Gr
Seele
der
1
Emil Lucka
iibrarg of
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GRENZEN DER SEELE
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Von £niL LUCKA sind früher erschienen:
Otto Weininger. Sein Werk und seine Persön-
lichkeit. 2. Aufl. VerUg WUhelm BraumüUer, Wien.
Die Phantasie. Eine psycKologischeÜntersuchung.
Verlag Wilhelm Braumfiller, Wien.
Die drei Stufen der £rotik. 2. Aull. Verlag Schuster
^ Loeffler, Berlin.
Femer:
Tod und Lreben» Roman. VerUig Egon Fleische! £k Co.»
Bertin.
Isolde Weißhand, Ein Roman aus alter Zeit.
3. Aufl. Verlag S. Fischer, lierlin.
Eine Jungfrau, Roman. 2. Aufl. Verlag Egon Fleischet
£k Co., Bertin.
Adrian und Erika^ Roman. Verlag Egon FIdschel Si Co.,
Beiiln.
Das Unwiderrufliche, Vier Zwiegespräche.
Verlag Egon Fleischel ^ Co.» Bertin.
Winland, Novellen und Legenden. Deutsch-österr.
Vertag, Wien.
Buch der Liebe. Deutsch Österr. Verlag, Wien.
Das brennende Jahr. 44 Kriegs^Anekdoten.
Vertag Schuster Loeffler, Berlin.
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EMIL LUCKA
GRENZEN
DER SEELE
ZWEITE AUFLAGE
VERLEGT BEI SCHUSTER « LOEFPLER
BERLIN UND LEIPZIG
1916
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Alle Rechte, Insbesondere des der Obersetzunf in fremde
Sprachen, auch ffir Rulland, vorbehalten
Copyright by Schuster lkLoctfler,Berllnl916
PfMh von E.fUb«luid. L«ipii|4l.
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McBsch, weide wesentlich!
Angelus Silesius.
irSHALTS'VERZElCHNIS
S«itc
Vorwort 11
1. Menschen 13
2. Das Tragische 53
3. Das Dämonische 105
4. Das Erhabene 177
5. Das Komische 190
6. Vom Philosophieren 206
7. Der Schicitsalsmensch 254
8. Ich^Gefühle 284
9. Das Gebet 320
10. Das Wunder 332
11. Ur>Geffihle 349
12. Stufen der Genialität 359
VORWORT
Die Oedanken, die hier niedeigclegt sind, slnben nicht
einem System der Ptaiiofiophie, sondera einem System des
Menschen Z1L Ich habe mich bemüht, möglichst weit in die
Seele des Menschen voczudringen, und hoüe auch, einige datier-
hafle Wahrheiten gefunden zu haben; aber ich weiß adbst am
besten, daß vides reicher und systematischer sein konnte. Ober
diese Mingd nrafi mir die Gewißheit hhiweghdfen, daß die Seele
des Menschen unerschöpflich ist, und daß daher ein System der
Seele niemals zu einem Ende gebracht werden kann. — Von den
zwölf Abscliiutten bildet der erste den Lingan^, die sechs fol-
genden hängen als Fundament eng zusammen, die naclisteii vier
bauen weiter, der letzte Ab^nitt will das Dach wölben. —
Alles Große und PiinzipieUe im Menschen birgt den Keim des
Tragischen. In meinem vorangegangenen Buch „Die drei Stufen
der Erotüt'* iiabe ich das Ur-Gefühl der Lietie tns dorthin ver-
folgt, wo es mit NotwendigiGeit seine innere Trsgik enthüllt.
Diese Arbeit geht anderen Grenzen der Seele entgegen.
Wien, ün Jmii 1914.
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1. MENSCHEN
1
Die Welt li^ vor dem Menschen ausgebreitet, und von ihm
hängt es ab, welche ihrer Inhalte er ergreift und wie er sie er-
greift Die Möglichkeiten, die dem einzelnen zu Gebote stehen,
sind wohl nicht gldch, aber die Wdt bietet doch jedem alle ihre
Inhalte wenigstens prinzipiell als dieselben dar; denn es frommt
achließlicfa nicht darauf an, ob emer Kaviar iBt oder Brot — er
ißt; und es kommt nicht darauf an, ob einer Indien sieht oder
aem Nachbardorf — er sieht die Wdt Bd ihm liegt es» was er
aus der Fülle zu eigi dfe ii vermag, nach wdcfaer Riditung und
mit welcher Intensität er alles Neue dem Vorhandenen einzu-
ordnen weiß, wie er es verarbeiten kajin. Nicht die Dinge, die
ihn umgeben, machen den einen zum Kaufmann, den andern
zum Forscher, den dritten zum Kimstler; sondern der Mensch,
der vor den Din^jen steht, deutet sie, ergreift sie und nützt sie
in der Weise, die ihm entspricht. Er kann jedes t>eliebige Ding
als Gegenstand ansehen, aus dem sich Vorteil ziehen läßt, als
Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses^ als Gegenstand
der künstlerischen Betrachtung und Nachbildung. Will man also
die Menschen erfoiscfaen und verstehen — und das ist unsere Ab-
sicht so muß man nicht nach den Inhalten fragen, die sie
der Wdt verdanken» sondern nach der Art und der Kraft, die
diese Inhalte eiigreift und sich zu eigen macht, nach der F u n k -
tion ihrer Sede.
In allem, was eine Menschenseele fOhlt, in jedem ihrer Ge-
danken, in jeder Maiidlung, die von ihr ausgeht, spiegelt sich
ihre seelische Disposition, ihre innere Kraft. Die subjektive Welt
des Tieres ist noch sehr gering; sie besteht zum größten Teil aus
Trieben, deren Wesen sich ganz allgemein gesprochen darin er-
schöpft, der Wdt mögUchst viel Nutzen für das Subjekt zu ent-
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reiBen. Im Sedenlcben des Mensdien eisfedit dn ganz neuer Zu-
sammenhang der Wdielemente^ der sich über da» Trie])ld)en liin-
aus entfaltet und dem allgemeinen objektiven Zusammenhang als
ein subjektiver selbstherrlich gegenübertritt. Sehen wir jetzt von
allen Inhalten ab und achten wir nur auf die Kraft, mit der diese
subjektive Welt aufgebaut und gegen fremde Mächte behauptet
wird, so dürfen wir sagen, daß in dem Grade der Unabhängig-
keit von allem, was die Umgebung darbietet, der Maßstab für
die Intensität einer Seele liegt. Je intensiver eine Seele
Seele ist, desto entschiedener repräsentiert sie eine eigene Welt ge-
genüber der allen gemeinsamen (dem Gegenstände der Naturwis-
senschaft). Und so läßt sich eine Inlensitttsakala autateUen, derai
unterste Stufe das Bewußtsein einnimmt das alle seine Inhalte
von der Umwdt empiangen hat und nidit hnstande ist, sie zu
assimilieren und als Material fOr eigenes zu verwenden. Das Be-
wußtsein des Attgenblicksmenscfaen ist ein Ndienein-
ander zusammenhangsloser Momenteindrücke; er vermag sich
die Außenwelt nicht als ein Ganzes, als ein Oeordi^etes gegen-
überzustellen und faßt sich selbst nicht als einheitliches Ganzes
auf. Er lebt von einem Eindruck zum andern uiul ist völlig von
dem abhängig, was gerade an ihn herantritt. Daher ist er nicht
imstande, aus dem Weltabiauf einzelnes herauszuheben und zu
l>eurteilen. Will er etwas erzählen, so gibt er es so wieder, wie
er es bemerkt hat, er kann nicht objektive Zusammenhänge fest-
stellen, noch Wesentliches von Unwesentlichem sondern. Und bei
jeder Wiederiiolung rc^t die ganze Reihe, fast ui den gleichen
Worten erzihlt, noch eumud ab. Er ist voUkoounen passiv, den
Impressionen sowohl nach ihren Inhalten als auch nach ihrer
Form und ihrer Stelle fan objektiven Geschehen ansgelieferL*)
In ihm ist keine eigene, neue Wiiklicfakeit neben der allgemeinen
*) über den Augenblicksmenschen vom Standpunkt der Zeit aus vergl,
was Oscar Ewald in „Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen'* sagt
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ztt finden, nur vorübeifiiegende Impressionen, bestenfalls abui-
tmd zusanunenhangslose Bruchstücke.
Der Augenblicksaienscii ist nur ein Orenzfatt. Denn es gQyt
keinen Menschen, der aus nichts als aus Eindrücken des Augen-
blidcs besiinde, der nur Fimklioa der Umwelt wire und nicht
eine Spur von Eigenldm aufwiesen Ffir eine psycbologisdie Be-
trachtung, die auf den Zusammenhang des Seeliadien mit dem
KultureHen bedacht ist und die P^rchdogie hi ein höheres Ganzes
einzuordnen sfaiebt, ist dieser Menschentypus, der sich in Annähe-
rungen oft genug findet, ohne sonderliclies Interesse.
Dem Augenblicksmenschen stehen die Typen gegenüber, die
ein Eigenleben führen und von sich aus irgendeine Stellung zur
Welt b(^itzen. Sie nehmen nicht alles auf, sondern wählen und
verwerfen; sie ordnen, was ihnen die Welt (die Summe alles
Vorhandenen) bietet, in einen Zusammenhang ein, der durch sie
selbst bestimfflt ist; der Stofi wird einer formenden Funktion
unterworfen. Und was aus dem Gegebenen wird, das macht
einen fundamentalen Unterschied der Menschen ans und charak-
ieriskrt nicht nur ihr Verhalten zur Welt, soodeni erzengt auch
nnmitteibar ans dem Seelischen herans das Ktdturdle, Wertvolle.
Die beiden Onmdmfiglidikeiten, sich den Inhalten der Welt
wtildich gigenfibeizusiellen, sind aber die: der Mensch kann das
Obemommene in eine neue Ordnung bringen und es als Ober-
noounenes bewahren; oder er kann etwas Neues daraus ge-
stalten. Unmittelbar ergeben sich uns der reproduktive und der
produktive Menschentypus. Der reproduktive ergreift das
Dargebotene in einer Auswahl, die seiner Art jremäß ist, und
verleibt es sich ein Was er aufgenommen hat, kann er wieder
hervorholen, reproduzieren Eine vollkommen getreue I rinne-
rung gibt es nicht; jedes trinnem ist verändertes Erinnern, und
zwar besteht die Veränderung im Ausfallen von Bestandteilen, in
Schrumpfungen aller Art. Es ist für diesen Menschentypus cha-
16
lakteristisdi, daß er prinzipidle Umwandluiigtti der lidialle
nicht kennt; Gedanken, Gefähle, Voraleilttngen blühen nicht auf
wie eine lebendige Pflanze in gutem Eidfrich, aondeni wenten
wdk und faibenmatt wie ein HertMuiunigewftchs. Manches^ was
ins Heibarium hineingelegt wofden ist, hat sich eihalien, anderes
ist zerfaUen, kaum mehr ecfcennbar. WIhiend der Augenbticks-
mensch unmltleibare Funktion der AuBenwelt ist, entfernt sich
der reproduktive mehr und mehr von ihr, wird immer in-
direkter, immer mehr Erinnerung. Er beherrscht das Material,
wählt aus und ordnet es nach dgeneii Kaiegorien: anders erzählt
der Histonker Geschichte, anders teilt die Frau aus dem Volk
eine Be^'^ebcnheit mit
Dem reproduktiven Verhalten zur Welt stellt das pro-
duktive gegenüber. Der produktive Mensch nnnmt das Ma-
terial auf, das ihm die Welt darbietet, wandelt es aber innerlich
um. Ewas prinzipiell Neues ist da, das skh von allem bloß lepro-
dnktiven Bewußtsein uniencheidet: die Fälligkeit des Erleb-
nisses. Produktiv ist, wer aus der allen gleidunABig darge-
botenen Wiridichkdt Neues zu bilden vermag, wessen Leben dem
allgemeinen Sein als schapferiscfaes Eigenleben gegenubertritt.
Der produktive Mensch Idit von famen nach außen, der repro»
duktive von außen nach innen. Dinge und Gedanken machen
nicht feste Eindrücke, Abdrücke in seiner Seele, sie werden viel-
mehr nach deren eigenen Oesetzen ergriffen und uiiigLtormt.
Dieser Mensch lernt nicht, er erlebt. Sein Bewulitsein ist
spontan, produktiv; er ist oft nicht fähige, ein geseiieiu s Ereignis,
eine gehörte Erzählung getreu wiederzugeben Die objektive un-
kritische Darstellung fremder Gedanken fällt ihm schwer oder ist
ihm unmöglich. Auch der Schaffende lehrt — durch sein Wort,
durch sein Werk, durch sein Tun — aber nicht wie der Bewah-
rende, etnzdne Menschen, sondern den Menschen; er sagt, was
noch niemals gesagt worden ist. Sein Leben ist in besOndigem
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Werden, in lebendi^rer Umgestaltung begriffen. Er ist einseitig,
und zwar nicht saciilich einseitig, indem er sich nur mit jj;e-
wisseii Dingen befaßte, sondern funktional einseitig: er ergreift
und verarbeitet jeden Stoff nach seiner besonderen Art, das heißt,
er hat die Fähigkeit zu erleben. Seine seelischen Kräfte sind so
lebendig wirksam, daß sie nichts Unverdautes, nichts Unfrucht-
bares dulden, sondern das ihnen Gemäße ergreifen und fest-
halten, das für sie Unfruchtbare abstoBen. Wie der Reproduktive
alles m die Zeitreihe gewissermafieii hineinschiebt, zieht es der
Produktive heraus. „Ich statuiere kehie Eiinnerung in euian
Süiii, das ist nur eine uobdiolfene Art sich auszudrficketi. Was
uns iigend OroBes^ Schönes^ Bedeutendes begegnet, mufi nidit
wieder von außen her gleichsam erinnert werden, es muß sich
vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit
ihm eins werden, ein Neues, Besseres in ihm erzeugen und so
ewig bildend in uns fortleben und -schaffen." Goethe, die
reine Verltörperung' des produittiven Menscliea, kann den eigent-
hchen Erinnerung sakt nicht einmal recht verstehen; er kennt nur
das Neuwerden, nicht das Aufbew;iliren.
Jeder Mensch macht Erfahrungen, aber nicht jedem werden
die Eifahningen zu Erlebnissen. Das Maß der seelischen Eigen-
enstenz liegt also in dem Cberwiegen der Erlebnisse über die
Erfahrungen, des produktiven Elementes über das reproduktive.
Goethe nennt den Menschen, der vermöge seiner inneren Schöp-
fungskraft eine Wdt in der Welt is^ dne Entelechle und sagt von
ihr: „Sie nhnmt nichts auf, ohne sich's dunfa diese Tat an»
eignen/' —
Ich will den an^pesldlten Gegensatz mit einem einzigen
Beispiel: wie Jeder der beiden Typen Bücher liest, illustrieren.
Der reproduktive Mensch liest im allgemeinen mit viel weniger
Auswahl; wenn er nicht gerade Fachniann auf einem üei)iet ist,
nimmt er zur Hand, was ihm der Zufall bringt. Und er hest —
Lttck«, OmuM <tar SmI«. 2
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von allen andern kreuzenden Momenten abgesehen — jedes Buch
gewiasodiafl vom Anfang bis zum Ende durch, er hat nicht das
entschiedene BewuBteein, dafi einzebie Bücher und efaizelne
Partien darin mehr mit ihm zu schaffen hätten als andere, er
nimmt Kenntnis von dem Gelesenen und müht sich, es mö<^iichst
gut zu behalten. — Der Produktive liest im allgemeinen nur
(von irgendeinem Zwang abgesehen) Bücher, die eine Beziehung
zu ihm haben, die ihm verwandt sind, aus denen er Nahrung
schöpfen kann, und diese Bücher liest er wieder mit der aller-
veränderlichsten Auimerksamkeit. Seiten und Kapitel werden
überschlagen, andere ganz eingesogen; er hat den Instinkt für
das, was ihn nähren kann, was geeignet ist, in seine Seele ein-
zugehen und Dünger oder Kehn für Neues zu weiden. — Dies
gilt besonders fOr den produktiven Denker; der Künstler verhält
sich ebenso zur lebendigen Welt: er si»firt, welche Teile und
wdche Beziehungen ihn angehen, und lehnt ab, was keinen Zu-
sammenhang mit ihm zeigt, er hat den Instinkt sehier Produk-
tivität Sehl Leben ist ebenso wie sein Lesen nicht Aufnehmen
und Bewahren, sondern beständiges Umwanddn. —
Die Kraft der Belebung kann sich auf jeden Inhalt erstrecken,
die neugewordene Welt kann eine Welt der Taten, der Gedanken,
der B^der sein — die verschiedenen Reiche, in denen Werte
erstehen und wirken. Der produktive Mensch ist der Schöjtfer
der Kultur, der rqiroduktive ihr Bewahrer. Man sieht an diesem
Punkte den Zusammenhang der P^chologie mit der Kultur* und .
Wert-Philosophie (der sich una nodi mehr als ehunal aufzwingen
wird); aber dieser Wcs^ kann hier nicht weiter verfolgt werden.*)
^ Ich habe In einer früheren Arbelt (Die Phantuie, 1908, bes. bn
3. Abschnitt) die beiden Qnnrilrlditunaen des BemtStsebis als bewahrendes
Gedächtnis (das sich sowohl auf Vorstellungen als auch auf Gefühle
erstreckt) und als umwandelnde Phantasie beschrieben und deren Zu*
sammenhang mit dem ganzen seelischen Getriebe zu zeigen v^ucht
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2.
Bisher ist der Mensch in sdncr Wechselwiflnifig mit der
Umwelt befaracfatet worden. Aber der Gegensatz zwischen Pro-
duirtion imd Reproduktion, der sidi in allen AuBerungen des
Seelischen findet, hat doch seine eigentliche Quelle im Vorstel-
luiigsleben, das zwischeü den beiden Idolen der völlig getreuen
Erinnerung und der absohiteii Neuschöpf uiig fließt und weder
ganz versteint nocli ganz verwandelt werden kann. Diese Schei-
dung wird in ihrer Einfaehheit alles Folgende stillschweigend
durchziehen; aber eine noch allgemeinere tritt ihr zur Seite, die
nicht aus einem einzekien Gebiete des Seelischen stammt, sondern
alles in gleicher Weise charalderisiert und scheidet. Auch diese
GUedenuig leidit ins letzte Menschliche hinab und wird ihren
Zusammenhang mit den Mächten der Kultur oft genug bewähren.
Sie sondert die Menschen m Mittelmenschen und
Grenzmenachen.
Der Mittehnensch lebt ohne entschiedene innere Spannung
im Gleichgewicht Er penddt um den Zustand der Ruhe; Aus-
brüche wilder Leidenschaft, grenzenloser Jubel, aber auch völlige
Verzweiflung sind ihm gleich fem, sein ganzes Leben spielt sich
im Bereiche des mittleren Menschlichen ab, ohne je in ein Extrem
zu geraten. Das Ideal des Mittelmenschen ist etwa im home-
rischen Griechentum historisch verwirklicht gewesen. Diese
Menschen stehen der Natur nicht als etwas anderes — gleichviel
was — g^enüber, sie gehören in sie hinein und fühlen sich als
einen Teil von ihr. Sie sind Söhne von herrlichen Flüssen und
Menschenfrauen, sie beten zu Naturwesen, menschlich voiige-
sieUien Teilen der Natur (die olympischen Götter sind ja nur be-
sonders mächtige Menschen, die whidich venn^en, was alle
anderen gerne könnten). Jeder König fuhrt den Pflug und
schlachtet das Tier für seine Mahlzeit Es gehen kaum drei
Seiten bei Homer vorfiber, ohne daß eine siatdiche Scfamauserel
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eingehend geschildert würde; und dies hat noch über die ph-
mitive Freude an Speise und Trank hinaus seine Bedeutung, der
gewichtige Emst solcher Tatea ist ein Symptom des völlig naiven
mittehnenachlichcn Veihaltens zur Welt Von jeder Mahlzeit wird
auch den Olympiern nülgeteUi; damit sie einem keine Unannebm-
Uchkeilm zufQ^ (attenlings erhalten sie meistens nur die Stim-
haarederRinder mid ein StOdEcfaea von den Eingeweiden). Diese
Menschen kennen Iceui Recht als das der Natur; der Klügere
übervorteilt den Dümmeren, der Stärkere beraubt den Schwäche-
ren. Die Ehifalt des Individuums ist durch nichts beeintiftchtigt,
auf den Reiz folgt die seelische Reaktion, die mit großer Sicher-
heit vorausberechnet werden kann. Beim Mittelmenschen, der
hier als naiver Mensch seinen HöhepunJct erreicht, ist der Ein-
druck der Wirklichkeit alles; einen Widerspruch <xler auch nur
eine merkliche Spannung zwischen Wirklichkeit und Wert g"ibt
es nicht, weil jede Möglichkeit eines inneren Gegensatzes fehlt.
So ist der homerische Mensch ein Urbild des Mittelraenschen, das
noch dadurch sein besonderes Relief empfängt, daß dem frühen
Griechen der Sinn, für die menschliche Individualität mann:elt, sie
tritt ganz hinter dem Gemeinwesen zurfidi. Und auf dieser
seelischen Einfachheit beruht der große ästhetische Reiz der
homerischen Gedichte.
Der ander^ entgegengesetzte^ ist der Typus des Crenz-
menschen. Ihm fehlt das innere Oldcfagewicfat und der Friede,
er lebt in Extremen; er ist der EkstaÜker und der Heilige, der
den Himmd erkämpfen will, aber auch der Verbrecher, der ganz
auf der inneren Veniefaiung alles Wertvollen beruht (nicht der
dumpf tierische Mensch). Er ist der tragische Dichter, der von
den Gestalten seiner Phantasie heimgesucht mid gequält wird,
der Philosoph, der über die Welt grübeln muß. Dieser Mensch
ist semo" selbst nie ganz sicher, weil ihm das innerlich Behar-
rende, das Stetige fehlt; als kulturhistorische £r$chemung eat-
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spricht ihm der Menach des Mittelalters, der nur die äußersten
Werte des Göttlichen und des Teuflischen kennt, zum Irdischen
aber kein rechtes Verhältnis zu gewinnen vemu^.
Wenn wir diese allgemeinen Richtungen des Menschlichen
weiter verfolgen» so werden sich uns immer deutlicher zwei ent-
gegengesetzte Möglichkeiten, Mensch zu sein, enthüllen, und
wir werden letzte Wesenszüge finden, die dem einen oder dem
andeien Typus eigen sind. Die meisten Menschen der Wirklich-
keit sind wenig entschieden: sie verhalten sich für gewöhnlich
mittelmenschlich, unterliegen aber doch in gewissen Zeiten einer
extremen Wallung. Dieses gaiize Buch, das möglichst weit au die
Grenzen des Seelischen vordringen möchte, wird sich viel we-
niger mit dem Alltäglichen und Durchschnittlichen beschäftigen
als mit dem seltenem reinen Typus, an dem uns gewisse Elemente
alles Menschliclien klar werden sollen. Um aber sicher zu sein,
daß uns nicht Einbildungen und g^enstandslose Konstruk-
tionen in die Irre führen, sondern daß wir es immer mit der
seelischen Wirklichkeit zu tun haben, werden sich uns hier wie
ancfa spjUer wiedeiholt möglichst bekannte historische Menschen
als Stadienobjekte darbieten.
Es ist die Aufgabe des richtigen Psychologen, sich ui den
Menschen, den er veistdien vriU« zu versoken, ihn von allen
Sdten her zu umwandeln und gewissennafien mit Scheinwerfern
so lange zu bestrahlen, bis er dnrdiMitig geworden ist Und
wenn man die ganze seelische Mannigfaltigkeit erfaßt zu haben
glaubt, Wird man daian gehen, sie klar und einleuchtend zu be-
schreiben. — Hier bleiben fast alle (Psychologen stehen (von der
Psychologie als einer Schulangelegen lieit ist nicht die Rede). -
Aber es scheint mir nicht genug zu sein Fin Faden muß entdeckt
werden, der durch die Seele des erkorenen Opfers führt und
alles Leboidige einheitlich zusammenfaßt. Nachdem die ganze
Fülte eines Menschen geschaut worden ist, stieben wir» zu euier
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22
neuen höheren Einheit vorzudringen, die sein Wesen als ein
Ganzes zeigt. Wir suchen die Grundfunktion eines Menschen,
von der alles andere abbän^rt und aus der es im höchsten FaU
Ironstruieit werden kann. — Aber darüber hinaus soll die ge-
fundene Fofind nicht nur den dnen charakterider«!, sie soll
gewisse entscheidende Ocmrinsainkfaten vieler Menschai fest-
legen, sie soll so aUgemem und dabei doch so wahr sein, daß
ehie ganze Gruppe durch aie zusafluneogcfaßt und m ihrer
seelischen Struktur verstanden wird.
Zu diesem Zweck werden wir möglichst typisch gebildete
Menschen erforschen. Was an einem solchen ein für allemal
erkannt worden ist, das findet man dann leicht an anderen
weniger typischen oder auch nur weniger reich entialteien
wieder. Als Beispiele habe ich vorwiejrend Künstler gewählt;
dies hätte nicht sein müssen, aber es erleichtert die Auf-
gabe und macht vieles klar, was uns sonst unzugänglich
bliebe. Denn was bei solchen, die in der Sphäre des Han-
dehis oder des passiven Fühlens aufgehen» nur vcnchwonunen
g^get>en ist, erreicht bei Künstlern und besonders bei Dich-
tem eine höhere Stufe des Bewußtsems (ich meine natürlich
nicht des abstrakien, begriülichen Bewußtseins» sondern des
Geformten» Festen fitierittupt), es hat sich m Gestaltungen der
verschiedensten Art verkörpert Am Kunstwerk ist ja fihr den» der
zu schauen vcrstdi^ mancherlei Seelisches sichtbar und faßbar
geworden, was beim unmittelbar dahinldwnden Menschen wohl
auch erscheint, aber schwerer ergriffen werden kann — schon
deshalb, weil es sich nicht fixiert hat, sondern im Dahinfließen
des Seelenlebens verströmt und, einmal untergetaucht, nicht so
leicht wieder zu erhaschen ist.
Man könnte dieser Methode vorwerfen, daß sie gegen die
Vielheit des Lebens blind sei. Aber selbst auf die Gefahr hin, daß
ein paar individuelle Zäge übersehen oder gar falsch gedeutet
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23
werden: wir dringen um so tiefer in das Verständnis des Ganzen
ein, anstatt die Psychologie eines einzelnen Menschen — was ja
doch nur etwas Eingeschränktes und höchstens historisch Wert-
volles wäre — erfassen wir eine ganze Gruppe von Menschen
und lernen manchem begreifen, was sonst vielleicht als bloße
Tatsache hingenommen werden müßte, — Meine Methode, be-
deutende Menschen als typische Repräsentanten des Menschlichen
za betrachten und zu analysieren, ist aber durchaus verschieden
von einer heute beliebten I>enkart, die hinter allen ÄuBemngea
des Geistes peisöaliche IntünitiUen wittert und doch meialeiis nur
das findet, was sie zu finden ohnebin ein für allemal entschlossen
ist (so daß sie sich die Mühe des Suchens hätte spann können). —
Ich beginne mit der Charakterisierung des
Mittelmenschen, der zwar unvergleichlich häufiger vor-
kommt als der Grenzmensch, aber doch viel sdmdler erschöpft
sein wird, weil er nicht problematisch ist Der Mittehnenscfa in
seiner niedrigeren Erscheinungsform geht im Behagen des Alltags
auf und scheut jede Regung, die seine Ruhe stören könnte. Er
ist der Vergnügungsphilister, der des nächsten Tages nicht denkt,
weil er die instinktive Oberzeup^ung hat, alle wahrhafte Vernunft
t)estehe im (jcnießen des Augenblicks. Er kennt auch kerne Reue
über ein verfehltes Leben (außer vielleicht einmal, wenn ihm das
Geld ausgegangen ist), denn sein Dasein verläuft seinem inneren
Gesetze gemäß und ist daher, so nichtig es objektiv betrachtet
auch sein mag, doch durchaus organisch und berechtigt. — In
seiner höheren Eischeinnngsfonn versteht der Mittehnenscli das
Befangen und die Freude. Er kann die ganze Fülle und Gewiß-
heit des irdischen Lebens besitzen, er steht fest auf der wohl-
gerundeten Erde und ist weder Grübler noch Zweifler» weder
religiös noch abeigläubisch. Er weiß sich auf dem rechten Weg
und wird hmeilieh nicht heungesucht So beatdit für ihn die
Gefahr, mittelmäßig zu werden und im Alltag zu versumpfen.
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24
seine Beziehungen zu Speia^ Tnnk und Erwerb sind intim, sie
gelten ihm, wenn auch unausgesprodien, als das eigentlich Ent-
scheidende. Gottfried Keller kann als Idarer Vertreier
dieses Menschentyinis angesehen werden. (Ich hätte unter den
Musikern Haydn wählen können.) Kellers eigenster Bereich ist
das Mittlere in Natur und Menschheit Dies geht schon obenhin
aus seiner viel bewunderten Spradie hervor, die sich so um-
ständlich und liebevoll an die kleinsten Dinge schmiegt und sie
in erstaunlicher Breite und mit dem grolken Verständnis dar-
stellt. Keiler hat oft g^enug die Schönheit des Alltäglicl]en entdeckt,
er versenkt sich ins Kleine bis zum Krausen und Skurrilen. Er be-
sitzt alles, was der durchschnittliche Mirtelmensch hat, und, prin-
iüpiell gesprochen, nicht mehr; aber er besitzt es eben als großes
Talent Sein Auge sieht Schönheiten des Alltags, die anderen
immer vertKMgen bleiben, und er vermag sie mit dem Blick des
Humors zu schauen. Was ihm abgeht, das ist Größe. Will er
eimnal Leidenschaft oder Oröfie schildern, so föhlt er sich nicht
ganz aicher und tiSgt den Ueinb&igerlidien Zug hinein. Ein
erquickendes IdyU ist die liebe der Kmder in ^omeo und Jutta
anf dem Dorfe" — allerdmgs dem gleichen Gegenstand in Zolas
„La fortune des Rougons!" nicht nahekoomiend wo aber das
Idyll ernst und tragisch werden soll, da versagt die Kraft, bunte
Jahrmarkt-Schilderungen und Dorfszenen schieben sich breit an
die Stelle des Großen *)
Am deutlichsten wird diese Tendenz zum Mittleren in den
„Legenden". Der Stoff der Legende ist religiös und weist daher
nach oben, in das Grenzgebiet dei^ Menschlichen, und wo die
Legende noch naiv ist, direkt in ein Jenseits. Schreibt aber der
*) Zweifellos ist dies die Ursache, daß Keller in den Kreisen der
mittleren deutschen Bildung so hoch gestellt wird: er ist panz ins Bürger-
liche gebannt und sieht auch das Große nur unter dem Aspekt deü Mitt-
leren. Die ilin aber in Goethes Mähe rüciien wollen, haben von Goethes
Geist keinen Hauch verspürt.
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25
Idylliker Legcndm, ao fOhrt Uun der gesunde Mensdimver-
sbmd die Feder, der ja doch weiß, daß ea mit allen romantiadien.
Ideen nicht viel auf sich hat Und Keiler sieht die großen und
tragischen Steife von einem Uehibüigerlichen humoriaßflcfacn
Standpunkt aus, seine Legenden sdiOeßen mit einer Hochzeit
(einmal sogar mit einer Hochzeit im Himmel), denn die Hochzeit
ist ja der Mittelpunkt des behaglichen bürgerlichen Daseins.
Oiese Trivialität bei Stoöen, die einen tieferen Kern bergen, ist
eines wahren Dichters wie Keller dgentlich nicht würdig und
steht der Parodie nahe. Ein O renzmensch wird rehgiöse Stoffe
vielleicht Itarikieren und verhöhnen, der Mittelmensch aber findet
seine Freude, wenn es ihm gehngt, sie dem buigerüchen Alltag
anzupassen.
Der psychologische Typus des Bürgers hat das mittel-
menscfahche Leben^geffihl als ausschließlicfa berechtigt erkannt
und sich daraus efai System geliildet Er fühlt das Bedüifnis>
tätig und ordnoid hi sdne Umgetnmg, in das Oemehiweaen em-
zngtdSta, er will Gleicher unter Oldchen seu — dtqyen — und
hat so eigentlich den modernen Staat begründet Trotz seinen An-
lagen hat sich Kdler vor allem andern als Bürger der bfirger-
Udien Schweiz gefühlt, unerschöpflich ist im „Grünen Heinrich"
die Freude am Gemeinwesen, an Selbstverwaltung und wohl-
geordneten Einrichtungen, an öffentlichen Festen und Trin»
kereien. Seine eigentliche Wurzel ruht nicht im Geistigen, son-
dern im Volksleben. Der müdere Mensch sitzt behaglich plau-
dernd und trinkend, lustige Anekdoten erzählend, oder auch
schweigend dem Genuß hing^eben unter Freunden; der Grenz-
mensch exzediert und betrinkt sich oder er verschiieBt sich in die
einsame Kammer.
Aber der Mittehnensch kann in der liebe zum Dasein eine
solche Hdbeeneichcn, daß er ekstatisch anmutet So steigert sich
das gro6e WdigefOhl manches Euisiedleis zum begeisterten
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26
Panilieiamiis; die (du vfwig wahllos) all» mniaaseode Liebe
Walt Whitmans und EmO Vertiaerais findet Ausdruck für eine
hohe und doch rein mittehnenachliGfae Stimmung (die auch durch
che Lyrik Emst Lissauen Uingt). — Ich gehe an dieser Steile
nicht weiter. In einem späteren Abschnitt wird uns der Mittd-
mensch in seiner pnazipiellen philosophischen Vollendung er-
scheinen. —
Einer der entschiedensten und dabei ^^^enialsten Grenz-
menschen ist Dostojewski. Seine extreme Natur offen-
bart sich in allen Richtungen des Menschlichen : er ist der Heilige
und der Wüstling, der Liebende und der Mörder, der Leiden-
schaftliche und der inneriich Abgestorbene, der kalte Vemunft-
mensch und der deliiierende Oeisteskranke. In den ,ßr&deni
KaramasoS" spricht der Staatsanwalt „von den Naturen, die
fiUiig sind» alle nUSgUchen Widersprüche in sich zu vereuiigen
und zu gleicher Zeit beide Ahgrfinde zu erfassen, den Ahgnmd
über uns» den Abgrund des höchsten Ideals, und den Abgrund
unter uns, den Abgrund der aHemie d ri gs te n und sdiSndlichsten
Gesunkenheit". Und endlich wird hier die kürzeste Formel für
den Grenznienschen geiunden — „eine Natur mit zwei Ab-
gründen". — Eine solche Natur muB allen Ereignissen anders
gegenüberstehen als eine Natur, die auf dem festen Boden der
Wirklichkeit ruht. „Das, was die Mehrheit beinahe phantastisch
und exzentrisch nennt, das bildet für mich manchmal das eigent-
lichste Wesen der Wirklichkeit Oie Alltäglichkeit der Erschei-
nung und eine offizielle Art sie zu betrachten, das ist meiner
Meinung nach noch kein Realismus^ im Gegenteil! In jedem
Zeitungsbhitt begannen Sie Berichten über die wiiküchsten und
dabei absonderiichsten Oeschehniase!'' ^ Jn allen Idingen gehe
ich bis an die äuBeiste Grenze; mehi Leben lang habe ich nie
Maß halten kfionen/' — So und ähnlich sdireibt Dostojewski m
Sehlen Briefen.
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27
Aus der zwiespältigen Natur Dostojewskis heraus begieifen
wir aber auch immittdbar die Mangdhaftjgfcdt seiner Idiiist-
leriflchea Fomi, seine OleidigfiltigiGdt gegen den Aufbau und die
innere Proportionafittt seiner Romane^ die so oft von tfaeore-
tischco Bebacbtungen unterbrochen werden und so viele ver-
wirrende Net>engeschichten und Einschlebungen enthalten.
I>o6tojewski hat alles menschlich und moralisch gewertet, nichts
künstlerisch, und wenn er Künstler hat sein aiüssen, so ist er
es mehr in Feindsc hilft g^egen s<:nne innere Natur als aus tiefstem
Bedürfnis. Ein religiöses Buch, ein Buch über Christus, das ist
der Plan seines Lebens gewesen. — Die künstlerische I-onn-
losigkeit (die allerdings oit neben höchster gestaltender Geniali-
tät Sieht) gilt uns hier aber nur als ein Symptom seiner Art. UikI
seine Art ist. vollkommene innere Zerrissenheit.
Dostojewsld bat lange in Italien gelebt und sich weder um
bildende Kunst noch um Musik geldimmert, die Natur bat er
nicht einmal bemeikt; Ich glaube, daß sich In allen seinen Ro-
manen keine Naturschilderung findet. Die ganze Außenwelt ist
für ihn nur Rahmen des dUsdhaften und berückenden Wesens^
des Menschen, nidits an und fOr sich Besiehendes, er vennag
keine Ablenkung in irgend etwas anderem zu finden, so sehr ist
er vom Menschen fasziniert. — Der ganze Aufriß der Psycho-
logie Dostojewskis kann hier noch nicht gegeben werden; erst
im Abschnitt über das Dämonische wird sie ihre richtige Stelle
finden.
Ich habe bei einer anderen Gelegenheit (ohne diese Begriffe
?n zuwenden) gezeigt, wie Sich Mittelmenschen und Grenz-
menschen auf einem einzelnen Gebiete, nämlich im Liebesleben
verhalten.*) Der Grieche ist durchaus naturhaft, er kennt noch
nicht die persönliche Lietie zu einer Frau mit ihren Ekstasen
und Verzweiflungen, er begniigt sich mit dem heiteren Ge-
*) Die <lrei Stniro d«r EroHk.
28
schlechtsgenuß. — Der Mensch des Mittelalters, der den Grenz-
menachm als Kultuiformation sehr klar zeigt, bat sein Liebes-
leben zenissen: er versteht die schwftraiende überirdische Liebe
und dann wieder die dämonisch gewordene Lockung der Oe-
schlechtlichkeit Er ist friedlos auch im Uebesleben, die Madonna
und die Teufelin, die HeM, sind seine Pole. ~
Wie uns das Venündnis der Menadicn als icfiroduktiver
und produktiver an den Zusammenhang des Sediscben mit dem
Objektfv-KuituRUen gefOhit hat, so werden wir durch die Ana>
lyse des Mittehnenschen und des Orenzmenschen näher zu den
Quellen der Seele ^jelangen, die, selber nur im I>unkel rauschend,
die Seele speisen und ihr ganzes W^ii bestimmen. Die Zwie-
spältigkeit des Orenzmenschen weist die Richtung zu den letzten
Schichten des Menschlichen und führt zu seelischen Situationen,
die nicht einfach als vorhanden festgestellt, sondern in ihrer ent-
scheidenden Bedeutung für die Konstitution der Seele überhaupt
verstanden werden müssen. Die bloße Beschreibung des Phäno-
menalen kann hier nicht mehr genügen, wir werden die Zwie*
spältigkdt des Grenzmenschen in üirer ganzen Wucht als tra-
gisch und als dämonisch b^greüen, und erst durcb die
Analyse dieser tieferen seelischen Sphären wird sich uns das Ver*
ständnis des Grenzmenschen — das den wichtigsten Inhalt dieses
Buches ausmacht — ganz enddiefien. —
3,
Ich habe bisher den Mittelmaischen und den Grenzmenschen
als einen Typus betrachtet, der ein für allemal feststeht; in <kr
gebotenen schematischen Verdnfadiung wurde angenommen, daß
sich der Charakter eines Menschen in allen seinen Äußerungen
vom Anfang bis zum Ende erkennen läßt, daß es wohl seelisches
Wachstum und seelische Fntialtung gibt, aber keine prmzipielle
Änderung. Und doch hudet eine gewisse Yerwaadluog regd-
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29
mäßig statt. - Für den voll ausgebildeten Menschen der Gegen-
wart können drei Entwicklungsstufen als normal gelten: in der
erstoi Zeit der Jugend sind alle seelisdien Kräfte, alles WoUm
und Sinnen in einem mittleren chaotischen Zustand der Unge-
schicdenheit; das Jünglingsalter liat die Tendenz zu einem
extremen gidcbgewiditslosen Veriudten, das sich sUmfilittch mdir
lind mdir tanpeciert:*) aus Revotutionänn vmlen Minister, ans
raufenden Studenten friedliebende, von der Pensionierung träu-
mende Beamte; und wenn der flotte junge Mann den geregelten
Spiefibiiger veradilet, so entspringt dies der Almung, dafi er
hier sehie eigene Zulconft vor sich sieht» Der AUtagsmensdi hat
die Neigung, die problematischen und beunruhigenden Elemente
des Lebens immer mehr in selbstverständliche, nicht weiter trag-
liche aufzulösen, und zwar nicht etvi^a durch wirkliches Ein-
dnngen und Ikwälti^en, durch innerliches Überwinden, sondern
hinwegjiehend über alles, was ihm die Bequemlichkeit stören
könnte. Der altgewordene Bürger lächelt über die seelischen
Bedrängnisse seiner Jugend, über ihre Verliebtheit und ihre welt-
erschüttemden Ideen („Rosinen"), wo sich doch alles in der Weit
so einfach von selber ergibt Und diese Gesinnung wagt es sogar
nicht selten, den Namen Goethes anzurufen und von Otympier-
tum zu faseln. — Im Gegensätze zu scddiem Abstechen eischehit
dem hmerlicfa lebendigen Menschen das Dasein stets reicher an
Fraglichheiten, er ttfit nicht den Oberachwang seuier Jugend hi
Gldchgültigliett vcfsumpfen, sondern er kommt, je besser er
Menschen und Dhige verstehen lernt, je emster er sie zu nehmen
vermag, immer mehr zur Problematik alles Seins. Er hat die
Tendenz, das Leben zu vertiefen, während es der andere verflacht.
So ist eine gewisse dynamisciie Verschieb un^r der mittleren
und der grenzhaften Elemente mit dem allgemeinen und t>pisciien
Wachstum jedes Menschen verbunden, aber im ganzen und
Vgl. Die dnl Stuten der Erotik, 4. Teil.
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30
großen sind doch die meisten als statische — also verhält-
nismäßig einfache — Charaktere aufzufassen, deren Typus ein für
aUemal unveränderlich gegeben ist. Nun will ich mich dyna-
mischen Charakteren zuwenden. Ihr Merkmal ist, daB<
sie sich im Laufe des Lebens nach einer erkennbaren Richtung
ändern, ihr Seelenleben nimmt einen W<|g» der irgendwoher
kommt und iigendwobin gelit^ ihr Qiarakter ist nidit eine fest-
stehende Foimd, sondern dne Fmiktion — muß aber auch als
Fmiktion wieder einem Gesetze folgen. Und ebenso wie ich bis-
her nach der typischen Fonnd eines Menschen getrachtet habe»,
ohne auf individucSle Besondertieiten einzugehen, werde ich jetzt
noch viel mehr nur die Linie der Entfaltung suchen und mich
nicht durch die stets vorhiuidenen Schwankungen beirren lassen,
dabei muß nicht von neuem gesaßt werden, daß es sich aus-
schließhch darum haridelt, das Skelett einer Seele herauszupräpa-
rieren. Die ganze Fülle der W'irkhehkeit kann und darf nicht in
die Betrachtung eingehen; der so naiieliegende Vorwurf der for-
malistischen Konstruktion übersähe, daß ich nicht biographische
Psychologie geben will wid nicht „Essays" über den und jenen»
sondern allgemeine menschliche Charakteristik.
Beun Mittehnenschen kommt eine elgentUche dynamische
Entfaltung nicht in Betracht, weil sein ganzes Wesen Statik ist;
veränderte er sich innerlich, so wäre er zum Grenzmenscfaen ge*
wofden. FOr den Grenzmenscfaen aber, der ohne Gleichgewidit
zwischen den Extremen steht, sind zwei Wege möglich. Ersteos:
Der Zwiespalt wird im Lattfe des Lebens zu einer höheren Em-
heit gebracht — nicht wie beim Bürger zum Erschlaffen — , die
Extreme schwächen sich nicht eigenthch ab, sondern die Kraft
der Synthese wäciist und schafft Ober alle Verworrenheit hniaus
eine echte Einheit höherer Ordnung. Dies ist der Idealfall eines
Menschenlebens: daß eme Seele, die Himmel und Hölle iim-
schließt, zu einer iiöheren Einheit des Seins kommt, aus der ihr
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31
nun auch aUe Fälle des mittleren Beracbcs strömt, so daß sie
endlich den Menschen schlechthin zu repräsentieren vermag.
üiestr Meri&iih darf nicht mit einem verwechselt werden, der etwa
das eine Element in sich ganz vernichtet hatte und als
Heiliger oder absoluter Verbrecher (wenn ein solcher lel)en
kann) auf seine Art einheitlich geworden wäre. Er hat vielmehr
die (iegensatze innerlich verarbeitet, gewissermaßen zu einem
Jndifierenzpunkte geführt — und diese Stellung wird uns später
als die hödiste Lösung des tragischen Zwiespaltes entgegen-
treten.
Der.W«|g, der aus innerer Zerrissenheit zu einer höheren
Einheit leitet, ist seinem Sinn und seiner Richtung nach ver-
ständlich. Ich will ihn nicht im einzehien beschreiben, sondern
wende mich nun sogleich dem anderen, selteneren Falle zu: Die
Dishaimonie schwillt beständig an, nicht Beruhigung tritt ein,
sondern ünmer wilderer Kampf, die Tragik whrd nicht Ütier-
wunden, sondern nimmt zu. Hier shid zwei Minner hddisler
Genialität einzureihen : Michelangelo und Beethoven,
trslerer kann beiseite bleiben; ich habe die wachsende Zerrissen-
heit seines Alters, das schreckliche ( kfühl von Unzulänglichkeit
und das Mißtrauen ge^en s^inc Kunst bei einer anderen Gelegen-
heit beschriehen und ;^edeutet *). Aber an der Betrachtung des
ihm verwandten Beethoven wird die eigentümlidie Seelenart ein-
leuchten, die mit zunehmendem Alter nicht Klärung findet, son-
dern immer ruheloser und zerrissener wird. Während Wagner
im Parsifal eine überlegene Einfachheit erreicht und einen Weg
zur letzten Wdtschau und zur letzten Ruhe wenn nicht findet,
so doch ahnl^ wird Beethoven immer mannigfaltiger und wilder.
Wenn man Beethovens Werke (die in ihrer hercritechea Efar-
licbkeit sem Wesen völlig widerapi^gdu) ganz ungelihr in drei
Perioden zerlegt, so erkennt man in den Arbeiten der Jugend den
*) Die drei Stufen der Erotik S. 266.
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formalen Charakter, der noch wenig Persönliches besitzt und die
Abstammung dieser Kunst von der Kuiist des 18. Jalirhunderta
ohne jedes Helii kundtut. Diese Werke sind von der naive»
Freude am Musizieren gesegnet, das Können reift, das schöpfe-
rische Talent entiaitet sich und bemächtigt sich der Herrschaft
über alle Mittel der Kunst. Ohne deutliche Grenze führen sie
zu den großen Werken der zweiten Periode und in die stärkste
Schaffenszeit hinüber; die Form hat nun künstlerische Selb-
ständigkeit errungen und hält dem neuen seelischen Gehalte das
Gldchgewicht, wie es jede wahrhaft groBe Kunst focdert Vom
rein musikalischen Standpunkt erscheinen uns diese Werke als
dw höchsten, der bewuBt duidtgeaitcfteten, ästhetisch voll-
endeten Form entspricht der gewaltige seelische Inhalt — Aber
Beethoven kann sich ndt dieser voOkommenen Kihistlefscfaaft nicht
begnügen; die hmere FflOe wächst unhehnlich an, sie bediSngt
und überwältigt ihn, immer entschiedener zdgt das Seelisch-Le-
bendige die Neigung, die künstlerische Form, der es eingebildet
ist, zu zersprengen, es reckt sich und findet kein Ausreichen
mehr darin, wie sehr es auch die Form ändern und sogar zer-
stücken mag; die Leidenschaft der Seele möchte sich
anders, frd erließen Man muß durchaus nicht auf manche der
früherea Beurteiler Beethovens (Uübischeff z. B.) herabsehen,
weil sie in diesen Wa*ken viel Mißtönendes und Willkürliches
gefunden haben. Es ist wirklich da, wir haben uns nur in blinder
Beetboven-Anbetung gewöhnt, es nicht ais formlos und sogar
iiäßlidi zu empfinden, sondern womöglich ganz besondere
Wunder der Musik darin zu sehen (während es in Wirklichkeit
Wunder einer Über alte Grenzen flutenden dämonischen Sede
sind); aber höchste Kunst ist nun einmal unlösliche Einheit von
Inhalt und Form, und nicht ihr Kampf.
Der Gan^r Beethovei^s stellt sich uns also vorläufig und
schematisch so dar, daß auf relative innere Rulle die große Kunst
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33
folgt, daß aber die Lddenachaft der Seele in ihr kdn Genügen
findet, sondern endlich zu einer derartigen Wildheit und Ver-
zwdflung gesteigert wird, daß sie in den eigenen Abgründen zu
veniiikm droht und sich bis zum Schluß im Rmgen um ein End-
gültiges aufzehrt. Man fühlt aus einigen der letzten Weite her-
aus, daß Beethoven seine Kunst geradezu haßt, alles Vertrauen
zu ihr ist geschwunden, sie vermag nicht mehr zu sagen, was
er doch sagen muß, er möchte sie umwanddn oder vernichten,
um eine Ausdrucksform zu gewinnen, die seiner Seele genügt.
Dieser innerste, ihm selbst nicht khir bewußte Wille macht ihn
Michelangelo so ähnlich. Auch ni Michelangelo wird die Sehn-
sucht nach dem Maßlosen immer starker, auch er findet keinen
SchluBpunkt, weil er durch und durch Künstler ist und doch mit
der Kunst nicht auskommt. Aber während Michelane^elo allem
Irdischen samt seiner Kunst ganz entsagen, ein metaphysisdies
Sein geradezu ertrotzen möchte und im religiösen Glauben —
den er nie eigentlich besessen, aber immer brünstig ersehnt hat
— die endgültige Rettung sieht, ist für Beethoven die Religion
nur ein Versuch unter anderen (in der großen Messe), er fühlt
sogleich, daß er diesen Weg nicht gehen kann, denn er ist ganz
Mensch der Erde, gar nicht jenseitig gestimmt; der fromme
Haydn hat ihn, allerdings nicht völlig zutreffend, aber aus einem
richtigen Instinkt heraus, einen Atheisten genannt Eine letzte
Richtung fehlt ihm, aber er beätzt Ausbücke und Zusammen-
fassungen höchster Art, die ihn über allen Zwiespalt hinaus-
heben (in den er doch immer wieder /urucUällt); und er wäre
vielleicht an ein wirkliches Lüde gekommen — zu dem der W&g
im letzten Quartett op. 136 gewiesen ist — wenn er noch langer
gelebt hätte.
Die hier gezogene Grundlinie wird aber so^^leich durch
Schwankungen überbaut und verwirrt. Denn Beethovens Leben
ist ein bestandiges Auf und Nieder, die imiere Leidenschaft und
Lack*, Grmtttn d«r 8«ata. 3
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1
34
der Wille zur Einheit setzen mit dem Kampf nicht aus. Und üi
diesem ruhelosen Wogen lebt alles Menschliche und reift zur
Vollendung. Immer tiefer, immer kosmischer wird der Schmerz,
immer grandioser der Jubel; der grauenhafte, trosttoee Pesaunia-
mii8 des altgewordenen Michelangelo ist Beethoven erspart ge-
blieben; in ihm ist zuviel unprungliche Dfimonie und Leben»-
kraft» als daß Grübeleien eine derartige Gewalt über ihn hätten
gewinnen können wie über den Dichter der letzten Sonette.
Beethoven ist der aUenaenachlichste KfinsOer, die Seele der
Menschheit hat in ihm die stärkste und einem jeden verständliche
Sprache gefunden; vieOdcht ist das Menschliche schlechthin, das
Menschliche in seiner schrankenlosen Fülle niemals so unmittel-
bar Kunst geworden. Und dies eathülk Beethoven geradezu
als eine Urform der Menschheit: er ist panz lebendiges Sein.
Das bloße Leben, das keine Riciitung hat und kein Oesetz, son-
dern das in sich selber beruht, ist hier zu einer höchsten Inten-
sität gelangt. Dieses Leben geht in den Inhalten am", aber
ümi fällt die Richtung, weil Richtung immer Bezug auf etwas
anderes^ auf einen Oedanken, auf eine Idee ist. Und diesem bloBen
Lebendigsein, das so einen anarchischen Charakter trägt, stdlt
sich das andere entgegen: der efaenie KfinsUerwiOe, das heißt der
Wille zur Form und also zum Oesetz; seine größten Werke sind
der Schauplatz dieses Iteipffea Die Stellung des KfinsUen
schwankt aber: bald will er im Si^ der inneren Fom den Si^
der zttcfatvollen Freiheit, die Kant lehrt, über das Chaos; bald
stürzt er sich wieder in die Schrankenlosigkeit und Willkür der
dämonischen Kräfte seines Inneren. Wenn Weininger gesagt hat,
daß Beethoven eine Verbrechematur sei, so trifft das insofern zu,
als das wilde Instinktleben in ihm übermächtig ist, ein Leiden-
schaftlicher lebt hier, der aus jähen Impulsen handelt und alles
um sich her zu zerstören vermag, ein Mensch wie Dmitri Kara-
masofi — auf üm wiift sich der FonnwiUe und legt ilun seine
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p
36
goldenen FcBsdn an. Und in diesem Kampfe zwischen der Ur*
gewalt der Leidenschaft mid dem Witten zur Einheit wird nmi
— ufflgd[dirt wie bei den meisten anderen Künstlern — das
fonnlose, gefühlsmäßige Element fanmer mächtiger, die klzten
Jahre bedeuten sein Überwuchern.*)
Der Fülle der Beethovenschen Inhalte mangelt die Richtung
auf einen idealen Punkt hin, der, vielleicht erreichbar, vielleicht
unerreiclibar, als heimlicher Stern den Blick bannte. Wagaer ist
der Gegensatz dazu: seine außerordentlichen Spannungen zeigen
doch immer die Tendenz, sich endgültig zu lösen, alles Mensch-
liche, das er im reidisten Maße besitzt, will letzten Endes zu
einem Neuen, zu einer Erlösung, oder auch nur Vernichtung —
aber jedenfalls einem Punkt entgegen, der die Sehnsucht der
Sede stilli Dies wird im Lauf seines Lebens ünmer klarer be^
Wüßt mid immer bewußter gewollt Beethoven geht keinem Ziel
entgegen, der Weg sdbst, das menschliche Sein in seiner höchsten
Anspannung — als Leidenschaft, als Olfick, als Schmerz — be-
deutet die Erfüllung semes Wesens» und darum ist er so unver-
gtdchUch menschlich, wdl er eigenflicfa nie fiber das Menschliche
hlnausblidct -~ wenn ihm auch endlich das Menschliche nicht
mehr genügt. Er verarmt nicht im Menschlichen wie Ooethe
(allerdings ist er auch nicht so alt geworden), er wird immer
reicher und kann die sechsche Fülle nicht mehr in seiner Kunst
bewältigen. Aber er sagt ihr nicht ab, er weiß, daß er mit ihr
zu Ende leben muß, und vermag doch wieder nicht. Aus den
letzten Quartetten (mit Ausnahme von op. 13^1 spricht diese
Quai : es kann nicht so weitergehen — aber es geht auch nicht
andeisl Er kommt zu nichts Endgültigem und noch äiger: er
ahnt nur einmal oder zweimal, wo es zu suchen sein könnte.
Das Brausen dieser Seele ist so unendlich produktiv und
*) Wie ein äuSeres Zdchwi hiervon wird BeeUiovens Handschrift
«irr und unleMiflGlk
3*
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36
menschlich, daß man behaupten darf, Beethovens Werke werden
in ihrer Lebendigkeit ergreifen, solang es Menschen gibt, sie sind
für immer vollkommen. Denn selbst die höchste Idee, die einheit-
lichste Onindrichtung kann histoiisdi werden und ihie lebendige
WiilEsamkeii verlieren. Coetfae hat^ von einigen frfilien Weften
abgesehen, immer eine einheifliGh-fonnale Bfindigung des Stoies
im Auge gehalyt und hat auch (was eigentüch schon Nebensache
ist) hin und wieder theoretische Meinungen in aehier Kunst zu
verwiildichcn getrachtet. Ebenso Wagner. Sie sind beide Kul-
tuimenschen im höchsten Sinn. Und Michelang^elo hat schließ-
lich im organischen Widerspruch mit sich selber die Idee hoch
über alles Menschliche gehoben und aügebetet. Er ist geradezu
daran zerbrochen, daß er ihr nicht Genüge tun konnte. Um
einen Augenblick göttliche Schau hat er all seine KünsÜerschaft
hingeben wollen.
Der größte Gegensatz zu Beethoven (immer au! dem Niveau
der Genialitat) wäre der Mensch, der eine Lehre pred^ eine
Religion stiftet, der alles Leben in eine Richtung bringen mufi,
dem das Wiildiche erst Wert gcwmnt, wenn es im Zusammen*
hang des Ganzen eine neue Bedeutung erlangt hat Der Mensch,
der so luhlt, ist der eigentliche Mensch der Kultur, der
alles Bestehende zu einer definitiven Einheit zwingen mufi; m
Beeiho¥en ist das Urmenschliche, das Wilde und DImonische
nicht zu einem Ganzen gd>ändigt, sondern immer nur von Fall
zu Fall niedergeriiiigen ; sein Werk ist nicht eine emzige zu-
saiimienhängende Einheit, sondern eine Reilie von Einheiten.
Und er ist im Verhältnis zu den höchst kultivierten Geistern
Barbar; das erschütternde Pathos seiner späten Werke ver-
rät, daß er dies wie einen Mangel fühlt und überwinden möchte. —
£s ist nun aber das Unvergleichliche, das vollkommen Ge-
niale an Beethoven, daß dieser Kampf ganz hn Geist ii^en
zum Austrag kommt Alles Fühlen ist ohne Rest ins Schöpfe-
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risch-Produktive eing^angen; weder Trunk noch Spiel noch ge-
schlechtliche Ausschweifungen haben BeeÜioven (wie etwa Dosto-
jewski) vei^ucht — auch das Dunkle ist in die Sphäre der Oe-
iiiaiität gehoben, die Musik selbst ist der Schauplatz des Kampfes.
Tragik ist (vorläufig formuliert) Zerbrechen an einem an-
deren und endlich an der eigenen Natur. Und so ist Beethovens
Tragik die Unmöglichkeit, sich als ein Nur-Lebendiger zu voll-
enden, seine Tragik liegt darin» daß er ein künaflerisclies Genie
sein muß» und wir empfinden als heroisch, daß sich der Wille zur
Einheit immer wieder das Chaos imtertan macht —
Ich will nun an den späteren Werken Beethovens nach-
weisen und weiter ausfuhren, was ich bisher gesagt hübe.
Schon für seine frühere Zeit ist die übergangslose Folge von
wilder Ausgelassenheit und tiefer Trauer charaJcteristisch, sie
enispncht den unvemüttelten Gegensätzen seines Wesens;
besonders auffallend wird dies in den Werken mit tragi-
schem Charakter, in der dritten, fünften und siebenten Sym-
phonie, schroff beim Vivace und Adagio der neunten Sym-
phonie, nicht in der idyllischen sechsten (die ül)erhaupt nicht
eigentlich beethovenisch, nur ein Ruhepunkt seines Schaffens ist,
auch in ihrem Programm ältere Muster nachahmt).*) Die Ab-
wedislung von schndlen und langsamen, von heiteren und trau-
rigen Sitzen ist ja p^diolcgisdi wohl motiviert und auch in der
Symphonie vor Beelhoven allgemehi fibhch gewesen, aber sie ist
nie auch nur annAhemd so kraß wie bei Beelhoven zu finden.
*) Wie die Pastoral 'Sytnphotdt nicht Gdst vom Geiste Beethovens
ist, so hat auch seine j^roße Liebe zur Natur nichts Produktives; sie ist
eigentlich etwas negatives, eine Flucht, und erklärt sich zum Teil aus
seiner Abneigung gegen die Menschen, zum größeren Teil aber aus dem
Bedfirftais, ausranihen und etne Abldtunf für die Innere DSmonle zu
finden. Paul Bddnr Saft zutreltand: „Das BedOrfnls nach einer heroischen
Landschaft ist ihm fremd. Was er sucht und was Ihn allein befriedigt,
iat das it^l" (Beethoven. 1911» & 192).
38
Betrachten wir zuerst (immer vom pe^chotogiachen Stand-
punkt und mit der Absiebt die Miiaik pöfcbologisdi zu deuten)
die 80 charaklaistische neunte Symphonie. Ganz hi
innerer Ruhe vollendet und veridärt ist das Adagio-Andante;
hitte Beethoven die Einheit bewahrt» so mfißte dies der letzte
Satz sein (wie etwa fai der neunten, allenfingis unvoUendeten
Symphonie Bruckners, der seinen Gott unwanddbar besessen
bat). Aber der Volieaduiig folgt der Chorsatz, der damit anhebt,
alles Vorher^egfangfene — sogar mit dürren Worten*) — in
Fra^e zu steilen, und schließlich verzweifelnd in ein ganz neues
Gebiet hindnjagt, wie um vor der Unruhe der eigenen Seele
Rettung zu suchen. Ich muß die populäre Auffassung, daß dies
Lärmen und „Freude !"-Schreien eine wirkliche Erlösung wäre,
ganz abiebnen. Die Eriösung, die Beethoven versagt ist, soll
hier von außen her erzwungen werden. Wer die innere Freude
wiridich besitzt, der ruft sie nicht mit hundert Stiounen herbei.
Eine wahihafle Erlösung hat sich hn Adagio vollzogen; aber das
ist eben das Unselige des beetfaovenischen Oenius> daß ihm ge-
geben ist, an keiner Steile zu ruhen.
Dieser Chorsatz ist nicht Erfüllung, sondern Verzweiflung,
Verzweiflung: an der Kunst Seit Menschen Musik ersinnen, ist
nichts Größeres und Ausdrucksreicheres geschaffen worden als
die drei ersten Sätze. Beethovens Kraft ist der Ton — und nun
wirft er den Ton dahin und fängt an, Worte zu stammeln, die
jedes künstlerischen Charaldeis bar sind und nichts wollen als
einen däiftigen Oedankcn ansspiechen: „O Freunde! Nicht diese
Töne! Sondern lasset uns angenefamece anstimmen und freuden*
volieie!" — Welcher Sbiiz in die Plattfaeitl — Und es folgen
*) In den Skizzen mm letzten Satz ist die Stelle, wo dfe früheren
Themen wie zur Probe wiederkehren, mit einigen hingeschriebenen Worten
begleitet: „riein, dies würde uns erinnern an unseren verzweiflungsvoUen
ZustMid^ u. s. f.
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39
die phiasenliaftea Vene Schillers^ gewiasermaBen wie Erlfiuto-
ningen und Fußnoten, damit man audi genau wiase^ wie es
gemeint iai Die Muaä dieaes Salzes ist entefnediend trivial,
in fluem Maiaduiiytlimus minderwertig, stillos, sogar roh. (Es
wird erzSIilt, daß Beedioven nadi der ersten Auffühmng die Ab-
sicht geäußert hätte, den Chorsatz wegzulassen und ein neues
Ende für diese Symphonie zu edinden — es hätte nur eine un-
geheure Orchesteriuge sein dürfen!) Aber etwas anderes, mensch-
lich tief Ercrreifendes spricht aus diesem Beginnen: die verzwei-
felte Aiistreiiij^ung, ein Neues zu hnden, um die innere Qual ab-
zuleiten, die in der Musik nicht gestillt wird. Wagner hat emp-
funden, daß Beetiioven es liier mdit melir ertragen kann, in der
reinen Musik zu veriiairen; aber seine Deutung, er hätte nun
die Einheit von Ton und Wort als letzte Erfüllung gefunden,
scheint mir durchaus irrig. — Es mag sein, daß am Enigleiaen
dieses berühmten Satzes die nichtssagenden Verse Schillers mit
schuldig aind, denn ihrer Hohlheit konnte Beethovens Musik
nicht gewachsen aein.'*) Bedenkt man aber hmwiedenun, wekfae
unenneßlichen Tiefen Bach an noch ilblefe Terie ang^üpft hat,
so kann auch das nicht zur Eridärung huncicfaen. Bedfaoven
*) Man ndune doch rtunal den Hymnus «n dla Ftmd» ohne die
fibllclwn Vonirldto zur Haiul und wnudie, sieb dahai etwas vonuataUan:
Küsse gab er uns und Reben
Und den Freimd, geprüft im Tod.
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gottl
Das ist keine Freude, eines Beethoven würdig, der den Übermensch'
Uchan fubel der 5, und der 7. Symphonie aekannt hat. Wem Joharni
Staaut vertont:
Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesaos«
Der bleibt ein Narr sein Leben lang!
so hat das die gleiche Bedeutung wie Küsse gab er uns und Reben"
und ist dabei viel echter, einfacher und natürlicher. — Hat die erste Zeile
aber immerMn noch einen (trivialen) Süin, eo iat der Round, geprüft Im
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liat nach den Worten Sdullers ohne jede innere Verwandtschaft
gegriffen, denn er ist weder ein Küsser noch dn Trinker ge-
wesen, und er bat auch nicht an den Uelsen Vater übenn Sternen-
zelt geglaubt wie seine Verefaning för Kant und der mysüadie
Spruch bewdsen, den er sich abgeschrieben und au! den Tisch
gestellt hat Der Choiaalz ist nichts als eme Tat der Verzweif-
lung; einer der Versuche, aus sich selber heraaszukommen, etwas
zu finden, das nicht Musik, vieUdcht nicht Kunst ist.
Der Versuch, das ihm Gegebene zu fibersdireiten und eine
letzte Synthese zu üiiden, die ihm seine Kunst versagt hat, ist
noch viel mächtiger und tragischer in der großen Messe zu
erkennen. Schon das Unternehmen, eine Messe mit lateinischem
Text zu schreiben, ist für Beethoven, der zur katliolischLii Kirche
kein Verhältnis gehabt hat und überhaupt nicht eii^entiich reli-
giös gewesen ist, etwas Unorganisches. Die ältere kleine Messe
in C hat auch nicht den geringsten religiösen Zug, sie geht unhe-
Inimmert am Text vorüber. In dem großen Werk aber hat
Beethoven um eine Erlösung durch den Glauben wifklich ge-
rungen, viellddit eüi noch radikalerer Schritt ffir ihn, als das
Aufleben der Musik zugunsten des Woftes — und das ganze
reiche Weik ist em Kampf gegen sich selber. Die Missa solemnis
Tod, völliger Widersinn, denn ein im Tode geprüfter Freund ist gestorben
und berdtet uiw keine Freude mehr* Ferner: Daf dem WUrm Wollust
S^dMi ward, Irihnnte allenfalls eine naturMstoriedie Feststdlung sein,
aber nimmermehr Poesie; und der unvermittelt folgende letzte Vers ist
vollkommen leer jedes Sinnes. Zwar Mreiß ich nicht, ob der Cherub vor
Gott steht — Ich kann mir ihn höchstens vorstellen wie den schlechten
Sdifiler, der vor seinem Lehrer steht — ; sollte es aber in der Tat der
Fall sein, dann hat er zuverllssla weder mit dem wollQstigen Wurm «twas
zu Staffen, noch mit allem andern, was sich auf Freude und Uebe und
Freundschaft bezieht. Außerdem ist es ein Widerspruch, in einem Atem
Gott zu preisen, weil er uns Küsse gegeben hat, die Wollust aber (offen-
bar verächtlich) dem Wurm zuzuschieben. — So ist dieses ganze Gedicht
iwar mit froSen Vfontm angeffillt, aber völlig unkfinaderlsdi, unvortteil*
bar und obendrein dhne allen inneren Zusamniealiang.
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hat nichts Gläubiges und nichts Transzendentes, ohne das reli-
giöse Musik nun etnnud nicht zu denken ist, sie weist nicht ins
JensdtB» sondero ist ganz von infiacher Leidenschaft, von ir-
discher Klage erfüllt, gerade wie die anderen Werke. Chor und
Rezitativ sind oft genug opemhaft. Hin und wieder klingt ein'
kirchlicher Ton auf, der aber luchts ist als euie Renimiszenz
(während das Requiem und das Ave verum cofpus von Mozart
tiefe Umere Hhigebung an ein jenseitiges Dasein, die ergreifende
letzte Stille eines Lebens atmen, dem das Irdische schon ent-
schwunden ist). UlIs Lchteste an Bettiiovens Mt-sse- Musik sind
die Aufschrde der Verzweinun^: Kyrie eleison! Herr, erbarme
dich unser! und am Schlüsse das entsprechende Miserere, das ja
aus einem zerrissenen Herzen stammen soll.
Die Fugen, die in der Missa vorkommen, haben Beethoven
viel Mühe gekostet. Sie sind wild und titanisch, aber ohne innere
Ruhe, das Gegenteil der gottsicheren bacfaischen Fugen, die wie
In der Ewigkeit gegründet ruhen. Die Fuge ist die vollkom-
menste und die einzige wirklich vollkommene künstlerische Art,
ein Mannigfaltiges in -einer Emheit zusammenzufassen. Keine
andere Kunst ab die Musik vermag in so hohem Mafie, In-
dividuen (Stünmen) glddizeitig gegeneinander zu föhien. Auch
das Drama gibt dne Vielbdt von Menschen, die dnander be-
fehden und schließhch zur Einheit kommen können, ui^d der mc^*
dernen Oper ist die Möglichkeit gegeben, die dramatische und
die musikalische Lösmig zu vereinigen (was im ersten Finale von
Mozarts Figaro wohl am v(^onunensten gelungen ist).*) — Die
*) In der griechischen Tragödie wird den kimplenden Individuen der
Chor als besonderes, in sich abgeschlossenes Prinzip der Einheit gegen-
uhergestellt und dies ist sein kfmstlerisch -psychologischer Sinn: den im
antiken Denken zutiefst begründeten V orrang des Allgemeinen, Objektiven
vor dem Linzelnen sichtbar zu machen und eine höhere Einheit über
aOem Qitzweiten zu verltOrpera. Darum sagt auch der grieddsche Chor
nicht Mwlr**, sondern Hldi**, er reprisentlert nicht ebie Summe von bidl'
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büdende Kunst stellt sich in jeder äguralen Komposition die
Aufgabe, aus vielem Widerstrebenden eine Einheit zu gestalten,
Rafiaels große Gemälde etwa zeigen eine Lösung, wie sie der
Malm möglich ist (Die Sixtina-Decke strebt etwas Derartiges
nicht aa, sie begnügt sicfa mit einer Reihe voa Einzd-Dsiatel-
lungen).
Die Musik jedoch besitzt in der Fuge CFludif ') die gcoB-
artigste Möglichkeit, Individuen kämpfend gf^einander zu
führen und zu dner Emhdt zu bringen. (Der bildenden Kunst
fehlt ja die dynamische Entfaltung und sie kann nur dnen ein-
zigen Augenblick herausgreifen.) Das vollkommene Bild des
Kampfes äußerer Mächte, die Freude am Spiel der Krai't, am
RinjE^en, Verfolgen, Siegen in heller Sonne bieten wohl die Fugen
Händeis. Händel ist Mittelmensch, er steht fest auf der Erde imd
schöpft aus ihr inuiier neue Kraft. Eine Vielheit von Menschai
gibt es auch in eini^^en Chören der xMatthäus-Passion, dort, wo
die Stimmen des Volkes durcheinander rufen; aber für Bach ist
diese äußerlich-dramatische Auffassung der Fuge eine große
Ausnahme. Fast immer handelt es sich bei ihm um ehien
i n n eren Kampf — und hier gewinnt die Fuge ihre tidste Be-
deutung. Sie wird zu einer Kunstfoim, die nicht mehr ihres-
gleichen hat (denn in der Malerei wie im Drama handdt es sidi
stets um ein infieres Oesdiehen, um den Kampf von mensch-
lichen Indhddoen gegenemander). Die Fuge faßt die innenn
MSdite^ und zwar nicht in ursprünglicher diaotiacher Wildheit,
sondern als Ausstrahlungen eines gemefaisanien Höheren und
schafft aus ihnen Ot)erlegenheit und Verklärung. Dies macht das
e^entliche Wesen der l uge aus, ihre Idee: sie ist das Spiegel-
bild der Bede, die die ganze Wdt in sich trägt und sich selbst
"viduen gegenfiber den olnzebien hsndelndn und ieldend«n Pnnonai,
sondern «hie wirldlche Elnbelt höherer Ordnung, dl« dem Zwiespalt eni»
hoben Ist
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genug ist, die die Wdt atis sich herm zu meugm veniiag. Wie
in einem ewigen Kreislauf gebiert sich aus der Seele das Sein
und lodirt in seinen Undio6 wieder. Die Fuge Bacbs ist das
Icunsflerische Abbild der Sede, die zur Welt geworden ist (Mi-
krokosmos im eigentlichen Sinn), die in sich selbst ihren Scbwer-
punit hat und um die eigene Achse kreist, die sicli in ihrer Tiefe
wie in euieni klaren See spiegelt. Sie ist die Abbildung des
höchsten mensch he iüichen Bewußtseins und der wahre Aus-
druck des ganz Großen und Einsamen, des Siegreich-Voll-
. endeten — Bach.
Es ist nun auffallend und wichtig, daß Beethoven in seiner
späteren Zeit die Form der Fuge immer wieder ergreift (die
größten finden sich in den Sonaten op. 106, 110, in der neunten
Symplionie, der Missa, in der „Wethe des Hauses", dem Quartett
qp. 133 und dem Fragment op, 137), wfthrend er sie irutier nur
gfanz vereinzelt angewendet und eigentlich nie durchgeffiltrt hat
Unter allen diesen Gebilden gibt es aber (mit Ausnahme der So-
nate op. HO) kaum eines^ das man p^chologiscfa als Fuge emp-
finden kann. Auch das Glofia der Mesae^ das möglicherweise efaie
kamM gebaute Fuge ist (ich vermag es nicht zu entscheiden),
erweist sich schon äußerlich durch seine wilde Akzentuierung
als ein Organismus von anderer, elementarer, ungebändigter,
kurz beetliovenischer Art. Alle bachischen Fugen sind trotz ihrer
Herbheit in eine höhere iiarmonie getaucht, welche Dissonanzen
gar nicht als solche empfinden läßt; die Fugen Beethovens klingen
durchweps übel und j]:ewaltsani. Es sind nicht die unbegreiflich
selbstgenugsam in sich ruhenden Wesen, deren Charakteristik
ich angedeutet habe, sondern krampfhafte Versuche, in der
höchsten Kunstfom den Frieden zu gewinnen. Diese Fugen,
deren eine (in Sonate op. 106) tragisch überschrieben ist: „Ohne
jede Freihdt", dokumentieren den Entschluß» der Zerrissenheit
bis Auge zu achauen und sie musikalisch zu bändigen; aber sie
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vcmten gleichzeitig die UmmögUchkdt des Sieges. Wie itatag
sie audi sein wollen, sie sind mit dem alten Kampf angefOllt imd
emclien kein wahres Ende.*)
Die Vernachlässigung des Wohlklangs, die in den späteren
Werken oft zu finden ist. kann nicht wohl mit der Taubheit
Beethovens erklärt werden, wie dies immer wieder geschieht. Soll
man etwa annehmen, daß Beethoven das genaue Klangbild nicht
im Ohr gehabt habe? Daß er die kompliziertesten Tongebilde
ersinnen konnte und Mißklänge „überhörf* hätte? Die Vor-
stellung oder der Anblick des Notenbildes hat ihm ohne jeden
Zweifel densdben Eindruck gemacht wie anderni das lebendige
Hören, und die Mißachtung des Wohlklanges ist viehnehr wieder
nur eine Äußerung der Ruhelosigkeit, die sich nicht nur positiv,
sondern auch n^tiv in der Oleichgültigkeit g^en das Sinnlich-
Musikalische, d. h. das Eigentlidi-Musikalisch^ ausspridit Denn
bei Beethoven ergibt sich der Mißklang nicht« wie manchmal bei
Bach, aus der Notwendigkeit der Sümmiuhrung, vor der alles
andere zuriicktreten muß, oder wie bei Modemen aus dem Be-
dürfnis, psychologisch-draniarisch zu charakterisieren. Und ich
bin sogar geneigt, das Fehlen der traijenden mittleren Stimmen,
während die höchsten und tiefsten Lagen gleichzeitig erklingen,
wie es sich wiederholt in den letzten Sonaten und Quartetten
findet, auf den Mangel an innerem Gleichmaß zurückzuführen,
der sich im musikalischen Material handgreiflich spiegelt. —
Die entgegengesetzte Tendenz wie in dem Willen zur Fuge
ist in den instrumentalen Rezitativen am Werk, die alle musi-
kalische Gebundenheit abstreifen wollen und nach einem der
Sprache angenäherten unrhythmischen, mehr verstandesmäßig
*) Die fuge in der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses" ist ein wenig
im Geiste Händeis empfunden, ein tonmalerisches Durcheinandereilen
und -rufen vieler Menschen.
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vennitteiten Ausdruck tasten. Auch sie ~ die in den letzten
Sonaten und Quartetten wie in der neunten Symphonie den Gang
unterbrechen ^ sind nichts anderes als eine Flucht in fremdes
Land. —
Doch wir mfissen noch einmal zur Messe zurückkehren. Im
Credo ist die Kraft des Glaubens wiiUich zu spfiien; ehi Zweifler
ist Beelfaoven nie gewesen^ nur ebi Ruheloser (in Wagners
. Schlußmesse^ dem Parsifa], ist der Dimon Wagners, der Zweifel,
noch am Weck» und sein Credo, das Glaubensthema, enthält die
ganze Wucht des siegenden Glaubens). — Das Crudfixus und das
Resurrexit aber ist durchaus irdisch, sogar ein wenig äuBerlich-
pompüs, Wtis besonders fühlbar wird, wenn man an die ent-
sprechenden Stellen in Bachs H-moll- Messe denkt, die vielleicht
der tiefsten Religiosität der neuen Zeit Ausdruck gibt. - Das
Benedictus und das Agnus hingegen atmen eine gfewisse
religiöse Ergriffenheit; und endlich hat Beethoven bei dem Satz
Dona nobis pacem selbst aus tiefstem Herzen dazugeschneben :
„Bitte um inneren und äußeren Frieden." In diesen Worten des
Messetextes ist ihm seine letzte Sehnsucht bewußt geworden:
i^e zu finden aus dem Gewogt der Leidenschaften, Ewiglcdt
zu schöpfen im Drange der Zeit Diese Rufe nach Frieden sind
der Ausdruck höchster Verzweiflung, wild aufschreiend rennen
sie dnrch alle Stimmen» Trompeien gdlen in die Erdenwdt hm-
ein und ein f^gstUchcs** Rezitativ fleht um götUicbes Mitleid
und um Frieden. Es sieht aus» als wolMe sich der Chor den
Frieden endlich gewaltsam ertrotzen. Aber die Zerrissenheit ist
zu sehr das letzte in Beethoven, sie lälk nur für kurze Augen-
blicke nach. Der Instrumentalsatz (Presto) hat den Frieden, der
im Benedictus wie eine Vision aufgetaucht ist, sclion wieder ver-
loren — und die Messe schlielit, wie sie begonnen hat: unerlöst.
Sie bedeutet den völligen inneren Gegensatz zu Bachs religiöser
Musil^ und zu Bruckne» Te Deum, das mit den Schlußworten;
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Non coniiiiidai in aetemum tiefste Gewißheit des Glaubens und
des ewigen Lebens verkündet. —
Eigieifend ist es, wie Beethoven um die menschliche
Erlösung in der Liebe — aber wiederum ins Material seiner
Genialität hinein verwandelt! — gerungen hat. Der Liederkreis
an die ferne Geliebte und die Mignoo^Lieder (Beethoven hat
„Nur wer die Sehmttcht kennt; wdfi, wsas ich leid^' viennat
vertont!) atmen scUichle innige Sehnsucht, und hn Fidelio hat
sich der Tnum von der Liebe und Treue emer Fnni verewigt;
noch mehr als in der Oper jedoch in der groflen Leonoren-
Ouvertttie: wie nadi langem Suchen endlidi der Erldsungsruf
der Trompeten erschallt, da ist ein Atemanhalten, ein Horchen,
ein Herzklopfen, ein Aufleuchten der Hoffnung — noch einmai
ertönt der Ruf — und dann bricht der selige Jubel der Liebe aus,
der nimmer enden kann.*) — Am Schluß der Oper erküngen
dieselben Worte wie am Schluß der neunten Symphonie — „Wer
ein holdes Weib errungen, stimm' in unsern Jubel ein!" — ein
anderer Weg, der aus der eigenen Unseligkeit herausführen
mußte, gleichgeordnet dem künstlerischen Weg, dem reUgiäsen,
dem Allgemein-Menschlichen. —
Ich fibersehe bei meiner Auffassung Beethovens durchaus
nichts daß er hnmcr wieder m den rehicn Adagios ^ am voll-
endetsten im Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit,
Quartett op. 132 — vorfibergehend wahlhaft selige Ruhe^ hi den
jut)efaiden, von aller Erdensdrwere enflMmdenen Schlußsätzen
ein vollkommenes göttliches Lächeln gefunden hat. Wiederholt
und in der allergrößten Weise ist die Spammng überwunden
worden; aber gerade das Fehlen einer eindeutig gerichteten
*) DieM Ouvertur« Ist die wahre TngMiek de beweist fibeneugeiMli
dafi Wagner Unrecht hat, wenn er die Sehnsucht Beethovens nach dem
Wert einseitig hervorgelK>bsii und für seliie elfentUctae Sdmsudit er*
kUUt hat
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Linie scheint mir ja ein Hauptmerkmal der beethovenischen Ge-
nialität zu sein: er steigt manchmal aus dem unendlich hin-
stürmenden Ozean und ruht auf einer schattigen Insel — aber
er muß wieder hinab ins OewQge. Das iaaerlich Grenzenlose ist
sein tiefstes Wesen. —
Beethoven bat die musikalische Variation gepflegt wie
kaum ein anderer giofier Tondichier, nicht nur als Teil einzelner
umiaagieicher Weik^ auch als sdb^dige kOnstieriscIie Fonn;
die 33 Variationen über ein Thema von Diabelii (op. 120 aus
dem Jahr 1823) suid wohl das bedeutendste existierende Werk
dieser Art. *) — Die Variation, die eüi gegebenes Thema ab-
wandelt, ist wie kerne andere Form eine blofi musikalische An-
gelegenheit und etwas wie eine hohe Schule der Kunst, nicht
Erg 11 1^ seelischer l-roduktivilal im höchsten Sinn. (Daß Beethoven
in den Diabelli-Variationen, im Schlußsatz der dritten Symphonie
und vielleicht auch in der Appassioiiata und in der Sonate op. III
etwas Geniales in die Variation hineingelegt hat, widerspricht
eher dem Geist dieser Kunstiorm, als daß es aus ihm folgte.) Die
Variation ist ein Spiel der Phantasie, eine Gelegenheit, seine
Fertigkeit zu entfalten; dies wird z. B. bei Brahms sehr deutlich;
im Bereiche des beeihovenischen Daseins aber erscheint die Va-
riation wie ein Ausruhen in dem, was nur Musik und nichts
anderes isl^ ein Beschäftigen mit den muaikatiscfaen Fonnen, das
die Unruhe der Seele vogesaen lIBt; mit einem Worte, die Rich-
tung, die mstinktiv dem Grofien und Aubrühienden enigegen*
arbeitet, wie es sich in Rezitativen, Chonfttzen, gewaltsamen
Fugen und Willküriichkeiten äußert
♦) Die 23. dieser Variationen bringt imvermittelt eine Arie ans ,,Don
fuan". — Lange ist mir dieser sonderbare tiinfall unverständlich ^leblieben;
bis ich zufällig auf den Text achtete: „Keine Ruh bei lag und ilachtl**
— BeeUiovm lacht «dbst fiber sein m ernst gcnonunsnes Beginnen, su
elnsm nIfiiit«MC«nden fremden Melodlechen 33 mlditige VsriaUonsn m
schreiben*
4ä
In den letzten Sonaten und Quartetten tritt das eigentlich
Künstlensche, das Formende und Gestaltende wiederholt (nicht
immer!) zurück, es ist manchmal wie wildes Aufschreien oder
wie dunkles, gestaltloses Grübeln. Die Rücksicht auf den musi-
kaliachen Ausdruck nimmt ab, eine nackte Seele will zu sich
selber reden, sie spinnt einen Gedanken an, unterbricht ihn
wieder, kommt mit etwas Neuem dazwischen und findet kein
rechtes Ende. Die QuarteHfuge op. 133 (die ursprflnglidi als
SchluB von op. 130 gedacht war) ist ein einziger wilder Krampf,
musikalisch gewaltsam und unschön, doch encfauttemd in ihrer
Menscfalicfakett^ die am Kflnstlerischen veizweifeit hat — nach
dräben ist die Aussicht uns verrannt! — Die Haauneildavier-
sonate op. 106 mit ihrer imgewdhnUdien Länge, ihren fiber-
reichen und verschiedenartigen Inhalten (worin sie an die neunte
Symphonie und an das Quartett op. 132 erinnert) bedeutet einen
heroischen Versuch, die ganze Welt der Seele zu durchrasen und
zu bewältigen. Im Adagio, emem der innigsten und dabei grüb-
lenschesten Beethovens, sinfrt alle Wehmut und alle Resignation
des Daseins, es versenkt sich immer leiser und zarter in sein Ge-
heimnis. Aber diesem entrückten Sinnen, das wirklich Erlösung
ist, folgt neues Präludieren, ähnlich wie vor dem Choreinsatz
der Neunten, und die wilde Fuge braust heran, die den schon
erschauten Frieden nicht iestigt, sondern zerstört
Beidoer sagt über die letzten Sonaten (in denen er übrigens
einen whidiclien Sieg und Abschlufi findet): ,,Es ist eine vöUig
abatrakte Klangwdt, In die diese Schöpfungen hmeinffihren. Es
sind nur Klangvorstellungen, mit denen sie spiden. Beedioven
bedient sich nur der Schriftzdchen der Klaviersprache Der
wirkliche, physisch wahrnehmbare Klang ist eine gemeine Ver-
gröberung der kuiistiensciien Idee, die hier nur noch dem
geistigen Ohr erkennbar wird. Beide Werke (die Sonate op. 106
und die I>iabelU-Variatioaen) sind die immateneilsten Schöp-
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Iniigca, die nunadificlie Kiuist tMs jetzt hcrvo^^^ Wir
sehen, wie hier die Instnimentifantisik, an der Spitze ihrer Ent-
widdiiiig aogelangt, mit Enimaterialiaieniiigpdraiig sich gleich-
sam überachlfigt: sie verleiigitet sogar den realen iOang und
steigert sich zum Experimentieren mit rein gefainmiaßig erfaß-
baren Klangabstraktionen"*) — Was heißt das aber, vom Musi-
kalischen ins Psychologische übertragen, anderes, als daß
Beethoven an seiner Kunst verzweifelt hat^
Während der letzten zweiduhalb Jahre seines Lebens hat
sich Beethoven fast ausschließlich mit der Komposition der
Quartette op. 130, 131, 132, 133 und 135 beschäftigt. Für
die drei mittleren besonders gilt die gegebene Charakteristik
der letzten Schafienszeit. Vollkommene Überwindung und
Seligkeit atmet der „Danl^gcsang eines Genesenden an die
Gottheit*^ in op. 132; aber auch diese Verklärung, die in ein
Jenseits weist, ist nur Episode und im letzten Quartett op. 136
wkd eine neue diesseitige Utaung gefunden. Dieses Weik Ist wie
ein Anfang; es zeigt einen überraschenden und besonderen Cha-
rakter. Den ersten Satz erfüllt Behaglichkeit, er ist ganz mitld-
menschlich und musikalisch überaus einfach gebaut; das Vivace
bringt eine ungebändigt hinspringende Mdodie; sie artet rasch
in einen wilden dreivierteltaktigen Tanz aus, wie kaum ein
anderes Musikstück voll zügelloser und über alles Maß bran-
dender elementarer Wildheit. Die ausgleichende Mitte fehlt: im
Baß einförmig dumpfes Grollen, hoch oben das abgerissene Hin-
und Hcriiüpfen der Violinen, gewaltsam und bösartig sozusagen.
Das ( janze klingt wie ausgehöhlt und ohne Harmonie — Den
vollkommenen Gegensatz dazu bildet das Lento: eine Schau von
überirdischer Höhe. In dieses Stück sind zwei Zeilen eingebettet
(Piii lento), die einen stillen Rückblick auf die Sehnsucht der Erde
k bieten, irdische Webmit, nicht verklärte Ruhe
«) S. 151.
LutkBt GnatM dir SmI«. 4
50
I>er Schlußsatz („der schwer gefaßte Entschluß") ist die
letzte schwermütig grübehide Frage des Menschen: Muß es
sein? — Muß er sich wirklich dem Zwang beugen, wo er doch
Frdheü wall und Sieg über alles Lsstende? Dem OrQbeln und
Wehldsgen folgt pUttsdiches Aufraffen: Es mufi sein! — die Er-
kenntnis, dsfi das Leben gelebt weiden muß, das Schicksal bejaht
Noch einmal (nach der Wiederiiolung) biumt sidi's auf, aber
der Mensch hat äch mit dem Schicksal ausgesfihnt, eine Synthese
von Freiheit und Zwang, von Mensch und Welt wird gefordert
— Und nun tritt das unglaublich beseligende Motiv der inneren
Gewißheit auf — der Mensch siegt! (D-dur.) Die Einheit wird
gewonaeii und hier ist es die Lösung Kants: Der Mensch weiß
sich frei und hat mit dieser inneren Tat den Zwang der Welt
überwunden. — Noch einmal wird die Losung in Zweifel ge-
zogen: Muß es sein? — Die Frage erldingt außerhalb jedes
Quartettstiles dramatisch-rezitativisch über ungeduldigem Tre-
molo. Aber nun folgt die endgültige Bejahung: Es muß sein! —
Und gleich darauf der stegende Jubd, ganz andeis als hi der
neunten Sj^mpbonie, ein wahibafler, hmerer Sieg. — Der ScbhiB
dieses musikaliach wie pqfdiologisch gleich dufchsiditig ge-
bauten letzten Salztt ist dfe Obereinstinmung des Menschen mit
dem Schicksal — die Spannung wüd von einer anderen, uner-
warteten Seite her überwunden. Hat sich sonst immer das Chaos
der Seele nach Klärung und iiniheit gesehnt, so isi nun plotzhch
dn neues und überwältigendes Motiv da: Im Bewußtmaclieii alles
Unbewußten und in seiner Bändigung, in der endgültigen Be-
jaliunjtj: des eigenen Wesens, wie immer es sei, liegt ei[ic neue,
unerwartete Auflösung des Zwiespaltes, die Zerrissenheit wird
anerkannt und bejaht — ist aber mit diesem Entschluß auch
schon nicht mehr etwas Fremdes, Dämoniaches» sondem mit
hineingenommen his Zentrum der Seele;*)
*) Die Erzählung, daS sich dieser Satz auf Vor^lnte kl Bttsttiovcfis
Wirtschaft iMxieh«» iat wobt nicht wert, lurfickgewieten zu werden.
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I
51
Dieses letzte Werk Beethovens bietet aber noch einen wich-
tigen und niemals erkannten Zug: es spiegelt nkniich Beethovens
ganzen Weg hn kleinen und wiederiiolt die drei Stufen, die im
Menschenleben typisch zu erkennen sind. Das Alkgretto ist er-
füllt von der Naivität und Sorglosigkeit, von dem ungebrochenen
Shm der Jugend, das Vivace und das Lento llfit die zweite Stufe
der Zeniasenhät deuflich erkennen: DaUnraaen in dämonischer
Witcflieit — Versinken in überirdischer Andacht; eines bedingt
das andere, indem es das andere bekäinpit. Die dritte Stufe aber
schafft eine höhere Einheit, die hier so groß ist wie keine andere,
nämlich die Einheit von Schicksal und Freiheit, von Welt und
Mensch — eine Einheit, die nur für den Menschen wahrer (lie-
nialität, der sich seiner Natur (seines Schicksals) wie seiner trei-
heit bewußt geworden ist, in Frage konunt*) — Das ganz Be-
sondere und Außerordentliche an diesem unerwarteten Ausgang
von Beethovens Lebenstragödie ist aber das IrdischederLö-
sung, das nicht mehr über das Eidendasein hinausblickt Diese
fiberaus prinzipielle Konzeption — die mit den bilUgen Reden
von hannonischeui Olympiertum nichts zu schaffen hat — scfaei-
•) Vgl. hiezu „Die drei Stufen der Erotik" 4. Teil. Der Aufbau des
Menschenlebens, der sich im letzten Quartett Beethovens so entschieden
und typisch spiegelt, liegt aber schematisch der ganzen klassischen und
besondeft der beethovenlBchen SonsCe Symphonie) aifnnide und Ist im
ganzwi und grofien immer festgehaltttti worden. Das erste All^ro USt
die ungebrochene f^raft der lui^end Wnstürmen; die beiden folgenden Sitze,
ein langsamer und ein tanzarti^^er (die ihre Stelle vertauschen können)
spiegeln die Zwiespältigkeit des jüngüngs (wenn auch das ältere Menuett
die ZCgellosigkeit ki redit fesMteto RHrmen gebannt hat), und der letzte
Sali will VersBhnung In Heltorkelt geiMn. — Mit dieser Erklirung glaube
ich den eigentlichen psychologisdien Grund für diesen dreistufigen (nur
scheinbar vierstufigen!) Bau der großen klassischen Musikstücke aufgedeckt
zu haben, der so hartnäckig festi^ehalten worden und aucti heute noch
nicht geschwunden ist Die menschliche Seele hat ihre eigene Geschichte
In dl« Zetttamsl^ In die Musili; hlneinprojlziert
4*
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52
det Beethoven in der metaphysiachen Richtung von
Bach und Wagner und ateUt ihn einzig neben Kant
Man winl orir hier vielleicht WillU^
vorwerfen, aber die aedisdie Dispositioa dn Wertes ist mir
nicht zweifelhaft und ich liabe — abgesehen von den Worten,
die Beethoven selbst über den letzten Satz geschridwn hat —
kein anderes Argument als die Aufforderung, unbefangen zuzu-
hören. Dieses Quartett ist eine wiildiche Erlösung, indem das
Unentrinnbare freiwillig bejaht und so in seiner Stellung zur
Seele verwandelt wird: Die Vielfalt ist nicht mehr der Feind,
in dessen Bekämpfung sich das ganze Leben aufzehrt; es wird
in das höhere Ich hineingenommen und so eine Einheit von
Zwang und Freiheit gesdiafien. — Stände diese Lösung in den
letzten Werim Beethovens nicht ganz vereinzelt da, so müßte
er ztt denen gezahlt werden, die innere Ruhe gefunden haben;
allein es ist nur ein Zufall, daß das F-dnrQuariett sebi letztes
Werk ist, seht Leben steuert dieser Lfisamg nicht oiganisch zu,
sie ist vidmdir nur einer — allerdings der größte und bedeu-
tendste unter mehicien Lösungsvcfsncben, kein definitives Ende.
Denn auf dem Totenbett hat sich Beethoven noch euunal aul-
gesetzt, hat trotzig und droliend die Rechte gd)ant und ist dann
tot zurückgesonken.
Wenn wir uns aber die Linie von Beethovens Entelechie über
seinen irdischen zufalligen Tod hinaus verlängert denken, dann
tritt uns allerdings die Aussicht, vielleicht sogar die Zuversicht
entgegen, daß dieses Leben in der freien Anerkennung des wilden
schicksalhaften Geschehens, nicht in seiner Vernichtung, die Ein-
heit im höheren Licht gewonnen iiätte — eine höchste Lösung
der menschlichen Jxtifpk,
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2. DAS TRAGISCHE
1.
Der Zwie^Mlt in der Seele des Oicnzmenedien iet (von
kgenflichcn Überschreitungen abgesehen) bis jetzt nur als psy-
chische SpamitiQg, nicht aber als Wcsenazwlc8|ialt nüt ejfaiadieai
oder metaphysischem Charakter betrachtet wocdeo. Aber er
reicht tiefer und enthfiUi sidi ~ wie dies bd der Analyse
Beethovens schon erkannt worden ist — als eine innere Dualität,
die bis zu den letzten Schichten alles Menschlichen führt und die
ganz besondere Gestaltung Tragischen annehmen kann. Die
Quellen d^ Tragi«:hen zu entdecken, ist nun meine Absicht.
Dabei handelt es sich mir nicht etwa um eine ästhetische Unter-
suchung oder gar um eine Analyse der Tragödie; die Tragik als
ästhetische Oefühlslage ist nur eine Form der allgemeinen Tragik
(nicht das Tragische schlechthin, wie viele Psychologen und
Ästhetiker lehren), und der seeliache Zustand des Dichters» dem
eine TrsgOdie entstammt, ist nur ehie besondeis glficUiche Ge-
staltung aus dem tragischen Orundbewußisein heraus. Dieses
tragische GrundbewuBtaehi selbst, das allen TrsgOdien vonuis-
geht und eine der ganz wenigen großen MfigUchkciten für den
Menschen ist, dem Sein gegenfiberzntidai, soll effocscht und
verstanden werden.
In der Natur ist uithts zu finden, was als tragisch ge-
deutet werden könnte. Ob zwei Fixsterne ineinanderstürzen und
verbrennen, ob üt>er Nacht eine Springflut kommt und weithin
alles Let>en zerstört, ob Millionen von Menschen verhungern —
wir sind überzeugt, daß alles dies nach den gesetzmäßigen Zu-
sammenhängen geschieht, die in der Natur einzig herrschen. Wie
die Reihen zusammentreffen, mag zufällig scheinen, das heißt wir
vermögen die durcheinander verflochtenen Ketten von Ursachen
nnd Wirkungen nicht zu ubeiblickcn; aber jedes einzehie und
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alles zusammen ist streng notwendig beding. — Alles Leben ist
darauf gegründet, daß es sich gegenseitig vernichtet und auf-
zehrt; aber so wenig der Ausbruch eUies Vulkans etwas anderes
ist als ein geologisches Phänomen, so wenig haben wir das
Recht, in dem aUgeoieineii Venuchtmigskampf ums Dasein etwas
anderes zu erblicken als sinnloses blindes Geschehen der Natur.
Jede Handhabe, ein Werturteil anszuapredieii, fehlt, die
Natur hat zu der menschlichen Funicttoa des Bcnrteikns kein
Verhütais^ sie ist dieser Funldioa fremd, sie ist weder gut noch
bflse, weder schdn noch häfilicfa, weder idyllisch friedevoll noch
tragisch zerrissen — denn alle Wertsetzung und der Oedanke
des Wertes überhaupt stammt aus der Seele des iMenschen. Ja,
daß wir „Gesetzmäßijßfkeit", „Zwang" in der Natur finden, ist
schon Anthropotriorphisnius und entspnngt unserem Bedürfnis
nach Ordnung und Überblick. Es gibt in der Natur nichts als
Tatsächlichkeit ohne Beziehung auf einen Gedanken der
Notwendigkeit oder der Willkür, keinen Wert und kein Tra-
gisches. Das Tragische — soviel leuchtet schon ein — ist ein
Oedanke oder ein Gefühl des Menschen.
Mit jedem Urteil, das der Mensch äber das Sein bricht
(schfiii — hlfiiich z. B.), stellt er sidi auf ehien Punkt auBeriudb
des Beurteilten, 1^ er einen MaBstab an, der dem Beurteilten
hmerfich fremd isL Wenn er also kgend etwas in der Wdt als
tragisch empfindet, so hat er nur aein eigenes Urteil oder OefShl
hl die Welt hinein veriegt. Die Tragik in der Wdt sdbst zu
finden, ist entweder Anthropomorphismus, das heißt ästhetische
Projektion (von ihr wird im Abschniti über das Erhabene ge-'
sprechen werden), cxier eine metaphysische ürenz Überschreitung.
Die Annahme, daß die Welt innerhch zwiespältig und von Ur-
b^nn tragisch orgfanisiert sei, wäre natiirlich nicht zu wider-
legen und mag dem Ot>erschwang eines tragisch fühlendoi
Menadicn Befriedigung bieten. Aber wir haben nicht das Recht»
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55
solch eine Oefuhls-Projektion als eine Einsicht hinzustellen. Das
Geigenteil, die völlige Indiffennz und Wertfrandheit der natür-
lichen Welt muß gdten — auch um zum wahfen Veretändnis
der Tngik zu kommen.
Es steht demnach fest, daß das Tragische nur dne An-
gdegenhelt des Manchen ist Und es ist nicht cimnal ehie An*
gdegenheit aUer Menschen. Was der eine ab tragiscb cmfiiindet,
schemt dem andern bedauerlich oder sogar komisch, oder es
macht ihm überhaupt keinen entschiedenen Eudnick. (Das
Wort „tragisch" wird, wo das Gefühl für das wirklich Tragische
fehlt, gern als ein Superlativ in der Bedeutung von „äußerst un-
dii^enehm", „ein großes Unglück'^ verwendet; etwa wenn jemand
beim Baden ertrinkt.) Die erste V oraussetzung für das spezifische
Bewußtsein des Tragischen ist Zwiespältigkeit; dem Mittel-
menschen — das bedarf keiner weiteren Begründung — muß
diese seelische Lage fremd sein, wenn er auch von einer Traj^ödie
angenUirt und ergriffen werden kann. B^egnet er imi Leben
einer tragischen Situation, so schiebt er sie instinktiv wie etwas
Unbegreifliches oder gar jUnheimUches beiseite;*) er versteht
nicht, was es mit diesem seltsamen, unausgeglichenen Seelen*
zustand für eme Bewandtais hat und tut ihn folgerichtig gern
ab krankhaft (das heißt: mir unvefst&ndlicfa), vielleidit mit einem
Modewort sls hysterisch ab.
Das Tragische ist nicht em VerhXHnis (oder MißveriiUtais)
des Menschen zur Welt (wie es meislens gefsflt wird), nicht ehie
Beziehung zu etwas Fremdem, sondern ein Zustand der Seele
selbst, und zwar ein ganz bestimmter Zustand. Bevor ich jedoch
meine Auffassung davon darlege, will ich die tiefsinnigste und
*) Ich mdchte hier die Anmerkung machen, dafi tragische Minner
auf wohltemperierte, mittelmenschliche Frauen nicht selten mit einem
entschiedenen Zauber whkm; man ist wohl genötigt — und hierin werden
wir noch mehr als einmal bestlrkt werden — das TkigltGhe als ehm
Stelgerung de« MInnüchcn in Seelenleben aubufassen.
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56
umfassendste aller existierenden Theorien besprechen, die zu-
gleich emen Übei^ang herstellen wird Sie ist bei Hegel vor-
bereitet und hat von Hebbel ihre letzte und radikalste Ausge-
staltung empfangen (im wesentlichen stimmt sie auch mit der
Metaphysik Schopenhauers und Hartmanns zusammen). Der
Kern dieser Lehre ruht in folgendem : Die Welt ist eine Manif esta>
fioo der ewigen Idec^ was gesdiieht, geschieht mit Notwendig-
keit, und diese Notwendigkeit ist das Gesetz der Wdt, Ist das
SitUtdiei das Gute. Das bidividuuniy das sich dagegen anflklui^
das mit rebellischer Willkür aus dem Km des notwendigen Ge-
schehens henuishnlen will und sich peisAnlicfaen Widentand
gegen das ewige Weltgesetz anmaßt, wfaid unbannherzig zer-
malmt. Durch diese Vernichtung des Individuellen, das heißt
des N^ativen, wird das NotwendiLge, das Positive, wieder her-
gestellt, das WeltjETesetz versöhnt.*) — Der Mittelpunkt dierser
Lehre vom tragischen Geschehen (der bis heute nichts gleiches hat
zur Seite gestellt werden können) ist die Idee des Schicksals,
das in seiner ganzen Wucht und Oröße verstanden wird.
Schicksal ist der Inbegriff alier Mächte, von denen der Mensch
ahhingt, die er nicht selbst geschaffen oder gewollt hat und
denen er doch wefarios ausgeliefert ist Aber nicht nur die
Michle der AnBenweit, die Abstammmig, die aodalen Veihilt-
msse» die UnzulingUclikeifen sehics Ldbes — auch die MIchte
der Seele gehören dem Schicksal an 0iierzu die Analyse
Beelhovens hn vorigen Abschnitt). Wer sich d^g^gen auMmnt»
wild venüchlet, geht trsgisch miter.
Diese Weltaufiassung — denn das ist der pesahnistiache
Pantragismus — ist am prinzipiellsten von Hebbel gefühlt und
*) Pfir Schopenhauer spiegelt sich in der Tragödie der Widerstreit
des WeltwiUens mit sich selbst, sie ist ihm die Einsicht In die Nichtig'
Wt alles Qwchdwns, ^dle AuHofderung zur Abwendung dee Wllleiis vom
Leben" — wie alleidiivs sdnrer ndt einer wirklichen Tragödie in Elnklanf
tu bringen sein dürfte. (Ue Welt a. W. u. V.l. §51, IL Kap.3n.
57
formuliert, in seinen Dramen verkörpert worden Hebbel ist in •
jahrelangen Grübeleien zu dem Schluß gekommen, daß der
Mensch sdne Individualität büßen müsse, daß ihn die blinde
Notwendigkeit (die Idee der Allgemdnhfiit) vernichtet und daß
dtucfa diesen tmgiscfaen Unteigang das sittliche WeUgeselz
wieder faeigiesidlt wird. Nicht darauf kommt es an, wdcfae Ricta^
iuag m einem Menschen die Oberhand hat; sondern nur auf die
IntensÜfity mit der sein Soodeiwille dem aUgemehien entgcsen-
tritt, und diesen SonderwiUen hat er mit dem tragischen Tod
zu söhnen. Das Individuum muß wieder vernichtet werden —
„Jeder Charakter ist ein Irrtum". Daß der Mensch ein beson-
deres Individuum ist, gilt als Schuld, Tragik ist mit dem Men-
scliensein überhaupt gegeben, sie ist Entzweiung des liidivi-
duaiwillens mit dem Weltwillen „Diese Schuld ist uranfäng-
Üch, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennen und kaum
in sein Bewußtsein fallend, sie ist mit dem Leben selbst gesetzt."
— „Sie begleitet alles menschliche Handeln." — Das Individuum
wird bestraft, weil es Individuum ist und sich so gegen die Ali-
gemeinheit des nicht Individualisierten auflehnt; und dieses
Höhere ist „das alles bedingende aitfliche Zentrum, das wir ün
Wdtoiganismus» schon seiner Welterhaltung w^gen, annebmen
müssen".*) — Die Ldire^ daß das Notwendige das Sittliche sei,
hat Hebbel von Hegel fibemommen und seine ganze Welt-
anschauung beruht darauf. Hegel sagt z. B.: ^^AUes Ezisticraide
ist deshalb nur Wahiheit, insofern es eine Existenz ist der Idee.
Denn die Idee ist das allein wahrhaft Wirkliche . . . Kommt
diese Identität (zwischen einem Ding und seinem Begriff) nicht
zustande, so ist das Daseiende nur eine Erscheinung, in welcher
sich statt des totalen B^rifffö nur irgendeine abstrakte Seite
desselben objektiviert, welche, insofern sie sich gegen die Tota-
•) „Moiit Wort Gbtt das Drama" und Vorwort zu Mari« Magd^na.
V«L TagdHIdwr n. 31S8.
58
• lität und Einheit in sich verselbständigt, bis zur Entgegensetzung
gegen den wahren Begrifi verküniniern kann.*'*) — Oder i^och
entschiedener; „Gott allein ist die wahrhaite Übereinstimmung
des Begnäes und der Realität; alle anderen Dinge aber haben
eine Unwahrheit an sich, sie haben einen B^riH und eine
• Existenzy die aber ihran Begiifi unangemessen ist Deshalb
müssen sie ziis^runde gehen, wodurch die Unangemessenheit
ihres Begriffes und üurer Existenz manifestiert wird.*'**)
Diese Leiire ist im Gnmd identisch mit der griechi-
schen Auffassung vom uneibittlichen Schicksal und biigt nur
noch einen höheren Orsd von Pessimismus. Dos Allgemeine,
das Notwendige, das Schicksal muß Qber das Individuum Herr
bleiben, damit die Welt bestehen könne; sich dagegen aufzu-
bäumen wäre Kurzsichtigkeit, Frevel, Sünde. Während es bei
den Griechen eigentlich nur Torheit ist, gegen die Moira zu
wollen, liegt es für Hebbel im Wesen der Welt begründet, daß
sich der Individualwille gegen den allgemeinen auflehnt, und
der Inhalt der Tragödie ist die Finsicht in die Notwendigkeit
seiner Vernichtung.***) Die berühmte tragische Schuld ist vom
Ästhetik I, S. 143. Und über die Tragödie Iii, S. 559.
Logik § 24 Zusatz 2.
Ich kann Leopold Zi«gler nicht bdstimmen, wenn er einen prin»
zipiellen Unterschied zwischen der modernen Auffassung des Schicksals
und der antiken sieht Die Ursache der riotwendigkett soll für uns im
Menschen selber liegen, für den Gnechen aber in einer übermenschlichen
Macht Em Ist doch Uar, dal dia verobjektlvIoKfide, mythische Phantasie
der Griechen demselben Gnindgelilhl nur eine andere ElnUeidunc gegeben
hat Ist die Notwend^lielt ebimal aur einzigen Herrscherin der VMk er«
hoben, dann ist es ganz gleichgiiltig, woher sie stammen mag, und wenn
uns heute die Moira als Um und Auf der Tragik nicht mehr genügt, so
ist es, weil wir allen Theorien zum Trotz die Idee der mnerlich freien
PersAnllchlnit besitzen. (Vgl. L Ziegler, Zur Metaphysik des Tiagtschen,
1902, S. 7). — Man lese femer die tiefoinnjgen Betrachtungen über die
griechische Tragödie bei Schellhig, PMIosophie der Kunst (Wethe Abt I,
Bd. 5^ S. 687-711).
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Memcbcii nicht begangen worden, sondern ihm mit dem Leben
zugleich aufeftegl^ sie ist nur die Ezemplifiziening efaier beson-
deren Metaphysik (der pesshnistischen Philosopiiie des mibe-
wofiten WeltwiUens» die' Hartmann spftter formuliert liat)
auf das menschliche Leben. So gilt für Hebbel das Tragische als
Orundfaktum der Welt, das im Menschen nur bewußt geworden
ist, und — „das böse Gewissen der Menschheit hat die Tragödie
erfunden". Der letzte Zweck der Welt ist, wie der des tragischen
Menschen, wieder vernichtet zu werden. — Hebbel lehnt daher
eine Ausnaiimestelhing des Menschen, eine innere Freiheit aus-
drücJflich ab und gesteiit liim nichts zu als Einsicht in die all-
gemeine Notwendigkeit. „Der Mensch hat freien Willen, das
heißt, er kann einwilligen ins Notwendige." — „E)ie sogenannte
Freiheit des Menschen läuft darauf hinaus, daß er seine Abhän-
gigkeit von den aligemeinen Oesetzen nicht kennt***)
Die lomantisdie Aulfassung vom Tragischen (wdche die
Tragödie mit emsdiließt) entstammt emem Weligefuhl der Ver-
zweiflung an aller Menschenkraft; sie ist selbst ehi tief tragisches
Phinomen. Ffir Hebbel und die ganze philosophische Romantik
ist Individualitat Abfall vom Allgemeinen, von Gott, ist Sünde,
die durch den Untergang des einzelnen gesühnt werden muß.
Der Durchschnittsmensch kann mit dem Weltg^etz zusammen
bestehen, der höhere aber muß und soll vernichtet werden.
Dies stellt Hebbel immer wieder mit einer geu issen Befriedigung
fest. „Es gibt keine Versöhnung (in der tragischen Kunst). Die
Helden sterben, weil sie sich überheben. Das mag den, der das
Oberheben nicht leiden kann, befriedigen."**) — Tragische
Schuld ist ihm: etwas anderes wollen als das Universale, Not-
wendige^ Ideelle will. Dieses unbegreifliche Gesetz der Welt»
*) Tag^&cher IV, 5611, 11, 2504, UI, 4969. — Vgl. f. Zinkernagel,
Die Gntndlasm dir HtMidtdiiii TrafiMUe, Berlin 1904^
**i TagebOeber fl» 2578.
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60
das man Schicksal nennen mag, um sich doch irgend etwas
darunter denken zu können, ist aber im Gnmci etwas Teuflisches,
denn es duldet den Menschen nur als d i e Menschen, als stumpfe
Masse, als naturhaft v^etierende Lebewesen. Hebbel hat diese
Konaeqttenz nicht gezogen (und auch kein anderer), aber sie ist
zwingend : schon die geringste Leistung (vielleicht die Erfindung
eines Steinhammei» oder Siea und Ernten) ist in der Uiliorde
„Oberiiebung'' im Hebbelschen Sinn. Und wer beute hervor-
tritt^ Großes tut, Neues will und sdiaff^ setzt nur die Tat dessen
fort, der sich einst „ubeilioben*' hat Etes NichMndividuslisierte,
das Gestaltlose hat dgenfliche Berechtigung, alles Gestaltete mufi
aui^gehoben werden, damit das — Niehls sei. „Obrigens liegt
|a alle Tragik auch nur in der Vernichtung und macht nichts an-
schaulich als die Leere dtss Daseins" — Wir empfinden die
innere Verwandtschaft dieser Weltwertunfi: mit Schopenhauers
Philosophie — was besteht, ist wert, daB es zugrunde geht. Und
während das Tier dumpf dahinsinkt, vermag der Mensch seinen
Untergang mit dem Bewußtsein des Tragischen zu begleiten.
Die Tragödien Hebbels enden mit der Vemiditung — auch
der seelischen Vernichtung — des Hdden, die Lustspiele sind
belanglos, weil er — das wird erst in einem> späteren Abschnitt
einleuchten — keine Freiheit kennt. Die Theorie dieses mächtigen
Geistes ist ja nicht zurechtgemachte Verstandesarbeit, sondern
vielmehr gedankliche Fassung seiner tiefsten Wesensart; und wer
die Freiheit ablehnt (vielleicht fürchtet), der ist dem Pessimismus
endgültig verfallen, der kann niemals zum Lächeln kommen und
zum Gedanken der Überwindung. — Freiheit ist für Hebbel das
Böse, Willkür und Widerspenstigkeit, nicht eine Notwendigkeit
anderer, höherer Art; nicht eingeborenes Gesetz des Menschen,
sondern Auflehnung gegen das objelctiv Sitttiche H^gel-ScheUing-
Brief«. Nachlese. HerauBgegeben v. R. M. Werner. 1, 141.
. y 1. ^ . y Google
61
acher Konzqrtioo. Hebbd hSlt nicfat zum Menschen, aondeni
zum UDpersönltcfaen Fatum^ ihm gewinnt das Tragiache cnft
einen Sinn durch den Untecgang des lebdlisdi trotzenden Emzd-
wilkns — wUirend die üefBle Tragik im gerechtfertigten Handeln
das doch zu loeinem Ende Iconunt.
Dieser pessimistischen Lehre fehlt der Glaube an
einen Sinn des jMenschen. Und dieser Glaube kann
nicht bewiesen werden Aber er beruht darauf, daß im Menschen
noch etwas anderes sei als Mechanismus, ein allem übrigen
Sein Fremdes, Zusiimmenhang mit einer anderen Ordnung als
der der Natur: Freiheit. Und das Tragische ist dann der Kampf
zweier wirklicher Mächte (nicht der Allmacht imd eines Phan-
toms). Es ist die innere Situation des zwiespältigen Menschen,
die sich als Kampf zwischen dem Willen zur inneren Freiheit
und den Mächten der Welt äußert, eine dauernde innere Anti-
nomie^ die als dimktes verzefaiendes Gefühl (im tnigiachen
Dichter) oder als duaüstisdie Deutung des Sdns (ün tragisdien
Philosophen) besieh^ das Bewußtsein» vom Zwange der Wdt
und der eigenen Natur unterjocht zu werden und cfiesen Zwang
doch überwinden zu mflasen. I>er Mensch, der um die eigene
ZwiespftlÜgieeit weiß, hat sich hi diesem Bewußtsein zwar über
sie erhoben, ist ihr aber doch wieder verfallen, weil in ihm
d e r W 1 d e r s t r e 1 1 v on Schicksal und Willen lebt,
weil er weder ganz Schicksalsmensch — wiiienlos dem Zwang
hingegeben — noch ganz frei sein kann (vielleicht nicht einmal
sein will, denn sem tiefstes Wesen ist Zerrissenheit und er könnte
mit vollkommener Freiheit nicht bestehen). — Der idyllische
oder Mittelmensch hat im allgemeinen keinen Anlaß, sich seiner
Eigenart bewußt zu werden, denn solch ein Bewußtsein setzte
schon innere Teilung voraus, hnmertün kann er sich selbst
jähen (wir werden dies in einem qiMeren Abschnitt bd der
Analyse Spkiozas bcgieilen); ms Unredit setzen kann er seine
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62
Art nicht, denn so trüge er schoii den Zwiespalt in sich zwischen
Sein und Wollen.
Die Lösung des Konflikts wird auch bei dieser Auffassung
manchmal der traditionellen Lösung äußerlich gleichen; dier
Mensch ^eht im Kampfe mit der ubermächtigen Welt zugrunde;
aber alles kommt darauf an, daß jetzt die innerlich eigriffene
Partei nidit die Welt, das allgeoNin notwendige Oescheiien, die
Hcgf^sche Idee ist, dafi der Untogang des einzelnen nicht als
Strafe für seinen Trotz und Ungclionam empfunden, als Wiedas
hentellung der ewigen WdIgereditigiGeit gebilligt wird: aondem
dafi wir innerlich de Sache der Freiheit des Menschen gfigen
den Zwang der Welt eiigreifen. Der Mensch und seine Freiheit
müssen nicht untergehen (mag es auch noch so oft der Fall sein),
eine andere innere Stellungnahme und Lösung ist möglich, von
der die fatalistische Lehre — hier sind die scheinbaren Feinde
Hegel und Schopenhauer einig! — nichts weiß: der Si^ der
Persönlichkeit, die kühn (Hebbel sagt: „widerspenstig, trotzig**)
gegen den Zwang der Welt („die ewige Idee'') steht — Unter
dem Schicksal kann ja (selbst in der tiefsten Fassung Schellings
und Hebbels) nichts anderes verstanden werden als die Feat-
stdlung, daß der Mensch von allen Mächten abhängt und sich
beugen mufi oder zugrunde gehen — einfach weil er der
Schwächere ist Wer das Letzte der Tragödie (die mir jetzt nur
als Pnifstehi der These gilt) darin fmdel; daß der Mensch im
Kampfe mit den Mächten der Welt untergeht, der mag beun
Schicksal bleiben; wer aber fühlt, daß im Menschen etwas ist,
das ewige Berechtigung hat gegen Welt und Schicksal, und wer
gerade darin das Letzte einiger weniger großer Tragödien
wiederfindet — der wird etwas Neues im Menschen fordern:
den Willen zur Freiheit.
Das Entweder — Oder heißt also: Ist das Tiefste
und Letzte in der Welt oder im Menschen? In
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beiden zugleich kann es nicht sein, wenn einmal der idyllische
Standpunkt verlassen ist, das Leben als tragisch empfunden wird.
SoU aber wiiUich dieses TieiBie ck» Oeselz der Welt sein (und
nicht das des Menschen) — dann müßten wir, die wir auf dem
Standpunkt des Menschen stellen, die Wdt und ihr Gesetz nicht
als gOtüich, soodern als teuflisch empinden.
Freiheit ist das BewuBiaeüi, daB der Mensch nicht nur
unter dem Oesetz der Natur steht, sondern noch unter einem
anderen. Wird die Freiheit ihrer Existenz nach verneint und über-
dies als Postulat, als Sehnsucht der Seele ab^^elehiit, daaa darf
nichts gelten als die harte Notwendigkeit, die unter dem Bilde
des Schicksals oder auch der Vorsehung zwar eine menschlichere
Färbung annimmt, aber doch nicht darüber hinwegtäüsclien
kann, daß der Mensch nichts ist als ein Teil der Natur, dem
allgemeinen Zwang des Geschehens unterworfen wie alles sonst
— ohne Willen, ohne Wert, ohne tragisches Bewußtsein. Auch
Hebbel (und seibstvcrBtändlich die romantischen Philosophen)
sind Dualisten; wSren sie es nicht; so wüßten sie nichts von
Tragik» denn mit ehiem modstischen Onmdgeffihi ist Tragik
unvereinbar; wenn die Wdt von Orund ans einhdtiich oigani-
siert ist, dann gibt es kehun echten, tiefen Zwiespalt» höchstens
in den VeUeititen und Nanheiten mancher Menschen. Dies wiid
durch die Erfahrung voUsOndig bestätigt: Wer sich monistisch
mit der Natur eins fühlt, wer sich ihr ganz angehörig und hin-
gegeben weiß (wie mancher Lyriker und vegetarische Natur-
mensch) — der versteht Tragik überhaupt nicht. Und darum
wäre auch ein Staiuipunkt jenseits von Gut und Böse vollkommen
untragisch, mittelmensch iich, idyllisch, flebbel bekräftigt seine
dualistische Weltanschauung ausdrücklich, z. B. mit den folgen-
den Worten: „Der Dualismus geht durch alle unsere Ansdiau^
ungen und Gedanken, durch jedes einzelne Moment unseres Seins
hindurch und er selbst ist onseie hdchste, letzte Idee. Wir haben
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ganz und gar außer ihm keine Orundidee. Leben und Tod,
Krankbcit und Gesundheit, Zeit und Ewigkeit, wie eines sich
gegen das andere abschattet, können wir uns denken und vor-
stellen, aher nidit das^ was als OemeinsanieB^ LfffHtidfs und Vci^
afihncndes hinter diesen gespaltenen Zwcihciten U^"'*) —
Es gilrt also nur zwd Mfigticbkeiten: Tragisches Bewußtsein
und Wille (das heiBt aber Freiheit) als Gesetz des JMenschen
gegenüber der Natur — oder der Mensch ein Wesen unter der
Herrschaft der Natur, gleich allen anderen dem Zwang unter-
worfen, dem Fatalismus hingegeben. Für den ganzen alten und
neuen Orient besteht das Bewußtsein eines freien Willens (oder
was dasselbe ist, der Persönlichkeit) nicht, er hat die Lösung des
Fatalismus erwählt; die Tragödie der üriechea ist Eintrefien des
Schicksals^ es steht so fest, daß man es vorher wissen kann. Und
die Gegenwart, die zum Monismus neigt und also wenig Sinn
für das Tragische liat, venucht oft genug» Tragik dnith das
Schicksal zu ersetzen. Ihr ist die Moira zum Milieu dcge*
neriert.
Das BewuBtsein des innerlich Tragischen (nicht des Dar
matischen) fofdert» daB dem Schicksal etwas anderes entgegen-
gesetzt werden könne, daß zutiefst im Menschen etwas sei, was
einem anderen Oesetz als dem der Natur, der Natur um den
Menschen und der Natur im Menschen, folgt und sich durchzu-
ringen strebt, daß ein Gesetz des Menschen gegenüber
dem Zwang des natürlichen Geschehens anerkannt werde. Dieses
Gesetz aber ist das Prinzip der Freiheit oder der Persönlichkeit.
Das tragische ßewußtsem (ich sage nicht: die tragische Schuld^
und nicht: der tragische Untergang) beruht darauf, daß sich der
Mensch im Gegensatze zur Welt empindet, nicht etwa trotzend
und sich ut)eiiiet)end^ sondern aus einer inneren, tief berech-
tiglcn Kraft heraus» die sidi selbst Gesetz sein will und muß und
*) XwebficlMr 11, 2197.
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65
die daher mit der iicrcBcbenden GesetzUclikeit der Welt nicht
zusammenstiiiiiiKii liiui und koofl^gieft
Will man aber die Folgening ans der Ldue ziehen» dafi
derjenige tngiadi nnteigefaen mfisae^ der CU)er seine Schnnloen
hinaufiadirdtet» der von adner Lddenachaft oder seinem Ocnie
allzu weit getrieben wird, so kommt man zu der achSb^gen Weis-
heit» daß der ruhige Bfiiger der allerhöchste^ der durchaus zu
billigende Mensch sei; er vermißt sich niemals, er fibertritt
keinerlei Gesetz und lädt daher auch keine tragische Schuld auf
sich. So wird maii gedrängt, alle Menscheiigröße neg^ativ /.u
bewerten, weil sie, wie behauptet wird, mit der „allgemeinen
Idee" zusammen nicht bestehen könne; und dies nicht von
einem gemefei redlichen, materialistischen Standpunkt aus, sondern
vom Standpunkt der Geistesheroen Schelling, Hegel, Hebbel.
Um sogleich einen möglichen Irrtum zu beseitigen : Freiheit
ist selbstverständlich nicht die Laune imd Willkür des Individu-
ums, nicht die RechtfertigUQg emes Rasenden wie Othello oder
ehies Hemchbegierigen wie Rtdiard III. Diese Helden der Tra-
gödie wissen nichts von innerer Freiheit^ sie sind Sklaven ihrer
Leidenachafl^ ihrer Natur, ihrer eigenen UnMhdt, aie geraten
mit der Welt m Kampf und rennen blind in ihren Untergang.
Aber dies ist nicht Tragik; wer so handelt; kann wohl Objekt
des tragischen Geschehens für einen Zu-
schauer SCHI, aber nimmermehr tragisches Subjekt. Der
„tragische Hekf \ der sich „vermißt**, der durch seine über-
spannte Einseitigkeit „fehlt", erlebt nicht Tragik in sich selbst —
er weiß gar nichts von ihr, dmn er birgt keine Zwiespältigkeit,
er stürmt bewußtlos seinen We^ hin wie die Lawine.
Und doch haben die Theorien vom Tragischen immer dieses
Abgeleitet-Tragische im Auge, das ich das Ästhetisch-
Tragische nenne. Auch die Lehre Hebbels (ich spreche
immer von ihr, weil sie die tiefsinnigste Auffassung bietet), daB
Lack«, Qrmiea der Soelt. 5
4S6
der Sinn des Tra^^schen in dem Widerstreit zwischen Einzel-
willen und Gesamtwillen, zwischen Willkür und Wdtgesetz be-
ruhe, der nicht anders als durch die Vernichtung des einzelnen
versöhnt werden könne, stammt aus der Tragödie und nicht aus
der Tragik.*) Aber diese Menseben, die ibiem Instinkte^ ihrer
Oebundeobdt fraglos itnterwoffen sbid, gleichen in alkm den
Kräften der Natur, dem Sfuim, der ein Scbiff mit tausend
Menschen vernichtet — ohne tragisdi zu sein — dem Ideinen
Raubtier, das einem Kbide die Augen berausfriBt — ohne Schuld
auf sich zu kulen; sie smd nicht zwicspSltig, sondern jeder Pro-
blematik bar, ganz eindeutig.'**) Ihre Natur hält sie mit solcher
Intensität im Baiine, daß sie für nichts anderes Raum haben —
das Unfreie, das Blinde, das Naturhalte an ihnen. Mit der
größten Entschiedenheit muß festgestellt werden, daß diese
Helden der Tragödie nichts von innerer Zerrissenheit, nichts
von Trajrik besitzen; sie können höchstens trag^isch auf
einen Zuschauer w i r k e n , der ihnen relativ frei gegenübersteht,
der ihre Gebundenheit nicht teilt, sondern ihre Leidenschaft, ihre
fixe Idee von einer höheren Warte ansidit.
Will man das Tragische ganz veistehen, so muB man es als
allgemehie aeelische Diq»osition fassen, nicht hn Hhiblidc auf
eine bestimmte Dichtungsart (ein lyrisches Gedicht oder ein Ro-
man können nicht weniger tragisch sein als ein Drama), über-
haupt nicht als em Prinzip der Ästhetik, soodem als eine Orund-
stdlnng des Menschen zum Dasem. Aufierdem wiid unmer nur
vom ingiBdien Untergang gesprochen, aber der hangt mit dem
tnigischen Bewußtsein gar nicht notwendig zusammen und ist
nur eine besondere und gar nicht die größte Lösung des Pro-
♦) Was dagegen Schiller (im Anschluß an die kantische Philo-
sophie) über das Vergnügen an tragischen Gegenständen sagt, berührt
sidi wlederiiott mit meiner Aiiffassunc.
In dem Abschnitt über den Schicksalsmensdien wenien wir uns
eingehender mit dieser Menscbenert beschiftlgen.
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blems. Das Tngische ist nicht dn Akt, ein einmaliges Oe*
schcboi» flooikni ein Zustaod innmi Kampfes^ der in
letzter Linie inuner auf den Widefspnich des (d^tüch unbe»
giciBicfacn, nqiatisdien) inneren Gesetzes der Sede mit den evir
denten und notwendigen Wdtablauf (zu dem auch die aedisdicn
Vorgänge gehören) ruht. Und die Intensität der tngisdicn
^Spannung ist von zwei Faktorai abhängig: von der Kraft des
inneren Willens und von der OröBe des Schicksals^ das äber
einen Menschen kommt; je entschiedener und prinzipieller ihr
Kampf, desto tiefer die Tra^nk (auch in der Tragödie). Diese
Spannung kann sich in einem Augenblick entladen, sie kann auch
den Tod zur Folge haben — aber das ist ihr nicht wesentlich,
sondern zufällip:, und ein tragisches Leben ist tra-
gischer alsein tragischer Tod. Der Tod hat aller-
dings den großen Vorzug, daß an ihm die Tragik offensichtlich,
also für die Darstellung in der Tragödie brauchbar wird und
cm anschauliches Ende gewinnt (das aber oft nur ein Abreißen
und keine Lösung bedeutet). Mit einiger Übertreibung kum
man aogu siegen: Die Tragik, die von einem RevotveeBcfauß anf-
gdfist werden kann, ist nicht vld tragischer als die^ wdclie sieb
durch eine Summe Geldes aus der Welt schaffen liefie (wie in
manchen sozialen Dramen).*)
Es ist nun aber unbestreitbar, daß man beim Untergang des
Rasenden und des Verbrechers leicht ein gewisses Gefühl von
Genugtuung empfindet, die bekannte Freude am Sieg der Ge-
rechtigkeit auf Frden (die sich trivial etwa so ausspricht: „Ge-
schieht ihm schon recht, warum ist er kän anständiger Mensch
Obrigens sterben nidit wenige Helden groter TngMIen nur «o
nebenbei, aus Gründen, die gar nicht mit ihrer Tragik zusammenhängen:
König Lear stirbt vermutlich an Altersschwäche und H^Iet, der ein wahr-
haft tragischer Mensch ist, kommt zufällig bei einem Fechttumier um,
was mit seiner Tragik nicht das Gerlnpte zu tun hat und sogar ein bischen
licherUch wirkt
5*
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gd>liebenl") Dieses Gefühl möchte ich nun durduuis nicht ab*
weisen oder entwerten, es ist nur nidit tn^gisch, auch nicht
asttietisch-trsgisch; es ist viehoehr ehi OcfOhl sui generis» das
sich noch weit entecbiedener als in der Tragödie im Leben ein-
stellt, wenn der Bösewicht fOieifuhrt und von semer Strafe eidlt
winL Die tragische Theoiie Hebbeb entfallt zweifdlos etwas
von diesem Gefühl befriedigter Gerechtigkeit: Das Weltgesetz ist
durch den Tod des Rebellen wiederhergestellt — dem Strafgesetz
hat die Verurteilung des Verbrechers Genüge getan; aber beide
Male gibt es keinen wirklichen tragischen Untergang, kerne Zer-
störung von innen heraus.
Wir sind täglich Zeuge, daß ein Mensch mit anderen kon-
iligiert: wer etwas erreichen will, benachteiligt seine Umgebung,
der er das Wünschenswerte entzieht^ und gcfät in Widerspruch
mit ihr. ist er klug und überlegen, so weiß er den Kampf zu
vechüUen und schleicht auf Umwegen zum Erfolg. Geht er mit
Gewalt vor, so entstellen Konflikte, die dramatisch sein
können, aber niemals tragisch sind. ^ Wer ehi Verbiechen
begeht, setzt sich in Widerspruch mit der GeseUschaft, deren
Nonnen das Verbrechen nicht dulden. Wenn er schlau genug
ist, sich der Strafe zu entziehen, so hat er den Vorteil davon (er
liat das Gesetz überlistet); ertappt, muß er als der Schwächere
den Schaden hmuehinen — etwas Tragisches ist weder hier noch
dort zu finden und müßte doch da sein, wenn Hebbel mit seiner
Auffassung vom Widerstreit des EinzelwiÜens mit der höheren
Norm Recht hätte.
Et>ensowenig ist aber auch der von einem einzigen großen
Gedanken beseelte Mensch tragisch, etwa der Reformator,
der alles ins Weik setzt und selbst das Leben dahmgibt, um seine
Idee zum Siege zu führen (naht Ihm der Zwdfiel, so Ist er
tragisch geworden). Der Refoimator bietet sogar das pas-
sende Beispiel ffir emen großen, aber untmgischen Menschen:
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er weiß so wenig von innerem Zwiespalt, daß er sich als Mär-
tyrer firdwiHig fOr sdne Wahiliei^ fflr aeuiea Olaiiben hinzu-
opfem ymag. Er ist untr^glscii» imgiebrodMii» naiv. (Das
eigenßicli Heroisdhe^ das uns nodi beschiftigen wird» ist schon
dnich den tnigisciun Zwiespalt hindurdigcgangen.)
Der Widerstreit, der zwischen mehreren Menschen oder
zwischen einem Menschen mid einem äußeren Oesetz besteht,
ist also von der eigentlichen Tragik auszuschließen — und so
haben eine Menge von Tragödien, vor allem die sozialen Tra-
gödien, nichts mit dem Tragis<:hen zu schaffen (was ja ohnehin
dem Gefühl der geistig Kultivierten entspricht). Wir müssen
vidmehr daran festhalten, daß das wahrhaft Tragische
der innere Zwiespalt einer Seele ist, und zwar
nicht eigentlich (oder nur selten) eih jäh ausbrechender, ein
akuter Kampf, sondern eine währende Zerrissenheit, die dieser
Sede das Gepräge verleiht, die allen ihren Äußerungen den
tragischen Charalder aufdrückt Jeder Konflikt kann von dieser
tragisch gestimmten Sede als tragisch empfunden werden, und
sie vennag ihren üineren Zwiespalt wieder in die Wdt zu senkm.
Ein solcher Mensch ist aber das völlige Ocgentdl des histinkliv
und zwangsmäßig handdnden „tragischen Hdden"» sefaie letzte
und bestimmende sedische Situation ist vldmdir das Bewußt*
sdn eines über den Naturablauf hinausgreifenden Eigen-
g e s e t z e s. Lr empündet Notwendigkeit und Schicksal nicht
als Zwang der Weit, sondern als innere Fesselung seiner Natur-
anlagen, denen er etwas anderes, ein Gesetz der Persoriliciikeit,
das heißt der Freiheit gegenüberzustellen vennag. Freiheit ist
ja nicht Willkür, sondern inneres Gesetz der menschlichen Seele
gegenüber dem Ablauf des naturgebundenen Geschehens, Die
Konflikte des tragischen Menschen spielen in ihm selber, und
seine tragische Konstitution laßt sich au! die Formel bringen:
Zwang sdner Anlagen gegen Willen adner Menschheit, Natur
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gegen Persönlichkeit, Schicksal gegen Freiheit. Dieser Zustand
des Bewußtseins, der keine Katastrophen und keinen Untergang
bietet — die Spannung zwischen WeUgeaetz und Menschen-
geaetz ist die einzige wahre Tragik (wam audi die Komplika-
tiooen des Seelenlebens diese schematiscfae O^genubersteUung
Hiebt immer ganz duithaiclitig weiden lassen). —
An dieser Stelle soU noch die Meimmg zurückgewiesen
werden, daB die Freude an tragisdien Scfaausfrieien mit dem
Trieb zur Orausamkdt verwandt oder gar identisch sei. Es ist
Mar, dafi die Behauptung Nietzsches bestenfalls das Ästfaetiscfa-
Tragische und den tragischen Untergang treffen könnte, aber
diese Behauptung ist so sehr falsch, daß man, ohne im ge-
ringsten zu übertreiben, annehmen darf, das Verständnis für die
Tragödie fange dort an, wo die Lust an der Grausamkeit zu
Ende ist. Die Freude an blutigen Schauspielen ist ein allgemein
menschlicher Zug; Knaben wissen sich kein aufregenderes Spiel,
als Tiere zu foltern, Schmetterlingen die Flügel auszureißen,
Fröschen die Haut abzuziehen und ähnliches; der Jlger folgt
stundenlang in zweifelloser Mordiust dem angeschossenen Wild»
der Indianer schneidet seineai Fehide die Stimhaut herunter, der
NigeilcQnig schladitet bei feierlichen AnlSsaen Hunderte von
SUaven und Ajax sdüeidit nachts ins trojaniache Lsger, um die
Schlafenden zu ermofden« Alles dies ist primitiver Blutdurst,
an deasen Existenz auch noch heute nicht gezweildt werden
kann; er findet seme quasi ästiietische Befriedigung im Sduiuer-
stück und im Kinodrama. Bei alledem handelt es sich um eine
aktive Freude an der Grausamkeit, der Toreador senkt stell-
vertretend für alle erregten Zuschauer seinen Degen in das
blutende Tier, jeda* führt den Stoß mit ihm (und ist daiier in
seiner Ehre gekränkt, wenn es nicht kunstgerecht geschieht).
Mehr als diese oder jene Art der Erregung liebt der Mensch
Erregung überhaupti das allgemein als Dogma geglaubte
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Streben nach Lust und Meiden der Unlust gilt nur in seinen
Grenzen; über die Unterschiede von Lust und Unlust hinaus
woUen die Menschen Aufregung des Gefühles, wie immer es
sei, neue findrücke, neue Erlebnisse. ' Denn die p^chiache Be-
wegung an sich ist ea^ die ihre nonnale innere Leere, die
gdfirditete Langeweüe aufliebi Und idi glaube^ daß eine Oe>
fuhlsp^chologie gar nicht anssicfatsloa wiie^ die nicht das
Stieben nach Lust, sondern die Furcht vor der Langeweile,
die Sehnsucht nach Geschehen fibeihaupt^ wie inuncr es aei,
üi ihren Mitlelpunlct stellte. Schüler begumi aeuie Abband*
lung über die tragische Kunst mit der Eüisidit: ,,Der Zu-
stand des Affektes fOr sich selbst, unabhängig von aller
Beziehung seines Gegenstandes auf unsere Verbesserung oder
Verseil iinunerung, hat etwas Lrgötzendes für uns; wir streben,
uns in denselben zu versetzen, wenn es auch einige Opfer kosten
könnte. Unseren gewöhnlichsten Vergnüß^ungeii liegt dieser
Trieb zum Grunde; ob der Aüekt auf Begierde oder Verabscheu-
ung gerichtet, ob er seiner Natur nach angenehm oder peinlich
sei, kommt dabei wenig in Betracht usf." — Schiller spricht dann
auch ausdrüddich von der Lust an blutigen Schauspielen.
Aber aus Gladiatoren- und Tierkämpfen den tragischen
Kampf herldten, hieße eine zußlHge Begleitecschehiung für das
WcsentUche nehmen. Die Griechen, auf die man sich hierbei
gerne beruft» liaben das BlutvogieBen in der Tr^gMie sogar
prinzipiell vennieden und Morde usw. stets hinter die Szene
verlegt Sie haben also gewußt; daß das Blutige dem dgent-
lieh Tragischen nur im Weg stehen l^onte. Und wenn man die
Freude des Zuschauers an irgendeiner editen Tragödie analy-
siert, so wird man niemals den Zuschauer als Schlächter, sondern
immer als Uiiigeschlachteten finden. Hamlet, Lear, Siegfried,
Rhodope, ödipus, Antigone, Fuhrmann Henschel und alle
anderen sterben nicht durch uns» uns zur Freude, sondern wir
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sterben in ihnen; hierauf beruht ja das berühmte Mitleid,
das die Tragödie auslösen soll und über das seit Aristoteles so-
viel geredet worden ist. Dieses Mitleid macht die Wirkung des
Ästhetisch-Tragischen übeiluuipt erst möglich, denn litten wir
nicht mit dem Helden, so langweUtm wir uns. Jeder hat im
Theater schon das Oefühl erlebt: was gehen mich diese Leute
an? ~ Aber ebenso selbfitvenfindlidi ist, dafi das iragisdie
Mifldd nur ün Astfaetisch-Tiagiacken seine SteUe hat; wo es aich
um ein Mit-Ldden, das heiBt um ein abgddtein^ in der Phan-
tasie erzeugtes Leiden handelt, nicht aber im unmittelbar Tra-
gischen, wo das Leiden selbst und nicht sein Abbild empfunden
wird.
Obgleich also Blutdurst dem Tragischen absolut und prin-
zipiell fremd ist, leugrie ich doch nicht, daß es dem tragischen
Dichter hin und wieder Befriedigung gewähren mag, seine
Menschen niederzumetzeln, so Shakespeare in Titus Andronicus
und in Lear, Hebbel in den Nibelung^. Aber wiiid Rose
Bemdt nicht tragischer, da sie ins Gefängnis gdit, so daß eine
unendliche Perspeldive offen bleibt, als wenn sie sich ertränkt
hätte? Und wäre es nicht eq^reifender, wenn Hamlet mit dem
unheilbaien Riß in der Secte für nnmer in die Fremde gingen als
daß er durch eui vcigiftries Rapier fiUlt? Noch emhal muß es
gesagt werden: ein tragisches Leben ist tragischer als ein tra-
gischer Tod. Erst wo animalisdie Tridie, wie Blutduist, gar
nicht mehr in Frage kommen, fängt das Gefühl für das Tragische
an. (Darüber will ich ^ar nicht sprechen, daß die Theorie von
der Freude an der Grausamkeit, am zugefügten Schmerz nur
eine Variation der Mitleids! ehre ist, eigentlich die Mit-
leidslehre selbst mit umgekehner ( iefühlsbetonyng: ich leide,
wenn der andere leidet — ich freue mich, wenn der andere leidet.
Oft genug geht auch beides ineinander äber, denn eine leise
Wollust ist hl jeder mitleidigen EmpBndung vertxngen.)
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73
Es scheint mir übrigens, daß Sentimentalität, die
ja mit dem Wesen des Tragischen und der Kunst überhaupt
ebensowenig zu schaffen hat wie Grausamkeit, heute vid süiker
wirkt als Biutvei^gießen und nicht selten für Tnigik genommen
wild. Sentimentalität und Onuiaamkeit «nd verwandt: Freude
am Web tun — Ffeude am Weh leiden. Beide gdidren der
nicdrigmi Sphäre des AmmaUacfaen an.*) — Ich habe kaum je-
mals ein so staik eigriffenes Publikum im Theater gesehen wie
bei der albernen Szene, wo Fiesco seine geliebte Frau infolge
eines Vertiddungsscherzes eisildit, nachdem sie sich ihm durch
eine Reihe von unwahrscheinlichen Zufällen in den Weg gestellt
hat. Diese Szene kann auf einen tra};nsch Gestimmten nicht anders
als komisch wirken (wie im Abschnitt über das Komische noch
einleuchten wird), den sentimentalen Instinkten — die mir übler,
weil unechter erscheinen als die natürhchen und rechtschaffen
heiabgeerbten grausamen — ist das eine exquisite Nahrung. —
Sentimentaliat ist übrigens die Tragik des Mittehnenschen, sein
Sctunerz, den er mit einer woUästigen Träne genießt £r kann
sich Tn^ und Erhabenheit nur als Senthnenialiiät vocaielkn.
Der richtige Ocfühladusler ist zuent heimlicher Schauspider
und gibt einem erträumten Publikum sein OefQhl zum besten;
allmählich wandelt er sich zum Publikum und ist sehr fft&ut
über den eigenen Schmerz. —
Nach dieser Abwehr zweier Gefühle, die das Tragische oft
genug fälschen möchten, nehme ich den geraden wieder auf.
Das Bewußtsein des Tragischen kann nur entstehen, wo
das Schicksal nicht mehr als letztes anerkannt, sondern in Frage
gestellt wud, in das Licht einer höheren Instanz rückt Schicksal
*) Man versteht Hietzsche immer am besten, wenn man fragt: ßegen
wen richtet sich das? — Die so laut auftrumpfende Grausamkeitslehre
ist iiielits mdcres «la sdn asketischer Hafi gegen die eigene mitleidige,
aentlmentaie Natur.
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im weitesten Sinn ist die Zusammenfassung alles dessen, was sein
muß; dies kann nur von einem Punkt aus problematisiert werden,
der sich — weni^^stens der Absicht nach — außerhalb des
Zwanges der Welt befindet. Und di^r Pimkt kann unmöglich
ein anderer sein als die menschliche Freiheit, weil alles sonst der
natürlichen Kausalität oder dem Schicksal Untertan ist. (Das Ein-
greifen einer göttlichen Macht in den Ablauf der Welt wäre kein
tragisches, sondern ein magisches Ereignis.*))
Dies ist zwingend logisch: Im notwendigen Geschehen gibt
es kernen Ansatz fflr ZwiesjAltigkeit ligendwdcher Art (es sei
denn aus Untenntaris der Zusammenhange^ was nur em voriiu-
figer Zwiespalt wftie). Das Schicbsal als solches kann nicht
tragtsdi weiden, denn die Zwiespältigkeit als prinzipieOes for-
males Merkmal des Tragischen steht fest. Also mufi etwas dem
Schicksal entgegentreten, wenn das Bewußtsein des Tragischen
entstehen soll, mid das kann nur der Wille des Menschen sdn,
der den Anspruch erhd)t, sich selbst zu bestimmen, das heißt
frei zu sein vom Schicksal der Welt (mag er nun in dogmatischer
Hinsicht frei zu nennen sein oder nicht). Wird daher Freiheit
als Ideal der Seele abgelehnt, so fällt auch jede Tragik
dahin, die nicht Scheintragik wih«, an ihrer Steile kann nichts
gelten als das Gefühl von der zv^ngenden Wucht des Ge-
schehens, dem der Mensch rettungslos ausgeliefert ist — was er
pessimistisch beklagen kann, was ihn aber niemals im Bewußt-
sein emer höheren Kraft zu erheben und zu eibauen vennag.
Und selbst bei dieser Konzeption des Schicksals ist|das OcfShl
der Freiheit dunkd mit vorausgesetzt ^ nur so kann ja das
GegengefQhl des Harten, Zwmgenden gebildet wefden. Wo
Freiheit gar nicht in Frage kommt (wie in der Naturwissenschaft),
wird auch kein Zwang empfunden, nur regelmäßiges Geschehen
„beschrieben". Man muß darüber klar sein, daß „Schicksal",
"*) Hieruber mehr im Abschnitt: Das Wunder.
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»yZwang'S .^Notwendigkeit" schon seeüach beschwerte, nicht
reine Naluibcgnie sind.
Ich spreche von der Freiheit des Willens. Aber
man vriirde mich mißvefstehen, wollte man hionn eine dogma-
tische Behauptung über dieses Uiprobkm des Menschen
finden. Ich stelle nicht schlechtweg die Behauptung auf , daß der
Wille frei ist (oder dasselbe: daß es emen Willen als eme Kraft,
die nicht Natutlciaft ist, gebe); ich spreche nicht von der Freiheit
des Willens, sondern vom Willen zur Freihdt Wollte ich die
Freiheit als etwas Bewiesenes aufstellen, dann wäre alle Tragik
auch schon beiseite geschafft, denn dcis Bewiesene unterliegt dem
ailgemeiiieii Kausalzusammenhang. Tragisches Bewußtsein ist
nur möglich, wo nicht eine dogmatische Weltansicht ein für
allemal feststeht, wo vielmehr alle Möglichkeiten offen sind.
Wenn ich ganz t>estimmt weiß, daß mein Wille frei ist, dann
kann mir der Zwang der Welt, das Sctiicksal gleichgültig
bleiben; ich bin mein eigener Herr und lasse die Welt Welt
sein. Beruhigung ist an Stelle des Kampfes getreten. Aber die
tragische Spannung grfindet sich eben darauf, daß ich Freiheit
will und haben muß — selbst wenn mhr ihre Unmdglidikeit
hundertmal bewiesen werden könnte! — daß ich aber trotzdem
dem Schicksal nicht entrinne. — Wfißte ich (um em anderes
Beispiel zu wShlen) mit voller Sicherheit, daß die Welt samt
allen Menschen absolut schlecht und des Unterganges würdig
sei, dann hätte diese Tatsache auch schon nichts Tragisches
mehr für mich, denn die Schlechtigkeit der Welt wäre dann eben
eines ihrer Merkmale wie etwa ihre Ausdchnmig im Raum. Das
kann man bedauern — aber es ist rnchts als Faktum und bietet
keine Möglichkeit für einen echten /.wictspalt. Und ebenso ver-
hielte es sich, wenn die Welt durchaus gut wäre. — Alle Dog-
matik bedeutet eine Lösung von einer Seite her, ein Erzwingen
der inneren Ruhe durch Abblenden des Enigcgenstehenden, sie
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ist Beschränktheit des Verstandes, der Phantasie, des Willens.
Das wahre tragische Bewußtsdn aber nimmt alles Sein und
alles Wollen in sich auf und veisldit es in seiner Fülle, aber
auch in seiner Friedlosigkeit
So ist meme Auffassttng vom Tragischen nicht metaphyaisdiy
sondern geht an den Grenzen des Seelischen hin.
Die Fordemiig der WiUensfreihcst ist aber nichts anderes
als die ins Phflosopirisdie gewendele Fonniifierung des Oefühls
der Verantwortlichkeit Wer das Bewußtsein liat; ffir
sein Tun verantwortlich zu sein, der muß — mag er nun tlieoie*
tisch zusttramcn oder nicht auch ein etgenes itinercs Gesetz
ffir sein Handehi in Ansprudi nehmen. Denn in dem Augenblidc,
wo er sich ganz determiniert glaubt, ist jede Verantwortlichkeit
eine Fiktion (dies ist ja die Klippe der modernen Strafrechts-
Theorie), er wäre nicht mehr Mensch im eigentiichen Sinn, son-
dern ein unzurechnungsfähiges Wesen, ein Mechanismus der
Natur. Wer sich also für sein Tun verantwortlich weiß (und
auch sozial dafür verantwortlich gemacht werden kann), der
muB an der Freähdt festhalten. Freiheit und Verantwortlichkeit
sind dasselbe und die bilden die Voraussetzmig des tragischen
Bewußtseins, das über das Schicksal hinausgeht und in einer
prinzipiell anderen Sphäre lebt, weil es das eigentUcfa meta-
physische Grenzgefühl, das Oelühl von der Proble*
matik alles Seins ist Und so verstehen whr das
tragische Bewußtsein als das tiefste CharaUeristiknm des
Menschen und sehier Dualiiftt Weder bloBe Naturwesen — die
Tiere — noch auch voi^gesieDte rein geistige Wesen können
hngisch ffihlen, weil das Bewußtsein des Tragischen — und
auch des Komischen — in der Zwiespältigkeit des Menschen,
in seiner Zugehörigkeit zu den beiden Ordnungen des Seins und
des Wollens begründet ist
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2.
Wir wenden uns nun dizo, dnen a 1 1 g e m e i n - m e n s c h -
liehen Inhalt ffir dieses Schema de» Tragischen zu finden.
Es ist die letzte Tragik des einzelnen, em bestbnmter, dieser
Mensch zu sehi, der seuie besfimmte Unfreiheit hat. Alle Natur-
anlagen des Menschen — ich möchte nicht sagen, sein „dur
ndrief^, well dieser Begriff wohl auch das „InidUgibele'* mit
einschließt — sind ja nicht sein Eigenes im tiefsten Sinn, sondern
ihm gegeben, ihm vom Schicksal auferlegt. Die Subjektivität des
einzelnen ist im Verhältnis zum voiikommenen Menschai, zur
Idee des Menschen betrachtet, was Irrsinn geg^über dem nor-
malen Verstände bedeutet. Die Subjektivität jedes Menschen ist
seine spezielle Psychose. Das einseitig Mangelhafte wuchert im
Subjektiven über das eigentlich Menschliche hin. (Für irrsinnig
im engeren Sinn gilt uns derjenige, dessen seelische Wirklichkeit
nicht mit der der anderen Menschen uliereinstimmt.) — Und so
ist eigentlich nur h^khste Oenialittt gar nicht pathologiach, nur
sie ist Uber alle Subjektiviläl, das hdfit über alle Beschiinknng
hinaus^ voOkommen menschlich.
Mit jeder SubjektivitSt ist (fieser bragische Wideiqirttch ge-
geben: Alles Besduflnkte^ das hdfit alles Subjddive engt das
idn Menschliche ein, wdl nur der wahrhafte, der voll-
kommene Mensch das Gesetz des Menschen, die Idee
des Menschen, seine Autonomie, seine lierrschait über
den Stoff verwirklichen konnte; jeder einzelne aber mit
seinen Unvollkommenheiten, Maßlosigkeiten, Monstrositäten
zeigt an einem Sonderfall die tragische Spannung zwischen
Sein und Wollen Und diese Spannung repräsentiert die allge-
meinste menschliche Tragik, die Tragik des individu-
ellen Charakters. Sie ist als MögUchkdt, man darf
sagen: als Aufgat>e für jeden Menschen da (wenn sie auch den
wen^jsten ins BewuBtsdn fällt und daher ffir sie nicht besteht).
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Hebbel sagt: »Jeder Charakter ist ein Irrtum", und will da-
mit ausdrücken, daß der einzelne vor der Wucht des Weltge-
aetzcs kerne Berechtigtuig habe. Wir können diesem Satz in dem
voflnderten Sinn des Trsgiscfaen bestimmen: Nicht damit eine
unpersdnliche Idee vefsfihnt werde» soll der Einzdne^ Mangel-
hafte ziigninde gehen, sondern er soU seine UnvoQkommcnheit
zu einem Urbflde des Menschen Iftutern. Wir stehen also auf
dem entgegengesetzten Standpunkt, auf Seiten der Freiheii Nun
^bt es aber (vorerst) nicht nur e i n Ideal, Mensch zu sein, son-
dern verschiedene Ideale, Synthesen aus dem, was ein Mensch
von Natur hat, und seiner eigenen umgestaltenden Kraft;*) und
so erscheint diese Tragik in der Fonn, daß der Mensch aus dem
Gegebenen seine innere Bestimmun^^ erfüllen und vollenden muß.
Diese Tragik liegt im Widerstreit des subjektiv beschränkten
mit dem idealen, dem vollkommenen Menschen, zwischen dem,
was einer ist, und dem, was er sein könnte. Kierkegaard 1^
diese Charakter-Tragik auf ethischem Gebiete so dar : „Wer ethisch
leb^ drückt hi seinem Leben das Allgoneuie au% macht sich zu
dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, daß er seine Kon-
kretion ablegt» denn dann wfiide er zu einem absoluten Nichts,
sondern dadiudi, daß er sie anlegt und mit dem Allgemehicn
durchdringt. Der aUgemelne Mensch ist idmlicfa kein Phantom,
sondern jeder Mensch ist der allgemeine Mensch, will sagen,
*) Die Frage, was ein Mensch dem Schicksal und was er sich selbst
zu verdanken habe, ist Im einzelnen nicht zu beanhvorten; das panzc
Leben geht ja darin auf, beide Elemente immer inniger zu verflechten,
eines aus dem anderen zu entfalten und eines im anderen zu befruchten.
Aber die Meinuiig, die alles fatallstlsdi dem StMckssl zuschiebt, Ist doch
ebenso oberfllchlich wie die entgei^gesetzte. Der Mensch Ist stets ge-
neigt, als eigene? Verdienst in Anspruch zu nehmen, was er vom Schick*
sal als Geschenk empfangen hat. Verliert er es aber, so grollt er nicht
sich selbst, sondern dem Schicksal. Während der gefeierte Singer mit
sefaier Stimme alles eingehOit hMt, kam der mriirtiaft produktive Mensch
doch niemals so v5Ulg von auBen her verarmen.
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jedem Menschen ist der Weg gezeigt, auf welchem er ein allge-
meiner Mensch werden kann. Wer ästfaetiflch lebt, ist der zu-
fällige Meosch, er glaubt, dadurch der vollkommene Mensch zu
aeiii, daB er der einzige Mensch ist Wer ethisch lebt, arbeitet
dahin, daß er der aUgemeine Mensch wud. . . . Wer ethisch lebt,
hat sich sdber ais seine An^gabe. . . . Wenn daher das ethische
Individunm seine Angabe vollendet^ den guten Kampf gddhnpft
hat, dann ist es der ehizige Mensch geworden, das heißt, es isi
kein Mensch wie er, und zugleich, er ist — der allgemehie Mensch
geworden/' •) — Und Goethe:
„Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder dem
Höchsten.
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich."
(Vier Jahreszeiten.)
Bn!ti!s liebt den Casar (bei Shakespeare) und ermordet ihn
doch, weil es nach seiner Überzeugung für das allgemeine Bt^te
(seui einziges Ideal) nötig ist, denn Casar macht Miene ein
Tyrann zu werden. Aber Brutus kann diese Tat, die seinem Oe-
fuhl höchster Frevel ist, und die er doch als „guf < betrachtet,
nicht veiwüiden, ihm eischehit Cftsar als Odst — der Schrecken
semes Herzens. Sein Tiefstes, sem Obennensddiches billigt den
Mord auch noch, wie schon alles mißlungen ist, aber er kommt
über den Schmerz nicht hüiaus. So ist Brutus bei Shakespeare
der Mensch, der einen Mord verübt, um votflrammen zu werden
— und an diesem Willen zur VoUkoaunenfadt zugrunde geht.
(Bei Dante ist er der größte aller Sünder, der von Satan selbst
verschlungen wird!) — l:s ist die unvergleichliche Bedeutung
der genialen Menschenbildner mit entschieden tragischem Be-
wußtsein (wie es im höchsten Sinne nur Shakespeare und Dosto-
jewski sind), unmer wieder die Tragik des individudlen Cha-
*) GfitwedeT'Oder, Dresden S. 5t4, 515. — Für Kleffcegaard sind der
elhisdM und der istfactiache Mensch die Gntndgegensitzew
80
rakters, das Verhältns des einzelnen Menschen zu einem Höheren,
Allgemeineren, das Mißverhältnis zwischen dem, was sie sind,
und dem, was sie sein wollen und müssen, darzustellen.
Wenn ein Mensch (wie etwa Kant oder Mozart oder
Goethe) das Subjektiv- Wandelbare schon fast getilgt hat und der
rdnen Persönlichkeit nahegekommen ist (was den ästhetischen
Reiz herabsetzt!), so hat die Charakiertragik keine eigentliche
Bedeutnng mehr für ihn, denn die Spannung zwischen dem Zu-
fälligen und dem Idealen ist bis auf einen kleinen Rest geschwun-
den, 80 daß sie kaum mehr als tragisch zum Bewußtsein kommt.
Aber über diese Charakter^Traglk hinaua eröffnet sidi nun die
höchste menschbeidiche Tragil^ die darauf beruhti daß dem
Mensdien überhaupt — sdbst wenn er über das Subjektiv-
Mangelhafte hinausgekommen wSre — Grenzen seiner Vervoll*
kommnung gezogen sind. Für den, der alle Subjektivität abge-
streift hat, erhebt sich nun die letzte und tiefste Tragik, die nicht
mehr darauf beruht, daß ein Mensch seiner Idee als Mensch
nicht zu entsprechen vermag oder sie überspannt" (wie der
typische Held der Tragödie), sondern daß der Mensch überhaupt
Grenzen hat — an seinem Leib, an seiner Erkenntnis, an seiner
Macht — allenthalben. Der zweite Teil des Faust zeigt seiner
Absicht (nicht seinem Gelingen) nach, wie der Mensch, der nicht
mdir subjektiv eingeengt ist» doch in allen Richtungen seines
Wesens Grenzen findet (Eikenntnis, Madit, liebe» Schönheit»
, Weisheit^ praktisches Schaffen).
Als ein Beispiel für diese höchste meoscfaUcfae Tragik
will ich die Tragik des Denkers anfuhren» der voll-
kommene Emsicht m das Wesen alles Sems er8trd>t In Ihm ist
die Aufgabe lebendig, die sich der Geist unerbittlich stdlt: Das
Sein im Denken völlig aufzulösen und zu verstehen. Aber er
muß an den Grenzen, die aller menschlichen Erkenntnis gesetzt
sind» scheitern. Dies ist nicht mehr die Tragik eines bestimmten
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ejnzdnoi Mauchai, ämta Denlm noch im ZiiOUigen, Be-
dingten, Inigen verimrl^ acmdem die allgemdiMnensdiliche
Tragik eines GnindwUlcns im Menschen. Denn hier heißt das
innere Gestz: Wille zur absoluten Erkenntnis — und dieser
Wille kann niemals venvirklicht werden. Der einzige große
Denker, der sich diese tragische („anünomische") Tatsache völlig
klar gemacht und niemals auf einem Dogma geruht hat, ist
Kant; er steht deshalb als der Urtypus des tragischen Denkers
da. Meistens ist aber dieser tratsche Zustand nur vorüber-
gehend; er schwächt sich ab, resigniert und kommt zur Ruhej
ein Dogma wird angenommen, dn System aufgebaut, das allen
Fragen eine Antwort bereit hält (Dies geschieht in der Praxis
manchmal so^ daß ein Focsdier l)q;mnt, sich mit Schulangdegeo*
heiten zu befassen oder eine mechanische Wefkstttte einiichtet)
— Die wahn Tragik kdnnte keine definitive Lösmig zulassen,
sondern müßte die Problematik alles Seins immer bewußter ver-
tiefen.
Am klarsten wird die allgemein-menschliche Tragik auf
religiösem Gebiete Der religiöse Oenius versteht es
als seine Pflicht, das innere Gesetz des Menschen zum Siege über
die Welt zu führen, die Welt vollkommen zu machen, selber heilig
zu werden. Er empfindet alle natürliche Gebundenheit, alles
schicksalhafte Geschehen mit uni^eh eurem Pathos als Schuld, als
seine eigene Schuld, und in ihm spielt sich der tragische Kampf
in seiner reinsten Form, unmittelbar als Kampf zwischen Freiheit
und Sünde, zwischen Gott und dem Teufel ab. Er muß die
höchste Forderung erfüllen, aus dem mangelhaften Individuum
den vollendeten, den Oottmenschen schaffen, und dieser WiUe ist
mit der ganzen tragischen Wucht der UnvoUendbailKit belastet
Ffir einen solchen Menschen liegt der Sinn und Zweck des Da-
seins nur in dem, was sehi muß und doch niemals erfüllt wird.
Denkt man sich aber, daß em Mensch (z. B. Jesus) wiiUich alle
Lucka. Cremen der Sede.
6
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maischlidie Oebundenbdt von äcfa abgestreift hatte und ganz
frei (göttlich) geworden wäre, so fiele für ihn die Möglichkeit
einer fragischen Entzweiung fort; er hätte kein iiagiachea Be-
wußtsein mehr für sich allein — wohl aber unendlidi veEstUt,
insofern er sich mit allen andeien Menschen eins fühlt» Mensch-
heit geworden w9re. Das ewige Symbol dieses Prozesses — der,
sich wiederholend, doch immer identisch sein mfißte -~ ist in
der Umwandlung eint^ historischen Menschen Jesus in eine
ewige Idee vom Menschen, Christus, gegeben.
Ich habe diese beiden Arten der höchsten Tragik nur als
Beispiele angeführt und j^laube, daß der letzte und prinzipiellste
Inhalt des tragischen Bewußtseins klar geworden ist: Die mensch-
liche Persönlichkeit will ein ihr innewohnendes Gesetz (Wahr-
heit, Schönheit, Heiligkeit, Liebe, ab?;okite Ordnung usf.), das
in der Welt selbst nicht oder nur bruchstückweise zu finden ist,
ergreifen und durchsetzen, sie will die innere Freiheit (die Form
der menschlichen PerBonlichkeit) zum Siege führen. Diese
Menschen geben keinen „tragischen Untergang" für einen Zu-
schauer zum besten, sie sterben nicht vermöge ilirer Tragik, son-
dern sie leben mit ihr und beweisen so wenigstens der Richtung
nach die Ewigkeit ihres tragischen Bewußtseins^ wShrend die
Lösung durch den tragischen Tod zuletzt doch Resignation oder
em Zerhauen des Knotens ist.
Wenn wir aber (hnmer für unser menschliches Bewußtsein
und ohne Absicht ehier Ontologie) nach der Tragik der
ganzen Welt fragen wollen, so beruht sie darauf, daß die
Welt anders, vollkommener gedacht werden kann als sie ist, daß
ste ihre Bestimmung nicht ganz erfüllt, sondern unzweifelhaft
Mängel zeigt. Ja, es ist der letzte Grund alles Nachdenkens über
die Welt, daß sie auch anders gedacht werden kann. Die Tat-
sächlichkeit der Welt hat nichts Notwendiges, nichts Zwingendes,
wir können durchaus nicht verstehen, warum die Weit gerade so
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ist und nicht anders, und wir haben sogar das ganz cntechicdenc
Ocf Ohl, daß sie besser sein soltle. Auch wenn man die gdnSncfa-
liche Abscb&tzung von Gutem und Übeln, die ja inaner nach der
Neigung des WSgenden ausfUlt, beiaeile IXBt, luuin man als Un-
vollkoaimenhdt der Wdt tragisch empfinden, daß sie die mdsten
Mensdien hindert, das ihnen mdglidie Maß von VoOendung zu
enddien. Die Hegdsdie Lfisimg dieser Frage: daß nimüdi die
Wii1didi][dt audi notwendig und gut sd, daß Sdn und VolV
kommensebi zusammenfallen, ist dn verzwdfdter Auswege, eine
Vergewaltigung alles natürlichen Empfindens und schließlich
nichts anderes als eine eins.eiti(;c Antwort auf die Tatsache, d'dl\
wir die Welt auch anders denken können. Und mußte sogar die
Welt mit Notwendij^keit sein, wie sie vor uns steht — ist unser
Denken nicht auch da? Hat es nicht die Kraft, sich das Sein
anders vorzustellen? — Diese in der Welt an^ele^^de Tragik, die
niemals c^elöst werden kann, weil die Welt niemals vollkommen
sein wird, soll hier nicht weiter verfolgt werden; wir beschäf-
tigen uns wie bisher mit der Tragik des dnzelnen Mensdien.
Nach allem Gesagten verstehen wir, daß wahre Ethik
formal sein muß und nur die allgemdne Normalität des Han-
delns» nicht aber bestimmte Inhalte fordem darf. Vermöge
unserer versdiiedenen Anlagen ist die Forderung, die an jeden
dnzelnen herantritt, vollkomnien zu werden, mit anderen In-
halten ausgestattet, denn seine Vollkoamienhdt ist das Gesetz der
Frdhdt, auf seine besonderen Anlagen angewendet, sie ist dne
Resultierende aus seiner Natur und seiner Freihdt. Der Staats*
mann muß anders handeln als der Künstler und anders als der
Gelehrte, will er zu sehier Vollkommenhdt gdangen. Und so
ersdiließt ddi uns das tragische Bewußtsdn nur als eine beson-
dere Tönung des allgemeinen sittlichen Bewußtseins, als die
seelische Art, in der die sittlichen Forderungen an manchen
Menschen herantreten. Ihr uneriüilbares Gebot kann wie eine
6»
84
Eisenwaize über eUien Menschca hingeiieD und üm zer«
Es bedarf kemer Eiörtenuigeii» daß von der Tragik dea
individuellen Qianddm zur allgeniein-menscillichcn Tragik
Obelginge bestehen; immer handelt es aicli darum, wodurch ein
Individuum gebunden ist Je weniger ZufiUliges sebe Konsdttf •
tion biigt, desto allgemeiner und prinzipidler kamt sidi die
persönliche Tragik zur Tragik des Menschen ausgestalten. Das
Verhältnis zwischen Subjektivität und Persönlichkeit (die man
nicht selten für dasselbe halt) wird hier sehr deutlich: je freier
von Subjektivität (von Zufällin keit, Unzulänglichkeit) einer ist,
desto reiner liaiin der Kern der e r s ö n 1 i c h k e i t heraus-
treten, die das Wertvolle in der Form desSeelen-
haften ist. Die vollendet gedachte Persönlichkeit» der voll-
kommene Mensch wäre der zum Menschen gewordene Wert, der
nichts Zufälliges mehr einschließen könnte. Und weil uns Freiheit
als die Form gilt, in der sich alles Wertvolle verwuidich^ stellen
wir uns den Menschen um so Mer vor, Je reidier seine Per-
sönlichkeit, je reicher sein Wert gewoiden ist
Die Freiheit, von der hier gesprochen wu:d, ist aber das
Tiefste und Verboigensie üi der Menschenseele^ das Whtaide^ das
doch niemals sdber an den Tag tritt, ihr Orund, ihr Ochehnnis
und ihre Göttlichkeit. Denn es bleibt unser letzter Glaube,
daß das Innerste im Menschen das Göttliche ist
3.
Da das tragische Bewußtsein ^anz allt^cmein im Widerstreit
zwischen Freiheit und Gebundenheit besteht, ist eine zwiefache
innere Stellung möglich, die zu zwei entgegengesetzten Lö-
sungen des tragischen Konfliktes hinführt: Der
Mensch kann sich entweder auf Seiten der Unfreiheit schlagen,
die Freiheit, das Höhere, das Gute m sich hassen, bekämpfen
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und vemiditen. Diese Lösung ist die d ä m o ti i s c h e. — Oder
er kann den Zwiespalt positiv, im heroischen Sinne Ideen:
die innere Freiheit gewinnt solche Macht über alles, was da-
widersteht, daß sie es immer entschiedener bewältigt und end-
lich ganz zum Mittel ihrer eigenen menschlichen Zwecke herab-
setzt; das Oesetz des Menschen hat über das Oesetz der Natur
gesiegt, das tragische Individnum mag nun sterben oder weiter-
leben.
Wir weiden un nächsten Abschnitt das Dämonische als
Kraft der Sede näher analyaieien; in jedem tragischen Dichter
ist Böses — Ooetfae ist kern tragischer Dichter! — manche Tra-
gödien sind Sicherheitsventile, Ableitungen des Dämonisdien,
Reinigungen der Affekte (viel mehr für den Dichter als nach der
Lehre des Aristoteles für den Zuschauer), Wunder, die seine zer-
störenscheü Instinkte in positiv Wertvolles wandeln. — Das Böse
ist von Weininger tiefsinnig als der Wille zum Funktiona-
lismus definiert worden. Der völlig dämonische Mensch iiat in
bimder Leidenschaft oder auch in tiefer innerer Verschlossenheit
und dumpf brütendem Trotz aller Freiheit entsap:t und so den
Kampf beendet Im religiösen Ringen bedeutet diese I osung:
Feindschaft gegen Gott, es ist die Lösung des sich empörenden
und zum Dämon gewordenen Erzengels. Während alle anderen
Sünder der danteschen Hölle Reue^ das heißt innere Verände-
rung in ihrer feindlichen Stellung ^e^en das Gute empfinden,
hat Kapaneus seinen dämonischen Trotz vber das Erdenleben
hbuus festgehalten.*) Diese LAsnng ist die typische vieler älterer
Tragödien, deren Helden an ihrer Wildheit zugrunde gehen; am
grofiartigaten ist sie wohl in Macbeth durchgeffihrt
Als Macbeth von den Hexen zuerst mit dem Namen
fiKönig** begrfiOt wird, encfarickt er, denn sehie vedieimlidiie
(vor sich selbst veriieünlichte) grenzenlose Herrscfabegierde ist
*) „Sü wie im Leben bin ich noch im Tode." 14. üesang.
86
ihm (Ja entgegengeklungen. Das Wort der Hexen hat sie nicht
e^eschaffen, sie ist schon da. Aber dieses Wort wirkt, kaum aus-
gesprochen, als Versucliuni^, jäh steht der iiedaake des Konigs-
mordes vor seiner Seele (v/ährend Banquo von der Prophezei-
ung gar nicht berührt wird). Nicht wie in der antiken Tra-
gödie kündet sich hier das unwandelbare Schicksal; nein, der
Mensch ist zum Bewußtsein sdner Freiheit gekoomwa und der
Ruf des Schicksals tritt als dämonische Verlockung an ihn heran,
nicht als Zwang. Mad>eth kann dem Schicksal folgen, das bier
Verbrechen hdBt oder es besiegen. Aber er ist der gebcmne
Verbrecher, kaum bietet ihm die H6Ue ihre Hand, da eigreift er
sie auch schon entschlossen — und er weiß doch, daß es nicht
sein mußte! — Das Wort der Schicksalsachwestem — ffir den
Mensdien mit der Möglichkeit der Freiheit suid sie zu Heicen ge-
worden! — dient ihm sogleich als Entschuldigung vor der
schwachen besseren Stimme:
Will das Schicksal mich
Als König, nun, mag mich das Schicksal krönen,
Tu ich auch nichts!
Macbeth will dem Sciiicksal bUnd Untertan sein, er l>egibt sich
mit vollem Bewußtsein seiner Freiheit und nimmt innerlich die
Stellung ein: ich muß tun, was das Schicksal von mir fordert,
folglich trage ich keine Verantwortung für meine Taten, sondern
sie geschehen zwangsmäßig. Aber indem er dies Urteil fällt, har
er schon eine Tat der Freiheit vollbracht — und diese Tat ist:
seine Freiheit aufzugeben. Die Verlockung der Hölle tritt dem
entgegen — das ist der Sinn der Hexenszenen, die das ganze
Drama durchziehen — , der heimlich nach der Hölle t)egehrt und
seine Freiheit haßt. Im Hause jedes Menschen schläft einmal ein
König und manchem schießt der Gedanke durch den Kopf, diesen
König zu morden und selber König zu sein; aber nur, wer die
87
eine Nacht ttniner heimlich eraehni hat, laucht mit Wolluat in ihre
Tiefen.
Nach der Ermordung wdß Macbeth plötzlich, daß er alles
mnere Leben — diesen tiefen Sum erlangt hier die innere Frei-
hcit — üi sich getötet hat, nichts auf der Welt, kein Mensch, kein
Ding, vor allem er selbst nicht, darf mehr ernst genommen
werden, denn das ertrüge er nicht
Von jetzt an gibt's nichts Ernstes mehr im Let>en,
Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Onade!
Des Lebens Wein ist ausgeschenktl
Und er lehnt endlich in dämonischer Konsequenz die Wirklich-
keit des Lebens ab, das Leben hat keinen Sinn mehr, es ist nur
noch ein Krampf, wirres Geschehen ohne Mittelpunkt und
Menschlichkeit:
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild.
Ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Dummkopf, voller IQang und Wut,
Das nichts tiedeutet!
Diese Entwertung des Lebens ist genial — der völlig dämo>
nisch Gewordene lebt überhaupt nicht mehr, er hat nicht mehr
Teil am Menschlichen, und das Letzte, das ihm bleibt, ist der
ung^ehL'ure Ikiß gegen Sinn und Wert. Er möchte alles ver-
nichkii, denn was existiert, steht schrecklich vor ihm als ein
Seiendes — und er kann das Seiende nicht mehr ertragen —
Des Lebens Wein ist ausgeschenkt! — Sein Leben ist nur noch
ein Hinsterben, er erwacht jeden Morgen staunend, daß er noch
sieht und hört, und er legt sich mit einem Schlaftrunk nieder,
fiberzeiigt, daB er nie oiehr aufsteht.
Der Sonne Licht will schon verhaßt mir werdea,
O, fiel in Trümmer doch der Bau der Erden!
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Immer vollkommener verafteiiit Macbetti; hat er anfangs
Schauder empfunden und den Geist Ermordeter gesehen, so Ist er
jetzt ganz ohne OefOfal, wie Stawrogin in Dostojewdds „ÜSt-
monen" auch ohne Sexualität und endlich ohne Furcht
Ich habe mit dem Graun zur Nacht gespeist,
Entsetzen, mehics Mordainns Hauagenoß,
Schreckt mich nun nhnmer.
Wie Macbeth die Kunde empfängt, daß seine Frau, die er einmal
so sehr geliebt hat, tot ist, sagt er kalt:
Sie hitfe später sterben können!
Weil er alle Freiheit in sich vernichtet liat, ist er absolut
abergläubisch geworden und hält an dem Wortlaut semer Pro-
phezeiung fest — er betet das Schicksal an; und das Schicksal
ist nicht mehr indifferent, sondern hat sich zum Bosen ge-
wandelt, weil die Freiheit das Gute ist Er erfährt verzweifelnd,
daß sich sein Glaube an die Hexen gegen ihn selber wenden
kann, er versteht, dafi ier sich dem Geist der Luge ubergeben hat
Die Formel, an die sich sein Abei]glaube khunmert, trifft ihn
adbst — der Bimamwald wanddt gegen Dunsüiam ~ und man
ahnt die letzte Szene, die vom Dichter verschwiegen worden ist:
Hekate und die Hexen shid hohnlachend m die Hölle zurück-
gekeiirt und rfihmen sich, sie hätten ehien Großen um sein Eigen-
stes gebracht — das er doch selbst freiwillig von sich gewocfen
hat. —
Dieser dämonischen Lösuni^: steht die heroische gegen-
über: die innere Kraft hat alles Widerstrebende gebändigt und
umgewandelt, der Mensch hat über das Fremde, das Schicksal-
hafte vollkommen gesiegt.*) Dieses Ende des tragischen
*) Die beiden Auflösungen des Tragischen entsprechen schematisch
den beiden dynamischen Typen des GrenT-menschen: die dämonische dem,
der immer zerrissener und zusammenhangsloser wird, dessen Mifiklang
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Kampfes ist die Erlösung, die Aufhebung des Menschlichen in
ein Höheres, Göttlidics. Der religiöse Held (im heroischen
duistUchen Sinn) wire der Mensch, der fiber alles Tragische
voUkoounen hinaueg^wacliaen ist» der aldi endlich mystisdi von
Oott nicht mdir untefsdieidel, aldt mit Oott eins wdB (wihiend
das bidertum die Flacht vor der Tngik lehrt). Jesus ist
tragisch, wenn er vefsocht wird, flhertragisch, wenn er keine
Versuchung mehr kennt und versieht Das Wort „Heir, warum
hast du mich verlassen?" ist darum 90 ergreifend, weil es noch
menschlich ist, noch einen Zwdfel an der Kraft der ( iöttlichkeit
ausdruckt, eine Spannung zwischen den beiden Wesenheiten erni>-
finden läßt. Aber ,,dein Wille tj^esciiehe und nicht meiner** be-
deutet die Überwindung^ alles Menschlichen und alles Trag'ischen
in der Idee der Göttlichkeit, der Frdheit. Diese Position tührt
zur Aufhebung der Natur (die ja auch die Natur des Menschen
ist) durch die Kraft des reinen Willens. Man vermag sich durch-
aus nicht vorzustellen, wie solch ein Mensch, der alles Natur-
liafle^ Schicksalhafte vernichtet hat, noch weiter leben könnte.
Der endgültige Sieg des Wittens kann aber durch die
Innere Wiedergeburt ^foibolisiert werden, die aHenfings
cH erst knapp vor dem Tode des tragischen Menschen eintritt.
Rebekka Wests natürlicher Charakter — Selbstsucht. Sinnlichkeit
und Wille zum Glück um jeden Preis — wird durcii ihre Liebe
zu Rosmer und durch die adelnde Kraft, die von ihm ausgeht,
vernichtet, sie gewinnt ein neues Höheres und übernimmt cfie
Schuld für ihr vergangenes Leben durch einen freiwilligen Tod.
— Hamlet sehnt sich nach innerer Wiedergeburt, aber er findet
die Kraft nicht und geht gewaltsam zugrunde.
Eme positive Lösung ist aber auch gegeben, wenn der Ver-
schlieftlich die ganze Welt verdüstert; und die heroische Lösung dem
andern, der alle innere Zerrissenheit zusammenfait und zur Versdhnunf
führt
90
derbte untergeht, damit sich das Leben erneuere. Hier wird die
Welt gefühlsmäßig mythisch als dohettiicher, beseeUer Oiganis-
mus aufgefaßt: ein veifaiiMer, wertlos gewordener Tdl atirtrt ab
und Neues^ Blühendes eihcbt aeui Haupt Im gennanischen
Mythus wird die alte Welt duich den Wdtenbnud gereinigt —
ein neuer Frühling ersteht — - Audi in Richard IIL Ist dn
Reiner da, ein Eibe des befleckten Königtums; und bA Hebbd
klingt in die todgeweihte Welt des Herxxles hindn die Verhd-
ßung von der Geburt des Heilands. — Die endgültige Auflösung
des tragischen Konflikts wird also dadurch angedeutet, um-
schrieben, unserem üefühl nahegebradit, daß zwei oder aucfi
mehr Menschen zu einer höheren Einheit (in einer Traj^ödie
etwa) zusamriieiigefai]t werden, die wir als stellvertretend für ein
einziges menschliches Individuum empfinden. Und in dieser
Gruppe gehen die verfallenen Elemente zugrunde, während die
reinen an ihre SteUe trden. Wir verstehen jetzt den berühmten
Unteigang des tragischen Helden von einer anderen Sdte her,
tiefer, und sprechen ihm nodi zuletzt dne gewisse Berechtigung
zu, wenn im ungeheuren Kampf das andere, das Neue, das Gute
siegt. — Alles dies ist jedoch keine dgentiiche Oberwindung des
tragischen Konfliktes» wdl hier der Gdessdte (Schuldbdadene)
und der Frde (der Erlöser) zwd verschiedene Menschen sind.
Eine wahrhafte und endgültige Lösung könnte nur im tragischen
Menschen selbst stattfinden
Durch die größte Dichtung der Antike, die O r e s t i e des
Aeschylüs, e^eht eine Ahnung von Freiheit und Frlösunii. Zwar
tötet Orest seine Mutter auf Befehl des Sehergottes Apolion, der
ihm verkündet, was geschehen muß; aber er hat doch ein auf-
dämmerndes Bewußtsein wirklicher Tragik. Nicht ApoUon trägt
die Schuld, sondern „Apolion trägt die Schuld mit mirl". — Und
diese Tragödie endet auch nicht mit dem überlieferten Tod des
Hdden, sondern mit der Überwindung der Schuld, mit seiner
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Erlösung — noch nicht aus eigener Kraft, aber schon g^'<i.m das
Schicksal, das in den Eriunyen versöhnt — und auigehoben ist.
— Und wir p^Iaubcn im uiij^eheurea heroischen Emst eiiiiner
der schönsten griechischen Köpfe eine Ahnung nicht nur von
völliger Harmonie des Daseins, sondern auch von echtem und ge-
heimnisvollem Innenleben zu spüren.
Mit der Konzeption des Prometheus, der seinem
inneren Gesetz folgend Stgtn die alhnächtigen Götter aufsteht,
haben die Griechen den großen und wahrhaft tragischen Men-
schen besessen (der in ihren Tragödien nicht vorkommt). Die
Tragödie des Aeschylos weiß nichts von dieser inneren Freiheit,
denn das unabwendbare Schicksal steht über Prometheus wie
über Zeus^ der Titan kennt es sogar voraus und weissagt es. Wir
sehen das Merkwürdige: Der Mythus vom Titanen, der sich nicht
selbstsüchtig, sondern reuien Herzens gegen die Gewalt der
herrschenden Götter auflehnt, beweist echte Tragik; aber im
Mythus hat etwas gelebt, was tiefer gewesen ist als die aner-
kannte Lehre vom Sciiicksdl und daher nicht zutage komm^
durfte.
Ganz aus dem antiken Kreis tritt A n t i g o n e heraus. Für
sie gibt es kein unabwendbanes Schicksiil, sie iolgt ohne Zöpem
der Liehe, die sie in ihrem Herzen fandet und als ihr höclistes,
einziges üeset? anerkennt — eine unbegreifliclic scelis-che StcHung
für das Altertum und ein Gegenstück zur \\ eistieit I-*latons, die
ja ebenso entschieden über die Grenzen der alten Welt lünaua-
deutet. —
WagnerhatimParsifaldte wahrhafte und endgültige
Lösung darstellen wollen. Da dieses Werk einen radikalen Lö-
sungsve»uch und in diesem Sinn einen Gipfel unserer Zelt be-
deutet, soll es ausfiihiticher besprochen werden. Wagners Pro-
bleme suid seit jeher erotisch gewesen; aus seinem letzten Werk
hat er zwar die persönliche Liebe veibannt, dte Geachlechtlicfa-
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kdt jedoch als die eigentlicfie Macht der dem Mwischen inner-
lich freirider) Welt genommen und in ihrer Üben».indiing die
heroische Lösung der menschlichen Tragik gesehen. Diese Lö-
sung hätte tief und prinzipiell als ein wirklicher Sieg des Men-
schen über die Welt dargestellt worden müssen, aber sie ist eine
Lösung von außen her geblieben, weil sich Amfortas, der
leidende und tragisch zerrisaene Mensch dieser Dichtung» ganz
passiv veiliSlt und von einem andem, der nleoudft tragisch ge-
wesen iat, erldet wird. Amfortas ist zur Freiheit und Vollkom-
menheit berufen — als GralUSnig, Hüter des g(MtUchen Schatzes
auf Erden — aber er verrit die Freiheit^ das Odtdiche fan Men-
schen, um der Lust (der Natmgiebundenheit) willen und wird von
cter Wunde des heiligen Speeres (vom Stachd der Sunde) ge-
peinigt. Er kann niemals Rohe finden, weil er nicht die Kraft
hat, von famen heraus seine Schwfidie zu besiegen. Amfortas
steht, wie es dem Menschen natürlich ist, auf Seite des Guten,
er ersehnt die Labung des Grales und l)ereut seine Sünde, ahnt
aber clodi, daß er von neuem unterließen müßte, wenn ihm die
Versuchung wiedermn nahte. Seine Qual erreicht ihren Höhe-
punkt, wenn er leibhaftig an das ewige Gut des Menschen, an
seine Freiiieit erinnert wird, der Gral, der das Höhere im Men-
schen nährt, wird ihm zum schrecklichen Vorwurf:
Daß keiner, keiner diese Qual ermißt,
Die mir der Anblick weckt, der euch entzückt !
Er kennt das Vollkommene und verfällt doch immer wieder dei
Gebundenheit (hier der Geschlechtslust). Klagend gesteht er
seine Schwäche ein, die Schwäche des tragischen Menschen, der
seine Freiheit kennt und liebt und der doch immer wieder ver-
fallt Nimm mir mein Erbe,
ScUieße die Wunde,
Daß heilig ich steibe,
Rein ich gesunde!
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Das Erbe ist die Sexualität, unter der alles zusammengefaßt wird,
was die Abhängigkeit von den Machten der Welt repräsendert.*)
Amfortas möchte am liebsten sterben, das heißt im Sinne der
älteren Tragödie untergehen, weil er den Kampi doch nicht 7u
besteheti vermag. Er reißt sich das Gewand auf und fordert den
Tod — von den andern Er braucht Hilfe, sowohl um dea Si^
zu erringen, als auch, um zu starben.
Da alle Problematik auf die Sexualität zugespitzt ist, benüt
auch alle Erlösung in der Befreiung von ihr. Klingsor ist
ebenso wie Amfortas tragischer Ringer, Gralsucher gewesen,
auch er hat an seiner eigenen Kraft verzweifelt, aber er hat die
andere Partei eignffen und da» eigentlich Teuflische getan: er hat
die Freiheit durch eine Tai der Unfreiheit, das Hdl durch die
Sünde erzwingen woUen. Er hat Oott hinabddien wollen in
die Veijcettaing der Welt. Denn dies Ist der Sinn aeüier Selbst*
Verstümmelung. Da aller Zwang, alle Unfreiheit als Geschlecht-
lichkfiit gcfafit wird, so hei0t, sich mit dem Messer davon be-
freien, nichts anderes, als die Freiheit, anstatt durch die Kraft des
guten Willens erkämpfen, durch die mechanischen Mittel der
Welt erzwingen wollen. Und m dem Aug^enblick, da Klingsor
die innere I- erversion dieses Beginnens erkennt, muß er zum grim-
migsten Feinde der Erlösung selbst und aller derer werden, die
mit reinem Herzen nach ihr trachten. Er ist bis ins Tiefste dä-
monisch geworden, tiefer und pruizipieller als Macbeth. — Dies
ist konsequent und groß. —
Während die Gestalt des Amfortas dem inniirsten Fühlen
Wagners entstammt, istParsifal die sehnsüchtige Vision
^ In dieser Dlctilun^ uberwudiert «tte Tendenz zu eymbollsferen
und hemmt das lebendige Geschehen. Die geringe Charakterisierung
(oder der bewußte Verzicht darauf) tritt hier noch viel stärker hervor als
in den anderen Werken Wagners. Für unsere Zwecke kann das allerdings
als Vorzug gelten« weil das Typische besonders scharf und unverhüllt zum
Ausdnidi kommt
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einer leidenden Seele. Parsifai kennt keine Tragik. Zuerst weiß
er überhaupt noch nichts von Menschheit, Zwiespalt und Schuld,
er lebt unbewußt in den Tag hinein und hat auf die einfachsten
Fragen nach Namen und Heriouift keine Antwort Durch die
Versndittng Kundrys wird er genial und helbicbtig, er kommt
zum Bewußtsein der Oeacfalecbtlidikeit (die alle Schuld vertritt)
und msteiit mit einem Male, was Sinnlichkeit, Stinde und Er-
lösung ist. Panifal geht nicht durch die Tragik hindurch, die
Michte des Lebens, hier also die Sinnlichkeit, haben ihn niemals
wirklich und innerlich ei^ffen, er ist nicht der Sünder, der sich
aus eigeiKjr Kraft zu erheben vermag, sondern er schreitet ohne
Übergang vom Naturhaften unmittelbar ms üöüliclie hinüber,
ohne jemals Mensch gewesen zu sein. Die musikalische iiin-
leitung zum dritten Aufzujr spiegelt wohl das Irrsal der Welt,
aber Irren und Suchen ist noch nicht I ragik. Parsifai ist nicht
einen Augenblick lang versucht und zwiespältig (was zum Ver-
ständnis der Sünde ohne Wunder und zur wahren Tragik un*
bedingt sein mußte). Im Augenblick, da er Kundrys Kuß emp-
fängt, ist er schon vom Toren zum Erlöser gewofden, der seine
„Sendung" kennt und nichts mehr will als den Oral finden und
Amfortas^ den Vertreter der leidenden Menschheit, retten. Daher
kann Parsifai auch nicht den heroischen Sieg Aber die Sfinde
davontragen, die er nicht besitzt Er ist zuerst em Instinktwesen
und dann ehi Engel, niemals aber ein Mensdi. Oder vielleicbt
noch deutlicher: er ist die Hälfte des wahrhaften Menschen, denn
er hat die urigebrochene Einheit des Kmdes vor der Tragik und
die letzte Stille nachher; Amiortas ist die andere Hälfte, die heil-
lose Zerrissenheit. Auf Parsifai treffen die tiefsinnigen Worte
Kierkegaards zu: „Der Mensch wird zum allgemeinen
Menschen nicht dadurch, daß er seine Konkretion ableset, denn
dann würde er zu einem absoluten Nichts, sondern dadurch, daß
er sie anlegt und mit dem allgememen durchdringt." — Parsifai
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hat keine Konkretion, keine Wirklichkeit, er ist sogleich der all-
gemeine Menscii, ohne vorher ein bestimmter Mensch gewesen zu
sein — und bleibt daher ein Schema.
Mit dieser ideellen Schemenhafhgkeit tnfft die künstlerische
zusammen : Parsifal ist nur in der ersten Hälfte seines Wesens, als
unwissender Knabe, musikalisch charakterisiert, nicht aber als
Erlöser. Hier sind ihm die drei unpersönlichen Motive des Vor-
spieles» die das höhere Menschentum so erhaben fühlen lassen,
zugeteilt Und doch wire eine neue, ihm persönlich angehörige
Erlöseimelodie unbedingtes künstlerisches Erfordernis» nicht etwa
bloß eine schöne Zugabe, damit Parsifal als könatlerisdi er-
ftaite WuUidikeit empfunden weide. (Die Kaifreitagsmelodie ist
die Sprache der wiedergeborenen Natur.) Und die Stelle, wo
diese neue Melodie eintreten müßte, ist eigentlich von Wagner
selbst gezeigt; aiii Schluß des zweiten Aulzuges bei den Worten:
„Erlösung, Frevierin, biet' ich auch dir!" — schlägt das Motiv
des Knaben an und geht in die jah (punktiert) aufzuckende Er-
lösuiipshoffnui^ß über (Ähnlich bei der Salbung durch Gurne-
manz.) Ich habe den Glauben, daß Wagner diese Melodie hätte
get>en können — aber Parsifal ist das Geschöpf eines Wunders
— und scheidet damit aus der Menschheit aus.
Denn Wngner hat hier die Tragik durch das
Wunder ersetzt und so ist die Erlösung scheinbar (und im
Geiste des historischen Kaifaolizismus) religiös, un tiefsten aber
un religiös. Das Wunder besteht darin, dafi Parsifal nicht
durch die Kraft der eigenen Sede, sondern durch einen unb^greif-
licfaen Akt der Prädestination die Fähigkeit empfangen hat, an-
derer Erlebnisse nicht nur wie seine dgenen, sondern als seine
eigenen zu besitzen und wirkliches Erleben durch ein Geschenk
von oben, eigene Kraft durch überirdische Sendung zu ersetzen.
Hierdurch ist er aber dem Kreise des eigentlich Menschlichen
entrückt. Die von Schopenhauer übernommene Theorie (denn es
06
ist nur dne Theorie), daß daa Fühlen Efemdea Lddes (das im
Onmd genommen mir Phantasie vorauasetzl) eine meAaphysiache,
fi])efmensch]iche Kraft sei, tweintrachtigt die rdne Idee der Er-
Ifismig, das heißt der ediien Oberwindmig alles Zwie^tes,
und tiUgt in den heroischen chiisdichen Grundgedanken ein
passives indisches Element hinein. Die Tat wird durch das
Leiden verdunkelt.*)
In einem allerhöchsten Sinne ist Parsifals Lösung dt^
Menschheitsproblemes mit der Klingsors verwandt — beides
sind Eingriffe aus einem fremden Bereich in die menschliche
Seele!
Die Gestalt der Kundry ist ganz neu und wahrhaft
tragisch durehfxeführt, sie enthüllt sich als Hauptfifcstalt der
Dichtung. Wagner hat mit Kundry nichts weniger als die T r a -
gödieder Frau überhaupt geben wollen — allerdings von
einer bestimmten Weltanschauung aus. Und nun rechtfertigt sich
auch, daß die Oeschlechtlichkeit so sehr im Mittelpunkt steht,
daß Sinnlichkeit und Oberwindung der Sinnlichkeit der einzige
Inhalt dieser Dichtung ist Denn die Tragik der Frau kann von
der Sexualilftt nicht geldst werden.
Die Trsgik der Frau liegt aber — immer nach „Parsilal" —
ganz und gar darin, daß sie aus sich selbst heraus kernen Zweck
finden und venviildichcn kann, sondern daß Weibsein Sein ohne
wahren Sinn, ohne Beziehung zu etwas Absolutem heißt, daß
*) Die Mitleidslchrc ist für Wagner ein fremdes, übernommenes Ple-
ment. Aus den folgenden Worten des HVenezianer Tagebuches" (1Ö58)
geht hervor, dat «r di« im UMm sdfhnuiiMnd« Kraft iber das MW^dan
{«stellt hats „Ich bin mir aber audi darfil>er Idar worden, warum Idi mit
niederen Naturen sogar mehr Mitleid haben kann als mit höheren. Die
höhere Natur ist, wie sie ist, eben dadurch, daß sie durch das eigene
Leiden zur Höhe der Resignation erhoben wird, oder zu dieser Erhebung
die Anlage in sich hat und sie pflegt Sie steht mir unndttdhar nahe,
ist mir gleich und mit ihr feian^e Ich aur Mitfreitde. Deshalb habe ich
hn Grunde genommen mit Menschen weniger Mitleiden als mit Heren etc."
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die Frau als Frau ganz im Zwecklosen lebt, daß ihr Innerstes
der Idee eines Weltenzweckes fremd ist. Kundry ist die „Namen-
lose", das Weib schlechthin, in ihr spielt sich die ganze Tra-
gödie des Weibes ab Das naturhafte Da^^'n, oder in die Pro-
blemenwelt des Parsifal übertragen, das Geschlechtsleben ist das
Zentrum des Wdbes, ist das Weib selbst, und die Gesclilechtlicli-
kdt ist ewig rubdosi unaichfifiAicii, ohne wirkliches Zid und
Ende — was aber erst an dncm in sidi Zwedcvollen bewu0t
werdm taum. (Audi die penflnüdie Liebe wiie ein soldicr
ZwtA, aber wir wiam, dafi de ans Pasrifal «efbannt iii)
In dem Aogenblidc, da Kmuhy den wahren Mann ffihli; geht
ihr pUMzIidi die Ahmag dnes abaolut Sinanralkn auf — Onmen
cflaBt de, aber aiidi dne fremde Sdmaacfai Und dieaer Oe-
danke» daB die Wdt dnen wirUidien Sinn habe, wild ffir die
Frau zum Verhängnis, zum tragischen Fluch. Bevor Kundry den
Weg Christi gekreuzt hat, ist auch sie eines der Blumenmädchen
gewesen, dem Augenbhck allein hingegeben, ganz ins naturhafte
Sein versenkt und verwurzelt, ohne Beziehung zu etwas anderem
und daher ohne dgenthches Bewußisdn und ohne Qual. Aber
von dem Menschen, der einen absoluten Sinn, den Gedanken der
Erlösung vom bloß naturüaitea Sein in sich trägt und verwirk-
licht, wird sie magisch angezogen und bis ins letzte aufgewühlt
(Es ist zynisch, aber im naturaliatisch-psychologischen Sinne
mcbt unridiligy wenn Weininger aag^ die Sede de» Mano»
wüte äla erotfadur Rdz auf die Fmt.) „Da M nddt aein
BUnktf* — nnd ihr eradilieBt ddi pUMziidi da» Höhcfe^ da»
eigendich MwwHiBdie. Da» andere tritt vor aie hin und am
anderen kommt ihr das erste, da» UisprünglidhWciUiclie zum
BewiüMacin. Aogcaidiis einer h Aenn MfiglicfalKH verddit sie,
was sie früher gewesen ist, und begreift die Sinnlosigkdt des
Blumenlebens vor der Idee dnes Welten weges. Sie tutilt ihr
eigenes Wes^ als tragischen Fluch, der sich erst lösen konnte,
Lack«, Qrctnm itr SmI«. 7
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wenn sie aufhörte» Weib zu sein — und dagegen bäumt sich ihr
tiefiter Inatinkt «tf» sie weiß jetzt, daß sie die Sinnlosigkeit selbst
ist — und lacht. Dieses Lachen ist Haß gegen einen Zweck des
Daseins, den sie doch wieder hdmlicli ersehnt, und wilde Ver-
zweiflung an sich selber — „Schreien, wüten, toben, rasen".
Das ist Kundrys Tragik, wie sie vor uns hintritt: Weib sein
zu müssen, ins Unendliche fortwuchernde Lust und Zweckiosig-
keit; und Mensch im höheren Smne sein zu wollen, „Glied im
Reich der Zwecke'' (Kant), nach einem Sinne, nach Erlösung zu
begehren. Weil Kundry das Irren durch die Welt — sich selbst!
— über alles haßt und doch eine endgültige Erlösung nicht er-
reichen und nicht einmal begreifen kann — auch im Tiefsten gar
nicbt willf sucht sie immer wieder Rohe im Schlaf im Veigesaen.
O ewiger Schlaf,
Einziges Heil,
Wie — wie dich gewinnen?
Ober diese» Schlaf der Eischöiifmig, dem Kundiy nach
langem Irren hnmer wieder verfällt, hat KUngsor Macht, weil
der Urinstinict des Weibes mit dem bewußten Fetaide der Er-
Idsung verbündet ist, wie ihm auch ihre Sehnsucht nadi Ruhe
widerstreben möge. Sie hat ihm diese Macht eingeräumt, als sie
das HeO verlachfe^ nnd sie iScfat sich mit ihrem Hohn — „Ha!
Bist du keusch?*' — Seine Pseudo-Keuschheit ist ihr als Wdb
lächerlich und verächtlich, ihrer heimlichen Erlösungs-Sehnsucht,
die nur durch den walirhait Keusdiea gestillt werden itöiiate,
Gegenstand des tiefsten Hasses.
Kundry irrt durch die Jahrtausende, instinktiv sucht sie in
jedem Mann ihren Erlöser, denn es ist das Echteste in der Frau,
daß sie Erlösung nur vom Manne, durch den Mann erwartet,
fordert Aber das ursprüngliche Weib, dessen Wesen Sinnlich-
keit — Sinnlosigkeit (in der absoluten metaphysischen Bedeu-
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99
tung) ist, bleibt immer der stärkere Tdl. Kundry zieht jeden
Mann in ihr Reich hinüber— „Ein Sünder sinkt mir in die Arme**
— und macht ihn durch das Geschenk der Oeschlechtslust ruhe-
tos, das taeiBt vom Standpunkt dnea absolutai Zwedna^ der in
diesem Werk erhoben wird, sie verführt ihn zur Sflode, sie bt-
Tanbt Ilm sehiea Heils (Amfortaa).
Diese ücfe mid pfinzipkile Konzeption der Fcan — <fie hier
naiüilich nicht kritisiert werden kann — : iidisdie RnbdosiglBeit
als ihr eigentliches Wesen — und Sehnsucht nach einem End-
gültigen, Reinmenschlichen stimmt voilstandigr mit der von
Wein Inger theoretisch aufgebauten Metaphysik des Wefiws
üt)erein; „Geschlecht und Charaktet'' ist wie eine einzige un-
geheure Paraphrase der Kundry. — Und es ist sehr erwähnens-
wert, daß der größte Menschenkenner, Dostojewski, eine
ganze Reihe von Frauen dargestellt bat, deren Tragik es ist, blmd
erotisch getrieben zu werden und sich nach Ausruhen in der
großen Liebe zu sehnen. Sie entsprechen auf der psycholo-
gischen Ebene der Kundry, die ja ins Ük)ennenschliche, ins My-
thische erhöht ist. Und die Tragik dieser Frauen hat nicht nur
ihre Seele, sondern auch ihren Körper ergriffen, sie äußert sich
als Hysterie. Ebenso weist Kundry Symptome einer sozu-
sagen mytiiischen Hysterie auf; besonders dort, wo sie von
iClingsor aus ihrem Starrkrampf erweckt und zu neuer Verfüh-
rung gezwungen wird, haben ihre Schreie und die Musik (mit
Absicht) den zerrissenen Charakter des hysterischen Naturells^
das durch jähe Ot)ergSnge zwischen den Extremen charsktecisiert
ist Die Ttagjk der Fian Aufiert sidi hi der WiiUkhhdt nur
aOzuoft als physiologische Zcnissenhdt; als Hysterie.
Kundiy hat ihr tiefoies Wesen eist verstanden, wie aie
Christus begegnet ist Und da sie zum zweiten Male mit dem Er-
lteer zusammentrifft — sie ahnt ihn, denn ParsUal ist Christus
— da muß sie sich auch wieder hn Tiefsten als Weib fühlen. DsB
7*
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100
ist psychologisch vollkommen wahr. Alle ihre Erlösung&Sdin-
sucht ist dahin, mag sie von Gott und Welt verstoßen sein — sie
will dem voUkommenen Mann als voUkommenes Wdb gegen-
überstehen und ihn als Wdb lieben — „Nie hdle mir die
Wunde f*. — Die bdden Rdche treffen in ihren endgültigen Re-
pitanianten aiiieinandar: das Reich der ewigiea RuheloiigiDeit,
die im Taumd zwischen Lust und Verzweiflung lei»t; und das
Reich des absolnten Wertes, das im aglühenden Oral sdn sicht-
bares Symbol empfangen hat Es ist konsequent, daß dieser
wahre Wert im Ober winden der Oeschlechtlichkett, in der Au^
hebung des Wdbes — das hdBt des zwecklosen Daseins — und
in der B^^ründung eines Reiches höherer Ordnung gefunden
wird. Die uralte Metaphysik: Vergänglichkdt alles Werdens —
unveränderliches, wahrhaftes Sein — wird neu verkündet. „Zum
Raum wird hier die Zdf ' — Das Fließen alles Geschehens setzt
flidl in Bleibendes imi.
Die Erlösung Kundrys vollzieht sich anders als die des Am-
fortas und der Ondsritter: ihr natürliches, dgentUch-wdbiidies
Sein ist gebrochen und vernichtet In lautlosen Tränen beugt
sie sidi vor dem Eriöaer. Aber sie vermag nicht in ein höhoes
Leben einzugehen, denn sie ist hn TiefBien entwurzelt — sie
stirbt hn Anblick des Oiala — Efaist ist Kundiy eine Blume ge-
wesen, dn natuifaaftes Wdb ohne Ethos und Tragik. Durch den
Blick Christi ist das Neue in sie gekommen, sie hat die tragisdie
Zerrissenhdt empfangen, die sie zur Mahrt treibt Panifal er-
idlt ihr die Taufe — „Glaub' an den EriOser!** ^ und Kundiy
glaubt an einen Sinn des Daseins und stirbt an der
Schwelle des Gottesrdches.
Wagner hat hier seine letzte Einsicht über die Frau aus-
gesprochen: sie muß sich selbst aufgeben, um zur Erlösung zu
kommen — während sich der Mann zu vollenden hat. Sie ver-
mag das Gute in sich nicht aus eigener Kraft zum Si^ zu
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101
führen, nur im Mann, durch den Mann findet sie Erlösung, geg^
die aber das dgentlicb Weibliche in ihr wild ankämpft. Die
Erlösung der Frau bedeutet das Aufhören des Weiblicbcn und
das Durchbrechen des Reiii-Menschlidien — im Tode.
Diese Konz^on vom Weaen der Fnu ist tififer und von
echtenr Tragik beseelt als die Erlösuag des sfindhallitn Nimxsm,
des Amfdrtasy durch Parsifal. Die VerteOung des tngisdien
Prozesses auf einen leidenden und einen eritanden Menschen
bleibt ein Ausweg — der Auaweg des Mittelalters — und keine
letzte Usung den Problems; und diese Eiltang ist mit dem
Fludi des Negativen gesdüagen, denn sie bedentel zuletzt nur
Verneinung der Sinnlidikeit Die neue erlöste Wdt entbehrt des
Inhalts; man kann sie sich nicht vorstellen, wenn man sie auch
in der musikalischen Verklärung ahnen mag. Es ist etwas
anderes, ob im Aug-enblick des Untergangs die Aussicht in
eine neue Welt (Fortinbras, Riclunond, Dietrich von Bern)
wie ein ferner Trost aufklingi, oder ob diese neue, über alle Tragik
hinausgekodiniene Welt im Mittelpunkt steht und mit einem Ge-
halt erfüllt werden soll.
Mit der Wandlung Parsifals vom naiven Knaben zum Er-
löser hat sich auch die Natur in ihrer Bedeutung für den Men-
schen verändert: was ihm früher unmittelbare Wirklichkeit
und als solche in den Blumenmädchen (den menschlich gewor-
denen Spitzen der Natur) Verlockung zur Sinnlichkeit gewesen
ist, das hat sich ins S y m b o 1 gewandelt Der höhere Mensch
empfindet das Blülien nicht mehr seiner natürlichen (geschlecht-
lichen) Bedeutung nach, sondern nur noch als Schönhdi Die
Weit ist umgewertet, die Natur vennag den Menschen nicht mehr
achuU^ zu niflfhfni dnrcfa die Verihiderang In ^ii iff ist auch <Be
Natur verwandelt^ sie hat ihren Unschuldäiag erwochen. Dlca
ist der Sinn des Karficitagszaiiben. —
JMfai*' ist, wie nur noch zwei oder drei Kunstwcfte der
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102
Welt, mit der Leidenschaft des Gciiius um eine letzte Lösung des
Menschheit-Problems beTnüht. Dieser radikale Wille zur Frei-
heit führt uns aber die Unmöglichkeit seiner Lösung vor Augen :
der Mensch, der die Tragik m dieser absoluten Weise über-
wunden hätte, wäre nicht mehr Mensch. Die heroische Lösung
muß eine menschliche Form gewinnen, die aber nicht etwa nach
cter Art vieler irdischer Dinge ein Halb und Halb, ein Kompro-
miß zwischen Gott uiid dem Teufel sein darf, sondern eine
Einheit erschaffen muß, wie sie dem tiefsten Wesen des Menschen
angemessen und — wenigstens der Möglichkeit nach — erreich-
bar ist Und diese Lösung ist die Aufhebung der Tra-
gik nicht in der HeiUgkdt, sondern inderWeisheit: Alles
schicksalhaft Gegebene, Weit und Anlagen der eigenen Natur,
wild nicht fanatisdi vonicfatet; sondern In seuwr Stellung zur
Freiheit gefindert Das Schidsal ist nicht mehr Feind, sondern
Mittd der Erlösung. Der Mensch macht sich so sehr zum Herrn
über alles Seiende, daß er es eq;nift^ Im Bewußtsein der Fieihdt
auflöst, und mit verlnderter Bedeutung hi sein Dasein mit hinein-
nimml; ihm eine Sbätt weisend hn System seuier Zwecke und
seines Wollens. Aller Zwteqialt wird in Weisheit au^oben,
das Widenrtrdxnde und Zeiatöcerisdie zum fruchtbaren Dienen
gezwungen. Die Sede whfd über das Schicksal hinaus erweitert,
wird Herrin darüber, die Welt wird nicht mehr als lastendes
Faktum hmgenommea (auch natürlich nicht bequem überselien),
sondern von der Seele aus neu geschaffen und gewertet. Das
Schicksal verliert seinen Charalcter als etwas Fremdes, es wird
zum Mittel der menschlichen Freiheit gewandelt. Der Mensch
schafft eme Einheit aus Müssen und Wollen Üt>er das Schicksal
lächeln — das wäre dann der letzte Ausdruck dieses Sieges, der
mit dem höchsten Punkte des komischen Bewußtseins zusammen-
fällt. Diese Auflösung des Tragischen ist die ewige Auf-
gabe undda&ewigeldeal des Menschen, das sich von
103
allen anderen Idealen dadurch unterscbeidet, daß es notwen-
dig ist.*)
Die neue Lösung ist von der zuerst dargelegten hrnnschen
nicht venchteden, sie gibt ihr nur eine andere, menschliche Wen-
dung, denn der Sieg der Freiheit über alles, was dawideistefat,
bleibt noch immer die Fonnel dafür. Nur liegt der Si^ nicht
mehr m der Aufhebung — eine Unmöglichkeitl — aoodem in
der BefaerrBchung. — Mit dieser Konzeption würde — um ein
wichtiges Beispld anzufOhsen — die Tr^ der Frau, die im
Panbl zu ciaer so unhcindichen Hfihe getrieben und zu einer
so zerBchmfttemdcn, wenn auch konsequenten und großartigen
LdsuQg gd>raclit ist^ anders und doch echt geltet werden: In
der Anerkennung ihrer ganzen Naturhaftigkeit, die aber
nicht mehr natnifaaft, vegetativ, chaotisch empfunden und ge-
deutet, sondern von einer persönlichen Kraft ergriffen und der
Idee eines Wertes Untertan gemacht, ins rein Menschliche er-
hoben wird.
Diese Lösung des Menschhdtsprobl eines ist bewußt und in
philosophischer Klärung von Fichte gefordert worden: das
CjC'setz des Menschen soll so völlip;^ die Welt durchdringen, daß
es zum Gesetz der Weit wird, daß der Mensch allem Sein das
endgültige Siegel aufdrückt/*) — MaeterUnck hat diese Stellung
des Menschen in dem reinen und schönen Buche „Weisheit und
Schicksal" erkannt — ,,Das Schicksal hat nur die Waffen, die wir
ihm reichen!" — Und Nietzache meint etwas Ähnliches mit
*) Wir finte hier die drei Stufen wieder, In denen dch alles See*
HmIw aufbaut: das erste Stadium weil nidits von InglsGlier Zerrissen«
heit, es ist naturhaft idyllisch. — Dann tritt der Zwiespalt ein, das Schidfr>
sal wird als Unfreiheit, als dämonisch, die Stimme des Inneren als Frel-
hehf als göttlich cmphxnden. — Und endlich sucht die dritte Stufe — die
in Uirer Vollendung immer Ideal bleiben wird — eine Synthese sms Natur
und Frcflieib
Ober FlcMe msbr Im AbechnÜt vom Plillosopliieren.
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104
seinem Amor fati. — In den Abschiedsworten des haust ist
diese Lösimg au^;e^rochen (wird aber sogleich untragiach
durch die Hilfe voo oben bd Seite gesctaafft); und das letzte
Quartett Beethovens, das am Schluß des vorigen Abschnitt»
nudyäert wonkn ia^ hat sie wahitiafi erlebt und gtomich zu
Ende geführt.
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3. DAS DÄMONISCHE
1.
Erst jetzt, wo wir den Zustand der inneren Zwiespättigkeit
in aeiiier tiefsten und prinripidbtgn Gestaltung als tragiadi
verstanden haben, können wir die Analyse des Graz-
menadien zu dneoi Ende ffibim. Der Otenzmenadi iai der
tragiach Zerriaaene, dem das eine, das positive Element seiner
Seele nidit einfach als gut, sondern als gdttlidi, das entgegen-
gesetzte als dämonisch, als teuflisch zum Bewußtsein kommt. Und
ein solcher Mensch kann immer entsdnedener in diese Oegen-
sfttze hinemgerissen werden: er kann hmerlidi die Partei des
Odttlichen ergreifen, es als Höbeies aneilcennen und den Kampf
mit den widierBtrebciiden Elementen seiner sdbst aufnehmen«
Das ist der Ringende, in religiöser Färbung der Oott-
Sucher. So sind viele zerrissene Geister des Mittelalters zu
verstehen, ihnen erscheint der Teufel als Versucher, aber sie
zögern keinen Augenblick, sie bekämpfen ihn mit der ganzen
Kraft ihres Willens, mit der Hilfe Gottes.
Das Bewußtsein de^ Möheren kann aber auch vmiunkelt
werden: ununterbrochen geht vom NitKirigeren eine rätselliafte
Anziehung aus und müht sich, den Menschen auf seine Seite zu
bringen Das ist die Verlockung des Dämonischen. ,,Auch der
Märtyrer liebt es zuweilen, mit seiner Verzweiflung zu spielen,
gewissermaßen gleichfalls aus Verzweiflung^' — sagt Do6tt>
jewaki über diesen Zustand."^) — Der Mensch, der die innere
Stellung des Dämonischen eingenommen, die Partei seiner eigenen
Unfreiheit ergriffen hat, steht nun dem Göttlichen in sich selbst
— das doch niemals ganz zunichte werden kann — mit dem
Gefühl des Hasses oder des Grauens^ der heimlichen Ai^ gegen-
über. Denn eine eigentliche letzte Lösung im dämonischen Sinn
♦) Die Brüder Karamasoff I, 130.
106
kann vom lebendigen Menschen nicht ertrotzt werden; er kann
(wie Macbeth und Mozarts Don Juan) im Bösen untergehen oder
er kann in völligen Stumpfsinn versinken; aber für den lebeii-
^gui und bewußten Menschen bleibt es beim Kampfe.
Die metaphysische Angst muß 7U allererst prinzipiell von
der gewöhnlichen hurcht gesondert werden, die der Mensch mit
den Tieren gemein hat und die die Kehrseite des Selbsterhaltungs-
triebes ist. Der natürliche Instinkt fürchtet und meidet alles
Feiiidlicfae und Gefahrlicbe. Diese Fiuxht ist nicht weiter ficobl^
nalisdi (auf sie beziehco adi die flblichen FcsteieUiiiigen der
PqrcfaologeaX sie hat nur AuBeres zum GcgeoBtsnd; sie treibt
den Natmuienschen dazu, hSUxat M&chte anzuerkennen und mit
ihnen zu paktieren. — Von dicaer natflittclien Fiutht ist dfe
andere^ die metaphyaisdie Furcht, die Furcht vor den Miehlen
der eigenen Seele veracirieden; afe bietet zweierlei entgegen-
gesetzte Möglichkeiten : sie kann Furcht vor dem Bösen sein, das
was das Christentum die Furcht vor der Sünde nennt;
oder Furcht vor dem Guten, die dämonische Furcht im
Menschen, der sich auf die Seite seiner Unfreiheit geschla^« i, hat
„Das Dämonische ist die Angst vor dem Outen/' sagt Kierke-
gaard (in seiner Abhandlung über den Begriü der Angst). —
Die Angst vor der Unfreiheit als der Sunde, das Bewußtsein,
von einer uneddirlichen Macht — die aber doch ins eigene
Wesen a ut ge n on m cn ist! — bedr&ngt und zum Teil bdienscfat
zn wcfdeut spielt hn Quisientam eine l)edeutende Rolle; sie ist
in den Spdadafionen tragisclier Denker zu linden, entweder als
heimliches Motiv oder ganz bewufii Pascal halle das Ocffihl,
an einem Abgrund hinzugdien, Schopenhauets dumpf bolunender
Weitwille ist eine dogmatiadie Fassung dieser Angst Was
Fnrelit als OcfOhl ist, das ist für den Fanatiker der sitilichen
Autonomie Unfreiheit als Gedanke. So haben Fichte und Wei-
iiuiger die Unfreiheit gdürchtet und gehaßt. — Der Künstler und
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107
das mythische Denken des Volies bilden aus der inneren dämo
mschen Angst heraus Gespenster, Furien, und oft genug über-
windet der Künstler dieses Gefühl, indem er es in sichtbaren Ge-
stalten festhält So bevölkert Dante die HöUe mit den Schreck-
nissen seines inneren.*)
Der <*Smm»*Th gewordene Orenzmensch findet in sich
selber einen pervenoi Willen zum Bösen. Dieser Wille ist nicht
etwa Wille zur Lust und zur Entfesselung der Instinkte — das
wäre nur etwas Natürliches — sondem Wille zur Unfreiheit als
dem Bfisen, dessen einziger Bewqgpnind ist, dss Oute zu zer-
stören,**) Der wahihaft Dftmonisdie will das Böse, brächte es
auch kdne Lust, sondern Sctamen; ja, er kann sich vcfspi^gehi,
daß er seiner ainnMchcn Bcgietde folgt, daß er seiner Sdiwäche
nachgibt — - während es doch der unerklärliche und unmoti-
vierte Haß gegen das innere Out ist, ganz entsprechend dem
nkbt weniger grundlosen Willen zur Freiheit, zum Outen. Das
eigentlicfa Böse will nichts als sich selbst, keinen Lohn und
keinen Oenuß.
*) An dieser Stelle muS die Analyse des Parsifal ergänzt werden:
h der Oiditiiiia, besonders aber in der Musik dieses Werkss siedet eine
langshsiins dämonlschd Angst CSthlut des Vorspiels» die Partien des Am-
fortas, die Szene zwischen Parsifal und I^undry), die mit der Gottsicher'
heit der entgegengesetzten Elemente kontrastiert Die Geschlechtslust,
die hier alle Gebundenheit vertritt, hat sich in Angst verwandelt, sie ist,
vom Ueil 4er VoHendung gesehen, (Ubnonlscb geworden und sie lUlt^
ganz im Geists der mKMalteriichen Erotik, nicht mehr als Lust, sondem
als Angst ins BewuStsein. (Weiningers HaS gegen die Frau ist eine
AuSerung desselben Grundgefuhles). — Eine Ahnung dieser geheimen
Verwandtschaft von Sinnlichkeit und Angst kann beim jüngling, noch
mslir aber befan Mädchen hervortreten, wenn zuerst die Sinnlichkeit er«
«acht und als etwas lAdisfaidiciies, Zwhigsndes emphmden wird, oder
«ena sie cum erstenmal unverfK)lilen vor sie Mntritt — Auch dieses
Moment Ist in den Paraifal UncinigMionmien» wie ParsiCal den Kuft der
Kundry empfingt
**) hlsm wird dies nicht mit dem HGegenwillen" verwechseln, den
ebie Psychlaterscinale bd Hysterischen findet
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106
Kant hat den Satz ausgesprochen, der seiner ganzen Auf-
klärungszeit ein Spott gewesen ist und über den sich Goethe
ausdrücklich geärgert hat: „Der Mensch ist von Natur böse."
Kants Denken bewegt sich am Anfang alles Menschlichen, es
eigreift dea Menachen dort, wo er Mensch überhaupt wird, ohne
der oder jener zu seui, vor aller fleeiiscben Differenzicnuig also.
Darum findet Kant das Bfiae der ganzen Menschheit eingewurzelt,
so tief mit ihr verwachsen, daB es wohl hn besündigen Kample
vom Guten niedergerungen, niemals al>er ganz ansgerotlet werden
kann. Die Tendenz zum Bfisen — der Trid> des DimonladMn
— ist mit dem Menschensein zugleich giegeben. Out Ist für
diese allgemehiste und tiefste Eifassung des Menschen, wer VoU-
Itonmienheit» Oölflichkeit zur emzigen Richhichnur sehies Lebens
genommen, das Bewußtsein der Autonomie zum eigenen Gesetz
gemacht hat und den Gedanken einer Ausnahme nicht zuläßt,
wer seine Freiheit ein für allemal in eine höhere NotwendTjj-
keit g:ewaiidelt hat. Die meisten Menschen beugen sich da-
gegen der Autorität der Freiheit zwar im allgemeinen, erhd)cn
sie aber für sich selbst nicht zur absoluten Notwendigkeit, son-
dern lassen Ausnahmen (auch im Prinzip) gelten, das heißt sie
machen dem Bösen (der Unfreiheit) Zugeständnisse. Diese Stel-
lung ist dem Menschen sozusagen natürlich, auf sie bezieht sich
der Aussprudi Kanta Die ifitanonische Stellung aber bedeutet
eine völlig» Imm Umwendnng. Ein soldier Mensch hat sich
auf selten seiner Unlreibelt geschlagen und Idhnpft voll Ha6
g^en die Ficihelt
Was Kant für den Menschen überhaupt als möglich er-
kennt, das wird nur für den dualistisch Organisierten ^(Mlidi-
keit Denn der mittlere Mensch findet in sich nicht die Idmpien-
den Michte vor, er hat keine Veranlassong, sein Leben und Tun
unter ösn Winkel des Problematischen zu rücken. Es gibt mittlere
Menschen, die aus ihrer Natur heraus, ohne alles Schwanken,
109
das Richtige und Gute tun, dem Positiven in ihrer Seele steht
nichts Feindliche gegenüber, sie wissen von keinem Kampf und
gehen den geraden Weg. Franz von Assisi ist vielleicht der
größte Repräsentant dieses Typus, der die Sünde nicht versteht,
der gilt ist ohne jeden Kampf. Auch Spinoza (der uns noch be-
sch^gen wird) gehört hierher, und manche Frauen. — Andere
Menschen gibt es, deren Instinkt fraglos das Schlechte, das Ver-
derbliche will und die ihren Anlagen <^ne Kampf nachgeben.
kirn pflegt sie als pathologisch, als atavistische Rückschläge an-
zuadien und sagt, daß sie mit moral insanity behaftet sind. Bd
ihnen liegt die Sache nicht so einfach wie bei den fragloB Outen,
aber auch wer ganz instinktfaafi zentöiecisch handelt — wenn es
einen solchen überhaupt gibt — steht vor aller Zernaaenheit
Den ZwiespSItigen aber ist die M^^lidikdt des Oulen und
des BOsen gcgdien* Trotz allem Kanqif und aUem Schwanken
nimmt er im letzten Grand seiner Sede doch die eine der beiden
Siellongen ein. Entweder ist seine Stirn gegen die Lockuqg ge-
wendet; vefiaut er ihr doch, so ist es ein „Fall", em Abgleüen,
ein Verleugnen seines beesmi Bewußtseins. Oder er haßt als
dSmonischer Mensch seine Freiheit, er will das Gute in sich und
in der Welt zerstören. Welch ungeheurer Triumph, dies einzige
Wertvolle — denn als solches muß es anerkannt werden, sonst
hätte die ganze seelische Position keinen Sinn! — zu vermchtai!
Dieser Wollust gleicht nichts — der Mensch findet die Macht
in sich, die Welt, das Sein, Oott, seine eigene Seele zu beleidigen
und in Frage zu stellen! Das ist die eigentliche Lust Satans, der
ja als geistiges Wesen vorgestellt wird und nicht in die Ver-
suchung menschlicher Schwäche fällt : der nihilistische Wunsch,
Gott zu entthronen, das Gesetz alles Seins anzuzweifeln
und damit aufzuheben. Das Weltgesetz ist ja die innere Mög-
lichkeit, daß alle Teile, alle Wesen miteinander bestehen können,
und übertragen die Harmonie des einzehien im Menschen zum
110
ganzen Meiischen. Dieses Gleichgewicht zerstören! Die Welt
vernichten! Welch ungeheure Macht des Menschen! Und darum
naht der Verführer dein Heiligen und zeigt ihm die Reiche der
Welt, die für ein g^ottlästerliches Wort — das heißt für einen
Augenblick Dämonie sein wären. Denn der Heilige ist der
zwiespältigste und der stärkste Mensch, er hat den größten
inneren Kampf zu bestehen, in ihm ist der höchste Wille, das
Böse aufzuhet>en und das Oute zum Sieg zu führen. Alle anderen
unterliegen ja den taglichen kleinen Lockungen der Sinnlichkeit
und der Eitelkeit, sie stdien wohl unentschieden und ohne Bcgjei-
sterung auf selten des Guten, leben aber in Aiisoalinien, obne
Ziisarnmenhang und Größe. Sie änd nicht weaenhaft Den
großen, den heiligen Menschen aber kann nur das Höchste,
Oeistigsle zur Abkehr verführen — und diese Abkehr wSie eine
ungeheure Revotution, em Eibehen alles Seun, weil in diesem
Menschen nichte KleuMS und Halbes geschiciht Alle Ansfam-
gungen Mephistos sind nicht zuviel» wenn es vm solch eine
Seele geht
Fraget man aber, woher dieser däraonisclie Wille stammt, so
kann nur geantwortet werden, was schon Kant geantwortet hat:
„Für uns ist kein be^reiüicher Grund da, woher das Moralisch-
Böse in uns zuerst (:,rekonimen sein könne "*) — Wären wir
fähig, das zu verstehen, so hätte die Welt wohl kein Rätsel mehr
für uns. Wir wissen, daß der natürhche Mensch von den Mo-
tiven der Lust und der EigenUebe bewegt wird; wir dürfen auch
annehmen, daß hin und wieder ein reines sittliches Motiv Bedeu-
tung erlangt Daß es aber noch ein drittes gibt, den bloßen,
sozusagen reinen Willen zum Bösen, das können wir nicht eigent-
lich verstdien. Zum endgültigen Sieg kann dieser Wille — soweit
unsere Einsicht reicht — niemals kommen, weil er doch inuner —
*) Die Religion famefhalb der Grenzen der blofien Vernunft
1790^ S.43.
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tu
als ihr Negativ — mit der sittücben Freiheit zusammenhangt —
und weil er endüch auch sich selber vernichtet —
2.
Ich WOl nun die l^sydKUogiit des dämonischen Oreaz-
mensdun an zwei Dichtem entwickeln: zuent «n Edgar
Allan Poe, dann an Dost ojew8l[i. Poe lebt so sehr im
ötouhtSkBOf daß ilmi die nuttteren Rcü^onen des McnschHdhen
übefhaupt nidit bdornnt sind. Und sein eidremes Wesen geht
oft genug ins Karikaturenhafte Aber. Er ist kein psychologischer,
sondern ein romantischer Dichter und die Gegensätze stoßen bei
ihm hart und ohne jeden Übergang aufeinander. Aber gerade
w^oi dieser I iiifachheit und Nuancenlosigkeit kann man viel-
leicht an keinem so gut wie an ihm das Wesen des dämonischen
ürenzraenschen in allen Gebieten, im Denken, fühlen und
Wollen studieren, de:i Kampf zwischen dem Einheitlichen,
Klaren, Gesetzmäf^i^en, und dem Rätseihalten, Unheim-
lichen, Gebrochenen, der Ausnahme verstehen.
Im Bereich des Denkens äußert sich dieser Zwie-
spalt als Revolution der Liige und des Irrsinns» die beide zer-
störerisch in den logischen Zusammenhang des wahren und ge-
Sunden Denkens hineingreifen. LQge ist Ausnahme vom richtigen
Denken» auch wenn sie sich Tag für Tag vom Aniang der Weit
bis heute wiederttolt Es liegt hi ihrem Wesen begründet, daB
sie niemals Regel werden kann« sie bcsldit m der Verneinung
aller Regd. Der Irrsüm Ist das AnÜlogische an sich, das den Zu-
sammenhang des normalen Bewußtseins ein für allemal aufhebt.
— Poe, der von der Lxistenz alltäglicher Menschen gar nichts
zu wissen schemt, besitzt ein unerschöpüiches Interesse für alle
ungewöhnlichen Zustände der Seele. Spiritistische und hyp-
notische Versuche, aber auch nur bizarre Einfälle — etwa daß
eine ägyptische Mumie zum Leben galvanisiert wird und zu poh-
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tioeim bcgümt — halten ihn im Bann. Dm sind die aeeUachen
Dflnunerztisände des Sdilafes, der Ohnmacht und des Steriwns
gdftnfigf und er schildert sie mit Meisterschaft, er kennt alle Mo-
nomanien von der Schrulle bis zum vollkc«nmenen Irrsinn. Mehr
als einmal wird die Todesangst ausgemalt. Wie er (in „Monos
und Una") das langsame Hinübersterben nachempfindet, ist wohl
das stärkste an phantastischer Psycholc^e — die mit der rea-
listischen in gar keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen
muß — was jemals versucht worden ist. (Sie findet in Dosto-
jewskis Erzählung „Der Traum eines lächerUchen Meoscfaen"
cm psychologisches Widerspiel.) Die Sinne verdämmern lang-
sam, bis nur noch das bloBe Bewußtsein der Zeit übrig bleibt ~
das wird mit einer Menge von vistoolven Einzdheitm durch-
geführt Man schaudert, wie ein Mensch solches wiesen kann,
und msg nun chi Kern von Wahrheit darin stedcen oder nicht —
jedenfalls ist die ganze Daniclluiqf ao lest hi aich geschlossen,
daB sie mit der Wucht chics htslorischen Berichtes wiifct Ähn-
lich fiberzeugvid sehen wh: hi „Ehras und Chaimion", wie die
Erde hi dem SaoerBtoffteib efaies Kometen verhrennt — Vielleicht
ist die Grübelsucht niemals so von innen heraus geschildert
worden wie in „Berenice"; aus dem Satze Tertullians: „Es ist
wahr, weil es unmöglich ist** zieht sein Mang zum Paradoxen
Nahrung. — Eine gewisse Paradox ie lieg^ schon im Stil der
Humoresken, wo mit besonderer Vorliebe französische, italie-
nische, lateinische, gnectiische, auch deutsche und spanische
Ausdrucke und Wendungen den englischen Text verwirren.
Mit diesem Trieb zum Absonderlichen, Phantastischen und
Pmdoxea ringt der entgegengesetzte, der nach vollkommener
Klarheit begehrt; er lußeit aich als Leidenschaft, das Unver-
sttndüche und Rftiadhafie zu durchdringen» und heckt ato-
mistische Spdmlationen Aber Schöpfung und Wdtunteigang, Er-
wägungen über Tod und Weiterleben aus. Hier vereinigt sich
Digui.u . Ly Google
113
die Lockung des Geheimnisvollen mit der Sucht, es verständlich
zu machen. Doch auch Abstrusi täten beschäftigen Poes ung^e-
wöhnliche analytische Verstand^kräfte. Er gefällt sich in der
Rolle eines Detektivs, forscht merkwürdigen Verbrechen nach
m\d vermag jede (jeheinischrift zu entziffern. Der Analytiker in
ihm hat seine höchste Freude an der geistigen Tätigkeit, die aus-
eiiuuiderwirrt und auflöst Selbst die trivialsten Beschäftigungen
bereiten ihm Vei^gnügen, wenn sie Gelegenheit geben, dieses
Talent zu entfalten. Er ist ein Liebhaber von rätselhaften Hiero-
glyphen und verbocgenen Dingen, und beweist bei ihrer Lösung
einen Grad von Sdiarfsinn, der dem gewöhnlichen Verstände
fibematüilich sdieint Die Resultate, zu denen er doch auf ran
mdhodiscfaeni Wieg getonmen ist, erwedoen in der Tat den
Anacbein von Intuition.*) Fortwibxend legt Poe den höchsten
Wert auf das Methodische, das was dem Sinnlosen gende ent-
gegensteht Ja, er tiehauptet, daB sefai beriifaiiites Gedicht „Der
Rabe*' nach rehi logischen Ervt^ungen zusammengefügt worden
sd. Alles dies shid AuBerungen des Triebes, äch gegen die
lockende Ausnahme ans feste Land der Gesetzmäßigkeit zu
klammern, denn das Widersinnige, das Irrsinnige (das Dämo-
nische auf theoretischem Gebiete) versuchen ihn manchesmal so
sehr, daß ihm der Boden schwankt. „Es ist noch die Frage, ob
der Wahnsinn nicht die höchste Stufe der Geistigkeit sei" **) —
und doch weiß er wieder genau, daß der Wahnsinn alles Denken
aufhebt.
Der Reiz der Detektiv-Geschichte liegt darin, daß
das scheinbar Unerklärliche durch menschUchen Scharfsinn be-
wältigt wird; sie ist eine Angelegenheit des bloßen Verstandes
und liat mit Kunst nichts zu tun. Das Interesse und die Schätzung,
die unsere Zeit diesen Dingen entgegenbringt^ beruht auf dem
*) „Der Mord in der SpiUlgasse".
**) HCIeono»*'.
Lttck«, Granua dtr SmI». 8
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Resiwkt vor dem yygesdixika** Meaacheo, der die Weit bdierndit
und den Erfolg fOx sidi hat Die DeldrtivOesdiidite stellt legid-
mäßig den Kampf des überiegenen Verstandes mit etwas Unbe-
kanntem und seinen endlichen Si^ dar, ihre Konstruktion ent-
spridit ganz dem Vergnügten an der Erfindung und Entzifferung
von Geheimschriiten und von Rätseln, die Detektiv-Geschichte ist
die lebendig gewordene „Rätselecke". Poe wird von allen diesen
£)ingen darum so sehr angezogen, weil in ihnen der Kampf
zwischen dem Verbrechen des Denkens, dem Widersinn (der
meistens noch durch em wirkliches Verbrechen seinen Hinter-
grund empfängt) und dem Geraden, Logischen zum Austrag
kommt. Die Auflösung von etwas Unbegreiflidiem bedeutet für
ihn die Überwindung des Dämonischen im Denlcen — vielleidit
durch ein stärker Dämonisches.
£)er Vetbrecher und aein Feind» der Detelcttv» eind pqrdio-
logiadie Komptcnenie. Sie eifordeni ^ gldchen Anlagen und
bdeEesaen, die nur zu verachiedenem Zwedc in Bewegung gesetzt
werden; auch in der Whididikeit geht ja oft genqg die Ver-
wandlung des einen hi den andern vor sich. Oeisler mit ver-
brecherischen Anlagen suchen hinter allem Möglichen gehdme
Verabredungen, die sich gegen sie lichicn IcÖonien, denn sie
gehen fortwährend mit der Angst herum, ertappt zu weiden (auch
wenn sie gar nichts angestellt haben). Hebt etwa jemand den
Hut mit der linken Hand anstatt mit der rechten, so wird ein
geheimes Zeichen für einen Komplizen vermutet. Denn sie ver-
bergen sich, verkleiden sich, tätowieren sich seiht, sie sind Po-
seure, drängen sich in fremde soziale Kreise ein und wollen immer
für einen anderen genommen werden. Sie sprechen ihre eigene
Sprache, sie erfinden ihre eigene Chiffreschrift — alles Bestre-
bungen, eine Ausnahme zu bilden, eine Ausnahme gegen Ge-
setze und Menschen. (In einem spateren Abschnitt werden wir
sehen, daß das Bedürfnis nach einem W under die Tendenz
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zur AiMudmie vom Naturgodz Ist mul dne vcrfaRdiefiscIie
Ndgang hfiiiera' Art gc^m dte OcsebodBigM
danteUen kum.) ~ In Jeder DdekttvOeedüclite steckt HaB
gegea dte soziale Ordnung und Sympathie mit dem, der sie
untergräbt Der Detdküv handelt nicht etwa aus Liebe zum
Gesetz und zur Oesellschaft, wemi er den Verbrecher entlarvt,
sondern er genießt nur die eigene geistige Ot)erlegenheit, die
aber von verbrechenschen Instinicten geleitet wird und mit vei^
brecherischen Mitteln arbeitet. Seine Neigung wäre, straflos
Verbrechen begehen zu dürfen, um seinen Feind, den anerkannten
Verbrecher, zu fangen, so daß er scheinbar im Dienste des Ge-
setzes handelt; und mancher Richter glaubt, gegen den Ver-
brecher jedes, auch verbrecherische Mittel anwenden zu dürfen.
(Weininger sagt, daß Richter oft Böses, Verbrecherisches haben.)
Die russischen Nihilisten, die wieder im Solde der Po*
lizd stehen und von denen niemand genau weiß, wem sie eigent-
lich dienen, sind ein Beispiel für diesen verbrecherisch-detekti-
vischen Grundzug» der aufs Negative schlechthin geht; sie
nehmen Geld von beiden Seiten, aber nicht eigentlich um des
Geldes wiUen» sondern damit nichts an der Niediffl^ fehk^ uod
wissen ün äufieisien Fall selber nicht, wer sie sind. Mit diesem
Typus deckt sich der geborene Si^on, der seinen Auftntggeber
wieder hintefgeht und zugleich fOr den Feind arbeitet
Ich habe hier eine Paychologie des Typus: „Veibncher-
Detektiv'' angedeutet; ihm fOhlt sich Poe verwandt (Einmat gibt
er eine groteske theoretische Unterweisung hn Schwhidefai.) Die
ganze Kraft, die seine Phantasie daran wendet, ein Verbrechen
aufzudecken, dient aber doch nicht dem Willen zur Oesetzmäßig-
keit Man erkennt vielmehr aus der psychologischen Disposition
heraus, daß es ihm nicht auf die Entwurzelung des Verbreche«
rischen ankommt — nein: er will die Ausnahme nocli vertiefen.
Und wenn vorhin gesagt worden ist, daß sein Hang zum Lo-
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fßtdm das Prinzip der Q eaeUiU &Bigfait vertritt» so irt das jetzt
dahin einzmichritakBn, daß es aicfa nur um das OesetzmaBige Im
Denken, mn dm ricbtigen Veistand handelt, nicht aber um das
Mondische. Denn auch die logischen Neigungen werden vom ver-
brecfaerisdien Orundtrieb geführt. „Man muß es weit feiner an-
fangen, um nicht von mir durchschaut zu werden!" Er hat ein-
mal einen wirklich geschehenen Mord aufgehellt — der
Mörder ist ein Stümper vor mir! — Seine Sehnsucht war: auf
das höchste Verbrechen zu stoßen, auf etwas, das gar nicht mehr
vefStanden werden könnte — und sich bewundernd zu beugen!
In der Erzählung „Das System des Doktor Pech und des
Professor Feder'^ koount der Widerstreit zwischen richtigem
Denken und Irrsinn zu einemi unheimlichen Extrem. Die Pa-
tienten einer Irrenanstalt bemächtigen sich der Herrschaft,
knebehi Arzte und Wärter und behandcto sie als Verrückte. Die
beiden kSmpfenden Triebe, der logische und der antflcgische,
smd hier personifiziert, und wenn sich auch das Ganze ab Oro-
tesiw gibt (ja vieUddit darum noch mehr) fühlt man doch den
tiefen, unheunlichen Ernst heraus ^ daß nämlich der klare Ver-
stand die verborgenen Triebe nur Mndigt, aber nicht ganz auf-
heben kann, daß sie immer darauf lauem, ihre Fesseln abzu-
streifen und über den Menschen Herr zu werden. — Was ist aber
das Groteske eigentlich? Der Humor des Grenzmenschen,
seine Art, das Schauderhafte und kaum mehr Ertragliche nicht
ganz ernst zu nehmen, zu kankit ren, der Entschluß, nicht nur
die Ereignisse des Alltac^s, sondern auch die Qual der eigenen
Seele zu verhöhnen und überlegen in ein bizarres Licht zu
rücken. Wir werden in einem spateren Abschnitt den Zusammen-
hang mit dem echten Humor sehen.
Anders tritt das Wideisinnige in einigen Humoresken auf,
die von den rein assoziativen, an sich sinnlosen Oedankenverisin**
düngen des Betrunkenen und des Opiumessers beherrscht werden.
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— Und dann spricht Poe wieder von denen, „die an den Traum
als an die duzige Wiiklichkeit glauben".'^) ~ Oder er zweifett:
bt denn, was wir sefan tuid adwueni
Nicht nur eines Traumes Traum?
Dieses Schwanken der ^PliUiddcdt^ dieses Entwuizd Wn in der
Existenz geht auf den «ttmonifldien Onmdtrieb zmiSxk, ja Ist
seine VoUcndung. Man erinnere steh an die Analyse des Ma&
betfa — ,J.eben ist nur ein wandelnd Schattenbild I^. — Die
Sinnlosigkeit ist zor Anardiie aller Vernunft gesteigert v6l-
Uges Chaos des Denlcens ist eingetreten. —
Vollkammenheit des F ü h 1 e n s ist Schönheit. Gegen sie
steht das Häßliche, das Groteske auf. In „König Pesf* z. B.
feiert es Orgien, kommt aber auffallenderv^eise bei Poe niemals
als Sexuell-Dämonisches vor. Er kennt nur die anbetende, rein
seeiisdie Liebe, ein Oq^enstück findet sich bei ihm nicht Seine
Franengestalten zittern in astraler Entrücktheit; sie blühen
trauernd auf und schwinden wie Blumen im Herbst Diese Dich-
tungen aind von einer vöUlranrnKnea Sdifinhcit edOUt» sie stehen
nicht auf der Erde^ etwas Oespenstisches ist um sie; Undei^ und
Städtenaraen, die hin und wieder auftauchen^ liaben nur die
dettfcmg von Myatifikationen. Und diese Schtefadt erinnert un-
mitAelbar an Dantes Vita nuova; das ist kein äußeriicher Zufall,
sondern tiefe Verwandtschaft; wie in wenigen Menschen leben ja
in Dante die Sciirecken der Hölle neben aller himmlischer Ver-
klärung — die Erde fehlt — Die ätherische Schönheit der
Frauen, die wir bei den englischen Präraffaeliten seilen, ist in
einigen Dichtungen Poes vorv^eggenommen; seine dämonisdie
Natur sucht alles, was ihr feiiit und was sie ersehnt, bei diesen
erträumten Wesen (denen seine schwindsüchtige Frau Virginia
als Vorinld gedieiU hat). Er kann nur das ganz VoUkonmiene
*y »Heurdtt".
Iii
lieben, fast körperlos, wie ein Geheimnis Gottes muß es über der
Menschenwelt schweben; so erscheint ihm die Frau. „Die Lei-
denschaft hat das Bestreben, die Seele mehr herabzuziehen als
zu erheben, die Liebe aber, der wahre göttliche Eros^ der sich
wohl von Venus unterscheidet, ist ihr Widerspiel und der reinste
imd würdigste alkr poetischen Gegenstände." Das s^gt Poe in
coger Anlefanmig an das platonasche OastmahL*)
Aber nicht nur die ganz unifxttsche Scfateheit seiner Fcauen-
gestalten,' ändi die SchMidt der Natur imd der Kunst hat Poe
gegen die Vefsadrang des Oiißlidien taSffMm, Der Zweck
aller Kunst liegt für ihn — mitldalterlidHhtalistisdil — ,,m der
Schöpfung der fibeiirdisdien Schönheit^.**) Poe gibt vollendet
schöne Landschaftsbilder, wie sie der Kunst seiner Zeit unbekannt
gewesen sind, die Ucbe zur exotischen Schönheit, die sich bei
einigen spateren Franzosen findet (besonders bei dem von Poe
besessenen Baudelaire), ist hier schon ganz ausgebildet. So wird
in „Ligda" (der Klang dieses Namens!) ein fünfeckiges Turm-
gemach voller Al)Sonderlichkeiteii beschriebai, in jeder Ecke steht
ein Sarkophag. Prosa-Dichtungen wie Eleonora, Morella, Ligeia
und manche der Verse haben in ihrer unendlich zarten und dabei
pliantastischen Poesie kaum ihresgleichen.
So stehen die Ocgensfttze ohne jeden Oheigang schroff
nebenebander. Poe ist so sehr dSmonisch zerrissen, daß er von
der Erde nichts weiß; er hat sehi Leben lang nicht satt zu essen
gehabt und hat sich niemals beklagt Denn sehie Oenialitftt emp-'
findet aOe Leiden wie eine geheimnisvolle und berechtigte StnÄe
seines Wesens, gegen die man nicht murren dail Er ahnt den
Himmel und kann doch der Hölle nicht entsagen. — Ein Mensch,
der sich seiner eigenen Dämonie bewußt ist, wird niemals Lehrer
oder Verkünder sein können, er wird sich rucht selbstgefällig an
die Brust schlagen — Seht mich an, wie icli kämpfe, wie groß
*> The poelic prindpleb Tbe po«tfe principle.
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119
ich Uni — Er biiqgt ancii kdne noMn Tafdn, auf denm Oe*
setze stehen, er ist von der eigenen Seele gebmni —
Wir werden spftter sehen, daß bd Dostojewski, der doch um
so vieles größer ist als Poe, das Ssifaetisdie Interesse für die
GegensatzgTuppe : schön — häßlich überhaupt nicht besteht, das
Üieoretische Interesse für Wahrheit — Lüge wohl da ist, aber
doch nicht diese Bedeutung gewinnt. Er ist ganz und gar ins
rem Menschliche, ins Ethische versenkt, hier schwingt er sich zu
Gott auf und stürzt in die Mölle. Bei Poe, dem von Grund aus
Dämonischen, ist nur die eine ethische Richtung vertreten, der
Wille zur Tugend und zur Selbstvollendung fehlt. Er steht mitten
im Bewußtsein des Dämonischen, das sich als Trieb zum Ver-
brechen äußert und ihn quält, während er nicht imstande ist,
etwas anderes als seine Gebilde reiner Schönheit dagegen anf-
zusteilen. Poe bat fiber die Versucfaung des Bösen, ifae imp of
the Perverse^ Aber dieses „pervefse Etwas» dieses nicht motivierte
Motiv^ (last die WorteKants!) beständig gegrübelt, undsddldert,
wie die Veisttchung gleich emem Schwhidcl Aber den Mensdicn
kommt mid nicht ruht, ehe das Widersinnige, Falsche^ Paradoxe
getan ist. „Für Menschen von gewisser Veranlagung wird dieser
Grund bei majichen Anlässen absolut unwiderstehlich. Ich bin
meines Lebens nicht gewisser als der Richtigkeit der Behauptung,
daß das Böse, das Sündhafte oder Schädliche in irgendeiner
Handlung oft jene unwiderstehliche Macht ist, die uns zwingt,
allein zwingt, sie zu begehen Und dieser zwecklose Han^, das
Böse um des Bösen willen zu tun, spottet jeder Analyse, jeder
Auflösung in ticierli^ende Elemente. Er ist ein radilcaler, pri-
märer, elementarer Beweggrund."*)
Poe ist über diese Dinge so Idar, wie nun fibeihaupt Idar
werden Icann. Dem weh zu tun, den man liebt, treibt dieser Oeist
des Perversen: Der Hdd In Morella möchte die Geliebte, an der
*) „Oer Geist des Bösen".
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120
sdn ganzes Wesen hängt, tot sehen, und in ,,Tell-Tale heart"
(Das verräterische Herz) heißt es: ,AVas der alte Mann (den der
Erzähler liebt, aber doch in langsamer Angst zu Tode martert)
empfand, wußte ich und bedauerte ihn» obwohl ich mich inner-
lich vor Wergo^^sen wand.'* ^ Der „Mann der Menge" ist die
genialste Intuitton dea Dinoniacben w id adiließt mit folgcndeni
Gedanken: „Dieser alte Mann ist die Veikörperung, ist da: Odst
des Vertmdiensw Er kann nicht allein aetn, er ist der Mann der
Menge. Es wiie vefgcbens» ihm noch weiter nachzugehen, denn
ich würde doch nichts von ihm, von seinen Taten eifaliren." —
Die Seele dieses Menschen ist nbnlich ansgefOscht. Er saugt sein
Leben aus dem wogenden Leben der menschenerfüllten Straßen,
die er ziellos durchirrt. Er hat kein Ich mehr, in ihm besteht
nur noch das Leben als unpet-söjiliclies dynamisches Phänomen.
Von ihm selber, der keinen Namen hat, kann nichts ^^esagt
werden, als daß er vor Furcht vergehen müßte, wäre er einmal
allein oder im Dunkeln. —
Poe erzählt folgendes: Der Geist des Perversen ist in einem
Mörder lebendig und zwingt ihn, sich selbst zu verraten und
seine unentdeckte Tat in die Welt zu schreien. Dies geschieht
nicht etwa aus einem Bedfiifnis nach Getechtigkeit und Sfihne; es
ist vielmehr die dSmoniscfae Vemichtungslust, die sich cndlidL
gegen sich selber wendet, der Taumel, der den Menschen reizt,
an einem Abgrund zu tanzen. Whr atehen hier vor der Paradoode^
daB der Odst des Bdsen aus UoBer Bq^ierde nach ZeiatßniQg
wie ehi sittliches Motiv wiifct, daB ein Veitirecfaen von dncm
anderen, der Untreue gegen sich selbst, übertrumpft und vor
seinen Richter gebracht wird, daß sich zwei negative Vorzeichen
zu einem positiven aufzuheben scheinen. Aber die Gesinnung
ist unveränderlich pervers, und sogar per\ers in der zweiten Po-
tenz. „Wem wäre es nicht hundertmal begecrnet, daß er sich auf
einer niedrigen und törichten Handlung überraschte, die er nur
121
deshalb beging, weil er wußte^ daß sie verboftea war? Haben
wir nicht beständig die Neigang, die Gesetze zu verletzen, weil
wir sie als solche aneitomen müssen?*' ~~ Das Letzte^ Unerldär*
liehe, das Böse nicht um eines Vorteils, sondern um seiner selbst
wüloi, ist hier fonmiliert Und dieser dämonische Mensdi zer-
stört ans solch efnem nihitisHschen Urtricb heraus sich sdber.
— Im Gegensatz dazu ist Raskolnikow der Obeldifferenzierte,
dem vor lauter seelischer Vielheit die Instinkte verloren gegangen
sind. Auch er spielt mit dem Oedanim, sich zu verraten und
wird von der Lockung des Abgrundes gepeinigt: er muß fort-
während mit dem Untersuchungsrichter diskutieren, steht aber
d(xh seinem Verstände zuni Trotz auf der Seite des Guten. Es
ist das Gute in üim, das ihn zur Sühne führt, nicht ein Perverses
höherer Art
3.
Wir Icommen nun zu einer wichtigen Schöpfung der dämo-
nischen Furcht, zur Gestalt des Doppelgängers. Der
Gedanke und die Furchig sich selber als ehiem anderen leibhaf-
tigen Menschen begegnen zu können, ist das geheime Grauen
dessen, der einen andereni einen zweiten in den Tiefen seiner
Sede fühlte der Sehl Ich zwiespaltig vraiB. Und diese Furcht kann
die Kraft einer Halluzination erreichen und den Doppelgänger er-
schaffen: das Bewuflisehi der hmeren Zerrissenheit hat sich in
die sichtbare Welt hinaus projiziert, das Ich ist definitiv zer-
spalten, in ein Gutes und ein Böses, ein Original und ein Zerr-
bild — aber es ist nn letzten unmöglich festzustellen, welclicr von
den beiden Menschen das wahre, das eigentliche Ich darstellt.
Der Doppelgänger ist der Mensch selbst und doch wieder ein
anderer, der sich ihm feindlich entfremdet hat, er ist das sichtbar
gewordene Symbol des inneren Dualismus und seines unabläs-
sigen Kampfes. Wenn ein Mensch nicht mehr die ICraft iiat,
seinen eigenen Zwiespalt zu ertragen, so kann sich wie dne Er-
i±2
Iflsmig der Gedanke und endlich die Halluzination des Doppel-
gingen einstellen: er ist eine Entlastung der Seele, die nun das
UnertfSgliche nicht mehr in der eigenen Tiefe ffiUdt, sondern aus
sich hecauflgesetzt hat, so daB es gewisaennaficn nicht mdir
unter ihrer Verantwortung sieht, ist es doch ein Mensch für sich
gewofden. Aber zum Enigdt ist die Angst; diesem Menschen
begegnen zu ItsÖnnen, unerttlgtich. Ich stehe vor dem Spiegel
und bedachte voller Unruhe diese Züge — bin ich es wkidich
selbst, nicht etwa ein gefaeimnisvoUer anderer? (Dann gibt es
wieder Augenblicke, wo ich seine Existenz einfach abstreitai
kann, wo ich erkenne, daß er nichts ist als das Erzeugnis meiner
eigenen Phantasie.) Der Doppel jo^änger ist das dämonische Sym-
bol der Unfreiheit, eine Schöpfung der Furcht vor sich selber,
ein Phänomen des Greiiztiienschen, der nicht tragisch, son-
dern pathologisch ist, und nicht vermag, seine Zerrissen-
heit produidiv zu machen und in eine Tat oder ein Weik zu
wandeln.
Poe hat diese scdisdie KonsteUatioa gekannt und immer
wieder gestaltet» am Uarsten und suggestivsten in der No-
velle »»William Wilson'*. Wilson I und Wilson II hSngen auf
anbegreifliche Weise vonehiander ab» keiner kann sidi vom
anderen lösen, sie gleichen einander und fOhren einen besOn-
digen heimlichen Kampf. Aber von alledem weiß niemand als die
beiden Beteiligten, die doch nicht darüber zu sprechen vv^agen.
Das in Wilson 11 verkörperte bessere Bewußtsein widersetzt
sich allen leidenschaftlichen Eigenmächtigkeiten des ersten, es
gibt leise Ratschläge zur Umkehr (Wilson II kann infolge eines
Fehlers nicht laut sprechen), die aber nur die Wut des eisten
anfachen. Wilson I schleicht einmal nachts zu Wilson II» um
ihm etwas Boshaftes anzutun — entsetzt flüchtet er vor dem
Schlafenden, in dem er sich selber zu erkennen glaubt. Er ver-
sinkt ganz ins Laster» doch im entMhddenden Augenblick tritt
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123
ihm der andere mit veililiUiem Oesicht entgegen und kreuzt seine
PISne. „Bis jetzt lurtle ich mich aeber angemaßten Hecnchaft
Uig unterwoifea." — Aber immer bewußter cntfattet alcfa der
Vertyredier in Wilson I, und Wilson II vertiert alle aehie Kraft
Iii einem wilden Zweikampf sticht Wilson I den andern nieder
— ein Spiegel fällt klirrend in Splitter. Und das bessere Ich sagt
sterbend: „Du hast gesi^ und ich bin unterlegen. Doch von
nun an bist auch du tot — tot für die Welt, den Himmel und
die Hoffnung ! In mir hast du gelebt, nun sieh an deinem eigenen
Bilde, wie du dich durch meinen l od gemordet hast." — Der
vollkonunene Verbrecher hat nichts Menschliches, nichts Persön-
Uches mehr, er iat zum Mann der Menge geworden.*)
Die Koazeg^aa des DoppdgSngeia^ des zerrissenea Mea*
achen in aemem pathologischen Extrem, iat das wichtigste^ man
kfiimte fast sagen, das ehizige große Motiv Poes. Er kann aich
nicht daran ersätHgen und bildet es hi den verBchiedenslen VaiiA-
tionen. Jede mögliche Verdoppelung des Menschenlelbes: der
Schatten am Boden, das Porträt an der Wand, das Bild im
Spiegel, wird ihm zum Doppelgänger. Das Bild im Spiegel
kommt dem Doppelgänger schon so n^ili, daß es kaum mehr von
ihm zu scheiden ist, aber die beiden Wesen sind doch noch nicht
ganz auseinandergetreten, das eine folgt noch sklavisch jedem
Wink des anderen — bis es einmal davongeht. Dann hat der
Mensch die Macht über sein zweites Ich (dessen sichtbares Sym-
bol das SpiegeibÜd ist) verloren und lugt angstvoll aus, ob er
ihm begegnen weide. — Zur v^den Verzerrung und Karilcatmr
wird der Doppelgänger, wenn ein anthropoider Affe zuerst mit
dem Raaiermeaaer hi der Hand die Bewegmigen semes Herrn
wiedelholt, aich aber dann vom Zwange der mechanischen
Nachahmung losreißt und zwei bestialische Morde verübt
*) Von dieser Novelle ist der berühmte Roman Oscar Wiides „Das
Bildnis Dorlan Grays" ein matter Abklatsch.
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Leise, aber vernehmlich klingt aus dem Untergrunde die Ahnung
von dem Triebwesen im Menschen, das sich der Leitung der
Vemnnft entzogen hat und seinen wilden Instinkten nachgeht.
So zei^ der Affe, das häßlichste Tier (weil es am Menschen ge-
messen werden kann), den Doppelgänger in seiner Karikatur.
Eine besondere Nuance der Doppelganger-Fuitht kann
duidi einen menschenüinlkfaen Automaten erweckt werden. Er
Ist der hooune machine, ein menschliches Wesen, das vollkoaunen
als MeduuiisnNis funkttoniert, das ohne Sedenkiien dassdbe
vollbringen kann wie ein Mensch (z. B. Schach spielen). Auch
die dem Doppelgänger komplementäre Vorstellung findet sich bei
Poe: daß nämlich zwei Menschen zu einem einzigen ver-
schmelzen (Mordla).*)
Poe ist vierzig Jahre alt, wahrscheinlich im Trinker-I>li-
rittn, gestorben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehreni
daß er den Selbstmord wollte, als er sich einem maßlosen Trinken
hingab, und er schreibt^ daß ihn ,,nur das Geffihl unertiSgÜcher
■*) Bei E. T. A. Hofftmann wird das Motiv des Doppelglngers einige
Male, besonders in den „Elixieren des Teufels", verwendet. Der Doppel«
ßänper heiSt hier ,,das Gespenst meines fchs" tmd ist in seiner ganzen
menschlichen Tiefe erfaßt. Aber es besteht ein sehr wesentlicher Unter-
schied: die Doppelgänger Hoffmanns vertreten immer nur die Lockung
des BSsen als etwas Fremden und treten so dem dfendlchen, dem wählen
Ich gegenüber, das sich niemals mit seinem Zerrbfld identifiziert, es viel«
mehr fürchtet Die Stellung ist also nicht, wie bei Poe, eigentlich dimo«
nisch. — Der Automat ist Hoffmanns Lieblinf^s Vorstellung. Er sagt z.B.
„Schon in früher jugend lief ich weinend davon, als man mich in ein
Wacbsficuren-Kabinet ffihrte, und noch kann Ich kein solches Kabinet be-
treten, ohne von einem unheimlichen grsuenhallen Gefühl ergriffen zu
werden." — Die lebhafte Phantasie blickt besorg umher, ob nicht irfjend
eine der Figuren die Verdoppelung eines Menschen, vielleicht eine kon-
servierte Leiche sei. — im „Sandmann" kommt ein künstliches Wesen
Olympia vor, das vom Helden geliebt wird; und auch In Goethes «Zudier'
IshrUnc* spukt der setbstftidlg fewordene Automat
125
Verlassenheit und die Furcht vor einem seltsamen, im voilitQeiil
bestimmtea Unheil zum Alkohol getrieben haben."*) —
Poe ist darum so lehneicfa, wdl ihm, wie Icaum einem an-
deren, das miittere MensdUidie völlig abgeht Seine p^ho-
logische Daistdlung ist mangdhaft, ja primitiv, ohne Obergaog
und Nuance^ aber gerade dadurch manchmal gro6. Er bemeiiEt
die wirklichen Menschen nicht und Idrt mit Phantasmen. Er ist
der Meister der Augenblid^Visifm, hat aber nicht die Oa]>e, ein
Kunstwerk aufzubauen oder einen Oedanken zu entfalten, im
♦) Es ist natürlich leicht und weder be! Poe noch bei Dostojewski
noch bei anderen ungewöhnlichen und genialen Menschen verabsäumt
worden, Symptome seelischer Erkrankungen zu finden. Je weniger Ver'
atindtds ienuuid für die Eigenart ehies Mensdien lut, desto Ireudiger
wird er ja alles das zu entdecken wissen, was Ihn vom normalen mittleren
Menschen unterscheidet und also (so lautet der heimliche Gedankengang
stets) pathologisch macht Die*ies oberflächliche Tun verschiebt die Frage
nach dem Wesen einer ungewöhnlichen Erscheinung in Begleitumstände
aller Art, und vergeblich scheint es, solchen Geistern klar zu machen,
dal die Epilepsie Dostofewskis nicht die Ursache seiner Sonderart Ist
— es soll Epileptiker geben, die keinen Raskolnikow schreiben — sondern
nur ein Merkmal unter anderen, das zu seiner Charakterisierung beitragen
kann. In barbarischer Absicht und nach einer Methode, die an den Gegen'
stand ganz willkürlich aus fremden Gebieten herangetragen wird, bemüht
man sich, ein elmnallffes PMbiomen — das Wertvollste, das die Welt
besitzt] — unter adlgemeine Regeln zu bringen, die vom Durchschnitt her«
genommen und dem Durchschnitt nn{^emes«?en sind. Wer aber Erschci-
nunfien wie l-'oe oder Dostojewski nur halb\vc.i3s erfaßt hat, wird diesem
simplen t^eginnen so gegenüberstehen, wie der Ffianzen-Physiologe dem
Bauern, der wdB, daS seine Frudit In schwarzer Erde besser gedeiht als
in grauer und damit alles durchschaut zu haben meint — Während die
ältere Schule der Psychiater \ onviegend auf Degeneration und Alkoholis-
mus schwört, ist jetzt ein Schema von Sexualität in Mode, in das Patien-
ten und Genies gleichmäßig hineingezwängt werden. Da der Untersuchende
durdi keinerlei psychologische Instinkte gehemmt zu werden pflegt (den
Erfinder des Schemas mdcfale ich hierbei ausnehmen), tritt das Ergebcils
Immer mit verblüffender Einfachheit zutage.
Der methodische Fehler, der al! diese Bemühungen wertlos macht,
ist allzu offenkundig: sollte wirklich jeder Knabe seine Mutter sexuell
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ersten Rausch der Empfängnis wirft er den Einfall aufs Papier,
Sein umfangreicher Roman „Die Abenteoer Oordon Pyms" ist
nichts als eine Folge von seltsamen Ereignissai, die ohne Zu-
sammenhang nebeneinanderstehen. Hier, wo es sich um die
seelische Geschichte eines Menschen handeln sollte, nicht um
einen einzelnen absonderlichen Fall, wird seine psychologische
Unzulänglichkeit besonders deutlich; und wie ihm selber, so
fehlt auch allen seinen Gestalten jede Entwicklung. Ilm inter-
essiert weder der seelische Zustand vor der Tat noch nachher:
nur die Tat selbst wird mit der Helligkeit eines Blitzes durch-
leuchtet Er ist von der Sekunde gd>leodet und kennt kein
Werden — denn Werden ist Obefgeben, ist Isngaame Vertnde-
rang, nicht Taumeln in Gegensitzen. Bd aller Verwandtschaft
im Orundrifi der Seele zeigen hier Poe und Dostojewski
docb die allei:gr56ten Oegcn^e: Dostojewski ist der wahre
P^chdoge, der sich im Zerfasern nicht genug tun kann und der
auch der Venuchunnf nicht widersteht, aUgemetne psychologische
Betrachtungen einzuschalten, die eben nicht zur künstlerischen
Vollendung seiner Romane beitragen. Ihm wird die seelische
Schilderung von Nebenfiguren während der Arbeit so wichtig,
daß er den Zusammenhang und ihre Bedeutung fürs Ganze ver-
begehrt und seinem Vater den Tod gewünscht haben .dann würden ge«
fade diese allgemein menschlichen Gewohnheiten ^um Verständnis außer-
ordentUcher Erscheinungen nicht das Geringste beitragen können. Denn
was bei allen gleichmäßig besteht — und das wird |a dogmatisch ge»
aiaiibt — das kam idtht ein Gran im Spezf alton erküren. Ebenso könnten
aus der Tatsache, daS auch der geniale Nensch tlglidi Ilt und trifdct;
lehrreiche Schlüsse auf sein Werk gezogen werden. —
Die Tendenz, am bedeutenden Menschen das zu finden, was ihm
mit dem Neurotiker gemein ist (wobei ein hämisches Lächeln der Über«
legenheit niemals fehlt), erscheint mir Überdies als ein sicheres Zeichen
vollkommener Kulturlosigkelt Denn das erste Erfordernis zur Kultur
ist doch wohl die Fähigkeit, Wertvolles zu spuren und Achtung davor
zu empfinden. Und (gerade die afs pathologisch (d. h. minderwertig) ,Er-
wiesenen" haben die kulturellen Güter hervorgebracht
127
giBt. Er hat alle Mtagd adner Oenialiiit Bei Poe giht es,
glaube ich, kdne einzige Nebenperson. Seine Novellen sind knapp
und eindringlich hingestellt, ohne Milieu, ohne Psychologie, ohne
soziale Beziehungen; das brutale, möglichst deutliche Gescliehen
ist alles. — Nicht nur wegen dieser Mäogei kaiin man Poe bei all
seiner hohen typisclien Bedeutung nicht einen Dichter ersten
Ranges nennen , noch mehr, weil er bis in die letzten Elemente
zerleget werden kann — was allerdings wieder seinen Wert für
eine Betrachtungsweise uie die uiisrige erhöht. —
Das Problem der Ich-Verdoppelung, das Poe romantisch
erfaßt, wird von Dostojewski in der Jugendnovelle „Der Dop-
pelgftnger" mit allen seinen psychologischen Tiefen dargestellt
Diese Erzählung ist der Schlüssel zum Veistiiidiiis Doatojew-
sUfl^ der „Natur mit zwd Atigifinden'*.
GoljÜkin ist dn Ueiner Beamter in Petenbmg, den von
Anfang an eine ganz tmeridliliclie Fnrdit bebenachi Belm Er*
wachen ist er nidii ganz aicher, ob er aidi m der Welt der Wiifc*
lidikeit befindet — oder? Doch er 8chid>t dieaen Oedanken
schnell beiseite und überzeugt sich ans verschiedenen Merk-
malen, daB es die richtige Welt ist Er ersduickt plötzlich und
fluchtet wieder in den Schlaf. Dann springt er ana dem Bette,
läuft zum Spiegel und besidit sich lange, wobei er sich einredet,
daß er um seine Gesundheit besorgt sei; in Wahrheit ist es aber
die ihm selber unbewußte Angst, er könnte über Naciit ein
anderer geworden sein Dann forscht er sorgfältig, ob er nicht
vielleicht belauert werde, zieht aus dem verborgensten Winkel
seines Schubfaches eine alte, unscheinbare Brieftasche hervor,
findet sein Geld wieder und zählt es langsam durch. — Vom
Schlaf erwacht, hat er sich zuerst überzeugen müssen, daß er
noch am Lel>en ist und sich nicht vei^wandelt hat, daß die Welt
noch so wie am Abend weiterbesteht, daß er noch sein Geld be-
sitzt Sodann redet er sich vor, daß sein Venndgen gar nicht
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so geringfügig, vielmehr zienilicli betrSdiiUch sei. Ohne daB
ein Wort darüber gesprochen würde, ist auf diesen ersten paar
Seiten die üeraütsanlage des Helden geschildert: er lebt in einer
unbestimmten Furcht, die er sich aber selber verhehlt und gegen
die er fort^vahrend Beruhigungen und Sicherheit sucht. Zum
erstenmal taucht die Ahnung einer Verdoppelung auf, wie Gol-
jädkin eine Menschen trifft, von dem er nicht erkannt werden
möchte. Da denkt er jäii: Könnte ich nicht lieber ein anderer sein,
der mir nur ähnlich sieht? Jawohl! Ich bin einfach nicht ich,
sondern ein ganz anderer! — Ooljädkin läßt dann ohne Orund
seinen Wagen umkehren, um den Arzt aufzusuchen und beruhigt
zu werden. Und plötzlich bricht der Gedanke hervor: Ich habe
viele Feinde! Ich werde verfolgt! — Dies ist nicht im geringsten
b^griindet; aber die geheime Furcht in ihm sucht nach allan
Möglichen in der Außenwelt, um sich eine Berechtigung zu
schaffen. Goljädldns Oedankengaog Ist: Ich fürchte mich, folg*
lidi muß mir ehie Gefahr dn^ien. Das ist aber palhdogiBch,
denn normalerweise mfiBte die Gefohr das eiste sehi und die
Furcht nach sich ziehen.
Ooljädkui gerät nun durch allerlei SonderiMiiieiten und
IDummheiten in eine beschämend peinliche Lage. Er mddite so*
gleich hl den Boden versinken und ninunt sich vor, noch diese
Nacht mit seinem Leben ein Ende zu machen. Er geht in Regen und
Schnee durch die nächtig menschenleeren Straßen und hat plötz-
lich das quälende üetülil, daß jemand dicht bei ihm sei. In diesen
Augenblicken der tiefsten Erniedrigung gelangt die Furcht ganz
zur Herrschaft über sein verworrenes Gemüt. „Was iianii man
wissen, wer es ist? Vielleicht ist auch er hier im Spiel? Ja viel-
leicht ist er sogar die Hauptperson und kommt mir jetzt nicht
zufallig entgegen, sondern in einer besonderen Absicht, um
memen Weg zu kreuzen und mich anzurempein? — Möglicher-
weise dachte Herr Ooljädkia dies auch nicht, sondern empfand
biyiiizoa by GoOglc
129
nur eine Seiainde lang etwas Ähnliches und äußerst Unange-
nehmes." — Der Mann nähert sich und Ooliädldn steht wie
erstarrt da, ihm wird ganz unerklärlich schreckhaft zumute. Der
Fronde verschwindet, kommt aber wieder, und nun ist Ooljädkin
gezwungen, ihm nacfazuhtufen, er rennt in den Menschen hinein
imd hat ihn erkannt Aber mn äDes hi der Wdt mficfaie er alch
die graiienhaHe Wahrheit nicht ehigeatehen, der er doch w-
fallen ist Schoo früher, hi dem Augenblidc, da er aehi Ich von
sich f orljgewfinacht hal^ da er gen ein anderer geworden win^
hat er sich innerlich geteilt; und nun ahnt er, daß er von diesem
fremden Menschen, seinem Doppelgänger, nicht mehr loskommen
wird. „Er glich in diesem Augenblick einem Menschen, der am
Rand eines Abgrundes steht, unmittelbar vor dem Absturz, der
den Boden schon unter sich wanken fühlt und im nächsten
Augenblick in die Tiefe stürzen wird: einon, der alles dies weiß
und selbst sieht und der doch nicht die Kraft hat und auch nicht
die Oeisteagcgenwart, auf den noch feststehenden Boden zurück-
ztifl|»ingen, und nicht die Willen^istärke, den Blick von der gäh-
nenden Tiefe abzuwenden; die Tiefe zieht ihn vielmehr an, zieht
ihn und läfit ihn nicht loe^ und so springt er denn achlieBlich bei-
nahe selbst hinab, Ilur tui den unveimeidlichen Unteisanff zu
beschleunigen.*
Das verwirrende mid beschämende Erlebnis von frfiher hat
in OolJSdUtt den Wunsch erweckt, daB er als der, der er ist, ver>
niditet werde und sich in efaien anderen verwanddn möge. Nun
bemächtigt sich die Furcht seines ohnehin schon gelockerten
Geistes und macht sich dessen Inhalte dienstbar, ralft aus dem
Vorstellungsleben die mit dem Ich eng zusammenhängenden
Komplexe zusammen — und gestaltet das Schreckgespenst des
Doppelgängers aus. Sehr deutlich können wir hier die innere
Struktur und Logik all dieser seelischen Vorgänge — die dämo-
nische Furcht — studieren. Goljädkin weiß, daß ihm etwas £nt-
130
aetzliduB zustoBea mu6, aber er kann doch von dem «nbckaDnln
Manne nidit laaaen und bedlt ncfa, ihn wiederzofindaip denn er
ist bereito in zwei Teile zenriaeen nnd vennagr mdir für
sich allein zu leben (obgleich er bei jeder Gelegenheit betont,
daß er ,,ein Mensch für sich allein" sei). Der Unbekannte geht
in Ooljädkins Wohnung und setzt sich aufs Bett — Goljädkin
neben ihn — und sie schauen sich ins Auge
Am nächsten Morgen hat die Furcht wieder in mehr nor-
male Bahnen dngfelenkt, üoljädivin ist ausgeruht und halluziniert
nicht. Er schiebt wieder alles Böse auf die Verfolgungen der
eingebildeten Feinde und deutet das Schweigen seines Dieners
als Einverständnis mit ihnen. „Schliefilicb Jiat ja Herr Goljädkin
schon längst gewußt, daß sich etwas gegen Üm voibereitet, daß
noch chm anderes dahintersteckt" Etwas anderes steckt da-
hinter — die Furcht kann sich unmöglich damit zufrieden gdien,
daß man Feinde bai^ die einem ttachatellen — das ließe sich ja
durchschauen t — sie ahnt etwas GdtehmUsvollca^ Unbdonntes.
Und dieses Oduimnisvolle ist der Riß in der eigenen Seele^ die
Möglichkeit; sein eigenes Ich leibhaftig anzuschauen. Es siellt
sich heraus, daß der andere Ooljädkhi im adben Amt beschtftigt
ist wie er selbst und nun beginnt ein sonderbares Spiel, das
schattenhaft zwischen Wirklichkeit und Phantasie schwankt und
das mit voller Absicht nie ^anz klar wird. Bald schheßen die
beiden Freundschaft fürs Leben, bald sidit sich der Wahre vom
Falschen verhöhnt und aus seiner Stellung verdrängt. Goljädkm
hat als kleiner Beamter immer ängstlich auf Anstand und Ehr-
barkeit gehalten. Sein Doppelgänger aber macht die geheimen
und stets unterdrückten Wünsche seiner Seele wahr: er schmei-
didi sich überall ein, wird bewundert und anerkannt; dann sitzt
er wieder m öffentlichen Lokalen herum und bringt den wahren
OoljUidn hl einen fibkn Ruf. Das Veihiltnis des Helden zu
9ääm Abbild ist bald feindselig oder kriecherisch untefwuffig,
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131
bald wieder sentimental und liebevoll. Der Doppelgänger bringt
dne unaqgaicliiiie alte Geschichte unter die Leute (wcoigpteos
bfldet rieh» der Ridrtige da), die QoijMtin ünggt \ugtWMu
glaubt hat Er rettet sich in den Oedantai: bin ehtfich nicht
icfa und das ist alfes."
Das Spiel und Gegenspiel der beiden ist mit der pefcho-
logiscfacn Intuition Dostojewskis^ vor der Shaicespeare da Lduv
Hog ist, durchgeführt OdjSdkin wiU immer wieder zu der
höduten Autoritftt fl&diten, die seine Beamtensede tamt, zu
dem Leiter seiner Abteilung, einer Erzeilenz, um sich vor ihr als
der eigentlich maßgebenden Instanz zu rechtfertigen. Er muß
doch endlich beweisen, daß er ein dlrlicher Mensch ist, gegen
den schreckliche Intrigen gesponnen werden; denn Goljädkin ist
dne durchaus inferiore Natur und kommt über seinen Beamten-
horizont niemals hinaus. Dies ist viel eigenartiger als wäre der
Held eine große und von Anfang an dämonische Erscheinung;
in der Kleinbürgerlichkeit wirkt das Objektiv-Dämonische mit
dem von Dostojewski oft angeschlagenen und meisterhaft be-
herrschten Ton des Groteslien» d. ii. dea Komiadiea in dlmo-
nischo: Perspektive.
Nachdem Goljädkin alle Qualen der Angst erduldd hat und
immer wfarrer gewcmlen ist, soU er rieh schließlich mit seinem
Ebenbild vereOhncn. Sie treten zueinander und küssen sldi -~
„Aber in den miedlen Ocridit ftom OdJ&dkiiia da Jfingerai
taudtte etwas Böses auf — die Grimaaae des jMdadmsaffs>" —
So besteht schon am Schluß dieser frühen Axbdt die Ahnung,
was der Doppelgänger im Ticbten iri — der Teufet Judas
ist der Verritter am OötOichen, das Teuflisdie im Menschen, das
sich gegen Christus auflehnt
Wenn ich dieses nicht recht anerkannte Meisterwerk so ein-
gehend zerlegt habe, so geschah es, um die Psychologie der dä-
monischen Furcht und das Entstehen der Doppeigänger-Phao-
9*
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132
tasie aii einem noch nicht allzu komplizierten Beispiel zu zHgen;
denn die späteren Werke Dostojewskis sind nicht mehr so ein-
fach gebaut, die Motive kreuzen sich iortwäilrend und können
nicht so klar durchschaut werden.
Der im „Doppelgänger'' festgelegte seelische Dualismus, der
metaphysisch empfunden wird, hat sich im Laufe von Dosto-
jewskis Leben zum absoluten, zum unnenschlichen Dualismus
entfaltet: nicht mehr die beiden Extreme eines einzelnen Men-
schen stehen sich gegenüber, sondern die ganze Menschheit ist
In ihie Extanne zeifallen: In Christus mid In seinen Doppel-
gänger, den Teufel. Wie der penflnlidie Doppelgänger der leib>
faaftig gewordene Zwiespalt des einzelnen Ist, so Ist der
Teufel der Doppelgänger der hi sich zerrissenen
Menschheit, der Doppelgänger des als vollendete Mensch-
heit vorgestellten Christus. Die innere Zerrissenheit hat sich von
der Spaltung eines einzelnen Menschen in zwei Iche zur Spal-
tung der Menschheit in zwei Iche — in Christus und den Teufel
entfaltet
Der Teufel ist der sichtbar gewordene Haß gegen das
Oute^ gegen Gott — und die Furcht davor.
Mensch, könntest du in dir das Ungeziefer schauen,
Es wGrde dir vor dür als vor dem Teuld grauen!
sagt Angelus Silesius. Und so wie der Affe als der Doppelgänger
des Menschen empfunden werden kann, so ist der Teufel der
„Affe Oottes** genannt worden.*)
Man versteht die seltsame Dichtung Iwan KaramasoSs erat,
wenn man begriffen hat, daß der OroB-Inquisitor der
Teufd Ist Der Teufel ist das wahre und einzige Problem des
völlig dämonischen Iwan; bevor er wahnsinnig wird, erscheint
ihm der Teufel nodi einmal ohne jede besondere Vorsichtsmaß-
Von Justinus Martyr und Tertullian. (ISach Roskoff, Die GescMcht»
des Teufels» 1S69. 1,224). Ähnliches sagt Luther.
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133
xcgd und bdcamt «ch zynJadi als aeinai Doppdgingfer. Es ist
die clgmtlidi geniale Idee im „ÖroB-lnqiiisifoc'*: der Teitiel ist
80 seiir der Doppelgänger ChiM, daß er vom gamsen Volk fOr
ihn genommen wird, dafi sein Wort als das Wort Christi gilt
Und es entspinnt sich das Gespräch, das in der Dichtung der
Welt nicht mehr seinesgleichen hat. Der Groß-Inquisitor ist ein
uralter ehrfurchtgebietender Mann, aus dessen Munde nichts
kommen kann als che reine Lehre Christi; er ist das böse Prinzip
in seiner höchsten, rein geistigen Entfaltung, unmittelbar der
Vertreter des römischen Papstes und mittelbar der Wortführer
des gesamten Katholizismus, der für Dostojewski die eigentUch
widerreligiöse Macht repräsentiert Der Antichrist muß aich ala
Doppelgänger des Christs derselben Gedanken und sogar der-
selben Worte bedienen, die dieser in die Welt gebracht hat, denn
er vermag (ebenso wie aiAter der Teufel Iwana) aelber nichta zu
achaffen, er schmarotzt ala richtiger Doppeigfloger am andern.
Der Orofi-Inquiattor beruft aich darauf, daB Chiiatus zu
etoer beatiiamteii Zdt in der Welt etscblenen ist und ihr aeine
Lehre hhifterlaaaen liat: damit lat aeine unmittelbare penönlldie
Wiilnmg zu Ende — „Du haat ja nicht einmal mehr daa Redit,
noch etwas zn dem hinzuzufügen, was von dir schon früher
gesagt worden ist. Warum also bist du gekommen, um uns zu
stören?** — Der Oroß-Inquisitor durciiscliaut vollständig: das
Gute und das Böse und ist der entschlossene Vertreter des bösen
Prinzips. Zum Bösen wird aber (in Übereinstimmung mit der
deutschen Mystik) das Historische, das Einmalige, wenn es den
Anspructi erhebt, das Ewige zu sein — im Gegensatz zum
unmittelbar lebendigen Gottesbewußtsein. Der Groß-Inquisitor
sagt Chnatua ina Geeicht^ daB er ihn ün Namen der Religion ala
Ketzer verbiennen lasaen werde — denn die Religion, die zur
Kirche geworden Is^ die auf der Anbetung vetgangener Tat-
Sachen benäht; muB die ReQgioii der „Oleichzdtigleit» OMob-
134
gfaard) als Ketzerei empfind^i und hat sie jederzeit so empfunden.
Käme Christus leibhaftig wieder, so würde er ein neues, unmittel-
bares religiöses Erlebnis bringen — und das darf nicht ge*
achdiai. „Du hast den Mensdien damals die Freiheit gegebeo»
aber mit der Freiheit können sie nicht gluddidi sdn.'* Und mm
enthüllt sich der Teufel als Anwalt des mmachlidifn Olfickes
gcsea die meoaddkfie Freibeit: Für die Umnfindigen will er die
Oüter der Seele in Verwittong nehmen, am ihnen das Leben zn
erleichtenL „Der fmtfaibare vaad Uuge Oeist, der Oeist der
Sdbstvemicfatung und des Nichtseins^ hat Chrish» bd sehiem
enien EiadKiiien in Vemicfaung geführt mid er hat ihn gewarnt
^ gewissermaßen als Freund der Menschen, der ihr Glück
will, das heißt ihre irdische Vollkomnieiiheit, aber nicht ihre
Freiheit, ihre ewige Vollkommenheit. Denn „für den Men-
schen und die menschliche Gemeinschaft liat es niemals und nir-
gends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit!" —
Christus aber hat es vorgezogen, die Freiheit — die göttliche
innere Stimme — zu lehren, anstatt Knechte aus ihnen zu
machen, die sich satt essen. Auf diese aste Versuchung hat er
geantwortet: Der Mensch lebt nicht von Brot allein. — Wie
grausam! — S&thge sie zueist — dann verlange von ihnen
Gr&fie der Sedel Du hast sie an die Fidhcit venaten, da sie
doch mnfa Brot adireienl HSHest da damals die Sterne in Brot
gcwanddt für alle Zeit, anstatt auf irdisches Brot zu verzichten
— du hättest die Menschen erlöst ! — Der Teufel ist der Anwalt
der Himgemden, der Bdadenen gegen Chiistns.
Ihren Hunger werden w i r stillen, und zwar in deinem
Namen 1 spricht der Groß-lnquisitor im Neimen des Bösen.
Denn der Teufel gönnt den Menschen ihr Brot und ihre Freude
— niu: ihre Göttlichkeit nicht t Und der Groß-lnquisitor weiß,
daß die Menschen kommen werden und flehen: Gebt uns Brot
und wir wollen euch gerne iolgeal — Sie können ja gar nicht
135
frei adn, sind sie doch kraftlos und niedrig 1 Mit deinan Oe-
acbenlc der Fieilieit hast du den Meaadiea zum unt^fidJiditteii
Oescfadpf auf Erden giemaditl Du hast ilim tiimniliachcs Bro^
FreUieit vom Schichaal venprochen — aber ich fngt dich: Ifann
sich himmliwiie» Brot mit irdischem Brot messen? — Der Teufel
ist Ja der Fremid der Menschen» nur der Fehid Gottes — auch
Gottes im Mensdien. „Du denkst nur an die Stanken» die HerD*
ischen, die mit der Kraft t>egabt sind, dem irdischen Brot zu ent-
sagen. Uns aber sind auch die Schwachen teuer!" — Mit hoher
Weisheit wird hier das Bedürftige im Menschen und sein Gött-
liches auseinandergelegt. „Wir aber — die Söhne der Hölle, die
Priester Roms — wir nehmen die unerträgliche Last der Freiheit
von ihnen und laden sie uns selber auf in deinem Namen und
aus Mitleid mit ihnen."
,,Und noch etwas Anderes, Schrecitiicheres hast du gelehrt:
daß die Freiheit der Schatz jeder einzelnen Menschenseele sei,
nicht Götze einer Gemeinschaft, einer Kirche, daß man zu itir
nicht beten kann wie zu einem Bilde. Die Menschen aber wollen
gemeinsam anbeten. Eist in der Gemeinsiimkcit glauben sie wirk-
lich, haben sie Vertrauen, daß es das Rechte sei, daß sie sich
nicht täuschen. ,,Und also wird es sein bis ans Ende der Wdtl*'
Wieder ist der Teufel der Retter der Menschheit — nicht nur
leben wollen die Menschen, auch emen Shm ihres Lebens
brauchen sie! Eher wird sich der Mensch vernichten, als
daß er m der Fülle der Nahrung Idyt, wenn er nicht etwas hat,
daran er zu glauben vermag, fOr das er lebt Und was hast du
getan, um ihnen das zu geben, hast du ehie Antwort gebracht an!
ihre quälende Frage: Was soUen wir anbeten? — Didi sdbst
hättest du zur Anbetung aufstellen müssen 1 — Und du hast das
Geii^enteil getan, du hast sie die Göttlichkeit ihrer Seele gelehrt!
Weißt du denn nicht, daß ihnen selbst der Tod erträglicher ist
als der freie Wille, die Verantwortung, die Erkenntnis des Guten
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m
und des Bösen? Verstehst du denn nicht, was es für die Men-
schen heißt, in der fcwigkeit zu stehen und frei zu wählen ? Das
heißt ewige Qual — die wahre Freiheit ist für die Menschen die
wahre Hölle! Und anstatt eines Benihigeaden, Sichacn hast du
ihnen das Ruheloseste, das Rätselhaftesie gegd>en — und du
sagst, daß du die Menschen gdiebt hast? Ich veralehe sie und
ich liebe sie^ ich, der Ofoß-Inquisitor, der Teufd — • debi Dop-
pdgSnger! Wir haben ihnen eme Kirche gebaut und mancheild
ztt sehen und zu hdren hineingestdlt^ wir haben ihnen emen
festen Glauben, eme Autoritfit gegeben! Ihre Freiheit liaben wir
auf uns genommen und sie können wieder atmen, sie können
ruhig schlafen und an das Gluck glauben, denn sie wissen jetzt,
daß alles wohlgeordnet ist und daß sie nicht um Dinge sorgen
müssen, denen sie doch nicht gewachsen sind!
Und endlich bist du versucht worden, dn Wunder zu tun,
und du hast widerstanden, denn dein Glaube ist so stark g!e-
wesen, daß er kein Wunder gebraucht hat! Du hast gewilBt»
daß der zum Sklaven wird, der ein Wunder braucht, um zu
glauben, und dafi er Oott in diesem Augenblick auch sdioa ver-
loren hat Die Menschen aber können nur glauben wo sie
Wunder sehen! Ich, ich gebe ihnen das Wunder! Sie brauchen
kerne Freiheit; sie brauchen das Wunder, damit sie etwas Sicheres
haben ffir ihre Angst vor dem Zweild! Du hast kehie liebe
und kein Mitleid mit den Menschen gehabt, denn du hast sie
gelehrt, Autontät und Wunder verachten und an den Gott in
ihrer Seele glauben! Verstehst du das? Hättest du die Menschen
wahrhaft geliebt, so hättest du ihnen Gutes getan, ihnen ge-
holfen, nicht ihnen Aufgaben gestellt! — Ich will sie vor dir
retten, ich habe Mitleid mit ihnen — und ich habe alle ihre
Lasten und ihre Zweifel auf mich genoouneai'^)
♦) Hier wSr« auf dnen sehr wichtigen Zasetmnenhang hhizuweisen,
der noch kaum erkannt wofdea ist» aber, wie Ich glaube, einmal Bedeutung
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137
Und der Freund der Bdadenen fragt die ewige Idee der
Menadiheii: Wdcfaeft Recht hattest du, nur die OroBen, Heror
Jachen eriöaen zu wollen? Sind nidit auch die anderen da, die
Schwachen — gerade ihnen muB man helfen! Ist es die Sdiuld
eines schwachen Menschen, daß er nicht göttlich sein kann?
Sag' selbst: Wer hat die Menschen mehr gehebt — du oder wir?
Du hast ihnen Aufgaben gestellt, unter denen sie zusammen-
brechen müssen — wir aber haben liebevoll ihre Bürde erleichtert
und sogar ihre Sünden von ihnen genommen, in uns genommen.
Und der Groß-Inquisitor veikündet sein Geheimnis, das er
bia zum neunzigsten Jahre verborgen hat; nun aber fühlt er aich
eifcannt: „So höre dennl Wir sind nicht mit du:, sondern mit
ihml"
Und er apricht weiter als der wahre DoppdgSnger, der
flicht mehr Versucher sein kann: Hättest du Krone und Schwert
genommen, so hätten sich dir alle freudig unterwoffenl In einer
erlangen wird: die Position Christ — Antichrist, die Dostojewski so tief-
sinnig ver;^tandtn Lmd darf^estellt hat, ist von Nietzsche in den Mittel-
punkt gerückt, aber vollkommen umgedreht und verflacht worden: was
DostofewsU als das Wesen des Antichrists in seiner Stellung gegen
Christus eilauint hat — das mitieldige Herz für die Schwadien, die eine
Stutze brauchen, um leben zu können — das hält Nietzsche für christ-
lich; und dvis Heroische, der von Dostojewski mit genialer Intuition er-
faßte Sinn des Christentumes, soll durchaus antichristlich und heidnisch
sein. Zwei Elemente sctieinen Nietzsche getrieben zu haben, die Tatsachen
so auf den Kopf zu stdien: sein aufterordentlidies Bedfiifiiis nach Gröie
und Heldentum, sein Ringen um den wahren Glauben, der an die Refor»
matoren erinnert; und ein leidenschaftlich blinder Selbsthaß, der das so
tief und hxichtbar in ihm verwurzelte christliche Bewußtsein aus seiner
Seele reiSen und aller historischen Umsicht zum Trotz umdeuten will.
Man irtrd sich einmal darfiber Uar werden, daS Nletzsdies Obermensch
dn mehrtidi verdünnter AufguS des dosto|ewsldsciien Christus ist —
Mit seiner primitiven und äufierlichen (im Sinne Dostojewskis den t^tho*
Uzismus treffenden) Deutung des Christentums hängt es auch zweifellos
zusammen, dafi Nietzsche auf die Freigeister katholischer Länder und auf
die Juden am stärksten gewirkt hat
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einzigen Hand wäre die Herrschaft über die Leiber und über die
Seelen vereint gewesen und das Reich des ewigen Friedens wäre
angebrochen ! — Du hast es versäumt — wir aber haben es nach-
geholt! Wir haben die Weltherrschaft aufgerichtet, in unserer
Hand ist Brot für den Ldb und Gnade für die Seelei So haben
wir die Menschen vor der Veizweifinng bewahrt!
Und der böae Oeist fragt: Was sollen sie mit deiner Frei-
heit anfangen? Um Gedanken werden sich inuner mehr vcr-
wirren, das Denken wird über das Denken denken, sie werden
ericennen, daß die Freiheit ihres Denkens zu Winsal und Wahn-
sinn fuhrt, und sie werden nach Ruhe schreien. Jedes Dogma
werden sie willig und dankbar aus unseren Händen nehmen!
Sie werden sich selber töten ia der Verzweiflung ihrer Freiheit
— Ah. ihrer Ratlosigkeit und Verlorenheit I — Und wir geben
ihnen das wahre Glück — Sicherheit, Unterwerfung unter das
Unwandelbare, Frieden unter einer einzigen Herrschaft, unter
unserer Herrschaft ! Und wir enttäuschen sie nicht! Du aber —
du hast ihnen ewigen Unfrieden gebracht, du hast sie stolz
gemacht und sie gelehrt, auf sich selbst vertrauen — wie töricht!
Unter unserer Herrschaft werden die A4enschen das Glück finden,
ja wir werden ihnen sogar erlauben, ein wenig zu sündigen, und
ihnen endlich das CilQck der Verzeihung schenken.
Alle werden glücklich sein — nur wir nicht, die über sie
iierrachen, die alle ihre Sünden tragen und alle ihre Verantwor-
tung auf uns genommen haben! Verurteile mich, wenn du es
wagst! Bist du nicht der große Menschenfreund? Aber dehie
Rettung ist fefalg^angen und wir sind gekommen, um dein
Weck zu vecbcsaem. Wir ahid die Eriaaer der Menschheit! Und
jetzt — was willst dn noch hier? Willst du vielleicht abermals
Wahnsinn und Verzweiflung unter die Menschen sSen» willst du
sie wieder diese Freiheit lefaren, die sie nicht verstehen können
und nicht ertragen und die sie unglikldich macht? Du bist der
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Verdate der Mcnscfacn — und ich bin ibr Fieimdl Idi wade
didi tnofgcn veibfcoiiai lassen! —
Dieses Oesprftch — in dem Christas nichts erwidert, sondern
nur endlich seinen Widenadier küßt — enthüllt die abgründige
Zerrissenheit Dostojewskis, seine Udie zum Menschen und seine
ungeheure Verachtung der Menschen. Dostojewski spricht ein-
mal davon, dsB auch nicht ehiem seuier Gegner „eine solche
Kraft der Verneinung getfflnmt hat» wie idi sie duidigemacht
habe''. — „Wenn ich an Gott glaube, so tue ich es doch nicht
wie ein Dummkopf (wie ein Fanatiker). Diese da wollen mich
beldiren und lachen über meine Beschränktheit! Ihre dumme
Kreatur hat sich ja nicht einmal von einer solchen Gewalt der
Verneinung träumen lassen wie ich sie durchgemacht habe. Und
sie wollen mich unterrichten!"*)
Die Dichtung Iwans (der durchaus kein Dichter ist) von
(Christus und dem Teufel in Gestalt des Oroß-lnqmsitors hat so
sehr sein Tiefstes ausgesprochen, daß sich nun eine ähnliche
Situation halluzinatorisch bei ihm wiederholt. Iwan Karamas(^,
der Zerrissenste von allen Menschen Dostojewskis, konunt sp&t
abend nach Hause und ein unheimlicher Herr tritt ein. Er er*
zählt Iwan Dinge^ die dieser doch selbst einmal ersonnen, aber
wieder vergessen hat, und eridirt dies damit, daß er noch unbe-
wußte Regungen O^efanliche Wflnsche) verkörpere und aus-
spreche. Dostojewski hat hier das Wesen des Doppelgängers
und seine Identittt ndt dem Teufel voUkommen Uar erkannt» die
Situation ist schon m der Jiigendnovelle angelegt und isi die
glodie wie un „OroB-Inquisttor^, nur weniger groBartig, mehr
grotesk. Anch dieser Teidd liebt die Menschen — „O, nun hat
mich in viden Dfaigen unghuiblich verleumdet!" Der Doppd-
gSnger erzahlt Iwan, daß sich auch drüben in der anderen Wdt
alles wie in der Menschenwelt ändere — „was bei euch ist, ist
Sämüiche Werke« 2. Abt, 12. ßd, S. 356.
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auch bei uns". Selbst die Höllenstraien haben sich entsprechend
der allgememeii Milderung der Sitten gewandelt, sie sind mehr
ins Geistige verlegt worden. (Nebenbei : hier setzt der Teufel die
Theorie von der ewigen Wiederltunft der Welten auseinander, die
also nicht von Nietzsche, sondern von Dostojewski herrührt.)
Die Welt des Teufels ist so die Doppelgängerwelt des Meoscbea
— und es stellt sich heraus, daß Iwan selbst alles das, was ihm
der Teitfd vom Jenseiis erzählt, in seiner Jugend ausgedacht hatl
Iwan ist ein so dämonischer Mensch, daß der von ihm hallu-
zinierte Teufel Sehnsudit nach dem Önifbareii, dem Iidiscfaeny
dem Dummen hat Der Teufel, der selbst remer Ceist ist; haSt
und veradiiet den Oeist Er fieibt den irdiscfaen Raum ^ »»Hier
gibt es Foimen, gibt es Geometrie — und zudem wente itk auf
Eiden abeiigläubisch''. — Die höchste Schn^irmerei dieses
Tenfds ist, sidi in einer sieben Pud schweren Kanhnannsfrau zu
verkörpern und alles zu glauben, was sie glaubt, in die Kirdie
zu gehen und einem Heiligen reinen Herzens ein Licht aufzu-
stellen. F r hat sich gegen die Pocken impfen lassen und bekommt
Rheumatismus, was ihn sehr freut. Man versteht die tiefsinnige
Ironie: ein völlig dämonischer Arensch wie Iwan könnte nur in
dem Allem ivialsten Rettunij vor sich selber finden. Denn sonst
ist er allein mit seinem Doppelgänger, mit dem Teufel.
Iwan, der scharfsinnige Skeptiker, weigert sich, den Teufel
als et\vas Wirkliches anzuerkennen, und streitet mit ihm. „Du
bist meine Halluzination, du bist die Verkörperung meines Ich,
tibrigens doch nur eines Teiles meines Ich, meiner Gedanken und
Gefühle, aber nur der niedrigsten und dümmsten. Keinen Augen-
blick akzeptiere ich dich als reale Wahrheit! Lüge bist du, meine
Krankheit bist du — nur weiß ich nicht, womit ich dich ver-
nidden köaalbtV* — Und nun entwidcdt sich ein Oes|iiSch, ob
der Oast wiridich da ist oder nichts ob Iwan wiildich an seine
Eiisteaz glaubt, was der andere (scbeinbarl) sdir gern mödite
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(denn er ist so wdt wirklich, als er für wirklich gehalten wird)
tmd was er zu beweisen untemimmt „Oibst du mir einen Fuß*
tritt» 80 wflide mich das fceuen. Denn mein Zweck ist dann
tmUM, du glaubst an meine Realitti^ — Aber Iwan: „Da bist
idiy Icli selbst^ nur mit einer andemi Fratze. Du spricbst genau
das^ was Ich adion bd mir denke. Da bist iibeifiaupt nicht
hnstsnde^ mir etwas Neues zu sqgenl" — „Oerade die Heftig-
keit, mit der du mich ablehnst sagt mir, dafi du trotzdem an mich
glaubst!^ — Iwan leugnet es — aber in Wahrheit wimscht er
heimlich, an den Teufel zu glauben, ihn für ein recht greifbares,
wahrhaft spukendes Wesen halten zu können — wie lierrlich,
ihm ein Tintenfaß an den Kopf zu werfen! — Das Schwanken
zwischen Glauben und Nichtglaubeii ist die höchste Qual, deren
Iwan fähig ist, die höchste geistige dämonische Qua! überhaupt
— die Ungewißheit über sich selbst, über alles das, was die eigene
Seele bergen mag. — Dostojewski hat sie genau gekannt
(vergleiche die früher angeführte Tagebuchstelle). Und der
Teofd weiß das, er im Gründe selbst gar keinen Wert darauf
von Iwan für wirklich genommen za werden: „Ich lenke
dich jetzt zwischen Glauben and Unglauben wechsdnd hin und
her und verfolge dabei natiirlidi meinen besonderen Zweck."
Die kleinste Gewißheit wSre ja Erlösung fOr Iwan — die soll er
nicht bekommen! Und Iwan wirft ihm die Frage entgegen, die
ihn seit jdier gemartert hat, er spricht den Zweifel aller sdner
Zweifel aus: Ob Gott ist? (Man erinnere sich bei dieser Stelle
an seine iirzählung von den sinnlosen Leiden, die manche Kinder
erdulden müssen und die ihm mit der Existenz Gottes unverträu:-
lich scheinen.) Der Teufel aber tut das Ärgste: er lächelt — „ich
weiß es nicht!" — Und Iwan sehnt sich jetzt inbrünstig, daß
wenigstens der Teufel sei. „Ich wünschte, daß er wirklich er
wäre und nicht ich!" — Auch das wäre eine Gewißheit! — Das
£>enken über das Denken — das Zweifeln! — , von dem der Oroß-
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142
Inquisitor gesprochen hat, beschließt seinen Zirkd — der um
die ewigen Wahrheiten gerungen hat, vedällt dem Wahnsinn wie
der kleine Beamte OoljädJdn — sie haben beide den Teufel
geschaut
Mit Iwan Karamasoff ist die äußerste dämonische Möglich-
keit des rein geistigen Grenzmenscheii erreicht. In der
Teufels-Erscheinung und im Groß-lnquisitor haben sich seine
beiden (scheinbar entgegengesebcten, im Tiefeten aber iden-
tischen) Möglichkeiten enthuUt: der Zweifel als die inneie
Krafttoeigloät der Seele iind das Dogma» das ihn beadiwidi*
tigen 8oU. Beide entstammen dem Unvermögen zur schöpfe-
rischen Oewifihdt^ zur Freilieit; zum Olaitei an einen Sinn des
Daseinsw —
Neben Iwan dem Geistigen steht wie ein tkrlscher Doppel-
gSnger sein HaEbbmder Smerdjäkolf Stinkende^*). Iwan
beweist theoretisch, daß alles erlaubt sei, wQide aber als kraft-
loser Zweifler nie etwas Unerlaubtes ins Werk setzen. Der Lakai
Smerdjäkoff nimmt alle seine Gedanken auf und versteht sie —
genau wie der Teufel! — in seiner Weise. Er führt den Mord
am Vater, den heimlichen Gedanken Iwans, wirklich aus. Die
moralische Verantwortung^slosigkeit, die Iwan theoretisch ver-
tiitty ist bd ihm zum völligen Verbrechertum geworden.
4.
Bevor wir in das Reich Dostojewskis weiter eindringeOf
maß noch einiges fiber die Psycliologie des Ver-
brechers nnd sein VeihSltnis zmn dämonischen Menschen
gesagt 'werden. Für den Psychol<^gen ist natfiriidi noch kein
Verbrecher, wer mit dem Strafgesetz in Konflikt geiit Mancher
win sich Vorteile verschaBen nnd nimmt es dabei mit Ehrlidikcit
nnd Treue nicht allza genau ; er ist wohl nachsichtig und schwach
gegen sich selbst, steht aber durchaus nicht auf der Seite des
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143
bösen Willens, sondern drückt nur hin und wieder ein Auge zu,
will sich selber mit Auiregung oder Betnmkenheit tauschen —
kurz er tut, was er vor seinem klaren Bewußtsein zu vertreten
nicht den Mut hat. Oft genug- versäumt er auch nur, bei den so
komplizierten T ragen von Mein und Dein den Faktor des Straf-
g-esetzes mit in Rechnung zu ziehen — wodurch er sich zu
seinem Schaden von dem klügeren Spekulanten unterscheidet
Psqfchologisch ist der Verbrecher derjenige, der sich seinen
InaHnktm nach Lust und Herrschaft hingibt, ohne auf andere
Ataiachen und auf sein eigenes besseres Bewußtsein Rücksicht zn
nehBMQ^ der die Partei seiner Instinkte eigrifien, den Kampf mit
dem Höheren au^jenommen hat und in trotzigem Haß oder in
ioater Oberlcgenheit durchführt Dieses Negative der Oeeinnwig
macht den Verbrecher aus und kann ihn zum dämonischen Men-
schen aieigem, der Mw Ueinlichen mid sdbstsflchtigen Zwecke
mehr verfolgt, der das Böse ins rein Geistige erhoben und sozu-
sagen von allem Zufälligen und Nichtigen gereinigt hat. Den
eigentlich Dämonischen leitet nur noch der Wille zur Zerstö-
rung, der sich gegen die Menschen, gegen alles Heilige und gegen
sich selbst wendet. Eine deutliche Grenze zwischen dem Ver-
brecher aus Schwäche und Begier und dem dämonischen Ver-
brecher besteht selbstverständlich nicht; diese Scheidung ist
schematisch, in der seelischen Wirklichkeit durchdringen sich die
Motive, ohne zur Klarheit zu kommen.
Weininger hat eine tiefe Psychologie des dämonischen
Verbrechers gegeben. Er faßt ihn als den Menschen, da aller
Freiheit entsagt hat, m dem der Witte zum absoluten Funlctio
naliamus besteht^ der auch in der Welt nicht» Freies ertnigen
lomL „Weil er auf aUes vendditet hat» darum ist der Vetbrecfaer
stets FataUst und der wirkliche Fatalist immer ehi Veibrecher (na-
tfiilich of^ ohne ea zu wissen; der Veitrecher weifi ja doch nie^
das er ein Vert>recher ist; er fühlt es nur dumpf). — Würde er
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noch woUoi, 80 wfinfe er sUk Hiebt giazUdi dufd» Sdudna!
ffbaodm ballen."*) — Der zuerst erwähnte schwache^ nicht
eigenflidi pemne Mcnseh kann die Strafe als aein gebührendes
Teil, fa als Beruhigung empfangen, er kann aus ihr die Ubtemde
Kraft schöpfen, die langsam in seiner Seele aufhebt und sühnt,
was ihr doch innerUch fremd, was nur aus Schwäche zur Herr-
schaft gekommen ist, so daß er eine Reinigung und Wiedergeburt
erleben mag. Ja es ist möglicli, daß auch die Todesstrafe mit
Befriedigung hingenommen wird (gibt es doch einen Selbstmord
aus Reue). — Aber für den echten Verbrecher hat die Strafe gar
keinen Sinn; er wird einfach von einer physisch stärkeren Gewalt
unterjocht, er t>eugt sich innerlich nicht, er ertilgt die Strafe
veistockt, in Haß und Stumpbinn.
Der Hang, etwas Böses» eine Tat des Hasses zu voUbringen,
ist als Anlage in vielen Menschen (nach Kant im Menschen über-
haupt) vorhanden, virinl aber durch hinreichende Hemmungen
niedergehalten. Die Freude an blutigen Schauspielen ist eine Ab-
leitung vom Tun ins Schauen, das Aushecken von Kriminal-Ro-
manen und Schauerstücken eine Ableitung von der Wirkiichkeit
in die Phantasie. Diese Sinnesart enthüllt sich femer in Hand-
lungen, die mehr symbohsch als real gemeint sind, so in der Zer-
störung von Kunstwerken, in der Besudelung von Heiligtümern,
im Königsmord Die Ermordung eines Königs, den der Titer
gar nicht persönlich kennt und von dessen Tod er nicht den ge-
ringsten Nutzen fär sich erwarten kann, drückt (ein wenig an-
alpbabetisch) den ungeheuren HaB gegen alle Ordnung, gegen
die Idee des Gesetzmäßigen aus, das im König sichtbar ver-
körpert ist Koch mehr die Zerstörung eines Heiligtums (an das
der Täter natfiriicfa glauben mufi). Denn diese Handlung richtet
*) „über die letzten Dinge" S. 115—121. — Das Gefühl des FntaüS'
mus wird im Abschnitt über den Schicksalsmenschen noch eingehender
besprochen werden.
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U5
ach gegen Gott, gegen das Gute selbst, in ihr identifiziert sich
der Tater mit dem Urfeinde der Welt — der Roman dieses
Menschen ist noch nicht geschrieben worden. — Hier li^ eine
Clenze des menschlichen BewuBteeiiu» von der es «nmitteibar in
den Wahnsinn hincingefat —
Die Oeshiming, die em Verbfcchcn hovoriningt, ist aber
doch sdtr veiadiieden: euifadi verbrecherisch, pathologisch oder
dimonisch. Ich will dies an cuieoi Beiqriel erläutern und sehe
dabei yon den psychologischen Nuancen, von Jihzom» Auf-
regung und ahnlichem ab; nur die SfeHnng der Scde zn i h r er
Tat soll betrachtet werden. Wer einen Mord begeht und noch
nicht das Let>en und das Sein schlechthin haßt, dem wird im
Augenblick der Tat eine Entschuldigung auftauchen und sei sie
noch so sinnlos. Er wird sich etwa zurufen : Dieser Mensch ist
wert 711 sterben! Er hat mich soeben mit einem Blick angesehen,
der mir den Tod wünscht! Würde ich ihn nicht töten, so tötete er
mich.*) Schnell noch einen Stich, damit er Iceine unnötigen
Schmerzen leide! — Der pathologische (Lust-)
Mörder wird hn Augenblidc des Moides die völligste, reinste
Obereinsthnmung mit sich selbst fehlen — Endlich! Endlichl
Er wird in Wollust zitlem und wird erleidiiert aufatmen, weil
eüi Alp von ihm gewichen ist. Ja, er kann ausrufen: Gott sei
Dank! — Er braucht keine Entschuldigung vor sidi selbst, denn
nichtsist hi ihm, was nicht ehiverstanden wäre. — Der abso-
lute Verbrecher empfindet keine Lust bei seiner Tat —
nur Haß. Er verübt sie wie etwas, das sein muß, kalt und viel-
leicht mit dem Drang, einen Augenblick seine Verzweiflung los-
zuwerden. Der Mord ist für ihn die ein/ijre angemessene Be-
«häftigung — wie der Fluch die einzige angemessene Rede —
wenn er überhaupt imstande wäre, etwas zu tun, etwas zu sagen i
Geradeso wie ein Staat immer moralische Qrfinde hat, tvemi er
dnen amleni ansplfindeni wilL
Laefc«» OrMMi im Sed«. 10
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146
Denn in der gleichgültigen Stumpfheit des vollkommenen Ver-
brechers hat sich das Böse sozusagen selbst aufgehoben, es ist
absolut kraftlos, es kann nicht einmal mehr Atem schöpfen —
Smerdjäkoff erhängt sich, ohne jeden Grund, in voUkommener
Verdrossenheit
Es gibt zwei Brennpunkte alles Wertvollen, zwei höchste
Möglichkeiten, das Wertvolle zu denken: als Seele des Men-
schen und als objdrtiv ideell»i (platonischen) Wert. Und
entsprechend diesen beiden Wertzentren gibt es auch zwei Mg*
lichkeltea des Wcrthasses: der gegm den Menschen gerichtelie,
der hn Moide stpfdt — und die ZentOntng objddivcr Werte.
Vielleicht tritt der dämonische Wille idner, desttUierter henror,
wenn er sich gegtn Ideelles wendet; sber für den natfiriichen
Insthikt ist die Eimonhuig ehies Menschen doch das Entschei-
dendeie — und durch sie wird ja auch wiildich die Möglichkeit
weiterer Wertschöpfung aufgehoben. —
Dostojewski hat sich wie kein anderer mit dem
Verbrecher beschäftigt. Fast in allen seinen Romanen wird
die Handlung durch ein Verbrechen in Schwung gebracht, seme
Psychologie des Verbrechers ist nicht zu überbieten Für ihn
ist der Verbrecher der Mensch ohne Liebe (das lieißt ohne das
Gute), und weil Dostojewski glaubt, daß der Russe nie ganz lieb-
los und gottlos werden kann, glaubt er auch, daß der russische
Verbrecher (im Gegensatz zum europäischen) nie vö\\\^ ins
Böse versinkt, sondern immer noch einen Funken Gottesbewußt-
sein m sich tfW, der wieder aufleuchten kfinne. Und f fir diesen
Vefhiecher ist die Strafe nichts Feindseliges^ sondern eine Wohl-
tat» die nuui ihm gewihren muB, die er — wenn er noch nicht
ganz verloren ist — als Sühne empfindet und mit deren Hilfe er
seiner Schuld ledig werden kann. Ihn für krank und unverant-
wortlich anzusehen und seiner Strafe zu berauben, scheint Dosto*
jewski grausam und gottlos. Denn das hieße, daß der Ver-
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147
brecher kein Mensch mehr ist, sondern eine Sache, etwas Totes.
Von seineni ethischen grenzmenschlicheii Standpunkt aus wftre
dies eine so schwere Belddigaog gegen das Tiefste, das Hei-
ligste im Menschen» daß man es auch dem ganz tierischen Ver-
brecher nicht znfQgen darf. yiWenn man den Mensdien von
jedem Fehler der gesellschafilidicn Ehirichim^gen fOr abhingig
erklirt, wie es die Lehre vom Milieu tut, so fährt man ihn zur
voUsündigen UnpenfinHchkrit, enibhidet Ihn von jeder peiaön-
lidMtt sitüichen Pflicht, von jeder Sdbstindigkieit wid bnögt ihn
m die gr&ßte Knechtschaft, die man sich nur denken lourn." —
Dieser Gedanke kommt mehtmals bd ihm vor, besondeiB hn
„Idioten". Der Vcibrecfaer soll als Vobrecber aneikamrt^ das
heißt, er soO auch in diesem, sehiem bösen Willen ds efai sich
selbst Bestimmender geachtet werden und die Strafe erdulden.
„Die Strafe bedruckt nicht, wie man meint, sondern sie erleich-
tert. Selbstreiniguncr durch Leid ist leichter als das Los, welches
man ihnen bereitet, wenn man sie vollkommen freispricht.***) —
Den Verbrecher für unverantwortlich erklären, heißt: ihti in deii
Abgrund stoßen. Maii läßt ihn mit seinem Verbrechen allein
und gewährt ihm, der sich selber nicht zu helfen vermag» keinen
Beistand.
Diese Auffassung ist tief menschlich, sie zeigt das wahie, das
dostojewskische Mitleid, das nicht ins Dogmatische gewendete
SentuneniaUat ist wie das Mitleid Sch<qienhauei8, sondern auf
Ehrfurcht vcur dem Mensehen, wie er auch hnmer sei, beruht Als
echter Mystiker ist Dostojewski von der Unzulänglichkeit 93kB
nur Rationalen tief durchdrungen, und er fiat dieser Obeneugung
besonders üi der unvei]^higlichen Ocslalt des Idioten cm Denk-
mal gesetzt: vor sehier ehifachen und ehifUtigen Wahrhaftigkeit
*) S. W. 2. Abt. 12. Band S. 2Q7, 300. „Das Milie;!". Man wird
nicht vergessen, daß Dostojewski )ahre lang als gewöhnlicher Sträfling in
Sibirien gelebt hat Sein Wort gilt mehr als das anderer.
10*
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148
fällt aller Geist, alle Klugbät — und alle Boahät dahin. Der
ganze Haß, den Dostojewski gegen Europa empfindet, geht
dann! zurück, daß die Kraft Europas im Denken, in der Wissen-
aduStt kniz im RationaHamns bendit, wihiend der vmM»
Mensch auf das Gefühl und die Religion gestelit ist Enropa
tnSbk muner cnlsdiiedener der poattivisiKhen Nttblichkeil»-
moiai zu, die gut und bte nur hn Same des mittleren Menschen
ab sozial nützlich und acfaldlich gelten Iftfit und alles Tiefere
aoBschdten möchte. Dieser Wille hat das Bestreben bervocge-
bracht, das Böse und Verbrecherische nicht mehr als eifaisdi, als
frei gelten zu lasseji, sondern determiniert, als Krankheit und Ab-
normität zu betradiien und als schädlich zu beseitigen — kurz
die Selbstverantwortlichkeit auszuschalten. Der Verbrecher soll
dieser Oefühlsweise entsprechend niciit einer Sühne zugeführt,
sondern nur für die Gesellschaft unschädlich gemacht werden —
hier siegt die echteste Tendenz unserer Zeit, die Dostojewski so
grimmig geliaßt hat, ihre Tendenz zum Mittleren, alles Aus-
gleichenden; und dieser Standpunkt ist der einzige, der sich mit
der konsequent wissenschaftlichen Weltauffassung verträgt. Wo
man ihn nicht teiU; bedeutet das eüie UnvolliEommenheit im
wissenschafitich-positivhrtischen Wdftild. — Demgegeniiber ist
Doeh^ewsld der entschiedenste Vertnter der mdividuellen Moral,
der das Oute (die liebe) ab das an und fiir sich WcdvoOe gilt
und die den VeibRcher nicht utilitarisch tOtet, sondern (wenig-
stens ihrer Absicht nach) der Liutenmg zufährt Dostojewsld
will ach die UiigegensStze gut und böse nicht zum Mittleren
nivellieren fassen. —
Am großartigsten ist dieser Zwiespalt zwischen dem Ratio-
nalismus (der natürlichen Position des Mittelmenschen) und dem
Mystizismus (der Überzeugung des Grenzmenschen) in ,,Ras-
kolnikow" behandelt, dessen Vorwurf an seelischer Bedeu-
tung nicht mehr übertrofiea werden kann. Raskolnikow ist im
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Tiefsten Mystiker und Grenzmensch, wird aber von seinem
großen Verstand g^eblendet und wirft sich dem Rationalismus
Europas in die Arme. Er stellt die logisch einwandfreie hrwä-
giing an, daß vom Standpunkte des Nutzens für die Menschheit
das Leben eines hochbegabten jungen Menachai wertvoller sei
als das einer allen btearligen Wucherin, wenn die Alternative
eintritt Dk modenie Wdt Idirt ja, daß das weifloane Leben
Platz machen mflsae, damit das jüngere, gesündere^ wertvoUere
Raum finde zu seiner •Entfattniig. Und dieser Oedanliengatig ist
in kultuieUen Sinn dnfcbans berechtigt, weil ja der Wertvolle
mehr zu leisten vennag als der Wertlose. So ist Raalcotaiikow Re-
formator, er versieht seine Tat als notwendig, als geboten, sein
persönliches Problem erweitert sich zu der Frage nach dem Wert
der Menschenseele und dem Recht des Ausnahmemenschen Ras-
koiniliow, der europäisch Gebildete, stellt alle diese Erwägungen
an und nimmt damit Nietzsche vorweg — indem er ihn auch
schon überwindet.
Nietzsche hat ja theoretisch mit der „Herrenmoral" nichts
anderes leliren wollen als RaskoUiikow: Der höhere, der stärkere,
der geistige und Inilturbewußte, kurz der Ausnahmemensch hat
auch das Recht auf eine Attsnahmcmoral, die mit der aUgenehien
nn Wideniiruch steht und also von ihr als Veclncchen emp-
fundnwtrd. Hierbei Ist Niet29che sIehengebUeben; Dostojewaß
aber geht onveigleichlich tiefer; er führt im Raakofaiikow diese
ganze Oedankenreihe sowohl theoretisch als auch In geachauter
Wixidichkett zu Ende und zeigt achlieBUch ndt der zwingenden
Kraft seiner Genialitit: daß es solch eine Ausnahme nicht gibt,
daß der Mensch schlechthin das Höchste und das Emzi^^e ist,
daß die Unterschiede der Menschen hinschwinden vor der un-
geheuren einmaligen Tatsache: Mensch. Keine Dichtung der
Welt bnngt ein gleich großes Problem zum Leben; auch im
„Faust*' handelt es sich nur um das, was der Mensch auf t:rden
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150
wollen und leisten kann — nicht aber um das Mensch-Sein fiber-
haupt; das ist schon durchwegs vorausgesetzt In „Raskoini-
kow" aber wird dieses letzte Problem gestellt — und gelöst: die
Frage nach Wert und Sinn des Menschen. Raskolnikow ist der
Hochmütige, der auf seinen Geist pocht; und er erfährt endlich
die Unmöglichkeit einer Ausnahme, er geht tragisch an dem
Ldzten zugrunde, vor dem alles andere hinschwindet: daß der
Mensch an einem metaphysischen Sein teil hat, daß im Meeschen
angesichts der Ewigkeit etwas Höheres, allen Identisches, üt>er
die Verschiedenheit Hinaiwagendes lebt Nur noch die ewige
SteUtmg des Menschen (nicht dieses oder Jenes Mcnscfaen!)
zum Sein tuid zu Oott bleibt fibrig. Hat Raskolnikow zuent
afgiimentieft: »»Wer fest und staik im Willen ist, tr«gt über die
Mensdiheit den Sieg davon; wer auf die Menge henbsacbt, ist
ihr ein Oeaetzget)er. Und wer mehr als andere wagt, ist ge-
rechter als sie^ so erteont er sdiließlich: „Habe Idi die Alte
wirklich gemofdet? Mich habe Ich gemordet, nicht die AUe! Es
war nur ein Augenblick, aber ich habe mich gemordet auf Ewig-
keit. Die Alte hat der Teufel ermordet, nicht ich!" (Dasselbe sagt
Dmitri Karamasoä auf die Präge, wer denn seinen Vater er-
schlagen hätte.)
Raskolnikow steht von Anfang an nicht auf dem pnnntiven
und naiven Standpunkt des Stärkeren, der sein Opfer überwältigt;
er macht sich viehnehr sein Recht klar, so zu handeln. Dem
Untersuchungsrichter gegenflber stellt er die Theorie auf, daß
einer, der die Mcoscfahät weiterbringt, auch Verbrechen begehen
dfiffe^ aber nur soweit sie zur Ausführung seiner höheren Ideen
notwendig sind Das bewufite Idars Denken güt ihm (ganz un
Sinne der europäischen Wisaenschalt) als das einzige Sichere
und UnanlBchtbaR^ Oclilhl und Ahnung läßt er nicht gelten,
und sdn Bemfihen ist nur» den begangenen Mord als beieditigt
m diesem soosialen, guten Sfauie nadizuwciaen. Denn er «III
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151
kein g:emeiner Verbrecher sdn, soiidern ein Mensch, der das
höhere, das kommende Recht für sich hat. lir kann daher seine
Tat vor sich selbst nur aufrechterhalten, wenn er ihr eine höhere
als die bürgerliche Gesetzlichkeit zuspricht, er ist wohl Ver-
brecher gegen das Gesetz der alltäglichen Menschen, aber ge-
recht vor dem Gesetz des höheren Menschen, der die Zukunft wiikt
Dies ist die Position Raskohiikows in seinem eisien Sta^
dium. Aber dann s«gt er zu Sonja: „HMe ich mich aHem des-
halb zu der Tai venhmden, weil ich hungitg gewesen bm — er
betonte jedes seiner Worte und schaute sie mit rätselhaftem, aber
oflenem Blidc an — dann würde ich sagen, ich sei gUkÜichl
Verstehst du das?" — Das hdBt nichts anderes, als daB Ras-
kolnikow lieber ein gewöhnlicher Raubmörder sein möchte als
einer, der sich über alles Menschliche hinaus vermessen hat; zu
erschlagen, weil man Hunger hat, ist noch immer menschlich,
meint er. Aber was ich getan habe, ist teuflisch, denn ich habe
prinzipiell alles Mensciiliche in mir selbst zerstören wollen.
Seine Tragik enthüllt sich als Kampf eines nicht ganz erfaß-
baren Mystischen mit dem rationalen Tagesbewußtsein, und er
kommt langsam zu der Einsicht, daß alle die klugen Erwägungen
hinfiUUg sind vor einer Gewißheit, die den Wert des Menschen
veikfindel^ auch wo dieser Wert wie bei der alten Wucherin iddA
ehizuaehen ist Dieses Msrslerium aber ist die Liebe, die Ras-
kohiilcow zugunsten von vetstandesmABigen Eiwigungen hi
sich vernichtet hat. Mehie Tat, erisennt er nun, ist eine Tat des
Hasses und der Zerstörung gewesen.
Es ist Dostojewskis OrundOberzeugung: Aller Geist, aller
Heroismus, alle Größe sind nichts vor der ewigen Liebe (was
ja auch am Ende des Faust ausgesprochen wird). — Zuerst hat
Raskoliiikow nur nach Schlüssen gehandelt und gar nicht eigen-
süchtig : ein begabter junger Student ist mehr wert als eine un-
nütze und sogar verderbliche alte Blutsaugedn; das Sdilechte
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152
soll untergehen, damit das Gute lebe. Dies ist konsequent im
Sinne des modernen europäisctien Raticmalismus und ganz im
Oeist Nietzsches. Die Förderung des Lebens gilt hier
als höchster Wert — für Dostojewski aber der ewige Sinn
des Lebens. —
Kaum einer im letzten Jahrtausend — Meister Eckehart aus-
genommen — hat vor Dostojewski verstanden, wie wenig cfie
Tat selbst ist Immerfort räsonniert Raskolnikow — und mit ihm
der Ventand Europas — dafi seine Tat nidiis Böees^ sondern
eine böheie Notwendigkeit gewesen sei — so will er atdi von
seiner Seele alizielicn. Er ist ununterbrodien damit iieaditfligt;
den JMord für sidi seM und aUgemeinrilieoietisdi zu redift-
fertigen — und beweist damit^ daB er im HcfBien doch nicht für
ihn efaitielen kann. Denn alle Klugheit und Spitzfindigkeit dtent
ihm nor dazu, die Inncie Sümme zu fiberttidMn. Weder die Tat
noch die logische Motivierung kommt ja m Betracht — sondern
ihr tiefster und gefadmsler Shin. Das Tiefste in Raskolnikow Ist
aber nicht Verstand und nicht Verbrechen — es hat sich nur vom
Verstände zum Verbrechen überreden lassen. Und gegen dieses
sein Tiefstes hat Raskolnikow gehandelt. Nicht weil geschridjen
steht: Du sollst nicht morden, ist er ruhelos, sondern weil er im
Innersten den Mord gar nicht will, weil er von diesem Verstandes-
menschen — diesem Napoleon, wie er sagt — immer nur faselt.*)
„Glaubst du denn, daß ich hing^angen bin wie em Dumm-
kopf aufs Geratewohl ? — Nein, wie ein Kluger bin ich hinge-
gangen und gerade das hat mich zugrunde gerichtet. — Und
wenn ich die Frage stellte: Ist der Mensch eine Laus? — so ist
erlfirmich schon kerne Laus mehr gewesen, das ist er nur für den,
dem das gar nicht in dm Sinn kommt, sondern der einfach hin-
geht — Wenn idi mich schon so vide Tage mit der Frage
*) über den Verstandesmenschen wird im siebenten Abschnitt nocfaxu
sprechen aflki.
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153
gequält habe, ob Napoleon hinginge oder nicht, so habe
ich ja schon deutlich gefühlt, daß ich kein Napoleon bin.** —
Hi€r ist alles i?esa^: Der Instinkt ist unproblematisch, der Ver-
stand ist aber nichts als der bewußt gewordene Instinkt des
Tieres, der sicher durchs Leben iuhrt. Der Instmkt-Verstand
weiß, daß das Stärkere auf Kosten des Schwächeren lebt und
also auch leben darf — die Formulierunp^ des natürlichen Kampl-
ums-Dasein-Iiistinktes. Probleme gibt es da nicht, Widersprüche,
die nur gedanklich sind, können auch wieder in Gedankm auf-
gelöst werden; denn alle wahre Problematik fängt an, wo das
Tiefere im Menschen Bedeutung gewinnt, das übers Animalische
hiiunmidit und nicht mehr nach Nutz« und Schaden fn^
wo der biaünkt imd damit der Verrtand in Fiag^ feateUt wird.
Und an dieMm Tieferen, am Religitan gelit RaakobUkow zii^
gnmde, weil hier die Scheinbarkeit seüier Verstaiideaenviguiigen
licimlich zcnetzt worden ist.*)
Noch die Sträflinge in Sibirien werfen ihm entgegen: „Du
bist ein Gottloser!" — Das heißt; Du bist ein europäischer
Rationalist, kein Russe, kein Mystiker! — Denn nach Dostojewski
ist auch der letzte russiche Verbrecher gläubige, weil er nicht
in der europäischen Atmosphäre des bloßen Verstandes lebt. Er
erkennt das Höhere an, wenn er es auch nicht zu erfüllen vermag.
(Sc^ar der berufanäßige Mörder Fedyka in den „Dämoocn" —
nicht aber der europäisierte Peter Werchowenski.)**)
Raskolnikow ist weder gut noch im Tiefsten böse. Immer
wieder atellt er sich dämoniach auf adten aeines großen Vcr-
' *) Der Gedanke, daa nur der Inellnkt (der Veisland) unbesdiwert
handeln könne, ist von Dostolewsld in der kurz«! Erzihlune „Aus dem
Dunkel der GroSstadt" noch besonders durchgeführt worden — Weil
Raskolnikow ein Erkennender, efn Grübler ist, darum bleibt ilim (rein psycho^
logisch genommen) die Tat eigentlich immer etwas Unorganisches — er
mul an ihr zugrunde gehen.
♦*) Zu dieser Psychologie des Russen kam Ich nicht Stellung nehmen.
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Standes und schließt sich gegen das Chirchbrechen des Innern
und gegen das Bekenntnis seiner Tat ab, wonach doch das Gute
in ihm schreit. Er hat diese Tat niemals verdauen und wirkUdi
zur dgenen macheu können, sein Tiefstes hat immier wider-
sprochen, und darum hat der Mord stets als etwas Fremdes in
ihm gelebt und ist ihm 7ur Wahnvorstellung^ geworden, l- r sucht
die Stelle seines Verbrechens auf, er muß mit dem Untersuchungs-
lichter nöm, er unterwirft sich dem Einfluß Sonjas — alles Re-
gungen seines tieferen Selbst gegen seinen Verstand! „Kein
Mensch mit böflem Oewisaen kann das Schweigen ertragen/* sagt
KieilDegaanl *). — Und doch venn^ die dSmoniecfae Kraft des
Trotzes hi Raskolnikow bis zunr Schlüsse das Ccständois und
damit das neue Leben niederzulialten. Denn er furchtet das
Gule^ das ihm üi Sonja entgegentritt Ihre tiefe einfiltige Liebe
versieht RaakofaukoWy sie ist die Stimme sehier eigenen Freiheit.
„Sie haben sich von Gott entfernt und Oott fiat Sie dem Teufel
übergeben!" Mit aufgehobenen Händen steht Sonja da und jagt
ihn zum Bekenntnis — du mußt deinen Hochmut beugen! Du
mußt von deiner Verstocktheit lassen und dich dem Guten zu-
wenden! Bereue? (Denn die Reue ist die innere Wendung, die
das Böse als Sünde erkennt.) Und Raskohukow ^eht hin mit den
Worten: „Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich selbst an-
gebe." — Sein Verstand, das „Wissende" m ihm» findet keinen
Grund — und doch tut er es."^*)
Der Schluß ist das Glaubensbekenntnis dessen» der von der
Dimonie zur huieicn Freiheit aufgestiegen ist, der Verbrecher
sein lann und Heiliger, aber nicht Mittetanensch. Noch muKr
ist Raafcohii|[oiW8 Trotz nicht gebrochen: da sieht er drauBen
im Felde Sonja stehen, die ihm nach Sibirien gefolgt ist und
*) Der Begriff der Furcht S. 126.
**) VgU Wolliwki, Das Buch vom groBai Zorn, Hrankturt 1904^ Soite
191-192.
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155
schw^end zu den Fenstern des Spitals limblickt — die jähe
Umwendung tritt ein, ein Sprung, würdig des Genius, kein all-
mählicher Obelgang! — Raskolnikow sinkt weinend ins Knie^
das Mjrstefiiun der Liebe hat über den Veratauid gesiegt.
Vor dieaem Werk dSmoiert alle psychologisdie Kunst der
Wdt; «fo größte Tragfidie ist daigtttellt und vollendet: der
Kampf des Ewigen im Menschen mit seinem Irdiadien und die
Uaie Auflflaung des tragischen ProbleniSw Dosipjewaki, der attes
Menschliche kennt wie kein anderer, verkfindet hier die mystische
Liebe, die sich mit dem Verstände nicht mehr fassen ISBt. Der
Zerrissenste aller Menschen hat die höchste und reinste Erlösung
gefunden, hat, was der Sehnsucht l austais unerreichbar bleibt,
vollbracht —
5.
Weil tur Dostojewski die Litbe das eigentlich Positive und
Gute verkörpert, darum ist ihm der dämonische Mensch und der
Verbrecher der Mensch ohne Liebe. Unglück und Laster ent-
stamdien dem Haß und der Absonderung. Nur in der Liet>e zur
Menschheit, in der völligen Einheit mit ^lem Menschlichen sidit
Dostojewski die wahre Auflösung jedes Zwiespaltes. Dieser Ge-
danke wird in der Lebenagesduchie Sossimas ia^Dit Bruder Kara-
maaoll'*) durchgeführt , Jeder möchte m sich aelbat die FüUe des
Ldxns erfafaraiy indessen ecgibt aicfa aus seinen Anstrengungen
nicht die Ffille des Lebens» sondem vollständiger Selbsänoid,
statt Selbstbestimmung voUsündige Isolierung. Alle sondern
sidi in unserem Jahrhundert zu emzehun Existenzen ab, jeder
isoliert sich in seiner H611e, jeder entfernt sich vom anderen usf.'*
— Der Gipfel der Isolierung, der Entfremdung seiner selbst vom
Nebenmenschen wäre aber: ihn zu vernichten. Und daher mußte
sich für Dostojewski das Problem des Bösen immtr wieder unter
dem Bilde des Mörders darstellen, des Men.schen, der alle Ge-
meinsamkeit und Liebe am entschiedensten aufhebt.
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156
Ein völlig verschlossener und seelisch toter Mensch ist
Stawrojrin, der Held der „Dämonen". Äußerlich eine schöne
Mannonnaske, eine Leiche, geht doch gerade von seiner völligen
Gleichgältigkeit gegen alle Menschen und gega sein dgson
Leben ein unbegreiflicher Zauber aus; der haltlose anarchistische
Verbrecher Peier Weithowenski (der Verbrecher als Brandstifter
und Revolutioidr!) sielit in Stawrogin sogar den neuen Kaiser,
den Herrn des teuflischen Reiches (analog dem Reiche^ dss der
OroS-Inquisitor ai^gn^tet hat). Der Zusammenhang zwiacfacn
dem Verbrecher und dem Despoten leuchtet ein. — Stswrogin
ist absolut fOhllos^ einmal hat er sidi ohne den geringsten Onmd
mit einer Schwadisinnigen verbebatet, nur um die Undnirigleit
alles Geschehens höhnisch zu betonen. „Er kennt keinen Unter-
schied zwischen irgendeiner tierischen Handlung und einerlei
welcher Heldentat." (I. 368.) — Er ist ganz furchtlos, weil er
innerUcb tot ist, ein Wüstling, aber ohne Freude und Elan, nur
aus Langeweile und Haß gegen alles Sinngemäße und Wert-
volle. Er hat auch die Zeugungskraft, das Schöpferische, das
Positive auf physiologischem Gebiet eingebüßt Diesem W&-
brecher, der ganz Materie geworden ist, bleibt nichts übrig, als
seinen Ldb langsam im Trunk zu asenlören oder sich in einem
Augenblick des Eliels — wie Stawroghi und Smercijiltoff — zu
ertiangen.*)
Es gibt drei Arten des Selbstmordes: die eine —
und sie ist bei weitem die häufigstem ~ erioennt die Wdt in ihicm
Sein durchaus an, der Lebensuberdrüssige findet aber seine per-
sönliche Lage so unerMiglich, dafi er sie anfhetit und dadurch
*) Vgl. über Stawrogin die ausgezeichnete Analyse bei Wotynski
S.5--S8. — Dostofewdds Hafi gegen Rtvolulioii und llihOlMiiuSf öm aus
den HDimonfln" und ans sebim poHUsdifn Schriftm spricht, ist der HaS
gegen das Zerstörerische fai Ihm saUMt, eine Protektion des innefto Kanp'
fes ins tozlale Leben. Daher Ist er «Iteektionir" gewesen.
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157
das allgemeine Leben enflasiet. So paradox es klingen mag: er
begeht vor seinem eigenen Gefühl keine zerstörerische, sondern
eine erhaltende Tat, er schneidet einen kranken Teil der Welt
aus, der nicht länger mit dem a!lg«neinen Sein zusammen be-
stehen kann. Dieser Selbstmörder gleicht dem Chirurgen, der,
um zu heilen, tötet, weil dem Leben nicht mehr anders zu helfen
ist — Ihm steht der andere gegenüber, der nicht nur eine mehr
oder weniger zufallip^e Form des Lebens, sondern das Leben
überhaupt, die Tatsache der Lxisten? verneint. Hier bedeutet
Zerstörung der eigenen Person Weltzerstörung : Der Haß g^en
alles Bestehende ist so mächtig in ihm, daß die Vernichtung
seiner ^bst nur Symbol der Vernichtung überhaupt ist. Wäh-
rend (kr erste Selbstmord der Bedürftigkeit des Menschen ent-
springt, ist dieser — wohl außeronlentUch seltene — eine Tat
des dimooisdm Hasses^ des Trotzes^ der sich am UnmiAel-
bmten und Positivsten vefgreift^ was jedem Mensdicn zu Ge-
bote stefai^ am eigenen Leben. — Aimltdi wie dkse Tat, die das
eigene Idi als Repfisentaalen alles Seienden vemiditet, kann ein
Attentat, ein sinnloser Mofd gemeint sein (dem eventuell der
Selbsimant folgt), und auch der Trieb, Lebendiges zu quälen,
Wertvolles zu zerstören, nur weil etwas bestellt und daher zu-
grunde gehen solL Dieser dhnonische Wille ist mit dem Sadis^
mos verwandt; aber nieht dmnchaus Identisch. — Die dritte Art
des Selbstmordes — der Selbstmord Stawrogins — ist keine
eigentliche Tat, sondern nur ein Oberhandnehmen des allge-
meinen Lkels und der Gleichgültigkeit, er hat überhaupt keine Be-
ziehung zum Sein, er ist eine Reflexbewegung, ein Zu-Ende-
Gehen, das zufälligerweise und nur scheinbar aktiv l)eschleunigt
worden ist. Die positive und die n^ative Stellung zum Leben
wird durch die indifferente (die eigentlich Mangel einer Stellung-
nahme ist) ergänzt. —
Gegenüber der Isolierung, die für Dostoiewski Trotz g^gen
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158
<
das Leben bedeutet» verlritt Sossima das andere Extrem des
Grenzmenschen, den vollkommen Guten, den Heiligen. Soor
sima lehrt, daß die demütige Liebe und die Einheit mit allem
Menschlichen die uiibe/winglichste Kraft sei. Lr iiat alles Eigen-
willijB^-Subjektive von sich getan und ist ginz übermenschlich,
alimenschlich geworden. Die letzte I msicht Kaskohiikows, dai3
vor der Urtatsache des Menschen alles hinfällt, was die Menschen
voneinander scheidet, dieser Gedanke ist in Sossima Wirklichkeit.
Die Laster der Subjektivität: Litelkeit, Habgier, Herrschsucht
werden in der Weisheit aufgehoben, ,,daß ein jeder von uns
schuldig ist für alle und alles auf der Welt, nicht nur durch die
allgemeine Weltschuld, sondern ein jeder einzeln für alle Men-
schen und für jeden Menschen auf dieser Erde. Diese Erkenatnis
ist die Krone des Let>ens". — Der hier zum erstenmal so klar
foimtilierte Gedanke der universalen Verantwortlichkeit (die man
nicht einseitig als y^Schuld" fassen darf) ist der hochherzigste
Gedanke der Menschheit und der Mittelpunkt des BewußMns
Jesu» ja seine eigentliche Essenz. Und Sossiiiia lehrt weiter,
daß die universale Verantwortlichkeit nur durch das G e h ei m -
nisderLiebezu erfassen und zu trsgen ist Aus seuier Be-
sonderheit (sehiem „Pathologischen'* nach Kant) herauazutrelen
und die innere Gleichheit mit alleni Menschlichen finden zu
kOnnen — das ist zweifellos ein Wesenszug des Russen, der Ihn
dem UrChiisientum so mericwürdig nahebringt und der dem
Westeuropäer kaum jemals ganz zugänglich sein wird. Es
sclieint mir, daß in diesem Gemeingefühl, in diesem Sich-eins-
Wissen mit allen Seelen das Eigentümliche des russischen (sla-
wischen) Christentums liegt, während das germanische Religions-
gefühl und sein Cjipfel, die deutsche Mystik, jede einzelne Seele
als ein Universum auf sicli selber stellt. Für Dostojewski
ist die Liebe, die Caritas, Mittelpunkt und letzter Sinn des
Lebens und dieser Heilandszug liegt in seinem Charakter:
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15Q
er hat wiildich alle Schuld auf sich genommen, er hat die un-
gerechte Venirteiluiig und die Verbannung nach Sibinen ohne
Widerspruch und Klage erduldet, fast wie ein gerechtes Teil und
mit dem Bewußtsein: Ich darf durch memen Haß keine Schuld
auf die Richter laden, auch ich bin schuldig» wenn auch nicht
für dies, so doch für anderes (für seine verbrecherischen An-
lagen); und wäre ich seitet unschuldig, so hätte ich doch nicht
das Recht, mich von den schuldigen Brüdern abzusondexn und
mich ihrem Leid zu entziehen. Sossima ist die Vericöfpening de»
vOllig Guten Im Menacbeii, er besitzt den Glauben und die Liebe.
(Ahnfidi, aber nicht so umfassend, der Pilger Makar im „Wer-
denden".) Gerade in den ,fiMm KaramasoiP, diesem WeA der
dfistem Leidenschaft und des Iicrisdi-Mcnsclilidien, leuchtet Sos-
sima als dieandereMj^lidilieit desOrenzmcyiscfaen wie einOestim.
Denn es gibt kaum ein Laster oder eine Verworfenheit —
von den niedrigsten bis zum bödisten geistigen GotieshaB — die
Doatojewaid nicht in sidi voigefunden und Idinstteiisch bis zur
letzten seelischen hfuanoe gebildet hätte. (Die perverseste Er-
zählung soll bis heute nicht veröffentlicht sein.) Dostojew^
kaiin Wie sein Teufel sagen; Sataiia sura et nihil humanuni a me
alienum puto. Und er weiß es genau : „Ich habe einen schlechten
Charakter, aber nicht immer."*) — [ )as l iefste in ihm ist aber
die Sehnsucht, aus der Hölle in den i limmel zu steigen, das Be-
dürfnis nach Umkehr, der Wille zur Läuterung. Das ist der
eigentlichste Vorwurf seines Lebens und seiner Dichtung: er
kennt im letzten nur das Gute und das Böse, Gott und den Teufel.
Gegenüber dem Vollendeten, dem Sossima, stehen die
Wüstlinge, die Familie Karamasoff. In ihnen ist „Crdkraft, grim-
migste, entfesseltste, rohe, rasende Erdlffaft". Dieser Wille er-
scheint im Vater als schrankenlose, rohe, grausame Genußsucht,
die sich zynisch behagt; Dmitri lebt im Taumel des Augenblicks^
N. Holhnann, Th.M. Dostojewski, Berlin ld99, S. 413.
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er ist einer der lebensvollsten Menschen, die jemato von einem
Dichter gebildet worden sind, ganz aus Leidenschaft zusammen-
geglüht, würdig, neben Mozarts Don Juan zu stetien. Er hat
ein auSerordentlich feines Ehrgefühl, schenkt sein Vermögen be-
sinnungslos weg und wird doch sogleich wieder roh und ge-
mein. Während der Alte (und sein ganz t)€stialischer unehelicher
Sohn Smerdjäkoff) den Gedanken, über sich selbst hinau&zu-
schreiten und anders zu werden, nicht fassen kann, denkt
Dmitri im Gefängnis daran, sich zu emem neuen Menschen za
wandeln und als dn Kind wiedergeboren zu werden. In seiner
Leidenschaft li«gt auch die MflgUdikeit der R^generaäon.
Der andne Bmder Iwan ist der ejgentlidie Qcgenapieler
Soasiinas: Der Haß gegpi die Welt und gegen Oott» das dgient-
licfa Dimoniscfaey beherrschen ihn, und er zieht die letzte Kon-
Sequenz des Pesshnismtts» die wMdich entscheidend Ist: Wie
SosBüna jeden elnzefaien Menschen mit dem Tun aller anderen
solidarisch sein Mt, so ericennt Iwan: Es ist unmöglich, den
Schmerz eines einzelnen Menschen durch eine noch so allge-
meine Harmonie, durch dn noch so großes Glück der anderen
Menschen, durch irgendeine denkbare Art von religiöser Versöh-
nun^r auf/Aitieben *) Dies ist tatsächlich die iet/tc und äußerste
Formulierung jedes Pessimismus (die nur durch den Glauben
überwunden werden könnte): die tiefe Überzeugiuig, daß das un-
verschuldete Leiden (tiesondeis das der Kinder) alles andere
Gute bedeutungslos machen müsse, weil ja der Leidende nicht
mit dem identisch ist, der das Oute eifährt. Und Iwan legt in
der Eizfthlong vom OroB-Inquisator sein Problem vom OlQck
und Ldd mitten ms Christentum liinein.
*} Jean Paul: ttMn Mfesen «oll auf sefaie «wifsii Kost«« zum zer*
quettditHi UhtwlMUi des GlfiCkee für das flbriae All dienen mfissen;
denn alte Teilchen des AU würden dann zu Schuldnern und Räubern des
wJmmemden Teilchens, und es ist einerlei, wie viele schuldig sind an eines."
(Werke Aus£. Reimer, Bd. 33, S. 242.)
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161
Die Sehnsucht nach Reinheit hat in Dostojewski eine außer-
ordentliche Liebe zu den Kindern hervorgebracht, die in allen
adnen Werken zu fühlen ist, am stärksten vielleicht in der Er-
zählung des Fürsten Myschkin. Myschkin hat ganz unter
Kindern als ihresgleichen gelebt, er bezaubert alle Menschen,
besonders die Frauen, die das Echte und rdn Menschliche in
ihm fühlen, das bei ihm nicht wie bei den meisten Männern
durch den Verstand verdeckt und betäubt wird. — Eigidlend
kUngt im Munde eines Zerrisaencn wie Dostojewski, der nie eine
glficklicfae Stmide gekannt hat, dieses Wort: ,,Seid frShIicfa wie
die Kinder!** (SossinuL) — Der tnigisdie Oienzmenscfa kennt
weder Freude noch Veignitgen. Freude ist ja die Oewififaeit^
sich allen Foiderungen des Daseins giemftß zu veihalten, ist Zu-
friedenheit und im hfidisten Sinn die feste Oberzeugung von der
Bcrediiigung seiner sdbst, fem von Leid, Unrecht und Scfaiild,
das OeffihI der eigenen „Wohlgeratenheif (das von wenigier Ge-
ratenen, das heißt problematischen Geistern, leicht beneidet und
gepriesen wird). Denn der Grenzmensch ist im Verhältnis zuni
irdisclien Sein nicht wohlgeraten, sein Wesen steht nicht in Ein-
klang mit den Forderungen des Tages. Er ist ungleichmäßig
temperiert, Melancholien und Depre5isionen suchen ihn heim und
er kennt wohl ein überströmendes Aufjubeln oder einen Taumel,
der nicht rnu dem eigenen Wesen m Obereinstimraung i^, son-
dern ihm etwas abtrotzen will; aber kein ruhiges Glück. — Es
gibt daher im Werk Dostojewskis keinen einzigen glücklichen
Menschen. Wenn sich seine Menschen freuen, so haben sie etwas
Aufgeregtes und Krampfige% wollen sie sich einmal zum Glück
aufraffen, so werden sie grausam vernichtet (Schatow in den „Dä-
monen'*).
Dostojewski tningt das, was gewöhnlich Glück genannt
wird (und das eigentliche und einzige Ideal des Mittehnenschen
ist ^ Glflck für sich und andere) hi eine ironisdie Stellung. Er
Lack«» Qmam &m 9mH9. It
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verhöhnt das Streben der Menschen, glücklich zu sein, und sieht
es als etwas Verächtliches an. Er kennt vielmehr nur eine reii-
giöse, keine eudämonistisdie Beruhigung. Nur im Sieg der
Liebe, das heißt in der gänzlichen Venüchtung des Teiifliachcn
durch das Qötüiche, kann Erlösung liegen. Der vollkommen
wordene Menach, der neue Christus soll eratdien (zu dem Soo-
sinia das Pi^ogramii gibt); die ,|Brüder KanunttoS'' idttoi fort*
gnefaEt wefdea soUen, Aljoedu, der jflogvie und feinste der
Brfider, war auseraeben, als wiedagdboraier und voUendcter
Mensch zu cfscheinen — aber dies bat Dostojewski nicbt mehr
crfQUen kOtmep«
In seiner allerletzten (wenig bekannten» aber ftuBcnt tief-
sinnigen) Erzihlung „Der Tranm eines ISdiefüclien Menscben"
wird jedoch eine Lösung alles Seelisch-Dämonischen, daß heißt
aller Zweifel herbeigeführt. Die Erzählung beginnt mit dem ab-
soluten Nihilismus, mit der vollkommenen Gleichgültigkeit und
Lieblosigkeit gegen sich selbst und gegen die Welt. „Es ist
ganz einerlei, ob die Welt esdstiert oder ob es überhaupt nichts
gibt." Der Held weiß nichts von den Menschen, er rennt auf
der Straße in sie hinein, ohne es zu merken, sie sind nicht vor-
banden für ihn. An dem Abend, da er sich erschießen will, triSt
er ein bieiendes kleines Mädchen, das ihn anfldht, zur Mutter
zu kommen und zu helfen. Er aber scheucht sie brutal von sich.
Durch diese Begegnung geweckt, vollzieht sich plötzisch die
Innere Uhiwandlung, die gehemmisvoll ans semem Traume wie
ans aemem tiefsten Wesen bervoigcht „Und dann plölzlidi
erfahr ich die Wahiheit". Die Wahihdt aber ist die liebe.
Sein Tranm zeigt ihm die Menschen nnter der Hemchaft der
Liebe, dann in späterer Entzweiung, weil die Uebe schwindet
imd an ihre Stelle die Erkenntnis tritt „Aber ich will Ihnen ein
Geheimnis siigen: das Ganze war vielleicht überhaupt kei[i
Traum 1 Denn hier geschah etwas Derartiges, etwas bis zu solch
dnan Eniaetzen Wahl«» daß es dum ja gar nkht hiUfte Mmnen
lDOfiiien»nttrMqaini.** — Ate Redit ist nur aus den liebloaea
Tun, zu adxur Abwdir cnfatandeo* (Daher ja andi die tieisfen
mocaliadiai Huorin von Mensdien mit vertredierischcn An-
lagen eraoonen worden aind.) sie Verbrecher wuiden, er-
fanden sie die OerecUjgloett und schrieben sich Kode» vor, um
ale zu eriudien, und zur Sldieriieit der Kodexe riditeten sie die
Guillotine auf." — So wird auch hier wieder die Ur-Antinomie
im Menschen gezeigt, aus der alle anderen Gegensätze hervor-
treten; die Liebe und der Mangel an Uebe, die Gleichgültiglceit,
die Kälte (nicht der Haß, denn auch er ist Gefühl). —
In Dostojewski ist die dämonische und die religiöse Angst
wirksam. Bei aller tiefster psychologischer Wahrheit haben seine
Menschen etwas Unwirkliches, Gespenstisches, ^ ist, als wären
sie fortwährend auf der Flucht vor sich selber. Sie stehen am
Moigen mit dem Gefühl auf, daß etwas Schrecldiches geschehen
könnte — und hoffen doch heimlich, daß es geschehen werde.
„Die Angst: das ist der Fluch des Menschen" — sagt der halb-
verrückte Kiriloff in den „Dämonen". — Und die dämonische
Fnrdit aleigiert sich zum physiscfaen Schwindel , der die
seeUscbe Disharmonie im Körperiichen spiegd^ steigert sich hi
der Epilepsie zum pathologiadien Furchikrampf.
Wlhrend die Minner Doah^ewskb Vertiredier oder HeUigie
oder beides zugteicfa sind, äuBot äch die Zerrissenheit sehier
Frauen nicht auf ethischem, sondern auf physiologischem Gebiete.
Der grOBte Teü der Frauen — Sonja, die HeUige, nidit! — Ist
hysterisch. Hjrsterie bedeutet aber fOr ihn nichts anderes als
wiedennn innere Zerrissenheit. Seine Frauen sind zart gebaut,
fein und geistreich, allein ganz unvermutet bricht aus ihnen
ein wilder Haß zugleich nut einer wilden Liebe hervor. Sie
stünnen über alle Schranken und t)egehen Handlungen, die nur
aus höchster Qual zu verstehen sind. — Wie tief psychologisch
II*
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164
ist das wiederum! Fast memals wird ja der innere Zwiespalt der
Frauen schöpferisch, sie zerreißen sieb sdber und fallen in
Kiämpfe. Hysterie ist das Grenzphänomen der Frau *) —
Charakieriatiacb tat endlicfa Doatojewakis Leidenschaft für
das Spiel Das Spid hat veiadiiedene^ ja entgegengesetzte p^-
cholQgisdie Winzeln: den mathematischen und Itombinato-
riscfaen Trid> (Schachspiel), das Bedürfnis» den andern zu be>
siegen und seine eigene Oherlegenheit zu entfalten» und anderes.
Ffir den Mittdmenschcn hdßt spielen, die Zdt ohne geistige An-
strengung und doch nicht ganz untätig hinbringen; för den dä-
monischen Orenzmenscben, vor allem fOr Dostojewski, bedeutet
das Glücksspiel (andere Spiele haben ihn nicht angezogen) : sich
dem Zufall, dem Fremden, dem Mechanismus hingeben, sich in
einen Tauniel stürzen und auf jede Selbstbestimmung verzichten.
Der Zufall, der ja alles Willensmäßige, alles Ethische ausschaltet,
wird für den dämonischen Menschen das Prinzip der Gesetz-
losigkeit und des Verbrechens. In den Stunden, da sich Dosto-
jewski dem Spiele hingibt, ist er ganz dämonisch, läßt er seinem
Hang zum Bösen freien Lauf. Das Spiel wird ihm Symbol der
fremden, der unbekannten Mächte, des Schicksals (während der
Schicksalsmensch, von dem wir später sprechen werden, mit dem
Schicksal auf gutem Fuße steht und sich ihm verbändet weiß,
es nicht furchtet, sondern als seinen legitimen Herrn verehrt).
Ffir Dostojewsld ist das Spiel ein Sühnopfer an den Teufel. —
6.
Ich bm jetzt mit der Analyse Dostojewskis zu Ende und
gehe wieder zu allgemeinenn Betrachtungen über. Das Wesen
des Dämonischen ist Feindschaft gegen das Oute, gegen die
Freiheit; den Grund der PenfinficURii Es erachehit hi
den vccBchiedensten Fonnen und Veildeidungen, ja es
*) Vgl. & 99.
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gibt wohl kein Gebiet des Seelischen, wo es nicht
wirksam sein könnte: Fine nicht zu unterschätzt ende Rofle
spielt das Sexuell-Dämonische und das innig damit
verbundene Obszöne. Es hat keine eigene Existenz, sondern
es entsteht erst aus dem Haß des herabgesetzten Geschlechts-
triet)es gegen eüi Höheres, die seelische oder persönliche Liebe.
£6 ist das Dämonische auf einem besonderen Gebiet^ Wider-
spruch» Rebellion gegen das Wertvolle ün Uebealeben.*)
Das Dimoniscfae kann aicfa feiner theoretisch lufiem:
Der Wille des Mafterialiamtts, daß der Mensch nichts sein dfiife
als Chi ztifiUlig entstandener Komplex von materiellen Teilchen,
oder ein automatisch nach Lust schnappender Organismus, alles
Seelenleben nur die Verfeinerung ursprünglicher Instinkte, kann
dämonisch sein, ebenso die Tendenz, sich im rein Animalischen
zu begiiuoen, den Geist zu mechanisieren und jede seelische
Eigeiiexistenz abzulehnen. Wer im natürlichen Ablauf der Vor-
stelluiigs- Assoziationen das Wesen des üeistesiet>ens erschöpft
siebt, der proklamiert die Oberhoheit des Mechanismus ül)er den
Geist, und die Einordnung des Geistigen ms Naturhafte, Natur-
gesetzliche. Das Gegebene, das doch nur Material für den Wil-
len des Ödstes sein soll, maßt sich so die Herrschaft an, und das
wirkt dämonisch auf den, der die Foidenuig der Freiheit erhebt
Darum ist die Wissenschaft als Selbstzweck
durchaus dämonisch und von rdigiösen Geistem jederzeit so
empfunden worden.**) Sie will die Kette der Gebundenheit ver-
*) Ich habe dies an einer anderen Stelle ausgeführt (Die drei Stufen
&K Erotik, & 340-351).
Man ItM dm tl«Miiiiig«i Aialtalz von W«inlit£«r HWIsMiitdiall
untf KultuH*. der sich dm Wert der Wlsamtdialt lum PMbtem atotlt
Weininger spricht darin vom Dämonischen, aber In einem anderen Sinne,
nimlich im Gegensatze rum Wissenschaftlichen. — Wie in seinem ganzen
Werk liegt auch in dieser Art>eit eine ungeheure Angst. (Über die letzten
Dinge. S. 131-171).
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166
ewigen — das alte Motiv des Willens zum Funktionalismus.
Dämonisch w^ire auch jede geistige Wirkung, die nicht aus
geistigen Absiditen, sondern aus Natiirgeschefaen hervorgeht, die
Auffassung aller geistigai Vorgänge als mechanischer Funk-
tionen des Gehirns — und zuletzt auch die Verwendung des
Geistigen zu ungeistigen, mechanischen Zwecken.*) — Aber
alle diese Meinungen und Philosophien, die ich hier nur ihrer
Tendenz nach andeute, verhalten sich als Theorien indifferent,
Materialisten und Positivisten aller Art sind durchwegs Mittel-
neoscheii, liarmlos und ohne Dämonie, diesen Gefahren nicht
ausgesetzt. Ihr Typus wird uns spater an Spinoza klar werden. —
Die dämonische Macht, welche die Dinge über den MensduD
edangen können, spricht sich am reinsten im Symbol aller Gega-
stSnde, im Extrakt des Materiellea» im Geld aus. Das eigent>
Hebe Wesen des Oeldes ist UnperaOnlidÜBeit und FonnloB^gfceit»
es verkörpert das Relative und Funktionale aller dinghaften Wir-
kungen, ca ist allea und zugtekb nicbts. Der letzte Rest von
Bestimmtiieit wird ihm noch dadurch genoounen, daß das glän-
zende acfawere Gold durch bedrucktea Papier eraebt wird, es
hat nicht einnal mehr so vid Eigenheit, daß es seinen Namen
mit Recht fOhicn dürfte (Odd — Gold; argent).**) Jeder, auch
der unscheinbarste wirkliche Gegenstand trägt doch seinen Sinn
*) Der ärgste Raubbau am Denken ist das Rechnen und je ent'
•thiodener einer zu dmikcn vermag, desto mehr iriid er das Rechnen als
Medunitlerung des Geistes hassen. Hinter seiner scheinbaren Ham«
losigkeit verbirgt das kleine Einmaleins eine tiefe Dämonie. — Wer gerne
rechnet (es gibt solche Menschen), kann gar nicht denken. Sein «stumpfer
Geist wird durch das Spiel der Ziffern ausgefüllt (ähnlich der Wirkung
des IWtenspiels auf inferiore Geister). — Da JMathematik und Rechnen
Gsfsnsilie sind, Ist aiiiunelniien, dat ein ridiUger Mafliaaiatlker nicht
rechnen könne. — Ich habe selbst mehrmals die Beobachtung gemacht,
daB Menschen, die gerot rechnen, nicht den gsfingsten Sinn für Mathe*
matik fiaben.
♦♦) DaB das Geld in jedem Staat anders ist, haftet ihm noch als ein
Maofst an und wM auch so empAoidsit.
167
in sich adtiet Er entspricht, fast darf man es sagen, einer
kfee. Der chrfacfaste Stuhl offenbart seme Bestimmung;
muB er als Brennholz dienen, so wird cfieser Bestimmung^ Gewalt
angetan. Dieser monadische Charakter, den jeder Gegenstand
besitzt, ist dem Geld seinem Wesen nach fremd. Denn es ist das
Formlose, das Mittel an sich, das seU)er nichts ist, aber zu allem
heüen kann.
Das Bedürfnis, Geld zu besitzen, ist das Bedürfnis, Herr
über die Funktionalität zu werden, nicht von den Dingen abiän*
gig zu sein, sondern sie zu beherrschen — also ein durchaus be-
rechtigtes und sogar sittUches Streben. Und solange das Geld
dem Menschen als sein proteisch wandelbarer Sklave dient, behält
es diese natfiriiche und sinnvolle Bedeutung. Aber es ist die Dä-
monie des Mittel sich unmerUidi zum Zweck aufzuweifen und
den Menschen, dem es doch dienen sollte, zu unterjochen. Den
meisten fehlt wohl das Verständnis dieser Dämonie, weil in ihnen
nicht die Kraft der entgegenkampfenden Persönlichkeit lebt.
Wenn sie nach Geld gehen, so tun sie nur, was ihnen gemäß ist,
denn die Relation zwischen Mittel und Zweck bleibt ihnen ver-
borgen, sie sind selbst Mittel und Zweck zugleich, ebenso wie
das Geld, um das sie ringen.*) Läßt sich aber der höhere Mensch
vom Gdde knechten, so verzichtet er auf die Kraft und lebendige
Freiheit seiner Seele und macht sich zum Sklaven des Starren»
Toten, Funktionalen, kurz des Dämonischen. Mancher KünsÜer
liat den Erwerb von viel Geld mit dem Volnst «einer Seele be-
zahlt Denn was scheinbar gefügiges Mittel für höhere Zwecke
ist, hat die Zauberkraft, alles der Freiheit zu berauben und in
seinen sedenlosen Mechanismus hineinzuziehen; der Mensch
bfiflt sich selber ein, er wird zum Sklaven der Dinge.
*) Aber auch sie haben eine Ahnung von der Niedrigkeit, die in der
Verkettung von Mensch und Geld liegen kann, denn mancher nennt sich
wohl ^Hausbesitzer" oder „Gutsbesitzer**, niemand aber „Geldbesitzer".
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Ich werde in dem Abediiiiit JxMMSbk^ oachweisen, daB
das Ich der F r a tt e n finr ihr eigenes OcfiUd mehr am K0c^
an der Seele haftet Und darum pftefft man auch mit dem Um-
wechseln ihier aelbat in Odd» mit Prostttutiofi, mehr das Ver-
Icaufen des Kdrpeis als der Seele zu meinen. Wo es anders ver-
standen wird, siedet schon eine bestimmte Ethik dahinter.
Das Odd als die Abstraktion alles Oegenstindlichen ver-
leiht jedem Ding die ihm innerlich fremde Möglichkeit, durch
dne unbenannte Menge ersetzt und so der eigenen Wesensart
entkleidet und qualitativ wertlos /u werden. Alles wird mit
allem vergleichbar, alles wird ,,käuflicii". Das ist fürs prak-
tische Leben wohl ein entscheidender Vorteil, zeigt aber wieder
ofien di^ Gefahr der Individualitätslosigkeit. Was in einer ab-
strakten Fonnel, die vom (gegenständ selber nichts mehr enthält,
restlos ausgedruckt werden kann, das hat jede IndividuaUtät ver-
loren, ist in Relationen verflüchtigt. Denn das Geld entspricht
keiner Idee als der der formlosen Menge. So ist es allerdings die
Vollendung des Gegenstandes, der Gegenstand an sich, man
könnte sagen, die Idee der Gegenständlichkeit, aber ohne An-
schaulichkeit und Relation. Es könnte kurz „das** heiBen (nervus
rerum). hisofem entspricht die Gddwiitschaft der nahuwissen-
schaftiichen Denkweise^ die ebenso die Tendenz hal^ alles unwiik-
lich, abstrakt zu fassen und ran zahknmftBiif auszudrOcken. Im
Oesensatze zur naturwissenschaftlichen Fonndwelt herracht in
der konkreten Wdt des Kfinsflers Achtung vor den Oegenst&nden.
Die dämonische IMt des Dhifl^uriien ist im Geld am ent-
schiedensten veikörpert, liegt aller öar Möglichkeit nach in allen
Objekten. Wer Bilder, Bücher oder Kuriositäten sammelt, um
sicli an ilinen zu erfreuen, schwebt jederzeit in der Gefahr, Sklave
seiner Besitztümer zu werden. — Am entschiedensten sieht man
diese perverse Unikehruni^ von Mensch und Ding in der mo-
dernen Technik: Zuerst ist alles Technische dem Bedüifois
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entepningen» von d« Dingen unabhängig zu wenten, sie aicli
dienstbar zu machen (genau wie der natürliche Wunsch nach
Geld). Je weiter aber die Tecfanilc achrritet, desto enfaddedener
entfaltet sich die ihr innewohnende dämonische Tendenz, über
den Menschen, der siö doch für seine Zwecke erfunden hat, Herr
zu werden Im modernen I n d u s t r i a 1 1 s m u s ist die Ver-
einigung der beiden Mächte: Oeld und Technik vollzogfen; was
seiner natürUchen Bestimmung nach dem Menschen dienen
sollte, das will ihn hier — am klarsten unter der verantwOT-
tungslosen anonymen Form der Aktiengesellschaft — zum Knecht
machen. Es zerstört seine Gesundheit, zwingt ihm Bedürfnisse
auf, die er nie besessen hat („Kaugummi"), kvaa, ordnet ihn
dämonisch in den Automatiaaius der Dinge ein.
Ich will noch zeigen, wie sich die dämonische Sinnesart
auch hinter Eischeinungen von zweifelioe kultureltem Werte
vertilgen kann, und erinnere an die Ehiteilung der geistigen
Menschen m bewahrende und schaliende (seiende und weidende).
Es ist die natihrlicfae und kulturell wertvolle Stellung des be-
wahrenden Mensdien, alles Kultuigut zu übernehmen und weiter-
zutragen, das Entstehende aber nüt Ehrfurcht und Liebe zu tie*
trachten. Allein die Beschäftigung mit dem Vorhandenen (das
immer das Vergangene, das Alte ist), treibt nicht selten in eine
bewußte oder unbewußte Feindschaft gegen das Werdende, das
Produktive. Ein solcher Mensch sieht leicht alles Wertvolle schon
in der Vergangenheit verwirklicht und glaubt nicht an ein Neu-
werden, das ihm innerhch unsympathisch (weil unbegreiflich)
ist, das er endlich ha(3t und bekämpft. Diese seelische Situation,
die mehr das negative, unprodulctive als das positive, bewah-
rende Element hervortreten läßt, findet sich oft genug; für
manchen Gelefarten bedeutet das Entstehen von Neuem nichts
als eine Störung, er identifiziert es mit dem, was nur für den
Tag geschaffen i^ mit dem Oberflächlichen und Wertlosen; ihm
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Ucgt alles Wcsenflidie in leftigm Fomdiiy wa» ihnen cnl8|»icli^
das ist gaty wag Bie indem will und mnft (weil es lebendisr wdtei^
strfimt), das ist sdikdii Diese OemiUdagie äoBert sidi dann
etwa in der ialadien Wcialidt» daß ja doch schon fidles dar
gewesen" sei, da6 man besser iue^ die unbezweifielbaKn Werts
der Vergangenheit ganz in sich aufzunehmen, als die probkma-
tisdun der Gegenwart zu beachten. Auch die fortwihraide Be*
schäftigung mit BÜcheni treibt leicht dorthin; die Bücher, be-
sonders die alten Bücher repräsentieren ja das Fertige im
Kulturleben, während das Entstehende, noch nicht feft Ge-
wordene in den Köpfen brodelt.
Anstatt weiterer Auseinandersetzunj^en ein Beispiel: Der
Literar-Historiker, der mit der genauen Kenntnis der Verg;an^en-
heit einen (ihm selbst rncht ganz klaren) Haß gegen das i-eben-
dige, gegen das Zukünftige verbindet, möchte das Bedürfnis der
Seele, sich dichtend zu verkörpern, lahmlegen und in Kenntnis
des Voihandenen überführen. Er sagt vielleicht, daß alles, was
heute gedichtet wird, doch nichts sei im Veigleich mit Ooethe.
Das mag, historisch genommen, volUEonnnen wahr sein, ist aber
seiner Tendenz nach gegen das Wesen des Schöpferischen fiber-
haupt gerichtet und gegen alles» was neu ans Licht dr&ngt Man
vergehe mich nicht falsch: Die BeMhaftigung mit literatnige-
schichte kann etwas durchaus Positives und kultnrdl Wertvolles
sein; wendet sie sich aber gegen das, was erst zmn Leben will,
dann nimmt sie eine dämonische Wendung und der Name
Goethes wird zur Waffe des Bösen. (Es kommt ja bei psycho-
logischen Betrachtungen niemals auf den Gegenstand an, son-
dern immer auf die seelische Tätigkeit, die ihn ergreift und handr
habt.) Der dämonische Vememungstrieb, der Haß gegen das
Positive, ist hier am Werk und wird in der Regel von einem
Bedürfnis nach Macht in Bewegung gesetzt — Manch einer, der
als Dichter vemnglfickt ist, stillt in dieser Position allzu ofien-
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171
Inuidig seine Ridie gigm alle» SchflfiferiaG^ Die AutorHSt des
Toten mU das noch nkht mit Antorittt snegestattete Lebendige
venichtat. KooudI aber das Lebendige zur Autorität (das heifil»
ist CS adion mit dem Histonsdieny ndt dem Fertigen in einen Zth
sammenhang getreten)» dann wird es soglddi aneilannt wid
wieder als WaBe gegen Neues verwendet — Alle diese Tendenzen
sind im Orunde dämonisch und dem SdiOpferiscben, dem Pro-
duktiven, dem Guten feindselig. Sie können vielleicht eine ge-
wisse Liitschuldigung finden, weil hinwiederum von anderen —
gleichfalls unproduktiven — Menschen alles geliebt wird, was
nur neu, „modern" ist — und das bedeutet wegen seiner
Wahliosigkeit ein noch ärgeres Mißverhältnis zum Wertvollen.
Sehr häufig kann diese Stellung auf dem Gebiet der
höchsten Werte, auf rehgiösem Gebiet beobachtet werden. Man
verwechselt das ReUgiöse mit dem Oberlieferten, mit dem von
einer Autorität Gelehrten, verwechselt „Glauben" als unmittel-
bare Ckwifilcett eines HAheren mit dem Olauben an historisdie
Traditionen. Das System des mittdalteilidien Katliolizisoiits ist
das größte Denkmal dieser Oeffihlsweise des reproduktiven
Menschen, der sich von der knltuxell wertvollen Stellung des
Bewahrenden zu der dämonischen des Dogmatikers, des
Feindes aller Ld)endigkdt und Produktivität, gewa n delt hat
Die Vergangenheit, die zum Wert entarrt und Religion ge-
worden ist, tritt nun dem lebendigen religiösen Bewußtsein
kämpferisch gegenüber; so kann die Lehre Christi, die aus der
höchsten Produktivität einer Seele hervorgegangen ist, zum
f einde der Religion werden, wenn sie als Medusenhaupt der
Autorität erhoben wird und das ewig lebendige religiöse i3e-
wußtsein lähmen soll. Wir haben gesehen, wie der (jroß-lnqui-
sitor Dostojewskis das Wort Chhsü dämonisch gegen seinen
Uiiieber selbst kehrt.
Dem gleichen Orundtrieb entspringt die Tendenz zur Oe-
172
heimbfindelei. Oeheimbundter sind Menschen, die eine
Gruppe bilden, sich hochmütig gegen alle anderen abschließen^
ihre Eilcennungszeichen haben und irgendeine Autoiitikt ver-
walten, vor der alles amtoe werfloa ist Dieser Typus kommt in
den vcxschiedensten geistigen Sphären vor, als Sekte mit einem
Propheten, als spiritistisdier Ziikd, der alle Wahrheit aus der
Mitteilung andersartiger Wesen empfingt, als Frdmauiertamimit
Symbolen und Riten, als Theosophie, die eine Urweisheit aner-
kennt, vor der gewöhnlicher Menschenverstand ohnmächtig ist,
und sogar als Oehetmbund schlechthin, der nur irgend etwas
Heiliges ffir sich haben will.*) Alle diese Richtungen besitzen
irgendeine fertige Wahrheit und lassen daher keinerlei Neuwerden
gelten, sie entspringen der Sinnesart reproduktiver Menschen,
die sich in dämonischer Machtbegierde gegen das wirklich Schöp-
ferische gekehrt tiaben, Überlieferung für Einsicht nehmen und
die eigene Sterilität verewigen wollen. In der Geschichte kann
man beobachten, wie aus Geheimbünden Staatskirchen werden,
ohne daß sich psycholc^isch irgend etwas geändert hätte. —
Regelmäßig ist bei solchen Menschen Haß und Ranküne gegen
jede Produktivität anzutreffen, die ja das ein für allemal Gegebene
nur verwirren könnte; und oft genug sind es verunglückte
Seitistdenker, die sich nun an alleoi wahrhaft Produktiven durch
ihr unerreichbar über allem Menschlichen tronendes Heiligtum
riehen. — Vom Oeheimbund führt ein Weg zum Veft»echer*Koa-
sortium, das nicht minder seine heilig gehaltenen BrSuche pfl^
— wer sie preisgibt, wer g^gen sie verstößt, hat sich das Todes-
urteil gesprochen. —
Zum Schluß mdge noch ehi seelischer Zustand beschrieben
*) Der Geheimbündler trivialisiert sich zum Vereinsmeier» dem es
nldit mdir um «Inen Qlaubm, «Ine Obefzwigung zu tun ist, sondsm nur
um etwas QberlMU|)t, das er mit einer Gruppe gemditsam besitzt Er ist wohl
stolz, einer Gruppe anzugehören, aber das Bedürfnis, auf die anderen Men*
sehen herabzusehen« ist bei ihm weniger zentral, er fühlt sich nicht als Adept.
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werden, der mit dem dämonischen vcPA'andt ist, aber eine mildere
Form darstellt. Ich meine die Verbitterung. Auch Ver-
bitterung ist Haß g^en das Gute, Haß, der durch erworGene
oder eingebildete Erfahrungen entstanden ist. Wer einmal das
Gute mit alter Kraft gewollt hat und dann immer wieder die
Enttäuschung erlebt, daß es sich nicht durchzusetzen vermag, der
kaamit leicht zu dem Seelenzustand, den man als Verbittemiig
bezddmet Man hat die zwelielhaffee Rolle kennen fgdemt, die
alle edlen Bestrebungen inr der Wdt spielen, UlBt mehr und mehr
mit der inneren Anspannung nach und neigt sich, zuent wider-
strebend, dann wohlgefiUlig dem Oememen (der allüglichen
Form des Btan), etwa mit dem Leitsatz, der eine Art Entacbul^
digung vorsient: „Man muB mit den Wölien heulen/* Da die
guten Bestrebungen ja doch zu nichts fahrten, lieBe man sicfa's
besser im Hergdirachlen wohl sein. Und eine gewisse Zufrieden-
heit tritt ein, daß man sich nicht weiter zu bemühen brauche, eine
hämische Freude, daß das Schlechte die Oberhand behält; sich
damit abzufinden, scheint sog^ar ein Zeichen von Überlegenheit.
Um die Verbitterung zu nähren und saclihch zu stützen, werden
gierig die trfahruniren auf^xesucht, die den Sieg des Sdilechten
zeigen. Der Zusammenhang mit der dämonischen Sinnesart ist
deutlich. Dabei vergißt man, daß das Gute eine Aufgabe ist,
die der Mensch verwiildichen soU, nicht der naturgemäße Zu-
stand der Welt. —
Viel häufiger noch als die eingestandene Verbitterung ist
die unbewußte, die im Dunkehi bohrt und nur hin und wieder
einmal, in einem Wort, mit euiem Lachen hervortritt, sidi vid-
leicht als Ironie äußert.*) Viele der begabtesten Menseben un-
serer Zeit tragen diesen Dimon in der Seele, und es gibt wohl
nicht ehien, der ihm nicht schon hegtet wSre. Vert)itterte
sbid der Künstler, der nicht mehr an die Menschheit
*) Zur IrmUe vgl. den Abschnitt über das Homi&che.
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glaubt und sich mit einer gewissen Freude im Häßlichen und
Gewöhnlichen behagt; das enttauschte altgewordene Mädchen,
das das Glück anderer nicht sehen kann und bespöttdt —
Ooeifaes Prometheus freilicb lacht über die Enttäuschungen, die
ilim nicht erspart geblieben sind — „Wähntest du etwa, ich sollte
d» Leben baesen und in Wästen flielieii, weil nicht alte Blfltenr
tfäiiBie fdtttea?"
Es gibt endKcb noch ehie andefe^ Hefeee Veiblttanmg^
Veibitfcening Aber alch adbsl^ die dne Art vm SelbelhaB ist und
au! der Effohrung dgener UnzuttngHchkeit beruht: man will
äch die Wahifadt idcht recht euigeatefaen und vennag «di doch
auch nicht zu beecheidai.
Afle (fieae BittertRiten, denen num eine gewiaae Boecfatigun^
nicht abstreiten kann, werden wieder karikiert, wenn die erfolg-
reiche Mittelmäßigkeit von den Enttäuschungen und Zurück-
setzungen spricht, die das Große zu erdulden hat. So klagt etwa
ein mit Fünfzigtausend bezahlter Tenor über den Undank der
Welt — denn er muß immer an den anderen denken, der eine
Gage von Hunderttausend bezieht. —
In Harmlosigkeit und Bchag:en, in die freundliche Gewohn-
heit des Daseins und Wirkens kleidet sich die Dämonie des
Alltags. Das geschäftige Dahinleben, die natürliche Sphäre
des MitteUnenschen, kann für den problematischen Menschen
zur Versuchung des Nichtigen werden, in ihier Selbstverständ-
lichkeit und Indüerenz dämonischer als OroBea und Schreck-
liches.
7.
Symbole des Dftmonischen sind Bilder, die un-
mittdbar und ohne wdieies Nachdenken das Gefühl des Ver-
derblichen, Bdaen zu erwecken vermögen. Und diese Gewalten
des Unmenschlichen, des Bfinden und Toten müssen eine Bc-
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Ziehung zum Menschen und seiner Freiheit haben, müssen in
geheimer Verwandtschaft zu ihm stehen. Würden die Teile und
Kräfte im Menschen, die dem Seelischen, dem Persönlichen ent-
gcseogesetzt sind, auf eigene Faust tiUtg werden, dann müßte
etwas Unheimliches von ihnen ausgehen (man stelle sich etwa
einen allein lebenden Fuß vor oder ähnliches). Und so gibt es
Tiere» die wie Symbole des Dämonischen wirken. Die Spinne,
der Tausendfuß, der Polyp, die MaulwuifsgiiUe haben adt Jeher
ab dnlhaft und unheimlich gegolten. Sie sdieinen nur aus
Gliedern, sogar aus verrenkten und entarteten OUedem zu be-
stdien. Was im Menschen und bei den wohlgebildeten Tieren
harmonisch angeordnet ist, das sehen wir hier karikaturenhaft
verzerrt, solche Tiere sind uiis ungemütlich und sogar unheim-
lich. Hingegen erwecken die großen Raubkatzen, die dc^Kih
weitaus gefährlicher sind, unser Wohlgefallen; wir legen zwar
keinen Wert darauf, unbewaffnet mit ihnen zusammenzutreffen,
aber sie ekeln uns nicht im geringsten an, sie erscheinen uns
sogar schön. — Daß der Affe, die absolute Karikatur des Men-
schen, als teuflisch empfunden werden kann, ist schon frülier er-
wähnt worden.
Die eigentlich tellurische Funktion, die Grundhmktion der
Materie und besondero der oiganisdien Materie^ ist aber nicht
CMfen und Festbalten, aondem Eiosdiliiigen, Veidauen, Assi-
milieren. Alks auflösen und sich gleich machen, ist geradezu der
U rtrieb der M ater ie , da% was dm Oertüteten und bidl-
vidualisierten, dem PersQiilidien als Erbfeind gegenfibeiatehi ~
Dies Einsdllingen und Verdauen erscheint in der Schlange
am handgreiflichsten symbolisiert, sie ist darum sät jeher als
das eigentlich diimonische Tier angesehen worden. Schon in der
Schöjrfungsgeschichte gilt sie als Verführer zum Bösen. Der
Orund für dieses weitverbreitete Gefühl*) ist nicht etwa ihre
*) „Die Schlang« mui doch dem MMisdiM von jeher des gfilUchete
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große Schlauheit (die sehr dahinsteht), sondern ausschließhch
die Form ihres Leibes. Für den unmittelbaren Anblick stellt er
nichts vor als einen einzigen Schlauch, der alles in sich hinein-
würgt und assimiliert Er hat keine üiieder und genau genommen
auch keinen Kopf, nur einen riesigen Rachen, das Werkzeug- uad
Eingangstor des ganzen Tieres, das nur ein Verdauungs-
Apparat ist. Und wir empfinden Zerstörung aller Form im
Einschlingen und Verdauen als Entindividualisierung, als niemals
auttetzendes, dämonisches Tun der Materie in ihrer tmgefaeuren
OlddigQltigiEeit giegen gefbnntes» persönliches^ werbroUes Sein.
— Ebenso verfallt es äch mit fleiscfafrasenden Pflanzen, die
Vögd festhalten und lebendig verdauen. —
Fast immer süid Teufel nnd Dfimonen häßlich dBSgpMUt
wofden» das Mittelalter kann sicfa nicht genug tun, sie als Hasser
Oottes, zlhnefletBcfaend und boshaft lachend, in tierShnlicben
üestaltea zu bilden — Verzerrungen des Menschen. — Aber die
Legende weiß auch, daß Luzifer der schönste aller Engel gewesen
sei, und immer wieder erscheint (besonders in nachmittelalter-
Ucher Zeit) der schöne und traurige Dämon. In ihm ist keine
Sinnlichkeit und keine Schwäche, nur reiner Wille — aber der
ist ins Gegenteil verkehrt: der Sohn des Lichts hat sich zum
Herrn der Finsternis gemacht. Unbegreiflich groß ist die Qual,
die in ihm gSrt, denn seine Essenz ist Freiheit — die will er
verdunkeln nnd zunichte machen. Nun ist sein Wille Haß gegen
Oott, sein einziges Ton Selbstmord. Dieser Dämon ist schön —
M von der Unreinfaeit und dem Odlist der Materie; tnutf^,
denn er hat Oott im Hefeten nicht abgesagt; er sehnt sich nach
ihm — und vermag doch seinen Trotz nicht ztt fiberwinden. An
dem Tag, da er Reue empOnde; da er wieder frei werden wcflUe
von Qual und Haß — hätte das Böse aufgehört zu sein.
Tier gewesen sein, daß schon das erste Menschenpaar mit Ihr in feind'
Udw beacbmg gebracht wird.*' — Hebbel, Tagebucher. II, 240,
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4. DAS ERHABENE
1.
Wenn wir auf eiiiMmcm Beigcsgipfel von der Nacht über-
rascht werden, wenn wir In eine tiefe finstere Höhle hinab-
steigen, aus der es seltsam rauscht — dann kann ein OcfGhl über
ans kommen, das der Furcht verwandt Ist, ein Onnien vor
lätselhaften und gehefannisvollen Mächten der Natur, das OefilhI
des Dämonischen, das wir in der Natur wiedeffinden. Naive
Völker haben ähnliches (wenn auch weht nicht gleiches) cdebt,
wenn sie einsame öde Gegenden, etwa graue Klippen im Meer
cxier die Höhen der Alpen mit sonderbaren und dem Menschen
verderblichen Wesen — mit Sirenen und Faunen, Nixen und
Trollen — mit Naturdämonen bevölkert haben. Diese unheim-
lichen Mächte abzuwehren und zu bannen, suid an solchen Orten
später Kreuze und Kapellen (Zeichen rein menschlicher Macht)
aufgerichtet worden. — Wir, die wir nicht mehr an die leibhaf-
tige Existenz von Elementargeistem glauben, finden doch, einsam
Aber Felsenberge schreitend, ein Gefühl wieder, das mit der d^
monischen Furcht innig zusammenhängt (mit der Furcht, sich zu
verirren oder zu verunglüdien, aber nichts gemein hat). Wir
erachaudem vor dem Oro6en, Toten, Starren, das uns mit der
ganzen Wucht des Fremden, Schicksalhaften anrührt Dies ist
das Oeffihl der Naturdftmonie:
Der dämonische Schauder vor der Natur wandelt und ttuteit
sich hl dem, der nicht nur fnis Dimonische Versündnis hat,
sondern auch noch SsttictisGh symbolisierend zu empffaiden ver-
mag, zum Gefühl des Erhabenen. Was anfinglich die DSt-
monie der eigenen Seele widerspiegelt und wie ihre achtbare
Projektion aus den mächtigen Formen der Natur zurückemp-
iangen wird: das kann als groß, als erhaben umgedeutet werden
und die innere Ruhelosigkeit erlösen. Die Öde eines zerrissenen
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178
H(:x:halpenkars erweckt zuerst, als ein Bild des Starren und doch
übermächtigen Dämonischen der eigenen Seele, Grauen; aber
dieses dämonische Orauen kann sich zu reiner Erhabenheit
wände ein Sturm überm Meer, der Ausbruch eines Vulkans
vermögen den Kampf der Seele zu spiegeln — und zu beschwich-
tigen. Denn die dämonischen Mächte sind hier ins Beieich des
Astfa eä sc fa ca gefaobeo und in objektiver Anschauung geläutert.
Das Bewußtsein des Tragischen, des Kampfes
zwischen den Mächten des Schicksals und der inneren Kraft
der Seele, wird in der Natur als Erhabenes
wiedergefunden.
So BptegtH das Eihabene der Natur zuerst den tragischen
Kampf der Seck^ um endlidi daa Oeföhl des Sieges, der
höchsten Auiflsung des tragischen KoniiUs» zu wecken. In
der Efananiheit der Olelsdierwelt Ifaidet das zerrissene OemAt
Frieden und Verklärung. Der seelische Zustand des Erhabenen
gipfelt in der Überwindung der dämonischen Mächte, in der
Klärung alles Zwiespalts der Seele. Er schenkt als erreicht und
vollendet, was der tragische Kampf nur selten oder niemals zu
gewinnen vermag. Denn das Erhabene ist das Tragische der
Seele selbst, das in der Natur widergeahnt wird und das Gemüt
von Zerrissenheit und Furcht zu reinigen vermag, tiefer als jede
Tragödie. So kann man das Erhabene als das Natur-Tragische
— oder noch zutreffender das Tragische als das Erhabene der
Seele venteh». Wie aUea fiedenlende sind Erhabenheit und
Tfagik kefaie Ocfühle der Lust oder der Unhist (auch nicht „ge-
mischt); diese zum Oberdruß abgeleierie und noch dazu
falsche Schablone bleibt hier wie immer ganz aus dem SpieL —
Nach Kant besteht das Wesen des Efhabenen darin, daß
wir vor der Oröfie der Natur unsere Ohnmacht als schwache,
abhängige Wesen empfinden, aber zugleich eine Freiheit von der
Natur in uns entdecken, die uns iiber sie erhebt. Wir begreifen,
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daß uns die Natur zwar in Wirklichkeit vernichten kc»nnte,
kommen aber zum Bewußtsein unseres ewigen Selbst und seiner
unzemtörbaren xMajestät.*) Mensch und Natur stehen sich als
feinde geg;enüber — und der Mensch bleibt Sieger dadurch, daß
er die Realität des verderblichen Geschehens ins Symbol der
Größe wandelt, daß er es vcnnag, eine eijrentümliche Finheit von
Ethischem wid Ästhetischem — das Bewußtsein des Erhabenen
zu bilden. Kant deutet das Gefühl der Beklemmung, das einen
vor großen Natur-Szenerien befallen kann, als Furdit vor der
wiikUcfaen Vernichtung, vor der OeGOudung unseres Lebens, die
aber vom Bewußtsein der Ewigkeit fiberwunden wiid. — Hier
sind zweifellos die beiden Orundtaisachen im Bewußtaehi des
Erbabenen: Fuidit und Oberwindung der Furcht, erkannt und
festgestellt Aber es will mir doch scheinen, daß das Oeffihl un-
bestimmter Furcht, das zum Erhabenen gewandelt werden kann,
nicht die gemeine Furcht der Kreatur, sondern die dämonische
Angst vor den Mäclitea der Seele ist, die in den Mächten der
Natur ihr un ab weislich es, jeder Willitür enthobenes Symbol
finden. Nicht dadurch, daß sich der Mensch über die Todes-
furcht erhebt, wird das Gefühl des Erhabenen lebend!]^, sondern
dadurch, daß er den inneren Kampf in einem großen Bilde an-
schaut, ästhetisch verklärt und überwindet Geraten wir einmal,
etwa bei einer Beigpartte» wiiklidi in Todesgefahr und wnrd der
Erhaltungstrieb unser Herr ~ dann ist es mit dem Gefühl des
Erhabenen auch schon dahin.
Wen das Bewußtsein des Dimonisch-Efhabenen die in die
Außenwelt binehiprojizierte und damit äsfli eti acfa überwundene
dSmonische Furcht iat^ die sich fan eigentüch Erhabenen zum Be-
wußtsein des heroischen Sieges der Menschensede über das
Schicksal verklärt — darum kann das Oeffihl des Eiliabenen nur
ein Gefühl tragischer Orenzmenschen sein und zudem nur von
*) Vsm dn Urteilskraft § 2S und 29.
12*
180
solchen empfunden werden, wekhe die FShigkeit der Ssthetisdien
Verzauberung besitzen. Ganz einseitig nach innen gewandte
Menschen vennögen diese Projektion nicht zu vollziehen und
bleiben verschlossen mit ihrem Dämon, so der Mensch des
Mittelalters, der von den Mächten seines Innern ganz im Bann
gehalten wird. — Die Römer hinwiederum, typische Mittel-
menschen, haben die Alpen nicht anders als mit Widerwillen be-
trachtet, ohne den gerin^ten Sinn für ihre üroöartigkeit —
Man könnte dieser Aufiassung vielleicht die Liebe zum Hoch-
gebiiige und zu düsteren Landschaften entgegenhalten, die
in unserer mittehnenschlichen Zeit so stark verbreitet
ist. Aber man bedenke, daß das Erhabene nicht irgend-
einer Ocgend als objektives Meitanal innewohnt, dafi es
sacblich auch nicht an den höchsten Gletachemigionen und am
nichtigen Hhumd haftet. Kant s^gt wahr: „Also Ist die Er-
habenheit in kehiem Düige der Natur, sondern nur in unserem
Oemfiie enthalten.^'*) — Man bann jede beliebige Landschaft,
abgesehen von ihrer Auffassang als erhaben — die Icomplizierte
seelische Voraussetzungen hat — auch lehi Istiietiach-fofmal als
„schön*' empfinden, wobei weniger auf ihre Dynamik und Form-
losigkeit geachtet wird als auf den Zug der Linien und die Ab-
wägung der Farben, die ein geschultes Auge iast uberall ent-
decken Wird Und heute dehnt man die Gefühlslage des Schönen
über Naturbildun^^en aus, die früheren Zeiten sogar als häßlich
gegohen haben (wobei ich aber den Unterton des trhabenen
nicht abstreiten will. Die starke inoderne Naturlid>e hat übrigens
sehr verschiedene seelische Wurzeln).
Das üefühl des Schönen als ZentralbegriÜ^ der Kunst-
Theorie bleibt hier außer Betracht Nur soweit es sich mit dem
— innerlich ganz verschiedenen — Erhabenen kreuzt, muß es
erwdhnt werden. Das Schöne ist seinem Wesen nach Bewußtsein
*) Kritik der Urtdisknfl § 28.
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18t
der Harmonie zwischen der Seele und dem «tigesdiauten
Gegenstand, ea ist aulgdiobener ZwiesfMlt Das Ocfonnte^ sinn-
voll Gestaltete, das innertudb der Weit zu einer neuen abseschlos-
senen Welt Gewordene, erweckt das Gefühl der Schönheit Dem*
gegenüber ist das Kennzddien des Eihabenen, daß es noch
immer einen Zwiespalt birgt, jedoch Aber ihn hhuuiazeigt und
endlich den Sieg des Menschen ahnen lIBt Das Ungeordnete^
Gewaltsame, Formlose ist erhaben, in dem das Chaotische und
Elementare des Naturgeschehens seinen sinnlichen Ausdruck
findet. Das ganz bföondere und mit nichts /u vergleichende
Gefühl des Erhabenen, das etwa aus Kants berulimten Worten
spricht: „Der bestirnte Himmel über mir und das Sitteagesetz
in meiner Brust", wird nur dem Menschen fühlbar, der etwas
von eigener Zwiespältigkeit und lirlosungs-Beduritigkeit in die
Natur hineinzulesxen hat, der aber auch den Willen zum Si^,
„das Sittengesetz in meiner Brust'', kennt; den die Einsamkeit
seiner Seele schaudert, der diese Einsamkeit aber in übermäch-
tigen Bildern der Natur wiederzufinden vermag. Und sie tritt
ilim verwandelt, nicht mehr quälend, sondern erhebend gegfen-
über. Das Gefühl des Erhabenen ist eui Gefühl des emsamen
Menschen und zn zweien übeihaupt nicht mehr erreichbar.
Einsamkeit ist die sediadie Situation des Grenzmen-
schen, der sich unmittelbar vor die Welt, vor alles Sein hmgje-
stellt weiß und der diese Sieltung als eine definitive und verant-
wortungsvolle empfindet. Sie ist entgegengesetzt dem am^ld-
cfaenden wSrmenden Zusammensein, dem natürlichen Zustand
des Mittehnenschen; sie kann die Seele in Stunden der Größe
und Geschlossenheit zu einem höchsten Bewußtsein führen,
zum MücTOkosmos ausweittn, aber auch in Beklommenheit
und Melancholie versenken. Emsamkeit ist kein aulkrer Zu-
stand, sondern eine Grundanla^^c der Seele, ein Kreis, der um den
Menschen ist, wo iomier er sei, mit wem inuner er spreche; und
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das idnste tmd konzcntfierinie Gefühl de» Einsamen, seine
RedilMIgung imd Wdhe Ist die Eriiabenheü*)
Z
Es Ist kdn Zufall, daß dar eine die Beige am meisten llcli^
der andere das Meer, der dritte die fruchtbare bd>aute Ebene.
Die verschiedenen Formationen der Landschaft entsprechen ver-
schiedenen Zuständen der Seele, und man kann für viele eigen-
artige Menschen eine besondere Landschait finden — prophe-
zeien! — die ihnen am meisten gemäß ist (wenigstens zu einer
bestimmten Zeit ihres Lebens). Es gibt Menschen, die niemals das
Meer des Südens gesehen haben und die doch wissen, daß ihnen
sein Anblick die höchste Befriedigung gäbe.
So Ist es nicht Willlcfir oder Stimmmigssadie, warn wir das
bödiste Natursjfmbol der Eriiabenheit im Schweigen des Stanen-
bimmeis finden. Die Nadit ist dem Bewufiisein der Einsamkeit
und der Eriutbenheit geneifi^ler als der Tag, denn das Licht, das
die Dinge entfaiUlt mid belebt, ist allein sdioa OcseHachaft —
anders wte der Mittag in der völlig leeren Wfiste. Die Sterne
sind |a das einzig Sichtbare in der Natur, das niemals für uns
zu erreichen ist und das so den Symbol-Charakter nicht verlieren
kann. Ja es gehört schon Wissen dazu, sie überhaupt als sub-
stantiell, als Weltkörper aufzufassen, nicht nur als außerirdisches
Licht. Und dies ist der Grund, daß die Fixsterne (die uns ja noch
femer sind als die Planeten und von denen wir wissen, daß Licht
von ihnen ausgeht) dem Weltgdnhl einsamer Menschen immer
soviel gesagt haben. Der unendliche Raum und die schweigende
*) MeMGlMo, daran natfirildMr Zustand dl« QMaOIgkiit ist» Ung*
weilen sich, wenn sie Gesellschaft und Tltigkeit entbehren. DerMItM*
mensch steht innerlich in beständigem Zusammenhang mit anderen, darum
kann er allein sein, aber nicht einsam. Erhabenheit und Langeweile sind
G^ensätze: nur wer das Gefühl der Erhabenheit nicht kennt (oder es ver*
Utna hat), langweilt sich.
183
Stille des Stemenhiiiiiiicls gewUuen (bemdeis auf der HAhe
eiius Befj^) einen Anblick, der nicbis mehr von Sdunen»
Kampf und Lddenachaft biigt, der aUem cntrfickt iat, was nodi
iilgendwoliin will, was noch dem Botich des Weidena angdiM.
Dieses Bild spiegdi die tiefe Ruhe einer Sede^ de tiber das Tn-
gische hinauagewacliaen, die weise gew<»den iat Der nSchtigie
Himmel ist das Symbol dieser Überwindung, das Symbol
hothsttT Verklärung und Stille. Und zu dieser Schau kann noch
die Vorstellung- von der Harmonie der Sphären treten, deren im-
geheure Akkorde den Raum erfüllen — Der Schein dc^ Mondes
kann solch ein Gefühl nur herabziehen, denn der Mond bewegt
sich und verändert sich, sein Licht ist fahl, trügerisch und, gegen
die Einfachheit des Weltenraumes gehalten, krankhaft.
Ähnlich wie die Stemennacht wirkt der Blick von einsamem
Bergesgipfel, der nichts Lebendiges und also nichts Vergäng-
liches mehr umfaßt. Selbst das Orün, die Fart>e des Lebens, ist
veiadiwmiden oder liegt nur noch steineni in der Tiefe; jede
Erinnerung an Werden und Vergingtidikeit ist dahin. Dieser
Blick laßt uns unmittelbar etwas Ewiges ahnen und ist ohne allen
Vefglddi erhaben. Wehender Wind, eine ziehende Wdhe feOmiea
das reuie OefOhl stßrai, wenn die Landschaft vom Standpunkt
der formalen Schönheit, des Malerischen hierdurch auch gehoben,
belebt werden mag. Damit ein solches Bild „schön" werde,
müßte es abgeschlossen, eingerahmt sein, nicht ins Unendliche
verschwimmen. Ästhetisch vollendet wirkt im Gegensatz zu
dieser erhabenen Vollendung das Bild einer Talmulde, die von
nahen Kämmen umgrenzt ist (das Engadin etwa). - Einen ganz
besonderen Ton kann das Gefühl der Erhabenheit aui einer
hohen steilen Alpmatte gewinnen. Wir sehen die Merkmale des
Let)ens, einige wenige, intensiv gefärbte Blumen stehen im satten
Grün. Aber es ist nicht mehr ganz das Leben unserer Welt Der
tiefblaue Hinunel, das anßerordentiich helle Licht, die gio0e
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Stille — die durch einen fem fallenden Stein noch stärker ins
Gefühl tritt — oöenbaren Leben, das in eine andere Sphäre ge-
hoben ist — Ein kleiner blauer See ad in den Bergen kann in
diese starre Größe die Andeutung: von etwas MeoschUchem
bringen: das Bild der ruhenden Seele im Sein.
Wie nichts anderes kündet das Gefühl auf dem
Gipfel: Einaamkdt Zwischen dem schauenden Menschco and
der Weit hat sich ehie tiefe Kluft geöinet, jeder Ziwimnenhang
mit den Duig!en scheint an^gehoben, idi sdiwebe über dlem
Sein. Und dieser Bilde nhnmt die Wdt zu einem Ganzen zu-
—m i iiP M . «r bebledifft die Sdmsodit nadi Einheit und Vcrldä«
rung, et schenld das Bewofitsein» da6 aUes Gesonderte unter mir
liegt, dafi ich es in einer eimdgen groBen Schau znsanmwn*
gefaßt und überwunden habe — daB ich Welt bin.
Und da/ii konunt ein ganz besonderes (jcfühl des
Raumes. Der Aufblick in die Sternenwelt und der I lefblick
von einem überragenden Gipfel bringen uns den Raum, der
nirgends eine Grenze hat, mit seiner ganzen Wucht zum Be-
wußtsein — was sonst fast niemals der Fall ist Denn unser
Leben spielt sich nicht eigentlich im I^aum, sondern in Räumen
ab, die sMt Dingen und Gestalten besetzt sind und den Raum
selber verbeigen. Der leere, weit crachlossene Raum kann wie
alles Erhabene Schwindd wecken, dämonisch und unheimlich
wirken, aber auch beruhigend und lAutemd. Die VoislelluQgen
Hiefien langsamer und stetiger, alle Hast versaegL — Der ganz
erfüllte Raum hingegen beengt und quält; man kann diese Be-
klemmung in schmalen Tfilem erfahren, die von hohen steilen
Felswänden begrenzt sind (in einigen Teilen der Dolomiten
z. B.).*) Da ist der Kaum allzusehr ausgeiuili, das Atmen scheint
^ Et Ist gar lüdit mmiöglich, daft auch die verstärkte Massenaii'
zlehunj^ auf den Körper unmittelbar ah drückend emphuidfitl wird, wie
die dünne Luft der Höhe zum Wohlbefinden beitrSat
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185
erschwert — um so größer das Olück, darüber hinauszukommen
und die freie Weile zu fühlen. — Noch beängstigender, ja er*
sducdend sind hohe ungtgliederle Mauern, die lang und gerade
hinziehen. Den ganz erfüllten Raum könnte der Mensch eigent-
lich nur im bmerai der Erde kennen lemfln. Wer Je in eü»
fiogweilc odor in einer tiefen engen HfiUe gewesen ist, wud
den Wert ventehen, den der dfene Raum für die Sede hat
Im Gegensatz zur Unendlidikeit des Oipfdhlicks ist die
Unendlichkeit der E b en e begrenzt und prinzipiell anders, weÜ
der Aufnehmende sich nicht abgesondert, einsam fühlt, sondern
weil er mit luneiiigehört. Hier steht er nicht jenseits der Welt,
sondern mitten darin als ein Teil von ihr, und während die un-
fruchtbare Ebene, die Steppe, die Wüste Verlassenheit des Men-
schen in der Welt oder auch innere Leere auszusprechen ver-
mögen, weckt die fruchtbare Et>ene das Gefühl der Geborgenheit
und des Foßdeas. Die Ebene ist der natürliche Ort des Men-
schen, der zu zweien oder in Gesellschaft seine Vollendung findet,
der Oipfel ist die Stelle des Einsamen. — Das innigste Gefühl
von Zusammengehörigkeit, von „Oemütlichkeit" aber bietet ein
eng umgrenzter Raum, etwa ehie Lichtung im Wald oder
noch mehr der O arten, den ein Zaun von der Umwelt ath
scfalieBt Da ist man gsnz eingewachsen und fühlt nicht übet die
enge Grenze huuuis. Die Natur ist ehi geordneter, menschlich
durchgefühlter Raum geworden, fast wie ein gepflegtes, an-
behndndes Zimmer. Der Garten stellt den Obergang von der
Natur zur Menschenwelt dar. (Selbstverständlich hat jede Fonn
des Gartens ihre besondere psychologische P.edeutunßf.)
Die fruchtbare Ebene (noch mehr das Hügelland) und der
umgrenzte Raum sind die eigentlich u n t r a i s c ii e n Land-
schaften, in ihrer bunten Mannigialtit^keit nicht erhaben,
sondern lieblich und die natürliche tieimat des mittleren, des
idyllischen Menschen. Bei ihm ist der Sinn für das Malerische in
186
der Natur der dem Grenzmenschen nicht selten fehlt — oft-
mals stark ausgebildet. Fast alle Maler sind Mittelmenschen
(viele Bildhauer Orenzmenschen). Der Idylliker kann, wie mit
anderen Menschen, innig mit einer Landschaft verwoben sein,
in ihm lebt der Sinn fürs einzelne und die große Liebe dafür.
Jean Paul hat sich im Hügellande ganz heimisch gefühlt; als man
ihn in München bewegen wollte, die Alpen zu besuchen, konnte
er sich nicht dazu entschließen. Er hatte die natürliche Abnd-
. gUQg des Idyllikers gegen das Gebirge (die sich zur Beängstigung
Mgirni kann). Und Gottfried Keller weiß nichts von der Größe
seiner Heünat, m der sonnigen Ebene und in den winkeligen
StSdldien Ist er zu Hause gewesen. — Der naive Mensch^ der in
seine Umgebung hineingeboien und eingewachsen ist (der ho-
merisdie Oiiecbe etwa) hat kern wiildidies VeitUUtnis zur Landk
Schaft; er muß sich erst innerlich von ihr ablösen und ihr gcgen-
fibertielen, damit ein echtes Veihältnis entstehen kdnne.
Die prangende Schönheit der südeuropäischen
Natur verkörpert die Vollendung des irdischen Lebens, das
Glück media in vita. So stark wie nichts anderes vermag die
sinnUche Fülle der italienischen Landschaft Lebensfreude aus-
zusprechen. — Und dies sinkt an der flachen warmen Meeresp
kuste bis zur verscUafenen Trägheit —
Während der regungslose Winter und der Hochsommer
(ebenso wie Mittemadit und Mitlag) das Ruhende und in sidi
Vollendete, das, was nicht mehr über sich hinausstrebt, fühlen
lassen und so das Zeitlos-Ewige symbolisieren, finden wir in
Frühling und i lerbst (wie in Morgen und Abend) das Lthos des
Werdens und des Vergehens wieder. —
Diese Beobachtungen wollen zeigen, wie ein Naturkreis
euiem Menschen innerlich zugdiAren kann. Sie lassen sich sdbst-
veisündlich nach allen Richtungen vermehren. Dss Gewitter
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187
z. B. spiegelt das blinde Rasen der Lddenschaft (OümUo ist ein
GewiUer in McnsclieqgcsteltX den KiamA den Geadilechisaki
— Die Hellte Im Bog ist das Dimoniscfa-Odieinmisvolle der
Sede^ an dem man lange vorQbefgdity ohne es zu merken oder
merken zu wollen, und das sich einmal unveisehens schaudernd
auCschließi Eine Höhle, die mit phantastischen Tropfstein-
^^estalten bevöUcCTt ist, vermag eine ganze Welt des Halbbe-
wußten, des Träumenden zu verbildlidien, die Unterwelt der
Seele, ein Reich des Märchens — aber auch des Grauens. —
Nicht alle entschiedenen Menschen haben ein widerspruchs-
loses und klares Verhältnis zu einer bestimmten Landschaft. Bei
manchem tragischen Menschen überwiegt in großartiger Um-
gebung so sehr das Ocfühl des Unheimlichen — des noch nicht
äberwundenen, sondern nur dunkel in der Natur widergeahnten
Dämonischen — daß er sich nicht eilioben, sondern bedrückt
fühlt ErhUt es im HochgeUige nicht aus und flieht ins blühende
Land, zum Frieden, zum Einklang. Ffir ihn liegt Beschwiditi-
gung nldit m der Projelttion der eigenen Sede in die Natur
hinein, er muß sich vidmchr ins andere» üis Entgegenge-
setzte versenken. So hat Beethoven gegenfiber der Landschaft
gcföhlt Beides — das VentSndnis fflrs Erhabene, aber auch die
Sehnsucht nach dem Idyll — shid Möglichkeiten des tragischen
Menschen; und das Bedürfnis nach Größe und Einsamkeit kann
auch zugleich mit dem Trieb zum Lande der Kinder, zum Idyll
bestehen. — Ahnlich kennt der Idylliker Ausflüge ins iirhabene,
von denen er um so froher wiederkehrt. —
Es sei nur angedeutet, daß sich die Stellung des Grenz-
menscben zur Natur in seiner Stellung zur Frau wieder-
holen kann: der eine begehrt Aktivität und Wildheit („dämonische
Frau") — ^ch selbst noch einmal, analog der Liebe zu Stunn
und Gewitter. Der andere will von sich weg und sucht den
Flieden. — Es handelt sich hier natfirlich nur um die Wirkung
188
der Frau auf den Mann, nicht darum, wie sie an sich sein
mag. —
Ebenso wie man instinirtmüfiig ein Verhältnis zu gewissen
Landschaften haben kann, so gibt es auch Menschen, die sich
einem ganzen Bereiche der Nahir verwandt fühlen. Der Fach*
gdefaite, der Berutanenadi, der Sammler lebt in solch cüicm
einzeben Bereich. Als Landwirt, als Oirfner, als Boäuiker
hat der idyllische Mensch eigentfimliche, gemfitlicbe Beziehungen
zur Pflanzenwelt, der er sich nahe weiß (unter den Dichtem z. B.
Mörike; den Frauen licigt die idyllische Pflanzenwelt weitaus am
nächsten). — Der Orenzmensch wird eher von den kosmischen
Erscheinungen angezogen (Dante), und es ist kehi Zufall, daß
Kant, der zum erstenmal das Gefühl des Erhabenen philo-
sopiiiscli eiiorscht, die Theorie der Himmelskörper ausbildet.
Auch Poe hat sich fortwährend mit der Stemenwelt beschäftigt,
er hat eine phantastische Kosmog"onie Heureka ') und eine
(bisher nicht überset/te) Stcniendiciituni^^ Al-Aaraaf geschrieben.
Er sinnt über einen ga^heiminsvollen Zusammeiihaiic, der mensch-
lichen Seele mit den Sternen und glaubt, die Leidenschaft könnte
solch eine kosmische Kraft gewinnen, daß ein neuer Stern im
Wdteniaum entsteht. („Die Macht des Wortes.") — Ooethe ist
dem ganzen tellurischen Kreis nahe gewesen, den Heien, den
Pflanzen, den Wolken, vor allem aber den Sternen; dagegen hat
er sich niemalii mit Astronomie befaßt. Nur vom Licht ist er
im Bann gehalten worden. —
3.
Die tragische Zerrissenheit der Seele, ihre Dämonie und ihr
Sieg, kann so ein anschauliches Widerspiel in der Natur finden.
Aber auch die Betrachtung eines großen Menschen und seiner
Taten und Leiden wirkt nicht anders auf uns als ein erhabenes
Naturgeschehen — und erst jetzt erschhel^t sich uns ganz der
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189
Sinn der Tragödie: sie zeigt als ästhetisches Schauspiel
im tragischen Kampf ond im tragischen Si^ das Erhabene nicht
an einem Vorgang der Natur, sondern an der Entfaltung einer
groi^en Seele und lehrt uns neben dem Natur-Erhabene ti
das Seelisch-trhabene fühlen. Wir verstehen, daß das
Erhabene das anschaulich gewordene Tra-
gische ist*) — Die Spannung des tragischen Kampfes ent-
spricht dem D&mofusch-Eriiabenen in der Natur, dem Gewitter
in den ficfgen, dem Sturm öbenn Meer; und wenn wir das
Seelisdi-Eitiabene in menschlichem Leiden und in menaGhUciher
OrSfie betnuhten, so enthQlIt sich uns» wie vor der Majesiät des
Stemenhimmetey das Ocfuhl des Ohcrtrsgiachen, Weisen. In
diesem Sinn ist der Feldherr eihaben, der seinen Sohn zum Tode
führen läßt und un Bewußtsein höherer Notwendiglieit und er-
fiUlter Gerechtigkeit keinen Sdunerz aneriramt; ist Solarates ei^
haben, der schon den Todestrank genossen hat und die Ruhe des
Gemütes nicht verliert. Dieses Seelisch-Erhabene veriiält sich
zum Erhabenen der Natur wie Wirklichkeit, die aber nur er-
schlössen werden kann (aus den Taten und Worten eines Men-
schen), zum unmittelbar angesciiauten und verstandenen Bild
*) In dem Absdmitt über den Schicksalsmenschea werden wir sehen,
dafi mancher Mensch auch immlndbar a!s liatUT'Edubenee (nlcht alt
Seeliecti'Erhabenee) empfunden werden kann.
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5. DÄS KOMISCHE
1.
Wir haben das Tragische als eine allgemeine und prin-
zipielle seelische Situation beg-riSen, die sich im Kunstwerk als
Ästhetisch-Tragisches verkörpern und widerspiegeln kann. Das
Komische, das damit innig verwandt ist, besteht n u r als ästhe-
tisches Ptaanofnen; es ist nicht ein in sich beschlossener iimefcr
Zustand — als solcher entsprechen ihm Beachaulidikeii^ Heiter-
keit, Zufriedenheit — nicht eine Art zu sein, Boodeni nur eine
Art, Dinge und Menadien anznachcn. Und zwir muB auch hier
wie behn Traglechen ehi Zwieepidt bestehen; aber dieser Zwie-
spalt ist zum Kontrast, zum Widenpiuch abgeschwicfat, der
sich zwischen Gegenstand und Beschauer auftui; oder der hn
Gegenstand altein begründet liegt Eine solche Disharmonie
kamt ffir den, der sie erlebt, tragisch sehi, wird aber von dem
andern, der sie als ^dei^mch fOhtt; ohne doch selber darsn
teilzuhaben, komisch empfunden. Denn es einzig daran,
von welchem seelischen Standpunkt eine zwiespältige Situation
gesehen wird. Ebenso wie im Tragischen beruht auch im Ko-
mischen der Gegensatz auf dem Urwiderspruch von Schicksal
und Freiiieit. Wahrend aber der tragisch Empfindende mitten
im Zwiespalt des Seins stdit, bedrängt und vielleicht vcmiclitet
wird (als tragischer Zuschauer fühlt er mit dem Helden), ge-
winnt der den Eindruck des Komischen, der von außerhalb, von
oberhalb, von emem Punkt leiativer Freiheit auf diesen Kon-
flüd sieht Der höchste Humor wSre ein Hinabschauen auf altes
Gebundene^ Schicksalhafte mit dem Bewu6tsehi famcrcr Freiheit
Das Komische ist mit dem Tragischen wesentlich verwandt^ es ist
sogar m gewissem Shm damit identisch. Beide ZusUnde der
Seele enthalten den Zwiespalt, der aich zuktzt hnmer ab Gegen-
satz von Oebondenhcit und Freiheit enthfittt UndSoloalesmigt
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191
(im Symposion) richtig, daß es desselben Mannes Sache sei, Ko*
nUMUen und Tragödien zu schreiben — ntedidi dessen (fOgm
wir hinzu), dem die Freiheit Problem gi wro ideü ist Man loum
also nicht dem tngiadien Menschen einen komischen gcgenfiber-
stellen — denn für sich selbst ist niemand lEomlsdi — sondern
man kann einem tragisch empfundenen Oescfaehcn ein komisch
empfundenes vergleichen. Das Komische ist efai ästhetisches» das
hdBt ein abgeleitetes» kern unmittelbares OefQhl — das Tragische
kann unmittelbares Erlebnis, aber auch dessen Reflex sein.
Man stelle sich eine herumziehende Schauspielertruppe
letzten Ranges vor, die eine Tragödie auffährt. Der naive Zu-
schauer sieht nach dem Willen der Schauspieler das Grausige
und wird davon ergriSen. Andere spüren den grotesken Wider-
spruch zwischen der Darstellung und dem Gegenstand als über-
aus komisch, sie haben so einen relativ freien Standpunkt ge-
wonnen. Den dritten kommt ein Schauder an vor dieser Tragik
der Unzulänq:lichkeit, der ahnungsvoll und schldemd alles
menschliche Tun abzuspiegehi scheint Er hat einer Tragödie
beigewohnt^ wenn auch nicht der gemhnten.
Ich will nun ehi paar Beispiele fihr das Gefühl des Ko-
mischen geben: Wenn der Verkflnder einer asketischen Welt-
anschauung wohlgenährt und lebenslustig dreinblickt; wenn ein
Prophet, der gdfielschwingend das Weltende veiheiBt, in der
Nachtmütze schläft, so ist das komisch, weil der Widerspruch
zwischen der Überzeugung eines solchen Menschen und dem,
was man von ihm zu sehen bekommt, allzu kraß ist. Und doch
kann für ihn selber tragisch sein, was dem Beschauer als komisch
gilt. — Der Dicke wirkt komisch, ebenso der übertrieben Magere.
Wer eine zu ^froße Nase hat und wer eine zu kleine hat — kurz
jeder, dessen Körperlichkeit in einem Mißverhältnis zum Nonnal-
Menschlicben steht, der auffällt Um diesen Kontrast noch
zu unterstreichen, wird in Schaubuden meistens der größte Mann
192
der Welt neben dem kkfanlen gezei^ Einen Mcnachcn kari-
kieren , lieiBt; einen Widefspruch, etwas Komiecbcs in ihm ao
stark hervorheben, als wSre der eine auffallende Zog das Alter-
wichtigste an ihm, als wäre dieser Mensch durch ein einziges
Merkmal ganz ausgeschöpft") Wie lür den Dicken und für den
Dünnen kann fast für jeden Menschen ein Punkt der Betrachtung
gefunden werden, von dan er komiscli wirkt; wenn man nämlich
seine Abliängigkeit durchschaut oder zu durchschauen meint und
sich darüber „lustig machf*. Der Karikaturist ist der Mensch,
der den Instinkt für diese Einseitigkeit hat — er ist ungerecht
und heblos. Und das Beleidigende der Karikatur liegt darin, daß
ein Menadi dureh einen einzigen Zug determiniert sein soll.
Die vielen Spottnamen des taglichen Lebens entstehen, wenn
etwas einzelnes bemerkt und heraus^^ehoben wird, was alsbald
den ganzen Menschen bezeichnen muß. Nennt man jemand ein
Schaf, so will man damit sagen, daß er durch einen dem Schafe
zugemuteten Charakterzug, nändidi durch Einfalt, sonderlich her-
vofsteche, daß er gewissermaßen nichts sei als Mensch ge-
wordene Einfalt Anderseite glauben wir, daß Tiere auffallende
mensdiliche Eigenschaften in hohem Maße besitasen. Hierauf
beruht der Humor devTierepos: Manches Tier enchcint uns
wie die VokOiperung und Kiürikatur einer einzehien Richtung
un Menschen, CS kann nicht anders als emseitig handeln, es bringt
ehie menschliche Eigenschaft mit der vollkommenen Oebunden*
hfit des Tieres zum Ausdruck. Solche Tiere (Esel, Affe, Ziegen-
bock) erscheinen wis wie die Karikaturen von Menschen, wie
ihre zum Fatum gewordenen Neigungen und Laster. — Ent-
sprechend den Gestalten des germanischen Tierepos haben cüe
Unedlen m ihren Faunen und Sauren halb menschliche halb
*) Du sublime au ridicule — der Typus ist erhaben, der Hyper*
typus, die Karikatur lächerlich.
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193
ÜeriKhe BUdungoi gesduien, die ciim cinzekun menachlichcn
Zug (Sinnlidikrit) aus der natfirlichea Hannonie Iten und als
ketndund coipfinden laasoi» so daß er kondsch wiikt"*)
Dos Tceiben der Kinder encbeint uns leicht komisch.
Wr libeitliciGen ja ihre Wdt und Icennen die Schranken (oder
glauben sie zu kennen), von denen wir uns selber frei wissen.
Das Kind nimmt unendlich ernst, was uns nur zu einem Lächeln
bewegt, seine Wichtigtuerei und Prahlsucht, seine Neugierde
und Bep^ehrüchkeit, sein Spiel und seine Phantasie, jedes richtige
Kindervv'ort hat seinen echten Humor für den Fnvachsenen. —
Auf demselben Kontrast beruht die Komik der Alltagsmenschen
in der Tragödie: neben dem tratschen Menschen, der es un-
mittelbar mit dem Bewußtsein der Freiheit zu tun hat, muß die
Oebondenheit aller anderen, ganz in ihre kleinlichen Inteiessen
versenkten komisch wiiken. —
Die meiicwürdige und pqfchophysiolQgisch noch nicht er-
kUble Aufiaeung eines Wido^rndis ist das Lachen und da»
Weinen. Sie kfinnen bei ataiker Spannung der verw<Mxenen
und unerwartet enüadenen Elemente ineinander übeigehen. Dies
ist die eigentliche Wirkung des Tragikomischen, das die
WidefspfOdie entecfaieden, aber qualitativ ungeklärt birgt. Das
Tragikomisdie ist das Komische sdbst, das man zugleich noch
von der anderen, der tragischen Seite her empfindet. Wird eine
kleinliche Angelegenheit zum Gegenstand eines tragischen Kon-
fliktes erhoben, so können wir, obgleich die tragische Situation
im Prinzip gegeben ist, doch ein Lächeln nicht unterdrücken.
Eine Tragödie des Dicken ist durchaus möglich — aber sie wird
*) Das Satyrspiel, das jede griechische Tragödie abgeschlossen
hat, bedeutet wohl den Versuch, sich über das Schicksal, das in den
Tragödien so uncrbittHch \saltet. zu erheben. Wenn die Griechen auch
wahre Freiheit und damit wahren Humor nicht besessen haben (auch
AffatoplMms Ist nur boSlult), so möchte das Satyrspiel doch dss Umr-
tfigUcbe abschwidien, das Sddcksal nidit ganz ernst nehmen.
Lucka, Or«nM dir SmIs. 13
194
allzu leicht Komödie werden. Es kann sicherlich ein tra|;ischer
Kampf sein, ob jemand noch ein viertes Glas Bier trinken soll;
die innere Stimme — die Freiheit — sagt : Nein ! Der Durst —
die Tyrannei der Sinne — sagt: Ja! Und es ließe sich sogar
denken, daß die dämonische Lösung dieses Zwiespaltes den Tod
des Helden zur Folge hat, der dann am übenoaß seiner Gelüste
ingath mitergegangen wäre. Aber um wahrhaft tragisch zu
sem, muB der Kampf um ein Bedeutungsvolles gdien, das sich
auch vom Zuschauer nicht so leicht entwerten, das hdBt in die
komiadie Bdeucfatung rücken UBt Sonst ist der Kampf nur
tnglsdi ffir den Hdden, aber konisdi ffir den Zusdistier —
vorauflgesetzty dafi er sidh vom Odfiste um das vierte Olas bä
wcifi. Der Wtg vom vierten Glas bis zu den höchsten Pro-
blemen des Menschen gebt sber allmUilidi, von Stufe zu Stufe
wdlcr. Man kann nicht sagen: an diesem Punkt fangt die Sache
an, emsthaft und wertvoll zu werden; es hSngt viebnehr durch-
aus von dem Menschen ab, wo aehi Emst einsetzt; der der
Tragik des vierten Glases erliegt, kann sehr wohl ffir die Un-
lösbarkeit der Welträtsel ein humoristisches Lächeln haben! —
Die innere Verwandtsdiaft des Tragischen mit dem' Komisclien
steht aber schoii fest, wenn wir erkannt haben, daß die niedri-
geren (jrade des Tragischen komisch sind. Werden wir — die
Betrachtenden! — mit in den Kampf hineingezogen, so erweckt
er das Gefühl des Tragischen in unserer Seele; durchschauen wir
die Kleinheit der Konflikte und die Blmdheit des Betroffenen,
halten wir uns also innerhch frei, so gewinnen wir das Oefühl
des Komischen an einem Zustande, der zwar fonnal zwiespältig
aufgebaut ist» aber vor einer höheren Behrachtung ohne Oröfie
erscheint.
So ist die Tragilcomödie die wahre Komödie (ein anderes
als dss Asthelisdi-Komisdie emstiert Ja nlditl): die handehiden
Menschen sind vom Bewußtsein ihres Ernstes und ihrer Leiden-
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195
achaft erffillt, sie apumen ingiscb alk Kritfte an, aber der Zu-
flchaner sidit die FSden, an denen die Heiden baumeln, die doch
von ihrem heroischen Tun durchdrungen sind, er kennt ihre
Natur und den Einfluß der Umgebung, kurz ihr Schidnal — und
er lächelt, denn es ist ihm gelungen, seine Freiheit gegenüber
alledeiii zu bewahren.*) Einen komischen Helden im Sinne d^
Tragischei gibt es nicht. Don Quichotte ist durchaus tragisch,
in die komische Beleuchtung rückt ihn nur die überragende
Größe seines Dichters; und 1 alstaff ist (solang er Geld hat)
ein mit sich und der Welt zufriedener Genießer. Für den höheren
Menschen unserer Zeit bleibt auch in jeder Schicksalstr^ödie ein
komischer Rest, wdl wir nicht mehr imstande sind, die Ge-
bundenheit durch das Schicksal ganz cniat zu nehmen ; wir haben
die Möglichkeit, uns lächelnd darfiber zu erheben (wenn auch
kaorn jeouda die Kntft). Ich muß geaidicn, daB mir die Uxbt
Romeoa und Julias ehi wenig komiacb erscheint Da ist nidiis
eigentUch PenAolidies^ nur die blinde Natunnachl^ die zwei
jmige Menschen zueinander zwingt; glaubt der JuQgUog die
Qudle seuier Gescfakchtslust durch den Tod Julias — em Intum
also! — versiegt, dann bringt er sich sozuaagm antomalisdi um.
So sind Tragisches und Komisches im Tiefsten dasselbe; woran
der eine tragisch zugnmde geht, das erweckt dem andern ein
Lächeln. — Besonders vollendet tritt uns dieser zwiefache
Aspekt in der Totengräberszene im Hamlet entgegen. Das
Denken über den Tod, das Hamlet völlig zugrunde richtet, ist
den beiden eine lustige Unterhaltung. Sie fassen den Tod als ihr
bürgerliches Gewerbe auf und wissen sich behaglich schmunzelnd
dem überlegen, der ihn allzu ernst nimmt — Die großen Oe-
*) Es ist ein typisches Lustspieltnotiv bei Shakespeare, daS Leute,
die sich rühmen, ganz frei von Uebesbanden zu sein und über alle Ver*
liebten spotten, selbst am stärksten in die Sklaverei der Liebe geraten
(Die beiden Venmeser, Uebesliist und «leU, Viel Um um Nidils).
13»
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196
fühle frtUMRT Zeiten wefdea ffir miB Idcbter komisch als die
der Oesenwari^ weil am Vefgangenen viel mehr Bediqgte^ im-
gfiUisr Oewordeaes haftet, wUuend wir das Nahe schwer oder
gar nicht in die iLomiache Dislanz zu bringen vennfigen. — Aid
dieser Zwddeutiglcit nancher Situationen beruht die Paro*
die: sie venddcbt das Ernste so lang, bis es von einem ko-
mischen Reflex getroffen wird. ,,Am Weltbrand seine Apfel
braten" — notiert Hebbd einmal in sein Tagebuch und gewhmt
so der Tragödie der ganzen Welt eine komische Situation ab.*)
— Diese 1 enden/, das Oroße in der Perspektive des Alltäglichen
zu sehen, es zu parodieren, bleibt freilich eine unfruchtbare und
selten erfreuliche Sache. Ist es doch ein bitteres Odühl, sein
Heiligstes entwerten zu lassen.
Wir verstehen das Wesen des Komischen ganz im ,,Sommer-
nacfatstranm"» der ticfainnigaten Komödie der WeltUteratur. Die
lidie» die immer so unendlich ernst genommen wird nnd den
Hauptinhalt der neueien Dichtung ausmacht — als hätte das
Shakespeare zweihundert Jahre früher gewußt! — erscheint uns
hier in ilirer ganzen Bedingtheu. Wir schweben unt)egreiflich
hoch über ihr und dürfen über sie lachen. Uns ist das Geheimnis
verraten, daß die Paare durch den Mutwillen eines Elfs zu-
sammengeführt werden, daß sie nicht, wie sie selber wähnen,
frei der tiefsten Stimme ihres Innern folgen — nein, sie sind
Narren des Schicksals! Und das ist ein wohlgelaunter Elf, der
mit einem Zaubericraute spielt Die EÜenkönigin mit dem esels-
köf^gen Handwerker ist das ewige Symbol der Liebe als Natur-
macht (also in höherer Auffassung als etwas Komischen), nicht
vom verliebten Menschen aus gesehen, sondern mit einem Auge^
vor dem alles Menschliche duicfasichtig whrd Der größte
Diditer verwandelt uns in gotUhnUche Wesen und erlaubt uns
4)10. S. 351.
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— selber frei vom Schicksal — l&cbdnd auf das Treiben der
Geknechteten zu schauen. —
Z
Der Bereich des Komischen ist nicht minder gio6 als der
des Tragischen. Freiheit gcgenllber dem Bedeutmigslosen kann
mancher enmgen, wemi er selber nicht davoo betroffen wud,
schwerer schon, wenn es ihn angeht Der Hmnor, der sich auf
geringe GegensOnde bezieht, Ist der eigentliche Humor des be-
trachtenden Mittdmenscfaen. Wenn Gottfried Keller das Leben
des Alltags mit seinem würdevollen Gehaben und seiner inneren
Belanglosigkeit, allerdings auch in seiner reichen Fülle, zddinet,
so hat er dazu eine Distanz, die alles das wie ein Puppenspiel
erscheinen läßt. Er besitzt innere Freiheit gegenüber dem
Kleinen. Dies ist wahrer Humor; aber kein tiefer Humor, weil
sein Gegenstand noch nicht durch die Zerrissenheit hindurch-
gegangen ist Es ist Humor v o r der Tragik — t>eruht aber als
Humor doch auf dem Zwiespalt von Freiheit und Gebundenheit
Wäre der Dichter nicht innerlich frei gegenüber seinem Gegen*
stand, so würde er sentimental werden oder lehrhaft, nimmer
aber humorisüsch.
Der nieditge Humor kommt dadurch zustande^ daß die
Dmge des AUtugs lid)evoU In die komische Bdeuchtung gerfickt
werden; der tiefe Humor aber, der Hmnor Shakespeares» Beelho-
vens und BrucknerBi der nodi seltener ist als die grofie Tragik,
müßte das ganze Ldien und alles MenstiUiche bis in die letzten
Gründe umfassen und doch komisch vertiflren. Er kOnnte nur
dem zugänglich sein, der auch die tiefste Tragik erfahren hat
Die seelischen Voraussetzungen sind ja dieselben, nur die innere
Stellung hat sich geändert. Und so wäre endlich das Schicksal
komisch geworden — wenn sich ihm der Zuschauer nicht mehr
Untertan weiß. Der höchste Standpunkt des Komischen würde
dann mit der Überwindung des Tragischen in einem Lächeln
198
zusammenfallen. Was derniocü fehlt, werden wir später sehen.
(Es kommt nicht selten vor, daß Menschen, die von der Un-
heimlichkeit des Lebens gebannt sind und daran leiden, eine
große Liebe zu kleinen, nichtssagenden Dingen haben, daß sie
sich mit liebevoUem Humor in den Alltag veneoken. Er ist ihre
Rettung vor dem Unerträglichen. Das kann man bd Boeddin
und auch bei Jean Paul bcnuafähten.)
Wie aber nur in seltenen Stunden die Tragik des Menschen-
lebens fibeiiiaapt, die eherne Gewalt des Sdüdoals empfunden
wini; so endielnt kam jemals das ganze Leben miter dem
Aspekt des Komlsdien: Fast ioDuier ist es ein Einzelnes» ein
kleiner Ausschnitt, der durchschaut und komisch erleacfatet wird.
Der Zwang, der uns nicht mehr zwingt, ist koadsch ge wo r d en;
die Tragödie der Schule für den, der ihr entronnen ist, der Aber-
glaube des Orientalen für den Europäer, der des Christen für
den NichtChristen, weil sich der Beschauer von dieser Art des
Zwanges frei weiß. Das Treiben eines verliebten Paares erscheint
uns leicht komisch, wenn wir es aus der richtijSfen Entfernung
betrachten. Kommt uns aber etwas Derartiges in semem Oe-
fühlswiderball zu nahe, finden wir zu viel von eigenem dann,
dann vermögen wir die komische Distanz nicht mehr einzuhalten
und woden von der fremden Tragik ergriffen. Wollten wir auch
dann nodi, was in Wahrheit tragisch auf uns wirkt, gewaltsam
komisch empfinden, dann wlren whr dem Zynismus ver-
fallen. Zynismus ist für die komische SleUttog, was Dimonie
fOr die trqische ist Der Zynische verUndet die negative Sinnes^
art mit einer gewissen ScSbs^geflUHgiDeil^ er tut sich etwas darauf
zugttt, das Emsie nicht einst zu nehmen, das Hdheie zu mlB-
achten. — Auch der Humor kann dftmonisch sein, wenn
er das Traurige und Entsetzliche grotesk in die komische Be-
leuchtung schiebt. Die Meister des dämonischen Humors sind
Swift, Lawrence Sterne und Poe. Auch der Humor Wilhelm
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Buschens hat oft penug einai Stich ins Dämonische (cxler ins
Verbitterte), wenn er uns zu lachen zwin^ wo die Menschen
elend zugrunde gehen.*^) —
Der Mittebnenach gibt gern seine temperierte Natur, die
gar nicht die Anlage zum Zwiespalt hat, für höheres Menschen-
tum, für gewonnene Abklärung aus — und beruft sogar nicht
adten den Namen Ooeifaesw Eine JugendverUcbtfadt oder ein
paar Riuacfae werden dann wohl In der Erinnerunf zu einer Art
von dämonischem Stadium, das der reife Oeiat fibemnmden hat
Diese mit sich zufiriedene Gemfitsveifasaang macht das c^gient-
licfae Wesen des gebildeten Philisten ans; weil seme Seele eine
seichte Lache ist, deutet er sie zu einem Meer um, das nach
Stürmen zur Ruhe gekommen ist, und blidrt dann wohl im Be-
hagen seiner Problemlosigkeit naciisichtig lächelnd auf den Er-
lebenden und Kämpfenden. Dieser Art Menschen ist manchmal
ein gewisser breiter Humor eigen, der sich eben dadurch als
Humor legitimiert, daß die betrachteten Gegenstände klein und
belanglos sind.
Wo Tragik bestehen kann, ist auch für die komische Auffas-
sung Raum. So gibt es nicht nur eine Tragik des Erkennens,
sondern auch einen Humor des Erkennens. Daß die menschliche
Eihenntnis eingeschränkt ist, kann höchstes Ldd hervorrufen
Oda Chi humoristisches Lichehi fiber all das fruchtlose Mühen
(auch eine gewisse dämonische Freude^ die man bei Theologen
nicht adten antrifft). Der ricUjge Odehite freiltch hat weder ffir
die Tragik noch für die Komik des Erinnnens chi Organ, weil er
zu sehr auf emem besthnmten Punkte festgenagelt ist und nicht
die geringste Freiheit besitzt
Was wir als den eigentlichen Inhalt des tragischen Bewußt-
seins festgestellt haben: die Unangeraessenheit der Menschen an
das, was sie sein sollten — das erscheint auch als der letzte
Vgl. S. 116.
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200
Gej^enstand des Komischen: daß die Menschen so klein, so be-
schrankt und dabei so wichtigtuerisch, kurz so menschlich sind,
daß sie von hundert Einbildungen und Eitelkeiten geführt
werden — das macht sie komisch. Und es macht sie doch auch
tragisch.
3.
Witz, Ironie und Satire haben mit dem eigentlichen Humor
mdäfB zu tun, sie sind Angelegenheiten des bloßen Ver-
standes; aber eine foimale Ähnlichkeit besteht doch: sie
bergen ebenso wie das Komische ehien Kontrast Der Witz
beruht darauf, daß zwei entgegengesetztej unvereinbare Oe>
danken aufeinanderpndlen und in einer überraschenden und für
den Verstand befriedigenden Art versöhnt werden. Der Witz ist
der Stolz des „Geistreichen der sich im Bewußtsein seines guten
Verstandes überlegen weiß. Sein Lieblingsgegenstand ist die
Dummheit, die Unzulänglichkeit des Verstandes, und die größten
Witzbolde sind vor allem „gescheite" Menschen ohne Naivität
und Unmittelbarkeit. Der Witz ist kein wohlwollend übcrl^ener
Zuschauer, er freut sich vielmehr an der Dummheit und lacht
Ober sie, er niht auf negativem Grunde. Wird ein Gegenstand
im Zusammenhang witzig behandelt, so entsteht die Satire.
— Ironie ist das intellektuelle (nicht unmittelbar menschliche
und nicht künstlerische) Verhalten des Zerrissenen und Ver-
bitterten, der sich über die Phänomene erhebt und doch selber an
seine Oberiegenhdt nicht glaubt Die Ironie ist nicht imstande
— wie etwa der groteske oder der dämonische Humor — die
Dinge in einer besonderen Beleuchtung darzustellen und sie so
zu fiberwhiden. Sie kann nur gloasieien» ihr fdilt jede Kraft zur
Oesbdtung und sie madit den Riß un eigenen Innern noch tiefer,
da sie ihn niemals venuaben lifit Der iroaiker erti9gt sich
selber nidii
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201
Zum Humor ist hingegen der Galgenhumor zu
rechnen, der mit dem dämonischen und zynischen Humor nahe
verwandt ist Er entsteht, wenn man die humoristische Be-
trachtung auf sich selber anwendet. Einer wird zum Galgen
geführt und sagt: Oott sei Dank, daß es heute nicht regnet, sonst
könnte ich mich noch erkälten! — Der reine, sachliche Humor
ist ein Blick aus ruhiger Höhe, dem die Gegenstande da unten
enger zueinandertreten. Er erhebt sich über DiQge, Zustände
und Menschen, vecfluchtigt ihr Pathos» indem er ihnen alle
Schwere unmeddidi entzieht und nicht gar so wichtig sein läßt,
was uns im Leben quält und seine Existenz handgreiflich fühl-
bar macht Der große Humorist nimmt einen durchaus philo-
sophischen Standpunkt ein, er versteht alles Seiende in seiner Be-
dingtheit und wandelt es zum Schauspiel. Wir sehen den Me-
chanismus einer Welt, die sich gewissermaßen allein gemacht
hat {wie in den Shakespeareachen Komödien und im Don
Quichotte). Stellt sich aber der Dichter, wenigstens andeutungs-
weise, selbst mit in einen Winkel, so ist der Einschuß von
Galgenhumor gegeben. Der Narr bei Shakespeare ist einige Male
der Galgen hurnorist. Wenn Jean Paul liebevoll das ungeheure
Ereignis schildert, wie jeden Samstag nachmittag die Wohnung
von Grund aus t^ereinijETt und dabei alles weniger Ernsthafte, wie
etwa seine Manuskripte und Notizen, mit der hegreiflichen Ver-
achtung der Hausfrau behandelt werden — so steckt in dieser
echt humoristischen Szene doch schon ein Stachel von Galgen-
humor, der Betrachter nimmt sich, seine eigenen Mißlichkeiten
und Leiden mit in die humoristische Stellung hinein.
Galgenhumor und dämonischer Humor haben so einen
Einschlag von Vertütterung und Zynismus. Sie sind mit einem
inneren Zwiespalt geschlagen, denn das Obel, an dem man selber
krankt, ist doch nidit ganz zu fiberwinden, wenn es auch gern
in die allgemeine sonnige Weltanschauung des Humors eingeben
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202
möchte; der Mensch, dessen natürliche Stellung die humonstische
ist, sehnt sich, über dem eigenen Kummer so hoch zu stehen, wie
über fremdem. Gelange dies ohne den Stachel des Zynismus und
der Selbstpetnigung, dann wäre die humonstische Weltbetrach-
iimg zu einem höchsten Sieg gekommen. —
Es macht die Komik Falstaffs so groß, daß er sowohl
Subjekt als auch Objekt des Humon» ist „Ich bin nicht nur
selbst witzig, soodeni auch Unacfae, daB andeie Witz haben.**
Er ist aber nicht nur witzig, er bat den gmialen Blick des
großen Humoristen und vermag auch das Effaabenste in seuier
Bedingtheit zu sehen und komisch zu empindn. Er riicfct die
Idee der JEhnf*, der Odttfai des Rittertums und aller Menschen
seiner Zeit, in eine solche Bdeuchtung, daß sie nichtig und ko-
misch erscheint. Majestät hdBt ihm, den Scfalfissel zur SdiatZ"
kammer in der Tasche haben. Er ist khiger und gdbildeter
als alle Großen des Reiches, aber im Gegensatz zu ihrer Würde
und ihrem Ehrgeiz erkennt er keinen anderen Zweck an als den,
sich den Wanst zu füllen. Wäre er ein beschränkter Kopf, so
käme dieser Kontrast kaum zur Geltung, so aber wird der
Widerspruch zwischen Geist und Materie zur Grundlage seiner
Komik, der Geist stellt sich schmunzelnd in den Dienst mate-
rieller Zwecke — ein Widerspruch, der den Urwiderspruch von
OelHuidenheit und Freiheit aufs tiefsinnigste fühlen läßt FalstaS
ist ganz durch seuien Bauch determiniert und spricht tMsttndig
von sehler Weisheit; der großm&tttige Friedensrichter Scheel
schdnt ihm komisdi, aber er schekit sich auch selber komiscii
— , JJeber Oott» was wir alte Leute dem Laster des Lägens
eigeben smdt^ — Er lacht fiber sich ohne jeden Beisatz von
Galgenhumor, ganz genial.
Eine weitere Äußerung dieser komischen Grundanlage ist,
daß er nur von Minute zu Minute, ohne jeden Zusammenhang
lebt Er wird völlig vom Augenblick bestimmt und weiß nicht
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203
melir, was er soeben gesagt oder getan hat, so da6 ein Unte^
schied zwischen Wahifacit und Lüge — der immer die Erimie-
rong an das Frühere, zu Vergleichende voraussetzt — fflr ihn
nicht besteht Wie er zuent erschehii; hat er einen (zweScUos
der Oeldveriegenheit entaprungenen) moralischen Katzenjammer
und ist entschlossen, sein Leben zu indem; kaum hört er aber
von einem wadeeren Diebsnntemehmen, da glänzt schon sein
Auge auf und er verabredet die Sache, ohne jeden Obergang.
Er erzählt von seinem Kampf mit den Räubern und vergrößert
während der Erzählung fortwährend die Anzahl seiner Feinde;
das ist offenbar nicht sehr klug, denn der Bericht verliert alle
Glaubwürdigkeit, aber sein Bewußtsein ist so unzusammen-
hängend, so sehr an den Aug-enblick dahnigegeben, daß er *
wilidich bei jedem Satz den vorigen schon vergessen hat. Sein
beständiges hssen und Tnnken ist eigentlich nur eine Erschei-
nungsform dieser inneren Zusammenhangslosigkeit, er geht im
Augenblick au! und erfüllt ihn möglichst sinngemäB. Diese Züge
erinnern an den Humor der Tierfabd: auch der Fuchs imd der
Bär leben nur den Gelüsten des Augenblicks, werden aber von
ihrem Dichter menschlich, das heißt fibenchauend und im Zu-
^aimii tt i hu ng betrachtet* —
4.
Hermann Bahr meint in seinem „Dialog vom Tragischen",
alle Tragik sei ein hysterischer Zustand, die Klärung und Reini-
gung der Affekte, die von der Tragödie ausstrahlt, entspreche der
Erleichterung beim Bewußtwerden unterdrückter Neigungen, ge-
fährlicher atavistischer Triebe. — Ich muß diese Ansicht für das
wahre Tragische durchaus ablehnen, weil es sich da nicht um
etwas Pathologisches (auch nicht um etwas Kultur- Patholo-
gisches), sondern um einen fundamentalen seelischen Zustand
lianddti glaube aber, daß diese fonnaie Analogie der tragischen
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204
und der hysterischen Zerrissenheit den eigentlichen Zwie-
spalt der Frauen trifft. Dostojewski sagl irgendwo, die
Natur habe den Frauen in ihrer Cmte die Hysterie geschenkt.
Ich weiß nun nicht, ob es eine gute Gabe der Natur ist die
innere Zerrissenheit im hysterischen Krampf abzureagieren (oder
mit Breuer und Freud psychoanaiytisdi bewußt zu machen und
auizuheben), anstatt die Spannung als tngiache zu vertiefen; aber
ich trlaube allerdings mit dem gr&Bten Menschenkenner, daß
reine Tragik, die ja dm seeUschen Dualismus zur Voraus-
setzung bat; den Frauen nie ganz erreichbar ist Das scheinbar
paradoxe Wort Dostojewskis will ja nichts anderes sagen, als
daß die Frauen einen wirklichen tragischen Zwiespalt dadurch
von sich abwehren, daß sie ihn in einen physiologischen Zustand
umsetzen. Nicht als seelischer Kampf (oder nicht allein als
seelischer Kampf), sondern als Nervenkrampf äußert sich ihre
Zerrissenheit. Die psychophysische Einheit der Frauen ist so
stark, daß ein seehscher Zwiespalt gleichzeitig körperlich zum
Ausdruck koinineii muß. Sie stehen zu tid in der Natur, als daß
ihnen die prinzipielle Stellung von Freiheit und Oebundeaheit,
die das Tragische begründet, ganz zuiränglich wäre. Dies wird
nur sehr mangelhaft dadurch bewiesen, daß niemals von emer
Frau eine wahre Tragödie geschrieben worden ist; aber, so
paradox es klingen mag: die Frau hat auch keinen eigentlichen
Sinn für das Komische, sondern nur für das Witzige und das
Ironische, das mit dem Komischen höchstens eine äufieritcbe
Ähnlichkeit hat und ebenso ün Lachen äugtet wird. Sie können
wohl Objekt des komischen Betrachtens sein, werden sidi aber
des tieferen Komischen niemals sdbst bewußt Der Orund ist
beim Komischen dersdbe wie beim Tragischen und geht in die
letzten Wurzdn ihrer Natur: die Frauen sind einheitlicher, un-
gebrochener, ich möchte sagen, epischer organisiert*) —
*) Hiezu: Die drei Stufen der Erotik, bes. $.2901*
205
Der Humor ist eine Btißhuog des Lebeos (im Oegmatze
zum Witz und zur Iiauie^ die das Leben zersetzen, und zur
Karikatur, die es veriidluit), aber doch eine resignierie Bejahung:
man siebt dem Sdiauspid vergnügt zu, ist aber doch übenengt,
daB es nidtt viel taugt. Der Humor ist im Tiefsten Verachtung
altes Menschlichen, er hat verzichtet Forderungen zu stellen und
die Wirklichkeit aii eineni 1 löheren zu messen, läßt vielmehr alle
innere Sinnlosigkeit gut sein. Ihm ist das Leben nur ein Schau-
spiel, das man genie(3t, wie immer es sei. Dieser Stellung ist das
Wertvolle (das ist aber das tiefere Leben) gleichgültig, sogar
komisch Der Hrimor ist durch und durch unheroisch und
das scheidet ihn vom Übertragischen. — So enthüUt sich der
Humor zuletzt doch als etwas Relatives und sogar Negatives^
wdl er das Vorhandene zwar gelten läßt, sich aber gegenüber
dem Wertvollen indifferent hält Eine wahrhaft positive Stellimg
will das Seiende beurteilen und werten. Sie b^aht nicht adüecfat-
hin, nur weil etwas ist und weil man es in aH seiner Unzuldng-
licfal«t als ein komisches Spid zu genieBen vennag. Diese Std-
lung will vielmehr das Bedingte als Bedingtes veiBtehen und dar-
über hinauskonunen (nidit bei der blofien Betcadituiig bleiben).
—. „Der Humor ist ehies der Elemente des Genies, aber sobald
er vorwaltet, nur ein Surrogat desselben", sagt Goethe (Sprüche
in Prosa).
Hier sind zwei letzte Möglichkeiten, der Welt gegen überzu-
treten: Der Mensch kann seine Freiheit schauend bewähren
(die höcliste Stellung des humoristischen Weltbctrachters); oder
er kann sie darüber hinaus noch urtetlend, wertend — schaf-
fend in lebendige Tat umsetzen. —
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6. VOM PHILOSOPHIEREN
Was für eine Philosophie man wählt, hingt
sonach davon ab, was ffir ein Mensch man
tat Dem eia pldliwoplilacliM System ist
aicM «In toter Hausrat, den nuui ablehnen
oder annehmen kann, wie es uns beliebt,
sondern es ist beseelt durch die Seele des
Menschen, der es hat Pichte.
Um so lefchter werden wir jemandes Worte
verstehen können, je besser wir sein Wesen
und seinen Geist kennen. Spinoza.
1.
Philosophie im allgemeinsten Sinn ist die einheitliche und
bewußt gewordene Stellung, die ein Mensch zu allem Seienden
und zu allem Gedachten einnehmen kann. Sie ist das Bekennt-
nis meines Denkens, Glaubens und Handelns, die Feststellungf,
daß ich der Welt unter einem ganz bestimmten Gesichtswinkel
g^enüberstehe, daß ich auf sie in einer unveränderlichen Weise
RUgiere. Eist dort, wo die sachliche Beweisbarkeit, d. h. die
exaldie Wissenschaft aufhört, wo das wissenschaftüche Denken
im engmi Shrn — für das sowohl Methode als auch Gegenstand
allgemeingültig sind und also von jedem Urteilenden anerionnt
werden müssen — wo dieses Denken pfinzi|iiell nicht weiter
kann, wo die strenge aUgemdngQltige Ricfatii^t veisagen muß,
wo M^itenntnistheorie'S „Naturwisscnsciiaft", »,wissensdiaft-
liehe Psychologie'* am Ende sind — efst dort kann eine Persön-
lichkeit aufstehen und auf alles Gesicherte, was ihr dargeboten
ist, weiter bauen und sagen: Bis hierher bin ich gehalten zu
denken, wie jeder vernunftbegabte Meiisch denken muß, denn die
Wissenschaft ist Gemeingut und duldet keine Ausnahme; hier
aber habe ich das Ende der Linie erreicht, zu welchem das
wissenschafthche Denken führen kann, hier trete ich in ein neues
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207
Gd>iet hinüber: Alles Erforschte und Anerkannte, das bisher
höchster Zweck der „Erkenntnis" gewesen ist, wird mir nun
zum Hilfsmittel, um dem Sein gegenüberzutreten und es in
meinem persönlichen Aspekt zu schauen und zu
formen. Wem gegeben ist, sein Verhältnis zu allem und zum
All in einer neuea Weise festzuhalten, die Welt zu schauen und
zu werten wie kdn anderer, ohne aicfa doch mit Einsichten der
allgemeinen Wissenschalt in Widerspruch zu setzen, der ist ein
Philosoph. Seiner Kraft ist eine riesige Aufgabe gestdlt:
Das WeltvcfhUtnis» das ihm allein möglich ist, wafaihaft zu ge-
stalten und den neuen AnbUdc, den ihm das Sein bietet, ver-
attndlidi für andere anfzubauen. So ist Phil08q)hie nicht
aenscfaaft (und daher auch nicht telifbar), sondern mehr, sfe ge-
bnuicfat die Wissenschaft (die über letzte Fragen prinzipiell nicht
entscheiden kann nnd niemals wird entscheiden können) zu etwas
Neuem und weist ihr so euMO Zweck zu, der neben den prak-
tischen Zwecken der Technik und neben der Erkenntnis als
Selbstzweck, als Befriedigung des theoretischen Bedürfnisses be-
stehen kann. Philosophie ist die Umbildung alles Existierenden
in eine neue einheitliche Gestalt, Eingehen der Dinge in einen
Geist und Entlas&enwerden aus ihm, sein organisches Urteil über
das Sein, über dessen Wert und Unwert, Philosophie ist der
eigentliche Sieg des Meiischengeistes über die Welt, Neusthöp-
fung des Seins durch die Persönlichkeit, und sie ist mehr als
Wissenschaft und gleichgeordnet der Religion, die ebenso alles
Sein unter einem großen Blickpunkt wertet; tirkenntnis, Gefühl,
Olaube sind Faktoren, die von def Pliüosophie zu einem einheit-
lichen Zweck verwendet werden.
In diesem (meislens nicht ansdrficklich verlcündeten) Sinn ist
Philosopbte von aUcn großen mid schöpferischen Denkern ge-
nommen worden: ab tiefstes Eiisssen der Welt mit den Mittehi
der Eikenntnls sowie der Intuition und daiaaf gegrihidetes Zu-
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208
sammenfassen, Gestalten und Werten. Nicht das ist das Wesent-
liche, ob die Syntliese mehr abstrakt ixiir mehr anschaulich voll-
zogen wird, ob einer wie Piaton und Schopenhauer zur Bild-
iichlceit neigt oder wie Spinoza und H^el zur BegnßUchlseit
und zur wissenschaftlichen Darstellungsform; das sind Unter-
schiede zweiten Ranges, gewissennaBen zufälhge psychologische
Differenzen. Auf die Kraft und Einheit der Ziisammmfassuiig,
der Gestaltung und Wertung konunt es an.
iDamit steht nicht im Widerspruch, daß noch jeder Philosoph
behauptet hat, in aeiiiem System echte Wiasenschaft zu gebea;
dies Icami nicht anden sein: denn |eder Ist so innig von der
Wahiiteit seiner Einsicht fiberze^gt, daß er glanben muB, sie
bOde die Essenz und den Abschluß aller menschlichen Vemunft
und Erkenntnis. Fichte gibt bezeichnenderweise einer Schrift
den Unt^tel: i,Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu
zwingen.** Ffir jeden wduen Philosophen gilt das: Hier
stehe ich, ich kann nicht andeis! — Denn könnte er auch anders»
so wäre er el)en nidit der, der die Welt so sehen und so werten
muß. Ist es der Stolz des wahren Gelehrten, sich einer besseren
Einsicht zu beugen, und was früher für wahr gegolten hat, durch
Wahreres zu ersetzen: so muß dies dem echten Philosophen un-
begreiflich bleiben. Seine Oberzeu^un j ist er selbst, sein Ich,
seine Seele; sie aufgeben, liieße sich selbst vernichten. Und das
ist nicht Eigensinn oder Bcsciiräiüctiieit, sondern nur die Folg^
davon, daß er Philosoph ist, d. h. einer, der aus sich heraus das
All geformt hat — nach seinem Bild. Er wird so leicht
den Anschein eines starren Dogmatikers erregen: auch das ge-
hört zum echten Philosophen, daß er eui entschiedener Geist
ohne Schwanken ist und nicht ein halber. Und der ewige Phi-
listeicinwand, eine Sache kfinne nicht viel taugen, wo jeder mit
der Widerlegung seines VoigSngefs anfingt, beweist nichts als
das Unverstindnia für Philosophie. Dieses UnverstSndnis für
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209
Philosophie liegt auch den modemen Richiungen zugrunde, die
Alfen Mangel an originaler ScfaOpi^eftnrft doitli ängstliche Sorge
um „Wissenschaftlichkeif' (d. h. allgemeingültige Beweisbarkeit)
ersetzen wollen, denen Theorie der Außenwelt, Analyse der see-
lischen Ersthemungen und anderes, oder all dies zusammenge-
nommen Philosophie heißt. Hebt ein wirklicher Philosoph das
Haupt, so ist der Zweifel über das Wesen der Philosophie auch
schon vergangen wie Bodennebel vor der Sonne. —
Wenn man sich mit Philosophen befaßt, will man in der
R^el entweder darstellen, was sie gedacht haben, und den gene-
tischen Zusammenhang ihrer Lebren mit anderen Lehren er-
kennen; oder man will den Wert ihrer Lehren logisch abschätzen,
fragen, was dann gültig sein möchte. Hier soll etwas prin-
zipiell anderes versucht werden: überzeugt, daß das Denken
eines Philosophen den tietsten Wuizebi seines Wesens enManunt,
daß es nichts anderes ist als die bewußt gewordene Wesensart
seuier Seele — überzeugt von dieser Einheit fan Wesen der
großen Menschen übeitaaupt (die in einem sp&ieien Abschnitt
beim kfinsüerischen Genie gezdgt werden soll), will ich es ver-
suchen, die Seele eines Philosophen von seinem Wdtsystem ans
zu verstehen, sefai Bild der Welt als ein Bild seiner Sede zu
fassen, und in Erglnzung dieser Aufgabe und teilweise zusam-
menfallend mit ihr, das Verstftndnis einer Philosophie „von dem
inneren Prozeß her zu gewinnen, dessen Lebendigkeit in ihr die
Kristallform des Begnlies angenommen hat" (Simmel). Was
ich geben kann, ist aber nicht mehr als ein Ansatz in einer Rich-
tung, die vielleicht einmai weiter ausgebaut werden wird, und
man sieht dabei sogleich, daß das Hauptbestreben dieser Arbeit,
Einsicht in die menschlichen Charaktere zu gewinnen und allge-
menie seelische Typen zu bilden, hier nur an einem bestimmten,
aber sehr allgemeinen Gebiete erprobt werden soll.
Was vom wahren Philosophen am entschiedensten gilt, das
Lneka« Ommn dar SmI«. U
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210
kann doch bd Jedem MenadMO, wenn audi in weniger klarer
Weiee^ aufgefunden werden. Nidit jeder Mensdi ist ein Pliilo»
soph, aber jeder hat iigendein VerlUtttnis zur Weli^ aueii wenn
er selbst nicfais davon weiß. Man kann dieses Veddllni» ins Be-
wußtsein hellen und zu Ende denken und man eikennt dann, daß
zu jeder Menschenart ein bestimmtes Weltbild, d. h. eine Philo-
sophie gehört. Denn macht man mit der Auffassung der jl^hilo-
sophie als der Grundstellung zum Sein Emst, so ist sie nicht eine
Angelegenheit der Schule oder der Bildung, sondern etwas ur-
spröng'lich Mensdihches, das im ausgearbeiteten System nur zu
seiner bewußten und konsequenten Vollendung gelangt ist. So
kann man den Philosophen auch kurz definieren als den ganz
l>ewußt lebenden Menschen, den .Menschen, dem seine eigene Art
völlig klar gewoiden ist und der außerdem für sie eintritt, wäh-
rend alle anderen nur über Bruchstücke von Bewußtsein ver-
fügen und sich selbst nicht durchaus aneikennen. Was man ist
und was man will verstehen und die Konsequenzen danms der
ganzen Welt gegenüber ziehen, das muß dazukommen, damit
ein Mensch nicht nur ehi ganz bestimmter sei, sondern damit
er auch noch philosopliisdies Bewußtsein habe. Man kann mit
FeueriMch sagen: ,Jeder neue Mensch ist gleichsam ein neues
PrSdikat, ein neues Talent der Menschheit', denn keiner ist dem
andern völlig gleich, wenn auch bei den meislen das Besondere
nur geringfügig, ihre SteUung zur Welt nur um ein DUferential
anders ist als die des Nachbarn. So wäre wohl prinzipiell jedem
Menschen, wenn er seine Stellung zu Ende denken könnte, ein
neues Weltbild zu/uordnen; aber von wirklicher Philosophie im
Sinn eines neuen Blickes über alles Sein kann doch nur bei ganz
wenigen gesprochen werden. Nuancen interessieren uns hier
nicht, und wir wollen auch nicht das Einzige und Unvergleich-
liche an einem philosophischen Genius betrachten, sondern wir
forschen nach dem, was den großen Denker zum Kqiräseatanten
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211
für viele macht, wir fragen nach Typen des Philoso-
ph i e r e n s und nicht nach genialen Einfällen und menschlichen
Merkwürdigkeiten. Daher werde ich auch, wenn ich fortan vom
Philosophen spreche, nicht so sehr denjenigen meinen, der sich
aus der Aufrichtung einer Weltanschauung einen Beruf g«nacht
hat (wenn ich ihn auch als Vorbild hinstelle), soodem den Men-
«cfaea übertuiaiit, soweit er nadi Einheit und Konaequeoz strdii
2.
Es fiUlt bei der bloBen obeifl9diliGheii Beobachtung der
Mcoachen leicht ms daß eine der GniiidrichiuQgien des
Seefischen vor den übrigen herauszutreten pflegt und dem ganzen
CharaUer ihren Stempel aiifdrficfcL Diese Tatsache geht nicht
eigentlich auf den letzten Onind der Seele zurück, sondern be-
zeichnet mehr ifie fluBere Reliefierung eines Menschen, diejenige
Seite an ihm, die am leichtesten anklingt, und wenn ihr im Laufe
des Leitens keine bewußten liemniuiigen entgegentreten, inmier
entschiedener den Habitus beherrscht. Die ältere Psychologie hat
auf dieser ßeobachtiingr eine ganze Theorie der Seelenvermögen
aufgebaut, wir aber wollen ohne jede Theorie nur die einfache Be-
obachtung verwerten, um in der VerailgemcinerunjT der herrschen-
den Grundtendenz verschiedene Richtungen des i^hiiosophierens
anzudeuten und charakterologisch zu begreifen. Ein tieferes Ver-
ständnis der seelischen Einheit und Grundkonstitution wird
diese Art der Betrachtimg iMdd in den Hintergrund drängen.
Zaent aber soll die Frage gestellt werden: Welcher Weltan-
schaumig neigen die Menschen zu, in deren Wesen die Sinnlichr
krit, das Gefühlsleben, die GedankUchkdt, der Wille vorhenscfat?
Und ohne anf iigendwckhe Details emziigehen, soll eine sche-
matische Zuordnung dieser Wesensarien zu ihrer Philosophie
vereudit werden.
Menschen, bei denen die sinnlichen Anlagen vor-
212
herrschen, neigten eineni entschiedenen Subjektivismus zu und
meiden alles Bindende und Abgeschlossene. Sie sind instinktive
Feinde jeder eigentlichen Weltanschauung und wissen am liebsten
nichts von der Welt als einem Ganzen; sie haften am einzelnen,
lassen sich von der Umgebung und vom Augenblick bestimmen
und pfiei^en nur kleme Zusammenhänge zu ubersehen. Wenn
man ihre natürliche Stellung zur Welt systematisch festzuhalten
sucht, so eigibt sich irgendeine Form des EucÜbnonismus und
Utilitarismus. Gäbe es einen Menschen, der nur sinnlich wäre,
80 würde er ohne Einheit mit sich selbst leben, ausschließlich
darcfa den Ehidnick des AttgenblidEs bestiiiiiiit; jede seüier Huid-
hmgen wfire aus den einwirkenden sinnlichen Motiven so unfehl-
bar abzuleiten wie die Wirkung des Knochens auf ehien uner-
zogenen Hund. Efai solcher Mensch wlie voUkoauiicner Eudi-
monist, Aristipp von Kyrene hat dieses Vedudlen zur Mazhne
erhoben. Das schönste Beispiel für diesen Typus aus der Lite-
ratur ist Falstafi*) (auch Sancho Pausa und Papageno gehören
hierher).
ist die Sinnlichlteit nicht so s^hr vom Moment fasziniert,
sondern ver^andesmäßig über längere Strecken des Lebens ver-
breitert, wird auch die Zukunft in Rechnung gezognen, so envÄgt
ein solcher Eudämonist den Ekel, der dem Genuß folgen v^d,
bei höherer Denkkraft die Vergänglichkeit der Genüsse über-
haupt. Das ist der Stoiker: ein Eudämonist mit kontinuier-
lichem Bewußtsein, das auch die Zulninft in Behracht zieht WlUi-
rend der unmittelbm naive Sinnenmenach sich und alles sonst
vor der Lockung des Augenblicks vefgiBt, Überl^ der Stoiker
der Lockung gegenüber: Was ich jetzt genieBe^ das werde ich
spSter oft genug schmendich entbehren müssen; so ist es besser,
ich gewöhne mich nicht an das» was mir nicht hnmer zu Gebote
stehen könnte. Ihm achehit die Bedikfaiislosjgkdt das gröfiere
*) Siehe S. 202.
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213
Out und dabei hat er doch nidit den Standpunkt der SitmUGh-
kdt valasaent er denkt nur über den Augenblick hman&
Euie metaphysiache VendlgenieuieniQg dieses Ffihlens ver-
knfiirft die Unhist oder das Leiden unUMidi mit dem Wesen des
Lebens aeibst und sieht nun das einzige Heil in der Aufliebung
der Möglichkeit alles Leiden^ also des Lebens. Der Leidens-
Pessimismus ruht ebenso auf similicher Basis wie die Lehre
Epikurs und ist nur einseitig von der Tatsache des Leidens faszi-
niert, ohne die Genüsse als völligen Ersatz gelten zu lassen. Er
schließt die Lust- und Unlustbilanz mit einem Verlust-Saldo
ab. Diese Gdühisweise muß mit Schopenhauer die Kultur
mißachten und das Aufhören alles Bewußtseins und alles Lebens
in einem Nirwana wünschen. Sie ist im indischen Buddhismus
am klarsten verkörpert, Schopenhauer stellt nur einen Kompro-
miß zwischen ihm und dem europäischen Kulturbewußtsein vor,
denn er vermag weder den Kulttmvert der Wissenschaft noch
den der Kunst abzulernen, und hat der Kunst, diesem aDer-
lebensvoOslen Gebilde des Menschengeistes» sogar ganz paradox
den Beruf zur Aufhebung des Lebens zuerteilt — ein lehrreicher
Widerspruch zwischen Leidens^Nihilismus und dem Zwange
zur Aneikennung kultureUer Werten dem sich der europaische
Mensch nun eüunal nicht ganz zu entziehen vennag.
Ehie andere Orundriditung im Menschen, das Fflhlen,
kann als Menschenliebe, als ScfaönheitsUebe, als Oottedid)e
einen philosophischen Ausdruck finden. Während die Menschen-
liebe nicht wohl zum allgemeinen Weltsystem werden kann, son-
dern sich auf die sozialen Gebilde beschränkt, vermag die Liebe
zur Schönheit das ganze Universum unter eine ästhetische Be-
trachtungsweise zu stellen, wie es etwa Pythagoras mit seiner
Weltenharm onie und Fechiier versucht haben. Einer so gerich-
teten Seth gilt die ganze Welt als Erscheniung der Schönheit.
Der Liebe zum All entspricht der Pantheismus» der die Weit in
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liebender Leidenschaft erfassen will. Wie es die Gefahr des Inrel-
lektuali&ten ist, ganz unter die Sklaverei der Begriffe zu geraten,
so besteht für den Pantheisten (wie für des Mjfstiker, der liebend
in Oott veninken möchte) die Veriockung, von VBgjca Stim-
mungen überwältigt zu werden.
Dem Verstandesmenschen gilt das Erkennen als
Anfang und Ende der Philosophie, er hat die Tendenz, die Wis-
senschaft zur Wdianscbauung zu erheben» und läBt piümpiell
nur wissenschaftUche Philosofihie gdten» die sls Erfcennini»-
tfaeoriep Logik oder Melhodenlehre ihre Stellung im Bereich der
Wissenschaften zu suchen und zu erfiUlen hat Diesem objek-
tiven, sachtichen Typus ist meistens die Erkenntnistheorie Inbe-
griff der Philosophie, er hat die Tendenz, alles Persönliche aus-
zuschalten, und läßt nichts als philosophisch gelten, was Sich
nicht als wissenschaftlich le^timicren kann, unterliegt als echter
wissenschaftlicher Geist auch nicht der Versuchung, ins Außer-
wissenschaftliche (A^etaphysische oder Persönliche) überzy-
greüen Als Nebenform ist aber der Psychologe bemerkeuÄ-
wert, der in der Beobachtung und Einordnung der seelischen Er-
schffimingen aufgeht, also schon mit Inhalten und nicht bloß nüt
Foimcn zu tun hat. Dem richtigen Psychologen fehlt der Sinn
fihr dte unpersönlichen Festetellungen, dte in rein sachlichen
Sphären verhüllen und das ArtMitsfeld der Erkenntnisiheorie be-
zeichnen; wenn er Aber das Pqfchologische hüiau^gdit, so gerlt
er fast regefanAßig m metaphysische Unsicherheiten, weil ihm die
gewissenhafte Absteckung der Grenzen — der Stolz des logischen
Kopies ^ fremd ist Schopenhauer (als wissenschaftBcfaer Oeist
betrachtet) und viele moderne mehr oder weniger wissenschaft-
liche Psychologen gehören diesem Typus an.
Der Wille als charakterbestimmender Faktor stellt das
Leben unter den ethischen Aspekt und findet im Wirken und
Handeln den Kern und Sinn der Welt Dieser Typus ne^
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mdaleas iigenddner Foim des philoBOfiiiiflchea Idealiamus zu,
ihm hat das Ich höchste Bedeutimg. Dem Christentum, der idi-
giten Fofm der ethiacheo Wdtaascfaaituiigy ist die Sede Oiund-
wert; der gr56te Rigonst Kant hat das inteüigible Ich verkfindel,
and Fichte» der Fanatiker des sittlidien Tuns^ hat es zimi abso
luten, zum Weit-fch verewigt. Dieser aktive Typus, der das
Eingreifen des Menschen ins (betriebe der Welt iordert, der die
Arbeit lehrt und die Kultur anerkennt, der über die Natur ein
„Sollen" schreibt, ist der klarste Vertreter der Willens-Philo
Sophie und typisch für die höchste Erscheinungsform des euro-
päischen Gefühlslebens (gegenüber dem Quietismus und meta-
physischen Pessimismus Asiens); das Christentum, Ldbniz, Kant,
Ooetfae, Fichte, Kietingaaid, Nietzsche sind Veifcänder dieses
Weltgefühles. —
Ich liabe diese Znofdaun; von Menschentjfpen zu Wcttan-
sdiauimgca mit Absicht im allgemeinea gelassen; sie will nidit
mehr als auf den Zwan^r hinweiaeny der entschieden geriditelie
Menschen alles Sein von einer bestimmten Seite her anschauen
rnid werten läßt Dabei veiaiebt es sich von sdbst, dsB der gut
begabte und denkende Mensdi nkht in Emseitigkdten aufgellt;
al>er doch ist sein Welti>ild von einer Grundrichtung aus orien-
tiert; bei I echner ist es der ästhetische, bei Kant der ethische
Aspdct, der den Teilen des Systems ihren Platz anweist. Es
wäre auch nicht zutreffend, dem Künstler etwa die ästhetische
Betrachtungsweise, dem Gelehrten die theoretische beizuordnen.
Das Verhalten vieler Künstler zur Welt ist ein religiöses oder
ein sensuelles oder ein theoretisches; die ausschließlich ästhe-
tisch Wertenden pflegt man sogar mit einem besonderen Namen
als „Ästheten" zu l)ezeichnen. Anderseits gibt es Naturforscher,
denen die Weit vor allem Gegenstand ästhetischer Bewunderung
ist, und solche^ die unter dem Oesichtapunlct der NätzlichiGeit
(d. i. gedanklich erweiterter Sfamlichkeit) an sie herantreten.
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216
Die mdsten Menschen begnügen sich wohl mit einem
Fetzen von anderen produzierter Weltanschauung. Sie fallen in
das Oebiet dieser Betrachtungen nur, soweit ihnen die eine oder
die andere Seite des Obemommenen wiildich natuxgemftß ist
Wer kein eigenes Urteil hat und doch urteilen will, der kann
zwei Wege gehen. Er verschreibt sich entweder irgendeinem
philoaoplüscfaen System ganz und gar und wd6 sich nun in
dessen SditiMklicin vor allen Anfcchtiingen gdKMgen. Er
sitzt in der Regel sovid Veistend, dte vencbicdenen Eieigniase
richtig einzuordnen; das ist der Jänger, der nnr einen Mdster
hört und auf sebie Worte schwört Oder einer föhlt sich als frei
schweifender Skeptiker wohl, traut anderen so wenig wie sich
selbst und kalkuliert: an jedem wird etwas Wahres sein. So er-
weckt er leicht den oberüäclilidien Schein von Überlegenheit, und
ist als richtiger Eklektiker besonnener, wenn auch leerer und
wesensloser als der Dogmengläubige. — Einen Menschen, der
gar kein Verhältnis zur Welt hätte, kann man sich nicht denken;
wom aber verhalten sich viele schwankend oder unehrUch, heute
so, morgen so^ und vermeiden es geflissenthch, sich hierüber
Rechenschaft zu geben. Sie wollen nicht gebunden sein und
halten sich die Möglichkeit den, stete nach Lanne zu vcrfahiCB
und nach Laune zu werten. Ste vermögen nicht, als Ganze der
Welt gegenfibefzutreten, und sind von jedem Zufall abhängig»
der auf sie wirkt. Im Alter graut ihnen dann wohl vor der
eigenen Nichtigkett und sie flächten zu etwas ganz Sicherem: zur
Theosophie, zum Spiritismus (im Norden), zum Katholizismus
(im Süden).
Das Bedürfnis, Ruhe und Sicherheit im Wirrsal des
Lebens zu gewinnen, ist das stärkste Motiv für den reproduk-
tiven Menschen, das ihn zur Philosophie treibt. Der Mensch
braucht einen Boden für seine Existenz, um dessen Sicherheit
er nicht mehr besorgt sein muß, den er als etwas Absolutes unter
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217
sich ^Qrt, fürchtet er doch wie kaum etwas anderes das un-
iMunliche BewufitBein der Leese und Unsichefiieli Wer je ein
Erdbeben nütgemacht hat, kennt das Entsetzen beim Schwanken
des Bodens, der immer unsere verlSBlichste Stütze gewesen ist;
und nicht den geringsten Anteil an der Seekrankheit iiat das
Fehlen jedes sicheren Hortes fiir Körper und Auge. Der Mensch
will ein Festes, nicht nur unter den Füßen, sondern auch in
seinem ganzen Leben, einen Hort, der nicht wanken kann. Auf
diesem unabweislichen Wunsche gründen sich die Religionen,
und je allgemeiner anerkannt, je älter eine Lehre ist, desto größer
ist die Stütze, die sie dem Suchenden zu gewähren vermag. Das
System des Katholizismus, das über alle Dinge im Hmund und
auf Erden genau Bescheid weiß, das dem Menschen eine sichere
Heiniat in der Wdt gibt und für kernen Zwdfid Raum läßt» hat
in diesem Sinne für den europäischen Menschen immer den
lidchsten Wert besessen. Scddi eine Ldüe ist ja nicht für
Denker da, die aus Eigenem etwas beizusteuern hatien, auch nicht
für wahibaft rdigiase Menschen» sondeni für die Vielgeplagten,
<He hl der Verworrenheit und BediSngnis des Lebens ihr meta-
physiscfaes Bedürfnis nicht ganz verloren haben, die einen Halt
brauchen, der immer f^t in sich ruht und immer bereit ist, auf-
zunehmen und zu trösten. Hier findet nicht nur der unwissende
abgearbeitete Mensch, sondern auch der überbildete, von allen
Philosophien und Künsten beleckte — und doch von keiner be-
fruchtete — was er von einer Weltanschauung fordert. Ähn-
liches wie der Katholizismus vermögen Seklen und große gesell-
schaftiiche Verbindungen (die Sozialdemokratie) zu leisten, denn
auf die Zahl der Gläubigen kommt viel an, sie verbüigt ja die
Sicherheit der Lehre.
Gegenüber solchen Quellen der Gewißheit, deren einige seit
Jahrhunderten fließen, kann keine Philosophie bestehen. Aber
CS gibt eine siaike mittlere Schicht von Oebikkten, die intdlek-
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tuelle Ansprüche nicht preisgeben und nicht Autorität, sondern
Eiiisiclit — wenigstens vermeintlidie Einsicht wollen. Sie ver-
trauen sich einem metafibysischen Sysiem an, das dteselbeii oder
noch bessere Dienste leistet als ein religites Dogma. Und je
mehr dn sokfaes System von der Wdt wdB, je einfacher es ist
und mit je gröBerer Sicheriidt es wgetragen wird, desto stiiker
ist seine Wfatuiig. fan letzten Menscfaenalter hat keine Philo-
sophie einen solchen Einfluß geübt wie die Schopenhauers.
Dies erklärt sich vor allem aus der vollkomiiienen Abgeschlossen-
heit seines metaphysischen Weltbildes, das über Wert und Sinn
des Daseins nicht wenii^er gut unterrichtet ist als irgendein Re-
ligionssystem. Und wie die Religionen ist diese Philosophie
durchaus aufs Praktische zugeschnitten, sie beantwortet die
Frage, der sich kein Mensch ganz entziehen kann und die das
dgentiiche Anliegen der Menschen an die Phiiosophte ist, die
Fr^ge: Was soll ich tun? Dte meisten Fragen, dte als philo-
sophisch gelten, theoretische und istiietisdie Probleme etwa,
treten ja nicht vor jeden einzdnen Menschen hm, sondern nur
vor den und jenen, nach der Verschiedenheit der Charaktere und
der geistigen Bedfiifhisse. Zweifel wie die über einen Sinn des
Daseins oder über eine göttliche Weltregierung ergreifen schon
weitere Kreise; aber nur die eine Frage: Was soll ich tun? —
heischt von jedem Menschen in irgendeinem Augenblick seines
Lebens unbarmherzig Antwort; keine Philosophie, keine Reli-
gion hat Aussicht aitf größere Wirkung, die nicht vom
ethischen Standpunkt orientiert ist, die nicht Fingerzeige fürs
Handeln gibt Dabd kommt es gar nicht darauf an, ob und wie
eine solche Lehre b^grOndet ist; und paradoxerweise auch nicht,
ob ihre Vorschriften leicht oder schwer oder vielleicht gar nicht
erffillt werden können. Nur das ist wesentlich, daB eine Philo-
sophie Gesetze fürs Leben gibt, die überzeugen. Denn die Men-
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219
adwn woHen zu jeder Zdt wiaaen, was sie zu tun haben (auch
wenn sie es niemals tun).
Diese Haupierfofdenilsse — die genaue Einsicht in den Aiif-
hau der Welt und die eihisdie Orundrichtung ~~ weiden vom
System Schopenhauers mit aller wOnschenswerten Eüifachheit
lind Eindringlichkeit effQllt. Aber dsrOber hhiaus bietet diese
Philosophie noch etwas anderes, ihr Eigentiunlidies: sie kommt
nämlich dem tiefsten Instinkt entgegen, den man sonst nicht so
leicht anzuerkennen wagt. Nichts hat für den Menschen so un-
mittelbare Wirkhclikeit wie sehic Selbstsucht, sein begehrendes
Ich, das die ganze Welt um sich herum gruppiert, das allen
Dingen, ja allen Menschen erst seine Bedeutung verleiht. Der
tiefste Instinkt des Menschen wie des Tieres ist Egoismus; man
denke an die Szenen, wenn in einem vollen Theater Feuer aus-
bricht, wenn es sich darum handelt^ das eigene Leben zu retten.
Und was in solchen, heute seltener gewofdoiea AngenbUdnn
hfiUenlos zntsge tritt» das liegt ui jedem Menschen als Urinstinkt»
immer bereit^ sich aktiv gq;en alle Bediingungen der Wdt zur
Wdue zu setzen. Aprfes moi le dfiuge!
Es ist nun ein genialer Enlall Schopenhauers, die umnittd-
barete tierisdi-menschliche Oewifiheit, den hungrigen Insthikt
des Egoismus, mit der größten menschlichen Sehnsucht, der
Sehnsucht nach dem Absoluten, als identisch zu erklären; der
Lebenswille ist das Ding an sich. Was wir in uns fühlen, das
ist zugleich der letzte metaphysische Ankergrund der Weit, der
Wille ist sowohl Wesen des Menschen (eine offensichtliche Ver-
schiebung: ein Teil ersetzt das Ganze), als auch der inneriiche
Kern der Welt (ein Glaubenssatz). Dieses Paradox hat etwas
Bezwingendes, wie eine Erieuchtung trifft es in das Gemüt des
unruhig Fragenden und verkündet ihm: Was du immer heimlich
gefühlt hast, ohne es vielleicht recht anerkennen zu wollen, weil
es dir roh und niedrig schien, was sich sber doch sehie Gewiß-
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220
heit niemals hat rauben lassen — das ist in Wahrheit das Aller-
wirklichste, sogar das einzig Wirkliche^ der Weltwille, der auch
in dir lebl^ der die Welt geschaffen hat und sieb in ihren Ge-
stalten immer wieder verkörpert Und mit einem neuen ParadoK
befriedigt Schopenhauer auch das tiefere sittliche OefQbl, das
den Zwang des Egoismus überwinden möchte: Vernichtest du
diesen Genußwillen, so vemichtest dn zugleich die durch und
durch Üble Welt Dann bist du gut Wiederum aprts moi le dr-
inge I So und sa
An diesem einen Beispiel sollte nur gezeigt werden, wie ein
System auf Menschen zu wirken vermag, die von der Philosophie
Orientierujig in der Welt und .\ntwort auf die Frage: Was soll
ich tun? fordern. Je eintadier und entschiedener dieses Bedürfnis
von einem System erfüllt wird, desto größer ist seine Wirkung
auf die Menschen. Da wird nicht weiter nach Begründung ge-
fragt, willig nimmt man alles hin, die Philosophie tn£Et hier mit
der Religion zusammen. —
Ich habe bisher von der Weltanschauung gesprochen, die
eüiem Menschen natärlich ist Aber manche widerstreben
dieser Stdlung, die ibnm von Ihrem Qiarakter au^^edrungoi
wild, und suchen eine Philosophie nicht fflr sich, sondern
gegen sich. Auf sie Ist die anfangs gegebene Formulierung
nicht anwendbar, ffir sie Ist Philosophie nicht die FestteguQg ^
natürlichen Veihaltens euies Menschen zur Wdt Eashid
die Orfibler, die In Jeder Ehisicht eine Veriockung sehen, das
Denken einzuschläfern und dem urteilenden Verstand eine Falle
zu stellen. Auch ihnen bietet sich eine gemäße Weltaußassuug
dar, aber sie haben kein Vertrauen zu ihrem Denken und Fühlen.
Oder sie hassen sich so intensiv, daß etwas anderes, etwas
ihnen Feindliches wahr sein muß. Sie bauen ein System auf, um
sich selbst etwas zu beweisen oder vorzumachen. Einer lehrt,
daß die Weit von Orund aus schlecht und des Untergangs
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221
würdige sei; aber vielleicht hat seine Philosophie nur den Zweck,
sich endlich selbst von dem zu überzeugen, was richtig sein soll
und muß. Inquisitoren und Hexenrichter sind Menschen dieser
Art, Leute, die eigentlich nicht ganz glauben und sich selbst im
andern zum Glauben zwingen wollen. Sie strafen den eigenen Un-
glauben an ihren Opfern, ich meine auch, daß die metaten, welche
die Unsterblichkeit der Seele vertreten haben, nicht ganz fest da-
von überzeugt gewesen and, denn man philosophiert dodi nicht
80 leicht über das» was cigentlicfa anfier aller Frage stdii Etwas
üi ihnen will durchaus^ daß die Seele unsleiblich sei, und dies
Etwas aigumentiert und kSmpfi. Bei Nietzsche kann man
oft genug beobachten, wie er gegen sein wahres Ich, sidi zum
Trotze Stellungen verteidigt, die ihm innerlich entgegen sind
(seine positivistischen Anwandlungen, sein Hohn gegen das Mit-
leid). Darin lie^ viel Haß gegen sich selbst und Rache an sich
selbst, das Ressentiment, das Nietzsche so genau kennt.
Es ist aber in der Natur einer künstlichen und zwiespaltigen
Weltanschauung begründet, daß sie nur bis zu einem Punkte
durchführbar ist und die letzten Konsequenzen vielleicht im
Denken, nicht aber im menschlichen Verhalten ziehen kann. Da
ergeben sich nun oft innere Kämpfe, die an Tragik nichts anderem
nachstehen. Entweder wird dann die ehie Partei von der anderen
überwältigt — etwa die reUgiöse Strömung des Herzens von
der wlssenschafilicfaen des Kopfes — wobei niemals ehie völlige
Beruhigung eintreten kann, sondern ünmer wieder Äußerungen
imd Ausbrüche des unterdrückten Elementes stattfinden; oder
aber — das Sdienere und Orößere! — eine neue, tragische Welt-
anschauung geht aus sokfa einem Kampf hervor. Die mich-
tigsten Konflikte werden sich naturgemSß dort abspielen, wo
das Denken, das theoretische Element die höchste Gewalt besitzt
und im Kampfe mit den anderen Gnnidkräften steht; denn aus
dem Denken stammt ja das eigentliche Bedürfnis nach Einheit
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222 .
Hier ist der N»ne Kants zu nemien. Ein erschütternder Kampf
zwischen ästhetischer und ethischer Weltauffassung stellt sich
in mehreren Schriften des genialen Kierkegaard dar.
Das Werk des Genius ist manchmal so allseitige, daB es bä-
nahe wie die Welt selbst vom einzelnen Betrachter je nach seiner
eigenen Anlage aufgefaßt und gedeutet werden kann. Als ein
Beispiel, wie <let8elbe Gegenstand den Menschen je nach seiner
Onindfunktion verschiedenartig affiziert, will ich ein Werk dem-
jenigen Kianstlers anfuhmi, der auf die Gegenwart den stärksten
Eindruck gcmadit hat Für aehr vide Menadien, wahiBdieinMch
für viele mehr als man glauben möchte^ ist das Anhören von
Wagners „Ring des Nabelungen" ein rein sinnlicher Genuß, und
zwar nicht nur ainnlicfa in der Bedeutung, daß das Material der
Musik, der Ton, besonders durch seine Verwendung im mo-
dernen Orchester, die HArncrveu angendun reizt, sondern audi
sinnlich in der engeren sexuellen Bedeutung. Die eigentliche
künstlerische Wirkung der Dichtung, der Musik und des Bühnen-
bildes braucht nicht besonders angeführt zu werden und steigert
sich bis zu dem höctisten tragischen Bewußtsein, das den Kampf
von Besitzgier und Machtwillen mit Liebe und Iirlösungswillen
erkennt. Die fortbauende Phantasie erschaut ahnend über das
eigenthch Menschliche der Voi^nge die uralten Personifika-
tionen des arischen Naturmythos. Wenn Siegfried den Panzer
Brünnhildes mit dem selbstgeschmiedeten Schwert durch-
schneidet, wird das vielleicht als ein Bild des ersten Frühlings-
sonnenatraUs empfundov vor dessen Glut die Eisiinde der Erde
vergeht Der ethisch Deutende wiederum sieht die EntsiSuiiing
der Welt durch den Tod des Outen und ihre Vernichtung im
reinigenden Feuer. — Diese Andeutungen zeigen, wie der Be-
schauer nicht nur gegenüber der whidichen Wdt, sondern auch
gegenfiber ihrem Abbild hn Kunstwerke von seiner Omndanlage
geleitet wird und wie er dem für alle gleich Gegebenen verschie-
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223
dene, 90gu entgegengeadzte (MchtspunUe abgewinnen kann.
Wird solch ein Gesichtqrankt eiQhdflidi und allgemein, so heißt
er Weltanschauung. —
3.
Wahrend das Bisherige einen ungefähren Zusammenhang
zwischen den Menschen und ihrer Art, der Welt gegenöberzu-
treteii, hat erkennen lassen, soll nun versucht werden, den
Mi 1 1 e 1 m e n s c h en und den Orenzmenschen philo-
sophisch bis zu ihren letzten Konsequenzen zu führen, d. h.:
die Philosophie zu entwickehi, zu der sie sich notwendig be-
kennen fflfisaen. Und es werden vor uns die beiden Wdtanschau*
Hilgen erstehen, die als stärkste Gegensätze gedacht weiden
können und die auch wirididi historiacli dagewesen sind.
Das Ideal des ndttlerai Menschen ist: Friede. Er mddet
das Zuviel tind das Zuwenig und achent die Störung des Daseina
durch ftuBere oder innere Mächte. Er weiß, daß der Mensch ein
schwaches Geschöpf ist, hundert Fähilichkeiten an^geaelzt, allen
Gewalten unterworfen. Ihnen zu entgehen, heil durch die Mühen
des Daseins zu kommen, ist höchste Weisheit. Es hat kernen
Sinn, mit der Stirn gegen die Mauer anzurennen, Dinge zu
wollen, die niemals in Erfüllung geiien können, sich gegen das
Schicksal aufzulehnen, das doch die Welt unerbittlich lenkt.
Ein stilles Gluck, verbor^^en vor den Mächten imd Gefahren der
Welt — das ist zu wünschen. Die Philosophie dieses Ideals ist
von Spinoza in ein System gebracht worden, und ihm aoU
jetzt unsere Au&nerksamkdt zugewendet sein, an ihm werden
wir die konsequenten Vollendungen des mittleren oder idyl-
lischen Menschen studieren können, der nichts AllzugroSes
will, jeden Streit und jeden hmeren Zwiespalt meldet, aber als
Entgelt des Friedens teilhaft wird. Dieser Philosophte mu6 not-
wendig jedes tragische Element fdilen, nichts bäumt sich hi
der Seele gegen alles Schreckliche und Ungerechte des Daseins^
224
geg!» UnvomcoamMtibclt und Ntediigkdt auf, denn de lud ala
ihre tiefste Erkeonfaiia den Satz gefunden: Das Sein tat
vollkommen. Was wiridlch Ist, das Ist gut, und was uns
schlecht scheint^ ist nicht vielleicht etwas» das an einer Inneren
Unzulänglichkeit krankt, oder das dem allgemeinen Weltplan zu-
widerläuft, es ist vidmehr nur dn geringerer Orad von VolK
kommenheit und kann durch bessere Einsicht, durch Studium
und Weisheit aufgehoben werden. Entwicklung und Verände-
rung in der Welt stören den Frieden der Seele: es gibt im
Grunde kein Werden und keinen Wandel, die Welt ist von An-
fang an voUkoniriieii. Wer das erkannt hat, wessen Geist nicht
durch falsche Urteile und 1 eidenschaftai verblendet ist, der
nähert sich dem einzig würdiß:ei] Zustand: dem Frieden des
Geistes. Etwas anderes zu wollen, ist Unverstand: wer seinen
Lüsten folgt, dem fehlt noch die richtige Erkenntnis von der
Unfreiheit aller Neigungen, und wer gar die Wdt ändern wollte,
der begehrte Unsinniges, weil ja die Welt von Anfang an gut ist;
ruht doch die ewige WeltsubsAanz fühllos und in sich voll-
kommen; da etwas vetbessem zu wollen, wäre unwürdig des
Weisen und setzt den fiigsten aller IirtQmer voraus: da6 nSmlidi
der Mensch die Macht hätte, etwas aus sich heraus zu schaüen,
daß in ihm eme Freiheit wohne, die die ganze übrige Natur
nicht kennt Dieser Glaube ist die Sönde vom Anbeginn —
wenn wir Sünde gelten lassen wollten; aber wir wissen, daB es
nur Verstand und Unverstand gibt Der Weise hat erkannt, daS
der Mensch macfaflos ist im Umkreis der gewaltigen anonymen
Ursachen und Wirkungen, die nach ewigen Gesetzen die Welt
regieren, der Mensch ist nichts, und das besle, was er tun kann,
ist zuzusehen, wie er sich zurechtfindet, wie er keinen Schaden
nimmt. Der Weisheit letzter Sdiluß ist, ein glückseliges Leben
zu suchen, sich von allen Täuschungen, als könnte der Mensch
etwas ausrichten und die Wdt bessern, befreien. In der Über-
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225
einstimmung mit allem Seienden, das ja Vollkommenheit besitzt,
ist das höchste Glück gelegen, Ruhe des Geistes in der ewigen
Substanz (die man einem Spraciigebrauch folgend auch Oott
nennen darf). Denn was ist im Grunde der Mensch, der sich so
groß dünkt? Ein Modus an den beiden Attributen der Welt-
substanz» eine leichte Welle im ausgedehnten Sein — das ist sein
Ldb, eine entsprechende Welle Im denkenden Sein — das ist
sein Oeist Er hat kdnen Teil am Kem der Welt, er ist nidits,
was bis hinab reichte hi <fie ewige Substanz,*) er bestritt ledig-
lich aus „gewissen Modifikatloaen der Attritnite Ootles*', d. h.
er hat sein tiescheidenes Teil an dem, was sich durch den Raum
hin ausdehnt, und an dem, was in der Welt denkend ist Alks
efaizelne Ist nur ehie Einschiinkung des unendlichen formlosen
Seins, das einzig Wiildichkdt besitzt und an dessen OberflSche
sich wesenlose Blasen bilden - der Mensch. Sie sind für den,
der durch den Schleier blickt, nichts Wirkliches, Störungen in
der Reinheit der ewigen Attribute. Hat iiiaii dies aber erst er-
kannt, daiin wird man nicht mehr gegen die ewige Ruhe des
Daseins ankämpfen. Der Weise wird Leidenschaften und Nei-
gungen bezwingen, um glücklich zu sein, er wird durch persön-
liche Wünsche und Bestrebungen niclit in die ewige Ordnung
des Alis hineingreüen, in die unabänderliche Kette von Ursachen
und Wirkungen, in den starren Funktionalismus der
Weit, der keine Ausnahme duldet und jeden zerschmettert, der
Ihm entgegentritt Für den, der sich tragisch empören wollte,
hat diese Philosophie des Altere nur ein mitteidiges Uchdn,
denn sie weiB, daß Tragik nichts ist als die Uneifahrenheit der
Jugend. Sich besdidden und den Frieden finden — der absolute
Fatalismus^ das Ist die Eri[ennhils des Weisen.**')
Ethik Teil II Satz 10 Axiom t. - Vgl. „KuneefoSt» AMmumIIurs
von Gott, dem Mentchm und dessen Glück", Philos. Bibl. Bd. 91 , S. 42.
**) „Es ist he^!^er, eine Hand voll mit Ruhe^ denn beide Fluste voll
mit Mühe und bitelkeit" (Koheleth 4, 6).
Lucka, GroAMO der Se«le. 15
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226
Der moderne Monismus hat das Wd^ühl des
Philisters in emigm ZusamuMohaiig gdMrscfat Ocmeinptttsi^
die jedem SchiiUmaben geläufig sind, werden zu ,,Impendiven"
aufgebaiisdii^ alles Probtemattsdie^ das die Behaglichkeit slArai
kOont^ beiseite geschoben. Es wiie Idcht, dies an einem be-
kannten und sogar berühmten Namen der deutschen Gegenwart
zu demonstrieren; aber nach der Analyse eines Denkers ist es
unnötig und darf unteil>kiben.
Vor unseren Augen hat sich das beschauliche Weltgefühl
des Mittehnenschcn zu einem System entfaltet, das die Welt um-
spannt Und diese Weltstellung des Positivismus und Quietis*
mus ist tatsächlich weit Ober den Charakter hhiausgewachsen,
der anfangs beschrieben worden ist Denn Philosophie ist Stel-
lungnahme zum gesamten Sein und widerspricht daher
dieser ihrer Tendenz nach der Gefühlsweise, die sich mit äDen
ihren Instinkten an ehiem Teil des Seins, und zwar an dem
nächsten und greifbarsten, genügen läßt. So können wir zwar
das System Spinozas, der allen Anfeindungea zum Trotz fried-
lich gelebt hat und sich sein Denker-Idyll nicht hat stören lassen,
als die Vollendung der Gefühisriditung nehmen, die sich im
Mittelmenschen verkörpert; aber sie ist, weil sie eben Phiiosopiue
ist, mehr, sie umfaßt das AU — eine Stätte des Friedens. ~
Das naturalistische Denken ist psychologisch da-
durch charakterisiert, daß es nicht anders als an handgreiflichem
Material arbeiten kann. Der Naturalist als Physiker (der
Matenalist, der Energetiker) denkt stofflich, er stellt sich als
letztes Denkbares eine Ifrmaterie voi- (in anderer Terminologie
eine Urkrait), die sich verändert und alle Erscheinungen her\'or-
bringt. Diese Lehre ist von den V orsokratikem zuerst aufgestellt
worden, ihre modernen Fassungen sind eme bessere i-ormulie-
rung der gleichen Denkweise. Der Naturalist als Psycho-
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227
ioge (der Expenmcntator, der Psychoanalytiker) sieht nur das
Gegenständliche^ sozusagen den Erfolg in den seeüsdien Phäno-
menen, ohne sie von uinen her veisleheo und deuten zu kflanen.
— Beiden Arten des Naturalismus ist gemeinsam, daß sie hmner
naiv und unkritisch bleiben und dsB ihre Metiiode olme viel Be-
denken leicht hl ehi iranszendentes Gebiet hinübeigetragen vnrl
Vom nsturslistischen Physiker zum Spiritisten ist oft nur chi
Scfaritly denn Spiritismus^ Astrologie und Ähnliches („Xeno*
logie*') sind nidits als Naturalismus» auf emen fremden Gegen-
stand angewendet, Empirie eines anderen Berdchs. Die Tat-
sächliciikeit imponiert dieser Denkweise so sehr, daß sie den
Geist übersiebt, daß das Seelische und das Wertvolle verloren
gehen. —
Ich frage nunmehr nach der allgemein-formalen Beschaffen-
heit des Weltbildes, das sich aus dem Charakter des Grenz-
menschen ergeben muß. Es ist klar, daß dieses Weltbild nur
dualistisch sein kann, dualistisch in irgendeiner der vielen histo-
rischen Formen, als Platonik, Christentum oder deutsche Meta-
physiky jedenfalls ehie Lehre, die emem diesseitigen Element ein
jenseitiges gegenfiberstell^ oder die im ethischen Kampf des
Outen und des Bösen das Letzte und Wesentfiche stdit, kurz die
auf ügendeine Art der Disharmonie des Sems Rechnung tilgt
Während ein einziger bedeutender (Philosoph den idyllischen
Monismus gelehrt hat, stehen alle anderen großen und genialen
Systeme auf dualistisdier Grundlage — der Zwiespalt im eigenen
Wesen treibt ja zum Nachdenken über die Welt, die in der
eigenen Seele entdeckte Tragik wird im All wiedergefunden.
Nur der O renzmensch hat eigentlich Veranlassung, über die
Welt zu grübeln und ihre Probleme zu lösen — denn Probleme
entstehen aus einem Zwiespalt, der seine Besch wichtigunn; for-
dert. So kann denn von einer Philosophie des Mittelmenschen
nur im uneigeatlichen Sinn gesprochen werden, fehlt ihm doch
15*
22S
meistens dieses Betiurfnis zu p^rübeln und der Druck, unter dem
dne höhere Synthese j^escliaffeii werden soll. Der tragisch Zer-
rissene ist der vorbestimrate Philr«oph in seiner Vieljir estalt.
Ich nun an Fichte den Typus der tragischen Welt-
anschauung des Grenzmenschen /eigen. Er und Spinoza sind die
größten Gegensätze, die sich vorstellen lassen und die nicht etwa
in Unterschiedlichkeiten des Denkens beruhen — Fichte und
Spinoza sind Denker ersten Ranges — sondern auf dem Grunde
der Menschlichkeit verankert sind. — Die geieifte Einsicht kann
die T^fflffunmfuh^ngf in der Wdt nicht andeis als kausal be*
greifen. Was in der Welt geschieht, das geacfaidit nach Oe-
setzen, die weder gut noch böse sind, sondern m starrer Regel-
mftSIglteit funktionieren und kernen Ansatz für ehi WerturteO
bieten. Wo Zwiespalt, Kampf, Tragik empfunden wird, dort ist
das Ich , die Seele, der Mensch Mittelpunkt, nicht die Wdt oder
die Natur. Der strenge Funktional-Zusammenhang läßt weder
das Bewußtsein von etwas Tragischem, noch den Ge-
danken der Freiheit zu; beide stehen in Wechselbeziehung,
die Sehnsucht nach Freiheit von allem äußeren Zwang, die Sehn-
sucht nach der Kraft und Größe des Menschen, nach Bewälti-
gung des Toten durch das Lebendige, das sind die Voraus-
setzungen eines tragischen Grundgefühls. Der radikalste Ver-
künder der MenschengröBe, des Willens tmd der Kraft, die Welt
umzuwandeln, ist Fichte. Er nennt selbst sein System ein
y,$yBtem der Freiheit*'. „Nicht zum mfifilgen Betrachten und
Beschauen deiner selbst, oder zum Brüten über andächtige Emp-
findungen nein, zum Handeln bist du da; dein Handehi und
allem dem Handehi bestimmt dehien Wert.**"*) — Eist dadurch
ist die Wdt vofhanden und gewiß, daB sie Gegenstand der Tat,
Material für unseren Willen ist. Und die höchste^ die einzige Oe>
wißheit liegt im Bewußtsein seiner selbst. Fichte ist der Philo-
'*') Die Bestimmung des Menschen, Sämtliche Werke Bd. II, S. 249.
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soph, der die Kraft des Menschen gegen die Welt erhebt und den
Sieg des Menschen veifcündet Sein System ist das System des
produktiven Menschen. Die Welt mu6 nach der Idee umgestaltet
werden; nicht der Verstand ist das erste, sondern der sittliche
Wille» der erst das Dental möglich macht Die ganze Welt ist
nur durch die sittliche Tat des Selbstbewufitaeins» des Ich ge-
setzt. Aber dn ganz neuer Sinn ist erforderlich, damit die
Menschen diese, die wahre Lehre verstehen können, und das ist
nicht etwa bildlich gemeint, sondern ganz wörtlich. Fichte ver-
gleicht die Menschen, die unter dem Zwang der Natur geboren
werden, dahinleben und wieder vergehen, Blinden, die nichts
von der wahren Weit des Lichtes wissen. Und dieser neue Sinn
ist das Selbstbewußtsein der Seele allem Existierenden gegenüber,
oder ihre Freiheit.*) Nur die Philosophie, die auf dem Grund-
gefühl ruht, daß die Seele letzte Wirklichkeit ist, kann über allem
naturhaften Oebundensein einen Punkt finden, zu schauen und
zu werten* Der Naturalist geht im Dahinfließen des Sehls auf
und tarn nur untätig zusehen, ohne die Mdglicbtat, sich sdbst
zu finden, seihst zu handehi. In die Wdt hüieinzugrafen. Aber
zu diesem ersten blinden Dasein, sagt Fichte^ Ist ein neues hfaizu-
gekommcn. „Es wftre nur iOr den da, der mit Fidheit sich los>
gerissen hStte, für jeden andern durchaus und schledithin gar
nicht. Und so könnte, obwohl in Ansicht der Anlage die Men-
schen alle gleich wären, dennoch in Ansicht der Wirklichkeit es
zwei durchaus entgegengesetzte Klassen unter ihnen geben, deren
eine einen Sinn hätte, welcher der anderen schlechthin abzu-
sprechen wäre." **) Dieses Neue nennt Fichte „die beireiung"
oder „die Selbstbesinnung**.
Wie wir den Mittehnenachen in letzter Vollendung als den
Ruhenden, den IdyUficer eifaßt haben, der ganz m den Natur*
*) VgL Einleitung in die Wissenschaftslehre.
**) fteehgaiasMiie Werl» Bd. I, S. 14.
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mechamsmus eingespannt ist und eine eigene Seele nicht kennt
und nicht kennen will, der jeder Wirkung in die Welt hinein
entsagt und auf jede VC ertuiig Verzicht leistet, dem Beschaulich-
keit und gefahrlose Beiiagiichkeit ideale sind; so enthüllt sich uns
der ürenznieiisch in seiner philosophischen Vollendung als der
tragische Ringer, dem die Welt nur als ein Starres, Wertloses
gilt, als Stoff, an dem sich sein Wille bewahren kann, wenn andi
vielleicht seine Kraft daran zerbricht Alles Sein mu6 ihm einen
tiefen und ernsten Sinn haben, das Leben ist eine UQgdieuie Auf-
gabe» der man sich nicht entziehen darf. Und defat es ancli
manchmal aus, als wäre all unser Tun zwecklos, als wandle sich
unser bester Wille ins Gegenteil — wfar müssen doch in uns
selber die Kraft finden, an uns, an den Sinn der Wdl^ an die
Vollendung alles Seins zu glauben. Denn „der Wüle ist das
lebendige Prinzip der Vernunft, ist selbst die Vernunft, wenn sie
rein und unabhängig aufgefaßt wird.** (Das stinunt ganz mit
Kant überein.)*) Und dieser Gedankengang mündet in das er-
schütternde Paradox der Ich-Philosophie: „Die gegenwärtige
Welt ist überhaupt nur durch das i-^flichtgebot für uns da.**
Der große Gegensatz Spinoza-Fichte ist: Der Mensch als
ein Gegenstand der Natur unter unzähligen anderen — der
Mensch als Seele gegenüber der Natur Und die Konsequenz
von bddem: Der Mensch ohne Willen, nur dem Verstände Unter-
tan und kausal bestinunt wie jedes Ding; der Mensch als Kraft,
als Ich, als Wille, der sich frei weiß oder wünscht. Ruhe und
Scbauen — Wille und Tat Und schon wirft sich dieses ent-
gegengesetzte Ffihlen vom Menschen auf die Welt: ffir Spinoza
Ist das einzig Wesentliche die ewig ruhende Substanz, die immer
*) Die Bestimmune des Menschen & 288. ~ Kant: „Nur durah das,
was Ohl Mensdi tut, ohne Rfidnicht auf Gemii, in voller Frellieit und
^^fff^^»fT^^«^^^g von dem, was ihm die Natur auch leMend vmchaffen könnte,
gibt er seinem Dasein als der Exiftten« einer POrson einen Wert" (Kritik
der Urteilskraft § 4).
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231
gleich bleibt und von keiner Veränderung getroffen werden kann;
alles gestaltete Sein, die Menschen selbst sind nur ein zweckloses
Kribbeln und Wimmeln. Nach Fichtes Grundüberzeugung ist
alles Sein ichhaft, ist die höchste metaphysische Einheit analog
der Menachauede zu denken. Wir sind das Sein. Und als letzte
Einsidit gilt ihm, „daB das Sein oder da» Abaolttie ein in sich
gesdilossenes Ich ist""^). Fidites WeMgrund ist das Leben,
der Wdtprozeß ist ewiges Schaffen und Zengen ~ ,jdB» SchaSen
selbst in alle Ewigkeit". ^ „Der absolute Aidmg und Trlger
von allem ist r ei n es L eb en." ^ y,Eine Welt als Produkt des
vollendeten und erschöpften Schaffens gibt es nicht"**) — Und
wie seine Welt, so ist er sellMt, ein glfihender Prediger und Re-
formator, der sich in umnittelbarer Rede ausströmt und die
Menschen zu sich zwingen will. Sein Vortrag sprüht daher wie
Feuer, er ist aus der Leidenschaft geboren und wirft alles
nieder, was sich ihm ent[,^etj:eiLstellt, er ist von sicli selber, von
seiner höchsten Notwendi[ikeit und Wahrheit so tief durch-
drungen, daß er selbst das Gefiihl des Lebens und der Über-
zeugtheit im höchsten Grad hervorruft, .,1hm war jede Lehr-
stunde nicht wie ein Amtsgeschäft, das er verrichtete, sondern wie
eine Mission, die er erfüllte, und die als Tat in die Ewigkeit
fortwirken soll; er lehrte die Philosophie nicht bloß, er predigte
sie; sein Katheder hätte im Laufe des Vortrages jetzt eine Kanzel,
jetzt eine RednerlitUuie sein können/****) — Fichte ist der Feuer*
geist, der die Welt nach der Idee umgestalten wiU, der die Pflicht
aufiteUt, anch andere zur Eitomtnis der Wahrheit zu zwhigen
und sich nicht efaisam mit ihr zu veiscfalieBen. Wie aeme Wdt
eine Ausstrahlung des ewigen Ich ist, so muB er seihst seine
Sede in die Welt wiitai laaaen. Und die Wahrheit, die er be-
sitzt, soll jeder in der eigenen Sede finden, „aus sich hems er-
♦) Nachlafi fl, S. 208. **) Nachlaß I, S. 23, 101.
***) Kuno Fischer» J. Q. Hebte und seine Vorgänger, S. 239.
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232
zeugen", nicht von anderen fibemeliaien.*) Die besonnene
Grenzsetzung der kantischen Vernunft-Kritik (die Kant als un-
ubersteigbare wissenschaftliche Grundlage der wahren Philo-
sophie gemeint hatte) ist für Fichte ein Anstoß und er nennt sie
sogar „eine M^Lxime der Schwäche oder der Trägheit". Seine
Phüosopliie (die ja auf Kant fußt) will nicht zugeben, daß etwas
unb^reitiich sein könnte, ja sie will lieber pfar nicht sein als
irgend etwas nicht begreifen. Sie will alles sein oder gar
nichts.**) Dies ist der echte Enthusiasmus des Philosophierens»
der den Verstand zwingt, weil er das Sein erfassen wilL
Es ist für den WahrtieitBwert eines Oedankensystems nicht
allzu wichtif , wie seine Sätze vojyetragen werden, und hingt
auch mit dem Stil der Zeit zusammen; anders klingt das edle
Deutsch Fichtes, anders das scholastisdie Latem Spinozas. Ffir
die Oedanken seihst sind das Zufälligkeiten; aber för den Stil
des Denkens ist es charakteristisch. Und betrachten wir den
Plan von Spinozas Denken (oder besser: sein Phlt^raa) — wir
finden das Gegenteil von allem, was für I ichte gilt. Spinoza hat
unter dem Hasse seiner Stanimesgenosseii schwer gelitten, sie
haben ihn aus der Heimat vertrieben und ihm sogar nach dem
Leben getrachtet Für ihn aber sind alles das nur neue Beweise
für seine Grundüt)erzeugung, daß Unverstand und Leidenschaft
die Erbfeinde der Weisheit sind. Wie ein Biograph tmcbtet, ist
er nie übermäßig traurig oder übermäßig fröhlich gewesen.***)
Sein Leben und seine Art zu fühlen decken sich ganz mit dem
Bilde, das man sich von ehiem echten Weisen zu machen pflegt.
Man darf diese Selbstgenügsamkeit hoch emscbätzen: nicht nur»
daB Sphioza von ehicm Legate lediglich das angenommen hat,
was ihm zum Leben notwendig schien, daß er das Erbteil seiner
Eltern den Oeschwistem flberlieB, mit Ausnahme cfaies Bettes
♦) Vgl. Mach'. Iß II. S. 90. **) Nachlaß II, S. 104.
***) Vgl. J. Freudenthai „Spinoza, sein Leben und seine Werke" l, 192.
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233
(sehr charakteristisch): er hat auch eine ehrenvolle Berufung an
die Universität Heidelberj^, die ihm durch Karl Ludwige von der
Pfalz zugekommen ist, abgelehnt, denn er hat niemals das Be-
dürfnis gehabt, zu wirken, zu lehren oder andere zu überzeugen;
für sich allein die Wahrheit zu suchen, ist ihm genug gewesen.
Aber hinter dieser Seelengröße liegt das temperamentlose Ruhe-
bedurfois des Gelehrten. Er fuichtete besttodig, kgendwro An-
stoß zu emgen und woUie lieber schweigen» als sich Feuide
mschen. Im theologiadi-poliüschen Traktat werden die Fragen
der OHenbarung und der Prophetie ängstlich und sogar zwei-
deutig behandelt und sem Siegehing trägt die Inschrift: Vor-
sichtig!'*) — Nicht ein einziges seiner Werke (mit Ausnahme
der Darstellung der kartesischen Philosophie) ist unter seinem
Namen veröüenUicht worden, und das Buch, das seine Philo-
sophie enthält, wird erst nach seinem Tode gedruckt. Nicht em-
mal die Soie;e, daß man ihn als Urheber kenne, hat ihn beschäf-
tigt. Vielleicht hat es niemals emen bedeutenden Menschen
ben, der wie Spmo/a hei von aller Fitelkeit j^^ewesen wäre; wenn
wir hier als Ergebnis des Abschnittes „Ich-Gefühle" vorweg-
nehmen» daß die Eitelkeit eine besondere Akzentuierung dessen
ist, was der Mensch als sein Ich empfindet, so wird uns der Zu-
sammenhang von Spinozas Philosophie mit seiner Lebensweise
in aller Notwendigkeit emleuchten: Spinoza hat die Welt aufge-
baut und dabd den Menschen vergessen. Die Sede des Menschen
ist ihm eine wesenlose Fluktuation, eine Vorstellung hn all-
gemehien unpersönlichen Denken, und zwar die Vorstellung des
eigenen Körpers, der Reflex, den der Körper m das Atfaibut des
Denkens wirft, sehi Schatten.**) (Der ihm gdstesverwandte,
wenn auch nicht so seelenlose F ec h n e r nennt die Seele einmal
den Logarithmus des Leibes.) So gibt es für sie nur zwei Mög-
♦) Vgl. I. fircudenthal I, 177.
**) Vgl die Abhandlung von Gott usf. S. 99.
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lichkeiten : entweder sie bleibt vom ausgedehnten Sein abhängig
und wird zugleich mit dem Körper vernichtet (diese konsequen-
teste Annahme wird von allen madernen Denkrichtungen ge-
macht, die mit Spinoza den Grundzug des Idyllismus und der
Ichlosigkeit gemein haben); oder wie Spinoza selbst lehrt, sie
vereinigt sich nach dem Hingang des Leibes mit dem denkenden
Sein und bleibt gleich ihm unveränderiich Denn an und für sich
ist die Seele nichts, nur eine Funktion entweder ihres Körpers
oder des allgemeinen Denkens. Und nicht so sehr, daß dies
gelehrt wird, ist wichtig, sondern daß es ohne jedes innere
Widerstrehen gelehrt wird. Was in der Seele des einzelnen lel>t»
was sich freut und Iddet, Wünsche^ Leidenschaften und Träume
~ alles das sind für Spinoza nur mangelhafte VocsleUungen, die
den Frieden stören und von der Idaren Einsicht fiberwunden
werden müssen.*) Die hdchsie Weisheit aber besieht darin»
friedlich zu leben und Gott (d h. die Natur mit ihren Eigen-
schaften) zu erkennen. —
Die großen Gegensätze in der Stell un^^^ des Menschen zur
Welt, in der Möglichkeit der Philosophie treten immer deut-
licher heraus: hier ist die Seele des Menschen höchster Wert, sein
Ich ist sein Wille, alle Frkenntnis ruht aui dean Wollen und auf
dem Glauben an einen Sinn des Daseins, die Welt ist lebendiges
Werden. Dort eine tote Welt, von der der Mensch ein Teil ist,
alles Streben wäre zwecklos, denn die Welt hat keinen Sinn,
Glaube ist nur mangelhafte Einsicht. Spinoza hat etwas Gegen-
ständliches erkannt: die Substanz der Welt. Fichte hat eine
Deutung gefunden: den Sinn der Welt Während Spinoza dem
Wollen keinen Raum läßt und dem Sem durchaus zustimmt, emf>>
fmdet der Idealismus, daB zwischen der bestehenden Welt und
♦) „Der Affekt (die Leidenschaft) ist nur eine verworrene Vorstellung"
(Ethik III, Aligemeine Definition der Affekte). — Diese DenkwdM Itt
Spinoza fibrigons mit seinem Lehrer Descartes gemein.
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den Wünschen des Herzens wie den Fordemiigen des Geistes ein
Widerspruch klafft. Die Welt ist nicht so, wie sie sein müßte.
Dieaes Gefühl abo* liat zur unmittelbaren Folge» daß sich der
Mensch der Welt gcgenfibeisteUt, daß er sich von Ihr unter-
schieden weiß and Ober sie zu Gericht sitzt. Vor diesem Ur-
gOgcnsatz schwinden die logischen Paare: Denken und iftum-
üches Sehl dahhi, der viel tiefere Widerstreit zwischen Sede und
Welt; Ethos und Natur ist gefunden, dem Sein tritt der Mensch
mit seinem Wollen gegenüber. Der letzte Wunsdi ist nun nicht
mehr der nach Glückseligkeit in der Welt, sondern der, die Welt
nach den Gedanken des Menschen umzugestalten, daß sie stmer
Forderung gleich werde.*) Alle Ethik, d. h. alles Wollen, und
alle Tragik, d. h. seine innere Unerfüllbarkdt, entspringen aus
dem seiner selbst bewußten Ich.
Nicht zwei Meinungen oder Lehren stehen hier g^;eneinr
ander, sondern Eigebnisse des tiefsten I^ehensgefOhlesi das nur
so Sehl kann oder so. Wo der Shin ffir das Zerspaltene und
Tnigische mangelt, da muß Fatalismus, Ergebenheit hi
das Geschehen, henschen.**) Der Fatalist földt sich den Michten
der Natur gänztidi unierworien, er strebt wie alles Lebendige
naturhaft und fraglos der Lust zu, kann er sie aber niäit er-
reichen, so dünkt es ihn unklug, sich gegen das aufzulehnen,
*) Ich möchte hier auf etwas hinweisen, was scheinbar gar keine
Beziehung zur Philosophie fichtes hat, aber in den tieferen Regionen der
Seele doch mit ihr zusammenhängt Es ist ein alter Glaube» daft es
sdidne, aber seelenloM Etanentarwwen gibt, denm die walne UnS» äm
Mentdwii eine Sede schenkeii fcamu Dieser Traum, sich tUnem Natur*
wesen in Liebe zu nahen und es zur Menschheit zu erheben, entspricht
ganz dem sitth'chen Postulat Pichtes, daß der Mensch die Natur mensch-
lich, Seelenhaft machen müsse, und zur ijleichen Zeit wie er haben sich
die deutschen Romantiker mit diesem Gedanken beschäiligt, er ist von
Fouqu^ in der liebliciMn „Undine" verkUrt wofden.
**) Vgl. z. B» von mehr peraitnUdien Dokumenten Spinozas Brief an
OldeidnirB. (Ed. Nrdunann No. 2!^
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was stärker ist als er. Der Fatalist erkennt keinen mensth liehen
Willen an, d. h. kein Pnnzip der Freiheit, das dem Naturge-
schehen gegen ubery:estellt werden konnte. Für Spinoza gibt es
nictits als den Verstand, alles sonst ist Täuschung und Ver-
worrenheit. £r legt folgerichtig alle Wesensunterschiede der
Menschen in den Verstand und nicbt in den Willen : die Frommen
haben „eine klare Vorstellung von Gott'', „die Gottlosen" be-
sitzen die Erkenntnis Gottes nicht, sondern kennen nur irdische
Dinge und besünunen danach ihre Wecioe und ihre Gedanken.*)
In seiner grofiartigen Konsequenz hebt er den Begriff der Frei-
heit ausdrfiddich auf und läfit Freiheit Notwendigkeit deu
eigenen Wesens sein. Es ist nidit ZdaU, daB diejenigen mo-
donen Philosophen und Pathologen, die alles Metaphysische
und logisch nicht Faßbare beseitigen möchten, gerade das
Wollen derart in Vorstellungs- und GefühlsrElemente aufzulösen
trachten, daß nichts übrig bleibt, was auf seelische Aktivität oder
Spontaneität, auf Willen hindeutete; denn vor diesem Moment
müßte der streng wissei i sc ii ältliche Zusammenhang der seelischen
Elemente die Segel streiclien. Dies wird vor allem von Avena-
rius versucht, der in minutiöser Gedankenarbeit das Wollen, das
dem Verstände nun einmal nicht ganz zugänglich ist, ausschalten
will**) (wogegen man allerdings wieder mit Schopenhauer sagen
kann, daß nichts au! der Welt dem Menschen so ver^ändlich
und so unnötig eines Beweises sei wie der Wille; dies wird
durch das Denken pfimitiver Völker bewies» die alle Vocgange
in der Natur nicht kausal, sondern nach der Analogie des
menschlichen Willens, d. h. zielstrebig, als Wulntngcn mSditiger
menscbenartiger Wesen auffassen).
Diese Resignation des Fatalismus und des Lddenfr-Pessunia-
mus ist von Omnd aus veraddeden von der religiösen Ergeben-
*) Brief No. 36.
**) Kritik der reinen Erfahrung Ii, 159-211.
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heit in den Willen Gottes. An Stefle der verstandesmäßigen Ein-
sicht, daß der Mensch machtlos in der Welt ist, tritt hier ihr
Gegenteil: der Mensch weiß sich in sdnon tiefsten Wesen unab-
hängig von der Natur, er glaubt sich als etwas Anderes, Höheres,
als frei, und erkennt in dieser seiner Freiheit einen anderen Zu-
sanunenhang in einem yJRädi der Zwecke". Wenn er seinen
guten WiUen mit dem eigentUchen Sinn der Welt, mit dem
„liGdislenWiUen'', in Obereinstimmung wdfi, soliateraidiffiber
alles andere erhoben und in dieser Sinnesart die Oewißfadt der
ewigen Ruhe gefunden. Solch ein Mensch steht nun Ober der
Welt, ja in der radikalen Vollendung dieser Lehre weiß er sich
im Glauben (vor dem der Verstand ganz zurückgetreten ist) als
Schöpfer der eigentlichen Welt, der Welt der Zwecke, die ja erst
von ihm verwirklicht werden soll. Unsere Welt ist das versmii-
lichte Material unserer Pflicht; dies ist das eigentlich Reale in
den Dingen, der walire Grundstoff aller Erscheinung"*). —
Man hat von einer Annäherung des späteren Standpunktes
Fichtes an den Spinozismus gesprochen; ich kann nur voll-
endeten Gegensatz sehen. Es stimmt vollkommen zu dem d^a-
mischen Charakter des fichteschen Denkens im Gegensatz zu der
ein für allemal fertigen Statik Spinozas» daB Fichte nidit von
Anfaqg an eine feste Philoec^hte besessen, sondern sie erst im
Lauf seines Lebens errungen und immer entschiedener entwickelt
hat, daß er ruhelos weiterscbreitet und nadi immer tieferen
gründungen sucht. Wenn Fidite sdilIeßUch dazu komm^ die
WirUiciikdt und WiiicBamkeit des rdigidsen Bewußtseins zu
lehren, und die ganze Welt als erschaffen durdi den Glauben
auffaßt, so liegt das in der geraden Linie seiner Willens-Philo-
sophie ; Göttlichkeit und Gotteskraft müssen den Menschen er-
füllen. Er findet im Glauben die Gewähr, daß ein höchster Zu-
stand der Vollkommenheit erreicht werden muß, daß die Welt
«) Hchte S, W. Abt U, Bd. 3 S. 185.
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einem letzten immanenten Zweck in Oott entgegenstrebt. Das
Leben in diesem Glauben ist die Seligkeit. Das ist edite Mystik
uiid alles eher als Spinozismus.
Bei solchen scheinbaren Ähnlichkeiten äbecsiefat man das
Wichtigste: alle groBea Dualisiea stnbea ans iliicr Zerrissen-
heit zu emer lefzten Ehiheit, zu einem Absoluten oder zu Oott
hin. Diese Idee bannt ihr Wdlen und Denken. Für den Monis-
mus Spmozas dag^^gen gibt es kern Ringen, seine Efaiheit ist
nicht Sehnsucht der Seele, sondern da Faktum, das von Anfang
gegeben ist und nichts Problematisches hat
Fürs oberflächliche Zusehen können die letzten Seiten von
Spinozas Ethik und besonders der berühmte Amor intellec-
tualis, die geistige liebe zu Gott, vielleicht einen mystischen Ein-
druck erwecken und man hat Spinoza bis auf unsere Zeit fast
immer von Grund auf mißverstanden und sein System des abso-
luten Rationalismus für Mystik genommen. Wenn man aber vom
geschriebenen Wort au! den Geist und auf das Heiz zurQckgdit,
denen es entstammt, so kann man nicht wohl größere Oegensiize
finden als Spmoza und die Mystik. Die beiden entscheidenden
Punkte süid wiederum : bei Sphioza hat der Mensch keinen wesen-
haften Zusammenhang mit dem Wettgrund, er ist nur „ehi Teil**
des unendlichen Denkens» ein Modus in den beiden Attributen
des Seins.*) Dem Mystiker ist der Wdtgrund auch der Orund
der Seele, aus ihm geht alles hervor, er gibt allem Wesen seinen
Sinn, den Weg zur Vollendung. Aus diesem ersten ergibt sieh
aber schon das zweite: das tragische Grundgefühl einer fehler-
haften, schuldbe] asteten Welt. Der Mystiker steht ja vor der
allergrößten Auf'^abe: selbst Gott zu werden, und er empfindet
die uniieheuerste Spannung im Sein, die durch niclits gelöst
werden kann als durch seine eigene „mystische" Tat, die ,»Ver"
*) Vgl. besonden Ethik U, Satz 49.
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239
guttun^". *) Die läuschung kommt von Spinozas irreführen-
dem Sprachgebrauch, von der Aquivokation des Wortes „Gott".
Für Mystik und deutsche Philosophie ist Gott im Grund der
Menschenseeie („das hünklein", wie Meister Eckehart 8<^) und
kann niemals mit dem Verstand erfaßt werden; für Spinoza ist
„Gott oder die Natur'' ein gegenständliches Urprinzip, ähnlich
wie Schopenhauers Wille und ganz und gar nichts Göttliches
lind AttßematQrlidies^ sondern die Natur selbst und etwas rein
Themtischea. Weil Spinoza das voUkommene Gegenteil eines
religiösen Menschen — eines Gottsuchers oder eines Gott-
sicheren — ist, weil er zu dieser sedischen Lage gar keine Be-
ziehung hat, sondern ganz In der Veratandes-Eikenntnis aufgeht,
darum beginnt er sein System naiv mit der Weltsulistanz oder
Gott und leitet mit Gemütsruhe und „auf geometrische Arf'
Welt und Menschheit daraus her wie Euklid seine Sätze. Aus-
drücklich wird die entgegengesetzte Denkweise gerügt, die von
den Gegenständen der Sinne anbebt und im Glauben zu Gott
führt.**)
Fichte stellt hingegen den Akt der Befreiung von der Natur-
g^undenheit in den Mittelpunkt. „Ich eigieife durch jenen
Entschluß (nSmUch dem Gesetz der inneren Freiheit zu ge-
borcfaen) die Ewigkeit und streife das Leben im Staube ab."
Und „Mein Wille» den ich sdbst und kein anderer In die Ord-
nmig Jener Weit fiige^ ist die Quelle des wahren Lebens und der
Ewigkeit"***) Dieser beroisdie Akt, der Glaube, daß der gute
Wille, der doch sooft zum Obel ausschlägt, einen in sich ge-
gründeten Sinn habe und den Zustand der Vollkommenheit her-
beiführen hilft, wird auch die „Widergeburt im Glauben" ge-
nannt und Fichte fordert (wie Kant) ausdrücklich eine jenseiüge
*) Vgl. Ober Mystik „Die M StoOm der Erotik", S. 105-125.
**) Ethik II, Satz 10, Anmerkung.
***) Die Beetimmung dee Menschen S. 290.
240
Welt dar Zwecke, in der die Talen unseres reinen Willens nicht
mehr verloren gfdien, sondern wirlsain sind, ja er ist sogar ge-
neigt, eine Stufenleiter der Welten aufzustellen, deren jede das
reine Wollen der früheren Welten in Erfüllung umsetzt.*) Alles
Leben ist ihm endlich nur „die Sehnsucht nach dein Fwigen**,
das wahrhafte Leben ist in der Liebe zur Ewigkeit gelegen.**)
In Oherein Stimmung mit dem JohannesrEvang'elium (nach
Fichtes eigenem Ausspruch) und mit der deutschen Mystik wird
das ewige Leben dem Weltleben gegenübeigestellt. — Wie fem
alles dies dem richtig au^efaßten Natursystem Spinozas ist,
braudit niclit wetier bewiesen zu werden. Vielletdit am meisten
spinozistiscii mutet dieser Satz Fldites an: ,,Di€ U<l>e des Abso-
luten oder Ootles ist das wahre Element des vemfinftigen Oeistes,
in welchem allein er Ruhe findet und Sdigfceit; aber der reinste
AusdrudL des Absoluten ist die Wissenschaft und diese kann
nur um ihrer sdbst wülen geliebt werden wie das Absolute^***)
usf. — Das klingt so wie Spinozas Worte am Schluß der Ethik:
„Die Glückseligkeit besteht in der Liebe zu Gott." — Aber man
darf sich nicht durch Worte tauschen lassen; denn eine Seite
vorher hat Spinoza gelehrt, daß die Grundlage aller Glückselig-
keit, das heißt der Tugend oder der rechten Lebensweise, darin
besteht, seinen Nutzen zu suchen +) Und was „Gott oder die
Natur*' eigentUch ist, das haben wir schon gesehen.
Fast ebenso irrig wie die Einreihung Spinozas in die Mystik
ist aber» ihn ab Pantheisten zu bezeichnen. Ich habe hier
nicht von der foimal-logischen Berechtigung dieser Deutung zu
sprechen, denn wenn jemand den Sprachgebrauch Sndeit und
seine Weltsubstanz, „ein ausgedehntes Duig", das zugleich auch
„ein denkendes Dütg*' ist, „Oott^ nennt, so kann man dann frei-
♦) Die Bestimmung des Menschen III.
**) Die Anweisung zum seligen Leben.
♦♦♦) Nachlaß Ii, 127. t) Ethik V, Sau 41.
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241
licli sagen, daB in diesem System alles „Gott** sei — aber das
ist offenbar nichts ab Wortqiicleiei. Odbt man anf cfie Quelle
zurfick, so wird man im Pantfaeismtis ausschließlich das ^oße
Weltgefühl sehen dürfen, das vor jeder Erscheinung der Natur
von der Ahnung eines ewigen, eines göttlichen Seins befaHen
wird, das im Blühen des Grases wie im Tanz der Gestirne eine
gelieiiTinisvoUe Oöenbarung (jottes sieht Pantheismus ist das
vollendete Gegenteil von Rationalismus, Pantheismus ist Gefühl,
Leidenschaft, ist brünstige Huigabe der Seele an ein Möheres, er
widerstrebt jeder Systematik und unterscheidet sich von der
echten Mystik höchstens durch seine Diesseitigkeit, durch sein
Weilen im Erscheinenden. Der eine grofie Pantheist ist Giordano
Brwio, der Vericünder der übenneaaGhUchen Letdenscbaften.
„Man wild selber ein Oott dinth die geiatigie Berfllirung des
gOHUcfaen Zieles, man liat nichts anderes im Suin als göttliche
Dinge und erweist sich unempfindlich ffir altes» was die groBe
Menge fühlt; man kennt kerne Furcht, sondern verachtet ans
Liebe zur Gottheit jeglichen anderen Genufi und achtet dieses
Leben für nichts."*) Für Oiordano sind die Attribute Gottes
dem Christentum anfj:eiiahert : Macht, Weisheit, Liebe. — Wie
will inaii diesem Furor den kühlen Intellektualismus Spinozas
nahe bringen Spinozas letzte Weisheit ist ja, von Affekten frei
zu werden und ganz im ruhigen Denken zu leben. Dies ist eudä-
monistisch, stoisrh; man hat einijesehen. daß es sich unter der
Herrschaft des Verstandes besser leben läßt als unter der der
Leidenschaften, der Verstand aber sucht die Erkenntnis und die
Liebe der Ideen. Der Amor intellectualis Dei, von dem sich
Geister hohen Ranges haben blenden lassen, ist nicht Gottes-
hebe, sondern Liebe zur Wissenschaft. Auch die Inder philoso-
phieren ohne Leidenschaft und Begeisterung, kühl und abstrakt,
*) Kroici furori, Zwiegespräche vom Helden und vom Schwärmer.
Deutsch von Ludwig Kuhlenbeck.
Lucka, Grenzen der Seele. ih
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242
wenn auch phantastisch; aber ihre Grundüberzeugung ist die
letzte Identität der Menacheoaeele mit der WcUaeele. — Die
Selinsacht der Sede zu Gott kann nur bestdien, wo Seele als
Wesenhdt empfunden wird, die in ihren Quell und Uigrund,
ins Meb^bysische eingehen will. Spinoza ffihlt und meint etwas
anderes, sowohl unter Oeist als auch unter OotL Der Mensch
ist ihm ehie Störung in der Natur, die ausgeglichen werden soll,
und die ganze Welt ist bei Spinoza nicht ernst genommen, sie
hat kefaicn Sinn.
Es leuchtet ein, welch ungeheures Mißverständnis darin
liegt, Goethe, den Verkünder der Persönlichkeit und der Tat,
einen Spinozisten sein zu lassen. Und doch scheint dies*- auf ein
paar Äußerungen des Lernenden beruhende Memung^ in ihrem
offenkundigen Widersinn unausrottbar zu sein (wahrscheinlich
weil die Goethe-Kenner die abstrakte Philosophie nicht lieben, von
Spinoza oft nur das wohlklingende Wort „Pantheismus" wissen
und die einmal aufgestellte Behauptung mechanisch wieder-
holen)*) Der das höchste Glück der Erdenkinder in der Persön-
lichkeit gesehen hat und im Geist Fichles veiicändete und lehrte:
„Im Anfang war die TatI" — der hat die Philosophie Fichtes und
nicht die Spinozas in sich gehabt (wenn er auch den für den
Kiinstler wohlbegrundeten Abscheu vor Systemen teilte). Wie
für Fichte ist auch für Goethe m der „Tafhandlung^* das erste ge-
geben, das was aus dem Naturwesen einen Freien macht und so
cfst den Menschen schafft. —
Fichte hat seinen G^ensatz zu Spinoza selbst einmal an-
gedeutet: „Es gibt nur zwei vöUig konsequente Systeme: das
kritische, weiches diese Grenzen (die Grenzen des „ich bin") an-
*) „Was Ith mir aus dem Wefke (Spinozas Ethik) mag herausgelesen,
was ich in dasselbe mag Mneinfelesen haben, davon wöftte Ich keine
Rechenschaft zu geben." (Wahrheit und Dichtung, 14. Buch). Ober die
Wettsteliung Qo^hes melir im letzten Abschnitt
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erkennt, und das spmozische, welches sie überspringt."*) Und
er nennt sein System einen umgekehrten Spinozismus". — Spi-
noza sagt: Die Substanz hat zwei Attribute, Denken und Aus-
dehnung, Fichte driickt einen entsprechenden theoretischen Ge-
danken so aus: Das inwendige Leben des Lichtes spaltet sich in
Denken und Sein.**) — Die moderne Erkenntnistheorie formu-
liert diese Tatsache etwa derart, daß Sein und BewuBtMia (oder
körperliches und seelisches Sein) die beiden Encheinungswdaai
and, unter denen alles Existierende begnSen werden kann. Für
Ficfaie aber steht das Lebendige (das noch dazu in seiner
letzten Periode zum Ucfat veifcUrt ist)***) am Beginn. Seine
Pliiloso|diic fSngt nidtt mit etwas Gegebenem an, sondern mit
einer „Tathandlung des Idi'', und der ente Onmdsatz der Wis-
aensdiafislehie latttet: „Idi bin scbledithin, weil idi bin; und
idi bin schlechthin, was ich bin." — ,,Das Ich setzt urspröng-
Hdi sein eigenes Sein."t) — Es ist das Eigenartige, daß diese
Denkweise nicht mit einem theoretischen Satz oder gar mit einer
Definition anhebt, sondern mit einem Willens-Impuls, mit einem
Imperativ: Sei deiner selbst bewußt! Setze dich selbst! — so den
Gegensatz zu allem beschaulichen Verhalten betonend. Das Ich
ist absolute Tätigkeit, alles Sein ist bewegtes Sein, lebendiges
Sein. Und Ficiite sieht es als seine ewige Tat an, dies eine ge-
leistet zu haben: „Durch die XX^issenschaftslehre wird das Men-
adicqgeschledit von dem blinden Zufall erldst, und das Schicksal
wird für dasselbe vemiditet''tt) — Oegcn diesen ungdieoren
iieroischen Aufschwung, der aUes Existierende zusammenfaßt,
um CS dem freien Willen Untertan zu machen, sieht die kalte, nur
*) Grundlage der ges. Wissenschaftslehre, Jena 1802, S. 16.
♦*) Nachlas II, 150.
*<M) „Udit und Leben ist sehlecMMn eine«.«* Naclilet n» 1S3.
t) Grundlage S. 12.
++) Sonnenklarer Bericht nn da? f^rößere Publikum fiber dtt eigent'
liehe Wesen der neuesten Philosophie. S. W. II, 410.
16*
244
auf das eigene und ahcr anderen Wohlsein bedachte Weisheit
des Mittelmenschen.
Es ist aber für den Menschen und seine Philosophie von
der höchsten Bedeutung, wie er über Wert und Lust denkt.
Das heroische Onin4gefähl, das allem Sein einen inneren Sinn
zuspricht und an seiner Vollendung arbeiten will, das also einen
Zweck in das Sein hineinlegt, lädt die Lust hnmer nur als etwas
Rdativcs gelten (wobei die plumpe Obertreibttng, der die Lust
einfach etwas Böses ist, zur Giarakterisierung bdtrlgt). Wäh-
rend die Wertphilosophie Lust nicht als Letztes anerkennt, ist für
Spinoza und den modernen Naturalismus Lust der Inbegriff aller
Zwecke, Spinoza definiert sie als „Übergang von geringerer zu
größerer Vollkommenheit".*) — Je höher daher die Lust steigt,
desto mehr wachst auch die Vollkoimneiiheit, der Wert. Fichte
charakterisiert selbst diese Meinung so: ,,Ich weiß, daß sie (die
Naturalisten) überhaupt nicht unter ihrer eigenen Botmäßiir-
kdt, sondern unter der Gewalt der Natur stehen, und daß nicht
sie selbst es sind, sondern diese Natur in ihnen, die das erstere
(das Angenehme) mit aller ihrer Macht sucht, und das letztere
(das Unangenehme) flieht, ohne Rücksicht, ob es übrigens gut
oder böse sei/'**) Diesem natuigebundenen Denken, das ganz
im mittleren, idyllischen Dasefai befangen bleiEt, sind Lust und
Wert identisch. Es wte aber verfehlt, diese OefOhlswdae etwa
mit Nietzsches Verhenlicfaung der Lust („alle Lust will
Ewigkdt") in Beziehung zu bringen; denn gerade Nietzsche hat
nichts so sdir verhöhnt wie die Freude am Bdiagen und am
Alltag. Die englische Nützlichkeits-Philosophie (die sidi mit
Spinozas Wertlehrc deckt) ist ihm die niedrigste und verächt-
lichste gewesen. In den Kapiteln des Zarathustra, die vun den
kleinen Menschen und von den letzten Menschen handeln, ergießt
*>etMkiIL Ddlnitfoa dar AHekte.
**i Die Bmänammg des Menschen S. Zt4»
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245
er allen seinen Sputt über die Sorge um das täfrüche Wohlsein
und die großen Predigten fordern einen harten, hohen Wert
Nietzsche repräsentiert äbertaaupt ganz klar (wenn auch in der
einseitigen Betonung zur oberen Grenze hin) den Denker nach
dem Typt» Fichte (sein Zarathustn ist eine Art Idealbild des
Gienzmenachen als Sdiwtaner), er hat sich aber in seiner Oppc^
sition die deutsche Philosophie und gegen Wagner hin
und wieder zum Anwalt der Mittelwerte ausgeworfen. Die tust»
die Nietzsche veiherriidit, ist etwas ganz anderes als die Lust,
die der Positivismus Itiirt; für Nietzsche ist Lust Rausch, höchste
Aufetachdung alles Lebens, und so Idealismus und eine For-
de r u n g an den Menschen. Aber nicht nur den Sinn, auch das
Pathos, mit dem Nietzsche allem Leben einen tieferen Sinn gebea
Will und hierzu das Symbol von der ewigen Wiederkunft bildet,
hat Fichte vor ihm : „Die übersinnliche Welt ist keine zuküiiitige
Welt, sie ist gegenwärtig; sie kann in keinem Punkt des end-
lichen Daseins g^enwärtiger sein, als in tlein andern; nach
einem Dasein von Myriaden Lebenslängen nicht gegenwärtiger
sein, als in diesem Augenblicke Ich ergreife durch jenen
Entschluß die Ewigkeit, und streife das Leben im Staube und
alle anderen süinlichen Leben, die mir noch bevorstehen können,
ab, und versetze mich hoch über sie. Ich werde mir gelbst zur
einigen Quelle alles meuies Sems und mdner Erscheinungen;
und habe von nun an, unbedingt durch etwas außer mir, das
Leben m nur selbst. Mein Wille ist die Quelle des wahren
Lebens und der Ewigkeit'**) — Was hier deutlidi ausgesprochen
is^ um das hat Nietzsche gerungen, es aber niemals recht fassen
kfifinen. —
Spinoza zieht in seiner imposanten geschlc»senen Denk-
weise auch die letzte Konsequenz des Naturalismus, der keinen
Wert kennen darf und alles Seiende für vollkommen erklärt,
*) Die BesÜiniiiunc des Menschen S. 290.
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246
denn eine andere Quelle der Vollkommenheit darf es ja nicht
^en (dieser Gedanke ist spater von Hegel wieder aufgenommen
worden). Die Natur wirkt mit Notwendigkeit (auch im Men-
schen) und es wäre also purer Unverstand, dem von ihr geschaf-
fenen, das heißt eben dem Existierenden, abschätzend i;e<^en über-
treten zu wollen. So gibt es nichts als das wirkliche Sein, die
Realität; Vollkommenheit und Unvollkommenheit, gut und
schlecht sind nur Oedanken, die nichts zu bedeuten haben. „Ge-
recht und ungerecht, Sünde und Vecdienst sind nur äußere Be-
gfi&t." — ,^ii8t ist gut, Unlust ist sctdedie'*) — Diese Gduhl»-
weise führt konsequent in die Tugendletue (nidit eigentlidi jen-
srits» sondern noch vor der Scheidung von Out undBfise), zit der
die moderocn Posiüvisten nicht den Mut haben — daß das Oute
eüifach das dem Menschen Zutrilglicfae sei, Tugend ist Olfick
und gleich dem eigenen Nutzen. , Je mehr jemand strebt und
vermag» das ihm Nützliche zu suchen, desto tugendiiafler ist er/'
— ffDaB Streben, sich zu eihalten, ist die erste und einzige Orund-
lage der Tugend'"*'*) — Wenn also Spinoza lehrt, daß die Tugend
um ihrer selbst willen gesucht werden müsse, so klingt das sehr
edel, heißt aber nichts, als daß jeder seinen Nutzen suchen solle
(was er wohl ohnehin sclion gewußt hat). Für den Denker ist
aber gut und nützlich das I>enken und die Erkenntnis, und da-
her sagt Spinoza, daß das höchste Gut die Erkenntnis Gottes
sei, denn der Philosoph wünscht nichts so sehr als Einsicht in
das Wesen der Welt und „das Gut, welches jeder, der der Tu-
gend nachstrebt, für sich begehrt, das wünscht er auch den
anderen Menschen".^^*) — Dies ist der berühmte und soecliaben
klingende Amor intellectualis Dei Spinozas!
Entsprechend dieser intellektualistischen und poaitivistiachen
*) Ethik IV, Satz 37, 41.
*♦) Lthik IV, 18. Annu, IV, 20, IV, 22 Zusatz.
♦♦♦) Ethik IV, 37.
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247
Moral müssen die Begiifie der Sünde und des Bösen abgelehnt
werdea: „Die Sünden, soweit sie nur eine Unvollkommenheit
anzeigen, stellen nichts Wirkliches dar."*) Da ja doch nichts
andern als mit Naturnotwendigkeit geschehen kann, so gibt es
auch kein Unrecht; dieser Oedanke ist so unmöglich wie dn
rundes Vieieck. Das Veibrechen wifd ganz äufierlich gdafit
als y^Ungehoraam, der nur nach dem Staalsgesetz strafbar ist"**)
Das Böse ist nur Mangel an Efkenntnis; denn hätte der Mensch
voUkonnnene CrkennhiiSy so würde er ja nur das Beste (d. h.
das ihm Nfitz]idiste)wonen und wSre also gut; auf dem Verstände
iuht alles. Nur ein reiner und klarer Mensch, der niemals ver-
sucht worden ist uiid ganz der Erkenntnis lebt, hat diese in ihrer
Paradoxie docli so folgerichtige Lehre aufstellen können. Das
«ttliche Sein, das für die Idi-«Philosophie Quelipunkt und letztes
Ziel des Denkens ist, beruht für Spinoza nur auf verschiedenen
Oraden von Verstandesklarheit
Der Mittefaaensch, auch wenn er nicht konsequenter Denker
ist, neigt dazu, kerne Probleme anzueilcennen, und läßt das Be-
stehende gut seht. Er schiebt alles dem unerforschlichea Rat-
schluß Gottes zu, der es schon richtig geordnet haben wird, oder
erklärt wie der denkodtehtige Sphioza aUes für das Werk uneibitt-
llcher Naturnotwendigkeit Die Zwecice des Menschen sfaid denen
der Natur völlig untei^geordnet. Wo sie mit der Natur nicht zu-
sammenstimmen, werden sie aufgehoben, denn „die Natur be-
dient sicii des Menschen unter allem anderen als ihres Werk-
zeuges".***)
Ist so der sittliche Wert auf Schwankungen der Erkenntnis
zurückgeführt und die Möglichkeit jedes inneren Konflikts ver-
mieden worden, so muß — allerdings nur perBönlicb für Spi-
♦) Brief No. 32.
•*) Ethik iV, 37.
Abhandliuig von Gott tUc^ S. 101.
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248
noza und nicht sehr typisch - als Beweis seiner Fremdheit auch
gegenüber dem anderen Wertgebiet, den Werten der Kunst her-
vorgehoben werden, wie er das Schöne relativ zu fassen und so
zu vernichten weiß.*) Spinoza sag:t: Die Musik ist für den
Schwermütigen gut, für den Traurigen schlecht, für den Tauben
weder gut noch scdUecbt So legt er positivistisch (und öaktr
modern) den Wert ganz in die subjektive Stimmung und läßt
etwas gegenständlich Schönes nicht bestehen, weil mit der An-
efknmung eines solchen die Nfltzlichkeits-Philosophie durch-
brochen wSre.
Der Wert der menschlichen Persönlichkeit ist bei Spinoza
von Anlaiig an nicht in Betracht gekommen; wie die ethischai
und ästhetischen Werte beseitigt werden, haben wir gesctun.
Nun bleibt noch die Wertrichtung, der sich ja auch das Denken
des konsequenten Naturalisten beugt: wahr und falsch. Und
wieder siegt das idylhsche örundgefnlil, das kein Element de«;
Kampfes in der Welt anerkennt; während jede Ich-Philosophie im
Wahren und im Falschen (wie im Outen und im Bösen) zwei
widerstrebende Kräfte sieht, die in der Brust des Menschen mit-
einander ringen, so ist hier jede innere Entzweiung dadurch un-
möglich gemacht, daß das Falsche nur als ein geringerer Grad
von Realität, ein geringerer Orad von Wahrheit gilt Auch diese
Denkweise (die eigentlich eme Geffihlsweise ist) hat fOr das
Streben nach VervoUkommnung Raum: aber hier gibt es nicht
ein Ringen, das mit einem Sieg des Vollkommeneren enden soll,
sondern ehi langsames Besserwerden, kdn Kampf der Gedanken,
sondern ein Schrieb der Wissenschaften. (Die modernen Evolu-
tionisten und Sozialisten fassen dies als automatisdie Entwick-
*) Spinoza ist ein Zeitgenosse der grofien niederlindischen Maler
gewesen, seine Wohnirnp in Amsterdam befand sich nur einige Strafen
von Rembrandts Ateiier entfernt und er bat sich selbst mit Zeichnen be«
schäftigt
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249
}uiig.) — Die höchste Einheii mit allem Sdendea ist hier von
Anfang an gegeben und es bleibt nichts Fragliches und Eistie-
benswertes übrig; die andere Denkart setzt dem Menschen die
eine, die große Antrabe, dies Höchste zu vcrwiiidicben. (Es
gibt selbstvefsUndHcfa auch ehien philosophiadien DuaUsmus
— Aristoteles z. B. — der nicht auf dem tragischen Bewußtsein
beruht, sondern der eine theoretische Meinung ist; uns beschäf-
tigt nur der echte, der seelische Dualismus.)
Die außerordentliche Objektivität Spinozas (d, h sein
Mang^el an Subjektivität) und sein kosmozeritrischer Standpunkt
hat nun den philosophischen fcirlolg, daß er eines der ganz we-
nigen großen Systeme des Seins gegeben hat, während alle
Systeme des europäischen Kulturkreises Bewußtseins-
Philosophien sind. In Spinozas System ist der Mensch kein we-
sentUches Moment und daher fällt da% worüber die Seelen-Philo-
sophie nicht hhiauskommt, von sett^st weg: daß n&nlicfa dem
Ejdstierenden ehi Aufnehmendes, Anschauendes und Erkennendes
gegenfibeistehen müsse. Spinoza handelt vom Sem selbst, nicht
vom Erscheinen, und daher hat aehi System dte geschlossene
Wucht, die nicht am Eikenntnisproblem gebrochen wund. Der
Wahrheitswert dieser Position kommt natfirlidi nicht fai Betracht,
wo es sich nur um die Motive des Philosophierens und das Wesen
des Philosophen handelt.
Die ganz irdische Denkart Spinozas hat aber auch einen er-
habenen Satz g^ezeitigt (den größten in seinem System): ,,Dei
freie jMensch denkt über nichts weniger als über den Tod, und
seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondeni
über das Leben."*) — Man könnte vielleicht sagen, daß auch
dies wieder ganz mittelmenschlich, sogar bürgerlich gesprochen
ist; aber es liegt doch eine tiefe Weisheit darin und ich will sie
nicht herabsetzen. Der extreme Mensch neigt stete zu Orübe-
*) EtMk IV, 67.
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250
Icien, die dem Tcxi und dem Jenseits gelten und die so leidit
wesenlos und unfruchtbar werden und das Leben, das sie doch
vertiefen sollten, lahmen, — Fs ist für einen Denker von der
Größe Spinozas immertiin merlcwürdig, daß er die ewige hrage
nach dem Warum? aller Friatenz, das Staunen und Schaudern
vor dem Sein und das Träumen von anderen möglichen Formen
des Lebens nicht kennt, daß er niemals an eine Oienze kommt,
sondern im naturfaaften Dasein völliges Oenägen findet Für
den großen Denlcer ist dies eislaunlicfa — aber f&r den Reprft-
sentanten seines MemdihaltBltyym kann es nicht wohl andeis sein.
Und der Mangel an persönlicher Problematik
ist vielldcbt das letzte Mokmal dieser Oeistoart: nur dem, der
Abgrände in der eigenen Seele und RIHsd hi der Welt sieht, ist
dieses Staunen, das einen unheimlichen Ton annehmen kann,
gegeben. —
4.
Ich habe an anderer Stelle ausführlich bewiesen, daf5 der
Grundwert des europäischen Menschen der
Wert der Seele, oder in reiferer Fassung der Wert der Persön-
lidikeit isL*) Aus diesem Aüttelpunlct strahlt konzentrisch das
ganze europäische Kultursystem, wie es sich seit dem Zeitalter
der Kreuzzüge und des Minnesanges entwickelt hat, von diesem
Qrundgefuhl aus wird die Wdt geofdnet, empfingt Sum und
Wert Ich glaub^ im Bewußtsein der Penönlicfakdt das ent-
sdiddende Merkmal des europäischen KultuigefOhles gegen-
über dem orientalischen (ün weitesten Sum) gezeigt zu haben,
und so muß auch die Philosophie des europäisdien Oeisles in
der Seele, im Ich ihren Qudlpunkt finden. Zum erstenmal ist dies
in der deutschen Mystik des vierzetinten Jahrhunderts ganz klar
geworden — was ich hier übergehe — , Giordano — ein heiß-
blütiger Abkömmling der nordischen Mystiker — hat die Seeie als
*) Die drei Stufen der Erotik: »Die Geburt Europas".
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251
Orundkraft in einem heroischen Leben und Denken bewährt. Die
moderne Philosophie hebt in Descartes mit dem Ich, mit der
Besinniing des Denkois auf ach selbst, an — „Ich denke mid
also existiere ich" — und sie ist diesem Leitmotiv bis auf unsere
itm geblieben, sie hat nidit andere kdnnen als von der
Seele des Mensdien aus die Wdt aufbauen, der Welt ihr Urteil
spfecfacn — sie ist Ich-Philosophie. Die große philosophische
Linien die mit Descartes einsetzt; ist aber von ihm nicht zu
Sphioza hinfibergegangen, der doch an Kraft des Denkens keinem
nachsteht, sondern zu Malebranche und Leibniz, dann über Ber-
keley und Mume zu den groikn deutschen rjeiikern. Ihnen allen
gilt, ausdrücklich oder in selbstverständlicher Verschwiegenheit,
die Seele als der Zentralwert de*; Denkens und des Seins.
Spinoza aber steht wie ein Ireinder erratischer Block mitten
in der europäischen Oeistesgeschichte, er hat alles ablehnen
müssen, was um ihn her in Geltung stand, er hat nicht gewirkt
und ist nicht recht begriffen worden - denn das Philo6opluere&
ist im Tiefsten nicht eine Angelegenheit des Kopfes, sondern des
Herzens^ es ist die definitive Stellung zur Welt, die in Begriffen
gcUSrt woiden ist. Und so läßt sich ein System nicht von dner
sedischen Wurzel auf andere äbertnigen, die ihr ümerlich fremd
sind. Spinoza aber reprSsentiert uns den nicht-europfiischen
Geist in seiner klarsten Veikdiperung. Dies hat Kant geahnt,
wenn er emmal die beiUiulige Bemerkung macht, daß der Spina-
zismus aus altHxrientalischen VofsteUungen hervorgegangen sein
mteev und dabei Tibet nennt.'*') Auch das Denken Indiens ist
uneuropäisch, sein Mittelpunkt ist Brahman, die Weltseele, und
diese Denkweise ist iiruner ganz im Metaphysischen befangen ge-
blieben und hat niemals ein Kultursystem her\'orbringen können.
Und Schopenhauer versucht, die indische Gefuhisweise der euro-
päischen aufzupfropfen, wenn er die Seele nicht als Wesenhaftes
*) „Das Ende aller Dinge." Werke VU, S. 422 (Ausgebe Rosenkranz).
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252
gelten läßt, sondern nur als Schatten des Weltgnindes, des uni-
versalen Willens. Mit Ausnahme Spinozas, Schopenhauers und
dfö bloß Wissenschaftlichen Positivismus aber CTkcnnt die ganze
europäische Philosophie im Ich oder in der Per&fjiilichkeit des
Menschen den Mittelpunkt des Seins und stimmt insofern mit der
I\eH^nan Europas zusammen, der die Seele als das einzijre in der
Welt gilt, was echten Wert hat. Brahmaismus und Buddhismus
fassen wie Spinoza das Erkennen als Primäres^ und wenn die
Unzulänglichkeiten des Denkens behoben sind, so ist die Erlö-
sting vollzogen. Das Christentum, die deutsche Mystik und die
earopAische Fbilosophie findai das Wesen im Wiiten oder in der
SedCy die Weit wird zum ir^giachen Eitignis. Spinoza hat als
Wappen eine Sddange gcföhit» die aicli zum Ringe legt und in
den eigenen Schwanz heißt — ehi Bild der Sinnlosigkeit alles
Seins. Kants Symbol Ist die Asymptote, die gerade Uni^ die
einer Kurve näher und näher konunt und sie doch niemals er-
reichen kann, erst in der Unendlichkeit — das Bild des
evsrigen Strebens, der Piiilosophie des Willens, des Idea-
lismus. —
Was zuletzt über das Verhältnis der Weltsysteme mit den
Wertungsweiseii des europäischen und des orientalischen Men-
schen (zu dem im weiteren Sinne sowohl arische Inder als auch
Semiten imd Mongolen gehören) gesagt worden ist, das sollte
hier nur anhangsweise die psychologischen Voraussetzungen des
Philosophierens in eine weitere Perspddive rücken und die an
zwei Denkern gewonnenen Einsichten in einen welthistorischen
Zusammenhang einreihen. Fichte ist von Anfang an als der Re-
präsentant des tragischen Menschen in höchster philosophischer
Reuihett erkannt worden und enthiillt sich jetzt überdies als der
Vollender des europaischen Wert- und WettgefäUsw In Spinosca
sehen whr den Kreuzungspunkt zweier OefOhlszüge, die eigent-
lich in verschiedenen R^onen verlaufen, eines mdividual-psy-
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253
cliologischen und eines kultur-psychologischen. Was diesen
beiden Linien dennoch genieinsaiii ist, wird man cäm leichtesten
als ein Negatives fassen können: der Mangel an tragischem Be-
wußtsein.
Der Zusammenhang individuellen Fühlens und Denkens
mit einem Kulturkreis (weit mehr als mit einem Blutkreis!) läßt
sich also durchaus nicht bezweifeln; aber vor den großen indivi-
dudlen Untersducden der menschlichen Seelen sind die Dife-
ranzen der Rassen und Nationen gering. Ich konnte als Beispiele
für den mittiefen Menschen die Uideutschen Keller und Hi^dn
und den mit tahnodischer Bildung aufgezogenen portugiesisciiett
Juden Spinoza anführen. An dem Angelsachsen Poe^ dem
Russen Dostojewski, den Deutschen Fichte und Beettiovcn ist
der Orenzmensch verstanden worden, und alles das könnte nach
jeder Richtung erweitert werden. Die sekundären Unterschiede
der Abstammung uiid der ünigebuiig sind natürlich weitaus be-
deutender beim mittleren Menschen, der ja viel tiefer in seinem
Kreis darin steht als der Grenzmensch. Aber auch noch in den
( jeistem, die am ent^hiedensten auf sich selber ruhen, wird eine
bestimmte Tönung zu Enden sein, die von ihrer erdhaften
Wurzel stammt. —
Vielleicht kann alles, was bisher gesagt worden ist, eine
wichtige und praktische Einsicht begründen: daß nämlich der
uralte und heute wieder so aktuelle Streit zwischen Mo-
nismus und Dualismus auf psychologischen
Unterschieden der Menschen und auf gar nichts
anderem beruht. Wer nicht nur etwas nachredet, sondern
wer eine dieser beiden Gnmdstellungen wiikltch aus sich heraus
entwickelt hat, für den sind alle theoretischen Beweisffihrungen
wertlos: der Mittehnenscfa ist Monist, der Orenzmensdi
Dualist.
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7. DER SCmCKSALSMENSCH
1.
Wir haben alles» was an den Menschen henuiliitt und ihm
gegeben ist, die Wnkunsen der Wdt und seuie eigenen Anlagen
unter dem Begriff des Schicksals zusammengefaßt und dem
unendlich Vielen ein einziges, die innere Kraft, die Freiheit
gegenübergestdlt. EHes sind die beiden letzten Elemente, die in
allem Menschlichen gefunden werden können. Auf ihnen beruht
die im tiefsten dualistische Konstitution des Mensclien gegenüber
der önheitlich und daiier berechenbar aufgebauten Natur.
Diese beiden Grundelemente müssen prinzipiell in jeder mensch-
lichen Seele angenommen werden; aber es gibt Menschen, die so
sehr Naturwesen sind und so wenig eigentlich Menschliches
haben, daß das Clement der Freiheit gar nicht vorhanden zu sein
scheint oder wenigstens nicht ins Bewußtsein fällt und bei keiner
ihrer Handlungen merklich wird. Als im Absdmitt über das
Tragische vom Helden der Tragödie gesprochen worden ist, der
blind und stark wie eine Naturmacht seinen Weg geht, da ist
uns schon der Mensch begegnet, den ich den Schicksalsmenschen
nemie. Wenn seine seelischen Dunensionen nur hinreichen» er-
weckt er leicht einen ästhetisch cinheiflichen, geschlossenen Ein-
druck wie die Schöpfungen der Natur und verleitet den Beob-
achter, ihm selber unbewußt, solch einen Menschen als Phi-
nomen und nicht als Persönlichkeit anzusehen, ihn nicht mensch-
lidMedisch, sondern gegenstöndliCh-Ssihetisch zu beurteilen.
Wie schon früher ehigeleucfatet hat» ist dieser Mensdi inneilidi
völlig untragisch und gerade darum scheint er uns ein passender
Gegenstand des Ästhetisch-Tragischen zu sein; denn seine Ge-
bundenheit weckt uns selber zum Bewußtsein unserer Freiheit
und schenkt uns das Gefühl des Tragischen. Der Schicksals-
mensch erfährt im tieferen Süm keine Freiheit und kein Schicksal,
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255
gleichwie das Tier kdn Sdudaal hat; denn erat im licht des
digentUcfa McnschKchen kann das and^, das Freoide^ das
Schldtsalhafte zum Bewußtsein kommen. Weil wir aber nicht
umhin können, diesen Menschen von unserem Standpunkt aus
anzusehen, ihn ganz schicksalsbesüinmt, ganz unfrei zu be-
greifen — darum und noch aus einem anderen, nicht ins Psycho-
log^ische fallenden Grunde will ich ihn den Schicksalsmenschen
nennen.
Der Mensch als Persönlichkeit ist enic wirkliche Welt, ein
Mikrokosmos, der sein eigenes Gesetz in sich trägt und dem
Kosmos, der Welt» als ein selbständiges Ganzes g^enubersteht.
Der Schicksalsmensch ist kein Ganzes (weil ihm das Bewußtsein
innerer Freiheit, eines inneren Zcntrmns abgeht), keine Welt,
sondern ein Tesi, ein Stfick der allgemeinen Wdt unter deren Oe-
setzen. Und weil sich dieser Mensch nur als ein Teil und nicht
als abgeschlossenes Ganzes fühlt» kdnncn leben und Oeltung
haben für ihn nur ui bes&idiger VeisröBerung beruhen.
Sem Wunsch ist, ein ümner größerer Tdl der Welt zu wer-
den — der Wunsch aller Menschen ohne fameren Mittelpunkt
— und endlich die ganze Welt auszufüllen. Tamerlan hat gesagt:
Wenn wir die Erde erobert haben, so werden wir uns auf den
Mond stürzen. Dieser Wunsch, sich bestandig auszudehnen, an
Macht zuzunehmen, kann nie gestillt werden ; denn das Grund-
gefühl, nichts Ganzes zu sein, sondern ein I eil, ändert sich nie-
mals; das Stück Welt, das der Schicksalsmensch ist, wird immer
nur umfangreicher — kann sich aber nie zu einem Ganzen
schließen, es hat eine unersättliche Gier nach Raum und Macht
Wörtlich genoomien ist es wohl falsch, aber in einem tieferen
Sinn für den Schicksalsmenschen wahr, wenn Napoleon von sich
selber sagt: „Ich iiabe kernen Ehigeiz; sollte ich aber doch
welchen besitzen, so ist er mir derart angeboren, daß er voll-
konunen in meinem Wesen liegt, und er hängt mit meinem Dor
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256
sein so innig zusammen wie das Blut, das in meinen Adern roUt,
und die Luft, die ich atme." Denn Sein und MelireeinwoUen ist
für ihn dasselbe.
Der Sducfcsalaiiienscfa veistelit nicht zwischen Menschen
und Dingen zu scheiden, zu werten; er steht nur OroBes und
Klemes. Denn nur m bestandigem quantitativem Wadistum ver-
mag er emen Inhalt zu gewinnen. Das ist wohl eme Illusion,
aber eine unvennridUdie Illusion, wenn ein innerer Lebensquell
nicht voihanden ist Wiildiches Innenleben, das heißt Leben, das
selbstgenugsam in sich ruht, ist daher für dicsvn Menschen luci.t
möglich; er geht in Wirkung und Gegenwirkung mit der Weit
auf.
Diese Art zu woüen und zu leben ist ganz nach außen <re-
richtet, ganz extensiv. Sie betätigt sich in der Ausdehnung
der eigenen Sphäre über einen möglichst großen Raum, über
möglichst viele Menschen und Dinge. Sie sucht alle Weltelemente
um ein Zentrum zu sammeln und dort festzuhalten. Der exten-
sive Mensch will das Netz, in dessen Mittelpunkt er sitzt, immer
größer und weitmaschiger machen. Der Vollfsiedner, der Po-
litiker z. B. hat sein Innenletien bis auf em ganz primitives
WiikenwoUen veremfadit, C^gen- und NebenshrOmungen in ihm
selbst weiden vernachlässigt, er will Macht über andere ge-
wumen, will erobern und nichts anderes. Gldch eideostv ge-
richtet ist das Streben des Reichen, der hnmer noch reicher
werden will, der den Umfang aefaier Macht in hnmer größeren
Zahlen ausdrücken, das Geld von fremden Zentren in seines
locken möchte; und ebenso ist der Frauenjäger, der em Register
f&hrt (vieUdcht nur in Gedanken) und selbst nichts anderes zu
empfinden vermag als geschmeichelte Maclugier.
Während der extensive Wille (der aber nur uneigentlich
Wille zu nennen ist — Nietzsches Wille zur Macht) ganz auf
das Verhältnis zu anderen Manschen und zum Raum gestellt ist,
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beruht das intensive Leben darin, das Gefüge der Seele
immer inniger, klarer und fester zu g^estalten, das Netz seiner
Kfälte immor enger und sicherer um einen ^Vittelpunkt herum
zu spannen. Der Mensdi des intensiven Willens geht seinen
Weg gerade durch die Welt, unbekümmert um fremden Willen,
unbeeiafiußbar von ihm, er hat seine Kräfte stets in der Gewalt
und muB sie nicht von außen gewinnen. Dieser Wille Ist WiUe
im eigentlichen Sum, ist das Prinzip der PefsOnlichkeii; die
sich hn Lau! des Lebens sOitar und emheitlicher eracfaaSt nnd
aUes zu asshnilieren vennag, das fonnende Prinzip, das die
Elenunte aneinander bindet, sie zu ediien Oliedeni eines
heren ordnet, so dafi ehie Hiefarcfaie der fameien Krtfte enlsteht;
die die äußere Hierarchie, das Ideal des extenaven Menschen,
spiegelt. Der intensive Mensch will nicht so sehr wirken als
s e i n , er hat die Kraft und den Willen zur Einsamkeit und
zur Schweigsamkeit (der schwache Mensch kann nicht
schweigen und nicht allein sein); schweigsam sein heißt ja, in
Gesellschaft anderer einsam sein. Hierher zählt der Asket, der
sich ganz unter seine Herrschaft bekommen hat; aber auch
mancher Schrullige, der die Welt von einer fixen Idee her aus-
deutet — Schwache Menschen hingegen, ohne intensive noch
extensive Kräfte, vermögen nicht den Elementen ihres Ich eine
eüiheitUcbe Form zu verleihen, zaUieiGhe Komplett tiealehen
nebenehiander — hn Chaos freOich gedeiht hhi und wieder
geistiger mid seelischer Reichtum.
Je emhdtUcher ein Mensdi oiganisiert ist, desto mehr ver-
mag er auch, Ehiflnß auf andere Menschen zu fiben, sie sich an-
zugleichen ~ ganz von selbst strahlt der hitensive Wille ins
Extensive hinaus. Denn die vielen Menschen, die selber nicht ge-
richtet sind, hnden ihre Wollust darin, von einem fremden ent-
schiedenen Willen Anstoß und Richtung zu empfangen. Und
so kommt es, daß die Wirkung einheithch organisierter exten-
LttckA» Qtmutn der SmI«. 17
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258
aiver Menschen manchmal an die echte Kraft des intensiven
Menschen erinnert — wenn man nSmlich nur die Wiikong sieht
mid beurteili
Je mehr sich nun ein Mensch dem Typus des Schicksals-
menschen nähert, desto geringer sind seine intensiven und desto
entschiedener seine extensiven Kräfte. Der SchicksalsmcDsch
selbst ist ein Stück Natur, zur höchsten Konzentration gesteigert,
er ist eigenthch nicht Mensch, weil ihni das abgeht, was den
Menschen über die Natur erhebt, er ist Phänomen und kann wie
ein Wasserfall oder ein Seesturm hohe ästhetische Bewunderung
wecken. Aach diesen Erscheinungen sprechen wir nicht Wert
an adi zu, wir wissen, daß sie nichts sind als physikalische Vor-
ginge^ aber wir vcnnagen sie in eine andere^ in die fisthetiscfae
Lage za venetzen und uns an ihnen zu erEreuea. Und danun ist
der Schicksalsmensch immer wieder der bevorzugte Gegenstand
der Dichtung. Die Bewunderung, die Nietzsche^ manche Künstler
und viele Frauen fär Niqpoleoa ~ den grftßten Sdiicksato-
menschcn der neueren Zeit — empfinden, ist rein ästhetisch,
Nietzsches Schwärmerei für die prachtvolle Bestie, ffir den ge-
walttätigen Menschen, eine Spielart des Scfaicksalsmenschen, die
so recht ins Auge fällt, ist die Bewunderung des Zuschauers für
ein Phänomen, nicht des Menschen für einen Menschen. (Diese
äsüietische Wertungsweise ist ja für Nietzsche charakierisUsch.)
Der Mensch, der nur Natur ist, vermag rücksichtslos zu sein wie
die Elemente; aber nicht etwa, weil er mehr wäre als andere
Menschen, Obermensdi, sondern weil ihm das eigentlich Mensch-
liche, das Persönliche lelilt, so daß er hemmungslos handelt.
Die Bewunderung für solch ein Mensch gewordenes Phänomen
ist vom ästhetischen Standpunkt durchaus begreiflich; wird es
aber als Ideal aufgestellt, so beweist dies nichts als eine primitive
Verwechslung der seelischen mit der ästhetischen Kategorie, das
heißt: man vermag nicht emen Menschen von mnen heraus als
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Menschen zu verBtefam und zu benrteUai, sondern man wertet
ihn von auBen, von ebiem ZiiMhauer Jicr» nach adnm Wir-
kungen. Diese Perveraion ist das eigentliche Onmdübd des
Astiietiziamus. (Wollte man emst damit madien und das Natfir-
liche über das Peraöalicfae stdlen, so müßte man die physiolo-
gischen Vorgänge der Verdauung und des Stoffwedisds hdher
schätzen als alles Seelische und Geistige — sie sind wahlhaft
Natur.)
Der Schicksalsmensch hat selbst nicht das Bewußtsein, etwas
zu tun, er empfindet sich als das Werkzeug des Geschehens, und
weil er selbst innere Kraft, Persönlichkeit niclit besitzt, so ist er
auch nicht imstande, die Persönlichkeit anderer zu erkennen; er
vermag alles Lebendige und alles Tote wie sich selbst nur im
funktionalen Zusammenhangs als Glied und Teil zu verstehen,
nicht als selbständige Welt. Ohne daß es ihn ein Opier kostete,
shid ihm die Menschen nichts als Wericzeuge^ und so kano er oft
OroBes hi der Wdt endchen; aber wiederum nicht als Ober-
mensch — als ein Wesen, das über die Mensdihdt hmauQge-
kommen wixe — sondern als Untermenach» als Elcnwnt der
Natur. Er ist der von ehiem einzigen Trieb besessene Mono-
mane, der unbddhnmert um Welt und Menschhdt seinen Weg
dahinstürmt (der Held der Tragödie) — nicht ein Mensch, den
eine Idee im Banne hält und der ihr folgt. Er begebt einen
Mord mit der mhi^ren Oberzeugung, daß es nicht anders sein
kann. E r tut es nicht, es g^hieht. Und ebenso erträgt er kla,[^-
los (und doch nicht heroisch!) Leid und Unglück (die antiken
Helden), weil ihm ja der Oedanke; es könnte auch anders sein
— frand ist
Es sieht vielleicht aus, als wäre der auigestellte Typus des
Schicksalsmenschen mit dem Verbrecher verwandt. Aber dies ist
Schein: der Schicksalsmensch hat sdilediterdhigB keine fie-
ziehttqg, aiuh keine feuidsdige, zum Pcfsönfidten, zum Sitt-
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260
liehen, zum Wertvollen, er ist Natur und handelt im Stande der
Unschuld. Der dämonische Mensch kann über fidoer eigenen
Seele sitzen und in Dumpfheit hinleben, oder er kann von Haß
verzehrt werden. Der Schirkaatomfnsch vermag nicht in sich
selbst zu verharren, weil er von sich selber nichts weiß, er hat
weder ein VertiUtnis zum Outen, noch zum Btan, er ist weder
tragisch noch dimonisch (wenn er auch für eine rein mensch-
liche Wertung, für einen Zuschauer, beides sein mag). Ab ein
geformtes Stfick Natur muß er beattndig und ohne eigentlidies
Bewußtsein aus sich heraus m die Welt vdrken; undauch das ist
schon im Bilde gesprochen, denn er wirkt nicht aus sich heraus
in etwas Fremdes wie der Organisator, sondern er bleibt immer
im gleichen Element, da er Natur ist, da innen und außen für ihn
nicht bestehen. Während sich in der Seele des tragischen und des
dämonischen Menschen eb,vas abspielt, das an und fiir sich einen
Sinn hat — und sei es selbst die Versteinerung Macbeths! —
fehlt dem Schicksalsmenschen die Möglichkeit, einen Sinn seines
Tuns zu fassen; in ihm gesdiieht nichts, obgleich er in bestän-
diger Bewegung sein kann — so wenig wie durch einen Betg-
Sturz eine wirklidie Veränderung in der Natur erfolgt, höchstens
eine Veränderung Im isÖletisch-fonnalen Zug der Linien. Was
er tut, versteht er nicht an und für sich als Tat, die ein Zid vor
sich sieht, sondern nur von der Wirkung her, die sie verursacht
hat. Und so sind seine Taten nicht SymtK>le seines Seins (wie
beim Menschen im höheren Sinn), sondern sie sind iur ihn das
Sein selbst. Nimmt man ihm die Möglichkeit, in die Welt zu
wirken — Napoleon auf St. Helena oder mancher andere, der
immer in kleinen Verhältnissen leben muß — so ist er auch
innerlich tot.
Weil sich der Schicksalsmenscfa nicht als dne eigene auto>
nome Welt empfindd, sondern nur als ein Phänomen in der
Wdt, ist sein Grundgefühl, von allen anderen Phänomenen und
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261
Menschen in der Welt abhängig zu sein. Er achtet auf Zeichen
und ist abergläubisch. Von innen kann ilun ja nichts
kommai, er vermag keinen eigentlichen Weit zu «langen, nur
dessen Surrogate Glück und Macht, und so weiß er sich als
Knecht der Ereignisse. Er glaubt an sein Olück, an seinen Stern
— „Oeirostl Du fitet Casar und sein Olfick!** ruft Cisar dem
zafi^^aften Sdiiffer zn; ttun kann nichts geadtcfaen, denn das
Schicksal hSIt seine Hand Über ihn. Und Napoleon ennnligt die
wankenden Soldaten bei Walefloa „Die Kiigd, die mich treffen
soll, ist noch nicht gegossen wordenH* — So ffihlt sich der
Schicksalsmensch beständig getragen und geldtet Aber gleich
ihm dient jeder, der viel vom Zufall zu erwarten hat — er sei
denn gaiiz auf sich gestellt! — dem blinden Geschehen. Für die
meisten ist ^ wohl eine Ausnahme, die Westenknöpfe abzu-
zahlen: Ja — nein. Andere aber, wie Kri^sleute, Seefahrer,
Unternehmer, kurz Menschen, deren Wohlfahrt von dem unbe-
rechenbaren Zusammentreffen äuikrer hairtoren abhängt, nähern
sich schon dem blinden Glauben an das Fatum. Aber erst dann
wäre dieses Orundgefflhl ganz herrschend geworden, wenn nicht
nur die Welt mit ihren von uns unabhängigen Faktoren als schick-
salhaft empfunden würde, sondern auch das eigene Tun* Dies
kann etwas recht Niedriges sein (der stumpfsinnige Fatalismus
des Orients), allein es hat Or5Be, wo sich einer als Werkzeug
der Vocschung ffihlt (Mohammed, Napoleon). Ein solcher
Mensch, der voo der eigenen Fatalilftt überzeugt ist, geht bUnd
dahin und kommt auf emen Gipfel, ohne es sdber zu wissen.
Es kann Shnlicb aussehen, wenn sich ehi religiöser Mensch
ins Notwendige fügt; al>er für ihn ist dieses Notwendige nicht
das bloße Geschehen, er ist nicht naturhaft in die Reihen des
Weltablaufes verstrickt, er fühlt sich geborgen im Zusanmien-
han£[ mit dem höheren Sein, das seine Seele wie eine untrügliche
Sicherheit birgt und das er als göttlich empfindet. Hier ist nicht
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Zufalisglaube, vielmehr ein Gefühl von Gewißheit (das z. B.
Christus im „Oroß-Inqmsilür'* Dostojewskis enthüllt, wie er
vom Teufel versucht wird, ein Wunder zu tun). — Wenn sich
ein höherer Mensch dem Glück anvertraut, so hat er auf sein
Letztes Verzicht geleistet; und darauf beruht es, daß wir große
Menschen sinken sehen, die anlangen, dem Erfolg, das heißt dem
Zufall zu dienen. In dem Augenblick, da einer sein Uiteil über
aich settttt nicht mehr vom Oeiat — in akh oder anderen —
empOngt, sondern von einer quantitativen Oidße (die nan. gern
unbeatünnit und eupbeniistiacfa „das Volk" nennt), hat er den
Zufall als semen Herrn aneikannt und damit die Herrschaft über
sich selbst aus der Hand gegeben. Die MSnner des Erfolges und
da Menge (Journalisten, Schauapicier, Spdodanten aller Art)
kennen keine andere Instanz als Erfolg und Olfldc, ihr recht-
mäßiges Forum ist die Öffentlichkeit, sie sind abergläubisch,
denn sie wissen sich tief innerlich von Fremdem abhängig. —
Daniit sich das Bild des Schicksalsmenschen vollende, muß
aber nocii etwas dazukommen, was gar nicht mehr ins Psycho-
logische fällt, über das eigentlich nichts gesagt werden kann:
dieser Mensch muß sich nicht nur ganz vom Schicksal regiert
wissen — das Schicksal muß ihm auch wohl gesinnt sein, er
muß Glück haben. Es ist natürlich nicht zu scheiden, wie wieder-
um der Glaube an seinen Stern durch bestandiges Glück geweckt
und zum Aberglauben wird; aber dieser Glaube ist doch von An-
fang an da und reift zu der Oberzeugung, daß das Oeacfaick
dieses ehie Mal für aehien Liebling ein Auge haben, zur Vorse-
hung werden könne. Beiehier psychologischen BetradhtnngmuB
dies unberechenbare und unf aBbare fremde Element— daSemem
alles geäugt, was er anfingt — natfirlich wegbleiben; aber der
seelische Typus des Schlcfcsalsmenschen wud erst dadurch ganz
abgerundet, daß er wiildlch der Mann des richtigen AugenbUds
und des glücklichen Zusammentreffens ist — Das Volk hat nie
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an andere Menschen geglaubt als an die Lieblinge des Glücks —
sie sind seine eigentlichen Helden. Es fragt nicht nach Geist,
nicht nach Talent und auch nicht nach Taten im wahrhaften
Simii sondern nur nach dem Zusammentreffen aller Zufälle, die
einen in die Höhe heben, nacii ftußerai Vonilgen, nadi Erfolg,
nachOliidc. Do» erfdiit »ch ganz einfach: die Mensdien wissen
aidi iinimteibrodiea von aUen Faktoren abhängig, unter Hun-
derten ist vidteidit nidit einer, dem eine Ahnung von Freiheit
dftnmert Wen also alle Faktoren (der Zufall!) begOnstigen und
emporheben, der ist oSensichflidi der wahre, der bewundemsr
werte Mensch. Napoleon Ist nidit angestaunt worden, weil er
ungewöhnlich viel Verstand und Kaltblütigkeit besessen hat oder
gar, weil er eine starke Pierson lichkeit ^^eweseii wäre, sondern
weil er mehr Glück gehabt hat als jeder andere. Sachverstandige
meinen, daß Lazare Hoche ein ebenso fähiger General gewesen
sei wie Bonaparte — aber er ist jung gestorben, er hat kein
Glück gehabt.
Das lebendige Bewußtsein von hreiheit und Persönlichkeit
hat im Altertum noch nicht bestanden, die Abliängigkeit vom
Schicksal ist dem antiken Menschen natürliches Orundgelfihl.
Die Griechen hatten nur gerade so viel Ahnung von etwas
anderem, daß sie sich das allwaltende Schicksal bewuBt machen
konnten; damit war es Problem geworden, der Mensch hatte
die Möglichkeit errungen, Stellung zum SdÜdaal zu nehmen,
und wenn die Möhra altes Sein beherrscht, so vermag der Mensch
doch über sie nachzusinnen und hat sie so schon innerlich ent-
thront. — Dem Römer hat dieser philosophische Süm gelehlt;
ihm ist die Abhängigkeit vom Zwange der Welt, vom Schicksal,
das ihm sein Staat repräsentiert, so fraglos und selbstverständlich,
daß er kaum lLivor weiß. Der römische Staat ist nicht viel
anders gefügt als der Staat der Bienen, er stellt einen großen
Versuch dar, dem Geist eine innerlich fremde Ordnung, die in
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der Natur herrscht, aufzulegen, ohne das Penfiidiche^ Mensch-
liche zu würdigen. In Rom ist für die Persönlidikeit kein PItli,
Röraertiigend ist Unterwerfung unter die Forderungen der Ge-
samtheit, Angleich ung alles Besonderen ans Gemeinwohl. Die
großen Römer gleichen einander auls Haar, der Gedanke, nicht
ein Teil, sondern ein Ganzes zu sein, ist ihnen fremd. Die Ge-
sittung Roms ist un philosophisch und unkünstlerisch — unper-
sönlich, ganz auf den Zwang des Nützlichen gegründet.
Die neue Zeit steht unter dem Zeichen der Persönlichkeit
und der Fmheit. Für sie bedeutet der Scbicksalsmensch eine
Ausnahme und einen kulturellen Atavismus. Dem Römer ist die
zwangsmaßige Gebondenheit außer aller Fragt; die Tritgödie
der Griechen zeigt, wie der Mensch, der sich auMumt, unfehl>
bar zugrunde geht^ wenn er auch hehnlich fiber aeine Knecht-
schaft trauern mag und etwas anderes, Höheres ersehnt: und dies
Hdhere, das SdbstbewttBtsehi des Menschen, der auch vw
Schicksal nicht zerbrochen werden kann, ist das eigentliche Rück-
grat der europäischen Seele. Mit dieser inneren NeuschApfung
(die am tirfsten in den deutschen Mystikern stattgefunden hat) ist
aber das Schicksal als Letztes und Höchstes abgesetzt, alle ja^roßen
Menschen der neueren Zeit können nicht mehr Schicksals-
menschen, mit Verstand ausgestattete Natur-Mechanismen sein,
sie haben das tragische Bewußtsein der Dualität errungen.
Wafireiid also die Männer des Altertimis — mit der Aus-
nahme Piatons und vielleicht Sophokles' — Schicksalsmenschen
gewesen sind und damit wahrhafte Menschengröße entbehrt
haben — wäre ein modemer Schicksalsmensch nur die Erhöhung
des kleinen, abhängigen Menschen, der sich dem Geschehen ohne
Widerstand beug^ „weil es einmal nicht anders ist". Und so
wäre der Mittelmensch hi seiner höchsten Steigefung zum Schick-
salsmcnschen geworden: es gibt keine Spannung zwischen ihm
und der Wd^ er hat keine Möglichkeit^ das Geschehen hmerlich
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zu überwinden, er bleibt abhängig. Aber dem Mittelmensdien
feblt das Bewußtsein eines Obermächtigen, das ihn zum» Werk-
ung erkoren hat und wie einen Blinden leitet: der wahre Schick-
salsmensch ist sich fortwährend bewußt zu müssen, er hat
nidit die llluaiaa des freien Willens» die der andere kaum jemals
verliert Ein wahitiaft großer Scfaicksalsmeosch wäre für unsere
Zeit die erstannlicfasfee Anomalie. Und dies ist der eigentliche
Onmd, daß wir kernen rechten Sinn mehr für den einseitig ge-
richteten, sinnlos in seinen Untergang jagenden Helden der
Siteren Tragödie haben, daß uns dies ein wenig erledigt vor-
kommt! weil der Schicksalsmensdi, der Menadi, der kein Ver-
hältnis, auch kein negatives Verhältnis zur Freiheit hat, einer
vergangenen Kuiturepüdie angehört. —
2.
Was bisher allgemein dargelegt worden ist, soll nun an N a -
p o 1 e o n genauer durchgeführt werden. Der nciitige Schicksals-
mensch kommt aus den Tiefen, ist Geschöpf des Zufalls. „Ich
bin der Sohn des Glücks!" hat Napoleon auf der Höhe seiner
Macht gesagt. Er wird Zeit seines Lebens von dem Gefühl be-
herrscht, unfrei, vom Schicksal abhängig zu sein. „Ich bin Fa-
talist seit jeher, wenn das Scbidnal etwas will, haben wir zn
gehoithen.*' — „Ich bin das Oeachöpff der Umsttnde." — ,,£8
ist weise und politisch zu tun, was das Schicksal befiehlt, und die
Straße zu gehen, auf der wir vom unwiderstehlichen Lauf der
Ereignisse gefuhrt werden." — „Je größer man ist, desto we-
niger darf man einen WSkn haben; man ist immer von den Er-
eignissen und Umständen abhängig. ... Ich bekenne, daß ich
der größte Sklave unter den Menschen bin; denn mein Gebieter
hat kein Mitleid mit mir, und dieser Gebieter ist die Natur der
Dinge." — „Ich habe mich niemals damit abgequält, die Um-
stände meinen Ideen anzupassen; ich ließ mich jederzeit von
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ihnen treiben. Wer kann im voraus über die zufälligen Um-
stände, die unerwarteten Begebenheiten gebieten?" — „Ich
könnte midi selbst nicht ersetzen;" (d. h. ich bin dieser Beson-
dere nur unter diesen besonderen ümständeo) ,^ch bin das Ge-
schöpf der Zeitverhältnisse."
Diese und ähnlich lautende Worte begleiten Napoleon
durchs Leben, sie sind der getreue Ausdruck seines Grundgefühls:
nicht selber zu wollen und zu handehi, sondern geführt zu
werden. Er betont ausdrücklich die Blindfaieit semes Wollens und
erklärt: „I>er wird nicht weit kommen, der von Anfang an seinen
kamt" Als die Somie von AuBteiüiz strahlend aulgingi da
ist er vom Sieg überzeugt gewesen — und er bat ihn errungen.
— Allein sein AbeigUnibe ist nidit nur Scfaidisalaglaube^ der
immer eine gewisse OidBe hat, sondern er hat sich oft genug
auf Niditigkeiten eistreckt So darf Tall^yrand ein entschetdendea
Scfanfistfick nur an einem Olfickstag untozeicbnen.
Napoleon, der In katholischen Lfindern aufgewachsen und
völlig unreligiös gewesen ist, hat sich dem Mohammeda-
Ii ism u s , der Religion des blinden Fatumglaubens, des Kismet,
eigentümlich verwandt gefühlt. Und diese Sympathie charakte-
risiert ihn als heimlichen Orientalen. Die Phantasien von
einem orientalischen Kaiserreich verfolgen ihn von Ägypten bis
Sankt Helena, und es wäre ganz unpsyciioiogisch, diesen aus-
schweifenden Oedanken bloß auf seine Politik zurückzuführen,
die England in Indien vielleicht hätte trefien können. Noch am
Tage von Austerlitz hat er gesagt: ,^tte ich Accon emge>
nommen, so wäre ich Mohammedaner geworden Kaiser des
Moigenlandesi" Und der Zjog Akvanders hat wie ein bezau-
berndes Gaukelspiel vor ihm geschwebt Selbst im Jahre 18t2
sind die PlSne ld>endig gewesen, fiber Rußland bis nach Indien
vorzudringen.
Folgenden Aufruf hat Napoleon an die Mohammedaner in
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Ä^pten erlassen: „Ist ein Mensch so ungläubig, zu bezweifeln,
daß alles in dieser Welt der Herrschaft des Schicksals unterüegt?
Der Tag wird kommen, wo die Welt einseben wird, daß ich
hfilKfai Befehlen folge und daß keine menachUcfae Anstreogimg
etwas gtgfia mich vennag — Alles was ich nntemdunc, ist
bestiomt zu gelingca. Die aicfa als mehie Freunde eridaien,
werden gedeihen; die mir feindlich bc^gegnen» werden unier-
gehen.'* — „Machet dem Volke bekannt»" befiehlt er der Odst-
lichkeit, „daß seit Anbegmn der Welt geschrieben steht: kh
werden nachdem ich die Feinde des Istams vernichtet, die Kreuze
zerschlagen habe, aus der Feme des Abendlandes daherlcommen,
um dris zu edüllen, was mir aufgetrai^ea ist. Zeiget dem Volk,
daß III den heiligen Büchern des Korans an mehr als zwanzig
Stellen vorausgesehen ist, was sicli jetzt ereignet." — Wenn
man auch die schöne Phrase (die Napoleon sein Leben lang
über alles geliebt hat) und die orientalischen Floskeln in Be-
tracht zieht, so spricht aus solchen Worten doch ganz zweifellos
das BewuBtseüi einer Gemeinsamkeit mit dem islamischen Fatalis-
mus: der blinde und grundlose Glaube an die Unabwendbaikeit
des Vorausbesthnmten, der die Persönlichkeit ausschaltet und
daher mit dem Christentum und dem Geist Europas in schroffem
und ganz prinzipieUem Widerspruch steht Und es ist wichtig,
daß Napoleon nicht nur vom Fdrialismus besedt gewesen ist,
sondern daß er sidi selbst mit dem Sdiicksal in Znsammenhaiig
gebracht, als dessen Liebling gefühlt hat.
Und weil Napoleon nur das Glück angebetet hat, sind ihm
auch unter seinen Dienern die am liebsten, die „(jlmk hatten".
Einst fragte er einen weißbärtifren Kapitän, warum er noch
immer nicht General geworden sei. „ich habe kein Giuck gehabt,
Sire!" — „Dann nelunen Sie Ihren Abschied! Ich kann Leute
nicht brauchen, die kein Glück haben !" — Nach der Schlacht bei
Waterloo begriff er, daß seine Zeit vorüber war; da unteiadued
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er — zum erstenmal — das „Olück** vom „starren Schicksal".
Zu etwas Höherem hat er sich niemals aufgeschwungen.
Napoleon, der an nichts geglaubt hat als an Nutzen und
Erfolg, vermochie sicii auch bei den Menschen keine anderen
Motive vorzustellen. ,,Es gibt nur zwei Hebel, um die Menschen
in Bewegung zu setzen: Furcht und Interesse. Liebe ist cnie
dumme Verblendung, Freundschaft ein leeres Wort." — Ohne
Widerstreben schrieb er (im Februar 1814) seinem Schwager
Joachim Murat, der mit dea Feinden gemeinsame Sache ge-
macht hatie^ und stdUe ihm vor, daß er von keüiem anderen als
von ihm etwas zu erwarten habe. „Benutzen Sie weoigsteos
einen Wandt, den ich doch nur der Fuicht zuadueibc^ um mir
mit einigen guten RatscblAgen beizustehen 1" — Ebenso weiß er
genau» daß die Mhiister Fouchi und TaU^rnnd mit aeuien
Feinden hl VeiiHndung stehen und bestochen sind. Doch solange
er sie bnmchen kann, nhnmt er ihnen das nicht fibd. Von
Pouchs hat er sdbst gesagt: Ich sollte ihn eigenffich hingen
lassen ! — zieht es aber vor, sich semer kaltblütigen Verbrecher- *
Schlauheit zu bedienen. In den hundert Tagen werden alle
wieder aufgenommen, die sich dem Feind angeschlossen haben.
Als Marschall Ney, der vom König ausgesandt worden ist, ihn
gefangen zu nehmen und es gern übernommen hat, zu ihm üt)er-
geht — da ist wieder alles wie zuvor. Auf Liebe hat er niemals
gerechnet, hat er doch selbst keinen geliebt und alle nur als seine
Werkzeuge verwendet Man erhält sie in mögHchst gutem Zu*
stand und zählt niemals vergebens auf ilue niedrigen Leiden-
schaften; kommt aber der Augenblick, wo man sie nicht mehr
hrauchai kann, so whft man sie fort Als es auf St Hctena unter
seiner Umgebung Streitereien gab, erldlrte er: „Was gehen
mich die Oeffihle an, die man hmeilidi hegt? Wenn man mir
nur eine freundliche Miene zeigt! Ich hdre nur die Worie^ ich
lese nicht hi den Henen."
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„Viel versprechen und nichts halten, so will es die Welt,"
ist Napoleons Wahlspruch gewesen. Ein anderes Mal freilich,
wie ihn einer im Stich gelassen hat, heißt es: „Wenn ein Mami
sein Wort nicht halt, was doch sogar nach den Gesetzen der
Wüste geschieht, unterscheidet er sich in nichts mehr von einem
Tier/' — Das ist keine Inkonsequenz: Es hat ihm Nutzen ge-
bracht^ daß die Leute^ die zu etwas verpflichtet waren, ihr Wort
hidten, und so hat er diese Eigensdiafl gelobt (wie die IcathO'
fische Religion)» ohne selber an sie zn ghuiben. Als die Ober-
reste der großen Armee im russischen Whiter nmkamen und zu
nichts mehr gut waren» bat er sie bd Nacht veriaasen und sich
selbst in Sicherheit gclxracht; dienso die Armeen hi Ägypten, hi
Spanien und nach der ScUacfat von Waterloo. Efai OefQhl der
Verpflichtung gegen alle diese Menschen, die ihm gefolgt und für
ihn verwundet worden waren, hat er nicht [gekannt, weil er die
Menschen luclu anders ansehen konnte als sich selber — Dinge
der Natur ohne Seele und Innenleben. Und diese völlige Fremd-
heit zu allem eigenthch Menschlichen hat ihn so außerordentlich
stark gemacht, denn er hat hemmungsUjs geiiandelt, er hat keine
seelische Kraft damit vergeuden müssen, Ehre, Gewissen und
A4itge!ühl in sich zu überwinden, wie andere Feldherren doch,
wenn sie ihre Soldaten opfern, ihm ist niemals zum BewuBtseui
gekommen, daß sein Wunsch, Herrscher der Welt zu sein, nicht
auch der Wunsch aller anderen Menschen gewesen ist
Napoleon hat es verstanden» den Olaidien an sem Olflcfc
allen um ihn her, besonders Soldaten und Ofiiziefen (aber auch
den fehidUchen Feldheeren) ehizuflößen. Unerechöpflich sind
sehie Phrasen von Ehre und Ruhm und Vaterland — und sie
wirken, solange sehi Glück dauert Ais er aber geschlagen ans
RuBbuid kommt — „das Olfick ist efaie Dirne!** sagte er dieses
Mal — da ist auch l>ei den anderen der Zauber dahin. Es zeigt
sich, daß die Welt nidit von der Macht einer Persönlichkeit, son-
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dem von der Gunst des Zufalls geblendet war. Wohl sind ihm
sechs oder sieben Treue nach St. Helena gefolg^t — alle in dem
festen Glauben, daß seine Wiederkehr bevorstehe! — Millionen
andere aber haben seine eigeaen Lehrea beherzigt und ihren
Vorteil wo anders gesucht.
Napoleons Macht über die Massen beruht aber zuletzt
daiauf, daB er selbst an sie, an den Menschen als Naturphä-
nomen geglaubt hat. So wenig er einen einzehien bedeutenden
Menschen hat begreifen kdnnen» so nah ist sein Verhältnis zur
Masse Wiilnmg und Ccgenwiifcung ^ gewesen. »,I>ie Kiifle
euMS Menschen sind nichts, wenn die Umstände ihm nicht helfen,
die dBentliche Meinung ihm nicht gunstig ist Die ötotlidie
Meinung macht alles." — Der berühmte Satz des Code Napo-
leon: „Es ist verboten, nach der Vaterschaft zu fonchen" be>
weist von einer anderen Seite her, daß ihm jedes Vetliältnis zum
Menschen als einem Individuum abgegangen ist, daß ihm die
Menschen nur als Masse Wirklichkeit gewesen sind. Et hat
gefühlt w:e ti:e Natur, die Keime ausstreut, ohne sich um ihr
Schicksal weiter zu kumniern wenn es nur immer genug
Menschen gibt, die man als Soldaten brauchen kann! Alles sonst
interessiert ihn nicht an ihnen.
Was für ihn das Schicksal gewesen ist, höchste Gottheit —
das wollte er selbst für die anderen sein, der Repräsentant des
Schicksals, er wollte nach Goethes Wort y,das Fatum spielen'' *).
Und darum forderte er den Glauben an seine Autorität, an die
Autorität des Staates^ an Autorität übertiaupt für alle anderen als
eigentliche Religion. Er hat vor der kafliolischen Kirche einen
gewissen Respelct besessen, weil sie die größte und itteste Or-
ganisation der Macht ist» und hat sie von Jahr zu Jahr als
Stfitze der Autorifilt hdher gescUttzt Allein über das Pftaküsche
hinaus ist ihm doch noch etwas anderes am Katholizismus nahe»
•) Am 11. März 1809 zu Riemer.
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271
gekommen: das Dogma. An das Dc^ma muß ja so blind ge-
glaubt werden wie an das Schicksal — und es ist dem Menschen
innerlich ebenso fremd. Napoleon hat dem Dogma „den Wert
einer Kuhpockenimpfung'* g^en seinen wahren und tiefsten
Feind, das Bewußtsein der Freiheit, das Besinnen au! die eigene
Seele und das selbständige Denken zugesprochen. „Die Reli-
gioa t>efriedigt das Bedürfnis der Menschen nach dem Wunder-
barea und schätzt sie vor Scharlatanen. Die Priester sind mehr
wert als die Cagliosiro» die Kant und alle Träumer Deutsdi-
lands." — Napoleon hat das Dogma genau so geschätzt wie der
GroB-Inquisitor bei Dostojewski, nAmlich als BoUwecfc gegen
wiildiche Religion, und als er geschlagen wurde, hat er (im
tiefsten Smne mit Recht) die Philosoi^ie, die „Idecdogie", der
hnmer sein echtester Instinkthaß gegolten hat» ffir alles Unglück
verantwortlich gemacht; denn sie untergräbt die Autoritit und
„proklamiert das Prinzip der UnbotmäBigkeit — Fichtes Frei-
heitsrausch I — als I'flicht." — Und iNapoleon hat den Zus;im-
menhaiig gekannt: ,,Wäre ich ein religiöser Mensch gewesen, so
hätte ich alles das nie vollbringen können." — Wie gut stimmt
dazu, was Hudson Lowe, der Gouverneur von St. Helena, über
Napoleons letzte Jahre erzahlt: er hat sich immer mehr dem
Dügina genähert. „Ich bin kein Atheist," sagt der Erbe der Re-
volution. „Ich bin kein Gottesleugner und glaube alles, was die
Kirche lehrt'* — Wie ein magisches Zeichen hat er das iCreuz
geschlagen, wenn ihm eine Gefahr drohte. —
Aller echte W er t hat seuien Sitz im Ödste, die Sphäre des
Verstandes wird von Erfolg und Macht bdienscht Na-
poleon hat Elfolg und Macht praktisch und theoreüscfa als das
einzige Wesentüdie angesehen. Hätte er Spinoza gdtann^ so
wäre er sein Schfiler geworden. „Wenn eui RebeUenf Obrer Erfolg
eningt, große Dinge voUfubrt und Ruhm iiher das Land und
sich selbst verbreitet, so wird er nicht mehr als RebeUenführer»
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sondern als General und Souverän bezdchnet. Es ist der Erfolg
allein, der ihn dazu macht ... Ist einmal der Pöbel Sieger, so
wird er nicht mehr Pöbd genannt, sondern „die Nation". Siegt
er nicht, so werden einige hiogenchtet und es ist von Pöbd oder
Räubern die Rede.'*
Und weil Napotooo nur das tatsidilidie Oesdiefaen aner-
kannt lud; gut ihm die Wdigesdildile als „die einzige walire
PhUosophi^'. Dies ist ganz anders gemeint als die ihnlidi
klingenden SMze H^gds. Hegel hat in der Wdtgesdddiie
die Entfdtung von an und für sidi shinvollen Ideen, von
Werten höchster Ordnung gesehen, für ihn ist gar niclits
zufällipr, alles hat Sinn und wesentliche Bedeutung, was sich in
dei Geschichte der Völker und Staaten ereigfnet. Er treibt einen
Kult mit der Futtaltung des wahrhaften Sejns in der Weltge-
schichte und schon das bloße Werden ist ihm höchster Wert.
— Genau das G^enteil von alledem hndet Napoleon in der Ge*
schichte: nicht Logik und Sinn, sondern Zufall, und für ihn, den
Sohn des Zufalls, ist das durdi mid durdi sinnlose Oesdiehen
das eigentUdi Verehrungswürdige. Er erhebt Oesdddite wid
Politik (Zufall und IQugfadt) im Gegensatz zu Philosopliie und
Kunst (höherer NotwcndigkeU^ Wdshdt, Peiafittlidikdt); das
bloBe Oesdiehen dtmt Sinn und Richtung soll Ocschidite heifien,
die Politik ist das Sdüdsal, sagt er zu Ooettie^ und der dnzigie
würdige Gegenstand der Kunst.*) Den Pariser Dramatikem hat
er sogar vorgeschrieben, daß sie ihre Stoffe aus der Geschichte
zu nehmen hätten (soweit ist später der Despotismus des citoycn
g^n^ral gegangen), und in den aufgestelzten historischen Tra-
gödien Corneilles und Racines hat er diese Dichtung der poli-
tischen Phrase zuhöchst geschätzt „Es gibt bei Shakespeare
*) Goethe zum Kanzler von Müller: «Ich bfai nicht so elt geworden,
um mich um die Weltgeschldite zu kfimmera, die d«8 Abeurdeste Ist;
WM es gibt"
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273
nichts, was an Corneille und Racine heranreichte." — Auch die
bildende Kunst hat ihm nur als VerherrHchung der Macht etwas
gegolten. In Italien sai^t er zu seinen Soldaten: „Ihr habt das
Museum von Paris um dreihundert Meisterwerke des alten und
nenen Italien bereichert, zu deren Hervorbringung dreißig Jahr-
hunderte nötig gewesen waren !" — Welch echt napdeoniacher
zahlen- und verstandesmäßiger Gedankengang!
Zu dieser natfiilichen, sozusagen ofganisch bq^^ndeten
Verwandtschaft mit der Politik als dem Spiel der Ereignisse
kommt noch, daß er hier den angemessenen Tummelplatz für
seine außerordentliche und ganz aufs Praktische gerichtete Klug-
heit, die Vollendung des „gesunden Menschenverstandes ', ge-
funden hat. Im Jahre 1797 schreibt er an Talleyrand: „Die
wahre Politik ist nichts als die Berechnung der Kombinationen
und Wechselfälle."*) — Verstand, Klugheit besitzt Napoleon im
höchsten Maß (während er den Geist fürchtet und haßt); die
emzige Wissenschaft, für die er Vorliebe hat, ist die Mathe-
matik, die das Skelett des Veraiandes dafslelN; den Veialand
in seuum bloßen Funkttoniefen ohne Inhalt noch Ausblick auf
einen Sinn. Was im Vorsidlungslebcn des Menschen geoidnet
ist, aber upgelhaft hn Sinn der Natur arbeitet, das kann man
unter den Begriff des Verstandes zusammenfassen; der Geist
(die „Vernunft'*) ist dgentlich menschlich und muß daher dem
Menschen, der nichts als Naturprodukt ist, fremd sein. Es ver-
steht sich von selbst, daß aiicti die Mathematik in eine höhere
Sphäre gehol>en werden kann, wo das Formale Selbstzweck wnd
und einen ijewissen ästhetischen Wert gewinnt. Aber iNapoleon
hat von diesen höheren Beziehungen nichts gewußt, er hat die
Mathematik nur als Meßkunst und als Ballistik geschätzt Der
*) Und doch kann Njqx>leon nicht dn groSer Staatsmann ftnannt
werden; denn das ist dn Mensch mit ekiem Meal (Cromwell» Bismarck).
Er Ist Abenteurer und Stratege.
Lack«, GrtnMn drr SmIs. 18
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274
Gedanke, die Pyramiden (die augeniälligsten Sinnbilder der
Macht!) aiismessen zu lassen, hat ihn bis St Helena bc-schäftipft.
Die üabe, sich in der Welt zu orientieren, ist Napoleon im
erstaunlichsten Maß eigen gewesen. „In meinem Kopf sind die
verschiedensten Angelegenheiten fachweiae geordnet wie in
einem Scbiank. Wenn ich eine Sache imteibfechen will, adilie6e
ich ihr Fadi und dfEue das einer anderen. So geraten sie nie
durcheinander. . . . Wenn ich schlafen will, schließe idi aämtiicfae
Fächer und schlafe em/' — Man kann den ganz nficfatemen Ver-
standcsmenachen, den Menachen der höchsten Klarheit vielicicht
nicht hesser beschreiben als mit diesen Worten — Lddensdiaft
und Genie sind ihm gleich fremd. Und die Fähigkeit, immer
orieiiuert zu sein, alles richtig und ohne Illusion zu sehen, wird
durch sein berühmtes Gedächtnis (besonders für Zahlen) mächog
unterstützt.
Mit dieser Beherrschunp: der Phänomene iniit zusammen,
daß Napoleon eine ganz souveräne Art besessen hat, das Geld,
den Nerv aller austauschbaren, funktionalen, unpersönlichen
Dinge und das wichtigste Mittel der Organisation, zu behandeln.
Er ist der absolute Herr des Geldes^ läßt sich niemals von
ihm tyrannisieren (wie doch manche Große), ist weder hab-
gierig noch allzu venchwenderisch und gibt es jederzeit am
riditigcn Ort hm. Es wird erzihlt, daß er alle Rechnungen
des Staates selber geprüft und mit veriilüffender Sicherheit Irr-
tOmer und Betrfigereien herausgefunden hätte. I>ie9e Vertiant-
hdt mit dem Abzahlbaren, Rationalen ist ein sehr wesentliche«
Zug. Denn fast allen Menschen, die nichts entschieden Persön-
liches besitzen, wird das Geld zum Verhängnis. Napoleon aber
hat es verstanden, sich über dieses Schicksal der Alltä Geliehen,
dieses sozusagen bürgerliche Schicksal zu erhehLn, es zu
beherrschen und zu verachten. Seine überlegene Stellung^ /um
Geld ist gerade entgegengesetzt der gleicbgültigea des Phan-
275
tasten, der das Geld mißachtet. Der Phantast hat die schicksal-
hafte Macht, die Dämonie des Geldes, der schon mancher un-
gewflhntiche Mensch erleg?» ist» nieinals ventaaden, er ist in
Wiitiicfakdt von dem abhängig, was er zu verachten glaubt
Napoleon kennt die Bedeutung des Oeldes genau — und er steht
darüber wie der Meister Über seUiem Weikzeng. ~
Napoleon ist, wie die grofien Rfimer alte, Verstandesmensch
gewesen,*) in ihm gibt es nichts Philosophisches, nichts Phan-
tastisches, nichts Religiöses. Noch auf St. Helena ist er über-
zeugt, daß der Mensch nur ein besser ausgestattetes Tier sei
(was seiner Anerkennunf? des Doj^mas durcfiaus nicht im Wege
steht); und diese Über/eugung gehört zum Verstandesmensdien,
„Der Mensch ist ein volliLommeneres Tier als die andeien. . . .
Sagt was ihr wollt, alles ist Materie, mehr oder weniger mit
Erkennen ausgestattet Es ist meine Oberzeugung, daß wir
nichts als A&aterie shid.'* Solche Ausmirüche wiederholen sich
oft genug, tind er sagt zu Oouigaud auf St. Helena: „Wenn wir
tot shidy dann smd wu: voUkonmien toi" — Dieser gleidigfiltige
Materialismus ist ganz vefschieden von dem Iddenschafiiichen
Atheismus der franzflaischen EnzyUopftdisten (die Ihm Ja den
geistigen Boden bereitet haben). Welche begeisterte Polemik
gegen Gott spricht aus den Karfrdtagsr Diners Diderots! —
Nicht nur durch den Zufall der politischen ] age und emeü
besonderen Feldherren-Talentes hat Napoleon so viele Knege
geführt Der Krieg war viehnehr der einzige Zustand, der ilun
ganz angemessen gewesen ist, der organische Zustand des
Menschen als Naturwesen und nicht als Persönlichkeii Auch
ein höherer Mensch kann den Kampf wollen, um sich an einem
Feinde zu rächen, fibeischfissige Kraft zu entfalten, einen be-
♦) Schon Im Jahre 1790 hat ihm der korsfsche General Paoli gesagt:
„Sie sind ganz ein Mann aus dem Plutarch, Sie haben nichts von einem
ModenMü an üdtu" Qn Ihnlldies Wort Ist von Talleynuid fiberllelert
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276
stimmten Zweck zu erreichen. Tür Napoleon aber ist der Kri^
eigentliches LebensclerTient gewesen (daher auch seine Überlegen-
heit über alle anderen Feldherren). Im Kri^e hat der Mensch
jeder höheren Norm entsagt und sich dem Naturrecht des Stär-
kemi (Spinoza!) üb«geben. Dies ist der wahre Grund, daß
der Schichsabmensch, der Mensch, der Naturwesen ist und nichis
mehr, in seiner idnsten Endieiniuigsfoiin Krieger, Feldherr
sein wird (obgleich diese Richtung auch mit anderen Anlagen zu-
sanuncn bestehen kann). In der Herabsetzung altes Menschlichen
auf das Mindestmafi, auf das Allgemein-Tiefische (das durch
Berechnung und Tedinür nur veisiaifct, aber nicht verändert wird),
liegt die eigenste Sphäre des Menschen als Naturwesen. Man
muß bedenken, wie sehr einer im Vorteil ist, der in der Schlacht
erst ganz er selbst wird (dies ist von Napoleon vielfach bezeug^),
der alle seine Fähigkdten zur Verfüsfung hat, wo sich das
Nervensystem der anderen doch in eniem ungewöhnlichen Zu-
stand befindet, hür den Menschen unserer Kultur - für den
Berufssoldaten ebensogut wie für jeden anderen — ist der Krieg
eine Anomalie, und auch beim größten Mute sind Kaltblütigkeit
und Überlegenheit in außerordentlichen Verhältnissen nidits
Naturliaflesy sondern Zustände höherer moralischer Willensan-
spannung. —
3.
Kietzscbe hätte vielleicht die Psychologie Napoleons geben
können, wäre er nicht sogleich in Schwämerei geraten und
hätte er vor allem das Dämonische und Verbrecherische richtig
erfaßt. Aber wie Fichte in Napoleon das Urböse gesehen hat,
so hat auch Nietzsche den Schicksalsmenschen — den Menschen
als Naturphänomen — nicht vom Verbrecher, der durchaus
menschlich, wenn auch negativ menschlich ist, zu scheiden ge-
wußt, sich für ihn begeistert und alles verdorben. Die typisch
falsche Perspddive» unter die eine unserer Kultur so fremde —
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277
weil antike cxler oneatalische - - Erschednung wie Napoleon
immer geruckt wird, ist da^ Lntweder — Oder: ein Genie -
ein Verbrecher (auch wohl: ein Verbrecher-Genie). Dies läßt
sich ja b^eifen, denn es ist nicht leicht, Maßstäbe an emen
Menschen zu legen, die uns ganz und gar ungewohnt sind.
Wir pfl^en wohl Geisteskranke und Degenerierte unter dem Oe-
sicbtspunkt der Natur (anstatt der Menschheit) zu betrachten und
wie die Tieie nicht als verantwortlich, sondern aig bloß natur-
haft bedmgt zu werten; aber für den seelisch gesunden und so-
gar bedeutenden Menschen ist uns diese Art der Betrachtung
unnatfirlich; wie inuner unsere Iheoretisdie Ansicht darüber
sein mag — wir können doch nicht umhin, den Menschen als
selbstverantwortlich, als frei zu empfinden.
Schicksalsmensch und Verbrecher stimmen darin überein,
daß sie beide Fatalisten sind und sich dem Funktionalismus
beugen. ) Aber schon verstehen wir auch den Gegensatz: im
Verbrecher lebt der Wille zum Funktionalismus, er
ahnt seine Freiheit und ist ihr wildester Feind — „Des Lebens
Wein ist ausgeschenkt!" — Der Schicksalsmensch ist dem Funk-
tionalismus zwangsmäßig eingeordnet. Er weiß so wenig
von der Freiheit als der eigentlichen Menschheit wie der Stein,
der niederfiUlt und der sich durchaus nicht frei fühlen würde
(trotz der Behauptung Spinozas)^ kdnnte er denken. Denn Frei-
heit ist ja nicht etwas Negatives» mangelhafle Emaicht m die
notwendigen Zusammenhänge, sondern etwas Positives» sie ist
das eigentliche Gesetz des Menschen. — Stellt man sich die be-
deutendsten Mitaibeiter Napoleons, Talleyrand und Fonche, vor,
so erfaßt man sogleich den Unterschied zwischen dem Schicksals-
iiienscher) und dem Zyniker wie dem Verbrecher. Beide, der
Herzog von altersher und der Herzog von Napoleons Onaden,
sind Spitzbuben und Gauner im großen Stil, teils von Eigea-
*) Vgl. über den Verbrecher S. I42f.
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278
nutz, teils von der Freude an Macht und Intrige geleitet, obne
jeden inneren Zwang und ohne jede Größe (die beim Schicksals-
menschen als einer Erscheinung der Natur niemals fehlt).
Die Größe Napoleons, die wir alle enip&nden, ist nicht
Meoschengröße, sondern ein ästhetisches Phänomen, vergleich*
bar einer vollendet schönen Tänzerin, die sich in natürlichen
Rhythmen wiegt; als Seele, als Mensch ist sie uns gleichgültig,
vieUeidit weiüoe^ und entzückt uns doch als bewegte Körper-
fomt Wir empfindai ihr Tun als schön und edel nach g^gen-
stindlüch-ästfaetiscfaen, nicht mach seetisch-menschlicben Bezie-
hungen, wie von einem Geschöpf der Natur ausgehend, das die
Menschheit nur scheinbar und vorübergehend um sich getan hat
— Ebenso kann der bewußte Mensch natnriiaft Ssthetisch wirken,
wenn die Natur in ihm zum Durchbruch kommt, wie in einem
Anfall jubelnder Freude oder außerordentlichen Schmerzes, der
sich elementar entfaltet
Wir verstehen jetzt nicht nur die Bewunderung Goethes für
Napoleon, der hier ein großes Naturphänomen gesehen hat,*)
sondern auch die tief menschliche Empfindung Beethovens: er
hat das Titelblatt der dem General Bonaparte gewidmeten hero-
ischen Symphonie wfitend zemssen, als er venudu^ der Held
babe sich zum Kaiser gemacht Sein reiner und genialer Instinkt
bat SQgleidi ofaSt, daB Boaaparte nicht der große Mensch sei,
für den er ihn gehalten hatte, sondern der Mann des Tages und
der Menge.
Und weil Napoleon kein großer Mensch, sondern eine groBe
Erscheinung gewesen ist, hat er auch keine bleibende Wirktmg
üben können, er hat das Fühlen, das Handeln, das Denken der
Menschheit nicht dauernd beemüußt. Als es mit seiner Macht
^ HAnierordentllche MawdMn wie Napoleon treten aus der Mofa*
litit heraus, <ie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und
Waseer."
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^ 279
zu Ende ging» da ist er sdbst dahin gewesen. Ein paar Straßen-
bauten sind übrig geblieben. Der Schicksalsmensch als ein Teil
der Natur kann nicht schaffen, sondern nur zerstören. Wenn
Napoleons Hände unbeschäftigt gewesen sind, haben sie ver-
nichtet, was sie erreichen konnten, i^lumen, Möbel, Porzellan,
kleine l iere — und dieser Zwanp zu zerstören ist (neben einem
beständigen und undifferenzierten sexuellen Bedürfnis) sein
tiefeter Ersatz für Produktivität
Wahre Schöpfung kann nur aus dem Kosmos — und aus
dem Kosmoe im Menschen, aua der Persönlichkeit hervofgelMn.
Wenn man auf das Leben Napoleons von einer gewissen Distanz
blickt» so eikennt man, wie all sein Tmi, das mit so aufierardeot-
liehen Mitteln ins Weik gesetzt wonlen ist, kehien eigentlichen
Sinn — auch nicht für ihn selbst — gehabt hat Er kann nienials
zur Ruhe kommen, weil er bewegtes Sein ist — aber es ist das
Umlaufen eines Pferdes im leeren Göpel, instinkthaftes, automa-
tisches Wollen und Sidi-Bewcgen, identisch mit dem Tun des
Wilden und soi^^ar des Tieres, nur von einem großen Verstände
bewegt, aber doch wieder nicht bewußtes Handehi in der
eigentlichen Bedeutung, denn Bewußtsein ist nicht Reflex der
Instinkte in den üedanken, sondern Handeln nach Sinn und Ziel,
Orientierung des Subjektiven an ideellen Leitlinien. — Und dieses
blinde Hintrdben versucht immer wieder, in Bildern von Größe
und Majestät einen Ruhepunkt zu eningen. Napoleon hat den
Giebel des Mailänder Domes mit seiner Siatne (als römischer
Imperator) geschmückt und von Thorwaldsen den Siegeazug
AlezandeiB aymtioiisch meifidn mid m Rom anbirikn lassen.
Die KonstBchUze Italiens hat er nach Paris s^fOhit^ mn seinen
Namen an sie zu hingen.
Napoleon ist in seiner Jugend schwermütig gewesen und
hat mit dem Gedanken des Selbstmordes gespielt Das ange-
spannte, inhaltlose und durchaus unersättliche Wollen ist oäen-
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280
bar zuerst mit adner ganzen Trostlosigkeit hervoi^getreten, es hat
ihn gedrängt, Bibliotheicen durchzulesen und endlosen Grübeleien
nachzuhängen. Später, als er sich schon ^anz dem bhndea Ge-
schehen übergeben hatte, da ist ihm alles Fragen nach Sinn und
Zweck tief verhaßt gewinn Der Mensch, meint er, der sich die
Frage stellt: Wozu iebe idi? ist der un^ducklichste von allen.
Vielleicht würde der Philosoph sagen : Wer sich die Frage nach
dem Zweck des Lebens nicht stellt, sei nicht wert, ein Mensch
zu sein; aber für den Schicksalsmenschen bedeutet die Frage
nach dem Sinn des Lebens — Selbstvemichtung.
Die Taten Napoleons sind nicht Talen im eigentlichen und
tieferen Sinn» das hdBt Wiifcungen einer Seele in die Wdt hin-
ein; sie sind vidmehr der Ersatz für Innenleben und in ihrer
erstaunlichen Menge immer noch leeres Geschehen ohne see-
lischen Kein. Die Hinrichtung des Herzogs von Eq^iicn, die
man ihm so sehr zum Vorwurf gemacht hat, ist ebensowenig
wie alle anderen politischen Hinrichtungen als moralische Tat
zu werten, alles das sind instiiikthafte Reaktionen gegen Hinder-
nisse, mögeil sie auch durch den Verstand huidurchgegangen
sein Oer Anblick der Wüste hat ihn ergriffen — „Sie ist für
mich eni Bild der Unendlichkeit," sagt er^ aber er fühlt: ein
Bild der Sinnlosigkeit
Napoleon hat sich selbst für einen Mann der Tat gehalten
und er gilt allgemein dafür. Atier so sehr auch seüi ganzes
Leben mit Ereignissen angefüllt ist — es gibt keinen bedeuten-
den Menschen, der nicht mehr Talen vollbracfat hätte als er.
So paradox es kUngen mai^: Künstler, Philosophen, Gdehite,
Techniker sind mehr Männer der Tat als Napoleon. Was l)e-
wundem wir doch an Homer, an Mozart^ auch an Edison und
kleineren? Nicht unmittelbar sie selbst — oft wissen wir gar
nichts von ihnen — aber ihre Gestalten und Werke (ihre Taten)
sind lebendig unter uns und erst von ihnen ladt ein Strahl auf
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281
den Menschen, den wir dann im höchsten Sinn als Menschen
ehren. Bei Napoleon aber bewundern wir genau genommen keine
einzige seiner l aten — denn daß von zwei kämpfenden Heeren
eines den Si^ davonträgt, ist selbstverständlich, und seine tak-
tischen Züge können nur von Spezialisten gewürdigt werden. Wir
bewundem Napoleon nicht als Schöpfer von irgend etwaa»
sondern als ein ästhetisches Phänomen, als ein Schauspiel der
Natur. Er ist heute, nach hundert Jahren, nicht mehr eine leben-
dige Kraft, sondern ein Gegenstand für gdefarte hiato-
riacfae Bfidicr und fiur Theatentudce, und so hat sich seine be-
hauptete UnpersönlichlKit durch die Geschichte erwiesen. Der
Verächter aller Ideologie ist heute euie Beschäftigung für
Ideologen.
Alles^ was menachüch zuhöchst gilt: Liebe, Treue, Eddmut,
Rehiheii, lebttidige bmeflichkeit, Produktivittt ^ ist bei Napo-
leon gar nicht oder Icaum merkUch vorhanden, nur ein großer
Verstand und unermüdliches Wollen imponieren, f laben, die in
der Welt helfen, aber unsere Bewunderung nur sehr umge-
schränki genießen. Die große Kluj^^heit Napoleons hat absolut
nichts, was an Genialität erinnerte, wenn sie auch /u hoher orga-
nisatorischer Kraft gesteigert ist; aber der Verstand hat kein
Genie, so wenig wie die Muskelkraft. „Genie ist Fleiß," hat
dieser Ruheloseste gesagt. — Die Möglichkeit des Irrsinns, die
iür jeden genialen Menschen am H<^zonte steht, existiert für ihn
zu keiner Stunde des Lebens. Sein klarer, überlegener Verstand
ist so fest gegründet, daß er durch nichts erschüttert werden
kann. Und er hat sich niemals betninlcen.
Der Verstend Napotoons unterscheidet sidi im Prinzip
nicht von dem des Alltagsmenschen. Wenn wir annehmen
wollen, daß em Ueuier Kaufmann etwa drei oder vier Faldorai
übersehen muß, von denen aeme geschäftlichen Erfolge ab-
hängen (den Bedarf seiner Kundschaft, die Qualität sehier Waren,
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282
den Kredit, den ihm der Fabcilcant gewährt, die Höhe seiner
Spesen); wenn der Leiter eines großn Unternehmens zwanzig
Iiis dreißig Faldoren, der erste Minister emes modernen Staates
eine noch gr&fiere Anzahl in Betracht zn ziehen hat, wobei
wieder von jedem Hauptlsddor andere Falctofen zweiter Ord-
nung abhängen: so darf man sagen, daß diese Fähigkeit, zu
überschauen und daraus Folgerungen zu ziehen, bei Napoleon
nuch weiter ausgebiidct ist (hierbei wurde er übrigens von einem
außerordentlichen Spionage - System und seiner tal^chliclieii
Macht unterstützt). Aber etwas prinzipiell anderes — wie es
doch in der IntuUion eines echten Erfinders liegt — eine schöpfe-
rische Synthese ist dabei nicht im Spiel, nur höchst gesteigerter
gesunder Menschenverstand. „Veränderungen der Landkarte,"
die manchem so sehr imponieren, sind nichts Schöpferisches, das
sind Verschiebungen vorhandener Dinge, diplomatische und mili-
tärische Züge, die auf der scharfsinnigen Erwägung aller Um-
stände und au! Glück beruhen (wie dies Napoleon selber genau
gewußt tiat). — Diese innere Verwandtschaft mit dem Alltags*
menschen ist ja auch der Orund» daß alle, deren Kraft Verstand
und Ausdauer, deren Gott Erfolg und Olficlf heißt, in Napoleon
ihr Idol sehen. Der Ueine Beamte» der junge Offizier» die ent-
schlossen sind» etwas zu werden, ffihlen eme OemeinsamlEeit
mit dem Welteroberer. Und das ist nicht Täuschung, sondern
Wahriieii
Der Verstand Icann nicht lächeln. Er ist immer emsthaft und
weiß niilits von Freiheit Der alltägliche Verstandesmensch wie
die höhere Form des Schicksalsmenschen, sie vermögen keinen
Standpunkt zu gewiiinen, von dem aus ihnen ein freier Blick über
Welt und Menschheit vergönnt ist. Sie haben kein Gefühl für
das Komische (allenfalls für den Witz), und an Napoleon
gibt es wirklich nicht den kleinsten humoristischen Zug, kein
lächelndes Wort» kaum ein Bonmot ist unter der großen Menge
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2S3
der überlieferten Aussprüche zu hnclen. Niemals hat er wie
andere große Herren beim Wein gesessen, um einmal Diener für
Freunde anzusehcfi, er ist immer der emsthafte, au! Würde und
Kuhm bedachte Römer. ,,!ch habe das Oefüh! für das Lächer-
liche nicht !" sagt er selbst. „Die Macht ist niemals lächerhch/' —
Vielleicht kennt aber auch der Schicksalsmensch — denn er
ist doch Mensch ! — Augenblicke, da wie ein plötzliches Grauen
seioe Unfreiheit vor ihm aufsteht. Könnte er sein Wesen einmal
jSh alsein Etwas bcigrafen, das heifit: nicht als Das, als das
Sdb stm B ü ndlicfae und Letzte; wenn er sich seines ganzen Seins
m einem Augenblick nicht mehr als etwas Fraglosen, sondern als
etwas Fngwfirdlgen bewußt weiden könnte — dann wäre eine
neue Kraft in ihm erstanden, eine so ungeheure Kraft, daß sie
der Or6ße seiner schidcaalhafien Natur die Wnge hielte! Ein
Bewußtsein tiefster Dftmonie wäre eingetreten — der Schick-
sal smensch wäre zum Genie geworden. Und so ist der wahrhaft
große Schicksafsmensch vielleicht nur um eines Haares Breite
vom wahren Genie getrennt — aber dieser Raum birgt den Sinn
der ganzen Menschheit und ist wohl noch von keinem Sterb-
lichen übersprung^en worden. Hier läge ein Vorwurf höchster
Art Jur den tragischen Dichter. — Als Napoleon vor Goethe
stand und m diese Augen sah, ist er von einem rätselhaften, bis-
her niemals gekannten Orauen angefaßt worden. Er ist erstarrt
Und er hat diesen Bann mit dem Ausruf abgeschüttet: Voilii un
hommel — Sieh da! Ein Mensch! —
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8. ICH-GEFOHLE
1.
Bisher ist wiectediolt von der PttsOnUdikeit des Menschen
gfesprochen worden. Nun wollen wir seine Subjektivität, sein
Ich, betrachten. Das Wort Persönlichkeit wird heute viel miß-
braucht, oft meint man gar nichts anderes damit als eine Person,
einen Menschen; hier ist es immer in dem höheren Sinn eines
Wertvollen jßfenommen worden, einer Subjektivität, die sich mit
objektivem Oehalt erfüllt hat, die sich auf dem Wege zu einer
höheren Objektivität befindet. Im Gegensatz dazu ist das Ich
des Menschen einfach die psychologische Tatsache, daß sein
Fühlen, WoUen und Tun um einen Mittelpunkt gruppiert ist, der
sowohl dem vegetativen Sein als auch dem Streben und Trachten
ein Ziel gibt Alle theoretischen Diskussionen Ober das Wesen
dieses Ich sollen veimieden weiden, es stA nicht gebvgt werden,
ob dieses Ich ehi besoodeier seelischer Inhalt neben allen
übrigen sei oder vieUeiGht eiwas ganz anderes, eme Kiafl, ehie
Funktion, eine dgentumliche Art, Inhatte zu ergrei fen . AUe diese
Fragen aüid philosophisch zweifelhaft; sicher ist dagegen, daß
jeder Mensch ein unmittelbares Bewußlaefai von sich selber hat,
daß er fühlt, eine Person zu sem, die „ich" sagen kann.
Es gibt nun eine ganze Gruppe von Gefühlen, die keinen
gegenständlichen Inhalt haben, sondern die sich als Betonungen
und Veränderungen des Geiuhies vom eigenen Ich enthüllen.
Ich nenne sie daher Ich-Gefühle und will sie in liirer Zusammen-
gehöriG:keit und in ihrem eigentümlich nahen Verhältnisse zum
Idh zerghedern und beschreiben Diese ( iefuhle sind nichts als
entschiedene und einseitige Pomtierungen des besonderen Be-
wußtseins^Zustandes ,»Ich", sie lassen dieses Ich in seiner Ge-
gensätzlichkeit zu allem sonstigen Fühlen, Denken und Tun, wie
auch zu Fremdem, zu Menschen und Dingen, hervortreten. Sie
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285
sind zuletzt gar nichts anderes als das Ich des Menschen, das
sich seiner selbst bewußt wird, das heraufgefaoben, hinunter-
gedrückt, eng ctngeschiSnkt, kurz in jeder möglichen Weise ver-
ändert wild.
Wollte mir aber jemand — wie vieUdcht auch an anderen
Stellen dieser Arbeit — einwenden, dafi ich die Betracbtung der
seeüscfaen Phänomene allzuaebr mit theoretiadien Meinungen
verquicke, so mödite ich eine Antwort geben, die Ooeihe im
Vorwort zur Farbenlehre niederschreibt: „Ist es doch eine höchst
wunderliche i orderung, die wohl manchmal gemacht, aber auch
selber von denen, die sie machen, nicht erfüllt wird: Erfahrungen
solle man ohne irgfendein theoretisches Band vortrat^en, und dem
I eser, dem Schiller überlassen, sich selbst nach Belieben irgend
eine Überzeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken einer
Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein
Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein
Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem
au6nerksamen Bück in die Wdt tfaeorebsieren. Dieses aber mit
Bewußtsein» mit Selbslkenntnis» mit Freiheit und, um uns eines
gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzu-
nehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion,
vorder wir uns fürchten, unschädlich und das Elf ahrungsresultat,
das wir hoffen, recht lebendig und nfitzlich werden son.** —
Während die Gruppe der Ich-Gefühle gar keinen eigent-
lichen Inhalt hat, steht am anderen Ijide des Cjefiihlsreiches die
Gruppe der Sach-Gefühle. Sie sind von einem gegeiisiänd-
liehen, einem objektiven Inhalt in so hohem Maß erfüllt, daß
gar keni Kaum mehr für das Ich bleibt, sie lassen sich — fast wie
Gedanken — vom fühlenden Ich ablösen und in andere Seelen
verpflanzen, ohne prinzipiell anders zu werden (was bei den Ich-
Gefühlen widersinnig wäre). Unter die Sacligefühle gehören die
sozialen, die ästhetischen, die theoretischen Gefühle. Wer be*
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t
286
wundernd vor einer I andschaft steht, dem komint nebai den
Inhalten des Oeschauten sein Ich gar nicht zum Bewußtsein;
nach den Lehren mancher Ästhetiker ist es sogar priozipieU
ausgeschaltet
Bei dem unerschöpflichen Reichtum und der auBeiordeat-
lichea Komplikatioa des GelfiUskbeas vecslielit es sich voo
sdlMt, daß bkr altes fließt; daß noch viel ynoiget als im Bcmchc
der Vorstellungen ein Festes» Starres zu finden ist — es sd denn
als paihologische Entartung. Man eridit in Wiridicblceit nicht
dieses oder jenes OefQhl, sondern ein einheitliches OeÜthl Aber-
haupt Und aus diesem Oanzen iraditet die Analyse gewisse
Komplexe von relativer Regelmäßigkeit zu erhaschen und fest-
zuhalten. Wenn wir siigen, ein iWeiisch sei geizig, so wissen wir
ja, daß er nicht nur geizig, sondern noch einiges andere ist.
Aber doch fallen schon i'ür die Beobachtung des Alltags einzelne
Gefühls-Koniplexe als herrschend auf, sie werden heraus;^ eh oben
und mit einem Wort, einem Gebilde aus der Welt der Begriffe
— also mit etwas Unbeweghchem, Starrem, ein für allemal Vor-
handenem ! — festgelegt Der Psychologe will das RegeUnäfiige
und Typische «fassen und womöglich in einen gewissen sfsibb-
matiachen Zusammenhang biingcn» von dem aus wir es böser
verstehen. Niemand v/M erwarten, daß ein Ich-Oefühl oder ein
Sacfa-CefQhl m absoluter Reinheit vorkomme. Das wSre schon
deshalb unmöglich, weil ein reines Oeffihl ein isoliertes Oefuhl
sein mfißte^ und isolierte Gefühle nicht exisfieren außer an-
nihemd in Sekunden vollkommener Abgeschlossenheit oder in
Augenblicken hoher Erregung, wo ein iMensch jede Vorsicht und
jedes Bedenken fallen läßt und sich ganz einer Lddenschait
hingibt. —
Auf den fol;i^endea Seiten wird der Versuch ^einacht, die
Gruppe der kh-üefühle zu begründen und sie einzeln zu ver-
stehen. Das Gefühl des Ichs ist dem Menschen nicht angeboren
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287
wie die Empfindungen des Körpers und der Sinne. Eist im Alter
voo etwa drei Jahren fängt das Kind an» sein Ich kamen zu lernen,
CS entdeckt das Wort ,^ch", das sich wie än haltbarer Mittelpunkt
im DuidieinanderfUeBeii der Welt bildet und festigt wid nicht
mehr verioien geht Ehe das Kind ,4ch" sagt; ist es noch kein
Mensch un psychologischen Sinn; denn dieses unmittelbar m
sich selbst erfahrene Ich ist dem Menschen wesentUcfa. Das Ich
ist bd jedem Menschen mit anderen Inhalten erfüllt, es ist der
Inbegriff dessen, was allem anderen scharf gegenübergestellt als
mein eigenstes empfunden wird. Ls können meine Cjedaiiken sein
oder meine Kinder oder meine Kleider oder alles sonst» was ich
am innigsten zu mir gehörig empfinde.
2.
Das erste dieser Gefühle besteht in der Erhöhung und Glori-
fizierung meines Ichs vor andefen Menschen und vor mir selbst:
die Eitelkeit. Our Ur-Phänomen ist, daß aus einem Seelen-
leben das Ocfübl des Ichs nackt oder mit einer absicfatüch ge-
wählten Hfille umkleidet heraufsteigt und nun von anderen leben
Beachtung und Aneikennung heischi Der fonnale Zustand,
ichhaft zu seui, löst sich hier aus seiner selbstversiandlidien
Naivität und Fraglosigkeit und wird ehi besonderer Inhalt, em
Gefühl, dem geschmeichelt und das verletzt werden kann. Und
dieses wichtigste aller Ich-Gefühle ist eine Quelle des Genusses
und des Schmerzes geworden. Die l itelkeit beruht auf der Kul-
tivierung dieses Ich-üenusses. (Spater werden wir das komple-
mentäre Ich-Gefühl, die Scham, kennen lernen, deren Wesm im
Verbergen des ebenso empfindlichen Ichs besteht.)
Der Eitle isoliert sein Ich und zieht aus dessen Spiegelung
in fremden Ichen Wollust. Oie Macht und Herrlichkeit des
eigenen Ichs scheint sich durch diese Spiegelbilder zu verviel-
fachen, und es ist die beständige Sorge des Eitlen, seine Selbst-
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2S8
Spiegelungen zu vermehren und zu festigen. Und wdl die In-
halte des Ichs vüii Mensch zu Mensch wechseln, erstreckt sich
die Eitelkeit immer auf die btsonders ich-betonten, am meisten
geschätzten Gegenstände. Der Eitle will zurückgespiegelt sehen,
was er sein möchte, nicht was er in Wirkliciikeit ist (denn das
fällt selten zusammen). Je gefestigter ein Mensch in sich selber
ruht, desto weniger braucht er die Stütze im Spiegel, vielleicht
sucht er sie einmal an einem schwächlichen Ichpunkt; der Halt-
lose aber, der nicht die Kraft hat, sich selbst seine Wertungen zu
spenden, fordert sie immer und überall von anderen. Das Phä-
nomen der Eitelkeit erweitert sich : der Eitle sucht instinktiv wo
anders zu leihen, was er selbst mcbt besitzt, nämlich Schätzung
seines Ichs und alles dessen, was er geschätzt sehen möchte; und
je eitler einer ist, desto mehr veisdiiebt sich sein geffihltes Ich
in die Spi^elbilder hinein; immer weniger findet er ein Zentnun
in sich selbst» sein Ich ist ausgewandert, er fühlt es bei anderen
und erbettelt von ihnen Wert ffir sich. Amtsstolz mid Titelsucht
kommen daher, daß die Menschen nicht die Kraft in sich finden,
sdbstgenugsame Mittelpunkte zu sein, daß sie mstüiktiv von
außen Stütze und Oething zu erhaschen streben. Und je höher
wieder die wertverleihenden Instanzen in der Schätzung anderer,
noch höherer stehen, desto wirksamer ist die Stütze, die sie dein
Ich-Gefühl des Schwachen und Eitlen zu leihen vennögen —
also vor allem die überpersün liehen Mächte, die Gesellschaft, die
Kirche, der Staat. Wenn jemand einen höheren Rang empfängt,
fühlt er mehr Wert in sich, vor sich selbst, weil seine Wertquelle
bei anderen Mächten liegt. Und diese Wertung seiner selbst er-
streckt sich auch auf alle anderen Menschen: jeder gilt dem
innerlich Leeren soviel wie sein Amt oder sein Titel oder sein
Ruf — die Feststellung fremder Meinungen über ihn — anzeigen.
Wenn einer etwas „wird", nimmt mrni zur Kenntnis^ daß er
offenbar etwas „sein" muß.
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2S»
So enthüllt sich der Eitle als der Mensch ohne die innere
Kraft, «ich aelbat und andere zu werten. Weininger hat diese
SUiiafion dnrdudunit, sie aber einseitig auf die Frauen be-
zogen,^) wShfend sie allgjamein zu Recht besidtt und fOr den
Mann noch viel entschiedener gilt, weil sein Ich — wie bald ehh
leuchten wird — mehr am Seetiscfaen als am Körperlichen haftet
Immer weiter und endgültiger verlegt der Eide sein Idiki andere
hinein und macht sich so abhängig von ihnen. Genüsse und
Leiden haben sich ihm vervielfacht und sie kommen alle von
anderen her. Jedes Aufsteigen seines Ichs in fremden Seelen ist
Glück, jedes Sinken Qual, „Verletzung". I3er Tod dessen, dem
er viel zu gelten i^laubte, bedeutet ihm ein persönliches Leid,
weil eines seiner Iche dahin ist; stirbt aber ein Ich, das ihn ge-
ling geschätzt hat, so atmet er leichter. Er müht sich fortwäh-
rend, die Quellen seiner Lust zu venndiren, sich bei anderen in
Geltung zu setzen. Hierauf ist der gesellige Veri»hr gegründet:
jeder gewährt dem andern ein wenig Vergnügen durch Aner-
kennung sehier Citelkdi Die Pflidit, eitel zu sein, ist die eiste
geseUschafdiche Konvendoo.
Aber noch viel mehr. Die aUgemeine Eitelkeit ist eine der
Voraussetzungen der Gesellschaft Wenn die Menschen mitein-
ander ld)en und füreinander wirken wollen, muß einer auf die
Meinung des andern über sich Wert legen, diese Meinung ist
eines der sozialen Bande. Wer der Gesellschaft Opfer an Zeit,
Gesundlieit oder Geld brm^n, wird dadurch entschädigt, daß
man ihm ein gewisses Wertquantum zulegt, welches etwa in
Form eines Ordens oder eines Titels sichtbar wird. (Hierüt>er
macht Schopenhauer einmal eine Bemerkung ) Und wie die
Gesamtheit das Recht jedes einzelnen auf Eitelkeit anerkennt und
nützt, so fofdert sie, fordert jeder geaeUachaftlicfae Kreis von
*) „Da sie (d;e trauen) keinen eigenen Wert für sich selbst und
vor sich Mlbst haben, traehten sie, Objekt der Wertung anderer zu werden.**
Laekm, Qr«n«i dir SMte. 19
290
seinen Mitgliedern, daß sie die Meinung aller anderen über sich
intakt erhalten. Wer dies nicht tun will od^ kann, wird ausge-
stoßen. Oer Offizier, der Kaufmann usf. verlangen von jedem
Standesgenossen einen unverletzten Ruf, soweit das Klassen-Icb
ins Spid kommt Der Offizier darf nicht als feig gelten — der
Kaufmann wohl — ; der Kaufmann muß zahlungsOhig sein —
der Offizier nicht Zeigt em Beliebiger, daB er eine achtochte
Meinmig von einem Miiglied der Kaste hat, so ist der Betroffene,
er mag sidi nmi persdniich beleidigt fühlen oder nidit, ver-
pflichtet^ sein Ich hl der Scbätzmig dieses Beliebigen wieder aufs
richtige Niveau zu bringen. Er muß sich entweder von einer
objektiv gerechten, über beid«i stehenden Instanz bestätigen
lassen, daß diese schlechte Meinung unbegründet sei, woraui
der Beleidiger bestraft wird; (xier das Kastenmitgiied muß den,
der sein ich zu gering einschätzt, vernichten. Dies ist die psy-
chologische Erklärung des Duellzwanges Wer auf Ehre, das
heißt auf die Meinung der andern von sich hält, darf nicht
dulden, daß diese Meinung bd irgendwem sinke; er wahrt das
Prinzip der Ehre dadurch, daß er den Sitz dieser üblen Meinung
vernichtet ^ oder das zu gering gewertete Ich geht seibat
unter. Und dieser Tod kann mit eigener Hand erfölgen, wenn
der Bdddiger für die Rache zu hoch steht —
Die Kirche hat em Mittel ersonnen, die Eitellieit einzur
dämmen: die Beichte. Sie adl einen Kompromiß zwischen
der EitellKit der Welt und der geTorderlen Wahihaftiglceit der
Religion bilden: du darfst deiner Eitelkeit frönen, aber vor
einem einzigen Menschen mußt du dich offenbaren mit allen
deinen Schäden und Geheimnissen (und das setzt voraus, daß
man sich vor sich selber offenbare). Dieser eine Mensch kennt dich
nicht und muß über alles Anvertraute schweigen. So ist das
Prinzip der Eitelkeit allerdings durchbrochen, denn man zeigt
sich vor einem Menschen nackt mit allen Mangehii gegenüber
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291
den anderen jedoch bestellt der Schein weiter. Die Wahrhaftig-
keit würde fordern, daI3 ein Mensch oAme jede Rücksicht auf die
Ich-Empündlichkcit sein Innerstes offenbare, ganz gleichgfültig
vor won, auch vor allen (wie am Ende von Tolstois „Macht der
Finsternis")- CMes aber empfinden wir als eine unkeusche Ver-
letzung der Sduun, als Pieiagabe dessen, was verborgen aein
sollte. —
Die Weltanschauung des Asketen sieht in der Liebe zum
eigenen Ich, in der „Eitelkeit der Wdf *, das Orundübel de» Da-
seins und Idirt den Mensdien, sein Ich hassen. DaB sieb dncr
hn andern simgehi will, daB jedes Idi <fie Tendenz hat, sich un*
ennüdücfa zu vervielfachen, ist die Urquelle der Sfinde. Weil
diese Wdlanschauung die Eitelkeit ablehnt, Ist sie durchaus anü-
soziäl, nur dss Leben in der Wüste entqnicht ihr. Die Er-
lösung vom Obel kann folgeriditig nur darin liegen, daß das
Ich seine Sphäre immer mehr einschrankt, allem entsagt, was
außen Hegt und ms Ich hinein will, auch den eigenen Leib ver-
leugnet, auf den doch jeder den innigsten Anspruch zu iiaben
glaubt. Was das Ich stärken und zur Macht verlocken kann, gilt
als sundhaft. Denn noch eher lassen sich die sinnhchen Gelüste
bannen als die tief innerliche Ichsucht, die Begierde nach Macht,
die Eitelkeit, Es ist daher konsequent, wenn der Buddhismus
nur in der Aufhebung dieses Ichs mit allen seinen Süchten die
endgültige Erlösung sieht.
Kaum sind zwei beisammen, so erwacht ja schon das Be-
dürfnis, sich ineinander zu spiegeln, sich im andern vnederzu-
finden. In jedem Veihdltnis^ das Menschen haben kOnnen, liegt
die Möglidiheit hiezu, und auch der Gottselige spiegelt sich m
dem Bilde, das er von sich sdber ausdenkt Nur wer dem inner-
lich gefOhlten OMUichen so nah gekommen wire^ daB er aufr
gehört hAtle^ sich als dn besonderes Ich zu empinden, kOnnte
sich nidit mehr spiegehi und hätte alle Eitelkeit (und aUe Scham)
19*
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292
aufgegeben. Er wäre das vollendete Widerspiel dessen, der sein
ich über die ganze Welt ausbreiten will. —
Es kann in allem der Eitelkeit gleichen und doch nur dem
Bedürfnis nach Wahrheit entspringen, wenn jemand die von ihm
anerkannten Wertun^^en durchzusetzen strebt, wenn er ebenso
seine eigenen Ideen geachtet sehen will, wie er sich selbst ver-
pflichtet fühlt, die Gedanken und Werke anderer nach Würdigkeit
zu achfttzen und lür sie einzutreten. Und da sein Ich oft gerade
in diesen Gedanken und Ocsialten liegt, fallen hier sachlicfaer
Eifer und penönlidie Eitelkeit ieilweifle zuaammen. Die Eitd*
keitgeht in den Ehrgeiz über. Der Ehigcizige eiaefant keine
fremden ScbStzungen als Ersatz eigenen inneren Wertes^ aoodem
er fordert fremde Anerkennung für den eigenen Wert, von dem er
seibat fiberzeugt ist, er will nicht ffir etwas Besonderes gelten,
sondern etwas Besonderes sein. Ehrgeiz ist ein kompliziertes,
typisch männliches Gefühl, in dein sich drei Faktoren aussondern
lassen: Wertwille, Machtwüle und Liitelkeit. Während die Eitel-
keit das ursprünglichste Ich-Gefühl ist, kann man sich nichts
Sachlicheres denken als den Willen zum objektiv Wertvollen.
Und wird nun das eigene Ich als Träger eines objektiven Wenes
empfunden, so erhebt es den Anspruch, auch von anderen hoch-
geschätzt zu werden. Es will mit sich selbst das Gute zum
Sieg führen; und je nachdem der Ton mehr auf das Ich oder
mehr auf das O^gnsOndiiche fillt, um so niedriger oder um so
edler ist der Ehigaz. Mancher vermag ^wirklich das Werte von
seiner Person ganz abzulösen und empfindet nun persönliche
Ehrungen verletzend, beschämen^ weil er sich vom reuiea
WertwiUen beseelt weiß und nicht an sein Ich denkt Ober-
schitzung wird von ihm noch peinlicher empfunden als Unter-
schätzung, üt kann sich ihm als eine Verpflichtung auflegen, die
er vielleicht niemals erfüllen könnte. Er weiß sich außerstande,
den Schein ganz in Wirklichkeit umzusetzen — und darin liegt
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293
dn aaikeres IM als in der Vokeniiuiig durch andere^ die vor
der inoeren Inslmz dodi wieder Idcht ausgegüdien wini
Dieser seelische Komplex beruht darauf, daß Menschen und
Dinge innig miteinander verioi&pft und verwachsen sind, daß die
ffli*hlifhfn Werte durdi Menadien hervofgebracbt wetdeo und
wieder auf Mensdien wirken. Ihr Wert gründet In ihnen aelbsi;
nicht in der Tatsadie^ daß sie von dem. oder jenem cndudfcn
worden sind. Veifaiotung des Erzeugnisses mit dem Er-
zeuger madit aber Idcfat, daß die Sache in den Schöpfer Unehi-
gezogen wird, daß das Objektive immer wieder in die Region
des Subjektiven sinkt; und in diesem Verichlichen liqj[t eine
Quelle der Lust hier kann sich aber auch der ewige Gegensatz
von objektiv Wertvollem und subjektiv Lustvollem, von Sach-
Gefühl und Ich-Gefühl zum tragischen Zwiespalt steigern, zur
Tragödie des Ehrgeizigen, der genießen will, was doch nicht
sein eigen sein darf, weil es sachlicher Wert geworden ist; er
will vor andeien Schöpfer sein und nicht ganz in seinem Werk
au^gdicn — er ediegt der EiteiiEeit Und dieser Ehigeiz wind
sogleich Idein und komisdi, wenn das Wefl[, auf das er sich
stfitst, nur in den Augen seines Erzeugeis Bedeutung hat, der
dann als vericanntes Genie von einem zum andern um Ancrimh
nung bettdi
Oft genug wird das Interesse für den Gegenstand ganz von
personlicher Eitelkeit oder von der Absicht zu wirken ver*
dunkelt Der Macher» der Literat schielen schon im ersten Elan
auf andere hin, Beifiall holend, Mißbilligung fürchtend. Ihr
Weik luht nidit In sich selbst und auf sich selbst, es ist kein
Eigenwert, sondern ein Wkkuqgswert, eüie Sache^ die vom Be>
gmn wo anders hhizielt ^ Wir haben ja ein Ähnliches Gefühl
des Untiefaagens, wenn wir sdien, wie das Materiid efates Gegen-
standes diel ist; es will etwas vorspiegehi (etwa Edehnetall), es
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294
will unsachliche, auf Täuschung beruhende Wiriauigai. Wir
f&hlen hier menschliche Eitelkeit in Totes projiziert. —
Die Begierde nach Macht ist für den Ehrgdzigien
durchaus charakteristisch. Wer Macht über andere will, dessen
Schwerpoiikt liegt nicht in fremden Seelen, sein Ich setzt aicli
nicbt ans aUen dican BUdem zuMmmtn und ist nicht von Ihnen
abhängig. Die Menschen sind ihm wohl dMnso unentbehiücfa
wie dem Eitlen, aber als Mittd zum Genüsse seines Ichs. Ihm
ist mit dem Eitlen gemein, daß er nach auBen bildet und von
aufien StMung seines Ichs begehrt, aber er nhnmt diesen OenuB
nicht passiv als ein Geschenk hin, er dringt in fremde Sphären
ein, er findet seine Lust im Herrschen, im Vei^gewalti^eu. Lr
möchte alle Menschen und alle Dinge abhängig von sich machen,
er streckt seine Organe über sich hinaus und genießt sein Ich
in sich selbst, in voller Wirklichkeit. Die Menschen sind im
Idealfall Marionetten seines Willens. Und dem brutal Machtigen
(der sich vom Ehrgeizigen schon entfernt hat, weil der Wert-
wille in ihm verkümmert oder nicht vorhanden ist) kommt es gar
nicht auf die Meinwig der anderen an; wenn aie ihm nur dienen
— sie m4Sgen sonst fiber ihn denken wie sie wollen. Erhatnkht
das Bcdüihiis, geliebt, bewundert oder gefürchtet zu werden, er
will die Macht haben, zu tun, was ihm genehm ist — Der Eitle
hängt von den Urteilen der anderen, auch der von ihm Be-
berrecfatai ab. Er begnügt sich Idcht mit dem Schein, daß die
Kraft seines Ichs zugenommen habe, und kann so ~ das Kleid
mit der Sache verwechselnd — zur Karikatur des Mächtigen
werden. Er begehrt A\acht über andere und weiß nicht, daß er
der Sklave von allen ist, die er zu beherrschen wähnt. Dem
stolzen Künstler ist seine Wirkung gleichgültig, der macht-
gierige begnügt sich mit der Herrschaft über die Gemüter, der
eitle will noch obendrein gelobt werden und fühlt nicht, daß er
sich eines Teiles seiner wiildichen Macht begibt, wenn er sie
295
erst von fremden bestätigt sehen muß. Der Herrschsüchtige in
seiner Vollendung ist nicht eitel; aber selten hat er die Kraft, dem
Genüsse des Scheins zu widerstehen, um so — eine Täuschung 1
' den Genuß der wiiUichen Macht zu steigern. —
Sieht der Eitle fort und fort auf andere hin, ist er allen
adnen Bedürfniaaen nach sozial goicbtet, so ld>t der Stolze
für sich und oluie btemae an anderen. Er will keine Macht,
die BezichuQg zu anderen Menschen bedeutet ihm nichtSi sie Ist
ihm sogar listig, durch jedes neue Band fühlt er sich in sehier
Abgeschlossenheit bedroht Denn hi seinem Vohfiltnis zur
Welt gleicht er fast dem hidischen Faidr, der in der Betrachtung
des eigenen Nabels aufgeht. Stolz ist kein Icfa-Oefühl, dem
Stolzen kommt sein Ich gar nicht als etwas Besonderes zum Be-
wußtsein, es besteht überhaupt nicht als empfindliches Gefühl in
seiner Seele, die einheitlich organisiert ist und weder eitle noch
schamhfiite Ich-Punkte enthält. Der Stolze ist unempfindlich
g^ea fremde Meinungen, er lebt in sich, zufrieden (nicht gerade
mit sich — er weiß ja nichts von sich), oft ein wenig beschränkt,
aelbstgenugsam, ohne Ehrgeiz imd soziales Streben. (Der Eitle
ist beständig unzufrieden.) Die menschliche Gesellschaft, die
dem Eitlen eist seine Existenz schenkt, bleibt dem Stolzen
gleichgmtig. Aber er ist doch nicht eigentlich SoOpsist zu
nennen; denn er kennt ebi eigenes Ich so wenig wie ein fremdes.
Wenn emer aem Leben lang Bficher schriebe und sie endlicfa
achtlos hüiterlieBe^ könnte man ihn als Beispiel eüies vollkommen
stolzen und unsozialen Menschen anführen. (Wollte er seine
Werke verbrennen, so wäre dies schon eine Handlung im Hin-
blick auf andere, eine soziale, wenn auch vielleicht sozial sciiäd-
Hche Handlung.) Ein solcher Menscli ist Spinoza gewesen. „Ich
gebe nicht vor, die beste Philosophie gefunden zu haben, aber
daß ich die wahre besitze, das weiß ich" — so schreibt er einem
Freund. Er steht ganz auf sich selbst und vergleicht seine Oe-
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296
danken nicht mit anderen» er empfindet sie sozusagen gar nicht
als seine eigenen Gedanken, sondern als Oedanken acfatedttfain.
Und diese Gemötsanlage bestimmt seine ganze Philosophie: das
Ich komiiit nicht vor in ihr. So wird hier seelische Größe, die
keine Eitelkeit kennt, zum Verhängnis eines Weltsystems, das
den Menschen vergißt und nur von einem uopersöniichen Sein
weiß.*)
Wie der Stolze in sich selber ruht, so lebt der Eitle in
anderen, für andere. Er beugt sich vor jeder fremden Eitelkeit
und hofft auf Erwiderung; der Stolze begreift nicht, daß andere
von ihm gelobt sein wollen; lobt man ihn, so kann er sich vcr
letzt fühlen, weil es ihn stdrt, daß acte Person beachtet winL
Er ist in der QeseUachaft nicht gern gesehen, sind doch cfie
sozialen Sitten auf der Duldung und Pflege aller Eitelkeiten be-
gründet (Das eiste Wort ist schon, dafi man sich freut, euien
kennen zu lernen, daß heißt, man schmeichelt seiner Eitelkeit —
wenn auch alle diese Fonneln nicht mehr ihrem Inhalt nach
empfunden werden.)
Man kann auch auf andere Menschen eitel oder stolz sein,
wenn diese anderen ins eii^ene Ich mit hineingenommen werden.
Frauen fühlen den eigenen Wert durch die Leistungen ihrer
Männer erhöht, Eltern sind auf ihre Kinder stolz: sie sind von
deren Wert so fest überzeugt, daß sie nicht zweifeln könnten;
sie sind auf ihre Kinder dtd: sie wollen deren Wert aneikannt
wissen, um dann selbst daran glauben zu können. Mancher
wuUich bedeutende Mensch ist auf ganz Lächerliches eitel, etwa
auf seine Krawatte; dcmi er ffihll; daß diesen Dmgen von
anderen Wert zugesprochen werden muB^ damit sie etwas seien.
Den Wert seiner Leistungen aber braucht er sich nicht ent von
außen bestätigen zu lassen. Wie eitd aber auch selbstsichere
Menschen auf Ihr Weric sein können, beweist etwa der Brief-
•) Vgl S. 223f.
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297
Wechsel, den Schopenhauer mit den nichtigstea Menschen führte,
wenn sie ihn nur anerkannt haben. —
Stolz sind die Worte, die Shakespeare deos CSsar in den
Mund legt — aber er soUte sie nicht selber stigjen:
Doch ich bin standliait wie des Nordens Stern,
Des unverrückbar ewig stete Art
Nicht ihresgleichen hat am Finnamente!
Diese großartige Pose des Herrscherstolzes wird oft von dem
machtbegierigen Eitlen angenommen, er tut, als sei er dem
Polarstem gleich der Mittelpunkt der Welt, und lauert doch ver-
stohlen auf den Widerschein jedes Planeten. Mancher Herrscher,
der bei Tag unzugänglich thront, schleicht nachts verkleidet
durch die Straßen und lauscht in Kneipen, ob nicht ein Wort
über ihn falle. Er will unabhänißi^ von der Meinung seiner
Sklaven scheinen und ist doch wieder der Sklave eines jeden
von ihnen. Wer sein Ich gering zu schätzen wagt, wird bestraft
oder hingerichtet. Bei manchem anderen bleibt dies unaufge-
löst und wirkt als ewiger Haß fort Demi der Eitle verzeibt alles
dier, als daß der Urspnuig seiner Eitellwlt bloßgelegt und dmch'
schaut wird. — Bedeuten die Menschen für den Stolzen nichts,
so müssen sie dem, der Macht über sie begehrt, etwas sdn, zu-
mindest Mittel für die eigenen Absichten, Soldaten in der Feld-
herrenhand. Und will er nicht nur äußerlichen Oclionain, son*
dem auch die inneren Kräfte, Liebe und Aufopferung für den
Helden, so niul-j er sie als Menschen achten, mdu nur als seine
Werkzeuge gebrauclien.
Nietzsche, der so viel vorn Willen zur Macht spricht
und damit eni hohes, stolzes Ideal auigenditet (glaubt, merkt gar
nicht, wie sehr er von seiner Eitelkeit genarrt wird. Er faßt
keinen Gedanken, ohne nach Zuschauem um sich zu blicken,
ohne festzustellen, welcher Punkt der Erde Zeuge seines Ein-
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298
falls gewesen ist, er sinnt fortwährend darüber nach, wie hoch
sein Werk im Vergleich mit anderen zu schätzen sei. Man kann
sich schwerlich noch ein so eitles Wort denken wie das bekannte,
das den Stil seines Urhebers den bedeutendsten, seine Bücher
die tiefsten usw. nennt. Aui diese Superlative kommt es an»
denn sie beweisen, wie sich Nietzsche nicht an und für sich
werten konnte, sondern nur im Verhältnis zu anderen (Dagegen
der Ausspruch Spinozas!) Ja, Nietzsche verschmäht es nicht,
die Gedanken von Philosophen, die mit den seinigen vielleicht
in (üe Schranken treten könnten, zu verspotten und herabzu-
setzen, um sich eine Folie zu schaffen. Kant wird durch ein
paar Wortspiele abgetan, und wie ihn peraöiUidie Eitelkeit und
Neid um den Rubm zur Herabsetzung Wagnera gediangt haben»
ist zu bekannt, um erwflhnt zu werden. In den Schriften seiner
zweiten und dritten Periode kann man beobadtlen, wie aidi
Nietzaches Oedanken polar zu denen WagneiB entwickeln,
gegen ihn, aus Ranküne gegen die starin Pefsdnlictakeit^ die
auf atcfa selber ruht und die dem Eitlen unertrSglidi ist Httte
damals ein andern Pfainomen dieser Größe am geistigen Hori-
zont Europas gestanden — Nietzsche wäre nicht zur Ruhe ge-
konmien, ehe er sich persönlich an ihm jBferieben hätte, um es
zu „überwinden". Sein Wort „Üben^inden" ist ein typisches
Wort des eitlen Menschen. Er schafft nicht, weil es ihm an und
für sich gegeben wäre, weil er etwiis zu sagen, zu gestalten
hätte; er sieht vielmehr zuerst, was schon fertig dasteht, was
überboten, üt)€rwunden werden könnte, denn sonst hätte seine
Eitelkeit keinen Ansporn. Der Obermensch, der den Menschen
ut)erwinden soll, ist, psychologisch aufgefaßt, eine Projektion der
Eitelkeit seines Erfinders ins Große (wobei ich aber den tieferen
ftiiiffcliwi Sinn des Otiennensdien. den Nietzsche mahnt liaben
mag, nicht in Frage steUe). Man darf ruhig behaupten, daß
Nietzsche bd einer anderen KonateUation in Europa eine ganz
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andere Philofiophie aatithetisch entwickelt hätte (was man voa
Kant, Schopenhauer, Hegel und auch Kleineren keinen Augen-
blick gtaalwn wird). Hfttle wohl ein seines Wertes wiikUch
sicherer Mensch solch eine Polemik: gegen Christentum und
Pteainiismiis geföhrt? Er bUte seine Ldire gegd)en und den
„Vldzuvielen'' — allerdings ohne sie so zu nennen! — die Ent-
deckung fiberUmen» wie sehr das Seinige im Gegensatz zu an-
derem steht.
Auch Nietzsches künsüiche Wertung des Sozialen wird nun
verständlich: er fühlt sicii von der Meinung der anderen so sehr
abhängig, daß er sich aus Rache gar nicht genu^ im Schniähen
und scheinbaren Verachten tun kann. So hat er sich einen stolzen
Willen zur Macht als Ideal zurechtgelegt, der vom Stolze ganz
fern ist. Und in seiner Renaissance-Bestie wie in Napoleon
glaubte er dieses Ideal verwiildicht zu sehen. Die Beherrschung
der Massen durch Napoleon und seine Abhängigkeit von ihnen,
dies ewige Fluktuieren, das Aufnehmen all der anonymen Kräfte
in dcb und das Ausgeben seiner selbst in die unbdnnnten Vielen
— dieses Demagogentum hat es Nietzsche angetan und er hat
es mit Stolz veiwediadL Vidleicht blendet das unsere Zeit so
sehr an ihm: er kommt ihren echtesten Instinkten entgegen,
dem Wunsch, jedes Geschehen vom Anfang auf andere zu b^
ziehen, aus sich herauszusetzen und erst in der Wirkung den
Wert zu finden. Nietzsches Wille zur Macht ist der Wille zur
Öffentlichkeit; denn Macht ist heute nicht mehr, was diese Ro-
mantik und Historiker-Scliwarnierei erträumt hat, sondern Herr-
schaft Uber Meinung und Geldbeutel des Nächsten.*)
♦) Ich möchte nicht zu Lesem sprechen, die meine Bedenken gegen
MIetzsche mit dem organischen Unverständnis des Mittelmenschen und
Philisters zusammenbringen könnten, wie es kürzlich in einem der selch'
testen lebenden (und wohl auch toten) Spafimacher namens Otto Emst
sein Schallrohr gefunden hat
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300
3
Wille zur Macht ist mit Besitzgier nahe verwandt, er ist nur
dne ihrer Formen: der Herrschsüchtige will die Seelen oder
wenigstens die Kräfte anderer t>esitzen. Wenn sich der Wunsch
nach Macht auf einen bestimmten Menschen cratreckt, der als
besondere wertvoll empfunden wird, und wenn sich dieser
Mensch nicht nnterwerfen will» sondern andenwolun strebt —
so entsieht die aktive Form derEifersucht Sie ist verletzte
Machtbegierde, die sich am offenkundigvten und häufigsten
geltend macht, wenn der umworbene Mensch geliebt wird. Er
soll dem Liebenden allein gehören, der ihn wie sein Eigentum
vor jedem fremden Wunsch behütet. Ja schon der Blick eines
anderen kann von dem Liebenden als Raub, als Linfall in sein
Machtgebiet empfunden werden; die brutale Befriedigung dieses
Wunsches ist der Harem. Und die Eifersucht überlebt nicht
selten die Liebe (und wird vielleicht künstlich geschürt, um entr
schwundene Liebe wieder zu wecken). Sie ist dem Neid ver-
wandt und kann sich auch auf leblose Gegenstande bezidien.
Der Sammler, der die zusammengetragenen Oegenstftnde Angst-
lich verschließt und keinen anderen daran Freude haben ttßt^
hat diese aktive Eifersucht Er zieht öm Genuß des einsamen
Besitzes dem der Eitelkeit^ dem VosniSgen» bewundert und bt»
neidet zu werden, vor. Er ist auf sein Weib, auf sfeine Schätze
eifersächtig, in deren Besitz er Genüge findet. Der Eitle aber
genießt das Seinige erst im Bewußtsein der anderen. König
Kandaules hat so wenig ein Zentrum in sich, daß ihm die Kraft
fehlt, die Schönheit seiner Frau selber zu schätzen. Er muß von
einem Stärkeren anerkannt wissen, was er sich allein nicht zu
glauben vennag; darum will er, daß Gyges Rhodope heimlich,
sehe und ihm ihre Schönheit bestätige. Die Worte:
Ei, frag' dich selbst, ob du die Krone möchtest,
Wenn du sie nur im Dunkefai tragen sollst!
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verraten, daß seine ganze Existenz au{ der Eitelkeit beniht. So
ist „Gyges und sein Ring:** die Tragödie der Eitelkeit (und der
komplementären Schamhaftigkeit). Wie Kandaules sind aber
viele: sie müssen liire Leistungen, ihre Reictitümer, ihre Macht,
ihre Frau von anderen gesehen und g^eschätzt wissen, um das
alles selber werthalten zu können. Sie leben so sehr im Be-
wußtsein der aadeien, daß sie auch dea phygischm Oenuß da-
nach einschätzen, wieweit andere darum wissen; der Wein
flduneckl nur, wenn der Nachbar durchs Fenster zusieht (wie ja
Kandaules die Ocgenwart des Oyges im Schhdjgeniadi wflnacht).
Sie brauchen Neid und Bewunderung und sind selber neidisch.
Der Stolze will nidit in Wettbewerb mit fremden Wertwigen
treten; sein Urleil ist sdbsigescfaaifen und unabfaAngig von ihnen.
Der N e i d > der sich in Blid»n, Worten und Handlungen
anderer zdgt, ist die Anerfcninung dgenen Wertes; dem Eitlen
und dem Machtgierigen ein Labsal, dem Stolzen gleichgültig,
dem Menschenfreund peinlich. Der das Glück der anderen be-
neidet, freut sich über ihr Unglück. Was iTemden zustößt, ver-
gleicht er stets mit dem eijg^enen Geschick, sich s<;'lbst mißt
er wieder an Fremde. — Wenn jemand auf das Glück anderer
hinsieht, so entsteht der Neid, bei ihrem I ngliick empfindet er
Schadenfreude. Beides sind Gefühle des Pitlen. Er will
nicht an und für sich steigen, sondern im Verhältrus zu anderen,
entweder durch unmittelbare Erhöhung des eigenen Ichs, oder
dadurch, daß das fremde Ich herabgedrückt wird. Der ^hadm,
den ein Mensch erleidet, macht ihn abhängiger von anderen,
hilfsbedürftig, liebebedüiftig — und so mf&Döei der Eitle das
Unglück der andern als Erhöhung seines eigenen Ichs» denn er
vennag sich selber nur im Verlifiltnis zu anderen zu werten.
Man beneidet immer nur Mensdien, mit denen man einige
Verwandtschaft hat oder zu haben glaubt, und man beneidet sie
um das Gemeinsame. Der ehrgeizige Politiker beneidet niemals
3Q2
den Künstler um seinen Erfolg. Es ist kein Gemeinsames da, wo
der Neid angreifen könnte. Den Reichen beneiden allerdings
viele, denn zum Geld hat jeder Beziehungen. — Eine bemerkens-
werte Anwendung hiervon ist, daß der Künstler und der Oe-
lehrte, überhaupt jeder, der etwas hervorbringt, den andern nur
um solche Werke /u beneiden pflegt, die er „auch gemacht haben
könnte" Weil unproduktive, kritische Geister oit viele fremde
Schöpfungen verstehen und zu beurteilea wissen, nähren sie das
Gefühl, sie hätten das selber unct besser machen können — und
sie sind neidisch im Obennaß, was sich nicht selten in einer all-
gemeinen Veit)ittening gegen das Positive^ das Schöpfeiische
äbeiliaupt und in dndconiscfaer Strenge gegen jedes lebendige
Werk manifestiert
Neben der gewöhnlichen Eifenucht, die Verietzung des
Macfaigeitisies und der Eitelkeit ist; gibt es noch eine andere»
tiefere Form der Eifersucht Beide CefOhle verhaUen sich zueui-
ander wie Oeliebtwerdenwoilen und Lieben. Das Idi-Geiühl liat
sich auf einen einzigen, den gelid>ten Menschen konzentriert,
der Liebende hat ihm sein Innerstes und Eigenstes anvertraut,
sich ihm i^an/ hinbegeben. Und mit dieser Einschränkung und
Individualisierung ist das Ich-Gefühl verdichtet und zur Leiden-
schaft geworden. Der Liebende, der sein ganzes Ich einem
andern uberantwortet hat, vermeint nun, ein besonderes Recht
auf dieses in enie irenide Seele eingeschlossene Ich zu haben, und
fühlt sich von jeder Schwankung seines hingegel^en Ichs be-
ruiirt Wird nun mit diesem Geschenk, dem teuersten, was ein
Mensch besitzt und geben kann, leichtsinnig verfahren, wird es
vor Fremden nicht hinreichend geboigen (Indiskretion), oder
wird es gar mißachtet und verwundet — so entsteht das Gefühl
des verletzten liebenden Ichs, die Eifersucht, die Herabwürdi-
gung des eigenen Ichs hi einer fremden Seele ist. Der Eifer-
sflchtige leidet aiao an der verräterischen Prei«gabe seines Icfaa^
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303
und diese Eifersucht wächst mit der Stärke der Liebe, denn
imnier mehr wird dem Geliebten vom eigenen Ich geschenkt. Wer
seine ganze Seele hingegeben hat und sie verraten sieht, kann
vielleicht nicht weiterleben und b^eht die seltsamste Fonn des
Selbstmordes (bevor er den eigenen sinnlos gewontenen Leib
zerstört): er tötet sehi Ich üi und mit dem Odicbten. Der Oq;en-
satz dieser Eifenodit zu der anderen» die eme SpezialisientQ^ des
Machttriebes ist» wird noch efaunal deulHch: denn wer sehi Eigen
bedroht sidit, tötet den Angreifer, der es ihm rauben will, und
wahrt den Be^tz.
Je ich-empfindlicher ein Mensch ist, desto mehr ueiLit er zu
Eitelkeit und Eifersucht. Seine Eifersucht bezieht sich dann nicht
nur auf einen geüebten Menschen, sondern sie ist von verletzter
Eitelkeit überhaupt kaum mehr zu sondern. Ich kann auf die
Gunst der Großen, auf den Beifall des Publikums, auf jede belie-
bige Wertquelle eifersüchtig sein, die anderen reichlicher fUeßt
als mir. Haß gegen den Nebenbuhler weckt oft noch stäikm
Eifersucht als liebe; ja man kann einen Menschen hassen und
zu gleicher Zelt auf ihn eifeisflchtig sehi, sehie Liebe» seine
Freundschaft anderen nicht göonoi, well die eigene Eitelkeit,, der
eigene Machttrieb dadurch beeintrftchtigt wfiide. Em Meister
will der einzige Gott seiner Jünger sein und empfindet den
ganzen Schmerz der Eifersucht, wenn andere ehien Platz in den
besessenen Seelen gewinnen, der ihnen nicht vom rechtmäßigen
Herrn /ut^ewiescn worden ist. Mancher Jünger wird ihm erst
wert\üll und beherrschenswert, wenn er abzufallen droht, wenn
die meisterliche Autorität erschüttert ist; ein sicherjEfeglaubter
Besitz wird jetzt verteidigt. Der Lehrer ist verletzt, wenn sein
Schüler von wo anders her Kenntnisse schöpft; alles soll durch
ihn kommen, nichts durch Fremde, nichts durch Bücher. Hier
sieht man klar die unauflösliche Einheit von Eitelkeit, Machtbe
gierde und Eifenucht. Audi die Eifersucht des Liebenden er-
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ao4
streckt sidi neisfeenB weit über das egentüch cratiadie Gebiet
hinaus; jede Beeinflussung des Geliebten, die von anderen
kommt, wird schmerzlich empfunden. Die Liebe hat das Be-
dürfnis nach vollkommenem Austausch; sie will die Seele des
anderen besitzen und sich ihm ganz hingeben, keinen Rest des
Gefühlslebens geizig zurückbehalten — aber auch alles emp-
fangen. Und weii diese vollendete Wechselwirkung niemals ganz
erreicht wird, hat vielleicht in jeder starken Liebe die Liiersucbt
ihre Stelle.
Die echte Eifersucht ist ein Ich-Gefühl und vielleicht das
empfindlichste Ich-Gefühl. Darum kennt der Stolze nur seine erste
Form, die Verletzung des Machttriebes. Wenn er liebt, emp-
findet er sein Ich nicht ins Bewufitaein der geUditen Person ver-
setzt. Er will oft gar nicht adber gelidit weiden wenn ich
dich liebe, was gefafs dich an! — aeme Liebe soll verbocgen
bleiben, er will giewiaaennaBen auch mit diesem typisdi sozialett
OefShI aHdn sein. Es Ist ihm peinlich, einen MiMsaer (den ge-
liebten Menschen) zu haben — vielleicht auch in der heimlichen
Angst, verletzt zu werden. Er will keinen Eindruck machen,
keine Macht gewinnen, er erschrickt vor dem Gedanken, einem
Menschen selbst Liebe einzunofk-n, weil er dadurch in ein Ab-
hängigkeits-Verhältnis geriete, nicht mehr frei über sich verfügen
könnte. Aber auch aus eineoi zv^eitoi Grund ist der Stolze nicht
eifersüchtig: er verfällt nicht leicht auf den Gedanken, daß ihm
ein anderer gefährUch werden könnte. Und muß er es doch vor
Augen sehen, dann rftcht er aidi am Beleidiger seines Macbt*
kreises oder zieht sich acfawägend in sich adbat zurQck.
Es ist zur EiferBUciit erforderiicb, daß ein andauerndes Oe>
fühl der Ich-Pirojddioa- besiehe; wer nur das Amüsement oder
den OenoB des Augenblicks kennt, hat keine Veranlassung, eÜer*
suchtig zu sein. So hat Napoleon von seiner Oeliebten keine
Treue verlangt. —
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305
4.
Auch in dem oberflächlichsten Menschen lebt ein dunkles
Gefühl von dem, was er wirklich wert ist; mancher weiß es so-
gar ganz genau Aber seine ängstliche Sorge ist, diese Erkennt-
nis nicht klar werden zu lassen, andere und sich selbst zu
tauschen. Pascal sagt grimmig: „ts gibt verschiedene Grade
der Abneigung gegen die Wahrheit; aber man kann sagen, daß
sie in jedem besteht, weil sie von der Eigenliebe nicht zu trennen
ist" Diese Abneiguiig gegen die Wahrheit macht oft zwei Sta-
dien durch: zuerst findet es der Eitle angenehm und vortdltaaft,
von anderen mfiglidist hoch eingeschätzt zu werden; wie er
sdbst ca>er sich denkt, bleibt seine Privalsache. Aber bald fiUlt
er m sdne eigenen ScfaUngen. Die Schätzung, die er Fremden
planmäBig beigebracht hat — und die ihm oft nur gegen besseres
Wissen vorgespiegelt wird — verifert mehr und mehr diesen
unwirklichen Charakter. Er nimmt schließlich die Münze für
echt zurück, die er selber gefälscht und in Umlauf gesetzt hat.
Und das richtige Urteil, das er anfangs bei sich in Reserve ge-
halten, verfliegt vor all den Fälschungen; auf dem Umweg über
andere hat er sich selbst betrogen.
So ergibt sich das Merkwürdige, daß der Eitle, der doch
ganz im Genüsse seines Ichs aufzugehen scheint, allmählich jedes
Verhältnis zu sich selbst, jedes Urteil über sich selbst verliert.
Sein Ich ist m andere hhiöbeigewandert. Was er getan hat^ sieht
er nicht dhdct als sehie Tat^ er sieht es ui der Mehiung der
anderen, hn Vertiesserungsspicgel. Schauqiieler, Politito-, liie-
nrien (wohl die eitdsten Menschcnldassen) beurteilen ihre
Leistungen überhaupt nicht selber; sie fOhlen sdion behn Ent-
siehen: Was werden die anderen dazu sagen? Und wer diese
„anderen" sind, wer das „Publikum" ist, das kommt für ihre
spezielle Eitelkeit besonders in Betracht. Dem Gelehrten gilt
seine Leistung, wenn er eitel ist, als so gut wie den sachverstän-
Lack», OmuM d«r SmI«. 20
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306
digen Kritikern. Er möchte sie vidleidit gern höher werten, aber
er findet keine Instanz in sich vor, gegen dieses Urteil zu appel-
liefen (und ist auch zu sehr in Respekt vor den Dingen erzogen).
Die Kokette, die ihr Urtdl von allen Minnem, die tugendhafte
Frau, die es von den anderai Frauen zu empfangen wünadit —
sie liegen alle in ihrer ganz bestimmten Sklaverei, von der sie
nicht los können. Der vollkommen eitle Mensch aber — be-
sonders der Tribun, der Schauspieler und die Dirne großen
Stiles, die auch körperlich einer anonymen, unbekannten Menge
gegenüberstehen — unterscheiden gar nicht mehr, von wem die
Wertung ausj:reht. Ilire BedeutunL: — die nie an sich, sondern
stets im Vergleich mit anderen erwogen wird — steigt und sinkt
mit dem Beifall der Masse. Irgendein anonymer Zeitungsartikel
stellt für ihn selbst den eigenen Wert fest, der erst wieder durch
andere Urteile überboten oder auch entkräftet wird. Diese ab-
solute Eitelkeit kommt öfter vor als man denken möchte,
denn mancher, der mit groflen Worten herumwirft, hat doch die
tiefe Oberzeugung seines Nichts^ das von wo anders her Olanz
erbetteü Diese Eitelkeit empfingt endlich ihren Wert nicht ein-
mal von der gedruckten Mdnung eines einzelnen, sondern von
den vielen Unbekannten, die diese gedruckte Meinung erst wieder
in sich aufhdmien werden, von der Menge, deren Wertung das
anonyme Zeitungsblatt darstellt, indem es sie schafft. Die Macht
der üffeiitlichen Meinung ist sowohl eine Wirkung, als aucii eme
Ursache dieser absoluten Eitelkeit.
Der absolut Eitle hat so das Gefühl für sich selbst — dessen
Erhöhung doch das ureprüngliche und einzige Motiv seiner
Eitelkeit gewesen ist — verloren. Weil er seinen Wert immer
entschiedener von anderen bezieht, fehlt ihm endlich die Kraft,
sich zu fühlen, sich zu beurteilen. Er ist vor sich selber groß,
weil es die andern zu glauben scheinen, niedrig, weil es die
anderen glauben, er geht selbst in den Tod, wenn es die anderen
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fär richtig; halten — nicht aus Heroismus und innerer Kraft, son-
demauftMaogelaiiEinlieitundMittelpiinkt. Er fühlt sichfichttldig,
wenn ihn andere ffir schuldig halten, sein Leben erschöpft dch
m der Rimfihimg, von maglichtt vidcn Mouchen aqgeaehai zu
wenlen ~ das heifit angoehen zn aeiiL Die Seele ctnea aokhen
Menflchen ist voOsUndig vemiehiet und tolgehoben, sie hat gar
kdn Vertiiltnis mdir zu aacfa aelbat, sie ist eine Voatellung
anderer.
Man versteht jetzt ganz, daß die Empfindlichkeit des eigenen
Ichs die Kehrseite, die tragikomische Karikatur des Geiiilils von
Persönlichkeit ist. Was hier Größe hat und vom Ideellen her
seine Richtung empfängt, wird dort jämmerlich und grotesk.
Der Mensch, der nichts ist als ein kleines, von Vellei täten erfülltes
Ich, steht immerwährend in der Gefahr, überhaupt nichts mehr
zu sein. Denn aller Wert beruht zuletzt im Veilialtnis ZU einer
höchsten objektiven Existenz. —
Die Eitelkeit des Oberflächlichen, der nicht unterscheidet,
woher ihm die Wertung kommt, der zählt und nicht zu beur-
teilen vermag, ist m gewissen Sinn der raffiniertesten Form
der Eitelkeit entgqiengeaetzt, der Eitelkeit vor sich
sei bat Das Phänomen, daß sich das Ich ain^gehi will, voll-
zieht aich hier an der inthnsten Stelle^ sosuaagen im Alkoven,
wo ja der Spiegel an seinem Platze ist Aber das Ich besieht sich
nicht nur vofttufig, um hinterher in den großen Spiegeln des
OalaaaalCB besser zu leuchten: die Spiegelung in sich selbst be-
friedigt sefaie Eitdkeit Diese Vorgänge haben mit der bis Ins
Unendliche getriebenen Sdbstanalyse Ahnlidikeit, die das Ich
zersetzt, in immer feinere Lamellen spaltet und zum Wahnsinn
führen kann. Er ist etwas höchst Komphziertes und läßt sich
kaum ganz klären, weil das Ich geteilt ist und ein Ich-Ohjckt m
einem Ich-Subjekt reflektiert wird — wobei aber diese Bezeich-
nungen das Wesenthche nicht treffen. Wer nur vor sich selbst
20*
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etuas sein will, wird nach außen oft anspruchslos scheinen, um
den ( je^rgjisatz zu genießen, der zwischen seiner innerlich hoch
angeschlagenen Bedeutung und der iMeinung der Mensche:
klafft. Die Hochschätzung anderer ist ihm peinlich, weii sie den
Umfang dieser Genußquelle, des Kontrastes, eindämmt, weil der
einsam Eitle so dtel ist, daß ihn auch die größte Anerkennung
nur herabsetzen kann. Der Selbstquäler schwelgt in diesem Ge-
fühl und Hebbel sagt mit ähnlicher Absicht: „Das Nichts glaubt
dadurch etwas ZU sein, daß es bekennt: Ich bin nichts." Aber
die Zerfaserung und Gegenüberstellung der inneren Instanzen
kann noch um eine Spinüwindung höher klimmen : »ySelbstverach-
tuqg ist versteckte Eitdkeii Denn das sich Verachtende muB
zitgteich das sich Achtende sein/' (Hebbel.) In der bloBen Mog-
Hchkeit, Wert und sogar Unwert über sich zu sprechen, liegt
die geheimste Wonne des Ich-Oefähls. Um beim früheren Bild
der Spiegelung zweier Faktoren zu bleiben: das gespiegelte Ich
ist dem, der sich verschiet, wohl trübe; aber der Spiegel sdbst,
der wertende Ich-Tdl, ist so klar, daß er den anderen Ich-Teil in
seiner Nichtigkeit durchschaut und darob triumphiert. Vielleiclu
läßt sich ein raffinierterer Ich-Genuß nicht mehr denken; bei
Pascal kann man ihn studieren. —
Für den, der von sich selber schlecht denkt, ist die Meinung^
der anderen nicht ein Spiegel (denn er könnte nichts Gutes dann
sehen), sondern eii^entliche Quelle des l iclits. Seine Eitelkeit ist
eine heimliche Lüge : hat er doch von sich selber die schlechteste
Meinung. Er weiß, daß er ein Feigling ist, und möchte sich
einen Helden vorspielen. Denn er könnte mit der wahren Er-
kenntnis seiner selbst nicht tiestehen, er sucht Täuschung bei
anderen, ist Heuchler vor anderen und vor sich selbst. Er will
sich überreden, so zu sein wie andere zu glauben scheinen, daB
er ist — und kann doch wieder innerUefa die verspotten, dte ihn
mißkennen und um deren Anerkennung er buhlt. Es ist ein
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ewiges Hinauf und Herunter, Selbstverachtung, Betteln um
Achtung, Verachtung der fremden Achtung, Angst vor tander
Mißachtung, ein Kampf zwischen Seibsteftamtnia^ Selbstliebe
und Selbstbetrug, zwischen dem Wissen, so zu sein, und dem nie
erfüllten Wunsdi, anders zu sein, der wenigstens als Schein die
Willdichkdt äSen möchte. Bei manchem tieferen Menschen, der
sidi selber quält, sich einen Wert abzwingen will und doch
nichts Outes von sich erwartet, gibt es solche Erscheinungen.
Nicht nur der innerlich Schwächt, auch dt r laiierlich Gesetz-
lose, iitT Verbrecher, ist ganz auf fremde Wertungen an-
gewuM i); er ist im höchsten Maß eitel und er kann nicht anders,
weil er (wie Weininger erläutert iiat) in nuicrL-r sklavischer Ab-
hängigkeit von Fremden iebt und auf ihre Wertung mehr ange-
wiesen ist als jeder andere. Der Mensch mit verbrecherischen
Anlagen — die vielleicht niemals zur Tat geworden sind — ist
erstaunlich leicht verletzbar; er deutet harmlose Worte gern als
berechnete Anspielungen und wähnt sich jeden Augenblick
durchschaut. Em Verbrecher ohne Eitelkeit hätte fibeilimipt
nichts Menschliches mehr, er wäre voHkommen fittillos gegen
jeden Wert; auch den erlogenen. ^
Wir haben gefragt, vor wem einer gelten kann, tuid die inter-
essantesten Möglichkeiten, die Eitelkeit vor allen Menschen, die
vor einem einzigen Menschen und die vor sich selber, sind be-
griffen worck'Ei r ragt man aber: Worauf kann einer eitel sein?
— so lauiei die Antwort: Auf alles. Auf Besitz, Rang, Schön-
lieit, Tugend, üeist, aber auch auf Armut, Niedrigkeit, Laster,
Dummiieit. sowohl auf das, was man hat, als auch auf das, was
man nicht hat, aber zu haben vorgibt; auf das besonders, damit
num sich's hinterher selber glaube. Man ist eitel darauf, Wein
zu trinken und keinen zu trinken, man ist eitel auf Krankheit und
Schmerzen, auf seine unsterbliche Seele und darauf, nichts als
Materie zu sein; man ist eitel darauf, nicht eitel zu sein, und ist
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auch wieder so eitel, eitel zu sein. Man ist auf alles eitel, was mit
dern Ich zusammenzuhängen .scheint, sei es nun Cjutes oder
Schlechtes. Man begeht einen Mord, um in die Zeitung zu
kommen, mid Pascal sagt: »»Nona penUxia encore la vie avec
joie pourvu qu*cm en parle."*)
Man kann naturgemäß nur auf etwaa atolz sein, was mit
dem Kern der Peisönlichkeit innig zuaaDmienhSngt; die Eitel*
kdt aber entreckt eich aitf alles, weil alles in das Ich mit iiinein-
gezogen weiden kann. Je weniger ein Ding die innere PenAn-
Udikeit trifft (Odd, Kleider), desto komischer scheint mis die
Eitelkeit^ die es doch mit Ich-Charakter ausstattet. Man nennt sie
dann wohl Protzentmn. —
Es ist eme Tatsache, die man verschieden deuten kann, die
sidi aber nidit wegstreiten läßt, daß das Ich-Oefuhl der Frauen
viel mehr am eigenen Körper haftet als das der Männer. Bei der
Besprediung des Schamgefühls wird das nocli deutlicher werden.
Die vielberufene weibliche Eitelkeit hat den eigenen Körper
mit seinen Annexen (Kleidung, Schmuck, Wohnung, Wagen
usw.) zum vorwiegenden, oft zum ausschließlichen Inhalt. Die
männliche Eitelkeit dagegen, die weitaus gröikr und ver-
*) In einer sehr verstindnisvoUen Arbeit des PaycMaters Alfred
Adler („Ober den nervösen Charakter", Wiesbaden 1912) wird das Wesen
der Neurose auf das Gefühl persönlicher Minderwertigkeit zurückgeführt
(die wieder auf der tatsächlichen Minderwertigkeit eines körperlichen Or-
ganes beruht und aus der Kindheit stammt); und es soll nun das aus-
schlletllche und oft bis zur fixen Idee gesteigerte Streben des Neurotikers
sein (der fä nodi kein Geisteskranker ist), diese Minderwertigkeit zu kom-
pensieren, vorzusorpcn, daß <;ein Selbstf^efühl nicl:t leide. So ist die Angst,
etwas Hechtes zu sein, nictu etwa zurückstehen zu müssen, der wichtigste,
der einzige Gedanke des Meurotikers, und hieraus werden nun eine ganze
Menge Cigenschiften hergeleitet, die behn nervdaen Charakter staik tm-
g«Nldet sind. Diese Grundtendenz, seine dgene Minderwertigkeit zu Iber«
bauen und zu verhüllen, geht aber in die von mir beschriebene Eitelkeit
über, die also, so unendlich normal sie auch ist, doch schon den Ansatz
zur pathologischen Entartung des Ich-Gefühles bieten mag.
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zcbRnder ist, geht nehr aitf geistige und aed^^ Mlnii-
lidie Frauen vemachHasigen ihre Kleidung und Ironzentriecen
oft ihre Eitelkeit nach Art des Mannes auf eine geistige Leistung
(ein selbsIgefflhrleB Oeschift oder einen sdbstgeschiiebenen
Roman), übertreiben auch gern, um männlicher zu erscheinen.
Wenn man aber die vielen geistig tätigen Frauen iiälier betrachtet,
so kmii es zweifelhaft sein, ob ihnen diese Sach-Eitelkeit endlich
genügt; denn die Anerkennung, die ihrer Arbeit gezollt wird,
geht doch der unmittelbaren, körperlichen Person mehr oder
weniger verloren, sie leiden oft schwer unter ihrer zwitterhaften
Rolle. Vielleicht ist dies der Qrund, daß eine wahre Frau gar
nicht so recht produktiv sein will (wenn sie sich auch manchmal
so geberdet). — pie weiblichen Männer hingegen haben die
echte Fnuten-Eiielkeit, die sich auis Körper-Ich bezieht —
5,
Bis jetzt suid die seehschen Zustände zeiigliedert worden,
in denen das Gefühl des Ichs heraustritt, um isoliert vor sich
selbst und vor anderen dazustehen. Den entgegengesetzten Vor-
gang finden wir bei der Scham. Auch hier ist das Gefühl des
Ichs herausgelöst und als etwas Besonderes empfindlich ge-
worden; aber es will nicht sichtbar sein und leuchten, sondern
es hat die Neigung, sich hinter allen Inhalten zu verbergen.
Wird das Ich plötzlich entbloiit, so schämt es sich, es möchte
zurücktreten, nicht mehr gesehen werden, verschwinden. Sdiam
entsteht, wenn sich ein seelisches Element seiner selbst als eines
ich-empfindlichen bewußt wird.
Eitelkeit und Scham stehen m potorem Cegensatz und sind
doch eng verwandt*) Das wird sehr deutlich, wenn wur sehen,
wie sich t)eide Geföhle hnmer wieder auf dieselben Oegenstände
*) Hierüber finden sich gute Bemerkungen bei dem amerikanischen
Psychologen Alex. h. Shand („Character and the Cmotions*', Mind 1896).
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beziehen. Der Eitle betont fortwährend, was er Besonderes zu
sem oder zu haben vermeint; er sucht sein Ich mögrUchst stark
in diese ßtsonderheit hineinzuverlegen, sie mag noch so zweifd-
hafter Art sein. Fehlt ihm etwa ein Auge, oder muß er im Roll-
atuhi gcfahrai wenien, so ist er mdir und mehr geneigt, hierin
etwas Auszddmendes zu sehen. Der Schamhafte sucht der-
gleichen zu vntagn» weil da Ichf^uiikte liegen, dem Beach-
tung durch andere ihn veilelzt Er spiidit nicht davon wie der
Eide, der kehien Anlaß versäumt, die Geschichte seuies Unglücks
zu eizählen. Und dies kann sehr weit g e tri e ben weiden: Men-
schen» die ihre Nahritftt eingebüßt haben, empfinden Idcbt alles,
was sie tun und was sich auf sie bezieht — nicht nur etwas Be-
sonderes und Auffallendes — wie in einem Spiegel reflektiert, sie
können die Bezieh uii^^ auf ihr Ich nicht los werden. Und so
kommen sie dahin, alles ich hafte mit einem leichten Nebenton von
Scham zu begleiten Solche emphndliche Menschen spreclieii
mö^hchst unpersönlich, möglichst allgemein, damit nur ja nichts
von ihrem Ich mit ins Gespräch einfließe. Sie sind überaus leicht
verletzt, man kann ihre seelische Lage als ich -empfindlich schlecht-
hin, gleichzeitig dtd und schamhaft, definieren. — Für manche
Oeister ist es eme gewisse Scham, an einen Körper gebunden,
von einem Ichhaft olganisierlen Körper abh&ngig zu seui. Ja,
in seelisch hochgesteigerten Zeiten kann es der Oeist übettaupt
als Scham empfinden, einen Körper zu tragen.
Es ist schon gesagt virorden, daß die Frauen ihren Körper
nahezu als ihr Ich fühlen. Vielleicfat haben sie sich hierbei der
Empfindung des Mannes angepaßt, der die Frau oft mit ihrem
Leibe gleichsetzt. Oder vielleicht hat der Mann nur einer be-
stehenden Wirklichkeit Rechnung getragen wie iiiuner dies sei,
das Ich-Gefühl der Frauen haftet vorwi^end am eigenen Leib
und allem, was unmittelbar mit ihm zusammenhängt Noch
klarer als bei der Eitelkeit wird dies beim Schamgefühl. Eine
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Frau sdifimt sich, wenn ihr Köiper oder ehi Teil davon Gegen-
stand fremder und sogar der eigenen AufmerlLsamkeit wird.
Mädchen gehen solange unbefangen bloßen Halses^ bis sich ein
fremder Blick daran haftet; dann schämen sie sich pUMzlich:
ein Teil ihres Ichs ist empfindlich geworden. Legt ein Mädchen
zujii erstenmal ein dekolletiertes I>allkleid an, so iühlt sie Scham
ob dieser absichiiichen Hervorliebung ihres Körper-Ichs. Im
Baiisaai aber, wo alle dekolletiert sind, ist dieses Gefühl der
Pointierung verschwunden, hier würde sie sich schämen, trüge
sie dnen hohen Kragen, weil sie wiederum so auftiele. Die er-
falirene Dame aber nimmt jeden Blick mit Genuß hin; auch ihr
kommt ein Teil ihres Ichs unter fremden, besonders unter männ-
lichen Blicken achäifer zum Bewußtsein, aber die enigcgenge-
setzte Wükung hritt ein: hier Eitelkeit, dort Scham.
Nehmen wir an, in Paris sei die Mode aufgekommen, blaue
Fräcke zu tragen anstatt der üblichen schwarzen. Die meisten
Männer wissen dies nicht oder kfimmem sich nicht darum. Aber
einer läßt sich eui solches Kleidungsstfick anfertigen und trägt
es auf euiem Ball. Er hdit so sein Körper-Ich hervor und ffihlt
seine Eitelkeit geschmeichelt. Fast alle anderen Männer hätten
sich nicht so leicht bewegen lassen, als erste einen blauen Frack
zu tragen; sie hatten sich darin sjeschämt, weil es als unmänii
lieh empfunden wird, sein Körper-Ich zu unterstreichen Niehl
viele Frauen aber wurden sich schämen, ein auffallendes und
ganz und gar neuartiges Kleid anzulegen. — Unsere Sitten
haben diesen ich-Gdühlen Rechnung getragen : die Kleidung des
Mannes ist nahezu einförmig; nur der Geck und der Homo-
sexuelle — weibliche Männer also — wollen instinktiv durch
ihr KöJTper-Ich auffallen. Die Tracht der Frauen aber ist ihrem
Gefühl entqnechend von einer zur anderen verschieden.
Alks dies wund durch Beobachtung bei Prunitiven bealitigi
Völker, die gewohnt sind, nackt zu gehen, legen Kleider and
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Schmuck ao, um sich hervorzutun (was uns ja ganz natüriicfa
scheint); sie empfinden aber die Klddnoff auch wieder als un-
anständig, weil der bekleidete Körper auffällt; wie wir uns
sdiämen würden, nackt über die Straße zu geben. Ist es iigend-
wo Sitte, daß die Frauen ihr C3e8icht verhüllen» so wird es als
schamlos empfunden, den Schleier zu senken (während dieses
Schanigefühl z. B. nicht an der Brust haften muß). — Auch für
unseren Kulturkreis ist das Schamgefühl ziemlich schwankend
Bei verschiedenen Frauen sind die einzelnen Körperteile ver-
schieden sdiamempfindlich : so tragen manche Mädchen ihr Haar
oQm odiir losen diu Frisur ühiie das Gefühl der Scham. Andere
wieder empfinden dies wie eine körperliche [ nthüUung; ihnen
ist auch das ilaar ein wichtiger Teil des Kürj:>ers, der ich-erap-
findlich wird, wenn er die Aufmerksamkeit erregt. — Ganz lie-
sonders schamhaft ist merkwürdigerweise die Mundhöhle.
Aus alledem erklärt es sich von selber, weshalb die Scham
sooft irrtümlich als ein spezifisch erotisches und weibliches Ge-
fühl angesehen wird: weil ihre auifaUendsien Fonnen bqptcif-
HcfaerweiBe die sind, die sich auf den Körper bezichen. l>as
MAddien schlmt sich, wenn ihr Körper-Ich zum erstenmal einem
anderen oder bei feinerer Veranlagung ihr selbst — vor dem
Spiegel — zum Bewußtsein kommt Dies tritt aber meistens in
der Zeit der Geschlechtsreife ein; weil die Jungfrau die sdindle
Eiitvvickluiig ihres Leibes sieht und von anderen bemerkt weiß,
weil sie als Weib betrachtet wird und nicht mehr als Kind, fühlt
sie Scham, die allerdings sexueller Art ist und immer sexueller
Art bleibt Prst wenn es einer Frau so selbstverständlich ge-
worden ist, üeschlechtswesen /u sein, daß es ihr nicht mehr be-
sondoB fühlbar wird, schwindet diese natürhche bcham, um
von neuem aufzutreten, wenn sich einzelne Körperteile bemerklich
machen (z. B. in der Schwangerschaft) — bis sie endgültig
dabin ist.
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Das Gefühl des Ekels kann mit dem Schamgefühl zu-
sanunenhneien und seinen sexuellei Charakter verstärken. Ekel
ist die Reaktion auf die Lust der einzelnen Sinne^ er ent^fingt
der ObeiBättigung an einer bestimmten Art des Genusses und
haftet überhaupt an den Teilen des Köipere, die zur Kdiperlust
in einem (vielleicht nur scheinbar) entgegengesetzten Veihilt-
nis stehen. Es ist bdcannt, daß manche (besonders hysterische)
Frauen ein leises Geffihl des Ekds gegen die Geschlechtlichkeit
des Mannes empfinden, weil ihnen die Einheit seines Urogenital-
Systems allzu jB^egenwärtig ist. Wenn sieh nun gerade die zu
Ekeigeiulilea disponierten Teile des eigenen und des fremden
Körpers aufdrängen (was von Kindheit an geschieht), so bildet
sich eine innige Verwandtschaft des Schamgefühls nnt dem Ekel-
gefühl und das Schamgefühl wird leicht als sexuelles Gefühl
überhaupt gedeutet/) —
Behn Manne bezieben sidi Schamgefühl und Eitelkeit zum
geringsten Teil auf den eigenen Körper.
Des Weibes Keuschheit geht auf ihren 1 eib,
Des Mannes Keuschheit geht auf seine Seele,
Und eher zeigt sich dir das Mägdlein nackt,
Als solch ein JüngUng dir das Herz entblößt
(Hebbd fiber Giselher.)
Ein Knabe zeisi Kenntnisse, die anderen fehlen, so lange un-
befangen, bis sie ausdrücklich anerkannt und bewundert werden;
in dem Augenblick aber kommt ihm diese i^ieraushebung als ein
^ Alledem würde gßx nicht widersprechen, dal das SdiamgefOhl
wie e Eitelkeit (und auch andere Gefühle) uraprfingltch einen Nfitillch«
kettS' oder Selektionswert gehabt haben mögen und erst im Laufe der
Zeit in die höheren, rein menschlichen Regionen eingedrungen sind. Ich
habe es ja hier wie immer nicht mit der allmählichen Entwicklung des
Seelenlebens zu tun, sondern mit den Erscheinungen, in denen es sein
Maximum erreicht
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316
Teil dessen, was ihm selbst angehört, zum Bewußtsein und er
schämt sich. Ist er von Natur schamhaft, so wird er zukünftig
nicht leicht seine Kenntnisse zeigen, uiberwiegt die Eitelkeit^ so
erregt die nScfaste Anefkennung schon ein geringeres Wider-
streben. Fortan nfilit er sich, solche Anlässe hertieizufahren.
Die Unschuld ist verloren gegangen, das Ich-Gefühl als
Quelle von Lust und Sdunerz efkannt wofden. — Als sich die
ersten Menschen vom Oefaorsam gegen das göttliche Gebot tos-
gesagt hatten, da kam es ihnen zum Bewußtsein, daß sie etwas
anderes waren als alles um sie her, daß sie ein Icli hatten — und
sie fühlten dieses Ich plötzlich inmitten der Welt unbedeckt
stehen und bchannen sich. Solange das Ich seiner selbst noch
nicht bewußt w orden ist. bleibt ein Wesen (ein Tier, ei i Kind)
im Stande der Unschuld. Dem Erwachen des Ichs folgen Scham
und Eitelkeit, die Unbefangenheit (denn das ist die Unschuld)
ist dahin. —
Die Darstellung, die der Künstler von seinem Ich gibt, ist
nicht, wie Banausen gerne meinen, schamlos, sondern das
Gegenteil: der wiildiche Ktuistler (ün Gegensatz zum beichten-
den Dilettanten) veibiigt sich selber so ganz hiiiter seinem Wetlc,
daß es zu einer Hecke vrird, die ihn allen Blicken entzieht. Mit
heimlichem Spott muß Goethe gesehen haben, wie die Buch-
stabemnenschen sein Wort über die Wahlverwandtschaften plump
aufgegriffen und nun nach „Erlebnissen** geschnüffelt haben,
während er doch niemals die aulkriiche Philologen-Bedeutung,
sondern nur ein seelisches Gerichtetsein, eine Gefühls- Disposi-
tion im Sinn hatte, „jeder tiefe Geist braucht eine Maske, noch
mehr, um jeden tiL'tt'ii (jtist wächst fort walirend eine Maske."
(Nietzsche.) Der Philosoph aber, der es iner nicht so leicht hat
wie der proteische Künstler, müht sich mit abstrakten Beweis-
ketten, um objektiv begründet zu sehen, was er in persönlicher
Unmittelbaricdt nicht wohl sagen kann.
Digitized by LiOOgle
317
Je schamhafter ein Mensch ist, desto weiter erstreckt sich
sein Beclnrfius, alles Ichliche zu verhüllen; wo an einen solchen
Punkt getastet wird, da empfindet er den Schmerz des verletzten
Ich-Kreises. So ist das Schamgefühl die Decke alles dessen, was
geheim bleiben sollj wer nichts zu verbergen hat, fühlt keine
Scham. Die Wissenschaft darf dieses Gefühl nicht kennen, sie
hat keine Scheu vor der Natur und keine vor der Seele des
Menschen» sie will alle Geheimnisse zcistören. Goethe hat
schwer unter der atomistischen Naturforscfaung, die die Erschei-
nungen zersetzt, gelitten, und es ist die Tragik des wahren Psy-
cfadogen, zur Unkeuschheit gezwungen zu sein. Selbstanaliae
ist Schamlosigleit vor sidi sdbst, Sokrates ist der schamlosesbe
aller Menschen gewesen. — Jede Lust ist unkeusch, sie ver-
letzt die Scham: die Lust des Erkennens enthüllt und zer-
stört den G^enstand, aus dem sie tließt, die Astronomie macht
die Größe des Sternenhimmels zunichte und schafft daraus ein
System von Gleichungen, die kritische Theologie zerstört Gott,
die Wollust vernichtet alle Scham. Der Preis jeder Lust —
außer der ästhetischen — ist Trübung ihrer Quelle, unter der
Herrschaft der Lust schwindet die Scham; man stelle sich den
brutal eindringenden schamlosen Blick des Wüstlings, den un-
verschleiert offenen der Dirne vor. — Der Zusammenhang von
Scham und Lust zeigt sich auch darin, daß die Verletzung der
Sdiam fOr manchen die eigentliche Lust bedeutet Bei einem
keuscben Menschen aber dSmmt das Schamgefühl die Lust dn,
er hat ein instinktives Mißtrauen g^gen sie.
Man kann nur achten, was einen gewissen Eigenwert zu
haben scheint, was man nicht ganz zu durchschauen vennag,
was emen Rest von Geheimnis biigt. In dem Maße, wie eine
Sache erkannt wird, verliert sie ihren innersten Wert. Haben wir
ein Ganzes in verständliche Elemente aufgelöst, so ist es ge-
wissermaßen verschwunden, es ist nichts Eigenes mehr, sondern
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inner G^ensiarid, von uns zerl^t, durch uns vernichtet Jedes
Ding kann bis zum Omnd eilanni werden, hn Menschen aber
wehrt sich etwas da^egfen — ein Mensch, der bis aufs letzte
durchschaut werden konnte, hatte aufgehört, ein Mensch zu sein.
Instinktiv schätzt der Mann an der Frau das üeheininisvolle,
das, was noch niemand erkannt, entwertet hat. Und die weib-
liche Schamhaftigkeit, die sich aufs Korper-Ich beziefit. erfüllt
dieses Bedürfnis des Mannes, iiier liegt die Lrklärung iür den
Zauber der Jungfräulichkeit, der dem Willen zur Lust entgegen-
steht. Rationalisten mögen den Widersinn und den „Egoismus"
dieses Wertes noch so laut verkünden — gerade der höher diffe-
renzierte Mann ehrt das an der Frau, was noch niemals Gegen-
stand eines Ericennens — auch deseigenen nidit— geworden ist
DasGefaeininis des weiblichen Körpers ist wie das der menadh
HchenSede von der Scham unigeben und gehütet. Fallen aber bei
einer Frau Ich und Leib ganz zusammen, so hat sie das Gefühl,
mit der körperlichen Enthüllung alle ihre Geheimnisse offenbart
zu haben. — Wir verstehen jetzt die Lifersucht des Mannes in
ihrer seehsche&ten Form: sie will das Geheimnis der geliebten
Frau vor allem Fremden bergen Durch seine Liebe ist er in
ihr Geheimnis mit hineinversponnen, wurde es preisgegeben,
dann wäre er mit ihr beschämt, wäre seine Liebe prostituiert.
So hat die Eifersucht alle Phasen des Ich-Gefühls mitgemacht:
sie ist nicht nur beeinträchtigtes Maclitbedürfnis und verwundete
Eitelkeit, sondern Scham, die ihr Geheimnis — das Geheimnis *
der Lid>e — wahren will.
Jede normal veranlagte Fiau und besonders jedes Mädchen
empfindet es ab unerträgliche Verletzung ihrer Schamtiaftis^feit,
sich einem Manne zu enthüllen, der sie nicht liebt Seine Blicke
veruraadien ihr seelischen und sogar körperlichen Schmerz. In
der Liebe aber fühlt sie, daß ihr Geheimnis nicht «kennend zer-
stört wird, daß dem Manne ihr Körper mit seinen Teilen als
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Tdlen ihres Ichs nicht «bgesoodert Zinn BcwuBlsctn koounti sie
wdB, daß er auf sie als Ganzes konzentriert ist. Solange ilie Li^
besteht, wird die Scham nicht verletzt, weil die Liebe das Oe-
heimius fühlt und ehrt. Hat sich aber eine I rau einmal ohne
Liebe enthüllt, so lic^ in jeder Wiederholung weniger Schmerz.
Eine Frau, die jedes Geheimnisses bar gfeworden ist, flammt
plötzlich in verzweifelter Scham auf, wenn sie euiem ^egenuber-
steht, der sie noch im Schleier des jungfräulichen Geheimnisses
gekannt hat. Der Mann kann die Dirne nicht achten. Sie scheint
ohne jeden Eigenwert, ohne Geheimnis, wie der Wein ein Gegen-
stand, der den brutalen Äquivalenten Lust und Gdd gehorcht
Auch hier hilft kein Rationalismus g^gen das Gefühl. — Ist eüh
mal die Scham dahin, so efweddt es einer Frau keinen Sduneiz
mdir, wenn ihre Köiperlichkeit bemerkt und begehrt wird Sie
findet viehnehr in der Wirkung des KOrper-Idis auf den Mann
ihre eigene Lust Bleibt diese Whkung ans^ so ist sie verletzt
Ebenso wie die Scham ist auch die Treue der Lust ent-
ge^^eny:esetzt, aber in einer höheren Sphäre. Sie ist das Band
zwischen dem Gefühl des Ichs und dem Bewußtsein der Per-
sönlichkeit. Treue ist der Persönliclikeit propurtional, sie ist
Identität der Persönlichkeit mit sich selbst nl:»er den Augenblick
hinaus. Je treuer ein Mensch ist, desto mehr fallen ich und Per-
sönlichkeit in Eines» desto weniger läßt er sich vom Augenblick
und seinen Verführungen dazu bringen, das ein für allemal als
seine persönliche Sache Erkannte aufzuheben. Heftet sich die
Treue aber shmipfeumig und ohne inneren Crund an Klemes,
so mag das zwar Kraft verraten, geht aber in Starrköpfigkeit
und Eigensinn iiber.
8. DAS GEBET
1.
Wenn dem Schicksal der besondere Ton des Religfiösen zu-
geteilt wird, wenn man es als etwas Göttliches empiiadet, so
wandelt es sich zur Vorsehung. Vorsehung ist das Über-
mächtige, Weltbi herrschende, das nicht wie das Sciucksal me-
chanisch, blind, sinnlos und herzlos, sondern zielbewußt, sehend,
sinnvoll und auf den einzelnen bedacht vorgestellt wird. Es ist
noch immer die große, dem Menschen innerlich unbegreifliche
und fremde, ja unheimliche Macht, hat aber jetzt den Ton des
Seelenhaften, des Fühlenden, vielleicht sogar des Menschlichen
angenommen. Die Vonehung kann ein weltregierender Gott
sein, sie kann aber audi mehr unbesüomit als gdMüches Prinzip
empfunden werden. Wie bisher haben wir uns auch hier nicht
mit fesigewocdenen und lefarbaren Theorien zu bcschiftigen, es
handelt sich vielmehr iomier darum, alles das möglichst ent*
schieden zu Uären, was die JMenachen im Herzen tragen, was sie
dunkel fühlen.
Die Vorsehung ist die ungeheure Macht, die über der Welt
thront. Vor ihr hat der Mensch nicht zu fragen und nicht zu
zweifeln, er muß sich in Demut beugen. Dieses Gefühl der Ab-
hängicfkeit entspricht einem Grundtypus des religiösen Bewußt-
seins, der weitaus der verbreitetste unter den religiösen Typen
ist Es wäre eine unendlich verlockende und noch kaum emsthaft
unternommene Au^^, die verschiedenen religiösen Menschen-
typen zu erforschen und festzulegen. Hier aber kann nur be-
sprochen werden, was für den gegenwärtigen eingeschränkten
Zweck ndtig ist — Wir betnchten also den Menschen, der sich
ganz un Diesseits fühlt und von hier aus gläubig, vertr au end,
hoffend, fürchtend, demüüg, liebevoll in eüi Jenseits^ in A
göttliches Reich hinubencfaaut; dieses Reich bedeutet ihm ent-
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weöa eine sichere Tatsache oder eine Sehnsacfat des Herzens
oder eine Angst, ist aber immer schroff vom Diesseits geschieden
und die Quelle alles Heiles, alles wahren Wertes. Von jener gött-
lichen Welt v-ird die untere regiert und geleitet, wird jedem
einzelnen sein Weg bestimmt.
Der Mensch fühlt sich im Drang und Leid des Lebens ver-
einzelt, schwach, er sucht etwas 1 estes, woran er sich halten
kann, er brauciit körperliche und seelische Hilfe, Trost und
Sicherheit. Diese tief menschliche Sehnsucht wird zum Teil
durch die sozialen Verbände, durch Familie, Staat, Gesellschaft
befriedigt; hier gibt es Schutz vor Gewalt, Hilfe gegen Unrecht,
seelische Anlehnung. Aber das genügt nicht; man fordert ein
Höherea, Obennächliges, das nicht mehr von der Rehitivititt der
irdischen Dinge betroffen wird, sondern ab göttlich über allem
Sein thrcxit, das nicht entstanden ist und nidit vergehen wird,
das absolut da ist Hier findet die Pein der Einsamkeit und
Verlassenheit, die das Ldxn unerträglich machen kann, Er-
lösung. Religion (in dem bestimmten Sinn dieses Menschen-
typus) ist ja die Gewißheit, daB das Band zwischen dem Efai-
zelnen, Vergänglichen und dem Großen, Ewigen besteht und
stärker ist als alle Anfechtun^jen; die Etymologie des Wortes
beweist den Gedankengang. Mit diesem üuttlichen gefühlsmäßig
in Verbindung treten, sich vertrauend in ihm geborgen wissen,
sich ihm in Liebe hingeben — eine solche seelische Disposition
bringt das Gebet her\'or.
Ich gehe auf die weitere Schilderung dieses 1 ypus der trans-
zendenten Religiosität nicht ein. Es ist klar, daß er sich im
• Katholizismus verewigt und dem ganzen Mittelalter seinen Cha-
rakter verliehen hat; aber auch die klassische protestantische
Theologie, Schleiermacher vor allem, gehört ihr zu.
Je naiver der Mensch ist, desto einfacher denkt er sich das
Verhältnis zwischen seinem Diesseits und dem göttlichen Jen-
Laeka, Qr«nzm <l«r SmI». 21
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322
8dts» zuerst iftumlicb, dann iftiunliifrqfiiibolisdi, dann gdstig
— aber immer sind es zwei Wdten. Nun hat ein kultuiiiisto-
riscfaer Prozeß stattgefunden, der die Spannung zwischen den
beiden Welten allmählich verringert. Und ganz gesondert und
ohne Zusammenhang mit ihm spielt sich in einzehien Menschen
der gleiche Vorgang ab: nicht einem vöhig irdischen Diesseits
soll ein völlig göttliches Jenseits gegenüberstehen, sondern aufs
Diesseits soll ein Schimmer von OöttHchkeit, von Ewigkeit fallen,
das Jenseits soll nicht mehr so ganz fremd, so ganz jenseitig sein.
Dieser Prozeß vollzieht sich schrittweise (sowohl in der Geistesr
geschichte, als auch im einzelnen Menschen), immer mehr Ge-
danken und Gefühle empfangen die Aura der Göttlichkeit, immer
mdir zeitliche Regungen werden ins Ewige vertieit. — Ich habe
nicht die Absicht, den Weg der VerinneiUchmig zu achildem.
Ist diese ganze Betrachtong ja nur als ein BrucfaatQck anzusehen,
weil ehie wixkUciie Religiona-Paychologie an dieser Stdle un-
mdgUcfa wate. Wir kennen, um gleich den Endpunkt festzu-
legen! im Gegensatz zur transzendenten, zur katholischen Rdl*
gionsform eine ünmanente^ eine mystische; die protestantiadie
Frömmigkeit liat an beiden ihr Teil, sie steht auf iigendehiem
Punkt des Weges von der Jenseitigkeit Gottes zur Göttlichkeit
des Menschen. Daher die Verschiedenheit und die ewige Ruhe-
losigkeit der protestantischen Sekten, der Fluch der religiösen
Autonomie. Alle Stadien auf dem Weg von der entschiedensten
Jenseitigkeit bis /ur innersten mystischen Identität des Seelen-
grundes mit Gott sind möglich und sind auch historisch durch-
gemacht worden. Denn das eigentliche Merkmal der immanenten
Frömmigkeit ist das Bewußtsein, daß GöttUches und Mensch-
Uches in tiefer innerer Beziehung stehen, daß sie im letzten zu-
sammenfallen. Es möge hier bei dieser allgemeinen Bestinunung
bleiben, an anderen Stellen haben sich weitere Momente der
mystischen Religiosität ergeben.
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323
Ffir diese mystische Rettgiosittft hat das Schicksal seine ent-
scheidende Wucht veriocen (wenn es auch noch mmer forfbe-
slefat), die Seele, die sich ihrer eigenen 0<ttdichl[eit bewußt ist,
kann durch nichts Fremdes mehr unterjocht werden. Zwischen
den äußersten JPunkten der Mystik und des toten Schicksals-
glaubens steht die jenseitige Frömmigkeit; sie hat mit dem
Schicksalsbegriff geraein, daß die letzte Macht in einem der Seele
fremden Reiche ruht,*) scheidet sich aber vom Schicksalsglauben
durch die Verwandlung des mechanisch Notwendigen in ein
OöttlicheSy der Macht in einen Wert. Mit der rein immanenten
Religiosität ist ilir das Grundbewußtsein der Göttlichkeit ge-
nMinsam, das über allen Naturalismus und Monisnuis liinaiis-
ragt; verschiedoi ist bei(kn die Stellung des Menschen zum
gdttlichen Weiigrund: liir den Katholizismus gibt es auch im
höchsten Aufschwung der Frömmigkeit und der Ekstase doch nur
die Stelluqg: hie Wdt — - liie Oott; wo sie fibenpruqgen wiid,
ist die Jensdts-Reiigion verlassen und an Hut Stelle JMzmi**
getreten. Der Mystiker erlebt unmittelbaie IdentitSt dn Mensch-
lichen und des Oötüicfaen (das nur noch Ewiges sddechttün und
nicht mehr persönlidi oder sonstwie besthomt sein kann).
Während für jede Religiosität, die noch an der Transzen-
denz teil hat, das üebet etwas Wesentliches, ja „die Seele der
Religion selbst" ausmacht,**) ist für die eigentliclie Mystik der
Gedanke zu beten ein Widersinn. Zu einem Gott, der im Grund
der Seele wohnt, der dieser Grund selber ist, kann die Seele
nicht sprechen. „Abgeschiedenheit und Lauterkeit kann uber-
luuipt nicht beten", sag^t Meister Eckehart; er rechnet das Beten
zu den ,,äußeren Werken" und lehrt: „Denn eigentlich soll er
ja fibeihaupt nichts von auBen herein, nein, alles aus dem Innern
Vgl. was über das Verhältnis Napoleons zum Dogma gesagt
worden Ist ($» 27U
**) Sabader, Relfglofisplillosophle. Deutsche Ausgabe & 100.
2t*
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nehmen» von sebem Gott'' — Hier ist jede Spannung zwiachen
Absolutem und Relativem auJ^dioben, das Gebet hat seuien
Sinn vedoien. Aber es Ist zu zweifeln, ob diese völlige Einheit
dauernd festgehalten werden kann. Denn wenn Jesus sagt:
,,Mein Gott, warum hast du mich veriassen!" und „Nimm diesen
Kelch von mir!" — so zeigt sich auch bei dem vorbildlich reli-
giösen Menschen eine leise Spannung, die allerdings in dem
folgenden „Aber nicht mein Wille geschehe, sondern deiner!'*
sogleich aufgehoben wird.
Der Zustand, der zum Gebete führt, ist also etwas Mittleres,
er ist weder ganz irdisch, noch ganz religiös, er steht noch im
Unzulänglichen, im Bedürftigen» hat aber schon die Ahnung
und die Sehnsucht des Vollkommenen. Auch wer sich worttoa in
Gott versenkt, kann in dieser inneren Bewegung (wenn man so
sagen daif) vielleicht noch eme gewisse gebelfihnliche Stunmung
finden; hier schweben die Nuancen so zart, daß sich ein Mehr
oder Weniger nicht mehr allgemein bestimmen liBt.
In unseres Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Hohem, Reinem, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Entrfttselnd sich den Ewig-Ungmnnten;
Wir heiBeos: fromm sein!
(Goettie)
Diese Hinpfabe kann ans einer Fülle von Glück und Kraft
stammen, die sich überströmend mitteilt; sie kann aber auch
leidensdiaftliches Flehen um Trost und Ruhe, sie kann ein
Schreien aus der Verzwdflung tiefoter Verlassenheit sein und
eine Brücke ins Jenseits schlagen — eine Brücke, die nur auf
einem PfeUer ruht Aber der Schrei findet Antwort im eigenen
Herzen, ein Gefühl von Beruhigung, von Erhörung tritt ein.
Zu diesen allgemeineren Voraussetzungen des Gebetes muB
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noch das Bedfirfnis nacta Mitteilungr koonien. Es
gibt Menschen, die so vollkommen in sich abgeschlossen sind
(entweder aus Reichtum oder aus Armut), daß sie keinerlei so-
ziale Ausgleichung suchen, andere wiederum, die im geselligen
Verkehr volle Befriedigung finden (wolil die allermeisten Men-
schen); die sich schreibend, bildend mitfeilen — oder die
schweigen. Sie alle kennen das Gebet nicht.
Und endlich muß noch die Fähigkeit da sein, sich zu
äufiem. Wo aie fnangeli, kann es allenfalls zu einer Gebetstim-
mung kommen, aber nicht zum cigenttidien Gebete. Die Aus^
spracbe mit einem Höheren, das VecstrOmen in Oott eifolgt
nicht theoietiscfa, in Begriffen, es geht viehnefar aus dem Oeffihl
hervor und daher ist ihm die künstlerische AuBerung aiige-
messen. Produktive Anlage, eine gewisse lyrische, hymnische Ge-
staltungskraft muB vorhanden sein, wenn aus der vagen Oebet-
stimmung ein wirkliches „Gebet" entstehen soll. Manche lyrischen
und musikalischen Kunstwerke sind psychologisdi genommen Ge-
bete, sie steigen aus einem g^roßen ( ieiiihl von Liebe und Hin-
gebung auf. — Aber selbst unter den Kunstlern vermögen nur
wenige ein echtes Gebet zu schaffen. Oft ist eine starke, rein
innerlich gerichtete Ausdrucksfähigkeit da, und es fehlt doch die
metaphysische Einstellung des Gemüts. Aus ähnlicher Stimmung
kann etwa ein Liebesgedicht oder ein Naturhymnus hervorgehen.
Das Gebet, das der Seele des religiös empfindenden Künst-
lers in einem groSen Augenblick entstrOmt ist, kann von
anderen reproduziert werden. Die meisten Gebete der verschie-
denen Kirchen, sofweit sie diese Bezeichnung mit p^chologischer
und nicht nur mit ritueller Berechtigung föhren, sind formelhaft
erstarrte lyrische und musikalische Odsilde, bei manchen kennt
man noch den Dichter. Wer sie zum erstenmal aus seiner Not
herausgeschrien oder aus seiner Freude in die Welt gejubelt hat,
versteht im tiefsten, was beim heißt; aber auch, wer das fest
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Geworden« im lebendigen Oefühl wieder auflöst, kann beten. —
Beugt der Betende (vieUdcfat mit anderen zugleidi) das Knie^ so
trägt dies bei, die Stimmung assoziativ zu venttrfm, die eigene
Kleinheit wird im Vergleich zum Absoluten tiefer empfunden.
Wer aber nicht soviel nachschaffende Phantasie besitzt, um aus
den Wortreiheii die schlummernden Gefühle neu zu beleben, der
kann sie jeden Tag mit Unterstützung von Musik und imitata-
rischen Reizen aller Art wiederholen und erfährt doch niemals,
was beten heißt. Er spricht unverständliche Zauberformeln.
Das echte Gebet nimmt verschiedene Gestalten an. Der ptir
mim Odietstimmung ist am nächsten das Dankgebet vcr-
wandt, das seine Erfüllung schon in sich selber tdigt Das un-
mittelbare BewtiBtsein einer höiieRn Eintieit bricht stnihtend aus
der Seele und formt sich zu Worten des Dankes für das Höchste:
am Ewigen teilzuhaben. — Mit ihm verwandt ist das Lob-
gebet, der Hynmus» als dessen größter Repräsentant wohl
fttndel angesehen werden darf; die ftarüchkeit des Alls, die
Größe Gottes greift ans Herz und erweckt es zu mächtigem
Widertönen. So singen die Erzengel im Faust. — Beim Bitt-
gebet, das dem ganzen Komplex seinen Namen gegeben hat,
ist die Einheit noch nicht gefunden, es ist der Ruf aus den
Tiefen, das Flehen um Gnade und Erlösung. War in den beiden
ersten Formen das eine Orundgefuiil der Seele, die Liebe,
Triebkraft und Inhalt, so spielt hier das negative Grundgefühl,
die Furcht, mit, als Schrecken der Vereinzelung, als Gefahr
der Seele, die sich in die Liebe Gottes retten will. Wir sehen
auch hier, daß die ttefeien Gefühle des menachlidien Herzens
über ihre ursprihigliche SfHaJbt hinaus fliegen und m ein Jen-
seits weisen können. (Ich habe dieses PtiänomeQ unter dem
Namen „Metaphysische Erotik^' ansfOhrlich beadnieben.)
Endlich istdasBußgebet anzuführen, das dem Bittgebet ver-
wandt ist: die Nichtigkeit alles Kleinen, Einzelnen und Subjek-
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tiven wird schmerzlich empfunden und der Einheit gegenüber-
gesteUi Die eigene Hinfälligkeit kommt als Sünde zum ßewußt-
aein tmd soll gebü0t werden. — Diese vier Typen des Oebetes
sind nicht wiOkfiiliGh gebildet; sondern enthüllen sich als Mög-
lichkeiten des Verhältnisses zwischen Relativem und Absolutem:
die Vollkommenheit des Absoluten (Lab) oder die UnzulAoglich-
kdt des Rdativen (Buße) leuchtet dem Fühlen em; die Ein-
heit zwischen beiden wüd eifldit (Bitte) und em|ifunden
(Dank). —
Es läßt sich nicht zweifeln, daß die meisten Betenden zu
einem persönlich vor^' est eilten Wesen, sei es nun Gott oder ein
vermittelnder Heiliger, sprechen. Tolstoi deutet dies einleuch-
tend: „Das Gebet wendet sich an einen persönUchen Gott, nicht
weil Gott persönlich ist (ich weiß sogar bestimmt, daß er nicht
persönlich ist^ weil die Persönlichkeit beschrankt^ Oott aber un-
beschrinkt ist), sondern weil ich ehi persönliches Wesen Im."*)
— Kant hingegen äußert sich über das Beten zu einem persön-
lichen Oott sehr schroif: „Aber endlich ist auch bei dem Gebet
Heuchelei, denn der Mensch mag nun laut beten oder aeme
Ideen Innerlich fai Worte auflösen, so stellt er sich die Gottheit
als etwas vor, was den Sinnen gegeben werden kann, da sie doch
bloß ein Prinzip ist, das die Vernunft ihn anzunehmen
zwingt."**) — Man hat bei dieser Verurteilung ?u bedenken, daß
Kant dem Gefühlsleben überhaupt mit wenig Verständnis gegen-
überstellt und nur das rem Geistige gelten läßt. Aber trotzdem
ist hier die sozusagen intellektuelle Zweideutigkeit richtig charak-
terisiert, wenn es sich um ein in Worten nachgesprochenes Gebet
handelt. Die Oebetsthnmung freilich, das plötzliche Durch-
brechen emes reichen und beseligenden, his Metaphysische ge-
^) Aus unveröffentlichten Briefen und Schriften des Grafen Leo
N. Tdlitoi, TMMdtut RundadiMt, Mmtar 1905^
**) In dem Udnen Aultatz: mVoiii Gebete'*.
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328
richteten Gefühls, das brünstige Hinaufwollen zum Absoluten,
ist eia unmittelbares Gefühlserlebnis und hangt von keinerlei
Mdnuog Uber die Gottheit ab. —
2.
Was bisber gesagt worden ist, bezieht sidi nur auf die
höheren Arten der Rellgiosittt, die niedrigeren sind auBer acht
gelassen worden. Der Fetisdnst fordert eme Leistung von
seinem Oott; wird sie gewihrt, so dankt er mit Geschenken und
Ehrenbezeugungen, wird sie verwetgeit, so quittiert er, je nach
der Abschätzung des gegenseitigen MachtverhÜfaiisses» mit heuch-
lerischer Unterwürfigkeit oder mit Prfigehi. Aber auch dort, wo
der Gott unsichtbar und allmächtig, der Mensch als sein recht-
loser Sklave o^edacht wird, ist das Gebet des einzelnen oder der
Gesamtheit nur Bitte um Gut und Vernichtung der Feinde, Dank
für geschenkten Sieg, was sich in Lobpreisungen sowie Opiem
und Selbstkasteiunofen (tlie als höchstes Opfer gelten) ausspricht.
Auf diesen beiden Stufen kennt das Gebet immer nur einen g'anz
Ijestnnmten einzelnen Initait, es ist nuiit Beten im tieferen Sinne,
sondern Bitten und Danken; wenn man die Gegenwart be-
trachtet, so wird man sagen dürfen, daß sie nicht weit über dies
Primitivste hinausgekommen ist. — Während der unmetaphy-
sische Mensch das Bedüihiis nach reUgiöser Erhebung nicht
kennt und schlechterdings in keiner seelischen Braichmig zu
einem Absoluten steht, folgerichtig auch nicht den Wunsch nach
einem Zusammenhang empfindet; will das Gebet, das eine Bitte
um pentelichen Vortefl ist, Oott als Mittel fOr die Absichten
des Menschen verwenden, das Absolute den Zwecken des Rela-
tiven dienstbar machen — ein Oedanke, wdcher der Oipfd des
bteen Ellens genannt werden müßte, wftre er nicht dessen
Karikatur, Der Perserkönig, der den unbotmäßigen Hellespont
peitsciieii läßt, ist an kleines Beispiel iur die Abstrusität dieses
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Wollens, das du Wunder im bdsen, im teuflischen Simi er-
zwingen will. —
Es gityt aber auch Menscfaoi, die ins Gebet hineinflüchten
wie in einen Rausch oder in eine stumpfsinnige mechanische
Arbeit. Ihr Mund spricht Formeln aus, vielleicht in fremder
Sprache, ihre Phantasie hält gewisse scheinbar religiöse Bilder
fest, angespannt achten sie auf jede Einzelheit, falten die Hände,
schlagen das Kreuz und starren vor sich hin. Sie meiden die
Klarheit und flüchten vor sich selber. Oer Frömmler will
seine Furcht betäuben, in anderes untersinken, sich an etwas
quasi Heiliges verlieren. „Mein Gebet ist dann ein Untertauchen
in Gott, es ist nur eine andere Art von Selbstmord, ich springe
in den Ewigen hinehi wie verzweifebid in ein tiefes Wasser/*
(Hebbd, Judith.)
Die dämonvKfae Angst vor Gott lonn zu einem eigentOm-
lieh schielenden Paldieren treiben. Vor diesem dämonischen,
aber veistecfct dämonischen Menschen steht das GötUiche wie
eine schreckliche fremde Macht, die er doch nicht zu hassen
N\ agt. Und &em (]cbct ist nun ein Akt der Feigheit, eine Ver-
aiisiaJtung, sich durch zereinonioses Gebaren und Formelwerk
die etwaigen Ansprüche der gefährlichen höheren Macht vom
Leib zu halten; das kann bis zur Selbstkasteiung aus Feigheit
getrieben werden, weil nichts unterbleiben darf, was das Einver-
nehmen mit dieser schrecklichen Macht herstellen könnte, in
Pascal ist etwas von dieser Gemütsanlage.
Wenn der dämonisdie Mensch genug Größe besitzt, um
nicht mehr zu frömmehi und zu kriechen, sondern dem höchsten
Prinzip des Lebens Trotz zu bieten, so Icann es geschehen, daß
er zum Teufel betet. Dazu wSre nur der fiU^g, der Gott
und alles Göttliche gekannt Jiat und daran verzweifehi muß, der
den Glauben an einen Zusammenhang des Alls nicht mehr in sich
ihidet und die absolute Veniichtung vinll. Er ist ganz metaphy-
330
sisch und entsagt trotzdem dem Gedanken an Gott, dem Ein-
heitsbewußtsein alles Seins, er wendet sich dem Prinzip des Ab-
falls, der Vereinzelung, der Finsternis zu. Auch der Teufel hat
dne Beziehung zur Ewigkeit — er verneint sie. Und wer zum
Teufel betet, gibt sich mit Bewußtsein der Lüge, dem Chaos hin.
Lenaus Faust wirft, dies zu bekräftigen, die Bibel als Symbol
des Odttttchen ins Feuer, er vertiert das Oefuhl für die WiikUcfa-
kdt der Welt und endet durdi Selbslnioid, der aber gar nicht
mehr eine eigenfUcfae Aufiiebung des Lebens bedeuten kann —
es ist inneriich schon ISngst nihilistisch vernichtet:
Ich bin ein Traum mit Lust und Schuld und Schmerz
Und träume mir das Messer in das Herz!
(Bei Goethe dagegen paktiert Faust nur mit dem Teufel und
U6t sich das Bewnfitsehi der Ewigkeit trotz allen Nd)enwegen
nicht entreißen. Die Osterbotschaft rettet ihn vom Selbstmord,
noch bevor er den Teufel eigentlicli kennt.) —
Ein Gebet, das mit dem ganzen Aufwand von assoziativen
und suggestiven Hilfen ins Werk gesetzt wird, kann große Ge-
walt über das Herz errmgeii und vielleicht durch die Kraft des
Willens, von der es getragen wird, etwas in der Welt verändern,
eine Wiiinmg üben. Manchen Formeln werden besondere
Kräfte zugeschrieben, es gibt heilige Orte, an denen das in-
brünstige Gebet Erhörung findet. Die in heidnischen und christ-
lichen Zeiten verbreitete Sitte des Wallfahrens beruht auf
der suggestiven Kraft solcher Orte und man Icann sich noch heule
fiberzengen, wdche erstaunliche Macht an wunderberuhniten
Wallfahrtstttten hafteL Unbesdu:9nkt herrscht da ein vom Rdi-
qnienkult der römischen und der griechischen Kirche sanktio-
nierter Fetischismus» die vielen Krücken und Widmungen Ge-
nesener, die in jeder besuchten WaUfahrtakirche zu finden sind»
beweisen die seelenerschüttemde Macht, die der von Tausenden
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331
besuchte Wiinderort ausstrahlt. Je stäiter der Glaube eines
Kranken, je länger und mühsiliger die unternommene Reise ist
und je mehr begeisterte Menschen zusammenströmen, desto eher
wird wohl eine Heilung möglich sein; die Massen-Suggestion
enthüllt ihre geheimnisvolle Kraft, jener sonderbare Zustand
tritt ein, der eine Versammlung von Menschen nicht als die
Summe aller einzelnen, sondern als etwas anderes, Unberechen-
bares erscheinen läßt, der jedem Individumn seinen Willen raubt
und sie alle einen gemeinsamen Willen zu produzieren zwingt, in
dem das Venuitwortlichkeits-Bewaßtsein jedes einzelnen aufge*
boben ist mid dn gemeinsamer atavistisdier Tfiebwflle bemdity
nidit das Durchaduiittlidie der Individtten, sondem eine Art
tierhaft gemdnaames Vidfachcs. Ist es denn leiditer zu ver-
stehen, daB aus dreihmidert gutmfltigen Bürgern eine t)CBHaMadie
Mordbrennerschar wird, als daB in einer fanaüsierten, von
einem einzigen Wunsche beherrschten Menschenmenge ein
Krüppel plötzlich sein Gebrechen verliert und, vom üesamt-
willen getragen, das Gefühl der Heilung findet? Es bleibt aller-
dings fraglich, ob diese Heilung für immer erfolgt oder eben nur
von der Suggestiv Kraft der Menge erzwun^^en worden ist, löst
sich doch auch nach ein paar Stunden die Räuberbande wieder
in eineAnzahl friedlicher und über ihre Taten höchst erstaunter
Bürger auf. —
Manches von aUedem hfttte noch weiter ins einzehie geführt
werden kfinnen. Aber die Orundiagea ahid klar geworden; und
so wdlen whr uns nicht ISnger bd diesen ganz spezidlcn Vor*
gangen des Seelenkbens aufhalten.
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9. DAS VnJNDER
l.
Um sich deutlidi zu machen, was ein Wunder ist, wird man
gut tun» zuefst nur dem objektiven Tattiestand nachzufoiadieny
der einem Wunder entspricht (ob es wirklidi eintritt, kommt vor*
läufig nicht in Frage), in den Zusammenhang des Tatsächlichen
Einsicht zu gewinnen (was durch historische Anknüpfungen er-
leichtert werden wird) und erst dann das Gefühlsieben derer zu
analysieren, die an Wunder glauben otier nicht glauben, die ein
Wunder ersehnen oder fürchten, die den seelischen Wert euies
Wunders anerkennen oder ablehnen. Wie meistens wird sich
auch hier der wissenschaftliche Begnfi mit dem seelischen Er-
lehois nicht decken. —
Unsere ganze Wissenschaft, vor äUcm die Wissenschaft von
der Natur, soweit sie in Oesetzen und deren Abldirzungen, in
mathcmatisrhen Fonnehi daisteObar ist, ruht auf dem Boden
des lückenlosen v«n»at9imaimwiumhangPA^ Jst sclbst nlchts anderes
als das System aller aufdnander bezogenen natflrUcfaen Ursachen
und Wirkungen, wobei jedes Ereignis mit Notwendigkeit in das
Ktu des Weltgeschehens hineingeflfxhten erscheint. Wollen
wir uns nun denken, daß dieser geschlossene Zusammenhang
von Phänomenen plötzlich an irgendeiner Stelle einen Riß be-
käme, daß ein F:reiß^nis einträte, welches mit den vorhergehenden
und gleichzeitigen schlechterdings nicht ursächlich verbunden
ist — so wären wir gezwungen, theoretisch von einem
Wunder zu sprechen. Ob dieses frei eintretende Ereignis für uns
Menschen hohe Bedeutung hat oder völlig belanglos ist, gleich-
viel: in dem Augenblick wire es ein Wunder, eine Negation
aller wissenschaftlichen Welt-EikennbailKit, da es als prin-
zipiell unverstindlich und uncildirhar (das hdßt ohne allen
Zusammenhang, isoliert) zu gelten hätte, wenn also nicht nur
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der gegenwärtige Stand iiiumr Efkenntnis versagte, sondern
wenn angenommen werden müßte, das eine Element falle aus
dem geschlossenen Sysiem von Ursachen und Wirkungen^ als
das sich die Welt für unsere wissenscJiaftliche Betrachtung dar-
stellt, heraus. In dieser prinzipiellen Unvereinbarkeit eines ein-
zelnen Geschehens mit dem allgemeinen, gesetzmäßig ver-
schrankten Zusammenhang alles Geschehenden wäre der ob-
jektive Begriff des Wunders festgelegt.
Der Gedanke eines Wunders hat demnach die Annahme der
unverbrüchlichen Gesetzmäfiigkdt in der Welt zur Vonnis*
Setzung, denn das Wunder ist ja nichts anderes als eine Aus-
nahme vom Natuijgeselz (oder allgemeiner mid unverbindlicher:
vom allgenwinen Kansslynsammfnhang). Wo also das Bewußt-
sein von der OesetzmäBigheit in der Wdt als wiasenschafUiche
Orundvonuissetzung und ab lebendiges OefBhl noch nidit fest-
steht, kann auch der Gedanke einer möglichen Ausnahme von
diesem Zusammenhang nicht gefaßt werden. Der Negerstamm,
dfösen Dorf überschwemmt wird, sucht, dem Bedürfnis der
menschlichen und der höheren tierischen Natur folgend, eine
Ursache für dit^ verderbliche treignis und findet die einfachste
nach der Analogie des menschlichen Tuns darin, daß irgendein
böser Geist beleidigt worden ist, der sich nun rächt. Diese Er-
klärung ist der Negerwissenschaft durchaus nicht tU>ematurlich
oder wunderbar; sie ist ihr vielmehr die angemessenste. Denn
der böse Oeist ist so gut eine Potenz m der Welt wie der Wolken-
bruch. Der unzivüisicrie oder wissenschaHlidi unerfahrene
Mensch hat ja den Oedanken der immanenten Naturkausalität
noch nicht kennen gelernt oder nicht erfaßt ^ er t>e$itzt nur den an*
geborenen Fragefarieb, noch nicht die Methoden, ihn zu befrie-
digen. Er kann also auch keüie Ausnahme von ehier Oeselz-
mäßigkeit statuieren, die er nicht kennt. Für ihn gibt es kein
natürliches und kein übernatürliches Geschehen, nur ein Gefühl,
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daß jedes Ereignis durch iigend etwas vcnmadit sein müsse.
Nach welcher Regd aber die Unachen aiifziisiidicn acKn, weiß
er nicht, außer bei Vorgängen, die er selbst oder andere
Menschen absichtlich bewirkt haben, oder die er nach der Ana-
logie menschlichen Handelns deuten kann. Erst wenn das
Denken die Einsicht in die strenge Gesetzmäßigkeit alles Ge-
schehens erlangt hat, ist es überhaupt imstande, den Oedanken
einer Ausnahme hienon zu bilden. Dieser Gedanke der Natur-
kausahtät ist aber noch nicht sehr alt : Galilei und Kepler haben
ihn konsequent auszubilden begonnen, Newton hat ihn für die
mechanische Naturwissenschaft festgelegt und etat durch Kant
ist er piiiizipieU aller ErEahnmgs-EiliemitDla zugrunde gdcgt
woiden.
Wissenschaft im strengen Sinn ist nitihls anderes als kon-
sequente, bewußte und metfaodisdie Anwendung des Kausalitfils-
Gedankens auf die vencfaiedenen Od>id)e des Seins» und erat mit
dem Begriff des Natui^esetzes ist der Begriff dner Ausnahme
davon, eines Wunders, möglich geworden. Die moderne
Natur \v isscnsciiaft ist also die Voraus-
setzung des Wunders. Das ist nicht im ^reringsten
paradox. Denn obgleich mit dem Begriff der Naturgeset/.lich-
keit der ( jcdanke einer Ausnahme vereinbar bleibt, so ist es doch
das eigentliche hundament der modernen (gegenüber der antiken)
Naturwissenschaft, daß eine solche Ausnahme nicht eintreten
darf. Mit ihr wäre das wissenschaftliche Denken überhaupt ver-
nichtet, denn es beruht eben auf der Zuverncfat, das alles Qe*
schehen nach Oesetzen vor sich geht, die vom menschlichen
Oeist eifafit werden kennen.
Die allgemeine Natuigesetzlichkeit ist em Prinzip der
Wissenschaft, der Vernunft fiberhaupt, nicht aber seeUsdie Rea*
lititt hn ehizebien Menschen, und diese Idee wird fai den Indivi-
duen sehr verschieden repräsentiert Dem Bauern gilt als seU)st-
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335
verständlich, daß aus dem Weizenkorn eine Ähre wächst, daß
Katzen lebendige Junge gebären, Hühner Eier legen; erzählte
ihm aber jemand, der Paradiesvogel wüchse auf Bäumen oder
das Krokodil kröche aus dem Schlamm der afnkanischen Sümpfe
her\'or, so wurde er das vermutlich nicht für abnorm halten; ja
er ist ganz überzeugt, daß allerlei Ungeziefer durch Urzeugung
entsteht, wo er doch nicht weit zu dem Schluß hätte, daß das
Lebendige von Lebendigem abstammt Einer der berühmtesten
Zoologen der Gegenwart hat lange an einen lebendigen Ur-
sdüanim Cßathybius**) geglaubt — So haben die meisten
Menschen nur gewisse Efaizdhdten des Natuizusanmenhanges
wurldich in sich att^;enomDien und vfih^den deren Verletzung als
Wunder cm^den. Das aQgeineine Pdnzip ist ihnen nichts
unmittdbar Gewisses, auch wenn sie darfiber unterrichtet shid.
Während also für die reife Erkenntnis ein Wunder nur be-
stände, wo die Naturgesetzlichkeit wirklich durchbrochen und
aufgehoben wäre, pflegt die Schwelle des Wunderbaren für das
Fühlen des einzelnen nicht so tief zu liegen.
Ähnlich wird auf allen vorwis.senschaftlichen Kulturstufen
das allgemeüie Prinzip der Oesetzmäßigkeit durch Spezialfälle
vertreten. Waaser in Wein zu verwandeln, mußte als Wunder
angesehen weiden, denn nach den ältesten Erfahrungen stand
fest, daß so etwas unmöglich win; Hier gilt also die Ausnahme
von einer zufälligerweise bdournten Natumgel als Wunder; da-
gegen werden ebenso unbegreifliche Vorginge^ bei denen aber
das BewuBtsdn emes natOrlichen Zusammenhanges noch nicht
so fest hn Gefühl sitzt wie bei Wasser und Wein hhigenommcn,
ohne sonderliches Staunen zu erregen. Denn man ist nicht allzu
sicher, auf welchen Gebieten der Natur eigentlich Kausalität
herrscht; man besitzt ein paar zusammenhangslose Erfahrungen,
die durch entgegenstehende ganz leicht umgeworfen oder richtig-
gestellt werden können. Erst wenn man weiß, daß jede einzelne
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336
Tatsache und somit die Wiasenadiafi als das in Oedanken abge-
bildete System des WeUgeschcfaens nur duidi die Vonusselzung
mOglidi und faiBbar wird, daß alles nach Regeln zusammen-
hingt, erst dann bekommt die Idee einer solchen Amnahme die
ganze sedische Wucht, das Pathos, das mit dem Eintreten eines
Wunders verknüpft ist — sowohl seinem logischen Sinne nach
(denn es ist ja die Aufhebung unserer Welt!), als auch gefühls-
mäßig für den einzelnen.
Dieses Bewußtsein von der schweren Bedeutung^ eines
wirklichen Wunders mußte allen früheren Zeilen khlen und hat
ihnen auch tatsachlich gefehlt Nur weil man das übersidit,
pflegt man vergangene Jatiriiunderte, vor allem das Mittelalter,
als abergläubisch und wundersucbtig zu bezeichnen. Das
Mittelalter ist kaum abergläubisch gewesen; es bat nur nicht
wissenschaftlich gedacht, sondern den ehigeborenen Kausaliiftts-
trieb auf dem gangbarsten Wfg befriedigt, der der kirchUche>,«
gewesen ist. Die Beidenpest bricht über Europa heieüi; zur
Eridirung ehies solchen UngifidB ist aus der ganzen seelischen
Disposition der Zeit heraus der Gedanke der natOrlichsle und
einleuchtendste, daß die Sünden der Menschen von einem gött-
lichen Strafgericht heimgesucfat werden sollen. Diese Antwort
abergläubisch nennen, heißt, den iWenschen des vierzehnten
Jahrhunderts vorwerfen, daß sie vom Pest-Bazillus nichts ge-
wußt haben. Und so ist es bei allen wunderbaren Ereignissen,
die von Heil igen beschichten und Chroniken, vermischt mit
natürlichen Bet^^ebenheiten, berichtet werden. Nur wir fanden es
wunderbar, daß der große Komet oder die Epilepsie (die „heilige
Kranldieit" der Alten) religiöse Gründe haben solle, weil uns
der erzeugende Begriff des Wunders, das Naturgesetz, bekannt
ist Dem mittelalterlichen Menschen haben seine Ursachen nicht
weniger eingeleuchtet als uns die Hyperbelkurve des Kometen
und die elddrischen Theorien fiber ihn, die wir schließlich dem
. ijui. u l y Google
337
Astronomen glauben, weil sie mit unserer allgemeinen Über-
zeugung von der Gesetzmäßigkeit im Weltali zusammenstimmen.
Aber diese Harmonie von Einzellall und allgemeiner Oberzeu-
^rung findet sich genau beim mittelalterlichen Menschen wieder.
Ebenso hat das Weltbild der Griechen zum größeren Teil aus
Deutungen bestanden, die nach unseren Vorstellungen wunder-
bar sind; wdl man aber die Natuierdgnisse aus dem Willen
menacfaenShnlicher Wesen abgeleitet hat, werden sie menschliche
Handlungen und als solche eigentlich das Ventandlichsle^ was
es gibt Dieser logisch wundeibaien, psychologisch aber höchst
natfiilidien Denkweise fddt auch die religiOfrmetaphysische
Tönung der christlichen Wunder, sie ist nichts als eine falsche
Theorie.
Ich möchte femer die Weltkarten des Mittelalters anführen,
die beweisen, wie wenig das spezifische Gefühl des Wunderbaren
(das uns später noch beschäftigen wird) im Spiel gewesen ist.
Übereinstimmend mit antiken Vorstellungen finden sich neben
den Namen der bekannten Lander das Land der Greifen, der
hundsköpfigen Menschen, der Schattenfüßler (Skiapoden), der
Magnetberg und anderes mehr. In der See leben Meerkönig,
Meerbischof und Meertfiike. Die Naturgeschichte weiß von den
Tieren Mitleleuiopas die wunderbarsten Dinge, ohne dafi jemand
AnstoB daran nShme. Zweifellos hatten die Oelduten nicht <fie
Absicht, Unglaublidies und Wunderbares zu berichten, es liegt
ihnen viehnehr nur an Tatsachen. Alle diese Dinge unterscheiden
sidi nicht wesenflicb von Erzählungen, die ihrer Tendenz nach
wunderbar sein sollten, denn es hatte prinzipiell keine größere
Schwierigkeit, daß die heilige Jungfrau für einen irommen Ritter
im Tiu-nier siegt oder für eine lebenslustige Nonne Pförtner-
dienste verrichtet, während sich die in der Welt herumtreibt, als
daß im Lande des Sultans die Straßen mit Gold und Edelsteinen
gepflastot sind. Der Begn& des Wmiders ist ja noch nicht mög-
Luck«. CraitkOT 4«r Soolc. 22
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lieh, ein Wunder ist eüHach etwas Absonderliches und Nicht-
Alitägliches, es fallt beinahe mit dem Morgfenländischen zu-
sammen (wir sauren luxh heute „die Wunder des Orients", „die
Wunder der Technik"), es ist das, was einem felilt und was man
gern wissen und besitzen möchte. Ein Buch des berühmten Al-
bertus Magnus heißt „De mirabilttMis mundi" und faßt das
Wunderbare in diesem Sinn, von einem wiridichen Unterschied
zwischen Natfirlichem und Obematurlicbeoi ist nicht die Rede.
Abergtiiiibiscfa und wundersfichtig könnte man nit Recht
nur den nennen» der sich den Gedanken der lückenlosen Oeselz-
mäBigkdt angeeignet hat und trotzdem Ausnahmen für mfiglidi
hUt und heilMiwfinacht Der Bauer und der unwissende Kleiiker
sind es kaum; wenn ihnen auch ihre Zeit die Möglichkeit der
wissenschaftlichen Erkenntnis an die Hand gibt, so machen sie
doch keinen Gebrauch davon und wissen konsequenter Weise
weder von Naturgesetz noch von Wunder. Ihnen sind manche
Erklärungen natürlich, die uns wunderbar dünken, weshalb wir
sie ablehnen. —
Wenn wir aber fragen: Worauf beruht in letzter Linie diese
unsere Oberzeugung, daß die Welt ein System von geordneten
Zusammenhängen sei und als ein solches vom wissenschaftlichen
Denken erfoßt und nachgezeichnet werden könne? — so mfissen
wir die Antwort geben, daß sich diese erste Voraussetzung der
Erkenntnis nicht mehr beweisen läßt, sondern einGlaubeist
Wir glauben an die Erkennbaikeit der Welt und an die Gesetz-
mäßigkeit im Universum und wir trelen an jedes Gebiet von In-
halten mit der Erwartung heran, daß auch hier erkennbare und
fonnulierbare Funktionalität zu finden sein werde. Dieser Glaube
ist nicht mehr eivvas Theoretisches, er ist vielmehr ein
Urerefühl der menschlichen Seele, das hier auf die Erkennt-
nis angewendet wird, das die Erkenntnis möglich macht.
Es ergibt sich also zuletzt, daß ein Glaube, nämlich der
Digitizeo ^^OOgle
an dk lückenlosf: Oesetzmäßigkeit alles Geschehen^ dnon
anderen, dem an das m^igticfae Eingieden transzendenter
Mfidife in den natuilichen WdtUutf, gcgieniiberstdit Und es
kannte scheinen, als gSbe es kdne weitere Instenz, die zwisdien
den beiden Wiltensrichiungen, dem Willen zum Gesetz und dem
Willen zur Ausnahme, die Entscheidung treffen dürfte. Aber
diese beiden Glauben haben eine verBchieden tiefe Fundierung
und verschiedene Quellen in der Seele. Der Glaube an die Er-
kennbarkeit der Welt ist nämlich das Urgefühl von der inneren
sinnvolleu Bereclitigung des Denkens, die Selbstbehauptung des
Menschen als ein^ Wesens, das denkend am objektiven Sein teil
hat, sein Anspruch an die Vernunft. — Der Olaube an eine Aus-
nahme vom Gesetz dagegen ist nicht Glaube im Sinn des Ur-
gefühls, sondern Glaube im Sinn von Meinen und, wo er als
Wunsch auftritt, Wille, das Ganze zugunsten von einzelnen, und
zwar meistens zugunsten von subjektiven Zwecken zu vernichten.
(Der Wille zur absoluten Gesetzlosigkeit ist mit dem mensch-
lichen Denken, das wesentlich in Verallgemeinerungen abläuft,
überhaupt nicht verträglich.) Auf pnddischem Gebiet ist der
Wille, nach Normen (das heißt nadi als gültig anerkannten
Sätzen) zu handeln, das Prinzip des Rechtes und des sitt-
lichen Tuns; der Wille, von der rechtlichen und sittlichen Norm
abzuweichen, eine Ausnahme zu statuieren, erweist sich folge-
richtig als Prinzip des Verbrechens. (Die Psycho-
log i e des Verbrechers ist im Abschnitt über das Dämonische
ausführlich behandelt worden.)
Der W undeisuclitit;e will nun im aligemeinen auf theore-
tischem Gebiet dasselbe wie der Verbrecher auf praktischem. Er
meint, daß auch das Naturgesetz einmal eine Ausnahme dulden
werde, zu seinem eigenen Vorteil oder zugunsten irgendeiner
Sache, etwa der Propagierung einer Religion, und verneint so
die Erkenntnis ihrem Prinzip nach. — Das Gefühl, das dem the-
22*
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340
oretischen Wtmdeiglauben entspricht, ist demnach der
Zweifel. Denn der Glaube an die Ausnahme ist etwas Nega-
tives und mit dem Zweifel an der allgemeinen Oeaetzmftßigkeit
der Welt gleichbedoitend Nicht der OlSnbige vcriangt Wimder
zu aehcn, sondern der Uiigttubige» der Zweiier» und er Ist
bereif sich durch soldi ein Aigmnent zu einen Scheingkuben
bekehren zu lassen, der aber natnigendfi nur eine tfaeontiadie
Meinung sdn kann und jederzeit durch die entgegengesetzte zu
verdrSngen ist Denn das Ist eben das Charakteristische des
Zweifels als fundamentaler Gemütsstinunung : er versteht nicht,
daß die theoretische Erkenntnis (die Wissensdiait) nicht auf sich
selber ruhen kann, daß nicht ein lügisches Gebilde über dem
anderen stehen kann, wie der indische Elefant, der die Welt
trägt, auf der Schildkröte; sondern daß das ganze System eine
Grundlage haben muß, die nicht wieder theoretisch ist. „Der
Glaube ist kein \X''issen, sondern ein Entschluß des Willens, das
Wissen gelten zu lassen," sagt Fichte.*) Der Zweifler, der sich
als der nur-theoretische Mensch enthüllt — und bedeutende
Forscher zahlen hierher — will auch noch diese Voraussetzung
auf theoretischem Weg bestätigt sehen; ihm fehlt das Urgefühl
der Gewißheit oder des Glaubens^ das Bewußtsein von der Ver-
ankerung der Existenz, das sich durch gar kehie Art von
Schlüssen ersetzen ttßi Diese KrafUosigkeit muß notwendig
den Wahrheitsbegriff selbst zerstören (konkrete Seiende aus
der Erkenntnistheorie der Gegenwart k(Huiten dies tielegen); sie
eigibt den Skeptizismus ais Hauptstanun mit dem N<tei-
schöBling des Aberglaubens. Beider Voraussetzung ist
der Zweifel als der Mangel einer letzten Position, der Zweifel
an der Erkenntnis, der das theoretische Verhalten seiner inneren
Zuversicht beraubt, und endlich der Zweifel an sich selbst, an
*> Die BMtimmung des Menschen S. 92.
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der Wirklichkeit der eigenen Existenz, an ihran Wollen» Fühlen
und Tun.
Dem theoretischen Skeptizismus mangelt der Glaube, daß
die Wdt vom Geist duichdmigen und in ein geordnetes System
von Oedanken aulgelöst werden kfinne — die Voraussetzung der
Wlssensdiaft, die nidit nur eine R^gishratur sein will; er mehit
vldmehr» daB die OesetzmiBigkeit nichts sei als die Verallgemeir
nerung oft gemachter Beobachtungen, dafi die Natutgesetze nur
den Sinn hätten, unter ehiem «hifachen Beispiel, ebiem gedank-
lichen Modell viele Einzelfälle begreifen zu können, daß sie nur
einen vorstellungsparenden, „ökonomischen" Wert hätten.*)
Dem Skeptizismus ist F.rkenntnis nicht eine über das Praktische
hinausgehende Aufgabe des Menschen, an die er glaubt, also
nicht etwas an und für sich Wertvolles; sondern entweder ein an-
gemessenes Mittel, sich in der Welt zu orientieren und die
Natur zum Nutzen des Menschen zu beherrschen, oder ein freies
Spiel, ein ästhetischer Luxus. Dem wissenschaftlichen Skeptiker
fehlt der Glaube an die eine große Aufgabe der Mcnschhdtp die
Eikenntnis heifi^ er leitet die unstiUbare Frqge nadi dem
Warum? in fremde Gd>iefie fiber.
So wenig wie der Skeptiker vermag der AberglSiibische die
Efadieii der Welt famerlich anzueikemien; aber wissenschaRUcfa
weniger erfahren als sein Geistesverwandter, nimmt er unbedenk-
lich Ausnahmen an, deren Tragweite und ontologisches Pathos
er nicht begreift. Beide glauben, Verallgemeinerungen aus der
Erfahrung — die wolil auch einmal nicht zutreffen könnten —
seine systematische trkenntnis. Sie werden sich immer auf dem
höheren, „voraussetzungsloseren" Standpunkt dünken, denn sie
halten die Gesetzmäßigkeit der Welt für ein unbewiesenes Vor-
urteil, das jeden Augenblick durch eine neue Erfahrung wider-
Vgl. die sehr klaren Aufstellungen bei Viktor Kraft, „Weltbesriff
und Erkeoiitiiisbeirlflf*» 1912.
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342
legt werden konnte. Soweit sind sie auch im Recht: denn be-
weisen, das heißt tnit tlieoretisiheri .Wittehi gewiß machen, läßt
sich das Frin/.ip der üesetzmäßigkeit niemals, ist es doch die
Voraussetzung aller Theorie und somit aller Erkenntnis. Der
Gedanke, diese Idee durch eine Erfahrung zu widerlegten, ist
aUerdings ebenso iinmöglicfa, weil Jede dnzeine Erfahrung
wisaenschaftUdi nur als SooderfaU eines Allgemeinen vefsianden
werden kann, weil wir eine isolierte Tatsache gar nicht erfassen
könnten. Das menschliche Denken geht ja nicht anders als am
Leitfaden von Ursachen und Wirkungen vor sich, es könnte
einem Phänomen, das fan Leeren hingt, nur so gegenfibertrefeen
wie allen anderen, nämlich mit dem Zwang, ihm seine Stelle hn
Ganzen zu bestimmen.
2
Bisher haben wir das Wunder vorwiegend seinem objektiven
Wesen nach untersucht und es hat sich uns als etwas Negatives
erwiesen, als Verneinung der Gesetzmäßigkeit in der Welt, als
Riß im Gewebe der Ursachen und Wirkungen, der, einmal ein-
getreten, das ganze Netz unzuverlässig machen mfißte. Für das
Gefühl aber hat das Wunder einen durchaus positiven Cha-
rakter. In der Seele dessen, der es ghiubt, der es erhofft, ist es
em Erlebnis von eigener, au^gezeicfaneter Art, von hohem Wert,
und es ist durchaus nicht gldchgültig f&r ihn, an welcher Stdle
sich der Riß auftut Ihm bedeutet das Wunder ein Etaigreifen
fibematürlicher, gditlicher Mächte in den allzu mechanischen
Naturablauf, einen Akt, der nur in entscheidenden Augenblicken
aus einer höheren Absicht heraus erfolgt, dem schicksalhafte Be-
deutung für den so Begnadeten und für die ganze Weli zukonmit.
Wo der Glaube an ein solches Wunder besteht, ist er mit dem
Glauben an eine personliche Vorsehung verbiiadeii, die dem ein-
zelnen zuliebe das Gesetz der Welt aufhebt, die in wichtigen
Augenblicken unmittelbare Kunde durch Wahrzeichen und Orakel
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343
sendet, um eineii schwankenden Entschluß zu bestiaifflen, um
über dne Tat Beifall oder Mißbilligung auszusprechen. Alle die
Uäncn abergläubischen Fragen des OgUchen Lebens gehören
hierher: die Schwere und Verantwortlichkeit der Entscheidung
wird auf etwas anderes abgewälzt und so erleichtert
Das spezifische Gef fihl des Wunderbaren hat euien größeren
Umfang als man glauben möchte. Fast jedes Erlebnis» das fiber*
raschend und scheinbar unbegreiflich, wie mit Absicht und Be-
deutung in den Alllag hineinbricht, kann das Gefühl wecken: das
ist ein Wunder Jeder Rornaiihker und viele junpe Menschen, die
ja meistens Roniantikcr sind, treten in ein neues Land, vor einen
neuen Menschen mit der geheimen Hoffnunjy, das Unerhörte,
das Wunderbare werde sich erfüllen. Der romantische Dichter,
der nach der blauen Blume ausgeht, sucht das Wunder, das, was
niemals geschieht Und erwacht in der durstigen Seele etwas
OroBes und Neues» dann wird das Gefühl Idiendig, daß ein
Wunder wahrhaftig geschehen sei. So kann die eiste Liebe eine
FfiUe von Ertebniaaen entfalten, die bis dahin unbekannt ge-
wesen sind (denn jedes uisprQngliche Gefühl muß im eigenen
Herzen erfahren werden), und eine solche Revolution läßt oft
noch andere mächtige OefOhlslagen aufküngen. Das religiöse
Empfinden, das Verständnis für Naturschönheit wird erweckt,
eines hebt das andere, über der ganzen Region schwebt der
Hauch des Wunderbaren. Und er ist gerechttei tii^t: das Wunder-
bare ist ja ein relativer Wert, es ist für jeden das, was über das
Gewohnte ß:anz und ^ar hinauszugehen scheint
Wir haben schon gesehen, wie dem mittelalterlichen Men-
schen eine Menge ül>ematürUcher Ereignisse nicht dgentlich als
Wunder, sondern nur als Merkwürdiglceiten, als Aventüren er-
scheinen. Aber das Gefühl des Wunderbaren, das sich einzehiem
gcgenfit>er nicht oder kaum merklich regt, ist fiber die ganze
Welt wie ihr tieferer Sinn, ihre Bestimmung vor Gott ergossen.
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344
Das Wunderhaie und die religios-metaphysisclie WeUanscliau-
ung sind so innii^ verwachsen, daß es im einzelnen kaum mehr
bewußt werden kann. Irdisches und Überirdisches wirken ja
beständige ineinander, kein Vernünftiger bezweifelt ihren Zu-
sammenhan<T, er wird von allen Autoritäten anerkannt und
findet taelich seine rkstatigung. Jedem emzelnen kann ein wun-
derbares Schicksal aufgespart sein, und es ist die wichtigste
Sorge des Menschen, sich in dieaem Gewebe von Unbegreiflich-
keiten göttlicher Hilfe zu versichern. Heiligtäiiia', Amulette^ gie-
weihte Waffen sind im Gebrauch.*) —
Es ist wesentlich, wie das aUgememe Schema des Wundera,
die Aufliebling des naiOiücfaen Geschehens» hontet eifuüt, von
welcher Macht und m welchem Shm der Katurlaiif untotrochca
whiL ^ Ehie übernatürliche Macht muß es auf jeden Fall sein;
aber hier smd zwd MOglichkdten denkbar, oder genauer: die
riitsdhafte Macht kann im Menschen ihm Sitz haben, das
Wundeigeschehen wird zum Wundertun.
Wenn aus dnem Jenseits her plötzlich und für immer un-
erklärbar in die Welt hineingegriffen würde, wenn die Welt ein
Wunder erlitte, so wäre das ein Vorgang", über den sich nictits
weiter sagen iiei3e; unsere Erkenntnis, die aufs Gesetzhafte ge-
gründet ist, wäre hierdurch ungültig geworden und vernichtet.
Würde aber ein Wunder von einem Menschen absichtlich hervor-
gebracht, so mußte es eher verständlich scheinen, da wir seinen
Urheber kennen. Es ist nun immer der Glaube der Völker ge-
wesen, daß solche Eingriffe eines Menschen in den Naturabiauf
durch gottähnliche oder durch teuflische Kräfte erfolgen könnten.
Unabhängigkeit von der Natur und Macht über sie ist ein alter
Traum des Menschen, die moderne Technik hat ihn scheuibar
etfullt; aber alle Technik steht inneihalb des Naturgesetzes, sie
*) Ich habe dieses historische Stadium ausfühdich behandelt (Die
drei Stufen der Erotik: Die Geburt Europas).
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ist von ihm abhängig und vefmag nidite gegen dasselbe. Sie
ist ein Oberiisten imd ZAhoien der Natur idt den ihr abgebof^^
Mittehi, kein Aufheben» die Kxifte der Technik sind ja keine an-
deren als die Kdtfle dar Nalnr. (Und doch hat auch der grofie
Eiflnder nicht nur eine Verwandiachaft zum achöpferiadien
Menschen, sondern auch zum verbrecherischen.) Ober dem wis-
senschaftlich-technischen Ideal: die Kausalität der Natur nach
menschlichen Zwecken zu lenken, steht aber das prinzipiellere:
den funktionalen Beziehungen überhaupt enthoben zu sein, nicht
mehr von Gesetzen abzuhängen, die dem Menschen innerlich
fremd sind, sondern selber Abhänefi^keiten zu schaffen. TTralt ist
der Glaube, da6 man durch einen Bund mit dem Teufel, dem
Herrn der schwarzen Mqgie, dem Prinzip der Ausnahme, Gewalt
öber die Natur erringen, oder anders gesagt: Ausnahmen vom
natürlichen Geschehen zum eigenen Vorteil erlangen könne (wo-
für das Heil der Seele, das heifit ihr Znsammenhang mit dem
Guten und Göttlichen als Preis gezahlt wud). Der Wunderliier,
der Zauberer, hat die Machte ObenatOilidies zu tun, er
entspricht als der Vemichter des Natuigeaetzes dem Verbrecher,
der Ausnahmen von der Menschensatzmig will, Ma^e und Ne-
kromaritie sind die Mystik des Plebejers und des Verbrechers. —
Als Jesus lange Zeit gehungert hatte, erschien ihm der Teufel
und wollte ihn verleiten, durch seinen bloßen Willen Stenie in
Brot zu wandeln, aber Jesus wies ihn zurück (wobei ange-
nommen wird, daß diese Verwandlung in seiner Macht ge-
standen hätte).
Wie der Zauberer das Naturgesetz in böser Absicht ver-
nichtet, so durchbricht und überwindet der weiBe Magier, der
Heilige, die Natur durch göttliche Hilfe und nicht zum eigenen
Nutzen, sondern zur Veriierriichung der fibematfiriicben, hhnnh
lischen Macht Denn mit der Konzeption eines volllcommenen
Menschen ist der Oedanke veitiunden, daß er vom Natuigeselz
346
unabhängig sei, daß die reine, uberiaenschliche Kraft seines
Willens stärker sei als das natürliche Geschehen. Von jedem Re-
ligionsstifter werden Wunder verlangt, ebensogut heute (in
Amerika) wie einst. Denn wie er als Bringer und Verküoder des
Göttlichen über der Natur stehen muß, wird ihm auch die Macht
angemutet, die das Natuiigeaetz brechen kann. Dies ist nicht nur
seine ftuBoe Legitunatioa vor dem Volke, sondern seine inneiste
Essenz, der sichtbare Ausdruck des gewonnenen Sieges. Wie
zum Begriffe des zivilisatorisch vollendeten Menschen dte Be-
herrschung der Natur nach deren eigenen Gesetzen gehört, so ist
dem Begriff ehies absohit vollkoaaienen Mensdien wesenflich,
frei von der Natur zu sein. Ja er stellt gewissermaßen selbst
schon eine Ausnahme von der menschlichen Ürgaaiiiaüon, ein
Wunder dar. Maii kommt endlich dazu, schon seine Empfängnis
und Geburt als Ereignisst^", die nach Naturregeln unbe^rreiilich
sind^ anzusehen, so daß er gewissermaßen ab origine als ein
Wunder erscheint.
Auf den Willen zum Wunder ist z. B. das System Schopen-
hauers gegründet. Die Erlösung der Welt erfolgt durch die Ver-
nichtung der Weitsubstanz, des Willens zum Leben, ün einzelnen
oder im Univeisum, und es ist konsequent, daß dieser unbegreif-
liche Voigaog nur durch ein Wunder eintreten -kann, indem die
natfiilichen Motive des Wollens als „Quietive" wirken (welcher
Begriff mich allein schon em psychologisches Wunder dÜnkt). —
Was Schopenhauer in philosophischem Radikalismus lehrt, das
fordert das Volk von anem Heiligen als Bekräftigung^ seiner
Lehre — ob er nämlich starker sei als die Natur, ob er sie durch
ein Wunder aufzuheben vermöchte.
Der Glaube an die ubernatürliche Kraft des HeilijEfen, der
einem edlen Bedürfnis entspringt, ist oft genug ausgeartet Deiiri
was die lebendige Kraft des Heiligen vollbracht haben soll, das
wird bald auf seinen Leichnam und endlich auf jeden G^enstand
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übertragen, mit dem er in Berührung gekommen ist. So hat sich
der Glaube an die Macht des reineii Menschen in Knochenan-
betung gewandelt.
Wenn wir uns nun in den seelischen Zustand dessen ver-
senken, der reinen Heizens überzeugt ist» ein Wunder zu ver-
mögen, so leuchtet vor allem ein, daß seine Absichten über
jedes persönliche Interesse erhaben sein müssen. Er ist der gött-
lichen Kralt, die ihn erfüllt und trägt, so gewiß, daß er c^nen
zweifelnden Oedanken ^ar nicht mehr verstdien könnte. Er emp-
hndet sich selbst nur als das Werkzeug, dessen sich die göttliche
Macht zu ihren höheren, für Menschen vielleicht unbegreiflichen
Absichten t)edient. Denn nur von solch einer Macht aus wäre
das Naturgesetz wie nicht vorhanden. Was den anderen als
Wunder gilt, ist für ihn keine Ausnahme mehr, also nicht et>A'as,
was dem Gesetz der Welt feindselig gegenübersteht; vieknehr
ein Gesetz höherer Art. In diesem Augenblick wäre das offen-
kundigste Wunder kein Wunder, keine Ausnahme, son-
dern selber Oesetz. Die Oesinnung ehws solchen Men-
schen wSre also nicht negativ, der Ausnahme, dem Wunder ge-
wogen, sondern positiv in einem höheren Smn (was allefdings
von den üi die Natur versenkten Menschen unmöglich verstanden
werden könnte). Dem Überzeugten Wundertäter müßte das an-
dächtige Staunen, das seine Kräfte hervorrufen, ganz unver-
ständlich sein, denn er fühlt sich mit jener überirdischen Macht
so sehr eins, er ist in den Augenblicken, da er seine Kraft inne
hat, so sehr aus der Natur herausgehoben, daß ihm sein Tun
als das einziix Mögliche erscheint. Empfände er persönliche Be-
friedigung über seine Kraft, so wäre sie auch schon entwertet
— und in einem höheren Sinne dahin.
Wir erinnern uns an die Analyse von Dostojewskis Groß-
inquisitor.'^) In dieser Dichtung ist ausgesprochen, daß der
*) & 132-139.
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vollendete Mensch niemals ein Wunder tun wird — auch wenn
er es vennöchtel — weil diese Probe einen Zweifel an seiner
Kraft bedeutete. Das Wunder woUen, hieße daher für ihn: Oott
vOBUcfaen, an ihm zweifebi — seinen Olaubea verloren haben;
und zugleich : das Seiende, die Natur zerstören. So zeigt sieb
denn eine Oemdnsamkdt auch dessen^ der reinen Herzens ein
Wunder tftte^ mit dem Böswilligen, alle Msgie wird als Snficfes
yfftA und als geOhrUch erkannt md abgelehnt
Die unbegrciilidie Kraft des vailkomnMnen Menschen kann
in nichts anderem als in sehier Ficibeit benthen, sie kann nichts
anderes wollen als die Oberwindung des tragisdien Zwies|Mltes
zwischen Mensdienkraft und Natuigeachchen, wie sie als eme
mögliche Lösung — wenigstens der Idee nach — aufgestdlt
worden ist. Fichte hat den ungeheuren Gedanken ausge-
sprochen, daß der Mensch die ganze Natur nach Forderungen
der Freiheit umzugestalten habe, so daß sie nicht durch ein
Wunder aufgehoben, in ein Nichts zerstäubt werde (wie Schopen-
hauer will), sondern daß sie vom Menschen und im Menschen
einen neuen Sinn empfange.
Während der Abergläubische das Wunder m der Wdt er-
strebt^ konzentriert sich die Sehnsucht, etwas anderes» meiir zu
sein als Natur und Welt, immer entschiedener nach innen und ist
endlich nur noch ein Zustand der Serie. Der Wille zumWun*
der tritt als Wille zur Frei hei tnunmdir hl ehie letzte un-
antastbare Position, die dnrcfa den ausgesprochenen Verzicht auf
tbeoKtische Bcgrimdung ihres seelischen Wertes nicht mdir ver-
lustig gehen kann. Der Wille zur Freiheit ist umnitldbare
Wirklichkeit; er bleibt jeder wissenschamichen Evidenz
vollkommen fremd und kann als ein Erlebnis einziger Art nie-
mals in irgendeinen allgemeineren Zusammeahang eingeordnet
werden.
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n. ÜR- GEFÜHLE
!.
Was Gefühl sei, läßt sich nicht dehnieren, denn es ist
eines jener Gnind-Phänoinene der Seele, die jeder erlebt und die
nicht durch etwas anderes erklärt werden kOnnen. Das Gefühl ist
etwas Passives, etwas das nicht vom eigenen Willen hervof-
gebradit wird, sondern das man erleidet, hinnimmt; es ist die
Gegenwirkung der Sede auf einen Eindruck, einen Gedanken, ein
anderes OefQhl.
Demgegenüber pflegt man das aktive f in^rreiftn, das Tun
des Menschen Willen zu nennen. — Allein es gibt Verhal-
tun^^sweisen der Seele, die weder ^mz leidrncl noch ganz tätig
sind, die vielleicht mit dem Willen zusammenhängen, die aber
eine noch engere Verwandtschaft zum Gefühl haben. Da em
eigener Name für diese Zustände nicht existiert (man pflegt sie
unter die Gefühle einzureihen) und .da sie mir etwas Letztes,
nicht weiter Ziirückführbares im Seelenleben zu tiedeuten
scheinen, will ich sie Ur-Gefühle nennen — wobei aber
dieser Name nur das nicht vorhandene Bessere ersetzen soU.
Jedes Gefühl verkündet dem Menschen ein unmittelbares
Sein der Seele, es ist in sich selbst beschlossen und gewiß. Die
Ur-Oefuhle Glaube und Liebe (mehr gibt es nicht) ver-
künden über das unmittelbar Erlebte hinaus noch eine objektive
Bedeutung des Erlebnisses. Glaube und Uebe unteracheiden sich
dadurch von allen anderen Gefühlen, daß sie nicht nur eme Art
sind zu fühlen, affiziert zu sein, sondern dafi sie auf einen Smn,
auf ehi schlechthin Wertvolles weisen, daß sie es selbsttätig ans
sich henuis verwirklichen. Es gibt für den Menschen keine
andere unvermitldte Art» etwas Wertvolles, Sinnvolles zu setzen
als die l)eiden: an dieses Etwas zu glauben oder es zu lieben.
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(Etwas Wertvoiles erkennen, heißt immer zuerst, diese Lrkeunt-
nis für gültig halten, aii sie glauben.)
Daß der Mensch, das Lebeii, die Welt einen Sinn haben, läßt
sich nicht theoretisch beweisen, sondern nur glaul>en oder un-
mittelbar liebend bejahen.*) Glauben und lieben haben am Ge*
fiihle teil, $ind aber auch etwas Aktives und so nüt dem Willen
verwandt» denn sie schaffen selbsttätig, ohne jede firemde Hille
das Oeordnetr, Sinnvolle, eineni Zweck Zugewandte aus dem
Chaos. Der Glaube an einen Sum kann Glaube an die Wahifieü
sein und stdii so nicht, wie man unmer wieder hört, in einem
Gegensatz zum Wissen, er Ist vietanehr die Grundlage des
Wissens, das als System Wissenschaft heißt und ohne diesen
Glauben an die Wahrheit und an die Kraft der Erkenntnis nicht
bestehen könnte. Das ist im vonoen Absclinitt ausführlich ge-
zeigt worckii.**) — Wahrheit ist aber nur einer von den
Zwecken, die sich der Mensch setzen kann; ebenso ruht es auf
dem Glauben, daß alles Tun und praktische Handeln einen Sinn
habe, daß der Mensch diesen Sinn als etwas Objektives anerkennt
und sich ihm t>eugt. Denn eine andere Instanz, dem Leben einen
Sinn zuzusprechen, gibt es nicht: man muß daran glauben.
Goethe sagt in „Wahrheit und Dichtung**: „Der Glaube sei em
großes Gefühl von Sicherfaeit für die Gegenwart und Zukunft
und diese Sicherfaeit entspringe aus dem Zutrauen auf ein über-
großes, übermächtiges und unerforschliches Wesen. Auf die Un-
erscfaütterlichkeit dieses Zutrauens komme alles an/'
Das Wertvolle kann g^laubt und kann geliebt werden, und
die Liebe, die den Wert schafft, ist nicht nur Fühlen, sie hat viel-
mehr eine geheimnisvolle aktive Kr<ift, sie bringt die Schönheit
und die Kunst hervor, die durch niclus anderes lebendig gemacht
werden könnte als durch die Liebe, die der Mensch dem üestal-
^ Vgl. Im Abtdiiritt Über das Tracisdie S. 61 1
S.33S-342.
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351
teten entgegenträgt. Das Wort und die Vorstellung „Liebe" ist
unendlich reichhaltig und vieldeutig. Hier ist nur das Urgefühl
gemeint, das die Schönheit der Natur, des Menschen, des Kosmos
schafft. Die schöpferische Liebe trägt als Phantasie das
noch nicht Vorhandene ins Licht des Daseins, sie macht das Tote
zu einem Lebendigen, das Nichts zu einem Etwas. Absolute
PJianlasie hätte nur der Mensch, der alle Inhalte aus sich heraus
erzeugen könnte, der alle Anlagen des Menschen in sich zur
höchsten Erfüllung gebracht hätte. Bd den anderen sind Phan-
tasie und Liebe eingeschränkt.
Die Kraft der Liebe, die fördernd, schöpferisch in einem
Menschen lebt, auf emcn anderen Menschen hinleiien, geffihls-
maBig ergießen, heißt, ihn segnen. Der S^gen ist die Ver-
sicherung, daß die Liebe den Gesegneten begleitet, daß ihm ein
Schatz übergeben ist, aus dem er immer schöpfen kann — so*
lange er den Glauben an diese Liebe bewahrt. An die Kraft des
Segens glauben, heißt, an die positive Kraft der Liebe glauben.
Der Vater segnet sterbend sein Kind: er will es in einen Strom
von Liebe hüllen (der durch körperliche Berührung symbolisiert
wird), er will seine Liebe wie einen Zauber um sein Kind breiten,
daß es für immer ^ebürgeii sei. — Der Fluch ist Haß, der
hinter einein Menschen heri^eht und alles vernichten möchte, was
er beginnt — wenn er sich dem Fluche Untertan weiß, wenn er
an ihn glaubt. Beides wird allegorisch vorgestellt: ein Schutz-
engel geht dem Gesegneten zur Seite, der Fluchtieladene wird von
den Erinnyen verfolgt.
So finden wir die beiden christlidien Kardinal-Tugenden
Glauben und Liebe als Ur-Gefuhle wieder. IHeHoffnungist
kein selbständiges Gefühl, sondern Glaube, der sich auf die Zu-
kunft bezieht, Glaube an die Verwirklichung eines Wertvollen ia
der Zukunft. An etwas glauben und es zugleich lieben, heißt ihm
treu sefaL Wir ahnen, wie die Vorstellung „Gott* ' aus der Ver-
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352
dnigung der bdden Ur-Oeffihle auf dn höchstes Zid ent-
standen ist —
Der Mangel an ülaubeii ist nuiere Hinfälligkeit, ist der
Zweifel an allem, an der Welt, an sich selber; der Mangel an
Liel>e ist Lieblosigkeit, innere Leere, Nichts. Der Glaube und die
Liebe — das heißt, die Anerkennung eines Wertvollen und die
Hingabe an ein Wertvolles — sind allein die Grundlagen einer
positiven und produktiven Weltanschauung; wo sie fehlen,
herrscht Verzweiflung, Oldchgültigkeit, Pessimismus. Dagegen
ist selbst die Oberzeugung, daß die Wdt sinnlos und schlecht
sei, noch ein Glaube^ penmer, dimonischer Ohmb^ der mit
Furcht und Haß zusammeogeht; aber nicht völlige Leere. —
Z
Erinnern wir uns wieder an das^ was anfangs über den
produktiven Menschen gesagt wurde. Er ist der ewig Lebendige,
der immer Werdende, der sich niemals ün Vorhandenen begnügt,
der sich im Schatfen aufzehrt. Schaffen ist konzentriertestes
Leben. Und dieser Drang nach schöpferischer Lel)endigkeit kann
so sehr Mittelpunkt imd Selbstverständlichkeit werden, daß die
Tatsache des einmaligen Erdenlebens, der von außen übernom-
mene Gedanke, sterben zu müssen, ^anz vergeht. Der Tod wird
nicht mehr vorgestellt, nicht mehr verstanden — man weiß und
glaubt sich unsterblich. Wenn das Bewußtsein der Produktivität
vom Ur-Gefühl des Glaubens durchströmt und getragen wird,
so erstarkt das Bedflifnis nach Unsterblichkeit zur Oe-
wiBhdtderUnsterblichkeii Es ist das GefQhl, voairaounen leben-
dig zu sein, das Leben selber zu sein, und darf nicht verwediselt
werden mit iigcndwdchen Dogmen.
Ebenso wie das Bewußtsehi der Schdpiericraft steigern und
vertiefen die Stunden der Liebe das Ld>en zu dem Bewußtsein,
daß es unendlich und unerschöpflich — daß es unsterblich sei.
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353
In den „Drei Stufen der Erotik" habe ich mit allen Einzelheiten
dargelegt, wie die Liebe über die Grenzen des Erdenlebens
weisen und metaphyalBch werden kann. Die Ur-Gefuhle haben
die Kraft, das Leben zu solcher Intensität zu entfalten, daB €8
fiber ddi selber hinanswftcfast und Ewigkeit fordert und ver*
borgt
Anstatt altes Weiteren will ich drei Auasprfidie acliöpfe-
risdier Ödster anfüliien: „Kdunie es denn nicht eine UnsM)-
lidikelt sieben ffir diejenigen, die den höherai Teil ibres Wesens
ausgebildet baben bis zur Oeistigkeit, indessen die anderen rohen
Körper sterblich wiren?" (Orillparzer.) — „Wir wissen gar
nicht, wie wir zu der Vorstellung kommen — ausgenommen
durch die Rulle der Leiche und die Unbestimmtheit der Hoffnung
— daß unsere Fortdauer, das heißt eine ganze Ewigkeit im Aus-
ruhen bestehen werde, als ob unsere paar Jahre Tätigkeit ein
großes brauchten, indes schon der Gedanke einer Ewigkeit un-
endliche Tätigkeit verlangt und diese nicht die Unendlichkeit
ausmißt. Wie soll eine kleinere Tätigkeit als hier, die nicht einmal
die kleine Erde und kleine Lebenszeit ausforschte, die unend-
lichen Schatze der Ewigkeit und Unermeßiichkeit (nicht der
Welten, sondern der Wahrheiten) erBchöpfen? — Zuletzt müfite
man ja von der unendlichen Ruhe ausruhen durch Tätigkeit —
Alle diese engen Predigeransichten smd uns vom Orient durch
den ch ri stlichen Umweg zugekommen, weil fan Morgenland alles
Freuen im Ruhen und Anschauen und Anhören t>esiefat und ein
Spaziergang ehie HöllenMrt ist Daher das Reden vom An-
schauen Gottes, Sitzen, Singen usw. Wie, wenn man ganz keck
gerade das schadsie Gegenteil annähme und Fortdauer in ewige
Steigerung der Tätigkeit setzte?" (Jean Paul.) — „Mich läßt
dieser Gedanke (an den Tod) in völliger Ruhe, denn idi habe die
feste Üt>erzeugung, daß unser üeist ein Wesen ist ganz unzer-
störbarer Natur i es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu
Lielia» QnmiiM der St rtt . 23
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354
Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen
Augen unterzugehen scheint, die aber eigentHch nie untergeht,
sondern unaufhörlich fortleuchtet. — Die Überzeugung unserer
Fortdauer entspringt mir aus dem Begriffe der Tätigkeit; denn
wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur ver-
pflichtet, mir eine andere Form des Dasdas anzuweiaeo» wean
die jetzige meinen Oeist nicht mehr auszuhalten vennag."
(Ooethe.) — In der letzten Szene des Faust hat sich diese Forde-
rung dichtnadi erfüllt: dem Menschen, der alle «eine Kiflfle bis
zum lelzien Augenblick iinennüdUdi beOtigt hat» ist das
Schaffen so sehr Notwendigkeii und tiefisles Wesen, daB es sich
nicht mehr an die Zdtlichkett gebunden fühlt — er erzwingt das
Wunder: eine neue Wdt flffiiet sich über der irdischen und krönt
ehi Menschenleben, das sich schöpferisch aufgezehrt und die For-
derung nach Unsterblichkeit immer festgehalten hat. Seine
Entelechie ist ujisterblicli, wie es Goethe verlangt. —
Zu den ganz wenigen wichtigen Dingen, die sich beweisen
lassen, gehört: daß ein individuelles Weiterleben nach dem Tode
unmöghch ist Die Inhalte unseres Bewußtseins, vor allem das
ganze Gedächtnis sind an das organische Leben des 1 iimes ge-
bunden. Degenerieren gewisse Himtdle, so fällt das Gedächtnis
an alles, was wir jemals erlebt haben, teilweise oder ganz
sind die Tätigkeit der Sinne, das Vermögen zu urteilen, das
mofalische und gatfaettschc Oefuhl verschwunden. £s ist lieute
von einem grofien Teil des Seelenlebens ohne allen Zweifel nach-
gewiesen, daB er am Nenrensysiem haflet Die Seele kann nur
mit dem Körper zusaaunenldien, wenn sie auch nicht, wie die
Materialisten sagen, seine Funktion ist Denkt man aber an Un-
sterblichkeit, so meint man nicht eine allgemeine Fonn des Seden-
haften, die bei allen Menschen gleich sein mag; was den einen
vom anderen unterscheidet, was meine Seele als ,^in" charak-
terisiert und macht, daß sie nicht mit anderen Seelen verwechselt
. y i.u . l y Google
as5
werden kann, das sind ihre Inhalte, ist ihr ganz bfrtifimite»
Fahlen, Denken, Wollen. Wenn wir uns prüfen, als was wir
fortleben möchten, so finden wir nichts als gewisse Inhalte
unseres Bewiifitwln% die unser innigstes Eigentum sind und an
denen wir so sehr hingen wie an nichts andeicm. Sie sind es,
die überldwn wollen, warn wir eine Unsteiblichlieit eihoffen
(andere Inhalte wQrden wir vldldcht gern der Vergessenheit
fibeftiefem). . Und nicht nur, daß diese geliebten Inhalte nach
unserem Tod bestehen bleiben, sondern daß sie als die
u ü s r 1 g e n weiterleben, darauf kommt es an, das und nur das
heißt persönliche Unsterblichkeit. Wenn ich über den Tod hin-
aus existieren will, so muß ich zumindest meine Seele wieder-
erkennen — wie immer jene Welt sei. Wäre ich ein anderer ge-
worden, ohne Eriiinerungf an mein Erdendasein, so hätte ich
keine persönliche Unsterblichkeit empfangen. Nicht eine allge-
meine Form des Seelischen wollen wir unsterblich, und auch
nicht dnzelne zusammenhangslose Inhalte, sondern uns selbst mit
dem Unsiigen.
Aber diese Unsterblichkeit ist unmfiglich, weil alles^ was
jemals in uns geldvt hat unsere Erinnerung — mit dem ster-
benden Leib veigeht, weil wir keine Voistcllang melir von Ge-
sehenem und Gehörtem haben können, wenn die Himpartien
zerfallen sind, die unsere Smne getragen haben. Es Ist wahr:
die Wissenschaft hSH noch ziemfidi weit von dem Ideal, das jeden
seelischen Zustand an einen nervösen Komplex binden möchte.
Aber welch kleines, welch ärmliches Genügen wiire es — Henri
Bergsoii hat es kürzlich in einem reciit fadenscheinigen Aufsatz
gelehrt! — sich daran zu klammern, daß die Wissenschaft noch
nicht vollendet ist! Fs könnte ja immerhin seelische Regungen
geben — die differenziertesten, die feinsten! — die unabhängig
vom Gehirn bestehen, die nur seelisch sind ohne körperliches
Kofielat, und die also — vielleicht! ~ den Körper zu überdauern
23*
356
vermocJaten. Allein diese Annahme lebt nur van dem mangel-
haften Zustande der gegenwärtigen Wissenschaft — daß wir
namüch noch nicht allzuviel über die Abhän^gkeit des Seelischen
vom Körperlichen sagen können. Kämen aber selbst unsere
Kenntnisse über einen gewissen Punkt niemals hinaus^ wäre selbst
eine Zuordnung älter seelischen Regungen za nervösen E]e>
menten für immer unmöglich — selbst dann schiene mir diese
ludbeddich«^ von der Wissenschaft erbettelte UnsterbUdilKit
wertlos und sogar widersinnig. Hie und da gibt es ein paar
aeeliscbe Nuancen, dte anzusagen in der Luft hingen — wie
können die weiterbestehen? Doch nur als unpersönliche Be-
wuBtaeinsrAtooie^ ohne hmercn Zusammenhang. Oder soll man
sich denken, daß nach dem Tod alte diese gehimfreien Seefco^
endchen, die glücklich davongekommen sind — ein Stfick philo-
sopliischen Gedankens, ein leiser Flötenton und dergleichen —
zu einer neuen Einheit zusammentreten? Auf solche Weise ist
nicht die Seele unsterblich, sondern sind Bewul^tseins-Elemente
unsterblich. Entweder ich bin, was ich bin, oder ich bin
nicht. —
Eine persönliche Unsterblichkeit, ein materielles Uberleben
der einzelnen Seete kann also nicht angenommen werden. Aber
die Vorstellung von der unversehrten Fortdauer der Seele ist
nichts ate eine plumpe Art, das Gefühl des ewig quellenden
Lebens zu symbolisieren. Sie Ist ein Ausdruck des unmitteibaren
Bewußtseins der Ewigkeit, das m den Augenblicken der Liebe
und des Schaffens erfahren wird. Nicht ün Extensiven, in der
Attsddmung über eine unendlich lange Zeit Ik^ dte Unsteiblicli-
heit^ sondern Im Intensiven, hi der Vertiefung. Dte Projektion
des UnsterbUchkeltopWUtens hi dte Zeit hüiaus tet deradbe (viel-
leicht unvermeidliche) Prozeß, der Gott jenseits der Welt, ge-
wissermaßen in den fernsten Raum versetzt denkt, anstatt der
Seete unmittelbar ilir Teil am Göttlichen zu lassen.
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357
Die Unstefblichiceit, die so Iddenscbaftlich von schöpfe»
riachen Geisieni gefoidert wifd — ich habe ja mir aub Oerale-
wohl drei Zeugniflse angdgeben — ist gar nicht in jenem wort-
wörittchen Sinn gemeint; nicht der Inhalt dieser Seelen begehrt
nach Unsterblichkeit, so erhaben er sei, sondern die geheimnia-
votte^ aus sich selber quellende Kraft des NeurWeidens, die nur
hl wenigen lebendig ist, das was Ooethe Entdechie nennt Jeden
Frühling regt sich ja aus der erstarrten Erde grünende Kraft (die
län^i^st unterm Schnee erstorben schien) und breitet eine Glorie
von Bluten über Wiese und Wald — aber kein einzig» Blatt,
keine einzige Blüte ist schon einmal dagewesen, alles ist neu und
doch von demselben yroßen Leben getragen. So kann die Ur-
kraft, die in der schöpferischen Seele lebt, eine neue Welt herv or-
bringen, die der alten nicht mehr zu denken braucht; denn ist
auch alles zum erstenmal da, so ist es doch im tiefsten dasselbe.
Solch euie Unsterbhchkett wird gefordert: eine persönliche Kraft,
die aus sich selber neues, wieder persönhches Leben treibt, nicht
eui Aufbewahren von Inhalten und auch nidit ein aDgemeinca
naiuifaaftea Werden und Veigefaen. Ob dieser Wille ^Klildichkeit
zu schaffen vermag — idi weiB es nicht nnd niemand wdß es.
Und es ist unwiSbar für unmer, weil alle Erinnerung mit dem
Leibe veigeht. Aha was Ooeflie trotzig als sein Redit fordert^
was Bach mit der ganzen Kraft seiner ehernen Seele glaubt, was
Oiordano Bruno als ewig brennendes Leben verkündet — das
ist, aller Wissenschaft zum Trotz, wahr in sich selbst. —
Es bleibt die eigentliche Frage der Ontologie: wie tief die
IndividuaUtät in den Weltgrund hinabreicht, ob eine letzte meta-
physische Einheit besteht, oder ob die letzten Llemente des Seins
individuell, monadenhaft zu denken sind. Ob Persönlichkeit
ailem Einheitssehnen zum Trotz ab Höchstes anerkannt werden,
oder ob die Einzelheit in einen Urschoß versinken soll — soll,
nicht wird. Vielleicht ist auch zwischen beiden Wunsch-
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358
richtudgeii ein mittlerer Weg möglich, eine Versöhnung: die dn-
maiige Kraft der PersönJichkeit wird als unverg^änglich Wert-
volles bewahrt und aus allen diesen Kräften gebt eine neue Ein-
heit hervor — ein Schlußakkord, der jeden einzebien Toa er-
klingen lißt und doch in der Haimooie aller besteht
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12. STUF£N DER GENIAUTAT
Unsere Betrachtungen ruhen auf der Orundeinsicht, dafi
im Menschen zweierlei zu finden ist: die Anlagen der Natur
(die Mitgift des SchicfcsalB) und die innere Kraft der Persdn-
ttchkrii Bd numcfacni Menschen änd diese Anlagen zu einem
bcnondcfcn prodoldiven Talente gesleigeity das hdBt» er ver-
miß aus dem allen gltich g^gdienen Malnial heraus etwas
Neues zu gestalten. Wenn eüi Talent alles andere einseitig
überwuchert, alle KrSfte in seinen Bann zwingt, so kommt ein
solcher Mensch dem Typus des Schicksalsmenschen nahe, der
ganz von seiner Natur getrieben wird; hingegen ergibt innere
Kraft allein den heroischen iWenschen, der sich ent-
weder im kleinen auswirkt oder Märtyrer einer von anderen
produzierten Überzeugung werden kann.
Damit es zum Genie komme, müssen beide Orund-Wesen-
hdten des Menschlichen aufs Höchste entfaltet sein und eine
glflcUiche Einheit hervotbiingen. Es gibt Talente ersten
Ranges obne Genie (das heißt ohne statte PersönHcfalieii) und
es gibt Persönlichkeiten höchster Art, denen ein besonderes
Talent venagt ist Geniale Schöpfung unterscheidet sidi von
der Produktion des grofien Talentes prinzipiell daduidiy daß
hl ihr ein neuer und tiefer Wert zutage tritt Das Talent er-
zeqgt im höchsten Fall ehi System von Oestaltungen als Künst-
ler, ein System von Gedanken als Theoretiker, ein System von
Wirklichkeiten als Techniker oder Organisator. So bewahrt
sich z. B. das dichterische Talent an der Darstellung von Er-
lebnissen und Schicksalen, die ihm letzter Zweck sind und in
deren Verkörperung es aufgeht. Die Welt als etwas Ganzes,
der Mensch als höhere Einheit tritt niemals in seinen Gesichts-
kreis, es lebt in der Fülle der Erscheinungen. Flaubert, ein
typisches Talent dieser Art, schildert den Zustand und das
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360
Olück seiner Produktion: ,,Es ist etwas ganz Berauschendes,
zu schreiben, nicht mehr ich selber zu sein, sondern durch die
ganze Schöpfunpr zu kreisen, die ich {gestalte Heute bin ich
z. B. gleichzeitig Mann und Frau gewesen, Liebender und Ge-
Uebte, ich bin an einem Herbstnachmittag unter gelben Blät-
tern durch den Wald geritten, ich war Pferd, Blätter, Wind,
die Worie^ die man gesprochen hat, und die rote Sonne usi"
— Ebenso wie Flaubcrt sind Balzac, Dickens Meister
der objektiven, anpcnOnlicfacn Dantettung» sie leben ganz in
ihren Menschen und Gegenständen und vermögen jeden Rest
zu tilgen, der etwa noch von der eigenen Stib|cktivilit anhatten
kfinnte. In ihnen erscheint die höchste Au%abe des dichteri-
schen Talentes verwirklicht: die Darstellung von Schick-
salen, von Menscheillust und -leid. — Bei anderen findet sich
tragisches Bewußtsein und persönliche Kraft, aber ohne die
Intuition der menschlichen Fülle; dann wird immer wieder die
selbe Tragödie, die Tragödie des eigenen subjektiven Menschen-
tums produziert. — Das dichterische Genie muß alle (jaben
des Talentes besitzen, aber darüber hinaus schafft es aus dem
GiaoB der Menschlichkeiten eine höhere oiiganische Einheit
(nidtt nur eine ästhetische Einheit), die als ein absolut Wert-
volles in die Welt tritt. Boich einer Vision Uegt — nicht aus-
gesptochen, aber mit höchster anachanlicher Wacht — em Wert-
volles zngnmde, die Wdt empfingt ehie neue Bedentitqg. Das
geniale Kunslweric läßt emen Sinn des Daseins ahnen,
blo6e Darstellung des Seienden kommt dem Talente
zu. Denn Shui und Wert sind Konelativ-BegriHe zu Penöo-
Uchkdt und OeniaUtftt. Die Ffllle des Natuneins (der Anlage)
wird von der Persönlichkeit dennafien durchdrungen, daß sie
etwas Höheres und doch Organisches, Übernatur geworden
ist — nicht etwa reiner Geist oder reine Form, sondern Natur
mit einer neuen Tiefe und einem neuen Sinn. (Es versteht sich
361
von selber, daß diese Abgrenzung gegen das Talent nur sche-
maiisch gandni ist)
Das Oenie biigt höchsten aariillrhen Oehalt in einem Idxn-
digsten Eigenleben, es sidlt nichts Spezifisches dar und kehie
AbflonderUchlGeit, es ist viefanchr ein Maximum des Men-
schen. Je entschiedener ein Individaum die Menschheit in
sich verwirklicht, desto größer ist sehie OeniaUlftt. Diese
allgemeine Definition gibt schon meine Oberzeugung: daß näm-
lich der Betriff „Oenie" nicht nur an dem Gehrechen der Un-
bestimmtheit leidet wie last alle Begriffe, die wir im Leben an-
wenden, sondern daß er gar nicht näher definiert werden darf.
Das Genie ist nicht wie der begabte Künstler oder der Schick-
salsmensch oder der Philc»oph eine durch ihre Funktion (oder
gar durch ihren Inhalt) charakterisierte Menschenart; es ist eme
höhere Synthese aus Natur und Freiheit, es ist ein Superlativ,
ein Ideal des Menschlichen, es ist der notwendige Mensch, an
dem nichts ZuiälUges mehr haftet.**) Im Genie tritt uns eine
glfiddiche Lösung der Menschhdls-Tiagik vor die Augen.
Ich habe frOher gesagt***), daB es zwei höchste Möglich-
keiten gibt, das Wertvolle verwiildicht zu denken: als Seele
des Menschen und als objektiven platonischen Wert. (In Ras-
kolnikow ist diese Antinomie zur prinzipiellsten Darstellung
gebradit.) Der wahrhaft geniale Mensch steht nun jenseits
*) B«i der Betrachtung DosKHewaUs tind «ir dem nissischen Hei*
Ilgen begegnet, der alles EigenwilUge und SubfektiTe abgestreift hat und
keinen Unterscliied mehr zwischen sich und den übrigen Menschen an*
erkennt (S, 15Ö, 159). Auch ein solcher Typus will, obgleich einseitig
ethisch (und aus einem entschieden slavischen Weltgefühl heraus), zur
aUgemelnen MenschllcMnit vordringen.
**) Diea ttfannt in der Tendern, wenn auch nidik Im IMialtt mit der
Ansldit Wetnlngers Oberein. (VgU HCSescMecht und Charakter'* O.Tejl
Kap- 4 und 8).
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362
dieses Zwiespaltes, weil sein Dasein das g^egenständlich Wert-
volle in der Form der Persönlichkeit repräsentiert, oder anders:
weil in ihm das Seelenhafte ganz zum Wertvollen gfeworden
ist. Die scheinbar unausfüllbare Kluft: hie Seele des Menschen
— hie objektive idee ist iibcTt^^ipfelt,
Menschlichkeit im höchsten Sinn ist Produktivität; und so
kann das Maximtiin des Menschlichen nur in unt)edingtef Pro-
duktivität liegen; weil aber Produktivität das eigentiiche Wesen
des Künstiere auamadity ist das wahre Oenie im groSen Künst-
ler verwiillidit (was mit der Ansicht Kants zusammentnüt).
W«nn man Produktivitftt richtig faBt: nimtich als Umwandliiog
des Seienden in Wertvolles^ als Schöpfung des Ewigen aus dem
Vergänglichen — so folgt, daß Genialität mit höchster Pro-
duktivität identisch ist, dafi das Oenie ununterbrochen produk-
tiv sein muß, denn sein Wesen ist Schöpfung, ihm wird „das
Wort Tat**. — Das bestätigt uns die Erfahrung : Beethoven hat
noch auf dem Sterbelager unendliche Krait geiuiilt, Goethe ist
bis ins rajrliche Gespräch produktiv gewesen, Bach hat ein
Werk iunteriassen, das auch seinem Umfang nach unbegreiflich
scheint. Und dasselbe gilt von allen, die uns unmittelbar und
ohne jede 1 heorie als „p^enial" gelten. Auf dieser Stufe ist das
Leben nicht mehr Leben im trivialen Sinne, sondern Hinüber-
führen des Bedingten ins Unbedingte, Wandlung des Seienden
in Wertvolles.
Und weil es im Wesen der Genialität liegt, aus dem Ge-
gebenen ein Höheies zu gestalten, darum hat der geniale Menadi
den Drang, die Wdt in ihrer Wirididikdt zu effaBaen, nicfat
tnrambefangen an ihr vorüberziigehen. Die Dichter, die skh
ümner abadta von der Wdt halten, shid Dichter zweiten
Ranges. Der wahrhaft große Dichter mag noch so gern im
romantischen Lande weilen, er hat doch das unabweisliche Be-
dürfnis, die Wirklichkeit zu schauen und zu bilden. „Höcfaal
. ijui..^ Ly Google
363
bcmefkmwcrt bleibt es immer, daß Menschen, deren Posdn-
ficbkrit fast ganz Idee ist, steh so äußeret vor dem Phantaati*
adien scheuen/* s^gt der grOfite Platooiker der neuen Zeit^
Goethe.*) — Wohl tritt auch an solche die Versuchung heran,
ach vor der Welt zu verioiechcn (an den ganz wdtlidien
Shakespeare im Hamlet, und an Ooethe oft genug); aber sie
finden doch immer wieder zur Welt, zu dem ihnen gegebenen,
aufgegebenen Material zurück. Sie haben ja als ihren Beruf
erkannt, aus dem zußlHg Seienden das wahrhaft Seiende, das
Wertvolle zu schaffen, und das ist dann nicht eine erträumte,
sondern eine wahre und tiefe Welt, eine Schöpfung aus der
Wirkliclikeit in die Ewigkeit. — Die „Welt" ist freilich nicht
für jeden dasselbe: für Shakespeare sind es die Menschen in
ihrer Mannigfaltigkeit, für Beethoven die Stürme der eigenen
Seele, für Goethe die ganze Sphäre des Seins. —
Ein Mjoimum des Menschlichen kann keine Abstufungen
haben, denn es ist eben ein Maximum. Aber mit diesem Wort
sollte nur m eine Richtung gewiesen sem; OenialitSt hat ver-
schiedene Grade, die zugleich venchiedene seelische Forma-
tionen darstellen. Von dem Talente, das hnmer zugrunde liegen
mu0, soll nicht mit einem Wort gesprochen werden; man darf
es bei den ErKhehiungen, die ich aufsidlen werde, als acfatecfa^
lim groß annehmen und ein Gran mehr oder weniger kommt
nicht in Betracht. Nur nach dem ganz Wesentlichen, dem uni-
versell Menschlichen, soll gefragt werden. Und die Stufenfolge
ergibt sich nach allem, was bisher vom Menschen festgesetzt
worden ist, von selber: die Genialität ist um so größer, je ent-
schiedener das Subjektive ms Allgemein Menschliche erhoben
ist, je weniger Zufälliges, „Pathologisches" eine Seele birgt, je
mehr sich eine Persönlichkeit mit Objektivem, Wertvollem, er-
füllt hat — um endlich in einen Bereich einzugehen, wo man
*) JHaxbnm ond HelI«ioiien iV.
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nicht mehr eigentlich von PersönlichlGeit, sondern nur noch von
werterfülltem Sein sprechen kann. Ich will diese Retlie der
GenMlittt an vier Künatleni: Dante» Siiakespeare,
Goethe und Bach anacfaaitUdt madien; nicht etwa weQ ich
glaubte, daß es gerade vier Stufen von Oenialität gibt» son-
dern weil mir scheint, daß an diesen Minnem gewisse For-
mationen eine für alle Ewigkeit gültige Gestalt gewonnen haben.
Und ich werde nicht nach aOem fragen, was hi ihnen lebendig
gewesen ist, sondern wiederum nur nach dem Typischen, nach
dem, was sie über ihr Werk hinaus zu repräsentativen Erschei-
nungen macht; sie stellen rein und vollendet dar, was in an-
deren nur verworren und bruchstucltweise zu finden ist (ent-
sprechend der im ersten Abschnitt begründeten Methode).
Dante, Shakespeare, t ioethe, Bach werden als vier höchste Mög-
lichkeiten, Mensch zu sein, erscheinen, Möglichkeiten, die für
manchen andern bestehen, die aber kaum noch einmal so mäch-
tig und klar zutage getreten sind, wie bei ihnen. Das Histo-
rische soll nur illustrieren; noch mehr als em genialer Mensch
zu seüi, ist es ja, in einem einmaUgen Erdenleben dnen ewigen
Menachentypus zu. veilEörpem — nicht ein Geist zu sein,
sondern eine unerschöpflidie Möglichkeit für allen
Geist
DANTE
Dante steht als ein Einzelner im Mittelpunkt alles Seins,
um ihn kreist die Welt, beladen mit iV\eiischeri-Schicksalen.
Die eine Seele, vor der, ja für die sich das ewige Schauspiel
vollzieht, ist höchste und letzte Wirklichkeit. Ihr Blick erst
verleiht Leben, sie schafft Wesen und sie wertet sie zugleich.
Die Eininali^T^-eit, die Subjektivität eines Menschen ist zu etwas
Absolutem geworden, sie darf über alle Kreatur Out oder Böse
spredien. Kaum noch einmal ist das Universum so aUerpersön-
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iichstes Lriebiiis dner Menschenseelc geworden, ein Kristal!,
der um ein Icli wächst. Es gibt nur ein Zentrum, eine einzige
wahrhaft seiende Instanz, vor die alles Geschaffene hintreten
mufiy sein Urteil zu empfangen. Man vergegenwärtige sich
diesen Aspekt: Mitten in der Welt steht eine Sede, Menschen,
Engdn, Teuielii, Heiligen und endlich Gott gegenüber, und
diese eine Seele weitet sich inuner michtiger aus^ sie ist nicht
mehr die Seele eines einzdncn bestimmten Menschen, sie wild
zum ArchitypuS) zur ewigen Idee der Mcnschenseele^ die ihren
Weg durch die Welt sucht und, mit dem Gewicht der miiver-
salen Verantwortung beschwert, der Ewigkeit ins Auge blidct
Vor dieser absolut gestellten Aufgabe smd die veiachiedenen
Menschen nur Verirrungen, Abweichungen von dem ehicn, dem
wahren Menschen, Einpuppungen in Hüllen von verschiedener
Dichte, diü auf den StuJen des Lebensweges liegen bleiben
müssen. Denn nur der Mensch, der vollendete Mensch kann
vor Gott bestehen, nicht die fehlerhaften Einzelnen. Sie alle
sind, willig oder widerstrebend, liebend oder in wildem Haß
der Ewigkeit gegenubergestelit, sie befinden sich auf dem Wege
zu Gott, selbst in der Hölle. Diesen Weg ein für alle Mal
exemplarisch beschreiten, das einzig Mögliche, das aber mit
dem Notwendigen identisch ist, feststellen — das will Dante.
Jeder Abwc^^ muß gebrandmarict und veidanmi werden; denn
wer von der Idee des Absoluten gdMuint und von der Vision
der Vollkommenheit gd>lendet ist, der darf kehie Naduicht
kennen. Euie SubjektivitSt hat sich zum Absoluten auagewdtei
Alle Menschen, die Dante in sein Gedicht aufnimmt ci^
Schemen in monumentaler Vereinfachung. Das Spiel und Wider-
spiel der Triebe und Motive existiert kaum fm ihn; er sieht
nur den innersten Wiflen, auf ihn kommt alles an, und der ist
eindeutig, gut oder böse. La perduta gente — die hoffnungslos
Veilüreaea, das steht über dem Tor der Hölle. Wer im Bösen
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^debt hat, büßt für alle Zdt Dante fdilt das Verständnis für
die Komplexität und für die Unwägbarkeit der menschlichen
Wünsche und Handlungen; wo es einmal auftaucht, empfinden
wir es wie eme Ausnahme. So in der berühmten Episode Paolo
und Francesca. Ein paar Verse zeigen uns die Schönheit der
vertxtlenen Liebe; der Dichter wdnt, daß die baden zur Hölle
vefdammt sind — aber er hat sie verdammen müssen, damit
die ewige Qeieditiglcät» dem VeitOnder er ist, ecfOllt weide.
Man eiinneie sidi dagegen an die Vertierriicluing der elie>
biecheiisdien Liebe bei adncm deitlschcn Zeitgenossen Ootlfcied
von StraBbittsr^ dessen ganzes Epos doch die zeiin Verae Dantes
in ihrer feinen Scbönhdt nicht aufwiegt. An dieser Stelle sehen
wir» wie schmerzhaft das Richteramt fflr Dante gewesen ist;
es war ihm kdne sell>stgeredite Freude, Sünder leiden zu seilen,
und sdne Tränen, die hier nicht zum dnzigen Mal vergossen
werden, lehren uns etwas, das vielleicht zuerst in Verwunderung
setzen mag: daß nänihch die ungeheure Subjektivität des daiUe-
schen Weltbildes das eigentlich Persönliche des Dichters nicht
viel weniL^er verschldert als cÜe l>enihmte Objektivität Shake-
speares. Nichts Willkürhches ist in Dantes Werk, er beugt sich
verehrend dem ewigen Gesetz der Welt, das er (an aristote-
lisdien und scholastischen Vorbildern) selbst geschaffen hat, er
setzt den ganzen theologischen Apparat ins Spid, um die Siel*
lungen als gültig zu rechtfertigen, die den einzelnen Menschen
zugewiesen sind. Immer wieder erläutert er — für unsere Be-
griffe nicht sehr zwingend — warum es so sem müsse, er be-
tont, daß sdne Dichtung nichts ist als die Darstellung des gött-
lichen Werkes der Oerechti|^eit*) Es ist etwas über aUe Oe-
danken Großes: den Wert jedes menscfafichen Individuums vor
dem Forum der Ewigkdt dn für alle Male festzustellen, das
Allergeheimste und -l'ersonlichste jedes Menschen zu erfassen
*) Cht per eterna legge c stabilito
Quantunque vedi. (Par. 32.)
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und zu verewigen. Aber Dantes großer Irrtum ist, daß er nictit
die Vielheit innerhalb des einzelnen Menschen kennt, daß ihm
die Menschen ins Ungeheure vergrößerte und vereinfachte Sta-
tuen Sandy an denen ein einziger behemchender Charakterzug
herausgemcißdt wurde. Dieser Standpunkt ist wiiUidi der des
Wdteniichlen, vor dessen Auge nur der innerste Wesenskern
bestellen, alle Vielheit aber hinschwinden nag. Man glaube
nicht etwa, daß Dante das Oeffihl haM% zu erfinden, ehie Dich-
tung, das heißt in unserem Shm ebie Fiktion zu sdudfim. Dsa
Gegenteil ist der Fall: er hidt es für die höchste und einzige
Pflicht seines Lebens, die Vision der ewigen Dinge, die ihm
geworden war, für alle Zeiten festzuhalten. Die Überzeugung
war unerschütterlich in ihm, daß er alles dies wirklich erschaut
hatte, was er beschrieb. So heißt es (Inferno 16): „Der Mensch
soll lieber schweigen als Wahrheiten erzählen, die unwahr
klingen, weil er sich dann, wenn auch schuldlos, schämen müßte.
Aber iiier kann ich nicht schweigen! Und wie sich die Verse
meines Gedichtes langer Nachwirkung erfreuen mögen, so
schwöre ich dur, Leser, daß ich jetzt dieses erschaut habe" usf.
Wer Dante kennt, weiß, daß es für ihn keinen höheren Schwur
gibt, daß ihm sem Gedicht das Heiligsie auf Erden ist. Und
einnud schwört er (Paradiso 25) bei „meüiem heiligen Gedicht,
an das Hmund und Erde ihre Hand angel^ haben und das
mich durch viele Jahre elend gemacht hak**
Weil Dante nichts sieht als das Ewige, weil ihm die Wdt
nur in ihrem Verhältnis zu Gott Bedeutung erlangt und weil
ihm bei jedem Menschen nur das Tiefste, Innerste würdig gilt,
aiigc^cliaut zu werden, darum konnte er nur die eine, das All
umspannende Dichtung schaffen, zu der die Vita nuova und die
Gedichte Vorbereitungen sind. Durch Dantes Leben geht eine
einzige niemals unterbrochene Linie, seine Welt-Konzeplion,
seine Dichtung, sein Leben sind Eins. Dante hat nicht Kunst-
3öö
werke objektiviert und von sich getan, er fühlte sich vidmehr
zti der Dichtung berufen, zu der einzigen, weil sie das defini-
tive Bild der Welt selber ist. Wie ihm die Jugendgeliebte, die
im Lauf d^ L.ebens mythisch verklärt worden ist, am Ende des
Purgatorio (30. Gesang) entgegentritt, knüpft sie unmittelbar
an das erste Erlebnis der Vita nuova an; es ist heute so lebendige
wie vor vielen Jahren. Dante emp&ndet vor ilir sein ganzes
gdfltiges und moralisches Lieben als eine Einheit, von der er
nunmehr Rechenschaft ablegen muß, ehe er den Fluß Lethe über-
achvdlet, das hdßt ehe er in die ewige Vefgessenlieit der bösen
Talen dogefat An dieaer widitlgen Steile seilen wir vieUeidit
am Idanten, wie sehr für Dante Wdt und Leben eine mone
liacbe, in aeiner Seele znaammenh&igende und von seiner Dich-
tung widergespiegelte Einheit sind, eine Einheit^ aus der nichts
herauegenoounen weiden kann, die er öberblidct und veranft-
woriet. Dies ist die gro8e dmtesdie Position, wir veraldien
die ungeheure Wucht des von ihm repräsentierten psychozen-
trischen Weltgefühls: der Weg der Seele durchs Leben v^ird
als ununterbrochenes Ganzes, als ewiges Exempel und Symbol
gefühlt.
Eine Welt wie die Dantes muß notwendigenveise einen
Anfang und ein Ende haben, sie ist ganz in sich geschlossen,
jeder Mensch, jeder Heilige und jeder Engel bat seinen Ort,
der itun zukommt. Zu dieser Art, Mensch zu sein, zu dieaer
ungdieuien leidenschaftlichen Subjektivität geliört — wenn sie
wahiltaR groß aein adl — ein System von jenseitigen Werten,
auf die alles bezogen wird und in denen alles ruht. Die 06tt-
liehe Komödte bedeutet dte definitive Vollendung des Icatholi»
achcn und mittelalteriiclien WdtbUdes, das vom ronianisdien
KuHnigeiat ausgeataltet worden ist und deaaen eigenate Gröfle
darin liegt, daß es um die metaphysische Bescfaaflienheit der
Welt bis in ihre letzten Tiefen wdß (und so auf einzige Art
3(9
dSe retigidae Sdmsudit des Menschen zu erftUkn, ihm eine Hei-
niat in der Welt zu schenken vennag). Die ewige Ordnung ist
da; wie sich das einzdne Individuum zu ihr stellt, wie es sein
Hdl in ilir finden Itann — das wird nun zum Problem des
Lebens.
Dante weiß sich an jedem Tage seines Dastms mit seiner
Dichtung eins, er hat niemals den Blick nach oben und den
geraden Weg verltiren. Die Wogen seiner Leidenschait linden
in der Seele einen 1 eisen, vor dem sie zurücktaumeln : es ist
der uniTeheure Wille zur Vollendung und zur Einheit, der unmer
Sieger bleibt und alles Elementare zwingt, ihm zu dienen.
Nicht eine Leidenschaft wird von der anderen überwunden und
aufgehoben, sondern alle werden von der inneren Einheit ge-
bändigt Ich fulire wieder die bekannte Pado- Francesca- Epi-
sode als em Betsfiiet an. Hier steht Dante auf dem Punkte^
die Gewalt fkber sich selbst zu verlieren und (shakespearisdi)
in der Glut seiner Gestalten aukugelien. Er leidet mit den
gequälten Lidienden und fUlt weinend zu Boden. Aber durch
di«e Tränen hat er sich innerlich von ihnen gelöst. Sie smd
ihm etwas Fremdes gewoiden, er hat die Partei Gottes gegen
die Leidenschaft der Menschen ergriffen. Shakespeare hätte nicht
geweint; er hätte die beiden nicht beurteilt und nicht in ein
Weltsystem eing^eordnet, er wäre ganz in ihrem r]efühl aufge-
gangen — und wäre so der größere Künstler gewesen.
Wir verstehen diese Form der Genialität: die Welt wird
einer Seele zum persönlichen Erlebms, alles, was geschieht,
trifft sie unmittelbar, weckt ihr Freud und Leid, bewegt sie
zu wildem Zorn. Diese Seele identifiziert sich nicht mit der
Welt, sie steht allem Seienden als autonome Kraft gegenüber.
— Das Bewußtsein Dantes^ Mittelpunkt zu sein, ist aber auch
etwas von Grund aus anderes» als der Irnnstterische Subjektiv!»'
mus und Impressionismus» der m zufiUligen, meist zusammen-
Lack«. CSmiM d«r SmI». 24
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hangslosen Gefühlen und Stimmungen aufgeht. Solche Künstier
treten vor die Welt ohne jeden Ernst» nichts kOfflmert sie als
die Emdrficke^ die sich gewinnen lassen» sie veigöttem die
Willkür ihres ztdälligen Subjektes» darüber hüiaiis sind sie blhid.
Die Welt als Eüihdt bleibt ihnen veischiossen. Im Gegensätze
zu diesen ungenialen impnssioaisliadien Talenten» die dem Uni*
versum nicht als Penönlidikdten gegenSberzutieten vermögen,
sondern nur als passiv aufnehmende, mitschwuigende Saiten
(weiblich im eigentlichen Sinn), hat der psych ozentrische Genius
sein Ich aktiv über die gan/e Welt hin env^eitert, er durchdringt
das Sein und drückt ihm den Stempel seiner wertenden Per-
sönlichkeit auf Die dantesche Stellung zur Welt ist allein schon
eine Lösung des Weltproblems, während die Stellung der Sub-
jektivisten — soweit man hier von einer Steüunpf sprechen
kann — für nichts Problematisches und für nichts Ganzes einen
Ansatz bietet.
Dantes Aufgabe ist ungeheuer groß, aber doch endlich:
er will dte Tragik der Welt als eines einheitlichen Oiganismus
fühlen lassen und den Skg der Menschheit verkünden. Seuie
Lösung ist einmalig und endigüitigy aber auch dogpiatiscfa. Und
Dogmatismus heiBt die Gefahr Dantes, der er nicht ent-
gangen ist Wer sich im Besitze der ganzen» der «nen Wahr-
heit weiß» der kann nicht anders als von ihr aus sein Utteil
sprechen. Dante ist hart wie der mittelalterydie Katholiziamus
und mehr als einmal verständnistos für die Größe anders ge-
arteter Naturen; sie müssen ja im Irrtum sein, denn vor seinem
limerii steht der wahre Mensch. Mohammed /.. B. ist ihm nichts
als ein Zwietracht-Stifter; durch seine Lehre hat er die Men-
schen cnt/weit und so muß er verdammt werden (Inferno 28).
Vielleicht am allermeisten aber verletzt uns, daß die Helden und
Weisen des Altertums m den Limbus der Hölle verwiesen sind,
ohne Qualen allerdings» aber auch ohne Hoffnung auf Erlösung,
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ganz im Gdafe der mittdalterliclien Theologie» und ebenso die
Kinder, die vor der Taufe starben. Dieser dogmatische Zug ist
der Or56e Dantes unwürdig» hier ist er ein Scholastilier wie
hundert andere. ErBtarrung, Undoldsamlieit, das ist seine Ge-
fahr, die Gefahr des Priesters, des Hüters absoluter Wahrheiten.
Er erliegt der Verlockung, als Künstler Urteile und Werte zu
proklamieren, anstatt lebendige Wirklichkdt zu gestalten. An
manchen Stellen seines Gedichtes haben die theoretischen Mei-
nungen alles Quellende und Künstlerische überwältigt, der
Dichter steht als Richter neben seinen Menschen und stellt ihnen
Zensuren aus. (Wahrend wir den edlen Sinn Coriolans und
die Ehrlichkeit Götzens fühlen, ohne daß. der Dichter etwas
hienU)er sagen müßte.)
Dem religiös-ethischen Genius erweckt die Kleinheit der
Menschen, ihre Unangenessenfadt zu dem» was sie sein sollten,
Trauer und Zorn, er sidit den Menschen nur im VeihUtaiis
zur Ewigkeit und das ist ünmer ernst So Icommt es, dafi
Dante lieine eigentliGhe Fniheft und lieinen Humor hat Eme
einzige komische Stelle findet sich in seinem Wefk, nimlich bei
der Schilderung der boshaften Tenid, die mit iliren Oabefai
am Rande des Pechpfuhles hin und her laufen und aufpassen,
daß sich die Sünder meht zu weit aus dem brodelnden Bade
heben.
Die Seele Dantes spiegelt sich in der Form seiner Dich-
tung Außer dem Jugendgedicht la vita nuova, das die Ent-
deckung seiner selbst in der Liebe bedeutet, hat er nur ein
einziges Werk, das aber von absoluter künstlenscher Vollen-
dung gesdiato. In der ganzen Göttlichen Komödie gibt es
nicht einen mangelhaften Reim, nicht ein unzutreffendes Bild,
die Harmonie der Sphären singt durch die Terzinen der Welten-
dichtung. Neben dem Emleitungagesang besteht die Komödfe
aus drei Teilen, einer den veriocenen Seelen, einer den auf-
24*
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wachsenden, einer den voUeodet» geweiht Jeder Teil hat
dreiunddreiBig Gesänge von annähernd gleichem Umfang. Die
Hemchaft des formenden Oeistes über den Stoff wird ao sdion
ganz SuBeriich sichtbar; aber dieses Bedürfnis nach fonnalem
OleidunaB hat den Dichter mehr als etnnial ve ri c i tet , anschan-
ungslose Theorien in Vene zu bringen.
Die innersten Kräfte in Dantes Dichtung sind Liebe,
Glaube und Inbrunst Damit einer Seele solch eine Dichtung
wie die Göttliche Koniodie entsprießen könne, muß sie ganz
in mysiischer Liebe er^dühen. Dante versetzt mit «j^enialer —
man müßte sonst sagen: mit wahnsinniger — Kühnheit sein
frühes Liebeseriebnis in das ewige Getriebe des Kosmos, er
macht es zu einem Angelpunkt alles Seins; die Jugendgeliebte
hat sich in ein himmlisches Symbol gewandelt, aber üi der
Seele des Dichters ist die Liebe imver&ndert tmd unbezweilelt
geblieben. Dante fühlt sich so sehr als Wettenzentrum, da6
sein snbjektivcs Oefuhl euie prinzipielle Bedeutung hi der Ewig-
keit haben muß. Weder vor noch nach Ihm ist die Uebe zu
einer Frau so innig wie int Neuen Leben und so großartig wie
in der OiJtflichcn Komödie besungen worden. Und die KomOdfe
endet mit der ewigen Liebe zu Oott, che endlich alle einzehien
Liebesregungen in sich aufgenommen und verzehrt bat —
L'Amor che muove il sole e 1 aitre stdie.
Das sind die ieuten Worte, analog der Schlußszene des faust:
Die allmächtige Liebe,
Die alles bildet, alles hegt.
Hätte sich Goethe in keinem anderen wichtig«! Werk offenbart
als im Faust (das die Göttliche Komödie auf einer höheren
. y 1. ^ . y Google
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Stufe wiederholt)) so müßte maa üu als einea Geist ganz vom
daateschen Typus ansehen. —
Es gehört zu einein repräsentativen Menschen, daß sein
Leben vcm innen heraus zu Ende kommt. Jeder Genius muß
seinen eigenen Tod sterben und stirbt ihn auch, wenn das Leben
ofjganisch beendet wird und nicht ein zufail^^er blhider Tod
in semen Weg tritt Solch eüien notwendigen Tod hat das
Leben Dantes aus sich heraus erschaffen und sich damit har-
monisch vollendet Die Seele^ deren Leben ein einziger Weg
zum Göttlichen gewesen ist, die alle anderen Zide veiftchtlicfa
von sich gewiesen hat, gelangt an einen Punkt, wo das Leben
von innen heraus aufgehoben wird. Sie hat endlich als be-
bildere Seele keinen Sinn mehr, sie versinkt liebend in Gott
Dies ist der einzige mögliche Lebensschluß der danteschen Art
von Genialität und das Ende seiner Dichtung, das histonsch
mit dem Ende seines Lebens zusammenfällt, hat ihn verwirk-
licht. Er ist etwas durchaus Erhabenes, denn er vergegen-
wärtigt uns ein Ende, das sich dn genialer Mensch aus sich
selber gesetzt bat, das nicht als etwas Fremdes kommt, das
eigentlich gar kein Tod ist, sondern ein oiganisches Zu-Ende-
gdebt-haben. Fast alle Sterbüchen werden vom Tode, meistens
wideiwilUg, sdten zustimmend, fibeifallen, ihr Leben ist iricht
ehi Weg mit einem Ziel, sondern ein automatisches Weiter
gehen, das an ehier Stelle^ und im Grunde gldchgOltig an wel-
cher, gewaltsam abgebrochen wird. Es macht dabd kernen
Unterschied, weon der Sdbshnörder dies mit eigener Hand be-
sorgt Der Tod ist ihnen Schidcsal und nicht Freiheit. Der
Genius aber muß sein Leben wirklich vollenden, oder mit an-
deren Worten: er muß auch zum Tode ein definitives Verhält-
nis gewinnen, niclit nur zum Leben. Denn beide sind mit der
Art seiner Genialität unlösbar verknüpit, im Gesamtbilde seiner
Existenz kann der Tod nicht anders gedacht werden. Der
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Absdilufi voo Dantes Leben ist solch ein wiikMcfaes Ende, das
Lebensende für den genialen psychozentiisdien Menschen: Auf-
lösung des individuellen Lebens ins All-Leben, Einkehr tn die
Ewigkeit, Einheit mit Gott. ~ Erinnern wir uns dagegen, wie
Beethoven gestorben ist: trotziu: und mit dem Gefühl, nicht
fertig zu sein, ohne Ruhe und Versöhnung.
SHAKESPEARE
Ist Dante der eine große Mensch, so repräsentiert Shake-
speare die Fülle der Menschheit. Seine Seele hat sich in die
Welt hinein aufgelöst und sich selbst vergessen. Er wechselt
sein Herz mit jedem seiner Geschöpfe, er ist zugleich König
lind Königsmöider, Arid und Caliban, er besitzt die Weisheit
Pxosperos und die gallige Scbmihwut des Teisites^ die hin-
gebende Liebe Julias und die Verzweiflung Macbeflis; und es ist
nicfais als eine fixe Idee deutscher AsthetOcer, daß im Hamlet
melir vom Dichter stedm aolle als im Fabtaff. Jeder dieser
Menschen fährt seine besondere Komödie auf, die von keinem
Zuschauer gesehen, von keinem Richter beurteilt wird, die Welt
spielt sich selbst.
Siiakespcarc ist in allem der vollkommene Gegensatz Dantes
und nicht nur der größere Dichter (was uns hier nicht be-
schäftigt), sondern der Repräsentant einer anderen Art, Mensch
zu sein. Seine Welt hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist
unbegrenzten Wachstums fähig, weil sie alle Menschen ein-
schließt. Jedes neue £>rama ist eme neue Welt und m keiner
besteht eine Erinnerung- an die früheren Welten. Sliakespeare
könnte noch zwanzig Dramen geschhet>en haben und es hätte
sich nicht zu einem Ganzen gerundet, denn sein Kosmos ist
prinzipiell unvollen dbar. Gegenuber der ehernen statuenhaften
Einfachheit der danteschen Menschen weiden die Menschen
Shakespeares um ao komplizierter und um so reicher mit aee*
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lischer Wirldicfakdt auagestaMet, je länger er diditet (bis zur
Umkehr der Märchendramen). Dante will sich gar nicht in
die einzelne Seele versenken, denn er weiß: der Weg des Men-
schen ist einer und wer von ihm abwecht, muß ein Unglück-
licher sein (xler ein Sünder. Shakespeare aber ist vollkommen
dogmenios und vollkommen duldsam, er lebt gleich stark mit
dem Outen wie mit dem Bösen und er g'eht so sehr in den
dnzdnen Menschen auf, daß er eme Emheit über ihnen nicht
besitzt ihm fehlt der Wille zu einem Absoluten. Er hat sich
nach allen Ricbtungen in einen unbegrenzten Raum hinein er-
gossen, er reicht in alle Menschenseelen und lebt in ihnen.
Seine Au^abe ist: das Schicksal und die Tragik vieler Men-
sehen, alter- Menschen zu (fichten — und diese Aulgabe ist
prinzipiell unvoltendbar. Denn dte Menscbhelt entbehrt für
Shakeqieare den einigenden Charakter einer Idee^ sie Ist in dte
unübersehbare Fdlfe der Menschen zerspalten und auljgddst
Dun ist nicht (wie Dante) dte Weit als ein metaphysisches
Ganzes der Vorwurf, an dem sich der tragische Prozeß voll-
zieht, sondern unendlich proß wie die Zahl der entschiedenen
menschlichen Individualitäten ist nun die Möglichkeit ihrer
Tragik (geworden Die i ragik der großen Ein /einen greift uns
heifkT ans Herz, denn wir sind wie sie (Ist es doch fast zu
viel, die Tragik der ganzen Welt in einem einzigen Bild zu
erschauen.) Aber die befreiende Kraft solch einer Tragödie
kann niemals en(%ältig sein: ein Held ist zerstör!^ ein neuer,
anders gearteter erhebt sich und bringt sein neues Schicksal
und seine neue Tragik heran. Dante hat dte Welt und alte
Menschen in sein Ich hineingezogen und ertebt nun ihre Tra-
gödie als ein Ganzes. Shakespeare hat sein Ich an alle Men-
schen hingegeben; da muß es ohne UnleriaB vernichtet werden
und wieder aufgebaut
Ich glaube^ eine Natur wie die Shakespeares muß etwa in
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dieser Wtiae voigesiellt werden: Znent lnm<$gt dch das Talent
an, Menschen und ihre Schicksale in der Phantasie lebendQg
werden zu lassen. Der anseborane Bildungstrieb des KfinsUen
erspretft den ersten besten Stoff — man kann sagen, den sdüccfa*
testen. Der erste Teil von Heinrich VI. ist nichts als eine wirre
Folge von meist äußerlichen Geschehnissen, der innere Zu-
sammenhang fehlt, ist ein dialogisiertes Epos. In dem zweiten
ganz rohen und biutrüiistigen Stück „Titus Andronicus", von
dessen Autorschaft man den Dichter am liebsten frei sprechen
möchte, zeiu^t sich zuerst der Sum für das theatralisch Wirk-
same. So tappt das angeborene Talent unsicher hin und her,
denn die große Persönlichkeit ist noch nicht ausgereift, die mit
den natfifücben Gaben überlegen und zweckvoll hätte schalten
können. Sogar bei dem größten aller Dichter hat es jahrelang
gedauert, ehe die mganiateiende Kraft Henin tiber den Stoff
geworden ist
Früh verBlrickt sich diese Natur in eine wilde Leidenschaft,
die ihre ganze Existenz aufzuzehren droht — und mstuiktiv
ruft sie das Talent um Rettung an. In den bereit liegenden Stoff
wird ein Funke geschleudert, der Brand flammt auf, die erste
Tragödie entsieht — etwa Romeo und JuUa. (Ich imaginiere
einen Menschen und erzähle keine Biographie.) Aber diese Ent-
laduiiiT, die eine Zersplitterung in Menschen ist, führt nicht zur
Ruhe, zum seelischen Gleichgewicht Der Venuclitung durch
die eine Leidenschaft ist die Natur entg^an^en — denn jede
LeidenschMt will den ganzen Menschen unte^](xhe^l und in sich
einsaugen — aber schon bemächtiget sicii ihrer etwas Neues.
Das Pendel der Seele kommt nicht zur Ruhe, sondern wird in
eine andere Richtung gerissen, die wiederum alle Möglichkeiten
der Zerstörung in sich birgt (etwa Ehrgeiz oder Eifersucht oder
das Leid über den ewigen Sieg der MittehnftBigkeit). Wie der
Flammenkegd aus dem Krater, so steigt eine neue Tragödie aus
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der Seele auf — die apolUiuBche Kläniiig ist abemiate nicht ein-
geireften. Und jeder neue Brand fianunt noch wilder als der
vorherige, wd! er sich auch noch an der verglimmenden Asche
nährt. Die Natur lebt bereits in gleichgewichtslosem Taumel,
sie kann sich vor einem Brand nicht anders als in einen neuen
retten. Die ganz besondere Art eines shaltesptiareschen Talentes
besteht eben in der fortwährenden Auflösung der eigenen Seele
und nicht in ihrer Erlösung zum Frieden. Nach manchem Un-
gewitter aber gibt es ganz entpersönlichte klare Sommertage,
ein lächelndes Hinabschauen auf das Treiben der Menschen,
ein Spid zur Lust mit ibren allzu wichtig genommenen iQein-
Uchkdten.
Bd emer Kraft der Phantasie wie der shakeapeareadicn
werden natürlich vide der Lddenachafien und Ldden» die sich
in den Tragödien entfalten, in emer fremden Sede zuerst er-
griffen und aus ihr heraus erobert wenden sein. Die Oabe der
seelischen Einfühlung ist un höchsten Maße da, aber de hat
nur Oegensünde herbdzuschaffen. Der Vorwurf, an dem sich
der Dichter entflammt, muß nicht persönlich erlebt werden, er
kann von einem fremden Menschen oder aus der Phantasie
stammen. Aber der zeugende Brand muß in der eigenen Seele
stattfinden, damit aus dem rohen Stoff der Phönix des Kunst-
werkes geboren werde. Eine prinzipielle Scheidun^r zwischen
eigener und fremder Seele läßt sich bei einem Oeiste von der
Art Shakespeares überhaupt nicht machen.
Die Meinung, solche Tragödien könnten durch ruhige Be-
obachtung, durch objektives Hinemversenken in fremde Men*
sehen entstehen, ist ganz abzuweisen. Auch Könstler dieser
Art gibt es, de gehören dem niedrigeren Typus des Epikers
an, der dadurch charakterisiert ist, daß er, sdbst unbetdligt,
Oeschantes • Menschliches und Sachliches — formt. (Sdbst-
veiatandlich gilt mir ds Epiker nicht der Mann, der Epen oder
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Romane sdiRibi, soncfem der diese kfihle^ apeafiadi-eplache
SieUitng zur Welt besitzt und der ab Ic^lliicer gm Ueine Ver^
idltnlsse ohne innere Zerapaltmheit schildert) Nebenbei will
ich bemeitoi, daß die beiden so wenig gekannten Jugendepen
Shakespeares, „Venus und Adoni»** und „Lucrezia'^ tragische
Dichtungen in der änfacheren erztiilenden Fonn sind.
Eine solche Shakespearc-Natur trägt das Bewußtsein ihrer
Unerlösbarlteit in sich, das Bewußtsein, daß sie dichtend und
beseelend, also in ihrem eigensten Elemente, niemals Ruhe
finden kann (ein anderer Ausweg wird spater klar weiden).
Sie muß sich üi dlmooisch^elbstzentöieriacher Lust ewig ver*
brennen und neu gebiren. Goethe hat diese gcflUuttche Lust
gekannt und um seines inneren Glcichgewichis wiUen geNhxUet
und gemieden. *) In diesem Zustand, der nie ein Ende nhnmt,
wild das eigene Innere nicht mclir als eigen gefohlt, es lebt nur
hl vielfach wecfasdnder Zentflckdung. Die fertigen Tragödien
aber werden mißachtet und veigessen. Shakespeare ist sicher-
lich nicht imstande gewesen, den Inhalt seiner Dramen zu er-
zählen, und er hat sich bekanntlich auch um ihre Drucklegung
nicht gekümiuen. Der Grund, der hierfür angegeben wird, daß
nämlich die Konkurrenz des Buclies seinem Theater geschadet
hätte, schemt mir doch ein wenig kläglich. Nein — Shake-
speare hat seine fertigen Dramen gehaßt und wollte mein mehr
an sie erinnert sein, denn sie waren ihm nichts als Zeugnisse
vergangener Qualen.
*) Jch kenne mich zwar selbst nicht genug um zu wissen, ob ich
eine wahre Tragödie sclirelben litonte; Ich ersdwecke aber MoS vor 6m
Unternehmen und bin beinahe uberzeugt, dafi ich mich durch den bloSen
Versuch zerstören könnte." (Brief an Schiller vom De/emher 1797). —
Schiller erwidert darauf etwas sehr Wahres: „Vielleicht sind Sie gerade
nur deswegen weniger zum Iragödiendichten geneigt, weil Sie so ganz
zum Dichter fai seiner generisdien Bedeutung erschallen sind.*' — tt bitte
d a zus e tzen lUhuien: Und weii Sie zu wenig Bdses haben.
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Die Gefahr eines solchen Mensch entumes ist: Zusammen-
hang und Mittelpunkt zu verlieren, sich ins Chaos aufzulösen.
Shakespeare versinkt so sehr ins einzelne, daß ihm manchmal
aller Oberblick, alle Beherrschung seiner Welt verloren gdit»
Wichtiges wird nicht mehr von Nebena&chlichem geschieden,
er gerat an die Grmxt, wo der Oigantsaitis aufhört und das
Chaos beginnt Die verwincnde Fülle des Lebens wiid nahezu
erreidit; aber die Einheit des Kunstwerkes ist in Frage gestellt^
es droht, der Unkunst» dem Naturalismus» auf ethischem Ge-
biete der ShuiloKgkeit, dem Nihilismus» endlidi dem Wahnsinn
zu verfallen. Der Bück ffin Wesendiche trfibt sich und gerade
er ist es, der den Genius auszeichnet. In „König Lear** und
in „Antonius und Kleopatra" vor allem wird diese Gefahr deut-
üch — AuHosung in Elemente, Anarchie der Atome, deren
jedes nur noch auf eig^e Faust wuchern will, ohne das Ganze
zu respektieren. Diese Gefahr bedeutet aber, daß das unge-
heure Talent über die Persönlichkeit hinauswachse, daß die Ein-
heit von der Fülle des Stoffes zersprengt werde. (Überall die
vollendete GegensätzUclikeit zu Dante.) — Und dasselbe zeigt
sich bei der äußeren Fonn seiner Dramen: durch eine Reihe
von Szenen jagen Menschen» manche von ihnen ohne eigentlich
künsderischen Zweck, nur vom unerschöpflichen sedischen
Reichtum, von der nie zu ennfldenden Oestaltungslust er-
schaffen. „Den betrunkenen Barbaren" duifie diesen Genius ein
gebildeter Franzose nicht ohne eine gewisse Berechtigung nen-
nen. — Aber Shakespeare ist doch hnmer Henr fiber seine Ver-
suchung geblieben.
Ich gehe auf nichts einzehies ehi und will nur episodisch
anfahren, wie Dante und Shakespeare die Gestalt des Dich-
ters werten. Fflr Dante ist der Dichter Wdtendenker im
höchsten Süm, Selige und Unselige beten vor ihn, erzählen ver-
trauensvoll, wie sie geMit haben, und bitten ihn, ihren Namen
380
zu überliefern. Und wie seinen Beruf in sich selbst, so ver-
ehrt Daiue zuhöchst die großen Dichter des Altertumes (In-
ferno 4). Vergii und Statius, die inis drxh heute keinen allzu
starken Eindruck machen, führen iliii belehrend durch die Reiche
der Welt. — Wenn bei Shakespeare ein Dichter auftritt, so ist
es unfehlbar ein Reimeschmied und schmarotzender Literat, ein
lächerlicher Kerl (in Julius Cäsar und in Timon. — Auch Glea-
dower, der wichtigtuerische Prophet, wäre hier anzuführen). —
Man kann sagen, daß beide recht haben; denn sowohl den
Mann, in dessen Kopf sich die Welt spiiigdt» ab auch den Ver-
fertiger iiesieilter Jubd-Poeme pBcgt man ja Dichter zu nennen.
Aber wie diarakteristisdi fOr beide: Dante ruht unerschfitler-
licfa in sich selber» sein Streben gilt ilim als heiligstes; Shake-
apeare steht sich und seinem Ton gleichgültig, vidldcfat spöt-
tisch gegenüber. —
Aber wir besitzen ein Werk, in dem Shakespeare von sich
selber berichtet, nämliili seine Sonette. Der sonst niemals als
VviHiam Shakespeare fühlt und denkt, sondern immer als Othello
oder Jago oder Macbeth, der zeigt sich hier als ein einzelner
historischer Mensch. Und diese Sonette sollen uns zur Probe
auf das über ihn Gesagte werden. Wir sehen närahch folgen-
des: Wenn dieser reichste aller Dichter Lust und Leid seines
eigenen Ich singen will, wenn er wie irgendein anderer Mensch
seine eigene Subjektivität dokumentieren könnte, enthüllt steh
eine erstaunliche Dürftigkeit. Ein paar eintönige Gefühle wer-
den durch 153 Sonette getrieben, wie es kein halbwegs begabter
Lyriker täte. (Die ersten 17 Gedichte insbesondere shid nichts
als gereimte Prosa, Aufforderungen an seinen Uebting, em Kind
zu zeugen, damit so viele treffliche Eigenschafien nicht mit
semem Tode aus der Welt schwinden.)*) Der Dicfaler der
♦) Manche Forscher fühlen das Bedürfnis, Shakespeare von dem
Makel der Liebe zu einem schönen Jüngling rein zu waschen. Sie deuten
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größten Tragödien ist als Privatmann sozusagen seeUsch arm;
und 80 mu6 es son, wenn mdne Auffassung zutriSI^ daß er
sein wahres Leben nicht in der eigenen Seele^ sondern in frem-
den Seelen geführt hat Diese Sonette schenken uns aber den
unschätzbaren Vorteil, daß wir aus ihnen das persönliche
Liebesleben Shakespeares deuten können. Und gerade fOr meine
Zwecke erkenne ich darin etwas sehr Wichtiges und sehr Cha-
rakteristisches. Der ganze letzte Teil des Sonettenbuclies ent-
springt nämlich dem Kampfe zwischen Shakespeare dem Men-
schen und Shakespeare dem Genie. Der Mensch ist von einer
starken Liebe ersrnffen worden, aber der objektiv-klare Welt-
blick kann diesem Geiuhl nicht recht trauen, er muß immer
wieder an den außerordentlichen Qualitäten der Dame zweifeln,
die einem Manne namens Shakespeare von seiner Leidenschaft
voigezaubert werden. So iieißt es z. B. im 147. Sonett:
Mich heilt nichts mehr. Vernunft hilft ja nicht mehr,
Mem Wort und Plan gleicht dem des Nauen sehr.
Ich schwör dich schön und hab dich licht gedacht
Und du bist wüst wie Hölle, schwarz wie Nacht
(Nachgedichtet von Stefan George.)
Das 148. Sonett jammert:
die ganz zweifellos an einen Jüngling gerichteten Liebessonette so, als
wären sie ehrfürchtige Widmungen für seinen Mizen, den Earl von Sout-
hampton, was voHkoimnener Unverstand tot; oder wir sollen uns gar Über'
zeugen lassen» Sfaake^Mare habe da eine Sitte mitgemacht» die durch die
Humanisten und das Sbidium Piatons aus Italien eingeführt worden sei.
Shakespeare hätte also ein halbes hundert Sonette, die von glühender
Leidenschaft und Eifersucht erfüllt sind, einer literarischen Mode zulieb
verfaflt Auf solche und noch ärgere Weise hat man an den klaren Wor*
ten herumgedeutelt (In einigen Dramen wird die Freundschaft über die
liebe gestellt: »»Die beiden Veroneser^» »»Der Kauhnann von Venedlc".)
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Weh! Hat mir Liebe xAi]pi;en eingesteckt.
Die nicht mit wahrer Schau zusammengehn ?
Wenn nicht — wo hält sich mein Verstand verdeckt,
Der falsch beurteilt, was sie richtig sehn? usf.
Ahnlich das 150. Sonett.
Dies ist ein seltsainer Zwiespalt zwischen dem unenchfit-
ierlichen Willen des genialen vietoeeliachen Dichters» jedem
Wesen seinen objektiven Sum zu geben — und der Ldden-
schaft eines Menschen. Man denlce dagegen an Dante: sein
OefOhl kann nichts als die höchste Wahihdt kfinden» der Oe-
danke einer Täuschung hat keinen Raum; die Geliebte, die ihm
schön und gut scheint, ist die Krone aller Weltenschönheit, die
Weib gewordene Liebe. •)
In den Dichtungen Shakespeares ist die Liebe nur ein Ge-
fühl nebOT allen anderen (und durchaus nicht das wichtigste),
während bei Dante alle Gefühle hierarchisch aufgebaut sind und
die Liebe als Gipfel tragen. Vor Shakespeare sind alle Leiden-
schaften gleich wert, dargestellt zu werden — nur die inbrün-
stige Hingebung an die Geliebte^ an die Wahrheit, an Gott ist
ihm fremd. Weder ein Heiliger noch ein Ekstatilcer oder My-
stiker kommt in seinem Werte vor. — Shakespeare kennt die
Frauen und hat kerne sonderlidie Memung von ihnen. Viel-
leicht gibt es in der Weltdicfatnng keine Szene, aus der noch
eme so vdlllge MiBachtung spreche wie die berühmte Werinmg
Richard Olosters um Anna, der er Gatten und Schwiegerv a ter
ermordet und die er ihres Königtumes beraubt hat Shakespear e
*) Fs hat mir immer einen peinlichen Eindruck gemacht, daß Dante
an der Schwelle des Paradieses so schnöde von Beatrice empfangen
wird: Nach d«r Trennimg eines eanzen Ubent «dB sie nifihts Besseres
als Ihm efaie buifs Strafpredigt zu halten, die Dante in Zerknfrachung
hinnimmt Denn sein überstrenges Gerechtigkeitsgefühl hält die harten
Worte für verdlenti und so erspart er sie weder sich noch uns.
383
kennt dgentUch nur dne Oröfie der Frau, nämlich ihrem Manne
treu zu seui und schweigend alles Bittere zu erdulden. Schon
in seiner ersten Possen der ,,Komödie der Irrungen**, wird das
Prinzip sentenzids aufgestellt, daß die Frau dem Manne Unter-
tan sdn müsse:
„Den Mann, den göttlichem, den Weltgebieter,
Verehrt das Weib als ihren rechten Herm.'^
Und m der „Zähmung der Widerspenstigen":
„Und was der Untertan dem Fürsten schuldet,
Gehorsam, schuldet auch das Weib dem Mann."
Das Motiv, daß eme Frau einem Manne nachläuft, der sie ver-
schmäht, wiederfaolt sich. (In der errten Dichtung „Venus und
Adonis" tritt es pehilich kniB auf, in „Was Ihr wollf zwei-
mal). Hier möchte ich darauf huiwdsen, daß ehie ähnliche Vor-
liebe bei Mozart existiert (Don Juan, Figaros Hochzeit). Mo-
zart ebenso wie Shakespeare neigt dazu, die UAt nicht aUni
schwer zu nehmen. Ihre Liebeshelden Romeo und die Lust-
spielfiguren, Don Juan, Graf Almaviva und andere stünnen nur
auf den Genuß los; Romeo kennt das scheue Bangen der ersten
Liebes-Bege^ung nicht, er küßt Julia sofort und denkt nur
daran, sie zu besitzen. Eine unverkennbare Annäheruiig an das
sadistische Fxtrein findet sich bei diesen beiden großen und
freien Gestaltern. — Dante verhält sich in jeder Bezieliiing ent-
gegengesetzt (nordisch - germanisch !) ; der bloße Anblick Bea-
trioes macht ihn last ohnmachtig, er wagt nicht, ein Wort an
sie zu richten. — Mehr noch als soidie einzelne Züge t>eweist
die Anlage einiger Lustspiele (Sommetnacbtstraum, Liebeslust
und 4adf Viel Lärm um Nichts), wo das ganze Liebestreiben
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der Maschen von eiiur hoben fieien Warte am gesehen md
als komisch empfunden wird — sein wahrhaft genialer Hmnor
(daneben der groteske Humor der Narren). Die Liebe ist für
Shakespeare fiberiiaupt kehie so wichtige Sache wie für die
Dichter vor und nach ihm. Herrsdisuchi und Ehrgeiz z.B.
haben ihn viel tiefer und viel eingehender beschäftigt —
Menschen, die zu kanonischer Oröfie aufgewachsen sind^
bieten nicht nur hi den Erzeugnissen ihres Geistes, sondern
noch vielmehr in ihren menschlichen Äußerungen etwas Ühcr
Individuelles, Typisches dar. Sie sind so sehr diese Einen imd
Unvergleidilicheti, daß sie es fast in jedem Zuge sind. Diese
Überzeuf^ung ist es ja auch, die uns antreibt, das Leben solcher
Menschen genau keimen zu ieraen, deren Werk uns ergreift und
bereichert; wir wollen wissen, und wir haben ein Recht zu
wissen, wie sie ausgesehen haben, wie sie gelebt haben und
wie sie gestorben sind. Ich glaube, wir sehen heute den Men-
schen Dante schärfer vor uns als sein WerL Wir kennen den
fonatisch-glähendcn Blick und das eheme Antlitz, auf daa die
Natur geschrieben hat: Tiefainn und Erhabenhät Wir sdten
den gebeugten Gang des HeunaHosen, der von Stadt zu Stadt
wandert, dem sem h^bea nur güt, um seui Werk zur Vollen-
dung zu führen. Mandien ergreift diese legendäre Oestalt, der
von der Kunst Dantes nur eine ziemlich vage Vorstellung hat
Aber dieser Mann gehört zu diesem Werk, ein Mann ohne
Laune und ohne einen Blick für das Kleine des Daseins, einer,
der sich berufen weiß, einer weithistorischen Idee Leben zu ver-
leihen.
Von Shakespeare dagegen haben wir keine sehr deutliche
Vorstellung und es ist bezeichnend, daß sich einige gefunden
hat}en, die ihm sein Werk ganz absprechen und einem anderen
zueignen wollen, Francis Bacon, dem, wie man meinte, gebil-
deteren, in Wahrheit aber vid flacheren Staatskanzler und
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ScbritoAdter. (Ooedie namt ilin „öas Haupt aller Philister'*).
Der Kopf Stakeapaam, der auf ein paar Stichen uberiiefert
ist^ htt nichts allzu OenialeB; wenn man uns enihlt, dieaer
Mann ad zuent Midtigcr gewesen, dann ein mittefanäfiiger
Schauspieler, der manrhrnal lustig, Mar in Oddnot gdcbt habe^
in Liebeshandd von nicht allzu saubenr Art verstrickt gewesen
sei, sich in Londoner Spelunken herumgetrieben, Odd auf
Wucherzinsen geliehen habe und anderes mehr; so sind wir
ohne Widerspruch bereit, das zu glauben. Denn Siiakespeare
ist als Mensch nichts neben seinen Werken, ihnen hat er seine
geheimnisvolle Seele ganz dahingegeben. Das Genie Shake-
speares ist unfaßbarer und rätselhafter als das Dantes. —
Welches organische Ende verlangt nun das Leben eines
Shakespeare? Wir haben gesehen, daß sich sein Selbst mibe-
grenzt in Gestalten hinein eiigießt und daß so niemals ein whic-
lieber Abschluß erreicht werden kann. Shakespeare aber wollte
und mußte enden, denn er ist nicht nur ein außerordentiiches
dichterisches Talent, sondern auch eine mächtige PenfinÜchlBeit,
die auf dem Wege von den Jugend-Sonetten zu den großen
Tragödien Weite und Tiefe gewonnen hat. Und wur sehen das
ScUsame. daß Shakesoeare uulGeluti er sucht aus der Vidhsit
der tanden Seden, denen er sich hingegeben hat, emen Weg,
um sich sdbsi wieder zu gcwhuien. Der ente Schritt auf
diesem Wege liegt noch innerhalb des Reiches der Dichtung:
Shakespeare verzichtet auf alle seelische Fülle; das „Wmtermar-
chen", „Cymbeline" und „Der Sturm", seine letzten Werke, sind
keine Tragödien mehr. In allen dreien werden unkomplizierte
Menschen durch mancherlei Irrfahrten zu giückiiclier Ruhe und
Vereinig^ung geführt. An diesen Menschen ist der Dichter mit
sei[ieni Ich kaum beteiligt; sie sind ein wenig wie Puppen, sie
stehen in einer Atmosphäre von märchenhaftem Duft Aber
diese neue Dichtungsart bringt noch immer Iceine endgiiltige
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Lösung. Und nun geschieht der zweite, der definitive Schritt
Wir sehen dieses Merkwürdige, das kaum jemals genug beachtet
wofden Ist: siebemindvierzjg Jahie alt nimmt Shakespeare sein
ich ganz in sich zurQd^ er hört auf zu dichten. Ob diesen
EntsdduB ein ungeheurer Kampf zwischen der Schaßensltnt dea
KihisUeis und der EinhdtSpSefansucht des Menschen
gangen Ist? — Ich wdB es nicht Jedenfalls hat seh» letzte
Dichtung, „Der Stuim", wie allgemehi anericannt wird, efaie
Ausnahmestellung. Prospero ist die einzige Gestalt, der zum
Abschied von der Kunst Elemente de^ eigenen Ich einj^^ekörpert
worden sind. Der Weise legt sein Zaubergewand ah, läßt sich
Hut und Degen bringen^ wie es irdisclie Menschen tragen, und
spricht:
So brerh ich meinen Stab,
Begrab ihn manchen Klafter in die Erde^
Und tiefer als ein Senld>lei je geforscht,
WiU ich mdn Buch versenken. (Sturm V, 1.)
Prospero entsagt der Herrschaft Ober Aiid — das Höchste^
Geistigste ün Menschen — und über Caliban — das Tierische
im Menschen — , veriifit die Zaubcruisd, das Reich aehier Kunst,
und kehrt nach MaiUmd unter die gewöhnlichen InUschen zu-
rück. Der produktivste aller Dichter hört auf zu schaien, er
lebt noch f&nf Jahre lang als eüifacher Landwirt hi seiner Vater-
stadt Im Epilog sagt Prospero-Shakespeare:
Hin sind meine Zauberein,
Was von Kraft mir bleibt, ist mein.
Und das ist wenig.
Einst war die Seele Shakespeares in alle Menschen hineinge-
gangen und hatte in ihnen gelebt und gelitten; die vielseelische
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Form der Genialität, die wir unter seinem Namen verehren, hat
sich oSeabart. Aber dieser Große mußte sich sein Leben selbst
bestimmen. Und er hat aus all den Gestalten sein Ich zurück-
gerufen. Nicht als Dichter konnte Shakespeare die Schlußposi-
tion erreichen, denn aein Genie ist von der Art, die zu kehiem
Ende führt — es sei denn zu emem Abbrechen wie Beethoven.
Shakespeare hat sich von der Kunst abgewandt, um seinem
Leben den notwendigen Schluß zu geben.
Diese Deutung ist nur hypothetisch; und ich will die Mög-
lichkeit nicht ganz ausschließen, daß Shakespeare wirtlich seuie
Perafinlichkeit und sehie Oenialittt verloien hfttt^ daß sehie
Geisteskraft aufgezehrt gewesen sei und daß er ddi beschieden
habe, obschon im höheren Sinne tot, noch weiter zu leben.
Aul jeden lall bläbt im Wesen dieses Mannes viel Kätseiixaftes
l>estehen. —
Dante kennt den Sinn des Daseins und wird zu seinem
unmittelbaren Verkünder; in den größten Dichtungen Shake-
speares ahnen wir einen Sinn, ohne daß davon gesprochen
würde; wir sind hier noch um einen Schritt weiter in das Herz
des Genius eingedrungen. Dieser Schritt macht die eigentüm-
lich persönliche Weltwertung des künstlerischen Genius fühl-
bar, er bedeutet ehien WertimSein, nicht hinter und neben
dem Sein.
GOETHE
In Goethe gewinnt der Reichtum und die Vid^sestalt Shake-
speares dantesche EmheiL Thesis und Antithesis treten hi ihm
zur Synthesis ineinander. Aber Goedie umfaßt nicht nur wie
Shakespeare den Kosmos der Menschen, sondern auch die Nahur
und die Kultur. IMe Gabe Shakespeares: sich mit jedem efai-
zdnen Menschen zu identifizieren, ist Goethe auch vor den Er-
scheinungen verliehen. i:r senkt sich so vollkommen m ein
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Phänomen der Natur oder der Kunst ein, daß er seine eigene
Individualität nicht melir als ehvas Abgesondertes empfindet^
sondern daß er in alles Sichtbare, Hörbare, in alles Seiende
verwandelt ist. Das nenrit er (irgendwo in der italienischen
Reise) „völlige Entäußerung von aller Prätention". Goethe
reicht als Dichter nicht an Shakespeare, aber er ist Mensch in
einem so universellen Sinn, daß er sich alimi B^ehenden per*
sönlich nahe fühlt, daß er alles Bestehende aus sich heraus zu
formen und zu deuten vermag. Nicht der Dichter oder der
Naturforscher oder der Philosoph, sondern der Mensch schlecht*
hin ist hier m seiner Vollendung verköfpert ErBcheint Danle
ab Chi chizdner Mosch von höchster Intensitilt, so hat sich
hl Goethe efaie Seele über die Welt veihrdtet» die eigentliche
Angabe des Menschen: das Seiende zu gestalten, zu beseelen
und wertvoll zu nuchen» ist m ihm vorbildlich erfüllt <^ wird
gesagt, daß Goethe ehie Abneigung und ein Mißtrauen gegen
das Betrachten der eigenen Sede und gegen das Wort „Eitenne
dich selbst!" gehabt hätte. Aber man versteht das falsch: er
hat die Welt so sehr als zu sicli i^ehöng, als sein eigen emp-
fanden, seine Seele ist soweit aufgeschlossen gewesen, daß die
Maxime, sich selbst zu erkennen, für ihn keinen anderen Sinn
gehabt hat als: die Weit zu erkennen, das Sein zu erkeuaen.
„Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt,
die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird " *)
Es ist das Oroße und das Einzige an der Genialität Goethes,
daß in ihr das Mensch -Sein Vollkommenheit erreicht hat
Goethe steht auf dem höchsten Gipfel des Geistes und der
Seele und ist doch wieder so Üel der Natur verwandt und ver-
traut, daß er jeden Tag wie neu geboccn lebt Die Wurzefai
smd nicht abs^schnitlen wie bei so vielen OdsiesnieDSChen, sie
treiben we iter und ziehen ihre Nahrung aus der Eide, wie der
*) Zur Morphologie.
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38g
Sluniii aus den Lüften, die Krone aus dan Liclit — Der Menach,
der es niemala verlernt hat» der Natur in Demut und liebe zu
nahen, der den Strom niemals hat eintrocknen lassen, der zwi-
schen ihrem unablMgen Lebendigaeui und seinem EmpOnden
flieBt, der jeden Frühimg neu hi sebiem Heizen fühlt; dieaer
Mensch bewahrt sich auch die Kraft innerer Neu • Beseelungr.
Das sehen wir an Goethe wie aii keinem andern. Seine Pro
duktivität hat bis ins späte Alter nicht nachgelassen, er vennag
mit 74 Jahren ncx h eine aufwühlende Leidenschaft zu erleben.
üoethe hat orgaiuschc-s Verständnis für die Pflanzen und
ihre Oestaltuiiü;. für die f arben und ihre sinnlichen, seelischen
und moralischen Wirinmgen, für Wolken und Steine, nahezu für
alles, was besteht. Das ist nicht Dilettantismus und auch nicht
Fachgelehraamkeit, sondern etwas anderea: innige, urhafte Zu-
aammengehdrigkeit mit allem Oewachaenen. Ooettie foidert von
der Natur, da0 sie ad wie er adber: ununtefbrocben adiöfife>
lisch, aich niemala wiederholend, unendlich tttig — „Alles lat
neu und doch hnmer das Alte^'. (^Vis Natuf'*.) In der Welt
wie un Menschen muB eines aus dem andern mit organiadier
Bestimmtheit hervocgdien. Diese Idee des Oiganiamus, das
beißt der aus der Vielheit gewachsenen Emheit, bchenscht sein
Gefühl gegenüber der Natur, es ist der Grundgedanke seiner
Pflanzen-Metamorphose und zieht durch die anderen gedank-
lichen Bildungen. Über allen einzelnen Pflanzen muß die Ur-
pflanze als Idee der organischen Einheit stehen, im anatomischen
Aufbau darf kein wirklicher Riß zwischen Tier und Mensch
klaffen. Von dieser regulativen" Idee geleitet, hat ja Goethe
den Zwischenkieferknochen des Menschen, allen Autoritäten
zum Trotz gesucht und gefunden. Eine solche Entdeckung ist
natürlich mar ein Zufall und wohl kein sehr wichtiger, at>er
sie ist charakteristisch für den Willen Goethes: daß in der
Natur wie in der Seele des Menschen aus aller Mannigfaltigkeit
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Einheit hervorgehe. Einheit in der Vielheit zu finden, aus der
Vielheit zu schaffen — das ist aber die ideelle Synthese der
Genialität Dantes und Shakespeares, und das ist die Grund-
idee Goethes, die sich uns noch weiter offenbaren wu"d.
Alle Richtungen, nach denen sich der Mensch entfalten
kann: tatig, sinnend, denkend, bildend und empfangend (ge-
meBciid) sind io ihm gleich stiak mugebüöet „Das Bedürfnis
meiner Natur zwingt mich ru einer veimannigfaltigten Thüg-
kdt und ich würde in dem geringsten Dorfe und auf einer
wfislen Insel ebenso betriebsam sehi mfissen» um nur zu leben."*)
— Von der wissenschaftlichen T&tigkeit allein fordert Goethe,
daß sie alle Krittle des Menschen ins Spiet setze.. »»Die Ab-
gründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart
mathematische Tiefe, physisdie Genauigkeit, Höhe der Vernunft,
liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden
zum lebhaften, fruchtbaren Ergreifen des Aug-enblicks.'***)
Die Art, wie Goethe forschend an die Natur herantntt, ist
von der Wissenschaft seiner und unserer Zeit verschieden. Die
Wissenschaft geht hinter die Erscheinungen zurucic und sucht
nach letzten Einheiten, die in abstrakten Be^nöen oder wo-
möglich in zahlenmäßigen Formeln festgehalten werden können.
Goethe bleibt immer bei dem Anschaulichen und trachtet zu
Urphänomen fortzuschreiten, die als letzte gegebene wirk-
lich da sind und nicht weiter zeisetzt werden dürfen. „Von
nun an sich alles nach und nach unter höheie Rcgehi mid
Gesetze, die sich aber nicht durch Wort und Hypothese dem
Veistande^ sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen
offienbaien. Wir nennen sie Urphinomene, weil nichts in der
Erscheinung über ihnen liegt» sie aber dagegen völlig geeignet
sind, daß man stufenweise, wie wur voriier hinaufgestiegen, von
*) Brief an Knehe! 3. 12. 1781.
♦*) Farbenlehre, Histor. Teil.
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ifanen herab Iris zu dem gemeiiisten FaUe der täglichen Eilah-
rung niedersteigen kann. — Der Naturforscher lasse die Ur-
piiänoraene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit da stehen.
— Das Schlinunste, was der Physik wie mancher anderen Wis-
senschaft widerfahren kann, ist, daß man das Abgeleitete für
das Ursprüngliche hält und, da man das Ursprüngliche aus
Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Ursprüngliche aus dem
Abgeleiteten zu erkennen sucht." (Unter ,,abi]^eleitet" versteht
Goethe das in nichtanschauUchen Begriöen oder Formeln ge-
faßte.)*) — Bei der Untersuchung der Farben hält er sich durch-
aus nur an das den Augen erscheinende Phänomen von Licht
und Finsternis; er nennt sich selbst dem Naturforscher und dem
Naturpbilosophen gegenfibcr einen „Naturscbauef''**). Und
diese Betrachtungsweise ist ihm so oiganisch, ist so sehr ans
ihm heraus entstanden, daß er sie mit Elan gegen die eigentlich
naturwissensdisfUiGhe, nämlich die abstrahierende, vertritt Die
Lehre Newtons scheint ihm ein Sakrileg an der heiligen Nalnr,
an der Whldichkett der Wdt. Denn er besitzt die ganz mi-
vergleichliche Beziehung zum Anschaulich - Seienden und zwar
nicht so sehr zum unmittelbar geget>encn Einzelnen wie zum
Seienden in dem liöheren Sinn des Ideellen, des Platoni&iien,
zur Urpflanze, zum Urphänomen. E>emgegenüber sind die Oe-
set/e und Formeln der Naturwissenschaft nichts Wirkliches und
auch mchts Ideelles, vor allem nichts Anschauhctics, sondern
— was ja allgemein zugegeb«i wird — Hilfs-Konstruktionen
des veremfaciienden Denkens.
Diese Verwandtschaft zum Objektiv-Seienden befähigt ihn,
die Dinge ohne Trübung und ohne subjektiven Beisatz (auch
ohne den der wissenschaftlichen AbstraktioQ) zu sehen. „Wie
sie alle (die Pflanzen) von der Sonne hervoigdodct und um-
*) Farbenlehre I. Mo. 175, 177. 718.
Briet m Sdiiller 27. 179S,
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spooiMii wenkn, so aoll er (der Botainler) mit dnem gteidiea
ruhigen Blicke sie alle aneeilCD und übendieo und den Maß-
stab zu dieser Eitaiiitni% die Data der Beurteilung nicht aus
sich, sondern aus dem Kreis der Dinge nehmen, -dfe er beob-
achtet."*) — Und Goethe pflegt diese Fähigkeit, über das Sub-
jektive, dc'Ls „Pathologische", hinauszuwachsen, er steigert sie
mit Bewußtsein zu dem Willen, alles Zufallige abzustreifen und
immer tiefer ins Wesentliche einzudringen, immer allgemeiner
menschlich, immer notsvendigör zu werden. ,,Sinn und Be-
deutung memer Schriften ist der Tnumph des rein Mensch-
lichen." Er ist sich klar, daß sein Leben und Tun kano-
nisches Leben, kanonisches Tun ist; je älter er wird, desto
tieler versteht er sich als vorbildlichen Menschen, und desto
entsdiiedener fühlt er die Verpflichtung, ein Urbild der Mensch-
heit ans sich heraus zu gestalten, das für alle Zeiten bestehen
soUy von dessen Lebensregungen keine veriorBi gdien darf.
Ober jeden Tag werden Au&nicfanungen geführt^ er beruft
Eckennann, damit jedes von ihm gesprochene Wort erhalten
bleibe.
Nichts vom Vergänglichen,
Wie*s auch geschah,
Uns zu verewigen
Sind wir ja da!
„Sie wissen, wie symbolisch mein Dasein ist,"
schreibt er, 28 Jahre alt, an Fiau von Stein**) und druckt da-
mit in einer kurzen Foimd den SUm seiner Existenz ans^ Jie-
deutend^ platonisch, das heißt au! die Idee der Mensdihdt hin
gerichtet, exemplarisch ist, was Oodhe tut, sagt, dichtet.***) Er
*) „Der Versuch als Vcnnittler von Objekt und Sui>iekt".
**) Am 10. 12. 1777.
***) nachträglich sehe ich. daf dies auch «if dar teilten Satt» von
SImnela ttoMmdgam Goaliie>Bttdi auefeaiHoclien Ist
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sucht nach PtaSnomenen» die repräsentative, „symboHsdic^ Be-
deutungr für unendlich viele haben. Das ist die t^erähmte „Ur-
pflanze'', die in einer einzigen Schau alle Pflanzen der Welt
vereinigen soll — gleich weit von dem einzelnen Gegenstand
wie vom Begriff, universell und doch mit erleuchteten Sinnen
anzuschauen. Sein Geist und sein Auge sehen platonisch, zu-
samnienfassend. ideeierend, das einzelne nur als Beispiel und
Sinnbild eines Höheren fassend. Und er schreibt an Schiller,
daß ihm besonders Gegenstände einen Eindruck machen, die
„eminente Fälle sind, die, m emer charakteristischen Mannig-
faltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine
gewisse Totalität in sich schtieBen, eine gewisse Reihe foideni,
Ahnlidies und Fremdes hi oeineni Geiste aulregen und so von
8u6en wie von innen an eine gewisse Ehiheit und Allheit A»>
sfiruch machen. Sie sind also, was ein glfiddiches Sujet dem
Dichter ist, glückliche Oagenstande ffir den Menschen, und wdl
man ihnen keine poetische Fonn geben kann, so muß man ihnen
doch eine idedle geben, eine menschliche im h^Uieien Sinne." *)
— Ja er kommt im Alter dazu, einen Typus als Gesetz anzu*
erkennen, „von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen auf-
zuweisen sind." **) — Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis,
das heißt: jedes einzelne Ding läßt uns höhere Bedeutung,
Idealltat ahnen Diese Bestrebungen sind durchwegs Projek-
tionen, Spiegelungen des unbeirrbaren Willens, ein einmaliges
Dasein ins Symbolische zu heben, aus einein Menschen die
Menschheit heraustreten zu lassen wie das Ewige aus allen irdi-
schen Bildern, selber Idee zu werden. Das ist das Grundmotiv
in Goethes Dasein, das immer t>ewußter erfaßt und verwirklicht
wird. — „Meine Tendenz ist die Verfcörpening von Ideen.*'^**)
*) Am Ib. a 1797.
**) Brief an Joh. Müller 24. II. 1829.
Brief an WIHemer 24. 4. 1815.
t,
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— Und dem entspricht (im G^ensatze zu den populären Md-
auigen) eine unbehagliche unsichere Stellung gegenüber dem
Einzelfall, genau die Stellung des Philoeoplien» des Platontkei«.
Anstatt vieler Atuqirfidie gebe ich nur zwd: er schreibt an
Schiller von »»der millioiienfacfaca Hydni der Empirie^ mit der
er sich hemmsrhlagen maß"; mid sagt: „Die Beobachtung des
dnzdnen war niemalB menie SOfke.***) — Und einmal^ hi den
Voraibeiten zu einer Psychologie der Pflanzen, spridit er von der
Kraft des Menschen ein hohes Wort : „Die Umfassenden, die man
m efaiem stolzen Shine die Erschaffenden nennen könnte, ver-
halten sich im höchsten Grade produktiv; indem sie nämlich von
Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus,
und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in
diese Idee zu fügen."
Der Drang, sich zu einem Urbild des Menschen zu schaf-
fen, ist bei Goethe schon in jungen Jahren lebendig und er-
streckt sich auch auf unbedeutende Dinge. So erzählt er im
9. Buche seiner Lebensbeschreibung, daß er starken Lärm nicht
ertragen konnte und sich diese Empfindlichkeit dadurch abzu-
gewöhnen verstand, daB er neben den Trommlera einheiging;
er litt an Schwindel und vertrieb ihn durch eine gewaltsame
Kur: von der höchsten Men Platte des Strafitraiger Mflnsteis
blickte er lange Zeit hinab; er hat sich ferner in SpitUem auf-
gehalten, um mit Situationen vertraut zu werden, die ihm von
Natur widerwärtig gewesen shid. Solche und ähnliche kleine
Züge verraten deutlich den WiUen, sich zu vervollkommnen, der
bis an sehi Lebensende nicht nachgelassen hat — Wir ver-
stehen, daß dieser Wille zum absolut Menschlichen gegen die
genialischen „patliologischen" Einseitigkeiten ein^i Kleist hart
und abweisend sein muß. In Kleist hat er das Schlechte von
sich ferngehalten. —
*) Wie oben. - Brief an BSttiger 16. a 1797.
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396
Oodhe ist seiner Konstitution nach Grenzmensch; noch in
„Wahihdt und Dichtung^ sagt er, ds6 ihn seine „Natur unmer-
fort ans einem Extreme ia das andere wirft*' (7. Buch). *) Und
ein anderes Mal: „Unser Geist sdiemt zwei Seiten zu
haben, die ohne euiander nicht tiesiehen Icdnnen. Licht und
Finsternis, Gutes und Böses^ Hohes und Tiefes, Edles und
Niedfiges und noch so viele andere GegenMtze scheinen, nur
in veränderten Portionen, die Ingredenzien der menschlichen
NahiT zu sein. " (Die landläufigen Meinungen über seinen Mo-
nismus und seine Gelassenheit können füglich unbeachtet blei-
ben.) Aber er ist so produlctiv, daß aus jedem Zwiespalt eine
neue Synthese:- liervorgeht, die wieder eine neue Spannung: auf
höherer Stufe zu erzeugen vermag. Und diese neue [ inheit ent-
steht nicht etwa durch Nivellierung, die Gegensätze werden viel-
mehr wirklich durchgelebt und in einer höheren £t>ene aus-
hoben. I>ies ist aber die Art, wie aus Bruchstüdien ein ganzes
erschaffen, aus dem MangeUiaften das Vollkommene gebildet
werden kann; und zur selben Zeit, da Goethe diesen Weg
ld)endig beschritten hat, (oder etwas spater) ist er von Hegel
als dialektische Entfaltung des Geistes verkthidet worden. —
Neben dem Willen zur Idee steht der außerordentlicfae Hunger
nach der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, der niemals ge-
stillt werden kann. In seinem Veihältnis zum einzebien li^
Tragik: er muß immer tiefer eindringen — und hat doch die
Angst vor der Hydra der Empirie. Aber das ist ein Tiefstes
im Menschen überhaupt, das sich in Goetiie verewigt hat; er
möchte die l ulle der Welt t}esitzen und auf nichts Verzicht
*) Seine polare Anlage ist von Chamberlain im einzelnen schön
ausgeführt worden. — Es ist ein bedeutendes Verdienst Chamberlains
(dessan Wterk ich dm Hinweis auf mehrere wichtige Stellen verdanke),
das flatofilsche in Goethes Denken erkannt und in den Vordeicrund
cerfickt tu haben*
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V
390
leistm — und er muß doch immer wieder Einheit, Zusammen-
hang schafien in knmer höheren Kreisen — das uralte philo-
sophische Problem vom Allgemeinen und Besonderen, von Be-
griff und Erfahmng. Ooetfae weiß genau: „Es ist gleich schädr
ttcta, der Edahrung, als unbedingt der Idee zu, gebordien.** —
Gegenüber der Wucht der unmittdbaren Anschauung steht dk
Kraft des Denkens. Ooedie hat eine Menge neuer Oedanloen
gedadit, sie finden sich dufth alle seine Walte vecBtieut Und
die bäden Potenzen hemmen sich nicht, sondern sie dnicfa-
dringen und befrachten ehiander gegenseitig in emem Mafie wie
bei keinem anderen Menschen als bei Piaton.
Goethes polare Anlage zeigt sich auf vielen Gebieten; so
ist d.'Ls Bedürfnis nach iTeundschait und üeselhgkeit merkwür-
dig stark au&i^ebildet und ebenso der Hang, sich zu verhüllen
und einsam zu sein. I >iese Antinomie scheint mir keine ji:ü]t]ge
Auflösung gefunden zu haben. Und auf dem ( iebiete der Erotik
ist — wie ich an anderer Stelle s^ezeigl habe — niemals eine
wirkliche Synthese eingetreten. Hier bestehen die Extreme der
Sinnlichkeit und der Seelenliebe (Charlotte von Stein) unver-
mittelt nebeneinander.
Als kanonischer Mensch hat Ooeihe auch die ganze FuUe
des Mittleren besessen; weil aber die grenzmcnschliche Anlage
die umfassendere und unenchöpflichere Art zu sein dafsidit,
so kann das Mittefanenschliche unmer nur Episode bleiben, es
ist m f^ennann und Dofothea** zum Uassiädien Idyll geniR.
Hier hat sich die Sphäre des mittehnenschlichen Daseins wahr-
haft vollendet, ^e ist selbstgenugsam in sich abgeschlossen und
kennt nicht den Blick über ihren Kreis (der bei den tieferen
idyllischen Dichtuni^ren Jeaii I-auis niemals fehlt). „Hermann
und Dorothea" bedeutet die Vollendung des einen in Goethe,
*} Die M Stuf«n der Erotik S. 228—248.
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397
das zur Abrundung der ganzen Menachlichkeit da sein mitB,
nicht eine letzte Versöhnung der Polarität, sondern Unge-
brochenheit vor allem Zwiespalt. Auch im Wertlier ist um den
Kreis des Amtmannes die Atmosphäre des Kleinbürgerlidien,
Mittelmeiischlichen gebreitet, die aber hier nicht eine abge-
schlossene Einheit darstellt, sondern als der eine Pol dem an-
dern, der in Werth er verkörpert ist, disharmonisch gegenüber-
steht. In diesem wenig bedachten Jugendwerk — es ist in vier
Wochen niedergeschrieben worden — sieht man besonders deut-
lieh, wie aicfa die Etemente des Menschlichen von Anfang an
auseinandergesetzt und zusammengefaßt haben. Kein falschm^
Bild von Goetbe als das des erhabenen Philisteis — > er ist zu-
gteidi einfach wie das VoUslied und vielspiltig und koiii|4iaert.
Und geiade seine Vielheit ist sem Problem und seine Tragik,
die er ünmer wieder zusanunennimmt und überwindet Aller-
dings zeigen viele spfttere Weike eine gewisse mittlere Tempe-
ratur und Ausg^licfaenhcity die aber offenaichlljch efBibdiet» ein
Produkt des Willens ist und aus derselben Qudle stammt wie
seine außerordentliche Liebe zu den römischen Kopien griechi-
scher Bildwerke, in dieser Liebe kreuzen sich ja zwei Eleiiiente:
vor allem die Gewißheit, hier ein Rein-Measchliches, Kanoni-
sches \venit{stens im Abglaiize zu sehen; dann aber noch viel
mehr der W ille, über alle Vielheit hinauszukommen und einfach
zu werden. Die kritiklose Bewunderung für alles, was dem
Altertum zugehört, und wären es ein paar halb zerfallene
römisch-korinthische Säulen, kann nicht aus der bloßen Ge-
meinschnft des Rein-Menschlichen verslanden werden. Da ist
sehr viel Wunsch, der eigenen Mannigfaltigkeit und OefühlsfüUe,
dem Oberrdchtum an seelischem Gehalt zu entkommen und in
ein weites offenes Land einzugehen, wo Mar und einfach ge-
staltete Maimorieitier in der Sonne blfihen. Nach dem germa-
nisch-gotfaischen Bereicfae des Götz, des Werther und des Faust
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398
ist es allzu deutlich» daß das Oriechentum für Oodfae mdir
Sduisudit ab Wiildidikdt bedeutet fan Tasso ist [a dieser
Widerstreit zwischen trüber Genialität und besonnener, aber ein-
geschränkter Klarheit selber r'roblem geworden; lasso ist der
Überlegene, der Sieger, und niclit Antonio, wenn es auch —
mit dem Willen Goethes — so scheinen mag. Und Faust lebt
den Kampf zwischen der Nebelheimat und dem Traume vom
Griechen tum tratsch zu tnde.
Goethe ist angesichts der Menscheng-estalten der Antilce von
der Gewißheit überwältigt worden, daß hier, so entschieden wie
sonst niemals» etwas Kanonisdi-Menschliches gewollt und für
den engeren Sinn des antiken Weltkreises verwirklicht worden
ist. Der Wille ist identisch bei Goethe und bei der Antike.
Aber welche Verwandtschaft hat denn die ^mbolische Atoiscb-
lidilcdt Goethes noch zu jenen schönen Leibern? Ffir ihn beißt
Mensch sein etwas unendUdi Höheres, Größeres, Tieferes
als für diese in ihrer ganzen Vollendung dodi eingeengte Kul-
tur, die den Gedanken der Persönlidikeit und der Ewigst noch
nicht besessen hat. (Platon ist eine Wdt für sich und nidit
repräsentativ griechisch.) Wenn wir Goethe als den symboli-
schen Menschen verstehen, so meinen wir ja, daß er nicht eine
bestimmte Kulturstufe verkörpere und nicht an einer bestimnir
ten Zeit hafte, sondern daß er etwas durchaus Definitives be-
deutet, daß er die übermenschliche Leidenschaft eines Dante und
den Kosmos Shakespeares in sich vereint und darüber hinaus
eine höhere binheit gewonnen hat. Weder von der Tiefe Dantes
noch von der Fülle Shakespeares hat die Antike mit ihrem all-
seitig zugeschlossenen Kreis eine Ahnung haben können — und
so bleibt es eine Täuschung, wenn Goethe, durch den formalen
Willen zum kanonischen Menschen verleitet, seine eigene Auf*
gäbe hl der Antike vorgesialtet zu sehen glaubt. —
Ehie ganz besondere Form des mittehnensdiliGhen Daseuis
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ist in Rdodee Fucbs (den ich unter cüe höchsten Dichtungien
Oodhes stelle) zum Leben gdwadit Alle Odfiste und Schand-
taten der Menschen haben den Stachel des Bösen, des Dämo-
nischen und des Tragischen verloren, weil sie in die Einge-
scliräaktheit der Tierwelt versetzt, ins Licht des Komischen ge-
rückt sind. Das Reich der Tiere ist nach dem Muster des mittel-
altcrUchen Feudalstaates organisiert, Bär, Wolf und Fuchs sitzen
als Vasallen im Rate des Löwen, Reineke beupt sich heuchlerisch
vor der Köni^j^in, seiner Herrin", der er zu dienen ß^ewillt ist
und der er glänzende Geschmeide weiß. Der Löwe pflegt der
Gerechtigkeit, wird aber von denselt>en Tnet>en beherrscht wie
die anderen Tiere, und es ist mit höchstem Humor durchge-
führt, wie diese beiden Reihen, die tienscbe der Instinkte und
die höhere eines Ideellen einander kreuzen und wie das Höhere
immer zu kurz kommt. Der Steifee und besonders der Listige
triumphieren — wobei aber die Reverenz vor dem Geistigen
niemals venftumt wird! Welch graziöser Hohn auf das Gottes-
urteil» wenn Reineke und Isegrim klmpien und der Sddaue
auf die unanständigste Welse cten Sieg davontragt! Man merkt
kaum, wie viel ursprüngliche Roheit und WiderwSrtigkeit in
aUedem liegt, denn durch die Kraft des Humors ist das Stoff-
liche verzehrt und wir gewinnen einen vollkommLii freien Stand-
punkt zu allem ( icschehen. — Wenn man die Beziehung üoethes
zu Spino/a etwas weniger oberflächlich untersuchen wollte, so
hatte man hier einzusetzen. Im Reineke Fuchs herrscht wirk-
Uch das Naturrecht — „Wer mehr Macht hat, der hat auch
mehr Recht". Das ist die Weisheit Spinozas. Für Goethe aber
erscheint sie unendlich komisch, denn er l)^itzt innere Freiheit
gegenüber dem Instinktleben, dem er nicht unterworfen ist und
das er doch liebt. Reineke Fuchs zeigt das naturhafte Dasein
und damit im höheren Sinn den Spinozismus in seiner Bedingt-
heit als komisch und fitierwindet ihn so von innen her.
400
Goeliie hat die Idee des exemplarischen Menschen nidit
nur in aeineni Sein» sondeni auch in seinem Werden, in
der Entfaltung seines Lebens offenbart. Als Knabe, Jüngling,
Mann, Ords — imowr acheint das Typische dieser Entwiddnngs-
stnfe durch die Hullen und immer ist er daran, es bewufit zu
vertiefen und festzuhalten. Dies hat Schiller geahnt: „Es sollte
mich wundem, wenn sich an den Entwiddungen Ihres Wesens
nicht ein gewisser notwendiger Oang der Natur im Menschen
überhaupt nachweisen ließe"*). — Ich gehe nicht auf die Lebens-
geschichte Goetlies ein, muß aber darauf hinweisen, wie er
seine Aufgabe, die Herausaji)eitung des kanonischen Menschen,
auch in diesem Sinne, nämlich in der Konzeption des vor-
bildlichen Lebensablaufes erfüllt hat. Und zwar
ist dies auf zwei verschiedenen Stufen vollbracht worden: der
Wirklichkeit nahe m unmittelbarer biographisch-psycholosisclier
Darstellung — wieder zwiefach: einmal als Gföchichte seines
individuellen historischen Lebens in „Wahrheit und Dichtung^'
und den Reisetagebüchem; dann im „Wilhehn Meister'*, wo die
Entfaltung des Menschenlebens an einem Moddhnenschen ty-
pisch und tief menschlich sichtbar wkd. Auf einer zweiten
höheren Ebene ist im „Faust" das Leben des kanonischen Men-
schen nicht m psychologischer Unmitfeelbaikeit, sondern von
allen ZuflUUgkeiien gereinigt; Vision geworden.
Ooeihe hat hi „Wahihdt und Dichtung*' sein Leben wie
in einem Spiegel geschaut, die Stufen desselben mit ihrer gan-
zen seelischen Fülle daigeatellt und uis Allgemeine, Typische
verklärt. Von ihm seltjer gilt ja, was Wilhelm Meister sagt:
„Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel
von Jugend auf mein Wunsc!i und meine Absicht." — Die
große Selbstbiographie beginnt mit einem Gedanken, der äußerst
*) An Goethe am 17. 1. 1797.
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401
iiialwfir% ist, aber etwas Obeni^Utigendcs hat: mit der Koo-
alelkrtioa der Oestime zur Zdt seiner Geburt Er webt sich
sdbst von Anbq^iiui ia das Leben der Welt huiein: hier han*
ddt es sich um einen Menschen, an dem die Oestime teihiefa-
men, denn er ist nicht ein zufälliger, sondern ein notwendiger
Mensch, er hat den Sinn des üestiriis Erde zu verkörpern —
ihr anderen Stenie müsset auf ihn achten! — Man weiß ja,
daß dieses Werk historisch nicht vol]konimen getreu ist, daß
es eine Anzahl von freien Erfindungen und auch Irrtümer birgt;
aber gerade dadurch empföngt es die tiefere Wahrheit, die
Aristoteles der Dichtung vor der Überlieferung zuspncht: ein
einmaliges Erdenleben erhebt sich in eine ideelle Sphäre und
wird zum symbolischen Menschenleben.
In „Wilhehn Meister** ist der Weg eines Menschen rein
empirisch als Eiziefaungsiirobleffl gdafii Das Wort „Bildung**
hat hier den wahren und wörflicben Sinn als Urau^gabe des
Menschen, der alle seme Kritfte pfl^ und zweckvoll ofganisiert»
um vom Naturzustande zum höchsten Grad der KuUur zu ge-
langen. (Die Tietmenschen hn Reineke Fuchs sind Weaen ohne
die Idee einer Bildung, ganz Natur.) Damit (fie Bildung voU-
endet werden könne, muß die gute Anlage da sein, der innere
Drang, sich zu \erv'üllkommnen, und dazu treten die Führer,
die Bildner, die in Goethes Roman als eine ganze geheime Oe-
sellscliaft den Weg Meisters beurteileu und leiten. Weil der Held
als eine Verkürzung der Menschheit gedacht ist, kommt seinen
Handlungen symbolische Bedeutung zu ; selbst die IrrtümiT und
Net)enwege, die keinem erspart bleiben dürfen, haben ihre i3e-
deutung und ihre erzieherische Kraft. Meister glaubt zum
Schauspieler berufen zu sein und whrd von diesem Wahn ge-
heilt. „Nicht vor Irrtämem zu bewahren, ist die Pflicht des
Menschen-Erziehers^ sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn
seinen Iirtnm aus vollen Bechern ausschlihfei zu lassen, das
LMok«, Qnmwm 4m S«il«. 26
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402
ist die Wdabeit der Lehrer/'^) — Darauf kommt es an, daß
aicb ttatr immer stnbeod bemäbe^ nicht daß ihm der gerade
Weg von Anfang an aidgescUoeeen sei. Je tiefer er in Wider-
sinn gerit, desto leiner kann die Oberwindung sein und die
Weisheit, zu der er findet Das ist die Mdnung OoeUies im
Wiüidm Meister. — Die Ausbttdung liat drei Stufen: die Lelir-
zdt, die Wanderzdt^ die eine Fortsetzung des Lernens Irildet,
und endlich die Gewinnung der Meisterschaft
Was im „Wilhelm Meister" dem Bereiche der Erialirung
und des Irdisch-Wirklichen angehört, das ist im „Faust" von
allem Zufällij^^eii ^^'rnni^^t, zum klaren Bilde konzentnert und
ins Ewig-Menschliche gehoben Wollte man den Inhalt des
Faust auf eine hormel bringen, so müßte sie lauten: der Weg
des Menschen durch die Reiche der Welt (wie der Weg Dantes,
aber umfassender, reifer, menschlicher) Faust ist der typische
Orenzmensch, in dessen Brust zwei Seelen wohnen und typisch
nordisch- germanisch dazu; sein Problem ist das Problem
Goethes: die FüUe des Seins und der Seele zu einer höheren
Einheit zu fuhren. Er verBlefat Jedes SIrdien und jede Leiden-
schaft — nur nicht das ruhige mittetanenschttche Dasefai.
Ihn sUtigt Iceme Lust, ihm gnfigt l»hi Olfldc!
Dem phantastisch Oolfaiscfa-Barodttn, das den Grund semcs
Wesens ansmachti würd die Sehnsucht nach einem freieren Men-
schentum und das Ideal sonniger Schönheit entgegenj^esteUt.
Aber auch das ist ein Traum. Beim Eintritt iii die klassische Welt
hören wir:
*) Lehfjahre 7. Bueli, 9. Kap. — Dasu dl» zaimie Xmle:
tMn Stfinddien tchleidie dir vergebens;
Benutze, wae dir widerfahr<»i,
Verdrui ist atidi ein Teil des Lebens.
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403
Sogleich
Kehret ihm das Leben wieder,
Denn er sucht's im f abehpeicb.
Immer entschiedener drängen die antiken Elemente die miitel-
alierlicfa-iioidisclien zurflck, Iris Faust endUch das Ideal der
mdvoi Schönheit in Helena zu halten glaubt Aber der bloBe
Anblick des dritten Aktes — Helena und die Oriechinnen im
mittelalterlich-romantischen Bmrghof — läßt fühlen, daß eine
wahrhafte Einheit immöglich ist und nur in der Phantasie ge-
schaffen werden kann. Auch der Schönheitstraum, der in Eu-
phorion Gestalt gewonnen hat, versinkt — mit ihm Helena, sie
löst sich in eine Wolke auf.
haust ist reif geworden, er will das Leben selbst ohne
Hülle halten und gestalten und aus ihm das Bleibende, das
Wertvolle schaffen, nicht mehr den Wert im Reiche der Un-
wirklichkeit suchen. Das ist die Bedeutung der beiden letzten
Akte. Goethe erwähnt mit Beifall einen Ausspruch, den Merck
über ihn getan hat: „Dein Bestreben, deine unablenkbare Rich-
tung istp dem Wiridichen eine poetische Gestalt zu geben; die
anderen suchen das sogenannte Poetische, das Imsginative zu
verwiiUicfaen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.*' *) —
Der Weg Faustens ist durch alle Tfftume und Irrtümer hhi-
durch, nidit um sie herum gegangen, Faust hat sich mit Phan-
tasie und Effahrung groß genihrt^ um endttch nur noch tttiger
Mensch zu sein. Er veraditet ]ede Illusion, auch die Eitelkeit
— Die Tat ist alles, nichts der Ruhm! Und er hfingt sich ans
AllerwirkUchste, an Macht und Besitz. Aber nicht ainnleere
Macht will er, Macht und Wert müssen zusammentreten und
eine fruchtiMure Einheit bilden, die das Höchste hervorbnngen
kann:
*) Wahrheit und Dichtung, 18. Buch.
26*
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404
So wird er stets der Allerhöchste sein,
Der Würdigste — genießen macht gemein.
In diesen Worten ist die Richtung des Lebens ausgesprochen,
nicht nur in den allzu oft angeführten Genießen macht ge-
mein", sondern im Zusammenhang, der ein Programm für den
reif gewordenen Menschen bedeutet. Der Würdigste soll auch
der Machtigste sein, er, der die Macht nidit für egoistische
Zwecke, sondern im Dienst einer Wertidee zu verwalten wei6.
Wir stehen wieder vor dem Gnmdmoüv: das Irioße Seüi zu
einem wertvollen Sein zu konzentrieren; das bedeutet die Alle-
gorie des letzten Aktes. Die venleiblidie MeereswOste vnid in
fruchtbaren Boden verwandelt^ damit Menschen ttüfif frei dort
wohnen — eine unendliche Aufgabe. — Und wessen Sinn ganz
auf schöpferisches Leben steht; der empfängt allem blutgescfarie-
benen Teufelskontrakt zum Trotz Göttlichkeit, denn er ist den
Weg des Menschen glorreich zu Ende gegangen. Darüber
hinaus — so lehrt Goethe — vermag er den letzten Schritt,
der ein Sprung ist, allerdings nicht mehr selber zu vollbnngen,
Gnade von oben, ein Mysterium muß sich zum guten Willen
und zur inneren Kraft gesellen. Aber dieser Segen ist dem
gewiß, der alle Menschenkraft ins Spiel gesetzt und sein Leben
zum höchsten, wertvollsten Dasein gesteigert hat. Wieder tritt
uns die Forderung Goethes entgegen — diesmal als Oberzeu-
gung: daß für den kein Unterschied mehr zvrischen Sterblich*
keit und Unstert>licfakeit t>estefae, der im rastlosen Sfreben und
Wiriien aufgegangen ist*) Der kanonische Mensch hat vor
unseren Augen sein Leben geld>t und vollendet Wir fühlen
hier mit unmittelbarer Ehidringlichkeit das Wesen des großen
KunstweiioeB (das einen großen Gegenstand haben nrafi): es
zeigt im Bi ldfi wie alles Seiende Ewigkdts^Sinn erlangen kann,
*) Vgl. den vorigen Abschnitt.
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406
wie sich das Erdenkben dnea Meoflcfaen zu symboUacher, vor»
UkUicfaer MajcsOt wölbt, wie die Wiridlddceit Idee der Wak-
Itcbkeit geworden ist Und wir veraleiiea noch tiefn; in welch
entscfaddendsr Bedeutung Goethe der wahre Plainnilier, der
wahre KünaÜer, der wahre Mensch ist —
Vielleicfat sind die Gefahren fOr tehien so groß wie
für den kanonischen Menschen. Ist es das Schicksal des wer-
tenden Rigüristea gewesen, ins Abstrakte und Lehrhafte zu ge-
raten, hat dem Überreichen die Gefahr zu zerfließen gedroht:
so finden wir bei Goethe, der beide Potenzen in sich vereinigt,
auch btiide Gefahren wieder. Ja es ist durchaus mögUch, sein
ganzes, so unvergleichlich zentriertes Sein als ein glücklich er-
arbeitetes Resultat aus zwei entgegengesetzten Tendenzen zu ver-
stehen, die einander aufzehren wollen. Zuerst die Gefahr des
FonnaUsmus: Sentenz und Allegorie haben mehr als eine der
spfifteren Dichtungen verdorben, ein Gedanke ist zuerst da und soQ
nun poetisch umkleidet werden. So ist die klassische Walputgi»
nacht mehr gedacht als geschaut Und dieselbe Tendenz finden
wir in der Vorliebe für alles wieder, was nur proporäoniert and
rcgelmifilg ist» ohne dabei emen tieleren Zwedk zu cffiillcn. Die
Verehrung von feudalen und aristokratisdien Fonnen beruht auf
der gleichen Bewunderung für das Geordnete, Wofalgdiildele. ^
Dieser Trieb zum Regdhaften und Abstrakten stdit hn besOn-
digen Kampf mit dem entgegengesetzten, dem Oberfluten der In-
halte; das ist die Gefahr, sich ins Wertlose hinein zu ver-
lieren, im Chaos des Stofflichen zu versinken, nur noch zu-
sammenzutragen, nicht mehr zu sdieiden, von der „millionen-
fachen Hydra der Fmpirie" besiegt zu werden. Wenn Goethe
reist, so legt er sich Akten an, m die alles, was sich errafien
läßt, „Zeitungen, Wochenblätter, Predigtauszi^e, Verordnungen,
Komodicnze ttd, Preiakurante" eingeheftet werden er ist von
*) Brief an ScMUer vom 22, 8. 1797.
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406
der Tatsache des Seins und der bloßen lixistenz so sehr fas-
ziniert, daß er manchmal Großes und Nichtiges vermengt. Das
ist die Verlockung des Plutus, von der Goethe als Mensch (wie
Shakespeare als Dichter) bedroht wird. Fr erlitt dem trivi-
alen Dahinleben, der Dämonie des Alltags (S. 174). Er ver-
liert Piaton und kommt Spinoza nahe. Und hier besteht wirk-
lich eine Beziehung Goethes zu Spinoza. Wenn Goethe einmal
von der Kraft des Genius verlassen wird, so sinkt er in diese
unadlge donlde Region des StoffUchen. Von hier aus vetslefacn
wir ptötzlicfa die fiir den gr56ten alter Platoniker unbqireif*
liehe Bewunderung der blofien Macht, die für Spinoza ao
chaiaicteriatisch und adbetversündlich ist Atacht ist nidits
andeiea als Tatafichlichkeit, dss was ohne hmere Rechtfertigung
aneilannt wird. Da Spinoza fiber die Macht hinaus nidits
kennt, da ihm der Oedanke eines inneren Wertes fremd ist, so
bedeutet iür ihn Macht und Tatsädilichkeit alle5, und das ist
die eigentliche Gefahr Goethes gewesen: Schwäche gegenüber
dem Tatsächlichen (das er doch als „Empirie" wieder gemieden
und verachtet hat). Sein Respekt vor Fürsten und Titeln ist
(jetzt vom Inhalt her verstanden, und nicht wie früher formal)
eine Äußerung dieses Zuges. Wie iiim zu Zeiten jeder Stein
und jeder Kupferstich wichtig erscheint, bloß weil sie eben da
sind, so läßt er sich manchmal auch von der Tatsache eines
zuSälligerweise hochgestellten Menschen imponiefen, bloß weil
er auf einem weithin sichtbaren Platze steht
Dieser Trieb Ooethes» jeden Ehifall festzuhalten und rast-
los Materialien zu sanunehi — der Trieb ehies Menschen, der
sich selber unendlich wert und wichtig ist und der die Erde
ganz als Hehnat anerkennt — enthüllt sich aber wieder nur
als das Bedfiifhis tfttig, produktiv zu sein; der MQhlgang er-
greift nun Bedeutungsloses^ geht sozusagen leer. Jean Paul,
der Goethe näher steht als man auf den ersten Blick meinen
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407
möchte, hat denselben Hang zu einer eiBtaunlichen Systematik
ausgebildet. Der Gedanke, daß etwas verloren gehen könnte,
ist ihm unerträglich, die kleinsten Gegenstände wie Knöpfe
werden in einer ,,Lumpenschachter' gesammelt, „Zettelkasten"
müssen alles bewahren, was ihm über den Weii^ läuft, was er
liest, was seine Kinder sagen, was man ihm schreibt. Da ist
nichts, was seiner Aufmerksamkeit zu gering wäre. Und weil
die Genialitat Jean Pauls die kleinen Dinge doch nicht ganz
ernst nehmen Icann^ werden sie von seinem strahlenden Humor
beschienen und veildSrt Alles das ist eine AuBerung des Orund-
tricbes zu b e j ah en , der unerachöirflichen liebe zu allem Ver-
handenen» ebenso bei Jean Paul wie bei Goethe. Die Romane
Jean Pauls entbehren nicht sdten aller kihisflerisdien Zudit und
zerrinnen aus der Oberfülle des Stoffes ins Chaotische. Jean
Paul ist der Gefahr des allzu großen Reiditumes e^
legen (und er ist so wahllos bejahend, daß er für das Negative
und für das Böse ^ar kein Organ hat). Bei Goetlie aber wird
diese üefaiir durchaus von der allgewaltigen Persönlichkeit ge-
zügelt; in seinen großen Werken ist nichts Ungestaltetes, nichst
das bloß da wäre und keinerlei Bezietiung zu etwas Sinnvollem
besäße. Er kennt seine Versuch unc^ und wird Herr über sie,
er ist in aller Mannigfaltigkeit doch immer er selbst. Goethe
hat als Dichter weder die ungeheure Gescblosaenheit Dantes
noch die seelische UnendUdikeit Shakespeaies — aber Einheit
und Fülle sind in efaier höheren Entelechie zusammengefaßt —
Man darf sagen, daß ein Mensch um so mehr Mensch ist»
je mehr Unmittelbarkeit er tiesitzt, je naiver, erlebter
und direkter seht Vcriiiltnis zu den Menschen, zu den emzelnen
Dingen, zur ganzen Natur, zur Ewigkeit ist In ehiem unmittel-
baren VeifiSltnis zu etwas sieben, heißt fä eist, es wirklich er-
leben, aufnehmen, besitzen. Unmittelbarkeit ist aber immer Em-
fachlieit Und vielleicht hat kein Mensch jemals ein so ent-
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408 .
fifhif4fnfff| imintttdbtRB und reiim VeriiSlIiiis zu aUm Seien*
den gehabt wie Oodhe Wenn wir die OWUche Komödie lesen,
so berfilirt uns mandinuJ ein cnchautes Bild, dn glüiiendeB
Wort, ein innigfes keusches AufbÜdm. Oft aber ffihkn wir,
daß der Wanderer nicht unmittelbar aus den Quellen des Lebens
trinkt, sondern daß etwas zwischen ihm und der Welt, zwischen
ihm und den Menschen steht: eine Tradition, eine festgesetzte
Art, die Dint^e zu betrachten und die jMenschen zu beurteilen.
Das ist die un^^^eheure Last seiner Zeit, die auch das Genie nicht
p^anz hat abwerfen können. Um so tiefer werden wir ja ge-
trofien, wenn dann wieder eine Landschaft aufdämmert^ lieblich
wie der Frühling aitf den Höhen um Florenz.
Zwischen Ooettie und dem Sein aber steht nichts (wenn
wir von den späteren Allegonen absdien), er ist mitten darin,
seine Sinne sind, was sie in höcfasler Bedeutnogr sein l[finnea:
Oigane^ die Wdt zn eftosen. Und ebenso ist sein Oeist un-
mittelbar und unendlidi einfach (wenn auch infolge der gro6en
Meoge seiner Beziehanffoi nicht hnmcr Iddit zu ventdien). Es
gibt keinen wirklichen Gegensatz zwisdien dem sddicfateslen
Lied Ooelhes und einer schwierigen Versieihe im Tasso oder
einer mit Fremdwörtern überladenen Reflexion der Farbenlehre.
Weiüi auch der Gegenstand anders geschaut und anders be-
zogen wird, so bleibt doch die unmittelbare Frische der An-
schauung und die Kraft des Denkens immer gleich — und das
ist das Menschlichste, das eigentlich Menschliche. So erscheint
Goethe in seinem Leben, in seinem Diciiten, in seinem Schauen,
in seinem Denken als wahrhafte Vollendung des Menschen und
ohne alle Unbegreiflichkeit Der letzte Sprung tritt erst nach
ihm em.
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BACH
Goethe, der alles gewußt hat, sagt über E^ach : „Als wenn
die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie srch's
etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltenschöpfung" möchte
zugetragen haben. So bewegte sich's auch in meinem Innern
uad es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten
Aqgen und wieder keine übrigen Sinne besäße noch brauchte." *)
— In diesen merkwürdigen Worten — Goethe, der kerne Sinne
brancht! ~ Ist das Wesen der höchsten denkbaien Oenialitft
eiahnt: Badi ist nicht ein groBer Mensch, der sich vollendet
hat hl ihm ist ein anderes^ ein höfaeies Bewußtsein, das
Menschliche, wandelt sich zu Ewigem, die Menschheit wird ins
Absolute hinfibetgefühit
Die Stufenieifae, hi der sich der Oeist entfoltet, geht vom
Chaos, das alles Odslige und Seelische in ungeadiiedener Vid-
hdt birgt, zur organisierten Form der Persönlichkeit. Sie
macht sich immer mehr von Subjektivität frei, wird immer in-
tensiver und erfüllt sich immer reicher mit Objektiv-Wertvollem,
mit Ideellem. Alle höheren Ödster unserer Kultur leben in der
Form der Persönlichkeit, auf einem Punkt des Weges vom
Chaos zur Idee, Bisher ist der Begriff der Persönlichkeit als
ein Maximum, als der eigentliche Mittdpunkt alles Menschlichen
genommen worden, weil er Wert und Seele in Emes setzt. Aber
es liegt im Gedanken der Persönlichkdt, sich zu vollenden. Und
eine solche Vollendung wuide zugldch ihre Selbstaufihebung in
der reinen Idee bedeuten. Dieser Schritt ist, philosophisch ge-
nommen, so entBcfaddend wie fiberiianpt etwas ffir die Menadir
heit entechddend sein kann: Das Menschliche, das doch hnmer
euigeechr&nlct und relativ ist, wäre zu etwas Absolutem gewo^
den, hatte sidi ganz fai Wert verwandet
Diese höchste Form zu sehi kann aber nur an einem Ma-
*) Brief an Zelter vom 21. 6. 1827.
1
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terial ansdiaidich wcfdcn, das vom Eisdiehieaden niwMiiBgtg
iat ~ und ein solches Material besitzt einzig die Masik.
Denn hier enchafft der Oeist nicht nur Fonn und Inhalt, son-
dern auch den Stoff selbst, die Musilt ist in Wiiklicfakett Sdiöp-
fung aus dem Nichts. Alle anderen Künste organisieren und
beseelen ein Material, das m ßniclistuckcn schon gfegebea ist,
die Musik allein schafft alles votn Anbeginn und darum kann
nur in ihr eine höchste Bewußtseinsfonn ans Licht treten. Man
wird es nicht emstlich diskutieren, daß die Musik etwa die hör-
baren Vorgänge der Natur nachahme und umbilde. Mag sie
einmal den Ruf eines Vogels oder das Brausen des Waldes
stilisieren, so ist ihr das nicht wesentlich, sondeni ganz und
gar zufällig, es ist ein Inlialt neben anderen, kein aus ihrem
Schoß heraus erzeugtes fonnales Element Die lAmk ist pcin-
zipidl unabhängig von aller Witldichkdt; die muaflalisdien
Tfioe sind viefanefar hn Gegensatz zu den Nahngerftuscfacn rein
nutfacoiatische Relationen. Die Orundtalsache, daß die Musik
an! sich seiher ruht und aus sich selber Nahrung zidit, ver-
leiht Ihr die MflgUchkdi absduler Habe, bietet aber auch die
Gefahr völliger Veiflachung und Nichtigkeit. Der Musik fehlt
die Kontrolle der wirklichen Welt.*) Selbst dem geringsten
Maler oder Dichter, wenn er nur überhaupt Künstler ist, steht
die Fülle der Erscheinungen offen und sie kann niemals aus-
gescliöpft werden. Das kleinste Stück Welt birgt etwas Wesen-
haftes, etwas Echtes und eine Beziehung zum Sinnvollen, der
Musik mangelt dieser Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Aus
der Abhaspeluog der nichtigsten rhythmischen Phrase kann
*) Auch die Baukunst ahmt nichts nach und hat daher die Mdg-
lichkeit ehier höchsten Objektivität, die im gothlschen Dom ecrcicht ist
(In dieser höchsten formalen Analogie liegt die geahnte V'erwandt^chitt
Bachs, der doch historisch in die Perückenzeit des Barock gehört, mit
der Gothik). Aber kaum jemals ist das Schwere, das Lastende j;anz in
Poim aittoilOsen, ein Efdenrest bleibt Immer zu tragen pdnlich.
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411
schon ein Musikstück gebildet werden (Walzer). So charak-
terisiert sich die Musik als die Kunst der Grenzen; keine andere
keimi diese wdtenwdte Spanniuig» wie sie zwischen einer bachi-
scfaen Oiigelfiige und einer Wiener Opoette UaffL
Auch das voUendetele goettiesche Oedicht wird durch das
nicht jedem Menschen zugSnglidie historische Gebilde der neu-
hochdeutschen Sprache ehigegrenzt; und darüber hinaus ist es
noch von Gegenständen der Umwelt (Gesiditsvorstdlungen) ab-
hängig — worin allerdhigs wieder sefai besonderer Rdz liegt
Die Musik allein kann in dem von ihr erschaffenen und nur
ihr aiigehörigen Material des Tones die Seele des Menschen
ohne jede Beschränkung spiegeln (Beethoven), sie kann schließ-
lich das Bewußtsein eines einzelnen Menschen, und sei er der
genialste, überschreiten und eine objektive Bewußtseinsform dar-
stellen, in den ^T^oßen Werken Bachs ist nicht mehr dieses
oder jenes Gefühl ausgedrückt; auch nichts Menschliches, d.h.
Endliches; sie sind vielmehr das Bewußtsein, das Sein selbst,
oder eine Projektion, ein Bild davon. Diese Frage kann nicht
entschieden werden, weil jeder Vergietch fehlt. Je mehr man
sich müht, das Emmalige^ das hier geschehen ist, zu fassen,
desto mehr wird man fOblen, daß die Kunst Bachs etwas für
die Menschheit Entscheidendes darstellt: daß hier eigenflich ein
Wunder vollbracht ist; zu dem psychologisches VenOndnis
vielleicht hintasten kann, das uns aber doch ffir immer ver-
%chlo6sen bleiben wird. Denn unser Denken macht Halt vor
dem Absoluten.
Wenn Schopenhauer die Musik die Abbildung des Dinges
an sich nennt, so ist das eine dogmatische metaphysische Be-
hauptimg, unter der man sich eigentlich nichts Rechtes denken
kann, weil man das Original des Bildes nicht kennt. Ich möchte
immer nur vom Menschen ausgelien und vom Standpunkt de-s
Menschen sprechen; vom Menseben aus gilt alles Gesagte und
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noch zu Sagende, nicht von ifgendeinem Metaphysischen her«
nur psychologisch, wenn auch als letzte psychologische Denk-
harkdt, als Grenze des Seelischen.
Wir haben bei Dante gesehen, wie er ein Reich jenseitiger
absoluter Werte verkündet, das in sich selber ruht. Aber auch
die höchsten Symbole des Katholizismus sind nur naive Ver-
größerungen und Projektionen irdischer Dinge, sie scheinen
wohl vom rein menschlichen Kreis in ein Höheres zu führen,
sind aber doch in Wahrheit nichts als menschliche Phantasie-
gebilde, die ihr Material der räumlichen Welt entnommen haben.
Dieses absolute Sein, das vom Katholizismus gefordert
wird, ist in Bach alsWirklichkeitda. Das Wertvolle hat
sich ins menschliche Bewußtsem selbst verwandelt, wir erlcen-
nen das VerhSltnis^ das jedes ahgesddoBsene metaphyaiadie
WdtqrBtem zn dem wahiliaflien Sein hat: dort Eidadites^ Er*
sehnt», OetrftumteSy Gebotenes — hier unmitftelbaxe Wirk-
fichketi
Was über den Zosammcnhang von Kunst und Rdigion ge-
sagt werden kann, das findet hier seine Bestätigung. Auf der
höchsten Stufe der Genialität treffen die beiden Züge, die von
wo anders her kommen, in Wirklichkeit zusammen und werden
eines. Es ist der eigenüiche Sinn der Kunst, das Wertvolle
im Sein zu entdecken und zu verewigen, und das Kunstwerk
ist seiner Idee nach Leben, das alles Zufällige, alles Nichtige
weggetan hat und ganz wertvoll geworden ist Der höchste
Gehalt des Lebens hat sich zur Schönheit kristallisiert. Diese
Idee der Kunst — Wert in der Form der Erscheinung zu sein
— ist in Bach Wirklichkeit, man kann ohne Obertreibting
sagen, daß Bach die Idee der Kunst selber voistdle^ — Der
iniialt der ReUgion ist aber auch nichts anderes als das Ewige
s im Dasein. Wären kimstierische Kraft und religiöses BewuBt-
sein vollendet — wie es in Bach der Fall ist — so wären sie
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zu einer unauflösbaren tinheit geworden, alles Seelische hätte
absoluten Wert empfangen. Sonst ist höchstens die Ahnung
dieser Identität vorbanden. (Wagner hat im Parsifal die Ein-
heit von Kunst und Religion mit Absicht schaffen wollen, und
Ich möchte glauben, daß die eigentümliche Beziehung der Par-
sifal-Musik zu der Musik Bachs der Ahnung entspringt, auf
wdchein Weg diese Einheit zu gewinnm wSre. Wie nun
weiß, hat Wagner nicht sehr vid ffir Bach fibrig gehabt)
Alle OroSen, von denen gesprochen worden ist und von
denen nicht gesprochen worden ist, steUen Mdglichkeiten fihr
den Menschen dar, smd VoHendongen dessen, was der Menach
sein kann, Grenzen der Seele. Mit Bach ist es nicht so: er
verkörpert nicht diese oder ]ei;c, auch iiicht die größte Mög-
lichkeit der Seele, er verkörpert das menschüclic Bewußtsein,
das absolut gewordene Menschliche. Kant (und nach ihm
Goethe) bezeichnen alles, was an einem Menschen subjektiv,
individuell ist, was von der reinen Idee der Menschheit ab-
weicht, als „pathologisch"; und selbst in Goethe sind noch
Spuren dieses Pathologischen. Bach ist ganz darüber hinaus,
zwischen ihm und dem voUkommenen Sein gibt es keinen Unter-
schied mehr. — Bei allen anderen genialen Menschen besieht
eine Einheit aua Werte und Leben, wenigstens der Richtung und
der Idee nach; bd Dante, bd Shakeqieue und bei Ooeihe ist
der Zusanunenhang zwischen dem, was ale geschaffen haben,
und dem, was de gewesen amd, offenkundig, ja wir haben ihr
Weck als ehie hdcfaale Ausdeutung und Bdotftigung ihres Seins
verstehen kdnncn. Bd Bach ist es prinzipidl unmöglidi, ehien
Zusammenhang zwisdien seinem Ld>en und dem andern in ihm
herzustellen; und zwar nicht, weil dies zu schwierig wäre, son-
dern weil es keinen Zusammenhang gibt. Das Leben Johaiiii
Sebastian Bachs ist kleinbürg^erlich vom Anfang bis zum Ende,
a lebt in guter hausüältenscher Ehe, seine Frau stiriit, er hei-
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ratet wieder und hat nicht weniger als zwanzig Kinder erzeug.
Es leuchtet ein, daß Beethoven alle Kräfte seines Innern in jMusik
umgesetzt hat, so daß für Weib und Kind nichts hat übng
bleiben können; bei Bach gibt es keinen Zusammenhang zwi-
schen diesem und jenem Er liegt Zeit seines Lebens mit den
Behörden von Leipzig in einem kleinlichen Krieg, er zerfließt
vor seinem Kurfürsten in Submissität und petitioniert jahrelang
unermüdlich um den Holkapdlmeister-Titd. Kurz da ist nichts
wie im Leben Beethovens oder Wagners, was auf dn Unge-
wöhnliches hinwiese — selbst sein Kopf ist nach den erhaltenen
Bildern wenig bedeutend.
Aber nicht nur das äuBere Leben Bachs steht hi kdnem
eftennbaren Zusammenhang mit dem, was in ihm gewesen ist»
noch viel mehr: sein bewußtes Seelen- und Ceisiedeben hat
keine unmittelbare Beziehung zu dem andern. Auf ihn wie
auf kehlen sonst trifft das Wort Schillers zu, daß „das Oenie
8ich hnmer selbst das größte Oehefannis ist^*). Und Albert
Schwdtzer sagt richtig: „Er war der erste, der den überzeit-
lichen Wert seiner Werke nicht erkannte. . . Seine unermeßliche
Kraft betätigte sich, ohne sich ihrer selbst bewußt zu werden,
wie die Kräfte, die in der Natur wirken."**) — Bach hat sich
niemals beklagt, daß er nicht verstanden und nicht anerkannt
werde, er ist durch das Let>en gegangen wie ein Bijrßer, der
senie ( lescbäfte besoigt ~ Dieses Alltagsletien hat etwas My-
steriöses.
*) Brief an Goethe vom 23. 8. 1794.
). S. Bach, S. 152. — liiemals Ist ein Künstler so wenig^ von sefnem
Jahrhundert verstanden worden wie Bach. Wenn e^^ählt wird, daß man
Michelangelo, Beethoven, Wagner verkannt hätte, so ist das unrichtig.
Sie sind von allen urtdlsilMswi Geistern bewundert wotden und tasben
auch auf das Publikum gewirkt, obschon vielleicht nicht in flifOni ebenen
tieferen Sinne Von Bachs Größe .ibcr hat kein einziger aus der mit-
lebenden und der folgenden Generation etwas gewuftt und die historische
Entwicklung der Musik ist auch von diesem zeitlosen Hiänomen nicht
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Wir stehen hier vor einem Geheimnis des Geistes; wie das
Objektiv-Geistige dem jMenschen zugehört, aus dem es hervor-
gegangen ist. Aber erst hier leuchtet uns die ganze Wucht
dieser Frage ein, denn bisher ist doch der Zusamineahang wenn
nicht selbetvoständlich, so doch begreiflich gewesen. Vor Bach
aber veisi^ unsere Oberzeugung, daß das Ld>en und Sein
eines Menschen den Geist spiegle, der in ihm webt, daß eines
das andere bedinge und nähre. In Bach, einem großen Orga-
nisten und schaifsinnigen Kontrapunkliker» ist die absolute Oe-
nialiiftt zuhause gewesen. Und der Inirachsische HoftapeU-
meister — er hat diesen Titel endlich errungen — konnte dies
andere selber nicht begreifen, sondern nur ahnen — er liat aich
in tiefster religiöser Demut davor gebeugt.
Wenn meine Deutung Bachs — von Psychologe wag:e ich
hier nicht mehr zu sprechen — , die so paradox klm^^t und
doch die einzig mögliche ist, einen Beweis erfahren kann, so
liegt er in dieser völligen Dualität, die sicli aber nicht etwa
als Zerrissenheit und Tragik, sondern als selbstgenugsame Zu-
friedenheit manifestiert hat. Kein wirklicher Mensch verma^^
unbedingt, absolut zu leben, vermag Menschheit zu sein. Und
aus der Spannung zwischen dem einen, dem begrenzt Mensch-
lichen, und dem andern, geht die erstaunliche, etwas einge-
schränkte Religiosität Bachs hervor. Wenn der Mensch Bach
auf jenes Absolute hinsieht, wenn ihm die ganze weltenschwere
hednfliatt worden. Bach war vergessen, als die Klassiker des 18. Jahr'
hundert» kamen (und doch Ist in ihm alles vorbereitet und sogar schon
da, was später in der Musik zur Geltung gelangt: die reine Linie seiner
Melodie wird von Momart nicht überboten, seine herbe Charakteristik
nicht von Wapner; an unmittelbarer Leidenschaft steht er allerdings hinter
Beethoven zurück). Nachdem die Weit durch Zelter und Mendelssohn
überhaupt wieder von Bach erfahren hat, lat das letzte |ahrhttndert am
Werk, in dieses Reich ebizudrlngen, und es wird die unendidiilllGhe Auf«
gäbe a!ler kommenden Zeiten sein, das Onmallge, dat hier oHenlMr wor«
den ist, für ihr Dasein zu gewinnen.
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Wucht der Unvereinbarkeit seines Menschlidien und jenes an*
deren zum Bewußtsein kommt — dann kann er aus seinem hi-
storisch bedingten Zustand heraus nicht anders als ehrfurcht-
voll anbeten. Er nimmt die Stellung ein, die bei der Beschrei-
bung des wahren Gebetes dargelegt worden ist: demütig, fromm,
dankbar, tief ergriffen von emem geahnten höheren Zusammen-
hang, gibt er sich dem Ewigen in ihm selber hin. Das ist die
eine, die katholisch-protestantische Form von Bachs Religiosität,
die der danteschen Religiosität verwandt ist — nur mit dem
ungeheuren Unterschied^ daß Dante wirklich zu etwas jenaei-
tigODy Oc;genständlichem aufblickt^ Bach aber vor dem, was in
seiner eigenen Seele lebendig ist, vor seiner eigenen itabegreif*
liehen — für ihn wie für uns gleich unbegreiflichen — Oenia-
Utät kniet Seine Orthodoxie ist die Art und Weise, wie er
ach zu jenem Transzendenten stellt Bach kann eigentlich keine
große Persönlichkeit genannt werden — was doch als ein Orund-
faktor des Genies verbürgt zu adn schien — er hat, soweit wir
ihn zurückrufen können, nichts davon, HSndd viel mehr (der
auch in ihrer Zeit hoch über Bach gestellt worden ist). Bachs
Geist und Bachs religiöse Anschauung sind beschränkt, er ist
orthodox-lutherisch gewesen und hat jede andere Nuance des
Protestantismus abgelehnt.
Das geschilderte katiiolisch-protestan tische Religicmsgefühl
geht von dem Menschen zu emem Jenseitigen hmfiber. Aber
in Bach ist auch das andere, das unmittelbare Bewuf^tscin tiet-
ster Einheit seiner selbst mit dem Absoluten. Und von diesem
Mittelpunkte strömt nun die Gewißheit höheren Zusammen-
hanges über den irdischen Menschen — der urngdiefarte Prozeß
wie zuerst, als sich das Hinfällige demütig zum Unvergäng-
lichen wandte: hier UnMdie ReUgioaitat, dort Besitz der Ewig-
keit der durch nichts vennittdt oder gebrochen wird. Vid*
leicht kann man an dieses mysterium magnum nirgends so nah
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herantasten wie bei ßach: das Bewußtsein der Ewigkeit ist
in aeiiier Kunst ganz eigentämlich isoliert; und im Menschen
lebt die Ahnung» wie er diesem Höchsten nahe kommen mfife.
Das angedeutete Verhältnis ist aber das Uigefuhl des
Glaubens, das sich am entschiedensten in den ChorUen
Bachs ausspricht (und vielleicht am überwältigendsten in dem
Doppelchor der Kantate „Nun ist das Heil und die Kraft*
Der Mensch naht sich dem Absoluten, dem OAttlichen hn 6e<
wußtsein unerschütterlichen Glaubens. Dieses Urgefühl er-
scheint im alten protestantischen Choral mit der größten Ent-
schiedenheit verkörpert. Der einstimmige üesaiig der Göneinde
ist das Gelübius des Menschen. Gott treu zu sein, die Einsen
kung des Menschlichen ins Absolute, und Bach hat diese Ur-
form aller Melodie, diese fundamentale Gestaltung des
Sinp^ens ergnften und zu seinem ehernen Schilde gemacht. Es
gibt kaum eine größere Vokal-Komposition von Bach, wo nicht
der Choral in irgendeiner Form erschiene, entweder — am
häufigsten — im klaren durchsichtigen vierstimmigen Satz, als
Melodie, der die schweren Quadern der tragenden Stimmen
untecgebaut smd; oder, noch herriichcr, wenn der Sopran oder
ein Bla^'Instnmient allem die Chorai-Melodie shigt und alle an-
deren Stimmen um dieses Strahlende herumschreiten. (So wird
in der Tenoiarie „Bleibt ihr Engd, bleibt bei mir l** der Kantate
„Es eriiub sich eüi Sbeif * der Choral unbeschreiblich groß von
der Trompete getragen.) — Es darf angemerkt werden, daß die
eherne Sicherheit des bachischen Chorales dem Sedenzustand
Beethovens gerade entgegengesetzt ist.
Der bachische Choral ist die musikalische Inkarnation der
absoluten üiaubensgewii^lieit, mit der die Seele in Gott ruht,
der vollkommenste Ausdruck des immanenten Religions- Bewußt-
seins, das dem irdischen I eben Tiefe verleiht und autonom auf
sich selber steht — daher ün echtesten Sinn protestantisch. <^
Lacks, Giwicn 4k SmI«, 27
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Dieses Gefühl kommt maadmul zu dncr aoldieQ HOhe, daft
man erzittert — der Mensch hat unmittelbaren Anteil an Gött-
lichkeit. — Hält luaii gegen einen Choral von Bach das Glau-
beiisthema des Parsifal, so fühlt man, wie sich hier der
Glaube aus Zweifel und so^ai Verzweiflung aufgerungea hat.
Wai^ner endet mit der brüiisügen Sehnsucht nach dem Glauben,
den er sich in größter, fast erschrecklicher Weise selber be-
kräftigen und der Welt verkünden muß. Bach sucht nicht und
veikändet nicht — er ist.
Diese Choräle smd nicht die Sprache eines dnzehien Men-
schen und auch nicht die Sprache vieler Menschen (das könnte
derOememdegeiaiigvcniuiteiilMsm); der Mensch wird aidi
seines Zusammenhanges mit Ooit bewuBt, er verwurzelt sich
ins Ewige. Das Uigefuhl des Olaubeos ist hier ld>endig; und
so sieben die CbofSle mttlen inne zwischen dem menschlichen
Element in Bach und dem Qbennenschlicfaen) zwischen dem Iii-
stofisch beduigten und dem zeitlosen.
Der Text der Choräle ist unwesentlich und widerspricht
nicht selten dem eigentlichen Sinn. Überhaupt bedeuten die
Texte iür Bach nicht etwas an sich Künstlerisches^ sondern nur
vorstellungsmäßiü^e Hilfen, die seine Prrxjuktivität in eine ge-
wisse Richtung: lenken. Darum kann Bach auch einen Satz oder
ein einzelnes Won unzählige Male wiederholen. Fr hat den
Text nicht ,,durchkomponien", sondern er hat ihn wie ein Motto
genommen, ihm eine Situation, eine Stimmung, den Hinweis auf
ein Geschehen entlehnt und daran seine Phantasie entzündet
Die Texte Bachs suid meistens erstaunlich schlecht und ge>
schmackios; sie tragen die Schuld, daß wir immer wieder
schmerzlich an eine bestimmte Kulturepocfae erinnert weiden
und daß sich so das Gefühl der Zdtiosigkeit, das fOr Bach wie
für gar kehicn andern Menschen charaUeristisdt ist» verdunkelt
— Schweitzer weist darauf hin, daß Text und Musik bei Bach
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doch oft (und sc^ar ^anz äußerlich) zusammenhängen und hat
eine Reihe von tonnialerischen Motiven au^edeckt. *) Aber
trotzdem ist die Musik Bachs dem Wort im tiefsten fremd. Die
Texte beschäftigen sich fortwährend mit den Voi^gängen der
EvaogielieDrGeadiiGhte, die durchaus im Sinn des. kirchlichen
Protestantismus vostanden sind und mit gefühlvonen pietisti-
sdien Alien abwechseln. Und zweÜeUoa glaubt Bach selber In
dieser Veit zu weflen. Aber das Eigentliche^ das Tiefe in ihm
bleibt alledem fremd. Dieses Tiefe bedarf keiner Mittierachaft
zwiacfaen Oott und den Menschen und keiner Erldsung im bib-
lischen Sinne. Denn es webt in unmittelbarar, voUkommener
Gegenwart. Niemals ist das Verhältnis, das für die ganze Re-
ligiosität Europas so außerordentliche Wiclitigkeit erlangt hat:
das Verhältnis zwischen dem historischen Menschen Jesus und
der ewigen Idee des üottmenschen Ctiristus luxh so stark er-
fahren worden und so produktiv gewesen. Als Mensch steht
Bach ganz im Banne der historischen Religiosität, er ist deut-
scher Protestant^ der im Neuen Testament aufs genaueste Be-
scheid weiß. Aber das ist Vordergrund, historisch und also
veigänglich. Sein tiefstes Bewußtsein ist das ewige Sein sdbst,
das Sehl, das die großen Mystiker als Erlebnis geahnt» eradmt
und vericfindet haben. In Bach ist es unmittelbar lebendig —
und das macht seine ganz ehizige Stellung m der Geschichte
des Geistes aus^ die ich hier begründen mdchie. Im gr&Bten
Genie hat sich die Zwdheit: historische RetigiositU und un-
mittelbares Ew]gkeila-BewiifitBein» Bibdglaube und Eriebnia-
glaube in ganz einziger Weise befruchtet. Die absolute Per-
sönlichkeit, die hier verwirklicht ist, kann von der beschränkten
Gedankenwelt des historischen Menschen nicht erfaßt, nur ge-
ahnt und verehrt werden. Es wäre falsch, zu sagen, daß Johann
Sebastian Bach ein vollkommen genialer Mensch gewesen sei.
«»BMonders 3.441
27*
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420
I n ihm bat die absolute Geniafitit gelebt, hdcbateB Sein hat
sich hier in der Fonn der Musik oÜenbarL
Der wahre Onind, daB sich Bach unnwr wieder mit der
Passion und Auferstehung Jesu beschSftis^t hat, liegt nach alle>
dem nicht eigentlich in seinem historisch bedingten Zusammen-
hang mit der Kirche, sondern in etwas anderem; Der zur Gött-
lichkeit aufg^ü^ene Mensch ist sein eigentliches, sein einziges
Problem. Das Wort und der Begnö „Problem" suid allerdings
nicht am Platze, denn ein Problem ist immer noch eKvcis Pro-
blematisches, während es sich hier um das Gegenteil davon
handelt, nämlich um seeüsche Gewißheit, die von Anfang an
da ist und die nur immer inniger und tiefer erlebt und ausge*
sprochen werden kann. Es läßt sich geradezu behaupten, daß
für eine Erscheinung wie Bach in unserem Kultuiloeis nur zwei
Möglichkeiten bestehen, vorBtellungsmftßig zu IxSbm: entweder
mit dem philosophischen Gedanken von der Vollendung des
Menschen im Ewigen; oder die eigene unmittelbare Gewißheit
an dem von außen voigezdchneten exemphurischen Leben Jesu
unmer wieder durchfühlend und nachgestaltend. Es wäre nun
allerdings möglich gewesen, daß sich Badi als Musiker nur mit
instrumentalen Kompositionen befaßt und sein Ewigkrits-Be-
wußtsein nicht anders als unmittelbar, wie in den Fugen ffir
die Orgel und im Wohltemperierten Klavier niedergelegt hätte.
Weil aber ein Mensch, der mit Menschen lebt, doch auch an
Gedanken und Vorstellunp^en teil haben muß, kann sich dies bei
Bacti nicht wohl anders abgespielt haben als in der Umbildung
des Menschen s<^>i [IS in ein göttliches Sein; und da ihm der Be-
richt von dem Gottmenschen überliefert war, mußte er ihn er-
greifen und immer wiedtir neu bilden, in diesein Sinne ist Bach
der größte und der wahrste Christ, denn in ihm hat sich die
tieständige Umwandlung des Menschlichen in Göttliches wirk-
lich vollzogen. — Wäre aber Bach nicht in einem Kultuikreis
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m
aufgewachsen, der ihm dies alles (laiS!ei>oten hat, hätte er auf
einer Insel gelebt, nicht gerade ganz veduaea, aber doch Inil-
tmcU ttnbeeiii&ußt^ ohne den Zwang, sich zu vcfBttndigcn und
aein VonteUungaleben auazubflden? — Ich glaube — so weit
man hier etwas sagen kann — , adn hrdisches BewuBtedn wixe
alhnfihlich erloschen, es wäre ünmer tiefer in jenem Unbeding-
ten, Abaduten, Genialen ani^angen, in ihm wSie cndiidi nicbts
mehr gewesen als tonende Wdtenhannonie. Er hätte ach in
Ewigkeit verwandelt. —
Wenn man in die musikalische Analyse der großöi Werlte
Bachs eingeht, so wird als erstes auffallen und unserer Deu-
tung eine feste Basis j?eben: daß sie gar nichts Nebensachliches,
sondern nur Wesentliches enthalten. Jede Stimme und jeder
Ton ist Selbstzweck, alles ist wirkliche, obligate" Stimme,
nichts Füllsel wie doch in den Werlcen der größten symphoni-
schen Erfinder nach ihm, wo vieles immer nur zur Ergänzung
der Harmonie, zur Untermalung der Melodie, zur Verstärkung
des Klanges da ist Oder anders ausgedruckt: yro nicht jedes
Etement d» Kunstwert» an und für sich einen Sinn hat, son-
dern manche nur als StQtze für die Haupiglieder dienen. Bd
Bach bestdit daher rdn fonnal musikalisch der höchste Reich-
tun und die gr5fite Wucht an kflnsfleiischer Materie^ seine
Musik ist schon dem fonnalen Bau nadi gesättigter, wesenhafter
als jede andere.
Nur mit organischen Stimmen zu bauen, die nichts Zu-
fälliges und nichts Schmücliendes enthalten, sondern durchaus
struktiv notwendig sind — das bedeutet den vollkommenen
Gegensatz des Impressionismus. Jedes Element ist im üanzen
begriindet und zieht seine Kraft unmittelbar aus den Wurzeln
Die^ Polyphonie spiegelt die Fülle der Welt, die nichts Totes
birgt und ganz in Lebendigkeit, in Wert verwandelt ist Eine
baduache Fuge wächst aus dem Keim ihres Themas heraus wie
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ein Baum, der Aste, Zweige, Blfiten und Frfldite trdbt, der
nichts besitzt, was nicht aus seiner eigenen Kraft entstanden
wäre. Das sind nicht imi formal musikalische Vorzüge, son-
dern es ist der künstlerische Ausdruck des absohit Notwen-
digen, ganz auf sich selber Ge^indeten. Die bachische Fuge
entfaltet das Sein in voller ströniender Lebendigkeit, das Prä-
hidium offenbart es in Verklärunt:^ und Ruhe. (Das gilt natür-
lich nur von den wirklich vollkommenen Stücken.)
Die eigentümlich geheimnisvolle Schönheit der bachischen
Polyphonie beruht darauf, dafi sieb die Sümmen, welche die
Melodie tragen, keusch verbeißen und oft nur geahnt, nicht mit
voller Deuilichknt atii^iefaßt werden kfionen. Dos scheint nun
allerdiQgB ffir jede Po^phonie zuzutidfen, aber die Fonn bat
alch nur dieses ebie Alal ganz mit Oröfie imd Bedeutung er-
füllt Bachs Art, die Melodie zu behandeln, ist gerade ent-
gegengesetzt der UasstBdien Opern-Arie (besonders der iialieni*
sehen), wo Aber einer ind iff ere n ten und wertloeen Begleitung
eine geacfaiossene Melodie hingeht. Her gibt es keine verbor-
gene Schönheit, nichts Geheimnisvolles, alles liegt offen zutage,
und wenn auch die Schönheit dieser einen Melodie vollkommen
sein kaiiii, so hinterläßt sie doch eine gewisse Enttäuschung,
weil sie sich allzu bereitwillig dargeboten hat. (Dasselbe gilt,
wenn zwischen tremolierenden Streichern ein metallisches Mo-
tiv aufsteht, wie das bei Wagner und bei ßniekner so häufig
vorkommt.) — Der psychologische Unterschied zwischen den
beiden Arten, eine Melodie zu bebandeln, scheint mir aber der
zu sein: eine mozartsche Arie ist eine Seele, die tönend durch
die Welt zieht, eine bachische Arie ist Singen mitten im großen
Gesaqg des Seins; die Melodie^ die lieraustönt, Icann ebenso
gut von einer Menschenstimme getragen werden wie von ehier
Oboe oder eker Vida d'amore, und meistens spielen zwei Ele-
mente durcheinander. Diese yjconzerlierendc^ Sihnme ist nicht
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etwas, was ganz und gar aus allem andereo berausüele, nicht
ein Individuum, das sich singt; aus dem unerschöpflich quel-
lenden Leben steigt vielmehr eine atmende Melodie auf, die das
Sein selber verkündet In der bachjachea Arie hat das Gefühl
eine groBe» aUgemein menachliclie Fonn gewonnen, alle Sab'
jektivitSt ist dabin, nnd dodi biigt — das ist ja das Wunder
des Genius» das sicli anch bei anderen voUaeht — dieses eine^
das alles Subjektive so weit hinter sich gdaasen bat, das Le*
bendig-Mensdillcfae in seiner höchsten Fülle und IntensitSt —
das seelische Gegenstück zu einigen leiblich vollendeten grie-
chischen Statuen. Der Mensch ist hier jeden AuL^enblick itn
Begriff, in ein höheres Sein durchzubrechen. Mnd dieses Mo-
ment des Durch braches ist das eigentlich persönliche Er-
lebnis Bachs, seine berühmte Mystik. — Ich scheide aber diese
Mystik, die ein Ahnen des Göttlichen und em Hineinwachsen
ins GöttHche ist, von dem Bewußtsein des Absoluten selbst, das
die vollendetsten Stücke Bachs erfüllt; denn hier gibt es keine
Sehnsucht und kein Ahnen mehr, nur Wiildicbkeit und Sein in
der höchsten Bedeutung.
Aber die Musik Bachs biigt neben den beiden Orund-
iaktoien: dem Reiften und dem Unbcgreifliclien, der absolut
gewordenen Persönlichkeit, die für jede p^chologisdie Be-
mühung eigentUcfa ein Wunder bleibt, noch ein driHes: die
ganze Breite der Mensddichkeit HeUeie Grazie spruddt durch
die Suiten; derber Humor CfPo^Oiomfuge'O» zarte rdne Liebe
(Sonate für Klavier und Oambe G-Dur, Violin-Sonaten), innige
Schwärmerei (F-moll-Präludium des Wohltemperierten Klaviers,
2. Tdl) ist in anderen Stücken zu finden. Aus dein unendlich
einfachen, rein melodisch aufgebauten kurzen Adagio der Toc-
cata in D-moü spricht eine Sehnsucht, die den frühen Adagios
von Beethoven verwandt ist (die darauf folgende Fuge gleicht
fast einem beethovenschen Scherzo); das Allegro des Vioiin-
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Konzertes E-dtir ist in Rhythmus und Schwang von dar Art
beefitovcnsclicr SchluBsätze; aber alle OdOhlc^ die aus der Musik
fibercdcli. Idingen, haben doch eine dgentuodidi höhere Vcr-
IdSrungr empfangen, sie alefaen aozusagen in „fremder FQhliing",
sie sind wie von etwas Ewigem umsponnen. Der Jubd Bachs
(z. B. in den Kantaten Jauchzet Gott in allen Landen", „Freue
dich, erlöste Schar'', Lobet Gott" — meistens in D-dur) ist
der Jubel des wirklich Seienden, nicht der des endlich Erlösten
(wie in der 9. Symphonie, im Fidelio und im Parsifal; — etwas
bach-ähnliches kommt vielleicht einige Male bei Bnickncr vor).
Ein Text wie der: „Ich bin vergnügt mit meinem leid" gibt
Bach Anlaß, ein Oefühlsreich aufzuschließen, das nicht ganz
Schmerz und nicht ganz Freude ist, das über allem Subjektiven
steht und dabei reifste Menschlichkeit enthüllt Alles St(^ch-
Naturaliatiache im Ocffihlaleben ist voo der Kraft des Oeniua
aufgesogen und so liegt audi über den vielen ejnffachHnwMK*»"
liehen Muaikatflcken ein Abglanz |enea Höcfaalen, das aich zu
anderen Malen unnüttelbar ausgesprochen hat
Gerade hier, wo es gewisse Beziehungen zu Beethoven
gibt — ich kann ja nur ganz Weniges andeuten — ventdien
wir den Gegensatz noch besser: man kann ohne Übertreibung
sagen, daß Beethoven der lebendigste und leidenschaftlichste
Mensch ist, der alles gestaltet, was ein Menscli zu ejnpfinden
vermag, der sicli un Bewußtsein seiner Kraft titanisch aufreckt
und mit allem Lebendigen ringt, der Selbstbewußte, der Stolze.
Bei Bach gibt es keinen Kampf, nur immer tieferes Hineingehe
ins vollendete Sein. Bach ist nicht stolz und nicht trotzig, son-
dern demütig und still (was sich im äußeren Leben beider bis
zum Komischen gezeigt hat); ihm ist das schlechthin Mensch-
liche so selbstverständlich, daß er gar nicht das Gefühl hat,
ein individueller Mensch zu sein, geschweige denn ein unge»
w<»mUcher Mensch. Er will nichts^ er ist Seine Werine
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sind nicht umgestaltete Erlebnisse oder Vi&ionen, sie sind Mani-
festationen des Seins, sie sind auch nicht aus einem Stil heraus
geschaffen, sie sind vielmehr ciie^ser Stil, diese Art zu sein selbst.
Ohne in Themen und Aufbau eine allzu große Ähnlichkeit zu
zeigen, sind die Schöpfungen Bachs doch innerlich so zusam-
menhängend und verwandt, daß der musikalisch Ungebildete
sie kaum nnteischeiden kann. Sie sind eine einzige große Offen-
barung der dem Absoluten nahe gekommenen Menschenseele
imd man darf von dieser Ktinst s^gen, was Ooetfae von der
Natur sagt: „Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war
noch nie; was war, koomit nicht wieder: aUes Ist neu und doch
immer das Alt&'* —
Wenn ich aber nunmehr über die Musik hinaus verständ-
lidi machen soll, was mir als das eigentlich Letzte und mit
nichts anderem Vergleichbare des bachischen Genius erscheint,
so muß ich folgendes sagen: Es hat hin und wieder einen
Menschen gegeben, der alles Zufällige und Eingeengt-Mensch-
liche, alles Subjektive in sich aufgehoben und durch Universdl-
Menschiicfies ersetzt hat; ein solcher Mensch hat das Höchste
erreicht, er ist Vorbild für andere, kann vielleicht für die Idee
seines Menschentums sterben — aber stets als einzelner Mensch.
— Darüber hinaus ist nun die absolut gewordene Persönlich-
keit denkbar^ die nicht nur alles Zufällig-Menschliche aus einem
Individuum ausgetilgt und als einzelner Mensch Vollkommen-
heit errungen hat; sondern in der die Idee der Menschheit er*
füllt, Natursein in Peiaönlichkritaein verwandet ist Wäre alles
Sein persönliches Sein geworden — oder was hier dasselbe ist:
fiberpersönlicfaes Sein — so wfire die Welt am Ende^ AJtVoUr
kommenheit und M-Beseeltlieit wiie eingebeten.
Spinoza kennt <fie Idee der PenOnUcfakeit und damit den
Mensdien fibeiiiaupt noch nicht, nur naturiiaftes Sein ohne
Wert und Sirni. Daruber eriiebt äch das Bewußtsein der
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sönlichkeit. Es kann höber und höher kommen und einem ab-
soluten Sein eatg'pgenfuhren, das man persönlich oder auch un-
pereönüch nennen mag. Dieses überpeisönUcbe Sein ist nun
in der Kunst, die von der Encfaeiaungswdt nicht abhängig ein-
mal verwiildicht wenden. Die bachische Fuge gibt das BewuBt-
sein schlechthin wieder» nidit mehr das Bewußtsem emes ein-
zelnen Menschen, sondern das objektive Weltsein hat in ihr
den Charakter des Bewußtseins — ob persönlich oder unper-
söFilich, weiß ich nicht — empfangen. Da ist nicht eine Seele,
die ihre [ reude und ihr Leid gestaltet, man kann auch niciit
sagen, daß sich der Makrokosmos im Mikrokosmos, die Wdt
in der Seele spiegelt — der Kosmos selber kreist in der Foim
der Kunst Die bachischen Fugen — besonders die Orgelfugen,
die in einem fiberwUilgend einlsdien und objeldiven Madaial,
im Ton der Oigel, leben — sind ein Abbild dieses kosmischen
BewuBfaeins» das sidi in der Musik ollenbart» der Idee des Ldiens
selbst.
Dies ist der tiefe und prinzipielle Unterschied zwischen
aller Genialität, wie sie etwa in Goethe vollendet ist, und Bach:
Goethe hat Aufgaben /u vo[!brinp:en, er ist rastlos bestrebt —
instinktiv und mit Willen — , das Urbild des Menschen zu ver-
wiilüichen, sein Leben symbolisch zu gestalten. Für Bach wäre
das Streben, ufgendwohin zu woUen, etwas zu verwirklichen,
widetsinnig. Denn — und das bleibt unbqprciflidi — er ist
vollendet, sein Wesen ist Sein schlechthin und daher letztes E^
rädmis. Goethe ist weise — man darf mit Weisheit wohl da
höchsten Zustand bezcicfanent hi dem em Mensch bdiarren
kann und der sein ganzes Wesen fiberstrahlt; Bach ist nicht
weise, denn Weisheit ist eine Art, bewußt zu leben, und bei
Bach ist eine höhere Einheit von bewußtem und
unbewußtem Sein eingetreten. Für diesen Zustand haben
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wir weder eine Vorstellung, die über Ahnung hinausging^ noch
«in Wort, das ihn bezeichnete, —
Ich bekenne^ dafi mda Veisuch, die Genialität des größten
Cenies zu fassen und zu charakterisieren» ganz unzulän^ch ist
Sowohl wegen meiner mangelhaften musikalischen Veranlagung,
aber vidleidit nodi mehr wegen des f ffliiifi fsfibaren und audi
noch niemals in Angriff genommenen Gegenstandes. Es ist
wohl fiberfaaupt unmöglich, hier viel mehr als eine aceUsche
IHcfatung festzulegen. Dieses Seeüsch-Oberseelische selbst wird
für immer ein Geheimnis, ja ein Wunder bleiben. Und ich
wäre auch nicht imstande, denen einen wirklichen Beweis ent-
gegenzusetzen, die meinen Gediinken nicht verstehen und ver-
spotten oder die ihn verstehen und ablehnen werden. Auf jeden
Fall genügt weder musikalische Bildung noch philosophischer
Sinn allein, ein gewisses intuitives Verständnis für die Art Bachs
ist unbedingt nötig, um zu würdigen oder zu beurteilen, was
ich hier hragmentarisdi, aber doch mit der entschiedensten
Oberzeqgmig darzutun teachte. Es sind keine subjektiven Im-
pressionen, sondern es i^t ehi Vecsucfa, in den Zusammenhang
dieser Musik mit dem zugrunde Hegenden Seelisdien möglichst
tief einzudringen und ihren Ort hn Leben dea Geistes zu be-
gründen. Man könnte ja vieOdcht auch die Analyse Bachs gut-
heißen, aber die philosophische Deutung abldmen; etwa sagen,
die Unpersönlichkeit Bachs sei nicht Überpersönlichkeit, son*
dem wie die Unpersönlichkeit Spinoza^ Objektivität vor dem
Seelischen, Objektivität der Natur. Dies würde ich als den
größten aller Irrtüiner ansehen. — Und um gleich noch ein
anderes mögliches iMißverstkndnis zu beseitigen: Goethe reprä-
sentiert als bewußter Mensch durchaus einen höheren Typus
als Bach (wie ja auch Shakespeare nach Goethes eigenem Wort
der größere Dichter ist, ohne darum üoetlie als Gajizes zu er-
reichen). Aber die CeniaUtat Bachs lebt in einer höheren
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SpiiSre^ in dner SpUic^ die des Tiagiadie nur nodi auf dem
Wc^ zur Idzien AnOdsung, das DfliiHxiifldie fiberiiaiipt nictat
mehr kamt Es gibt kaum eine tragischere Muaik als den Ein-
Idtungschcr in die Joliannea-PaBBlon; wid vieHdcItt das gröfite
Beispiel für die Oberwindting des Tragischen von innen heraus
ist der Schluß der Mattliäus-Passioii : alles sichtbare Passions-
Geschehen ist durch den Tod des historischen Heilands zu Ende
gekommen und nun wird mit einer gewissen weltfernen und
doch vertrauten Ruhe, fast mit Heiterkeit, die Geburt des Gött-
lichen in der Seele erlebt. Aus diesem Chor heraus spricht die
Gewißheit, daß der Mensch nicht mehr tragisch zu sein braucht,
daß er sich in eine andere Region des Seins binübergerettet,
daß er eine Kraft der Sede empfangen hatie^ die über den Wel-
ten thront.
So ist die höchste Mögtichkeit der Seele in Bach verwiik-
licht; das Menschliche wird nicht an efaie Grenze gdfifait^ an
der es zertnedien muß — die uneriöete Tragik Beethovens und
Michelangelos — es schreitet viehnehr unmItAelbar ins Absolute
famein. Wo Bach Mensch ist^ da ist er es ün hödisten Sinn,
frei von altem Zufilligen, Sul^ddiven, „Pathologischen**. Aber
in ihm ist noch mehr: der Mensch als ebi begrenztes Wesen
ist überschritten. Selbst die vollkoamiene OotisidieTheit, der
ehernste Glaube, bedeutet noch eine Beziehung auf etwas an-
deres; die bachische Fuge ist es selbst, ist das Sein, das sich
in Bewußtsein verwandelt hat. Vielleicht muß man an der Tat-
sache Mensdi gerade in den höchsten Gipfeluiigen gelitten
haben, um dies Neue /u verstehen. Sodann aber sollte man
nicht mehr von der Bedürftigkeit des Menschen sprechen, denn
bedürftig ist er nur als abhängiges Naturwesen, nicht als
Mensch in seiner wahren Bedeutung. Wird doch in Dante eine
Seele das Maß der Welt, hat sich doch Shakespeare zmn Kos-
mos der Menschheit, Goetiie zmn voUiRmunenen Menschen aus-
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geweitet. Und endlich ist das B^renzte zum absoluten Sein,
zum Wert an sich selbst g^eworden, Man wende nicht ein, daß
solches nicht an jedem Tag und nictit in jedem Jahrhundert
geschieht — dem Menschen ist die Kraft dazu gegeben. Denn
in ihm ringen Vergänglichkeit und Ewigkdt. Er kann sein
Ewiges verkümmern lassen und als kleinlicher Egoist zur Kari-
katur der Pttsönlicbkett werden; aber er kann auch Vollendung
und OöttUcfakeit gewinnen. „Ich bedauie die Mensctoi», welche
von der Verginglicfakdt der Dinge viel Wesens machen und aidi
in Betrachtung irdischer Nichtigkeit vertieren; sind wir ja
eben deswegen da, um das Verg&ngliche un-
vergänglich zu machen.** (Ooedie.)
Es gibt ohne allen Zweifel nodi sehr viele andere Arten
genial zu sein. Hier sollten nur die typischen Orund-Fonna-
tionen herau^ehoben und philosophisch gedeutet werden. Aber
es ist wichtig, daß die in einigen genialen Menschen inkamierte
Möi^lichkeit alles Menschlichen auch in objektiven kulturliisto-
nscheii Bildu[]g:en teste Gestalt gewonnen haben und fruchtbar
geworden sind Dante repräsentiert den romanischen Kultur-
geist und den Katholizismus, der nur eine einzige, für ahe Men-
schen gleiche Stellung zum Dasein gelten läBt, sie aber als den
Ausdruck der al)soluten Weltordnung nimmt In Shakespeare
ist das germanische Reformationsprinzip verkörpert. Der Grund-
gedanke der Reformation besagt, daß es nicht nur einen
wahren Weg gibt, der zum Heile fährt; das euizehie Individuum
wird viehnehr in semer Sonderart als berechtigt anerkannt, jeder
Mensch muB sich sem Verhältnis zu Welt und Ewigkeit selber
suchen. Dieses Prinzip der autonomen Persönlichkeit, das sich
in der Reformation histoiiach ausgesprochen hat, mußte auf re*
Ugiösem Boden gegoifiber der ungebrochenen Emheit des Ka-
tholizismus inuner neue Sekten ausbrüten, es durchwhrfct und
beseelt unsere Gegenwart, auch dort, wo sie irreligiös ist und
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dort gerade am mMea, Wenn wir die bidividiialitil nspA-
tiefen und die Inkommensurabiliilt alles Ffihlens und Tuns aor
eitomett, so zidien wir ja nur die Konsequenzen des protestaa*
tischen Weltprinzipes. Der ungdieure EinheHswille des Katho-
lizismus, der dein Mittelalter seine Präg-ung verleiht und in
Dante seine Vollendung findet, einerseits, dann aber das Ver-
ständnis für die konkrete Individualität, die unmittelbar mit der
Ewii^keit 7U konimuni/ieren berufen ist, das Weltprinzip des
Protestantismus und der modernen Zeit, das sich in Shakespeare
dichterisch erfüllt, — das sind, abgelöst von allen Inhalten, die
beiden Grundkräfte der höheren Geisteskultur Europas gewor-
den, die sich in beständigem Wechselspid bekämpft und be-
fauchtet haben, um endlich einer wählen hmeren Vereinigung
zuzustreben ^ die Idee Ooelfae, die unsensr Kultur Einheit in
der Fülle verleihen wilL — Was Bach bedeutet, kann aUerdhiga
nicht mehr ins allgemeine kulturelle Leben hinübeigelettet wer^
den. Denn hier ist jede Spannung zwischen Menschen und
Dingen, jedes VEUen der Sede auf anderes geschwunden, der
Mensdi hat LdztsrQltigkdt erlangt —
Auf allen Wegen der Betrachtung ist uns der Mensdi m
sdner zwiefachen Wesenheit erschienen: als bedin^^es Geschöpf
der Natur und als Kraft, die in sich selber ruht. Napoleon
und Bach stellen die beiden äußersten Grenzen der Menschhdt
dar: der Mensch als Naturphänomen ohne jede Beziehung zu
etwas Persönlichem — und der Mensch, der ganz Ewigkdt und
Wert geworden ist.
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Von detiudben Verfasser erschien im gleichen Verbiß:
DIE DREI STUFEN
DER EROTIK
nU 5 Abbildungen
Zweite Altflage. Geheftet 9 Mark, In HalMranz 12 Mark
»Einer der feinsten, reichsten und tiefsten Poeten Wiens hat ein
sehr ernstes und gelehrtes Werk, durchgängig auf eigenen Por*
schungen und Aufttosungen beruhend und dabei so fiozinierend
unterhaltsam geschrieben, daß jeder den Band nidit wieder aus der
Hand legen wird! Ist doch das Thema, das uns alle angeht, von
ewig unzerstörbarem Interesse: das Liebeslebcn im Nenschen. Das
wird hier intensiv durchleuchtet, in ein geordnetes System gebracht
und mit gesctauttestem P^hologenspOrblick auseinandergelegt.*
{Berliner Tageblatt.)
„Lucka, der Philosoph — das ist die Auflösung der Erscheinung
Luckas, des Künstlers. Diese Überzeugung hat das majestätische
Werk In mir unumslOIHIcli werden lassen, ich wOnsche dem Autor
und uns, dal er auf solchen Bahnen fortschreite: in hoc signo
vinoest" (Tagesbote aus Mihren und Schlesien.)
„Die rülle neuer Gedanken überwältigt Der Verfasser, der Philo-
soph, DIcliter und Psychologe Ist, hak mit diesem an neuen und
grofien Gedanken so reichen Werk etwas geschaffen, das lefor-
mterend wirken muß. Fs wird dazu beitragen, Lfcht In eine Materie
zu bringen, in der noch vieles im Dunklen liegt ; es wird Gelehrten
imponieren und Mich^elehrten Bewunderung elnflöfien."
(Hamburgischer Correspondent.)
„Die Vorzüge des Buches sind nicht bloß die Schönheit der Dar-
stellung und die Fülle der Motive, sondern auch die Weite der
Perspektive, in die das Liebesphänomen gestellt wird.*
(Meue Freie l^esse.)
«Ein erstaunlich großes wissenschaftliches Material ist um eine tiefe-
und originelle Grundidee ausgebreitet und von dem Innigen Atem
dichterischer Seelenkenntnfs durchglüht. Es ist der besonderen
Individualität Luckas, der tiefes Gefühl mit Klarheit, Intuition, mit
fleißigem Studium verbindet, zu danken, dall ein solches eigen-
artlfes Werk fiberluuapt möglich wurde. Die Lektüre dieser bedeiit'
Samen rieuenclwiniiqg sd wlrmstens empfohlen."
(Leipziger neueste Machrichten.)
«In der gegenseitigen Durchdringung von psychologischer Pebihdt
und kulturhistorischer Weltauffassung Jfegt der besondere Wert und
der besondere Reiz des Luckaschen Werkes, das zu den wenigen
in der deutschen Literatur gehört, die Wirkliehkeitssinn mit klarem
ScharlbDdi und zugleldi mit hoher zivilisierter Auffassung und Dar-
stellung vereinigen.'' (Berliner Börsen-Courier.)
»Luckas Werk, das durch bestimmte Haltung und starke Eigenart
des Denkens hervorragt, Ist eine nicht zu flbersehendfe Erscheinung
auf dem Gebiete der Wissensduift von der menschlichen Kultur."
(Karlsruher Zeitung.)
«Efai tlefreHgKlies, dichterisches Werk, das fttr unsere Zdt, die so
plump Gläubigkeit mit Klerikalismus, Tiefe mit Breite verwechselt,
mahnend und aufidärend wirken muB.** (TlgHcbe Rundschau.)
»Lucka zieht In seinem neuen Buch gegen den Komplex Crotilc
zu Pelde, spaltet, das heißt stuft Ihn In drei Teile und sagt, gegen
Schopenhauer und riietzsche polemisierend: Die sinnliche und die
übersinnliche Liebe, sie haben nichts gemein. Geschlechtstrieb und
Liebe stammen aus zwei Lagern; diese ist nicht die höchste Sul>*
Nmlerung des ersten Begriffs, sondern etwas ganz anderes. — Das
Werk ist in der Hau|itsache eine Isthetisch'kritische Arbelt auf
historischer Grundlage; vor allem imponierend durch die Fülle, femer
durch die klare Obersicht der Stoffelnteflung und bewältigung, durch
die Gründlichkeit, die den Autor niemals verläßt. Lin Buch voll
origineller Eröffnungen, geistreicher Hypothesen; ehi Buch, daraus
mmicheriel genuBrelche Anregung geholt werden kann."
(Wiener AKgemefaie Zeitung.)
«Luckas Buch Ist das erste Weric, welches auf dem kulturpsycho'
logischen Gebiet des Phänomens der fJcbe diese psychologische
Einsicht beachtet, und deshalb ist sein Buch so wertvoll, ja typisch
und vorbildlich. Kulturphilosophisch in Bezug auf ein bisher total
miBverstandenes Problem ist Luckas Buch dn Typus vollendeter
Arbelt, an der nichts zu kritisieren Ist. Ehie grole Menge vom
Autor oft selbst entdeckten, sehr interessanten Materials Hegt dem
Werke bei, das ein tiefernstes, wissenschaftliches und philosophisches
Buch ist, das überdies noch den Vorzug hat, schön und anr^end
geschrieben zu sein, so daß es auf die weitesten Kreise wirken
kann. Es wird die Ihm gebührende AnerkennunS finden."
(Zeitschritt far Philosophie.)
Dl^itl^ecüxyjGoogle
Digitizecj by Google
niniti^ed by Google