erhielten jedesmal sechs Rechnungen 
aus den für die Prüfung vorgeschriebenen Sachgebieten, zuerst in einer 
sog. „stiller. Rechenstunde", dann als Probearbeit. Bezüglich der sach- 
lichen und technischen Schwierigkeiten wurde die größtmöglichste Kon- 
formität hergestellt. Eine reine mechanische Wertung — jeder Fehler mit 
1 bezeichnet — ist allerdings bei derartigen Aufgaben nicht durchführbar, 
da Verstöße gegen die logische Beurteilung wie auch rein äußerliche 
Rechenfehler vorkommen; es wurde daher o, 1 oder 2 gewertet Als 
Arbeitszeit war eine Stunde angegeben, ein Zeitraum, der cr(ahrungs- 
gemäß zur Bearbeitung der Rechnungen genügte. Jeder Schüler, der mit 
seiner Aufgabe fertig war, mußte sie sofort abliefern, wobei die Arbeits- 
zeit auf dem Blatte vermerkt wurde. 



Absolute Fehler- und Zeittabelle. 



Be- 
gabung 


Prüfungsarbeit 


Be- 
gabung 


Normale Arbeit 


Ges&tnt- 
»ufgabe 


Fehler 


Gesamt- 
zeit 


Durch- 
schnitts- 
zeit 


Ges&mt- 
auffrabo 


Fehler 


1 Mit 


22 m. 
7 schl. 


42 
132 
42 


10 
60 
31 


348Mln. 
1277 , 
421 . 


50 Min 
58 n 
60 . 


7 g- 
23 m. 

6 schl. 


42 
138 
48 


8 
47 
34 


273Min. 
1085 , 
387 ,, 


39 Mio. 

47 . 

48 . 


36 


216 


101 = 
46,80/J 


2046 

Min. 


57 Min. | 


38 


228 


89=|l745 
390/J Min. 


46 Min. 



Prozentuale Berechnung. 



Begabung 


Prüfungsarbeit 


Begabung 


Normale Arbeit 


Fehler % 


Zeitdifferenz 


Fehler % 


Differenz der 
Prüfungwbeit 


«. 

m. 
schl. 


U 
45 
74 




-11 Min. = + 28% 
-11 „ =+23% 
-12 . =-h25o/o 


g- 
m. 

schl. 


19 
34 

71 


- 6,2 % 

- 16»/, % 

— 10.0 % 


Gesamt 


46,8 


+ 13Min.=+240/ 0 




39 


- 13,0 % 



Diese Ergebnisse zeigten, daß die Schulprüfungen auch die Arbeits- 
zeit in ungünstigstem Sinne beeinflussen. Hinsichtlich der Qualität und 
Dauer der Arbeiten ließen sich folgende Schwankungen bei der Prüfung 
konstatieren. Es arbeiteten: 



Begabung 


Besser 


Gleich 


Schlechter 


7 g. 


1 


4 


2 


21 m. 


6 


7 


8 


7 schl. 


2 


4 


1 


35 


9 = 25% 16 = 43% 


11=32% 



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Zur Psychologie der Schulprüfungcn. 



307 



Begabung 


KG r zere Zeit 


Gleich lang 


Länger 


7 g- 


1 




6 


21 m. 


2 


1 


18 


7 schl. 




1 


6 


35 


3 = 8,6% 


2 - 5,4 % 


30 = 86°/, 



Zahlen beweisen I Es steht also fest, daß die Schulprüfungen 
kein richtiges Bild von den tatsächlichen Leistungen 
einer Klasse geben. Geheimrat Prof. Dr. Münch drückt in 
seinem Buche „Geist des Lehramts" das mit Worten aus, was hier die 
Zahlen sprechen, indem er schreibt: „Nur ein Bruchteil der zu Prüfenden 
verfügt ruhig und sicher über seinen geistigen Besitz, ein noch kleinerer 
Teil wird sogar durch die ungewohnte Situation zu erhöhter Lebendigkeit 
und Gewandtheit geführt, der größere erfährt — in verschiedener Ab- 
stufung — Verwirrung oder Lähmung." 

Nun muß allerdings zugegeben werden, daß auch bei der größten 
Konformität der Aufgaben die Schwierigkeiten nie ganz gleich sind, 
daß also das experimentelle Ergebnis immer nur ein relatives ist. 
Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß ja durch die .Versuche keine» 
eigentlich neue Tatsache festgestellt, sondern bloß eine wenigstens in 
ihren Rudimenten bekannte erhärtet, gleichsam in Zahlen gesetzt werden 
soll. Daher haben die Zahlen auch als relative Werte ihre Bedeutung. 
Wohl jeder Lehrer hat es schon selbst erfahren, daß bei der Prüfung 
die besten Schüler versagen, nicht bloß im Rechtschreiben und Rechnen, 
sondern in den verschiedensten Fächern, während schwächere verhältnis- 
mäßig „gut abschneiden", daß also das gesamte Prüfungsergebnis den 
sonstigen Leistungen der Klasse nicht entspricht. Um so auffallender ist 
diese Erscheinung, weü doch die Amiahme naheliegt, daß die Prüfung 
infoige der höchsten Anspannung der Aufmerksamkeit, wie sie doch ge- 
wöhnlich zu verzeichnen ist, auch die höchste Leistung erzielte. 

Welches sind nun wohl die Ursachen der konsta- 
tierten Leistungsdifferenzen? Sie liegen zunächst in gewissen 
Gefühlswirkungen. „Bei keiner Gelegenheit ist der Examinand 
weniger imstande und geneigt, mit seinem Denken und Leben ans Licht 
zu kommen, als bei der Prüfung." Er denkt an einen allenfallsigen un- 
günstigen Ausgang, weiß auch, daß er in dem einen oder anderen Fache 
jederzeit ungenügende Leistungen erzielte; dazu kommt die Anwesenheit 
eines fremden Prüfungskommissärs, unter Umständen auch der Eltern; 
vielleicht hat ein besonders übereifriger Lehrer für ungenügende Arbeiten 
mit Strafe gedroht, kurz: es entstehen die verschiedensten Gefühls- und 
Vorstellungsassoziationen, die einen geregelten Verlauf der Vorstellungen 
von vornherein ausschließen. Es treten Hemmungs- und Erregungsinner- 
vationen der Atmungsorgane und des Herzens auf mit all ihren s miß- 
lichen Begleiterscheinungen: Befangenheit, rascher Pulsschlag, Gesichts- 
blässe usw. Wie könnte es sonst möglich sein, daß vor einer Prüfung drei 
Knaben, die das ganze Jahr kerngesund waren, halb ohnmächtig das Schul- 
zimmer verlassen mußten! „Durch die Examina ist in den Unterrichts- 
betrieb ein ganz neues psychisches Moment gekommen, das ist die Be- 

4 . 



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308 



Hans Plccher. 



sorgnis, die Angst, die Furcht vor der drohenden Abrechnung. Je nach 
der Individualität äußert sie sich bei den einzelnen Schülern in verschie- 
dener Form und in verschiedenem Grade.** (Dr. Andreae: Zur Psycho- 
logie der Examina.*) 

Daß diese Angstzustände wirklich vorhanden sind, beweist ein Versuch, 
den ich mit 38 zwölfjährigen Schülern einer VI. Volksschulklasse an- 
stellte. Einige Tage nach der offiziellen Jahresschluß prüf ung ließ ich sie 
einen sog. „freien Aufsatz" über „Die Schulprüfung" anfertigen. Acht 
Schüler verstanden die Aufgabe falsch und ergingen sich in allgemeinen 
Redensarten und Reflexionen, anstatt ihre eigenen Gedanken und Erfah- 
rungen mitzuteilen. Diese Arbeiten mußten also ausgeschieden werden. 
Von den übrigen 30 Knaben bestätigten 2Q das Vorhandensein eines Angst- 
gefühles, natürlich in den verschiedensten Ausdrucksweisen: „Ich habe 
Angst", „Ich getraue mich nicht zu reden**, „Ich freue mich 
auf die Prüfung, aber wenn der Herr Oberlehrer kommt, habe 
ich auch Angst", „Wenn ich zum Beispiel zwei Stunden schriftlich 
rechne, komme ich ganz aus den Sinnen". „Wenn ich bei der Prüfung im 
Rechnen aufgerufen werde, weiß ich nicht mehr, was ich überhaupt sage" u. a 
Ein Schüler schreibt: „Wenn es heißt, heute haben wir Prüfung, so über- 
kommt mich eine große Angst, weil ich immer meine, ich mache alles falsch. 
Der Gedanke arbeitet immer in mir und da bringe ich mit dem besten Wülen 
nichts fertig. Sind wir dann fertig, so ist die Angst nicht mehr da. ' 
Ein anderer detailliert den psychischen Prozeß mit folgenden Worten: „Ich 
habe bei der Prüfung immer sehr viel Angst. Immer denke ich mir, 
ich könnte eine schlechte Note bekommen. Werde ich dann aufgerufen 
und der Herr Oberlehrer oder der Herr Lehrer hat die Rechnung schon 
vorgelesen und ich soll sie rechnen, dann kann ich keine Zahl mehr 
sagen. Vor lauter Angst habe ich nicht auf die Rechnung Obacht ge- 
geben, sondern dachte immer an die schlechten Noten, die ich bekomme.'* 

Ueberall die gleiche Erscheinung: durch hemmende Einflüsse von 
außen tritt eine Ablenkung resp. eine vollständige Verwirrung des nor- 
malen Vorstellungsverlaufes ein, die für den Augenblick die ganze Denk- 
fähigkeit lähmt. „Examensfieber" wird dieser Zustand gewöhnlich genannt, 
der sich auf allen Altersstufen in mehr oder minder größerer Stärke zeigt. 
Ein höchst merkwürdiges Beispiel davon, wie die Prüfungsangst sich auch 
auf die Umgebung des Prüflings übertragen kann, wurde vor 
einiger Zeit in der „Med. Klinik" erzählt: „Ein 48 jähriger Beamter, 
sonst das Muster von Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, versagte mit 
einemmal in rätselhafter Weise; er konnte nicht mehr arbeiten, wurde 
reizbar, unzufrieden, unruhig und reiste hin und her. Nach einiger Zeit 
kehrte er frisch und diensteifrig auf seinen Posten zurück. Das Rätsel 
fand darin seine Lösung, daß in dieser Zeit der Sohn des Beamten sein 
Offiziersexamen gemacht und bestanden hatte, an dessen Ausfall dem Vater 
viel gelegen war." 1 

Naturgemäß äußern sich diese Wirkungen bei mündlichen Prüfungen 



*) Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene, 
Jahrg. 1899. ' 



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I 



Zuv Psychologie dw Schulpvüfuwgefi. 



309 



noch viel mehr als bei schriftlichen, nur sind sie dort weniger kontrollierbar, 
da wegen der vielen Imponderabilien, mit denen hier gerechnet werden muß, 
überhaupt mehr dem Zufall anheimgegeben sind. „Eine ungeschickte Frage 
oder eine unüberlegte Antwort gleich zu Anfang kann hier auf den 
ganzen Ausfall der Prüfung einen ungünstigen Einfluß ausüben." (Paulsen.) 
Die Wahrheit dieses Satzes zeigt sich gar oft, wenn der Examinand mit 
dem schwächsten Schüler beginnt oder einem Prüfling eine Aufgabe zu- 
weist, die seiner Geisteskraft nicht gewachsen ist. Werden nun in rascher 
Folge einige Nachbarn gerufen, tun einzuspringen, so zeigen sich bei 
einer ganzen Reihe von Schülern gewisse Suggestivwirkungen, 
besonders aber dann, wenn vielleicht gar der Visitator dem einen oder 
anderen vor versammelter Klasse ein kurzes Privatissimum darüber liest, 
was ein fleißiger Schüler wissen müsse, daß es nur an der nötigen Auf- 
merksamkeit fehle, anstatt Irrtümer und Fehler nach Galater 6/1 zu be- 
handeln: „Liebe Brüder, so ein Mensch von einem Fehler übereilt würde, 
so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geiste, die ihr geistlich seid, 
und sieh auf dich selbst, daß du nicht auch versuchet wirst." 

Ueberhaupt können äußere Einflüsse verschiedener Art die Examens- 
wirkungen in mancher Hinsicht modifizieren, verstärken und dem Prüflings- 
ergebriis noch mehr die Signarur des Zufälligen aufdrücken. An einem 
recht heißen Tage zeigen sich die Kinder anders als an einem kühlen, am 
Vormittage anders als am Nachmittage, am Montag anders als am Samstag. 
Stern hat bei seinen Untersuchungen über die „Aufmerksamkeit", welche 
er mit Hilfe der Methode des Tastklopfens anstellte, gefunden, daß im 
Laufe des Vormittags ein Maximum von Energieentfaltung, gegen Mittag 
aber ein Rückgang zu verzeichnen ist, der bis zwei Stunden nach dem 
Mittagessen andauert. Der Spätnachmittag bringt ein zweites Maximum 
an Leistungsfähigkeit, dann abermals einen Rückgang. Bezüglich der 
Periodizität, welche sich im Laufe eines Jahres ergibt, stellte Lay*) fest, 
daß die psychische Energie der Klassen vom März bis Juli abnimmt, von 
da an wieder wächst, um dann neuerdings zu fallen. Zu einem ähnlichen 
Ergebnis kam S c h u y t e n**), der I^eiter des pädagogischen Seminars in 
Antwerpen. Bei seinen Experimenten über die „Schwankungen der Auf- 
merksamkeit stellte er fest, daß folgende Anzahl von Schülern bei Lese- 
übungen die Aufmerksamkeit festhielten: 





Febr. 


März 


April | Mai 


Juni 


Juli 


Okt. J Nov. [_ Dez. 


^k^m" II 68 


63 


77 


69 | 64 


42 


27 


48 | 62 | 67 



„Weitere Kurven ergaben: Die Kurve ist in oberen Klassen höher 
als in niederen, großer bei Knaben als bei Mädchen, fällt von 8 1 /» Uhr 
vormittags bis 1 1 Uhr und von 2 bis 4 Uhr nachmittags, ist größer um 



*) Lay, Experimentelle Didaktik. 

**) Lobsicn, Arbeiten aus dem städtischen pädagogischen Labora- 
torium Antwerpens. (Experimentelle Pädagogik, IV. Bd.) 



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310 



Hans Pleeher. 



2 Uhr nachmittags als um 10 Uhr vormittags, immer dann aber geringer 
als um 8 Uhr des Morgens." 

Mag auch aus diesen Einzeluntersuchungen kein Gesetz resultieren, 
immerhin decken sie sich mit der Vulgärbeobachtung, und es ist eigen- 
tümlich, daß den Ergebnissen so wenig Beachtung geschenkt, daß der 
Anpassungsfähigkeit des Kindes bei der Schulprüfung so gar nicht Rech- 
nung getragen wird. Da bestimmt z. B. eine Schulbehörde, daß in 3en 
niederen Klassen die Unterrichtsfächer in jeder halben Stunde wechseln 
sollen, daß in den oberen Klassen in der Rechenstunde ein! Wechsel ein- 
treten soll zwischen schriftlichem und mündlichem Rechnen, um einer Er- 
müdung vorzubeugen. Eine ziemlich selbstverständliche Bestimmung in An- 
betracht der Tatsache, daß „auch noch in dem späteren Kindesalter die 
Aufmerksamkeit viel schneller ermüdet als beim Erwachsenen und teils 
einen größeren Wechsel, teils häufigere Ruhepausen verlangt." (Wundt, 
Physiol. Psychologie.) Bei der Prüfung kommt nun ein Vertreter derselben 
Schulbehörde und prüft im Rechnen allein gleich zwei volle Stunden, prüft 
vielleicht gerade dieses schwierige Fach erst nachmittags um 4 Uhr, ob- 
wohl anerkanntermaßen diese Stunden für geistige Schülerarbeit nicht viel 
mehr als Null sind. Es ist eine bekannte Erscheinung, wie sich das Kind 
an einen gleichmäßigen Verlauf seiner intellektuellen Aeußerungeff gewöhnt, 
sobald diese jeden Tag in den gleichen Bahnen sich bewegen, wie schon 
das ganz kleine Kind im zartesten Alter seine Triebäußerungen durch die 
Gewöhnung in ein bestimmtes Geleise bringt. Die Schule hat dem das 
ganze Jahr hindurch Rechnung zu tragen, und nun soll auf einmal in so 
starkem Maße von dem Gewohnten abgewichen werden? Wer das fordert, 
verkennt die Kindesnatur! Und er sündigt dagegen! 

Er sündigt dagegen nicht nur an dem einen Tage, sonderif, die Prü- 
fungswirkungen in Betracht gezogen, das ganze Jahr hindurch, da die- 
selben das ganze Schuljahr ihre Schatten vorauswerfen. Man macht be- 
sonders unserer Volksschule nicht allzu selten den Vorwurf, daß ihrem 
Unterrichte die Dauerhaftigkeit mangelt. Es steckt auch ein gut Teil 
Wahrheit in diesem Vorwurfe. Allein woher soll eigentlich eine richtige 
Dauerhaftigkeit kommen, wo das ganze Schul- und Prufungs- 
system die Flüchtigkeit begünstigt, ja geradezu bedingt ? Vom ersten 
Tage des Schuljahres an kennen sehr häufig Lehrer und Schüler mir ein 
Ziel: die Prüfung. Und da gibt es nun ein Hasten und Drängerl und 
Stürmen — vorwärts! Ob schwache Schüler zurückbleiben, ob die Geistes- 
kost nur halb verdaut wird, das macht keinen Unterschied — nur vor- 
wärts! Ar einladenden Stellen länger zu verweilen, schwere Stellen gründ- 
licher zu nehmen, öde Orte flüchtiger zu durcheilen: nichts von alledem! 
Das Jahrespensum muß durchgepeitscht werden. Dr. Andreae führt 
über diese Erscheinungen in dem schon erwähnten Aufsatz aus : „ . . . Damit 
ist aber nicht nur die Auswahl der Stoffe alteriert, sondern auch Form und 
Tendenz der Aneignung erscheinen wesentlich verändert. Die sogenannte 
Dauerhaftigkeit des Unterrichts wurde zu einem „Präsenthaben" einer 
mehr oder weniger großen Summe für wertvoll oder doch für notwendig 
erklärter Vorstellungen, die wie Dinge behandelt werden; und da es sich 
beim Prüfen doch nur um ihr Symbol, um Worte handelt, so liegt hier 



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Zur Psychologie der Schulprüfungen. 



311 



der tiefste Grund für den Kultus des Wortwissens, für jenes öde Geschäft 
des Dressierens, Einpaukens usw., das nur ein Glied in dem großen System 
von Täuschungen ist, dessen Mittelpunkt das Examen und bei dem Lehrer 
und Schüler, Prüfungsbehörden und Publikum gleichermaßen mitwirken. An 
Stelle des Unterrichtszieles ist das Prüfungsziel getreten, an die des Be- 
zeichneten das Zeichen." — Die Folgen davon hat unsere Jugend aus- 
zukosten, wenigstens zum großen Teile. Und um diese Folgen zu besei- 
tigen, gäbe es nur einen Weg: die Prüfungen überall da, wo sie einiger- 
maßen entbehrlich sind, auszuschalten, wo sie aber, durch das herrschende 
Schulsystem bedingt, nicht zu umgehen sind, wenigstens zu reformieren, 
entsprechend den Forderungen der Psychologie, der Hygiene und der 
pädagogischen Praxis. 



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Sitzungsberichte. 



Psychologische Gesellschaft zu Berlin. 

Sommersemester 1906 (Fortsetzung). 

Donnerstag, den 3. Mai 1906. 
Beginn: 8Vt Uhr. 

Vorsitzender: Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Herr Prof. Rudolf Lehmann spricht über: 

„Poetik als Psychologie der Kunst". 

Die Aesthetik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 
wollte eine Metaphysik, jetzt will sie eine Psychologie des Schönen 
sein. Wir suchen das Wesen des Schönen nicht im objektiven 
Verhalten der Welt, ihren Formen, Erscheinungen, sondern in unserer 
Art, die Welt zu sehen, in uns wirken zu lassen. Das Schöne ist in 
seinem Wesen und in seinen Lebensäußerungen aus der menschlichen Psyche 
abzuleiten. Welche Abhängigkeit besteht zwischen den einzelnen Künsten 
und der psychischen Organisation des Menschen? 

Auf dem Gebiete jeder einzelnen Kunst gibt es eine dreifache Be- 
trachtungsweise: 1. die technische, die die Formen und Mittel der Kunst 
als solche betrachtet, 2. die kunstgeschichtliche, 3. die psychologische. 
Am weitesten vorgeschritten ist die psychologische Behandlungsweise in 
der Poesie, weil die Sprache zugleich zur Technik der Dichtkunst gehört. 

Das Problem der Poetik hat sich geschichtlich in folgender Weise 
entwickelt: Bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Poetik nur 
eine praktische Anleitung zum Dichten und zur Kritik. Man stellt Defi- 
nitionen für die Formen der Dichtung auf; was man nicht in diese Defi- 
nitionen einrubrizieren kann, verwirft man. Herder bahnt zuerst eine 
wissenschaftliche Betrachtung an: die Dichtung soll sich aus dem ge- 
schichtlicher und geschichtsvcrgleichenden Wesen ergeben. Die Poesie der 
Naturvölker sei ebenso Poesie wie die Dichtung Homers. Diese Auf- 
fassung zeigt nicht, wie man dichten soll. 

1 Schlegel usw. führen diese Herder sehen Gedanken lediglich 
aus: die Poetik wird zu einer Art von allgemeiner Literaturgeschichte. 



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1 



8iUungsberichte. 313 

Die -Geschichte alkin beantwortet die allgemeine Frage, was Poesie ist, 
nicht. Es bedarf eines allgemeineren Elementes. Dieses finden Herders 
Zeitgenossen und die Romantiker in der allgemeinen Spekulation ethischer 
Natur aus allgemeinen Begriffen, wo bestimmte Definitionen, bestimmte 
Posrulate, bestimmte Gestaltungen abgeleitet werden, die durch die ge- 
schichtlichen Erscheinungen hindurchschimmern. Zwitterwesen zwischen 
geschichtlicher und spekulativer Betrachtung. Beispiel: Schillers ästhe- 
tische Schriften. Schiller geht auf Herders induktive Methode ein, 
er zahlt die tragischen Stoffe auf, in denen sich z. B. das Erhabene zeigen 
kann, teils induktiv, teils deduktiv aus ganz allgemeinen Begriffen, die bei 
Schiller gar nicht psychologisch gemeint sind. Natur" und „Mensch" 
sind bei Schiller nur Idealbegriffe, teils ethisch, teils ästhetisch. Aehn- 
lich Hegel, welcher — wenig stichhaltig — das Historische aus der 
Idee des Schönen ableitet. Umschwung von der Metaphysik zur Psycho- 
logie seit Taine 1865 und Fechners Vorschule der Aesthetik. Taine 
geht von dem Begriff der Völkerpsychologie aus. Wir müssen aus Rasse, 
Zeitalter, Milieu das Kunstwerk erklären. F e c h n e r geht vom gegebenen 
Kunstwerk aus und fragt, wie und warum wirkt es so? Das künstlerische 
Wirken sei ein psychisches Geschehen. Welche Wirkungen übt ein fertiges 
Kunstwerk auf den Beschauer aus, worin besteht das Wesen des künst- 
lerischen Eindrucks und damit das Wesen des Kunstwerks? Von hier 
aus einen Schritt weiter: Wie entsteht das KunsOwerk in der Seele des 
Künstlers, des Dichters, das schaffende Vermögen wird analysiert, aus 
welchen psychischen Bedingungen geht die Dichtung hervor? Scher er: 
Wir brauchen eine geschichtliche Betrachtung, nicht eine wertende: Analyse 
des dichterischen Prozesses, Ergründung der schaffenden Seelenkräfte des 
Dichters. D i 1 1 h e y : Zwischen technischer und psychologischer Betrach- 
tung sei ein Unterschied: wir werden niemals imstande sein, aus einer 
bloßen psychologischen Analyse die Poesie zu erklären. Dazu erforderlich: 
1. technisch-historische Betrachtungsweise aus der historischen Entwick- 
lung; 2. Analysis des schöpferischen Vermögens. In den psychologischen 
Vorgängen ist die allgemeine Natur des Schaffens begründet. Die Poesie 
sei geschichtlich und zeitlich gebunden. Die Historie habe die Führung. 

Die Psychologie ist die Ursachen weisende und erklärende Grund- 
lage der Poetik, wie für jede Geisteswissenschaft. Lehmann erachtet 
eine derartige Behandlung als Psychologie der Dichtung, nicht als Poetik. 
Welches sind die Quellen unseres Wissens über die psychologische Ent- 
stehung der Poesie? Ausgeschlossen ist die Beobachtung des Dichters 
bei der Konzeption; einmalige Beobachtung nützt wenig. Selbstbeobachtung 
hat ebenfalls Bedenken, denn der Moment der dichterischen Konzeption 
ist ein Moment der höchsten seelischen Erregung. In solchen Fällen beob- 
achtet man sich sehr schlecht. Was der Dichter von nachher mitteilt, 
hat wenig Chance. Die Dichter machen solche Mitteilungen nicht aus 
psychologisch - wissenschaftlichem Interesse, sondern um zu zeigen, wie 
sie es machen im Gegensatz zu anderen Dichtern. Dies reicht aber 
nicht aus, um so einen Ueberblick über den Gang der psychischen Ent- 
wicklung zu verschaffen. Goethe sagt : Alle Dichtung besteht aus der 
Umsetzung eines persönlichen Erlebnisses in die Poesie. Indessen, wie 



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314 



Sitzung$berichte. 



hat man sich diese Umsetzung vorzustellen? Psychologisch: ein assozia- 
tives Gebilde, dazu die überlieferten oder gefundenen Formelemente, die 
Phantasie sei wesentlich ein Medium, durch das die Personen durchgehen. 
Erstes Stadium : die Phantasie verhält sich rezeptiv, passiv, aber ein 
Dichtwerk wird erst daraus, wenn ein formendes, gestaltendes, schöpfe- 
risches Moment hinzukommt; die Ergründung der Phantasie schafft in- 
dessen noch keinen Einblick in die psychologischen Gründe des dichte- 
rischen Schaffens. Jede Schöpfung, auch die künstlerische, setzt einen 
Willensakt voraus. Diese Willenserscheinung ist eine höchst komplizierte: 
phantasiert der Dichter, so kann er sich als ein behaglicher Träumer bei 
dem Gang seiner Phantasten beruhigen; schafft er ein Kunstwerk, so hat 
er die Absicht, das, was er erlebt, zu einem Erlebnis für andere zu machen, 
seine 'Stimmung anderen mitzuteilen. Dies bei der Poesie und der bil- 
denden Kunst. Darin besteht der Schaffenstrieb, der ihn drängt, das 
außer sich zu stellen, was in ihm liegt, die Absicht, das anderen zugänglich 
zu machen, was bis dahin in ihm war. In Worten auszudrücken, was man 
empfindet, ist schwierig. Hierzu gehört eine eigentümliche Konzentration. 
In jedem Gedicht ist ein Willenselement, keine rein passive Willens- 
assoziation. Die Arbeit der Konzentratton ist die Auswahl der Worte, 
der Charakterzüge, der Situationen, in denen der Dichter den Charakter 
darstellt oder sich aussprechen läßt, eine Auswahl, die immer ein starkes 
verstandesmäßiges Urteil voraussetzt. Ein wahrer Dichter ist sich dieser 
Sache bei der Tätigkeit nicht bewußt, sondern findet sie unmittelbar, 
und wenn er sie gefunden hat, so erscheinen sie ihm notwendig. Er 
schwankt höchstens zwischen zwei oder drei Situationen; das Phänomen 
ist das einer unbewußten Auswahl, eines Instinktes. Da wir noch nicht 
einmal den einfachsten, den tierischen Instinkt erklären können, so können 
wir erst recht nicht den Instinkt in seiner höchsten Erscheinung, den 
künstlerischen, erklären. Wir können die Aufgaben der Psychologie der 
Dichtkunst heute noch nicht lösen. 

D iskussion: 

Herr Moser führt folgendes aus : Zu jeder künstlerischen Arbeit 
gehört eine ungeheure physische Arbeit, wir kennen bei Gelegenheits- 
gedichten im Goetheschen Sinne nur die causa occaswmaüs, dagegen nicht 
die causa novens und die causa efficiens. 

Herr Martens: Nicht die Willensanspannung schafft ein Kunst- 
werk, sondern die innere seelische Zerrissenheit, zu deren Heilung der 
Dichter eine Auseinandersetzung mit den ihm entgegentretenden Disso- 
nanzen sucht. Es komme nicht darauf an, was ein Künstler wirklich 
erlebt hat, das äußere Erlebnis ist gleichgültig, es komme nur darauf an, 
was die Seele eines Menschen bewegt, welches Problem hn Leben er 
als das wichtigste hält. Dieses Suchen nach der Lösung einer wichtigen 
Lebensfrage, eines Problems, geschieht nicht nur im Intellekt, es erfüllt 
den ganzen Menschen. Ein grelles Erlebnis tritt in das Bewußtsein, das 
sind die Urelemente des Kunstwerkes, um die der Dichter die anderen 
Elemente technisch herumkonstruiert, herumschafft. 

Herr Leo Berg: Das Drama ist teilweise zu erklären aus den 



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315 



gesellschaftlichen Zuständen, teils aus der Psychologie des Zuschauers her- 
aus, nicht aus dem Objekt, das der Künstler darstellt, noch aus dem Er- 
lebnis. Ein Teil des Erlebnisses setzt sich beim Künstler zusammen aus 
der Umgestaltung einer Vision mit dem Effekt, den alles das bei anderen 
hervorrufen soll. In der Seele des Zuschauers sehen die Dinge ganz anders 
aus als in der Seele dessen, der es schafft. Die Absicht» eine bestimmte 
Wirkung hervorzurufen, veranlaßt den Dichter zur Schöpfung des Kunst- 
werkes. Ein Gedicht ist kein Kunstwerk, wenn es nicht einheitlich auf 
den Leser wirkt. Dagegen ist es gleichgültig, ob ein Kunstwerk in eine 
bestimmte Definitive hineinpaßt. 

Herr Hochdorf: Die Dilthey sehen und Scherer sehen Be- 
mühungen zielen darauf ab, den dichterischen Vorgang aus dem Milieu 
Tain es herauszulösen und in den dichterischen Vorgang hineinzulegen, 
was in dem isolierten Wesen des Dichters liegt. Die rein aus der Vision 
heraus schaffenden Dichter sind zu trennen von den sogenannten Artisten. 
Bei den Artisten geht zwar das Erlebnis ihrem Dichten voraus, aber das 
Finden der Worte ist nicht unbewußt, sondern sie ziselieren die Worte, 
sie ermessen rein verstandesmäßig, wie sie imstande sind, durch Worte 
die von ihnen beabsichtigte Stimmung auf den Genießenden zu über- 
pflanzen. Die Artisten entdecken nicht blindlings neue Werte, sondern 
sie führen verstandesmäßig, bewußt, neue Schönheiten herauf. 

Herr Feigs: Um zu allgemeinen Gesetzen und Regeln zu kommen, 
die bei der Kritik als Anhalt dienen können, muß man von der Art und 
Weise ausgehen, wie das Kunstwerk auf den Beschauer zu wirken pflegt 
und wie es wirken muß, damit der Beschauer zu dem anerkennenden Wert- 
urteil kommt: das Kunstwerk ist schön. 

Herr Lehmann führt in seinem Schlußwort aus: Das Erlebnis sei 
nicht die ausschließliche Ursache für das Gedicht. Beim künstlerischen 
Schaffen gibt es immer eine Rücksicht auf das Publikum. Die Art, wie 
weit dies verstandesmäßig geschieht, ist individuell verschieden. 

Herr cand. med. Scharpff ist als Mitglied ausgeschieden. 
Schluß der Sitzung io»/* Uhr. 



Donnerstag, den 17. Mai 1906. 
Beginn: 8 Uhr 20 Min. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Herr Hochdorf spricht über : 

„Artistische Weltanschauung." 

Eine Weltanschauung kann erwachsen aus gerechtem, vorsichtig 
wägendem wissenschaftlichen Urteil. Sie kann aber auch basiert sein auf 
einer Stimmung, auf einer individuellen Anlage einer Person. Das letztere 
ist die Weltanschauung der sogenannten Artisten. Der Artist setzt einen 
Eigenwillen, eine Stimmung, eine Kaprice an die Stelle der vorsichtigen 



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Sitzungsberichte. 



Erwägung. Er erweitert willkürlich eine Regung, der sich gewöhnliche 
Menschen nur momentan hingeben, zum Regulativ seines Lebens. Uro 
festzustellen, ob die Wertungen der Erscheinungswelt durch den artistischen 
Geist Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhalten können, bedarf es einer 
geschichtlichen Untersuchung der verschiedenen Gruppen der Artisten. Es 
gibt Artisten des Oekonomischen, des Ethischen, des Metaphysischen und 
des Künstlerischen. Artisten des Oekonomischen und Ethischen waren die 
Sophisten : Anaxagoras: der menschliche Geist schaffe die Welt, die 
Welt sei nichts anderes als ein Produkt dieses Geistes. Protagoras: 
der Mensch ist das Maß aller Dinge. Die Sophisten leiten aus) dem 
Menschen die Welt ab. Die Absichten der Sophisten waren weniger er- 
kenntnistheoretische als pädagogische. Die sizilianische Rednerschule des 
Korax sagt: nicht der Geist, sondern das Wort schaffe die Welt. Sie 
kennt die Tätigkeit der sprachlichen Apperzeption, die Wahrheit, daß sich 
Wort an Wort entzündet, daß Denken ein Reden ist und neuesj Denken 
das Wechselspiel mit Worten. Deshalb ist das sophistische Denken elastisch, 
es will die starre, unbewegliche Wahrheit durch schillerndes, einer Stimmung 
entfließendes Interpretieren der Lebensgüter ersetzen. Das ist artistisches 
Verhalten. Die Sophisten entfalten ihre Haupttätigkeit als Lehrer. Sie 
erziehen nach ihrer Methode zum öffentlichen Wirken, zum Klugsein in 
dem Oekonomischen und Ethischen. Subjektiv begnügen sie sich mit sitt- 
lichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten an Stelle des Oekonomischen und 
Sittlichen an sich. Ihre Scheu vor klaren und festgefügten Gesetzen ist 
keine ethische Skepsis, sondern eine dialektische. Ihre Lehre ist nicht 
im System zu fassen, sondern nur in Aphorismen. Die Weltbegebenheiten 
sind Würfel, die nach Belieben hin und her gewendet werden können. 
Sie schätzen nicht moralisch, sondern stellen nur die Tatsachen dar. 

Metaphysisches Artistentum : die indischen Yogin, die christlichen 
Mystiker und Ekstaten schalten bewußt oder unbewußt einen Teil der 
vom Leben gegebenen Ideenkomplexe aus ihrem Denken aus. Ihre ganie 
innere Energie ist darauf gerichtet, durch mystische Vertiefung die Ver- 
bindung zwischen dem Geist, der im Menschen wohnt, und dem anderen, 
der in der Natur schwebt, herzustellen. Dieses Sehnen nach Flucht aus 
dem Wirklichen ist bei ihnen zum Selbstzweck der Persönlichkeit erwei- 
terte Weltanschauung. Diesem Artisten ist vorgeschrieben, wie er sich 
durch Selbstzucht von seiner irdischen Umwelt emanzipieren soll, um in 
den Genuß des Ueberirdischen sich emporzuheben. Es ist ihm genau 
vorgeschrieben, wie er zu gehen, zu atmen, sich zu bewegen, kurz, sein 
ganzes Verhalten einzurichten hat; erfüllt er diese Vorschriften, dann ist 
die Welt ein Würfel in seiner Hand. Diese Tätigkeit ist ein Akt des 
Willens, der Erziehung, der Absicht und Energie, eine Abscheidung von 
tausend Lebensgütern zugunsten eines einzigen aus Gewohnheit, contem- 
platio acquisita der mittelalterlichen Kirche. Die Mystik der mittelalterlichen 
Kirche kennt außerdem noch eine contcmplatio infusa, ein eingeborenes, in- 
stinktives Sichversenken in die Mystik: die Inspiration sei über die Menschen 
gekommen, nur dem Göttlichen zu leben (Franciscus von Assisi, 
Teresa von Alvila). Wilhelm von Humboldt: die Daten der 
Geschichte seien gax nicht von Wichtigkeit. Wer imstande tei, eine wirk- 



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* 



Sitzungsberichte. 



317 



liehe Welt zu gestalten, sei Dichter, sei Herr über die Geschichte,, finde 
erst die historischen Wahrheiten in seinen harmonischen Phantasiebildungen. 
Wo mehr geschehe als Elementares, wo sich die historischen Begebnisse 
abhängig von ihrem geistigen Urheber verworren haben, habe der Dichter 
allein die Kraft, das Wirrwarr zu entfädeln und zu klären. Die Poesie sei 
darum die Wahrheit der Geschichte. Dieser Humboldt sehe — nur halb 
richtige — Satz ist von den Artisten des Künstlerischen zum obersten 
Prinzip erhoben worden. Sie sagen schlechthin, ihr dichtender Eigenwille 
allein bestimme die Geschichte. Dem Begriff der Geschichte geben sie 
indessen den verschiedenartigsten Inhalt, sie wollen das Sehen nicht von 
der Welt lernen, sondern der Welt ihre subjektiven Augen einsetzen. 
Grillparzer: der Tragiker müsse Geschichte fälschen, um ein 
wahres geschichtliches Trauerspiel zu dichten. Er müsse die Stoffe so dar- 
stellen, wie seine Persönlichkeit ihn treibe und von der kalten Tatsachen» 
Überlieferung absehen. Jose* Maria de Heredia entwickelt schon in 
dem Titel „Les trophees" das Programm für das Artistentum.. Die Ar- 
tisten sträuben sich, ihr „Erlebnis", was der Tag zuträgt, darzustellen, sie 
wollen der Welt gegenüber ein rein objektives Verhältnis einnehmen, sie 
wollen Welten gestalten, die zwar nach ihnen aussehen, aber nicht in 
Kausalncxus stehen mit dem, was auf sie eingewirkt hat. Heredia 
will mit seiner Dichtung keine dynamischen Wirkungen erzielen, sondern 
eher mathematische, optische. Er benutzt die Elemente des Sehens, des 
Auges, um die Kulturepochen darzustellen. Er schildert z. B., wenn er 
ausdrücken will, daß er auf einer griechischen Ruine wandelt, zuerst die 
Gegend, wie ein französischer Freilicht- und Freiluftmaler: überfließende 
Helligkeit, die ganze Landschaft ist von einer gleißenden Sonne Über- 
gossen. Innerhalb der hellen Landschaft befindet sich etwas Dunkles, an 
dem das Auge besonders haften bleiben müsse. Er schafft einen Blick- 
punkt, einen Ruhepunkt für das Auge. Dieser Ruhepunkt ist ein Hirte, 
der auf der Muschel bläst. Diesen Hirten isoliert er vollständig, so daß 
der Eindruck seiner Einsamkeit für das optische Aufnehmen auf das 
prägnanteste hervorgehoben wird. In der Technik stellt Heredia stets 
das Düstere dem Hellen rein optisch gegenüber. Dichterisch ist ein ein- 
zelnes derartiges Produkt bestechend, aber nicht ein ganzer Band der- 
artiger dichterischer Erzeugnisse. 

Die artistische Weltanschauung erachtet die Welt als eine Chiffre, 
mit der der Dichter rechnet; der Dichter könne nach Belieben sich und 
alles, was um ihn existiert, schwer, leicht, groß, winzig, tief, hoch machen, 
wie e3 gewöhnlich dem Menschen in seiner Stimmung vorübergehend er- 
scheinen kann, beim Artisten ist dies Maxime, Widerbild seiner Persön- 
• lichkeit. Stendhal hält die Emanzipicrung der Menschen von den 
Wirklichkeiten, daß sie Zeit ihres Lebens in solchen eigenen Welten 
leben, für krankhaft, clownartig, der Hysterie verwandt. 

Die Artistengruppe tritt immer in den Vordergrund, wenn eine Epoche 
vorangegangen war, in der man auf das scharfe Erforschen der Natur 
besonderen Wert gelegt hatte. Heute in Deutschland z. B. ist das,' Ar- 
tistentum auf den Naturalismus gefolgt. Kant bezeichnet das Artistenrum 
als steril und unfruchtbar. Man soll sich der Welt gegenüber nicht ver- 



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Sitzungsberichte. 



halten nach der Eigenliebe, die den > Menschen sich einspinnen laßt in 
dem Dämmer einer kleinen Welt von Gedanken, die nur ein Segment 
dessen ist, was an Wahrheiten existiert. 

jy i skussion: 

Herr Schächter führt aus, er halte die Sophisten nicht für 
Artisten, sie konstruieren nicht ein Weltbild aus der Stimmung heraus, sie 
sehen die Welt formal logisch, dialektisch logisch an. Die indischen Philo- 
sophen seien reflektierende Menschen, aber sie gingen nicht aus Stimmung 
an ihre Anschauung heran. Die Welt, gesehen durch das Temperament, 
sei nicht Artistentum, sondern sei eben die Kunst. 

Welcher Gesichtspunkt für uns maßgebend ist, sei abhängig von dem 
Kreis der Vorstellungen, den wir besitzen, wenn an uns eine Sache heran- 
kommt. 

Der Vortragende verzichtete auf das Schlußwort 
Schluß der Sitzung 9 Uhr 50 Min. 



.. . 1 . 

Donnerstag, den 7. Juni 1906. 
Beginn: 8# Uhr. 

Vorsitzender: Herr Moll. 

Schriftführer: Herr Westmann. 
Der Vorsitzende hielt einen Nachruf auf Eduard v. Hartmann, 
die Anwesenden erhoben sich von den Plätzen. 

Als Mitglieder wurden aufgenommen Herr Dr. Feigs, Herr Dr. 
Metiger. 

Herr Möller hielt den angekündigten Zyklusvortrag über : 

„Wundt als Psychologe." 
Eine Diskussion fand nicht statt. 

Der Vortrag des Herrn Möller erscheint im Sonderabdruck. 
Schluß der Sitzung 10 Uhr. 



Donnerstag, den 21. Juni 1906. 
Beginn: 8y* Uhr. 

Vorsitzender : Herr Martens. 
Schriftführer: Herr Westmann. 

Frl. Kölling hielt den angekündigten Vortrag über: 

„Persönlichkeitsbilder zweier schwachsinniger 

Kinder", 

der in dieser Zeitschrift als Originalaufsatz erschienen ist. 
Eine Diskussion fand nicht statt. 

Schluß der Sitzung 9 Uhr. 



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319 



Donnerstag, den 5. Juli 1906. 

Beginn: 8y» Uhr. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer : Herr Westmann. 

Ausgetreten sind die Herren Grimm, Major, Leman. 
Herr Hirschlaff hielt den angekündigten Zyklusvortrag über : 

„B r e n t a no." 

Der Vortrag wird spater in erweiterter Form in dieser Zeitschrift er- 

An der Diskussion beteiligte sich Herr Dessoir. Der Vor- 
tragende hatte das Schlußwort. 

Schluß der Sitzung oVs Uhr. 



Wintersemester 1906/07. 
Donnerstag, den 18. Oktober 1906. 

Beginn: 8 1 /* Uhr. 
Vorsitzender: Herr Moll, später Herr Baerwald. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Herr Moll spricht über das Thema: 

„Leber den Einfluß der Medizin auf die moderne 

Psychologi e." 

Der Einfluß der Medizin auf die moderne Psychologie ist ein außer- 
ordentlich großer. Die Medizin und die Naturwissenschaft im allgemeinen 
haben die Aufgabe der Psychologie verändert, indem sie diese der Meta- 
physik entrissen und zu einer Erfahrungswissenschaft machten. Es hat 
sich dabei auch gleichzeitig die Methode geändert, indem neben die innere 
Beobachtung (die Introspektion) die äußere Beobachtung, und ganz 
besonders das Experiment, getreten sind. 

Nachdem Weber seine grundlegenden Untersuchungen über den 
Tastsinn und das Gemeingefühl 185 1 veröffentlicht und Fechner 1860 
Bausteine zur Psychophysik geliefert hatte, war es besonders W u n d t , 
der die Methoden der Physiologie auf die Psychologie übertrug und damit 
jene Wissenschaft schuf, die man als physiologische Psychologie bezeichnet, 
ein Ausdruck, der allerdings leicht zu Mißverständnissen führt und auch zu 
solchen schon Veranlassung gegeben hat. Das Experiment ist von den 
Naturwissenschaften, besonders von der Physiologie, auf die Psychologie 
übertragen worden, und man hat damit einen großen Teil dessen, was zur 
modernen Psychologie gerechnet wird, geschaffen. Hierher gehören die zahl- 
losen Untersuchungen über das Weber-Fechner sehe Gesetz und seine 
Grenzen, über den Einfluß der Schwingungszahlen auf die Tonhöhe; hier- 
her gehören die Untersuchungen über die Klangfarbe, über Farben- 
mischungen usw. Der Name H e 1 m h o 1 1 z beweist an sich die Bedeutung 
der Medizin für diese Forschungen. Ebenso gehören in dieses Gebiet 
die zahlreichen Untersuchungen über die Reaktionszeiten, über den Ein- 
fluß der Vorstellungen auf die Bewegungen usw. Die zahlreichen Unter- 



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SitzungtberichU. 



suchungen über Sinnesempfindungen sind erst durch die Physiologie ermög- 
licht worden, indem diese die Funktionen der Sinnesorgane vorher bearbeitete. 
Auch manche Arbeiten über Hirnphysiologie sind für die Psychologie 
bedeutungsvoll geworden. 

Gleichzeitig mit der Entwickelung der Psychophysik in Deutschland 
haben in England zwei Psychologen unabhängig von der experimentellen 
Psychologie, aber gleichfalls auf der Physiologie fußend, psychologische 
Systeme geschaffen, B a i n und Spencer. Ersterer räumt der Beobachtung, 
aber kombiniert mit den Erfahrungen der Physiologie, eine große Bedeutung 
ein, Spencer begründet die Psychologie wesentlich entwickelungs- 
geschichtlich, wobei er sich auf die Entwickelung des Zentralnerven- 
systems stützt. 

Auch andere psychologische Auffassungen der Psychologie zeigen Be- 
ziehungen zur Medizin, z. B. W u n d t s Apperzeptionstheorie, ferner die 
Assoziationstheorien. Mediziner haben auch zum großen Teil die psycho- 
logische Bedeutung der Sprache erforscht, und zwar im Anschluß an patho- 
logische Sprachstörungen, besonders an die Aphasie. Die psychologischen 
Bedingungen des Handelns suchen andere ebenso in neuerer Zeit auf Grund 
pathologischer Fälle zu studieren. Das Studium der Hypnose, des Schlafes 
und der Träume ist ebenfalls zum großen Teil Medizinern zu danken. Des- 
gleichen haben diese zu den gegenwärtig vielfach vorgenommenen Unter- 
suchungen über das Gedächtnis wichtige Vorarbeiten geliefert. Die Psycho- 
pathologie wurde von M a u d s 1 e y und Hack Tuke in England, später 
besonders von Taine und Ribot in Frankreich für die normale Psycho- 
logie verwertet. Auf die Beziehungen von Genie und Irrsinn haben Medi- 
ziner hingewiesen. Die Kinderpsychologie verdankt der Medizin ebenfalls 
sehr viel ; ich erwähne nur P r e y e r s Werk über die Seele des Kindes. 
Mediziner haben auch für die Tierpsychologie gearbeitet; genannt seien 
nur F o r e 1 und Bethe, die die psychischen Eigenschaften der Ameisen 
studierten. Für die Völkerpsychologie nenne ich nur Bastian und W u n d t, 
die beide ursprünglich Aerzte waren. Hierher gehören auch die Unter- 
suchungen über Massenpsychologie, deren Studium gleichfalls von Medi- 
zinern gefördert wurden. 

Freilich war der Einfluß der Medizin nicht immer nur ein guter. 
Die extrem materialistische Strömung, wie sie z. B. von Büchner ver- 
treten wurde, die Lehre vom geborenen Verbrecher und manches andere 
waren Uebertreibungen, wie sie gerade durch das Aufblühen der Physio- 
logie, der Anatomie und der Naturwissenschaften im allgemeinen veranlaßt 
wurden. Auch sonst finden wir oft Uebertreibungen und eine vorschnelle 
Uebertragung physiologischer Begriffe auf die Psychologie. Manche 
Arbeiten der experimentellen Psychologie, die zunächst nur für das Labo- 
ratorium Interesse haben, sucht man vorschnell für die Praxis zu verwerten. 
Dies gilt für viele experimentelle Untersuchungen über Ermüdung, den 
Alkoholgenuß usw. Auch darf man nicht vergessen, daß für manche Pro- 
bleme der Psychologie die Medizin wenig geleistet hat, z. B. für das Problem 
der Bewußtseinseinheit. Trotz alledem aber ist der Einfluß der Medizin 
ein außerordentlich großer und auf vielen Gebieten der Psychologie überaus 
wohltätiger gewesen. (Eigenbericht.) 



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Sittungtberichte. 



321 



Diskussion: 

An der Diskussion beteiligte sich Herr Dr. F e i g s. Der Vortragende 
hatte das Schlußwort. 

Schluß der Sitzung 10 Uhr. 



Donnerstag, den i. November 1906. 
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten. 

Vorsitzender : Herr M o 1 1. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Als Mitglieder ausgetreten sind die Herren Fr. Schulz, Bauer, 
Dr. Valentin, aufgenommen Dr. Roden waldt, Dr. Schulz, 
stud. v. d. Bergh. 

Herr H e n n i g spricht 

„Ueber Naturgenuß". 

Mit fortschreitender Kultur wächst die Lust- und Unlustempfindung. 
Die Genußfähigkeit für Genüsse, die seelischen Empfindungen für Leiden 
wachsen qualitativ und quantitativ. Wie alle Bedürfnisse, so wächst auch 
das Bedürfnis, Naturfreuden aufzusuchen und zu genießen, mit der Möglich- 
keit der Befriedigung. Die Verkehrserleichterung ermöglicht die erleichterte 
Befriedigung des Naturgenusses und vergrößert das Bedürfnis dazu. 

Der Naturgenuß besteht in der Freude an Naturkräften und Bildern, 
im Anschauen der Sonne, Sterne, Wolken, Blitze, Berge, Meer, Heide, 
Wald, Dorf, er kann aber auch bei gewaltigen Naturkatastrophen, Feuer, 
Vulkan, Erdbeben empfunden werden. Der Ungebildete hat nur die Emp- 
findung für das Nützliche. Im Anfang der Kultur ist nur das schön, was 
dein Menschen nützlich ist; so bei den heutigen Wilden, so aber auch bei 
den alten Hellenen, bei Homer insbesondere. 

Eine Steigerung des Naturgefühls wurde hervorgerufen durch das 
religiöse Fühlen und Trachten der alten Zeit. Es knüpft an Kultstätten 
an: Grotten, Seen, Felswände, in denen sich die Gottheiten aufhalten. 
Diese Naturstätten galten als heilig, als bevölkert von Geistern, ein Gefühl 
der Erhabenheit für Natureindrücke äußert sich hierin. Bei den Römern 
eine Vorliebe und objektives Verständnis für die Schönheit des Meeres, 
dagegen ist die Empfindung für die Schönheit der Berge und der mit 
Schnee bedeckten Alpen erst eine sehr späte Erscheinung, weil die Alpen- 
reisen so beschwerlich waren, daß von einem Genuß von vornherein keine 
Rede sein konnte. Die Besteigung der Berge im Altertum fand nicht 
zum Genüsse der Aussicht auf den Höhen statt. Der Aetna ist der einzige 
Berg, welcher im Altertum vielfach bestiegen wurde, aber nur zum Zwecke 
des Studiums des Wesens des feuerspeienden Berges. 

Im Altertum war das Reisen zu Studienzwecken sehr weit verbreitet, 
femer zu Gesundheitszwecken. Das Nahe erschien reizlos. Bei den Römern 
überwiegt die verstandesmäßige Auffassung der Natur. 

Naturgefühl des Mittelalters. 

Das Naturgefühl des Mittelalters ist unter dem Einfluß der christ- 
lichen Ideen, welche alles Irdische für sündig erklärten, sehr dürftig zur 
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 5 



322 



Sitzungsberichte. 



Ent wickelung gelangt. Die Vorliebe für die Einsamkeit, die Weltflucht, 
das Bedürfnis, Gott in allen seinen Werken zu erkennen und zu verehren, 
bringt zur Entwicklung das Gefühl der göttlichen Größe in der Natur, 
dagegen nicht eine ästhetisch-lyrische Ausgestaltung des Naturgefühls. Das 
romantische Naturgefühl ist dem Altertum und Mittelalter fremd. Bei 
Shakespeare grandiose Beschreibungen von Naturvorgängen, Hinein- 
empfinden menschlicher Gedanken, Freude an der Natur nur da, wo es 
sich um Landschaften und ähnliches handelt. 

Das Verständnis für die Berges-, speziell für die Alpenschönheit ist erst 
im 16. Jahrhundert bemerkbar. Damals auch die ersten Hochgebirge als 
Sujets der Malerei, z. B. als Hintergrund bei Gemälden Lionardos 
Das Gewöhnen an eine Gegend führt nach und nach dazu, sie als Schön 
heit zu erkennen und objektiv zu genießen. Im 16. Jahrhundert erwacht das 
Gefühl für das Romantische. Ruysdalc usw. Holland galt damals als 
eins der schönsten Länder der Welt, die schottischen Hochlande als scheuß- 
lich wild. In das Schaudergefühl über die Berg- und Alpennatur mischt 
sich erst im 18. Jahrhundert, wo die Bergbesteigung bereits häufiger wurde, 
ein angenehmes Gefühl. 

Rousseau ist das Erwecken des modernen Naturgefühls zu verdanken. 
Er liebte die Einsamkeit. Er verbreitete eine subjektive Auffassung von 
der Natur, hauchte ihr eine Seele ein und erweckte den Sinn für das Er 
habene. Das Gefühl der Erhabenheit der Natur, die „Einfühlung", macht 
den modernen Menschen aus, der moderne Mensch legt in die Natur seine 
eigene Empfindung hinein. Die Gefühle, die sich darin äußern, sind die 
eigentlich romantischen. Es beginnt das Schwärmen für die Mondland- 
schaften, für Nachtlandschaften, die Vorliebe für das Altertum beginnt. 
Goethe, durch O s s i a n angeregt, hatte einen intensiven Naturgenuß. 
Heidepoesie, Meerpoesie (Heine, Byron), sentimentales Gefühl der Lust 
am Walde. Durch die Freude am Wald wird die Freude an den Schön 
heiten Deutschlands entdeckt. Romantische Landschaften (Böcklins 
Toteninsel), Lust an gewaltigen Naturkatastrophen, wenn man nicht daran 
beteiligt ist. Es ist ein Gefühl der Erhabenheit, etwas dem Menschen Ueber- 
legenes, was der Mensch in der Natur zu empfinden sucht, was er in sie 
hineinfühlt. Heute, im Zeitalter der Nervosität, werden ruhige Landschaften 
mit besonderer Vorliebe aufgesucht. U eberall derselbe Grund für den Genuß 
an der objektiven Natur: das Vertrautwerden mit einer Gegend aus irgend 
welchen anderen Motiven. Der Naturgenuß wird durch das Auge ver 
mittelt, bei dem Blinden, der ebenfalls hohen Naturgenuß empfindet, spielen 
die sekundären Elemente mit. Eine große Rolle bei dem Naturempfinden 
spielt die Nachahmung, ferner die Erziehung der Kinder zur Naturschön 
heit. Dem Kinde muß man einfache Eindrücke bieten, es auf Schönheiten 
von Wald, Feld, Meer hinweisen, aber die größten Naturschönheiten soll 
man ihm versagen, damit es nicht abgestumpft wird. Der höchste Nattir 
genuß kann sich nur dem Einsamen eröffnen, jeder Reisegefährte lenkt ab. 

Der heutige Naturgenuß ist im Wachsen. Der vollkommenste Natur 
genuß wird Eigentum der Gebildeten bleiben. Landbewohner, einfache 
Menschen, haben Heimatsgcfühle, aber keine ästhetischen Naturgefüble. 



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Sitzungsberichte. 



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Das Naturgefühl verschafft mit geringen Mitteln Genüsse der edelsten Axt: 
Dadurch Steigerung des Glücksgefühls. 

Diskussion: 

Herr Dr. Rodenwaldt: Die Empfindungen hängen mit der Aus- 
bildung unserer Sinnesorgane zusammen. Die Griechen haben den Geruchs- 
sinn stärker kultiviert, wir dagegen den Gesichtssinn, den Farbensinn, die 
Empfindungen für feine Nuancierungen. 

Herr Dr. Metzger bestreitet den Zusammenhang des Naturgefühls 
mit der Ausbildung der Sinne, da die Naturvölker schärfer entwickelte 
Sinne haben. Die Alten waren Natur, sie waren mit der Natur durch tausend 
Fäden verbunden, und es war ihnen nicht möglich, sich der Natur gegen- 
überzustellen. Aesthetisch können wir erst das genießen, was als Realität 
uns gegenüber seine Bedeutung verloren hat. Wir betrachten als Groß- 
städter uninteressiert die Natur als ein Kunstwerk, das uns eigentlich nichts, 
angeht. 

Herr H e n n i g erwiderte im Schlußwort folgendes : 
Das ästhetische Gefühl für die Natur entwickelte sich überall dadurch, 
daß man angenehme Empfindungen mit der Natur verband. Der Gesichts- 
sinn hat sich seit dem Altertum sehr verschärft. Den Ausführungen 
Dr. Metzgers über Naturempfinden als Folge der Unabhängigkeit von 
der Natur tritt der Vortragende bei. Beim Bauer wird der krasse Nützlich- 
keitsstandpunkt gegenüber der Schönheitswahrnehnmng dominieren. 

Schluß der Sitzung 101/4 Uhr. 



Donnerstag den 15. November 1906. 

Beginn: 8V 4 Uhr. 

Vorsitzender : Herr B a e r w a 1 d. 
Schriftführer : Herr Westmann. 

Aus dem Verein als Mitglied ausgeschieden ist Herr Dr. v. Schulze- 
Verdea 

Herr Privatdozent Dr. Frischeisen-Köhler spricht über 
„Psychologie des Schreiben s". 

Die Psychologie der Individualität ist erst im Entstehen, ebenso die 
Psychologie der Individualität der Handschrift, die Graphologie. Die Grapho- 
logie als dilettantenhaftes Verfahren ist alt. Sie stützt sich auf Intuition. 
Der Handschriftenkenner sieht eine Handschrift eine Zeitlang an und sagt 
dann, der Schreiber sei ein guter, ein schlechter usw. Charakter. Dieses Ver- 
fahren beruht auf keiner bestimmten Methode, es ist nicht übertragbar, 
nicht erlernbar und kommt wissenschaftlich nicht in Betracht. Versuche 
zu methodischer Erforschung sind in folgender Weise gemacht worden: 
der Graphologe sammelt eine Reihe von Handschriften, deren Urheber 
ihm genau bekannt sind, er konstatiert: ist in dieser Reihe eine gewisse 
An von Eigentümlichkeiten allen gemeinsam und weisen ihre Urheber 
gewisse Eigentümlichkeiten auf, so erscheint die Berechtigung nicht 

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Sitzungsberichte. 



unbegründet, aus dieser Gemeinsamkeit auf den gemeinsamen Charakter zu 
schließen. Die französischen und italienischen Graphologen haben in dieser 
Weise ein System von Zeichen, von individuellen Eigentümlichkeiten der 
Handschriften aufgestellt, welche sie zu einem System von Eigenschaften 
und Eigentümlichkeiten des Schreibens in Beziehung setzen. Dieses System 
ist zunächst ziemlich willkürlich gewählt. Z. B. eine große Handschrift deute 
auf einen großen Charakter hin, offene Naturen machen offene Buchstaben, 
weitschweifige Naturen Schnörkel usw. Diese Ergebnisse sind fragwürdig 
und dilettantenhaft. Bedenken sind vorhanden i. bezüglich der Schrift, 
2. bezüglich der Anschauungen vom Charakter. Bestimmte Zeichen, z. B. ein 
Schlußhaken korrespondiert nicht mit Eigensinn, Lügenhaftigkeit usw., so- 
dann bestehen die Schriftzüge in einem Zusammenhang untereinander, der 
Charakter als solcher ist nicht etwas Losgerissenes. Die Beobachtung von 
Handschriften, Physiognomien und Schädeln zeigt, daß alle äußeren 
gegebenen Anzeichen vorhanden sein können und dennoch die korrespon- 
dierenden Geisteseigenschaften fehlen. Diese Methode berücksichtigt nicht 
die negativen Instanzen, sie läßt sämtliche Fälle beiseite, in denen sich die 
Charaktereigentümlichkeiten finden, aber nicht die bestimmten Eigenartig- 
keiten der Handschrift und umgekehrt. 

Die wissenschaftliche Psychologie bedient sich des Experimentes und 
versucht die Handschrift auf Grund der die Bewegung beeinflussenden 
Faktoren zu analysieren. Sie geht nicht von der falschen Charakterologie 
aus, als ob der Charakter nichts weiter als ein Bündel von konstanten Eigen- 
schaften wäre. 

Die Handschrift ist als Handschrift individuell. Die Grenzen der Ver- 
stellbarkeit der Handschriften sind ziemlich eng. Das Papier gibt beim 
Schreiben nicht nach, sondern die Feder. Diese verbreitert sich an der 
Spitze, es entsteht eine dicke Fläche. Die Federstrichdicke ist äquivalent 
dem angewandten Druck. Die Druckschwankungen unterliegen sehr wenig 
der Willkür bei der Handschrift. Charakteristische Druckschwanlcungen 
treten sogar bei der Niederschrift eines Punktes durch verschiedene. 
Personen auf. 

Die Unterschiede bei der Handschrift bestehen darin: der eine Buch- 
stabe ist steil, der andere schief, die Schriftlage ist eine markant hervor- 
tretende Eigentümlichkeit, mit Druck, ohne Druck, dünn, dick, der Aus- 
dehnungsbereich ist ein verschiedener, verschieden die Schreibgeschwindig- 
keit, der eine Buchstabe hat Absetzungen, der andere ist kontinuierlich, 
Unterschiede sind in der Zeilenrichtung, verhältnismäßig regelmäßige oder 
unregelmäßige Züge, Anordnung der ganzen Schriftzüge auf dem gegebenen 
Räume, Größe des Randes usw. Diese sind selbständige Eigentümlichkeiten, 
die unabhängig voneinander geändert werden können. Kein Ausgangspunkt 
ist der Vergleich der individuellen Handschrift mit dem Normaltypus, weil 
der Normaltypus weiten Spielraum läßt. Eingeschränkter ist der Spielraum 
bei der Stenographie, weil Druckverteilung, Enge, Weite usw. eine bestimmte 
Buchstaben- und Wortbedeutung hat. 

Charakteristisch ist der Bindungsgrad bei den einzelnen Teilen der 
einzelnen Buchstaben, als auch bei den Buchstaben selbst, ferner die Bindungs- 
form. Diese kann eckig, spitzig, rund usw. sein. Auf diese Weise ist es 



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möglich, eine erschöpfende Charakteristik der Handschrift nach ihren äußeren 
FormeJcmenten zu geben. Die Frage erhebt sich, ob diese Formelemente 
Auskunft geben über die psychischen, sie hervorrufenden Faktoren. Welche 
Momente führen eine Variation des normalen Schriftbildes herbei? Unter 
Umständen genügt die Variation eines Momentes, um andere gleichzeitig 
zu variieren. Zwischen den einzelnen Elementen der Schrift bestehen kor- 
relative Beziehungen. Wird die Handschrift beschleunigt, dann nimmt der 
Ausdehnungsbereich der Handschrift häufig ru, mitunter der Druck und dergl. 
Die Momente sind nicht isoliert variabel, die physiologischen Bedingungen 
der Entstehung der Handschrift sind kompliziert. Gewisse, in der mensch- 
lichen Natur begründete Dispositionen psychischer Art sind geeignet, die 
Handschrift zu beeinflussen, ohne individuell zu sein. Es besteht die Tendenz, 
arhythmische Bewegungen zu rhythmisieren. Wir sind geneigt, alle unsere 
Handlungen zu rhythmisieren. Wir teilen das Wort in so viele Abschnitte, 
wie es Buchstaben enthält. Jeder Abschnitt ist eine Takteinheit in diesem 
Wort. Das Schreiben ist ein Vorgang, der Assoziationen aller Art voraus- 
setzt, beim Diktat Reaktion auf Schall, sodann ist der optische Eindruck 
wesentlich. 

Die modernen Graphologen argumentieren: die Handschrift kann in 
doppelter Beziehung einen Rückschluß auf den Charakter des Schreibenden 
schaffen : 

i. Begriff der unwillkürlichen Ausdrucksbewegung, 2. Begriff der 
willkürlichen Ausdrucksbewegung. Im Prinzip kommen hier zwei Gesichts- 
punkte zur Anwendung: i. die Bewegung, welche das Schriftbild hervor- 
bringt, wird als unwillkürliche Ausdrucksbewegung erfaßt, 2. als Ergebnis 
einer Zweckhandlung. Es ist bekannt, daß auch unwillkürliche Bewegungen 
zum Ausdruck psychischer Zustände werden. Für die Psychologie des 
Schreibens kommen nur diejenigen Ausdrucksbewegungen in Betracht, welche 
Zustände der Muskulatur im allgemeinen betreffen. Durch Experiment ist 
feststellbar, daß Stimmungsgestaltungen Einfluß auf die Handschrift haben. 
Z. B. ist das Schreiben bei gewissen Erkrankungen, die gesteigerte oder 
geschwächte Stimmungen hervorrufen, verschieden. Aus den so auf- 
tretenden Eigentümlichkeiten läßt sich auf gewisse Stimmungen, Affekte, 
Affektsschwankungen zurückschließen. Ausdrucksbewegungen können auch 
unwillkürlich als Reste ehemaliger Zweckbewegungen sein, die unter die 
Schwelle des Bewußtseins gesunken sind. Wir machen viele Zweck- 
bewegungen mit der Hand, die gar keinen Zweck mehr haben. Die Grapho 
logen behaupten, in der Handschrift liegen Zweckbewegungsreste vor. 

Die Gebundenheit oder Ungebundenheit der Buchstaben wird von den 
Graphologen darauf zurückgeführt, daß das menschliche Denken sich in 
einer Aneinanderreihung von Elementen bewegt. Die Bindung der Worte 
kann als Bindung der Vorstellungen betrachtet werden. Werden die Worte 
gebunden, dann größere Fähigkeit der Assoziationen und entsprechend um- 
gekehrt. Wer gebunden schreibt, denkt logisch, wer unterbrochen schreibt, 
denkt nicht zusammenhängend, gibt sich Einfällen hin usw. 

Bei vielen Personen kann die Handschrift nicht mehr Zweck sein, 
sondern nur Mittel, einen Gedanken zu fixieren oder mitzuteilen. Sie geben 
ein Minimum von Aufwendungen. Die Handschrift wird kurz, undeutlich, 



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so daß sie lediglich für den Autor zu entziffern ist. Oder die Handschrift 
war einmal Zweck und wird dann zwecklos, dann bleiben die Eigenarten. 
Will z. B. jemand original erscheinen, wie dies bei jungen Menschen 
zuweilen vorkommt, so entstehen gewisse Eigenarten. Diese bleiben. So- 
dann kann jemand sich bemühen, ästhetisch seine Handschrift zu vervoll- 
kommnen oder das Bestreben größter Deutlichkeit betätigen. 

Die Graphologen schließen in folgender Weise auf den Charakter: 
Gewisse Eigentümlichkeiten beruhen auf einer Stimmung, einem Geschmack 
Jede Stimmung, jeder Geschmack hat eine Beziehung zum Charakter. Daraus 
kann man ein genaues Bild einer Individualität gewinnen. Dieser Schluß 
ist in dieser Form falsch. Zunächst ist der Begriff Charakter nicht eindeutig 
hierbei bestimmt. Teilt man die verschiedenen Anlagen und geistigen 
Betätigungsweisen in drei Klassen ein: intellektuelle, gemütliche (Lebhaf- 
tigkeit, Zornigkeit, Temperament usw.), ferner in Anlagen, welche auf die 
eigentliche Konstitution des Charakters Bezug nehmen, so ergibt sich für 
die graphologische Argumentation folgendes: die intellektuellen und die 
Willensanlagen werden in ihrem wesentlichen Bestände nicht durch ihren 
formalen Zug charakterisiert, sondern durch ihre Inhaltlichkeit. Diese Inhalt- 
lichkeit ist kein psychisches dauerndes Erlebnis, sondern ist bedingt durch 
die historische Situation. Das mathematische Denken ist z. B. keine 
besondere Art des Denkens, sie ist trotz gradueller Abstufungen bei jedem 
Menschen vorhanden, denn sonst wäre sie ja nicht für andere verständ- 
lich. Daraus ergibt sich die Folge: Wenn es berechtigt ist, aus der vor- 
liegenden individuellen Eigenschaft der Handschrift auf die psychischen 
Faktoren im gegebenen Fall zurückzuschließen, dann ist es nicht berechtigt, 

aus den so ermittelten Faktoren auf den Charakter zu schließen, weil sie 

> 

nicht vollständig sind. 

Die Methode der Graphologen hat zwei Schranken: 
I. ein gegebener Effekt kann in einem Schriftbild auf verschiedene 
psychische Faktoren zurückgeführt werden. Hierbei weiß man nicht, welches 
psychische Moment man als Maßstab der gegebenen Eigentümlichkeit an- 
rechnen soll. Druckverteilung kann ebenso gut auf Energie als auf einen 
Geschmack, der Gegensätze von Hell und Dunkel bevorzugt, zurückgeführt 
werden. Die Methode der Graphologen gestattet niemals die Umkehrung: 
man darf aus dem Fehlen einer gegebenen Schrifteigentümlichkeit nicht auf 
das Fehlen des in dem Charakter anzunehmenden seelischen Faktors 
schließen. 

Es liegen in der Handschrift individuelle Momente vor, gewisse 
psychische Momente beeinflussen das Bild der Handschrift, diese sind 
Schwankungen in einem formalen Vollzug, sie geben kein Bild des 
Charakters, sie gestatten Bestimmung der Individualität in beschränktem 
Umfange, indessen nicht in dem Sinne, wie wir von einem Charakter 
bilde sprechen. 

Diskussion: 

Herr Baerwald: Ob es individuelle Handschriften gibt, ist frag 
lieh, da man sich verschiedene Handschriften angewöhnen kann. Die 
Graphologie ist keine systematische Wissenschaft gegenwärtig; sie nutzt 
das psychologische Material, welches wir besitzen, gar nicht aus. 



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Sitzungsberichte. 



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Der Vortragende führt in seinem Schlußworte aus: es gibt Eigentüm- 
lichkeiten der Schriftzüge, die sich der willkürlichen Beeinflussung entziehen. 

Schluß der Sitzung a 3 / 4 Uhr. 



Donnerstag, den 29. November 1906. 
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Ausgetreten ist Herr Lehrer Schuricke. Als Mitglieder auf- 
genommen wurden die Herren Referendar Kuntze, Kinderarzt Dr. A r t h u r 
Mayer und Frl. Rosa Oppenheim. Assistentin am Institut für an- 
gewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. 

Herr Privatdozent Dr. V i e r k a n d t sprach : 

„Ueber die Anfänge des Zeichnens und Ornamentierens 

(mit Lichtbildern)". 

Der Vortrag erscheint in der Zeitschrift für angewandte Psychologie. 
An der Diskussion beteiligten sich die Herren Pappenheim, 
Stephan und H c n n i g. Der Vortragende hatte das Schlußwort. 

Schluß der Sitzung qV* Uhr. 



Donnerstag, den 13. Dezember 1906. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer : Herr W e s t m a n n. 

Herr Dr. Dessoir spricht 

„Zur Theorie der Hypnose". 

Beim Menschen treten manchmal Zustände ein, die Verwandtschaft 
mit Schlaf oder Vergiftungszuständen zeigen. Die Autohypnose ist zum 
Ausgangspunkt einer Theorie der Hypnose zu nehmen. Hier wird dieser 
Zustand nicht durch fremde Menschen hergestellt, noch besteht die dauernd 
festgehaltene Beziehung zwischen Hypnotiseur und Hypnotisierten. Wird 
dieser Zustand der Autohypnose absichtlich herbeigeführt, so geschieht dies 
zum Zwecke einer gewiäsen Selbstvernichtung. Von der einen Seite aus 
gesehen ist der Grundsatz des Lebens die Selbsterhalrung. Demgegenüber 
existiert ein ebenso lebhafter und natürlicher Trieb der Selbstvernichtung. 
Damit verbunden ist eine Erhöhung des eigenen Ich. Ebendieselben, die 
ihr Bewußtsein so zu verändern oder zu ertöten bemüht sind, versprechen 
sich davon wiederum eine Erhöhung ihres Ich, entweder in der groben 
Form, daß magische Kräfte entbunden werden sollen in der Autohypnose. 
Dieser Zustand mache gewisse höhere Kräfte. Kräfte der Zauberei oder 
magische Fähigkeiten frei, aber in einer höheren Form ist damit verknüpft 
ein Sichaufheben in das höchste Wesen, es ist die unio mystica. Diese-- 



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Sitzungsberichte. 



beiden Richtungen stellen keinen Gegensatz dar, sondern eben eine mög 
liehe Vereinigung, denn die Preisgabe des eigenen Ich oder das Hinaus 
treten aus dem gebundenen Ablauf des wachen Lebens ermöglicht eine 
neue Beziehung zu höchsten fernen übersinnlichen Welten, Aufgehen in das 
All, Verlust des Ich und Gewinn des Höheren. Diese teleologische Unter- 
läge der Autohypnose erweist sich auch für die wissenschaftliche Be- 
trachtung als richtunggebend: Jede Autohypnose wird psychophysisch her- 
gestellt. Zu Beginn jeder Autohypnose entsteht eine Veränderung in der 
motorischen Tätigkeit. Die Veränderungen in der sensomotorischen Sphäre 
pflegen erst später aufzutreten. Dies stimmt überein mit der Erfahrung bei 
leichten Vergiftungen. Zuerst ist keine Veränderung vorhanden in den 
Sinnesbeziehungen zur Außenwelt. Aber innerhalb der motorischen Tätig 
keit ist eine allgemeine Inkoordination, die Zunge gehorcht beim Sprechen 
nicht so leicht wie sonst; alsdann tritt eine Herabsetzung oder eine Erhöhung 
innerhalb der Sinnestätigkeit ein. Die Gefühlstöne werden verstärkt, Ge- 
räusche, die vorher gleichgültig waren, werden jetzt mit einein Male unan- 
genehm. Man wird stumpfer im Verhältnis zu den Geräuschen, man hört 
anstatt klarer Stimmen etwas Wirres, die Stimmen werden unerträglich, die 
man hören muß. Bei der Aetherintoxikation z. B. stellt sich eine Veränderung 
innerhalb des Gedächtnisses und der Erinnerung ein. Diese Schädigung des 
Gedächtnisses ist meist nur eine teilweise. Gewisse Sondergedächtnisse 
werden besonders empfindlich geschädigt, z. B. das Gedächtnis für Namen 
und Zahlen. Derartige Störungen führen dann 2ur Zerrüttung der ganzen 
Persönlichkeit, sie zerrütten den Charakter, verändern ihn derart, daß der 
Anschein entsteht, als seien zwei Charaktere, zwei Ichs vorhanden. 

Es gibt neben graduell verschiedenen zwei wesentlich verschiedene 
Arten der Hypnose ohne Suggestion: i. Hypnose erhöhter, 2. verminderter 
Reizbarkeit, Erhöhung bezw. Verminderung der Sehschärfe, des Hörens, 
Riechens usw., bei der Erhöhung Hellsehen und Hellhören auf Grund 
von Hyperästhesie, Erhöhung der Geruchsfähigkeit, Typen gesteigerter 
Erregbarkeit. Die Hyperästhesie führt auch zum leichten Auftreten von 
Halluzinationen und Illusionen. Unterschied zwischen Hypnose und wachem 
Leben: es ist in den Elementartätigkeiten irgend etwas anders, als es der 
Regel nach ist. Taine hat für die Empfindungen zuerst den Satz aus- 
gesprochen: die natürliche Anlage des Menschen sei, alles zu versinu- 
lichen. In der Hypnose ist die Tendenz, alles Vorgestellte zu einem vollen 
Erleben auswachsen zu lassen, gerade am stärksten. Jede Vorstellung hat 
die natürliche Neigung, sinnlich zu werden, den Charakter einer Wahr- 
nehmung anzunehmen. Diese Tendenz braucht nicht immer die wirklichen 
Halluzinationen in vollster Sinnlichkeit auftreten zu lassen. Z. B. ich werde 
hypnotisiert, mein Freund, der dort sitit, sei ein Einbrecher, ich solle ihn 
niederschießen. Ich tue das nicht, mir bleibt das Gefühl übrig, das ist nicht 
ein Einbrecher, das ist mein Freund. Dem Hypnotisierten wird gesagt, 
sobald ich ein Wort x spreche, dann ist der Stuhl dort leer. Die Versuchs 
person bestätigt, nachdem das Wort x gesprochen ist, der Stuhl sei leer. 
Man hat gesagt: eingegeben wird die Vorstellung des leeren Stuhles. 
Das ist die Suggestion. Diese Vorstellung erhält eine solche sinnliche 
Lebhaftigkeit, daß die Wahrnehmung des darauf sitzenden Mannes vor 



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StUungsbenditc. 



329 



drängt wird. Dann raüsste die Halluzination eine außerordentliche sinn 
liehe Kraft haben. Das ist als ausgeschlossen zu erachten. Durch die Ver- 
drängungäkraft läßt sich die positive Halluzination nicht erklären. Viel- 
mehr ist das Entscheidende bei den Sinneswahrnehmungen, daß innerhalb 
ihrer Sphäre eine neue Erkenntnis und ein neues Erlebnis gewonnen wird. 
A. starrt auf eine Farbe sehr lange, dann auf ein weißes Blatt Papier, 
dann sieht er zum ersten Male auf dem Papier das komplementäre Nach- 
bild. Dies kann durch Suggestion nur erzielt werden, wenn die Person in 
ihrer Erfahrung komplementäre Nachbilder schon gehabt hat. Man kann 
innerhalb der Sphäre der Halluzination die Farbe so lange mischen lassen, wie 
man will, es entstehen nur diejenigen Resultate der Farbenmischung, die der 
Versuchsperson schon bekannt sind. Der Unterschied von wirklichen Wahr- 
nehmungen besteht darin, innerhalb dieser Sphäre der Halluzinationen ist ein 
neues Erlebnis nicht möglich. Demnach handelt es sich bei den Halluzinationen 
die in der Hypnose auftreten können, nicht um den sinnlichen völlig ähn- 
liche Wahrnehmungen mit körperlicher Realität, sondern um etwas, was 
dazwischen steht. Die Aufnahme dieser Halluzinationen oder die Beur- 
teilung, die sich an sie anschließen kann, ist in der Hypnose meist die- 
selbe wie in der Norm. Dadurch unterscheiden sich diese Halluzinationen 
deutlich von den Traumbildern. Das Charakteristische des Traumes sind 
einerseits solche Bilder, denen in der Wirklichkeit nichts ihnen Gemäßes 
entspricht. Aber noch viel wichtiger ist, daß im Traum die Apperzeption 
dieser Bilder geändert ist. Wir fällen über diese Erscheinung ein anderes Urteil 
wie im Wachen. Die Apperzeption dieser Vorstellungsbilder ist eine andere 
im Traum, dagegen nicht in der Hypnose, nicht in anderen der Hypnose 
verwandten Dämmerungszuständen. Die Apperzeption, d. h. jedes Urteil, 
das an die vermutete Erscheinung angeschlossen wird, ist so korrekt und 
logisch wie im wachen Zustande. Die Störung der Apperzeption ist nicht 
vorhanden, solange die Suggestion nicht eingreift. Es bleibt immer ein 
wirkliches Bewußtsein von dem Sachverhalt und daher eine logische Hand- 
lungsweise. Die verbrecherischen Suggestionen werden in der Regel nicht 
ausgeführt werden. Im Traum und in leichten Schlafzuständcn hat man 
das Bewußtsein, man könne alles tun, weil man dunkel fühlt, es ist nicht 
Wahrheit. Einmal ist das Bewußtsein einer Realität, das andere Mal das 
Bewußtsein einer Irrealität vorhanden. Nur formale Aehnlichkcit zwischen 
Traum und Hypnose; sachlich ist der Zustand entgegengesetzt. 

In der Hypnose findet eine Veränderung in der Zusammensetzung 
der psychischen Gebilde statt, nicht eine Veränderung in der Beurteilung 
der Apperzeption, auch nicht in der Art der Gebilde, sie sind qualitativ 
dieselben wie im Wachen, wohl aber eine Veränderung in der Festigkeit 
der Gebilde. Die Komplexe, die aus der Elementartätigkeit entstehen, 
sind lockerer zusammengesetzt, z. B. man glaubt, etwas bereits gesehen 
zu haben, wjas man nicht gesehen hat, „falsche Bekanntheitsqualität". 
Gegenstück: irrtümliche Fremdheit vertrauter Objekte. Bei nervöser Er- 
schöpfung, großer Ermüdung begegnet es uns, daß Gegenstände, die uns 
vertraut sind, uns als gar» fremd erscheinen, als distanziert, oder man 
betrachtet mit einem Male das Gesicht seines Bruders als ein noch nie 
erblicktes Gesicht. Diese falsche Fremdheit entsteht so: ich habe 



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330 



Sitzungsberichte. 



unbeschädigt alle meine Sinneswahrnehmungen, auch alle Fähigkeiten zur 
Reproduktion, ich weiß, das ist mein Bruder, trotzdem liegt ein anderer 
Gefühlston darüber, der Gefühlston der Fremdheit. Diese beiden Faktoren, die 
sonst aufs Innigste verschmolzen sind, die Wahrnehmung dieses Gesichts 
und die Reproduktion, das Gesicht unzählige Male gesehen zu haben, ver- 
schmelzen nicht miteinander, sie bleiben in einer Entfernung, es klafft 
dazwischen. Dies ist in der Hypnose zu beobachten, sobald es sich um 
zusammengesetzte Komplexe handelt. Meist ist die Folge dieser Zerrüttung 
in dem Komplex, daß die Suggestion nun leicht dazu kommen kann. Sobald 
die Gebilde erweicht sind oder Lücken und Risse zeigen, kann die Suggestion 
neue Kombinationen herstellen. Analogie in der Entstehung der Zwangs- 
vorstellungen : die primitive Angst, die Lebensangst, die den Menschen 
beherrscht, eine Stimmung der Furcht, der Angst ist der Urgrund der 
Zwangsvorstellungen. Dieses Angstgefühl ist ein Zersetzungsmoment gegen- 
über den psychischen Gebilden. Sobald eine solche innerliche allgemeine 
Dissoziation durch Angst vorhanden ist, entstehen solche zwingende Vor- 
stellungen. Es wird auseinandergesprengt, was zusammengehört, nun kann 
eine Zwangsvorstellung, eine Suggestion einsetzen. Diese Zerrüttung oder 
diese Erweichung der psychischen Gebilde zeigt deutlich das Problem der 
Suggestion, nicht, wie die suggerierten Vorstellungen entstehen, sondern 
wie die veränderte Bedingung entsteht, durch die die Hypnose ihre Macht 
erhält: durch nichtaffektive Zerspaltung. Die psychischen Gebilde können 
in der Hypnose völlig unverletzt sein. Es besteht eine Abänderung derart, 
daß der Zusammenhang modifiziert ist. Das ist Bewußtseinsstörung im 
engeren Sinne des Wortes. Bewußtsein ist Zusammenhang der psychischen 
Gebilde. Wo dieser Zusammenhang ganz aufzuhören scheint, wie in der 
Ohnmacht, im tiefen Schlaf, sprechen wir von Bewußtlosigkeit. Hier ist 
dieser Zusammenhang in anderer Weise modifiziert. 

Diskussion: 

Herr Moll: Es sei zweifelhaft, ob die erhöhte oder verminderte Er- 
regbarkeit einen ausreichenden Einteilungsgrund abgibt. Zutreffend sei die 
Einteilung in die beiden Grade, i. wo die motorischen Funktionen gestört 
sind, 2. wo die sensorischen Funktionsstörungen hinzukommen. Dagegen 
bedenklich sei die Einteilung in die Typen. Für dasselbe Sinnesorgan 
kann zweifellos für bestimmte äußere Eindrücke eine erhöhte, für andere 
Eindrücke eine verminderte Eindrucksfähigkeit bestehen. Dieses individuali- 
sierende Moment muß erst ausgeschaltet werden, ehe daraus ein Einteilungs- 
prinzip gemacht werden kann. Die aktive und passive Hypnose haben mit 
erhöhter und verminderter Erregbarkeit nichts zu tun. 

Herr Dcssoir erwidert in seinem Schlußwort: Seinen Betrachtungen 
liege die Autohypnosc zugrunde. Zieht man einen Operator heran, dann sind 
die Dinge verändert. Es sei nichts dagegen einzuwenden, daß man die 
beiden qualitativ verschiedenen Richtungen als aktiven und passiven Typus 
bezeichnet. Gehört aber jemand dem passivrn Typus zu, dann an bestimmten 
Punkten erhöhte Erregbarkeit. Die Anregung M o 1 1 s sei zu befolgen, 
wenn es möglich ist, den aktiven Typus mit Zurückhaltung in anderen Bc- 



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Sitzungsberichte. 



331 



aehtmgen zu vereinigen und umgekehrt, ohne Widerspruch mit seinen Dar- 

Schluß 9 3 / 4 Uhr. 



Donnerstag, den 10. Januar 1907. 
Beginn: 8V4 Uhr. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer: Herr Westmann. 

Aufgenommen wurde Herr Dr. Sperling. 
Herr Gramzow sprach über 

„Ibsen als Psychologe'". 

Einleitend führte der Vortragende aus, welche Bedeutung die Welt- 
anschauung eines Dichters für dessen Schaffen hat. Er zeigte die Wege, 
die das Dichtergenie bei Erwerbung seiner Weltanschauung, und Insonder- 
heit seiner psychologischen Erkenntnisse, geht. Die psychologischen An- 
schauungen Ibsens charakterisierte der Vortragende durch folgende Haupt- 
punkte. 1. Ibsen hält den Verstand nicht für fähig, eine restlose Er- 
kenntnis der Welt und namentlich ihres innern Wesens zu erwerben. Viel- 
mehr haftet der Verstand an der Oberfläche der Welt, und nur traumhaftes 
Ahnen führt uns in die Welt des wahren Seins oder der Dinge an sich ein. 
Unter „Ahnungen" versteht Ibsen aber nicht die Intuitionen der Roman- 
tiker, sondern nur subjektive Deutungen des Unerkannten, Rätselvollen. — 
2. Ibsen ist Voluntarist in metaphysischem wie in psychologischem Sinne. 
Der Wille ist ihm der Weltgrund, aus dem die Individualwillen entspringen, 
die nicht frei sind, sondern nur „Freigegebene unter der Notwendigkeit". 
Der Weltwille wählt die Individuen für eine Aufgabe oder einen Beruf aus, 
durch deren Erfüllung das Individuum dem Zwecke des Weltwillens dienen 
muß. — 3. Besondere Aufmersamkeit wendet Ibsen dem Verhältnis 
von zwei Individualwillen zu. Der stärkere Wille bricht den schwächeren 
oder unterjocht ihn. Menschen mit unterjochtem Willen sind keine Persön- 
lichkeiten. — 4. Mit der Ansicht vom Wcltwillen hängt die Ansicht von 
der Vererbung aufs engste zusammen. Der Weltwille gibt dem Einzelwillen 
Ziel und Richtung. Diese innere Bestimmtheit des Willens vererbt sich, das 
Gesetz der Vererbung gilt im Psychischen wie im Physischen. Wegen der 
inneren Bestimmtheit des Willens ist es nicht möglich, einem Menschen 
eine Lebensaufgabe von außen zu oktroyieren, die nicht in ihm selbst 
gewurzelt ist. Die Vererbung ist das Fatura im modern naturwissenschaft- 
lichen Sinne. — 5. Teü am Walten dieses Fatums hat die psychische Tat- 
sache der Unauslöschlichkeit des Erlebnisses. 

Schließlich ging der Vortragende auf die Frage ein, ob Ibsen nicht 
allzu häufig pathologische Charaktere dargestellt habe. Nach Ansicht des 
Vortragenden sind wir gewöhnlich zu freigebig mit dem Begriff des Patho- 
logischen. Ein Charakter ist nicht als pathologisch zu bezeichnen, wenn 
er sich unter dem Einfluß der ererbten Faktoren und der Umwelt folge 
richtig entwickelt hat und sich der in ihm gewordenen Ausbildung gemäß 



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332 



verhält. Die Psychologie eines großen Dichters betrachtet der Vortragende 
als Anregung und Aufgabe für die Wissenschaft. Die großen Maler haben 
die Gesetze des Lichts richtig angewendet, noch bevor diese Gesetze experi- 
mentell und mathematisch erwiesen waren. Die wissenschaftliche Psycho- 
logie hat die Aufgabe, der Richtigkeit dichterischer psychologischer An- 
schauungen nachzuspüren. (Eigenbericht.) 
Eine Diskussion fand nicht statt. 

Schluß der Sitzung: 9V4 Uhr. 



Donnerstag, den 24. Januar 1907 
Beginn: 8 1 /* Uhr. 

Vorsitzender: Herr Moll. 
Schriftführer : Herr Westmann. 

Herr Medizinalrat Dr. Leppmann spricht 

„Zur Psychologie der internationalen Verbrecher". 

Man teilt die Verbrecher ein in Gelegenheits-, Gewohnheits- und gewerbs- 
mäßige Verbrecher. Der Ausdruck gewerbsmäßige Verbrecher ist unpräzise, 
v. Liszt nennt diese Zustandsverbrecher. Gewerbsmäßige Verbrecher 
sind solche, deren ausschließlicher oder vorwiegender Erwerb im Ver- 
brechen liegt. Die Personen, welche mit dem Strafgesetzbuch wiederholt 
in Konflikt kommen, warten nur darauf, aus dem Gefängnis herauszu- 
kommen, um sofort wieder Verbrechen zu begehen. Solche aktiven Ver- 
brecher gibt es relativ wenige. Die meisten Zustandsverbrecher verlassen 
mit der ehrlichen Absicht das Gefängnis, nicht wieder bestraft zu werden, 
sich auf gesetzmäßigem Wege zu halten, indessen genügt ein kleiner An- 
stoß, um sie wieder zu Verbrechern zu machen. Beispiel: der Hauptmann 
von Köpenick. Die Gefährlichkeit der chronisch Kriminellen wird über- 
schätzt. 

Internationale Verbrecher sind solche, die ihre verbrecherischen Hand- 
lungen in einer Mehrheit von Landern ausüben als Zustandsverbrecher. 
Das Verbrechen bildet bei ihnen den wesentlichen Teil ihrer Lebens- 
betätigung. Diese internationalen Verbrecher sind gefährlicher als die 
sonstigen, weil sie von vornherein darauf ausgehen, mit der menschlichen 
Gesellschaft in Krieg zu treten, ihr Leben durch das Verbrechen zu fristen 
Existiert hat das internationale Verbrechen immer, es ist durch die moderne 
Technik und den modernen Verkehr vermehrt und gefährlicher geworden. 
Internationale Vaganten haben das Verbrechen zum Erwerbe. Der Hand 
werksbursche bettelt sich durch alle Länder Europas, Hilfskräfte der großen 
Dampfergeseüscliaften sind zum erheblichen Teil Leute, die sich nach Amerika 
hinüberarbeiten, weil sie hier Straftaten begangen haben. 

Eine zweite Gruppe sucht deswegen fremde Länder auf. weil ihre 
Tricks schon in der Heimat bekannt sind und weil sie durch Verschwinden 
in ihrer Persönlichkeit geschützter sind, internationale Einbrecherbanden. 
Diese arbeiten mit präzisen Instrumenten und großem Kapital. Indessen 
sind internationale Verbrecher meist solitär für sich, nicht in Banden. 



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Ritzwngtiberichte. 



333 



3. Internationale Taschendiebe suchen gewöhnlich Orte auf, wo größere 
Menschenmengen sind. Das Taschendiebstum als lokale Erscheinung ist 
zurückgegangen, dagegen nicht als internationale. 

4. Kassendieb und Eisenbahndieb in den langen Gängen der D-Züge. 
Diese fast nur international. Der eine hindert den Reisenden auszusteigen, 
der andere bestiehlt ihn von hinten. 

5. Hochstapler. Dies ist kein reines Betrügertum, sondern häufig 
eine Mischung von Betrug und Diebstahl. Juwelen- und Diamantendiebe 
am häufigsten. 

Unter den internationalen zahlreiche männliche Prostituierte. 

Ursache zu internationalen Verbrechen: die anthropologischen Ursachen 
des Verbrechens, die in der Eigenart des Individuums liegen, überwiegen 
die sozialen Ursachen. Das Verbrechen ist fast kein Gewerbe mehr, weil 
es sich nicht von Familie zu Familie forterbt. Das Gros der Bestraften 
stammt aus unbescholtenen Familien, bei denen nicht einmal Not geherrscht 
hat. Verbrecherfamilien, bei denen das Verbrechen von Vater auf Sohn 
in der Jugend angelernt werden, sind selten. 

70 °,o der gewerbsmäßigen Verbrecher sind bis zum 25. Lebensjahre dem 
Verbrechen unrettbar verfallen. Diese Personen straucheln infolge mangel- 
hafter geistiger Rüstigkeit des Gehirns leichter über das Strafgesetzbuch 
wie die übrigen Menschen, ferner ist die geistige Minderwertigkeit Haupt- 
ursache des Verfalls ins Verbrechertum. Minderwertigkeit entsteht dadurch, 
daß unser Gehirn entweder vom Beginn unseres Lebens ab sich kümmerlich 
entwickelt oder in einer frühen Zeit des Lebens verkümmert, geschädigt 
wird, und zwar vor vollendeter Entwicklung des Gehirns. Ein großer Teil 
der Verbrecher ist erblich belastet, in der Aszendent war geistiges Siech- 
tum, Trunksucht, Epilepsie und Geisteskrankheit der Erzeuger. Sodann 
haben solche Personen, deren Gehirnentwicklung nicht normal ist, meist 
Fehler und Mängel in ihrer körperlichen Bildung, sogenannte Entartungs- 
zeichen. Ferner ist Ursache eine Schädigung der Gehirntätigkcit in der 
Jugend und in früherer Zeit — schwere Kopfverletzungen. 

Die Minderwertigen sind 

1. die geistig Beschränkten im allgemeinen. Diese sind im allgemeinen 
konkurrenzunfähiger, sowohl als Arbeiter wie im Lebenskampf. Die all- 
gemeine Geistesschwäche, auch wenn sie keine Geistesstörung im engeren 
Sinne bedeutet, macht die Leute minderwertig und zu Zustandsverbrechern. 

2. Paranoide, Leute, die allgemein normal sind, aber in einzelnen 
Beziehungen Bizarrerien haben, verrückte Ideen, Sonderlinge, Träumer, 
Phantasten usw. 

3. Willensfehler: die Unsteten. Es gibt eine Menge Personen mit 
normalem Verstand und Gemüt, denen es aber an Stetigkeit fehlt; sie 
gehen von Ort zu Ort, von Land zu Land, dadurch kommen sie sozial 
aus dem Geleise und gehen zum Verbrechen über. 

Für das internationale Verbrechertum ist die geistige Minderwertig- 
keit signifikant. Kommt ein minderwertiger Mensch in Straf haft, so ist 
die Minderwertigkeit der Boden, in dem unter Freiheitsentziehung die 
Geisteskrankheit erzeugt wird; sodann erzeugen mangelhafte Sprachkennt- 



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334 



Sitzungsbericht?. 



nisse das Gefühl der Einsamkeit. Internationalität also günstiger Boden 
für Geisteskrankheiten, Labilität für Geisteskrankheiten : 

a) intellektuell — paranoid oder unstet — , b) beschränkt — einfach 
Schwachsinnige. 

Mischformen zwischen beiden Gruppen bilden die internationalen 
Vaganten: sie sind unstet und geistig beschränkt; sie haben erbliche Be- 
lastung, leidliche Schulkenntnisse, nettes Gemüt, sind nicht faul oder träge, 
nur halten sie es an einem Orte nicht aus, sie wandern ohne Bildung, ohne 
Sprachkenntnisse von Land zu Land, in die gefährlichsten Gegenden zu 
Fuß usw. — minderwertig Unstetige. 

Die Intellektuellen sind die Hochstapler und Einbrecher, Diamantendiebe. 

Geistig beschränkt sind die Taschendiebe, die wegen ihrer geistigen 
Beschränktheit zu manueller Geschicklichkeit geeignet sind und aus Ländern 
kommen, in denen der Diebstahl gewerblich angelernt wird. Die haupt- 
sächlichsten internationalen Verbrecher kommen aus Galizien, Rußland, 
Amerika und England, ferner in Deutschland Gebürtige, die ihre krimi- 
nelle Betätigung von Land zu Land tragen, in fremdem Gewände, welches 
ihnen vor Entdeckung mehr Sicherheit gewährt, wieder zurückzukommen. 

Verschwiegenheit ist das Kennzeichen der internationalen Verbrecher. 

Vielfach sind die internationalen Verbrecher Märtyrer ihrer Phantasie, 
deren Einbildungsvermögen überwiegt, sie wollen eine Rolle spielen, sie haben 
Lieblingsphantasien, sie sehen das Leben nicht so, wie es ist, sondern nach 
ihren Ideen. 

Schwierigkeit der internationalen Verfolgung der Verbrecher. Die 
internationale Auslieferung ist beschränkt, der erste Angriff auf das Ver 
brechen scheitert an der Landesgrenze. 

Die Wesenszüge der internationalen Verbrecher weisen darauf hin, 
daß wir solche Personen nicht bestrafen, in den Strafanstalten geistig erkranken 
lassen dürfen. Anstatt der abgegrenzten Strafen müssen andere Sicherung* 
maßregeln treten, die die Pubertätszeit betreffen. In dieser Zeit treten 
die Minderwertigkeitserscheinungen schärfer hervor, in dieser Zeit müssen 
die Verbrecher kaltgestellt werden. An Stelle der Jugendgefängnisse müssen 
Besserungsanstalten treten 

Diskussion: 

Herr Regierungsassessor Dr. Lindenau : Ein spezifischer Zusammen- 
hang zwischen dem internationalen Verbrechertum und den Minderwertigen 
ist gegenwärtig nicht mit Sicherheit zu behaupten. In stärkerem Maße, als 
die Veranlagung zum Wandern, zum Unsteten und Phantastischen sprechen 
die sozialen Faktoren mit: Leute, die in ihrem sozialen Milieu Gelegenheit 
haben, in das große internationale Getriebe hineinzukommen. Die Gefähr- 
lichkeit beruht darauf, daß wir in unserer gesamten Entwicklung einen 
starken internationalen Einschlag haben, der vom Verbrecher systematisch 
ausgenutzt wird. Deutschland ist ein günstiger Boden für internationale 
Verbrecher, der Deutsche hat Ehrfurcht vor Fremden und läßt sich von 
Fremden düpieren. Wird der internationale Verbrecher für geisteskrank 
erkannt, dann lehnt es jeder Staat ab, den Ausländer in den Irrenanstalten 
lebenslänglich zu ernähren. 



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Sitzungsberichte. 



335 



Herr Rechtsanwalt Dr. Löwenstein ist der Auffassung, daß zu dem 
internationalen Verbrechertum eine erhöhte Intelligenz, größere Organisation 
und Fehlen jedes moralischen Empfindens erforderlich ist in weiterem Um- 
fange wie beim nationalen Verbrechertum. Zuverlässige Resultate in dieser 
Beziehung ließen sich nur durch internationale Untersuchungen erzielen. 

Herr Dr. Munter: Bei vielen Geisteskranken und Verbrechern, ins- 
besondere Paranoiden, findet man für gewisse Dinge eine hohe Intelligenz, 
erhöhte Phantasie, Sucht, zu vagabundieren, durch besonders brillierende, 
besonders auffällige Momente ein Verbrechen durchzuführen. 

Herr Dr. Möller: Geistig Beschränkte sind oft in einzelnen Be- 
ziehungen glänzend entwickelt und technisch sehr geschickt. Stimmungs- 
und WUlensanomalien haben mit Intelligenz nichts zu tun. 

Herr Dr. Leppmann bemerkt in seinem Schlußwort: Zu gewissen 
Berufen drängen sich gewisse psychopathische Personen. Unstetige und 
Phantasiereiche sind Kandidaten des internationalen Verbrechertums. 

Schluß der Sitzung 10V4 Uhr. 



Donnerstag, den 7. Februar 1907. 
Beginn: 8 Uhr 20 Minuten. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer : Herr W e s t m a n n. 

Herr Dr. Gutzmann spricht über 

„Die Bedeutung der Erblichkeit für die Entstehung von 

Sprachstörunge n". 

Der Vortrag erscheint im Sonderabdruck. 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Moll und Stern. 
Der Vortragende hatte das Schlußwort. 

Schluß der Sitzung oy» Uhr. 



Donnerstag, den 21. Februar 1907. 
Beginn: 87* Uhr. 

Vorsitzender : Herr M o 1 1. 
Schriftführer : Herr Westmann. 

Ausgetreten ist Herr Lehrer Hollenbach. 
Herr Dr. Hohenemser spricht 

„Ueber das Seelenleben der Blindgeborenen und der 

früh Erblindete n". 

Die Blindheit, das Fehlen des Augenlichtes, ist ein körperliches, kein 
geistiges Gebrechen. „Früh erblindet" ist derjenige, der aus der Zeit, wo 
er noch gesehen hat, keinerlei Erinnerung an die Gesichtseindrücke mitbringt. 
Wirkung der Außenwelt auf den Blinden. Die „Erkenntnis" wird zuerst durch 
das Gesicht vermittelt. Der Tastsinn entwickelt sich in den ersten Monaten. 



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336 8itsung9herichte. 

Das Kind orientiert sich an seinem eigenen Körper. Der Tastsinn muß das 
Auge ersetzen, nicht der Gehörssinn. Der Gehörssinn vermittelt nur diejenigen 
Bewegungen, die schnell genug sind, daß sie durch Fortpflanzung durch 
die Luftwcllen Schall erzeugen können; außerdem vermittelt das Gehör 
Worte. Dies sind aber nur konventionelle Zeichen, nichts ohne Sach- 
vorstellungen. Der eigentliche Wirklichkeitssinn ist der Tastsinn. Der Tast- 
sinn vermittelt dem Blinden die wichtigsten Vorstellungen von der Außen- 
welt. In den Tastsinn ist zugleich Raumsinn bis zu einem gewissen Grade 
eingeschlossen. Mit der Berührung zugleich Körperflächenempfindung. 
Bewegungsempfindungen, Muskelempfindungen und Tastsinn wirken zu- 
sammen, um uns eine vollständige Raumvorstellung zu geben. Der Tastsinn 
ist kein Fernsinn. Die Hand ist gleichzeitig zum Tasten und zum Tun, 
zum Bilden da. Der Blinde muß mit der Hand viele Verrichtungen vor- 
nehmen. Deshalb kommt der mit der Hand ungeschickte Blinde sehr schwer 
im Leben - vorwärts. Das Manko ist viel schwerer als beim -sehenden 
Ungeschickten. Das Betasten ist ein Nachschaffen des Gegenstandes. Auf 
das systematische Tasten ist Wert zu lagen, damit zusammenhängende 
Vorstellungen entstehen. Es muß ferner die Vereinigung von Gehör und 
Tastsinn geübt werden. 

Die Blinden haben keine schärferen Sinne als die Sehenden. Die 
scheinbare Schärfe der Sinne rührt von größerer Aufmerksamkeit her und 
davon, daß die Uebung die psychischen Verhältnisse umgestaltet. 
Beim Gehörssinn ist größere Konzentration vorhanden. 

Die Sinne unterstützen sich gegenseitig. „Der sechste Sinn", die Fern- 
empfindung für Gegenstände, die die Blinden nicht berühren, ist nur vor- 
handen, wenn die Gegenstände nicht zu klein sind. Dieser Sinn existiert 
auch bei Sehenden, diese achten aber nicht darauf. Der sechste Sinn 
besteht in der Empfindung, daß ein Gegenstand in der Nähe ist. Dieser 
Sinn ist auf Aenderung des Luftdrucks zurückzuführen. 

Die Orientierung des Blinden geschieht hauptsächlich durch die 
Bewegungsempfindungen und den Muskelsinn. Man erhält das Distanz- 
gefühl, wenn man eine gewisse Distanz durchgegangen ist. Sodann Lokali- 
sierung der Gesichtseindrücke. Wir können die Schallquellen feststellen, 
ob der Schall von vorn, rechts oder links usw. kommt. Entfernungen werden 
durch Schall abgeschätzt. 

Der Blinde hat keine Surrogatvorstellungen von dem, was er nicht 
sieht, aus eigener Anschauung. Der Blinde hat keine Vorstellung von der 
Farbe, trotzdem fällt es ihm nicht auf, wenn von Farben gesprochen wird. 
Es sind nämlich mit den bekanntesten Farben Stimmungen verbunden. Diese 
Stimmungen nimmt der Blinde aus dem Gebaren des Sehenden auf, er weiß, 
daß dann schönes Wetter ist, aus dem ganzen Stimmungskomplex versteht 
man das einzelne Element, aber dem Wort Farbe gibt der Blinde nicht 
einen bestimmten Inhalt. 

Denken. Die Denkfähigkeit ist beim normalen Blinden genau so aus- 
gebildet wie beim Sehenden. Der Blinde ist zum Betriebe einer Wissen- 
schaft befähigt, so weit ihm das Material zu derselben zugänglich ist. 

Gefühl. Das Gefühl ist eine Abstraktion. Es kommt niemals isoliert 



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Sitttuigibericht t. 



337 



in der Seele vor. Das Gefühl ist ebenso wie beim Sehenden. Ebenso der 
Wille als Fähigkeit des Wählens. 

Das Bewußtsein der Blindheit. Dem Kind kommt die Blindheit nur 
bei besonderen Anlässen zum Bewußtsein. Solange das Kind klein ist, 
▼ergleicht es nicht, sobald es die Fähigkeit, zu vergleichen bekommt, ist 
es in seine Lebensart zu sehr eingearbeitet, daß es daran gewöhnt ist. 
In der Erziehung muß darauf gesehen werden, daß sich das Kind harm- 
los entwickeln kann. Die Eltern müssen harmlos mit dem Kind sprechen, 
daß es nicht sehen kann, sonst wird das Kind verwirrt. Hat das Kind das 
Bewußtsein, es sei etwas anderes wie andere Menschen, dann wird es 
zurückgezogen und verbittert Hiergegen wirkt nur die Ausbildung seiner 
übrigen Fähigkeiten, es muß zum Selbstbewußtsein und zum Selbstvertrauen 
erzogen werden. Es muß der Blindenanstalt übergeben werden. In gewissem 
Alter kommt das Vergleichen immer. Das Kind ist noch nicht reif genug, 
aus eigener Kraft mit Sehenden zu wetteifern, bevor seine Fälligkeiten aus- 
gebildet sind. 

Falsches Mitleid verletzt auch erwachsene Blinde. 

Infolge des Bewußtseins seiner Blindheit ist der Blinde mißtrauisch. 
Vorurteile gegen sie im Berufsleben. Hat sich ein Blinder in die Höhe 
gearbeitet, dann wird er Optimist. 

Konzentriertheit der Blinden. Die Gedanken, mit denen sich der Blinde 
beschäftigt, kann er leichter und ungestörter ausführen. Zwei Arten von 
Konzentration: a) man will sich von allem anderen abschließen, außer 
von seinen Gedanken. Der Blinde hat sich nur gegen Gehör und körper- 
liche Empfindungen abzuschließen. Will man dagegen die Ursache eines 
Eindrucks konstatieren, dann ist der Sehende in besserer Lage. 

b) Passivität seines Innenlebens. Die Gedanken gehen sehr leicht vom 
Hundertsten ins Tausendste, seine Phantasie löst sich sehr leicht. 

Gedächtnis. Die Uebung des Gedächtnisses ist in der Regel bei den 
Blinden sehr groß. Er muß sich Dinge im Zusammenhang herstellen, um 
sie sich zu merken. Zum Absoluten haben die meisten Blindgeborenen 
Gedächtnis, für Namen und Zahlen, absolutes Tonbewußtsein. 

Passivität des Innenlebens. Weil verhältnismäßig wenig von Außen 
auf das bUnde Kind einwirkt, beschäftigt es sich mit sich selbst. Es 
spintisiert zu viel über sich, sodann überlaßt es sich der Phantasie, d, h. 
es reproduziert die Vorstellungen, die ihr zusagen. Dadurch Entfremdung 
von der Welt. Das blinde Kind ist vielfach auf die Hilfe des Sehenden 
angewiesen, dadurch Passivität des Willens. Das Kind ist nicht gewöhnt, 
in die Außenwelt handelnd einzugreifen. Es ist gewöhnt, daß andere für 
es handeln, aber daß es selbst nicht handelt. Diese Passivität führt zu geistigem 
Hochmut. Die Blinden wissen, daß sie viel innerlich beschäftigt sind, man 
stellt das Geistige über das Körperliche. Aufgabe, das passive Innen- 
leben in ein aktives zu verwandeln. Man muß den Tätigkeitssinn entwickeln, 
sie zu einer greifbaren konkreten Tätigkeit führen. 

Beurteilung anderer Menschen durch Blinde: mit Hilfe des Gehörs 
sinnes. Aus der Stimme beurteilt man, abgesehen vom Inhalt des Gespräches, 
gewöhnlich, ab der Sprechende alt ader jung ist, seinen Charakter, Stand. 

Naturgenuß des Blinden: angenehme Luft, Wärme, Waldgeruch, Wald- 
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. b 



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338 



Sitzungsberichte. 



kühle, klimatische Verhältnisse, zahlreiche Geräusche, Vogelgesang, Arbeit 
auf dem Felde, Holzfällen usw., Freude an der Anstrengung, Ueberwindung 
von Schwierigkeiten, Stimmung des sehenden Begleiters. Diese Stimmung 
bildet einen wesentlichen Teil des Naturgenusses. 

Kunstgenuß: Malerei scheidet aus. Plastik: Das Tasten kann uns 
niemals einen Kunstgenuß vermitteln. Der Kunstgenuß beruht auf dem 
Fernhalten des Körperlichen von dem wahrnehmenden Organ. Beim Sehen 
und Hören können wir unser reales empirisches Gesicht vergessen, beim 
Tastsinn dagegen nicht. Ich empfinde nicht nur die Statue, sondern mich 
an der Stelle der Haut, wo ich die Statue betaste. Ich empfinde das Material, 
den Marmor als glatt, kalt, hart, rauh. Die bildende Kunst über Menschen- 
darstellung können die Blinden nicht genießen, weil ihnen die Erfahrung 
über den Gesicht sausdruck abgeht: Güte, Grazie, Zorn kennt der Blinde 
nicht. Deshalb ein ästhetischer Genuß beim plastischen Werk ausgeschlossen. 
Genuß am Tasten, um das Werk zu erkennen, ist intellektuelle Freude, aber 
kein ästhetischer Genuß. 

Poesie: Der Blinde hat bei manchen Ausdrücken andere . Ideen- 
assoziationen wie der Sehende. Ucberwiegend steht er der Poesie als 
Genießender, weniger als Schaffender gegenüber. Grund: Passivität und 
eigene Art des Innenlebens. Rhythmus, Reim und schöne Sprache spielen 
eine große Rolle. 

Musik ist dem Blinden zugänglich. Als Beruf ist sie aber wegen der 
technischen Schwierigkeiten für Blinde wenig geeignet. Schwierig ist auch 
das Komponieren, das Ausdenken komplizierter kontrapunktischer Gebilde 
ist ohne Unterstützung des Auges zu umständlich. 

Religion: liegt dem Blinden nahe, da er sich viel mit sich selbst 
beschäftigt. 

Die schädlichen Einwirkungen der Blindheit können dadurch gehoben 
werden, daß der Blinde durch Erziehung und eigenen Willen dem Voll- 
sinnigen genähert wird. Nicht Eudämonismus, sondern Perfektionismus ist 
das Prinzip, nach dem der Mensch will und handelt. Das Lustgefühl und 
das Glücksgefühl werden durch positive Leistungen und Zuwüchse, die die 
Seele erhält, gegeben. Es ist kein Glück, blind zu sein, für die Blindgeborenen 
und die früh Blindgewordenen ist es auch kein Unglück, sie empfinden 
es nicht. 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Dr. Bruck, 
Dr. Baerwald, Dr. Feigs, Westmann, Dr. Moser, Dr. Poppe, 
Deutsch, Dr. Thiele. Der Vortragende hatte das Schlußwort. 

Schluß ioi£ Uhr. 

Donnerstag, den 21. März 1907. 
Beginn: 8 1 /* Uhr. 
Vorsitzender: Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West manu. 

Herr Dr. Fritz L e p p m a n n ist als Mitglied aufgenommen. 
Herr Baerwald spricht 

„Zur Psychologie des Klavierspiel s". 



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Sitzungsberichte. 



339 



Worauf beruht die Schwierigkeit weiter Sprünge, wie sie etwa die 
linke Hand bei Walzern zu bewältigen hat? Zunächst auf dem Weber, 
sehen Gesetz, das sich ja nicht nur mit Bezug auf die Intensität der Reize, 
sondern auch auf ihre räumliche (Augenmaß) und zeitliche Schätzung bewährt 
bat und zu dessen Konsequenzen es gehört, daß die unbemerkt bleibenden 
Abweichungen von einem Normalreiz um so größer werden, je größer er 
selbst ist. Infolgedessen taxiert schon das Auge weite Distanzen auf dem 
Klavier, die eine Hand überspringen soll, ungenauer als nahe, und ebenso 
kontrolliert die Bewegungsempfindung einen großen Sprung minder exakt 
als einen kleinen, und da die Erinnerung von der Wahrnehmung abhängt, 
ist drittens sogar die Bewegungsvorstellung, die der ganzen Tätigkeit zu- 
grunde liegt, beim weiten Sprunge relativ vage. Hierzu kommt als weiteres 
Moment, daß sich mit dem Gedanken an eine zu überspringende Distanz 
die Vorstellungen der Zwischentöne resp. Zwischentasten verbinden, die 
um so zahlreicher werden, je größer die Distanz ist. Daher scheint die 
Schwierigkeit der weiten Sprünge bei Personen mit engem Bewußtseins- 
umfang und wenig Uebcrsicht, denen es schwer fällt, komplizierte Vorstellungs- 
massen gleichzeitig zu bewältigen, besonders groß zu sein. 

Auch da, wo es sich nicht um das „Treffen", sondern wie etwa bei 
raschen Terzenläufcn um Geschwindigkeit und Isolierung der Bewegung 
handelt, wird sie fehlerfreier und exakter, wenn man die spielende Hand 
scharf ansieht. Das Gesichtsbild der Bewegung kann letzterer nicht direkt 
zu Hilfe kommen, da sich willkürliche Bewegungen immer nur von der 
kinästhetischen Vorstellung aus erzeugen lassen, wohl aber indirekt, indem 
das Gesichtsbild der Bewegung kinästhetische Assoziationen erzeugt, die die 
schon ursprünglich vorliegende kinästhetische Zielvorstellung ergänzen und 
verfeinern. 

Der Spielende hört manche von ihm begangene Fehler gar nicht oder 
erst nachträglich, während sie ihm, wenn er nur Zuhörer wäre, sofort auf- 
fallen würden. Wir haben es hier mit einer Störung und Aufsaugung einer 
Wahrnehmung durch eine schon vorher vorhandene ähnliche Vorstellung 
zu tun, wie sie uns gerade auf musikalischem Gebiete noch öfter vorkommt. 
So hört man leicht in den Gesang der Vögel musikalische Intervalle hinein, 
obgleich solche in Wirklichkeit gar nicht vorliegen. Eine Erklärung der Er- 
scheinung kann wohl einzig die Annahme bieten, daß ähnliche Vorstellungen 
teilweise in gleichen Gehirnpartien stattfinden und so der eine Prozeß in 
die Bahn des anderen hineingerät oder dessen Eigenart auf ihn abfärbt. 
Die geschilderte Tatsache spricht also dafür, daß alle Achnlichkeit, wenigstens 
physiologisch, als teilweise Gleichheit aufzufassen ist. 

Manche Klavierstücke bestehen aus drei Teilen, a, b und c, von denen der 
zweite, b, wiederholt werden soll. Gesetzt, man kann ein solches Stück 
auswendig, hat sich aber gewöhnt, Teil b nicht zu wiederholen, so stößt 
man, wenn man ihn doch ausnahmsweise wiederholen will, auf Schwierig- 
keiten. Man bleibt dann leicht stecken oder fühlt wenigstens bei denselben 
Noten, die man soeben noch, beim erstmaligen Spiel, ganz mühelos beherrschte, 
eine deutliche Unsicherheit. Hier wirkt die psychische Konstellation mit. 
Wenn man Teil b das erste Mal spielt, ist das Bewußtsein noch erfüllt von 
dem Ende des Teiles a, bei der Wiederholung dagegen von dem Ende des 

6« 



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340 



Sitzunyubtrichtt. 



Teiles b. Wer also nur ausnahmsweise einmal die Wiederholung vornimmt, 
tut es mit einer ganz veränderten und ungewohnten psychischen Konstellation. 
Je mehr man sich allerdings in Teil b hineinspielt, desto ähnlicher wird der 
Bewußtseinsinhalt dem gewohnten, beim ersten Spielen von b vorherrschenden, 
desto mehr nimmt demnach jenes Unsicherheitsgefühl ab, bis es nach einer 
Reihe von Takten ganz schwindet. Ebenso ist es zu erklären, daß jemand, 
der Teil b regelmäßig wiederholt, einen bestimmten Fehler immer nur beim 
zweiten, nicht beim ersten Durchspielen sich einbürgern sieht. Einen solchen 
Fehler beobachtete der Vortragende einmal noch im siebenten Takte, ungefähr 
bei der 100. Note des Teiles b. Die Differenzen der Konstellation, die dabei 
ausschlaggebend waren, lagen natürlich noch vor diesen 100 Noten, die 
an sich ja beim ersten und zweiten Durchspielen dieselben sind. Es müssen 
also im Momente des Fehlers noch mehr als 100 Notenvorstellungen (resp. 
entsprechende vorstellungswertige unbewußte Prozesse) wirksam und aktuell 
gewesen sein, eine Menge, die um so gewaltiger erscheint, wenn man bedenkt, 
daß zu jeder Note eine Ton-, Tasten-, Drucknoten- und Bewegungsvorstellung 
gehört. Derartige Erfahrungen können uns Anhaltspunkte über den Umfang 
der vom Gehirn gleichzeitig bewältigten Arbeit geben, wie sie uns die experi 
mentelle Psychologie bisher noch nicht einwandfrei geliefert hat. 

(Eigenbericht.) 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Dr. Hohenemser, 
Dr. Marcinowski, Dr. Moser, Dr. Friedemann, Dr. Moll. Der 
Vortragende hatte das Schlußwort. 

Schluß io>/ 4 Uhr. 



Sitzung vom 25. April 1907 in der Wohnung des Herrn 

Dr. Moll. 

Beginn: 7V4 Uhr. 

Vorsitz: Herr Baerwald. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Herr Moll sprach 

„lieber die sexuelle Entartung im Spiegel der Welt- 
literatur" (mit Demonstrationen aus seiner Bibliothek). 

Der Ausdruck Entartung soll hier nicht so sehr im psychiatrischen Sinne, 
als vielmehr im kulturgeschichtlichen aufgefaßt werden. Man erkennt dann 
ohne weiteres, daß die eine Zeitperiode Dinge zur sexuellen Entartung 
rechnet, die für eine andere eine solche Bedeutung nicht haben. Die An 
schauungen über die äußeren Formen des sexuell Sittlichen sind eben nicht 
zu allen Zeiten gleich, und man soll sich hüten, Abweichungen ohne weiteres 
als einen Beweis sexueller Entartung anzusehen. Eine Zeit kann sehr sitt- 
lich sein und über das Sexuelle freier sprechen, als eine andere. Zeigt doch 
die Literatur, daß die Genitalorgane, z. B. das männliche Glied, nicht nur 
bei den Alten, sondern noch in neuerer Zeit in der christlichen Religion eine 
Rolle spielten. Ueberaus wichtig für die Beurteilung der sexuellen Entartung 
ist die erotische Literatur, in der die obszöne oder pornographische besonders 
abgetrennt werden muß. Die erotische Literatur ist ein Spiegelbild des Zeit 



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Sitzungsberichte. 



341 



und Volksgeistes. Man findet diese Gruppe der Literatur bei allen Völkern 
und wohl zu allen Zeiten verbreitet. Das Hohe Lied S a 1 o m o s kann man 
ruhig zur Erotik rechnen. Von den alten Griechen nenne ich nur Anakreon, 
L o n g u s , der den bekannten Schäferroman D a p h n i s und C h 1 o e schrieb ; 
aus Rom Ovid, Petron, Juvenal, Catull, Martial usw. Auch 
das Latein des Mittelalters ist vertreten. In Deutschland war die Literatur- 
periode von i6i8 bis 1759 vielfach erotisch gefärbt (Celander, Hoff- 
mannswaldau, Lohenstein); ganz besonders aber findet sich die 
erotische Literatur in der klassischen Periode von 1759 bis 1830, aber auch 
sehr reichhaltig in der neuesten Zeit. Ebenso sind die anderen Kulturländer 
vertreten, nicht nur Frankreich, von dem es am meisten bekannt ist, sondern 
sehr stark auch England. Auch kulturgeschichtliche und historische Werke 
bringen uns wertvolles Material, desgleichen viele Kuriosa und Scherzstücke. 
In gewissen Grenzen sind die erotischen Dichtungen auch für das Fühlen, 
des Dichters von Wert, so daß die Individualpsychologie Stoff in der erotischen 
Literatur findet Ich nenne hier nur Bürger, Voß, Goethe; aus 
Frankreich Berangcr, Mirabeau, Musset. Ebenso sei hier die 
erotische Novelle Lucretia und Eurialus, die der spätere Papst 
Pius II. vor seiner Papstwahl schrieb, erwähnt. Manche erotische Schrift- 
steller sind zweifellos pathologische Naturen, aber keineswegs alle. Inter- 
essant ist, daß auch zu allen Zeiten bestimmte Verleger diese Art Literatur 
bevorzugten. Die Autornamen sind oft nicht mit Sicherheit festzustellen. 
Mitunter wird ein berühmter Autor fälschlich der anonymen Schrift an- 
gedichtet. 

Wichtig ist die erotische Literatur zur Beurteilung des Zeitabschnittes 
und des Sittlichkeitsniveaus, sowie der Sittlichkeitserschcinungcn. Man 
betrachte das Zeitalter der Renaissance und die für die damalige Zeit enorme 
erotische Literatur; besonders Italien hat damals viel auf diesem Gebiet 
produziert. Viele der heutigen Pornographika und Erotika sind nur Kopien 
der früheren. . Zur Beurteilung eines Landes kann die erotische Literatur 
sehr wichtig sein: ist doch ein großer Teil der französischen und deutschen 
Erotika nur die Uebersetzung der englischen Originale. Ueberhaupt kann 
man in der erotischen Literatur den Einfluß des Verkehrs oft genug beob- 
achten. So ging von Südfrankreich die eigentümliche provencalische Lyrik 
auf Spanien und Italien, ebenso wie auf Nordfrankreich und auf Deutschland 
über. Nicht nur die erotische Literatur, sondern auch die erotischen Emp- 
findungen verbreiten sich oft, den Verkehrswegen folgend. Manche erotische 
Schriften sind weniger durch die Persönlichkeiten des Verfassers, als durch die 
der darin geschilderten von Bedeutung. Kaum ein Monarch dürfte der Aus- 
nützung durch die erotische Literatur entgangen sein, aber ebensowenig viele 
andere Persönlichkeiten, z. B. Kotzebue, Voltaire, Mazarin, 
Heinrich III. von Frankreich. Eine ganz besondere Gruppe bildet die 
gegen die Päpste und den Klerus im allgemeinen gerichtete erotische Literatur. 

Die sexuellen Perversionen, z. B. die Homosexualität, sind ebenfalls 
in der erotischen Literatur vielfach dargestellt worden. Aus dem Altertum 
nenne ich Plato, Anakreon, Theokrit, Martial, Petronius. 
Aus der neueren Zeit besonders Platen. Der Masochisraus und Sadismus 
finden sich in früheren Zeiten gelegentlich, in neuerer Zeit, besonders etwa 



342 



Sitzungsberichte. 



seit 100 Jahren, überaus stark vertreten. Z. B. die englische erotische Literatur 
ist voll von diesen Perversionen. Auch die Abhängigkeit bestimmter Männer 
von ihren weiblichen Maitressen bildet eine besondere Gruppe. Weiter 
findet sich in ihr als eine Spezialität der Geschlechtsverkehr zwischen 
Blutsverwandten, Vater und Tochter, vielfach beschrieben; ebenso der Ver 
kehr zwischen Mensch und Tier. Dies kommt schon in der alten Mythologie 
vor. Man denke an Jupiter und I o und L e d a mit dem Schwan. Auch 
die Teufelserotik spielt hier hinein, indem sich sehr oft der Teufel in Form 
eines Tieres zu der geschlechtlichen Vermischung dem Menschen nähert. 
Die Teufelsbündnisse spielen weiter in die schwarze Messe hinein. Die 
Liebe zu unreifen Kindern ist ebenfalls viel vertreten, desgleichen der 
Fetischismus. Der Verkehr mit Hermaphroditen findet sich inFragoletta, 
einem 1 797 erschienenen Roman von Latouche, desgleichen in manchen 
neueren Pornographika ; die Onanie als Gegenstand der Darstellung in dem 
Buch von Bonnetain: Charlot s'amuse. Erwähnt sei auch der Ver 
kehr mit Kastraten, der nicht so selten in der erotischen Literatur eine 
Rolle spielt. (Autorreferat.) 
Eine Diskussion fand nicht statt. 

Zur Mitgliedschaft meldete sich Herr Schriftsteller K u r t z. 
Schluß der Sitzung 91/« Uhr. 



Soramorsemester 1907. 

Donnerstag, den 2. Mai 1907. 

Beginn: 8 1 /* Uhr. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Der Vorsitzende gedachte der Verstorbenen Ottomar Rosenbach, 
von Bergmann, Otto von Leixner. Sodann fand eine Besprechung 
geschäftlicher Angelegenheiten statt, insbesondere von Bibliotheksangelegen 
heiten. Als Mitglied aufgenommen wurde Herr Schriftsteller Rudolf 
Kurtz. Neugemcldet wurde Herr Dr. Kind. Ausgetreten sind die Herren 
Rektor Walter Pagel, Oberstabsarzt Adrian. Dr. Meißner, 
Dr. Eisenberg, Dr. Metzger. 

Herr Oberlehrer Dr. Samuel Sänger spricht über 

„Philosophie auf Schule n". 

1. Der Unterricht auf den modernen Bürgergymnasien (G., RG., OR.) 
hat kein Zentrum mehr, um das sich die Lehrfächer organisch gruppieren 
könnten, und gleicht einer Rhapsodie ohne Ziel. Der herrschende Bildungs 
begriff ist ein enzyklopädischer, kein organischer; daher wird das Bildungs 
streben der Schüler, statt auf ein Ziel gelenkt zu werden, dem die zweck 
mäßig ausgewählten Fächer dienen, durch das Nebeneinander zusammen 
hanglos erscheinender Unterweisungen zerrissen. 

2. Streben nach Bildung ist Streben nach Konzentration der Bildungs 
demente, hat also eine ganz natürliche Richtung auf die Philosophie, als 
den Versuch einer Zusammenfassung der sinnlichen und sittlichen Mannig 
faltigkeit zu einer Einheit. Pädagogen, die der Philosophie im Lehrplan der 



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Sitzungsberichte 



343 



höheren Lehranstalten Raum schaffen wollen, halten es für die dringendste 
Aufgabe des Tages, das Konzentrationsverlangen der Schüler zu befriedigen, 
und empfehlen eine Wiedereinführung des 1887 in Preußen abgeschafften 
Unterrichts in Philosophischer Propädeutik für das einzig wirksame Mittel 
seiner Befriedigung. 

3. Diese psychologisch richtige Motivierung eines Philosophieunterrichtes 
auf dem Bürgergymnastum halte ich für einwandfrei, stehe aber der Mög 
lichkeit, ihn unter den obwaltenden Umständen fruchtbar zu machen, 
skeptisch gegenüber. Aus drei Gründen: a) wegen des heutigen Zustandes 
der Philosophie; b) wegen der heutigen Vorbildung der Lehrer; c) wegen 
der heutigen Beschaffenheit des Schülermatcrials. 

4. Zu 3a: Die heutige wissenschaftliche Philosophie ist Grenzfragen 
Philosophie. Es wäre unphilosophisch und unpädagogisch, auf einer modernen, 
von wissenschaftlich gebildeten Spezialisten geleiteten Schule eine andere 
als wissenschaftliche Philosophie lehren zu wollen. Diese wissenschaftliche 
oder Grenzfragen-Philosophie läßt aber eine elementare Behandlung 
kaum oder wenigstens nur in sehr beschränktem Maße zu. Die in den 
Systemen großer Denker niedergelegten Weltbilder sind aber wieder nur 
aus der Kulturlage heraus zu verstehen, die ihre Entstehung bedingen und 
ihre letzten Absichten allererst verständlich machen; setzen, um nach- 
konstruiert zu werden, die volle Herrschaft über den kritischen und historischen 
Apparat des Forschers voraus. Mit ihnen durch Realien gebildete Gym- 
nasiasten (RG., OR.) bekannt zu machen, wäre daher ein noch aussichts- 
loseres Beginnen als die Einführung in die Wissenschaft der Grenzfragen, 
zu denen der in philosophischem Geiste erteilte Unterricht in den wissen- 
schaftlichen Schulfächern vielfach ohne Zwang und wie von selbst hinführt. 
Geschichte der Philosophie als Bestandstück des Philosophieunterrichts auf 
Schulen ist unter allen Umständen auszuschalten. 

5. Zu 3 b : Die heutigen Lehrer sind wissenschaftlich gebildete Spezialisten 
mit Spezialistenehrgeiz. Der überwiegenden Mehrzahl unter ihnen ist Philo- 
sophie kein Lebensbedürfnis, das vorhanden sein muß, um die Philosophie 
im Munde des Lehrers zur Weisheit, zur erhöhenden Macht zu machen. Die 
..Fakultas" in der Philosophischen Propädeutik gewährleistet die philosophische 
Persönlichkeit nicht; garantiert, so wie sie heute erteilt wird und nach 
der heute gültigen Prüfungsform nicht einmal eine annähernd höhere Ver- 
trautheit mit der Grenzfragen-Philosophie. 

6. Zu 3 c. Das heutige Bürgergymnasium ist keine Schule für die 
Aristokratie des Talents mehr, hat seinen selektiven Charakter fast 
völlig verloren. Es ist den Massen zügänglich gemacht, ist eine demo- 
kratische Institution geworden. Es konnte, als Parallelcrscheinung der Kapi- 
talisierung und Demokratisierung der Gesellschaft und der kollekt istischen 
Organisierung des Wissenschaftsbetriebes, nicht anders werden, als es ist. 
Es ist gut oder kann gut, zweckdienlich werden, wenn man sich an seinen 
Zweck hält, der Masse Bildung in Form einer großen Menge von Wissens 
dementen und Fertigkeiten zuzuführen. Diesem Zweck dient die Verbesserung 
der Lehrtechnik, welche sich die Spezialisten angelegen sein lassen. Den 
Zusammenhang mit dem, was „man" allgemeine Bildung nennt, hält auf dieser 
Schule der Unterricht in der Religion, der Geschichte, dem Deutschen auf- 



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344 



recht. Die wirkliche allgemeine Bildung, diejenige, die die allgemeinen 
Grundlagen und Zwecke des Wissen wollens und Handelnmüssens bloßlegt, 
kann nur auf Philosophie gegründet sein; aber es ist noch der Zukunft vor- 
behalten, erst den Schulorganismus zu schaffen, der auf sie angelegt ist. 
Darüber gedenkt der Vortragende in einer größeren Schrift ausführlich 
zu handeln. (Autorreferat.) 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Oberlehrer Ziert- 
mann, Prof. Dessoir und Dr. Baerwald. Der Vortragende hatte 
das Schlußwort. 

Schluß der Sitzung io»/« Uhr. 



Donnerstag, den 23. Mai 1907. 
Beginn: 8 1 /* Uhr. 

Vorsitzender: Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Herr Moser sprach 

„Zur Psychologie des Klaviertones" 

und demonstriete den Inhalt seines Vortrages an Klavieren, Harmonium, 
Blasinstrumenten und Gesang. 

Dem Klavier werden zwei Fehler nachgesagt : es sei nicht dauerhaft, und 
der Ton genüge nicht höheren musikalischen Ansprüchen, das Klavier 
entbehre der Wahrhaftigkeit. Zahlreiche Klavierspieler und Komponisten 
erachten das Klavier als ein unzureichendes Instrument. Richard 
Wagner sagt, Blasinstrumente ahmen die menschliche Stimme nach, aber 
das Klavier deute den Ton nur an, dessen wirklichen Körper sich zu denken, 
überlasse es der Gehörsphantasie. Der Musiker begnüge sich mit dem „ton- 
losen", d. h. die Töne nur schildernden Instrument, weil er auf demselben 
ohne Beihilfe anderer Menschen arbeiten könne. Die Klangfarben seien 
beim Klavier vermischungsunfähig. Klavier und Gesang oder Orchestermusik 
paßten schlecht zusammen. Eugen d'Albert antwortete auf eine Rund- 
frage der „Zukunft": Der Musiker könne das Klavier benutzen, um seine 
musikalischen Gedanken zur Darstellung zu bringen, als Surrogat deute es 
den Ton nur an, übe dagegen keine unmittelbare sinnliche Klangwirkung aus, 
die den Intentionen der Komponisten wie Beethoven nahe komme. 

L i s z t fühlte sich ebenfalls vom Klavier nicht befriedigt und hat früh- 
zeitig das öffentliche Spiel aufgegeben und nur für Gesang und Orchester 
komponiert. Oscar B i e , der feine Acsthetiker und Geschichtsschreiber 
des Klaviers und seiner Meister, preist das Klavier wegen seiner Viel- 
tönigkeit, aber er will es allein, intim, vor wenigen bekannten Zuhörern, haben, 
er erachtet es nicht für brauchbar im Saal, auf dem Podium, vor Tausenden 
von Zuhörern, es dürfe nicht verglichen werden mit der Violine und dem 
englischen Hont 

Moser: Das Klavier kann nicht gebraucht werden neben der Orgel, 
neben dem Orchester und hebt sich ab von der menschlichen Stimme. Der 
begleitende Klavierspieler soll den Sänger diskret begleiten, während ein 



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Siizungaberirhtr. 



345 



80 oder, wie bei Musikfesten, ein 200 Mann starkes Orchester einen Sanger 
begleiten kann. Dieser Widerspruch kann also nicht in der Quantität, sondern 
nur in der Qualität des Klaviertones liegen. H e 1 m h o 1 1 z hat die ab- 
solute Bewegung der Saiten theoretisch festgelegt, aber das hier vorliegende 
Problem wissenschaftlich kaum berührt. Um den Klavierton zu beeinflussen, 
müssen wir Masse und Elastizität der Saiten, Weichheit und Dicke der Saiten 
und des Hammers und die Zeh, in der der Hammer an der Saite anliegt, 
ins Auge fassen. Wir hören nicht die Saite, sondern nur den Boden, nur 
die Fläche. Der Boden, das Stück Höh, wird gezwungen, mitzuschwingen. 
Das Klavier ist kein Saiten-, sondern ein Platteninstrument, wie die Glocke, 
nur ist diese eine gekrümmte Platte aus Mettall, der Resonanzboden ein« 
ebene Platte aus Holz. Der Ton selbst entsteht durch Zusammenschwingen 
von Boden und Saite, die durch den Hammeranschlag in Bewegung gerät. 
Die Diskrepanz zwischen Klavierton und Orchesterklang liegt in dem Auf- 
bau des Tones, in dem Verhältnis zwischen den Grund- und Obertönen 
des Klaviers und den Tönen anderer Instrumente und der menschlichen 
Stimme. Der Ton der menschlichen Stimme ist unser Idealklang, dem sich alle 
übrigen musikalischen Klänge anzupassen haben. Der Stimmklang aber geht 
nicht über den achten noch harmonisch klingenden Oberton hinaus, während 
beim Klavier noch der 11. und 12. Oberton gehört werden. Diese sind 
aber ihrer Natur nach untereinander und gegen die tieferen Teiltöne dis- 
harmonisch. Heimholt: hat dies erkannt, aber die Diskrepanz nur für 
schwach und nicht für ausschlaggebend erachtet. Das ist aber ein Irrtum, 
wie die tägliche Erfahrung im Konzertsaal beweist, wo immer wieder vom 
Pianisten „diskrete Begleitung" gefordert wird. Den Grund dafür, daß die 
oberen und obersten Teiltöne zu stark hervortreten, sehe ich darin, daß 
das Energiezentrum der von den Saiten geleisteten mechanischen Arbeit 
nicht tief genug liegt, sondern nach oben hin verschoben ist, so daß der 
Grundton nicht der absolut stärkste Ton ist. Dies zeigt sich z. B. deutlich 
bei alten Pianinos, wo die Kontra- und Subkontratöne nicht tiefer, sondern 
höher zu werden scheinen. Soll also der Klavierton dieselbe harmonische 
Wertigkeit wie der Stimmton erhalten, so muß das Energiezentrum aus der 
Mitte heraus nach unten gebracht werden, der Grundton muß der stärkste 
sein, damit ich die oberen disharmonischen nicht mehr höre. 
Ist dies möglich ? 

In alter Zeit verwendete man Messingsaiten, dann im Anfang des 
19. Jahrhunderts weiche Stahlsaiten. In den fünfziger Jahren wurde der 
Gußstahl erfunden, der wegen seiner größeren Härte und Elastizität die 
zehnfache und noch größere Arbeit, d. h. Spannung vertragen kann wie 
die einfache Stahlsaite. Infolgedessen mußte aus dem Holzbau des Klaviers 
ein Eisenbau werden, d. h. die mechanische Montierung der Saite 
erfuhr eine wesentliche Veränderung. Leider machte die akustische Mon- 
tierung diese Veränderung nicht mit, und darin liegt der Grundfehler des 
„modernen" Klaviers, die physikalisch-mechanische Ursache dafür, daß unsere 
so überaus ,, vollkommenen" Instrumente viel weniger musikalisch klingen 
als etwa die berühmten Wiener Flügel von Steiner aus dem ersten Drittel 
des 19. Jahrhunderts. Das erhellt aus folgender Ueberlegung: Der Resonanz- 
boden wird durch die bewegte schwingende Saite in sog. Zwangsschwingungen 



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Sitzungsberichte. 



versetzt. Der Boden muß also zu den übrigen Teilen hinsichtlich Elastizität 
und Masse in richtigem Verhältnisse stehen. Früher war der Boden dünn, 
5 — 8 mm stark ; als Gußstahl aufkam, wurde diese Stärke im wesentlichen 
kaum verändert, weil bei der herkömmlichen berippten Platte Masse und 
Elastizität feindliche Faktoren sind. Der Klavierbauer hat also die Wahl 
zwischen einem kurzen aber starken und einem singenden aber Verhältnis 
mäßig schwachen Ton. Er wählt die Mitte nach seinem und seiner Kunden 
Geschmack; stets aber erzielt er nur ein Tonfragment, weil Masse und 
Elastizität des berippten, also nicht homogenen, sondern mechanisch geteilten 
Bodens unmöglich der Masse und Elastizität der Gußstahlsaitc vollkommen 
angepaßt werden können. Das Resultat ist: der dünne berippte Boden muß 
verlassen und durch den starken, rippenlosen Boden ersetzt werden. Bei 
ihm ist der erzeugte Ton in seinem Aufbau nach Grund- und Obertönen gleich 
wertig und daher die Amalgamierung beider Klangfarben nicht nur 
befriedigend, sondern absolut. Dem entspricht auch die tonpsychologische 
Wirkung beim Zusammenklang von Klavier und Orchester: die Vcr 
Schmelzung ist eine vollkommene. Eine dritte, sehr bemerkenswerte Bestäti 
gung liegt darin, daß Stücke für zwei und mehr Klaviere orchestral wirken, 
wenn sie mit orchestermäßiger Besetzung der Stimmen gespielt werden, 
d. h. wenn die beiden Außenstimmen Baß und Sopran zwei- und mehrfach, 
die Mittelstimmen nur einfach erklingen. 

An den Vortrag schloß sich ein experimenteller Teil, der durch mannig 
fache Kombinationen von zwei Klavieren (Flügel und Pianino) mit Gesang, 
Tenorposaune und Harmonium die behauptete Amalgamierung des Klavier 
tones demonstrierte. 

An der Diskussion beteiligte sich Herr Dr. Cowl. Der Vor 
tragende hatte das Schlußwort. 

Zur Mitgliedschaft meldeten sich Herr Dr. Knoche und Herr Lehrer 
F r e y m u t h. 

Schluß der Sitzung ioi/i Uhr. 



Donnerstag, den 6. Juni 1907. 
Beginn: 8V 2 Uhr. 

Vorsitzender : Herr Martens. 
Schriftführer : Herr W e s t m a n n. 

Herr Hochdorf spricht 

„Zur Psychologie der Presse". 

Es gibt Naturen, die absichtlich Erscheinungen des täglichen Lebens, 
die ihnen begegnen, aus ihrem Denken und Wollen ausschalten, die bewußt 
darauf Verzicht leisten, sich mit einer großen Zahl ökonomisch, sozial oder 
auch künstlerisch wichtiger Dinge zu beschäftigen, sogenannte Artisten. 

Die meisten Menschen besitzen nicht diese Fähigkeit der Selbst 
beschränkung, sie sehnen sich danach, sich in die Umwelt hineinzuleben, 
zu erfahren, was aus der Umwelt auf sie einfließt, was aus der Umwelt 
sie interessieren könnte. Die We^e zur Befriedigung dieses Interesses sind 
verschiedenartig. 



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SiUunysbericfUe. 



347 



Primitivstes Stadium: Umfrage, mündliche Unterhaltung, eine Nach 
rieht wird von dem einen zum andern getragen. Dies ist die ungeschriebene 
Zeitung. 

Anfangsform der geschriebenen Zeitung : acta diurna zur Zeit Casars, 
Stadtklatsch in der römischen Urbs. 

Eine Zeitung im heutigen Sinne finden wir zuerst in den 8oer Jahren 
des 15. Jahrhunderts in Venedig. Der Zeitungsschreiber macht für etwas 
Stimmung bei seinen Lesern. Gaza, der Kaufpreis der Zeitung, Ursprung 
des Namens Gazette, stammt aus jener Zeit. Der Nachrichtendienst wird 
verlassen. 

Aufklärungszeit: Titel und Form der Zeitung werden auf das Neuig- 
keitsbedürfnis der Menschen gemünzt: der Beobachter, der Plauderer, der 
Erzähler usw. Zunächst wird das Material von den Ereignissen der Außen- 
welt gebracht. Es gab damals keine in so kurzen Perioden aufeinander 
folgende Zeitung wie heute. Es werden fixe, eilige Berichte mit ewiger 
Historie zusammengeworfen. „Geschichtskurier" lautet ein Zeitungsnamen. 
Es wird über Tagesgeschichtc berichtet. Erst in der Zeit vor der franzö- 
sischen Revolution entstehen Titel für Neuigkeitsblätter, die eine bestimmte 
Tendenz in das Zeitungsblatt legen wollen. Gör res hat 1798 in Deutsch- 
land das rote Blatt gegründet. Sodann entstanden literarische Richtungen, 
die sich mit den Neuerscheinungen beschäftigten. „Bibliotheken der schönen 
Künste, der schönen Wissenschaften, Frankfurter Gelehrte Anzeigen". 
„Intelligenzblatt". Hier ist angedeutet, daß das Tagesbegebnis geleitet 
werden soll von einer Einsicht, die durch historische und gründliche Er- 
fahrung genährt ist. 

Die Zeitungen und Zeitschriften der Romantiker geben in ihren Namen 
nur geringe Eindrücke in das, was die Verfasser ihren Lesern imputieren 
wollten. Rückstand in der Entwicklung der Tendenzzeirung. „Athenäum". 
Man war zu träumerisch. Die Zeitung heutigen Charakters entstand in 
den Revolutionsjahren: nicht bloß Nachrichten, sondern Bekehrung zu 
bestimmter Meinung. Napoleons Regime entwickelte eine gesinnungs 
tüchtige Tendenzpresse. Napoleon gab den Journalisten Anweisung : 
„Nennen Sie nur immer mich, mich, mich." Er wollte damit sagen, daß die 
Zeitung es in der Hand habe, rein durch die Masse dessen, was sie bringe, 
irgendein Ding wichtig zu machen oder zu töten. Wer selbst mit skeptischer 
Vorsicht eine Zeitung in die Hand nimmt, wird, wenn er oft etwas vor Augen 
bekommt, sich damit beschäftigen. Die bloße häufige Nennung in der 
Presse kann einer Sache Wichtigkeit oder Nichtigkeit beilegen, zum mindesten 
aut kurze £eit. 

Aenderung der Zeitung infolge technischer Fortschritte der letzten 
vier Dezennien: Früher Zeitung ohne erhebliches Betriebskapital möglich. 
Im Jahre 1800 Rekord einer Elberfelder Zeitung, daß sie in sechs Tagen Nach- 
richten aus Paris erhielt. Heute sind Geschehnisse um 1 1 Uhr in Paris, 
um 11 1/4 Uhr in Berlin auf der Straße zu lesen. Die heutige Zeitung 
muß sich ins Riesenhafte ausdehnen können, sie muß infolgedessen auf 
großen, jederzeit flüssig zu machenden Kapitalien basiert sein. Es stehen 
infolgedessen bei einem Zeitungsunternehmen Riesensummen auf dem Spiele, 
welche geschützt und vor Verlust bewahrt werden müssen. Heute will der 



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348 Sitzungsberichte. 



Leser nicht die personliche Meinung irgendeines Mannes aus der Tages- 
zeitung erfahren. Zu diesem Zwecke nimmt er sich eher eine Zeitschrift. 
Die Tageszeitung darf ihm Aufsätze größeren Umfangs nur an Sonn- und 
Feiertagen vorsetzen. Der Leser will von der Tageszeitung Sensationen 
erfahren. Eine ganz bestimmte Form hat das typographische Bild der 
Zeitung erhalten. Nach englischem Muster findet man an der Spitze den 
Leitartikel. Dieser soll ein Summarium dessen sein, was am bedeutendsten 
die Oeffentlichkeit erregt. Früher wurden die Leitartikel mit der Chiffre 
des Verfassers gezeichnet, heute seltener. Dies nicht zufällig. Die 
Leitartikler finden, daß ein großer Teil ihres Verantwortlicbkeits- 
gefühls durch das Verlangen der Zeitung aufgewogen wird, etwas 
weniger kompakt zu geben, etwas weniger intensiv die Empfindungskräfte 
des Lesers zu beschäftigen. Die Anonymität ist bei der Presse als politischer 
und sozialer Macht trotz mancher Bedenken zweckmäßig, in der Kunst- 
kritik wird dagegen noch der Name gezeichnet. Auch in die Kunstkritik 
ist allmählich das Unpersönliche hineingekommen, es wird unterschieden 
zwischen unterhaltender Reportage und ernstem Kunstbericht. 

Die Technik der Nachtkritik des Theaters gefährdet die Qualität 
des Kunstjournalisten. Der Journalist muß alles in Formeln fassen, sich 
auf einen bestimmten Raum einrichten, er hat kaum Gelegenheit, sein Urteil 
zu begründen, er darf nur hinschreiben, was er von Ja oder Nein zu einer 
Kunstsache zu sagen hat; deshalb wird er leicht verführt, eine gewisse 
unruhige Ungerechtigkeit in seinen Stil hineinfließen zu lassen. Der Jour- 
nalist könnte vielfach vorsichtiger, bedächtiger urteilen, wenn er Zeit hätte, 
sich in aller Ruhe über die Dinge zu äußern. Da um i2 3 /4 Uhr Redaktions- 
schluß ist, damit die Blätter rechtzeitig in die Provinz gesandt werden 
können, so hat der Journalist '/i Stunden Zeit, über das, was er vor sich 
gesehen hat, zu schreiben. Die am Uebcrtage erscheinende Kritik ist noch 
hastiger. Sie erscheint in der Abendzeitung des nächsten Tages, 150 bis 
200 Zeilen lang, und muß gegen V»2 — 2 Uhr in die Setzmaschine kommen. 
Dieser Zwang treibt den Journalisten in das Gefühl hinein, daß er unmöglich 
etwas Geschlossenes geben kann, es veranlaßt ihn, leichtsinnig zu werden. 
Dies Gefahr der Zeitung. Sie saugt nicht nur die Persönlichkeit auf, sondern 
sie führt auch der Persönlichkeit Gewohnheiten zu, von denen sie sich nur 
mit großer Energie befreien kann. 

Die moderne Zeitung gewährt einer Anzahl von Kräften Unterkommen, 
deren Vorzug die Fixigkeit ist, Worte aneinander zu reihen. Die Zeitung 
ist aber auch gefährlich der Gesinnung, dem Bewußtsein dessen, was der 
einzelne Mitarbeiter als sozialer und politischer Mensch repräsentiert, der 
politische Redakteur vertritt, ohne daß er sich vielleicht dessen bewußt 
wird, die Meinung einer bestimmten Gruppe, mit deren Augen zu sehen 
er sich gewöhnt hat. Wenn man eine Nachricht vor sich hat, kann man den 
Eindruck ermessen, den die Nachricht auf den Kreis derjenigen haben 
wird, die die Zeitung lesen. Der Redakteur bemüht sich, eine Nachricht, 
einen Artikel, Aeußerungen, die ihm zu persönlich sind, abzuschleifen. Er 
„redigiert". Die Zeitung mit ihren ganz bestimmten Bedürfnissen, ihrer 
jeweiligen Tendenz hat eine Menge Menschen groß gezogen, die dem 
Redakteur die Möglichkeit lassen, durch Streichungen usw. dem Aufsatz 



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Sitzungsberichte. 



349 



den Ton ru geben, den er für die Zeitung braucht. Das Prinzip, Aufsätze 
and Nachrichten auf den bestimmten Ton der Zeitung herzurichten, hat 
die Zeitungskorrespondenz erzeugt. Diese besteht darin, daß ein Unter- 
nehmer wöchentlich eine Anzahl von Nachrichten und Artikeln versendet, 
der Redakteur nimmt davon, was er für seine Tendenz brauchen kann, und 
stutzt dies für die Zeitung zu. Die ganze Bedienung der Zeitung mechanisiert 
sich infolgedessen. 

Eine Diskussion fand nicht statt. 

Schluß der Sitzung oYt Uhr. 



Donnerstag, den 20. Juni 1907. 
Beginn: 8V* Uhr. 
Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer : Herr F e i g s. 
Aufgenommen sind die Herren Lehrer Max Freymuth und Nerven- 
arzt Dr. Otto Leers. 

Herr Fritz Leppmann spricht über 

„Gestehen und Leugnen". 

Der Vortrag erscheint im Sonderdruck. 

Schluß der Sitzung 10 Uhr. 

Donnerstag, den 4. Juli 1907. 
Beginn: 8 Uhr 25 Minuten. 

Vorsitzender : Herr Martens. 
Schriftführer : Herr Westmann. 
Herr Dr. B e r t h o 1 d spricht über 

„Symptome exzentrischer Zcitregunge n". 

Exzentrische Winkel: im Gegensatze zu Zentriwinkeln, deren Spitze 
im Kreismittelpunkt liegt. Daher exzentrische Gedanken und Handlungen: 
solche, denen gleichsam der feste Mittelpunkt fehlt. Von Gustave 
F 1 a u b e r t berichtet Brandes, er habe sich förmliche Sammlungen 
von Dummheiten angelegt. Nach diesem Vorbild sammelt Vortragender 
seit Jahren Dokumente menschlicher Narrheit. Aus seinem Museum, das 
bereits gut gefüllt sei, wolle er einiges vorlegen und kommentieren. 

1. Die im Jahre 1900 begründete „Neue Gemeinschaft" der Brüder 
Heinrich und Julius Hart. Der Ideenkreis der „Neuen Gemein 
schaff: Weltanschauungs-, Lebens- und Gesellschaftsreform, kurz Mensch- 
heitsbeglückung. Diese von jeher ein Tummelplatz der Exzentrizität des 
karikierten Apostolates. Weitere Proben : Einladungen der Frau Helene 
v. W. ; Astl-Leonhard „Ein deutsches Testament" (Wien 1897); 
„Kulturfundamente" und „Kulturziele" (G. F. M ü 1 1 e r , Berlin 1907) ; Dr. Nor- 
bert Grabowsky; Robert Wihans „Veritas", „Organ zur Fest 
Stellung der Wahrheit in den wichtigsten Fragen der Menschheit und zur 
Herstellung des geistigen Kontaktes aller Denker", Hans Würtz Altona 
„Neuland des Mädchenturnens" ; Dr. F. W o 1 1 n y „Moderne Kultur" (Berlin 
I9°5); J- Cimburek „Wir bewohnen eine allgegenwärtige Volleinhcit ab- 
soluter Reinheit, die uns erleuchtet". 



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Sitzungsberichte. 



II. Soziales und Politisches: R. Dost „An die Machthaber der Welt" 
(Berlin 1905) ; H. Ganswindt „Das jüngste Gericht" ; G ö s 1 i n g c/a Prof. 
Reinhold; J. Lanz - Liebenfels „Theozoologie oder die Kunde von den 
Sodomsäfflingen und dem Götterelektron (Wien 1906); zwei Petitionen an 
den Reichstag. 

III. Belletristische Vcrlagsankündigungcn : Axel Juncker, Stutt- 
gart, als exemplum vitiis imitabile; dessen Weihnachtskatalog von 1903: 
autobiographische Notizen und Besprechungen, verschroben und markt- 
schreierisch ; Margarethe Beutler; Verlagsbericht von Jacques 
Hegner 1905; S. Fischer, Berlin; einige andere; Schuster & 
L o e f f 1 e r , Berlin : deren Ankündigung von WandaSacher-Masochs 
„Lebensbeichte", hinüberleitend zu 

IV. Das sexuelle Problem und das Konträrsexuelle, das Erotomanische, 
die Obszönität und der Exhibitionismus in der gegenwärtigen deutschen Lite- 
ratur. Der Spobr sehe Verlag in Leipzig als Infektionsherd ; die Oscar 
W i 1 d e - Apotheose ; das sogenannte Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee 
der Herren S p o h r und Dr. Magnus Hirschfeld; Dr. Iwan Bloch 
(alias: Dr. Dühren, Dr. Hagen, Dr. Veriphantor) und Inhalts- 
verzeichnis seiner „Sexuellen Osphresiologic" ; die Versandbuchhandlung 
K. Singer & Co.; Friedrich S. Krau 13* „Anthropophyteia" und „Bei- 
werke zum Studium der Anthropophyteia" ; „S a g i 1 1 a s Bücher der namen- 
losen Liebe" (Berlin 1905) ; Frank Wedekind und Erich Mühsam. 

V. Literarische, musikalische, ästhetische Kritik : AlfredKerr; Sieg- 
fried Jacobsohn; Oscar Bic; Otto Roese „Richard Strauß* 
Salome. Ein Wegweber durch die Oper" (Berlin 1906); F. H. Clark 
„L i s z t s Offenbarung"; Dr. V o 1 b a c h ; Zeitungsartikel von 
Dr. Georg Simmel an der Berliner Universität : „R o d i n s Plastik und 
die Geistesrichtung der Gegenwart" und über „Den Bildcrrahmcn" (1902). 

VI. Auch im Felde der Wissenschaft — zumal wenn man autodidaktische 
oder autoignorante Pseudowissenschaft darunter mit einbegreift — fehle 
es nicht an Exzentrizitäten. Vortragender brauche nur an den Schulfall des 
„Klugen Hans", an die Exzesse sog. okkulter Wissenschaft, des Spiri- 
tismus und der Theosophic, Christian science, Gesundbeten und Telepathie usw. 
erinnern. Dr. Wilhelm Fließ „Der Ablauf des Lebens, Grundlagen der 
exakten Biologie" (Wien 1906) ; Dr. Christoph Ruths „Induktive Unter- 
suchungen über die Fundamentalgesetze der psychischen Phänomene" (Darm- 
stadt 1897); Ingenieur A. Patschke „Lösung der Welträtsel durch das 
einheitliche Weltgesetz der Kraft" (Münqhen 1905); Dr. Bellermanns 
Beweis aus der neueren Raumtheorie für die Realität von Zeit und Raum 
und für das Dasein Gottes" (Programm des Königstädtischen Realgymnasiums, 
1889) und als Pendant dazu Dr. Piper „Ein mathematischer Beweis der 
Unsterblichkeit des Menschen" (Lemgo 1888); sc hließlich noch zwei Kleinig 
keiten aus der Niederung des Schwachsinns. (Autorreferat.) 

In der Diskussion sprachen die Herren Dr. Knoche und 
Martens. 

Schluß der Sitzung io«/? Uhr. 



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Sitzungsberichte. 



351 



Wintersemester 1907/08. 

Vortragsplan. 

17. Oktober, Herr Privatdozent Dr. Frischeisen-Köhler: Die Be- 
deutung der Psychologie für die Geisteswissenschaften. 

31. Oktober, Herr Dr. R. Hennig: Okkultismus und wissenschaftliche 
Forschung. 

7. November, Herr Prof. Dr. Max Dessoir: Die Psychologie der Aus- 
sage, angewendet auf okkultistische Berichte. 
21. November, Herr Prof. Dr. Karl Schleich: Psychophysik des 
Rhythmus. 

5. Dezember, Herr Dr. P. Möller, Nervenarzt, Berlin-Grunewald: 

Ueber Anomalien der Begabung. 
12. Dezember, Herr Dr. Feigs: Suggestion und Pädagogik. 
9. Januar, Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Eulenburg: Pathologische 

Schlafzustände. 

23. Januar, Herr Oberarzt Dr. Gallus: Geisteszustand der Epileptiker. 

6. Februar, Herr Dr. Georg Fiat au, Nervenarzt: Psychologie der 

nervösen Kinder. 

20. Februar, Herr Oberlehrer Dr. Pappenheim: Experimentieren im 
Unterricht und Gewinnung theoretischer Kenntnisse auf Schulen. 
5. März, Herr Dr. R. B ä r w a 1 d : Beobachtungen bei Erinnerungsversuchen. 
19. März, Herr Dr. Albert Moll: Homosexualität und Freundschaft. 

Außerdem wird beabsichtigt, durch die Psychologische Gesellschaft, 
mit Rücksicht auf die Zunahme der okkultistischen Strömung, eine Umfrage 
bei gebildeten Personen über okkultistische Phänomene stattfinden zu lassen. 

Alle Anfragen sind an den I. Vorsitzenden, Herrn Dr. Albert Moll, 
Berlin W., Kurfürstendamm 45, zu richten. 



VI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Char- 
lottenburg (3.-5. April 1907). 

(Bericht, erstattet von Friedrich Lorcntz.) 

Das große Interesse, welches man den Bestrebungen der Hilfsschul- 
sache entgegenbringt, zeigte sich deutlich in dem regen Besuch des dies 
jährigen Hilfsschultagcs zu Charlottenburg. Wohl an 1000 Teilnehmer ver- 
einigten sich in dem künstlerisch geschmückten Saale des Tiergartenhofes 
zu den Beratungen, welche von dem Verbandsvorsitzenden, Stadtschul rat 
Dr. W e h r h a h n - Hannover, geleitet wurden. 

In der Vorversammlung am 3. April wurden hauptsächlich organi- 
satorische Fragen beraten. Es wurde die Einrichtung eines Verbandsaus 
schusses und auch die Gründung einer nordwestdeutschen Hilfsschul- 
vereinigung beschlossen. Die Herausgabe eines besonderen Verbandsorgans 
wurde empfehlend der Hauptversammlung anheimgegeben, welche hernach 
den Vorstand zur weiteren Erledigung dieser Angelegenheit ermächtigte. 



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352 



SitzungsbericJUe. 



Es soll hinfort eine eigene Zeitschrift erscheinen, welche den Verbands- 
interessen gewidmet ist. 

In seiner Begrüßungsansprache wies der Vorsitzende hin auf zwei 
wichtige Verfügungen und Entscheidungen, die in neuerer Zeit ergangen 
sind. Durch eine Entscheidung des Kammergerichts ist die Hilfsschule 
als öffentliche Schule anerkannt worden, so daß deren Besuch hinfort auch 
zwangsweise herbeigeführt werden kann. Eine im Herbst des vorigen Jahres 
ergangene gemeinsame Verfügung des Kultusministeriums sowie der Mini- 
sterien des Innern und des Krieges betrifft die Regelung der militärischen 
Ausbildung der Schwachbefähigten, dergestalt, daß jeder Freund der Hilfs- 
schulsache daran seine besondere Freude haben muß, umsomehr, als diese 
Verfügung in so kurzer Zeit nach Besprechung dieser Angelegenheit erfolgt ist. 

Den ersten Vortrag hielt Hauptlehrer Horrix - Düsseldorf über 
das Thema: 

„Der Personalbogen in der Hilfsschule". 

Die Notwendigkeit der Individualisierung beim erziehenden Unter- 
richt, insbesondere bei den Hilfsschülern, die Mannigfaltigkeit der Schüler- 
typen einer Klasse oder Schule und die mangelnde Treue unseres Gedächt- 
nisses verlangen nach einer schriftlichen Fixierung aller jener Charakter- 
eigentümlichkeiten der Einzelpcrsünlichkeit, welche zum Zwecke genauer 
Beurteilung und richtiger Behandlung durchaus beachtenswert sind. Diese 
Aufzeichnungen geschehen am besten auf einem Personalbogen, der für 
jeden Hilfsschüler auszufertigen wäre. Der Vortragende legte der Ver- 
sammlung ein von ihm entworfenes Schema zu einem solchen 
zur Begutachtung und Annahme vor, das in möglichst einheit- 
licher Form an allen Hilfsschulen zur Einführung gelangen soll. 
Derselbe würde dann nicht allein für die Erziehung und Bildung des Schwach 
sinnigen nur nutzbar gemacht werden können; er würde für denselben auch 
im späteren Leben von großer Bedeutung sein, insofern, als er ihm einen 
Schutz gewähren würde vor falscher Beurteilung vor Gericht oder gegen 
eine etwaige Aushebung zum Militärdienste. Aus Rücksicht auf die leib 
liehe und seelische Beschaffenheit des Hilfsschülers zerfällt der Personal- 
bogen in zwei Teile, den medizinischen und den pädagogischen, von denen 
der erstere seitens des Hilfsschularztes, der andere dagegen vom Hilfs- 
schullchrer ausgefüllt werden soll. Ganz spezielle Anweisungen gab der 
Redner dann noch über die bureaukratische Behandlung des Personalbogens. 

Die sich daran anschließende Diskussion führte des weiteren zur Er- 
örterung der Frage über die Wirksamkeit von Schularzt und Lehrer in der 
Hilfsschule. Dieselbe dürfte sich dann wohl von selbst erübrigen, wenn 
erst einmal die Vorbedingungen für die Wirksamkeit der beiden und ihre Kom- 
petenzen festgelegt sind. Sobald der Lehrer genügende psychiatrische Kennt- 
nisse besitzt und sich auch mit der Psychopathologie vertraut gemacht hat, wird 
er aus den ärztlichen Angaben mit Erfolg seine psychischen Beeinflussungen 
und pädagogischen Maßnahmen herleiten können. Die Angaben aber des 
besonders psychiatrisch geschulten Hilfsschularztes decken die ätiologisschen 
Beziehungen auf, stellen die prognostischen Daten fest und zeigen dem 
Lehrer die therapeutischen Beeinflussungen. So wird auch die von dem 



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Sitzungtiterichte. 



353 



Mannheimer Stadtschulrat Dr. Sickinger geforderte freie Bahn 
geschaffen sein für uneingeschränkte Aeußerung des einen oder des anderen 
zum Wohle der Schwachbefähigten. Auch die schultechnische Behandlung 
des Personalbogens erfuhr in der Debatte eine eingehende Besprechung. 

Der zweite Vortrag behandelte „Die schriftlichen Arbeiten in der Hilfs- 
schule". Der Referent Frenzel, Leiter der Hilfsschule in Stolp i. P., 
stellte die Weckung der Selbständigkeit des Schülers in den Vordergrund 
seiner Ausführungen. Als schriftliche Arbeiten forderte der Referent: dio 
Uebungen im Schön- und Rechtschreiben sowie die freie schriftliche Dar- 
stellung eigener Gedanken. Diese Uebungen sollen bereits auf der Unter- 
stufe beginnen und auch auf den übrigen Stufen fortgesetzt werden; dabei 
immer im Zusammenhang bleibend mit den unterrichtlichen Uebungen und 
Unterweisungen in der Muttersprache. Wenn wir auch mit dem Vortragenden, 
die Befähigung der Hilfsschüler zur Anfertigung einfacher schriftlicher 
Arbeiten, wie sie das Leben vom kleinen Handwerker und Geschäftsmann 
fordert, als Ziel dieser Uebungen anerkennen, so soll man doch diesem zu- 
liebe nicht etwa die Eigenart des Schülers opfern. Musteraufsätze, wie sie 
von einem Teilnehmer der Versammlung vorgelegt wurden, sind kaum als 
Produkte eines „Hilfs"schülers zu bezeichnen. Nach kurzer Debatte, in der 
besonders auf die Planmäßigkeit und Ausdauer bei solchen schriftlichen 
Arbeiten hingewiesen wurde, wurden die vom Referenten vorgeschlagenen 
Thesen angenommen. 

Die im Auftrage des Vorstandes aufgenommene Statistik ergab die erfreu- 
liche Tatsache, daß keine Stadt unter 100000 Einwohnern ohne eine besondere 
Unterrichtsanstalt für Schwachbefähigte in Deutschland vorhanden ist. Von 
den Entlassenen aus den Hilfsschulen waren 66,97 Prozent erwerbsfähig, zu 
welchem Resultate wohl auch die Hilfsschule ihr Teil beigetragen haben 
mag, wodurch ihre soziale Notwendigkeit eine weitere Begründung erfährt. 

Die Hauptversammlung am 4. April wurde durch die Begrüßungsreden 
der Vertreter der verschiedensten Ministerien und Körperschaften eröffnet. 
Geheimrat Heuschen begrüßte die Versammlung namens des Kultus- 
ministeriums. Geheimer Obcrregicrungsrat Heinrichs sprach als Ver- 
treter des Ministeriums des Innern. Schulrat Schütz und Schulrat 
Dr. Langer vertraten das württembergische und das sächsische Kultus- 
ministerium. Namens der Stadt Charlottenburg bewillkommnete Bürger- 
meister Dr. M a 1 1 i n g die Versammlung. Er wies hin auf die mannigfachen 
Bestrebungen und Reformen, die Charlottenburg auf dem Gebiete de9 
höheren und niederen Schulwesens verwirklicht hat, und welche ihr den wohl- 
verdienten Ruf als „Stadt der Schulen" eingetragen haben. Von ganz 
besonderem Eindruck waren auch die Worte des Sekundarlehrers Auer- 
Schwanden, der als Vertreter des Schweizerischen Bundesrats und als Ver- 
treter der Konferenz für das Idiotenwesen erschienen war. Nach einer 
Würdigung Deutschlands für die Verdienste auf dem Gebiete des Hilfsschul- 
wesens wies er hin auf seinen großen Landsmann Pestalozzi, dem auch 
diese Tagung äußerlich ihre Huldigung erwiesen habe. Durch die Arbeit 
an den Schwachen und Hilfsbedürftigen wird am besten der Geist dieses 
Volkserziehers lebendig erhalten. 

Hierauf hielt Stabsarzt Dr. Stier von der Kaiser Wilhelm-Akademie 
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 7 



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354 



Sitzungsberichte. 



einen Vortrag über „den Militärdienst der geistig Minderwertigen". Aus- 
gehend von dem Zweck des Heeres und der großen Bedeutung des Heeres- 
ersatzgeschäftes, fordert er auch die Mitarbeit weiterer Kreise, besonders 
die der städtischen Kollegien und der Pädagogen bei diesem wichtigen 
Werke der Ausscheidung dienstuntauglicher Leute. Zu diesen gehören auch 
jene Naturen, welche man zusammenfaßt unter dem Namen der „psycho- 
pathischen Minderwertigen". Psychiatrisch betrachtet ergeben sich hier drei 
Gruppen: die intellektuell Schwachen, die intellektuell einseitig Begabten 
und die moralisch Defekten. Während unsere heutige Zeit mit ihrem sozialen 
Sinn auch für den Schwachbegabten noch ein Plätzchen zu seiner Betätigung 
gefunden hat, ist deren Verwendung im Heere bei jeglichem Mangel an 
Individualisierung sehr erschwert. Nur einzelne moralisch Gutmütige werden 
hier manchmal günstig beeinflußt, indem die straffe Disziplin ihr Selbst- 
vertrauen weckt und stärkt und damit die Ergebnisse einer falschen Erziehung 
zu paralysieren vermag. Oft stellt sich aber ein Zwiespalt zwischen Wollen 
und Können bei diesen Elementen ein. Aus einer daraus folgenden dauernden 
seelischen Depression resultieren dann häufig Hecresflucht oder Gehorsams- 
verweigerung. Anders verhalten sich die Schwachsinnigen mit reizbarem, 
leicht empfindlichem Charakter und einseitiger Willensschwäche. Sie leisten 
aktiven und passiven Widerstand, vergehen sich tätlich an ihren Vorgesetzten 
und treiben bewußte Opposition gegen deren Anordnungen und Befehle. 
Sie verfallen darum oft der gerichtlichen Bestrafung, füllen die Gefängnisse 
und bilden so nur eine Gefahr für den Staat und die Gesellschaft. Die dritte 
Kategorie, die moralisch Defekten, sind oft schon vor ihrer Einstellung 
kriminell geworden. Ihr Kampf mit den Gegensätzen der bestehenden Ordnung 
findet auch in der Armee seine Fortsetzung und macht sie untauglich zum 
Heeresdienst. 

Der Schaden, der aus der Einstellung solcher Elemente in das Heer 
erwächst, besteht zunächst in der unnützen Zeitverschwendung bei ihrer ver- 
suchten Ausbildung, sodann in den vermehrten Krankenzugängen 
und in der unnötigen Aufwendung pekuniärer Mittel für den 
Rücktransport solcher Untauglicher. Bedeutender ist noch der 
moralische Schaden, den sie anrichten, indem sie den gleichmäßigen Gang der 
Ausbildung der übrigen Mannschaft hemmen. Sie sind aber besonders oft 
die Ursache der Soldatenmißhandlungen seitens mancher doch pädagogisch 
ungeschulter Ausbildner. Es ist darum schon seit Jahren das Bestreben der 
Heeresverwaltung, der Einstellung solcher untauglicher Elemente zu begegnen. 
So sind die ärztlichen Verwaltungen stetig bemüht, den Sanitätsoffizieren 
Gelegenheit zur gediegenen psychiatrischen Ausbildung zu geben, insbesondere 
durch Abkommandierung derselben an psychiatrische Anstalten. Durch Er- 
richtung von psychiatrischen Bcobachtungsstationen an den größeren Garnison- 
lazaretten soll des weiteren eine rasche Auffindung von psychiatrischen 
Störungen ermöglicht werden. Besonders aber ist man in neuerer Zeit 
bestrebt, die Einstellung geistig Schwacher überhaupt zu verhindern. Dieses 
wird sich am besten ermöglichen lassen, wenn bei dem Ausmusterungsgeschäft 
eine Vorgeschichte des zu Musternden vorhanden ist, welche den Sanitäts- 
offizieren Fingerzeige gibt. Es wird darum Pflicht der Hilfsschulleiter sein, 
in genauester Weise der Ersatzbehörde zu berichten, um die Schwach- 



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Sitzungsberichte. 



355 



sinnigen rechtzeitig vor ihrer Einstellung in das Heer erkennen zu können. 

Des weiteren verbreitet sich der Referent noch über die soziale Be- 
deutung der Hilfsschulen überhaupt, als deren Vorzüge er folgende anführte: 

1. Die Befreiung der Volksschulen von den Nichtvollsinnigen und damit 
die Möglichkeit der besseren Ausbildung beider Gruppen. 

2. Die Anbahnung einer Umgestaltung des bis jetzt bestehenden Ver- 
geltungsrechtes unserer heutigen Kriminalpolitik in Erziehungsmaßnahmen. 

3. Die Verbreitung einer milderen Anschauung im Volke bezüglich der 
Geistesschädigungen. 

Die Früchte des gemeinschaftlichen Vorgehens von Hilfsschule und 
Musterungsbehörde behufs Vermeidung der Einstellung von geistig Minder- 
wertigen zeigen sich jetzt schon in der Minderung der Abgänge aus der Armee 
auf Grund geistiger Schwäche, in dem Sinken der Selbstmordziffern in dem 
Heere und in dem Verstummen der Klagen über Soldatenmißhandlungen, 
auch zum Teil in der Verminderung der verhängten gerichtlichen Be- 
strafungen. Als schönsten Erfolg vereinten Zusammengehens verkündet der 
Redner zum Schluß seiner Ausführungen: 

„Gewiß! Schutz den geistig Minderwertigen! Aber mehr noch: Schutz 
der Armee vor den geistig Minderwertigen I" 

Von einer Diskussion dieses mit reichem Beifall aufgenommenen Vortrags 
wurde abgesehen. 

Der Korreferent, Hauptlehrer K i e 1 h o r n - Braunschweig, legte der 
Versammlung zwei Exemplare vor, die als Bericht über jeden schwachsinnigen 
Schüler seitens der Schule ausgefüllt und in Listen der Ersatzbehördc zur 
Erleichterung des Musterungsgeschäftes übergeben werden sollen. 

Im zweiten Vortrage des Tages berichtete Filialleiter Fuchs über „Die 
Organisation und die Erfolge der Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte 
in Berlin". Im Jahre 1906 wurde eine solche Anstalt zuerst in Berün in das 
Leben gerufen, deren Leiter der Vortragende ist. Die Unterrichtserfolge 
dieser Anstalt sind sehr erfreuliche in dem ersten Jahre ihres Bestehens. 
Die Notwendigkeit einer solchen Institution ergibt sich, wenn man bedenkt, 
wie gerade die Schwachsinnigen den mannigfachsten sozialen Gefahren 
ausgesetzt sind. Die Art und Weise des Unterrichts in der Fortbildungsschule 
paßt sich der Hilfsschule durchaus an. Elementares Lesen, Schreiben, 
Rechnen, aber auch Haushaltungsunterricht für die Mädchen und Gesetzes- 
kundc für Knaben sind die Unterrichtsfächer. Durch alle Unterweisungen 
sollen die Schüler hineinwachsen in das praktische Leben. Als besonders 
erwünscht sieht der Referent die Angliederung eines Arbeitsnachweises an 
und betont für die Auswahl der Berufe für Schwachsinnige insbesondere 
die Forderung, sie nicht hineinzuführen in selbständige Handwerksbetriebe. 
Sie eignen sich vielmehr weit besser für Tcildienste, die nicht ein so scharfes 
Nachdenken erfordern. Die Fürsorge für das persönliche Wohlergehen der 
Zöglinge ist auch die Aufgabe der Fortbildungsschulen für Schwachbeanlagte. 
Es wäre wünschenswert, wenn recht viele Kommunen gleich der Reichshaupt- 
stadt gleiche Fortbildungsanstalten auch für schwachbefähigte Jünglinge und 
Jungfrauen einrichten würden. Für die letzteren insbesondere wurde in der 
Diskussion der Wunsch geäußert nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen, 

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356 



Stitzungtherichte. 



welche sie vor einer zweiten Verführung und damit oft vor ihrem gänzlichen 
moralischen Niedergange bewahren sollen. 

Als letzter Punkt stand zur Beratung: „Die Neuorganisation der Char- 
lottenburger Gemeindeschulcn mit Rücksicht auf die minderbegabten und 
minder leistungsfähigen Schüler", über welchen Punkt Rektor Sandt- 
Charlottenburg referierte. Er schilderte die Gruppierung der Charlotten- 
burger Volksschüler, welche nach dem Vorschlage des Stadtschulrates 
Dr. N e u f e r t daselbst zur Einführung gelangt ist. Anlehnend an das 
Mannheimer System, soll eine Gruppierung des Schülermatcrials derart 
erfolgen, daß eine Berücksichtigung der Schülerindividualität mehr als bis- 
her erfolgt. Zur Vorbereitung solcher Kinder, welche vorerst noch vom 
Schulbesuch zurückgestellt worden sind, werden Schulkindergärten ein- 
gerichtet. Die Förderung schwacher Kinder, welche in den eigentlichen 
Normalklasscn nicht mit fortkommen, geschieht in den Grundklassen. Hier 
wird ihnen vom Klassenlehrer in drei Stunden wöchentlich Nachhilfeunter- 
richt erteilt. Auch in den eigentlichen Normalklassen erfahren die schwach- 
begabten Kinder eine ganz besondere Berücksichtigung. Für diejenigen 
Kinder nun, deren mangelnde geistige Kräfte beim Fehlen von Defekten 
eine Ueberweisung in die Hilfsschule nicht notwendig erscheinen lassen, 
werden B-Klassen eingeschoben. Dieses System ist fünfklassig mit raeist 
1 1/2 jährigen Cöten. In den geminderten Klassenfrequenzen und der Er- 
teilung von Nachhilfestunden liegt eine besondere Bürgschaft für die Fort 
bildung minderbegabter Schüler, denen bei Hebung ihrer geistigen Kräfte 
der Zutritt zu den Normalklasscn wieder gestattet wird. Auch für die 
besonders Begabten ist eine Einrichtung — die A-Klassen — vorgesehen, 
welche sie über die Ziele der allgemeinen Volksschule hinaus fördern soll 
Dieser organisatorische Ausbau der Volksschulen legt der Stadt Charlotten- 
burg nicht unbedeutende Kosten auf. 

Die sich daran anschließende Diskussion brachte mancherlei Punkte 
für und gegen das Charlottenburger und Mannheimer System. Die Befür 
worter dieser Systeme hoben besonders hervor, wie durch eine möglichst 
weitgehende Differenzierung des Schülermaterials die Leistungen der ein 
zelnen Klassen ganz erheblich erhöht werden könnten. Die Gegner wollen 
die Notwendigkeit der Zersplitterung der Schülermassen nicht einsehen, 
umsomehr, als für die Teilung nach Begabungsgruppen in den Vcrsetzungs 
Prüfungen kein ausreichendes Hilfsmittel zu sehen ist. Die möglichste Herab- 
setzung der Klassenfrequenzen wurde als eine Maßnahme von weit größerer 
Oekonomic gepriesen, welche für sich noch einen weiteren Vorzug bean 
spruchen kann, nämlich den der allgemeinen Durchführbarkeit sowohl in 
städtischen als auch in den ländlichen Schulverhältnissen. 



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Berichte und Besprechungen. 



L. Habrich, Pädagogische Psychologie. Die wichtigsten 
Kapitel der Seelenlehre unter durchgängiger An- 
wendung auf Unterricht und Erziehung vom Stand- 
punkt christlicher Philosophie anschaulich dar- 
gestellt für Lehrer und Erzieher. 2. Aufl. Kempten 
1903. 659 Seiten. 

Gemäß der Annahme der zwei Grundvermögen der Seele zerfällt 
das Buch in zwei Abteilungen, deren erste behandelt: das Erkenntnis- 
vermögen, deren zweite: das Strebevermögen. Das zweite Ver- 
mögen findet aber schon in der ersten Abteilung Berücksichtigung. 

In der Einführung spricht sich H. über seine Prinzipien aus: 

„Das Ziel der Erziehung ist uns gegeben in der Sittenlehre des 
Christentums. Aber auch der christliche Unterricht, die christliche Er- 
ziehung müssen sich auf die Gesetze des Seelenlebens stützen, wenn sie 
ihr Ziel auf dem besten und sichersten Wege erreichen will." In der Be- 
handlung der Fragen hat H. darauf Bedacht genommen, sich in allen 
Hauptpunkten in wesentlicher Uebereinstimmung mit der aristotelisch-scho- 
lastischen Philosophie zu halten. Das will aber trotzdem den Verfasser 
nicht gehindert haben, die haltbaren Ergebnisse der neuen Seelenlehre, 
der Kinderforschung, der Experimcntalpsychologie, der Psychophysik anzu- 
erkennen und aufzunehmen. In der Lehre von der Wahrnehmung, der Vor- 
stellung, der Verknüpfung der Vorstellungen, der Apperzeption will H. die 
Ergebnisse der neueren Seelenlehre, insbesondere auch die von Herbart, 
benutzt haben. Schade nur, daß man davon sehr wenig bemerkt, wie über- 
haupt H.s Polemik gegen die ,,neue Seelenlehre' , durchaus engherzig und 
einseitig erscheint. 

Die Haupt- und Grundfrage des menschlichen Lebens ist für H. : Hat der 
Mensch eine unsterbliche Seele ? Es scheint ihm dies auch die wichtigste Frage 
für denjenigen, der sich dem Studium der Seclenlehrc zuwendet. Bezeich- 
nend für die ganze Auffassung H.s von der Psychologie sind folgende 
Aeußerungen: „ . . . was gelten mir alle Lehren von der Wahrnehmung, 
der Vorstellung, dem Gedächtnis, oder die neueren Fragen von der Er- 
müdung, von der physiologischen Zeit, oder die Fragen deT Kinder- 
psychologie . . . neben der Hauptfrage: Habe ich eine unsterbliche Seele? 
Sie sind ein unbedeutender Kleinkram neben der großen Hauptsache." 



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Berich lr und Hcsprechungm. 



H. ist der Menschengeist mit seinen Gott ebenbildlichen Kräften, 
Vernunft und Willensfreiheit, der Hauptgegenstand der pädagogischen Psycho- 
logie. Unter den psychologischen Erscheinungen aus dem Gebiete des 
Wollens ist H. die christliche Tugend die wichtigste. Sie soll 
auch psychologisch erforscht und verstehen gelernt werden. Auch die 
Gnadenwirkung in der menschlichen Seele ist ein psychologischer Vor- 
gang. Die Lehre von der Erbsünde ist H. nicht nur ein, unentbehrlicher 
Ausgangspunkt der praktischen Erziehungstätigkeit, sondern auch ein Licht 
zur rechten Erfassung des Verhältnisses zwischen sinnlichem und geistigem 
Begehren in der pädagogischen Psychologie. 

H. richtet an die Vertreter der übrigen christlichen Konfessionen 
die Aufforderung zu gemeinsamer Pflege der christlich - pädagogischen 
Wissenschaft und zu vereinter Abwehr der verderblichen Bestrebungen einer 
ungläubiger. Pädagogik. 

Wie sich mit all diesem sterilen Dogmatisieren der Satz reimt: 
„Wahre Wissenschaft kann nie ohne Streben nach Fortschritt gedacht 
werden," ist mir ein Rätsel. 

I. Einleitung in die Seelenlehre. Die Seelenlehre ist die 
Lehre von den Kräften, Zuständen und Tätigkeiten der menschlichen Seele, 
und deshalb muß sich auf sie die Wissenschaft von der Erziehung gründen. 
Die Psychologie baut sich auf auf theologischen Wahrheiten über die 
menschliche Seele, von denen neun mitgeteilt werden. H. gibt dann 
eine oberflächliche, durch Popularisierung direkt verfälschende Uebersicht 
über Anatomie und Physiologie des Nervensystems in dem Kapitel : 

II. Die Sinneswerkzeuge und ihre Tätigkeit. 
Dankenswert sind die Bemerkungen über Erkrankung und Pflege 
dieser Organe. Die Sinnesempfindungen sind das objektive, die 
Empfindungen von Lust und Unlust das subjektive Element der 
Sinneswahrnehmung. Es tritt hierbei der theologische Gesichtspunkt stark 
in den Vordergrund. Bei der Erörterung der Vorzüge der höheren Sinne 
gegenüber den niederen kommt H. zu dem höchst merkwürdigen Schluß: 
„Streng genommen kann man sich den Geruch oder Geschmack der 
Speisen gar nicht vorstellen, sondern nur, daß man den Genich oder 
Geschmack bei einer oder mehreren bestimmten Gelegenheiten empfunden 
hat. Die Klarheit der zurückgebliebenen Vorstellungen reicht höchstens 
aus, um bei erneuter Wahrnehmung dieselben als mit der früheren überein- 
stimmend wiederzuerkennen." — Eigentlich unstatthaft ist der mittel- 
alterliche Terminus „Gefühl" für den Tastsinn. Beigefügt sind die 
„Vorzüge der höheren Sinne" vom hl. Thomas. — Die Frage: „Wo 
nimmt die Seele wahr", beantwortet H. dahin, daß beim Sehen z. B. 
die Seele sowohl im Auge als im Gehirn tätig ist. Das Sehen findet 
also schon im Auge statt und wird durch das Gehirn zu einem bewußten. 
Die Seele ist im Körper gleichmäßig gegenwärtig, und sowohl die be- 
wußten als auch unbewußten Sinnestätigkeiten sind ihr zuzuschreiben. — 
Der Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung wird so gefaßt, 
daß die Empfindung sich nur auf Erkenntnis der Zustandsveränderungefi 
im empfindenden Subjekt beschränkt, also subjektiv ist, die Wahr- 
nehmung dagegen faßt die Dinge und Erscheinungen der Umgebung auf, 



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Berichte und Besprechungen. 



359 



sie ist also objektiv. Die Wahrnehmung stellt also eine Erkenntnis 
der Außenwelt dar. Die Leibesempfindung (Organempfindung) schreibt H. 
einem besonderen Sinn, dem „inneren Sinn", zu; dieser steht den fünf 
Sinnen, die uns die Außenwelt gibt, selbständig gegenüber, indem er 
sich auf die eigenen inneren Zustand;- der erkennenden Persönlichkeit 
richtet. Wegen der hemmenden Wirkung des Ueberwiegens der Leibes- 
empfindung soll der Lehrer zwischen den Stunden einige Turnbewegungen 
machen lassen. Auffallend ist es. daß H. den Terminus Reizschwelle" 
erst Fechner und Empfindungsschwelle" erst Wundt zuschreibt. Die 
Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung hängt ab von der ange- 
messenen Stärke und Wiederholung des Reizes, von der Aufmerksamkeit 
und von den Vorkenntnissen. Wenn der Unterricht deutliche Wahrneh- 
mungen erzielen will, muß der Lehrer immer das Neue an das* bereits 
Bekannte anknüpfen. Bei Darbietung des Neuen soll der Lehrer stets 
die Schüler an das erinnern, was sie vom Gegenstande bereits wissen. — 
III. Vorstellungen, ihre Verknüpfung, Einprägung, 
Wiedererzeugung, Umgestaltung. Die Vorstellung ent- 
spricht der Wahrnehmung; sie stimmt mit ihr überem, — sie ist ja der 
von der Wahrnehmung fortdauernde Eindruck — , nur daß den Vor- 
stellungen die sinnliche Lebhaftigkeit der Wahrnehmungen fehlt. Die 
Vorstellungen sind an Hirntätigkeiten gebunden, dagegen nicht der allge- 
meine Begriff (?). Die Begriffe, z. B., daß Tugend und Heiligkeit hohe 
Güter seien, sind geistige Vorgänge und sind nicht an bestimmte Spuren 
im Gehirn geknüpft (!). Alle Einzelwahrnehmungen vereinigen sich zu 
einer Gesamtwahrnehmung, die vom innern Sinn als einem Dinge zu- 
kommend, als eine Einheit aufgefaßt wird. Diesen Gesamtwahrnehmungen 
entsprechen Gesamtvorstellungen. Sind hierin einzelne Be- 
standteile oder Merkmale klar unterschieden, so haben wir eine An- 
schauung. Die Erhöhung der Gesamtvorstellung zur Anschauung er- 
fordert ein aufmerksames Wahrnehmen. In dem Maße, wie Anschauungen 
klarer sind, sind sie für die höheren Erkenntnistätigkeiten, die auf ihr 
beruhen, wertvoller. Deshalb strebt der Unterricht danach, klare An- 
schauungen zu vermitteln. Ein besonderes Kapitel bespricht die An- 
schaulichkeit des Unterrichts. Anschaulichkeit kann aber nur Grundlage, 
nicht Vollendung des Unterrichts sein. Von der sinnlichen Anschaulichkeit 
unterscheidet H. eine geistige Anschaulichkeit, die sich auch auf abstrakte 
Begriffe erstrecken kann (?). Ein besonderes Mittel zur Erzielung der 
Klarheit ist die Beschreibung, die Vergleichung, das Erzählen von Bei- 
spielen und Gleichnissen. Der Unterricht trägt Sorge, die Haftbarkeit und 
leichte Wiedererzeugung der Vorstellungen zu sichern durch geeignete Ver- 
knüpfungen. Die willkürliche Wiedererzeugung der Vorstellungen ist die 
Grundlage des Unterrichtes. Der Lehrer muß die Einflüsse, welche die 
Reproduktion hemmen, fern zu halten suchen und auf die Umstände Be- 
dacht nehmen, welche sie erleichtern. Es sollte deshalb der Lehrer 
schärfere Bestrafungen erst am Schlüsse des Unterrichts ausführen. 

Den Begriff der Apperzeption entnimmt H. der Herbartschen 
Psychologie und definiert ihn als die Art der Erfassung des Neuen mit 
Hilfe vorhandener, verwandter Vorstellungen. Die Perzcption ist eine 



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360 



Berichte und Besprechungen. 



bloße Auffassung durch die Sinne ohne Eingliederung in die bereits vor- 
handene Vorstellungswelt. Der Unterricht muß für Apperzeption Sorge 
tragen durch Anknüpfung an das Bekannte, durch Fragen und durch die 
Aufforderung auszusprechen, was schon gewußt wird, und vor allem durch 
eine Konzentration des Unterrichts", d. h. eine solche Auswahl, Be- 
schränkung und einheitliche Verbindung der Stoffe der verschiedenen 
Unterrichtsfächer, daß diese sich untereinander ergänzen und überall auf 
den Gesamtzweck bezogen werden können. Diese gibt sich vor allem 
kund in einer richtigen Auswahl der Lesestücke. Die andern wichtigen 
Faktoren zur Verknüpfung der Vorstellungen sind Wiederholung und 
U e b u n g. Die Befähigung der Wiedergabe des Gelernten darf von der 
Schule auf dem Gebiete des Wissens als dasjenige Können angesehen 
werden, das sich als die zweite Stufe des Unterrichts der ersten, der Ver- 
mittlung des Verständnisses, anzuschließen hat. 

Beim Gedächtnis unterscheidet H. ein niederes, sinnliches, ein 
Anschauungsgedächtnis und ein höheres, begriffliches oder intellektuelles 
Gedächtnis, welches die Erzeugnisse des höheren Erkennens festhält. 
H. bespricht dann die Mittel zur Erzielung eines guten Gedächtnisses. Zu 
beklagen ist, daß H. all die neueren exakten Forschungen über das Ge- 
dächtnis, wie z. B. die von Ebbinghaus, nicht heranzieht oder verwertet. So 
vertritt er den Grundsatz, daß man salz-, absatz- oder strophenweise aus 
wendig lernt und nicht ein ganzes Stück auf einmal, während doch das 
Umgekehrte durch Ebbinghaus mit unanfechtbarer Evidenz dargetan 
worden ist. Es ist auch nicht richtig, daß bei jedem Individuum das laute 
Auswendiglernen das förderlichere wäre. Einen Unterschied zwischen ver- 
schiedenen Typen scheint H. nicht zu machen. Vom Gedächtnis trennt 
H. die Einbildungskraft, indem er das Gedächtnis als das Vermögen der 
unveränderten, die Einbildungskraft als das Vermögen der veränderten 
Wiedererzeugung von Vorstellungen definiert; eine scharfe Grenze zwischen 
beiden sei aber nicht zu ziehen. Die Einbildungskraft scheidet sich in 
eine wegnehmende, abstrahierende, eine zufügende, determinierende und 
eine zusammensetzende, kombinierende. Letztere spielt die Hauptrolle in 
Spiel und Kunst. Die Erzeugnisse der Kunst sind eben nicht Erzeugnisse 
der Einbildungskraft allein, sondern der von der Vernunft geleiteten. Die 
Tätigkeit der Einbildungskraft steht in einem gewissen Gegensatze zu der 
des Verstandes. Der Verstand generalisiert, die Einbildungskraft speziali- 
siert (?). Die Einbildungskraft hat im Unterricht eine große Bedeutung 
insofern, als das, was der Lehrer zur Veranschaulichung des Unterrichtes 
liefert, nur unter Mitarbeit der kindlichen Einbildungskraft zustande 
kommt. Die erziehliche Behandlung der Einbildungskraft hat die rechte 
Entwicklung dieser so wichtigen Kraft zu leiten und sie mit einem reichen, 
edlen und reinen Inhalt zu erfüllen, hierbei aber auf die Individualität 
Rücksicht zu nehmen. Die Erziehung muß auch darauf bedacht sein, 
vor einer überwuchernden Entwicklung der Einbildungskraft den Schüler 
zu bewahren. 

IV. Das höhere Erkenntnisvermögen. Der Ver- 
stand ist das Vermögen der Begriffsbildung, des Urteilens und des 
Schließens. Das Urteilen ist diejenige Erkenntnistätigkeit, durch welche 



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Belichte und Besprechungen. 



361 



einem Gegenstande eine Erscheinung zu- oder abgesprochen wird. Nur 
durch Urteilen ist die Erwerbung eines klaren Begriffes möglich. Ein 
Schluß ist ein abgeleitetes Urteil. H. schließt sich ganz an den 
hl. Thomas an, indem er behauptet, daß der eigentliche Gegenstand des 
menschlichen Verstandes die Wesenheit (quidditas) oder Natur des in 
stofflicher Materie Existierenden sei. Wesen und Ursächlichkeit sind 
Gegenstände der Verstandeserkennrnis. Durch den Verstand erkennt der 
Mensch sich selbst als erkennend, strebend, wollend, Auf diesem Selbst- 
bewußtsein beruht unsere Fähigkeit zum sittlichen Handeln und unsere 
sittliche Verantwortlichkeit. Aller Unterricht, soweit er nicht in mecha- 
nischer Einprägung besteht, bildet die Denkkraft. Der Lehrer hat Sorge 
zu tragen, daß die durchbildende Kraft, die in den verschiedenen Gegen- 
ständen liegt, zur Geltung kommt und ausgenutzt werde. Ein wichtiges 
Hilfsmittel hierzu ist die entwickelnde Methode. Sie veranlaßt 
den Schüler selbst zu überlegen und zu urteilen und findet besondere An- 
wendung im Rechnen, in der Raumlehre, in der Naturlehre und in der 
Erdkunde. Die genauen Unterscheidungen, welche Begriffe des Re- 
ligionsunterrichtes (z. B. Sakrament und Sakramentale, heiligmachende 
Gnade, Gnade des Beistands) erfordern, sind nach H. vorzügliche Denk- 
mittel. In einem Abschnitt ,, Irrige Ansichten" tut H. den Sensualismus, 
Kant, Heibart ab. Die wenigen Zeilen, die H. Khnt widmet, ent- 
halten ganz erhebliche Mißverständnisse seiner Lehre. So soll 
Kant nach H. den Begriff als eine ..Zutat" (!) des Geistes zu der 
sinnlichen Wahrnehmung erklärt haben. Die Entstehung der Begriffe faßt 
H. im Sinne der aristotelischen Scholastik, und nicht, wie er zu glauben 
scheint, im Sinne des Aristoteles auf. — Das Ziel des Unterrichts ist 
die begriffliche Klarheit, und zu diesem JJehufe muß der Lehrer die 
Schüler den Weg führen, auf dem die Begriffsbildung zustande kommt; 
<he Herbartschen ."Formalst ufen" sind nicht völlig richtig. Die ver- 
ständige und begriffliche Auffassung vollzieht sich in folgenden vier Stufen: 

a) Blick auf das Ganze; 

b) genaue Betrachtung der einzelnen Teile; 

c) nochmaliger Blick auf das Ganze, wobei auch die Teilvorstellungen 
mit Klarheit erfaßt sind; 

d) Handhabung des Gegenstandes und Versuche mit demselben. 
Die Vernunft ist das Vermögen der Erkenntnis des U ebersinnlichen, 

das Vermögen der Ideen. Diese sind gewissermaßen Musterbilder, Muster- 
begriffe. Sie stellen ihren Gegenstand nicht so vor, wie er in Wirklich- 
keit ist, sondern wie er in seiner Vollkommenheit zur Verwirklichung 
seines Zweckes sein sollte oder könnte. Das Ideal ist eine Gestalt oder 
Erscheinung, welche eine Idee in ihrer Vollkommenheit darstellt. Die 
Geistigkeit der höheren Erkenntnis ist ein Beweis für die Geistigkeit der 
Seele. Die Bildung der Vernunft fällt mit der sittlich- 
religiösen Bildung zusammen. 

Am Schlüsse der ersten Abteilung gibt H. eine Polemik gegen die 
neuere Psychologie, die etwas an die Berkeleysche Argumentationsweise 
erinnert: die neuere Psychologie wird nicht widerlegt, sondern abgelehnt 
wegen ihrer vermeintlichen Konsequenzen für Sittlichkeit und Religion. 



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362 Berichte und Besprechungen. 

Die zweite Abteilung : Das Strebevermögen wird auch wieder 
eingeleitet durch eine „Einführung" (an Freunde und Gegner). 

Die Tätigkeiten des Fühlens und Wollens beziehen sich mehr auf 
die Erziehung als auf den Unterricht. Es ist wichtig, das Wesen der 
Tugend von ihrer psychologischen Seite richtig zu fassen, und hier 
kann nur eine richtige Psychologie, welche mit dem Ziele der 
christlichen Tugend, die wir beim Zögling anzustreben haben, nicht im 
Widerspruche steht, uns die rechten Wege zuverlässig zeigen. Ebenso 
wichtig ist die Psychologie zur Selbsterziehung. Es erfolgt eine 
erneute, oben charakterisierte Polemik gegen die moderne Psychologie. 
H. will in diesem zweiten Teile der physiologischen Psychologie eine 
größere Beachtung schenken und auch die Entwicklung des seelischen 
Lebens mehr in den Vordergrund stellen. 

I. Das Strebe vermögen im allgemeinen: Be- 
griff, Arten und Bedeutung desselben. Die Tätig- 
keiten des Strebevermögens haben eine der Erkenntnistätigkeit 
entgegengesetzter Richtung : sie gehen vom Innern der Seele aus. 
Das menschliche Streben wird angeregt durch die innere Welt 
der Erkenntnis, welche die Seele sich von der Außenwelt gebildet hat 
und erstreckt sich auf die Außenwelt selber. Auch in der vernunftlosen 
Natur finder wir ein gewisses Streben (Pflanze nach Licht), ein Natur- 
streben, appetitus naturalis. Dieses finden wir auch beim Menschen: das 
Auge strebt nach Licht usw. (?). Nach seiner Richtung ist das Streben 
ein zweifaches: es geht entweder nach den Dingen hin oder flieht dieselben. 
Begehren und Furcht, Freude und Trauer stehen sich gerade 
gegenüber als die Hauptarten des Strebens. Als ein Gut erscheint das, 
was zum erstrebten Zwecke förderlich oder nützlich, als ein Uebel das- 
jenige, was demselben hinderlich oder schädlich ist. Innere Gutheit 
kommt den Dingen zu, die nicht um des Genusses" willen, auch nicht 
als Mittel, sondern ihres inneren Wertes an sich wegen erstrebt werden. — 
Geistiges Begehren und Wollen oder Wille ist das- 
selbe. Ohne Vernunft ist keine freie Willenshandlung möglich. Vernunft 
und Willensfreiheit bedingen sich gegenseitig. Der Wille :st eine ver- 
nünftige Seelcnkraft. Der Wille bewegt alle anderen Kräfte der Seele ru 
ihrer Tätigkeit und erstrebt das Gute überhaupt; durch ihn nimmt 
der Mensch in gewissem Sinne teil an der Schöpfermacht Gottes. Auf- 
gabe der Erziehung ist es, in der rechten Weise auf die Entwicklung der 
menschlichen Strebekraft einzuwirken. Man unterscheidet sinnliches 
Streben und geistiges Streben. Das letztere hat stets einen 
allgemeinen Charakter. Sinnliches und geistiges Streben sind auch in ihrem 
Sitz verschieden. Der Sitz der sinnlichen Begehrungen ist der leibliche 
Organismus, besonders das Herz (!!). In der Mitte zwischen Erkennen und 
Streben liegen die Gefühle der Gemütsbewegungen, d. h. das Gemüt. 
Auch hierin sind erfassende und abwehrende Strebungen enthalten; sie 
sind seelische Zustände oder Tätigkeiten, welche dem höheren und nie- 
deren Strebe vermögen zugleich angehören. Die Gefühle unterscheidet man 
in Lustgefühle, Unlustgefühle und gemischte Gefühle. Die Gemüts- 
bewegungen sind nicht an sich zu verwerfen, sondern nur die verkehrte 



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Berichte und Besprechungen. 



363 



Wirkung derselben ist fernzuhalten. Die Auflösung der Religion in Ge- 
fühl, wie sie sich in den Faustworten findet, ist ,,eine gefährliche An- 
sicht". — Der Erzieher muß den Willen seines Zöglings zu festem Ent- 
schlüsse zu führen suchen. Es existiert kein besonderes Gefühlsvermögen. 
Die Annahme des letzteren ist als eine bedenkliche und schädliche Neue- 
rung tu verwerfen und außerdem auch überflüssig. 

II. Die Arten der Gefühle nach dem Ver- 
laufe der begleitenden Vorstellungen. Die Ge- 
fühle der Tätigkeit sind lustvoll. H. bespricht dann die Folge- 
rungen für den Unterricht und zählt des weiteren die verschie- 
denen Gefühle, Erwartung, Langeweile usw., auf. Die Aufmerksam- 
keit ist eine Hinwendung des Geistes auf den Gegenstand unseres Erkennens 
und Tuns. Sie ist eine willkürliche und eine unwillkürliche. Erstere be- 
ruht auf der Apperzeption. In einem Zusatz über Ermüdung wird auf 
die Arbeit von Kemsies (konstant Kremsies zitiert) rekurriert, H. glaubt aber, 
daß all diese Methoden nicht ausreichen. Ein Hauptmittel, die Aufmerk- 
samkeit anzuregen, ist der Wechsel im Lchrton. 

III. Die Gemütszustände nach ihren Gegenständen. 
H. unterscheidet Gefühle des Wahren, Schönen, Guten und Göttlichen. Nichts 
wesentlich Neus bieten die Abschnitte über die Lüge. Zahlreiche Werke der 
Künste sind sittlich höchst gefährlich. Die weiteren Kapitel über Gefühle 
sind sehr weitschweifig und bieten gar nichts Neues. In einem Zusatz: „Die 
körperliche Seite des Gedächtnisses und der Gewöhnung" setzt sich H. 
mit einigen neueren physiologischen Arbeiten auseinander. Die weiteren 
Kapitel kann ich übergehen, da sie nur Ausführungen schon berichteter 
Grundgedanken sind. 

Im Nachtrag behandelt H. die Entwicklung des geistigen Lebens 
beim Kinde an der Hand der Werke von Preyer, Compayre\ Stimpfl u.a. 
H. meint, daß die alte Vermögenslehre auch in modernen Forschern — 
vielleicht ohne daß sie es wissen oder meinen — Stützen erhält. H. kommt 
«u dem Schlüsse, daß die Kinderpsychologie, so anziehend sie auch ist, 
dem Lehrer weniger nötig und nützlich ist als die allgemeine Psychologie. 
Weitere Abschnitte sind der pädagr>gi sehen Pathologie gewidmet. Die 
„Nachträge zur ersten Abteilung" stellen eine Art erkenntnistheroretischer 
Ergänzung dar und behandeln die Wahrnehmung nach der scholastischen 
Erkenntnislehre, die Bewegungen und Geberden. 

Zum Schlüsse bemerken wir zusammenfassend: An sich wird es dem 
Verfasser nicht verwehrt oder verargt werden können, wenri er in seinem 
Buche den Versuch macht, die psychologischen Tatsachen im Einklang mit 
älteren und kirchlichen Lehren zu erklären und darzustellen, für sehr be- 
klagenswert müßten wir es aber erachten, wenn weitere Lehrerkreise da- 
durch abgehalten würden, sich mit der exakten, naturwissenschaftlichen 
(und darum nicht etwa notwendig irreligiösen I) Forschung der modernen 
Psychologie vertraut zu machen, wovon allein ein reicher Ertrag und Fort- 
schritt für die Pädagogik — die praktische nicht minder als die theo- 
retische — erwartet werden kann. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



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364 



Berichte und Besprechungen. 



E. Zühlsdorff: Die Psychologie als Fundamentalwissen- 
schaft der Pädagogik, in ihren Grundzügen dar- 
gestellt. Hannover 1905. 252 Seiten. Geb. 3,60 Mk. 

Die Zwecke und der Aufbau des Buches sind ausgesprochen in dem 
Begleitwort des Seminardirektors Bauckmann. Das Buch hat sich die 
Aufgabe gestellt, die psychologischen Erscheinungen und Gesetze der prak- 
tischen Pädagogik unmittelbar dienstbar zu machen und einen innigen! Zu- 
sammenhang zwischen Theorie und Praxis herzustellen. Das gesamte Ge- 
biet der Psychologie ist in elf Kapiteln streng systematisch aufgebaut. Die 
gewonnenen Ergebnisse sind in kurzen, klaren Sätzen jedem Kapitel un- 
mittelbar angeschlossen. Diese Ergebnisse bilden dann die abschließende 
„pädagogische Nutzanwendung". Es ist immer auf die neuesten Ergeb- 
nisse und Bestrebungen besondere Rücksicht genommen. Jedem Kapitel 
ist die wichtigste einschlägige Literatur beigefügt. Das Programm der 
Arbeit ist: das werdende Menschenkind zu betrachten 
als ein auf Eindrücke reagierendes Individuum und 
hierauf gründend zu zeigen, wie die Erziehung jene 
Reaktionen zu bestimmen und vollkommen zu machen 
habe. 

I. Teil: Das Vorstellungsleben. In den ersten Kapiteln, 
die sich mit der Anatomie und Physiologie des Nervensystems und der 
Sinnesorgane befassen, hat Z. es trefflich verstanden, eine übersichtliche 
populäre, aber dennoch exakte Darstellung zu geben. Das gleiche gilt 
auch besonders von den Kapiteln über die Ermüdung. Leider ist das 
Kapitel über Ausbildung und Pflege der Sinnesorgane etwas dürftig aus- 
gefallen. Z. leitet dann die bekannten Regeln über die zeitliche Anord- 
nung von Arbeit und Erholung aus den Versuchen über Ermüdung ab. 
Die Kapitel über die Anschauung mit ihrer pädagogischen Nutz- 
anwendung werden wohl mit zu dem Besten gehören, was bis jetzt dar- 
über geschrieben worden ist. Z. legt mit Recht besonderen Wert auf 
den heimatkundlichen Anschauungsunterricht. Für jeden Schulmann zu be- 
herzigen ist die Forderung: „Da die Anschauung ein Produkt der ,,Seele" 
selber ist und das Kind die Natur am liebsten so betrachtet, wie sie 
sich ihm bietet, so sollte jegliches Systematisieren ver- 
mieden und die poetische Einheit der kindlichen Auffassung nicht ter- 
stört werden." Psychologisch unrichtig, wenn auch für die pädagogische 
Behandlung gewisse Vorteile bietend, baut Z. die Vorstellung auf der 
Anschauung auf. Die Gliederung der Unterrichtsstoffe muß sich aufbauen 
auf dem methodischen Dreischritt : Auffassung des Ganzen — Vertiefung in 
die Einzelheiten — Wiederbesinnung auf das Ganze. Aus der Enge des 
Bewußtseins ergibt sich die Forderung der weisen Beschränkung des 
Stoffes: „Weniger Wissen — mehr Bildung l" In den der Reproduktion 
und Assoziation folgenden Ausführungen über die Lernmethoden gibt Z. 
der „kombinierten Methode" den Vorzug. Gebührende Berücksichtigung 
finden hier die Ebbinghaus-Ziehenschen Arbeiten. Pädagogisch sehr brauch- 
bar scheinen mir die Kapitel: „Die Sprache in ihrem Verhältnis zur Re- 
produktion, Assoziation und Gedächtnis". Im Abschnitt über die Recht- 



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Berichte utid Besprechungen. 



365 



Schreibung stützt sich Z. hauptsachlich auf die Laysche Arbeit. Aus den 
Befunden über das Gedächtnis leitet dann Z. seine Forderungen für die 
„Konzentration" und die ,,unterrichtliche Pflege des Gedächtnisses" ab. 

In dem Kapitel „Phantasie" wird der Nachdruck darauf gelegt, 
daß die Phantasie nicht schöpferisch, sondern nur „bildnerisch" 
ist. Angenehm berührt die wenig dogmatische und allem Tatsächlichen 
Rechnung tragende Behandlung der „Phantasie". Aus der pädagogischen 
Nutzanwendung seien zwei Sätze hervorgehoben: ,,Das Spielzeug sei der 
Form nach möglichst unbestimmt und vielseitig". „Der Lehrer störe mög- 
lichst wenig den unwillkürlichen Zug der Vorstellungen und der Bewegungs- 
tätigkeit." „Der erste Grundsatz sei und bleibe: Freiheit im Spiel I 4 ' 

Die psychologische Grundlegung der Zeit-, Raum- und Zahlvorstellung 
enthält die m. £. irrtümliche Ansicht, daß das Zeitliche und Räumliche 
nicht in der Empfindung selbst gesucht werden könne, sondern daß es 
seinen Ursprung habe in den Beziehungen, in welche die Vorstellungen 
notwendig untereinander geraten, daß also die Dauer in der Zeit und 
alle räumlichen Eigenheiten vom Verstände herrühren. Z. meint Kant 
durch die Tatsache widerlegen zu können, daß ein Kind in frühen Lebens- 
jahren nach allen seinem Auge sich darbietenden Gegenständen greife, 
ganz gleich, ob sie nah oder fern sind. Die Entstehung des Raumes 
aus dem ursprünglich flächenhaft Gesehenen entsteht durch Eindrücke des 
Tast- und Muskelsinnes. Im Abschnitt über die Zahlvorstellungen stützt 
sich Z. auf die oben besprochene Arbeit Walseraanns und Lays. 
Z. schließt sich — im Gegensatz zu Walsemann — der Layschen An- 
sicht an: je vielseitiger die Zahlversinnlichung, um so 
klarer die Z a h 1 vo r s t c 1 1 u n gl 

Zur Ausbildung der Raumvorstellungen erachtet Z. u. a. mit Recht 
planmäßige Augenmaßübungen für vorteilhaft. 

Das Bewußtwerden der Gleichheit, Aehnlichkcit oder Verschiedenheit 
zwischen dem Alten und dem Neuen, überhaupt die Deutung, Einreihung 
und Aneignung des Neuen mit Hilfe des Alten wird im Gegensatz zu 
"Wundt „Apperzeption" genannt. Wenn dies nun auch keine Definition 
oder Erklärung der Apperzeption, sondern nur eine Beschreibung der 
Apperzeptionswirkung ist, so ist doch für die Pädagogik diese Beschrän- 
kung m. E. von manchem Vorteile. In der pädagogischen Nutzanwendung 
aus der Apperzeption spricht sich Z. für den W i g g e sehen Lehrplan aus, 
der herausgewachsen ist aus dem Grundgedanken, den Sachgebieten der 
Heimat, als den Hauptlebensgebieten des Kindes, im Unterricht eine 
zentrale Stellung zu geben. 

Das gleiche, was ich oben über die Z.sche Fassung der Apper- 
zeption sagte, gilt auch von der Aufmerksamkeit. Sie ist die 
sich als geistige Arbeit charakterisierende und durch 
ein eigentümliches Spannungsgefühl uns zum Bewußt- 
sein kommende Konzentration der Gedanken auf ein 
bestimmtes Bewußtseinsobjekt. Es folgt eine Besprechung 
der Versuche über Schwankungen der Aufmerksamkeit von Lay, Schuy- 
t e n und L o b s i e n. 

Das Kapitel über das Denken zeichnet sich, da es die in Rede 



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366 



Berichte utui B&sprechungen. 



stehenden Erscheinungen mehr beschreibt als erklärt, durch seine 
außerordentliche Klarheit und Faßlichkeit aus. In den Vordergrund tritt 
— sehr wichtig für die pädagogische Behandlung — der Gesichtspunkt 
der Oekonomie. 

II. Teil: Das Gefühlsleben. Die Ausführungen werden be- 
herrscht von dem Grundsatz der ausschließlichen Subjektivität des Gefühls- 
lebens, sowie ihres teleologischen Zusammenhangs im psychischen Leben. 
Bei der Behandlung der ethischen Gefühle, die aus dem Selbstgefühle ab- 
geleitet werden, werden das Gefühl für die Gemeinschaft der Menschen und 
die daraus sich ergebenden Pflichten in den Vordergrund gestellt. Ganz 
richtig wird darauf hingewiesen, daß die ethischen Gefühle allein die 
Sittlichkeit noch nicht ausmachen, sondern daß die Reflexion noch stützend 
und regulierend hinzukommen muß. Als eine besondere Klasse von Ge- 
fühlen rechnet Z. dann noch — wohl fast unabsichtlich von der alten 
Psychologie herübergenommen — die religiösen Gefühle. Gediegen, modern, 
aber doch allem Utopischen fernhegend, sind die praktischen Winke zur 
Pflege der ästhetischen Gefühle. 

Das Willensleben wird aus dem Triebleben abgeleitet. Der 
Wille ist Z. eine zusammengesetzte Erscheinung, nicht das Primäre, 
sondern das Sekundäre, wie im Gegensatz zu Lay betont wird. Die Er- 
scheinungsformen des Willens sind: Wunsch, Begierde und Entschluß. 
Diese von Bergemann übernommene Behauptung dürfte wohl etwas zu 
weit gehen. 

Eine „Wahlfreiheit" stellt Z. zwar in Abrede, behauptet aber doch 
die „Willensfreiheit", d. h. die Fähigkeit, nach eigenem Ermessen die 
Entscheidungen zu treffen. Es schließen sich an die Besprechung neuerer 
Arbeiter über „die vitale Kapazität" und über die Beeinflussung 
der Arbeit durch die Genußmittel. — Charakter (sittlichen) nennt man 
die konsequente Uebereinstimmung des gesamten Wollens und Handelns 
mit bestimmten Absichten, Grundsätzen. Die Schlußabschnitte sind der 
eigentlichen „Erziehung" gewidmet. 

Wie ja überhaupt das Referat gerade bei einem Lehrbuche etwas 
Mißliches ist, so kann dies besonders hier gelten.. Ich möchte dem 
Buche wegen seiner Uebersichtlichkeit, Kürze (252 Seiten) und trotzdem 
Reichhaltigkeit, und vor allem wegen der wirklich modernen Psychologie, 
die hier nicht bloß, wie bei so vielen Lehrbüchern, nur so als Schmuck 
nebenhergeht, die weiteste Verbreitung wünschen. Vor allem wird es dazu 
dienen, der exakten modernen Psychologie — was leider heute nur zu 
wenig der Fall ist — auch in den Kreisen der Lehrer Mitarbeiter zu 
gewinnen. Den Hauptwert des Buches erblicke ich darin, daß die Psycho- 
logie hier so geboten wird, daß auch für die jungen, psychologisch nicht 
vorgebildeten Seminaristen alles verständnisgebend angeordnet und dar- 
gestellt ist. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



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BeridUe und Besprechungen. 



367 



Gustav Voigt, Lehrbuch der pädagogischen Psycho- 
logie. Vierte verb. und verm. Auflage 1905. 

Es ist dies die 13. Auflage des II. Teiles des Lehrbuches der Päda- 
gogik von Gottlob Schumann und Voigt. Dieser II. Teil, die 
Psychologie, hat Voigt allein zum Verfasser. 

Die christliche Auffassung von der Bestimmung des Menschen muß als 
das Ziel der Erziehung bestimmt werden. Der Gedanke der Entwicklung 
fordert, daß das Verfahren der Erziehung nach der Auffassung vom 
Wesen des Menschen zu regeln ist. Deshalb muß die Einführung in die 
Erziehungslehre mit der Psychologie beginnen. Kurz antezipierend leitet 
dann Voigt den Aufbau des geistigen Lebens ab aus den verschiedenen 
Seelenzuständen der Kassandra in Schillers Gedicht. Das Buch hält sich 
an die Dreiteilung: Vorstellen, Fühlen, Wollen. Jedem Abschnitt sind, 
an diesen sich inhaltlich anlehnend, eine Reihe von Aufgaben angeschlossen. 
Dem II. Abschnitt über das Vorstellen ist eine leider sehr kurze Aus- 
führung über die physiologischen Grundlagen der Empfindung und der 
Willenstätigkeit vorangestellt. Für unrichtig halten kann man wohl die 
Gegenüberstellung von Empfindung und Bewegung. Weiter macht Voigt 
eine Gegenüberstellung von Empfindung und Wahrnehmung. Wenn 
mehrere einfache und unvergleichbare Empfindungen, die gleichzeitig 
gegeben sind, eine überwiegende Stärke gewinnen und sich vom übrigen 
Empfindungsinhalt abheben, so führt dies zur Wahrnehmung. Die Gesichts- 
empfindung bildet ihren Mittelpunkt und der so vereinigte Empfindungs- 
inhalt wird nun nach außen versetzt und dort räumlich bestimmt ( ? ). 
Wir können daher den Raum nur als die unserer Natur entsprechende 
Anschauungsform betrachten. Indem wir uns der Folge der Empfindungen 
bewußt werden, entsteht die Anschauungsform der Zeit ( ? ). Die Vor- 
stellung ist der vom Vorgang der Wahrnehmung losgelöste Wahrnchmungs- 
inhalt (?). Die Vorstellung, die der deutlichen und klaren Wahrnehmung 
ao nahe als möglich kommt, heißt Anschauung, in dieser ist die 
Erfahrung geschaffen. Das begriffliche Denken bezieht sich 
ausschließlich auf den Inhalt der Anschauungen ohne Rücksicht auf 
ihre Entstehung und auf die ursprüngliche Aufeinanderfolge der in ihnen 
wirksamen Reize. Das begriffliche Vorstellen oder Denken wird da- 
durch veranlaßt, daß in gewissen Anschauungen bestimmte Merkmale 
regelmäßig wiederkehren. Die Bildung der logischen Begriffe erörtert V. 
an dem Beispiel der Begriffe der imaginären Wurzclgrößc. Er geht aber 
hier aus von der „Anschauung von Wurzclgrößen", und da diese 
eben keine Anschauung, sondern wieder auch ein Begriff sind, so stellt 
sich das Ganze als ein petitio prineipii dar. Hieraus werden die Ver- 
hältnisse des Inhalts und Umfangs eines Begriffes abgeleitet. Begriffs- 
bildung und Sprachentwicklung stehen in Wechselwirkung. Eine Vor- 
stellung, welche die Erfahrung überschreitet, ist eine Idee; die Vernunft 
ist die Zusammenfassung der Ideen. Mit den nun folgenden Ausführungen, 
welche eine extrem idealistische Grundanschauung dokumentieren, tritt aber 
V. zu seinen eigenen Ausführungen über die Empfindung und Wahr- 
nehmung in vollsten Widerspruch. Im § 18 der „Anwendung" der vor- 



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368 



Berichte und Besprechungen. 



hergehenden Ausführungen bespricht V. die für die Pädagogik sich er- 
gebenden Forderungen. Was die Aufgabe: „Es soll die Tonlosigkeit der 
Gesichtsempfindung erklärt werden", eigentlich soll, ist mir nicht recht 
klar geworden. Es überwiegen, gemäß dem Standpunkt des Verfassers, 
die Beispiele und Aufgaben aus der Religion. Das Kapitel II, das die 
Vereinigung der Vorstellungen behandelt, ist eine weitere Ausführung der 
schon entwickelten Prinzipien unter Hineinziehung Herbartseber Ge- 
danken. Die Kapitel über die elementare Logik sind auf psychologischer 
Grundlage aufgebaut. Das Gesetz der Reproduktion faßt V. so: „Ent- 
gegengesetzte Vorstellungen, sowie Vorstellungen, die gleichzeitig im 
Bewußtsein waren, reproduzieren einander' 4 . Gegensatz oder Gleichseitig- 
keit hinsichtlich der reproduzierenden und der reproduzierten Vorstellung 
sind die Bedingungen für das Eintreten der mittelbaren Reproduktion. 
Je nachdem die eine oder die andere vorliegt, ist die Verknüpfung eine 
innere oder äußere. Bei der Lehre vom Gedächtnis vertritt Voigt den 
Standpunkt, daß die unveränderte Reproduktion schon als ursprünglich 
die Beteiligung des Willens voraussetzte. Es dürfte V. schwer fallen, 
diesen Satz aufrecht zu erhalten. Ich weise nur hin auf die Reproduktion 
in Dämmerzuständen, die meistens an Genauigkeit jede willkürliche Re- 
produktion übertrifft. Das für die Pädagogik wichtigste Gebiet, die Lehre 
vom Gedächtnis, ist sehr kurz, auf zweieinhalb Seiten, und ohne die Be- 
rücksichtigung der wichtigen experimentellen Arbeiten über das Gedächtnis 
abgehandelt Vom Gedächtnis trennt V. die Einbildungskraft, der er 
eine bedeutsame Rolle auch bei der Begriffsbildung zuweist. Die Ein- 
bildungskraft gestaltet die bereits vorhandenen Erscheinungen zu neuen 
Gebilden. — Die Apperzeption ist der Vorgang, durch den ge- 
gebene Vorstellungsinhalte durch bereits vorhandene gestaltet werden. Die 
Apperzeption ist nicht veranlaßt durch eine äußere Wahrnehmung, sondern 
durch das Aufeinanderstoßen zweier reproduzierter Vorstellungskreise. 
M. E. aber kann V. auf Grund obiger Definitionen nun nicht eine 
Trennung von willkürlicher und unwillkürlicher Apperzeption, so wie er 
es tut, vornehmen. Er tut dies, indem er in den folgenden Abschnitten, 
wohl gegen seine Absicht, mit der Apperzeption als einem Vermögen ope- 
riert. In bezug auf die Einwirkung der Apperzeption auf die reprodu- 
zierende Vorstellung unterscheidet V. die formale und die materiale Wir- 
kung: in formaler Hinsicht wird der gegebene Vorstellungsinhalt durch 
die Apperzeption in seiner Stärke, sowie in seiner Klarheit und Bestimmt- 
heit gesteigert, nach seinem Umfang erweitert, nach seinem Inhalt be- 
richtigt und eingeordnet. — Die Gefühle bestimmt V. als Erregungs- 
zustände, deren Entstehung durch die Erscheinungen des Vorstellens, durch 
Empfindungen, Wahrnehmungen, reproduzierte Vorstellungen, Urteile und 
Ideen, vermittelt, aber nicht verursacht sind. V. bringt die Gefühle in 
inneren Zusammenhang mit der Hemmung oder Förderung des Vor- 
stellungsverlaufes. Das Gefühl ist ihm zwar ein unmittelbarer, aber nicht 
ursprünglicher Geisteszustand. Die Empfindungen beziehen sich auf 
N ervenerregung, die Gefühle dagegen auf Vorstellungsbewcgung ; die Vor- 
stellung ist Voraussetzung des Gefühls (?). 

Die Gefühle scheiden sich erstens nach ihrem Inhalt in die der 



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Berichte und Besprechungen. 



309 



Lust und die der Unlust, zweitens nach ihrem Ursprung danach, ob 
sie entstehen ausschließlich durch das formale Verhältnis der Vorstel- 
lungen, oder ob ihre Entstehung auch mit dem Inhalt der zugrunde- 
liegenden Vorstellungen zusammenhängt. Die höheren Gefühle umfassen 
die Erkenntnis-, die Schönheits-, die Sittlichkeits- und die Glaubens- 
gefühle. V. unterscheidet dann noch Gefühle der Erwartung und der 
Ueberraschung, Kraftgefühle und Arbeitsgefühle. 

Die auf Sinnesempfindungen zurückgehenden Gefühle trennt V. von; 
den übrigen als „sinnliche Gefühle" ab. — Das Begehren ist eine zwar 
vermittelte, aber dennoch unmittelbare Erscheinung. Es wird durch Vor- 
stellen und Fühlen veranlaßt, aber nicht begründet. Zu seinem Gegenstand 
hat es die Veränderung innerer oder äußerer Zustände. Das Begehren 
hat mehrere Klarheitsstufen ; das dunkle Begehren äußert sich als Trieb. 
Dieser ist keine wirkende Kraft, sondern ein abgezogener Begriff. In 
ihm werden die Merkmale gedacht, die dem dunklen Begehren in seiner 
Naturbestimmtheit wesentlich sind. Ebenso sind Neigung, Hang, Leiden- 
schaft abgesogene Begriffe, in denen die Merkmale zusammengefaßt wer- 
den, die gewissen Erscheinungsgruppen des Begehrens gemeinsam sind. — 
Das Wollen entsteht, indem das Begehren, das zunächst nur dem von 
ihm verfolgten Ziel gilt, auch auf die Mittel erstreckt wird, die seiner 
Verwirklichung dienen. Dieses Ziel kann sich auf Veränderung innerer 
und äußerer Verhältnisse richten. Das vernünftige Wollen beruht auf 
idealen Vorstellungen und erreicht im sittlichen Wollen seinen Höhepunkt. 
Die Freiheit des Willens ist ein Postulat der sittlichen Beurteilung des 
Lebens. — Die seelischen Erlebnisse sind wohl an die physiologischen 
Verhältnisse gebunden, aber sie sind dennoch nicht als bloße Folge- 
erscheinung der physiologischen Voraussetzungen zu begreifen. Das ein- 
heitliche Ichbewußtscin ist nur als Aeußerung eines Wesens verständlich, 
das nicht Gegenstand, sondern letzter Grund aller inneren Wahrnehmung 
ist. Das Wesen der Empfindung, des Vorstellens, Fühlens und Wollens 
nötigt zur Anerkennung einer Seele. In dem Sinne, daß die Außenwelt 
durch die Empfindung mitgesetzt ist, besteht Wechselwirkung zwischen 
Seele und Leib. 

Oic Abschnitte ^Anwendung" enthalten fast nur Ausführungen ^er- 
zieherischer", nicht unterrichüich-technischer Art. Das Buch enthält leider 
auch gar nichts von allen den fruchtbaren Ergebnissen der modernen 
pädagogischen Psychologie. Auch hier sind die Beispiele, statt aus dem 
unmittelbaren Leben der Schule und Schüler, den Klassikern entnommen, 
was ja an und für sich sehr zur Lebendigmacbung des Buches beiträgt. 
Der Lehrer soll aber doch die Psychologie lernen an den Vorkomm- 
nissen des Unterrichts und der Erziehung. Sehr leicht wird durch eine 
solche Behandlung der Psychologie, wie sie Voigt vornimmt, die Auf- 
merksamkeil der Lehrer von den psychologisch so sehr interessanten 
profaneren Vorkommnissen des Unterrichts abgezogen. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



Zeitschrift flir pädagogische Psychologie Pathologie u. Hygiene. 



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370 



Dr. H. Walsemann: Die Anschauung. Beiträge zur pä- 
dagogischen Psychologie. Berlin 1903. 208 Seiten. 

Das Buch enthält Arbeiten, welche x. T. in Zeitschriften, der 
„Deutschen Schule", der „Pädagogischen Reform" und im „Deutschen 
Schulmann" früher schon veröffentlicht waren. Wenn wir es jetzt noch 
besprechen, so ist es aus dem Grunde, weil die W. sehen Arbeiten in der 
Fachliteratur eine lebhafte Erörterung hervorgerufen haben und sich der 
Walsemannsche Begriff der „Anschauung", besonders der Zahlanschauung, 
fast ohne weitere Kritik eingebürgert hat. Die Anstellung und Deutung 
der Experimente, welche W. in letzterer Hinsicht angestellt hat, soll beim 
Referat in den Vordergrund treten, und es sollen alle weiteren, etwas sehr 
spekulativ gehaltenen Ausführungen des Verfassers als unnötig die Sache 
verdunkelnd beiseite gelassen werden. Die erste Abhandlung: 

I. Vom psychischen Bilden überhaupt und dem 
Verblassen der Erinnerungsbilder im besonderen, bietet 
kein speziell pädagogisch-psychologisches Interesse, und die hier enthal- 
tenen Hypothesen über die Raum- und Farbenwahrnehmung dürften wohl 
kaum allgemeinen Anklang finden. Allerdings erscheint der ausdrückliche 
Hinweis darauf, daß der „Durchsichtigkeitseffekt", das Verschwinden der 
Doppelbilder, von großer theoretischer Bedeutung für die Raumwahr- 
nehmung ist, sehr wertvoll. 

II. Versuche über Zahlbilder. Zur Klärung und Verdeut- 
lichung der Zahlbegriffe sowie zur Uebung des Operierens mit Mehr- 
heiten erachtete W. eine Versinnlichung für notwendig, die, soweit als 
möglich, alles, was in sinnlichen Materien nicht Zahl bedeutet, ausscheidet 
und die Zalü, mit einem Minimum materieller Eigenschaften behaftet, zur 
Darstellung bringt. Die Punktmaterie erschien hierfür in einer einheitlichen 
Anordnung am geeignetsten. Es sollte die Frage der Anordnung, sowie 
die Frage, ob eine oder zwei Qualitäten, entschieden werden. 

Es sollten erstens folgende Anordnungen geprüft werden: a) die An- 
ordnung der Punkte in zwei Reihen (Pestalozzi); b) die Anordnung der 
Punkte in drei Reihen (anfängliche Meinung Lays). Zweitens sollte die 
Frage entschieden werden, ob die unterschiedliche Farbe oder die bloße 
Trennungslinie die Zahlbilder leichter zerlegbar macht. 

Um nach W.s Meinung die Zählfunktion selbst auszuschließen, wur- 
den die Versuche an einem Demonstrationsfalltachistoskop angestellt. Die 
Zahlb ildei wurden auf Papptafeln (leider sind die Dimensionen nicht an- 
gegeben) dargeboten. Das Tachistoskop war so eingerichtet, daß auch 
gleichzeitig zwei Papptafeln gesehen werden konnten. Die Exposition 
war die Dauer von 3 / 4 Sekunden. (Höchst ungenau durch eine Taschenuhr 
hergestellt!) Es sollte die relative Häufigkeit der richtigen Fälle bei den 
verschiedenen Reihen Aufschluß geben über die Leichtigkeit resp. Schwie- 
rigkeit der Auffassung der Zahlbilder. Die Versuche wurden angestellt 
an den vier Klassen (7c, 70, 7e, jf) einer Knabenschule in Hamburg. 
Als mit den Versuchen begonnen wurde, war in jeder der vier Klassen die 
Behandlung der Zahlreihen bis 20 im wesentlichen erledigt. Die ange- 

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Berichte und Besprechungen. 



371 



wandte Methode war in den Klassen je und 7 e insofern eine andere 
gewesen, als in 7 d und 7 f mit Gegenständen und Zahlen, hier mit 
Gegenständen und Zahlbildern gearbeitet worden war. Die Schüler der 
Klasse 7 d standen noch in der Arbeit mit versinnlichten Zahlinhalten, 
während die der Klasse 7 f seit zwei bis drei Monaten damit abgeschlossen 
und seitdem ohne dieses Hilfsmittel den Unterricht empfangen hatten. 
Von den Ergebnissen in Klasse 7 c und 7e versprach man sich 
namentlich die Gewinnung einer bestimmten Aussage hinsichtlich 
des Einflusses der Arbeit mit Zahlbildern auf die Tätigkeit, sinn- 
liche Materien der Zahl nach zu bestimmen, Die Reihen der ersten und 
leichtesten Versuchsgruppe sind auch in allen vier Klassen durchgeübt 
worden. Bei der zweiten erheblich schwierigeren Gruppe stellte sich indes 
schon die Unfähigkeit der Schüler in 7 c und 7 e, die verlangten Be- 
stimmungen auszuführen, der anfänglichen Absicht in einem Grade ent- 
gegen, daß die Fortsetzung der Versuchsarbeit in diesen Klassen völlig 
zwecklos erschien. Es ergab sich somit die Notwendigkeit, den zweiten 
und dritten Teil der Versuchsarbeit auf die Klassen 7 d und 7 f zu be- 
schränken. (Ich komme auf die Bedeutung dieser Tatsachen für die ge- 
samte Versuchsanstellung am Schlüsse zurück.) Es wurden in jeder Klasse 
Vorversuche angestellt und auf Grund dieser Ergebnisse eine Auswahl 
von 14 Schülern getroffen, von denen 12 als Reagenten verwandt wurden. 
Der Modus der Protokolle, die die Schüler seiher zu führen hatten, 
wurde vorher eingeübt. Als ein U ebelstand muß der Umstand gelten, 
daß sich die einzelnen Versuchspersonen in ungleichen Entfernungen vom 
Apparat befanden, was doch von bedeutendem Einflüsse auf die Auf- 
fassung sein mußte. Vor Beginn jeder Uebungsgruppc wurden die Schüler 
mit dem in Betracht kommenden Material hinreichend bekannt gemacht. 
Die verwendeten Papp tafeln wurden zu diesem Zwecke 
erst frei vorgezeigt und ihrem Inhalt nach gemeinsam 
bestimmt. Die Versuchsmethode war die der richtigen und falschen 
Fälle. Die Reihenfolge der einzelnen Tafeln war eine beliebige vnd wurde 
nach jeder Reihe anders gestaltet. 

Es wurden erstens einfache (eine Tafel) und zweitens 
doppelte (zwei Tafeln) Bestimmungen gemacht. Bei den letzteren 
wurden die Schüler angeleitet, den Blick zunächst auf die linksseitige 
Hälfte der Gesichtsbilder zu richten und dann die Punktgruppe rechts mit 
ins Auge zu fassen. Eine dritte Versuchsreihe befaßte sich mit der Zer- 
legung. Dieselben Tafeln wurden verwandt, doch erhielt jedes zwei- 
reihige Zahlbild zuvor einen roten Trennungsstrich; von jedem dreireihigen 
wurde ein Teil der Punkte mit roten Papierscheibchen überklebt. Es 
wurden nicht alle Zerlegungen verwandt, sondern hinsichtlich jedes Bildes 
nur zwei, erfahrungsgemäß nicht besonders leichte Zerlegungen. Von 
diesen wurde nur eine Tafel am Apparat gezeigt. Die Bestimmung eines 
solchen setzte sich zusammen aus der Bestimmung der gleichen Punkt- 
gruppen und den Bestimmungen ihrer beiden Teile. Es sollte bei den 
zweireihiger. Zahlbildern stets zuerst der linksseitige, dann der rechts- 
seitige Teil, bei den dreireihigen zuerst das schwarze, dann das rote 
Teilbild bestimmt werden. Es wurde auch noch eine Vergleichsreihe an- 

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Berichte und Besprechungen. 



gestellt, in der die Zerlegung auch bei den zweireihigen Zahlbüdern durch 
Verwendung roter und schwarzer Punkte bewerkstelligt werden sollte. 
Die Ergebnisse der Versuche sind folgende: 

Unter den festgesetzten Bedingungen hat die Zahlanschauung, sowohl 
mit Hilfe der zweireihigen, als auch dreireihigen Punktmaterien von den 
48 Versuchspersonen (d. h. von denen, welche überhaupt schon mit Zahl- 
bildern gearbeitet hatten) im Durchschnitt mit ziemlicher Sicherheit ge- 
leistet werden können. Da die Versuche sich auf die Zahlinhalte bis 20 
erstreckt haben und die Bestimmungsarbeit von siebenjährigen Kindern ge- 
leistet worden ist, so muß das nach W. als volle Bestätigung der Behaup- 
tung gelten - die Zahlanschauung ist möglich und kann 
auch noch beträchtlich über 10 hinaus fortgeführt 
werden. W. nimmt an, daß die Auffassung der Zahlbilder überall eine 
simultane gewesen sei. Wenn dies auch wohl nicht richtig ist, wie 
später gezeigt werden wird, so kann man W. doch darin beistimmen, daß 
die Zählfunktion im eigentlichen Sinne nicht angewandt wurde. Ein 
Hilfsmittel der Zahlbestimmung hierbei sind Begriffe und Erkenntnisse, was 
aber trotzdem nicht dem Begriffe der Anschauung widerstreitet. Es zeigte sich, 
daß diejenigen Schüler, welche die Zahlen vornehmlich an den Kugeln 
der Rechenmaschine statt an Realitäten der Außenwelt gelernt hatten, 
eine geringere Leistungsfähigkeit besaßen. Der Mangel an Uebung machte 
sich auch bei diesen Schülern ganz auffallend bemerkbar. Die zwei- 
reihigen Zahlbilder waren vor den dreireihigen durch ihre ge- 
ringere Fehlerzahl bei den schwierigeren Zahlbildern ausgezeichnet, da- 
gegen ergab sich bei den weniger schwierigen Zahlbüdern keine Ver- 
schiedenheit. Zusammenfassend stellt W. fest: 

Die zweireihige Punktmaterie hat sich gegenüber 
der dreireihigen sowohl für die Bestimmung der 
Grundzahlen, als auch für Uebungen im Kombinieren 
und Zerlegen von Zahlinhalten als die unbedingt und 
ganz erheblich günstigere erwiesen. — Die Anwendung von 
Trennungslinien hat sich nur als günstiger erwiesen bezüglich der zwei- 
reihigen Materie gegenüber der Anwendung von Farbe in der drei- 
reihigen. Der Ersatz der Trennungsstriche durch farbige Unterschiede in 
der zweireihigen Materie hat noch ein wenig günstigere Ergebnisse gehabt 
als die Anwendung von Trennungslinien. — Für die Praxis folgert W. 
aus seinen Versuchen: Für die Zwecke des Lehrens ist die Sache „Zahl" 
den Kindern durch Schemata (Zahlbilder) vor Augen zu bringen. Diese 
verdienen besonders vor den Rechenmaschinen den Vorzug. Hierbei sind 
wiederum die zweireihigen Zahlbilder vor den dreireihigen zu empfehlen, 
und zwar mit Trennungslinien. 

Ich komme zu einer Kritik der Versuche. W. hat vor allen Dingen 
durch seine Versuche gar nicht nachgewiesen, daß es überhaupt praktisch ist, 
die Sache „Zahl" den Kindern durch Schemata vor Augen zu bringen. 
Der Arbeit liegt als Selbstverständlichkeit die Annahme zugrunde, daß 
die Zahlbilder eine Versinnlichung der Zahl darstellen. Es ist damit aber 
noch gar nichts gesagt. Diese Versinnlichung kann, psychologisch betrachtet, 
eine doppelte sein. Erstens kann ein Zahlbild darstellen ein einfaches 



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Berichte und Besprechungen. 



373 



konventionelles Symbol, wie z. B. das Zeichen ,,5", oder aber 
ein natürliches Symbol, das in sich noch Elemente vereinigt, welche 
direkt dem psychischen Komplex entnommen sind, für welche das Symbol 
festgestellt werden soll; also etwa das Zahlbild : : ist ein natür- 
liches Symbol für den Zahlbegriff 4. Letzteres aber nur unter der Be- 
dingung, daß wenigstens einmal die Zählfunktion an diesem Zahlbild in 
Tätigkeit trat und dadurch ein assoziativer Zusammenhang gestiftet wurde, 
sowohl zwischen dem optischen Bilde und dem Zahlbegriff oder Zahlwort, 
als auch zwischen dem optischen Bilde und den bei der Zählfunktion 
statthabenden psychischen Erlebnissen. So wäre also das Zahlbild : : : 
für ein Kind, das die einzelnen Punkte nicht abgezählt hätte, und für das 
nur ein assoziativer Zusammenhang gestiftet worden wäre, zwischen diesem 
optischen Eindruck und dem Zahlbegriff vier, kein natürliches, son- 
dern auch ein konventionelles Symbol, d. h. nur eine bestimmte 
Gestaltqualität. Also es ist nötig, daß auch die Erlebnisse bei 
der Zählfunktion als Mittelglieder assoziativ reproduziert werden. 
Diese Reproduktion der Mittelglieder kann natürlich eine simultane 
(oder nahezu simultane) oder eine sukzessive sein, oder aber sie 
kann ganz ausfallen. Bei den kleineren Zahlbildern sind auch diese reprodu- 
zierten Mittelglieder der Zahl nach geringer als bei den größeren Zahl- 
bildern. Es kann auch statthaben, daß diese Komplexe der Zählfunktion 
nicht vor der Reproduktion der Zahlwörter, sondern erst nachher geschieht. 
Wenn wir also z. B. den Moment, in dem ein Zahlbild perzipiert wird, 
mit a, den Moment, wo die Komplexe der Zählfunktion anoziativ reprodu- 
ziert werden, mit b, und den Moment, in dem das Zahlwort mit dem 
Zahlbegriff reproduziert wird, mit c bezeichnen, so können wir uns den 
zeitlichen Verlauf so vorstellen: 

b 

a| 1 |c 

Es wäre aber, wenn a sofort c reproduziert, a ein konventionelles, wenn 
a erst b und dann c reproduzierte, von einem natürlichen Symbol zu 
sprechen. Würde c vor b reproduziert, so wäre es im ersten Augen- 
blick ein konventionelles, im zweiten aber ein natürliches Symbol. Damit 
kommen wir auf die von W. behauptete Simultanität. Vorher ist aber 
eine Berichtigung zu machen. Die Versuche W.s stellen gar keine reinen 
Auffa&sungsversuchc, sondern vielmehr Wiedererkennungsver- 
suche dar Die Zahlbilder wurden, wie auf S. 32 und 33 geschildert, 
vorher mit den Schülern, denen sie an sich schon bekannt waren, durch- 
genommen und dieses von W. folgendermaßen begründet: ,,Ein Zahlbild 
bestimmen, heißt in die sinnliche Materie desselben einen Zahlbegriff hin- 
eintragen. Der Bestimmungsakt gelangt mit dem Bewußtsein der abso- 
luten Richtigkeit zum Abschluß, wenn unter den zur Bestimmung sich an- 
bietenden Zahl begriffen der mit dem sinnlichen Zahlmoment des Eindrucks 
identische getroffen und diese Tatsache durch Zurückführung der be- 
stimmten Gruppe auf bekannte Teile (Einheiten oder Mehrheiten) kon- 
statiert wird. Angenommen, der Schüler wüßte von dem, was ihm nur in 
einem kurzen Moment gezeigt werden soll, gar nichts, so würde der Be- 



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Beruhte und Besprechungen. 



Stimmungsakt ein so umständlicher sein, daß er in dem kurzen Zeitteile 
schwerlich ru irgend einem Abschluß kommen könnte." W. hat also selbst 
den Versuchen durch das vorausgeschickte Vorzeigen jeden Boden entzogen. 
Was geschieht, wenn nach vorheriger Durchnahme der verwendeten Tafeln nun 
dem Schüler ein oder zwei derselben am Apparat gezeigt werden ? Auf jeden 
Fall eine Wiedererkennung. Die Frage, ob diese mit der Auf- 
fassung eine simultane ist, ist bei leichteren Fällen wohl zu bejahen, bei 
schwereren zu verneinen. Es würde in letzterem Falle bei unserem Schema 
also hinter a noch ein Punkt d liegen, der den Moment bezeichnet, wo 
das Wiedererkennen eintritt. Es ist nun hier gar nicht nötig, auf das 
Nähere des Wiedererkermungsvorganges einzugehen, über den ja auch 
zurzeit die Meinungen sehr geteilt sind. Soviel ist sicher, daß bei den 
Bildern größerer Zahlen diese nur als Gestaltqualitäten, als konventionelle, 
nicht als natürliche Symbole wiedererkannt werden. Man kann hier annehmen, 
daß die Zeit, die zur Wiedererkennung nötig ist (resp. auch die Zahl der fal- 
schen Reaktionen) direkt proportional ist der Schwierigkeit des Wieder- 
erkennens. Das Resultat der Versuche ist also kein anderes, als daß 
sich der Wiedererkennungsvorgang leichter gestaltet bei den zweireihigen, 
als bei den dreireihigen Punktmaterien. Das ist aber weiter kein ver- 
wunderliches Resultat, weil es ein längst bekanntes Faktum ist, daß die 
Auffassung und Wiedererkennung räumlich ausgedehnter Objekte leichter 
in horizontaler als in vertikaler Richtung sich vollzieht. 

Weiter ist gegen die behauptete Simultanität zu sagen: Jeder Sinnes- 
eindruck perseveriert fast regelmäßig eine kürzere oder längere 
Zeit. So kann ich aus meiner eigenen Selbstbeobachtung ganz bestimmt 
versichern, daß ich an einem tachistoskopisch gegebenen Eindruck noch 
hinterher Einzelheiten auffasse. Das findet natürlich besonders statt bei 
komplizierteren Eindrücken. So findet also auch bei komplizierten Zahl- 
bildern ein Zählen statt, wenn auch nicht nach einzelnen Punkten, sondern 
durch Addition von Punktgruppen. Oder aber es fällt auch dies ganz weg 
und das Zahlbild wird nur als konventionelles Symbol wiedererkannt. Der 
ganze Vorgang stellt sich wohl bei einfachen Zahlbildern wie folgt dar: 
Vorher werden Assoziationen geschaffen zwischen einer bestimmten Ge- 
stalt, ihrem Auszählen und ihrem Zahlwort. Wird diese Gestalt nun 
wiedergegeben, so fasse ich sie auf, erkenne sie wieder und das Zahlwort 
wird reproduziert. Dann ist das Zahlbild ein natürliches Symbol. Bei 
zunehmender Uebung, und diese wird, da sie sich sehr rasch vollzieht, 
schon voi der Ausführung der tachistoskopisehen Versuche vorhanden ge- 
wesen sein, fallen die Mittelglieder, die durch die vorhergehende Zähl- 
funktion entstanden sind. aus. und in diesem Falle ist also das Zahlbild 
gleichwertig einem konventionellen Symbol geworden. Es wird einfach 
mit dem Wiedererkennen der Gestaltqualität des Zahlbildes das Zahlwort re- 
produziert. Daß es sich so verhält, ergibt sich ja auch aus der von W. ange- 
führten Tatsache, daß die Schüler, dir nir vorher mit Zahlbildern gearbeitet 
hatten, zu den Versuchen unbrauchbar waren. Komplizierter wird der 
Vorgang bei schwierigen Zahlbildern. Hier perseveriert der Eindruck 
kaum, die Zählfunktion tritt im oben angedeuteten Sinne in Wirksamkeit 
und ei wird dann ebensogut abstrakt gerechnet, wie ohne Zahlbilder, oder 



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Berichte uml Besprechungen. 



375 



aber das Zahlbild wird als ein konventionelles Symbol wiedererkannt und 
benannt. 

Was wollen also die Zahlbilder beim Unterricht? Sie erleichtern die 
erste Auffassung und später das Operieren mit Zahlen. Eine zuweitgehende 
Anwendung würde aber dem Endziel d?s Rechenunterrichts (Rechen- 
fertigkeit) entgegenwirken. Die ursprüngliche optische Fixierung de r 
Zahlen, wie wir sie heute bei Naturvölkern finden, ist ja die in 
nebeneinandergesetzten Strichen, in Zahlbildern. Es soll doch auf 
der Schule erreicht werden, daß die Kinder abstrakt mit konventionellen 
Symbolen, mit Ziffern und schließlich mit bloßen Assoziationen operieren 
können. Werden die Kinder angeleitet, im Rechnen immerfort auf die 
Anschauung zu rekurrieren, so bildet das eher einen Hemmschuh für die 
Entwicklung der Fähigkeit für Rechenoperationen. Erfahrungsgemäß 
können viele auf Grund des falschen Unterrichts, das große Einmaleins 
mit 9 Immer nur durch Subtraktion der mit 9 zu multiplizierenden Zahl 
von dem Produkt mit 10 bilden. Um die Ueberlegenheit der Zahlbilder 
aarzutun, wäre es richtiger gewesen, zu zeigen, daß wirklich die Kinder, 
die mit Zahlbildern operiert haben, späterhin besser rechnen können 
als die. die das nicht getan hätten. 

Auf keinen Fall ist es von W. erwiesen — und das glaube ich be- 
sonders hervorheben zu müssen — , daß ein simultanes Vorstellen von Zahl- 
inhalten über 6 oder ro hinaus möglich ist. Pestalozzi darf W. nicht, 
wie er es tut, als Gewährsmann zitieren, da dieser ausdrücklich vom 
Wiedererkennen nach voraufgegangener Zählfunktion spricht. 

III. Die Ausprägung einfachster Raumformen. Anlaß 
zu dieser Arbeit gaben die Versuche Scyferts über die Auffassung ein- 
fachster Raumformen (Dreiecke) (Philos. Studien, Bd. XIV. S. 550 ff.), 
bei denen W. selbst als Versuchsperson mitgewirkt hatte. Eine kurze 
Orientierung über diese Versuche wird vorausgeschickt. Seyfert hatte den 
Augenbewegungsempfindungen die dominierende Rolle bei der Auffassung 
der Raumformen zugewiesen. Die Erfahrungen W.s als Versuchsperson 
geben ihm mit Recht Anlaß zur Opposition gegen die Seyfertschen Aus- 
führungen und zur Aufstellung einer Theorie, die entgegen Seyfert 
vom subjektiven Standpunkt ausgeht : Das gesehene Dreieck ist meine 
sinnliche Vorstellung, und es ist also gar keine Veranlassung mehr, von dem- 
selben noch eine Vorstellung zu gewinnen. Alles, was geschehen kann, 
ist eine „vollkommenere Ausprägung'* der gesehenen Raumform. 
Diese kann erreicht werden durch schärferes Hinsehen, Akkomodation und 
Augenbewegungen. Letztere sind lediglich ein Hilfsmittel, das Gesichtsfeld und 
die Sphäre des deutlichen Sehens zu erweitern. Von den Augenbewegungen" 
trennt W. die „Blickbewegungen". Letzteres aber ist wohl besser mit der 
Wanderung der Aufmerksamkeit zu bezeichnen, wenn auch letzterer Aus- 
druck gerade kein idealer ist. Diese ., Blickbewegungen" werden dann 
noch erörtert unter dem Gesichtspunkt der Erscheinungen des „Wettstreits 
der Sehfelder". Eine andere Lücke in der gesehenen Raumform ist der 
Mangel an „Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Gefüge". Dieser wird be- 
seitigt durch die bewußte, allseitige, genaue Einpassung der sinnlichen 
Raumform in gewisse, dem Bewußtsein bereits feststehende Richtungs- und 



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Berichte und Besprechungen. 



Maßverhältnisse des Gesichtsraumes. Was „senkrecht", was „wagerecht'' 
ist, pflegt jedem schon von der Gleichgewichtslage des eigenen Körpers 
her so klar und gewiß zu sein, daß jedermann leicht imstande ist, mit dem 
Blick bezügliche Strecken im Gesichtsfelde zu durchlaufen, und es ist mithin 
auch die Möglichkeit gegeben, die Raumform zu dieser in Beziehung zu 
setzen. — Als Stütze seiner Ausführungen führt W. Pestalozzi und Herbart 
an, deren Ausführungen er, als in dem schärfsten prinzipiellen Gegensatz 
zu Scyfcrt stehend, ausführlich zitiert. Wenn ich nun auch die Versuche 
Scyfcrts ablehnen muß, so scheint mir doch bei der Polemik W.s gegen 
Seyfert ein Mißverstehen des Wesens der experimentellen Arbeit unter- 
zulaufen. W. wendet sich gegen das isolierte Gegebensein einzelner Fak- 
toren, und es ist doch gerade im Wesen des Experiments ein solches 
Verfahren begründet. 

Die einzige Kritik der Seyfertschen Versuche kann (vergl. das Re- 
ferat in der Zeitschrift für Psychologie, Bd. 22, S. 150) dahin gehen, 
daß Seyfert in Wirklichkeit gar nicht die einzelnen Faktoren isoliert ge- 
geben hat, da es in diesem Falle überhaupt durch die engen Assoziationen 
zwischen den durch die verschiedenen Faktoren vermittelten Empfindungen 
keine Isolierung geben kann. Zustimmen muß man W., daß eine Erziehung 
jum Auffassen von Raumformen nur mit rein geistigen Mitteln an- 
gestrebt werden muß. 

Der Kritik an den Seyfertschen Versuchen, die eigentlich schon in 
allem Vorhergehenden in reichlichstem Maße angewendet wurde, widmet 
W. noch einen gesonderten Abschnitt. Wie W. Seyfert als einen naiven 
Realisten hinstellen kann, weil dieser von , .objektiven Bedingungen", wie 
Größe. Helligkeit usw., spricht, kann ich nicht recht begreifen. Es müßte 
dann W. ja selbst ein solcher sein. 

Als pädagogische Forderung stellt Walsemann die Sätze auf: „Vor 
allem handelt es sich darum, mit rein geistigen Mitteln den durch die 
Sinne gesetzten Raumformen beizukommen. Eine Mannigfaltigkeit von 
Grundrichtungen und Grundformen muß zunächst in den Verstand und 
erst durch Vermittlung desselben in das Auge und die Hand der Kinder 
gebracht werden. Wie solches geschehen könne, hat Pestalozzi in seinem 
ABC der Anschauung vortrefflich gezeigt." 

IV. Das Prinzip der Anschauung mit besonderer Be- 
rücksichtigung der Zahlanschauung. — Durch eine Er- 
örterung des Begriffs und des Prinzips der Anschauung will W. Pesta- 
lozzis „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" zu einer gerechteren und hohen 
Würdigung verhelfen. — Die Zahlen sind nichts der Außenwelt Ange- 
höriges, deshalb kann vom relativen ( ? > Standpunkt aus die Zahl kein 
Gegenstand des Unterrichtes sein. Es ist ein besonderer psychischer Akt 
erforderlich, durch den auf Grund der sinnlichen Momente die Zahl erst 
gesetzt wird. Man kann also die Zahlen nicht anschauen, sondern nur 
veranschaulichen. Nach Pestalozzi ist die Zahl eine Abstraktton. 
ein Begriff, wie Pestalozzi überhaupt in seinem Prinzip der Anschauung 
durchaus auf idealistischem Boden steht. W. zeigt durch Zitate, was 
Pestalozzi unter „Anschauung" verstanden hat. W. verquickt seine Aus- 
führungen so mit umständlichen Auseinandersetzungen erkenntnistbeo- 



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Berichte und Besprechungen. 



377 



retischer und polemischer Art, daß es schwer ist, seinen eigentlichen 
Meinungen über die „Zahlanschauung" auf die Spur zu kommen. 

W . erhebt, wie Pestalozzi, die Forderung von „Anschauungsübungen" 
und macht hierfür genauere Vorschläge. Er präzisiert seine Anschau- 
ungen schließlich dahin: „Das Anscbauungsprinzip in Wahrheit befolgen, 
heißt in elementaren Unterrichtsgängen eine syste- 
matische S ch ulung des Anschauungsvermögens be- 
treiben, dabei die begriffliche Erkenntnis als vor- 
nehmstes Mittel benutzen und durch die Anwendung 
derselben auf Anschauungen zu neuer Erkenntnis 
f ort schreit en." 

V. Zur philosophischen Grundlegung der Elemen- 
tarpädagogik. — Der Aufsatz ist eine polemische Erwiderung auf 
die Kritik Natorps über W.s Schrift: „Pestalozzis Rechenmethode". 

VI. Die Anschauung im philosophischen System 
Schopenhauers. — W. sucht hierin im wesentlichen die vielfachen 
Uebereinstimmungen von Schopenhauers Prinzip der Anschauung mit dem 
von Pestalozzi nachzuweisen. 

Berlin. W. Poppelreuter. 



J. van der Torren. Ueber Auf fassungs- und Unterschei- 
dungsvermögen für optische Bilder bei Kindern. 
Ztschr. f. angewandte Psychologie I (3), 189 — 232. Leipzig 
1007. 

Verf. wendet eine neue Methode Prof. Heilbronners für die 
psychiatrische Klinik zum ersten Male für die normale Psychologie und bei 
Schulkindern an. — Das Wesen der Methode liegt in folgendem : V. P. 
waren etwa 180 Knaben und Mädchen im Alter von 4 — 12 Jahren. Jedem 
Prüfling wurden in einem eigenen Zimmer eine Reihe kleiner Bildchen 
vorgelegt. Die Bilderfolge bestand aus 103 Blättern, auf denen die mehr 
oder minder vollständige Abbildung von 17 verschiedenen Gegenständen in 
einfachen Umrissen dargestellt war. Das jeweils folgende Bild war immei 
um etwas weiter ausgeführt als das voraufgehende. Die verschiedenen 
Bilder wurden den Kindern stets in derselben Reihenfolge vorgeführt. Das 
erste Bild wurde mit der Frage vorgelegt: „Was ist das?" „Nach was sieht 
das aus?" „Was kann noch werden?" Jedes folgende wurde gezeigt in der 
Absicht, Antwort zu erhalten auf die Fragen: „Was ist daran verändert?" 
„Was ist noch dazugekommen?" — v. d. Torre n kommt zu folgenden 
Resultaten: 1. Kinder beobachten außergewöhnlich scharf die Unterschiede 
an Gegenständen, die in anderer Hinsicht genau einander gleichen — ein 
Beweis, daß die Kinder während des Versuchs ausgezeichnet aufgepaßt 
haben. Das richtige Wahrnehmen von Unterschieden erklärt auch teil 
weise die stets wieder überraschende Tatsache, daß sogar kleine Kinder 
nach dem Warum und der Ursache der Dinge fragen. 2. Knaben fassen 
unvollständige Bilder und Gegenstände leichter auf als Mädchen. 3. Mädchen 
konfabulieren mehr und sinnloser als Knaben. 4. Zwischen den verschiedenen 



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Berichte und Besprechungen. 



Altersstufen, Kindern verschiedener Stände, zwischen Dorf- und Stadtkindern 
bestehen bedeutsame Unterschiede. 

Kiel. Marx Lobsien. 

Over Gehengenvariatie bij Schoollcinderen. 

Im neuesten „Paedologisch Jaarbook" der Stadt Antwerpen untersucht 
Prof. Schuyten die Gedächtnisvariationen bei Schulkindern. Er beab- 
sichtigte in erster Linie, dem akustischen Zifferngedächtnis nachzugehen, wie 
es sich verhält im Verlaufe eines Jahres. Daneben gelang ihm auch, die 
anderen, in einer vorläufigen Untersuchung entwickelten Variationsfaktoren 
zu berücksichtigen: die Ermüdung, die Uebung, die Reihenfolge der zu 
behaltenden Glieder und die geistige Entwicklung der Schüler; nur der 
Einfluß verschiedenen Alters der Prüflinge mußte außer Rechnung bleiben. 
— Sch. wählte Schüler von 16 Knaben- und ebenso vielen Mädchenschulen 
aus, die Kinder wurden in vier soziale Gruppen (nach Höhe des Schul- 
geldes) eingeteilt. Je vier Knaben- und Mädchenschulen kamen für die 
vier Jahreszeiten zur Beobachtung in den Monaten Januar, April, Juli und 
Oktober, und zwar vor- wie nachmittags. Die Prüflinge waren alle in dem 
gleichen Quartale des Jahres 1891 geboren. — Verf. kommt zu folgenden 
Resultaten: 1. Die Ermüdung wirkt überall hemmend auf das Gedächtnis 
ein; ob sie auf den Prozeß der Aufnahme oder des Festhaltens besonders} 
einwirkt? Begabte Kinder zeigen sich ihr gegenüber widerstandsfähiger als 
schwächere, scheinen gar über eine Rescrvecnergie zu verfügen, wenn die 
gewöhnliche verbraucht ist. 2. Durch Uebung wird die Gedächtniskraft er- 
höht. 3. Weist man verschiedene aufeinanderfolgende homologe Begriffe dem 
Gedächtnis zu, werden das erste und letzte Glied am besten behalten. 4. Be- 
gabte Kinder haben das beste Gedächtnis; Ausnahmen von dieser bekannten 
Regel sind nur in geringem Umfange nachweisbar. Schwächere Schüler 
aber phantasieren mehr als begabte, suchen die vergessenen Glieder in 
höhcrem Maße aufs Geratewohl hin zu ersetzen durch eingebildete. 5. Die 
Mädchen haben ein besseres Gedächtnis als die Knaben. Dieses Ergebnis 
steht heute fest, doch ist wohl möglich, daß künstliche Umstände, wie etwa 
Stimuluswirkung, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern umzukehren 
vermögen. Knaben sind der Stimulanzwirkung mehr unterworfen als Mäd- 
chen, und zwar begabte mehr als unbegabte. 6. Daß sozial bevorzugte Kinder 
besseres Gedächtnis haben, weisen Schuytens Untersuchungen nicht mit 
gleicher Entschiedenheit auf, doch hält er für wahrscheinlich, daß die 
Klassifizierung der sozialen Gruppen nicht immer mit genügender Unter- 
scheidung hat geschehen können. 7. Im allgemeinen haben die begabtesten 
Kinder die größte Muskelkraft, die leiblich am besten entwickelten das 
stärkste Gedächtnis. 8. Die Jahreskurve der Gedächtnisentwicklung ist nicht 
mit bestimmter Regelmäßigkeit zutage getreten. Es müssen mehr positive 
Ergebnisse gesammelt werden. 

Kiel. Marx Lobsien. 

De opperolakte van het Geschrift. 

Prof. Schuyten will Beiträge liefern zum Studium der Grapho- 
logie des Kindes. Dieser erste Beitrag (Paed. Jaarbook VI*) beschäftigt sich 
mit der experimentellen Untersuchung der Schriftgröße^ 



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Berichte und ße&pi cdiungen. 



379 



M e t b o d e. Bei der Messung sind folgende Umstände ins Auge zu 
fassen: Höhe der Schriftzeichen, Länge der Zeilen, Oberfläche der Zeilen, 
Größe der beschriebenen Papierfläche, Größe der unbeschriebenen Zwischen- 
räume. Sch. ließ schreiben auf unliniierten Blättern von gleicher Größe. 
Er konstruierte 2X8X8 sinnlose Zeichenverbindungen, derart, daß ein 
Vokal mit r oder v, oder zwei einfache Vokale miteinander verbunden 
wurden ae, aa, av, ar usw. Diese wurden abgeschrieben. Prüflinge waren 
30 Schülerinnen einer zahlenden Gemeindeschule im Alter von n bis 
16 Jahren. Sie erhielten die Webung, in gewohnter geläufiger und deut- 
licher Steilschrift zu schreiben. Die Vorschrift stand auf der Rückseite der 
Wandtafel, die bei Beginn des Versuchs umgekehrt wurde. Der Versuch 
dauerte io\ Die Messungen wurden im Laboratorium ausgeführt und 
geschahen auf 1 / 10 mm Genauigkeit : für Buchstaben ward gemessen die 
senkrechte Höhe derselben, für die Zeilengröße galt folgendes: der 16. Teil 
der gesamten Letternhöhe ergab die Durchschnittshöhe der Zeile. Die ganze 
Zeilenlänge ward gemessen bis zum Ende des letzten Federstrichs, e X b ist die 
Zeilenoberfläche. Die Oberflächensumme der ersten acht Zeilen galt als 
Oberfläche der ersten, die der folgenden als Oberfläche der Schrift der 
zweiten Hälfte. Das Messen des Abstandes zwischen den Letternpaaren und 
der Zeilenzwischenräume stieß anfangs auf erhebliche Schwierigkeiten, deren 
U eberwind ung aber doch gelang. Die beschriebene Papieroberfläche ward 
durch feine Bleistiftlinien eingeschlossen, eine Diagonale zwbchen der achten 
und neunten Zeile teilte die Schreibfläche in zwei unregelmäßige Vielecke, 
deren Inhalt berechnet wurde. Die Differenz zwischen der totalen Lettern- 
oberfläche und der beschriebenen Papieroberfläche ergab die Größe des 
frei gelassenen Raumes zwischen den Zeilen. Auf Grund dieser Messungen 
konnte Schuyten an .seine Frage herantreten, ob ein Unterschied nach- 
weislich sei zwischen den Schrifthälften bezüglich ihrer Flächenausdehnung.*) 
Ergebnisse: 1. Zu Beginn der Schriftseite schreiben Kinder kürzere 
Zeilen als später. Aeltere Schüler schreiben kürzere Zeilen als jüngere, 
ebenso begabte Schüler kürzere als schwache. Gegen Ende der Seite zeigt 
sich nur ein sehr geringes Ueberge wicht in der Letternhöhe. Es besteht 
eine Neigung zu direkter Proportionalität zwischen dem Alter der Kinder 
und der Höhe der Ziffern. Die Lettern des zweiten Schrifttcils nehmen 
einen größeren Raum ein als die des ersten; ältere Kinder brauchen weniger 
Raum für ihre Buchstaben.**) Die Papieroberfläche ist im zweiten Teile 
für jüngere Kindes kleiner, für ältere ist das Umgekehrte der Fall, ähn- 
lichem gilt für eine Anordnung nach den Unterschieden der Begabung. 2. Die 
Zeilcnlänge wächst von der ersten zur achten und bleibt von der neunten 
bis sechzehnten Zeile unregelmäßig auf gleicher Höhe; Alter und Intelligenz- 
Unterschiede treten nicht zutage. Die mittlere Höhe der Lettern beider 
Zeilcngruppen ist als identisch zu betrachten. Beides gilt auch für die Zeilen 

*) Die Verrechnung geschah nach der Korrelationsformel A. S 6 e s : 




**) Die Korr.-Ber. wies keine sonderlich deutlichen Ergebnisse auf; 
Durchs chn.-R I 



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380 



Berichte und Besprechungen. 



Oberfläche. Mit zunehmendem Alter der Prüflinge bemerkt man gegen Ende 
jeder Zeilengruppe deutlich ein Größerwerden der Buchstaben. 3. Gegen Ende 
der Handschrift wurde mehr weißes Papier freigelassen. Die älteren Kinder 
nahmen mehr Papier in Anspruch. Die intellektuell minderwertigeren Prüf- 
linge ließen mehr Raum frei zwischen den einzelnen Letternkombinationen, 
jedoch weniger zwischen den Zeilen. 

Kiel. MarxLobsien. 



Ziehen: Die Geisteskrankheiten des Kindesalters, mit 
besonderer Berücksichtigung des schulpflichtigen 
Alters. III. Teil. Berlin, Verlag von Reuther ic 
Reichard. Einzelpreis 3 Mk. 

Mein Urteil, welches ich in Heft 3/4 des Jahrganges 1906 dieser Zeit 
schrift über die beiden ersten Teile der „Geisteskrankheiten des Kindes- 
alters" abgab, wende ich auch unbedenklich auf den III. Teil an: Das Buch 
ist in jeder Beziehung klar, anregend und belehrend geschrieben und kann 
allen denen rückhaltlos empfohlen werden, welche mit der Behandlung 
anormaler Kinder zu tun haben. 

Z. behandelt zunächst die Geistesstörung aus Zwangsvorstellungen. Dabe: 
gibt er zunächst einen allgemeinen Krankheitsbegriff. Als charakteristisch 
für die Zwangsvorstellungen ist vor allen Dingen zu nennen I. das Erhalten 
bleiben des Krankheitsbewußtseins und 2. namentlich ihre Ueberwertig 
keit. Darauf folgt ein ausführliches Literaturverzeichnis über den Gegen 
stand, eine Abhandlung über Häufigkeit und Aetiologic sowie Symptoma 
tologie der Zwangsvorstellungen. In dem letzten Abschnitt sind besonders 
viele Krankheitsbilder aus der Praxis des Verfassers angeführt, welche die 
Krankheit in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und in ihrer Einwirkung auf die 
verschiedenen Funktionen des Körpers und der Seele schildern. Nachdem 
dann der Verlauf und Ausgang der Krankheit, ilire Abgrenzung gegen andere 
Krankheitsbilder, Komplikationen und Diagnose erörtert sind, folgt ein Ab- 
schnitt über die Behandlung der Kranken. Auch hierbei erkennt man den 
Praktiker, der nicht alles über einen Kamm scheren will und das betr. Kind 
gleich einer Anstalt überweist. Nein, ganz individuell, entsprechend dem 
jeweilig auftretenden Krankheitsbild, soll die Behandlung eingerichtet werden. 
Der Lehrer und der Arzt werden aus diesem Abschnitt trotz seiner Kürze 
manche Anregungen erhalten. 

Eine besonders ausführliche Erörterung wird in den folgenden Ab- 
schnitten den psychopathischen Konstitutionen zuteil, welche ja nächst dem 
angeborenen Schwachsinn die häufigste, praktisch weitaus wichtigste Geistes 
Störung des Kindesalters bilden. Unter psychopathischen Konstitutionen ver 
steht Ziehen, im Gegensatz zu den vollentwickclten Psychosen, psychische 
Krankheitszustände, welche nur leichtere, wenn auch oft sehr mannigfaltige 
psychische Krankheitssymptome darbieten und nur hin und wieder und vor 
allem nur vorübergehend zu schweren Krankheitssymptomen führen. Der 
Einteilung der psychopathischen Konstitutionen hat Ziehen die sympto 
manschen Kennzeichen zugrunde gelegt. Er behandelt dementsprechend der 
Reihe . nach die allgemeine, degenerative psychopathische Konstitution, die 



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Berichte und Besprechungen. 



3S1 



hysterische, die epileptische, neurasthenische, chorcatische, depressive, para- 
noide und die obsessive oder kompulsive psych tp.ithische Konstitution. Auch 
hier werden die einzelnen Arten durch gut gewählte Krankhcitsbildcr, Erleb- 
nisse aus dem Leben der Kranken, Briefe, Aufsätze usw. verdeutlicht. 

Damit sind die sogenannten einfachen Psychosen erledigt, und es folgt 
nun noch eine Abhandlung über die zusammengesetzten Psychosen : Periodische 
Manie, periodische Melancholie, zirkuläres Irresein, periodische halluzina- 
torische Paranoia oder Amentia und periodische impulsive (phrenoleptische) 
Zustände. 

In einem Anhang holt der Verfasser dann über die Abhandlungen aus 
den früheren Bänden und dem vorliegenden Bande noch eine große Anzahl 
von Literaturangaben nach. Den Schluß des III. Bandes bildet eine 
schematische Anweisung zur psychischen Untersuchung bei geisteskranken 
Schulkindern. Diese Anweisung soll nur ganz im allgemeinen auf die wich- 
tigsten Punkte hinweisen. Im individuellen Falle wird manches hinzugefügt, 
anderes wieder weggelassen werden müssen. Die Prüfung geschieht nach 
folgenden Hauptgesichtspunkten: Prüfung der Empfindungen, der motorischen 
Funktionen; Vorstcllungsinvcntar, Differenzierung der Vorstellungen und Be- 
griffe, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Ideenassoziation, Affekte, Handeln, Aus- 
drucksbewegungen und Gestikulation. Aus dem Angeführten ist zu ersehen, 
wie reichhaltig der Inhalt dieses III. Bandes ist, und daß meine Empfehlung 
zu Beginn der Besprechung wohl berechtigt ist. Jeder, der das Werkchen 
durcharbeitet, wird es nur mit großer Befriedigung aus der Hand legen. 

Wuhlgarten Berlin. F. Schepp. 



Dr. Eugen Schlesinger: Schwachbegab te Schulkinder. 
Vorgeschichten und ärztliche Befunde. Stuttgart, 
Verlag von Ferdinand Enke, 1907. Preis 2 M k. 

Der Verfasser dieses Buches ist Schularzt zu Straßburg i. E. Er will 
das Material, welches er in seiner Eigenschaft als Schularzt gesammelt 
hat, nicht von psychiatrischer, sondern von pädiatrischer Seite aus bearbeiten. 
Verfasser hofft durch diese Bchandlungsweise einige ätiologische Punkte 
stärker in den Vordergrund rücken zu können, als dies in den entsprechenden 
psychiatrischen Arbeiten der Fall ist. 

Bei dem vorliegenden Schulmatcrial handelt es sich um sogenannte 
debile Kinder der Hilfsschule. Am brauchbarsten erscheint dem Verfasser eine 
pädagogisch-praktische Einteilung nach dem Grade der schwachen Begabung. 
Sie soll den Vorzug haben, daß sie gerade auf das Hauptsymptom, die intellek- 
tuelle Schwäche, am meisten Bezug nimmt. So teilt er denn ein: 1. Grad der 
Debilitas solche Kinder, die das Ziel der Hilfsschule, annähernd das der 
Mittelstufe der normalen Volksschule, glatt erreichen. Die erste Gruppe 
bildet die große Mehrzahl der Hilfsschülcr, etwa 54 Prozent; 2. Grad der 
Debilitas: solche Schüler, bei denen eine Wiederholung des einen oder 
anderen Jahreskurses nötig wurde : etwa 33 Prozent ; 3. Grad : solche Kinder, 
welche trotz Wiederholens das stark reduzierte Pensum einer solchen Schule 
nicht in sich aufnehmen: etwa 13 Prozent. 



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382 



Berichte und Besprechungen. 



Der Verfasser bearbeitet das gesammelte Material nach zwei Richtungen 
hin : Die Ursachen der schwachen Begabung — das ist das Ziel seiner Arbeit 
— werden erforscht auf Grund der Familienanamnese und des Status praesens. 
Er kommt dabei u. a, zu folgenden Ergebnissen: Die Zahl der schwach- 
begabten Kinder beträgt 1,1 Prozent der Schuljugend. Das Verhältnis der 
Knaben zu den Mädcheh ist 123:100. Psychoneuropathische Belastung fand 
sich bei 22, Trunksucht der Eltern 30, luetische Belastung 3, sichere kongeni- 
tale Lues 1,5, tuberkulöse Belastung 24. Somatische und psychische Traumen 
der Mutter während der Gravidität bei 18, darunter gehäufte epileptische 
Anfälle 2,3; schwere Erkrankungen im Säuglingsalter bei 52, von Geburt ab 
künstliche Ernährung bei 55; überstandene Rachitis bei 36; Rachitis invete- 
rata bei 20; spätes Zahnen bei 46, spätes Gehenlernen bei 44; Epilepsie: 3,6; 
Chorea: 0,8; Lues mit Krämpfen 1,4; zerebrale Kinderlähmung 0,8; schwere 
Kopfverletzungen 5. Die Schädelmessungen führten zu folgenden Resul- 
taten: Schädel abnorm groß: 10; davon hydrokephal: 2,8; abnorm klein: o; 
eckig: 4,1; asymetrisch: 10; Turmschädel: 2,8. Mangelhaften Farbensinn 
hatten 70, totale Farbenblindheit 4,7; gleichmäßige Leistungen in den 
einzelnen Elementarfächern zeigten 43, besondere Schwäche im Schreiben 9, 
im Lesen 18, im Rechnen 24, Mangelhaftigkeit der Auffassungsgabe 12, des 
Gedächtnisses 20, der Aufmerksamkeit 23. 

Der Raum gestattet mir nicht, hier alle Ergebnisse genauer 
zu besprechen. Das Buch bietet ein reichhaltiges Material, welches gut 
nach allen Richtungen hin durchgearbeitet ist. Die Darstellung ist über 
sichtlich und klar. 

Zum Schluß erörtert der Verfasser noch einige „hilfsschulärztliche Forde 
rungen". Von diesen will ich nur die erwähnen, daß er verlangt, der Schul 
arzt soll an der Hilfsschule nicht nur als beratender, sondern als direkt 
behandelnder Arzt angestellt werden. Mit diesem Verlangen wird er wohl 
bei den Schulverwaltungen, bei den Eltern und — last not least — bei 
seinen eigenen Berufsgenossen, also bei allen in Betracht kommenden Fak- 
toren, auf berechtigten Widerspruch stoßen. Daß diese zwangsweise schul 
ärztliche Behandlung im weiteren Ausbau des Hilfsschulwescns unerläßlich 
sei, will mir trotz mancher Gründe, welche dafür sprechen, nicht recht ein- 
leuchten. 

Hoffentlich regt das Buch, welches sowohl Aerzten als auch Lehrern zum 
Studium empfohlen werden kann, zu weiteren Veröffentlichungen auf diesem 
Gebiete an. 

Wuhlgarten. F. Schepp. 



Oskar Pfungst: „Das Pferd des Herrn von Osten" {der 
kluge Hans), ein Beitrag zur experimentellen Tier 
und Menschen-Psychologie, mit einer Einleitung 
von Professor C. Stumpf. 

In diesem Werke gibt uns der Verfasser, Herr cand. phil. et med. 
O. Pfungst, eine eingehende Schilderung der Experimente, die Herr 
Geheimrat Professor Dr. Stumpf in Verbindung mit ihm und Herrn 
Dr. von Hornbostel mehrere Wochen hindurch mit dem „klugen Hans" 



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Berichte und Besprechungen. 



383 



angestellt hat. Wir haben hier unantastbare wissenschaftliche Beweise für 
das Gutachten des Herrn Prof. Stumpf vom 9. Dezember 1904. Herr 
Prof. Stumpf behauptete darin, daß von einer Denkfähigkeit des „klugen 
Hans" keine Rede sein kann, daß Hans weder zu rechnen noch zu lesen 
oder zahlen vermag. Die richtigen Antworten des Tieres sind weiter nichts 
als Reaktionen der feinen und feinsten Bewegungen, die es an dem Frage- 
steller wahrnimmt. Verschließt man dem Hengste die Ohren so, daß er 
selbst das leiseste Geräusch nicht hören kann, so löst er seine Aufgabe« 
dennoch richtig. Läßt man aber seine Ohren frei und entzieht den Fragenden 
seinen Blicken, so ist nie eine richtige Antwort aus ihm herauszubringen. 
Das Tier reagiert auf keine akustische Frage und hat nie darauf reagiert, 
wohl aber auf optische Zeichen. Nicht jedem gelingt es, erfolgreich mit Hans 
zu experimentieren. Am besten glückt dies außer den Herren von Osten 
und Schillings dem Verfasser des vorliegenden Werkes. Herr P f u n g s t 
war zunächst selbst darüber überrascht, daß das Pferd ihm richtig ant- 
wortete; er wußte zuerst selbst nicht, daß er durch unwillkürliche Bewegungen 
dem Tiere die Antwort „zeigte". Dies ist insofern wichtig, als damit bewiesen 
ist, daß kein Betrug vorliegt. 

Herr P f u n g s t unterscheidet je nach der Lösung dreierlei Aufgaben : 
nämlich solche, die durch Treten, durch Kupfbewegungen oder durch Hin- 
gehen des Pferdes gelöst werden. Zur ersten Kategorie gehören die Rechen- 
aufgaben. Das Pferd hat die Lösung durch eine bestimmte Anzahl Tritte 
mit einem der beiden Vorderhufe anzugeben. Der Fragende steht dabei an 
der Seite des Tieres, und zwar am besten 1/4 ---'/» ni nach hinten. Weiter als 
4 Vi» m darf er sich nicht entfernen, da er dann schon aus dem Gesichts- 
felde des Pferdes gewichen ist. Der „kluge Hans" hilft sich in solchen 
Fällen überdies selbst, indem er den Kopf, soweit das geht, nach dem 
zurückgetretenen Fragesteller wendet, wie er überhaupt stets offensichtlich 
bemüht ist, den Fragenden im Auge zu behalten. 

Er hört mit Treten auf, sowie er eine wenn auch noch so geringe Auf 
wärtsbewegung des Kopfes an dem Fragenden wahrnimmt. Steht der 
Fragende aufrecht, so gibt das Pferd keine Antwort, er kann fragen, was 
er will. Erst von dem Augenblicke an, wo er sich etwas bückt, beginnt das 
Pferd zu klopfen, selbst wenn gar keine Frage gestellt wird. Wie kommt nun 
das Pferd dazu, erst dann zu treten, wenn der Fragesteller eine gebeugte 
Haltung einnimmt? Die Antwort liegt auf der Hand! Jeder Fragende neigt 
sich unwillkürlich, und sei es nur etwas mit dem Kopfe, um den Huf 
des Pferdes zu beobachten, ob derselbe mit der richtigen Anzahl Tritte 
antwortet. Dies hat Herr von Osten gleich von der ersten „Rechen- 
stunde" ab getan, und anstatt des Rechnens hat er den aufmerksamen 
Hengst gelehrt, zu scharren, wenn eine neben ihm stehende Person nach 
seinem Hufe blickt. Die Stellung ist hierbei nicht nußgebend, wenn sich 
auch der Hengst daran gewöhnt hat, daß der Fragende an seiner Seite, 
steht, da er hier denselben am besten beobachten konnte. Von aus- 
schließlicher Bedeutung allein ist die Haltung des 
Fragestellers, sowohl für den Beginn als für de n Schluß 
des Tretens. Das Schlußzeichen für das Treten ist eine Abwärts- 
bewegung, welche d.is Tier an dem P ragenden wahrnimmt, und sei sie noch 



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384 



Berichte und Besprechungen. 



so gering. Der Grund hierfür ist in derselben Erklärung wie für den Beginn 
des Tretens ru finden : der Erwartungsaffekt bewirkt, daß der Fragende 
unwillkürlich den Kopf wieder hebt, wenn der Hengst die gewünschte 
Anzahl Tritte getreten hat. Läßt sich der Fragende nicht von dem Er- 
wartungsaffekt beeinflussen, behält er also die beobachtende gebeugte 
Haltung bei, so tritt der Hengst ruhig weiter. Das haben sämtliche Versuche 
bewiesen. Die Tatsache, daß der Erwartungsaffekt oder die dadurch hervor- 
gerufene Hebung des Kopfes den Schluß des Tretens bedingt, ist auch der 
Grund dafür, daß nicht jeder Fragesteller die richtige Antwort erzielt, 
da der Erwarrungsaffekt nicht bei jedermann stark genug ist, um eine 
Bewegung des Körpers zur Folge zu haben. Die gesprochene Frage spielt 
bei sämtlichen Experimenten keine Rolle. Man kann den größten Unsinn 
fragen, das Pferd antwortet nur gemäß der Haltung des Fragestellers. 

Auf die Haltung kommt es auch bei den beiden anderen Kate- 
gorien von Fragen an. Die Kopfbewegungen, die zur Lösung der Aufgaben 
der zweiten Kategorie dienen, bestehen in Heben und Senken, Nicken 
und Schütteln oder Wendungen des Kopfes nach rechts und links. Sie ant- 
worten auf Fragen, wie: „Hans, wo ist dein Kopf, wo sind deine Beine?" usw. 
Auch hier kommen nur optische Zeichen, in keiner Weise aber akustische 
Aufforderungen in Betracht. Daß eine Kopfbewegung und kein Treten 
verlangt war, merkte der Hengst sofort an der Stellung und Haltung des 
Fragenden. Dieser steht hierbei vor oder neben dem Kopfe des Pferdes 
und muß eine aufrechte Haltung annehmen. Blickt der Fragende den 
Hengst geradeaus an, nimmt er also sozusagen eine neutrale Haltung 
an, so macht das Pferd alle möglichen Kopfbewegungen — es weiß eben 
nicht, was von ihm verlangt wird. Hebt oder senkt der Fragende den Kopf, 
wendet er ihn nach rechts oder links, so ahmt ihm das Pferd hierin nach. 
Und dabei kann man die beliebigsten Fragen stellen! Sie werden nur 
dann richtig beantwortet, wenn die Frage — zu der Bewegung paßt. So 
blickte z. B. auf die Frage: „Hans, wo sind deine Beine?" das Pferd gen 
Himmel, wenn der Experimentator, Herr Pfungst, den Kopf etwas 
hob, u. a. m. Auch hier sind die Bewegungen, die das Pferd an dem Kopfe 
des Fragestellers wahrnimmt, weiter nichts als Aeußerungen des Erwartungs- 
affektes, wenn sie unbewußt geschehen. 

Schließlich wurden dem „klugen Hans" Fragen gestellt, die durch 
Hingehen zu lösen waren. Man hing hierzu etwa acht farbige Lappen von 
ca. V* m Breite und i/ 2 m Länge in Mannshöhe auf einer Schnur auf oder 
legte sie nebeneinander auf die Erde, und zwar so, daß zwischen den 
einzelnen Lappen ungefähr 1/4 m Zwischenraum war. Größe, Farbe und 
Zwischenraum sind bei dem Versuch von nebensächlicher Bedeutung; nur 
wird dem Pferde die Arbeit dadurch bedeutend erleichtert, daß man die 
Zwischenräume möglichst groß macht und das Pferd nicht zu weit weg- 
stellt, so daß das Tier immer sofort merkt, welchem Lappen man sich zu- 
neigt. Denn auch bei diesen „Fragen" las der „kluge Hans" die Antwort 
aus der Haltung seines Examinators ab. Man nannte dem Hengste die 
Farbe eines Lappens und befahl ihm, den betreffenden Lappen zu holen. 
Unwillkürlich neigt der Fragende Kopf oder Hand in der Richtung des 
Lappens. Ist die Bewegung deutlich genug, so findet das Pferd den ver- 



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Ii€richte und rtfitprechungen 



385 



langten Lappen, ergreift ihn mit den Zähnen, wenn er auf der Erde 
liegt, und stößt ihn mit der Nase an, wenn er auf der Schnur hängt. Gerade 
bei diesen Versuchen sind Irrtümer sehr leicht möglich, da aus der Be- 
wegung des Fragenden die Richtung des Lappens oft nicht deutlich genug 
zu erkennen ist, besonders wenn die Lappen noch dazu etwas eng hängen. 
Daß Hans meist auch beantworten mußte, an welcher Stelle der Lappen 
von rechts nach links gezählt hing, ist hierbei nur nebensächlicher Natur und 
muß wieder zu den Fragen der ersten Kategorie gerechnet werden. Statt 
der Lappen konnte man auch beschriebene Papptafeln nehmen. 

Um noch einmal kurz zusammenzufassen: das vorliegende Werk bringt 
uns den wissenschaftlichen Beweis für das Gutachten des Herrn Geheimrat 
Stumpf vom 9. Dezember 1904. Hans kann weder rechnen, zählen, lesen 
noch Farben unterscheiden. Der Schlüssel zur Erklärung seiner richtigen 
Antworten liegt einzig und allein in der Hakung des Fragestellers. Die 
Menge und Regellosigkeit seiner Fehler, dann die Tatsache, daß er richtig 
antworten kann, wenn man sein Gehör völlig abschließt, daß er aber nie 
richtig antwortet, wenn man den Fragenden seinen Blicken entzieht, oder 
wenn sich der Fragende absichtlich an seiner Haltung nichts merken läßt, 
sind die hauptsächlichsten Belege dafür. Wir können das Werk des Herrn 
P f u n g s t angelegentlichst empfehlen ; es ist klar und übersichtlich 
geschrieben und gibt uns nicht nur einen deutlichen Ueberblick über die. 
Geschichte des „klugen Hans" und der mit ihm angestellten Versuchte, 
sondern ist auch ein wichtiger Beitrag zur experimentellen Tier- und 
Menschenpsychologie. 

Weißensee. Markowski. 



F. Gansberg (Lehrer in Bremen): Streifzüge durch die 
Welt der Großstadtkinder. Verlag von Teubner, 
Leipzig und Berlin. 

Die Schrift zeigt dem Anschauungsunterrichte neue Bahnen, mit dem 
Pestalozzi sehen Prinzip soll gebrochen werden. Fort mit An- 
schauungsobjekten, mit Modellen und Bildern, mit Naturgeschichtlichem 
und Dörflichem. Diese Dinge sind tot, das Stadtkind kennt sie noch nicht. 
Aber das Leben in der Stadt, das sich in lebendigen Worten darstellen 
läßt, bietet einen passenden und anregenden Anschauungsstoff. Die selbst- 
geschauten Dinge, wie sie sich geben und verändern, wie sie miteinander 
wirken und sich bedingen, sind ein Problem des Unterrichts. Erzählung und 
Schilderung, weil sie als Hauptmittel das Leben zur Darstellung bringen, 
müssen zu Methoden des Anschauungsunterrichts werden. Die Kinder tragen 
zusammen, was sie auf der Straße und anderswo erlebt haben; dabei muß 
ihre Phantasie produktiv mitwirken. 

Der Verfasser schildert in ansprechenden Erzählungen die Jahres- 
zeiten : wie man den Frühling im Krankenzimmer durch das geöffnete Fenster 
wahrnimmt, ihn erkennt an Blütenduft und Vogclgesang, an Kinderspiel 
und zankenden Spatzen; wie man den Sommer verspürt durch das Treiben 
auf der Promenade, den Herbst an den Obst wagen und aufsteigenden 
Zeitschrift fttr plid*irogi<icbe Psychologie, Pathologe u. Uygivno. 9 



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386 



Berichte und Baiprcdmngen. 



Drachen, wie der Winter sich z. B. durch den im Pelze steckenden Droschken- 
kutscher charakterisiert. Anschließend folgen Gänge durch Kaufläden; vor 
einem Neubau wird „Halt" gemacht und allerlei Arbeit und Erfindung 
besprochen. Auch wird erzählt, auf welche Weise man selbst zum tüchtigen 
Handwerker, Kaufmann und Künstler werden kann. 

Es ist nicht zu verkennen, daß Gansberg in seinen Streifzügen einen 
lebensvollen Unterricht schafft. — Doch ist freilich nicht zuzugeben, daß 
er etwas ganz Neues bringt. 

Wer z. B. die Schulstube bespricht, hat jederzeit das Tun und Treiben 
in ihr in den Vordergrund gerückt. Man ist wohl auch mit den Kindern 
nach Hause gewandert und ließ sich von dem Leben in Kinder- und Wohn- 
stube, von dem Treiben auf dem Hofe, in der Werkstätte und im Laden 
berichten. Auf dem Rückwege betrachtete man das Rathaus, das Post- 
amt, und spricht von den Einrichtungen und Vorgängen in ihnen. 

Mit der Verbannung guter Bilder aus dem Anschauungsunterrichte kann 
man sich gar nicht einverstanden erklären. Wer nach dem Holzel sehen 
Bilde den Sommer bespricht, wird beispielsweise bei der Ernte von dem 
Leben und der Arbeit der Schnitter und Schnitterinnen, von der Sense 
und dem Getreide, von Korn und Stroh, von Mühle, Müller und Mehl, 
Bäcker und Brot reden müssen. Da haben wir das Leben bis in die feinsten 
Auszweigungen. 

Weißensee. R. Leuenberg. 



Kalender für Lehrer und Lehrerinnen an Schulen und 
Anstalten für geistig Schwache, herausgegebe n von 
Fr. Frenzel, J. Schwenkund E. Schulze. Dritter Jahr- 
gang (1907/08). Verlagvon K. G. Th. Schefferin Leipzig. 
2 Mk. 

Der Hilfsschulkalender erschien zu Ostern zum drittenmal; daß er 
sich zunehmenden Beifalls auch bei Behörden und Magistraten erfreut, 
darf man wohl annehmen, denn das Großherzoglichc Ministerrum in Darm- 
stadt hat 100 Mk., die Städte Weimar, Erfurt, Breslau und Metz haben je 
20 Mk. für seine Fortführung bewilligt. Denn man darf nicht verkennen: 
dieser Kalender konnte von Beginn an nicht auf einen so großen Kreis 
von Berufsgenossen zurückgreifen wie mancher andere „Fachkalender", und 
so hat er sich allmählich erst seinen Platz zu erobern. Er tut's durch Sorgfalt 
in den Nachrichten und Statistiken, und letztere verheißen ihm für die 
Zukunft wohl eine günstigere Lage, als er sie bisher hatte: ist doch die Zahl 
der Hilfsschullehrer — wie sich aus einem Vergleich der beiden letzten 
Jahrgänge ergibt — von ca. 600 auf 800 gestiegen. Immerhin ist das für 
ein Kalenderwerk noch nicht viel, und wir sprechen deshalb den auf 
richtigen Wunsch aus, daß alle Hilfsschullehrer sich des Buches bedienen 
wollen. Dadurch wird es möglich sein, ihn in Zukunft allmählich zu ver 
billigen. 

Aus dem Inhalt ist hervorzuheben Frenz eis Umschau und seine 



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Berichte und Besprechungen. 



387 



Statistik der Hilfsschulen und die Personalien. Die Statik der Anstalten 
und die Personalien der Anstaltslehrkräfte rührt von Schwenk her. Die 
gesetzlichen Bestimmungen lassen sich in der Kalenderausgabe angenehm 
mitführen. Von Rektor Henze rührt ein „Ueberblick über die Entwicklung 
des Hilfsschulwesens" her ; Pieper behandelt dasselbe Thema für die 
„Konferenz für das Idioten- und Hilfsschulwesen". F r e n z e 1 wiederum 
hat die Literaturübersicht aus den Jahren 1905 und 1906 geliefert. Schulze 
die Lehr- und Lernmittel bearbeitet. Es folgt der übliche Kalenderinhalt 
und dann der Notizenraum für die 52 Wochen, der diesmal Anregungen zu 
Beobachtungen an Fluß und Teich bringt. 

Weißensee. R. Leuenberg. 



9" 



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Mitteilungen 



Deutscher Lehrertag. 

In der am 4. Juni in München abgehaltenen Vertreterversammlung des 
Deutschen Lehrervereins wurde die Tagesordnung für die beiden Haupt- 
versammlungen wie folgt festgesetzt. 1 . Festvortrag von Prof. Dr. Theobald 
Z i e g 1 c r - Straßburg über die deutsche Volksschule am Anfang des 
20. Jahrhunderts. 2. Die Lehrerinnenfrage. Referent Oberlehrer 
Laube Chemnitz. 3. Die Simultanschule. Referenten Oberlehrer Gärtner- 
München und Lehrer L ü t g c m e i e r • Heiden (Lippe). Beschlossen wird, 
für die mit den deutschen Lehrerversamralungen verbundenen Lehrmittel- 
ausstellungcn einen wissenschaftlichen Beirat einzusetzen. Ein Antrag, für 
die Verhandlungen auf den Versammlungen neue Satzungen zu vereinbaren, 
wurde vertagt. Stadt und Lehrerverein Dortmund laden die nächste Deutsche 
Lehrerversammlung nach Dortmund ein. 

Zu Vorsitzenden der Hauptversammlungen wurden gewählt: Lehrer 
Röhl- Berlin, Oberlehrer Schubert-Augsburg und Oberlehrer Reinlein- 
München. 

Der Begrüßungsabend, der von 7 bis 8000 Personen besucht war, wurde 
vom Oberlehrer Dr. R c i n 1 e i n eröffnet. Oberlehrer S t r o b 1 , Vor- 
sitzender des Münchener Lehrervereins, hielt die Begrüßungsrede. Alle 
deutschen Stämme, so führt Redner aus, sind vertreten. Die deutschen 
Stämme können nicht oft genug zusammenkommen. In München, die nicht 
nur die Bierstadt, sondern auch die Stadt der allgemeinen Volksschule ist, 
im „dunklen Bayern", ist für die Volksbildung in den erwerbenden und ge- 
bildeten Volksklassen ein lebhaftes Interesse. Herzlich willkommen im gast- 
lichen München! (Lebhafter Beifall.) 

Oberlehrer Noll- München, Vorsitzender des Oberbayerischen Bezirks- 
lehrervereins, spricht die Freude der altbayerischen Lehrer über die Tagung 
der Deutschen Lehrerversammlung in ihrem Kreise aus. Die Altbayern stehen 
treu im deutschen Bruderbunde. Sie wollen Vasallen des großen Gedankens 
sein, der im Deutschen Lehrerverein lebt. Der schulpolitischc Himmel 
im Bayerlande ist schwarz. Aber die Begeisterung der Lehrerschaft wird 
niemand ertöten können. Wie der Wanderer auch in trüben Tagen, so 
wird die Lehrerschaft doch fortschreiten. Unsere gute Sache wird siegen, 
wenn wir alle ,,in eine Kerbe schlagen". Fest wie die Häupter ihrer Berge 

> 



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389 



steht die altbayerischc Lehrerschaft im großen Bruderbunde. „In Eintracht 
furchtlos vorwärts!" so schließt der Redner unter brausendem Jubel der 
Versammlung. Die Räume sind inzwischen so überfallt, daß ein großer 
Teil der Anwesenden auf polizeiliche Anordnung das Lokal verlassen muß. 

Lehrer Ernst Weber - München spricht einen Prolog, der den 
Anschluß des Bayerischen Lehrervereins an den Deutschen Lehrerverein be- 
handelt. (Großer Beifall.) 

Stadtschulrat Studienrat Dr. Kerschensteiner heißt die Ver- 
sammlung seitens der Münchencr Stadtverwaltung willkommen, und erörtert 
in interessanten Ausführungen den Kampf um die Volksschule. Alle, die ihr 
Vaterland lieben, die an seine Zukunft glauben, verfolgen die Entwickelung 
der Volksschule. Die Volksschule streute die Saaten, die die nächste 
( H-ncration ernten wird. Die Ideale der deutschen Volksschullehrer sind schwer 
ru verwirklichen. Aber sie mögen danach „klettern", das gibt Kraft zur 
Arbeit und zum Kampfe. (Jubelnde Zustimmung.) 

Ein „Münchener Kindl" trägt ein humoristisches Gedicht im Münchencr 
Dialekt vor. 

Obcrschulrat Dr. S a 1 w ü r k begrüßt namens der badischen Unter- 
richtsverwaltung, die nach Kräften an der Hebung des Volksschulwesens 
arbeitet, die Versammlung. (Beifall.) 

Fräulein S i e g 1 überbringt die Grüße des Münchener Lehrerinnen- 
vereins. 

Namens des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Lehrer- 
vereins spricht Lehrer Höhne- Berlin. Harte Arbeit, schwere Kämpfe 
haben die deutschen Lehrer zusammengeführt. Möge Kampf und Arbeit 
zum schönen Ziele führen. (Lebhafter Beifall.) 

Noch eine große Zahl von Rednern schließt sich an. 

Die Besucherzahl ist größer als auf irgendeiner früheren Ver- 
sammlung. 

In der ersten Hauptversammlung sandte der Lchrertag Huldigungs- 
telogramme an den Kaiser und den Prinzregenten von Bayern. Das Tele- 
gramm an den Kaiser lautete: 

„An Seine Majestät den Kaiser. Die Deutsche Lehrerversammlung, 
der Tausende von Schulmännern aus allen Gauen des Reiches bei- 
wohnen, huldigt Euer kaiserlichen Majestät mit dem Gelöbnis, in die 
Herzen der deutschen Jugend die Liebe zu Kaiser und Reich zu 
pflanzen." 

Hierauf hielt Professor Z i e g I c r • Straßburg, von stürmischem Bei 
fall empfangen und wiederholt von Beifallskundgebungen unterbrochen, 
seinen zweistündigen Vortrag über das Thema: „Die deutsche Volksschule 
am Anfang des 20. Jahrhunderts", über den wir unten ausführlich berichten. 

Erste Hauptversammlung. 

Der große Saal des Münchener Kindl ist wie am Begrüßungsabend 
bis auf den letzten Platz gefüllt. Auffallend stark sind die Lehrerinnen ver- 
treten. Von dem Begrüßungsabend ist noch nachzutragen eine mit stürmischem 
Beifall aufgenommene Ansprache von Prof. Dr. S i e p e r - München namens 
der Neuphilologen, der die VoDcsschullehrer der wärmsten Sympathien der 



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390 



Oberlehrer für die allgemeine selbständige Volksschule versichert, sowie 
Begrüßungen aus Oesterreich, Hessen und Königsberg. 

Der erste Vorsitzende des Deutschen Lehrervercins, Lehrer R ö h 1 - 
Berlin, eröffnet die Versammlung, dankt der Stadt München für ihre gast« 
liehe Aufnahme und begrüßt die Vertreter der Staats- und Gemeindebe- 
hörden. Die letzteren sind besonders zahlreich, Lehrer und Schulmänner 
sind auch aus anderen Staaten erschienen. Besonderen Beifall erregt die 
Teilnahme französischer Lehrer. 

Nach einem Festgesange teilt der Geschäftsführer der Versammlung, 
Rektor B ö 1 1 n e r - Friedrichsroda, mit, daß auf der Versammlung noooo 
deutsche Lehrer durch 310 Abgeordnete vertreten sind, dazu 80 Ver- 
treter von Staats- und Gemeindebehörden. Anwesend sind über 500 Teil- 
nehmer. 

Der Vorsitzende widmet dem am 28. Dezember v. J. verstorbenen 
langjährigen Vorsitzenden des Deutschen Lehrervereins, Leopold Claus- 
nitz e r , einen warmen Nachruf, den die Versammlung stehend anhön. 
Der Vorsitzende führt des weiteren aus: Die Deutsche Lehrerversammlung 
sei nach München berufen worden, um den bayerischen Lehrern die Sym- 
pathien der Gesamtheit auszusprechen und um in München die Stadt 
der allgemeinen Volksschule und der aufstrebenden Simultanschule kennen 
zu lernen. Die Versammlung möge fest und sicher Stellung nehmen zu 
den auf der Tagesordnung stehenden Gegenständen, auch zu der Lehrerinnen- 
frage, trot: der an die Versammlung selbst angeschlossenen Agitation aus 
den Kreisen der Lehrerinnen. Die deutsche Schule gehört dem deutschen 
Volke. Diese Erkenntnis zu befestigen, ist der Vortrag des Protestredners 
bestimmt. 

Namens der bayerischen Regierung und des Kultusministeriums begrüßt 
Staatsrat B u m m die Versammlung. In der Ansprache wurde die große 
Aufgabe der Volksschule und die hohen Ziele der Lehrervereine besonders 
hervorgehoben und die Berechtigung der Kritik der Unterrichtsverwaltun 
gen durch die Lehrervereine anerkannt. (Beifall.) Der Vertreter der Kreis 
regicrung von Oberbayern, Baron von Klingenberg begrüßt namens 
seiner Behörde. 

Bürgermeister B r u n n e r (mit starkem Beifall empfangen) begrüßt 
die Versammlung namens der Stadt München. Redner weist darauf hin, 
daß die Entwickelung des deutschen Volksschulwesens eine Frucht des 
nationalen Aufschwunges gewesen ist. Was die deutschen Städte für die 
Volksschule getan haben, ist ihr schönstes Ruhmesblatt. Auch München 
habe die Fürsorge für die Volksschule stets als ihre erste Aufgabe be 
trachtet. 

Oberlehrer Dr. R e i n 1 e i n kennzeichnet in seiner Begrüßung 
namens des Münchener Lehrervereins und des Ortsausschusses die Ent- 
wickelung des Münchener Volksschulwesens und die Bildungsfreundlichkeit 
des Münchener Bürgertums. Auch die Lehrerinnen- und Schulaufsichts- 
frage sei in München glücklich gelöst. Oberlehrer S c h u b c r t - Augsburg, 
Mitglied des Landtages (mit großem Beifall empfangen), betont, daß dem 
Bayerischen Lehrerverein nur einige hundert Lehrer Bayerns nicht ange 
hören. Der Bayerische Lehrerverein werde den Kampf um die Volksschule, 



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Mitteilungen. 



391 



wcnn's sein müsse, auch mit den schärfsten Waffen fortführen. Der Verein 
bekümmert sich nicht um Konfession und Partei, er kämpft für die Kultur 
des Volkes. Darum haben die feindlichen Mächte den Verein nicht sprengen 
können. Auch der Vertrauensseligste werde bald darüber belehrt, wo die 
christliche Liebe wohnt. Heute erhebt die Reaktion im ganzen Deutschen 
Reiche ihr Haupt. Darum müssen wir uns fester zusammenschließen als 
je. „Vom Fels zum Meere, von dem fernen Osten bis zum Wasgau mit 
blanker Waffe und festem Blicke vorwärts I" (Großer Jubel, der sich oft 
wiederholt.) 

Dann nimmt das Wort Universitätsprofessor Dr. Theobald Zieg- 
ler zu seinem Vortrage über die deutsche Volksschule am Anfang des 
zwanzigsten Jahrhunderts. 

Redner führt aus: „Wir sind in einer schweren Schlacht besiegt 
worden. Die Annahme der preußischen Schulvorlage erscheint gesichert. 
Konfcssionalismus, Bureaukratismus und Opportunismus haben den Sieg 
davongetragen. Das ist ein schwerer Schlag für die ganze deutsche Schule. 
Um das Urteil der deutschen Lehrerschaft, der in erster Linie Sachver- 
ständigen, hat sich niemand dabei bekümmert. Wir waren diejenigen, die dem 
Staate die Schule erhalten wollen. Wir werden weiter kämpfen, wie Rom 
nach der Schlacht bei Cannä und Preußen nach Jena. Wir beraten hier in 
München über die Simultanschule, die man in Berlin zum Hungertode ver- 
urteilt hat. Die große Teilnahme der Bevölkerung an den Kämpfen um die 
Volksschule beweist, daß sie nicht mehr das Aschenputtel ist. Die Ver- 
treter von Kunst und Wissenschaft wissen, daß die Kultur ihre Wurzel 
in der Volksschule hat. Zwei große Ideen beherrschen unser Volksleben, 
die demokratische und die individualistische Richtung. Die Volksschule 
wird von der demokratischen Richtung getragen. Wir sind nicht mehr 
die willenlosen „Untertanen", sondern mitratende und mittatende Staats 
bürger. Erst auf diesem Boden kann eine allgemeine Volksschule sich ent 
wickeln. Aus dem Grundsatz der staatsbürgerlichen Gleichheit folgt die 
gemeinsame Grundschule, ohne Standes- und Vorschulen, die dem Tüchtigen 
den Weg ebnet. Der Volksschullehrer unserer Zeit muß die Augen weit 
aufmachen, um den Aermsten und Elendesten den Weg zur Bildung frei 
zu machen. Sozial erziehen, heißt die Kraft im Volke frei machen, für die 
Arbeit erziehen, aber auch alles andere Große und Gute im Menschen ent- 
wickeln, so daß die Seelen nicht „tagelöhnern". Darum muß der Lehrer 
ein sozialer, ein ideal gerichteter Mensch sein, er muß die .Anlage dazu 
mitbringen und in seiner Ausbildungszeit dazu erzogen werden. Ideale 
Gesinnung läßt sich nicht lehren, sie ist angeboren und überträgt sich 
von einem warmen Herzen auf ein anderes. In jedem Unterricht läßt sie 
sich pflegen, nicht nur im Religionsunterricht, dessen Memoricrmaterialis- 
mus Redner in scharfen Worten geißelt. Aber die Religion gehört in die 
Schule, der Lehrer darf sie der Kirche nicht allein überlassen. Solange 
Religion und Schule Volkcssache sind, gehören beide zusammen. Aber 
zwischen Wissen und Religion besteht ein scharfer Gegensatz, der sich auch 
den Kindern in der Schule nicht mehr verschleiern läßt. Den Gegensatz 
zwischen Religion und Wissenschaft kann man nicht so beseitigen, daß der 
Pfarrer im Religionsunterricht etwas anderes sagt als der Lehrer in der 



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392 



Naturkunde. Nur der Lehrer, dem es weder um die Wissenschaft, noch 
um die Religion an sich zu tun ist, sondern um das Kind, kann dem 
Kinde über jene Konflikte hinweghelfen. Darum muß auch die Schule 
von jeder geistlichen Fremdherrschaft frei sein. (Beifall.) 

Der sozialen Richtung unserer Zeit steht die individualistische Tendenz 
gegenüber. Die Volksschule gibt Massenerziehung, sie kann nicht indi- 
vidualisieren, sie muß alles Feminine und Sentimentale abweisen. In ihr 
muß das eherne Gesetz der Gleichheit herrschen. Und doch muß die 
Volksschule auch dem Individualismus Rechnung tragen. Das kann sie, 
wenn der Lehrer selbst eine feingebildete Persönlichkeit ist. Der Bildungs- 
eifer der deutschen Volksschullehrer steht beispiellos da. Aber die Vor- 
bildungsanstalten entsprechen ihrer Bestimmung nicht. Sie müssen frei, 
nicht konfessionell, sondern simultan und human sein. Der Lehrerbildung 
müssen auch die Universitäten dienen. Die Universitätsausdehnungsbewegung 
muß sich zu allererst an die Volksschullehrer wenden. Der Lehrer muß 
insbesondere als Fortbildungsschullehrer ein ganzer Mann sein. Nur solch 
ein Lehrerstand wird in der Lage sein, die Jugend in die nationale Kultur 
ohne kleinliche, schulmeisterliche Pedanterie, die den Inhalt über der Form 
vergißt, eindringen zu lassen. 

Eine Vermittelung zwischen der sozialen und individualistischen Richtung 
bietet das Nationale. Durch unser Volk geht eine zu gewollte, gezüchtete 
Vaterlandslosigkeit. Welche Schuld trägt die Volksschule daran? Wenn 
die „kleinen Leute" ihr Vaterland lieben sollen, muß es ihnen auch liebens- 
wert gemacht werden. Das kann die Heimatkunde, die deutsches Land und 
Volk schildert, deutsche Sprache und Sitte und deutsches Lied dem Kinde 
gibt. Freilich müssen die staatlichen Verhältnisse auch danach sein. Die 
Schule ist ein Staat im kleinen. Wie sie regiert wird, so wachst unsere 
Jugend in die bürgerliche Gemeinschaft hinein. Daneben aber soll der 
Unterricht das Werden und Sein des deutschen Volkes schildern. Dann wird 
eine Generation heranwachsen, die frei ist von allem Konfessionalismus und 
Bureaukratismus, und die stark ist in sozialen Taten. Wenn die Volksschule 
in diesem Geiste arbeitet, werden die Besiegten von heute die Sieger 
von morgen sein. (Brausender, sich oft wiederholender Beifall.) 

Hiermit erhält Oberlehrer Laube- Chemnitz das Wort »u semem 
Vortrage über 

die Lehrerinnenfrage: 
Die deutsche Lehr erver Sammlung hat seit 25 Jahren über die Lehrerin- 
nenfrage nicht verhandelt. Nicht „Konkurrenzneid" und die Sorge um die 
Zukunft unseres Standes haben uns zur Wiederaufnahme des Gegenstandes 
veranlaßt, sondern die Sorge um die Schule. Die starke Zunahme der 
Lehrerinnen und die Ansprüche der Lehrerinnen auf die Schulleitung haben 
in erster Linie den Anstoß dazu gegeben. Redner weist das Wachstum der 
Lehrerinnenzahl im einzelnen nach. Die Lehrerinnen verlangen die Mädchen- 
schule ganz für sich, einzelne sogar alle gemischten Klassen und die 
unteren Knabenklassen, so daß den Männern nur noch die drei oberen 
Knabenklassen verbleiben sollten. Referent will die Lehrerinnenfrage nicht 
als Standes-, sondern als Schulfrage betrachten. Die Lehrerin ist aus 
sozialen, nicht aus pädagogischen Gründen in die Schule gekommen. Die 



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Mittnlungm. 



393 



Deutsche Lehrerversammlung könne sich der Frauenfrage gegenüber weder 
auf den reaktionären, noch auf den radikalen Standpunkt stellen. Sie 
müsse als eine geistige und wirtschaftliche aufgefaßt werden. Darum mußte 
den Frauen auch der Lehrerberuf eröffnet werden. Aber die Schule dürfe 
nicht zur Versorgungsanstalt für unverheiratete Frauen herabsinken. Nur 
das Interesse der Schule könne über die Art und den Umfang der Zu- 
lassung der Lehrerinnen entscheiden. Der Mann ist der Schöpfer des Kultur- 
fonds, die Frau die Prägerin und Bewahrerin der Sitte. Danach bestimmt 
sich auch der Anteil der Geschlechter an der Erziehung. Die Frau kann 
nicht, wie die Frauenrechtlerinnen sagen, nur von der Frau, sondern muß 
von Mann und Frau erzogen werden. Die häusliche Erziehung liegt fast 
ganz in den Händen der Frau, der Mutter. Der Vater ist an der Aus- 
übung seiner Erzieherfunktionen in vielen Kreisen ganz gehindert. Darum 
muß die öffentliche Erziehung ein großes Plus an männlichen Erziehungs 
cinflüssen aufweisen, in erster Linie in Knaben-, aber auch in Mädchen- 
schulen. In einer Zeit, in der viele Mädchen in das Leben, in den 
Konkurrenzkampf hinaustreten, ist es nötig, daß sie die Waffen in diesem 
Kampfe aus den Händen des Mannes entgegennehmen. Darum kann die 
Forderung, die Mädchenschulen ganz der Lehrerin auszuliefern, nicht ge- 
billigt werden. Auch die Gründe, die von den Führerinnen der Lehrerinnen 
für ihre Forderungen vorgebracht werden, sind nicht stichhaltig. Die 
Lehrerin kennt die Mädchenseele keineswegs besser als der erfahrene 
Lehrer. Erfahrungsgemäß sind die Beziehungen zwischen Lehrern und Schüle- 
rinnen in der Regel inniger, die Aufmerksamkeit in von Lehrern geleiteten 
Mädchenklassen durchweg größer als in Klassen, die von Lehrerinnen ge 
führt werden. Redner zitiert hier den Direktor des Berliner Lehrerinnen- 
seminars Dr. Wychgram. Die Kenntnis des weiblichen Pflichtenkreises 
ist bei den Lehrerinnen ebenfalls in der Regel nicht größer als bei ver 
heirateten Lehrern. Ebenso ist die Behauptung, der Lehrerin stehe eine 
größere Auswahl von Erziehungsmitteln zur Verfügung, nicht richtig. Unseren 
Mädchen fehlt auch bei mäßigem Lchrerinnenkontingent das weibliche Bei- 
spiel nicht. Die Lehrerin kommt aber in höherem Alter recht oft in 
eine Verfassung, die in dieser Beziehung kein Vorteil ist. Die oft angeführte 
sexuelle Belehrung ist für die Lehrerin ebenso delikat als für die Lehrer. 
Der weibliche Direktor sei solange nicht diskutierbar, als noch Männer 
an den Mädchenschulen arbeiten. 

Mnnn und Frau sind für die Erziehung gleichwertig, aber nicht 
gleichartig. Jedes Geschlecht hat seine besonderen Qualifikationen, die 
man abwägen muß, wenn es sich um die Volksschule im besonderen handelt. 
Die Volksschule stellt große physische Anforderungen, die sich in der Sterb- 
lichkeitsziffer aussprechen. Diesen Ansprüchen kann der Lehrer leichter 
genügen als die Lehrerin. Das beweisen wissenschaftliche Untersuchungen 
und die Berichte der städtischen Unterrichtsverwaltungen. 

Redner erörtert sodann die Gründe, die der Frau die Schultore so 
schnell erschlossen haben : den Lehrermangel, das Interesse kirchlicher Kreise, 
wirtschaftliche Verhältnisse und die angebliche größere Billigkeit der 
Lehrerinnen. Es ist ein unhaltbares Phantom, den Mann durch die Frau 
zu ersetzen. Beide Geschlechter sind nicht nur körperlich, sondern auch 



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394 Mitteilungen. 

» 

geistig durchaus verschieden. Auch der Versuch, die Lehrerin als Schul- 
erzicherin mit dem Mutterwert des Weibes zu begründen, ist nicht ge- 
glückt. Die Lehrerin ist nicht Mutter, und die Schule ist nicht das Haus. 
Das Zölibat der Lehrerinnen aufzuheben, ist nicht zu empfehlen. Zwei 
eine ganze Kraft erfordernde Berufe können nur wenige Frauen ausfüllen. 
Und in der Schule sind andere Aufgaben zu lösen, als in der häuslichen 
Erziehung. Für den Mann ist der Lehrerberuf Lebensaufgabe, für die Frau 
oft nur Durchgangsstadium. Darum liegt auf der männlichen Seite die 
größere Wahrscheinlichkeit für volle Hingabe an den Beruf. Die Lehrerin 
ist mehr als der Lehrer vom Leben abgeschlossen, darum oft pedantischer 
als dieser. Aus allen diesen Gründen kann die Lehrerin den Lehrer nicht 
ersetzen, sondern nur ergänzen. Der Frau soll die Schule nicht verschlossen 
werden, sie mag neben dem Manne wirken, ihre Kraft erproben. Dann 
wird man in einem späteren Stadium das Arbeitsgebiet der Lehrerinnen 
genauer eingrenzen und bestimmen können. Die Lehrerinnenfrage hat aber 
auch eine soziale und eine politische Seite. Es ist nicht von Vorteil, das 
konservative Element der Frau in dem Kulturübermittelungsprozeß unver- 
hältnismäßig zu verstärken. Die klerikale Schulpolitik erblickt in den Lehrerin- 
nen ihre besten Werkzeuge, insbesondere in den in Klöstern vorgebildeten. 
Gerade die deutsche Nation soll sich hüten, die männlichen 
Geisteswerte durch weibliche zu ersetzen. Bei aller Bereitwilligkeit, die 
Schule den Frauen zu öffnen, soll man dem Mann seinen Platz in der 
Schule lassen. (Lebhafter Beifall.) 

Referent legt folgende Leitsätze vor: 

i. Für die Anstellung von Lehrerinnen an den Volksschulen darf 
nicht das Bedürfnis der Frauen nach Erweiterung des Kreises weiblicher 
Berufstätigkeit, sondern nur das Interesse der Schule bestimmend sein. 

■2. Die Erziehung der Jugend ist die gemeinsame Aufgabe beider 
Geschlechter. Da aber in der Familie der weibliche Erziehungseinfluß vor- 
herrscht, so muß die öffentliche Schulerziehung, die eine Ergänzung der 
Familienerziehung bringen soll — in Knaben- und Mädchenschulen — vor- 
nehmlich unter männlichem Einflüsse stehen. 

3. Die Forderung, an Mädchenschulen nur Lehrerinncir anzustellen, 
muß überdies noch aus folgenden Gründen abgelehnt werden: die Lehrerin 
kann für sich weder ein tieferes Verständnis der Mädchennatur noch eine 
größere Kenntnis des weiblichen Pflichtenkreises beanspruchen, noch ver 
fügt sie als Frau dem Mädchen gegenüber über eine reichere Auswahl 
wirksamer Erziehungsmittel als der Lehrer. 

4. Nach ihrer physischen und psychischen Verfassung, nach ihrer 
Vorbildung, nach ihren sozialen Verhältnissen sind im allgemeinen die 
Lehrerinnen nicht in dem Maße für die Arbeit in der Volksschule geeigne; 
wie der Lehrer. Sie können darum in der Volksschultätigkeit die Lehrer 
nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. 

5. In der Verweiblichung des Lehrkörpers der Volksschule liegt eint" 
Gefahr für die Entwickclung der Schule, für ihre Unabhängigkeit und für 
unser gesamtes Volkstum. 

In der Debatte führt Fräulein Surapcr- München aus : Das eigene 



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MiUeilwigrn 



305 



Geschlecht hat die größere Fähigkeit, die besonderen Eigenschaften beim 
Kinde erziehend zu entwickeln. Die Frau kann bei dem Mädchen nicht nur 
das erkennen, was an der Oberfläche liegt. Darum sei auch ihre Einwirkung 
eine größere. Die Einwirkung der Mutter werde von dem Referenten über- 
schätzt. Die Frau werde oft durch Erwerbsarbeit absorbiert, auch seien 
die Mütter oft nicht zur Erziehung geeignet. Die Lehrerin könne das spätere 
Leben der Frau mehr berücksichtigen als der Lehrer. Darum verlangt sie die 
Oberklassen der Volksschulen und die Fortbildungsschulen. (Rednerin hat 
die geschart sordnungsmäßige Redezeit erreicht, muß deswegen ihre Aus- 
führungen abbrechen.) 

Rektor Dr. Brückmann - Königsberg spricht für größere Aner- 
kennung der Lehrerin, ohne wesentlich Neues dabei vorzubringen. 

Fräulein Helene Lange - Berlin nennt die Thesen eine Beleidigung 
gegen die Lehrerinnen und droht mit einer Protestversammlung am nächsten 
Donnerstag. Sie bemängelt die praktische Erfahrung des Referenten. 
In bezug auf die Frauenfrage sei fast jedes Wort eine Unwahrheit gewesen. 
Die Lehrerinnen hätten die extremen Forderungen nicht in ihren Statuten 
vertreten. Die Zeit gestatte leider nicht, die einzelnen Ausführungen gründ- 
lich zu behandeln. Sie bittet, die Leitsätze des Referenten abzulehnen. 
(Teilweiser Beifall.) 

Lehrer Gräve-Hamm unterstützt die Ausführungen des Referenten 
durch eine Reihe von schul pädagogischen Ausführungen. Bürgermeister 
M a 1 1 i n g - Charlottenburg teilt die Befürchtungen des Referenten in bezug 
auf die politischen Fragen der Verweiblichung der Schulen. Im übrigen 
bezeichnet er die Erfahrungen der Stadt Charlottenburg mit den Lehrerinnen 
als günstige. Aber in dem Lehrerinneninstitut seien auch viele Schatten 
Seiten, insbesondere in bezug auf die körperliche Leistungsfähigkeit. Ober 
lehrer Gelfert- Chemnitz verteidigt die Ausführungen und Thesen des 
Referenten. Lehrer Schumann - Hamburg spricht dagegen. Dr. Barth- 
Stuttgart wendet sich insbesondere gegen Fräulein Helene Lange. Fräulein 
S i e g 1 - München beleuchtet die Gründe für die häufigen Erkrankungen 
der Lehrerinnen. 

Der Referent weist die Vorwürfe von Fräulein Helene Lange energisch 
zurück, eben» wie die der übrigen Redner. Er konstatiert, daß die beiden 
praktischen Lehrerinnen, die in der Versammlung gesprochen, im Gegensatz 
zu Fraulein Lange sachlich und ruhig gesprochen härten. Fräulein Lisch 
newska- Spandau verteidigt sich in einer sehr gereizten persönlichen Bc 
merkung gegen die Beurteilung ihrer Agitation für geschlechtliche Bc 
lehrung. 

Angenommen wird folgende, von Rektor B ö 1 1 n c r - Friedrichsroda 
eingebrachte Resolution: 

,,Dic Deutsche Lehrerversammlung erkennt bereitwilligst an, daß neben 
dem männlichen auch das weibliche Geschlecht an dem Werke der Volks 
erziehung beteiligt werde. Sie weist dagegen aus gewichtigen pädagogischen 
Gründen alle die Forderungen ab, nach welchen die Mädchenschulen ganz 
oder überwiegend unter den Einfluß von Lehrerinnen gestellt werden 
sollen." 



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396 



Mitteilungen. 



Zweite Hauptversammlung. 

Die zweite Hauptversammlung ist ganz für die Behandlung der Simul- 
tanschule reserviert. Es kam die Vereinsleitung darauf, gerade bei diesem 
Thema die ausführlichste Erörterung herbeizuführen; zumal die ver- 
schiedenen Richtungen in der Frage über ihre tatsächliche Stärke bisher 
selbst nicht genügend unterrichtet waren. Das Referat erstattete Ober- 
lehrer Gärtner- München, ein alter angesehener Schulmann, der die 
Simultanschule wie die Konfessionsschule aus eigener Arbeit kennt. Der 
Redner legte seinen Ausführungen folgende auf Grund der Stellungsnahme 
der Landesvereine beschlossenen Leitsätze zugrunde: 

1. Unter Simultanschulen sind Bildungsanstalten zu verstehen, in denen 
Kinder aller Konfessionen gemeinsam unterrichtet werden, den Religions 
Unterricht jedoch nach Konfessionen getrennt erhalten. Die Zusammen- 
setzung des Lehrkörpers an einer Simultanschule soll möglichst dem zahlen- 
mäßigen Verhältnis der Konfessionen unter den Schulkindern entsprechen. 

2. Die von Gegnern der Simultanschule an ihre Einführung geknüpften 
Befürchtungen in religiös-sittlicher Beziehung sind durch die Erfahrung 
widerlegt. Die Simultanschule fördert vielmehr die sittlich-religiöse Er- 
ziehung, indem sie ihre Schüler zur Achtung gegenüber fremden Ueber- 
Zeugungen erzieht und so zu einer Pflegstätte der Religion, der Liebe und 
der gegenseitigen Duldung wird. 

3. Die Frage der Errichtung von Simultanschulen ist weniger eine 
religiöse als eine nationale, soziale und pädagogische. Durch die Simultan- 
schule kommt die nationale Einheit unseres Volkes am treffendsten zum 
Ausdruck; sie ist das getreue Abbild des paritätischen Staates und der 
modernen sozialen Gemeinschaften und entspricht daher ihrem Wesen und 
ihren Anforderungen im erhöhten Maße. 

4. In allen Orten mit konfessionell gemischter Bevölkerung bietet 
die Simultanschule wesentliche pädagogische Vorteile, indem sie 

a) die Errichtung vollentwickelter Schulsysteme, 

b) eine bessere unterrichtliche Versorgung der Kinder der konfessionellen 
Minderheit selbst bei geringeren finanziellen Aufwendungen, 

c) die Erfüllung berechtigter Forderungen der Schulhygiene durch den 
Besuch der nächstgelcgenen Schule ermöglicht 

5. Für alle Staaten, in denen die Simultanschule noch nicht durch 
Gesetz anerkannt ist, ist daher mindestens die Gleichberechtigung der Simul- 
tanschule mit der Konfessionsschule zu fordern. 

6. Die Voraussetzung der Simultanschule bilden konfessionell gemischte 
Lehrerbildungsanstalten und eine vom Staate ausgeübte fachmännische Schul 
aufsieht. 

Im Anschluß daran führt er aus: 

Die Erörterungen über die Simultanschule seien eine Fortsetzung der 
auf der Königsberger Lehrerversammlung gepflogenen Verhandlungen über 
die allgemeine Volksschule. Die Besprechung sei aber auch durch die 
Zeitereignisse nötig geworden. Es sei mit Freuden zu begrüßen, daß in 
dicsci Frage alle Richtungen in der Lehrerschaft das Wort genommen haben. 



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Mitieilungtti. 



397 



Das sei nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht. Die einzelnen Ver- 
eine hätten gesprochen. Jetzt gelte es, das Fazit zu ziehen. 

Die Simultanschule ist keine religionslose Schule. Die deutsche Lehrer- 
schaft würde sich gegen die Entfernung des Religionsunterrichtes aus der 
Schule wehren. (Zustimmung.) Dem Menschen die Religion nehmen, heißt 
die Beziehungen zum Ewigen vernichten, den Urquell des geistigen 
Lebens verstopfen. Die Simultanschule ist aus äußeren Verhältnissen her- 
ausgewachsen. Sie kommt einem unabweisbaren Bedürfnis entgegen. In 
der Simultanschulc kann es christlicher zugehen als in der Konfessionsschule. 
(Lebhafter Beifall.) Die Reform des Religionsunterrichts hängt nur lose 
mit der Simultanschule zusammen. Die Konfessionsschule führt zur Kirchen- 
schule, sie ist darum rückschrittlich, die Simultanschulc fortschrittlich. Das 
Feldgeschrei im Schulkampfe heißt nicht: Hie Christentum, hie Atheis- 
mus! sondern: Hie Kirchenpolitik, hie Schulpolitik! (Bravo). Die heftigsten 
Gegner der Simultanschule sind diejenigen, die an der Erhaltung der Kon- 
fessionsschule das meiste Interesse haben, die Geistlichen. Aber auch ernste 
Schulmänner treten ihr entgegen. Sie behaupten, der Religionsunterricht 
werde aus dem Mittelpunkt der Schule verdrängt. Steht denn der Reli- 
gionsunterricht überhaupt im Mittelpunkt der Schule? Redner verneint das. 
Die Simultanschule ist die Schule der Toleranz, die Schule der Humanität. 
Sic zerstört nicht die Religiosität. In Nassau ist man nicht weniger religiös 
als anderswo. Auch die Sittlichkeit hat nicht gelitten. In München und 
Nürnberg melden sich viel mehr Kinder für die Simultanschulen an, als 
aufgenommen werden können, trotzdem dagegen agitiert wird. 

Die Simultanschule ist die Schule des paritätischen Staates. Der Staat 
sollte ihr deswegen wenigstens freie Bewegung einräumen. Der paritätische 
Staat stützt sich auf die moderne Kultur. Er braucht Klammern, um die 
Bürger aneinander zu bringen. Die preußische Regierung läßt darum in 
Posen die Simultanschule bestehen, trotzdem man doch sonst nicht sagen 
kann, daß Preußen die Simultanschule fördert. (Heiterkeit.) Der kon- 
sequente Gegner der Simultanschule will die Kluft erweitern. Vom Kinder- 
garten bis zur Hochschule soll die Jugend und damit das Volk getrennt 
werden. Ob sie die Konsequenzen für unsere politische Zukunft sich genügend 
vergegenwärtigen, könne man dahingestellt sein lassen. 

In pädagogischer Beziehung sei die Simultanschulc der Konfessions- 
schule überlegen. Sie habe mehr Bildungsmomente als diese. (Lebhafter 
Beifall.) Die Schulen können auch vorteilhafter organisiert werden und 
seien zudem wohlfeiler, weil die Kinder zweckmäßiger auf Schulen und 
Klassen verteilt werden können. Schon jetzt sind die Gemeinden oft über- 
lastet, und doch müssen sie konfessionelle Zwergschulen errichten. Hier 
könnten große Summen gespart werden. Die Schulwege lassen sich ab- 
kürzen, für die jüngeren und schwächeren Schüler ein großer Vorteil. 

Man wendet ein, man könnte nicht zwei Weltanschauungen in eine 
Schule zwingen. Die jüngeren Kinder haben noch keine Weltanschauung, 
wohl aber die älteren Schüler der höheren Lehranstalten, und doch seien 
diese simultan. Auch der Vorwurf, der Simultanschule fehle der ideale 
Charakter, sei verfehlt, der ideale Charakter der Schule werde durch ideale 
Lehrer und nicht durch die Organisation bestimmt. Auch Liebe und Ver- 



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trauen sollen fehlen. Wer Simultanschulen kennt, weiß, daß in dieser 
Beziehung alles so ist wie' in einer guten Schule überhaupt. Daß der 
Geschichtsunterricht nicht „herzhaft** erteilt werden könne, ist ebenso un- 
zutreffend. Wer allerdings meine, daß der Geschichtsunterricht die Aufgabe 
habe, einen Teil unseres Volkes zu verketzern, könne recht haben. (Leb- 
hafter Beifall.) 

Im Gemeindeleben scheiden sich weder die Alten noch die Jungen, 
noch Konfessionen, und dem entsprechen auch die höheren Schulen. Kommt 
aber ein Kind aus diesen in die Volksschule, so muß es in die Kon 
fessionsschule. Das Lehrerseminar ist die einzige konfessionelle höhere Lehr- 
anstalt. Damit hängt auch sein klösterlicher Charakter zusammen und 
die Tatsache, daß viele Lehrer religiös so befangen sind. 

Redner begründet die Notwendigkeit simultaner Lehrerseminare, die 
die Grundlage für eine einheitliche Schule, für einen geschlossenen Lchrer- 
stand bilden. Die Simultanschulc ist die Grundlage der Fachaufsicht. Sie 
ist und bleibt die conditio sine qua non der deutschen Lehrerforderungen. 

Die Simultanschulen werden nicht wie Pilze aus der Erde schießen. 
In den schweren Zeiten heißt es, glauben, hoffen und kämpfen. Die 
Simultanschulc kommt, sie muß kommen, sie ist die Schule der Zukunft 
Sie wird auf die jetzigen Schulformen folgen wie der Winter auf den 
Frühling. (Großer, sich wiederholender Beifall.) 

Der Korreferent Lehrer Lütgemeier - Heiden (Lippe) nimmt das 
Wort. Er habe nicht nur Gegensätzliches, sondern auch viel Ueberein- 
»ummendes zu sagen. Einig sei er mit dem Referenten darin, daß die 
Schule das Interesse des Kindes in erster Linie beachten müsse. Darum 
gebühre der Familie ein maßgebender Einfluß. Die Schulen seien Ver- 
anstaltungen des Staates. Der Staat bedürfe aber der sittlichen Persönlich- 
keiten. Kann der Staat diese Persönlichkeiten erziehen? Redner verneint 
diese Frage. Unser Volk ist ein religiöses Volk. Die christliche Religion 
als herrschende könne eine bevorzugte Stellung beanspruchen. Die christ- 
liche Kirche sei die Lehrerin der Religion. Sie dürfe sich nicht auf die 
Schule der Kirche vereinigt werden. Entweder müsse die Kirchenschule 
die Aufgaben der Staatsschulc oder die Staatsschulc die Aufgaben der 
Kirchcnschule mitübernehmen. Redner ist für letzteres. Die reinen Kirchen- 
schulen würden an großen Einseitigkeiten leiden, darum sollte die Staats- 
schule die Pflege des religiösen Lebens, kirchliche Aufgaben mitüber- 
nehmen. Angesichts der kirchlichen Trennung seien evangelische Lehrer 
verpflichtet, die Kinder auf dem Boden ihrer Kirche zu erziehen, die katholi- 
schen Lehrer ebenso auf dem Boden der ihrigen. Die Freunde der Simul- 
tanschulc mit konfessionellem Religionsunterricht machen einen Schnitt durch 
jede einzelne Schule und durch die Schularbeit, das sei zu verwerfen. 
Darum sei die geschlossene konfessionelle Schule vorzuziehen. Sie ermögliche, 
daß der Religionsunterricht im Mittelpunkt der Schule steht, daß die Religion 
in Persönlichkeiten verkörpert ist. Die Simultanschule könne nicht eine 
Erziehungsschule sein. (Große Unruhe.) Die Schule erscheine dem Kinde 
als Missionsfabrik. (Lebhafter Widerspruch.) Darum möglichst wenige Simul 
tanschulen! Der Religionsunterricht müsse in das ganze Schulleben hinein- 
wirken. Das sei in der Simultanschule schwer oder unmöglich, der Lehrer 



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MlttcUiinj/ni. 

■ 



399 



dürfe Religiöses nicht berühren, er wisse ja nicht, ob ihm nicht Kinder 
der anderen Konfession zu Aufpassern bestellt seien. (Starker Widerspruch.) 
In der Simultanschule könne auch die Geschichte, zum Beispiel die Per- 
sönlichkeit Luthers, nicht ausreichend behandelt werden. Auch in der 
Simullanschulc könnten konfessionelle Gegensätze geschürt werden. Die 
nationale Erziehung werde durch di*j Konfessionsschule nicht beschränkt. 
Die durch die Simultanschule ermöglichte Errichtung vielklassiger Schulen 
sei nicht ein Vorteil. (Starker Widerspruch.) Es schade nichts, wenn 
statt einer achtklassigen, zwei wenigklassigc Schulen errichtet werden. (Star- 
ker Widerspruch.) Nur die Errichtung stark besuchter einklassigcr Schulen 
aus konfessionellen Gründen müsse auch er verwerfen. Die konfessionelle 
Schule bedinge aber nicht die geistliche Aufsicht. Auch er sei ihr Gegner. 
Die Simultanschulc verlange neben der staatlichen Aufsicht auch eine kirch- 
liche Aufsicht des Religionsunterrichts, und diese doppelte Aufsicht sei 
schlimmer als eine nicht fachmännische. 

Redner wendet sich nun derjenigen Simultanschulreform zu, die nicht 
getrennten, sondern gemeinsamen Religionsunterricht hat. Dieser Unter- 
richt sei nicht möglich. Auch Juden und Dissidenten müßten berücksichtigt 
werden, und damit würde ein dogmenloser Religionsunterricht oder bloßer 
Moralunterricht entstehen. So würde eine neue Konfession sich bilden. 

Redner meint, die Simultanschulfreunde seien zu ihrer Stellung viel- 
fach durch die Mangelhaftigkeit des Religionsunterrichts gekommen. Dar- 
um sei eine Reform des Religionsunterrichts notwendig. (Teilweiser Bei- 
fall.) Redner legt folgende Thesen vor: 

1. Unter Simultanschulen sind Bildungsanstalten zu verstehen, in denen 
Kinder verschiedener Konfessionen gemeinsam unterrichtet werden. Es sind 
zwei Erscheinungsformen der Simultanschule zu unterscheiden : Schulen mit 
konfessionell getrenntem und Schulen mit einem allgemeinen Religions- 
unterricht. 

2. Der Simultanschule der ersten Art fehlt die zentrale Stellung 
des Religionsunterrichtes und die Einheit der ganzen Erziehungsarbeit. Die 
Simultanschule der zweiten Art muß entweder wertvolle Stoffe des Ge- 
sinnungsunterrichtes ausscheiden oder auf die Bildung einer neuen Konfession 
hinarbeiten. Jene ist darum der konfessionellen Schule nicht gleichwertig, 
diese hat erst dann ein Existenzrecht, wenn die „neue" Konfession in 
ähnlicher Weise gemeinschaftlich bildend gewirkt haben wird. 

3. Die Scheidung unserer Nation in Konfessionen wird durch die 
Simultanschule der ersteren Art den Kindern ebenso zum Bewußtsein ge- 
bracht wie durch die konfessionelle Schule. Die nationale Einheit kommt 
treffender als durch irgend eine Schulform durch national gesinnte Lehrer 
und durch national wertvolle Unterrichtsstoffe zum Ausdruck. 

4. In Orten mit konfessionell gemischter Bevölkerung kann unter Um- 
ständen die Simultanschule mit getrenntem Religionsunterricht als Notbehelf 
gestattet werden. Vollentwickelte Schulsysteme haben der einfachen Schul- 
einrichtung gegenüber nicht nur Vorzüge, sondern auch Nachteile. 

5. Eine vom Staate ausgeübte fachmännische Schulaufsicht wird durch 
das Wesen der konfessionellen Schule nicht ausgeschlossen. Die Simultan- 



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400 Mitteilungen 

t 

schule mit getrenntem Religionsunterricht bringt den ihr selbst eigenen 
Zwiespalt auch in die Schulaufsicht hinein. 

Der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein gibt bekannt, daß er am 
Donnerstag, morgens 9 Uhr, eine Protest Versammlung gegen die Beschlüsse 
der Versammlung in der Lchrcrinnenfrage veranstalte. (Da zur selben 
Zeit die Vertreterversammlung des Deutschen Lehrervereins stattfindet, ist 
eine Beteiligung von Lehrern an der Versammlung jedenfalls nur in geringer 
Zahl möglich.) 

In der Debatte zur Simultanschulfrage führt Lehrer Holzmeier- 
Bremen aus: „Die preußische Schulvorlage sei durch die Macht der 
Kirche zur Annahme gelangt. Dieser Macht gegenüber könne nur eine andere 
ebenso konsequente und starke Macht sich zur Geltung bringen. Wenn 
die Gegner ihrer Sache so sicher wären, so sollten sie nicht nach dem 
Arm des Staates schreien. In der Schule habe die Kirche nichts zu 
schaffen. Mit Riesengcwalt lastet auf all unserem Geistesleben die Kirche, 
das Christentum. Namens des Christentums soll niemand in die Arbeit 
der Schule eingreifen dürfen; wenn es geschieht, so tut es die organisierte 
Kirche. Die Wissenschaft habe sich frei gemacht. Auch mit der Schule 
müsse es geschehen. Auch die letzte Dorfschule müsse frei sein. Die 
Zukunft habe nicht die Simultanschule, sondern die weltliche Schule. Für 
sie müsse die deutsche Lehrerschaft sich aussprechen. Die Bibel könne 
nicht mehr die Quelle des Sittenunterrichtes sein. (Starker Widerspruch.) 
Die Urkunden des Christentums hatten mit der Entwicklung des Christentums 
nicht fortschreiten können, darum müsse der Unterricht sich von ihnen 
freimachen. (Beifall und Widerspruch.) Redner legt namens der Ham- 
burger und Bremer Vertreter folgende Thesen vor: 

1. Der Gedanke der nationalen Volksschule verlangt, daß alle Schulen 
mach einheitlichen Grundsätzen und in einheitlichem Geiste eingerichtet 
und geleitet werden. 

2. Dieser einheitliche Geist kann nicht durch die Lehrrneinungen de» 
verschiedenen Religionsgemeinschaften (Konfessionen) bestimmt werden; denn 
diese Lehrmeinungen bilden vielmehr eine Quelle und einen Ausgangspunkt 
der Trennung und Zersplitterung im deutschen Geistesleben; auch werden 
sie von weiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr geteilt. 

3. Deshalb kann weder die Konfessionsschule noch die Simultanschule 
unseren Ansprüchen genügen. Denn beide setzen einen! Anspruch und 
ein Mitbestimmungsrecht der Konfessionen auf die öffentliche Schule voraus 
und sind nur über die Einschätzung und Befriedigung dieser Ansprüche ver- 
schiedener Meinung. 

4. Den Bedürfnissen der einheitlich eingerichteten Staatsschule kann 
nur die rein weltliche Schule genügen. 

Diese erteilt keinen Religionsunterricht. Ihr verbleibt die wichtige 
Aufgabe, durch die starken Stoffe ihres Gesamtunterrichtes jene Kräfte des 
Geistes und des Gemütes lebendig zu machen, durch welche der reifende 
Mensch seine Weltanschauung und damit auch seinen persönlichen Stand- 
punkt gegenüber den Fragen des religiösen Lebens sich erkämpft. 

Die Religionsgeschichte ist als Zweig der Kulturgeschichte ein inte- 
grierender Bestandteil des Geschichtsunterrichtes. 



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Mitteilungen. 



401 



Schulrat S c h c re r - Büdingen vertritt persönlich die nationale Simul- 
tanschule mit allgemeinem Religionsunterricht, hält aber die Forderungen 
des Referenten für die einzigen, für die der Deutsche Lehrerverein sich 
aussprechen könne. Wenn man sich nicht lediglich an die kirchliche 
Gliederung halte, so gebe es in Deutschland drei religiöse Richtungen: den 
deutschen Katholizismus, den deutschen Protestantismus und die konfessions- 
lose Religion. Die letztere würde, wenn alle Gebildeten offen sprächen, die 
Mehrheit haben. Auch diese im deutschen Geistesleben herrschende Religion 
müsse respektiert werden, auch in der Schule. Christus habe kein Dogma ge- 
schaffen, keine Kirche errichtet, aber eine neue Sittenlehre begründet. 
Unsere deutsche Kultur sei auf christlichem Boden gewachsen. (Großer 
BeifalL) Das Christliche sei aus der deutschen Literatur nicht auszu- 
scheiden. (Zustimmung.) Jeder Unterricht müsse darauf zurückgreifen. 
Religion und Sittlichkeit lasse sich nicht trennen. Die Simultanschule mit 
konfessionellem Unterricht habe Mängel. Der konfessionelle Religionsunter- 
richt mit seinem Wunderglauben lasse sich mit dem unter dem Gesetz 
der Kausalität stehenden sonstigen Unterricht nicht unter einen Hut bringen. 
Darum müsse die Schule einen allgemeinen Religions- und Sittenunter- 
richt erteilen. Auch der französische Moral Unterricht sei kein reiner Moral- 
unterricht, er enthalte ein Kapitel „Pflichten gegen Gott". Im englischen 
Unterhause sei ein dogmenloser Religionsunterricht beschlossen worden. 
Auch in deutschen Parlamenten wird man einst Aehnliches beschließen. 
(Großer Beifall) 

Es liegt eine Reihe von Anträgen vor, die zur Verlesung kommen. 

Schulvorsteher Schäfer- Bremen legt dar, daß die Ansichten des 
Herrn H o 1 z m e i e r nicht die der Mehrheit der bremischen Lehrerschaft 
seien. Nur eine radikale Gruppe, zu der allerdings die jüngeren Lehrer vor- 
wiegend gehörten, stehe auf diesem Standpunkte. Bremen habe einen 
dogmenlosen Bibelunterricht, dieser Unterricht habe die Parteien durchaus 
befriedigt 

Lehrer P r e t z e 1 - Berlin will nur einige Bemerkungen richtigstellen. 
Daß die Simultanschule weniger erziehlich wirke, sei eine völlig unbe- 
wiesene Behauptung. Die Persönlichkeit des Lehrers werde auch auf 
Kinder anderer Konfessionen wirken. Die Bremer Lehrer wollen eine der 
wichtigsten Provinzen der Schule preisgeben. Sie scheinen die Bedeutung 
der Geschichte überhaupt zu unterschätzen. Man solle nicht den zweiten 
Schritt vor dem ersten tun. Die französische Schule sei nicht eine Schule 
ohne Gott, trotzdem habe sie sich nicht halten können. In Holland sei es 
ebenso. Das könne nicht zur Nachfolge veranlassen. Was die Bremer ver- 
langen, ist auch nur eine Konfessionsschule. (Lebhafter Beifall.) 

Lehrer Langermann - Barmen : Der Streit drehe sich nicht so sehr 
um die Schulform, als um die Macht über die Schule. Die Hierarchie 
werde ihre Macht in der Schule mit allen Mitteln festhalten, auch mit un- 
sauberen. Ein solches Mittel ist der Vorwurf, die Arbeiterschaft sei religions- 
kind vaterlandslos. Die Hierarchie sei die größte Feindin der Religion. 
Von ihr weg, heiße der Religion sich nähern. Redner begründet sodann die 
folgenden von ihm eingebrachten Thesen: 

Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. IQ 



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402 



Mitteilungen. 



Der Deutsche Lehrertag lehnt nicht nur die Konfessions-, sondern 
auch die Simultanschule ab: 

a) weil ihrem Wesen nach auch die Simultanschule nur eine Kon- 
fessionsschule ist; 

b) weil beide dem Hauptzweck der öffentlichen Jugenderziehung — 
Mitarbeit an der Herbeiführung der inneren Einheit des deutschen Volkes 
— entgegenwirken ; 

c) weil beide auf die Jugend unseres Volkes moral- und religion* 
feindlich einwirken; 

d) weil beide im Interesse der wirtschaftlichen und politischen Macht- 
stellung der Hierarchie den Lohrerstand zwingen und herabwürdigen, das 
Individuum in einem seiner heiligsten Menschenrechte, dem Recht auf 
Gewissensfreiheit, schon als Kind zu vergewaltigen. 

Der Deutsche Lehrertag fordert anstatt der Konfessions- und Simul- 
tanschule die Nationalschule im Sinne und Geiste Fichtes, Steins und 

In dieser Schule sind Religion und Ethik nicht Sache des „Maul 
brauchens", sondern des Lebens. Konfession ist Sache jedes einzelnen. 

Professor Dr. Z i e g 1 e r - Straßburg stellt sich auf den von Pretzel 
gekennzeichneten Standpunkt. Die Frage sei schwer zu entscheiden. Was 
die Bremer Lehrer wollen, sei Dr. Eisenbart-Kur. Dieser Standpunkt habe 
uns vielleicht schon viel geschadet, die Annahme ihrer Thesen würde uns 
sicher in der Zukunft sehr viel schaden. Dadurch würde nur dem Kleri 
kalismus und Konfessionalisnius der größte Gefallen geschehen. Aber auch 
aus sachlichen Gründen müsse man bei der Simultanschulc bleiben. Es 
müsse ein modus vivendi gefunden werden für das Zusammenleben der 
Konfessionen. Dazu müsse das Volk im Geiste der Toleranz erzogen werden. 
Auch die höhere Schule habe bei gemeinsamem Unterricht konfessionellen 
Religionsunterricht. Ebenso sei die Universität simultan. Mögen sich alle 
in der Forderung der Simultanschule vereinigen. (Jubelnder Beifall.) 

Lehrer P a u 1 s e n - Hamburg legt dar, daß die Hamburger Beschlüsse 
die Religion nicht aus der Schule verweisen, sondern sie in den Gesarat 
Unterricht aufnehmen wollen. 

Lehrer Pautsch - Berlin erkennt an, daß die Bremer zwar mit 
sittlichem Ernst, aber recht ungeschickt in der Form ihre Ansichten ver- 
treten hätten. Aber ihre Ansichten seien auch sachlich unzutreffend. Der 
Vertreter der Konfessionsschule gebe die Selbständigkeit des Staates auf. 
Der Versuch, nachzuweisen, daß die geistliche Schulaufsicht mit der Kon 
fessionsschule nicht untrennbar verbunden sei, sei nicht gelungen. Die Be^ 
hauptung, daß jeder, der erziehen wolle, konfessionell gebunden sein müsse, 
sei völlig unhaltbar. (Beifall.) 

Lehrer G u t m a n n - München steht zwar grundsätzlich auf dem Boden 
der Bremer Anträge, aber dem Deutschen Lchrerverein könne nicht zu 
gemutet werden, sich ihre Anträge zu eigen zu machen. Diese Anträge 
wären zurzeit überhaupt nicht ausführbar. (Beifall.) 

Ei sind noch neunundzwanzig Redner zum Wort gemeldet. Die all 
gemeine Debatte wird geschlossen. 

Lehrer Lütgcmcier Heiden (als Korreferent) legt dar, daß er 



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Mitteilungen. 



403 



gewußt habe, daß er keine Mehrheit für sich habe. Es sei ihm Ge- 
wissenssache gewesen, hier die Ansicht einer Minderheit zu vertreten. Er 
glaube aber, daß alle deutschen Lehrer in der Liebe zur Jugend einig 
sind. (Beifall.) 

Die Thesen des Referenten werden mit allen gegen etwa zehn Stimmen 
angenommen. 

Oberlehrer Schubert- Augsburg schließt die Versammlung mit einem 
mit großem Beifall aufgenommenen Resümee der Verhandlungen, Er be- 
tont dabei, daß bei Behandlung der Lehrerinnenfrage die Dissonanz nicht 
durch den Referenten, sondern durch das Auftreten von Fräulein Helene 
Lange herbeigeführt worden sei. Der Gegensatz zwischen Lehrern und 
Lehrerinnen sei von den Regierungen und Stadtgemeinden dadurch her- 
beigeführt worden, daß man die Lehrer auf die entlegensten Dörfer schicke, 
die Lehrerinnen aber in den Städten anstelle. Bei einer Kritik der Bremer 
Ausführungen erheben die Hamburger und Bremer Delegierten Widerspruch 
und es kommt zu einer stürmischen Szene, die mit einer kurzen Erklärung 
von Lehrer Holzmeier beendet wird. 

Am Nachmittag fand eine Reihe von Nebenversammlungen statt. 
Am Morgen vor der Hauptversammlung sprach Lehrer Tews- Berlin über 
die Aufgaben und Leistungen der deutschen Volksbildungsvereine. 

Redner führte aus : Die Volksbildungsvereine wenden sich an das ganze 
Volk ohne Unterschied des Standes, der Partei und der Konfession. Sie 
wollen die Bildungsarbeit der Schule bei den Erwachsenen fortsetzen. Frei- 
lich sei es nicht möglich, bei den arbeitenden Klassen eine tiefere und 
reichere wissenschaftliche Bildung zu erzielen, aber gerade hier sei die 
Freude an geistigem Besitz eine um so innigere. Es gebe auch auf dem 
geistigen Gebiete viele „arme" Reiche und viele „reiche" Arme. Volks- 
bildung sei nicht Halbbildung; Halbbildung finde sich auch in den gebildetsten 
Kreisen bei mangelhaften Anlagen und unzureichender Arbeitslust. Der 
Gefahr der Halbbildung im Volke müsse man durch eine sorgsame Methode 
begegnen. Nicht Vieles, nicht Fremdes, sondern wenig unter Anknüpfung 
an Bekanntes. Die Bildungsvereine dürften sich auf nüchterne Belehrung 
über Aeußeres und Nützliches nicht beschränken, das sei freilich das 
tägliche Brot, noch weniger aber bloße Kampforgane sein. Sie müssen dem 
Suchen und Ringen nach Wahrheit entgegenkommen, darum auch die 
Probleme behandeln, die die Wissenschaft beschäftigen. Sie sollen dem 
Volke einen Einblick in die Werkstätten der Gelehrten verschaffen, so 
daß die Wissenschaft dem Volke auch als Menschenarbeit erscheint. Das 
erzeugt Achtung vor der Wissenschaft. Die Bekanntschaft mit den Irrungen 
und Täuschungen, denen auch große Geister nicht entgehen, zerstört die 
Leichtgläubigkeit. Volksbildungsvereine dürfen nicht verflachen. Theologen 
müssen in der Wissenschaft stehen, das Wissen, aber mehr noch den 
Schüler lieben. Die Lehrmethode muß volkstümlich sein, das heißt, nicht 
oberflächlich und halb, sondern unter Berücksichtigung der vorhandenen 
Kenntnisse. Neben der Belehrung müsse auch die Unterhaltung Platz 
finden. Aber niemals dürfe der ernste Zweck zurücktreten. Das Wissen 
sei die Brücke, die das Volk mit den führenden Kreisen verbinde. Jeder 

10» 



404 



Mitteilungen. 



Nebenzweck müsse ausgeschaltet sein. Dann werde auch den Vereinen 
volles Vertrauen entgegengebracht werden. 

Redner schildert nun die Wirksamkeit der Gesellschaft für Verbreitung 
von Volksbildung und begrüßt mit besonderer Freude die Begründung eines 
nord- und südbayerischen Verbandes. 

Der Vortrag wurde beifällig aufgenommen. 

Auf die Telegramme an den Kaiser und den Prinzregenten ist von 
beiden Monarchen ein herzliches Danktelegramm eingegangen. 

Am Abend fand im großen Saale des Münchener Kindls ein Ab- 
schiedskommers statt mit den üblichen Reden und Toasten. Am folgen- 
den Tage hatten die Vertreter noch eine längere geschäftliche Sitzung. 

Der Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein hielt am 7. Juni in den 
Prinzensälen des Cafe" Luitpold die von Helene Lange auf dem Lehrertage 
angekündigte Protestversammlung ab. Die Versammlung war äußerst zahl- 
reich besucht, nicht nur von Lehrerinnen, sondern auch von Lehrern. 
Den Vorsitz führte Helene Lange, die mitteilte, daß die Thesen des Haupt- 
referenten Laube-Chemnitz zwar nicht vom Lehrerverein angenommen seien, 
daß also die hiergegen beabsichtigte Protestkundgebung eigentlich in Weg- 
fall kommen müßte, daß aber andererseits der Lehrertag die Lehrerinnen 
so wenig habe zu Worte kommen lassen, daß es durchaus angebracht sei, 
gegen die Injurien zu protestieren, die auf dem Lehrertag gegen die 
Lehrerinnen erhoben worden seien. Die Rednerin behandelte ausführlich 
die verschiedenen Ausführungen der verschiedenen Lehrer auf dem Lehrer- 
tag und wurde dabei durch lauten Beifall der Lehrerinnen unterstützt, 
während die anwesenden Lehrer wiederholt durch lebhafte Zwischenrufe ihren 
Gegenstandpunkt zu wahren suchten. Nachdem in der Diskussion eine ganze 
Reihe von Lehrerinnen das Wort genommen hatte, einigte man sich schließ 
lieh auf folgende Resolution: 

1. In jedem Lehrkörper, und zwar sowohl an Mädchen- als auch an 
Knabenschulen, unterrichten männliche und weibliche Lehrkräfte in der 
Weise, daß der ausschlaggebende Einfluß bei der Knabenerziehung dem 
Manne, bei der Mädchenerziehung der Frau eingeräumt wird. 2. Bei 
gleicher Vorbildung und beruflicher Tüchtigkeit der Bewerber ist in den 
Knabenschulen dem Manne, in den Mädchenschulen der Frau der Vorzug 
bei der Besetzung leitender Stellungen zu geben. 3. Der Lehrerin ist 
eine Ausbildung zu gewähren, die der des Lehrers gleichmäßig ist. Auch 
auf die körperliche Ausbildung ist Gewicht zu legen. 4. Für die Be- 
soldungsverhältnisse gilt der Grundsau : gleicher Lohn für gleiche Arbeit 



Auf dem S4. deutschen Aerztetage in Halle hielt Prof. Dr. A. Hart- 
man n - Berlin einen Vortrag über Unterweisung und Erziehung der Schul- 
jugend zur Gesundheitspflege. Redner ging im einzelnen die Verbesse- 
rungen durch, die mit der Einrichtung der Schulärzte erreicht wurden. 
Schulärzte gibt es jetzt fast in allen größeren Städten Deutschlands, wo 
sie noch nicht sind, geht man mit der Absicht um, sie anzustellen. Es 
gehört zwar zu den Obliegenheiten der Kreisärzte, die Schulen zu beauf- 



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Mitteilungen 



405 



sichtigen, doch sind sie nur alle fünf Jahre zur Vornahme einer Revision 
verpflichtet, auch hindert sie ihre sonstige amtliche Tätigkeit und die 
Notwendigkeit, sich Nebeneinnahmen zu verschaffen, sich ausreichend um 
die Schule zu kümmern. Die höheren Schulen haben sich bis jetzt dem 
Schularzt gegenüber ablehnend verhalten, dagegen hat der Pädagoge 
Professor Hartmann - Leipzig auf dem Oberlehrertag in Eisenach unter 
dem Beifall seiner Kollegen ausgeführt, daß die höheren Schulen nur 
gewinnen können, wenn sie sich die Mitarbeit der Aerzte sichern. Durch 
seine Tätigkeit in der Berliner städtischen Schuldeputation wurde es dem 
Vortragenden möglich, die Ventilation zu verbessern, für gesundheitsgemäßc 
Schulbänke zu sorgen, schlecht gedruckte Schulbücher abzuschaffen, für 
Alkobolbekämpfung zu wirken und manches andere. Es genügt nun nicht, 
neue Einrichtungen zu schaffen, ihre Durchführung muß auch dauernd 
überwacht werden. Der Vortragende faßt seine Ausführungen in den 
Leitsätzen zusammen: „i. Unser Volk muß mit den Regeln der Gesund- 
heitspflege bekannt gemacht und daran gewöhnt werden, gesundheitsgemäß 
zu leben und die heranwachsende Jugend gesundheitsgemäß zu erziehen. 
2. Zu der Unterweisung in der Gesundheitspflege sind in erster Linie die 
Aerzte berufen, welche durch ihre Ausbildung und durch ihren Beruf die 
Gewähr dafür bieten, daß die Unterweisung eine zeckmäßige ist. 3. Außer 
der Belehrung, welche von Aerzten gelegentlich der Behandlung von Kranken 
gegeben werden kann, erweist sich zur Verbreitung der Grundregeln der 
Gesundheitspflege die Schule am geeignetsten. 4. Die an der Schule an- 
gestellten Aerzte haben, neben der Ueberwachung des Gesundheitszustandes 
der Kinder und der bezüglich der Gesundheit der Kinder in Betracht 
kommenden Einrichtungen der Schule, dafür Sorge zu tragen, daß die 
Kinder mit der Gesundheitspflege vertraut gemacht und mit Hilfe der 
Schule daran gewöhnt werden, gesundheitsgemäß zu leben. 5. Da der 
Arzt mit dem Schüler nicht in so enger und andauernder Berührung steht 
wie der Lehrer, müssen außer der direkten Unterweisung durch die Aerzte 
auch die Lehrer zu dieser Unterweisung herangezogen werden. 6. Nicht 
nur in den Städten an den Volksschulen, sondern auch auf dem Lande und 
an den höheren Schulen sind Aerzte als Berater für die gesundheitsgemäße 
Erziehung der Kinder den Lehrern beizugeben. 7. Ebenso ist es erforderlich, 
daß Aerzte den Provinzialschulkollegicn, den Schuldeputationen und den Schul- 
konferenzen als Berater beigegeben werden. 8. Sowohl die Lehrer der 
Volksschule als die Lehrer der höheren Schulen müssen eine besondere 
Ausbildung in der Gesundheitspflege erhalten. 9. Den Lehrern ist zur 
Pflicht zu machen, bei jedem Unterrichtsstoffe, der hierzu geeignet erscheint, 
auf die Gesundheitspflege hinzuweisen und im Verkehr mit den Schülern 
und bei der Beaufsichtigung derselben darauf hinzuwirken, daß die Grund- 
regeln der Gesundheitspflege von den Schülern beachtet werden. 10. Be- 
sonderer Unterricht über Gesundheitspflege ist hauptsächlich für die älteren 
Schüler der höheren Schulen und der Fortbildungsschulen erforderlich. 
Dieser Unterricht ist am zweckmäßigsten durch Aerzte zu erteilen." 11. (An- 
trag der Kurpfuscherei-Kommission): „Am geeigneten Orte ist auf den 
Schaden hinzuweisen, den das Kurpfuschertum der Gesamtheit und dem Ver- 
mögen des einzelnen sowie der Gesamtheit zufügt." 



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406 



MHIcilungm. 



Dr. C o h n - Charlottenburg beantragte: „i. Die Unterweisung der 
Schuljugend in den Lehren der Gesundheitspflege muß durch die Schule 
geschehen. 2. Schulhaus und Schulbctricb müssen den Anforderungen der 
modernen Schulhygiene entsprechen. 3. Den Schulkindern sollen durch die 
für alle Schulen anzustellenden Schulärzte bei Gelegenheit der Klassen- 
besuche kurze, leicht verständliche Vorträge über Gesundheitspflege ge- 
halten werden; im Pubcrtätsaltcr ist dabei in angemessener Weise die 
sexuelle Hygiene zu behandeln. 4. Alle Lehrer müssen während ihrer 
Ausbildungszeit in der Gesundheitspflege unterrichtet werden. 5. Die Lehrer 
sollen die Schulkinder bei jeder Gelegenheit zur Beachtung der Regeln 
der Gesundheitspflege anhalten unter Berücksichtigung der von den Schul- 
ärzten gegebenen Unterweisungen." S c h u 1 1 e n • Köln und Stephan) 
Mannheim halten den Arzt als für den Hygieneunterricht nicht geeignet, 
nur der Lehrer sei imstande, in der Schule zu unterrichten. Hiergegen wendet 
sich sehr scharf Kormann - Leipzig, der selbst seit vielen Jahren mit 
gutem Erfolge und in bester Harmonie mit den Lehrern an Schulen 
Hygiene unterrichtet. Dem Lehrer ist um so weniger der Unterricht in 
Gesundheitspflege zu übertragen, als viele Lehrer nach ihrer besten Uebcr- 
zeugung für Kurpfuschermethoden begeistert sind. Im übrigen verlangen 
ja gerade die Lehrer, daß, wer über eine Materie unterrichtet, sie auch 
verstehen müsse. Einige Stunden Seminarunterricht können aber nicht 
befähigen, dauernd über alle Einzelheiten der Gesundheitspflege auf dem 
Laufenden zu sein. — Zu einer Beschlußfassung über die vorliegenden 
Anträge kam es nicht. Sie wurden alle einer Kommission überwiesen, die 
nächstes Jahr Bericht erstatten soll. (Med. Reform.) 



Italienische SchulzustAnde. 

Im italienischen Parlament ist jüngst durch ärztliche Fachmänner die 
Notwendigkeit betont worden, nicht nur gegen die Malaria und die Pellagra, 
sondern auch gegen die noch zahlreichere Opfer fordernden Augenkrankheiten 
von Staats wegen vorzugehen. Nach neuen Erhebungen ist die Bindehaut 
entzündung namentlich in einigen südlichen Landesteilen in erschrecken 
dem Umsichgreifen, was, abgesehen von der gesundheitlichen Schädigung 
und dem traurigen Lose der zahlreichen Erblindenden gewaltige Wirtschaft 
liehe Nachteile mit sich bringt. Es ist soweit gekommen, daß in erheblichem 
Umfange der Schulbesuch leidet, die Militärtüchtigkeit beeinträchtigt wird 
und der Auswanderung sich Schwierigkeiten entgegenstellen, da den äugen 
kranken Auswanderern — die vielfach ihre letzten Mittel für die Kosten 
der Ueberfahrt geopfert haben — in den Bestimmungshäfen die Landung 
versagt wird. 

Angesichts des bekannten Elends, das in vielen Teilen Unteritaliens 
und der Inseln herrscht und der zum Teil darauf beruhenden traurigen 
hygienischen Zustände darf man sich über das Umsichgreifen ansteckender 
Krankheiten nicht allzusehr verwundern; augenscheinlich hat Italien es 
nur seinem günstigen Klima, dem weitreichenden Einflüsse der Seeluft 
und besonders seiner Sonne zu verdanken, daß es von Krankheiten nicht 
noch mehr heimgesucht wird. Wie wenig von den Berufenen und Interessiern-n 



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407 



bisher getan worden ist, um nur den allerdringendsten Anforderungen der 
Gesundheitslehre gerecht zu werden, lehrt ein gerade zur rechten Zeit 
kommender Bericht eines Mitgliedes des Obergesundheitsrates, Prof. Lustig, 
Über die Zustände der Schulräumlichkeiten im Süden und auf den Inseln. 
Die Kammer hat vor einiger Zeit aus finanziellen Gründen die von sozia- 
listischer Seite beantragte Verstaatlichung der Volksschulen abgelehnt. Wenn 
nach diesem Bericht die Regierung nicht wenigstens ihr Aufsichtsrecht be- 
nutzt, um die Gemeinden zur pflichtmäßigen Abstellung der krassesten 
gesundheitlichen Uebelstände abzuhalten, so wird man sagen müssen, daß 
sie an einem Verbrechen gegen die Volksgesundheit mitschuldig ist. 

In Sardinien — um damit zu beginnen — erstrecken sich die Er- 
hebungen auf 233 Schulgebäude mit 709 Klassenzimmern. Nur 31 von 
diesen Gebäuden — wenig mehr als ein Siebentel — sind eigens für Schul- 
zwecke errichtet worden; 107 sind gemietete Räume, die in keiner Weise 
für die Schulzwecke passend gemacht sind. Aber auch unter den 31 „ent- 
sprechen nur sehr wenige den elementarsten gesundheitlichen Anforderungen 
und den vorgeschriebenen Bedingungen, ja einige sind in geradezu beklagens- 
wertem Zustande." Die anderen sind ., durchweg unanständig, teilweise fenster- 
los (I), nur mit einer direkt auf die Straße gehenden Tür, in unmittelbarer 
Nachbarschaft von Schenken, Ställen, Düngerhaufen, Schlachthäusern ©der 
anderen der Gesundheit nachieiligen oder für eine Schule wenig angemessenen 
Orten. Vom gesundheitlichen Standpunkte möchte man es demnach bei- 
nahe als einen Vorteil für Sardinien bezeichnen, daß mindestens ein Drittel 
der Schulpflichtigen nicht in der Schule erscheint und die Zahl der 
Analphabeten in der Provinz Sassari 63,57, in Cagliari 71,42 v. H. der über 
sechs Jahre alten Bevölkerung beträgt. 

Mehr als die Hälfte aller Schulen ist ungesund und unruhig; 84 sirJ 
„feucht im höchsten Grade", was Erkältungskrankheiten, Rheumatismus 
u. ä. hervorruft, in manchen läßt das Dach den Regen, die Mauer die 
Feuchtigkeit durch, manche liegen unter dem Straßenniveau. Mit Aus- 
nahme von 74 werden alle Schulgebäude noch anderweitig bewohnt. 95 v. H. 
der Klassenräume haben keinen besonderen Raum zum Ablegen der Klei- 
dungsstücke. 90 v. H. ermangeln des Trink- und Waschwassers, 70 v. H 
der Bedürfnisanstalt! Nur 31 Schulen besitzen einen Hofraum, nur 7 ein*n 
Turnplatz — obwohl das Tumen zu den obligatorischen Unterrichtsgegen- 
ständen gehört! In der Provinz Sassari haben 47 v. H. der Schulzimmer 
nicht den vorgeschriebenen Luftraum; in vielen ist die Luft mangels jeder 
Ventilation aufs äußerste verdorben. Ucber 90 v. H. müssen ab unzu- 
länglich betrachtet werden" Von Heizung keine Spur; die Reinigung 

läßt viel zu wünschen übrig, weil es an Wasser und an Bedienung fehlt." 
77 v H. der Klassen haben ungeeignete Bänke, so daß sie der körper- 
lichen Entwicklung nachteilig sowie Ursache zu fehlerhafter Körperhaltung 
und zur Kurzsichtigkeit werden. Sehr groß ist nach dem Prof. Lustig 
die Ansteckungsgefahr in diesen Schulen, in denen schwindsüchtige, mit 
Lupus und mit Bindehautentzündungen behaftete Schüler verkehren. Die 
letztgenannte Krankheit ist in 30 Schulen festgestellt worden; in einer hat 
sie 40 v. H. der Schüler ergriffen, ohne daß man Vorkehrungen dagegen 
getroffen hat. 



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Mitteilungen. 



In der Provinz Palermo hat sich die Untersuchung auf 158 Klassen 
zimmer mit 7 191 Schülern erstreckt. Auch hier herrschen Augenkrank 
heiten ansteckender Art. „Die Reinlichkeit läßt überall zu wünschen übrig, 
109 Klassenzimmer sind gesundheitlich ganz schlecht zu nennen." 56 v. H. 
pind ohne Wasser, 96 v. H. ohne Garderobe und ohne Bedürfnisorte I 
Auf dem südlichen Festlande sieht es nicht viel besser aus. Ueberall ein 
hoher Prozentsatz Von Analphabeten, keinerlei ärztliche Schulaufsicht, un 
geeignete Schulbänke, unzureichende schlecht gelüftete Klassenzimmer, üble 
Lage der Schulen, Mangel an Höfen und Garderoberäumen. In der Provinz 
Teramo können drei Viertel der Bevölkerung (im Alter von über 6 Jahren 1) 
nicht lesen und schreiben. Ein Drittel der schulpflichtigen Kinder bleibt 
ganz ohne Unterricht. Nur 6 v. H. der Schulgebäude sind eigens für diesen 
Zweck errichtet; nur 16 v. H. der Schulrimmer besitzen die vorgeschriebene 
Größe, fast alle sind voll Staub und gesundheitsschädlich; 61 v. H. haben 
kein Wasser, 70 v. H. keinen Schuldiener und deshalb zumeist kerne 
Reinigung, 91 v. H. ungeeignete Bänke. „Im Winter finden sich hustende 
Kinder in ollen Schulen, desgleichen tuberkulöse und in vielen auch augen- 
kranke, ohne daß sich jemand darum kümmert." — In der Provinz Caserta 
sind „65 v. H. der Schulzimmer absolut ungeeignet; die übrigen sind nur 
ziemlich genügend, denn sie sind schmutzig und schlecht beleuchtet." 

Für einen Staat, der in diesem Augenblicke sich seiner günstigen 
Finanzlage rühmt, sind derartige Zustände — gelinde ausgedrückt — kein 
Ruhmestitel. Wird Irtan die unerläßlichen Maßregeln hinausschieben, bis 
die Zurückweisung der die öffentliche Gesundheit bedrohenden italienischen 
Auswanderer und "die Aufwendungen für die Erkrankten einen empfind- 
lichen Umfang annehmen — wie man mit den Bemühungen um Ver- 
minderung der Analphabeten gewartet hat, bis diese in Nordamerika keine 
Zulassung mehr fanden? (Voss. Zeitung.) 



Der Vortragende Rat im Kultusministerium, Geheimer Regierungsrat 
Dr. Karl Jansen, unterzieht die Vorschläge der Gesellschaft deutscher 
Naturforscher und Aerztc zur Reform des mathematischen und natur- 
wissenschaftlichen Unterrichts in der „Monatsschrift für höhere 
Schulen" einer eingehenden Erörterung. Im allgemeinen erklärt er, 
daß sich trotz der sorgfältigen Arbeit der Unterrichtskommission der Ge- 
sellschaft ganz erhebliche Schwierigkeiten der Durchführung ihrer Vorschläge 
entgegenstellen, Schwierigkeiten, die in dem historisch gewordenen Orga- 
nismus der höheren Lehranstalten begründet sind, und denen gegenüber 
etwaige pekuniäre Hemmnisse und solche, die aus dem zeitweiligen Mangel 
an genügend vorgebildeten Lehrkräften sich ergeben, eine untergeordnete 
Rolle spielen. Auf der anderen Seite dürfe es aber auch als eine erfreuliche 
Tatsache hingestellt werden, daß die Erkenntnis der Anforderungen, welche 
die Gegenwart an den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter- 
richtsbetrieb stellt, immer weitere Kreise durchdringt, und daß bereits an einer 
großen Zahl von Anstalten dieser Unterricht sich mit den modernen Ideen 
durchsetzt hat. Abgesehen davon, daß bei dem zoologischen und botanischen 



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Mitteilungen 



409 



Unterricht den spezifisch biologischen Gesichtspunkten doch schon mancher- 
orts Rechnung getragen wird, ist für eingehendere Beobachtungen an nicht 
wenigen Schulen durch Schaukästen, Terrarien, Aquarien, Versuchsbeete, 
Schulgärten und ähnliches Fürsorge getroffen. Chemische Uebungen sind 
bei den Oberrealschulen verbindlich, bei vielen Realgymnasien bestehen 
sie als wahlfrei. Auch physikalische Schülerübungen gibt es hier und da, 
und soweit es bis jetzt beurteilt werden kann, herrscht bei vielen, vielleicht 
sogar bei der Mehrzahl der betreffenden Lehrer der beste Wille, sie einzu- 
führen, sobald durch Beseitigung gewisser Hindernisse der Weg dafür frei 
gemacht sein wird. Ueber alle diese Dinge wird eine Rundfrage, die vor 
einiger Zeit an alle neunklassigen Schulen des preußischen Staates ergangen 
ist, deren Beantwortung aber noch nicht aus allen Provinzen vorliegt, den ge- 
wünschten Aufschluß geben. Was die freiere Gestaltung des Unterrichts 
m den Oberklassen anlangt, so würde es auch nach Geheimrat Jansens 
Meinung den Charakter des Gymnasiums nicht in Frage stellen, wenn einzelnen 
zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien hinneigenden Schülern 
unter angemessener Befreiung vom sprachlichen Unterricht eine besondere 
Pflege ihrer Sonderart zuteil würde; im Gegenteil, es würde dann der 
andere Teil der Schüler mit um so größerem Nachdrucke den altsprachlichen 
Studien sich hingeben können. Namentlich kleineren Städten, in denen es 
nur eine einzige Anstalt gibt, würde dieses Verfahren unter Umständen von 
großem Nutzen sein. Bekannt ist, daß an den Gymnasien in Straßburg und 
Elbing, an jedem in besonderer Weise, Versuche nach dieser Richtung im 
Gange sind. Aber auch bei Realgymnasien ist ähnliches denkbar, und bei 
ihnen vielleicht um so erwünschter, als die freiere Gestaltung des Prima- 
Unterrichts dazu beitragen kann, der in der Natur des realgymnasialen 
Lehrplans liegenden Gefahr der Zersplitterung einen gewissen Damm ent- 
gegenzustellen. Die Realgymnasien in Elberfeld und Essen haben seit Ostern 
dieses Jahres in der Unterprima mit solchen Versuchen begonnen. 

So fehlt es also an Ansätzen zu einer zeitgemäßen Gestaltung des 
mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts nicht. Ob freilich 
die von der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte und ihrer 
Unterrichtskommission gesteckten Ziele jemals erreicht werden können, das 
— so führt Geheimrat Jansen aus — sei eine Frage, die sich zurzeit 
nicht entscheiden lasse. Jedenfalls haben sie das Gute, die Augen weiter 
Kreise auf den Gegenstand hingelenkt zu haben, und es werde eine heilsame 
Wirkung im Unterrichtsbetriebe nicht ausbleiben. 



Gesellschaft für experimentelle Psychologie. 

In der Angelegenheit des III. Kongresses für experimen- 
telle Psychologie, den die Gesellschaft für experimentelle Psycho- 
logie für die Zeit vom 22. bis 25. April 1908 in die Wege geleitet hat, 
erlaube ich mir folgendes mitzuteilen. 

Der Kongreß findet in Frankfurt a. M. in den Räumen der Aka 
demie statt. 



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410 



Mitteilungen. 



Der Besuch des Kongresses ist außer den Mitgliedern der Gesell- 
schaft allen anerkannten Männern der Wissenschaft als Teilnehmern ge- 
stattet. Die zu entrichtende Gebühr beträgt für Nichtmitglieder der oben 
genannten Gesellschaft 10 Mk. Außerdem ist vom Vorstand die Aus- 
gabe von Hörerkarten genehmigt worden; der Preis derselben beträgt 
20 Mk. ; für Lehrer und Lehrerinnen, für immatrikulierte Studenten und 
Studentinnen 10 Mk. Die Damen der Mitglieder können den Kongreß 
ohne Entrichtung von besonderen Gebühren besuchen. 

Mit dem Kongreß wird eine den Bedürfnissen und Interessen der 
Zusammenkunft entsprechende Ausstellung von psychologischen Apparaten 
verbunden sein. 

Während des Kongresses steht dessen Besuchern die gleichfalls im 
Akademiegebäude befindliche Bibliothek des Seminars für Philosophie und 
Pädagogik sowie des Psychologischen Institutes zur Verfügung. Außerdem 
können die Freiherrlich Carl von Rothschildsche öffentliche Bibliothek in 
Frankfurt sofort und die Universitätsbibliothek in Würzburg auf tele- 
graphisches Ersuchen in kürzester Zeit weitgehenden Anforderungen 
gerecht werden. 

Zur Vorbereitung des Kongresses ist ein Lokalkomitee zusammen- 
getreten. Die Mitglieder desselben sind folgende Frankfurter Herren: 

Dr. med. Franz A dickes, Oberbürgermeister. — Dr. phil. 
Christian W. Berghoeffer, Direktor der Freiherrlich Carl 
von Rothschildschcn öffentlichen Bibliothek. — Theodor Curti, 
Direktor der Frankfurter Zeitung. — Dr. phil. Carl Deguisne, Dozent 
am physikalischen Verein. — Dr. phil. Franz Dörr, Direktor der Liebig- 
Realschule. — Professor Dr. Ludwig Edingcr, Direktor des neurolo- 
gischen Institutes. — Dr. phil. Bruno Eggert, Oberlehrer. — Pro- 
fessor Dr. phil. Martin Freund, Rektor der Akademie. — F r a n 1 
Herber, Stadtschulinspektor. Adam Linker, Stadtschulinspektor. 
— Dr. Wilhelm Lüngen, Stadtschulrat. — Dr. Karl Marbe, Pro 
fcssor der Philosophie an der Akademie. — Dr. Wilhelm Merton. — 
Dr. phil. Heinrich Morf, Professor der romanischen Sprachen an 
der Akademie. — Professor Dr. phil. Ludwig Pohle, Prorektor der 
Akademie. — Dr. phil. Ferdinand Rein hold, Direktor der Viktoria 
Schule. — Dr. med. et phil. Otto Schultze, Assistent am Seminar 
für Philosophie und Pädagogik und am psychologischen Institut der 
Akademie. Professor Dr. med. Alb. Sippe!. — Dr. phil. Ernst 
Teichmann, Redakteur an der Frankfurter Zeitung. — Professor 
Dr. phil. Andreas Voigt, Sekretär des Großen Rates der Akademie. — 
Dr. phil. Julius Ziehen, Stadtrat. 

Innerhalb dieses Lokalkomitees hat sich zur Vereinfachung des 
Geschäftsganges der laufenden Arbeiten ein Organisationskomitec gebildet; 
ihm gehören außer mir die Herren Dr. Schultze und Dr. Teichmann 
an. Die Aufgaben des Schriftführers und Kassierers hat Herr Dr. Schultze 
übernommen. Anmeldungen und Zuschriften bitte ich an ihn zu senden; 
Geldsendungen jedoch wolle man an die Diskontogesellschaft in Frank- 
furt a. M. einsenden, und zwar mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß 
das Geld für das Konto des psychologischen Kongresses bestimmt ist. 



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Mitlrihni'frn. 



411 



Weitere Mitteilungen und ein ausführliches Programm werden später 
rechtzeitig vom Organisationskomitee verschickt werden. 

Dr. phil. Karl Marbc, 
Professor der Philosophie an der Akademie. 



Institnt für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. 

Wir erhielten seinerzeit folgende Zuschrift, der wir erst heute einen 
Platz einräumen können. Das Institut ist ins Leben getreten und hat eine 
Reihe großzügiger Arbeiten begonnen. 

Berlin W. 50, Aschaffcnburgerstr. 27. 
Ende September 1906. 

Der Vorstand der „Gesellschaft für experimentelle Psychologie" hat 
beschlossen, ein „Institut für angewandte Psychologie und psychologische 
Sammelforschung" ins Leben zu rufen, welches am 1. Oktober 1906 
eröffnet wird. 

Das Institut hat nicht den Charakter eines psychologischen Labora- 
toriums, tritt also nicht in Konkurrenz zu den bestehenden psychologischen 
Instituten; es soll vielmehr als Zentralstelle für die Organisation gemein- 
schaftlicher Untersuchungen und für die Anlage psychologischer Sammlungen 
dienen. Es will nicht nur die Fachpsychologen untereinander, sondern auch 
diese mit den Vertretern der mannigfachen Anwendungsgebiete zu systema- 
tischer Arbeitsgemeinschaft verbinden. 

Ueber Ziele und Betriebsweise des Instituts erlauben sich die Unter 
zeichneten, die im Auftrage des von dem Vorstande der Gesellschaft 
gewählten Ausschusses die unmittelbare Verwaltung der Geschäfte des 
Instituts übernehmen werden, folgendes mitzuteilen. 

I. Aufgaben des Instituts. 

Neben der stillen Forscher- und Laboratoriumsarbeit der reinen Psycho 
logie, für welche die Analyse der Bewußtseinserscheinungen und die Fest- 
stellung psychischer Gesetzmäßigkeiten Selbstzweck ist, beginnt sich seit 
einigen Jahren eine Forschungs weise von sehr abweichender Tendenz und 
Methode geltend zu machen. 

Die Absicht geht auf Gewinnung solcher psychologischer Ergebnisse, 
die auf andere Gebiete des Lebens und des Wissens Anwendung gestatten, 
auf die der Erziehung und des Unterrichts, der Rechtspflege, der Psychiatric 
und Psychopathologie einerseits, andererseits auf eine Reihe theoretisschcr 
Disziplinen, wie Sprachwissenschaft, Erkenntnistheorie, Ethik, Acsthetik usw. 

Dem Verfahren nach muß die angewandte Psychologie in ganz anderem 
Maße als die reine Psychologie sammelnd vorgehen. Da sie die Fülle der 
seelischen Differenzierungen, Entwicklungsformen und Umweltbedingungen 
berücksichtigen muß, bedarf sie zu ihren Schlüssen eines umfangreichen 



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412 



Mitteilungen. 



Massenmaterials. Ferner darf sie nicht, wie die reine Psychologie, das 
Studium der künstlich vereinfachten elementaren Bewußtscinscrscheinungen 
bevorzugen, sondern sie muß, durch Einbeziehung der komplexen Seelen- 
phänomenc und Fähigkeiten, eine größere Lebensnähe ihrer Ergebnisse 
erstreben. 

Bei der Durchführung dieser Forderungen erhoben sich aber Schwierig 
keiten, welche den Erfolg dieses so aussichtsreichen Forschungsgebietes teil- 
weise ernsthaft bedrohten. 

Die erste Schwierigkeit bestand darin, das Postulat der größeren Lebens- 
nähe mit demjenigen Grade wissenschaftlicher Exaktheit zu verbinden, der 
eine einwandfreie Verwertung der Ergebnisse rechtfertigt. Hier wird z. T. 
erst eine, den besonderen Aufgaben angepaßte, Methodik ausgearbeitet 
werden müssen. 

Sodann aber führt das Verlangen, Massenmaterial zu schaffen, leicht zu 
einem rein extensiven Betrieb, der sich auf Kosten der Intensität mit der 
schnellen Anhäufung und der Verrechnung recht großer Materialmengen begnügt 
(hierher gehören nicht wenige der im Auslande sehr verbreiteten Fragebogen- 
erhebungen) Verzichtet aber der Forscher — wie meist in der deutschen 
Wissenschaft — auf so fragwürdigen Untersuchungsstoff, dann vermag er 
als einzelner eben nur an einer kleinen Zahl von Versuchs- und Beobachtungs 
personen fragmentarische Arbeit zu leisten. 

Diese Mißstände haben in den letzten Jahren schon mehrfach dazu 
geführt, daß die Forderung einer Organisation psychologischer Arbeits- 
gemeinschaft erhoben wurde. Für Einzelprobleme ist sie auch bereits hier 
und da verwirklicht worden, und einige Laboratorien haben sich auch 
schon die Pflege eines besonderen Anwendungsgebietes (namentlich der experi- 
mentellen Pädagogik) zur Aufgabe gemacht. Aber alle diese Unternehmungen 
sind, so dankenswert sie sein mögen, von der privaten Initiative des einzelnen 
Forschers abhängig; die bedauerliche Zersplitterung der Kräfte ist nicht 
beseitigt; die Forderung des einwandfrei gewonnenen und verarbeiteten. 
Massenmaterials harrt noch immer der Erfüllung. 

So ergibt sich die Notwendigkeit einer dauernden Organisation, welche 
für die Probleme der angewandten Psychologie die Arbeitsgemeinschaft der 
Interessenten herbei- und durchzuführen und das Verfahren der Sammel- 
forschung methodisch auszubauen hätte. 

Ein Bedenken sei schon im voraus beseitigt. Bei der Heterogeneität 
der verschiedenen oben aufgezählten Anwendungsgebiete kann es zweifelhaft 
erscheinen, ob ihre gemeinsame Unterstellung unter eine Zentrale zweck- 
mäßig und ob nicht Sonderinstitute für pädagogische Psychologie, für 
forensische Psychologie usw. empfehlenswerter wären. Demgegenüber muß 
hervorgehoben werden, daß die angewandte Psychologie in vielen Be- 
ziehungen eine wirkliche Forschungseinheit darstellt. Gemeinsam sind den 
mannigfachen Anwendungsgebieten zunächst gewisse methodologische Be- 
sonderheiten, die eine Zentralisation der Bearbeitung wünschenswert machen: 
die Forderungen des Massenmaterials, des sammelnden und statistischen Ver- 
fahrens, der größeren Lebensnähe, der höheren Komplexion der zu unter- 
suchenden Phänomene. Sodann aber haben sie auch sachlich so viele Pro- 
bleme gemeinsam, daß ihre Trennung unzweckmäßig wäre; ja, es gibt 



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Mitteilungen. 



413 



Fragen, bei deren Untersuchung man noch gar nicht übersehen kann, nach 
wie vielen Richtungen sich die Anwendbarkeit der Ergebnisse erstrecken 
wird. So sind Ermüdungsmessungen, Intelligenzprüfungen, Gedächtnis- 
forschungen für den Pädagogen ebenso wichtig wie für den Psychiater. 
Die Aussage ist nicht nur ein Problem der forensischen, sondern auch der 
pädagogischen und pathologischen Psychologie, sogar auch der Geschichts- 
wissenschaft. Vor allem aber ist es das weite Gebiet der seelischen Ent- 
wicklung (Psychogenesis), auf dem sich die Kindespsychologen und Päda- 
gogen mit Vertretern der Kulturwissenschaften: Historikern, Linguisten, 
Kunstwissenschaftlern usw. treffen. Hier bestehen also Aufgaben, die nur 
ein die ganze Psychologie umfassendes Institut zu lösen vermag 

II. Betrieb des Institutes. 

Den Aufgaben des Instituts (dessen Tätigkeit durch private Mittel 
für längere Zeit sichergestellt ist) dienen folgende Einrichtungen: 

i. Kommissionen. 

Für jedes zu bearbeitende Spezialthema wird vom Ausschuß eine 
Kommission gebildet, die ihrerseits wieder Hilfskräfte zur Durchführung 
ihrer Untersuchungen heranzieht. Auch Nichtmitglieder der Gesellschaft 
können einer Kommission angehören oder als Hilfskräfte fungieren. 

Die Kommissionen beraten und beschließen über: 

a) die zu wählende Methode, 

b) Umfang, Zeit, Orte, Material der Untersuchung, 

c) die heranzuziehenden Hilfskräfte, 

d) die Art der statistischen Verarbeitung, 

e) die Art und Herausgabe der Publikation. 

Ihre Beschlüsse unterliegen der Genehmigung durch den Ausschuß. 

2. Sammelarchiv und Bibliothek. 
Das Sammelarchiv ist bestimmt: 

a) für die vom Institut selbst zu veranstaltenden Sammlungen, die 
sich auf bestimmte psychische Aeußerungcn und Leistungen beziehen, 

b) als Depot von psychologischen Gelegenheits- und Rohmaterialien 
(Tabellen, Protokollen, kasuistischen Beobachtungen usw.), welche der einzelne 
Forscher nicht zu verwerten gedenkt oder schon verwertet hat, und nun 
weiter zur Benutzung zur Verfügung stellt. 

c) Dem Sammelarchiv soll eine Bibliothek angegliedert werden, welche 
die sehr zersplitterte Literatur zur angewandten Psychologie in ihren Haupt- 
erscheinungen umfaßt. 

Die Materialien des Sammelarchivs und der Bibliothek können gegen 
eine Gebühr im Institut benutzt und z. T. auch nach auswärts ent- 
lichen werden. 

3. Uebernahme fremder Materialien. 

Das Institut übernimmt in gewissen (vom Ausschuß zu genehmigenden) 
Fällen gegen eine Gebühr die rechnerische Verarbeitung übersandter Proto- 
kolle und überläßt die Resultate dieser Verarbeitung dem Autor zur Ver- 
wertung. 



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414 



Mitteilungen. 



Das Institut befindet sich in Berlin-Wilmersdorf, Aschaffenburgerstr. 27 
(dicht am Pragerplatz), Gartenhaus 4 Treppen. 

Als reguläre Arbeitszeit gelten wochentäglich die Stunden von 9 bis 
2 Uhr. Außerdem findet Sonnabend nachmittag von 6—7 Uhr Sprechstunde 
des Sekretärs statt. 

Organ des Instituts ist die vom Jahre 1907 ab erscheinende Zeitschrift 
für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung", heraus- 
gegeben von William Stern und Otto Lipmann. 

Für den Arbeitsplan der ersten Zeit sind, vorbehaltlich der Genehmigung 
durch den Gesamtausschuß, folgende Themen in Aussicht genommen: 

1. Entwicklung des Sprechens und Denkens in den ersten Lebens- 
jahren des Kindes (nebst Berücksichtigung völkerpsychologischer 
Parallelen). 

2. Die Aussage in ihrer 

a) forensischen, 

b) pädagogischen Bedeutung. 

3. Intelligenzprüfung. 

4. Eigenart und Entwicklung der hypernormalen Begabungen. 

5. Anschauungstypen. 

Sammlungen sollen zunächst angelegt werden über: 

1. Kinderzeichnungen und andere kindliche Kunstbetätigungen, 

2. kindliche Sprachentwicklungen, Sprachschätze und besondere Sprach- 
phänomene, 

3. hypernormalc Begabungen. 

Es ergeht hierdurch an die Psychologen und die Vertreter der An- 
wendungsfächer die Bitte, das Institut in seinen wissenschaftlichen Be- 
strebungen zu unterstützen, und zwar durch Mitwirkung an den Kommissions- 
arbeiten, durch Förderung der Sammlungen und der Bibliothek, durch An- 
regung und Vorschläge, die sich auf Probleme der angewandten Psychologie 
und psychologischen Sammelforschung beziehen. 

Privatdoz. Dr. William Stern, Breslau V, Brandenburgerstr. 54. 
Dr. Otto Lipmann, Berlin W. 50, Pragerstr. 23. 



Petition 

an den Herrn Minister der geistlichen pp. Angelegen- 
heiten betr. Unterrichtszeit und häusliche Arbeiten an 

den höheren Schulen. 

Berlin, im Oktober 1906. 

An den Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Mediiinal- 
angelegenheiten in Berlin. 

Ew. Exzellenz bitten die gehorsamst unterzeichneten preußischen Mit- 
glieder des Deutschen Hauptkomitees zur Vorbereitung des 2. Internat. 
Schulhygiene-Kongresses (London 1907), denen die in beiliegender Liste 
Genannten sich anschließen,*) dir nachstehenden Vorschläge in betreff der 

*) Weitere Zustimmungen nimmt Prof. Victor in Marburg entgegen. 



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Mitteilungen. 



415 



Unterrichtszeit und der häuslichen Arbeiten an den höheren Schulen 
wenigstens für ausgedehntere Versuche in geneigte Erwägung zu ziehen. 

1. Verlegung des gesamten verbindlichen Unterrichts auf den Vor- 
mittag bei Einführung der „Kurzstunde" von 45 oder 40 Minuten. 

2. Ermäßigung der häuslichen Arbeiten durch Verzicht auf schrift- 
liche Hausaufgaben in den Unter- und Mittelklassen und durch deren Ein- 
schränkung in den Oberklassen. 

3. Einführung eines Spielnachmittags mit Erlaß der häuslichen Arbeiten 
für den folgenden Tag. 

Zur Begründung erlauben wir uns das Folgende hinzuzufügen. 

Zu 1. — Die Zahl der Unterrichtsfächer und Unterrichtsstunden ist so 
groß, daß allein durch die verbindlichen Fächer einschl. des Turnens 
und des Chorsingens die bei ungeteiltem Unterricht verfügbare Vormittags- 
zeit von wöchentlich 30 Stunden um wöchentlich 5 — 6 Stunden überschritten 
wird. Die Heranziehung des Nachmittags für diesen Ueberschuß beeinträchtigt 
wiederum die für die wahlfreien Fächer nötige Zeit und bringt insbesondere 
in größeren Städten andere Mißstände mit sich. Eine Verminderung der 
Fächer und Stundenzahl ist auf die Dauer kaum zu umgehen, ließe sich 
jedoch ohne tiefgreifende Veränderungen der Lehrpläne nicht durchführen. 
Ein näher liegendes Mittel zur Abhilfe bietet sich in der sog. Kurzstunde, 
über deren günstige Erfolge in der Beilage zum 38. Jahresbericht des 
Realgymnasiums mit Gymnasialabtcilung zu Karlsruhe (190h) Genaueres zu 
finden ist. In Stockholm wird in Kurzstunden zu je 45 Minuten mit drei 
Pausen zu je 15 und einer zu 30 Minuten von 8 -1 Uhr unterrichtet. Der 
noch kürzere 40 Minuten Betrieb hat sich am Gymnasium zu Winterthur so 
gut bewährt, daß der Schulrat nach 1 '/»jähriger Erfahrung auf einstimmigen 
Wunsch der Lehrerschaft am 19. Januar d. J. gleichfalls einstimmig 
beschlossen hat, der Gemeindeversammlung Winterthur die endgültige Ein- 
führung des 40 Minuten-Betriebes zu empfehlen. Als Vorzüge werden 
geringere Ermüdung, größere und gleichmäßigere Aufmerksamkeit und 
Sammlung, erhöhte Leistungsfähigkeit und größere geistige Frische, zumal 
in der fünften Vormittagsstunde (d. h. Kurzstunde), genannt. Bei dieser 
Einrichtung ist es möglich in der Zeit von 8 — 12 Uhr fünf Kurzstunden mit 
Pausen von durchschnittlich 10 Minuten zu erteilen. Es würde somit einer- 
seits der namentlich in Großstädten lästige frühe Beginn um 7 Uhr im 
Sommer vermieden, andererseits das Ende des verbindlichen Unterrichts 
einschl. des Turnens und Singens in den Unterklassen bis 12 Uhr mittags, 
in den Mittel- und Oberklasscn mit Benutzung der fünften Zeitstunde 
(12.10 — 12.50) noch vor 1 Uhr herbeigeführt. Daß bei geringerem als dem 
jetzigen Zeitaufwand die vorgeschriebenen Lehrziele zu erreichen sind, beweist 
übrigens auch der Umstand, daß die Zahl der wöchentlichen Vollstunden 
aller Klassen in den bayerischen Gymnasien (246) um etwa 50 hinter der 
der preußischen (295) zurückbleibt. 

Zu 2. — Bei der heutigen Verteilung des Unterrichts sind auch die 
Nachmittage durch verbindliche und wahlfreie Stunden dermaßen in Anspruch 
genommen, daß der Schüler oft erst um 5 pder 6 Uhr die Schule verläßt. 
Nach Abzug der für Schulwege und Mahlzeiten, Erholung und Selbstbetätigung 
erforderlichen Zeit bleiben im allgemeinen nur die Abendstunden für dio 



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416 



Mitteilungen. 



häuslichen Arbeiten übrig. Dies muß bei dem frühen Beginn des Unter- 
richts am Vormittag um so eher zur Ueberanstrengung durch Verkürzung 
des Schlafes führen, je mehr der Schüler der freilich nur allzu gewöhnlichen 
Anwendung täuschender Mittel bei der Anfertigung seiner häuslichen Arbeiten 
widerstrebt. Gerade der gewissenhafte Schüler läuft daher Gefahr, weniger 
vollendete häusliche Arbeiten aufzuweisen und im Unterricht in Frische 
und Leistungsfähigkeit zurückzustehen. Schon aus den angedeuteten Miß- 
ständen ergibt sich, daß auch durch Umfragen bei den Schülern die Ein- 
haltung der vorgeschriebenen Maximalzeit bei den hauslichen Arbeiten nicht 
gewährleistet, und daß die Erziehung zum selbständigen Arbeiten durch die 
Hausaufgaben in der Mehrzahl der Fälle nicht erreicht wird. Es erscheint 
daher wünschenswert, ohne etwaige Vermehrung des Memorierstoffes in 
den Unter- und Mittelklassen auf schriftliche Hausarbeiten ganz zu ver- 
zichten und in den Oberklassen in mäßigem Umfange nur solche zuzulassen 
(freie Wiedergaben, Aufsätze usw.), deren Lösung die individuelle Betätigung 
des Schülers mit einiger Sicherheit erkennen läßt. 

Zu 3. — Es ist zu wünschen, daß die Schule den Zusammenhang mit der 
Pflege von Spiel und Sport, die zum Turnen mehr und mehr ergänzend hinzu- 
tritt, nicht verliere. Als das geeignetste Mittel erscheint die Verallgemeinerung 
des Spielnachmittags, wie er an manchen Schulen bereits eingeführt ist, mit 
Erlaß der häuslichen Arbeiten für den folgenden Tag. Die zweistündige 
Spielzeit könnte auf die späten Nachmittagsstunden (5 — 7 oder 6—8 Uhr) 
verlegt werden. 

Die gehorsamst Unterzeichneten versprechen sich von der Erfüllung 
ihrer 'Wünsche einen wichtigen Fortschritt zugunsten der körperlichen, 
geistigen und sittlichen Entwicklung unserer Jugend. 

Prof. Dr. med. Baginsky, Vorsitzender des Berliner Vereins für Schul- 
gesundheitspflege, Berlin. D c 1 i u s , Geh. Ober-Baurat, 2. Vorsitzender des 
Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege, Berlin. — Realschuldirektor 
F. Dörr, Frankfurt a. M.-Bockenheim. — Prof t Dr. phil. R. Eickhoff, 
Mitglied des Deutschen Reichstages und des Prcuß. Hauses der Abgeordneten, 
Remscheid. — Geh. Medizinalrat Dr. med. E. von Esmarch, Professor 
der Hygiene, Göttingen. — Geh. Medizinalrat Dr. med. Albert Eulen- 
burg, Professor der Neurologie, Berlin. — Prof. Dr. med. Arthur Hart- 
mann, Ohrenarzt, Berlin. — Oberbürgermeister Müller, Mitglied des 
Preuß. Herrenhauses, Kassel. — Sanitätsrat Prof. Dr. med. F. A. Schmidt, 
Bonn. — Dr. med. H. Seit er, Privatdozent der Hygiene, Bonn. — 
Dr. phil. Wilhelm Vietor, Professor der englischen Philologie, Mar- 
burg. — Regierungs- und Geh. Medizinalrat Dr. med. R. Wehmer, stell- 
vertretender Vorsitzender des Berliner Vereins für Schulgesundheitspflege 
und Vorsitzender des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, 
Berlin. — Stadtschulrat Dr. phil. Wehrhahn, 3. Vorsitzender des Deut- 
schen Vereins für Schulgesundheitspflcge, Hannover. (Auch der mittlerweile 
verstorbene Geh. Medizinalrat Dr. med. et phil. Herrn. Cohn, Professor 
der Augenheilkunde, Breslau.^ hatte s. Z. seine Zustimmung erklärt.) 

SchrifUeitnng: F. Kemsies, Weissensee, Königs -Chaussee 6, u. L. Hirschlatt", Berlin W.. 
Uabsbunrurstr. 6. — Verlag von Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H., Berlin 
W. 80, Nollendorfplatx 7. — Verantwortlich für Geschäftliche Mitteilungen und Inserate: 
Fr. Pasche-ßerlin. — Druck: Pass & Garleb Q. m. b. H., Berlin W. 67, Bttlowstr. 66. 



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Zeitschrift 

für 

Pädagogische Psychologie, 

Palbotogk und HygieMC 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff. 



Jahrgang X. Berlin, März 1908. Heft 6. 

* - ' " — - — = _. — — — — — --- r^r=-._ i_ 

| ! ( i , 

Die forensische Bedeutung der modernen ^o^fchtfnpen 
über die Aussagepsychologie.') i 

Von 

ALBERT MOLL. 

(Vortrag, gehalten in der Freien gcrich tsärzllichen Vereinigung am 

16. Januar 1908 ) 

Die modernen Forschungen über die Aussagepsychologie 
sind dadurch ausgezeichnet, daß die Methoden der modernen 
Psychologie hier Verwertung gefunden haben, daß sie in 
größerem Maßstab vorgenommen sind, und daß sie erheblich 
mehr ins einzelne gehen, als es jemals vorher der Fall war. 
Es wäre aber ein Irrtum, die Aussagepsychologie selbst als 
ein vollständig neues Gebiet zu betrachten, dessen Bedeutung 
erst in neuerer Zeit bekannt geworden wäre. Wahrscheinlich 
ist vielmehr der Gegenstand, seitdem Menschen miteinander 
verkehren, besonders aber, seitdem eine geordnete Rechts- 
pflege besteht, wenn auch nicht immer in dem notwendigen 
Grade, berücksichtigt worden. Viele Beweise für diese Auf- 
fassung findet man in alten Rechtsbüchern. Wie wenig neu 

■ 

') Anm. d. Red.: Dieser Aufsatz erscheint mit Genehmigung des Verfassers 
und des Herausgebers zu gleicher Zeit in der Amtlichen Sachverständigen-Zeitschrift. 
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. j 



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418 



Albert Moll. 



die Berücksichtigung der Zeugenpsychologie ist, möge eine 
historische Ausgrabung L ö f f 1 e r s zeigen, wonach schon 
Ulpian, ein Rechtslehrer, der um 200 nach Christus lebte, 
mit aller Klarheit und Präzision Suggestivfragen ausgeschlossen 
haben wollte : „Qui quaestionem habiturus est, non debet spezi- 
aliter interrogare, an Lucius Titius horaicidium fecerit, sed 
generaliter, quis id fecerit: alterum enim magis suggerentis 
quam inquirentis videtur; et ita Divus Trajanus rescripsit." 
Dieser Grundsatz ist später auch in einigen Artikeln der Carolina 
aufgenommen worden. Auch in andern Gesetzbüchern ist die 
Zeugenpsychologie berücksichtigt worden. Hierher gehört z. B. 
unsere Strafprozeßordnung, wo § 68 bestimmt : „Der Zeuge ist 
zu veranlassen, dasjenige, was ihm von dem Gegenstande seiner 

Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhange anzugeben 

zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage sind 
nötigenfalls weitere Fragen zu stellen." Ich werde später aus- 
führen, daß diese Bestimmung, die den Unterschied zwischen 
dem spontanen Bericht und dem Verhör berücksichtigt, einen 
wichtigen psychologischen Grund hat. Freilich entstammen 
diese und ähnliche Gesetzesbestimmungen der reinen Er- 
fahrung, während in neuerer Zeit das Experiment einen 
großen Teil des Arbeitsgebietes beherrscht. 

Immerhin sind auch die Experimente über die Aussage- 
psychologie nicht etwas ganz neues. Ich erwähne, daß im 
Anschluß an 'das Studium des Hypnotismus und der Suggestion 
schon vor mehreren Jahrzehnten solche Versuche gemacht 
wurden. So hat der Nanziger Bernheim schon 1886 in seinem 
Buch über die Suggestion einzelne derartige Experimente ver- 
öffentlicht, zu denen er gerade durch den Prozeß von Tisza- 
Eszlar angeregt wurde. Er und Lie^geois fanden damals 
schon, daß man manchem ganz komplizierte Szenen auch 
ohne Einleitung der Hypnose als erlebt suggerieren kann. 
Unter den Forschern, die auf diesem Gebiete damals gearbeitet 
haben, nenne ich weiter Börillon (Revue de rHypnotisme 
1891/92) und Joire (1896). Auch schlug B^rillon schon 1896 
auf dem Kongreß für Kriminalanthropologie in Genf eine 
These vor, des Inhalts, bei der Untersuchung das Geheim- 
verfahren durch ein kontradiktorisches Verfahren zu ersetzen, 
um den Einfluß der unbewußten Suggestion auf die Zeugen- 
aussagen möglichst zu verhindern. Und im Anschluß an die 



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Forma. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussage Psychologie. 419 



Hypnotismus- und Suggestionsfbrschungen war bereits 1892 
bei einer Gerichtsverhandlung in l'Aisne die Freisprechung eines 
wegen Mordes und Mordversuches Angeklagten erfolgt, weil 
man annahm, daß die Suggestion bei der Zeugenaussage eine 
Hauptrolle spielte." 1 ) 

Auch im Anschluß an okkultistische Untersuchungen ist 
die Aussagepsychologie öfters behandelt worden, z. B. vor 
fast vierzig Jahren von englischen Forschern. 1869 trat ein 
wissenschaftliches Komitee in England zusammen mit der be- 
sonderen Aufgabe, die spiritistischen Phänomene zu unter- 
suchen. Wer die Berichte liest, wird erkennen, wie sehr die 
Bedeutung der Aussagepsychologie dabei von skeptischen 
Komiteemitgliedern gewürdigt wurde. So schrieb z. B. damals 
Edmunds: „Durchaus wahrheitsliebende Menschen werden 
ohne Zweifel Dinge berichten, welche, wenn sie wahr sind, 
unerklärlich bleiben, es sei denn, daß man die Hypothese einer 
übernatürlichen Einmischung zu Hilfe nimmt. Aber ich habe 
hinreichend Erfahrung gesammelt, um mich zu überzeugen, 
daß dergleichen Erzählungen ein Resultat von Selbstbetrug 
in der einen oder anderen Form sind; die Erzählung ist viel- 
mehr ein Produkt der Phantasie als ein Bericht von Tatsachen. 
Wenn man z. B. ein halbes Dutzend der glaubwürdigsten Per- 
sonen aufforderte, jede für sich möge einen Bericht über die 
Ereignisse in einer dieser Sitzungen niederschreiben, so würden 
ihre Erzählungen ganz sicher in einem bedenklichen Maße 
voneinander abweichen." Lehmann, der in seinem aus- 
gezeichneten Buche über Aberglauben und Zauberei dies 
erwähnt, fügt hinzu, daß Edmunds dann einige Beispiele 
hinzufüge, wie die Angaben eines Teilnehmers über gewisse 
merkwürdige Einzelheiten in einer Versammlung von anderen 
Teilnehmern bestimmt geleugnet wurden. Auch sonst ist gerade 
im Anschluß an den Okkultismus die Aussagepsychologie viel- 
fach studiert worden. Wenn daher einzelne Forscher heute 
glauben, daß sie erst die Wichtigkeit der Aussagepsychologie, 
sei es für die Rechtsprechung, sei es für andere Aufgaben, 
erkannt haben, so irren sie sich. Wir sind sehr leicht geneigt, 
auf unsere wissenschaftlichen Ergebnisse uns stolz zu gebärden 
und mitleidig auf frühere Zeiten herabzusehen. So dumm aber, 

') Moll, Der Hypnoüsmu*. 4. Auflage, Berlin 1907, S. 448. 



420 Albert Moll. 



wie manche heute glauben, sind die Forscher und Praktiker 
früherer Zeiten auch nicht gerade gewesen. 

Max Dessoir faßt die Hauptfrage der Aussagepsycho- 
logie in folgender Weise : Von welchen Umständen hängt es 
ab, ob die Aussage eines Menschen, seinen Wahrheitswillen 
vorausgesetzt, ein Erlebnis mehr oder weniger genau schildert: 

Es ist, wie man sieht, damit die absichtliche Un- 
wahrheit, die Lüge, ausgeschlossen. In praxi ist es freilich 
oft sehr schwer, die absichtliche Unwahrheit von der 
unabsichtlichen zu unterscheiden. Ich brauche nur an die 
Pseudologia phantastica zu erinnern, ferner an die Re- 
nommistereien mancher Schwachsinnigen. Theoretisch ist aber 
die Trennung nötig. Wenn wir die absichtliche Unwahrheit 
ausschließen, sind es fcwei seelische Funktionen, auf deren 
Mangel die Fehler der Aussage zurückzuführen sind. In 
Betracht kommen Fehler des Gedächtnisses und 
Fehler der Wahrnehmung. Die erstcren sind aber viel- 
fach überschätzt worden. Hans Groß, dem sich Pau! 
Möller in seiner Arbeit über die Bedeutung des Urteils für 
die Auffassung 1 ) anschließt, führt demgegenüber Gründe an, 
die in Wahrnehmungsfehlern eine Hauptquelle der falschen 
Aussagen erkennen lassen. Ein sehr einfaches und instruktiv« 
Experiment pflegt er gewöhnlich seinen Zuhörern vorzuführen. 
Er läßt sich eine Flasche Wasser und mehrere Gläser bringen, 
fordert die Anwesenden auf, auf den Hergang zu achten, und 
gießt etwas Wasser in ein Glas. Nachdem alles fortgetragen 
ist, fragt er die Anwesenden sofort, was er gezeigt habe. Beim 
Fragen nach Einzelheiten werde unglaublich wenig dann richtig 
beantwortet. Mit Recht führt Hans Groß an, daß hierbei die 
Fehler des Gedächtnisses doch keine Rolle spielen könnten, 
und daß es sich nur um Wahrnehmungsfehler handeln könne. 
Aehnlich liegt es bei dem Vorgang, der als bekannter Scher/ 
über die notwendigen Eigenschaften eines Mediziners erzählt 
wird. Der Kliniker schildert den anwesenden Hörern, daß 
für den Arzt zwei Dinge notwendig seien: erstens gute Be- 
obachtung, zweitens dürfe er sich vor nichts ekeln. Das letztere 
demonstriert er dann den Studenten in der Weise, daß er ein 
Glas Urin von einem Patienten nimmt, einen Finger eintaucht, 

l ) Schriften der Gesellschaft ftlr psychologische Forschung, Heft 15, Leipzig 1905. 



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Forens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 42 1 



und nun den Finger in den Mund nimmt. Bei dem Ekelgefühl, 
das bei den Zuhörern auftritt, zeigt er ihnen sofort, wie schlecht 
sie beobachtet haben; sie hätten nicht gesehen, daß er den 
Zeigefinger in den Urin, den Mittelfinger aber in den Mund 
genommen hätte. Wer sich mit der Taschenspielerei beschäftigt 
hat, wird zahllose Fälle finden, wo die Wahrnehmungsfehler 
die Hauptrolle bei der Täuschung spielen. Wenn der Taschen- 
spieler anscheinend eine Münze von der rechten Hand in die 
linke nimmt, so bleibt sie in Wirklichkeit in der rechten Hand 
liegen, und trotzdem nehmen die Zuschauer an, daß er sie 
in die linke gelegt habe. Sie haben es nicht wahrgenommen, 
aber sie glauben das wahrzunehmen, was sie sich selbst kon- 
struieren. Man beschreibt die Vorgänge nicht nach ihrem 
objektiven Ablauf, sondern wie man sie sich denkt. Oder 
um mit Hans Groß 1 ) zu reden: Der Zeuge bietet viel mehr 
Erschlossenes als Beobachtetes. Mit der Wertung der Be- 
obachtungsfehler ist natürlich nicht gesagt, daß die des Gedächt- 
nisses bei der Aussagepsychologie keine Rolle spielen. Sie 
sind ebenfalls von größter Bedeutung, nur soll man sie nicht 
zugunsten der Wahniehmungsfehler überschätzen. Wie wichtig 
die Gedächtnisfehler sind, ergibt sich schon aus den Unter- 
schieden, die die Beschreibung eines Vorganges oder eines 
Bildes dann bietet, wenn sie unmittelbar nach dem Vorgange 
erfolgt von der, die erst nach Ablauf einiger Zeit stattfindet. 

Dies vorausgeschickt, will ich jetzt mit einigen Worten 
auf die neueren Versuche zur Aussagepsychologie eingehen. 

Viel Zeit und Mühe haben Stern 2 ) und manche andere 
auf die sogenannten Bild versuche verwendet. Es wurde 
ein buntes Bild, eine Bauernstube darstellend, genommen, das 
eine ganze Reihe Einzelheiten zeigte. Besonders wurden die 
Versuche an Schülern gemacht. Die Schüler wurden in einem 
leeren Schulzimmer einzeln vorgenommen. Die Betrachtung 
des Bildes wurde ungefähr damit eingeleitet, daß Stern dem 
Kinde etwa sagte: „Ich möchte einmal sehen, ob du ein gutes 

') Kriminal psychologie, 2. Auflage, I,eipzig 190."», S. 5. 

■0 Sehr viel Material findet man in den Beiträgen zur Psychologie der Aus- 
sage, herausgegeben von L. William Stern, Leipzig 1903 his 1906. Auch in 
der eist seit kurzer Zeit erscheinenden Zeitschrift für angewandte Psychologie und 
psychologische Sammelforgchung, wie im Archiv ffti Kriminal-Anthropologie und 
an vielen andern Stelleu findet man viele Materialien. 



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422 



Älbcrt Moll. 



1 



Gedächtnis hast. Ich werde dir ein Bild zeigen, das du dir 
ganz genau ansehen sollst. Ich lasse dir reichlich Zeit, dir 
alles, was darauf ist, zu merken. Nachher wirst du mir er r 
zählen, was du alles auf dem Bilde gesehen hast." Dann 
wurde dem Prüfling das Bild in die Hand gegeben, und bei 
heller Tagesbeleuchtung betrachtete er es einige Minuten. Dann 
wurde es fortgenommen, und nun hatte der Prüfling mitzuteilen, 
was er gesehen hat, und zwar zunächst in einem spontanen 
Bericht, der höchstens durch Worte wie „vielleicht fällt Dir 
noch etwas ein", gefördert wurde. Nachher wurde, wenn der 
spontane Bericht stockte, der Prüfling einem Verhör unter- 
worfen, bei dem ihm Fragen gestellt wurden, auf die er zu 
antworten hatte. Bei den Fragen waren eine Anzahl, die als 
suggestive Fragen dienten, vorhanden. Der Bericht und die 
Verhörsantworten des Kindes wurden sofort, teilweise steno- 
graphisch, aufgenommen. Es folgte nun nach einiger Zeit 
der sekundäre Versuch, indem das Kind ein zweites Mal zu 
schildern hatte, was es früher gesehen. 

Stern, Lipmann und andre haben ausführliche Me- 
thoden ausgearbeitet, die uns in den Stand setzen sollen, die 
Zuverlässigkeit dieser Berichte zahlenmäßig abzuschätzen. Das 
einfachste wäre natürlich, wenn man jeden Irrtum als einen 
Fehler rechnet. Aber dies gäbe gewisse Schwierigkeiten, indem 
der eine Fehler wichtiger ist, als der andre. Zweifel bieten 
auch die unbestimmten Antworten. Ein Kind antwortete etwa 
auf die Frage, ob der Mann nicht schwarze Hosen anhabe, 
„ich weiß nicht." 

Soll man eine solche Antwort ebenso rechnen, wie eine 
falsche? Soll man, wenn gefragt wird, „wieviel Löffel liegen 
auf dem Tisch", die falschen Zahlen, die angegeben werden 
stets als einen Fehler rechnen, gleichviel, ob die Zahl sich 
von der Wirklichkeit sehr entfernt oder ihr sehr nahe steht? 

* 

Kurz und gut, die Frage der Wertung der Fehler war sehr 
bald eine Hauptschwierigkeit, und diese ist auch bis heute 
nicht überwunden. Immerhin ist eine gewisse zahlenmäßige 
Berechnung, wenn sie auch mit großen Fehlerquellen verknüpft 
ist, in der experimentellen Psychologie nicht zu umgehen und 
trotz der vielen Einwürfe, die sich gegen die Fehlerwertung, 
soweit sie in Zahlen ausgedrückt wird, erheben lassen, muß 
doch zugegeben werden, daß die Zahlen wenigstens einen ge- 



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Forens. Brdeut. d. tnod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 423 



wissen Anhaltepunkt, wenn auch sehr unbestimmter Art, ge- 
währen. Ich will aber auf die Methode der Fehlerwertung 
bei diesen Bildversuchen aus dem Grunde nicht weiter ein- 
gehen, weil sich heute wohl alle darin einig sind, daß diese 
Versuche zwar ein psychologisches Interesse bieten, vielleicht 
auch ein pädagogisches, daß sie aber für unsre Frage, die 
gerichtliche Aussagepsychologie, verhältnismäßig wenig in Be- 
tracht kommen. 

Die Mangelhaftigkeit dieser Bildversuche ist nun den For- 
schern auch nicht entgangen. Sie haben deshalb auch soge- 
nannte Wirklichkeitsversuche vorgenommen, indem sie ganze 
Vorgänge zum Ausgangspunkt der Aussageforschung machten. 
Die Beschreibung eines Bildes, eines Gegenstandes, kommt bei 
der Zeugenaussage vor Gericht viel weniger in Betracht, als 
die Beschreibung eines Vorganges, den man beobachtet hat. 
Wenn nun aber auch die Spezialforscher diesen Mangel der 
Bildversuche gesehen haben und in einzelnen Fällen soge- 
nannte Wirklichkeitsversuche anstellten und ganze 
Vorgänge beschreiben ließen, so ist doch nicht zu verkennen, 
daß dieses Material, wenigstens was das Experiment anlangt, 
erheblich hinter dem ersteren quantitativ zurücksteht. Schon 
dieser Umstand zwingt zu größter Vorsicht mit praktischen 
Schlußfolgerungen. Was die Wirklichkeitsversuche betrifft, so 
ist vielleicht am bekanntesten geworden jenes Experiment, das 
im kriminalistischen Seminar der Universität Berlin ausge- 
führt wurde. Es ist ausführlich von S. Jaffa 8 ) veröffentlicht 
worden. Bei einer Debatte im kriminalistischen Seminar ge- 
raten zwei Herren miteinander in Wortwechsel, bei dem schließ- 
lich auch die Drohung mit einem Revolver eine Rolle spielt. 
Alles war vorher mit den tätigen Personen verabredet worden. 
Nachher wurden die Anwesenden aufgefordert, den ganzen 
Vorgang zu beschreiben. Hierbei sind nun ebenfalls ausführ- 
lich die Fehler geprüft und gewertet worden; desgleichen wur- 
den die Fehlerquellen recht gut zusammengestellt. Jaffa kriti- 
siert sehr ausführlich den Versuch, und wie schwer es ist, zu 
wirklich exakten Ergebnissen zu kommen, mag sich daraus 
ergeben, daß Jaffa selbst den ganzen Versuch mehr als zurück- 
haltend kritisiert. Es ist nämlich nicht einmal absolut sicher 

») Ein psychologisches Experiment im kriminalistischen Seminar der Universität 
Berlin. Beiträge zur Psychologie der Aussage. Leipzig 1903, S. 79, 



4 24 



Albert Moll 



festgestellt worden, daß dieser Wirklichkeitsversuch sich so 
abgespielt hat, wie er protokolliert ist und wie er den Akteurs 
aufgetragen war. 

Es sind ja auch noch eine ganze Reihe andrer Wirklich- 
keitsversuche gemacht worden. Auch für sie ist eine genaue 
Fehlerwertung von den zuständigen Forschern vorgenommen 
und zum Teil in überaus fleißigen Berechnungen versucht 
worden. 

Wenn wir das Resultat aller dieser Experimente der mo- 
dernen Aussageforschung betrachten, so haben sie das Gute 
gehabt, die Aufmerksamkeit auf die Aussage- 
fehler hinzulenken. Dieses fortwährende Erwähnen der 
Aussagefehler, die bei den Experimenten beobachtet wurden, 
hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gerichtet. 
Die Menschen sind so geartet, daß gewisse Dinge immer wieder- 
holt und mit dem nötigen Geräusch gesagt werden müssen, 
um endlich durchzudringen. Insofern ist es auch ganz gut. 
daß die Untersuchungen zur Aussagepsychologie mit einem 
gewissen Geräusch der Well verkündet wurden, das wohl 
manchen esoterisch veranlagten Wissenschaftler gestört, das 
aber viel Gutes bewirkt hat. Freilich ist auch der Vorwurf 
erhoben worden, dadurch, daß diese Frage die Oeffentlichkeit 
beschäftigte, sei das Vertrauen in die Rechtspflege erschüttert 
worden, weil diese so sehr auf dem Zeugenbeweis beruhe. 
Dieser Nachteil soll gern anerkannt werden; es muß aber 
anderseits zugegeben werden, daß es heute kaum möglich ist. 
es zu verhindern, daß solche Dinge aus den Kreisen der Wissen- 
sclwiftler heraus in die breitere Oeffentlichkeit gelangen. Die 
Forschung würde, wie Stern mit Recht erklärt, lahm gelegt 
werden, wenn sie aus Furcht davor ruhen würde. Man kann 
von ihr nur verlangen, daß sie nicht selbst in taktloser Weise 
Volksinstinktc benutzt, um unser Vertrauen in die Rechtspflege 
zu erschüttern. Und dieser Vorwurf kann gegen die in Be- 
tracht kommenden Hauptpersonen nicht erhoben werden. Ich 
bin jedenfalls überzeugt davon, daß, wenn nicht immer und 
immer wieder von den Forschern auf die Unzuverlässigkeit 
der Zeugenaussage hingewiesen worden wäre, die Aufmerk- 
samkeit nicht auf diese Frage hingelenkt worden wäre. 
Insofern haben diese Untersuchungen schon manches Gute 
gehabt. 



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Form*. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. AuaMgtpsychologie. 425 



Anderseits muß aber zugegeben werden, daß die posi- 
tiven Resultate dieser modernen Forschungen 
doch verhältnismäßig dürftig sind. Sie haben 
meines Erachtens wesentlich Neues, soweit es sich um ge- 
sicherte Ergebnisse handelt, nicht erbracht. Nur die Bestäti- 
gung bekannter Dinge ist erfolgt, was übrigens als Verdienst 
auch nicht unterschätzt werden soll. 

Hierher gehört z. B. die Tatsache, daß Kinder sug- • 
gestibler sind als ^Erwachsene, eine Tatsache, die aber 
bereits vor zwanzig Jahren von der Nanziger Suggestionsschule 
begründet wurde. Man braucht nur die Untersuchung der 
Nanziget Schule über die Suggestion ä veille zu lesen, nur 
einige alte Jahrgänge der Revue de l'Hypnotisme nachzusehen, 
um hierfür eine Bestätigung zu finden. Hier haben die mo- 
dernen Aus sageforschungen nichts neues gefunden, wenn 
sie auch durch Ignorierung der alten Literatur 
diesen Schein erwecken. Ich bin eher geneigt, anzu- 
nehmen, daß die modernen Forschungen über die Aussage- 
psychologie die richtige Wertung der Kinderaussagen außer- 
ordentlich geschädigt haben. Mit Recht hat Gottschalk 
hervorgehoben, daß die Verallgemeinerung dieser Forscher, 
betreffend die Unglaubwürdigkeit der Kinder, unberechtigt 
ist, daß vielmehr gerade bei den Kinderaussagen von ihnen 
nicht scharf unterschieden würde, ob die Kinder beeinflußt 
sind und bereits Unterhaltungen mit andern über die in Frage 
kommenden Vorgänge gehabt haben oder ob sie ohne solche 
Hinflösse die Beobachtungen' mitteilen. Gerade die Aussage- 
forscher sollten dies auf das schärfste trennen. Auf diesem 
von ihnen begangenen Kardinalfehler beruht es wohl auch, daß 
sie teilweise mit den gründlichen Erfahrungen von HansGroß 
in Widerspruch stehen. Hans Groß«) drückt sich über die 
Kmder als Zeugen so aus, daß sie in gewisser Beziehung die 
besten Zeugen sind, weil Leidenschaften und Sonderinteressen 
auf sie noch nicht so einwirken, wie auf Erwachsene. Er ist 
weiter der Ansicht, „daß der der ersten Kindheit entwachsene 
Knabe, wofern er gut geartet ist, überhaupt der beste Beob- 
achter und Zeuge ist, den es gibt, der mit Interesse alles ver- 



>) Beitrage mr Psychologie der Aussage, Leipzig 1906, S. 561. Kriminal- 
psycbologte, 2. Auflage, Leipzig 1905, S. 477 f. 



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426 



Alhrrt Mall. 



folgt, was um ihn herum vorgeht, unbefangen kombiniert und 
treu wiedergibt, während das gleichaltrige Mädchen oft eine 
unverläßliche, mitunter gefährliche Zeugin abgibt. Dies ist 
immer dann der Fall, wenn das Mädchen auf der Stufenleiter 
von Begabung, Schwung, Träumerei, Romantik und Schwär- 
merei auf dem Punkt einer Art von Weltschmerz, verbunden 
mit Langeweile angelangt ist." Dies komme schon frühzeitig, 
• früher als man gewöhnlich annimmt, vor, und wenn dann das 
Mädchen auch noch mehr oder minder mit ihrer eigenen Per- 
son in den Kreis der fraglichen Ereignisse einbezogen ist, 
dann seien wir vor argen Uebertreibungen niemals sicher. Man 
sieht, daß dies etwas weit spezielleres ist, als was Stern in 
einer seiner Thesen sagt: Kindern wird im allgemeinen, noch 
viel zu viel geglaubt, und: was L i p m a n n fördert, wenn er meint, 
daß auf alleinige Bekundung von Kindern eine Verurteilung 
nicht stattfinden dürfe. Ich erkenne die Bedeutung dieser 
Thesen durchaus an. Aber trotz ihrer Begründung wirkt eine 
so allgemein ausgesprochene These sehr leicht ganz anders, 
als der Autor es beabsichtigt hat, und sie kann eher ungünstige 
Folgen herbeiführen, als die vorsichtige Behauptung, die aus 
den Erfahrungen des praktischen Kriminalpsychologen herge- 
leitet ist. Kinder sind oft sehr gefährliche Zeugen, meistens 
aber nicht deshalb, weil sie schlechter beobachten, oder ein 
schlechteres Gedächtnis haben, sondern weil sie sehr oft Ein- 
flüssen ausgesetzt sind, die gerade bei ihnen die Aussagetreue 
schädigen, insbesondere der Suggestion. Man soll, wenn man 
die Behauptung von der Unzuverlässigkeit der Kinderaussage 
aufstellt, nicht übersehen, daß ganz bestimmte Umstände daran 
schuld sind, die meiner Ansicht nach in den Thesen unsrer 
Experimentalpsychologen zum Ausdruck kommen müßten und 
nicht nur in der Begründung. 

Es sei mir gestattet, an dieser Stelle über einen Prozeß zu 
berichten, dem ich im letzten Sommer als Sachverständiger 
beiwohnte. Er spielte in einer kleinen ostpreußischen Stadt; 
es handelte sich um unzüchtige Handlungen an Kindern unter 
vierzehn Jahren. Der Angeklagte war ein Dorfschullehrer der 
dortigen Gegend, der offenbar sehr viele Neider hatte, da er 
sich und seinen Kindern weit über das Niveau eines Dorfschul- 
lehrers hinaus eine Position errungen hatte. Anscheinend spielte 
dieser Umstand eine wesentliche Rolle, indem alles, was gegen 



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Forens. Bcdeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 427 



ihn gesagt wurde, sofort von seinen Neidern für wahr gehalten 
und verbreitet wurden. Es traten schließlich zehn Mädchen als 
Belastungszeuginnen auf. Ich wurde als Sachverständiger über 
die Bedeutung der Aussage dieser Kinder vernommen. Es 
stellten sich die Aussagen als derartig unglaubwürdig heraus, 
daß Freisprechung erfolgte. Gerade die Suggestion spielte 
hierbei eine große Rolle. Der Prozeß gab übrigens auch eine 
ganz hübsche Beleuchtung von der Unschuld vom Lande. Wer 
etwa glaubt, daß unsre Kinder in der Stadt mehr oder früher 
Schweinereien treiben, als die Kinder jener Gegend, wäre im 
Irrtum. 

Was nun den eigentlichen Prozeß betrifft, so konnte man 
bei jeder Belastungszeugin, die gegen den Lehrer ins Feld 
geführt wurde, so viel äußere Einflüsse oder sonstige Beweise 
von Unglaubwürdigkeit nachweisen, daß eben ein Beweis 
schließlich nicht als erbracht angesehen werden konnte. Zu- 
nächst war es äußerst charakteristisch, daß der Lehrer, der 
sechzig Kinder unterrichtete, darunter vierzig Mädchen und 
zwanzig Knaben, nur von Mädchen belastet wurde, obwohl die 
unzüchtigen Handlungen, die er angeblich zum großen Teil 
im Schulzimmer vorgenommen hatte, ebensogut von den Kna- 
ben wie von den Madchen hätten gesehen werden müssen. 
Es ist dieser Umstand eine glänzende Illustration zu der Groß- 
schen Kennzeichnung des Zeugenmaterials der zweiten Kind- 
heit, d. h. etwa des Alters von acht bis vierzehn Jahren. Groß 
macht hier, wie ich oben erwähnte, einen typischen Unterschied 
zwischen Knaben und Mädchen und zwar zu Ungunsten der 
Mädchen. Im einzelnen konnte nachgewiesen werden, daß 
die Kinder so viel über die Dinge gesprochen hatten, und daß 
es ein ganz bestimmtes Mädchen war, auf das alles zurück- 
geführt werden konnte. Dieses war aber wiederum durch einen 
Lehrer und durch andre Kinder als verlogen gekennzeichnet. 
Ebenso zeigte sich auch sonst der Verdacht auf sittliche Minder- 
wertigkeit dieses Mädchens begründet. 

Sehr charakteristisch war die Aussage eines Mädchens, das 
einen vortrefflichen Eindruck machte und das den Lehrer auf 
das- schwerste belastete. Als bereits das Ermittlungsverfahren 
eingeleitet war und der Richter in das Dorf hinauskam, um 
die Kinder m vernehmen, hatte dieses Kind noch der Mutter 
zu Hause gesagt, ihr hätte der Lehrer nie etwas getan. Als 



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428 Albert Moll 

sie dann zur Vernehmung ging, drohte ihr ein Mädchen, wenn 
sie dem Richter nicht sage, daß der Lehrer mit ihr unzüchtige 
Handlungen vorgenommen hätte, würde sie, d. h. die Drohende, 
es ihm sagen. Und dieses drohende Mädchen war ein bos- 
haftes und dabei offenbar auf die Kinder sehr eindrucksvolles 
Kind. Bekanntlich finden wir das sehr häufig, daß ein solches 
Kind einen suggestiven Einfluß auf die andern ausübt. In 
diesem Falle konnte die Vornahme der unzüchtigen Hand- 
lungen sozusagen objektiv widerlegt werden. Das Mädchen 
an dem sie angeblich vorgenommen waren, war stets eine halbe 
Stunde vor Beginn des Unterrichts in der Schule, weil die 
Eltern sehr zeitig das Haus verließen, und zu dieser Zeit waren 
die Handlungen angeblich vorgenommen worden. Es konnte 
aber nachgewiesen werden, daß gerade dieses Mädchen kaum 
je allein im Schulzimmer war und daß in der Zeit, wo die 
angeblichen unzüchtigen Handlungen mit ihr vorgenommen 
sein sollten, der Lehrer überhaupt noch nicht im Schulzimmer 
war, weil er infolge einer früheren Influenza länger zu Bett lag. 

Festgestellt konnte auch werden, daß sehr starke suggestive 
Einflüsse von andrer Seite auf die Kinder eingewirkt hatten. 
Der Ortsschulinspektor und Pfarrer vernahm die Mädchen, be- 
vor die Angelegenheit dem Gericht unterbreitet wurde, und 
er gab in der Hauptverhandlung zu, daß er bei dem einen 
Mädchen die Vernehmung damit begann, daß er ihr sagte, 
sie solle nur alles sagen, er wisse schon alles. Auch der Er- 
mittelungsrichter hatte, wie sich herausstellte, wenigstens bei 
der Vernehmung einiger Zeugen, bereits die Ueberzeugung von 
der Schuld und er bestreitet nicht, daß er z. B. einer Frau ge- 
sagt hat, die den Lehrer entlastete, er sei es doch gewesen. 
Zwei andere Mädchen waren wieder durch den Amtsvorsteher 
vernommen und auch dieser, der übrigens dem Angeklagten 
sehr wohl wollte, gab zu, daß er den Mädchen gegenüber 
eine Aeußerung getan hatte, die man nur als unabsichtliche 
Suggestion betrachten kann. 

In welcher Weise die Kinder Erschlossenes und Gesehenes 
vermischten, konnte durch den Augenschein deutlich nach- 
gewiesen werden. Wir begaben uns am zweiten Verhandlungs- 
tag in das Schulzimmer. Hier mußten die Belastungszeuginnerl 
die Plätze einnehmen, die sie auch während des Unterrichts 
emgenommen hatten. Es war nun dem Lehrer nachgesagt 



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Forens. Btdeut. d. mod. Fonchungm üb. d. Ausiagepsychologie. 429 

worden, daß er, wenn er Mädchen vorn an den Katheder heran- 
treten ließ, sie unter dem Rock angefaßt hätte. Mehrere Mäd- 
chen haben in der Voruntersuchung behauptet, daß sie dies 
häufig gesehen hätten. Die Augenscheineinnahme ergab, daß 
dies die Kinder garnicht sehen konnten. Sie konnten nicht 
einmal den Arm des Lehrers sehen, sondern höchstens teil- 
weise noch die Schulter. Wenn nun weiter berücksichtigt wird, 
daß die Mädchen, und zwar wiederum auf Veranlassung von 
einer oder zwei andern, stets, wenn ein Mädchen vorgerufen 
wurde, schon erwarteten, daß der Lehrer unter die Röcke 
greifen würde, so wird man einsehen, wie leicht eine harm- 
lose Bewegung mit der Schulter oder eine seitliche Bewegung 
des Lehrers die Kinder zu diesem Glauben veranlassen konnte. 
Der Ermitteiungsrichter selbst sagte aus: Irgendetwas machte 
K., das dachten sich die Mädchen, besonders, wenn er jemand 
an den Katheder bestellte oder sich hinten zu ihr setzte. Man 
wird begreifen, wie weit aus solcher Erwartung dann eine 
Urteilstäuschung oder auch eine Autosuggestion entstehen kann. 

Aehnlich lag es in einem andern Fall. Die K., von der 
die ganze Sache ausging, hatte im Ermittelungsverfahren aus- 
gesagt, sie habe gesehen, daß der Angeklagte einem andern 
Mädchen im Stall unter die Röcke gegriffen hätte. In der 
Haiuptverhandlung erklärte sie, als sie darüber gefragt wurde, 
das habe sie nicht gesehen, sie habe nur gesehen, daß der 
Angeklagte bei ihrem Eintritt in den Stall zur Seite trat, und 
daß die N., d. h. das andere Mädchen, dabei blaß wurde. 

Außerordentlich charakteristisch war auch, wie, je mehr 
die Kinder sich untereinander unterhielten, und je mehr sie 
vernommen wurden, die Zahl der unzüchtigen Handlungen 
zunahm. Das eine Kind hatte z. B. angegeben, sie hätte einmal 
gesehen, wie der Lehrer dem andern Kind unter den Rock 
gegriffen hätte. Als nun dieses andere Kind sagte, der Lehrer 
hätte ihr zehnmal unter den Rock gefaßt, erklärte auch die 
beobachtende Zeugin, zehnmal hätte sie es gesehen. Dann 
konnte man aber auch weiter erkennen, wie einige der Be- 
zichtigungen wieder zurückgezogen wurden, wenn man den 
Kindern ihre Widersprüche nachwies. 

In einem anderen Falle lag es folgendermaßen : Ein 
Mädchen N. hatte erklärt, daß der Angeklagte sie im Stalle 
unsittlich berührt hätte. Sie hatte aber nichts davon gesagt, 



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430 



Albert Moll. 



daß es auch in der Schule geschehen sei. In der Hauptver- 
handlung erklärte aber ein anderes Mädchen, B., sie hätte 
gesehen, wie der Angeklagte der N. in der Bank unter die 
Röcke gefaßt hätte, und jetzt sagte die N. in der Haupt- 
vcrhandlung, der Lehrer hätte in der Tat auch in der Bank 
den Versuch gemacht, sie unsittlich zu berühren. Das Mädchen 
B. wurde übrigens selbst vom Gericht schließlich für schwach- 
sinnig erklärt; es ist aber äußerst charakteristisch, welchen 
Einfluß auch dieses Mädchen au£ die ganze Verhandlung ge- 
winnen konnte. 

Ich habe im vorhergehenden die Kinderaussage be- 
sprochen, und die geringe Förderung hervorgehoben, die die 
experimentellen Aussageforschungen auf diesem Gebiete 
gebracht haben. Die Aussageforschung hat nun weiter ein 
großes Gewicht auf die Frage gelegt, welche Verschiedenheiten 
in einer Aussage auftreten, wenn man sie als einen spon- 
tanen Bericht stattfinden, und wenn man sie als V e r h ö r s - 
produkt Zustandekommen läßt. Nun ist, wie schon aus dem 
oben erwähnten Paragraphen der Strafprozeßordnung hervor- 
geht, wonach der Zeuge möglichst im Zusammenhang erzählen 
soll, der Gedanke nicht neu, daß der spontane Bericht weit zu- 
verlässiger ist. 1 ) Immerhin muß zugegeben werden, daß durch 
die Art, wie die Aufmerksamkeit auf den Unterschied des 
spontanen Berichts und des Verhörprotokolls gelenkt wurde, 
eine Bestätigung der früheren praktischen Erfahrungen ge- 
liefert worden. So hat sich Stern in einer Versuchsreihe 
bemüht, den Unterschied zwischen der Zuverlässigkeit zu 
berechnen. 

Es ergibt sich, daß der positive Inhalt der Aussagen zum 
vierten Teil falsch war. Wenn man dann untersuchte, welchen 
Anteil jede der beiden Aussagehälften (Bericht und Verhör) 
in den Fehlern hatte, so ergab sich, daß der spontane Bericht 
nur 6 o/o falsche positive Angaben lieferte, das Verhör hin- 
gegen 330/0. 

Haben wir in diesen und in manchen anderen Ergebnissen 
nur die Bestätigung bekannter Wahrheiten gefunden, so ist 
nach anderer Richtung das Ergebnis der Aussageforschung 



•) Ueber die Gefahren mancher Verhöre habe ich in meinem Aufsatx „Arzt 
und Richter", -der am 12. Januar 1901 in der Zukunft erschienen ist, gesprochen- 



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Forens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 431 

überhaupt noch äußerst widerspruchsvoll. Ich erwähne z. B. 
die Untersuchungen über die Aussagetreue beiden ver- 
schiedenen Geschlechtern. Wreschner hat, im Gegen- 
satz zu Stern, der das männliche Geschlecht bei weitem höher 
stellte, sich zugunsten des weiblichen geäußert, und die Unter- 
suchungsergebnisse von Marie Borst ergeben zum Teil 
einen Panegyricus auf das weibliche Geschlecht. 

Während Stern den Satz aufstellte, die Frauen vergessen 
weniger, aber sie verfälschen mehr, und auch später aufrecht 
erhielt, kommt Marie Borst, wie schon erwähnt, zu einem 
ganz anderen Ergebnis. Ihre Versuche, die an zwölf Herren 
und zwölf Damen, sämtlich aus den gebildeten Kreisen, gemacht 
wurden und auch Bildversuche darstellen, ergeben eine kon- 
stante Superiorität der Frauenaussagen gegenüber den Männer- 
aussagen. Es ist die Inferiorität der Männer geringer, sowohl 
in Beziehung auf die Qualität der Aussage, als in Beziehunjg 
auf die Quantität; der Aussageumfang der Männer betrug 
durchschnittlich für den Bericht nur 76 o/ 0 der Frauenaussage, 
für das Verhör 83 o/ 0 . Ferner war die Treue der Männer- 
aussage gleich 96 0/0 der Treue der Frauenaussage. 

Es ist von verschiedenen Forschern unterschieden worden, 
was bei den Aussagen subjektiv so feststeht, daß es eventuell 
mit dem Eide bekräftigt werden würde, von dem sonstigen 
Inhalt der Aussage, der zwar für wahr gehalten wird, aber 
nicht in so hohem Maße, daß er beeidet werden würde. Auch 
hier zeigen sich erhebliche Differenzen der Forscher. Stern 
fand, daß die Männer weniger geneigt sind, ihre Aussage 
zu beschwören, als die Frauen. Marie Borst hingegen fand, 
daß die Männer eine größere Tendenz zum Schwören hätten, 
als die Frauen, und neben dieser größeren Tendenz zum Schwur 
weist die Männeraussage bei den Versuchen von Marie 
Borst eine geringere Zuverlässigkeit des Schwurs auf. Die 
weiteren detaillierten Untersuchungen von Marie Borst 
zeigen dann, daß Aussagen über bestimmte Dinge, über räum- 
liche Beziehungen, Handlungen und Merkmale, außer Farben, 
vorzugsweise von Männern beschworen wurden, von Frauen 
hingegen hauptsächlich Farben, Zahlen und Objekte. 

Sehr abfällig hat sich über die die Aussagepsychologie 
betreffenden Experimente Specht ausgesprochen. Er hat 
u. a. die Voreiligkeit getadelt, mit der bedeutungsvolle Schlüsse 



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1 



432 Albert Moll 

aus ganz ungenügenden Versuchen gezogen wurden. Ich muß 
Specht zum großen Teil darin beistimmen; deutlich zeigt 
sich die Mangelhaftigkeit der Versuchsergebnisse in den erheb- 
lichen Widersprüchen, die sich in Beziehung auf die Zuver- 
lässigkeit des einen oder anderen Geschlechts vorfinden. 

Verhältnismäßig wenig positives Material haben die Aus- 
sageforschungen auch für die Frage geliefert, welchen Anteil 
die Aufmerksamkeit an der Zuverlässigkeit der Aussage 
hat. Man ist sich 1 längst darüber einig gewesen, daß ein 
Gegenstand oder ein Vorgang, wenn sie mit Aufmerksamkeit 
betrachtet wurden, zuverlässiger reproduziert werden konnten, 
als ein solcher, bei dem dies nicht der Fall war. Die Wichtig- 
keit dieser Frage ist auch den Experimentalpsychologen nicht 
entgangen; sie ist aber verhältnismäßig wenig als spezielles 
Problem untersucht worden ; nur gelegentlich ist es geschehen. 
Neues ist dabei nicht festgestellt worden. 

Eine besondere Gruppe von Versuchen bezieht sich ferner 
auf den Einfluß eines längeren Zwischenraumes zwischen dem 
Vorgang und der Aussage, beziehungsweise über den Einfluß, 
den eine frühere Aussage auf die spätere gewinnt. Hier sind 
ebenfalls bestimmte Gesetze, die uns etwa vorher unbekannt 
gewesen wären, nicht gefunden worden. Daß die Länge des 
Zeitraums eine Rolle spielt, ist durch Experimente mehrfach 
bestätigt worden, und ebenso spricht bei den Experimenten 
manches dafür, daß bei einer zweiten Vernehmung des Zeugen 
sehr leicht das, was er wirklich wahrgenommen hat, er mit 
dem verwechselt, was er bei der ersten Aussage als wahr ge- 
schildert hat. Man hat hierbei ebenfalls früher bekanntes 
bestätigt. 

Eine äußerst wichtige Frage ist die, welchen Einfluß 
Affekt e und Gefühle auf die Aussage haben. In einer Arbeit 
über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke hnt 
Kate Gordon 1 ) die Beziehungen der Lustbetonung und 
Unlustbetonung von Vorgängen auf das Gedächtnis untersucht. 
Die Arbeit zielt weniger auf eine praktische Verwertung für die 
Aussagepsychologie hin, als auf eine Theorie des Gedächtnisses 
und der Gefühle. Immerhin ist diese Arbeit auch für die Aus- 
sagepsychologie verwertet worden, ebenso wie einige ver- 

') Archiv ftir die geaunte Psychologie, 4. Bd., 4. Heft, Leipäg 1905. 



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Forctu. Bedeut. d. tnod. Fonchungcn üb. d. &ua»agepsyckologie. 433 



wandte Arbeiten. Die Verfasserin kam bei ihren Versuchen, 
wo verschiedene Bilder, angenehme, indifferente und miß- 
fällige in den Versuchen eine Zeitlang gezeigt wurden, zu 
dem Resultat, daß bei Beschreibung der mißfälligen Bilder 
wesentlich weniger Fehler gemacht wurden, als bei den ge- 
fälligen. Ich glaube nicht, daß wir imstande sind, diese Be- 
obachtungen irgendwie für eine Aussagepsychologie zu ver- 
werten. Die Versuche stehen auch im Widerspruch mit manchen 
anderen Ergebnissen. Hat Hans Groß recht, wenn er er- 
wähnt, daß die affektive Betonung die Reproduktion des von 
ihr begleiteten Ergebnisses, über welches ausgesagt werden 
soll, wesentlich befördert? Alfred Groß wendete dem- 
gegenüber ein, daß gerade für die Aussage die Art des Affektes 
wohl eine Rolle spielt, und daß eine angenehme affektive 
Betonung der Begleiterscheinimg auf die Reproduktion einen 
Einfluß in optimistischer, der unangenehme Affekt in pessi- 
mistischer Beziehung ausüben werden. „Hat also jemand über 
ein Geschehenes, z. B. über ein Wortgefecht auszusagen, welches 
bei einem frohen Anlasse, etwa einem Feste erfolgte, so wird 
wohl auch die Aussage selbst, infolge der angenehm betonten 
assoziativen Hilfe eine mehr günstige optimistische Färbung 
annehmen, während im entgegengesetzten Falle, wo sich das 
Ereignis bei einem traurigen Anlasse abspielte, die Aussage 
hierüber ganfc gegen den Willen des Aussagenden in ungün- 
stigerem pessimistischen Lichte erscheinen wird." Alfred 
Groß meint, daß Fälschungen der Aussage durch das affektive 
Lust- oder Unlustgefühl sehr leicht erfolgen, das den zu repro- 
duzierenden Eindruck begleitet hat. 

Sicherlich spielt der Affekt für die Aussagepsychologie eine 
große Rolle, und zwar sowohl der Affekt, der bei der Aussage 
selbst stattfindet, als auch der, der bei der Wahrnehmung 
des Aussagenden geherrscht hat. Auf das deutlichste zeigt sich 
dies in jener affektiven Stimmung, die wir als Erwartungs- 
affekt bezeichnen können. Man ist unwillkürlich geneigt, 
das zu sehen, was man erwartet, besonders, wenn man sich 
lebhaft danach sehnt. Wir lernen diese Fehlerquelle sehr gut 
in dem Studium des Okkultismus kennen. Es gibt Personen, 
die unter allen Umständen den Nachweis führen wollen, daß 
die Lebenden mit den Toten in Verbindung treten können, oder 
Geister ihrer verstorbenen Angehörigen ihnen erscheinen und 

Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 2 



434 



Albert Moll. 



sich ihnen auf diese oder jene Weise kund tun. Solche Personen 
werden darum alles, was sich begibt, nach dieser Richtung hin 
deuten. Ein kleines Beispiel. Es hat eine Dunkelsirrung statt- 
gefunden, und es zeigt sich nun, daß ein Objekt im Zimmer 
von einer Stelle an die andere befördert wurde, obwohl das 
Medium gefesselt worden war, mithin dies künstlich anscheinend 
nicht bewirken konnte. Hierbei passiert es nun sehr häufig, 
daß ein Anwesender von dem Gegenstand behauptet, daß 
er zu einer bestimmten Zeit noch an der Stelle a gewesen sei, 
während er in Wirklichkeit zu diesem Termin bereits an der 
Stelle b war. 

Dasselbe gilt für die Klopftöne. Wenn man um den Tisch 
herumsitzt, und es treten nun Klopftöne auf, die im allgemeinen 
künstlich von dem Medium hervorgebracht werden, so kann 
man dabei über die Richtung und Art der Klopftöne ganz 
verschiedene Ansichten hören, je nach der Stimmung und 
Stellung des Betreffenden zum Spiritismus. Der Skeptiker 
projiziert die Klopftöne ganz richtig in die Gegend des 
Mediums; andere, die unter allen Umständen Geistermani- 
festationen haben wollen, erklären, daß die Klopftöne nicht 
von der Richtung des Mediums herkämen, sondern aus dem 
Tische selbst oder aus einer Ecke des Zimmers. 

Auch bei der Materialisation der Geister spielt die Er- 
wartung eine erhebliche Rolle. Wenn ein sogenannter Geist 
sichtbar wird, der gewöhnlich aus einem Gazeläppchen oder 
in ähnlicher Weise vom Medium künstlich gemacht ist, so 
wird der ruhige Beobachter keine Einzelheiten erkennen. Man 
kann aber beobachten, wie die Spiritisten in eine solche Er- 
scheinung alles mögliche hineinlegen. Da erkennen sie eine 
frappante Aehnlichkeit mit einem verstorbenen Angehörigen 
oder auch einer verstorbenen historischen Persönlichkeit, die 
sich manifestiert. Jeder glaubt dann die Person, die er zu 
sehen wünscht, zu erkennen. 

Ich habe bisher die Aussagepsychologie soweit berück- 
sichtigt, wie sie in der Breite der Gesundheit eine Rolle spielt. 
Wir wissen aber längst, und die Mediziner haben seit langem 
darauf hingewiesen, daß es krankhafte Zustände gibt, 
wo die Zeugnisfähigkeit erheblich leidet. Ich will hier nicht 
diejenigen Fälle erwähnen, die eine ausgesprochene Geistes- 
krankheit, etwa eine progressive Paralyse oder Paranoia be- 



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Forens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Aussagepsychologie. 435 

treffen. Dies dürfte natürlich für uns kein wesentliches Interesse 
bieten. Aber, auch abgesehen von diesen typischen, allgemein 
anerkannten und erkennbaren Geisteskrankheiten, gibt es 
Krankheitszustände, durch die die Aussagetreue leidet. Hierher 
gehören manche Formen der Hysterie. Binswanger, 
wie andere, rechnen besonders die degenerativen Formen der 
Hysterie hierher. Wir dürfen jedenfalls nicht so ver- 
allgemeinern, daß wir nun jede Hysterische ohne weiteres für 
absolut unglaubwürdig halten. Wenn wir aber eine Hysterie- 
form vor uns haben, bei der erfahrungsgemäß die Phantasie eine 
überaus große Rolle spielt, desgleichen die Autosuggestibilität. 
so werden wir berechtigt sein, in die Angaben einer solchen 
Hysterischen die größten Zweifel zu setzen. In neuerer Zeit 
bat hier in Berlin ein Prozeß gespielt, bei dem die Hysterie 
einer Frau besonders diskutiert wurde. Mit großer Lebhaftig- 
keit hat der Staatsanwalt das Wort „Quaevis hysterica mendax" 
in die Verhandlung hineingeworfen. Von jeher haben die 
Hysterischen als unglaubwürdig gegolten. Wir dürfen dies aber 
nicht überschätzen. Die Annahme von der Unglaubwürdigkeit 
der hysterischen Frauen hat zum Teil einen besonderen Grund. 
Jemehr die anatomische Richtung in der Medizin aufblühte, 
umso weniger waren die Aerzte geneigt, Affektionen eine ernste 
Bedeutung beizumessen, die nicht eine solche anatomische 
Grundlage erkennen ließen. Da nun noch dazu derartige 
Patientinnen sehr oft für die Ehemänner, für die Umgebung 
und für die Aerzte eine crux bildeten, und zwar zum größten 
Teil wegen des vielfach wechselnden Charakters ihrer Be- 
schwerden und der schweren Heilbarkeit derselben, so er- 
kannte man einen gewissen Gegensatz zwischen dem, was die 
pathologisch-anatomische Richtung der Medizin als die reale 
Grundlage der Krankheitssymptome den Aerzten allmählich 
eingepflanzt hatte, und den durch eine solche Grundlage nicht 
begründeten Beschwerden. Dadurch kam es sehr häufig, daß 
den hysterischen Patientinnen vorgeworfen wurde, sie litten 
an Einbildungen, sie nähmen sich nur nicht zusammen, sie 
übertrieben, oder auch sie erdichteten ihre Beschwerden voll- 
ständig. Das letztere wurde umso eher dann verallgemeinert, 
als sich eben gezeigt hatte, daß ein Teil der hysterischen 
Patientinnen absichtliche oder unabsichtliche Unwahrheiten 
öfters zu Tage förderten. In mancher Beziehung hat die neuere 

2' 



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436 



Albert Moll. 



Medizin, die die psychologischen und auch die funktionellen 
Gesichtspunkte bei den Krankheiten mehr in den Vordergrund 
schob, aufklärend gewirkt. Es ist aber das alte Odium von den 
Hysterischen nicht gewichen. Sie gelten nach wie vor als 
verlogen und unglaubwürdig. Es gehört aber in Wahrheit nur 
eine bestimmte Gruppe von Hysterischen in diese Kate- 
gorie. Es soll nicht geleugnet werden, daß diese äußerst ge- 
fährlich sind. Es sind dies schwerere Formen der Hysterie, 
insbesondere die degenerativen, bei denen die Patientin Wahr- 
heit und Dichtung vermengt, die Wahrheit mit ihren Phantasie- 
bildern ausschmückt, und bald unabsichtlich die Unwahrheit 
sagt, bald durch die bei der degenerativen Hysterie so oft 
vorkommenden ethischen Defekte bewußt lügt. Diese Hyste- 
rischen sind als Zeuginnen äußerst gefährlich, zumal da sie 
alles, was sie sagen, mit dem Stempel der Wahrhaftigkeit vor- 
tragen. Es darf aber nicht — wie es jetzt noch gelegentlich 
geschieht, und auch in dem Harden-Prozeß geschehen ist — 
erklärt werden: Quaevis hysterica mendax. Ich habe in dem 
Prozeß, dem ich als Sachverständiger beiwohnte, der ver- 
allgemeinernden Auffassung des Staatsanwalts selbst bereits 
aufs entschiedenste widersprochen. 

Die Fälle, die man unter Pseudologia phantastica 
oder krankhaftes Lügen zusammengefaßt hat, gehören nicht 
in dasselbe Gebiet. Es handelt sich hierbei teilweise um 
schwachsinnige Personen, teils um hysterische, teils um dege- 
nerierte. Jedenfalls spielt bei diesen Fällen nicht ausschließ- 
lich die Hysterie, wie gelegentlich wohl angenommen wird, 
eine Rolle. / 

Ebenso sind äußerst gefährlich als Zeugen und Zeuginnen 
schwachsinnige Personen, und gerade jene Formen von 
Schwachsinn, die oft genug dem Richter als solche ent.- 
gehen. Ich erinnere mich aus einem Prozeß der Zeugin E-, 
mit welch ruhiger Miene sie den Angeklagten bald belastete, 
bald entlastete. Jede Partei glaubte, was sie glauben wollte; 
der Staatsanwalt glaubte, wenn sie belastete, und redete ihr 
eindringlich zu, die Wahrheit zu sagen, wenn sie entlastete, 
und umgekehrt. Als damals die Schwachsinndiagnose gestellt 
wurde, wurden auch Personen, die die Zeugin kannten, über 
sie vernommen ; dieser Punkt ist für die Juristen äußerst wichtig. 
Die Zeugen haben damals wenigstens teilweise — ich erinnere 



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mich noch eines Lehrers — als der Vorsitzende sie fragte, 
ob die E. schwachsinnig sei, ausgesagt: O nein, sie ist im 
Gegenteil ein äußerst raffiniertes Mädchen. Diese einseitige 
Raffiniertheit der Schwachsinnigen ist so oft daran schuld, 
daß der Schwachsinn übersehen wird, und was die Zeugnis- 
fähigkeit betrifft, so wird dann, wenn die Betreffenden nicht 
geradezu als Idioten jedem Laien auffallen, ihren Aussagen 
eine Bedeutung vor Gericht beigemessen, die dem wirklichen 
Sachverständigen nur ein Bedauern abnötigen kann. 

Uebrigens sind auch bereits Versuche gemacht worden, die 
Aussage normaler und kranker Personen miteinander zu ver- 
gleichen. Eine derartige Arbeit veröffentlichte Marx Lob- 
sien über Aussage und Wirklichkeit bei Imbecillen, verglichen 
mit normal begabten Schulkindergn. ,Es handelte sich dabei 
u. a. um Bildversuche, wo den Kindern einfache Gegenstände, 
oder auch ein etwas komplizierteres Bild gezeigt wurde, und an 
die Kinder dann die Fragen gerichtet wurden über das, was 
sie auf dem Bilde gesehen hatten. Marx Lobsien gibt als 
wesentliches Ergebnis an, daß die Aussagen Imbeciller denen 
Normaler gegenüber zuverlässiger sind, wo es auf mechanische 
Gedächtnisleistungen ankommt, daß sie aber überall zurück- 
stehen, wo ein freieres Spiel der Vorstellungen und ein be- 
stimmtes Maß absichtlicher Bemühung notwendig ist, Vor- 
stellungen so zu dirigieren (zu trennen, neu zu ordnen usw.), 
daß sie geeignet sind, vorhandene Lücken auszufüllen. Schon 
wenn ein Bild, wie das vorgezeigte, Knabe und Fischlein, be- 
trachtet wurde, wo es sich nicht lediglich um mechanische 
Abläufe handelte, wo vielmehr die Vorstellungsmassen so ein- 
geteilt werden mußten, daß sie ein möglichst weites Blick- 
feld ermöglichen und der Blickpunkt wandern mußte, da wich 
die Aussage der Imbecillen von der normal befähigter Schüler 
ganz erheblich und zwar zu Ungunsten ab. 

Noch manche andre Krankheitszustände wären wohl zu 
berücksichtigen, z. B. Kopfverletzungen, Fälle von allgemeiner 
Degeneration, die nicht gerade in das Gebiet der Geisteskrank- 
heit gehören. Auch verwandte Zustände spielen eine gewisse 
Rolle, z. B. die akuten Folgezustände des Alkoholgenusses. 
Es gibt nicht nur Verbrecher, die vor der Tat sich erst Mut 
antrinken, sondern auch Zeugen, die vor der Vernehmung 
etwas trinken. Systematische Untersuchungen über die Zu- 



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438 



Albert Moli 



verlässigkeit solcher Zeugenaussagen bestehen meines Wissens 
nicht. Interessant ist eine Einzelbeobachtung von HansGroß. 
Er erzählt 1 ) von einem Institutsdiener, der die Schlacht bei 
Königgrätz mitgemacht hatte und am 40 jährigen Gedenktage 
dieser Schlacht mehrere Stunden an der Tür des Prüfungs- 
saales warten mußte. Am Morgen des betreffenden Tages hatte 
er Hans Groß noch erzählt, als dieser ihn nach seinen Er- 
lebnissen in der Schlacht bei Königgrätz fragte: „Gott Lob 
und Dank, so arg es damals auch zugegangen ist, geschehen 
ist mir nicht das mindeste." Als Hans Groß ihn dann nach 
einigen Stunden wieder fragte, hatte X. bereits etwas getrunken, 
und es war ihm auf die erneute Frage über die Schlacht bei 
Königgrätz eine Kugel quer durch den Tornister gegangen und 
sie hatte ihn ein wenig gestreift. Nachdem er dann einige 
weitere Stunden gewartet hatte, fragte ihn Hans Groß von 
neuem, und drückte seine Freude aus, daß dem X. in der 
Schlacht damals nichts geschehen sei. Er erwiderte: „Nichts 
geschehen?" und hiermit zeigte er mitten auf die Brust: „Da 
hat der verdammte Preuß hingeschossen, und fast neben dem 
Rückgrat ist die Kugel hinausgeflogen usw." Hans Groß 
führt alles auf den Alkohol zurück und meint, daß der Mann, 
der nicht mehr viel vertrage, die Zeit, wo er vor der Tür 
des Prüfungssaales sitzen mußte, benutzte, immerfort die Er- 
innerungen der Schlacht von Königgrätz wachzurufen, wobei 
schließlich Wahrheit und Phantasie zusammenflössen, und er 
an seine eigenen falschen Bekundungen glaubte. Das wesent- 
lichste ist, daß nach Hans Groß die Benommenheit des alten 
Mannes sehr gering und kaum bemerkbar war. Bewußt ge- 
logen habe er aber bestimmt nicht, und, wenn er als Zeuge 
vernommen worden wäre, so hätte der Vernehmende an dem 
sonst so zuverlässigen Menschen die Spur von Rausch nicht 
entdeckt und ihm daher geglaubt. 

Ich habe im vorhergehenden natürlich nur eine Reihe 
Gesichtspunkte, die sich auf die Aussagepsychologie beziehen, 
besprechen können. Das Gebiet ist, wie wir ja wissen, bereits 
außerordentlich umfangreich. Aber soviel auch auf diesem 
Gebiet geforscht worden ist, es bleibt noch außerordentlich 
viel zu tun. Wir dürfen bei den experimentellen Untersuchungen 



*) Archiv ffir Kriminalanthropologie, 29. Band, 1, lieft, 1907. 



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Foren*. Bcdtui. d. tnod. Forschungen üb. ä. Aussagepsychologie. 430 



nicht versäumen, auch die früheren Methoden zu 
befolgen, die in der Beobachtung und Erfahrung 
bestehen. Man ist gegenwärtig allzusehr geneigt, sowohl 
in der Medizin wie auch in der Psychologie, das Experiment 
als das alleinseligmachende Forschungsmittel anzusehen. Wir 
wollen demgegenüber nicht verkennen, daß für die Aussage- 
forschung, besonders aber für die praktische Ausnutzung der- 
selben, die Bedeutung des Experiments nicht überschätzt werden 
darf. Die Experimente werden stets unter mehr oder weniger 
künstlichen Bedingungen vorgenommen, Bedingungen, die von 
den Bedürfnissen der Praxis weit entfernt sind. Wir sollten 
vielmehr danach streben, auch die Erfahrungen, die nicht auf 
experimenteller Basis beruhen und für die uns die forensische 
Praxis großes Material liefert, für die Aussageforschung zu 
benutzen. Wenn wir beispielsweise stenographische Berichte 
von Gerichtsverhandlungen erhalten und nun nachprüfen, 
welche Zeugenaussagen miteinander in Widerspruch stehen, 
oder welche Zeugenaussagen durch die Verhältnisse als unmög- 
lich nachweisbar sind, so würden wir für die praktischen Be- 
dürfnisse ein außerordentlich großes Material gewinnen, ein 
Material, das für die forensischen Zwecke einen ganz andern 
Wert hätte, als die künstlichen Experimente der Experimental- 
psychologen. Eine gewisse Ueberschätzung der Resultate hat 
seitens der Experimental-Psychologen stattgefunden. Vorschnell 
verlangten sie, daß Schlußfolgerungen, die für die experi- 
mentelle Psychologie recht interessant sein mögen, Eingang in 
den Gerichtssaal finden. Wir wollen hier die altbewährte Skepsis 
nicht vergessen. Es ist in der Natur des Forschers begründet, 
daß er seinem Arbeitsgebiet sehr leicht eine übertriebene Be- 
deutung für die Allgemeinheit beimißt. Solche Uebertreibungen 
haben ja oft auch dann einen Wert, wenn sie objektiv unbe- 
rechtigt sind. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Gebiet, 
und wenn auch eine gewisse Ueberschätzung dabei zunächst 
auftritt, so wird doch meistens nach längerer Zeit dadurch, 
daß die Diskussion eröffnet ist, die Bedeutung des Gebietes 
wieder auf das richtige Niveau zurückgeführt. Ich stehe den 
praktischen Ergebnissen der experimentellen Aussageforschung 
einstweilen sehr skeptisch gegenüber. Wenn ich ein Buch, 
wie das von Hans Groß, sei es das Handbuch für Unter- 
suchungsrichter, sei es das Buch über Kriminalpsychologie, in 



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440 



Albert Moll 



die Hand nehme und die Summe praktischer Erfahrungen und 
darauf gegründeter guter Ratschläge mit dem vergleiche, was 
die Experimentaipsychologen für die gerichtliche Aussage bis- 
her geschaffen haben, so sind deren Resultate mehr als be- 
scheiden. 

Es ist bereits die Forderung gestellt worden, es sollen 
PsychologenalsSachverständige zugelassen werden, 
um die Zeugnisfähigkeit, die Treue der Aussage der Zeugen 
zu prüfen. Lipmann hat unter anderm in einem Vortrag 
im hiesigen Kriminalistischen Seminar die These aufgestellt, 
Zeugen, die Aussagen von entscheidender Wichtigkeit machen, 
seien, wenn letztere von den Aussagen anderer Zeugen in 
wesentlichen Punkten abweichen, von psychologisch geschulten 
Sachverständigen auf ihre Glaubwürdigkeit zu untersuchen. Es 
würde damit zwar eine besondere Art von Sachverständigen 
vor Gericht auftreten, es ist aber an sich schlechterdings nicht 
einzusehen, weshalb nicht auch Psychologen als Sachverständige 
auftreten sollen, da wir Dutzende von anderen Arten Sach- 
verständiger haben. In Wirklichkeit sind ja auch bereits Sach- 
verständige vor Gericht zur Beurteilung der Aussagetreue von 
Zeugen tätig gewesen. Im Fall Sternberg z. B. waren wir 
Sachverständigen ja ausschließlich geladen, um die Haupt- 
zeugin zu beurteilen. Im Prozeß Harden vor der Straf- 
kammer haben wir im Verlauf der Verhandlung ähnlich die 
Aufgabe der Sachverständigen sich erweitern sehen. Ich habe 
vorhin auch den Fall aus Ostpreußen erwähnt. In München 
waren seinerzeit Schrenck-Notzing und G r a s h e y ge 
laden, um bei dem Prozeß Berchthold die Fehlerquellen 
für das Gedächtnis aufzudecken und über den Geisteszustand 
einer Anzahl von Zeugen mit Rücksicht auf ihre Glaubwürdig- 
keit Gutachten abgegeben. Ein Novum wäre die Sache nicht. 
Trotzdem ist es notwendig, auf eine große Gefahr hierbei heute 
schon hinzuweisen. Sie besteht in der Ueberschätzung 
des Experiments für die gerichtliche Praxis. 
Die Methoden der experimentellen Psychologie 
müssen unter allen Umständen hochgehalten 
werden. Und wenn auch die experimentelle Psychologie nicht 
das gehalten hat, was man von ihr für die Psychologie ursprüng- 
lich erwartete, so wäre es gänzlich verkehrt, deshalb das Expe- 
riment zurückzuweisen oder auch nur zu unterschätzen. Aber 



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Forens. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Austagepsychologie. 441 



ctuas ganz anderes, als diese rein wissenschaftliche Verwertung 
des Experiments ist seine Hineintragung in den Gerichtssaal, 
und ebenso die Ueberschätzung des Experimcntalpsychologen 
zur Aufklärung psychologisch wichtiger, forensischer Fälle. Der 
tüchtigste Experimentalpsychologe kann ein gänzlich unbrauch- 
barer gerichtlicher Sachverständiger sein. Es besteht die 
Gefahr, daß er den Gerichtssaal mit seinem Arbeitszimmer ver- 
wechselt, wo man unter ganz anderen Bedingungen Experimente 
ausführt. Ein Zeuge, der auf seine Fähigkeit der Reproduktion 
im Gerichtssaale geprüft werden soll, wird ganz andere Re- 
sultate liefern, als ein solcher, der bei ruhiger Laboratoriums- 
arbeit untersucht worden ist. Beides ist eben wesentlich ver- 
schieden. Wir alle wissen, wie verschieden ein Milieu auf uns 
wirkt. Die wirklich praktische Situation ist eben meistens eine 
andere, als die theoretisch konstruierte. Und aus diesem Grunde 
halte ich die Zuziehung von Experimentalpsychologen für ein 
zweischneidiges Schwert. Mindestens sollte man niemals jene 
Fachpsychologen als Sachverständige zuziehen, die ausschließ- 
lich oder hauptsächlich unter künstlichen Bedingungen, wie sie 
das Experiment bietet, gearbeitet haben. Sie sind keine brauch- 
baren Sachverständigen. Man stelle sich etwa den Fall vor, 
ein Zeuge hat über einen von ihm beobachteten Vorgang etwas 
ausgesagt, was von einem andern Zeugen bestritten wird. Es 
hat z. B. an einer Straßenkreuzung ein Zusammenstoß einer 
Autodroschke mit der elektrischen Straßenbahn stattgefunden, 
und nun sagt der eine Zeuge aus, der Droschkenführer hätte 
zu Unrecht noch die Schienen kreuzen wollen und dadurch 
sei das Unglück geschehen, während der andere aussagt, es 
sei noch genügend Zeit gewesen, die Schienen zu kreuzen. Der 
Experimentpsychologe würde nun dazu geneigt sein, beide 
Zeugen einer Untersuchung zu unterziehen, um festzustellen, 
welcher von beiden im Laboratorium Entfernungen und Zeiten 
am besten schätzt, und derjenige, der hierzu am meisten be- 
fähigt ist, würde alsdann als der glaubwürdige Zeuge er- 
scheinen. Dies wäre die notwendige Folge, wenn heute Experi- 
mentalpsychologen als Sachverständige zugezogen würden. 
Demgegenüber muß, um auf den Vorgang des Zusammenstoßes 
zurückzukommen, berücksichtigt werden, daß zahlreiche andere 
Momente für den Zeugen eine Rolle spielen, die bei der expe- 
rimentellen Nachprüfung nicht konstruiert werden können; 



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442 



Albert Moll. 



2. B. die Frage, wie weit des Zeugen Aufmerksamkeit auf der 
Straße abgelenkt war, ob er sehr ermüdet war, ob er vorher 
etwas getrunken hatte usw. Vielleicht kommt auch in Betracht, 
ob er ein Freund der Autodroschken ist oder nicht. Diese so 
wichtigen Bedingungen können bei der Nachprüfung durch den 
Experimentalpsychologen, wenigsten heute, nicht beliebig ge- 
schaffen werden. Deshalb wird im allgemeinen die Prüfung 
durch den Experimentalpsychologen bedeutungslos sein. Es 
wird nur sehr wenige Fälle geben, wo man von der Experimental- 
psychologie eine Aufklärung des Tatbestandes erwarten könnte, 
und hier Wird man gerade ohne sie ebenfalls zum Ziele kommen. 

Mit Recht hat Adolf Gottschalk hervorgehoben, daß 
zwei Dinge sehr leicht miteinander konfundiert werden: die 
Zuziehung psychologisch geschulter Sachverständiger, und die 
psychologische Schulung des Juristen. Stern meint, daß vorläufig 
psychologische Sachverständige nötig wären, da die Juristen noch 
nicht die nötige psychologische Schulung besäßen, daß aber 
später, wenn dies der Fall sei, sie auf die psychologischen 
Sachverständigen würden verzichten können. Ich bin in dieser 
Beziehung etwas anderer Ansicht. Ich glaube nämlich, daß, je 
mehr ein Richter auf einem Gebiet bewandert ist, er umso 
eher einen Sachverständigen zuziehen und würdigen wird. Am 
ehesten setzen sich diejenigen Richter über psychiatrische Gut- 
achten hinweg, denen die psychiatrische Vorbildung fehlt, wenn 
auch nicht zu bestreiten ist, daß die früheren Uebertreibungen 
der Psychiatrie, die heute zum großen Teil verschwunden sind, 
einen Teil der Schuld trugen. Wenn aber heute ein Richter 
erklärt, ihn hätte das Gutachten nicht überzeugt, so beruht 
dies, ich will nicht sagen immer, aber doch meistens nicht darauf, 
daß das Gutachten falsch oder unklar ist, sondern darauf, daß 
dem Richter die notwendige psychiatrische Vorbereitung fehlt, 
den psychiatrischen Sachverständigen zu verstehen. Ein kleines 
Beispiel, wie es sicherlich jedem einigermaßen erfahrenen Sach- 
verständigen sehr häufig vorgekommen ist. Eines Tages wurde 
ich als Sachverständiger geladen, weil ein Mann ein Mädchen 
unzüchtig berührt haben sollte. Alles sprach dafür, daß der 
Betreffende in einem Dämmerzustande die Handlung ausgeführt 
hatte; Alkohol, Blutverlust, große Hitze und manches andere 
deuteten darauf hin. Wir gaben trotzdem kein endgültiges Gut- 
achten ab, sondern beantragten die Beobachtung in der Irren- 



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Formt. Bedeut. d. mod. Forschungen üb. d. Austagepsychologie. 443 



anstalt. Dies bekämpfte der Staatsanwalt, indem er entgegnete : 
„Sehen Sie sich doch mal den Mann hier an, ob er irgendwie 
auf Sie den Eindruck eines Geisteskranken macht." Das ist in 
der Tat ein Einwand, den man öfter hört und der nur erklärbar 
ist dadurch, daß dem Juristen die Vorbereitung und jede Mög- 
lichkeit, psychiatrisch zu denken, abgeht. Glücklicherweise sind 
ja derartige Entgleisungen heute nicht mehr sehr häufig. Es 
hat sich vielmehr dadurch, daß sich auch die Psychiater von 
früheren Uebertreibungen fernhalten, andererseits aber die 
Juristen mehr und mehr Fühlung mit der Psychiatrie gewonnen 
haben, ein, ich möchte sagen friedlicheres Verhältnis allmäh- 
lich herausgebildet, indem sich eben beide Fakultäten mehr 
verstehen lernten. 

Ebenso aber, wie der psychiatrische Sachverständige umso 
eher bei dem Richter Verständnis finden wird, der psychiatrisch 
geschult ist, ebenso würde der psychologische Sachverständige 
weit eher beim psychologisch geschulten Richter Berück- 
sichtigung finden, wenn er sie verdient. Andererseits würde 
ein Richter, der einen Psychologen heute als Sachverständigen 
zulassen würde, ihm jeden Einfluß auf das Urteil entziehen, 
wenn er selbst nicht durch eigene Vorbildung befähigt ist, die 
Bedeutung eines solchen Sachverständigen zu verstehen. Oder 
es besteht die Gefahr, daß er durch einige Schlagworte irre 
geführt wird und der experimentellen Methode eine unver- 
diente Bedeutung beimißt. Schon aus diesem Grunde mag es 
wünschenswert sein, daß auch der Richter die Methoden der 
Experimentalpsychologen kennen lernt, aber für noch 
wichtiger halte ich die Kenntnis der praktischen 
Psychologie. Mehrfach ist in neuerer Zeit das Wort von 
der Weltfremdheit der Richter gebraucht worden, eine Welt- 
fremdheit, die eben einen Mangel der praktischen Psychologie 
bedeutet. Jedenfalls verwechsle man nicht diese aus der Er- 
fahrung hervorgegangene praktische Psychologie mit der Ex- 
perimentalpsychologie. 

Was die Stellung des Sachverständigen betrifft, so würde 
in manchen Fällen dessen Einmischung für die Beurteilung 
eines Zeugen geradezu schädlich wirken. Man nehme etwa 
an, es sollte die Suggestionsfähigkeit eines Zeugen geprüft 
werden. Der Nanziger B e r n h e i m , der schon vor langer Zeit 
auf Vorsichtsmaßregeln hinwies, die den Richter vor der Ver- 



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444 



Albert Moll. 



wertung suggerierter Zeugenaussagen schützen sollten, schlug 
vor, man solle die Suggestibilität des Zeugen prüfen, und zwar 
dadurch, daß man ihm, natürlich ohne Hypnose, eine Antwort 
zu suggerieren sucht, deren Unrichtigkeit leicht nachgewiesen 
werden kann. Zeigt sich dabei, daß der Zeuge für solche 
Suggestion leicht empfänglich ist, so soll der Richter mit größter 
Vorsicht seine Angaben verwerten. Man wird begreifen, daß 
die Suggestibilität solcher Zeugen am unbefangensten vom 
Richter im Laufe der Vernehmung geprüft werden wird, nicht 
aber von irgendeinem sich in die Frage hineinmischenden Sach- 
verständigen, der gerade durch diese Hineinmischung sehr 
leicht ganz neue und unerwünschte Bedingungen schafft. Man 
vergesse nicht, daß es sich bei der Psychologie um Impon- 
derabilien handelt. 

Praktische Psychologie, Erfahrung und Menschenkenntnis 
wird in zahllosen Fällen dem Richter wichtiger sein, als das 
Laboratoriums-Experiment. Jene lassen viel eher eine Wertung 
der Zeugenaussagen zu, als das letztere. Aber auch die größte 
Erfahrung wird allein den Richter nicht befähigen, ein gutes 
Urteil über 'die Zeugenaussage zu fällen, wenn nicht die andern 
Bedingungen hierfür günstig sind. Hierher gehört z. B., daß 
er mit Ruhe und Geduld die Glaubwürdigkeit der einzelnen 
Zeugen prüft. Natürliche Anlage wird hierfür unentbehrlich 
sein. Aber manchmal können diese auch durch äußere Bedin- 
gungen unwirksam gemacht werden. Ueberlastung, %. B. geist- 
tötende Schreibereien, müssen schließlich ermüden und jede 
Individualität unterdrücken. Die beste Aussageforschung, mag 
sie experimenteil stattfinden oder nicht, wird nicht imstande 
sein, etwas gutes zu bringen, wenn nicht in dieser Hinsicht die 
Bedingungen geschaffen werden, die für die Ausnutzung in der 
Praxis notwendig sind. % 



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Zur Psychologie der nervösen Kinder. 



Von 

GEORG FLATAU. 

Vortrag, gehalten in der Psychologischen Gesellschaft (Berlin 1908). 

Wer sich mit der Psychologie des nervösen Kindes be- 
schäftigt und darüber weiteren Kreisen Mitteilung machen 
will, ist der Mühe überhoben, den Nachweis zu führen, daß 
es nervöse Kinder gibt; allerdings liegt die Zeit noch nicht 
lange hinter uns, in der man Aeußerungen der Kinder-Ner- 
vosität als Unart, Schlechtigkeiten auffaßte, von Lügenhaftig- 
keit, Verstocktheit, Bosheit sprach, während es sich in der 
Tat um krankhafte Veränderungen, um Funktionsstörungen 
handelt. Die Erkenntnis von dem Bestehen einer Kinder- 
Nervosität ist jetzt in so weite Kreise gedrungen, daß man 
auch bei einem nicht ärztlichen Publikum nicht erst damit 
anzufangen braucht, den Nachweis des Vorhandenseins der 
Nervosität zu führen. Man weiß nunmehr, daß es eine ange- 
borene Nervosität der Kinder und auch eine frühzeitig er- 
worbene gibt, so daß es nicht mehr als ein Vorrecht der Er- 
wachsenen gilt, Nervosität zu haben. 

Wir setzen also in Anfang unserer Besprechungen, es gibt 
nervöse Kinder, ebenso wie es nervöse Erwachsene gibt. Was 
ist aber die Besonderheit, die das nervöse Kind von dem nor- 
malen trennt und welchen Gesetzen gehorcht diese Abweichung 
vom normalen Zustande. Schließlich wird man fragen, wie 
rechtfertigt sich Hie gesonderte Besprechung der Psychologie 
des nervösen Kindes von der des nervösen Erwachsenen. 

Ich glaube, daß diese Frage im Verlauf unserer Unter- 
redungen sich von selbst beantworten wird und möchte vorher 
nur auf einige Schwierigkeiten hinweisen. Wir wissen, daß wir 



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Georg Fla tau. 



unter Nervosität eine allgemeine Funktionsstörung zu ver- 
stehen haben, gewisse Abweichungen in der Funktion des 
Nervensystems, aber um diese als Abweichung zu erkennen, 
müßte man erst einen Canon des normalen Erwachsenen auf- 
stellen. Hat nun dieses schon seine Schwierigkeiten, so ist 
diese noch erheblich größer, wenn es sich darum handelt, 
zu sagen: wann ist das Verhalten eines Kindes normal, und 
in welcher Beziehung sind Abweichungen als nervös an- 
zusehen. Wir werden dabei sehen, daß eine Reihe von 
psychischen Zuständen bei Kinder für nicht abnorm gilt, 
deren Bestehen beim Erwachsenen als Abweichung anzusehen 
wäre. Für die Betrachtung müssen wir die Grenze des Kindes- 
alters festsetzen, von dem ersten Lebenstage bis zur Geschlechts- 
reife, wobei ich nicht verkenne, daß die Schlußgrenze will- 
kürlich gesetzt ist, immerhin ist sie aber anders nicht praktisch 
brauchbar festzusetzen. 

Wenden wir uns nun einer kurzen Darstellung des Be- 
griffes „nervös" zu, so sehen wir uns einer neuen Schwierigkeit 
gegenüber. 

Wir kennen den Begriff wohl alle, und stellen uns wohl 
das gleiche darunter vor, aber eine kurz gefaßte Begriffs- 
bestimmung ist gleichwohl nicht einfach. Einmal bedeutet das 
Wort nervös, daß eine Störung vorhanden ist, etwa Schmerzen, 
Verdauungsbeschwerden, Schwäche, die auf Störungen der 
Nerven beruhen, und noch spezieller soll damit gesagt sein* 
daß diese Störung der Nerven nicht eine auf organischem 
Laesionen beruhende ist, sondern daß sie lediglich eine ab- 
norme Funktion darstellen. Der Kranke, der den Arzt auf- 
sucht und die Auskunft erhält, daß sein Leiden nervös sei, 
geht gewöhnlich zufrieden davon, und ist glücklich zu hören, 
daß keine tieferen Störungen, etwa ein Krebsleiden oder ein 
Knochenleiden, vorliegen. Aber diese Begriffsbestimmung trifft 
nicht das Wesen dessen, was wir als nervös ansehen. . . . 

Es handelt sich bei unsern Betrachtungen gar nicht um 
die Feststellung der Grundlage einzelner Beschwerden, sondern 
um einen veränderten psychischen Gesamthabitus. Gehen wir 
von der Betrachtung des nervösen Erwachsenen aus, so finden 
wir bei einem anscheinend körperlich gesunden Menschen eine 
Anzahl von Erscheinungen, unter denen eine allgemeine Reiz- 
barkeit, Empfindlichkeit, ein übermäßig hochgradiges Auf- 



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Zur Psychologie der nervösen Kinder. 



447 



treten von Affektzuständen im Vordergrund stehen, mit dieser 
verbindet sich eine gewisse Erechöpfbarkeit, die zu Vermüv 
derungen der Arbeitsfähigkeit führt und welche nur mit Mühe 
und Unlust überwunden werden kann. Von dieser allgemeinen 
Nervosität lassen sich nur die speziellen Krankheitsbilder der 
sogenannten Neurosen und Psycho-Neurosen ableiten. Immer- 
hin ist aber die Nervosität das allgemeinere, umfassendere. 

Ich brauche nicht weiter anzuführen, daß das wesentliche 
dieser Nervosität in einer abnormen Reaktion besteht, indem 
entweder die Art oder das Maß der Reaktion, oder beides 
verändert ist. Weiter ist die Art und das Maß der psychischen 
Betätigung durch gewisse normale Hemmungsvorgänge 
bestimmt, und je nachdem diese Hemmungsvorgänge verändert 
sind, ist auch die psychische Betätigung und deren Folge- 
zustände im gewissen Grade verändert. 

Wir sehen nun beim Kinde, und zwar beim normalen Kinde, 
eine Reihe von Reaktionen, entweder fehlen, oder in anderef 
Weise erfolgen, als es beim Erwachsenen der Fall zu sein 
pflegt. Diese Veränderung wird je nach der Stufe der Ent- 
wickelung mehr oder weniger bemerkbar. Die Literatur über 
die Psychologie des Kindes ist durch eine große Zahl 
von umfassenden Arbeiten und von einzelnen Studien außer- 
ordentlich reichhaltig geworden. Ich muß es mir natür- 
lich versagen, hier allzuweit auf die normale Psychologie des 
Kindes einzugehen. Bevor ich ihnen aber die notwendige 
Grundlage dazu gebe, möchte ich anführen, daß als Kenn- 
zeichen der Nervosität des Kindes aus der Literatur und 
natürlich auch aus praktischen Beobachtungen sich folgende 
Merkmale ergeben haben: 

Man findet nervöse Kinder überempfindlich in körperlicher 
und psychischer Beziehung, es fällt an ihnen eine übermäßige 
Sensibilität auf, Unruhe, Furchtsamkeit, Schüchternheit, ander- 
mal aber eine abnorme Lebhaftigkeit, geistige Frühreife, 
motorische Unruhe, Auftreten krankhafter Triebe und Lieb- 
habereien, übermäßig phantastisches Wesen, Flatterhaftigkeit, 
Zerstreutheit, seltener findet man, daß die Kinder besonders 
ruhig und still sind. 1 ) In den ersten Lebenstagen ist das normale 



») Natürlich nicht alles, oder auch nur zum größten Teil immer bei 
einem Kinde vereint. 



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448 



Georg Fla tau. 



Kind ruhig, die größte Zeit des Tages wird im Schlaf t zu- 
gebracht. Was wir sehen, sind lediglich Vorgänge, die wir den 
Reflexen zurechnen. Lichtreize, Schmerzreize veranlassen be- 
stimmte motorische Aeu Gerungen. Auch in dieser Zeit machen 
sich Zeichen einer Uebercrregbarkeit bei nervösen Kindern 
schon bemerkbar, derart, daß die reflektorisch motorischen 
Folgeerscheinungen äußerst heftig ausfallen. Man bezeichnet 
solche Kinder als übermäßig schreckhaft, bei stärkeren Ge- 
räuschen sieht man heftiges Zusammenfahren des Säuglings, 
und bekommt man später solche Kinder zu Gesicht, so erfährt 
man wohl von aufmerksamen Müttern, daß sie schon in den 
ersten Lebenstagen und Lebenswochen eine solche abnorme 
heftige Reaktion bei ihren Kindern bemerkt haben. Eine gegen- 
über dem Erwachsenen erhöhte reflektorische Erregbarkeit 
kann man in mancher Beziehung beim normalen Kinde schon 
finden und erklärt sich das daraus, daß infolge der noch unge- 
nügenden Ausbildung und Markversorgung von wichtigen 
Bahnen ordnende und hemmende Impulse noch nicht in Aktion 
treten können. 

Aber selbst unter dieser Einschränkung findet sich doch 
eine auch über die beim Kinde normale erhöhte reflektorische 
Erregbarkeit hinausgehende, die schon als Zeichen einer Ab- 
normität zu gelten hat. 

Während noch in dem ersten Monat des Lebens ein be- 
sonderes Schlafbedürfnis beim normalen Kinde besteht, ein 
Schlafbedürfnis, das immer mehr und mehr nachläßt, und 
beim Erwachsenen unter Umständen auf ein verhältnismäßig 
geringes Maß reduziert ist, finden wir bei dem nervösen Kinde 
schon eine Einschränkung. 

Es fällt auf, daß solche Kinder leichter aus dem Schlaf 
erwachen, auf kleine Geräusche hin wach werden, als normale 
Kinder, es fällt ferner auf, daß bei ihnen das Schlafbedürfnis 
sehr schnell abnimmt, und von einer gewissen motorischen 
Unruhe abgelöst wird. 

Solche krankhafte Ausbildung der Störung finden wir schon 
als richtige Form von nervöser Schlaflosigkeit bei ganz jungen 
Kindern. Indessen ist das ganz selten. 

Auf andere Störungen des Schlafes komme ich noch. Wenn 
wir weiter in der Betrachtung der Entwickelung vorschreiten, so 
wird uns beim Kind zunächst das Vorherrschen der Gefühle 



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Zur Psychologie der nervösen Kinder. 



44Q 



gegenüber den Erfahrungsinhalten auffallen. Wir wollen dabei 
vor allen Dingen das eine im Auge behalten, daß wir unter dem 
Begriff des Gefühls zunächst alles das zählen, was wir als Lust 
und Unlust bezeichnen. Diese Gefühle treten offenbar schon 
sehr früh auf, und ihre Wirkung besteht in der Auslösung 
körperlicher und psychischer Veränderungen. Diese Gefühle 
sind nun beim Kinde schon eher entwickelt und ausgebildet, 
ehe man von einer Entwickelung der Intelligenz sprechen kann, 
so daß im Gegensatz zum Erwachsenen wir eine Reihe von 
psychischen und körperlichen Veränderungen beim Kinde ent- 
stehen sehen, bei welchen die Erfahrung noch keine wesentliche 
hemmende oder fördernde Rolle spielt. Diese hochgradige 
Abhängigkeit von den Affekten ist nun bei nervösen Kindern 
noch in ganz bestimmter Weise vermehrt. Sie erklären uns 
auch warum, ohne das bestimmte Erfahrungen vorliegen, viele 
Kinder Erscheinungen einer übermäßigen Furchtsamkeit dar- 
bieten, z. B. Dinge fürchten, über deren Schädlichkeit oder 
Unschädlichkeit sie noch nichts wissen können. Z. B. : Das 
Kind sieht eine Flamme, der Anblick löst Lustgefühl in ihm 
aus, das Begehren, die Flamme zu berühren, die Erfahrung hat 
es noch nicht gelehrt, dem Bewegungsimpuls zu widerstehen, 
weil die Flamme es verbrennen wird. 

Ich will auf die Erscheinungen der Furcht der Kinder nicht 
allzuweit eingehen, es gibt über diesen Gegenstand eine Reihe 
von Arbeiten, unter denen ich ihnen besonders die von 
Hirschlaff nenne. Nach diesen gehören zu der Furcht, 
die eine unveräußerliche Eigenschaft der Psyche ist, drei 
Dinge, eine drohende Gefahr, die Beurteilung und Erkenntnis 
derselben, die hierauf folgende körperliche und seelische Re- 
aktion des sich Fürchtenden. . . . Für die zweite Bedingung 
würde es nun notwendig sein, daß das Kind aus gewissen >Er- 
fahningen heraus zu einer Beurteilung und Erkenntnis der ihm 
drohenden Gefahr imstande ist. 

Es gibt aber nervöse Kinder, welche vor allen möglichen 
Dingen in Furcht und Entsetzen geraten, die sie nie vorher 
kennen gelernt haben, die in allem neuen, was ihnen entgegen- 
tritt, ein solches drohendes ahnen, die aus der Neuheit des 
Reizes einen Unlustaffekt hohen Grades und den Wunsch 
des Vermeidens zeitigen. Solche Kinder bleiben nicht allein 
im Zimmer, wollen nicht im Dunklen bleiben, nicht im Dunklen 

ZeiUohritt ffir pädagogische Pfjrohologie, Pathologie u. Hygiene. 3 



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450 



Oeorg Flatau. 



schlafen, im frühesten Lebensalter ruft neues und ungewohntes 
nicht den Ausdruck des Staunens, sondern den der Unlust 
und Furcht hervor. Später bildet sich die Neigung zu Angst 
noch mehr aus; kleine Tiere werden im großen Bogen um- 
kreist, vor jeder fremden Person verkriecht sich das Kind hinter 
der Mutter, hier muß aber bemerkt werden, daß ein großes 
Maß von Scheu und Schüchternheit den meisten Kindern eignet, 
und zwar scheint nach dem ersten und zweiten Lebensjahre 
diese aufzutreten, um unter normalen Verhältnissen wieder 
zu verschwinden, nur beim Vorliegen einer Nervosität dauert 
der Zustand auch später noch an.* Solche Kinder bilden 
ganz besonders eine unerwünschte Klientel des Arztes, indem 
sie jeder an ihnen vorzunehmenden Untersuchung Widerstand 
entgegensetzen, nicht zu bewegen sind, den Mund zu öffnen, 
die Zunge zu zeigen oder sonst irgend eine harmlose Mani- 
pulation vornehmen zu lassen, sie vereiteln jeden Versuch durch 
Ungebärdigkeit, heftiges Schreien und Zurückweisung jedes 
beruhigenden Zuspruches. Manchmal gelingt es wohl mit vieler 
Mühe, diesem Zustand entgegenzutreten. Diese pathologisch 
furchtsamen Kinder führen in der Großstadt ein recht unruhiges 
Leben, und die Eltern sind in einem gewissen Dilemma : einmal 
wollen sie die Kinder vor den Gefahren der Großstadt warnen 
und sie lehren, sich zu hüten, auf der anderen Seite soll die 
schon vorhandene Furchtsamkeit nicht gesteigert werden. Nach 
den letzten Kindermorden sahen wir einen Knaben von zehn 
Jahren, der nun nicht mehr zu bewegen war, allein auf die 
Straße zu gehen, und mehrfach waren diese Mordtaten der 
Inhalt schreckhafter und unruhiger Träume bei nervösen 
Kindern unserer Beobachtung. Wir kommen dabei auf eine 
weitere Störung des Schlafes. Außer der allgemeinen Un- 
ruhe ist es die nachhaltige Wirkung der Tagesereignisse, die 
den Schlaf stört, sei es, daß z. B. erlittene Strafen, Schulauf- 
gaben und ähnliches mit schreckhafter Vergrößerung im 
Traume und im Halbschlaf durchlebt werden, sei es, daß die 
Kenntnis von Morden und Unglücksfällen, von Krankheit in 
der Familie dazu führt, die Kinder aus dem Schlaf zu 
schrecken. Es kommt zu Aufschreien, Verwirrtheit, schreck- 
haften Halluzinationen u. a. m. Zu den weiteren Erscheinungen 
gehört neben der von Hirsch laff schon erwähnten besonderen 
körperlichen Beschaffenheit des sich Fürchtenden (meistens 



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Zur Psychologie der nervösen Kinder. 451 

handelt es sich um von hause aus kränkliche und schwäch- 
liche Kinder), auch eine besondere Reizbarkeit und Weh- 
leidigkeit. Ich hatte ihnen diese schon unter den Erscheinungen, 
die beim nervösen Kinde gefunden werden, genannt: 

Die Wehleidigkeit besteht darin, daß auch geringere Unan- 
nehmlichkeiten körperlicher oder psychischer Art als große 
Schrecknisse und als besonders entsetzenerregend empfunden 
werden. 

Ein einfacher Nadelstich, der zur Prüfung der Sensibilität 
dient, läßt solche Kinder unter lautem Schreien und Weinen 
zusammenfahren und flüchten. 

Ihnen erscheint jeder leichte Schmerz als gewaltig und 
unerträglich, sie vermeiden bei etwaigen Schmerzen jede Be- 
wegung, so daß man bei einer nicht genauen Untersuchung 
2U der Annahme einer Lähmung oder sonstwie hervorgerufenen 
Bewegungsstörung kommen kann. Dem gleichstehend sind die 
Empfindungen von Ekel, die der Anblick von Speisen bei 
Kindern hervorruft und welche die Eßlust bei nervösen 
Kindern oft recht stark beeinträchtigen. Diese Kinder gelten 
dann als kiesätig, wählerisch und als schlechte Esser, auf Zwang 
zum Essen antworten sie leicht mit Erbrechen. 

Im vorgeschrittenen Alter, im schulpflichtigen zum Beispiel, 
findet sich diese Neigung zur Uebertreibung der Krankheits- 
erscheinungen noch in viel höherem Maße beim nervösen Kinde 
ausgeprägt. Vermehrt wird diese meistens durch unzweck- 
mäßiges Verhalten der Angehörigen, die durch fortwährendes 
Befragen und Wiederhindeuten auf die Affektion, die Wert- 
schätzung, die das Kind schon an sich diesen Beschwerden ange- 
deihen läßt, noch erheblich vermehren. 

Zu solcher körperlich - psychischen Ucberempfindlichkcit 
gesellt sich nicht selten eine rein psychische derart, daß solche 
Kinder schon über das leiseste Tadelswort außer sich geraten 
und sich in ihrem Ehrgeiz gekränkt fühlen und stundenlang 
durch Unbehagen und Weinen reagieren. 

Man sieht das oft schon bei ganz jungen Kindern, bei denen 
man etwa im Scherz mit gerunzelter Stirn böse Worte spricht 
und die daruf mit Zeichen äußersten Unbehagens und Schreiens 
reagieren, ehe sie noch imstande sind, einen wirklich tadeln- 
den Sinn aus den Worten zu entnehmen. 

3« 



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452 



Georg Flatuu. 



Ich nannte unter den Kennzeichen des nervösen Kindes 
zu Anfang die motorische Unruhe. Diese äußert sich nicht 
so sehr in bestimmten Tiebewegungen oder durch ähnliche 
Erscheinungen, als es ganz besonders die allgemeine Unruhe 
ist, die Sucht, irgendeine Bewegung auszuführen ; solche Kinder 
bilden häufig ein störendes Moment in den Schulen, sind 
die Verzweiflung der Lehrer und Lehrerinnen, sie rutschen 
unruhig hin und her, erheben sich ohne Grund, machen 
unruhige Bewegungen mit den Fingern, alles Ausflüsse einer 
inneren Unruhe, die nach Befriedigung drängt. 

Auch hier handelt es sich um die Steigerung eines schon 
normal vorhandenen Bewegungsdranges. 

Schon bevor das junge Kind anfängt zu gehen oder be- 
stimmte Zweckbewegungen auszuführen, macht es solche so- 
genannten Unruhebewegungen, deren Zweck die Vorbereitung 
und Erlernung der Zweckbewegungen sind. 

Zum Kennzeichen der Nervosität des Kindes werden diese 
Bewegungen erst dann, wenn die Zweckbewegungen schon 
vorhanden sind und doch weiterhin Unruhe und Bewegungs- 
drang fortbestehen. Diese Störungen setzen sich häufig auch 
in der Zeit des Schlafes fort, und sind auch bei sonst vor- 
handenem tiefen Schlafzustand dadurch zu erkennen, daß das 
Kind sich herumwälzt, aufrichtet, ohne aus dem Schlaf zu 
erwachen. Wir sehen in diesen Bewegungen ein Fortbestehen 
des Reizzustandes des Gehirns, welcher durch die sonst nicht 
wirksamen exogenen Reize einen akustisch sensiblen oder ähn- 
liche fort und fort aufrecht erhalten wird. 

Ich könnte noch über verschiedene Formen der Furcht 
weiteres sagen, so auch die Furcht vor Alleinsein in einem 
dunklen Zimmer, Furcht und Abscheu vor Tieren, doch brauche 
ich bezüglich dieser Wahrnehmungen nur auf die ihnen schon 
genannte Arbeit von Hirschlaff zu verweisen. Die 
motorische Unruhe, auf die ich hingewiesen hatte, entspricht 
zum Teil auch dem nervösen Beschäftigungsdrange des 
wachsenden Kindes, welcher eine immanente Eigenschaft des 
wachsenden Kindes ist, und verbunden mit der Nachahmungs- 
sucht und einer gewissen phantastischen Veranlagung ru dem 
führt, was als Spiel des Kindes bezeichnet wird. In seiner 
pathologischen Steißenmc führt das einmal zur motorischen 
Unruhe, zweitens zu einer übermäßigen Sucht des Kindes, zu 



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Zur Payrholorjif, der nervösen Kinder. 



453 



spielen und darüber die Arbeit, Essen, Trinken und Schlafen 
zu vergessen. 

Die Nachahmungssucht kann in ihrer Steigerung auch 
noch zu anderen Erscheinungen führen, indem solche Kinder 
krankhafte Bewegungen anderer nachahmen zu suchen und 
diese dann zu einem Teil ihres eigenen Leidens machen, 
solche Kinder sind in dem Nachahmen von choreatischen 
(Veitstanz) Bewegungen, Lahmen, steifen abnormen Haltungen 
besonders geschickt. 

Die beim Kinde besonders lebhafte Affekttätigkeit, die 
besondere Wirkung der Gefühle, macht sich in ihrer krank- 
haften Steigerung auch noch in einer anderen Richtung bemerk- 
bar, es sind das die Zeichen der krankhaften Zuneigung 
und Abneigung Angehörigen und sonstwie ihnen näherstehen- 
den Personen gegenüber. 

Im Sinne der krankhaften Zuneigung ist zu deuten, daß 
solche Kinder auch noch so kurz andauernde Trennung nicht 
vertragen, sondern in einen Zustand krankhafter Depression 
auf lange Zeit hinaus geraten. 

Sind solche Kinder fortwährend mit der Mutter oder mit 
der die Mutterstelle vertretenden Erzieherin zusammen, so sind 
sie schwer an andere Personen zu gewöhnen, ja unter Um- 
ständen kann die Krankheitserscheinung nach der Trennung 
so lebhaft werden, daß es zu recht bedenklichen körperlichen 
Zuständen kommen kann. 

Auch die sonst nicht begründete Abneigung, die lediglich 
in irgend einem unklaren Gefühlsurteil besteht, wird beobachtet, 
wenn auch im ganzen seltener als das erstgenannte Verhalten. 

Wir sehen oben, daß dem heranwachsenden Kinde ein be- 
sonderes Schlaf- und Ruhebedürfnis zukommt. Insbesondere 
wird man beachten, daß nach körperlicher oder geistiger An- 
strengung das Ruhebedürfnis gesteigert ist. Daß die Leistungs- 
fähigkeit des heranwachsenden Kindes in vielen Beziehungen 
geringer ist, als die des Erwachsenen, dafür braucht hier nur 
auf das obengesagte hingewiesen zu werden. 

Bei einer ganzen Reihe nervöser Kinder zeigt sich nun, 
daß die Leistungsfähigkeit unter dem normalen steht, insofern, 
als schon geringe Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit 
mit ganz abnormen Reaktionen beantwortet werden. Schon 
nach wenig Uebungen versagen die Kinder, sind nicht mehr 



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Georg Flatau. 



imstande, auch das leichteste, was sie früher geleistet haben, 
zu arbeiten, man sieht ihnen die Erschöpfung auch körperlich 
an, sie zeigen Zittern und Gesichtszuckungen, seltener treten 
auch die Erscheinungen des Kopfschmerzes auf, die ich an 
anderer Stelle als Erschöpfungskopfschmerz geschildert habe. 

Bei diesen Kindern fällt selten ein sehr wechselndes 
Verhalten auf; während sie manchmal ohne Schwierigkeiten 
wochenlang sehr gut arbeiten, ja sogar eine besonders erhöhte 
Leistungsfähigkeit zeigen, sind sie zu andern Zeiten völlig 
unbrauchbar. 

Die körperlichen Klagen treten wieder in den Vordergrund 
und die Leistungen sind außerordentlich gering. Gerade in 
dieser Zeit pflegen sich dann Störungen des Schlafes und des 
körperlichen Befindens in den Vordergrund zu stellen. 

Die Zeit der geistigen Entwickelung ist ja auch diejenige, 
in welcher sich die Assoziationen verschiedenster Art zu bilden 
pflegen. Ich will hier auf die Assoziationsgesetze nicht weiter 
eingehen, aber darauf hinweisen, daß im wesentlichen die Ge- 
setze des Aufeinanderfolgens, des Nebeneinanderbestehens, der 
Aehnlichkeit und des Kontrastes die Assoziation beherrschen. 
Namentlich die zeitlichen Assoziationen bilden sich sehr früh, 
und alles, was im Anfang gedächtnismäßig erlernt wird, ist 
ja kaum etwas anderes als die zeitliche Aufeinanderfolge von 
Begriffen, deren logischer Zusammenhang keine wesentliche 
Rolle spielt. 

Eine große Rolle spielen im Kindesalter auch die Aehn- 
lichkeitsassoziationen, auch diese pflegen schon zeitlich früh 
aufzutreten, und ganz besonders sind es die Aehnlichkeiten 
von Wortklangbildern, die im Kindesalter beliebt sind und 
festgehalten werden. In Uebertreibung dieser normalen kind- 
lichen Verhältnisse der Assoziation sehen wir besonders bei 
nervösen Kindern die Neigung zu sinnlosem Schwatzen und 
ideenflüchtigem Verhalten, indem sie beim Erzählen und Fragen 
aus dem Hundertsten ins Tausendste kommen und gerade diese 
Kinder, die bei den Eltern als ganz besonders lebhaft, rege 
und klug gelten, weil sie nach allem fragen, bilden nicht 
selten wiederum die Verzweiflung des Erziehers, und unter 
Umständen auch des mißgelaunten Vaters oder der Mutter, 
die schließlich, der immerwährenden Fragen müde, mit einem 
Machtwort die sich übereinanderstürzenden Assoziationen zum 



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Zur Psychologie der nervösen Kinder. 



455 



Aufhören bringt, allerdings oft ohne dauernden Erfolg, da 
kurze Zeit später wiederum das Fragen und Erzählen anfängt. 

In starkem Gegensatz zu diesem quantitativen Ueberfluß 
von Assoziation in Erzähle- und Frageform steht bei den 
nervösen Kindern die Qualität und Nachhaltigkeit der Vor- 
stellungen. Einmal mangelt der Anfangsvorstellung, an welche 
sich die anderen Begriffe in eigener Erfahrung oder beim 
schulmäßigen Lernen anschließen sollen, die Dauerhaftigkeit, 
indem zwar zunächst alles gegebene festgehalten wird und 
scheinbar auch aufgefaßt, aber schon nach ganz kurzer Zeit 
ist alles vergessen und verschwunden. Auch jene andere Wir- 
kung der Vorstellung, die man als Sekundärfunktion bezeichnet, 
nämlich, daß sie zwar zunächst für das Bewußtsein zu ver- 
schwinden scheint, aber der ihr zugrunde liegende psychische 
Prozeß noch als Nachwirkung bestehen bleibt und den folgen- 
den Assoziationen eine bestimmte Richtung gibt, pflegt zu 
leiden. Ist diese Sekundärfunktion von sehr geringer Kraft, so 
kommt es leicht zu wähl- und ziellosen rein äußerlichen Assozi- 
ationsreihen, zu jenem Wortgeklingel ohne Sinn und Verstand, 
das von überlebhaften nervösen Kindern häufig produziert wird. 
Ziehen hatte auf experimentellem Wege gezeigt, daß das Kind 
nicht in dem Umfange im allgemeinen Begriffe denkt, wie 
der Erwachsene, sondern das bei ihm die individuelle Vor- 
stellung durcliaus im Vordergrunde steht. Nun, auch hier 
sehen wir wiederum in Erweiterung dieses an sich im Gegensatz 
zum Erwachsenen normalen Verhalten, die nervösen Kinder 
an einzelnen Vorstellungen festhaften, während es nicht gelingt 
oder nur schwer, ihnen Vorstellungen und Begriffe allgemeiner 
Art beizubringen. 

Hier ist an der Zeit, uns mit dem berühmten Gedächtnis 
der Kinder, welches ja dem des Erwachsenen überlegen sein 
soll, zu beschäftigen und gerade ganz besonders regen Kindern 
wird es nachgerühmt, daß sie imstande seien, das einmal ge- 
hörte und gelesene sofort zu behalten. Aber sehr bald zeigt 
sich, daß dieses Behalten nur für eine ganz kurze Zeit hinreicht, 
daß das Behaltene ebenso auch wieder vergessen wird. Die 
stolzen Eltern, die ihr zwei- und dreijähriges Kind vorführen, 
welches nach einmaligem Anhören ein ganzes Repertoir von 
Gedichten und Liedern festhält und reproduziert, müssen von 
diesem Stolz bald zurückgehen, wenn sie sehen, daß nach 



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Georg Flatau. 



• 

kaum acht Tagen, wenn das Gedächtnis nicht wieder auf- 
gefrischt wird, der ganze Schatz fast wieder zerronnen ist. 

Ebbinghaus und Groß haben gezeigt, daß die Ge- 
dächtnisleistung des normalen Kindes durchaus nicht mit der 
des Erwachsenen zu vergleichen ist. Es ergab sich, daß Er- 
wachsene beim Aufnehmen von mechanischen Reihen und 
solchen assozierter Art die Schulkinder um das drei- bis vier- 
fache übertreffen. Noch sclilimmer steht es bei den nervösen 
schwachen Kindern, bei welchen gerade das Auswendiglernen 
solcher Dinge, bei denen es sich nicht um Klangassoziationen 
handelt, auf große Schwierigkeiten stößt, und ganz besonders 
ist bei diesen die Zeit, für welche das Gedächtnis vorhalten soll, 
recht erheblich gekürzt. Aus diesem Grunde erklärt es sich 
auch, daß die Kinder im Kopfrechnen, überhaupt im Rechnen, 
sehr schlechte Leistungen aufzuweisen pflegen, während sie 
Dinge, die ihre Phantasie anregen, zunächst wengistens besser 
behalten und beherrschen. 

Zum Schluß noch ein Wort über die Beeinflußbarkeit 
oder Suggerierbarkeit der nervösen Kinder. 

Wenn wir unter Suggestion die Aufnahme von Vor- 
stellungen verstehen, welche inadäquate Wirkungen haben, 
weil kritische Gegenvorstellungen aus diesem oder jenem 
Grunde nicht zur Geltung kommen, so werden sie ohne weiteres 
sich sagen, daß, da das Auftreten kritischer Gegenvorstellungen 
einen gewissen Erfahrungsschatz voraussetzt, der dem Kinde 
fehlt, dieses in besonderer Weise suggeribel sein muß. Unter 
Umständen wird natürlich diese Suggestilität noch gesteigert, 
wenn es sich um besonders erregbare, phantastische und zu 
Erinnerungstäuschungen geneigte Kinder handelt. 

Bei diesen spielt häufig eine Sucht, etwas Interessantes 
zu erzählen, eine Rolle dahin, daß sie unwichtige Dinge so 
lange in ihrem Innern aufbauschen und in einer sie selbst in 
den Vordergrund stellenden interessanten Weise überdenken, 
daß sie schließlich völlig phantastische Entstellungen mit dem 
Gefühl ercählen, etwas subjektives Wahres zu berichten. 
Kommen nun neben dieser phantastischen Veranlagung noch 
andere Gründe hinzu, etwa daß das Kind Vorteile sucht oder 
Nachteile zu vermeiden wünscht, so kommt es zu jenen lügen- 
haften Erzählungen von Ueberfällen und Attentaten, zu Zeugen- 
aussagen verdrehter und entstellter Natur. 



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Zur Psychologie der nervösen Kinder. 



457 



Gewiß sind die Großstadtkinder zu solchen Phantasien 
mehr geneigt und findet man auch in der Großstadt mehr An- 
regung dazu als in der Kleinstadt und auf dem Lande. In der 
Großstadt passiert immer etwas, was in ausgeschmückter Weise 
zur Wicdererzählung paßt oder als Entschuldigung gebraucht 
werden kann und die frühzeitige Zeitungslektüre mit Berichten 
von Zeugenaussagen von Schulkameraden reizen geeignete 
Kinder wohl dazu, zu versuchen, ob sie nicht in gleicher inte- 
ressanter Weise auftreten können. Daher falsche Beschuldi- 
gungen, Erfindungen von Attentate und ähnliches. 

Ich habe in diesem Vortrage nur die wichtigsten Merk- 
male des nervösen Kindes und ihre prologisclie Bedeutung 
besprochen. Auf die frühzeitig auftretenden Triebe bin ich 
absichtlich nicht weiter eingegangen, weil die Besprechung 
dieses Themas einen besonderen Vortrag erfordern dürfte, 
ebensowenig halte ich es für angezeigt, über die Prophylaxe und 
die Behandlung dieser Zustände hier zu sprechen. 



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Sitzungsberichte. 
Psychologische Gesellschaft zu Berlin. 

Wintersemester 1907/08. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer : Herr F e i g s. 

Donnerstag, den 17. Oktober 1907. 
I. General Versammlung im Langenbeckhaus. 
Beginn: 7 »4 Uhr. 

Tagesordnung: „Ergänzung der Satzungen." Es wurde be- 
schlossen, folgenden § 1 5 a in die Satzungen aufzunehmen : „Der Vorstand 
ist befugt. Mitglieder von der Mitgliederliste zu löschen, die mit ihren Bei- 
trägen zwei Semester im Rückstand sind und trotz Aufforderung Zahlung 
nicht leisten." 

Schluß der Generalversammlung 7 1 /:» Uhr. 

II. Vereinssitzung. 
Beginn: 8 »4 Uhr. 

Ausgetreten sind Kunstmaler Herr More*, Herr Oberstabsarzt 
Dr. Roden waldt. Als Mitglieder aufgenommen sind Herr Dr. W i 1 1 - 
kowsky und Herr Privatdozent Dr. Heller. 

Herr Privatdozent Dr. Frischeisen-Köhler spricht über 

„Die Bedeutung der Psychologie für die Geisteswissen- 
schafte n." 

Für die Klärung der Frage, welche Bedeutung die Psychologie 
für die Geisteswissenschaften beanspruchen kann, bedarf es zu- 
nächst einer Klärung dessen, was unter Psychologie zu verstehen 
ist. Nicht unter den Begriff der Psychologie als Wissenschaft 
fällt der Inbegriff von Deutungen, Interpretationen und intuiven 
Verständnisses, das wir schon im gewöhnlichen Leben permanent 
verwenden, das von den großen Historikern m einer wahren Kunst des Nach- 
verständnisses und Nachlebens fortgebildet ist. Allein dieses intuitive Ver- 
stehen hat Grenzen; sehr komplexen oder sehr niedrigen oder sehr fremd- 



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Sitzungsberichte. 



459 



artigen Geisteszuständen gegenüber versagt es. Hier vermag allein eine 
wissenschaftliche Psychologie zu helfen; unter ihren Begriff fallen die ver- 
schiedenen zurzeit auch noch divergierenden Richtungen (Funktionspsycho- 
logie, Strukturpsychologie), denen allen doch gemeinsam ist, daß sie Regel- 
mäßigkeiten als solche herausheben und dem Erlcbniszusammenhang einen 
Zusammenhang von Koexistenz und Sukzession substituieren. Indes muß die 
Psychologie den Geisteswissenschaften noch andere Dienste als die bloße 
Materialherbeischaffung leisten. Kann sie vermittelst Unterordnung und 
eines gegebenen Tatbestandes unter allgemeine Regeln das Singulare, mit 
dem es alle Geisteswissenschaften zu tun haben, zu einem allgemeinen Ver- 
ständnis erheben? Diese Frage wird aus rein logischen Gründen verschiedent- 
lich verneint; aber die genauere Analyse zeigt, daß prinzipiell keine unüber- 
windlichen Schwierigkeiten bestehen. Aber wohl stellt sich heraus, daß auch 
bei denkbar vollkommenster Durchbildung der Psychologie sie allein nicht 
ausreichend ist, das geistige Leben zu erklären und zu leiten; denn in 
jedem Individuum wie überhaupt in dem geistig -historischen Leben ist 
etwas enthalten, was mehr als ein Komplex psychischer Funktionen ist; das 
ist seine Inhaltlichkeit; an ihm findet die Psychologie ihre Grenze. Denn 
dasselbe zu erklären und zu verstehen sind andere, insbesondere teleologische 
Methoden erforderlich; eine Subsumtion unter Kausalregeln ist hier nicht 
möglich. Es ist das Problem der einzelnen Geisteswissenschaften, das Ver- 
hältnis der psychologischen und der teleologischen Methoden 2U bestimmen; 
von dieser Einsicht aus ergibt sich auch die allein berechtigte Einschränkung, 
die von kritisistischcr Seite der Psychologismus sich gelallen lassen muß. 

(Eigenbericht.) 

Eine Diskussion fand nicht statt. 

Schluß der Sitzung 9' - l : hr. 

» 

Donnerstag, den 31. Oktober 1907. 

Beginn: 8>4 Uhr. • 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer : Herr VY e s t in a n n. 

Herr Moll begründete den Antrag des Vorstandes, eine Okkultismus- 
umfrage zu halten und erörterte den vom Vorstand ausgearbeiteten Frage- 
bogen, der an Interessenten versendet werden soll. 

Herr H e n n i g spricht über 

„O kkultismus und wissenschaftliche Forsch un g." 

Als Einleitung zu der von der Psychologischen Gesellschaft geplanten 
Umfrage über den Okkultismus hatte der Vortrag sich die Aufgabe gestellt, 
in knappen, skizzenhaften Umrissen zu zeigen, wie im bisherigen Entwicklungs- 
gang der wissenschaftlichen Forschung der mystische Charakter okkulter 
Phänomene durch ein vorurteilsfreies psychologisches Eindringen in die 
scheinbaren Geheimnisse m schwinden pflegte, und in wie großem Umfange 
sich schon jetzt Flournoys Wort bestätigt habe, daß der gereinigte 
Okkultismus nichts anderes sei als Psychologie. 



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460 



C •' t - ii n n »Ki-r rJt I * 

•311. unq*f\rrirntr. 



Die Zerstörung des mystischen Elements in den okkulten Problemen 
setzte etwa am Ende 17. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des wissen- 
schaftlichen Experiments ein, und der erste greifbare Erfolg dieser Wand- 
lung war die endliche Vernichtung des fürchterlichen Hexenwahns. Auch 
in der Folgezeit waren Erweiterungen der psychologischen Erkenntnis oft 
genug mit den überraschendsten Einblicken in die wahren Ursachen der 
mannigfachsten, zunächst oft scheinbar ganz fernliegenden okkulten Probleme 
verbunden. 

Kein anderes Gebiet der psychologischen Arbeit hat soviel Verdienste 
um die Verbrettung wissenschaftlicher Erkenntnis und Aufklärung als das 
der Hypnose, deren Durchforschung eine erstaunliche Fülle von dunklen, 
rätselhaften Tiefen des okkulten Seelenlebens plötzlich erhellte. Der Vor- 
trag führte dies nun im einzelnen aus: mit der Kenntnis von der Macht der 
Suggestion im Wach- wie im Schlafzustand schwand das alte Rätsel der 
Wunderheilungen, der Reliquienwunder, des Stigmatismus, vieler Zaubermittel 
und Hexenkünste, schwand der Nimbus der Quacksalber und Kurpfuscher 
und neuerdings auch der Heilmagnetiseure. Die Forschungen über V'er 
tauschungen der Persönlichkeit in der Hypirose, die gleichfalls durch bloße 
Suggestion zu erzielen waren, warfen weiterhin ein Schlaglicht auf gewisse 
Dämmerzustände, in denen das normale Ich plötzlich durch ein total anderes 
Doppel-Ich verdrängt wird, ferner auch auf gewisse hysterische Krankheits- 
bilder schwerer Natur, deren psychische Begleiterscheinungen sich früher 
im Glauben an teuflische oder dämonische Besessenheit, an Werwölfe, 
an göttliche Eingebungen, an ein Ergriffensein vom heiligen Geist, von 
Dämonen, an ein „Entführtwerden*' usw. wiederspiegelten. Auch die oft so 
staunenswerten Darbietungen der modernen spiritistischen Schreib- und 
Trancemedien, der Schwarmprediger und verzückten Zungenredner fanden 
durch die Erkenntnis von den in allen pathologischen Zuständen so leicht 
auftretenden Verzerrungen und Vertauschungen des Persönlichkcitsbildes eine 
nach jeder Richtung befriedigende Aufklärung, und ebenso gelang nunmehr 
die Identifizierung eines Teiles der angeblichen Spukphänomenc mit den 
krankhaften Zwangsempfindungen und Zwangshandlungen der Hysterischen 
und ihre Zurückführung auf den hysterischen Trieb, sich interessant zu 
machen um jeden Preis. i 

Weiter wurden durch die Bekanntschaft mit den sogenannten ideomoto- 
rischen Bewegungen in und außer der Hypnose die Probleme des Tisch- 
rückens und Tischklopfens, der Gedankenübertragung, der Wünschelrute 
(wenigstens soweit diese Erscheinung psychologisch zu deuten ist), des 
Psychographen, der Geisterschriften, ja sogar gewisse Vorkommnisse schein- 
baren Hcllsehens in überraschend einfacher Weise erklärt. Die Erforschung 
der Sinnestäuschungen und Halluzinationen und die Erkenntnis von der 
früher unterschätzten Tragweite aller Arten von Wahrnehmungsfehlern er- 
klärten u. a. die Künste der Seherinnen und Wahrsagerinnen (soweit sie bona 
fide handelten), viele Geheimnisse des antiken Tempelschlafs, die „Ge- 
sichte" aller Art, wie Geister- und Gespenstererscheinungen, viele Materiali 
sationen in spiritistischen Sitzungen, Doppelgänger-Gestalten, das Sichsclbst 
sehen, angebliche Odausströmungcn usw. Inwieweit der Okkultismus außer- 
dem gefördert wurde durch unbewußt fehlerhafte Aussagen, Wahrnehmung? 



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und Erinnerungsfehler wird in acht Tagen durch Herrn Prof. Dessoir in 
einem Sondervortrag klargelegt werden. 

Die allgemeine Erfahrung, daß in den Träumen des normalen Schlafs 
wie aller pathologischen Schlafrustände die vom Oberbewußtsein vergessenen 
Eindrücke und Erinnerungen mit besonderer Vorliebe an die Oberfläche zu 
tauchen pflegen, hat sehr zahlreiche Fälle von Wahrträumen, von Hellsehen 
in Zeit und Raum und von anfangs unbegreiflichen, übernatürlichen Leistungen 
des menschlichen Intellekts, z. B. die bei Trancemedien wie auch bei 
Fiebernden und Sterbenden gelegentlich vorkommende „Kenntnis" nie 
gelernter Sprachen, ihres mystischen Charakters einwandfrei entkleidet. 

Noch freilich sind nicht alle Gebiete des ehrlichen Okkultismus von der 
psychologischen Forschung erobert worden. Ueber einen Bruchteil von 
ihnen, freilich einen verhältnismäßig nur noch sehr kleinen, ist das letzte 
Wort noch nicht gesprochen, so über das gegenwärtig besonders aktuelle 
Thema der Wünschelrute, über gewisse Vorkommnisse von Hellsehen, 
Ahnungen, zweitem Gesicht, Telepathie, die man nicht durchweg a priori 
als Irrtum oder Betrug ablehnen darf, vielleicht auch über manche Künste 
der Fakire u. a. Auf diesen Gebieten bleibt für die Forschung auch weiterhin 
noch viel zu tun. Daß aber das schließliche Ergebnis der wissenschaftlichen 
Aufklärungsarbeit auch hier dasselbe sein wird, das es bisher immer gewesen 
ist, daß auch hier alle Rätsel und Geheimnisse schließlich eine „natürliche 
Erklärung" ohne jeden übersinnlichen Beigeschmack finden werden, darf 
man schon heute zuversichtlich erwarten, und es wird sich immer wieder 
bestätigen, daß der von allen phantastischen Hypothesen gereinigte Okkul- 
tismus nichts weiter ist als Psychologie, d. h. eine Erweiterung der bis- 
herigen psychologischen Erkenntnis. 

Diese notwendige Entwicklung will die von der Gesellschaft geplante 
Umfrage ein wenig fördern; ein solches Beginnen ist um so mehr mit Dank 
ru begrüßen, als ein großes, periodisch erscheinendes kritisch-fachwissenschaft- 
liches Publikationsorgan, das speziell der Zersetzung von Okkultismus und 
Aberglauben aller Art durch aufklärende psychologische Detailarbeit dient, 
in der deutschen Literatur leider nicht vorhanden ist. So mag denn der Pflicht 
rur Aufklärung, die neuerdings von der psychologischen Forschimg leider 
stark vernachlässigt worden ist, durch unsere Umfrage ein wenig genügt 
werden. (Autorreferat.) 

An der Diskussion beteiligte sich Herr Moll. 
Herr Dr. Selbiger wurde als Mitglied aufgenommen. 

Schluß der Sitzung 10 Uhr. 



Donnerstag, den 7. November 1907. 

• Vorsitzender : Herr Moll. 

Schriftführer : Herr W c s t m a n n. 

Ausgetreten sind die Herren Lammerich und Körte. Als Mitglied 
aufgenommen ist Herr Justizrat Dr. Sello. 



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Herr D e s s o i r spricht über 

,.D i e Psychologie der Aussage, angewendet auf okkul- 
tistische Bericht e." 

Stellt man sich auf den Standpunkt der Okkultisten und nimmt an, 
daß es unerklärliche und bedeutungsvolle Vorkommnisse gibt, so muß man 
alsbald hinzufügen, daß diese Tatsachen jedenfalls seltene, launische Natur- 
ereignisse sind. Eine beliebige, experimentelle Wiederholung ist im all 
gemeinen unmöglich. Daher sind die Forscher wesentlich auf Berichte an- 
gewiesen. Mit ihnen scheint es keine Not zu haben, denn sie sind zahllos 
\orhanden und iinjwnieren zuerst ungemein. Aber schon sobald man die 
Grundsätze der literarischen und historischen Kritik auf diese Zeugnisse 
anwendet, beginnen sie zu verbleichen, und noch mehr büßen sie an Farbe 
ein, wenn die Methoden und Ergebnisse der sogenannten Aussagepsychologic 
an sie herangebracht werden. 

Die Hauptfrage der Aussagepsychologie ist folgendermaßen gefaßt 
worden. Von welchen Umständen hängt es ab, ob die Aussage eines Menschen, 
seinen Wahrheitswillen vorausgesetzt, über ein Erlebnis dieses mehr oder 
weniger genau schildert? Die bedingenden Umstände liegen teils in dem 
Gegenstand der Aussage, teils in der Person des Aussagenden. Erstens ist 
also das, was geschieht, von Einfluß auf den erreichbaren Grad des Wissens 
und die Treu'.* der Aussage. Uebcr Vorkommnisse ähnlicher Art, die bald 
aufeinander folgen, wird gewöhnlich ungenau berichtet, weil die Unterschiede 
übersehen und die Vorgänge einander gleich gemacht werden. Ein Taschen- 
spieler braucht nur ein paarmal dieselbe Bewegung hintereinander zu machen, 
so wird, wenn nun eine etwas abweichende, den Trick enthaltende Bewegung 
kommt, niemand den Unterschied bemerken. Besonders unzuverlässig sind 
ferner Mitteilungen über die Reihenfolge von Ereignissen, von Zahlenangaben 
und nachträglichen Zeitschätzungen. Was die Person des Aussagenden 
betrifft, so sind offenbar Mängel der Sinnesorgane (Kurzsichtigkeit, Schwer- 
hörigkeit) mehr oder weniger hinderlich. Noch bedenklicher ist natürlich 
die psychische Minderwertigkeit in allen ihren Formen. Hierfür bietet die 
spiritistische Literatur Beispiele in Hülle und Fülle. 

An dem Beispiel eines Berichtes über ein sogenanntes Schiefertafcl- 
medium zeigte der Vortragende, wie schwer es ist, zuverlässige Beobachtungen 
zu machen und einwandfreie Berichte zu liefern. Ferner unterzog er 
Zöllners Mitteilung, die den Versuch der Schürzung von Knoten in einem 
endlosen Bindfaden schildert, einer genaueren Kritik. Dabei stellt sich 
heraus, daß Zöllner sich in völliger Unkenntnis der notwendigen psycho- 
logischen Gesichtspunkte befand. Kurz gesagt : Zöllner wußte nicht, 
worauf es ankommt. Und so geht es den meisten Berichterstattern über 
okkultistische Vorgänge. Ein gutgläubiger Zeuge erzählt etwa, er habe 
einen Gegenstand auf den Tisch gelegt. In Wahrheit hat das Medium in 
dem Augenblick, wo des .mdern Finger sich dem Tisch näherte/ ihm in 
selbstverständlicher und unauffälliger Weise das Objekt aus der Hand 
genommen und selbst hingelegt. Das hat der Zeuge im Augenblick gewiß 
bemerkt, später jedoch als etwas ganz nebensächliches vergessen. Aber 
der Trick hing eben davon ab. Von einem Hellseher wurde mit Begeisterung 



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Sitzungsberichte. 



463 



erzählt, er habp Namen ganz unbekannter Personen und Orte richtig erraten. 
Das Erraten bestand indessen lediglich darin, daß der Hellseher die von 
dem Fragesteller aufgeschriebenen Namen heimlich lesen und nachher wieder- 
holen konnte. Offenbar ist es nicht schwerer, Pfeffenhauscn zu lesen wie 
Berlin, obgleich jener Ort nur wenigen, dieser allen bekannt ist. Eine so 
starke Verschiebung der Wertbetonung im Denken ist anscheinend die Regel. 

Ab subjektiv günstige Momente für Aussagen sind zu nennen sichere 
Einstellung der Aufmerksamkeit und Freisein von Gemütserregung. Beide 
Bedingungen finden sich gegenüber okkulten Ereignissen höchst selten 
erfüllt. Bei der Unberechenbarkeit des Auftretens dieser Erscheinungen kann 
die Aufmerksamkeit nur schwer und selten auf den wesentlichen Punkt ein- 
gestellt werden, und die Stimmung ist teils eine solche der Ungeduld, teils 
der begeisterten Gläubigkeit. Die Spiritisten sind oft in einem Affekt, ih dem 
sie einerseits alles, selbst das Unglaubliche für möglich, andererseits alles, 
selbst das Einfachste für wunderbar halten. Endlich ist es ein bedenklicher 
Mangel der meisten Berichte, daß sie erst Jahre, selbst Jahrzehnte nach dem 
Zeitpunkt der Beobachtung abgefaßt weiden. 

Zusammenfassend wäre zu sagen: Die zahllosen Zeugnisse über okkulte 
Erscheinungen beweisen in den meisten Fällen nur, daß die Aussagenden 
nicht wissen, was in solchen Fällen wissenschaftliche Evidenz heißt. Denn 
ist überhaupt schon menschliches Zeugnis unzuverlässig, so wird es ganz 
besonders unzuverlässig unter den Umständen, die mit okkulten Erscheinungen 
verknüpft sind. (Autorreferat.) 

Herr Moll veranstaltete Demonstrationen aus seiner okkultistischen 
Bücherei. 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Moser, Land- 
gerichtsrat K a d e , Moll. 

Schluß der Sitzung q 5 / 4 Uhr. 



Donnerstag, den 21. November 1907. 

Beginn: 8 Uhr 20 Minuten. 

Vorsitzender : Herr Moll. 
Schriftführer: Herr West mann. 

Herr Prof. Dr. Schleich spricht über die 

,,P s y c h o p h y s i k des Rhythmus". 

Nacb den Ausführungen des Redners ist der Rhythmus, der in gleicher 
Weise am Lcwegtcn und Unbewegten, an der belebten und unbelebten Materie 
beobachtbar ist, der eigentliche Quell aller Bewegung, aller Formen, aller 
Eigenschaften. Sein letzter Urgrund ist die pendelnde Einstellung zweier 
sich widerstrebender Urmächtc: der Kraft und der Hemmung. Der Rhythmus 
ist der Pulsschlag des Universums, in ihm bekundet sich der Weltalls- 
odem, der alles Seiende durchdringt. Denn nicht nur das Bewegte ist rhyth- 
misch, auch das scheinbar Feste enthält den rasenden, rhythmischen Tanz 
der Atome, Jone, Elektronc umeinander und scheint nur fest, ähnlich wie 



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Sitzungsberichte. 



die rollende Erde nur stillzustehen scheint. Auch das körperliche und geistige 
Leben ist auf Rhythmus gestimmt. Auch hier ist der Rhythmus die Resul 
tantc der aktiven Nervenkraft und der Widerstandsbewegung der isolierenden 
Blutsäfte. Puls und Atmung haben die mannigfachsten Einflüsse auf rhyth- 
misches geistiges Geschehen. Die Seele des Menschen ist selbst eine Art 
Hemmung, so etwas wie ein Prisma, in dem sich Weltwellcn brechen, eine 
Harfe, auf der der Odem des Universums spielt. (Autorreferat.) 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Fcigs und 
Moser. Der Vortragende hatte das Schlußwort. 

Schluß der Sitzung 9V; l'h~ 



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Berichte und Besprechungen. 



Dr. med. Eugen Ncter: „Das einzige Kind und seine Er- 
ziehung." Der Arzt als Erzieher, Heft 25. 
Es ist ein ungemein wichtiges Kapitel, das der Verfasser hier einer 
eingehenden Betrachtung unterzieht. Das Thema ist zeitgemäß, einerseits, 
weil das einzige Kind eine „bedauerliche Erscheinung der Neuzeit" ist, 
anderseits, weil heute im allgemeinen zu viel erzogen wird und das natur- 
gemäß bei einzigen Kindern ganz besonders der Fall ist. 

Dr. N e t e r schildert in der kleinen Broschüre, welcher ein Geleit- 
wort von Professor Adolf Baginsky vorangestellt ist, den Typus des 
einzigen Kindes, wie er uns häufig im Leben begegnet. Ohne zu sehr zu 
verallgemeinern, wird uns gezeigt, wie gewisse Charaktereigenschaften 
(Egoismus, Unselbständigkeit, Frühreife z. B.) sich bei den Einzigen auf- 
fallend entwickeln. Der Verfasser führt dies auf das Fehlen eines „sozialen 
Zusammenlebens" mit anderen Kindern zurück und weist darauf hin, wie 
gefährlich es für das körperliche und seelische Gedeihen des Kindes ist, 
wenn die Sorge und Liebe der Eltern ihm ungeteilt zufällt. Besonders 
wichtig erscheint mir der Hinweis auf die allzu große Aengstlichkeit der 
Eltern, die oft zur Hypochondrie erzieht und einen guten Boden für 
psychogene Störungen bildet; auch die geistige Uebefanstrengung des 
vorschulpflichtigen Kindes — durch die elterliche Eitelkeit veranlaßt — , und 
anderseits oft die Langeweile desselben sind Faktoren, welche in dieser 
Beziehung ins Gewicht fallen. — Die Broschüre ist nicht nur für Eltern und 
Erzieher einziger Kinder lesenswert, denn manche Erziehungsfehler, welche 
darin einer Kritik unterzogen werden, sind allgemein verbreitet; vor allem 
haben aber alle „Nachzügler" und auch einzige Schwestern oder Brüder 
unter einer ähnlichen Ungunst der Verhältnisse zu leiden. 

Dr. N e t e r erörtert am Schluß seiner Arbeit die Frage, ob dem 
einzigen Kinde geholfen werden kann, ob es möglich ist, durch künsdiche 
Mittel den Ausfall bestimmter erzieherischer Faktoren zu ersetzen, wenn 
man nicht überhaupt dazu gelangt, das Ein-Kinder-System wieder ein- 
zuschränken. Zwar verkennt er nicht, daß bei der Erziehung dieser so 
benachteiligten Kinder geeigneter Verkehr, Kindergarten, Schule, gemein- 
same Spielnachmittage u. a. m. Hilfe leisten können, aber vollwertigen 
Ersatz für den fehlenden Geschwisterkreis bieten sie nicht, auch die beste 
Erziehung, die an die Eltern die Forderung größter SelbstdiszipÜnierung 
stellt, kanr. hier nur sehr schwer ausgleichen. „Hier gibt es keine anderen 
Mittel und Wege, die schlimmen Folgen bei der Erziehung eines einzigen 
Kindes zu vermeiden, als dadurch, daß man das Uebel als solches in seinen 
Ursachen bekämpft, und das ist nicht unmöglich." — Der Verfasser ver- 
sucht es deshalb mit „Vernunftgründen", die Motive, die Eltern in vielen 
Fällen dazu führen, sich mit einem Kinde zu begnügen, zu widerlegen. 
Zeitschrift für pädagogisch« Psychologie, Pathologie u. Hygiene. 4 



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Berichte und Besprechungen. 



Die Schrift schließt mk den schönen Worten Diester wegs: „Die 
höchste pädagogische Weisheit besteht überall darin, der Natur getreu 
zu verfahren." 

Berlin. NcllyWolffheim. 



Ernst und Gertrud Scupin: Bubis erste Kindheit. Kin 
Tagebuch über die geistige Entwicklung eines 
Knaben während der ersten drei Lebensjahre. Leip- 
zig, Griebens Verlag. 

Den Anregungen Preycrs folgend, haben E. und G. Scupin über 
die geistige Entwickhing ihres Kindes Tagebuch geführt, anfangs, ohne 
daß die Absicht bestand, das Buch der Oeffentlichkeit zu übergeben. Nur 
der Wunsch, das Beobachtete festzuhalten, um später einen U eberblick 
über das allmähliche Fortschreiten der kindlichen Geisteskräfte zu haben, 
und wohl die Lust an psychologischen Studien, war die Veranlassung dazu. 

Für die Veröffentlichung dieses Tagebuches muß man den Heraus- 
gebern dankbar sein, denn das Werk bietet für Psychologen und Pädagogen 
viel interessantes Beobachtungsmaterial; auch Eltern, denen daran liegt, 
tieferes Verständnis für die Psyche des kleinen Kindes zu gewinnen, können 
daraus lernen, und überhaupt wird jeder, der Kinder liebt, mit Vergnügen 
„Bubis" Entwicklungsgang verfolgen. 

Natürlich muß man sich hüten, nach derartigen Aufzeichnungen 
allzusehr zu verallgemeinern und die in dem Tagebuch vermerkten Beob- 
achtungen als eine Norm aufzufassen. Das geschilderte Kind scheint mir 
außergewöhnlich begabt zu sein, und manche der angeführten Tatsachen 
erscheinen fast unwahrscheinlich; so klingt es z. B. erstaunlich, daß ein 
drei Wochen altes Kind schon auf Farbengegensätze reagieren soll, und 
daß es in der fünften Woche „den Kopf der Schallquelle zuwandte und 
mit erstaunten Augen auf den Mund der Mutter sah, als diese zu pfeifen 
begann". (S. 3 u. 5.) Mir kamen beim Lesen des Buches mitunter Zweifel, 
ob alle Beobachtungen ganz den Tatsachen entsprechen. Es ist natürlich 
keine Frage, daß die Verfasser nach bestem Wissen ihre Aufzeichnungen 
machten, aber jeder, der einmal bewußt psychologische Studien gemacht 
hat, weiß, wie schwer es ist, vollkommen objektiv zu bleiben, und wie 
leicht man dazu kommt, das zu sehen, was man zu sehen erwartet Aber 
das sind kleine Ausstellungen, als Ganzes bleibt das Buch höchst be- 
achtenswert, und besonders sind die Tabellen über die Entwicklung des 
Faibensinncs und über das allmähliche Heranwachsen des Wortschatzes 
von größtem Interesse. Eine chronologische Uebersicht am Schluß des 
Buches gibt in gedrängter Form eine klare Zusammenfassung der ge- 
wonnenen psychologischen Erfahrungen und erleichtert — ebenso wie das 
Sachregister — das Wiederauffinden der Punkte, die beim Lesen be 
sonders interessierten, die man miteinander zu vergleichen wünscht oder 
in ihrer Entwicklung nochmals verfolgen will. 

Für die Erziehung wichtige Momente, wie man sie nur dem Leben 
ablauschen kann, finden sich viele in dem Tagebuch, und der Erzieher 



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Berichte und Bwprechungm. 



467 



erhält bei der Lektüre manchen Fingerieig. Wie sich die Eindrücke, welche 
das Kind empfängt, in seinem Spiele wiederspiegeln, wie das Kind kom- 
biniert, beobachtet, was es betrübt und erfreut, was es erschreckt und 
ängstigt — all das ist in den Aufzeichnungen zu finden. Sehr inter- 
essant ist z. B. nachgewiesen, wie ein Traum des Kindes (im 36. Monat) 
die Ursache zu einer vorläufig unausrottbaren Angst vor Spinnen wird. — 

So weit das Buch in seiner Bedeutung für den Leserl Zum Schluß 
möchte ich aber noch ein paar Worte über das Anlegen derartiger Tage- 
bücher sagen. Im allgemeinen soll man sich hüten, ein Kind allzusehr 
zum Studienobjekt zu machen. Wie bei so vielen Dingen, ist auch hier die 
Frage: Was ist größer, der Nutzen für die Allgemeinheit oder der Schaden 
für den Einzelnen? Wie oben nachgewiesen, ist diese Veröffentlichung 
nützlich, — schädlich könnte sie aber werden, wenn sie viele Eltern zum 
Anlegen eines so eingehenden Tagebuches anspornen würde. Denn 
ein Kind weiß bald, wenn es beobachtet wird, und auch so junge Kinder 
bemerken schon, wenn das, was sie sprechen, umgehend gebucht wird; 
welche Nachteile dies in erziehlicher Hinsicht hat, brauche ich lüer nicht 
auseinanderzusetzen. Und vor einem muß man sich vor allem hüten: kein 
Vorgreifen, kein Uebcreilen, sondern den Geist naturgemäß sich entwickeln 
lassen; deshalb hüte man sich vor einem Experimentieren, wie es die 
„Farbenübungen" bei einem zweijährigen Kinde sind. 

Berlin. NellyWolffheim. 



Helene Niehusen: „Musik für unsre Kleinen". Verlag 
Alexander Dunker. 1 Mk. 

Diese kleine Schrift ist aus der Praxis entstanden; die Verfasserin 
hat als Kindergärtnerin und Leiterin der Musikstunden im Pestalozzi- 
F röbelhaus zu Berlin reichlich Gelegenheit, Erfahrungen auf dem 
Gebiet zu sammeln, das sie hier mit Liebe und Begeisterung dem Leser 
nahebringen möchte. Und niemand wird das Buch aus der Hand legen, 
ohne Anregungen daraus empfangen zu haben. Gerade weil Helene 
N i e h u s e n von vornherein betont, nur Fingerzeige, kein Schema geben 
zu wollen, ist diese Veröffentlichung von Wert. 

Die meisten kleinen Kinder freuen sich, wenn sie Musik hören, und 
man kann sagen, alle sind beglückt, wenn sie selbst „Musik" machen 
können. Wenige Spielsachen bereiten so viel Vergnügen wie Trompete, 
Trommel, Hammer-Klavier usw. ; teils ist der hervorgebrachte Ton, teils 
ein gewisser Rhythmus die Ursache. Mir erscheint jede Freude der 
Kinder (die nicht Nachteile mit sich bringt) Selbstzweck zu sein und wert, 
gepflegt zu werden; wieviel mehr ist das bei der Freude an der Musik 
der Fall, die, wenn sie gepflegt wird, eine Glücksquelle für das ganze 
Leben bedeuten und zur Verfeinerung und Verinnerlichung der ganzen 
Persönlichkeit beitragen kann. 

Wenn man liest, wie die Verfasserin mit kleinen — vorschulpflich- 
tigen und größeren — Kindern Musik treibt, wird man unwillkürlich an- 
geregt, es ihr nachzumachen, um sich selbst und den Kindern eine frohe 
Stunde zu bereiten, und die Furcht, etwa einen verfrühten Unterricht damit 
zu geben, wird man bald verlierea Denn hier wird nichts geboten, was 



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Hct'i-chte und Bwprcchutiycn. 



nicht mit Kindern erprobt und von Kindern glückstrahlend aufgenommen 
wurde. Trommel, Becken, Tamburin, Triangel, Glockenspiel und Kastag- 
netten sind die Instrumente der Kinder, mit denen sie in entsprechender, 
dem jeweiligen Musikstück angepaßter Weise, das Klavierspiel begleiten. 
Ueber die Art der Anleitung und Ausführung, über die Auswahl der Musik- 
stücke, über den Inhalt der ausgearbeiteten Musikstunden will ich hier 
nichts berichten, um der Lektüre des Buches nicht vorzugreifen. Er 
staunlich ist es, wie schnell die Kinder selbst herausfinden, wann das be- 
treffende Instrument am Platze ist, welchen feinen Sinn für Melodie und 
Rhythmus sie haben, wie das Gehör sich bildet und dis Unterscheidungs- 
vermögen sich durch diese Musikübungen schärft. Die Einführung dieser 
Art Musik in die obere Abteilung der Kindergärten, vor allem aber in die 
Vorschulklassen, halte ich für erstrebenswert und wünsche deshalb Helene 
Niehusens Buch rechte Verbreitung in pädagogischen Kreisen. Doch 
auch die Familicnerzichung kann mancherlei Anregungen daraus schöpfen. 
Hier kommt auch besonders der Schlußteil in Betracht, der Anleitung gibt, 
was man den Kindern an musikalischen Vorträgen — Gesang und Instru- 
mentalmusik — bieten kann und wie man es tun soll. Daß das Hören guter 
Musik ganz besonders ins Gewicht fällt, wenn man musikalisches Empfinden 
und die Liebe zur Musik in das kindliche Gemüt pflanzen will, ist nicht ru 
bezweifeln. Musikalisches Talent kann man nicht anerziehen, aber ein ge- 
wisses Verständnis für die Musik und die Freude an ihr läßt sich durch rechte 
Leitung erzielen. 

Berlin. Nelly Wolffhcim. 



Dr. Fr. W. Foerster: Jugcndlehrc. Ein Buch für Eltern, 
Lehrer, Geistliche. — Berlin, Georg Reimer. 1905. 
724 S c i t e n. Geb. 6 Mk. 

Derselbe: Lebenskunde. Ein Buch für Knaben und 
Mädchen. (Die Beispiele der „Jugendlchre" für die 
Hand der Kinder gesammelt.) Verlag wie oben. 
Geb. 3 Mk. 

Fr. W. Foerstcrs „Jugendlehre" ist ein pädagogisches Buch, das 
auch außerhalb der Fachkreise Interesse verdient und das von allen EKcra 
und Erziehern gelesen werden sollte. Ich gehe sogar weiter und behaupte, 
daß jede denkende Persönlichkeit, auch wenn sie keine Gelegenheit bat, 
erzieherisch zu wirken, aus diesem Werk Anregung und Nutzen ziehen wird. 

Foerster gibt in seinem Buch zuerst einen Ueberblick über die 
Ausdehnung und Wirkung, die der Moralunterricht in Schulen verschiedener 
Länder (Amerika, England, Frankreich, Schweiz) gewonnen hat, und erklärt 
uns vor allem, was unter diesem Lehrfach zu verstehen ist, wie es erteik 
werden muß. Moralunterricht — besser mit dem treffenderen und schöneren 
Ausdruck „Lebenskunde" zu bezeichnen — soll nach Ansicht vieler Päda- 
gogen an Stelle des Religionsunterrichtes treten oder eine Ergänzung ru 
ihm bilden. Die ,, Lebenskunde" vermittelt den Kindern die Grundsätze 
der Ethik und soll sie dadurch für das Leben vorbereiten, und vor allem 
helfen, sie innerlich zu vertiefen und zu ethisch hochstehenden Menschen 



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Berichte und Besprechungen. 



469 



zu erziehen. Es würde hier zu weit führen, darauf einzugehen, ob es 
wünschenswert wäre, den Religionsunterricht aus der Schule zu verbannen 
und ihn ganz als Sache der Familienerziehung zu betrachten; ich will 
nur darauf hinweisen, worin der Nutzen der „Jugendlehre" nach Foerster- 
sehen Grundsätzen (sei sie nun neben oder an Steile der Religionsstunde 
geboten) besteht. 

„Moralunterricht", dies Wort ist häßlich, es klingt zu schulmeisterlich, 
pedantisch und läßt die Befürchtung entstehen, daß Moral und Tugend* 
haftigkeit durch weise Lehren den Kindern eingetrichtert werden sollen. 
Und ich muß bekennen, daß mich das, was ich früher über diesen Gegen- 
stand gelesen habe, auch durchaus nicht dafür einnahm. Kann man Moral 
lehren? Nein! Aber man kann zum Denken erziehen, zum Beobachten, 
zum Vergleichen; man soll den Boden schaffen, auf dem das Gute sich 
entwickelt, und muß die Samenkörner ausstreuen, die dort keimen und 
Wurzel fassen können; man kann den Wunsch nach Selbstemporhebung 
und wahrem Menschentum anregen und vor allem zum rechten Handeln 
erziehen. Dazu hilft uns die Foerster sehe „Jugendlehre", die, wie ge- 
sagt, durchaus nicht nur der Jugend nutzbar zu sein braucht. Vor allem 
weist sie allen erzieherisch tätigen Menschen den Weg; dem Familien- 
leben kann sie eine Stütze werden. 

Foerster geht vom täglichen Leben aus, und die vielen Beispiele, 
welche er in seinem Buche für die Art der Besprechungen gibt, wie et 
sie mit Kindern praktisch durchgeführt hat, zeigen, daß er weiß, was 
not tut. Kleine, scheinbar unwichtige Vorkommnisse und Tätigkeiten bilden 
oft den Ausgangspunkt. „Was man beim Staubwischen lernen kann", ist 
z. B. ein Thema. Ja, haben wir Großen uns das selbst schon einmal über- 
legt, daß man aus einer so „nebensächlichen" Arbeit Nutzen für sich 
selbst, für seine innere Persönlichkeit ziehen kann? „Warum wir arbeiten", 
„Beseelte Hände", womit die durch Sorgfalt, Umsicht und zarte Liebe 
geleiteten Handreichungen gemeint sind, sind Themen, die u. a. zur Be- 
sprechung der Psychologie und Pädagogik der Arbeit dienen. — Die 
Stellung des Kindes zu seinen Eltern und Geschwistern, zum Lehrer, zu 
den Mitmenschen, Arm und Reich, Freund und Feind, wird dem Leser 
vor Augen geführt und seinem Nachdenken empfohlen. Das komplizierte 
Verhältnis der Kinder zu den Dienstboten beleuchtet Foerster in ein- 
gehender Weise, wie ja natürlich das ganze soziale Leben in Betracht 
gezogen wird. 

Ueber Erziehung zur Selbständigkeit, über das Verantwortlichkeits- 
gefühl sich selbst und der Allgemeinheit gegenüber, von den Gewohn- 
heiten, der Selbstbeherrschung, über die Rückwirkung unseres Tuns auf 
uns selbst spricht Foerster mit den Kindern. Nicht zu vergessen ist 
das so überaus wichtige Kapitel über die sexuelle Aufklärung der Jugend, 
über die ethischen Gesichtspunkte der Beziehungen der Geschlechter usw. 
Die Beispiele sind fertig ausgeführte Lektionen. — Aus dem Vorher- 
gehenden wird man sehen, daß sehr viele dieser Lehrstoffe schon immer in 
dem Religionsunterricht besprochen wurden. Foerster geht aber von der 
richtigen Beobachtung aus, daß all das den Kindern nachhaltigsten Eindruck 



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470 



Berichte und B«iprechüngrn. 



macht, was aus ihrem Gesichtskreis genommen ist und an Sclbslcrlcbtes 
und Selbstgcschautes anknüpft. 

Doch der Grund, weshalb ich das Buch für die Familienerziehung 
nutzbar gemacht sehen will, liegt auf einem anderen Gebiet. Nicht etwa 
soll neben dem Schulunterricht eine neue Last — eine „Moralstunde" — 
den Kindern aufgebürdet werden, sondern ich wünschte, der Geist des 
Foerster sehen Buches würde in die Familien eindringen. Wohl wäre 
es gut, wenn Mütter und Erzieherinnen gelegentlich in Stunden der Ein- 
kehr, der Gemütlichkeit, der Andacht, Unterhaltungen nach dem Muster 
des Buches, das ihnen ein Leiter sein könnte, pflegen würden. Die Haupt- 
sache ist und bleibt aber das Ausströmen der Idee, die Belebung und Ver- 
innerlichung der Persönlichkeiten nach Art des Fo e rs t e r sehen Ideals. 

Wer mit Foerster und vielen anderen Pädagogen, z. B. Friedrich 
F r ö b e 1 , der Ansicht ist, daß Erziehung in erster Linie „das Heraus- 
ziehen von angeborenen Anlagen" ist — „durch die Beförderung und Er- 
mutigung des Guten stirbt viel Schlechtes schon von selbst ab" — , wird 
den Wert des Buches anerkennen. Das Gesunde und Gute im Kinde 
muß entwickelt werden, daß es sich kräftigt, stärkt und die schlechten 
Eigenschaften überwuchert und so im Keime erstickt. Natürlich alles kann 
die Erziehung nicht machen, aber „es hängt von ihr ab, welche Sehe 
des angeborenen Charakters zu vorwiegender Entwicklung gelangt und 
welche zur Verkümmerung bestimmt wird". Die häusliche Atmosphäre soll 
eben den Einfluß in dieser Richtung geben, unterstützt von dem Wirken 
der Schule. Solange aber unsere Unterrichtsanstalten noch in so hohem 
Grade nur Lernschulen sind, hat das Haus die doppelte Verantwortungi 
Und solange an Einführung eines ethischen Unterrichts in obigem Sinne 
in den Schulplan noch nicht zu denken ist, müßte das Foerster sehe Werk 
ein rechtes Familienbuch werden. Es kann auch dazu beitragen, die Eltern 
für ihre Aufgabe zu erziehen und sie allseitig zu beeinflussen; bei der 
Wichtigkeit, die das Beispiel in der Erziehung ausmacht, ist das von 
nicht zu unterschätzender Bedeutung. Vielerlei zum Nachdenken findet 
der Leser in dem Buch: die Prügelstrafe wird einer ernsten Kritik unter- 
zogen, das Verhältnis der Moralpädagogik zur Pathologie wird erörtert, 
die Alkoholfragc in ihrer Beziehung zur Erziehung beleuchtet. — Ich 
glaube, es ist genug aus dem reichen Inhalt angeführt, um einen Uebex 
blick übe.* die weitumfassende Bedeutung des Werkes zu gewinnen. Als 
kurze Zusammenfassung kann man sagen: „Das Leben selbst sei der Lehr- 
meister, darum Menschenkunde, Lebenskunde. Es gilt zu beobachten und 
die Bedürfnisse seiner selbst und anderer zu erforschen und zu prüfen." 
Aus der Fülle eigenen ethischen Lebens will der Schriftsteller ein tiefes 
Bedürfnis in der Jugend erwecken, die täglichen Lebensformen in den 
Dienst eines höheren Zieles, einer feineren Sitte zu stellen. Ein Won 
Moritz von Egidys möchte ich hinzufügen, das sich mit den 
Foerster sehen Gedanken deckt : „Religion nicht mehr neben unserem 
Leben, unser Leben selbst Religion." Und vielleicht kann uns die 
Foerster sehe „Jugendlehre" als Wegweiser dienen t 

Berlin Nelly Wolffheim. 



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Mitteilungen. 



Schulärztliches. 

Der Jahresbericht über den Stand der dem Volksschulrektorate unter- 
stellten städtischen Schulen in Mannheim vom Jahre 1905/06 enthält über 
die Tätigkeit des Schularztes folgende Ausführungen: • 

Mit dem Ostertermin 1905 begann die regelmäßige Tätigkeit des Schul- 
arztes. Dieselbe erstreckte sich in der a Hauptsache auf die hygienische 
Ueberwachung der Schulgcbäude und des Schulbetriebs einerseits, auf die 
individuellen Gesundheitsverhältnisse der Schulkinder andererseits. Der 
Schularzt besuchte die einzelnen Schulabteilungen in der Regel einmal monat- 
lich, wobei zunächst mit den Oberlehrern über allgemeine Gesundheitsverhält- 
nisse Rücksprache genommen wurde. Besuche in einzelnen Kreisen gaben 
Veranlassung, die Sitzhaltung der Kinder beim Schreiben, sowie die Reinigung, 
Lüftung und Heizung der Lokale zu kontrollieren. Es wurden im ganzen 
404 Klassenbesuche vorgenommen. In den einzelnen Schulabteilungen wurde 
gelegentlich der monatlichen Besichtigung durch den Schularzt in einem 
besonders zur Verfügung gestellten Zimmer jeweils eine Sprechstunde ab- 
gehalten, in der diejenigen Kinder untersucht wurden, die von ihren Klassen- 
lehrern bezw. Klassenlehrerinnen hierfür vorgemerkt waren. Für diese Vor- 
merkung ist in jeder Schulabteilung eine besondere schulärztliche Unter- 
suchungsliste aufgelegt. 

Die Befunde der Untersuchung werden sofort schriftlich vermerkt. Ueber 
die Notwendigkeit besonderer Fürsorge (Solbad, Ferienkolonie, Schülerfrüh- 
stück oder Volksküchenernährung) oder vom Bestehen wichtiger Krankheits- 
erscheinungen, welche weitere ärztliche Behandlung als notwendig erscheinen 
lassen, wird jeweils eine geeignete Mitteilung an das Elternhaus gegeben, die 
durch einen diesbezüglichen Vermerk in einer besonderen Rubrik der Unter- 
suchungsliste notiert wird. Die Zahl der in den Schulabteilungen vor- 
genommenen Sprechstunden betrug 168 mit 1561 Schüleruntersuchungen. 

Ueber die näheren Einzelheiten gibt folgende Zusammenstellung Aus- 
kunft: Zahl der untersuchten Kinder 1561, Krankheiten von Lunge, Herz 
und Bauchorganen 387, Blutarmut und chronische Erkrankung 168, Haut- 
krankheiten und Parasiten 379, Verkrümmung der Wirbelsäule und des 
Knochengerüstes 51, Krankheiten der Augen 329, Krankheiten der Ohren 92, 
Mund-, Nasen- und Rachenkrankheiten 77, Psychische und nervöse Störungen 
78, Mitteilungen an die Eltern 356. 

Um den praktischen Nutzen der Erhebungen und Mitteilungen für das 
Elternhaus festzustellen, wurde angeordnet, daß die Mitteilungsformulare 
nach acht Tagen, mit einem Vermerk über positiven oder negativen Erfolg 
versehen, an den Klassenlehrer zurückzugeben sind. Auf Grund der Mit- 
teilungen wurde in etwa zwei Drittel aller Fälle ärztliche Behandlung ein- 
geleitet. Im Monat Januar wurden unter Mithilfe der Lehrerschaft in einer 
besonderen, 369 Kinder umfassenden Nachuntersuchung die Erfolge der 
Ferienkolonien nachgeprüft. Die Untersuchung erstreckte sich auf die Zahl 
der Krankheitsveisäumnissc, welche die Koloniekindor vor und nach dem 



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472 



Mitteilungen. 



Landaufenthalte hatten, auf den allgemeinen Gesundheitszustand, wie er 
sich nach der Auffassung der Klassenlehrer geändert hatte, und auf das 
Urteil des Kolonieführers über die Veränderung des Aussehens der Kinder 
zwischen dem Tag der Rückkehr aus der Kolonie und dem Tag der Nach- 
untersuchung. Durch den Arzt wurde Aussehen und allgemeiner Gesund- 
heitszustand festgestellt, wobei berücksichtigt wurde, ob nach dem Kolonie- 
aufenthalt noch weitere Unterstützungen durch Milchabgabe oder Volksküchen- 
ernähAing gewährt worden war. Zahlenmäßig sind die Ernährungsverhältnisse 
durch Feststellung des Körpergewichts im Vergleich zum früheren Gewicht 
ermittelt worden. Die Vorteile für den Unterricht wurden bei allen Kindern 
durch Erhebung der Fleiß- und Leistungsnote nachgeprüft. Für die Kinder 
der Hilfsklassen wurden weitere Erhebungen über den beobachteten Fort- 
schritt in psychischer Hinsicht angestellt. Während des Winters wurde der 
Milchabgabe an bedürftige Kinder insofern besondere Aufmerksamkeit zu- 
gewendet, als für die richtige Behandlung der angelieferten Milch besondere 
Vorschriften getroffen und die richtige Handhabung der Milchverteilung 
teilwebe an Ort und Stelle kontrolliert wurde. Auch die Verabreichung von 
Schulbädern wurde gelegentlich einer Nachschau unterzogen. Um die Ein- 
ordnung der Schüler in die ihrer Körpergröße entsprechenden Schulbänke 
zu ermöglichen, wurden auf Veranlassung des Schularztes durch die Lehrer- 
schaft an 5426 Knaben und 3356 Mädchen Schülermessungen vorgenommen. 

Die Haupttätigkeit des Schularztes erstreckte sich auf die Gesundheits- 
verhältnisse der Schulanfänger. Für jedes in die unterste Klasse der Volks- 
und Bürgerschule neu eingetretene Kind wurde ein besonderer Personalbogen 
angelegt. Die Form der hier benutzten Personalbogen weicht in nicht unerheb- 
licher Weise von den sonst gebräuchlichen Gesundheitsscheinen ab. Es 
wurde der Gedanke zugrunde gelegt, daß Feststellungen hinsichtlich der 
Körperbescbaffenheit allein nicht genügen, um ein Urteil über ein Kind 
abzugeben, sondern daß diese Angaben zu ergänzen sind durch Erhebungen 
betreffs der häuslichen Verhältnisse, der früheren überstandenen Krankheiten 
und der geistigen und moralischen Eigenschaften, die sich schon in der 
Kinderstube bemerkbar gemacht haben. Auch die bisherigen Leistungen in 
der Schule und die bei bedürftigen Kindern ergriffenen fürsorglichen Maß- 
nahmen und deren Erfolg sollen in späteren Jahren zur Vervollständigung 
des Gesamtbildes der Eigenschaften eines Kindes herangezogen werden. 

Die Erhebung der Personalien und früheren gesundheitlichen Verhält- 
nisse der Kinder geschah durch einen besonderen Fragebogen an das 
Elternhaus, dessen Text sich mit dem ersten Teile des Personalbogens deckt. 
Bei der Anmeldung gelangten im ganzen 3549 Fragebogen zur Ausgabe, die 
innerhalb drei Tagen ausgefüllt wurden. Nur in 154 Fällen (ca. 4»/» Prozent) 
mußten die Eltern an die Ausfüllung der Bogen erinnert werden; in keinem 
einzigen Falle wurde, in erfreulichem Gegensatz zu den anderwärts gemachten 
Erfahrungen, die Ausfüllung des Bogen verweigert. Die große Reihenunter- 
suchung der Schulanfänger wurde in drei Terminen vorgenommen. Im 
ersten Termin fand eine kurze Besichtigung aller Kinder statt, um die infolge 
mangelhafter Körperentwicklung noch Unfähigen auszuscheiden und Kinder 
mit ansteckenden Krankheiten zu ermitteln. Für erstere wurden im ganzen 
43 Schulbefreiungen beim Rektorat beantragt, bei den letzteren die nötigen 



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Mitteilungen. 



473 



Vorbeugungsmaßregeln gegen Weiterverbreitung durch die Schule angeordnet. 
Im zweiten Termine erfolgte eine genaue Besichtigung und Untersuchung 
des Knochengerüstes, der Brustorgane und der Gesamtkonstitution mit Er- 
mittlung des Körpergewichts, der Größe und Atemweite. Der dritte Termin 
war der Prüfung der Sehschärfe und des Gehörs vorbehalten. Ueber alle 
Befunde machte der Klassenlehrer einen Vermerk in den im Personalbogen 
enthaltenen Gesundheitsschein. Die Resultate dieser großen Schulrekruten- 
musterung sind bei der obigen Zusammenstellung außer acht gelassen und 
bleiben besonderer Bearbeitung vorbehalten. 

Die gleichen Untersuchungen wie für die Schulanfänger — nicht aber in 
Terminen getrennt — fanden für die Kinder von drei Wiederholungs- 
klassen statt. Bei 33 Kindern, die aus den verschiedensten Jahrgängen zur 
U eberweis ung in das Hilfsklassensystem in Frage kamen, wurden außer der 
körperlichen Untersuchung noch die eingehendsten Erhebungen über die 
Erblichkeitsverhältnisse, den Grad und die klinische Beurteilung der vor- 
liegenden geistigen Schwächezustände vorgenommen. In der außerhalb der 
Schulzeit in der Friedrichsschule abgehaltenen Sprechstunde des Schularztes 
sind 564 Personen beraten worden. Der Schularzt nahm an den Sitzungen der 
Schulkommission und an verschiedenen amtlichen Konferenzen bezüglich bau- 
licher Veränderungen und Planausarbeitung von Neubauten teil. 



Statistik der Krüppelkinder. 

Amtliche Erhebungen auf Grund ministerieller Verfügung. 

Man weiß, daß die Zahl der Krüppel sehr groß ist, es gibt mancherlei 
Krüppelstatistiken, aber durchweg zuverlässige Zahlen besitzt man nicht. 
Man weiß auch, daß für sehr viele Krüppel nicht nur mit Menschenliebe, 
sondern auch mit Chirurgie gesorgt werden kann, wie viele aber zu ver- 
sorgen sind, w i e groß das Bedürfnis nach Krüppenlheimen ist, das weiß 
man nicht. Dabei hat die Krüppelfrage eine eminent soziale Bedeutung. 
Man bedenke nur, daß die Mehrzahl der Krüppel dauernd zu den unselb- 
ständigen Personen gehören, man bedenke, wie viele Arbeitskräfte in ihnen 
dem Wirtschaftsleben verloren gehen und wie sehr sie selbst durch die 
Kosten ihrer Pflege und Unterhaltung, durch die Behinderung anderer an 
der Arbeit das Wirtschaftsleben belasten. Seitdem man erkannt liat, daß 
mit den Mitteln der orthopädischen Chirurgie eine sehr große Zahl von 
Krüppeln zu erwerbsfähigen Menschen gemacht werden können, bat eine 
lebhafte Agitation für Krüppelheime eingesetzt Diese Agitation kann erst 
dann dauernden Erfolg haben, wenn dem Publikum und den Behörden die 
Größe des Bedürfnisses zahlenmäßig nachgewiesen wird. 

Der Deutsche Zentralverein für Jugendfürso rge hat 
vor kurzem den Kultusminister und den Minister des Innern zu bestimmen 
gewußt, amtliche Erhebungen über die Zahl der Krüppelkinder zu veran- 
lassen. Am 10. Oktober d. J. werden in Preußen alle Krüppelkinder ge- 
zählt werden. Das eingehende Material wird von der AbteUung „Gesund- 
heitspflege" bez. deren Gruppe „Krüppelfürsorge" des Zentralvereins für 
Jugendfürsorge verarbeitet werden, die auch die Zählkarten liefert. Von 
Bedeutung ist, daß nicht nur die Zahl der Krüppelkinder, sondern ihre 



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474 



wirtschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Besonderheit der 
Verkrüppelungcn festgestellt werden sollen. Die Verfügung des Kultus- 
ministers lautet: 

Der Minister der geistlichen, 
Unterrichts- und Medizinal- 
angelegenheiten. 

— 

M. d. g A. M. Nr. 7083 U III A. 
M. d. Inn. IVc. Nr. 1316. 

Berlin W. 64, den 30. Juli 1906. 

An 

die Herren Oberpräsidenten. 

Der Deutsche Zentralverein für Jugendfürsorge beabsichtigt, Er- 
hebungen über die Zahl der Krüppelkinder anzustellen, um eine zu- 
verlässige Unterlage für den Ausbau der praktischen Krüppelfürsorge 
zu gewinnen, deren Erweiterung und Neugestaltung mit Hilfe der ortho- 
pädischen Chirurgie und dadurch die besondere Art des Unterrichts 
in geeigneten Krüppelanstalten angestrebt wird. Der Verein will die er- 
forderlichen Feststellungen und deren Bearbeitung auf eigene Kosten 
ausführen lassen und bittet nur insofern um die Unterstützung der Behörden, 
als die von ihm zu liefernden Zählkarten und Beiblätter, von denen je 
eine Abschrift beigefügt ist, durch die Ortspolizeibehörden bezw. unter 
deren Aufsicht ausgefüllt werden möchten. 

Derartige Erhebungen mit Hilfe der Ortspolizeibehörden sind bereits 
vor einigen Jahren durch auf dem Gebiete der Krüppelfürsorge bewährte 
Persönlichkeiten für den Umfang der Provinzen Schlesien, Sachsen, 
Schleswig-Holstein und Rheinprovinz angeregt und durch die betreffenden 
Herren Oberpräsidenten mit gutem Erfolge veranstaltet worden. 

Bei der hohen sozialen Bedeutung einer geordneten Fürsorge für 
die verkrüppelten Kinder erscheint es auch uns erwünscht, über die Zahl 
und Eigenart der vorhandenen Krüppelkinder in Stadt und Land unterrichtet, 
zu werden. 

Eure Exzellenz ersuchen wir daher ergebenst, die vom deutschen 
Zentralverein für Jugendfürsorge erbetenen Erhebungen gefälligst zu ver- 
anlassen und die nachgeordneten Behörden mit entsprechender Weisung 
zu versehen, indem wir dazu folgendes bemerken: 

Der genannte Verein wird die überschlägig ermittelte Anzahl von 
gedruckten Zählkarten nebst den Beiblättern für die Ortspolizeibehörden 
an die Regierungspräsidenten unmittelbar einsenden, welche anzuweisen 
sind, die für jeden Kreis festgestellte Zahl von Exemplaren nach dem 
von dem Verein ebenfalls mitzuliefernden Ziffernverzeichnis an die Land- 
rätc (Oberbürgermeister) mit dem Ersuchen zu übersenden, die Zähl- 
karten und Beiblätter durch die Ortspolizeibehörden mit Hilfe der Ge- 
meindevorsteher und Lehrer in den einzelnen Gemeinden am 10. Ok- 
tober d. Js. ausfüllen zu lassen. Sollte die Zahl der übersandten Zähl- 
karten nicht ausreichen, so sind weitere Exemplare direkt von dem 
Bureau des Deutschen Zentral Vereins für Jugendfürsorge, Gruppe „Krüppel- 
fürsorge", Berlin S. 59, Hasenhaide 66, zu erfordern. 



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Mitteilungen 



475 



Die ausgefüllten Zahlkarten und Beiblätter sind sodann an die 
Kreisärzte zur Nachprüfung und Aufstellung einer kurzgefaßten Ueber« 
sicht für die Kreisarztakten zu übersenden. Die Kreisärzte haben die 
Zählkarten nebst Beiblättern und einer Abschrift der Kreisübersicht durch 
die Hand des Landrats (Oberbürgermeister) an die Regierungspräsidenten 
und diese das Bezirksmaterial an mich, den mitunterzeichneten Minister 
der Medizinalangelegenheiten, weiterzureichen. 

Eure Exzellenz wollen hiernach das Erforderliche gefälligst veran- 
lassen und dafür Sorge tragen, daß alle Zählkarten und Beiblätter am 
15. November d. Js. hier eingegangen sind. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. 

I. V. : gez. W e v e r. 

Der Minister des Innern. 
I. V. : gez. Bischoffshausen. 

Für jedes einzelne Krüppelkind wird je eine Zählkarte verwendet, deren 
Vorderseite alle Personenangaben, deren Rückseite sehr eingehende Er- 
läuterungen enthält. . . 

Wortlaut der Zählkarte. 
(Vorderseite.) 

Zählkarte für das einzelne Krüppelkind. 
(Erläuterungen auf der Rückseite.) 

Zählung der Krüppelkinder am 10. Oktober 1906. 

Diese Karte ist bis 15. Oktober 1906 zu senden an den Königlichen 
Kreisarzt. 



Bundesstaat: 

Kreis pp. : . Gemeinde : 

1. Vor- und Zuname des Krüppelkindes: 

2. Geboren am (Tag, Monat, Jahr): 
Konfession : 

3. Wo hält sich der Krüppel auf? (Genaue Adresse und Stand der 
Eltern oder Pfleger): (Zutreffendes unterstreichen.) 

In einer öffentlichen, privaten (Kranken- oder Pflege-) Anstalt ? 
. . . . Ist er landarm? 

4. Wer unterhält den Krüppel? .... ausreichend, kümmer- 
lich ? (Zutreffendes unterstreichen.) 

Außerdem noch private oder öffentliche Unterstützung? (Kirche, 
Armenpflege.) (Zutreffendes unterstreichen.) 
Wie hoch ist diese jährliche Beihilfe? 

Erwirbt der Krüppel selbst mit? und wieviel jähr- 
lich? Durch welche Tätigkeit? Betteln? 

Schaustellung ? 

5. Betrifft die Verkrüppelung Kopf, rechte, linke Körperhälfte, Rumpf, 
rechten, linken Arm, rechte, linke Hand, rechtes, linkes Bein, rechten, 
linken Fuß? (Zutreffendes unterstreichen.) 



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476 



Mitteilungen. 



Genaue Bezeichnung des krüppelhaften Leidens (möglichst im An- 
schluß an die Krankheitsbezeichnungen in der Erläuterung). 

Ist die Verkrüppelung angeboren oder später (in welchem Lebensjahr ? 
. , . . .) und wodurch entstanden? 

6. Bestehen außer der Verkrüppelung noch epileptische Krämpfe oder 
Muskelzuckungen oder dauernder Muskelkrampf? (Zutreffendes unter- 
streichen.) Oder Lähmung einzelner und welcher Glieder? 

oder Nervenschwäche? oder Taubstummheit, Blindheit? 

(Zutreffendes unterstreichen.) 

Sonstige chronische Krankheiten? welche? 

7. Ist der Krüppel geistig gesund? oder gar hervor- 
ragend befähigt? oder besteht sonst Schwachsinn, Blödsinn, Stumpfsinn, 
Reizbarkeit, Neigung zu Böswilligkeit und Verbrechen? 

(Zutreffendes unterstreichen.) 

8. Hat der Krüppel Unterricht in einer Vollschule (Höhere Schule, 
Volksschule) erhalten? oder Privatunterricht? oder in einer Schule für 
Schwachbefähigte? (Zutreffendes unterstreichen.) 

Wie lange ? Welchem Alter eines geistig normalen Kindes 

entspricht seine Schulbildung? Ist er noch gar nicht unter- 
richtet? Warum nicht? Hat er Handfertigkeits- 
Unterricht erhalten? welchen? Mit oder ohne 

Erfolg? 

9. Sind bei leiblichem Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Großvater, 
Großmutter, bei Blutsverwandten, Onkel, Tante, beobachtete Verkrüppe- 
lungen? welche? Schwachsinn, Blödsinn, Epilepsie, Taub- 
stummheit, Blindheit? (Zutreffendes unterstreichen.) 

Sind die leiblichen Eltern miteinander blutsverwandt? 

Wie? 

10. Sind Heilungsversuche unternommen? Wann? 

Von wem? (Adresse des Arztes) Wo? 

Wie lange? Wodurch? Operation (an Knochen, Muskeln, 

Sehnen?) Verbände (Gips, Streckverband, Korsetts, künstliche Glieder, 
Schienenapparate.) Ist der Krüppel geheilt (soweit sein Leiden heilbar ist), 
gebessert, ungeheilt, in Behandlung? (Zutreffendes unterstreichen.) Ist eine 
Unterbringung in einem Krüppelheim erwünscht? 

Unterschrift und Adresse des Auskunftgebers. 

(Rückseite.) 



Erläuterungen. 

Infolge einer Verfügung der hohen Landesregierung soll eine Zählung 
der im Staate vorhandenen jugendlichen Krüppel vorgenommen werden. 

Krüppelkinder sind Kinder, welche infolge angeborener Fehler oder 
durch Verlust, Verkrümmung oder Lähmung oder Muskelkrampf einzelner 
Körperteile in der Bewegungs- und Gebrauchsfähigkeit ihrer Gliedmaßen 
dauernd beeinträchtigt sind. 

Gezählt werden nur Krüppelkinder, die am 10. Oktober 1906 das 
15. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Als Gemeinde, in welcher das 



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Mitteilungen. 



477 



Krüppelkind gezählt wird, ist sein Aufenthaltsort maßgebend, nicht der 
Wohnsitz der Familie, zu welcher es gehört. 

Für jedes krüppelhafte Gebrechen gibt es eine ganz bestimmte Krank- 
heitsbezeichnung. Um für die Statistik Einheitlichkeit in der Benennung 
zu erzielen, ist es dringend wünschenswert, sich der in den nachstehenden 
Bezeichnungen angewandten Ausdruckswebe zu bedienen. 

Vor allem aber ist möglichste Genauigkeit und Ausführlichkeit un- 
bedingt nötig. Es ist falsch, zu sagen: „Beinverkürzung wegen Knochen- 
tuberkulose", sondern es muß z. B. heißen: „Verkürzung, Unbeweglich- 
keh, falsche Stellung des linken Beins nach ausgeheilter Hüftgelenktubcr- 
kulose". 

Wo es ohne Mühe geschehen kann, ist die Beantwortung der Fragen 
9 — Ii durch einen Arzt erwünscht. 

Die häufigsten krüppelhaften Gebrechen sind: 

1. Hochgradiger Schiefhals. 

2. Hochgradige Verkrümmung des Brustkorbes nach Brust- und 
Rippenfellentzündung. 

3. Hochgradige Verkrümmung der Wirbelsäule, seitlich oder nach 
hinten ohne Entzündungserscheinungen. 

4. Tuberkulose der Wirbelsäule mit Buckelbildung (Spondylitis). 

5. Angeborener Hochstand des Schulterblattes. 

6. Angeborenes oder erworbenes Fehlen eines Gliedes oder eines 
Gliedabschnittes (Arm, Vorderarm, Hand, Finger, Bein, Unterschenkel, 
Fuß, Zehen.) 

7. Verunstaltung der Glieder infolge von Knochenbrüchen, Verren- 
kungen, Knochentuberkulose oder Knochenfraß. 

8. Verkrümmung und Schwäche der Glieder nach Muskelschwund 
(Progressive Muskelatropie). 

9. Folgezustände nach hochgradiger allgemeiner englischer Krank- 
heit, besonders stark verunstaltende oder bewegungshemmende Knochen- 
verkrümmungen. Rachitischer Zwergwuchs. 

10. Ueberzähligc Finger oder Zehen oder diesen ähnliche Gebilde, 
welche den Gebrauch von Hand oder Fuß stark beeinträchtigen. 

11. Angeborene oder nach Entzündung (besonders Tuberkulose) oder 
Verletzung erworbene Versteifung oder Verwachsung eines oder vieler Ge- 
lenke, gegebenenfalls mit Verkürzung oder falscher Stellung der Glieder. 

13. Hochgradiges Schlottergelenk. 

14. Angeborene oder erworbene hochgradige und starre Beugestellung 
eines oder mehrerer Finger, gegebenenfalb auch Zehen (Hammerzehe, 
Klumpzehe). 

15. Angeborene oder erworbene starre Verwachsung einzelner Finger 
oder Zehen. 

16. Angeborenes Fehlen eines Vorderarmknochens (Klumphand). 

17. Angeborene seitliche Verschiebung der Fingergelenke. 

18. Angeborenes Fehlen der Kniescheibe. 

19. Starke Ausbiegung des Knies nach hinten (Genu recurvatum). 

20. Starkes X- oder O-Bein. 

21. Angeborenes Fehlen des Schienbeins (angeborener Klumpfuß). 



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478 



Mitteilungen. 



22. Angeborenes Fehlen des Wadenbeins (angeborener Plattfuß). 

23. Angeborener oder erworbener Klumpfuß ohne Fehlen eines Unter- 
schenkelknochens. 

24. Hochgradiger Spitzfuß, Hackenfuß, Plattfuß, Hohlfuß. 

25. Wasserkopf. 

26. Muskelunruhe (Athetose, Tic). 

27. Krampf einzelner Muskeln. 

28. Angeborene Gliederstarre (Littlesche Krankheit). 

29. Lähmung einzelner Muskeln. 

30. Kinderlähmung (halbseitige — doppelseitige — der Arme — de» 
Beine — des Rückens). 

Wortlaut des Beiblattes. 

(Vorderseite.) 
Beiblatt für die Ortspolizeibehörde. 

Zählung der Krüppelkinder am 10. Oktober 1906. 
Dieses Blatt mit der zugehörigen Karte ist bis 15. Oktober 1906 zu 
senden an den Königlichen Kreisarzt. 

A. Erläuterungen. 

(Auch auf der Rückseite der Einzelkarte vorhanden.) 
(Folgt derselbe Wortlaut wie auf der Rückseite der Einzelkartc.) 

(Rückseite.) 

B. Auskunft der Ortspolizeibehörde. 

Im ganzen sind in der Gemeinde vorhanden: 

Männliche Krüppelkinder 

Weibliche Krüppelkinder 

Zusammen 

für welche die Einzelkarten ausgefüllt beigefügt werden 

oder: 

In der Gemeinde ist kein Krüppelkind vorhanden. 

(Nicht Zutreffendes ist zu durchstreichen.) 
(Ort und Datum): 

Die Ortspolizeibehörde. 
Unterschrift. 

Man muß dem Zentralverein für Jugendfürsorge für seine Anregungen 
und die Opfer, die er an Zeit und Geld bringen will, Dank wissen. Zwei- 
fellos werden die Erhebungen im einzelnen auf Schwierigkeiten stoßen, aus 
mangelnder Intelligenz unterer Beamten und aus Indolenz oder Mißtrauen 
der Befragten. Ebenso zweifellos werden aber voraussichtlich die Aerzte 
in Stadt und Land das Gelingen der Statistik unterstützen, sei es durch 
direkte Mitwirkung bei den Erhebungen, sei es durch Aufklärung des 
Publikums. (Med. Reform.) 



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Mitteilungen. 



479 



Die schlechten Schüler and ihre verspätete Entwicklung. 

Erich Witte weist in einer sehr beachtenswerten Studie : „Die ersten 
der Schule und die ersten des Lebens" darauf hin, daß diejenigen Männer, 
welche im Leben zur größten Bedeutung gelangt sind, oft selbst in dem 
Fache, das sie später weit berühmt gemacht hat, als Schüler recht schlecht 
waren, weil überhaupt die Leistungen des Lebens von denen der Schule 
ganz unabhängig sind, und führt zum Beweise der Richtigkeit seiner Be- 
hauptung eine große Zahl Namen von rühmlichem Klange an. Längst bekannt 
ist, daß gerade die Genies, namentlich die musikalischen, einseitig sind, 
d. h. sich mit ganz besonderer Beschrankung von frühster Jugend an auf 
ein Fach geworfen hatten und daher für die meisten anderen Fächer nur 
ein geringes Interesse zeigten. Witte bemerkt nun ganz richtig, daß Kennt- 
nisse in fremden Sprachen und in Mathematik, wonach bei uns ein Schüler 
hauptsächlich beurteilt wird, zwar die allgemeine Bildung zu erhöhen vermögen, 
für die Gewinnung von Ansehen und Ruhm jedoch bei Gelehrten, Künstlern, 
Dichtern, Politikern, Großindustriellen usw. fast ganz bedeutungslos sind. 
Völlig verkehrt ist es daher, einen Schüler von tatsächlich genialer Veran- 
lagung für ein Fach, die zu zeigen er auf der Schule noch keine Gelegen- 
heit hatte, für beschränkt oder oberflächlich zu halten, denn schlechte 
Zeugnisse sind oft ein Zeichen von Talent oder Genie, gute dagegen der 
gebtigen Minderwertigkeit. So sagt schon Lessing, daß es einem Genie, 
selbst wenn es entwickelt ist, vergönnt sei, tausend Dinge nicht zu wissen, 
die jeder Schulknabe weiß, und daß wir stehen und staunen und die 
Hände zusammenschlagen und rufen: „Aber wie hat ein so großer Mann 
nicht wisser können — überlegte er denn nicht! Laßt uns schweigen; wir 
glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; 
alles, was wir besser wissen als er, beweist bloß, daß wir fleißiger zur 
Schule gegangen sind als er, und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht 
vollkommene Dummköpfe bleiben wollten." 

Besonders interessant ist nun die Reihe der von W i t e angeführten 
ehemaligen schlechten Schüler, die später im Leben zu einer sehr hohen 
Bedeutung gelangt sind. So leistete, wie er berichtet, Pestalozzi, der 
Begründer der neueren Pädagogik, auf der Schule in allen Fächern, nament- 
lich aber in der Rechtschreibung, sehr wenig und wurde wegen seiner geistigen 
und körperlichen Schwerfälligkeit von seinen Mitschülern als Heinrich 
Plumpsack verspottet. Eduard von Hartmann, der allerdings wegen 
seiner vielseitigen Fähigkeiten immer regelmäßig versetzt wurde, erklärt in 
seiner Lebensbeschreibung, daß er die Schule stets als eine drückende 
Last empfunden habe. „Ich war indes," fährt er fort, „weit davon entfernt, 
diese gleich meinen Kameraden reflexionslos und geduldig zu ertragen, 
sondern rebellierte heftig gegen ein System des Unterrichts, der auf vielen 
Punkten offenbar Zeitvergeudung, auf anderen Gebieten wieder die Bewälti- 
gung eines Wissensstoffes verlangte, von dem ich damals nicht den geringsten 
Nutzen ausfindig zu machen wußte und welche sogar solche empörenden 
Dinge zumutete, wie das monatliche Auswendiglernen eines Kirchenliedes 
in Prima. War ich schon immer halb faul aus Unlust an geistigen Dingen 
und weil ich aus Erfahrung wußte, daß ich doch mit anderen Schritt hielt, so 



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480 



Mitteilungen. 



wurde ich von Obersekunda an ganz faul aus systematischer Rebellion gegen 
den verhaßten Schulzwang und weil ich meine Mußezeit für das, was mir 
am Herzen lag, völlig frei haben wollte. Gerhard Hauptmann ist 
in Sexta und Quinta verschiedene Male sitzen geblieben und zuletzt aus 
Quarta abgegangen ; Zola fiel zweimal im Bakkalaureatsexamen durch, 
weil er in den neueren Sprachen und namentlich in der französischen Sprache 
und Literatur, also gerade auf dem Gebiet, wo er spater ein so epoche- 
machender Reformator wurde, nicht für reif galt. 

Ganz besonders interessant dürfte folgende Tatsache sein. Ernst 
von Wildenbruch schrieb an Witte, daß das gewöhnliche Urteil 
unter seinen deutschen Aufsätzen auf mittelmäßig lautete, manchmal darunter, 
darüber nie, er aber damit keinen nachträglichen Vorwurf gegen seine 
Lehrer erheben wolle, da er in der Tat ein schlechter Schüler gewesen sei. 
Die Erklärung dieser merkwürdigen Tatsache, fügt er hinzu, liege darin, daß 
er einem Geschlechtc angehöre, das mit seltenen Ausnahmen erst lange 
Jahre später geboren werde, als es zur Welt komme. Wite bemerkt auch 
mit Recht, daß der in Eckermanns Gesprächen mit Goethe erwähnte 
Karl Meyer im Alter von achtzehn Jahren hochbedeutsame, von Goethe 
selbst bewunderte Gedichte schrieb, nachher aber auf diesem Gebiete ver- 
sagte. Auch der erste Präsident Frankreichs, Thiers, war den größten 
Teil seiner Schulzeit hindurch ein schlechter Schüler; es wird von ihm 
mit Bestimmtheit erzählt, daß er seine Schulbücher zwecks Gewinnung von 
Schusterpech verkaufte; dieses klebte er auf den Sitz des Lehrers, so daß 
dieser nicht aufstehen konnte und die Klasse in ein schallendes Gelächter 
ausbrach. 

So kann man aus diesen Erscheinungen mit Bestimmtheit schließen, 
daß, wie in der Natur, so auch im Menschenleben, das Große erst allmählich 
heranreift, wie denn der Mensch, das vollkommenste lebende Wesen, in 
seinen ersten Lebensjahren eine viel geringere Entwicklung als die Tiere 
aufweist. 

Freilich stammen diese Erscheinungen nicht aus dem zwanzigsten Jahr- 
hundert, in dem unsere Pädagogik so glänzende Fortschritte gemacht hat, 
ja noch täglich macht, und der Erzieher in jeder Unterrichtsstunde darauf 
ausgeht, daß, wo möglich, alle Schüler regelmäßig ihre Ziele erreichen. 
Das schließt aber auch jetzt noch keineswegs aus, daß selbst heute gerade 
die genialsten Menschen oft die schlechtesten Schüler gewesen sind, weil 
sie sich von Anfang an auf ein bestimmtes Fach konzentriert und alle ihre 
freie Zeit darauf verwendet haben, denn „in der Beschränkung zeigt sich 
erst der Meister". 

Hcttstedt. Löschhorn. 

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