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Full text of "Grenzen der Seele"

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Seele 



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1 



Emil Lucka 




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GRENZEN DER SEELE 



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Von £niL LUCKA sind früher erschienen: 

Otto Weininger. Sein Werk und seine Persön- 
lichkeit. 2. Aufl. VerUg WUhelm BraumüUer, Wien. 

Die Phantasie. Eine psycKologischeÜntersuchung. 

Verlag Wilhelm Braumfiller, Wien. 

Die drei Stufen der £rotik. 2. Aull. Verlag Schuster 
^ Loeffler, Berlin. 

Femer: 

Tod und Lreben» Roman. VerUig Egon Fleische! £k Co.» 
Bertin. 

Isolde Weißhand, Ein Roman aus alter Zeit. 
3. Aufl. Verlag S. Fischer, lierlin. 

Eine Jungfrau, Roman. 2. Aufl. Verlag Egon Fleischet 
£k Co., Bertin. 

Adrian und Erika^ Roman. Verlag Egon FIdschel Si Co., 
Beiiln. 

Das Unwiderrufliche, Vier Zwiegespräche. 
Verlag Egon Fleischel ^ Co.» Bertin. 

Winland, Novellen und Legenden. Deutsch-österr. 
Vertag, Wien. 

Buch der Liebe. Deutsch Österr. Verlag, Wien. 

Das brennende Jahr. 44 Kriegs^Anekdoten. 

Vertag Schuster Loeffler, Berlin. 



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EMIL LUCKA 

GRENZEN 
DER SEELE 



ZWEITE AUFLAGE 



VERLEGT BEI SCHUSTER « LOEFPLER 

BERLIN UND LEIPZIG 
1916 



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Alle Rechte, Insbesondere des der Obersetzunf in fremde 
Sprachen, auch ffir Rulland, vorbehalten 



Copyright by Schuster lkLoctfler,Berllnl916 



PfMh von E.fUb«luid. L«ipii|4l. 



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McBsch, weide wesentlich! 

Angelus Silesius. 



irSHALTS'VERZElCHNIS 

S«itc 



Vorwort 11 

1. Menschen 13 

2. Das Tragische 53 

3. Das Dämonische 105 

4. Das Erhabene 177 

5. Das Komische 190 

6. Vom Philosophieren 206 

7. Der Schicitsalsmensch 254 

8. Ich^Gefühle 284 

9. Das Gebet 320 

10. Das Wunder 332 

11. Ur>Geffihle 349 

12. Stufen der Genialität 359 



VORWORT 



Die Oedanken, die hier niedeigclegt sind, slnben nicht 
einem System der Ptaiiofiophie, sondera einem System des 
Menschen Z1L Ich habe mich bemüht, möglichst weit in die 
Seele des Menschen voczudringen, und hoüe auch, einige datier- 
hafle Wahrheiten gefunden zu haben; aber ich weiß adbst am 
besten, daß vides reicher und systematischer sein konnte. Ober 
diese Mingd nrafi mir die Gewißheit hhiweghdfen, daß die Seele 
des Menschen unerschöpflich ist, und daß daher ein System der 
Seele niemals zu einem Ende gebracht werden kann. — Von den 
zwölf Abscliiutten bildet der erste den Lingan^, die sechs fol- 
genden hängen als Fundament eng zusammen, die naclisteii vier 
bauen weiter, der letzte Ab^nitt will das Dach wölben. — 
Alles Große und PiinzipieUe im Menschen birgt den Keim des 
Tragischen. In meinem vorangegangenen Buch „Die drei Stufen 
der Erotüt'* iiabe ich das Ur-Gefühl der Lietie tns dorthin ver- 
folgt, wo es mit NotwendigiGeit seine innere Trsgik enthüllt. 
Diese Arbeit geht anderen Grenzen der Seele entgegen. 

Wien, ün Jmii 1914. 



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1. MENSCHEN 



1 

Die Welt li^ vor dem Menschen ausgebreitet, und von ihm 
hängt es ab, welche ihrer Inhalte er ergreift und wie er sie er- 
greift Die Möglichkeiten, die dem einzelnen zu Gebote stehen, 
sind wohl nicht gldch, aber die Wdt bietet doch jedem alle ihre 
Inhalte wenigstens prinzipiell als dieselben dar; denn es frommt 
achließlicfa nicht darauf an, ob emer Kaviar iBt oder Brot — er 
ißt; und es kommt nicht darauf an, ob einer Indien sieht oder 
aem Nachbardorf — er sieht die Wdt Bd ihm liegt es» was er 
aus der Fülle zu eigi dfe ii vermag, nach wdcfaer Riditung und 
mit welcher Intensität er alles Neue dem Vorhandenen einzu- 
ordnen weiß, wie er es verarbeiten kajin. Nicht die Dinge, die 
ihn umgeben, machen den einen zum Kaufmann, den andern 
zum Forscher, den dritten zum Kimstler; sondern der Mensch, 
der vor den Din^jen steht, deutet sie, ergreift sie und nützt sie 
in der Weise, die ihm entspricht. Er kann jedes t>eliebige Ding 
als Gegenstand ansehen, aus dem sich Vorteil ziehen läßt, als 
Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses^ als Gegenstand 
der künstlerischen Betrachtung und Nachbildung. Will man also 
die Menschen erfoiscfaen und verstehen — und das ist unsere Ab- 
sicht so muß man nicht nach den Inhalten fragen, die sie 
der Wdt verdanken» sondern nach der Art und der Kraft, die 
diese Inhalte eiigreift und sich zu eigen macht, nach der F u n k - 
tion ihrer Sede. 

In allem, was eine Menschenseele fOhlt, in jedem ihrer Ge- 
danken, in jeder Maiidlung, die von ihr ausgeht, spiegelt sich 
ihre seelische Disposition, ihre innere Kraft. Die subjektive Welt 
des Tieres ist noch sehr gering; sie besteht zum größten Teil aus 
Trieben, deren Wesen sich ganz allgemein gesprochen darin er- 
schöpft, der Wdt mögUchst viel Nutzen für das Subjekt zu ent- 



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reiBen. Im Sedenlcben des Mensdien eisfedit dn ganz neuer Zu- 
sammenhang der Wdielemente^ der sich über da» Trie])ld)en liin- 

aus entfaltet und dem allgemeinen objektiven Zusammenhang als 
ein subjektiver selbstherrlich gegenübertritt. Sehen wir jetzt von 
allen Inhalten ab und achten wir nur auf die Kraft, mit der diese 
subjektive Welt aufgebaut und gegen fremde Mächte behauptet 
wird, so dürfen wir sagen, daß in dem Grade der Unabhängig- 
keit von allem, was die Umgebung darbietet, der Maßstab für 
die Intensität einer Seele liegt. Je intensiver eine Seele 
Seele ist, desto entschiedener repräsentiert sie eine eigene Welt ge- 
genüber der allen gemeinsamen (dem Gegenstände der Naturwis- 
senschaft). Und so läßt sich eine Inlensitttsakala autateUen, derai 
unterste Stufe das Bewußtsein einnimmt das alle seine Inhalte 
von der Umwdt empiangen hat und nidit hnstande ist, sie zu 
assimilieren und als Material fOr eigenes zu verwenden. Das Be- 
wußtsein des Attgenblicksmenscfaen ist ein Ndienein- 
ander zusammenhangsloser Momenteindrücke; er vermag sich 
die Außenwelt nicht als ein Ganzes, als ein Oeordi^etes gegen- 
überzustellen und faßt sich selbst nicht als einheitliches Ganzes 
auf. Er lebt von einem Eindruck zum andern uiul ist völlig von 
dem abhängig, was gerade an ihn herantritt. Daher ist er nicht 
imstande, aus dem Weltabiauf einzelnes herauszuheben und zu 
l>eurteilen. Will er etwas erzählen, so gibt er es so wieder, wie 
er es bemerkt hat, er kann nicht objektive Zusammenhänge fest- 
stellen, noch Wesentliches von Unwesentlichem sondern. Und bei 
jeder Wiederiiolung rc^t die ganze Reihe, fast ui den gleichen 
Worten erzihlt, noch eumud ab. Er ist voUkoounen passiv, den 
Impressionen sowohl nach ihren Inhalten als auch nach ihrer 
Form und ihrer Stelle fan objektiven Geschehen ansgelieferL*) 
In ihm ist keine eigene, neue Wiiklicfakeit neben der allgemeinen 

*) über den Augenblicksmenschen vom Standpunkt der Zeit aus vergl, 
was Oscar Ewald in „Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen'* sagt 



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ztt finden, nur vorübeifiiegende Impressionen, bestenfalls abui- 
tmd zusanunenhangslose Bruchstücke. 

Der Augenblicksaienscii ist nur ein Orenzfatt. Denn es gQyt 
keinen Menschen, der aus nichts als aus Eindrücken des Augen- 
blidcs besiinde, der nur Fimklioa der Umwelt wire und nicht 
eine Spur von Eigenldm aufwiesen Ffir eine psycbologisdie Be- 
trachtung, die auf den Zusammenhang des Seeliadien mit dem 
KultureHen bedacht ist und die P^rchdogie hi ein höheres Ganzes 
einzuordnen sfaiebt, ist dieser Menschentypus, der sich in Annähe- 
rungen oft genug findet, ohne sonderliclies Interesse. 

Dem Augenblicksmenschen stehen die Typen gegenüber, die 
ein Eigenleben führen und von sich aus irgendeine Stellung zur 
Welt b(^itzen. Sie nehmen nicht alles auf, sondern wählen und 
verwerfen; sie ordnen, was ihnen die Welt (die Summe alles 
Vorhandenen) bietet, in einen Zusammenhang ein, der durch sie 
selbst bestimfflt ist; der Stofi wird einer formenden Funktion 
unterworfen. Und was aus dem Gegebenen wird, das macht 
einen fundamentalen Unterschied der Menschen ans und charak- 
ieriskrt nicht nur ihr Verhalten zur Welt, soodeni erzengt auch 
nnmitteibar ans dem Seelischen herans das Ktdturdle, Wertvolle. 

Die beiden Onmdmfiglidikeiten, sich den Inhalten der Welt 
wtildich gigenfibeizusiellen, sind aber die: der Mensch kann das 
Obemommene in eine neue Ordnung bringen und es als Ober- 
noounenes bewahren; oder er kann etwas Neues daraus ge- 
stalten. Unmittelbar ergeben sich uns der reproduktive und der 
produktive Menschentypus. Der reproduktive ergreift das 
Dargebotene in einer Auswahl, die seiner Art jremäß ist, und 
verleibt es sich ein Was er aufgenommen hat, kann er wieder 
hervorholen, reproduzieren Eine vollkommen getreue I rinne- 
rung gibt es nicht; jedes trinnem ist verändertes Erinnern, und 
zwar besteht die Veränderung im Ausfallen von Bestandteilen, in 
Schrumpfungen aller Art. Es ist für diesen Menschentypus cha- 



16 



lakteristisdi, daß er prinzipidle Umwandluiigtti der lidialle 
nicht kennt; Gedanken, Gefähle, Voraleilttngen blühen nicht auf 
wie eine lebendige Pflanze in gutem Eidfrich, aondeni wenten 
wdk und faibenmatt wie ein HertMuiunigewftchs. Manches^ was 
ins Heibarium hineingelegt wofden ist, hat sich eihalien, anderes 
ist zerfaUen, kaum mehr ecfcennbar. WIhiend der Augenbticks- 
mensch unmltleibare Funktion der AuBenwelt ist, entfernt sich 
der reproduktive mehr und mehr von ihr, wird immer in- 
direkter, immer mehr Erinnerung. Er beherrscht das Material, 
wählt aus und ordnet es nach dgeneii Kaiegorien: anders erzählt 
der Histonker Geschichte, anders teilt die Frau aus dem Volk 
eine Be^'^ebcnheit mit 

Dem reproduktiven Verhalten zur Welt stellt das pro- 
duktive gegenüber. Der produktive Mensch nnnmt das Ma- 
terial auf, das ihm die Welt darbietet, wandelt es aber innerlich 
um. Ewas prinzipiell Neues ist da, das skh von allem bloß lepro- 
dnktiven Bewußtsein uniencheidet: die Fälligkeit des Erleb- 
nisses. Produktiv ist, wer aus der allen gleidunABig darge- 
botenen Wiridichkdt Neues zu bilden vermag, wessen Leben dem 
allgemeinen Sein als schapferiscfaes Eigenleben gegenubertritt. 
Der produktive Mensch Idit von famen nach außen, der repro» 
duktive von außen nach innen. Dinge und Gedanken machen 
nicht feste Eindrücke, Abdrücke in seiner Seele, sie werden viel- 
mehr nach deren eigenen Oesetzen ergriffen und uiiigLtormt. 
Dieser Mensch lernt nicht, er erlebt. Sein Bewulitsein ist 
spontan, produktiv; er ist oft nicht fähige, ein geseiieiu s Ereignis, 
eine gehörte Erzählung getreu wiederzugeben Die objektive un- 
kritische Darstellung fremder Gedanken fällt ihm schwer oder ist 
ihm unmöglich. Auch der Schaffende lehrt — durch sein Wort, 
durch sein Werk, durch sein Tun — aber nicht wie der Bewah- 
rende, etnzdne Menschen, sondern den Menschen; er sagt, was 
noch niemals gesagt worden ist. Sein Leben ist in besOndigem 



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Werden, in lebendi^rer Umgestaltung begriffen. Er ist einseitig, 
und zwar nicht saciilich einseitig, indem er sich nur mit jj;e- 
wisseii Dingen befaßte, sondern funktional einseitig: er ergreift 
und verarbeitet jeden Stoff nach seiner besonderen Art, das heißt, 
er hat die Fähigkeit zu erleben. Seine seelischen Kräfte sind so 
lebendig wirksam, daß sie nichts Unverdautes, nichts Unfrucht- 
bares dulden, sondern das ihnen Gemäße ergreifen und fest- 
halten, das für sie Unfruchtbare abstoBen. Wie der Reproduktive 
alles m die Zeitreihe gewissermafieii hineinschiebt, zieht es der 
Produktive heraus. „Ich statuiere kehie Eiinnerung in euian 
Süiii, das ist nur eine uobdiolfene Art sich auszudrficketi. Was 
uns iigend OroBes^ Schönes^ Bedeutendes begegnet, mufi nidit 
wieder von außen her gleichsam erinnert werden, es muß sich 
vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit 
ihm eins werden, ein Neues, Besseres in ihm erzeugen und so 
ewig bildend in uns fortleben und -schaffen." Goethe, die 
reine Verltörperung' des produittiven Menscliea, kann den eigent- 
hchen Erinnerung sakt nicht einmal recht verstehen; er kennt nur 
das Neuwerden, nicht das Aufbew;iliren. 

Jeder Mensch macht Erfahrungen, aber nicht jedem werden 
die Eifahningen zu Erlebnissen. Das Maß der seelischen Eigen- 
enstenz liegt also in dem Cberwiegen der Erlebnisse über die 
Erfahrungen, des produktiven Elementes über das reproduktive. 
Goethe nennt den Menschen, der vermöge seiner inneren Schöp- 
fungskraft eine Wdt in der Welt is^ dne Entelechle und sagt von 
ihr: „Sie nhnmt nichts auf, ohne sich's dunfa diese Tat an» 
eignen/' — 

Ich will den an^pesldlten Gegensatz mit einem einzigen 
Beispiel: wie Jeder der beiden Typen Bücher liest, illustrieren. 

Der reproduktive Mensch liest im allgemeinen mit viel weniger 
Auswahl; wenn er nicht gerade Fachniann auf einem üei)iet ist, 
nimmt er zur Hand, was ihm der Zufall bringt. Und er hest — 

Lttck«, OmuM <tar SmI«. 2 



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von allen andern kreuzenden Momenten abgesehen — jedes Buch 
gewiasodiafl vom Anfang bis zum Ende durch, er hat nicht das 
entschiedene BewuBteein, dafi einzebie Bücher und efaizelne 

Partien darin mehr mit ihm zu schaffen hätten als andere, er 
nimmt Kenntnis von dem Gelesenen und müht sich, es mö<^iichst 
gut zu behalten. — Der Produktive liest im allgemeinen nur 
(von irgendeinem Zwang abgesehen) Bücher, die eine Beziehung 
zu ihm haben, die ihm verwandt sind, aus denen er Nahrung 
schöpfen kann, und diese Bücher liest er wieder mit der aller- 
veränderlichsten Auimerksamkeit. Seiten und Kapitel werden 
überschlagen, andere ganz eingesogen; er hat den Instinkt für 
das, was ihn nähren kann, was geeignet ist, in seine Seele ein- 
zugehen und Dünger oder Kehn für Neues zu weiden. — Dies 
gilt besonders fOr den produktiven Denker; der Künstler verhält 
sich ebenso zur lebendigen Welt: er si»firt, welche Teile und 
wdche Beziehungen ihn angehen, und lehnt ab, was keinen Zu- 
sammenhang mit ihm zeigt, er hat den Instinkt sehier Produk- 
tivität Sehl Leben ist ebenso wie sein Lesen nicht Aufnehmen 
und Bewahren, sondern beständiges Umwanddn. — 

Die Kraft der Belebung kann sich auf jeden Inhalt erstrecken, 
die neugewordene Welt kann eine Welt der Taten, der Gedanken, 
der B^der sein — die verschiedenen Reiche, in denen Werte 
erstehen und wirken. Der produktive Mensch ist der Schöjtfer 
der Kultur, der rqiroduktive ihr Bewahrer. Man sieht an diesem 
Punkte den Zusammenhang der P^chologie mit der Kultur* und . 
Wert-Philosophie (der sich una nodi mehr als ehunal aufzwingen 
wird); aber dieser Wcs^ kann hier nicht weiter verfolgt werden.*) 



^ Ich habe In einer früheren Arbelt (Die Phantuie, 1908, bes. bn 
3. Abschnitt) die beiden Qnnrilrlditunaen des BemtStsebis als bewahrendes 

Gedächtnis (das sich sowohl auf Vorstellungen als auch auf Gefühle 
erstreckt) und als umwandelnde Phantasie beschrieben und deren Zu* 
sammenhang mit dem ganzen seelischen Getriebe zu zeigen v^ucht 



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2. 

Bisher ist der Mensch in sdncr Wechselwiflnifig mit der 
Umwelt befaracfatet worden. Aber der Gegensatz zwischen Pro- 
duirtion imd Reproduktion, der sidi in allen AuBerungen des 

Seelischen findet, hat doch seine eigentliche Quelle im Vorstel- 
luiigsleben, das zwischeü den beiden Idolen der völlig getreuen 
Erinnerung und der absohiteii Neuschöpf uiig fließt und weder 
ganz versteint nocli ganz verwandelt werden kann. Diese Schei- 
dung wird in ihrer Einfaehheit alles Folgende stillschweigend 
durchziehen; aber eine noch allgemeinere tritt ihr zur Seite, die 
nicht aus einem einzekien Gebiete des Seelischen stammt, sondern 
alles in gleicher Weise charalderisiert und scheidet. Auch diese 
GUedenuig leidit ins letzte Menschliche hinab und wird ihren 
Zusammenhang mit den Mächten der Kultur oft genug bewähren. 
Sie sondert die Menschen m Mittelmenschen und 
Grenzmenachen. 

Der Mittehnensch lebt ohne entschiedene innere Spannung 
im Gleichgewicht Er penddt um den Zustand der Ruhe; Aus- 
brüche wilder Leidenschaft, grenzenloser Jubel, aber auch völlige 
Verzweiflung sind ihm gleich fem, sein ganzes Leben spielt sich 
im Bereiche des mittleren Menschlichen ab, ohne je in ein Extrem 
zu geraten. Das Ideal des Mittelmenschen ist etwa im home- 
rischen Griechentum historisch verwirklicht gewesen. Diese 
Menschen stehen der Natur nicht als etwas anderes — gleichviel 
was — g^enüber, sie gehören in sie hinein und fühlen sich als 
einen Teil von ihr. Sie sind Söhne von herrlichen Flüssen und 
Menschenfrauen, sie beten zu Naturwesen, menschlich voiige- 
sieUien Teilen der Natur (die olympischen Götter sind ja nur be- 
sonders mächtige Menschen, die whidich venn^en, was alle 
anderen gerne könnten). Jeder König fuhrt den Pflug und 
schlachtet das Tier für seine Mahlzeit Es gehen kaum drei 
Seiten bei Homer vorfiber, ohne daß eine siatdiche Scfamauserel 

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eingehend geschildert würde; und dies hat noch über die ph- 
mitive Freude an Speise und Trank hinaus seine Bedeutung, der 
gewichtige Emst solcher Tatea ist ein Symptom des völlig naiven 
mittehnenachlichcn Veihaltens zur Welt Von jeder Mahlzeit wird 
auch den Olympiern nülgeteUi; damit sie einem keine Unannebm- 
Uchkeilm zufQ^ (attenlings erhalten sie meistens nur die Stim- 
haarederRinder mid ein StOdEcfaea von den Eingeweiden). Diese 
Menschen kennen Iceui Recht als das der Natur; der Klügere 
übervorteilt den Dümmeren, der Stärkere beraubt den Schwäche- 
ren. Die Ehifalt des Individuums ist durch nichts beeintiftchtigt, 
auf den Reiz folgt die seelische Reaktion, die mit großer Sicher- 
heit vorausberechnet werden kann. Beim Mittelmenschen, der 
hier als naiver Mensch seinen HöhepunJct erreicht, ist der Ein- 
druck der Wirklichkeit alles; einen Widerspruch <xler auch nur 
eine merkliche Spannung zwischen Wirklichkeit und Wert g"ibt 
es nicht, weil jede Möglichkeit eines inneren Gegensatzes fehlt. 
So ist der homerische Mensch ein Urbild des Mittelraenschen, das 
noch dadurch sein besonderes Relief empfängt, daß dem frühen 
Griechen der Sinn, für die menschliche Individualität mann:elt, sie 
tritt ganz hinter dem Gemeinwesen zurfidi. Und auf dieser 
seelischen Einfachheit beruht der große ästhetische Reiz der 
homerischen Gedichte. 

Der ander^ entgegengesetzte^ ist der Typus des Crenz- 
menschen. Ihm fehlt das innere Oldcfagewicfat und der Friede, 
er lebt in Extremen; er ist der EkstaÜker und der Heilige, der 
den Himmd erkämpfen will, aber auch der Verbrecher, der ganz 
auf der inneren Veniefaiung alles Wertvollen beruht (nicht der 
dumpf tierische Mensch). Er ist der tragische Dichter, der von 
den Gestalten seiner Phantasie heimgesucht mid gequält wird, 
der Philosoph, der über die Welt grübeln muß. Dieser Mensch 
ist semo" selbst nie ganz sicher, weil ihm das innerlich Behar- 
rende, das Stetige fehlt; als kulturhistorische £r$chemung eat- 



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spricht ihm der Menach des Mittelalters, der nur die äußersten 
Werte des Göttlichen und des Teuflischen kennt, zum Irdischen 
aber kein rechtes Verhältnis zu gewinnen vemu^. 

Wenn wir diese allgemeinen Richtungen des Menschlichen 
weiter verfolgen» so werden sich uns immer deutlicher zwei ent- 
gegengesetzte Möglichkeiten, Mensch zu sein, enthüllen, und 
wir werden letzte Wesenszüge finden, die dem einen oder dem 
andeien Typus eigen sind. Die meisten Menschen der Wirklich- 
keit sind wenig entschieden: sie verhalten sich für gewöhnlich 
mittelmenschlich, unterliegen aber doch in gewissen Zeiten einer 
extremen Wallung. Dieses gaiize Buch, das möglichst weit au die 
Grenzen des Seelischen vordringen möchte, wird sich viel we- 
niger mit dem Alltäglichen und Durchschnittlichen beschäftigen 
als mit dem seltenem reinen Typus, an dem uns gewisse Elemente 
alles Menschliclien klar werden sollen. Um aber sicher zu sein, 
daß uns nicht Einbildungen und g^enstandslose Konstruk- 
tionen in die Irre führen, sondern daß wir es immer mit der 
seelischen Wirklichkeit zu tun haben, werden sich uns hier wie 
ancfa spjUer wiedeiholt möglichst bekannte historische Menschen 
als Stadienobjekte darbieten. 

Es ist die Aufgabe des richtigen Psychologen, sich ui den 
Menschen, den er veistdien vriU« zu versoken, ihn von allen 
Sdten her zu umwandeln und gewissennafien mit Scheinwerfern 
so lange zu bestrahlen, bis er dnrdiMitig geworden ist Und 
wenn man die ganze seelische Mannigfaltigkeit erfaßt zu haben 
glaubt, Wird man daian gehen, sie klar und einleuchtend zu be- 
schreiben. — Hier bleiben fast alle (Psychologen stehen (von der 
Psychologie als einer Schulangelegen lieit ist nicht die Rede). - 
Aber es scheint mir nicht genug zu sein Fin Faden muß entdeckt 
werden, der durch die Seele des erkorenen Opfers führt und 
alles Leboidige einheitlich zusammenfaßt. Nachdem die ganze 
Fülte eines Menschen geschaut worden ist, stieben wir» zu euier 



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neuen höheren Einheit vorzudringen, die sein Wesen als ein 
Ganzes zeigt. Wir suchen die Grundfunktion eines Menschen, 
von der alles andere abbän^rt und aus der es im höchsten FaU 
Ironstruieit werden kann. — Aber darüber hinaus soll die ge- 
fundene Fofind nicht nur den dnen charakterider«!, sie soll 
gewisse entscheidende Ocmrinsainkfaten vieler Menschai fest- 
legen, sie soll so aUgemem und dabei doch so wahr sein, daß 
ehie ganze Gruppe durch aie zusafluneogcfaßt und m ihrer 
seelischen Struktur verstanden wird. 

Zu diesem Zweck werden wir möglichst typisch gebildete 
Menschen erforschen. Was an einem solchen ein für allemal 
erkannt worden ist, das findet man dann leicht an anderen 
weniger typischen oder auch nur weniger reich entialteien 
wieder. Als Beispiele habe ich vorwiejrend Künstler gewählt; 
dies hätte nicht sein müssen, aber es erleichtert die Auf- 
gabe und macht vieles klar, was uns sonst unzugänglich 
bliebe. Denn was bei solchen, die in der Sphäre des Han- 
dehis oder des passiven Fühlens aufgehen» nur vcnchwonunen 
g^get>en ist, erreicht bei Künstlern und besonders bei Dich- 
tem eine höhere Stufe des Bewußtsems (ich meine natürlich 
nicht des abstrakien, begriülichen Bewußtseins» sondern des 
Geformten» Festen fitierittupt), es hat sich m Gestaltungen der 
verschiedensten Art verkörpert Am Kunstwerk ist ja fihr den» der 
zu schauen vcrstdi^ mancherlei Seelisches sichtbar und faßbar 
geworden, was beim unmittelbar dahinldwnden Menschen wohl 
auch erscheint, aber schwerer ergriffen werden kann — schon 
deshalb, weil es sich nicht fixiert hat, sondern im Dahinfließen 
des Seelenlebens verströmt und, einmal untergetaucht, nicht so 
leicht wieder zu erhaschen ist. 

Man könnte dieser Methode vorwerfen, daß sie gegen die 
Vielheit des Lebens blind sei. Aber selbst auf die Gefahr hin, daß 
ein paar individuelle Zäge übersehen oder gar falsch gedeutet 



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werden: wir dringen um so tiefer in das Verständnis des Ganzen 
ein, anstatt die Psychologie eines einzelnen Menschen — was ja 
doch nur etwas Eingeschränktes und höchstens historisch Wert- 
volles wäre — erfassen wir eine ganze Gruppe von Menschen 
und lernen manchem begreifen, was sonst vielleicht als bloße 
Tatsache hingenommen werden müßte, — Meine Methode, be- 
deutende Menschen als typische Repräsentanten des Menschlichen 
za betrachten und zu analysieren, ist aber durchaus verschieden 
von einer heute beliebten I>enkart, die hinter allen ÄuBemngea 
des Geistes peisöaliche IntünitiUen wittert und doch meialeiis nur 
das findet, was sie zu finden ohnebin ein für allemal entschlossen 
ist (so daß sie sich die Mühe des Suchens hätte spann können). — 
Ich beginne mit der Charakterisierung des 
Mittelmenschen, der zwar unvergleichlich häufiger vor- 
kommt als der Grenzmensch, aber doch viel sdmdler erschöpft 
sein wird, weil er nicht problematisch ist Der Mittehnenscfa in 
seiner niedrigeren Erscheinungsform geht im Behagen des Alltags 
auf und scheut jede Regung, die seine Ruhe stören könnte. Er 
ist der Vergnügungsphilister, der des nächsten Tages nicht denkt, 
weil er die instinktive Oberzeup^ung hat, alle wahrhafte Vernunft 
t)estehe im (jcnießen des Augenblicks. Er kennt auch kerne Reue 
über ein verfehltes Leben (außer vielleicht einmal, wenn ihm das 
Geld ausgegangen ist), denn sein Dasein verläuft seinem inneren 
Gesetze gemäß und ist daher, so nichtig es objektiv betrachtet 
auch sein mag, doch durchaus organisch und berechtigt. — In 
seiner höheren Eischeinnngsfonn versteht der Mittehnenscli das 
Befangen und die Freude. Er kann die ganze Fülle und Gewiß- 
heit des irdischen Lebens besitzen, er steht fest auf der wohl- 
gerundeten Erde und ist weder Grübler noch Zweifler» weder 
religiös noch abeigläubisch. Er weiß sich auf dem rechten Weg 
und wird hmeilieh nicht heungesucht So beatdit für ihn die 
Gefahr, mittelmäßig zu werden und im Alltag zu versumpfen. 



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seine Beziehungen zu Speia^ Tnnk und Erwerb sind intim, sie 
gelten ihm, wenn auch unausgesprodien, als das eigentlich Ent- 
scheidende. Gottfried Keller kann als Idarer Vertreier 
dieses Menschentyinis angesehen werden. (Ich hätte unter den 
Musikern Haydn wählen können.) Kellers eigenster Bereich ist 
das Mittlere in Natur und Menschheit Dies geht schon obenhin 
aus seiner viel bewunderten Spradie hervor, die sich so um- 
ständlich und liebevoll an die kleinsten Dinge schmiegt und sie 
in erstaunlicher Breite und mit dem grolken Verständnis dar- 
stellt. Keiler hat oft g^enug die Schönheit des Alltäglicl]en entdeckt, 
er versenkt sich ins Kleine bis zum Krausen und Skurrilen. Er be- 
sitzt alles, was der durchschnittliche Mirtelmensch hat, und, prin- 
iüpiell gesprochen, nicht mehr; aber er besitzt es eben als großes 
Talent Sein Auge sieht Schönheiten des Alltags, die anderen 
immer vertKMgen bleiben, und er vermag sie mit dem Blick des 
Humors zu schauen. Was ihm abgeht, das ist Größe. Will er 
eimnal Leidenschaft oder Oröfie schildern, so föhlt er sich nicht 
ganz aicher und tiSgt den Ueinb&igerlidien Zug hinein. Ein 
erquickendes IdyU ist die liebe der Kmder in ^omeo und Jutta 
anf dem Dorfe" — allerdmgs dem gleichen Gegenstand in Zolas 
„La fortune des Rougons!" nicht nahekoomiend wo aber das 
Idyll ernst und tragisch werden soll, da versagt die Kraft, bunte 
Jahrmarkt-Schilderungen und Dorfszenen schieben sich breit an 
die Stelle des Großen *) 

Am deutlichsten wird diese Tendenz zum Mittleren in den 
„Legenden". Der Stoff der Legende ist religiös und weist daher 
nach oben, in das Grenzgebiet dei^ Menschlichen, und wo die 
Legende noch naiv ist, direkt in ein Jenseits. Schreibt aber der 

*) Zweifellos ist dies die Ursache, daß Keller in den Kreisen der 

mittleren deutschen Bildung so hoch gestellt wird: er ist panz ins Bürger- 
liche gebannt und sieht auch das Große nur unter dem Aspekt deü Mitt- 
leren. Die ilin aber in Goethes Mähe rüciien wollen, haben von Goethes 
Geist keinen Hauch verspürt. 



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Idylliker Legcndm, ao fOhrt Uun der gesunde Mensdimver- 
sbmd die Feder, der ja doch weiß, daß ea mit allen romantiadien. 
Ideen nicht viel auf sich hat Und Keiler sieht die großen und 
tragischen Steife von einem Uehibüigerlichen humoriaßflcfacn 
Standpunkt aus, seine Legenden sdiOeßen mit einer Hochzeit 
(einmal sogar mit einer Hochzeit im Himmel), denn die Hochzeit 
ist ja der Mittelpunkt des behaglichen bürgerlichen Daseins. 
Oiese Trivialität bei Stoöen, die einen tieferen Kern bergen, ist 
eines wahren Dichters wie Keller dgentlich nicht würdig und 
steht der Parodie nahe. Ein O renzmensch wird rehgiöse Stoffe 
vielleicht Itarikieren und verhöhnen, der Mittelmensch aber findet 
seine Freude, wenn es ihm gehngt, sie dem buigerüchen Alltag 
anzupassen. 

Der psychologische Typus des Bürgers hat das mittel- 
menscfahche Leben^geffihl als ausschließlicfa berechtigt erkannt 
und sich daraus efai System geliildet Er fühlt das Bedüifnis> 
tätig und ordnoid hi sdne Umgetnmg, in das Oemehiweaen em- 
zngtdSta, er will Gleicher unter Oldchen seu — dtqyen — und 
hat so eigentlich den modernen Staat begründet Trotz seinen An- 
lagen hat sich Kdler vor allem andern als Bürger der bfirger- 
Udien Schweiz gefühlt, unerschöpflich ist im „Grünen Heinrich" 
die Freude am Gemeinwesen, an Selbstverwaltung und wohl- 
geordneten Einrichtungen, an öffentlichen Festen und Trin» 
kereien. Seine eigentliche Wurzel ruht nicht im Geistigen, son- 
dern im Volksleben. Der müdere Mensch sitzt behaglich plau- 
dernd und trinkend, lustige Anekdoten erzählend, oder auch 
schweigend dem Genuß hing^eben unter Freunden; der Grenz- 
mensch exzediert und betrinkt sich oder er verschiieBt sich in die 
einsame Kammer. 

Aber der Mittehnensch kann in der liebe zum Dasein eine 
solche Hdbeeneichcn, daß er ekstatisch anmutet So steigert sich 
das gro6e WdigefOhl manches Euisiedleis zum begeisterten 



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26 



Panilieiamiis; die (du vfwig wahllos) all» mniaaseode Liebe 
Walt Whitmans und EmO Vertiaerais findet Ausdruck für eine 
hohe und doch rein mittehnenachliGfae Stimmung (die auch durch 
che Lyrik Emst Lissauen Uingt). — Ich gehe an dieser Steile 

nicht weiter. In einem späteren Abschnitt wird uns der Mittd- 

mensch in seiner pnazipiellen philosophischen Vollendung er- 
scheinen. — 

Einer der entschiedensten und dabei ^^^enialsten Grenz- 
menschen ist Dostojewski. Seine extreme Natur offen- 
bart sich in allen Richtungen des Menschlichen : er ist der Heilige 
und der Wüstling, der Liebende und der Mörder, der Leiden- 
schaftliche und der inneriich Abgestorbene, der kalte Vemunft- 
mensch und der deliiierende Oeisteskranke. In den ,ßr&deni 
KaramasoS" spricht der Staatsanwalt „von den Naturen, die 
fiUiig sind» alle nUSgUchen Widersprüche in sich zu vereuiigen 
und zu gleicher Zeit beide Ahgrfinde zu erfassen, den Ahgnmd 
über uns» den Abgrund des höchsten Ideals, und den Abgrund 
unter uns, den Abgrund der aHemie d ri gs te n und sdiSndlichsten 
Gesunkenheit". Und endlich wird hier die kürzeste Formel für 
den Grenznienschen geiunden — „eine Natur mit zwei Ab- 
gründen". — Eine solche Natur muB allen Ereignissen anders 
gegenüberstehen als eine Natur, die auf dem festen Boden der 
Wirklichkeit ruht. „Das, was die Mehrheit beinahe phantastisch 
und exzentrisch nennt, das bildet für mich manchmal das eigent- 
lichste Wesen der Wirklichkeit Oie Alltäglichkeit der Erschei- 
nung und eine offizielle Art sie zu betrachten, das ist meiner 
Meinung nach noch kein Realismus^ im Gegenteil! In jedem 
Zeitungsbhitt begannen Sie Berichten über die wiiküchsten und 
dabei absonderiichsten Oeschehniase!'' ^ Jn allen Idingen gehe 
ich bis an die äuBeiste Grenze; mehi Leben lang habe ich nie 
Maß halten kfionen/' — So und ähnlich sdireibt Dostojewski m 
Sehlen Briefen. 



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27 



Aus der zwiespältigen Natur Dostojewskis heraus begieifen 
wir aber auch immittdbar die Mangdhaftjgfcdt seiner Idiiist- 
leriflchea Fomi, seine OleidigfiltigiGdt gegen den Aufbau und die 
innere Proportionafittt seiner Romane^ die so oft von tfaeore- 
tischco Bebacbtungen unterbrochen werden und so viele ver- 
wirrende Net>engeschichten und Einschlebungen enthalten. 
I>o6tojewski hat alles menschlich und moralisch gewertet, nichts 
künstlerisch, und wenn er Künstler hat sein aiüssen, so ist er 
es mehr in Feindsc hilft g^egen s<:nne innere Natur als aus tiefstem 
Bedürfnis. Ein religiöses Buch, ein Buch über Christus, das ist 
der Plan seines Lebens gewesen. — Die künstlerische I-onn- 
losigkeit (die allerdings oit neben höchster gestaltender Geniali- 
tät Sieht) gilt uns hier aber nur als ein Symptom seiner Art. UikI 
seine Art ist. vollkommene innere Zerrissenheit. 

Dostojewsld bat lange in Italien gelebt und sich weder um 
bildende Kunst noch um Musik geldimmert, die Natur bat er 
nicht einmal bemeikt; Ich glaube, daß sich In allen seinen Ro- 
manen keine Naturschilderung findet. Die ganze Außenwelt ist 
für ihn nur Rahmen des dUsdhaften und berückenden Wesens^ 
des Menschen, nidits an und fOr sich Besiehendes, er vennag 
keine Ablenkung in irgend etwas anderem zu finden, so sehr ist 
er vom Menschen fasziniert. — Der ganze Aufriß der Psycho- 
logie Dostojewskis kann hier noch nicht gegeben werden; erst 
im Abschnitt über das Dämonische wird sie ihre richtige Stelle 
finden. 

Ich habe bei einer anderen Gelegenheit (ohne diese Begriffe 
?n zuwenden) gezeigt, wie Sich Mittelmenschen und Grenz- 
menschen auf einem einzelnen Gebiete, nämlich im Liebesleben 
verhalten.*) Der Grieche ist durchaus naturhaft, er kennt noch 
nicht die persönliche Lietie zu einer Frau mit ihren Ekstasen 
und Verzweiflungen, er begniigt sich mit dem heiteren Ge- 

*) Die <lrei Stniro d«r EroHk. 



28 



schlechtsgenuß. — Der Mensch des Mittelalters, der den Grenz- 
menachm als Kultuiformation sehr klar zeigt, bat sein Liebes- 
leben zenissen: er versteht die schwftraiende überirdische Liebe 
und dann wieder die dämonisch gewordene Lockung der Oe- 
schlechtlichkeit Er ist friedlos auch im Uebesleben, die Madonna 
und die Teufelin, die HeM, sind seine Pole. ~ 

Wie uns das Venündnis der Menadicn als icfiroduktiver 
und produktiver an den Zusammenhang des Sediscben mit dem 
Objektfv-KuituRUen gefOhit hat, so werden wir durch die Ana> 
lyse des Mittehnenschen und des Orenzmenschen näher zu den 
Quellen der Seele ^jelangen, die, selber nur im I>unkel rauschend, 
die Seele speisen und ihr ganzes W^ii bestimmen. Die Zwie- 
spältigkeit des Orenzmenschen weist die Richtung zu den letzten 
Schichten des Menschlichen und führt zu seelischen Situationen, 
die nicht einfach als vorhanden festgestellt, sondern in ihrer ent- 
scheidenden Bedeutung für die Konstitution der Seele überhaupt 
verstanden werden müssen. Die bloße Beschreibung des Phäno- 
menalen kann hier nicht mehr genügen, wir werden die Zwie* 
spältigkdt des Grenzmenschen in üirer ganzen Wucht als tra- 
gisch und als dämonisch b^greüen, und erst durcb die 
Analyse dieser tieferen seelischen Sphären wird sich uns das Ver* 
ständnis des Grenzmenschen — das den wichtigsten Inhalt dieses 
Buches ausmacht — ganz enddiefien. — 

3, 

Ich habe bisher den Mittelmaischen und den Grenzmenschen 
als einen Typus betrachtet, der ein für allemal feststeht; in <kr 
gebotenen schematischen Verdnfadiung wurde angenommen, daß 
sich der Charakter eines Menschen in allen seinen Äußerungen 
vom Anfang bis zum Ende erkennen läßt, daß es wohl seelisches 
Wachstum und seelische Fntialtung gibt, aber keine prmzipielle 
Änderung. Und doch hudet eine gewisse Yerwaadluog regd- 



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29 



mäßig statt. - Für den voll ausgebildeten Menschen der Gegen- 
wart können drei Entwicklungsstufen als normal gelten: in der 
erstoi Zeit der Jugend sind alle seelisdien Kräfte, alles WoUm 
und Sinnen in einem mittleren chaotischen Zustand der Unge- 
schicdenheit; das Jünglingsalter liat die Tendenz zu einem 
extremen gidcbgewiditslosen Veriudten, das sich sUmfilittch mdir 
lind mdir tanpeciert:*) aus Revotutionänn vmlen Minister, ans 
raufenden Studenten friedliebende, von der Pensionierung träu- 
mende Beamte; und wenn der flotte junge Mann den geregelten 
Spiefibiiger veradilet, so entspringt dies der Almung, dafi er 
hier sehie eigene Zulconft vor sich sieht» Der AUtagsmensdi hat 
die Neigung, die problematischen und beunruhigenden Elemente 
des Lebens immer mehr in selbstverständliche, nicht weiter trag- 
liche aufzulösen, und zwar nicht etvi^a durch wirkliches Ein- 
dnngen und Ikwälti^en, durch innerliches Überwinden, sondern 
hinwegjiehend über alles, was ihm die Bequemlichkeit stören 
könnte. Der altgewordene Bürger lächelt über die seelischen 
Bedrängnisse seiner Jugend, über ihre Verliebtheit und ihre welt- 
erschüttemden Ideen („Rosinen"), wo sich doch alles in der Weit 
so einfach von selber ergibt Und diese Gesinnung wagt es sogar 
nicht selten, den Namen Goethes anzurufen und von Otympier- 
tum zu faseln. — Im Gegensätze zu scddiem Abstechen eischehit 
dem hmerlicfa lebendigen Menschen das Dasein stets reicher an 
Fraglichheiten, er ttfit nicht den Oberachwang seuier Jugend hi 
Gldchgültigliett vcfsumpfen, sondern er kommt, je besser er 
Menschen und Dhige verstehen lernt, je emster er sie zu nehmen 
vermag, immer mehr zur Problematik alles Seins. Er hat die 
Tendenz, das Leben zu vertiefen, während es der andere verflacht. 

So ist eine gewisse dynamisciie Verschieb un^r der mittleren 
und der grenzhaften Elemente mit dem allgemeinen und t>pisciien 
Wachstum jedes Menschen verbunden, aber im ganzen und 

Vgl. Die dnl Stuten der Erotik, 4. Teil. 



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30 



großen sind doch die meisten als statische — also verhält- 
nismäßig einfache — Charaktere aufzufassen, deren Typus ein für 
aUemal unveränderlich gegeben ist. Nun will ich mich dyna- 
mischen Charakteren zuwenden. Ihr Merkmal ist, daB< 
sie sich im Laufe des Lebens nach einer erkennbaren Richtung 
ändern, ihr Seelenleben nimmt einen W<|g» der irgendwoher 
kommt und iigendwobin gelit^ ihr Qiarakter ist nidit eine fest- 
stehende Foimd, sondern dne Fmiktion — muß aber auch als 
Fmiktion wieder einem Gesetze folgen. Und ebenso wie ich bis- 
her nach der typischen Fonnd eines Menschen getrachtet habe», 
ohne auf individucSle Besondertieiten einzugehen, werde ich jetzt 
noch viel mehr nur die Linie der Entfaltung suchen und mich 
nicht durch die stets vorhiuidenen Schwankungen beirren lassen, 
dabei muß nicht von neuem gesaßt werden, daß es sich aus- 
schließhch darum haridelt, das Skelett einer Seele herauszupräpa- 
rieren. Die ganze Fülle der W'irkhehkeit kann und darf nicht in 
die Betrachtung eingehen; der so naiieliegende Vorwurf der for- 
malistischen Konstruktion übersähe, daß ich nicht biographische 
Psychologie geben will wid nicht „Essays" über den und jenen» 
sondern allgemeine menschliche Charakteristik. 

Beun Mittehnenschen kommt eine elgentUche dynamische 
Entfaltung nicht in Betracht, weil sein ganzes Wesen Statik ist; 
veränderte er sich innerlich, so wäre er zum Grenzmenscfaen ge* 
wofden. FOr den Grenzmenscfaen aber, der ohne Gleichgewidit 
zwischen den Extremen steht, sind zwei Wege möglich. Ersteos: 
Der Zwiespalt wird im Lattfe des Lebens zu einer höheren Em- 
heit gebracht — nicht wie beim Bürger zum Erschlaffen — , die 
Extreme schwächen sich nicht eigenthch ab, sondern die Kraft 
der Synthese wäciist und schafft Ober alle Verworrenheit hniaus 
eine echte Einheit höherer Ordnung. Dies ist der Idealfall eines 
Menschenlebens: daß eme Seele, die Himmel und Hölle iim- 
schließt, zu einer iiöheren Einheit des Seins kommt, aus der ihr 



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31 



nun auch aUe Fälle des mittleren Beracbcs strömt, so daß sie 

endlich den Menschen schlechthin zu repräsentieren vermag. 

üiestr Meri&iih darf nicht mit einem verwechselt werden, der etwa 
das eine Element in sich ganz vernichtet hatte und als 
Heiliger oder absoluter Verbrecher (wenn ein solcher lel)en 
kann) auf seine Art einheitlich geworden wäre. Er hat vielmehr 
die (iegensatze innerlich verarbeitet, gewissermaßen zu einem 
Jndifierenzpunkte geführt — und diese Stellung wird uns später 
als die hödiste Lösung des tragischen Zwiespaltes entgegen- 
treten. 

Der.W«|g, der aus innerer Zerrissenheit zu einer höheren 
Einheit leitet, ist seinem Sinn und seiner Richtung nach ver- 
ständlich. Ich will ihn nicht im einzehien beschreiben, sondern 
wende mich nun sogleich dem anderen, selteneren Falle zu: Die 
Dishaimonie schwillt beständig an, nicht Beruhigung tritt ein, 
sondern ünmer wilderer Kampf, die Tragik whrd nicht Ütier- 
wunden, sondern nimmt zu. Hier shid zwei Minner hddisler 
Genialität einzureihen : Michelangelo und Beethoven, 
trslerer kann beiseite bleiben; ich habe die wachsende Zerrissen- 
heit seines Alters, das schreckliche ( kfühl von Unzulänglichkeit 
und das Mißtrauen ge^en s^inc Kunst bei einer anderen Gelegen- 
heit beschriehen und ;^edeutet *). Aber an der Betrachtung des 
ihm verwandten Beethoven wird die eigentümlidie Seelenart ein- 
leuchten, die mit zunehmendem Alter nicht Klärung findet, son- 
dern immer ruheloser und zerrissener wird. Während Wagner 
im Parsifal eine überlegene Einfachheit erreicht und einen Weg 
zur letzten Wdtschau und zur letzten Ruhe wenn nicht findet, 
so doch ahnl^ wird Beethoven immer mannigfaltiger und wilder. 

Wenn man Beethovens Werke (die in ihrer hercritechea Efar- 
licbkeit sem Wesen völlig widerapi^gdu) ganz ungelihr in drei 
Perioden zerlegt, so erkennt man in den Arbeiten der Jugend den 

*) Die drei Stufen der Erotik S. 266. 



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32 



formalen Charakter, der noch wenig Persönliches besitzt und die 
Abstammung dieser Kunst von der Kuiist des 18. Jalirhunderta 
ohne jedes Helii kundtut. Diese Werke sind von der naive» 
Freude am Musizieren gesegnet, das Können reift, das schöpfe- 
rische Talent entiaitet sich und bemächtigt sich der Herrschaft 
über alle Mittel der Kunst. Ohne deutliche Grenze führen sie 
zu den großen Werken der zweiten Periode und in die stärkste 
Schaffenszeit hinüber; die Form hat nun künstlerische Selb- 
ständigkeit errungen und hält dem neuen seelischen Gehalte das 
Gldchgewicht, wie es jede wahrhaft groBe Kunst focdert Vom 
rein musikalischen Standpunkt erscheinen uns diese Werke als 
dw höchsten, der bewuBt duidtgeaitcfteten, ästhetisch voll- 
endeten Form entspricht der gewaltige seelische Inhalt — Aber 
Beethoven kann sich ndt dieser voOkommenen Kihistlefscfaaft nicht 
begnügen; die hmere FflOe wächst unhehnlich an, sie bediSngt 
und überwältigt ihn, immer entschiedener zdgt das Seelisch-Le- 
bendige die Neigung, die künstlerische Form, der es eingebildet 
ist, zu zersprengen, es reckt sich und findet kein Ausreichen 
mehr darin, wie sehr es auch die Form ändern und sogar zer- 
stücken mag; die Leidenschaft der Seele möchte sich 
anders, frd erließen Man muß durchaus nicht auf manche der 
früherea Beurteiler Beethovens (Uübischeff z. B.) herabsehen, 
weil sie in diesen Wa*ken viel Mißtönendes und Willkürliches 
gefunden haben. Es ist wirklich da, wir haben uns nur in blinder 
Beetboven-Anbetung gewöhnt, es nicht ais formlos und sogar 
iiäßlidi zu empfinden, sondern womöglich ganz besondere 
Wunder der Musik darin zu sehen (während es in Wirklichkeit 
Wunder einer Über alte Grenzen flutenden dämonischen Sede 
sind); aber höchste Kunst ist nun einmal unlösliche Einheit von 
Inhalt und Form, und nicht ihr Kampf. 

Der Gan^r Beethovei^s stellt sich uns also vorläufig und 
schematisch so dar, daß auf relative innere Rulle die große Kunst 



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33 



folgt, daß aber die Lddenachaft der Seele in ihr kdn Genügen 
findet, sondern endlich zu einer derartigen Wildheit und Ver- 
zwdflung gesteigert wird, daß sie in den eigenen Abgründen zu 
veniiikm droht und sich bis zum Schluß im Rmgen um ein End- 
gültiges aufzehrt. Man fühlt aus einigen der letzten Weite her- 
aus, daß Beethoven seine Kunst geradezu haßt, alles Vertrauen 
zu ihr ist geschwunden, sie vermag nicht mehr zu sagen, was 
er doch sagen muß, er möchte sie umwanddn oder vernichten, 
um eine Ausdrucksform zu gewinnen, die seiner Seele genügt. 
Dieser innerste, ihm selbst nicht khir bewußte Wille macht ihn 
Michelangelo so ähnlich. Auch ni Michelangelo wird die Sehn- 
sucht nach dem Maßlosen immer starker, auch er findet keinen 
SchluBpunkt, weil er durch und durch Künstler ist und doch mit 
der Kunst nicht auskommt. Aber während Michelane^elo allem 
Irdischen samt seiner Kunst ganz entsagen, ein metaphysisdies 
Sein geradezu ertrotzen möchte und im religiösen Glauben — 
den er nie eigentlich besessen, aber immer brünstig ersehnt hat 
— die endgültige Rettung sieht, ist für Beethoven die Religion 
nur ein Versuch unter anderen (in der großen Messe), er fühlt 
sogleich, daß er diesen Weg nicht gehen kann, denn er ist ganz 
Mensch der Erde, gar nicht jenseitig gestimmt; der fromme 
Haydn hat ihn, allerdings nicht völlig zutreffend, aber aus einem 
richtigen Instinkt heraus, einen Atheisten genannt Eine letzte 
Richtung fehlt ihm, aber er beätzt Ausbücke und Zusammen- 
fassungen höchster Art, die ihn über allen Zwiespalt hinaus- 
heben (in den er doch immer wieder /urucUällt); und er wäre 
vielleicht an ein wirkliches Lüde gekommen — zu dem der W&g 
im letzten Quartett op. 136 gewiesen ist — wenn er noch langer 
gelebt hätte. 

Die hier gezogene Grundlinie wird aber so^^leich durch 
Schwankungen überbaut und verwirrt. Denn Beethovens Leben 
ist ein bestandiges Auf und Nieder, die imiere Leidenschaft und 

Lack*, Grmtttn d«r 8«ata. 3 



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1 



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der Wille zur Einheit setzen mit dem Kampf nicht aus. Und üi 
diesem ruhelosen Wogen lebt alles Menschliche und reift zur 
Vollendung. Immer tiefer, immer kosmischer wird der Schmerz, 
immer grandioser der Jubel; der grauenhafte, trosttoee Pesaunia- 
mii8 des altgewordenen Michelangelo ist Beethoven erspart ge- 
blieben; in ihm ist zuviel unprungliche Dfimonie und Leben»- 
kraft» als daß Grübeleien eine derartige Gewalt über ihn hätten 
gewinnen können wie über den Dichter der letzten Sonette. 
Beethoven ist der aUenaenachlichste KfinsOer, die Seele der 
Menschheit hat in ihm die stärkste und einem jeden verständliche 
Sprache gefunden; vieOdcht ist das Menschliche schlechthin, das 
Menschliche in seiner schrankenlosen Fülle niemals so unmittel- 
bar Kunst geworden. Und dies eathülk Beethoven geradezu 
als eine Urform der Menschheit: er ist panz lebendiges Sein. 
Das bloße Leben, das keine Riciitung hat und kein Oesetz, son- 
dern das in sich selber beruht, ist hier zu einer höchsten Inten- 
sität gelangt. Dieses Leben geht in den Inhalten am", aber 
ümi fällt die Richtung, weil Richtung immer Bezug auf etwas 
anderes^ auf einen Oedanken, auf eine Idee ist. Und diesem bloBen 
Lebendigsein, das so einen anarchischen Charakter trägt, stdlt 
sich das andere entgegen: der efaenie KfinsUerwiOe, das heißt der 
Wille zur Form und also zum Oesetz; seine größten Werke sind 
der Schauplatz dieses Iteipffea Die Stellung des KfinsUen 
schwankt aber: bald will er im Si^ der inneren Fom den Si^ 
der zttcfatvollen Freiheit, die Kant lehrt, über das Chaos; bald 
stürzt er sich wieder in die Schrankenlosigkeit und Willkür der 
dämonischen Kräfte seines Inneren. Wenn Weininger gesagt hat, 
daß Beethoven eine Verbrechematur sei, so trifft das insofern zu, 
als das wilde Instinktleben in ihm übermächtig ist, ein Leiden- 
schaftlicher lebt hier, der aus jähen Impulsen handelt und alles 
um sich her zu zerstören vermag, ein Mensch wie Dmitri Kara- 
masofi — auf üm wiift sich der FonnwiUe und legt ilun seine 



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p 



36 



goldenen FcBsdn an. Und in diesem Kampfe zwischen der Ur* 
gewalt der Leidenschaft mid dem Witten zur Einheit wird nmi 
— ufflgd[dirt wie bei den meisten anderen Künstlern — das 
fonnlose, gefühlsmäßige Element fanmer mächtiger, die klzten 
Jahre bedeuten sein Überwuchern.*) 

Der Fülle der Beethovenschen Inhalte mangelt die Richtung 
auf einen idealen Punkt hin, der, vielleicht erreichbar, vielleicht 
unerreiclibar, als heimlicher Stern den Blick bannte. Wagaer ist 
der Gegensatz dazu: seine außerordentlichen Spannungen zeigen 
doch immer die Tendenz, sich endgültig zu lösen, alles Mensch- 
liche, das er im reidisten Maße besitzt, will letzten Endes zu 
einem Neuen, zu einer Erlösung, oder auch nur Vernichtung — 
aber jedenfalls einem Punkt entgegen, der die Sehnsucht der 
Sede stilli Dies wird im Lauf seines Lebens ünmer klarer be^ 
Wüßt mid immer bewußter gewollt Beethoven geht keinem Ziel 
entgegen, der Weg sdbst, das menschliche Sein in seiner höchsten 
Anspannung — als Leidenschaft, als Olfick, als Schmerz — be- 
deutet die Erfüllung semes Wesens» und darum ist er so unver- 
gtdchUch menschlich, wdl er eigenflicfa nie fiber das Menschliche 
hlnausblidct -~ wenn ihm auch endlich das Menschliche nicht 
mehr genügt. Er verarmt nicht im Menschlichen wie Ooethe 
(allerdings ist er auch nicht so alt geworden), er wird immer 
reicher und kann die sechsche Fülle nicht mehr in seiner Kunst 
bewältigen. Aber er sagt ihr nicht ab, er weiß, daß er mit ihr 
zu Ende leben muß, und vermag doch wieder nicht. Aus den 
letzten Quartetten (mit Ausnahme von op. 13^1 spricht diese 
Quai : es kann nicht so weitergehen — aber es geht auch nicht 
andeisl Er kommt zu nichts Endgültigem und noch äiger: er 
ahnt nur einmal oder zweimal, wo es zu suchen sein könnte. 

Das Brausen dieser Seele ist so unendlich produktiv und 

*) Wie ein äuSeres Zdchwi hiervon wird BeeUiovens Handschrift 
«irr und unleMiflGlk 

3* 



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36 



menschlich, daß man behaupten darf, Beethovens Werke werden 
in ihrer Lebendigkeit ergreifen, solang es Menschen gibt, sie sind 
für immer vollkommen. Denn selbst die höchste Idee, die einheit- 
lichste Onindrichtung kann histoiisdi werden und ihie lebendige 
WiilEsamkeii verlieren. Coetfae hat^ von einigen frfilien Weften 
abgesehen, immer eine einheifliGh-fonnale Bfindigung des Stoies 
im Auge gehalyt und hat auch (was eigentüch schon Nebensache 
ist) hin und wieder theoretische Meinungen in aehier Kunst zu 
verwiildichcn getrachtet. Ebenso Wagner. Sie sind beide Kul- 
tuimenschen im höchsten Sinn. Und Michelang^elo hat schließ- 
lich im organischen Widerspruch mit sich selber die Idee hoch 
über alles Menschliche gehoben und aügebetet. Er ist geradezu 
daran zerbrochen, daß er ihr nicht Genüge tun konnte. Um 
einen Augenblick göttliche Schau hat er all seine KünsÜerschaft 
hingeben wollen. 

Der größte Gegensatz zu Beethoven (immer au! dem Niveau 
der Genialitat) wäre der Mensch, der eine Lehre pred^ eine 
Religion stiftet, der alles Leben in eine Richtung bringen mufi, 
dem das Wiildiche erst Wert gcwmnt, wenn es im Zusammen* 
hang des Ganzen eine neue Bedeutung erlangt hat Der Mensch, 
der so luhlt, ist der eigentliche Mensch der Kultur, der 
alles Bestehende zu einer definitiven Einheit zwingen mufi; m 
Beeiho¥en ist das Urmenschliche, das Wilde und DImonische 
nicht zu einem Ganzen gd>ändigt, sondern immer nur von Fall 
zu Fall niedergeriiiigen ; sein Werk ist nicht eine emzige zu- 
saiimienhängende Einheit, sondern eine Reilie von Einheiten. 
Und er ist im Verhältnis zu den höchst kultivierten Geistern 
Barbar; das erschütternde Pathos seiner späten Werke ver- 
rät, daß er dies wie einen Mangel fühlt und überwinden möchte. — 

£s ist nun aber das Unvergleichliche, das vollkommen Ge- 
niale an Beethoven, daß dieser Kampf ganz hn Geist ii^en 
zum Austrag kommt Alles Fühlen ist ohne Rest ins Schöpfe- 



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37 



risch-Produktive eing^angen; weder Trunk noch Spiel noch ge- 
schlechtliche Ausschweifungen haben BeeÜioven (wie etwa Dosto- 
jewski) vei^ucht — auch das Dunkle ist in die Sphäre der Oe- 
iiiaiität gehoben, die Musik selbst ist der Schauplatz des Kampfes. 

Tragik ist (vorläufig formuliert) Zerbrechen an einem an- 
deren und endlich an der eigenen Natur. Und so ist Beethovens 
Tragik die Unmöglichkeit, sich als ein Nur-Lebendiger zu voll- 
enden, seine Tragik liegt darin» daß er ein künaflerisclies Genie 
sein muß» und wir empfinden als heroisch, daß sich der Wille zur 
Einheit immer wieder das Chaos imtertan macht — 

Ich will nun an den späteren Werken Beethovens nach- 
weisen und weiter ausfuhren, was ich bisher gesagt hübe. 
Schon für seine frühere Zeit ist die übergangslose Folge von 
wilder Ausgelassenheit und tiefer Trauer charaJcteristisch, sie 
enispncht den unvemüttelten Gegensätzen seines Wesens; 
besonders auffallend wird dies in den Werken mit tragi- 
schem Charakter, in der dritten, fünften und siebenten Sym- 
phonie, schroff beim Vivace und Adagio der neunten Sym- 
phonie, nicht in der idyllischen sechsten (die ül)erhaupt nicht 
eigentlich beethovenisch, nur ein Ruhepunkt seines Schaffens ist, 
auch in ihrem Programm ältere Muster nachahmt).*) Die Ab- 
wedislung von schndlen und langsamen, von heiteren und trau- 
rigen Sitzen ist ja p^diolcgisdi wohl motiviert und auch in der 
Symphonie vor Beelhoven allgemehi fibhch gewesen, aber sie ist 
nie auch nur annAhemd so kraß wie bei Beelhoven zu finden. 

*) Wie die Pastoral 'Sytnphotdt nicht Gdst vom Geiste Beethovens 
ist, so hat auch seine j^roße Liebe zur Natur nichts Produktives; sie ist 
eigentlich etwas negatives, eine Flucht, und erklärt sich zum Teil aus 
seiner Abneigung gegen die Menschen, zum größeren Teil aber aus dem 
Bedfirftais, ausranihen und etne Abldtunf für die Innere DSmonle zu 
finden. Paul Bddnr Saft zutreltand: „Das BedOrfnls nach einer heroischen 
Landschaft ist ihm fremd. Was er sucht und was Ihn allein befriedigt, 
iat das it^l" (Beethoven. 1911» & 192). 



38 



Betrachten wir zuerst (immer vom pe^chotogiachen Stand- 
punkt und mit der Absiebt die Miiaik pöfcbologisdi zu deuten) 
die 80 charaklaistische neunte Symphonie. Ganz hi 
innerer Ruhe vollendet und veridärt ist das Adagio-Andante; 
hitte Beethoven die Einheit bewahrt» so mfißte dies der letzte 
Satz sein (wie etwa fai der neunten, allenfingis unvoUendeten 
Symphonie Bruckners, der seinen Gott unwanddbar besessen 
bat). Aber der Volieaduiig folgt der Chorsatz, der damit anhebt, 
alles Vorher^egfangfene — sogar mit dürren Worten*) — in 
Fra^e zu steilen, und schließlich verzweifelnd in ein ganz neues 
Gebiet hindnjagt, wie um vor der Unruhe der eigenen Seele 
Rettung zu suchen. Ich muß die populäre Auffassung, daß dies 
Lärmen und „Freude !"-Schreien eine wirkliche Erlösung wäre, 
ganz abiebnen. Die Eriösung, die Beethoven versagt ist, soll 
hier von außen her erzwungen werden. Wer die innere Freude 
wiridich besitzt, der ruft sie nicht mit hundert Stiounen herbei. 
Eine wahihafle Erlösung hat sich hn Adagio vollzogen; aber das 
ist eben das Unselige des beetfaovenischen Oenius> daß ihm ge- 
geben ist, an keiner Steile zu ruhen. 

Dieser Chorsatz ist nicht Erfüllung, sondern Verzweiflung, 
Verzweiflung: an der Kunst Seit Menschen Musik ersinnen, ist 
nichts Größeres und Ausdrucksreicheres geschaffen worden als 
die drei ersten Sätze. Beethovens Kraft ist der Ton — und nun 
wirft er den Ton dahin und fängt an, Worte zu stammeln, die 
jedes künstlerischen Charaldeis bar sind und nichts wollen als 
einen däiftigen Oedankcn ansspiechen: „O Freunde! Nicht diese 
Töne! Sondern lasset uns angenefamece anstimmen und freuden* 
volieie!" — Welcher Sbiiz in die Plattfaeitl — Und es folgen 

*) In den Skizzen mm letzten Satz ist die Stelle, wo dfe früheren 
Themen wie zur Probe wiederkehren, mit einigen hingeschriebenen Worten 
begleitet: „riein, dies würde uns erinnern an unseren verzweiflungsvoUen 
ZustMid^ u. s. f. 



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die phiasenliaftea Vene Schillers^ gewiasermaBen wie Erlfiuto- 
ningen und Fußnoten, damit man audi genau wiase^ wie es 
gemeint iai Die Muaä dieaes Salzes ist entefnediend trivial, 
in fluem Maiaduiiytlimus minderwertig, stillos, sogar roh. (Es 
wird erzSIilt, daß Beedioven nadi der ersten Auffühmng die Ab- 
sicht geäußert hätte, den Chorsatz wegzulassen und ein neues 
Ende für diese Symphonie zu edinden — es hätte nur eine un- 
geheure Orchesteriuge sein dürfen!) Aber etwas anderes, mensch- 
lich tief Ercrreifendes spricht aus diesem Beginnen: die verzwei- 
felte Aiistreiiij^ung, ein Neues zu hnden, um die innere Qual ab- 
zuleiten, die in der Musik nicht gestillt wird. Wagner hat emp- 
funden, daß Beetiioven es liier mdit melir ertragen kann, in der 
reinen Musik zu veriiairen; aber seine Deutung, er hätte nun 
die Einheit von Ton und Wort als letzte Erfüllung gefunden, 
scheint mir durchaus irrig. — Es mag sein, daß am Enigleiaen 
dieses berühmten Satzes die nichtssagenden Verse Schillers mit 
schuldig aind, denn ihrer Hohlheit konnte Beethovens Musik 
nicht gewachsen aein.'*) Bedenkt man aber hmwiedenun, wekfae 
unenneßlichen Tiefen Bach an noch ilblefe Terie ang^üpft hat, 
so kann auch das nicht zur Eridärung huncicfaen. Bedfaoven 

*) Man ndune doch rtunal den Hymnus «n dla Ftmd» ohne die 
fibllclwn Vonirldto zur Haiul und wnudie, sieb dahai etwas vonuataUan: 

Küsse gab er uns und Reben 

Und den Freimd, geprüft im Tod. 
Wollust ward dem Wurm gegeben, 
Und der Cherub steht vor Gottl 

Das ist keine Freude, eines Beethoven würdig, der den Übermensch' 
Uchan fubel der 5, und der 7. Symphonie aekannt hat. Wem Joharni 
Staaut vertont: 

Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesaos« 

Der bleibt ein Narr sein Leben lang! 
so hat das die gleiche Bedeutung wie Küsse gab er uns und Reben" 
und ist dabei viel echter, einfacher und natürlicher. — Hat die erste Zeile 
aber immerMn noch einen (trivialen) Süin, eo iat der Round, geprüft Im 



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liat nach den Worten Sdullers ohne jede innere Verwandtschaft 
gegriffen, denn er ist weder ein Küsser noch dn Trinker ge- 
wesen, und er bat auch nicht an den Uelsen Vater übenn Sternen- 
zelt geglaubt wie seine Verefaning för Kant und der mysüadie 
Spruch bewdsen, den er sich abgeschrieben und au! den Tisch 
gestellt hat Der Choiaalz ist nichts als eme Tat der Verzweif- 
lung; einer der Versuche, aus sich selber heraaszukommen, etwas 
zu finden, das nicht Musik, vieUdcht nicht Kunst ist. 

Der Versuch, das ihm Gegebene zu fibersdireiten und eine 
letzte Synthese zu üiiden, die ihm seine Kunst versagt hat, ist 
noch viel mächtiger und tragischer in der großen Messe zu 
erkennen. Schon das Unternehmen, eine Messe mit lateinischem 
Text zu schreiben, ist für Beethoven, der zur katliolischLii Kirche 
kein Verhältnis gehabt hat und überhaupt nicht eii^entiich reli- 
giös gewesen ist, etwas Unorganisches. Die ältere kleine Messe 
in C hat auch nicht den geringsten religiösen Zug, sie geht unhe- 
Inimmert am Text vorüber. In dem großen Werk aber hat 
Beethoven um eine Erlösung durch den Glauben wifklich ge- 
rungen, viellddit eüi noch radikalerer Schritt ffir ihn, als das 
Aufleben der Musik zugunsten des Woftes — und das ganze 
reiche Weik ist em Kampf gegen sich selber. Die Missa solemnis 

Tod, völliger Widersinn, denn ein im Tode geprüfter Freund ist gestorben 
und berdtet uiw keine Freude mehr* Ferner: Daf dem WUrm Wollust 
S^dMi ward, Irihnnte allenfalls eine naturMstoriedie Feststdlung sein, 

aber nimmermehr Poesie; und der unvermittelt folgende letzte Vers ist 
vollkommen leer jedes Sinnes. Zwar Mreiß ich nicht, ob der Cherub vor 
Gott steht — Ich kann mir ihn höchstens vorstellen wie den schlechten 
Sdifiler, der vor seinem Lehrer steht — ; sollte es aber in der Tat der 
Fall sein, dann hat er zuverllssla weder mit dem wollQstigen Wurm «twas 
zu Staffen, noch mit allem andern, was sich auf Freude und Uebe und 
Freundschaft bezieht. Außerdem ist es ein Widerspruch, in einem Atem 
Gott zu preisen, weil er uns Küsse gegeben hat, die Wollust aber (offen- 
bar verächtlich) dem Wurm zuzuschieben. — So ist dieses ganze Gedicht 
iwar mit froSen Vfontm angeffillt, aber völlig unkfinaderlsdi, unvortteil* 
bar und obendrein dhne allen inneren Zusamniealiang. 



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hat nichts Gläubiges und nichts Transzendentes, ohne das reli- 
giöse Musik nun etnnud nicht zu denken ist, sie weist nicht ins 
JensdtB» sondero ist ganz von infiacher Leidenschaft, von ir- 
discher Klage erfüllt, gerade wie die anderen Werke. Chor und 
Rezitativ sind oft genug opemhaft. Hin und wieder klingt ein' 
kirchlicher Ton auf, der aber luchts ist als euie Renimiszenz 
(während das Requiem und das Ave verum cofpus von Mozart 
tiefe Umere Hhigebung an ein jenseitiges Dasein, die ergreifende 
letzte Stille eines Lebens atmen, dem das Irdische schon ent- 
schwunden ist). UlIs Lchteste an Bettiiovens Mt-sse- Musik sind 
die Aufschrde der Verzweinun^: Kyrie eleison! Herr, erbarme 
dich unser! und am Schlüsse das entsprechende Miserere, das ja 
aus einem zerrissenen Herzen stammen soll. 

Die Fugen, die in der Missa vorkommen, haben Beethoven 
viel Mühe gekostet. Sie sind wild und titanisch, aber ohne innere 
Ruhe, das Gegenteil der gottsicheren bacfaischen Fugen, die wie 
In der Ewigkeit gegründet ruhen. Die Fuge ist die vollkom- 
menste und die einzige wirklich vollkommene künstlerische Art, 
ein Mannigfaltiges in -einer Emheit zusammenzufassen. Keine 
andere Kunst ab die Musik vermag in so hohem Mafie, In- 
dividuen (Stünmen) glddizeitig gegeneinander zu föhien. Auch 
das Drama gibt dne Vielbdt von Menschen, die dnander be- 
fehden und schließhch zur Einheit kommen können, ui^d der mc^* 
dernen Oper ist die Möglichkeit gegeben, die dramatische und 
die musikalische Lösmig zu vereinigen (was im ersten Finale von 
Mozarts Figaro wohl am v(^onunensten gelungen ist).*) — Die 

*) In der griechischen Tragödie wird den kimplenden Individuen der 
Chor als besonderes, in sich abgeschlossenes Prinzip der Einheit gegen- 

uhergestellt und dies ist sein kfmstlerisch -psychologischer Sinn: den im 
antiken Denken zutiefst begründeten V orrang des Allgemeinen, Objektiven 
vor dem Linzelnen sichtbar zu machen und eine höhere Einheit über 
aOem Qitzweiten zu verltOrpera. Darum sagt auch der grieddsche Chor 
nicht Mwlr**, sondern Hldi**, er reprisentlert nicht ebie Summe von bidl' 



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büdende Kunst stellt sich in jeder äguralen Komposition die 
Aufgabe, aus vielem Widerstrebenden eine Einheit zu gestalten, 
Rafiaels große Gemälde etwa zeigen eine Lösung, wie sie der 
Malm möglich ist (Die Sixtina-Decke strebt etwas Derartiges 
nicht aa, sie begnügt sicfa mit einer Reihe voa Einzd-Dsiatel- 
lungen). 

Die Musik jedoch besitzt in der Fuge CFludif ') die gcoB- 
artigste Möglichkeit, Individuen kämpfend gf^einander zu 
führen und zu dner Emhdt zu bringen. (Der bildenden Kunst 
fehlt ja die dynamische Entfaltung und sie kann nur dnen ein- 
zigen Augenblick herausgreifen.) Das vollkommene Bild des 
Kampfes äußerer Mächte, die Freude am Spiel der Krai't, am 
RinjE^en, Verfolgen, Siegen in heller Sonne bieten wohl die Fugen 
Händeis. Händel ist Mittelmensch, er steht fest auf der Erde imd 
schöpft aus ihr inuiier neue Kraft. Eine Vielheit von Menschai 
gibt es auch in eini^^en Chören der xMatthäus-Passion, dort, wo 
die Stimmen des Volkes durcheinander rufen; aber für Bach ist 
diese äußerlich-dramatische Auffassung der Fuge eine große 
Ausnahme. Fast immer handelt es sich bei ihm um ehien 
i n n eren Kampf — und hier gewinnt die Fuge ihre tidste Be- 
deutung. Sie wird zu einer Kunstfoim, die nicht mehr ihres- 
gleichen hat (denn in der Malerei wie im Drama handdt es sidi 
stets um ein infieres Oesdiehen, um den Kampf von mensch- 
lichen Indhddoen gegenemander). Die Fuge faßt die innenn 
MSdite^ und zwar nicht in ursprünglicher diaotiacher Wildheit, 
sondern als Ausstrahlungen eines gemefaisanien Höheren und 
schafft aus ihnen Ot)erlegenheit und Verklärung. Dies macht das 
e^entliche Wesen der l uge aus, ihre Idee: sie ist das Spiegel- 
bild der Bede, die die ganze Wdt in sich trägt und sich selbst 

"viduen gegenfiber den olnzebien hsndelndn und ieldend«n Pnnonai, 
sondern «hie wirldlche Elnbelt höherer Ordnung, dl« dem Zwiespalt eni» 
hoben Ist 



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genug ist, die die Wdt atis sich herm zu meugm veniiag. Wie 
in einem ewigen Kreislauf gebiert sich aus der Seele das Sein 
und lodirt in seinen Undio6 wieder. Die Fuge Bacbs ist das 
Icunsflerische Abbild der Sede, die zur Welt geworden ist (Mi- 
krokosmos im eigentlichen Sinn), die in sich selbst ihren Scbwer- 
punit hat und um die eigene Achse kreist, die sicli in ihrer Tiefe 
wie in euieni klaren See spiegelt. Sie ist die Abbildung des 
höchsten mensch he iüichen Bewußtseins und der wahre Aus- 
druck des ganz Großen und Einsamen, des Siegreich-Voll- 
. endeten — Bach. 

Es ist nun auffallend und wichtig, daß Beethoven in seiner 
späteren Zeit die Form der Fuge immer wieder ergreift (die 
größten finden sich in den Sonaten op. 106, 110, in der neunten 
Symplionie, der Missa, in der „Wethe des Hauses", dem Quartett 
qp. 133 und dem Fragment op, 137), wfthrend er sie irutier nur 
gfanz vereinzelt angewendet und eigentlich nie durchgeffiltrt hat 
Unter allen diesen Gebilden gibt es aber (mit Ausnahme der So- 
nate op. HO) kaum eines^ das man p^chologiscfa als Fuge emp- 
finden kann. Auch das Glofia der Mesae^ das möglicherweise efaie 
kamM gebaute Fuge ist (ich vermag es nicht zu entscheiden), 
erweist sich schon äußerlich durch seine wilde Akzentuierung 
als ein Organismus von anderer, elementarer, ungebändigter, 
kurz beetliovenischer Art. Alle bachischen Fugen sind trotz ihrer 
Herbheit in eine höhere iiarmonie getaucht, welche Dissonanzen 
gar nicht als solche empfinden läßt; die Fugen Beethovens klingen 
durchweps übel und j]:ewaltsani. Es sind nicht die unbegreiflich 
selbstgenugsam in sich ruhenden Wesen, deren Charakteristik 
ich angedeutet habe, sondern krampfhafte Versuche, in der 
höchsten Kunstfom den Frieden zu gewinnen. Diese Fugen, 
deren eine (in Sonate op. 106) tragisch überschrieben ist: „Ohne 
jede Freihdt", dokumentieren den Entschluß» der Zerrissenheit 
bis Auge zu achauen und sie musikalisch zu bändigen; aber sie 



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44 



vcmten gleichzeitig die UmmögUchkdt des Sieges. Wie itatag 
sie audi sein wollen, sie sind mit dem alten Kampf angefOllt imd 
emclien kein wahres Ende.*) 

Die Vernachlässigung des Wohlklangs, die in den späteren 
Werken oft zu finden ist. kann nicht wohl mit der Taubheit 
Beethovens erklärt werden, wie dies immer wieder geschieht. Soll 
man etwa annehmen, daß Beethoven das genaue Klangbild nicht 
im Ohr gehabt habe? Daß er die kompliziertesten Tongebilde 
ersinnen konnte und Mißklänge „überhörf* hätte? Die Vor- 
stellung oder der Anblick des Notenbildes hat ihm ohne jeden 
Zweifel densdben Eindruck gemacht wie anderni das lebendige 
Hören, und die Mißachtung des Wohlklanges ist viehnehr wieder 
nur eine Äußerung der Ruhelosigkeit, die sich nicht nur positiv, 
sondern auch n^tiv in der Oleichgültigkeit g^en das Sinnlich- 
Musikalische, d. h. das Eigentlidi-Musikalisch^ ausspridit Denn 
bei Beethoven ergibt sich der Mißklang nicht« wie manchmal bei 
Bach, aus der Notwendigkeit der Sümmiuhrung, vor der alles 
andere zuriicktreten muß, oder wie bei Modemen aus dem Be- 
dürfnis, psychologisch-draniarisch zu charakterisieren. Und ich 
bin sogar geneigt, das Fehlen der traijenden mittleren Stimmen, 
während die höchsten und tiefsten Lagen gleichzeitig erklingen, 
wie es sich wiederholt in den letzten Sonaten und Quartetten 
findet, auf den Mangel an innerem Gleichmaß zurückzuführen, 
der sich im musikalischen Material handgreiflich spiegelt. — 

Die entgegengesetzte Tendenz wie in dem Willen zur Fuge 
ist in den instrumentalen Rezitativen am Werk, die alle musi- 
kalische Gebundenheit abstreifen wollen und nach einem der 
Sprache angenäherten unrhythmischen, mehr verstandesmäßig 



*) Die fuge in der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses" ist ein wenig 
im Geiste Händeis empfunden, ein tonmalerisches Durcheinandereilen 
und -rufen vieler Menschen. 



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45 

vennitteiten Ausdruck tasten. Auch sie ~ die in den letzten 
Sonaten und Quartetten wie in der neunten Symphonie den Gang 
unterbrechen ^ sind nichts anderes als eine Flucht in fremdes 
Land. — 

Doch wir mfissen noch einmal zur Messe zurückkehren. Im 
Credo ist die Kraft des Glaubens wiiUich zu spfiien; ehi Zweifler 
ist Beelfaoven nie gewesen^ nur ebi Ruheloser (in Wagners 
. Schlußmesse^ dem Parsifa], ist der Dimon Wagners, der Zweifel, 
noch am Weck» und sein Credo, das Glaubensthema, enthält die 
ganze Wucht des siegenden Glaubens). — Das Crudfixus und das 
Resurrexit aber ist durchaus irdisch, sogar ein wenig äuBerlich- 
pompüs, Wtis besonders fühlbar wird, wenn man an die ent- 
sprechenden Stellen in Bachs H-moll- Messe denkt, die vielleicht 
der tiefsten Religiosität der neuen Zeit Ausdruck gibt. - Das 
Benedictus und das Agnus hingegen atmen eine gfewisse 
religiöse Ergriffenheit; und endlich hat Beethoven bei dem Satz 
Dona nobis pacem selbst aus tiefstem Herzen dazugeschneben : 
„Bitte um inneren und äußeren Frieden." In diesen Worten des 
Messetextes ist ihm seine letzte Sehnsucht bewußt geworden: 
i^e zu finden aus dem Gewogt der Leidenschaften, Ewiglcdt 
zu schöpfen im Drange der Zeit Diese Rufe nach Frieden sind 
der Ausdruck höchster Verzweiflung, wild aufschreiend rennen 
sie dnrch alle Stimmen» Trompeien gdlen in die Erdenwdt hm- 
ein und ein f^gstUchcs** Rezitativ fleht um götUicbes Mitleid 
und um Frieden. Es sieht aus» als wolMe sich der Chor den 
Frieden endlich gewaltsam ertrotzen. Aber die Zerrissenheit ist 
zu sehr das letzte in Beethoven, sie lälk nur für kurze Augen- 
blicke nach. Der Instrumentalsatz (Presto) hat den Frieden, der 
im Benedictus wie eine Vision aufgetaucht ist, sclion wieder ver- 
loren — und die Messe schlielit, wie sie begonnen hat: unerlöst. 
Sie bedeutet den völligen inneren Gegensatz zu Bachs religiöser 
Musil^ und zu Bruckne» Te Deum, das mit den Schlußworten; 



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46 



Non coniiiiidai in aetemum tiefste Gewißheit des Glaubens und 
des ewigen Lebens verkündet. — 

Eigieifend ist es, wie Beethoven um die menschliche 
Erlösung in der Liebe — aber wiederum ins Material seiner 
Genialität hinein verwandelt! — gerungen hat. Der Liederkreis 
an die ferne Geliebte und die Mignoo^Lieder (Beethoven hat 
„Nur wer die Sehmttcht kennt; wdfi, wsas ich leid^' viennat 
vertont!) atmen scUichle innige Sehnsucht, und hn Fidelio hat 
sich der Tnum von der Liebe und Treue emer Fnni verewigt; 
noch mehr als in der Oper jedoch in der groflen Leonoren- 
Ouvertttie: wie nadi langem Suchen endlidi der Erldsungsruf 
der Trompeten erschallt, da ist ein Atemanhalten, ein Horchen, 
ein Herzklopfen, ein Aufleuchten der Hoffnung — noch einmai 
ertönt der Ruf — und dann bricht der selige Jubel der Liebe aus, 
der nimmer enden kann.*) — Am Schluß der Oper erküngen 
dieselben Worte wie am Schluß der neunten Symphonie — „Wer 
ein holdes Weib errungen, stimm' in unsern Jubel ein!" — ein 
anderer Weg, der aus der eigenen Unseligkeit herausführen 
mußte, gleichgeordnet dem künstlerischen Weg, dem reUgiäsen, 
dem Allgemein-Menschlichen. — 

Ich fibersehe bei meiner Auffassung Beethovens durchaus 
nichts daß er hnmcr wieder m den rehicn Adagios ^ am voll- 
endetsten im Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit, 
Quartett op. 132 — vorfibergehend wahlhaft selige Ruhe^ hi den 
jut)efaiden, von aller Erdensdrwere enflMmdenen Schlußsätzen 
ein vollkommenes göttliches Lächeln gefunden hat. Wiederholt 
und in der allergrößten Weise ist die Spammng überwunden 
worden; aber gerade das Fehlen einer eindeutig gerichteten 

*) DieM Ouvertur« Ist die wahre TngMiek de beweist fibeneugeiMli 

dafi Wagner Unrecht hat, wenn er die Sehnsucht Beethovens nach dem 
Wert einseitig hervorgelK>bsii und für seliie elfentUctae Sdmsudit er* 
kUUt hat 



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47 



Linie scheint mir ja ein Hauptmerkmal der beethovenischen Ge- 
nialität zu sein: er steigt manchmal aus dem unendlich hin- 
stürmenden Ozean und ruht auf einer schattigen Insel — aber 
er muß wieder hinab ins OewQge. Das iaaerlich Grenzenlose ist 
sein tiefstes Wesen. — 

Beethoven bat die musikalische Variation gepflegt wie 
kaum ein anderer giofier Tondichier, nicht nur als Teil einzelner 
umiaagieicher Weik^ auch als sdb^dige kOnstieriscIie Fonn; 
die 33 Variationen über ein Thema von Diabelii (op. 120 aus 
dem Jahr 1823) suid wohl das bedeutendste existierende Werk 
dieser Art. *) — Die Variation, die eüi gegebenes Thema ab- 
wandelt, ist wie kerne andere Form eine blofi musikalische An- 
gelegenheit und etwas wie eine hohe Schule der Kunst, nicht 
Erg 11 1^ seelischer l-roduktivilal im höchsten Sinn. (Daß Beethoven 
in den Diabelli-Variationen, im Schlußsatz der dritten Symphonie 
und vielleicht auch in der Appassioiiata und in der Sonate op. III 
etwas Geniales in die Variation hineingelegt hat, widerspricht 
eher dem Geist dieser Kunstiorm, als daß es aus ihm folgte.) Die 
Variation ist ein Spiel der Phantasie, eine Gelegenheit, seine 
Fertigkeit zu entfalten; dies wird z. B. bei Brahms sehr deutlich; 
im Bereiche des beeihovenischen Daseins aber erscheint die Va- 
riation wie ein Ausruhen in dem, was nur Musik und nichts 
anderes isl^ ein Beschäftigen mit den muaikatiscfaen Fonnen, das 
die Unruhe der Seele vogesaen lIBt; mit einem Worte, die Rich- 
tung, die mstinktiv dem Grofien und Aubrühienden enigegen* 
arbeitet, wie es sich in Rezitativen, Chonfttzen, gewaltsamen 
Fugen und Willküriichkeiten äußert 

♦) Die 23. dieser Variationen bringt imvermittelt eine Arie ans ,,Don 
fuan". — Lange ist mir dieser sonderbare tiinfall unverständlich ^leblieben; 
bis ich zufällig auf den Text achtete: „Keine Ruh bei lag und ilachtl** 
— BeeUiovm lacht «dbst fiber sein m ernst gcnonunsnes Beginnen, su 
elnsm nIfiiit«MC«nden fremden Melodlechen 33 mlditige VsriaUonsn m 
schreiben* 



4ä 

In den letzten Sonaten und Quartetten tritt das eigentlich 
Künstlensche, das Formende und Gestaltende wiederholt (nicht 
immer!) zurück, es ist manchmal wie wildes Aufschreien oder 
wie dunkles, gestaltloses Grübeln. Die Rücksicht auf den musi- 
kaliachen Ausdruck nimmt ab, eine nackte Seele will zu sich 
selber reden, sie spinnt einen Gedanken an, unterbricht ihn 
wieder, kommt mit etwas Neuem dazwischen und findet kein 
rechtes Ende. Die QuarteHfuge op. 133 (die ursprflnglidi als 
SchluB von op. 130 gedacht war) ist ein einziger wilder Krampf, 
musikalisch gewaltsam und unschön, doch encfauttemd in ihrer 
Menscfalicfakett^ die am Kflnstlerischen veizweifeit hat — nach 
dräben ist die Aussicht uns verrannt! — Die Haauneildavier- 
sonate op. 106 mit ihrer imgewdhnUdien Länge, ihren fiber- 
reichen und verschiedenartigen Inhalten (worin sie an die neunte 
Symphonie und an das Quartett op. 132 erinnert) bedeutet einen 
heroischen Versuch, die ganze Welt der Seele zu durchrasen und 
zu bewältigen. Im Adagio, emem der innigsten und dabei grüb- 
lenschesten Beethovens, sinfrt alle Wehmut und alle Resignation 
des Daseins, es versenkt sich immer leiser und zarter in sein Ge- 
heimnis. Aber diesem entrückten Sinnen, das wirklich Erlösung 
ist, folgt neues Präludieren, ähnlich wie vor dem Choreinsatz 
der Neunten, und die wilde Fuge braust heran, die den schon 
erschauten Frieden nicht iestigt, sondern zerstört 

Beidoer sagt über die letzten Sonaten (in denen er übrigens 
einen whidiclien Sieg und Abschlufi findet): ,,Es ist eine vöUig 
abatrakte Klangwdt, In die diese Schöpfungen hmeinffihren. Es 
sind nur Klangvorstellungen, mit denen sie spiden. Beedioven 
bedient sich nur der Schriftzdchen der Klaviersprache Der 
wirkliche, physisch wahrnehmbare Klang ist eine gemeine Ver- 
gröberung der kuiistiensciien Idee, die hier nur noch dem 
geistigen Ohr erkennbar wird. Beide Werke (die Sonate op. 106 
und die I>iabelU-Variatioaen) sind die immateneilsten Schöp- 



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49 



Iniigca, die nunadificlie Kiuist tMs jetzt hcrvo^^^ Wir 
sehen, wie hier die Instnimentifantisik, an der Spitze ihrer Ent- 
widdiiiig aogelangt, mit Enimaterialiaieniiigpdraiig sich gleich- 
sam überachlfigt: sie verleiigitet sogar den realen iOang und 
steigert sich zum Experimentieren mit rein gefainmiaßig erfaß- 
baren Klangabstraktionen"*) — Was heißt das aber, vom Musi- 
kalischen ins Psychologische übertragen, anderes, als daß 
Beethoven an seiner Kunst verzweifelt hat^ 

Während der letzten zweiduhalb Jahre seines Lebens hat 
sich Beethoven fast ausschließlich mit der Komposition der 
Quartette op. 130, 131, 132, 133 und 135 beschäftigt. Für 
die drei mittleren besonders gilt die gegebene Charakteristik 
der letzten Schafienszeit. Vollkommene Überwindung und 
Seligkeit atmet der „Danl^gcsang eines Genesenden an die 
Gottheit*^ in op. 132; aber auch diese Verklärung, die in ein 
Jenseits weist, ist nur Episode und im letzten Quartett op. 136 
wkd eine neue diesseitige Utaung gefunden. Dieses Weik Ist wie 
ein Anfang; es zeigt einen überraschenden und besonderen Cha- 
rakter. Den ersten Satz erfüllt Behaglichkeit, er ist ganz mitld- 
menschlich und musikalisch überaus einfach gebaut; das Vivace 
bringt eine ungebändigt hinspringende Mdodie; sie artet rasch 
in einen wilden dreivierteltaktigen Tanz aus, wie kaum ein 
anderes Musikstück voll zügelloser und über alles Maß bran- 
dender elementarer Wildheit. Die ausgleichende Mitte fehlt: im 
Baß einförmig dumpfes Grollen, hoch oben das abgerissene Hin- 
und Hcriiüpfen der Violinen, gewaltsam und bösartig sozusagen. 
Das ( janze klingt wie ausgehöhlt und ohne Harmonie — Den 
vollkommenen Gegensatz dazu bildet das Lento: eine Schau von 
überirdischer Höhe. In dieses Stück sind zwei Zeilen eingebettet 
(Piii lento), die einen stillen Rückblick auf die Sehnsucht der Erde 
k bieten, irdische Webmit, nicht verklärte Ruhe 

«) S. 151. 

LutkBt GnatM dir SmI«. 4 



50 



I>er Schlußsatz („der schwer gefaßte Entschluß") ist die 
letzte schwermütig grübehide Frage des Menschen: Muß es 
sein? — Muß er sich wirklich dem Zwang beugen, wo er doch 
Frdheü wall und Sieg über alles Lsstende? Dem OrQbeln und 
Wehldsgen folgt pUttsdiches Aufraffen: Es mufi sein! — die Er- 
kenntnis, dsfi das Leben gelebt weiden muß, das Schicksal bejaht 
Noch einmal (nach der Wiederiiolung) biumt sidi's auf, aber 
der Mensch hat äch mit dem Schicksal ausgesfihnt, eine Synthese 
von Freiheit und Zwang, von Mensch und Welt wird gefordert 
— Und nun tritt das unglaublich beseligende Motiv der inneren 
Gewißheit auf — der Mensch siegt! (D-dur.) Die Einheit wird 
gewonaeii und hier ist es die Lösung Kants: Der Mensch weiß 
sich frei und hat mit dieser inneren Tat den Zwang der Welt 
überwunden. — Noch einmal wird die Losung in Zweifel ge- 
zogen: Muß es sein? — Die Frage erldingt außerhalb jedes 
Quartettstiles dramatisch-rezitativisch über ungeduldigem Tre- 
molo. Aber nun folgt die endgültige Bejahung: Es muß sein! — 
Und gleich darauf der stegende Jubd, ganz andeis als hi der 
neunten Sj^mpbonie, ein wahibafler, hmerer Sieg. — Der ScbhiB 
dieses musikaliach wie pqfdiologisch gleich dufchsiditig ge- 
bauten letzten Salztt ist dfe Obereinstinmung des Menschen mit 
dem Schicksal — die Spannung wüd von einer anderen, uner- 
warteten Seite her überwunden. Hat sich sonst immer das Chaos 
der Seele nach Klärung und iiniheit gesehnt, so isi nun plotzhch 
dn neues und überwältigendes Motiv da: Im Bewußtmaclieii alles 
Unbewußten und in seiner Bändigung, in der endgültigen Be- 
jaliunjtj: des eigenen Wesens, wie immer es sei, liegt ei[ic neue, 
unerwartete Auflösung des Zwiespaltes, die Zerrissenheit wird 
anerkannt und bejaht — ist aber mit diesem Entschluß auch 
schon nicht mehr etwas Fremdes, Dämoniaches» sondem mit 
hineingenommen his Zentrum der Seele;*) 

*) Die Erzählung, daS sich dieser Satz auf Vor^lnte kl Bttsttiovcfis 
Wirtschaft iMxieh«» iat wobt nicht wert, lurfickgewieten zu werden. 



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I 



51 



Dieses letzte Werk Beethovens bietet aber noch einen wich- 
tigen und niemals erkannten Zug: es spiegelt nkniich Beethovens 
ganzen Weg hn kleinen und wiederiiolt die drei Stufen, die im 
Menschenleben typisch zu erkennen sind. Das Alkgretto ist er- 
füllt von der Naivität und Sorglosigkeit, von dem ungebrochenen 
Shm der Jugend, das Vivace und das Lento llfit die zweite Stufe 
der Zeniasenhät deuflich erkennen: DaUnraaen in dämonischer 
Witcflieit — Versinken in überirdischer Andacht; eines bedingt 
das andere, indem es das andere bekäinpit. Die dritte Stufe aber 
schafft eine höhere Einheit, die hier so groß ist wie keine andere, 
nämlich die Einheit von Schicksal und Freiheit, von Welt und 
Mensch — eine Einheit, die nur für den Menschen wahrer (lie- 
nialität, der sich seiner Natur (seines Schicksals) wie seiner trei- 
heit bewußt geworden ist, in Frage konunt*) — Das ganz Be- 
sondere und Außerordentliche an diesem unerwarteten Ausgang 
von Beethovens Lebenstragödie ist aber das IrdischederLö- 
sung, das nicht mehr über das Eidendasein hinausblickt Diese 
fiberaus prinzipielle Konzeption — die mit den bilUgen Reden 
von hannonischeui Olympiertum nichts zu schaffen hat — scfaei- 



•) Vgl. hiezu „Die drei Stufen der Erotik" 4. Teil. Der Aufbau des 
Menschenlebens, der sich im letzten Quartett Beethovens so entschieden 
und typisch spiegelt, liegt aber schematisch der ganzen klassischen und 
besondeft der beethovenlBchen SonsCe Symphonie) aifnnide und Ist im 
ganzwi und grofien immer festgehaltttti worden. Das erste All^ro USt 
die ungebrochene f^raft der lui^end Wnstürmen; die beiden folgenden Sitze, 
ein langsamer und ein tanzarti^^er (die ihre Stelle vertauschen können) 
spiegeln die Zwiespältigkeit des jüngüngs (wenn auch das ältere Menuett 
die ZCgellosigkeit ki redit fesMteto RHrmen gebannt hat), und der letzte 
Sali will VersBhnung In Heltorkelt geiMn. — Mit dieser Erklirung glaube 
ich den eigentlichen psychologisdien Grund für diesen dreistufigen (nur 
scheinbar vierstufigen!) Bau der großen klassischen Musikstücke aufgedeckt 
zu haben, der so hartnäckig festi^ehalten worden und aucti heute noch 
nicht geschwunden ist Die menschliche Seele hat ihre eigene Geschichte 
In dl« Zetttamsl^ In die Musili; hlneinprojlziert 

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det Beethoven in der metaphysiachen Richtung von 
Bach und Wagner und ateUt ihn einzig neben Kant 

Man winl orir hier vielleicht WillU^ 
vorwerfen, aber die aedisdie Dispositioa dn Wertes ist mir 
nicht zweifelhaft und ich liabe — abgesehen von den Worten, 
die Beethoven selbst über den letzten Satz geschridwn hat — 
kein anderes Argument als die Aufforderung, unbefangen zuzu- 
hören. Dieses Quartett ist eine wiildiche Erlösung, indem das 
Unentrinnbare freiwillig bejaht und so in seiner Stellung zur 
Seele verwandelt wird: Die Vielfalt ist nicht mehr der Feind, 
in dessen Bekämpfung sich das ganze Leben aufzehrt; es wird 
in das höhere Ich hineingenommen und so eine Einheit von 
Zwang und Freiheit gesdiafien. — Stände diese Lösung in den 
letzten Werim Beethovens nicht ganz vereinzelt da, so müßte 
er ztt denen gezahlt werden, die innere Ruhe gefunden haben; 
allein es ist nur ein Zufall, daß das F-dnrQuariett sebi letztes 
Werk ist, seht Leben steuert dieser Lfisamg nicht oiganisch zu, 
sie ist vidmdir nur einer — allerdings der größte und bedeu- 
tendste unter mehicien Lösungsvcfsncben, kein definitives Ende. 
Denn auf dem Totenbett hat sich Beethoven noch euunal aul- 
gesetzt, hat trotzig und droliend die Rechte gd)ant und ist dann 
tot zurückgesonken. 

Wenn wir uns aber die Linie von Beethovens Entelechie über 
seinen irdischen zufalligen Tod hinaus verlängert denken, dann 
tritt uns allerdings die Aussicht, vielleicht sogar die Zuversicht 
entgegen, daß dieses Leben in der freien Anerkennung des wilden 
schicksalhaften Geschehens, nicht in seiner Vernichtung, die Ein- 
heit im höheren Licht gewonnen iiätte — eine höchste Lösung 
der menschlichen Jxtifpk, 



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2. DAS TRAGISCHE 



1. 

Der Zwie^Mlt in der Seele des Oicnzmenedien iet (von 
kgenflichcn Überschreitungen abgesehen) bis jetzt nur als psy- 
chische SpamitiQg, nicht aber als Wcsenazwlc8|ialt nüt ejfaiadieai 
oder metaphysischem Charakter betrachtet wocdeo. Aber er 
reicht tiefer und enthfiUi sidi ~ wie dies bd der Analyse 
Beethovens schon erkannt worden ist — als eine innere Dualität, 
die bis zu den letzten Schichten alles Menschlichen führt und die 
ganz besondere Gestaltung Tragischen annehmen kann. Die 
Quellen d^ Tragi«:hen zu entdecken, ist nun meine Absicht. 
Dabei handelt es sich mir nicht etwa um eine ästhetische Unter- 
suchung oder gar um eine Analyse der Tragödie; die Tragik als 
ästhetische Oefühlslage ist nur eine Form der allgemeinen Tragik 
(nicht das Tragische schlechthin, wie viele Psychologen und 
Ästhetiker lehren), und der seeliache Zustand des Dichters» dem 
eine TrsgOdie entstammt, ist nur ehie besondeis glficUiche Ge- 
staltung aus dem tragischen Orundbewußisein heraus. Dieses 
tragische GrundbewuBtaehi selbst, das allen TrsgOdien vonuis- 
geht und eine der ganz wenigen großen MfigUchkciten für den 
Menschen ist, dem Sein gegenfiberzntidai, soll effocscht und 
verstanden werden. 

In der Natur ist uithts zu finden, was als tragisch ge- 
deutet werden könnte. Ob zwei Fixsterne ineinanderstürzen und 
verbrennen, ob üt>er Nacht eine Springflut kommt und weithin 
alles Let>en zerstört, ob Millionen von Menschen verhungern — 
wir sind überzeugt, daß alles dies nach den gesetzmäßigen Zu- 
sammenhängen geschieht, die in der Natur einzig herrschen. Wie 
die Reihen zusammentreffen, mag zufällig scheinen, das heißt wir 
vermögen die durcheinander verflochtenen Ketten von Ursachen 
nnd Wirkungen nicht zu ubeiblickcn; aber jedes einzehie und 



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alles zusammen ist streng notwendig beding. — Alles Leben ist 
darauf gegründet, daß es sich gegenseitig vernichtet und auf- 
zehrt; aber so wenig der Ausbruch eUies Vulkans etwas anderes 
ist als ein geologisches Phänomen, so wenig haben wir das 
Recht, in dem aUgeoieineii Venuchtmigskampf ums Dasein etwas 
anderes zu erblicken als sinnloses blindes Geschehen der Natur. 
Jede Handhabe, ein Werturteil anszuapredieii, fehlt, die 
Natur hat zu der menschlichen Funicttoa des Bcnrteikns kein 
Verhütais^ sie ist dieser Funldioa fremd, sie ist weder gut noch 
bflse, weder schdn noch häfilicfa, weder idyllisch friedevoll noch 
tragisch zerrissen — denn alle Wertsetzung und der Oedanke 
des Wertes überhaupt stammt aus der Seele des iMenschen. Ja, 
daß wir „Gesetzmäßijßfkeit", „Zwang" in der Natur finden, ist 
schon Anthropotriorphisnius und entspnngt unserem Bedürfnis 
nach Ordnung und Überblick. Es gibt in der Natur nichts als 
Tatsächlichkeit ohne Beziehung auf einen Gedanken der 
Notwendigkeit oder der Willkür, keinen Wert und kein Tra- 
gisches. Das Tragische — soviel leuchtet schon ein — ist ein 
Oedanke oder ein Gefühl des Menschen. 

Mit jedem Urteil, das der Mensch äber das Sein bricht 
(schfiii — hlfiiich z. B.), stellt er sidi auf ehien Punkt auBeriudb 
des Beurteilten, 1^ er einen MaBstab an, der dem Beurteilten 
hmerfich fremd isL Wenn er also kgend etwas in der Wdt als 
tragisch empfindet, so hat er nur aein eigenes Urteil oder OefShl 
hl die Welt hinein veriegt. Die Tragik in der Wdt sdbst zu 
finden, ist entweder Anthropomorphismus, das heißt ästhetische 
Projektion (von ihr wird im Abschniti über das Erhabene ge-' 
sprechen werden), cxier eine metaphysische ürenz Überschreitung. 
Die Annahme, daß die Welt innerhch zwiespältig und von Ur- 
b^nn tragisch orgfanisiert sei, wäre natiirlich nicht zu wider- 
legen und mag dem Ot>erschwang eines tragisch fühlendoi 
Menadicn Befriedigung bieten. Aber wir haben nicht das Recht» 



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solch eine Oefuhls-Projektion als eine Einsicht hinzustellen. Das 
Geigenteil, die völlige Indiffennz und Wertfrandheit der natür- 
lichen Welt muß gdten — auch um zum wahfen Veretändnis 
der Tngik zu kommen. 

Es steht demnach fest, daß das Tragische nur dne An- 
gdegenhelt des Manchen ist Und es ist nicht cimnal ehie An* 
gdegenheit aUer Menschen. Was der eine ab tragiscb cmfiiindet, 
schemt dem andern bedauerlich oder sogar komisch, oder es 
macht ihm überhaupt keinen entschiedenen Eudnick. (Das 
Wort „tragisch" wird, wo das Gefühl für das wirklich Tragische 
fehlt, gern als ein Superlativ in der Bedeutung von „äußerst un- 
dii^enehm", „ein großes Unglück'^ verwendet; etwa wenn jemand 
beim Baden ertrinkt.) Die erste V oraussetzung für das spezifische 
Bewußtsein des Tragischen ist Zwiespältigkeit; dem Mittel- 
menschen — das bedarf keiner weiteren Begründung — muß 
diese seelische Lage fremd sein, wenn er auch von einer Traj^ödie 
angenUirt und ergriffen werden kann. B^egnet er imi Leben 
einer tragischen Situation, so schiebt er sie instinktiv wie etwas 
Unbegreifliches oder gar jUnheimUches beiseite;*) er versteht 
nicht, was es mit diesem seltsamen, unausgeglichenen Seelen* 
zustand für eme Bewandtais hat und tut ihn folgerichtig gern 
ab krankhaft (das heißt: mir unvefst&ndlicfa), vielleidit mit einem 
Modewort sls hysterisch ab. 

Das Tragische ist nicht em VerhXHnis (oder MißveriiUtais) 
des Menschen zur Welt (wie es meislens gefsflt wird), nicht ehie 
Beziehung zu etwas Fremdem, sondern ein Zustand der Seele 
selbst, und zwar ein ganz bestimmter Zustand. Bevor ich jedoch 
meine Auffassung davon darlege, will ich die tiefsinnigste und 

*) Ich mdchte hier die Anmerkung machen, dafi tragische Minner 
auf wohltemperierte, mittelmenschliche Frauen nicht selten mit einem 
entschiedenen Zauber whkm; man ist wohl genötigt — und hierin werden 
wir noch mehr als einmal bestlrkt werden — das TkigltGhe als ehm 
Stelgerung de« MInnüchcn in Seelenleben aubufassen. 



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umfassendste aller existierenden Theorien besprechen, die zu- 
gleich emen Übei^ang herstellen wird Sie ist bei Hegel vor- 
bereitet und hat von Hebbel ihre letzte und radikalste Ausge- 
staltung empfangen (im wesentlichen stimmt sie auch mit der 
Metaphysik Schopenhauers und Hartmanns zusammen). Der 
Kern dieser Lehre ruht in folgendem : Die Welt ist eine Manif esta> 
fioo der ewigen Idec^ was gesdiieht, geschieht mit Notwendig- 
keit, und diese Notwendigkeit ist das Gesetz der Wdt, Ist das 
SitUtdiei das Gute. Das bidividuuniy das sich dagegen anflklui^ 
das mit rebellischer Willkür aus dem Km des notwendigen Ge- 
schehens henuishnlen will und sich peisAnlicfaen Widentand 
gegen das ewige Weltgesetz anmaßt, wfaid unbannherzig zer- 
malmt. Durch diese Vernichtung des Individuellen, das heißt 
des N^ativen, wird das NotwendiLge, das Positive, wieder her- 
gestellt, das WeltjETesetz versöhnt.*) — Der Mittelpunkt dierser 
Lehre vom tragischen Geschehen (der bis heute nichts gleiches hat 
zur Seite gestellt werden können) ist die Idee des Schicksals, 
das in seiner ganzen Wucht und Oröße verstanden wird. 
Schicksal ist der Inbegriff alier Mächte, von denen der Mensch 
ahhingt, die er nicht selbst geschaffen oder gewollt hat und 
denen er doch wefarios ausgeliefert ist Aber nicht nur die 
Michle der AnBenweit, die Abstammmig, die aodalen Veihilt- 
msse» die UnzulingUclikeifen sehics Ldbes — auch die MIchte 
der Seele gehören dem Schicksal an 0iierzu die Analyse 
Beelhovens hn vorigen Abschnitt). Wer sich d^g^gen auMmnt» 
wild venüchlet, geht trsgisch miter. 

Diese Weltaufiassung — denn das ist der pesahnistiache 
Pantragismus — ist am prinzipiellsten von Hebbel gefühlt und 

*) Pfir Schopenhauer spiegelt sich in der Tragödie der Widerstreit 
des WeltwiUens mit sich selbst, sie ist ihm die Einsicht In die Nichtig' 
Wt alles Qwchdwns, ^dle AuHofderung zur Abwendung dee Wllleiis vom 
Leben" — wie alleidiivs sdnrer ndt einer wirklichen Tragödie in Elnklanf 
tu bringen sein dürfte. (Ue Welt a. W. u. V.l. §51, IL Kap.3n. 



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formuliert, in seinen Dramen verkörpert worden Hebbel ist in • 
jahrelangen Grübeleien zu dem Schluß gekommen, daß der 
Mensch sdne Individualität büßen müsse, daß ihn die blinde 
Notwendigkeit (die Idee der Allgemdnhfiit) vernichtet und daß 
dtucfa diesen tmgiscfaen Unteigang das sittliche WeUgeselz 
wieder faeigiesidlt wird. Nicht darauf kommt es an, wdcfae Ricta^ 
iuag m einem Menschen die Oberhand hat; sondern nur auf die 
IntensÜfity mit der sein Soodeiwille dem aUgemehien entgcsen- 
tritt, und diesen SonderwiUen hat er mit dem tragischen Tod 
zu söhnen. Das Individuum muß wieder vernichtet werden — 
„Jeder Charakter ist ein Irrtum". Daß der Mensch ein beson- 
deres Individuum ist, gilt als Schuld, Tragik ist mit dem Men- 
scliensein überhaupt gegeben, sie ist Entzweiung des liidivi- 
duaiwillens mit dem Weltwillen „Diese Schuld ist uranfäng- 
Üch, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennen und kaum 
in sein Bewußtsein fallend, sie ist mit dem Leben selbst gesetzt." 
— „Sie begleitet alles menschliche Handeln." — Das Individuum 
wird bestraft, weil es Individuum ist und sich so gegen die Ali- 
gemeinheit des nicht Individualisierten auflehnt; und dieses 
Höhere ist „das alles bedingende aitfliche Zentrum, das wir ün 
Wdtoiganismus» schon seiner Welterhaltung w^gen, annebmen 
müssen".*) — Die Ldire^ daß das Notwendige das Sittliche sei, 
hat Hebbel von Hegel fibemommen und seine ganze Welt- 
anschauung beruht darauf. Hegel sagt z. B.: ^^AUes Ezisticraide 
ist deshalb nur Wahiheit, insofern es eine Existenz ist der Idee. 
Denn die Idee ist das allein wahrhaft Wirkliche . . . Kommt 
diese Identität (zwischen einem Ding und seinem Begriff) nicht 
zustande, so ist das Daseiende nur eine Erscheinung, in welcher 
sich statt des totalen B^rifffö nur irgendeine abstrakte Seite 
desselben objektiviert, welche, insofern sie sich gegen die Tota- 

•) „Moiit Wort Gbtt das Drama" und Vorwort zu Mari« Magd^na. 
V«L TagdHIdwr n. 31S8. 



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• lität und Einheit in sich verselbständigt, bis zur Entgegensetzung 
gegen den wahren Begrifi verküniniern kann.*'*) — Oder i^och 
entschiedener; „Gott allein ist die wahrhaite Übereinstimmung 
des Begnäes und der Realität; alle anderen Dinge aber haben 
eine Unwahrheit an sich, sie haben einen B^riH und eine 

• Existenzy die aber ihran Begiifi unangemessen ist Deshalb 
müssen sie ziis^runde gehen, wodurch die Unangemessenheit 
ihres Begriffes und üurer Existenz manifestiert wird.*'**) 

Diese Leiire ist im Gnmd identisch mit der griechi- 
schen Auffassung vom uneibittlichen Schicksal und biigt nur 
noch einen höheren Orsd von Pessimismus. Dos Allgemeine, 
das Notwendige, das Schicksal muß Qber das Individuum Herr 

bleiben, damit die Welt bestehen könne; sich dagegen aufzu- 
bäumen wäre Kurzsichtigkeit, Frevel, Sünde. Während es bei 
den Griechen eigentlich nur Torheit ist, gegen die Moira zu 
wollen, liegt es für Hebbel im Wesen der Welt begründet, daß 
sich der Individualwille gegen den allgemeinen auflehnt, und 
der Inhalt der Tragödie ist die Finsicht in die Notwendigkeit 
seiner Vernichtung.***) Die berühmte tragische Schuld ist vom 

Ästhetik I, S. 143. Und über die Tragödie Iii, S. 559. 
Logik § 24 Zusatz 2. 

Ich kann Leopold Zi«gler nicht bdstimmen, wenn er einen prin» 
zipiellen Unterschied zwischen der modernen Auffassung des Schicksals 
und der antiken sieht Die Ursache der riotwendigkett soll für uns im 
Menschen selber liegen, für den Gnechen aber in einer übermenschlichen 
Macht Em Ist doch Uar, dal dia verobjektlvIoKfide, mythische Phantasie 
der Griechen demselben Gnindgelilhl nur eine andere ElnUeidunc gegeben 
hat Ist die Notwend^lielt ebimal aur einzigen Herrscherin der VMk er« 
hoben, dann ist es ganz gleichgiiltig, woher sie stammen mag, und wenn 
uns heute die Moira als Um und Auf der Tragik nicht mehr genügt, so 
ist es, weil wir allen Theorien zum Trotz die Idee der mnerlich freien 
PersAnllchlnit besitzen. (Vgl. L Ziegler, Zur Metaphysik des Tiagtschen, 
1902, S. 7). — Man lese femer die tiefoinnjgen Betrachtungen über die 
griechische Tragödie bei Schellhig, PMIosophie der Kunst (Wethe Abt I, 
Bd. 5^ S. 687-711). 



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Memcbcii nicht begangen worden, sondern ihm mit dem Leben 
zugleich aufeftegl^ sie ist nur die Ezemplifiziening efaier beson- 
deren Metaphysik (der pesshnistischen Philosopiiie des mibe- 
wofiten WeltwiUens» die' Hartmann spftter formuliert liat) 
auf das menschliche Leben. So gilt für Hebbel das Tragische als 
Orundfaktum der Welt, das im Menschen nur bewußt geworden 
ist, und — „das böse Gewissen der Menschheit hat die Tragödie 
erfunden". Der letzte Zweck der Welt ist, wie der des tragischen 
Menschen, wieder vernichtet zu werden. — Hebbel lehnt daher 
eine Ausnaiimestelhing des Menschen, eine innere Freiheit aus- 
drücJflich ab und gesteiit liim nichts zu als Einsicht in die all- 
gemeine Notwendigkeit. „Der Mensch hat freien Willen, das 
heißt, er kann einwilligen ins Notwendige." — „E)ie sogenannte 
Freiheit des Menschen läuft darauf hinaus, daß er seine Abhän- 
gigkeit von den aligemeinen Oesetzen nicht kennt***) 

Die lomantisdie Aulfassung vom Tragischen (wdche die 
Tragödie mit emsdiließt) entstammt emem Weligefuhl der Ver- 
zweiflung an aller Menschenkraft; sie ist selbst ehi tief tragisches 
Phinomen. Ffir Hebbel und die ganze philosophische Romantik 
ist Individualitat Abfall vom Allgemeinen, von Gott, ist Sünde, 
die durch den Untergang des einzelnen gesühnt werden muß. 
Der Durchschnittsmensch kann mit dem Weltg^etz zusammen 
bestehen, der höhere aber muß und soll vernichtet werden. 
Dies stellt Hebbel immer wieder mit einer geu issen Befriedigung 
fest. „Es gibt keine Versöhnung (in der tragischen Kunst). Die 
Helden sterben, weil sie sich überheben. Das mag den, der das 
Oberheben nicht leiden kann, befriedigen."**) — Tragische 
Schuld ist ihm: etwas anderes wollen als das Universale, Not- 
wendige^ Ideelle will. Dieses unbegreifliche Gesetz der Welt» 

*) Tag^&cher IV, 5611, 11, 2504, UI, 4969. — Vgl. f. Zinkernagel, 
Die Gntndlasm dir HtMidtdiiii TrafiMUe, Berlin 1904^ 
**i TagebOeber fl» 2578. 



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das man Schicksal nennen mag, um sich doch irgend etwas 
darunter denken zu können, ist aber im Gnmci etwas Teuflisches, 
denn es duldet den Menschen nur als d i e Menschen, als stumpfe 
Masse, als naturhaft v^etierende Lebewesen. Hebbel hat diese 
Konaeqttenz nicht gezogen (und auch kein anderer), aber sie ist 
zwingend : schon die geringste Leistung (vielleicht die Erfindung 
eines Steinhammei» oder Siea und Ernten) ist in der Uiliorde 
„Oberiiebung'' im Hebbelschen Sinn. Und wer beute hervor- 
tritt^ Großes tut, Neues will und sdiaff^ setzt nur die Tat dessen 
fort, der sich einst „ubeilioben*' hat Etes NichMndividuslisierte, 
das Gestaltlose hat dgenfliche Berechtigung, alles Gestaltete mufi 
aui^gehoben werden, damit das — Niehls sei. „Obrigens liegt 
|a alle Tragik auch nur in der Vernichtung und macht nichts an- 
schaulich als die Leere dtss Daseins" — Wir empfinden die 
innere Verwandtschaft dieser Weltwertunfi: mit Schopenhauers 
Philosophie — was besteht, ist wert, daB es zugrunde geht. Und 
während das Tier dumpf dahinsinkt, vermag der Mensch seinen 
Untergang mit dem Bewußtsein des Tragischen zu begleiten. 

Die Tragödien Hebbels enden mit der Vemiditung — auch 
der seelischen Vernichtung — des Hdden, die Lustspiele sind 

belanglos, weil er — das wird erst in einem> späteren Abschnitt 
einleuchten — keine Freiheit kennt. Die Theorie dieses mächtigen 
Geistes ist ja nicht zurechtgemachte Verstandesarbeit, sondern 
vielmehr gedankliche Fassung seiner tiefsten Wesensart; und wer 
die Freiheit ablehnt (vielleicht fürchtet), der ist dem Pessimismus 
endgültig verfallen, der kann niemals zum Lächeln kommen und 
zum Gedanken der Überwindung. — Freiheit ist für Hebbel das 
Böse, Willkür und Widerspenstigkeit, nicht eine Notwendigkeit 
anderer, höherer Art; nicht eingeborenes Gesetz des Menschen, 
sondern Auflehnung gegen das objelctiv Sitttiche H^gel-ScheUing- 

Brief«. Nachlese. HerauBgegeben v. R. M. Werner. 1, 141. 



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acher Konzqrtioo. Hebbd hSlt nicfat zum Menschen, aondeni 
zum UDpersönltcfaen Fatum^ ihm gewinnt das Tragiache cnft 
einen Sinn durch den Untecgang des lebdlisdi trotzenden Emzd- 
wilkns — wUirend die üefBle Tragik im gerechtfertigten Handeln 
das doch zu loeinem Ende Iconunt. 
Dieser pessimistischen Lehre fehlt der Glaube an 
einen Sinn des jMenschen. Und dieser Glaube kann 
nicht bewiesen werden Aber er beruht darauf, daß im Menschen 
noch etwas anderes sei als Mechanismus, ein allem übrigen 
Sein Fremdes, Zusiimmenhang mit einer anderen Ordnung als 
der der Natur: Freiheit. Und das Tragische ist dann der Kampf 
zweier wirklicher Mächte (nicht der Allmacht imd eines Phan- 
toms). Es ist die innere Situation des zwiespältigen Menschen, 
die sich als Kampf zwischen dem Willen zur inneren Freiheit 
und den Mächten der Welt äußert, eine dauernde innere Anti- 
nomie^ die als dimktes verzefaiendes Gefühl (im tnigiachen 
Dichter) oder als duaüstisdie Deutung des Sdns (ün tragisdien 
Philosophen) besieh^ das Bewußtsein» vom Zwange der Wdt 
und der eigenen Natur unterjocht zu werden und cfiesen Zwang 
doch überwinden zu mflasen. I>er Mensch, der um die eigene 
ZwiespftlÜgieeit weiß, hat sich hi diesem Bewußtsein zwar über 
sie erhoben, ist ihr aber doch wieder verfallen, weil in ihm 
d e r W 1 d e r s t r e 1 1 v on Schicksal und Willen lebt, 
weil er weder ganz Schicksalsmensch — wiiienlos dem Zwang 
hingegeben — noch ganz frei sein kann (vielleicht nicht einmal 
sein will, denn sem tiefstes Wesen ist Zerrissenheit und er könnte 
mit vollkommener Freiheit nicht bestehen). — Der idyllische 
oder Mittelmensch hat im allgemeinen keinen Anlaß, sich seiner 
Eigenart bewußt zu werden, denn solch ein Bewußtsein setzte 
schon innere Teilung voraus, hnmertün kann er sich selbst 
jähen (wir werden dies in einem qiMeren Abschnitt bd der 
Analyse Spkiozas bcgieilen); ms Unredit setzen kann er seine 



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Art nicht, denn so trüge er schoii den Zwiespalt in sich zwischen 
Sein und Wollen. 

Die Lösung des Konflikts wird auch bei dieser Auffassung 
manchmal der traditionellen Lösung äußerlich gleichen; dier 
Mensch ^eht im Kampfe mit der ubermächtigen Welt zugrunde; 
aber alles kommt darauf an, daß jetzt die innerlich eigriffene 
Partei nidit die Welt, das allgeoNin notwendige Oescheiien, die 
Hcgf^sche Idee ist, dafi der Untogang des einzelnen nicht als 
Strafe für seinen Trotz und Ungclionam empfunden, als Wiedas 
hentellung der ewigen WdIgereditigiGeit gebilligt wird: aondem 
dafi wir innerlich de Sache der Freiheit des Menschen gfigen 
den Zwang der Welt eiigreifen. Der Mensch und seine Freiheit 
müssen nicht untergehen (mag es auch noch so oft der Fall sein), 
eine andere innere Stellungnahme und Lösung ist möglich, von 
der die fatalistische Lehre — hier sind die scheinbaren Feinde 
Hegel und Schopenhauer einig! — nichts weiß: der Si^ der 
Persönlichkeit, die kühn (Hebbel sagt: „widerspenstig, trotzig**) 
gegen den Zwang der Welt („die ewige Idee'') steht — Unter 
dem Schicksal kann ja (selbst in der tiefsten Fassung Schellings 
und Hebbels) nichts anderes verstanden werden als die Feat- 
stdlung, daß der Mensch von allen Mächten abhängt und sich 
beugen mufi oder zugrunde gehen — einfach weil er der 
Schwächere ist Wer das Letzte der Tragödie (die mir jetzt nur 
als Pnifstehi der These gilt) darin fmdel; daß der Mensch im 
Kampfe mit den Mächten der Welt untergeht, der mag beun 
Schicksal bleiben; wer aber fühlt, daß im Menschen etwas ist, 
das ewige Berechtigung hat gegen Welt und Schicksal, und wer 
gerade darin das Letzte einiger weniger großer Tragödien 
wiederfindet — der wird etwas Neues im Menschen fordern: 
den Willen zur Freiheit. 

Das Entweder — Oder heißt also: Ist das Tiefste 
und Letzte in der Welt oder im Menschen? In 



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beiden zugleich kann es nicht sein, wenn einmal der idyllische 
Standpunkt verlassen ist, das Leben als tragisch empfunden wird. 
SoU aber wiiUich dieses TieiBie ck» Oeselz der Welt sein (und 
nicht das des Menschen) — dann müßten wir, die wir auf dem 
Standpunkt des Menschen stellen, die Wdt und ihr Gesetz nicht 
als gOtüich, soodern als teuflisch empinden. 

Freiheit ist das BewuBiaeüi, daB der Mensch nicht nur 
unter dem Oesetz der Natur steht, sondern noch unter einem 
anderen. Wird die Freiheit ihrer Existenz nach verneint und über- 
dies als Postulat, als Sehnsucht der Seele ab^^elehiit, daaa darf 
nichts gelten als die harte Notwendigkeit, die unter dem Bilde 
des Schicksals oder auch der Vorsehung zwar eine menschlichere 
Färbung annimmt, aber doch nicht darüber hinwegtäüsclien 
kann, daß der Mensch nichts ist als ein Teil der Natur, dem 
allgemeinen Zwang des Geschehens unterworfen wie alles sonst 
— ohne Willen, ohne Wert, ohne tragisches Bewußtsein. Auch 
Hebbel (und seibstvcrBtändlich die romantischen Philosophen) 
sind Dualisten; wSren sie es nicht; so wüßten sie nichts von 
Tragik» denn mit ehiem modstischen Onmdgeffihi ist Tragik 
unvereinbar; wenn die Wdt von Orund ans einhdtiich oigani- 
siert ist, dann gibt es kehun echten, tiefen Zwiespalt» höchstens 
in den VeUeititen und Nanheiten mancher Menschen. Dies wiid 
durch die Erfahrung voUsOndig bestätigt: Wer sich monistisch 
mit der Natur eins fühlt, wer sich ihr ganz angehörig und hin- 
gegeben weiß (wie mancher Lyriker und vegetarische Natur- 
mensch) — der versteht Tragik überhaupt nicht. Und darum 
wäre auch ein Staiuipunkt jenseits von Gut und Böse vollkommen 
untragisch, mittelmensch iich, idyllisch, flebbel bekräftigt seine 
dualistische Weltanschauung ausdrücklich, z. B. mit den folgen- 
den Worten: „Der Dualismus geht durch alle unsere Ansdiau^ 
ungen und Gedanken, durch jedes einzelne Moment unseres Seins 
hindurch und er selbst ist onseie hdchste, letzte Idee. Wir haben 



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ganz und gar außer ihm keine Orundidee. Leben und Tod, 
Krankbcit und Gesundheit, Zeit und Ewigkeit, wie eines sich 
gegen das andere abschattet, können wir uns denken und vor- 
stellen, aher nidit das^ was als OemeinsanieB^ LfffHtidfs und Vci^ 
afihncndes hinter diesen gespaltenen Zwcihciten U^"'*) — 

Es gilrt also nur zwd Mfigticbkeiten: Tragisches Bewußtsein 
und Wille (das heiBt aber Freiheit) als Gesetz des JMenschen 
gegenüber der Natur — oder der Mensch ein Wesen unter der 
Herrschaft der Natur, gleich allen anderen dem Zwang unter- 
worfen, dem Fatalismus hingegeben. Für den ganzen alten und 
neuen Orient besteht das Bewußtsein eines freien Willens (oder 
was dasselbe ist, der Persönlichkeit) nicht, er hat die Lösung des 
Fatalismus erwählt; die Tragödie der üriechea ist Eintrefien des 
Schicksals^ es steht so fest, daß man es vorher wissen kann. Und 
die Gegenwart, die zum Monismus neigt und also wenig Sinn 
für das Tragische liat, venucht oft genug» Tragik dnith das 
Schicksal zu ersetzen. Ihr ist die Moira zum Milieu dcge* 
neriert. 

Das BewuBtsein des innerlich Tragischen (nicht des Dar 
matischen) fofdert» daB dem Schicksal etwas anderes entgegen- 
gesetzt werden könne, daß zutiefst im Menschen etwas sei, was 

einem anderen Oesetz als dem der Natur, der Natur um den 
Menschen und der Natur im Menschen, folgt und sich durchzu- 
ringen strebt, daß ein Gesetz des Menschen gegenüber 
dem Zwang des natürlichen Geschehens anerkannt werde. Dieses 
Gesetz aber ist das Prinzip der Freiheit oder der Persönlichkeit. 
Das tragische ßewußtsem (ich sage nicht: die tragische Schuld^ 
und nicht: der tragische Untergang) beruht darauf, daß sich der 
Mensch im Gegensatze zur Welt empindet, nicht etwa trotzend 
und sich ut)eiiiet)end^ sondern aus einer inneren, tief berech- 
tiglcn Kraft heraus» die sidi selbst Gesetz sein will und muß und 
*) XwebficlMr 11, 2197. 



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die daher mit der iicrcBcbenden GesetzUclikeit der Welt nicht 
zusammenstiiiiiiKii liiui und koofl^gieft 

Will man aber die Folgening ans der Ldue ziehen» dafi 
derjenige tngiadi nnteigefaen mfisae^ der CU)er seine Schnnloen 
hinaufiadirdtet» der von adner Lddenachaft oder seinem Ocnie 
allzu weit getrieben wird, so kommt man zu der achSb^gen Weis- 
heit» daß der ruhige Bfiiger der allerhöchste^ der durchaus zu 
billigende Mensch sei; er vermißt sich niemals, er fibertritt 
keinerlei Gesetz und lädt daher auch keine tragische Schuld auf 
sich. So wird maii gedrängt, alle Menscheiigröße neg^ativ /.u 
bewerten, weil sie, wie behauptet wird, mit der „allgemeinen 
Idee" zusammen nicht bestehen könne; und dies nicht von 
einem gemefei redlichen, materialistischen Standpunkt aus, sondern 
vom Standpunkt der Geistesheroen Schelling, Hegel, Hebbel. 

Um sogleich einen möglichen Irrtum zu beseitigen : Freiheit 
ist selbstverständlich nicht die Laune imd Willkür des Individu- 
ums, nicht die RechtfertigUQg emes Rasenden wie Othello oder 
ehies Hemchbegierigen wie Rtdiard III. Diese Helden der Tra- 
gödie wissen nichts von innerer Freiheit^ sie sind Sklaven ihrer 
Leidenachafl^ ihrer Natur, ihrer eigenen UnMhdt, aie geraten 
mit der Welt m Kampf und rennen blind in ihren Untergang. 
Aber dies ist nicht Tragik; wer so handelt; kann wohl Objekt 
des tragischen Geschehens für einen Zu- 
schauer SCHI, aber nimmermehr tragisches Subjekt. Der 
„tragische Hekf \ der sich „vermißt**, der durch seine über- 
spannte Einseitigkeit „fehlt", erlebt nicht Tragik in sich selbst — 
er weiß gar nichts von ihr, dmn er birgt keine Zwiespältigkeit, 
er stürmt bewußtlos seinen We^ hin wie die Lawine. 

Und doch haben die Theorien vom Tragischen immer dieses 
Abgeleitet-Tragische im Auge, das ich das Ästhetisch- 
Tragische nenne. Auch die Lehre Hebbels (ich spreche 
immer von ihr, weil sie die tiefsinnigste Auffassung bietet), daB 

Lack«, Qrmiea der Soelt. 5 



4S6 



der Sinn des Tra^^schen in dem Widerstreit zwischen Einzel- 
willen und Gesamtwillen, zwischen Willkür und Wdtgesetz be- 
ruhe, der nicht anders als durch die Vernichtung des einzelnen 
versöhnt werden könne, stammt aus der Tragödie und nicht aus 
der Tragik.*) Aber diese Menseben, die ibiem Instinkte^ ihrer 
Oebundeobdt fraglos itnterwoffen sbid, gleichen in alkm den 
Kräften der Natur, dem Sfuim, der ein Scbiff mit tausend 
Menschen vernichtet — ohne tragisdi zu sein — dem Ideinen 
Raubtier, das einem Kbide die Augen berausfriBt — ohne Schuld 
auf sich zu kulen; sie smd nicht zwicspSltig, sondern jeder Pro- 
blematik bar, ganz eindeutig.'**) Ihre Natur hält sie mit solcher 
Intensität im Baiine, daß sie für nichts anderes Raum haben — 
das Unfreie, das Blinde, das Naturhalte an ihnen. Mit der 
größten Entschiedenheit muß festgestellt werden, daß diese 
Helden der Tragödie nichts von innerer Zerrissenheit, nichts 
von Trajrik besitzen; sie können höchstens trag^isch auf 
einen Zuschauer w i r k e n , der ihnen relativ frei gegenübersteht, 
der ihre Gebundenheit nicht teilt, sondern ihre Leidenschaft, ihre 
fixe Idee von einer höheren Warte ansidit. 

Will man das Tragische ganz veistehen, so muB man es als 
allgemehie aeelische Diq»osition fassen, nicht hn Hhiblidc auf 
eine bestimmte Dichtungsart (ein lyrisches Gedicht oder ein Ro- 
man können nicht weniger tragisch sein als ein Drama), über- 
haupt nicht als em Prinzip der Ästhetik, soodem als eine Orund- 
stdlnng des Menschen zum Dasem. Aufierdem wiid unmer nur 
vom ingiBdien Untergang gesprochen, aber der hangt mit dem 
tnigischen Bewußtsein gar nicht notwendig zusammen und ist 
nur eine besondere und gar nicht die größte Lösung des Pro- 

♦) Was dagegen Schiller (im Anschluß an die kantische Philo- 
sophie) über das Vergnügen an tragischen Gegenständen sagt, berührt 
sidi wlederiiott mit meiner Aiiffassunc. 

In dem Abschnitt über den Schicksalsmensdien wenien wir uns 
eingehender mit dieser Menscbenert beschiftlgen. 



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67 



blems. Das Tngische ist nicht dn Akt, ein einmaliges Oe* 
schcboi» flooikni ein Zustaod innmi Kampfes^ der in 
letzter Linie inuner auf den Widefspnich des (d^tüch unbe» 
giciBicfacn, nqiatisdien) inneren Gesetzes der Sede mit den evir 
denten und notwendigen Wdtablauf (zu dem auch die aedisdicn 
Vorgänge gehören) ruht. Und die Intensität der tngisdicn 
^Spannung ist von zwei Faktorai abhängig: von der Kraft des 
inneren Willens und von der OröBe des Schicksals^ das äber 
einen Menschen kommt; je entschiedener und prinzipieller ihr 
Kampf, desto tiefer die Tra^nk (auch in der Tragödie). Diese 
Spannung kann sich in einem Augenblick entladen, sie kann auch 
den Tod zur Folge haben — aber das ist ihr nicht wesentlich, 
sondern zufällip:, und ein tragisches Leben ist tra- 
gischer alsein tragischer Tod. Der Tod hat aller- 
dings den großen Vorzug, daß an ihm die Tragik offensichtlich, 
also für die Darstellung in der Tragödie brauchbar wird und 
cm anschauliches Ende gewinnt (das aber oft nur ein Abreißen 
und keine Lösung bedeutet). Mit einiger Übertreibung kum 
man aogu siegen: Die Tragik, die von einem RevotveeBcfauß anf- 
gdfist werden kann, ist nicht vld tragischer als die^ wdclie sieb 
durch eine Summe Geldes aus der Welt schaffen liefie (wie in 
manchen sozialen Dramen).*) 

Es ist nun aber unbestreitbar, daß man beim Untergang des 
Rasenden und des Verbrechers leicht ein gewisses Gefühl von 
Genugtuung empfindet, die bekannte Freude am Sieg der Ge- 
rechtigkeit auf Frden (die sich trivial etwa so ausspricht: „Ge- 
schieht ihm schon recht, warum ist er kän anständiger Mensch 

Obrigens sterben nidit wenige Helden groter TngMIen nur «o 

nebenbei, aus Gründen, die gar nicht mit ihrer Tragik zusammenhängen: 
König Lear stirbt vermutlich an Altersschwäche und H^Iet, der ein wahr- 
haft tragischer Mensch ist, kommt zufällig bei einem Fechttumier um, 
was mit seiner Tragik nicht das Gerlnpte zu tun hat und sogar ein bischen 
licherUch wirkt 

5* 



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68 



gd>liebenl") Dieses Gefühl möchte ich nun durduuis nicht ab* 
weisen oder entwerten, es ist nur nidit tn^gisch, auch nicht 
asttietisch-trsgisch; es ist viehoehr ehi OcfOhl sui generis» das 
sich noch weit entecbiedener als in der Tragödie im Leben ein- 
stellt, wenn der Bösewicht fOieifuhrt und von semer Strafe eidlt 
winL Die tragische Theoiie Hebbeb entfallt zweifdlos etwas 
von diesem Gefühl befriedigter Gerechtigkeit: Das Weltgesetz ist 
durch den Tod des Rebellen wiederhergestellt — dem Strafgesetz 
hat die Verurteilung des Verbrechers Genüge getan; aber beide 
Male gibt es keinen wirklichen tragischen Untergang, kerne Zer- 
störung von innen heraus. 

Wir sind täglich Zeuge, daß ein Mensch mit anderen kon- 
iligiert: wer etwas erreichen will, benachteiligt seine Umgebung, 
der er das Wünschenswerte entzieht^ und gcfät in Widerspruch 
mit ihr. ist er klug und überlegen, so weiß er den Kampf zu 
vechüUen und schleicht auf Umwegen zum Erfolg. Geht er mit 
Gewalt vor, so entstellen Konflikte, die dramatisch sein 
können, aber niemals tragisch sind. ^ Wer ehi Verbiechen 
begeht, setzt sich in Widerspruch mit der GeseUschaft, deren 
Nonnen das Verbrechen nicht dulden. Wenn er schlau genug 
ist, sich der Strafe zu entziehen, so hat er den Vorteil davon (er 
liat das Gesetz überlistet); ertappt, muß er als der Schwächere 
den Schaden hmuehinen — etwas Tragisches ist weder hier noch 
dort zu finden und müßte doch da sein, wenn Hebbel mit seiner 
Auffassung vom Widerstreit des EinzelwiÜens mit der höheren 
Norm Recht hätte. 

Et>ensowenig ist aber auch der von einem einzigen großen 
Gedanken beseelte Mensch tragisch, etwa der Reformator, 
der alles ins Weik setzt und selbst das Leben dahmgibt, um seine 
Idee zum Siege zu führen (naht Ihm der Zwdfiel, so Ist er 
tragisch geworden). Der Refoimator bietet sogar das pas- 
sende Beispiel ffir emen großen, aber untmgischen Menschen: 



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1 



69 

er weiß so wenig von innerem Zwiespalt, daß er sich als Mär- 
tyrer firdwiHig fOr sdne Wahiliei^ fflr aeuiea Olaiiben hinzu- 
opfem ymag. Er ist untr^glscii» imgiebrodMii» naiv. (Das 
eigenßicli Heroisdhe^ das uns nodi beschiftigen wird» ist schon 
dnich den tnigisciun Zwiespalt hindurdigcgangen.) 

Der Widerstreit, der zwischen mehreren Menschen oder 
zwischen einem Menschen mid einem äußeren Oesetz besteht, 
ist also von der eigentlichen Tragik auszuschließen — und so 
haben eine Menge von Tragödien, vor allem die sozialen Tra- 
gödien, nichts mit dem Tragis<:hen zu schaffen (was ja ohnehin 
dem Gefühl der geistig Kultivierten entspricht). Wir müssen 
vidmehr daran festhalten, daß das wahrhaft Tragische 
der innere Zwiespalt einer Seele ist, und zwar 
nicht eigentlich (oder nur selten) eih jäh ausbrechender, ein 
akuter Kampf, sondern eine währende Zerrissenheit, die dieser 
Sede das Gepräge verleiht, die allen ihren Äußerungen den 
tragischen Charalder aufdrückt Jeder Konflikt kann von dieser 
tragisch gestimmten Sede als tragisch empfunden werden, und 
sie vennag ihren üineren Zwiespalt wieder in die Wdt zu senkm. 
Ein solcher Mensch ist aber das völlige Ocgentdl des histinkliv 
und zwangsmäßig handdnden „tragischen Hdden"» sefaie letzte 
und bestimmende sedische Situation ist vldmdir das Bewußt* 
sdn eines über den Naturablauf hinausgreifenden Eigen- 
g e s e t z e s. Lr empündet Notwendigkeit und Schicksal nicht 
als Zwang der Weit, sondern als innere Fesselung seiner Natur- 
anlagen, denen er etwas anderes, ein Gesetz der Persoriliciikeit, 
das heißt der Freiheit gegenüberzustellen vennag. Freiheit ist 
ja nicht Willkür, sondern inneres Gesetz der menschlichen Seele 
gegenüber dem Ablauf des naturgebundenen Geschehens, Die 
Konflikte des tragischen Menschen spielen in ihm selber, und 
seine tragische Konstitution laßt sich au! die Formel bringen: 
Zwang sdner Anlagen gegen Willen adner Menschheit, Natur 



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70 



gegen Persönlichkeit, Schicksal gegen Freiheit. Dieser Zustand 
des Bewußtseins, der keine Katastrophen und keinen Untergang 
bietet — die Spannung zwischen WeUgeaetz und Menschen- 
geaetz ist die einzige wahre Tragik (wam audi die Komplika- 
tiooen des Seelenlebens diese schematiscfae O^genubersteUung 
Hiebt immer ganz duithaiclitig weiden lassen). — 

An dieser Stelle soU noch die Meimmg zurückgewiesen 
werden, daB die Freude an tragisdien Scfaausfrieien mit dem 
Trieb zur Orausamkdt verwandt oder gar identisch sei. Es ist 
Mar, dafi die Behauptung Nietzsches bestenfalls das Ästfaetiscfa- 
Tragische und den tragischen Untergang treffen könnte, aber 
diese Behauptung ist so sehr falsch, daß man, ohne im ge- 
ringsten zu übertreiben, annehmen darf, das Verständnis für die 
Tragödie fange dort an, wo die Lust an der Grausamkeit zu 
Ende ist. Die Freude an blutigen Schauspielen ist ein allgemein 
menschlicher Zug; Knaben wissen sich kein aufregenderes Spiel, 
als Tiere zu foltern, Schmetterlingen die Flügel auszureißen, 
Fröschen die Haut abzuziehen und ähnliches; der Jlger folgt 
stundenlang in zweifelloser Mordiust dem angeschossenen Wild» 
der Indianer schneidet seineai Fehide die Stimhaut herunter, der 
NigeilcQnig schladitet bei feierlichen AnlSsaen Hunderte von 
SUaven und Ajax sdüeidit nachts ins trojaniache Lsger, um die 
Schlafenden zu ermofden« Alles dies ist primitiver Blutdurst, 
an deasen Existenz auch noch heute nicht gezweildt werden 
kann; er findet seme quasi ästiietische Befriedigung im Sduiuer- 
stück und im Kinodrama. Bei alledem handelt es sich um eine 
aktive Freude an der Grausamkeit, der Toreador senkt stell- 
vertretend für alle erregten Zuschauer seinen Degen in das 
blutende Tier, jeda* führt den Stoß mit ihm (und ist daiier in 
seiner Ehre gekränkt, wenn es nicht kunstgerecht geschieht). 

Mehr als diese oder jene Art der Erregung liebt der Mensch 
Erregung überhaupti das allgemein als Dogma geglaubte 



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1 



Streben nach Lust und Meiden der Unlust gilt nur in seinen 
Grenzen; über die Unterschiede von Lust und Unlust hinaus 
woUen die Menschen Aufregung des Gefühles, wie immer es 
sei, neue findrücke, neue Erlebnisse. ' Denn die p^chiache Be- 
wegung an sich ist ea^ die ihre nonnale innere Leere, die 
gdfirditete Langeweüe aufliebi Und idi glaube^ daß eine Oe> 
fuhlsp^chologie gar nicht anssicfatsloa wiie^ die nicht das 
Stieben nach Lust, sondern die Furcht vor der Langeweile, 
die Sehnsucht nach Geschehen fibeihaupt^ wie inuncr es aei, 
üi ihren Mitlelpunlct stellte. Schüler begumi aeuie Abband* 
lung über die tragische Kunst mit der Eüisidit: ,,Der Zu- 
stand des Affektes fOr sich selbst, unabhängig von aller 
Beziehung seines Gegenstandes auf unsere Verbesserung oder 
Verseil iinunerung, hat etwas Lrgötzendes für uns; wir streben, 
uns in denselben zu versetzen, wenn es auch einige Opfer kosten 
könnte. Unseren gewöhnlichsten Vergnüß^ungeii liegt dieser 
Trieb zum Grunde; ob der Aüekt auf Begierde oder Verabscheu- 
ung gerichtet, ob er seiner Natur nach angenehm oder peinlich 
sei, kommt dabei wenig in Betracht usf." — Schiller spricht dann 
auch ausdrüddich von der Lust an blutigen Schauspielen. 

Aber aus Gladiatoren- und Tierkämpfen den tragischen 
Kampf herldten, hieße eine zußlHge Begleitecschehiung für das 
WcsentUche nehmen. Die Griechen, auf die man sich hierbei 
gerne beruft» liaben das BlutvogieBen in der Tr^gMie sogar 
prinzipiell vennieden und Morde usw. stets hinter die Szene 
verlegt Sie haben also gewußt; daß das Blutige dem dgent- 
lieh Tragischen nur im Weg stehen l^onte. Und wenn man die 
Freude des Zuschauers an irgendeiner editen Tragödie analy- 
siert, so wird man niemals den Zuschauer als Schlächter, sondern 
immer als Uiiigeschlachteten finden. Hamlet, Lear, Siegfried, 
Rhodope, ödipus, Antigone, Fuhrmann Henschel und alle 
anderen sterben nicht durch uns» uns zur Freude, sondern wir 



« 



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72 



sterben in ihnen; hierauf beruht ja das berühmte Mitleid, 
das die Tragödie auslösen soll und über das seit Aristoteles so- 
viel geredet worden ist. Dieses Mitleid macht die Wirkung des 
Ästhetisch-Tragischen übeiluuipt erst möglich, denn litten wir 
nicht mit dem Helden, so langweUtm wir uns. Jeder hat im 
Theater schon das Oefühl erlebt: was gehen mich diese Leute 
an? ~ Aber ebenso selbfitvenfindlidi ist, dafi das iragisdie 
Mifldd nur ün Astfaetisch-Tiagiacken seine SteUe hat; wo es aich 
um ein Mit-Ldden, das heiBt um ein abgddtein^ in der Phan- 
tasie erzeugtes Leiden handelt, nicht aber im unmittelbar Tra- 
gischen, wo das Leiden selbst und nicht sein Abbild empfunden 
wird. 

Obgleich also Blutdurst dem Tragischen absolut und prin- 
zipiell fremd ist, leugrie ich doch nicht, daß es dem tragischen 
Dichter hin und wieder Befriedigung gewähren mag, seine 
Menschen niederzumetzeln, so Shakespeare in Titus Andronicus 
und in Lear, Hebbel in den Nibelung^. Aber wiiid Rose 
Bemdt nicht tragischer, da sie ins Gefängnis gdit, so daß eine 
unendliche Perspeldive offen bleibt, als wenn sie sich ertränkt 
hätte? Und wäre es nicht eq^reifender, wenn Hamlet mit dem 
unheilbaien Riß in der Secte für nnmer in die Fremde gingen als 
daß er durch eui vcigiftries Rapier fiUlt? Noch emhal muß es 
gesagt werden: ein tragisches Leben ist tragischer als ein tra- 
gischer Tod. Erst wo animalisdie Tridie, wie Blutduist, gar 
nicht mehr in Frage kommen, fängt das Gefühl für das Tragische 
an. (Darüber will ich ^ar nicht sprechen, daß die Theorie von 
der Freude an der Grausamkeit, am zugefügten Schmerz nur 
eine Variation der Mitleids! ehre ist, eigentlich die Mit- 
leidslehre selbst mit umgekehner ( iefühlsbetonyng: ich leide, 
wenn der andere leidet — ich freue mich, wenn der andere leidet. 
Oft genug geht auch beides ineinander äber, denn eine leise 
Wollust ist hl jeder mitleidigen EmpBndung vertxngen.) 



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Es scheint mir übrigens, daß Sentimentalität, die 
ja mit dem Wesen des Tragischen und der Kunst überhaupt 
ebensowenig zu schaffen hat wie Grausamkeit, heute vid süiker 
wirkt als Biutvei^gießen und nicht selten für Tnigik genommen 
wild. Sentimentalität und Onuiaamkeit «nd verwandt: Freude 
am Web tun — Ffeude am Weh leiden. Beide gdidren der 
nicdrigmi Sphäre des AmmaUacfaen an.*) — Ich habe kaum je- 
mals ein so staik eigriffenes Publikum im Theater gesehen wie 
bei der albernen Szene, wo Fiesco seine geliebte Frau infolge 
eines Vertiddungsscherzes eisildit, nachdem sie sich ihm durch 
eine Reihe von unwahrscheinlichen Zufällen in den Weg gestellt 
hat. Diese Szene kann auf einen tra};nsch Gestimmten nicht anders 
als komisch wirken (wie im Abschnitt über das Komische noch 
einleuchten wird), den sentimentalen Instinkten — die mir übler, 
weil unechter erscheinen als die natürhchen und rechtschaffen 
heiabgeerbten grausamen — ist das eine exquisite Nahrung. — 
Sentimentaliat ist übrigens die Tragik des Mittehnenschen, sein 
Sctunerz, den er mit einer woUästigen Träne genießt £r kann 
sich Tn^ und Erhabenheit nur als Senthnenialiiät vocaielkn. 
Der richtige Ocfühladusler ist zuent heimlicher Schauspider 
und gibt einem erträumten Publikum sein OefQhl zum besten; 
allmählich wandelt er sich zum Publikum und ist sehr fft&ut 
über den eigenen Schmerz. — 

Nach dieser Abwehr zweier Gefühle, die das Tragische oft 
genug fälschen möchten, nehme ich den geraden wieder auf. 

Das Bewußtsein des Tragischen kann nur entstehen, wo 
das Schicksal nicht mehr als letztes anerkannt, sondern in Frage 
gestellt wud, in das Licht einer höheren Instanz rückt Schicksal 

*) Man versteht Hietzsche immer am besten, wenn man fragt: ßegen 
wen richtet sich das? — Die so laut auftrumpfende Grausamkeitslehre 
ist iiielits mdcres «la sdn asketischer Hafi gegen die eigene mitleidige, 
aentlmentaie Natur. 



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74 



im weitesten Sinn ist die Zusammenfassung alles dessen, was sein 
muß; dies kann nur von einem Punkt aus problematisiert werden, 
der sich — weni^^stens der Absicht nach — außerhalb des 
Zwanges der Welt befindet. Und di^r Pimkt kann unmöglich 
ein anderer sein als die menschliche Freiheit, weil alles sonst der 
natürlichen Kausalität oder dem Schicksal Untertan ist. (Das Ein- 
greifen einer göttlichen Macht in den Ablauf der Welt wäre kein 
tragisches, sondern ein magisches Ereignis.*)) 

Dies ist zwingend logisch: Im notwendigen Geschehen gibt 
es kernen Ansatz fflr ZwiesjAltigkeit ligendwdcher Art (es sei 
denn aus Untenntaris der Zusammenhange^ was nur em voriiu- 
figer Zwiespalt wftie). Das Schicbsal als solches kann nicht 
tragtsdi weiden, denn die Zwiespältigkeit als prinzipieOes for- 
males Merkmal des Tragischen steht fest. Also mufi etwas dem 
Schicksal entgegentreten, wenn das Bewußtsein des Tragischen 
entstehen soll, mid das kann nur der Wille des Menschen sdn, 
der den Anspruch erhd)t, sich selbst zu bestimmen, das heißt 
frei zu sein vom Schicksal der Welt (mag er nun in dogmatischer 
Hinsicht frei zu nennen sein oder nicht). Wird daher Freiheit 
als Ideal der Seele abgelehnt, so fällt auch jede Tragik 
dahin, die nicht Scheintragik wih«, an ihrer Steile kann nichts 
gelten als das Gefühl von der zv^ngenden Wucht des Ge- 
schehens, dem der Mensch rettungslos ausgeliefert ist — was er 
pessimistisch beklagen kann, was ihn aber niemals im Bewußt- 
sein emer höheren Kraft zu erheben und zu eibauen vennag. 
Und selbst bei dieser Konzeption des Schicksals ist|das OcfShl 
der Freiheit dunkd mit vorausgesetzt ^ nur so kann ja das 
GegengefQhl des Harten, Zwmgenden gebildet wefden. Wo 
Freiheit gar nicht in Frage kommt (wie in der Naturwissenschaft), 
wird auch kein Zwang empfunden, nur regelmäßiges Geschehen 
„beschrieben". Man muß darüber klar sein, daß „Schicksal", 

"*) Hieruber mehr im Abschnitt: Das Wunder. 



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»yZwang'S .^Notwendigkeit" schon seeüach beschwerte, nicht 
reine Naluibcgnie sind. 

Ich spreche von der Freiheit des Willens. Aber 
man vriirde mich mißvefstehen, wollte man hionn eine dogma- 
tische Behauptung über dieses Uiprobkm des Menschen 
finden. Ich stelle nicht schlechtweg die Behauptung auf , daß der 
Wille frei ist (oder dasselbe: daß es emen Willen als eme Kraft, 
die nicht Natutlciaft ist, gebe); ich spreche nicht von der Freiheit 
des Willens, sondern vom Willen zur Freihdt Wollte ich die 
Freiheit als etwas Bewiesenes aufstellen, dann wäre alle Tragik 
auch schon beiseite geschafft, denn dcis Bewiesene unterliegt dem 
ailgemeiiieii Kausalzusammenhang. Tragisches Bewußtsein ist 
nur möglich, wo nicht eine dogmatische Weltansicht ein für 
allemal feststeht, wo vielmehr alle Möglichkeiten offen sind. 
Wenn ich ganz t>estimmt weiß, daß mein Wille frei ist, dann 
kann mir der Zwang der Welt, das Sctiicksal gleichgültig 
bleiben; ich bin mein eigener Herr und lasse die Welt Welt 
sein. Beruhigung ist an Stelle des Kampfes getreten. Aber die 
tragische Spannung grfindet sich eben darauf, daß ich Freiheit 
will und haben muß — selbst wenn mhr ihre Unmdglidikeit 
hundertmal bewiesen werden könnte! — daß ich aber trotzdem 
dem Schicksal nicht entrinne. — Wfißte ich (um em anderes 
Beispiel zu wShlen) mit voller Sicherheit, daß die Welt samt 
allen Menschen absolut schlecht und des Unterganges würdig 
sei, dann hätte diese Tatsache auch schon nichts Tragisches 
mehr für mich, denn die Schlechtigkeit der Welt wäre dann eben 
eines ihrer Merkmale wie etwa ihre Ausdchnmig im Raum. Das 
kann man bedauern — aber es ist rnchts als Faktum und bietet 
keine Möglichkeit für einen echten /.wictspalt. Und ebenso ver- 
hielte es sich, wenn die Welt durchaus gut wäre. — Alle Dog- 
matik bedeutet eine Lösung von einer Seite her, ein Erzwingen 
der inneren Ruhe durch Abblenden des Enigcgenstehenden, sie 



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ist Beschränktheit des Verstandes, der Phantasie, des Willens. 
Das wahre tragische Bewußtsdn aber nimmt alles Sein und 
alles Wollen in sich auf und veisldit es in seiner Fülle, aber 
auch in seiner Friedlosigkeit 

So ist meme Auffassttng vom Tragischen nicht metaphyaisdiy 
sondern geht an den Grenzen des Seelischen hin. 

Die Fordemiig der WiUensfreihcst ist aber nichts anderes 
als die ins Phflosopirisdie gewendele Fonniifierung des Oefühls 
der Verantwortlichkeit Wer das Bewußtsein liat; ffir 
sein Tun verantwortlich zu sein, der muß — mag er nun tlieoie* 
tisch zusttramcn oder nicht auch ein etgenes itinercs Gesetz 
ffir sein Handehi in Ansprudi nehmen. Denn in dem Augenblidc, 
wo er sich ganz determiniert glaubt, ist jede Verantwortlichkeit 
eine Fiktion (dies ist ja die Klippe der modernen Strafrechts- 
Theorie), er wäre nicht mehr Mensch im eigentiichen Sinn, son- 
dern ein unzurechnungsfähiges Wesen, ein Mechanismus der 
Natur. Wer sich also für sein Tun verantwortlich weiß (und 
auch sozial dafür verantwortlich gemacht werden kann), der 
muB an der Freähdt festhalten. Freiheit und Verantwortlichkeit 
sind dasselbe und die bilden die Voraussetzmig des tragischen 
Bewußtseins, das über das Schicksal hinausgeht und in einer 
prinzipiell anderen Sphäre lebt, weil es das eigentUcfa meta- 
physische Grenzgefühl, das Oelühl von der Proble* 
matik alles Seins ist Und so verstehen whr das 
tragische Bewußtsein als das tiefste CharaUeristiknm des 
Menschen und sehier Dualiiftt Weder bloBe Naturwesen — die 
Tiere — noch auch voi^gesieDte rein geistige Wesen können 
hngisch ffihlen, weil das Bewußtsein des Tragischen — und 
auch des Komischen — in der Zwiespältigkeit des Menschen, 
in seiner Zugehörigkeit zu den beiden Ordnungen des Seins und 
des Wollens begründet ist 



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77 



2. 

Wir wenden uns nun dizo, dnen a 1 1 g e m e i n - m e n s c h - 
liehen Inhalt ffir dieses Schema de» Tragischen zu finden. 
Es ist die letzte Tragik des einzelnen, em bestbnmter, dieser 
Mensch zu sehi, der seuie besfimmte Unfreiheit hat. Alle Natur- 
anlagen des Menschen — ich möchte nicht sagen, sein „dur 
ndrief^, well dieser Begriff wohl auch das „InidUgibele'* mit 
einschließt — sind ja nicht sein Eigenes im tiefsten Sinn, sondern 
ihm gegeben, ihm vom Schicksal auferlegt. Die Subjektivität des 
einzelnen ist im Verhältnis zum voiikommenen Menschai, zur 
Idee des Menschen betrachtet, was Irrsinn geg^über dem nor- 
malen Verstände bedeutet. Die Subjektivität jedes Menschen ist 
seine spezielle Psychose. Das einseitig Mangelhafte wuchert im 
Subjektiven über das eigentlich Menschliche hin. (Für irrsinnig 
im engeren Sinn gilt uns derjenige, dessen seelische Wirklichkeit 
nicht mit der der anderen Menschen uliereinstimmt.) — Und so 
ist eigentlich nur h^khste Oenialittt gar nicht pathologiach, nur 
sie ist Uber alle Subjektiviläl, das hdfit über alle Beschiinknng 
hinaus^ voOkommen menschlich. 

Mit jeder SubjektivitSt ist (fieser bragische Wideiqirttch ge- 
geben: Alles Besduflnkte^ das hdfit alles Subjddive engt das 
idn Menschliche ein, wdl nur der wahrhafte, der voll- 
kommene Mensch das Gesetz des Menschen, die Idee 
des Menschen, seine Autonomie, seine lierrschait über 
den Stoff verwirklichen konnte; jeder einzelne aber mit 
seinen Unvollkommenheiten, Maßlosigkeiten, Monstrositäten 
zeigt an einem Sonderfall die tragische Spannung zwischen 
Sein und Wollen Und diese Spannung repräsentiert die allge- 
meinste menschliche Tragik, die Tragik des individu- 
ellen Charakters. Sie ist als MögUchkdt, man darf 
sagen: als Aufgat>e für jeden Menschen da (wenn sie auch den 
wen^jsten ins BewuBtsdn fällt und daher ffir sie nicht besteht). 



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Hebbel sagt: »Jeder Charakter ist ein Irrtum", und will da- 
mit ausdrücken, daß der einzelne vor der Wucht des Weltge- 
aetzcs kerne Berechtigtuig habe. Wir können diesem Satz in dem 
voflnderten Sinn des Trsgiscfaen bestimmen: Nicht damit eine 
unpersdnliche Idee vefsfihnt werde» soll der Einzdne^ Mangel- 
hafte ziigninde gehen, sondern er soU seine UnvoQkommcnheit 
zu einem Urbflde des Menschen Iftutern. Wir stehen also auf 
dem entgegengesetzten Standpunkt, auf Seiten der Freiheii Nun 
^bt es aber (vorerst) nicht nur e i n Ideal, Mensch zu sein, son- 
dern verschiedene Ideale, Synthesen aus dem, was ein Mensch 
von Natur hat, und seiner eigenen umgestaltenden Kraft;*) und 
so erscheint diese Tragik in der Fonn, daß der Mensch aus dem 
Gegebenen seine innere Bestimmun^^ erfüllen und vollenden muß. 
Diese Tragik liegt im Widerstreit des subjektiv beschränkten 
mit dem idealen, dem vollkommenen Menschen, zwischen dem, 
was einer ist, und dem, was er sein könnte. Kierkegaard 1^ 
diese Charakter-Tragik auf ethischem Gebiete so dar : „Wer ethisch 
leb^ drückt hi seinem Leben das Allgoneuie au% macht sich zu 
dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, daß er seine Kon- 
kretion ablegt» denn dann wfiide er zu einem absoluten Nichts, 
sondern dadiudi, daß er sie anlegt und mit dem Allgemehicn 
durchdringt. Der aUgemelne Mensch ist idmlicfa kein Phantom, 
sondern jeder Mensch ist der allgemeine Mensch, will sagen, 

*) Die Frage, was ein Mensch dem Schicksal und was er sich selbst 
zu verdanken habe, ist Im einzelnen nicht zu beanhvorten; das panzc 
Leben geht ja darin auf, beide Elemente immer inniger zu verflechten, 
eines aus dem anderen zu entfalten und eines im anderen zu befruchten. 
Aber die Meinuiig, die alles fatallstlsdi dem StMckssl zuschiebt, Ist doch 
ebenso oberfllchlich wie die entgei^gesetzte. Der Mensch Ist stets ge- 
neigt, als eigene? Verdienst in Anspruch zu nehmen, was er vom Schick* 
sal als Geschenk empfangen hat. Verliert er es aber, so grollt er nicht 
sich selbst, sondern dem Schicksal. Während der gefeierte Singer mit 
sefaier Stimme alles eingehOit hMt, kam der mriirtiaft produktive Mensch 
doch niemals so v5Ulg von auBen her verarmen. 



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79 



jedem Menschen ist der Weg gezeigt, auf welchem er ein allge- 
meiner Mensch werden kann. Wer ästfaetiflch lebt, ist der zu- 
fällige Meosch, er glaubt, dadurch der vollkommene Mensch zu 
aeiii, daB er der einzige Mensch ist Wer ethisch lebt, arbeitet 
dahin, daß er der aUgemeine Mensch wud. . . . Wer ethisch lebt, 
hat sich sdber ais seine An^gabe. . . . Wenn daher das ethische 
Individunm seine Angabe vollendet^ den guten Kampf gddhnpft 
hat, dann ist es der ehizige Mensch geworden, das heißt, es isi 
kein Mensch wie er, und zugleich, er ist — der allgemehie Mensch 
geworden/' •) — Und Goethe: 

„Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder dem 

Höchsten. 

Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich." 

(Vier Jahreszeiten.) 

Bn!ti!s liebt den Casar (bei Shakespeare) und ermordet ihn 
doch, weil es nach seiner Überzeugung für das allgemeine Bt^te 
(seui einziges Ideal) nötig ist, denn Casar macht Miene ein 
Tyrann zu werden. Aber Brutus kann diese Tat, die seinem Oe- 
fuhl höchster Frevel ist, und die er doch als „guf < betrachtet, 
nicht veiwüiden, ihm eischehit Cftsar als Odst — der Schrecken 
semes Herzens. Sein Tiefstes, sem Obennensddiches billigt den 
Mord auch noch, wie schon alles mißlungen ist, aber er kommt 
über den Schmerz nicht hüiaus. So ist Brutus bei Shakespeare 
der Mensch, der einen Mord verübt, um votflrammen zu werden 
— und an diesem Willen zur VoUkoaunenfadt zugrunde geht. 
(Bei Dante ist er der größte aller Sünder, der von Satan selbst 
verschlungen wird!) — l:s ist die unvergleichliche Bedeutung 
der genialen Menschenbildner mit entschieden tragischem Be- 
wußtsein (wie es im höchsten Sinne nur Shakespeare und Dosto- 
jewski sind), unmer wieder die Tragik des individudlen Cha- 

*) GfitwedeT'Oder, Dresden S. 5t4, 515. — Für Kleffcegaard sind der 
elhisdM und der istfactiache Mensch die Gntndgegensitzew 



80 



rakters, das Verhältns des einzelnen Menschen zu einem Höheren, 
Allgemeineren, das Mißverhältnis zwischen dem, was sie sind, 
und dem, was sie sein wollen und müssen, darzustellen. 

Wenn ein Mensch (wie etwa Kant oder Mozart oder 
Goethe) das Subjektiv- Wandelbare schon fast getilgt hat und der 
rdnen Persönlichkeit nahegekommen ist (was den ästhetischen 
Reiz herabsetzt!), so hat die Charakiertragik keine eigentliche 
Bedeutnng mehr für ihn, denn die Spannung zwischen dem Zu- 
fälligen und dem Idealen ist bis auf einen kleinen Rest geschwun- 
den, 80 daß sie kaum mehr als tragisch zum Bewußtsein kommt. 
Aber über diese Charakter^Traglk hinaua eröffnet sidi nun die 
höchste menschbeidiche Tragil^ die darauf beruhti daß dem 
Mensdien überhaupt — sdbst wenn er über das Subjektiv- 
Mangelhafte hinausgekommen wSre — Grenzen seiner Vervoll* 
kommnung gezogen sind. Für den, der alle Subjektivität abge- 
streift hat, erhebt sich nun die letzte und tiefste Tragik, die nicht 
mehr darauf beruht, daß ein Mensch seiner Idee als Mensch 
nicht zu entsprechen vermag oder sie überspannt" (wie der 
typische Held der Tragödie), sondern daß der Mensch überhaupt 
Grenzen hat — an seinem Leib, an seiner Erkenntnis, an seiner 
Macht — allenthalben. Der zweite Teil des Faust zeigt seiner 
Absicht (nicht seinem Gelingen) nach, wie der Mensch, der nicht 
mdir subjektiv eingeengt ist» doch in allen Richtungen seines 
Wesens Grenzen findet (Eikenntnis, Madit, liebe» Schönheit» 
, Weisheit^ praktisches Schaffen). 

Als ein Beispiel für diese höchste meoscfaUcfae Tragik 
will ich die Tragik des Denkers anfuhren» der voll- 
kommene Emsicht m das Wesen alles Sems er8trd>t In Ihm ist 
die Aufgabe lebendig, die sich der Geist unerbittlich stdlt: Das 
Sein im Denken völlig aufzulösen und zu verstehen. Aber er 
muß an den Grenzen, die aller menschlichen Erkenntnis gesetzt 
sind» scheitern. Dies ist nicht mehr die Tragik eines bestimmten 



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81 



ejnzdnoi Mauchai, ämta Denlm noch im ZiiOUigen, Be- 
dingten, Inigen verimrl^ acmdem die allgemdiMnensdiliche 
Tragik eines GnindwUlcns im Menschen. Denn hier heißt das 
innere Gestz: Wille zur absoluten Erkenntnis — und dieser 

Wille kann niemals venvirklicht werden. Der einzige große 
Denker, der sich diese tragische („anünomische") Tatsache völlig 
klar gemacht und niemals auf einem Dogma geruht hat, ist 
Kant; er steht deshalb als der Urtypus des tragischen Denkers 
da. Meistens ist aber dieser tratsche Zustand nur vorüber- 
gehend; er schwächt sich ab, resigniert und kommt zur Ruhej 
ein Dogma wird angenommen, dn System aufgebaut, das allen 
Fragen eine Antwort bereit hält (Dies geschieht in der Praxis 
manchmal so^ daß ein Focsdier l)q;mnt, sich mit Schulangdegeo* 
heiten zu befassen oder eine mechanische Wefkstttte einiichtet) 
— Die wahn Tragik kdnnte keine definitive Lösmig zulassen, 
sondern müßte die Problematik alles Seins immer bewußter ver- 
tiefen. 

Am klarsten wird die allgemein-menschliche Tragik auf 
religiösem Gebiete Der religiöse Oenius versteht es 

als seine Pflicht, das innere Gesetz des Menschen zum Siege über 
die Welt zu führen, die Welt vollkommen zu machen, selber heilig 
zu werden. Er empfindet alle natürliche Gebundenheit, alles 
schicksalhafte Geschehen mit uni^eh eurem Pathos als Schuld, als 
seine eigene Schuld, und in ihm spielt sich der tragische Kampf 
in seiner reinsten Form, unmittelbar als Kampf zwischen Freiheit 
und Sünde, zwischen Gott und dem Teufel ab. Er muß die 
höchste Forderung erfüllen, aus dem mangelhaften Individuum 
den vollendeten, den Oottmenschen schaffen, und dieser WiUe ist 
mit der ganzen tragischen Wucht der UnvoUendbailKit belastet 
Ffir einen solchen Menschen liegt der Sinn und Zweck des Da- 
seins nur in dem, was sehi muß und doch niemals erfüllt wird. 
Denkt man sich aber, daß em Mensch (z. B. Jesus) wiiUich alle 



Lucka. Cremen der Sede. 



6 



82 



maischlidie Oebundenbdt von äcfa abgestreift hatte und ganz 
frei (göttlich) geworden wäre, so fiele für ihn die Möglichkeit 
einer fragischen Entzweiung fort; er hätte kein iiagiachea Be- 
wußtsein mehr für sich allein — wohl aber unendlidi veEstUt, 
insofern er sich mit allen andeien Menschen eins fühlt» Mensch- 
heit geworden w9re. Das ewige Symbol dieses Prozesses — der, 
sich wiederholend, doch immer identisch sein mfißte -~ ist in 
der Umwandlung eint^ historischen Menschen Jesus in eine 
ewige Idee vom Menschen, Christus, gegeben. 

Ich habe diese beiden Arten der höchsten Tragik nur als 
Beispiele angeführt und j^laube, daß der letzte und prinzipiellste 
Inhalt des tragischen Bewußtseins klar geworden ist: Die mensch- 
liche Persönlichkeit will ein ihr innewohnendes Gesetz (Wahr- 
heit, Schönheit, Heiligkeit, Liebe, ab?;okite Ordnung usf.), das 
in der Welt selbst nicht oder nur bruchstückweise zu finden ist, 
ergreifen und durchsetzen, sie will die innere Freiheit (die Form 
der menschlichen PerBonlichkeit) zum Siege führen. Diese 
Menschen geben keinen „tragischen Untergang" für einen Zu- 
schauer zum besten, sie sterben nicht vermöge ilirer Tragik, son- 
dern sie leben mit ihr und beweisen so wenigstens der Richtung 
nach die Ewigkeit ihres tragischen Bewußtseins^ wShrend die 
Lösung durch den tragischen Tod zuletzt doch Resignation oder 
em Zerhauen des Knotens ist. 

Wenn wir aber (hnmer für unser menschliches Bewußtsein 
und ohne Absicht ehier Ontologie) nach der Tragik der 
ganzen Welt fragen wollen, so beruht sie darauf, daß die 
Welt anders, vollkommener gedacht werden kann als sie ist, daß 
ste ihre Bestimmung nicht ganz erfüllt, sondern unzweifelhaft 
Mängel zeigt. Ja, es ist der letzte Grund alles Nachdenkens über 
die Welt, daß sie auch anders gedacht werden kann. Die Tat- 
sächlichkeit der Welt hat nichts Notwendiges, nichts Zwingendes, 
wir können durchaus nicht verstehen, warum die Weit gerade so 



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83 



ist und nicht anders, und wir haben sogar das ganz cntechicdenc 
Ocf Ohl, daß sie besser sein soltle. Auch wenn man die gdnSncfa- 
liche Abscb&tzung von Gutem und Übeln, die ja inaner nach der 
Neigung des WSgenden ausfUlt, beiaeile IXBt, luuin man als Un- 
vollkoaimenhdt der Wdt tragisch empfinden, daß sie die mdsten 
Mensdien hindert, das ihnen mdglidie Maß von VoOendung zu 
enddien. Die Hegdsdie Lfisimg dieser Frage: daß nimüdi die 
Wii1didi][dt audi notwendig und gut sd, daß Sdn und VolV 
kommensebi zusammenfallen, ist dn verzwdfdter Auswege, eine 
Vergewaltigung alles natürlichen Empfindens und schließlich 
nichts anderes als eine eins.eiti(;c Antwort auf die Tatsache, d'dl\ 
wir die Welt auch anders denken können. Und mußte sogar die 
Welt mit Notwendij^keit sein, wie sie vor uns steht — ist unser 
Denken nicht auch da? Hat es nicht die Kraft, sich das Sein 
anders vorzustellen? — Diese in der Welt an^ele^^de Tragik, die 
niemals c^elöst werden kann, weil die Welt niemals vollkommen 
sein wird, soll hier nicht weiter verfolgt werden; wir beschäf- 
tigen uns wie bisher mit der Tragik des dnzelnen Mensdien. 

Nach allem Gesagten verstehen wir, daß wahre Ethik 
formal sein muß und nur die allgemdne Normalität des Han- 
delns» nicht aber bestimmte Inhalte fordem darf. Vermöge 
unserer versdiiedenen Anlagen ist die Forderung, die an jeden 
dnzelnen herantritt, vollkomnien zu werden, mit anderen In- 
halten ausgestattet, denn seine Vollkoamienhdt ist das Gesetz der 
Frdhdt, auf seine besonderen Anlagen angewendet, sie ist dne 
Resultierende aus seiner Natur und seiner Freihdt. Der Staats* 
mann muß anders handeln als der Künstler und anders als der 
Gelehrte, will er zu sehier Vollkommenhdt gdangen. Und so 
ersdiließt ddi uns das tragische Bewußtsdn nur als eine beson- 
dere Tönung des allgemeinen sittlichen Bewußtseins, als die 
seelische Art, in der die sittlichen Forderungen an manchen 
Menschen herantreten. Ihr uneriüilbares Gebot kann wie eine 

6» 



84 



Eisenwaize über eUien Menschca hingeiieD und üm zer« 

Es bedarf kemer Eiörtenuigeii» daß von der Tragik dea 
individuellen Qianddm zur allgeniein-menscillichcn Tragik 
Obelginge bestehen; immer handelt es aicli darum, wodurch ein 
Individuum gebunden ist Je weniger ZufiUliges sebe Konsdttf • 
tion biigt, desto allgemeiner und prinzipidler kamt sidi die 
persönliche Tragik zur Tragik des Menschen ausgestalten. Das 
Verhältnis zwischen Subjektivität und Persönlichkeit (die man 
nicht selten für dasselbe halt) wird hier sehr deutlich: je freier 
von Subjektivität (von Zufällin keit, Unzulänglichkeit) einer ist, 
desto reiner liaiin der Kern der e r s ö n 1 i c h k e i t heraus- 
treten, die das Wertvolle in der Form desSeelen- 
haften ist. Die vollendet gedachte Persönlichkeit» der voll- 
kommene Mensch wäre der zum Menschen gewordene Wert, der 
nichts Zufälliges mehr einschließen könnte. Und weil uns Freiheit 
als die Form gilt, in der sich alles Wertvolle verwuidich^ stellen 
wir uns den Menschen um so Mer vor, Je reidier seine Per- 
sönlichkeit, je reicher sein Wert gewoiden ist 

Die Freiheit, von der hier gesprochen wu:d, ist aber das 
Tiefste und Verboigensie üi der Menschenseele^ das Whtaide^ das 
doch niemals sdber an den Tag tritt, ihr Orund, ihr Ochehnnis 
und ihre Göttlichkeit. Denn es bleibt unser letzter Glaube, 
daß das Innerste im Menschen das Göttliche ist 

3. 

Da das tragische Bewußtsein ^anz allt^cmein im Widerstreit 
zwischen Freiheit und Gebundenheit besteht, ist eine zwiefache 
innere Stellung möglich, die zu zwei entgegengesetzten Lö- 
sungen des tragischen Konfliktes hinführt: Der 
Mensch kann sich entweder auf Seiten der Unfreiheit schlagen, 
die Freiheit, das Höhere, das Gute m sich hassen, bekämpfen 



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85 



und vemiditen. Diese Lösung ist die d ä m o ti i s c h e. — Oder 
er kann den Zwiespalt positiv, im heroischen Sinne Ideen: 
die innere Freiheit gewinnt solche Macht über alles, was da- 
widersteht, daß sie es immer entschiedener bewältigt und end- 
lich ganz zum Mittel ihrer eigenen menschlichen Zwecke herab- 
setzt; das Oesetz des Menschen hat über das Oesetz der Natur 
gesiegt, das tragische Individnum mag nun sterben oder weiter- 
leben. 

Wir weiden un nächsten Abschnitt das Dämonische als 
Kraft der Sede näher analyaieien; in jedem tragischen Dichter 
ist Böses — Ooetfae ist kern tragischer Dichter! — manche Tra- 
gödien sind Sicherheitsventile, Ableitungen des Dämonisdien, 

Reinigungen der Affekte (viel mehr für den Dichter als nach der 
Lehre des Aristoteles für den Zuschauer), Wunder, die seine zer- 
störenscheü Instinkte in positiv Wertvolles wandeln. — Das Böse 
ist von Weininger tiefsinnig als der Wille zum Funktiona- 
lismus definiert worden. Der völlig dämonische Mensch iiat in 
bimder Leidenschaft oder auch in tiefer innerer Verschlossenheit 
und dumpf brütendem Trotz aller Freiheit entsap:t und so den 
Kampf beendet Im religiösen Ringen bedeutet diese I osung: 
Feindschaft gegen Gott, es ist die Lösung des sich empörenden 
und zum Dämon gewordenen Erzengels. Während alle anderen 
Sünder der danteschen Hölle Reue^ das heißt innere Verände- 
rung in ihrer feindlichen Stellung ^e^en das Gute empfinden, 
hat Kapaneus seinen dämonischen Trotz vber das Erdenleben 
hbuus festgehalten.*) Diese LAsnng ist die typische vieler älterer 
Tragödien, deren Helden an ihrer Wildheit zugrunde gehen; am 
grofiartigaten ist sie wohl in Macbeth durchgeffihrt 

Als Macbeth von den Hexen zuerst mit dem Namen 
fiKönig** begrfiOt wird, encfarickt er, denn sehie vedieimlidiie 
(vor sich selbst veriieünlichte) grenzenlose Herrscfabegierde ist 

*) „Sü wie im Leben bin ich noch im Tode." 14. üesang. 



86 



ihm (Ja entgegengeklungen. Das Wort der Hexen hat sie nicht 
e^eschaffen, sie ist schon da. Aber dieses Wort wirkt, kaum aus- 
gesprochen, als Versucliuni^, jäh steht der iiedaake des Konigs- 
mordes vor seiner Seele (v/ährend Banquo von der Prophezei- 
ung gar nicht berührt wird). Nicht wie in der antiken Tra- 
gödie kündet sich hier das unwandelbare Schicksal; nein, der 
Mensch ist zum Bewußtsein sdner Freiheit gekoomwa und der 
Ruf des Schicksals tritt als dämonische Verlockung an ihn heran, 
nicht als Zwang. Mad>eth kann dem Schicksal folgen, das bier 
Verbrechen hdBt oder es besiegen. Aber er ist der gebcmne 
Verbrecher, kaum bietet ihm die H6Ue ihre Hand, da eigreift er 
sie auch schon entschlossen — und er weiß doch, daß es nicht 
sein mußte! — Das Wort der Schicksalsachwestem — ffir den 
Mensdien mit der Möglichkeit der Freiheit suid sie zu Heicen ge- 
worden! — dient ihm sogleich als Entschuldigung vor der 
schwachen besseren Stimme: 

Will das Schicksal mich 

Als König, nun, mag mich das Schicksal krönen, 
Tu ich auch nichts! 

Macbeth will dem Sciiicksal bUnd Untertan sein, er l>egibt sich 
mit vollem Bewußtsein seiner Freiheit und nimmt innerlich die 
Stellung ein: ich muß tun, was das Schicksal von mir fordert, 
folglich trage ich keine Verantwortung für meine Taten, sondern 
sie geschehen zwangsmäßig. Aber indem er dies Urteil fällt, har 
er schon eine Tat der Freiheit vollbracht — und diese Tat ist: 
seine Freiheit aufzugeben. Die Verlockung der Hölle tritt dem 
entgegen — das ist der Sinn der Hexenszenen, die das ganze 
Drama durchziehen — , der heimlich nach der Hölle t)egehrt und 
seine Freiheit haßt. Im Hause jedes Menschen schläft einmal ein 
König und manchem schießt der Gedanke durch den Kopf, diesen 
König zu morden und selber König zu sein; aber nur, wer die 



87 



eine Nacht ttniner heimlich eraehni hat, laucht mit Wolluat in ihre 
Tiefen. 

Nach der Ermordung wdß Macbeth plötzlich, daß er alles 
mnere Leben — diesen tiefen Sum erlangt hier die innere Frei- 
hcit — üi sich getötet hat, nichts auf der Welt, kein Mensch, kein 
Ding, vor allem er selbst nicht, darf mehr ernst genommen 
werden, denn das ertrüge er nicht 

Von jetzt an gibt's nichts Ernstes mehr im Let>en, 
Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Onade! 
Des Lebens Wein ist ausgeschenktl 

Und er lehnt endlich in dämonischer Konsequenz die Wirklich- 
keit des Lebens ab, das Leben hat keinen Sinn mehr, es ist nur 
noch ein Krampf, wirres Geschehen ohne Mittelpunkt und 
Menschlichkeit: 

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild. 

Ein Märchen ist's, erzählt 

Von einem Dummkopf, voller IQang und Wut, 
Das nichts tiedeutet! 

Diese Entwertung des Lebens ist genial — der völlig dämo> 
nisch Gewordene lebt überhaupt nicht mehr, er hat nicht mehr 
Teil am Menschlichen, und das Letzte, das ihm bleibt, ist der 
ung^ehL'ure Ikiß gegen Sinn und Wert. Er möchte alles ver- 
nichkii, denn was existiert, steht schrecklich vor ihm als ein 
Seiendes — und er kann das Seiende nicht mehr ertragen — 
Des Lebens Wein ist ausgeschenkt! — Sein Leben ist nur noch 
ein Hinsterben, er erwacht jeden Morgen staunend, daß er noch 
sieht und hört, und er legt sich mit einem Schlaftrunk nieder, 
fiberzeiigt, daB er nie oiehr aufsteht. 

Der Sonne Licht will schon verhaßt mir werdea, 
O, fiel in Trümmer doch der Bau der Erden! 



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88 



Immer vollkommener verafteiiit Macbetti; hat er anfangs 
Schauder empfunden und den Geist Ermordeter gesehen, so Ist er 
jetzt ganz ohne OefOfal, wie Stawrogin in Dostojewdds „ÜSt- 

monen" auch ohne Sexualität und endlich ohne Furcht 

Ich habe mit dem Graun zur Nacht gespeist, 
Entsetzen, mehics Mordainns Hauagenoß, 
Schreckt mich nun nhnmer. 

Wie Macbeth die Kunde empfängt, daß seine Frau, die er einmal 
so sehr geliebt hat, tot ist, sagt er kalt: 

Sie hitfe später sterben können! 

Weil er alle Freiheit in sich vernichtet liat, ist er absolut 
abergläubisch geworden und hält an dem Wortlaut semer Pro- 
phezeiung fest — er betet das Schicksal an; und das Schicksal 
ist nicht mehr indifferent, sondern hat sich zum Bosen ge- 
wandelt, weil die Freiheit das Gute ist Er erfährt verzweifelnd, 
daß sich sein Glaube an die Hexen gegen ihn selber wenden 
kann, er versteht, dafi ier sich dem Geist der Luge ubergeben hat 
Die Formel, an die sich sein Abei]glaube khunmert, trifft ihn 
adbst — der Bimamwald wanddt gegen Dunsüiam ~ und man 
ahnt die letzte Szene, die vom Dichter verschwiegen worden ist: 
Hekate und die Hexen shid hohnlachend m die Hölle zurück- 
gekeiirt und rfihmen sich, sie hätten ehien Großen um sein Eigen- 
stes gebracht — das er doch selbst freiwillig von sich gewocfen 
hat. — 

Dieser dämonischen Lösuni^: steht die heroische gegen- 
über: die innere Kraft hat alles Widerstrebende gebändigt und 
umgewandelt, der Mensch hat über das Fremde, das Schicksal- 
hafte vollkommen gesiegt.*) Dieses Ende des tragischen 

*) Die beiden Auflösungen des Tragischen entsprechen schematisch 
den beiden dynamischen Typen des GrenT-menschen: die dämonische dem, 
der immer zerrissener und zusammenhangsloser wird, dessen Mifiklang 



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89 



Kampfes ist die Erlösung, die Aufhebung des Menschlichen in 
ein Höheres, Göttlidics. Der religiöse Held (im heroischen 
duistUchen Sinn) wire der Mensch, der fiber alles Tragische 
voUkoounen hinaueg^wacliaen ist» der aldi endlich mystisdi von 
Oott nicht mdir untefsdieidel, aldt mit Oott eins wdB (wihiend 
das bidertum die Flacht vor der Tngik lehrt). Jesus ist 
tragisch, wenn er vefsocht wird, flhertragisch, wenn er keine 
Versuchung mehr kennt und versieht Das Wort „Heir, warum 
hast du mich verlassen?" ist darum 90 ergreifend, weil es noch 
menschlich ist, noch einen Zwdfel an der Kraft der ( iöttlichkeit 
ausdruckt, eine Spannung zwischen den beiden Wesenheiten erni>- 
finden läßt. Aber ,,dein Wille tj^esciiehe und nicht meiner** be- 
deutet die Überwindung^ alles Menschlichen und alles Trag'ischen 
in der Idee der Göttlichkeit, der Frdheit. Diese Position tührt 
zur Aufhebung der Natur (die ja auch die Natur des Menschen 
ist) durch die Kraft des reinen Willens. Man vermag sich durch- 
aus nicht vorzustellen, wie solch ein Mensch, der alles Natur- 
liafle^ Schicksalhafte vernichtet hat, noch weiter leben könnte. 

Der endgültige Sieg des Wittens kann aber durch die 
Innere Wiedergeburt ^foibolisiert werden, die aHenfings 
cH erst knapp vor dem Tode des tragischen Menschen eintritt. 

Rebekka Wests natürlicher Charakter — Selbstsucht. Sinnlichkeit 
und Wille zum Glück um jeden Preis — wird durcii ihre Liebe 
zu Rosmer und durch die adelnde Kraft, die von ihm ausgeht, 
vernichtet, sie gewinnt ein neues Höheres und übernimmt cfie 
Schuld für ihr vergangenes Leben durch einen freiwilligen Tod. 
— Hamlet sehnt sich nach innerer Wiedergeburt, aber er findet 
die Kraft nicht und geht gewaltsam zugrunde. 

Eme positive Lösung ist aber auch gegeben, wenn der Ver- 

schlieftlich die ganze Welt verdüstert; und die heroische Lösung dem 
andern, der alle innere Zerrissenheit zusammenfait und zur Versdhnunf 
führt 



90 



derbte untergeht, damit sich das Leben erneuere. Hier wird die 
Welt gefühlsmäßig mythisch als dohettiicher, beseeUer Oiganis- 
mus aufgefaßt: ein veifaiiMer, wertlos gewordener Tdl atirtrt ab 
und Neues^ Blühendes eihcbt aeui Haupt Im gennanischen 
Mythus wird die alte Welt duich den Wdtenbnud gereinigt — 
ein neuer Frühling ersteht — - Audi in Richard IIL Ist dn 
Reiner da, ein Eibe des befleckten Königtums; und bA Hebbd 
klingt in die todgeweihte Welt des Herxxles hindn die Verhd- 
ßung von der Geburt des Heilands. — Die endgültige Auflösung 
des tragischen Konflikts wird also dadurch angedeutet, um- 
schrieben, unserem üefühl nahegebradit, daß zwei oder aucfi 
mehr Menschen zu einer höheren Einheit (in einer Traj^ödie 
etwa) zusamriieiigefai]t werden, die wir als stellvertretend für ein 
einziges menschliches Individuum empfinden. Und in dieser 
Gruppe gehen die verfallenen Elemente zugrunde, während die 
reinen an ihre SteUe trden. Wir verstehen jetzt den berühmten 
Unteigang des tragischen Helden von einer anderen Sdte her, 
tiefer, und sprechen ihm nodi zuletzt dne gewisse Berechtigung 
zu, wenn im ungeheuren Kampf das andere, das Neue, das Gute 
siegt. — Alles dies ist jedoch keine dgentiiche Oberwindung des 
tragischen Konfliktes» wdl hier der Gdessdte (Schuldbdadene) 
und der Frde (der Erlöser) zwd verschiedene Menschen sind. 
Eine wahrhafte und endgültige Lösung könnte nur im tragischen 
Menschen selbst stattfinden 

Durch die größte Dichtung der Antike, die O r e s t i e des 
Aeschylüs, e^eht eine Ahnung von Freiheit und Frlösunii. Zwar 
tötet Orest seine Mutter auf Befehl des Sehergottes Apolion, der 
ihm verkündet, was geschehen muß; aber er hat doch ein auf- 
dämmerndes Bewußtsein wirklicher Tragik. Nicht ApoUon trägt 
die Schuld, sondern „Apolion trägt die Schuld mit mirl". — Und 
diese Tragödie endet auch nicht mit dem überlieferten Tod des 
Hdden, sondern mit der Überwindung der Schuld, mit seiner 



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91 



Erlösung — noch nicht aus eigener Kraft, aber schon g^'<i.m das 
Schicksal, das in den Eriunyen versöhnt — und auigehoben ist. 
— Und wir p^Iaubcn im uiij^eheurea heroischen Emst eiiiiner 
der schönsten griechischen Köpfe eine Ahnung nicht nur von 
völliger Harmonie des Daseins, sondern auch von echtem und ge- 
heimnisvollem Innenleben zu spüren. 

Mit der Konzeption des Prometheus, der seinem 
inneren Gesetz folgend Stgtn die alhnächtigen Götter aufsteht, 
haben die Griechen den großen und wahrhaft tragischen Men- 
schen besessen (der in ihren Tragödien nicht vorkommt). Die 
Tragödie des Aeschylos weiß nichts von dieser inneren Freiheit, 
denn das unabwendbare Schicksal steht über Prometheus wie 
über Zeus^ der Titan kennt es sogar voraus und weissagt es. Wir 
sehen das Merkwürdige: Der Mythus vom Titanen, der sich nicht 
selbstsüchtig, sondern reuien Herzens gegen die Gewalt der 
herrschenden Götter auflehnt, beweist echte Tragik; aber im 
Mythus hat etwas gelebt, was tiefer gewesen ist als die aner- 
kannte Lehre vom Sciiicksdl und daher nicht zutage komm^ 
durfte. 

Ganz aus dem antiken Kreis tritt A n t i g o n e heraus. Für 
sie gibt es kein unabwendbanes Schicksiil, sie iolgt ohne Zöpem 
der Liehe, die sie in ihrem Herzen fandet und als ihr höclistes, 
einziges üeset? anerkennt — eine unbegreifliclic scelis-che StcHung 
für das Altertum und ein Gegenstück zur \\ eistieit I-*latons, die 
ja ebenso entschieden über die Grenzen der alten Welt lünaua- 
deutet. — 

WagnerhatimParsifaldte wahrhafte und endgültige 
Lösung darstellen wollen. Da dieses Werk einen radikalen Lö- 
sungsve»uch und in diesem Sinn einen Gipfel unserer Zelt be- 
deutet, soll es ausfiihiticher besprochen werden. Wagners Pro- 
bleme suid seit jeher erotisch gewesen; aus seinem letzten Werk 
hat er zwar die persönliche Liebe veibannt, dte Geachlechtlicfa- 



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92 



kdt jedoch als die eigentlicfie Macht der dem Mwischen inner- 
lich freirider) Welt genommen und in ihrer Üben».indiing die 
heroische Lösung der menschlichen Tragik gesehen. Diese Lö- 
sung hätte tief und prinzipiell als ein wirklicher Sieg des Men- 
schen über die Welt dargestellt worden müssen, aber sie ist eine 
Lösung von außen her geblieben, weil sich Amfortas, der 
leidende und tragisch zerrisaene Mensch dieser Dichtung» ganz 
passiv veiliSlt und von einem andem, der nleoudft tragisch ge- 
wesen iat, erldet wird. Amfortas ist zur Freiheit und Vollkom- 
menheit berufen — als GralUSnig, Hüter des g(MtUchen Schatzes 
auf Erden — aber er verrit die Freiheit^ das Odtdiche fan Men- 
schen, um der Lust (der Natmgiebundenheit) willen und wird von 
cter Wunde des heiligen Speeres (vom Stachd der Sunde) ge- 
peinigt. Er kann niemals Rohe finden, weil er nicht die Kraft 
hat, von famen heraus seine Schwfidie zu besiegen. Amfortas 
steht, wie es dem Menschen natürlich ist, auf Seite des Guten, 
er ersehnt die Labung des Grales und l)ereut seine Sünde, ahnt 
aber clodi, daß er von neuem unterließen müßte, wenn ihm die 
Versuchung wiedermn nahte. Seine Qual erreicht ihren Höhe- 
punkt, wenn er leibhaftig an das ewige Gut des Menschen, an 
seine Freiiieit erinnert wird, der Gral, der das Höhere im Men- 
schen nährt, wird ihm zum schrecklichen Vorwurf: 
Daß keiner, keiner diese Qual ermißt, 
Die mir der Anblick weckt, der euch entzückt ! 
Er kennt das Vollkommene und verfällt doch immer wieder dei 
Gebundenheit (hier der Geschlechtslust). Klagend gesteht er 
seine Schwäche ein, die Schwäche des tragischen Menschen, der 
seine Freiheit kennt und liebt und der doch immer wieder ver- 
fallt Nimm mir mein Erbe, 

ScUieße die Wunde, 

Daß heilig ich steibe, 

Rein ich gesunde! 



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93 



Das Erbe ist die Sexualität, unter der alles zusammengefaßt wird, 
was die Abhängigkeit von den Machten der Welt repräsendert.*) 
Amfortas möchte am liebsten sterben, das heißt im Sinne der 
älteren Tragödie untergehen, weil er den Kampi doch nicht 7u 
besteheti vermag. Er reißt sich das Gewand auf und fordert den 
Tod — von den andern Er braucht Hilfe, sowohl um dea Si^ 
zu erringen, als auch, um zu starben. 

Da alle Problematik auf die Sexualität zugespitzt ist, benüt 
auch alle Erlösung in der Befreiung von ihr. Klingsor ist 
ebenso wie Amfortas tragischer Ringer, Gralsucher gewesen, 
auch er hat an seiner eigenen Kraft verzweifelt, aber er hat die 
andere Partei eignffen und da» eigentlich Teuflische getan: er hat 
die Freiheit durch eine Tai der Unfreiheit, das Hdl durch die 
Sünde erzwingen woUen. Er hat Oott hinabddien wollen in 
die Veijcettaing der Welt. Denn dies Ist der Sinn aeüier Selbst* 
Verstümmelung. Da aller Zwang, alle Unfreiheit als Geschlecht- 
lichkfiit gcfafit wird, so hei0t, sich mit dem Messer davon be- 
freien, nichts anderes, als die Freiheit, anstatt durch die Kraft des 
guten Willens erkämpfen, durch die mechanischen Mittel der 
Welt erzwingen wollen. Und m dem Aug^enblick, da Klingsor 
die innere I- erversion dieses Beginnens erkennt, muß er zum grim- 
migsten Feinde der Erlösung selbst und aller derer werden, die 
mit reinem Herzen nach ihr trachten. Er ist bis ins Tiefste dä- 
monisch geworden, tiefer und pruizipieller als Macbeth. — Dies 
ist konsequent und groß. — 

Während die Gestalt des Amfortas dem inniirsten Fühlen 
Wagners entstammt, istParsifal die sehnsüchtige Vision 

^ In dieser Dlctilun^ uberwudiert «tte Tendenz zu eymbollsferen 

und hemmt das lebendige Geschehen. Die geringe Charakterisierung 
(oder der bewußte Verzicht darauf) tritt hier noch viel stärker hervor als 
in den anderen Werken Wagners. Für unsere Zwecke kann das allerdings 
als Vorzug gelten« weil das Typische besonders scharf und unverhüllt zum 
Ausdnidi kommt 



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94 



einer leidenden Seele. Parsifai kennt keine Tragik. Zuerst weiß 
er überhaupt noch nichts von Menschheit, Zwiespalt und Schuld, 
er lebt unbewußt in den Tag hinein und hat auf die einfachsten 
Fragen nach Namen und Heriouift keine Antwort Durch die 
Versndittng Kundrys wird er genial und helbicbtig, er kommt 
zum Bewußtsein der Oeacfalecbtlidikeit (die alle Schuld vertritt) 
und msteiit mit einem Male, was Sinnlichkeit, Stinde und Er- 
lösung ist. Panifal geht nicht durch die Tragik hindurch, die 
Michte des Lebens, hier also die Sinnlichkeit, haben ihn niemals 
wirklich und innerlich ei^ffen, er ist nicht der Sünder, der sich 
aus eigeiKjr Kraft zu erheben vermag, sondern er schreitet ohne 
Übergang vom Naturhaften unmittelbar ms üöüliclie hinüber, 
ohne jemals Mensch gewesen zu sein. Die musikalische iiin- 
leitung zum dritten Aufzujr spiegelt wohl das Irrsal der Welt, 
aber Irren und Suchen ist noch nicht I ragik. Parsifai ist nicht 
einen Augenblick lang versucht und zwiespältig (was zum Ver- 
ständnis der Sünde ohne Wunder und zur wahren Tragik un* 
bedingt sein mußte). Im Augenblick, da er Kundrys Kuß emp- 
fängt, ist er schon vom Toren zum Erlöser gewofden, der seine 
„Sendung" kennt und nichts mehr will als den Oral finden und 
Amfortas^ den Vertreter der leidenden Menschheit, retten. Daher 
kann Parsifai auch nicht den heroischen Sieg Aber die Sfinde 
davontragen, die er nicht besitzt Er ist zuerst em Instinktwesen 
und dann ehi Engel, niemals aber ein Mensdi. Oder vielleicbt 
noch deutlicher: er ist die Hälfte des wahrhaften Menschen, denn 
er hat die urigebrochene Einheit des Kmdes vor der Tragik und 
die letzte Stille nachher; Amiortas ist die andere Hälfte, die heil- 
lose Zerrissenheit. Auf Parsifai treffen die tiefsinnigen Worte 
Kierkegaards zu: „Der Mensch wird zum allgemeinen 
Menschen nicht dadurch, daß er seine Konkretion ableset, denn 
dann würde er zu einem absoluten Nichts, sondern dadurch, daß 
er sie anlegt und mit dem allgememen durchdringt." — Parsifai 



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95 



hat keine Konkretion, keine Wirklichkeit, er ist sogleich der all- 
gemeine Menscii, ohne vorher ein bestimmter Mensch gewesen zu 
sein — und bleibt daher ein Schema. 

Mit dieser ideellen Schemenhafhgkeit tnfft die künstlerische 
zusammen : Parsifal ist nur in der ersten Hälfte seines Wesens, als 
unwissender Knabe, musikalisch charakterisiert, nicht aber als 
Erlöser. Hier sind ihm die drei unpersönlichen Motive des Vor- 
spieles» die das höhere Menschentum so erhaben fühlen lassen, 
zugeteilt Und doch wire eine neue, ihm persönlich angehörige 
Erlöseimelodie unbedingtes künstlerisches Erfordernis» nicht etwa 
bloß eine schöne Zugabe, damit Parsifal als könatlerisdi er- 
ftaite WuUidikeit empfunden weide. (Die Kaifreitagsmelodie ist 
die Sprache der wiedergeborenen Natur.) Und die Stelle, wo 
diese neue Melodie eintreten müßte, ist eigentlich von Wagner 
selbst gezeigt; aiii Schluß des zweiten Aulzuges bei den Worten: 
„Erlösung, Frevierin, biet' ich auch dir!" — schlägt das Motiv 
des Knaben an und geht in die jah (punktiert) aufzuckende Er- 
lösuiipshoffnui^ß über (Ähnlich bei der Salbung durch Gurne- 
manz.) Ich habe den Glauben, daß Wagner diese Melodie hätte 
get>en können — aber Parsifal ist das Geschöpf eines Wunders 
— und scheidet damit aus der Menschheit aus. 

Denn Wngner hat hier die Tragik durch das 
Wunder ersetzt und so ist die Erlösung scheinbar (und im 
Geiste des historischen Kaifaolizismus) religiös, un tiefsten aber 
un religiös. Das Wunder besteht darin, dafi Parsifal nicht 
durch die Kraft der eigenen Sede, sondern durch einen unb^greif- 
licfaen Akt der Prädestination die Fähigkeit empfangen hat, an- 
derer Erlebnisse nicht nur wie seine dgenen, sondern als seine 
eigenen zu besitzen und wirkliches Erleben durch ein Geschenk 
von oben, eigene Kraft durch überirdische Sendung zu ersetzen. 
Hierdurch ist er aber dem Kreise des eigentlich Menschlichen 
entrückt. Die von Schopenhauer übernommene Theorie (denn es 



06 



ist nur dne Theorie), daß daa Fühlen Efemdea Lddes (das im 
Onmd genommen mir Phantasie vorauasetzl) eine meAaphysiache, 
fi])efmensch]iche Kraft sei, tweintrachtigt die rdne Idee der Er- 
Ifismig, das heißt der ediien Oberwindmig alles Zwie^tes, 
und tiUgt in den heroischen chiisdichen Grundgedanken ein 
passives indisches Element hinein. Die Tat wird durch das 
Leiden verdunkelt.*) 

In einem allerhöchsten Sinne ist Parsifals Lösung dt^ 
Menschheitsproblemes mit der Klingsors verwandt — beides 
sind Eingriffe aus einem fremden Bereich in die menschliche 
Seele! 

Die Gestalt der Kundry ist ganz neu und wahrhaft 
tragisch durehfxeführt, sie enthüllt sich als Hauptfifcstalt der 
Dichtung. Wagner hat mit Kundry nichts weniger als die T r a - 
gödieder Frau überhaupt geben wollen — allerdings von 
einer bestimmten Weltanschauung aus. Und nun rechtfertigt sich 
auch, daß die Oeschlechtlichkeit so sehr im Mittelpunkt steht, 
daß Sinnlichkeit und Oberwindung der Sinnlichkeit der einzige 
Inhalt dieser Dichtung ist Denn die Tragik der Frau kann von 
der Sexualilftt nicht geldst werden. 

Die Trsgik der Frau liegt aber — immer nach „Parsilal" — 
ganz und gar darin, daß sie aus sich selbst heraus kernen Zweck 
finden und venviildichcn kann, sondern daß Weibsein Sein ohne 
wahren Sinn, ohne Beziehung zu etwas Absolutem heißt, daß 

*) Die Mitleidslchrc ist für Wagner ein fremdes, übernommenes Ple- 
ment. Aus den folgenden Worten des HVenezianer Tagebuches" (1Ö58) 
geht hervor, dat «r di« im UMm sdfhnuiiMnd« Kraft iber das MW^dan 
{«stellt hats „Ich bin mir aber audi darfil>er Idar worden, warum Idi mit 
niederen Naturen sogar mehr Mitleid haben kann als mit höheren. Die 
höhere Natur ist, wie sie ist, eben dadurch, daß sie durch das eigene 
Leiden zur Höhe der Resignation erhoben wird, oder zu dieser Erhebung 
die Anlage in sich hat und sie pflegt Sie steht mir unndttdhar nahe, 
ist mir gleich und mit ihr feian^e Ich aur Mitfreitde. Deshalb habe ich 
hn Grunde genommen mit Menschen weniger Mitleiden als mit Heren etc." 



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97 



die Frau als Frau ganz im Zwecklosen lebt, daß ihr Innerstes 
der Idee eines Weltenzweckes fremd ist. Kundry ist die „Namen- 
lose", das Weib schlechthin, in ihr spielt sich die ganze Tra- 
gödie des Weibes ab Das naturhafte Da^^'n, oder in die Pro- 
blemenwelt des Parsifal übertragen, das Geschlechtsleben ist das 
Zentrum des Wdbes, ist das Weib selbst, und die Gesclilechtlicli- 
kdt ist ewig rubdosi unaichfifiAicii, ohne wirkliches Zid und 
Ende — was aber erst an dncm in sidi Zwedcvollen bewu0t 
werdm taum. (Audi die penflnüdie Liebe wiie ein soldicr 
ZwtA, aber wir wiam, dafi de ans Pasrifal «efbannt iii) 

In dem Aogenblidc, da Kmuhy den wahren Mann ffihli; geht 
ihr pUMzIidi die Ahmag dnes abaolut Sinanralkn auf — Onmen 
cflaBt de, aber aiidi dne fremde Sdmaacfai Und dieaer Oe- 
danke» daB die Wdt dnen wirUidien Sinn habe, wild ffir die 
Frau zum Verhängnis, zum tragischen Fluch. Bevor Kundry den 
Weg Christi gekreuzt hat, ist auch sie eines der Blumenmädchen 
gewesen, dem Augenbhck allein hingegeben, ganz ins naturhafte 
Sein versenkt und verwurzelt, ohne Beziehung zu etwas anderem 
und daher ohne dgenthches Bewußisdn und ohne Qual. Aber 
von dem Menschen, der einen absoluten Sinn, den Gedanken der 
Erlösung vom bloß naturüaitea Sein in sich trägt und verwirk- 
licht, wird sie magisch angezogen und bis ins letzte aufgewühlt 
(Es ist zynisch, aber im naturaliatisch-psychologischen Sinne 
mcbt unridiligy wenn Weininger aag^ die Sede de» Mano» 
wüte äla erotfadur Rdz auf die Fmt.) „Da M nddt aein 
BUnktf* — nnd ihr eradilieBt ddi pUMziidi da» Höhcfe^ da» 
eigendich MwwHiBdie. Da» andere tritt vor aie hin und am 
anderen kommt ihr das erste, da» UisprünglidhWciUiclie zum 
BewiüMacin. Aogcaidiis einer h Aenn MfiglicfalKH verddit sie, 
was sie früher gewesen ist, und begreift die Sinnlosigkdt des 
Blumenlebens vor der Idee dnes Welten weges. Sie tutilt ihr 
eigenes Wes^ als tragischen Fluch, der sich erst lösen konnte, 

Lack«, Qrctnm itr SmI«. 7 



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96 



wenn sie aufhörte» Weib zu sein — und dagegen bäumt sich ihr 
tiefiter Inatinkt «tf» sie weiß jetzt, daß sie die Sinnlosigkeit selbst 
ist — und lacht. Dieses Lachen ist Haß gegen einen Zweck des 

Daseins, den sie doch wieder hdmlicli ersehnt, und wilde Ver- 
zweiflung an sich selber — „Schreien, wüten, toben, rasen". 

Das ist Kundrys Tragik, wie sie vor uns hintritt: Weib sein 
zu müssen, ins Unendliche fortwuchernde Lust und Zweckiosig- 
keit; und Mensch im höheren Smne sein zu wollen, „Glied im 
Reich der Zwecke'' (Kant), nach einem Sinne, nach Erlösung zu 
begehren. Weil Kundry das Irren durch die Welt — sich selbst! 
— über alles haßt und doch eine endgültige Erlösung nicht er- 
reichen und nicht einmal begreifen kann — auch im Tiefsten gar 
nicbt willf sucht sie immer wieder Rohe im Schlaf im Veigesaen. 

O ewiger Schlaf, 

Einziges Heil, 

Wie — wie dich gewinnen? 

Ober diese» Schlaf der Eischöiifmig, dem Kundiy nach 
langem Irren hnmer wieder verfällt, hat KUngsor Macht, weil 
der Urinstinict des Weibes mit dem bewußten Fetaide der Er- 
Idsung verbündet ist, wie ihm auch ihre Sehnsucht nadi Ruhe 
widerstreben möge. Sie hat ihm diese Macht eingeräumt, als sie 
das HeO verlachfe^ nnd sie iScfat sich mit ihrem Hohn — „Ha! 
Bist du keusch?*' — Seine Pseudo-Keuschheit ist ihr als Wdb 
lächerlich und verächtlich, ihrer heimlichen Erlösungs-Sehnsucht, 
die nur durch den walirhait Keusdiea gestillt werden itöiiate, 
Gegenstand des tiefsten Hasses. 

Kundry irrt durch die Jahrtausende, instinktiv sucht sie in 
jedem Mann ihren Erlöser, denn es ist das Echteste in der Frau, 
daß sie Erlösung nur vom Manne, durch den Mann erwartet, 
fordert Aber das ursprüngliche Weib, dessen Wesen Sinnlich- 
keit — Sinnlosigkeit (in der absoluten metaphysischen Bedeu- 



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99 



tung) ist, bleibt immer der stärkere Tdl. Kundry zieht jeden 
Mann in ihr Reich hinüber— „Ein Sünder sinkt mir in die Arme** 

— und macht ihn durch das Geschenk der Oeschlechtslust ruhe- 
tos, das taeiBt vom Standpunkt dnea absolutai Zwedna^ der in 
diesem Werk erhoben wird, sie verführt ihn zur Sflode, sie bt- 
Tanbt Ilm sehiea Heils (Amfortaa). 

Diese ücfe mid pfinzipkile Konzeption der Fcan — <fie hier 
naiüilich nicht kritisiert werden kann — : iidisdie RnbdosiglBeit 
als ihr eigentliches Wesen — und Sehnsucht nach einem End- 
gültigen, Reinmenschlichen stimmt voilstandigr mit der von 
Wein Inger theoretisch aufgebauten Metaphysik des Wefiws 
üt)erein; „Geschlecht und Charaktet'' ist wie eine einzige un- 
geheure Paraphrase der Kundry. — Und es ist sehr erwähnens- 
wert, daß der größte Menschenkenner, Dostojewski, eine 
ganze Reihe von Frauen dargestellt bat, deren Tragik es ist, blmd 
erotisch getrieben zu werden und sich nach Ausruhen in der 
großen Liebe zu sehnen. Sie entsprechen auf der psycholo- 
gischen Ebene der Kundry, die ja ins Ük)ennenschliche, ins My- 
thische erhöht ist. Und die Tragik dieser Frauen hat nicht nur 
ihre Seele, sondern auch ihren Körper ergriffen, sie äußert sich 
als Hysterie. Ebenso weist Kundry Symptome einer sozu- 
sagen mytiiischen Hysterie auf; besonders dort, wo sie von 
iClingsor aus ihrem Starrkrampf erweckt und zu neuer Verfüh- 
rung gezwungen wird, haben ihre Schreie und die Musik (mit 
Absicht) den zerrissenen Charakter des hysterischen Naturells^ 
das durch jähe Ot)ergSnge zwischen den Extremen charsktecisiert 
ist Die Ttagjk der Fian Aufiert sidi hi der WiiUkhhdt nur 
aOzuoft als physiologische Zcnissenhdt; als Hysterie. 

Kundiy hat ihr tiefoies Wesen eist verstanden, wie aie 
Christus begegnet ist Und da sie zum zweiten Male mit dem Er- 
lteer zusammentrifft — sie ahnt ihn, denn ParsUal ist Christus 

— da muß sie sich auch wieder hn Tiefsten als Weib fühlen. DsB 

7* 



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100 



ist psychologisch vollkommen wahr. Alle ihre Erlösung&Sdin- 
sucht ist dahin, mag sie von Gott und Welt verstoßen sein — sie 
will dem voUkommenen Mann als voUkommenes Wdb gegen- 
überstehen und ihn als Wdb lieben — „Nie hdle mir die 
Wunde f*. — Die bdden Rdche treffen in ihren endgültigen Re- 
pitanianten aiiieinandar: das Reich der ewigiea RuheloiigiDeit, 
die im Taumd zwischen Lust und Verzweiflung lei»t; und das 
Reich des absolnten Wertes, das im aglühenden Oral sdn sicht- 
bares Symbol empfangen hat Es ist konsequent, daß dieser 
wahre Wert im Ober winden der Oeschlechtlichkett, in der Au^ 
hebung des Wdbes — das hdBt des zwecklosen Daseins — und 
in der B^^ründung eines Reiches höherer Ordnung gefunden 
wird. Die uralte Metaphysik: Vergänglichkdt alles Werdens — 
unveränderliches, wahrhaftes Sein — wird neu verkündet. „Zum 
Raum wird hier die Zdf ' — Das Fließen alles Geschehens setzt 
flidl in Bleibendes imi. 

Die Erlösung Kundrys vollzieht sich anders als die des Am- 
fortas und der Ondsritter: ihr natürliches, dgentUch-wdbiidies 
Sein ist gebrochen und vernichtet In lautlosen Tränen beugt 
sie sidi vor dem Eriöaer. Aber sie vermag nicht in ein höhoes 
Leben einzugehen, denn sie ist hn TiefBien entwurzelt — sie 
stirbt hn Anblick des Oiala — Efaist ist Kundiy eine Blume ge- 
wesen, dn natuifaaftes Wdb ohne Ethos und Tragik. Durch den 
Blick Christi ist das Neue in sie gekommen, sie hat die tragisdie 
Zerrissenhdt empfangen, die sie zur Mahrt treibt Panifal er- 
idlt ihr die Taufe — „Glaub' an den EriOser!** ^ und Kundiy 
glaubt an einen Sinn des Daseins und stirbt an der 
Schwelle des Gottesrdches. 

Wagner hat hier seine letzte Einsicht über die Frau aus- 
gesprochen: sie muß sich selbst aufgeben, um zur Erlösung zu 
kommen — während sich der Mann zu vollenden hat. Sie ver- 
mag das Gute in sich nicht aus eigener Kraft zum Si^ zu 



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101 



führen, nur im Mann, durch den Mann findet sie Erlösung, geg^ 
die aber das dgentlicb Weibliche in ihr wild ankämpft. Die 
Erlösung der Frau bedeutet das Aufhören des Weiblicbcn und 
das Durchbrechen des Reiii-Menschlidien — im Tode. 

Diese Konz^on vom Weaen der Fnu ist tififer und von 
echtenr Tragik beseelt als die Erlösuag des sfindhallitn Nimxsm, 
des Amfdrtasy durch Parsifal. Die VerteOung des tngisdien 
Prozesses auf einen leidenden und einen eritanden Menschen 
bleibt ein Ausweg — der Auaweg des Mittelalters — und keine 
letzte Usung den Problems; und diese Eiltang ist mit dem 
Fludi des Negativen gesdüagen, denn sie bedentel zuletzt nur 
Verneinung der Sinnlidikeit Die neue erlöste Wdt entbehrt des 
Inhalts; man kann sie sich nicht vorstellen, wenn man sie auch 
in der musikalischen Verklärung ahnen mag. Es ist etwas 
anderes, ob im Aug-enblick des Untergangs die Aussicht in 
eine neue Welt (Fortinbras, Riclunond, Dietrich von Bern) 
wie ein ferner Trost aufklingi, oder ob diese neue, über alle Tragik 
hinausgekodiniene Welt im Mittelpunkt steht und mit einem Ge- 
halt erfüllt werden soll. 

Mit der Wandlung Parsifals vom naiven Knaben zum Er- 
löser hat sich auch die Natur in ihrer Bedeutung für den Men- 
schen verändert: was ihm früher unmittelbare Wirklichkeit 
und als solche in den Blumenmädchen (den menschlich gewor- 
denen Spitzen der Natur) Verlockung zur Sinnlichkeit gewesen 
ist, das hat sich ins S y m b o 1 gewandelt Der höhere Mensch 
empfindet das Blülien nicht mehr seiner natürlichen (geschlecht- 
lichen) Bedeutung nach, sondern nur noch als Schönhdi Die 
Weit ist umgewertet, die Natur vennag den Menschen nicht mehr 
achuU^ zu niflfhfni dnrcfa die Verihiderang In ^ii iff ist auch <Be 
Natur verwandelt^ sie hat ihren Unschuldäiag erwochen. Dlca 
ist der Sinn des Karficitagszaiiben. — 

JMfai*' ist, wie nur noch zwei oder drei Kunstwcfte der 



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Welt, mit der Leidenschaft des Gciiius um eine letzte Lösung des 
Menschheit-Problems beTnüht. Dieser radikale Wille zur Frei- 
heit führt uns aber die Unmöglichkeit seiner Lösung vor Augen : 
der Mensch, der die Tragik m dieser absoluten Weise über- 
wunden hätte, wäre nicht mehr Mensch. Die heroische Lösung 
muß eine menschliche Form gewinnen, die aber nicht etwa nach 
cter Art vieler irdischer Dinge ein Halb und Halb, ein Kompro- 
miß zwischen Gott uiid dem Teufel sein darf, sondern eine 
Einheit erschaffen muß, wie sie dem tiefsten Wesen des Menschen 
angemessen und — wenigstens der Möglichkeit nach — erreich- 
bar ist Und diese Lösung ist die Aufhebung der Tra- 
gik nicht in der HeiUgkdt, sondern inderWeisheit: Alles 
schicksalhaft Gegebene, Weit und Anlagen der eigenen Natur, 
wild nicht fanatisdi vonicfatet; sondern In seuwr Stellung zur 
Freiheit gefindert Das Schidsal ist nicht mehr Feind, sondern 
Mittd der Erlösung. Der Mensch macht sich so sehr zum Herrn 
über alles Seiende, daß er es eq;nift^ Im Bewußtsein der Fieihdt 
auflöst, und mit verlnderter Bedeutung hi sein Dasein mit hinein- 
nimml; ihm eine Sbätt weisend hn System seuier Zwecke und 
seines Wollens. Aller Zwteqialt wird in Weisheit au^oben, 
das Widenrtrdxnde und Zeiatöcerisdie zum fruchtbaren Dienen 
gezwungen. Die Sede whfd über das Schicksal hinaus erweitert, 
wird Herrin darüber, die Welt wird nicht mehr als lastendes 
Faktum hmgenommea (auch natürlich nicht bequem überselien), 
sondern von der Seele aus neu geschaffen und gewertet. Das 
Schicksal verliert seinen Charalcter als etwas Fremdes, es wird 
zum Mittel der menschlichen Freiheit gewandelt. Der Mensch 
schafft eme Einheit aus Müssen und Wollen Üt>er das Schicksal 
lächeln — das wäre dann der letzte Ausdruck dieses Sieges, der 
mit dem höchsten Punkte des komischen Bewußtseins zusammen- 
fällt. Diese Auflösung des Tragischen ist die ewige Auf- 
gabe undda&ewigeldeal des Menschen, das sich von 



103 



allen anderen Idealen dadurch unterscbeidet, daß es notwen- 
dig ist.*) 

Die neue Lösung ist von der zuerst dargelegten hrnnschen 
nicht venchteden, sie gibt ihr nur eine andere, menschliche Wen- 
dung, denn der Sieg der Freiheit über alles, was dawideistefat, 
bleibt noch immer die Fonnel dafür. Nur liegt der Si^ nicht 
mehr m der Aufhebung — eine Unmöglichkeitl — aoodem in 
der BefaerrBchung. — Mit dieser Konzeption würde — um ein 
wichtiges Beispld anzufOhsen — die Tr^ der Frau, die im 
Panbl zu ciaer so unhcindichen Hfihe getrieben und zu einer 
so zerBchmfttemdcn, wenn auch konsequenten und großartigen 
LdsuQg gd>raclit ist^ anders und doch echt geltet werden: In 
der Anerkennung ihrer ganzen Naturhaftigkeit, die aber 
nicht mehr natnifaaft, vegetativ, chaotisch empfunden und ge- 
deutet, sondern von einer persönlichen Kraft ergriffen und der 
Idee eines Wertes Untertan gemacht, ins rein Menschliche er- 
hoben wird. 

Diese Lösung des Menschhdtsprobl eines ist bewußt und in 
philosophischer Klärung von Fichte gefordert worden: das 
CjC'setz des Menschen soll so völlip;^ die Welt durchdringen, daß 
es zum Gesetz der Weit wird, daß der Mensch allem Sein das 
endgültige Siegel aufdrückt/*) — MaeterUnck hat diese Stellung 
des Menschen in dem reinen und schönen Buche „Weisheit und 
Schicksal" erkannt — ,,Das Schicksal hat nur die Waffen, die wir 
ihm reichen!" — Und Nietzache meint etwas Ähnliches mit 

*) Wir finte hier die drei Stufen wieder, In denen dch alles See* 
HmIw aufbaut: das erste Stadium weil nidits von InglsGlier Zerrissen« 

heit, es ist naturhaft idyllisch. — Dann tritt der Zwiespalt ein, das Schidfr> 
sal wird als Unfreiheit, als dämonisch, die Stimme des Inneren als Frel- 
hehf als göttlich cmphxnden. — Und endlich sucht die dritte Stufe — die 
in Uirer Vollendung immer Ideal bleiben wird — eine Synthese sms Natur 
und Frcflieib 

Ober FlcMe msbr Im AbechnÜt vom Plillosopliieren. 



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104 



seinem Amor fati. — In den Abschiedsworten des haust ist 
diese Lösimg au^;e^rochen (wird aber sogleich untragiach 
durch die Hilfe voo oben bd Seite gesctaafft); und das letzte 
Quartett Beethovens, das am Schluß des vorigen Abschnitt» 
nudyäert wonkn ia^ hat sie wahitiafi erlebt und gtomich zu 
Ende geführt. 



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3. DAS DÄMONISCHE 



1. 

Erst jetzt, wo wir den Zustand der inneren Zwiespättigkeit 
in aeiiier tiefsten und prinripidbtgn Gestaltung als tragiadi 
verstanden haben, können wir die Analyse des Graz- 
menadien zu dneoi Ende ffibim. Der Otenzmenadi iai der 
tragiach Zerriaaene, dem das eine, das positive Element seiner 
Seele nidit einfach als gut, sondern als gdttlidi, das entgegen- 
gesetzte als dämonisch, als teuflisch zum Bewußtsein kommt. Und 
ein solcher Mensch kann immer entsdnedener in diese Oegen- 
sfttze hinemgerissen werden: er kann hmerlidi die Partei des 
Odttlichen ergreifen, es als Höbeies aneilcennen und den Kampf 
mit den widierBtrebciiden Elementen seiner sdbst aufnehmen« 
Das ist der Ringende, in religiöser Färbung der Oott- 
Sucher. So sind viele zerrissene Geister des Mittelalters zu 
verstehen, ihnen erscheint der Teufel als Versucher, aber sie 
zögern keinen Augenblick, sie bekämpfen ihn mit der ganzen 
Kraft ihres Willens, mit der Hilfe Gottes. 

Das Bewußtsein de^ Möheren kann aber auch vmiunkelt 
werden: ununterbrochen geht vom NitKirigeren eine rätselliafte 
Anziehung aus und müht sich, den Menschen auf seine Seite zu 
bringen Das ist die Verlockung des Dämonischen. ,,Auch der 
Märtyrer liebt es zuweilen, mit seiner Verzweiflung zu spielen, 
gewissermaßen gleichfalls aus Verzweiflung^' — sagt Do6tt> 
jewaki über diesen Zustand."^) — Der Mensch, der die innere 
Stellung des Dämonischen eingenommen, die Partei seiner eigenen 
Unfreiheit ergriffen hat, steht nun dem Göttlichen in sich selbst 
— das doch niemals ganz zunichte werden kann — mit dem 
Gefühl des Hasses oder des Grauens^ der heimlichen Ai^ gegen- 
über. Denn eine eigentliche letzte Lösung im dämonischen Sinn 



♦) Die Brüder Karamasoff I, 130. 



106 



kann vom lebendigen Menschen nicht ertrotzt werden; er kann 
(wie Macbeth und Mozarts Don Juan) im Bösen untergehen oder 
er kann in völligen Stumpfsinn versinken; aber für den lebeii- 
^gui und bewußten Menschen bleibt es beim Kampfe. 

Die metaphysische Angst muß 7U allererst prinzipiell von 
der gewöhnlichen hurcht gesondert werden, die der Mensch mit 
den Tieren gemein hat und die die Kehrseite des Selbsterhaltungs- 
triebes ist. Der natürliche Instinkt fürchtet und meidet alles 
Feiiidlicfae und Gefahrlicbe. Diese Fiuxht ist nicht weiter ficobl^ 
nalisdi (auf sie beziehco adi die flblichen FcsteieUiiiigen der 
PqrcfaologeaX sie hat nur AuBeres zum GcgeoBtsnd; sie treibt 
den Natmuienschen dazu, hSUxat M&chte anzuerkennen und mit 
ihnen zu paktieren. — Von dicaer natflittclien Fiutht ist dfe 
andere^ die metaphyaisdie Furcht, die Furcht vor den Miehlen 
der eigenen Seele veracirieden; afe bietet zweierlei entgegen- 
gesetzte Möglichkeiten : sie kann Furcht vor dem Bösen sein, das 
was das Christentum die Furcht vor der Sünde nennt; 
oder Furcht vor dem Guten, die dämonische Furcht im 
Menschen, der sich auf die Seite seiner Unfreiheit geschla^« i, hat 
„Das Dämonische ist die Angst vor dem Outen/' sagt Kierke- 
gaard (in seiner Abhandlung über den Begriü der Angst). — 
Die Angst vor der Unfreiheit als der Sunde, das Bewußtsein, 
von einer uneddirlichen Macht — die aber doch ins eigene 
Wesen a ut ge n on m cn ist! — bedr&ngt und zum Teil bdienscfat 
zn wcfdeut spielt hn Quisientam eine l)edeutende Rolle; sie ist 
in den Spdadafionen tragisclier Denker zu linden, entweder als 
heimliches Motiv oder ganz bewufii Pascal halle das Ocffihl, 
an einem Abgrund hinzugdien, Schopenhauets dumpf bolunender 
Weitwille ist eine dogmatiadie Fassung dieser Angst Was 
Fnrelit als OcfOhl ist, das ist für den Fanatiker der sitilichen 
Autonomie Unfreiheit als Gedanke. So haben Fichte und Wei- 
iiuiger die Unfreiheit gdürchtet und gehaßt. — Der Künstler und 



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107 



das mythische Denken des Volies bilden aus der inneren dämo 
mschen Angst heraus Gespenster, Furien, und oft genug über- 
windet der Künstler dieses Gefühl, indem er es in sichtbaren Ge- 
stalten festhält So bevölkert Dante die HöUe mit den Schreck- 
nissen seines inneren.*) 

Der <*Smm»*Th gewordene Orenzmensch findet in sich 
selber einen pervenoi Willen zum Bösen. Dieser Wille ist nicht 
etwa Wille zur Lust und zur Entfesselung der Instinkte — das 
wäre nur etwas Natürliches — sondem Wille zur Unfreiheit als 
dem Bfisen, dessen einziger Bewqgpnind ist, dss Oute zu zer- 
stören,**) Der wahihaft Dftmonisdie will das Böse, brächte es 
auch kdne Lust, sondern Sctamen; ja, er kann sich vcfspi^gehi, 
daß er seiner ainnMchcn Bcgietde folgt, daß er seiner Sdiwäche 
nachgibt — - während es doch der unerklärliche und unmoti- 
vierte Haß gegen das innere Out ist, ganz entsprechend dem 
nkbt weniger grundlosen Willen zur Freiheit, zum Outen. Das 
eigentlicfa Böse will nichts als sich selbst, keinen Lohn und 
keinen Oenuß. 

*) An dieser Stelle muS die Analyse des Parsifal ergänzt werden: 
h der Oiditiiiia, besonders aber in der Musik dieses Werkss siedet eine 
langshsiins dämonlschd Angst CSthlut des Vorspiels» die Partien des Am- 

fortas, die Szene zwischen Parsifal und I^undry), die mit der Gottsicher' 
heit der entgegengesetzten Elemente kontrastiert Die Geschlechtslust, 
die hier alle Gebundenheit vertritt, hat sich in Angst verwandelt, sie ist, 
vom Ueil 4er VoHendung gesehen, (Ubnonlscb geworden und sie lUlt^ 
ganz im Geists der mKMalteriichen Erotik, nicht mehr als Lust, sondem 
als Angst ins BewuStsein. (Weiningers HaS gegen die Frau ist eine 
AuSerung desselben Grundgefuhles). — Eine Ahnung dieser geheimen 
Verwandtschaft von Sinnlichkeit und Angst kann beim jüngling, noch 
mslir aber befan Mädchen hervortreten, wenn zuerst die Sinnlichkeit er« 
«acht und als etwas lAdisfaidiciies, Zwhigsndes emphmden wird, oder 
«ena sie cum erstenmal unverfK)lilen vor sie Mntritt — Auch dieses 
Moment Ist in den Paraifal UncinigMionmien» wie ParsiCal den Kuft der 
Kundry empfingt 

**) hlsm wird dies nicht mit dem HGegenwillen" verwechseln, den 
ebie Psychlaterscinale bd Hysterischen findet 



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106 



Kant hat den Satz ausgesprochen, der seiner ganzen Auf- 
klärungszeit ein Spott gewesen ist und über den sich Goethe 
ausdrücklich geärgert hat: „Der Mensch ist von Natur böse." 
Kants Denken bewegt sich am Anfang alles Menschlichen, es 
eigreift dea Menachen dort, wo er Mensch überhaupt wird, ohne 
der oder jener zu seui, vor aller fleeiiscben Differenzicnuig also. 
Darum findet Kant das Bfiae der ganzen Menschheit eingewurzelt, 
so tief mit ihr verwachsen, daB es wohl hn besündigen Kample 
vom Guten niedergerungen, niemals al>er ganz ansgerotlet werden 
kann. Die Tendenz zum Bfisen — der Trid> des DimonladMn 
— ist mit dem Menschensein zugleich giegeben. Out Ist für 
diese allgemehiste und tiefste Eifassung des Menschen, wer VoU- 
Itonmienheit» Oölflichkeit zur emzigen Richhichnur sehies Lebens 
genommen, das Bewußtsein der Autonomie zum eigenen Gesetz 
gemacht hat und den Gedanken einer Ausnahme nicht zuläßt, 
wer seine Freiheit ein für allemal in eine höhere NotwendTjj- 
keit g:ewaiidelt hat. Die meisten Menschen beugen sich da- 
gegen der Autorität der Freiheit zwar im allgemeinen, erhd)cn 
sie aber für sich selbst nicht zur absoluten Notwendigkeit, son- 
dern lassen Ausnahmen (auch im Prinzip) gelten, das heißt sie 
machen dem Bösen (der Unfreiheit) Zugeständnisse. Diese Stel- 
lung ist dem Menschen sozusagen natürlich, auf sie bezieht sich 
der Aussprudi Kanta Die ifitanonische Stellung aber bedeutet 
eine völlig» Imm Umwendnng. Ein soldier Mensch hat sich 
auf selten seiner Unlreibelt geschlagen und Idhnpft voll Ha6 
g^en die Ficihelt 

Was Kant für den Menschen überhaupt als möglich er- 
kennt, das wird nur für den dualistisch Organisierten ^(Mlidi- 
keit Denn der mittlere Mensch findet in sich nicht die Idmpien- 
den Michte vor, er hat keine Veranlassong, sein Leben und Tun 
unter ösn Winkel des Problematischen zu rücken. Es gibt mittlere 
Menschen, die aus ihrer Natur heraus, ohne alles Schwanken, 



109 



das Richtige und Gute tun, dem Positiven in ihrer Seele steht 
nichts Feindliche gegenüber, sie wissen von keinem Kampf und 
gehen den geraden Weg. Franz von Assisi ist vielleicht der 
größte Repräsentant dieses Typus, der die Sünde nicht versteht, 
der gilt ist ohne jeden Kampf. Auch Spinoza (der uns noch be- 
sch^gen wird) gehört hierher, und manche Frauen. — Andere 
Menschen gibt es, deren Instinkt fraglos das Schlechte, das Ver- 
derbliche will und die ihren Anlagen <^ne Kampf nachgeben. 
kirn pflegt sie als pathologisch, als atavistische Rückschläge an- 
zuadien und sagt, daß sie mit moral insanity behaftet sind. Bd 
ihnen liegt die Sache nicht so einfach wie bei den fragloB Outen, 
aber auch wer ganz instinktfaafi zentöiecisch handelt — wenn es 
einen solchen überhaupt gibt — steht vor aller Zernaaenheit 

Den ZwiespSItigen aber ist die M^^lidikdt des Oulen und 
des BOsen gcgdien* Trotz allem Kanqif und aUem Schwanken 
nimmt er im letzten Grand seiner Sede doch die eine der beiden 
Siellongen ein. Entweder ist seine Stirn gegen die Lockuqg ge- 
wendet; vefiaut er ihr doch, so ist es ein „Fall", em Abgleüen, 
ein Verleugnen seines beesmi Bewußtseins. Oder er haßt als 
dSmonischer Mensch seine Freiheit, er will das Gute in sich und 
in der Welt zerstören. Welch ungeheurer Triumph, dies einzige 
Wertvolle — denn als solches muß es anerkannt werden, sonst 
hätte die ganze seelische Position keinen Sinn! — zu vermchtai! 
Dieser Wollust gleicht nichts — der Mensch findet die Macht 
in sich, die Welt, das Sein, Oott, seine eigene Seele zu beleidigen 
und in Frage zu stellen! Das ist die eigentliche Lust Satans, der 
ja als geistiges Wesen vorgestellt wird und nicht in die Ver- 
suchung menschlicher Schwäche fällt : der nihilistische Wunsch, 
Gott zu entthronen, das Gesetz alles Seins anzuzweifeln 
und damit aufzuheben. Das Weltgesetz ist ja die innere Mög- 
lichkeit, daß alle Teile, alle Wesen miteinander bestehen können, 
und übertragen die Harmonie des einzehien im Menschen zum 



110 



ganzen Meiischen. Dieses Gleichgewicht zerstören! Die Welt 
vernichten! Welch ungeheure Macht des Menschen! Und darum 
naht der Verführer dein Heiligen und zeigt ihm die Reiche der 
Welt, die für ein g^ottlästerliches Wort — das heißt für einen 
Augenblick Dämonie sein wären. Denn der Heilige ist der 
zwiespältigste und der stärkste Mensch, er hat den größten 
inneren Kampf zu bestehen, in ihm ist der höchste Wille, das 
Böse aufzuhet>en und das Oute zum Sieg zu führen. Alle anderen 
unterliegen ja den taglichen kleinen Lockungen der Sinnlichkeit 
und der Eitelkeit, sie stdien wohl unentschieden und ohne Bcgjei- 
sterung auf selten des Guten, leben aber in Aiisoalinien, obne 
Ziisarnmenhang und Größe. Sie änd nicht weaenhaft Den 
großen, den heiligen Menschen aber kann nur das Höchste, 
Oeistigsle zur Abkehr verführen — und diese Abkehr wSie eine 
ungeheure Revotution, em Eibehen alles Seun, weil in diesem 
Menschen nichte KleuMS und Halbes geschiciht Alle Ansfam- 
gungen Mephistos sind nicht zuviel» wenn es vm solch eine 
Seele geht 

Fraget man aber, woher dieser däraonisclie Wille stammt, so 
kann nur geantwortet werden, was schon Kant geantwortet hat: 
„Für uns ist kein be^reiüicher Grund da, woher das Moralisch- 
Böse in uns zuerst (:,rekonimen sein könne "*) — Wären wir 
fähig, das zu verstehen, so hätte die Welt wohl kein Rätsel mehr 
für uns. Wir wissen, daß der natürhche Mensch von den Mo- 
tiven der Lust und der EigenUebe bewegt wird; wir dürfen auch 
annehmen, daß hin und wieder ein reines sittliches Motiv Bedeu- 
tung erlangt Daß es aber noch ein drittes gibt, den bloßen, 
sozusagen reinen Willen zum Bösen, das können wir nicht eigent- 
lich verstdien. Zum endgültigen Sieg kann dieser Wille — soweit 
unsere Einsicht reicht — niemals kommen, weil er doch inuner — 

*) Die Religion famefhalb der Grenzen der blofien Vernunft 
1790^ S.43. 



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tu 



als ihr Negativ — mit der sittücben Freiheit zusammenhangt — 
und weil er endüch auch sich selber vernichtet — 

2. 

Ich WOl nun die l^sydKUogiit des dämonischen Oreaz- 
mensdun an zwei Dichtem entwickeln: zuent «n Edgar 
Allan Poe, dann an Dost ojew8l[i. Poe lebt so sehr im 
ötouhtSkBOf daß ilmi die nuttteren Rcü^onen des McnschHdhen 
übefhaupt nidit bdornnt sind. Und sein eidremes Wesen geht 
oft genug ins Karikaturenhafte Aber. Er ist kein psychologischer, 
sondern ein romantischer Dichter und die Gegensätze stoßen bei 
ihm hart und ohne jeden Übergang aufeinander. Aber gerade 
w^oi dieser I iiifachheit und Nuancenlosigkeit kann man viel- 
leicht an keinem so gut wie an ihm das Wesen des dämonischen 
ürenzraenschen in allen Gebieten, im Denken, fühlen und 
Wollen studieren, de:i Kampf zwischen dem Einheitlichen, 
Klaren, Gesetzmäf^i^en, und dem Rätseihalten, Unheim- 
lichen, Gebrochenen, der Ausnahme verstehen. 

Im Bereich des Denkens äußert sich dieser Zwie- 
spalt als Revolution der Liige und des Irrsinns» die beide zer- 
störerisch in den logischen Zusammenhang des wahren und ge- 
Sunden Denkens hineingreifen. LQge ist Ausnahme vom richtigen 
Denken» auch wenn sie sich Tag für Tag vom Aniang der Weit 
bis heute wiederttolt Es liegt hi ihrem Wesen begründet, daB 
sie niemals Regel werden kann« sie bcsldit m der Verneinung 
aller Regd. Der Irrsüm Ist das AnÜlogische an sich, das den Zu- 
sammenhang des normalen Bewußtseins ein für allemal aufhebt. 
— Poe, der von der Lxistenz alltäglicher Menschen gar nichts 
zu wissen schemt, besitzt ein unerschöpüiches Interesse für alle 
ungewöhnlichen Zustände der Seele. Spiritistische und hyp- 
notische Versuche, aber auch nur bizarre Einfälle — etwa daß 
eine ägyptische Mumie zum Leben galvanisiert wird und zu poh- 



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112 



tioeim bcgümt — halten ihn im Bann. Dm sind die aeeUachen 
Dflnunerztisände des Sdilafes, der Ohnmacht und des Steriwns 

gdftnfigf und er schildert sie mit Meisterschaft, er kennt alle Mo- 
nomanien von der Schrulle bis zum vollkc«nmenen Irrsinn. Mehr 
als einmal wird die Todesangst ausgemalt. Wie er (in „Monos 
und Una") das langsame Hinübersterben nachempfindet, ist wohl 
das stärkste an phantastischer Psycholc^e — die mit der rea- 
listischen in gar keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen 
muß — was jemals versucht worden ist. (Sie findet in Dosto- 
jewskis Erzählung „Der Traum eines lächerUchen Meoscfaen" 
cm psychologisches Widerspiel.) Die Sinne verdämmern lang- 
sam, bis nur noch das bloBe Bewußtsein der Zeit übrig bleibt ~ 
das wird mit einer Menge von vistoolven Einzdheitm durch- 
geführt Man schaudert, wie ein Mensch solches wiesen kann, 
und msg nun chi Kern von Wahrheit darin stedcen oder nicht — 
jedenfalls ist die ganze Daniclluiqf ao lest hi aich geschlossen, 
daB sie mit der Wucht chics htslorischen Berichtes wiifct Ähn- 
lich fiberzeugvid sehen wh: hi „Ehras und Chaimion", wie die 
Erde hi dem SaoerBtoffteib efaies Kometen verhrennt — Vielleicht 
ist die Grübelsucht niemals so von innen heraus geschildert 
worden wie in „Berenice"; aus dem Satze Tertullians: „Es ist 
wahr, weil es unmöglich ist** zieht sein Mang zum Paradoxen 
Nahrung. — Eine gewisse Paradox ie lieg^ schon im Stil der 
Humoresken, wo mit besonderer Vorliebe französische, italie- 
nische, lateinische, gnectiische, auch deutsche und spanische 
Ausdrucke und Wendungen den englischen Text verwirren. 

Mit diesem Trieb zum Absonderlichen, Phantastischen und 
Pmdoxea ringt der entgegengesetzte, der nach vollkommener 
Klarheit begehrt; er lußeit aich als Leidenschaft, das Unver- 
sttndüche und Rftiadhafie zu durchdringen» und heckt ato- 
mistische Spdmlationen Aber Schöpfung und Wdtunteigang, Er- 
wägungen über Tod und Weiterleben aus. Hier vereinigt sich 



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113 



die Lockung des Geheimnisvollen mit der Sucht, es verständlich 
zu machen. Doch auch Abstrusi täten beschäftigen Poes ung^e- 
wöhnliche analytische Verstand^kräfte. Er gefällt sich in der 
Rolle eines Detektivs, forscht merkwürdigen Verbrechen nach 
m\d vermag jede (jeheinischrift zu entziffern. Der Analytiker in 
ihm hat seine höchste Freude an der geistigen Tätigkeit, die aus- 
eiiuuiderwirrt und auflöst Selbst die trivialsten Beschäftigungen 
bereiten ihm Vei^gnügen, wenn sie Gelegenheit geben, dieses 
Talent zu entfalten. Er ist ein Liebhaber von rätselhaften Hiero- 
glyphen und verbocgenen Dingen, und beweist bei ihrer Lösung 
einen Grad von Sdiarfsinn, der dem gewöhnlichen Verstände 
fibematüilich sdieint Die Resultate, zu denen er doch auf ran 
mdhodiscfaeni Wieg getonmen ist, erwedoen in der Tat den 
Anacbein von Intuition.*) Fortwibxend legt Poe den höchsten 
Wert auf das Methodische, das was dem Sinnlosen gende ent- 
gegensteht Ja, er tiehauptet, daB sefai beriifaiiites Gedicht „Der 
Rabe*' nach rehi logischen Ervt^ungen zusammengefügt worden 
sd. Alles dies shid AuBerungen des Triebes, äch gegen die 
lockende Ausnahme ans feste Land der Gesetzmäßigkeit zu 
klammern, denn das Widersinnige, das Irrsinnige (das Dämo- 
nische auf theoretischem Gebiete) versuchen ihn manchesmal so 
sehr, daß ihm der Boden schwankt. „Es ist noch die Frage, ob 
der Wahnsinn nicht die höchste Stufe der Geistigkeit sei" **) — 
und doch weiß er wieder genau, daß der Wahnsinn alles Denken 
aufhebt. 

Der Reiz der Detektiv-Geschichte liegt darin, daß 
das scheinbar Unerklärliche durch menschUchen Scharfsinn be- 
wältigt wird; sie ist eine Angelegenheit des bloßen Verstandes 
und liat mit Kunst nichts zu tun. Das Interesse und die Schätzung, 
die unsere Zeit diesen Dingen entgegenbringt^ beruht auf dem 

*) „Der Mord in der SpiUlgasse". 
**) HCIeono»*'. 

Lttck«, Granua dtr SmI». 8 



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114 



Resiwkt vor dem yygesdixika** Meaacheo, der die Weit bdierndit 
und den Erfolg fOx sidi hat Die DeldrtivOesdiidite stellt legid- 

mäßig den Kampf des überiegenen Verstandes mit etwas Unbe- 
kanntem und seinen endlichen Si^ dar, ihre Konstruktion ent- 
spridit ganz dem Vergnügten an der Erfindung und Entzifferung 
von Geheimschriiten und von Rätseln, die Detektiv-Geschichte ist 
die lebendig gewordene „Rätselecke". Poe wird von allen diesen 
£)ingen darum so sehr angezogen, weil in ihnen der Kampf 
zwischen dem Verbrechen des Denkens, dem Widersinn (der 
meistens noch durch em wirkliches Verbrechen seinen Hinter- 
grund empfängt) und dem Geraden, Logischen zum Austrag 
kommt. Die Auflösung von etwas Unbegreiflidiem bedeutet für 
ihn die Überwindung des Dämonischen im Denlcen — vielleidit 
durch ein stärker Dämonisches. 

£)er Vetbrecher und aein Feind» der Detelcttv» eind pqrdio- 
logiadie Komptcnenie. Sie eifordeni ^ gldchen Anlagen und 
bdeEesaen, die nur zu verachiedenem Zwedc in Bewegung gesetzt 
werden; auch in der Whididikeit geht ja oft genqg die Ver- 
wandlung des einen hi den andern vor sich. Oeisler mit ver- 
brecherischen Anlagen suchen hinter allem Möglichen gehdme 
Verabredungen, die sich gegen sie lichicn IcÖonien, denn sie 
gehen fortwährend mit der Angst herum, ertappt zu weiden (auch 
wenn sie gar nichts angestellt haben). Hebt etwa jemand den 
Hut mit der linken Hand anstatt mit der rechten, so wird ein 
geheimes Zeichen für einen Komplizen vermutet. Denn sie ver- 
bergen sich, verkleiden sich, tätowieren sich seiht, sie sind Po- 
seure, drängen sich in fremde soziale Kreise ein und wollen immer 
für einen anderen genommen werden. Sie sprechen ihre eigene 
Sprache, sie erfinden ihre eigene Chiffreschrift — alles Bestre- 
bungen, eine Ausnahme zu bilden, eine Ausnahme gegen Ge- 
setze und Menschen. (In einem spateren Abschnitt werden wir 
sehen, daß das Bedürfnis nach einem W under die Tendenz 



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zur AiMudmie vom Naturgodz Ist mul dne vcrfaRdiefiscIie 
Ndgang hfiiiera' Art gc^m dte OcsebodBigM 
danteUen kum.) ~ In Jeder DdekttvOeedüclite steckt HaB 
gegea dte soziale Ordnung und Sympathie mit dem, der sie 
untergräbt Der Detdküv handelt nicht etwa aus Liebe zum 
Gesetz und zur Oesellschaft, wemi er den Verbrecher entlarvt, 
sondern er genießt nur die eigene geistige Ot)erlegenheit, die 
aber von verbrechenschen Instinicten geleitet wird und mit vei^ 
brecherischen Mitteln arbeitet. Seine Neigung wäre, straflos 
Verbrechen begehen zu dürfen, um seinen Feind, den anerkannten 
Verbrecher, zu fangen, so daß er scheinbar im Dienste des Ge- 
setzes handelt; und mancher Richter glaubt, gegen den Ver- 
brecher jedes, auch verbrecherische Mittel anwenden zu dürfen. 
(Weininger sagt, daß Richter oft Böses, Verbrecherisches haben.) 
Die russischen Nihilisten, die wieder im Solde der Po* 
lizd stehen und von denen niemand genau weiß, wem sie eigent- 
lich dienen, sind ein Beispiel für diesen verbrecherisch-detekti- 
vischen Grundzug» der aufs Negative schlechthin geht; sie 
nehmen Geld von beiden Seiten, aber nicht eigentlich um des 
Geldes wiUen» sondern damit nichts an der Niediffl^ fehk^ uod 
wissen ün äufieisien Fall selber nicht, wer sie sind. Mit diesem 
Typus deckt sich der geborene Si^on, der seinen Auftntggeber 
wieder hintefgeht und zugleich fOr den Feind arbeitet 

Ich habe hier eine Paychologie des Typus: „Veibncher- 
Detektiv'' angedeutet; ihm fOhlt sich Poe verwandt (Einmat gibt 
er eine groteske theoretische Unterweisung hn Schwhidefai.) Die 
ganze Kraft, die seine Phantasie daran wendet, ein Verbrechen 
aufzudecken, dient aber doch nicht dem Willen zur Oesetzmäßig- 
keit Man erkennt vielmehr aus der psychologischen Disposition 
heraus, daß es ihm nicht auf die Entwurzelung des Verbreche« 
rischen ankommt — nein: er will die Ausnahme nocli vertiefen. 
Und wenn vorhin gesagt worden ist, daß sein Hang zum Lo- 



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116 



fßtdm das Prinzip der Q eaeUiU &Bigfait vertritt» so irt das jetzt 
dahin einzmichritakBn, daß es aicfa nur um das OesetzmaBige Im 
Denken, mn dm ricbtigen Veistand handelt, nicht aber um das 
Mondische. Denn auch die logischen Neigungen werden vom ver- 

brecfaerisdien Orundtrieb geführt. „Man muß es weit feiner an- 
fangen, um nicht von mir durchschaut zu werden!" Er hat ein- 
mal einen wirklich geschehenen Mord aufgehellt — der 
Mörder ist ein Stümper vor mir! — Seine Sehnsucht war: auf 
das höchste Verbrechen zu stoßen, auf etwas, das gar nicht mehr 
vefStanden werden könnte — und sich bewundernd zu beugen! 

In der Erzählung „Das System des Doktor Pech und des 
Professor Feder'^ koount der Widerstreit zwischen richtigem 
Denken und Irrsinn zu einemi unheimlichen Extrem. Die Pa- 
tienten einer Irrenanstalt bemächtigen sich der Herrschaft, 
knebehi Arzte und Wärter und behandcto sie als Verrückte. Die 
beiden kSmpfenden Triebe, der logische und der antflcgische, 
smd hier personifiziert, und wenn sich auch das Ganze ab Oro- 
tesiw gibt (ja vieUddit darum noch mehr) fühlt man doch den 
tiefen, unheunlichen Ernst heraus ^ daß nämlich der klare Ver- 
stand die verborgenen Triebe nur Mndigt, aber nicht ganz auf- 
heben kann, daß sie immer darauf lauem, ihre Fesseln abzu- 
streifen und über den Menschen Herr zu werden. — Was ist aber 
das Groteske eigentlich? Der Humor des Grenzmenschen, 
seine Art, das Schauderhafte und kaum mehr Ertragliche nicht 
ganz ernst zu nehmen, zu kankit ren, der Entschluß, nicht nur 
die Ereignisse des Alltac^s, sondern auch die Qual der eigenen 
Seele zu verhöhnen und überlegen in ein bizarres Licht zu 
rücken. Wir werden in einem spateren Abschnitt den Zusammen- 
hang mit dem echten Humor sehen. 

Anders tritt das Wideisinnige in einigen Humoresken auf, 
die von den rein assoziativen, an sich sinnlosen Oedankenverisin** 
düngen des Betrunkenen und des Opiumessers beherrscht werden. 



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117 



— Und dann spricht Poe wieder von denen, „die an den Traum 
als an die duzige Wiiklichkeit glauben".'^) ~ Oder er zweifett: 

bt denn, was wir sefan tuid adwueni 

Nicht nur eines Traumes Traum? 

Dieses Schwanken der ^PliUiddcdt^ dieses Entwuizd Wn in der 
Existenz geht auf den «ttmonifldien Onmdtrieb zmiSxk, ja Ist 
seine VoUcndung. Man erinnere steh an die Analyse des Ma& 
betfa — ,J.eben ist nur ein wandelnd Schattenbild I^. — Die 
Sinnlosigkeit ist zor Anardiie aller Vernunft gesteigert v6l- 
Uges Chaos des Denlcens ist eingetreten. — 

Vollkammenheit des F ü h 1 e n s ist Schönheit. Gegen sie 
steht das Häßliche, das Groteske auf. In „König Pesf* z. B. 
feiert es Orgien, kommt aber auffallenderv^eise bei Poe niemals 
als Sexuell-Dämonisches vor. Er kennt nur die anbetende, rein 
seeiisdie Liebe, ein Oq^enstück findet sich bei ihm nicht Seine 
Franengestalten zittern in astraler Entrücktheit; sie blühen 
trauernd auf und schwinden wie Blumen im Herbst Diese Dich- 
tungen aind von einer vöUlranrnKnea Sdifinhcit edOUt» sie stehen 
nicht auf der Erde^ etwas Oespenstisches ist um sie; Undei^ und 
Städtenaraen, die hin und wieder auftauchen^ liaben nur die 
dettfcmg von Myatifikationen. Und diese Schtefadt erinnert un- 
mitAelbar an Dantes Vita nuova; das ist kein äußeriicher Zufall, 
sondern tiefe Verwandtschaft; wie in wenigen Menschen leben ja 
in Dante die Sciirecken der Hölle neben aller himmlischer Ver- 
klärung — die Erde fehlt — Die ätherische Schönheit der 
Frauen, die wir bei den englischen Präraffaeliten seilen, ist in 
einigen Dichtungen Poes vorv^eggenommen; seine dämonisdie 
Natur sucht alles, was ihr feiiit und was sie ersehnt, bei diesen 
erträumten Wesen (denen seine schwindsüchtige Frau Virginia 
als Vorinld gedieiU hat). Er kann nur das ganz VoUkonmiene 

*y »Heurdtt". 



Iii 

lieben, fast körperlos, wie ein Geheimnis Gottes muß es über der 
Menschenwelt schweben; so erscheint ihm die Frau. „Die Lei- 
denschaft hat das Bestreben, die Seele mehr herabzuziehen als 
zu erheben, die Liebe aber, der wahre göttliche Eros^ der sich 
wohl von Venus unterscheidet, ist ihr Widerspiel und der reinste 
imd würdigste alkr poetischen Gegenstände." Das s^gt Poe in 
coger Anlefanmig an das platonasche OastmahL*) 

Aber nicht nur die ganz unifxttsche Scfateheit seiner Fcauen- 
gestalten,' ändi die SchMidt der Natur imd der Kunst hat Poe 
gegen die Vefsadrang des Oiißlidien taSffMm, Der Zweck 
aller Kunst liegt für ihn — mitldalterlidHhtalistisdil — ,,m der 
Schöpfung der fibeiirdisdien Schönheit^.**) Poe gibt vollendet 
schöne Landschaftsbilder, wie sie der Kunst seiner Zeit unbekannt 
gewesen sind, die Ucbe zur exotischen Schönheit, die sich bei 
einigen spateren Franzosen findet (besonders bei dem von Poe 
besessenen Baudelaire), ist hier schon ganz ausgebildet. So wird 
in „Ligda" (der Klang dieses Namens!) ein fünfeckiges Turm- 
gemach voller Al)Sonderlichkeiteii beschriebai, in jeder Ecke steht 
ein Sarkophag. Prosa-Dichtungen wie Eleonora, Morella, Ligeia 
und manche der Verse haben in ihrer unendlich zarten und dabei 
pliantastischen Poesie kaum ihresgleichen. 

So stehen die Ocgensfttze ohne jeden Oheigang schroff 
nebenebander. Poe ist so sehr dSmonisch zerrissen, daß er von 
der Erde nichts weiß; er hat sehi Leben lang nicht satt zu essen 
gehabt und hat sich niemals beklagt Denn sehie Oenialitftt emp-' 
findet aOe Leiden wie eine geheimnisvolle und berechtigte StnÄe 
seines Wesens, gegen die man nicht murren dail Er ahnt den 
Himmel und kann doch der Hölle nicht entsagen. — Ein Mensch, 
der sich seiner eigenen Dämonie bewußt ist, wird niemals Lehrer 
oder Verkünder sein können, er wird sich rucht selbstgefällig an 
die Brust schlagen — Seht mich an, wie icli kämpfe, wie groß 

*> The poelic prindpleb Tbe po«tfe principle. 



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119 



ich Uni — Er biiqgt ancii kdne noMn Tafdn, auf denm Oe* 
setze stehen, er ist von der eigenen Seele gebmni — 

Wir werden spftter sehen, daß bd Dostojewski, der doch um 
so vieles größer ist als Poe, das Ssifaetisdie Interesse für die 

GegensatzgTuppe : schön — häßlich überhaupt nicht besteht, das 
Üieoretische Interesse für Wahrheit — Lüge wohl da ist, aber 
doch nicht diese Bedeutung gewinnt. Er ist ganz und gar ins 
rem Menschliche, ins Ethische versenkt, hier schwingt er sich zu 
Gott auf und stürzt in die Mölle. Bei Poe, dem von Grund aus 
Dämonischen, ist nur die eine ethische Richtung vertreten, der 
Wille zur Tugend und zur Selbstvollendung fehlt. Er steht mitten 
im Bewußtsein des Dämonischen, das sich als Trieb zum Ver- 
brechen äußert und ihn quält, während er nicht imstande ist, 
etwas anderes als seine Gebilde reiner Schönheit dagegen anf- 
zusteilen. Poe bat fiber die Versucfaung des Bösen, ifae imp of 
the Perverse^ Aber dieses „pervefse Etwas» dieses nicht motivierte 
Motiv^ (last die WorteKants!) beständig gegrübelt, undsddldert, 
wie die Veisttchung gleich emem Schwhidcl Aber den Mensdicn 
kommt mid nicht ruht, ehe das Widersinnige, Falsche^ Paradoxe 
getan ist. „Für Menschen von gewisser Veranlagung wird dieser 
Grund bei majichen Anlässen absolut unwiderstehlich. Ich bin 
meines Lebens nicht gewisser als der Richtigkeit der Behauptung, 
daß das Böse, das Sündhafte oder Schädliche in irgendeiner 
Handlung oft jene unwiderstehliche Macht ist, die uns zwingt, 
allein zwingt, sie zu begehen Und dieser zwecklose Han^, das 
Böse um des Bösen willen zu tun, spottet jeder Analyse, jeder 
Auflösung in ticierli^ende Elemente. Er ist ein radilcaler, pri- 
märer, elementarer Beweggrund."*) 

Poe ist über diese Dinge so Idar, wie nun fibeihaupt Idar 
werden Icann. Dem weh zu tun, den man liebt, treibt dieser Oeist 
des Perversen: Der Hdd In Morella möchte die Geliebte, an der 

*) „Oer Geist des Bösen". 



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120 



sdn ganzes Wesen hängt, tot sehen, und in ,,Tell-Tale heart" 
(Das verräterische Herz) heißt es: ,AVas der alte Mann (den der 
Erzähler liebt, aber doch in langsamer Angst zu Tode martert) 
empfand, wußte ich und bedauerte ihn» obwohl ich mich inner- 
lich vor Wergo^^sen wand.'* ^ Der „Mann der Menge" ist die 
genialste Intuitton dea Dinoniacben w id adiließt mit folgcndeni 
Gedanken: „Dieser alte Mann ist die Veikörperung, ist da: Odst 
des Vertmdiensw Er kann nicht allein aetn, er ist der Mann der 
Menge. Es wiie vefgcbens» ihm noch weiter nachzugehen, denn 
ich würde doch nichts von ihm, von seinen Taten eifaliren." — 
Die Seele dieses Menschen ist nbnlich ansgefOscht. Er saugt sein 
Leben aus dem wogenden Leben der menschenerfüllten Straßen, 
die er ziellos durchirrt. Er hat kein Ich mehr, in ihm besteht 
nur noch das Leben als unpet-söjiliclies dynamisches Phänomen. 
Von ihm selber, der keinen Namen hat, kann nichts ^^esagt 
werden, als daß er vor Furcht vergehen müßte, wäre er einmal 
allein oder im Dunkeln. — 

Poe erzählt folgendes: Der Geist des Perversen ist in einem 
Mörder lebendig und zwingt ihn, sich selbst zu verraten und 
seine unentdeckte Tat in die Welt zu schreien. Dies geschieht 
nicht etwa aus einem Bedfiifnis nach Getechtigkeit und Sfihne; es 
ist vielmehr die dSmoniscfae Vemichtungslust, die sich cndlidL 
gegen sich selber wendet, der Taumel, der den Menschen reizt, 
an einem Abgrund zu tanzen. Whr atehen hier vor der Paradoode^ 
daB der Odst des Bdsen aus UoBer Bq^ierde nach ZeiatßniQg 
wie ehi sittliches Motiv wiifct, daB ein Veitirecfaen von dncm 
anderen, der Untreue gegen sich selbst, übertrumpft und vor 
seinen Richter gebracht wird, daß sich zwei negative Vorzeichen 
zu einem positiven aufzuheben scheinen. Aber die Gesinnung 
ist unveränderlich pervers, und sogar per\ers in der zweiten Po- 
tenz. „Wem wäre es nicht hundertmal begecrnet, daß er sich auf 
einer niedrigen und törichten Handlung überraschte, die er nur 



121 



deshalb beging, weil er wußte^ daß sie verboftea war? Haben 
wir nicht beständig die Neigang, die Gesetze zu verletzen, weil 
wir sie als solche aneitomen müssen?*' ~~ Das Letzte^ Unerldär* 
liehe, das Böse nicht um eines Vorteils, sondern um seiner selbst 
wüloi, ist hier fonmiliert Und dieser dämonische Mensdi zer- 
stört ans solch efnem nihitisHschen Urtricb heraus sich sdber. 
— Im Gegensatz dazu ist Raskolnikow der Obeldifferenzierte, 
dem vor lauter seelischer Vielheit die Instinkte verloren gegangen 
sind. Auch er spielt mit dem Oedanim, sich zu verraten und 
wird von der Lockung des Abgrundes gepeinigt: er muß fort- 
während mit dem Untersuchungsrichter diskutieren, steht aber 
d(xh seinem Verstände zuni Trotz auf der Seite des Guten. Es 
ist das Gute in üim, das ihn zur Sühne führt, nicht ein Perverses 
höherer Art 

3. 

Wir Icommen nun zu einer wichtigen Schöpfung der dämo- 
nischen Furcht, zur Gestalt des Doppelgängers. Der 
Gedanke und die Furchig sich selber als ehiem anderen leibhaf- 
tigen Menschen begegnen zu können, ist das geheime Grauen 
dessen, der einen andereni einen zweiten in den Tiefen seiner 
Sede fühlte der Sehl Ich zwiespaltig vraiB. Und diese Furcht kann 
die Kraft einer Halluzination erreichen und den Doppelgänger er- 
schaffen: das Bewuflisehi der hmeren Zerrissenheit hat sich in 
die sichtbare Welt hinaus projiziert, das Ich ist definitiv zer- 
spalten, in ein Gutes und ein Böses, ein Original und ein Zerr- 
bild — aber es ist nn letzten unmöglich festzustellen, welclicr von 
den beiden Menschen das wahre, das eigentliche Ich darstellt. 
Der Doppelgänger ist der Mensch selbst und doch wieder ein 
anderer, der sich ihm feindlich entfremdet hat, er ist das sichtbar 
gewordene Symbol des inneren Dualismus und seines unabläs- 
sigen Kampfes. Wenn ein Mensch nicht mehr die ICraft iiat, 
seinen eigenen Zwiespalt zu ertragen, so kann sich wie dne Er- 



i±2 

Iflsmig der Gedanke und endlich die Halluzination des Doppel- 
gingen einstellen: er ist eine Entlastung der Seele, die nun das 
UnertfSgliche nicht mehr in der eigenen Tiefe ffiUdt, sondern aus 
sich hecauflgesetzt hat, so daB es gewisaennaficn nicht mdir 
unter ihrer Verantwortung sieht, ist es doch ein Mensch für sich 
gewofden. Aber zum Enigdt ist die Angst; diesem Menschen 
begegnen zu ItsÖnnen, unerttlgtich. Ich stehe vor dem Spiegel 
und bedachte voller Unruhe diese Züge — bin ich es wkidich 
selbst, nicht etwa ein gefaeimnisvoUer anderer? (Dann gibt es 
wieder Augenblicke, wo ich seine Existenz einfach abstreitai 
kann, wo ich erkenne, daß er nichts ist als das Erzeugnis meiner 
eigenen Phantasie.) Der Doppel jo^änger ist das dämonische Sym- 
bol der Unfreiheit, eine Schöpfung der Furcht vor sich selber, 
ein Phänomen des Greiiztiienschen, der nicht tragisch, son- 
dern pathologisch ist, und nicht vermag, seine Zerrissen- 
heit produidiv zu machen und in eine Tat oder ein Weik zu 
wandeln. 

Poe hat diese scdisdie KonsteUatioa gekannt und immer 
wieder gestaltet» am Uarsten und suggestivsten in der No- 
velle »»William Wilson'*. Wilson I und Wilson II hSngen auf 
anbegreifliche Weise vonehiander ab» keiner kann sidi vom 
anderen lösen, sie gleichen einander und fOhren einen besOn- 
digen heimlichen Kampf. Aber von alledem weiß niemand als die 
beiden Beteiligten, die doch nicht darüber zu sprechen vv^agen. 
Das in Wilson 11 verkörperte bessere Bewußtsein widersetzt 
sich allen leidenschaftlichen Eigenmächtigkeiten des ersten, es 
gibt leise Ratschläge zur Umkehr (Wilson II kann infolge eines 
Fehlers nicht laut sprechen), die aber nur die Wut des eisten 
anfachen. Wilson I schleicht einmal nachts zu Wilson II» um 
ihm etwas Boshaftes anzutun — entsetzt flüchtet er vor dem 
Schlafenden, in dem er sich selber zu erkennen glaubt. Er ver- 
sinkt ganz ins Laster» doch im entMhddenden Augenblick tritt 



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i 



123 



ihm der andere mit veililiUiem Oesicht entgegen und kreuzt seine 
PISne. „Bis jetzt lurtle ich mich aeber angemaßten Hecnchaft 
Uig unterwoifea." — Aber immer bewußter cntfattet alcfa der 
Vertyredier in Wilson I, und Wilson II vertiert alle aehie Kraft 

Iii einem wilden Zweikampf sticht Wilson I den andern nieder 
— ein Spiegel fällt klirrend in Splitter. Und das bessere Ich sagt 
sterbend: „Du hast gesi^ und ich bin unterlegen. Doch von 
nun an bist auch du tot — tot für die Welt, den Himmel und 
die Hoffnung ! In mir hast du gelebt, nun sieh an deinem eigenen 
Bilde, wie du dich durch meinen l od gemordet hast." — Der 
vollkonunene Verbrecher hat nichts Menschliches, nichts Persön- 
Uches mehr, er iat zum Mann der Menge geworden.*) 

Die Koazeg^aa des DoppdgSngeia^ des zerrissenea Mea* 
achen in aemem pathologischen Extrem, iat das wichtigste^ man 
kfiimte fast sagen, das ehizige große Motiv Poes. Er kann aich 
nicht daran ersätHgen und bildet es hi den verBchiedenslen VaiiA- 
tionen. Jede mögliche Verdoppelung des Menschenlelbes: der 
Schatten am Boden, das Porträt an der Wand, das Bild im 
Spiegel, wird ihm zum Doppelgänger. Das Bild im Spiegel 
kommt dem Doppelgänger schon so n^ili, daß es kaum mehr von 
ihm zu scheiden ist, aber die beiden Wesen sind doch noch nicht 
ganz auseinandergetreten, das eine folgt noch sklavisch jedem 
Wink des anderen — bis es einmal davongeht. Dann hat der 
Mensch die Macht über sein zweites Ich (dessen sichtbares Sym- 
bol das SpiegeibÜd ist) verloren und lugt angstvoll aus, ob er 
ihm begegnen weide. — Zur v^den Verzerrung und Karilcatmr 
wird der Doppelgänger, wenn ein anthropoider Affe zuerst mit 
dem Raaiermeaaer hi der Hand die Bewegmigen semes Herrn 
wiedelholt, aich aber dann vom Zwange der mechanischen 
Nachahmung losreißt und zwei bestialische Morde verübt 

*) Von dieser Novelle ist der berühmte Roman Oscar Wiides „Das 
Bildnis Dorlan Grays" ein matter Abklatsch. 



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124 



Leise, aber vernehmlich klingt aus dem Untergrunde die Ahnung 
von dem Triebwesen im Menschen, das sich der Leitung der 
Vemnnft entzogen hat und seinen wilden Instinkten nachgeht. 
So zei^ der Affe, das häßlichste Tier (weil es am Menschen ge- 
messen werden kann), den Doppelgänger in seiner Karikatur. 

Eine besondere Nuance der Doppelganger-Fuitht kann 
duidi einen menschenüinlkfaen Automaten erweckt werden. Er 
Ist der hooune machine, ein menschliches Wesen, das vollkoaunen 
als MeduuiisnNis funkttoniert, das ohne Sedenkiien dassdbe 
vollbringen kann wie ein Mensch (z. B. Schach spielen). Auch 
die dem Doppelgänger komplementäre Vorstellung findet sich bei 
Poe: daß nämlich zwei Menschen zu einem einzigen ver- 
schmelzen (Mordla).*) 

Poe ist vierzig Jahre alt, wahrscheinlich im Trinker-I>li- 
rittn, gestorben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehreni 
daß er den Selbstmord wollte, als er sich einem maßlosen Trinken 
hingab, und er schreibt^ daß ihn ,,nur das Geffihl unertiSgÜcher 



■*) Bei E. T. A. Hofftmann wird das Motiv des Doppelglngers einige 
Male, besonders in den „Elixieren des Teufels", verwendet. Der Doppel« 

ßänper heiSt hier ,,das Gespenst meines fchs" tmd ist in seiner ganzen 
menschlichen Tiefe erfaßt. Aber es besteht ein sehr wesentlicher Unter- 
schied: die Doppelgänger Hoffmanns vertreten immer nur die Lockung 
des BSsen als etwas Fremden und treten so dem dfendlchen, dem wählen 
Ich gegenüber, das sich niemals mit seinem Zerrbfld identifiziert, es viel« 
mehr fürchtet Die Stellung ist also nicht, wie bei Poe, eigentlich dimo« 
nisch. — Der Automat ist Hoffmanns Lieblinf^s Vorstellung. Er sagt z.B. 
„Schon in früher jugend lief ich weinend davon, als man mich in ein 
Wacbsficuren-Kabinet ffihrte, und noch kann Ich kein solches Kabinet be- 
treten, ohne von einem unheimlichen grsuenhallen Gefühl ergriffen zu 
werden." — Die lebhafte Phantasie blickt besorg umher, ob nicht irfjend 
eine der Figuren die Verdoppelung eines Menschen, vielleicht eine kon- 
servierte Leiche sei. — im „Sandmann" kommt ein künstliches Wesen 
Olympia vor, das vom Helden geliebt wird; und auch In Goethes «Zudier' 
IshrUnc* spukt der setbstftidlg fewordene Automat 



125 



Verlassenheit und die Furcht vor einem seltsamen, im voilitQeiil 
bestimmtea Unheil zum Alkohol getrieben haben."*) — 

Poe ist darum so lehneicfa, wdl ihm, wie Icaum einem an- 
deren, das miittere MensdUidie völlig abgeht Seine p^ho- 
logische Daistdlung ist mangdhaft, ja primitiv, ohne Obergaog 
und Nuance^ aber gerade dadurch manchmal gro6. Er bemeiiEt 
die wirklichen Menschen nicht und Idrt mit Phantasmen. Er ist 
der Meister der Augenblid^Visifm, hat aber nicht die Oa]>e, ein 
Kunstwerk aufzubauen oder einen Oedanken zu entfalten, im 

♦) Es ist natürlich leicht und weder be! Poe noch bei Dostojewski 
noch bei anderen ungewöhnlichen und genialen Menschen verabsäumt 
worden, Symptome seelischer Erkrankungen zu finden. Je weniger Ver' 
atindtds ienuuid für die Eigenart ehies Mensdien lut, desto Ireudiger 
wird er ja alles das zu entdecken wissen, was Ihn vom normalen mittleren 
Menschen unterscheidet und also (so lautet der heimliche Gedankengang 
stets) pathologisch macht Die*ies oberflächliche Tun verschiebt die Frage 
nach dem Wesen einer ungewöhnlichen Erscheinung in Begleitumstände 
aller Art, und vergeblich scheint es, solchen Geistern klar zu machen, 
dal die Epilepsie Dostofewskis nicht die Ursache seiner Sonderart Ist 
— es soll Epileptiker geben, die keinen Raskolnikow schreiben — sondern 
nur ein Merkmal unter anderen, das zu seiner Charakterisierung beitragen 
kann. In barbarischer Absicht und nach einer Methode, die an den Gegen' 
stand ganz willkürlich aus fremden Gebieten herangetragen wird, bemüht 
man sich, ein elmnallffes PMbiomen — das Wertvollste, das die Welt 
besitzt] — unter adlgemeine Regeln zu bringen, die vom Durchschnitt her« 
genommen und dem Durchschnitt nn{^emes«?en sind. Wer aber Erschci- 
nunfien wie l-'oe oder Dostojewski nur halb\vc.i3s erfaßt hat, wird diesem 
simplen t^eginnen so gegenüberstehen, wie der Ffianzen-Physiologe dem 
Bauern, der wdB, daS seine Frudit In schwarzer Erde besser gedeiht als 
in grauer und damit alles durchschaut zu haben meint — Während die 
ältere Schule der Psychiater \ onviegend auf Degeneration und Alkoholis- 
mus schwört, ist jetzt ein Schema von Sexualität in Mode, in das Patien- 
ten und Genies gleichmäßig hineingezwängt werden. Da der Untersuchende 
durdi keinerlei psychologische Instinkte gehemmt zu werden pflegt (den 
Erfinder des Schemas mdcfale ich hierbei ausnehmen), tritt das Ergebcils 
Immer mit verblüffender Einfachheit zutage. 

Der methodische Fehler, der al! diese Bemühungen wertlos macht, 
ist allzu offenkundig: sollte wirklich jeder Knabe seine Mutter sexuell 



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126 



ersten Rausch der Empfängnis wirft er den Einfall aufs Papier, 

Sein umfangreicher Roman „Die Abenteoer Oordon Pyms" ist 
nichts als eine Folge von seltsamen Ereignissai, die ohne Zu- 
sammenhang nebeneinanderstehen. Hier, wo es sich um die 
seelische Geschichte eines Menschen handeln sollte, nicht um 
einen einzelnen absonderlichen Fall, wird seine psychologische 
Unzulänglichkeit besonders deutlich; und wie ihm selber, so 
fehlt auch allen seinen Gestalten jede Entwicklung. Ilm inter- 
essiert weder der seelische Zustand vor der Tat noch nachher: 
nur die Tat selbst wird mit der Helligkeit eines Blitzes durch- 
leuchtet Er ist von der Sekunde gd>leodet und kennt kein 
Werden — denn Werden ist Obefgeben, ist Isngaame Vertnde- 
rang, nicht Taumeln in Gegensitzen. Bd aller Verwandtschaft 
im Orundrifi der Seele zeigen hier Poe und Dostojewski 
docb die allei:gr56ten Oegcn^e: Dostojewski ist der wahre 
P^chdoge, der sich im Zerfasern nicht genug tun kann und der 
auch der Venuchunnf nicht widersteht, aUgemetne psychologische 
Betrachtungen einzuschalten, die eben nicht zur künstlerischen 
Vollendung seiner Romane beitragen. Ihm wird die seelische 
Schilderung von Nebenfiguren während der Arbeit so wichtig, 
daß er den Zusammenhang und ihre Bedeutung fürs Ganze ver- 
begehrt und seinem Vater den Tod gewünscht haben .dann würden ge« 
fade diese allgemein menschlichen Gewohnheiten ^um Verständnis außer- 
ordentUcher Erscheinungen nicht das Geringste beitragen können. Denn 
was bei allen gleichmäßig besteht — und das wird |a dogmatisch ge» 
aiaiibt — das kam idtht ein Gran im Spezf alton erküren. Ebenso könnten 
aus der Tatsache, daS auch der geniale Nensch tlglidi Ilt und trifdct; 
lehrreiche Schlüsse auf sein Werk gezogen werden. — 

Die Tendenz, am bedeutenden Menschen das zu finden, was ihm 
mit dem Neurotiker gemein ist (wobei ein hämisches Lächeln der Über« 
legenheit niemals fehlt), erscheint mir Überdies als ein sicheres Zeichen 
vollkommener Kulturlosigkelt Denn das erste Erfordernis zur Kultur 
ist doch wohl die Fähigkeit, Wertvolles zu spuren und Achtung davor 
zu empfinden. Und (gerade die afs pathologisch (d. h. minderwertig) ,Er- 
wiesenen" haben die kulturellen Güter hervorgebracht 



127 



giBt. Er hat alle Mtagd adner Oenialiiit Bei Poe giht es, 

glaube ich, kdne einzige Nebenperson. Seine Novellen sind knapp 
und eindringlich hingestellt, ohne Milieu, ohne Psychologie, ohne 
soziale Beziehungen; das brutale, möglichst deutliche Gescliehen 
ist alles. — Nicht nur wegen dieser Mäogei kaiin man Poe bei all 
seiner hohen typisclien Bedeutung nicht einen Dichter ersten 
Ranges nennen , noch mehr, weil er bis in die letzten Elemente 
zerleget werden kann — was allerdings wieder seinen Wert für 
eine Betrachtungsweise uie die uiisrige erhöht. — 

Das Problem der Ich-Verdoppelung, das Poe romantisch 
erfaßt, wird von Dostojewski in der Jugendnovelle „Der Dop- 
pelgftnger" mit allen seinen psychologischen Tiefen dargestellt 
Diese Erzählung ist der Schlüssel zum Veistiiidiiis Doatojew- 
sUfl^ der „Natur mit zwd Atigifinden'*. 

GoljÜkin ist dn Ueiner Beamter in Petenbmg, den von 
Anfang an eine ganz tmeridliliclie Fnrdit bebenachi Belm Er* 
wachen ist er nidii ganz aicher, ob er aidi m der Welt der Wiifc* 
lidikeit befindet — oder? Doch er 8chid>t dieaen Oedanken 
schnell beiseite und überzeugt sich ans verschiedenen Merk- 
malen, daB es die richtige Welt ist Er ersduickt plötzlich und 
fluchtet wieder in den Schlaf. Dann springt er ana dem Bette, 
läuft zum Spiegel und besidit sich lange, wobei er sich einredet, 
daß er um seine Gesundheit besorgt sei; in Wahrheit ist es aber 
die ihm selber unbewußte Angst, er könnte über Naciit ein 
anderer geworden sein Dann forscht er sorgfältig, ob er nicht 
vielleicht belauert werde, zieht aus dem verborgensten Winkel 
seines Schubfaches eine alte, unscheinbare Brieftasche hervor, 
findet sein Geld wieder und zählt es langsam durch. — Vom 
Schlaf erwacht, hat er sich zuerst überzeugen müssen, daß er 
noch am Lel>en ist und sich nicht vei^wandelt hat, daß die Welt 
noch so wie am Abend weiterbesteht, daß er noch sein Geld be- 
sitzt Sodann redet er sich vor, daß sein Venndgen gar nicht 



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128 



so geringfügig, vielmehr zienilicli betrSdiiUch sei. Ohne daB 

ein Wort darüber gesprochen würde, ist auf diesen ersten paar 
Seiten die üeraütsanlage des Helden geschildert: er lebt in einer 
unbestimmten Furcht, die er sich aber selber verhehlt und gegen 
die er fort^vahrend Beruhigungen und Sicherheit sucht. Zum 
erstenmal taucht die Ahnung einer Verdoppelung auf, wie Gol- 
jädkin eine Menschen trifft, von dem er nicht erkannt werden 
möchte. Da denkt er jäii: Könnte ich nicht lieber ein anderer sein, 
der mir nur ähnlich sieht? Jawohl! Ich bin einfach nicht ich, 
sondern ein ganz anderer! — Ooljädkin läßt dann ohne Orund 
seinen Wagen umkehren, um den Arzt aufzusuchen und beruhigt 
zu werden. Und plötzlich bricht der Gedanke hervor: Ich habe 
viele Feinde! Ich werde verfolgt! — Dies ist nicht im geringsten 
b^griindet; aber die geheime Furcht in ihm sucht nach allan 
Möglichen in der Außenwelt, um sich eine Berechtigung zu 
schaffen. Goljädldns Oedankengaog Ist: Ich fürchte mich, folg* 
lidi muß mir ehie Gefahr dn^ien. Das ist aber palhdogiBch, 
denn normalerweise mfiBte die Gefohr das eiste sehi und die 
Furcht nach sich ziehen. 

Ooljädkui gerät nun durch allerlei SonderiMiiieiten und 
IDummheiten in eine beschämend peinliche Lage. Er mddite so* 
gleich hl den Boden versinken und ninunt sich vor, noch diese 
Nacht mit seinem Leben ein Ende zu machen. Er geht in Regen und 
Schnee durch die nächtig menschenleeren Straßen und hat plötz- 
lich das quälende üetülil, daß jemand dicht bei ihm sei. In diesen 
Augenblicken der tiefsten Erniedrigung gelangt die Furcht ganz 
zur Herrschaft über sein verworrenes Gemüt. „Was iianii man 
wissen, wer es ist? Vielleicht ist auch er hier im Spiel? Ja viel- 
leicht ist er sogar die Hauptperson und kommt mir jetzt nicht 
zufallig entgegen, sondern in einer besonderen Absicht, um 
memen Weg zu kreuzen und mich anzurempein? — Möglicher- 
weise dachte Herr Ooljädkia dies auch nicht, sondern empfand 



biyiiizoa by GoOglc 



129 



nur eine Seiainde lang etwas Ähnliches und äußerst Unange- 
nehmes." — Der Mann nähert sich und Ooliädldn steht wie 
erstarrt da, ihm wird ganz unerklärlich schreckhaft zumute. Der 
Fronde verschwindet, kommt aber wieder, und nun ist Ooljädkin 
gezwungen, ihm nacfazuhtufen, er rennt in den Menschen hinein 
imd hat ihn erkannt Aber mn äDes hi der Wdt mficfaie er alch 
die graiienhaHe Wahrheit nicht ehigeatehen, der er doch w- 
fallen ist Schoo früher, hi dem Augenblidc, da er aehi Ich von 
sich f orljgewfinacht hal^ da er gen ein anderer geworden win^ 
hat er sich innerlich geteilt; und nun ahnt er, daß er von diesem 
fremden Menschen, seinem Doppelgänger, nicht mehr loskommen 
wird. „Er glich in diesem Augenblick einem Menschen, der am 
Rand eines Abgrundes steht, unmittelbar vor dem Absturz, der 
den Boden schon unter sich wanken fühlt und im nächsten 
Augenblick in die Tiefe stürzen wird: einon, der alles dies weiß 
und selbst sieht und der doch nicht die Kraft hat und auch nicht 
die Oeisteagcgenwart, auf den noch feststehenden Boden zurück- 
ztifl|»ingen, und nicht die Willen^istärke, den Blick von der gäh- 
nenden Tiefe abzuwenden; die Tiefe zieht ihn vielmehr an, zieht 
ihn und läfit ihn nicht loe^ und so springt er denn achlieBlich bei- 
nahe selbst hinab, Ilur tui den unveimeidlichen Unteisanff zu 
beschleunigen.* 

Das verwirrende mid beschämende Erlebnis von frfiher hat 
in OolJSdUtt den Wunsch erweckt, daB er als der, der er ist, ver> 
niditet werde und sich in efaien anderen verwanddn möge. Nun 
bemächtigt sich die Furcht seines ohnehin schon gelockerten 
Geistes und macht sich dessen Inhalte dienstbar, ralft aus dem 
Vorstellungsleben die mit dem Ich eng zusammenhängenden 
Komplexe zusammen — und gestaltet das Schreckgespenst des 
Doppelgängers aus. Sehr deutlich können wir hier die innere 
Struktur und Logik all dieser seelischen Vorgänge — die dämo- 
nische Furcht — studieren. Goljädkin weiß, daß ihm etwas £nt- 



130 



aetzliduB zustoBea mu6, aber er kann doch von dem «nbckaDnln 
Manne nidit laaaen und bedlt ncfa, ihn wiederzofindaip denn er 
ist bereito in zwei Teile zenriaeen nnd vennagr mdir für 

sich allein zu leben (obgleich er bei jeder Gelegenheit betont, 
daß er ,,ein Mensch für sich allein" sei). Der Unbekannte geht 
in Ooljädkins Wohnung und setzt sich aufs Bett — Goljädkin 

neben ihn — und sie schauen sich ins Auge 

Am nächsten Morgen hat die Furcht wieder in mehr nor- 
male Bahnen dngfelenkt, üoljädivin ist ausgeruht und halluziniert 
nicht. Er schiebt wieder alles Böse auf die Verfolgungen der 
eingebildeten Feinde und deutet das Schweigen seines Dieners 
als Einverständnis mit ihnen. „Schliefilicb Jiat ja Herr Goljädkin 
schon längst gewußt, daß sich etwas gegen Üm voibereitet, daß 
noch chm anderes dahintersteckt" Etwas anderes steckt da- 
hinter — die Furcht kann sich unmöglich damit zufrieden gdien, 
daß man Feinde bai^ die einem ttachatellen — das ließe sich ja 
durchschauen t — sie ahnt etwas GdtehmUsvollca^ Unbdonntes. 
Und dieses Oduimnisvolle ist der Riß in der eigenen Seele^ die 
Möglichkeit; sein eigenes Ich leibhaftig anzuschauen. Es siellt 
sich heraus, daß der andere Ooljädkhi im adben Amt beschtftigt 
ist wie er selbst und nun beginnt ein sonderbares Spiel, das 
schattenhaft zwischen Wirklichkeit und Phantasie schwankt und 
das mit voller Absicht nie ^anz klar wird. Bald schheßen die 
beiden Freundschaft fürs Leben, bald sidit sich der Wahre vom 
Falschen verhöhnt und aus seiner Stellung verdrängt. Goljädkm 
hat als kleiner Beamter immer ängstlich auf Anstand und Ehr- 
barkeit gehalten. Sein Doppelgänger aber macht die geheimen 
und stets unterdrückten Wünsche seiner Seele wahr: er schmei- 
didi sich überall ein, wird bewundert und anerkannt; dann sitzt 
er wieder m öffentlichen Lokalen herum und bringt den wahren 
OoljUidn hl einen fibkn Ruf. Das Veihiltnis des Helden zu 
9ääm Abbild ist bald feindselig oder kriecherisch untefwuffig, 



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bald wieder sentimental und liebevoll. Der Doppelgänger bringt 
dne unaqgaicliiiie alte Geschichte unter die Leute (wcoigpteos 
bfldet rieh» der Ridrtige da), die QoijMtin ünggt \ugtWMu 
glaubt hat Er rettet sich in den Oedantai: bin ehtfich nicht 
icfa und das ist alfes." 

Das Spiel und Gegenspiel der beiden ist mit der pefcho- 
logiscfacn Intuition Dostojewskis^ vor der Shaicespeare da Lduv 
Hog ist, durchgeführt OdjSdkin wiU immer wieder zu der 
höduten Autoritftt fl&diten, die seine Beamtensede tamt, zu 
dem Leiter seiner Abteilung, einer Erzeilenz, um sich vor ihr als 
der eigentlich maßgebenden Instanz zu rechtfertigen. Er muß 
doch endlich beweisen, daß er ein dlrlicher Mensch ist, gegen 
den schreckliche Intrigen gesponnen werden; denn Goljädkin ist 
dne durchaus inferiore Natur und kommt über seinen Beamten- 
horizont niemals hinaus. Dies ist viel eigenartiger als wäre der 
Held eine große und von Anfang an dämonische Erscheinung; 
in der Kleinbürgerlichkeit wirkt das Objektiv-Dämonische mit 
dem von Dostojewski oft angeschlagenen und meisterhaft be- 
herrschten Ton des Groteslien» d. ii. dea Komiadiea in dlmo- 
nischo: Perspektive. 

Nachdem Goljädkin alle Qualen der Angst erduldd hat und 
immer wfarrer gewcmlen ist, soU er rieh schließlich mit seinem 
Ebenbild vereOhncn. Sie treten zueinander und küssen sldi -~ 
„Aber in den miedlen Ocridit ftom OdJ&dkiiia da Jfingerai 
taudtte etwas Böses auf — die Grimaaae des jMdadmsaffs>" — 
So besteht schon am Schluß dieser frühen Axbdt die Ahnung, 
was der Doppelgänger im Ticbten iri — der Teufet Judas 
ist der Verritter am OötOichen, das Teuflisdie im Menschen, das 
sich gegen Christus auflehnt 

Wenn ich dieses nicht recht anerkannte Meisterwerk so ein- 
gehend zerlegt habe, so geschah es, um die Psychologie der dä- 
monischen Furcht und das Entstehen der Doppeigänger-Phao- 

9* 



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tasie aii einem noch nicht allzu komplizierten Beispiel zu zHgen; 
denn die späteren Werke Dostojewskis sind nicht mehr so ein- 
fach gebaut, die Motive kreuzen sich iortwäilrend und können 
nicht so klar durchschaut werden. 

Der im „Doppelgänger'' festgelegte seelische Dualismus, der 
metaphysisch empfunden wird, hat sich im Laufe von Dosto- 
jewskis Leben zum absoluten, zum unnenschlichen Dualismus 
entfaltet: nicht mehr die beiden Extreme eines einzelnen Men- 
schen stehen sich gegenüber, sondern die ganze Menschheit ist 
In ihie Extanne zeifallen: In Christus mid In seinen Doppel- 
gänger, den Teufel. Wie der penflnlidie Doppelgänger der leib> 
faaftig gewordene Zwiespalt des einzelnen Ist, so Ist der 
Teufel der Doppelgänger der hi sich zerrissenen 
Menschheit, der Doppelgänger des als vollendete Mensch- 
heit vorgestellten Christus. Die innere Zerrissenheit hat sich von 
der Spaltung eines einzelnen Menschen in zwei Iche zur Spal- 
tung der Menschheit in zwei Iche — in Christus und den Teufel 
entfaltet 

Der Teufel ist der sichtbar gewordene Haß gegen das 
Oute^ gegen Gott — und die Furcht davor. 

Mensch, könntest du in dir das Ungeziefer schauen, 
Es wGrde dir vor dür als vor dem Teuld grauen! 
sagt Angelus Silesius. Und so wie der Affe als der Doppelgänger 
des Menschen empfunden werden kann, so ist der Teufel der 
„Affe Oottes** genannt worden.*) 

Man versteht die seltsame Dichtung Iwan KaramasoSs erat, 
wenn man begriffen hat, daß der OroB-Inquisitor der 
Teufd Ist Der Teufel ist das wahre und einzige Problem des 
völlig dämonischen Iwan; bevor er wahnsinnig wird, erscheint 
ihm der Teufel nodi einmal ohne jede besondere Vorsichtsmaß- 

Von Justinus Martyr und Tertullian. (ISach Roskoff, Die GescMcht» 
des Teufels» 1S69. 1,224). Ähnliches sagt Luther. 



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133 



xcgd und bdcamt «ch zynJadi als aeinai Doppdgingfer. Es ist 
die clgmtlidi geniale Idee im „ÖroB-lnqiiisifoc'*: der Teitiel ist 
80 seiir der Doppelgänger ChiM, daß er vom gamsen Volk fOr 
ihn genommen wird, dafi sein Wort als das Wort Christi gilt 

Und es entspinnt sich das Gespräch, das in der Dichtung der 
Welt nicht mehr seinesgleichen hat. Der Groß-Inquisitor ist ein 
uralter ehrfurchtgebietender Mann, aus dessen Munde nichts 
kommen kann als che reine Lehre Christi; er ist das böse Prinzip 
in seiner höchsten, rein geistigen Entfaltung, unmittelbar der 
Vertreter des römischen Papstes und mittelbar der Wortführer 
des gesamten Katholizismus, der für Dostojewski die eigentUch 
widerreligiöse Macht repräsentiert Der Antichrist muß aich ala 
Doppelgänger des Christs derselben Gedanken und sogar der- 
selben Worte bedienen, die dieser in die Welt gebracht hat, denn 
er vermag (ebenso wie aiAter der Teufel Iwana) aelber nichta zu 
achaffen, er schmarotzt ala richtiger Doppeigfloger am andern. 

Der Orofi-Inquiattor beruft aich darauf, daB Chiiatus zu 
etoer beatiiamteii Zdt in der Welt etscblenen ist und ihr aeine 
Lehre hhifterlaaaen liat: damit lat aeine unmittelbare penönlldie 
Wiilnmg zu Ende — „Du haat ja nicht einmal mehr daa Redit, 
noch etwas zn dem hinzuzufügen, was von dir schon früher 
gesagt worden ist. Warum also bist du gekommen, um uns zu 
stören?** — Der Oroß-Inquisitor durciiscliaut vollständig: das 
Gute und das Böse und ist der entschlossene Vertreter des bösen 
Prinzips. Zum Bösen wird aber (in Übereinstimmung mit der 
deutschen Mystik) das Historische, das Einmalige, wenn es den 
Anspructi erhebt, das Ewige zu sein — im Gegensatz zum 
unmittelbar lebendigen Gottesbewußtsein. Der Groß-Inquisitor 
sagt Chnatua ina Geeicht^ daB er ihn ün Namen der Religion ala 
Ketzer verbiennen lasaen werde — denn die Religion, die zur 
Kirche geworden Is^ die auf der Anbetung vetgangener Tat- 
Sachen benäht; muB die ReQgioii der „Oleichzdtigleit» OMob- 



134 



gfaard) als Ketzerei empfind^i und hat sie jederzeit so empfunden. 
Käme Christus leibhaftig wieder, so würde er ein neues, unmittel- 
bares religiöses Erlebnis bringen — und das darf nicht ge* 
achdiai. „Du hast den Mensdien damals die Freiheit gegebeo» 
aber mit der Freiheit können sie nicht gluddidi sdn.'* Und mm 
enthüllt sich der Teufel als Anwalt des mmachlidifn Olfickes 
gcsea die meoaddkfie Freibeit: Für die Umnfindigen will er die 
Oüter der Seele in Verwittong nehmen, am ihnen das Leben zn 
erleichtenL „Der fmtfaibare vaad Uuge Oeist, der Oeist der 
Sdbstvemicfatung und des Nichtseins^ hat Chrish» bd sehiem 
enien EiadKiiien in Vemicfaung geführt mid er hat ihn gewarnt 
^ gewissermaßen als Freund der Menschen, der ihr Glück 
will, das heißt ihre irdische Vollkomnieiiheit, aber nicht ihre 
Freiheit, ihre ewige Vollkommenheit. Denn „für den Men- 
schen und die menschliche Gemeinschaft liat es niemals und nir- 
gends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit!" — 
Christus aber hat es vorgezogen, die Freiheit — die göttliche 
innere Stimme — zu lehren, anstatt Knechte aus ihnen zu 
machen, die sich satt essen. Auf diese aste Versuchung hat er 
geantwortet: Der Mensch lebt nicht von Brot allein. — Wie 
grausam! — S&thge sie zueist — dann verlange von ihnen 
Gr&fie der Sedel Du hast sie an die Fidhcit venaten, da sie 
doch mnfa Brot adireienl HSHest da damals die Sterne in Brot 
gcwanddt für alle Zeit, anstatt auf irdisches Brot zu verzichten 

— du hättest die Menschen erlöst ! — Der Teufel ist der Anwalt 
der Himgemden, der Bdadenen gegen Chiistns. 

Ihren Hunger werden w i r stillen, und zwar in deinem 
Namen 1 spricht der Groß-lnquisitor im Neimen des Bösen. 
Denn der Teufel gönnt den Menschen ihr Brot und ihre Freude 

— niu: ihre Göttlichkeit nicht t Und der Groß-lnquisitor weiß, 
daß die Menschen kommen werden und flehen: Gebt uns Brot 
und wir wollen euch gerne iolgeal — Sie können ja gar nicht 



135 



frei adn, sind sie doch kraftlos und niedrig 1 Mit deinan Oe- 
acbenlc der Fieilieit hast du den Meaadiea zum unt^fidJiditteii 
Oescfadpf auf Erden giemaditl Du hast ilim tiimniliachcs Bro^ 
FreUieit vom Schichaal venprochen — aber ich fngt dich: Ifann 
sich himmliwiie» Brot mit irdischem Brot messen? — Der Teufel 
ist Ja der Fremid der Menschen» nur der Fehid Gottes — auch 
Gottes im Mensdien. „Du denkst nur an die Stanken» die HerD* 
ischen, die mit der Kraft t>egabt sind, dem irdischen Brot zu ent- 
sagen. Uns aber sind auch die Schwachen teuer!" — Mit hoher 
Weisheit wird hier das Bedürftige im Menschen und sein Gött- 
liches auseinandergelegt. „Wir aber — die Söhne der Hölle, die 
Priester Roms — wir nehmen die unerträgliche Last der Freiheit 
von ihnen und laden sie uns selber auf in deinem Namen und 
aus Mitleid mit ihnen." 

,,Und noch etwas Anderes, Schrecitiicheres hast du gelehrt: 
daß die Freiheit der Schatz jeder einzelnen Menschenseele sei, 
nicht Götze einer Gemeinschaft, einer Kirche, daß man zu itir 
nicht beten kann wie zu einem Bilde. Die Menschen aber wollen 
gemeinsam anbeten. Eist in der Gemeinsiimkcit glauben sie wirk- 
lich, haben sie Vertrauen, daß es das Rechte sei, daß sie sich 
nicht täuschen. ,,Und also wird es sein bis ans Ende der Wdtl*' 
Wieder ist der Teufel der Retter der Menschheit — nicht nur 
leben wollen die Menschen, auch emen Shm ihres Lebens 
brauchen sie! Eher wird sich der Mensch vernichten, als 
daß er m der Fülle der Nahrung Idyt, wenn er nicht etwas hat, 
daran er zu glauben vermag, fOr das er lebt Und was hast du 
getan, um ihnen das zu geben, hast du ehie Antwort gebracht an! 
ihre quälende Frage: Was soUen wir anbeten? — Didi sdbst 
hättest du zur Anbetung aufstellen müssen 1 — Und du hast das 
Geii^enteil getan, du hast sie die Göttlichkeit ihrer Seele gelehrt! 
Weißt du denn nicht, daß ihnen selbst der Tod erträglicher ist 
als der freie Wille, die Verantwortung, die Erkenntnis des Guten 



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m 

und des Bösen? Verstehst du denn nicht, was es für die Men- 
schen heißt, in der fcwigkeit zu stehen und frei zu wählen ? Das 
heißt ewige Qual — die wahre Freiheit ist für die Menschen die 
wahre Hölle! Und anstatt eines Benihigeaden, Sichacn hast du 
ihnen das Ruheloseste, das Rätselhaftesie gegd>en — und du 
sagst, daß du die Menschen gdiebt hast? Ich veralehe sie und 
ich liebe sie^ ich, der Ofoß-Inquisitor, der Teufd — • debi Dop- 
pdgSnger! Wir haben ihnen eme Kirche gebaut und mancheild 
ztt sehen und zu hdren hineingestdlt^ wir haben ihnen emen 
festen Glauben, eme Autoritfit gegeben! Ihre Freiheit liaben wir 
auf uns genommen und sie können wieder atmen, sie können 
ruhig schlafen und an das Gluck glauben, denn sie wissen jetzt, 
daß alles wohlgeordnet ist und daß sie nicht um Dinge sorgen 
müssen, denen sie doch nicht gewachsen sind! 

Und endlich bist du versucht worden, dn Wunder zu tun, 
und du hast widerstanden, denn dein Glaube ist so stark g!e- 
wesen, daß er kein Wunder gebraucht hat! Du hast gewilBt» 
daß der zum Sklaven wird, der ein Wunder braucht, um zu 
glauben, und dafi er Oott in diesem Augenblick auch sdioa ver- 
loren hat Die Menschen aber können nur glauben wo sie 
Wunder sehen! Ich, ich gebe ihnen das Wunder! Sie brauchen 
kerne Freiheit; sie brauchen das Wunder, damit sie etwas Sicheres 
haben ffir ihre Angst vor dem Zweild! Du hast kehie liebe 
und kein Mitleid mit den Menschen gehabt, denn du hast sie 
gelehrt, Autontät und Wunder verachten und an den Gott in 
ihrer Seele glauben! Verstehst du das? Hättest du die Menschen 
wahrhaft geliebt, so hättest du ihnen Gutes getan, ihnen ge- 
holfen, nicht ihnen Aufgaben gestellt! — Ich will sie vor dir 
retten, ich habe Mitleid mit ihnen — und ich habe alle ihre 
Lasten und ihre Zweifel auf mich genoouneai'^) 

♦) Hier wSr« auf dnen sehr wichtigen Zasetmnenhang hhizuweisen, 
der noch kaum erkannt wofdea ist» aber, wie Ich glaube, einmal Bedeutung 



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137 



Und der Freund der Bdadenen fragt die ewige Idee der 
Menadiheii: Wdcfaeft Recht hattest du, nur die OroBen, Heror 
Jachen eriöaen zu wollen? Sind nidit auch die anderen da, die 
Schwachen — gerade ihnen muB man helfen! Ist es die Sdiuld 

eines schwachen Menschen, daß er nicht göttlich sein kann? 

Sag' selbst: Wer hat die Menschen mehr gehebt — du oder wir? 
Du hast ihnen Aufgaben gestellt, unter denen sie zusammen- 
brechen müssen — wir aber haben liebevoll ihre Bürde erleichtert 
und sogar ihre Sünden von ihnen genommen, in uns genommen. 

Und der Groß-Inquisitor veikündet sein Geheimnis, das er 
bia zum neunzigsten Jahre verborgen hat; nun aber fühlt er aich 
eifcannt: „So höre dennl Wir sind nicht mit du:, sondern mit 
ihml" 

Und er apricht weiter als der wahre DoppdgSnger, der 
flicht mehr Versucher sein kann: Hättest du Krone und Schwert 
genommen, so hätten sich dir alle freudig unterwoffenl In einer 

erlangen wird: die Position Christ — Antichrist, die Dostojewski so tief- 
sinnig ver;^tandtn Lmd darf^estellt hat, ist von Nietzsche in den Mittel- 
punkt gerückt, aber vollkommen umgedreht und verflacht worden: was 
DostofewsU als das Wesen des Antichrists in seiner Stellung gegen 
Christus eilauint hat — das mitieldige Herz für die Schwadien, die eine 
Stutze brauchen, um leben zu können — das hält Nietzsche für christ- 
lich; und dvis Heroische, der von Dostojewski mit genialer Intuition er- 
faßte Sinn des Christentumes, soll durchaus antichristlich und heidnisch 
sein. Zwei Elemente sctieinen Nietzsche getrieben zu haben, die Tatsachen 
so auf den Kopf zu stdien: sein aufterordentlidies Bedfiifiiis nach Gröie 
und Heldentum, sein Ringen um den wahren Glauben, der an die Refor» 
matoren erinnert; und ein leidenschaftlich blinder Selbsthaß, der das so 
tief und hxichtbar in ihm verwurzelte christliche Bewußtsein aus seiner 
Seele reiSen und aller historischen Umsicht zum Trotz umdeuten will. 
Man irtrd sich einmal darfiber Uar werden, daS Nletzsdies Obermensch 
dn mehrtidi verdünnter AufguS des dosto|ewsldsciien Christus ist — 
Mit seiner primitiven und äufierlichen (im Sinne Dostojewskis den t^tho* 
Uzismus treffenden) Deutung des Christentums hängt es auch zweifellos 
zusammen, dafi Nietzsche auf die Freigeister katholischer Länder und auf 
die Juden am stärksten gewirkt hat 



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138 



einzigen Hand wäre die Herrschaft über die Leiber und über die 
Seelen vereint gewesen und das Reich des ewigen Friedens wäre 
angebrochen ! — Du hast es versäumt — wir aber haben es nach- 
geholt! Wir haben die Weltherrschaft aufgerichtet, in unserer 
Hand ist Brot für den Ldb und Gnade für die Seelei So haben 
wir die Menschen vor der Veizweifinng bewahrt! 

Und der böae Oeist fragt: Was sollen sie mit deiner Frei- 
heit anfangen? Um Gedanken werden sich inuner mehr vcr- 
wirren, das Denken wird über das Denken denken, sie werden 
ericennen, daß die Freiheit ihres Denkens zu Winsal und Wahn- 
sinn fuhrt, und sie werden nach Ruhe schreien. Jedes Dogma 
werden sie willig und dankbar aus unseren Händen nehmen! 
Sie werden sich selber töten ia der Verzweiflung ihrer Freiheit 
— Ah. ihrer Ratlosigkeit und Verlorenheit I — Und wir geben 
ihnen das wahre Glück — Sicherheit, Unterwerfung unter das 
Unwandelbare, Frieden unter einer einzigen Herrschaft, unter 
unserer Herrschaft ! Und wir enttäuschen sie nicht! Du aber — 
du hast ihnen ewigen Unfrieden gebracht, du hast sie stolz 
gemacht und sie gelehrt, auf sich selbst vertrauen — wie töricht! 
Unter unserer Herrschaft werden die A4enschen das Glück finden, 
ja wir werden ihnen sogar erlauben, ein wenig zu sündigen, und 
ihnen endlich das CilQck der Verzeihung schenken. 

Alle werden glücklich sein — nur wir nicht, die über sie 
iierrachen, die alle ihre Sünden tragen und alle ihre Verantwor- 
tung auf uns genommen haben! Verurteile mich, wenn du es 
wagst! Bist du nicht der große Menschenfreund? Aber dehie 
Rettung ist fefalg^angen und wir sind gekommen, um dein 
Weck zu vecbcsaem. Wir ahid die Eriaaer der Menschheit! Und 
jetzt — was willst dn noch hier? Willst du vielleicht abermals 
Wahnsinn und Verzweiflung unter die Menschen sSen» willst du 
sie wieder diese Freiheit lefaren, die sie nicht verstehen können 
und nicht ertragen und die sie unglikldich macht? Du bist der 



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130 



Verdate der Mcnscfacn — und ich bin ibr Fieimdl Idi wade 
didi tnofgcn veibfcoiiai lassen! — 

Dieses Oesprftch — in dem Christas nichts erwidert, sondern 
nur endlich seinen Widenadier küßt — enthüllt die abgründige 
Zerrissenheit Dostojewskis, seine Udie zum Menschen und seine 
ungeheure Verachtung der Menschen. Dostojewski spricht ein- 
mal davon, dsB auch nicht ehiem seuier Gegner „eine solche 
Kraft der Verneinung getfflnmt hat» wie idi sie duidigemacht 
habe''. — „Wenn ich an Gott glaube, so tue ich es doch nicht 
wie ein Dummkopf (wie ein Fanatiker). Diese da wollen mich 
beldiren und lachen über meine Beschränktheit! Ihre dumme 
Kreatur hat sich ja nicht einmal von einer solchen Gewalt der 
Verneinung träumen lassen wie ich sie durchgemacht habe. Und 
sie wollen mich unterrichten!"*) 

Die Dichtung Iwans (der durchaus kein Dichter ist) von 
(Christus und dem Teufel in Gestalt des Oroß-lnqmsitors hat so 
sehr sein Tiefstes ausgesprochen, daß sich nun eine ähnliche 
Situation halluzinatorisch bei ihm wiederholt. Iwan Karamas(^, 
der Zerrissenste von allen Menschen Dostojewskis, konunt sp&t 
abend nach Hause und ein unheimlicher Herr tritt ein. Er er* 
zählt Iwan Dinge^ die dieser doch selbst einmal ersonnen, aber 
wieder vergessen hat, und eridirt dies damit, daß er noch unbe- 
wußte Regungen O^efanliche Wflnsche) verkörpere und aus- 
spreche. Dostojewski hat hier das Wesen des Doppelgängers 
und seine Identittt ndt dem Teufel voUkommen Uar erkannt» die 
Situation ist schon m der Jiigendnovelle angelegt und isi die 
glodie wie un „OroB-Inquisttor^, nur weniger groBartig, mehr 
grotesk. Anch dieser Teidd liebt die Menschen — „O, nun hat 
mich in viden Dfaigen unghuiblich verleumdet!" Der Doppd- 
gSnger erzahlt Iwan, daß sich auch drüben in der anderen Wdt 
alles wie in der Menschenwelt ändere — „was bei euch ist, ist 

Sämüiche Werke« 2. Abt, 12. ßd, S. 356. 



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140 



auch bei uns". Selbst die Höllenstraien haben sich entsprechend 
der allgememeii Milderung der Sitten gewandelt, sie sind mehr 
ins Geistige verlegt worden. (Nebenbei : hier setzt der Teufel die 
Theorie von der ewigen Wiederltunft der Welten auseinander, die 
also nicht von Nietzsche, sondern von Dostojewski herrührt.) 
Die Welt des Teufels ist so die Doppelgängerwelt des Meoscbea 
— und es stellt sich heraus, daß Iwan selbst alles das, was ihm 
der Teitfd vom Jenseiis erzählt, in seiner Jugend ausgedacht hatl 

Iwan ist ein so dämonischer Mensch, daß der von ihm hallu- 
zinierte Teufel Sehnsudit nach dem Önifbareii, dem Iidiscfaeny 
dem Dummen hat Der Teufel, der selbst remer Ceist ist; haSt 
und veradiiet den Oeist Er fieibt den irdiscfaen Raum ^ »»Hier 
gibt es Foimen, gibt es Geometrie — und zudem wente itk auf 
Eiden abeiigläubisch''. — Die höchste Schn^irmerei dieses 
Tenfds ist, sidi in einer sieben Pud schweren Kanhnannsfrau zu 
verkörpern und alles zu glauben, was sie glaubt, in die Kirdie 
zu gehen und einem Heiligen reinen Herzens ein Licht aufzu- 
stellen. F r hat sich gegen die Pocken impfen lassen und bekommt 
Rheumatismus, was ihn sehr freut. Man versteht die tiefsinnige 
Ironie: ein völlig dämonischer Arensch wie Iwan könnte nur in 
dem Allem ivialsten Rettunij vor sich selber finden. Denn sonst 
ist er allein mit seinem Doppelgänger, mit dem Teufel. 

Iwan, der scharfsinnige Skeptiker, weigert sich, den Teufel 
als et\vas Wirkliches anzuerkennen, und streitet mit ihm. „Du 
bist meine Halluzination, du bist die Verkörperung meines Ich, 
tibrigens doch nur eines Teiles meines Ich, meiner Gedanken und 
Gefühle, aber nur der niedrigsten und dümmsten. Keinen Augen- 
blick akzeptiere ich dich als reale Wahrheit! Lüge bist du, meine 
Krankheit bist du — nur weiß ich nicht, womit ich dich ver- 
nidden köaalbtV* — Und nun entwidcdt sich ein Oes|iiSch, ob 
der Oast wiridich da ist oder nichts ob Iwan wiildich an seine 
Eiisteaz glaubt, was der andere (scbeinbarl) sdir gern mödite 



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141 



(denn er ist so wdt wirklich, als er für wirklich gehalten wird) 
tmd was er zu beweisen untemimmt „Oibst du mir einen Fuß* 
tritt» 80 wflide mich das fceuen. Denn mein Zweck ist dann 
tmUM, du glaubst an meine Realitti^ — Aber Iwan: „Da bist 
idiy Icli selbst^ nur mit einer andemi Fratze. Du spricbst genau 
das^ was Ich adion bd mir denke. Da bist iibeifiaupt nicht 
hnstsnde^ mir etwas Neues zu sqgenl" — „Oerade die Heftig- 
keit, mit der du mich ablehnst sagt mir, dafi du trotzdem an mich 
glaubst!^ — Iwan leugnet es — aber in Wahrheit wimscht er 
heimlich, an den Teufel zu glauben, ihn für ein recht greifbares, 
wahrhaft spukendes Wesen halten zu können — wie lierrlich, 
ihm ein Tintenfaß an den Kopf zu werfen! — Das Schwanken 
zwischen Glauben und Nichtglaubeii ist die höchste Qual, deren 
Iwan fähig ist, die höchste geistige dämonische Qua! überhaupt 
— die Ungewißheit über sich selbst, über alles das, was die eigene 
Seele bergen mag. — Dostojewski hat sie genau gekannt 
(vergleiche die früher angeführte Tagebuchstelle). Und der 
Teofd weiß das, er im Gründe selbst gar keinen Wert darauf 
von Iwan für wirklich genommen za werden: „Ich lenke 
dich jetzt zwischen Glauben and Unglauben wechsdnd hin und 
her und verfolge dabei natiirlidi meinen besonderen Zweck." 
Die kleinste Gewißheit wSre ja Erlösung fOr Iwan — die soll er 
nicht bekommen! Und Iwan wirft ihm die Frage entgegen, die 
ihn seit jdier gemartert hat, er spricht den Zweifel aller sdner 
Zweifel aus: Ob Gott ist? (Man erinnere sich bei dieser Stelle 
an seine iirzählung von den sinnlosen Leiden, die manche Kinder 
erdulden müssen und die ihm mit der Existenz Gottes unverträu:- 
lich scheinen.) Der Teufel aber tut das Ärgste: er lächelt — „ich 
weiß es nicht!" — Und Iwan sehnt sich jetzt inbrünstig, daß 
wenigstens der Teufel sei. „Ich wünschte, daß er wirklich er 
wäre und nicht ich!" — Auch das wäre eine Gewißheit! — Das 
£>enken über das Denken — das Zweifeln! — , von dem der Oroß- 



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142 



Inquisitor gesprochen hat, beschließt seinen Zirkd — der um 
die ewigen Wahrheiten gerungen hat, vedällt dem Wahnsinn wie 
der kleine Beamte OoljädJdn — sie haben beide den Teufel 
geschaut 

Mit Iwan Karamasoff ist die äußerste dämonische Möglich- 
keit des rein geistigen Grenzmenscheii erreicht. In der 
Teufels-Erscheinung und im Groß-lnquisitor haben sich seine 
beiden (scheinbar entgegengesebcten, im Tiefeten aber iden- 
tischen) Möglichkeiten enthuUt: der Zweifel als die inneie 
Krafttoeigloät der Seele iind das Dogma» das ihn beadiwidi* 
tigen 8oU. Beide entstammen dem Unvermögen zur schöpfe- 
rischen Oewifihdt^ zur Freilieit; zum Olaitei an einen Sinn des 
Daseinsw — 

Neben Iwan dem Geistigen steht wie ein tkrlscher Doppel- 
gSnger sein HaEbbmder Smerdjäkolf Stinkende^*). Iwan 

beweist theoretisch, daß alles erlaubt sei, wQide aber als kraft- 
loser Zweifler nie etwas Unerlaubtes ins Werk setzen. Der Lakai 

Smerdjäkoff nimmt alle seine Gedanken auf und versteht sie — 
genau wie der Teufel! — in seiner Weise. Er führt den Mord 
am Vater, den heimlichen Gedanken Iwans, wirklich aus. Die 
moralische Verantwortung^slosigkeit, die Iwan theoretisch ver- 
tiitty ist bd ihm zum völligen Verbrechertum geworden. 

4. 

Bevor wir in das Reich Dostojewskis weiter eindringeOf 
maß noch einiges fiber die Psycliologie des Ver- 
brechers nnd sein VeihSltnis zmn dämonischen Menschen 
gesagt 'werden. Für den Psychol<^gen ist natfiriidi noch kein 
Verbrecher, wer mit dem Strafgesetz in Konflikt geiit Mancher 
win sich Vorteile verschaBen nnd nimmt es dabei mit Ehrlidikcit 
nnd Treue nicht allza genau ; er ist wohl nachsichtig und schwach 
gegen sich selbst, steht aber durchaus nicht auf der Seite des 



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143 



bösen Willens, sondern drückt nur hin und wieder ein Auge zu, 
will sich selber mit Auiregung oder Betnmkenheit tauschen — 
kurz er tut, was er vor seinem klaren Bewußtsein zu vertreten 
nicht den Mut hat. Oft genug- versäumt er auch nur, bei den so 
komplizierten T ragen von Mein und Dein den Faktor des Straf- 
g-esetzes mit in Rechnung zu ziehen — wodurch er sich zu 
seinem Schaden von dem klügeren Spekulanten unterscheidet 

Psqfchologisch ist der Verbrecher derjenige, der sich seinen 
InaHnktm nach Lust und Herrschaft hingibt, ohne auf andere 
Ataiachen und auf sein eigenes besseres Bewußtsein Rücksicht zn 
nehBMQ^ der die Partei seiner Instinkte eigrifien, den Kampf mit 
dem Höheren au^jenommen hat und in trotzigem Haß oder in 
ioater Oberlcgenheit durchführt Dieses Negative der Oeeinnwig 
macht den Verbrecher aus und kann ihn zum dämonischen Men- 
schen aieigem, der Mw Ueinlichen mid sdbstsflchtigen Zwecke 
mehr verfolgt, der das Böse ins rein Geistige erhoben und sozu- 
sagen von allem Zufälligen und Nichtigen gereinigt hat. Den 
eigentlich Dämonischen leitet nur noch der Wille zur Zerstö- 
rung, der sich gegen die Menschen, gegen alles Heilige und gegen 
sich selbst wendet. Eine deutliche Grenze zwischen dem Ver- 
brecher aus Schwäche und Begier und dem dämonischen Ver- 
brecher besteht selbstverständlich nicht; diese Scheidung ist 
schematisch, in der seelischen Wirklichkeit durchdringen sich die 
Motive, ohne zur Klarheit zu kommen. 

Weininger hat eine tiefe Psychologie des dämonischen 
Verbrechers gegeben. Er faßt ihn als den Menschen, da aller 
Freiheit entsagt hat, m dem der Witte zum absoluten Funlctio 
naliamus besteht^ der auch in der Welt nicht» Freies ertnigen 
lomL „Weil er auf aUes vendditet hat» darum ist der Vetbrecfaer 
stets FataUst und der wirkliche Fatalist immer ehi Veibrecher (na- 
tfiilich of^ ohne ea zu wissen; der Veitrecher weifi ja doch nie^ 
das er ein Vert>recher ist; er fühlt es nur dumpf). — Würde er 



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144 



noch woUoi, 80 wfinfe er sUk Hiebt giazUdi dufd» Sdudna! 
ffbaodm ballen."*) — Der zuerst erwähnte schwache^ nicht 
eigenflidi pemne Mcnseh kann die Strafe als aein gebührendes 
Teil, fa als Beruhigung empfangen, er kann aus ihr die Ubtemde 

Kraft schöpfen, die langsam in seiner Seele aufhebt und sühnt, 
was ihr doch innerUch fremd, was nur aus Schwäche zur Herr- 
schaft gekommen ist, so daß er eine Reinigung und Wiedergeburt 
erleben mag. Ja es ist möglicli, daß auch die Todesstrafe mit 
Befriedigung hingenommen wird (gibt es doch einen Selbstmord 
aus Reue). — Aber für den echten Verbrecher hat die Strafe gar 
keinen Sinn; er wird einfach von einer physisch stärkeren Gewalt 
unterjocht, er t>eugt sich innerlich nicht, er ertilgt die Strafe 
veistockt, in Haß und Stumpbinn. 

Der Hang, etwas Böses» eine Tat des Hasses zu voUbringen, 
ist als Anlage in vielen Menschen (nach Kant im Menschen über- 
haupt) vorhanden, virinl aber durch hinreichende Hemmungen 

niedergehalten. Die Freude an blutigen Schauspielen ist eine Ab- 
leitung vom Tun ins Schauen, das Aushecken von Kriminal-Ro- 
manen und Schauerstücken eine Ableitung von der Wirkiichkeit 
in die Phantasie. Diese Sinnesart enthüllt sich femer in Hand- 
lungen, die mehr symbohsch als real gemeint sind, so in der Zer- 
störung von Kunstwerken, in der Besudelung von Heiligtümern, 
im Königsmord Die Ermordung eines Königs, den der Titer 
gar nicht persönlich kennt und von dessen Tod er nicht den ge- 
ringsten Nutzen fär sich erwarten kann, drückt (ein wenig an- 
alpbabetisch) den ungeheuren HaB gegen alle Ordnung, gegen 
die Idee des Gesetzmäßigen aus, das im König sichtbar ver- 
körpert ist Koch mehr die Zerstörung eines Heiligtums (an das 
der Täter natfiriicfa glauben mufi). Denn diese Handlung richtet 

*) „über die letzten Dinge" S. 115—121. — Das Gefühl des FntaüS' 
mus wird im Abschnitt über den Schicksalsmenschen noch eingehender 
besprochen werden. 



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U5 



ach gegen Gott, gegen das Gute selbst, in ihr identifiziert sich 
der Tater mit dem Urfeinde der Welt — der Roman dieses 
Menschen ist noch nicht geschrieben worden. — Hier li^ eine 
Clenze des menschlichen BewuBteeiiu» von der es «nmitteibar in 
den Wahnsinn hincingefat — 

Die Oeshiming, die em Verbfcchcn hovoriningt, ist aber 
doch sdtr veiadiieden: euifadi verbrecherisch, pathologisch oder 
dimonisch. Ich will dies an cuieoi Beiqriel erläutern und sehe 
dabei yon den psychologischen Nuancen, von Jihzom» Auf- 
regung und ahnlichem ab; nur die SfeHnng der Scde zn i h r er 
Tat soll betrachtet werden. Wer einen Mord begeht und noch 
nicht das Let>en und das Sein schlechthin haßt, dem wird im 
Augenblick der Tat eine Entschuldigung auftauchen und sei sie 
noch so sinnlos. Er wird sich etwa zurufen : Dieser Mensch ist 
wert 711 sterben! Er hat mich soeben mit einem Blick angesehen, 
der mir den Tod wünscht! Würde ich ihn nicht töten, so tötete er 
mich.*) Schnell noch einen Stich, damit er Iceine unnötigen 
Schmerzen leide! — Der pathologische (Lust-) 
Mörder wird hn Augenblidc des Moides die völligste, reinste 
Obereinsthnmung mit sich selbst fehlen — Endlich! Endlichl 
Er wird in Wollust zitlem und wird erleidiiert aufatmen, weil 
eüi Alp von ihm gewichen ist. Ja, er kann ausrufen: Gott sei 
Dank! — Er braucht keine Entschuldigung vor sidi selbst, denn 
nichtsist hi ihm, was nicht ehiverstanden wäre. — Der abso- 
lute Verbrecher empfindet keine Lust bei seiner Tat — 
nur Haß. Er verübt sie wie etwas, das sein muß, kalt und viel- 
leicht mit dem Drang, einen Augenblick seine Verzweiflung los- 
zuwerden. Der Mord ist für ihn die ein/ijre angemessene Be- 
«häftigung — wie der Fluch die einzige angemessene Rede — 
wenn er überhaupt imstande wäre, etwas zu tun, etwas zu sagen i 

Geradeso wie ein Staat immer moralische Qrfinde hat, tvemi er 
dnen amleni ansplfindeni wilL 

Laefc«» OrMMi im Sed«. 10 



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146 



Denn in der gleichgültigen Stumpfheit des vollkommenen Ver- 
brechers hat sich das Böse sozusagen selbst aufgehoben, es ist 
absolut kraftlos, es kann nicht einmal mehr Atem schöpfen — 
Smerdjäkoff erhängt sich, ohne jeden Grund, in voUkommener 
Verdrossenheit 

Es gibt zwei Brennpunkte alles Wertvollen, zwei höchste 
Möglichkeiten, das Wertvolle zu denken: als Seele des Men- 
schen und als objdrtiv ideell»i (platonischen) Wert. Und 
entsprechend diesen beiden Wertzentren gibt es auch zwei Mg* 
lichkeltea des Wcrthasses: der gegm den Menschen gerichtelie, 
der hn Moide stpfdt — und die ZentOntng objddivcr Werte. 
Vielleicht tritt der dämonische Wille idner, desttUierter henror, 
wenn er sich gegtn Ideelles wendet; sber für den natfiriichen 
Insthikt ist die Eimonhuig ehies Menschen doch das Entschei- 
dendeie — und durch sie wird ja auch wiildich die Möglichkeit 
weiterer Wertschöpfung aufgehoben. — 

Dostojewski hat sich wie kein anderer mit dem 
Verbrecher beschäftigt. Fast in allen seinen Romanen wird 
die Handlung durch ein Verbrechen in Schwung gebracht, seme 
Psychologie des Verbrechers ist nicht zu überbieten Für ihn 
ist der Verbrecher der Mensch ohne Liebe (das lieißt ohne das 
Gute), und weil Dostojewski glaubt, daß der Russe nie ganz lieb- 
los und gottlos werden kann, glaubt er auch, daß der russische 
Verbrecher (im Gegensatz zum europäischen) nie vö\\\^ ins 
Böse versinkt, sondern immer noch einen Funken Gottesbewußt- 
sein m sich tfW, der wieder aufleuchten kfinne. Und f fir diesen 
Vefhiecher ist die Strafe nichts Feindseliges^ sondern eine Wohl- 
tat» die nuui ihm gewihren muB, die er — wenn er noch nicht 
ganz verloren ist — als Sühne empfindet und mit deren Hilfe er 
seiner Schuld ledig werden kann. Ihn für krank und unverant- 
wortlich anzusehen und seiner Strafe zu berauben, scheint Dosto* 
jewski grausam und gottlos. Denn das hieße, daß der Ver- 



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147 



brecher kein Mensch mehr ist, sondern eine Sache, etwas Totes. 
Von seineni ethischen grenzmenschlicheii Standpunkt aus wftre 
dies eine so schwere Belddigaog gegen das Tiefste, das Hei- 
ligste im Menschen» daß man es auch dem ganz tierischen Ver- 
brecher nicht znfQgen darf. yiWenn man den Mensdien von 
jedem Fehler der gesellschafilidicn Ehirichim^gen fOr abhingig 
erklirt, wie es die Lehre vom Milieu tut, so fährt man ihn zur 
voUsündigen UnpenfinHchkrit, enibhidet Ihn von jeder peiaön- 
lidMtt sitüichen Pflicht, von jeder Sdbstindigkieit wid bnögt ihn 
m die gr&ßte Knechtschaft, die man sich nur denken lourn." — 
Dieser Gedanke kommt mehtmals bd ihm vor, besondeiB hn 
„Idioten". Der Vcibrecfaer soll als Vobrecber aneikamrt^ das 
heißt, er soO auch in diesem, sehiem bösen Willen ds efai sich 
selbst Bestimmender geachtet werden und die Strafe erdulden. 
„Die Strafe bedruckt nicht, wie man meint, sondern sie erleich- 
tert. Selbstreiniguncr durch Leid ist leichter als das Los, welches 
man ihnen bereitet, wenn man sie vollkommen freispricht.***) — 
Den Verbrecher für unverantwortlich erklären, heißt: ihti in deii 
Abgrund stoßen. Maii läßt ihn mit seinem Verbrechen allein 
und gewährt ihm, der sich selber nicht zu helfen vermag» keinen 
Beistand. 

Diese Auffassung ist tief menschlich, sie zeigt das wahie, das 
dostojewskische Mitleid, das nicht ins Dogmatische gewendete 
SentuneniaUat ist wie das Mitleid Sch<qienhauei8, sondern auf 
Ehrfurcht vcur dem Mensehen, wie er auch hnmer sei, beruht Als 
echter Mystiker ist Dostojewski von der Unzulänglichkeit 93kB 
nur Rationalen tief durchdrungen, und er fiat dieser Obeneugung 
besonders üi der unvei]^higlichen Ocslalt des Idioten cm Denk- 
mal gesetzt: vor sehier ehifachen und ehifUtigen Wahrhaftigkeit 

*) S. W. 2. Abt. 12. Band S. 2Q7, 300. „Das Milie;!". Man wird 
nicht vergessen, daß Dostojewski )ahre lang als gewöhnlicher Sträfling in 
Sibirien gelebt hat Sein Wort gilt mehr als das anderer. 

10* 



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fällt aller Geist, alle Klugbät — und alle Boahät dahin. Der 
ganze Haß, den Dostojewski gegen Europa empfindet, geht 
dann! zurück, daß die Kraft Europas im Denken, in der Wissen- 
aduStt kniz im RationaHamns bendit, wihiend der vmM» 
Mensch auf das Gefühl und die Religion gestelit ist Enropa 
tnSbk muner cnlsdiiedener der poattivisiKhen Nttblichkeil»- 
moiai zu, die gut und bte nur hn Same des mittleren Menschen 
ab sozial nützlich und acfaldlich gelten Iftfit und alles Tiefere 
aoBschdten möchte. Dieser Wille hat das Bestreben bervocge- 
bracht, das Böse und Verbrecherische nicht mehr als eifaisdi, als 
frei gelten zu lasseji, sondern determiniert, als Krankheit und Ab- 
normität zu betradiien und als schädlich zu beseitigen — kurz 
die Selbstverantwortlichkeit auszuschalten. Der Verbrecher soll 
dieser Oefühlsweise entsprechend niciit einer Sühne zugeführt, 
sondern nur für die Gesellschaft unschädlich gemacht werden — 
hier siegt die echteste Tendenz unserer Zeit, die Dostojewski so 
grimmig geliaßt hat, ihre Tendenz zum Mittleren, alles Aus- 
gleichenden; und dieser Standpunkt ist der einzige, der sich mit 
der konsequent wissenschaftlichen Weltauffassung verträgt. Wo 
man ihn nicht teiU; bedeutet das eüie UnvolliEommenheit im 
wissenschafitich-positivhrtischen Wdftild. — Demgegeniiber ist 
Doeh^ewsld der entschiedenste Vertnter der mdividuellen Moral, 
der das Oute (die liebe) ab das an und fiir sich WcdvoOe gilt 
und die den VeibRcher nicht utilitarisch tOtet, sondern (wenig- 
stens ihrer Absicht nach) der Liutenmg zufährt Dostojewsld 
will ach die UiigegensStze gut und böse nicht zum Mittleren 
nivellieren fassen. — 

Am großartigsten ist dieser Zwiespalt zwischen dem Ratio- 
nalismus (der natürlichen Position des Mittelmenschen) und dem 
Mystizismus (der Überzeugung des Grenzmenschen) in ,,Ras- 
kolnikow" behandelt, dessen Vorwurf an seelischer Bedeu- 
tung nicht mehr übertrofiea werden kann. Raskolnikow ist im 



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Tiefsten Mystiker und Grenzmensch, wird aber von seinem 
großen Verstand g^eblendet und wirft sich dem Rationalismus 
Europas in die Arme. Er stellt die logisch einwandfreie hrwä- 
giing an, daß vom Standpunkte des Nutzens für die Menschheit 
das Leben eines hochbegabten jungen Menachai wertvoller sei 
als das einer allen btearligen Wucherin, wenn die Alternative 
eintritt Dk modenie Wdt Idirt ja, daß das weifloane Leben 
Platz machen mflsae, damit das jüngere, gesündere^ wertvoUere 
Raum finde zu seiner •Entfattniig. Und dieser Oedanliengatig ist 
in kultuieUen Sinn dnfcbans berechtigt, weil ja der Wertvolle 
mehr zu leisten vennag als der Wertlose. So ist Raalcotaiikow Re- 
formator, er versieht seine Tat als notwendig, als geboten, sein 
persönliches Problem erweitert sich zu der Frage nach dem Wert 
der Menschenseele und dem Recht des Ausnahmemenschen Ras- 
koiniliow, der europäisch Gebildete, stellt alle diese Erwägungen 
an und nimmt damit Nietzsche vorweg — indem er ihn auch 
schon überwindet. 

Nietzsche hat ja theoretisch mit der „Herrenmoral" nichts 
anderes leliren wollen als RaskoUiikow: Der höhere, der stärkere, 
der geistige und Inilturbewußte, kurz der Ausnahmemensch hat 
auch das Recht auf eine Attsnahmcmoral, die mit der aUgenehien 
nn Wideniiruch steht und also von ihr als Veclncchen emp- 
fundnwtrd. Hierbei Ist Niet29che sIehengebUeben; Dostojewaß 
aber geht onveigleichlich tiefer; er führt im Raakofaiikow diese 
ganze Oedankenreihe sowohl theoretisch als auch In geachauter 
Wixidichkett zu Ende und zeigt achlieBUch ndt der zwingenden 
Kraft seiner Genialitit: daß es solch eine Ausnahme nicht gibt, 
daß der Mensch schlechthin das Höchste und das Emzi^^e ist, 
daß die Unterschiede der Menschen hinschwinden vor der un- 
geheuren einmaligen Tatsache: Mensch. Keine Dichtung der 
Welt bnngt ein gleich großes Problem zum Leben; auch im 
„Faust*' handelt es sich nur um das, was der Mensch auf t:rden 



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wollen und leisten kann — nicht aber um das Mensch-Sein fiber- 

haupt; das ist schon durchwegs vorausgesetzt In „Raskoini- 
kow" aber wird dieses letzte Problem gestellt — und gelöst: die 
Frage nach Wert und Sinn des Menschen. Raskolnikow ist der 
Hochmütige, der auf seinen Geist pocht; und er erfährt endlich 
die Unmöglichkeit einer Ausnahme, er geht tragisch an dem 
Ldzten zugrunde, vor dem alles andere hinschwindet: daß der 
Mensch an einem metaphysischen Sein teil hat, daß im Meeschen 
angesichts der Ewigkeit etwas Höheres, allen Identisches, üt>er 
die Verschiedenheit Hinaiwagendes lebt Nur noch die ewige 
SteUtmg des Menschen (nicht dieses oder Jenes Mcnscfaen!) 
zum Sein tuid zu Oott bleibt fibrig. Hat Raskolnikow zuent 
afgiimentieft: »»Wer fest und staik im Willen ist, tr«gt über die 
Mensdiheit den Sieg davon; wer auf die Menge henbsacbt, ist 
ihr ein Oeaetzget)er. Und wer mehr als andere wagt, ist ge- 
rechter als sie^ so erteont er sdiließlich: „Habe Idi die Alte 
wirklich gemofdet? Mich habe Ich gemordet, nicht die AUe! Es 
war nur ein Augenblick, aber ich habe mich gemordet auf Ewig- 
keit. Die Alte hat der Teufel ermordet, nicht ich!" (Dasselbe sagt 
Dmitri Karamasoä auf die Präge, wer denn seinen Vater er- 
schlagen hätte.) 

Raskolnikow steht von Anfang an nicht auf dem pnnntiven 
und naiven Standpunkt des Stärkeren, der sein Opfer überwältigt; 
er macht sich viehnehr sein Recht klar, so zu handeln. Dem 
Untersuchungsrichter gegenflber stellt er die Theorie auf, daß 
einer, der die Mcoscfahät weiterbringt, auch Verbrechen begehen 
dfiffe^ aber nur soweit sie zur Ausführung seiner höheren Ideen 
notwendig sind Das bewufite Idars Denken güt ihm (ganz un 
Sinne der europäischen Wisaenschalt) als das einzige Sichere 
und UnanlBchtbaR^ Oclilhl und Ahnung läßt er nicht gelten, 
und sdn Bemfihen ist nur» den begangenen Mord als beieditigt 
m diesem soosialen, guten Sfauie nadizuwciaen. Denn er «III 



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kein g:emeiner Verbrecher sdn, soiidern ein Mensch, der das 
höhere, das kommende Recht für sich hat. lir kann daher seine 
Tat vor sich selbst nur aufrechterhalten, wenn er ihr eine höhere 
als die bürgerliche Gesetzlichkeit zuspricht, er ist wohl Ver- 
brecher gegen das Gesetz der alltäglichen Menschen, aber ge- 
recht vor dem Gesetz des höheren Menschen, der die Zukunft wiikt 

Dies ist die Position Raskohiikows in seinem eisien Sta^ 
dium. Aber dann s«gt er zu Sonja: „HMe ich mich aHem des- 
halb zu der Tai venhmden, weil ich hungitg gewesen bm — er 
betonte jedes seiner Worte und schaute sie mit rätselhaftem, aber 
oflenem Blidc an — dann würde ich sagen, ich sei gUkÜichl 
Verstehst du das?" — Das hdBt nichts anderes, als daB Ras- 
kolnikow lieber ein gewöhnlicher Raubmörder sein möchte als 
einer, der sich über alles Menschliche hinaus vermessen hat; zu 
erschlagen, weil man Hunger hat, ist noch immer menschlich, 
meint er. Aber was ich getan habe, ist teuflisch, denn ich habe 
prinzipiell alles Mensciiliche in mir selbst zerstören wollen. 
Seine Tragik enthüllt sich als Kampf eines nicht ganz erfaß- 
baren Mystischen mit dem rationalen Tagesbewußtsein, und er 
kommt langsam zu der Einsicht, daß alle die klugen Erwägungen 
hinfiUUg sind vor einer Gewißheit, die den Wert des Menschen 
veikfindel^ auch wo dieser Wert wie bei der alten Wucherin iddA 
ehizuaehen ist Dieses Msrslerium aber ist die Liebe, die Ras- 
kohiilcow zugunsten von vetstandesmABigen Eiwigungen hi 
sich vernichtet hat. Mehie Tat, erisennt er nun, ist eine Tat des 
Hasses und der Zerstörung gewesen. 

Es ist Dostojewskis OrundOberzeugung: Aller Geist, aller 
Heroismus, alle Größe sind nichts vor der ewigen Liebe (was 
ja auch am Ende des Faust ausgesprochen wird). — Zuerst hat 
Raskoliiikow nur nach Schlüssen gehandelt und gar nicht eigen- 
süchtig : ein begabter junger Student ist mehr wert als eine un- 
nütze und sogar verderbliche alte Blutsaugedn; das Sdilechte 



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soll untergehen, damit das Gute lebe. Dies ist konsequent im 
Sinne des modernen europäisctien Raticmalismus und ganz im 
Oeist Nietzsches. Die Förderung des Lebens gilt hier 
als höchster Wert — für Dostojewski aber der ewige Sinn 
des Lebens. — 

Kaum einer im letzten Jahrtausend — Meister Eckehart aus- 
genommen — hat vor Dostojewski verstanden, wie wenig cfie 
Tat selbst ist Immerfort räsonniert Raskolnikow — und mit ihm 
der Ventand Europas — dafi seine Tat nidiis Böees^ sondern 
eine böheie Notwendigkeit gewesen sei — so will er atdi von 
seiner Seele alizielicn. Er ist ununterbrodien damit iieaditfligt; 
den JMord für sidi seM und aUgemeinrilieoietisdi zu redift- 
fertigen — und beweist damit^ daB er im HcfBien doch nicht für 
ihn efaitielen kann. Denn alle Klugheit und Spitzfindigkeit dtent 
ihm nor dazu, die Inncie Sümme zu fiberttidMn. Weder die Tat 
noch die logische Motivierung kommt ja m Betracht — sondern 
ihr tiefster und gefadmsler Shin. Das Tiefste in Raskolnikow Ist 
aber nicht Verstand und nicht Verbrechen — es hat sich nur vom 
Verstände zum Verbrechen überreden lassen. Und gegen dieses 
sein Tiefstes hat Raskolnikow gehandelt. Nicht weil geschridjen 
steht: Du sollst nicht morden, ist er ruhelos, sondern weil er im 
Innersten den Mord gar nicht will, weil er von diesem Verstandes- 
menschen — diesem Napoleon, wie er sagt — immer nur faselt.*) 

„Glaubst du denn, daß ich hing^angen bin wie em Dumm- 
kopf aufs Geratewohl ? — Nein, wie ein Kluger bin ich hinge- 
gangen und gerade das hat mich zugrunde gerichtet. — Und 
wenn ich die Frage stellte: Ist der Mensch eine Laus? — so ist 
erlfirmich schon kerne Laus mehr gewesen, das ist er nur für den, 
dem das gar nicht in dm Sinn kommt, sondern der einfach hin- 
geht — Wenn idi mich schon so vide Tage mit der Frage 

*) über den Verstandesmenschen wird im siebenten Abschnitt nocfaxu 
sprechen aflki. 



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gequält habe, ob Napoleon hinginge oder nicht, so habe 
ich ja schon deutlich gefühlt, daß ich kein Napoleon bin.** — 
Hi€r ist alles i?esa^: Der Instinkt ist unproblematisch, der Ver- 
stand ist aber nichts als der bewußt gewordene Instinkt des 
Tieres, der sicher durchs Leben iuhrt. Der Instmkt-Verstand 
weiß, daß das Stärkere auf Kosten des Schwächeren lebt und 
also auch leben darf — die Formulierunp^ des natürlichen Kampl- 
ums-Dasein-Iiistinktes. Probleme gibt es da nicht, Widersprüche, 
die nur gedanklich sind, können auch wieder in Gedankm auf- 
gelöst werden; denn alle wahre Problematik fängt an, wo das 
Tiefere im Menschen Bedeutung gewinnt, das übers Animalische 
hiiunmidit und nicht mehr nach Nutz« und Schaden fn^ 
wo der biaünkt imd damit der Verrtand in Fiag^ feateUt wird. 
Und an dieMm Tieferen, am Religitan gelit RaakobUkow zii^ 
gnmde, weil hier die Scheinbarkeit seüier Verstaiideaenviguiigen 
licimlich zcnetzt worden ist.*) 

Noch die Sträflinge in Sibirien werfen ihm entgegen: „Du 

bist ein Gottloser!" — Das heißt; Du bist ein europäischer 
Rationalist, kein Russe, kein Mystiker! — Denn nach Dostojewski 
ist auch der letzte russiche Verbrecher gläubige, weil er nicht 
in der europäischen Atmosphäre des bloßen Verstandes lebt. Er 
erkennt das Höhere an, wenn er es auch nicht zu erfüllen vermag. 
(Sc^ar der berufanäßige Mörder Fedyka in den „Dämoocn" — 
nicht aber der europäisierte Peter Werchowenski.)**) 

Raskolnikow ist weder gut noch im Tiefsten böse. Immer 
wieder atellt er sich dämoniach auf adten aeines großen Vcr- 

' *) Der Gedanke, daa nur der Inellnkt (der Veisland) unbesdiwert 

handeln könne, ist von Dostolewsld in der kurz«! Erzihlune „Aus dem 
Dunkel der GroSstadt" noch besonders durchgeführt worden — Weil 
Raskolnikow ein Erkennender, efn Grübler ist, darum bleibt ilim (rein psycho^ 
logisch genommen) die Tat eigentlich immer etwas Unorganisches — er 
mul an ihr zugrunde gehen. 

♦*) Zu dieser Psychologie des Russen kam Ich nicht Stellung nehmen. 



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Standes und schließt sich gegen das Chirchbrechen des Innern 
und gegen das Bekenntnis seiner Tat ab, wonach doch das Gute 
in ihm schreit. Er hat diese Tat niemals verdauen und wirkUdi 
zur dgenen macheu können, sein Tiefstes hat immier wider- 
sprochen, und darum hat der Mord stets als etwas Fremdes in 
ihm gelebt und ist ihm 7ur Wahnvorstellung^ geworden, l- r sucht 
die Stelle seines Verbrechens auf, er muß mit dem Untersuchungs- 
lichter nöm, er unterwirft sich dem Einfluß Sonjas — alles Re- 
gungen seines tieferen Selbst gegen seinen Verstand! „Kein 
Mensch mit böflem Oewisaen kann das Schweigen ertragen/* sagt 
KieilDegaanl *). — Und doch venn^ die dSmoniecfae Kraft des 
Trotzes hi Raskolnikow bis zunr Schlüsse das Ccständois und 
damit das neue Leben niederzulialten. Denn er furchtet das 
Gule^ das ihm üi Sonja entgegentritt Ihre tiefe einfiltige Liebe 
versieht RaakofaukoWy sie ist die Stimme sehier eigenen Freiheit. 
„Sie haben sich von Gott entfernt und Oott fiat Sie dem Teufel 
übergeben!" Mit aufgehobenen Händen steht Sonja da und jagt 
ihn zum Bekenntnis — du mußt deinen Hochmut beugen! Du 
mußt von deiner Verstocktheit lassen und dich dem Guten zu- 
wenden! Bereue? (Denn die Reue ist die innere Wendung, die 
das Böse als Sünde erkennt.) Und Raskohukow ^eht hin mit den 
Worten: „Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich selbst an- 
gebe." — Sein Verstand, das „Wissende" m ihm» findet keinen 
Grund — und doch tut er es."^*) 

Der Schluß ist das Glaubensbekenntnis dessen» der von der 
Dimonie zur huieicn Freiheit aufgestiegen ist, der Verbrecher 
sein lann und Heiliger, aber nicht Mittetanensch. Noch muKr 
ist Raafcohii|[oiW8 Trotz nicht gebrochen: da sieht er drauBen 
im Felde Sonja stehen, die ihm nach Sibirien gefolgt ist und 

*) Der Begriff der Furcht S. 126. 

**) VgU Wolliwki, Das Buch vom groBai Zorn, Hrankturt 1904^ Soite 

191-192. 



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schw^end zu den Fenstern des Spitals limblickt — die jähe 
Umwendung tritt ein, ein Sprung, würdig des Genius, kein all- 
mählicher Obelgang! — Raskolnikow sinkt weinend ins Knie^ 
das Mjrstefiiun der Liebe hat über den Veratauid gesiegt. 

Vor dieaem Werk dSmoiert alle psychologisdie Kunst der 
Wdt; «fo größte Tragfidie ist daigtttellt und vollendet: der 
Kampf des Ewigen im Menschen mit seinem Irdiadien und die 
Uaie Auflflaung des tragischen ProbleniSw Dosipjewaki, der attes 
Menschliche kennt wie kein anderer, verkfindet hier die mystische 
Liebe, die sich mit dem Verstände nicht mehr fassen ISBt. Der 
Zerrissenste aller Menschen hat die höchste und reinste Erlösung 
gefunden, hat, was der Sehnsucht l austais unerreichbar bleibt, 
vollbracht — 

5. 

Weil tur Dostojewski die Litbe das eigentlich Positive und 
Gute verkörpert, darum ist ihm der dämonische Mensch und der 
Verbrecher der Mensch ohne Liebe. Unglück und Laster ent- 
stamdien dem Haß und der Absonderung. Nur in der Liet>e zur 
Menschheit, in der völligen Einheit mit ^lem Menschlichen sidit 
Dostojewski die wahre Auflösung jedes Zwiespaltes. Dieser Ge- 
danke wird in der Lebenagesduchie Sossimas ia^Dit Bruder Kara- 
maaoll'*) durchgeführt , Jeder möchte m sich aelbat die FüUe des 
Ldxns erfafaraiy indessen ecgibt aicfa aus seinen Anstrengungen 
nicht die Ffille des Lebens» sondem vollständiger Selbsänoid, 
statt Selbstbestimmung voUsündige Isolierung. Alle sondern 
sidi in unserem Jahrhundert zu emzehun Existenzen ab, jeder 
isoliert sich in seiner H611e, jeder entfernt sich vom anderen usf.'* 
— Der Gipfel der Isolierung, der Entfremdung seiner selbst vom 
Nebenmenschen wäre aber: ihn zu vernichten. Und daher mußte 
sich für Dostojewski das Problem des Bösen immtr wieder unter 
dem Bilde des Mörders darstellen, des Men.schen, der alle Ge- 
meinsamkeit und Liebe am entschiedensten aufhebt. 



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Ein völlig verschlossener und seelisch toter Mensch ist 
Stawrojrin, der Held der „Dämonen". Äußerlich eine schöne 
Mannonnaske, eine Leiche, geht doch gerade von seiner völligen 
Gleichgältigkeit gegen alle Menschen und gega sein dgson 
Leben ein unbegreiflicher Zauber aus; der haltlose anarchistische 
Verbrecher Peier Weithowenski (der Verbrecher als Brandstifter 
und Revolutioidr!) sielit in Stawrogin sogar den neuen Kaiser, 
den Herrn des teuflischen Reiches (analog dem Reiche^ dss der 
OroS-Inquisitor ai^gn^tet hat). Der Zusammenhang zwiacfacn 
dem Verbrecher und dem Despoten leuchtet ein. — Stswrogin 
ist absolut fOhllos^ einmal hat er sidi ohne den geringsten Onmd 
mit einer Schwadisinnigen verbebatet, nur um die Undnirigleit 
alles Geschehens höhnisch zu betonen. „Er kennt keinen Unter- 
schied zwischen irgendeiner tierischen Handlung und einerlei 
welcher Heldentat." (I. 368.) — Er ist ganz furchtlos, weil er 
innerUcb tot ist, ein Wüstling, aber ohne Freude und Elan, nur 
aus Langeweile und Haß gegen alles Sinngemäße und Wert- 
volle. Er hat auch die Zeugungskraft, das Schöpferische, das 
Positive auf physiologischem Gebiet eingebüßt Diesem W&- 
brecher, der ganz Materie geworden ist, bleibt nichts übrig, als 
seinen Ldb langsam im Trunk zu asenlören oder sich in einem 
Augenblick des Eliels — wie Stawroghi und Smercijiltoff — zu 
ertiangen.*) 

Es gibt drei Arten des Selbstmordes: die eine — 
und sie ist bei weitem die häufigstem ~ erioennt die Wdt in ihicm 
Sein durchaus an, der Lebensuberdrüssige findet aber seine per- 
sönliche Lage so unerMiglich, dafi er sie anfhetit und dadurch 

*) Vgl. über Stawrogin die ausgezeichnete Analyse bei Wotynski 
S.5--S8. — Dostofewdds Hafi gegen Rtvolulioii und llihOlMiiuSf öm aus 
den HDimonfln" und ans sebim poHUsdifn Schriftm spricht, ist der HaS 
gegen das Zerstörerische fai Ihm saUMt, eine Protektion des innefto Kanp' 
fes ins tozlale Leben. Daher Ist er «Iteektionir" gewesen. 



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das allgemeine Leben enflasiet. So paradox es klingen mag: er 

begeht vor seinem eigenen Gefühl keine zerstörerische, sondern 
eine erhaltende Tat, er schneidet einen kranken Teil der Welt 
aus, der nicht länger mit dem a!lg«neinen Sein zusammen be- 
stehen kann. Dieser Selbstmörder gleicht dem Chirurgen, der, 
um zu heilen, tötet, weil dem Leben nicht mehr anders zu helfen 
ist — Ihm steht der andere gegenüber, der nicht nur eine mehr 
oder weniger zufallip^e Form des Lebens, sondern das Leben 
überhaupt, die Tatsache der Lxisten? verneint. Hier bedeutet 
Zerstörung der eigenen Person Weltzerstörung : Der Haß g^en 
alles Bestehende ist so mächtig in ihm, daß die Vernichtung 
seiner ^bst nur Symbol der Vernichtung überhaupt ist. Wäh- 
rend (kr erste Selbstmord der Bedürftigkeit des Menschen ent- 
springt, ist dieser — wohl außeronlentUch seltene — eine Tat 
des dimooisdm Hasses^ des Trotzes^ der sich am UnmiAel- 
bmten und Positivsten vefgreift^ was jedem Mensdicn zu Ge- 
bote stefai^ am eigenen Leben. — Aimltdi wie dkse Tat, die das 
eigene Idi als Repfisentaalen alles Seienden vemiditet, kann ein 
Attentat, ein sinnloser Mofd gemeint sein (dem eventuell der 
Selbsimant folgt), und auch der Trieb, Lebendiges zu quälen, 
Wertvolles zu zerstören, nur weil etwas bestellt und daher zu- 
grunde gehen solL Dieser dhnonische Wille ist mit dem Sadis^ 
mos verwandt; aber nieht dmnchaus Identisch. — Die dritte Art 
des Selbstmordes — der Selbstmord Stawrogins — ist keine 
eigentliche Tat, sondern nur ein Oberhandnehmen des allge- 
meinen Lkels und der Gleichgültigkeit, er hat überhaupt keine Be- 
ziehung zum Sein, er ist eine Reflexbewegung, ein Zu-Ende- 
Gehen, das zufälligerweise und nur scheinbar aktiv l)eschleunigt 
worden ist. Die positive und die n^ative Stellung zum Leben 
wird durch die indifferente (die eigentlich Mangel einer Stellung- 
nahme ist) ergänzt. — 

Gegenüber der Isolierung, die für Dostoiewski Trotz g^gen 



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158 



< 



das Leben bedeutet» verlritt Sossima das andere Extrem des 

Grenzmenschen, den vollkommen Guten, den Heiligen. Soor 
sima lehrt, daß die demütige Liebe und die Einheit mit allem 
Menschlichen die uiibe/winglichste Kraft sei. Lr iiat alles Eigen- 
willijB^-Subjektive von sich getan und ist ginz übermenschlich, 
alimenschlich geworden. Die letzte I msicht Kaskohiikows, dai3 
vor der Urtatsache des Menschen alles hinfällt, was die Menschen 
voneinander scheidet, dieser Gedanke ist in Sossima Wirklichkeit. 
Die Laster der Subjektivität: Litelkeit, Habgier, Herrschsucht 
werden in der Weisheit aufgehoben, ,,daß ein jeder von uns 
schuldig ist für alle und alles auf der Welt, nicht nur durch die 
allgemeine Weltschuld, sondern ein jeder einzeln für alle Men- 
schen und für jeden Menschen auf dieser Erde. Diese Erkenatnis 
ist die Krone des Let>ens". — Der hier zum erstenmal so klar 
foimtilierte Gedanke der universalen Verantwortlichkeit (die man 
nicht einseitig als y^Schuld" fassen darf) ist der hochherzigste 
Gedanke der Menschheit und der Mittelpunkt des BewußMns 
Jesu» ja seine eigentliche Essenz. Und Sossiiiia lehrt weiter, 
daß die universale Verantwortlichkeit nur durch das G e h ei m - 
nisderLiebezu erfassen und zu trsgen ist Aus seuier Be- 
sonderheit (sehiem „Pathologischen'* nach Kant) herauazutrelen 
und die innere Gleichheit mit alleni Menschlichen finden zu 
kOnnen — das ist zweifellos ein Wesenszug des Russen, der Ihn 
dem UrChiisientum so mericwürdig nahebringt und der dem 
Westeuropäer kaum jemals ganz zugänglich sein wird. Es 
sclieint mir, daß in diesem Gemeingefühl, in diesem Sich-eins- 
Wissen mit allen Seelen das Eigentümliche des russischen (sla- 
wischen) Christentums liegt, während das germanische Religions- 
gefühl und sein Cjipfel, die deutsche Mystik, jede einzelne Seele 
als ein Universum auf sicli selber stellt. Für Dostojewski 
ist die Liebe, die Caritas, Mittelpunkt und letzter Sinn des 
Lebens und dieser Heilandszug liegt in seinem Charakter: 



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15Q 



er hat wiildich alle Schuld auf sich genommen, er hat die un- 
gerechte Venirteiluiig und die Verbannung nach Sibinen ohne 
Widerspruch und Klage erduldet, fast wie ein gerechtes Teil und 
mit dem Bewußtsein: Ich darf durch memen Haß keine Schuld 
auf die Richter laden, auch ich bin schuldig» wenn auch nicht 
für dies, so doch für anderes (für seine verbrecherischen An- 
lagen); und wäre ich seitet unschuldig, so hätte ich doch nicht 
das Recht, mich von den schuldigen Brüdern abzusondexn und 
mich ihrem Leid zu entziehen. Sossima ist die Vericöfpening de» 
vOllig Guten Im Menacbeii, er besitzt den Glauben und die Liebe. 
(Ahnfidi, aber nicht so umfassend, der Pilger Makar im „Wer- 
denden".) Gerade in den ,fiMm KaramasoiP, diesem WeA der 
dfistem Leidenschaft und des Iicrisdi-Mcnsclilidien, leuchtet Sos- 
sima als dieandereMj^lidilieit desOrenzmcyiscfaen wie einOestim. 

Denn es gibt kaum ein Laster oder eine Verworfenheit — 
von den niedrigsten bis zum bödisten geistigen GotieshaB — die 
Doatojewaid nicht in sidi voigefunden und Idinstteiisch bis zur 
letzten seelischen hfuanoe gebildet hätte. (Die perverseste Er- 
zählung soll bis heute nicht veröffentlicht sein.) Dostojew^ 
kaiin Wie sein Teufel sagen; Sataiia sura et nihil humanuni a me 
alienum puto. Und er weiß es genau : „Ich habe einen schlechten 
Charakter, aber nicht immer."*) — [ )as l iefste in ihm ist aber 
die Sehnsucht, aus der Hölle in den i limmel zu steigen, das Be- 
dürfnis nach Umkehr, der Wille zur Läuterung. Das ist der 
eigentlichste Vorwurf seines Lebens und seiner Dichtung: er 
kennt im letzten nur das Gute und das Böse, Gott und den Teufel. 

Gegenüber dem Vollendeten, dem Sossima, stehen die 
Wüstlinge, die Familie Karamasoff. In ihnen ist „Crdkraft, grim- 
migste, entfesseltste, rohe, rasende Erdlffaft". Dieser Wille er- 
scheint im Vater als schrankenlose, rohe, grausame Genußsucht, 
die sich zynisch behagt; Dmitri lebt im Taumel des Augenblicks^ 

N. Holhnann, Th.M. Dostojewski, Berlin ld99, S. 413. 



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160 



er ist einer der lebensvollsten Menschen, die jemato von einem 

Dichter gebildet worden sind, ganz aus Leidenschaft zusammen- 
geglüht, würdig, neben Mozarts Don Juan zu stetien. Er hat 
ein auSerordentlich feines Ehrgefühl, schenkt sein Vermögen be- 
sinnungslos weg und wird doch sogleich wieder roh und ge- 
mein. Während der Alte (und sein ganz t)€stialischer unehelicher 
Sohn Smerdjäkoff) den Gedanken, über sich selbst hinau&zu- 
schreiten und anders zu werden, nicht fassen kann, denkt 
Dmitri im Gefängnis daran, sich zu emem neuen Menschen za 
wandeln und als dn Kind wiedergeboren zu werden. In seiner 
Leidenschaft li«gt auch die MflgUdikeit der R^generaäon. 

Der andne Bmder Iwan ist der ejgentlidie Qcgenapieler 
Soasiinas: Der Haß gegpi die Welt und gegen Oott» das dgient- 
licfa Dimoniscfaey beherrschen ihn, und er zieht die letzte Kon- 
Sequenz des Pesshnismtts» die wMdich entscheidend Ist: Wie 
SosBüna jeden elnzefaien Menschen mit dem Tun aller anderen 
solidarisch sein Mt, so ericennt Iwan: Es ist unmöglich, den 
Schmerz eines einzelnen Menschen durch eine noch so allge- 
meine Harmonie, durch dn noch so großes Glück der anderen 
Menschen, durch irgendeine denkbare Art von religiöser Versöh- 
nun^r auf/Aitieben *) Dies ist tatsächlich die iet/tc und äußerste 
Formulierung jedes Pessimismus (die nur durch den Glauben 
überwunden werden könnte): die tiefe Überzeugiuig, daß das un- 
verschuldete Leiden (tiesondeis das der Kinder) alles andere 
Gute bedeutungslos machen müsse, weil ja der Leidende nicht 
mit dem identisch ist, der das Oute eifährt. Und Iwan legt in 
der Eizfthlong vom OroB-Inquisator sein Problem vom OlQck 
und Ldd mitten ms Christentum liinein. 

*} Jean Paul: ttMn Mfesen «oll auf sefaie «wifsii Kost«« zum zer* 
quettditHi UhtwlMUi des GlfiCkee für das flbriae All dienen mfissen; 
denn alte Teilchen des AU würden dann zu Schuldnern und Räubern des 
wJmmemden Teilchens, und es ist einerlei, wie viele schuldig sind an eines." 

(Werke Aus£. Reimer, Bd. 33, S. 242.) 



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161 



Die Sehnsucht nach Reinheit hat in Dostojewski eine außer- 
ordentliche Liebe zu den Kindern hervorgebracht, die in allen 
adnen Werken zu fühlen ist, am stärksten vielleicht in der Er- 
zählung des Fürsten Myschkin. Myschkin hat ganz unter 
Kindern als ihresgleichen gelebt, er bezaubert alle Menschen, 
besonders die Frauen, die das Echte und rdn Menschliche in 
ihm fühlen, das bei ihm nicht wie bei den meisten Männern 
durch den Verstand verdeckt und betäubt wird. — Eigidlend 
kUngt im Munde eines Zerrisaencn wie Dostojewski, der nie eine 
glficklicfae Stmide gekannt hat, dieses Wort: ,,Seid frShIicfa wie 
die Kinder!** (SossinuL) — Der tnigisdie Oienzmenscfa kennt 
weder Freude noch Veignitgen. Freude ist ja die Oewififaeit^ 
sich allen Foiderungen des Daseins giemftß zu veihalten, ist Zu- 
friedenheit und im hfidisten Sinn die feste Oberzeugung von der 
Bcrediiigung seiner sdbst, fem von Leid, Unrecht und Scfaiild, 
das OeffihI der eigenen „Wohlgeratenheif (das von wenigier Ge- 
ratenen, das heißt problematischen Geistern, leicht beneidet und 
gepriesen wird). Denn der Grenzmensch ist im Verhältnis zuni 
irdisclien Sein nicht wohlgeraten, sein Wesen steht nicht in Ein- 
klang mit den Forderungen des Tages. Er ist ungleichmäßig 
temperiert, Melancholien und Depre5isionen suchen ihn heim und 
er kennt wohl ein überströmendes Aufjubeln oder einen Taumel, 
der nicht rnu dem eigenen Wesen m Obereinstimraung i^, son- 
dern ihm etwas abtrotzen will; aber kein ruhiges Glück. — Es 
gibt daher im Werk Dostojewskis keinen einzigen glücklichen 
Menschen. Wenn sich seine Menschen freuen, so haben sie etwas 
Aufgeregtes und Krampfige% wollen sie sich einmal zum Glück 
aufraffen, so werden sie grausam vernichtet (Schatow in den „Dä- 
monen'*). 

Dostojewski tningt das, was gewöhnlich Glück genannt 
wird (und das eigentliche und einzige Ideal des Mittehnenschen 
ist ^ Glflck für sich und andere) hi eine ironisdie Stellung. Er 

Lack«» Qmam &m 9mH9. It 



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162 



verhöhnt das Streben der Menschen, glücklich zu sein, und sieht 
es als etwas Verächtliches an. Er kennt vielmehr nur eine reii- 
giöse, keine eudämonistisdie Beruhigung. Nur im Sieg der 
Liebe, das heißt in der gänzlichen Venüchtung des Teiifliachcn 
durch das Qötüiche, kann Erlösung liegen. Der vollkommen 
wordene Menach, der neue Christus soll eratdien (zu dem Soo- 
sinia das Pi^ogramii gibt); die ,|Brüder KanunttoS'' idttoi fort* 
gnefaEt wefdea soUen, Aljoedu, der jflogvie und feinste der 
Brfider, war auseraeben, als wiedagdboraier und voUendcter 
Mensch zu cfscheinen — aber dies bat Dostojewski nicbt mehr 
crfQUen kOtmep« 

In seiner allerletzten (wenig bekannten» aber ftuBcnt tief- 
sinnigen) Erzihlung „Der Tranm eines ISdiefüclien Menscben" 
wird jedoch eine Lösung alles Seelisch-Dämonischen, daß heißt 
aller Zweifel herbeigeführt. Die Erzählung beginnt mit dem ab- 
soluten Nihilismus, mit der vollkommenen Gleichgültigkeit und 
Lieblosigkeit gegen sich selbst und gegen die Welt. „Es ist 
ganz einerlei, ob die Welt esdstiert oder ob es überhaupt nichts 
gibt." Der Held weiß nichts von den Menschen, er rennt auf 
der Straße in sie hinein, ohne es zu merken, sie sind nicht vor- 
banden für ihn. An dem Abend, da er sich erschießen will, triSt 
er ein bieiendes kleines Mädchen, das ihn anfldht, zur Mutter 
zu kommen und zu helfen. Er aber scheucht sie brutal von sich. 
Durch diese Begegnung geweckt, vollzieht sich plötzisch die 
Innere Uhiwandlung, die gehemmisvoll ans semem Traume wie 
ans aemem tiefsten Wesen bervoigcht „Und dann plölzlidi 
erfahr ich die Wahiheit". Die Wahihdt aber ist die liebe. 
Sein Tranm zeigt ihm die Menschen nnter der Hemchaft der 
Liebe, dann in späterer Entzweiung, weil die Uebe schwindet 
imd an ihre Stelle die Erkenntnis tritt „Aber ich will Ihnen ein 
Geheimnis siigen: das Ganze war vielleicht überhaupt kei[i 
Traum 1 Denn hier geschah etwas Derartiges, etwas bis zu solch 



dnan Eniaetzen Wahl«» daß es dum ja gar nkht hiUfte Mmnen 
lDOfiiien»nttrMqaini.** — Ate Redit ist nur aus den liebloaea 
Tun, zu adxur Abwdir cnfatandeo* (Daher ja andi die tieisfen 
mocaliadiai Huorin von Mensdien mit vertredierischcn An- 
lagen eraoonen worden aind.) sie Verbrecher wuiden, er- 
fanden sie die OerecUjgloett und schrieben sich Kode» vor, um 
ale zu eriudien, und zur Sldieriieit der Kodexe riditeten sie die 
Guillotine auf." — So wird auch hier wieder die Ur-Antinomie 
im Menschen gezeigt, aus der alle anderen Gegensätze hervor- 
treten; die Liebe und der Mangel an Uebe, die Gleichgültiglceit, 
die Kälte (nicht der Haß, denn auch er ist Gefühl). — 

In Dostojewski ist die dämonische und die religiöse Angst 
wirksam. Bei aller tiefster psychologischer Wahrheit haben seine 
Menschen etwas Unwirkliches, Gespenstisches, ^ ist, als wären 
sie fortwährend auf der Flucht vor sich selber. Sie stehen am 
Moigen mit dem Gefühl auf, daß etwas Schrecldiches geschehen 
könnte — und hoffen doch heimlich, daß es geschehen werde. 
„Die Angst: das ist der Fluch des Menschen" — sagt der halb- 
verrückte Kiriloff in den „Dämonen". — Und die dämonische 
Fnrdit aleigiert sich zum physiscfaen Schwindel , der die 
seeUscbe Disharmonie im Körperiichen spiegd^ steigert sich hi 
der Epilepsie zum pathologiadien Furchikrampf. 

Wlhrend die Minner Doah^ewskb Vertiredier oder HeUigie 
oder beides zugteicfa sind, äuBot äch die Zerrissenheit sehier 
Frauen nicht auf ethischem, sondern auf physiologischem Gebiete. 
Der grOBte Teü der Frauen — Sonja, die HeUige, nidit! — Ist 
hysterisch. Hjrsterie bedeutet aber fOr ihn nichts anderes als 
wiedennn innere Zerrissenheit. Seine Frauen sind zart gebaut, 
fein und geistreich, allein ganz unvermutet bricht aus ihnen 
ein wilder Haß zugleich nut einer wilden Liebe hervor. Sie 
stünnen über alle Schranken und t)egehen Handlungen, die nur 
aus höchster Qual zu verstehen sind. — Wie tief psychologisch 

II* 



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164 



ist das wiederum! Fast memals wird ja der innere Zwiespalt der 
Frauen schöpferisch, sie zerreißen sieb sdber und fallen in 
Kiämpfe. Hysterie ist das Grenzphänomen der Frau *) — 

Charakieriatiacb tat endlicfa Doatojewakis Leidenschaft für 
das Spiel Das Spid hat veiadiiedene^ ja entgegengesetzte p^- 
cholQgisdie Winzeln: den mathematischen und Itombinato- 
riscfaen Trid> (Schachspiel), das Bedürfnis» den andern zu be> 
siegen und seine eigene Oherlegenheit zu entfalten» und anderes. 
Ffir den Mittdmenschcn hdßt spielen, die Zdt ohne geistige An- 
strengung und doch nicht ganz untätig hinbringen; för den dä- 
monischen Orenzmenscben, vor allem fOr Dostojewski, bedeutet 
das Glücksspiel (andere Spiele haben ihn nicht angezogen) : sich 
dem Zufall, dem Fremden, dem Mechanismus hingeben, sich in 
einen Tauniel stürzen und auf jede Selbstbestimmung verzichten. 
Der Zufall, der ja alles Willensmäßige, alles Ethische ausschaltet, 
wird für den dämonischen Menschen das Prinzip der Gesetz- 
losigkeit und des Verbrechens. In den Stunden, da sich Dosto- 
jewski dem Spiele hingibt, ist er ganz dämonisch, läßt er seinem 
Hang zum Bösen freien Lauf. Das Spiel wird ihm Symbol der 
fremden, der unbekannten Mächte, des Schicksals (während der 
Schicksalsmensch, von dem wir später sprechen werden, mit dem 
Schicksal auf gutem Fuße steht und sich ihm verbändet weiß, 
es nicht furchtet, sondern als seinen legitimen Herrn verehrt). 
Ffir Dostojewsld ist das Spiel ein Sühnopfer an den Teufel. — 

6. 

Ich bm jetzt mit der Analyse Dostojewskis zu Ende und 
gehe wieder zu allgemeinenn Betrachtungen über. Das Wesen 
des Dämonischen ist Feindschaft gegen das Oute, gegen die 
Freiheit; den Grund der PenfinficURii Es erachehit hi 
den vccBchiedensten Fonnen und Veildeidungen, ja es 

*) Vgl. & 99. 



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gibt wohl kein Gebiet des Seelischen, wo es nicht 
wirksam sein könnte: Fine nicht zu unterschätzt ende Rofle 
spielt das Sexuell-Dämonische und das innig damit 
verbundene Obszöne. Es hat keine eigene Existenz, sondern 
es entsteht erst aus dem Haß des herabgesetzten Geschlechts- 
triet)es gegen eüi Höheres, die seelische oder persönliche Liebe. 
£6 ist das Dämonische auf einem besonderen Gebiet^ Wider- 
spruch» Rebellion gegen das Wertvolle ün Uebealeben.*) 

Das Dimoniscfae kann aicfa feiner theoretisch lufiem: 
Der Wille des Mafterialiamtts, daß der Mensch nichts sein dfiife 
als Chi ztifiUlig entstandener Komplex von materiellen Teilchen, 
oder ein automatisch nach Lust schnappender Organismus, alles 

Seelenleben nur die Verfeinerung ursprünglicher Instinkte, kann 
dämonisch sein, ebenso die Tendenz, sich im rein Animalischen 
zu begiiuoen, den Geist zu mechanisieren und jede seelische 
Eigeiiexistenz abzulehnen. Wer im natürlichen Ablauf der Vor- 
stelluiigs- Assoziationen das Wesen des üeistesiet>ens erschöpft 
siebt, der proklamiert die Oberhoheit des Mechanismus ül)er den 
Geist, und die Einordnung des Geistigen ms Naturhafte, Natur- 
gesetzliche. Das Gegebene, das doch nur Material für den Wil- 
len des Ödstes sein soll, maßt sich so die Herrschaft an, und das 
wirkt dämonisch auf den, der die Foidenuig der Freiheit erhebt 
Darum ist die Wissenschaft als Selbstzweck 
durchaus dämonisch und von rdigiösen Geistem jederzeit so 
empfunden worden.**) Sie will die Kette der Gebundenheit ver- 

*) Ich habe dies an einer anderen Stelle ausgeführt (Die drei Stufen 
&K Erotik, & 340-351). 

Man ItM dm tl«Miiiiig«i Aialtalz von W«inlit£«r HWIsMiitdiall 
untf KultuH*. der sich dm Wert der Wlsamtdialt lum PMbtem atotlt 

Weininger spricht darin vom Dämonischen, aber In einem anderen Sinne, 
nimlich im Gegensatze rum Wissenschaftlichen. — Wie in seinem ganzen 
Werk liegt auch in dieser Art>eit eine ungeheure Angst. (Über die letzten 
Dinge. S. 131-171). 



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166 



ewigen — das alte Motiv des Willens zum Funktionalismus. 
Dämonisch w^ire auch jede geistige Wirkung, die nicht aus 
geistigen Absiditen, sondern aus Natiirgeschefaen hervorgeht, die 
Auffassung aller geistigai Vorgänge als mechanischer Funk- 
tionen des Gehirns — und zuletzt auch die Verwendung des 
Geistigen zu ungeistigen, mechanischen Zwecken.*) — Aber 
alle diese Meinungen und Philosophien, die ich hier nur ihrer 
Tendenz nach andeute, verhalten sich als Theorien indifferent, 
Materialisten und Positivisten aller Art sind durchwegs Mittel- 
neoscheii, liarmlos und ohne Dämonie, diesen Gefahren nicht 
ausgesetzt. Ihr Typus wird uns spater an Spinoza klar werden. — 
Die dämonische Macht, welche die Dinge über den MensduD 
edangen können, spricht sich am reinsten im Symbol aller Gega- 
stSnde, im Extrakt des Materiellea» im Geld aus. Das eigent> 
Hebe Wesen des Oeldes ist UnperaOnlidÜBeit und FonnloB^gfceit» 
es verkörpert das Relative und Funktionale aller dinghaften Wir- 
kungen, ca ist allea und zugtekb nicbts. Der letzte Rest von 
Bestimmtiieit wird ihm noch dadurch genoounen, daß das glän- 
zende acfawere Gold durch bedrucktea Papier eraebt wird, es 
hat nicht einnal mehr so vid Eigenheit, daß es seinen Namen 
mit Recht fOhicn dürfte (Odd — Gold; argent).**) Jeder, auch 
der unscheinbarste wirkliche Gegenstand trägt doch seinen Sinn 

*) Der ärgste Raubbau am Denken ist das Rechnen und je ent' 
•thiodener einer zu dmikcn vermag, desto mehr iriid er das Rechnen als 
Medunitlerung des Geistes hassen. Hinter seiner scheinbaren Ham« 

losigkeit verbirgt das kleine Einmaleins eine tiefe Dämonie. — Wer gerne 
rechnet (es gibt solche Menschen), kann gar nicht denken. Sein «stumpfer 
Geist wird durch das Spiel der Ziffern ausgefüllt (ähnlich der Wirkung 
des IWtenspiels auf inferiore Geister). — Da JMathematik und Rechnen 
Gsfsnsilie sind, Ist aiiiunelniien, dat ein ridiUger Mafliaaiatlker nicht 
rechnen könne. — Ich habe selbst mehrmals die Beobachtung gemacht, 
daB Menschen, die gerot rechnen, nicht den gsfingsten Sinn für Mathe* 
matik fiaben. 

♦♦) DaB das Geld in jedem Staat anders ist, haftet ihm noch als ein 
Maofst an und wM auch so empAoidsit. 



167 



in sich adtiet Er entspricht, fast darf man es sagen, einer 
kfee. Der chrfacfaste Stuhl offenbart seme Bestimmung; 
muB er als Brennholz dienen, so wird cfieser Bestimmung^ Gewalt 

angetan. Dieser monadische Charakter, den jeder Gegenstand 

besitzt, ist dem Geld seinem Wesen nach fremd. Denn es ist das 
Formlose, das Mittel an sich, das seU)er nichts ist, aber zu allem 
heüen kann. 

Das Bedürfnis, Geld zu besitzen, ist das Bedürfnis, Herr 
über die Funktionalität zu werden, nicht von den Dingen abiän* 
gig zu sein, sondern sie zu beherrschen — also ein durchaus be- 
rechtigtes und sogar sittUches Streben. Und solange das Geld 
dem Menschen als sein proteisch wandelbarer Sklave dient, behält 
es diese natfiriiche und sinnvolle Bedeutung. Aber es ist die Dä- 
monie des Mittel sich unmerUidi zum Zweck aufzuweifen und 
den Menschen, dem es doch dienen sollte, zu unterjochen. Den 
meisten fehlt wohl das Verständnis dieser Dämonie, weil in ihnen 
nicht die Kraft der entgegenkampfenden Persönlichkeit lebt. 
Wenn sie nach Geld gehen, so tun sie nur, was ihnen gemäß ist, 
denn die Relation zwischen Mittel und Zweck bleibt ihnen ver- 
borgen, sie sind selbst Mittel und Zweck zugleich, ebenso wie 
das Geld, um das sie ringen.*) Läßt sich aber der höhere Mensch 
vom Gdde knechten, so verzichtet er auf die Kraft und lebendige 
Freiheit seiner Seele und macht sich zum Sklaven des Starren» 
Toten, Funktionalen, kurz des Dämonischen. Mancher KünsÜer 
liat den Erwerb von viel Geld mit dem Volnst «einer Seele be- 
zahlt Denn was scheinbar gefügiges Mittel für höhere Zwecke 
ist, hat die Zauberkraft, alles der Freiheit zu berauben und in 
seinen sedenlosen Mechanismus hineinzuziehen; der Mensch 
bfiflt sich selber ein, er wird zum Sklaven der Dinge. 

*) Aber auch sie haben eine Ahnung von der Niedrigkeit, die in der 
Verkettung von Mensch und Geld liegen kann, denn mancher nennt sich 
wohl ^Hausbesitzer" oder „Gutsbesitzer**, niemand aber „Geldbesitzer". 



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166 



Ich werde in dem Abediiiiit JxMMSbk^ oachweisen, daB 
das Ich der F r a tt e n finr ihr eigenes OcfiUd mehr am K0c^ 
an der Seele haftet Und darum pftefft man auch mit dem Um- 
wechseln ihier aelbat in Odd» mit Prostttutiofi, mehr das Ver- 
Icaufen des Kdrpeis als der Seele zu meinen. Wo es anders ver- 
standen wird, siedet schon eine bestimmte Ethik dahinter. 

Das Odd als die Abstraktion alles Oegenstindlichen ver- 
leiht jedem Ding die ihm innerlich fremde Möglichkeit, durch 
dne unbenannte Menge ersetzt und so der eigenen Wesensart 
entkleidet und qualitativ wertlos /u werden. Alles wird mit 
allem vergleichbar, alles wird ,,käuflicii". Das ist fürs prak- 
tische Leben wohl ein entscheidender Vorteil, zeigt aber wieder 
ofien di^ Gefahr der Individualitätslosigkeit. Was in einer ab- 
strakten Fonnel, die vom (gegenständ selber nichts mehr enthält, 
restlos ausgedruckt werden kann, das hat jede IndividuaUtät ver- 
loren, ist in Relationen verflüchtigt. Denn das Geld entspricht 
keiner Idee als der der formlosen Menge. So ist es allerdings die 
Vollendung des Gegenstandes, der Gegenstand an sich, man 
könnte sagen, die Idee der Gegenständlichkeit, aber ohne An- 
schaulichkeit und Relation. Es könnte kurz „das** heiBen (nervus 
rerum). hisofem entspricht die Gddwiitschaft der nahuwissen- 
schaftiichen Denkweise^ die ebenso die Tendenz hal^ alles unwiik- 
lich, abstrakt zu fassen und ran zahknmftBiif auszudrOcken. Im 
Oesensatze zur naturwissenschaftlichen Fonndwelt herracht in 
der konkreten Wdt des Kfinsflers Achtung vor den Oegenst&nden. 

Die dämonische IMt des Dhifl^uriien ist im Geld am ent- 
schiedensten veikörpert, liegt aller öar Möglichkeit nach in allen 
Objekten. Wer Bilder, Bücher oder Kuriositäten sammelt, um 
sicli an ilinen zu erfreuen, schwebt jederzeit in der Gefahr, Sklave 
seiner Besitztümer zu werden. — Am entschiedensten sieht man 
diese perverse Unikehruni^ von Mensch und Ding in der mo- 
dernen Technik: Zuerst ist alles Technische dem Bedüifois 



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entepningen» von d« Dingen unabhängig zu wenten, sie aicli 
dienstbar zu machen (genau wie der natürliche Wunsch nach 
Geld). Je weiter aber die Tecfanilc achrritet, desto enfaddedener 
entfaltet sich die ihr innewohnende dämonische Tendenz, über 

den Menschen, der siö doch für seine Zwecke erfunden hat, Herr 
zu werden Im modernen I n d u s t r i a 1 1 s m u s ist die Ver- 
einigung der beiden Mächte: Oeld und Technik vollzogfen; was 
seiner natürUchen Bestimmung nach dem Menschen dienen 
sollte, das will ihn hier — am klarsten unter der verantwOT- 
tungslosen anonymen Form der Aktiengesellschaft — zum Knecht 
machen. Es zerstört seine Gesundheit, zwingt ihm Bedürfnisse 
auf, die er nie besessen hat („Kaugummi"), kvaa, ordnet ihn 
dämonisch in den Automatiaaius der Dinge ein. 

Ich will noch zeigen, wie sich die dämonische Sinnesart 
auch hinter Eischeinungen von zweifelioe kultureltem Werte 
vertilgen kann, und erinnere an die Ehiteilung der geistigen 
Menschen m bewahrende und schaliende (seiende und weidende). 
Es ist die natihrlicfae und kulturell wertvolle Stellung des be- 
wahrenden Mensdien, alles Kultuigut zu übernehmen und weiter- 
zutragen, das Entstehende aber nüt Ehrfurcht und Liebe zu tie* 
trachten. Allein die Beschäftigung mit dem Vorhandenen (das 
immer das Vergangene, das Alte ist), treibt nicht selten in eine 
bewußte oder unbewußte Feindschaft gegen das Werdende, das 
Produktive. Ein solcher Mensch sieht leicht alles Wertvolle schon 
in der Vergangenheit verwirklicht und glaubt nicht an ein Neu- 
werden, das ihm innerhch unsympathisch (weil unbegreiflich) 
ist, das er endlich ha(3t und bekämpft. Diese seelische Situation, 
die mehr das negative, unprodulctive als das positive, bewah- 
rende Element hervortreten läßt, findet sich oft genug; für 
manchen Gelefarten bedeutet das Entstehen von Neuem nichts 
als eine Störung, er identifiziert es mit dem, was nur für den 
Tag geschaffen i^ mit dem Oberflächlichen und Wertlosen; ihm 



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170 



Ucgt alles Wcsenflidie in leftigm Fomdiiy wa» ihnen cnl8|»icli^ 
das ist gaty wag Bie indem will und mnft (weil es lebendisr wdtei^ 
strfimt), das ist sdikdii Diese OemiUdagie äoBert sidi dann 
etwa in der ialadien Wcialidt» daß ja doch schon fidles dar 
gewesen" sei, da6 man besser iue^ die unbezweifielbaKn Werts 
der Vergangenheit ganz in sich aufzunehmen, als die probkma- 
tisdun der Gegenwart zu beachten. Auch die fortwihraide Be* 
schäftigung mit BÜcheni treibt leicht dorthin; die Bücher, be- 
sonders die alten Bücher repräsentieren ja das Fertige im 
Kulturleben, während das Entstehende, noch nicht feft Ge- 
wordene in den Köpfen brodelt. 

Anstatt weiterer Auseinandersetzunj^en ein Beispiel: Der 
Literar-Historiker, der mit der genauen Kenntnis der Verg;an^en- 
heit einen (ihm selbst rncht ganz klaren) Haß gegen das i-eben- 
dige, gegen das Zukünftige verbindet, möchte das Bedürfnis der 
Seele, sich dichtend zu verkörpern, lahmlegen und in Kenntnis 
des Voihandenen überführen. Er sagt vielleicht, daß alles, was 
heute gedichtet wird, doch nichts sei im Veigleich mit Ooethe. 
Das mag, historisch genommen, volUEonnnen wahr sein, ist aber 
seiner Tendenz nach gegen das Wesen des Schöpferischen fiber- 
haupt gerichtet und gegen alles» was neu ans Licht dr&ngt Man 
vergehe mich nicht falsch: Die BeMhaftigung mit literatnige- 
schichte kann etwas durchaus Positives und kultnrdl Wertvolles 
sein; wendet sie sich aber gegen das, was erst zmn Leben will, 
dann nimmt sie eine dämonische Wendung und der Name 
Goethes wird zur Waffe des Bösen. (Es kommt ja bei psycho- 
logischen Betrachtungen niemals auf den Gegenstand an, son- 
dern immer auf die seelische Tätigkeit, die ihn ergreift und handr 
habt.) Der dämonische Vememungstrieb, der Haß gegen das 
Positive, ist hier am Werk und wird in der Regel von einem 
Bedürfnis nach Macht in Bewegung gesetzt — Manch einer, der 
als Dichter vemnglfickt ist, stillt in dieser Position allzu ofien- 



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171 



Inuidig seine Ridie gigm alle» SchflfiferiaG^ Die AutorHSt des 
Toten mU das noch nkht mit Antorittt snegestattete Lebendige 
venichtat. KooudI aber das Lebendige zur Autorität (das heifil» 
ist CS adion mit dem Histonsdieny ndt dem Fertigen in einen Zth 
sammenhang getreten)» dann wird es soglddi aneilannt wid 
wieder als WaBe gegen Neues verwendet — Alle diese Tendenzen 
sind im Orunde dämonisch und dem SdiOpferiscben, dem Pro- 
duktiven, dem Guten feindselig. Sie können vielleicht eine ge- 
wisse Liitschuldigung finden, weil hinwiederum von anderen — 
gleichfalls unproduktiven — Menschen alles geliebt wird, was 
nur neu, „modern" ist — und das bedeutet wegen seiner 
Wahliosigkeit ein noch ärgeres Mißverhältnis zum Wertvollen. 

Sehr häufig kann diese Stellung auf dem Gebiet der 
höchsten Werte, auf rehgiösem Gebiet beobachtet werden. Man 
verwechselt das ReUgiöse mit dem Oberlieferten, mit dem von 
einer Autorität Gelehrten, verwechselt „Glauben" als unmittel- 
bare Ckwifilcett eines HAheren mit dem Olauben an historisdie 
Traditionen. Das System des mittdalteilidien Katliolizisoiits ist 
das größte Denkmal dieser Oeffihlsweise des reproduktiven 
Menschen, der sich von der knltuxell wertvollen Stellung des 
Bewahrenden zu der dämonischen des Dogmatikers, des 
Feindes aller Ld)endigkdt und Produktivität, gewa n delt hat 
Die Vergangenheit, die zum Wert entarrt und Religion ge- 
worden ist, tritt nun dem lebendigen religiösen Bewußtsein 
kämpferisch gegenüber; so kann die Lehre Christi, die aus der 
höchsten Produktivität einer Seele hervorgegangen ist, zum 
f einde der Religion werden, wenn sie als Medusenhaupt der 
Autorität erhoben wird und das ewig lebendige religiöse i3e- 
wußtsein lähmen soll. Wir haben gesehen, wie der (jroß-lnqui- 
sitor Dostojewskis das Wort Chhsü dämonisch gegen seinen 
Uiiieber selbst kehrt. 

Dem gleichen Orundtrieb entspringt die Tendenz zur Oe- 



172 



heimbfindelei. Oeheimbundter sind Menschen, die eine 
Gruppe bilden, sich hochmütig gegen alle anderen abschließen^ 
ihre Eilcennungszeichen haben und irgendeine Autoiitikt ver- 
walten, vor der alles amtoe werfloa ist Dieser Typus kommt in 
den vcxschiedensten geistigen Sphären vor, als Sekte mit einem 
Propheten, als spiritistisdier Ziikd, der alle Wahrheit aus der 
Mitteilung andersartiger Wesen empfingt, als Frdmauiertamimit 
Symbolen und Riten, als Theosophie, die eine Urweisheit aner- 
kennt, vor der gewöhnlicher Menschenverstand ohnmächtig ist, 
und sogar als Oehetmbund schlechthin, der nur irgend etwas 
Heiliges ffir sich haben will.*) Alle diese Richtungen besitzen 
irgendeine fertige Wahrheit und lassen daher keinerlei Neuwerden 
gelten, sie entspringen der Sinnesart reproduktiver Menschen, 
die sich in dämonischer Machtbegierde gegen das wirklich Schöp- 
ferische gekehrt tiaben, Überlieferung für Einsicht nehmen und 
die eigene Sterilität verewigen wollen. In der Geschichte kann 
man beobachten, wie aus Geheimbünden Staatskirchen werden, 
ohne daß sich psycholc^isch irgend etwas geändert hätte. — 
Regelmäßig ist bei solchen Menschen Haß und Ranküne gegen 
jede Produktivität anzutreffen, die ja das ein für allemal Gegebene 
nur verwirren könnte; und oft genug sind es verunglückte 
Seitistdenker, die sich nun an alleoi wahrhaft Produktiven durch 
ihr unerreichbar über allem Menschlichen tronendes Heiligtum 
riehen. — Vom Oeheimbund führt ein Weg zum Veft»echer*Koa- 
sortium, das nicht minder seine heilig gehaltenen BrSuche pfl^ 
— wer sie preisgibt, wer g^gen sie verstößt, hat sich das Todes- 
urteil gesprochen. — 

Zum Schluß mdge noch ehi seelischer Zustand beschrieben 

*) Der Geheimbündler trivialisiert sich zum Vereinsmeier» dem es 
nldit mdir um «Inen Qlaubm, «Ine Obefzwigung zu tun ist, sondsm nur 
um etwas QberlMU|)t, das er mit einer Gruppe gemditsam besitzt Er ist wohl 

stolz, einer Gruppe anzugehören, aber das Bedürfnis, auf die anderen Men* 
sehen herabzusehen« ist bei ihm weniger zentral, er fühlt sich nicht als Adept. 



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173 



werden, der mit dem dämonischen vcPA'andt ist, aber eine mildere 
Form darstellt. Ich meine die Verbitterung. Auch Ver- 
bitterung ist Haß g^en das Gute, Haß, der durch erworGene 
oder eingebildete Erfahrungen entstanden ist. Wer einmal das 
Gute mit alter Kraft gewollt hat und dann immer wieder die 
Enttäuschung erlebt, daß es sich nicht durchzusetzen vermag, der 
kaamit leicht zu dem Seelenzustand, den man als Verbittemiig 
bezddmet Man hat die zwelielhaffee Rolle kennen fgdemt, die 
alle edlen Bestrebungen inr der Wdt spielen, UlBt mehr und mehr 
mit der inneren Anspannung nach und neigt sich, zuent wider- 
strebend, dann wohlgefiUlig dem Oememen (der allüglichen 
Form des Btan), etwa mit dem Leitsatz, der eine Art Entacbul^ 
digung vorsient: „Man muB mit den Wölien heulen/* Da die 
guten Bestrebungen ja doch zu nichts fahrten, lieBe man sicfa's 
besser im Hergdirachlen wohl sein. Und eine gewisse Zufrieden- 
heit tritt ein, daß man sich nicht weiter zu bemühen brauche, eine 
hämische Freude, daß das Schlechte die Oberhand behält; sich 
damit abzufinden, scheint sog^ar ein Zeichen von Überlegenheit. 
Um die Verbitterung zu nähren und saclihch zu stützen, werden 
gierig die trfahruniren auf^xesucht, die den Sieg des Sdilechten 
zeigen. Der Zusammenhang mit der dämonischen Sinnesart ist 
deutlich. Dabei vergißt man, daß das Gute eine Aufgabe ist, 
die der Mensch verwiildichen soU, nicht der naturgemäße Zu- 
stand der Welt. — 

Viel häufiger noch als die eingestandene Verbitterung ist 
die unbewußte, die im Dunkehi bohrt und nur hin und wieder 
einmal, in einem Wort, mit euiem Lachen hervortritt, sidi vid- 
leicht als Ironie äußert.*) Viele der begabtesten Menseben un- 
serer Zeit tragen diesen Dimon in der Seele, und es gibt wohl 
nicht ehien, der ihm nicht schon hegtet wSre. Vert)itterte 
sbid der Künstler, der nicht mehr an die Menschheit 

*) Zur IrmUe vgl. den Abschnitt über das Homi&che. 



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174 

glaubt und sich mit einer gewissen Freude im Häßlichen und 
Gewöhnlichen behagt; das enttauschte altgewordene Mädchen, 
das das Glück anderer nicht sehen kann und bespöttdt — 
Ooeifaes Prometheus freilicb lacht über die Enttäuschungen, die 
ilim nicht erspart geblieben sind — „Wähntest du etwa, ich sollte 
d» Leben baesen und in Wästen flielieii, weil nicht alte Blfltenr 
tfäiiBie fdtttea?" 

Es gibt endKcb noch ehie andefe^ Hefeee Veiblttanmg^ 
Veibitfcening Aber alch adbsl^ die dne Art vm SelbelhaB ist und 
au! der Effohrung dgener UnzuttngHchkeit beruht: man will 
äch die Wahifadt idcht recht euigeatefaen und vennag «di doch 
auch nicht zu beecheidai. 

Afle (fieae BittertRiten, denen num eine gewiaae Boecfatigun^ 
nicht abstreiten kann, werden wieder karikiert, wenn die erfolg- 
reiche Mittelmäßigkeit von den Enttäuschungen und Zurück- 
setzungen spricht, die das Große zu erdulden hat. So klagt etwa 
ein mit Fünfzigtausend bezahlter Tenor über den Undank der 
Welt — denn er muß immer an den anderen denken, der eine 
Gage von Hunderttausend bezieht. — 

In Harmlosigkeit und Bchag:en, in die freundliche Gewohn- 
heit des Daseins und Wirkens kleidet sich die Dämonie des 
Alltags. Das geschäftige Dahinleben, die natürliche Sphäre 
des MitteUnenschen, kann für den problematischen Menschen 
zur Versuchung des Nichtigen werden, in ihier Selbstverständ- 
lichkeit und Indüerenz dämonischer als OroBea und Schreck- 
liches. 

7. 

Symbole des Dftmonischen sind Bilder, die un- 
mittdbar und ohne wdieies Nachdenken das Gefühl des Ver- 
derblichen, Bdaen zu erwecken vermögen. Und diese Gewalten 
des Unmenschlichen, des Bfinden und Toten müssen eine Bc- 



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175 



Ziehung zum Menschen und seiner Freiheit haben, müssen in 
geheimer Verwandtschaft zu ihm stehen. Würden die Teile und 
Kräfte im Menschen, die dem Seelischen, dem Persönlichen ent- 
gcseogesetzt sind, auf eigene Faust tiUtg werden, dann müßte 
etwas Unheimliches von ihnen ausgehen (man stelle sich etwa 
einen allein lebenden Fuß vor oder ähnliches). Und so gibt es 
Tiere» die wie Symbole des Dämonischen wirken. Die Spinne, 
der Tausendfuß, der Polyp, die MaulwuifsgiiUe haben adt Jeher 
ab dnlhaft und unheimlich gegolten. Sie sdieinen nur aus 
Gliedern, sogar aus verrenkten und entarteten OUedem zu be- 
stdien. Was im Menschen und bei den wohlgebildeten Tieren 
harmonisch angeordnet ist, das sehen wir hier karikaturenhaft 
verzerrt, solche Tiere sind uiis ungemütlich und sogar unheim- 
lich. Hingegen erwecken die großen Raubkatzen, die dc^Kih 
weitaus gefährlicher sind, unser Wohlgefallen; wir legen zwar 
keinen Wert darauf, unbewaffnet mit ihnen zusammenzutreffen, 
aber sie ekeln uns nicht im geringsten an, sie erscheinen uns 
sogar schön. — Daß der Affe, die absolute Karikatur des Men- 
schen, als teuflisch empfunden werden kann, ist schon frülier er- 
wähnt worden. 

Die eigentlich tellurische Funktion, die Grundhmktion der 
Materie und besondero der oiganisdien Materie^ ist aber nicht 
CMfen und Festbalten, aondem Eiosdiliiigen, Veidauen, Assi- 
milieren. Alks auflösen und sich gleich machen, ist geradezu der 
U rtrieb der M ater ie , da% was dm Oertüteten und bidl- 
vidualisierten, dem PersQiilidien als Erbfeind gegenfibeiatehi ~ 
Dies Einsdllingen und Verdauen erscheint in der Schlange 
am handgreiflichsten symbolisiert, sie ist darum sät jeher als 
das eigentlich diimonische Tier angesehen worden. Schon in der 
Schöjrfungsgeschichte gilt sie als Verführer zum Bösen. Der 
Orund für dieses weitverbreitete Gefühl*) ist nicht etwa ihre 

*) „Die Schlang« mui doch dem MMisdiM von jeher des gfilUchete 



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176 



große Schlauheit (die sehr dahinsteht), sondern ausschließhch 
die Form ihres Leibes. Für den unmittelbaren Anblick stellt er 
nichts vor als einen einzigen Schlauch, der alles in sich hinein- 
würgt und assimiliert Er hat keine üiieder und genau genommen 
auch keinen Kopf, nur einen riesigen Rachen, das Werkzeug- uad 
Eingangstor des ganzen Tieres, das nur ein Verdauungs- 
Apparat ist. Und wir empfinden Zerstörung aller Form im 
Einschlingen und Verdauen als Entindividualisierung, als niemals 
auttetzendes, dämonisches Tun der Materie in ihrer tmgefaeuren 
OlddigQltigiEeit giegen gefbnntes» persönliches^ werbroUes Sein. 
— Ebenso verfallt es äch mit fleiscfafrasenden Pflanzen, die 
Vögd festhalten und lebendig verdauen. — 

Fast immer süid Teufel nnd Dfimonen häßlich dBSgpMUt 
wofden» das Mittelalter kann sicfa nicht genug tun, sie als Hasser 
Oottes, zlhnefletBcfaend und boshaft lachend, in tierShnlicben 
üestaltea zu bilden — Verzerrungen des Menschen. — Aber die 
Legende weiß auch, daß Luzifer der schönste aller Engel gewesen 
sei, und immer wieder erscheint (besonders in nachmittelalter- 
Ucher Zeit) der schöne und traurige Dämon. In ihm ist keine 
Sinnlichkeit und keine Schwäche, nur reiner Wille — aber der 
ist ins Gegenteil verkehrt: der Sohn des Lichts hat sich zum 
Herrn der Finsternis gemacht. Unbegreiflich groß ist die Qual, 
die in ihm gSrt, denn seine Essenz ist Freiheit — die will er 
verdunkeln nnd zunichte machen. Nun ist sein Wille Haß gegen 
Oott, sein einziges Ton Selbstmord. Dieser Dämon ist schön — 
M von der Unreinfaeit und dem Odlist der Materie; tnutf^, 
denn er hat Oott im Hefeten nicht abgesagt; er sehnt sich nach 
ihm — und vermag doch seinen Trotz nicht ztt fiberwinden. An 
dem Tag, da er Reue empOnde; da er wieder frei werden wcflUe 
von Qual und Haß — hätte das Böse aufgehört zu sein. 

Tier gewesen sein, daß schon das erste Menschenpaar mit Ihr in feind' 
Udw beacbmg gebracht wird.*' — Hebbel, Tagebucher. II, 240, 



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4. DAS ERHABENE 



1. 

Wenn wir auf eiiiMmcm Beigcsgipfel von der Nacht über- 
rascht werden, wenn wir In eine tiefe finstere Höhle hinab- 
steigen, aus der es seltsam rauscht — dann kann ein OcfGhl über 
ans kommen, das der Furcht verwandt Ist, ein Onnien vor 
lätselhaften und gehefannisvollen Mächten der Natur, das OefilhI 
des Dämonischen, das wir in der Natur wiedeffinden. Naive 
Völker haben ähnliches (wenn auch weht nicht gleiches) cdebt, 
wenn sie einsame öde Gegenden, etwa graue Klippen im Meer 
cxier die Höhen der Alpen mit sonderbaren und dem Menschen 
verderblichen Wesen — mit Sirenen und Faunen, Nixen und 
Trollen — mit Naturdämonen bevölkert haben. Diese unheim- 
lichen Mächte abzuwehren und zu bannen, suid an solchen Orten 
später Kreuze und Kapellen (Zeichen rein menschlicher Macht) 
aufgerichtet worden. — Wir, die wir nicht mehr an die leibhaf- 
tige Existenz von Elementargeistem glauben, finden doch, einsam 
Aber Felsenberge schreitend, ein Gefühl wieder, das mit der d^ 
monischen Furcht innig zusammenhängt (mit der Furcht, sich zu 
verirren oder zu verunglüdien, aber nichts gemein hat). Wir 
erachaudem vor dem Oro6en, Toten, Starren, das uns mit der 
ganzen Wucht des Fremden, Schicksalhaften anrührt Dies ist 
das Oeffihl der Naturdftmonie: 

Der dämonische Schauder vor der Natur wandelt und ttuteit 
sich hl dem, der nicht nur fnis Dimonische Versündnis hat, 
sondern auch noch SsttictisGh symbolisierend zu empffaiden ver- 
mag, zum Gefühl des Erhabenen. Was anfinglich die DSt- 
monie der eigenen Seele widerspiegelt und wie ihre achtbare 
Projektion aus den mächtigen Formen der Natur zurückemp- 
iangen wird: das kann als groß, als erhaben umgedeutet werden 
und die innere Ruhelosigkeit erlösen. Die Öde eines zerrissenen 



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178 



H(:x:halpenkars erweckt zuerst, als ein Bild des Starren und doch 
übermächtigen Dämonischen der eigenen Seele, Grauen; aber 
dieses dämonische Orauen kann sich zu reiner Erhabenheit 
wände ein Sturm überm Meer, der Ausbruch eines Vulkans 
vermögen den Kampf der Seele zu spiegeln — und zu beschwich- 
tigen. Denn die dämonischen Mächte sind hier ins Beieich des 
Astfa eä sc fa ca gefaobeo und in objektiver Anschauung geläutert. 
Das Bewußtsein des Tragischen, des Kampfes 
zwischen den Mächten des Schicksals und der inneren Kraft 
der Seele, wird in der Natur als Erhabenes 
wiedergefunden. 

So BptegtH das Eihabene der Natur zuerst den tragischen 
Kampf der Seck^ um endlidi daa Oeföhl des Sieges, der 
höchsten Auiflsung des tragischen KoniiUs» zu wecken. In 
der Efananiheit der Olelsdierwelt Ifaidet das zerrissene OemAt 
Frieden und Verklärung. Der seelische Zustand des Erhabenen 
gipfelt in der Überwindung der dämonischen Mächte, in der 
Klärung alles Zwiespalts der Seele. Er schenkt als erreicht und 
vollendet, was der tragische Kampf nur selten oder niemals zu 
gewinnen vermag. Denn das Erhabene ist das Tragische der 
Seele selbst, das in der Natur widergeahnt wird und das Gemüt 
von Zerrissenheit und Furcht zu reinigen vermag, tiefer als jede 
Tragödie. So kann man das Erhabene als das Natur-Tragische 
— oder noch zutreffender das Tragische als das Erhabene der 
Seele venteh». Wie aUea fiedenlende sind Erhabenheit und 
Tfagik kefaie Ocfühle der Lust oder der Unhist (auch nicht „ge- 
mischt); diese zum Oberdruß abgeleierie und noch dazu 
falsche Schablone bleibt hier wie immer ganz aus dem SpieL — 

Nach Kant besteht das Wesen des Efhabenen darin, daß 
wir vor der Oröfie der Natur unsere Ohnmacht als schwache, 
abhängige Wesen empfinden, aber zugleich eine Freiheit von der 
Natur in uns entdecken, die uns iiber sie erhebt. Wir begreifen, 



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179 



daß uns die Natur zwar in Wirklichkeit vernichten kc»nnte, 
kommen aber zum Bewußtsein unseres ewigen Selbst und seiner 
unzemtörbaren xMajestät.*) Mensch und Natur stehen sich als 
feinde geg;enüber — und der Mensch bleibt Sieger dadurch, daß 
er die Realität des verderblichen Geschehens ins Symbol der 
Größe wandelt, daß er es vcnnag, eine eijrentümliche Finheit von 
Ethischem wid Ästhetischem — das Bewußtsein des Erhabenen 
zu bilden. Kant deutet das Gefühl der Beklemmung, das einen 
vor großen Natur-Szenerien befallen kann, als Furdit vor der 
wiikUcfaen Vernichtung, vor der OeGOudung unseres Lebens, die 
aber vom Bewußtsein der Ewigkeit fiberwunden wiid. — Hier 
sind zweifellos die beiden Orundtaisachen im Bewußtaehi des 
Erbabenen: Fuidit und Oberwindung der Furcht, erkannt und 
festgestellt Aber es will mir doch scheinen, daß das Oeffihl un- 
bestimmter Furcht, das zum Erhabenen gewandelt werden kann, 
nicht die gemeine Furcht der Kreatur, sondern die dämonische 
Angst vor den Mäclitea der Seele ist, die in den Mächten der 
Natur ihr un ab weislich es, jeder Willitür enthobenes Symbol 
finden. Nicht dadurch, daß sich der Mensch über die Todes- 
furcht erhebt, wird das Gefühl des Erhabenen lebend!]^, sondern 
dadurch, daß er den inneren Kampf in einem großen Bilde an- 
schaut, ästhetisch verklärt und überwindet Geraten wir einmal, 
etwa bei einer Beigpartte» wiiklidi in Todesgefahr und wnrd der 
Erhaltungstrieb unser Herr ~ dann ist es mit dem Gefühl des 
Erhabenen auch schon dahin. 

Wen das Bewußtsein des Dimonisch-Efhabenen die in die 
Außenwelt binehiprojizierte und damit äsfli eti acfa überwundene 
dSmonische Furcht iat^ die sich fan eigentüch Erhabenen zum Be- 
wußtsein des heroischen Sieges der Menschensede über das 
Schicksal verklärt — darum kann das Oeffihl des Eiliabenen nur 
ein Gefühl tragischer Orenzmenschen sein und zudem nur von 

*) Vsm dn Urteilskraft § 2S und 29. 

12* 



180 



solchen empfunden werden, wekhe die FShigkeit der Ssthetisdien 

Verzauberung besitzen. Ganz einseitig nach innen gewandte 
Menschen vennögen diese Projektion nicht zu vollziehen und 
bleiben verschlossen mit ihrem Dämon, so der Mensch des 
Mittelalters, der von den Mächten seines Innern ganz im Bann 
gehalten wird. — Die Römer hinwiederum, typische Mittel- 
menschen, haben die Alpen nicht anders als mit Widerwillen be- 
trachtet, ohne den gerin^ten Sinn für ihre üroöartigkeit — 
Man könnte dieser Aufiassung vielleicht die Liebe zum Hoch- 
gebiiige und zu düsteren Landschaften entgegenhalten, die 
in unserer mittehnenschlichen Zeit so stark verbreitet 
ist. Aber man bedenke, daß das Erhabene nicht irgend- 
einer Ocgend als objektives Meitanal innewohnt, dafi es 
sacblich auch nicht an den höchsten Gletachemigionen und am 
nichtigen Hhumd haftet. Kant s^gt wahr: „Also Ist die Er- 
habenheit in kehiem Düige der Natur, sondern nur in unserem 
Oemfiie enthalten.^'*) — Man bann jede beliebige Landschaft, 
abgesehen von ihrer Auffassang als erhaben — die Icomplizierte 
seelische Voraussetzungen hat — auch lehi Istiietiach-fofmal als 
„schön*' empfinden, wobei weniger auf ihre Dynamik und Form- 
losigkeit geachtet wird als auf den Zug der Linien und die Ab- 
wägung der Farben, die ein geschultes Auge iast uberall ent- 
decken Wird Und heute dehnt man die Gefühlslage des Schönen 
über Naturbildun^^en aus, die früheren Zeiten sogar als häßlich 
gegohen haben (wobei ich aber den Unterton des trhabenen 
nicht abstreiten will. Die starke inoderne Naturlid>e hat übrigens 
sehr verschiedene seelische Wurzeln). 

Das üefühl des Schönen als ZentralbegriÜ^ der Kunst- 
Theorie bleibt hier außer Betracht Nur soweit es sich mit dem 
— innerlich ganz verschiedenen — Erhabenen kreuzt, muß es 
erwdhnt werden. Das Schöne ist seinem Wesen nach Bewußtsein 

*) Kritik der Urtdisknfl § 28. 



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18t 



der Harmonie zwischen der Seele und dem «tigesdiauten 
Gegenstand, ea ist aulgdiobener ZwiesfMlt Das Ocfonnte^ sinn- 
voll Gestaltete, das innertudb der Weit zu einer neuen abseschlos- 
senen Welt Gewordene, erweckt das Gefühl der Schönheit Dem* 
gegenüber ist das Kennzddien des Eihabenen, daß es noch 
immer einen Zwiespalt birgt, jedoch Aber ihn hhuuiazeigt und 
endlich den Sieg des Menschen ahnen lIBt Das Ungeordnete^ 
Gewaltsame, Formlose ist erhaben, in dem das Chaotische und 
Elementare des Naturgeschehens seinen sinnlichen Ausdruck 
findet. Das ganz bföondere und mit nichts /u vergleichende 
Gefühl des Erhabenen, das etwa aus Kants berulimten Worten 
spricht: „Der bestirnte Himmel über mir und das Sitteagesetz 
in meiner Brust", wird nur dem Menschen fühlbar, der etwas 
von eigener Zwiespältigkeit und lirlosungs-Beduritigkeit in die 
Natur hineinzulesxen hat, der aber auch den Willen zum Si^, 
„das Sittengesetz in meiner Brust'', kennt; den die Einsamkeit 
seiner Seele schaudert, der diese Einsamkeit aber in übermäch- 
tigen Bildern der Natur wiederzufinden vermag. Und sie tritt 
ilim verwandelt, nicht mehr quälend, sondern erhebend gegfen- 
über. Das Gefühl des Erhabenen ist eui Gefühl des emsamen 
Menschen und zn zweien übeihaupt nicht mehr erreichbar. 

Einsamkeit ist die sediadie Situation des Grenzmen- 
schen, der sich unmittelbar vor die Welt, vor alles Sein hmgje- 
stellt weiß und der diese Sieltung als eine definitive und verant- 
wortungsvolle empfindet. Sie ist entgegengesetzt dem am^ld- 
cfaenden wSrmenden Zusammensein, dem natürlichen Zustand 
des Mittehnenschen; sie kann die Seele in Stunden der Größe 
und Geschlossenheit zu einem höchsten Bewußtsein führen, 
zum MücTOkosmos ausweittn, aber auch in Beklommenheit 
und Melancholie versenken. Emsamkeit ist kein aulkrer Zu- 
stand, sondern eine Grundanla^^c der Seele, ein Kreis, der um den 
Menschen ist, wo iomier er sei, mit wem inuner er spreche; und 



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182 



das idnste tmd konzcntfierinie Gefühl de» Einsamen, seine 
RedilMIgung imd Wdhe Ist die Eriiabenheü*) 

Z 

Es Ist kdn Zufall, daß dar eine die Beige am meisten llcli^ 
der andere das Meer, der dritte die fruchtbare bd>aute Ebene. 

Die verschiedenen Formationen der Landschaft entsprechen ver- 
schiedenen Zuständen der Seele, und man kann für viele eigen- 
artige Menschen eine besondere Landschait finden — prophe- 
zeien! — die ihnen am meisten gemäß ist (wenigstens zu einer 
bestimmten Zeit ihres Lebens). Es gibt Menschen, die niemals das 
Meer des Südens gesehen haben und die doch wissen, daß ihnen 
sein Anblick die höchste Befriedigung gäbe. 

So Ist es nicht Willlcfir oder Stimmmigssadie, warn wir das 
bödiste Natursjfmbol der Eriiabenheit im Schweigen des Stanen- 
bimmeis finden. Die Nadit ist dem Bewufiisein der Einsamkeit 
und der Eriutbenheit geneifi^ler als der Tag, denn das Licht, das 
die Dinge entfaiUlt mid belebt, ist allein sdioa OcseHachaft — 
anders wte der Mittag in der völlig leeren Wfiste. Die Sterne 
sind |a das einzig Sichtbare in der Natur, das niemals für uns 
zu erreichen ist und das so den Symbol-Charakter nicht verlieren 
kann. Ja es gehört schon Wissen dazu, sie überhaupt als sub- 
stantiell, als Weltkörper aufzufassen, nicht nur als außerirdisches 
Licht. Und dies ist der Grund, daß die Fixsterne (die uns ja noch 
femer sind als die Planeten und von denen wir wissen, daß Licht 
von ihnen ausgeht) dem Weltgdnhl einsamer Menschen immer 
soviel gesagt haben. Der unendliche Raum und die schweigende 

*) MeMGlMo, daran natfirildMr Zustand dl« QMaOIgkiit ist» Ung* 
weilen sich, wenn sie Gesellschaft und Tltigkeit entbehren. DerMItM* 

mensch steht innerlich in beständigem Zusammenhang mit anderen, darum 
kann er allein sein, aber nicht einsam. Erhabenheit und Langeweile sind 
G^ensätze: nur wer das Gefühl der Erhabenheit nicht kennt (oder es ver* 
Utna hat), langweilt sich. 



183 



Stille des Stemenhiiiiiiicls gewUuen (bemdeis auf der HAhe 
eiius Befj^) einen Anblick, der nicbis mehr von Sdunen» 
Kampf und Lddenachaft biigt, der aUem cntrfickt iat, was nodi 
iilgendwoliin will, was noch dem Botich des Weidena angdiM. 
Dieses Bild spiegdi die tiefe Ruhe einer Sede^ de tiber das Tn- 
gische hinauagewacliaen, die weise gew<»den iat Der nSchtigie 
Himmel ist das Symbol dieser Überwindung, das Symbol 
hothsttT Verklärung und Stille. Und zu dieser Schau kann noch 
die Vorstellung- von der Harmonie der Sphären treten, deren im- 
geheure Akkorde den Raum erfüllen — Der Schein dc^ Mondes 
kann solch ein Gefühl nur herabziehen, denn der Mond bewegt 
sich und verändert sich, sein Licht ist fahl, trügerisch und, gegen 
die Einfachheit des Weltenraumes gehalten, krankhaft. 

Ähnlich wie die Stemennacht wirkt der Blick von einsamem 
Bergesgipfel, der nichts Lebendiges und also nichts Vergäng- 
liches mehr umfaßt. Selbst das Orün, die Fart>e des Lebens, ist 
veiadiwmiden oder liegt nur noch steineni in der Tiefe; jede 
Erinnerung an Werden und Vergingtidikeit ist dahin. Dieser 
Blick laßt uns unmittelbar etwas Ewiges ahnen und ist ohne allen 
Vefglddi erhaben. Wehender Wind, eine ziehende Wdhe feOmiea 
das reuie OefOhl stßrai, wenn die Landschaft vom Standpunkt 
der formalen Schönheit, des Malerischen hierdurch auch gehoben, 
belebt werden mag. Damit ein solches Bild „schön" werde, 
müßte es abgeschlossen, eingerahmt sein, nicht ins Unendliche 
verschwimmen. Ästhetisch vollendet wirkt im Gegensatz zu 
dieser erhabenen Vollendung das Bild einer Talmulde, die von 
nahen Kämmen umgrenzt ist (das Engadin etwa). - Einen ganz 
besonderen Ton kann das Gefühl der Erhabenheit aui einer 
hohen steilen Alpmatte gewinnen. Wir sehen die Merkmale des 
Let)ens, einige wenige, intensiv gefärbte Blumen stehen im satten 
Grün. Aber es ist nicht mehr ganz das Leben unserer Welt Der 
tiefblaue Hinunel, das anßerordentiich helle Licht, die gio0e 



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184 

Stille — die durch einen fem fallenden Stein noch stärker ins 
Gefühl tritt — oöenbaren Leben, das in eine andere Sphäre ge- 
hoben ist — Ein kleiner blauer See ad in den Bergen kann in 
diese starre Größe die Andeutung: von etwas MeoschUchem 
bringen: das Bild der ruhenden Seele im Sein. 

Wie nichts anderes kündet das Gefühl auf dem 
Gipfel: Einaamkdt Zwischen dem schauenden Menschco and 
der Weit hat sich ehie tiefe Kluft geöinet, jeder Ziwimnenhang 
mit den Duig!en scheint an^gehoben, idi sdiwebe über dlem 
Sein. Und dieser Bilde nhnmt die Wdt zu einem Ganzen zu- 
—m i iiP M . «r bebledifft die Sdmsodit nadi Einheit und Vcrldä« 
rung, et schenld das Bewofitsein» da6 aUes Gesonderte unter mir 
liegt, dafi ich es in einer eimdgen groBen Schau znsanmwn* 
gefaßt und überwunden habe — daB ich Welt bin. 

Und da/ii konunt ein ganz besonderes (jcfühl des 
Raumes. Der Aufblick in die Sternenwelt und der I lefblick 
von einem überragenden Gipfel bringen uns den Raum, der 
nirgends eine Grenze hat, mit seiner ganzen Wucht zum Be- 
wußtsein — was sonst fast niemals der Fall ist Denn unser 
Leben spielt sich nicht eigentlich im I^aum, sondern in Räumen 
ab, die sMt Dingen und Gestalten besetzt sind und den Raum 
selber verbeigen. Der leere, weit crachlossene Raum kann wie 
alles Erhabene Schwindd wecken, dämonisch und unheimlich 
wirken, aber auch beruhigend und lAutemd. Die VoislelluQgen 
Hiefien langsamer und stetiger, alle Hast versaegL — Der ganz 
erfüllte Raum hingegen beengt und quält; man kann diese Be- 
klemmung in schmalen Tfilem erfahren, die von hohen steilen 
Felswänden begrenzt sind (in einigen Teilen der Dolomiten 
z. B.).*) Da ist der Kaum allzusehr ausgeiuili, das Atmen scheint 

^ Et Ist gar lüdit mmiöglich, daft auch die verstärkte Massenaii' 
zlehunj^ auf den Körper unmittelbar ah drückend emphuidfitl wird, wie 
die dünne Luft der Höhe zum Wohlbefinden beitrSat 



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185 



erschwert — um so größer das Olück, darüber hinauszukommen 
und die freie Weile zu fühlen. — Noch beängstigender, ja er* 
sducdend sind hohe ungtgliederle Mauern, die lang und gerade 
hinziehen. Den ganz erfüllten Raum könnte der Mensch eigent- 
lich nur im bmerai der Erde kennen lemfln. Wer Je in eü» 
fiogweilc odor in einer tiefen engen HfiUe gewesen ist, wud 
den Wert ventehen, den der dfene Raum für die Sede hat 

Im Gegensatz zur Unendlidikeit des Oipfdhlicks ist die 
Unendlichkeit der E b en e begrenzt und prinzipiell anders, weÜ 
der Aufnehmende sich nicht abgesondert, einsam fühlt, sondern 
weil er mit luneiiigehört. Hier steht er nicht jenseits der Welt, 
sondern mitten darin als ein Teil von ihr, und während die un- 
fruchtbare Ebene, die Steppe, die Wüste Verlassenheit des Men- 
schen in der Welt oder auch innere Leere auszusprechen ver- 
mögen, weckt die fruchtbare Et>ene das Gefühl der Geborgenheit 
und des Foßdeas. Die Ebene ist der natürliche Ort des Men- 
schen, der zu zweien oder in Gesellschaft seine Vollendung findet, 
der Oipfel ist die Stelle des Einsamen. — Das innigste Gefühl 
von Zusammengehörigkeit, von „Oemütlichkeit" aber bietet ein 
eng umgrenzter Raum, etwa ehie Lichtung im Wald oder 
noch mehr der O arten, den ein Zaun von der Umwelt ath 
scfalieBt Da ist man gsnz eingewachsen und fühlt nicht übet die 
enge Grenze huuuis. Die Natur ist ehi geordneter, menschlich 
durchgefühlter Raum geworden, fast wie ein gepflegtes, an- 
behndndes Zimmer. Der Garten stellt den Obergang von der 
Natur zur Menschenwelt dar. (Selbstverständlich hat jede Fonn 
des Gartens ihre besondere psychologische P.edeutunßf.) 

Die fruchtbare Ebene (noch mehr das Hügelland) und der 
umgrenzte Raum sind die eigentlich u n t r a i s c ii e n Land- 
schaften, in ihrer bunten Mannigialtit^keit nicht erhaben, 
sondern lieblich und die natürliche tieimat des mittleren, des 
idyllischen Menschen. Bei ihm ist der Sinn für das Malerische in 



186 



der Natur der dem Grenzmenschen nicht selten fehlt — oft- 
mals stark ausgebildet. Fast alle Maler sind Mittelmenschen 
(viele Bildhauer Orenzmenschen). Der Idylliker kann, wie mit 
anderen Menschen, innig mit einer Landschaft verwoben sein, 
in ihm lebt der Sinn fürs einzelne und die große Liebe dafür. 
Jean Paul hat sich im Hügellande ganz heimisch gefühlt; als man 
ihn in München bewegen wollte, die Alpen zu besuchen, konnte 
er sich nicht dazu entschließen. Er hatte die natürliche Abnd- 
. gUQg des Idyllikers gegen das Gebirge (die sich zur Beängstigung 
Mgirni kann). Und Gottfried Keller weiß nichts von der Größe 
seiner Heünat, m der sonnigen Ebene und in den winkeligen 
StSdldien Ist er zu Hause gewesen. — Der naive Mensch^ der in 
seine Umgebung hineingeboien und eingewachsen ist (der ho- 
merisdie Oiiecbe etwa) hat kern wiildidies VeitUUtnis zur Landk 
Schaft; er muß sich erst innerlich von ihr ablösen und ihr gcgen- 
fibertielen, damit ein echtes Veihältnis entstehen kdnne. 

Die prangende Schönheit der südeuropäischen 
Natur verkörpert die Vollendung des irdischen Lebens, das 
Glück media in vita. So stark wie nichts anderes vermag die 
sinnUche Fülle der italienischen Landschaft Lebensfreude aus- 
zusprechen. — Und dies sinkt an der flachen warmen Meeresp 
kuste bis zur verscUafenen Trägheit — 

Während der regungslose Winter und der Hochsommer 
(ebenso wie Mittemadit und Mitlag) das Ruhende und in sidi 
Vollendete, das, was nicht mehr über sich hinausstrebt, fühlen 

lassen und so das Zeitlos-Ewige symbolisieren, finden wir in 
Frühling und i lerbst (wie in Morgen und Abend) das Lthos des 
Werdens und des Vergehens wieder. — 

Diese Beobachtungen wollen zeigen, wie ein Naturkreis 
euiem Menschen innerlich zugdiAren kann. Sie lassen sich sdbst- 
veisündlich nach allen Richtungen vermehren. Dss Gewitter 



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187 



z. B. spiegelt das blinde Rasen der Lddenschaft (OümUo ist ein 
GewiUer in McnsclieqgcsteltX den KiamA den Geadilechisaki 
— Die Hellte Im Bog ist das Dimoniscfa-Odieinmisvolle der 
Sede^ an dem man lange vorQbefgdity ohne es zu merken oder 
merken zu wollen, und das sich einmal unveisehens schaudernd 
auCschließi Eine Höhle, die mit phantastischen Tropfstein- 
^^estalten bevöUcCTt ist, vermag eine ganze Welt des Halbbe- 
wußten, des Träumenden zu verbildlidien, die Unterwelt der 
Seele, ein Reich des Märchens — aber auch des Grauens. — 

Nicht alle entschiedenen Menschen haben ein widerspruchs- 
loses und klares Verhältnis zu einer bestimmten Landschaft. Bei 
manchem tragischen Menschen überwiegt in großartiger Um- 
gebung so sehr das Ocfühl des Unheimlichen — des noch nicht 
äberwundenen, sondern nur dunkel in der Natur widergeahnten 
Dämonischen — daß er sich nicht eilioben, sondern bedrückt 
fühlt ErhUt es im HochgeUige nicht aus und flieht ins blühende 
Land, zum Frieden, zum Einklang. Ffir ihn liegt Beschwiditi- 
gung nldit m der Projelttion der eigenen Sede in die Natur 
hinein, er muß sich vidmchr ins andere» üis Entgegenge- 
setzte versenken. So hat Beethoven gegenfiber der Landschaft 
gcföhlt Beides — das VentSndnis fflrs Erhabene, aber auch die 
Sehnsucht nach dem Idyll — shid Möglichkeiten des tragischen 
Menschen; und das Bedürfnis nach Größe und Einsamkeit kann 
auch zugleich mit dem Trieb zum Lande der Kinder, zum Idyll 
bestehen. — Ahnlich kennt der Idylliker Ausflüge ins iirhabene, 
von denen er um so froher wiederkehrt. — 

Es sei nur angedeutet, daß sich die Stellung des Grenz- 
menscben zur Natur in seiner Stellung zur Frau wieder- 
holen kann: der eine begehrt Aktivität und Wildheit („dämonische 
Frau") — ^ch selbst noch einmal, analog der Liebe zu Stunn 
und Gewitter. Der andere will von sich weg und sucht den 
Flieden. — Es handelt sich hier natfirlich nur um die Wirkung 



188 



der Frau auf den Mann, nicht darum, wie sie an sich sein 
mag. — 

Ebenso wie man instinirtmüfiig ein Verhältnis zu gewissen 
Landschaften haben kann, so gibt es auch Menschen, die sich 
einem ganzen Bereiche der Nahir verwandt fühlen. Der Fach* 
gdefaite, der Berutanenadi, der Sammler lebt in solch cüicm 
einzeben Bereich. Als Landwirt, als Oirfner, als Boäuiker 
hat der idyllische Mensch eigentfimliche, gemfitlicbe Beziehungen 
zur Pflanzenwelt, der er sich nahe weiß (unter den Dichtem z. B. 
Mörike; den Frauen licigt die idyllische Pflanzenwelt weitaus am 
nächsten). — Der Orenzmensch wird eher von den kosmischen 
Erscheinungen angezogen (Dante), und es ist kehi Zufall, daß 
Kant, der zum erstenmal das Gefühl des Erhabenen philo- 
sopiiiscli eiiorscht, die Theorie der Himmelskörper ausbildet. 
Auch Poe hat sich fortwährend mit der Stemenwelt beschäftigt, 
er hat eine phantastische Kosmog"onie Heureka ') und eine 
(bisher nicht überset/te) Stcniendiciituni^^ Al-Aaraaf geschrieben. 
Er sinnt über einen ga^heiminsvollen Zusammeiihaiic, der mensch- 
lichen Seele mit den Sternen und glaubt, die Leidenschaft könnte 
solch eine kosmische Kraft gewinnen, daß ein neuer Stern im 
Wdteniaum entsteht. („Die Macht des Wortes.") — Ooethe ist 
dem ganzen tellurischen Kreis nahe gewesen, den Heien, den 
Pflanzen, den Wolken, vor allem aber den Sternen; dagegen hat 
er sich niemalii mit Astronomie befaßt. Nur vom Licht ist er 
im Bann gehalten worden. — 

3. 

Die tragische Zerrissenheit der Seele, ihre Dämonie und ihr 
Sieg, kann so ein anschauliches Widerspiel in der Natur finden. 

Aber auch die Betrachtung eines großen Menschen und seiner 
Taten und Leiden wirkt nicht anders auf uns als ein erhabenes 
Naturgeschehen — und erst jetzt erschhel^t sich uns ganz der 



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189 



Sinn der Tragödie: sie zeigt als ästhetisches Schauspiel 
im tragischen Kampf ond im tragischen Si^ das Erhabene nicht 
an einem Vorgang der Natur, sondern an der Entfaltung einer 
groi^en Seele und lehrt uns neben dem Natur-Erhabene ti 
das Seelisch-trhabene fühlen. Wir verstehen, daß das 
Erhabene das anschaulich gewordene Tra- 
gische ist*) — Die Spannung des tragischen Kampfes ent- 
spricht dem D&mofusch-Eriiabenen in der Natur, dem Gewitter 
in den ficfgen, dem Sturm öbenn Meer; und wenn wir das 
Seelisdi-Eitiabene in menschlichem Leiden und in menaGhUciher 
OrSfie betnuhten, so enthQlIt sich uns» wie vor der Majesiät des 
Stemenhimmetey das Ocfuhl des Ohcrtrsgiachen, Weisen. In 
diesem Sinn ist der Feldherr eihaben, der seinen Sohn zum Tode 
führen läßt und un Bewußtsein höherer Notwendiglieit und er- 
fiUlter Gerechtigkeit keinen Sdunerz aneriramt; ist Solarates ei^ 
haben, der schon den Todestrank genossen hat und die Ruhe des 
Gemütes nicht verliert. Dieses Seelisch-Erhabene veriiält sich 
zum Erhabenen der Natur wie Wirklichkeit, die aber nur er- 
schlössen werden kann (aus den Taten und Worten eines Men- 
schen), zum unmittelbar angesciiauten und verstandenen Bild 

*) In dem Absdmitt über den Schicksalsmenschea werden wir sehen, 

dafi mancher Mensch auch immlndbar a!s liatUT'Edubenee (nlcht alt 

Seeliecti'Erhabenee) empfunden werden kann. 



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5. DÄS KOMISCHE 



1. 

Wir haben das Tragische als eine allgemeine und prin- 
zipielle seelische Situation beg-riSen, die sich im Kunstwerk als 
Ästhetisch-Tragisches verkörpern und widerspiegeln kann. Das 
Komische, das damit innig verwandt ist, besteht n u r als ästhe- 
tisches Ptaanofnen; es ist nicht ein in sich beschlossener iimefcr 
Zustand — als solcher entsprechen ihm Beachaulidikeii^ Heiter- 
keit, Zufriedenheit — nicht eine Art zu sein, Boodeni nur eine 
Art, Dinge und Menadien anznachcn. Und zwir muB auch hier 
wie behn Traglechen ehi Zwieepidt bestehen; aber dieser Zwie- 
spalt ist zum Kontrast, zum Widenpiuch abgeschwicfat, der 
sich zwischen Gegenstand und Beschauer auftui; oder der hn 
Gegenstand altein begründet liegt Eine solche Disharmonie 
kamt ffir den, der sie erlebt, tragisch sehi, wird aber von dem 
andern, der sie als ^dei^mch fOhtt; ohne doch selber darsn 
teilzuhaben, komisch empfunden. Denn es einzig daran, 
von welchem seelischen Standpunkt eine zwiespältige Situation 
gesehen wird. Ebenso wie im Tragischen beruht auch im Ko- 
mischen der Gegensatz auf dem Urwiderspruch von Schicksal 
und Freiiieit. Wahrend aber der tragisch Empfindende mitten 
im Zwiespalt des Seins stdit, bedrängt und vielleicht vcmiclitet 
wird (als tragischer Zuschauer fühlt er mit dem Helden), ge- 
winnt der den Eindruck des Komischen, der von außerhalb, von 
oberhalb, von emem Punkt leiativer Freiheit auf diesen Kon- 
flüd sieht Der höchste Humor wSre ein Hinabschauen auf altes 
Gebundene^ Schicksalhafte mit dem Bewu6tsehi famcrcr Freiheit 
Das Komische ist mit dem Tragischen wesentlich verwandt^ es ist 
sogar m gewissem Shm damit identisch. Beide ZusUnde der 
Seele enthalten den Zwiespalt, der aich zuktzt hnmer ab Gegen- 
satz von Oebondenhcit und Freiheit enthfittt UndSoloalesmigt 



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191 



(im Symposion) richtig, daß es desselben Mannes Sache sei, Ko* 
nUMUen und Tragödien zu schreiben — ntedidi dessen (fOgm 
wir hinzu), dem die Freiheit Problem gi wro ideü ist Man loum 
also nicht dem tngiadien Menschen einen komischen gcgenfiber- 
stellen — denn für sich selbst ist niemand lEomlsdi — sondern 
man kann einem tragisch empfundenen Oescfaehcn ein komisch 
empfundenes vergleichen. Das Komische ist efai ästhetisches» das 
hdBt ein abgeleitetes» kern unmittelbares OefQhl — das Tragische 
kann unmittelbares Erlebnis, aber auch dessen Reflex sein. 

Man stelle sich eine herumziehende Schauspielertruppe 
letzten Ranges vor, die eine Tragödie auffährt. Der naive Zu- 
schauer sieht nach dem Willen der Schauspieler das Grausige 
und wird davon ergriSen. Andere spüren den grotesken Wider- 
spruch zwischen der Darstellung und dem Gegenstand als über- 
aus komisch, sie haben so einen relativ freien Standpunkt ge- 
wonnen. Den dritten kommt ein Schauder an vor dieser Tragik 
der Unzulänq:lichkeit, der ahnungsvoll und schldemd alles 
menschliche Tun abzuspiegehi scheint Er hat einer Tragödie 
beigewohnt^ wenn auch nicht der gemhnten. 

Ich will nun ehi paar Beispiele fihr das Gefühl des Ko- 
mischen geben: Wenn der Verkflnder einer asketischen Welt- 
anschauung wohlgenährt und lebenslustig dreinblickt; wenn ein 
Prophet, der gdfielschwingend das Weltende veiheiBt, in der 
Nachtmütze schläft, so ist das komisch, weil der Widerspruch 
zwischen der Überzeugung eines solchen Menschen und dem, 
was man von ihm zu sehen bekommt, allzu kraß ist. Und doch 
kann für ihn selber tragisch sein, was dem Beschauer als komisch 
gilt. — Der Dicke wirkt komisch, ebenso der übertrieben Magere. 
Wer eine zu ^froße Nase hat und wer eine zu kleine hat — kurz 
jeder, dessen Körperlichkeit in einem Mißverhältnis zum Nonnal- 
Menschlicben steht, der auffällt Um diesen Kontrast noch 
zu unterstreichen, wird in Schaubuden meistens der größte Mann 



192 



der Welt neben dem kkfanlen gezei^ Einen Mcnachcn kari- 
kieren , lieiBt; einen Widefspruch, etwas Komiecbcs in ihm ao 
stark hervorheben, als wSre der eine auffallende Zog das Alter- 
wichtigste an ihm, als wäre dieser Mensch durch ein einziges 

Merkmal ganz ausgeschöpft") Wie lür den Dicken und für den 
Dünnen kann fast für jeden Menschen ein Punkt der Betrachtung 
gefunden werden, von dan er komiscli wirkt; wenn man nämlich 
seine Abliängigkeit durchschaut oder zu durchschauen meint und 
sich darüber „lustig machf*. Der Karikaturist ist der Mensch, 
der den Instinkt für diese Einseitigkeit hat — er ist ungerecht 
und heblos. Und das Beleidigende der Karikatur liegt darin, daß 
ein Menadi dureh einen einzigen Zug determiniert sein soll. 

Die vielen Spottnamen des taglichen Lebens entstehen, wenn 
etwas einzelnes bemerkt und heraus^^ehoben wird, was alsbald 
den ganzen Menschen bezeichnen muß. Nennt man jemand ein 
Schaf, so will man damit sagen, daß er durch einen dem Schafe 
zugemuteten Charakterzug, nändidi durch Einfalt, sonderlich her- 
vofsteche, daß er gewissermaßen nichts sei als Mensch ge- 
wordene Einfalt Anderseite glauben wir, daß Tiere auffallende 
mensdiliche Eigenschaften in hohem Maße besitasen. Hierauf 
beruht der Humor devTierepos: Manches Tier enchcint uns 
wie die VokOiperung und Kiürikatur einer einzehien Richtung 
un Menschen, CS kann nicht anders als emseitig handeln, es bringt 
ehie menschliche Eigenschaft mit der vollkommenen Oebunden* 
hfit des Tieres zum Ausdruck. Solche Tiere (Esel, Affe, Ziegen- 
bock) erscheinen wis wie die Karikaturen von Menschen, wie 
ihre zum Fatum gewordenen Neigungen und Laster. — Ent- 
sprechend den Gestalten des germanischen Tierepos haben cüe 
Unedlen m ihren Faunen und Sauren halb menschliche halb 



*) Du sublime au ridicule — der Typus ist erhaben, der Hyper* 
typus, die Karikatur lächerlich. 



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193 



ÜeriKhe BUdungoi gesduien, die ciim cinzekun menachlichcn 
Zug (Sinnlidikrit) aus der natfirlichea Hannonie Iten und als 
ketndund coipfinden laasoi» so daß er kondsch wiikt"*) 

Dos Tceiben der Kinder encbeint uns leicht komisch. 
Wr libeitliciGen ja ihre Wdt und Icennen die Schranken (oder 
glauben sie zu kennen), von denen wir uns selber frei wissen. 
Das Kind nimmt unendlich ernst, was uns nur zu einem Lächeln 
bewegt, seine Wichtigtuerei und Prahlsucht, seine Neugierde 
und Bep^ehrüchkeit, sein Spiel und seine Phantasie, jedes richtige 
Kindervv'ort hat seinen echten Humor für den Fnvachsenen. — 
Auf demselben Kontrast beruht die Komik der Alltagsmenschen 
in der Tragödie: neben dem tratschen Menschen, der es un- 
mittelbar mit dem Bewußtsein der Freiheit zu tun hat, muß die 
Oebondenheit aller anderen, ganz in ihre kleinlichen Inteiessen 
versenkten komisch wiiken. — 

Die meiicwürdige und pqfchophysiolQgisch noch nicht er- 
kUble Aufiaeung eines Wido^rndis ist das Lachen und da» 
Weinen. Sie kfinnen bei ataiker Spannung der verw<Mxenen 
und unerwartet enüadenen Elemente ineinander übeigehen. Dies 
ist die eigentliche Wirkung des Tragikomischen, das die 
WidefspfOdie entecfaieden, aber qualitativ ungeklärt birgt. Das 
Tragikomisdie ist das Komische sdbst, das man zugleich noch 
von der anderen, der tragischen Seite her empfindet. Wird eine 
kleinliche Angelegenheit zum Gegenstand eines tragischen Kon- 
fliktes erhoben, so können wir, obgleich die tragische Situation 
im Prinzip gegeben ist, doch ein Lächeln nicht unterdrücken. 
Eine Tragödie des Dicken ist durchaus möglich — aber sie wird 

*) Das Satyrspiel, das jede griechische Tragödie abgeschlossen 
hat, bedeutet wohl den Versuch, sich über das Schicksal, das in den 
Tragödien so uncrbittHch \saltet. zu erheben. Wenn die Griechen auch 
wahre Freiheit und damit wahren Humor nicht besessen haben (auch 
AffatoplMms Ist nur boSlult), so möchte das Satyrspiel doch dss Umr- 
tfigUcbe abschwidien, das Sddcksal nidit ganz ernst nehmen. 

Lucka, Or«nM dir SmIs. 13 



194 



allzu leicht Komödie werden. Es kann sicherlich ein tra|;ischer 
Kampf sein, ob jemand noch ein viertes Glas Bier trinken soll; 
die innere Stimme — die Freiheit — sagt : Nein ! Der Durst — 
die Tyrannei der Sinne — sagt: Ja! Und es ließe sich sogar 
denken, daß die dämonische Lösung dieses Zwiespaltes den Tod 
des Helden zur Folge hat, der dann am übenoaß seiner Gelüste 
ingath mitergegangen wäre. Aber um wahrhaft tragisch zu 
sem, muB der Kampf um ein Bedeutungsvolles gdien, das sich 
auch vom Zuschauer nicht so leicht entwerten, das hdBt in die 
komiadie Bdeucfatung rücken UBt Sonst ist der Kampf nur 
tnglsdi ffir den Hdden, aber konisdi ffir den Zusdistier — 
vorauflgesetzty dafi er sidh vom Odfiste um das vierte Olas bä 
wcifi. Der Wtg vom vierten Glas bis zu den höchsten Pro- 
blemen des Menschen gebt sber allmUilidi, von Stufe zu Stufe 
wdlcr. Man kann nicht sagen: an diesem Punkt fangt die Sache 
an, emsthaft und wertvoll zu werden; es hSngt viebnehr durch- 
aus von dem Menschen ab, wo aehi Emst einsetzt; der der 
Tragik des vierten Glases erliegt, kann sehr wohl ffir die Un- 
lösbarkeit der Welträtsel ein humoristisches Lächeln haben! — 
Die innere Verwandtsdiaft des Tragischen mit dem' Komisclien 
steht aber schoii fest, wenn wir erkannt haben, daß die niedri- 
geren (jrade des Tragischen komisch sind. Werden wir — die 
Betrachtenden! — mit in den Kampf hineingezogen, so erweckt 
er das Gefühl des Tragischen in unserer Seele; durchschauen wir 
die Kleinheit der Konflikte und die Blmdheit des Betroffenen, 
halten wir uns also innerhch frei, so gewinnen wir das Oefühl 
des Komischen an einem Zustande, der zwar fonnal zwiespältig 
aufgebaut ist» aber vor einer höheren Behrachtung ohne Oröfie 
erscheint. 

So ist die Tragilcomödie die wahre Komödie (ein anderes 
als dss Asthelisdi-Komisdie emstiert Ja nlditl): die handehiden 
Menschen sind vom Bewußtsein ihres Ernstes und ihrer Leiden- 



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195 



achaft erffillt, sie apumen ingiscb alk Kritfte an, aber der Zu- 
flchaner sidit die FSden, an denen die Heiden baumeln, die doch 
von ihrem heroischen Tun durchdrungen sind, er kennt ihre 
Natur und den Einfluß der Umgebung, kurz ihr Schidnal — und 

er lächelt, denn es ist ihm gelungen, seine Freiheit gegenüber 
alledeiii zu bewahren.*) Einen komischen Helden im Sinne d^ 
Tragischei gibt es nicht. Don Quichotte ist durchaus tragisch, 
in die komische Beleuchtung rückt ihn nur die überragende 
Größe seines Dichters; und 1 alstaff ist (solang er Geld hat) 
ein mit sich und der Welt zufriedener Genießer. Für den höheren 
Menschen unserer Zeit bleibt auch in jeder Schicksalstr^ödie ein 
komischer Rest, wdl wir nicht mehr imstande sind, die Ge- 
bundenheit durch das Schicksal ganz cniat zu nehmen ; wir haben 
die Möglichkeit, uns lächelnd darfiber zu erheben (wenn auch 
kaorn jeouda die Kntft). Ich muß geaidicn, daB mir die Uxbt 
Romeoa und Julias ehi wenig komiacb erscheint Da ist nidiis 
eigentUch PenAolidies^ nur die blinde Natunnachl^ die zwei 
jmige Menschen zueinander zwingt; glaubt der JuQgUog die 
Qudle seuier Gescfakchtslust durch den Tod Julias — em Intum 
also! — versiegt, dann bringt er sich sozuaagm antomalisdi um. 
So sind Tragisches und Komisches im Tiefsten dasselbe; woran 
der eine tragisch zugnmde geht, das erweckt dem andern ein 
Lächeln. — Besonders vollendet tritt uns dieser zwiefache 
Aspekt in der Totengräberszene im Hamlet entgegen. Das 
Denken über den Tod, das Hamlet völlig zugrunde richtet, ist 
den beiden eine lustige Unterhaltung. Sie fassen den Tod als ihr 
bürgerliches Gewerbe auf und wissen sich behaglich schmunzelnd 
dem überlegen, der ihn allzu ernst nimmt — Die großen Oe- 



*) Es ist ein typisches Lustspieltnotiv bei Shakespeare, daS Leute, 
die sich rühmen, ganz frei von Uebesbanden zu sein und über alle Ver* 
liebten spotten, selbst am stärksten in die Sklaverei der Liebe geraten 
(Die beiden Venmeser, Uebesliist und «leU, Viel Um um Nidils). 

13» 



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196 



fühle frtUMRT Zeiten wefdea ffir miB Idcbter komisch als die 
der Oesenwari^ weil am Vefgangenen viel mehr Bediqgte^ im- 
gfiUisr Oewordeaes haftet, wUuend wir das Nahe schwer oder 
gar nicht in die iLomiache Dislanz zu bringen vennfigen. — Aid 
dieser Zwddeutiglcit nancher Situationen beruht die Paro* 
die: sie venddcbt das Ernste so lang, bis es von einem ko- 
mischen Reflex getroffen wird. ,,Am Weltbrand seine Apfel 
braten" — notiert Hebbd einmal in sein Tagebuch und gewhmt 
so der Tragödie der ganzen Welt eine komische Situation ab.*) 
— Diese 1 enden/, das Oroße in der Perspektive des Alltäglichen 
zu sehen, es zu parodieren, bleibt freilich eine unfruchtbare und 
selten erfreuliche Sache. Ist es doch ein bitteres Odühl, sein 
Heiligstes entwerten zu lassen. 

Wir verstehen das Wesen des Komischen ganz im ,,Sommer- 
nacfatstranm"» der ticfainnigaten Komödie der WeltUteratur. Die 
lidie» die immer so unendlich ernst genommen wird nnd den 
Hauptinhalt der neueien Dichtung ausmacht — als hätte das 

Shakespeare zweihundert Jahre früher gewußt! — erscheint uns 
hier in ilirer ganzen Bedingtheu. Wir schweben unt)egreiflich 
hoch über ihr und dürfen über sie lachen. Uns ist das Geheimnis 
verraten, daß die Paare durch den Mutwillen eines Elfs zu- 
sammengeführt werden, daß sie nicht, wie sie selber wähnen, 
frei der tiefsten Stimme ihres Innern folgen — nein, sie sind 
Narren des Schicksals! Und das ist ein wohlgelaunter Elf, der 
mit einem Zaubericraute spielt Die EÜenkönigin mit dem esels- 
köf^gen Handwerker ist das ewige Symbol der Liebe als Natur- 
macht (also in höherer Auffassung als etwas Komischen), nicht 
vom verliebten Menschen aus gesehen, sondern mit einem Auge^ 
vor dem alles Menschliche duicfasichtig whrd Der größte 
Diditer verwandelt uns in gotUhnUche Wesen und erlaubt uns 

4)10. S. 351. 



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197 



— selber frei vom Schicksal — l&cbdnd auf das Treiben der 
Geknechteten zu schauen. — 

Z 

Der Bereich des Komischen ist nicht minder gio6 als der 
des Tragischen. Freiheit gcgenllber dem Bedeutmigslosen kann 
mancher enmgen, wemi er selber nicht davoo betroffen wud, 
schwerer schon, wenn es ihn angeht Der Hmnor, der sich auf 
geringe GegensOnde bezieht, Ist der eigentliche Humor des be- 
trachtenden Mittdmenscfaen. Wenn Gottfried Keller das Leben 
des Alltags mit seinem würdevollen Gehaben und seiner inneren 
Belanglosigkeit, allerdings auch in seiner reichen Fülle, zddinet, 
so hat er dazu eine Distanz, die alles das wie ein Puppenspiel 
erscheinen läßt. Er besitzt innere Freiheit gegenüber dem 
Kleinen. Dies ist wahrer Humor; aber kein tiefer Humor, weil 
sein Gegenstand noch nicht durch die Zerrissenheit hindurch- 
gegangen ist Es ist Humor v o r der Tragik — t>eruht aber als 
Humor doch auf dem Zwiespalt von Freiheit und Gebundenheit 
Wäre der Dichter nicht innerlich frei gegenüber seinem Gegen* 
stand, so würde er sentimental werden oder lehrhaft, nimmer 
aber humorisüsch. 

Der nieditge Humor kommt dadurch zustande^ daß die 
Dmge des AUtugs lid)evoU In die komische Bdeuchtung gerfickt 
werden; der tiefe Humor aber, der Hmnor Shakespeares» Beelho- 
vens und BrucknerBi der nodi seltener ist als die grofie Tragik, 
müßte das ganze Ldien und alles MenstiUiche bis in die letzten 
Gründe umfassen und doch komisch vertiflren. Er kOnnte nur 
dem zugänglich sein, der auch die tiefste Tragik erfahren hat 
Die seelischen Voraussetzungen sind ja dieselben, nur die innere 
Stellung hat sich geändert. Und so wäre endlich das Schicksal 
komisch geworden — wenn sich ihm der Zuschauer nicht mehr 
Untertan weiß. Der höchste Standpunkt des Komischen würde 
dann mit der Überwindung des Tragischen in einem Lächeln 



198 



zusammenfallen. Was derniocü fehlt, werden wir später sehen. 
(Es kommt nicht selten vor, daß Menschen, die von der Un- 
heimlichkeit des Lebens gebannt sind und daran leiden, eine 
große Liebe zu kleinen, nichtssagenden Dingen haben, daß sie 
sich mit liebevoUem Humor in den Alltag veneoken. Er ist ihre 
Rettung vor dem Unerträglichen. Das kann man bd Boeddin 
und auch bei Jean Paul bcnuafähten.) 

Wie aber nur in seltenen Stunden die Tragik des Menschen- 
lebens fibeiiiaapt, die eherne Gewalt des Sdüdoals empfunden 
wini; so endielnt kam jemals das ganze Leben miter dem 
Aspekt des Komlsdien: Fast ioDuier ist es ein Einzelnes» ein 
kleiner Ausschnitt, der durchschaut und komisch erleacfatet wird. 
Der Zwang, der uns nicht mehr zwingt, ist koadsch ge wo r d en; 
die Tragödie der Schule für den, der ihr entronnen ist, der Aber- 
glaube des Orientalen für den Europäer, der des Christen für 
den NichtChristen, weil sich der Beschauer von dieser Art des 
Zwanges frei weiß. Das Treiben eines verliebten Paares erscheint 
uns leicht komisch, wenn wir es aus der richtijSfen Entfernung 
betrachten. Kommt uns aber etwas Derartiges in semem Oe- 
fühlswiderball zu nahe, finden wir zu viel von eigenem dann, 
dann vermögen wir die komische Distanz nicht mehr einzuhalten 
und woden von der fremden Tragik ergriffen. Wollten wir auch 
dann nodi, was in Wahrheit tragisch auf uns wirkt, gewaltsam 
komisch empfinden, dann wlren whr dem Zynismus ver- 
fallen. Zynismus ist für die komische SleUttog, was Dimonie 
fOr die trqische ist Der Zynische verUndet die negative Sinnes^ 
art mit einer gewissen ScSbs^geflUHgiDeil^ er tut sich etwas darauf 
zugttt, das Emsie nicht einst zu nehmen, das Hdheie zu mlB- 
achten. — Auch der Humor kann dftmonisch sein, wenn 
er das Traurige und Entsetzliche grotesk in die komische Be- 
leuchtung schiebt. Die Meister des dämonischen Humors sind 
Swift, Lawrence Sterne und Poe. Auch der Humor Wilhelm 



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199 



Buschens hat oft penug einai Stich ins Dämonische (cxler ins 
Verbitterte), wenn er uns zu lachen zwin^ wo die Menschen 
elend zugrunde gehen.*^) — 

Der Mittebnenach gibt gern seine temperierte Natur, die 
gar nicht die Anlage zum Zwiespalt hat, für höheres Menschen- 
tum, für gewonnene Abklärung aus — und beruft sogar nicht 
adten den Namen Ooeifaesw Eine JugendverUcbtfadt oder ein 
paar Riuacfae werden dann wohl In der Erinnerunf zu einer Art 
von dämonischem Stadium, das der reife Oeiat fibemnmden hat 
Diese mit sich zufiriedene Gemfitsveifasaang macht das c^gient- 
licfae Wesen des gebildeten Philisten ans; weil seme Seele eine 
seichte Lache ist, deutet er sie zu einem Meer um, das nach 
Stürmen zur Ruhe gekommen ist, und blidrt dann wohl im Be- 
hagen seiner Problemlosigkeit naciisichtig lächelnd auf den Er- 
lebenden und Kämpfenden. Dieser Art Menschen ist manchmal 
ein gewisser breiter Humor eigen, der sich eben dadurch als 
Humor legitimiert, daß die betrachteten Gegenstände klein und 
belanglos sind. 

Wo Tragik bestehen kann, ist auch für die komische Auffas- 
sung Raum. So gibt es nicht nur eine Tragik des Erkennens, 
sondern auch einen Humor des Erkennens. Daß die menschliche 
Eihenntnis eingeschränkt ist, kann höchstes Ldd hervorrufen 
Oda Chi humoristisches Lichehi fiber all das fruchtlose Mühen 
(auch eine gewisse dämonische Freude^ die man bei Theologen 
nicht adten antrifft). Der ricUjge Odehite freiltch hat weder ffir 
die Tragik noch für die Komik des Erinnnens chi Organ, weil er 
zu sehr auf emem besthnmten Punkte festgenagelt ist und nicht 
die geringste Freiheit besitzt 

Was wir als den eigentlichen Inhalt des tragischen Bewußt- 
seins festgestellt haben: die Unangeraessenheit der Menschen an 
das, was sie sein sollten — das erscheint auch als der letzte 
Vgl. S. 116. 



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200 



Gej^enstand des Komischen: daß die Menschen so klein, so be- 
schrankt und dabei so wichtigtuerisch, kurz so menschlich sind, 
daß sie von hundert Einbildungen und Eitelkeiten geführt 
werden — das macht sie komisch. Und es macht sie doch auch 
tragisch. 

3. 

Witz, Ironie und Satire haben mit dem eigentlichen Humor 
mdäfB zu tun, sie sind Angelegenheiten des bloßen Ver- 
standes; aber eine foimale Ähnlichkeit besteht doch: sie 
bergen ebenso wie das Komische ehien Kontrast Der Witz 
beruht darauf, daß zwei entgegengesetztej unvereinbare Oe> 
danken aufeinanderpndlen und in einer überraschenden und für 
den Verstand befriedigenden Art versöhnt werden. Der Witz ist 
der Stolz des „Geistreichen der sich im Bewußtsein seines guten 
Verstandes überlegen weiß. Sein Lieblingsgegenstand ist die 
Dummheit, die Unzulänglichkeit des Verstandes, und die größten 
Witzbolde sind vor allem „gescheite" Menschen ohne Naivität 
und Unmittelbarkeit. Der Witz ist kein wohlwollend übcrl^ener 
Zuschauer, er freut sich vielmehr an der Dummheit und lacht 
Ober sie, er niht auf negativem Grunde. Wird ein Gegenstand 
im Zusammenhang witzig behandelt, so entsteht die Satire. 

— Ironie ist das intellektuelle (nicht unmittelbar menschliche 
und nicht künstlerische) Verhalten des Zerrissenen und Ver- 
bitterten, der sich über die Phänomene erhebt und doch selber an 
seine Oberiegenhdt nicht glaubt Die Ironie ist nicht imstande 

— wie etwa der groteske oder der dämonische Humor — die 
Dinge in einer besonderen Beleuchtung darzustellen und sie so 
zu fiberwhiden. Sie kann nur gloasieien» ihr fdilt jede Kraft zur 
Oesbdtung und sie madit den Riß un eigenen Innern noch tiefer, 
da sie ihn niemals venuaben lifit Der iroaiker erti9gt sich 
selber nidii 



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201 



Zum Humor ist hingegen der Galgenhumor zu 
rechnen, der mit dem dämonischen und zynischen Humor nahe 
verwandt ist Er entsteht, wenn man die humoristische Be- 
trachtung auf sich selber anwendet. Einer wird zum Galgen 
geführt und sagt: Oott sei Dank, daß es heute nicht regnet, sonst 
könnte ich mich noch erkälten! — Der reine, sachliche Humor 
ist ein Blick aus ruhiger Höhe, dem die Gegenstande da unten 
enger zueinandertreten. Er erhebt sich über DiQge, Zustände 
und Menschen, vecfluchtigt ihr Pathos» indem er ihnen alle 
Schwere unmeddidi entzieht und nicht gar so wichtig sein läßt, 
was uns im Leben quält und seine Existenz handgreiflich fühl- 
bar macht Der große Humorist nimmt einen durchaus philo- 
sophischen Standpunkt ein, er versteht alles Seiende in seiner Be- 
dingtheit und wandelt es zum Schauspiel. Wir sehen den Me- 
chanismus einer Welt, die sich gewissermaßen allein gemacht 
hat {wie in den Shakespeareachen Komödien und im Don 
Quichotte). Stellt sich aber der Dichter, wenigstens andeutungs- 
weise, selbst mit in einen Winkel, so ist der Einschuß von 
Galgenhumor gegeben. Der Narr bei Shakespeare ist einige Male 
der Galgen hurnorist. Wenn Jean Paul liebevoll das ungeheure 
Ereignis schildert, wie jeden Samstag nachmittag die Wohnung 
von Grund aus t^ereinijETt und dabei alles weniger Ernsthafte, wie 
etwa seine Manuskripte und Notizen, mit der hegreiflichen Ver- 
achtung der Hausfrau behandelt werden — so steckt in dieser 
echt humoristischen Szene doch schon ein Stachel von Galgen- 
humor, der Betrachter nimmt sich, seine eigenen Mißlichkeiten 
und Leiden mit in die humoristische Stellung hinein. 

Galgenhumor und dämonischer Humor haben so einen 
Einschlag von Vertütterung und Zynismus. Sie sind mit einem 
inneren Zwiespalt geschlagen, denn das Obel, an dem man selber 
krankt, ist doch nidit ganz zu fiberwinden, wenn es auch gern 
in die allgemeine sonnige Weltanschauung des Humors eingeben 



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202 



möchte; der Mensch, dessen natürliche Stellung die humonstische 
ist, sehnt sich, über dem eigenen Kummer so hoch zu stehen, wie 
über fremdem. Gelange dies ohne den Stachel des Zynismus und 
der Selbstpetnigung, dann wäre die humonstische Weltbetrach- 
iimg zu einem höchsten Sieg gekommen. — 

Es macht die Komik Falstaffs so groß, daß er sowohl 
Subjekt als auch Objekt des Humon» ist „Ich bin nicht nur 
selbst witzig, soodeni auch Unacfae, daB andeie Witz haben.** 
Er ist aber nicht nur witzig, er bat den gmialen Blick des 
großen Humoristen und vermag auch das Effaabenste in seuier 
Bedingtheit zu sehen und komisch zu empindn. Er riicfct die 
Idee der JEhnf*, der Odttfai des Rittertums und aller Menschen 
seiner Zeit, in eine solche Bdeuchtung, daß sie nichtig und ko- 
misch erscheint. Majestät hdBt ihm, den Scfalfissel zur SdiatZ" 
kammer in der Tasche haben. Er ist khiger und gdbildeter 
als alle Großen des Reiches, aber im Gegensatz zu ihrer Würde 
und ihrem Ehrgeiz erkennt er keinen anderen Zweck an als den, 
sich den Wanst zu füllen. Wäre er ein beschränkter Kopf, so 
käme dieser Kontrast kaum zur Geltung, so aber wird der 
Widerspruch zwischen Geist und Materie zur Grundlage seiner 
Komik, der Geist stellt sich schmunzelnd in den Dienst mate- 
rieller Zwecke — ein Widerspruch, der den Urwiderspruch von 
OelHuidenheit und Freiheit aufs tiefsinnigste fühlen läßt FalstaS 
ist ganz durch seuien Bauch determiniert und spricht tMsttndig 
von sehler Weisheit; der großm&tttige Friedensrichter Scheel 
schdnt ihm komisdi, aber er schekit sich auch selber komiscii 
— , JJeber Oott» was wir alte Leute dem Laster des Lägens 
eigeben smdt^ — Er lacht fiber sich ohne jeden Beisatz von 
Galgenhumor, ganz genial. 

Eine weitere Äußerung dieser komischen Grundanlage ist, 
daß er nur von Minute zu Minute, ohne jeden Zusammenhang 
lebt Er wird völlig vom Augenblick bestimmt und weiß nicht 



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203 



melir, was er soeben gesagt oder getan hat, so da6 ein Unte^ 
schied zwischen Wahifacit und Lüge — der immer die Erimie- 
rong an das Frühere, zu Vergleichende voraussetzt — fflr ihn 
nicht besteht Wie er zuent erschehii; hat er einen (zweScUos 
der Oeldveriegenheit entaprungenen) moralischen Katzenjammer 
und ist entschlossen, sein Leben zu indem; kaum hört er aber 
von einem wadeeren Diebsnntemehmen, da glänzt schon sein 
Auge auf und er verabredet die Sache, ohne jeden Obergang. 
Er erzählt von seinem Kampf mit den Räubern und vergrößert 
während der Erzählung fortwährend die Anzahl seiner Feinde; 
das ist offenbar nicht sehr klug, denn der Bericht verliert alle 
Glaubwürdigkeit, aber sein Bewußtsein ist so unzusammen- 
hängend, so sehr an den Aug-enblick dahnigegeben, daß er * 
wilidich bei jedem Satz den vorigen schon vergessen hat. Sein 
beständiges hssen und Tnnken ist eigentlich nur eine Erschei- 
nungsform dieser inneren Zusammenhangslosigkeit, er geht im 
Augenblick au! und erfüllt ihn möglichst sinngemäB. Diese Züge 
erinnern an den Humor der Tierfabd: auch der Fuchs imd der 
Bär leben nur den Gelüsten des Augenblicks, werden aber von 
ihrem Dichter menschlich, das heißt fibenchauend und im Zu- 
^aimii tt i hu ng betrachtet* — 

4. 

Hermann Bahr meint in seinem „Dialog vom Tragischen", 
alle Tragik sei ein hysterischer Zustand, die Klärung und Reini- 
gung der Affekte, die von der Tragödie ausstrahlt, entspreche der 

Erleichterung beim Bewußtwerden unterdrückter Neigungen, ge- 
fährlicher atavistischer Triebe. — Ich muß diese Ansicht für das 
wahre Tragische durchaus ablehnen, weil es sich da nicht um 
etwas Pathologisches (auch nicht um etwas Kultur- Patholo- 
gisches), sondern um einen fundamentalen seelischen Zustand 
lianddti glaube aber, daß diese fonnaie Analogie der tragischen 



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204 



und der hysterischen Zerrissenheit den eigentlichen Zwie- 
spalt der Frauen trifft. Dostojewski sagl irgendwo, die 
Natur habe den Frauen in ihrer Cmte die Hysterie geschenkt. 
Ich weiß nun nicht, ob es eine gute Gabe der Natur ist die 
innere Zerrissenheit im hysterischen Krampf abzureagieren (oder 
mit Breuer und Freud psychoanaiytisdi bewußt zu machen und 
auizuheben), anstatt die Spannung als tngiache zu vertiefen; aber 
ich trlaube allerdings mit dem gr&Bten Menschenkenner, daß 
reine Tragik, die ja dm seeUschen Dualismus zur Voraus- 
setzung bat; den Frauen nie ganz erreichbar ist Das scheinbar 
paradoxe Wort Dostojewskis will ja nichts anderes sagen, als 
daß die Frauen einen wirklichen tragischen Zwiespalt dadurch 
von sich abwehren, daß sie ihn in einen physiologischen Zustand 
umsetzen. Nicht als seelischer Kampf (oder nicht allein als 
seelischer Kampf), sondern als Nervenkrampf äußert sich ihre 
Zerrissenheit. Die psychophysische Einheit der Frauen ist so 
stark, daß ein seehscher Zwiespalt gleichzeitig körperlich zum 
Ausdruck koinineii muß. Sie stehen zu tid in der Natur, als daß 
ihnen die prinzipielle Stellung von Freiheit und Oebundeaheit, 
die das Tragische begründet, ganz zuiränglich wäre. Dies wird 
nur sehr mangelhaft dadurch bewiesen, daß niemals von emer 
Frau eine wahre Tragödie geschrieben worden ist; aber, so 
paradox es klingen mag: die Frau hat auch keinen eigentlichen 
Sinn für das Komische, sondern nur für das Witzige und das 
Ironische, das mit dem Komischen höchstens eine äufieritcbe 
Ähnlichkeit hat und ebenso ün Lachen äugtet wird. Sie können 
wohl Objekt des komischen Betrachtens sein, werden sidi aber 
des tieferen Komischen niemals sdbst bewußt Der Orund ist 
beim Komischen dersdbe wie beim Tragischen und geht in die 
letzten Wurzdn ihrer Natur: die Frauen sind einheitlicher, un- 
gebrochener, ich möchte sagen, epischer organisiert*) — 

*) Hiezu: Die drei Stufen der Erotik, bes. $.2901* 



205 



Der Humor ist eine Btißhuog des Lebeos (im Oegmatze 
zum Witz und zur Iiauie^ die das Leben zersetzen, und zur 
Karikatur, die es veriidluit), aber doch eine resignierie Bejahung: 
man siebt dem Sdiauspid vergnügt zu, ist aber doch übenengt, 
daB es nidtt viel taugt. Der Humor ist im Tiefsten Verachtung 
altes Menschlichen, er hat verzichtet Forderungen zu stellen und 
die Wirklichkeit aii eineni 1 löheren zu messen, läßt vielmehr alle 
innere Sinnlosigkeit gut sein. Ihm ist das Leben nur ein Schau- 
spiel, das man genie(3t, wie immer es sei. Dieser Stellung ist das 
Wertvolle (das ist aber das tiefere Leben) gleichgültig, sogar 
komisch Der Hrimor ist durch und durch unheroisch und 
das scheidet ihn vom Übertragischen. — So enthüUt sich der 
Humor zuletzt doch als etwas Relatives und sogar Negatives^ 
wdl er das Vorhandene zwar gelten läßt, sich aber gegenüber 
dem Wertvollen indifferent hält Eine wahrhaft positive Stellimg 
will das Seiende beurteilen und werten. Sie b^aht nicht adüecfat- 
hin, nur weil etwas ist und weil man es in aH seiner Unzuldng- 
licfal«t als ein komisches Spid zu genieBen vennag. Diese Std- 
lung will vielmehr das Bedingte als Bedingtes veiBtehen und dar- 
über hinauskonunen (nidit bei der blofien Betcadituiig bleiben). 
—. „Der Humor ist ehies der Elemente des Genies, aber sobald 
er vorwaltet, nur ein Surrogat desselben", sagt Goethe (Sprüche 
in Prosa). 

Hier sind zwei letzte Möglichkeiten, der Welt gegen überzu- 
treten: Der Mensch kann seine Freiheit schauend bewähren 
(die höcliste Stellung des humoristischen Weltbctrachters); oder 
er kann sie darüber hinaus noch urtetlend, wertend — schaf- 
fend in lebendige Tat umsetzen. — 



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6. VOM PHILOSOPHIEREN 



Was für eine Philosophie man wählt, hingt 
sonach davon ab, was ffir ein Mensch man 
tat Dem eia pldliwoplilacliM System ist 
aicM «In toter Hausrat, den nuui ablehnen 
oder annehmen kann, wie es uns beliebt, 
sondern es ist beseelt durch die Seele des 
Menschen, der es hat Pichte. 

Um so lefchter werden wir jemandes Worte 
verstehen können, je besser wir sein Wesen 
und seinen Geist kennen. Spinoza. 

1. 

Philosophie im allgemeinsten Sinn ist die einheitliche und 
bewußt gewordene Stellung, die ein Mensch zu allem Seienden 
und zu allem Gedachten einnehmen kann. Sie ist das Bekennt- 
nis meines Denkens, Glaubens und Handelns, die Feststellungf, 
daß ich der Welt unter einem ganz bestimmten Gesichtswinkel 
g^enüberstehe, daß ich auf sie in einer unveränderlichen Weise 
RUgiere. Eist dort, wo die sachliche Beweisbarkeit, d. h. die 
exaldie Wissenschaft aufhört, wo das wissenschaftüche Denken 
im engmi Shrn — für das sowohl Methode als auch Gegenstand 
allgemeingültig sind und also von jedem Urteilenden anerionnt 
werden müssen — wo dieses Denken pfinzi|iiell nicht weiter 
kann, wo die strenge aUgemdngQltige Ricfatii^t veisagen muß, 
wo M^itenntnistheorie'S „Naturwisscnsciiaft", »,wissensdiaft- 
liehe Psychologie'* am Ende sind — efst dort kann eine Persön- 
lichkeit aufstehen und auf alles Gesicherte, was ihr dargeboten 
ist, weiter bauen und sagen: Bis hierher bin ich gehalten zu 
denken, wie jeder vernunftbegabte Meiisch denken muß, denn die 
Wissenschaft ist Gemeingut und duldet keine Ausnahme; hier 
aber habe ich das Ende der Linie erreicht, zu welchem das 
wissenschafthche Denken führen kann, hier trete ich in ein neues 



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207 



Gd>iet hinüber: Alles Erforschte und Anerkannte, das bisher 
höchster Zweck der „Erkenntnis" gewesen ist, wird mir nun 
zum Hilfsmittel, um dem Sein gegenüberzutreten und es in 
meinem persönlichen Aspekt zu schauen und zu 
formen. Wem gegeben ist, sein Verhältnis zu allem und zum 
All in einer neuea Weise festzuhalten, die Welt zu schauen und 
zu werten wie kdn anderer, ohne aicfa doch mit Einsichten der 
allgemeinen Wissenschalt in Widerspruch zu setzen, der ist ein 
Philosoph. Seiner Kraft ist eine riesige Aufgabe gestdlt: 
Das WeltvcfhUtnis» das ihm allein möglich ist, wafaihaft zu ge- 
stalten und den neuen AnbUdc, den ihm das Sein bietet, ver- 
attndlidi für andere anfzubauen. So ist Phil08q)hie nicht 
aenscfaaft (und daher auch nicht telifbar), sondern mehr, sfe ge- 
bnuicfat die Wissenschaft (die über letzte Fragen prinzipiell nicht 
entscheiden kann nnd niemals wird entscheiden können) zu etwas 
Neuem und weist ihr so euMO Zweck zu, der neben den prak- 
tischen Zwecken der Technik und neben der Erkenntnis als 
Selbstzweck, als Befriedigung des theoretischen Bedürfnisses be- 
stehen kann. Philosophie ist die Umbildung alles Existierenden 
in eine neue einheitliche Gestalt, Eingehen der Dinge in einen 
Geist und Entlas&enwerden aus ihm, sein organisches Urteil über 
das Sein, über dessen Wert und Unwert, Philosophie ist der 
eigentliche Sieg des Meiischengeistes über die Welt, Neusthöp- 
fung des Seins durch die Persönlichkeit, und sie ist mehr als 
Wissenschaft und gleichgeordnet der Religion, die ebenso alles 
Sein unter einem großen Blickpunkt wertet; tirkenntnis, Gefühl, 
Olaube sind Faktoren, die von def Pliüosophie zu einem einheit- 
lichen Zweck verwendet werden. 

In diesem (meislens nicht ansdrficklich verlcündeten) Sinn ist 
Philosopbte von aUcn großen mid schöpferischen Denkern ge- 
nommen worden: ab tiefstes Eiisssen der Welt mit den Mittehi 
der Eikenntnls sowie der Intuition und daiaaf gegrihidetes Zu- 



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208 



sammenfassen, Gestalten und Werten. Nicht das ist das Wesent- 
liche, ob die Syntliese mehr abstrakt ixiir mehr anschaulich voll- 
zogen wird, ob einer wie Piaton und Schopenhauer zur Bild- 
iichlceit neigt oder wie Spinoza und H^el zur BegnßUchlseit 
und zur wissenschaftlichen Darstellungsform; das sind Unter- 
schiede zweiten Ranges, gewissennaBen zufälhge psychologische 
Differenzen. Auf die Kraft und Einheit der Ziisammmfassuiig, 
der Gestaltung und Wertung konunt es an. 

iDamit steht nicht im Widerspruch, daß noch jeder Philosoph 
behauptet hat, in aeiiiem System echte Wiasenschaft zu gebea; 
dies Icami nicht anden sein: denn |eder Ist so innig von der 
Wahiiteit seiner Einsicht fiberze^gt, daß er glanben muB, sie 
bOde die Essenz und den Abschluß aller menschlichen Vemunft 
und Erkenntnis. Fichte gibt bezeichnenderweise einer Schrift 
den Unt^tel: i,Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu 
zwingen.** Ffir jeden wduen Philosophen gilt das: Hier 
stehe ich, ich kann nicht andeis! — Denn könnte er auch anders» 
so wäre er el)en nidit der, der die Welt so sehen und so werten 
muß. Ist es der Stolz des wahren Gelehrten, sich einer besseren 
Einsicht zu beugen, und was früher für wahr gegolten hat, durch 
Wahreres zu ersetzen: so muß dies dem echten Philosophen un- 
begreiflich bleiben. Seine Oberzeu^un j ist er selbst, sein Ich, 
seine Seele; sie aufgeben, liieße sich selbst vernichten. Und das 
ist nicht Eigensinn oder Bcsciiräiüctiieit, sondern nur die Folg^ 
davon, daß er Philosoph ist, d. h. einer, der aus sich heraus das 
All geformt hat — nach seinem Bild. Er wird so leicht 
den Anschein eines starren Dogmatikers erregen: auch das ge- 
hört zum echten Philosophen, daß er eui entschiedener Geist 
ohne Schwanken ist und nicht ein halber. Und der ewige Phi- 
listeicinwand, eine Sache kfinne nicht viel taugen, wo jeder mit 
der Widerlegung seines VoigSngefs anfingt, beweist nichts als 
das Unverstindnia für Philosophie. Dieses UnverstSndnis für 



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209 



Philosophie liegt auch den modemen Richiungen zugrunde, die 
Alfen Mangel an originaler ScfaOpi^eftnrft doitli ängstliche Sorge 
um „Wissenschaftlichkeif' (d. h. allgemeingültige Beweisbarkeit) 
ersetzen wollen, denen Theorie der Außenwelt, Analyse der see- 
lischen Ersthemungen und anderes, oder all dies zusammenge- 
nommen Philosophie heißt. Hebt ein wirklicher Philosoph das 
Haupt, so ist der Zweifel über das Wesen der Philosophie auch 
schon vergangen wie Bodennebel vor der Sonne. — 

Wenn man sich mit Philosophen befaßt, will man in der 
R^el entweder darstellen, was sie gedacht haben, und den gene- 
tischen Zusammenhang ihrer Lebren mit anderen Lehren er- 
kennen; oder man will den Wert ihrer Lehren logisch abschätzen, 
fragen, was dann gültig sein möchte. Hier soll etwas prin- 
zipiell anderes versucht werden: überzeugt, daß das Denken 
eines Philosophen den tietsten Wuizebi seines Wesens enManunt, 
daß es nichts anderes ist als die bewußt gewordene Wesensart 
seuier Seele — überzeugt von dieser Einheit fan Wesen der 
großen Menschen übeitaaupt (die in einem sp&ieien Abschnitt 
beim kfinsüerischen Genie gezdgt werden soll), will ich es ver- 
suchen, die Seele eines Philosophen von seinem Wdtsystem ans 
zu verstehen, sefai Bild der Welt als ein Bild seiner Sede zu 
fassen, und in Erglnzung dieser Aufgabe und teilweise zusam- 
menfallend mit ihr, das Verstftndnis einer Philosophie „von dem 
inneren Prozeß her zu gewinnen, dessen Lebendigkeit in ihr die 
Kristallform des Begnlies angenommen hat" (Simmel). Was 
ich geben kann, ist aber nicht mehr als ein Ansatz in einer Rich- 
tung, die vielleicht einmai weiter ausgebaut werden wird, und 
man sieht dabei sogleich, daß das Hauptbestreben dieser Arbeit, 
Einsicht in die menschlichen Charaktere zu gewinnen und allge- 
menie seelische Typen zu bilden, hier nur an einem bestimmten, 
aber sehr allgemeinen Gebiete erprobt werden soll. 

Was vom wahren Philosophen am entschiedensten gilt, das 

Lneka« Ommn dar SmI«. U 



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210 



kann doch bd Jedem MenadMO, wenn audi in weniger klarer 
Weiee^ aufgefunden werden. Nidit jeder Mensdi ist ein Pliilo» 
soph, aber jeder hat iigendein VerlUtttnis zur Weli^ aueii wenn 
er selbst nicfais davon weiß. Man kann dieses Veddllni» ins Be- 
wußtsein hellen und zu Ende denken und man eikennt dann, daß 
zu jeder Menschenart ein bestimmtes Weltbild, d. h. eine Philo- 
sophie gehört. Denn macht man mit der Auffassung der jl^hilo- 
sophie als der Grundstellung zum Sein Emst, so ist sie nicht eine 
Angelegenheit der Schule oder der Bildung, sondern etwas ur- 
spröng'lich Mensdihches, das im ausgearbeiteten System nur zu 
seiner bewußten und konsequenten Vollendung gelangt ist. So 
kann man den Philosophen auch kurz definieren als den ganz 
l>ewußt lebenden Menschen, den .Menschen, dem seine eigene Art 
völlig klar gewoiden ist und der außerdem für sie eintritt, wäh- 
rend alle anderen nur über Bruchstücke von Bewußtsein ver- 
fügen und sich selbst nicht durchaus aneikennen. Was man ist 
und was man will verstehen und die Konsequenzen danms der 
ganzen Welt gegenüber ziehen, das muß dazukommen, damit 
ein Mensch nicht nur ehi ganz bestimmter sei, sondern damit 
er auch noch philosopliisdies Bewußtsein habe. Man kann mit 
FeueriMch sagen: ,Jeder neue Mensch ist gleichsam ein neues 
PrSdikat, ein neues Talent der Menschheit', denn keiner ist dem 
andern völlig gleich, wenn auch bei den meislen das Besondere 
nur geringfügig, ihre SteUung zur Welt nur um ein DUferential 
anders ist als die des Nachbarn. So wäre wohl prinzipiell jedem 
Menschen, wenn er seine Stellung zu Ende denken könnte, ein 
neues Weltbild zu/uordnen; aber von wirklicher Philosophie im 
Sinn eines neuen Blickes über alles Sein kann doch nur bei ganz 
wenigen gesprochen werden. Nuancen interessieren uns hier 
nicht, und wir wollen auch nicht das Einzige und Unvergleich- 
liche an einem philosophischen Genius betrachten, sondern wir 
forschen nach dem, was den großen Denker zum Kqiräseatanten 



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211 



für viele macht, wir fragen nach Typen des Philoso- 
ph i e r e n s und nicht nach genialen Einfällen und menschlichen 
Merkwürdigkeiten. Daher werde ich auch, wenn ich fortan vom 
Philosophen spreche, nicht so sehr denjenigen meinen, der sich 
aus der Aufrichtung einer Weltanschauung einen Beruf g«nacht 
hat (wenn ich ihn auch als Vorbild hinstelle), soodem den Men- 
«cfaea übertuiaiit, soweit er nadi Einheit und Konaequeoz strdii 

2. 

Es fiUlt bei der bloBen obeifl9diliGheii Beobachtung der 
Mcoachen leicht ms daß eine der GniiidrichiuQgien des 
Seefischen vor den übrigen herauszutreten pflegt und dem ganzen 
CharaUer ihren Stempel aiifdrficfcL Diese Tatsache geht nicht 
eigentlich auf den letzten Onind der Seele zurück, sondern be- 
zeichnet mehr ifie fluBere Reliefierung eines Menschen, diejenige 
Seite an ihm, die am leichtesten anklingt, und wenn ihr im Laufe 
des Leitens keine bewußten liemniuiigen entgegentreten, inmier 
entschiedener den Habitus beherrscht. Die ältere Psychologie hat 
auf dieser ßeobachtiingr eine ganze Theorie der Seelenvermögen 
aufgebaut, wir aber wollen ohne jede Theorie nur die einfache Be- 
obachtung verwerten, um in der VerailgemcinerunjT der herrschen- 
den Grundtendenz verschiedene Richtungen des i^hiiosophierens 
anzudeuten und charakterologisch zu begreifen. Ein tieferes Ver- 
ständnis der seelischen Einheit und Grundkonstitution wird 
diese Art der Betrachtimg iMdd in den Hintergrund drängen. 
Zaent aber soll die Frage gestellt werden: Welcher Weltan- 
schaumig neigen die Menschen zu, in deren Wesen die Sinnlichr 
krit, das Gefühlsleben, die GedankUchkdt, der Wille vorhenscfat? 
Und ohne anf iigendwckhe Details emziigehen, soll eine sche- 
matische Zuordnung dieser Wesensarien zu ihrer Philosophie 
vereudit werden. 

Menschen, bei denen die sinnlichen Anlagen vor- 



212 



herrschen, neigten eineni entschiedenen Subjektivismus zu und 
meiden alles Bindende und Abgeschlossene. Sie sind instinktive 
Feinde jeder eigentlichen Weltanschauung und wissen am liebsten 
nichts von der Welt als einem Ganzen; sie haften am einzelnen, 
lassen sich von der Umgebung und vom Augenblick bestimmen 
und pfiei^en nur kleme Zusammenhänge zu ubersehen. Wenn 
man ihre natürliche Stellung zur Welt systematisch festzuhalten 
sucht, so eigibt sich irgendeine Form des EucÜbnonismus und 
Utilitarismus. Gäbe es einen Menschen, der nur sinnlich wäre, 
80 würde er ohne Einheit mit sich selbst leben, ausschließlich 
darcfa den Ehidnick des AttgenblidEs bestiiiiiiit; jede seüier Huid- 
hmgen wfire aus den einwirkenden sinnlichen Motiven so unfehl- 
bar abzuleiten wie die Wirkung des Knochens auf ehien uner- 
zogenen Hund. Efai solcher Mensch wlie voUkoauiicner Eudi- 
monist, Aristipp von Kyrene hat dieses Vedudlen zur Mazhne 
erhoben. Das schönste Beispiel für diesen Typus aus der Lite- 
ratur ist Falstafi*) (auch Sancho Pausa und Papageno gehören 
hierher). 

ist die Sinnlichlteit nicht so s^hr vom Moment fasziniert, 
sondern ver^andesmäßig über längere Strecken des Lebens ver- 
breitert, wird auch die Zukunft in Rechnung gezognen, so envÄgt 
ein solcher Eudämonist den Ekel, der dem Genuß folgen v^d, 
bei höherer Denkkraft die Vergänglichkeit der Genüsse über- 
haupt. Das ist der Stoiker: ein Eudämonist mit kontinuier- 
lichem Bewußtsein, das auch die Zulninft in Behracht zieht WlUi- 
rend der unmittelbm naive Sinnenmenach sich und alles sonst 
vor der Lockung des Augenblicks vefgiBt, Überl^ der Stoiker 
der Lockung gegenüber: Was ich jetzt genieBe^ das werde ich 
spSter oft genug schmendich entbehren müssen; so ist es besser, 
ich gewöhne mich nicht an das» was mir nicht hnmer zu Gebote 
stehen könnte. Ihm achehit die Bedikfaiislosjgkdt das gröfiere 

*) Siehe S. 202. 



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213 



Out und dabei hat er doch nidit den Standpunkt der SitmUGh- 
kdt valasaent er denkt nur über den Augenblick hman& 

Euie metaphysiache VendlgenieuieniQg dieses Ffihlens ver- 
knfiirft die Unhist oder das Leiden unUMidi mit dem Wesen des 
Lebens aeibst und sieht nun das einzige Heil in der Aufliebung 
der Möglichkeit alles Leiden^ also des Lebens. Der Leidens- 
Pessimismus ruht ebenso auf similicher Basis wie die Lehre 
Epikurs und ist nur einseitig von der Tatsache des Leidens faszi- 
niert, ohne die Genüsse als völligen Ersatz gelten zu lassen. Er 
schließt die Lust- und Unlustbilanz mit einem Verlust-Saldo 
ab. Diese Gdühisweise muß mit Schopenhauer die Kultur 
mißachten und das Aufhören alles Bewußtseins und alles Lebens 
in einem Nirwana wünschen. Sie ist im indischen Buddhismus 
am klarsten verkörpert, Schopenhauer stellt nur einen Kompro- 
miß zwischen ihm und dem europäischen Kulturbewußtsein vor, 
denn er vermag weder den Kulttmvert der Wissenschaft noch 
den der Kunst abzulernen, und hat der Kunst, diesem aDer- 
lebensvoOslen Gebilde des Menschengeistes» sogar ganz paradox 
den Beruf zur Aufhebung des Lebens zuerteilt — ein lehrreicher 
Widerspruch zwischen Leidens^Nihilismus und dem Zwange 
zur Aneikennung kultureUer Werten dem sich der europaische 
Mensch nun eüunal nicht ganz zu entziehen vennag. 

Ehie andere Orundriditung im Menschen, das Fflhlen, 
kann als Menschenliebe, als ScfaönheitsUebe, als Oottedid)e 
einen philosophischen Ausdruck finden. Während die Menschen- 
liebe nicht wohl zum allgemeinen Weltsystem werden kann, son- 
dern sich auf die sozialen Gebilde beschränkt, vermag die Liebe 
zur Schönheit das ganze Universum unter eine ästhetische Be- 
trachtungsweise zu stellen, wie es etwa Pythagoras mit seiner 
Weltenharm onie und Fechiier versucht haben. Einer so gerich- 
teten Seth gilt die ganze Welt als Erscheniung der Schönheit. 
Der Liebe zum All entspricht der Pantheismus» der die Weit in 



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214 



liebender Leidenschaft erfassen will. Wie es die Gefahr des Inrel- 
lektuali&ten ist, ganz unter die Sklaverei der Begriffe zu geraten, 
so besteht für den Pantheisten (wie für des Mjfstiker, der liebend 
in Oott veninken möchte) die Veriockung, von VBgjca Stim- 
mungen überwältigt zu werden. 

Dem Verstandesmenschen gilt das Erkennen als 
Anfang und Ende der Philosophie, er hat die Tendenz, die Wis- 
senschaft zur Wdianscbauung zu erheben» und läBt piümpiell 
nur wissenschaftUche Philosofihie gdten» die sls Erfcennini»- 
tfaeoriep Logik oder Melhodenlehre ihre Stellung im Bereich der 
Wissenschaften zu suchen und zu erfiUlen hat Diesem objek- 
tiven, sachtichen Typus ist meistens die Erkenntnistheorie Inbe- 
griff der Philosophie, er hat die Tendenz, alles Persönliche aus- 
zuschalten, und läßt nichts als philosophisch gelten, was Sich 
nicht als wissenschaftlich le^timicren kann, unterliegt als echter 
wissenschaftlicher Geist auch nicht der Versuchung, ins Außer- 
wissenschaftliche (A^etaphysische oder Persönliche) überzy- 
greüen Als Nebenform ist aber der Psychologe bemerkeuÄ- 
wert, der in der Beobachtung und Einordnung der seelischen Er- 
schffimingen aufgeht, also schon mit Inhalten und nicht bloß nüt 
Foimcn zu tun hat. Dem richtigen Psychologen fehlt der Sinn 
fihr dte unpersönlichen Festetellungen, dte in rein sachlichen 
Sphären verhüllen und das ArtMitsfeld der Erkenntnisiheorie be- 
zeichnen; wenn er Aber das Pqfchologische hüiau^gdit, so gerlt 
er fast regefanAßig m metaphysische Unsicherheiten, weil ihm die 
gewissenhafte Absteckung der Grenzen — der Stolz des logischen 
Kopies ^ fremd ist Schopenhauer (als wissenschaftBcfaer Oeist 
betrachtet) und viele moderne mehr oder weniger wissenschaft- 
liche Psychologen gehören diesem Typus an. 

Der Wille als charakterbestimmender Faktor stellt das 
Leben unter den ethischen Aspekt und findet im Wirken und 
Handeln den Kern und Sinn der Welt Dieser Typus ne^ 



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215 



mdaleas iigenddner Foim des philoBOfiiiiflchea Idealiamus zu, 
ihm hat das Ich höchste Bedeutimg. Dem Christentum, der idi- 
giten Fofm der ethiacheo Wdtaascfaaituiigy ist die Sede Oiund- 
wert; der gr56te Rigonst Kant hat das inteüigible Ich verkfindel, 
and Fichte» der Fanatiker des sittlidien Tuns^ hat es zimi abso 
luten, zum Weit-fch verewigt. Dieser aktive Typus, der das 
Eingreifen des Menschen ins (betriebe der Welt iordert, der die 
Arbeit lehrt und die Kultur anerkennt, der über die Natur ein 
„Sollen" schreibt, ist der klarste Vertreter der Willens-Philo 
Sophie und typisch für die höchste Erscheinungsform des euro- 
päischen Gefühlslebens (gegenüber dem Quietismus und meta- 
physischen Pessimismus Asiens); das Christentum, Ldbniz, Kant, 
Ooetfae, Fichte, Kietingaaid, Nietzsche sind Veifcänder dieses 
Weltgefühles. — 

Ich liabe diese Znofdaun; von Menschentjfpen zu Wcttan- 
sdiauimgca mit Absicht im allgemeinea gelassen; sie will nidit 
mehr als auf den Zwan^r hinweiaeny der entschieden geriditelie 
Menschen alles Sein von einer bestimmten Seite her anschauen 
rnid werten läßt Dabei veiaiebt es sich von sdbst, dsB der gut 
begabte und denkende Mensdi nkht in Emseitigkdten aufgellt; 
al>er doch ist sein Welti>ild von einer Grundrichtung aus orien- 
tiert; bei I echner ist es der ästhetische, bei Kant der ethische 
Aspdct, der den Teilen des Systems ihren Platz anweist. Es 
wäre auch nicht zutreffend, dem Künstler etwa die ästhetische 
Betrachtungsweise, dem Gelehrten die theoretische beizuordnen. 
Das Verhalten vieler Künstler zur Welt ist ein religiöses oder 
ein sensuelles oder ein theoretisches; die ausschließlich ästhe- 
tisch Wertenden pflegt man sogar mit einem besonderen Namen 
als „Ästheten" zu l)ezeichnen. Anderseits gibt es Naturforscher, 
denen die Weit vor allem Gegenstand ästhetischer Bewunderung 
ist, und solche^ die unter dem Oesichtapunlct der NätzlichiGeit 
(d. i. gedanklich erweiterter Sfamlichkeit) an sie herantreten. 



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216 



Die mdsten Menschen begnügen sich wohl mit einem 
Fetzen von anderen produzierter Weltanschauung. Sie fallen in 
das Oebiet dieser Betrachtungen nur, soweit ihnen die eine oder 
die andere Seite des Obemommenen wiildich natuxgemftß ist 
Wer kein eigenes Urteil hat und doch urteilen will, der kann 
zwei Wege gehen. Er verschreibt sich entweder irgendeinem 
philoaoplüscfaen System ganz und gar und wd6 sich nun in 
dessen SditiMklicin vor allen Anfcchtiingen gdKMgen. Er 
sitzt in der Regel sovid Veistend, dte vencbicdenen Eieigniase 
richtig einzuordnen; das ist der Jänger, der nnr einen Mdster 
hört und auf sebie Worte schwört Oder einer föhlt sich als frei 
schweifender Skeptiker wohl, traut anderen so wenig wie sich 
selbst und kalkuliert: an jedem wird etwas Wahres sein. So er- 
weckt er leicht den oberüäclilidien Schein von Überlegenheit, und 
ist als richtiger Eklektiker besonnener, wenn auch leerer und 
wesensloser als der Dogmengläubige. — Einen Menschen, der 
gar kein Verhältnis zur Welt hätte, kann man sich nicht denken; 
wom aber verhalten sich viele schwankend oder unehrUch, heute 
so, morgen so^ und vermeiden es geflissenthch, sich hierüber 
Rechenschaft zu geben. Sie wollen nicht gebunden sein und 
halten sich die Möglichkeit den, stete nach Lanne zu vcrfahiCB 
und nach Laune zu werten. Ste vermögen nicht, als Ganze der 
Welt gegenfibefzutreten, und sind von jedem Zufall abhängig» 
der auf sie wirkt. Im Alter graut ihnen dann wohl vor der 
eigenen Nichtigkett und sie flächten zu etwas ganz Sicherem: zur 
Theosophie, zum Spiritismus (im Norden), zum Katholizismus 
(im Süden). 

Das Bedürfnis, Ruhe und Sicherheit im Wirrsal des 
Lebens zu gewinnen, ist das stärkste Motiv für den reproduk- 
tiven Menschen, das ihn zur Philosophie treibt. Der Mensch 
braucht einen Boden für seine Existenz, um dessen Sicherheit 
er nicht mehr besorgt sein muß, den er als etwas Absolutes unter 



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217 



sich ^Qrt, fürchtet er doch wie kaum etwas anderes das un- 
iMunliche BewufitBein der Leese und Unsichefiieli Wer je ein 
Erdbeben nütgemacht hat, kennt das Entsetzen beim Schwanken 

des Bodens, der immer unsere verlSBlichste Stütze gewesen ist; 
und nicht den geringsten Anteil an der Seekrankheit iiat das 
Fehlen jedes sicheren Hortes fiir Körper und Auge. Der Mensch 
will ein Festes, nicht nur unter den Füßen, sondern auch in 
seinem ganzen Leben, einen Hort, der nicht wanken kann. Auf 
diesem unabweislichen Wunsche gründen sich die Religionen, 
und je allgemeiner anerkannt, je älter eine Lehre ist, desto größer 
ist die Stütze, die sie dem Suchenden zu gewähren vermag. Das 
System des Katholizismus, das über alle Dinge im Hmund und 
auf Erden genau Bescheid weiß, das dem Menschen eine sichere 
Heiniat in der Wdt gibt und für kernen Zwdfid Raum läßt» hat 
in diesem Sinne für den europäischen Menschen immer den 
lidchsten Wert besessen. Scddi eine Ldüe ist ja nicht für 
Denker da, die aus Eigenem etwas beizusteuern hatien, auch nicht 
für wahibaft rdigiase Menschen» sondeni für die Vielgeplagten, 
<He hl der Verworrenheit und BediSngnis des Lebens ihr meta- 
physiscfaes Bedürfnis nicht ganz verloren haben, die einen Halt 
brauchen, der immer f^t in sich ruht und immer bereit ist, auf- 
zunehmen und zu trösten. Hier findet nicht nur der unwissende 
abgearbeitete Mensch, sondern auch der überbildete, von allen 
Philosophien und Künsten beleckte — und doch von keiner be- 
fruchtete — was er von einer Weltanschauung fordert. Ähn- 
liches wie der Katholizismus vermögen Seklen und große gesell- 
schaftiiche Verbindungen (die Sozialdemokratie) zu leisten, denn 
auf die Zahl der Gläubigen kommt viel an, sie verbüigt ja die 
Sicherheit der Lehre. 

Gegenüber solchen Quellen der Gewißheit, deren einige seit 
Jahrhunderten fließen, kann keine Philosophie bestehen. Aber 
CS gibt eine siaike mittlere Schicht von Oebikkten, die intdlek- 



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218 



tuelle Ansprüche nicht preisgeben und nicht Autorität, sondern 
Eiiisiclit — wenigstens vermeintlidie Einsicht wollen. Sie ver- 
trauen sich einem metafibysischen Sysiem an, das dteselbeii oder 
noch bessere Dienste leistet als ein religites Dogma. Und je 
mehr dn sokfaes System von der Wdt wdB, je einfacher es ist 
und mit je gröBerer Sicheriidt es wgetragen wird, desto stiiker 
ist seine Wfatuiig. fan letzten Menscfaenalter hat keine Philo- 
sophie einen solchen Einfluß geübt wie die Schopenhauers. 
Dies erklärt sich vor allem aus der vollkomiiienen Abgeschlossen- 
heit seines metaphysischen Weltbildes, das über Wert und Sinn 
des Daseins nicht wenii^er gut unterrichtet ist als irgendein Re- 
ligionssystem. Und wie die Religionen ist diese Philosophie 
durchaus aufs Praktische zugeschnitten, sie beantwortet die 
Frage, der sich kein Mensch ganz entziehen kann und die das 
dgentiiche Anliegen der Menschen an die Phiiosophte ist, die 
Fr^ge: Was soll ich tun? Dte meisten Fragen, dte als philo- 
sophisch gelten, theoretische und istiietisdie Probleme etwa, 
treten ja nicht vor jeden einzdnen Menschen hm, sondern nur 
vor den und jenen, nach der Verschiedenheit der Charaktere und 
der geistigen Bedfiifhisse. Zweifel wie die über einen Sinn des 
Daseins oder über eine göttliche Weltregierung ergreifen schon 
weitere Kreise; aber nur die eine Frage: Was soll ich tun? — 
heischt von jedem Menschen in irgendeinem Augenblick seines 
Lebens unbarmherzig Antwort; keine Philosophie, keine Reli- 
gion hat Aussicht aitf größere Wirkung, die nicht vom 
ethischen Standpunkt orientiert ist, die nicht Fingerzeige fürs 
Handeln gibt Dabd kommt es gar nicht darauf an, ob und wie 
eine solche Lehre b^grOndet ist; und paradoxerweise auch nicht, 
ob ihre Vorschriften leicht oder schwer oder vielleicht gar nicht 
erffillt werden können. Nur das ist wesentlich, daB eine Philo- 
sophie Gesetze fürs Leben gibt, die überzeugen. Denn die Men- 



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219 



adwn woHen zu jeder Zdt wiaaen, was sie zu tun haben (auch 
wenn sie es niemals tun). 

Diese Haupierfofdenilsse — die genaue Einsicht in den Aiif- 
hau der Welt und die eihisdie Orundrichtung ~~ weiden vom 
System Schopenhauers mit aller wOnschenswerten Eüifachheit 
lind Eindringlichkeit effQllt. Aber dsrOber hhiaus bietet diese 
Philosophie noch etwas anderes, ihr Eigentiunlidies: sie kommt 
nämlich dem tiefsten Instinkt entgegen, den man sonst nicht so 
leicht anzuerkennen wagt. Nichts hat für den Menschen so un- 
mittelbare Wirkhclikeit wie sehic Selbstsucht, sein begehrendes 
Ich, das die ganze Welt um sich herum gruppiert, das allen 
Dingen, ja allen Menschen erst seine Bedeutung verleiht. Der 
tiefste Instinkt des Menschen wie des Tieres ist Egoismus; man 
denke an die Szenen, wenn in einem vollen Theater Feuer aus- 
bricht, wenn es sich darum handelt^ das eigene Leben zu retten. 
Und was in solchen, heute seltener gewofdoiea AngenbUdnn 
hfiUenlos zntsge tritt» das liegt ui jedem Menschen als Urinstinkt» 
immer bereit^ sich aktiv gq;en alle Bediingungen der Wdt zur 
Wdue zu setzen. Aprfes moi le dfiuge! 

Es ist nun ein genialer Enlall Schopenhauers, die umnittd- 
barete tierisdi-menschliche Oewifiheit, den hungrigen Insthikt 
des Egoismus, mit der größten menschlichen Sehnsucht, der 
Sehnsucht nach dem Absoluten, als identisch zu erklären; der 
Lebenswille ist das Ding an sich. Was wir in uns fühlen, das 
ist zugleich der letzte metaphysische Ankergrund der Weit, der 
Wille ist sowohl Wesen des Menschen (eine offensichtliche Ver- 
schiebung: ein Teil ersetzt das Ganze), als auch der inneriiche 
Kern der Welt (ein Glaubenssatz). Dieses Paradox hat etwas 
Bezwingendes, wie eine Erieuchtung trifft es in das Gemüt des 
unruhig Fragenden und verkündet ihm: Was du immer heimlich 
gefühlt hast, ohne es vielleicht recht anerkennen zu wollen, weil 
es dir roh und niedrig schien, was sich sber doch sehie Gewiß- 



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220 



heit niemals hat rauben lassen — das ist in Wahrheit das Aller- 
wirklichste, sogar das einzig Wirkliche^ der Weltwille, der auch 
in dir lebl^ der die Welt geschaffen hat und sieb in ihren Ge- 
stalten immer wieder verkörpert Und mit einem neuen ParadoK 
befriedigt Schopenhauer auch das tiefere sittliche OefQbl, das 
den Zwang des Egoismus überwinden möchte: Vernichtest du 
diesen Genußwillen, so vemichtest dn zugleich die durch und 
durch Üble Welt Dann bist du gut Wiederum aprts moi le dr- 
inge I So und sa 

An diesem einen Beispiel sollte nur gezeigt werden, wie ein 
System auf Menschen zu wirken vermag, die von der Philosophie 
Orientierujig in der Welt und .\ntwort auf die Frage: Was soll 
ich tun? fordern. Je eintadier und entschiedener dieses Bedürfnis 
von einem System erfüllt wird, desto größer ist seine Wirkung 
auf die Menschen. Da wird nicht weiter nach Begründung ge- 
fragt, willig nimmt man alles hin, die Philosophie tn£Et hier mit 
der Religion zusammen. — 

Ich habe bisher von der Weltanschauung gesprochen, die 
eüiem Menschen natärlich ist Aber manche widerstreben 
dieser Stdlung, die ibnm von Ihrem Qiarakter au^^edrungoi 
wild, und suchen eine Philosophie nicht fflr sich, sondern 
gegen sich. Auf sie Ist die anfangs gegebene Formulierung 
nicht anwendbar, ffir sie Ist Philosophie nicht die FestteguQg ^ 
natürlichen Veihaltens euies Menschen zur Wdt Eashid 
die Orfibler, die In Jeder Ehisicht eine Veriockung sehen, das 
Denken einzuschläfern und dem urteilenden Verstand eine Falle 
zu stellen. Auch ihnen bietet sich eine gemäße Weltaußassuug 
dar, aber sie haben kein Vertrauen zu ihrem Denken und Fühlen. 
Oder sie hassen sich so intensiv, daß etwas anderes, etwas 
ihnen Feindliches wahr sein muß. Sie bauen ein System auf, um 
sich selbst etwas zu beweisen oder vorzumachen. Einer lehrt, 
daß die Weit von Orund aus schlecht und des Untergangs 



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221 



würdige sei; aber vielleicht hat seine Philosophie nur den Zweck, 
sich endlich selbst von dem zu überzeugen, was richtig sein soll 
und muß. Inquisitoren und Hexenrichter sind Menschen dieser 
Art, Leute, die eigentlich nicht ganz glauben und sich selbst im 
andern zum Glauben zwingen wollen. Sie strafen den eigenen Un- 
glauben an ihren Opfern, ich meine auch, daß die metaten, welche 
die Unsterblichkeit der Seele vertreten haben, nicht ganz fest da- 
von überzeugt gewesen and, denn man philosophiert dodi nicht 
80 leicht über das» was cigentlicfa anfier aller Frage stdii Etwas 
üi ihnen will durchaus^ daß die Seele unsleiblich sei, und dies 
Etwas aigumentiert und kSmpfi. Bei Nietzsche kann man 
oft genug beobachten, wie er gegen sein wahres Ich, sidi zum 
Trotze Stellungen verteidigt, die ihm innerlich entgegen sind 
(seine positivistischen Anwandlungen, sein Hohn gegen das Mit- 
leid). Darin lie^ viel Haß gegen sich selbst und Rache an sich 
selbst, das Ressentiment, das Nietzsche so genau kennt. 

Es ist aber in der Natur einer künstlichen und zwiespaltigen 
Weltanschauung begründet, daß sie nur bis zu einem Punkte 
durchführbar ist und die letzten Konsequenzen vielleicht im 
Denken, nicht aber im menschlichen Verhalten ziehen kann. Da 
ergeben sich nun oft innere Kämpfe, die an Tragik nichts anderem 
nachstehen. Entweder wird dann die ehie Partei von der anderen 
überwältigt — etwa die reUgiöse Strömung des Herzens von 
der wlssenschafilicfaen des Kopfes — wobei niemals ehie völlige 
Beruhigung eintreten kann, sondern ünmer wieder Äußerungen 
imd Ausbrüche des unterdrückten Elementes stattfinden; oder 
aber — das Sdienere und Orößere! — eine neue, tragische Welt- 
anschauung geht aus sokfa einem Kampf hervor. Die mich- 
tigsten Konflikte werden sich naturgemSß dort abspielen, wo 
das Denken, das theoretische Element die höchste Gewalt besitzt 
und im Kampfe mit den anderen Gnnidkräften steht; denn aus 
dem Denken stammt ja das eigentliche Bedürfnis nach Einheit 



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222 . 

Hier ist der N»ne Kants zu nemien. Ein erschütternder Kampf 
zwischen ästhetischer und ethischer Weltauffassung stellt sich 
in mehreren Schriften des genialen Kierkegaard dar. 

Das Werk des Genius ist manchmal so allseitige, daB es bä- 
nahe wie die Welt selbst vom einzelnen Betrachter je nach seiner 
eigenen Anlage aufgefaßt und gedeutet werden kann. Als ein 
Beispiel, wie <let8elbe Gegenstand den Menschen je nach seiner 
Onindfunktion verschiedenartig affiziert, will ich ein Werk dem- 
jenigen Kianstlers anfuhmi, der auf die Gegenwart den stärksten 
Eindruck gcmadit hat Für aehr vide Menadien, wahiBdieinMch 
für viele mehr als man glauben möchte^ ist das Anhören von 
Wagners „Ring des Nabelungen" ein rein sinnlicher Genuß, und 
zwar nicht nur ainnlicfa in der Bedeutung, daß das Material der 
Musik, der Ton, besonders durch seine Verwendung im mo- 
dernen Orchester, die HArncrveu angendun reizt, sondern audi 
sinnlich in der engeren sexuellen Bedeutung. Die eigentliche 
künstlerische Wirkung der Dichtung, der Musik und des Bühnen- 
bildes braucht nicht besonders angeführt zu werden und steigert 
sich bis zu dem höctisten tragischen Bewußtsein, das den Kampf 
von Besitzgier und Machtwillen mit Liebe und Iirlösungswillen 
erkennt. Die fortbauende Phantasie erschaut ahnend über das 
eigenthch Menschliche der Voi^nge die uralten Personifika- 
tionen des arischen Naturmythos. Wenn Siegfried den Panzer 
Brünnhildes mit dem selbstgeschmiedeten Schwert durch- 
schneidet, wird das vielleicht als ein Bild des ersten Frühlings- 
sonnenatraUs empfundov vor dessen Glut die Eisiinde der Erde 
vergeht Der ethisch Deutende wiederum sieht die EntsiSuiiing 
der Welt durch den Tod des Outen und ihre Vernichtung im 
reinigenden Feuer. — Diese Andeutungen zeigen, wie der Be- 
schauer nicht nur gegenüber der whidichen Wdt, sondern auch 
gegenfiber ihrem Abbild hn Kunstwerke von seiner Omndanlage 
geleitet wird und wie er dem für alle gleich Gegebenen verschie- 



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223 



dene, 90gu entgegengeadzte (MchtspunUe abgewinnen kann. 
Wird solch ein Gesichtqrankt eiQhdflidi und allgemein, so heißt 
er Weltanschauung. — 

3. 

Wahrend das Bisherige einen ungefähren Zusammenhang 
zwischen den Menschen und ihrer Art, der Welt gegenöberzu- 
treteii, hat erkennen lassen, soll nun versucht werden, den 
Mi 1 1 e 1 m e n s c h en und den Orenzmenschen philo- 
sophisch bis zu ihren letzten Konsequenzen zu führen, d. h.: 
die Philosophie zu entwickehi, zu der sie sich notwendig be- 
kennen fflfisaen. Und es werden vor uns die beiden Wdtanschau* 
Hilgen erstehen, die als stärkste Gegensätze gedacht weiden 
können und die auch wirididi historiacli dagewesen sind. 

Das Ideal des ndttlerai Menschen ist: Friede. Er mddet 
das Zuviel tind das Zuwenig und achent die Störung des Daseina 
durch ftuBere oder innere Mächte. Er weiß, daß der Mensch ein 
schwaches Geschöpf ist, hundert Fähilichkeiten an^geaelzt, allen 
Gewalten unterworfen. Ihnen zu entgehen, heil durch die Mühen 
des Daseins zu kommen, ist höchste Weisheit. Es hat kernen 
Sinn, mit der Stirn gegen die Mauer anzurennen, Dinge zu 
wollen, die niemals in Erfüllung geiien können, sich gegen das 
Schicksal aufzulehnen, das doch die Welt unerbittlich lenkt. 
Ein stilles Gluck, verbor^^en vor den Mächten imd Gefahren der 
Welt — das ist zu wünschen. Die Philosophie dieses Ideals ist 
von Spinoza in ein System gebracht worden, und ihm aoU 
jetzt unsere Au&nerksamkdt zugewendet sein, an ihm werden 
wir die konsequenten Vollendungen des mittleren oder idyl- 
lischen Menschen studieren können, der nichts AllzugroSes 
will, jeden Streit und jeden hmeren Zwiespalt meldet, aber als 
Entgelt des Friedens teilhaft wird. Dieser Philosophte mu6 not- 
wendig jedes tragische Element fdilen, nichts bäumt sich hi 
der Seele gegen alles Schreckliche und Ungerechte des Daseins^ 



224 



geg!» UnvomcoamMtibclt und Ntediigkdt auf, denn de lud ala 
ihre tiefste Erkeonfaiia den Satz gefunden: Das Sein tat 
vollkommen. Was wiridlch Ist, das Ist gut, und was uns 
schlecht scheint^ ist nicht vielleicht etwas» das an einer Inneren 
Unzulänglichkeit krankt, oder das dem allgemeinen Weltplan zu- 
widerläuft, es ist vidmehr nur dn geringerer Orad von VolK 
kommenheit und kann durch bessere Einsicht, durch Studium 
und Weisheit aufgehoben werden. Entwicklung und Verände- 
rung in der Welt stören den Frieden der Seele: es gibt im 
Grunde kein Werden und keinen Wandel, die Welt ist von An- 
fang an voUkoniriieii. Wer das erkannt hat, wessen Geist nicht 
durch falsche Urteile und 1 eidenschaftai verblendet ist, der 
nähert sich dem einzig würdiß:ei] Zustand: dem Frieden des 
Geistes. Etwas anderes zu wollen, ist Unverstand: wer seinen 
Lüsten folgt, dem fehlt noch die richtige Erkenntnis von der 
Unfreiheit aller Neigungen, und wer gar die Wdt ändern wollte, 
der begehrte Unsinniges, weil ja die Welt von Anfang an gut ist; 
ruht doch die ewige WeltsubsAanz fühllos und in sich voll- 
kommen; da etwas vetbessem zu wollen, wäre unwürdig des 
Weisen und setzt den fiigsten aller IirtQmer voraus: da6 nSmlidi 
der Mensch die Macht hätte, etwas aus sich heraus zu schaüen, 
daß in ihm eme Freiheit wohne, die die ganze übrige Natur 
nicht kennt Dieser Glaube ist die Sönde vom Anbeginn — 
wenn wir Sünde gelten lassen wollten; aber wir wissen, daB es 
nur Verstand und Unverstand gibt Der Weise hat erkannt, daS 
der Mensch macfaflos ist im Umkreis der gewaltigen anonymen 
Ursachen und Wirkungen, die nach ewigen Gesetzen die Welt 
regieren, der Mensch ist nichts, und das besle, was er tun kann, 
ist zuzusehen, wie er sich zurechtfindet, wie er keinen Schaden 
nimmt. Der Weisheit letzter Sdiluß ist, ein glückseliges Leben 
zu suchen, sich von allen Täuschungen, als könnte der Mensch 
etwas ausrichten und die Wdt bessern, befreien. In der Über- 



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225 



einstimmung mit allem Seienden, das ja Vollkommenheit besitzt, 
ist das höchste Glück gelegen, Ruhe des Geistes in der ewigen 
Substanz (die man einem Spraciigebrauch folgend auch Oott 
nennen darf). Denn was ist im Grunde der Mensch, der sich so 
groß dünkt? Ein Modus an den beiden Attributen der Welt- 
substanz» eine leichte Welle im ausgedehnten Sein — das ist sein 
Ldb, eine entsprechende Welle Im denkenden Sein — das ist 
sein Oeist Er hat kdnen Teil am Kem der Welt, er ist nidits, 
was bis hinab reichte hi <fie ewige Substanz,*) er bestritt ledig- 
lich aus „gewissen Modifikatloaen der Attritnite Ootles*', d. h. 
er hat sein tiescheidenes Teil an dem, was sich durch den Raum 
hin ausdehnt, und an dem, was in der Welt denkend ist Alks 
efaizelne Ist nur ehie Einschiinkung des unendlichen formlosen 
Seins, das einzig Wiildichkdt besitzt und an dessen OberflSche 
sich wesenlose Blasen bilden - der Mensch. Sie sind für den, 
der durch den Schleier blickt, nichts Wirkliches, Störungen in 
der Reinheit der ewigen Attribute. Hat iiiaii dies aber erst er- 
kannt, daiin wird man nicht mehr gegen die ewige Ruhe des 
Daseins ankämpfen. Der Weise wird Leidenschaften und Nei- 
gungen bezwingen, um glücklich zu sein, er wird durch persön- 
liche Wünsche und Bestrebungen niclit in die ewige Ordnung 
des Alis hineingreüen, in die unabänderliche Kette von Ursachen 
und Wirkungen, in den starren Funktionalismus der 
Weit, der keine Ausnahme duldet und jeden zerschmettert, der 
Ihm entgegentritt Für den, der sich tragisch empören wollte, 
hat diese Philosophie des Altere nur ein mitteidiges Uchdn, 
denn sie weiB, daß Tragik nichts ist als die Uneifahrenheit der 
Jugend. Sich besdidden und den Frieden finden — der absolute 
Fatalismus^ das Ist die Eri[ennhils des Weisen.**') 

Ethik Teil II Satz 10 Axiom t. - Vgl. „KuneefoSt» AMmumIIurs 

von Gott, dem Mentchm und dessen Glück", Philos. Bibl. Bd. 91 , S. 42. 
**) „Es ist he^!^er, eine Hand voll mit Ruhe^ denn beide Fluste voll 

mit Mühe und bitelkeit" (Koheleth 4, 6). 

Lucka, GroAMO der Se«le. 15 



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226 



Der moderne Monismus hat das Wd^ühl des 
Philisters in emigm ZusamuMohaiig gdMrscfat Ocmeinptttsi^ 
die jedem SchiiUmaben geläufig sind, werden zu ,,Impendiven" 
aufgebaiisdii^ alles Probtemattsdie^ das die Behaglichkeit slArai 
kOont^ beiseite geschoben. Es wiie Idcht, dies an einem be- 
kannten und sogar berühmten Namen der deutschen Gegenwart 
zu demonstrieren; aber nach der Analyse eines Denkers ist es 
unnötig und darf unteil>kiben. 

Vor unseren Augen hat sich das beschauliche Weltgefühl 
des Mittehnenschcn zu einem System entfaltet, das die Welt um- 
spannt Und diese Weltstellung des Positivismus und Quietis* 
mus ist tatsächlich weit Ober den Charakter hhiausgewachsen, 
der anfangs beschrieben worden ist Denn Philosophie ist Stel- 
lungnahme zum gesamten Sein und widerspricht daher 
dieser ihrer Tendenz nach der Gefühlsweise, die sich mit äDen 
ihren Instinkten an ehiem Teil des Seins, und zwar an dem 
nächsten und greifbarsten, genügen läßt. So können wir zwar 
das System Spinozas, der allen Anfeindungea zum Trotz fried- 
lich gelebt hat und sich sein Denker-Idyll nicht hat stören lassen, 
als die Vollendung der Gefühisriditung nehmen, die sich im 
Mittelmenschen verkörpert; aber sie ist, weil sie eben Phiiosopiue 
ist, mehr, sie umfaßt das AU — eine Stätte des Friedens. ~ 

Das naturalistische Denken ist psychologisch da- 
durch charakterisiert, daß es nicht anders als an handgreiflichem 

Material arbeiten kann. Der Naturalist als Physiker (der 
Matenalist, der Energetiker) denkt stofflich, er stellt sich als 
letztes Denkbares eine Ifrmaterie voi- (in anderer Terminologie 
eine Urkrait), die sich verändert und alle Erscheinungen her\'or- 
bringt. Diese Lehre ist von den V orsokratikem zuerst aufgestellt 
worden, ihre modernen Fassungen sind eme bessere i-ormulie- 
rung der gleichen Denkweise. Der Naturalist als Psycho- 



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227 



ioge (der Expenmcntator, der Psychoanalytiker) sieht nur das 
Gegenständliche^ sozusagen den Erfolg in den seeüsdien Phäno- 
menen, ohne sie von uinen her veisleheo und deuten zu kflanen. 
— Beiden Arten des Naturalismus ist gemeinsam, daß sie hmner 
naiv und unkritisch bleiben und dsB ihre Metiiode olme viel Be- 
denken leicht hl ehi iranszendentes Gebiet hinübeigetragen vnrl 
Vom nsturslistischen Physiker zum Spiritisten ist oft nur chi 
Scfaritly denn Spiritismus^ Astrologie und Ähnliches („Xeno* 
logie*') sind nidits als Naturalismus» auf emen fremden Gegen- 
stand angewendet, Empirie eines anderen Berdchs. Die Tat- 
sächliciikeit imponiert dieser Denkweise so sehr, daß sie den 
Geist übersiebt, daß das Seelische und das Wertvolle verloren 
gehen. — 

Ich frage nunmehr nach der allgemein-formalen Beschaffen- 
heit des Weltbildes, das sich aus dem Charakter des Grenz- 
menschen ergeben muß. Es ist klar, daß dieses Weltbild nur 
dualistisch sein kann, dualistisch in irgendeiner der vielen histo- 
rischen Formen, als Platonik, Christentum oder deutsche Meta- 
physiky jedenfalls ehie Lehre, die emem diesseitigen Element ein 
jenseitiges gegenfiberstell^ oder die im ethischen Kampf des 
Outen und des Bösen das Letzte und Wesentfiche stdit, kurz die 
auf ügendeine Art der Disharmonie des Sems Rechnung tilgt 
Während ein einziger bedeutender (Philosoph den idyllischen 
Monismus gelehrt hat, stehen alle anderen großen und genialen 
Systeme auf dualistisdier Grundlage — der Zwiespalt im eigenen 
Wesen treibt ja zum Nachdenken über die Welt, die in der 
eigenen Seele entdeckte Tragik wird im All wiedergefunden. 
Nur der O renzmensch hat eigentlich Veranlassung, über die 
Welt zu grübeln und ihre Probleme zu lösen — denn Probleme 
entstehen aus einem Zwiespalt, der seine Besch wichtigunn; for- 
dert. So kann denn von einer Philosophie des Mittelmenschen 
nur im uneigeatlichen Sinn gesprochen werden, fehlt ihm doch 

15* 



22S 



meistens dieses Betiurfnis zu p^rübeln und der Druck, unter dem 
dne höhere Synthese j^escliaffeii werden soll. Der tragisch Zer- 
rissene ist der vorbestimrate Philr«oph in seiner Vieljir estalt. 

Ich nun an Fichte den Typus der tragischen Welt- 
anschauung des Grenzmenschen /eigen. Er und Spinoza sind die 
größten Gegensätze, die sich vorstellen lassen und die nicht etwa 
in Unterschiedlichkeiten des Denkens beruhen — Fichte und 
Spinoza sind Denker ersten Ranges — sondern auf dem Grunde 
der Menschlichkeit verankert sind. — Die geieifte Einsicht kann 
die T^fflffunmfuh^ngf in der Wdt nicht andeis als kausal be* 
greifen. Was in der Welt geschieht, das geacfaidit nach Oe- 
setzen, die weder gut noch böse sind, sondern m starrer Regel- 
mftSIglteit funktionieren und kernen Ansatz für ehi WerturteO 
bieten. Wo Zwiespalt, Kampf, Tragik empfunden wird, dort ist 
das Ich , die Seele, der Mensch Mittelpunkt, nicht die Wdt oder 
die Natur. Der strenge Funktional-Zusammenhang läßt weder 
das Bewußtsein von etwas Tragischem, noch den Ge- 
danken der Freiheit zu; beide stehen in Wechselbeziehung, 
die Sehnsucht nach Freiheit von allem äußeren Zwang, die Sehn- 
sucht nach der Kraft und Größe des Menschen, nach Bewälti- 
gung des Toten durch das Lebendige, das sind die Voraus- 
setzungen eines tragischen Grundgefühls. Der radikalste Ver- 
künder der MenschengröBe, des Willens tmd der Kraft, die Welt 
umzuwandeln, ist Fichte. Er nennt selbst sein System ein 
y,$yBtem der Freiheit*'. „Nicht zum mfifilgen Betrachten und 
Beschauen deiner selbst, oder zum Brüten über andächtige Emp- 
findungen nein, zum Handeln bist du da; dein Handehi und 
allem dem Handehi bestimmt dehien Wert.**"*) — Eist dadurch 
ist die Wdt vofhanden und gewiß, daB sie Gegenstand der Tat, 
Material für unseren Willen ist. Und die höchste^ die einzige Oe> 
wißheit liegt im Bewußtsein seiner selbst. Fichte ist der Philo- 

'*') Die Bestimmung des Menschen, Sämtliche Werke Bd. II, S. 249. 



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229 



soph, der die Kraft des Menschen gegen die Welt erhebt und den 
Sieg des Menschen veifcündet Sein System ist das System des 
produktiven Menschen. Die Welt mu6 nach der Idee umgestaltet 
werden; nicht der Verstand ist das erste, sondern der sittliche 
Wille» der erst das Dental möglich macht Die ganze Welt ist 
nur durch die sittliche Tat des Selbstbewufitaeins» des Ich ge- 
setzt. Aber dn ganz neuer Sinn ist erforderlich, damit die 
Menschen diese, die wahre Lehre verstehen können, und das ist 
nicht etwa bildlich gemeint, sondern ganz wörtlich. Fichte ver- 
gleicht die Menschen, die unter dem Zwang der Natur geboren 
werden, dahinleben und wieder vergehen, Blinden, die nichts 
von der wahren Weit des Lichtes wissen. Und dieser neue Sinn 
ist das Selbstbewußtsein der Seele allem Existierenden gegenüber, 
oder ihre Freiheit.*) Nur die Philosophie, die auf dem Grund- 
gefühl ruht, daß die Seele letzte Wirklichkeit ist, kann über allem 
naturhaften Oebundensein einen Punkt finden, zu schauen und 
zu werten* Der Naturalist geht im Dahinfließen des Sehls auf 
und tarn nur untätig zusehen, ohne die Mdglicbtat, sich sdbst 
zu finden, seihst zu handehi. In die Wdt hüieinzugrafen. Aber 
zu diesem ersten blinden Dasein, sagt Fichte^ Ist ein neues hfaizu- 
gekommcn. „Es wftre nur iOr den da, der mit Fidheit sich los> 
gerissen hStte, für jeden andern durchaus und schledithin gar 
nicht. Und so könnte, obwohl in Ansicht der Anlage die Men- 
schen alle gleich wären, dennoch in Ansicht der Wirklichkeit es 
zwei durchaus entgegengesetzte Klassen unter ihnen geben, deren 
eine einen Sinn hätte, welcher der anderen schlechthin abzu- 
sprechen wäre." **) Dieses Neue nennt Fichte „die beireiung" 
oder „die Selbstbesinnung**. 

Wie wir den Mittehnenachen in letzter Vollendung als den 
Ruhenden, den IdyUficer eifaßt haben, der ganz m den Natur* 

*) VgL Einleitung in die Wissenschaftslehre. 
**) fteehgaiasMiie Werl» Bd. I, S. 14. 



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230 



mechamsmus eingespannt ist und eine eigene Seele nicht kennt 
und nicht kennen will, der jeder Wirkung in die Welt hinein 
entsagt und auf jede VC ertuiig Verzicht leistet, dem Beschaulich- 
keit und gefahrlose Beiiagiichkeit ideale sind; so enthüllt sich uns 
der ürenznieiisch in seiner philosophischen Vollendung als der 
tragische Ringer, dem die Welt nur als ein Starres, Wertloses 
gilt, als Stoff, an dem sich sein Wille bewahren kann, wenn andi 
vielleicht seine Kraft daran zerbricht Alles Sein mu6 ihm einen 
tiefen und ernsten Sinn haben, das Leben ist eine UQgdieuie Auf- 
gabe» der man sich nicht entziehen darf. Und defat es ancli 
manchmal aus, als wäre all unser Tun zwecklos, als wandle sich 
unser bester Wille ins Gegenteil — wfar müssen doch in uns 
selber die Kraft finden, an uns, an den Sinn der Wdl^ an die 
Vollendung alles Seins zu glauben. Denn „der Wüle ist das 
lebendige Prinzip der Vernunft, ist selbst die Vernunft, wenn sie 
rein und unabhängig aufgefaßt wird.** (Das stinunt ganz mit 
Kant überein.)*) Und dieser Gedankengang mündet in das er- 
schütternde Paradox der Ich-Philosophie: „Die gegenwärtige 
Welt ist überhaupt nur durch das i-^flichtgebot für uns da.** 

Der große Gegensatz Spinoza-Fichte ist: Der Mensch als 
ein Gegenstand der Natur unter unzähligen anderen — der 
Mensch als Seele gegenüber der Natur Und die Konsequenz 
von bddem: Der Mensch ohne Willen, nur dem Verstände Unter- 
tan und kausal bestinunt wie jedes Ding; der Mensch als Kraft, 
als Ich, als Wille, der sich frei weiß oder wünscht. Ruhe und 
Scbauen — Wille und Tat Und schon wirft sich dieses ent- 
gegengesetzte Ffihlen vom Menschen auf die Welt: ffir Spinoza 
Ist das einzig Wesentliche die ewig ruhende Substanz, die immer 

*) Die Bestimmune des Menschen & 288. ~ Kant: „Nur durah das, 
was Ohl Mensdi tut, ohne Rfidnicht auf Gemii, in voller Frellieit und 
^^fff^^»fT^^«^^^g von dem, was ihm die Natur auch leMend vmchaffen könnte, 
gibt er seinem Dasein als der Exiftten« einer POrson einen Wert" (Kritik 
der Urteilskraft § 4). 



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231 



gleich bleibt und von keiner Veränderung getroffen werden kann; 
alles gestaltete Sein, die Menschen selbst sind nur ein zweckloses 
Kribbeln und Wimmeln. Nach Fichtes Grundüberzeugung ist 
alles Sein ichhaft, ist die höchste metaphysische Einheit analog 
der Menachauede zu denken. Wir sind das Sein. Und als letzte 
Einsidit gilt ihm, „daB das Sein oder da» Abaolttie ein in sich 
gesdilossenes Ich ist""^). Fidites WeMgrund ist das Leben, 
der Wdtprozeß ist ewiges Schaffen und Zengen ~ ,jdB» SchaSen 
selbst in alle Ewigkeit". ^ „Der absolute Aidmg und Trlger 
von allem ist r ei n es L eb en." ^ y,Eine Welt als Produkt des 
vollendeten und erschöpften Schaffens gibt es nicht"**) — Und 
wie seine Welt, so ist er sellMt, ein glfihender Prediger und Re- 
formator, der sich in umnittelbarer Rede ausströmt und die 
Menschen zu sich zwingen will. Sein Vortrag sprüht daher wie 
Feuer, er ist aus der Leidenschaft geboren und wirft alles 
nieder, was sich ihm ent[,^etj:eiLstellt, er ist von sicli selber, von 
seiner höchsten Notwendi[ikeit und Wahrheit so tief durch- 
drungen, daß er selbst das Gefiihl des Lebens und der Über- 
zeugtheit im höchsten Grad hervorruft, .,1hm war jede Lehr- 
stunde nicht wie ein Amtsgeschäft, das er verrichtete, sondern wie 
eine Mission, die er erfüllte, und die als Tat in die Ewigkeit 
fortwirken soll; er lehrte die Philosophie nicht bloß, er predigte 
sie; sein Katheder hätte im Laufe des Vortrages jetzt eine Kanzel, 
jetzt eine RednerlitUuie sein können/****) — Fichte ist der Feuer* 
geist, der die Welt nach der Idee umgestalten wiU, der die Pflicht 
aufiteUt, anch andere zur Eitomtnis der Wahrheit zu zwhigen 
und sich nicht efaisam mit ihr zu veiscfalieBen. Wie aeme Wdt 
eine Ausstrahlung des ewigen Ich ist, so muB er seihst seine 
Sede in die Welt wiitai laaaen. Und die Wahrheit, die er be- 
sitzt, soll jeder in der eigenen Sede finden, „aus sich hems er- 

♦) Nachlafi fl, S. 208. **) Nachlaß I, S. 23, 101. 
***) Kuno Fischer» J. Q. Hebte und seine Vorgänger, S. 239. 



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232 



zeugen", nicht von anderen fibemeliaien.*) Die besonnene 

Grenzsetzung der kantischen Vernunft-Kritik (die Kant als un- 

ubersteigbare wissenschaftliche Grundlage der wahren Philo- 
sophie gemeint hatte) ist für Fichte ein Anstoß und er nennt sie 
sogar „eine M^Lxime der Schwäche oder der Trägheit". Seine 
Phüosopliie (die ja auf Kant fußt) will nicht zugeben, daß etwas 
unb^reitiich sein könnte, ja sie will lieber pfar nicht sein als 
irgend etwas nicht begreifen. Sie will alles sein oder gar 
nichts.**) Dies ist der echte Enthusiasmus des Philosophierens» 
der den Verstand zwingt, weil er das Sein erfassen wilL 

Es ist für den WahrtieitBwert eines Oedankensystems nicht 
allzu wichtif , wie seine Sätze vojyetragen werden, und hingt 
auch mit dem Stil der Zeit zusammen; anders klingt das edle 
Deutsch Fichtes, anders das scholastisdie Latem Spinozas. Ffir 
die Oedanken seihst sind das Zufälligkeiten; aber för den Stil 
des Denkens ist es charakteristisch. Und betrachten wir den 
Plan von Spinozas Denken (oder besser: sein Phlt^raa) — wir 
finden das Gegenteil von allem, was für I ichte gilt. Spinoza hat 
unter dem Hasse seiner Stanimesgenosseii schwer gelitten, sie 
haben ihn aus der Heimat vertrieben und ihm sogar nach dem 
Leben getrachtet Für ihn aber sind alles das nur neue Beweise 
für seine Grundüt)erzeugung, daß Unverstand und Leidenschaft 
die Erbfeinde der Weisheit sind. Wie ein Biograph tmcbtet, ist 
er nie übermäßig traurig oder übermäßig fröhlich gewesen.***) 
Sein Leben und seine Art zu fühlen decken sich ganz mit dem 
Bilde, das man sich von ehiem echten Weisen zu machen pflegt. 
Man darf diese Selbstgenügsamkeit hoch emscbätzen: nicht nur» 
daB Sphioza von ehicm Legate lediglich das angenommen hat, 
was ihm zum Leben notwendig schien, daß er das Erbteil seiner 
Eltern den Oeschwistem flberlieB, mit Ausnahme cfaies Bettes 

♦) Vgl. Mach'. Iß II. S. 90. **) Nachlaß II, S. 104. 
***) Vgl. J. Freudenthai „Spinoza, sein Leben und seine Werke" l, 192. 



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233 



(sehr charakteristisch): er hat auch eine ehrenvolle Berufung an 
die Universität Heidelberj^, die ihm durch Karl Ludwige von der 
Pfalz zugekommen ist, abgelehnt, denn er hat niemals das Be- 
dürfnis gehabt, zu wirken, zu lehren oder andere zu überzeugen; 
für sich allein die Wahrheit zu suchen, ist ihm genug gewesen. 
Aber hinter dieser Seelengröße liegt das temperamentlose Ruhe- 
bedurfois des Gelehrten. Er fuichtete besttodig, kgendwro An- 
stoß zu emgen und woUie lieber schweigen» als sich Feuide 
mschen. Im theologiadi-poliüschen Traktat werden die Fragen 
der OHenbarung und der Prophetie ängstlich und sogar zwei- 
deutig behandelt und sem Siegehing trägt die Inschrift: Vor- 
sichtig!'*) — Nicht ein einziges seiner Werke (mit Ausnahme 
der Darstellung der kartesischen Philosophie) ist unter seinem 
Namen veröüenUicht worden, und das Buch, das seine Philo- 
sophie enthält, wird erst nach seinem Tode gedruckt. Nicht em- 
mal die Soie;e, daß man ihn als Urheber kenne, hat ihn beschäf- 
tigt. Vielleicht hat es niemals emen bedeutenden Menschen 
ben, der wie Spmo/a hei von aller Fitelkeit j^^ewesen wäre; wenn 
wir hier als Ergebnis des Abschnittes „Ich-Gefühle" vorweg- 
nehmen» daß die Eitelkeit eine besondere Akzentuierung dessen 
ist, was der Mensch als sein Ich empfindet, so wird uns der Zu- 
sammenhang von Spinozas Philosophie mit seiner Lebensweise 
in aller Notwendigkeit emleuchten: Spinoza hat die Welt aufge- 
baut und dabd den Menschen vergessen. Die Sede des Menschen 
ist ihm eine wesenlose Fluktuation, eine Vorstellung hn all- 
gemehien unpersönlichen Denken, und zwar die Vorstellung des 
eigenen Körpers, der Reflex, den der Körper m das Atfaibut des 
Denkens wirft, sehi Schatten.**) (Der ihm gdstesverwandte, 
wenn auch nicht so seelenlose F ec h n e r nennt die Seele einmal 
den Logarithmus des Leibes.) So gibt es für sie nur zwei Mög- 

♦) Vgl. I. fircudenthal I, 177. 
**) Vgl die Abhandlung von Gott usf. S. 99. 



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234 



lichkeiten : entweder sie bleibt vom ausgedehnten Sein abhängig 
und wird zugleich mit dem Körper vernichtet (diese konsequen- 
teste Annahme wird von allen madernen Denkrichtungen ge- 
macht, die mit Spinoza den Grundzug des Idyllismus und der 
Ichlosigkeit gemein haben); oder wie Spinoza selbst lehrt, sie 
vereinigt sich nach dem Hingang des Leibes mit dem denkenden 
Sein und bleibt gleich ihm unveränderiich Denn an und für sich 
ist die Seele nichts, nur eine Funktion entweder ihres Körpers 
oder des allgemeinen Denkens. Und nicht so sehr, daß dies 
gelehrt wird, ist wichtig, sondern daß es ohne jedes innere 
Widerstrehen gelehrt wird. Was in der Seele des einzelnen lel>t» 
was sich freut und Iddet, Wünsche^ Leidenschaften und Träume 
~ alles das sind für Spinoza nur mangelhafte VocsleUungen, die 
den Frieden stören und von der Idaren Einsicht fiberwunden 
werden müssen.*) Die hdchsie Weisheit aber besieht darin» 
friedlich zu leben und Gott (d h. die Natur mit ihren Eigen- 
schaften) zu erkennen. — 

Die großen Gegensätze in der Stell un^^^ des Menschen zur 
Welt, in der Möglichkeit der Philosophie treten immer deut- 
licher heraus: hier ist die Seele des Menschen höchster Wert, sein 
Ich ist sein Wille, alle Frkenntnis ruht aui dean Wollen und auf 
dem Glauben an einen Sinn des Daseins, die Welt ist lebendiges 
Werden. Dort eine tote Welt, von der der Mensch ein Teil ist, 
alles Streben wäre zwecklos, denn die Welt hat keinen Sinn, 
Glaube ist nur mangelhafte Einsicht. Spinoza hat etwas Gegen- 
ständliches erkannt: die Substanz der Welt. Fichte hat eine 
Deutung gefunden: den Sinn der Welt Während Spinoza dem 
Wollen keinen Raum läßt und dem Sem durchaus zustimmt, emf>> 
fmdet der Idealismus, daB zwischen der bestehenden Welt und 

♦) „Der Affekt (die Leidenschaft) ist nur eine verworrene Vorstellung" 
(Ethik III, Aligemeine Definition der Affekte). — Diese DenkwdM Itt 
Spinoza fibrigons mit seinem Lehrer Descartes gemein. 



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235 



den Wünschen des Herzens wie den Fordemiigen des Geistes ein 
Widerspruch klafft. Die Welt ist nicht so, wie sie sein müßte. 
Dieaes Gefühl abo* liat zur unmittelbaren Folge» daß sich der 
Mensch der Welt gcgenfibeisteUt, daß er sich von Ihr unter- 
schieden weiß and Ober sie zu Gericht sitzt. Vor diesem Ur- 
gOgcnsatz schwinden die logischen Paare: Denken und iftum- 
üches Sehl dahhi, der viel tiefere Widerstreit zwischen Sede und 
Welt; Ethos und Natur ist gefunden, dem Sein tritt der Mensch 
mit seinem Wollen gegenüber. Der letzte Wunsdi ist nun nicht 
mehr der nach Glückseligkeit in der Welt, sondern der, die Welt 
nach den Gedanken des Menschen umzugestalten, daß sie stmer 
Forderung gleich werde.*) Alle Ethik, d. h. alles Wollen, und 
alle Tragik, d. h. seine innere Unerfüllbarkdt, entspringen aus 
dem seiner selbst bewußten Ich. 

Nicht zwei Meinungen oder Lehren stehen hier g^;eneinr 
ander, sondern Eigebnisse des tiefsten I^ehensgefOhlesi das nur 
so Sehl kann oder so. Wo der Shin ffir das Zerspaltene und 
Tnigische mangelt, da muß Fatalismus, Ergebenheit hi 
das Geschehen, henschen.**) Der Fatalist földt sich den Michten 
der Natur gänztidi unierworien, er strebt wie alles Lebendige 
naturhaft und fraglos der Lust zu, kann er sie aber niäit er- 
reichen, so dünkt es ihn unklug, sich gegen das aufzulehnen, 

*) Ich möchte hier auf etwas hinweisen, was scheinbar gar keine 
Beziehung zur Philosophie fichtes hat, aber in den tieferen Regionen der 
Seele doch mit ihr zusammenhängt Es ist ein alter Glaube» daft es 
sdidne, aber seelenloM Etanentarwwen gibt, denm die walne UnS» äm 
Mentdwii eine Sede schenkeii fcamu Dieser Traum, sich tUnem Natur* 
wesen in Liebe zu nahen und es zur Menschheit zu erheben, entspricht 
ganz dem sitth'chen Postulat Pichtes, daß der Mensch die Natur mensch- 
lich, Seelenhaft machen müsse, und zur ijleichen Zeit wie er haben sich 
die deutschen Romantiker mit diesem Gedanken beschäiligt, er ist von 
Fouqu^ in der liebliciMn „Undine" verkUrt wofden. 

**) Vgl. z. B» von mehr peraitnUdien Dokumenten Spinozas Brief an 
OldeidnirB. (Ed. Nrdunann No. 2!^ 



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236 



was stärker ist als er. Der Fatalist erkennt keinen mensth liehen 
Willen an, d. h. kein Pnnzip der Freiheit, das dem Naturge- 
schehen gegen ubery:estellt werden konnte. Für Spinoza gibt es 
nictits als den Verstand, alles sonst ist Täuschung und Ver- 
worrenheit. £r legt folgerichtig alle Wesensunterschiede der 
Menschen in den Verstand und nicbt in den Willen : die Frommen 
haben „eine klare Vorstellung von Gott'', „die Gottlosen" be- 
sitzen die Erkenntnis Gottes nicht, sondern kennen nur irdische 
Dinge und besünunen danach ihre Wecioe und ihre Gedanken.*) 
In seiner grofiartigen Konsequenz hebt er den Begriff der Frei- 
heit ausdrfiddich auf und läfit Freiheit Notwendigkeit deu 
eigenen Wesens sein. Es ist nidit ZdaU, daB diejenigen mo- 
donen Philosophen und Pathologen, die alles Metaphysische 
und logisch nicht Faßbare beseitigen möchten, gerade das 
Wollen derart in Vorstellungs- und GefühlsrElemente aufzulösen 
trachten, daß nichts übrig bleibt, was auf seelische Aktivität oder 
Spontaneität, auf Willen hindeutete; denn vor diesem Moment 
müßte der streng wissei i sc ii ältliche Zusammenhang der seelischen 
Elemente die Segel streiclien. Dies wird vor allem von Avena- 
rius versucht, der in minutiöser Gedankenarbeit das Wollen, das 
dem Verstände nun einmal nicht ganz zugänglich ist, ausschalten 
will**) (wogegen man allerdings wieder mit Schopenhauer sagen 
kann, daß nichts au! der Welt dem Menschen so ver^ändlich 
und so unnötig eines Beweises sei wie der Wille; dies wird 
durch das Denken pfimitiver Völker bewies» die alle Vocgange 
in der Natur nicht kausal, sondern nach der Analogie des 
menschlichen Willens, d. h. zielstrebig, als Wulntngcn mSditiger 
menscbenartiger Wesen auffassen). 

Diese Resignation des Fatalismus und des Lddenfr-Pessunia- 
mus ist von Omnd aus veraddeden von der religiösen Ergeben- 

*) Brief No. 36. 
**) Kritik der reinen Erfahrung Ii, 159-211. 



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237 



heit in den Willen Gottes. An Stefle der verstandesmäßigen Ein- 
sicht, daß der Mensch machtlos in der Welt ist, tritt hier ihr 
Gegenteil: der Mensch weiß sich in sdnon tiefsten Wesen unab- 
hängig von der Natur, er glaubt sich als etwas Anderes, Höheres, 
als frei, und erkennt in dieser seiner Freiheit einen anderen Zu- 
sanunenhang in einem yJRädi der Zwecke". Wenn er seinen 
guten WiUen mit dem eigentUchen Sinn der Welt, mit dem 
„liGdislenWiUen'', in Obereinstimmung wdfi, soliateraidiffiber 
alles andere erhoben und in dieser Sinnesart die Oewißfadt der 
ewigen Ruhe gefunden. Solch ein Mensch steht nun Ober der 
Welt, ja in der radikalen Vollendung dieser Lehre weiß er sich 
im Glauben (vor dem der Verstand ganz zurückgetreten ist) als 
Schöpfer der eigentlichen Welt, der Welt der Zwecke, die ja erst 
von ihm verwirklicht werden soll. Unsere Welt ist das versmii- 
lichte Material unserer Pflicht; dies ist das eigentlich Reale in 
den Dingen, der walire Grundstoff aller Erscheinung"*). — 

Man hat von einer Annäherung des späteren Standpunktes 
Fichtes an den Spinozismus gesprochen; ich kann nur voll- 
endeten Gegensatz sehen. Es stimmt vollkommen zu dem d^a- 
mischen Charakter des fichteschen Denkens im Gegensatz zu der 
ein für allemal fertigen Statik Spinozas» daB Fichte nidit von 
Anfaqg an eine feste Philoec^hte besessen, sondern sie erst im 
Lauf seines Lebens errungen und immer entschiedener entwickelt 
hat, daß er ruhelos weiterscbreitet und nadi immer tieferen 
gründungen sucht. Wenn Fidite sdilIeßUch dazu komm^ die 
WirUiciikdt und WiiicBamkeit des rdigidsen Bewußtseins zu 
lehren, und die ganze Welt als erschaffen durdi den Glauben 
auffaßt, so liegt das in der geraden Linie seiner Willens-Philo- 
sophie ; Göttlichkeit und Gotteskraft müssen den Menschen er- 
füllen. Er findet im Glauben die Gewähr, daß ein höchster Zu- 
stand der Vollkommenheit erreicht werden muß, daß die Welt 

«) Hchte S, W. Abt U, Bd. 3 S. 185. 



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238 



einem letzten immanenten Zweck in Oott entgegenstrebt. Das 

Leben in diesem Glauben ist die Seligkeit. Das ist edite Mystik 

uiid alles eher als Spinozismus. 

Bei solchen scheinbaren Ähnlichkeiten äbecsiefat man das 
Wichtigste: alle groBea Dualisiea stnbea ans iliicr Zerrissen- 
heit zu emer lefzten Ehiheit, zu einem Absoluten oder zu Oott 
hin. Diese Idee bannt ihr Wdlen und Denken. Für den Monis- 
mus Spmozas dag^^gen gibt es kern Ringen, seine Efaiheit ist 
nicht Sehnsucht der Seele, sondern da Faktum, das von Anfang 
gegeben ist und nichts Problematisches hat 

Fürs oberflächliche Zusehen können die letzten Seiten von 
Spinozas Ethik und besonders der berühmte Amor intellec- 
tualis, die geistige liebe zu Gott, vielleicht einen mystischen Ein- 
druck erwecken und man hat Spinoza bis auf unsere Zeit fast 
immer von Grund auf mißverstanden und sein System des abso- 
luten Rationalismus für Mystik genommen. Wenn man aber vom 
geschriebenen Wort au! den Geist und auf das Heiz zurQckgdit, 
denen es entstammt, so kann man nicht wohl größere Oegensiize 
finden als Spmoza und die Mystik. Die beiden entscheidenden 
Punkte süid wiederum : bei Sphioza hat der Mensch keinen wesen- 
haften Zusammenhang mit dem Wettgrund, er ist nur „ehi Teil** 
des unendlichen Denkens» ein Modus in den beiden Attributen 
des Seins.*) Dem Mystiker ist der Wdtgrund auch der Orund 
der Seele, aus ihm geht alles hervor, er gibt allem Wesen seinen 
Sinn, den Weg zur Vollendung. Aus diesem ersten ergibt sieh 
aber schon das zweite: das tragische Grundgefühl einer fehler- 
haften, schuldbe] asteten Welt. Der Mystiker steht ja vor der 
allergrößten Auf'^abe: selbst Gott zu werden, und er empfindet 
die uniieheuerste Spannung im Sein, die durch niclits gelöst 
werden kann als durch seine eigene „mystische" Tat, die ,»Ver" 

*) Vgl. besonden Ethik U, Satz 49. 



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239 



guttun^". *) Die läuschung kommt von Spinozas irreführen- 
dem Sprachgebrauch, von der Aquivokation des Wortes „Gott". 
Für Mystik und deutsche Philosophie ist Gott im Grund der 
Menschenseeie („das hünklein", wie Meister Eckehart 8<^) und 
kann niemals mit dem Verstand erfaßt werden; für Spinoza ist 
„Gott oder die Natur'' ein gegenständliches Urprinzip, ähnlich 
wie Schopenhauers Wille und ganz und gar nichts Göttliches 
lind AttßematQrlidies^ sondern die Natur selbst und etwas rein 
Themtischea. Weil Spinoza das voUkommene Gegenteil eines 
religiösen Menschen — eines Gottsuchers oder eines Gott- 
sicheren — ist, weil er zu dieser sedischen Lage gar keine Be- 
ziehung hat, sondern ganz In der Veratandes-Eikenntnis aufgeht, 
darum beginnt er sein System naiv mit der Weltsulistanz oder 
Gott und leitet mit Gemütsruhe und „auf geometrische Arf' 
Welt und Menschheit daraus her wie Euklid seine Sätze. Aus- 
drücklich wird die entgegengesetzte Denkweise gerügt, die von 
den Gegenständen der Sinne anbebt und im Glauben zu Gott 
führt.**) 

Fichte stellt hingegen den Akt der Befreiung von der Natur- 
g^undenheit in den Mittelpunkt. „Ich eigieife durch jenen 
Entschluß (nSmUch dem Gesetz der inneren Freiheit zu ge- 
borcfaen) die Ewigkeit und streife das Leben im Staube ab." 
Und „Mein Wille» den ich sdbst und kein anderer In die Ord- 
nmig Jener Weit fiige^ ist die Quelle des wahren Lebens und der 
Ewigkeit"***) Dieser beroisdie Akt, der Glaube, daß der gute 
Wille, der doch sooft zum Obel ausschlägt, einen in sich ge- 
gründeten Sinn habe und den Zustand der Vollkommenheit her- 
beiführen hilft, wird auch die „Widergeburt im Glauben" ge- 
nannt und Fichte fordert (wie Kant) ausdrücklich eine jenseiüge 



*) Vgl. Ober Mystik „Die M StoOm der Erotik", S. 105-125. 
**) Ethik II, Satz 10, Anmerkung. 
***) Die Beetimmung dee Menschen S. 290. 



240 

Welt dar Zwecke, in der die Talen unseres reinen Willens nicht 

mehr verloren gfdien, sondern wirlsain sind, ja er ist sogar ge- 
neigt, eine Stufenleiter der Welten aufzustellen, deren jede das 
reine Wollen der früheren Welten in Erfüllung umsetzt.*) Alles 
Leben ist ihm endlich nur „die Sehnsucht nach dein Fwigen**, 
das wahrhafte Leben ist in der Liebe zur Ewigkeit gelegen.**) 
In Oherein Stimmung mit dem JohannesrEvang'elium (nach 
Fichtes eigenem Ausspruch) und mit der deutschen Mystik wird 
das ewige Leben dem Weltleben gegenübeigestellt. — Wie fem 
alles dies dem richtig au^efaßten Natursystem Spinozas ist, 
braudit niclit wetier bewiesen zu werden. Vielletdit am meisten 
spinozistiscii mutet dieser Satz Fldites an: ,,Di€ U<l>e des Abso- 
luten oder Ootles ist das wahre Element des vemfinftigen Oeistes, 
in welchem allein er Ruhe findet und Sdigfceit; aber der reinste 
AusdrudL des Absoluten ist die Wissenschaft und diese kann 
nur um ihrer sdbst wülen geliebt werden wie das Absolute^***) 
usf. — Das klingt so wie Spinozas Worte am Schluß der Ethik: 
„Die Glückseligkeit besteht in der Liebe zu Gott." — Aber man 
darf sich nicht durch Worte tauschen lassen; denn eine Seite 
vorher hat Spinoza gelehrt, daß die Grundlage aller Glückselig- 
keit, das heißt der Tugend oder der rechten Lebensweise, darin 
besteht, seinen Nutzen zu suchen +) Und was „Gott oder die 
Natur*' eigentUch ist, das haben wir schon gesehen. 

Fast ebenso irrig wie die Einreihung Spinozas in die Mystik 
ist aber» ihn ab Pantheisten zu bezeichnen. Ich habe hier 
nicht von der foimal-logischen Berechtigung dieser Deutung zu 
sprechen, denn wenn jemand den Sprachgebrauch Sndeit und 
seine Weltsubstanz, „ein ausgedehntes Duig", das zugleich auch 
„ein denkendes Dütg*' ist, „Oott^ nennt, so kann man dann frei- 

♦) Die Bestimmung des Menschen III. 
**) Die Anweisung zum seligen Leben. 
♦♦♦) Nachlaß Ii, 127. t) Ethik V, Sau 41. 



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241 



licli sagen, daB in diesem System alles „Gott** sei — aber das 
ist offenbar nichts ab Wortqiicleiei. Odbt man anf cfie Quelle 
zurfick, so wird man im Pantfaeismtis ausschließlich das ^oße 

Weltgefühl sehen dürfen, das vor jeder Erscheinung der Natur 
von der Ahnung eines ewigen, eines göttlichen Seins befaHen 
wird, das im Blühen des Grases wie im Tanz der Gestirne eine 
gelieiiTinisvoUe Oöenbarung (jottes sieht Pantheismus ist das 
vollendete Gegenteil von Rationalismus, Pantheismus ist Gefühl, 
Leidenschaft, ist brünstige Huigabe der Seele an ein Möheres, er 
widerstrebt jeder Systematik und unterscheidet sich von der 
echten Mystik höchstens durch seine Diesseitigkeit, durch sein 
Weilen im Erscheinenden. Der eine grofie Pantheist ist Giordano 
Brwio, der Vericünder der übenneaaGhUchen Letdenscbaften. 
„Man wild selber ein Oott dinth die geiatigie Berfllirung des 
gOHUcfaen Zieles, man liat nichts anderes im Suin als göttliche 
Dinge und erweist sich unempfindlich ffir altes» was die groBe 
Menge fühlt; man kennt kerne Furcht, sondern verachtet ans 
Liebe zur Gottheit jeglichen anderen Genufi und achtet dieses 
Leben für nichts."*) Für Oiordano sind die Attribute Gottes 
dem Christentum anfj:eiiahert : Macht, Weisheit, Liebe. — Wie 
will inaii diesem Furor den kühlen Intellektualismus Spinozas 
nahe bringen Spinozas letzte Weisheit ist ja, von Affekten frei 
zu werden und ganz im ruhigen Denken zu leben. Dies ist eudä- 
monistisch, stoisrh; man hat einijesehen. daß es sich unter der 
Herrschaft des Verstandes besser leben läßt als unter der der 
Leidenschaften, der Verstand aber sucht die Erkenntnis und die 
Liebe der Ideen. Der Amor intellectualis Dei, von dem sich 
Geister hohen Ranges haben blenden lassen, ist nicht Gottes- 
hebe, sondern Liebe zur Wissenschaft. Auch die Inder philoso- 
phieren ohne Leidenschaft und Begeisterung, kühl und abstrakt, 

*) Kroici furori, Zwiegespräche vom Helden und vom Schwärmer. 

Deutsch von Ludwig Kuhlenbeck. 

Lucka, Grenzen der Seele. ih 



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242 



wenn auch phantastisch; aber ihre Grundüberzeugung ist die 
letzte Identität der Menacheoaeele mit der WcUaeele. — Die 
Selinsacht der Sede zu Gott kann nur bestdien, wo Seele als 
Wesenhdt empfunden wird, die in ihren Quell und Uigrund, 
ins Meb^bysische eingehen will. Spinoza ffihlt und meint etwas 
anderes, sowohl unter Oeist als auch unter OotL Der Mensch 
ist ihm ehie Störung in der Natur, die ausgeglichen werden soll, 
und die ganze Welt ist bei Spinoza nicht ernst genommen, sie 
hat kefaicn Sinn. 

Es leuchtet ein, welch ungeheures Mißverständnis darin 
liegt, Goethe, den Verkünder der Persönlichkeit und der Tat, 
einen Spinozisten sein zu lassen. Und doch scheint dies*- auf ein 
paar Äußerungen des Lernenden beruhende Memung^ in ihrem 
offenkundigen Widersinn unausrottbar zu sein (wahrscheinlich 
weil die Goethe-Kenner die abstrakte Philosophie nicht lieben, von 
Spinoza oft nur das wohlklingende Wort „Pantheismus" wissen 
und die einmal aufgestellte Behauptung mechanisch wieder- 
holen)*) Der das höchste Glück der Erdenkinder in der Persön- 
lichkeit gesehen hat und im Geist Fichles veiicändete und lehrte: 
„Im Anfang war die TatI" — der hat die Philosophie Fichtes und 
nicht die Spinozas in sich gehabt (wenn er auch den für den 
Kiinstler wohlbegrundeten Abscheu vor Systemen teilte). Wie 
für Fichte ist auch für Goethe m der „Tafhandlung^* das erste ge- 
geben, das was aus dem Naturwesen einen Freien macht und so 
cfst den Menschen schafft. — 

Fichte hat seinen G^ensatz zu Spinoza selbst einmal an- 
gedeutet: „Es gibt nur zwei vöUig konsequente Systeme: das 
kritische, weiches diese Grenzen (die Grenzen des „ich bin") an- 

*) „Was Ith mir aus dem Wefke (Spinozas Ethik) mag herausgelesen, 
was ich in dasselbe mag Mneinfelesen haben, davon wöftte Ich keine 

Rechenschaft zu geben." (Wahrheit und Dichtung, 14. Buch). Ober die 
Wettsteliung Qo^hes melir im letzten Abschnitt 



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243 

erkennt, und das spmozische, welches sie überspringt."*) Und 
er nennt sein System einen umgekehrten Spinozismus". — Spi- 
noza sagt: Die Substanz hat zwei Attribute, Denken und Aus- 
dehnung, Fichte driickt einen entsprechenden theoretischen Ge- 
danken so aus: Das inwendige Leben des Lichtes spaltet sich in 
Denken und Sein.**) — Die moderne Erkenntnistheorie formu- 
liert diese Tatsache etwa derart, daß Sein und BewuBtMia (oder 
körperliches und seelisches Sein) die beiden Encheinungswdaai 
and, unter denen alles Existierende begnSen werden kann. Für 
Ficfaie aber steht das Lebendige (das noch dazu in seiner 
letzten Periode zum Ucfat veifcUrt ist)***) am Beginn. Seine 
Pliiloso|diic fSngt nidtt mit etwas Gegebenem an, sondern mit 
einer „Tathandlung des Idi'', und der ente Onmdsatz der Wis- 
aensdiafislehie latttet: „Idi bin scbledithin, weil idi bin; und 
idi bin schlechthin, was ich bin." — ,,Das Ich setzt urspröng- 
Hdi sein eigenes Sein."t) — Es ist das Eigenartige, daß diese 
Denkweise nicht mit einem theoretischen Satz oder gar mit einer 
Definition anhebt, sondern mit einem Willens-Impuls, mit einem 
Imperativ: Sei deiner selbst bewußt! Setze dich selbst! — so den 
Gegensatz zu allem beschaulichen Verhalten betonend. Das Ich 
ist absolute Tätigkeit, alles Sein ist bewegtes Sein, lebendiges 
Sein. Und Ficiite sieht es als seine ewige Tat an, dies eine ge- 
leistet zu haben: „Durch die XX^issenschaftslehre wird das Men- 
adicqgeschledit von dem blinden Zufall erldst, und das Schicksal 
wird für dasselbe vemiditet''tt) — Oegcn diesen ungdieoren 
iieroischen Aufschwung, der aUes Existierende zusammenfaßt, 
um CS dem freien Willen Untertan zu machen, sieht die kalte, nur 

*) Grundlage der ges. Wissenschaftslehre, Jena 1802, S. 16. 
♦*) Nachlas II, 150. 

*<M) „Udit und Leben ist sehlecMMn eine«.«* Naclilet n» 1S3. 

t) Grundlage S. 12. 

++) Sonnenklarer Bericht nn da? f^rößere Publikum fiber dtt eigent' 
liehe Wesen der neuesten Philosophie. S. W. II, 410. 

16* 



244 



auf das eigene und ahcr anderen Wohlsein bedachte Weisheit 
des Mittelmenschen. 

Es ist aber für den Menschen und seine Philosophie von 
der höchsten Bedeutung, wie er über Wert und Lust denkt. 
Das heroische Onin4gefähl, das allem Sein einen inneren Sinn 
zuspricht und an seiner Vollendung arbeiten will, das also einen 
Zweck in das Sein hineinlegt, lädt die Lust hnmer nur als etwas 
Rdativcs gelten (wobei die plumpe Obertreibttng, der die Lust 
einfach etwas Böses ist, zur Giarakterisierung bdtrlgt). Wäh- 
rend die Wertphilosophie Lust nicht als Letztes anerkennt, ist für 
Spinoza und den modernen Naturalismus Lust der Inbegriff aller 
Zwecke, Spinoza definiert sie als „Übergang von geringerer zu 
größerer Vollkommenheit".*) — Je höher daher die Lust steigt, 
desto mehr wachst auch die Vollkoimneiiheit, der Wert. Fichte 
charakterisiert selbst diese Meinung so: ,,Ich weiß, daß sie (die 
Naturalisten) überhaupt nicht unter ihrer eigenen Botmäßiir- 
kdt, sondern unter der Gewalt der Natur stehen, und daß nicht 
sie selbst es sind, sondern diese Natur in ihnen, die das erstere 
(das Angenehme) mit aller ihrer Macht sucht, und das letztere 
(das Unangenehme) flieht, ohne Rücksicht, ob es übrigens gut 
oder böse sei/'**) Diesem natuigebundenen Denken, das ganz 
im mittleren, idyllischen Dasefai befangen bleiEt, sind Lust und 
Wert identisch. Es wte aber verfehlt, diese OefOhlswdae etwa 
mit Nietzsches Verhenlicfaung der Lust („alle Lust will 
Ewigkdt") in Beziehung zu bringen; denn gerade Nietzsche hat 
nichts so sdir verhöhnt wie die Freude am Bdiagen und am 
Alltag. Die englische Nützlichkeits-Philosophie (die sidi mit 
Spinozas Wertlehrc deckt) ist ihm die niedrigste und verächt- 
lichste gewesen. In den Kapiteln des Zarathustra, die vun den 
kleinen Menschen und von den letzten Menschen handeln, ergießt 

*>etMkiIL Ddlnitfoa dar AHekte. 
**i Die Bmänammg des Menschen S. Zt4» 



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245 



er allen seinen Sputt über die Sorge um das täfrüche Wohlsein 
und die großen Predigten fordern einen harten, hohen Wert 
Nietzsche repräsentiert äbertaaupt ganz klar (wenn auch in der 
einseitigen Betonung zur oberen Grenze hin) den Denker nach 
dem Typt» Fichte (sein Zarathustn ist eine Art Idealbild des 
Gienzmenachen als Sdiwtaner), er hat sich aber in seiner Oppc^ 
sition die deutsche Philosophie und gegen Wagner hin 
und wieder zum Anwalt der Mittelwerte ausgeworfen. Die tust» 
die Nietzsche veiherriidit, ist etwas ganz anderes als die Lust, 
die der Positivismus Itiirt; für Nietzsche ist Lust Rausch, höchste 
Aufetachdung alles Lebens, und so Idealismus und eine For- 
de r u n g an den Menschen. Aber nicht nur den Sinn, auch das 
Pathos, mit dem Nietzsche allem Leben einen tieferen Sinn gebea 
Will und hierzu das Symbol von der ewigen Wiederkunft bildet, 
hat Fichte vor ihm : „Die übersinnliche Welt ist keine zuküiiitige 
Welt, sie ist gegenwärtig; sie kann in keinem Punkt des end- 
lichen Daseins g^enwärtiger sein, als in tlein andern; nach 
einem Dasein von Myriaden Lebenslängen nicht gegenwärtiger 

sein, als in diesem Augenblicke Ich ergreife durch jenen 

Entschluß die Ewigkeit, und streife das Leben im Staube und 
alle anderen süinlichen Leben, die mir noch bevorstehen können, 
ab, und versetze mich hoch über sie. Ich werde mir gelbst zur 
einigen Quelle alles meuies Sems und mdner Erscheinungen; 
und habe von nun an, unbedingt durch etwas außer mir, das 
Leben m nur selbst. Mein Wille ist die Quelle des wahren 
Lebens und der Ewigkeit'**) — Was hier deutlidi ausgesprochen 
is^ um das hat Nietzsche gerungen, es aber niemals recht fassen 
kfifinen. — 

Spinoza zieht in seiner imposanten geschlc»senen Denk- 
weise auch die letzte Konsequenz des Naturalismus, der keinen 
Wert kennen darf und alles Seiende für vollkommen erklärt, 

*) Die BesÜiniiiunc des Menschen S. 290. 



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denn eine andere Quelle der Vollkommenheit darf es ja nicht 
^en (dieser Gedanke ist spater von Hegel wieder aufgenommen 
worden). Die Natur wirkt mit Notwendigkeit (auch im Men- 
schen) und es wäre also purer Unverstand, dem von ihr geschaf- 
fenen, das heißt eben dem Existierenden, abschätzend i;e<^en über- 
treten zu wollen. So gibt es nichts als das wirkliche Sein, die 
Realität; Vollkommenheit und Unvollkommenheit, gut und 
schlecht sind nur Oedanken, die nichts zu bedeuten haben. „Ge- 
recht und ungerecht, Sünde und Vecdienst sind nur äußere Be- 
gfi&t." — ,^ii8t ist gut, Unlust ist sctdedie'*) — Diese Gduhl»- 
weise führt konsequent in die Tugendletue (nidit eigentlidi jen- 
srits» sondern noch vor der Scheidung von Out undBfise), zit der 
die moderocn Posiüvisten nicht den Mut haben — daß das Oute 
eüifach das dem Menschen Zutrilglicfae sei, Tugend ist Olfick 
und gleich dem eigenen Nutzen. , Je mehr jemand strebt und 
vermag» das ihm Nützliche zu suchen, desto tugendiiafler ist er/' 
— ffDaB Streben, sich zu eihalten, ist die erste und einzige Orund- 
lage der Tugend'"*'*) — Wenn also Spinoza lehrt, daß die Tugend 
um ihrer selbst willen gesucht werden müsse, so klingt das sehr 
edel, heißt aber nichts, als daß jeder seinen Nutzen suchen solle 
(was er wohl ohnehin sclion gewußt hat). Für den Denker ist 
aber gut und nützlich das I>enken und die Erkenntnis, und da- 
her sagt Spinoza, daß das höchste Gut die Erkenntnis Gottes 
sei, denn der Philosoph wünscht nichts so sehr als Einsicht in 
das Wesen der Welt und „das Gut, welches jeder, der der Tu- 
gend nachstrebt, für sich begehrt, das wünscht er auch den 
anderen Menschen".^^*) — Dies ist der berühmte und soecliaben 
klingende Amor intellectualis Dei Spinozas! 

Entsprechend dieser intellektualistischen und poaitivistiachen 

*) Ethik IV, Satz 37, 41. 
*♦) Lthik IV, 18. Annu, IV, 20, IV, 22 Zusatz. 
♦♦♦) Ethik IV, 37. 



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247 



Moral müssen die Begiifie der Sünde und des Bösen abgelehnt 
werdea: „Die Sünden, soweit sie nur eine Unvollkommenheit 
anzeigen, stellen nichts Wirkliches dar."*) Da ja doch nichts 
andern als mit Naturnotwendigkeit geschehen kann, so gibt es 
auch kein Unrecht; dieser Oedanke ist so unmöglich wie dn 
rundes Vieieck. Das Veibrechen wifd ganz äufierlich gdafit 
als y^Ungehoraam, der nur nach dem Staalsgesetz strafbar ist"**) 
Das Böse ist nur Mangel an Efkenntnis; denn hätte der Mensch 
voUkonnnene CrkennhiiSy so würde er ja nur das Beste (d. h. 
das ihm Nfitz]idiste)wonen und wSre also gut; auf dem Verstände 
iuht alles. Nur ein reiner und klarer Mensch, der niemals ver- 
sucht worden ist uiid ganz der Erkenntnis lebt, hat diese in ihrer 
Paradoxie docli so folgerichtige Lehre aufstellen können. Das 
«ttliche Sein, das für die Idi-«Philosophie Quelipunkt und letztes 
Ziel des Denkens ist, beruht für Spinoza nur auf verschiedenen 
Oraden von Verstandesklarheit 

Der Mittefaaensch, auch wenn er nicht konsequenter Denker 
ist, neigt dazu, kerne Probleme anzueilcennen, und läßt das Be- 
stehende gut seht. Er schiebt alles dem unerforschlichea Rat- 
schluß Gottes zu, der es schon richtig geordnet haben wird, oder 
erklärt wie der denkodtehtige Sphioza aUes für das Werk uneibitt- 
llcher Naturnotwendigkeit Die Zwecice des Menschen sfaid denen 
der Natur völlig untei^geordnet. Wo sie mit der Natur nicht zu- 
sammenstimmen, werden sie aufgehoben, denn „die Natur be- 
dient sicii des Menschen unter allem anderen als ihres Werk- 
zeuges".***) 

Ist so der sittliche Wert auf Schwankungen der Erkenntnis 
zurückgeführt und die Möglichkeit jedes inneren Konflikts ver- 
mieden worden, so muß — allerdings nur perBönlicb für Spi- 

♦) Brief No. 32. 
•*) Ethik iV, 37. 

Abhandliuig von Gott tUc^ S. 101. 



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noza und nicht sehr typisch - als Beweis seiner Fremdheit auch 
gegenüber dem anderen Wertgebiet, den Werten der Kunst her- 
vorgehoben werden, wie er das Schöne relativ zu fassen und so 
zu vernichten weiß.*) Spinoza sag:t: Die Musik ist für den 
Schwermütigen gut, für den Traurigen schlecht, für den Tauben 
weder gut noch scdUecbt So legt er positivistisch (und öaktr 
modern) den Wert ganz in die subjektive Stimmung und läßt 
etwas gegenständlich Schönes nicht bestehen, weil mit der An- 
efknmung eines solchen die Nfltzlichkeits-Philosophie durch- 
brochen wSre. 

Der Wert der menschlichen Persönlichkeit ist bei Spinoza 
von Anlaiig an nicht in Betracht gekommen; wie die ethischai 
und ästhetischen Werte beseitigt werden, haben wir gesctun. 
Nun bleibt noch die Wertrichtung, der sich ja auch das Denken 
des konsequenten Naturalisten beugt: wahr und falsch. Und 
wieder siegt das idylhsche örundgefnlil, das kein Element de«; 
Kampfes in der Welt anerkennt; während jede Ich-Philosophie im 
Wahren und im Falschen (wie im Outen und im Bösen) zwei 
widerstrebende Kräfte sieht, die in der Brust des Menschen mit- 
einander ringen, so ist hier jede innere Entzweiung dadurch un- 
möglich gemacht, daß das Falsche nur als ein geringerer Grad 
von Realität, ein geringerer Orad von Wahrheit gilt Auch diese 
Denkweise (die eigentlich eme Geffihlsweise ist) hat fOr das 
Streben nach VervoUkommnung Raum: aber hier gibt es nicht 
ein Ringen, das mit einem Sieg des Vollkommeneren enden soll, 
sondern ehi langsames Besserwerden, kdn Kampf der Gedanken, 
sondern ein Schrieb der Wissenschaften. (Die modernen Evolu- 
tionisten und Sozialisten fassen dies als automatisdie Entwick- 

*) Spinoza ist ein Zeitgenosse der grofien niederlindischen Maler 

gewesen, seine Wohnirnp in Amsterdam befand sich nur einige Strafen 
von Rembrandts Ateiier entfernt und er bat sich selbst mit Zeichnen be« 
schäftigt 



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249 



}uiig.) — Die höchste Einheii mit allem Sdendea ist hier von 
Anfang an gegeben und es bleibt nichts Fragliches und Eistie- 
benswertes übrig; die andere Denkart setzt dem Menschen die 
eine, die große Antrabe, dies Höchste zu vcrwiiidicben. (Es 
gibt selbstvefsUndHcfa auch ehien philosophiadien DuaUsmus 
— Aristoteles z. B. — der nicht auf dem tragischen Bewußtsein 
beruht, sondern der eine theoretische Meinung ist; uns beschäf- 
tigt nur der echte, der seelische Dualismus.) 

Die außerordentliche Objektivität Spinozas (d, h sein 
Mang^el an Subjektivität) und sein kosmozeritrischer Standpunkt 
hat nun den philosophischen fcirlolg, daß er eines der ganz we- 
nigen großen Systeme des Seins gegeben hat, während alle 
Systeme des europäischen Kulturkreises Bewußtseins- 
Philosophien sind. In Spinozas System ist der Mensch kein we- 
sentUches Moment und daher fällt da% worüber die Seelen-Philo- 
sophie nicht hhiauskommt, von sett^st weg: daß n&nlicfa dem 
Ejdstierenden ehi Aufnehmendes, Anschauendes und Erkennendes 
gegenfibeistehen müsse. Spinoza handelt vom Sem selbst, nicht 
vom Erscheinen, und daher hat aehi System dte geschlossene 
Wucht, die nicht am Eikenntnisproblem gebrochen wund. Der 
Wahrheitswert dieser Position kommt natfirlidi nicht fai Betracht, 
wo es sich nur um die Motive des Philosophierens und das Wesen 
des Philosophen handelt. 

Die ganz irdische Denkart Spinozas hat aber auch einen er- 
habenen Satz g^ezeitigt (den größten in seinem System): ,,Dei 
freie jMensch denkt über nichts weniger als über den Tod, und 
seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondeni 
über das Leben."*) — Man könnte vielleicht sagen, daß auch 
dies wieder ganz mittelmenschlich, sogar bürgerlich gesprochen 
ist; aber es liegt doch eine tiefe Weisheit darin und ich will sie 
nicht herabsetzen. Der extreme Mensch neigt stete zu Orübe- 

*) EtMk IV, 67. 



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Icien, die dem Tcxi und dem Jenseits gelten und die so leidit 
wesenlos und unfruchtbar werden und das Leben, das sie doch 
vertiefen sollten, lahmen, — Fs ist für einen Denker von der 
Größe Spinozas immertiin merlcwürdig, daß er die ewige hrage 
nach dem Warum? aller Friatenz, das Staunen und Schaudern 
vor dem Sein und das Träumen von anderen möglichen Formen 
des Lebens nicht kennt, daß er niemals an eine Oienze kommt, 
sondern im naturfaaften Dasein völliges Oenägen findet Für 
den großen Denlcer ist dies eislaunlicfa — aber f&r den Reprft- 
sentanten seines MemdihaltBltyym kann es nicht wohl andeis sein. 
Und der Mangel an persönlicher Problematik 
ist vielldcbt das letzte Mokmal dieser Oeistoart: nur dem, der 
Abgrände in der eigenen Seele und RIHsd hi der Welt sieht, ist 
dieses Staunen, das einen unheimlichen Ton annehmen kann, 
gegeben. — 

4. 

Ich habe an anderer Stelle ausführlich bewiesen, daf5 der 
Grundwert des europäischen Menschen der 
Wert der Seele, oder in reiferer Fassung der Wert der Persön- 
lidikeit isL*) Aus diesem Aüttelpunlct strahlt konzentrisch das 
ganze europäische Kultursystem, wie es sich seit dem Zeitalter 
der Kreuzzüge und des Minnesanges entwickelt hat, von diesem 
Qrundgefuhl aus wird die Wdt geofdnet, empfingt Sum und 
Wert Ich glaub^ im Bewußtsein der Penönlicfakdt das ent- 
sdiddende Merkmal des europäischen KultuigefOhles gegen- 
über dem orientalischen (ün weitesten Sum) gezeigt zu haben, 
und so muß auch die Philosophie des europäisdien Oeisles in 
der Seele, im Ich ihren Qudlpunkt finden. Zum erstenmal ist dies 
in der deutschen Mystik des vierzetinten Jahrhunderts ganz klar 
geworden — was ich hier übergehe — , Giordano — ein heiß- 
blütiger Abkömmling der nordischen Mystiker — hat die Seeie als 

*) Die drei Stufen der Erotik: »Die Geburt Europas". 



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Orundkraft in einem heroischen Leben und Denken bewährt. Die 
moderne Philosophie hebt in Descartes mit dem Ich, mit der 
Besinniing des Denkois auf ach selbst, an — „Ich denke mid 
also existiere ich" — und sie ist diesem Leitmotiv bis auf unsere 
itm geblieben, sie hat nidit andere kdnnen als von der 
Seele des Mensdien aus die Wdt aufbauen, der Welt ihr Urteil 
spfecfacn — sie ist Ich-Philosophie. Die große philosophische 
Linien die mit Descartes einsetzt; ist aber von ihm nicht zu 
Sphioza hinfibergegangen, der doch an Kraft des Denkens keinem 
nachsteht, sondern zu Malebranche und Leibniz, dann über Ber- 
keley und Mume zu den groikn deutschen rjeiikern. Ihnen allen 
gilt, ausdrücklich oder in selbstverständlicher Verschwiegenheit, 
die Seele als der Zentralwert de*; Denkens und des Seins. 

Spinoza aber steht wie ein Ireinder erratischer Block mitten 
in der europäischen Oeistesgeschichte, er hat alles ablehnen 
müssen, was um ihn her in Geltung stand, er hat nicht gewirkt 
und ist nicht recht begriffen worden - denn das Philo6opluere& 
ist im Tiefsten nicht eine Angelegenheit des Kopfes, sondern des 
Herzens^ es ist die definitive Stellung zur Welt, die in Begriffen 
gcUSrt woiden ist. Und so läßt sich ein System nicht von dner 
sedischen Wurzel auf andere äbertnigen, die ihr ümerlich fremd 
sind. Spinoza aber reprSsentiert uns den nicht-europfiischen 
Geist in seiner klarsten Veikdiperung. Dies hat Kant geahnt, 
wenn er emmal die beiUiulige Bemerkung macht, daß der Spina- 
zismus aus altHxrientalischen VofsteUungen hervorgegangen sein 
mteev und dabei Tibet nennt.'*') Auch das Denken Indiens ist 
uneuropäisch, sein Mittelpunkt ist Brahman, die Weltseele, und 
diese Denkweise ist iiruner ganz im Metaphysischen befangen ge- 
blieben und hat niemals ein Kultursystem her\'orbringen können. 
Und Schopenhauer versucht, die indische Gefuhisweise der euro- 
päischen aufzupfropfen, wenn er die Seele nicht als Wesenhaftes 

*) „Das Ende aller Dinge." Werke VU, S. 422 (Ausgebe Rosenkranz). 



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gelten läßt, sondern nur als Schatten des Weltgnindes, des uni- 
versalen Willens. Mit Ausnahme Spinozas, Schopenhauers und 
dfö bloß Wissenschaftlichen Positivismus aber CTkcnnt die ganze 
europäische Philosophie im Ich oder in der Per&fjiilichkeit des 
Menschen den Mittelpunkt des Seins und stimmt insofern mit der 
I\eH^nan Europas zusammen, der die Seele als das einzijre in der 
Welt gilt, was echten Wert hat. Brahmaismus und Buddhismus 
fassen wie Spinoza das Erkennen als Primäres^ und wenn die 
Unzulänglichkeiten des Denkens behoben sind, so ist die Erlö- 
sting vollzogen. Das Christentum, die deutsche Mystik und die 
earopAische Fbilosophie findai das Wesen im Wiiten oder in der 
SedCy die Weit wird zum ir^giachen Eitignis. Spinoza hat als 
Wappen eine Sddange gcföhit» die aicli zum Ringe legt und in 
den eigenen Schwanz heißt — ehi Bild der Sinnlosigkeit alles 
Seins. Kants Symbol Ist die Asymptote, die gerade Uni^ die 
einer Kurve näher und näher konunt und sie doch niemals er- 
reichen kann, erst in der Unendlichkeit — das Bild des 
evsrigen Strebens, der Piiilosophie des Willens, des Idea- 
lismus. — 

Was zuletzt über das Verhältnis der Weltsysteme mit den 
Wertungsweiseii des europäischen und des orientalischen Men- 
schen (zu dem im weiteren Sinne sowohl arische Inder als auch 
Semiten imd Mongolen gehören) gesagt worden ist, das sollte 
hier nur anhangsweise die psychologischen Voraussetzungen des 
Philosophierens in eine weitere Perspddive rücken und die an 
zwei Denkern gewonnenen Einsichten in einen welthistorischen 
Zusammenhang einreihen. Fichte ist von Anfang an als der Re- 
präsentant des tragischen Menschen in höchster philosophischer 
Reuihett erkannt worden und enthiillt sich jetzt überdies als der 
Vollender des europaischen Wert- und WettgefäUsw In Spinosca 
sehen whr den Kreuzungspunkt zweier OefOhlszüge, die eigent- 
lich in verschiedenen R^onen verlaufen, eines mdividual-psy- 



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253 



cliologischen und eines kultur-psychologischen. Was diesen 
beiden Linien dennoch genieinsaiii ist, wird man cäm leichtesten 
als ein Negatives fassen können: der Mangel an tragischem Be- 
wußtsein. 

Der Zusammenhang individuellen Fühlens und Denkens 
mit einem Kulturkreis (weit mehr als mit einem Blutkreis!) läßt 
sich also durchaus nicht bezweifeln; aber vor den großen indivi- 
dudlen Untersducden der menschlichen Seelen sind die Dife- 
ranzen der Rassen und Nationen gering. Ich konnte als Beispiele 
für den mittiefen Menschen die Uideutschen Keller und Hi^dn 
und den mit tahnodischer Bildung aufgezogenen portugiesisciiett 
Juden Spinoza anführen. An dem Angelsachsen Poe^ dem 
Russen Dostojewski, den Deutschen Fichte und Beettiovcn ist 
der Orenzmensch verstanden worden, und alles das könnte nach 
jeder Richtung erweitert werden. Die sekundären Unterschiede 
der Abstammung uiid der ünigebuiig sind natürlich weitaus be- 
deutender beim mittleren Menschen, der ja viel tiefer in seinem 
Kreis darin steht als der Grenzmensch. Aber auch noch in den 
( jeistem, die am ent^hiedensten auf sich selber ruhen, wird eine 
bestimmte Tönung zu Enden sein, die von ihrer erdhaften 
Wurzel stammt. — 

Vielleicht kann alles, was bisher gesagt worden ist, eine 
wichtige und praktische Einsicht begründen: daß nämlich der 
uralte und heute wieder so aktuelle Streit zwischen Mo- 
nismus und Dualismus auf psychologischen 
Unterschieden der Menschen und auf gar nichts 
anderem beruht. Wer nicht nur etwas nachredet, sondern 
wer eine dieser beiden Gnmdstellungen wiikltch aus sich heraus 
entwickelt hat, für den sind alle theoretischen Beweisffihrungen 
wertlos: der Mittehnenscfa ist Monist, der Orenzmensdi 
Dualist. 



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7. DER SCmCKSALSMENSCH 

1. 

Wir haben alles» was an den Menschen henuiliitt und ihm 
gegeben ist, die Wnkunsen der Wdt und seuie eigenen Anlagen 
unter dem Begriff des Schicksals zusammengefaßt und dem 
unendlich Vielen ein einziges, die innere Kraft, die Freiheit 
gegenübergestdlt. EHes sind die beiden letzten Elemente, die in 
allem Menschlichen gefunden werden können. Auf ihnen beruht 
die im tiefsten dualistische Konstitution des Mensclien gegenüber 
der önheitlich und daiier berechenbar aufgebauten Natur. 
Diese beiden Grundelemente müssen prinzipiell in jeder mensch- 
lichen Seele angenommen werden; aber es gibt Menschen, die so 
sehr Naturwesen sind und so wenig eigentlich Menschliches 
haben, daß das Clement der Freiheit gar nicht vorhanden zu sein 
scheint oder wenigstens nicht ins Bewußtsein fällt und bei keiner 
ihrer Handlungen merklich wird. Als im Absdmitt über das 
Tragische vom Helden der Tragödie gesprochen worden ist, der 
blind und stark wie eine Naturmacht seinen Weg geht, da ist 
uns schon der Mensch begegnet, den ich den Schicksalsmenschen 
nemie. Wenn seine seelischen Dunensionen nur hinreichen» er- 
weckt er leicht einen ästhetisch cinheiflichen, geschlossenen Ein- 
druck wie die Schöpfungen der Natur und verleitet den Beob- 
achter, ihm selber unbewußt, solch einen Menschen als Phi- 
nomen und nicht als Persönlichkeit anzusehen, ihn nicht mensch- 
lidMedisch, sondern gegenstöndliCh-Ssihetisch zu beurteilen. 
Wie schon früher ehigeleucfatet hat» ist dieser Mensdi inneilidi 
völlig untragisch und gerade darum scheint er uns ein passender 
Gegenstand des Ästhetisch-Tragischen zu sein; denn seine Ge- 
bundenheit weckt uns selber zum Bewußtsein unserer Freiheit 
und schenkt uns das Gefühl des Tragischen. Der Schicksals- 
mensch erfährt im tieferen Süm keine Freiheit und kein Schicksal, 



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255 



gleichwie das Tier kdn Sdudaal hat; denn erat im licht des 
digentUcfa McnschKchen kann das and^, das Freoide^ das 
Schldtsalhafte zum Bewußtsein kommen. Weil wir aber nicht 

umhin können, diesen Menschen von unserem Standpunkt aus 

anzusehen, ihn ganz schicksalsbesüinmt, ganz unfrei zu be- 
greifen — darum und noch aus einem anderen, nicht ins Psycho- 
log^ische fallenden Grunde will ich ihn den Schicksalsmenschen 
nennen. 

Der Mensch als Persönlichkeit ist enic wirkliche Welt, ein 
Mikrokosmos, der sein eigenes Gesetz in sich trägt und dem 
Kosmos, der Welt» als ein selbständiges Ganzes g^enubersteht. 
Der Schicksalsmensch ist kein Ganzes (weil ihm das Bewußtsein 
innerer Freiheit, eines inneren Zcntrmns abgeht), keine Welt, 
sondern ein Tesi, ein Stfick der allgemeinen Wdt unter deren Oe- 
setzen. Und weil sich dieser Mensch nur als ein Teil und nicht 
als abgeschlossenes Ganzes fühlt» kdnncn leben und Oeltung 
haben für ihn nur ui bes&idiger VeisröBerung beruhen. 
Sem Wunsch ist, ein ümner größerer Tdl der Welt zu wer- 
den — der Wunsch aller Menschen ohne fameren Mittelpunkt 
— und endlich die ganze Welt auszufüllen. Tamerlan hat gesagt: 
Wenn wir die Erde erobert haben, so werden wir uns auf den 
Mond stürzen. Dieser Wunsch, sich bestandig auszudehnen, an 
Macht zuzunehmen, kann nie gestillt werden ; denn das Grund- 
gefühl, nichts Ganzes zu sein, sondern ein I eil, ändert sich nie- 
mals; das Stück Welt, das der Schicksalsmensch ist, wird immer 
nur umfangreicher — kann sich aber nie zu einem Ganzen 
schließen, es hat eine unersättliche Gier nach Raum und Macht 
Wörtlich genoomien ist es wohl falsch, aber in einem tieferen 
Sinn für den Schicksalsmenschen wahr, wenn Napoleon von sich 
selber sagt: „Ich iiabe kernen Ehigeiz; sollte ich aber doch 
welchen besitzen, so ist er mir derart angeboren, daß er voll- 
konunen in meinem Wesen liegt, und er hängt mit meinem Dor 



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sein so innig zusammen wie das Blut, das in meinen Adern roUt, 
und die Luft, die ich atme." Denn Sein und MelireeinwoUen ist 
für ihn dasselbe. 

Der Sducfcsalaiiienscfa veistelit nicht zwischen Menschen 
und Dingen zu scheiden, zu werten; er steht nur OroBes und 
Klemes. Denn nur m bestandigem quantitativem Wadistum ver- 
mag er emen Inhalt zu gewinnen. Das ist wohl eme Illusion, 
aber eine unvennridUdie Illusion, wenn ein innerer Lebensquell 
nicht voihanden ist Wiildiches Innenleben, das heißt Leben, das 
selbstgenugsam in sich ruht, ist daher für dicsvn Menschen luci.t 
möglich; er geht in Wirkung und Gegenwirkung mit der Weit 
auf. 

Diese Art zu woüen und zu leben ist ganz nach außen <re- 
richtet, ganz extensiv. Sie betätigt sich in der Ausdehnung 
der eigenen Sphäre über einen möglichst großen Raum, über 
möglichst viele Menschen und Dinge. Sie sucht alle Weltelemente 
um ein Zentrum zu sammeln und dort festzuhalten. Der exten- 
sive Mensch will das Netz, in dessen Mittelpunkt er sitzt, immer 
größer und weitmaschiger machen. Der Vollfsiedner, der Po- 
litiker z. B. hat sein Innenletien bis auf em ganz primitives 
WiikenwoUen veremfadit, C^gen- und NebenshrOmungen in ihm 
selbst weiden vernachlässigt, er will Macht über andere ge- 
wumen, will erobern und nichts anderes. Gldch eideostv ge- 
richtet ist das Streben des Reichen, der hnmer noch reicher 
werden will, der den Umfang aefaier Macht in hnmer größeren 
Zahlen ausdrücken, das Geld von fremden Zentren in seines 
locken möchte; und ebenso ist der Frauenjäger, der em Register 
f&hrt (vieUdcht nur in Gedanken) und selbst nichts anderes zu 
empfinden vermag als geschmeichelte Maclugier. 

Während der extensive Wille (der aber nur uneigentlich 
Wille zu nennen ist — Nietzsches Wille zur Macht) ganz auf 
das Verhältnis zu anderen Manschen und zum Raum gestellt ist, 



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257 



beruht das intensive Leben darin, das Gefüge der Seele 
immer inniger, klarer und fester zu g^estalten, das Netz seiner 
Kfälte immor enger und sicherer um einen ^Vittelpunkt herum 
zu spannen. Der Mensdi des intensiven Willens geht seinen 
Weg gerade durch die Welt, unbekümmert um fremden Willen, 
unbeeiafiußbar von ihm, er hat seine Kräfte stets in der Gewalt 
und muB sie nicht von außen gewinnen. Dieser Wille Ist WiUe 
im eigentlichen Sum, ist das Prinzip der PefsOnlichkeii; die 
sich hn Lau! des Lebens sOitar und emheitlicher eracfaaSt nnd 
aUes zu asshnilieren vennag, das fonnende Prinzip, das die 
Elenunte aneinander bindet, sie zu ediien Oliedeni eines 
heren ordnet, so dafi ehie Hiefarcfaie der fameien Krtfte enlsteht; 
die die äußere Hierarchie, das Ideal des extenaven Menschen, 
spiegelt. Der intensive Mensch will nicht so sehr wirken als 
s e i n , er hat die Kraft und den Willen zur Einsamkeit und 
zur Schweigsamkeit (der schwache Mensch kann nicht 
schweigen und nicht allein sein); schweigsam sein heißt ja, in 
Gesellschaft anderer einsam sein. Hierher zählt der Asket, der 
sich ganz unter seine Herrschaft bekommen hat; aber auch 
mancher Schrullige, der die Welt von einer fixen Idee her aus- 
deutet — Schwache Menschen hingegen, ohne intensive noch 
extensive Kräfte, vermögen nicht den Elementen ihres Ich eine 
eüiheitUcbe Form zu verleihen, zaUieiGhe Komplett tiealehen 
nebenehiander — hn Chaos freOich gedeiht hhi und wieder 
geistiger mid seelischer Reichtum. 

Je emhdtUcher ein Mensdi oiganisiert ist, desto mehr ver- 
mag er auch, Ehiflnß auf andere Menschen zu fiben, sie sich an- 
zugleichen ~ ganz von selbst strahlt der hitensive Wille ins 
Extensive hinaus. Denn die vielen Menschen, die selber nicht ge- 
richtet sind, hnden ihre Wollust darin, von einem fremden ent- 
schiedenen Willen Anstoß und Richtung zu empfangen. Und 
so kommt es, daß die Wirkung einheithch organisierter exten- 

LttckA» Qtmutn der SmI«. 17 



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258 



aiver Menschen manchmal an die echte Kraft des intensiven 
Menschen erinnert — wenn man nSmlich nur die Wiikong sieht 
mid beurteili 

Je mehr sich nun ein Mensch dem Typus des Schicksals- 
menschen nähert, desto geringer sind seine intensiven und desto 
entschiedener seine extensiven Kräfte. Der SchicksalsmcDsch 
selbst ist ein Stück Natur, zur höchsten Konzentration gesteigert, 
er ist eigenthch nicht Mensch, weil ihni das abgeht, was den 
Menschen über die Natur erhebt, er ist Phänomen und kann wie 
ein Wasserfall oder ein Seesturm hohe ästhetische Bewunderung 
wecken. Aach diesen Erscheinungen sprechen wir nicht Wert 
an adi zu, wir wissen, daß sie nichts sind als physikalische Vor- 
ginge^ aber wir vcnnagen sie in eine andere^ in die fisthetiscfae 
Lage za venetzen und uns an ihnen zu erEreuea. Und danun ist 
der Schicksalsmensch immer wieder der bevorzugte Gegenstand 
der Dichtung. Die Bewunderung, die Nietzsche^ manche Künstler 
und viele Frauen fär Niqpoleoa ~ den grftßten Sdiicksato- 
menschcn der neueren Zeit — empfinden, ist rein ästhetisch, 
Nietzsches Schwärmerei für die prachtvolle Bestie, ffir den ge- 
walttätigen Menschen, eine Spielart des Scfaicksalsmenschen, die 
so recht ins Auge fällt, ist die Bewunderung des Zuschauers für 
ein Phänomen, nicht des Menschen für einen Menschen. (Diese 
äsüietische Wertungsweise ist ja für Nietzsche charakierisUsch.) 
Der Mensch, der nur Natur ist, vermag rücksichtslos zu sein wie 
die Elemente; aber nicht etwa, weil er mehr wäre als andere 
Menschen, Obermensdi, sondern weil ihm das eigentlich Mensch- 
liche, das Persönliche lelilt, so daß er hemmungslos handelt. 
Die Bewunderung für solch ein Mensch gewordenes Phänomen 
ist vom ästhetischen Standpunkt durchaus begreiflich; wird es 
aber als Ideal aufgestellt, so beweist dies nichts als eine primitive 
Verwechslung der seelischen mit der ästhetischen Kategorie, das 
heißt: man vermag nicht emen Menschen von mnen heraus als 



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250 



Menschen zu verBtefam und zu benrteUai, sondern man wertet 
ihn von auBen, von ebiem ZiiMhauer Jicr» nach adnm Wir- 
kungen. Diese Perveraion ist das eigentliche Onmdübd des 
Astiietiziamus. (Wollte man emst damit madien und das Natfir- 
liche über das Peraöalicfae stdlen, so müßte man die physiolo- 
gischen Vorgänge der Verdauung und des Stoffwedisds hdher 
schätzen als alles Seelische und Geistige — sie sind wahlhaft 
Natur.) 

Der Schicksalsmensch hat selbst nicht das Bewußtsein, etwas 
zu tun, er empfindet sich als das Werkzeug des Geschehens, und 
weil er selbst innere Kraft, Persönlichkeit niclit besitzt, so ist er 
auch nicht imstande, die Persönlichkeit anderer zu erkennen; er 
vermag alles Lebendige und alles Tote wie sich selbst nur im 
funktionalen Zusammenhangs als Glied und Teil zu verstehen, 
nicht als selbständige Welt. Ohne daß es ihn ein Opier kostete, 
shid ihm die Menschen nichts als Wericzeuge^ und so kano er oft 
OroBes hi der Wdt endchen; aber wiederum nicht als Ober- 
mensch — als ein Wesen, das über die Mensdihdt hmauQge- 
kommen wixe — sondern als Untermenach» als Elcnwnt der 
Natur. Er ist der von ehiem einzigen Trieb besessene Mono- 
mane, der unbddhnmert um Welt und Menschhdt seinen Weg 
dahinstürmt (der Held der Tragödie) — nicht ein Mensch, den 
eine Idee im Banne hält und der ihr folgt. Er begebt einen 
Mord mit der mhi^ren Oberzeugung, daß es nicht anders sein 
kann. E r tut es nicht, es g^hieht. Und ebenso erträgt er kla,[^- 
los (und doch nicht heroisch!) Leid und Unglück (die antiken 
Helden), weil ihm ja der Oedanke; es könnte auch anders sein 
— frand ist 

Es sieht vielleicht aus, als wäre der auigestellte Typus des 
Schicksalsmenschen mit dem Verbrecher verwandt. Aber dies ist 
Schein: der Schicksalsmensch hat sdilediterdhigB keine fie- 
ziehttqg, aiuh keine feuidsdige, zum Pcfsönfidten, zum Sitt- 



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260 



liehen, zum Wertvollen, er ist Natur und handelt im Stande der 
Unschuld. Der dämonische Mensch kann über fidoer eigenen 
Seele sitzen und in Dumpfheit hinleben, oder er kann von Haß 
verzehrt werden. Der Schirkaatomfnsch vermag nicht in sich 
selbst zu verharren, weil er von sich selber nichts weiß, er hat 
weder ein VertiUtnis zum Outen, noch zum Btan, er ist weder 
tragisch noch dimonisch (wenn er auch für eine rein mensch- 
liche Wertung, für einen Zuschauer, beides sein mag). Ab ein 
geformtes Stfick Natur muß er beattndig und ohne eigentlidies 
Bewußtsein aus sich heraus m die Welt vdrken; undauch das ist 
schon im Bilde gesprochen, denn er wirkt nicht aus sich heraus 
in etwas Fremdes wie der Organisator, sondern er bleibt immer 
im gleichen Element, da er Natur ist, da innen und außen für ihn 
nicht bestehen. Während sich in der Seele des tragischen und des 
dämonischen Menschen eb,vas abspielt, das an und fiir sich einen 
Sinn hat — und sei es selbst die Versteinerung Macbeths! — 
fehlt dem Schicksalsmenschen die Möglichkeit, einen Sinn seines 
Tuns zu fassen; in ihm gesdiieht nichts, obgleich er in bestän- 
diger Bewegung sein kann — so wenig wie durch einen Betg- 
Sturz eine wirklidie Veränderung in der Natur erfolgt, höchstens 
eine Veränderung Im isÖletisch-fonnalen Zug der Linien. Was 
er tut, versteht er nicht an und für sich als Tat, die ein Zid vor 
sich sieht, sondern nur von der Wirkung her, die sie verursacht 
hat. Und so sind seine Taten nicht SymtK>le seines Seins (wie 
beim Menschen im höheren Sinn), sondern sie sind iur ihn das 
Sein selbst. Nimmt man ihm die Möglichkeit, in die Welt zu 
wirken — Napoleon auf St. Helena oder mancher andere, der 
immer in kleinen Verhältnissen leben muß — so ist er auch 
innerlich tot. 

Weil sich der Schicksalsmenscfa nicht als dne eigene auto> 
nome Welt empfindd, sondern nur als ein Phänomen in der 
Wdt, ist sein Grundgefühl, von allen anderen Phänomenen und 



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Menschen in der Welt abhängig zu sein. Er achtet auf Zeichen 
und ist abergläubisch. Von innen kann ilun ja nichts 
kommai, er vermag keinen eigentlichen Weit zu «langen, nur 
dessen Surrogate Glück und Macht, und so weiß er sich als 
Knecht der Ereignisse. Er glaubt an sein Olück, an seinen Stern 
— „Oeirostl Du fitet Casar und sein Olfick!** ruft Cisar dem 
zafi^^aften Sdiiffer zn; ttun kann nichts geadtcfaen, denn das 
Schicksal hSIt seine Hand Über ihn. Und Napoleon ennnligt die 
wankenden Soldaten bei Walefloa „Die Kiigd, die mich treffen 
soll, ist noch nicht gegossen wordenH* — So ffihlt sich der 
Schicksalsmensch beständig getragen und geldtet Aber gleich 
ihm dient jeder, der viel vom Zufall zu erwarten hat — er sei 
denn gaiiz auf sich gestellt! — dem blinden Geschehen. Für die 
meisten ist ^ wohl eine Ausnahme, die Westenknöpfe abzu- 
zahlen: Ja — nein. Andere aber, wie Kri^sleute, Seefahrer, 
Unternehmer, kurz Menschen, deren Wohlfahrt von dem unbe- 
rechenbaren Zusammentreffen äuikrer hairtoren abhängt, nähern 
sich schon dem blinden Glauben an das Fatum. Aber erst dann 
wäre dieses Orundgefflhl ganz herrschend geworden, wenn nicht 
nur die Welt mit ihren von uns unabhängigen Faktoren als schick- 
salhaft empfunden würde, sondern auch das eigene Tun* Dies 
kann etwas recht Niedriges sein (der stumpfsinnige Fatalismus 
des Orients), allein es hat Or5Be, wo sich einer als Werkzeug 
der Vocschung ffihlt (Mohammed, Napoleon). Ein solcher 
Mensch, der voo der eigenen Fatalilftt überzeugt ist, geht bUnd 
dahin und kommt auf emen Gipfel, ohne es sdber zu wissen. 

Es kann Shnlicb aussehen, wenn sich ehi religiöser Mensch 
ins Notwendige fügt; al>er für ihn ist dieses Notwendige nicht 
das bloße Geschehen, er ist nicht naturhaft in die Reihen des 
Weltablaufes verstrickt, er fühlt sich geborgen im Zusanmien- 
han£[ mit dem höheren Sein, das seine Seele wie eine untrügliche 
Sicherheit birgt und das er als göttlich empfindet. Hier ist nicht 



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262 



Zufalisglaube, vielmehr ein Gefühl von Gewißheit (das z. B. 
Christus im „Oroß-Inqmsilür'* Dostojewskis enthüllt, wie er 
vom Teufel versucht wird, ein Wunder zu tun). — Wenn sich 
ein höherer Mensch dem Glück anvertraut, so hat er auf sein 
Letztes Verzicht geleistet; und darauf beruht es, daß wir große 
Menschen sinken sehen, die anlangen, dem Erfolg, das heißt dem 
Zufall zu dienen. In dem Augenblick, da einer sein Uiteil über 
aich settttt nicht mehr vom Oeiat — in akh oder anderen — 
empOngt, sondern von einer quantitativen Oidße (die nan. gern 
unbeatünnit und eupbeniistiacfa „das Volk" nennt), hat er den 
Zufall als semen Herrn aneikannt und damit die Herrschaft über 
sich selbst aus der Hand gegeben. Die MSnner des Erfolges und 
da Menge (Journalisten, Schauapicier, Spdodanten aller Art) 
kennen keine andere Instanz als Erfolg und Olfldc, ihr recht- 
mäßiges Forum ist die Öffentlichkeit, sie sind abergläubisch, 
denn sie wissen sich tief innerlich von Fremdem abhängig. — 
Daniit sich das Bild des Schicksalsmenschen vollende, muß 
aber nocii etwas dazukommen, was gar nicht mehr ins Psycho- 
logische fällt, über das eigentlich nichts gesagt werden kann: 
dieser Mensch muß sich nicht nur ganz vom Schicksal regiert 
wissen — das Schicksal muß ihm auch wohl gesinnt sein, er 
muß Glück haben. Es ist natürlich nicht zu scheiden, wie wieder- 
um der Glaube an seinen Stern durch bestandiges Glück geweckt 
und zum Aberglauben wird; aber dieser Glaube ist doch von An- 
fang an da und reift zu der Oberzeugung, daß das Oeacfaick 
dieses ehie Mal für aehien Liebling ein Auge haben, zur Vorse- 
hung werden könne. Beiehier psychologischen BetradhtnngmuB 
dies unberechenbare und unf aBbare fremde Element— daSemem 
alles geäugt, was er anfingt — natfirlich wegbleiben; aber der 
seelische Typus des Schlcfcsalsmenschen wud erst dadurch ganz 
abgerundet, daß er wiildlch der Mann des richtigen AugenbUds 
und des glücklichen Zusammentreffens ist — Das Volk hat nie 



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263 



an andere Menschen geglaubt als an die Lieblinge des Glücks — 
sie sind seine eigentlichen Helden. Es fragt nicht nach Geist, 
nicht nach Talent und auch nicht nach Taten im wahrhaften 
Simii sondern nur nach dem Zusammentreffen aller Zufälle, die 
einen in die Höhe heben, nacii ftußerai Vonilgen, nadi Erfolg, 
nachOliidc. Do» erfdiit »ch ganz einfach: die Mensdien wissen 
aidi iinimteibrodiea von aUen Faktoren abhängig, unter Hun- 
derten ist vidteidit nidit einer, dem eine Ahnung von Freiheit 
dftnmert Wen also alle Faktoren (der Zufall!) begOnstigen und 
emporheben, der ist oSensichflidi der wahre, der bewundemsr 
werte Mensch. Napoleon Ist nidit angestaunt worden, weil er 
ungewöhnlich viel Verstand und Kaltblütigkeit besessen hat oder 
gar, weil er eine starke Pierson lichkeit ^^eweseii wäre, sondern 
weil er mehr Glück gehabt hat als jeder andere. Sachverstandige 
meinen, daß Lazare Hoche ein ebenso fähiger General gewesen 
sei wie Bonaparte — aber er ist jung gestorben, er hat kein 
Glück gehabt. 

Das lebendige Bewußtsein von hreiheit und Persönlichkeit 
hat im Altertum noch nicht bestanden, die Abliängigkeit vom 
Schicksal ist dem antiken Menschen natürliches Orundgelfihl. 
Die Griechen hatten nur gerade so viel Ahnung von etwas 
anderem, daß sie sich das allwaltende Schicksal bewuBt machen 
konnten; damit war es Problem geworden, der Mensch hatte 
die Möglichkeit errungen, Stellung zum SdÜdaal zu nehmen, 
und wenn die Möhra altes Sein beherrscht, so vermag der Mensch 
doch über sie nachzusinnen und hat sie so schon innerlich ent- 
thront. — Dem Römer hat dieser philosophische Süm gelehlt; 
ihm ist die Abhängigkeit vom Zwange der Welt, vom Schicksal, 
das ihm sein Staat repräsentiert, so fraglos und selbstverständlich, 
daß er kaum lLivor weiß. Der römische Staat ist nicht viel 
anders gefügt als der Staat der Bienen, er stellt einen großen 
Versuch dar, dem Geist eine innerlich fremde Ordnung, die in 



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264 



der Natur herrscht, aufzulegen, ohne das Penfiidiche^ Mensch- 
liche zu würdigen. In Rom ist für die Persönlidikeit kein PItli, 
Röraertiigend ist Unterwerfung unter die Forderungen der Ge- 
samtheit, Angleich ung alles Besonderen ans Gemeinwohl. Die 
großen Römer gleichen einander auls Haar, der Gedanke, nicht 
ein Teil, sondern ein Ganzes zu sein, ist ihnen fremd. Die Ge- 
sittung Roms ist un philosophisch und unkünstlerisch — unper- 
sönlich, ganz auf den Zwang des Nützlichen gegründet. 

Die neue Zeit steht unter dem Zeichen der Persönlichkeit 
und der Fmheit. Für sie bedeutet der Scbicksalsmensch eine 
Ausnahme und einen kulturellen Atavismus. Dem Römer ist die 
zwangsmaßige Gebondenheit außer aller Fragt; die Tritgödie 
der Griechen zeigt, wie der Mensch, der sich auMumt, unfehl> 
bar zugrunde geht^ wenn er auch hehnlich fiber aeine Knecht- 
schaft trauern mag und etwas anderes, Höheres ersehnt: und dies 
Hdhere, das SdbstbewttBtsehi des Menschen, der auch vw 
Schicksal nicht zerbrochen werden kann, ist das eigentliche Rück- 
grat der europäischen Seele. Mit dieser inneren NeuschApfung 
(die am tirfsten in den deutschen Mystikern stattgefunden hat) ist 
aber das Schicksal als Letztes und Höchstes abgesetzt, alle ja^roßen 
Menschen der neueren Zeit können nicht mehr Schicksals- 
menschen, mit Verstand ausgestattete Natur-Mechanismen sein, 
sie haben das tragische Bewußtsein der Dualität errungen. 

Wafireiid also die Männer des Altertimis — mit der Aus- 
nahme Piatons und vielleicht Sophokles' — Schicksalsmenschen 
gewesen sind und damit wahrhafte Menschengröße entbehrt 
haben — wäre ein modemer Schicksalsmensch nur die Erhöhung 
des kleinen, abhängigen Menschen, der sich dem Geschehen ohne 
Widerstand beug^ „weil es einmal nicht anders ist". Und so 
wäre der Mittelmensch hi seiner höchsten Steigefung zum Schick- 
salsmcnschen geworden: es gibt keine Spannung zwischen ihm 
und der Wd^ er hat keine Möglichkeit^ das Geschehen hmerlich 



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265 



zu überwinden, er bleibt abhängig. Aber dem Mittelmensdien 
feblt das Bewußtsein eines Obermächtigen, das ihn zum» Werk- 
ung erkoren hat und wie einen Blinden leitet: der wahre Schick- 
salsmensch ist sich fortwährend bewußt zu müssen, er hat 
nidit die llluaiaa des freien Willens» die der andere kaum jemals 
verliert Ein wahitiaft großer Scfaicksalsmeosch wäre für unsere 
Zeit die erstannlicfasfee Anomalie. Und dies ist der eigentliche 
Onmd, daß wir kernen rechten Sinn mehr für den einseitig ge- 
richteten, sinnlos in seinen Untergang jagenden Helden der 
Siteren Tragödie haben, daß uns dies ein wenig erledigt vor- 
kommt! weil der Schicksalsmensdi, der Menadi, der kein Ver- 
hältnis, auch kein negatives Verhältnis zur Freiheit hat, einer 
vergangenen Kuiturepüdie angehört. — 

2. 

Was bisher allgemein dargelegt worden ist, soll nun an N a - 
p o 1 e o n genauer durchgeführt werden. Der nciitige Schicksals- 
mensch kommt aus den Tiefen, ist Geschöpf des Zufalls. „Ich 
bin der Sohn des Glücks!" hat Napoleon auf der Höhe seiner 
Macht gesagt. Er wird Zeit seines Lebens von dem Gefühl be- 
herrscht, unfrei, vom Schicksal abhängig zu sein. „Ich bin Fa- 
talist seit jeher, wenn das Scbidnal etwas will, haben wir zn 
gehoithen.*' — „Ich bin das Oeachöpff der Umsttnde." — ,,£8 
ist weise und politisch zu tun, was das Schicksal befiehlt, und die 
Straße zu gehen, auf der wir vom unwiderstehlichen Lauf der 
Ereignisse gefuhrt werden." — „Je größer man ist, desto we- 
niger darf man einen WSkn haben; man ist immer von den Er- 
eignissen und Umständen abhängig. ... Ich bekenne, daß ich 
der größte Sklave unter den Menschen bin; denn mein Gebieter 
hat kein Mitleid mit mir, und dieser Gebieter ist die Natur der 
Dinge." — „Ich habe mich niemals damit abgequält, die Um- 
stände meinen Ideen anzupassen; ich ließ mich jederzeit von 



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ihnen treiben. Wer kann im voraus über die zufälligen Um- 
stände, die unerwarteten Begebenheiten gebieten?" — „Ich 
könnte midi selbst nicht ersetzen;" (d. h. ich bin dieser Beson- 
dere nur unter diesen besonderen ümständeo) ,^ch bin das Ge- 
schöpf der Zeitverhältnisse." 

Diese und ähnlich lautende Worte begleiten Napoleon 
durchs Leben, sie sind der getreue Ausdruck seines Grundgefühls: 
nicht selber zu wollen und zu handehi, sondern geführt zu 
werden. Er betont ausdrücklich die Blindfaieit semes Wollens und 
erklärt: „I>er wird nicht weit kommen, der von Anfang an seinen 

kamt" Als die Somie von AuBteiüiz strahlend aulgingi da 
ist er vom Sieg überzeugt gewesen — und er bat ihn errungen. 
— Allein sein AbeigUnibe ist nidit nur Scfaidisalaglaube^ der 
immer eine gewisse OidBe hat, sondern er hat sich oft genug 
auf Niditigkeiten eistreckt So darf Tall^yrand ein entschetdendea 
Scfanfistfick nur an einem Olfickstag untozeicbnen. 

Napoleon, der In katholischen Lfindern aufgewachsen und 
völlig unreligiös gewesen ist, hat sich dem Mohammeda- 
Ii ism u s , der Religion des blinden Fatumglaubens, des Kismet, 
eigentümlich verwandt gefühlt. Und diese Sympathie charakte- 
risiert ihn als heimlichen Orientalen. Die Phantasien von 
einem orientalischen Kaiserreich verfolgen ihn von Ägypten bis 
Sankt Helena, und es wäre ganz unpsyciioiogisch, diesen aus- 
schweifenden Oedanken bloß auf seine Politik zurückzuführen, 
die England in Indien vielleicht hätte trefien können. Noch am 
Tage von Austerlitz hat er gesagt: ,^tte ich Accon emge> 

nommen, so wäre ich Mohammedaner geworden Kaiser des 

Moigenlandesi" Und der Zjog Akvanders hat wie ein bezau- 
berndes Gaukelspiel vor ihm geschwebt Selbst im Jahre 18t2 
sind die PlSne ld>endig gewesen, fiber Rußland bis nach Indien 
vorzudringen. 

Folgenden Aufruf hat Napoleon an die Mohammedaner in 



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Ä^pten erlassen: „Ist ein Mensch so ungläubig, zu bezweifeln, 
daß alles in dieser Welt der Herrschaft des Schicksals unterüegt? 
Der Tag wird kommen, wo die Welt einseben wird, daß ich 
hfilKfai Befehlen folge und daß keine menachUcfae Anstreogimg 
etwas gtgfia mich vennag — Alles was ich nntemdunc, ist 
bestiomt zu gelingca. Die aicfa als mehie Freunde eridaien, 
werden gedeihen; die mir feindlich bc^gegnen» werden unier- 
gehen.'* — „Machet dem Volke bekannt»" befiehlt er der Odst- 
lichkeit, „daß seit Anbegmn der Welt geschrieben steht: kh 
werden nachdem ich die Feinde des Istams vernichtet, die Kreuze 
zerschlagen habe, aus der Feme des Abendlandes daherlcommen, 
um dris zu edüllen, was mir aufgetrai^ea ist. Zeiget dem Volk, 
daß III den heiligen Büchern des Korans an mehr als zwanzig 
Stellen vorausgesehen ist, was sicli jetzt ereignet." — Wenn 
man auch die schöne Phrase (die Napoleon sein Leben lang 
über alles geliebt hat) und die orientalischen Floskeln in Be- 
tracht zieht, so spricht aus solchen Worten doch ganz zweifellos 
das BewuBtseüi einer Gemeinsamkeit mit dem islamischen Fatalis- 
mus: der blinde und grundlose Glaube an die Unabwendbaikeit 
des Vorausbesthnmten, der die Persönlichkeit ausschaltet und 
daher mit dem Christentum und dem Geist Europas in schroffem 
und ganz prinzipieUem Widerspruch steht Und es ist wichtig, 
daß Napoleon nicht nur vom Fdrialismus besedt gewesen ist, 
sondern daß er sidi selbst mit dem Sdiicksal in Znsammenhaiig 
gebracht, als dessen Liebling gefühlt hat. 

Und weil Napoleon nur das Glück angebetet hat, sind ihm 
auch unter seinen Dienern die am liebsten, die „(jlmk hatten". 
Einst fragte er einen weißbärtifren Kapitän, warum er noch 
immer nicht General geworden sei. „ich habe kein Giuck gehabt, 
Sire!" — „Dann nelunen Sie Ihren Abschied! Ich kann Leute 
nicht brauchen, die kein Glück haben !" — Nach der Schlacht bei 
Waterloo begriff er, daß seine Zeit vorüber war; da unteiadued 



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er — zum erstenmal — das „Olück** vom „starren Schicksal". 
Zu etwas Höherem hat er sich niemals aufgeschwungen. 

Napoleon, der an nichts geglaubt hat als an Nutzen und 
Erfolg, vermochie sicii auch bei den Menschen keine anderen 
Motive vorzustellen. ,,Es gibt nur zwei Hebel, um die Menschen 
in Bewegung zu setzen: Furcht und Interesse. Liebe ist cnie 
dumme Verblendung, Freundschaft ein leeres Wort." — Ohne 
Widerstreben schrieb er (im Februar 1814) seinem Schwager 
Joachim Murat, der mit dea Feinden gemeinsame Sache ge- 
macht hatie^ und stdUe ihm vor, daß er von keüiem anderen als 
von ihm etwas zu erwarten habe. „Benutzen Sie weoigsteos 
einen Wandt, den ich doch nur der Fuicht zuadueibc^ um mir 
mit einigen guten RatscblAgen beizustehen 1" — Ebenso weiß er 
genau» daß die Mhiister Fouchi und TaU^rnnd mit aeuien 
Feinden hl VeiiHndung stehen und bestochen sind. Doch solange 
er sie bnmchen kann, nhnmt er ihnen das nicht fibd. Von 
Pouchs hat er sdbst gesagt: Ich sollte ihn eigenffich hingen 
lassen ! — zieht es aber vor, sich semer kaltblütigen Verbrecher- * 
Schlauheit zu bedienen. In den hundert Tagen werden alle 
wieder aufgenommen, die sich dem Feind angeschlossen haben. 
Als Marschall Ney, der vom König ausgesandt worden ist, ihn 
gefangen zu nehmen und es gern übernommen hat, zu ihm üt)er- 
geht — da ist wieder alles wie zuvor. Auf Liebe hat er niemals 
gerechnet, hat er doch selbst keinen geliebt und alle nur als seine 
Werkzeuge verwendet Man erhält sie in mögHchst gutem Zu* 
stand und zählt niemals vergebens auf ilue niedrigen Leiden- 
schaften; kommt aber der Augenblick, wo man sie nicht mehr 
hrauchai kann, so whft man sie fort Als es auf St Hctena unter 
seiner Umgebung Streitereien gab, erldlrte er: „Was gehen 
mich die Oeffihle an, die man hmeilidi hegt? Wenn man mir 
nur eine freundliche Miene zeigt! Ich hdre nur die Worie^ ich 
lese nicht hi den Henen." 



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269 



„Viel versprechen und nichts halten, so will es die Welt," 
ist Napoleons Wahlspruch gewesen. Ein anderes Mal freilich, 
wie ihn einer im Stich gelassen hat, heißt es: „Wenn ein Mami 
sein Wort nicht halt, was doch sogar nach den Gesetzen der 
Wüste geschieht, unterscheidet er sich in nichts mehr von einem 
Tier/' — Das ist keine Inkonsequenz: Es hat ihm Nutzen ge- 
bracht^ daß die Leute^ die zu etwas verpflichtet waren, ihr Wort 
hidten, und so hat er diese Eigensdiafl gelobt (wie die IcathO' 
fische Religion)» ohne selber an sie zn ghuiben. Als die Ober- 
reste der großen Armee im russischen Whiter nmkamen und zu 
nichts mehr gut waren» bat er sie bd Nacht veriaasen und sich 
selbst in Sicherheit gclxracht; dienso die Armeen hi Ägypten, hi 
Spanien und nach der ScUacfat von Waterloo. Efai OefQhl der 
Verpflichtung gegen alle diese Menschen, die ihm gefolgt und für 
ihn verwundet worden waren, hat er nicht [gekannt, weil er die 
Menschen luclu anders ansehen konnte als sich selber — Dinge 
der Natur ohne Seele und Innenleben. Und diese völlige Fremd- 
heit zu allem eigenthch Menschlichen hat ihn so außerordentlich 
stark gemacht, denn er hat hemmungsUjs geiiandelt, er hat keine 
seelische Kraft damit vergeuden müssen, Ehre, Gewissen und 
A4itge!ühl in sich zu überwinden, wie andere Feldherren doch, 
wenn sie ihre Soldaten opfern, ihm ist niemals zum BewuBtseui 
gekommen, daß sein Wunsch, Herrscher der Welt zu sein, nicht 
auch der Wunsch aller anderen Menschen gewesen ist 

Napoleon hat es verstanden» den Olaidien an sem Olflcfc 
allen um ihn her, besonders Soldaten und Ofiiziefen (aber auch 
den fehidUchen Feldheeren) ehizuflößen. Unerechöpflich sind 
sehie Phrasen von Ehre und Ruhm und Vaterland — und sie 
wirken, solange sehi Glück dauert Ais er aber geschlagen ans 
RuBbuid kommt — „das Olfick ist efaie Dirne!** sagte er dieses 
Mal — da ist auch l>ei den anderen der Zauber dahin. Es zeigt 
sich, daß die Welt nidit von der Macht einer Persönlichkeit, son- 



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270 



dem von der Gunst des Zufalls geblendet war. Wohl sind ihm 
sechs oder sieben Treue nach St. Helena gefolg^t — alle in dem 
festen Glauben, daß seine Wiederkehr bevorstehe! — Millionen 
andere aber haben seine eigeaen Lehrea beherzigt und ihren 
Vorteil wo anders gesucht. 

Napoleons Macht über die Massen beruht aber zuletzt 
daiauf, daB er selbst an sie, an den Menschen als Naturphä- 
nomen geglaubt hat. So wenig er einen einzehien bedeutenden 
Menschen hat begreifen kdnnen» so nah ist sein Verhältnis zur 
Masse Wiilnmg und Ccgenwiifcung ^ gewesen. »,I>ie Kiifle 
euMS Menschen sind nichts, wenn die Umstände ihm nicht helfen, 
die dBentliche Meinung ihm nicht gunstig ist Die ötotlidie 
Meinung macht alles." — Der berühmte Satz des Code Napo- 
leon: „Es ist verboten, nach der Vaterschaft zu fonchen" be> 
weist von einer anderen Seite her, daß ihm jedes Vetliältnis zum 
Menschen als einem Individuum abgegangen ist, daß ihm die 
Menschen nur als Masse Wirklichkeit gewesen sind. Et hat 
gefühlt w:e ti:e Natur, die Keime ausstreut, ohne sich um ihr 
Schicksal weiter zu kumniern wenn es nur immer genug 
Menschen gibt, die man als Soldaten brauchen kann! Alles sonst 
interessiert ihn nicht an ihnen. 

Was für ihn das Schicksal gewesen ist, höchste Gottheit — 
das wollte er selbst für die anderen sein, der Repräsentant des 
Schicksals, er wollte nach Goethes Wort y,das Fatum spielen'' *). 
Und darum forderte er den Glauben an seine Autorität, an die 
Autorität des Staates^ an Autorität übertiaupt für alle anderen als 
eigentliche Religion. Er hat vor der kafliolischen Kirche einen 
gewissen Respelct besessen, weil sie die größte und itteste Or- 
ganisation der Macht ist» und hat sie von Jahr zu Jahr als 
Stfitze der Autorifilt hdher gescUttzt Allein über das Pftaküsche 
hinaus ist ihm doch noch etwas anderes am Katholizismus nahe» 

•) Am 11. März 1809 zu Riemer. 



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gekommen: das Dogma. An das Dc^ma muß ja so blind ge- 
glaubt werden wie an das Schicksal — und es ist dem Menschen 
innerlich ebenso fremd. Napoleon hat dem Dogma „den Wert 
einer Kuhpockenimpfung'* g^en seinen wahren und tiefsten 
Feind, das Bewußtsein der Freiheit, das Besinnen au! die eigene 
Seele und das selbständige Denken zugesprochen. „Die Reli- 
gioa t>efriedigt das Bedürfnis der Menschen nach dem Wunder- 
barea und schätzt sie vor Scharlatanen. Die Priester sind mehr 
wert als die Cagliosiro» die Kant und alle Träumer Deutsdi- 
lands." — Napoleon hat das Dogma genau so geschätzt wie der 
GroB-Inquisitor bei Dostojewski, nAmlich als BoUwecfc gegen 
wiildiche Religion, und als er geschlagen wurde, hat er (im 
tiefsten Smne mit Recht) die Philosoi^ie, die „Idecdogie", der 
hnmer sein echtester Instinkthaß gegolten hat» ffir alles Unglück 
verantwortlich gemacht; denn sie untergräbt die Autoritit und 
„proklamiert das Prinzip der UnbotmäBigkeit — Fichtes Frei- 
heitsrausch I — als I'flicht." — Und iNapoleon hat den Zus;im- 
menhaiig gekannt: ,,Wäre ich ein religiöser Mensch gewesen, so 
hätte ich alles das nie vollbringen können." — Wie gut stimmt 
dazu, was Hudson Lowe, der Gouverneur von St. Helena, über 
Napoleons letzte Jahre erzahlt: er hat sich immer mehr dem 
Dügina genähert. „Ich bin kein Atheist," sagt der Erbe der Re- 
volution. „Ich bin kein Gottesleugner und glaube alles, was die 
Kirche lehrt'* — Wie ein magisches Zeichen hat er das iCreuz 
geschlagen, wenn ihm eine Gefahr drohte. — 

Aller echte W er t hat seuien Sitz im Ödste, die Sphäre des 
Verstandes wird von Erfolg und Macht bdienscht Na- 
poleon hat Elfolg und Macht praktisch und theoreüscfa als das 
einzige Wesentüdie angesehen. Hätte er Spinoza gdtann^ so 
wäre er sein Schfiler geworden. „Wenn eui RebeUenf Obrer Erfolg 
eningt, große Dinge voUfubrt und Ruhm iiher das Land und 
sich selbst verbreitet, so wird er nicht mehr als RebeUenführer» 



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272 



sondern als General und Souverän bezdchnet. Es ist der Erfolg 
allein, der ihn dazu macht ... Ist einmal der Pöbel Sieger, so 
wird er nicht mehr Pöbd genannt, sondern „die Nation". Siegt 
er nicht, so werden einige hiogenchtet und es ist von Pöbd oder 
Räubern die Rede.'* 

Und weil Napotooo nur das tatsidilidie Oesdiefaen aner- 
kannt lud; gut ihm die Wdigesdildile als „die einzige walire 
PhUosophi^'. Dies ist ganz anders gemeint als die ihnlidi 
klingenden SMze H^gds. Hegel hat in der Wdtgesdddiie 

die Entfdtung von an und für sidi shinvollen Ideen, von 

Werten höchster Ordnung gesehen, für ihn ist gar niclits 
zufällipr, alles hat Sinn und wesentliche Bedeutung, was sich in 
dei Geschichte der Völker und Staaten ereigfnet. Er treibt einen 
Kult mit der Futtaltung des wahrhaften Sejns in der Weltge- 
schichte und schon das bloße Werden ist ihm höchster Wert. 
— Genau das G^enteil von alledem hndet Napoleon in der Ge* 
schichte: nicht Logik und Sinn, sondern Zufall, und für ihn, den 
Sohn des Zufalls, ist das durdi mid durdi sinnlose Oesdiehen 
das eigentUdi Verehrungswürdige. Er erhebt Oesdddite wid 
Politik (Zufall und IQugfadt) im Gegensatz zu Philosopliie und 
Kunst (höherer NotwcndigkeU^ Wdshdt, Peiafittlidikdt); das 
bloBe Oesdiehen dtmt Sinn und Richtung soll Ocschidite heifien, 
die Politik ist das Sdüdsal, sagt er zu Ooettie^ und der dnzigie 
würdige Gegenstand der Kunst.*) Den Pariser Dramatikem hat 
er sogar vorgeschrieben, daß sie ihre Stoffe aus der Geschichte 
zu nehmen hätten (soweit ist später der Despotismus des citoycn 
g^n^ral gegangen), und in den aufgestelzten historischen Tra- 
gödien Corneilles und Racines hat er diese Dichtung der poli- 
tischen Phrase zuhöchst geschätzt „Es gibt bei Shakespeare 

*) Goethe zum Kanzler von Müller: «Ich bfai nicht so elt geworden, 
um mich um die Weltgeschldite zu kfimmera, die d«8 Abeurdeste Ist; 
WM es gibt" 



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273 



nichts, was an Corneille und Racine heranreichte." — Auch die 
bildende Kunst hat ihm nur als VerherrHchung der Macht etwas 
gegolten. In Italien sai^t er zu seinen Soldaten: „Ihr habt das 
Museum von Paris um dreihundert Meisterwerke des alten und 
nenen Italien bereichert, zu deren Hervorbringung dreißig Jahr- 
hunderte nötig gewesen waren !" — Welch echt napdeoniacher 
zahlen- und verstandesmäßiger Gedankengang! 

Zu dieser natfiilichen, sozusagen ofganisch bq^^ndeten 

Verwandtschaft mit der Politik als dem Spiel der Ereignisse 
kommt noch, daß er hier den angemessenen Tummelplatz für 
seine außerordentliche und ganz aufs Praktische gerichtete Klug- 
heit, die Vollendung des „gesunden Menschenverstandes ', ge- 
funden hat. Im Jahre 1797 schreibt er an Talleyrand: „Die 
wahre Politik ist nichts als die Berechnung der Kombinationen 
und Wechselfälle."*) — Verstand, Klugheit besitzt Napoleon im 
höchsten Maß (während er den Geist fürchtet und haßt); die 
emzige Wissenschaft, für die er Vorliebe hat, ist die Mathe- 
matik, die das Skelett des Veraiandes dafslelN; den Veialand 
in seuum bloßen Funkttoniefen ohne Inhalt noch Ausblick auf 
einen Sinn. Was im Vorsidlungslebcn des Menschen geoidnet 
ist, aber upgelhaft hn Sinn der Natur arbeitet, das kann man 
unter den Begriff des Verstandes zusammenfassen; der Geist 
(die „Vernunft'*) ist dgentlich menschlich und muß daher dem 
Menschen, der nichts als Naturprodukt ist, fremd sein. Es ver- 
steht sich von selbst, daß aiicti die Mathematik in eine höhere 
Sphäre gehol>en werden kann, wo das Formale Selbstzweck wnd 
und einen ijewissen ästhetischen Wert gewinnt. Aber iNapoleon 
hat von diesen höheren Beziehungen nichts gewußt, er hat die 
Mathematik nur als Meßkunst und als Ballistik geschätzt Der 

*) Und doch kann Njqx>leon nicht dn groSer Staatsmann ftnannt 
werden; denn das ist dn Mensch mit ekiem Meal (Cromwell» Bismarck). 
Er Ist Abenteurer und Stratege. 

Lack«, GrtnMn drr SmIs. 18 



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274 



Gedanke, die Pyramiden (die augeniälligsten Sinnbilder der 
Macht!) aiismessen zu lassen, hat ihn bis St Helena bc-schäftipft. 

Die üabe, sich in der Welt zu orientieren, ist Napoleon im 
erstaunlichsten Maß eigen gewesen. „In meinem Kopf sind die 
verschiedensten Angelegenheiten fachweiae geordnet wie in 
einem Scbiank. Wenn ich eine Sache imteibfechen will, adilie6e 
ich ihr Fadi und dfEue das einer anderen. So geraten sie nie 
durcheinander. . . . Wenn ich schlafen will, schließe idi aämtiicfae 
Fächer und schlafe em/' — Man kann den ganz nficfatemen Ver- 
standcsmenachen, den Menachen der höchsten Klarheit vielicicht 
nicht hesser beschreiben als mit diesen Worten — Lddensdiaft 
und Genie sind ihm gleich fremd. Und die Fähigkeit, immer 
orieiiuert zu sein, alles richtig und ohne Illusion zu sehen, wird 
durch sein berühmtes Gedächtnis (besonders für Zahlen) mächog 
unterstützt. 

Mit dieser Beherrschunp: der Phänomene iniit zusammen, 
daß Napoleon eine ganz souveräne Art besessen hat, das Geld, 
den Nerv aller austauschbaren, funktionalen, unpersönlichen 
Dinge und das wichtigste Mittel der Organisation, zu behandeln. 
Er ist der absolute Herr des Geldes^ läßt sich niemals von 
ihm tyrannisieren (wie doch manche Große), ist weder hab- 
gierig noch allzu venchwenderisch und gibt es jederzeit am 
riditigcn Ort hm. Es wird erzihlt, daß er alle Rechnungen 
des Staates selber geprüft und mit veriilüffender Sicherheit Irr- 
tOmer und Betrfigereien herausgefunden hätte. I>ie9e Vertiant- 
hdt mit dem Abzahlbaren, Rationalen ist ein sehr wesentliche« 
Zug. Denn fast allen Menschen, die nichts entschieden Persön- 
liches besitzen, wird das Geld zum Verhängnis. Napoleon aber 
hat es verstanden, sich über dieses Schicksal der Alltä Geliehen, 
dieses sozusagen bürgerliche Schicksal zu erhehLn, es zu 
beherrschen und zu verachten. Seine überlegene Stellung^ /um 
Geld ist gerade entgegengesetzt der gleicbgültigea des Phan- 



275 



tasten, der das Geld mißachtet. Der Phantast hat die schicksal- 
hafte Macht, die Dämonie des Geldes, der schon mancher un- 
gewflhntiche Mensch erleg?» ist» nieinals ventaaden, er ist in 
Wiitiicfakdt von dem abhängig, was er zu verachten glaubt 
Napoleon kennt die Bedeutung des Oeldes genau — und er steht 
darüber wie der Meister Über seUiem Weikzeng. ~ 

Napoleon ist, wie die grofien Rfimer alte, Verstandesmensch 
gewesen,*) in ihm gibt es nichts Philosophisches, nichts Phan- 
tastisches, nichts Religiöses. Noch auf St. Helena ist er über- 
zeugt, daß der Mensch nur ein besser ausgestattetes Tier sei 
(was seiner Anerkennunf? des Doj^mas durcfiaus nicht im Wege 
steht); und diese Über/eugung gehört zum Verstandesmensdien, 
„Der Mensch ist ein volliLommeneres Tier als die andeien. . . . 
Sagt was ihr wollt, alles ist Materie, mehr oder weniger mit 

Erkennen ausgestattet Es ist meine Oberzeugung, daß wir 

nichts als A&aterie shid.'* Solche Ausmirüche wiederholen sich 
oft genug, tind er sagt zu Oouigaud auf St. Helena: „Wenn wir 
tot shidy dann smd wu: voUkonmien toi" — Dieser gleidigfiltige 
Materialismus ist ganz vefschieden von dem Iddenschafiiichen 
Atheismus der franzflaischen EnzyUopftdisten (die Ihm Ja den 
geistigen Boden bereitet haben). Welche begeisterte Polemik 
gegen Gott spricht aus den Karfrdtagsr Diners Diderots! — 

Nicht nur durch den Zufall der politischen ] age und emeü 
besonderen Feldherren-Talentes hat Napoleon so viele Knege 
geführt Der Krieg war viehnehr der einzige Zustand, der ilun 
ganz angemessen gewesen ist, der organische Zustand des 
Menschen als Naturwesen und nicht als Persönlichkeii Auch 
ein höherer Mensch kann den Kampf wollen, um sich an einem 
Feinde zu rächen, fibeischfissige Kraft zu entfalten, einen be- 

♦) Schon Im Jahre 1790 hat ihm der korsfsche General Paoli gesagt: 
„Sie sind ganz ein Mann aus dem Plutarch, Sie haben nichts von einem 
ModenMü an üdtu" Qn Ihnlldies Wort Ist von Talleynuid fiberllelert 



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276 



stimmten Zweck zu erreichen. Tür Napoleon aber ist der Kri^ 
eigentliches LebensclerTient gewesen (daher auch seine Überlegen- 
heit über alle anderen Feldherren). Im Kri^e hat der Mensch 
jeder höheren Norm entsagt und sich dem Naturrecht des Stär- 
kemi (Spinoza!) üb«geben. Dies ist der wahre Grund, daß 
der Schichsabmensch, der Mensch, der Naturwesen ist und nichis 
mehr, in seiner idnsten Endieiniuigsfoiin Krieger, Feldherr 
sein wird (obgleich diese Richtung auch mit anderen Anlagen zu- 
sanuncn bestehen kann). In der Herabsetzung altes Menschlichen 
auf das Mindestmafi, auf das Allgemein-Tiefische (das durch 
Berechnung und Tedinür nur veisiaifct, aber nicht verändert wird), 
liegt die eigenste Sphäre des Menschen als Naturwesen. Man 
muß bedenken, wie sehr einer im Vorteil ist, der in der Schlacht 
erst ganz er selbst wird (dies ist von Napoleon vielfach bezeug^), 
der alle seine Fähigkdten zur Verfüsfung hat, wo sich das 
Nervensystem der anderen doch in eniem ungewöhnlichen Zu- 
stand befindet, hür den Menschen unserer Kultur - für den 
Berufssoldaten ebensogut wie für jeden anderen — ist der Krieg 
eine Anomalie, und auch beim größten Mute sind Kaltblütigkeit 
und Überlegenheit in außerordentlichen Verhältnissen nidits 
Naturliaflesy sondern Zustände höherer moralischer Willensan- 
spannung. — 

3. 

Kietzscbe hätte vielleicht die Psychologie Napoleons geben 
können, wäre er nicht sogleich in Schwämerei geraten und 
hätte er vor allem das Dämonische und Verbrecherische richtig 

erfaßt. Aber wie Fichte in Napoleon das Urböse gesehen hat, 
so hat auch Nietzsche den Schicksalsmenschen — den Menschen 
als Naturphänomen — nicht vom Verbrecher, der durchaus 
menschlich, wenn auch negativ menschlich ist, zu scheiden ge- 
wußt, sich für ihn begeistert und alles verdorben. Die typisch 
falsche Perspddive» unter die eine unserer Kultur so fremde — 



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277 



weil antike cxler oneatalische - - Erschednung wie Napoleon 
immer geruckt wird, ist da^ Lntweder — Oder: ein Genie - 
ein Verbrecher (auch wohl: ein Verbrecher-Genie). Dies läßt 
sich ja b^eifen, denn es ist nicht leicht, Maßstäbe an emen 
Menschen zu legen, die uns ganz und gar ungewohnt sind. 
Wir pfl^en wohl Geisteskranke und Degenerierte unter dem Oe- 
sicbtspunkt der Natur (anstatt der Menschheit) zu betrachten und 
wie die Tieie nicht als verantwortlich, sondern aig bloß natur- 
haft bedmgt zu werten; aber für den seelisch gesunden und so- 
gar bedeutenden Menschen ist uns diese Art der Betrachtung 
unnatfirlich; wie inuner unsere Iheoretisdie Ansicht darüber 
sein mag — wir können doch nicht umhin, den Menschen als 
selbstverantwortlich, als frei zu empfinden. 

Schicksalsmensch und Verbrecher stimmen darin überein, 
daß sie beide Fatalisten sind und sich dem Funktionalismus 
beugen. ) Aber schon verstehen wir auch den Gegensatz: im 
Verbrecher lebt der Wille zum Funktionalismus, er 
ahnt seine Freiheit und ist ihr wildester Feind — „Des Lebens 
Wein ist ausgeschenkt!" — Der Schicksalsmensch ist dem Funk- 
tionalismus zwangsmäßig eingeordnet. Er weiß so wenig 
von der Freiheit als der eigentlichen Menschheit wie der Stein, 
der niederfiUlt und der sich durchaus nicht frei fühlen würde 
(trotz der Behauptung Spinozas)^ kdnnte er denken. Denn Frei- 
heit ist ja nicht etwas Negatives» mangelhafle Emaicht m die 
notwendigen Zusammenhänge, sondern etwas Positives» sie ist 
das eigentliche Gesetz des Menschen. — Stellt man sich die be- 
deutendsten Mitaibeiter Napoleons, Talleyrand und Fonche, vor, 
so erfaßt man sogleich den Unterschied zwischen dem Schicksals- 
iiienscher) und dem Zyniker wie dem Verbrecher. Beide, der 
Herzog von altersher und der Herzog von Napoleons Onaden, 
sind Spitzbuben und Gauner im großen Stil, teils von Eigea- 

*) Vgl. über den Verbrecher S. I42f. 



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278 



nutz, teils von der Freude an Macht und Intrige geleitet, obne 
jeden inneren Zwang und ohne jede Größe (die beim Schicksals- 
menschen als einer Erscheinung der Natur niemals fehlt). 

Die Größe Napoleons, die wir alle enip&nden, ist nicht 
Meoschengröße, sondern ein ästhetisches Phänomen, vergleich* 
bar einer vollendet schönen Tänzerin, die sich in natürlichen 
Rhythmen wiegt; als Seele, als Mensch ist sie uns gleichgültig, 
vieUeidit weiüoe^ und entzückt uns doch als bewegte Körper- 
fomt Wir empfindai ihr Tun als schön und edel nach g^gen- 
stindlüch-ästfaetiscfaen, nicht mach seetisch-menschlicben Bezie- 
hungen, wie von einem Geschöpf der Natur ausgehend, das die 
Menschheit nur scheinbar und vorübergehend um sich getan hat 
— Ebenso kann der bewußte Mensch natnriiaft Ssthetisch wirken, 
wenn die Natur in ihm zum Durchbruch kommt, wie in einem 
Anfall jubelnder Freude oder außerordentlichen Schmerzes, der 
sich elementar entfaltet 

Wir verstehen jetzt nicht nur die Bewunderung Goethes für 
Napoleon, der hier ein großes Naturphänomen gesehen hat,*) 
sondern auch die tief menschliche Empfindung Beethovens: er 
hat das Titelblatt der dem General Bonaparte gewidmeten hero- 
ischen Symphonie wfitend zemssen, als er venudu^ der Held 
babe sich zum Kaiser gemacht Sein reiner und genialer Instinkt 
bat SQgleidi ofaSt, daB Boaaparte nicht der große Mensch sei, 
für den er ihn gehalten hatte, sondern der Mann des Tages und 
der Menge. 

Und weil Napoleon kein großer Mensch, sondern eine groBe 

Erscheinung gewesen ist, hat er auch keine bleibende Wirktmg 
üben können, er hat das Fühlen, das Handeln, das Denken der 
Menschheit nicht dauernd beemüußt. Als es mit seiner Macht 

^ HAnierordentllche MawdMn wie Napoleon treten aus der Mofa* 
litit heraus, <ie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und 
Waseer." 



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^ 279 

zu Ende ging» da ist er sdbst dahin gewesen. Ein paar Straßen- 

bauten sind übrig geblieben. Der Schicksalsmensch als ein Teil 
der Natur kann nicht schaffen, sondern nur zerstören. Wenn 
Napoleons Hände unbeschäftigt gewesen sind, haben sie ver- 
nichtet, was sie erreichen konnten, i^lumen, Möbel, Porzellan, 
kleine l iere — und dieser Zwanp zu zerstören ist (neben einem 
beständigen und undifferenzierten sexuellen Bedürfnis) sein 
tiefeter Ersatz für Produktivität 

Wahre Schöpfung kann nur aus dem Kosmos — und aus 
dem Kosmoe im Menschen, aua der Persönlichkeit hervofgelMn. 
Wenn man auf das Leben Napoleons von einer gewissen Distanz 
blickt» so eikennt man, wie all sein Tmi, das mit so aufierardeot- 
liehen Mitteln ins Weik gesetzt wonlen ist, kehien eigentlichen 
Sinn — auch nicht für ihn selbst — gehabt hat Er kann nienials 
zur Ruhe kommen, weil er bewegtes Sein ist — aber es ist das 
Umlaufen eines Pferdes im leeren Göpel, instinkthaftes, automa- 
tisches Wollen und Sidi-Bewcgen, identisch mit dem Tun des 
Wilden und soi^^ar des Tieres, nur von einem großen Verstände 
bewegt, aber doch wieder nicht bewußtes Handehi in der 
eigentlichen Bedeutung, denn Bewußtsein ist nicht Reflex der 
Instinkte in den üedanken, sondern Handeln nach Sinn und Ziel, 
Orientierung des Subjektiven an ideellen Leitlinien. — Und dieses 
blinde Hintrdben versucht immer wieder, in Bildern von Größe 
und Majestät einen Ruhepunkt zu eningen. Napoleon hat den 
Giebel des Mailänder Domes mit seiner Siatne (als römischer 
Imperator) geschmückt und von Thorwaldsen den Siegeazug 
AlezandeiB aymtioiisch meifidn mid m Rom anbirikn lassen. 
Die KonstBchUze Italiens hat er nach Paris s^fOhit^ mn seinen 
Namen an sie zu hingen. 

Napoleon ist in seiner Jugend schwermütig gewesen und 
hat mit dem Gedanken des Selbstmordes gespielt Das ange- 
spannte, inhaltlose und durchaus unersättliche Wollen ist oäen- 



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280 



bar zuerst mit adner ganzen Trostlosigkeit hervoi^getreten, es hat 
ihn gedrängt, Bibliotheicen durchzulesen und endlosen Grübeleien 
nachzuhängen. Später, als er sich schon ^anz dem bhndea Ge- 
schehen übergeben hatte, da ist ihm alles Fragen nach Sinn und 
Zweck tief verhaßt gewinn Der Mensch, meint er, der sich die 
Frage stellt: Wozu iebe idi? ist der un^ducklichste von allen. 
Vielleicht würde der Philosoph sagen : Wer sich die Frage nach 
dem Zweck des Lebens nicht stellt, sei nicht wert, ein Mensch 
zu sein; aber für den Schicksalsmenschen bedeutet die Frage 
nach dem Sinn des Lebens — Selbstvemichtung. 

Die Taten Napoleons sind nicht Talen im eigentlichen und 
tieferen Sinn» das hdBt Wiifcungen einer Seele in die Wdt hin- 
ein; sie sind vidmehr der Ersatz für Innenleben und in ihrer 
erstaunlichen Menge immer noch leeres Geschehen ohne see- 
lischen Kein. Die Hinrichtung des Herzogs von Eq^iicn, die 
man ihm so sehr zum Vorwurf gemacht hat, ist ebensowenig 
wie alle anderen politischen Hinrichtungen als moralische Tat 
zu werten, alles das sind instiiikthafte Reaktionen gegen Hinder- 
nisse, mögeil sie auch durch den Verstand huidurchgegangen 
sein Oer Anblick der Wüste hat ihn ergriffen — „Sie ist für 
mich eni Bild der Unendlichkeit," sagt er^ aber er fühlt: ein 
Bild der Sinnlosigkeit 

Napoleon hat sich selbst für einen Mann der Tat gehalten 
und er gilt allgemein dafür. Atier so sehr auch seüi ganzes 
Leben mit Ereignissen angefüllt ist — es gibt keinen bedeuten- 
den Menschen, der nicht mehr Talen vollbracfat hätte als er. 
So paradox es kUngen mai^: Künstler, Philosophen, Gdehite, 
Techniker sind mehr Männer der Tat als Napoleon. Was l)e- 
wundem wir doch an Homer, an Mozart^ auch an Edison und 
kleineren? Nicht unmittelbar sie selbst — oft wissen wir gar 
nichts von ihnen — aber ihre Gestalten und Werke (ihre Taten) 
sind lebendig unter uns und erst von ihnen ladt ein Strahl auf 



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281 



den Menschen, den wir dann im höchsten Sinn als Menschen 
ehren. Bei Napoleon aber bewundern wir genau genommen keine 
einzige seiner l aten — denn daß von zwei kämpfenden Heeren 
eines den Si^ davonträgt, ist selbstverständlich, und seine tak- 
tischen Züge können nur von Spezialisten gewürdigt werden. Wir 
bewundem Napoleon nicht als Schöpfer von irgend etwaa» 
sondern als ein ästhetisches Phänomen, als ein Schauspiel der 
Natur. Er ist heute, nach hundert Jahren, nicht mehr eine leben- 
dige Kraft, sondern ein Gegenstand für gdefarte hiato- 
riacfae Bfidicr und fiur Theatentudce, und so hat sich seine be- 
hauptete UnpersönlichlKit durch die Geschichte erwiesen. Der 
Verächter aller Ideologie ist heute euie Beschäftigung für 
Ideologen. 

Alles^ was menachüch zuhöchst gilt: Liebe, Treue, Eddmut, 
Rehiheii, lebttidige bmeflichkeit, Produktivittt ^ ist bei Napo- 
leon gar nicht oder Icaum merkUch vorhanden, nur ein großer 

Verstand und unermüdliches Wollen imponieren, f laben, die in 
der Welt helfen, aber unsere Bewunderung nur sehr umge- 
schränki genießen. Die große Kluj^^heit Napoleons hat absolut 
nichts, was an Genialität erinnerte, wenn sie auch /u hoher orga- 
nisatorischer Kraft gesteigert ist; aber der Verstand hat kein 
Genie, so wenig wie die Muskelkraft. „Genie ist Fleiß," hat 
dieser Ruheloseste gesagt. — Die Möglichkeit des Irrsinns, die 
iür jeden genialen Menschen am H<^zonte steht, existiert für ihn 
zu keiner Stunde des Lebens. Sein klarer, überlegener Verstand 
ist so fest gegründet, daß er durch nichts erschüttert werden 
kann. Und er hat sich niemals betninlcen. 

Der Verstend Napotoons unterscheidet sidi im Prinzip 
nicht von dem des Alltagsmenschen. Wenn wir annehmen 
wollen, daß em Ueuier Kaufmann etwa drei oder vier Faldorai 
übersehen muß, von denen aeme geschäftlichen Erfolge ab- 
hängen (den Bedarf seiner Kundschaft, die Qualität sehier Waren, 



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282 



den Kredit, den ihm der Fabcilcant gewährt, die Höhe seiner 
Spesen); wenn der Leiter eines großn Unternehmens zwanzig 
Iiis dreißig Faldoren, der erste Minister emes modernen Staates 
eine noch gr&fiere Anzahl in Betracht zn ziehen hat, wobei 
wieder von jedem Hauptlsddor andere Falctofen zweiter Ord- 
nung abhängen: so darf man sagen, daß diese Fähigkeit, zu 
überschauen und daraus Folgerungen zu ziehen, bei Napoleon 
nuch weiter ausgebiidct ist (hierbei wurde er übrigens von einem 
außerordentlichen Spionage - System und seiner tal^chliclieii 
Macht unterstützt). Aber etwas prinzipiell anderes — wie es 
doch in der IntuUion eines echten Erfinders liegt — eine schöpfe- 
rische Synthese ist dabei nicht im Spiel, nur höchst gesteigerter 
gesunder Menschenverstand. „Veränderungen der Landkarte," 
die manchem so sehr imponieren, sind nichts Schöpferisches, das 
sind Verschiebungen vorhandener Dinge, diplomatische und mili- 
tärische Züge, die auf der scharfsinnigen Erwägung aller Um- 
stände und au! Glück beruhen (wie dies Napoleon selber genau 
gewußt tiat). — Diese innere Verwandtschaft mit dem Alltags* 
menschen ist ja auch der Orund» daß alle, deren Kraft Verstand 
und Ausdauer, deren Gott Erfolg und Olficlf heißt, in Napoleon 
ihr Idol sehen. Der Ueine Beamte» der junge Offizier» die ent- 
schlossen sind» etwas zu werden, ffihlen eme OemeinsamlEeit 
mit dem Welteroberer. Und das ist nicht Täuschung, sondern 
Wahriieii 

Der Verstand Icann nicht lächeln. Er ist immer emsthaft und 

weiß niilits von Freiheit Der alltägliche Verstandesmensch wie 
die höhere Form des Schicksalsmenschen, sie vermögen keinen 
Standpunkt zu gewiiinen, von dem aus ihnen ein freier Blick über 
Welt und Menschheit vergönnt ist. Sie haben kein Gefühl für 
das Komische (allenfalls für den Witz), und an Napoleon 
gibt es wirklich nicht den kleinsten humoristischen Zug, kein 
lächelndes Wort» kaum ein Bonmot ist unter der großen Menge 



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2S3 



der überlieferten Aussprüche zu hnclen. Niemals hat er wie 
andere große Herren beim Wein gesessen, um einmal Diener für 
Freunde anzusehcfi, er ist immer der emsthafte, au! Würde und 
Kuhm bedachte Römer. ,,!ch habe das Oefüh! für das Lächer- 
liche nicht !" sagt er selbst. „Die Macht ist niemals lächerhch/' — 
Vielleicht kennt aber auch der Schicksalsmensch — denn er 
ist doch Mensch ! — Augenblicke, da wie ein plötzliches Grauen 
seioe Unfreiheit vor ihm aufsteht. Könnte er sein Wesen einmal 
jSh alsein Etwas bcigrafen, das heifit: nicht als Das, als das 
Sdb stm B ü ndlicfae und Letzte; wenn er sich seines ganzen Seins 
m einem Augenblick nicht mehr als etwas Fraglosen, sondern als 
etwas Fngwfirdlgen bewußt weiden könnte — dann wäre eine 
neue Kraft in ihm erstanden, eine so ungeheure Kraft, daß sie 
der Or6ße seiner schidcaalhafien Natur die Wnge hielte! Ein 
Bewußtsein tiefster Dftmonie wäre eingetreten — der Schick- 
sal smensch wäre zum Genie geworden. Und so ist der wahrhaft 
große Schicksafsmensch vielleicht nur um eines Haares Breite 
vom wahren Genie getrennt — aber dieser Raum birgt den Sinn 
der ganzen Menschheit und ist wohl noch von keinem Sterb- 
lichen übersprung^en worden. Hier läge ein Vorwurf höchster 
Art Jur den tragischen Dichter. — Als Napoleon vor Goethe 
stand und m diese Augen sah, ist er von einem rätselhaften, bis- 
her niemals gekannten Orauen angefaßt worden. Er ist erstarrt 
Und er hat diesen Bann mit dem Ausruf abgeschüttet: Voilii un 
hommel — Sieh da! Ein Mensch! — 



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8. ICH-GEFOHLE 



1. 

Bisher ist wiectediolt von der PttsOnUdikeit des Menschen 

gfesprochen worden. Nun wollen wir seine Subjektivität, sein 
Ich, betrachten. Das Wort Persönlichkeit wird heute viel miß- 
braucht, oft meint man gar nichts anderes damit als eine Person, 
einen Menschen; hier ist es immer in dem höheren Sinn eines 
Wertvollen jßfenommen worden, einer Subjektivität, die sich mit 
objektivem Oehalt erfüllt hat, die sich auf dem Wege zu einer 
höheren Objektivität befindet. Im Gegensatz dazu ist das Ich 
des Menschen einfach die psychologische Tatsache, daß sein 
Fühlen, WoUen und Tun um einen Mittelpunkt gruppiert ist, der 
sowohl dem vegetativen Sein als auch dem Streben und Trachten 
ein Ziel gibt Alle theoretischen Diskussionen Ober das Wesen 
dieses Ich sollen veimieden weiden, es stA nicht gebvgt werden, 
ob dieses Ich ehi besoodeier seelischer Inhalt neben allen 
übrigen sei oder vieUeiGht eiwas ganz anderes, eme Kiafl, ehie 
Funktion, eine dgentumliche Art, Inhatte zu ergrei fen . AUe diese 
Fragen aüid philosophisch zweifelhaft; sicher ist dagegen, daß 
jeder Mensch ein unmittelbares Bewußlaefai von sich selber hat, 
daß er fühlt, eine Person zu sem, die „ich" sagen kann. 

Es gibt nun eine ganze Gruppe von Gefühlen, die keinen 
gegenständlichen Inhalt haben, sondern die sich als Betonungen 
und Veränderungen des Geiuhies vom eigenen Ich enthüllen. 
Ich nenne sie daher Ich-Gefühle und will sie in liirer Zusammen- 
gehöriG:keit und in ihrem eigentümlich nahen Verhältnisse zum 
Idh zerghedern und beschreiben Diese ( iefuhle sind nichts als 
entschiedene und einseitige Pomtierungen des besonderen Be- 
wußtseins^Zustandes ,»Ich", sie lassen dieses Ich in seiner Ge- 
gensätzlichkeit zu allem sonstigen Fühlen, Denken und Tun, wie 
auch zu Fremdem, zu Menschen und Dingen, hervortreten. Sie 



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285 



sind zuletzt gar nichts anderes als das Ich des Menschen, das 
sich seiner selbst bewußt wird, das heraufgefaoben, hinunter- 
gedrückt, eng ctngeschiSnkt, kurz in jeder möglichen Weise ver- 
ändert wild. 

Wollte mir aber jemand — wie vieUdcht auch an anderen 
Stellen dieser Arbeit — einwenden, dafi ich die Betracbtung der 
seeüscfaen Phänomene allzuaebr mit theoretiadien Meinungen 
verquicke, so mödite ich eine Antwort geben, die Ooeihe im 

Vorwort zur Farbenlehre niederschreibt: „Ist es doch eine höchst 
wunderliche i orderung, die wohl manchmal gemacht, aber auch 
selber von denen, die sie machen, nicht erfüllt wird: Erfahrungen 
solle man ohne irgfendein theoretisches Band vortrat^en, und dem 
I eser, dem Schiller überlassen, sich selbst nach Belieben irgend 
eine Überzeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken einer 
Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein 
Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein 
Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem 
au6nerksamen Bück in die Wdt tfaeorebsieren. Dieses aber mit 
Bewußtsein» mit Selbslkenntnis» mit Freiheit und, um uns eines 
gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzu- 
nehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, 
vorder wir uns fürchten, unschädlich und das Elf ahrungsresultat, 
das wir hoffen, recht lebendig und nfitzlich werden son.** — 

Während die Gruppe der Ich-Gefühle gar keinen eigent- 
lichen Inhalt hat, steht am anderen Ijide des Cjefiihlsreiches die 
Gruppe der Sach-Gefühle. Sie sind von einem gegeiisiänd- 
liehen, einem objektiven Inhalt in so hohem Maß erfüllt, daß 
gar keni Kaum mehr für das Ich bleibt, sie lassen sich — fast wie 
Gedanken — vom fühlenden Ich ablösen und in andere Seelen 
verpflanzen, ohne prinzipiell anders zu werden (was bei den Ich- 
Gefühlen widersinnig wäre). Unter die Sacligefühle gehören die 
sozialen, die ästhetischen, die theoretischen Gefühle. Wer be* 



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t 



286 

wundernd vor einer I andschaft steht, dem komint nebai den 
Inhalten des Oeschauten sein Ich gar nicht zum Bewußtsein; 
nach den Lehren mancher Ästhetiker ist es sogar priozipieU 
ausgeschaltet 

Bei dem unerschöpflichen Reichtum und der auBeiordeat- 
lichea Komplikatioa des GelfiUskbeas vecslielit es sich voo 
sdlMt, daß bkr altes fließt; daß noch viel ynoiget als im Bcmchc 
der Vorstellungen ein Festes» Starres zu finden ist — es sd denn 
als paihologische Entartung. Man eridit in Wiridicblceit nicht 
dieses oder jenes OefQhl, sondern ein einheitliches OeÜthl Aber- 
haupt Und aus diesem Oanzen iraditet die Analyse gewisse 
Komplexe von relativer Regelmäßigkeit zu erhaschen und fest- 
zuhalten. Wenn wir siigen, ein iWeiisch sei geizig, so wissen wir 
ja, daß er nicht nur geizig, sondern noch einiges andere ist. 
Aber doch fallen schon i'ür die Beobachtung des Alltags einzelne 
Gefühls-Koniplexe als herrschend auf, sie werden heraus;^ eh oben 
und mit einem Wort, einem Gebilde aus der Welt der Begriffe 
— also mit etwas Unbeweghchem, Starrem, ein für allemal Vor- 
handenem ! — festgelegt Der Psychologe will das RegeUnäfiige 
und Typische «fassen und womöglich in einen gewissen sfsibb- 
matiachen Zusammenhang biingcn» von dem aus wir es böser 
verstehen. Niemand v/M erwarten, daß ein Ich-Oefühl oder ein 
Sacfa-CefQhl m absoluter Reinheit vorkomme. Das wSre schon 
deshalb unmöglich, weil ein reines Oeffihl ein isoliertes Oefuhl 
sein mfißte^ und isolierte Gefühle nicht exisfieren außer an- 
nihemd in Sekunden vollkommener Abgeschlossenheit oder in 
Augenblicken hoher Erregung, wo ein iMensch jede Vorsicht und 
jedes Bedenken fallen läßt und sich ganz einer Lddenschait 
hingibt. — 

Auf den fol;i^endea Seiten wird der Versuch ^einacht, die 
Gruppe der kh-üefühle zu begründen und sie einzeln zu ver- 
stehen. Das Gefühl des Ichs ist dem Menschen nicht angeboren 



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287 



wie die Empfindungen des Körpers und der Sinne. Eist im Alter 
voo etwa drei Jahren fängt das Kind an» sein Ich kamen zu lernen, 
CS entdeckt das Wort ,^ch", das sich wie än haltbarer Mittelpunkt 
im DuidieinanderfUeBeii der Welt bildet und festigt wid nicht 
mehr verioien geht Ehe das Kind ,4ch" sagt; ist es noch kein 
Mensch un psychologischen Sinn; denn dieses unmittelbar m 
sich selbst erfahrene Ich ist dem Menschen wesentUcfa. Das Ich 
ist bd jedem Menschen mit anderen Inhalten erfüllt, es ist der 
Inbegriff dessen, was allem anderen scharf gegenübergestellt als 
mein eigenstes empfunden wird. Ls können meine Cjedaiiken sein 
oder meine Kinder oder meine Kleider oder alles sonst» was ich 
am innigsten zu mir gehörig empfinde. 

2. 

Das erste dieser Gefühle besteht in der Erhöhung und Glori- 
fizierung meines Ichs vor andefen Menschen und vor mir selbst: 
die Eitelkeit. Our Ur-Phänomen ist, daß aus einem Seelen- 
leben das Ocfübl des Ichs nackt oder mit einer absicfatüch ge- 
wählten Hfille umkleidet heraufsteigt und nun von anderen leben 
Beachtung und Aneikennung heischi Der fonnale Zustand, 
ichhaft zu seui, löst sich hier aus seiner selbstversiandlidien 
Naivität und Fraglosigkeit und wird ehi besonderer Inhalt, em 
Gefühl, dem geschmeichelt und das verletzt werden kann. Und 
dieses wichtigste aller Ich-Gefühle ist eine Quelle des Genusses 
und des Schmerzes geworden. Die l itelkeit beruht auf der Kul- 
tivierung dieses Ich-üenusses. (Spater werden wir das komple- 
mentäre Ich-Gefühl, die Scham, kennen lernen, deren Wesm im 
Verbergen des ebenso empfindlichen Ichs besteht.) 

Der Eitle isoliert sein Ich und zieht aus dessen Spiegelung 
in fremden Ichen Wollust. Oie Macht und Herrlichkeit des 
eigenen Ichs scheint sich durch diese Spiegelbilder zu verviel- 
fachen, und es ist die beständige Sorge des Eitlen, seine Selbst- 



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2S8 



Spiegelungen zu vermehren und zu festigen. Und wdl die In- 
halte des Ichs vüii Mensch zu Mensch wechseln, erstreckt sich 
die Eitelkeit immer auf die btsonders ich-betonten, am meisten 
geschätzten Gegenstände. Der Eitle will zurückgespiegelt sehen, 
was er sein möchte, nicht was er in Wirkliciikeit ist (denn das 
fällt selten zusammen). Je gefestigter ein Mensch in sich selber 
ruht, desto weniger braucht er die Stütze im Spiegel, vielleicht 
sucht er sie einmal an einem schwächlichen Ichpunkt; der Halt- 
lose aber, der nicht die Kraft hat, sich selbst seine Wertungen zu 
spenden, fordert sie immer und überall von anderen. Das Phä- 
nomen der Eitelkeit erweitert sich : der Eitle sucht instinktiv wo 
anders zu leihen, was er selbst mcbt besitzt, nämlich Schätzung 
seines Ichs und alles dessen, was er geschätzt sehen möchte; und 
je eitler einer ist, desto mehr veisdiiebt sich sein geffihltes Ich 
in die Spi^elbilder hinein; immer weniger findet er ein Zentnun 
in sich selbst» sein Ich ist ausgewandert, er fühlt es bei anderen 
und erbettelt von ihnen Wert ffir sich. Amtsstolz mid Titelsucht 
kommen daher, daß die Menschen nicht die Kraft in sich finden, 
sdbstgenugsame Mittelpunkte zu sein, daß sie mstüiktiv von 
außen Stütze und Oething zu erhaschen streben. Und je höher 
wieder die wertverleihenden Instanzen in der Schätzung anderer, 
noch höherer stehen, desto wirksamer ist die Stütze, die sie dein 
Ich-Gefühl des Schwachen und Eitlen zu leihen vennögen — 
also vor allem die überpersün liehen Mächte, die Gesellschaft, die 
Kirche, der Staat. Wenn jemand einen höheren Rang empfängt, 
fühlt er mehr Wert in sich, vor sich selbst, weil seine Wertquelle 
bei anderen Mächten liegt. Und diese Wertung seiner selbst er- 
streckt sich auch auf alle anderen Menschen: jeder gilt dem 
innerlich Leeren soviel wie sein Amt oder sein Titel oder sein 
Ruf — die Feststellung fremder Meinungen über ihn — anzeigen. 
Wenn einer etwas „wird", nimmt mrni zur Kenntnis^ daß er 
offenbar etwas „sein" muß. 



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2S» 

So enthüllt sich der Eitle als der Mensch ohne die innere 
Kraft, «ich aelbat und andere zu werten. Weininger hat diese 
SUiiafion dnrdudunit, sie aber einseitig auf die Frauen be- 
zogen,^) wShfend sie allgjamein zu Recht besidtt und fOr den 
Mann noch viel entschiedener gilt, weil sein Ich — wie bald ehh 
leuchten wird — mehr am Seetiscfaen als am Körperlichen haftet 
Immer weiter und endgültiger verlegt der Eide sein Idiki andere 
hinein und macht sich so abhängig von ihnen. Genüsse und 
Leiden haben sich ihm vervielfacht und sie kommen alle von 
anderen her. Jedes Aufsteigen seines Ichs in fremden Seelen ist 
Glück, jedes Sinken Qual, „Verletzung". I3er Tod dessen, dem 
er viel zu gelten i^laubte, bedeutet ihm ein persönliches Leid, 
weil eines seiner Iche dahin ist; stirbt aber ein Ich, das ihn ge- 
ling geschätzt hat, so atmet er leichter. Er müht sich fortwäh- 
rend, die Quellen seiner Lust zu venndiren, sich bei anderen in 
Geltung zu setzen. Hierauf ist der gesellige Veri»hr gegründet: 
jeder gewährt dem andern ein wenig Vergnügen durch Aner- 
kennung sehier Citelkdi Die Pflidit, eitel zu sein, ist die eiste 
geseUschafdiche Konvendoo. 

Aber noch viel mehr. Die aUgemeine Eitelkeit ist eine der 
Voraussetzungen der Gesellschaft Wenn die Menschen mitein- 
ander ld)en und füreinander wirken wollen, muß einer auf die 
Meinung des andern über sich Wert legen, diese Meinung ist 
eines der sozialen Bande. Wer der Gesellschaft Opfer an Zeit, 
Gesundlieit oder Geld brm^n, wird dadurch entschädigt, daß 
man ihm ein gewisses Wertquantum zulegt, welches etwa in 
Form eines Ordens oder eines Titels sichtbar wird. (Hierüt>er 
macht Schopenhauer einmal eine Bemerkung ) Und wie die 
Gesamtheit das Recht jedes einzelnen auf Eitelkeit anerkennt und 
nützt, so fofdert sie, fordert jeder geaeUachaftlicfae Kreis von 

*) „Da sie (d;e trauen) keinen eigenen Wert für sich selbst und 
vor sich Mlbst haben, traehten sie, Objekt der Wertung anderer zu werden.** 

Laekm, Qr«n«i dir SMte. 19 



290 



seinen Mitgliedern, daß sie die Meinung aller anderen über sich 
intakt erhalten. Wer dies nicht tun will od^ kann, wird ausge- 
stoßen. Oer Offizier, der Kaufmann usf. verlangen von jedem 
Standesgenossen einen unverletzten Ruf, soweit das Klassen-Icb 
ins Spid kommt Der Offizier darf nicht als feig gelten — der 
Kaufmann wohl — ; der Kaufmann muß zahlungsOhig sein — 
der Offizier nicht Zeigt em Beliebiger, daB er eine achtochte 
Meinmig von einem Miiglied der Kaste hat, so ist der Betroffene, 
er mag sidi nmi persdniich beleidigt fühlen oder nidit, ver- 
pflichtet^ sein Ich hl der Scbätzmig dieses Beliebigen wieder aufs 
richtige Niveau zu bringen. Er muß sich entweder von einer 
objektiv gerechten, über beid«i stehenden Instanz bestätigen 
lassen, daß diese schlechte Meinung unbegründet sei, woraui 
der Beleidiger bestraft wird; (xier das Kastenmitgiied muß den, 
der sein ich zu gering einschätzt, vernichten. Dies ist die psy- 
chologische Erklärung des Duellzwanges Wer auf Ehre, das 
heißt auf die Meinung der andern von sich hält, darf nicht 
dulden, daß diese Meinung bd irgendwem sinke; er wahrt das 
Prinzip der Ehre dadurch, daß er den Sitz dieser üblen Meinung 
vernichtet ^ oder das zu gering gewertete Ich geht seibat 
unter. Und dieser Tod kann mit eigener Hand erfölgen, wenn 
der Bdddiger für die Rache zu hoch steht — 

Die Kirche hat em Mittel ersonnen, die Eitellieit einzur 
dämmen: die Beichte. Sie adl einen Kompromiß zwischen 
der EitellKit der Welt und der geTorderlen Wahihaftiglceit der 
Religion bilden: du darfst deiner Eitelkeit frönen, aber vor 
einem einzigen Menschen mußt du dich offenbaren mit allen 
deinen Schäden und Geheimnissen (und das setzt voraus, daß 
man sich vor sich selber offenbare). Dieser eine Mensch kennt dich 
nicht und muß über alles Anvertraute schweigen. So ist das 
Prinzip der Eitelkeit allerdings durchbrochen, denn man zeigt 
sich vor einem Menschen nackt mit allen Mangehii gegenüber 



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291 



den anderen jedoch bestellt der Schein weiter. Die Wahrhaftig- 
keit würde fordern, daI3 ein Mensch oAme jede Rücksicht auf die 
Ich-Empündlichkcit sein Innerstes offenbare, ganz gleichgfültig 
vor won, auch vor allen (wie am Ende von Tolstois „Macht der 
Finsternis")- CMes aber empfinden wir als eine unkeusche Ver- 
letzung der Sduun, als Pieiagabe dessen, was verborgen aein 
sollte. — 

Die Weltanschauung des Asketen sieht in der Liebe zum 
eigenen Ich, in der „Eitelkeit der Wdf *, das Orundübel de» Da- 
seins und Idirt den Mensdien, sein Ich hassen. DaB sieb dncr 
hn andern simgehi will, daB jedes Idi <fie Tendenz hat, sich un* 
ennüdücfa zu vervielfachen, ist die Urquelle der Sfinde. Weil 
diese Wdlanschauung die Eitelkeit ablehnt, Ist sie durchaus anü- 
soziäl, nur dss Leben in der Wüste entqnicht ihr. Die Er- 
lösung vom Obel kann folgeriditig nur darin liegen, daß das 
Ich seine Sphäre immer mehr einschrankt, allem entsagt, was 
außen Hegt und ms Ich hinein will, auch den eigenen Leib ver- 
leugnet, auf den doch jeder den innigsten Anspruch zu iiaben 
glaubt. Was das Ich stärken und zur Macht verlocken kann, gilt 
als sundhaft. Denn noch eher lassen sich die sinnhchen Gelüste 
bannen als die tief innerliche Ichsucht, die Begierde nach Macht, 
die Eitelkeit, Es ist daher konsequent, wenn der Buddhismus 
nur in der Aufhebung dieses Ichs mit allen seinen Süchten die 
endgültige Erlösung sieht. 

Kaum sind zwei beisammen, so erwacht ja schon das Be- 
dürfnis, sich ineinander zu spiegeln, sich im andern vnederzu- 
finden. In jedem Veihdltnis^ das Menschen haben kOnnen, liegt 
die Möglidiheit hiezu, und auch der Gottselige spiegelt sich m 
dem Bilde, das er von sich sdber ausdenkt Nur wer dem inner- 
lich gefOhlten OMUichen so nah gekommen wire^ daB er aufr 
gehört hAtle^ sich als dn besonderes Ich zu empinden, kOnnte 
sich nidit mehr spiegehi und hätte alle Eitelkeit (und aUe Scham) 

19* 



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292 



aufgegeben. Er wäre das vollendete Widerspiel dessen, der sein 
ich über die ganze Welt ausbreiten will. — 

Es kann in allem der Eitelkeit gleichen und doch nur dem 
Bedürfnis nach Wahrheit entspringen, wenn jemand die von ihm 
anerkannten Wertun^^en durchzusetzen strebt, wenn er ebenso 
seine eigenen Ideen geachtet sehen will, wie er sich selbst ver- 
pflichtet fühlt, die Gedanken und Werke anderer nach Würdigkeit 
zu achfttzen und lür sie einzutreten. Und da sein Ich oft gerade 
in diesen Gedanken und Ocsialten liegt, fallen hier sachlicfaer 
Eifer und penönlidie Eitelkeit ieilweifle zuaammen. Die Eitd* 
keitgeht in den Ehrgeiz über. Der Ehigcizige eiaefant keine 
fremden ScbStzungen als Ersatz eigenen inneren Wertes^ aoodem 
er fordert fremde Anerkennung für den eigenen Wert, von dem er 
seibat fiberzeugt ist, er will nicht ffir etwas Besonderes gelten, 
sondern etwas Besonderes sein. Ehrgeiz ist ein kompliziertes, 
typisch männliches Gefühl, in dein sich drei Faktoren aussondern 
lassen: Wertwille, Machtwüle und Liitelkeit. Während die Eitel- 
keit das ursprünglichste Ich-Gefühl ist, kann man sich nichts 
Sachlicheres denken als den Willen zum objektiv Wertvollen. 
Und wird nun das eigene Ich als Träger eines objektiven Wenes 
empfunden, so erhebt es den Anspruch, auch von anderen hoch- 
geschätzt zu werden. Es will mit sich selbst das Gute zum 
Sieg führen; und je nachdem der Ton mehr auf das Ich oder 
mehr auf das O^gnsOndiiche fillt, um so niedriger oder um so 
edler ist der Ehigaz. Mancher vermag ^wirklich das Werte von 
seiner Person ganz abzulösen und empfindet nun persönliche 
Ehrungen verletzend, beschämen^ weil er sich vom reuiea 
WertwiUen beseelt weiß und nicht an sein Ich denkt Ober- 
schitzung wird von ihm noch peinlicher empfunden als Unter- 
schätzung, üt kann sich ihm als eine Verpflichtung auflegen, die 
er vielleicht niemals erfüllen könnte. Er weiß sich außerstande, 
den Schein ganz in Wirklichkeit umzusetzen — und darin liegt 



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293 



dn aaikeres IM als in der Vokeniiuiig durch andere^ die vor 
der inoeren Inslmz dodi wieder Idcht ausgegüdien wini 

Dieser seelische Komplex beruht darauf, daß Menschen und 
Dinge innig miteinander verioi&pft und verwachsen sind, daß die 
ffli*hlifhfn Werte durdi Menadien hervofgebracbt wetdeo und 
wieder auf Mensdien wirken. Ihr Wert gründet In ihnen aelbsi; 
nicht in der Tatsadie^ daß sie von dem. oder jenem cndudfcn 
worden sind. Veifaiotung des Erzeugnisses mit dem Er- 
zeuger madit aber Idcfat, daß die Sache in den Schöpfer Unehi- 
gezogen wird, daß das Objektive immer wieder in die Region 
des Subjektiven sinkt; und in diesem Verichlichen liqj[t eine 
Quelle der Lust hier kann sich aber auch der ewige Gegensatz 
von objektiv Wertvollem und subjektiv Lustvollem, von Sach- 
Gefühl und Ich-Gefühl zum tragischen Zwiespalt steigern, zur 
Tragödie des Ehrgeizigen, der genießen will, was doch nicht 
sein eigen sein darf, weil es sachlicher Wert geworden ist; er 
will vor andeien Schöpfer sein und nicht ganz in seinem Werk 
au^gdicn — er ediegt der EiteiiEeit Und dieser Ehigeiz wind 
sogleich Idein und komisdi, wenn das Wefl[, auf das er sich 
stfitst, nur in den Augen seines Erzeugeis Bedeutung hat, der 
dann als vericanntes Genie von einem zum andern um Ancrimh 
nung bettdi 

Oft genug wird das Interesse für den Gegenstand ganz von 
personlicher Eitelkeit oder von der Absicht zu wirken ver* 
dunkelt Der Macher» der Literat schielen schon im ersten Elan 
auf andere hin, Beifiall holend, Mißbilligung fürchtend. Ihr 
Weik luht nidit In sich selbst und auf sich selbst, es ist kein 
Eigenwert, sondern ein Wkkuqgswert, eüie Sache^ die vom Be> 
gmn wo anders hhizielt ^ Wir haben ja ein Ähnliches Gefühl 
des Untiefaagens, wenn wir sdien, wie das Materiid efates Gegen- 
standes diel ist; es will etwas vorspiegehi (etwa Edehnetall), es 



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294 



will unsachliche, auf Täuschung beruhende Wiriauigai. Wir 
f&hlen hier menschliche Eitelkeit in Totes projiziert. — 

Die Begierde nach Macht ist für den Ehrgdzigien 
durchaus charakteristisch. Wer Macht über andere will, dessen 
Schwerpoiikt liegt nicht in fremden Seelen, sein Ich setzt aicli 
nicbt ans aUen dican BUdem zuMmmtn und ist nicht von Ihnen 
abhängig. Die Menschen sind ihm wohl dMnso unentbehiücfa 
wie dem Eitlen, aber als Mittd zum Genüsse seines Ichs. Ihm 
ist mit dem Eitlen gemein, daß er nach auBen bildet und von 
aufien StMung seines Ichs begehrt, aber er nhnmt diesen OenuB 
nicht passiv als ein Geschenk hin, er dringt in fremde Sphären 
ein, er findet seine Lust im Herrschen, im Vei^gewalti^eu. Lr 
möchte alle Menschen und alle Dinge abhängig von sich machen, 
er streckt seine Organe über sich hinaus und genießt sein Ich 
in sich selbst, in voller Wirklichkeit. Die Menschen sind im 
Idealfall Marionetten seines Willens. Und dem brutal Machtigen 
(der sich vom Ehrgeizigen schon entfernt hat, weil der Wert- 
wille in ihm verkümmert oder nicht vorhanden ist) kommt es gar 
nicht auf die Meinwig der anderen an; wenn aie ihm nur dienen 
— sie m4Sgen sonst fiber ihn denken wie sie wollen. Erhatnkht 
das Bcdüihiis, geliebt, bewundert oder gefürchtet zu werden, er 
will die Macht haben, zu tun, was ihm genehm ist — Der Eitle 
hängt von den Urteilen der anderen, auch der von ihm Be- 
berrecfatai ab. Er begnügt sich Idcht mit dem Schein, daß die 
Kraft seines Ichs zugenommen habe, und kann so ~ das Kleid 
mit der Sache verwechselnd — zur Karikatur des Mächtigen 
werden. Er begehrt A\acht über andere und weiß nicht, daß er 
der Sklave von allen ist, die er zu beherrschen wähnt. Dem 
stolzen Künstler ist seine Wirkung gleichgültig, der macht- 
gierige begnügt sich mit der Herrschaft über die Gemüter, der 
eitle will noch obendrein gelobt werden und fühlt nicht, daß er 
sich eines Teiles seiner wiildichen Macht begibt, wenn er sie 



295 



erst von fremden bestätigt sehen muß. Der Herrschsüchtige in 
seiner Vollendung ist nicht eitel; aber selten hat er die Kraft, dem 
Genüsse des Scheins zu widerstehen, um so — eine Täuschung 1 
' den Genuß der wiiUichen Macht zu steigern. — 

Sieht der Eitle fort und fort auf andere hin, ist er allen 
adnen Bedürfniaaen nach sozial goicbtet, so ld>t der Stolze 
für sich und oluie btemae an anderen. Er will keine Macht, 
die BezichuQg zu anderen Menschen bedeutet ihm nichtSi sie Ist 
ihm sogar listig, durch jedes neue Band fühlt er sich in sehier 
Abgeschlossenheit bedroht Denn hi seinem Vohfiltnis zur 
Welt gleicht er fast dem hidischen Faidr, der in der Betrachtung 
des eigenen Nabels aufgeht. Stolz ist kein Icfa-Oefühl, dem 
Stolzen kommt sein Ich gar nicht als etwas Besonderes zum Be- 
wußtsein, es besteht überhaupt nicht als empfindliches Gefühl in 
seiner Seele, die einheitlich organisiert ist und weder eitle noch 
schamhfiite Ich-Punkte enthält. Der Stolze ist unempfindlich 
g^ea fremde Meinungen, er lebt in sich, zufrieden (nicht gerade 
mit sich — er weiß ja nichts von sich), oft ein wenig beschränkt, 
aelbstgenugsam, ohne Ehrgeiz imd soziales Streben. (Der Eitle 
ist beständig unzufrieden.) Die menschliche Gesellschaft, die 
dem Eitlen eist seine Existenz schenkt, bleibt dem Stolzen 
gleichgmtig. Aber er ist doch nicht eigentlich SoOpsist zu 
nennen; denn er kennt ebi eigenes Ich so wenig wie ein fremdes. 
Wenn emer aem Leben lang Bficher schriebe und sie endlicfa 
achtlos hüiterlieBe^ könnte man ihn als Beispiel eüies vollkommen 
stolzen und unsozialen Menschen anführen. (Wollte er seine 
Werke verbrennen, so wäre dies schon eine Handlung im Hin- 
blick auf andere, eine soziale, wenn auch vielleicht sozial sciiäd- 
Hche Handlung.) Ein solcher Menscli ist Spinoza gewesen. „Ich 
gebe nicht vor, die beste Philosophie gefunden zu haben, aber 
daß ich die wahre besitze, das weiß ich" — so schreibt er einem 
Freund. Er steht ganz auf sich selbst und vergleicht seine Oe- 



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296 



danken nicht mit anderen» er empfindet sie sozusagen gar nicht 
als seine eigenen Gedanken, sondern als Oedanken acfatedttfain. 

Und diese Gemötsanlage bestimmt seine ganze Philosophie: das 

Ich komiiit nicht vor in ihr. So wird hier seelische Größe, die 
keine Eitelkeit kennt, zum Verhängnis eines Weltsystems, das 
den Menschen vergißt und nur von einem uopersöniichen Sein 
weiß.*) 

Wie der Stolze in sich selber ruht, so lebt der Eitle in 
anderen, für andere. Er beugt sich vor jeder fremden Eitelkeit 
und hofft auf Erwiderung; der Stolze begreift nicht, daß andere 
von ihm gelobt sein wollen; lobt man ihn, so kann er sich vcr 
letzt fühlen, weil es ihn stdrt, daß acte Person beachtet winL 
Er ist in der QeseUachaft nicht gern gesehen, sind doch cfie 
sozialen Sitten auf der Duldung und Pflege aller Eitelkeiten be- 
gründet (Das eiste Wort ist schon, dafi man sich freut, euien 
kennen zu lernen, daß heißt, man schmeichelt seiner Eitelkeit — 
wenn auch alle diese Fonneln nicht mehr ihrem Inhalt nach 
empfunden werden.) 

Man kann auch auf andere Menschen eitel oder stolz sein, 
wenn diese anderen ins eii^ene Ich mit hineingenommen werden. 
Frauen fühlen den eigenen Wert durch die Leistungen ihrer 
Männer erhöht, Eltern sind auf ihre Kinder stolz: sie sind von 
deren Wert so fest überzeugt, daß sie nicht zweifeln könnten; 
sie sind auf ihre Kinder dtd: sie wollen deren Wert aneikannt 
wissen, um dann selbst daran glauben zu können. Mancher 
wuUich bedeutende Mensch ist auf ganz Lächerliches eitel, etwa 
auf seine Krawatte; dcmi er ffihll; daß diesen Dmgen von 
anderen Wert zugesprochen werden muB^ damit sie etwas seien. 
Den Wert seiner Leistungen aber braucht er sich nicht ent von 
außen bestätigen zu lassen. Wie eitd aber auch selbstsichere 
Menschen auf Ihr Weric sein können, beweist etwa der Brief- 

•) Vgl S. 223f. 



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297 



Wechsel, den Schopenhauer mit den nichtigstea Menschen führte, 
wenn sie ihn nur anerkannt haben. — 

Stolz sind die Worte, die Shakespeare deos CSsar in den 
Mund legt — aber er soUte sie nicht selber stigjen: 

Doch ich bin standliait wie des Nordens Stern, 
Des unverrückbar ewig stete Art 
Nicht ihresgleichen hat am Finnamente! 

Diese großartige Pose des Herrscherstolzes wird oft von dem 
machtbegierigen Eitlen angenommen, er tut, als sei er dem 

Polarstem gleich der Mittelpunkt der Welt, und lauert doch ver- 
stohlen auf den Widerschein jedes Planeten. Mancher Herrscher, 
der bei Tag unzugänglich thront, schleicht nachts verkleidet 
durch die Straßen und lauscht in Kneipen, ob nicht ein Wort 
über ihn falle. Er will unabhänißi^ von der Meinung seiner 
Sklaven scheinen und ist doch wieder der Sklave eines jeden 
von ihnen. Wer sein Ich gering zu schätzen wagt, wird bestraft 
oder hingerichtet. Bei manchem anderen bleibt dies unaufge- 
löst und wirkt als ewiger Haß fort Demi der Eitle verzeibt alles 
dier, als daß der Urspnuig seiner Eitellwlt bloßgelegt und dmch' 
schaut wird. — Bedeuten die Menschen für den Stolzen nichts, 
so müssen sie dem, der Macht über sie begehrt, etwas sdn, zu- 
mindest Mittel für die eigenen Absichten, Soldaten in der Feld- 
herrenhand. Und will er nicht nur äußerlichen Oclionain, son* 
dem auch die inneren Kräfte, Liebe und Aufopferung für den 
Helden, so niul-j er sie als Menschen achten, mdu nur als seine 
Werkzeuge gebrauclien. 

Nietzsche, der so viel vorn Willen zur Macht spricht 
und damit eni hohes, stolzes Ideal auigenditet (glaubt, merkt gar 
nicht, wie sehr er von seiner Eitelkeit genarrt wird. Er faßt 
keinen Gedanken, ohne nach Zuschauem um sich zu blicken, 
ohne festzustellen, welcher Punkt der Erde Zeuge seines Ein- 



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298 



falls gewesen ist, er sinnt fortwährend darüber nach, wie hoch 
sein Werk im Vergleich mit anderen zu schätzen sei. Man kann 
sich schwerlich noch ein so eitles Wort denken wie das bekannte, 
das den Stil seines Urhebers den bedeutendsten, seine Bücher 
die tiefsten usw. nennt. Aui diese Superlative kommt es an» 
denn sie beweisen, wie sich Nietzsche nicht an und für sich 
werten konnte, sondern nur im Verhältnis zu anderen (Dagegen 
der Ausspruch Spinozas!) Ja, Nietzsche verschmäht es nicht, 
die Gedanken von Philosophen, die mit den seinigen vielleicht 
in (üe Schranken treten könnten, zu verspotten und herabzu- 
setzen, um sich eine Folie zu schaffen. Kant wird durch ein 
paar Wortspiele abgetan, und wie ihn peraöiUidie Eitelkeit und 
Neid um den Rubm zur Herabsetzung Wagnera gediangt haben» 
ist zu bekannt, um erwflhnt zu werden. In den Schriften seiner 
zweiten und dritten Periode kann man beobadtlen, wie aidi 
Nietzaches Oedanken polar zu denen WagneiB entwickeln, 
gegen ihn, aus Ranküne gegen die starin Pefsdnlictakeit^ die 
auf atcfa selber ruht und die dem Eitlen unertrSglidi ist Httte 
damals ein andern Pfainomen dieser Größe am geistigen Hori- 
zont Europas gestanden — Nietzsche wäre nicht zur Ruhe ge- 
konmien, ehe er sich persönlich an ihm jBferieben hätte, um es 
zu „überwinden". Sein Wort „Üben^inden" ist ein typisches 
Wort des eitlen Menschen. Er schafft nicht, weil es ihm an und 
für sich gegeben wäre, weil er etwiis zu sagen, zu gestalten 
hätte; er sieht vielmehr zuerst, was schon fertig dasteht, was 
überboten, üt)€rwunden werden könnte, denn sonst hätte seine 
Eitelkeit keinen Ansporn. Der Obermensch, der den Menschen 
ut)erwinden soll, ist, psychologisch aufgefaßt, eine Projektion der 
Eitelkeit seines Erfinders ins Große (wobei ich aber den tieferen 
ftiiiffcliwi Sinn des Otiennensdien. den Nietzsche mahnt liaben 
mag, nicht in Frage steUe). Man darf ruhig behaupten, daß 
Nietzsche bd einer anderen KonateUation in Europa eine ganz 



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andere Philofiophie aatithetisch entwickelt hätte (was man voa 
Kant, Schopenhauer, Hegel und auch Kleineren keinen Augen- 
blick gtaalwn wird). Hfttle wohl ein seines Wertes wiikUch 
sicherer Mensch solch eine Polemik: gegen Christentum und 
Pteainiismiis geföhrt? Er bUte seine Ldire gegd)en und den 
„Vldzuvielen'' — allerdings ohne sie so zu nennen! — die Ent- 
deckung fiberUmen» wie sehr das Seinige im Gegensatz zu an- 
derem steht. 

Auch Nietzsches künsüiche Wertung des Sozialen wird nun 
verständlich: er fühlt sicii von der Meinung der anderen so sehr 
abhängig, daß er sich aus Rache gar nicht genu^ im Schniähen 
und scheinbaren Verachten tun kann. So hat er sich einen stolzen 
Willen zur Macht als Ideal zurechtgelegt, der vom Stolze ganz 
fern ist. Und in seiner Renaissance-Bestie wie in Napoleon 
glaubte er dieses Ideal verwiildicht zu sehen. Die Beherrschung 
der Massen durch Napoleon und seine Abhängigkeit von ihnen, 
dies ewige Fluktuieren, das Aufnehmen all der anonymen Kräfte 
in dcb und das Ausgeben seiner selbst in die unbdnnnten Vielen 
— dieses Demagogentum hat es Nietzsche angetan und er hat 
es mit Stolz veiwediadL Vidleicht blendet das unsere Zeit so 
sehr an ihm: er kommt ihren echtesten Instinkten entgegen, 
dem Wunsch, jedes Geschehen vom Anfang auf andere zu b^ 
ziehen, aus sich herauszusetzen und erst in der Wirkung den 
Wert zu finden. Nietzsches Wille zur Macht ist der Wille zur 
Öffentlichkeit; denn Macht ist heute nicht mehr, was diese Ro- 
mantik und Historiker-Scliwarnierei erträumt hat, sondern Herr- 
schaft Uber Meinung und Geldbeutel des Nächsten.*) 



♦) Ich möchte nicht zu Lesem sprechen, die meine Bedenken gegen 
MIetzsche mit dem organischen Unverständnis des Mittelmenschen und 
Philisters zusammenbringen könnten, wie es kürzlich in einem der selch' 
testen lebenden (und wohl auch toten) Spafimacher namens Otto Emst 
sein Schallrohr gefunden hat 



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300 



3 

Wille zur Macht ist mit Besitzgier nahe verwandt, er ist nur 
dne ihrer Formen: der Herrschsüchtige will die Seelen oder 
wenigstens die Kräfte anderer t>esitzen. Wenn sich der Wunsch 
nach Macht auf einen bestimmten Menschen cratreckt, der als 
besondere wertvoll empfunden wird, und wenn sich dieser 
Mensch nicht nnterwerfen will» sondern andenwolun strebt — 
so entsieht die aktive Form derEifersucht Sie ist verletzte 
Machtbegierde, die sich am offenkundigvten und häufigsten 
geltend macht, wenn der umworbene Mensch geliebt wird. Er 
soll dem Liebenden allein gehören, der ihn wie sein Eigentum 
vor jedem fremden Wunsch behütet. Ja schon der Blick eines 
anderen kann von dem Liebenden als Raub, als Linfall in sein 
Machtgebiet empfunden werden; die brutale Befriedigung dieses 
Wunsches ist der Harem. Und die Eifersucht überlebt nicht 
selten die Liebe (und wird vielleicht künstlich geschürt, um entr 
schwundene Liebe wieder zu wecken). Sie ist dem Neid ver- 
wandt und kann sich auch auf leblose Gegenstande bezidien. 
Der Sammler, der die zusammengetragenen Oegenstftnde Angst- 
lich verschließt und keinen anderen daran Freude haben ttßt^ 
hat diese aktive Eifersucht Er zieht öm Genuß des einsamen 
Besitzes dem der Eitelkeit^ dem VosniSgen» bewundert und bt» 
neidet zu werden, vor. Er ist auf sein Weib, auf sfeine Schätze 
eifersächtig, in deren Besitz er Genüge findet. Der Eitle aber 
genießt das Seinige erst im Bewußtsein der anderen. König 
Kandaules hat so wenig ein Zentrum in sich, daß ihm die Kraft 
fehlt, die Schönheit seiner Frau selber zu schätzen. Er muß von 
einem Stärkeren anerkannt wissen, was er sich allein nicht zu 
glauben vennag; darum will er, daß Gyges Rhodope heimlich, 
sehe und ihm ihre Schönheit bestätige. Die Worte: 

Ei, frag' dich selbst, ob du die Krone möchtest, 
Wenn du sie nur im Dunkefai tragen sollst! 



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verraten, daß seine ganze Existenz au{ der Eitelkeit beniht. So 
ist „Gyges und sein Ring:** die Tragödie der Eitelkeit (und der 
komplementären Schamhaftigkeit). Wie Kandaules sind aber 
viele: sie müssen liire Leistungen, ihre Reictitümer, ihre Macht, 
ihre Frau von anderen gesehen und g^eschätzt wissen, um das 
alles selber werthalten zu können. Sie leben so sehr im Be- 
wußtsein der aadeien, daß sie auch dea phygischm Oenuß da- 
nach einschätzen, wieweit andere darum wissen; der Wein 
flduneckl nur, wenn der Nachbar durchs Fenster zusieht (wie ja 
Kandaules die Ocgenwart des Oyges im Schhdjgeniadi wflnacht). 
Sie brauchen Neid und Bewunderung und sind selber neidisch. 
Der Stolze will nidit in Wettbewerb mit fremden Wertwigen 
treten; sein Urleil ist sdbsigescfaaifen und unabfaAngig von ihnen. 

Der N e i d > der sich in Blid»n, Worten und Handlungen 
anderer zdgt, ist die Anerfcninung dgenen Wertes; dem Eitlen 
und dem Machtgierigen ein Labsal, dem Stolzen gleichgültig, 
dem Menschenfreund peinlich. Der das Glück der anderen be- 
neidet, freut sich über ihr Unglück. Was iTemden zustößt, ver- 
gleicht er stets mit dem eijg^enen Geschick, sich s<;'lbst mißt 
er wieder an Fremde. — Wenn jemand auf das Glück anderer 
hinsieht, so entsteht der Neid, bei ihrem I ngliick empfindet er 
Schadenfreude. Beides sind Gefühle des Pitlen. Er will 
nicht an und für sich steigen, sondern im Verhältrus zu anderen, 
entweder durch unmittelbare Erhöhung des eigenen Ichs, oder 
dadurch, daß das fremde Ich herabgedrückt wird. Der ^hadm, 
den ein Mensch erleidet, macht ihn abhängiger von anderen, 
hilfsbedürftig, liebebedüiftig — und so mf&Döei der Eitle das 
Unglück der andern als Erhöhung seines eigenen Ichs» denn er 
vennag sich selber nur im Verlifiltnis zu anderen zu werten. 

Man beneidet immer nur Mensdien, mit denen man einige 
Verwandtschaft hat oder zu haben glaubt, und man beneidet sie 
um das Gemeinsame. Der ehrgeizige Politiker beneidet niemals 



3Q2 



den Künstler um seinen Erfolg. Es ist kein Gemeinsames da, wo 
der Neid angreifen könnte. Den Reichen beneiden allerdings 
viele, denn zum Geld hat jeder Beziehungen. — Eine bemerkens- 
werte Anwendung hiervon ist, daß der Künstler und der Oe- 
lehrte, überhaupt jeder, der etwas hervorbringt, den andern nur 
um solche Werke /u beneiden pflegt, die er „auch gemacht haben 
könnte" Weil unproduktive, kritische Geister oit viele fremde 
Schöpfungen verstehen und zu beurteilea wissen, nähren sie das 
Gefühl, sie hätten das selber unct besser machen können — und 
sie sind neidisch im Obennaß, was sich nicht selten in einer all- 
gemeinen Veit)ittening gegen das Positive^ das Schöpfeiische 
äbeiliaupt und in dndconiscfaer Strenge gegen jedes lebendige 
Werk manifestiert 

Neben der gewöhnlichen Eifenucht, die Verietzung des 
Macfaigeitisies und der Eitelkeit ist; gibt es noch eine andere» 
tiefere Form der Eifersucht Beide CefOhle verhaUen sich zueui- 
ander wie Oeliebtwerdenwoilen und Lieben. Das Idi-Geiühl liat 
sich auf einen einzigen, den gelid>ten Menschen konzentriert, 
der Liebende hat ihm sein Innerstes und Eigenstes anvertraut, 
sich ihm i^an/ hinbegeben. Und mit dieser Einschränkung und 
Individualisierung ist das Ich-Gefühl verdichtet und zur Leiden- 
schaft geworden. Der Liebende, der sein ganzes Ich einem 
andern uberantwortet hat, vermeint nun, ein besonderes Recht 
auf dieses in enie irenide Seele eingeschlossene Ich zu haben, und 
fühlt sich von jeder Schwankung seines hingegel^en Ichs be- 
ruiirt Wird nun mit diesem Geschenk, dem teuersten, was ein 
Mensch besitzt und geben kann, leichtsinnig verfahren, wird es 
vor Fremden nicht hinreichend geboigen (Indiskretion), oder 
wird es gar mißachtet und verwundet — so entsteht das Gefühl 
des verletzten liebenden Ichs, die Eifersucht, die Herabwürdi- 
gung des eigenen Ichs hi einer fremden Seele ist. Der Eifer- 
sflchtige leidet aiao an der verräterischen Prei«gabe seines Icfaa^ 



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303 



und diese Eifersucht wächst mit der Stärke der Liebe, denn 
imnier mehr wird dem Geliebten vom eigenen Ich geschenkt. Wer 
seine ganze Seele hingegeben hat und sie verraten sieht, kann 
vielleicht nicht weiterleben und b^eht die seltsamste Fonn des 
Selbstmordes (bevor er den eigenen sinnlos gewontenen Leib 
zerstört): er tötet sehi Ich üi und mit dem Odicbten. Der Oq;en- 
satz dieser Eifenodit zu der anderen» die eme SpezialisientQ^ des 
Machttriebes ist» wird noch efaunal deulHch: denn wer sehi Eigen 
bedroht sidit, tötet den Angreifer, der es ihm rauben will, und 
wahrt den Be^tz. 

Je ich-empfindlicher ein Mensch ist, desto mehr ueiLit er zu 
Eitelkeit und Eifersucht. Seine Eifersucht bezieht sich dann nicht 
nur auf einen geüebten Menschen, sondern sie ist von verletzter 
Eitelkeit überhaupt kaum mehr zu sondern. Ich kann auf die 
Gunst der Großen, auf den Beifall des Publikums, auf jede belie- 
bige Wertquelle eifersüchtig sein, die anderen reichlicher fUeßt 
als mir. Haß gegen den Nebenbuhler weckt oft noch stäikm 
Eifersucht als liebe; ja man kann einen Menschen hassen und 
zu gleicher Zelt auf ihn eifeisflchtig sehi, sehie Liebe» seine 
Freundschaft anderen nicht göonoi, well die eigene Eitelkeit,, der 
eigene Machttrieb dadurch beeintrftchtigt wfiide. Em Meister 
will der einzige Gott seiner Jünger sein und empfindet den 
ganzen Schmerz der Eifersucht, wenn andere ehien Platz in den 
besessenen Seelen gewinnen, der ihnen nicht vom rechtmäßigen 
Herrn /ut^ewiescn worden ist. Mancher Jünger wird ihm erst 
wert\üll und beherrschenswert, wenn er abzufallen droht, wenn 
die meisterliche Autorität erschüttert ist; ein sicherjEfeglaubter 
Besitz wird jetzt verteidigt. Der Lehrer ist verletzt, wenn sein 
Schüler von wo anders her Kenntnisse schöpft; alles soll durch 
ihn kommen, nichts durch Fremde, nichts durch Bücher. Hier 
sieht man klar die unauflösliche Einheit von Eitelkeit, Machtbe 
gierde und Eifenucht. Audi die Eifersucht des Liebenden er- 



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ao4 

streckt sidi neisfeenB weit über das egentüch cratiadie Gebiet 
hinaus; jede Beeinflussung des Geliebten, die von anderen 
kommt, wird schmerzlich empfunden. Die Liebe hat das Be- 
dürfnis nach vollkommenem Austausch; sie will die Seele des 
anderen besitzen und sich ihm ganz hingeben, keinen Rest des 
Gefühlslebens geizig zurückbehalten — aber auch alles emp- 
fangen. Und weii diese vollendete Wechselwirkung niemals ganz 
erreicht wird, hat vielleicht in jeder starken Liebe die Liiersucbt 
ihre Stelle. 

Die echte Eifersucht ist ein Ich-Gefühl und vielleicht das 
empfindlichste Ich-Gefühl. Darum kennt der Stolze nur seine erste 
Form, die Verletzung des Machttriebes. Wenn er liebt, emp- 
findet er sein Ich nicht ins Bewufitaein der geUditen Person ver- 
setzt. Er will oft gar nicht adber gelidit weiden wenn ich 
dich liebe, was gefafs dich an! — aeme Liebe soll verbocgen 
bleiben, er will giewiaaennaBen auch mit diesem typisdi sozialett 
OefShI aHdn sein. Es Ist ihm peinlich, einen MiMsaer (den ge- 
liebten Menschen) zu haben — vielleicht auch in der heimlichen 
Angst, verletzt zu werden. Er will keinen Eindruck machen, 
keine Macht gewinnen, er erschrickt vor dem Gedanken, einem 
Menschen selbst Liebe einzunofk-n, weil er dadurch in ein Ab- 
hängigkeits-Verhältnis geriete, nicht mehr frei über sich verfügen 
könnte. Aber auch aus eineoi zv^eitoi Grund ist der Stolze nicht 
eifersüchtig: er verfällt nicht leicht auf den Gedanken, daß ihm 
ein anderer gefährUch werden könnte. Und muß er es doch vor 
Augen sehen, dann rftcht er aidi am Beleidiger seines Macbt* 
kreises oder zieht sich acfawägend in sich adbat zurQck. 

Es ist zur EiferBUciit erforderiicb, daß ein andauerndes Oe> 
fühl der Ich-Pirojddioa- besiehe; wer nur das Amüsement oder 
den OenoB des Augenblicks kennt, hat keine Veranlassung, eÜer* 
suchtig zu sein. So hat Napoleon von seiner Oeliebten keine 
Treue verlangt. — 



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305 



4. 

Auch in dem oberflächlichsten Menschen lebt ein dunkles 
Gefühl von dem, was er wirklich wert ist; mancher weiß es so- 
gar ganz genau Aber seine ängstliche Sorge ist, diese Erkennt- 
nis nicht klar werden zu lassen, andere und sich selbst zu 
tauschen. Pascal sagt grimmig: „ts gibt verschiedene Grade 
der Abneigung gegen die Wahrheit; aber man kann sagen, daß 
sie in jedem besteht, weil sie von der Eigenliebe nicht zu trennen 
ist" Diese Abneiguiig gegen die Wahrheit macht oft zwei Sta- 
dien durch: zuerst findet es der Eitle angenehm und vortdltaaft, 
von anderen mfiglidist hoch eingeschätzt zu werden; wie er 
sdbst ca>er sich denkt, bleibt seine Privalsache. Aber bald fiUlt 
er m sdne eigenen ScfaUngen. Die Schätzung, die er Fremden 
planmäBig beigebracht hat — und die ihm oft nur gegen besseres 
Wissen vorgespiegelt wird — verifert mehr und mehr diesen 
unwirklichen Charakter. Er nimmt schließlich die Münze für 
echt zurück, die er selber gefälscht und in Umlauf gesetzt hat. 
Und das richtige Urteil, das er anfangs bei sich in Reserve ge- 
halten, verfliegt vor all den Fälschungen; auf dem Umweg über 
andere hat er sich selbst betrogen. 

So ergibt sich das Merkwürdige, daß der Eitle, der doch 
ganz im Genüsse seines Ichs aufzugehen scheint, allmählich jedes 
Verhältnis zu sich selbst, jedes Urteil über sich selbst verliert. 
Sein Ich ist m andere hhiöbeigewandert. Was er getan hat^ sieht 
er nicht dhdct als sehie Tat^ er sieht es ui der Mehiung der 
anderen, hn Vertiesserungsspicgel. Schauqiieler, Politito-, liie- 
nrien (wohl die eitdsten Menschcnldassen) beurteilen ihre 
Leistungen überhaupt nicht selber; sie fOhlen sdion behn Ent- 
siehen: Was werden die anderen dazu sagen? Und wer diese 
„anderen" sind, wer das „Publikum" ist, das kommt für ihre 
spezielle Eitelkeit besonders in Betracht. Dem Gelehrten gilt 
seine Leistung, wenn er eitel ist, als so gut wie den sachverstän- 

Lack», OmuM d«r SmI«. 20 



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306 



digen Kritikern. Er möchte sie vidleidit gern höher werten, aber 
er findet keine Instanz in sich vor, gegen dieses Urteil zu appel- 
liefen (und ist auch zu sehr in Respekt vor den Dingen erzogen). 
Die Kokette, die ihr Urtdl von allen Minnem, die tugendhafte 

Frau, die es von den anderai Frauen zu empfangen wünadit — 
sie liegen alle in ihrer ganz bestimmten Sklaverei, von der sie 
nicht los können. Der vollkommen eitle Mensch aber — be- 
sonders der Tribun, der Schauspieler und die Dirne großen 
Stiles, die auch körperlich einer anonymen, unbekannten Menge 
gegenüberstehen — unterscheiden gar nicht mehr, von wem die 
Wertung ausj:reht. Ilire BedeutunL: — die nie an sich, sondern 
stets im Vergleich mit anderen erwogen wird — steigt und sinkt 
mit dem Beifall der Masse. Irgendein anonymer Zeitungsartikel 
stellt für ihn selbst den eigenen Wert fest, der erst wieder durch 
andere Urteile überboten oder auch entkräftet wird. Diese ab- 
solute Eitelkeit kommt öfter vor als man denken möchte, 
denn mancher, der mit groflen Worten herumwirft, hat doch die 
tiefe Oberzeugung seines Nichts^ das von wo anders her Olanz 
erbetteü Diese Eitelkeit empfingt endlich ihren Wert nicht ein- 
mal von der gedruckten Mdnung eines einzelnen, sondern von 
den vielen Unbekannten, die diese gedruckte Meinung erst wieder 
in sich aufhdmien werden, von der Menge, deren Wertung das 
anonyme Zeitungsblatt darstellt, indem es sie schafft. Die Macht 
der üffeiitlichen Meinung ist sowohl eine Wirkung, als aucii eme 
Ursache dieser absoluten Eitelkeit. 

Der absolut Eitle hat so das Gefühl für sich selbst — dessen 
Erhöhung doch das ureprüngliche und einzige Motiv seiner 
Eitelkeit gewesen ist — verloren. Weil er seinen Wert immer 
entschiedener von anderen bezieht, fehlt ihm endlich die Kraft, 
sich zu fühlen, sich zu beurteilen. Er ist vor sich selber groß, 
weil es die andern zu glauben scheinen, niedrig, weil es die 
anderen glauben, er geht selbst in den Tod, wenn es die anderen 



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307 



fär richtig; halten — nicht aus Heroismus und innerer Kraft, son- 
demauftMaogelaiiEinlieitundMittelpiinkt. Er fühlt sichfichttldig, 
wenn ihn andere ffir schuldig halten, sein Leben erschöpft dch 
m der Rimfihimg, von maglichtt vidcn Mouchen aqgeaehai zu 
wenlen ~ das heifit angoehen zn aeiiL Die Seele ctnea aokhen 
Menflchen ist voOsUndig vemiehiet und tolgehoben, sie hat gar 
kdn Vertiiltnis mdir zu aacfa aelbat, sie ist eine Voatellung 
anderer. 

Man versteht jetzt ganz, daß die Empfindlichkeit des eigenen 
Ichs die Kehrseite, die tragikomische Karikatur des Geiiilils von 
Persönlichkeit ist. Was hier Größe hat und vom Ideellen her 
seine Richtung empfängt, wird dort jämmerlich und grotesk. 
Der Mensch, der nichts ist als ein kleines, von Vellei täten erfülltes 
Ich, steht immerwährend in der Gefahr, überhaupt nichts mehr 
zu sein. Denn aller Wert beruht zuletzt im Veilialtnis ZU einer 
höchsten objektiven Existenz. — 

Die Eitelkeit des Oberflächlichen, der nicht unterscheidet, 
woher ihm die Wertung kommt, der zählt und nicht zu beur- 
teilen vermag, ist m gewissen Sinn der raffiniertesten Form 
der Eitelkeit entgqiengeaetzt, der Eitelkeit vor sich 
sei bat Das Phänomen, daß sich das Ich ain^gehi will, voll- 
zieht aich hier an der inthnsten Stelle^ sosuaagen im Alkoven, 
wo ja der Spiegel an seinem Platze ist Aber das Ich besieht sich 
nicht nur vofttufig, um hinterher in den großen Spiegeln des 
OalaaaalCB besser zu leuchten: die Spiegelung in sich selbst be- 
friedigt sefaie Eitdkeit Diese Vorgänge haben mit der bis Ins 
Unendliche getriebenen Sdbstanalyse Ahnlidikeit, die das Ich 
zersetzt, in immer feinere Lamellen spaltet und zum Wahnsinn 
führen kann. Er ist etwas höchst Komphziertes und läßt sich 
kaum ganz klären, weil das Ich geteilt ist und ein Ich-Ohjckt m 
einem Ich-Subjekt reflektiert wird — wobei aber diese Bezeich- 
nungen das Wesenthche nicht treffen. Wer nur vor sich selbst 

20* 



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308 



etuas sein will, wird nach außen oft anspruchslos scheinen, um 
den ( je^rgjisatz zu genießen, der zwischen seiner innerlich hoch 
angeschlagenen Bedeutung und der iMeinung der Mensche: 
klafft. Die Hochschätzung anderer ist ihm peinlich, weii sie den 
Umfang dieser Genußquelle, des Kontrastes, eindämmt, weil der 
einsam Eitle so dtel ist, daß ihn auch die größte Anerkennung 
nur herabsetzen kann. Der Selbstquäler schwelgt in diesem Ge- 
fühl und Hebbel sagt mit ähnlicher Absicht: „Das Nichts glaubt 
dadurch etwas ZU sein, daß es bekennt: Ich bin nichts." Aber 
die Zerfaserung und Gegenüberstellung der inneren Instanzen 
kann noch um eine Spinüwindung höher klimmen : »ySelbstverach- 
tuqg ist versteckte Eitdkeii Denn das sich Verachtende muB 
zitgteich das sich Achtende sein/' (Hebbel.) In der bloBen Mog- 
Hchkeit, Wert und sogar Unwert über sich zu sprechen, liegt 
die geheimste Wonne des Ich-Oefähls. Um beim früheren Bild 
der Spiegelung zweier Faktoren zu bleiben: das gespiegelte Ich 
ist dem, der sich verschiet, wohl trübe; aber der Spiegel sdbst, 
der wertende Ich-Tdl, ist so klar, daß er den anderen Ich-Teil in 
seiner Nichtigkeit durchschaut und darob triumphiert. Vielleiclu 
läßt sich ein raffinierterer Ich-Genuß nicht mehr denken; bei 
Pascal kann man ihn studieren. — 

Für den, der von sich selber schlecht denkt, ist die Meinung^ 
der anderen nicht ein Spiegel (denn er könnte nichts Gutes dann 
sehen), sondern eii^entliche Quelle des l iclits. Seine Eitelkeit ist 
eine heimliche Lüge : hat er doch von sich selber die schlechteste 
Meinung. Er weiß, daß er ein Feigling ist, und möchte sich 
einen Helden vorspielen. Denn er könnte mit der wahren Er- 
kenntnis seiner selbst nicht tiestehen, er sucht Täuschung bei 
anderen, ist Heuchler vor anderen und vor sich selbst. Er will 
sich überreden, so zu sein wie andere zu glauben scheinen, daB 
er ist — und kann doch wieder innerUefa die verspotten, dte ihn 
mißkennen und um deren Anerkennung er buhlt. Es ist ein 



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309 



ewiges Hinauf und Herunter, Selbstverachtung, Betteln um 
Achtung, Verachtung der fremden Achtung, Angst vor tander 
Mißachtung, ein Kampf zwischen Seibsteftamtnia^ Selbstliebe 
und Selbstbetrug, zwischen dem Wissen, so zu sein, und dem nie 
erfüllten Wunsdi, anders zu sein, der wenigstens als Schein die 
Willdichkdt äSen möchte. Bei manchem tieferen Menschen, der 
sidi selber quält, sich einen Wert abzwingen will und doch 
nichts Outes von sich erwartet, gibt es solche Erscheinungen. 

Nicht nur der innerlich Schwächt, auch dt r laiierlich Gesetz- 
lose, iitT Verbrecher, ist ganz auf fremde Wertungen an- 
gewuM i); er ist im höchsten Maß eitel und er kann nicht anders, 
weil er (wie Weininger erläutert iiat) in nuicrL-r sklavischer Ab- 
hängigkeit von Fremden iebt und auf ihre Wertung mehr ange- 
wiesen ist als jeder andere. Der Mensch mit verbrecherischen 
Anlagen — die vielleicht niemals zur Tat geworden sind — ist 
erstaunlich leicht verletzbar; er deutet harmlose Worte gern als 
berechnete Anspielungen und wähnt sich jeden Augenblick 
durchschaut. Em Verbrecher ohne Eitelkeit hätte fibeilimipt 
nichts Menschliches mehr, er wäre voHkommen fittillos gegen 
jeden Wert; auch den erlogenen. ^ 

Wir haben gefragt, vor wem einer gelten kann, tuid die inter- 
essantesten Möglichkeiten, die Eitelkeit vor allen Menschen, die 
vor einem einzigen Menschen und die vor sich selber, sind be- 
griffen worck'Ei r ragt man aber: Worauf kann einer eitel sein? 
— so lauiei die Antwort: Auf alles. Auf Besitz, Rang, Schön- 
lieit, Tugend, üeist, aber auch auf Armut, Niedrigkeit, Laster, 
Dummiieit. sowohl auf das, was man hat, als auch auf das, was 
man nicht hat, aber zu haben vorgibt; auf das besonders, damit 
num sich's hinterher selber glaube. Man ist eitel darauf, Wein 
zu trinken und keinen zu trinken, man ist eitel auf Krankheit und 
Schmerzen, auf seine unsterbliche Seele und darauf, nichts als 
Materie zu sein; man ist eitel darauf, nicht eitel zu sein, und ist 



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310 



auch wieder so eitel, eitel zu sein. Man ist auf alles eitel, was mit 
dern Ich zusammenzuhängen .scheint, sei es nun Cjutes oder 
Schlechtes. Man begeht einen Mord, um in die Zeitung zu 
kommen, mid Pascal sagt: »»Nona penUxia encore la vie avec 
joie pourvu qu*cm en parle."*) 

Man kann naturgemäß nur auf etwaa atolz sein, was mit 
dem Kern der Peisönlichkeit innig zuaaDmienhSngt; die Eitel* 
kdt aber entreckt eich aitf alles, weil alles in das Ich mit iiinein- 
gezogen weiden kann. Je weniger ein Ding die innere PenAn- 
Udikeit trifft (Odd, Kleider), desto komischer scheint mis die 
Eitelkeit^ die es doch mit Ich-Charakter ausstattet. Man nennt sie 
dann wohl Protzentmn. — 

Es ist eme Tatsache, die man verschieden deuten kann, die 
sidi aber nidit wegstreiten läßt, daß das Ich-Oefuhl der Frauen 
viel mehr am eigenen Körper haftet als das der Männer. Bei der 
Besprediung des Schamgefühls wird das nocli deutlicher werden. 
Die vielberufene weibliche Eitelkeit hat den eigenen Körper 
mit seinen Annexen (Kleidung, Schmuck, Wohnung, Wagen 
usw.) zum vorwiegenden, oft zum ausschließlichen Inhalt. Die 
männliche Eitelkeit dagegen, die weitaus gröikr und ver- 

*) In einer sehr verstindnisvoUen Arbeit des PaycMaters Alfred 
Adler („Ober den nervösen Charakter", Wiesbaden 1912) wird das Wesen 
der Neurose auf das Gefühl persönlicher Minderwertigkeit zurückgeführt 
(die wieder auf der tatsächlichen Minderwertigkeit eines körperlichen Or- 
ganes beruht und aus der Kindheit stammt); und es soll nun das aus- 
schlletllche und oft bis zur fixen Idee gesteigerte Streben des Neurotikers 
sein (der fä nodi kein Geisteskranker ist), diese Minderwertigkeit zu kom- 
pensieren, vorzusorpcn, daß <;ein Selbstf^efühl nicl:t leide. So ist die Angst, 
etwas Hechtes zu sein, nictu etwa zurückstehen zu müssen, der wichtigste, 
der einzige Gedanke des Meurotikers, und hieraus werden nun eine ganze 
Menge Cigenschiften hergeleitet, die behn nervdaen Charakter staik tm- 
g«Nldet sind. Diese Grundtendenz, seine dgene Minderwertigkeit zu Iber« 
bauen und zu verhüllen, geht aber in die von mir beschriebene Eitelkeit 
über, die also, so unendlich normal sie auch ist, doch schon den Ansatz 
zur pathologischen Entartung des Ich-Gefühles bieten mag. 



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311 



zcbRnder ist, geht nehr aitf geistige und aed^^ Mlnii- 
lidie Frauen vemachHasigen ihre Kleidung und Ironzentriecen 
oft ihre Eitelkeit nach Art des Mannes auf eine geistige Leistung 
(ein selbsIgefflhrleB Oeschift oder einen sdbstgeschiiebenen 

Roman), übertreiben auch gern, um männlicher zu erscheinen. 

Wenn man aber die vielen geistig tätigen Frauen iiälier betrachtet, 
so kmii es zweifelhaft sein, ob ihnen diese Sach-Eitelkeit endlich 
genügt; denn die Anerkennung, die ihrer Arbeit gezollt wird, 
geht doch der unmittelbaren, körperlichen Person mehr oder 
weniger verloren, sie leiden oft schwer unter ihrer zwitterhaften 
Rolle. Vielleicht ist dies der Qrund, daß eine wahre Frau gar 
nicht so recht produktiv sein will (wenn sie sich auch manchmal 
so geberdet). — pie weiblichen Männer hingegen haben die 
echte Fnuten-Eiielkeit, die sich auis Körper-Ich bezieht — 

5, 

Bis jetzt suid die seehschen Zustände zeiigliedert worden, 
in denen das Gefühl des Ichs heraustritt, um isoliert vor sich 
selbst und vor anderen dazustehen. Den entgegengesetzten Vor- 
gang finden wir bei der Scham. Auch hier ist das Gefühl des 
Ichs herausgelöst und als etwas Besonderes empfindlich ge- 
worden; aber es will nicht sichtbar sein und leuchten, sondern 
es hat die Neigung, sich hinter allen Inhalten zu verbergen. 
Wird das Ich plötzlich entbloiit, so schämt es sich, es möchte 
zurücktreten, nicht mehr gesehen werden, verschwinden. Sdiam 
entsteht, wenn sich ein seelisches Element seiner selbst als eines 
ich-empfindlichen bewußt wird. 

Eitelkeit und Scham stehen m potorem Cegensatz und sind 
doch eng verwandt*) Das wird sehr deutlich, wenn wur sehen, 
wie sich t)eide Geföhle hnmer wieder auf dieselben Oegenstände 

*) Hierüber finden sich gute Bemerkungen bei dem amerikanischen 
Psychologen Alex. h. Shand („Character and the Cmotions*', Mind 1896). 



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312 



beziehen. Der Eitle betont fortwährend, was er Besonderes zu 
sem oder zu haben vermeint; er sucht sein Ich mögrUchst stark 
in diese ßtsonderheit hineinzuverlegen, sie mag noch so zweifd- 
hafter Art sein. Fehlt ihm etwa ein Auge, oder muß er im Roll- 
atuhi gcfahrai wenien, so ist er mdir und mehr geneigt, hierin 
etwas Auszddmendes zu sehen. Der Schamhafte sucht der- 
gleichen zu vntagn» weil da Ichf^uiikte liegen, dem Beach- 
tung durch andere ihn veilelzt Er spiidit nicht davon wie der 
Eide, der kehien Anlaß versäumt, die Geschichte seuies Unglücks 
zu eizählen. Und dies kann sehr weit g e tri e ben weiden: Men- 
schen» die ihre Nahritftt eingebüßt haben, empfinden Idcbt alles, 
was sie tun und was sich auf sie bezieht — nicht nur etwas Be- 
sonderes und Auffallendes — wie in einem Spiegel reflektiert, sie 
können die Bezieh uii^^ auf ihr Ich nicht los werden. Und so 
kommen sie dahin, alles ich hafte mit einem leichten Nebenton von 
Scham zu begleiten Solche emphndliche Menschen spreclieii 
mö^hchst unpersönlich, möglichst allgemein, damit nur ja nichts 
von ihrem Ich mit ins Gespräch einfließe. Sie sind überaus leicht 
verletzt, man kann ihre seelische Lage als ich -empfindlich schlecht- 
hin, gleichzeitig dtd und schamhaft, definieren. — Für manche 
Oeister ist es eme gewisse Scham, an einen Körper gebunden, 
von einem Ichhaft olganisierlen Körper abh&ngig zu seui. Ja, 
in seelisch hochgesteigerten Zeiten kann es der Oeist übettaupt 
als Scham empfinden, einen Körper zu tragen. 

Es ist schon gesagt virorden, daß die Frauen ihren Körper 
nahezu als ihr Ich fühlen. Vielleicfat haben sie sich hierbei der 
Empfindung des Mannes angepaßt, der die Frau oft mit ihrem 
Leibe gleichsetzt. Oder vielleicht hat der Mann nur einer be- 
stehenden Wirklichkeit Rechnung getragen wie iiiuner dies sei, 
das Ich-Gefühl der Frauen haftet vorwi^end am eigenen Leib 
und allem, was unmittelbar mit ihm zusammenhängt Noch 
klarer als bei der Eitelkeit wird dies beim Schamgefühl. Eine 



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313 



Frau sdifimt sich, wenn ihr Köiper oder ehi Teil davon Gegen- 
stand fremder und sogar der eigenen AufmerlLsamkeit wird. 
Mädchen gehen solange unbefangen bloßen Halses^ bis sich ein 
fremder Blick daran haftet; dann schämen sie sich pUMzlich: 

ein Teil ihres Ichs ist empfindlich geworden. Legt ein Mädchen 
zujii erstenmal ein dekolletiertes I>allkleid an, so iühlt sie Scham 
ob dieser absichiiichen Hervorliebung ihres Körper-Ichs. Im 
Baiisaai aber, wo alle dekolletiert sind, ist dieses Gefühl der 
Pointierung verschwunden, hier würde sie sich schämen, trüge 
sie dnen hohen Kragen, weil sie wiederum so auftiele. Die er- 
falirene Dame aber nimmt jeden Blick mit Genuß hin; auch ihr 
kommt ein Teil ihres Ichs unter fremden, besonders unter männ- 
lichen Blicken achäifer zum Bewußtsein, aber die enigcgenge- 
setzte Wükung hritt ein: hier Eitelkeit, dort Scham. 

Nehmen wir an, in Paris sei die Mode aufgekommen, blaue 
Fräcke zu tragen anstatt der üblichen schwarzen. Die meisten 
Männer wissen dies nicht oder kfimmem sich nicht darum. Aber 
einer läßt sich eui solches Kleidungsstfick anfertigen und trägt 
es auf euiem Ball. Er hdit so sein Körper-Ich hervor und ffihlt 
seine Eitelkeit geschmeichelt. Fast alle anderen Männer hätten 
sich nicht so leicht bewegen lassen, als erste einen blauen Frack 
zu tragen; sie hatten sich darin sjeschämt, weil es als unmänii 
lieh empfunden wird, sein Körper-Ich zu unterstreichen Niehl 
viele Frauen aber wurden sich schämen, ein auffallendes und 
ganz und gar neuartiges Kleid anzulegen. — Unsere Sitten 
haben diesen ich-Gdühlen Rechnung getragen : die Kleidung des 
Mannes ist nahezu einförmig; nur der Geck und der Homo- 
sexuelle — weibliche Männer also — wollen instinktiv durch 
ihr KöJTper-Ich auffallen. Die Tracht der Frauen aber ist ihrem 
Gefühl entqnechend von einer zur anderen verschieden. 

Alks dies wund durch Beobachtung bei Prunitiven bealitigi 
Völker, die gewohnt sind, nackt zu gehen, legen Kleider and 



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314 



Schmuck ao, um sich hervorzutun (was uns ja ganz natüriicfa 
scheint); sie empfinden aber die Klddnoff auch wieder als un- 
anständig, weil der bekleidete Körper auffällt; wie wir uns 
sdiämen würden, nackt über die Straße zu geben. Ist es iigend- 
wo Sitte, daß die Frauen ihr C3e8icht verhüllen» so wird es als 
schamlos empfunden, den Schleier zu senken (während dieses 
Schanigefühl z. B. nicht an der Brust haften muß). — Auch für 
unseren Kulturkreis ist das Schamgefühl ziemlich schwankend 
Bei verschiedenen Frauen sind die einzelnen Körperteile ver- 
schieden sdiamempfindlich : so tragen manche Mädchen ihr Haar 
oQm odiir losen diu Frisur ühiie das Gefühl der Scham. Andere 
wieder empfinden dies wie eine körperliche [ nthüUung; ihnen 
ist auch das ilaar ein wichtiger Teil des Kürj:>ers, der ich-erap- 
findlich wird, wenn er die Aufmerksamkeit erregt. — Ganz lie- 
sonders schamhaft ist merkwürdigerweise die Mundhöhle. 

Aus alledem erklärt es sich von selber, weshalb die Scham 
sooft irrtümlich als ein spezifisch erotisches und weibliches Ge- 
fühl angesehen wird: weil ihre auifaUendsien Fonnen bqptcif- 
HcfaerweiBe die sind, die sich auf den Körper bezichen. l>as 
MAddien schlmt sich, wenn ihr Körper-Ich zum erstenmal einem 
anderen oder bei feinerer Veranlagung ihr selbst — vor dem 
Spiegel — zum Bewußtsein kommt Dies tritt aber meistens in 
der Zeit der Geschlechtsreife ein; weil die Jungfrau die sdindle 
Eiitvvickluiig ihres Leibes sieht und von anderen bemerkt weiß, 
weil sie als Weib betrachtet wird und nicht mehr als Kind, fühlt 
sie Scham, die allerdings sexueller Art ist und immer sexueller 
Art bleibt Prst wenn es einer Frau so selbstverständlich ge- 
worden ist, üeschlechtswesen /u sein, daß es ihr nicht mehr be- 
sondoB fühlbar wird, schwindet diese natürhche bcham, um 
von neuem aufzutreten, wenn sich einzelne Körperteile bemerklich 
machen (z. B. in der Schwangerschaft) — bis sie endgültig 
dabin ist. 



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315 



Das Gefühl des Ekels kann mit dem Schamgefühl zu- 
sanunenhneien und seinen sexuellei Charakter verstärken. Ekel 
ist die Reaktion auf die Lust der einzelnen Sinne^ er ent^fingt 
der ObeiBättigung an einer bestimmten Art des Genusses und 
haftet überhaupt an den Teilen des Köipere, die zur Kdiperlust 
in einem (vielleicht nur scheinbar) entgegengesetzten Veihilt- 
nis stehen. Es ist bdcannt, daß manche (besonders hysterische) 
Frauen ein leises Geffihl des Ekds gegen die Geschlechtlichkeit 
des Mannes empfinden, weil ihnen die Einheit seines Urogenital- 
Systems allzu jB^egenwärtig ist. Wenn sieh nun gerade die zu 
Ekeigeiulilea disponierten Teile des eigenen und des fremden 
Körpers aufdrängen (was von Kindheit an geschieht), so bildet 
sich eine innige Verwandtschaft des Schamgefühls nnt dem Ekel- 
gefühl und das Schamgefühl wird leicht als sexuelles Gefühl 
überhaupt gedeutet/) — 

Behn Manne bezieben sidi Schamgefühl und Eitelkeit zum 
geringsten Teil auf den eigenen Körper. 

Des Weibes Keuschheit geht auf ihren 1 eib, 
Des Mannes Keuschheit geht auf seine Seele, 
Und eher zeigt sich dir das Mägdlein nackt, 
Als solch ein JüngUng dir das Herz entblößt 

(Hebbd fiber Giselher.) 

Ein Knabe zeisi Kenntnisse, die anderen fehlen, so lange un- 
befangen, bis sie ausdrücklich anerkannt und bewundert werden; 
in dem Augenblick aber kommt ihm diese i^ieraushebung als ein 

^ Alledem würde gßx nicht widersprechen, dal das SdiamgefOhl 
wie e Eitelkeit (und auch andere Gefühle) uraprfingltch einen Nfitillch« 

kettS' oder Selektionswert gehabt haben mögen und erst im Laufe der 
Zeit in die höheren, rein menschlichen Regionen eingedrungen sind. Ich 
habe es ja hier wie immer nicht mit der allmählichen Entwicklung des 
Seelenlebens zu tun, sondern mit den Erscheinungen, in denen es sein 
Maximum erreicht 



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316 



Teil dessen, was ihm selbst angehört, zum Bewußtsein und er 
schämt sich. Ist er von Natur schamhaft, so wird er zukünftig 
nicht leicht seine Kenntnisse zeigen, uiberwiegt die Eitelkeit^ so 
erregt die nScfaste Anefkennung schon ein geringeres Wider- 
streben. Fortan nfilit er sich, solche Anlässe hertieizufahren. 
Die Unschuld ist verloren gegangen, das Ich-Gefühl als 
Quelle von Lust und Sdunerz efkannt wofden. — Als sich die 
ersten Menschen vom Oefaorsam gegen das göttliche Gebot tos- 
gesagt hatten, da kam es ihnen zum Bewußtsein, daß sie etwas 
anderes waren als alles um sie her, daß sie ein Icli hatten — und 
sie fühlten dieses Ich plötzlich inmitten der Welt unbedeckt 
stehen und bchannen sich. Solange das Ich seiner selbst noch 
nicht bewußt w orden ist. bleibt ein Wesen (ein Tier, ei i Kind) 
im Stande der Unschuld. Dem Erwachen des Ichs folgen Scham 
und Eitelkeit, die Unbefangenheit (denn das ist die Unschuld) 
ist dahin. — 

Die Darstellung, die der Künstler von seinem Ich gibt, ist 
nicht, wie Banausen gerne meinen, schamlos, sondern das 
Gegenteil: der wiildiche Ktuistler (ün Gegensatz zum beichten- 
den Dilettanten) veibiigt sich selber so ganz hiiiter seinem Wetlc, 
daß es zu einer Hecke vrird, die ihn allen Blicken entzieht. Mit 
heimlichem Spott muß Goethe gesehen haben, wie die Buch- 
stabemnenschen sein Wort über die Wahlverwandtschaften plump 
aufgegriffen und nun nach „Erlebnissen** geschnüffelt haben, 
während er doch niemals die aulkriiche Philologen-Bedeutung, 
sondern nur ein seelisches Gerichtetsein, eine Gefühls- Disposi- 
tion im Sinn hatte, „jeder tiefe Geist braucht eine Maske, noch 
mehr, um jeden tiL'tt'ii (jtist wächst fort walirend eine Maske." 
(Nietzsche.) Der Philosoph aber, der es iner nicht so leicht hat 
wie der proteische Künstler, müht sich mit abstrakten Beweis- 
ketten, um objektiv begründet zu sehen, was er in persönlicher 
Unmittelbaricdt nicht wohl sagen kann. 



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317 



Je schamhafter ein Mensch ist, desto weiter erstreckt sich 
sein Beclnrfius, alles Ichliche zu verhüllen; wo an einen solchen 
Punkt getastet wird, da empfindet er den Schmerz des verletzten 
Ich-Kreises. So ist das Schamgefühl die Decke alles dessen, was 
geheim bleiben sollj wer nichts zu verbergen hat, fühlt keine 
Scham. Die Wissenschaft darf dieses Gefühl nicht kennen, sie 
hat keine Scheu vor der Natur und keine vor der Seele des 
Menschen» sie will alle Geheimnisse zcistören. Goethe hat 
schwer unter der atomistischen Naturforscfaung, die die Erschei- 
nungen zersetzt, gelitten, und es ist die Tragik des wahren Psy- 
cfadogen, zur Unkeuschheit gezwungen zu sein. Selbstanaliae 
ist Schamlosigleit vor sidi sdbst, Sokrates ist der schamlosesbe 
aller Menschen gewesen. — Jede Lust ist unkeusch, sie ver- 
letzt die Scham: die Lust des Erkennens enthüllt und zer- 
stört den G^enstand, aus dem sie tließt, die Astronomie macht 
die Größe des Sternenhimmels zunichte und schafft daraus ein 
System von Gleichungen, die kritische Theologie zerstört Gott, 
die Wollust vernichtet alle Scham. Der Preis jeder Lust — 
außer der ästhetischen — ist Trübung ihrer Quelle, unter der 
Herrschaft der Lust schwindet die Scham; man stelle sich den 
brutal eindringenden schamlosen Blick des Wüstlings, den un- 
verschleiert offenen der Dirne vor. — Der Zusammenhang von 
Scham und Lust zeigt sich auch darin, daß die Verletzung der 
Sdiam fOr manchen die eigentliche Lust bedeutet Bei einem 
keuscben Menschen aber dSmmt das Schamgefühl die Lust dn, 
er hat ein instinktives Mißtrauen g^gen sie. 

Man kann nur achten, was einen gewissen Eigenwert zu 
haben scheint, was man nicht ganz zu durchschauen vennag, 
was emen Rest von Geheimnis biigt. In dem Maße, wie eine 
Sache erkannt wird, verliert sie ihren innersten Wert. Haben wir 
ein Ganzes in verständliche Elemente aufgelöst, so ist es ge- 
wissermaßen verschwunden, es ist nichts Eigenes mehr, sondern 



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318 



inner G^ensiarid, von uns zerl^t, durch uns vernichtet Jedes 
Ding kann bis zum Omnd eilanni werden, hn Menschen aber 

wehrt sich etwas da^egfen — ein Mensch, der bis aufs letzte 
durchschaut werden konnte, hatte aufgehört, ein Mensch zu sein. 

Instinktiv schätzt der Mann an der Frau das üeheininisvolle, 
das, was noch niemand erkannt, entwertet hat. Und die weib- 
liche Schamhaftigkeit, die sich aufs Korper-Ich beziefit. erfüllt 
dieses Bedürfnis des Mannes, iiier liegt die Lrklärung iür den 
Zauber der Jungfräulichkeit, der dem Willen zur Lust entgegen- 
steht. Rationalisten mögen den Widersinn und den „Egoismus" 
dieses Wertes noch so laut verkünden — gerade der höher diffe- 
renzierte Mann ehrt das an der Frau, was noch niemals Gegen- 
stand eines Ericennens — auch deseigenen nidit— geworden ist 
DasGefaeininis des weiblichen Körpers ist wie das der menadh 
HchenSede von der Scham unigeben und gehütet. Fallen aber bei 
einer Frau Ich und Leib ganz zusammen, so hat sie das Gefühl, 
mit der körperlichen Enthüllung alle ihre Geheimnisse offenbart 
zu haben. — Wir verstehen jetzt die Lifersucht des Mannes in 
ihrer seehsche&ten Form: sie will das Geheimnis der geliebten 
Frau vor allem Fremden bergen Durch seine Liebe ist er in 
ihr Geheimnis mit hineinversponnen, wurde es preisgegeben, 
dann wäre er mit ihr beschämt, wäre seine Liebe prostituiert. 
So hat die Eifersucht alle Phasen des Ich-Gefühls mitgemacht: 
sie ist nicht nur beeinträchtigtes Maclitbedürfnis und verwundete 
Eitelkeit, sondern Scham, die ihr Geheimnis — das Geheimnis * 
der Lid>e — wahren will. 

Jede normal veranlagte Fiau und besonders jedes Mädchen 
empfindet es ab unerträgliche Verletzung ihrer Schamtiaftis^feit, 
sich einem Manne zu enthüllen, der sie nicht liebt Seine Blicke 
veruraadien ihr seelischen und sogar körperlichen Schmerz. In 
der Liebe aber fühlt sie, daß ihr Geheimnis nicht «kennend zer- 
stört wird, daß dem Manne ihr Körper mit seinen Teilen als 



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Tdlen ihres Ichs nicht «bgesoodert Zinn BcwuBlsctn koounti sie 
wdB, daß er auf sie als Ganzes konzentriert ist. Solange ilie Li^ 

besteht, wird die Scham nicht verletzt, weil die Liebe das Oe- 
heimius fühlt und ehrt. Hat sich aber eine I rau einmal ohne 
Liebe enthüllt, so lic^ in jeder Wiederholung weniger Schmerz. 
Eine Frau, die jedes Geheimnisses bar gfeworden ist, flammt 
plötzlich in verzweifelter Scham auf, wenn sie euiem ^egenuber- 
steht, der sie noch im Schleier des jungfräulichen Geheimnisses 
gekannt hat. Der Mann kann die Dirne nicht achten. Sie scheint 
ohne jeden Eigenwert, ohne Geheimnis, wie der Wein ein Gegen- 
stand, der den brutalen Äquivalenten Lust und Gdd gehorcht 
Auch hier hilft kein Rationalismus g^gen das Gefühl. — Ist eüh 
mal die Scham dahin, so efweddt es einer Frau keinen Sduneiz 
mdir, wenn ihre Köiperlichkeit bemerkt und begehrt wird Sie 
findet viehnehr in der Wirkung des KOrper-Idis auf den Mann 
ihre eigene Lust Bleibt diese Whkung ans^ so ist sie verletzt 

Ebenso wie die Scham ist auch die Treue der Lust ent- 
ge^^eny:esetzt, aber in einer höheren Sphäre. Sie ist das Band 
zwischen dem Gefühl des Ichs und dem Bewußtsein der Per- 
sönlichkeit. Treue ist der Persönliclikeit propurtional, sie ist 
Identität der Persönlichkeit mit sich selbst nl:»er den Augenblick 
hinaus. Je treuer ein Mensch ist, desto mehr fallen ich und Per- 
sönlichkeit in Eines» desto weniger läßt er sich vom Augenblick 
und seinen Verführungen dazu bringen, das ein für allemal als 
seine persönliche Sache Erkannte aufzuheben. Heftet sich die 
Treue aber shmipfeumig und ohne inneren Crund an Klemes, 
so mag das zwar Kraft verraten, geht aber in Starrköpfigkeit 
und Eigensinn iiber. 



8. DAS GEBET 



1. 

Wenn dem Schicksal der besondere Ton des Religfiösen zu- 
geteilt wird, wenn man es als etwas Göttliches empiiadet, so 
wandelt es sich zur Vorsehung. Vorsehung ist das Über- 
mächtige, Weltbi herrschende, das nicht wie das Sciucksal me- 
chanisch, blind, sinnlos und herzlos, sondern zielbewußt, sehend, 
sinnvoll und auf den einzelnen bedacht vorgestellt wird. Es ist 
noch immer die große, dem Menschen innerlich unbegreifliche 
und fremde, ja unheimliche Macht, hat aber jetzt den Ton des 
Seelenhaften, des Fühlenden, vielleicht sogar des Menschlichen 
angenommen. Die Vonehung kann ein weltregierender Gott 
sein, sie kann aber audi mehr unbesüomit als gdMüches Prinzip 
empfunden werden. Wie bisher haben wir uns auch hier nicht 
mit fesigewocdenen und lefarbaren Theorien zu bcschiftigen, es 
handelt sich vielmehr iomier darum, alles das möglichst ent* 
schieden zu Uären, was die JMenachen im Herzen tragen, was sie 
dunkel fühlen. 

Die Vorsehung ist die ungeheure Macht, die über der Welt 
thront. Vor ihr hat der Mensch nicht zu fragen und nicht zu 
zweifeln, er muß sich in Demut beugen. Dieses Gefühl der Ab- 
hängicfkeit entspricht einem Grundtypus des religiösen Bewußt- 
seins, der weitaus der verbreitetste unter den religiösen Typen 
ist Es wäre eine unendlich verlockende und noch kaum emsthaft 
unternommene Au^^, die verschiedenen religiösen Menschen- 
typen zu erforschen und festzulegen. Hier aber kann nur be- 
sprochen werden, was für den gegenwärtigen eingeschränkten 
Zweck ndtig ist — Wir betnchten also den Menschen, der sich 
ganz un Diesseits fühlt und von hier aus gläubig, vertr au end, 
hoffend, fürchtend, demüüg, liebevoll in eüi Jenseits^ in A 
göttliches Reich hinubencfaaut; dieses Reich bedeutet ihm ent- 



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321 



weöa eine sichere Tatsache oder eine Sehnsacfat des Herzens 
oder eine Angst, ist aber immer schroff vom Diesseits geschieden 
und die Quelle alles Heiles, alles wahren Wertes. Von jener gött- 
lichen Welt v-ird die untere regiert und geleitet, wird jedem 
einzelnen sein Weg bestimmt. 

Der Mensch fühlt sich im Drang und Leid des Lebens ver- 
einzelt, schwach, er sucht etwas 1 estes, woran er sich halten 
kann, er brauciit körperliche und seelische Hilfe, Trost und 
Sicherheit. Diese tief menschliche Sehnsucht wird zum Teil 
durch die sozialen Verbände, durch Familie, Staat, Gesellschaft 
befriedigt; hier gibt es Schutz vor Gewalt, Hilfe gegen Unrecht, 
seelische Anlehnung. Aber das genügt nicht; man fordert ein 
Höherea, Obennächliges, das nicht mehr von der Rehitivititt der 
irdischen Dinge betroffen wird, sondern ab göttlich über allem 
Sein thrcxit, das nicht entstanden ist und nidit vergehen wird, 
das absolut da ist Hier findet die Pein der Einsamkeit und 
Verlassenheit, die das Ldxn unerträglich machen kann, Er- 
lösung. Religion (in dem bestimmten Sinn dieses Menschen- 
typus) ist ja die Gewißheit, daB das Band zwischen dem Efai- 
zelnen, Vergänglichen und dem Großen, Ewigen besteht und 
stärker ist als alle Anfechtun^jen; die Etymologie des Wortes 
beweist den Gedankengang. Mit diesem üuttlichen gefühlsmäßig 
in Verbindung treten, sich vertrauend in ihm geborgen wissen, 
sich ihm in Liebe hingeben — eine solche seelische Disposition 
bringt das Gebet her\'or. 

Ich gehe auf die weitere Schilderung dieses 1 ypus der trans- 
zendenten Religiosität nicht ein. Es ist klar, daß er sich im 
• Katholizismus verewigt und dem ganzen Mittelalter seinen Cha- 
rakter verliehen hat; aber auch die klassische protestantische 
Theologie, Schleiermacher vor allem, gehört ihr zu. 

Je naiver der Mensch ist, desto einfacher denkt er sich das 
Verhältnis zwischen seinem Diesseits und dem göttlichen Jen- 

Laeka, Qr«nzm <l«r SmI». 21 



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322 



8dts» zuerst iftumlicb, dann iftiunliifrqfiiibolisdi, dann gdstig 
— aber immer sind es zwei Wdten. Nun hat ein kultuiiiisto- 
riscfaer Prozeß stattgefunden, der die Spannung zwischen den 

beiden Welten allmählich verringert. Und ganz gesondert und 
ohne Zusammenhang mit ihm spielt sich in einzehien Menschen 
der gleiche Vorgang ab: nicht einem vöhig irdischen Diesseits 
soll ein völlig göttliches Jenseits gegenüberstehen, sondern aufs 
Diesseits soll ein Schimmer von OöttHchkeit, von Ewigkeit fallen, 
das Jenseits soll nicht mehr so ganz fremd, so ganz jenseitig sein. 
Dieser Prozeß vollzieht sich schrittweise (sowohl in der Geistesr 
geschichte, als auch im einzelnen Menschen), immer mehr Ge- 
danken und Gefühle empfangen die Aura der Göttlichkeit, immer 
mdir zeitliche Regungen werden ins Ewige vertieit. — Ich habe 
nicht die Absicht, den Weg der VerinneiUchmig zu achildem. 
Ist diese ganze Betrachtong ja nur als ein BrucfaatQck anzusehen, 
weil ehie wixkUciie Religiona-Paychologie an dieser Stdle un- 
mdgUcfa wate. Wir kennen, um gleich den Endpunkt festzu- 
legen! im Gegensatz zur transzendenten, zur katholischen Rdl* 
gionsform eine ünmanente^ eine mystische; die protestantiadie 
Frömmigkeit liat an beiden ihr Teil, sie steht auf iigendehiem 
Punkt des Weges von der Jenseitigkeit Gottes zur Göttlichkeit 
des Menschen. Daher die Verschiedenheit und die ewige Ruhe- 
losigkeit der protestantischen Sekten, der Fluch der religiösen 
Autonomie. Alle Stadien auf dem Weg von der entschiedensten 
Jenseitigkeit bis /ur innersten mystischen Identität des Seelen- 
grundes mit Gott sind möglich und sind auch historisch durch- 
gemacht worden. Denn das eigentliche Merkmal der immanenten 
Frömmigkeit ist das Bewußtsein, daß GöttUches und Mensch- 
Uches in tiefer innerer Beziehung stehen, daß sie im letzten zu- 
sammenfallen. Es möge hier bei dieser allgemeinen Bestinunung 
bleiben, an anderen Stellen haben sich weitere Momente der 
mystischen Religiosität ergeben. 



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323 



Ffir diese mystische Rettgiosittft hat das Schicksal seine ent- 
scheidende Wucht veriocen (wenn es auch noch mmer forfbe- 
slefat), die Seele, die sich ihrer eigenen 0<ttdichl[eit bewußt ist, 

kann durch nichts Fremdes mehr unterjocht werden. Zwischen 
den äußersten JPunkten der Mystik und des toten Schicksals- 
glaubens steht die jenseitige Frömmigkeit; sie hat mit dem 
Schicksalsbegriff geraein, daß die letzte Macht in einem der Seele 
fremden Reiche ruht,*) scheidet sich aber vom Schicksalsglauben 
durch die Verwandlung des mechanisch Notwendigen in ein 
OöttlicheSy der Macht in einen Wert. Mit der rein immanenten 
Religiosität ist ilir das Grundbewußtsein der Göttlichkeit ge- 
nMinsam, das über allen Naturalismus und Monisnuis liinaiis- 
ragt; verschiedoi ist bei(kn die Stellung des Menschen zum 
gdttlichen Weiigrund: liir den Katholizismus gibt es auch im 
höchsten Aufschwung der Frömmigkeit und der Ekstase doch nur 
die Stelluqg: hie Wdt — - liie Oott; wo sie fibenpruqgen wiid, 
ist die Jensdts-Reiigion verlassen und an Hut Stelle JMzmi** 
getreten. Der Mystiker erlebt unmittelbaie IdentitSt dn Mensch- 
lichen und des Oötüicfaen (das nur noch Ewiges sddechttün und 
nicht mehr persönlidi oder sonstwie besthomt sein kann). 

Während für jede Religiosität, die noch an der Transzen- 
denz teil hat, das üebet etwas Wesentliches, ja „die Seele der 
Religion selbst" ausmacht,**) ist für die eigentliclie Mystik der 
Gedanke zu beten ein Widersinn. Zu einem Gott, der im Grund 
der Seele wohnt, der dieser Grund selber ist, kann die Seele 
nicht sprechen. „Abgeschiedenheit und Lauterkeit kann uber- 
luuipt nicht beten", sag^t Meister Eckehart; er rechnet das Beten 
zu den ,,äußeren Werken" und lehrt: „Denn eigentlich soll er 
ja fibeihaupt nichts von auBen herein, nein, alles aus dem Innern 

Vgl. was über das Verhältnis Napoleons zum Dogma gesagt 
worden Ist ($» 27U 

**) Sabader, Relfglofisplillosophle. Deutsche Ausgabe & 100. 

2t* 



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324 



nehmen» von sebem Gott'' — Hier ist jede Spannung zwiachen 
Absolutem und Relativem auJ^dioben, das Gebet hat seuien 
Sinn vedoien. Aber es Ist zu zweifeln, ob diese völlige Einheit 
dauernd festgehalten werden kann. Denn wenn Jesus sagt: 
,,Mein Gott, warum hast du mich veriassen!" und „Nimm diesen 
Kelch von mir!" — so zeigt sich auch bei dem vorbildlich reli- 
giösen Menschen eine leise Spannung, die allerdings in dem 
folgenden „Aber nicht mein Wille geschehe, sondern deiner!'* 
sogleich aufgehoben wird. 

Der Zustand, der zum Gebete führt, ist also etwas Mittleres, 
er ist weder ganz irdisch, noch ganz religiös, er steht noch im 
Unzulänglichen, im Bedürftigen» hat aber schon die Ahnung 
und die Sehnsucht des Vollkommenen. Auch wer sich worttoa in 
Gott versenkt, kann in dieser inneren Bewegung (wenn man so 
sagen daif) vielleicht noch eme gewisse gebelfihnliche Stunmung 
finden; hier schweben die Nuancen so zart, daß sich ein Mehr 
oder Weniger nicht mehr allgemein bestimmen liBt. 

In unseres Busens Reine wogt ein Streben, 
Sich einem Hohem, Reinem, Unbekannten 
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, 
Entrfttselnd sich den Ewig-Ungmnnten; 
Wir heiBeos: fromm sein! 

(Goettie) 

Diese Hinpfabe kann ans einer Fülle von Glück und Kraft 
stammen, die sich überströmend mitteilt; sie kann aber auch 
leidensdiaftliches Flehen um Trost und Ruhe, sie kann ein 
Schreien aus der Verzwdflung tiefoter Verlassenheit sein und 
eine Brücke ins Jenseits schlagen — eine Brücke, die nur auf 
einem PfeUer ruht Aber der Schrei findet Antwort im eigenen 
Herzen, ein Gefühl von Beruhigung, von Erhörung tritt ein. 
Zu diesen allgemeineren Voraussetzungen des Gebetes muB 



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325 



noch das Bedfirfnis nacta Mitteilungr koonien. Es 

gibt Menschen, die so vollkommen in sich abgeschlossen sind 
(entweder aus Reichtum oder aus Armut), daß sie keinerlei so- 
ziale Ausgleichung suchen, andere wiederum, die im geselligen 
Verkehr volle Befriedigung finden (wolil die allermeisten Men- 
schen); die sich schreibend, bildend mitfeilen — oder die 
schweigen. Sie alle kennen das Gebet nicht. 

Und endlich muß noch die Fähigkeit da sein, sich zu 
äufiem. Wo aie fnangeli, kann es allenfalls zu einer Gebetstim- 
mung kommen, aber nicht zum cigenttidien Gebete. Die Aus^ 
spracbe mit einem Höheren, das VecstrOmen in Oott eifolgt 
nicht theoietiscfa, in Begriffen, es geht viehnefar aus dem Oeffihl 
hervor und daher ist ihm die künstlerische AuBerung aiige- 
messen. Produktive Anlage, eine gewisse lyrische, hymnische Ge- 
staltungskraft muB vorhanden sein, wenn aus der vagen Oebet- 
stimmung ein wirkliches „Gebet" entstehen soll. Manche lyrischen 
und musikalischen Kunstwerke sind psychologisdi genommen Ge- 
bete, sie steigen aus einem g^roßen ( ieiiihl von Liebe und Hin- 
gebung auf. — Aber selbst unter den Kunstlern vermögen nur 
wenige ein echtes Gebet zu schaffen. Oft ist eine starke, rein 
innerlich gerichtete Ausdrucksfähigkeit da, und es fehlt doch die 
metaphysische Einstellung des Gemüts. Aus ähnlicher Stimmung 
kann etwa ein Liebesgedicht oder ein Naturhymnus hervorgehen. 

Das Gebet, das der Seele des religiös empfindenden Künst- 
lers in einem groSen Augenblick entstrOmt ist, kann von 
anderen reproduziert werden. Die meisten Gebete der verschie- 
denen Kirchen, sofweit sie diese Bezeichnung mit p^chologischer 
und nicht nur mit ritueller Berechtigung föhren, sind formelhaft 
erstarrte lyrische und musikalische Odsilde, bei manchen kennt 
man noch den Dichter. Wer sie zum erstenmal aus seiner Not 
herausgeschrien oder aus seiner Freude in die Welt gejubelt hat, 
versteht im tiefsten, was beim heißt; aber auch, wer das fest 



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326 



Geworden« im lebendigen Oefühl wieder auflöst, kann beten. — 
Beugt der Betende (vieUdcfat mit anderen zugleidi) das Knie^ so 
trägt dies bei, die Stimmung assoziativ zu venttrfm, die eigene 

Kleinheit wird im Vergleich zum Absoluten tiefer empfunden. 
Wer aber nicht soviel nachschaffende Phantasie besitzt, um aus 
den Wortreiheii die schlummernden Gefühle neu zu beleben, der 
kann sie jeden Tag mit Unterstützung von Musik und imitata- 
rischen Reizen aller Art wiederholen und erfährt doch niemals, 
was beten heißt. Er spricht unverständliche Zauberformeln. 

Das echte Gebet nimmt verschiedene Gestalten an. Der ptir 
mim Odietstimmung ist am nächsten das Dankgebet vcr- 
wandt, das seine Erfüllung schon in sich selber tdigt Das un- 
mittelbare BewtiBtsein einer höiieRn Eintieit bricht stnihtend aus 
der Seele und formt sich zu Worten des Dankes für das Höchste: 
am Ewigen teilzuhaben. — Mit ihm verwandt ist das Lob- 
gebet, der Hynmus» als dessen größter Repräsentant wohl 
fttndel angesehen werden darf; die ftarüchkeit des Alls, die 
Größe Gottes greift ans Herz und erweckt es zu mächtigem 
Widertönen. So singen die Erzengel im Faust. — Beim Bitt- 
gebet, das dem ganzen Komplex seinen Namen gegeben hat, 
ist die Einheit noch nicht gefunden, es ist der Ruf aus den 
Tiefen, das Flehen um Gnade und Erlösung. War in den beiden 
ersten Formen das eine Orundgefuiil der Seele, die Liebe, 
Triebkraft und Inhalt, so spielt hier das negative Grundgefühl, 
die Furcht, mit, als Schrecken der Vereinzelung, als Gefahr 
der Seele, die sich in die Liebe Gottes retten will. Wir sehen 
auch hier, daß die ttefeien Gefühle des menachlidien Herzens 
über ihre ursprihigliche SfHaJbt hinaus fliegen und m ein Jen- 
seits weisen können. (Ich habe dieses PtiänomeQ unter dem 
Namen „Metaphysische Erotik^' ansfOhrlich beadnieben.) 
Endlich istdasBußgebet anzuführen, das dem Bittgebet ver- 
wandt ist: die Nichtigkeit alles Kleinen, Einzelnen und Subjek- 



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327 



tiven wird schmerzlich empfunden und der Einheit gegenüber- 
gesteUi Die eigene Hinfälligkeit kommt als Sünde zum ßewußt- 
aein tmd soll gebü0t werden. — Diese vier Typen des Oebetes 
sind nicht wiOkfiiliGh gebildet; sondern enthüllen sich als Mög- 
lichkeiten des Verhältnisses zwischen Relativem und Absolutem: 
die Vollkommenheit des Absoluten (Lab) oder die UnzulAoglich- 
kdt des Rdativen (Buße) leuchtet dem Fühlen em; die Ein- 
heit zwischen beiden wüd eifldit (Bitte) und em|ifunden 
(Dank). — 

Es läßt sich nicht zweifeln, daß die meisten Betenden zu 
einem persönlich vor^' est eilten Wesen, sei es nun Gott oder ein 
vermittelnder Heiliger, sprechen. Tolstoi deutet dies einleuch- 
tend: „Das Gebet wendet sich an einen persönUchen Gott, nicht 
weil Gott persönlich ist (ich weiß sogar bestimmt, daß er nicht 
persönlich ist^ weil die Persönlichkeit beschrankt^ Oott aber un- 
beschrinkt ist), sondern weil ich ehi persönliches Wesen Im."*) 
— Kant hingegen äußert sich über das Beten zu einem persön- 
lichen Oott sehr schroif: „Aber endlich ist auch bei dem Gebet 
Heuchelei, denn der Mensch mag nun laut beten oder aeme 
Ideen Innerlich fai Worte auflösen, so stellt er sich die Gottheit 
als etwas vor, was den Sinnen gegeben werden kann, da sie doch 
bloß ein Prinzip ist, das die Vernunft ihn anzunehmen 
zwingt."**) — Man hat bei dieser Verurteilung ?u bedenken, daß 
Kant dem Gefühlsleben überhaupt mit wenig Verständnis gegen- 
überstellt und nur das rem Geistige gelten läßt. Aber trotzdem 
ist hier die sozusagen intellektuelle Zweideutigkeit richtig charak- 
terisiert, wenn es sich um ein in Worten nachgesprochenes Gebet 
handelt. Die Oebetsthnmung freilich, das plötzliche Durch- 
brechen emes reichen und beseligenden, his Metaphysische ge- 

^) Aus unveröffentlichten Briefen und Schriften des Grafen Leo 
N. Tdlitoi, TMMdtut RundadiMt, Mmtar 1905^ 
**) In dem Udnen Aultatz: mVoiii Gebete'*. 



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328 



richteten Gefühls, das brünstige Hinaufwollen zum Absoluten, 
ist eia unmittelbares Gefühlserlebnis und hangt von keinerlei 
Mdnuog Uber die Gottheit ab. — 

2. 

Was bisber gesagt worden ist, bezieht sidi nur auf die 
höheren Arten der Rellgiosittt, die niedrigeren sind auBer acht 
gelassen worden. Der Fetisdnst fordert eme Leistung von 
seinem Oott; wird sie gewihrt, so dankt er mit Geschenken und 
Ehrenbezeugungen, wird sie verwetgeit, so quittiert er, je nach 
der Abschätzung des gegenseitigen MachtverhÜfaiisses» mit heuch- 
lerischer Unterwürfigkeit oder mit Prfigehi. Aber auch dort, wo 
der Gott unsichtbar und allmächtig, der Mensch als sein recht- 
loser Sklave o^edacht wird, ist das Gebet des einzelnen oder der 
Gesamtheit nur Bitte um Gut und Vernichtung der Feinde, Dank 
für geschenkten Sieg, was sich in Lobpreisungen sowie Opiem 
und Selbstkasteiunofen (tlie als höchstes Opfer gelten) ausspricht. 
Auf diesen beiden Stufen kennt das Gebet immer nur einen g'anz 
Ijestnnmten einzelnen Initait, es ist nuiit Beten im tieferen Sinne, 
sondern Bitten und Danken; wenn man die Gegenwart be- 
trachtet, so wird man sagen dürfen, daß sie nicht weit über dies 
Primitivste hinausgekommen ist. — Während der unmetaphy- 
sische Mensch das Bedüihiis nach reUgiöser Erhebung nicht 
kennt und schlechterdings in keiner seelischen Braichmig zu 
einem Absoluten steht, folgerichtig auch nicht den Wunsch nach 
einem Zusammenhang empfindet; will das Gebet, das eine Bitte 
um pentelichen Vortefl ist, Oott als Mittel fOr die Absichten 
des Menschen verwenden, das Absolute den Zwecken des Rela- 
tiven dienstbar machen — ein Oedanke, wdcher der Oipfd des 
bteen Ellens genannt werden müßte, wftre er nicht dessen 
Karikatur, Der Perserkönig, der den unbotmäßigen Hellespont 
peitsciieii läßt, ist an kleines Beispiel iur die Abstrusität dieses 



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329 



Wollens, das du Wunder im bdsen, im teuflischen Simi er- 
zwingen will. — 

Es gityt aber auch Menscfaoi, die ins Gebet hineinflüchten 

wie in einen Rausch oder in eine stumpfsinnige mechanische 
Arbeit. Ihr Mund spricht Formeln aus, vielleicht in fremder 
Sprache, ihre Phantasie hält gewisse scheinbar religiöse Bilder 
fest, angespannt achten sie auf jede Einzelheit, falten die Hände, 
schlagen das Kreuz und starren vor sich hin. Sie meiden die 
Klarheit und flüchten vor sich selber. Oer Frömmler will 
seine Furcht betäuben, in anderes untersinken, sich an etwas 
quasi Heiliges verlieren. „Mein Gebet ist dann ein Untertauchen 
in Gott, es ist nur eine andere Art von Selbstmord, ich springe 
in den Ewigen hinehi wie verzweifebid in ein tiefes Wasser/* 
(Hebbd, Judith.) 

Die dämonvKfae Angst vor Gott lonn zu einem eigentOm- 
lieh schielenden Paldieren treiben. Vor diesem dämonischen, 
aber veistecfct dämonischen Menschen steht das GötUiche wie 
eine schreckliche fremde Macht, die er doch nicht zu hassen 
N\ agt. Und &em (]cbct ist nun ein Akt der Feigheit, eine Ver- 
aiisiaJtung, sich durch zereinonioses Gebaren und Formelwerk 
die etwaigen Ansprüche der gefährlichen höheren Macht vom 
Leib zu halten; das kann bis zur Selbstkasteiung aus Feigheit 
getrieben werden, weil nichts unterbleiben darf, was das Einver- 
nehmen mit dieser schrecklichen Macht herstellen könnte, in 
Pascal ist etwas von dieser Gemütsanlage. 

Wenn der dämonisdie Mensch genug Größe besitzt, um 
nicht mehr zu frömmehi und zu kriechen, sondern dem höchsten 
Prinzip des Lebens Trotz zu bieten, so Icann es geschehen, daß 
er zum Teufel betet. Dazu wSre nur der fiU^g, der Gott 
und alles Göttliche gekannt Jiat und daran verzweifehi muß, der 
den Glauben an einen Zusammenhang des Alls nicht mehr in sich 
ihidet und die absolute Veniichtung vinll. Er ist ganz metaphy- 



330 



sisch und entsagt trotzdem dem Gedanken an Gott, dem Ein- 
heitsbewußtsein alles Seins, er wendet sich dem Prinzip des Ab- 
falls, der Vereinzelung, der Finsternis zu. Auch der Teufel hat 
dne Beziehung zur Ewigkeit — er verneint sie. Und wer zum 
Teufel betet, gibt sich mit Bewußtsein der Lüge, dem Chaos hin. 
Lenaus Faust wirft, dies zu bekräftigen, die Bibel als Symbol 
des Odttttchen ins Feuer, er vertiert das Oefuhl für die WiikUcfa- 
kdt der Welt und endet durdi Selbslnioid, der aber gar nicht 
mehr eine eigenfUcfae Aufiiebung des Lebens bedeuten kann — 
es ist inneriich schon ISngst nihilistisch vernichtet: 

Ich bin ein Traum mit Lust und Schuld und Schmerz 
Und träume mir das Messer in das Herz! 

(Bei Goethe dagegen paktiert Faust nur mit dem Teufel und 
U6t sich das Bewnfitsehi der Ewigkeit trotz allen Nd)enwegen 

nicht entreißen. Die Osterbotschaft rettet ihn vom Selbstmord, 
noch bevor er den Teufel eigentlicli kennt.) — 

Ein Gebet, das mit dem ganzen Aufwand von assoziativen 
und suggestiven Hilfen ins Werk gesetzt wird, kann große Ge- 
walt über das Herz errmgeii und vielleicht durch die Kraft des 
Willens, von der es getragen wird, etwas in der Welt verändern, 
eine Wiiinmg üben. Manchen Formeln werden besondere 
Kräfte zugeschrieben, es gibt heilige Orte, an denen das in- 
brünstige Gebet Erhörung findet. Die in heidnischen und christ- 
lichen Zeiten verbreitete Sitte des Wallfahrens beruht auf 
der suggestiven Kraft solcher Orte und man Icann sich noch heule 
fiberzengen, wdche erstaunliche Macht an wunderberuhniten 
Wallfahrtstttten hafteL Unbesdu:9nkt herrscht da ein vom Rdi- 
qnienkult der römischen und der griechischen Kirche sanktio- 
nierter Fetischismus» die vielen Krücken und Widmungen Ge- 
nesener, die in jeder besuchten WaUfahrtakirche zu finden sind» 
beweisen die seelenerschüttemde Macht, die der von Tausenden 



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besuchte Wiinderort ausstrahlt. Je stäiter der Glaube eines 
Kranken, je länger und mühsiliger die unternommene Reise ist 
und je mehr begeisterte Menschen zusammenströmen, desto eher 
wird wohl eine Heilung möglich sein; die Massen-Suggestion 
enthüllt ihre geheimnisvolle Kraft, jener sonderbare Zustand 
tritt ein, der eine Versammlung von Menschen nicht als die 
Summe aller einzelnen, sondern als etwas anderes, Unberechen- 
bares erscheinen läßt, der jedem Individumn seinen Willen raubt 
und sie alle einen gemeinsamen Willen zu produzieren zwingt, in 
dem das Venuitwortlichkeits-Bewaßtsein jedes einzelnen aufge* 
boben ist mid dn gemeinsamer atavistisdier Tfiebwflle bemdity 
nidit das Durchaduiittlidie der Individtten, sondem eine Art 
tierhaft gemdnaames Vidfachcs. Ist es denn leiditer zu ver- 
stehen, daB aus dreihmidert gutmfltigen Bürgern eine t)CBHaMadie 
Mordbrennerschar wird, als daB in einer fanaüsierten, von 
einem einzigen Wunsche beherrschten Menschenmenge ein 
Krüppel plötzlich sein Gebrechen verliert und, vom üesamt- 
willen getragen, das Gefühl der Heilung findet? Es bleibt aller- 
dings fraglich, ob diese Heilung für immer erfolgt oder eben nur 
von der Suggestiv Kraft der Menge erzwun^^en worden ist, löst 
sich doch auch nach ein paar Stunden die Räuberbande wieder 
in eineAnzahl friedlicher und über ihre Taten höchst erstaunter 
Bürger auf. — 

Manches von aUedem hfttte noch weiter ins einzehie geführt 
werden kfinnen. Aber die Orundiagea ahid klar geworden; und 
so wdlen whr uns nicht ISnger bd diesen ganz spezidlcn Vor* 
gangen des Seelenkbens aufhalten. 



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9. DAS VnJNDER 



l. 

Um sich deutlidi zu machen, was ein Wunder ist, wird man 
gut tun» zuefst nur dem objektiven Tattiestand nachzufoiadieny 

der einem Wunder entspricht (ob es wirklidi eintritt, kommt vor* 
läufig nicht in Frage), in den Zusammenhang des Tatsächlichen 
Einsicht zu gewinnen (was durch historische Anknüpfungen er- 
leichtert werden wird) und erst dann das Gefühlsieben derer zu 
analysieren, die an Wunder glauben otier nicht glauben, die ein 
Wunder ersehnen oder fürchten, die den seelischen Wert euies 
Wunders anerkennen oder ablehnen. Wie meistens wird sich 
auch hier der wissenschaftliche Begnfi mit dem seelischen Er- 
lehois nicht decken. — 

Unsere ganze Wissenschaft, vor äUcm die Wissenschaft von 
der Natur, soweit sie in Oesetzen und deren Abldirzungen, in 
mathcmatisrhen Fonnehi daisteObar ist, ruht auf dem Boden 
des lückenlosen v«n»at9imaimwiumhangPA^ Jst sclbst nlchts anderes 
als das System aller aufdnander bezogenen natflrUcfaen Ursachen 
und Wirkungen, wobei jedes Ereignis mit Notwendigkeit in das 
Ktu des Weltgeschehens hineingeflfxhten erscheint. Wollen 
wir uns nun denken, daß dieser geschlossene Zusammenhang 
von Phänomenen plötzlich an irgendeiner Stelle einen Riß be- 
käme, daß ein F:reiß^nis einträte, welches mit den vorhergehenden 
und gleichzeitigen schlechterdings nicht ursächlich verbunden 
ist — so wären wir gezwungen, theoretisch von einem 
Wunder zu sprechen. Ob dieses frei eintretende Ereignis für uns 
Menschen hohe Bedeutung hat oder völlig belanglos ist, gleich- 
viel: in dem Augenblick wire es ein Wunder, eine Negation 
aller wissenschaftlichen Welt-EikennbailKit, da es als prin- 
zipiell unverstindlich und uncildirhar (das hdßt ohne allen 
Zusammenhang, isoliert) zu gelten hätte, wenn also nicht nur 



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333 



der gegenwärtige Stand iiiumr Efkenntnis versagte, sondern 
wenn angenommen werden müßte, das eine Element falle aus 
dem geschlossenen Sysiem von Ursachen und Wirkungen^ als 
das sich die Welt für unsere wissenscJiaftliche Betrachtung dar- 
stellt, heraus. In dieser prinzipiellen Unvereinbarkeit eines ein- 
zelnen Geschehens mit dem allgemeinen, gesetzmäßig ver- 
schrankten Zusammenhang alles Geschehenden wäre der ob- 
jektive Begriff des Wunders festgelegt. 

Der Gedanke eines Wunders hat demnach die Annahme der 
unverbrüchlichen Gesetzmäfiigkdt in der Welt zur Vonnis* 
Setzung, denn das Wunder ist ja nichts anderes als eine Aus- 
nahme vom Natuijgeselz (oder allgemeiner mid unverbindlicher: 
vom allgenwinen Kansslynsammfnhang). Wo also das Bewußt- 
sein von der OesetzmäBigheit in der Wdt als wiasenschafUiche 
Orundvonuissetzung und ab lebendiges OefBhl noch nidit fest- 
steht, kann auch der Gedanke einer möglichen Ausnahme von 
diesem Zusammenhang nicht gefaßt werden. Der Negerstamm, 
dfösen Dorf überschwemmt wird, sucht, dem Bedürfnis der 
menschlichen und der höheren tierischen Natur folgend, eine 
Ursache für dit^ verderbliche treignis und findet die einfachste 
nach der Analogie des menschlichen Tuns darin, daß irgendein 
böser Geist beleidigt worden ist, der sich nun rächt. Diese Er- 
klärung ist der Negerwissenschaft durchaus nicht tU>ematurlich 
oder wunderbar; sie ist ihr vielmehr die angemessenste. Denn 
der böse Oeist ist so gut eine Potenz m der Welt wie der Wolken- 
bruch. Der unzivüisicrie oder wissenschaHlidi unerfahrene 
Mensch hat ja den Oedanken der immanenten Naturkausalität 
noch nicht kennen gelernt oder nicht erfaßt ^ er t>e$itzt nur den an* 
geborenen Fragefarieb, noch nicht die Methoden, ihn zu befrie- 
digen. Er kann also auch keüie Ausnahme von ehier Oeselz- 
mäßigkeit statuieren, die er nicht kennt. Für ihn gibt es kein 
natürliches und kein übernatürliches Geschehen, nur ein Gefühl, 



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daß jedes Ereignis durch iigend etwas vcnmadit sein müsse. 
Nach welcher Regd aber die Unachen aiifziisiidicn acKn, weiß 
er nicht, außer bei Vorgängen, die er selbst oder andere 

Menschen absichtlich bewirkt haben, oder die er nach der Ana- 
logie menschlichen Handelns deuten kann. Erst wenn das 
Denken die Einsicht in die strenge Gesetzmäßigkeit alles Ge- 
schehens erlangt hat, ist es überhaupt imstande, den Oedanken 
einer Ausnahme hienon zu bilden. Dieser Gedanke der Natur- 
kausahtät ist aber noch nicht sehr alt : Galilei und Kepler haben 
ihn konsequent auszubilden begonnen, Newton hat ihn für die 
mechanische Naturwissenschaft festgelegt und etat durch Kant 
ist er piiiizipieU aller ErEahnmgs-EiliemitDla zugrunde gdcgt 
woiden. 

Wissenschaft im strengen Sinn ist nitihls anderes als kon- 
sequente, bewußte und metfaodisdie Anwendung des Kausalitfils- 
Gedankens auf die vencfaiedenen Od>id)e des Seins» und erat mit 
dem Begriff des Natui^esetzes ist der Begriff dner Ausnahme 

davon, eines Wunders, möglich geworden. Die moderne 
Natur \v isscnsciiaft ist also die Voraus- 
setzung des Wunders. Das ist nicht im ^reringsten 
paradox. Denn obgleich mit dem Begriff der Naturgeset/.lich- 
keit der ( jcdanke einer Ausnahme vereinbar bleibt, so ist es doch 
das eigentliche hundament der modernen (gegenüber der antiken) 
Naturwissenschaft, daß eine solche Ausnahme nicht eintreten 
darf. Mit ihr wäre das wissenschaftliche Denken überhaupt ver- 
nichtet, denn es beruht eben auf der Zuverncfat, das alles Qe* 
schehen nach Oesetzen vor sich geht, die vom menschlichen 
Oeist eifafit werden kennen. 

Die allgemeine Natuigesetzlichkeit ist em Prinzip der 
Wissenschaft, der Vernunft fiberhaupt, nicht aber seeUsdie Rea* 
lititt hn ehizebien Menschen, und diese Idee wird fai den Indivi- 
duen sehr verschieden repräsentiert Dem Bauern gilt als seU)st- 



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335 



verständlich, daß aus dem Weizenkorn eine Ähre wächst, daß 
Katzen lebendige Junge gebären, Hühner Eier legen; erzählte 
ihm aber jemand, der Paradiesvogel wüchse auf Bäumen oder 
das Krokodil kröche aus dem Schlamm der afnkanischen Sümpfe 
her\'or, so wurde er das vermutlich nicht für abnorm halten; ja 
er ist ganz überzeugt, daß allerlei Ungeziefer durch Urzeugung 
entsteht, wo er doch nicht weit zu dem Schluß hätte, daß das 
Lebendige von Lebendigem abstammt Einer der berühmtesten 
Zoologen der Gegenwart hat lange an einen lebendigen Ur- 
sdüanim Cßathybius**) geglaubt — So haben die meisten 
Menschen nur gewisse Efaizdhdten des Natuizusanmenhanges 
wurldich in sich att^;enomDien und vfih^den deren Verletzung als 
Wunder cm^den. Das aQgeineine Pdnzip ist ihnen nichts 
unmittdbar Gewisses, auch wenn sie darfiber unterrichtet shid. 
Während also für die reife Erkenntnis ein Wunder nur be- 
stände, wo die Naturgesetzlichkeit wirklich durchbrochen und 
aufgehoben wäre, pflegt die Schwelle des Wunderbaren für das 
Fühlen des einzelnen nicht so tief zu liegen. 

Ähnlich wird auf allen vorwis.senschaftlichen Kulturstufen 
das allgemeüie Prinzip der Oesetzmäßigkeit durch Spezialfälle 
vertreten. Waaser in Wein zu verwandeln, mußte als Wunder 
angesehen weiden, denn nach den ältesten Erfahrungen stand 
fest, daß so etwas unmöglich win; Hier gilt also die Ausnahme 
von einer zufälligerweise bdournten Natumgel als Wunder; da- 
gegen werden ebenso unbegreifliche Vorginge^ bei denen aber 
das BewuBtsdn emes natOrlichen Zusammenhanges noch nicht 
so fest hn Gefühl sitzt wie bei Wasser und Wein hhigenommcn, 
ohne sonderliches Staunen zu erregen. Denn man ist nicht allzu 
sicher, auf welchen Gebieten der Natur eigentlich Kausalität 
herrscht; man besitzt ein paar zusammenhangslose Erfahrungen, 
die durch entgegenstehende ganz leicht umgeworfen oder richtig- 
gestellt werden können. Erst wenn man weiß, daß jede einzelne 



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Tatsache und somit die Wiasenadiafi als das in Oedanken abge- 
bildete System des WeUgeschcfaens nur duidi die Vonusselzung 
mOglidi und faiBbar wird, daß alles nach Regeln zusammen- 
hingt, erst dann bekommt die Idee einer solchen Amnahme die 
ganze sedische Wucht, das Pathos, das mit dem Eintreten eines 
Wunders verknüpft ist — sowohl seinem logischen Sinne nach 
(denn es ist ja die Aufhebung unserer Welt!), als auch gefühls- 
mäßig für den einzelnen. 

Dieses Bewußtsein von der schweren Bedeutung^ eines 
wirklichen Wunders mußte allen früheren Zeilen khlen und hat 
ihnen auch tatsachlich gefehlt Nur weil man das übersidit, 
pflegt man vergangene Jatiriiunderte, vor allem das Mittelalter, 
als abergläubisch und wundersucbtig zu bezeichnen. Das 
Mittelalter ist kaum abergläubisch gewesen; es bat nur nicht 
wissenschaftlich gedacht, sondern den ehigeborenen Kausaliiftts- 
trieb auf dem gangbarsten Wfg befriedigt, der der kirchUche>,« 
gewesen ist. Die Beidenpest bricht über Europa heieüi; zur 
Eridirung ehies solchen UngifidB ist aus der ganzen seelischen 
Disposition der Zeit heraus der Gedanke der natOrlichsle und 
einleuchtendste, daß die Sünden der Menschen von einem gött- 
lichen Strafgericht heimgesucfat werden sollen. Diese Antwort 
abergläubisch nennen, heißt, den iWenschen des vierzehnten 
Jahrhunderts vorwerfen, daß sie vom Pest-Bazillus nichts ge- 
wußt haben. Und so ist es bei allen wunderbaren Ereignissen, 
die von Heil igen beschichten und Chroniken, vermischt mit 
natürlichen Bet^^ebenheiten, berichtet werden. Nur wir fanden es 
wunderbar, daß der große Komet oder die Epilepsie (die „heilige 
Kranldieit" der Alten) religiöse Gründe haben solle, weil uns 
der erzeugende Begriff des Wunders, das Naturgesetz, bekannt 
ist Dem mittelalterlichen Menschen haben seine Ursachen nicht 
weniger eingeleuchtet als uns die Hyperbelkurve des Kometen 
und die elddrischen Theorien fiber ihn, die wir schließlich dem 



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337 



Astronomen glauben, weil sie mit unserer allgemeinen Über- 
zeugung von der Gesetzmäßigkeit im Weltali zusammenstimmen. 
Aber diese Harmonie von Einzellall und allgemeiner Oberzeu- 
^rung findet sich genau beim mittelalterlichen Menschen wieder. 
Ebenso hat das Weltbild der Griechen zum größeren Teil aus 
Deutungen bestanden, die nach unseren Vorstellungen wunder- 
bar sind; wdl man aber die Natuierdgnisse aus dem Willen 
menacfaenShnlicher Wesen abgeleitet hat, werden sie menschliche 
Handlungen und als solche eigentlich das Ventandlichsle^ was 
es gibt Dieser logisch wundeibaien, psychologisch aber höchst 
natfiilidien Denkweise fddt auch die religiOfrmetaphysische 
Tönung der christlichen Wunder, sie ist nichts als eine falsche 
Theorie. 

Ich möchte femer die Weltkarten des Mittelalters anführen, 
die beweisen, wie wenig das spezifische Gefühl des Wunderbaren 
(das uns später noch beschäftigen wird) im Spiel gewesen ist. 
Übereinstimmend mit antiken Vorstellungen finden sich neben 
den Namen der bekannten Lander das Land der Greifen, der 
hundsköpfigen Menschen, der Schattenfüßler (Skiapoden), der 
Magnetberg und anderes mehr. In der See leben Meerkönig, 
Meerbischof und Meertfiike. Die Naturgeschichte weiß von den 
Tieren Mitleleuiopas die wunderbarsten Dinge, ohne dafi jemand 
AnstoB daran nShme. Zweifellos hatten die Oelduten nicht <fie 
Absicht, Unglaublidies und Wunderbares zu berichten, es liegt 
ihnen viehnehr nur an Tatsachen. Alle diese Dinge unterscheiden 
sidi nicht wesenflicb von Erzählungen, die ihrer Tendenz nach 
wunderbar sein sollten, denn es hatte prinzipiell keine größere 
Schwierigkeit, daß die heilige Jungfrau für einen irommen Ritter 
im Tiu-nier siegt oder für eine lebenslustige Nonne Pförtner- 
dienste verrichtet, während sich die in der Welt herumtreibt, als 
daß im Lande des Sultans die Straßen mit Gold und Edelsteinen 
gepflastot sind. Der Begn& des Wmiders ist ja noch nicht mög- 

Luck«. CraitkOT 4«r Soolc. 22 



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338 



lieh, ein Wunder ist eüHach etwas Absonderliches und Nicht- 
Alitägliches, es fallt beinahe mit dem Morgfenländischen zu- 
sammen (wir sauren luxh heute „die Wunder des Orients", „die 
Wunder der Technik"), es ist das, was einem felilt und was man 
gern wissen und besitzen möchte. Ein Buch des berühmten Al- 
bertus Magnus heißt „De mirabilttMis mundi" und faßt das 
Wunderbare in diesem Sinn, von einem wiridichen Unterschied 
zwischen Natfirlichem und Obematurlicbeoi ist nicht die Rede. 

Abergtiiiibiscfa und wundersfichtig könnte man nit Recht 
nur den nennen» der sich den Gedanken der lückenlosen Oeselz- 
mäBigkdt angeeignet hat und trotzdem Ausnahmen für mfiglidi 
hUt und heilMiwfinacht Der Bauer und der unwissende Kleiiker 
sind es kaum; wenn ihnen auch ihre Zeit die Möglichkeit der 
wissenschaftlichen Erkenntnis an die Hand gibt, so machen sie 
doch keinen Gebrauch davon und wissen konsequenter Weise 
weder von Naturgesetz noch von Wunder. Ihnen sind manche 
Erklärungen natürlich, die uns wunderbar dünken, weshalb wir 
sie ablehnen. — 

Wenn wir aber fragen: Worauf beruht in letzter Linie diese 
unsere Oberzeugung, daß die Welt ein System von geordneten 
Zusammenhängen sei und als ein solches vom wissenschaftlichen 
Denken erfoßt und nachgezeichnet werden könne? — so mfissen 
wir die Antwort geben, daß sich diese erste Voraussetzung der 
Erkenntnis nicht mehr beweisen läßt, sondern einGlaubeist 
Wir glauben an die Erkennbaikeit der Welt und an die Gesetz- 
mäßigkeit im Universum und wir trelen an jedes Gebiet von In- 
halten mit der Erwartung heran, daß auch hier erkennbare und 
fonnulierbare Funktionalität zu finden sein werde. Dieser Glaube 
ist nicht mehr eivvas Theoretisches, er ist vielmehr ein 
Urerefühl der menschlichen Seele, das hier auf die Erkennt- 
nis angewendet wird, das die Erkenntnis möglich macht. 

Es ergibt sich also zuletzt, daß ein Glaube, nämlich der 



Digitizeo ^^OOgle 



an dk lückenlosf: Oesetzmäßigkeit alles Geschehen^ dnon 
anderen, dem an das m^igticfae Eingieden transzendenter 
Mfidife in den natuilichen WdtUutf, gcgieniiberstdit Und es 
kannte scheinen, als gSbe es kdne weitere Instenz, die zwisdien 
den beiden Wiltensrichiungen, dem Willen zum Gesetz und dem 
Willen zur Ausnahme, die Entscheidung treffen dürfte. Aber 
diese beiden Glauben haben eine verBchieden tiefe Fundierung 
und verschiedene Quellen in der Seele. Der Glaube an die Er- 
kennbarkeit der Welt ist nämlich das Urgefühl von der inneren 
sinnvolleu Bereclitigung des Denkens, die Selbstbehauptung des 
Menschen als ein^ Wesens, das denkend am objektiven Sein teil 
hat, sein Anspruch an die Vernunft. — Der Olaube an eine Aus- 
nahme vom Gesetz dagegen ist nicht Glaube im Sinn des Ur- 
gefühls, sondern Glaube im Sinn von Meinen und, wo er als 
Wunsch auftritt, Wille, das Ganze zugunsten von einzelnen, und 
zwar meistens zugunsten von subjektiven Zwecken zu vernichten. 
(Der Wille zur absoluten Gesetzlosigkeit ist mit dem mensch- 
lichen Denken, das wesentlich in Verallgemeinerungen abläuft, 
überhaupt nicht verträglich.) Auf pnddischem Gebiet ist der 
Wille, nach Normen (das heißt nadi als gültig anerkannten 
Sätzen) zu handeln, das Prinzip des Rechtes und des sitt- 
lichen Tuns; der Wille, von der rechtlichen und sittlichen Norm 
abzuweichen, eine Ausnahme zu statuieren, erweist sich folge- 
richtig als Prinzip des Verbrechens. (Die Psycho- 
log i e des Verbrechers ist im Abschnitt über das Dämonische 
ausführlich behandelt worden.) 

Der W undeisuclitit;e will nun im aligemeinen auf theore- 
tischem Gebiet dasselbe wie der Verbrecher auf praktischem. Er 
meint, daß auch das Naturgesetz einmal eine Ausnahme dulden 
werde, zu seinem eigenen Vorteil oder zugunsten irgendeiner 
Sache, etwa der Propagierung einer Religion, und verneint so 
die Erkenntnis ihrem Prinzip nach. — Das Gefühl, das dem the- 

22* 



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340 



oretischen Wtmdeiglauben entspricht, ist demnach der 
Zweifel. Denn der Glaube an die Ausnahme ist etwas Nega- 
tives und mit dem Zweifel an der allgemeinen Oeaetzmftßigkeit 
der Welt gleichbedoitend Nicht der OlSnbige vcriangt Wimder 
zu aehcn, sondern der Uiigttubige» der Zweiier» und er Ist 
bereif sich durch soldi ein Aigmnent zu einen Scheingkuben 
bekehren zu lassen, der aber natnigendfi nur eine tfaeontiadie 
Meinung sdn kann und jederzeit durch die entgegengesetzte zu 
verdrSngen ist Denn das Ist eben das Charakteristische des 
Zweifels als fundamentaler Gemütsstinunung : er versteht nicht, 
daß die theoretische Erkenntnis (die Wissensdiait) nicht auf sich 
selber ruhen kann, daß nicht ein lügisches Gebilde über dem 
anderen stehen kann, wie der indische Elefant, der die Welt 
trägt, auf der Schildkröte; sondern daß das ganze System eine 
Grundlage haben muß, die nicht wieder theoretisch ist. „Der 
Glaube ist kein \X''issen, sondern ein Entschluß des Willens, das 
Wissen gelten zu lassen," sagt Fichte.*) Der Zweifler, der sich 
als der nur-theoretische Mensch enthüllt — und bedeutende 
Forscher zahlen hierher — will auch noch diese Voraussetzung 
auf theoretischem Weg bestätigt sehen; ihm fehlt das Urgefühl 
der Gewißheit oder des Glaubens^ das Bewußtsein von der Ver- 
ankerung der Existenz, das sich durch gar kehie Art von 
Schlüssen ersetzen ttßi Diese KrafUosigkeit muß notwendig 
den Wahrheitsbegriff selbst zerstören (konkrete Seiende aus 
der Erkenntnistheorie der Gegenwart k(Huiten dies tielegen); sie 
eigibt den Skeptizismus ais Hauptstanun mit dem N<tei- 
schöBling des Aberglaubens. Beider Voraussetzung ist 
der Zweifel als der Mangel einer letzten Position, der Zweifel 
an der Erkenntnis, der das theoretische Verhalten seiner inneren 
Zuversicht beraubt, und endlich der Zweifel an sich selbst, an 



*> Die BMtimmung des Menschen S. 92. 



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341 



der Wirklichkeit der eigenen Existenz, an ihran Wollen» Fühlen 
und Tun. 

Dem theoretischen Skeptizismus mangelt der Glaube, daß 
die Wdt vom Geist duichdmigen und in ein geordnetes System 
von Oedanken aulgelöst werden kfinne — die Voraussetzung der 
Wlssensdiaft, die nidit nur eine R^gishratur sein will; er mehit 
vldmehr» daB die OesetzmiBigkeit nichts sei als die Verallgemeir 
nerung oft gemachter Beobachtungen, dafi die Natutgesetze nur 
den Sinn hätten, unter ehiem «hifachen Beispiel, ebiem gedank- 
lichen Modell viele Einzelfälle begreifen zu können, daß sie nur 
einen vorstellungsparenden, „ökonomischen" Wert hätten.*) 
Dem Skeptizismus ist F.rkenntnis nicht eine über das Praktische 
hinausgehende Aufgabe des Menschen, an die er glaubt, also 
nicht etwas an und für sich Wertvolles; sondern entweder ein an- 
gemessenes Mittel, sich in der Welt zu orientieren und die 
Natur zum Nutzen des Menschen zu beherrschen, oder ein freies 
Spiel, ein ästhetischer Luxus. Dem wissenschaftlichen Skeptiker 
fehlt der Glaube an die eine große Aufgabe der Mcnschhdtp die 
Eikenntnis heifi^ er leitet die unstiUbare Frqge nadi dem 
Warum? in fremde Gd>iefie fiber. 

So wenig wie der Skeptiker vermag der AberglSiibische die 
Efadieii der Welt famerlich anzueikemien; aber wissenschaRUcfa 
weniger erfahren als sein Geistesverwandter, nimmt er unbedenk- 
lich Ausnahmen an, deren Tragweite und ontologisches Pathos 
er nicht begreift. Beide glauben, Verallgemeinerungen aus der 
Erfahrung — die wolil auch einmal nicht zutreffen könnten — 
seine systematische trkenntnis. Sie werden sich immer auf dem 
höheren, „voraussetzungsloseren" Standpunkt dünken, denn sie 
halten die Gesetzmäßigkeit der Welt für ein unbewiesenes Vor- 
urteil, das jeden Augenblick durch eine neue Erfahrung wider- 

Vgl. die sehr klaren Aufstellungen bei Viktor Kraft, „Weltbesriff 
und Erkeoiitiiisbeirlflf*» 1912. 



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342 

legt werden konnte. Soweit sind sie auch im Recht: denn be- 
weisen, das heißt tnit tlieoretisiheri .Wittehi gewiß machen, läßt 
sich das Frin/.ip der üesetzmäßigkeit niemals, ist es doch die 
Voraussetzung aller Theorie und somit aller Erkenntnis. Der 
Gedanke, diese Idee durch eine Erfahrung zu widerlegten, ist 
aUerdings ebenso iinmöglicfa, weil Jede dnzeine Erfahrung 
wisaenschaftUdi nur als SooderfaU eines Allgemeinen vefsianden 
werden kann, weil wir eine isolierte Tatsache gar nicht erfassen 
könnten. Das menschliche Denken geht ja nicht anders als am 
Leitfaden von Ursachen und Wirkungen vor sich, es könnte 
einem Phänomen, das fan Leeren hingt, nur so gegenfibertrefeen 
wie allen anderen, nämlich mit dem Zwang, ihm seine Stelle hn 
Ganzen zu bestimmen. 

2 

Bisher haben wir das Wunder vorwiegend seinem objektiven 
Wesen nach untersucht und es hat sich uns als etwas Negatives 
erwiesen, als Verneinung der Gesetzmäßigkeit in der Welt, als 
Riß im Gewebe der Ursachen und Wirkungen, der, einmal ein- 
getreten, das ganze Netz unzuverlässig machen mfißte. Für das 
Gefühl aber hat das Wunder einen durchaus positiven Cha- 
rakter. In der Seele dessen, der es ghiubt, der es erhofft, ist es 
em Erlebnis von eigener, au^gezeicfaneter Art, von hohem Wert, 
und es ist durchaus nicht gldchgültig f&r ihn, an welcher Stdle 
sich der Riß auftut Ihm bedeutet das Wunder ein Etaigreifen 
fibematürlicher, gditlicher Mächte in den allzu mechanischen 
Naturablauf, einen Akt, der nur in entscheidenden Augenblicken 
aus einer höheren Absicht heraus erfolgt, dem schicksalhafte Be- 
deutung für den so Begnadeten und für die ganze Weli zukonmit. 
Wo der Glaube an ein solches Wunder besteht, ist er mit dem 
Glauben an eine personliche Vorsehung verbiiadeii, die dem ein- 
zelnen zuliebe das Gesetz der Welt aufhebt, die in wichtigen 
Augenblicken unmittelbare Kunde durch Wahrzeichen und Orakel 



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343 



sendet, um eineii schwankenden Entschluß zu bestiaifflen, um 
über dne Tat Beifall oder Mißbilligung auszusprechen. Alle die 
Uäncn abergläubischen Fragen des OgUchen Lebens gehören 
hierher: die Schwere und Verantwortlichkeit der Entscheidung 
wird auf etwas anderes abgewälzt und so erleichtert 

Das spezifische Gef fihl des Wunderbaren hat euien größeren 
Umfang als man glauben möchte. Fast jedes Erlebnis» das fiber* 
raschend und scheinbar unbegreiflich, wie mit Absicht und Be- 
deutung in den Alllag hineinbricht, kann das Gefühl wecken: das 
ist ein Wunder Jeder Rornaiihker und viele junpe Menschen, die 
ja meistens Roniantikcr sind, treten in ein neues Land, vor einen 
neuen Menschen mit der geheimen Hoffnunjy, das Unerhörte, 
das Wunderbare werde sich erfüllen. Der romantische Dichter, 
der nach der blauen Blume ausgeht, sucht das Wunder, das, was 
niemals geschieht Und erwacht in der durstigen Seele etwas 
OroBes und Neues» dann wird das Gefühl Idiendig, daß ein 
Wunder wahrhaftig geschehen sei. So kann die eiste Liebe eine 
FfiUe von Ertebniaaen entfalten, die bis dahin unbekannt ge- 
wesen sind (denn jedes uisprQngliche Gefühl muß im eigenen 
Herzen erfahren werden), und eine solche Revolution läßt oft 
noch andere mächtige OefOhlslagen aufküngen. Das religiöse 
Empfinden, das Verständnis für Naturschönheit wird erweckt, 
eines hebt das andere, über der ganzen Region schwebt der 
Hauch des Wunderbaren. Und er ist gerechttei tii^t: das Wunder- 
bare ist ja ein relativer Wert, es ist für jeden das, was über das 
Gewohnte ß:anz und ^ar hinauszugehen scheint 

Wir haben schon gesehen, wie dem mittelalterlichen Men- 
schen eine Menge ül>ematürUcher Ereignisse nicht dgentlich als 
Wunder, sondern nur als Merkwürdiglceiten, als Aventüren er- 
scheinen. Aber das Gefühl des Wunderbaren, das sich einzehiem 
gcgenfit>er nicht oder kaum merklich regt, ist fiber die ganze 
Welt wie ihr tieferer Sinn, ihre Bestimmung vor Gott ergossen. 



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344 



Das Wunderhaie und die religios-metaphysisclie WeUanscliau- 
ung sind so innii^ verwachsen, daß es im einzelnen kaum mehr 
bewußt werden kann. Irdisches und Überirdisches wirken ja 
beständige ineinander, kein Vernünftiger bezweifelt ihren Zu- 
sammenhan<T, er wird von allen Autoritäten anerkannt und 
findet taelich seine rkstatigung. Jedem emzelnen kann ein wun- 
derbares Schicksal aufgespart sein, und es ist die wichtigste 
Sorge des Menschen, sich in dieaem Gewebe von Unbegreiflich- 
keiten göttlicher Hilfe zu versichern. Heiligtäiiia', Amulette^ gie- 
weihte Waffen sind im Gebrauch.*) — 

Es ist wesentlich, wie das aUgememe Schema des Wundera, 
die Aufliebling des naiOiücfaen Geschehens» hontet eifuüt, von 
welcher Macht und m welchem Shm der Katurlaiif untotrochca 
whiL ^ Ehie übernatürliche Macht muß es auf jeden Fall sein; 
aber hier smd zwd MOglichkdten denkbar, oder genauer: die 
riitsdhafte Macht kann im Menschen ihm Sitz haben, das 
Wundeigeschehen wird zum Wundertun. 

Wenn aus dnem Jenseits her plötzlich und für immer un- 
erklärbar in die Welt hineingegriffen würde, wenn die Welt ein 
Wunder erlitte, so wäre das ein Vorgang", über den sich nictits 
weiter sagen iiei3e; unsere Erkenntnis, die aufs Gesetzhafte ge- 
gründet ist, wäre hierdurch ungültig geworden und vernichtet. 
Würde aber ein Wunder von einem Menschen absichtlich hervor- 
gebracht, so mußte es eher verständlich scheinen, da wir seinen 
Urheber kennen. Es ist nun immer der Glaube der Völker ge- 
wesen, daß solche Eingriffe eines Menschen in den Naturabiauf 
durch gottähnliche oder durch teuflische Kräfte erfolgen könnten. 
Unabhängigkeit von der Natur und Macht über sie ist ein alter 
Traum des Menschen, die moderne Technik hat ihn scheuibar 
etfullt; aber alle Technik steht inneihalb des Naturgesetzes, sie 

*) Ich habe dieses historische Stadium ausfühdich behandelt (Die 
drei Stufen der Erotik: Die Geburt Europas). 



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345 



ist von ihm abhängig und vefmag nidite gegen dasselbe. Sie 
ist ein Oberiisten imd ZAhoien der Natur idt den ihr abgebof^^ 
Mittehi, kein Aufheben» die Kxifte der Technik sind ja keine an- 
deren als die Kdtfle dar Nalnr. (Und doch hat auch der grofie 
Eiflnder nicht nur eine Verwandiachaft zum achöpferiadien 
Menschen, sondern auch zum verbrecherischen.) Ober dem wis- 
senschaftlich-technischen Ideal: die Kausalität der Natur nach 
menschlichen Zwecken zu lenken, steht aber das prinzipiellere: 
den funktionalen Beziehungen überhaupt enthoben zu sein, nicht 
mehr von Gesetzen abzuhängen, die dem Menschen innerlich 
fremd sind, sondern selber Abhänefi^keiten zu schaffen. TTralt ist 
der Glaube, da6 man durch einen Bund mit dem Teufel, dem 
Herrn der schwarzen Mqgie, dem Prinzip der Ausnahme, Gewalt 
öber die Natur erringen, oder anders gesagt: Ausnahmen vom 
natürlichen Geschehen zum eigenen Vorteil erlangen könne (wo- 
für das Heil der Seele, das heifit ihr Znsammenhang mit dem 
Guten und Göttlichen als Preis gezahlt wud). Der Wunderliier, 
der Zauberer, hat die Machte ObenatOilidies zu tun, er 
entspricht als der Vemichter des Natuigeaetzes dem Verbrecher, 
der Ausnahmen von der Menschensatzmig will, Ma^e und Ne- 
kromaritie sind die Mystik des Plebejers und des Verbrechers. — 
Als Jesus lange Zeit gehungert hatte, erschien ihm der Teufel 
und wollte ihn verleiten, durch seinen bloßen Willen Stenie in 
Brot zu wandeln, aber Jesus wies ihn zurück (wobei ange- 
nommen wird, daß diese Verwandlung in seiner Macht ge- 
standen hätte). 

Wie der Zauberer das Naturgesetz in böser Absicht ver- 
nichtet, so durchbricht und überwindet der weiBe Magier, der 
Heilige, die Natur durch göttliche Hilfe und nicht zum eigenen 
Nutzen, sondern zur Veriierriichung der fibematfiriicben, hhnnh 
lischen Macht Denn mit der Konzeption eines volllcommenen 
Menschen ist der Oedanke veitiunden, daß er vom Natuigeselz 



346 



unabhängig sei, daß die reine, uberiaenschliche Kraft seines 
Willens stärker sei als das natürliche Geschehen. Von jedem Re- 
ligionsstifter werden Wunder verlangt, ebensogut heute (in 
Amerika) wie einst. Denn wie er als Bringer und Verküoder des 
Göttlichen über der Natur stehen muß, wird ihm auch die Macht 
angemutet, die das Natuiigeaetz brechen kann. Dies ist nicht nur 
seine ftuBoe Legitunatioa vor dem Volke, sondern seine inneiste 
Essenz, der sichtbare Ausdruck des gewonnenen Sieges. Wie 
zum Begriffe des zivilisatorisch vollendeten Menschen dte Be- 
herrschung der Natur nach deren eigenen Gesetzen gehört, so ist 
dem Begriff ehies absohit vollkoaaienen Mensdien wesenflich, 
frei von der Natur zu sein. Ja er stellt gewissermaßen selbst 
schon eine Ausnahme von der menschlichen Ürgaaiiiaüon, ein 
Wunder dar. Maii kommt endlich dazu, schon seine Empfängnis 
und Geburt als Ereignisst^", die nach Naturregeln unbe^rreiilich 
sind^ anzusehen, so daß er gewissermaßen ab origine als ein 
Wunder erscheint. 

Auf den Willen zum Wunder ist z. B. das System Schopen- 
hauers gegründet. Die Erlösung der Welt erfolgt durch die Ver- 
nichtung der Weitsubstanz, des Willens zum Leben, ün einzelnen 
oder im Univeisum, und es ist konsequent, daß dieser unbegreif- 
liche Voigaog nur durch ein Wunder eintreten -kann, indem die 
natfiilichen Motive des Wollens als „Quietive" wirken (welcher 
Begriff mich allein schon em psychologisches Wunder dÜnkt). — 
Was Schopenhauer in philosophischem Radikalismus lehrt, das 
fordert das Volk von anem Heiligen als Bekräftigung^ seiner 
Lehre — ob er nämlich starker sei als die Natur, ob er sie durch 
ein Wunder aufzuheben vermöchte. 

Der Glaube an die ubernatürliche Kraft des HeilijEfen, der 
einem edlen Bedürfnis entspringt, ist oft genug ausgeartet Deiiri 
was die lebendige Kraft des Heiligen vollbracht haben soll, das 
wird bald auf seinen Leichnam und endlich auf jeden G^enstand 



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347 

übertragen, mit dem er in Berührung gekommen ist. So hat sich 
der Glaube an die Macht des reineii Menschen in Knochenan- 
betung gewandelt. 

Wenn wir uns nun in den seelischen Zustand dessen ver- 
senken, der reinen Heizens überzeugt ist» ein Wunder zu ver- 
mögen, so leuchtet vor allem ein, daß seine Absichten über 
jedes persönliche Interesse erhaben sein müssen. Er ist der gött- 
lichen Kralt, die ihn erfüllt und trägt, so gewiß, daß er c^nen 
zweifelnden Oedanken ^ar nicht mehr verstdien könnte. Er emp- 
hndet sich selbst nur als das Werkzeug, dessen sich die göttliche 
Macht zu ihren höheren, für Menschen vielleicht unbegreiflichen 
Absichten t)edient. Denn nur von solch einer Macht aus wäre 
das Naturgesetz wie nicht vorhanden. Was den anderen als 
Wunder gilt, ist für ihn keine Ausnahme mehr, also nicht et>A'as, 
was dem Gesetz der Welt feindselig gegenübersteht; vieknehr 
ein Gesetz höherer Art. In diesem Augenblick wäre das offen- 
kundigste Wunder kein Wunder, keine Ausnahme, son- 
dern selber Oesetz. Die Oesinnung ehws solchen Men- 
schen wSre also nicht negativ, der Ausnahme, dem Wunder ge- 
wogen, sondern positiv in einem höheren Smn (was allefdings 
von den üi die Natur versenkten Menschen unmöglich verstanden 
werden könnte). Dem Überzeugten Wundertäter müßte das an- 
dächtige Staunen, das seine Kräfte hervorrufen, ganz unver- 
ständlich sein, denn er fühlt sich mit jener überirdischen Macht 
so sehr eins, er ist in den Augenblicken, da er seine Kraft inne 
hat, so sehr aus der Natur herausgehoben, daß ihm sein Tun 
als das einziix Mögliche erscheint. Empfände er persönliche Be- 
friedigung über seine Kraft, so wäre sie auch schon entwertet 
— und in einem höheren Sinne dahin. 

Wir erinnern uns an die Analyse von Dostojewskis Groß- 
inquisitor.'^) In dieser Dichtung ist ausgesprochen, daß der 

*) & 132-139. 



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348 



vollendete Mensch niemals ein Wunder tun wird — auch wenn 
er es vennöchtel — weil diese Probe einen Zweifel an seiner 
Kraft bedeutete. Das Wunder woUen, hieße daher für ihn: Oott 
vOBUcfaen, an ihm zweifebi — seinen Olaubea verloren haben; 
und zugleich : das Seiende, die Natur zerstören. So zeigt sieb 
denn eine Oemdnsamkdt auch dessen^ der reinen Herzens ein 
Wunder tftte^ mit dem Böswilligen, alle Msgie wird als Snficfes 
yfftA und als geOhrUch erkannt md abgelehnt 

Die unbegrciilidie Kraft des vailkomnMnen Menschen kann 
in nichts anderem als in sehier Ficibeit benthen, sie kann nichts 
anderes wollen als die Oberwindung des tragisdien Zwies|Mltes 
zwischen Mensdienkraft und Natuigeachchen, wie sie als eme 
mögliche Lösung — wenigstens der Idee nach — aufgestdlt 
worden ist. Fichte hat den ungeheuren Gedanken ausge- 
sprochen, daß der Mensch die ganze Natur nach Forderungen 
der Freiheit umzugestalten habe, so daß sie nicht durch ein 
Wunder aufgehoben, in ein Nichts zerstäubt werde (wie Schopen- 
hauer will), sondern daß sie vom Menschen und im Menschen 
einen neuen Sinn empfange. 

Während der Abergläubische das Wunder m der Wdt er- 
strebt^ konzentriert sich die Sehnsucht, etwas anderes» meiir zu 
sein als Natur und Welt, immer entschiedener nach innen und ist 
endlich nur noch ein Zustand der Serie. Der Wille zumWun* 
der tritt als Wille zur Frei hei tnunmdir hl ehie letzte un- 
antastbare Position, die dnrcfa den ausgesprochenen Verzicht auf 
tbeoKtische Bcgrimdung ihres seelischen Wertes nicht mdir ver- 
lustig gehen kann. Der Wille zur Freiheit ist umnitldbare 
Wirklichkeit; er bleibt jeder wissenschamichen Evidenz 
vollkommen fremd und kann als ein Erlebnis einziger Art nie- 
mals in irgendeinen allgemeineren Zusammeahang eingeordnet 
werden. 



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n. ÜR- GEFÜHLE 



!. 

Was Gefühl sei, läßt sich nicht dehnieren, denn es ist 
eines jener Gnind-Phänoinene der Seele, die jeder erlebt und die 
nicht durch etwas anderes erklärt werden kOnnen. Das Gefühl ist 
etwas Passives, etwas das nicht vom eigenen Willen hervof- 
gebradit wird, sondern das man erleidet, hinnimmt; es ist die 
Gegenwirkung der Sede auf einen Eindruck, einen Gedanken, ein 
anderes OefQhl. 

Demgegenüber pflegt man das aktive f in^rreiftn, das Tun 
des Menschen Willen zu nennen. — Allein es gibt Verhal- 
tun^^sweisen der Seele, die weder ^mz leidrncl noch ganz tätig 
sind, die vielleicht mit dem Willen zusammenhängen, die aber 
eine noch engere Verwandtschaft zum Gefühl haben. Da em 
eigener Name für diese Zustände nicht existiert (man pflegt sie 
unter die Gefühle einzureihen) und .da sie mir etwas Letztes, 
nicht weiter Ziirückführbares im Seelenleben zu tiedeuten 
scheinen, will ich sie Ur-Gefühle nennen — wobei aber 
dieser Name nur das nicht vorhandene Bessere ersetzen soU. 

Jedes Gefühl verkündet dem Menschen ein unmittelbares 
Sein der Seele, es ist in sich selbst beschlossen und gewiß. Die 
Ur-Oefuhle Glaube und Liebe (mehr gibt es nicht) ver- 
künden über das unmittelbar Erlebte hinaus noch eine objektive 
Bedeutung des Erlebnisses. Glaube und Uebe unteracheiden sich 
dadurch von allen anderen Gefühlen, daß sie nicht nur eme Art 
sind zu fühlen, affiziert zu sein, sondern dafi sie auf einen Smn, 
auf ehi schlechthin Wertvolles weisen, daß sie es selbsttätig ans 
sich henuis verwirklichen. Es gibt für den Menschen keine 
andere unvermitldte Art» etwas Wertvolles, Sinnvolles zu setzen 
als die l)eiden: an dieses Etwas zu glauben oder es zu lieben. 



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(Etwas Wertvoiles erkennen, heißt immer zuerst, diese Lrkeunt- 
nis für gültig halten, aii sie glauben.) 

Daß der Mensch, das Lebeii, die Welt einen Sinn haben, läßt 
sich nicht theoretisch beweisen, sondern nur glaul>en oder un- 
mittelbar liebend bejahen.*) Glauben und lieben haben am Ge* 
fiihle teil, $ind aber auch etwas Aktives und so nüt dem Willen 
verwandt» denn sie schaffen selbsttätig, ohne jede firemde Hille 
das Oeordnetr, Sinnvolle, eineni Zweck Zugewandte aus dem 
Chaos. Der Glaube an einen Sum kann Glaube an die Wahifieü 
sein und stdii so nicht, wie man unmer wieder hört, in einem 
Gegensatz zum Wissen, er Ist vietanehr die Grundlage des 
Wissens, das als System Wissenschaft heißt und ohne diesen 
Glauben an die Wahrheit und an die Kraft der Erkenntnis nicht 
bestehen könnte. Das ist im vonoen Absclinitt ausführlich ge- 
zeigt worckii.**) — Wahrheit ist aber nur einer von den 
Zwecken, die sich der Mensch setzen kann; ebenso ruht es auf 
dem Glauben, daß alles Tun und praktische Handeln einen Sinn 
habe, daß der Mensch diesen Sinn als etwas Objektives anerkennt 
und sich ihm t>eugt. Denn eine andere Instanz, dem Leben einen 
Sinn zuzusprechen, gibt es nicht: man muß daran glauben. 
Goethe sagt in „Wahrheit und Dichtung**: „Der Glaube sei em 
großes Gefühl von Sicherfaeit für die Gegenwart und Zukunft 
und diese Sicherfaeit entspringe aus dem Zutrauen auf ein über- 
großes, übermächtiges und unerforschliches Wesen. Auf die Un- 
erscfaütterlichkeit dieses Zutrauens komme alles an/' 

Das Wertvolle kann g^laubt und kann geliebt werden, und 
die Liebe, die den Wert schafft, ist nicht nur Fühlen, sie hat viel- 
mehr eine geheimnisvolle aktive Kr<ift, sie bringt die Schönheit 
und die Kunst hervor, die durch niclus anderes lebendig gemacht 
werden könnte als durch die Liebe, die der Mensch dem üestal- 

^ Vgl. Im Abtdiiritt Über das Tracisdie S. 61 1 
S.33S-342. 



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351 



teten entgegenträgt. Das Wort und die Vorstellung „Liebe" ist 
unendlich reichhaltig und vieldeutig. Hier ist nur das Urgefühl 
gemeint, das die Schönheit der Natur, des Menschen, des Kosmos 
schafft. Die schöpferische Liebe trägt als Phantasie das 
noch nicht Vorhandene ins Licht des Daseins, sie macht das Tote 
zu einem Lebendigen, das Nichts zu einem Etwas. Absolute 
PJianlasie hätte nur der Mensch, der alle Inhalte aus sich heraus 
erzeugen könnte, der alle Anlagen des Menschen in sich zur 
höchsten Erfüllung gebracht hätte. Bd den anderen sind Phan- 
tasie und Liebe eingeschränkt. 

Die Kraft der Liebe, die fördernd, schöpferisch in einem 
Menschen lebt, auf emcn anderen Menschen hinleiien, geffihls- 
maBig ergießen, heißt, ihn segnen. Der S^gen ist die Ver- 
sicherung, daß die Liebe den Gesegneten begleitet, daß ihm ein 
Schatz übergeben ist, aus dem er immer schöpfen kann — so* 
lange er den Glauben an diese Liebe bewahrt. An die Kraft des 
Segens glauben, heißt, an die positive Kraft der Liebe glauben. 
Der Vater segnet sterbend sein Kind: er will es in einen Strom 
von Liebe hüllen (der durch körperliche Berührung symbolisiert 
wird), er will seine Liebe wie einen Zauber um sein Kind breiten, 
daß es für immer ^ebürgeii sei. — Der Fluch ist Haß, der 
hinter einein Menschen heri^eht und alles vernichten möchte, was 
er beginnt — wenn er sich dem Fluche Untertan weiß, wenn er 
an ihn glaubt. Beides wird allegorisch vorgestellt: ein Schutz- 
engel geht dem Gesegneten zur Seite, der Fluchtieladene wird von 
den Erinnyen verfolgt. 

So finden wir die beiden christlidien Kardinal-Tugenden 
Glauben und Liebe als Ur-Gefuhle wieder. IHeHoffnungist 
kein selbständiges Gefühl, sondern Glaube, der sich auf die Zu- 
kunft bezieht, Glaube an die Verwirklichung eines Wertvollen ia 
der Zukunft. An etwas glauben und es zugleich lieben, heißt ihm 
treu sefaL Wir ahnen, wie die Vorstellung „Gott* ' aus der Ver- 



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352 



dnigung der bdden Ur-Oeffihle auf dn höchstes Zid ent- 
standen ist — 

Der Mangel an ülaubeii ist nuiere Hinfälligkeit, ist der 
Zweifel an allem, an der Welt, an sich selber; der Mangel an 
Liel>e ist Lieblosigkeit, innere Leere, Nichts. Der Glaube und die 
Liebe — das heißt, die Anerkennung eines Wertvollen und die 
Hingabe an ein Wertvolles — sind allein die Grundlagen einer 
positiven und produktiven Weltanschauung; wo sie fehlen, 
herrscht Verzweiflung, Oldchgültigkeit, Pessimismus. Dagegen 
ist selbst die Oberzeugung, daß die Wdt sinnlos und schlecht 
sei, noch ein Glaube^ penmer, dimonischer Ohmb^ der mit 
Furcht und Haß zusammeogeht; aber nicht völlige Leere. — 

Z 

Erinnern wir uns wieder an das^ was anfangs über den 
produktiven Menschen gesagt wurde. Er ist der ewig Lebendige, 
der immer Werdende, der sich niemals ün Vorhandenen begnügt, 

der sich im Schatfen aufzehrt. Schaffen ist konzentriertestes 
Leben. Und dieser Drang nach schöpferischer Lel)endigkeit kann 
so sehr Mittelpunkt imd Selbstverständlichkeit werden, daß die 
Tatsache des einmaligen Erdenlebens, der von außen übernom- 
mene Gedanke, sterben zu müssen, ^anz vergeht. Der Tod wird 
nicht mehr vorgestellt, nicht mehr verstanden — man weiß und 
glaubt sich unsterblich. Wenn das Bewußtsein der Produktivität 
vom Ur-Gefühl des Glaubens durchströmt und getragen wird, 
so erstarkt das Bedflifnis nach Unsterblichkeit zur Oe- 
wiBhdtderUnsterblichkeii Es ist das GefQhl, voairaounen leben- 
dig zu sein, das Leben selber zu sein, und darf nicht verwediselt 
werden mit iigcndwdchen Dogmen. 

Ebenso wie das Bewußtsehi der Schdpiericraft steigern und 
vertiefen die Stunden der Liebe das Ld>en zu dem Bewußtsein, 
daß es unendlich und unerschöpflich — daß es unsterblich sei. 



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353 



In den „Drei Stufen der Erotik" habe ich mit allen Einzelheiten 
dargelegt, wie die Liebe über die Grenzen des Erdenlebens 
weisen und metaphyalBch werden kann. Die Ur-Gefuhle haben 
die Kraft, das Leben zu solcher Intensität zu entfalten, daB €8 
fiber ddi selber hinanswftcfast und Ewigkeit fordert und ver* 
borgt 

Anstatt altes Weiteren will ich drei Auasprfidie acliöpfe- 
risdier Ödster anfüliien: „Kdunie es denn nicht eine UnsM)- 
lidikelt sieben ffir diejenigen, die den höherai Teil ibres Wesens 
ausgebildet baben bis zur Oeistigkeit, indessen die anderen rohen 
Körper sterblich wiren?" (Orillparzer.) — „Wir wissen gar 
nicht, wie wir zu der Vorstellung kommen — ausgenommen 
durch die Rulle der Leiche und die Unbestimmtheit der Hoffnung 
— daß unsere Fortdauer, das heißt eine ganze Ewigkeit im Aus- 
ruhen bestehen werde, als ob unsere paar Jahre Tätigkeit ein 
großes brauchten, indes schon der Gedanke einer Ewigkeit un- 
endliche Tätigkeit verlangt und diese nicht die Unendlichkeit 
ausmißt. Wie soll eine kleinere Tätigkeit als hier, die nicht einmal 
die kleine Erde und kleine Lebenszeit ausforschte, die unend- 
lichen Schatze der Ewigkeit und Unermeßiichkeit (nicht der 
Welten, sondern der Wahrheiten) erBchöpfen? — Zuletzt müfite 
man ja von der unendlichen Ruhe ausruhen durch Tätigkeit — 
Alle diese engen Predigeransichten smd uns vom Orient durch 
den ch ri stlichen Umweg zugekommen, weil fan Morgenland alles 
Freuen im Ruhen und Anschauen und Anhören t>esiefat und ein 
Spaziergang ehie HöllenMrt ist Daher das Reden vom An- 
schauen Gottes, Sitzen, Singen usw. Wie, wenn man ganz keck 
gerade das schadsie Gegenteil annähme und Fortdauer in ewige 
Steigerung der Tätigkeit setzte?" (Jean Paul.) — „Mich läßt 
dieser Gedanke (an den Tod) in völliger Ruhe, denn idi habe die 
feste Üt>erzeugung, daß unser üeist ein Wesen ist ganz unzer- 
störbarer Natur i es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu 

Lielia» QnmiiM der St rtt . 23 



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354 



Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen 
Augen unterzugehen scheint, die aber eigentHch nie untergeht, 
sondern unaufhörlich fortleuchtet. — Die Überzeugung unserer 
Fortdauer entspringt mir aus dem Begriffe der Tätigkeit; denn 
wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur ver- 
pflichtet, mir eine andere Form des Dasdas anzuweiaeo» wean 
die jetzige meinen Oeist nicht mehr auszuhalten vennag." 
(Ooethe.) — In der letzten Szene des Faust hat sich diese Forde- 
rung dichtnadi erfüllt: dem Menschen, der alle «eine Kiflfle bis 
zum lelzien Augenblick iinennüdUdi beOtigt hat» ist das 
Schaffen so sehr Notwendigkeii und tiefisles Wesen, daB es sich 
nicht mehr an die Zdtlichkett gebunden fühlt — er erzwingt das 
Wunder: eine neue Wdt flffiiet sich über der irdischen und krönt 
ehi Menschenleben, das sich schöpferisch aufgezehrt und die For- 
derung nach Unsterblichkeit immer festgehalten hat. Seine 
Entelechie ist ujisterblicli, wie es Goethe verlangt. — 

Zu den ganz wenigen wichtigen Dingen, die sich beweisen 
lassen, gehört: daß ein individuelles Weiterleben nach dem Tode 
unmöghch ist Die Inhalte unseres Bewußtseins, vor allem das 
ganze Gedächtnis sind an das organische Leben des 1 iimes ge- 
bunden. Degenerieren gewisse Himtdle, so fällt das Gedächtnis 
an alles, was wir jemals erlebt haben, teilweise oder ganz 
sind die Tätigkeit der Sinne, das Vermögen zu urteilen, das 
mofalische und gatfaettschc Oefuhl verschwunden. £s ist lieute 
von einem grofien Teil des Seelenlebens ohne allen Zweifel nach- 
gewiesen, daB er am Nenrensysiem haflet Die Seele kann nur 
mit dem Körper zusaaunenldien, wenn sie auch nicht, wie die 
Materialisten sagen, seine Funktion ist Denkt man aber an Un- 
sterblichkeit, so meint man nicht eine allgemeine Fonn des Seden- 
haften, die bei allen Menschen gleich sein mag; was den einen 
vom anderen unterscheidet, was meine Seele als ,^in" charak- 
terisiert und macht, daß sie nicht mit anderen Seelen verwechselt 



. y i.u . l y Google 



as5 

werden kann, das sind ihre Inhalte, ist ihr ganz bfrtifimite» 
Fahlen, Denken, Wollen. Wenn wir uns prüfen, als was wir 
fortleben möchten, so finden wir nichts als gewisse Inhalte 
unseres Bewiifitwln% die unser innigstes Eigentum sind und an 
denen wir so sehr hingen wie an nichts andeicm. Sie sind es, 
die überldwn wollen, warn wir eine Unsteiblichlieit eihoffen 
(andere Inhalte wQrden wir vldldcht gern der Vergessenheit 
fibeftiefem). . Und nicht nur, daß diese geliebten Inhalte nach 
unserem Tod bestehen bleiben, sondern daß sie als die 
u ü s r 1 g e n weiterleben, darauf kommt es an, das und nur das 
heißt persönliche Unsterblichkeit. Wenn ich über den Tod hin- 
aus existieren will, so muß ich zumindest meine Seele wieder- 
erkennen — wie immer jene Welt sei. Wäre ich ein anderer ge- 
worden, ohne Eriiinerungf an mein Erdendasein, so hätte ich 
keine persönliche Unsterblichkeit empfangen. Nicht eine allge- 
meine Form des Seelischen wollen wir unsterblich, und auch 
nicht dnzelne zusammenhangslose Inhalte, sondern uns selbst mit 
dem Unsiigen. 

Aber diese Unsterblichkeit ist unmfiglich, weil alles^ was 
jemals in uns geldvt hat unsere Erinnerung — mit dem ster- 
benden Leib veigeht, weil wir keine Voistcllang melir von Ge- 
sehenem und Gehörtem haben können, wenn die Himpartien 
zerfallen sind, die unsere Smne getragen haben. Es Ist wahr: 
die Wissenschaft hSH noch ziemfidi weit von dem Ideal, das jeden 
seelischen Zustand an einen nervösen Komplex binden möchte. 
Aber welch kleines, welch ärmliches Genügen wiire es — Henri 
Bergsoii hat es kürzlich in einem reciit fadenscheinigen Aufsatz 
gelehrt! — sich daran zu klammern, daß die Wissenschaft noch 
nicht vollendet ist! Fs könnte ja immerhin seelische Regungen 
geben — die differenziertesten, die feinsten! — die unabhängig 
vom Gehirn bestehen, die nur seelisch sind ohne körperliches 
Kofielat, und die also — vielleicht! ~ den Körper zu überdauern 

23* 



356 



vermocJaten. Allein diese Annahme lebt nur van dem mangel- 
haften Zustande der gegenwärtigen Wissenschaft — daß wir 
namüch noch nicht allzuviel über die Abhän^gkeit des Seelischen 
vom Körperlichen sagen können. Kämen aber selbst unsere 
Kenntnisse über einen gewissen Punkt niemals hinaus^ wäre selbst 
eine Zuordnung älter seelischen Regungen za nervösen E]e> 
menten für immer unmöglich — selbst dann schiene mir diese 
ludbeddich«^ von der Wissenschaft erbettelte UnsterbUdilKit 
wertlos und sogar widersinnig. Hie und da gibt es ein paar 
aeeliscbe Nuancen, dte anzusagen in der Luft hingen — wie 
können die weiterbestehen? Doch nur als unpersönliche Be- 
wuBtaeinsrAtooie^ ohne hmercn Zusammenhang. Oder soll man 
sich denken, daß nach dem Tod alte diese gehimfreien Seefco^ 
endchen, die glücklich davongekommen sind — ein Stfick philo- 
sopliischen Gedankens, ein leiser Flötenton und dergleichen — 
zu einer neuen Einheit zusammentreten? Auf solche Weise ist 
nicht die Seele unsterblich, sondern sind Bewul^tseins-Elemente 
unsterblich. Entweder ich bin, was ich bin, oder ich bin 
nicht. — 

Eine persönliche Unsterblichkeit, ein materielles Uberleben 
der einzelnen Seete kann also nicht angenommen werden. Aber 
die Vorstellung von der unversehrten Fortdauer der Seele ist 
nichts ate eine plumpe Art, das Gefühl des ewig quellenden 
Lebens zu symbolisieren. Sie Ist ein Ausdruck des unmitteibaren 
Bewußtseins der Ewigkeit, das m den Augenblicken der Liebe 
und des Schaffens erfahren wird. Nicht ün Extensiven, in der 
Attsddmung über eine unendlich lange Zeit Ik^ dte Unsteiblicli- 
heit^ sondern Im Intensiven, hi der Vertiefung. Dte Projektion 
des UnsterbUchkeltopWUtens hi dte Zeit hüiaus tet deradbe (viel- 
leicht unvermeidliche) Prozeß, der Gott jenseits der Welt, ge- 
wissermaßen in den fernsten Raum versetzt denkt, anstatt der 
Seete unmittelbar ilir Teil am Göttlichen zu lassen. 



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357 



Die Unstefblichiceit, die so Iddenscbaftlich von schöpfe» 
riachen Geisieni gefoidert wifd — ich habe ja mir aub Oerale- 
wohl drei Zeugniflse angdgeben — ist gar nicht in jenem wort- 
wörittchen Sinn gemeint; nicht der Inhalt dieser Seelen begehrt 
nach Unsterblichkeit, so erhaben er sei, sondern die geheimnia- 
votte^ aus sich selber quellende Kraft des NeurWeidens, die nur 
hl wenigen lebendig ist, das was Ooethe Entdechie nennt Jeden 
Frühling regt sich ja aus der erstarrten Erde grünende Kraft (die 
län^i^st unterm Schnee erstorben schien) und breitet eine Glorie 
von Bluten über Wiese und Wald — aber kein einzig» Blatt, 
keine einzige Blüte ist schon einmal dagewesen, alles ist neu und 
doch von demselben yroßen Leben getragen. So kann die Ur- 
kraft, die in der schöpferischen Seele lebt, eine neue Welt herv or- 
bringen, die der alten nicht mehr zu denken braucht; denn ist 
auch alles zum erstenmal da, so ist es doch im tiefsten dasselbe. 
Solch euie Unsterbhchkett wird gefordert: eine persönliche Kraft, 
die aus sich selber neues, wieder persönhches Leben treibt, nicht 
eui Aufbewahren von Inhalten und auch nidit ein aDgemeinca 
naiuifaaftea Werden und Veigefaen. Ob dieser Wille ^Klildichkeit 
zu schaffen vermag — idi weiB es nicht nnd niemand wdß es. 
Und es ist unwiSbar für unmer, weil alle Erinnerung mit dem 
Leibe veigeht. Aha was Ooeflie trotzig als sein Redit fordert^ 
was Bach mit der ganzen Kraft seiner ehernen Seele glaubt, was 
Oiordano Bruno als ewig brennendes Leben verkündet — das 
ist, aller Wissenschaft zum Trotz, wahr in sich selbst. — 

Es bleibt die eigentliche Frage der Ontologie: wie tief die 
IndividuaUtät in den Weltgrund hinabreicht, ob eine letzte meta- 
physische Einheit besteht, oder ob die letzten Llemente des Seins 
individuell, monadenhaft zu denken sind. Ob Persönlichkeit 
ailem Einheitssehnen zum Trotz ab Höchstes anerkannt werden, 
oder ob die Einzelheit in einen Urschoß versinken soll — soll, 
nicht wird. Vielleicht ist auch zwischen beiden Wunsch- 



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358 



richtudgeii ein mittlerer Weg möglich, eine Versöhnung: die dn- 
maiige Kraft der PersönJichkeit wird als unverg^änglich Wert- 
volles bewahrt und aus allen diesen Kräften gebt eine neue Ein- 
heit hervor — ein Schlußakkord, der jeden einzebien Toa er- 
klingen lißt und doch in der Haimooie aller besteht 



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12. STUF£N DER GENIAUTAT 



Unsere Betrachtungen ruhen auf der Orundeinsicht, dafi 
im Menschen zweierlei zu finden ist: die Anlagen der Natur 
(die Mitgift des SchicfcsalB) und die innere Kraft der Persdn- 
ttchkrii Bd numcfacni Menschen änd diese Anlagen zu einem 
bcnondcfcn prodoldiven Talente gesleigeity das hdBt» er ver- 
miß aus dem allen gltich g^gdienen Malnial heraus etwas 
Neues zu gestalten. Wenn eüi Talent alles andere einseitig 
überwuchert, alle KrSfte in seinen Bann zwingt, so kommt ein 
solcher Mensch dem Typus des Schicksalsmenschen nahe, der 
ganz von seiner Natur getrieben wird; hingegen ergibt innere 
Kraft allein den heroischen iWenschen, der sich ent- 
weder im kleinen auswirkt oder Märtyrer einer von anderen 
produzierten Überzeugung werden kann. 

Damit es zum Genie komme, müssen beide Orund-Wesen- 
hdten des Menschlichen aufs Höchste entfaltet sein und eine 
glflcUiche Einheit hervotbiingen. Es gibt Talente ersten 
Ranges obne Genie (das heißt ohne statte PersönHcfalieii) und 
es gibt Persönlichkeiten höchster Art, denen ein besonderes 
Talent venagt ist Geniale Schöpfung unterscheidet sidi von 
der Produktion des grofien Talentes prinzipiell daduidiy daß 
hl ihr ein neuer und tiefer Wert zutage tritt Das Talent er- 
zeqgt im höchsten Fall ehi System von Oestaltungen als Künst- 
ler, ein System von Gedanken als Theoretiker, ein System von 
Wirklichkeiten als Techniker oder Organisator. So bewahrt 
sich z. B. das dichterische Talent an der Darstellung von Er- 
lebnissen und Schicksalen, die ihm letzter Zweck sind und in 
deren Verkörperung es aufgeht. Die Welt als etwas Ganzes, 
der Mensch als höhere Einheit tritt niemals in seinen Gesichts- 
kreis, es lebt in der Fülle der Erscheinungen. Flaubert, ein 
typisches Talent dieser Art, schildert den Zustand und das 



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360 



Olück seiner Produktion: ,,Es ist etwas ganz Berauschendes, 
zu schreiben, nicht mehr ich selber zu sein, sondern durch die 
ganze Schöpfunpr zu kreisen, die ich {gestalte Heute bin ich 
z. B. gleichzeitig Mann und Frau gewesen, Liebender und Ge- 
Uebte, ich bin an einem Herbstnachmittag unter gelben Blät- 
tern durch den Wald geritten, ich war Pferd, Blätter, Wind, 
die Worie^ die man gesprochen hat, und die rote Sonne usi" 
— Ebenso wie Flaubcrt sind Balzac, Dickens Meister 
der objektiven, anpcnOnlicfacn Dantettung» sie leben ganz in 
ihren Menschen und Gegenständen und vermögen jeden Rest 
zu tilgen, der etwa noch von der eigenen Stib|cktivilit anhatten 
kfinnte. In ihnen erscheint die höchste Au%abe des dichteri- 
schen Talentes verwirklicht: die Darstellung von Schick- 
salen, von Menscheillust und -leid. — Bei anderen findet sich 
tragisches Bewußtsein und persönliche Kraft, aber ohne die 
Intuition der menschlichen Fülle; dann wird immer wieder die 
selbe Tragödie, die Tragödie des eigenen subjektiven Menschen- 
tums produziert. — Das dichterische Genie muß alle (jaben 
des Talentes besitzen, aber darüber hinaus schafft es aus dem 
GiaoB der Menschlichkeiten eine höhere oiiganische Einheit 
(nidtt nur eine ästhetische Einheit), die als ein absolut Wert- 
volles in die Welt tritt. Boich einer Vision Uegt — nicht aus- 
gesptochen, aber mit höchster anachanlicher Wacht — em Wert- 
volles zngnmde, die Wdt empfingt ehie neue Bedentitqg. Das 
geniale Kunslweric läßt emen Sinn des Daseins ahnen, 
blo6e Darstellung des Seienden kommt dem Talente 
zu. Denn Shui und Wert sind Konelativ-BegriHe zu Penöo- 
Uchkdt und OeniaUtftt. Die Ffllle des Natuneins (der Anlage) 
wird von der Persönlichkeit dennafien durchdrungen, daß sie 
etwas Höheres und doch Organisches, Übernatur geworden 
ist — nicht etwa reiner Geist oder reine Form, sondern Natur 
mit einer neuen Tiefe und einem neuen Sinn. (Es versteht sich 



361 



von selber, daß diese Abgrenzung gegen das Talent nur sche- 
maiisch gandni ist) 

Das Oenie biigt höchsten aariillrhen Oehalt in einem Idxn- 
digsten Eigenleben, es sidlt nichts Spezifisches dar und kehie 
AbflonderUchlGeit, es ist viefanchr ein Maximum des Men- 
schen. Je entschiedener ein Individaum die Menschheit in 
sich verwirklicht, desto größer ist sehie OeniaUlftt. Diese 
allgemeine Definition gibt schon meine Oberzeugung: daß näm- 
lich der Betriff „Oenie" nicht nur an dem Gehrechen der Un- 
bestimmtheit leidet wie last alle Begriffe, die wir im Leben an- 
wenden, sondern daß er gar nicht näher definiert werden darf. 
Das Genie ist nicht wie der begabte Künstler oder der Schick- 
salsmensch oder der Philc»oph eine durch ihre Funktion (oder 
gar durch ihren Inhalt) charakterisierte Menschenart; es ist eme 
höhere Synthese aus Natur und Freiheit, es ist ein Superlativ, 
ein Ideal des Menschlichen, es ist der notwendige Mensch, an 
dem nichts ZuiälUges mehr haftet.**) Im Genie tritt uns eine 
glfiddiche Lösung der Menschhdls-Tiagik vor die Augen. 

Ich habe frOher gesagt***), daB es zwei höchste Möglich- 
keiten gibt, das Wertvolle verwiildicht zu denken: als Seele 

des Menschen und als objektiven platonischen Wert. (In Ras- 
kolnikow ist diese Antinomie zur prinzipiellsten Darstellung 
gebradit.) Der wahrhaft geniale Mensch steht nun jenseits 

*) B«i der Betrachtung DosKHewaUs tind «ir dem nissischen Hei* 
Ilgen begegnet, der alles EigenwilUge und SubfektiTe abgestreift hat und 

keinen Unterscliied mehr zwischen sich und den übrigen Menschen an* 
erkennt (S, 15Ö, 159). Auch ein solcher Typus will, obgleich einseitig 
ethisch (und aus einem entschieden slavischen Weltgefühl heraus), zur 
aUgemelnen MenschllcMnit vordringen. 

**) Diea ttfannt in der Tendern, wenn auch nidik Im IMialtt mit der 
Ansldit Wetnlngers Oberein. (VgU HCSescMecht und Charakter'* O.Tejl 
Kap- 4 und 8). 



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362 



dieses Zwiespaltes, weil sein Dasein das g^egenständlich Wert- 
volle in der Form der Persönlichkeit repräsentiert, oder anders: 
weil in ihm das Seelenhafte ganz zum Wertvollen gfeworden 
ist. Die scheinbar unausfüllbare Kluft: hie Seele des Menschen 
— hie objektive idee ist iibcTt^^ipfelt, 

Menschlichkeit im höchsten Sinn ist Produktivität; und so 
kann das Maximtiin des Menschlichen nur in unt)edingtef Pro- 
duktivität liegen; weil aber Produktivität das eigentiiche Wesen 
des Künstiere auamadity ist das wahre Oenie im groSen Künst- 
ler verwiillidit (was mit der Ansicht Kants zusammentnüt). 
W«nn man Produktivitftt richtig faBt: nimtich als Umwandliiog 
des Seienden in Wertvolles^ als Schöpfung des Ewigen aus dem 
Vergänglichen — so folgt, daß Genialität mit höchster Pro- 
duktivität identisch ist, dafi das Oenie ununterbrochen produk- 
tiv sein muß, denn sein Wesen ist Schöpfung, ihm wird „das 
Wort Tat**. — Das bestätigt uns die Erfahrung : Beethoven hat 
noch auf dem Sterbelager unendliche Krait geiuiilt, Goethe ist 
bis ins rajrliche Gespräch produktiv gewesen, Bach hat ein 
Werk iunteriassen, das auch seinem Umfang nach unbegreiflich 
scheint. Und dasselbe gilt von allen, die uns unmittelbar und 
ohne jede 1 heorie als „p^enial" gelten. Auf dieser Stufe ist das 
Leben nicht mehr Leben im trivialen Sinne, sondern Hinüber- 
führen des Bedingten ins Unbedingte, Wandlung des Seienden 
in Wertvolles. 

Und weil es im Wesen der Genialität liegt, aus dem Ge- 
gebenen ein Höheies zu gestalten, darum hat der geniale Menadi 
den Drang, die Wdt in ihrer Wirididikdt zu effaBaen, nicfat 
tnrambefangen an ihr vorüberziigehen. Die Dichter, die skh 
ümner abadta von der Wdt halten, shid Dichter zweiten 
Ranges. Der wahrhaft große Dichter mag noch so gern im 
romantischen Lande weilen, er hat doch das unabweisliche Be- 
dürfnis, die Wirklichkeit zu schauen und zu bilden. „Höcfaal 



. ijui..^ Ly Google 



363 



bcmefkmwcrt bleibt es immer, daß Menschen, deren Posdn- 
ficbkrit fast ganz Idee ist, steh so äußeret vor dem Phantaati* 
adien scheuen/* s^gt der grOfite Platooiker der neuen Zeit^ 
Goethe.*) — Wohl tritt auch an solche die Versuchung heran, 
ach vor der Welt zu verioiechcn (an den ganz wdtlidien 
Shakespeare im Hamlet, und an Ooethe oft genug); aber sie 
finden doch immer wieder zur Welt, zu dem ihnen gegebenen, 
aufgegebenen Material zurück. Sie haben ja als ihren Beruf 
erkannt, aus dem zußlHg Seienden das wahrhaft Seiende, das 
Wertvolle zu schaffen, und das ist dann nicht eine erträumte, 
sondern eine wahre und tiefe Welt, eine Schöpfung aus der 
Wirkliclikeit in die Ewigkeit. — Die „Welt" ist freilich nicht 
für jeden dasselbe: für Shakespeare sind es die Menschen in 
ihrer Mannigfaltigkeit, für Beethoven die Stürme der eigenen 
Seele, für Goethe die ganze Sphäre des Seins. — 

Ein Mjoimum des Menschlichen kann keine Abstufungen 
haben, denn es ist eben ein Maximum. Aber mit diesem Wort 
sollte nur m eine Richtung gewiesen sem; OenialitSt hat ver- 
schiedene Grade, die zugleich venchiedene seelische Forma- 
tionen darstellen. Von dem Talente, das hnmer zugrunde liegen 
mu0, soll nicht mit einem Wort gesprochen werden; man darf 
es bei den ErKhehiungen, die ich aufsidlen werde, als acfatecfa^ 
lim groß annehmen und ein Gran mehr oder weniger kommt 
nicht in Betracht. Nur nach dem ganz Wesentlichen, dem uni- 
versell Menschlichen, soll gefragt werden. Und die Stufenfolge 
ergibt sich nach allem, was bisher vom Menschen festgesetzt 
worden ist, von selber: die Genialität ist um so größer, je ent- 
schiedener das Subjektive ms Allgemein Menschliche erhoben 
ist, je weniger Zufälliges, „Pathologisches" eine Seele birgt, je 
mehr sich eine Persönlichkeit mit Objektivem, Wertvollem, er- 
füllt hat — um endlich in einen Bereich einzugehen, wo man 

*) JHaxbnm ond HelI«ioiien iV. 



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nicht mehr eigentlich von PersönlichlGeit, sondern nur noch von 
werterfülltem Sein sprechen kann. Ich will diese Retlie der 
GenMlittt an vier Künatleni: Dante» Siiakespeare, 
Goethe und Bach anacfaaitUdt madien; nicht etwa weQ ich 
glaubte, daß es gerade vier Stufen von Oenialität gibt» son- 
dern weil mir scheint, daß an diesen Minnem gewisse For- 
mationen eine für alle Ewigkeit gültige Gestalt gewonnen haben. 
Und ich werde nicht nach aOem fragen, was hi ihnen lebendig 
gewesen ist, sondern wiederum nur nach dem Typischen, nach 
dem, was sie über ihr Werk hinaus zu repräsentativen Erschei- 
nungen macht; sie stellen rein und vollendet dar, was in an- 
deren nur verworren und bruchstucltweise zu finden ist (ent- 
sprechend der im ersten Abschnitt begründeten Methode). 
Dante, Shakespeare, t ioethe, Bach werden als vier höchste Mög- 
lichkeiten, Mensch zu sein, erscheinen, Möglichkeiten, die für 
manchen andern bestehen, die aber kaum noch einmal so mäch- 
tig und klar zutage getreten sind, wie bei ihnen. Das Histo- 
rische soll nur illustrieren; noch mehr als em genialer Mensch 
zu seüi, ist es ja, in einem einmaUgen Erdenleben dnen ewigen 
Menachentypus zu. veilEörpem — nicht ein Geist zu sein, 
sondern eine unerschöpflidie Möglichkeit für allen 
Geist 

DANTE 

Dante steht als ein Einzelner im Mittelpunkt alles Seins, 

um ihn kreist die Welt, beladen mit iV\eiischeri-Schicksalen. 
Die eine Seele, vor der, ja für die sich das ewige Schauspiel 
vollzieht, ist höchste und letzte Wirklichkeit. Ihr Blick erst 
verleiht Leben, sie schafft Wesen und sie wertet sie zugleich. 
Die Eininali^T^-eit, die Subjektivität eines Menschen ist zu etwas 
Absolutem geworden, sie darf über alle Kreatur Out oder Böse 
spredien. Kaum noch einmal ist das Universum so aUerpersön- 



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365 



iichstes Lriebiiis dner Menschenseelc geworden, ein Kristal!, 
der um ein Icli wächst. Es gibt nur ein Zentrum, eine einzige 
wahrhaft seiende Instanz, vor die alles Geschaffene hintreten 
mufiy sein Urteil zu empfangen. Man vergegenwärtige sich 
diesen Aspekt: Mitten in der Welt steht eine Sede, Menschen, 
Engdn, Teuielii, Heiligen und endlich Gott gegenüber, und 
diese eine Seele weitet sich inuner michtiger aus^ sie ist nicht 
mehr die Seele eines einzdncn bestimmten Menschen, sie wild 
zum ArchitypuS) zur ewigen Idee der Mcnschenseele^ die ihren 
Weg durch die Welt sucht und, mit dem Gewicht der miiver- 
salen Verantwortung beschwert, der Ewigkeit ins Auge blidct 
Vor dieser absolut gestellten Aufgabe smd die veiachiedenen 
Menschen nur Verirrungen, Abweichungen von dem ehicn, dem 
wahren Menschen, Einpuppungen in Hüllen von verschiedener 
Dichte, diü auf den StuJen des Lebensweges liegen bleiben 
müssen. Denn nur der Mensch, der vollendete Mensch kann 
vor Gott bestehen, nicht die fehlerhaften Einzelnen. Sie alle 
sind, willig oder widerstrebend, liebend oder in wildem Haß 
der Ewigkeit gegenubergestelit, sie befinden sich auf dem Wege 
zu Gott, selbst in der Hölle. Diesen Weg ein für alle Mal 
exemplarisch beschreiten, das einzig Mögliche, das aber mit 
dem Notwendigen identisch ist, feststellen — das will Dante. 
Jeder Abwc^^ muß gebrandmarict und veidanmi werden; denn 
wer von der Idee des Absoluten gdMuint und von der Vision 
der Vollkommenheit gd>lendet ist, der darf kehie Naduicht 
kennen. Euie SubjektivitSt hat sich zum Absoluten auagewdtei 
Alle Menschen, die Dante in sein Gedicht aufnimmt ci^ 
Schemen in monumentaler Vereinfachung. Das Spiel und Wider- 
spiel der Triebe und Motive existiert kaum fm ihn; er sieht 
nur den innersten Wiflen, auf ihn kommt alles an, und der ist 
eindeutig, gut oder böse. La perduta gente — die hoffnungslos 
Veilüreaea, das steht über dem Tor der Hölle. Wer im Bösen 



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366 



^debt hat, büßt für alle Zdt Dante fdilt das Verständnis für 
die Komplexität und für die Unwägbarkeit der menschlichen 
Wünsche und Handlungen; wo es einmal auftaucht, empfinden 
wir es wie eme Ausnahme. So in der berühmten Episode Paolo 
und Francesca. Ein paar Verse zeigen uns die Schönheit der 
vertxtlenen Liebe; der Dichter wdnt, daß die baden zur Hölle 
vefdammt sind — aber er hat sie verdammen müssen, damit 
die ewige Qeieditiglcät» dem VeitOnder er ist, ecfOllt weide. 
Man eiinneie sidi dagegen an die Vertierriicluing der elie> 
biecheiisdien Liebe bei adncm deitlschcn Zeitgenossen Ootlfcied 
von StraBbittsr^ dessen ganzes Epos doch die zeiin Verae Dantes 
in ihrer feinen Scbönhdt nicht aufwiegt. An dieser Stelle sehen 
wir» wie schmerzhaft das Richteramt fflr Dante gewesen ist; 
es war ihm kdne sell>stgeredite Freude, Sünder leiden zu seilen, 
und sdne Tränen, die hier nicht zum dnzigen Mal vergossen 
werden, lehren uns etwas, das vielleicht zuerst in Verwunderung 
setzen mag: daß nänihch die ungeheure Subjektivität des daiUe- 
schen Weltbildes das eigentlich Persönliche des Dichters nicht 
viel weniL^er verschldert als cÜe l>enihmte Objektivität Shake- 
speares. Nichts Willkürhches ist in Dantes Werk, er beugt sich 
verehrend dem ewigen Gesetz der Welt, das er (an aristote- 
lisdien und scholastischen Vorbildern) selbst geschaffen hat, er 
setzt den ganzen theologischen Apparat ins Spid, um die Siel* 
lungen als gültig zu rechtfertigen, die den einzelnen Menschen 
zugewiesen sind. Immer wieder erläutert er — für unsere Be- 
griffe nicht sehr zwingend — warum es so sem müsse, er be- 
tont, daß sdne Dichtung nichts ist als die Darstellung des gött- 
lichen Werkes der Oerechti|^eit*) Es ist etwas über aUe Oe- 
danken Großes: den Wert jedes menscfafichen Individuums vor 
dem Forum der Ewigkdt dn für alle Male festzustellen, das 
Allergeheimste und -l'ersonlichste jedes Menschen zu erfassen 

*) Cht per eterna legge c stabilito 
Quantunque vedi. (Par. 32.) 



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367 



und zu verewigen. Aber Dantes großer Irrtum ist, daß er nictit 
die Vielheit innerhalb des einzelnen Menschen kennt, daß ihm 
die Menschen ins Ungeheure vergrößerte und vereinfachte Sta- 
tuen Sandy an denen ein einziger behemchender Charakterzug 
herausgemcißdt wurde. Dieser Standpunkt ist wiiUidi der des 
Wdteniichlen, vor dessen Auge nur der innerste Wesenskern 
bestellen, alle Vielheit aber hinschwinden nag. Man glaube 
nicht etwa, daß Dante das Oeffihl haM% zu erfinden, ehie Dich- 
tung, das heißt in unserem Shm ebie Fiktion zu sdudfim. Dsa 
Gegenteil ist der Fall: er hidt es für die höchste und einzige 
Pflicht seines Lebens, die Vision der ewigen Dinge, die ihm 
geworden war, für alle Zeiten festzuhalten. Die Überzeugung 
war unerschütterlich in ihm, daß er alles dies wirklich erschaut 
hatte, was er beschrieb. So heißt es (Inferno 16): „Der Mensch 
soll lieber schweigen als Wahrheiten erzählen, die unwahr 
klingen, weil er sich dann, wenn auch schuldlos, schämen müßte. 
Aber iiier kann ich nicht schweigen! Und wie sich die Verse 
meines Gedichtes langer Nachwirkung erfreuen mögen, so 
schwöre ich dur, Leser, daß ich jetzt dieses erschaut habe" usf. 
Wer Dante kennt, weiß, daß es für ihn keinen höheren Schwur 
gibt, daß ihm sem Gedicht das Heiligsie auf Erden ist. Und 
einnud schwört er (Paradiso 25) bei „meüiem heiligen Gedicht, 
an das Hmund und Erde ihre Hand angel^ haben und das 
mich durch viele Jahre elend gemacht hak** 

Weil Dante nichts sieht als das Ewige, weil ihm die Wdt 
nur in ihrem Verhältnis zu Gott Bedeutung erlangt und weil 
ihm bei jedem Menschen nur das Tiefste, Innerste würdig gilt, 
aiigc^cliaut zu werden, darum konnte er nur die eine, das All 
umspannende Dichtung schaffen, zu der die Vita nuova und die 
Gedichte Vorbereitungen sind. Durch Dantes Leben geht eine 
einzige niemals unterbrochene Linie, seine Welt-Konzeplion, 
seine Dichtung, sein Leben sind Eins. Dante hat nicht Kunst- 



3öö 

werke objektiviert und von sich getan, er fühlte sich vidmehr 
zti der Dichtung berufen, zu der einzigen, weil sie das defini- 
tive Bild der Welt selber ist. Wie ihm die Jugendgeliebte, die 
im Lauf d^ L.ebens mythisch verklärt worden ist, am Ende des 
Purgatorio (30. Gesang) entgegentritt, knüpft sie unmittelbar 
an das erste Erlebnis der Vita nuova an; es ist heute so lebendige 
wie vor vielen Jahren. Dante emp&ndet vor ilir sein ganzes 
gdfltiges und moralisches Lieben als eine Einheit, von der er 
nunmehr Rechenschaft ablegen muß, ehe er den Fluß Lethe über- 
achvdlet, das hdßt ehe er in die ewige Vefgessenlieit der bösen 
Talen dogefat An dieaer widitlgen Steile seilen wir vieUeidit 
am Idanten, wie sehr für Dante Wdt und Leben eine mone 
liacbe, in aeiner Seele znaammenh&igende und von seiner Dich- 
tung widergespiegelte Einheit sind, eine Einheit^ aus der nichts 
herauegenoounen weiden kann, die er öberblidct und veranft- 
woriet. Dies ist die gro8e dmtesdie Position, wir veraldien 
die ungeheure Wucht des von ihm repräsentierten psychozen- 
trischen Weltgefühls: der Weg der Seele durchs Leben v^ird 
als ununterbrochenes Ganzes, als ewiges Exempel und Symbol 
gefühlt. 

Eine Welt wie die Dantes muß notwendigenveise einen 
Anfang und ein Ende haben, sie ist ganz in sich geschlossen, 
jeder Mensch, jeder Heilige und jeder Engel bat seinen Ort, 
der itun zukommt. Zu dieser Art, Mensch zu sein, zu dieaer 
ungdieuien leidenschaftlichen Subjektivität geliört — wenn sie 
wahiltaR groß aein adl — ein System von jenseitigen Werten, 
auf die alles bezogen wird und in denen alles ruht. Die 06tt- 
liehe Komödte bedeutet dte definitive Vollendung des Icatholi» 
achcn und mittelalteriiclien WdtbUdes, das vom ronianisdien 
KuHnigeiat ausgeataltet worden ist und deaaen eigenate Gröfle 
darin liegt, daß es um die metaphysische Bescfaaflienheit der 
Welt bis in ihre letzten Tiefen wdß (und so auf einzige Art 



3(9 



dSe retigidae Sdmsudit des Menschen zu erftUkn, ihm eine Hei- 
niat in der Welt zu schenken vennag). Die ewige Ordnung ist 
da; wie sich das einzdne Individuum zu ihr stellt, wie es sein 
Hdl in ilir finden Itann — das wird nun zum Problem des 
Lebens. 

Dante weiß sich an jedem Tage seines Dastms mit seiner 
Dichtung eins, er hat niemals den Blick nach oben und den 
geraden Weg verltiren. Die Wogen seiner Leidenschait linden 
in der Seele einen 1 eisen, vor dem sie zurücktaumeln : es ist 
der uniTeheure Wille zur Vollendung und zur Einheit, der unmer 
Sieger bleibt und alles Elementare zwingt, ihm zu dienen. 
Nicht eine Leidenschaft wird von der anderen überwunden und 
aufgehoben, sondern alle werden von der inneren Einheit ge- 
bändigt Ich fulire wieder die bekannte Pado- Francesca- Epi- 
sode als em Betsfiiet an. Hier steht Dante auf dem Punkte^ 
die Gewalt fkber sich selbst zu verlieren und (shakespearisdi) 
in der Glut seiner Gestalten aukugelien. Er leidet mit den 
gequälten Lidienden und fUlt weinend zu Boden. Aber durch 
di«e Tränen hat er sich innerlich von ihnen gelöst. Sie smd 
ihm etwas Fremdes gewoiden, er hat die Partei Gottes gegen 
die Leidenschaft der Menschen ergriffen. Shakespeare hätte nicht 
geweint; er hätte die beiden nicht beurteilt und nicht in ein 
Weltsystem eing^eordnet, er wäre ganz in ihrem r]efühl aufge- 
gangen — und wäre so der größere Künstler gewesen. 

Wir verstehen diese Form der Genialität: die Welt wird 
einer Seele zum persönlichen Erlebms, alles, was geschieht, 
trifft sie unmittelbar, weckt ihr Freud und Leid, bewegt sie 
zu wildem Zorn. Diese Seele identifiziert sich nicht mit der 
Welt, sie steht allem Seienden als autonome Kraft gegenüber. 
— Das Bewußtsein Dantes^ Mittelpunkt zu sein, ist aber auch 
etwas von Grund aus anderes» als der Irnnstterische Subjektiv!»' 
mus und Impressionismus» der m zufiUligen, meist zusammen- 

Lack«. CSmiM d«r SmI». 24 



370 



hangslosen Gefühlen und Stimmungen aufgeht. Solche Künstier 
treten vor die Welt ohne jeden Ernst» nichts kOfflmert sie als 
die Emdrficke^ die sich gewinnen lassen» sie veigöttem die 
Willkür ihres ztdälligen Subjektes» darüber hüiaiis sind sie blhid. 
Die Welt als Eüihdt bleibt ihnen veischiossen. Im Gegensätze 
zu diesen ungenialen impnssioaisliadien Talenten» die dem Uni* 
versum nicht als Penönlidikdten gegenSberzutieten vermögen, 
sondern nur als passiv aufnehmende, mitschwuigende Saiten 
(weiblich im eigentlichen Sinn), hat der psych ozentrische Genius 
sein Ich aktiv über die gan/e Welt hin env^eitert, er durchdringt 
das Sein und drückt ihm den Stempel seiner wertenden Per- 
sönlichkeit auf Die dantesche Stellung zur Welt ist allein schon 
eine Lösung des Weltproblems, während die Stellung der Sub- 
jektivisten — soweit man hier von einer Steüunpf sprechen 
kann — für nichts Problematisches und für nichts Ganzes einen 
Ansatz bietet. 

Dantes Aufgabe ist ungeheuer groß, aber doch endlich: 
er will dte Tragik der Welt als eines einheitlichen Oiganismus 
fühlen lassen und den Skg der Menschheit verkünden. Seuie 
Lösung ist einmalig und endigüitigy aber auch dogpiatiscfa. Und 
Dogmatismus heiBt die Gefahr Dantes, der er nicht ent- 
gangen ist Wer sich im Besitze der ganzen» der «nen Wahr- 
heit weiß» der kann nicht anders als von ihr aus sein Utteil 
sprechen. Dante ist hart wie der mittelalterydie Katholiziamus 
und mehr als einmal verständnistos für die Größe anders ge- 
arteter Naturen; sie müssen ja im Irrtum sein, denn vor seinem 
limerii steht der wahre Mensch. Mohammed /.. B. ist ihm nichts 
als ein Zwietracht-Stifter; durch seine Lehre hat er die Men- 
schen cnt/weit und so muß er verdammt werden (Inferno 28). 
Vielleicht am allermeisten aber verletzt uns, daß die Helden und 
Weisen des Altertums m den Limbus der Hölle verwiesen sind, 
ohne Qualen allerdings» aber auch ohne Hoffnung auf Erlösung, 



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371 



ganz im Gdafe der mittdalterliclien Theologie» und ebenso die 
Kinder, die vor der Taufe starben. Dieser dogmatische Zug ist 
der Or56e Dantes unwürdig» hier ist er ein Scholastilier wie 
hundert andere. ErBtarrung, Undoldsamlieit, das ist seine Ge- 
fahr, die Gefahr des Priesters, des Hüters absoluter Wahrheiten. 
Er erliegt der Verlockung, als Künstler Urteile und Werte zu 
proklamieren, anstatt lebendige Wirklichkdt zu gestalten. An 
manchen Stellen seines Gedichtes haben die theoretischen Mei- 
nungen alles Quellende und Künstlerische überwältigt, der 
Dichter steht als Richter neben seinen Menschen und stellt ihnen 
Zensuren aus. (Wahrend wir den edlen Sinn Coriolans und 
die Ehrlichkeit Götzens fühlen, ohne daß. der Dichter etwas 
hienU)er sagen müßte.) 

Dem religiös-ethischen Genius erweckt die Kleinheit der 
Menschen, ihre Unangenessenfadt zu dem» was sie sein sollten, 
Trauer und Zorn, er sidit den Menschen nur im VeihUtaiis 
zur Ewigkeit und das ist ünmer ernst So Icommt es, dafi 
Dante lieine eigentliGhe Fniheft und lieinen Humor hat Eme 
einzige komische Stelle findet sich in seinem Wefk, nimlich bei 
der Schilderung der boshaften Tenid, die mit iliren Oabefai 
am Rande des Pechpfuhles hin und her laufen und aufpassen, 
daß sich die Sünder meht zu weit aus dem brodelnden Bade 
heben. 

Die Seele Dantes spiegelt sich in der Form seiner Dich- 
tung Außer dem Jugendgedicht la vita nuova, das die Ent- 
deckung seiner selbst in der Liebe bedeutet, hat er nur ein 
einziges Werk, das aber von absoluter künstlenscher Vollen- 
dung gesdiato. In der ganzen Göttlichen Komödie gibt es 
nicht einen mangelhaften Reim, nicht ein unzutreffendes Bild, 
die Harmonie der Sphären singt durch die Terzinen der Welten- 
dichtung. Neben dem Emleitungagesang besteht die Komödfe 
aus drei Teilen, einer den veriocenen Seelen, einer den auf- 

24* 



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372 



wachsenden, einer den voUeodet» geweiht Jeder Teil hat 
dreiunddreiBig Gesänge von annähernd gleichem Umfang. Die 
Hemchaft des formenden Oeistes über den Stoff wird ao sdion 
ganz SuBeriich sichtbar; aber dieses Bedürfnis nach fonnalem 
OleidunaB hat den Dichter mehr als etnnial ve ri c i tet , anschan- 
ungslose Theorien in Vene zu bringen. 

Die innersten Kräfte in Dantes Dichtung sind Liebe, 
Glaube und Inbrunst Damit einer Seele solch eine Dichtung 
wie die Göttliche Koniodie entsprießen könne, muß sie ganz 
in mysiischer Liebe er^dühen. Dante versetzt mit «j^enialer — 
man müßte sonst sagen: mit wahnsinniger — Kühnheit sein 
frühes Liebeseriebnis in das ewige Getriebe des Kosmos, er 
macht es zu einem Angelpunkt alles Seins; die Jugendgeliebte 
hat sich in ein himmlisches Symbol gewandelt, aber üi der 
Seele des Dichters ist die Liebe imver&ndert tmd unbezweilelt 
geblieben. Dante fühlt sich so sehr als Wettenzentrum, da6 
sein snbjektivcs Oefuhl euie prinzipielle Bedeutung hi der Ewig- 
keit haben muß. Weder vor noch nach Ihm ist die Uebe zu 
einer Frau so innig wie int Neuen Leben und so großartig wie 
in der OiJtflichcn Komödie besungen worden. Und die KomOdfe 
endet mit der ewigen Liebe zu Oott, che endlich alle einzehien 
Liebesregungen in sich aufgenommen und verzehrt bat — 

L'Amor che muove il sole e 1 aitre stdie. 

Das sind die ieuten Worte, analog der Schlußszene des faust: 

Die allmächtige Liebe, 
Die alles bildet, alles hegt. 

Hätte sich Goethe in keinem anderen wichtig«! Werk offenbart 
als im Faust (das die Göttliche Komödie auf einer höheren 



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373 



Stufe wiederholt)) so müßte maa üu als einea Geist ganz vom 
daateschen Typus ansehen. — 

Es gehört zu einein repräsentativen Menschen, daß sein 
Leben vcm innen heraus zu Ende kommt. Jeder Genius muß 
seinen eigenen Tod sterben und stirbt ihn auch, wenn das Leben 
ofjganisch beendet wird und nicht ein zufail^^er blhider Tod 
in semen Weg tritt Solch eüien notwendigen Tod hat das 
Leben Dantes aus sich heraus erschaffen und sich damit har- 
monisch vollendet Die Seele^ deren Leben ein einziger Weg 
zum Göttlichen gewesen ist, die alle anderen Zide veiftchtlicfa 
von sich gewiesen hat, gelangt an einen Punkt, wo das Leben 
von innen heraus aufgehoben wird. Sie hat endlich als be- 
bildere Seele keinen Sinn mehr, sie versinkt liebend in Gott 
Dies ist der einzige mögliche Lebensschluß der danteschen Art 
von Genialität und das Ende seiner Dichtung, das histonsch 
mit dem Ende seines Lebens zusammenfällt, hat ihn verwirk- 
licht. Er ist etwas durchaus Erhabenes, denn er vergegen- 
wärtigt uns ein Ende, das sich dn genialer Mensch aus sich 
selber gesetzt bat, das nicht als etwas Fremdes kommt, das 
eigentlich gar kein Tod ist, sondern ein oiganisches Zu-Ende- 
gdebt-haben. Fast alle Sterbüchen werden vom Tode, meistens 
wideiwilUg, sdten zustimmend, fibeifallen, ihr Leben ist iricht 
ehi Weg mit einem Ziel, sondern ein automatisches Weiter 
gehen, das an ehier Stelle^ und im Grunde gldchgOltig an wel- 
cher, gewaltsam abgebrochen wird. Es macht dabd kernen 
Unterschied, weon der Sdbshnörder dies mit eigener Hand be- 
sorgt Der Tod ist ihnen Schidcsal und nicht Freiheit. Der 
Genius aber muß sein Leben wirklich vollenden, oder mit an- 
deren Worten: er muß auch zum Tode ein definitives Verhält- 
nis gewinnen, niclit nur zum Leben. Denn beide sind mit der 
Art seiner Genialität unlösbar verknüpit, im Gesamtbilde seiner 
Existenz kann der Tod nicht anders gedacht werden. Der 



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Absdilufi voo Dantes Leben ist solch ein wiikMcfaes Ende, das 
Lebensende für den genialen psychozentiisdien Menschen: Auf- 
lösung des individuellen Lebens ins All-Leben, Einkehr tn die 

Ewigkeit, Einheit mit Gott. ~ Erinnern wir uns dagegen, wie 
Beethoven gestorben ist: trotziu: und mit dem Gefühl, nicht 
fertig zu sein, ohne Ruhe und Versöhnung. 

SHAKESPEARE 

Ist Dante der eine große Mensch, so repräsentiert Shake- 
speare die Fülle der Menschheit. Seine Seele hat sich in die 
Welt hinein aufgelöst und sich selbst vergessen. Er wechselt 
sein Herz mit jedem seiner Geschöpfe, er ist zugleich König 
lind Königsmöider, Arid und Caliban, er besitzt die Weisheit 
Pxosperos und die gallige Scbmihwut des Teisites^ die hin- 
gebende Liebe Julias und die Verzweiflung Macbeflis; und es ist 
nicfais als eine fixe Idee deutscher AsthetOcer, daß im Hamlet 
melir vom Dichter stedm aolle als im Fabtaff. Jeder dieser 
Menschen fährt seine besondere Komödie auf, die von keinem 
Zuschauer gesehen, von keinem Richter beurteilt wird, die Welt 
spielt sich selbst. 

Siiakespcarc ist in allem der vollkommene Gegensatz Dantes 
und nicht nur der größere Dichter (was uns hier nicht be- 
schäftigt), sondern der Repräsentant einer anderen Art, Mensch 
zu sein. Seine Welt hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist 
unbegrenzten Wachstums fähig, weil sie alle Menschen ein- 
schließt. Jedes neue £>rama ist eme neue Welt und m keiner 
besteht eine Erinnerung- an die früheren Welten. Sliakespeare 
könnte noch zwanzig Dramen geschhet>en haben und es hätte 
sich nicht zu einem Ganzen gerundet, denn sein Kosmos ist 
prinzipiell unvollen dbar. Gegenuber der ehernen statuenhaften 
Einfachheit der danteschen Menschen weiden die Menschen 
Shakespeares um ao komplizierter und um so reicher mit aee* 



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lischer Wirldicfakdt auagestaMet, je länger er diditet (bis zur 

Umkehr der Märchendramen). Dante will sich gar nicht in 
die einzelne Seele versenken, denn er weiß: der Weg des Men- 
schen ist einer und wer von ihm abwecht, muß ein Unglück- 
licher sein (xler ein Sünder. Shakespeare aber ist vollkommen 
dogmenios und vollkommen duldsam, er lebt gleich stark mit 
dem Outen wie mit dem Bösen und er g'eht so sehr in den 
dnzdnen Menschen auf, daß er eme Emheit über ihnen nicht 
besitzt ihm fehlt der Wille zu einem Absoluten. Er hat sich 
nach allen Ricbtungen in einen unbegrenzten Raum hinein er- 
gossen, er reicht in alle Menschenseelen und lebt in ihnen. 
Seine Au^abe ist: das Schicksal und die Tragik vieler Men- 
sehen, alter- Menschen zu (fichten — und diese Aulgabe ist 
prinzipiell unvoltendbar. Denn dte Menscbhelt entbehrt für 
Shakeqieare den einigenden Charakter einer Idee^ sie Ist in dte 
unübersehbare Fdlfe der Menschen zerspalten und auljgddst 
Dun ist nicht (wie Dante) dte Weit als ein metaphysisches 
Ganzes der Vorwurf, an dem sich der tragische Prozeß voll- 
zieht, sondern unendlich proß wie die Zahl der entschiedenen 
menschlichen Individualitäten ist nun die Möglichkeit ihrer 
Tragik (geworden Die i ragik der großen Ein /einen greift uns 
heifkT ans Herz, denn wir sind wie sie (Ist es doch fast zu 
viel, die Tragik der ganzen Welt in einem einzigen Bild zu 
erschauen.) Aber die befreiende Kraft solch einer Tragödie 
kann niemals en(%ältig sein: ein Held ist zerstör!^ ein neuer, 
anders gearteter erhebt sich und bringt sein neues Schicksal 
und seine neue Tragik heran. Dante hat dte Welt und alte 
Menschen in sein Ich hineingezogen und ertebt nun ihre Tra- 
gödie als ein Ganzes. Shakespeare hat sein Ich an alle Men- 
schen hingegeben; da muß es ohne UnleriaB vernichtet werden 
und wieder aufgebaut 

Ich glaube^ eine Natur wie die Shakespeares muß etwa in 



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376 

dieser Wtiae voigesiellt werden: Znent lnm<$gt dch das Talent 
an, Menschen und ihre Schicksale in der Phantasie lebendQg 
werden zu lassen. Der anseborane Bildungstrieb des KfinsUen 
erspretft den ersten besten Stoff — man kann sagen, den sdüccfa* 

testen. Der erste Teil von Heinrich VI. ist nichts als eine wirre 

Folge von meist äußerlichen Geschehnissen, der innere Zu- 
sammenhang fehlt, ist ein dialogisiertes Epos. In dem zweiten 
ganz rohen und biutrüiistigen Stück „Titus Andronicus", von 
dessen Autorschaft man den Dichter am liebsten frei sprechen 
möchte, zeiu^t sich zuerst der Sum für das theatralisch Wirk- 
same. So tappt das angeborene Talent unsicher hin und her, 
denn die große Persönlichkeit ist noch nicht ausgereift, die mit 
den natfifücben Gaben überlegen und zweckvoll hätte schalten 
können. Sogar bei dem größten aller Dichter hat es jahrelang 
gedauert, ehe die mganiateiende Kraft Henin tiber den Stoff 
geworden ist 

Früh verBlrickt sich diese Natur in eine wilde Leidenschaft, 
die ihre ganze Existenz aufzuzehren droht — und mstuiktiv 
ruft sie das Talent um Rettung an. In den bereit liegenden Stoff 
wird ein Funke geschleudert, der Brand flammt auf, die erste 
Tragödie entsieht — etwa Romeo und JuUa. (Ich imaginiere 
einen Menschen und erzähle keine Biographie.) Aber diese Ent- 
laduiiiT, die eine Zersplitterung in Menschen ist, führt nicht zur 
Ruhe, zum seelischen Gleichgewicht Der Venuclitung durch 
die eine Leidenschaft ist die Natur entg^an^en — denn jede 
LeidenschMt will den ganzen Menschen unte^](xhe^l und in sich 
einsaugen — aber schon bemächtiget sicii ihrer etwas Neues. 
Das Pendel der Seele kommt nicht zur Ruhe, sondern wird in 
eine andere Richtung gerissen, die wiederum alle Möglichkeiten 
der Zerstörung in sich birgt (etwa Ehrgeiz oder Eifersucht oder 
das Leid über den ewigen Sieg der MittehnftBigkeit). Wie der 
Flammenkegd aus dem Krater, so steigt eine neue Tragödie aus 



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377 



der Seele auf — die apolUiuBche Kläniiig ist abemiate nicht ein- 
geireften. Und jeder neue Brand fianunt noch wilder als der 

vorherige, wd! er sich auch noch an der verglimmenden Asche 
nährt. Die Natur lebt bereits in gleichgewichtslosem Taumel, 
sie kann sich vor einem Brand nicht anders als in einen neuen 
retten. Die ganz besondere Art eines shaltesptiareschen Talentes 
besteht eben in der fortwährenden Auflösung der eigenen Seele 
und nicht in ihrer Erlösung zum Frieden. Nach manchem Un- 
gewitter aber gibt es ganz entpersönlichte klare Sommertage, 
ein lächelndes Hinabschauen auf das Treiben der Menschen, 
ein Spid zur Lust mit ibren allzu wichtig genommenen iQein- 
Uchkdten. 

Bd emer Kraft der Phantasie wie der shakeapeareadicn 
werden natürlich vide der Lddenachafien und Ldden» die sich 
in den Tragödien entfalten, in emer fremden Sede zuerst er- 
griffen und aus ihr heraus erobert wenden sein. Die Oabe der 
seelischen Einfühlung ist un höchsten Maße da, aber de hat 
nur Oegensünde herbdzuschaffen. Der Vorwurf, an dem sich 
der Dichter entflammt, muß nicht persönlich erlebt werden, er 
kann von einem fremden Menschen oder aus der Phantasie 
stammen. Aber der zeugende Brand muß in der eigenen Seele 
stattfinden, damit aus dem rohen Stoff der Phönix des Kunst- 
werkes geboren werde. Eine prinzipielle Scheidun^r zwischen 
eigener und fremder Seele läßt sich bei einem Oeiste von der 
Art Shakespeares überhaupt nicht machen. 

Die Meinung, solche Tragödien könnten durch ruhige Be- 
obachtung, durch objektives Hinemversenken in fremde Men* 
sehen entstehen, ist ganz abzuweisen. Auch Könstler dieser 
Art gibt es, de gehören dem niedrigeren Typus des Epikers 
an, der dadurch charakterisiert ist, daß er, sdbst unbetdligt, 
Oeschantes • Menschliches und Sachliches — formt. (Sdbst- 
veiatandlich gilt mir ds Epiker nicht der Mann, der Epen oder 



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378 



Romane sdiRibi, soncfem der diese kfihle^ apeafiadi-eplache 
SieUitng zur Welt besitzt und der ab Ic^lliicer gm Ueine Ver^ 
idltnlsse ohne innere Zerapaltmheit schildert) Nebenbei will 
ich bemeitoi, daß die beiden so wenig gekannten Jugendepen 

Shakespeares, „Venus und Adoni»** und „Lucrezia'^ tragische 
Dichtungen in der änfacheren erztiilenden Fonn sind. 

Eine solche Shakespearc-Natur trägt das Bewußtsein ihrer 
Unerlösbarlteit in sich, das Bewußtsein, daß sie dichtend und 
beseelend, also in ihrem eigensten Elemente, niemals Ruhe 
finden kann (ein anderer Ausweg wird spater klar weiden). 
Sie muß sich üi dlmooisch^elbstzentöieriacher Lust ewig ver* 
brennen und neu gebiren. Goethe hat diese gcflUuttche Lust 
gekannt und um seines inneren Glcichgewichis wiUen geNhxUet 
und gemieden. *) In diesem Zustand, der nie ein Ende nhnmt, 
wild das eigene Innere nicht mclir als eigen gefohlt, es lebt nur 
hl vielfach wecfasdnder Zentflckdung. Die fertigen Tragödien 
aber werden mißachtet und veigessen. Shakespeare ist sicher- 
lich nicht imstande gewesen, den Inhalt seiner Dramen zu er- 
zählen, und er hat sich bekanntlich auch um ihre Drucklegung 
nicht gekümiuen. Der Grund, der hierfür angegeben wird, daß 
nämlich die Konkurrenz des Buclies seinem Theater geschadet 
hätte, schemt mir doch ein wenig kläglich. Nein — Shake- 
speare hat seine fertigen Dramen gehaßt und wollte mein mehr 
an sie erinnert sein, denn sie waren ihm nichts als Zeugnisse 
vergangener Qualen. 

*) Jch kenne mich zwar selbst nicht genug um zu wissen, ob ich 
eine wahre Tragödie sclirelben litonte; Ich ersdwecke aber MoS vor 6m 

Unternehmen und bin beinahe uberzeugt, dafi ich mich durch den bloSen 
Versuch zerstören könnte." (Brief an Schiller vom De/emher 1797). — 
Schiller erwidert darauf etwas sehr Wahres: „Vielleicht sind Sie gerade 
nur deswegen weniger zum Iragödiendichten geneigt, weil Sie so ganz 
zum Dichter fai seiner generisdien Bedeutung erschallen sind.*' — tt bitte 
d a zus e tzen lUhuien: Und weii Sie zu wenig Bdses haben. 



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379 



Die Gefahr eines solchen Mensch entumes ist: Zusammen- 
hang und Mittelpunkt zu verlieren, sich ins Chaos aufzulösen. 
Shakespeare versinkt so sehr ins einzelne, daß ihm manchmal 
aller Oberblick, alle Beherrschung seiner Welt verloren gdit» 
Wichtiges wird nicht mehr von Nebena&chlichem geschieden, 
er gerat an die Grmxt, wo der Oigantsaitis aufhört und das 
Chaos beginnt Die verwincnde Fülle des Lebens wiid nahezu 
erreidit; aber die Einheit des Kunstwerkes ist in Frage gestellt^ 
es droht, der Unkunst» dem Naturalismus» auf ethischem Ge- 
biete der ShuiloKgkeit, dem Nihilismus» endlidi dem Wahnsinn 
zu verfallen. Der Bück ffin Wesendiche trfibt sich und gerade 
er ist es, der den Genius auszeichnet. In „König Lear** und 
in „Antonius und Kleopatra" vor allem wird diese Gefahr deut- 
üch — AuHosung in Elemente, Anarchie der Atome, deren 
jedes nur noch auf eig^e Faust wuchern will, ohne das Ganze 
zu respektieren. Diese Gefahr bedeutet aber, daß das unge- 
heure Talent über die Persönlichkeit hinauswachse, daß die Ein- 
heit von der Fülle des Stoffes zersprengt werde. (Überall die 
vollendete GegensätzUclikeit zu Dante.) — Und dasselbe zeigt 
sich bei der äußeren Fonn seiner Dramen: durch eine Reihe 
von Szenen jagen Menschen» manche von ihnen ohne eigentlich 
künsderischen Zweck, nur vom unerschöpflichen sedischen 
Reichtum, von der nie zu ennfldenden Oestaltungslust er- 
schaffen. „Den betrunkenen Barbaren" duifie diesen Genius ein 
gebildeter Franzose nicht ohne eine gewisse Berechtigung nen- 
nen. — Aber Shakespeare ist doch hnmer Henr fiber seine Ver- 
suchung geblieben. 

Ich gehe auf nichts einzehies ehi und will nur episodisch 
anfahren, wie Dante und Shakespeare die Gestalt des Dich- 
ters werten. Fflr Dante ist der Dichter Wdtendenker im 
höchsten Süm, Selige und Unselige beten vor ihn, erzählen ver- 
trauensvoll, wie sie geMit haben, und bitten ihn, ihren Namen 



380 



zu überliefern. Und wie seinen Beruf in sich selbst, so ver- 
ehrt Daiue zuhöchst die großen Dichter des Altertumes (In- 
ferno 4). Vergii und Statius, die inis drxh heute keinen allzu 
starken Eindruck machen, führen iliii belehrend durch die Reiche 
der Welt. — Wenn bei Shakespeare ein Dichter auftritt, so ist 
es unfehlbar ein Reimeschmied und schmarotzender Literat, ein 
lächerlicher Kerl (in Julius Cäsar und in Timon. — Auch Glea- 
dower, der wichtigtuerische Prophet, wäre hier anzuführen). — 
Man kann sagen, daß beide recht haben; denn sowohl den 
Mann, in dessen Kopf sich die Welt spiiigdt» ab auch den Ver- 
fertiger iiesieilter Jubd-Poeme pBcgt man ja Dichter zu nennen. 
Aber wie diarakteristisdi fOr beide: Dante ruht unerschfitler- 
licfa in sich selber» sein Streben gilt ilim als heiligstes; Shake- 
apeare steht sich und seinem Ton gleichgültig, vidldcfat spöt- 
tisch gegenüber. — 

Aber wir besitzen ein Werk, in dem Shakespeare von sich 
selber berichtet, nämliili seine Sonette. Der sonst niemals als 
VviHiam Shakespeare fühlt und denkt, sondern immer als Othello 
oder Jago oder Macbeth, der zeigt sich hier als ein einzelner 
historischer Mensch. Und diese Sonette sollen uns zur Probe 
auf das über ihn Gesagte werden. Wir sehen närahch folgen- 
des: Wenn dieser reichste aller Dichter Lust und Leid seines 
eigenen Ich singen will, wenn er wie irgendein anderer Mensch 
seine eigene Subjektivität dokumentieren könnte, enthüllt steh 
eine erstaunliche Dürftigkeit. Ein paar eintönige Gefühle wer- 
den durch 153 Sonette getrieben, wie es kein halbwegs begabter 
Lyriker täte. (Die ersten 17 Gedichte insbesondere shid nichts 
als gereimte Prosa, Aufforderungen an seinen Uebting, em Kind 
zu zeugen, damit so viele treffliche Eigenschafien nicht mit 
semem Tode aus der Welt schwinden.)*) Der Dicfaler der 

♦) Manche Forscher fühlen das Bedürfnis, Shakespeare von dem 
Makel der Liebe zu einem schönen Jüngling rein zu waschen. Sie deuten 



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größten Tragödien ist als Privatmann sozusagen seeUsch arm; 
und 80 mu6 es son, wenn mdne Auffassung zutriSI^ daß er 
sein wahres Leben nicht in der eigenen Seele^ sondern in frem- 
den Seelen geführt hat Diese Sonette schenken uns aber den 
unschätzbaren Vorteil, daß wir aus ihnen das persönliche 
Liebesleben Shakespeares deuten können. Und gerade fOr meine 
Zwecke erkenne ich darin etwas sehr Wichtiges und sehr Cha- 
rakteristisches. Der ganze letzte Teil des Sonettenbuclies ent- 
springt nämlich dem Kampfe zwischen Shakespeare dem Men- 
schen und Shakespeare dem Genie. Der Mensch ist von einer 
starken Liebe ersrnffen worden, aber der objektiv-klare Welt- 
blick kann diesem Geiuhl nicht recht trauen, er muß immer 
wieder an den außerordentlichen Qualitäten der Dame zweifeln, 
die einem Manne namens Shakespeare von seiner Leidenschaft 
voigezaubert werden. So iieißt es z. B. im 147. Sonett: 

Mich heilt nichts mehr. Vernunft hilft ja nicht mehr, 
Mem Wort und Plan gleicht dem des Nauen sehr. 
Ich schwör dich schön und hab dich licht gedacht 
Und du bist wüst wie Hölle, schwarz wie Nacht 

(Nachgedichtet von Stefan George.) 
Das 148. Sonett jammert: 

die ganz zweifellos an einen Jüngling gerichteten Liebessonette so, als 
wären sie ehrfürchtige Widmungen für seinen Mizen, den Earl von Sout- 
hampton, was voHkoimnener Unverstand tot; oder wir sollen uns gar Über' 
zeugen lassen» Sfaake^Mare habe da eine Sitte mitgemacht» die durch die 
Humanisten und das Sbidium Piatons aus Italien eingeführt worden sei. 
Shakespeare hätte also ein halbes hundert Sonette, die von glühender 
Leidenschaft und Eifersucht erfüllt sind, einer literarischen Mode zulieb 
verfaflt Auf solche und noch ärgere Weise hat man an den klaren Wor* 
ten herumgedeutelt (In einigen Dramen wird die Freundschaft über die 
liebe gestellt: »»Die beiden Veroneser^» »»Der Kauhnann von Venedlc".) 



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382 



Weh! Hat mir Liebe xAi]pi;en eingesteckt. 
Die nicht mit wahrer Schau zusammengehn ? 
Wenn nicht — wo hält sich mein Verstand verdeckt, 
Der falsch beurteilt, was sie richtig sehn? usf. 

Ahnlich das 150. Sonett. 

Dies ist ein seltsainer Zwiespalt zwischen dem unenchfit- 
ierlichen Willen des genialen vietoeeliachen Dichters» jedem 
Wesen seinen objektiven Sum zu geben — und der Ldden- 
schaft eines Menschen. Man denlce dagegen an Dante: sein 
OefOhl kann nichts als die höchste Wahihdt kfinden» der Oe- 
danke einer Täuschung hat keinen Raum; die Geliebte, die ihm 
schön und gut scheint, ist die Krone aller Weltenschönheit, die 
Weib gewordene Liebe. •) 

In den Dichtungen Shakespeares ist die Liebe nur ein Ge- 
fühl nebOT allen anderen (und durchaus nicht das wichtigste), 
während bei Dante alle Gefühle hierarchisch aufgebaut sind und 
die Liebe als Gipfel tragen. Vor Shakespeare sind alle Leiden- 
schaften gleich wert, dargestellt zu werden — nur die inbrün- 
stige Hingebung an die Geliebte^ an die Wahrheit, an Gott ist 
ihm fremd. Weder ein Heiliger noch ein Ekstatilcer oder My- 
stiker kommt in seinem Werte vor. — Shakespeare kennt die 
Frauen und hat kerne sonderlidie Memung von ihnen. Viel- 
leicht gibt es in der Weltdicfatnng keine Szene, aus der noch 
eme so vdlllge MiBachtung spreche wie die berühmte Werinmg 
Richard Olosters um Anna, der er Gatten und Schwiegerv a ter 
ermordet und die er ihres Königtumes beraubt hat Shakespear e 

*) Fs hat mir immer einen peinlichen Eindruck gemacht, daß Dante 
an der Schwelle des Paradieses so schnöde von Beatrice empfangen 
wird: Nach d«r Trennimg eines eanzen Ubent «dB sie nifihts Besseres 
als Ihm efaie buifs Strafpredigt zu halten, die Dante in Zerknfrachung 
hinnimmt Denn sein überstrenges Gerechtigkeitsgefühl hält die harten 
Worte für verdlenti und so erspart er sie weder sich noch uns. 



383 

kennt dgentUch nur dne Oröfie der Frau, nämlich ihrem Manne 
treu zu seui und schweigend alles Bittere zu erdulden. Schon 
in seiner ersten Possen der ,,Komödie der Irrungen**, wird das 
Prinzip sentenzids aufgestellt, daß die Frau dem Manne Unter- 
tan sdn müsse: 

„Den Mann, den göttlichem, den Weltgebieter, 
Verehrt das Weib als ihren rechten Herm.'^ 

Und m der „Zähmung der Widerspenstigen": 

„Und was der Untertan dem Fürsten schuldet, 
Gehorsam, schuldet auch das Weib dem Mann." 

Das Motiv, daß eme Frau einem Manne nachläuft, der sie ver- 
schmäht, wiederfaolt sich. (In der errten Dichtung „Venus und 
Adonis" tritt es pehilich kniB auf, in „Was Ihr wollf zwei- 
mal). Hier möchte ich darauf huiwdsen, daß ehie ähnliche Vor- 
liebe bei Mozart existiert (Don Juan, Figaros Hochzeit). Mo- 
zart ebenso wie Shakespeare neigt dazu, die UAt nicht aUni 
schwer zu nehmen. Ihre Liebeshelden Romeo und die Lust- 
spielfiguren, Don Juan, Graf Almaviva und andere stünnen nur 
auf den Genuß los; Romeo kennt das scheue Bangen der ersten 
Liebes-Bege^ung nicht, er küßt Julia sofort und denkt nur 
daran, sie zu besitzen. Eine unverkennbare Annäheruiig an das 
sadistische Fxtrein findet sich bei diesen beiden großen und 
freien Gestaltern. — Dante verhält sich in jeder Bezieliiing ent- 
gegengesetzt (nordisch - germanisch !) ; der bloße Anblick Bea- 
trioes macht ihn last ohnmachtig, er wagt nicht, ein Wort an 
sie zu richten. — Mehr noch als soidie einzelne Züge t>eweist 
die Anlage einiger Lustspiele (Sommetnacbtstraum, Liebeslust 
und 4adf Viel Lärm um Nichts), wo das ganze Liebestreiben 



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384 



der Maschen von eiiur hoben fieien Warte am gesehen md 
als komisch empfunden wird — sein wahrhaft genialer Hmnor 
(daneben der groteske Humor der Narren). Die Liebe ist für 
Shakespeare fiberiiaupt kehie so wichtige Sache wie für die 
Dichter vor und nach ihm. Herrsdisuchi und Ehrgeiz z.B. 
haben ihn viel tiefer und viel eingehender beschäftigt — 

Menschen, die zu kanonischer Oröfie aufgewachsen sind^ 
bieten nicht nur hi den Erzeugnissen ihres Geistes, sondern 
noch vielmehr in ihren menschlichen Äußerungen etwas Ühcr 
Individuelles, Typisches dar. Sie sind so sehr diese Einen imd 
Unvergleidilicheti, daß sie es fast in jedem Zuge sind. Diese 
Überzeuf^ung ist es ja auch, die uns antreibt, das Leben solcher 
Menschen genau keimen zu ieraen, deren Werk uns ergreift und 
bereichert; wir wollen wissen, und wir haben ein Recht zu 
wissen, wie sie ausgesehen haben, wie sie gelebt haben und 
wie sie gestorben sind. Ich glaube, wir sehen heute den Men- 
schen Dante schärfer vor uns als sein WerL Wir kennen den 
fonatisch-glähendcn Blick und das eheme Antlitz, auf daa die 
Natur geschrieben hat: Tiefainn und Erhabenhät Wir sdten 
den gebeugten Gang des HeunaHosen, der von Stadt zu Stadt 
wandert, dem sem h^bea nur güt, um seui Werk zur Vollen- 
dung zu führen. Mandien ergreift diese legendäre Oestalt, der 
von der Kunst Dantes nur eine ziemlich vage Vorstellung hat 
Aber dieser Mann gehört zu diesem Werk, ein Mann ohne 
Laune und ohne einen Blick für das Kleine des Daseins, einer, 
der sich berufen weiß, einer weithistorischen Idee Leben zu ver- 
leihen. 

Von Shakespeare dagegen haben wir keine sehr deutliche 
Vorstellung und es ist bezeichnend, daß sich einige gefunden 
hat}en, die ihm sein Werk ganz absprechen und einem anderen 
zueignen wollen, Francis Bacon, dem, wie man meinte, gebil- 
deteren, in Wahrheit aber vid flacheren Staatskanzler und 



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386 

ScbritoAdter. (Ooedie namt ilin „öas Haupt aller Philister'*). 
Der Kopf Stakeapaam, der auf ein paar Stichen uberiiefert 
ist^ htt nichts allzu OenialeB; wenn man uns enihlt, dieaer 
Mann ad zuent Midtigcr gewesen, dann ein mittefanäfiiger 
Schauspieler, der manrhrnal lustig, Mar in Oddnot gdcbt habe^ 
in Liebeshandd von nicht allzu saubenr Art verstrickt gewesen 
sei, sich in Londoner Spelunken herumgetrieben, Odd auf 
Wucherzinsen geliehen habe und anderes mehr; so sind wir 
ohne Widerspruch bereit, das zu glauben. Denn Siiakespeare 
ist als Mensch nichts neben seinen Werken, ihnen hat er seine 
geheimnisvolle Seele ganz dahingegeben. Das Genie Shake- 
speares ist unfaßbarer und rätselhafter als das Dantes. — 

Welches organische Ende verlangt nun das Leben eines 
Shakespeare? Wir haben gesehen, daß sich sein Selbst mibe- 
grenzt in Gestalten hinein eiigießt und daß so niemals ein whic- 
lieber Abschluß erreicht werden kann. Shakespeare aber wollte 
und mußte enden, denn er ist nicht nur ein außerordentiiches 
dichterisches Talent, sondern auch eine mächtige PenfinÜchlBeit, 
die auf dem Wege von den Jugend-Sonetten zu den großen 
Tragödien Weite und Tiefe gewonnen hat. Und wur sehen das 
ScUsame. daß Shakesoeare uulGeluti er sucht aus der Vidhsit 
der tanden Seden, denen er sich hingegeben hat, emen Weg, 
um sich sdbsi wieder zu gcwhuien. Der ente Schritt auf 
diesem Wege liegt noch innerhalb des Reiches der Dichtung: 
Shakespeare verzichtet auf alle seelische Fülle; das „Wmtermar- 
chen", „Cymbeline" und „Der Sturm", seine letzten Werke, sind 
keine Tragödien mehr. In allen dreien werden unkomplizierte 
Menschen durch mancherlei Irrfahrten zu giückiiclier Ruhe und 
Vereinig^ung geführt. An diesen Menschen ist der Dichter mit 
sei[ieni Ich kaum beteiligt; sie sind ein wenig wie Puppen, sie 
stehen in einer Atmosphäre von märchenhaftem Duft Aber 
diese neue Dichtungsart bringt noch immer Iceine endgiiltige 



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386 



Lösung. Und nun geschieht der zweite, der definitive Schritt 
Wir sehen dieses Merkwürdige, das kaum jemals genug beachtet 
wofden Ist: siebemindvierzjg Jahie alt nimmt Shakespeare sein 
ich ganz in sich zurQd^ er hört auf zu dichten. Ob diesen 
EntsdduB ein ungeheurer Kampf zwischen der Schaßensltnt dea 
KihisUeis und der EinhdtSpSefansucht des Menschen 
gangen Ist? — Ich wdB es nicht Jedenfalls hat seh» letzte 
Dichtung, „Der Stuim", wie allgemehi anericannt wird, efaie 
Ausnahmestellung. Prospero ist die einzige Gestalt, der zum 
Abschied von der Kunst Elemente de^ eigenen Ich einj^^ekörpert 
worden sind. Der Weise legt sein Zaubergewand ah, läßt sich 
Hut und Degen bringen^ wie es irdisclie Menschen tragen, und 
spricht: 

So brerh ich meinen Stab, 

Begrab ihn manchen Klafter in die Erde^ 

Und tiefer als ein Senld>lei je geforscht, 

WiU ich mdn Buch versenken. (Sturm V, 1.) 

Prospero entsagt der Herrschaft Ober Aiid — das Höchste^ 
Geistigste ün Menschen — und über Caliban — das Tierische 
im Menschen — , veriifit die Zaubcruisd, das Reich aehier Kunst, 
und kehrt nach MaiUmd unter die gewöhnlichen InUschen zu- 
rück. Der produktivste aller Dichter hört auf zu schaien, er 
lebt noch f&nf Jahre lang als eüifacher Landwirt hi seiner Vater- 
stadt Im Epilog sagt Prospero-Shakespeare: 

Hin sind meine Zauberein, 

Was von Kraft mir bleibt, ist mein. 

Und das ist wenig. 

Einst war die Seele Shakespeares in alle Menschen hineinge- 
gangen und hatte in ihnen gelebt und gelitten; die vielseelische 



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387 



Form der Genialität, die wir unter seinem Namen verehren, hat 
sich oSeabart. Aber dieser Große mußte sich sein Leben selbst 
bestimmen. Und er hat aus all den Gestalten sein Ich zurück- 
gerufen. Nicht als Dichter konnte Shakespeare die Schlußposi- 
tion erreichen, denn aein Genie ist von der Art, die zu kehiem 
Ende führt — es sei denn zu emem Abbrechen wie Beethoven. 
Shakespeare hat sich von der Kunst abgewandt, um seinem 
Leben den notwendigen Schluß zu geben. 

Diese Deutung ist nur hypothetisch; und ich will die Mög- 
lichkeit nicht ganz ausschließen, daß Shakespeare wirtlich seuie 
Perafinlichkeit und sehie Oenialittt verloien hfttt^ daß sehie 
Geisteskraft aufgezehrt gewesen sei und daß er ddi beschieden 
habe, obschon im höheren Sinne tot, noch weiter zu leben. 
Aul jeden lall bläbt im Wesen dieses Mannes viel Kätseiixaftes 
l>estehen. — 

Dante kennt den Sinn des Daseins und wird zu seinem 
unmittelbaren Verkünder; in den größten Dichtungen Shake- 
speares ahnen wir einen Sinn, ohne daß davon gesprochen 
würde; wir sind hier noch um einen Schritt weiter in das Herz 
des Genius eingedrungen. Dieser Schritt macht die eigentüm- 
lich persönliche Weltwertung des künstlerischen Genius fühl- 
bar, er bedeutet ehien WertimSein, nicht hinter und neben 
dem Sein. 

GOETHE 

In Goethe gewinnt der Reichtum und die Vid^sestalt Shake- 
speares dantesche EmheiL Thesis und Antithesis treten hi ihm 
zur Synthesis ineinander. Aber Goedie umfaßt nicht nur wie 
Shakespeare den Kosmos der Menschen, sondern auch die Nahur 
und die Kultur. IMe Gabe Shakespeares: sich mit jedem efai- 
zdnen Menschen zu identifizieren, ist Goethe auch vor den Er- 
scheinungen verliehen. i:r senkt sich so vollkommen m ein 

25* 



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338 



Phänomen der Natur oder der Kunst ein, daß er seine eigene 
Individualität nicht melir als ehvas Abgesondertes empfindet^ 
sondern daß er in alles Sichtbare, Hörbare, in alles Seiende 
verwandelt ist. Das nenrit er (irgendwo in der italienischen 
Reise) „völlige Entäußerung von aller Prätention". Goethe 
reicht als Dichter nicht an Shakespeare, aber er ist Mensch in 
einem so universellen Sinn, daß er sich alimi B^ehenden per* 
sönlich nahe fühlt, daß er alles Bestehende aus sich heraus zu 
formen und zu deuten vermag. Nicht der Dichter oder der 
Naturforscher oder der Philosoph, sondern der Mensch schlecht* 
hin ist hier m seiner Vollendung verköfpert ErBcheint Danle 
ab Chi chizdner Mosch von höchster Intensitilt, so hat sich 
hl Goethe efaie Seele über die Welt veihrdtet» die eigentliche 
Angabe des Menschen: das Seiende zu gestalten, zu beseelen 
und wertvoll zu nuchen» ist m ihm vorbildlich erfüllt <^ wird 
gesagt, daß Goethe ehie Abneigung und ein Mißtrauen gegen 
das Betrachten der eigenen Sede und gegen das Wort „Eitenne 
dich selbst!" gehabt hätte. Aber man versteht das falsch: er 
hat die Welt so sehr als zu sicli i^ehöng, als sein eigen emp- 
fanden, seine Seele ist soweit aufgeschlossen gewesen, daß die 
Maxime, sich selbst zu erkennen, für ihn keinen anderen Sinn 
gehabt hat als: die Weit zu erkennen, das Sein zu erkeuaen. 
„Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, 
die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird " *) 

Es ist das Oroße und das Einzige an der Genialität Goethes, 
daß in ihr das Mensch -Sein Vollkommenheit erreicht hat 
Goethe steht auf dem höchsten Gipfel des Geistes und der 
Seele und ist doch wieder so Üel der Natur verwandt und ver- 
traut, daß er jeden Tag wie neu geboccn lebt Die Wurzefai 
smd nicht abs^schnitlen wie bei so vielen OdsiesnieDSChen, sie 
treiben we iter und ziehen ihre Nahrung aus der Eide, wie der 

*) Zur Morphologie. 



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38g 



Sluniii aus den Lüften, die Krone aus dan Liclit — Der Menach, 
der es niemala verlernt hat» der Natur in Demut und liebe zu 
nahen, der den Strom niemals hat eintrocknen lassen, der zwi- 
schen ihrem unablMgen Lebendigaeui und seinem EmpOnden 
flieBt, der jeden Frühimg neu hi sebiem Heizen fühlt; dieaer 
Mensch bewahrt sich auch die Kraft innerer Neu • Beseelungr. 
Das sehen wir an Goethe wie aii keinem andern. Seine Pro 
duktivität hat bis ins späte Alter nicht nachgelassen, er vennag 
mit 74 Jahren ncx h eine aufwühlende Leidenschaft zu erleben. 

üoethe hat orgaiuschc-s Verständnis für die Pflanzen und 
ihre Oestaltuiiü;. für die f arben und ihre sinnlichen, seelischen 
und moralischen Wirinmgen, für Wolken und Steine, nahezu für 
alles, was besteht. Das ist nicht Dilettantismus und auch nicht 
Fachgelehraamkeit, sondern etwas anderea: innige, urhafte Zu- 
aammengehdrigkeit mit allem Oewachaenen. Ooettie foidert von 
der Natur, da0 sie ad wie er adber: ununtefbrocben adiöfife> 
lisch, aich niemala wiederholend, unendlich tttig — „Alles lat 
neu und doch hnmer das Alte^'. (^Vis Natuf'*.) In der Welt 
wie un Menschen muB eines aus dem andern mit organiadier 
Bestimmtheit hervocgdien. Diese Idee des Oiganiamus, das 
beißt der aus der Vielheit gewachsenen Emheit, bchenscht sein 
Gefühl gegenüber der Natur, es ist der Grundgedanke seiner 
Pflanzen-Metamorphose und zieht durch die anderen gedank- 
lichen Bildungen. Über allen einzelnen Pflanzen muß die Ur- 
pflanze als Idee der organischen Einheit stehen, im anatomischen 
Aufbau darf kein wirklicher Riß zwischen Tier und Mensch 
klaffen. Von dieser regulativen" Idee geleitet, hat ja Goethe 
den Zwischenkieferknochen des Menschen, allen Autoritäten 
zum Trotz gesucht und gefunden. Eine solche Entdeckung ist 
natürlich mar ein Zufall und wohl kein sehr wichtiger, at>er 
sie ist charakteristisch für den Willen Goethes: daß in der 
Natur wie in der Seele des Menschen aus aller Mannigfaltigkeit 



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390 



Einheit hervorgehe. Einheit in der Vielheit zu finden, aus der 
Vielheit zu schaffen — das ist aber die ideelle Synthese der 
Genialität Dantes und Shakespeares, und das ist die Grund- 
idee Goethes, die sich uns noch weiter offenbaren wu"d. 

Alle Richtungen, nach denen sich der Mensch entfalten 
kann: tatig, sinnend, denkend, bildend und empfangend (ge- 
meBciid) sind io ihm gleich stiak mugebüöet „Das Bedürfnis 
meiner Natur zwingt mich ru einer veimannigfaltigten Thüg- 
kdt und ich würde in dem geringsten Dorfe und auf einer 
wfislen Insel ebenso betriebsam sehi mfissen» um nur zu leben."*) 
— Von der wissenschaftlichen T&tigkeit allein fordert Goethe, 
daß sie alle Krittle des Menschen ins Spiet setze.. »»Die Ab- 
gründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart 
mathematische Tiefe, physisdie Genauigkeit, Höhe der Vernunft, 
liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden 
zum lebhaften, fruchtbaren Ergreifen des Aug-enblicks.'***) 

Die Art, wie Goethe forschend an die Natur herantntt, ist 
von der Wissenschaft seiner und unserer Zeit verschieden. Die 
Wissenschaft geht hinter die Erscheinungen zurucic und sucht 
nach letzten Einheiten, die in abstrakten Be^nöen oder wo- 
möglich in zahlenmäßigen Formeln festgehalten werden können. 
Goethe bleibt immer bei dem Anschaulichen und trachtet zu 
Urphänomen fortzuschreiten, die als letzte gegebene wirk- 
lich da sind und nicht weiter zeisetzt werden dürfen. „Von 
nun an sich alles nach und nach unter höheie Rcgehi mid 
Gesetze, die sich aber nicht durch Wort und Hypothese dem 
Veistande^ sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen 
offienbaien. Wir nennen sie Urphinomene, weil nichts in der 
Erscheinung über ihnen liegt» sie aber dagegen völlig geeignet 
sind, daß man stufenweise, wie wur voriier hinaufgestiegen, von 

*) Brief an Knehe! 3. 12. 1781. 
♦*) Farbenlehre, Histor. Teil. 



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391 



ifanen herab Iris zu dem gemeiiisten FaUe der täglichen Eilah- 

rung niedersteigen kann. — Der Naturforscher lasse die Ur- 
piiänoraene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit da stehen. 

— Das Schlinunste, was der Physik wie mancher anderen Wis- 
senschaft widerfahren kann, ist, daß man das Abgeleitete für 
das Ursprüngliche hält und, da man das Ursprüngliche aus 
Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Ursprüngliche aus dem 
Abgeleiteten zu erkennen sucht." (Unter ,,abi]^eleitet" versteht 
Goethe das in nichtanschauUchen Begriöen oder Formeln ge- 
faßte.)*) — Bei der Untersuchung der Farben hält er sich durch- 
aus nur an das den Augen erscheinende Phänomen von Licht 
und Finsternis; er nennt sich selbst dem Naturforscher und dem 
Naturpbilosophen gegenfibcr einen „Naturscbauef''**). Und 
diese Betrachtungsweise ist ihm so oiganisch, ist so sehr ans 
ihm heraus entstanden, daß er sie mit Elan gegen die eigentlich 
naturwissensdisfUiGhe, nämlich die abstrahierende, vertritt Die 
Lehre Newtons scheint ihm ein Sakrileg an der heiligen Nalnr, 
an der Whldichkett der Wdt. Denn er besitzt die ganz mi- 
vergleichliche Beziehung zum Anschaulich - Seienden und zwar 
nicht so sehr zum unmittelbar geget>encn Einzelnen wie zum 
Seienden in dem liöheren Sinn des Ideellen, des Platoni&iien, 
zur Urpflanze, zum Urphänomen. E>emgegenüber sind die Oe- 
set/e und Formeln der Naturwissenschaft nichts Wirkliches und 
auch mchts Ideelles, vor allem nichts Anschauhctics, sondern 

— was ja allgemein zugegeb«i wird — Hilfs-Konstruktionen 
des veremfaciienden Denkens. 

Diese Verwandtschaft zum Objektiv-Seienden befähigt ihn, 
die Dinge ohne Trübung und ohne subjektiven Beisatz (auch 
ohne den der wissenschaftlichen AbstraktioQ) zu sehen. „Wie 
sie alle (die Pflanzen) von der Sonne hervoigdodct und um- 

*) Farbenlehre I. Mo. 175, 177. 718. 
Briet m Sdiiller 27. 179S, 



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393 



spooiMii wenkn, so aoll er (der Botainler) mit dnem gteidiea 
ruhigen Blicke sie alle aneeilCD und übendieo und den Maß- 
stab zu dieser Eitaiiitni% die Data der Beurteilung nicht aus 
sich, sondern aus dem Kreis der Dinge nehmen, -dfe er beob- 
achtet."*) — Und Goethe pflegt diese Fähigkeit, über das Sub- 
jektive, dc'Ls „Pathologische", hinauszuwachsen, er steigert sie 
mit Bewußtsein zu dem Willen, alles Zufallige abzustreifen und 
immer tiefer ins Wesentliche einzudringen, immer allgemeiner 
menschlich, immer notsvendigör zu werden. ,,Sinn und Be- 
deutung memer Schriften ist der Tnumph des rein Mensch- 
lichen." Er ist sich klar, daß sein Leben und Tun kano- 
nisches Leben, kanonisches Tun ist; je älter er wird, desto 
tieler versteht er sich als vorbildlichen Menschen, und desto 
entsdiiedener fühlt er die Verpflichtung, ein Urbild der Mensch- 
heit ans sich heraus zu gestalten, das für alle Zeiten bestehen 
soUy von dessen Lebensregungen keine veriorBi gdien darf. 
Ober jeden Tag werden Au&nicfanungen geführt^ er beruft 
Eckennann, damit jedes von ihm gesprochene Wort erhalten 
bleibe. 

Nichts vom Vergänglichen, 
Wie*s auch geschah, 

Uns zu verewigen 
Sind wir ja da! 

„Sie wissen, wie symbolisch mein Dasein ist," 
schreibt er, 28 Jahre alt, an Fiau von Stein**) und druckt da- 
mit in einer kurzen Foimd den SUm seiner Existenz ans^ Jie- 
deutend^ platonisch, das heißt au! die Idee der Mensdihdt hin 
gerichtet, exemplarisch ist, was Oodhe tut, sagt, dichtet.***) Er 

*) „Der Versuch als Vcnnittler von Objekt und Sui>iekt". 
**) Am 10. 12. 1777. 

***) nachträglich sehe ich. daf dies auch «if dar teilten Satt» von 
SImnela ttoMmdgam Goaliie>Bttdi auefeaiHoclien Ist 



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393 

sucht nach PtaSnomenen» die repräsentative, „symboHsdic^ Be- 

deutungr für unendlich viele haben. Das ist die t^erähmte „Ur- 
pflanze'', die in einer einzigen Schau alle Pflanzen der Welt 
vereinigen soll — gleich weit von dem einzelnen Gegenstand 
wie vom Begriff, universell und doch mit erleuchteten Sinnen 
anzuschauen. Sein Geist und sein Auge sehen platonisch, zu- 
samnienfassend. ideeierend, das einzelne nur als Beispiel und 
Sinnbild eines Höheren fassend. Und er schreibt an Schiller, 
daß ihm besonders Gegenstände einen Eindruck machen, die 
„eminente Fälle sind, die, m emer charakteristischen Mannig- 
faltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine 
gewisse Totalität in sich schtieBen, eine gewisse Reihe foideni, 
Ahnlidies und Fremdes hi oeineni Geiste aulregen und so von 
8u6en wie von innen an eine gewisse Ehiheit und Allheit A»> 
sfiruch machen. Sie sind also, was ein glfiddiches Sujet dem 
Dichter ist, glückliche Oagenstande ffir den Menschen, und wdl 
man ihnen keine poetische Fonn geben kann, so muß man ihnen 
doch eine idedle geben, eine menschliche im h^Uieien Sinne." *) 
— Ja er kommt im Alter dazu, einen Typus als Gesetz anzu* 
erkennen, „von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen auf- 
zuweisen sind." **) — Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, 
das heißt: jedes einzelne Ding läßt uns höhere Bedeutung, 
Idealltat ahnen Diese Bestrebungen sind durchwegs Projek- 
tionen, Spiegelungen des unbeirrbaren Willens, ein einmaliges 
Dasein ins Symbolische zu heben, aus einein Menschen die 
Menschheit heraustreten zu lassen wie das Ewige aus allen irdi- 
schen Bildern, selber Idee zu werden. Das ist das Grundmotiv 
in Goethes Dasein, das immer t>ewußter erfaßt und verwirklicht 
wird. — „Meine Tendenz ist die Verfcörpening von Ideen.*'^**) 

*) Am Ib. a 1797. 

**) Brief an Joh. Müller 24. II. 1829. 
Brief an WIHemer 24. 4. 1815. 



t, 



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394 



— Und dem entspricht (im G^ensatze zu den populären Md- 
auigen) eine unbehagliche unsichere Stellung gegenüber dem 
Einzelfall, genau die Stellung des Philoeoplien» des Platontkei«. 
Anstatt vieler Atuqirfidie gebe ich nur zwd: er schreibt an 
Schiller von »»der millioiienfacfaca Hydni der Empirie^ mit der 
er sich hemmsrhlagen maß"; mid sagt: „Die Beobachtung des 
dnzdnen war niemalB menie SOfke.***) — Und einmal^ hi den 
Voraibeiten zu einer Psychologie der Pflanzen, spridit er von der 
Kraft des Menschen ein hohes Wort : „Die Umfassenden, die man 
m efaiem stolzen Shine die Erschaffenden nennen könnte, ver- 
halten sich im höchsten Grade produktiv; indem sie nämlich von 
Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, 
und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in 
diese Idee zu fügen." 

Der Drang, sich zu einem Urbild des Menschen zu schaf- 
fen, ist bei Goethe schon in jungen Jahren lebendig und er- 
streckt sich auch auf unbedeutende Dinge. So erzählt er im 
9. Buche seiner Lebensbeschreibung, daß er starken Lärm nicht 
ertragen konnte und sich diese Empfindlichkeit dadurch abzu- 
gewöhnen verstand, daB er neben den Trommlera einheiging; 
er litt an Schwindel und vertrieb ihn durch eine gewaltsame 
Kur: von der höchsten Men Platte des Strafitraiger Mflnsteis 
blickte er lange Zeit hinab; er hat sich ferner in SpitUem auf- 
gehalten, um mit Situationen vertraut zu werden, die ihm von 
Natur widerwärtig gewesen shid. Solche und ähnliche kleine 
Züge verraten deutlich den WiUen, sich zu vervollkommnen, der 
bis an sehi Lebensende nicht nachgelassen hat — Wir ver- 
stehen, daß dieser Wille zum absolut Menschlichen gegen die 
genialischen „patliologischen" Einseitigkeiten ein^i Kleist hart 
und abweisend sein muß. In Kleist hat er das Schlechte von 
sich ferngehalten. — 

*) Wie oben. - Brief an BSttiger 16. a 1797. 



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396 



Oodhe ist seiner Konstitution nach Grenzmensch; noch in 
„Wahihdt und Dichtung^ sagt er, ds6 ihn seine „Natur unmer- 
fort ans einem Extreme ia das andere wirft*' (7. Buch). *) Und 
ein anderes Mal: „Unser Geist sdiemt zwei Seiten zu 
haben, die ohne euiander nicht tiesiehen Icdnnen. Licht und 
Finsternis, Gutes und Böses^ Hohes und Tiefes, Edles und 
Niedfiges und noch so viele andere GegenMtze scheinen, nur 
in veränderten Portionen, die Ingredenzien der menschlichen 
NahiT zu sein. " (Die landläufigen Meinungen über seinen Mo- 
nismus und seine Gelassenheit können füglich unbeachtet blei- 
ben.) Aber er ist so produlctiv, daß aus jedem Zwiespalt eine 
neue Synthese:- liervorgeht, die wieder eine neue Spannung: auf 
höherer Stufe zu erzeugen vermag. Und diese neue [ inheit ent- 
steht nicht etwa durch Nivellierung, die Gegensätze werden viel- 
mehr wirklich durchgelebt und in einer höheren £t>ene aus- 
hoben. I>ies ist aber die Art, wie aus Bruchstüdien ein ganzes 
erschaffen, aus dem MangeUiaften das Vollkommene gebildet 
werden kann; und zur selben Zeit, da Goethe diesen Weg 
ld)endig beschritten hat, (oder etwas spater) ist er von Hegel 
als dialektische Entfaltung des Geistes verkthidet worden. — 
Neben dem Willen zur Idee steht der außerordentlicfae Hunger 
nach der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, der niemals ge- 
stillt werden kann. In seinem Veihältnis zum einzebien li^ 
Tragik: er muß immer tiefer eindringen — und hat doch die 
Angst vor der Hydra der Empirie. Aber das ist ein Tiefstes 
im Menschen überhaupt, das sich in Goetiie verewigt hat; er 
möchte die l ulle der Welt t}esitzen und auf nichts Verzicht 



*) Seine polare Anlage ist von Chamberlain im einzelnen schön 
ausgeführt worden. — Es ist ein bedeutendes Verdienst Chamberlains 
(dessan Wterk ich dm Hinweis auf mehrere wichtige Stellen verdanke), 
das flatofilsche in Goethes Denken erkannt und in den Vordeicrund 
cerfickt tu haben* 



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V 



390 

leistm — und er muß doch immer wieder Einheit, Zusammen- 
hang schafien in knmer höheren Kreisen — das uralte philo- 
sophische Problem vom Allgemeinen und Besonderen, von Be- 
griff und Erfahmng. Ooetfae weiß genau: „Es ist gleich schädr 
ttcta, der Edahrung, als unbedingt der Idee zu, gebordien.** — 
Gegenüber der Wucht der unmittdbaren Anschauung steht dk 
Kraft des Denkens. Ooedie hat eine Menge neuer Oedanloen 
gedadit, sie finden sich dufth alle seine Walte vecBtieut Und 
die bäden Potenzen hemmen sich nicht, sondern sie dnicfa- 
dringen und befrachten ehiander gegenseitig in emem Mafie wie 
bei keinem anderen Menschen als bei Piaton. 

Goethes polare Anlage zeigt sich auf vielen Gebieten; so 
ist d.'Ls Bedürfnis nach iTeundschait und üeselhgkeit merkwür- 
dig stark au&i^ebildet und ebenso der Hang, sich zu verhüllen 
und einsam zu sein. I >iese Antinomie scheint mir keine ji:ü]t]ge 
Auflösung gefunden zu haben. Und auf dem ( iebiete der Erotik 
ist — wie ich an anderer Stelle s^ezeigl habe — niemals eine 
wirkliche Synthese eingetreten. Hier bestehen die Extreme der 
Sinnlichkeit und der Seelenliebe (Charlotte von Stein) unver- 
mittelt nebeneinander. 

Als kanonischer Mensch hat Ooeihe auch die ganze FuUe 
des Mittleren besessen; weil aber die grenzmcnschliche Anlage 
die umfassendere und unenchöpflichere Art zu sein dafsidit, 
so kann das Mittefanenschliche unmer nur Episode bleiben, es 
ist m f^ennann und Dofothea** zum Uassiädien Idyll geniR. 
Hier hat sich die Sphäre des mittehnenschlichen Daseins wahr- 
haft vollendet, ^e ist selbstgenugsam in sich abgeschlossen und 
kennt nicht den Blick über ihren Kreis (der bei den tieferen 
idyllischen Dichtuni^ren Jeaii I-auis niemals fehlt). „Hermann 
und Dorothea" bedeutet die Vollendung des einen in Goethe, 

*} Die M Stuf«n der Erotik S. 228—248. 



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397 



das zur Abrundung der ganzen Menachlichkeit da sein mitB, 
nicht eine letzte Versöhnung der Polarität, sondern Unge- 
brochenheit vor allem Zwiespalt. Auch im Wertlier ist um den 
Kreis des Amtmannes die Atmosphäre des Kleinbürgerlidien, 
Mittelmeiischlichen gebreitet, die aber hier nicht eine abge- 
schlossene Einheit darstellt, sondern als der eine Pol dem an- 
dern, der in Werth er verkörpert ist, disharmonisch gegenüber- 
steht. In diesem wenig bedachten Jugendwerk — es ist in vier 
Wochen niedergeschrieben worden — sieht man besonders deut- 
lieh, wie aicfa die Etemente des Menschlichen von Anfang an 
auseinandergesetzt und zusammengefaßt haben. Kein falschm^ 
Bild von Goetbe als das des erhabenen Philisteis — > er ist zu- 
gteidi einfach wie das VoUslied und vielspiltig und koiii|4iaert. 
Und geiade seine Vielheit ist sem Problem und seine Tragik, 
die er ünmer wieder zusanunennimmt und überwindet Aller- 
dings zeigen viele spfttere Weike eine gewisse mittlere Tempe- 
ratur und Ausg^licfaenhcity die aber offenaichlljch efBibdiet» ein 
Produkt des Willens ist und aus derselben Qudle stammt wie 
seine außerordentliche Liebe zu den römischen Kopien griechi- 
scher Bildwerke, in dieser Liebe kreuzen sich ja zwei Eleiiiente: 
vor allem die Gewißheit, hier ein Rein-Measchliches, Kanoni- 
sches \venit{stens im Abglaiize zu sehen; dann aber noch viel 
mehr der W ille, über alle Vielheit hinauszukommen und einfach 
zu werden. Die kritiklose Bewunderung für alles, was dem 
Altertum zugehört, und wären es ein paar halb zerfallene 
römisch-korinthische Säulen, kann nicht aus der bloßen Ge- 
meinschnft des Rein-Menschlichen verslanden werden. Da ist 
sehr viel Wunsch, der eigenen Mannigfaltigkeit und OefühlsfüUe, 
dem Oberrdchtum an seelischem Gehalt zu entkommen und in 
ein weites offenes Land einzugehen, wo Mar und einfach ge- 
staltete Maimorieitier in der Sonne blfihen. Nach dem germa- 
nisch-gotfaischen Bereicfae des Götz, des Werther und des Faust 



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398 



ist es allzu deutlich» daß das Oriechentum für Oodfae mdir 
Sduisudit ab Wiildidikdt bedeutet fan Tasso ist [a dieser 

Widerstreit zwischen trüber Genialität und besonnener, aber ein- 
geschränkter Klarheit selber r'roblem geworden; lasso ist der 
Überlegene, der Sieger, und niclit Antonio, wenn es auch — 
mit dem Willen Goethes — so scheinen mag. Und Faust lebt 
den Kampf zwischen der Nebelheimat und dem Traume vom 
Griechen tum tratsch zu tnde. 

Goethe ist angesichts der Menscheng-estalten der Antilce von 
der Gewißheit überwältigt worden, daß hier, so entschieden wie 
sonst niemals» etwas Kanonisdi-Menschliches gewollt und für 
den engeren Sinn des antiken Weltkreises verwirklicht worden 
ist. Der Wille ist identisch bei Goethe und bei der Antike. 
Aber welche Verwandtschaft hat denn die ^mbolische Atoiscb- 
lidilcdt Goethes noch zu jenen schönen Leibern? Ffir ihn beißt 
Mensch sein etwas unendUdi Höheres, Größeres, Tieferes 
als für diese in ihrer ganzen Vollendung dodi eingeengte Kul- 
tur, die den Gedanken der Persönlidikeit und der Ewigst noch 
nicht besessen hat. (Platon ist eine Wdt für sich und nidit 
repräsentativ griechisch.) Wenn wir Goethe als den symboli- 
schen Menschen verstehen, so meinen wir ja, daß er nicht eine 
bestimmte Kulturstufe verkörpere und nicht an einer bestimnir 
ten Zeit hafte, sondern daß er etwas durchaus Definitives be- 
deutet, daß er die übermenschliche Leidenschaft eines Dante und 
den Kosmos Shakespeares in sich vereint und darüber hinaus 
eine höhere binheit gewonnen hat. Weder von der Tiefe Dantes 
noch von der Fülle Shakespeares hat die Antike mit ihrem all- 
seitig zugeschlossenen Kreis eine Ahnung haben können — und 
so bleibt es eine Täuschung, wenn Goethe, durch den formalen 
Willen zum kanonischen Menschen verleitet, seine eigene Auf* 
gäbe hl der Antike vorgesialtet zu sehen glaubt. — 

Ehie ganz besondere Form des mittehnensdiliGhen Daseuis 



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ist in Rdodee Fucbs (den ich unter cüe höchsten Dichtungien 
Oodhes stelle) zum Leben gdwadit Alle Odfiste und Schand- 
taten der Menschen haben den Stachel des Bösen, des Dämo- 
nischen und des Tragischen verloren, weil sie in die Einge- 

scliräaktheit der Tierwelt versetzt, ins Licht des Komischen ge- 
rückt sind. Das Reich der Tiere ist nach dem Muster des mittel- 
altcrUchen Feudalstaates organisiert, Bär, Wolf und Fuchs sitzen 
als Vasallen im Rate des Löwen, Reineke beupt sich heuchlerisch 
vor der Köni^j^in, seiner Herrin", der er zu dienen ß^ewillt ist 
und der er glänzende Geschmeide weiß. Der Löwe pflegt der 
Gerechtigkeit, wird aber von denselt>en Tnet>en beherrscht wie 
die anderen Tiere, und es ist mit höchstem Humor durchge- 
führt, wie diese beiden Reihen, die tienscbe der Instinkte und 
die höhere eines Ideellen einander kreuzen und wie das Höhere 
immer zu kurz kommt. Der Steifee und besonders der Listige 
triumphieren — wobei aber die Reverenz vor dem Geistigen 
niemals venftumt wird! Welch graziöser Hohn auf das Gottes- 
urteil» wenn Reineke und Isegrim klmpien und der Sddaue 
auf die unanständigste Welse cten Sieg davontragt! Man merkt 
kaum, wie viel ursprüngliche Roheit und WiderwSrtigkeit in 
aUedem liegt, denn durch die Kraft des Humors ist das Stoff- 
liche verzehrt und wir gewinnen einen vollkommLii freien Stand- 
punkt zu allem ( icschehen. — Wenn man die Beziehung üoethes 
zu Spino/a etwas weniger oberflächlich untersuchen wollte, so 
hatte man hier einzusetzen. Im Reineke Fuchs herrscht wirk- 
Uch das Naturrecht — „Wer mehr Macht hat, der hat auch 
mehr Recht". Das ist die Weisheit Spinozas. Für Goethe aber 
erscheint sie unendlich komisch, denn er l)^itzt innere Freiheit 
gegenüber dem Instinktleben, dem er nicht unterworfen ist und 
das er doch liebt. Reineke Fuchs zeigt das naturhafte Dasein 
und damit im höheren Sinn den Spinozismus in seiner Bedingt- 
heit als komisch und fitierwindet ihn so von innen her. 



400 



Goeliie hat die Idee des exemplarischen Menschen nidit 
nur in aeineni Sein» sondeni auch in seinem Werden, in 
der Entfaltung seines Lebens offenbart. Als Knabe, Jüngling, 
Mann, Ords — imowr acheint das Typische dieser Entwiddnngs- 
stnfe durch die Hullen und immer ist er daran, es bewufit zu 
vertiefen und festzuhalten. Dies hat Schiller geahnt: „Es sollte 
mich wundem, wenn sich an den Entwiddungen Ihres Wesens 
nicht ein gewisser notwendiger Oang der Natur im Menschen 
überhaupt nachweisen ließe"*). — Ich gehe nicht auf die Lebens- 
geschichte Goetlies ein, muß aber darauf hinweisen, wie er 
seine Aufgabe, die Herausaji)eitung des kanonischen Menschen, 
auch in diesem Sinne, nämlich in der Konzeption des vor- 
bildlichen Lebensablaufes erfüllt hat. Und zwar 
ist dies auf zwei verschiedenen Stufen vollbracht worden: der 
Wirklichkeit nahe m unmittelbarer biographisch-psycholosisclier 
Darstellung — wieder zwiefach: einmal als Gföchichte seines 
individuellen historischen Lebens in „Wahrheit und Dichtung^' 
und den Reisetagebüchem; dann im „Wilhehn Meister'*, wo die 
Entfaltung des Menschenlebens an einem Moddhnenschen ty- 
pisch und tief menschlich sichtbar wkd. Auf einer zweiten 
höheren Ebene ist im „Faust" das Leben des kanonischen Men- 
schen nicht m psychologischer Unmitfeelbaikeit, sondern von 
allen ZuflUUgkeiien gereinigt; Vision geworden. 

Ooeihe hat hi „Wahihdt und Dichtung*' sein Leben wie 
in einem Spiegel geschaut, die Stufen desselben mit ihrer gan- 
zen seelischen Fülle daigeatellt und uis Allgemeine, Typische 
verklärt. Von ihm seltjer gilt ja, was Wilhelm Meister sagt: 
„Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel 
von Jugend auf mein Wunsc!i und meine Absicht." — Die 
große Selbstbiographie beginnt mit einem Gedanken, der äußerst 



*) An Goethe am 17. 1. 1797. 



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401 



iiialwfir% ist, aber etwas Obeni^Utigendcs hat: mit der Koo- 
alelkrtioa der Oestime zur Zdt seiner Geburt Er webt sich 
sdbst von Anbq^iiui ia das Leben der Welt huiein: hier han* 
ddt es sich um einen Menschen, an dem die Oestime teihiefa- 

men, denn er ist nicht ein zufälliger, sondern ein notwendiger 
Mensch, er hat den Sinn des üestiriis Erde zu verkörpern — 
ihr anderen Stenie müsset auf ihn achten! — Man weiß ja, 
daß dieses Werk historisch nicht vol]konimen getreu ist, daß 
es eine Anzahl von freien Erfindungen und auch Irrtümer birgt; 
aber gerade dadurch empföngt es die tiefere Wahrheit, die 
Aristoteles der Dichtung vor der Überlieferung zuspncht: ein 
einmaliges Erdenleben erhebt sich in eine ideelle Sphäre und 
wird zum symbolischen Menschenleben. 

In „Wilhehn Meister** ist der Weg eines Menschen rein 
empirisch als Eiziefaungsiirobleffl gdafii Das Wort „Bildung** 
hat hier den wahren und wörflicben Sinn als Urau^gabe des 
Menschen, der alle seme Kritfte pfl^ und zweckvoll ofganisiert» 
um vom Naturzustande zum höchsten Grad der KuUur zu ge- 
langen. (Die Tietmenschen hn Reineke Fuchs sind Weaen ohne 
die Idee einer Bildung, ganz Natur.) Damit (fie Bildung voU- 
endet werden könne, muß die gute Anlage da sein, der innere 
Drang, sich zu \erv'üllkommnen, und dazu treten die Führer, 
die Bildner, die in Goethes Roman als eine ganze geheime Oe- 
sellscliaft den Weg Meisters beurteileu und leiten. Weil der Held 
als eine Verkürzung der Menschheit gedacht ist, kommt seinen 
Handlungen symbolische Bedeutung zu ; selbst die IrrtümiT und 
Net)enwege, die keinem erspart bleiben dürfen, haben ihre i3e- 
deutung und ihre erzieherische Kraft. Meister glaubt zum 
Schauspieler berufen zu sein und whrd von diesem Wahn ge- 
heilt. „Nicht vor Irrtämem zu bewahren, ist die Pflicht des 
Menschen-Erziehers^ sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn 
seinen Iirtnm aus vollen Bechern ausschlihfei zu lassen, das 

LMok«, Qnmwm 4m S«il«. 26 



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402 



ist die Wdabeit der Lehrer/'^) — Darauf kommt es an, daß 
aicb ttatr immer stnbeod bemäbe^ nicht daß ihm der gerade 
Weg von Anfang an aidgescUoeeen sei. Je tiefer er in Wider- 
sinn gerit, desto leiner kann die Oberwindung sein und die 
Weisheit, zu der er findet Das ist die Mdnung OoeUies im 
Wiüidm Meister. — Die Ausbttdung liat drei Stufen: die Lelir- 
zdt, die Wanderzdt^ die eine Fortsetzung des Lernens Irildet, 
und endlich die Gewinnung der Meisterschaft 

Was im „Wilhelm Meister" dem Bereiche der Erialirung 
und des Irdisch-Wirklichen angehört, das ist im „Faust" von 
allem Zufällij^^eii ^^'rnni^^t, zum klaren Bilde konzentnert und 
ins Ewig-Menschliche gehoben Wollte man den Inhalt des 
Faust auf eine hormel bringen, so müßte sie lauten: der Weg 
des Menschen durch die Reiche der Welt (wie der Weg Dantes, 
aber umfassender, reifer, menschlicher) Faust ist der typische 
Orenzmensch, in dessen Brust zwei Seelen wohnen und typisch 
nordisch- germanisch dazu; sein Problem ist das Problem 
Goethes: die FüUe des Seins und der Seele zu einer höheren 
Einheit zu fuhren. Er verBlefat Jedes SIrdien und jede Leiden- 
schaft — nur nicht das ruhige mittetanenschttche Dasefai. 

Ihn sUtigt Iceme Lust, ihm gnfigt l»hi Olfldc! 

Dem phantastisch Oolfaiscfa-Barodttn, das den Grund semcs 
Wesens ansmachti würd die Sehnsucht nach einem freieren Men- 
schentum und das Ideal sonniger Schönheit entgegenj^esteUt. 
Aber auch das ist ein Traum. Beim Eintritt iii die klassische Welt 
hören wir: 



*) Lehfjahre 7. Bueli, 9. Kap. — Dasu dl» zaimie Xmle: 

tMn Stfinddien tchleidie dir vergebens; 
Benutze, wae dir widerfahr<»i, 
Verdrui ist atidi ein Teil des Lebens. 



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403 



Sogleich 
Kehret ihm das Leben wieder, 
Denn er sucht's im f abehpeicb. 

Immer entschiedener drängen die antiken Elemente die miitel- 
alierlicfa-iioidisclien zurflck, Iris Faust endUch das Ideal der 
mdvoi Schönheit in Helena zu halten glaubt Aber der bloBe 
Anblick des dritten Aktes — Helena und die Oriechinnen im 
mittelalterlich-romantischen Bmrghof — läßt fühlen, daß eine 
wahrhafte Einheit immöglich ist und nur in der Phantasie ge- 
schaffen werden kann. Auch der Schönheitstraum, der in Eu- 
phorion Gestalt gewonnen hat, versinkt — mit ihm Helena, sie 
löst sich in eine Wolke auf. 

haust ist reif geworden, er will das Leben selbst ohne 
Hülle halten und gestalten und aus ihm das Bleibende, das 
Wertvolle schaffen, nicht mehr den Wert im Reiche der Un- 
wirklichkeit suchen. Das ist die Bedeutung der beiden letzten 
Akte. Goethe erwähnt mit Beifall einen Ausspruch, den Merck 
über ihn getan hat: „Dein Bestreben, deine unablenkbare Rich- 
tung istp dem Wiridichen eine poetische Gestalt zu geben; die 
anderen suchen das sogenannte Poetische, das Imsginative zu 
verwiiUicfaen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.*' *) — 
Der Weg Faustens ist durch alle Tfftume und Irrtümer hhi- 
durch, nidit um sie herum gegangen, Faust hat sich mit Phan- 
tasie und Effahrung groß genihrt^ um endttch nur noch tttiger 
Mensch zu sein. Er veraditet ]ede Illusion, auch die Eitelkeit 
— Die Tat ist alles, nichts der Ruhm! Und er hfingt sich ans 
AllerwirkUchste, an Macht und Besitz. Aber nicht ainnleere 
Macht will er, Macht und Wert müssen zusammentreten und 
eine fruchtiMure Einheit bilden, die das Höchste hervorbnngen 
kann: 

*) Wahrheit und Dichtung, 18. Buch. 

26* 



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404 



So wird er stets der Allerhöchste sein, 
Der Würdigste — genießen macht gemein. 

In diesen Worten ist die Richtung des Lebens ausgesprochen, 
nicht nur in den allzu oft angeführten Genießen macht ge- 
mein", sondern im Zusammenhang, der ein Programm für den 
reif gewordenen Menschen bedeutet. Der Würdigste soll auch 
der Machtigste sein, er, der die Macht nidit für egoistische 
Zwecke, sondern im Dienst einer Wertidee zu verwalten wei6. 
Wir stehen wieder vor dem Gnmdmoüv: das Irioße Seüi zu 
einem wertvollen Sein zu konzentrieren; das bedeutet die Alle- 
gorie des letzten Aktes. Die venleiblidie MeereswOste vnid in 
fruchtbaren Boden verwandelt^ damit Menschen ttüfif frei dort 
wohnen — eine unendliche Aufgabe. — Und wessen Sinn ganz 
auf schöpferisches Leben steht; der empfängt allem blutgescfarie- 
benen Teufelskontrakt zum Trotz Göttlichkeit, denn er ist den 
Weg des Menschen glorreich zu Ende gegangen. Darüber 
hinaus — so lehrt Goethe — vermag er den letzten Schritt, 
der ein Sprung ist, allerdings nicht mehr selber zu vollbnngen, 
Gnade von oben, ein Mysterium muß sich zum guten Willen 
und zur inneren Kraft gesellen. Aber dieser Segen ist dem 
gewiß, der alle Menschenkraft ins Spiel gesetzt und sein Leben 
zum höchsten, wertvollsten Dasein gesteigert hat. Wieder tritt 
uns die Forderung Goethes entgegen — diesmal als Oberzeu- 
gung: daß für den kein Unterschied mehr zvrischen Sterblich* 
keit und Unstert>licfakeit t>estefae, der im rastlosen Sfreben und 
Wiriien aufgegangen ist*) Der kanonische Mensch hat vor 
unseren Augen sein Leben geld>t und vollendet Wir fühlen 
hier mit unmittelbarer Ehidringlichkeit das Wesen des großen 
KunstweiioeB (das einen großen Gegenstand haben nrafi): es 
zeigt im Bi ldfi wie alles Seiende Ewigkdts^Sinn erlangen kann, 

*) Vgl. den vorigen Abschnitt. 



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406 



wie sich das Erdenkben dnea Meoflcfaen zu symboUacher, vor» 
UkUicfaer MajcsOt wölbt, wie die Wiridlddceit Idee der Wak- 
Itcbkeit geworden ist Und wir veraleiiea noch tiefn; in welch 
entscfaddendsr Bedeutung Goethe der wahre Plainnilier, der 
wahre KünaÜer, der wahre Mensch ist — 

Vielleicfat sind die Gefahren fOr tehien so groß wie 
für den kanonischen Menschen. Ist es das Schicksal des wer- 
tenden Rigüristea gewesen, ins Abstrakte und Lehrhafte zu ge- 
raten, hat dem Überreichen die Gefahr zu zerfließen gedroht: 
so finden wir bei Goethe, der beide Potenzen in sich vereinigt, 
auch btiide Gefahren wieder. Ja es ist durchaus mögUch, sein 
ganzes, so unvergleichlich zentriertes Sein als ein glücklich er- 
arbeitetes Resultat aus zwei entgegengesetzten Tendenzen zu ver- 
stehen, die einander aufzehren wollen. Zuerst die Gefahr des 
FonnaUsmus: Sentenz und Allegorie haben mehr als eine der 
spfifteren Dichtungen verdorben, ein Gedanke ist zuerst da und soQ 
nun poetisch umkleidet werden. So ist die klassische Walputgi» 
nacht mehr gedacht als geschaut Und dieselbe Tendenz finden 
wir in der Vorliebe für alles wieder, was nur proporäoniert and 
rcgelmifilg ist» ohne dabei emen tieleren Zwedk zu cffiillcn. Die 
Verehrung von feudalen und aristokratisdien Fonnen beruht auf 
der gleichen Bewunderung für das Geordnete, Wofalgdiildele. ^ 
Dieser Trieb zum Regdhaften und Abstrakten stdit hn besOn- 
digen Kampf mit dem entgegengesetzten, dem Oberfluten der In- 
halte; das ist die Gefahr, sich ins Wertlose hinein zu ver- 
lieren, im Chaos des Stofflichen zu versinken, nur noch zu- 
sammenzutragen, nicht mehr zu sdieiden, von der „millionen- 
fachen Hydra der Fmpirie" besiegt zu werden. Wenn Goethe 
reist, so legt er sich Akten an, m die alles, was sich errafien 
läßt, „Zeitungen, Wochenblätter, Predigtauszi^e, Verordnungen, 
Komodicnze ttd, Preiakurante" eingeheftet werden er ist von 

*) Brief an ScMUer vom 22, 8. 1797. 



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406 



der Tatsache des Seins und der bloßen lixistenz so sehr fas- 
ziniert, daß er manchmal Großes und Nichtiges vermengt. Das 
ist die Verlockung des Plutus, von der Goethe als Mensch (wie 
Shakespeare als Dichter) bedroht wird. Fr erlitt dem trivi- 
alen Dahinleben, der Dämonie des Alltags (S. 174). Er ver- 
liert Piaton und kommt Spinoza nahe. Und hier besteht wirk- 
lich eine Beziehung Goethes zu Spinoza. Wenn Goethe einmal 
von der Kraft des Genius verlassen wird, so sinkt er in diese 
unadlge donlde Region des StoffUchen. Von hier aus vetslefacn 
wir ptötzlicfa die fiir den gr56ten alter Platoniker unbqireif* 
liehe Bewunderung der blofien Macht, die für Spinoza ao 
chaiaicteriatisch und adbetversündlich ist Atacht ist nidits 
andeiea als Tatafichlichkeit, dss was ohne hmere Rechtfertigung 
aneilannt wird. Da Spinoza fiber die Macht hinaus nidits 
kennt, da ihm der Oedanke eines inneren Wertes fremd ist, so 
bedeutet iür ihn Macht und Tatsädilichkeit alle5, und das ist 
die eigentliche Gefahr Goethes gewesen: Schwäche gegenüber 
dem Tatsächlichen (das er doch als „Empirie" wieder gemieden 
und verachtet hat). Sein Respekt vor Fürsten und Titeln ist 
(jetzt vom Inhalt her verstanden, und nicht wie früher formal) 
eine Äußerung dieses Zuges. Wie iiim zu Zeiten jeder Stein 
und jeder Kupferstich wichtig erscheint, bloß weil sie eben da 
sind, so läßt er sich manchmal auch von der Tatsache eines 
zuSälligerweise hochgestellten Menschen imponiefen, bloß weil 
er auf einem weithin sichtbaren Platze steht 

Dieser Trieb Ooethes» jeden Ehifall festzuhalten und rast- 
los Materialien zu sanunehi — der Trieb ehies Menschen, der 
sich selber unendlich wert und wichtig ist und der die Erde 
ganz als Hehnat anerkennt — enthüllt sich aber wieder nur 
als das Bedfiifhis tfttig, produktiv zu sein; der MQhlgang er- 
greift nun Bedeutungsloses^ geht sozusagen leer. Jean Paul, 
der Goethe näher steht als man auf den ersten Blick meinen 



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407 



möchte, hat denselben Hang zu einer eiBtaunlichen Systematik 
ausgebildet. Der Gedanke, daß etwas verloren gehen könnte, 
ist ihm unerträglich, die kleinsten Gegenstände wie Knöpfe 
werden in einer ,,Lumpenschachter' gesammelt, „Zettelkasten" 
müssen alles bewahren, was ihm über den Weii^ läuft, was er 
liest, was seine Kinder sagen, was man ihm schreibt. Da ist 
nichts, was seiner Aufmerksamkeit zu gering wäre. Und weil 
die Genialitat Jean Pauls die kleinen Dinge doch nicht ganz 
ernst nehmen Icann^ werden sie von seinem strahlenden Humor 
beschienen und veildSrt Alles das ist eine AuBerung des Orund- 
tricbes zu b e j ah en , der unerachöirflichen liebe zu allem Ver- 
handenen» ebenso bei Jean Paul wie bei Goethe. Die Romane 
Jean Pauls entbehren nicht sdten aller kihisflerisdien Zudit und 
zerrinnen aus der Oberfülle des Stoffes ins Chaotische. Jean 
Paul ist der Gefahr des allzu großen Reiditumes e^ 
legen (und er ist so wahllos bejahend, daß er für das Negative 
und für das Böse ^ar kein Organ hat). Bei Goetlie aber wird 
diese üefaiir durchaus von der allgewaltigen Persönlichkeit ge- 
zügelt; in seinen großen Werken ist nichts Ungestaltetes, nichst 
das bloß da wäre und keinerlei Bezietiung zu etwas Sinnvollem 
besäße. Er kennt seine Versuch unc^ und wird Herr über sie, 
er ist in aller Mannigfaltigkeit doch immer er selbst. Goethe 
hat als Dichter weder die ungeheure Gescblosaenheit Dantes 
noch die seelische UnendUdikeit Shakespeaies — aber Einheit 
und Fülle sind in efaier höheren Entelechie zusammengefaßt — 
Man darf sagen, daß ein Mensch um so mehr Mensch ist» 
je mehr Unmittelbarkeit er tiesitzt, je naiver, erlebter 
und direkter seht Vcriiiltnis zu den Menschen, zu den emzelnen 
Dingen, zur ganzen Natur, zur Ewigkeit ist In ehiem unmittel- 
baren VeifiSltnis zu etwas sieben, heißt fä eist, es wirklich er- 
leben, aufnehmen, besitzen. Unmittelbarkeit ist aber immer Em- 
fachlieit Und vielleicht hat kein Mensch jemals ein so ent- 



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408 . 



fifhif4fnfff| imintttdbtRB und reiim VeriiSlIiiis zu aUm Seien* 
den gehabt wie Oodhe Wenn wir die OWUche Komödie lesen, 
so berfilirt uns mandinuJ ein cnchautes Bild, dn glüiiendeB 
Wort, ein innigfes keusches AufbÜdm. Oft aber ffihkn wir, 

daß der Wanderer nicht unmittelbar aus den Quellen des Lebens 
trinkt, sondern daß etwas zwischen ihm und der Welt, zwischen 
ihm und den Menschen steht: eine Tradition, eine festgesetzte 
Art, die Dint^e zu betrachten und die jMenschen zu beurteilen. 
Das ist die un^^^eheure Last seiner Zeit, die auch das Genie nicht 
p^anz hat abwerfen können. Um so tiefer werden wir ja ge- 
trofien, wenn dann wieder eine Landschaft aufdämmert^ lieblich 
wie der Frühling aitf den Höhen um Florenz. 

Zwischen Ooettie und dem Sein aber steht nichts (wenn 
wir von den späteren Allegonen absdien), er ist mitten darin, 
seine Sinne sind, was sie in höcfasler Bedeutnogr sein l[finnea: 
Oigane^ die Wdt zn eftosen. Und ebenso ist sein Oeist un- 
mittelbar und unendlidi einfach (wenn auch infolge der gro6en 
Meoge seiner Beziehanffoi nicht hnmcr Iddit zu ventdien). Es 
gibt keinen wirklichen Gegensatz zwisdien dem sddicfateslen 
Lied Ooelhes und einer schwierigen Versieihe im Tasso oder 
einer mit Fremdwörtern überladenen Reflexion der Farbenlehre. 
Weiüi auch der Gegenstand anders geschaut und anders be- 
zogen wird, so bleibt doch die unmittelbare Frische der An- 
schauung und die Kraft des Denkens immer gleich — und das 
ist das Menschlichste, das eigentlich Menschliche. So erscheint 
Goethe in seinem Leben, in seinem Diciiten, in seinem Schauen, 
in seinem Denken als wahrhafte Vollendung des Menschen und 
ohne alle Unbegreiflichkeit Der letzte Sprung tritt erst nach 
ihm em. 



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409 

BACH 

Goethe, der alles gewußt hat, sagt über E^ach : „Als wenn 
die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie srch's 
etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltenschöpfung" möchte 
zugetragen haben. So bewegte sich's auch in meinem Innern 
uad es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten 
Aqgen und wieder keine übrigen Sinne besäße noch brauchte." *) 
— In diesen merkwürdigen Worten — Goethe, der kerne Sinne 
brancht! ~ Ist das Wesen der höchsten denkbaien Oenialitft 
eiahnt: Badi ist nicht ein groBer Mensch, der sich vollendet 
hat hl ihm ist ein anderes^ ein höfaeies Bewußtsein, das 
Menschliche, wandelt sich zu Ewigem, die Menschheit wird ins 
Absolute hinfibetgefühit 

Die Stufenieifae, hi der sich der Oeist entfoltet, geht vom 
Chaos, das alles Odslige und Seelische in ungeadiiedener Vid- 
hdt birgt, zur organisierten Form der Persönlichkeit. Sie 
macht sich immer mehr von Subjektivität frei, wird immer in- 
tensiver und erfüllt sich immer reicher mit Objektiv-Wertvollem, 
mit Ideellem. Alle höheren Ödster unserer Kultur leben in der 
Form der Persönlichkeit, auf einem Punkt des Weges vom 
Chaos zur Idee, Bisher ist der Begriff der Persönlichkeit als 
ein Maximum, als der eigentliche Mittdpunkt alles Menschlichen 
genommen worden, weil er Wert und Seele in Emes setzt. Aber 
es liegt im Gedanken der Persönlichkdt, sich zu vollenden. Und 
eine solche Vollendung wuide zugldch ihre Selbstaufihebung in 
der reinen Idee bedeuten. Dieser Schritt ist, philosophisch ge- 
nommen, so entBcfaddend wie fiberiianpt etwas ffir die Menadir 
heit entechddend sein kann: Das Menschliche, das doch hnmer 
euigeechr&nlct und relativ ist, wäre zu etwas Absolutem gewo^ 
den, hatte sidi ganz fai Wert verwandet 

Diese höchste Form zu sehi kann aber nur an einem Ma- 

*) Brief an Zelter vom 21. 6. 1827. 



1 



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410 



terial ansdiaidich wcfdcn, das vom Eisdiehieaden niwMiiBgtg 
iat ~ und ein solches Material besitzt einzig die Masik. 
Denn hier enchafft der Oeist nicht nur Fonn und Inhalt, son- 
dern auch den Stoff selbst, die Musilt ist in Wiiklicfakett Sdiöp- 

fung aus dem Nichts. Alle anderen Künste organisieren und 
beseelen ein Material, das m ßniclistuckcn schon gfegebea ist, 
die Musik allein schafft alles votn Anbeginn und darum kann 
nur in ihr eine höchste Bewußtseinsfonn ans Licht treten. Man 
wird es nicht emstlich diskutieren, daß die Musik etwa die hör- 
baren Vorgänge der Natur nachahme und umbilde. Mag sie 
einmal den Ruf eines Vogels oder das Brausen des Waldes 
stilisieren, so ist ihr das nicht wesentlich, sondeni ganz und 
gar zufällig, es ist ein Inlialt neben anderen, kein aus ihrem 
Schoß heraus erzeugtes fonnales Element Die lAmk ist pcin- 
zipidl unabhängig von aller Witldichkdt; die muaflalisdien 
Tfioe sind viefanefar hn Gegensatz zu den Nahngerftuscfacn rein 
nutfacoiatische Relationen. Die Orundtalsache, daß die Musik 
an! sich seiher ruht und aus sich selber Nahrung zidit, ver- 
leiht Ihr die MflgUchkdi absduler Habe, bietet aber auch die 
Gefahr völliger Veiflachung und Nichtigkeit. Der Musik fehlt 
die Kontrolle der wirklichen Welt.*) Selbst dem geringsten 
Maler oder Dichter, wenn er nur überhaupt Künstler ist, steht 
die Fülle der Erscheinungen offen und sie kann niemals aus- 
gescliöpft werden. Das kleinste Stück Welt birgt etwas Wesen- 
haftes, etwas Echtes und eine Beziehung zum Sinnvollen, der 
Musik mangelt dieser Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Aus 
der Abhaspeluog der nichtigsten rhythmischen Phrase kann 

*) Auch die Baukunst ahmt nichts nach und hat daher die Mdg- 
lichkeit ehier höchsten Objektivität, die im gothlschen Dom ecrcicht ist 

(In dieser höchsten formalen Analogie liegt die geahnte V'erwandt^chitt 
Bachs, der doch historisch in die Perückenzeit des Barock gehört, mit 
der Gothik). Aber kaum jemals ist das Schwere, das Lastende j;anz in 
Poim aittoilOsen, ein Efdenrest bleibt Immer zu tragen pdnlich. 



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411 



schon ein Musikstück gebildet werden (Walzer). So charak- 
terisiert sich die Musik als die Kunst der Grenzen; keine andere 
keimi diese wdtenwdte Spanniuig» wie sie zwischen einer bachi- 
scfaen Oiigelfiige und einer Wiener Opoette UaffL 

Auch das voUendetele goettiesche Oedicht wird durch das 
nicht jedem Menschen zugSnglidie historische Gebilde der neu- 
hochdeutschen Sprache ehigegrenzt; und darüber hinaus ist es 
noch von Gegenständen der Umwelt (Gesiditsvorstdlungen) ab- 
hängig — worin allerdhigs wieder sefai besonderer Rdz liegt 
Die Musik allein kann in dem von ihr erschaffenen und nur 
ihr aiigehörigen Material des Tones die Seele des Menschen 
ohne jede Beschränkung spiegeln (Beethoven), sie kann schließ- 
lich das Bewußtsein eines einzelnen Menschen, und sei er der 
genialste, überschreiten und eine objektive Bewußtseinsform dar- 
stellen, in den ^T^oßen Werken Bachs ist nicht mehr dieses 
oder jenes Gefühl ausgedrückt; auch nichts Menschliches, d.h. 
Endliches; sie sind vielmehr das Bewußtsein, das Sein selbst, 
oder eine Projektion, ein Bild davon. Diese Frage kann nicht 
entschieden werden, weil jeder Vergietch fehlt. Je mehr man 
sich müht, das Emmalige^ das hier geschehen ist, zu fassen, 
desto mehr wird man fOblen, daß die Kunst Bachs etwas für 
die Menschheit Entscheidendes darstellt: daß hier eigenflich ein 
Wunder vollbracht ist; zu dem psychologisches VenOndnis 
vielleicht hintasten kann, das uns aber doch ffir immer ver- 
%chlo6sen bleiben wird. Denn unser Denken macht Halt vor 
dem Absoluten. 

Wenn Schopenhauer die Musik die Abbildung des Dinges 
an sich nennt, so ist das eine dogmatische metaphysische Be- 
hauptimg, unter der man sich eigentlich nichts Rechtes denken 
kann, weil man das Original des Bildes nicht kennt. Ich möchte 
immer nur vom Menschen ausgelien und vom Standpunkt de-s 
Menschen sprechen; vom Menseben aus gilt alles Gesagte und 



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412 



noch zu Sagende, nicht von ifgendeinem Metaphysischen her« 
nur psychologisch, wenn auch als letzte psychologische Denk- 
harkdt, als Grenze des Seelischen. 

Wir haben bei Dante gesehen, wie er ein Reich jenseitiger 
absoluter Werte verkündet, das in sich selber ruht. Aber auch 
die höchsten Symbole des Katholizismus sind nur naive Ver- 
größerungen und Projektionen irdischer Dinge, sie scheinen 
wohl vom rein menschlichen Kreis in ein Höheres zu führen, 
sind aber doch in Wahrheit nichts als menschliche Phantasie- 
gebilde, die ihr Material der räumlichen Welt entnommen haben. 
Dieses absolute Sein, das vom Katholizismus gefordert 
wird, ist in Bach alsWirklichkeitda. Das Wertvolle hat 
sich ins menschliche Bewußtsem selbst verwandelt, wir erlcen- 
nen das VerhSltnis^ das jedes ahgesddoBsene metaphyaiadie 
WdtqrBtem zn dem wahiliaflien Sein hat: dort Eidadites^ Er* 
sehnt», OetrftumteSy Gebotenes — hier unmitftelbaxe Wirk- 
fichketi 

Was über den Zosammcnhang von Kunst und Rdigion ge- 
sagt werden kann, das findet hier seine Bestätigung. Auf der 
höchsten Stufe der Genialität treffen die beiden Züge, die von 
wo anders her kommen, in Wirklichkeit zusammen und werden 
eines. Es ist der eigenüiche Sinn der Kunst, das Wertvolle 
im Sein zu entdecken und zu verewigen, und das Kunstwerk 
ist seiner Idee nach Leben, das alles Zufällige, alles Nichtige 
weggetan hat und ganz wertvoll geworden ist Der höchste 
Gehalt des Lebens hat sich zur Schönheit kristallisiert. Diese 
Idee der Kunst — Wert in der Form der Erscheinung zu sein 
— ist in Bach Wirklichkeit, man kann ohne Obertreibting 
sagen, daß Bach die Idee der Kunst selber voistdle^ — Der 
iniialt der ReUgion ist aber auch nichts anderes als das Ewige 
s im Dasein. Wären kimstierische Kraft und religiöses BewuBt- 
sein vollendet — wie es in Bach der Fall ist — so wären sie 



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413 

zu einer unauflösbaren tinheit geworden, alles Seelische hätte 
absoluten Wert empfangen. Sonst ist höchstens die Ahnung 
dieser Identität vorbanden. (Wagner hat im Parsifal die Ein- 
heit von Kunst und Religion mit Absicht schaffen wollen, und 
Ich möchte glauben, daß die eigentümliche Beziehung der Par- 
sifal-Musik zu der Musik Bachs der Ahnung entspringt, auf 
wdchein Weg diese Einheit zu gewinnm wSre. Wie nun 
weiß, hat Wagner nicht sehr vid ffir Bach fibrig gehabt) 

Alle OroSen, von denen gesprochen worden ist und von 
denen nicht gesprochen worden ist, steUen Mdglichkeiten fihr 
den Menschen dar, smd VoHendongen dessen, was der Menach 
sein kann, Grenzen der Seele. Mit Bach ist es nicht so: er 
verkörpert nicht diese oder ]ei;c, auch iiicht die größte Mög- 
lichkeit der Seele, er verkörpert das menschüclic Bewußtsein, 
das absolut gewordene Menschliche. Kant (und nach ihm 
Goethe) bezeichnen alles, was an einem Menschen subjektiv, 
individuell ist, was von der reinen Idee der Menschheit ab- 
weicht, als „pathologisch"; und selbst in Goethe sind noch 
Spuren dieses Pathologischen. Bach ist ganz darüber hinaus, 
zwischen ihm und dem voUkommenen Sein gibt es keinen Unter- 
schied mehr. — Bei allen anderen genialen Menschen besieht 
eine Einheit aua Werte und Leben, wenigstens der Richtung und 
der Idee nach; bd Dante, bd Shakeqieue und bei Ooeihe ist 
der Zusanunenhang zwischen dem, was ale geschaffen haben, 
und dem, was de gewesen amd, offenkundig, ja wir haben ihr 
Weck als ehie hdcfaale Ausdeutung und Bdotftigung ihres Seins 
verstehen kdnncn. Bd Bach ist es prinzipidl unmöglidi, ehien 
Zusammenhang zwisdien seinem Ld>en und dem andern in ihm 
herzustellen; und zwar nicht, weil dies zu schwierig wäre, son- 
dern weil es keinen Zusammenhang gibt. Das Leben Johaiiii 
Sebastian Bachs ist kleinbürg^erlich vom Anfang bis zum Ende, 
a lebt in guter hausüältenscher Ehe, seine Frau stiriit, er hei- 



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414 



ratet wieder und hat nicht weniger als zwanzig Kinder erzeug. 
Es leuchtet ein, daß Beethoven alle Kräfte seines Innern in jMusik 
umgesetzt hat, so daß für Weib und Kind nichts hat übng 
bleiben können; bei Bach gibt es keinen Zusammenhang zwi- 
schen diesem und jenem Er liegt Zeit seines Lebens mit den 
Behörden von Leipzig in einem kleinlichen Krieg, er zerfließt 
vor seinem Kurfürsten in Submissität und petitioniert jahrelang 
unermüdlich um den Holkapdlmeister-Titd. Kurz da ist nichts 
wie im Leben Beethovens oder Wagners, was auf dn Unge- 
wöhnliches hinwiese — selbst sein Kopf ist nach den erhaltenen 
Bildern wenig bedeutend. 

Aber nicht nur das äuBere Leben Bachs steht hi kdnem 
eftennbaren Zusammenhang mit dem, was in ihm gewesen ist» 
noch viel mehr: sein bewußtes Seelen- und Ceisiedeben hat 
keine unmittelbare Beziehung zu dem andern. Auf ihn wie 
auf kehlen sonst trifft das Wort Schillers zu, daß „das Oenie 
8ich hnmer selbst das größte Oehefannis ist^*). Und Albert 
Schwdtzer sagt richtig: „Er war der erste, der den überzeit- 
lichen Wert seiner Werke nicht erkannte. . . Seine unermeßliche 
Kraft betätigte sich, ohne sich ihrer selbst bewußt zu werden, 
wie die Kräfte, die in der Natur wirken."**) — Bach hat sich 
niemals beklagt, daß er nicht verstanden und nicht anerkannt 
werde, er ist durch das Let>en gegangen wie ein Bijrßer, der 
senie ( lescbäfte besoigt ~ Dieses Alltagsletien hat etwas My- 
steriöses. 

*) Brief an Goethe vom 23. 8. 1794. 

). S. Bach, S. 152. — liiemals Ist ein Künstler so wenig^ von sefnem 
Jahrhundert verstanden worden wie Bach. Wenn e^^ählt wird, daß man 
Michelangelo, Beethoven, Wagner verkannt hätte, so ist das unrichtig. 
Sie sind von allen urtdlsilMswi Geistern bewundert wotden und tasben 
auch auf das Publikum gewirkt, obschon vielleicht nicht in flifOni ebenen 
tieferen Sinne Von Bachs Größe .ibcr hat kein einziger aus der mit- 
lebenden und der folgenden Generation etwas gewuftt und die historische 
Entwicklung der Musik ist auch von diesem zeitlosen Hiänomen nicht 



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415 



Wir stehen hier vor einem Geheimnis des Geistes; wie das 
Objektiv-Geistige dem jMenschen zugehört, aus dem es hervor- 
gegangen ist. Aber erst hier leuchtet uns die ganze Wucht 
dieser Frage ein, denn bisher ist doch der Zusamineahang wenn 
nicht selbetvoständlich, so doch begreiflich gewesen. Vor Bach 
aber veisi^ unsere Oberzeugung, daß das Ld>en und Sein 
eines Menschen den Geist spiegle, der in ihm webt, daß eines 
das andere bedinge und nähre. In Bach, einem großen Orga- 
nisten und schaifsinnigen Kontrapunkliker» ist die absolute Oe- 
nialiiftt zuhause gewesen. Und der Inirachsische HoftapeU- 
meister — er hat diesen Titel endlich errungen — konnte dies 
andere selber nicht begreifen, sondern nur ahnen — er liat aich 
in tiefster religiöser Demut davor gebeugt. 

Wenn meine Deutung Bachs — von Psychologe wag:e ich 
hier nicht mehr zu sprechen — , die so paradox klm^^t und 
doch die einzig mögliche ist, einen Beweis erfahren kann, so 
liegt er in dieser völligen Dualität, die sicli aber nicht etwa 
als Zerrissenheit und Tragik, sondern als selbstgenugsame Zu- 
friedenheit manifestiert hat. Kein wirklicher Mensch verma^^ 
unbedingt, absolut zu leben, vermag Menschheit zu sein. Und 
aus der Spannung zwischen dem einen, dem begrenzt Mensch- 
lichen, und dem andern, geht die erstaunliche, etwas einge- 
schränkte Religiosität Bachs hervor. Wenn der Mensch Bach 
auf jenes Absolute hinsieht, wenn ihm die ganze weltenschwere 

hednfliatt worden. Bach war vergessen, als die Klassiker des 18. Jahr' 
hundert» kamen (und doch Ist in ihm alles vorbereitet und sogar schon 

da, was später in der Musik zur Geltung gelangt: die reine Linie seiner 
Melodie wird von Momart nicht überboten, seine herbe Charakteristik 
nicht von Wapner; an unmittelbarer Leidenschaft steht er allerdings hinter 
Beethoven zurück). Nachdem die Weit durch Zelter und Mendelssohn 
überhaupt wieder von Bach erfahren hat, lat das letzte |ahrhttndert am 
Werk, in dieses Reich ebizudrlngen, und es wird die unendidiilllGhe Auf« 
gäbe a!ler kommenden Zeiten sein, das Onmallge, dat hier oHenlMr wor« 
den ist, für ihr Dasein zu gewinnen. 



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416 



Wucht der Unvereinbarkeit seines Menschlidien und jenes an* 
deren zum Bewußtsein kommt — dann kann er aus seinem hi- 
storisch bedingten Zustand heraus nicht anders als ehrfurcht- 
voll anbeten. Er nimmt die Stellung ein, die bei der Beschrei- 
bung des wahren Gebetes dargelegt worden ist: demütig, fromm, 
dankbar, tief ergriffen von emem geahnten höheren Zusammen- 
hang, gibt er sich dem Ewigen in ihm selber hin. Das ist die 
eine, die katholisch-protestantische Form von Bachs Religiosität, 
die der danteschen Religiosität verwandt ist — nur mit dem 
ungeheuren Unterschied^ daß Dante wirklich zu etwas jenaei- 
tigODy Oc;genständlichem aufblickt^ Bach aber vor dem, was in 
seiner eigenen Seele lebendig ist, vor seiner eigenen itabegreif* 
liehen — für ihn wie für uns gleich unbegreiflichen — Oenia- 
Utät kniet Seine Orthodoxie ist die Art und Weise, wie er 
ach zu jenem Transzendenten stellt Bach kann eigentlich keine 
große Persönlichkeit genannt werden — was doch als ein Orund- 
faktor des Genies verbürgt zu adn schien — er hat, soweit wir 
ihn zurückrufen können, nichts davon, HSndd viel mehr (der 
auch in ihrer Zeit hoch über Bach gestellt worden ist). Bachs 
Geist und Bachs religiöse Anschauung sind beschränkt, er ist 
orthodox-lutherisch gewesen und hat jede andere Nuance des 
Protestantismus abgelehnt. 

Das geschilderte katiiolisch-protestan tische Religicmsgefühl 
geht von dem Menschen zu emem Jenseitigen hmfiber. Aber 
in Bach ist auch das andere, das unmittelbare Bewuf^tscin tiet- 
ster Einheit seiner selbst mit dem Absoluten. Und von diesem 
Mittelpunkte strömt nun die Gewißheit höheren Zusammen- 
hanges über den irdischen Menschen — der urngdiefarte Prozeß 
wie zuerst, als sich das Hinfällige demütig zum Unvergäng- 
lichen wandte: hier UnMdie ReUgioaitat, dort Besitz der Ewig- 
keit der durch nichts vennittdt oder gebrochen wird. Vid* 
leicht kann man an dieses mysterium magnum nirgends so nah 




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417 



herantasten wie bei ßach: das Bewußtsein der Ewigkeit ist 
in aeiiier Kunst ganz eigentämlich isoliert; und im Menschen 
lebt die Ahnung» wie er diesem Höchsten nahe kommen mfife. 

Das angedeutete Verhältnis ist aber das Uigefuhl des 
Glaubens, das sich am entschiedensten in den ChorUen 
Bachs ausspricht (und vielleicht am überwältigendsten in dem 
Doppelchor der Kantate „Nun ist das Heil und die Kraft* 
Der Mensch naht sich dem Absoluten, dem OAttlichen hn 6e< 
wußtsein unerschütterlichen Glaubens. Dieses Urgefühl er- 
scheint im alten protestantischen Choral mit der größten Ent- 
schiedenheit verkörpert. Der einstimmige üesaiig der Göneinde 
ist das Gelübius des Menschen. Gott treu zu sein, die Einsen 
kung des Menschlichen ins Absolute, und Bach hat diese Ur- 
form aller Melodie, diese fundamentale Gestaltung des 
Sinp^ens ergnften und zu seinem ehernen Schilde gemacht. Es 
gibt kaum eine größere Vokal-Komposition von Bach, wo nicht 
der Choral in irgendeiner Form erschiene, entweder — am 
häufigsten — im klaren durchsichtigen vierstimmigen Satz, als 
Melodie, der die schweren Quadern der tragenden Stimmen 
untecgebaut smd; oder, noch herriichcr, wenn der Sopran oder 
ein Bla^'Instnmient allem die Chorai-Melodie shigt und alle an- 
deren Stimmen um dieses Strahlende herumschreiten. (So wird 
in der Tenoiarie „Bleibt ihr Engd, bleibt bei mir l** der Kantate 
„Es eriiub sich eüi Sbeif * der Choral unbeschreiblich groß von 
der Trompete getragen.) — Es darf angemerkt werden, daß die 
eherne Sicherheit des bachischen Chorales dem Sedenzustand 
Beethovens gerade entgegengesetzt ist. 

Der bachische Choral ist die musikalische Inkarnation der 
absoluten üiaubensgewii^lieit, mit der die Seele in Gott ruht, 
der vollkommenste Ausdruck des immanenten Religions- Bewußt- 
seins, das dem irdischen I eben Tiefe verleiht und autonom auf 
sich selber steht — daher ün echtesten Sinn protestantisch. <^ 

Lacks, Giwicn 4k SmI«, 27 



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418 



Dieses Gefühl kommt maadmul zu dncr aoldieQ HOhe, daft 

man erzittert — der Mensch hat unmittelbaren Anteil an Gött- 
lichkeit. — Hält luaii gegen einen Choral von Bach das Glau- 
beiisthema des Parsifal, so fühlt man, wie sich hier der 
Glaube aus Zweifel und so^ai Verzweiflung aufgerungea hat. 
Wai^ner endet mit der brüiisügen Sehnsucht nach dem Glauben, 
den er sich in größter, fast erschrecklicher Weise selber be- 
kräftigen und der Welt verkünden muß. Bach sucht nicht und 
veikändet nicht — er ist. 

Diese Choräle smd nicht die Sprache eines dnzehien Men- 
schen und auch nicht die Sprache vieler Menschen (das könnte 
derOememdegeiaiigvcniuiteiilMsm); der Mensch wird aidi 
seines Zusammenhanges mit Ooit bewuBt, er verwurzelt sich 
ins Ewige. Das Uigefuhl des Olaubeos ist hier ld>endig; und 
so sieben die CbofSle mttlen inne zwischen dem menschlichen 
Element in Bach und dem Qbennenschlicfaen) zwischen dem Iii- 
stofisch beduigten und dem zeitlosen. 

Der Text der Choräle ist unwesentlich und widerspricht 
nicht selten dem eigentlichen Sinn. Überhaupt bedeuten die 
Texte iür Bach nicht etwas an sich Künstlerisches^ sondern nur 
vorstellungsmäßiü^e Hilfen, die seine Prrxjuktivität in eine ge- 
wisse Richtung: lenken. Darum kann Bach auch einen Satz oder 
ein einzelnes Won unzählige Male wiederholen. Fr hat den 
Text nicht ,,durchkomponien", sondern er hat ihn wie ein Motto 
genommen, ihm eine Situation, eine Stimmung, den Hinweis auf 
ein Geschehen entlehnt und daran seine Phantasie entzündet 
Die Texte Bachs suid meistens erstaunlich schlecht und ge> 
schmackios; sie tragen die Schuld, daß wir immer wieder 
schmerzlich an eine bestimmte Kulturepocfae erinnert weiden 
und daß sich so das Gefühl der Zdtiosigkeit, das fOr Bach wie 
für gar kehicn andern Menschen charaUeristisdt ist» verdunkelt 
— Schweitzer weist darauf hin, daß Text und Musik bei Bach 



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419 

doch oft (und sc^ar ^anz äußerlich) zusammenhängen und hat 
eine Reihe von tonnialerischen Motiven au^edeckt. *) Aber 
trotzdem ist die Musik Bachs dem Wort im tiefsten fremd. Die 
Texte beschäftigen sich fortwährend mit den Voi^gängen der 
EvaogielieDrGeadiiGhte, die durchaus im Sinn des. kirchlichen 
Protestantismus vostanden sind und mit gefühlvonen pietisti- 
sdien Alien abwechseln. Und zweÜeUoa glaubt Bach selber In 
dieser Veit zu weflen. Aber das Eigentliche^ das Tiefe in ihm 
bleibt alledem fremd. Dieses Tiefe bedarf keiner Mittierachaft 
zwiacfaen Oott und den Menschen und keiner Erldsung im bib- 
lischen Sinne. Denn es webt in unmittelbarar, voUkommener 
Gegenwart. Niemals ist das Verhältnis, das für die ganze Re- 
ligiosität Europas so außerordentliche Wiclitigkeit erlangt hat: 
das Verhältnis zwischen dem historischen Menschen Jesus und 
der ewigen Idee des üottmenschen Ctiristus luxh so stark er- 
fahren worden und so produktiv gewesen. Als Mensch steht 
Bach ganz im Banne der historischen Religiosität, er ist deut- 
scher Protestant^ der im Neuen Testament aufs genaueste Be- 
scheid weiß. Aber das ist Vordergrund, historisch und also 
veigänglich. Sein tiefstes Bewußtsein ist das ewige Sein sdbst, 
das Sehl, das die großen Mystiker als Erlebnis geahnt» eradmt 
und vericfindet haben. In Bach ist es unmittelbar lebendig — 
und das macht seine ganz ehizige Stellung m der Geschichte 
des Geistes aus^ die ich hier begründen mdchie. Im gr&Bten 
Genie hat sich die Zwdheit: historische RetigiositU und un- 
mittelbares Ew]gkeila-BewiifitBein» Bibdglaube und Eriebnia- 
glaube in ganz einziger Weise befruchtet. Die absolute Per- 
sönlichkeit, die hier verwirklicht ist, kann von der beschränkten 
Gedankenwelt des historischen Menschen nicht erfaßt, nur ge- 
ahnt und verehrt werden. Es wäre falsch, zu sagen, daß Johann 
Sebastian Bach ein vollkommen genialer Mensch gewesen sei. 

«»BMonders 3.441 

27* 



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420 



I n ihm bat die absolute Geniafitit gelebt, hdcbateB Sein hat 
sich hier in der Fonn der Musik oÜenbarL 

Der wahre Onind, daB sich Bach unnwr wieder mit der 
Passion und Auferstehung Jesu beschSftis^t hat, liegt nach alle> 
dem nicht eigentlich in seinem historisch bedingten Zusammen- 
hang mit der Kirche, sondern in etwas anderem; Der zur Gött- 
lichkeit aufg^ü^ene Mensch ist sein eigentliches, sein einziges 
Problem. Das Wort und der Begnö „Problem" suid allerdings 
nicht am Platze, denn ein Problem ist immer noch eKvcis Pro- 
blematisches, während es sich hier um das Gegenteil davon 
handelt, nämlich um seeüsche Gewißheit, die von Anfang an 
da ist und die nur immer inniger und tiefer erlebt und ausge* 
sprochen werden kann. Es läßt sich geradezu behaupten, daß 
für eine Erscheinung wie Bach in unserem Kultuiloeis nur zwei 
Möglichkeiten bestehen, vorBtellungsmftßig zu IxSbm: entweder 
mit dem philosophischen Gedanken von der Vollendung des 
Menschen im Ewigen; oder die eigene unmittelbare Gewißheit 
an dem von außen voigezdchneten exemphurischen Leben Jesu 
unmer wieder durchfühlend und nachgestaltend. Es wäre nun 
allerdings möglich gewesen, daß sich Badi als Musiker nur mit 
instrumentalen Kompositionen befaßt und sein Ewigkrits-Be- 
wußtsein nicht anders als unmittelbar, wie in den Fugen ffir 
die Orgel und im Wohltemperierten Klavier niedergelegt hätte. 
Weil aber ein Mensch, der mit Menschen lebt, doch auch an 
Gedanken und Vorstellunp^en teil haben muß, kann sich dies bei 
Bacti nicht wohl anders abgespielt haben als in der Umbildung 
des Menschen s<^>i [IS in ein göttliches Sein; und da ihm der Be- 
richt von dem Gottmenschen überliefert war, mußte er ihn er- 
greifen und immer wiedtir neu bilden, in diesein Sinne ist Bach 
der größte und der wahrste Christ, denn in ihm hat sich die 
tieständige Umwandlung des Menschlichen in Göttliches wirk- 
lich vollzogen. — Wäre aber Bach nicht in einem Kultuikreis 



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m 

aufgewachsen, der ihm dies alles (laiS!ei>oten hat, hätte er auf 
einer Insel gelebt, nicht gerade ganz veduaea, aber doch Inil- 
tmcU ttnbeeiii&ußt^ ohne den Zwang, sich zu vcfBttndigcn und 
aein VonteUungaleben auazubflden? — Ich glaube — so weit 
man hier etwas sagen kann — , adn hrdisches BewuBtedn wixe 
alhnfihlich erloschen, es wäre ünmer tiefer in jenem Unbeding- 
ten, Abaduten, Genialen ani^angen, in ihm wSie cndiidi nicbts 
mehr gewesen als tonende Wdtenhannonie. Er hätte ach in 
Ewigkeit verwandelt. — 

Wenn man in die musikalische Analyse der großöi Werlte 
Bachs eingeht, so wird als erstes auffallen und unserer Deu- 
tung eine feste Basis j?eben: daß sie gar nichts Nebensachliches, 
sondern nur Wesentliches enthalten. Jede Stimme und jeder 
Ton ist Selbstzweck, alles ist wirkliche, obligate" Stimme, 
nichts Füllsel wie doch in den Werlcen der größten symphoni- 
schen Erfinder nach ihm, wo vieles immer nur zur Ergänzung 
der Harmonie, zur Untermalung der Melodie, zur Verstärkung 
des Klanges da ist Oder anders ausgedruckt: yro nicht jedes 
Etement d» Kunstwert» an und für sich einen Sinn hat, son- 
dern manche nur als StQtze für die Haupiglieder dienen. Bd 
Bach bestdit daher rdn fonnal musikalisch der höchste Reich- 
tun und die gr5fite Wucht an kflnsfleiischer Materie^ seine 
Musik ist schon dem fonnalen Bau nadi gesättigter, wesenhafter 
als jede andere. 

Nur mit organischen Stimmen zu bauen, die nichts Zu- 
fälliges und nichts Schmücliendes enthalten, sondern durchaus 
struktiv notwendig sind — das bedeutet den vollkommenen 
Gegensatz des Impressionismus. Jedes Element ist im üanzen 
begriindet und zieht seine Kraft unmittelbar aus den Wurzeln 
Die^ Polyphonie spiegelt die Fülle der Welt, die nichts Totes 
birgt und ganz in Lebendigkeit, in Wert verwandelt ist Eine 
baduache Fuge wächst aus dem Keim ihres Themas heraus wie 



422 



ein Baum, der Aste, Zweige, Blfiten und Frfldite trdbt, der 
nichts besitzt, was nicht aus seiner eigenen Kraft entstanden 
wäre. Das sind nicht imi formal musikalische Vorzüge, son- 
dern es ist der künstlerische Ausdruck des absohit Notwen- 
digen, ganz auf sich selber Ge^indeten. Die bachische Fuge 
entfaltet das Sein in voller ströniender Lebendigkeit, das Prä- 
hidium offenbart es in Verklärunt:^ und Ruhe. (Das gilt natür- 
lich nur von den wirklich vollkommenen Stücken.) 

Die eigentümlich geheimnisvolle Schönheit der bachischen 
Polyphonie beruht darauf, dafi sieb die Sümmen, welche die 
Melodie tragen, keusch verbeißen und oft nur geahnt, nicht mit 
voller Deuilichknt atii^iefaßt werden kfionen. Dos scheint nun 
allerdiQgB ffir jede Po^phonie zuzutidfen, aber die Fonn bat 
alch nur dieses ebie Alal ganz mit Oröfie imd Bedeutung er- 
füllt Bachs Art, die Melodie zu behandeln, ist gerade ent- 
gegengesetzt der UasstBdien Opern-Arie (besonders der iialieni* 
sehen), wo Aber einer ind iff ere n ten und wertloeen Begleitung 
eine geacfaiossene Melodie hingeht. Her gibt es keine verbor- 
gene Schönheit, nichts Geheimnisvolles, alles liegt offen zutage, 
und wenn auch die Schönheit dieser einen Melodie vollkommen 
sein kaiiii, so hinterläßt sie doch eine gewisse Enttäuschung, 
weil sie sich allzu bereitwillig dargeboten hat. (Dasselbe gilt, 
wenn zwischen tremolierenden Streichern ein metallisches Mo- 
tiv aufsteht, wie das bei Wagner und bei ßniekner so häufig 
vorkommt.) — Der psychologische Unterschied zwischen den 
beiden Arten, eine Melodie zu bebandeln, scheint mir aber der 
zu sein: eine mozartsche Arie ist eine Seele, die tönend durch 
die Welt zieht, eine bachische Arie ist Singen mitten im großen 
Gesaqg des Seins; die Melodie^ die lieraustönt, Icann ebenso 
gut von einer Menschenstimme getragen werden wie von ehier 
Oboe oder eker Vida d'amore, und meistens spielen zwei Ele- 
mente durcheinander. Diese yjconzerlierendc^ Sihnme ist nicht 



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423 



etwas, was ganz und gar aus allem andereo berausüele, nicht 
ein Individuum, das sich singt; aus dem unerschöpflich quel- 
lenden Leben steigt vielmehr eine atmende Melodie auf, die das 
Sein selber verkündet In der bachjachea Arie hat das Gefühl 
eine groBe» aUgemein menachliclie Fonn gewonnen, alle Sab' 
jektivitSt ist dabin, nnd dodi biigt — das ist ja das Wunder 
des Genius» das sicli anch bei anderen voUaeht — dieses eine^ 
das alles Subjektive so weit hinter sich gdaasen bat, das Le* 
bendig-Mensdillcfae in seiner höchsten Fülle und IntensitSt — 
das seelische Gegenstück zu einigen leiblich vollendeten grie- 
chischen Statuen. Der Mensch ist hier jeden AuL^enblick itn 
Begriff, in ein höheres Sein durchzubrechen. Mnd dieses Mo- 
ment des Durch braches ist das eigentlich persönliche Er- 
lebnis Bachs, seine berühmte Mystik. — Ich scheide aber diese 
Mystik, die ein Ahnen des Göttlichen und em Hineinwachsen 
ins GöttHche ist, von dem Bewußtsein des Absoluten selbst, das 
die vollendetsten Stücke Bachs erfüllt; denn hier gibt es keine 
Sehnsucht und kein Ahnen mehr, nur Wiildicbkeit und Sein in 
der höchsten Bedeutung. 

Aber die Musik Bachs biigt neben den beiden Orund- 
iaktoien: dem Reiften und dem Unbcgreifliclien, der absolut 
gewordenen Persönlichkeit, die für jede p^chologisdie Be- 
mühung eigentUcfa ein Wunder bleibt, noch ein driHes: die 
ganze Breite der Mensddichkeit HeUeie Grazie spruddt durch 
die Suiten; derber Humor CfPo^Oiomfuge'O» zarte rdne Liebe 
(Sonate für Klavier und Oambe G-Dur, Violin-Sonaten), innige 
Schwärmerei (F-moll-Präludium des Wohltemperierten Klaviers, 
2. Tdl) ist in anderen Stücken zu finden. Aus dein unendlich 
einfachen, rein melodisch aufgebauten kurzen Adagio der Toc- 
cata in D-moü spricht eine Sehnsucht, die den frühen Adagios 
von Beethoven verwandt ist (die darauf folgende Fuge gleicht 
fast einem beethovenschen Scherzo); das Allegro des Vioiin- 



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424 



Konzertes E-dtir ist in Rhythmus und Schwang von dar Art 
beefitovcnsclicr SchluBsätze; aber alle OdOhlc^ die aus der Musik 
fibercdcli. Idingen, haben doch eine dgentuodidi höhere Vcr- 
IdSrungr empfangen, sie alefaen aozusagen in „fremder FQhliing", 
sie sind wie von etwas Ewigem umsponnen. Der Jubd Bachs 
(z. B. in den Kantaten Jauchzet Gott in allen Landen", „Freue 
dich, erlöste Schar'', Lobet Gott" — meistens in D-dur) ist 
der Jubel des wirklich Seienden, nicht der des endlich Erlösten 
(wie in der 9. Symphonie, im Fidelio und im Parsifal; — etwas 
bach-ähnliches kommt vielleicht einige Male bei Bnickncr vor). 
Ein Text wie der: „Ich bin vergnügt mit meinem leid" gibt 
Bach Anlaß, ein Oefühlsreich aufzuschließen, das nicht ganz 
Schmerz und nicht ganz Freude ist, das über allem Subjektiven 
steht und dabei reifste Menschlichkeit enthüllt Alles St(^ch- 
Naturaliatiache im Ocffihlaleben ist voo der Kraft des Oeniua 
aufgesogen und so liegt audi über den vielen ejnffachHnwMK*»" 
liehen Muaikatflcken ein Abglanz |enea Höcfaalen, das aich zu 
anderen Malen unnüttelbar ausgesprochen hat 

Gerade hier, wo es gewisse Beziehungen zu Beethoven 
gibt — ich kann ja nur ganz Weniges andeuten — ventdien 
wir den Gegensatz noch besser: man kann ohne Übertreibung 
sagen, daß Beethoven der lebendigste und leidenschaftlichste 
Mensch ist, der alles gestaltet, was ein Menscli zu ejnpfinden 
vermag, der sicli un Bewußtsein seiner Kraft titanisch aufreckt 
und mit allem Lebendigen ringt, der Selbstbewußte, der Stolze. 
Bei Bach gibt es keinen Kampf, nur immer tieferes Hineingehe 
ins vollendete Sein. Bach ist nicht stolz und nicht trotzig, son- 
dern demütig und still (was sich im äußeren Leben beider bis 
zum Komischen gezeigt hat); ihm ist das schlechthin Mensch- 
liche so selbstverständlich, daß er gar nicht das Gefühl hat, 
ein individueller Mensch zu sein, geschweige denn ein unge» 
w<»mUcher Mensch. Er will nichts^ er ist Seine Werine 



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425 



sind nicht umgestaltete Erlebnisse oder Vi&ionen, sie sind Mani- 
festationen des Seins, sie sind auch nicht aus einem Stil heraus 
geschaffen, sie sind vielmehr ciie^ser Stil, diese Art zu sein selbst. 
Ohne in Themen und Aufbau eine allzu große Ähnlichkeit zu 
zeigen, sind die Schöpfungen Bachs doch innerlich so zusam- 
menhängend und verwandt, daß der musikalisch Ungebildete 
sie kaum nnteischeiden kann. Sie sind eine einzige große Offen- 
barung der dem Absoluten nahe gekommenen Menschenseele 
imd man darf von dieser Ktinst s^gen, was Ooetfae von der 
Natur sagt: „Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war 
noch nie; was war, koomit nicht wieder: aUes Ist neu und doch 
immer das Alt&'* — 

Wenn ich aber nunmehr über die Musik hinaus verständ- 
lidi machen soll, was mir als das eigentlich Letzte und mit 
nichts anderem Vergleichbare des bachischen Genius erscheint, 
so muß ich folgendes sagen: Es hat hin und wieder einen 
Menschen gegeben, der alles Zufällige und Eingeengt-Mensch- 
liche, alles Subjektive in sich aufgehoben und durch Universdl- 
Menschiicfies ersetzt hat; ein solcher Mensch hat das Höchste 
erreicht, er ist Vorbild für andere, kann vielleicht für die Idee 
seines Menschentums sterben — aber stets als einzelner Mensch. 
— Darüber hinaus ist nun die absolut gewordene Persönlich- 
keit denkbar^ die nicht nur alles Zufällig-Menschliche aus einem 
Individuum ausgetilgt und als einzelner Mensch Vollkommen- 
heit errungen hat; sondern in der die Idee der Menschheit er* 
füllt, Natursein in Peiaönlichkritaein verwandet ist Wäre alles 
Sein persönliches Sein geworden — oder was hier dasselbe ist: 
fiberpersönlicfaes Sein — so wfire die Welt am Ende^ AJtVoUr 
kommenheit und M-Beseeltlieit wiie eingebeten. 

Spinoza kennt <fie Idee der PenOnUcfakeit und damit den 
Mensdien fibeiiiaupt noch nicht, nur naturiiaftes Sein ohne 
Wert und Sirni. Daruber eriiebt äch das Bewußtsein der 



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sönlichkeit. Es kann höber und höher kommen und einem ab- 
soluten Sein eatg'pgenfuhren, das man persönlich oder auch un- 
pereönüch nennen mag. Dieses überpeisönUcbe Sein ist nun 
in der Kunst, die von der Encfaeiaungswdt nicht abhängig ein- 
mal verwiildicht wenden. Die bachische Fuge gibt das BewuBt- 
sein schlechthin wieder» nidit mehr das Bewußtsem emes ein- 
zelnen Menschen, sondern das objektive Weltsein hat in ihr 
den Charakter des Bewußtseins — ob persönlich oder unper- 
söFilich, weiß ich nicht — empfangen. Da ist nicht eine Seele, 
die ihre [ reude und ihr Leid gestaltet, man kann auch niciit 
sagen, daß sich der Makrokosmos im Mikrokosmos, die Wdt 
in der Seele spiegelt — der Kosmos selber kreist in der Foim 
der Kunst Die bachischen Fugen — besonders die Orgelfugen, 
die in einem fiberwUilgend einlsdien und objeldiven Madaial, 
im Ton der Oigel, leben — sind ein Abbild dieses kosmischen 
BewuBfaeins» das sidi in der Musik ollenbart» der Idee des Ldiens 
selbst. 

Dies ist der tiefe und prinzipielle Unterschied zwischen 
aller Genialität, wie sie etwa in Goethe vollendet ist, und Bach: 
Goethe hat Aufgaben /u vo[!brinp:en, er ist rastlos bestrebt — 
instinktiv und mit Willen — , das Urbild des Menschen zu ver- 
wiilüichen, sein Leben symbolisch zu gestalten. Für Bach wäre 
das Streben, ufgendwohin zu woUen, etwas zu verwirklichen, 
widetsinnig. Denn — und das bleibt unbqprciflidi — er ist 
vollendet, sein Wesen ist Sein schlechthin und daher letztes E^ 
rädmis. Goethe ist weise — man darf mit Weisheit wohl da 
höchsten Zustand bezcicfanent hi dem em Mensch bdiarren 
kann und der sein ganzes Wesen fiberstrahlt; Bach ist nicht 
weise, denn Weisheit ist eine Art, bewußt zu leben, und bei 
Bach ist eine höhere Einheit von bewußtem und 
unbewußtem Sein eingetreten. Für diesen Zustand haben 



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427 



wir weder eine Vorstellung, die über Ahnung hinausging^ noch 
«in Wort, das ihn bezeichnete, — 

Ich bekenne^ dafi mda Veisuch, die Genialität des größten 
Cenies zu fassen und zu charakterisieren» ganz unzulän^ch ist 
Sowohl wegen meiner mangelhaften musikalischen Veranlagung, 
aber vidleidit nodi mehr wegen des f ffliiifi fsfibaren und audi 
noch niemals in Angriff genommenen Gegenstandes. Es ist 
wohl fiberfaaupt unmöglich, hier viel mehr als eine aceUsche 
IHcfatung festzulegen. Dieses Seeüsch-Oberseelische selbst wird 
für immer ein Geheimnis, ja ein Wunder bleiben. Und ich 
wäre auch nicht imstande, denen einen wirklichen Beweis ent- 
gegenzusetzen, die meinen Gediinken nicht verstehen und ver- 
spotten oder die ihn verstehen und ablehnen werden. Auf jeden 
Fall genügt weder musikalische Bildung noch philosophischer 
Sinn allein, ein gewisses intuitives Verständnis für die Art Bachs 
ist unbedingt nötig, um zu würdigen oder zu beurteilen, was 
ich hier hragmentarisdi, aber doch mit der entschiedensten 
Oberzeqgmig darzutun teachte. Es sind keine subjektiven Im- 
pressionen, sondern es i^t ehi Vecsucfa, in den Zusammenhang 
dieser Musik mit dem zugrunde Hegenden Seelisdien möglichst 
tief einzudringen und ihren Ort hn Leben dea Geistes zu be- 
gründen. Man könnte ja vieOdcht auch die Analyse Bachs gut- 
heißen, aber die philosophische Deutung abldmen; etwa sagen, 
die Unpersönlichkeit Bachs sei nicht Überpersönlichkeit, son* 
dem wie die Unpersönlichkeit Spinoza^ Objektivität vor dem 
Seelischen, Objektivität der Natur. Dies würde ich als den 
größten aller Irrtüiner ansehen. — Und um gleich noch ein 
anderes mögliches iMißverstkndnis zu beseitigen: Goethe reprä- 
sentiert als bewußter Mensch durchaus einen höheren Typus 
als Bach (wie ja auch Shakespeare nach Goethes eigenem Wort 
der größere Dichter ist, ohne darum üoetlie als Gajizes zu er- 
reichen). Aber die CeniaUtat Bachs lebt in einer höheren 



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SpiiSre^ in dner SpUic^ die des Tiagiadie nur nodi auf dem 
Wc^ zur Idzien AnOdsung, das DfliiHxiifldie fiberiiaiipt nictat 
mehr kamt Es gibt kaum eine tragischere Muaik als den Ein- 
Idtungschcr in die Joliannea-PaBBlon; wid vieHdcItt das gröfite 
Beispiel für die Oberwindting des Tragischen von innen heraus 
ist der Schluß der Mattliäus-Passioii : alles sichtbare Passions- 
Geschehen ist durch den Tod des historischen Heilands zu Ende 
gekommen und nun wird mit einer gewissen weltfernen und 
doch vertrauten Ruhe, fast mit Heiterkeit, die Geburt des Gött- 
lichen in der Seele erlebt. Aus diesem Chor heraus spricht die 
Gewißheit, daß der Mensch nicht mehr tragisch zu sein braucht, 
daß er sich in eine andere Region des Seins binübergerettet, 
daß er eine Kraft der Sede empfangen hatie^ die über den Wel- 
ten thront. 

So ist die höchste Mögtichkeit der Seele in Bach verwiik- 
licht; das Menschliche wird nicht an efaie Grenze gdfifait^ an 
der es zertnedien muß — die uneriöete Tragik Beethovens und 
Michelangelos — es schreitet viehnehr unmItAelbar ins Absolute 
famein. Wo Bach Mensch ist^ da ist er es ün hödisten Sinn, 
frei von altem Zufilligen, Sul^ddiven, „Pathologischen**. Aber 
in ihm ist noch mehr: der Mensch als ebi begrenztes Wesen 
ist überschritten. Selbst die vollkoamiene OotisidieTheit, der 
ehernste Glaube, bedeutet noch eine Beziehung auf etwas an- 
deres; die bachische Fuge ist es selbst, ist das Sein, das sich 
in Bewußtsein verwandelt hat. Vielleicht muß man an der Tat- 
sache Mensdi gerade in den höchsten Gipfeluiigen gelitten 
haben, um dies Neue /u verstehen. Sodann aber sollte man 
nicht mehr von der Bedürftigkeit des Menschen sprechen, denn 
bedürftig ist er nur als abhängiges Naturwesen, nicht als 
Mensch in seiner wahren Bedeutung. Wird doch in Dante eine 
Seele das Maß der Welt, hat sich doch Shakespeare zmn Kos- 
mos der Menschheit, Goetiie zmn voUiRmunenen Menschen aus- 



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geweitet. Und endlich ist das B^renzte zum absoluten Sein, 
zum Wert an sich selbst g^eworden, Man wende nicht ein, daß 
solches nicht an jedem Tag und nictit in jedem Jahrhundert 
geschieht — dem Menschen ist die Kraft dazu gegeben. Denn 
in ihm ringen Vergänglichkeit und Ewigkdt. Er kann sein 
Ewiges verkümmern lassen und als kleinlicher Egoist zur Kari- 
katur der Pttsönlicbkett werden; aber er kann auch Vollendung 
und OöttUcfakeit gewinnen. „Ich bedauie die Mensctoi», welche 
von der Verginglicfakdt der Dinge viel Wesens machen und aidi 
in Betrachtung irdischer Nichtigkeit vertieren; sind wir ja 
eben deswegen da, um das Verg&ngliche un- 
vergänglich zu machen.** (Ooedie.) 

Es gibt ohne allen Zweifel nodi sehr viele andere Arten 
genial zu sein. Hier sollten nur die typischen Orund-Fonna- 
tionen herau^ehoben und philosophisch gedeutet werden. Aber 
es ist wichtig, daß die in einigen genialen Menschen inkamierte 
Möi^lichkeit alles Menschlichen auch in objektiven kulturliisto- 
nscheii Bildu[]g:en teste Gestalt gewonnen haben und fruchtbar 
geworden sind Dante repräsentiert den romanischen Kultur- 
geist und den Katholizismus, der nur eine einzige, für ahe Men- 
schen gleiche Stellung zum Dasein gelten läBt, sie aber als den 
Ausdruck der al)soluten Weltordnung nimmt In Shakespeare 
ist das germanische Reformationsprinzip verkörpert. Der Grund- 
gedanke der Reformation besagt, daß es nicht nur einen 
wahren Weg gibt, der zum Heile fährt; das euizehie Individuum 
wird viehnehr in semer Sonderart als berechtigt anerkannt, jeder 
Mensch muB sich sem Verhältnis zu Welt und Ewigkeit selber 
suchen. Dieses Prinzip der autonomen Persönlichkeit, das sich 
in der Reformation histoiiach ausgesprochen hat, mußte auf re* 
Ugiösem Boden gegoifiber der ungebrochenen Emheit des Ka- 
tholizismus inuner neue Sekten ausbrüten, es durchwhrfct und 
beseelt unsere Gegenwart, auch dort, wo sie irreligiös ist und 



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dort gerade am mMea, Wenn wir die bidividiialitil nspA- 
tiefen und die Inkommensurabiliilt alles Ffihlens und Tuns aor 
eitomett, so zidien wir ja nur die Konsequenzen des protestaa* 

tischen Weltprinzipes. Der ungdieure EinheHswille des Katho- 
lizismus, der dein Mittelalter seine Präg-ung verleiht und in 
Dante seine Vollendung findet, einerseits, dann aber das Ver- 
ständnis für die konkrete Individualität, die unmittelbar mit der 
Ewii^keit 7U konimuni/ieren berufen ist, das Weltprinzip des 
Protestantismus und der modernen Zeit, das sich in Shakespeare 
dichterisch erfüllt, — das sind, abgelöst von allen Inhalten, die 
beiden Grundkräfte der höheren Geisteskultur Europas gewor- 
den, die sich in beständigem Wechselspid bekämpft und be- 
fauchtet haben, um endlich einer wählen hmeren Vereinigung 
zuzustreben ^ die Idee Ooelfae, die unsensr Kultur Einheit in 
der Fülle verleihen wilL — Was Bach bedeutet, kann aUerdhiga 
nicht mehr ins allgemeine kulturelle Leben hinübeigelettet wer^ 
den. Denn hier ist jede Spannung zwischen Menschen und 
Dingen, jedes VEUen der Sede auf anderes geschwunden, der 
Mensdi hat LdztsrQltigkdt erlangt — 

Auf allen Wegen der Betrachtung ist uns der Mensdi m 
sdner zwiefachen Wesenheit erschienen: als bedin^^es Geschöpf 
der Natur und als Kraft, die in sich selber ruht. Napoleon 
und Bach stellen die beiden äußersten Grenzen der Menschhdt 
dar: der Mensch als Naturphänomen ohne jede Beziehung zu 
etwas Persönlichem — und der Mensch, der ganz Ewigkdt und 
Wert geworden ist. 



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Von detiudben Verfasser erschien im gleichen Verbiß: 

DIE DREI STUFEN 
DER EROTIK 

nU 5 Abbildungen 

Zweite Altflage. Geheftet 9 Mark, In HalMranz 12 Mark 

»Einer der feinsten, reichsten und tiefsten Poeten Wiens hat ein 
sehr ernstes und gelehrtes Werk, durchgängig auf eigenen Por* 
schungen und Aufttosungen beruhend und dabei so fiozinierend 

unterhaltsam geschrieben, daß jeder den Band nidit wieder aus der 
Hand legen wird! Ist doch das Thema, das uns alle angeht, von 
ewig unzerstörbarem Interesse: das Liebeslebcn im Nenschen. Das 
wird hier intensiv durchleuchtet, in ein geordnetes System gebracht 
und mit gesctauttestem P^hologenspOrblick auseinandergelegt.* 

{Berliner Tageblatt.) 

„Lucka, der Philosoph — das ist die Auflösung der Erscheinung 
Luckas, des Künstlers. Diese Überzeugung hat das majestätische 
Werk In mir unumslOIHIcli werden lassen, ich wOnsche dem Autor 
und uns, dal er auf solchen Bahnen fortschreite: in hoc signo 
vinoest" (Tagesbote aus Mihren und Schlesien.) 

„Die rülle neuer Gedanken überwältigt Der Verfasser, der Philo- 
soph, DIcliter und Psychologe Ist, hak mit diesem an neuen und 
grofien Gedanken so reichen Werk etwas geschaffen, das lefor- 

mterend wirken muß. Fs wird dazu beitragen, Lfcht In eine Materie 
zu bringen, in der noch vieles im Dunklen liegt ; es wird Gelehrten 
imponieren und Mich^elehrten Bewunderung elnflöfien." 

(Hamburgischer Correspondent.) 

„Die Vorzüge des Buches sind nicht bloß die Schönheit der Dar- 
stellung und die Fülle der Motive, sondern auch die Weite der 
Perspektive, in die das Liebesphänomen gestellt wird.* 

(Meue Freie l^esse.) 

«Ein erstaunlich großes wissenschaftliches Material ist um eine tiefe- 
und originelle Grundidee ausgebreitet und von dem Innigen Atem 
dichterischer Seelenkenntnfs durchglüht. Es ist der besonderen 
Individualität Luckas, der tiefes Gefühl mit Klarheit, Intuition, mit 
fleißigem Studium verbindet, zu danken, dall ein solches eigen- 



artlfes Werk fiberluuapt möglich wurde. Die Lektüre dieser bedeiit' 
Samen rieuenclwiniiqg sd wlrmstens empfohlen." 

(Leipziger neueste Machrichten.) 

«In der gegenseitigen Durchdringung von psychologischer Pebihdt 

und kulturhistorischer Weltauffassung Jfegt der besondere Wert und 
der besondere Reiz des Luckaschen Werkes, das zu den wenigen 
in der deutschen Literatur gehört, die Wirkliehkeitssinn mit klarem 
ScharlbDdi und zugleldi mit hoher zivilisierter Auffassung und Dar- 
stellung vereinigen.'' (Berliner Börsen-Courier.) 

»Luckas Werk, das durch bestimmte Haltung und starke Eigenart 
des Denkens hervorragt, Ist eine nicht zu flbersehendfe Erscheinung 
auf dem Gebiete der Wissensduift von der menschlichen Kultur." 

(Karlsruher Zeitung.) 

«Efai tlefreHgKlies, dichterisches Werk, das fttr unsere Zdt, die so 
plump Gläubigkeit mit Klerikalismus, Tiefe mit Breite verwechselt, 
mahnend und aufidärend wirken muB.** (TlgHcbe Rundschau.) 

»Lucka zieht In seinem neuen Buch gegen den Komplex Crotilc 
zu Pelde, spaltet, das heißt stuft Ihn In drei Teile und sagt, gegen 
Schopenhauer und riietzsche polemisierend: Die sinnliche und die 
übersinnliche Liebe, sie haben nichts gemein. Geschlechtstrieb und 
Liebe stammen aus zwei Lagern; diese ist nicht die höchste Sul>* 
Nmlerung des ersten Begriffs, sondern etwas ganz anderes. — Das 
Werk ist in der Hau|itsache eine Isthetisch'kritische Arbelt auf 
historischer Grundlage; vor allem imponierend durch die Fülle, femer 
durch die klare Obersicht der Stoffelnteflung und bewältigung, durch 
die Gründlichkeit, die den Autor niemals verläßt. Lin Buch voll 
origineller Eröffnungen, geistreicher Hypothesen; ehi Buch, daraus 
mmicheriel genuBrelche Anregung geholt werden kann." 

(Wiener AKgemefaie Zeitung.) 

«Luckas Buch Ist das erste Weric, welches auf dem kulturpsycho' 

logischen Gebiet des Phänomens der fJcbe diese psychologische 
Einsicht beachtet, und deshalb ist sein Buch so wertvoll, ja typisch 
und vorbildlich. Kulturphilosophisch in Bezug auf ein bisher total 
miBverstandenes Problem ist Luckas Buch dn Typus vollendeter 
Arbelt, an der nichts zu kritisieren Ist. Ehie grole Menge vom 
Autor oft selbst entdeckten, sehr interessanten Materials Hegt dem 
Werke bei, das ein tiefernstes, wissenschaftliches und philosophisches 
Buch ist, das überdies noch den Vorzug hat, schön und anr^end 
geschrieben zu sein, so daß es auf die weitesten Kreise wirken 
kann. Es wird die Ihm gebührende AnerkennunS finden." 

(Zeitschritt far Philosophie.) 



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