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Full text of "Moritz Hartmann's gesammelte Werke"

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_ MORITZ 
HARTMANN’S — 
_ GESAMMELTE 


1113:142 BD. lad 
AUS DUBLIN .... 


Moritz Hartmann, Ludwio 
Bamberger, Wilhelm Vollmer 





Ic; Ci 1 IL Ri 
VAILABLE 











Moritz Hartmann's 
Geſammelte Werke, 


Dritter Band. 
— au — — 


Stuttgart, 
Verlag der J. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung. 
1873. 


Bucbruderei ber J. G. Eotta’fhen Buchhandlung in Stuttgart. 


1180220 


PT 

2292 
42 

1873 


Inhalt. 


Seite 

Briefe aus Dublin , >. > > — — 01 
Die Gefchichte des Königs Laura . . . . . . 44 
Tagebuch aus Langueboe und Provene . 2 2 2 2.57 


tovencalen (Volkslieder und Balladen) . . . . 295 


Der große Lader .» 2 2 eo nn nn 2.886 


Wanderungen durch celtiiches Land . . . 2 2 2 2. 405 
Bilder aus Dänemarft . , . , » a» 2» 2.2, 0, , 485 


Briefe aus Dublin, 


Noritz Hartmann, Werke II. 


Famine is in thy cheeks, 
Need and oppression starveth in thy eyes, 
Upon thy back hangs ragged misery, 
The world is not thy friend, nor the world's law. 
Shakespeare. 


Erfter Brief. 


Dublin, im Juhi 1850. 

Liebe Freundin! Ich laſſe mich nicht gern nad) zwei Tagen 
vergeſſen und fuche kurzem Freundesgebächtniß wenigſtens An: 
fangs durch Briefe nachzuhelfen. Ein anderer Zwed dieſer Zeilen 
ift, Sie aufzufordern, ja diejelbe Reife zu machen, die ich jebt 
theilmeife hinter mir habe. Drei Tage find es erft, feit ich Lon— 
don verlaflen, und wie viel des Intereſſanten habe ich fchon er: 
lebt und gejehen. Bis gegen Birmingham gleicht das ganze Land 
einem einzigen ungeheuren Parke, wo Alles Wohlitand ift und 
Behagen; die Städte und Fleden mit den graziöfen engliichen 
Ihürmen und Landhäufern thun, als ob fie nur fo zum Spaße 
gemacht worden, um bie Jllufion des Parkes zu vervolljtändigen. 
— Aber Birmingham raucht Einem jchmwarz entgegen wie eine 
Hölle. Ich habe es nur eine Stunde lang vom Bahnhof aus ge: 
jehen; doch mußte ich mich fragen, ob ich den Muth hätte, unter 
diefe3 „sulphurous canopy,“ wie Campbell fagt, zu tauchen. 
— Don da bis Liverpool nichts als Effen, Dampf, Kohlen; nur 
Strafford liegt wie eine Dafe dazwifchen. 

Liverpool ließ mich bald die englifchen Parks vergeſſen. Bis 
jpät in die Nadıt und den andern Tag bis Mittag ftieg ich durch) 
Gaſſen und Gäßchen; aber ich fam darunter an folde, in die ich 
nicht zu treten wagte. Dieſe Armuth, dieſes Elend, dieſes Ver: 
fommenfjein der menjhlihen Race — man glaubt nicht, daß e3 
übertroffen werben kann; nämlich wohl zu merken, bevor man 
Dublin gejehen hat. Und neben diefer Armuth diejer ungeheure 


4 Briefe aus Dublin. 


Reichthum! Liverpool ift al3 Seeftabt faft noch beveutenver als 
London; der Hafen ijt größer und fhöner und unendlich male: 
riſch. Einem unjhuldigen Reifenden, z. B. einem Schamreijenden 
an der Seite feiner jungen, eben aufgeblühten Frau, der nicht 
mit unglüdjeligen fozialen Bedürfniſſen im Leibe in der Welt 
herumzieht und den es nicht treibt, in Seitengäßchen zu friechen, 
aus denen ihm Peſt und Verweſung entgegenatbpmen — einem 
jolden Reiſenden kann Liverpool, vom Waſſer aus gefehen, als 
eine der malerijchiten und jchönften Städte der Welt erfcheinen. 
Aber eine traurige Enttäufhung harrt Deflen, der fih näher an 
dieß Dunftgebilde heranwagt. 

Unfere Fahrt war außerordentlih ſchön. Liverpool ift lange 
fihtbar mit feinen Leuchtthürmen und feinem Kaftel. Wie e3 
verſchwindet, treten die Hügel von Wales hervor, als freundliche 
Begleiter. Schiff an Schiff fliegt vorüber. Endlich waren wir 
auf hoher See. Die Geſellſchaft war gleichgültig, einige ſchöne 
Kinder ausgenommen, die auf dem Verdecke fpielten, und einen 
Srländer, der fih feinen Rod flidte, wahrſcheinlich um feine 
Heimatinfel mit einigen neuen Fliden zu ehren. Aber die Arbeit 
war umfonft. Wo er feine Nadel einjenkte, riß das morſche 
Zeug, und e3 entitand ein neues Loch. So arbeitete der arme 
Kerl mit bewunderungsmwürbiger Ruhe den ganzen Nahmittag. 
— Einmal wurde die gefammte Gefellihaft in Alarm gebracht; 
es erſcholl der Ruf „purpoises!* und Alles eilte, um hinabzu: 
jehen. Eine ganze Schaar der genannten, ungeheuren Fijche 
ſchwamm um dad Schiff, tauchte auf und unter und fpielte, 
ziemlich graziös, auf der leuchtenden Fluth. Ich aber fuchte ver: 
geben3 in meinem Wörterbuche nach purpoises und weiß fo nod) 
jegt nicht, ob ih Haifiſche, Walfifche oder Delphine gejehen; ich 
glaube, es werben die legtern gemejen fein. — Der Sonnen: 
untergang war, wie Ihre Landzleute jagen würden, ſehr nied— 
lih. — Bis jpät in die Nacht lag ich in meinen Mantel gehüllt 
auf dem Verdeck. Was kümmert e3 Sie, liebe Freundin, daß 
ich da folgende Verſe gedacht habe? 


Zweiter Brief. 5 


Auf weiten Meer allein! 

Allein auf weiten Meer! 

Nur Himmel, Mondenfcein, 

Seevögel um mich ber. 

Doch zieht ins Herz mir ein 

Etwas, das thut wie Du, 

O Glüd: 's ift mehr als Ruh, 
j 's iſt das Bergeffenfein! 


Aber Sie merken diefem Briefe wohl an, wie fürdterlich | 
müde ich bin; morgen fchreibe ich weiter — gute Nacht. 


weiter Brief. 


Dublin, im Juli. 

Als ih Samftag Nachts die Feder binlegte, um mein müdes 
Haupt zur Ruhe zu bringen, wußte ih nicht, daß ſich mein Stoff 
jo ungeheuer anhäufen würde, daß ich heute nicht weiß, wo an- 
fangen. Brieflich bin ich noch auf offener See, träumend, Meer: 
luft athmend, Verſe mahend — und in der That ijt mein 
ganzer Kopf, mein ganzes Herz mit Dubliner trauriger und 
Ihöner Wirklichkeit angefült. — Wie unendlich Schönes habe 
ich gefehen! Doch ich will Ihnen feinen enthufiaftiichen Brief, 
jondern nur einen guide j&hreiben für den Fall, daß Gie noch 
hierher fommen follten. — Als ih Sonnabend Morgens er: 
machte, befand ich mich im Hafen von Dublin; die jhöne Nacht 
hatte mich jo lange auf dem Verdeck zurüd gehalten, daß ich da: 
für den Sonnenaufgang auf dem Meere verjchlafen hatte. 


Wie ruht es fich fo füß 

In traulicher Kabine 

Beim gleichgemeßnen Schlag 
Der treibenden Maſchine, 


6 Briefe aus Dublin. 


Wenn an das Fenfterlein 
Die nächt'ge Welle fchlägt, 
Gleichwie an unfer Herz 
Das Leben, das uns trägt. 


Auf merkwürdige Weife kam ich in ein very cheap hotel. 
Der Mann, der mir das Gepäd trug, follte mic) ins Hamilton: 
Hotel bringen, das man mir auf dem Schiffe empfohlen hatte. 
Da aber das Hotel noch gejhlofien war, ging mein Mann ohne 
Phraſe weiter und pochte an das nädjfte, indem er mich einfach 
verſicherte, e3 ſei ganz gleichgültig, in weldhem Hotel man wohne, 
wenn man überhaupt nur wohne. — Das war denn das erite 
Beijpiel irifher Naivität. Das zweite gab mir der Kellner, ver 
mir, indem er fi die Augen rieb, Vorwürfe machte, warum ich 
auch fo früh füme, — Yc begab mich fogleih auf die Wande— 
rung; mit welchem Erfolg, mögen Sie daraus beurtheilen, daß, 
als ich um zehn Uhr Herrn John Ball befuchte, an den ich eine 
Empfehlung hatte, derſelbe nicht wenig eritaunt war über meine 
Dubliner Kenntnifje und mir gar nicht glauben wollte, daß ich 
erft vor vier Stunden angelommen. — Die Stadt ijt außer: 
ordentlich ſchön, maleriſch, intereflant, eigenthümlid und wäre 
gewiß auch) eine der angenehmften, wenn Einem nicht auf Schritt 
und Tritt das fürchterlichite, jammervollfte Elend entgegenträte. 
Man kann fich feinen Begriff machen von diefer Armuth, von 
ihrer Ausdehnung und den entjeglihen Schlupfwinteln, in denen 
fie haust; fogar jene von Srländern bewohnte Gafje, die ich 
Ihnen in London zeigte, gibt noch nicht die entferntejte Ahnung 
von dem, was man hier auf Schritt und Tritt antrifft. Denken 
Gie fi eine ganze große Stadt aus ſolchen Gaſſen beſtehend, 
wie jene in London, und nur von den Aermſten aus jener Gaſſe 
bewohnt — und Sie haben immer erft einen ſehr ſchwachen Be: 
griff von den meiften Stadttheilen Dublins. Höchftens der zehnte 
Mann, dem man begegnet, ift anftändig gelleivet. Von ven 
andern haben gewiß fieben fein Hemde an; wenn fie aud die 
Röcke bis hinauf zugelnöpft haben, fo verrathen e3 doch unzählige 


Zweiter Brief. 7 


Stellen, die den nackten Leib zeigen. Ja ich habe unendlich 
Viele geſehen, die mehr nackt waren als bekleidet. Das ſchöne 
Märchen von dem perſiſchen Könige, der das Hemd des Glüd— 
lichſten brauchte, überall nachſuchen ließ und endlich den Glück— 
lihiten ohne Hemd fand, ift hier ein doppeltes Märchen, ja ein 
Hohn. Diefe ausgehungerten, verthierten Gejtalten find jo weit 
gefommen, daß fie überhaupt feines Glüdes mehr fähig find; 
rhachitiſch geboren, wachen fie hungernd auf und fterben an der 
Auszehrung. Alle Weiber gehören der Proftitution an, und e3 
find darunter oft fo holde, liebe Weſen, dab man nicht nur fie 
jelbjt beklagen muß, fondern mit ihnen auch die Menfchen, denen 
fie hätten Glüd geben können. Die meiſten Irländerinnen find 
ſchön oder haben wenigſtens fanfte Züge; aber deſto fchredlicher 
ift die Schrift, welche das Lajter auf diefe feinen Gefichter ge: 
zeichnet hat. Fat alle tragen das jo hübſch kleidende Mäntelchen, 
das wir auch in Deutſchland 3. B. in der Gegend von Eiſenach 
baben, und gewiß alle ohne Ausnahme den Strohhut, an dem 
man aud in London die irische Bettlerin erkennt; mag er noch 
fo zerriffen und zerfhligt fein, der Hut darf. nicht fehlen. — 
Ein Deutſcher, ven ich bier traf und der Irland feit Jahren 
tennt, faßte feine ganze Kenntniß und fein ganzes Urtheil in 
folgende Worte zufammen: Ein gewiß fehr originelles Volt, wo 
jeve Bettlerin einen Hut und jeder Mann ein lururiöjes O' vor 
feinem Namen trägt. 

Und ein fonderbares Volk ift e3 allerdings, in jeder Be: 
ziehung verfhieden von allen fontinentalen Völkern. Die meilte 
Aehnlichkeit hat e3 vielleicht noch mit den Lazzaronen Neapels; 
doch iſt es gutmüthiger, naiver und troß der Verderbniß, die 
ihm das Elend nothwendig eingeimpft hat, auch reiner. Der 
Irländer ift kein Lazzarone von Natur, er arbeitet willig, um 
fich fein tägliches Brod zu verdienen. Aber er thut es gern mit 
Heiterfeit und jträubt ſich gegen die verthierende Anjtrengung, 
die der Engländer verlangt. Hat er nicht Recht darin? find wir 
wirflih nur da, um zu arbeiten? oder find wir vielmehr da, um 


8 Briefe aus Dublin, 


- zu leben? Wäre die Arbeit gerecht vertheilt, ich meine, Jedem 
müßte noh Raum und Zeit genug zum Lebensgenufje bleiben. 
So aber, wie ſich England und die moderne Welt die Sache ein: 
gerichtet haben, müflen allerdings Millionen am Pfluge, an den 
Maſchinen, in den Minen verdumpfen und zu Grunde gehen, 
damit einige Wenige in gänzlicher Unthätigkeit dahinſchwelgen 
fönnen. Die Natur, melde die Wahrheit ift und melcher ver 
Irländer nahe fteht, fträubt jich in ihm gegen diefe Ausbeutung 
und Verbumpfung. 

Und gerade Das iſt's, was die Engländer an ihm verurtheis 
len; wenn er verhungert bei feinem Sträuben gegen vierzehn: 
ftündige Arbeit, jo hat er Recht und ift ein Märtyrer der Wahr: 
beit und Freiheit im Menfchen. — 

Aber traurig ift es freilich, diefe Märtyrer in der Nähe zu 
jeben ; ver Hunger, nicht3 Anderes gibt den Weibern dieſes zarte 
Ausfehen, der Müßiggang diefe feinen unverdorbnen Glieder, 
die man bedauern muß. Die Männer liegen vor ihren Woh— 
nungen, an den Straßeneden, auf den Brüden und lungern 
hinaus, ob fich fein Verdienſt will fehen lafjen. Wenn ein Frem- 
der vorübergeht, jtreden jie ftumm die Hand aus; Viele haben 
auch Das aufgegeben und liegen nur noch regung3los da und 
betrachten den bejjern Rod des Vorübergehenden over jehen das 
Droſchkenroß, vielleicht neidiſch, an, wie es feinen Futterjad vor: 
gebunden hat. — In den Gaflen, wohin man fieht, Mütter mit 
Kindern auf den Armen, mit Rindern vor und hinter ji, wie 
eine traurige Gluckhenne, die fein Korn findet. 

Die Wohnungen dieſer Unglüdlichen, welche wenigſtens drei 
DViertheile von Dublins Gafjen einnehmen (wenn auch nicht der 
Ausdehnung, do der Zahl nad, da fie in den engern Gafjen 
wohnen, während natürlih die Wohlhabenden fich in breiten 
Straßen und Square ausdehnen) — dieſe Wohnungen, 3. B. 
in der Nähe von St. Patrid3 Street, zu befchreiben, das erlaflen 
Sie mir. ch habe viel gejehen in böhmifchen Dörfern und 
Judengaſſen, ich bin auch in Schlefien gereist und in jenem 


% 
* 


Zweiter Brief. 9 


Theile Weſtphalens, wo die Reichen ſo fromm ſind; auch hatte 
ich immer Phantaſie genug, mir das Geſehene verzehnfacht zu 
denken, wenn ich in Reiſebeſchreibungen von iriſchem Elend las. 
Aber wenn meine Phantaſie auch alles früher Geſehene verhun— 
dertfacht auf einander gehäuft hätte zu einem Alpengebirge von 
Elend, fie hätte dag nicht erreicht. Robert Emmet hatte Recht, 
da3 Hauptquartier feiner Revolution nach Patriks Street zu ver: 
legen; da ift ein ewiger Stoff zu Revolutionen aufgeſchichtet, ein 
unfterbliches Heer wohnt da für die Revolution. — Mögen fie 
jet im engliſchen Barlament Bill auf Bill einbringen, mögen 
fie Workhouses auf Workhouses errichten, mögen vie Unis 
tarier noch jo mohlthätig fein und fogar den hundertſten Theil 
anjtatt des taufenditen von ihren Renten für die Armen verwen: 
den: diefem Leiden, das England feit Jahrhunderten gefäet hat, 
helfen fie nicht mehr ab, diefer Krebs ift nicht mehr auszufchnei- 
den, er wird weiter frejlen und zeritören — ob England mit? 
ob Srland, das arme, ifolirte Irland in feinem Siehhaufe allein? 
— Das iſt die Frage, 

Macaulay ſpricht in der Einleitung zu feiner Geſchichte mit 
Stolz von den engliihen Abenteurern, die im fernen Indien 
Reiche gründeten, größer und dauerhafter al3 das Reich Aleran- 
derd, Aber ijt e3 ein Ruhm, im fernen Indien Reihe zu grün- 
den, wenn das ſchwarze Elend zu Haufe vor der eigenen Thüre 
lagert? Zeiten werden fommen, da man auf folhen Ruhm mit 
Beratung zurüdbliden wird. Wirklich edle Völfer waren nie 
erobernde; jie blieben daheim und ſchmückten fich „wie die Rofe 
ſelbſt ſich ſchmückt.“ Afiyrier, Babylonier und Perſer durchzogen 
die Welt als Eroberer; die Griechen zogen nur aus, um als 
Argonauten geahnte Ideale zu ſuchen, oder als Trojafahrer, um 
geraubte Weiber heimzubringen, oder endlich um mit friedlichen 
Kolonien die öde Welt zu bevölkern und neuk Herde ver Geſittung 
zu errichten. 

Aber ich vergefle, daß die Engländer in Srland ſelbſt Er: 
oberer find und zwar noch heut zu Tage. MUeberall gewährt 


10 Briefe aus Dublin. 


Dublin ven Anblid einer eroberten Stadt; Soldaten, in London 
eine Seltenheit, gibt e3 bier in unzähliger Menge; auf Schritt 
und Tritt begegnet man rothgerödten Schaaren. Ueberall ftehen 
Kafernen von ungeheurer Größe, und das Kaſtell in der Mitte 
ver Stadt ift ein wahres Zwing Dublin. Die policemen, die 
Sie in London fo ſehr als Diener des Publikums bewunderten, 
find bier ebenfo vollfommene Poliziften , wie auf dem Continent; 
die meiften tragen dide Stöde und find raub und unfreundlic. 
Das Volk jagen fie vor ſich her, wie man Vieh treibt; bei Ver: 
haftungen werfen fie den Arrejtanten nieder und ftoßen und fchla- 
gen ihn. — Schon in London, al3 ich einft einem policeman 
Vorwürfe machte über fein rohes Betragen gegen ein Bettelkind, 
welches er jhlug und fneipte, antwortete er mir furz: Bah, it 
is an irish girl. — ®enn man einen $rländer fragt, was die 
runden Thürme bedeuten, die fih auf den Anhöhen der Bay 
binziehen, antwortet er: Sie find gegen die Franzofen oder Ame— 
tifaner, wenn fie uns einmal zu Hülfe kommen follten. Daß 
vie Thürme ihnen zum Nugen und zum Schuß des Hafens da 
jein könnten, fällt ven Srländern nicht ein. Auf Frankreich blicken 
fie noch immer mit Vertrauen und Freundſchaft, wie die Polen, 
obwohl fie wie diefe ſchon hundertmal von Frankreich betrogen 
worden find. Ein Srländer, dem ich bemerkte, daß man mid 
meine3 Bartes wegen bier weniger ausladhe al3 in England, 
antwortete mir; das fommt daher, weil man Sie für einen Fran— 
zojen hält, und wir lieben die Franzofen. — In neuerer Zeit 
indeſſen hat fih der hoffende Blick Irlands auch auf Amerika 
gerichtet. In der That ift dieß das einzige Land, woher ihm 
wirklich Hülfe kommen kann; aber wie lange wird dieß noch 
dauern? 

Auch Straßen, Monumente und Häufer zeigen, wie man ber 
eroberten Stadt mit Gewalt ein engliſches Gepräge geben und 
ihr einreden will, als ob die Gejhichte Englands, der Ruhm 
Englands auch ihr Ruhm und ihre Geihichte fei. Die meilten 
Straßen, nur die älteften ausgenommen, tragen berühmte engliſche 


Zweiter Brief. 11 


Namen. Die Moore-Street iſt die einzige, die einen iriſchen 
Namen neueren Datums trägt. Sonſt fieht man Grafton- 
Street — Cumberland-Street ıc. Letztere nad jenem Edlen 
genannt, der an der Spitze der blutigen Orangemen Hebjagden 
auf Jrländer anftellte. Bor Trinity-College figt der Mann zu 
Pferde, der das Collegium den Irländern verfchlofien, und mie 
zum Hohn jteht auf dem Sodel, daß e3 „ob restitutam fidem“ 
errichtet worden. ch meine das Monument Wilhelms III. Kann 
ed da wundern, daß ein Verfehwörer beim Eintritt in die Ver— 
ſchwörung ſich's ausbedungen, fobald die Revolution ausbräche, 
ven Wilhelm in die Luft jprengen zu dürfen? Das ift nun frei: 
lich nicht geihehen, aber eine Genugthuung fünnen die Jrländer 
in der Häßlichleit des Monumentes finden. Braun angeſtrichen, 
mit goldenen Ligen um Schulter und Gürtel, figt Wilhelm der III. 
da auf feinem diden Pferde, wie ein Häuptling der Rothhäute 
in feinem jhönjten Staate. Nur feine Haltung, der nad vorn 
gebeugte Oberleib und der nad hinten herausgeitredte untere 
Theil, find ächt englifh. In der ſchönen Sadville Street ſteht 
Nelfon auf feiner Säule, und vom Phönirparfe aus beherricht 
eine Pyramide mit den Namen der Wellington’ihen Schlacht: 
felver die Stadt. Beide Helden hätte Irland lieber gefchlagen 
als fiegreich gefehen. Aber was hilft'3? England behandelt Jr: 
land, wie fchlechte Erzieher ein Kind behandeln: eg muß bie 
Speijen verfchluden, die es nicht mag. 

Eines der traurigften Monumente in Dublin ijt das ehema— 
lige House of commons, wo einft doch wenigſtens ein Schatten 
von Freiheit wohnte und wo jeßt England mit feinem Oelde 
berriht. Denn das House of Commons ijt in die Bank um— 
gewandelt. Das große mweitläufige, Cäulengetragene Gebäude 
aus dunklen Duadern hat ein wirklich hiftorifches Gefiht. Auf 
den erjten Blid erzählt es Einem lange, rührende Geſchichten. 
‘ch mußte bei feinem Anblid immer an den herrlichen, rührenden 
Moment denken, da der Heine Grattan mit den feurigen Augen 
bier vom Portale aus zum Volke ſprach, als ver legte Reft iriſcher 


12 Briefe aus Dublin, 


Unabhängigkeit dur die jogenannte Union begraben war. 
Das Volk trug ihn jauchzend auf feinen Schultern durch die 
Gallen — mas hat das genübt? Vielleicht doch etwas. Im 
Volksgewühle verftedt ftand damals ein kleiner, breitjchultriger 
Junge, Daniel D’Connell; wer fann berechnen, welche großen 
Entihlüffe er fhon damals gefaßt? — No heute nennt das 
Volf das Säulengetragene Gebäude nur fein House of commons. 
63 hängt überhaupt mit unabänderlicher Treue an feinen alten 
Erinnerungen, wie an feinen todten und lebenden Märtyrern; 
Lord Eduard Fißgerald, Wolf Tone, Ruſſell, Robert Emmet 
find ihm beilige Namen. Doc werden fie alle von O'Connell 
überragt, den man nur den Befreier nennt oder den großen 
Agitator. Bor jedem großen wie Eleinen Bilverladen hängt fein 
Porträt, rings umher die Porträts von Mitchell, Smith O'Brien, 
3. Duffey u. ſ. w. Unter dem Bilde O’Briens fand ich folgen- 
den Vers: 

Whether on the scaffold high, 

Whether in the battle’s van, 

The fittest place, where man can die, 

Is where he dies for man. 


Was in der Ueberjegung etwa fo heißen mag: 


Ob hier auf dem Schaffote hoch, 

Ob wo der Tod der Schladhten wirbt — 
Es ftirbt der Menſch am Schönften, mo 
Er für die Menſchen ftirbt. 


Ich war dabei, wie ein zerrifjener Irländer einem Haufen 
gleich Zerrifiener diefe Verfe vorlas; fie wurden mit einem Hurrah 
auf alle guten Patrioten und auf die Deportirten beantwortet. 

Trotzdem jedoch geht die Repealagitation nicht vorwärts; fie 
ichläft fogar feit dem Tode O'Connell's immer tiefer und tiefer 
ein. So wahr ift ed, daß auch die größte und gerechtefte Sache 
von Perfönlichkeiten abhängt; eine traurige Wahrheit für alle 
Autoritätsbelämpfer! — Das Meeting, dem ich heute beimohnte, 


Zweiter Brief. 15 


ſcheint mir das legte gemwejen zu fein. Seit dem Tode de3 großen 
Agitator3 verfammelten ſich die Repealer jeve Woche einmal in 
der Reconciliationg » Hall; aber die Zahl wurde immer geringer, 
und heute belief fie fich nicht auf hundert. Den Präfidentenftuhl 
nahm ein Herr Samuel Law ein; die Bänfe der Patrioten und 
Repealer waren beſetzt, aber die Bänke des Comite3 blieben leer. 
Sohn O'Connell war das einzige von den Comit&mitglievern, 
das erſchien. Er wurde von der Eleinen Verfammlung mit ge: 
ſchwenkten Hüten und lauten Cheer® empfangen. Aber jein 
melancholiſches Gelicht fonnte diefer enthufiaftiiche Empfang nicht 
aufbeitern. Im Gegentheil begann er, jobald der Präſident 
feinen Siß eingenommen batte, ſich bitter zu beflagen über die 
Theilnahmlofigkeit des Landes und über da3 Erfterben des Eifers 
für die große Sache. Der Präfident ſprach im felben Tone und 
zog betrübte Barallelen zwijchen einjt und jegt, zwifchen der Zeit, 
da die Reconciliations: Hall voll gepfropft und die Repealiteuer 
wöchentlich Taufende von Pfunden einbrachte, und zwiſchen ver 
Gegenwart, da ſich eben fo wenig Shillinge als Repealer jehen 
laflen. Bei diefen Worten warfen Einige aus dem Publikum 
kleine Summen auf den Sefretärstifch ; die Meiften indeß feufzten 
bloß und bielten ihre Hände regungslos in den leeren Tafchen. 
Auf der Galerie weinten einige Weiber. Zulegt fündigte John 
D’Connell den Beihluß de3 Comites an, die Meeting3 auszu- 
jegen und eine befjere Zeit abzuwarten. Die Ajjociation, bemerfte 
er ausprüdlih, fei damit noch nicht aufgelöst, das Comité be: 
ftehe fort und werde mit allen Kräften weiter arbeiten; aber die 
nuglojen Meetings jeien aufgejhoben, vertagt. Man jah ihm 
an, dab er jelbjt nicht an feine Worte glaubte; eben jo wenig 
thaten e3 vie Zuhörer. Aber al3 er von feinem guten Willen 
ſprach, von feiner Bereitwilligfeit, für die „große Sache” Alles 
zu thun, wurde er wieder mit lärmender Begeifterung begrüßt. 
Auch von feinen Heinen Fähigkeiten, vom Bewußtfein feiner Un: 
bedeutendheit ſprach er einige Worte, die jedoch vom Widerſpruch 
feiner Zuhörer erftidt wurden. — Hierauf zerftreute ſich die 


14 Briefe aus Dublin. 


Gejellihaft jchweigend. ch hatte die Ueberzeugung, der Sterbe- 
jtunde der Repealmeetings beigewohnt zu haben. Die jo groß 
begonnen, die die Aufmerkjamkeit der ganzen Welt auf ſich ge- 
zogen und einjt das eijerne England in feinem Innern hatte 
beben maden, endete hier jchweigend, geräujchlog, wie ein Strom 
im Sande, wie ein einjt Berühmter, nun Vergeffener im dunklen 
Winkel eines Hoſpitals feinen legten Athem verhaudt. 

Die Reconciliations:Hall ift ein einfaches, jolides Gebäude am 
Hafenquai, fait ohne allen andern äußern Schmud al3 das Bas— 
relief ver Harfe von Erin. Der innere Saal iſt eben jo einfach. 
Rings um die Wand läuft eine geräumige Galerie für die Frauen, 
die O'Connell's eifrigfte Anhängerinnen waren; er hatte auch fait 
in jeder feiner Meetingsreden ein Kompliment für fie bereit. Zu 
Füßen des hbocherhöhten Präfidentenjtuhls jteht der Tiſch der 
Sekretäre; recht3 und links laufen die Bänke für das Comite und 
für „ausgezeichnete Fremde.” Doch kann man für einen Sir: 
pence einen jolchen ausgezeichneten Plag erhalten. Co wenigjtens 
that ich und hatte den Vortheil, die ganze Verſammlung en face 
und Sohn O’Connell dicht neben mir zu jehen. Letzterer macht 
nicht den Eindrud eines bedeutenden Menſchen, auch richt wenn 
er fpriht. Don feinem Vater ſcheint er wenige Eigenjchaften 
geerbt zu haben. In der Rede iſt er befangen, oft fehlt ihm ver 
Ausprud für Das, was er jagen will, dann entſteht eine Baufe, 
während welcher er zur Erde jieht oder mit den Bapieren in feiner 
Hand jpielt; endlich findet er das Wort, aber e3 ijt viel ſchwä— 
cher, al3 man es nad dem Anfange des Satzes erwartet hatte. 
— Auch wird John D’Connell ſchwerlich noch an Bedeutung 
wachen. Er ijt nicht mehr in dem Alter, in dem man lernt. 
Sein Haupt ijt fahl und die Frifche der Jugend von jeinem Ge— 
ht, das zu den gewöhnlichſten gehört, längit gewichen. Mit 
jeinem Vater hat er, nad) den Bildern zu ſchließen, auch äußer: 
(ih nicht die geringjte Aehnlichkeit. Er ſcheint ein einfacher, an- 
jtändiger Menſch zu jein, nicht3 mehr und nicht3 weniger. Sein 
Pater war, wie alle Menjchen, vie geichaffen find, große Mafjen 


Zweiter Brief. 15 


in Bewegung zu jegen, ein höchſt zujammengejegter Charalter. 
Diefes erſah ih auch aus einem Gefprähe, das ich in einer 
tleinen Kneipe mit Männern aus dem Volke führte, die ihn alle 
ganz genau gelannt hatten. Das war ein Löwe, fagte der Eine, 
jtärfer al3 der Löwe Britanniens. — O nein, jagte ein Zweiter, 
er war nur ftark wie ein Löwe und edel, ſonſt war er ein Fuchs. 
Ein Bulldog war er, rief ein Dritter. Nein! ein Kampfhahn, 
fchrie ein Vierter darein, und ein Fünfter, der halbbetrunfen 
auf der Bank lag, erhob ſich gravitätiich und ftammelte: Er war 
ein großer Advokat und ein großer Feloherr, aber er liebte zu 
jehr den Frieden. 

Der Mann, der den legten Zujag machte, jah mir gerade 
jo aus, als dächte er weniger an die friedliche Agitation als an 
die Worte O'Connell's, die wie ein Vermächtniß an feine Nation 
in goldenen Lettern auf Sammt geftidt in der Halle über dem 
Präfiventenftuhle prangen und die da lauten: The man who 
commits a crime gives strength to the enemy. 
O’Connell; während auf der andern Seite des Stuhles golden 
auf ſchwarzem Sammt zu lefen ift: O’Connell is dead! Irish- 
men as you revere his Memory owing to his Principles. 

Lepteres ift nun weniger der Fall und hat feine Gründe. 
Die Schüler und Nachfolger O’Connell’3 find feine friedlichen 
Agitatoren, fondern offene Revolutionäre, Es ſcheint mehr als 
Zufall, e3 ſcheint geihichtliche Vorjehung zu fein, daß O’Connell 
gerade vor Anbruc des Jahres 1848 die Augen gejchlofien hat. 
Gewiſſe Punkte gibt es, an denen angelangt die Gejchichte fi) 
mit Reformen und friedlichen Agitationen nicht begnügen kann; 
die Mitchells und Smith O'Brien find in ihrer Zeit eben fo be: 
techtigt, wie es der alte Dan in der feinen gemweien. 


16 Briefe aus Dublin. 


Dritter Brief. 


Eine Stunde ſpäter. 

Ich bin geftört worden dur einen Mann, der mir von 
einem Antiquar ein Badet alter Bücher und Brochüren über die 
Revolution der united Irishmen und über die Inſurrektion 
von 1803 brachte. Als ich ihn für feine Mühe bezahlte, be: 
merkte ich, daß er mit zu der großen Schaar Derjenigen gehörte, 
von denen man nicht jagen kann, daß ihnen das Hemde näher ift 
al3 der Rod. Ach bot ihm eines an, ohne von ihm dafür den 
Stoff zu einer Dichtung zu verlangen. Ueberraſcht wog er e3 
lange in feiner Hand, ſah bald mid), bald das Geſchenk an und 
fragte endlich, was er damit follte. ch fette ihm in ſchöner Rede 
den Vortheil eines ſolchen Befisthbums auseinander, machte aber 
offenbar nur geringen Eindrud damit. — Ich bin's nicht gewöhnt, 
fagte er endlich mit Achjelzuden. Und auf die Frage, ob er denn 
nie ein Hemde getragen, antwortete er: D ja, einige Mal, aber 
das ift jchon lange her. — Nach einigen Minuten fragte er wie: 
der: Aljo das Hemd gehört jegt mir? — Ya wohl! — Nun da 
e3 mein ift, fann ich damit machen, was ich will; ich verkaufe es 
Ihnen. Und fo fpredhend, bot er mir e3 an mit dem liebenswür⸗ 
digſten Lächeln und der graziöjeiten Bewegung von der Welt. 
Nehmen Sie es, fügte er hinzu, ich laſſe es Ihnen jehr billig; 
für drei Pence gehört e3 Ihnen. Ich gab ihm die drei Pence 
und ließ ihn mit dem Hemde gehen. Da haben Gie ein kleines, 
ächt iriſches Geſchichtchen. Mir ift es als Unterbredhung lieb; e3 
bat mich aus dem Rolitifiren herausgerifjen, und ich verlafje das 
Thema, das feit zehn Jahren alle Zeitungen befjer behandelt 
baben, um Ihnen den herrlichen Tag zu beſchreiben, welchen ich 
gejtern verlebt habe. 

Es war Sonntag. Die Sonne fhhien herrlich; fein Wölkchen 
bevedte den Himmel, und ich machte mich früh, auf, um nad) 
Kingstown zu fahren. Es ijt eine der ſchönſten Fahrten, die man 


Dritter Brief. 17 


‚machen kann. Die Eifenbahn geht längs des ſüdlichen Ufers der 

Dubliner Bai hin und theilweije duch die Bai felbit: die Wagen 
find Elugerweije ganz offen, jo daß Einem von dem herrlichen An- 
blicke nicht3 verloren geht. — Nach und nad) verjchwindet Dublin, 
nur Majten und Thürme bliden über die Gärten und dur ven 
blauen Morgendampf dem Neijenden nad. Die Bai thut fi 
weit auf und immer weiter und weiter und zeigt Einem am jen- 
feitigen Ufer das einfame Vorgebirge von Houth Head, welches 
die Feljeninfel, Jrelands Eye, das melancholiſche Auge Irlands, 
mit feinen Zaden verftedt. Fern im Diten treiben einzelne Geg- 
ler, die die Fluth erwarten, um in den gaftlihen Golf einzulau: 
fen. Ganz nahe der Eijenbahn liegen da und dort ganz traurig 
ausſehende Schiffe, die die Ebbe auf dem Trodenen zurückge— 
laſſen — wie Menfchen mit einem verfehlten Leben. Die Anker, 
die tief im Schlamme fteden, fcheinen eine Ironie; umſonſt 
zaust der Morgenwind an den eingerefiten Segeln. — Wir 
tommen nad Blad Rod. Es find das fhöne und befcheidene 
Landhäuſer, die ſich terrafjenartig den Hügel hinauf und die Eifen- 
bahn entlang ziehen bis gegen Kingstown. Aber englijche Villen 
find es nicht; in den Gärten, die der Engländer mit Kaktufjen 
bepflanzt hätte, treibt die Kartoffel ihre bejcheidene, meijt krankende 
Blüthe. 

Doch ift es ſchön hier. Die Nähe des Meeres wirft feinen 
Glanz zurüd auf die Hügel, die Bäume und Büſche neigen und 
‘ beugen fi im Morgenmwinde, kreiſende Möven ftreichen und über 
den Weg, der noch zu ihrem Gebiete gehört — über den Waſſern 
begegnen ſich die Klänge der Sonntagsgloden aus Kingstown 
und Dublin — in den Gärten zwifchen Büſchen und Lauben 
jigen Väter, Mütter und Kinder beim Frühftüd und ſchwingen 
uns zum Gruße Hüte und Tücher — auf den Spigen der Hügel 
jtehen überall einzelne Maften, die dem Sonntag zu Ehren Flag: 
gen wallen lafjen. Der Lofomotivführer ſcheint zu jhlafen oder 
zu beten, denn wir gleiten ſacht und langfam durd all die Schön: 
heit hin. — In Kingstown jteigen wir an dem Kleinen, Tieblichen 

Morigk Hartmann, Werke. IH. 2 


18° Briefe aus Dublin. 


Hafen aus, in deſſen Bufen gewaltige Dampfer ruhig träumen, 
die des Abend3 nach Liverpool und Belfaft treiben follen, und 
andre, die ſich zu Sonntagsfpazierfahrten bereit machen. Der 
Leuchtthurm glänzt im Sonnenlichte, und auf den Felsblöden, die 
am Ufer umber liegen, wie bie zerftreuten Trümmer eines ge 
waltigen Palaftes, lagern die Gruppen harrender Kirchengänger 
und lafien ſich die Sonne auf die Gefichter brennen. Kingston 
ift ein ſchöner Fleden, ver fih vom Hafen aus eine fanfte Höhe 
hinanzieht, während ihn im Hintergrunde die halbkahlen Fels: 
mafjen von Dalfey überragen. Im Vordergrunde zeigt eine Reihe 
von prächtigen Landhäuſern, die auf den Meerbujen hinausgehen, 
ihre glänzende Stirne. Terrafjen und Gärten ziehen fich bis zum 
Hafen hinab. 

‘ch habe hier einen Brief an einen Jung-Jrländer abzugeben, 
deſſen Adreſſe ich nicht weiß. Ich frage, und bald bin ich von 
einer ganzen Schaar guter Leute umgeben, die mir alle helfen 
wollen und die fih wieder nad allen Winden zeritreuen, um ſich 
zu erkundigen. — Nach einer Stunde vergeblichen Suchens trete 
ich in einen Fruchtladen, um zu frühſtücken. Die Mädchen da— 
ſelbſt erzählen mir, daß Kingstown von Katholiken, Proteſtan⸗ 
ten, Quäkern und Methodiſten bewohnt iſt, die alle in größter 
Friedlichkeit zuſammenleben. 

Von Kingstown fuhr ich auf der atmoſphäriſchen Eiſenbahn 
nach Dalkey. Man ſieht vom Lande nicht viel, da die Bahn 
größtentheil unter ver Erbe hinläuft. Wie ich wieder an Tages: 
ficht emporftieg, glaubte ich in einem italienischen Dorfe zu jein. 
Aus verbranntem oder aufgefhwernmtem Boden wachſen grüne 
Gärten, freundliche und prachtvolle Landhäufer heraus. Zwiſchen 
Häufern und Öärten blickt von allen Seiten das unendliche Meer 
durch, das ſchäumend an die Felskoloſſe des Ufers fchlägt. Ueber: 
ragt ift das ganze Dorf von einem gewaltigen Bergkegel, deſſen 
Spitze mit einer Pyramide gekrönt, deſſen Abhänge von großen 
Felsblöden bevedt find, zwifchen welchen da3 Grün nur ſparſam 
durchleuchtet. Hier und da trägt er ein einſames Haus auf ſeinem 


Dritter Brief. 19 


Rüden. Bon diejer Seite ahnt man e3 nicht, daß der rohe Ge- 
jelle in ein Brucftüd des Paradieſes blidt, in die Bai von 
Killiney. — 

Ich weis nicht, wohin mich zuerjt wenden, und folge der 
Menge, die aus dem Bahnhofe jtrömt. Ein freundlicher Gentle- 
man ſchloß fih mir an. A fine day, Sir! — A very fine 
day, Sir! — Dann fpricht er franzöfifch, ich antworte ihm und 
bemerfe, daß ich ein Deutſcher fei. — Ein Deutfcher! ruft er, 
jehen Sie, welches Buch ich in der Tafche mit mir trage! — 
Und er zieht Schillers dreißigjährigen Krieg hervor. — Ich lerne 
Deutſch, jagte er, — ich liebe diefe Sprache, es ift die fanftefte, 
jüßefte, mohlklingenpite aller Sprachen. — Ich bin zu höflich 
und zu patriotifeh, um zu widerſprechen. 

Er hielt mir das Buch vor (es ſah aus wie das griechifche 
Leſebuch eines ſchlechten Schülers, der ſich mit mander pia fraus 
für's Examen vorbereitet) und erfundigte ſich nad) der Bedeutung 
verſchiedener Worte, die er mit aller Mühe und mit allen Wörter: 
büchern nicht enträthjeln konnte. Es waren meift unregelmäßige 
Imperfekta und Bartizipia. — Der Sag: Unter Darimilian II. 
genofjen die Proteftanten eine vollfommene Toleran; — hatte 
ihm ſchweres Kopfbrechen verurfaht. — Die Ahnung, daß „Öe: 
noſſen“ von Genießen herfommen fönne, half ihm nidt, 
denn dann begriff er erjt nicht, was es heißen folle: „Toleranz 
ejjen?“ 

Man wird mit einem Irländer fo fchnell befannt, und bier 
half noch die Dankbarkeit, mir einen guten Freund und für den 
ganzen Tag einen liebenswürbigen und jehr unterrichteten Cicerone 
zu geben. Er führte mich durch die langen Gartenitraßen von 
Daltey, vorbei an den Häufern, die jih unter dem Namen Sor— 
rent auf dem Vorgebirge aneinanderreihen, der Anhöhe zu auf 
einen Punkt, wo ſich der Meerbufen von Killiney plößlich vor 
mir öffnete, 

Welch ein Anblid! Gewiß einer der jhönften der Welt. — 
Das Meer fchneidet hier tief ing Sand, welches ſich plöglic und 


20 Briefe aus Dublin. 


faft jteil aus der Tiefe erhebt und in ampbhitheatralifch gereihten 
Hügeln und Bergen die Bucht umarmt. Tiefblau und ruhig 
träumt unten das Meer und wirft dunkle Schatten auf die Ab: 
hänge der Berge, die fih mit Behagen in ihm zu baden fcheinen. 
Aber immer beller und heller werben die Tinten nach oben zu. 
Die Heineren Hügel find in ein janftes Nofenlicht getaucht, mwels 
ches fih nah und nach in ſchimmerndes Goldgelb verwandelt, 
bis die höchſten Spitzen der einzelnen kahlen Berge im helliten, 
brennendften Sonnenlichte glühen. Diefe werden fern im Süden 
wieder von dem hohen Willow-Gebirge dunkelblau und ſchwarz 
überragt, als von einem erniten Hintergrunde, Es ift das das 
berühmte Gebirge, die Heimat des fühnen iriſchen Jungen, bie 
Heimat ver Revolution, das Ajyl der Patrioten. Links von ung, 
an dem nördlihen Ausläufer des Amphitheaters, auf fanfter 
Anhöhe jtehen die wenigen, halb eleganten unausgebauten Häus 
fer, die die ganze Bai beherrfchen und fich wie ein junges Mäd— 
hen in dem fleinen See bejpiegeln. Sie nennen fih, und nicht 
mit Unrecht: Sorrent. Sorrent! ſcheinen fie ftolz zu rufen — 
Sorrent! troß unferer Armuth — Gorrent! troß unferer Unbe: 
rühmtheit — Sorrent! nad vorn, Sorrent! nah rüdmwärts. 
Genügt dir, o Wanderer, nicht die Idylle ver Killeeny:Bai, jo 
fieb dih um nah der Pracht der Dubliner Bucht, mit ihren 
Klippen und Felfen, mit ihren janften Abhängen und Gärten 
von Kingstomn, mit ihren Schiffen und Kähnen, mit ihren Häu- 
jerfronen von Dublin, mit ihrem ſchroffen und fteinigen Houtbh: 
Head, mit ihrem melandolifhen Eiland von Irelands Eye, das 
fehnfühtig in die Weite hinausblidt und vorwurfsvoll hinüber 
nad) der Küfte von Albion! — Und die befcheidenen Häufer von 
Sorrent haben Recht, fo zu fprechen. Wohin du von ihren Alta: 
nen fiehit, überall Schönheit, ivyllifhe und melandolifhe Schön: 
heit. — ihnen gegenüber im Süden glänzen die weißen Hütten 
von Bray, das aus dem dunklen Grunde der Wiklow-Berge 
friſch und keck hervorfpringt, als wollte es in die Tiefen ver 
lodenden blauen See fih ftürzen, und hinter ihm, wie eine 


Dritter Brief. 2] 


geballte Zauft, ftredt fich das Vorgebirge von Bray:Head drohen 
gegen Oſten. 

Mit Ausnahme der beiden, einander jo fernen Endpunkte 
von Sorrent und Bray ijt die ganze, weite Bai nur menig be: 
baut. In der Tiefe einige Fijcherhütten, auf den Abhängen bie 
und da eine einfame, mit ärmlicher, angejtrengter Eleganz er: 
baute Billa — auf der Spige eines kahlen Kegel3 eine einfame 
Pyramide. Die Berge an ihrem Fuße in der Nähe des Meeres 
ohne Vegetation, auf ihrem Gipfel verbrannt, in der Mitte voll 
von Riffen und Elaffenden Spalten, die faum verhüllt find. 
Tropdem macht Alles den Eindrud tiefen Friedens, möglichen 
Glückes. — Die Bat ift, wie Alles in Irland, wie die Menjchen: 
angelichter, denen man die Fähigkeit zum Glüde, zur Heiterkeit, 
wie die Felder, denen man unbenugte Fruchtbarkeit anfieht — 
Alles fönnte hier jhön fein. — In der Bai von Killeeny baut _ 
die Phantafie leicht Säulengetragene Villen auf, zaubert ohne 
Anſtrengung Rebengelänvde auf die Abhänge, ja jogar Dliven- 
und Mandelbäume und Pinien — denn Alles athmet hier ſüd— 
lihe Belebungsfähigfeit — und mitten in das Paradies heitere 
und glüdlihe Menjchen, die jo jchöne Bilder geben würden, wie 
die von Leopold Robert. 

Um mich den entzüdenden Anblid aus dem künſtleriſch um: 
gränzenden Rahmen eines Fenſters genießen zu laſſen, führte 
mich mein gefälliger Cicerone in das Landhaus eines Freundes, 
das fich einige hundert Fuß über dem Meere aus einem freund: 
lihen Garten erhob, Die Thüren des Gartens wie der Stuben 
jtanden offen, obwohl alle Bewohner ausgeflogen waren, die 
weiblichen, um in der Kirche von Dalkey zu beten, die männlichen, 
um unten im Meere zu baden. Sm einer der Stuben faß fehon 
ein Bejucher, der den Hausherrn erwartete, ein berühmter Ad: 
vofat aus Dublin, eine große gewaltige Geſtalt, berühmt bei ven 
Irländern wegen jeines unübertroffenen Nahahmungstalentes, 
das er oft bei Meetings benugt, um feine Landsleute an O'Con⸗ 
nell zu erinnern, Es foll ganz außerordentlich fein, wie genau 


22 Briefe aus Dublin. 


er Geberde, Ton und Bewegung des großen Agitator3 nachzu— 
ahmen verjteht. Er bringt die Irländer dadurch oft in Entzüden 
und zu Thränen. Mein Führer jtellte mid ihm als einen Freund 
Irlands vor, und ich wurde fogleich mit der größten Herzlichkeit 
aufgenommen, eben jo vom Hausherrn, der bald mit noch trie- 
fenden Haaren ankam. Mit diefem, einem Herrn Steevens, ehe: 
maligem Redakteur eines Repealer:Blattes, war die Freundſchaft 
noch leichter geſchloſſen. Denn als er mich nach feinem Freunde 
Mr. Jakob Venevey fragte und ich mich ihm ebenfalls als einen 
alten Freund deſſelben (trog Erfurt, dachte ich bei mir) zu er: 
fennen gab, wurde ich von den drei Männern als zur großen 
iriſchen Familie gehörig betrachtet. Unfer Wirth überfloß vom 
Lobe Jakob Venedey's, den er einen noble, accomplished and 
clever gentleman nannte. Er hatte ihn oft bei D’Connell und 
deſſen Meetings gefehen und konnte feine Theilnahme, feine Ein: 
jiht in die irischen Angelegenheiten und endlich fein Buch über 
Irland nicht genug preifen. — Ueberhaupt fand ih, daß Vene: 
dep in Irland fehr bekannt, fait populär fei. In vielen Privat: 
bibliothefen ſah ich fein Buch in englijcher Ueberjegung, ebenjo 
in allen Buchhandlungen und bei vielen Antiquaren. Gleich bei 
meinem erjten Ausgang in Dublin fah ich vier Eremplare davon 
bei dem Gaffen-Antiquar in Great:Brunswid:Street neben ein: 
ander, alle mit offenen Büchertiteln aufgejtellt und darüber einen 
breiten Zettel befeftigt, mit der Infchrift: a celebrated Ger- 
man's opinions about Ireland. — Ich nahm es als ein gutes 
Omen, daß mir in diefer fremden Welt gleich Anfangs der Name 
Deſſen entgegentrat, der mir ſchon einmal in der Fremde in 
mancherlei Nöthen treu beigeftanden. 

Mährend wir fo da faßen und gemüthlich plauderten, belebte 
ſich die Bucht tief unter und immer mehr und mehr. Heitere 
Sonntagsvergnüglinge fuhren auf Heinen Kähnen hinüber nad 
Bray, um fih am Fuße der Berge am Bergthaue, gemeinhin 
Whisky genannt, zu laben und des Abends ald monneberaujchte 
Bienen in ihre Zellen zurückzukehren. — Die milde feuchte Luft, 


Dritter Brief. 93 


die troß der brennenden Sonnenhige über den Wellen bebte, 
brachte die fernften Gegenftände nahe und ließ die entfernteiten 
Zöne laut und deutlih an unfer Ohr Elingen. Es war, als ob 
die weißen Gegel der fliegenden Barken hart an unferem Feniter 
vorbeiftrihen, als wären fie mit der Hand zu erreihen — die 
Zäujhung wurde noch durch die Gartenmauer vor dem Fenſter 
vollendet, die den ganzen Bergabhang verdedte und nur das 
blaue Meer fehen ließ, und durch die Lieder, welche voll und 
klar von unten heraufhallten. Deutlich erkannte ich aus einer mit 
Frauen und Mädchen gefüllten Barke die Melodie des last rose 
of Summer, und aus einer anderen den melandholifchen Refrain: 
Robert A Roon. Welcher Irländer würde nicht durch den An- 
blid der Wiklow-Berge an den Helden erinnert, deflen Tod dieſes 
Lied beklagt! Kennen Sie e3? Man hört es in Dublin oft, fehr 
oft durch die Nacht erzittern, mit feiner monotonen Grabmelodie, 
die noch jhauerliher und trauriger klingt als feine Worte — 
verzweifelt, hoffnungslos, aufgegeben. Der Refrain faſt zwiſchen 
jeder Zeile klingt dumpf und gebrochen, wie das Echo zwiſchen 
Auinen, wie die Schollen, die auf einen Sargdedel fallen. Hier 
haben Sie e8 in ungefährer Ueberfegung. Die Worte find der 
unglüdlihen Sarah Curran, der Geliebten Robert Emmet’3, in 
ven Mund gelegt, aber es fingt fie das ganze Volk, das fie nicht 
vergejlen hat, trogdem das Lied lange Zeit bei ſchwerer Strafe 
verboten war. Es hatte dafjelbe Schidjal und wirkte auf jeine 
Landsleute ebenfo wie das berühmte Lied der Mauren von Gra— 
nada: „Wehe mir, Alhama.“ 


Des Lebens Freude liegt in diefem Grabe, Robert A Roon, 
Hier Alles, was ich lieb und theuer habe, Robert A Roon, 
Gemahl du meiner Seele — in dem Schreine 

Iſt „leiste, bange Heimat“ — ac) die deine, 

Der Hoffnung, Freiheit, Liebe — und die meine, Robert A Roon. 


Doch Thränen müfjen fallen ungejehen, Robert A Roon, 
Noch aus den Schollen will fein Grün erftehen, Robert A Roon, 


24 \ Briefe aus Dublin. 


Kein Leihenftein darf deinen Namen tragen, 
Es darf fein Mund von deiner Treue ſagen, 
Es darf fein Herz zu deinem Ruhme fchlagen, Robert A Roon. 


Des Heldendichters Wehlaut, dir zu Preife Robert A Roon, 
Muß jchweigen, ſchweigen muß der Harfe Weife, Nobert A Roon, 
Kein einz’ger Seufzerhauch darf ihr entgleiten, 

Zu klagen all die todten Herrlichkeiten — 

Den Ton verloren haben ihre Saiten, Robert A Roon. 


Die Nacht ift rauh und Falt, die Winde jagen, Robert A Roon, 
Biel fälter mag mein Herz im Bufen ſchlagen, Robert A Roon, 
Nie wird mir heitre Sonne wieder jcheinen, 

Nie kann mein Herz mehr zu erwarmen meinen, 

O es ift falt, erftorben — gleich dem deinen, Robert A Roon. 


Ich möchte nie von diefem Ort mich trennen, Robert A Roon, 
Ach, welchen andern joll ich Heimat nennen? Robert A Roon. 
D hätten fie mich fort mit dir getragen, 

Biel heißen Dank wird’ ich dem Tode fagen, 

Mein Brautbett wäre mir der Todtenjchragen, Robert A Roon. 


Ein einzig Hoffen füllet mein Gemitthe, Robert A Roon, 
Daß ih um zu verwelfen nur erblühte, Robert A Roon, 
Nie wieder kann mein Herz in Blüthe prangen, 

Bon Mehlthau ift fein tieffter Keim umhangen 

Und alle Lebensfreude ift vergangen, Robert A Roon. 


Die trauervolle Melodie dieſes Geſanges gehört urfprünglich 
einer alten irischen Ballade „Eileen a Roon“, deren "gefeierter 
Held, ein Ahnherr des Lord Molesworth, in Holby-Park, Graf: 
ihaft Willow, lebte. Händel erklärte, er wäre viel lieber der 
Komponift diefer Melodie al3 irgend einer andern modernen 
Kompofition. Nach Hardiman bedeutet der Refrain „A Noon“: 


meines Herzens geheimer Schatz — my heart’s secret trea- 
sure. 


Im Innerſten bewegt durch den Anblid al’ des Schönen 
und die Töne des Liedes, die Hagevoll heraufzitterten, ſtand ich 
auf und ging hinaus in den Garten. Wem wurde eö beim 


Dritter Brief. 95 


Anfchauen großartiger Natur nicht zu enge in der Stube, wen hat 
e3 dann nicht hinausgetrieben ins Freie mit dem unbeftimmten 
Drange, diefem Schönen näher zu fein, darein zu tauchen und 
darin unterzugehen? Aber da fteht man „der große Hand, ad 
wie fo Hein“, man fteht auf Einem Flede, und Alles ringgumber 
bleibt fo ferne wie vorher. An die Gartenmauer gelehnt, ſah ich 
hinaus ins unendliche Meer, und mein Innerſtes fühlte und rief, 
was e3 ſchon einmal fühlte und rief: 

Allgottheit, nimm mich auf, löſ' mich in Tropfen Thau’s, 
Wie er am Blatte hängt, laß ungemefj’ne Fernen 

Mich ewiglich durchziehn, hin zwifchen Blum’ und Sternen, 
Laß mit dem Ozean mich unerkannt verfhwimmen, 

Laß mit dem Strom von Licht, der mich umraufcht, verglimmen, 
Daß ih mid nicht als Eins und Einfames empfinde, 

Gleich dem verftoßenen und mutterlofen Kinde! 


Die Freunde famen mir nah, und während fich die beiden 
Gäſte zu mir gefellten und ebenfall3 bewegt hinaus fahen in das 
unendlich Schöne, ging unjer Wirth durch den Garten und juchte 
die jhönften Blumen aus. Die band er dann zum Strauß und 
bot mir fie als freundliches Gajtgefchenf. Sein Heiner Sohn 
that dafjelbe. Das ift jo ächt iriich = finnig, fo ganz des Volfes 
würdig, da3 die janften Melodien und die vielen Elfenfagen 
beligt. | 

Endlih nahm ich Abſchied. Mein freundlicher Führer ver: 
ließ mich nicht und begleitete mich nach Dalkey zurüd, mo ſich 
zwifchen ven Klippen die männliche Jugend verjammelte, um zu 
baden. Auch wir warfen unfere Kleider auf einen Felsblock und 
ftürzten uns in die heranbraufende Fluth. Es war eine ſchöne 
Sjene. Der breite, alte Thurm auf dem Hügel des Ufers warf 
feine diden Schatten auf die Badeſtelle; immer wilver jtürmten 
die Mellen heran und warfen ihre weißen Raketen über vie 
Häupter der höchſten Klippen, die hier wie Heine Thürme weit 
in dad Meer hinauslaufen. Aus der Ferne jcholl der jubelnde 
Auf der fühniten Schwimmer, die der heranſtürmenden Fluth 


26 Briefe aus Dublin. 


entgegenarbeiteten oder ſich an die vorbeijegelnden Kähne hefteten 
und mit den drin fitenden Frauen und Mädchen jcherzten. Da 
plöglich tönt ein Angſt- und Hülferuf hinter mir. Ich ſah mich 
um — ein junger, ungefähr eilf Jahre alter Irländer kämpfte 
mit der Fluth, die fih unaufhörlich über feinen Kopf wälzte und 
ihn endlich auf den Grund warf. Mit leichter Mühe und ohne 
alle Gefahr erreichte ich ihn und trug ihn watend auf die nädjite 
Klippe. Während ich ihn hinftellte, benußte die tüdifche Fluth 
meine vorgebeugte Stellung, ftürzte fih mit Gewalt auf meinen 
Rüden und warf mi an den Feljen. Meine Bruft war ver: 
wunbet, und es gab Blut. Diefer Zufall machte aus dem Nichts 
eine That und aus den Mitbadenden und den Zufhauern am 
Ufer meine Freunde. Beim Anblid meiner blutenden Bruft ftürz: 
ten fie Alle laut ſchreiend herbei — die Bademwärter famen ſchwim—⸗ 
mend, die Zufchauer fprangen angefleivet ins Waſſer, um mir 
zu helfen. Es war nicht nöthig. Aber der ganze Schwarm wollte 
mich nicht mehr verlafjen, und von ihm begleitet, 30g ich in Daltey 
ein. — Da mir mein Yührer noch verfchievene ſchöne Punkte 
zeigen wollte, gab mir die Majorität meiner Begleiter ein Nendez: 
vous in einem Gaſthausgarten. — Mein Gicerone führte mich 
durch unterirdiihe Gänge an eine Quelle, die hart am Meere 
das labendite Süßwaſſer jprudelt. Die unterirdifchen Gänge, die 
ſich in verſchiedenen Windungen einige hundert Schritte hinziehen, 
haben an der Dede einzelne Deffnungen, die ihnen ein magijches 
Clair-obseur geben. Mädchen mit Krügen auf dem Kopfe 
gingen hin und wieder — da und dort faßen auf den Steinen 
einzelne Gejellihaften, die ſich wor der Hite des Tages hierher 
geflüchtet hatten, auch einzelne Liebespaare oder einfame Träu: 
mer. Die Quelle felbjt, die befcheiden und ſchmucklos aus dem 
grauen Geſtein hervorſprudelt, ift durch mannigfache Sagen poe: 
tifirt und durch viele Lieder gefeiert. Als wir wieder ans Tages: 
licht kamen, ftanden wir vor dem Garten des Lorb:Lieutenants 
von Irland. Es ift das eine ganz einfache grüne Fläche hart am 
Ufer des Meeres. Der grünliche Rafen ift überall von gewaltigen, 


Dritter Brief. 237 


ungebeuren Felsfolojjen durchbrochen, die gelbe Kryptogamen 
beveden. Nur bier und da fteht ein ärmlicher Baum. Mit 
einem Wort: eine Heine Wüſte. Im erften Augenblide ift 
man über dieje Einfachheit erjtaunt — aber fie macht dem Ge: 
ſchmacke des Beſitzers alle Ehre. Diefe Felskoloſſe wären leicht 
zu fprengen und wegzuräumen gewejen — eine künſtliche Vege— 
tation von franfenden Bäumen und Blumen hätte fich leicht ber: 
vorrufen lafjen — gevduldige Statuen fann man überall hinftellen 
und fentimentale Lauben überall zufammentleben. Aber der Be: 
figer hat es verjtanden, welchen harmonischen Kontraft diejer 
wilde Fled Erde bildet neben ver lieblihen, jchönen Bat von 
Dublin. Die Felsblöde liegen kalt und ftarr da, aber das kom— 
mende und fliehende Meer umbraust und umlijpelt fie mit ewigen 
Leben — ihre Kryptogamen und Flechten treiben keine Blüthen, 
aber das jhlummernde Meer wirft feinen verklärenden Schimmer 
auf fie und das ftürmende feine weißen Schaumfloden. Dem 
Ganzen entjprechend ijt die einfache Billa, die fi am Eingange 
des Gartens erhebt und mit glänzenden Augen über die Fable 
Fläche und ihr Geftein hinausfieht auf die blauen Wellen und 
die weißen Segel. — Nehnlich ift der Garten der Nonnen in der 
Nähe,. der nur von einer niederen Mauer eingefchlojien ift. Die 
Dede entjpricht befjer, al3 es dunkle, heimliche Zaubgänge könn— 
ten, dem einfamen Leben diefer Frauen. Auch madten fie einen 
ſchauerlichen Eindrud auf mich, wie ich fie mit gefreujten Armen 
in ihren dunklen Gewändern auf dem fahlen Boden umberwan: 
deln und zwiſchen den Steinblöden wie zwifchen Gräbern bald ver: 
ſchwinden, bald wieder auftauchen ſah. Nur das prächtige, neu: 
erbaute, mit aller Pracht und Eleganz ausgeftattete Kloftergebäude 
erregt eine unangenehme Empfindung, wenn man an das Elend 
denkt, welches neun und neunzig Hundertel der irifchen Laien 
ervrüdt. — Die das Gelübde der Armuth ablegen, willen ſich 
überall, au in Irland, behaglich einzurichten. 

Auf dem Wege zum Gafthaufe fah ich noch das Landhaus 
O Connell's, das jegt feines Sohnes Sohn bewohnt. Es iſt ein 


28 Briefe aus Dublin. 


nettes, einftödiges Haus, von Gärten umgeben, die mit Statuen 
geſchmückt find. Das Thor ift mit hiberno : celtifhen Inſchriften 
verjehen. Im Gafthausgarten fand ich ſchon die ganze Gejell- 
haft verfammelt, die ich vor einer halben Stunde verlafien 
hatte. Laute Cheer3 auf den „Retter“ empfingen mid. Das 
machte mich Anfangs etwas verlegen ; doch wurde ich bald bei: 
mich und gemüthlich in der Gefellfhaft. An einem langen Tiſch 
am Nande des Meeres, von dem wir nur durch eine niedrige 
Mauer getrennt waren, jo daß ung ohne fie die Fluth die Füße 
beipült hätte, wurde ein frugales Mittagsmahl eingenommen. 
Unter Bewunderung de3 herrlihen Abends und mit beiteren 
Geſprächen verjtrich die Zeit. Ein Advokat, der eben von den 
mandernden Aſſiſen (eircuit) aus dem Lande zurücdgefehrt war, 
erzählte von den merfwürbigften Prozeſſen und freute jih, daß 
nit ein Dieb, nicht ein Näuber, ja nicht einmal irgend ein 
Mörder verurtheilt worden. Die ganze Gefellihait freute ſich 
mit ihm. Der Irländer betrachtet jedes Verbrechen, das von 
Einem jeiner Landsleute begangen wird, als einen Theil des 
großen Krieges, den feine Nation gegen England führt. England 
gibt ja die Gefege — wie jollten fie ehrwürdig fein? — Ihm it 
jeder Verbrecher, den der Advokat durchbringt, ein aus den 
Klauen englifcher Juſtiz gerettetes irifches Kind. Vielleicht haben 
fie Recht; fie mögen durch Erfahrung dahin gekommen fein, wo: 
bin unjere vorgejchrittenjten Vhilofophen durch Schlüffe fommen, 
daß der Verbrecher nur ein Unglüdlicher, ein vernachläfligtes Kind 
der Gejellichaft, ein Opfer veralteter Gefeggebung ſei. — Wie 
joll Der nicht jtehlen, dem hiſtoriſches Recht den Ader jtahl, auf 
dem er gerne im Echweiße des Angejichts fein Weib, feine Kinder 
ernähren möchte — mie leicht kommt er vom Diebjtahl zum Raub, 
vom Raub zum Morde, wie leicht jind diefe Schritte gethan, 
während starvation daheim den Säugling verzehrt und das 
Weib zu Haufe wacht und wartet auf die geftohlene Beute, die 
ihr Kind erretten foll! — 

Die Sonne ſank jhon tief, al3 ich auf der Eifenbahn von 


Vierter Brief. 29 


Kingstown nah Dublin zurüdfuhr. Die Fluth hatte die Schiffe 
erlöst, und fie tanzten luftig auf den bewegten.Wellen, der Abend: 
wind pfiff in den eingerefiten Segeln, auf der hohen Bai flogen 
die Dampfer hinaus ins offene Meer, am linken Ufer überall 
Iuftige Spaziergänger, die fingend in ihre Häuser zurüdfehrten 
— der Mond ftieg endlich voll und leuchtend auf — am Bahn: 
bofe drängte fich eine fröhliche Menge, und wie der Jrländer am 
Sonntage alle Mühen der Woche vergißt, fo vergaß ih, daß ich 
mich in der Hauptjtadt der Noth befand, und wie Jene vom Berg: 
thaue beraufcht, taumelte ich berauſcht von all’ dem erlebten 
Schönen zurüd in meine Wohnung, um mir kalte Umjchläge 
auf meine verwundete Bruft zu machen, was ich noch heute fort: 
jege und welchem Umſtande Sie diejen langen, langen Brief ver: 
danken. Leben Sie wohl. 


Vierter Brief. 


Herr John Ball, ein Engländer und einer der erjten Beamten 
Irlands, an den ich von einem großen Gelehrten aus London, 
feinem Freunde, ein Empfehlungsſchreiben mitbrachte, bejucht 
mich nicht, weil ic in einem Hafen-Hotel zweiter Klaſſe wohne 
und nicht, wie ich es ihm verfprodhen, eine theure Wohnung auf 
Stephens-Green bezogen habe. Bielleiht auch, weil er meine 
Empfehlungen an mehrere Jung-Irländer gejehen. Es ijt mir 
ganz recht — denn fonjt hätte ich ven ganzen ſchönen vorgeſtrigen 
Tag verloren und mit ihm und einer falhionablen Gejellihaft 
im Frad und zu Pferde eine Landpartie machen müſſen. Wahr: 
ſcheinlich hätte er mir au die Schreden und Gefahren folder 
Exkurſionen, wie ich fie gejtern Nacht noch machte, jo ausgemalt, 
daß ich fie unterlafjen hätte. 

Ich brachte nämlich fait die ganze Naht in den fürdhter: 
lihjten Nothquartieren zu. Um fünf Uhr ungefähr verließ ich 


30 Briefe aus Dublin. 


mein Hotel am Eden-Quai und wanderte dem Anna-Liffey ent: 
gegen, der Dublin in zwei Hälften theilt und innerhalb der Stadt 
von acht ſchönen und geihmadvollen Brüden überwölbt iſt. 
Diefer Fluß ift es vorzugsweiſe, der Dublin das Malerifche gibt, 
das e3 hat. Rechts und links laufen bequeme breite Quais bin, 
die vom Fluſſe durch eine nievere Mauer, auf der andern Seite 
dur ununterbrochene Häuferreihen begrängt fint. Auf den Quais 
bat Dublin Aehnlichkeit mit Paris. Sind die Gebäude auch meift 
unbedeutend, fo bilven fie doch eine jehöne Perfpeftive, die im 
Dften durch den Hafen und feine Mafte, im Weften dur den 
Park mit jeinen Hügeln und feiner gewaltigen Wellington-Byra- 
mide Fünftlerifch abgejchloffen ijt. Einzelne Gebäude ftechen durch 
ihre Maſſenhaftigkeit oder ihre bejondere Bauart hervor und ge: 
währen dem Auge die in einer tiefen Perjpeftive nothwendige 
Abwechſelung; jo z. B. die großen Magazine am Hafen, das 
Guftom:Houfe, ferner der ganz eigenthümlihe Bau der Four 
Courts. Es wäre diefes ein ganz gejchmadvoller, italienifcher 
Palaft, wenn er nicht durch einen ganz baroden Ueberbau ent: 
ftellt wäre, der mit unzähligen Säulen und einer ungeheuren 
gräulihen Metalltuppel ſich plöglih aus ihm erhebt, wie ein 
zweites Haus, von dem man nicht begreift, mie es da hinauf: 
gefommen; fo unabhängig, jo volllommen al3 ein Ganzes ftellt 
e3 ſich dar. 

Am Ellis-Quai vorbei bog ich rechts in die Gafle und um 
die ungeheuren königlichen Kafernen und ftand auf heiligem Bo: 
den. Dort liegt Arbour:Hill, der Erefutionsplag, auf welchem 
die meiften Braven der united-Irishmen-Revolution binge: 
richtet wurden. Jetzt ftehen einzelne Häufer da; doc iſt es hier 
öde und ſchaurig. In nächſter Nähe liegen ein großes Hofpital 
und ein Gefängniß; von der Stadt ift die ganze Gegend durch 
die Kafernen getrennt. Robert Emmet, auf den ih immer 
wieber zurüdlomme, al3 auf meinen Liebling unter den iriſchen 
Rebellen, al3 auf einen der liebenswertheſten aller Revolutionäre 
aller Zeiten, bat ihn nur kurze Zeit vor feiner eigenen Hinrihtung 


Vierter Brief. 31 


beſungen. Hier iſt das „Arbour-Hill“ überſchriebene Gedicht in 
flüchtiger, aber getreuer Ueberſetzung; 


Nicht ſtolze Säulen prangen hier, 
Wo Opfer ruh'n der heil'gen Sache, 
Doch, ach, das Blut, das hier vergoſſen, 
Zum Himmel ſchreit es auf um Rache. 


Um Rad’ auf des Despoten Haupt, 
Dem Menjchenelend Freude madt, 
Der Thränen trinkt, von Noth gemeint, 
Und, wenn fie fließen, ihrer lacht. 


Um Rache auf den harten Richter, 
Der feine Hand in Blut getaucht, 
Der Unreht mit dem Schwert bewaffnet 
Und nie des Rechtes Wage braucht. 


Um Rade für das Land, das Grab, 
Dem eignen, elenden Geſchlecht, 
Drauf welke Freiheit neigt das Haupt, 
Und wo der Menſch nur lebt als Knecht. 


D heilig Recht, befrei’ dieß Land 
Bon Tyrannei, die uns erdrückt, 
Nimm deinen Stuhl, nimm deine Wage, 
Doch ſei nicht mehr dein Schwert gezüdt. 


Nicht nach Vergeltung ftreben wir, 
Zu lang ſchon währt des Schredens Zeit, 
Die Freiheit fomme gnadenreid 
Und unbefledt von Grauſamkeit. 


Nicht ſoll des Unterdrüders Ajche 
Sein mit des Dulders Staub gemengt — 
Dieß ift der Ort, den Erin! Söhne 
Für Erins Glüd mit Blut getränft. 


AU Die, fo hier gebettet find, 
Jedweder ſei gebenedeit, 
Geſegnet ſei ihr Angedenken, 
Ihr Ruhm durchdringe alle Zeit. 


32 Briefe aus Dublin. 


Sie ruh'n in ungeweihten Boden, 
Den Priefterhand gejegnet nit, — 
Kein Glockenſchall ruft hier zur Andacht, 
Kein Denkmal, das zur Zukunft jpricht. 
Doch jegnet hier das Herz des Armen, 
Doch weinet hier der Patriot — 
Die tragen ihren Ruhm zum Himmel, 
Die heiligen den ſchönen Tod. 

So friedlih und fern von allen Rachegedanken fang in auf: 
braufender Jugendzeit derjelbe Robert Emmet, ver, einige Jahre 
jpäter, im reifern Alter als einer der gefährlichften Rebellen auf 
demjelben Plage durch den Strang vom Leben zum Tode ge: 
bracht wurde. Wie vielen unjerer humaniftiihen, verfühnungs: 
ſehnſüchtigen Jünglinge ijt vielleicht ein ähnliches Schidjal be: 
ſchieden! Nicht wir machen die Revolution. In Irland bat fie 
der „Fromme“ George gemacht, dem fein Gewiſſen es nicht er: 
laubte, die Jrländer zu emanzipiren, und der „große“ Pitt, ver 
deswegen zweimal jein Portefeuille nieberlegte, aber e3 zum 
dritten Male doch wieder annahm und aus zarter Rüdficht für 
das zarte Gewiſſen des Königs die Frage ruhen und Millionen 
Irländer ihrem Elende preisgegeben ließ. Freilich beftand ein 
Denunziationsgejeß, nach welchem Jeder, der jeinen Freund ver: 
rieth, wenn diejer katholiih war, mit den Gütern des Freundes 
belohnt wurde; freilich bejtand ein andres Geſetz, welches dem 
tatholifhen Vater das Recht benahm, der Hüter und Erzieher 
jeiner Kinder zu fein; und es bejtand ein drittes, welches erlaubte, 
den Katholifen auf offener Landftraße feines Pferdes zu berau: 
ben, wenn er, befragt, jeinen Glauben eingeftand; freilich befahl 
noch ein viertes Gejeß, das ungehorjame und von feinem Glauben 
abgefallene Kind mit dem Vermögen jeines katholiſchen Vaters 
zu belohnen; und ein fünftes, welches die katholiſche Erziehung 
zu verhindern wußte und den katholiſchen Lehrer als Verführer 
ftrafte; und ein jechötes, nach) welchem Fatholifche Priefter verbannt 
und bei der Rüdfehr gehängt wurden; und ein fiebentes, welches 


Dierter Brief. ' 33 


. Katholifen vom Grundbeſitz ausſchloß, ob nun Erbſchaft oder 
Kauf ein Necht dazu gegeben; — ferner beftanden noch Gejege, 
welche den Befig von Waffen und da3 Studium der Juris— 
prudenz verboten und von jedem bezahlten oder Chren:Amte aus: 
ſchloſſen und den Katholifen nicht geftatteten, bei welcher Wahl 
aud immer zu votiren oder im Parlamente zu ſitzen — aber was 
liegt an alle Dem? Der große Pitt ſchonte das zarte Gewiſſen 
des frommen Könige. — Arbour-Hill ift ein guter Flecken ver 
Erde, um über den eigentlichiten Werth großer Minifter und 
frommer Könige nachzudenken. 

So in der That nachdenkend, fam ich auf Kingsbrivge an; da 
zerjtreute mich ein ſchöner Anblid und ließ mich alle Minifter und 
Könige der Welt vergelien. An das Brückengeländer gelehnt, 
ftand das reizendjte Menjchenpaar — ein Junge von höchſtens 
neunzehn, ein Mädchen won höchſtens ſechzehn Jahren. Sie 
hatten ihre Arme ineinander geſchlungen und ſahen hinab in die 
Tiefe des Flufied. Der Junge, groß und ſchlank, mit blafjem 
Gefiht, Feder Aolernafe, freier Stirn, unter der blaue Augen 
hervorleuchteten, mit didem, ſchwarzem Haar, das wirr und 
breit auf die Schulter herabfiel, ließ durch das höchſt einfache 
aber ſehr zerrifiene Leinengewand einen feinen, doch mustulöfen 
Körper jehen, der in der ſchlanken Mitte von einem engen, breiten 
Gürtel umſchloſſen war. Das Mädchen trug das unausmweichliche 
Mäntelhen und den noch unausweichlichern Hut. Alles an ihr 
war zerpflüdt und zerriffen; das Mäntelhen, unten ganz aus: 
gefranzt, ftarrte von Schmutz, der Hut war voll Löcher, die mit 
Blumen und Blättern verjtopft waren. Das afchblonde Haar 
lag halb zerzaust auf der ungewajchenen Stirn. Aber mitten. 
durch all ven Schmutz drang der Strahl unendlich rührender 
Schönheit. Das Rehauge blidte ſanft und mild, die Feine, doch 
etwas gebogene Naje jprad von Geift und Verſtand, der etwas 
breite Mund mit vollen Lippen ließ eine Reihe glänzenver Perl: 
zähne jehen, und Kinn und Wangen waren troß Noth und Elend 
noch fanft gerundet. Die Jugend erträgt jo viel, ehe ſie ſich 

Mori Hartmann, Werke. TI. 3 


34 Briefe aus Dublin. 


entſchließt, aus einem ſchönen Antlig zu ſcheiden. Das Mäntelchen, 
da3 fie über tie Schultern geworfen hatte, um fich bequemer an 
das Geländer zu lehnen, ließ eine fhöne zarte Bruft fehen, die 
ſich durch die zerfajerte Hülle eines ſchwarzſeidenen Tuches weiß 
und glänzend hervorbrängte. Die Hand, die das Kinn ftüßte, 
obwohl gebräunt, war lieblih anzufehen, und um den fchmalen 
und Kleinen Zuß, der nadt in abgetretenen Schuhen ſtak, hätte 
fie mande deutſche Herzogin beneidet. — Endli gab fie ihre 
nachdenkliche Stellung auf, nahm dem Zungen feine rothe, kecke 
Müge ab und ftrid) ihm die ſchwarzen Loden von ver glänzenden 
Stirn. Ih jah Amor und Pſyche als irische Bettelfinder verkleidet. 

Bald bemerkten fie mich, der, auf dem Quai ſtehend, jie be: 
obachtete. Sie ſprachen einige Worte, die ich nicht hören konnte — 
dann verließ fie ihn und fam mit dem fanfteften Lächeln auf mich 
zu. Ich glaubte, fie wolle mid anbetteln, und ftedte fchon die 
Hand in die Tajche. Aber nein! — Sie fragte mich — ich will 
die Frage nicht wiederholen. Ob es der Bruder oder Geliebte 
war, den fie verließ, um an mich diefe Frage zu ftellen — ob 
e8 der Bruder over Geliebte war, der ihr ruhig nachſah und 
rubig das Reſultat abmwartete — es ijt gleich jchredlih. ch 
jchüttelte traurig und erjchüttert das Haupt; fie wollte wieder 
gehen. Aber ich bielt fie zurüd, um fie nad ihrem Ber: 
hältniß zu jenem jchönen Jungen zu fragen; — e3 war ihr Ge— 
liebter! Ich fragte fie nach ihrem Namen; fie hieß Juddy. Einen 
Shilling, den ic ihr gab, ließ ich ihr in die Hand fallen, denn 
ih wagte nicht, fie zu berühren, jo arg ftarrte daS ganze Ge: 
ihöpf von Schmut. Sie grüßte dankend und wollte wieder gehen, 
als mir einfiel, daß Juddy für meine Nachterfurfion der befte 
Gicerone fein könnte, weshalb ich fie bat, mich gegen neun Uhr 
in St. Thomas Street zu erwarten. Sie verſprach e3.und eilte 
mit ihrer Beute zum Geliebten zurüd. 

Sch wanderte am Bahnhofe und an des Decan Swifts Gaſſe 
porbei nah dem Royal: Hofpital, wo die englifchen Soldaten, 
mitten unter irifchen Elenden, ein behagliches Dafein verleben. 


Vierter Brief. 35 


Ihre Wohnung beiteht aus einem großen, weitläufigen Gebäude 
und einem endlojen, großartigen Garten, in den man mir den 
Eingang geftattete. Auf dem Rüdivege gegen Little James-Str. 
fam ich in Gegenden, die man in der Nähe einer großen Stadt 
für unmöglich halten jollte. Hütten, aus vier lehmigen Wänden 
zufammengeflebt, die faum das verfaulte Dad) zu tragen im 
Stande find, bilden ganze Gaſſen. Fenſter gibt es bier faft 
gar Feine — die Thüren, die unmittelbar aus der einzigen Stube, 
aus welcher das ganze Haus befteht, auf die Gafje führen, jtehen 
ewig offen, um Licht und Luft einzulafen, und zeigen die ganze, 
ungeheuere Aermlichleit des Innern. Bon Betten faft nirgends 
eine Spur — an ven Wänden hier und da ein Bret ald Bat 
befeftigt, zwiſchen zwei Blanfen nahe an der Dede einiges Ge- 
ihirr, im Winkel der kupferne Theefefjel, das ift der ganze Haus: 
rath einer oft zahlreichen Familie. Dieje lebt meift in der Gafle, 
da fie fih in der Stube verfammelt faum bewegen könnte. Bor 
den Thüren fpielten ſchmutzige, halbnadte Kinder, bei ihnen oft 
die Mutter, die, das Kinn in beide Hände geftügt, gedankenlos 
in die Welt ſah. Erwachſene Jungen jtanden müßig an die 
Hütten gelehnt — nur jelten bettelte mich ein oder das andere 
Kind an. Die Gaſſen find in diefer Gegend natürlich ungeebnet 
und ungepflajtert. E3 geht bergauf und bergab. — Eben als id) 
mic) fragte, ob e3 rathſam wäre, im guten Rode bier eine Mitter: 
nacht3promenade zu machen, las ich reht3 von mir an der Ede 
einer jehr engen Straße, die in die Tiefe führte, die Inſchrift: 
Murderer:Street. — Um einen Begriff von der Architektur dieſes 
Stabttheiles zu geben, will ic Ihnen die Ruinen von ungefähr 
ſechs oder fieben Häufern befchreiben. Sie lagen mir rechts, an 
einen Kleinen Hügel gelehnt, der einen Garten trug. Der Befiger 
dieſes Gartens hatte ihn mit einer jchlechten, lehmigen, faum 
manneshohen Mauer umzogen, die am Fuße des Hügels hinlief. 
So entjtand zwijchen der Mauer und dem allmählig ſich erheben: 
den Hügel eine Vertiefung. Was thut der geniale, jpefulative 
Broprietär? Er dedt diefe Vertiefung zwifchen Hügel und Mauer 


36 Briefe aus Dublin. 


mit Brettern zu, durchbricht die Mauer felbft an ſechs oder fieben 
Stellen, ſcheidet die jeh3 oder fieben Stellen, zu denen dieſe 
Thüren führen, durch lehmige Wände und hat jo eine Anzahl 
Mohnungen gewonnen, die er an ſechs oder fieben Familien ver: 
miethet. Die hinterfte Wand war durch den nadten Hügelabhang 
gebilvet. Wir würden unſer Vieh nicht in einen ſolchen Stall 
ſtellen. — Daß diefe Löcher bewohnt geweſen, konnte man noch 
deutlich erkennen, aber die elenden Wände hatten dem Negen nicht 
wiberjtehen können und waren als aufgeweichter Lehm augein- 
andergegangen; jo wurden die armen Troglopyten obdachlos, und 
ver Befiser fam um die jährliche Rente von einigen Pfunden. In— 
deſſen zweifle ich nicht, daß diefer unternehmende Kopf die Woh— 
nungen wieder rejtauriren wird, jobald nur befjere Jahre kom— 
men. Dieſes Jahr iſt qu jchlecht für das Volk von Irland, und 
die Bewohner beſſerer Häufer konnten ihren Miethzins nicht be: 
zahlen — warum ſoll er ſich vergeblihe Koſten machen? 

Punkt neun Uhr fand ic mid in St. Thomas:Street. Juddy 
faß auf einer Vorhaustreppe, umgeben von Kindern, denen fie 
allerlei Poſſen vormachte. Als fie mich erblidte, kam fie mir 
freundlich lächelnd entgegen und machte jenen objoleten Anir aus 
dem vorigen Jahrhundert, der auf dem Kontinente ſchon aus: 
geftorben ift, aber in Jrland von den Weibern aus dem Volke 
noch ſehr häufig angewendet wird. Sie wollte ſich zutraulid an 
meinen Arm hängen, ich erklärte ihr aber kurz und deutlich, daß 
ich nicht3 von ihr verlange, al3 Führerdienfte, und daß ich dur 
fie ihre Freunde und Leute aus dem Volle kennen zu lernen 
wünſche. Am Liebjten, fügte ich hinzu, würde ich mit Ihnen, 
Miß Juddy, in irgend einer Kneipe zu Nacht eſſen, wo Sie 
fonft, wenn Sie einen Shilling zu viel haben, zu foupiren pflegen. 

Juddy veritand mich jogleih und bielt ſich in ehrwürbiger 
Entfernung. Nach einem langen prüfenden Blid fagte fie: Ad, 
Sir! ih errathe! Sie wollen die armen Leute von Srland 
malen!? — Wie kommen Sie darauf, Miß Juddy? — Im 
vorigen Herbite, antwortete fie, war aud ein Gintleman aus 


J 
Vierter Brief. 37 


London hier, der ein ganzes Wirthshaus und mich dazu abmalte. 
— Jetzt erſt wußte ich, warum mir Juddy ſo bekannt erſchienen 
war. Ich ſah ſie an — ſie war offenbar das Original des 
„Irish Girl,“ das auf der Londoner Kunſtausſtellung des 
legten Frühlings fo fehr gefallen hat. Ich konnte nicht umhin, 
ihr zu erzählen, welche Eroberungen fie in London gemadt. 
Sie hörte mir aufmerkſam zu und mwar fichtlich erfreut. Doc 
ihien fie fih nicht aus Eitelkeit zu freuen, im Gegentheil, e3 
batte den Anfchein, al3 wäre fie mit ernjten Gedanken beichäftigt. 
Sie verfant in minutenlanges Stillſchweigen, während deſſen ſich 
ihre ſchöne Stirn in Falten legte und ihre rofigen Lippen unver: 
ftändlihde Worte vor fih hin murmelten. Mehrere Mal wollte 
fie jpredhen, bielt aber immer wieder inne. Endlich blieb fie 
ſtehen, ſah mir keck ins Gefiht und fhien um einige Zoll zu 
wachſen — dann wieder jchlug fie die Augen nieder und fragte 
mit monotoner Stimme: Was glauben Sie, Gintleman, würde 
ih den Londoner Gintlemen gefallen? — 

Ich verſchwieg verblüfft und hatte nicht das Gewiſſen, meine 
bejahende Ueberzeugung auszuſprechen. 

Juddy ließ ſich durch mein Schweigen nicht ſtören, und ohne 
meine Antwort abzuwarten, fuhr fie fort: Peggy aus Galway, 
wo ih aud ber bin, war ein armes Mädchen wie ih, und 
nicht einmal fo fhön wie ih — das kann ich Ihnen fagen, dear 
Sir, denn alle Leute behaupten es. Sie ging nad) London — 
und jegt fährt fie im Hyde-Park mit zwei jchönen Pferden, in 
einem ſchönen Wagen und hat einen Bedienten hinter fich figen, 
wie die Lady des Lordlieutenant3 von Irland. So wenigſtens 
erzählt Barry und Alle, die aus London fommen. Vor Kurzem 
ſoll ihr ein indischer Prinz ein Kleid aus lauter Diamanten ge: 
ſchenkt haben, vielleicht nimmt er fie auch mit in fein Land und 
macht fie zu einer Prinzeſſin. 

Obwohl ich ihr den größten Theil ihrer Erzählung hätte be— 
ftätigen können, ſchwieg ich doch hartnädig. Das ſchien fie zu 
geniren, und fie nahm fchnell wieder das Wort auf: Freilich 


“ 


38 Briefe aus Dublin. 


könnte ich auch nach Liverpool gehen oder Glasgow und dort in 
der Fabrik arbeiten, um nicht zu verhungern. Aber wer ſchwört 
mir, daß ich nicht verhungere, bevor ich Arbeit gefunden habe? 
Und wenn ih fie gefunden habe — ich habe es an jo vielen 
Mädchen gejehen, die aus England zurüdgelommen find, vie 
lange Arbeit macht Einen in zwei Jahren jo krank und häßlich, 
und ic kann noch menigjtens zwölf bis fünfzehn Jahre ſchön 
bleiben, wenn ich nur zu ejlen habe und nicht vierzehn Stunden 
des Tages arbeiten muß. Was meinen Sie? — 

Um nur etwas zu fagen, fragte ih: Und wenn Sie nad) 
London gehen, Mit Juddy, was foll aus Ihrem Geliebten 
werden ? 

Aus wen? — aus Bill? — lachte fie laut auf: den nehme 
ich mit, und er wird mein Kutjcher. 

Ich ſchwieg wieder; im Angeficht des drohenden Hungers, von 
dem fie jo ruhig ſprach und wie von einer ausgemachten Sache, 
hielt ich mich zu einer Moralpredigt ganz und gar nicht berufen. 

Unter ſolchen Geſprächen wurde es Nacht, und wir famen in 
die Nähe von Golden Lane in ein Labyrinth von dunklen und 
engen Gaflen. Vor den Häufern ſaßen Weiber und Mädchen 
in zerlumpten Kleidern, welche Juddy freundlihd und mit Witzen 
grüßten. Auf den Schwellen jpielten oder jchliefen die Kinder. 
Nicht ein Fenfter war erleuchtet; nur felten brannte eine öffent: 
liche Laterne und warf ihr rothes, zitterndes Licht auf die male: 
riihen Gruppen, unter denen ſich wenige Männer, aber viele 
Meiber mit Pfeifen im Munde befanden. Manche Gruppen, die 
wieder auf den Schwellen gegenüber faßen, fangen mit dumpfer 
Stimme melandolifhe Lieder oder hörten ven Worten eines Er: 
zähler8 zu. Die Zrländer lieben das Märchen und die fchau- 
rigen, blutigen Gejchichten. — Auf einem etwas freiern Plage, 
der durch mehrere Laternen beleuchtet war, bildete die Menge 
einen großen Kreis und ſah einem Tänzer zu, der unter Jauch— 
zen und Singen feine Sprünge machte. Es war Juddy's Bill, 
dem ein alter Mann im grauen Flausrode mit eine? Klarinette 


Vierter Brief. 39 


auffpielte. Tänzer und Mufifant waren auf diefen etwas elegan: 
tern Platz gekommen, um Geld zu verdienen, aber im Feuer ihrer 
Kunft vergaßen fie dieſe gemeine Abjiht, und die Kunſt wurde 
ihnen Selbftzwed. Sie tanzten und fpielten für das Voll, das 
ihnen aufmerffam und dantbarlfür das Feſt zuſah und zuhörte. 
Das ift jo Acht iriſch. — Bill führte eine Art ſpaniſchen Tanzes 
auf und bielt vier Blechſtückchen anftatt der Kaftagnetten in ver 
Hand. Er ſchwang und wiegte fih: auf feiner ſchlanken Taille 
mit großer Grazie, und während er im Kreije herumfprang, hatte 
er jedem der Mädchen, die ihn umjtanden und ihn mit ihren 
very-well aufmunterten, etwas Schönes zu jagen, ohne einen 
Augenblid außer Athem zu kommen. Als er Juddy erblidte, 
warf er ihr einen Kuß zu, grüßte mich felbjt ſehr höflich und 
tanzte fort. Ebenſo ruhig ging Juddy mit mir weiter, big wir 
in der Nähe von Combe-Puddle vor einem alten, ſchwarzen Haufe 
Halt machten. Juddy nahm mich an der Hand, und nachdem fie 
gebeten hatte, des Schmutzes wegen auf den Fußipigen zu gehen, 
führte fie mich dur einen endlos langen, hohen und dunklen 
Gang in einen Hof, auf den aus einem halb mit Papier ver: 
lebten Fenfter ein ſchwaches Licht fiel. Vor der Schwelle der 
Thüre auf der andern Seite de3 Hofes, auf die wir losgingen, 
lag ein betrunfener Irländer, der mir, als ich über ihn hinweg— 
jtieg, ein „bloody Ruffian“ zurief und mit lallender Stimme 
ven Hund, der neben ihm lag, auf ung zu been fuchte. Sein 
Wächter mag ihn nicht verftanden haben, oder mochte gewohnt 
gewejen jein, feinen Herrn als Schwelle vor Kneipen liegen zu 
jeben, und ließ uns ruhig pafliren. 

Wir traten in eine Stube, die fo ſchlecht beleuchtet war, daß 
ih weder Menſchen noch Gegenſtände unterfcheiven konnte; nur 
das laute Gejchrei, das aus einem Winkel, und das dumpfe 
Schnarchen, das aus dem andern heraustönte, verrieth mir, dab 
ih mich in Gefellichaft befand. 

Ohne fih um dieſe zu kümmern, nahm Juddy die Talg: 
lampe, die einzige Leuchte der Stube, vom Kamin und beleuchtete 


4) Briefe aus Dublin. 


mir eine Zeihnung, die, von der Feuchtigkeit des Raumes ſchon 
bedeutend ſchadhaft und fledig, an der Wand befeftigt war; offen- 
bar das Werk einer fehr fertigen Künftlerhand. Es rührte von 
dem Maler her, von dem mir Juddy gefprochen, den fie eben: 
fall3 in diefe Kneipe geführt, um ihn mit armen Leuten befannt 
zu machen, und der e3 bier als Andenken zurüdgelafien hatte. 
Juddy nannte die Zeichnung „eine heilige Familie auf der Flucht 
nad) Aegypten“, und doch ftellte fie nichts Anderes vor, al3 einen 
armen Irländer, der mit feinem Weibe und dem Säugling vom 
unbarmberzigen Landlord aus feiner Hütte in's Elend gejagt 
wurde. Eo ſehr ilt es wahr, daß der Menfch fich feine Götter 
nad) jeinem Ebenbilde ſchafft. 

Nah Belichtigung der Zeichnung ftellte mih Juddy der Ges 
ſellſchaft vor, die ich jegt erft, da die Lampe auf dem Tifche ftand, 
genau erkennen konnte. Sie beftand aus fünf bis ſechs Män- 
nern, die um einen Tisch in der Ede herumfaßen, wenn wir nit 
auch die acht bis zehn Perfonen, Männer und Weiber, die ein- 
zeln oder gepaart auf dem Boden herumlagen und ſchliefen, zur 
Gejellihaft zählen wollen. Am Kamine kniete ein altes Weib, 
welches eine abgejchälte Felvrübe an den fpärlichen Kohlen dün— 
ftete, und jobald eine Stelle daran etwas geweiht war, fie mit 
ihrem zahnlofen Munde benagte. — Die Männer am Tijche 
empfingen mic) freundlich und riefen fogleich bei meiner Annähe— 
rung: Plat dem Gintleman und feiner Lady, und rüdten zu: 
jammen, um uns die beiten Plätze auf den Stühlen einzuräu= 
men. Das ganze Mobiliar der Stube, die, groß und weit und 
hochgewölbt, es verrieth, daß fie einft beſſere Tage gejehen hatte, 
beſtand aus dem Tiſche, an dem wir faßen, einem andern in der 
entgegengejegten Ede, einem erblindeten Spiegel über dem Ka— 
mine mit abgeſchabtem Golvrahmen und einigen Brettern, die, an 
die Wand befeftigt und von rohen Holzklögen oder Steinen ges 
tragen, ala Bänke die Stube umgaben. An einer der Wände 
hing die Ruine eines alten eihenen Schranfes, an dem no 
jeine Schnigereien zu erfennen waren. In feinem Schooße trug 


Vierter Brief. 41 


er einige Theetaſſen, einen Krug und fünf oder ſechs mehr oder 
weniger bejchädigte Gläfer. — Die Männer an unferm Tijche, 
alle zerlumpt und zerriffen, faßen unbefhäftigt da — einen aus: 
genommen, der eine Taſſe Thee vor fich ſtehen hatte, aus der er 
von Zeit zu Zeit zur Pfeife einen Schlud that. Diefer fpielte 
ven verjchlofjenen Charakter, der dem Irländer fo unnatürlich 
und komiſch fteht, verhielt fich kalt und machte den prüfenden 
Menſchenkenner, indem er die Augen zudrüdte und mich von der 
Seite anblinzelte. 

Ich fragte, ob bier für mich und meine Lady ein Nachteilen 
zu haben wäre? — Der Wirth, einer der Männer, die am Tiſche 
jaßen, zudte die Achfel und bot mir eine einfache Taſſe Thee an. 
Sch bewunderte Juddy's Uneigennügigkeit, die ich doch zu einem 
Souper eingeladen hatte und die mich trogdem in diefe Kneipe 
führte, von der fie wußte, daß fie feine lukulliſchen Mahle bieten 
fonnte. Aber Juddy hatte mich zuerſt bedacht, da ich arme Leute 
hatte jehen wollen, und vergaß ſich felbit, die an diefem Tage 
nicht mehr als eine Waſſerrübe gegeſſen hatte. Ich half mir, 
indem ich den Wirth fragte, ob es ihn nicht beleidigen würde, 
wenn ich aus einem Speijehaufe von Corn: Market ebenjo viele 
Beefiteal3 und entjprechende Porter-Krüge fommen ließe, als ſich 
Perfonen am Tiſche befänden. Der Wirth ging mit tauſend 
Freuden auf meinen Vorſchlag ein, und die Männer dankten mir 
jehr böflih, doch nicht abweifend für meine Einladung. Ein 
Mädchen, das am Boden fchlief, wurde gewedt, ich gab ihr Geld, 
und fie lief, um das Beftellte zu holen. Meine Gäſte wurden 
zutraulicher, und jelbjt Barry, fo hieß der Verſchloſſene, der prü- 
fende Menjchentenner, gab feine beobadhtende Poſition auf. Er 
rüdte etwas näher und fragte mich nad) meinem VBaterlande. — 
Ah, Deutfhland! — rief er — das kenne ich ganz genau, das 
liegt gleich hinter Holland! — Richtig! Sie waren jhon dort, 
Mr. Barıy? — Das eben nicht, aber ich war in Amfterdam, als 
ih noch Heizer auf dem Dampfichiffe war. — Sie waren Heizer 
auf einem Dampfichiffe? 


42 Briefe aus Dublin, 


Auf diefe meine Frage lächelte die ganze Geſellſchaft. Was 
war der Barry nicht ſchon Alles! fagte Einer. Das machte mich 
neugierig, und ich fah Barry fragend an. Er wollte nicht heraus 
mit der Sprache, rüdte bin und ber, ftopfte die Pfeife und nahm 
wieder feine Miene des Menfchenfenners an. Aber welcher Jr: 
länder widerſteht einer zweimal mit Interefje wiederholten Frage?! 
So fing auch Barıy mit einem Male jehr berevt an: Thaddy 
bat Recht! was war ich nicht fhon Alles! Daß ich nicht auch 
Ihon auf dem Throne von Irland faß, iſt nur zu verwundern. 
Ich war, wie ich Ihnen fagte, Heizer auf einem Dampfſchiffe; 
das Schiff ging zu Grunde mit Mann und Maus, ich allein ret- 
tete mich. Danı arbeitete ich in einer Walifer Grube, um den 
Engländern ihre [hwarzen Diamanten an's Tageslicht zu für: 
dern; das ganze Koblenbergwerf gerieth in Brand; darauf wan- 
derte ih nah Mancheiter, arbeitete vier Wochen in einer Fabrik, 
der Beliger fallirte, wir wurden alle brovlos, vierhundert meijt 
irifche Kinder — dann ging ich nach Liverpool und wurde wie: 
der Maſchinenheizer einer großen Fabrik; der Keſſel ſprang, 
tödtete vier Menfchen und riß mir die zwei Finger weg, die Sie 
bier ſehen! — Bei diefen Worten ftredte mir Barry die Hand 
bin, an der allerdings zwei Finger fehlten. Da hatte ich einen 
echten „irish bull.“ — 

Barıy fuhr fort: Bei diefer Gelegenheit kam ich mit meinem 
Herrn in Streit, und er jagte mich fort, mid mit meinen zwei 
abgerifjenen Fingern. Wo follte ich nun Arbeit hernehmen mit 
zwei abgerifjenen Fingern? Wochenlang irrte ih in Lancafter: 
Shire und in Wales herum und bettelte und hungerte, und fürch— 
terli hungrig fam ich fo eines Abends in Holyhead an. So 
ftand ich da und ſah hungrig hinüber über's Meer, Irland ent- 
gegen, dem ſchönen, grünen Eiland. — Wenn ich ſchon verhun- 
gern joll, warum nicht lieber in Srland? — dachte ih — das 
ift einem Jrländer viel angemefjener und natürlicher. Ein unge: 
beures Heimweh ergriff mich, und in der Nacht band ich einen 
Kahn los — es war ein jhöner, grün und roth angeftrichener 


Bierter Brief. 45 


Segelkahn — und fteuerte hinaus ins irische Meer. Ich hatte 
eine gute Fahrt, der Wind war günjtig, und nad faum zwei Ta: 
gen lief ih glüdlich, aber außerordentlich hungernd im Hafen von 
Dublin ein. — Natürlich hatte ich während meiner ganzen Ueber: 
fahrt feinen Bifjen gegeflen, der Kahn war mit Provifion nicht 
verfehen, und ich hatte Fein Geld, mir welche anzuſchaffen. So 
fam ich in Dublin an, ausgemergelt, wie eine Leiche. Die Waſ—⸗ 
jerluft zehrt jo fürdhterlih. Mein erftes Geſchäft in Dublin war, 
zu betteln. Aber, Sir, ich bettelte ven ganzen Tag und mit 
größtem Fleiße, und ich befam feinen Penny. Da mollte ich 
meine ganze Habjeligfeit, ven Kahn, verkaufen, fehr billig ver: 
faufen — Gott! ich hätte ihn für einen Sirpence hergegeben, 
und er war boch unter Brüdern ſechs Pfund werth. — Bei der 
Gelegenheit fperrten fie mich ein, denn fie verdächtigten mid), 
den Kahn geftohlen zu haben. Ich verjuchte feine Wiverlegung, 
denn im Gefängniß befam ich zu eſſen. Dort jaß ich drei Jahre. 
Bor ſechs Wochen kam ich heraus und hungerte wieder, bis mir 
der Herr einen franzöfifhen Gentleman ſchickte, der mich nad) 
Wicklow mitnahm, weil ich die ſchönen Geſchichten der fchönften 
Grafihaft der Welt auf die jchönfte Manier zu erzählen weiß. 
Da habe id) doch fo viel verdient, daß ich heute, nachdem mic) 
ver franzöfifche Gentleman ſchon acht Tage verlaffen, noch eine 
Taſſe Thee zu bezahlen im Stande bin. 

Das beſtellte Ejjen war indeß angelommen, und die ganze 
Geſellſchaft verjank in andächtiges und doc ıhätiges Stillſchwei— 
gen. Bald waren jämmtliche Beejjteat3 verſchwunden, nur die 
Porterkrüge jtanden noch halb voll da. Barry wijchte ſich den 
Mund ab und ftredte mir die Hand über den Tijch entgegen. 
Sir, fagte er, Sie haben mir mit diefem Beefiteak einen reellen 
Dienft erwiejen. ch wünſche herzlich, Ihnen dafür irgend einen 
Gegendienjt erweijen zu fönnen. 

Das wird nicht jo jehwer fein, antwortete ih, Sie jagten 
vorhin, daß Sie die ſchönſten Geſchichten der ſchönſten Grafichaft 
der Welt auf die ſchönſte Weife zu erzählen willen — mohlan, 


44 Briefe aus Dublin. 


ih liebe jehr die irifchen Gejchichten, erzählen Sie mir eine 
ſolche. 

Barry lächelte, räuſperte ſich, that noch einen Schluck, lehnte 
ſich zurück, rieb ſich die Hände und ſagte: Ich bin bereit! — 
Sir, Sie werden nach Vollendung der Geſchichte ſagen: ich habe 
mich an den rechten Mann gewendet; Sie werden ſagen: Irland 
hat die ſchönſten Geſchichten der Welt. Sie werden ſich dann 
geſtehen müfjen: Ich habe vie ſchönſte der ſchönſten Geſchichten 
der Welt gehört und dieſe iſt 


Die Geſchichte des Königs Lavra. 


Lange, lange Zeit, bevor der Herr ſeine Apoſtel mit dem 
Heile ins ferne Irland ſchickte und St. Patrick die Drachen und 
Schlangen ins Meer jagte, lebte und regierte auf dieſer Inſel 
der König Lavra. König Lavra war ein Irländer und hatte ein 
gutes Herz. Aber ein Leibesfehler, der ihn entſtellte, machte ihn 
manchmal grauſam, und dieſer Leibesfehler beſtand in Eſelsohren, 
die ihm viele Zoll hoch am Kopfe wuchſen. Um ſie zu verbergen, 
trug König Lavra ſehr lange Haare und that ſo, als ob er dieſen 
Schmuck ſehr liebte. Ja, er trieb es ſo weit, daß er allen ſeinen 
Unterthanen bei Todesſtrafe befahl, ſich ebenfalls die Haare 
wachſen zu laſſen. So kam es bald, daß damals jedem Irländer 
Kopf, Hals, Nacken und Rücken von dicken Haarwellen bedeckt 
waren, und man gewöhnte ſich ſo ſehr an dieſe Tracht, daß Einem 
am Ende die Vorliebe des Königs gar nicht mehr als etwas Be: 
jondere3 erfchien. Nur Einmal im Jahre ließ fich der König den 
Bart fcheeren, da man doch den Bart nicht jo lang kann wachſen 
laſſen wie die Haare; aber faum war das gefhehen, als der 
König jedesmal dem Barbier den Kopf abſchlagen ließ. Man 
zerbrach fi den Kopf darüber, warum der fonft jo gute König 
ſich gegen die unfchuldigen Barbiere fo graufam zeige? 

Am Ende nahm man allgemein an, de3 Königs Barthaare ſeien 
von fo eigenthümlicher Befchaffenheit, daß ihm das Rafiren jedesmal 


Vierter Brief. 45 


die größten Schmerzen verurſache, daß er dieſe Schmerzen der Un: 
geſchicklichkeit des Barbiers zufchreibe und daß er dann in einem 
Anfall von Wuth, der vielleicht auch in der eigenthümlichen Be: 
ſchaffenheit des Barthaares feinen Grund habe, ven armen Bar: 
bier föpfen laſſe. So gab man fich zulegt auch über diefe Grau: 
ſamkeit zufrieden. Nicht jo bald ruhig war die edle Zunft der 
Barbiere, welche nichts fo ſehr fürchteten, als die Ehre, ihren 
König barbieren zu dürfen. Im Laufe der Zeit bildete jich der 
Brauch, daß, wenn der verhängnißvolle Rafirtag des Königs 
berannahte, alle Barbiere des Reichs zufammentraten und ihre 
Namen in einen Hut warfen. Defien Namen dann herausge— 
zogen wurde, der beichtete, rafirte und jtarb. 

Einmal fiel daS Loos auf den jungen und einzigen Sohn 
einer Wittwe, deſſen Bater einjt das Glüd gehabt hatte, in einer 
Schlacht dem Könige das Leben zu retten. Der junge Barbier 
that jeine Prliht und wurde zum Tode geführt. Aber da drang 
die unglüdlihe Mutter mitten dur alle Wachen des Palajtes 
bis an den Thron, um den die gefallenen Barthaare noch herum: 
lagen, warf fi dem Könige Lavra zu Füßen, erinnerte ihn an 
den Dienft, den ihm ihr todter Mann erwiefen, ſprach von ihrem 
Mittwenjammer, meinte und Elagte und hielt eine jo rührende 
Rede, daß der König, ſich feiner Undankbarkeit gegen ven Vater 
feines Opfers jhämend und von dem Unglüd der Wittwe ge: 
rührt, dem jungen Barbier das Leben ſchenkte. Aber bevor er 
ihn entließ, nahm er ihn noch einmal bei Seite und ließ ihn 
ſchwören, nie und nimmer einer menſchlichen Seele nur eine 
Sylbe von Dem zu vertrauen, was er gejehen hatte, und er: 
nannte ihn noch zu feinem bejtändigen, lebenslänglichen Leib— 
barbier. Der Sohn der Wittwe verſprach Alles, was der König 
von ihm verlangte. 

Das ganze Land freute fih darüber, daß der König auch 
diefe einzige Graufamleit abgelegt, die ihn vwerunzierte, und 
war voll Jubel und pries die Großmuth und den Edelſinn 
Lavra's. Mehr als das ganze Land zufammen freute ſich natürlich 


'46 Briefe aus Dublin. 


der junge Barbier, ver jo fiherem Tode entronnen war. — 
Seine Freude dauerte lange — aber nah und nad fing fein 
Geheimniß an, ihn zu drüden. Es lajtete wie ein Alp auf feiner 
Bruft — es fhnürte ihm die Kehle zu — es verjegte ihm den 
Athem — e8 erftidte ihn fürmlid. Er wurde düfter, melando- 
liſch, ſchweigſam und unendlich traurig. Seine gute Mutter 
beobachtete ihn lange, am Ende mußte fie nicht, mas fie über 
ven Zuftand ihres Sohnes denken follte, und fie entſchloß ſich, 
fich bei einem weifen Manne Raths zu erholen. Der weile Mann 
jagte ihr: Deinen Sohn drückt und würgt ein Geheimniß. Er 
wird fo lange daran Franken, bis er es irgend Jemand anver: 
traut hat. Und jo rathe ich ihm Folgendes. In der Grafſchaft 
Wicklow fteht auf einem Kreuzwege eine einjame Weide, deren 
Zweige, von Blättern ſchwer, auf allen Seiten bi zur Erbe 
berabhängen. Im Innern diefer Weide wohnt eine Elfe. Dahin 
gehe dein Sohn dieſe Naht, und wenn der Vollmond juft auf 
die Weide jcheint, Erieche er unter ihr Laub und vertraue fein 
Geheimniß dem Geifte, der fie bewohnt.- 

Die Wittwe binterbrahte den Rath des weiſen Mannes 
ihrem Sohn, und diefer that, wie die Mutter ſagte. Gleich in 
ver eriten Nacht juchte er die Weide auf dem Kreuzwege in der 
Grafihaft Willow auf und wartete nun, bis der Mond aufging 
und feine Strahlen auf das Laub voll und glänzend fallen lief. 
Dann kroch er unter die Zweige und flüfterte leije, leife dem 
Stamme zu: Der König Lavra hat Eſelsohren! — Kaum hatte 
er die Worte ausgejproden, als e3 ihm ſchon wie ein Stein vom 
Herzen fiel; er wurde wieder luſtig und froh wie ehemals, und 
die Wittwe war dem weiſen Manne jehr dankbar. 

Kurze Zeit darauf begab es fi), daß einer der Sänger des 
Königs juſt über den Kreuzweg in der Grafſchaft Widlom ging. 
Wie er fo hinging, in Gedanken vertieft, ließ er die Harfe fallen, 
die zerbradh. Er jah fih um, wie er den Schaden wieder gut 
machen könnte, und erblidte die Weide, die ihm gutes Holz zu 
bieten ſchien. Er zog fein goldenes Mefjer aus der Taſche, ſchnitt 


Bierter Brief. 47 


fih einen Zweig ab und befjerte die Harfe wieder aus. Am 
Abende defielben Tages gab der König Lavra in feinem Palafte 
ein großes Feſt, zu dem an fünfzigtaufend Gäfte verjammelt 
waren. Nahdem man fich an der reichbejegten Tafel gehörig 
erfreut hatte, follte auch gefungen werden. Der König gab dem 
Sänger, der auf den Stufen des Thrones faß, ein Zeichen, und 
er griff in die Saiten. Kaum aber hatte er die Saiten der Harfe 
berührt, als fi anjtatt der gewohnten fühen Töne ein über: 
natürliher Schrei hören ließ, und dieſer Schrei rief ganz deut: 
ih: Der König Lavra hat Efelsohren! — Wie überrajcht und 
erſchrocken waren da die fünfzigtaufend Gäfte! König Lavra jelbft 
war wüthend und wollte alle fünfzigtaufend Gäfte hinrichten 
laſſen, „venn — dachte er fih — was fünfzigtaufend Gäſte 
wiſſen, wiſſen in einer Stunde fünfmalhunderttaufend, und was 
in einer Stunde fünfmalhunderttaufend wiſſen, das weiß morgen 
das ganze Land.” — Aber er konnt’ es doch nicht übers Herz 
bringen, der gute irifche König, fünfzigtaufend unſchuldige Men: 
Ihen hinrichten zu laffen, und da das Geheimniß einmal ver: 
rathen war, ergab er ſich darein, ließ feine Haare kurz jhneiden 
und zeigte künftig aller Welt feine Eſelsohren. Man kümmerte 
ih nicht darum, denn ein gutes iriſches Herz ift ſelbſt unter 
Eſelsohren etwas werth. Von jenem Abende an fonnte aud 
Jedermann das Haar tragen, wie es ihm beliebte. 

Die wunderbare Weide, dur die das Geheimnik des Kö: 
nigs Lavra herausfam, fteht noch heute. Jeder Wanderer, der 
die fhöne Grafſchaft Widlow, die „Ichönfte der Welt“, vurchitreift, 
fann fie ſehen. Sie jteht da, umgeben von einer Umzäunung 
einfacher auf einander geſchichteter Steine, auf daß fie die Hirten 
nicht verlegen und fie noch lange fich erhalte, als ein liebes 
Andenken an alte Zeiten, an den guten König Lavra und an 
diefe wunderbare Gejchichte. 


48 Briefe aus Dublin, 


Ich mar ſehr erfreut über dieſe jhöne Midasgejhichte und 
dankte Barry herzlich, indem ich ihm verficherte, daß ich mich 
nun als feinen Schuloner fühle, da eine einzige folder Geſchichten, 
jo erzählt, mehr werth jei al3 alle Beefſteaks der vereinigten König— 
reihe. Barry rieb fich vergnügt die Hände; aber ein beftändiges 
„Hm, Hm“ feines Nahbars Thaddy ftörte ihn. Was haft Du 
gegen die Geſchichte einzumenden? fragte er dieſen ärgerlich. 

Thaddy fagte: Ich habe dieſe Geſchichte ſchon oft gehört, 
aber ſo oft ich ſie hörte, immer mußte ich mich fragen, warum 
hat der erſte, beſte Barbier dem guten König Lavra, ſobald er 
deſſen Kopf in Händen hatte, nicht den Hals abgeſchnitten? 

Du ſprichſt, antwortete Barry, als wärſt du keine getaufte 
Chriſtenſeele. Der jedesmalige Barbier des Königs hat vor 
ſeinem verhängnißvollen Geſchäfte ſich gehörig durch Beichte und 
Kommunion vorbereitet — er konnte alſo mit Ruhe vor unſern 
Herrn und Heiland treten — dem König aber fiel es nicht ein, 
zu beichten, und er hätte mit ſeinen Sünden müſſen hinfahren; 
wie unchriſtlich waͤre es alſo von dem Barbier geweſen, ven 
König in die Hölle zu jagen, während er mit Ruhe den Weg in 
den Himmel antreten konnte? — Thaddy geſtand, daß er die 
Sache nie von dieſer Seite betrachtet, und erflärte fih nun für 
volltommen beruhigt. 

Barry, mit feinem Erfolg zufrieden, jchien fich bereit zu 
machen, eine neue Gejchichte zu erzählen, mir aber jchien eine 
folde aus dem ſchönen Munde Juddy's viel intereffanter, und 
ich forderte fie auf, noch bevor Jener jeine Bereitwilligfeit aus: 
geſprochen hatte. Barry ergab fi darein und rief nur: Gie 
fommt aus dem Welten, fie joll Ihnen eine Elfengefchichte 
erzählen. 

Gut, jagte Juddy, ich will erzählen, jo gut ich kann, aber 
erlauben Sie mir, eine kurze Weile nachzudenken und eine unjerer 
ſchönſten Geſchichten auszumählen. 

Während Juddy nachdachte, gab mir Barry folgende Er— 
klärung der Elfengeiſterwelt. — Die Elfen, ſagte er, ſind 


Vierter Brief. 49 


ehemalige Engel. Als Gott der Herr von dem abgefallenen 
Satanas in feinem Himmelreidhe befriegt wurde, theilten fich die 
Engel in drei Parteien. Die Einen liefen zu Satanas über und 
wollten ihn zum Könige des Himmels ausrufen,; die Anderen 
blieben dem Herrn treu und fämpften an feiner Seite gegen 
Satan und die ruchlofen Engel; die Dritten wollten abwarten, 
welche von den Parteien den Sieg erringen würde, um fi dann 
zu der fiegreichen zu ſchlagen. Als dann Satanas von Gott dem 
Herrn und feinem Sohne gejhlagen war, wurde er mit allen 
jeinen abgefallenen Engeln in die Hölle gejagt, die treugeblie- 
benen wurden die himmlischen Heerfchaaren, blieben im Himmel 
und lobfingen Gott unter Anführung der Erzengel; die Dritten, 
welche abwarten wollten, wurden zur Strafe für ihre Gleich— 
gültigkeit zwifchen Himmel und Hölle auf die Erde gebannt, wo 
fie unfichtbar leben in Bäumen und Felfen, in Quellen, Seen 
und Flüffen. Sie find gut und lieben die Menfchen, denen fie 
auch manchmal erjcheinen, ihnen in Leiden und Nöthen beizu: 
jtehen. Beſonders gute und jchöne Leute werden auch mandhmal 
von ihnen in ihrem unterirdiſchen Reiche freundlich aufgenommen 
und, wenn fie manche Proben bejtanden haben, felbft zu Elfen 
gemacht. 

Mie dieſes meine Gejchichte beweifen wird, fügte — 
hinzu, die begann: 


Die Geſchichte vom Elfenkönig O'Donoghue. 


Vor langer Zeit beherrſchte das ganze Land der Grafſchaft 
Kerry ein wunderſchöner, junger und guter König. Sein Name 
war O'Donoghue. Die größten Baumeiſter und Zauberer der 
Welt hatten ihm auf hohen Bergen ein Schloß erbaut, das nicht 
ſeines Gleichen hatte. Die Wände waren aus purem Golde, die 
Thüren und Thore aus Kryſtall, das Dach aus feſtem Morgen: 
roth. In ſeinem Garten wurde es niemals Winter, und Bäume 
aus Indien und Arabien blühten da und Blumen, die niemals 

Moritz Hartmann, Werke. III. 4 


50 Briefe aus Dublin. 


verwelkten. So lebte König O’Donoghue fehr glüdlih. Aber 
eines Tages fam ihm die Laune, den großen Stein, welcher den 
See in. feinem Garten ſchloß, wegzuheben, um feinen Rittern 
und Edelfrauen feine große Kraft zu zeigen. Aber faum hatte 
er den Stein weggehoben, als ſich ver See auf das Land ftürzte 
und den größten Theil der Graffchaft Kerry überſchwemmte und 
viele hunderttaujend Menfchen vergrub und die fhönen Fluren, 
die fich fonft dort ausbreiteten, bevedte. Denn der See im Garten 
des Königs war ein verzauberter See und grundlog. So ent- 
jtanden die Seen von Killarney, das Wunder der Welt, ver 
„Stolz Irlands.“ Die Inſel der Hirfche, die Infel der Eichen, 
die fih aus ihrem Schooße erheben und ausſehen wie volle 
Blumenkörbe, zeigen noch heute, wie jchön das Land gemeien 
fein muß, das von den Wellen des verzauberten Sees bevedt 
wurde. König O’Donoghue, der Gute, konnte ſich über feinen 
Leichtfinn nicht beruhigen, verzweifelte und warf fi in die Flu— 
then. Aber die Elfen, die im See von Killarney wohnen, fingen 
ihn in ihren Armen auf und fuchten ihn zu tröften. Der junge, 
gute, wunderfchöne König gefiel ihnen fo ſehr, daß fie ihn gerne 
zum Elfenfönig gemacht hätten. Aber das durften fie nicht, fo 
lange er ihnen nicht bemweijen fonnte, daß ihm die Menſchen ver: 
geben hatten, und dieſes fonnte er nur durch die Liebe eines 
ihönen, unjhuldigen Mädchens bemweifen. Jeden Maimorgen 
ftieg nun König O’Donoghue herauf und umtritt die fchönen Ufer 
des Killarneyſees und juchte ein Mädchen, das fhön und un— 
ihuldig wäre und ihn liebte. Er fand feines und kehrte auf 
jeinem weißen Roſſe traurig in den See zurüd, um am nächſten 
Maimorgen wieder aufzutauden. 

Einmal, vor langer, langer Zeit, lebte am Ufer des Killarney— 
jee3 in einer kleinen Hütte eine Jungfrau Namens Melha. Sie 
war fo unſchuldig wie eine Heilige und fo ſchön wie eine Elfe. 
Kein Züngling der ganzen Grafſchaft Kerry wagte ſich, ihr in 
Siebe zu nahen, jo unſchuldig war fie und fo ſchön. Das machte 
die arme Melcha jehr traurig, und einfam ſchlich fie an den Ufern 


Vierter Brief. 51 


umber. Sie gewann die Einſamkeit und den jchönen Eee fo lieb, 
daß fie am Ende die Menſchen vergaß, ihre ganze Zeit am Ufer 
zubradhte, mit den Wellen ſprach, mit den Vögeln fang und mit 
den Blumen fi unterhielt. Wenn e3 Naht war, konnte fie 
faum den Morgen erwarten, um wieder hinauszugehen an den 
See, jo jehr war ihr ganzes Herz erfüllt von einer Sehnſucht, 
einer Liebe, die fie an die murmelnde und lispelnde Welle band. 
Bejonders im Monat Mai war ihr oft zu Muthe, al3 müßte 
fie fih auf einmal mitten in die Wellen werfen. 

Einjt — e3 war an einem fehönen Maiabend — ſaß Melcha 
wieder draußen am Ufer und horchte dem Lispeln der Wellen 
und dem Raufhen des Laubes über ihrem Haupte. E3 wurde 
jpät, fie wollte zurüd in die Hütte, aber fie fonnte nicht; eine 
geheimnißvolle Macht hielt fie zurüd: es war ihr, als ob fie Je 
mand am Rode hielt. Aber als' es immer fpäter wurde, raffte 
fie fih auf und eilte, was fie fonnte, vom Ufer fort. Da lis—⸗ 
pelte e8 mit wunderfüßer Stimme aus den Wellen heraus: 


Du jhöne Jungfrau, bleibe, bleibe, 
Bermeile, bis der Morgen thaut: 
Ich mahe Dich zur Elfenbraut, 
Ih mahe Did zum Königsweibe. 


Diejen füßen Tönen konnte fie nicht widerftehen ; jie ſank ing 
Moos und entjchlief. Nach einigen Stunden wedte fie noch 
jüßere Mufil. Sie ſah nad dem See, und im Morgengrauen 
tauchte aus der Mitte der Wellen ein ſchönes Haupt empor, das 
einen goldenen Helm mit weißem Federbuſche trug. Dide, ſchwarze 
Loden fielen auf die Schultern herab; das Angejiht war weiß 
wie Lilien und faft durhfichtig, die Augen waren blau, die 
Zähne wie eine Perlenſchnur. Bald ftand ein ganzer Reiter auf 
den Wellen. Er trug einen grünen Panzer von Smaragd und 
ein langes, glänzendes Schwert. Sein Pferd war weiß wie 
Morgennebel, und die Bügel und Zügel glänzten wie Thau. So 
ritt der Neiter über den See auf Melcha zu, die ſich nicht regen 


52 Briefe aus Dublin. 


konnte. Er ſtieg vom Roſſe, das er an einen Baum band, und 
legte ſich neben Melcha ins Moos. So ſchöne Worte ſprach er 
zu ihr, daß ihr wohl ums Herz wurde und ſie zu lachen und zu 
weinen begann wie ein Kind. Bald ſagte ſie ihm, daß ſie ihn 
liebte, und er ſagte es ihr wieder. Dann gab er ſich ihr zu er: 
fennen al3 König O’Donoghue, und als fie fagte, daß fie feine 
Braut jein wollte, jtedte er ihr einen goldenen Ring an ven 
Finger, und fie gab ihm ihre Schärpe. Dann küßte er fie und 
verſprach, jie am Maimorgen des nächſten Jahres abzuholen, 
um fie zu heirathen. Dann jtieg er wieder auf fein weißes Pferd, 
ritt bis in die Mitte des Sees, winkte noch einmal mit der Hand 
und verſank. Die ganze Luft Hang von Mufit, alle Bäume be- 
gannen mit einem Male zu blühen, und Blätter und Blumen 
riefen: König O’Donoghue ift Bräutigam ! Melcha glaubte, daß 
jie geträumt babe, aber der Ring an ihrem Finger ſagte es ihr 
deutlich, daß fie König O'Donoghue's Braut fei. 

Am Liebjten hätte Melcha die ganze Zeit bis zum Maimorgen 
des nächſten Jahres verjchlafen, jo jehr jehnte fie jich, des Königs 
O'Donoghue Weib zu werden. Endlich fam der Abend vor jenem 
Morgen. Sie zog ihr weißes Brautkleid an und ftedte Blumen 
ins blonde Haar, das jie lang auf beiden Seiten herabfallen ließ. 
Sp ftellte fie fih auf den Felfen hin, der heute der Fels der 
Adler heißt, um den ganzen See zu überfchauen. Aber fie war: 
tete lange; fein König O'Donoghue fam, und fie fürchtete fchon, 
er hätte jeine Braut vergejjen. Aber als der Morgen zu grauen 
begann, erkannte fie, wie im Zwielicht ver See jich öffnete. Aus 
jeinem Schooße ftieg zuerjt eine Schaar von ſchönen Heinen Kna— 
ben, melde Kränze, Sträuße und Blumentörbe in den Händen 
trugen. Gekleidet waren fie in kurze, luftige, hellgrüne Wäms— 
hen, die bie zarten Glieder faum bevedten; ihnen folgte eine 
Reihe von Jungfrauen, welche goldene Gewänder, Schleier und 
Gejhmeide aller Art auf rothen Kiffen trugen; gelleivet waren 
jie in langwallende, faltige weiße Gewande, und ihre blonden 
Locken jpielten im Wind. Gleich nad ihnen famen zwölf Harfner, 


Vierter Brief. 53 


theils Jünglinge in kurzen Gewändern, theils Greije mit breit 
berabfließenvden Bärten, langen weißen Kaftanen. Sie fpielten 
auf Harfen ſüße Melovdieen, und die Knaben, die neben ihnen 
gingen, fangen dazu. So unter Harfenklang und Gefang tauchte 
König O’Donoghue auf feinem weißen Roſſe empor. Er war 
ander3 gekleidet al3 im vorigen Jahre. Seine ganze Rüftung 
war weiß, ein weißer, breiter Mantel vedte ihm die Schultern 
— aber auf der Bruft war die grüne Schärpe zu fehen, die ihm 
Melcha geihenkt hatte. Auf den ſchwarzen Loden trug er eine 
goldene Königskrone und in der Rechten ein Szepter von Elfen: 
bein, auf deſſen Spite ein Kleeblatt von Golo erglänzte. Ihm 
folgte noch eine Reihe von Pagen und Nittern und Frauen. Aber 
der ganze Zug ftellte fi) auf dem entgegengefegten Ufer auf, und 
Melha war von ihm durd die Breite des Sees getrennt. — 
Dod erkannte fie, wie ihr der Bräutigam liebend zulächelte. Eine 
ungeheure Sehnjucht ergriff fie, zu ihm zu gelangen, und fie 
wollte vom Felſen hinabfpringen. Aber fie fürchtete, zu ertrinken, 
ohne daß fie vielleicht ihr Bräutigam erretten könnte, und fie 
zauberte und fing an zu meinen. Da ertönte es hinter ihr: 

Nur zu, nur zu, du fchöne Fee! 

Killarney- See 

Thut feiner Königin nicht weh! 


Da faßte fie fih ein Herz und fprang hinab — da ftand 
der ganze Zug unten, und König O’Donoghue drüdte fie in feine 
Arme. Die Harfner begannen zu fpielen, die Jünglinge, Knaben 
und Mädchen zu fingen, und unter dem Rufe: Hod O’Donoghue, 
König der Elfen, hoch Melcha, feine Königin! verfant der ganze 
Elfen-⸗Königshof in die Tiefe des Sees. 

Seit jener Zeit blüht und gebeiht das ſchöne Ufer des Kil- 
larneyjees, denn der Elfenkönig liebt das Land, in dem feine 
Königin geboren worden. Jeden Maimorgen taucht er noch aus 
dem See, und glüdlich Derjenige, der ihn da erblidt, denn ihm 
wird es wohl ergehen und er wird lange leben. 


54 Briefe aus Dublin. 


Unter diefen Erzählungen war es nad Mitternacht geworden. 
Ich empfahl mich der Gefellihaft, weldhe mich mit den freund: 
ſchaftlichſten Handedrücken entließ, und zog in Begleitung Juddy's 
weiter. Der Stadttheil, in welchem wir uns befanden, „the 
liberties,“ war ehemal3 der Si der reihen und ariftofratifchen 
Bevölkerung Dublin und hatte feine befonderen Privilegien, 
daher auch der Name. Später z0g fi die Gentry auf die luf— 
tigere andere Seite des Fluſſes, und ihre alten, theils palaft: 
artigen Gebäude wurden von der Armuth Dublins befeßt, die 
fih durch bejtändigen Zuzug aus den ausgehungerten Grafſchaften 
refrutirt. Ein ſolches Haus faßt oft mehrere Hunderte von Be: 
wohnern, die in ihren Lumpen mit den hohen geräumigen, pom⸗ 
pöjen Stuben und Sälen, mit den Weberreften von Pracht in 
Mandmalereien und Möbeln fonderbar und traurig genug fon: 
traftiren. — Wir gingen dur die hohen und dunklen Gafjen 
bin, über die Todtenftille gebreitet war, melde nur dann und 
warn von einem unter freiem Himmel Schnardenden unter: 
brochen wurde. Nach einigen Schritten ſchon erfannten wir, dab 
wir und am Beten in der Mitte der Gafje hielten, da wir an 
den Seiten oft über die Schläfer, die auf Thürfchwellen und 
Treppen gelagert waren, ftolperten und die Armen um ihren 
vielleicht einzigen Troſt brachten, um den Schlaf. 

In einer der Gaffen fam ung aus einem breiten Fenfter ein 
heller Lichtglang entgegen. Wir traten heran und ſahen durch 
die zerbrochenen Scheiben. Auf dem Tifche lag die ſchöne Leiche 
eine Mädchens, da3 in der Blüthe der Jahre heimgegangen 
war. Gie war weiß gefleivet und trug einen grünen Kranz 
im Haare. An jeder Seite ihres Todtenbettes brannten brei 
Kerzen und über ihrem Haupte, das fanft gelehnt auf einem 
Kiffen lag, leuchtete eine Talglampe. Rings um die Leiche jaßen 
auf Schemeln oder auf dem Boden felbft mehrere Weiber, die 
den Dampf ihrer Pfeifen wie Weihrauch auffteigen ließen und 
die Leihe und die ganze Stube in dichte Schleier hüllten. Die 
Männer, die ebenfalls in großer Anzahl zugegen waren, hielten 


Vierter Brief. 55 


ſich entfernter von der Leihe und faßen oder lagen plaudernd 
oder jchlafend in den Stubeneden umher. Im Ganzen berrjchte 
die Stille nicht, welche fonft Leihen zu umgeben pflegt. Im 
Gegentheil unterhielten fich die Weiber jehr laut und vernehm: 
lich. — $8 ift die Leiche der armen, ſchönen Honor, jagte mir 
Juddy. Sie fam mit mir aus dem Welten und ſtarb an der 
Auszehrung oder am Hunger. Es war die befte und lieblichſte 
Perfon von der Welt. Es war ihr ausprüdliher Wille, daß 
nad ihrem Tode eine „Wale“ (Todtennachtwache) gehalten werde, 
obwohl dieſer heilige Brauch hier in Dublin längit abgelommen 
it. Aber wir armen Leute aus dem Weiten halten noch viel 
darauf und jparen dafür unfer ganzes Leben lang. Denn es ift 
eine große Ehre, eine ſchöne Wale zu haben. Das Haus ift 
offen, fügte fie hinzu — und ever fann eintreten, um einige 
Baternofter für die Seele des Verftorbenen zu beten. — Juddy 
trat auch hinein, kniete vor der Leiche nieder und verjank in in: 
brünftiges Gebet, welches aber den Reit der Gefellihaft in ihrer 
lauten und lärmenden Unterhaltung nicht im Geringiten jtörte. 
— Ich ſelbſt ftand indefjen in der Stubenthüre und betrachtete 
das eigenthümliche Bild; wenn ich die bizarren Gefichter der 
Weiber abrehne, war es im Ganzen tragifh und unendlich 
traurig. Auf der Bahre ein jhönes, junges Kind, das, vom 
Elend aus feiner ſchönen Heimat getrieben, in der Fremde fein 
Grab findet, und vor ihr eine noch ſchönere Blume auf den 
Knieen, die vielleiht, ja gewik noch größerem Jammer entgegen: 
gebt. — Juddy kußte mod) die Leiche ihrer ehemaligen Freundin, 
dann den Fuß des Kruzifices in deren Händen und ging wieder, 
faft jo ruhig und kalt, wie fie gelommen war. Nur war fie in 
ven eriten Momenten etwas ſchweigſamer. 

Auf den Quais fahen wir einen Konftabler, der mit feinem 
Stode die Schläfer weckte, die dort auf den Trottoird umberlagen, 
und fie in die engen Gafjen, die zu den Liberties führen, zurüd: 
jagte; nur dort ſcheint es ihnen erlaubt zu fein, unter freiem 
Himmel zu ſchlafen. Auf Carlisle-bridge trafen wir unſern 


56 Briefe aus Dublin. 


alten Freund Barry, der mit Thaddy, wie es fchien, in großer 
Eile das andere Ufer zu gewinnen ftrebte. Juddy wollte ihn auf- 
halten, aber er warf ihr nur einige Worte in gälifchem Dialekte 
zu und eilte weiter. Juddy erklärte mir, daß Barry's Freund, 
Thaddy, in diefem Augenblide mit der Polizei ſchlecht ſtehe, daß 
diefe ihn in jener Kneipe ausgeipäht und daß nun Barry für 
ihn einen neuen Schlupfwinkel auf der andern Seite des Stufe 
oder vielleicht auch außerhalb der Stadt fuche. 

Ueber ver Bai von Dublin bebte ſchon das Zwieliht des 
anbrehenden Morgens, in den Segeln und Tauen des Hafens 
regte ſich der Morgenwind, auf den Schiffen ſelbſt wurde es jchon 
lebendig. Ich nahm von Juddy zärtlihen Abſchied und konnte 
nicht umhin, fie zu bitten, ja die Reife nach London zu unter: 
lafjen. Aber fie antwortete mit Achfelzuden: Was mollen Sie, 
lieber Herr? Es findet fi nicht immer ein Mr. Ohr, der 
jih eine armen verlorenen Gejchöpfes annimmt und es zur 
reihen Frau macht. — Sie meinte den Kaufmann, der in Dublin 
dadurch berühmt geworden, daß er, gerührt durch die Schönheit 
eine3 verlorenen Mädchens, tiefem ein Putzwaarengeſchäft ein: 
richtete und es von endlicher Ververbniß errettete. — Ich drückte 
Juddy etwas Geld in die Hand, und indem ich ihr noch für ihre 
Dienjte herzlich dankte, fügte ich hinzu: Hier, liebe Juddy, haft 
du Geld genug, um einige Zeit zu leben und dich nach Arbeit 
umzufehen. 

Juddy drüdte mir die Hand und ging. Nach zehn Schritten 
wandte fie fih noch einmal um, lachte und rief: Ich hab’ e3 ge 
zählt; es reicht hin, um damit nad) London zu kommen. — Und 
fie verſchwand im Dunkel der Weftmoreland:Street. 

So iſt das Nachtleben in Dublin. Als ich auf meiner Stube 
ankam, brannte mir der Kopf. Ich öffnete das Fenfter; groß 
und prächtig ging über der Bai von Dublin die Sonne auf. 


Tagebuch aus Sanguedoc und Provence. 


Truth in her pure simplicity wants art 
To put a feigned blush on, 
John Ford. 


Lehtes Kapitel als erſtes. 


Ein Schloß am Meere — Langueboler Abende — Gäfte — Antikes und drift- 
liches Leben — Bein und Seidenwürmer — „So lebt nun beine Sappho“ — 
Der Aufruhr in den Gevennen — Drientirung. 


Latour de Farges — fo heißt ein altes Schloß, das fi 
auf einem ver legten ſüdlichen Ausläufer der Cevennen bejcei- 
den, doch romantisch ſchön erhebt. Wie ein Poſten vor der un: 
geheuren Feſtungsmauer des Cevennengebirges blidt e3 Hug und 
mutbig weit hinaus über die Ebene Niederlanguedoc's bis ans 
Meer. Hundert Schritte gegen Süden, und man befindet fih an 
der Eifenbahn und in der Ebene. Einft war das Schloß, der 
Thurm der Seigneurs de Farges, von Ringmauern, Thür: 
men und Wallgräben umgeben; die Gräben find heute gefüllt 
und von Vernis de Japon bepflanzt, die Wälle find gleichfalls 
gefallen oder haben fich zu friedlihen Gartenmauern erniedrigt 
und verdünnt. Nur ein Heine Stüd ift in feiner ganzen Höbe 
mit der Galerie und der hinaufführenden Treppe ftehen geblieben. 
Die drei Thürme aber ragen in ganzer Größe empor und fuchen 
noch heute eine feudale Grimafje zu machen; ver eine breit und 
ſchön überkuppelt, die andern von Zinnen und Zaden gekrönt. 
Aber trog ihrer feudalen Maske haben auch fie fich friedlichen 
Geſchäfte und friedlichen Einwohnern gewidmet. Der eine, ehemals 
ein Gefängniß oder eine Folterfammer, — denn die Herren de 
Farges hatten eigene Gerichtsbarkeit, — ift ein Taubenhaus ge: 
worden; in dem andern verleben Kaninchen ein fybaritifches Da: 
fein; nur der dritte ift ala Gefängniß eine Goldadlers aus ven 


60 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


aufrührerifchen Cevennenbergen feinem urfprünglihen Charakter 
treu geblieben. Anftatt des Wächter auf der Zinne figt ein ſtolzer 
Pfau auf der gewaltigen Akazie am Thorthurme und warnt feine 
junge Brut und die ganze basse-cour mit trompetendem Rufe, wenn 
fih in den Lüften ein Geier der Berge wiegt, blidt aber ruhig 
herab, wenn der zahme Falke über feine Kinder hinfliegt. 

Auf der von den Thürmen flankirten Terraffe wachen junge 
Pinien und andere jüdlihe Bäume auf; in den Winkeln boden 
gewaltige Aloen. Ihre Blätter tragen zahllofe Infchriften und 
find ein Stammbuch des Schloffes geworden. Da iſt mander 
befannte Name zu lefen. Den Taubenthurm umſchlingt liebend 
ein Nofenbaum, der den berühmten, von Ludwig dem From: 
men gepflanzten Hildesheimer an Größe und Blüthen weit über: 
trifft. Er bildet einen heiteren Kontraft gegen die Cypreſſen, die 
auf ihn ihre melandolifhen Schatten werfen. Aber was jüb- 
liche Vegetation vermöge, zeigt erſt die Anglaife, ein ſchattiger 
Garten, der fih an die Terrafje fließt und gegen Dften auf 
Lunel Viel und die weingefegneten Ebenen von Lunel blidt. 
Der Rojen: und der Dichterlorbeer, die purpurblühende Granate, 
die Cypreſſe und Pinie, die Stacheleiche, der rothe Judasbaum, 
der wuchernde Vernis de Japon ftehen in dichten, engzujam- 
mengebrängten Gruppen da und mweben fühle Dämmerung für 
die Stunden der Sieſta. In ihren Zweigen fingen hundert 
Nadtigallen Tag und Naht. Sie haben Zuhörer genug; denn 
an der Gartenmauer wiegen unzählige, vielbefungene proven- 
zaliſche Rofen ihre goldenen, weißen, rothen, braunen Kronen. 

In folder Umgebung erhebt fi das eigentliche Schloß: ein 
unregelmäßiges, altes Gebäude mit tiefen Fenjtern, dem das 
platte Dach wie ein alter zu meit gewordener Hut tief in bie 
Stirne bis auf die Augen fällt. E3 würde ein mürrifches Geſicht 
machen, wenn die heitere Sonne des Südens, die es vergoldet, 
das erlaubte; wenn der Gejang der Nachtigallen, die es um: 
tönen, feine Düfterheit nicht in liebliche Melancholie verwandelte. 
Dann fühlt man fi jo wohnlich in feinen Kreuze und Quer: 


Letztes Kapitel als erftes. 61 


gängen, in feinen breiten gewölbten Sälen, in feinen gepflajterten 
fühlen Stuben, in deren Fenfter der Feigenbaum oder der Epheu 
wie zum Gruße feine grüne Hand hereinjtredt. Als wollte die 
Natur das liebe Net vor ven Fröften des Nordwindes ſchützen, 
zieht fie von unten herauf einen aus Epheu und hundert andern 
Sclingpflanzen gewobenen Teppich über die Mauern bis auf 
das Dad. In wenigen Jahren. wird das ganze alte Gemäuer 
einem grünen Nachtigallennefte ähnlich ſein. Auf der einen Seite, 
dem Süd-Oſt zugewendet, wächſt ein Kleines Thürmchen mit 
einem Balkon aus dem Gemäuer heraus. Dort fteige man 
hinauf, um die ganze Herrlichkeit Niederlanguedoc's kennen zu 
lernen, jenes Landes, von dem es heißt: 
„Du findeft dort die Milde des Himmels, die Fruchtbarkeit 
des Bodens, die Mannigfaltigfeit des Feldes, des Weingar- 
ten3, der Wieje; die Verfchievenheit der Früchte, die Annehm- 
lichkeiten des Hügels und der Ebene und eine außerordentliche 
Zahl von Fleden, Schlöſſern, Dörfern und Städten.” 

So beſchrieb Roland Laporte, der Weinbauer und große 
Kamifardenprinz, dag Land, als er feinen General, den Schäfer: 
fnaben und Bädergejellen Jean Cavalier, mit dem Herzogs: 
titel belehnte und ihm dazu Niederlanguedoc, „wo ſchon jo viele 
Menſchen jeinem Gejege gehorchten,” als kleine Gabe zu feiner 
Verlobung ſchenkte. So bejchrieb er es vor hundert und fünfzig 
Jahren, jo iſt es noch heute. Des Abends erfennt man feine 
Gränze am Pharus der Grau, der fein Licht, wie ein beweg— 
_ licher, ins Meer geſunkener Stern herüberfendet. 

Wie herrlich war diefe Ebene zu jehen, ald am Johannisvor: 
abend nad) der Sitte des Landes „vor all’ den Fleden, Schlöffern, 
Dörfern und Städten,” ja vor jeder einzelnen Meierei die gewal- 
tigen, von Weinreben genährten Flammenſäulen aufftiegen. Zn 
weiter Ferne erblidte man dunkle Geftalten, wie Heren, dur 
die feurige Lohe fliegen ; das waren die Bauern und Bäuerinnen, 
welche glauben, daß ein folder Sprung durd die heilige Jo— 
bannesflamme fie für das ganze Jahr vor dem in den Sümpfen 


62 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


lauernden Fieber ſchütze. Wie grauenvoll ſchön war fie zu jehen, 
als man in einer Herbitnacht die Sümpfe bei Aigues:Mortes in 
Flammen ftedte, um fie mit der eigenen Ajche für das nächſte 
Jahr zu düngen. Als ob Ninive und Babel und Perfepolig, 
neben einander aufgeftellt, won Einer ungeheuren Flamme ver- 
zehrt würden. Der Himmel brannte mit, und die neunzehn ge- 
zadten Thürme von Aigues-Mortes ragten glühend in die Nacht 
empor, wie die legten Reſte von Ninive, Babel und Perſepolis. 
Die Sterne erbleichten, die Vögel in den Neftern erjchrafen vor 
diefer Morgenröthe, aber ruhig und ftolz wiegten die Flammen— 
fäulen einander ihre Häupter zu, wie ein feuriger Wald, veilen 
Wipfel ein janfter Morgenwind bewegt. 

Wie traurig aber war das Land, ald an einem jchönen 
Junimorgen plöglic ein Heer von Nebeln aus dem Meere ftieg, 
landete, fi mit den Nebeln der Sümpfe vereinigte und einen 
traurigen, ſchaurigen Siegeszug über die Ebene hin begann. 
Sie fhienen fo langfam zu wandern, und doc wie jchnell ver- 
ihwanden Dörfer und Städte hinter ihnen, wie bald lag eine 
weiße Nacht, ein feuchtes Leichentuch ausgebreitet über das ganze 
Gefilde! Die Sonne erbleichte und verſchwand, die Lerchen ſanken 
erihroden und ſtumm in ihre Nejter, den Leithammel ergriff 
paniſcher Schreden, und mit tönender Glode lief er dem Schäfer 
voraus, von den Garrigues fort nah Haufe in den Stall, und 
ihm nad) die ganze Heerde. Die Bauern jagten: da drinn figen 
die Fieber. Einzelne Tropfen, die zur Erde fielen, waren wie 
TIhränen von Kindern, welde die Geijter geraubt und hinter 
ihrem weißen Gewand verftedt forttragen in unbelannte Fernen. 
Mer kennt das fchöne Volkslied der Griechen nicht, das von 
Charo3 fingt, dem reitenden Tode, der auf Rüden, Hals und 
Croupe feines Pferdes Greife, Zünglinge, Weiber, und, ad, fo 
viele Kindlein entführt. Er reitet immer fort und will ſich nicht 
aufhalten beim Brunnen; denn dort könnten die Geliebten ihre 
Sünglinge, die Gatten die Gattinnen, die Mütter ihre Kinder 
ertennen — „mer könnte dann fie trennen!” 


Letztes Kapitel als erſtes. 63 


Aber herrlich, unbeſchreiblich ſchön iſt das Land jeglichen 
Abend, ſelbſt nach ſolchen Nebelmorgen. Wunderbar iſt die 
Mannigfaltigkeit, die Verſchiedenheit der Sonnenuntergänge. 
Jeden Tag ſchmückt ſich dieſe ewig junge Königin mit anderen 
Reizen und Juwelen, um jeden Tag mit andrer und neuer 
Schönheit in das Brautbett zu ſteigen. Bald iſt ſie in glühendes 
Gold, bald in ſanftblauen Sammt, bald in dunklen Purpur ge— 
kleidet. Die goldnen Wölklein, ihre Pagen, haben es von der 
Herrin gelernt und ſind wie ſie unerſchöpflich in Erfindung neuer 
Trachten. Silbern, golden und purpurn — manchmal auch in 
Trauer gehüllt, folgen ſie ihr nach, tragen ſie ihre Schleppen 
oder ſprengen auf feurigen Roſſen um ihren Siegeswagen. Lau: 
niſch wechjelt fie ihr Kleid oft unzählige Male in der Minute, 
blidt ebenjo ihr Gefiht bald lächelnd, bald melancholiſch, und 
mit ihr ändert fich ihr ganzes Hofgelinde. Beherrſcht von ihren 
Zaunen, beginnt die ganze Natur ein magifches Spiel. Die Ce: 
vennen erglüben; ihr König, ver Pic St. Loup, erhigt fi und 
ſieht mit leuchtender Stirne der Sonne entgegen, die ſich gnädig 
lächelnd zu ihm niederbeugt; doch zieht fie weiter, und er verfintt 
nah und nad in Trauer und mit ihm alle Bajallen, die vom 
Urfeuer gehärteten Berge, alte Bulfane mit fahlen Schädeln. 
Mit Sonnenuntergang beginnen vie hier jo häufigen Lufttäu- 
ſchungen und Phantasmagorien. Alle Dörfer, Städte und Fleden 
der ſüdöſtlichen Ebene fliegen mit einem Rud in unjere nächſte 
Nähe; wir jehen jedes Fenſter, wir bliden in alle Gafjen, mir 
jehen die Tamarisfen der Sümpfe, die im Abendwinde zit 
tern, wir erkennen die Laterne des uralten Thurm3 de Con- 
stance in Aigue-Mortes, ja wir hören die Gloden der ferniten 
Kirhthürme. Im Weiten aber rüdt Alles in träumerifche Ferne, 
in blaue, duftige Nebel. Nur die Dörfer auf den Höhen erglühen 
in heiterem Lichte, auch St. Genies, obwohl der Stammort 
Guizot3, deſſen Großvater jchon ein Berräther jeiner Glaubens: 
brüder gewejen, denn die Sonne leuchtet glei gütig auf Gute 
und Böſe. Das Schloß Castrie mit den hundert Bogen feiner 


64 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Waſſerleitung gleicht einer fata morgana, die vor jedem Augen: 
zwinfern verſchwinden kann — auch verfchwindet es. Dunkler 
Abend ruht auf Thal und Ebene. Nur der Pinienhain vor uns 
leuchtet noch wie grüner Sammt aus dem Dunkel. Bald wird 
die Nacht kommen. Schon, mit einem Schlage iſt ſie da, die 
ſchöne, blaue, ſternenbeſäete, Nachtigall-durchſungene proven— 
zaliſche Nacht! 

Es iſt geradezu lächerlich, das Alles beſchreiben zu wollen! 

Ich thue es nicht; ich ſteige vom Balkon herab ins Schloß 
zu meinen lieben Gaſtfreunden. 

Durch die Bibliothek, wo franzöfifhe, deutſche, engliſche, 
ſpaniſche, griechiſche und lateiniſche Klaſſiker über- und neben— 
einander aufgeſtellt find, ja wo ſogar geheimnißvolle Sanskrit— 
zeichen wie indiſche Schlingpflanzen den Studirtiſch bedecken, 
gelange ich hinab in den Saal des erſten Stockes. Er iſt in ein 
Atelier verwandelt. Der Schloßherr, der dort oben Sanskrit 
ſtudirt und ſich an Nal und Damajanti entzückt, malt bier 
unten die Portraits ſeiner Freunde; neben ihm ſitzt ſeine ſieben— 
zehnjährige Tochter und ſtudirt anſpruchsloſe Schönheit an einem 
Bettelkinde, das, wenn ſein Porträt vollendet, in wenigen Tagen 
reich beſchenkt entlaſſen wird. An den Wänden hängen Zeich— 
nungen und Cartons, Meiſterſtücke des frühverblichenen Papety. 
Unwillkürlich haftet das Auge am reſtaurirten Pantheon, dem 
Inbegriff aller Schönheit, das Papety mit Künſtlerliebe aus 
tauſend Bruchſtücken zuſammengetragen und wieder hergeſtellt 
hat. Indeſſen klingen aus dem Saale im Parterre Lieder von 
Gluck, Mozart, Beethoven oder irgend einem uralten Italiener 
herauf. Wenn ſie ſchweigen, erbrauſt der Erard in Beethoven'ſchen 
Sonaten, in Bachiſchen Fugen oder lispelt graziöſe Melodien von 
Couprin. Denn Schloß und Umgegend gehören einem Künftler, 
der, horribile dietu, ein Sozialift und, admirabile dietu, 
dabei ein reiher Mann iſt, der es verfteht, fich mit dem Schönen 
aller Zeiten und aller Völker zu umgeben. Seine Gattin ift 
eine weltberühmte deutſche Künftlerin, die hier in Languedoc'jcher 


Letztes Kapitel als erftes. 65 


Einſamkeit, auf Lorbeeren ruhend, ihr ſchönes Künftlerleben 
weiter träumt. Gie ift die Sängerin, welche jang. Die Mufiferin 
aber, die Beethoven’she Sonaten zum Lispeln der Cypreſſe jpielt, 
ift ihre Ziehtochter, eine werlafjene junge Künftlerjeele, deren fie 
fih gütig angenommen. So mwandere ich herauf und herunter, 
von Poefie zu Malerei, von Malerei zu Gejang, von Geſang zu 
Muſik. Ein ſchönes Leben, ſchön eingerahmt. 

Eo, mein lieber Friß, „jo lebt nun deine Sappho!“ E3 bleibt 
mir fein anderer Wunſch, als daß es allen Flüchtlingen jo er: 
gehe, das alle ihr Vaterland in dem einen, großen und untheil: 
baren der Künfte und’der Liebe wiederfinden und auf ihrer Flucht 
io hold ausruhen mögen, wie ich. 

Mit folder Einfamleit kann man ſich ſchon zufrieden geben; 
doch werden wir oft auf angenehme oder abenteuerlihe Weije 
geftört. Von den Befuchern der jogenannten guten Gejellihaft, 
vie in aller Welt viejelbe ift, von den Freunden aus Montpellier 
oder den benadhbarten Landhäuſern, will ich ſchweigen; die Bettler 
und Abenteurer, die manchmal vorjpreden, find, mit Refpekt zu 
jagen, viel interejjanter. Da pochte vor einigen Tagen ein narben: 
bevedter Veteran aus der republikaniſchen und Kaiferzeit an die 
Ihüre, denn die Vaterlandsvertheidiger gehen in Frankreich wie 
in andern Ländern betteln, troß aller Invalidenhäufer. Er er: 
‚zählte mit befanntem Feuer von feinen Campagnen und vom 
Kaifer. Auf die Republif war er ſchlecht zu ſprechen, denn fie 
hatte ihn mittelft der Ajlignaten um fein Geld gebradt. Als 
Beweis zog er aus der Bruft eine alte Afjignate vom Jahre 93, 
die er, da er fie doch nicht einwechſeln konnte, als Anventen an 
jene ‚Zeit aufbewahrt hatte. Er ſchimpfte ganz gewaltig über 
diefen unfruchtbaren Schag. Aber der Schloßherr zog ein Fünf: 
frantenftüd aus der Tafhe, belehrte ihn über feinen unver: 
zeihlihen Irrthum und erklärte fih beauftragt, im Namen der 
alten Republif, die alte Afjignate einzulöfen. Wie groß und 
freudig war das Erftaunen de3 alten Solvaten; dankbar küßte 
er das Bildniß der neuen Republif auf dem Fünffrankenftüde 

Morig Hartmann, Werke. III. 5 


66 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


und ſchwur hoch und theuer, niemal3 mehr ein Wort gegen die 
alte, ihre Mutter, jagen zu wollen. Er war ein Elfäker und 
ſprach nur deutſch. Wie jonderbar, oder wie ich eigentlich 
jagen jollte, wie betrübend Hangen feine Siegesberichte über die 
deutjchen Campagnen in dieſer Sprade. Er deflamirte von 
Jena und Wagram, als hätten feine Urahnen ſchon zu unjerem 
„Srbfeinde“ gehört. D Arndt, Jahn und Binzer! ich gab die 
legte Hoffnung auf, das Eljaß je wieder zu erobern. Die Ver: 
räther, die Eljäßer, ſie befinden ſich leider wohl in franzöfifcher 
Gejellichaft ! 

Ein anderes Mal bejuchte und, ebenfalls al3 Bettler, der 
Sprößling eines bekannten, halbveutichen adeligen Haufes, das 
Deutichland einen Dichter, der Schweiz und Frankreich verdient: 
volle Krieger gegeben. Er ſah aus wie ein Jrländer, denn er 
trug einen ſchwarzen Filzhut auf dem Kopfe und die elendejten 
Qumpen auf dem Leibe. Nadt und bloß lugten die Zehen aus 
den vielfach durchlöcherten Stiefeln; ein zerfafertes Frauenbruit: 
tuch ſchlang jih eng um den Hals und hielt nothvürftig das 
fnopfloje Hemd zufammen, deſſen Kragen ih Mühe gab, fteif, 
obwohl ſchwatz, den unrafirten Bart zu umhegen. Der Stempel 
alter Verkommenheit, vielleicht Verlumpung, lag auf dem ganzen 
Gejichte und ließ das eigentliche Alter ſchwer erfennen. Er bettelte 
mit Hülfe feines Adelsbriefes, den er mit fi trug. ALS ich in 
die Küche trat, wo er ein Frühſtück verzehrte, war er eben eifrigft 
bemüht, der Köchin, einem Bauernmädchen au3 Lunel Viel, 
jeine Genealogie auseinanderzujegen, indem er eine Menge mit 
Mappen verjehener Bapiere auf dem Küchentijch ausbreitete, wo 
fie fich neben Würften und abgejtochenen Rebhühnern jonderbar 
genug ausnahmen. Er ſprach nur ſchlecht franzöfiih, doch wurde 
er beredt, da er auf feine Ahnen und die Bedeutung der ein: 
zelnen Wappenbilder zu ſprechen fam. Er konnte nicht umhin, 
Marion höflichft zu bitten, fie möchte ja nicht fein Haus mit dem 
anderer adeliger Familien gleihen Namens verwechjeln, melde 
viel jünger und bei Weitem nicht von jo gutem Adel jeien, als 


Letztes Kapitel als erftes. 67 


die jeinige. Die gutmüthige Marion meinte nur, er folle ja 
Acht haben auf all’ die „Päſſe“, va Papiere armen Leuten, die 
aus den Armenkaſſen jhöpfen wollen, jehr nothwendig wären, 
und entfernte die Würjte, um fie mit den ſchmutzigen Dokumenten 
nicht in Berührung kommen zu laſſen. Als mich der arme Don 
Ranudo bemerkte, erröthete er janft über feine Konverjation mit 
der Köchin und nahm den Franken, den ich ihm überbradhte, mit 
tiefen Büdlingen in Empfang. 

Wie Diejem jeine Wappen, jo dienten einem Andern zmei 
Wolfsköpfe ad captandam benevolentiam. An einem ſchönen 
Auguftnahmittage erfchien die ſchaurige Geſtalt des Wolfsjägers 
plötzlich am Schloßthore und forderte den Lohn feines Gefittungs: 
werkes al3 Verfolger und Ausrotter der wilden Beftien. rei: 
ih nannte er diefen Lohn jeiner herkuliſchen Beftimmung ein 
Almojen. Da nichts Sonderbares oder Eigenthümliches an einem 
Maleratelier vorübergehen darf, citirte man ihn herauf in den 
oberen Saal, als eben den Malenden das frievlichfte aller Ge: 
dichte, Hermann und Dorothea, vorgelejen wurde, Taumelnd, 
denn er war betrunfen, trat der Molfsjäger herein und warf 
jeinen Sad vom Rüden vor die Füße der Staffeleien. Zwei 
alte Molfsköpfe mit grinfenden Zähnen rollten hervor. Mit 
ftammelnder Zunge erzählte er im Patois, daß er die einftigen 
Träger diefer Köpfe in den Cevennen erjchlagen habe, und zwar 
mit dem Knittel, den er in der Hand trug. Das iſt glaublich, 
denn er jah nicht aus wie Einer, dem es genehm wäre, die fünf: 
undzmwanzig Francz für den Yagdpaß zu bezahlen, den man 
haben muß, um mit dem Gewehr in Feld oder Gebirge zu gehen. 
Die Jade hatte er jchief über die Schulter geworfen; das Hemd 
jtand porn weit auf und zeigte eine dihtbehaarte Bärenbruft ; 
das dide, thieriſche Gejicht glühte von Wein, und die Fleinen 
Augen waren verfhwollen. Kurz und ftämmig zufammenge: 
drängt, breitf&hulterig und verthiert, wie er ausfah, glaubte man 
e3, daß er ſich mit viehifcher Kaltblütigfeit in ein Rudel Wölfe 
zu ftürzen fähig ſei — aber au, daß ihm Wolf: und Dienfcen- 


68 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


leben gleich viel Werth hätten. Sonderbar lähelnd jah Shake— 
ipeare aus feinem Rahmen auf diefen Caliban hernieder. Seine 
Nähe war unheimlich; man ließ ein Geloftüd in feine Mütze 
fallen, er warf jeine Wolfsköpfe wieder in den Sad, den Sad 
auf die Schulter und taumelte aus der Thüre hinaus, verirrte 
jih aber in den dunklen Gängen, wo er brummend nod lange 
umbertaumelte. Allein auch er thut das Seine zur Geſittung. 

So ziehen phantaftifche Geftalten durch unfern Sonnenſchein. 
Häufiger al3 dieje aber find die harakteriftifchen, wenn fie auch 
weniger vomantijch oder komisch find. Die Curé's, die in ihrer 
Ihmwarzen Tracht mit den großbejchnallten Schuhen und breit: 
främpigen Hüten auf Heinen Zwergpferden oder Ejeln, von 
ihren Vicaire's begleitet, manchmal heranfprengen, um vom koft: 
baren Muskat-Lunel zu often, will ih gar nicht erwähnen. 
Intereſſanter jcheint mir 3. B. der brave Maurermeilter und 
ehemalige napoleonijche Soldat, der vor längerer Zeit wüthend 
ind Zimmer trat, nach der Sitte de3 Landes ächt ſpaniſch den 
Hut auf dem Kopfe figen ließ und ſich ſelbſt unmuthig in einen 
Fauteuil warf, zum die Leivensgejhichte jeiner Familie zu er: 
zählen. Der gute Mann hatte die größte Luft, Großvater zu 
werden; aber Diejenige, die ihm zuerjt zu diefem Glüde ver: 
belfen fonnte, jeine pausbadige, jechzehnjährige Tochter, hatte 
ih im Beichtftuhl überreden laſſen, es jei eine viel größere 
MWonne, die Braut des Himmels zu werden, al3 den alten 
Soldaten au3 der Kaiferzeit zum Großvater zu machen. Ueber 
diejes Dogma war der arme Mann außer ſich gerathen. Mit ven 
unebrerbietigiten Ausdrüden, die noch ein wenig nach imperialifti: 
ſchem Lager rohen, [prach er vom Cure und der ganzen Kleriſei 
und Kirchenwirthſchaft, obwohl er als Schweizer und Kantor der 
‚Kirche jeines Dorfes gewiſſermaßen ſelbſt zu legterer gehörte. Cr 
‚erzählte, wie er feinem devoten Töchterlein zu bemweifen juche, 
daß es viel fhöner und gottgefälliger fei, geſunde Buben zu er: 
‚zeugen,. als ein Faulenzerleben im Klojter zu führen, wie aber 
dieſe Argumente über ihr verftodtes Gemüth nichts vermögen, 


Letztes Kapitel als erſtes. 69 


und mie er mit Prügeln ans Ziel zu gelangen hoffe. Bei dieſer 
Gelegenheit kramte er eine lange Reihe ähnlicher Geſchichten von 
Mädcenverführung durd die Curé's, mie er es nannte, aus 
und ließ mich einen Blick thun in das Innere des Volkslebens, 
in das Treiben der Pfaffen, die hier faft allmädtig find; aber 
aud) in die gefunde Oppofition, die fich hier und da in gefunden 
Gemüthern vorbereitet. Einige Zeit darauf jah ich die fragliche 
Braut Gottes bei der Weinlefe befchäftigt; fie führte die Neben: 
jichel jo rüftig wie Eine, und die: Scherze der jungen Winzer, und 
die nichts weniger als nonnenhafte Miene, mit der fie aufgenommen 
worden, ließen mich hoffen, daß die Prügel des Vaters über: 
jeugende Kraft befeflen und die dide Bäuerin der Welt und ihren 
Freuden wiedergegeben haben. Cine gleihe Metamorphofe be: 
merkte ih an dem reizenden Heinen Nähmädchen, das auf dem 
Schloſſe arbeitet. Auch fie fam mit Klöftergevanken zu ung, 
aber jchon nach wenigen Wochen ſprach fie mit großer Salbung 
von der heiligen Beitimmung „ver Mutter.” Wer weiß, welcher 
Thirsis (fo heißen die verliebten Schäfer in ven hiefigen Volks— 
liedern, wie in den deutſchen Zopfgedichten des vorigen Jahr: 
hunderts) dieje Belehrung vollendet hat, die*hoffentlich dauern 
wird troß der zehn Gebetbüher und der Unzahl von Heiligen: 
bildern, welche Auguftine noch immer in ihrem Arbeitäforbe mit 
ih herumträgt. 

Wie eigenthümlich fontraftirt diefes katholiſche Weihwaſſer-, 
Beichtſtuhl- und Nonnenleben mit den altklaſſiſchen, griechifchen 
und römischen Reften, die Einem hier zu Lande überall begegnen 
und aud auf unferem Schloffe nicht fehlen. Unmittelbar an den 
Kaninchenthurm ſchließt ſich die Ferme oder Meierei, welche mit 
der Wohnung des Schaffners, mit den Ställen der Maulthiere, 
Eſel, Arbeits- und Reitpferde, mit der Schäferei und dem Hauſe 
der Seidenzucht oder Magnanerie ein großes Viereck bildet, ſo 
groß, wie vielleicht nicht der Palaſt des Pyliſchen Königs ge: 
weſen. Die Wohnung des Schaffners oder Paire (ſprich Pa-ire 
[Patois] ftatt pere; wir nennen ihn den Männer beherrſchenden 


70 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Paire) ijt eine weite, hochgebühnte Halle, die, wenn fie auch 
nicht ganz an die Halle des edlen Laertiaden erinnert, doc gewiß 
die größte Aehnlichkeit mit jener jeines göttlihen Echweinbirten 
bat. Ein heller Feuerjchein fällt aus dem gewaltigen Kamine, 
in welchem eine rejpeftable Familie wohnen könnte; an feiner 
vebengenährten Flamme fißt die uralte Patriarchin, die Maire 
(ſprich Ma-ire) oder Mutter, und dreht den klaſſiſchen Spieß 
oder beobachtet den Keſſel, der an eiferner Kette aus der Eſſe 
berunterhängt, wenn jie nicht Raisind oder MWeinmus bereitet, 
wie e3 Nejtor in feinem Zelte ven Gäſten vorjegte. Von der 
Dede herab jchwebt die Ampel, diefelbe an Form und Geftalt, 
wie fie alte Maler und Bilohauer der neugierigen Pſyche in die 
Hand geben. Cine andere erhebt fich dort im Winkel auf er: 
habenem Dreifuße. Neben ihr, in die Wand gemauert, befindet 
ih die granitene Handmühle, an welcher einft Sklaven, und 
unter ihnen ein unfterbliher Dichter, gejeufzt. In der andern 
Ede reihen fi hohe, bauchige Thonkrüge mit engem Halfe und 
doppelten Henkeln ; fie bewahren rothglühenden Wein oder koſt— 
barere Wafjerflutb aus fernen, ab! bier zu Lande feltenen. 
Quellen. Am diden Eichentifche figen drei-, vier, auch fünfmal 
deö Tages, faft jo oft wie homerifche Helden, der Männer be: 
herrſchende Paire, der Großknecht, der Schäfer, die Ochſen— 
und Pfervefnechte, die Gjeltreiber und Felvarbeiter. Sie efjen 

Meinmus, kräftige Fleifhe und koſtbare Früchte des Südens: 
Pfirfihe, Feigen, Granatäpfel und Trauben; dazu trinken fie 
des föftlichen Weines aus einem hohen Kruge, der nach rechts 
im Kreiſe berumgeht. Der Barbar des Nordens glaubt einem 
fabelhaften Mahle von Königen zuzufehen, und mit Wehmuth 
denkt er der Bauern feiner Heimat und ihrer Kartoffeln, und 
mit einem gewiſſen Unwillen ſieht er, wie man dem Fohlen, 
das ſich frei herumtreibt und während des Mahles hereinfprengt, 
rothen Wein aus antik geformter Schale zu trinken reiht. In— 
deſſen fteht die uralte Maire und ihre Enkelin hinter den ſpeiſen— 
den Männern, um fie zu bedienen. Nie würden fie es wagen, 


Letztes Kapitel als erftes. 71 


jih an den Tiſch der Männer zu jegen; weder Mutter, noch 
Frau, noh Tochter hat dieſes Recht. Sie dürfen nur dienen. 
Wenn fi die Männer erhoben haben, dann erjt ftellen fich die 
Meiber mit der Schale in der Hand an den Kamin oder in 
irgend einen jtillen Winkel und verzehren die Nefte des Mahles 
ftehend. Auch dieſes Land mird einjt feinen Dorfgeſchichten— 
ſchreiber finden; aber felbjt das große Talent George Sand's 
wird bei diefen Dichtungen nicht ausreihen. Sie werden eines 
bomerifhen Hauches bedürfen, um wahr zu fein. Aber Abbe 
Fabre und feine ins Patois überjegte, und auf diefen Boden 
übertragene. Odyſſee erijtiren ja fchon feit fait hundert Jahren ! 
Nur die Weinleje hat mich in meinen antifen Jllufionen ge 
ftört. Eie bietet Niht3, was an Dionyjos und feinen mit Hülfe 
des Rauſches mwelterobernden Zug erinnert. Die Winzerinnen, 
vielleiht, wie e3 ihre Augen verratben, geheime Mänaden, find 
öffentlich gute chriftliche Arbeiterinnen, die unter den Anien die 
Röcke mit ftarfem Bande ummwinden, um beim Büden ſelbſt nicht 
bis an die Knöchel griechiſch zu erſcheinen. Schweigend rüdt die 
Schaar durd die Neben vorwärts und liejt, freilich mit antiker 
Sichel, die gewaltigen Trauben ab, die von projaifhen Maul: 
tieren ſogleich nad) der Kelter gebracht und dort fofort zeritampft 
werben. In Strömen fällt die rothe Fluth won den Brettern 
in die weiten, gemauerten Behälter, jtürzt fie chen vor ihrer - 
Ankunft an der Kelter felbitkräftig aus der Wanne des Wagens. 
Morgen ſchon dedt rofiger Schaum die Wiege des jungen Gottes 
und fteigt jo betäubender Duft auf, daß die Tauben in der Nähe 
Eier und Nejt verlaffen. Der Mann, der dort oben auf den 
Kelterbrettern mit breiten Schuhen herumtanzt, und unter deſſen 
Füßen Weinquellen entfpringen, beraufcht ſich durch die Naje 
und tanzt unmwillfürlih, in janfte Seligfeit gewiegt, immer 
weiter, ein traveftirter Silen. Auch wir können nicht wider: 
ſtehen; Schuhe und Etrümpfe werfen wir ab, ſchürzen die Bein: 
befleivung hinauf und tanzen mit auf den rothgefärbten Bret— 
tern, al3 bätten wir die Zauberfiedel aus der Sage erklinaen 


2 Tagebud) aus Languedoc und Provence, 


gehört. Die Winzerinnen lachten darüber, daß die „Moussiours* 
feltern und jo poflierlihb und unpraftiih auf den Trauben 
berumtanzen; und lachend jegen fie jich unter den Delbaum, um 
eine ihrer vielen Mahlzeiten zu halten, und ſchlingen, um jich 
befjer vor der Eonne zu ſchützen, Weinlaub um die Stirnen. 
Mie anders ging es einige Monate früher in dem oberen 
Stodwerfe, gerade über ven Weinfeltern, ber. Dort ift die 
Magnanerie, die große Halle, in welcher der große Kunftweber 
und Architekt aus China, der Magnan oder Seidenwurm, jein 
Weſen treibt. Anfangs ſah er fo Hein und unbedeutend aus, 
daß ich ihm die Künfte gar nicht zugetraut hätte, die ich fpäter 
al3 aufmerfjamer Beobadter an ihm bewundert. Sa, die 
ganze Seidenzucht machte einen komiſchen und Kleinen Eindrud, 
als die Magnaniere oder die Amme der Seidenwürmer mit ihren 
Heinen Beuteln anfam, in melden jich die jiebenzehn Unzen 
infuforiich Kleiner Seidenwürmer:Eier befanden. Der Eleine und 
komiſche Eindrud dauerte noch fort, als die winzigen, Schwarzen 
und fhmugigen Mürmlein in Millionen in einem Eiebe wimmel- 
ten und faum die Handvoll Maulbeerblätter mit ihren kleinen 
Mäulern zu bewältigen vermochten. Aber wunderbar jchnell 
wuchjen fie heran, als fie ſich auf den Binjenlagern, die in der 
Magnanerie neben: und übereinander aufgeitellt find, aus: 
dehnten und ihre Induſtrie in großartigem Mapftabe begannen. 
. Ein Wagen Maulbeerblätter nach dem andern fuhr in den Hoi, 
einer nach dem andern verſchwand, aufgezehrt won den gefräßi- 
‚gen Induſtriellen.“ Ganze Berge diejer beliebten Koſt warf 
Ganz andere und viel ehrenvollere Epitheta gibt den Seidenwürmern 

ver alte italienifhe Dichter Francesco Toninelli da Castel Franco in 
feinem großen Gedichte: I Bombiei. leid in der erften Stanze heift es: 

Di reptili et industri Cavalieri 

L'opre cantar desio di pregio, e l’arte 

Bachi d’Etruria e da Greci primieri 

Bombiei detti, in questa e in quella parte. 


Im Verlaufe des Gedichtes, welches er unter die Proteltion einer 
Cecilia Cornaro ftellt, beehrt er die Eeidenmwürmer mit folgenden Titeln: 


Letztes Kapitel als erfte2. 73 


man über fie, jo daß fie unter der Wucht verſchwanden. Aber 
das dauerte nur eine Minute. Schnell haben fie fich wieder 
emporgearbeitet; jeder einzelne mählt fich fein Blatt und beginnt 
e3 mit pedantifcher Emfigfeit von links nad) rechts zu benagaı, 
und bewegt das Köpfchen fo jchnell dabei, al3 ob er die Sekunde 
zu verlieren fürdhtete. So genährt, wählt er und verändert er 
jih überaus fchnell, und nach vierzehn Tagen ift der Eleine, 
ſchmutzig ſchwarze Wurm eine große, fingerlange, weiß: oder 
goldglänzende Raupe geworden, der man fchon eine Beitimmung 
in der Weltgejchichte zutraut. Der Magnan erfauft diefe Größe 
nicht um einen geringen Preis. Wie alle Individuen und Völker 
bat er jeine Kinderkrankheiten durchzumachen, und ihre Zahl be: 
läuft fih bei ihm auf vier, im glüdlihen Falle auf nur drei 
Krifen. Sentimentale Eeelen leiten dieje Krankheiten vom Heim: 
weh ab, das der arme Wurm nad feinem Stammlande, dem 
himmliſchen Mittelreihe China verfpürt, wo er in freier Luft, 
unter märmerer Eonne fein Leben auf dem geliebten Maulbeer: 
baume jelbit bis zur Verpuppung fortjpinnt, umklungen von 
Millionen chineſiſchen Glodenfpielen. Andere aber leuguen diefe 
fentimentale Dispofition des Seidenwurms, behaupten, daß 
ihm ſüdfranzöſiſche Kirchengloden eben jo viel Werth haben, ala 


Vermicelli santi, prole gentil di valorosi vermi, gentil vermi, nobil 
vermi, preciosi e cari animaletti, vaghi pargoletti, gentil grege, 
cortese grege etc. etc. 
Den Theil des Gedichtes, welcher mit dem Leben der Seidenwürmer 
flieht, beendet er fo: 
Gite pur animosi Cavalieri 
Fortunate e felici alme leggiadre 
Delle fatiche vostre gite alteri 
Nelle cieche prigioni oscure et adre, 
Ch’a se vi chiamerä bianchi e leggeri 
La celeste d’amor Ciprigna madre 
Con novi corpi e con piü belle nostre 
Mossa a pietä alle miserie vostre. A 
Man kann doch nit mehr thun, al3 feinen Helden das Himmelreich 
veriprehen? — 


74 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


chineſiſche Carillons, und daß er in jeiner Heimat auch wenig- 
jten3 in zwei Krankheiten der Natur den Zoll für ein jo bedeu— 
tungsvolles, Seelenunfterblichfeit beweijendes, durch Kunſt ver: 
ihöntes Dafein entrichten müſſe. Es ift aber ein harter Zoll. 
Denn nad jeglicher Krankheit bleibt eine Unzahl von Magnans 
todt und zufammengelauert da liegen, um fich nie wieder zu er: 
beben, trotz ber duftigiten Maulbeerblätter, die man über ihre 

Nafen ftreut. Ihre genejenen Brüder jteigen gemüthlos auf 
die Leihname, um ihr epikureifches Leben weiter zu führen. Die 
Seidenzüchtler felbit gehen während ver Krankheitstage mit 
höchſt beſorgten Mienen umher, und wo zwei einander begegnen, 
fann man Sicher fein, daß jie fich theilnehmend nach dem werthen 
Befinden der gegenfeitigen Magnans erkundigen. Aber mit den 
überftandenen Krankheiten find noch nicht alle Gefahren über: 
wunden. Wenn der Seidenwurm genug Stoff in ſich geſammelt, 
um nad dreimöchentlihem Schwelgen an feine unjterbliche Seele 
denken und ſich wie ein Marabut feinen eigenen Sarg bereiten 
zu können; wenn er ſchon an den aufgeitellten Reijern und 
Zweigen hinanzuflimmen beginnt, um ſich einen gehörigen Winkel 
zu ſuchen, wo er feinen Sarg aufhänge — in diefem kritiſchen 
und entjcheidenden Augenblid kann ein einziges und leijes 
Donnermwetter am Himmel die Verpuppung de Wurmes und 
alle Hoffnungen des Seidenwurmzüchtlers zu Nichte macen. 
Beim Donner des Himmel3 erfhridt der hinanklimmende Mag: 
nan, erinnert fih, daß er troß China und Seide nur ein ge: 
meiner Wurm, fteigt oder fällt vemüthig wieder auf den * 
Boden herab, und um die Puppe, auf die Alles ankommt, und 
um das Symbol der Unſterblichkeit iſt es gethan. Geht aber 
dieſer kritiſche Augenblick ohne Gefahr und Donnerwetter vor— 
über, dann bietet die Magnanerie einen in der That herrlichen 
Anblick dar. Die trocknen Zweige und Reiſer, die man zwiſchen 
den Binſenlagern ſo aufgeſtellt, daß ſie mit dem Fuße im Rohre 
jteden, das obere Geäſte aber, von der fie überdachenden Binſen— 
lage gehindert, herunter und aneinandergebogen wird, bilden 


Letztes Kapitel al3 erftes. 75 


unabfehbare Wölbungen, die dem Blide, je länger man fie be: 
trachtet, die Illuſion unendliher Waldgänge oder langer gothi- 
ſcher Hallen darbieten. Und in diefen Hallen war es andächtig 
jtille. Der Lärm, den das ununterbrocdhene Nahrungsgeſchäft 
verurjacht hatte, und das dem Klopfen des Regens auf ein 
Schindeldach glich, hatte aufgehört, denn der Magnan aß nicht 
mehr. Bedächtig kroch er überall die Zweige und Aeſte hinan 
und ſuchte in den Wipfeln den für Anlage feines Cocons ge 
eigneten Winkel. Da mar es erjtaunlich, mit welcher Umficht, 
Klugheit und Ausdauer er fuchte, prüfte, maß und wählte. 
Den hinteren Theil um ein Neftlein gerollt, jtredte er ven 
vorderen weit aus und bejchnüffelte mit ven Fühlhörnern die 
ganze Umgebung. Wenn die Unterfuhung fein günftiges Re: 
jultat bot, ließ er es fich nicht verbdrießen, von Zweig zu Zweig 
zu friehen, oder fogar den ganzen Baum hinabzuflettern und 
e3 mit einem andern zu verjuchen, bis er den für feinen archi— 
teftonifhen Zwed geeigneten Platz herausfand. Rüdjichtsvoll 
umging er den Zmeig, an dem fich fchon ein Bruder angejiedelt 
hatte, oder richtete fein eigenes Haus mit Kunft fo ein, daß er 
wohl die Bäulichleiten des Nachbars benugte, aber niemals 
ftörte. Hatte er einmal feinen Plag gefunden, dann fpannte er 
erft die Seile aus, die das Haus tragen jollten; dann kauerte 
und krümmte er fih zufammen und machte ſich an die Haupt: 
arbeit. Ohne Unterbrehung ging nun das Köpfchen in der 
Runde herum und fpann den unendlichen Faden, ver ſich bald 
zu einem durchlichtigen, fchleierähnlihen Sarge geformt und 
zujammengeflebt hatte. Da drin fieht man ihn mit Emfigfeit jo 
fortarbeiten. Die Nacht bricht herein, und da ed wieder Tag 
wird, ift er jchon hinter dichter Hülle verfjhwunden, Wenn man 
das Ohr nahe hinhält, hört man wohl, daß er drin nicht müßig 
figt, aber zu jehen ijt won feinem Wirken und Treiben nichts 
mehr. Noch den dritten Tag hört man ein leifes Knijtern und 
Knuspern ; dann aber wird es ftille, und laut: und regungslos 
hängt der Cocon da. — Nicht alle fommen an ein fo glüdliches 


6 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Ende. Eine Müde, das geringite Geräufh, vie leijeite Be: 
rührung fann fie geftört haben, dann reißt der Faden up wird 
nie wieder aufgenommen. Der arme Werfmeifter jtirbt auf oder 
in feinem unvollendeten Werke. Noch unglüdlicher find, die 
mit der Seidenlajt im Leibe nit den Baum hinaufzuflettern 
vermögen und auf halbem Wege wieder herunterfallen. Cie 
verjuchen den Weg nicht zum zweiten Male und jterben mit dem 
Bemußtjein eines verfehlten Lebens. — Wenige Tage, nahdem 
die Seidenwürmer in die Höhe zu fteigen begonnen, hat der 
Wald fein Ausfehen verändert und gleicht jegt mehr einem 
Weingarten. An allen Zweigen hängen die gelben und weißen 
Cocons, dicht an einander gedrängt wie gewaltige Trauben. 
Dann kommen die Weiber und jammeln jie in große Körbe, 
dann verfauft man fie nah yon, dann wirft man fie in heißes 
Mafjer und tödtet die Buppe, die von einem beflügelten Schmetter: 
lingSliebeleben träumt, in der Chryfalide. Dann widelt man den 
mit Kunft und Mühe gefponnenen Faden ab, der vielleicht ſchon 
in wenigen Wochen als Seidenkleid um die Lenden einer femme 
entretenue in der Rue Laffitte oder Chaussee d’Antin 
rauſcht. Glüdlih, die vom Schidfal oder der Magnaniere Aus: . 
erwäbhlten, die man aufbewahrt, um von ihnen Samen für das 
fünftige Jahr zeugen zu laffen; fie erfüllen ihre ganze Entwid-: 
lung und ihr ganzes Schidfal. Nach wenigen Tagen kriecht der 
weiße, glänzend beflügelte Schmetterling heraus. Der durch— 
löcherte Cocon taugt zwar nicht3, da der Faden durch das Loc) 
in viele einzelne Stüde zerrifjen ift, der Schmetterling aber liebt 
und zeugt, bis er, liebeberaufcht, endlich nad) langen Verwand— 
lungen au3 den Armen der Liebe in die Arme des Todes fällt. 
Friede feiner Aſche! Er hat ſchön gelebt und iſt Schön geftorben. 
Den Vorzug hat er vor anderen Sterblichen voraus, daß feine 
legten Tage auch die fehönjten waren und die liebereichften. 
Die Maulbeerbäume aber, die ihn für fein Kunſt- und 
Liebesleben genährt, jtehen indejjen traurig da. Ein vorzeitiger, 
graujamer, Fünftliher Herbit hat fie betroffen, und fie ftreden 


Letztes Kapitel als erftes. 77 


nadte Arme zum Himmel empor, mährend jie von vollem, 
reihem, treibendem Frühling umgeben find. Hier und da zeugt 
ein einfames, vergeſſenes Blatt von ihrer einjtigen Herrlichkeit. 
Aber die großmüthige Sonne des Südens kömmt ihnen zu Hülfe 
und befleidet die Nadten. Sie gibt ihnen einen zweiten Früh— 
ling, und nad vierzehn Tagen find jie jo dicht befleidet wie 
zuvor. Allerdings haben die Blätter die erjte, volle und jaftige 
Friſche nicht mehr; fie find nicht mehr fo grün, ſondern gelber, 
als die erften waren, und ſcheinen Ältlih geboren. Es find eben 
nicht mehr die Kinder der erften Jugend, nicht mehr die Kinder 
des erften, treibenden Frühlings. Ein ähnliches Phänomen will 
man an allen zweiten Dichterwerken bemerft haben. 

Siehſt du, mein Freund, fo verfließt die Zeit im füplichen 
Frankreich mit Kunftgenüffen, Weinlejen, öfonomifchen Studien 
und Naturbetradhtungen. — 

Märe ich erjt Geologe, wie interejjant könnte mich jelbft der 
Boden dieſes Landes beſchäftigen, an deſſen Geftaltung Nep— 
tunismus und Vulkanismus gleichen Antheil zu haben fcheinen. 
(Denn ih Nicht: ©eologe fuche die beiden Syſteme in einem 
dritten, einem Dilettanten-Syfteme zu vereinigen.) Vor Kurzem 
erft hat Francois Sabatier auf feinem Grund und Boden, un: 
gefähr hundert Schritte vom Schloſſe, jenjeil3 des Parkes eine 
Grotte mit hübfchen Stalaktiten und alten Thierfnochen entdedt, 
und jeit Jahren ſchon kennt man die drei tiefen Grotten, bie 
aus dem Garten ded Herrn Gautier, eine Bierteljtunde von 
uns, ins Cingeweide der Erde führen. Die ganze lange Kette 
der Gevennen, die und und Niederlanguedoc im Norden und 
Weſten umfpannt, verräth ihren Feuerurjprung auf den erjten 
Blid. Der Boden hier auf der Höhe bis gegen die Cevennen 
ift kallig und verbrannt; ganze weite Streden find von aller 
Dammerde entblößt, aber feurig und nervös treibt er mitten 
aus Geftein den gluthenvollen, capiteufen Wein heraus, während 
die Rebe des muskulöſen Niederlandes, des theild vom Meere 
verlafjenen, theils angeſchwemmten Bodens, wohl eine größere 


⁊ 


78 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Menge Weines, aber phlegmatijcheren und friedlicheren hervor⸗ 
bringt. — Wenn wir ſo auf unſeren Camarguerpferden durch 
die Felder dahinreiten, wiederhallt es oft plötzlich und dumpf 
unter dem Hufe, und wir ſagen: Hier iſt eine Grotte. Dann 
blicke ich zurück nach den durchhöhlten Bergen der Cevennen, 
die im Untergange glänzen, und ich ſegne ſie; denn in ihren 
Höhlen nahmen ſie gütig auf und ſchützten dort die liebſten 
Helden dieſes Landes, die begeiſterten Kamiſarden. 

Meinem rückwärts gekehrten Blicke entrollt ſich ein herrliches 
Bild. Ich ſehe eine Nacht aus dem blutigen Jahre 1703. Aus 
allen Höhlen der Berge fallen lohende Lichter auf die kalkigen 
Abhänge. Die iſt in eine Waffenſchmiede umgewandelt, und 
ihre Wölbung wiederhallt vom Klange der hundert arbeitenden 
Hämmer; zu ihrem Takte erſchallen heilige Pſalmen oder Klage— 
lieder (Complaintes), welche die Martyrien der „Hirten der 
Wüſte“ feiern. Vor der andern Höhle, die dem Mundvorrath 
beſtimmt, wimmelt es wie vor einem Ameiſenbau; die Getreuen 
aus den Thälern des Gard, Gardons, des Vidourle und Tarn 
tragen hier die letzten Reſte ihrer Habe zuſammen, um die 
Kämpfer für ihre heilige Sache mit Speiſe und Trank zu ver— 
ſorgen. Die dritte Höhle iſt das Schmerzenslager der Ver— 
wundeten von Vergez, Vauvert, Nages, Aubais geworden; 
ſterbend ſingen ſie noch ihre Hymnen oder horchen auf die Worte 
ihrer Propheten. Auf einem Felſenplateau, beim Licht der 
Fackeln, ſitzen, auf ihre Waffen geſtützt, der unbärtige, aber 
heldenmüthige und kluge Jean Cavalier, der verwegene Catinat, 
der wilde Ravanel, der glaubensſtarke Abraham, ver lamm— 
fromme Clie Marion, die Führer der Kinder Gottes und ihre 
Propheten. An ihrer Spige aber der große, herrliche, unbeug: 
ſame, unbejtehlihe Roland, ein Held wie aus biblifchen Fabel: 
zeiten. Er trägt prachtvolles Gewand mie ein Herzog; auch 
hält man ihn fälfchlich für einen Prinzen, wie der Rohan war, 
der ein halbes Yahrhundert vorher die Gläubigen mit feinen 
tapferen Schwerte vertheidigte, und darum wurden an ihn von 


k 


Letztes Kapitel als erftc2. 79 


Fürſten und Königen Geſandtſchaften abgeorbnet. Er empfängt 
jie mit jo ftolzer und würdiger Majeftät, daß fie noch hartnädiger 
al zuvor an eine geheimnikvolle Abjtammung aus königlichen 
Hüften glauben. Und doc bleibt er nur ein bejcheidener Wein: 
bauer aus dem Gebirge. Er ift der eigentlibe Echöpfer und Ge: 
jtalter dieſes Krieges, der den Ruhm der ftolzeften Marjchälle 
Ludwigs des XIV. zu Schanden machte; er hat die Cevennen 
zur uneinnehmbaren Befte gemacht, an der ſich die Marfchälle, 
die gewaltigen, fieggewohnten Heere, die von Mönchen geführten 
„Jüngeren Söhne des Kreuzes“ und die fogenannten „weißen 
Kamiſarden“ die Köpfe zerftoßen haben; er hat feinem Heimats— 
gebirge alle dunflen Geheimnifle abgelaufcht, welche den Feind 
in Verwirrung bringen und machen, daß er auf feinen Ber: 
heerungszügen über Fallthüren, Nete und kochende Feuerjchlünde 
ſchreitet. Noland Laporte ift der denkende, finnende, feuer: 
iprühende Kopf des Aufruhrs in den Cevennen; Jean Cavalier 
ift nur jein bewaffneter, jchlagfertiger Arm, ven er weit aus: 
jtredt über die wilden Fluthen des Gard und bis hinab, bis 
an die Sümpfe von Aigues-Mortes und die Ufer des mittel: 
ländiihen Meeres. Dort foll ihm die Glaubensfchmefter Anna 
von England ihre mächtige Hand bieten ; aber die Könige, troß 
aller Glauben2brüderfchaft, find treulo3 und wollen nichts von 
einem Bunde felbft mit dem heiligjten, gerechteften Aufruhr 
wifjen, und wenn Sean Cavalier am Ufer erfcheint, verjchwindet 
die englifhe Flottille auf der Höhe des Meeres. — 

Roland Laporte und all’ die genannten Propheten und noch 
viele andere werden eines ruhmvollen Märtyrertodes fterben. 
Roland wird aus den Armen der Liebe geriffen und von einem 
Verrätber für Silberlinge verfauft werden, wie ſchon einer jeiner 
Vorläufer, Vivens, von einem PVerräther, Wilhelm Jordan, 
verkauft worden. Abraham wird im furdtbaren Thurme de Con- 
stance zu Aigued:Mortes ſchmachten, bis er fich dur ein Wun— 
der in die Gebirge rettet, um die erlojchene Flamme auf3 Neue 
anzufadhen und endlich doch in die blutigen Hände Baville's, des 


80 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Alba von Languedoc, und Berwicks, des Baſtards Jakobs II., zu 
fallen. Nur der kluge Jean Cavalier, der zu Kluge, wird ſich 
retten, um mit weltlichen Ehren überhäuft ſeiner Heimat ferne 
zu ſterben, und der gute Elie Marion, um in London die Wahr— 
haftigkeit des Prophetenthums darzuthun. 

Rings um die Gruppe der Feldherren, im Lichte, das aus 
den Grotten fällt, auf Plateau's und Abhängen lagern die Schaa— 
ren der „Kinder Gottes.“ Die Einen ſchlafen, müde von den über— 
ſtandenen Kämpfen und den fliegenden Märſchen, das Haupt 
auf den Stein gelegt, den Leib von der dünnen Kamiſa bedeckt, 
die ihnen den Spitznamen verſchaffte, im Arme die Muskete, die 
ſie ſich auf dem Schlachtfelde holen mußten. Die Andern ſitzen 
auf den Steinen und horchen den Propheten und Prophetinnen, 
Männern, Weibern und Kindern. Wer ſoll den Kindern nicht 
glauben, da ſie die Bibel auswendig wiſſen, die ſie doch nie 
geleſen haben; da ſie fortfahren, zu prophezeien und zum Kampfe 
aufzumuntern, trotz Hunger, Gefängniß und blutiger Schläge, 
die ſie von ihren Vätern haben erleiden müſſen. Denn die Väter 
ſind vom Marſchall Montrevel mit dem Tode bedroht, wenn 
ſich bei den Kindern „die Gabe” („le don“) zeigt. Wer ſoll ven 
Kindern nicht glauben, da fie offenbar vom Geiſte erleuchtet find, 
da eine andere al3 vie zarte Kinderftimme aus ihrer Bruft her: 
vorkommt, da eine Stimme ſcharf als ein Schwert und gewaltig 
als der Donner aus ihrem Munde hervorgeht; da ſelbſt Säug: 
linge an der Brujt der Mutter zu ſprechen und zu prophezeien 
anfangen? Große Wunder gejhehen in einem Volke, auf welchem 
härtere Verfolgung lajtet ald die der Pharaonen und des He: 
rodes. Vielleicht ift unter den Propheten, die in diefer Nacht 
predigen, auch die ſchöne Iſabeau, welche bei Nages den Palm 
anftimmte und die Kinder Gottes aus großer Fährlichkeit rettete; 
welche bei Aubais mit dem Schwerte in beiden Händen die ge: 
panzerten Reiter Ludwigs in die Flucht ſchlug. Der Heine Bas- 
calin, der fhöne Junge aus Dauphine, ift längft gejtorben; er 
war eines der erften Opfer des wilden Henkers St. Ruth. 


Letztes Kapitel als erficd. sl 


Während die Propheten predigen, bemerken e3 die Gläubi- 
gen nicht, daß aus den Thälern eine rothe Lohe wie der Höllen— 
pfuhl aufiteigt. Es find das ihre Meiereien und Dörfer und 
Hütten, die auf Befehl des Marſchalls Montrevel in Flammen 
aufgehen und zu Hunderten der Erbe gleih gemacht werden. 
Denn fo will es Ludwig, dab das Land der Ketzer in eine ab- 
fchredende Wüſte verwandelt, daß e3 den Wölfen und Füchſen 
allein zur Heimat werde, und daß die Keger in ihren Grotten 
an Hunger zu Grunde gehen, da er ihnen mit dem Schwerte 
nicht beilommen fann. So mill e3 der alte, fromm gewordene 
Ludwig im Namen Gottes, um feiner Sünden Fülle los zu 
werden, jo will e3 fein Beichtvater Père Lahaije im Namen 
des Papftes, jo mwill e3 der Apojtel Bofjuet im Namen feiner 
Theſen und Bücher, jo will es aud) die gute Madame Maintenon, 
die jo ſchöne Briefe jchreibt, um Herrn Louvois, dem Père 
Sahaije und dem frommen Ludwig Beweiſe ihres Glaubens: 
eifer3 zu geben, vie bei einer Neubekehrten fo nothwendig jind, 
und wenn fie Millionen Freiheit, Gut und Leben koften jollten — 
jo will es der ganze Hof, der Alles will, was Pere Lachaiſe, 
der Beichtvater, und Madame Maintenon, die Maitrefje, wollen. 
Nur die Ruinen von Port Royal und die geheimen Sanfeniften 
fhütteln ihre Häupter und bereuen die Verfolgungen, die au 
fie fich in früherer Zeit gegen die Protejtanten haben zu Schul: 
den fommen laflen; nur der milde Fenelon feufzt und jchreibt 
lamentable, oft anzügliche, aber immer gut ftplifirte Briefe felbft 
nah Rom; nur der weile Bauban wagt es, laut zu murren und von 
„retractation,* das ift Zurüdnahme der fanatiſchen Maßregeln, 
zu fpreben, aber er muß ſich übeızgeugen, daß e3 nicht genug 
ift, fein Vaterland mit einer undurchbrechbaren Kette von Feftun: 
gen gegen Äußere Feinde zu umgeben, daß jein Vaterland vie 
gefährlihiten Feinde, die fein Vauban'ſches Syſtem ferne zu 
halten vermag, im Innern nähre. In den fogenannten gebil: 
deten Klaſſen erwacht eine Art ſchwacher öffentliher Meinung, 
: gewedt dur die Fyeuerbrände Pierre Bayle's, des Vaters 
Morit Hartmann, Werke. II 6 


82 Tagebud aus Yanguedoc und Brevence. ' 


Roltaire'3, die von Holland aus bis nach Perjailles fliegen, aber 
noch nicht zünden; erit im Ballipieljaale fühlt man ihre Wir— 
tungen, da ein protejtantiicher Baitor, Rabaut : Saint: Etienne, 
zum Bräfidenten der Conftituante gewählt wird. — Racine grämt 
ſich wäbrend des Cevennenfrieges im Stillen und jchreibt fein 
Tendenzitüd Eſther, die Geſchichte eines verfolgten Volkes, und 
ein anderes, „Athalie,“ in welchem er wenigjtens den Thron- 
erben über jeine Bilichten zu belehren ſucht, da er den alten 
Ludwig nicht mebr zu befehren hoffen kann. 

Wie weit abgefommen bin ich von meinem Thema. Der 
auf Grotten wiederballende Hufſchlag meines Pferdes führte mich 
anderthalb Jabrhunderte zurüd in die Höhlen der Cevennen, aus 
den Gevennen in die Tragödien Racine's. Siehit du, mein Freund, 
das ijt die Gejet: und Schranfenlofigkeit, welche Julian Schmidt 
Romantif nennt und die er jo jehr habt. Darum nehme ic) mid) zu— 
jammen und fehre mit demjelben verführerifchen, in Träume wie: 
genden Hufſchlag meines Chalif ſachte nach Latour de Farges 
zurüd. , 

Diejes alte Schloß, ungefähr in der Mitte zwiſchen Mont: 
pellier und Nimes, zwijchen den Gevennen und dem Meere, 
nahe bei Lunel gelegen, jei der Orientirungspuntt, wenn du 
mich auf meinen geordneten Reifen gegen Dften und Welten und 
auf meinen regellojen Ausflügen nad) allen Richtungen der Wind— 
rofe, wie ich dir fie in den folgenden Blättern erzähle, begleiten 
willft. Wenn ich dich oft freuz und quer in die verfchiedenjten 
Gegenden und Zeiten führe, jo nimm mir das nicht übel auf. 
‘Jedes Sand wird mir erjt dann lebendig, wenn ich es mir mit 
gemifjen Helden jeiner Gejchichte bevölfere, und ich bereife es, 
wie man einen Roman liest, immer in Begleitung des „leidenden” 
Helden, indem ich Alles oder das Meiſte, das ich ſehe und er- 
lebe, auf ihn beziehe. Daß dieſe Helden meiner Reijeromane 
oder Romanreifen meift die Unterbrüdten des Landes find — 
das ift fo mein Gefhmad, meine Sympathie. In Jrland war 
e3 Robert Emmet und die Katholifen, im füdlihen Frankreich 


Letztes Kapitel als erſtes. s3 


find e3 Noland, Jean Gavalter und die Protejtanten. Nächiten 
Frühling bereife ih wahrſcheinlich Korfifa, und ſchon ahne ich, 
dab Pascal Paoli mein Auserwählter fein wird; durchwandere 
ih aber die Pyrenäen, dann werde ih mich allem Anjcheine 
nad weniger um die idylliſch glüdliche Nepublif won Andora, 
al3 um die Cagots fümmern, welche, wie man fagt, von den 
Zimmerleuten abjtammen, die das Kreuz Chrifti gezimmert, und 
darum in der Kirche noch abgejonderte Stühle haben, und faum 
vor einem halben Jahrhundert al3 Ausgeftoßene ungeftraft an: 
gejpudt werden durften. Es gibt Rationaliften, welche behaupten, 
daß die Cagot3 nicht im geringiten Grade mit jenen Zimmer: 
leuten verwandt, wohl aber unglüdliche Ueberreite der Albigenfer 
jeien, und daß die Sage fpäter erfunden worden. 


Latour de Farges, im Oftober 1851. 


weites Kapitel. 


Eine tobte Stadt — Märden — Nimes bis Avignon — Maifonscarrde und 
Arena — Griehen und Römer — Ein tolled Gebäude — Chriſtenthum in Nimes. 


Den 26. Mai 1851. 

63 iſt ein wahres hiſtoriſches Mufeum, dieſes ſüdliche Frank: 
reih. Gräbt man bier nad) alten Nebenwurzeln, jo findet man 
Thränen: und Aſchenkrüge, Münzen mit dem Bildniſſe Nero's 
und des-Antoninus Pius; jieht man irgendwo ein altes ſchwarz 
angerauchtes Gebäude, jo heißt es, das kommt von arabiſchem 
Feuer; fragt man nad dem Weg ind nächte Dorf, jo befommt 
man eine Antwort zurüd, aus der Einem irgend ein alter, ruinen— 
bafter Klang aus irgend einem Minftrel, Bernard von Venta— 
dour, Fulco oder Marcabrun entgegentönt. Vor einigen Tagen 
fuhr ih in das. wirflibe und wahrhaftige freuzfahrende Mittel: 
alter ein. Schon jeit lange winkte mir die Tour de Constance 
vom Rande des ſüdöſtlichen Horizontes fo jonderbar, fo geheim: 
nißvoll wie eine alte, illuftrirte Chronik mit goldenen Spangen 
und rothglühenden Bildern. Der alte Thurm blidt gerade in 
mein Fenfter, und wenn die Phantasmagorie der hiefigen Luft: 
täufhungen beginnt, rüdt er mir gerade auf den Leib, daß ich 
glaube, ihn mit Händen faſſen, aus meinem Fenfter auf feine 
Binnen fteigen zu können. Ueber feinen Rüden herüber lächelt 
dann das blaue Meer, wie das Auge eines Käthchens, das ihrem 
Nitter nachläuft. 

So machte fih denn endlich die ganze Kolonie von Latour 
de Farges an einem jchönen Sonntagmorgen auf. Die Eifen- 


Zweites Kapitel. 85 


bahn trug uns bis Lunel, von dort aus der Omnibus nad) 
Marfillargue, dem reizenden Dorfe, bevedt von Ahornbäumen, 
gewaltigen Linden und überall wuchernden Feigenbäumen. Die 
Gärten laden im Schmucke taufendfarbiger Blüthen, und ba: 
zwiſchen, in reich angelegten Spaziergängen, treiben fich die 
Bauernjungen und Mädchen umher, die heiterer und wohlha⸗ 
bender ausſehen, als deutſche Reichsſtadtbürger. — Aber bald 
hinter Marſillargue beginnen die ungeheuren Sümpfe, die ſich 
ſüdlich bis ans mittelländiſche Meer, und längs der Küſte gegen. 
Oſten hin über die rechte Rhonemündung, über das Rhonevelta 
felbft, die Camargue bis gegen Arles ausdehnen. Vor wenigen 
Jahrhunderten noch war diejes Land von den Wellen des Meeres 
bedeckt; fie traten zurüd und ließen die Sümpfe Stehen, welche 
heute die böfen Fieber ausathmen, und aus Aigues-Mortes, 
dem wir zufteuerten, das machte, was es heut iſt, eine tobte 
Stadt. — 

So weit das Auge blidt, eine unendliche Fläche. Ueberall 
wuchert das Schilfgras auf, und an feinen Rändern zittert die 
Tamariske mit ihren feinen Zweigen und Blättern im Haude 
des Seewindes. — In der Gamargue, dem Rhonedelta, wird 
das Sand, wen auch nicht gefünder, doch fruchtbarer. Es gibt 
Gras genug für die wilden Stiere, die fich dort herumtreiben, 
und die trefflichen Gamarguerpferde, die hirtenlos einer wilden 
Freiheit genießen gleih den Muftangs in Teras, bis fie wie 
diefe von kühnen Jägern, faft auf diejelbe Weife wie in den 
Prärien, eingefangen werden. — In neuerer Zeit verſuchte man 
dort Reißpflanzungen anzulegen; der Verfuch ijt mißlungen, doch 
gibt man die Hoffnung nicht auf. — Aber auch in der Nähe 
von Aigues-Mortes (Aquae mortuae) ift das Land nicht eigent⸗ 
lich unfruchtbar, denn hier bedarf die Vegetation kaum des Bo⸗ 
dens, die Sonne allein genügt ihr. Der Boden ſcheint nur da 
zu ſein, um dem Pflanzer anzuzeigen, wo er die Früchte zu 
ſuchen hat von dem Samen, den er im Frühling ausgeſtreut. 
Denn da, wo das Meer anſtatt des Sumpfes Flugſand zurück— 


86 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


gelafjen bat, jtreut der Bauer doch jein Getreide aus, und, obwohl 
feine Spur von Dammerde zu finden, nad wenigen Wochen 
bringt ihm das Sandfeld die reichſte Ernte. Die Eonne allein 
zieht fie groß; die Erde hat dabei nichts zu thun. Nur einen 
Feind hat der Bauer zu fürdten, und das ijt der Wind, ver 
ihm leicht Feld und Samen davontragen kann. Darum wenn er 
jeinen Samen ausgejtreut, bevedt er ihn mit Stroh und dieſes 
mit Brettern, und läßt jeine Saat jo lange unter der ſchützenden 
Dede, bis fie hinveihend Wurzel geſchlagen. Freilich gegen das 
Meer, das feine ziihenden Wellen manchmal im Sturme auf 
jein altes, verlafienes Gebiet wirft, Tann er fie nicht ſchützen. 

Nach langer Fahrt dur hirnverbrennende Sonnenhige und 
auf einer Straße, die zwiichen den Sümpfen rechts und links 
wohl Mühe hat ihre Solivität zu bewahren, kamen wir durch 
den Thurm la Carbonniere, ver ſich plöglich in den Weg jtellt, 
aber die Weiterfahrt durch eine hohe gothiihe Wölbung geftattet. 
Er ift hoch und breit und in allen jeinen Dimenfionen gewaltig ; 
nur der Reſt eines Vorwerkes, hat er doch das Anfehen eines 
PBalajttrümmers, wie er in allen feinen Theilen, Zaden und 
Parapeten und Wölbungen auf Sorgfältigjte ausgearbeitet ift. 
Man bat nicht lange Zeit, ihn zu bewundern, venn plöglich biegt 
man um ein Gehölz, das fich auf Heiner Höhe aus dem Sumpfe 
erhebt, und da liegt Aigues:Mortes, die fabelhafte, wunderbare, 
todte Stadt. — 

Da jteht fie mit ihren dunklen, jonnenverbrannten Mauern, 
mit ihren Thürmen und Zinken und Zaden, die Stadt aus dem 
dreizehnten Jahrhunderte, fo ganz, jo wohl erhalten, jo unbe: 
rührt, al3 hätte die Zeit eine Glasglode darüber geftellt. Die 
Sümpfe find ein fürchterlihes Vorwerk, und die Fieber, die auf 
ihren Thürmen und Zinnen ſitzen mit weithin treffendem Pfeile, 
eine furdhtbare, unüberwindlihe Bejagung, der Fein Feind zu 
nahen wagt. 

Mir fuhren dur das voppelthürmige, hochgewölbte Thor 
ein. Auf einen Nugenblid wird vie mittelalterlihe Jllufion von 


Zweites Kapitel. 87 


ven modernen Häufern verwiſcht. Aber ihre Anzahl ijt zu Klein, 
fie jelbjt zu unbedeutend, als daß man lange an fie denten 
tönnte. Sie verfhmwinden wieder und werden wie Heine Sand— 
hügel zu Nichts vor den gewaltigen Mauern und Thürmen, vie 
fie überall überragen. Sie jheinen nur für einen Moment da 
zu fein und werden wieder verjchwinden wie die wenigen ſchwäch— 
Tihen Menſchen, die ebenfalls fremd und nicht hierher gehörig 
zwifchen ihren Gaſſen umberjchleihen. Zeigen es doch die großen, 
grasbewachſenen Flächen in allen Eden und Enden, daß fie viele 
Stadt des eijernen Zeitalter nicht auszufüllen vermögen. — 
Wir verließen dieſe hinſiechende, moderne Welt und vertieften 
uns ins Mittelalter. Durch eine kleine Pforte, über einen langen 
ſteinernen Gang gelangten wir zur Tour de Constance, einem 
maſſenhaften Thurme, der ſich, mie für die Ewigkeit gebaut, 
außerhalb der Ringmauern, wo jie ein Halbrund bilden, wie 
eine riefige Schildwache erhebt. Ein weiter, hoher, runder gotbi: 
iher Saal nahm uns auf. Durch jhmale, kaum eine Hand 
breite Rige fiel durch die zehn Ellen diden Mauern ein jpärliches 
Licht, das, wie Mondſchein auf Sümpfen, am Boden hinkroch. — 
Eine höchſt zierliche Wendeltreppe führt erjt auf die Galerie und 
dann in einen zweiten, oberen Saal dejjelben Styles, von der: 
jelben Größe, mit derjelben gewaltigen und eleganten Wölbung. 
Nur daß im oberen Saale vie ſchöne gothiſche Salerie fehlt. Von 
va gelangten wir auf die Platform de3 Thurmes, von welchem 
fih am weftlichen Rande ein kleines Thürmchen erhebt, das mit 
feinen Eifengittern einft der Pharus des Hafens geweſen, als 
Aigues:Mortes noch nicht todtes Waller war und das Meer 
friegerbeladene Schiffe aus und zu feinen Mauern trug. — Denn 
die Stadt ijt vom heiligen Ludwig nah dem Vorbild Damiette’s 
gebaut und zum erjten Kriegshafen des ſüdlichen Frankreichs 
gemacht worden. Hier jchiffte er ſich auch zu feinen beiden Kreuz: 
zügen ein. 
Mie weit fliegt das Auge von der Höhe diejes Thurmes! 
Im Norden und Weiten wird e3 in weiter ferne von den blauen, 


88 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


mit rojenfarbenem Schleier überhangenen Bergen der Cevennen 
aufgehalten, aber gegen Süden und Oſten fliegt es ins Unbe: 
gränzte hinaus, über die Flächen der Gamargue, entgegen dem 
Silberbande des großen Kanals, der von St. Gilles herablommt, 
über die Sümpfe und Nhonemündungen, und endlich weit hinaus 
ing heilige Meltmeer, das mit feinen weißen Segeln wie mit 
wehenden Tüchern herüber grüßt und dazu mit blauem Auge 
lächelt und die todte Pracht zu unferen Füßen vergeflen madht. 
Aber immer wieder ſenkt ſich der Blid nah unten, nach dieſem 
Stüd Mittelalter, das die eilende Zeit hier in der Einſamkeit 
auf ihrer Flucht vergefien hat. In einem länglichen Viered, das 
nur auf der Weftjeite faum bemerkbar eine Biegung macht, 
dehnen fich die alten Mauern mit ihren Galerien, Zinten, Pa: 
rapeten, Schießſcharten, Erfern, Treppen,. Thoren und Thür: 
men. Bon lepteren zählten wir neunzehn, die einzeln oder ge: 
paart ji in gleichen Entfernungen von einander erheben. Alle 
find ſie mit gleiher Sorgfalt ausgeführt, alle mit NRofetten, 
jteinernen Pflanzen und Berihlingungen, mit dem phantaftijchen 
Gethier und mit all’ dem Echmude der gothiihen Kunſt geziert. 
Einen Theil des inneren Steingeländes am Walle ausgenommen, 
fehlt vom urjprüngligen Bau vielleicht fein Stein, vielleicht 
nicht zehn Bierratben. Unbeweglich wie jhon jeit Jahrhunderten 
iheinen die Quadern nod Jahrhunderte aufeinander liegen und 
zu einer jeljigen Maſſe verwachjen zu wollen. Auf der Wande- 
rung, die wir von der Tour de Constance aus auf den Gale: 
rien der Mauern durch die Thürme rings um die Stadt antraten, 
ſchien es uns, als bejichtigten wir einen Bau, deſſen großer 
Werkmeiſter erjt gejtern Zirkel, Blei: und Winfelmage aus der 
Hand gelegt. Nur die Eidechslein, die im Sonnenbrande jich 
wärmten und und über den Weg huſchten, und die Feigenbäume, 
die groß und ftattlih wild aus den Mauern heraus machen, 
ohne einen Stein zu verrüden, zeigten uns, daß wir über einen 
längjt verlaſſenen und menjchenvergefjenen Bau dahinjchritten. — 
In einem der Thürme, der wie alle andern mit einem prächtigen 


Zweited Kapitel. 89 


Saal mit Kamin, beimlihen Fenfternifhen und Bänfen ver: 
jehen und fo wohnlich anzufhauen war, als hätte noch geſtern im 
Kamin die trauliche Flamme geprafjelt, machten wir nach mehr 
al3 halbjtündiger Wanderung Halt, um unfer Frühſtück einzus 
nehmen. — Der franzöfifhe Dichter, der mit ung war, nachdem 
er ſich mit einem Glafe Lunel geftärkt, ſetzte ſich auf eine der 
Bänke und begann mit einem Male folgende Gejhichte von 
Aigues-Mortes zu erzählen: 

Der Tod, wie Sie wifjen, gehört.ganz eigentlich unferer Erbe 
an; er iſt durch und durch irdiſch; der Tod lebt und liebt und 
zeugt wie unfereind. — Er hat Weib und Geliebte wie unferein®. 
Eine feiner liebſten Geliebten ift die Belt; fie wohnt im gelobten 
Lande, in einer Höhle am Rande des todten Meeres, wo er fie 
ganz behaglic eingerichtet hat. Die Zeit der Kreuzzüge war für 
die Peit eine gute Zeit; liefen ihr doch von allen Enden ber 
Melt die Opfer in den Nahen, und wie bleib und mager fie 
geweien, ſie wurde plöglich ftarf und did und gebar ihrem 
Gatten, dem Tod, alljährlich ein Junges. Die Kinder der Belt 
aber find die Fieber: das intermittirende Fieber, das gelbe 
Fieber, das Nervenfieber ꝛc. Da ihre Familie fo heranwuchs, 
wußte jie nicht mehr, was mit ihnen zu thun, wie fie zu bejchäfti: 
gen, und vor Allem, wie fie zu nähren. Bejonders machte ihr 
ihr Jüngſtes, ein Heiner, ſchwächlicher, blaſſer Zunge mit hohlen 
Wangen und ſchwarzen Haaren, viele Sorge; er hatte einen 
großen Thatendurft, und doch blieb ihm im Morgenlande, wo 
feine Brüder angeftellt waren, nichts zu thun übrig. — Denn 
der Vater Tod, der jo fchredlich viel zu thun hat, pflegte die 
Kleinen zu beſchäftigen und fih von ihnen hülfreih an die Hand 
gehen zu lafjen. Eines Tages, da er wieder feine Geliebte, die 
Peit, bejuchte, klagte fie ihm die Noth, die fie mit dem Jungen 
batte, und fragte den Vater, ob er nicht abhelfen könnte. Der 
Tod dachte nah. Da er aber von feinen beſtändigen Wander: 
zügen um die Welt alle Verhältniffe genau fennt, beſonders aber 
alle Pläge, die vafant und zu vergeben. find, jo war er auch 


90 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


nicht lange in Berlegenbeit. Er nahm den Kleinen Jungen auf 
den Schooß, ftreichelte ihm die gelben MWängelein und ſprach: 
Mein Herzensjunge! Nächſte Woche lichtet der heilige Ludwig 
zu Damiette die Anker, um fich mit feinen Kreuzfahrern wieder 
in jein jchönes Frankreich zurüdzubegeben. Es iſt wirklich ein 
ſchönes Land, diefes ſchöne Frankreich; befonders ſchön find feine 
ſüdlichen Küften, und auf diefen Küſten die ſchönſte Stadt ift die, 
in deren Hafen der heilige Ludwig landen wird. ch ſchenke dir 
diefe Stadt jammt Umgegend. Sie hat die größte Aehnlichkeit 
mit Damiette und wird dich immer an dein Vaterland erinnern. 
Du wirſt dich unſichtbar auf die Flotte begeben und mit dem 
Könige in jener Stadt landen und dort dein Weſen treiben, wie 
e3 dir beliebt. — Du fannft did auch ſchon auf dem Wege ein 
wenig üben. — Wie der gute, bejorgte Vater jo ſprach, ſtand 
er auf und füllte einen Schlauh mit Waſſer aus dem todten 
Meere und hing ihn dem Söhnlein um. Diejes nimmft du mit! 
— ſprach er weiter — du wirft den Inhalt dieſes Schlauches 
rings um die Stadt ausgießen, es werden ſchöne Sümpfe ent: 
jtehen und mit ihnen Dünfte und Giftblumen, und ich gebe dir 
mein Wort darauf, daß dir in Kurzem die Herrihaft über Stadt 
und Umgegend unbeftritten bleiben wird. — Wie der Bater ge: 
jagt, jo hat der Eohn gethban, und Stadt und Umgegend ge: 
hören ihm unbeftritten..— Die Wafler, die fich bier ringsum 
ausdehnen, find Waſſer aus dem todten Meere — daher ber 
Name Aigues:Mortes oder todte Wafler. — 

Und daher werden wir das Fieber erwijchen, wenn wir uns 
nicht bald aufmachen, fügte unfere vorforglihe Wirthin hinzu, 
und Alles jprang auf und eilte in die Stadt hinab. — Schnell 
wurde noch die Statue des heiligen Ludwig, ein fchönes Wert 
Pradier's, charakteriftifch. und harmonirend mit der Umgebung, 
bejehen, dann die Bemerkung gemacht, daß das Haus der armen 
Freres Ignorantins das ſchönſte im Orte, dann noch die Apotheke 
befichtigt, ein Haus im reinften Renaifjanceityle, das einzige würdige 
neben diefen alten Mauern; dann warfen wir ung in den Wagen und 


Zweites Kapitel. 9] 


eilten davon. — Die hohen Thürme, die breiten Zinnen warfen 
ung weitgejtredte Schatten nach, als follten wir uns noch lange 
nicht dieſem ſteingewordenen mittelalterlihen Traume entwinden. 
Aber ein Sonntagdvergnügling wedte ung ganz modern, indem 
er ung ein Vive Ledru! in den Wagen bineinrief. Und jo 
trennten wir uns von diejer Stadt, der armen Todten, die nicht 
verweſen kann, die da liegt, wie eine gebannte Leiche, der Nie: 
mand die Augen zubrüden und ein Ruhe bringendes Begräbniß 
Ihaffen will; von dem Leuchtthurme, auf dem feit Jahrhunderten 
fein Licht gebrannt, von dem Hafen, in deſſen Schooße anftatt 
gewaltiger Maften ſchwächliche Schilfe ihre Häupter neigen, von 
ven Prachtſälen ohne Gäfte, von den Wällen ohne Krieger. 


Den 27. Mai 1851. 

Bon Lunel trug mich der Dampfzug nad Nimes, wo ic 
ſpät Abends ankam. — Es ift dieß mein dritter Beſuch in diefer 
Stadt und gewiß noch nicht der legte; denn ich richte meine Aus: 
flüge jo ein, daß fie mich meift über Nimes führen. Dieje Stadt 
Frankreichs befigt ein Kleinod, das mich mit unwiderſtehlicher 
Kraft, mit der Anmuth einer Geliebten, immer neu anzieht und 
fefjelt, jo daß ich mich nad jtundenlanger Anſchauung nur mit 
Mühe, ja mit einem gewiſſen Schmerze von ihm trenne, mit 
dem Bemwußtfein, daß mir nur felten jo Schönes, fo Großes, jo 
Beruhigendes auf meinen Wegen begegnen könne. — Diejes 
Kleinod ift die jogenannte maison carr&e, der alte Römer: 
tempel, der viel zu wenig befannt, viel zu kalt gerühmt worden 
it. Diefer Tempel ijt gewiß eines der herrliditen von allen 
Bauwerken, die ung die Alten gelajien, um die Welt zu jahr: 
taufend langer Bewunderung zu zwingen. Das vollendete Eben: 
maß, das Leben in jedem Theilchen, die Kleinheit der Mittel, um 
großen Eindrud hervorzubringen, die Unfichtbarfeit jever ver: 
ſtimmenden Abfiht, und endlich die heitere Ruhe, ich möchte 
jagen, das Lächeln, das über das Ganze ausgegoflen, maden 
diejes Heine Gebäude, das an Maſſe leicht von einem gemöhn- 


92 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


lihen Bürgerhaufe übertroffen wird, zu einem vollendeten, ab: 
geſchloſſenen Werte des Genies. — Bei feiner Betrachtung ſenkt 
jih in das Gemüth fo tiefe Ruhe, wie fie der Grieche empfunden 
haben mag, wenn er geopfert und, des gewonnenen Schutes 
eines mächtigen Gottes gewiß, ſich zum Mahle fegte und den 
Miſchkrug im Kreife gehen ließ. — Es lebt und regt ſich Alles 
an dieſem herrlihen Baue. Nicht todt und fteinern ſtehen die 
Säulen da; mit ihren Rannelirungen feinen fie nach Jahrtau— 
jenden noch zu wachſen und fich zu bewegen, wie die heitere 
Sonne des Südens auf ihnen fpielt, und zum Beſchauer die 
melodiſche Sprache zu fprechen,* jo wie die Götter, melde grie: 
chiſche Tempel bewohnten, menjhlih und melodiſch fpraden. 
Man nennt den Tempel römiih; aber ich ſchwöre es, es war 
ein griechifcher Meifter, der ihn erdacht und ausgeführt. O, das 
fonnten die Römer nicht; fo was mußten ihre herrlichen Unter: 
johten für fie ſchaffen, fowie fie ihnen die Götterbilver, die 
Philoſophie, die Poefie borgen mußten, um die Blößen der ein: 
gebildeten, gebildeten Barbaren zu deden, um den armen Reich: 
thum zu vergolven. 

Der kurze Weg über die Boulevard von der maison 
carree nad) der Arena ift der Weg von Griehenland nad Rom. 
Da ſtehſt du vor dem Kolofje, vor dem Rieſen, der dir mit 
donnernder Stimme entgegenruft: Bewundere mich! Der blaue 
Himmel Griechenlands, die göttliche Ruhe verſchwindet, und Wolfen 
umziehen dein Gemüth. Nicht mehr Pindariſche Jubeloden hörft 
du, oder des Demodofos herzerfreuenden Gejang, dein Herz, 
wie der Miſchkrug des Griechen, „herrlicher Arbeit,” gibt nichts 
mehr von feinem überjtrömenden Inhalte, um den heitern Göt« 
tern zu jprengen. Es zieht ih furdtfam zufammen vor dem Win: 
jeln der Opfer, das dir durch zwei Jahrtaufende herübertönt, und 
du freuſt dich, wenn auch menſchlich, doch ſchadenfroh, daß 
der blaſſe, goldlodige Nazarener diefem blutgenährten Unge: 
beuer, daS man Rom nannte, mit feinem fanft fchreitenden 
Fuße den Kopf zertreten. Freudig ruft du aus: Das hat der 


Zweites Kapitel. 93 


Proletarier unter den Proletariern, das hat der Verachtete, der 
Jude gethban, und mußte er jelbjt darüber zu Grunde gehen. 
Ich weiß nit, war e3 diejer Kontraft zwijchen Hellas und 
Rom, war e3 der Umftand, dab ich in Stalien jchon größere 
Werke diejer Art gejehen — das Amphitheater machte mir nur 
den Eindrud des Gewaltigen, des Ungeheuren, Mafienbaften, 
das äußerlich zwingt, das der hiſtoriſchen Erinnerungen bedarf, 
um das Gemüth zu bewegen. Dieje hiſtoriſchen Erinnerungen 
abgerechnet, ging ich kalt — ruhig dur die Gänge und Wöl: 
bungen, kroch ih auf den zerbrochenen Sigreihen hinauf und 
hinunter, und wurde nicht einmal durch die Engländer geitört, 
die auf dem oberiten Rande ſaßen und geiſtlos auf die grasbe: 
wacjene Fläche in der Tiefe hinabitarrten. Wie hätten fie 
mich vor der maison carree beleidigt! Die Arena von Nimes 
ift eine der bejterhaltenen, und man fann bier befjer al3 in 
Verona und Arles die Einrichtung diefer Theater jtudiren; man 
fann fogar erkennen, auf welche Weiſe fie dur hydrauliſche 
Werke zu Naumachien verwendet wurde. — Die Behälter für 
die wilden Thiere, wie für die Sklaven find volllommen erhalten, 
ebenjo die unendlichen Gänge und die Thore, von denen man 
eines ala das Thor des Proconfuls, das andere als das Thor 
der Veitalinnen bezeichnet. Ya, in den Sigreihen, obwohl großen 
Theils zerjtört, bemerkt man noch die verſchiedenen Abtheilungen, 
wie fie für die verfchiedenen Bürgerflafjen bejtimmt waren. Die 
Sklaven jagen, wie unſere Proletarier, auf der höchſten Höhe, 
im Paradiefe, Dort oben befinden fich noch die durdlöcerten 
Steine für die Stangen, welche das Leinwandzelt trugen, um 
die Zuſchauer vor der Sonnenhige zu hüten. Es bedurfte gewiß 
einer jehr Zunftwollen Vorrihtung, um das Theater, welches 
30,000 Zuſchauer faßte, mit einer Leinwanddede zu überziehen. — 
In den Gängen fieht man noch die gewiſſen Inſtitute, die zu den 
Heinen und niedrigen Bequemlichkeiten des Lebens nothwendig 
find. Bedenkt man, daß ſich diefer ungeheure Bau fo Eonferpirt 
bat, obwohl, wie bei allen großen römischen Werfen, jede 


94 Tagebuch und Languedoc aus Provence, 


Gement fehlt, und die Steine fih nur durch ihre eigene Schwere 
auf einander erhalten; — bedenkt man ferner, welcher Hebel 
und Maſchinen e3 zu einem folhen Baue bedurfte, und fieht 
man, wie zwedmäßig und ineinandergreifend bei dem großen 
Eirund jeder Stein behauen, Nifche, Gänge und Windungen ſich 
zu einem Ganzen, nad Einem Mittelpuntte jtrebend, zufammen: 
fügen: muß man die Römer als große Mathematiker und als 
die energijchiten Baumeijter der Welt bewundern, wenn man 
ſich auch eine Viertelftunde vorher überzeugt hat, daß es ge: 
ihmadvollere, erhabenere gegeben. 

Die anderen römifchen Denkmäler, die Bäder der Diana, 
an der waflerreihen Fontaine de Nimes, die jogleih an ihrem 
Urfprunge einen förmlichen Fluß bildet, und die Porta Augufti 
haben eigentlih nur noch antiquarifhen Werth. — Es find zu 
Ende gehende Ruinen, die nur noch in einzelnen Theilen, in 
MWölbungen, Moſaiken und Kleinen Verzierungen mancherlei Be: 
lehrung bieten. Die Munizipalität der Stadt und mit ihr der 
Architekt des Departements, Herr Feuer, ein Freund unſeres 
Semper, den er als Dekorationsmaler beim Drespener Theater: 
baue unterftügte, thun heutzutage alles Mögliche für Erhaltung 
der antifen Monumente, Bor einem halben Jahrhunderte war 
e3 anders; da wollte der Gemeinderath in einer Kleinen Geld— 
lemme das Material der Arena an den Meijtbietenden verkaufen, 
und vor ungefähr fiebenzig Jahren wußte Nimes jelbit nicht, 
welch ein Denkmal römischer Gemwalt e3 in feinen Mauern be: 
jige. Die Arena war nit nur ringsherum von den jchlechtejten 
Gebäuden umjtellt und verjtedt, auch im Innern hat eine Be: 
völferung von beinahe fünftaujend Einwohnern überallhin in 
Logen und Löwenzwinger und Gänge und Schauplaß ihre Nejter 
gellebt, jo dab vom eigentlihen Baue beinahe fein Stein zu 
jehben und er jelbit ganz und gar vergejlen war. Heutzutage 
geht nun wieder die Manie für die Antike ins Lächerliche. Die 
guten Bürger von Nimes wollen Alles antif haben; jo haben 
fie jih auch, und zwar in nächſter Nähe der maison carree, 


Zweites Kapitel. 95 


ein antifes Stadttheater gebaut, das fich neben dem griechijchen 
Tempel wie eine Ode vom Leipziger Magifter Minktwig neben 
einer Pindariſchen ausnimmt. 

Eines der ſonderbarſten Gebäude, da3 man nur jehen kann, 
it die Tour-Magne (turris magna), die fih auf einem Berg: 
rüden, nördlich von Nimes, hoch in die Quft erhebt und Stadt 
und Umgegend beherrſcht. Seit Jahren und Jahren frabbeln die 
Antiquare an dem Steinhaufen herum, und es geht ihnen, wie 
bei den Pyramiden: fie wiſſen nit, mas daraus zu maden. 
Was jollte die Tour:Magne nicht ſchon Alles geweſen fein: eine 
Warte, ein Fort, ein Grabdenkmal, ein Getreidemagazin, ein 
Waſſerthurm, ja jogar ein Pharus in Mitte des Landes! — 
Nicht ein Steinhen mill das Geheimniß dieſes merkwürdigen, 
bizarren Baues verrathen; da jteht er ftumm und dumm und 
macht eine verzerrte, höchſt unregelmäßige Grimafje auf jeine 
Unterjucher. Nicht einmal, ob’3 ein Römer: oder Gelten: oder 
mittelalterliher Yeudalbau ei, iſt herauszubringen. — Auf den 
eriten Blid, bejonders wenn man ind Innere tritt, möchte man 
glauben, es habe ihn irgend ein wildes Volk in feinen erjten 
Anfängen, ohne Begriff von Zirkel und Linie roh und plan: 
[08 al3 einen Berg aufgehäuft und dann in diefen Berg eine 
Höhle gegraben. In der That ift es Einem, als ftände man 
in einer der Grotten, wie man fie im Languedoc jo häufig 
findet, und unwillkürlich fieht man fi nad Stalaltiten um. 
Da ift von einem Ebenmaße nit die Spur. Bald rund, bald 
edig, bald in breiten Winfeln, bald ſchmal und finfter jpringen 
die Mauern toll und verwirrend vor und zurüd. — Nirgends 
ein Ruhepunkt, nirgends ein Anfang oder ein Ende. Es iſt wie 
der Traum eines wahnfinnigen Baumeifters, in deſſen Kopfe fich 
alle Style und Formen wild und dunkel durdeinandertreiben. 
Aber fteigt man die moderne Treppe hinauf und hinaus an eine 
Art von Baluftrade, jo fieht man wieder zierlihe Pforten, regel: 
mäßige Winkel, fhöne Verzierungen, funftvoll behauene Steine, 
die alle von mehr al3 bloß ahnungsvollen Anfängen zeugen, und 


96 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


e3 jcheint, al3 hätte ein Barbar den Bau begonnen und ein 
Meiiter ihn vollendet. — Auf diejer Baluftrade vergikt man 
leiht, auf welch wahnſinnigem Geftelle man fich befindet. — 
Zu Füßen liegt das fchöne Nimes, von dem man durd ein 
junges Pinienwäldchen getrennt ift; links und uns im Rüden 
die Gevennen, binter denen eben vie Sonne fchlafen geht und 
die kahlen Berge in violette Schleier hüllt — recht3 die weite 
Ebene und die Rhone, der das grüne Wafjer der Fontaine de 
Nimes langfamen Schrittes entgegenwandelt, wie eine römijche 
Dame der Verfallzeit dem fiegreihen Barbaren des Nordens, 
und und gegenüber, jhon in abendliches Grau verſunken, die 
Alpen der jchönen Provence und die Kalkberge, hinter denen 
Avignon von alter Herrlichkeit und alten Gräueln träumt. 

Don der Tour:Magne ftieg ich durd das Pinienwäldchen 
hinab auf den öffentlihen Spaziergang, der fich breit und grün 
von den Bädern der Diana längs der Fontaine der Stadt ent: 
gegendehnt. E3 war Sonntag. Unter den ungeheuren Kajtanien: 
bäumen, wie fie nur die übliche Sonne am Ufer eines Fluſſes 
großziehen kann, fpielte die Militärmufit Lanner'ſche Walzer, 
ipazierten die Bewohner von Nimes oder faßen mit ihren Mädchen 
und Frauen an den Tifhen und tranfen den füßen Wein des 
Südens. Auf den Waſſern tummelten fich leichte Kähne und 
flangen Lieder in der fühen provenzaliihen Mundart. — Die 
Mädchen waren alle nad der Gitte de3 Landes in einfaches 
Schwarz gefleivet; das philiftröfe Häubchen und das Spitzentuch 
am Halje waren das einzige Helle an ihrem ganzen Anzuge. Um 
ven Hals trugen fie, wie es bier Mode, eine, zwei bis drei 
goldene Ketten. Eine ſolche, oder auch eine filberne fiel vom 
Gürtel herab und trug eine Scheere, einen Schlüfjel, lange 
Nadeln u. dgl, meift von Silber, oft fogar vergoldet. — Man 
hält hier und im Lande viel auf diefen Schmud, und glüdlicher: 
meije ift nur jelten ein Mädchen fo arm, daß es ſich ihn ver: 
jagen müßte. Alles Bolt ſah mwohlhabend und heiter aus; be- 
ſonders die drallen, vollen Mädchengeftalten mit rofigen Wangen 


Zweites Kapitel. 97 


auf braunem Grunde und dunfelglühenden Augen. Doc ift e3 
noch nicht der vollendet ſchöne Typus, den ich fpäter in Arles 
fennen lernen jollte, und in Beaucaire und Taradcon, die wahr: 
jheinlih von Arles aus veredelt worden find. 

An demjelben Tage babe ich noch die neuerbaute große Kirche 
beſucht. Es fcheint den Nimefern mit dem byzantinischen Style 
beiler zu gelingen, als mit dem antifen. Wenigftens zähle ich 
diefe Kirhe, wenn ih St. Guilhem du Defert ausnehme, zum 
Schöniten, was id in diefem Style geſehen. E3 it hier Alles fo 
rein, jo ganz im Geifte diefer Form, als wäre diefe Kirche gleich: 
zeitig mit jenem Monumente erbaut worden. Harmonijch mit dem 
Baue jtimmen die enfauftiihen Malereien Flandrins,! des beiten 
Heiligenmalers Frankreichs, wie man fi in Baris in den Kirchen 
St. Mery und St. Germain de Pre und St. Vincent de Baul über: 
zeugen fann. Schade, daß die Mittel der Stadt nicht ausreichen, 
die ganze Kirche von dieſem Meifter ausſchmücken zu laſſen. 
Schade, daß er anjtatt des Eoftipieligen Goldgrundes blauen 
anbringen mußte, und dreimal Schade, daß ſich aud hier das 
Unzulänglide und Unzuverläfjige der Enkauſtik bewährt; denn 
überall dringen ſchon die weißen Fleden durch den blauen Grund. 
Ich hebe vorzüglich das Hauptbild über dem Hochaltar, „Chriſtus 
zu Throne, vor ihm ein König und ein Sklave knieend“ als 
- Kompofition und die Himmelfahrt Pauli ala Kompofition und 
Malerei hervor. — Leider reicht die Figur Chrifti nicht hin, den 
ganzen Raum der Wölbung auszufüllen; aber der Maler hatte 
fie für den goldenen Grund und nicht für den blauen berechnet, 
was eine wejentliche Veränderung in der Wirkung hervorbringt. 
— Auch fehen die beiden Apoftel rechts und links, obwohl riefig, 
neben der Hauptfigur winzig aus. Von den PBalmtragenden 
Prozefjionen rechts und links gefällt mir die der Weiber links 
befjer al3 die der Männer. Aber der Maler hatte es aud) leicht; 
er nahm die Modelle aus den ſchönſten Frauen des Landes, von 


! Seitdem f. 
Morig Hartmann, Werke. II. 7 


08 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Tarascon und Arles, Kein Meifter braucht fih jchönere zu 
wünſchen. Cine berühmte Schönheit, jegt in Montpellier vers 
heirathet, erfannte ich auf den erften Blick, und Jever muß fie er: 
fennen, der fie nur einmal gejehen. — Mit den Männern ging es 
dem Maler ſchlechter. Da es ihm mit den Frauen geglüdt, glaubte 
er's wahrſcheinlich bei den Männern wiederholen zu müſſen; 
aber die Männer dieſes Landes haben nicht das Privilegium 
ihrer Frauen, die griechiſche Schönheit durch Jahrtauſende un— 
verfälſcht den kommenden Geſchlechtern zur Bewunderung und 
Anbetung entgegenzutragen. Wie ſehr ſich Flandrin Mühe gab, 
jeine Männer zu idealiſiren, es find platte, moderne Herren— 
föpfe mit jehr ſchönen Bärten geblieben. Ich fand einige gute 
Bekannte au Paris darunter, und meine Andacht war hin. 
Ein anderes modernes Kunſtwerk, das nächſtens mit großem 
Pomp und allerlei Feier-Spielen in der Arena eingeweiht werden 
ſoll, hat mir weniger gefallen. Ich meine die Fontaine von 
Pradier.! Die Stadt Nimes, in römischen Gewanden mit einer 
Mauerkrone, jteht auf hohem Poſtamente, das jih aus dem 
Baflin erhebt; ihr zu Füßen figen die vier Waflergottheiten des 
Departements du Gard, als männlihe und weibliche Geftalten 
perfonifizirt: Die Rhone, der Gardon, der Gard und die große 
Fontaine de Nimes, von der ich oben geſprochen. Alles koloſſal 
in reinem Marmor ausgeführt. Bon den Flußgottheiten kann 
ich nur eine loben, den würdigen Alten, den graziös und maje: 
ſtätiſch daſitzenden Rhodanus. Die andern find plump und un: 
beholfen. Die Hauptfigur jteht jteif da, und ihrer Gewandung 
ſieht man es an, daß fie von Stein ift; ihr Gejicht, wie fehr es 
fih Mühe gibt, ernjt und würdig zu ſchauen, ift ein Orijetten- 
geficht in vergrößertem Maßftabe. Oü le dos change de nom 
bat ſich der Bildhauer eine Faltenlicenz erlaubt, die eine’gemifle 
partie honteuse unäfthetiih und unnatürlih zugleih hervor: 
treten läßt. Dagegen hätten ſich die Predigten der ehrwürdigen 


ı Seitdem f. 


Zweites Kapitel. 99 


Väter richten follen, und nicht gegen die decenten nadten Ge: 
ftalten, wie es jeit Wochen wirklich gefchieht. Alle Kanzeln 
wieberhallen jeden Sonntag von Anathemen gegen die Nadten 
der heidniſchen Fontaine. Das ift charakteriftifch für die from: 
men Bäter; gegen das Häßliche, Indecente, wenn es nur leife 
verhüllt ift, haben fie nichts — aber gegen das Nadte, und jei 
es noch jo ſchön, eveifern fie fich gewaltig. Es ſoll ung nicht 
wundern, wenn die Fontaine in einer Nacht zur Ehre Gottes in 
die Luft gefprengt wird. Denn wie lange iſt's her, daß die gute 
Stadt Nimes zur Ehre Gotte8 Hunderte von Proteftanten ges 
ſchlachtet; warum nicht eine heidniſche Fontaine zerftören ? Frei— 
lich ift Heidenthum hier nicht jo verabfcheut wie Proteſtantismus. 


Den 28. Mai 1851. 

Der Weg von Nimes bi Avignon ift ſehr angenehm. Die 
Eifenbahncompagnie hatte die gute Idee, die Eifenbahn rechts 
und linf3 mit prächtigen Pinien, und zwiſchen den Pinien mit 
Ginſterſträuchen zu bepflanzen, vie bier eine bedeutende Höhe 
erreihen und deren zahlloje goldene Blüthen einen ſüßen Duft 
verbreiten. So verliert der Weg das Sterile, das font allen 
Schienenmwegen eigen ift. Eine halbe Stunde hinter Nimes fährt 
man durch einen langen Zunnel. Ans Tageslicht gelangt, dehnt 
ih gegen Süden eine prächtige Ebene, die nur von unbebeu: 
tenden, mit Städten und Fleden gefrönten Hügeln unterbrochen, 
während gegen Norden die Ausficht durch eine fanfte Hügelfette 
abgeiperrt ift, die bis nach Beaucaire an das Rhoneufer hinläuft, 
wo, wie ein Schloß an der Kette, die Burg der ehemaligen 
Grafen v. Beaucaire liegt. Ahr gegenüber in Tarascon, am 
linten Ufer, fpiegeln fi die gewaltigen Schloßzinnen des guten 
Königs Rene in den raſch und mild worbeieilenvden Fluthen. 
Bon Süden herüber grüßen die Thürme von Bellegarve, ja ein 
gutes Auge kann fogar die von Arles erjpähen. Auf dem Wege 
von Tarascon nad Avignon ift die Ausficht gegen die Rhone 
zu ebenfalls abgefperrt durch eine kahle, jandige Hügelreihe — 


100 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


von ihr aus dehnt ſich die vielbejungene Ebene der Provence, 
die gegen Dften von den jonderbar geformten Alpen begränzt 
wird. Die hinterften hohen Berge laufen in breiten, gejtredten 
Mellenlinien hin, aber die kleinern im Vorbergrunde, mit ihren 
vielfach gezadten Gipfeln, find mie die Wellen eines vom Bor: 
boten de3 Sturmes aufgeregten See's zu jhauen. Sie kochen 
und fhäumen — feine große Welle rollt — aber hunderte von 
Heinen Spigen, dur Feine runde Thäler getrennt, jpringen, 
fprigen nebeneinander auf. — In der Ebene überall blühende 
Gärten — ſchon ſenkt fih die Rebe und verhüllt ven nadten 
Boden, daß er bald einer friedlichen Wieſe und nicht einer 
aluthenvollen Weinpflanzung ähnlih wird. — Die Einförmig- 
feit der Delbäume wird durd die Cypreſſe aufgehoben, welche 
ernft und dunkel, einzeln oder in ganzen Hainen aus der grauen 
Umgebung auffteigt. Wie fonderbar muthet e3 unfer Einen an, 
ein einfaches Bauernhaus von mädtigen Cypreſſen, von breit: 
wehenden Feigen: und blüthenlähelnden Mandelbäumen um: 
geben zu fehen. — Es ift doch Alles anders, als jenjeit3 der 
Berge, und ich glaube dem Sage, den neulich ein berühmter 
Naturforfher gegen mid ausgefprodhen: Der Menjch ift von der 
Natur nicht gemacht, um im Norden zu wohnen. Heidelberg 
und der Rhein und Thüringen find die Grängen; — dab in 
Preußen auch noch Menſchen wohnen — das hat die Noth— 
wenbigfeit oder die Reflexion, nicht die Natur gethban oder 
gewollt. 


Drittes Kapitel. 


Avignon und ber Palaft der Päpfte — Ville-Neuvesled-Apignon — Eine jhöne 
Nonne — Ruinen — Die weiße Schredendzeit — Marſchall Brune. 


Vom Süden aus gewährt Avignon einen jchönen, aber 
nicht außergewöhnlihen Anblid. Bon dieſer Seite gejeben, 
können ſich das goldene Mainz, das fromme Koblenz, die heilige 
Colonia mit Avignon mefjen, aber nie vergefje ich den Eindrud, 
den diefe Stadt auf mich gemacht, als ich fie, auf dem Dampf: 
ihiffe von Norden fommend, zum erften Male erblidte. — Es 
war mir, mie damals, al3 ich bei Sonnenuntergang von der 
Höhe von Obtfehina das Meer zum erjten Male von Angeficht 
zu Angefiht geſehen. Märchenhaft! — rein märdenhaft! — 
Ich wüßte feinen andern Ausprud, um den Anblid zu bezeich— 
nen, wenn ſich das Dampfichiff aus ven Rhone-Inſeln bei Roque: 
maure herauswindet, und plöglih der Bapftpalaft mit feinen 
Thürmen auf der einen Seite in die Höhe ragt, während auf 
dem andern Ufer das Fort St. Andre und die alte Veite von 
Ville⸗Neuve⸗les⸗Avignon ſich am abendrothen Himmel abzeichnen 
— zwiſchen beiden die uralte Brüde Pont St. Eſprit, die mit 
ihrer Kapelle mitten im Strome abbricht, als wäre e3 zu viel, 
wenn dieſe beiden Herrlichkeiten mit einander verbunden wür—⸗ 
den. — Nur wenn man die älteften, fpanifchen Romanzen lieſt, 
mo aus den dunkelglühenden, melodiſchen Verſen mandmal 
Namen wie Segovia, Burgos, Stadt der Löwen, Alhambra, 
Santa: Fe auftauhen — daß man ihre Zinnen und moofigen 
Mauern vom Sonnenbrand bejchoffen zu fehen glaubt — nur 


102 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


da wird Einem mandmal jo zu Muthe, wie bei dem erjten Anz 
blide von Moignon. Aber faum am Quai angelangt, muß man 
fich jehr zufammennehmen, um nicht ganz in Träumerei zu ver: 
finfen und dur fie Gepäd und Zeit und Geld zu verlieren. 
Das Bolt von Avignon ift im ganzen Süden al3 wahres Räuber: 
gejindel verrufen; man jpricht nur mit Abſcheu oder Spott von 
ven Bewohnern der heiligen Stadt, und wenn ich fo die Ger 
jtalten betrachtete, die in Mafle ven ganzen Quai beſetzt hielten 
und, wie Raubvögel die Beute, das ankommende Dampficiff 
erwarteten — las ich auf diefen Gefichtern, dab der Ruf Recht 
babe. Wilde, trogige, ih möchte jagen, blutvürjtige Köpfe, 
die mit ihrem braungrauen Teint und dunklen Augen fih auf 
Ihmädhtigen, doch knochigen und nervöſen Körpern jchnell hin 
und ber bewegen. Ich erfannte die Gefährten Jourdan's, die 
königlihen Freiwilligen, die Verdets, die Werkzeuge der Congre- 
gationen und der Comité's von 1815 — ich erfannte genau die 
Mörder des Marichalls Brune, die Kinder fünfhundertjähriger 
stirhenberrichaft. Das Schiff hatte noch nicht angelegt und war 
von den Portefaix fhon im Sturme genommen. Wie wilde 
Katzen fprangen fie vom Quai über das Gelände auf das Ge: 
päde los — jeder bemächtigte ſich eines, zweier, dreier Stüde 
und gab es nicht mehr frei; der Eigenthümer mußte ed von 
ihm in die Stadt tragen lafjen und mußte ihm bezahlen, was 
er verlangte. Denn die Portefair bilden eine gefchlofiene Bande, 
und einer fchadet dem andern nicht. Wenn man fich ſelbſt das 
Gepäde tragen wollte, fie erlauben e8 nimmermehr. — Der 
Kapitän, der an den andern Lantungspläben jo mufterhafte 
Ordnung gehalten, bier ftand er ruhig auf feiner Galerie, denn 
er weiß es aus alter Erfahrung, daß diefem Unmefen nicht zu 
jteuern. — Wir übergaben unfer Gepäd einem ſolchen Banbiten- 
geſichte und fuhren im Wagen durd die Porte de lDule nad 
dem durch den Mord des Marjchalls Brune hiftorifch gewordenen 
Hotel de la Pofte, das fpäter Hotel du Palais Royal, jest 
Palais National heißt. 


Drittes Kapitel. 103 


Bald nad unferer Ankunft fuhren wir durch die Stadt dem 
Bapitpalafte zu, den wir alle in der Nähe zu jehen zitterten, nachdem 
er und ſchon von Ferne fo fehredenerregend entgegengetreten 
war. Die Gafjen von Avignon, wie aller ſüdlichen Städte, 
find jhmal und dunkel, aber die Häufer, auch die Eleinften, 
haben in folge ihrer Struftur aus Quadern ein gewiſſes palaft: 
ähnliches Anſehen; viele find in der That auch auf den Trüm— 
mern der alten PBrälatenpaläfte und Klöfter entitanden. Oft ift 
man überraſcht, hinter einer unjcheinbaren Hausthüre einen 
weiten, bald gothiſchen, bald italienijcben, jäulenumgebenen 
Klofterhof zu überbliden. — Man ſchaut im Vorbeigehen in ein 
Eiſen- oder ein anderes Maarenlager, und der Blid bleibt an 
einer prächtigen Spigbogenwölbung, an einem ehemaligen Hoc: 
altar, an einer architektoniſch reihgejhmüdten Kanzel hängen. 
Zwiſchen Eifenitangen oder Wollenballen blidt eine wohlerhaltene 
Madonna im blauen Gewande, mit dem Dolch im Herzen, ber: 
por. — Die Place de la Comedie ift der einzige große Platz der 
Stadt — er ilt von hübſchen Privatgebäuden, von Kaffee: 
häufern, vom Hotel de Ville mit feinen hundert Säulen und 
feinem gothifhen Thurme aus dem vierzehnten Jahrhunderte, 
und vom neuerbauten Theater, das dem Architekten Feucher 
Ehre macht, jhön und malerifch umgeben. Des Abends treibt fid 
bort die Bevölkerung aller Klafien umher. Bon bier nur no 
eine kurze Strede, und wir ftanden vor dem Palafte der Päpſte. 
— 63 ijt ein babylonifher Bau! — Groß, ungeheuer, ſchrecken— 
erregend. — Vielleicht vor feinem andern Gebäude Europa'd 
empfindet man biefen Schauer. Hoc aufitrebend von der höch— 
jten Höhe des Kalkberges, an dem Avignon liegt — breit und 
verfchloffen, mit wenigen und ſchmalen Spigbogenfenftern, mit 
einem Thore, da3 troß jeiner Höhe Klein erfcheint im Verhältniß 
zum Ganzen — drüdt ein geheimnißvolles Schweigen auf dieſe 
Mauern und umgibt jie mitten im hellen Sonnenlichte des Sü— 
dens eine Art von unbegreifliher Naht. Man fieht es ihnen 
an: dur ihre Dide drang der Nothruf der verfchmachtenden 


104 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Völker nicht hinein, drangen die Schreie priejterliher Orgien, 
ob fie nun in Bachhanalen oder im Foltern der Glaubensopfer 
bejtanden, nicht heraus. Diefe Mauern find des Grundes wür— 
dig, auf dem fie ruhen. Johanna von Neapel erfaufte mit 
Avignon die Abjolution für die Sünde des Gattenmorded. — 
Tritt man in den ungeheuren Hof, in die gothifchen Säle, die ſich 
einer über dem andern hoch empormwölben, auf die breiten Trep: 
pen, jo erkennt man, wie die Bewohner dieſes PBalaftes von ihrer 
Riejenhaftigfeit überzeugt waren. Die Dide der Mauern würde 
jedem Bombenjturme widerſtehen, jomwie fie bis jegt der Zeit 
mwiderjtanden haben. Das ganze ungeheure Gebäude ohne 
Symmetrie und äußerlich erfennbaren Plan, ohne Sonnenblid, 
ohne einen einzigen freundlich jchauenden Winkel, mit feinen 
edigen Thürmen, Sinnen und Schießſcharten und Schwibbögen, 
jteht da, als wäre es von Cyklopen aus einem einzigen Fels: 
jtüde, au8 einem Gebirge gehauen worden. — Doch ift es nicht 
auf einmal entftanden; Ein Menfchenalter, der Wille Eines 
Menſchen reicht nicht hin, ein ſolches Merk aufzuführen. Jeder 
ver bier reſidirenden Päpfte hat etwas zur Erweiterung de3 im 
14. Jahrhundert angelegten Baues gethan: Clemens V., No: 
bann XXI., Benedikt XII., Clemens VI., Innocenz VI., 
Urban V., Gregor XI. 

Den Thurm Trouillad oder die Glaciere befamen wir nur 
von Außen zu fehen; man jagt dem Fremden, die Glaciere be: 
ftehe nicht mehr, viele Einheimische aber behaupten, man mwolle fie 
nur nicht zeigen. Es wäre intereſſant, zu wiflen, was man eigent: 
lich verbergen will, ob den Schauplag der Inquifitionsfolter, den 
Dfen, wo die Zange glühend gemacht, die Rofte, auf denen die 
Keber gebraten wurden; oder den Schaupla, wo der Knabe 
Duprat, der feurige Mainville, der Apollo Rovere, der fenti- 
mentale Schurfe, ehemalige Maulthiertreiber, ſpäter Krapp⸗ 
händler Mathieu Jouve, auch Jourdan, auch Coupestäte ge: 
nannt, — die einen ihrem Gotte, die andern ihren Gögen in 
ver Naht vom 16.— 17. October 1791 Opfer ſchlachteten. — 


Drittes Kapitel. 105 


Diefer tonifhe Thurm hat nur Eine Definung — dem Himmel 
entgegen. Man jollte das Gejchrei der Geſchlachteten oder Ge: 
folterten nicht in der Stadt und nicht nebenan in den Ge: 
mächern der Karbinäle, Legaten und ihrer Courtifanen bören ; 
e3 mußte fih an der Wölbung breden und ſchwach über dem 
Palafte als ein Seufzer verbauen, den der Schritt der Wache 
auf der Zinne übertönt. — In diefem Thurme verfeufzte auch 
der arme Volkstribun Rienzi fein Leben und büßte, wie Huf, 
jein Vertrauen auf ein Papſtwort. — Gerne drüdte ih mid an 
diefem Thurme vorbei und mar froh, daß uns nicht das alte 
Geipenft von einem Weibe, das ich im Hofe umberichleichen 
gejeben, begleitete. Die Alte hat die Schreden jener Nacht von 
91 miterlebt und erzählt fie gerne. Wozu die Erzählung? — 
Man kann e3 ſich denken, was ein wüthendes Volk vermag, 
das vier Jahrhunderte hindurch einen Thurm wie die Trouillas 
betrachtete, am andern Ufer feines Fluſſes ein freies Volk fieht 
und an feinen Mauern einen Anſchlag, in welchem der Papft 
die Wiederherftellung der Inquifition gebietet. — Auf ſolchem 
Boden müſſen ſolche Thaten wachſen. — Jourdan Coupe-töte 
war vielleiht um fein rothes Haar jchledhter, als irgend einer 
der Kardinäle, die dieſe ville carillonnante, mie fie Rabelais 
nennt, bewohnten. 

Einen Moment Ruhe von den Schreden gewährt ein hohes 
Thurmgemach, in welchem fi noch Refte alter Fresten befin- 
ven; ſchöne Bilder voll Naivität, wie fie den großen Befreiungs: 
und Vollendungsperioden Mafaccio’3 und Raphael's vorher: 
gehen. Man gibt fie für Giotto's Arbeit aus; es find Werte 
jpäterer Maler, die auf dem Wege der Befreiung ſchon fort: 
gejchritten waren. . Die Figuren, obwohl ebenfo naiv wie die 
Giotto’3, find doch ſchon meniger gebunden, die Geſichter 
haben ein weicheres Oval. E3 find vollendet fchöne darunter. 
Viele Figuren ftehen ohne Köpfe da, und dieje follen juft die 
ihönften gewejen und von funftfinnigen Offizieren gerettet wor: 
ven fein, als die franzöfifche Regierung anfing, diefe herrlichen 


106 Tagebuh aus Languedoc und Provence. 


Denkmäler dem Berfalle preis zu geben. Man zeigte uns noch 
mehrere Gemädher, die ebenjo ausgeſchmückt gemejen jein jollen, 
die aber bereit mit Kalk übertündt find. Das Schloß iſt jeßt 
eine Raferne, und in den Sälen lagern die Soldaten zu Hun: 
derten. Die. Säle find zwar der Länge wie ver Höhe nach dur 
eingeflidte Mauern und Fußböden zweifach und dreifach getheilt ; 
doch reicht ein Viertheil des Raumes, den man auf einmal über: 
ſehen fann und in dem vielleicht eine ganze Compagnie Platz 
findet, bin, won der ungebeuren Ausdehnung und Höhe diefer 
gothiſchen Wölbungen einen Begriff zu geben. 

An den Papitpalait lehnt ſich die Kirche Notre-Dame des 
Dons, welche die Grabmäler zweier Päpſte enthält. Intereſſant 
an ihr iſt beſonders der Eingang mit ſeinen ächt römiſchen 
Säulen, Ueberreſten eines römiſchen Tempels, auf deſſen Grunde 
die Kirche aufgeführt ſein ſoll. An die Kirche ſchließt ſich der 
ſchöne Spaziergang mit ſeinen prächtigen Bäumen, mit ſeiner 
Terraſſe und der Statue des Mannes, der den Krapp ins Land 
brachte, deſſen Kultur jetzt ſo viele Einwohner des Landes er: 
nährt und den Soldaten ihre Hoſen färbt. Ich habe den Namen 
dieſes großen Mannes vergeſſen. — Die Ausſicht geht von hier 
der Rhone entgegen, faſt bis nach Orange, dem Stammſitze 
der Oranien, hinüber nach Ville-Neuve-les-Avignon und rück— 
wärts über das herrliche Land der Provence, bis an die See— 
alpen und den Mont Ventou, der ſeinen gewaltigen Leib in 
violette Gewande hüllt, gleich einem Kardinale. — Dorthin 
gegen Nordweſten liegt Vaucluſe, das wir ſehen müſſen. 

Dom Schloſſe aus fuhren wir um die Stadt. Die Feftungs: 
mauern, ringsherum mit dem fehönen Kranze der Madiculi, 
wie wir fie an den Befeſtigungswerken des 14. und 15. Jahr⸗ 
bundert3 fennen, befränzt, ift vollflommen erhalten und faft 
ganz fihtbar; nur hie und da wächſt aus der Mauer, wie aus 
der alten Zeit die neue, ein modernes Häuschen heraus, und 
an diefem hinan weißblühende Mandel: und rofige Pfirſichbäume. 
Diefe Wohnungen fehen jo lieblic ivylliih aus, dab man das 


Drittes Kapitel. 107 


Haus des Papſtes vergikt, und das thut Noth, wenn man fich 
an den Herrlichkeiten Avignons jo freuen fol, wie fie e3 ver: 
dienen. 

An einem jhönen Maiabende,, während meines zweiten Be- 
fuches, führten mic meine Wanderungen über die Kettenbrüde 
und die Inſel aufs jenfeitige Ufer, vorbei am Fuße des 
ruinenhaften Schlofjes, nah Ville-Neuve-les-Avignon. Mein 
guter Stern hatte mich hierher und auf die Höhe des Fort St. 
Andre gebraht — denn von diefem Standpunkte aus fieht 
man Avignon erft recht in feiner ganzen Schönheit: die Rhone 
als Vordergrund, den Palaſt größer und dräuender, als wenn 
man fih in feiner Nähe befindet, und doch die harten Züge 
durch die Ferne und das janfte Abenvlicht gemilvert; im Hinter: 
grunde die Wellenlinien der Brovencer Berge mit ihrem Senior, 
dem Bentour, in der Mitte. Ich dachte an Victor Hugo's tief- 
finnigen Sag: Es ift doch befler, in Deug zu fein und Köln zu 
jehen, als in Köln zu fein und Deuß zu ſehen. Ich ratbe 
Jedem, der Avignon beſucht, ſich jogleich nach feiner Ankunft 
aufzumachen und diefen Punkt aufzuſuchen; dann erft wird er 
wiffen, in welcher Welt er fich befindet. Sie ift in der That 
über alle Bejchreibung jhön! Ich konnte mid) nicht fatt fehen. 
Erſt jpät vaffte ich mich auf, um ald voyageur conseiencieux 
nod die Merkwürdigkeiten der hinter mir liegenden Ville-neuve 
zu betrachten, 

Zuerft ein altes Karthäuferklofter. Sein Dad iſt fo mit 
Gras und Moos bewachſen, daß man es von der Höhe bes 
Berges aus für ein brach liegendes Feld halten kann. In jeinein 
Innern fleben, wie Schwalbennefter, viele Heine Wohnungen, 
wahrſcheinlich aus dem Schutte des alten Kloſters zufammenge- 
flebt. Die ehemals prächtige gothifche Kirche ift in eine Art von 
Hof verwandelt und von Wagen, Karren und Adergeräthichaften 
angefüllt. Rührend nimmt fi unter diefem Geräthe ein einzeln 
ſtehender Spigbogen reinjten Style aus, und eine mehr als 
lebensgroße Madonna, die mit milden ſchönen Zügen und gefaltenen 


108 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Händen, wunderbar erhalten, auf das Gerümpel herabfieht. 
Bon Außen find die Reſte dieſes einft gewiß prächtigen Baues 
theilweife von ungeheuren Weinreben bevedt. Dieje edle Pflanze 
gedeiht hier ganz beſonders gut. Ich ſah einen Weinſtock, der 
allein mit feinen Reben alle Fenfter dreier breiftödiger Häufer 
umranfte. — Im Hotel de Ville fand ich eine Bibliothef, auf 
die ih mir erlaube die Geſchichtsſchreiber der Provence auf: 
merkſam zu maden. Sie ift das Geſchenk eines vor einem halben 
Sahrhundert verftorbenen, reihen Gelehrten und enthält inter: 
eſſante Chroniken, Manuffripte und dide Bücher alter Kirchen: 
mufif, von denen manche mit den farbenreichſten, friſchglühend— 
ften Jluftrationen verfehen find. Auch das Klofter und Hofpital 
der barmberzigen Schmweitern befuchte ih, um das aus dem Kart: 
bäuferflofter hierher übertragene Maufoleum Innocenz' VI. zu 
jehben. Man bildet fich bier gerne ein, das gothiihe Grabmal 
jei von hohem Alter, doch erfennt man e3 auf den erften Blick 
ala bloße Kopie, die nicht über zweihundert Jahre alt fein kann. 
Im Klofterhofe ſaßen einige Schweitern mit weiblichen Arbeiten 
beihäftigt und genoßen der fanften Abendkühle Bei meinem 
Herannahen fenkten fie züchtig die Köpfe, doch vermochte ich bei 
ihrer Erwiederung meines Grußes die hohe und zarte Schönheit 
der Einen zu erfennen. Ich bevauerte den Verluſt nicht, den 
die Welt dur ihre Frömmigkeit erleidet, denn ein heiliger Friede 
lag über fie ausgegofien; ihre Wangen waren hold geröthet, und 
fie fhien zufrieden und voll innern Glüdes. Zerftreut betrachtete 
ich noch mehrere alte Gebäude, an denen diefer Fleden jo reich 
it, und voll Einſamkeitsgedanken wanderte ich längs des Rhone— 
uferd, dur Duft und Nachtigallenlieder nad Avignon zurüd. — 
Die Rhone raufchte melodiſch, die Platanen der Inſel bewegten 
fich leife im fäufelnden Abendwinde, und zwiſchen ven ſchwarzen 
Thürmen der Pontifere ftand ftill und friedlich der bleiche Ge- 
jelle. — O jhöner Süden! Die Natur hat ihre Phantafie er: 
Ihöpft, um dich mit allen ihren Reizen zu ſchmücken, und der 
Menſch gab dir die traurige Gefhichte, um deiner Schönheit 


Drittes Kapitel. 109 


noch den Neiz der Wehmuth zuzugefellen. Ja, dieſem Lande 
fieht man es an, daß ed, wie der Alte zu jagen pflegt, eine 
Geſchichte habe. — Aber jede Geſchichte ift traurig. Die goldene 
Zeit hatte feine Gejchichte. 

Den 29. Mai 1851. 

Bei meiner Rüdkunft ind Palais-National-Hotel führte uns 
die Wirthin in das unglüdfelige Zimmer, in weldhem 1815 die 
Unthat an Marſchall Brune begangen worden. Es ift ein weites, 
ihönes, mit dunflen Tapeten ausgeſchlagenes Gemach, das in 
Nichts von feiner [hauervollen Geſchichte die Spuren trägt. Die 
Begebenbeit, fowie überhaupt die Geſchichte des weißen Terro: 
rismus, ift in Deutſchland noch zu wenig befannt; ich will fie 
hier kurz und bündig in Erinnerung bringen, wie id) fie aus 
Büchern, Akten und an Ort und Stelle gemachten Erkundigungen 
tennen gelernt. Die Erinnerung an die Art und Weife, mie 
gewille Mächte immer und überall ihre befiegten Feinde behan— 
delt, kann zu feiner Zeit ſchaden. 

Marſchall Brune war auch unter vem Empire halb und halb 
Republilaner geblieben. Er machte Napoleon nicht den Hof, und 
wurde von ihm und den Hofleuten zurüdgejegt. So kommt es, 
daß fein Name, troß feines Charakters, feiner Siege, feiner Fähig— 
feiten, nicht mit dem Ruhmesglanze umgeben ift, der manden 
mittelmäßigen Scaufpieler ver Faiferlihen Tuilerien ſchmückt. 
Brune lächelte und tröftete fich in feiner Einſamkeit mit den ſchönen 
Wiſſenſchaften; er überfegte Horaz und verzierte jein Buch der 
Reifen mit Verſen. Als Napoleon von Elba zurückkam und einen 

energifhen Mann brauchte, um den dur Royaliften und Pfaffen 
aufgewühlten Süden im Zaume zu halten‘, erinnerte er ſich des 
zurüdgefegten Marſchalls. Nur ‚mit Widerwillen verließ Brune 
feine Einfamleit, aber die Rüdfiht, daß fein Vaterland, bejon: 
ders im Süden, vom engliſchen Erbfeinde bevroht war, bejtimmte 
ihn, den ihm angebotenen PBoften anzunehmen. Nicht ohne trau: 
tige Ahnungen. Denn als er die Annahme unterzeichnete, fagte 
er zu den Umſtehenden: „Mir ift es, als hätt’ ich mein Todes: 


110 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


urtbeil unterjchrieben” — und ala er bei der Abreife auf der 
Treppe feiner Wohnung jtolperte, rief er lächelnd, doch traurig: 
„Sin Römer würde umfehren.“ 

Mas er während der Hundert Tage in Toulon zur Verthei- 
digung des Hafens und der franzöfifchen Flotte gegen die Eng: 
länder und die mit ihnen verjchwornen royaliftifchen Einwohner, 
was er zur Erhaltung der Ruhe im ganzen Süden mit einer nur 
Hleinen Garnijon gegen die immer mächtiger anwachjenden „Lönig- 
lihen Freiwilligen,” gegen die „Verdets“ und die Agenten der 
Kongregationen getban — 23 gränzt and Unglaubliche, und 
man lernt es erjt jchäten, wenn man die Blutjtröme fieht, 
vie glei nach feiner Abjegung im ganzen Süden zu fließen 
begannen, um jede Spur von Republifanismus, Bonapartismus 
und Proteftantismus vom föniglihen Boden Frankreichs fortzu- 
ſchwemmen. — Aber für diefe Anitrengungen wurde auch feiner 
der Napoleonifhen Angeftellten während der Hundert Tage von 
den königlich und Elerifal Gefinnten fo bitter, fo fanatifch gehaßt, 
wie Brune. Man that alles Mögliche, um die Bevölkerung im 
Beichtftuhl wie auf der Straße gegen ihn aufzubegen. Lügen 
auf Zügen, mündliche wie gebrudte, wurden über ihn verbreitet; 
nicht nur fromme Priejter und königliche Freiwillige, fondern 
auch hohe Damen reisten won Stadt zu Stadt, von Dorf zu 
Dorf, um die in London gedrudten Lügen unter das Volk aus: 
zutbeilen. Die beliebtejte unter diejen war, daß fein Anderer 
als Marſchall Brune die Prinzefjin Lamballe ermordet, daß er 
e3 gemwejen, der ihren jhönen Kopf auf der Pile dur die Stadt 
getragen. Daß Brune in den Septembertagen gar nicht in Paris 
geweſen — was lag daran? 

Nah der Schlaht bei Waterloo wuchs die Kühnheit der 
weißen Partei, und troß der ungeheuren Anftrengungen mußte 
Brune gemwifjermaßen unter feinen Augen die Mafjacres von 
Marfeille auftauchen fehen, den Anfang jener Kette von Gräuel- 
thaten, die ſich fogleih nad feinem Nüdtritt über Avignon, 
Nimes, Uzes und die protejtantiihen Thäler der Cevennen aus: 


Drittes Kapitel. 111 


dehnte. — Brune ſah feine Macht jhwinden und erwartete mit 
Ungeduld den Kommiſſär Ludwigs XVII., der ihn ablöjen 
jollte, und von dem-er hoffte, daß e3 ihm bejjer gelingen werde, 
jeine eigene Partei nieder: und vom Morden abzuhalten. Man 
wußte damals noch nicht, daß die in die Provinzen gefandten 
Kommandanten und Präfelten eben jo viele Agenten waren, 
welche ven Mord der Bonapartiften, Republifaner und Proteſtan⸗ 
ten ſyſtematiſch leiten follten. 

Marquis de Niviere fam endlib in Toulon an. Brune 
legte die Gewalt in feine Hände nieder, nahm Abſchied von 
jeinen Soldaten, die er herzlich und eindringlich ermahnte, fich 
in das Unvermeidliche zu fügen, und nicht durch erfolglojen 
Widerſtand das Unglüd Frankreichs zu vermehren, und erfuchte 
den Marquis um Päſſe für fih und feine Adjutanten. Diefelben 
wurden ihm in aller Form ausgeftellt, und der Marichall, be: 
gleitet von zwei Adjutanten, verließ Toulon in der Nacht vom 
31. Juli auf den 1. Auguſt, um fih nad Paris zu begeben, 
wohin er von der neuen Regierung citirt worden war. Noch vor 
jeiner Abreife wurde er mehrmals gewarnt, ja nicht über Avignon 
zu gehen, da ein Komplott gegen fein Leben beftehe, das in 
diefer Stadt zum Ausbrud fommen jolle. Man wollte vorfichtig 
jein, man wollte Maßregeln ergreifen, aber der Marquis de 
Riviere lächelte und machte Vorfiht und Mafregeln zu Nichte, 
indem er verficherte, er jelbft habe jchon den ganzen Weg ent: 
lang das Mögliche gethan. — Aber ſchon in Air wurde Brune 
von einer Bande königlicher Freiwilliger angehalten. Sie wollten 
ihn nicht weiter ziehen laſſen, trog Paß und Gegenreden; glüd: 
licherweife erhob der Pöbel, der fich indejlen jammelte, ein 
ſolches Gefchrei von Fluchen und Schimpfen und warf jo viele 
Steine gegen den Wagen, daß die Pferde, ſcheu gemacht, plög: 
li ausgriffen, durch die Vollsmenge brachen und den Marſchall 
in wenigen Minuten aus der Stadt und dem Angejichte feiner 
Verfolger brachten. — Ein Adjutant beſchwor ihn, nun die 
Route über Avignon zu verlaffen und die viel ficherere über 


112 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Grenoble einzujhlagen, fich jelbit ven Schimpf und dem Lande 
vielleicht ein Verbredhen zu erjparen. Aber der Marfchall ant: 
wortete kurz mit der Frage: Sollen wir Furcht zeigen? und feßte 
den Weg auf der Straße nach Avignon fort, wo er am 2. Auguft 
Vormittags zwiſchen 9 und 10 Uhr anfam und im Hotel de 
la Poste oder Hotel Palais Royal abftieg, um die Pferde zu 
wecfeln und ein Frühſtück einzunehmen. 

Eine neugierige Menge jammelt fih um den Reifewagen 
und prüft und betrachtet ihn harmlos. Diefe Menge wird durch 
die vielen Bejucher vermehrt, welche in das Hotel jtrömen, um 
bei dem zufällig ebenfall® anmwefenden neuen Präfelten des De- 
partement3 Baucluje, Herrn von St. Chamans, Geſchäfte abzu- 
machen oder ihre Komplimente anzubringen. — In den Winkeln 
des Plages jchleihen einzelne Männer umher, die fich abjichtlich 
fern zu halten feinen. Sie jhmweigen und beobachten das Hotel, 
den Wagen, die daran bejhäftigten Diener und die immer an: 
wachſende Menge. — Plöglic tritt einer diefer Männer hervor 
und wirft den Namen Brune bin, begleitet von einigen Ber: 
wünſchungen, und verjchwindet wieder. Mit ihm verſchwinden 
jeine Geſellen; eine plögliche, unmwillfürliche Aufregung verdrängt 
die Harmlofigkeit der Neugierigen. Schon ftrömen neue Schaa- 
ren aus allen Gaſſen herbei — unter ihnen viele königliche 
Freiwillige. Die jchreien: Tod dem Mörder! Nieder mit dem 
Republifaner! Ein junger Mann fpringt hervor und überzeugt 
die Menge in einer ausführlihen Rede, daß der Mörder ver 
Zamballe fih auf vem Wege zur Loire-Armee befinde und beab- 
jichtige, diefe nad der Provence zu führen, um fie aufs Neue 
für den Ufurpator zu erobern und den fatholifhen Glauben und 
die Lilie auszurotten. — Die Menge antwortete mit dem Rufe: 
Nieder mit dem Mörder! In die Rhone mit ihm! 

Indeſſen haben vie Kutjcher die Pferde angefpannt. Das 
Bolt ftürzt fich auf fie, fpannt die Pferde aus und jagt fie in 
den Hof zurüd. — Herr v. St. Chamans fteigt auf den Plag 
berab und ſucht das Volk zu beruhigen, nachdem er den 


Drittes Kapitel. 113 


Marſchall beſchworen, jih zu beeilen und abzureifen. Das Volt 
horcht auf die Stimme dieſes Ehrenmannes, der jeine Autorität 
geltend macht. Die Pferde werden wieder angefpannt, der Mar: 
ſchall und die Adjutanten fteigen ein, und nad menigen Mo- 
menten braust der Wagen durch das nahe liegende Thor de 
VDule, am Rhonequai dahin. Der Präfekt tritt ins Hotel zurück. 
Da erwacht die Wuth der Freiwilligen aufs Neue. Ihm nad! 
— riefen die Einen — Durch da3 Thor von Paris! — vie 
Andern. Und die Erjten, blind vor Wuth, ftürzen dem Wagen 
auf dem Duai du Rhone nah und verfolgen ihn mit Stein- 
würfen; die Andern, liftiger, juchen ihm durch die Porte de 
Paris, an welder der Wagen vorbeikommen muß, den Vorfprung 
abzugemwinnen. Der Kutſcher des Marſchalls ahnt jo etwas; er 
peitſcht die Rofje, jo mächtig er kann, fie bäumen fich, dann aber 
greifen fie aus, und immer gegeißelt fliegen fie jhäumend, wüthend 
dahin. Er wird die Porte de Paris vor den Freiwilligen vom 
Plage de lOule erreihen. Schon ift er nahe. Aber noch, bevor 
der Wägen da3 Thor erreicht, ftürzen fi ihm auf den Weg 
poftirte Freiwillige entgegen. Die wüthenden Thiere achten ihrer 
nicht und ftürzen mitten durch; die Freiwilligen jtieben augein- 
ander. Noch einmal ift der Marfchall gerettet. 

Aber als fie an das Thor von Paris kommen, jpringt eine 
Scaar von Nationalgarden hervor. Die Einen kreuzen die Ge: 
wehre und verftellen den Weg, die Andern ftoßen mit ihren 
Bajonetten gegen die Bruft der Pferde. Dieje prallen blutend 
zurüd und geben vem Wagen eine quere Stellung auf der Straße, 
Die Bemühungen des Kutſchers find nun umſonſt, befonderz, 
da fih Nationalgarden der Zäume bemäcdhtigt haben und da der 
wachthabende Offizier mit dem Degen in der Hand bervortritt 
und offiziell ven Baß verlangt. — Man übergibt ihn. Er 
prüft lange und lange, obwohl Alles in Ordnung, obwohl ver 
Paß ein folder, daß feinem Boften das Recht zuftebt, ihn abzu- 
verlangen, over wenigftens die Pflicht hat, ihn ſogleich zurüd: 
zugeben: e3 ift ver Paß eines Marjchalls von Frankreich. Trotzdem 

Morik Hartmann, Werke. IM. 8 


114 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


prüft ihn der Offizier, Herr Verger, noch immer und madt 
Umftände und ſpricht von Rüdfehr in die Stadt und prüft ihn 
noch immer, als ſchon das Geheul ver herbeieilenden Freimil: 
ligen von der Place de !’Dule ganz in der Nähe zu hören. Endlich 
find fie da; auch die Verfolger vom Rhonequai fommen an, die 
dort aufgejtellten Freiwilligen find längſt da. Mit ihnen zugleich 
fommt, Böſes ahnend, der brave Präfelt herbeigeeilt, und un- 
glüclicherweije der jehr ehrenwerthe Maire der Stadt, Herr Puy. 
Herr Puy war Maire aus den Hundert Tagen. Was der Prä- 
feft als Bourbonijt hätte gut machen können, verdarb der verhaßte, 
wohlmeinende Maire. Die Freiwilligen, das Volk, von der Ver: 
folgung noch mehr aufgeregt, hören nicht mehr auf die Stimme 
des Erjteren, bejonders da er Dajielbe will mit Herrn Puy. 
Schon ijt der Wagen gewendet. Die Wüthenden rufen: In die 
Rhone mit dem Mörder der Lamballe, dem Führeg der Loire: 
Armee! Herr v. St. Chamans und Herr Puy bringen e3 endlich 
menigftens dahin, daß man den Wagen zur Stadt zurüdfehren 
läßt, und fie gehen zu beiden Seiten und machen unendliche 
Anftrengungen, um die Mörder abzuhalten, die jeden Augenblid 
ven Marjchall herausreißen wollen, und erleiden mit helden— 
müthiger Geduld die Steinwürfe, die von allen Eeiten nieder: 
regnen. Herr v. St. Chamans blutet und iſt einer Ohnmacht nahe, 
aber er hält fih am Wagen und läßt nicht ab in feinen Be: 
mühungen. So geht ver Zug langjam den langen Rhonequai 
dahin. Der Marſchall fist ruhig im Wagen und verzieht feine 
Miene. Auf die Vorwürfe des Adjutanten, daß er fich folder 
Gefahr ausgeſetzt und Frankreich nicht diefe Schmach erfpart 
habe, antwortete er nur: Gie haben Recht! — das find Mörder. 

So fährt der Wagen wieder durch die Porte de l Dule, fo 
kömmt er wieder auf dem Plage an. Der kluge Boftillon, der 
die Zügel feinen Augenblid Iosgelafjen, läßt die Freiwilligen in 
dem Wahne, daß fie allein die Pferde am Zaume führen, aber 
vor dem Hotel angelangt, zieht er plöglich wieder die Zügel an, 
gibt einen gewaltigen Geißelichlag, und mit einem Sprunge find 


Drittes Kapitel. 115 


die Pferde von ihren Führern befreit und der Wagen im Hofe 
des Hotels verfhwunden. Hinter ihm fallen die Flügel des 
Zhore3 zu und werden jogleic verbarrifadirt. Umſonſt werfen 
ich ihm Wüthende entgegen, auf die Gefahr hin, zermalmt zu 
werden; das Thor jchließt und weicht allen Stößen und Hieben 
nicht. Der Generalmarſch wird gejchlagen, welcher die National: 
garde zujammenrufen joll, daß fie das Leben des Marſchalls und 
die Stabt vor einem Verbrechen bewahre. Erjt ſpät kommen, 
Alles in Allem, ungefähr 100 Nationalgardijten zujammen, die 
jih vor dem Thore des Hotel3 aufjtellen. Zu ihnen gejellen 
jich der brave Präfekt, Herr Buy und ein Herr Balzac. Wahr: 
ih eine Heine Schaar gegenüber der ungeheuren Menge, bie 
immer mehr anwächst und den Platz und die benadhbarten Gaſſen 
und die Fenſter und Dächer der Häufer bejegt. — Da den 
Müthenden ihr Opfer für einen Augenblid entwijcht, werfen jie 
jih auf Herrn Hughes, zeitweiligen Kommandanten der National: 
garde, und wollen ihn mit Jußtritten tödten. Dem Maire, dem 
Präfelten und einem Major Lambot gelingt es, ihn zu retten. 
Aber da Fehrt fich die Wuth gegen den Maire. Nieder mit dem 
Maire der Hundert Tage! jchreit es, nieder mit ihm! Und auf 
die Bitte des Präfekten entfernt ſich Herr Puy. 
Indeſſen figt der Marfchall in feinem Zinmer Nr. 3. — 
Es iſt dunkel; die Vorhänge find vor die Fenjter gezogen, und er 
darf fich ihnen nicht nahen, denn aus den Fenſtern der gegen: 
überjtehenden Häufer und aus den Zweigen der gewaltigen 
Bäume vor dem Haufe zielen Hunderte von Feuerröhren nad 
allen Fenjtern des Hotel3, um den Marſchall niederzujtreden, 
wenn er fich jehen laſſe. Dennoch jchiebt er von Zeit zu Zeit 
den Vorhang ein wenig zurüd und mujtert tiefjinnig die Menge, 
die feinen Tod will. Dann fehrt er wieder zum Tijche zurüd 
und liest in den Papieren, die neben einer Brieftajche darauf 
zerftreut liegen. Es find die legten Briefe jeiner Frau, und er 
nimmt Abſchied von den geliebten Schriftzügen. 
Dur die Entfernung Puy's, die ihnen ein Erfolg jcheint, 


116 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


ermuntert, jtürzen jich die Mörder, die ſich indeſſen mit Haden 
und Beilen bewafinet, auf Neue gegen das Thor des Hotel3. 
Aber das Thor weicht nicht; es ift gut, leider zu gut verbarris 
kadirt. Major Lambot, der fich indefjen zu den Vertheidigern 
gefellt und das Kommando übernommen hatte, wird mit dem 
riefigen Lajtträger Guindon handgemein, aber von dieſem zu 
Boden geworfen; der Präfeft eilt herbei, um dem Major beizu: 
jtehen, und wird bei dieſer Gelegenheit auf3 Neue verwundet 
und muß fich blutend und todmüde zurüdziehen. — Die Stür: 
menden fahren in ihrem Angriff auf das Thor fort; die Heine 
Schaar ver Nationalgarde ladet und treibt fie dann mit Bajo— 
netten zurüd. Die Mörder heulen und fliehen. Es ift ungefähr 
zwei Uhr, und da die Menge vor den Bajonetten zurückwich, ift 
Hoffnung da, den Marihall zu retten. Der Auflauf, hat fich 
zum Theil zerftreut; ein großer Theil it plöglich verſchwunden, 
unbeimlid; jchnell. Die wadern Vertheidiger überreden fi, daß 
die Menge, ihrer vergeblihen Angriffe müde, fie endlich ganz 
aufgegeben, und fie denfen daran, den Wagen des Marſchalls 
wieder anjpannen zu lafjen. 

Da plöglic erſchallt teufliihes Jubelgeſchrei aus der Mafje 
des Volkes, die ſich noch auf dem Plage befindet. Lambot blidt 
erfhroden auf: die Mörder find von rüdmwärts auf das Dad 
des Hotels gejtiegen und dringen dur die Dahluden und 
Fenſter ins Innere. Lambot jchlägt in Todesangft an das Thor 
— aber e3 ijt verbarrifadirt. Das dauert eine Ewigkeit, bis 
man e3 öffnet und bis der brave Lambot wird hineinpringen 
fönnen, um den Marſchall zu beſchützen. BVielleiht fommt er 
doch noch zur rechten Zeit, denn an der Thüre des Marjchalls 
jtehen vier Mann Chafjeurd d'Angoulême unter dem Befehle 
des Lieutenant? J. B. Didier. Der fann die Mörder eine 
geraume Weile aufhalten. Schon tobt e3 die Treppen herab im 
Innern des Hoteld und eilt e8 lärmend, jchreiend, wuthſchnau⸗ 
bend durch die langen Korridore. Die Mörder fommen an der 
Thüre des Marfhalls an; Herr Didier macht feine Miene, fie 


Drittes Kapitel. 117 


zu vertheidigen, nur eine Minute lang nod), bis unten am Thore 
die Balken weggeräumt find. Kerr Didier läßt die Mörder 
pafliren. Die erften, die hineinjtürzen, find der Arbeiter Fargés 
und der riejige Laftträger Guindon. | 

Der Marſchall ſaß am Tiſche und las in den Briefen feiner 
Frau; mie er den herannabenden Lärm hörte, zerpflüdte er die 
geliebten Andenken, dann ging er ruhig, ohne Miene zu veräns 
dern, gelajjen den Mördern entgegen. Was wollt ihr? fragte er 
jtolz und falt, Fargés antwortet ihm mit einem Piſtolenſchuß; 
er jehlt aber, da der Marjchall feinen Arm ergreift, und die 
Kugel fliegt an ihm vorbei, zerreißt die Tapete und bleibt in der 
Mauer jteden. Guindon ftößt feinen Mordgefellen zur Seite, 
indem er lachend ruft: Jch will dir zeigen, wie man e3 machen muß. 
— Er tritt einige Schritte zurüd, legt feinen Karabiner an, und 
mit zerfchmettertem Haupte liegt der Marfchall auf dem Boden, 
Er zudte nicht mehr — fein Geficht blieb unverändert. Die 
Mörder riffen die Fenfter auf und verfündeten dem Volle den 
Tod des Marſchalls; ein heulender, thierifcher Jubel empfing 
diefe Nachricht. — Die Menge jtürzte nun gleichzeitig mit Lambot 
durch das endlich, aber zu fpät geöffnete Thor und durdhtobte 
das Hotel und plünderte e8 vom Keller bis unter’3 Dad. Hierauf 
famen die Autoritäten und der Procureur, um den Thatbeftand 
aufzunehmen. Das Protofoll, vom Unterfuhungsrichter Berger, 
dem Vater de3 Lieutenant3 vom Parifer Thore, verfaßt, lautete 
jo: „Daß die Volksaufregung, welche durch ungefähr vier Stun: 
ven theils in, theils außer dem Hotel ftattgefunden, den Mar: 
ihall mehreremal dahin gebracht, daß er ſich jelbit, bald mittelit 
einer Feuerwaffe, bald mitteljt eine Meſſers das Leben zu 
nehmen verſucht habe, daß er dann gegen halb drei Uhr fi 
ver Piſtole eines Chafjeur v’Angouleme bemädtigt und fi 
den Tod gegeben habe, indem er fich unter dem Halje auf der 
rechten Seite einen Piſtolenſchuß beigebradt.” 

Man legte die Leiche des Marſchalls in einen groben Sarg, 
und einige wadere Männer erboten ſich, fie in eine der Kafernen- 


118 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


fapellen zu übertragen. Kaum aber traten fie mit ihrer Laſt auf 
den öffentlichen Play, al3 ſchon die königlichen Freiwilligen über 
fie berfallen, ven Sarg erbredhen, die Leiche heraußreißen, fie 
des Leichentuches entkleiven, zerhaden, verftümmeln und über 
das Pflafter hinaus auf die Brüde fchleifen, von welcher aus 
fie fie dann unter Hohngelädhter und Schimpf in die Rhone 
werfen. Einige Schüfle werden ihr dann ala Ehrenfalve höhnend 
nachgeſchickt. 

Das iſt die Geſchichte von der Ermordung des Marſchalls 
Brune — eine Geſchichte, die in der Reſtaurationszeit viele ihres 
Gleichen findet. 


Diertes Kapitel. 


Vaucluſe — Petrarca — Ein Brief von Betrarca — Die berühmte Fontaine — 
Laura’ Niht-Grab — Fortund Guiran — Parteien in Avignon — Thymian — 
Avignoner Romantit — Avignoner Eagen und Gedichten. 


Den 1. Juni 1851. 

Avignon befuht und nicht Vaucluſe gejehen zu haben, das 
wäre gewiß ein Verbrechen, mit dem beladen man fich nie und 
nimmer vor feinen Freunden dürfte ſehen lafjen — das hieße 
ja ein empfindungslojes, aller Poeſie unzugänglihes Herz 
zeigen, das nicht würdig wäre, jich je an einem Sonett ergößt 
zu haben. — Ich ſchreibe dieß lachend in mein Tagebuch, mehr 
als zur Hälfte aber ift es mein tiefjter Ernft. Es iſt jo Mode 
geworden, über Petrarca und feine taufend Sonette und Kan: 
zonen zu lächeln, ohne daß die lähelnden Leute eigentlich wifien, 
warum fie lächeln — ohne das fie bedenken, welche nationale 
Bedeutung diefe liebevollen Sonette an Laura für das Volk des 
Dichters haben. Dante hat fein Volk die Sprache des Himmels 
und der Hölle gelehrt — Petrarca gab ihm die holde Sprade 
der Erde. Der aber war immer groß, der einem Bolfe eine 
Sprade gegeben. Nicht viel Größeres thaten Luther und Lefling, 
die Zungenlöfer. Und ſelbſt, wenn Petrarca das nicht gethan 
hätte, eine treue Liebe, die das Herz eines in feiner Epoche 
hochbedeutenden Menſchen dur jo lange Zeit mitten in den 
Kämpfen und mannigfachſten Beihäftigungen eines vielbewegten 
Lebens jo ganz und gar auszufüllen, und das von Diplomatie 
und Gelehrſamkeit nicht ausgedorrt zu werben vermochte, bleibt 
immer und unter allen Umſtänden rührend und achtungswerth. 


120 Tagebuch aus Yanguedoc und Provence. 


Daß die Liebe Petrarca's eine joldhe gewejen, möge Denen, welche 
niht an Verſe glauben, ein Privatbrief beweiſen, den er an 
einen Freund über jeinen Aufenthalt in Baucluje geichrieben. 
Er lautet: 

„lie (in Clausa-Valle) juvenilem aestum, qui me 
multos annos torruit (ut nosti) sperans illis umbraculis 
‘ lenire, eo jam inde ab adolescentia saepe confugere 
velut in arcem munitissimam solebam. Sed heu mihi 
incauto! ipsa nempe remedia in exitium. Nam et his 
quas mecum adduxeram curis ineumbentibus et in tantä 
solitudine nulla prorsus ad incendium accurrente, despe- 
ratius urebar. ltaque per os meum flamma cordis 
erumpens, miserabili (sed ut quidam dixerunt) dulci 
murmure, valles coelumque complebat. Hinc illa vul- 
garia juvenilium laborum meorum cantica, quorum 
hodie pudet ac poenitet, sed eodem morbo aflectis, ut 
videmus, acceptissima.” 

Der arme Mann! — er fhämt jich jeiner Liebegliever, 
aber nicht jeiner Liebe. 

Mit frübeftem Morgen fuhren wir aus der Stadt der Päpite 
ab; unjer Weg führte drei Stunden lang durch das bejtangebaute 
Land, durch Fruchtfelder und die ſchönſten Blatanenalleen. Das 
faftige Dunkelgrün der ganzen Vegetation zeugt von der ſegen— 
bringenden Nähe der Sorgue, deren Quelle die berühmte Fon- 
taine de Bauclufe ift und die grün und freundlich allüberall 
zwiſchen Gefträud und Gehäge dem Wanderer entgegenmurmelt, 
zahlloſe Mühlen und Fabriken treibt und dur hundert Heine 
Kanäle ihren Segen verbreitet, ehe fie ſich, die jugendliche, von 
Liebesliedern großgefäugte Nymphe, in die wilde Umarmung 
des Rhodanus wirft. Sie fünnte vorher noch Manches erzählen, 
die junge Nymphe, Uraltes und Trauriges, vom Zuge des ein- 
äugigen Karthagerd, deſſen Elephanten aus ihren Fluthen ge: 
trunfen, und vom furchtbaren Saint:Ruth, der vor anderthalb 
Sahrhunderten im Namen jeines Gotte3 und- jeines Königs ihr 


Viertes Kapitel. 121 


Gewand mit protejtantiihem Blute färbte. Aber bei ihrem füßen 
Raufchen denkt man nur an die Sonette Petrarca’3. Bei l'Isle, 
ver Heinen, aber ſchön gelegenen Stadt, bogen wir von der 
Hauptitraße ab, und nad einer halben Stunde empfing ung 
das vielgefeierte Thal. 

Es öffnet ſich freundlich, aber Hein und unſcheinbar, jo daß 
es an Öroßartigkeit vielleicht von jedem Thale der böhmifchen Ge: 
birge, 3. B. vom Petſchauer Thale, übertroffen wird. Nichts 
verräth das Gemwaltige ver Feljenmafje im Hintergrunde, die ſich 
plöglid vorf&hiebt und dem Thale den Namen des „geſchloſſenen“ 
gibt. Sie ift durch kleine Hügel verdeckt; das Wafjer im Thal: 
grunde eilt Har und ruhig dahin — eine hübſche, im Lande jehr 
gewöhnliche Vegetation — einzelne Bauernhäujer von Maulbeer: 
bäumen verdedt — Alles eine alltägliche, provenzaliſche Idylle. 
Man kömmt an einem hübſchen Wafjerfall vorbei, der den Er: 
wartungen de3 Bauclufer Pilgers nicht entjpricht, und man fragt 
enttäuſcht: Fit das die berühmte Fontaine?! Zit das Vauclufe? — 
Aber der Kutjcher lächelt und ſchweigt und gibt dem Pferde lächelnd 
einen Beitichenhieb und fährt weiter. Mit einem Male ftredt ein 
ungeheurer Rieje jein Haupt über die Hügel herüber und breitet 
jein Gewand und jeine gewaltigen Arme aus nach allen Seiten — 
e3 ift der Feld von Vaucluſe — ihm zu Füßen zuſammengekauert 
liegt das Dorf, „wie die Sklavin zu des Herrn Füßen,“ aber fed 
hinauf zu ihm bliden die Schloßtrümmer, die ſich über dem Dorfe 
von einer einſam ſtehenden Spitze erheben. Das ift Baucluje ! — 
man erkennt e3 an feiner Herrlichkeit, am raufchenden Bad, der, 
plöglich wilder geworden, ſchnell und ſchäumend aus der Schlucht 
bervorfommt, und an den fleinen Häujern, die fich mit den 
Namen Laura und Betrarca jehmüden. Vor einem Gaſthaus 
diejes Schilves jtiegen wir ab. Die erite Erfahrung, die wir da 
madten, war, daß die Krebje und Forellen der Sorgue vor: 
trefflih fchmeden, und der protejtantifhe Paftor in unjerer 
Gejellihaft bemerkte, der Fluß hätte ſchon dieſer feiner Kinder 
wegen verdient, von zwei fo großen Dichtern, wie Petrarca 


122 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


und Dante (Paradifo 8. 59) bejungen zu merden. Auch ver: 
fiherte man und, viele Neifende machten nur dieſes und nicht 
des poetischen Genufje3 wegen den Abjtecher von Avignon hierher. 
Nah eingenommenem Mahle traten wir unjere Wanderung 
zur heiligen Quelle an. Die ungeheure Felswand, die gegen das 
Dorf ihre weiten Arme ausjtredt, gewährt in der That einen 
imponirenden Anblid. Die Jlufion eines Theater wird noch 
dadurd erhöht, daß fat die ganze Ausdehnung der Wand ent- 
lang Einfhnitte, regelmäßig geformte und gemwölbte Höhlen 
(lithotomi cavi), in mehreren Reihen über einander, gleich wie 
Logen binlaufen. An der Pyrämide, dem Monumente des Dich: 
ters, vorbei gelangten wir bald zu gewaltigeren, die fich dicht 
am Pfade, wie unabhängig vom Reft des Gebirges, aus dem 
Boden erheben und die Heineren Verzierungen des ganzen unge: 
beuren Gebäudes ausmachen und mit den Schloßruinen auf der 
entgegengejegten Felsfpige harmonisch zufammenpaffen. Der Pad, 
welcher an der Sorgue der Quelle entgegenführt, ift ein künſtlich 
angelegter; unter feinem Geftein riefen hundert kleinere Quellen 
bervor, deren Klingen und Murmeln mit dem gewaltigen Rauchen 
des Fluffes, in den fie ftürzen, einen fchönen Chor bildet. Das 
Mafler der Fontaine, die um Vieles höher liegt ald das Dorf, 
fommt dem Wanderer, von Abjat zu Abjag fpringend, mit ge: 
waltigem Braufen entgegen. Bald iſt das ganze geſchloſſene 
Thal davon erfüllt, und je höher man fteigt und je gewaltiger 
die Felsblöde werden, die den Fluthen den Weg verrammeln, 
defto ftärfer wird das Rauſchen, deſto prächtiger werden bie 
Waflerfälle, die unzählig über und neben einander bald als 
filberne Bogen ſich wölben, bald wie ein Wildbad fi in die 
Tiefe ftürzen, bald, in Millionen Berlen zerftäubt, in leere Luft 
ji auflöfen. Endlich ift die ganze Fluth der Sorgue, die wir 
fo hell und grün und friedlich unten im Thale gefannt haben, 
in einen einzigen fochenden, weißen Gifcht verwandelt. 
- Aber das ift nur Kindergefchrei, Kinderkrankheit, Keuch— 
buften — oder, wenn man will, Leidenſchaft und Zerrifienheit 


Vierte Kapitel, 123 


der Jugend, vielleicht etwas Affektirtheit und Draperie dabei, 
Drang in die Welt, erjte Liebe — der eigentlihe Charalter 
dieſes poetiſchen Fluſſes ift do fo, wie wir ihn unten im Thale 
fennen gelernt, wo er ftill und gemefien, in ruhigen Rhythmen 
wandelnd, Nugen bringend, auf Harem Spiegel Himmel und 
Erde mit Sternen und Blumen zeigt. Er hat's nicht geitohlen;; 
er hat's von der Mutter, die wir fennen — wenn wir des 
Pfades Ende erreicht haben. 

Eben ſo grün und ruhig, als die Wellen der Sorgue 
unten im Provencer Thale, liegt die Quelle von Vaucluſe in 
ihrem tiefen Bette, in ſchöner Einſamkeit und holder Beſchrän— 
tung da. Sie bildet einen kleinen See, der aber nur halb zu 
ſehen iſt; die andere Hälfte ruht in der Grotte, tief im Felſen, 
aus dem ſie hervorkommt. Es iſt, als wäre die Mutter aus der 
ſtillen Stube herausgetreten, um ihrem Wildfange auf ſeinen 
erſten Ausflügen liebend nachzuſehen. Ach, könnte ſie ihn unten 
im Thale, zwiſchen Wieſen unter Platanen und Olivenbäumen 
ſehen, ſie hätte ihre Freude an ihm. 

Das Waſſer der Quelle iſt noch dunkler, als das der Sorgue. 
Denn der Fels beugt ſich mit ſeinem Oberleibe weit über ſie 
und hüllt ſie in ſeine ernſten Schatten. Er kann ſich deutlich in 
ihr wiedererkennen, denn fie iſt jo klar, ſo ruhig, daß man es 
kaum begreift, wie ſie von dem Sprudeln und Wirbeln in ihrer 
nächſten Nähe nicht ergriffen wird. Kein Windhauch kräuſelt ſie, 
denn die Felſen ringsum haben ſie ſorgſam eingehegt. Kaum 
merklich bewegen ſich die Waſſerlilien, die in ihr ſchwimmen. 
Eben ſo ſtill ſtehen die Cypreſſen am jenſeitigen Ufer, wo ſie 
ſich auf der ſchmalen Terraſſe zwiſchen Fluß und Fels beſcheiden 
hingeſtellt haben. Sie ſind heller als gewöhnlich die Cypreſſen 
und klein; Einer unſerer Begleiter meinte, ſie ſähen wie grün 
verſchleierte Engländerinnen aus, die da ſitzen und die berühmte 
Fontaine de Vaucluſe in ihr Album zeichnen; ein Anderer aber 
behauptete, es ſeien beabſichtigte Traueroden, aus denen hier 
unwillkürlich kleine, zugeſpitzte Sonette geworden. 


124 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Diefe Cypreſſen, die Wafjerlilien in der Fontaine, einige 
wilde Blumen am Rande, und bie und da an den Etein ge 
Hammerte Feigenbäume ausgenommen, gibt e8 im nächiten Um: 
freije fajt gar feine Vegetation. Natürlich, die ganze Umgebung 
bejteht aus kahlem, überhängendem Kaltfelfen, an dem ſich un- 
möglih Dammerde feitjegen kann. Nur von der höchſten Höhe 
herab, wie Ssriedensfahnen von einem Walle, wehten weißblü— 
bende Manvelbäume. Wenn jie ein Wind bewegte, der unten 
im Grunde Alles ruhig ließ, bebten einige fallende Blüthen lang: 
jam in die Fontaine oder auf die Häupter der Cypreſſen nieder. 
Aber Nahtigallen gab es auch hier, denn wo fehlen in ver Bro: 
vence die Nadtigallen? — Sie faßen in den Cypreſſen und 
jangen. 

Mir hatten einen glüdlihen Tag, denn der Himmel war 
umwölkt. Eine ſolche Felsgegend, von heißer, ſüdlicher Sonne be- 
leuchtet, macht immer den Eindrud troftlofer Wüfte — aber 
umwölkt, leicht beſchattet, mit gemilderter Farbe der gelben 
Felfen haucht fie das Gefühl ſüßer, melandolifher Einjamleit. 


Den 4. Juni 1851. 

Nach Avignon zurüdgelehrt, habe ich das Grab der jchönen 
Laura, die troß ihrer „Sternenaugen,“ wie mir fcheint, eine 
gewaltige Philifterin gewejen — nicht beſucht. Einen ſolchen 
Vorrath an Gefühl habe ich auf meine Reifen nicht mitgenom: 
men, um mich am Grabe einer fünfhundertjährigen Schönen zu 
begeijtern oder zu rühren, an einem Grabe, das nicht mehr be 
ſteht, das die Revolution zerftört hat, und an deſſen Stelle ein 
jentimentaler Engländer ein abgefhmadtes Monument geſetzt 
bat. Das Leben hat mir immer mehr gegolten, als der ſchönſt 
befungene Tod, und jo juchte ih es auch hier lieber auf ald das 
Nichtgrab der ſchönen Laura. Ich hatte einen guten Eicerone 
an meinem alten Freunde Fortune Guiran,i dem jehigen 


! Seitdem j. 


Viertes Kapitel. 125 


Redakteur des Democrat de Bauclufe, den ich zufälliger Weife nad 
langen Jahren bier wieder ſah. Es ift das verfelbe Fortune 
Guiran, der im Jahre 1846 die vortrefflihen Briefe an Herrn 
v. Remufat „über die Hegel’ihe Philoſophie“ in der Revue 
Nouvelle veröffentlichte, in denen er ſich als ausgezeichneten 
Styliften und Kenner der deutſchen Philoſophie bewährt hat. 
Fortune Guiran hat lange in Deutfchland, befonders in Berlin 
gelebt und ſich mit unferer Sprade und Literatur, vorzugsweiſe 
ver philofophifhen, jo gründlich vertraut gemacht, mie wenige 
Franzoſen. Er ſcheint für unfere Philofophie von Jugend auf 
be und gejtimmt gewejen zu jein, da er ſchon im Collegium zu 
Air, feiner Heimat, ald, was man in Frankreich nennt, ein 
Atheift zu Gefängniß verurtheilt worden war. 3 ift natürlich, 
daß im frommen Süden ſolche Früchte reifen. Später, befon- 
ders unter dem Minijterium Guizot, hätte er eine glänzende 
Garriere machen können, wenn er nur ein Mann ver Eleinften 
Konzeflionen geweſen wäre. So aber lebte er in jtiller Zurüd: 
gezogenheit, allein mit feiner veutichen Bildung, ohne Protektion, 
die in Frankreich Alles ift, bis zur Februarrevolution. Nach 
Ausbruch derjelben begriff er ſchnell ihre Unfruchtbarkeit, wenn 
fie nicht von den Provinzen unterftügt würde. Er eilte in ven 
ihm bejonder3 befannten Süden, übernahm, mit Selbitver: 
leugnung, die Redaktion eines kleinen, demokratiſchen Lokal: 
blattes zu Avignon und begnügte ſich mit der ſchweren Aufgabe, 
die fo ſehr zurüdgebliebene, verpfaffte Bevölkerung über ihre 
Intereſſen aufzullären. Seine Bemühungen haben Früchte ge: 
tragen. Das ehemals durch und durch legitimiftiiche Avignon 
ift heute wenigftens zu einem Drittheil zum demokratischen 
Prinzipe befehrt;; die neuen Demokraten ſuchen ihre blutige, fana— 
tiſche Vergangenheit aus der Zeit des Legitimisnus vergefien 
zu machen, halten in ihrer Minderheit brüderlich zufammen und 
geben der Gegenpartei ein imponirendes Beifpiel. Sie werden 
darin von einem großen Theile der Landbevölkerung des Departe: 
ments de Bauclufe gewifjenhaft unterftüst. Das Wirken Guirans 


126 Tagebud; aus Languedoc und Provence. 
v 


wiederhallte bald in der Pariſer Journaliſtik, welche die der 
Provinz fonft fo unflug verachtet, und er iſt heute der Mann, 
den die demokratiſche Partei auf ihre Wahllifte ftellen wird, wenn 
Louis Napoleon nit allen demofratifhen Mabhlliften ein Ende 
mad. | 

Wenn ih an feiner Seite die Stadt durchwanderte, war e3 
mir leicht, die Parteileidenſchaften und die Barteien ſelbſt genau 
fennen und unterjcheiven zu lernen. Die Einen grüßten mit 
freundlichem Lächeln, während uns die Andern Blide tiefen 
Haſſes zumarfen. Als ich mit ihm in den demofratijchen Gercle 
ttat, wurde er mit Freudenzurufen empfangen, und ich jelbit, 
da er mich al3 Flüchtling und Robert Blums Reifegefährten 
nah Wien vorftellte, mit großer Verehrung behandelt. Es ift 
unglaublich, wie populär ver Name Blums überall in Frant: 
reich ift, wielleicht jo populär, wie noch nie der Name eines 
fremden Freiheitsmenſchen geweſen, Franklin etwa ausgenommen. 
Ein alter, langbärtiger Demagog vom Lande bot mir ald Bundes» 
zeihen feinen Thymian an, den er im Knopflohe trug. Der 
Thymian, bier eine Bergpflanze, ift ein Symbol der Freiheit, 
das Erfennungzzeihen der Montagnarde. Auf einem Sonntags: 
ipaziergange bemerkte ich noch viele Männer und Weiber, die 
Thymianfträußchen auf der Bruft oder im Munde trugen. Die 
Legitimiften hingegen hatten weiße Halstücher oder trugen an 
Kleidern und Hüten die grüne Farbe als Crinnerung an die 
Verdetz, die Anhänger des Grafen von Artois, jpätern Karl X. 
Sie waren überall in der Mehrheit, und an Herausforderungen 
oder Heinen Verhöhnungen fehlte e8 bie und da auch nicht. 
Wenn es einft zu einer Entſcheidung fommt, wird Avignon 
feinen alten Ruf der Wildheit und Grauſamkeit ſchwerlich Lügen 
itrafen. Das Herz blutet Einem in Vorahnungen, wenn man 
dieſe leidenfchaftlichen, unverſöhnlichen Gefichtszüge, Diejen heraus: 
fordernden Gang, diefe rache- und fampfjüchtigen Augen be 
trachtet. Keine Stadt de3 Südens trägt den Charakter unüber: 
legter, blinder Leidenschaftlichkeit jo ausgeprägt auf ihrem Ge: 


Piertes Kapitel. 127 


fihte, wie Avignon. Ohne eine Waffe zu jehen, glaubt man 
an heimliche Dolche, und wähnt man in einer italienifchen, von 
Parteien zerriffenen Stadt des Mittelalters zu fein. Als wir 
über die belebte Place de la Comedie wanderten, fragte mic 
Fortuné Guiran, warum ich den Vers citire: 


Der Tag wird heiß — die Capulets find draußen? 


Ich hatte ihn unwillfürlich ausgeſprochen. 

Mein Begleiter zeigte mir unter andern und mit Lächeln das 
vergitterte, Fenſter einer Zelle im Bapjtpalafte, in melcder er 
Schon mehreremal wegen Preßvergehen gebrummt hatte, Der Bapft: 
palaft jegt aljo auch heute noch jeine Beitimmung fort. Es gibt 
Gebäude, an denen ein ewiger Fluch zu hängen jcheint ; doch möchte 
ih fie nicht vernichtet jehen. Manches dieſer Häufer fpricht 
lauter und befjer als hundert Bücher. So ein Papſtpalaſt zu 
Avignon z. B. widerlegt alle Boſſuets und de Maiftres der Welt 
— troß ihrer Beredjamleit, troß ihrer liberalen Heuchelei. 

Im innerften Innern joll Avignon die romantifchefte, Victor 
Hugo'ſcheſte Stadt der Welt jein. Nirgends joll es jo viele ge 
heime Thüren, Fallthüren, verborgene Gänge, Gemächer ꝛc. 
geben, wie hier. Das rührt, wie man mir jagt, daher, daß die 
meiften jegigen Privathäujer ehemalige Klöjter oder Prälaten: 
paläjte gewejen, die unter einander zujammenhingen und der: 
gleihen Künſte nöthig hatten, In einem Keller befindet ſich ein 
eingemauerter Stein mit der Inſchrift: Weh' Dem, der mic 
hebt! — Hinter diejem Stein will man ein fonderbares Raufchen 
vernehmen, und die Leute jagen, e3 fließe ein unterirdifcher 
Rhonearm an ihm vorbei, ver ſich hervorjtürzen und Avignon 
in feinen Zluthen begraben würde, wenn man den Stein auf: 
bübe. Alii alia. — Vor vielen Jahren joll ein zum Tode ver: 
urtbeilter Verbrecher auf unbegreiflihe Weiſe aus feinem Ge: 
fängnifje im päpftlihen Palaſte entflohen jein. Nach einiger 
Zeit wieder eingebradht, verſprach er, die Stadt mit einem höchſt 
wichtigen Geheimniſſe, das er entdedt, befannt zu machen, wenn 


128 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


man ihm dafür das Leben ſchenke. Man begnadigte ihn zu 
lebenzlängliher Haft, und er erzählte von einem geheimen 
Gange, der ihn aus dem Palafte unterhalb der Rhone hinüber in 
die Nähe von Fort St. André geführt habe. Diefe Gefchichte 
erinnert an eine andere, die fih an ein Kruzifir, jegt im Beſitze 
der Stadt, fnüpft. Diefes höchſt koſtbare Kunftwerf aus Elfen: 
bein wurde von einem Noignoner Künftler gefertigt und der 
Kirche als Löfegeld für das Leben feines Bruders angeboten, 
der ebenfall® zum Tode verurtheilt worden war. Aber ver 
Bruder des Künſtlers war nicht wie jener Andere ein gemeiner 
Verbrecher geweſen, jondern ein politifcher, der fich in eine Ver: 
ſchwörung gegen das Mönchsregiment eingelafien hatte. Und fo 
wurde er nicht begnadigt, fondern hingerichtet, trotzdem daß 
brüberliche Liebe, herrlihe Kunft und ver Salvator mundi 
jelbft für ihn eingetreten waren. 

Das find fo Avignoner Geſchichten, die, wie Alles in Avig: 
non, mehr oder minder nah Mittelalter riehen. Die franzöft: 
ſchen Romantiker, die fo fehr nah dem Schauerlihen und Ab: 
fonderlihen fuchen, fennen die Geſchichte ihres eignen Landes 
nicht, ſonſt würden fie diefe Stadt al8 unerſchöpfliche Fundgrube 
ausbeuten. 

Trotz der jchauerlihen Vergangenheit und der trüben Zu: 
funft, deren Ahnung Einem bier mit trauriger Gewißheit auf 
dem Herzen laftet, verläßt man Moignon doch nur ungerne. 
Der Reifende freut fih, wo er Fremdartiges findet, und vom 
Schauerlichen trennt ſich Jeder mit einem gewiſſen geheimniß- 
vollen Bedauern. Ich gehe in das heitere Tarascon; auf dem 
Wege werde ich die Durance begrüßen, einen meiner lieben, 
poetijhen Flüffe, ſeit ich feinen Namen zum erſten Male in 
Lenau's Klara Hebert kennen gelernt. 


Fünftes Kapitel. 


Taradcon — Das Schloß ded guten Königs Nend — Politiſche Gefangene — 

Die heilige Martha — Einige alte Maler — Die Taradque — Die Ketten— 

brüde — Beaucaire — Der Markt von Beaucaire — Ein beffifhes Mädchen — 
Einft und jest. 


Ten 6. Juni 1851. 

Mer hat nicht die Erfahrung gemacht? Man kommt zum 
erften Mal im Leben in eine der abenteuerlichiten, phantaftifcheiten 
Gegenden, wie fie jich felten oder nie wiederholt, und doch fcheint 
Einem Alles fo bekannt, al3 hätte man fie wenigitens im Mond: 
‘heine, mit der Eilpoft vorüberfahrend, ſchon ein:, zwei-, drei: 
mal geſehen. Aber das Phantaſtiſche ift ung eben vertrauter, 
al3 das Gemwöhnlihe; an dieſem gehen wir unbewegt vorbei, 
und fein Schatten der Erinnerung bleibt zurüd; an jenem bauen 
wir emfig in unjeren fchönften ungejtörteften Stunden; mir 
Ipinnen ung ein darin, wir machen e3 zu unferer Refidenz ; was 
Wunder, daß, wenn es und dann im Leben begegnet, wir es 
wie unjere liebe Heimat, jogar ohne Extaſe, nur mit freund: 
Ihaftlihem Zuwinken begrüßen ? — So war es mir in Tarascon 
auf der Rhonebrüde. Wer weiß, vielleiht habe ich dieſe ſchöne 
Melt geträumt, ala ich, vor einem Claude Lorrain ftehend, ein 
großer Maler zu jein wünfchte. 

Es iſt ein bezaubernder Punkt. Die beiden Schlöjler von 
Zarascon und Beaucaire liegen, durch die Rhone getrennt, ein: 
ander gegenüber wie ein Löwe und ein Leopard, die ſich mit den 
Augen meſſen, bevor fie zum Kampfe anfpringen — oder, um mit 

Morig Hartmann, Werke. IM. 0 


130 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Byron zu jagen, „wenn Euch diejes Bild nicht gefällt, da habt 
ihr ein anderes”: Das Schloß von Tarascon fteht da am Rande 
des Waſſerſpiegels, wie ein melandolifher König von Thule, 
der feinen Becher ſinken ſieht; er hat zu diefer traurigen Scene 
jeinen weiten Talar mit goldenen Sternen umgethan und die 
alte zadige Krone aufgejegt — jo ſteht er da, fih im Wafler 
befpiegelnd, bevor ihm die Augen finfen. Gegenüber aber, ver 
Thurm von Beaucaire gleicht einem Edelknecht, der eben das Ge— 
birge jagend durchlaufen und jo, mit der Lanze in der Hand, 
das Hüfthorn an der Seite, auf der legten Spite der Berge 
Halt macht; er jtaunt über den großen, berrlihen Fluß, über 
das Königsjhloß am andern Ufer, und er ſchwingt jauchzend 
das Barett. Um aber aus den Gleichniſſen herauszufommen : 
Tarascon ift ein hübjches Städtchen, das aber durch fein Schloß, 
durch den breiten und ftürmenden Rhonefluß, durch die Fühne 
Kettenbrüde, durch den neuen, wahrhaft römijchen Viadukt der 
Gijenbahn, durch die Nachbarſchaft von Beaucaire und durch die 
ihönen Mädchen, die Schweitern der Arleſiſchen Griehinnen, zu 
einem der herrlichiten Fleden des Südens wird. Zuerſt befucht 
man jened Schloß, die ehemalige Reſidenz des guten Königs 
Rene, des Dichters und Malers. Man ftaunt, warum felbft ein 
jo „guter König,“ wie Renatus, es nothmendig befunden, fi 
jo gewaltig zu befejtigen und ſich hinter fo dien Feftungsmauern 
zu verfriehen. Das Schloß jteht unmittelbar an der Rhone, auf 
einem Felfen, an deſſen Fuße die Wogen branden; auf den 
andern Seiten ijt es von einem nunmehr trodenen Graben um: 
geben, über den eine Brüde zu dem Riejenthore führt. So hat 
e3 eine gewiſſe Nehnlichkeit mit Chillen, obwohl der Styl ein 
ganz verjchiedener if. Man könnte ihn mit einiger Licenz 
florentiniih nennen. Die ungeheuer hohen Mauern würden 
kahl ausfehen und tobt, wenn nicht die ſchönen Krümmungen 
der Thürme und der Goldglanz, der auf den Steinen liegt, fie 
belebten. Bei Sonnenuntergang fieht die Veſte wie ein goldener 
Palaft aus. Das ganz platte Dad ift von einer Baluftrave 


Fünftes Kapitel. 131 


befränzt, die won jehr zierlihen Machiculis getragen wird und 
das Bild einer großen, mit vieler Kunft gearbeiteten Goldkrone 
darbietet. 

Mit dem erſten Schritt in das Innere verändert ſich das 
Bild plötzlich. An die Stelle der Einfachheit tritt die reichſte und 
geſchmackvollſte Gothik. Portale, Thürme, Niſchen, Fenſter und 
Frieſe — Alles mit einer Sorgfalt gearbeitet, als wäre es von 
einem Goldſchmiede ciſelirt, und um die Illuſion zu erhöhen, iſt 
auch hier das Material, wie außen, von einem getränkten Gold— 
glanze bedeckt, als wäre die Sonne des Südens daran hängen 
geblieben. Und mit einer Verſchwendung ſind die Zieraten an— 
gebracht, als handelte es ſich nicht um ein gewaltiges Schloß, 
ſondern um einen Juwelenkaſten, um einen Kronenſchrein oder 
ein Tabernakel. 

So wohl ließ es ſich der gute König Renatus im Innern 
werden, während er nach Außen das ernſte Geſicht eines ge— 
harniſchten Ritters zeigte. Den ſchönſten Theil des Schloſſes 
bildet der zweite Hof, an deſſen einer Seite eine kühle ſchattige 
Halle hinläuft, und in deſſen Winkel Treppenthürmchen, ſchlank 
wie Tannenſchafte, die ganze Höhe des Baues hinan wachſen. 
Durch eines derſelben ſtiegen wir in die Höhe. Weite pracht— 
volle Säle, die durch Gänge und Galerien und Seitentreppen 
mit einander verbunden ſind, thaten ſich überall auf. — Die 
Bänke in den tiefen Niſchen, die ſchönen Kamine zeugten von 
ihrer Wohnlichkeit; die noch hie und da vergoldeten Decken, 
welche in Holz geſchnitzte, in tiefen viereckigen Feldern farben— 
glühende Wappen und Bilder tragen, von der Pracht dieſer 
königlichen Säle. Das Licht, das nur ſpärlich durch die ſchmalen 
Fenster oder vielmehr Nigen einfällt, gewährt eine romantifche 
Dämmerung, die dem träumerifchen König behagt haben mag. 
Auf dem platten Dache konnten wohl Hunderte von Edelfräulein 
und Herren in provenzalifhen Nächten berumfpazieren und fich 
von René's Minnehof unterhalten. 

Diekmal trafen wir nur zwei arme Mädchen, die bier 


132 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


gefangen gehalten werden, denn de3 guten Königs Schloß ift jegt 
ein Gefängniß. Die Mädchen waren zu jehswöchentlicher Haft 
verurtheilt, weil fie gegen ein altes Klatſchweib ihre Ehre thät- 
lich vertheidigt hatten. Als wir auf die Terrafje traten, ver: 
jtedten die armen Dinger ihre Geſichter. Auch in dem ſchönen 
Hofe mit der Halle trafen wir ungefähr zwölf bis fünfzehn Ge: 
fangene, diefe männlichen Geſchlechtes; politifche und gemeine 
Verbrecher bunt unter einander. Doc fonnte man fie leicht von 
einander untericheiden. Die Einen mit der platten Stirne ſahen 
dumm darein und verthiert, oder auch frech ; Andere, der Schande 
noch ungewohnt, verjtedten fich bei unjerem Herannahen hinter 
den Pfeilern. Das waren die Diebe; daß wir uns nicht täufchten, 
beftätigte ung der Gefängnißmwärter von der Höhe eines Thurmes 
aus, wo wir fie ungejehen beobachten fonnten. Die politijchen 
Verbrecher, meift jehr anftändig gelleivete, junge Leute, ſahen 
uns mit freiem, offenem Blide an und erwiederten den Gruß 
mit Freundlichkeit. Das Schidjal der meijten won diefen konnte 
man aus verjchiedenen Inſchriften an den Mauern erfehen. Da 
ftand einmal: Condamne & six mois de prison pour avoir 
eri&: Vive Henri V. — auf einer andern Mauer: à quatre 
mois, pour le cri seditieux: Vive la Republique — dans 
lan III. de la République — in einem Winfel: dix huit 
mois de prison pour avoir sauv& la ville natale d’une 
&meute sanglante. Bei allen dieſen Infchriften waren die 
Namen beigegeben, und der Gefängnißmwärter beftätigte brummend 
und mit Widerwillen ihre Wahrhaftigkeit. — Erzählen dieſe drei 
Inſchriften nicht die ganze Geſchichte, ſchildern fie nicht ausführ: 
lich die ganze Lage des heutigen Frankreichs? — Man darf nicht 
Heinrich V. leben laffen, aber der Ruf: es lebe die Republik! 
wird ebenfall3 als Aufruhrsſchrei verurtheilt, während ein Dritter 
im Gefängniß figt, weil er einen vielleicht den Regierungsmännern 
ſehr willlommenen Aufruhr verhindert. 

Wir durften die Gefangenen nicht anreden, aber der Ge: 
fangenmwärter fonnte ung nicht hindern, einigen von ihnen die 


Fünftes Kapitel. 133 


Hand zu reihen. Ob es Legitimiften oder Republikaner waren, 
wiſſen wir nicht. 

Ganz nahe am Schloſſe des Königs Renatus liegt die Kirche, 
die in mehr al3 einer Beziehung bemerfenswerth ift. Sie ift der 
heiligen Martha geweiht und enthält das Grab dieſer Heiligen, 
welche, wie die Legende erzählt, auf einem Eleinen Kahne ohne 
Steuer, Ruder und Segel, allein von einem heiligen Winde ge: 
trieben, aus dem gelobten Lande in diefes fromme gefommen 
ift, um die Heiden zu befehren, was ihr auch glücklich gelungen 
ift. Aehnliches erzählt vie Legende von den beiden Marien, von 
Lazarus und anderen Heiligen, die dem Heilande beſonders nahe 
ftanden. Die heilige Martha hat außer ver Belehrung nod eine 
Helventhat vollbradht, indem fie die Tarasque, die das Land 
verheerte, erlegt hat. Das Bildniß diejes ſcheußlichen Draden, 
aus Holz gebaut, wird den neugierigen Neifenden für zwei Sous 
noch heute gezeigt. Es foll jehr getroffen fein. Wer aber jo 
glüdlich ift, am Tage der heiligen Martha in Tarascon zu fein, 
fieht es, wie es von einer großen Prozeflion durch die Gaſſen 
gezerrt wird. Cine Jungfrau, aber eine reine, führt ed am 
blauen Bande. Die aufgellärten Einwohner von Tarascon aber 
verfihern den Fremden, fie glaubten nicht an die Tarasque, ſon⸗ 
dern fie jähen bloß ein Sinnbild des Heidenthums darin, welches 
die heilige Martha bezwungen bat. 

Das Schiff der Kirche ift förmlich bedeckt von Bildern, welche 
den Lebenslauf und den Tod diefer Heiligen zum Gegenſtand 
haben. Sie jtammen von dem Meifter Bien, einem der vorzüg: 
lichſten Maler Frankreihs im vorigen Jahrhundert und Lehrer 
des berühmteren David. Den Zopf ihrer Zeit, der auc ihnen 
anhängt, abgerechnet, find fie in der That auch durchgängig zu 
loben und dem Beiten beizuzählen, was ihre Epoche hervor: 
gebradht hat. Was Grazie, Farbe und feine Effekte betrifft, ſteht 
Vien hoch über feinem theatralifhen Schüler. Er ijt freier, 
natürlicher und durchgängig dramatiſch; beſonders zeichnen ſich 
unter allen dieſen Bildern die „Predigt der heiligen Martha“ 


134 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


und ihr „Tod“ durch dieſe Vorzüge aus. Cinige Bilder von 
Parrocel, dem Vorgänger Vien’3, übertreffen diefe an Urfprüng- - 
lichkeit und natürlicher Kraft; es ift noch nicht die Geziertheit da, 
welche die Periode Viens und felbft fchon Parrocels verrufen 
madte. Aber Vien und Parrocel mit all ihren großen Bilvern, 
mit all ihren unbejtreitbaren Vorzügen werden von einem Kleinen 
Bilde verbunfelt, das ſich in einer Seitenfapelle der St. Martha: 
firche befindet. Es ift das ein kleines Meifterftüd won Vanloo: 
der Tod des heiligen Franziskus. Auf einem Bette von Binjen 
liegt der fterbende Klausner. Um ihm die Agonie zu erleichtern, 
deutet ein gütiger Engel, der fich zu ihm hbinabbeugt, mit der 
linfen Hand nad dem Kreuze, welches ein anderer Kleiner Engel 
emporrichtet. Die Auffaffung des Gegenjtandes ift fo großartig 
in feiner Einfachheit, als ftammte das Bild aus der vorraphaeli- 
ſchen Epoche und nicht aus Diderots Zeit, und fo überwältigend, 
daß es diefen feinen encyklopädiftifchen Zeitgenoſſen begeijtert hat. 
Da ift Alles fo wahr und ſchön, jo gar nicht verheiligt und ver: 
fatholifirt, das Geficht des agonifirenden Eremiten ſowohl als ver 
Engel, der eben fo gut des Nachbars Tochter fein fan, die herbei: 
geeilt ift, um einem armen Sterbenden die Hand unter Haupt zu 
legen und ihn mit frommen Worten zu tröften. Gewöhnlich vergißt 
man bei diefem Meijterftüde dieſe einfache Erhabenheit der Kon: 
zeption über ein großes Kunftjtüd, welches der Maler hier aus: 
geführt hat. Ich meine die in der That wunderbare Verkürzung 
des Engelsangefihts. Trotzdem fi der gute Himmel3bote aus 
der Mitte des Bildes heraus in grader Richtung gegen den Be: 
jhauer auf den Sterbenvden tief hinabbeugt, jieht man doch das 
Heinfte Detail des ganzen Gefichtes aufs Deutlichſte, ohne daß es 
im ©eringften an Schönheit verlöre. Es iſt ein Meifterftüd der 
Zeichnung und Mobdellirung. 

In einer unterirdifchen Kapelle befindet ſich das Grab der 
Heiligen und ihr liegendes Bildniß in Stein gehauen. Ich habe 
fie an einem Sonntage gefehen ; da hielt fie eine zinnerne Schale 
in der Hand, um, fo zu fagen, eigenhändig die Gaben ber 


Fünftes Kapitel. 135 


Frommen in Empfang zu nehmen. Dafür war der Bortier an 
ver Kirhe auf das Prachtvollſte gelleivet, Muſik und Eänger 
aber herzlich ſchlecht. Das öftlihe Portal der Kirche und eine 
Reihe von Säulen darüber find Eoftbare, unvergleichlich ſchöne 
Nefte romanischen Styles und gehören mit zum Schönften, wa? 
das füdlihe Frankreich an ſolchen Reſten aufzumweifen hat. Die 
Bierlichkeit der Säulen, die anjpruchloje Kühnbeit der Wölbung 
können aud) Den, der diejen Styl feiner oft aszetiſchen Knochen: 
baftigfeit und feiner häßlichen Beigaben wegen nicht liebt, mit 
ihm verjöhnen. 

Noch ſchöner aber find die mweiblichen Geftalten, die nad 
ver Mefje aus diefem Portale treten. Sie find, wie ich ſchon 
gejagt, nahe Verwandte der Arlejerinnen, und ich behalte mir 
die Beſchreibung diefer Legtern auf jpäter wor, bis mir felbit 
nad Arles, dem Urfige der Schönheit, fommen. 

Gegenüber von Tarascon, nur durh die Rhone getrennt 
und durch eine luftige Kettenbrüde verbunden, liegt das roman: 
tiſche Beaucaire mit feinem ruinirten Schlofje. Ich nenne vie 
Kettenbrüde „Iuftig” — „ſtürmiſch“ wäre ein befleres Epitheton. 

Denn eben jo gewaltig, wie die Rhone unter ihr, braujt ein 
ewiger Sturmwind durch ihre Eifenftangen. Sie bebt und zittert 
ewig und wiegt ſich hin und her, wie ein leichtes Seidenband 
im Winde. Der Wanderer halte ſich feſt und made fich fo ſchwer 
und gewictig, als möglih, wenn er über dieſen unbeimlichen 
Steg wandelt, fonft hebt ihn der Sturm in die Höhe und taucht 
ihn dann in die nichtS weniger als janften Wogen des Rhodanus. 
So wenigitens hat er e3 vor einer Zeit mit einem jchwerbelajteten 
Magen, mit Pferden und Fuhrmann gemacht. Bei diejer Ge: 
fegenbeit zerriß er auch all die eifernen Bande, ald wären fie 
Spinngewebe. 

Das Beaucaire von heute ift ein trauriger, öder, armer 
Sleden, den man nur noch feiner Schloßruinen wegen bejudt. 
Sie find der Neft jener uralten Vefte, vor deren Mauern der 
ungeheure Albigenferkrieg mit einer hartnädigen Belagerung des 


136 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Sohnes Raimonds von Toulouje begonnen. Sie flößen Einem 
noch beute mit ihrem gewaltigen Donjon, mit ihren Felſen— 
mauern und den unzugänglichen Steinbrüden ganz bejondern 
Reſpekt ein. Ich aber hielt mich doch lieber unten im Städtchen 
auf, denn e3 war juft Marktzeit, und da gehört Beaucaire zu den 
intereflantejten Fleden des Südens. Die jonftige Dede und 
Traurigkeit weicht vem Lärm, der Gejchäftigkeit der bunteften 
Bevölkerung. In allen Gafien und Gäßchen reihen fich reiche 
MWaarenlager aneinander, und auf dem großen, baumbepflanzten 
Plage längs der Rhone erhebt jih ein Bazar neben dem an 
dern. Die bunteften Trachten geben der Meſſe von Beaucaire, 
dem Leipzig des Südens, das Ausſehen eines orientalischen 
Marktes. Auch fehlt ver Türke nicht, der gravitätiih auf- und 
niederwandelnd feine orientaliichen Düfte und Ballame anbietet 
oder, im Schatten einer Platane fitend, Ambrapfeifen und 
Tſchibuls verkauft. In einem Zelte fingt ein brauner Araber 
das Lob feines Honigkuchens, den er von den Küften Afrika's 
berübergebradt, und lodt den meißen Burnus an, der ein 
Stück nah dem andern verzehrend Allah preijt und der Dattel: 
wälder jeiner Heimat gedenkt. Durch das Gebränge, behend 
wie Schlangen, jhlüpfen ſpaniſche Zigeunermäpchen, mit Augen, 
ſchwärzer als die des Araber, und halten die ſchönen Arleferinnen 
auf, um ihnen eine ſchöne Zukunft zu prophezeien. Sonderbar 
und melandolifch genug nimmt fich unter diefen glühenven, ero- 
tiſchen Pflanzen das heſſiſche Mädchen aus, das, in jeinem kurzen 
Röckchen mit dem ſchwarzen Sammtläpphen an einen Baum 
gelehnt, deutſche Volkslieder, das halbe Wunderhorn, berabfingt. 
Mid und den Profeffor an meiner Seite ausgenommen, ver: 
jteht fie vielleicht feine Seele unter all ven Tauſenden, aber die 
melandolifhen Töne rühren, und fie hat einen guten Markt. 
Wie jubelt fie auf, da ich fie deuffch anrede und ihr fage, daß 
ich aud „bei Frankfort, wo fie zu Haufe ift,“ befannt bin; da ich 
fie aber frage, wie fie hieher gefommen, weiß fie mir nicht zu 
antworten. Sie ift fo nad und nad von ihrem Schidfal „von 


Fünftes Kapitel. 137 


Frankfort“ immer weiter geihoben, von ihren Liedern immer 
weiter getragen worden, bis ſie, ohne Ueberraſchung, hier unter 
Burnufie, Arleferinnen, ſpaniſche Zigeunerinnen gerathen. Wo: 
hin wird das vierzehnjährige Kind noch gerathen, wohin noch 
getragen werden? — 

Die Bazard und Zelte find eben jo viele Schakfammern der 
fojtbarften Gold: und Silbergeräthe, der’ edelſten Stoffe aus 
Drient und Dceident. Troß diefem Reichthum ift der Markt von 
Beaucaire doch faum mehr ein Schatten von dem, was er im 
Mittelalter gewejen. Da fteuerten genuefifche und venetianijche 
Schiffe die Nhone herauf und braten ihre morgenländijchen 
Schätze mit, um jie an die reihen Seigneurs des füdlichen Frank: 
reih8 oder an die Kaufherren des goldenen Burgund zu ver: 
faufen, oder fie gegen die Erzeugniffe der Eugen Flamänder 
von Brügge und Gent, die ihnen hierher entgegen famen, aus: 
zutaujchen. Mailand fchidte feine Juweliere und Goldſchmiede, 
Toledo feine Schwertfeger, und zulegt auch Portugal jeine Ge: 
würzjchiffe, die es auf den Küften Afrika's und Oſtindiens be— 
laden hatte Selbft das fabelhafte Tripolis lief unter friedlicher 
Flagge in viejelben Gewäſſer ein, die es in anderer Zeit nur 
unter der rothen Korjarenflagge befahren. In ver Veſte Trin: 
quetaille an der Rhone wachten indefjen bewaffnete Schaaren, 
um das jchäßereiche Beaucaire vor tunififhen und algierijchen 
Beſuchen zu jhügen. Auf dem Schloſſe ging es bei jolchen Ge: 
legenheiten luftig her. Die Grafen von Touloufe waren fo frei: 
gebig und gaftfrei. Dichter, Ritter, Künftler und große Kauf- 
herren fanden da oben freundlihe Aufnahme, und Gefang und 
Ritterfpiele ergögten die Gäfte. 

Mit all diefer Pracht iſt es heute aus. Keine genuefischen, 
venetianifchen, portugiefifhen Schiffe fteuern mehr die Rhone 
aufwärts. Bon Avignon herab fliegt das Dampfſchiff und bringt 
nur Öäfte aus der Nachbarſchaft, von Arles trägt die Eifenbahn 
ſchöne Mädchen herüber, die fich wollen bewundern lafjen. Und 
wenn der Markt nad) vierzehn Tagen verſchwunden, ift es wieder 


138 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


öde in Beaucaire. Die Fremden eilen auf vem Omnibus vorbei, 
um auf den Bahnhof und von da fo fchnell als möglih nad 
Nimes oder Montpellier zu fommen. Hätte es nicht die Schiffer 
des großen Kanals und die vierzehntägige Meſſe, die ihm einigen 
Miethzins für Wohnungen und Magazine abwirft, Beaucaire 
wäre der armfeligite Fleden des ſüdlichen Frankreichs. 


| Sechstes Kapitel. 


St. Remy — Antiquariide Betrahtungen — Gränzen des Griehentbums 

von Marfeile — Römifhe Monumente — Mad. Lafarge — Die Alpinen — 

Ein einfamer Schäfer — Die Monolitbftant — Die Herren von Baur — 
Geſchichte der Waldenſer in Franfreid. 


Den 26. Juli 1851. 

Einige Stunden mwejtlid von Tarascon, am Fuße der fterilen 
Alpinen, liegt St. Remy. Die römifhen Monumente allein 
hätten mich nicht hierher und von der großen Straße abziehen 
können, hätte ich nicht weiter in das Gebirge wandern wollen, 
um auf feinem öjtlihen Abhange die wunderbare Stadt Les 
Baur zu fehen, von der man mir fo viel erzählt hatte. Ich be: 
reue den Fleinen Ummeg nit. St. Remy, da3 nette Städtchen, 
bat nicht nur römiſche Monumente, e3 befitt überall, wohin 
man fieht, lebende, jprechenve, lachende Erinnerungen an die 
höheren Griehen. ch begreife die Archäologen und Hiſtoriker 
nit, daß fie die Spuren alter Völferwanderungen nur nad 
todten Mark: oder Leichenfteinen verfolgen und nicht Cinmal 
das Auge aufihlagen, um in ein Menfchenantlig zu jehen, das 
ihnen vielleiht mehr jagen kann, als alle Chroniken und In— 
schriften. Nachdem ich ven Mädchen von St. Remy ins Geſicht 
gejehen, behaupte ich fed vor jedem Archäologen und SHiftorifer, 
ohne nur eine Münze, eine Infchrift, ein Manuffript geprüft zu 
haben: bis hierher dehnten ſich nordwärts die Kolonien der 
tapferen und ſchönen Phozeer aus Marfeille! Es ift derjelbe 
vollendete Typus, diefelbe gerade, edle Nafe, verjelbe janft- 
gebogne Naden der griehifhen Statuen, diejelbe ariſtokratiſche 


140 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Hand, diejelben feinen Knöcel über einem jchönen, ſchmal ge: 
dehnten Fuß — e3 iſt diefelbe Schönheit, die wir in Arles be: 
wundern, die ung über Tarascon begleitet und ung in St. Remy 
„Lebewohl“ lächelt, wenn wir uns in dem unmwirthbaren Gebirge 
verlieren, an deſſen Fuße St. Remy liegt, und das wie eine 
Gränze iſt zwifchen Barbarei und holdem Griechenthum. Auch 
ven jchönen Kopfput aus Arles, der an die phrygiiche Mütze er: 
innert, finden wir bier wieder. Ya, die Mädchen von St. Remy 
wiſſen ihn noch ſchöner und mit mehr Grazie und Mannigfaltig- 
feit zu binden, wie fie überhaupt im Rufe einer raffinirten Kotet- 
terie ftehen. Wenn man die Zartheit ihres Gefichtes, die Fein: 
beit ihrer Hände betrachtet, glaubt man gerne, was von diefen 
Bäuerinnen erzählt wird, daß fie nur mit verjchleiertem Gefichte 
und mit Handfchuhen auf dem Felde arbeiten. Daß dieß von 
ven rauheren Männern geduldet, ja geliebt wird, zeigt vielleicht 
auch deutlicher al3 die Münzenerklärung des Marquis de la Goy, 
daß die Bewohner Yon St. Remy Hellenen ind. 

Das Städchen fieht mit feinen wohnlichen Häufern, feiner 
prachtvollen Vegetation, feinen fprudelnden Waſſern, feinen 
vielen Café's fo freundlich aus, daß man Mühe hat, fi zu 
überreden, man babe das uralte Glanum vor jih. Erſt eine 
itarfe Viertelftunde hinter den Häufern reden die zwei berühmten 
Monumente deutlich und überzeugend von feinem hohen Alter: 
thbum. Sie gehören wohl zu den interejlanteften und fchönften 
Antiten des ſüdlichen Frankreichs und beftehen aus einem 
TIriumphbogen und einem Maufoleum. 

Der Triumphbogen jteht auf einem maſſigen Unterbau, von 
welchem aus er fih, in den Haupttheilen trefflich erhalten, mit 
jeinem Portikus zu einer bedeutenden Höhe erhebt. Nur der 
oberjte Theil des Ganzen, der auf die Wölbung drüdte, ift 
gänzlich ruinirt, faſt bis hinab zu der herrlichen Guirlande, die, 
aus Tannzapfen, Weintrauben, Dlivenzweigen beitehend, auf 
beiden Seiten anmuthig und in ihren kleinſten Theilen vollendet 
die Thore befränzt. Vier Bilafter vorifher Ordnung erheben fi) 


Sechstes Kapitel. 14] 


vom Sodel in den vier inneren Eden und tragen die meiten, 
von Roſen geihmüdten Archivolte. Beide Hauptjeiten des Ge- 
bäudes find recht? und linf3 von diefer mit je zwei, aljo im 
Ganzen mit acht Säulen geihmüdt, die ungefähr auf halber 
Höhe der innern Pilaſter beginnen und ſich mit ihren Kapitälen 
faft um die halbe Länge über dieje erheben. Sie find fannelirt 
und korinthifcher Ordnung. Da von jevem Gäulenpaar die eine 
am äußerjten Ede des ganzen Gebäudes, die andere in der Näbe 
der Archivolte angebracht ift, jo entjtehen zwiſchen ihnen auf 
jever Hauptfeite zwei Zwifchenfelver oder flache Niſchen, die von 
mehr und minder verftümmelten Basrelief? ausgefüllt find. — 
Jedes Basrelief ftellt einen gefejlelten Mann an der Seite eines 
gefefielten Weibes vor — die wohl unterworfene Provinzen be: 
deuten jollen, da der Schnitt ihrer Kleidung auf barbarijche 
Völkerſchaften ſchließen läßt. Von all diefen acht Figuren haben 
nur zwei ihre Köpfe. Die weiblichen der einen Seite jcheinen 
nicht jo wie die der andern gefefjelt zu fein. Die eine derjelben 
bat Schilde, Kriegstrommeten, Fasces und allerlei Waffen zu 
ihren Füßen und figt graziös, zugleich gebieterifh da, während 
der gewaltige Mann an ihrer Seite an einen Baum gebunden 
ift. — Alle diefe Figuren lehnen mit dem Rüden an dem Hinter: 
grund, welcher mit breiter und reicher, hoch über ihre Köpfe ſich 
erhebender Draperie geihmüdt iſt. Ueber der Guirlande, die 
den Eingang ziert, jieht man noch Refte von langgeftredten Fi- 
guren, die, nach der beiterhaltenen zu ſchließen, Fama, Victoria 
u. dgl. vorjtellen mochten. Auch die beiven Schmaljeiten haben, 
wie e3 noch die Reſte von Konfol3 verrathen, ehemals Bas: 
relief3 getragen, doch ijt heute jede Spur verſchwunden. Obne 
den zertrümmerten Ueberbau, der einzelne losgelöste Quadern 
und Anfänge ohne Fortjegung und Fortjegungen ohne Anfänge 
zeigt, würde der ganze Bau noch heute ganz und gar nichts 
Auinenhaftes haben. Selbſt die zerbrohenen Säulen an den 
vier Haupteden find jo regelmäßig, fait gerade in der Mitte 
getheilt, daß ihr Anblid nur wenig ſtört. Wie bei allen Römer: 


142 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


bauten, ift auch bei diejer das Maſſenhafte vorherrihend, und 
jie würde vielleicht den Eindrud des Schwerfälligen machen, wenn 
ihr nicht die feinen Skulpturen, die meilterhaft und zart gearbei: 
teten Verzierungen, die beweglichen Kannelirungen der Säulen 
und Pilaſter gewiſſermaßen Flügel gäbe. Um einen ungefähren 
Begriff von dem Leben in diefem Gebäude zu geben, könnte man 
vielleicht jagen, e3 jehe aus, al3 wäre ein Römer fein Architekt 
und ein Grieche fein Bildhauer gewejen. Dieſes merkwürdige 
Monument ift von Vielen al3 herrlich gepriejen, von Vielen als 
unbedeutend verworfen worden — Niemand aber wird leugnen, 
daß e3 immer ſchön ift, wenn man es nur al3 Rahmen für die 
prachtvolle provenzalifhe Ebene betrachtet, die ſich jenſeits des 
Bogens, im blauen Dufte jhwimmend, mit ihren cyprefjen: 
reihen Fluren, mit ihren Waſſern und Bergen ausvehnt. Ich 
meines Theiles habe vor diejer ewigen Jugend der Natur alle 
Arhäologie der Welt vergefien. 

Menige Schritte von diefem Kriegermonumente jteht ein an: 
dered: das Maufoleum. Es iſt ruhiger, einheitlicher, darum 
ſchöner. Auf einem pradtvollen Sodel, welcher felbft auf einem 
gewaltigen, geftuften Unterbau von Quadern ruht, erhebt ſich 
das Gebäude mit feinen zwei Stodwerfen zu einer Höhe von 
20 Meter. Das erjte Stodwerk, welches fich gegen das Piedeftal 
ein wenig zurüdzieht, iſt vieredig und aus vier Bogen zufammen: 
gejegt, die nach den vier Weltgegenven bliden. Jeder dieſer 
Bogen ift von Außen mit einer Guirlande befränzt, die im Halb: 
freife nach beiden Seiten auf einfache, mit dorifchen Kapitälen 
geſchmückte Pilafter herabfällt, während auf jeder der vier Eden 
diejes Stockwerks eine fannelirte Säule mit attifcher Baſis und 
reihem korinthiſchem Kapitäl prangt. Der Fries, welcher das 
Ganze befrönt, zeigt Meerungeheuer, Sirenen, Opferinjtru: 
mente zc. Ueber den Bogen erhebt ſich da3 zweite Stodwerl, 
das, abgetragen und auf ein Piedeftal geftellt, für ſich ein rei: 
zendes und in fich vollendetes Kunſtwerk geben würde. Es bildet 
einen kleinen Tempel, der aus zehn Säulen und einer von diefen 


Sechstes Kapitel. 143 


getragenen Kuppel bejteht. In feinem Innern, von allen Seiten 
fihtbar, jtehen zwei folofjale, in die Toga gekleivete Römer. Das 
Ganze jcheint lebend, wie eine Pflanze, wie ein Blumenkelch. 
Die Säulen find wie die an den Eden des erjten Stockwerkes 
beſchaffen — fie find fannelirt, und Bafen und Kapitäle haben mit 
jenen die größte Aehnlichkeit, nur find fie in jedem Theile feiner, 
zarter, beweglicher, jowie fie vielleicht um ein Drittheil dünner 
find. Der Fries, der jie von der Kuppel trennt, ift eine Blumen: 
fette. Da die Kuppel eine koniſche Form hat und der ganze Tempel 
mit feiner Bafe über dem erſten Stockwerke, ſowie diefer über dem 
Piedeſtal und das wieder auf dem Unterbau ein wenig zurüdtritt, 
gewinnt das Ganze etwas Pyramidaliſches, Himmelaufftrebendes 
— ohne ſich, wie gothiſche Thürme, myſtiſch zu verlieren. 
Bemerkenswerth ſind noch die Basreliefs, welche das Piedeſtal 
ſchmücken. Sie haben von der Zeit und manchem Vandalen viel- 
leiht am Meijten gelitten. Doch kann man bei näherer Betrad: 
tung noch ungefähr den Gegenjtand erkennen, den fie voritellen' 
jollen, und Manches in der Arbeit lobenswerth finden. Das 
unbedeutendjte von allen ift wohl das nördliche, das ein Reiter: 
gefecht vorftellt. Pferde, Menſchen — Alles ift hier gleich häßlich 
und ungefchidt; Verkürzungen kommen da vor, die geradezu wie 
die gewaltſamſten und unnatürlichjten Verrenkungen widerlich 
find. Biel bejjer find, in manden Theilen ſogar meijterhaft, die 
Basrelief3 der drei andern Seiten, von denen das eine eine Jagd, 
da3 andere einen allegorijhen Triumphzug mit geflügelten Wei: 
bern, und das dritte den Kampf um einen Leichnam, vielleicht 
den Kampf um den todten Patroflus zum Gegenjtande hat. Ueber 
den Figuren der Basreliefs find Blumenguirlanden angebragt, 
die von Heinen Jungens, oft in den poſſierlichſten Stellungen, 
getragen werden. Was den Kunftwerth betrifft, jteht das ganze 
Basrelief in feinem Verhältniffe zum Net des Monumentes. 
Das Material zu diefen beiden Monumenten von St. Remy, 
jowie zu den meijten Bauten der Römerzeit und des Mittelalters 
in diejen Ländern, jollen die ungeheuern Steinbrüche geliefert 


144 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


haben, vie ſich nicht fern von hier unter den Alpinen hinziehen. 
Sie find jo meitläufig und mit ihren hundert und hundert 
Gängen jo labyrinthiſch verfchlungen, daß fih Niemand nur auf 
eine Heine Entfernung bineinwagt, aus Furt, den Rückweg 
nicht wieder zu finden. Man erzählte mir eine rührende Geſchichte 
von zwei Kindern, die jich, Beeren juchend, in diefem Labyrinthe 
verloren haben. Erſt nah fünftägigem Suchen fand man jie, 
eins ana andere gelehnt, vem Tode nahe. Die frommen Seelen, 
da fie fich fterben fühlten, hatte eing dem andern jeine Sünde 
gebeichtet. 

Links am Wege, der von St. Remy in die Alpinen führt, 
liegt, von Bäumen ſchön bejchattet, ein einſames, mweitläufiges 
Gebäude. Es ift ein Jrrenhaus und dient jegt der Mad. Lafarge, 
die ed, der befiern Lage wegen, mit dem Gefängniß von Mont: 
pellier vertaufcht hat, zur Wohnung. Wie e3 jcheint, kann Mad. 
Lafarge ihren Aufenthaltsort nad) Belieben wählen. Das macht 
die Broteftion bei einem forrumpirten Weibe, das ganz Franl: 
reich für eine Giftmifcherin hält. ! Wenn einer der Gefangenen 
von Belle⸗-Isle, der Gefundheit wegen, fein Gefängniß verändern 
wollte, man würde ihm höchſtens eine Zelle auf der brennenden 
Küfte von Bona geitatten. 

Bald verihmwand auch dieſes Gebäude hinter und und mit 
ihm die Lieblichkeit der weftlihen Provence. Immer aufmärts 
fteigend, verloren wir ung in die MWüjtenei der Alpinen. Mit 
dem erjten Schritte in die Schlucht, durch welche die Straße über 
dieſen Gebirgszug führt, verſchwindet alle Vegetation. Kein 
Grashalm, gejhmweige denn ein Baum, ift zu jehen. Aus den 
vermitterten Schichten, die haltlos die Abhänge beveden, reden 
fih gewaltige Felſenmaſſen vor, fpringen ungeheure Felskoloſſe 
heraus und verfperren die Straße, die fih mühjam zwiſchen 
diefen Kolofjen und einem Abgrunde fortwindet, je nach hundert 
Schritten verſchwindet, um fich plößlic wieder und gewaltiam 


! Sie wurde 1852 ganz begnadigt und ftarb nod im jelben Jahr. 


Sechstes Kapitel, 145 


über Gerölle weiter zu ſchleppen. Auf ven oberften Spigen der 
Berge lagern Felsjtüde fo jonderbarer Bildung, daß man ver: 
laſſene Schlöſſer, gigantiihe Rinverheerven, verfteinerte Hirten 
zu fehen glaubt. — Zum Glüde war der Himmel ummölft und 
hatte ein Wlagregen die Luft abgekühlt, ſonſt hätten wir wie 
durch meilenweite Bleivächergefängnifje wandern müſſen. Auf 
dem ftundenlangen Marſche, ver bald auf der nothoürftigen 
Straße, bald im Bette eines vertrodneten Wildbaches fortging, 
und auf dem wir nod, da wir einer Wüſte entgegenzogen, unjere 
Lebensmittel mittragen mußten, begegnete ung feine menjchliche 
oder thierifche Seele. Wir waren in der vollendetiten Einſam— 
feit. Unſere Sorge blieb, ob die Sonne nicht doch die Wolkendecke 
durchbrechen und und mit ihren heißen Pfeilen bejchieken werde. 
Wir waren in den Hundstagen und in der Provence, und zwi: 
ihen dieſen kahlen Felſen hätten wir jeden Strahl bundert- 
und taujendfach gefühlt. Glüdlich erreichten wir die Höhe des 
Gebirgsrüdens noch vorher. Die jenfeitige Ebene war bald er: 
veicht, und nun ging der Weg dem Süden zu, das Gebirg ent: 
lang, das wir der Breite nach überftiegen hatten. Durd die 
vielen Schluchten fahen wir in fein troftlofes3 Innere. Am Ein: 
gange der einen fanden wir feit Stunden die erfte menjchliche 
Seele, einen Schäfer mit feinem riefigen Wolfshund; die Heerde 
mweibete in der Schlucht. Der Mann fhien ganz glüdlich, wieder 
einmal, nad langer Zeit vielleiht, Gefchöpfe feiner Gattung zu 
jehen. Auch ließ er uns fobald nicht weiter, fondern begann ein 
rührendes Klagelied über jeine Einſamkeit anzuſtimmen. ch 
verjtand nur wenig von feinem Patois, aber der Ton feiner 
Stimme, der Accent des Schmerze3 ging mir zu Herzen. „Smmer 
nichts al3 dieſe Feljen zu ſehen, des Abends, wenn mir bie 
Augen zufallen, und Morgens, wenn ich fie wieder aufjchlage, 
und nichts als die Schafe und das elende Gras zwijchen den 
Steinen — der Menſch ift nicht dazu gemacht!“ Er fragte ung, 
woher wir fämen? — der Brofefjor antwortete ihm: aus Paris. 
Paris! rief er aus und flug fih auf ven Hut. Seine Augen 
Morig Hartmann, Werke II. 10 


146 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


leuchteten; er jchien ſich eine phantaitiiche Voritellung von ver 
Stadt zu mahen, in der jo viele Menjchen zuſammenwohnen. 
Der Profejlor fragte ihn, ob er's zufrieden wäre, in Paris zu 
wohnen, unter der Bedingung, nie wieder hierher zurüdzufehren ? 
Er überlegte einen Moment, dann aber jehien er plößlich mit 
jeinen Schafen und Felſen verjöhnt und antwortete mit einem 
entihiedenen: Nein. Er erzählte ung no, daß fein Herr, ein 
reicher Fabrifant aus St. Remy und Gutöbefiger in diefer Ge- 
gend, ihm diefes Jahr 50 Franken von feinem Gehalte abziehe, 
weil ver Hagel die Mandelbäume gejchlagen hatte, dann, daß 
er beftändig auf feiner Hut fein müfje gegen die Wölfe, die jeven 
Abend aus den Bergen hervorfommen. Mit vielen Segens— 
wünjchen entließ er uns und zeigte und noch den fürzeiten Pfad, 
ver nach Les Baur führt. 

Es iſt bezeichnend für die Stadt, die wir jehen wollten, daß 
diejer einzige Weg ſich bald ganz und gar verlor und troß aller 
Mühe nicht wieder aufzufinden war. So ftiegen wir denn auf 
gut Glüd mitten durh Wein: und Manvelbaumpflanzungen, 
über ausgetrodnete Bäche, durch Heden und Gejträuche immer 
gradaus dem Felſen entgegen, der gewaltig und breit den Horis 
zont gegen Süden abjperrt und auf feiner höchſten Spige die 
jonderbaren Ruinen eines Schlofjes trägt, von dem man nicht 
weiß, ob fie nur die Fortſetzung des Felſens, oder ob der Fels 
ihr fünftliher, von Cyklopenhand aufgeführter Unterbau: ift. 
Denn diejer Feljen felbit läuft in feiner ganzen Breite, rechts 
und lint3 vom Schloſſe, oben in Zinnen und Mauern aus, die 
nicht durch die geringjte Fuge oder Rige von ihm getrennt find, 
und blidt da und dort, tief unter diefen Zinnen und Mauern, 
dem Wanderer mit Nijchen und Schießſcharten und Fenftern ent: 
gegen. So präfentirt fi die Stadt Les Baur dem Wanderer 
zuerft, und er fragt fi, ob er eines jener Naturfpiele, jener 
unmillfürlih gigantiihen Nahahmungen menjchlicher Bauwerke 
vor ſich habe, wie fie ihm fehon in den Alpinen, in den ausge: 
ſchwemmten meitlihen GCevennen, im Thale von St. Guilhem du 


Sechstes Kapitel. 147 


Defert begegnet find? Hat er aber den Feljenweg, den er auf 
halber Höhe des Berges endlich wiedergefunden, erjt ganz er: 
Hommen, dann fieht er, um e3 in Einem Worte zu fagen, eine 
ganze, große und prächtige Stadt aus einem Feljen gehauen, wie 
der Bildhauer ein Menjchenbild, eine Baje aus dem nachgiebi- 
gen Blode jhlägt. Ja! eine ganze, große, mit aller Pracht 
des Mittelalter8 und der mwiedergeborenen Griechenfunft ge: 
ſchmückte Stadt, eine Stadt mit Wällen und Thürmen und Zinken 
und Zaden, mit Baläften, Kirchen, Kapellen, Hojpitälern, Ver: 
ließen, mit Treppen, Balkonen und Terraſſen aus einem unge: 
beuren Monolith gehauen — eine Stadt von lururiöfen Thebai: 
den — eine Stadt, die vielleicht nicht ihres Gleichen findet, wenn 
nicht in der fabelhaften Bergveite, von der Curtius in des Aleran- 
ders Feldzügen erzählt, und über die wir jchon in der Schule 
jtaunen oder lächeln. 

Wenn man nun dur den ſchmalen Eingang in das Innere 
und in die Gafjen tritt, erhebt ſich allerdings gewöhnliches, oder 
wenigſtens von Menjchenhand aufgeführtes Gemäuer — aber 
e3 jind nur Façaden, mas man ſieht — das Innere der Häufer, 
die Vorfäle, Gemächer, Treppen find in den Feljen gegraben. 
Hie und da ift aushelfend, und um mande Verbindung herzu: 
jtellen, noch anderes Gemäuer angebracht. Alles aber im ſchön— 
jten gothiſchen oder im Renaiſſanceſtyle won der edelſten Einfach— 
beit. In einer Kapelle bemerkten wir erjt nach längerer Prüfung, 
daß nur die ſchöne Spigbogenwölbung aufgejeßt war — im 
Mebrigen bejtand fie aus Felswand, war jie nur eine gemeißelte 
Vertiefung und, die Wölbung ausgenommen, nur ein Theil des 
Einen großen Steines, der die Stadt bildet. — Nicht alle Häufer 
jind fo vollflommen erhalten, wie dieſe Kapelle. Von vielen ift 
der Vorderbau eingeftürzt und wird da durch eine wachjende 
Wand von Winden und Flechten erjegt, die jich von der Höhe 
herabſenkt und die Säle und Hallen mit einem Vorhange bevedt. 
Die Facaden aber, die bis heute dem Berfalle widerjtanven, 
bieten an Thüren und Fenftern mwahrhafte Meifterwerfe und 


148 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


bilden mit den Felſen und den wilden Pflanzen da und dort fo 
reizende Winkel, wie fie die [hönfte Phantafie eines Malers nicht 
befjer erfinden fann. Ein Fenfter mit der Inſchrift „Post tene- 
bras lux* (welche, nebenbei gejagt, auf Calvinismus hindeutet, 
der in diefer Gegend jo mächtig gewefen), mit verjchievenen 
Skulpturen in der Nachbarſchaft, will ich dem deutſchen Wanderer 
noch beſonders empfohlen haben. Alle die Reſte der alten Stadt 
verrathen, neben der Energie des Erbauers, eine entſchwundene 
Pracht, ald wäre fie nur von Fürften, und einen Schönbeitsfinn, 
al3 wäre fie nur von Dichtern bewohnt gewefen. Beides war, 
wie wir fehen werben, gewiſſermaßen der Fall. 

Tritt man au dieſen Gaſſen, die die untere Stadt bilden, 
hinaus und hinauf auf das erhöhte Plateau, welches die Stadt 
breit und luftig in einem Halbfreife umgibt, fo bietet fih ein 
Anblid dar, der noch ſtaunenswerther ift, al3 der, an dem man 
fih eben erfreut hatte. Zuerſt fieht man die Feſtungsmauern, 
die eins mit dem Felfen find, und die nur dadurch entftehen 
fonnten, daß man das ganze, weite Plateau ausgehauen hatte. 
Dann aber auf einer gewaltigen Kante, die aus dem Urſtock er: 
fteht, erhebt fih das Schloß, das die Stadt zu feinen Füßen, 
die Thäler, die Berge und das ganze Land noch heute, obwohl 
in Trümmern, ſtolz und mächtig beherrſcht. Auch hier ift das 
angebqute Gemäuer größtentheils eingeftürzt, aber was thut e3? 
Man fieht nun ungehindert in das innere des Schloſſes, das 
feine Geheimniffe mehr hat; die zierlihen, aber unvergänglich 
in den Felfen gehauenen Treppen führen aus freier Luft in freie 
Quft, dur Hallen und Gemächer wehet der Wind, und in den 
Berließen lagert provenzalifcher Sonnenſchein. Auf der höchften 
Spige, neben einem balbverfallenen Thurme, fteht noch eine 
einzelne Mauer mit zwei berrlihen Ogiven — ein würdiger 
Rahmen für die weite Landjchaft, die fih unten ausdehnt: gegen 
MWeften bis an den Pic St. Loup und die Küjfte von Cette, gegen 
Oſten bis an die Schweizeralpen und gegen Süden auf die blaue 
Fläche des mittelländifhen Meeres. Zu Füßen aber liegt ung 


Sechstes Kapitel. 149 


die traurige Stadt. Eelten, dab man in ihren Gafjen ein menic: 
liches Weſen erblidt. Einft hat fie Taufende beherbergt in ihren 
ſcheinbar unvergänglihen Mauern, heute bat jie 60— 70 Ein: 
wohner, und dieje find im Sommer meist abwejend, um in den 
Sümpfen der Camargue als Taglöhner ihr fümmerlices Brod 
zu verdienen. Einjt war fie von Fürften, Rittern und Sängern 
bewohnt, heute hat ſich das Elend in ihre Ruinen eingeniltet. 
In den Gaflen ſahen wir nur wenige Weiber und Kinder müßig 
vor den Häufern jigen; in der oberen Stadt fanden wir einen 
Mann eifrig beichäftigt, die Facade eines prächtigen Haufes zu 
jerftören, um eine Angel für feine Thüre zu fuhen. Wenn die 
Einwohner jo mit ver Zerftörung fortfahren, wie fie jeit Jahren 
begonnen haben, mwerden in Kurzem die herrlihen Bauten ver: 
Ihmunden und von der ganzen Stadt nur die in den Felſen ge: 
bauenen Theile übrig bleiben. Man hatte mir das Holpital mit 
feinen pradtvollen Gewölben und Säulen gerühmt ; ich fand es 
nicht mehr. Der Maire der Commune hatte es abgebroden, um 
fih aus den Trümmern eine Gartenmauer und aus den Säulen 
ein Gelände für eine Vizinalſtraße aufzuführen. 

Wenn Aigues-Mortes einem fteinernen Nitter mit Schwert 
und Schild und Lanze gleicht, wie wir ihn oft auf alten Grab» 
mälern fehen, jo gleicht die Stadt Les Baur einer Leiche in 
freier Luft, die langjam verwejt. 

Die Umgebung ijt ihrer würdig. Gegen Süden iſt ihr ge: 
mwaltiger Sodel von einem Amphitheater fteiler Felfen umgeben, 
von denen fie nur durch ein ſchmales Thal oder vielmehr dur 
einen Abgrund getrennt ift und die ihren äußerten Feſtungswall 
bilden. Gegen Südweſten öffnen fih zwar die Felſen als ein 
Paß; diefer ift aber jo ſchmal, daß er in geringer Entfernung 
mit der Wand in Ein3 verſchwimmt. Mehrere Grotten, die ihre 
hohlen Augen gegen Les Baur öffnen, find von Heiligen: 
Legenden und Feenſagen belebt, und da und dort bliden aus dem 
Gejtein Fagaden hervor, die eine Felfenwohnung à la Les-Baux 
verrathen — mwürdige Landhäufer einer folhen Stadt. 


150 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Der Ursprung Des Baur ift in Sagen gehüllt. Die Legende 
Ihreibt ihre Gründung dem heiligen Dreikönig Balthafar, oder 
einem jeiner Abkömmlinge gleihen Namens zu; daher auch der 
Name Baltio, aus dem fpäter Baur wurde. Die Langue d’oc 
verwandelt faft ebenjo oft wie die Langue d'oui das al in au. 
Auch führten die Fürften von Baur einen Kometen mit einem 
glänzenden Silberjhweif im Wappenjchilde, als Erinnerung an 
den Leitjtern ver Magier. Unter den Eleinen Herren des Südens 
waren die Herren von Baur die erften, melde fich im zehnten 
Jahrhundert unabhängig und fouverän erklärten. Bald dehnte 
jih ihreMacht faft über die ganze Provence aus, und wir fehen 
fie durch mehrere Jahrhunderte im ganzen Süden eine große 
und glänzende Nolle jpielen. Als Kaiſer Konrad wieder vie 
deutihe Macht in Arelat herſtellt, fommen fie auch mit dem 
Reihe in Berührung und treten bald ala Guelfen, bald als 
Ghibellinen feindlich oder freundlich gegen die Hohenftaufen auf. 
Ebenſo find fie bald Bundesgenofjen des Grafen von Toulouje, 
bald milde Verfolger ver Waldenſer und Albigenfer. Zur Zeit 
der Kreuzzüge erwerben fie jogar Nechte auf den byzantinifchen 
und andere, neuere Throne des Orients. Durch Heirath werden 
fie mit den verſchiedenſten Fürften: und Königsgeſchlechtern ver: 
wandt, jo aud mit den Fürſten von Orange in der Dauphiné, 
und jomit die Stammväter der Fürftengefchlechter, die noch heute 
in Naflau herrſchen, vie ehemals Holland befreit und England 
genommen haben. Cine rührende Geftalt unter den Töchtern 
aus dem Haufe Baur ift die Prinzeſſin, welche einem ferbiichen 
Fürſten vermählt wurde. Amurath blenvete ihren’ Gatten und 
verjagte ihn aus feinen Ländern. Treu wie Antigone, folgt ihm 
und leitet ihn feine Gemahlin ins Elend des Exiles. — Mit Karl 
von Anjou kommt das Haus der Baur nad Stalien, das fie 
durch mehrere Generationen als fiegreiche Feloherren, als Intri— 
guanten, al3 Rathgeber oder Günjtlinge der Könige oder Köni- 
ginnen beherrfhen und für ihren Glanz und ihre Bereicherung 
ausbeuten. Bald haben fie unzählige Fürftentitel und ausgedehnte 


Echtes Kapitel. 151 


Ländereien in diefem Lande erobert und vergefien mebr und 
mebr ihr Heimatland, und der Glanz ihrer Stadt verfällt. 

Ihres höchſten und fchönjten Ruhmes aber erfreuten ſich 
Stadt und Fürften pon Baur im zwölften und vreizehnten Jahr: 
hundert, der Blüthezeit ver provenzaliiben Poeſie. Der Hof 
von Baur war der Sammelpunkt aller Trouveurs oder Trouba: 
dours — er wiederhallte von Geſang, er ſah Liederwettkämpfe 
und Liebeshöfe. Unter allen Trobadouren, und man fann die 
Zahl derer, die der fruchtbare Boden zwijchen dem Ebro und 
Arno hervorbradte, nah Hunderten zählen, waren nur wenige, 
die nicht einmal auf ihren Fahrten den fteilen Felſenpfad herauf: 
titten, um fich wieder reich beſchenkt zu entfernen und die Tha— 
ten, ven Ölanz, die Freigebigfeit, den Gejchmad der Füriten von 
Baur zu verfünden, jo weit die romaniſche Sprache reichte. In 
unzähligen Sirventen und Kanzonen werden fie gerühmt, und 
viele ihrer Frauen und Töchter find der Gegenftand der Liebe, 
de3 Preiſes bei den ausgezeichnetiten Troubadours. Fulco, der 
deutſchen Lejern aus Lenau's Albigenjern befannt ift, verzehrte 
fih in Liebe zu Frau Adelaſia, der Gattin feines Beſchützers 
Berald, Fürſten von Baur. Dieſe Liebe machte ihn zum aus: 
gezeihnetiten Dichter feiner Zeit und gab ihm Accente und Me— 
lodien ein, durch die die provenzaliiche Dichterfprache bedeutend 
bereichert wurde. Seine Liebe war unglüdli und wurde nod) 
unglüdliher durch den Zod der geiftvollen und ſchönen Fürftin. 
Doll Melandolie zog er fih in ein Mönchskloſter zurüd und ver: 
fiel in jenen fchauerlihen Aëzetismus, der ihn auf den Bijchofs: 
ftuhl von Toulouſe geführt und aus dem zarten Sänger den 
fanatifhen Verfolger ver Walvenfer gemacht hat. 

Wilhelm von Cabeſtan liebte Berengaria von Baur. Ihr 
aber ſchien feine Leivdenfchaft noch zu ſchwach, zu kühl; um fie 
heißer anzufachen, gab ihm die feurige Provenzalin einen Liebes: 
trank, der ihn aufs Krankenlager warf. Nach langem Leiden 
wieder genejen, wandte er ſich mit Widerwillen von Berengaria 
ab und huldigte in unjhuldigen Liedern der Frau des Geiqneur 


152 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Raimond von Seillans. Die Dame von Seillans liebte ihn 
wieder. Aber der eiferfüchtige Gatte tödtete den Dichter, riß 
ihm das Herz aus und fette es feiner Gattin zum Abendeſſen vor. 


„Dieſes Alles ift gefchehen 
Mit dem Herzen eines Dichters.“ 


Auf höchſt fonderbare MWeife wurde Blacas des Baur von 
Sordello gefeiert. Diefer Dichter (derjelbe, ven Dante ins Pa: 
radies verjegt — Sordello:Mantovano, der Verfafler des Teforo 
de Tefori, der von berühmten Männern aller Zeiten handelt) 
fomponirte nad dejien Tod ein höchſt energifches, noch heute 
beitehendes Sirvente, in welchem er die meiften Machthaber 
Europa’3 mit Namen aufruft und fie einladet, von dem Herzen 
de3 edlen Blacas zu eſſen, um fich von jeinen Tugenden, die 
ihnen mangeln, auf dieje Weife einzelne anzueignen. Wenn ich 
mich recht erinnere, To findet ſich dieſes barode, aber muthige Ges 
dicht überjegt in Diez’ vortrefflichem Buche über die Troubadours. 

Aber nicht nur Beihüger und Helden der provenzaliichen 
Poefie waren die Fürften von Baur; ihr Haus lieferte neben 
mandem gelehrten Herrn auch mehrere trefflihe Dichter. Der 
vorzüglichfte unter diefen war wohl Wilhelm von Baur, Prinz 
von Drange. Seine Stoffe find edel, und die Sprade ijt der 
Stoffe würdig. Aber jein Leben wurde ihm von Guy von Ca: 
vaillon, einem andern Troubadour, aufs Unbarmberzigite ver: 
bittert. Ununterbroden verfolgte ihn diejer Schalf mit feinem 
Spotte. Den Stojf gaben zwei Abenteuer, die auf den Prinzen 
allerdings den fürchterlihen Fluch der Lächerlichkeit warfen. Ein: 
mal ließ er fih von einem Kaufmann auf die plumpejte Weije 
prellen ; ein andermal nahmen ihn einige unbewajfnete Fiſcher 
gefangen und verlauften ihn an jeinen Feind, den Herrn von 
Poitiers. 

Im dreizehnten Jahrhundert kommt noch ein Poet, Ram— 
baud des Baur, vor, und im vierzehnten, da ſchon die Liebeshöfe 
verjhmwinden und die provenzalifhe Poefie ihren Gipfelpuntt 


Sechstes Kapitel. 153 


hinter fih hatte, finden wir nod eine Prinzeflin von Baur in 
einen bichterifchen Liebeshandel mit tragiijhem Ausgang ver: 
wickelt. Baufjette von Baur liebte den Kanonikus von Arles, 
Roger, der ihretiwegen aus der Kutte gefprungen war und ſich 
an ihren Reizen zum Dichter begeiftert hatte. Das Paar gehörte 
zu den jhönften im ganzen Süden und lebte einige Zeit glüdlich 
im Genuffe der Poeſie und der gegenfeitigen Schönheit. Aber 
ein Herr von Baur empfand ein Nergerniß über dieſe Liebe und 
erihlug den Dichter. Da geſchah ſchon in jener Zeit, was ſeit 
damals öfters gejchehen fein foll: die unglüdliche Wittwe ver- 
heirathete fih. — 

Der Art jind die Bilder und Erinnerungen, die am geijtigen 
Auge des Wanderers vorüberziehben, wenn er auf der höchſten 
Spige diejer Ruinen im einfamen Ogivenfeniter figt, die Beine 
binunterbaumeln und die Blicke über die Stadt vor ihm und die 
vielbefungene Provence, das Land der Blüthen und Gejänge, 
ſchweifen läßt. Und fie begleiten ihn noch, wenn er ſich ſchon 
längjt wieder in das fahle Gebirge verjenft hat. Weber uns 
ſchwebten fie in Geftalt von fünf wilden Falten, die fich elektri- 
ſchen Wollen entgegenſchwangen und, meite Kreife ziehend, die 
herabdrohenden Blige, ihre Brüder, erwarteten. 

Aus einer Brofhüre des Herrn Canonge in Nimes erfuhr 
ih nod, daß Ludwig XIII., die Unbezwinglicheit diefer Felſen— 
ftabt fürchtend, einen Theil ihrer Feſtungswerke zerfprengt habe, 
damit fie nicht den Hugenotten als Aſyl diene, und daß die 
Stürme von 1789 zur Zerftörung auch diefes Stüdes Mittel- 
alter das Ihrige beigetragen haben. Die eine neue Zeit bauen, 
dürfen feine antiquarifchen Grillen haben. 

Aber im wilden Gebirge angelommen, wird man von den 
romantischen Erinnerungen an die prachtliebenden Prinzen von 
Baur, an Minnejänger und Liebesabenteuer verlaflen; die 
rüdwärts blidende Bhantafie bevölkert dieſe Schluchten und Rige 
mit armen Flüchtlingen, die, dem Schwerte des Verfolgers ent: 
ronnen, in Höhlen und Wildniffen Verſtecke fuchen ; mit Trümmern 


154 Tagebud aus Yanguedoc und Provence. 


einer frommen und traurigen Gemeinde, die durch Jahrhunderte 
mit unvergleihlibem Heldenmuthe ihr Kreuz getragen: die Heine 
Gemeinde der Waldenier. 

Im dreizehnten Jahrhunderte waren jie aus der Daupbine 
und Piemont herübergetommen. Ihre Zahl erreichte nicht Die 
zwanzig Taufend, aber ihr ftiller Fleiß verwandelte die Wild: 
nifle der Provence bald in einen blühenden Garten. Geichicht: 
jhreiber jagen, daß ein Stüd Yandes, das vor ihrer Ankunft 
nicht vier Thaler Gewinnſt gebracht, kurze Zeit darauf für zmwei:, 
drei= bis vierhundert vermiethet worden. Sie erbauten auch zwei: 
undzwanzig größere und Kleinere Fleden, die fie friedlich bewohn- 
ten. Felice erzählt von ihnen nad alten Chroniken: 

„Es waren ruhige Leute, von guten Sitten, bei ihren Nach— 
barn beliebt, treu ihrem Worte, ihren Verpflichtungen jtreng nad: 
fommend, die für ihre Armen forgten und liebevoll waren gegen 
den Fremdling. Man konnte jie auf Feine Weije zu Lälterung 
oder Flüchen bewegen; fie ſchwuren nur, wenn es die Rechtspflege 
verlangte. Auch daran erkannte man fie, daß fie fich aus jeder 
Geſellſchaft, in welcher Unjchidliches verhandelt wurde, entfernten, 
um fo ihr Mißfallen zu bezeugen. Man konnte ihnen nicht3 vor: 
werfen, wenn nicht etwa, daß fie in Städten und bei Märkten die 
Klofterkirchen wenig befuchten, und daß, wenn fie je hineingingen, 
fie ihr Gebet verrichteten, ohne die Heiligen anzufehen. Sie gingen 
an den Kreuzen und den Bildern auf den Wegen worüber, ohne 
ihnen Ehrfurcht zu beweifen. Sie ließen feine Mefje lefen, noch 
ein libera me, noch ein de profundis; fie bedienten ſich nicht 
des gemeihten Wafjerd, und menn man e3 ihnen ins Haus 
brachte, war e3 ihnen gleichgültig. Sie unternahmen feine Wall: 
fahrten, um Ablaß zu gewinnen. Wenn es donnerte, madıten 
fie dag Zeichen des Kreuzes nicht, und man fah fie weder für 
Todte noch für Lebende Opfergaben darbringen. 

„Zange unbekannt, erregten die Waldenfer weder die Hab- 
jucht der Priefter no den Zorn der Großen, und die Adeligen, 
deren Einkünfte fie vermehrten, beihüßten fie.. Sie wählten aus 


Sechstes Kapitel. 155 


ihrer Mitte ihre Paſteure oder „Barben“, die fie in Erkenntniß 
und Ausübung der Schrift unterweifen follten. Zum erften Male 
wurden dieſe Keter bei Ludwig XII. denunzirt, als dieſer dur 
die Dauphine fam. Er ließ eine Unterſuchung anftellen, und als 
er das Ergebnif fennen gelernt, befahl er, die ſchriftlichen Pro: 
zeduren, die man jchon begonnen hatte, in den Rhone zu werfen, 
und fagte: Dieje Leute find beſſere Chrijten als wir! 

„Aber nicht fobald ließen die Priejter von der einmal be: 
gonnenen Verfolgung ab, und als endlich, dur die Erfolge 
Luthers und Zwingli’3 ermuntert, die Waldenfer in der Schweiz 
eine franzöfifche Ueberſetzung ver Bibel drudten und fich ihnen 
viele Adelige, Gelehrte, Advokaten ꝛc. zuneigten, brachte man 
e3 dahin, daß das Parlament von Air folgenden Beſchluß faßte: 
Siebenzehn Einwohner von Merindol (dem beveutenditen Orte 
der Walvenfer) jollen lebendig verbrannt, ihren Weibern, Kin: 
dern, Anverwandten joll der Prozeß gemacht werden, und wenn 
fie nicht ergriffen werben fünnen, jind fie für ewige Zeiten aus 
dem Königreiche verbannt. Die Häufer von Merindol find zu 
ichleifen und bis auf den Grund zu zerftören, die Wälder follen 
nievergehauen, die Fruchtbäume ausgerifjen und der Ort unbe: 
wohnbar gemacht werben, jo dab fih Niemand dort niederlafien 
fönne und dürfe.” 

Franz J., der zu jener Zeit Rüdfichten für die proteſtantiſchen 
Fürften Deutjchlands hatte, ſchickte einen Kommiflär in die 
Provence, welcher über die Walvenjer einen ungefähr mit jener 
Schilderung von Felice gleihlautenden Bericht abjtattete. Der 
König ließ darauf hin den Beſchluß des Parlaments nicht voll: 
ziehen, fondern, o der Gnade, „verzieh” den Waldenſern unter 
der Bedingung, daß fie binnen drei Monaten in den Schooß der 
allein jelig machenden Kirche zurüdfehren. Darauf jchidten die 
Waldenfer an den König einen Boten mit ihrem Glaubens: 
befenntnifje, in welchem fie jeden Satz mit dem Terte der Schrift 
belegten. Franz I. war ganz erjtaunt und fragte, wo da ein 
Fehler zu finden jei? Keiner feiner Priefter wagte, den Mund 


156 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


aufzuthun. Aber die in der Provence ſchickten drei Doktoren der 
Gottesgelehrtheit aus, die Ketzer zu befehren. Kurze Zeit darauf 
hatten ſich alle drei Doktoren jelbft zur Lehre der Waldenſer 
befannt. 

Indeſſen hatte Franz I. mit Karl V. und dem Papſte einen 
Pakt wegen Ausrottung der Kegerei gejchlofien, und von ven 
Prieftern und feiner ſcheußlichen Krankheit, ihrer Bundesgenoflin, 
mürbe gemacht, befahl er, dab man jenen jhauerlichen Beihluß 
des Parlaments vollziehe. 

Nun beginnt ein Schlachten, ein Würgen, ein Berheeren, wie es 
bis dahin in Frankreich nur zur Albigenjerzeit vorgefommen war. 

Mir wollen uns bei diefem blutigen Schaufpiele nicht auf: 
halten. Wir wollen nur jagen, daß die zufammengerafften Söld— 
ner, die bi3 dahin meift al3 Räuber in Stalien und den angrän— 
zenden Provinzen ihr Weſen getrieben hatten, mit ſchwerer Münze 
und Ablaß bezahlt wurden; daß alle Ortichaften ver Waldenjer 
von Grund aus zerjtört, ihre Ernte vernichtet, ihre Straßen 
aufgemühlt, ihre Brüden zerbrochen, ihre Brunnen gefüllt wur: 
den. Sie jelbit, überrajcht, wurden größtentheils jogleid nieder: 
gemacht; ein Theil wurde gefangen, um mit Pomp und zu Hun— 
derten enthauptet oder verbrannt zu werden. Nur ein jehr Heiner 
Reit flüchtete fich in diejes Gebirge, wo fidy ihm hinter nur dem 
Flüchtling zugänglichen Felfen, in Schluchten und Grotten ein 
ärmliches Aſyl bot. Da aber dieſe Dede eben jo ungaftlich war, 
wie die Bewohner rings umher, denen der Legat des Papites 
bei Todesſtrafe hatte verbieten lafjen, die Flüchtigen mit Lebens: 
mitteln zu unterftügen, jo ging auch diefe Kleine Schaar jämmer: 
lich zu Grunde. Sie verhungerte, und ihre Anochen bleichten in 
der Wüſte viejes verbrannten Gebirges. — In Venaiſſin, da 
man einmal in der Arbeit war, wurde jo gemwüthet, wie in 
der Provence, und jo verſchwanden die legten Walvdenjer aus 
Frankreich. 


Ziebentes Kapitel. 


Arles — Gefhichte der Stadt und der Heiratb der ſchönen Ghipiid, auch 

Petta, auch Ariftorene genannt — Arelat — Die Arena und ihre verſchiedenen 

Geſchichtsphaſen — Verwahrung gegen falfhe Borausfegungen — Gewiffen- 

haftes Berbift über Glanz und Verfall der arlefifhen Schönheit — Ein Opfer 

der Sitte — Mondſcheinsſchwelgereien — Der Alofterbof von St. Tropbime 

und die Eliscampd — Das Mufeum — Ultramontaniämusß in Arles — Adolph 
Stahrs Idylle. 


Arles, im Juni 1851. 

Arles präſentirt ſich ſchön, wie alle Städte, die an einem 
großen Fluſſe liegen, Quai's und ein Gegenüber haben. Kömmt 
dann noch eine Brüde, Bogen:, Ketten: oder Schiffbrücke dazu, 
ift das Maleriihe vollendet. Dur dieſe Schönheiten zeichnen 
fih Prag, Mainz, Frankfurt, Köln aus. Mit legterer Stadt hat 
Arles eine gewifie Aehnlihkeit; der Rhone, obwohl um zwei 
Dritttheile ſchmäler, erfegt den Rhein, Trinquetaille ift Arles— 
Deug, die Schiffbrüde fehlt auch nicht, und anftatt des herrlichen 
Domes bebt fih bier das antife Amphitheater mit feinen mau: 
riſchen Thürmen hoch in den Himmel und überragt die ganze 
Stadt, auf welcher noh um ein Jahrtaufend ſchwereres Alter: 
thum laftet al3 auf Colonia. Ueberlafjen wir es Antiquaren und 
Hiftorifern, ſich über das Alter Arles’ zu ftreiten; Thierry nennt 
e3 eine der ältejten Städte Franfreihs, und wir wollen ihm 
glauben. Die Arlefer ſelbſt preifen fie viel älter al3 Rom, und 
wir wollen ihnen nicht glauben. Oder, wenn der Leſer will, 
auch das und no dazu die verfchiedenen Behauptungen, daß 
Arles von Trojanern, Celten, Pholeern, Juden ꝛc. gegründet 
worden. 


158 Tagebuch au3 Languedoc und Provence, 


Wir wollen aus Gefälligfeit für die Stadt, deren Gaſt— 
freundſchaft wir für einige Tage in Anſpruch nehmen, "und die 
um feinen Preis die Tochter, fondern viel lieber die Mutter 
Marfeille'3 fein will, annehmen, daß fie in der That jchon be: 
jtanden habe und von den galliſchen Segobringern bewohnt ge: 
mejen jei, al3 die flüchtigen und umherirrenden Phokeer oder 
Phozeer an ver Feljenfüfte des Südens ihre Anfer warfen. So 
haben wir jchon hier Gelegenheit, die fchöne und romantifche 
Geichichte von der Gründung Marfeille'3 zu erzählen, die dann 
freilich von Arles ausging. 

Als die Phofeer am Ufer des heutigen Marjeille gelandet, 
in der unjchuldigen Abſicht, ſich von da aus auf ehrliche Weife 
mit Piraterei zu ernähren, hielten es die Führer Prothis und 
Simos nur für anftändig, fi) dem Könige des Landes, der in 
Arles Hof hielt, vorzuftellen. Diejer, Nenus oder au Senanus, 
nahm fie ſehr hulovoll auf und lud fie ein, an dem Feſte Theil 
zu nehmen, das er eben zu feiern im Begriffe jtand. Er wollte 
nämlich feine Tochter verheirathen und nad) der Sitte des Landes 
fie Demjenigen geben, ver ihr unter den beim Feſtmahle ver: 
jammelten Männern am Beten gefiele. Es ijt gar nicht zu ver: 
wundern, daß die ſchöne Ghipiis ihre Augen won den groben, 
ungeichliffenen Celten ab und auf die ſchönen, feinen Griechen 
wandte. Dann waren die Beiden niht nur Griehen, jondern 
au Fremde, und der Fremde beſitzt das weibliche Herz im Vor: 
hinein. Bei Tiſche gab aljo die ſchöne Ghipiis (meldhe anderwärts 
auch Petta genannt wird) den Trinkpofal dem ſchönen Prothis, 
da fie doch nicht Beide heirathen konnte. Das war das Zeichen 
des Wohlgefallens, ver alte Vater ftand auf, gab feinen Segen, 
. und die Sache war abgemadt. Die dummen Gelten machten große 

Augen. Man ließ den Notar fommen, und der Schwiegervater 
übermacte dem Eidam die ganze Umgegend feines Landungs- 
plabes ; und jo iſt Marjeille entitanvden. 

Und jo fam Arles im erften Momente ihrer Ankunft mit den 
Griechen in Berührungen, und wie die Braut des Prothis ihren 


Siebentes Rapitel. 159 


ehrlihen Namen mit dem griehiichen Arijtorene vertaufchte, 
ebenjo wich Arles’ Barbarei bald griedijcher Klugheit und 
griehifcher Bildung. Nach weniger Zeit hat es ſich in eine Art 
griechiicher Kolonie umgewandelt, und die Mutter hat, wie das 
oft zu gejchehen pflegt, Sitten, Gewohnheiten, Anfiht und 
Unterricht de weiter vorgejchrittenen Kindes angenommen. Als 
Appendir Maſſilias, welches jpäter eine römische Stadt geworden, 
fam e3 ebenfall3 unter römiſche Herrſchaft und war fogar die 
Reſidenzſtadt mehrerer römischer Kaiſer. Die Spuren dieſer 
legteren jind es bejonders, die man hier antrifft und anftaunt. 
Wir Deutihen nannten uns au einmal Herren von Arles und 
Arelat — aber fein Stein zeugt von unjerer Herrſchaft. Sie 
war auch darnach, troßdem, daß die fräftigften unter den römi: 
ihen Königen und deutſchen Kaijern jene Titel führten: Kon: 
rad II., Heinrich III., Heinrich IV., Heinrih V., Konrad III., 
Friedrich Barbaroſſa, Philipp von Schwaben, Otto von Braun: 
ichweig, Friedrich II. 

Sch wohne im Hotel du Forum, auf dem Forum; da haft 
du gleich eine Elafjifche Erinnerung. Werfe ich einen Blid aus. 
dem Fenster, fällt er auf zwei uralte Säulen mit ſchönen Kapi- 
tälen ; fie find ein Weberrejt römischer Thermen. Und begleitet 
du mich erſt dur die alte Stadt und läßt deine Blide durch 
die herrlichen Mäpchengeftalten nit ganz vom Nüglichen, Unter: 
richtenden abziehen, jo will ich dir auf jedem Schritt ein Stüd 
Römerthum zeigen. Bon Griechenthum iſt wenig übrig geblieben. 
Es wurde von der Quadernfraft des Römerthums unterdrüdt; 
aber e3 wuchs als ſchöne Menjchengeitalt aus den Rigen hervor, 
wie Blumen aus dem Amphitheater, und blüht noch heute auf 
ven folojjalen Ruinen, 

Zuerft eilt ver Wanderer dem Koloſſe entgegen, der ihm 
ihon von ferne groß und furchtbar entgegenblidt: dem Amphi— 
theater. Es fteht auf einer felfigen Erhöhung und überbroht die 
ganze Stadt. 

Der Eoncierge führte uns ein, und ih, der ich ſchon die 


160 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Ampbitbeater von Verona und Nime3 gejeben, jtand erjtaunt 
und faſt erfhroden da. So ungeheure Mühe haben fich die Römer 
gegeben, jo unendlich gewaltige Mittel haben fie angewendet, 
nur um einem graufamen Gelüfte zu genügen? nur um ſich an 
blutigen, Menfchenleben verzehrenden Spielen zu erfreuen? 
Mein liebes Marfeille! dort ijt nicht3 der Art zu feben und Feine 
Epur, daß fich jemals ein ſolches Theater dort befunden babe. 
Iſt e3 den Römern mit diefen Abkömmlingen der Griechen ebenſo 
gegangen, wie mit denen in Hellas? — mußten fie auch bier 
mit langer Nafe abziehen, als fie ihnen dieſe fürdhterlichen Spiele 
zumutbeten ? 

Der Anblid ift jhauderhaft großartig. Obwohl die Sigreihen 
(e3 jollen ‚ihrer zweiundvierzig geweſen jein) faſt alle zerjtört 
find, der Kranz von Bogen, der die beiden noch beſtehenden 
Stodwerfe befränzt hat, gänzlich abgebrochen it, und das Amphi— 
theater nur den Eindrud einer Ruine macht, fo ijt diefer Eindrud 
doch gewaltiger, als irgend ein großes, unberührtes, mit allen 
Mitteln wirkendes Gebäude hervorbringen fann. Mitten in Arles 
glaubt man hier in einer eigenen, fremden, von aller menſch— 
lihen Gejellihaft entfernten Welt zu fein. Der Wind, der die 
Bogen durchzieht und mit der Mauervegetation fpielt, hat einen 
eigenen Oruftton ; beengende Einſamkeit weht aus allen Bogen, 
Fugen und Nigen, als befände man fi) in einem ringsum ge: 
ſchloſſenen, kahlen, fonnverbrannten Gebirgskeſſel. Es ift auch 
ein kleines Gebirge, dieſes Amphitheater, troß feiner bewunderung3: 
würdigen Symmetrie, troß jeiner kunſtvoll auf: und nebeneinander 
gereihten Bogen, von denen wir nur die nad außen fehenden, 
zweimal ſechzig, zählen können. Es ift ein Gebirge; fein Eirund 
eine Lömengrube. Die maurifchen Thürme-— e3 find nur noch 
zwei von vieren erhalten — ftören nicht die Symmetrie; denn 
man denkt hier nicht an Symmetrie; fie tragen nur dazu bei, das 
Großartige noch großartiger erſcheinen zu laffen. Wie fie fo todt 
und ftarr, ohne allen Schmud, häßlich nadt daftehen, verkörpern 
fie den Schauer, den man in der Tiefe empfindet, und der fich 


Siebente3 Kapitel. 161 


jelbftbetrügerifh und hinter Bewunderung funftooller und kräf— 
tigfter Architektur verſteden will. 

Die Thürme find von den Nrabern unter Abdurhaman erbaut 
worden. Das Amphitheater diente ihnen als Feſtung in der 
zweimaligen Belagerung durd die Franken. Es kann aber aud) 
eine Armee beherbergen, da e3 einmal 30,000 Zuſchauer umfaßte. 
Auch in den Parteikämpfen des Mittelalter diente es oft ala 
Feftung; die Bartei, die e3 befaß, beherrichte die Stadt. Darum 
ſuchten fo oft die Herren von Baur es in ihren Beſitz zu bringen, 
da fie der Arles’ihen Republik gegenüber faſt dieſelbe Rolle 
jpielten, wie die Grafen und Herzoge von Savoyen in der 
Genfer Gejhichte. In fpäteren Jahrhunderten wurde e3 der Sig 
des Elendes; Bettler und arme Handwerker nijteten fi ein und 
wohnten, wo einjt die Beitien gehaust und die Cäjaren applaudirt. 
©o blieb es bi3 in die neue Zeit. Jetzt ſcheint es in feine befte 
Phafe getreten zu fein, denn es ift weder von Beitien und Gla— 
diatoren, noch von barbarifhen Parteigängern, noch von hungern: 
den Armen, fondern von taufend und aber taufend friedlichen 
Schmalben bewohnt. €3 foll herrlich fein, wenn dieſe friedlichen 
Bewohner blutiger Ruinen im Frühling als dichte, ſchwarze 
Wollen anlommen und mit Gezwiticher fi auf ihre Trümmer: 
wohnungen niederlaffen. E3 gibt Leute, die Tagelang vor dem 
Amphitheater figen und dieſes Schaufpiel erwarten. Ebenfo ift 
e3 in Nimes. Auch einen Bienenfhwarm fah ich emfig an einem 
Loche in der Mauer aus: und einkrabbeln, um fich in die gefegnete 
Ebene zu verbreiten oder mit honigbeladenen Füßchen heimzukehren. 
Das mahnte an das Räthſel Simfons: vom Starten fommt 
Süßigfeit. 

Um den Schauern diejer antiken Welt zu entgehen, bejteige 
man einen der Mauernthürme. Es wird Einem da zu Muthe, als 
jtiege man aus der Unterwelt hinauf ins heitere Sonnenlidt. 
Da unten lärmt die Stadt, braust die Rhone, ziehen auf Strom 
und Kanälen hundert Schiffe und Kähne; von Tarascon herunter 
dampft die neue Zeit, und über die Camargue herüber weht 

Moritz Hartmann, Berke I. 11 


162 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


erquidender Athem des Meeres. Weit, meit gegen Norden, in 
Nebel gehüllt, ahnt man Avignon; aber leicht erfennbar grüßt 
der Thurm de3 alten Schlofjes von Beaucaire, und wie und zu 
Füßen liegen die Ruinen des gewaltigen Kloſters Monmajour, 
das ein Merovinger gegründet und Karl der Große erweitert 
bat — die Wohnung frommer Anachoreten, die fih in feinen 
weiten Sälen verfammelt, nachdem fie die wüſten Berghöhlen 
der Provence bevölkert hatten. Der Himmel ift blau — die 
Schwalben zwitjchern — Alfred Meißner fingt in einer ſolchen 
Arena: 
Es jehnt nach Verbrechen 
Gräßlich doch ſchön ſich das menfchliche Herz. 


Nicht einen Augenblick ſehne ich mich nach Verbrechen; nicht 
gräßlich und nicht ſchön. Ich ſehne mich, herauszukommen aus 
dieſem großen, aus tauſend Toden gebauten, an der ganzen 
Menſchheit begangenen Verbrechen, um mich an lebender Schön— 
heit zu erfreuen. 


Mein lieber Freund, für den ich dieſes Tagebuch ſchreibe, 
und du, o Leſer, für den ich es drucken laſſe, haltet mich nicht 
für einen jener Touriſten, die mit vollem Taſchenbuche, mit 
tauſend vorher geſammelten Notizen und noch mehr Vorurtheilen 
für und wider in ein Land kommen; bei denen ſich Notizen und 
Vorurtheile nicht nach Dem, was ſie ſehen und erfahren, dehnen 
und ſtrecken müſſen, ſondern das fremde Land, ſei es, wie es ſei, 
ſich in das Prokruſtesbett ihres Notizenbuches oder ihres Vor: 
urtheil3 fügen muß, mögen Kopf und Beine darüber verloren 
gehen. Ich habe Reifende gekannt, die politifhe, moralifche, 
äfthetifche Anfichten über Land und Leute, mit Einem Worte, 
mehr als das halbe Buch, das fie fünftig herauszugeben beab: 
jihtigten, fertig hatten, bevor fie das fremde Land nur mit 
einem Fuße befchritten. Das waren gründliche Deutjche, die fich 
mehr auf ihre Bücher und Konftruftionen al auf ihre Augen 


Siebentes Rapitel. 163 


und Ohren verlafjen haben. Wodurch unterfcheiden fie fih von 
Alerander Dumas, der feine Reife dur Sizilien zwei Jahre, 
bevor er den Boden Trinafria’3 betreten, hatte druden lafjen ? 
Wodurch von Jules Janin, der die Nhone an Nimes vorbei: 
fließen läßt? Ihre tiefen Bemerkungen find von der Wahrheit 
noch weiter entfernt als die Rhone von Nimes. Die Rhone kann 
und wird noch einmal durch einen Kanal mit Nimes verbunden 
werden; der Strom von nationalöfonomijhen, politifchen, 
moralifhen, äfthetifhen Weisheitsfägen jener Reifenden oder 
Reifendinnen ift durch feinen Syllogismus, ja durch feine So: 
pbismen mit der Wahrheit der Thatjachen zu verbinden. Wie 
viel endlich wird platt und troden heruntergelogen, wie viel 
Kunſtenthuſiasmus aus dem Guide de Voyage tranffribirt und 
abgejungen „nur höher in der Quinte“! 

Ich habe einmal eine gewiffe Dame meiner Bekanntſchaft 
vor einer Mumie, die felbjt Röth erjchredt hätte, in unbeſchreib— 
liher Entzüdung gefehen. Ich hatte niemals viel Sympathien 
für Aegypten und ftand ruhig und ſchweigend neben ver Ber: 
züdten. Gehen Sie, fagte fie mit einem Blid voll genialer 
Verachtung, Sie haben feinen Kunft-, feinen Schönheitsfinn. — 
Madame! — erwiederte ih — mißdeuten Gie dieje Kälte nicht, 
e3 fehlt mir nur an Worten. Seit Jahren liebe ich diefe Mumie 
auf3 Romantifchite. — Bon diefem Augenblide ftand ich bei 
jener Dame in hoher Achtung, in allen Gejellihaften rühmte fie 
meinen Runft: und Schönbeitzfinn. 

Diefe ganze Vorbereitung foll eigentlich nicht3 Anderes fein 
als eine Erhorte, ein warnendes Erempel, eine Mahnung, ein 
Schwur, ein energifcher Entſchluß, nicht jo zu werden, wie Jene, 
und in meinem Verdikt über die mweltberühmte Schönheit der 
Arleferinnen fo unparteiifch zu fein wie ein Geſchworner. So 
gebe ich e3 hier mit der Hand auf dem Herzen vor Gott und den 
Menſchen ab: Die Arleferinnen find mit erſchwerenden Umſtänden 
ihuldig, die ſchönſten Weiber Frankreihs, vielleicht Europa's 
zu fein. 


164 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Die Motivirung iſt Schwer; es muß der Thatbeſtand feit- 
gejtellt werben. 

Es ift ein Faktum, daß felbft prefjirte Reifende im Süden 
anjtatt des hijtorishen Avignon oder des mweltbeveutenden Mar: 
feille immer das kleinere Arles ald Ruhepunkt oder Nachtlager 
auswählen; jo mächtig erwacht beim fernbinblidenden Amphi— 
theater die Luft an der Antike in jeder männlichen Bruft; es ift 
ein Faktum, daß ein Viertheil der männlichen Bevölkerung auf 
zwanzig Meilen in der Runde die Sonntagsmefle in den Kirchen 
von Arles allen anoeren Mefjen des frommen Südens vorzieht 
und in der Stadt de3 heiligen Trophimus zufammenftrömt; es ift 
ein Faktum, oder wie Berthold Auerbad jagen würde, „es iſt 
tief begründet,” daß die Frauen des halben Frankreichs nicht 
gerne über die von Arles jprechen, daß fie vielleicht im innerften 
Herzen wünjchen, die Spuren ſchönen Hellenenthums hätten in 
diefer Kolonie wie in Marjeille verfchwinden, oder ganz Arles 
hätte in Sumpf verfinfen mögen wie Rhoda; es ift ferner ein 
Faktum, daß man bier und da das Wort: „meine Frau ijt 
aus Arles“ mit verjelben jelbjtgefälligen Miene ausſprechen 
bört, als fagte der gute Mann eben: meine Befigungen liegen 
in Kalifornien. — Facta loquuntur, und id wollte, id könnte 
mich’ mit diefen Andeutungen begnügen, denn nichts ift jo miß: 
lih als Beſchreibung von Schönheit. Therfites wird von Homer 
lang und breit beſchrieben, bei Helena aber begnügt fich der 
Dichter mit Andeutung der Wirkungen, die ihre Schönheit ſelbſt 
auf Greife übt,.und bier und da mit dem ftereotypen Epitheton. 

Daß die griehifche Linie die vorwaltende fei, hat der Lefer 
ihon aus manchen vorhergehenden Bemerkungen entnommen. 
Aber Stirne und Nafe, jelbft von untadeliger Schönheit und 
voll ftolzejter Majeftät, würden, allein, nur wenig zu bedeuten 
haben. Unter breitgewölbten, immer dunklen Brauen, unter 
breiten Lidern und lang herabfallenden, halb gebogenen Wimpern, 
dunkel wie Trauerfeide, liegt das Eluge, warme Auge Es ijt 
nicht heiß glühend und nur glühend, wie man e3 meijt im Süden 


Siebentes Kapitel. 165 


antrifft; es ift aber, mie gejagt, warm und mit‘ Bewußtſein 
warm. Es fennt die Schönheit, die es beleuchtet, und leuchtet 
lachelnd, ftolz und froh. Der Macht feiner Herrin bewußt, jpielt 
e3 nur mit der eigenen und fpart fie für entjcheidende Momente. 
Beichattet und oft in tiefe Dunkel gehüllt von der Wimper, 
läßt es in Zweifel, ob in der marmornen Höhle eine Gazelle 
ruht oder eine Löwin, oder vielleicht nur ein einfames Veilchen 
blüht. Man könnte vide Bücher fchreiben über die Augen der 
Arleferinnen, über ihr bemußtes und unbemußtes Treiben und 
Schaffen, über ihre Objektivität und Subjeltivität. Ihrer Farbe 
nad find fie, obwohl over vielleiht weil auf griechiſchem Boden 
wohnend, fosmopolitifher Natur. Die ſchwarzen, braunen, duntel: 
grünen, blauen find faft gleich ftarf vertreten. Ein blaues ſah 
ich von jo edlem Leibe getragen, fo janft und tief glühend unter 
jtolzer Stirne und dunflem Haare, daß ich an die deutſche Mufe 
dachte, die Iphigenie in Tauris geichaffen hat. 

Der Mund ift, wie immer, in volliter Harmonie mit dem 
Auge; die beiden jingen und variiren ftet3 dafjelbe Thema wie 
Dur und Comes in einer Fuge. Mit den janft gejchwellten 
rofigen Lippen, hinter denen untadelige Zähne fhimmern, mit 
den feinen Mundwinkeln ift er Hug und ernft, und lächelnd, wie 
jenes; fcheint er, mie jenes, ein füßes Geheimniß halb zu ver: 
Ihmeigen, halb zu offenbaren. Er ſpricht auch mit gejchlofiener 
Lippe. Das tadelloje Dval des Gefichtes bevedt der feinite Teint, 
der fich mit dem ſchönſten englifehen oder fchottifchen meſſen kann; 
e3 glüht unter der zarten Haut fo ftille und fanft, daß man 
Pygmalions Statue im erften Augenblid der Belebung zu jehen 
glaubt. Weberhaupt ift es, als wäre man von Modellen griedi- 
ſcher Statuen, von den Urbilvern der Junonen und Minerven, 
die wir kennen, ummandelt. Den vollendeten Kopf trägt ein 
fanft gebogener Naden auf vollendeter, träftig einherjchreitender 
Geitalt. Die ſchwellenden Brufthügel bliden wie zürnend aus: 
einander gen Weit und Oft, und melodifhen Ganges ſchwingen 
fih die Glieder alle in mufifalifchen Rhythmen. 


166 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Die Tracht der Arleferinnen ift geeignet, ihre ganze Schön: 
beit im vollften Lichte zu zeigen. in kleines Häubchen bededt 
die nad oben in einen Knoten gewundene Haarflehte und 
wird von einem breiten Sammtbande feitgehalten, das jih um 
ven Kopf jchlingt, auf der einen Seite durch eine Nadel feitge- 
halten wird und maleriſch mit dem Ende auf die Schulter herab- 
fällt. Band und Häubchen zufammen bilden die volllommene 
phrygiſche Mütze. Sie bededt nicht das ganze Haar, jondern 
läßt auf den Scläfen die braunen oder blonden Scheitel in 
ihrem ganzen Reihthume jehen und von den feinen Tinten ber 
Wangen abjtehen. Naden und Hals find ganz fihtbar, da das 
weiße Spitzentuch vorn und rüdwärt3 weit hinuntergezogen it; 
die Brut zeigt ihre Form und bewegt fich frei in dem ſchwarzen 
Jäckchen, an das ſich ein Rod gleicher Farbe anſchließt, kurz 
genug, um den länglihen Fuß und die feinen Knöchel jehen zu 
laſſen. — Wie lächerlich fehen die „Damen“ mit ihrer Parijer 
Tracht neben den fo einfach gepugten Mädchen aus dem Volle 
aus! Wie wenig verftehen fie fi auf ihren Vortheil! 

Neben ihrer Schönheit ift noch der Geiſt der „Konver: 
ſation,“ den diefe gefegneten Töchter der Erde befigen ſollen, weit 
berühmt im Lande Frankreih. Sie haben immer Antworten 
bereit, die zu ihrem fchönen Munde mie zu den Eugen Augen 
paſſen; auch nimmt ſich die provenzaliihe Sprache auf ihren 
Lippen ſchöner aus als in den Liedern der berühmteiten Trou- 
badours. Sie find fi aber ihrer Macht bewußt. Man ſehe 
nur, wie ftolz fie einherfchreiten, mit welcher graziöfen Majejtät 
fie die Meinften Gejhäfte, die niedrigſten Verrichtungen voll: 
führen! Denn nur von Mädchen aus dem Volke oder höchſtens 
von Töchtern des Bürgers ift hier die Rebe. 

Die Magd, die vor der Thüre fegt; das Ladenmädchen, das 
ein Gefäß aus dem oberften Schreine herunterholt ; die Bürgers: 
tochter, welche Früchte und Gemüje im breiten, blätterbededten 
Korbe vom Markte trägt; die Müßigen, die an ihre jchlanten 
Krüge gelehnt am Brunnen plaudern oder Arm in Arm über 


Siebentes Kapitel. 167 


den Plat wandeln: e3 find das eben fo viele Modelle zu ven 
berrlichiten Statuen, zu den griechifcheiten Bildern. In ihrem 
reichiten Glanze fieht man die Nrleferinnen am Eonntage. Da 
ſtehen aber au die Männer in dichten Reiben rechts und links 
an den Betjtühlen und betradhten die heidnifchen Gefichter, die 
fih umfonft in riftlihe Andacht zu tauchen ſuchen. Nach der 
Meſſe jtellt man fih vor dem prächtigen Portale der Kirche 
Et. Trophime auf. Die Schönen find gnädig genug, jämmtlich 
dur diefelbe Thüre zu geben, da fie wiſſen, daß fich die harren- 
ven Blide Aller dahin wenden. Sie bemerken e3 zwar nicht und 
find ſehr ernſt, aber fie verfehlen die gewiſſe privilegirte Thüre 
doch niemals. Ebenfo würden fie e3 für ein Verbrechen, für eine 
Unterlaffungsfünde halten, wenn fie des Nachmittags nicht auf 
ver Promenade vor der Stadt erfchienen: die armen Reifenden 
Tommen ja von fo weit ber, um diefe Promenade zu fehen. 
Trotz dieſer leicht verzeihlichen Koketterie halten die Arle: 
ferinnen jtreng auf Anftand und Sitte. Sie wifjen, wie ungerne 
guter Ruf bei Schönheit verweilt, und thun das Ihrige, ihn an 
fih zu feſſeln. Auch ift das Gefeg der öffentlihen Meinung 
ſchwer und ftreng. Wehe dem armen Geſchöpf, das einen fchönen 
Sehltritt thut; die Schande laftet auf ihm mit mittelalterlicher 
Schwere. Mein freundlicer Führer zeigte mir ein verhülltes 
Fenſter, hinter welchem feit acht Jahren ein ſolches unglüdjeligez 
Geſchöpf fein Leben in tieffter Zurüdgezogenheit vertrauert. Nur 
in dunkler Naht an der Seite ihrer Mutter wagt es manchmal 
die ehemalige Königin der Arlejer Schönheiten, ihre Einſamkeit zu 
verlafjen und einen Spaziergang außerhalb der Stadt zu maden. 
Die übrige Zeit verbringt fie hinter dem dicht verhüllten Feniter, 
in ihrer düfteren Stube. Sie war die Schönfte der Schönen, der 
Stolz Arles’ gewefen, und vergaß fich einen Augenblid. An vie 
Mauer des gegenüberftehenden Haufes gelehnt, jah ich traurig 
hinauf zum Fenfter der armen Märtyrerin der Ehre, vielleicht 
ihrer eignen Schönheit. Hätte man in diefem Augenblide vie 
Leiche eines Helvdenjünglings, noch aus den Wunden blutend, im 


168 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


offenen Earge an mir vorbeigetragen ; hätte ich dort, hundert 
Schritte von mir, im griehijchen Theater ein Trauerfpiel des 
Sophofles fpielen gejehen, e3 würden ſich nicht fo tragifche Ge: 
fühle in mir geregt haben, wie beim Anblid diefes verhangenen 
Fenfters. 

Ih habe vom Glanze Arlefifcher Schönheit geſprochen, es 
ift Pflicht, von ihrem Fall und Verfall zu reden. Und fo fei es 
denn in Einem Worte gejagt: Ich habe keine ſchöne Arleferin 
jenfeit3 der dreißig, vielleicht nicht einmal jenfeit3 der ſechsund⸗ 
zwanzig Jahre geſehen. Die Augen leuchten wohl noch, aber 
wie magijche Lichter auf Ruinen; die ftolze Nafe bleibt immer 
die ſtolze Naſe, aber rings um diefen Thurm des hohen Liedes 
ift arge Verwüftung. Die Arleferinnen verwelten ſchnell, und 
wie das Bewußtſein ihrer Schönheit ihnen in der Jugend den 
berrlihen, gebieterifjhen Stolz gab, fo nimmt ihnen diefe trau: 
rige Erfahrung den Muth, gegen den reißend fchnellen Verfall 
zu fämpfen. Auch ift es jchwer, mit den heranwachſenden Ge: 
ſchlechtern zu mwetteifern. Sie geben fid auf und laflen fich frühe 
fallen. Mit etlihen und dreißig Jahren find fie jchlottrige 
Königinnen. Ach warum haben dieje Griehinnen nicht die Gabe 
der Homerifchen, die berrlichite Gabe, von der nur die Poefie 
träumen fonnte, die Gabe ewiger Jugend ! 

Alte Leute Hagen, dab die Arlefifhe Schönheit überhaupt 
im BVerfalle fei; ich glaube aber, das find die Jaudatores tem- 
poris aeti, die ed nicht begreifen, warum ihnen. die Arleferinnen 
von heute nicht fo gut gefallen wie die vor fünfzig Jahren. So 
lange ich Arles durchwanderte, feine Antifen, Monumente, fein 
Mufeum, feinen herrlichen Himmel und feine lebende Schönheit 
betrachtete, verließ mich der Gedanke nicht, wie praftifch es wäre, 
in diefer biftorifhen Stadt eine Malerjchule zu gründen. In 
einem deutfchen Arles wäre das vielleicht längft geichehen. 

Du wirft e8 mir nicht falfch deuten, daß ich mich bei diefem 
Gegenitande fo ausführlich vermweilt habe. Um die platten Aus: 
legungen Derjenigen, die Einem wohl erlauben, vor todtem 


Siebentes Kapitel. 169 


Marmor in Ertaje zu gerathen, jede Begeifterung für lebendige 
Schönheit mit Fleifh und Blut aber methodiih verdammen, 
um die fümmere ich mich nit. Du wirft di nur an die Verfe 
Hebbel3 erinnern, die wir einander oft citirt haben: 


Schönheit, wo ich did) erblide, 
Huldige ich deinem Licht, 
Und wie ich mich felbft erquide, 
So erfüll’ ich eine Pflicht. 


Den 12. Juni 1851. 

Ein epikureiſcher Reifender, habe ich jegt eine neue Erfindung 
gemacht, mie ich Arles auf raffinirte Weije genießen kann. Ich 
betrachte es falt nur noch im Mondſcheine. Unter Tages fie ich 
meift zu Haufe und leſe ſüdfranzöſiſche Gefchichten; wenn es 
aber jtiller wird in den Gaflen und der volle Mond über die 
Alpinen beraufzieht, mache ic mich auf, um all’ die Trümmer 
und Refte, die ich in leibhaftigem Sonnenſcheine gejehen, von 
den Schleiern de3 Mondes verhüllt aufs Neue zu betrachten. 
Dieje provenzaliihen Schleier find jehr durchſichtig, der pro: 
venzaliihe Mond ift nur eine wohl temperirte Sonne — die 
Nacht ein blauer, mit Sternen geihmüdter Tag. So eben, es 
ijt bald Mitternacht, komme id aus den Gängen des Klofters 
St. Trophime zurüd, wo ich zwei herrlich einfame Stunden zu: 
gebracht habe. E3ift ein wunderbares Kunſtwerk. Ein franzöfijcher 
Schriftiteller jagt von jeinen Galerien: „Wenn es wahr iſt, daß 
die Mauern Thebens beim Klange der Lyra, jo ift dieſes Haus 
bei den Harmonien der Orgel, beim Dufte de3 Weihrauchs ge 
baut worden.” — Der Mann hat fi gut außgebrüdt. Das Ge: 
bäude ift Iuftig ſchön und unfaßbar, fait unförperlih wie Har- 
monien und Weihraudpüfte, und verhält fich zu den Antifen 
wie die Orgel zur Lyra. Eo begegnet man in Arles dem Griechen: 
thbum, dem Römerthum und den jhönften Blüthen chriſtlichen 
Mittelalters, 

Der Klofterhof von St. Trophime ift ein regelmäßiges Viereck, 


170 Zagebud) aus Languedoc und Provence. 


das von vier Galerien, die fih in Winkeln aneinanderjchließen, 
gebildet wird. Die vier Galerien oder Gänge, leile, unmerklich 
von einander im Style abweichend, find höchſte Meiſterſtücke 
mehrerer Jahrhunderte. In jedem Winkel befindet fich ein jtarfer 
Vilaſter, der ganz aus zwei Statuen befteht, die mit ven beiden 
bier zuiammenjtoßenden Gängen Fronte machen. Zwiſchen dieſen 
zwei Hauptpilaftern befinden ſich auf jeder Seite in gleicher Ent: 
fernung von einander und von den Edpilaftern recht und links 
zwei andere, welche mit jenen die Hauptwölbung der Galerien 
tragen. Und wieder zwifchen allen dieſen Pilaftern läuft eine 
Reihe Heiner, unendlich zierliher Säuldyen hin, die paarmweije 
auf der Breite der unteren wenig erhöhten Mauer aufgejtellt find 
und mit ihren Kapitälen die Heinen Bogen tragen, die ſich von 
einem Säuldenpaar zum andern lieblih ſchwungvoll fortwölben. 
Alle Kapitäle find mit Efulpturen bevedt. Die Säulchen, die 
Skulpturen an den Kapitälen, die Kleezüge, die Statuen, die 
Pilaſter — Alles ift mit bewunderungswürdigem Geſchmacke 
vertheilt, ausgearbeitet und zu einem harmonifchen Ganzen zu: 
jammengeftellt. 

Hier in der einen Galerie herrſcht noch der romaniſche Styl, 
aber immer und überall fieht man ſchon die Keime des gothifchen, 
die durchzubrechen ſtreben — und in der That, dort in dem 
Gange gegenüber ift er bereits als vollendete Blume durchge: 
brochen, während in dem Gange recht3 noch die ganze Einfachheit 
und Naivität der erften chriftlichen Zeiten herrſcht, wie fie fich 
in diefen Ländern noch in den Bauten des achten Jahrhunderts 
ipiegeln. Diefem Gange gegenüber fteht fein Widerfpiel; man 
bemerkt ſchon die Abnahme ver gothiſchen Kunſt, die noch in 
ihrem Verfalle ſchön ift, und dadurch, daß fie jich der Weltlichkeit 
zu nähern ſucht, wie die Reformation, einen neuen Reiz erhält. 
Es ift eine in Stein gehauene Geſchichte des Chriftenthums, 
diefes wunderbare Bauwerk des Klofterhofes von St. Trophime, 
aber eine Gefchichte, wie fie im Gedichte lebt. Die vier herrlichen 
Galerien, obwohl verfhieden, ftimmen doch und paflen io 


Siebentes Kapitel, 171 


harmoniſch zujammen wie die verfchiedenen Stimmen, mit denen 
ein Sebajtian Bad einen cantus firmus umgibt. Wären vie 
alten Meijter des Kontrapunftes Architekten geweſen, fie hätten 
ſo gebaut. 

Warum lieben e3 fogenannte Kunjtlenner und Freunde der 
Schönheit, ihre Begeilterung nur für die Antike aufzufparen, und 
wenden fih mit einem bornirten Lächeln von Allem ab, was 
jpätere, ſogenannte chriftlihe Kunſt bervorgebradht hat? Ach 
jage e3 ihnen zum Trotz: diefer Klofterhof von St. Trophime iſt 
in feiner Art ein jo vollenvetes, befriedigendes, wohlthuendes 
Kunſtwerk, wie die maison carrée in Nimes, die ich anzuer: 
fennen und zu bewundern weiß. 

Bon der Höhe der ruinenhaften Mauern, bei Tageslicht be: 
trachtet, fieht der Hof mit feinen Säulchen wie ein Blumenkelch 
mit hundert Staubfäven aus; im Mondſchein ift e3 eine ſchöne 
Gruft. Der Nachtwind in den Bäumen, die über die Mauer 
jehen, das Murmeln des Brunnens im Hofe nebenan jind nicht 
mächtig genug, die tiefe Ruhe zu jtören, vie in diefen dunklen 
Gängen auf alle Steine gebreitet ift. Und wenn es oben jtürmt, 
man muß glauben, daß die Stille hier unten ewig und unab— 
änderlich diejelbe bleibt. Ich ging in der romanijchen Galerie 
auf und ab, der Mond war jchon vorbeigezogen, und tiefe Nacht 
lag ringdum ; mir gegenüber im anderen Gange wandelten zwei 
Schmeftern vom Orden der dames noires auf und nieder; fie 
lispelten nur, ihre langen Schleier jtreiften manchmal an die 
Säulden, und wenn fie über den Lichtitreif, den die Ampel vor 
der Madonna warf, gegangen waren, waren fie wie von ber 
Nacht verfchlungen. Ich hörte nur noch ihr Lispeln, das Lallen 
de3 Brunnens, das Säuſeln der Blätter — bis fie wieder, in 
den Lichtjtreif zurüdkommend, die Szene auf einen Moment 
belebten. — Die dames noires find vielleicht die elegantejten 
unter allen Frauenorden; fie tragen ein einfadhes, glänzend 
ſchwarzes Kleid, das die ganze Geftalt, nicht wie das Gewand 
der andern Orden, verpadt und unfenntlih macht, ſondern 


172 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


vortheilhaft hervortreten läßt. Den Kopf bevedt zur Hälfte eine 
kleine Kapuze, hinter welcher ein breiter Spigenrand hervorfommt, 
der das ganze Geficht glänzend einrahmt. Dieſe Coiffure gleicht 
dem befannten Maria-Stuart:Kopfpug. Rückwärts fällt von der 
Kapuze ein langer ſchwarzer Schleier herab, der bis an die Knöchel 
reicht. Bei diefen Nonnen habe ich die feiniten und gebilvetiten 
Geſichter bemerkt. In folder Umgebung, in jolder Beleuchtung 
und zu diefer Stunde find fie noch fchöner zu jehen. Ich hielt 
mich zwijchen zwei Säulden fitend fo ftille als möglih, um die 
beiden Luftwandelnden nicht zu ftören, denn hätten fie mich be: 
merkt, fie würden fich wahrjcheinlich zurüdgezogen und fi jo um 
eine traute Stunde gebracht haben, die ihnen lieb zu jein ſchien. 
Ob fie an die Schweitern gedacht haben, die unter ihrem Schritte 
überall in den Kloftergängen begraben find? — Ich betrachtete 
nur ihre ſchönen Profile, die ſich auf der beleuchteten Wandfläche 
zmwifchen den Säulen wie in einem Rahmen jharf abjchnitten, 
und die ſchlanken Säulen felbft, die im leife fladernden Lichte 
fich zu regen und fanft zu beben fchienen. 

Die Mondfceinichwelgereien koften viel Geld, denn die Alte, 
der die Aufficht über die Galerien anvertraut ift, läßt fich mit 
Recht ihren wormitternädhtlihen Schlaf gut bezahlen, beſonders 
wenn die Klojterthüre ſchon geſchloſſen und fie gezwungen ilt, 
mich dur das Kirchenthor zu entlaffen, was der armen Frau 
viele Mühe macht. Dann gehe ich durch den hochgemölbten Dom 
an den hübſchen Basrelief3 vorbei und trete durch eine der 
Seitenthüren hinaus auf die Treppe des berühmten Portals. 
Es ift romanijhen Styl3, mit vielen bronzirt ausſehenden 
Eäulen und einer Unzahl von kleinen Figürchen geihmüdt, fait 
könnte man jagen überladen. Die Figuren, wahrſcheinlich aus 
dem zwölften Jahrhundert, find plump und haben dumme, dide 
Köpfe; glüdliher Weife find fie jehr klein und verſchwinden in 
der Maſſe, wo fie dann eine Art von Arabesken bilden, vie ſich 
aus gewiſſer Entfernung nicht übel ausnehmen. Auch hier merkt 
man fchon den Uebergang aus dem romaniſchen in den gothiſchen 


Siebentes Kapitel. 173 


Styl; unmerklih, noch jehüchtern, läuft ver Bogen in eine Spige 
aus. Das Granitjäulden, das den Eingang in zwei Hälften 
theilt, ſieht faſt antif aus und iſt vielleiht das ſchönſte Glied 
dieſes, meiner Meinung nad) viel zu berühmten Portals. 

Bei Betrachtung des alten Obelisfen aus Granit, der ſich 
nahe dem Portal in der Mitte des großen Plages erhebt, leiftet 
der Mond dem Wanderer einen guten Dienft, wenn er fich dicht 
in Wolken hüllt. Der Obelisk ift jo häßlich, fo nichtsſagend, 
als nur ein Obelisk jein fann. Man fträube fich dagegen, jo viel 
man will, dieje Antiquitäten haben nur einen antiquarijchen 
Werth, und ganz und gar keinen andern. Cine dumme Nabel, 
ein riefiger Zahnſtocher — was ift ein Obelisk anders? — Ein 
Zuderhut hat ſchönere Formen. 

Bom Obeliske fort wandere ich, immer im Mondjcheine, an 
der Arena vorbei, durch Kleine enge Gäßchen dem Ende der Stadt 
zu, um aud dem „Theater“ einen Bejuch zu machen. Griechen 
haben e3 gebaut, um ihren Zandsleuten in Arles, zugleich den 
Barbaren das Vergnügen griechiſcher Trauerfpiele zu bereiten. 
Sie trugen ihre ſchönen Götter überall hin mit ih. Die Römer 
bauten Arenen für Thier: und Gladiatorenfämpfe, die Hellenen 
Bühnen für Sopholleifhe Tragödien. Das ift der Unterjchied. 
Mitten unter zertrümmerten Quadern, Reften der unzähligen Sig: 
reihen, erheben fi nur noch zwei intakte Säulen aus dunflem 
Marmor und korinthiſcher Ordnung. Sie waren ein Theil der 
Szene und lafjen auf die entſchwundene hohe Pracht ſchließen. 
Aber wie unharmoniſch paßt das Thor dort in Welten zu diejen 
Säulen, zu diefem ſchönen Halbkreis, zu diefer Anmuth, die 
noch über die Trümmer wandelt — ift e8 nicht fo maflig, ſchwer 
wie dad Thor einer römischen Arena? — Wohl ift es aud von 
Römern gebaut. 

Zwischen ven Duadern wuchert hohes Unkraut, um die pracht: 
vollen Säulen ſchwirren Fledermäufe, die dunklen Gäßchen 
ringaumber münden wie ſchwarze Bäche in das weißſchimmernde 
Baſſin des Theaters, und wo das Händellatichen von Tauſenden 


174 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


entzückter Griechen und zum Schönen befehrter Barbaren erjchallte, 
dehnt fich traurige, ſchaurige Todtenſtille. Den armen Erbauern 
dieſes Schönheitätempel3, wie muß ihnen im Grabe over in der 
Urne zu Muthe fein, wenn fie e3 willen, daß ihre Säulen, 
Frieje, Metopen geplündert und verftümmelt wurden, um chrijt- 
lihe Kirchen zu ſchmücken? 

Den 13. Juni 1851. 

E3 ift Sonntag. Zmifchen dem Schaufpiel in der Kirche, 
welche von der männlichen einheimifchen und fremden Bevölke— 
rung, wie ich ſchon früher gejagt habe, nur aus purer Welt: 
lichkeit befucht wird, und zwiſchen dem nachmittägigen, ähn: 
lihen Schaufpiele auf der Promenade hatte ich gegen Mittag 
vor meinem enter ein anderes, minder erfreuliches, Es ift 
hergebracht, daß am Sonntage die armen Leute aus der Um— 
gegend, beſonders aus dem fterilen Gebirge hier zufammenftrö- 
men, um fich für die fommende Woche an Arbeitögeber zu ver: 
miethen. Die Proprietär3 der Stadt und der nahen Camargue 
willen fo, wo ihre Arbeiter zu ſuchen. Dieje jegen ſich während 
und nad der Mefje auf die breite Erhöhung in der Mitte des 
Forums und warten da, geduldig harrend, ob ihnen ein günftiges 
Geſchick einen gutzahlenden Reichen zuführe. — Traurig und er- 
geben jaßen fie da. Sie erinnerten mich nicht eben an einen 
Sklavenmarft, aber in Verbindung mit dem römischen Forum 
mahnten fie mich an die Angellagten, die in ſchlechten Kleidern, 
das Mitleid ihrer Richter mit ftummen Bliden anflehend, auf 
dem öffentlihen Markte ihr Urtheil erwarteten. Nach der Meſſe 
famen gemach die Proprietärd an ; die Unterhandlungen begannen, 
e3 wurde belebter , und nach und nach verloren fich die Arbeiter, 
die ihren Handel abgeſchloſſen hatten. Nah Mittag ſchlichen nur 
noch wenige mit traurigen Gefichtern auf und nieder und war: 
teten immer und fahen mit hoffendem Blide den Zugängen des 
Forums entgegen, während lujtige Gamins den Ball jchlugen, 
über das Seil fprangen und hundert Pofjen trieben. Auch diefe 
Gamins trugen zerriffene Kleider und ſchienen dem Elende nicht 


Siebentes Kapitel. 175 


ferne zu ftehen, aber jie hatten nicht Weib und Kinder zu er: 
nähren; — aber fie find jung — fo jung, daß fie ſich eben fo 
wenig um die Arbeit3: und Broplofigkeit ihrer Brüder als um 
die in diefer Stunde vor der Stadt ſchaarenweiſe Iuftwandelnden 
Schönheiten Arles’ befümmern. — Das Forum heißt auch place 
des hommes, und in der That find auf diefem Plage fait nur 
Männer, die ihre Gefchäfte abmachen, zu fehen. Selten, daß 
eine weibliche Gejtalt über fein Tängliches Viered huſcht. 

Nah Mittag ein Spaziergang nad den elis-camps, oder 
champs elisees, ungefähr eine PVierteljtunde vor der Stadt. 
Wenige Städte der Welt haben fo interefiante Grabmäler aus 
den erſten hriftlihen Jahrhunderten. Die fhönften Särge find 
zwar in das Arlefer Mufeum auf der place de l’hötel de ville 
gebracht, aber es blieb genug übrig, um dem Fremden etwas 
Erjtaunenswerthes, Schauderhaftes, in feiner Art ganz Neues 
zu zeigen. Zu der Kirche, die ehemals in der Mitte des Begräb: 
nißplages gelegen haben mag, führt eine lange Reihe der kolofjal- 
ten Grabdenkmäler und Särge, die zmeis, dreis und vierfach 
hinter einander aufgejtellt find, und die, je mehr man fich ver 
alten Kirche nähert, an Zahl wachſen und endlich ordnungslos 
ein Jrrgewinde von Särgen bilden. Alle dieſe Särge find folofjal, 
als hätten fie Riefenleichen beherbergt, aus Stein gehauen, und 
mit jo diden Wänden, als hätte man das feite Haus des Todes 
noch befeitigen fönnen. Ob fie, Sarg und Grab zugleich, immer 
fo auf der Fläche ver Erde geftanden, ob fie durch eigenthüm: 
liche Ereigniffe oder durch Nachgrabung ins Tageslicht empor: 
gehoben worden? — ich fonnt’ es nicht erfahren. Nach ihrer 
Form zu fließen, ftanden fie, wie die Grabmäler der Alten, 
immer fo den Blicken ver Lebenden ausgeftellt, Grab, Sarg und 
Reichenftein zugleich. Die Leichen find verſchwunden — die Dedel 
von den meisten Särgen weggejchoben; fo fcheinen jie neue Be: 
wohner zu erwarten. Und wie fie gähnen, indeß das jchönfte, 
blühendfte Leben in Geſtalt ſchöner Arleferinnen zwiſchen ihren 
Reihen wandelt, ift das ein Gedanke, der ein wenig fröfteln macht. 


176 Tagebuch au3 Languedoc und Provence. 


Die einen waren mit Schutt gefüllt, und eine üppige Vege— 
tation wuchs und blühte aus ihrem Schooße hervor ; einige Ziegen, 
die auf den Särgen wie auf Felsitüden umberfprangen, nährten 
ih davon und tranfen das Wafler, das fih in diefen Trögen 
gejammelt hatte. ft das die ganze Metempiychoje? — Ich 
dachte an die Worte des Dichters, die ich fo überfege : 


Nein, Särge find nicht Chryjaliden, 
Bleib ferne mir mit ſolchem Wahn; 

Nur Ruhe ſuch' ih, Schlaf und Frieden; 
Doch wären Flügel mir befchieden, 

Um meine Hoffnung wär's gethan. 


Das Leid — ich könnt' es wieder tragen, 
Berlieren neu, was ich verlor. 

Doch der Gedanfe macht mich zagen, 
Daß ih das Glück aus fhönften Tagen 
Erfahren jolle wie zuvor. 


Die Kirche am Ende de3 langen, mit Särgen bejegten Ganges 
ift jo jehr von Schling: und Mauerpflanzen bevedt, daß fie jelbft 
aus geringer Entfernung einem Hügel gleicht, auf den ihr Thurm 
mit feinen runden Bogenfenftern wie ein Tempelchen aufgefegt iſt. 

Nah und nad verliefen fich die Lujtwandelnden, und diejes 
Ortes würdige Stille lag auf den Särgen allen. Nur in den 
Cypreſſen hinter der Kirche wurde es lebendiger, je tiefer die 
Sonne ſank. Es fangen die Nacdhtigallen. 

Ye länger man Arles kennt, deſto lieber gewinnt man eg, 
denn e3 gewährt die Eine herrlihe, unbezahlbare, unſchätzbare 
Gelegenheit, fich zu vertiefen. Der Geift aller Geſchichtsepochen, 
der der neuen und neuelten aber am Wenigften, weht bier, faft 
mit Augen fihtbar, mit Händen ergreifbar. Man braudt fein 
Lobredner der guten alten und Verächter der neueren Zeiten zu 
fein, um ſich manchmal mit befonderer Luft in die Vergangen: 
beit zu verjenfen. Das Schöne, dem wir dort begegnen, ge: 
währt Genuß an fib; die traurigen, rohen oder barbarifchen 


Siebentes Kapitel. 177 


Stellen erfcheinen in guten Momenten wie in den Felſen ge: 
bauene rauhe Treppen, die am Ende doch auf den jonnigen 
Gipfel und in den oben wartenden Barthenon führen, obne daß 
man im Geringften ein Famulus Wagner zu fein braucht, der 
fih freut, „wie man's am Ende jo herrlich weit gebracht hat“. 
Und, mit Einem Worte, um mich deutſch auszubrüden, man 
bat einmal die Freude, objektiv fein, betrachten zu dürfen. 
Aber nur die Natur und nur die Gefhichte, die ſchon ihr Epitaph 
bat, bieten und erlauben das. 

Arles gleicht im Anfang mancher mittelalterlihen Chronif. 
Noah, Troja, Ulyſſes, der Zauberer Virgilius, die heilige Jung: 
frau, Plato, die Kirchenväter, König Salomo, Ariftoteles, 
Juden, Heiden und Chriften, alles Schöne, Abenteuerliche und 
. Unglaublihe kommt da im Miſch-Maſch vor und zeigt deutlicher, 
al3 gelehrte und wohl fuftematifirte Weltgefchichte, welch’ ein 
buntes Gewebe die Welt und ihre Geſchichte gewefen und nod) 
ſei. Man wandelt hier aus einer Zeit in die andere, und mie 
die Monumente eins auf die Grundfteine des andern, oder aus 
den Trümmern längſt vergejjener gebaut find, wird Einem die 
Konftruftion des Gedanfenbaues, deren äußerer Ausdrud nur 
jene find, klar, und man ahnt, wie er die Welt „im Innerjten 
zufammenhält“, 

Das Mufeum mit feinen Aihenurnen, Thränenfläſchchen, 
griechiſchen Göttinnen, römischen Jmperatoren, &rijtlichen Sarfo: 
phagen, bis herab auf vie jchlechte Büfte Lamartine’s ijt ein 
Arles im Kleinen. 

63 befindet ſich in einer alten Kirde auf der place de 
I’hötel de ville, gegenüber dem Obelisfen und dem Portale 
von St. Trophime. Sein größter Schaf ift ein weiblicher Kopf, 
der Reit einer lebensgroßen Statue, die eine Venus vorgeftellt 
haben joll. Andere nennen fie auch eine Diana und behaupten, 
daß die zwei Löcher, die man über ihrer Stirne entvedt hat, den 
Halbmond getragen haben. Welcher der beiden Göttinnen er 
immer angehört haben mag, er ijt der einen wie der andern 

Morig Hartmann, Werke 11. 12 


1 
178 Tagebuch aus Yanguedoc und Provence. 


würdig, ja man fönnte, um ihn nach Verdienſt zu preifen, be: 
haupten, er vereinige die Schönheit, den Reiz der beiden Göttinnen 
in ih. Ah, wenn er nur eine Nafe hätte! Die Venus von 
Milo, geſchweige die Mediceiſche, wäre befiegt, obwohl der ganze 
Götterleib verloren und nur noch Kopf, Hals und eine Schulter 
übrig find. Es gibt im Süden Hunderte von Antiquaren, die 
in dieſen armen Reit verliebt find und von Auffindung der man: 
gelnden Naſe wie von Erfüllung eines theuerjten Wunfches träu- 
men. Auch hat man ſchon in der That mandherlei Ausgrabungen 
zu diefem Zmede veranftaltet, aber immer vergebens. An eine 
Reftauration denkt man nicht, und mit Recht. Denn kein Künftler 
würde e3 wagen, eine diejer Stirne, dieſer Wangen, viejes 
Kinnes, dieſes Mundes würdige Nafe liefern zu wollen. Nur 
dieſes Kopfes wegen fehrte ich immer und immer wieder ins 
Muſeum zurüd, bis ich bemerkte, daß auch mid) die fire Idee 
von der Naſe, von ihrer Auffindung, vom Unglüd ihres Man 
gel3 zu ergreifen begann und ich wegblieb, um nicht zu werben 
wie jene Antiquare und ewig und ewig an eine fehlende Nafe zu 
denken. Nichts hat eine ſchauerlich übermältigendere Macht über 
uns, al3 das unvollendete und verftümmelte Schöne. 

Die von Skulpturen, Ba3: und Hautrelief3 bevedten Sarko: 
pbage, die aus den Elis-camps ind Mufeum gebracht worden 
und aus den erjten chrijtlihen Jahrhunderten herrühren, zeigen, 
dab die Römer (die Arlefer nannten fih noch unter den Gothen 
jo) aud vom Ehrijtenthum ihre Prachtliebe nit unterprüden 
ließen, aber auch, daß es ihnen bereit3 an griehifchen Künjtlern 
fehlte, um diejer auf ſchöne Weife zu genügen. Die Prachtliebe 
ift noch die heidnifche, die über den Tod hinausgeht, aber vie 
Kunſt an diefen Särgen ift ſchon eine neue, in Kindheit lallende, 
unbeholfene und, wie man zu fagen pflegt, „naive“, Nur 
wenige Jahrhunderte vor dieſen Särgen kann jene Venus ge 
ihaffen worden jein — und meld’ ein Unterſchied bereit3 zwi— 
ſchen der Kunſt, die jene, und der Kunſt, die dieſe hervorgebradt. 
Ein Unterſchied wie zwijchen Plato und Origines. 


Siebentes Kapitel. _ 179 


Bemerfenswerth in diefem Mufeum jind noch die „Tänze: 
rinnen”, Skulpturverzierungen, vom antiten Theater zu Arles 
berrührend. Die Köpfe fehlen, aber die Leiber ſchwingen ſich 
anmuthsvoll im Tanze, der Glieder herrliches Ebenmaß tritt bei 
jeder Bewegung ſchön und reizend hervor, die Gewande fliegen 
— Alles an diefen todten, fopflojen Trümmern lebt und tanzt 
und freut fich des Lebens. Wenn fie noch Köpfe hätten, ich 
glaube, fie würden fingen. 

Auffallen müſſen die antiten Altäre, deren mehrere im Mu: 
jeum aufgeltellt find. Es find, nad) ihrer Kleinheit zu jchließen, 
offenbar Hausaltäre, aber mit welchem Gejhmad, mit meld’ 
edler Einfachheit, und doch wie reich verziert find fie gebaut. 
Einer derfelben wurde, wie die Inſchrift jagt, von einer Frei- 
gelafjenen errichtet; feine devote Königin verwendet heute jo viel 
Geihmad und fo viele Koften auf ihren Betfchemel wie jene frei: 
gelafjene Heibin auf diefen Altar. Diejer, ebenjo wie die andern, 
it wie ein Piedeftal, darauf unfihtbar der Gott fteht, dem er 
geweiht ift, 

16. Juni 1851. 

Mie jehr man auch Arles mit jeinen berrlihen antiken 
Reiten, mit feinen Erinnerungen, mit jeiner lebenden Schönheit 
lieb gewinnt — am Ende wird Einem die Stadt wegen ihres 
gräulihen Mönchs- und Nonnenmwejens zuwider. Der Pfaffe 
berrfcht hier unbeſchränkt und wird von der Pfäffin aufs Ge: 
mwijlenhaftefte unterftügt. Es ift nicht zu erfahren, wie viele 
geiſtliche Individuen beiderlei Geſchlechts die Griechenfolonie be: 
berbergt, aber gewiß ift es, daß nicht der fünfte Theil der ganzen 
Bevölterung nicht zu irgend einer von Prieftern zu priejterlichen 
Zwecken geftifteten Brüderfchaften gehört. Bei Leichenzügen und 
ven häufigen Prozeffionen fieht man die langen Schaaren von 
Penitents bleus, gris, blanes und Gott weiß, von melden 
Farben noch. Alle Mädchen tragen Amulette und Heiligen: 
bilohen und verſchiedene Schaumünzen am Halfe. Das find 
ebenfo viele Zeichen, daß fie ebenſo vielen religiöfen Gejelljchaften 


180 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


angehören, die ihnen allen gewiſſe Andachtspflichten auflegen, 
die über die Pflichten eines gewöhnlichen Chriftenmenjchen weit 
hinausgehen. Natürlich ift Arles legitimiftiih. Damit ift aber 
noch nicht gejagt, daß es den Bourbonen unbedingt anhängt. 
Menn Louis Napoleon heute mit den Prieftern einen Bund 
fchließt, jo hat er das ganze legitimiftiiche Arles in feiner Taſche, 
troß der ganzen antinapoleoniftifhen Vergangenheit Arles’. Der 
Unterricht ift bier auf Null reduzirt — die Ignoranz allgemein. 
Die Schulen find in den Händen der Geijtlichleit, und die be 
gnügt fih damit, wenn ihre Jüngerſchaft nur beten fann und 
den Katechismus auswendig weiß. Schreiben und lefen wird da 
natürlich auch gelehrt, aber auf eine Art, daß es der Schüler 
auf die leichtefte Meife wieder vergefien kann. Bevorzugte oder 
gefährliche Talente, bei denen folche Vergeklichkeit nicht voraus: 
gefegt werben kann, ſucht man für den geiftlihen Stand zu ge: 
winnen. Es iſt wahrhaft ſpaniſch. 

Morgen verlaſſe ich die Stadt, die mir trotz alle Dem und 
alle Dem lieb geworden iſt, um öfter wiederzukehren. Bis jetzt 
iſt es mir noch nicht gelungen, die Familie aufzufinden, mit 
welcher Adolph Stahr, wie er in ſeinem trefflichen Buche über 
Italien erzählt, eine ſo ſchöne Idylle verlebt hat. Ich möchte 
ihr ſo gerne einen Gruß von ihrem nordiſchen Gaſtfreund beſtellen. 


Achtes Kapitel. 


Marfeile — Griedenthbum und Chriſtenthum — Eine Herkules-Mythe — Der 

Etang de Berre — NReifegrundfäge — Der Hafen, der Handel, das Leben, 

die Kunſt — Die Arbeiterinnen — Glasgow und Marjeille — Die Wunder 

von Rotres-Dame de la Garde — Schöne Traum: und Rauchpunkte — Papety — 

Chateau d'gf, Mirabeau und Monte-Ehrifto — Wilde Jäger — Ricarb _ 
Ab nah Xir. 


Marfeille, den 3. September 1851. 

In Arles jtieg zugleih mit uns ein fonderbarer Mann in 
den Wagen, den ich auf diefem klaſſiſchen Boden für den Gott 
Aeolus jelbft zu halten alle Urfache hatte. Wahrfcheinlich reifte 
er nad Marfeille, um irgend einem modernen Odyſſeus im An: 
gejichte de3 Hafens Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er trug 
einen großen Blafebalg mit fih, der wenigſtens drei Viertel 
Manneshöhe hatte, und den er auf beide Handhaben wie auf 
zwei Füße zwiſchen feine Beine jtellte, jo daß der Bauch fich 
gerade zwijchen des Mannes Knieen befand, während das Blas— 
rohr gegen das Geficht gerichtet war. Sobald nun der Mann 
einige Hite verfpürte, drückte er mit beiden Knieen an und blies 
fih einen Eleinen Sturmmwind in3 Gefiht, jo dab fih Haupt: 
und Barthaare wild bewegten. In unbewahten Augenbliden 
ſchob er das Rohr fogar zwiſchen die Weſte und fächelte ſich auch 
die Bruft mit Zephyren. Wie dieß von der Gejellichaft bemerft 
ward, bot er ihr fein Inſtrument zu gleihem Gebraude an, und 
zwar höflicher Weiſe den Damen zuerft. Doc machte er wenig 
Glück mit feiner Offerte. 

Auf dem uns gegenüber haltenden Bahnzuge befanden ſich 


182 Tagebuch aus Canguedoc und Provence. 


in verfchiedenen Coupé's wenigftens fünfzehn Nonnen, die ganz 
vergnügt und ungenirt in die Welt jahen und unfere Gejellichaft 
mujterten. Es ift erſtaunlich, welche gewaltige Anzahl geiftlicher 
Individuen beiderlei Gejchleht3 Einem bier auf allen Wegen und 
Gtegen begegnet. Selten nur fteigt man in einen Waggon, ohne 
einen Cure oder einige Schweitern von was immer für einem 
Drden darin zu finden. Die Männer tragen immer ihre Breviere 
mit jih, die Weiber ein Eolofjales ſilbernes oder eifernes Kreuz 
auf der Brut, auch wohl, wenn e3 zu groß ift, wie einen Dolch 
oder ein Schwert im Gürtel. : 

Während wir längs der Camargue am jenjeitigen Rhoneufer 
binfuhren, erzählte mir ein Jäger, der neben mir faß — denn 
jeit Eröffnung der Jagd im Monat Auguft begegnet mar überall 
ebenjo vielen Jägern, al3 man jeit Eröffnung der Unterricht: 
freiheit Geijtliche findet — daß er geftern dort drüben in der Ca- 
margue einen Ibis geſchoſſen. Das hörte ſich nun freilich zunächſt 
wie eine ächte Jagdgeſchichte an: in der Folge indeſſen wurde mir 
aus zuverläfligem Munde beftätigt, daß dieſer heilige Vogel in 
der That zumeilen das Nil:Delta mit dem Nhone-Delta vertauſcht. 

Hinter Arles fährt man durch das ſchönſte und fruchtbarfte 
Land; die Weinpflanzungen find verfchwunden, an ihre Stelle 
aber treten gut angebaute Getreide: und Kleefelvder und endlich 
Wieſe an Wieſe — ein Anblid, ver doppelt erfreut, wenn man 
aus dem an Wiejen jo armen Languedoc kommt. In weiter 
Ferne treten die wüjten und wildgezadten Alpinen hervor, wie 
eine fichere und unnahbare Mauer vor einem Parabdiefe. 

Uber die Herrlichkeit des Paradieſes hat bald ein Ende. Mit 
einem Male, wie auf einen Zauberfchlag, verwandelt ſich das 
Land in Sumpf; fo weit das Auge reicht, nichts als hohes Rohr, 
darin die Mähder kaum zu jehen find. Bald wird es noch troft: 
lofer. Der Sumpf, der mwenigftend grün ift und ein gewiſſes 
Leben heuchelt, ift ebenso fchnell in eine traurige, von Kieſel be: 
deckte Wüſte übergegangen. Die todte Dammerde zwiſchen den 
Steinen hat nit die Kraft, einen gejunden Halm zu treiben ; 


Achtes Kapitel, 183 


höchſtens bringt fie jene eigenthümlichen Heideſchwellungen her: 
vor, die wir aus der Heimat der Heidfchnuden fennen. Auch 
dieſe jedoch find jo ungenießbar, daß ſich nicht einmal ein fo be: 
ſcheidenes Thier wie die Heidihnude damit begnügen würde; 
nirgend eine Spur von Leben. 

Dieß ift die Ebene der Grau, die vierzehn Lieues im Um— 
fange bat. Sie entitand, der Sage nah, als Herkules, von 
den Rieſen im Kampfe bedrängt, fich nicht mebr zu helfen wußte 
und zu feinem Vater um Hülfe flehte. Da ließ Zeus einen Regen 
von Steinen fallen, der die Giganten alle erfchlug. Eine einzige 
feine Daſe gibt es in diefer Wüfte: und die joll ein Pole mit 
dem ausdauernden Fleiß eines Urcivilifators geichaffen haben. 

Endlich verläßt man mit einem Rud auch dieje troftloje Dede 
und taucht in die eigenthümlichite Welt. Wenige Gegenden der 
Erde mögen dem PVorüberfliegenden jo viele Abwechslung ge: 
währen als die im Grunde nur jo kurze Strede zwijchen Arles 
und Marfeille. Der BVielgereifte wird hier an das Verſchiedenſte 
erinnert, und feine Phantaſie fliegt bald vahin, bald dorthin in 
die entlegenften Länder. So eben glaubte ic) aus der Provence 
nad Lüneburg verjegt zu jein, und jegt, da ich die Heide ver: 
lajie, wähne ih auf einmal an der Thür des wilden Karſtes zu 
ftehen ; wie ich aber in diefe trete und meinen Blid in den Schooß 
des Heinen Gebirgs fchweifen lafle, das ſich aufthut, glaube ich 
vielmehr einen ſchottiſchen Logh zu ſehen, den Logh fine, Logh 
long — aber nein, e3 ijt der jogenannte Etang de Berre, ein 
Finger, den das Meer dem Wanderer entgegenjtredt, jo wie die 
Loghs Arme find, welche die nordijche See, jtrenger und vüjterer, 
als ein Eroberer, aufs Land legt. 

Der Etang de Berre kommt und verſchwindet, bis man 
endlich längere Zeit an feinem Ufer hinfährt und ihn bei Sonnen: 
untergang mit Muße betrachtet. Ein prächtiger See! Die Berge, 
die ihn umgeben, find zwar aller Vegetation bar, kahl und trojt: 
los; aber das ijt das Schöne im Süden, daß die Farben und 
Töne, die Stimmungen, die beionders zu gewiſſen Tageszeiten 


184 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


auf den Gegenjtänden liegen, Anbau, Vegetation, kurzum Alles 
erfegen, mas im Norden nöthig it, um den Gedanken an die 
Wüſte zu entfernen. Schon die tiefe, weiche Bläue des Sees 
hätte genügt, die ganze Härte feiner Umgebung zu mildern; aber 
obenein jpielten auf dieſen weißen Felſen noch alle die herrlichiten 
Farben der untergehenden Sonne. Nicht mehr todt, kalkig, nein, 
brennend ſahen fie aus; fie ftanden wie eine Schaar in weißes, 
faltige3 Gewand Gekleideter da — dann hüllten fie fi in einen 
rofigen Schleierhauch, der ſich nad) und nad) in ein mildes Violet 
verwandelte — und endlich in ein tiefruhiges Blau überging. 
Das ſchönſte Waldland mit allen Moojen und Zweigen und 
Vögeln konnte nicht milder entſchlafen als diefe Wüfte. In ver 
Mitte des Sees trat erjt bei einiger Dunkelheit eine Inſel her: 
vor, als hätte fie jih vor dem Tageslichte verjtedtt gehalten und 
liebte e3 erjt in der Nacht emporzutauden. 

Ein Tunnel verfchlang ung; vielleicht der größte Tunnel der 
Melt, Wir fuhren, obgleich ſehr jchnell, doch über aht Mir 
nuten, bevor wir wieder and Tageslicht famen. Ans Tages: 
licht? Nein: die Sonne war inzwifchen untergegangen, und it 
fie einmal hinunter, wird hier fchnell Nacht, da fie in der reinen 
Luft feine Feuchtigkeit findet, in der ſich ihr Licht nachſpiegeln 
fönnte. Die goldenen Wolfen über den Bergen waren plöglich 
ſchwarz geworden, die Berge ſelbſt verkrochen jih: es wurde 
fühler, man hörte das Raufchen des Meeres. Als ich auf der 
Höhe des Omnibus in Marjeille einfuhr, war ſchon Nachtleben 
überall; der Hauch der großen Stadt wehte mid an, und das 
iſt mohlthuend in Franfreih, wo die meilten Provinzialftädte 
verphilijtern und neben Baris einen fleinftädtiichen, einen Dilet: 
tantengeruch befommen. 

Gleich nach meiner Ankunft machte ih noch einen langen 
Spaziergang durch große und Eleine Gafjen. Ueberall viel Leben, 
überall der Kosmopolitismus einer Seeftadt. Es iſt eben Markt 
bier; auf dem Plage wimmelt e3 von Spaziergängern, man hört 
viel engliſch und italienisch ſprechen und fieht vidbäuchige Türken 


Achtes Kapitel. 185 


und nerwöje Araber. Das Volk jcheint jehr luſtig. Noch einen 
Epaziergang am Hafen, um den Wind durch die Taue pfeifen 
zu hören, und dann nad Haufe, wo ih fpät nah Mitternacht 
todmüde die Feder aus der Hand fallen laſſe. 


4. September 1851. 

Meinem Reijegrundfage gemäß, trat ich die Wanderung 
dur die Stadt allein an, wie ich e3 immer thue, bevor ich Be: 
fannte aufſuche oder Empfehlungsjchreiben abgebe. Es ift ein 
jo behagliches Gefühl: noch bin ich unbefannt und unabhängig, 
noch fann ich unbeobachtet unternehmen, was ich will, und brauche 
feinen Genfor zu jcheuen. In einigen Stunden werde ich der 
Zuvortommenbeit eines Gajtfreundes, einem für mich entworfenen 
Plane, einer Einladung und vielleiht ſchon der Sitte der Stadt, 
den Vorurtheilen einer Geſellſchaft oder einer Klafje angehören 
— jegt bin ich noch frei! 

Sp manderte ih dem Hafen zu. Das Quartier, das ich 
pafliren mußte, ijt ein wahres Babylon. Es beherbergt alle 
Sprachen und alle Trachten; die orientalifchen und afrilanifchen 
find fait in der Mehrheit. Der Burnus aus Afrika iſt ein ge 
wöhnliher Anblid; Turban und Fe fann man überall zu 
Dugenden haben. Welch ein Leben am Hafen! Hunderte von 
Schiffen werden aus- und eingeladen, Berge von Kaffeeballen, 
Millionen grüner Zitronen, alle Spezereien des Orients und 
Oceidents duften Einem entgegen. Rings um den Hafen zieht 
ſich ein breiter Damm, der mit himmelhohen Häuſern beſetzt iſt. 
Die Parterres ſind von Tavernen und von Magazinen eingenom— 
men, welche letztere die Bedürfniſſe des Seevolfes befriedigen 
und es jo malerifch ausftatten; da hängen die geitreiften Jaden, 
die braunrothben Sad: oder Baskenmützen, die bunten Schärpen 
und Gürtel. Aus den Tavernen und Tabagieen klingen Lieder 
in allen Sprachen heraus; man fühlt die Bulje einer Welt ſchlagen. 
Jenſeit des Maſtenwaldes erhebt fi auf fahlem, glühendem Berg: 
fegel das Kaitell Notre- Dame de la garde, weiter gegen das 


186 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Meer zu das Fort St. Jean mit jeiner terrafjenartigen Befeſti— 
gung, ihm gegenüber das Fort St. Nicolas, ebenjo jtarf und 
fejt wie jenes. Gleich zwei ungeheuren Bulldog liegen fie an 
ven Pforten des Hafens; gegen ihren Willen fann feine englijche 
Maflerratte pajliren. Aber noch weit hinaus über das Fort 
St. Jean läuft ein Hügelzug, weit hinaus ins Meer: fein letter 
Ausläufer fteht da wie ein vorgejchobener Poſten, der aufmerf- 
 fam die unendliche Fläche beobachtet. Er ift unbezahlbar , diejer 
natürlihe Damm; an ihm brechen ſich die Wogen, die der Dit: 
und Südwind aufwühlt, und die jonft im Hafen wüthen würden; 
feine Menſchenkunſt hätte ihn jo feft zu bauen vermocht, hätte 
ihn je zu bauen unternommen. 

Um St. Nicolas herum biegt man gegen den neuen Hafen. 
Die Ausfiht wird freier — gegen Süden ift fie unendlich, gegen 
Weiten durch einen vullanifchen Gebirgszug begrenzt, der Einem 
auf die Haut brennt, wenn man ihn nur anjieht. Das Meer iſt 
von einer jo tiefen Bläue, daß der Norbländer e3 für Uebertrei- 
bung halten würde, wenn er es jo gemalt ſähe. Dejto weißer 
ſchimmern die hundert Segel der aus: und einlaufenden Schiffe 
auf jeinen Grunde. 

Durh Heine Gäßchen nahm ich den Weg in die Stabt 
zurüd. Alles Leben iſt auf der Straße. Die Gewölbe jhütten 
ihren Borrath hinaus, die Mädchen wachen, nähen, plätten 
vor der Thüre; der Handwerker figt mit feiner Arbeit auf 
ver Schwelle oder im Fenſter; Hunderte von mwandelnden 
Kaufleuten bieten jchreiend ihre Waaren aus. Ich babe ein 
Meib gejehen, da3 einen Fiſch auf dem Kopf balancirte, der 
buchſtäblich zwei Mal jo groß war al3 jeine Trägerin. Zahlloje 
Omnibus rafjeln auf dem Pflafter, mit ihnen die Badwagen, 
die Eleinen Karren der Marktweiber, aber wenige elegante Equi: 
pagen. Unter den fchattigen Bäumen des Cours St. Louis, 
einer Art Pariſer Boulevards, liegen Schon frühe ſüdliche Fau— 
fenzer. In den Gaſſen ijt viel Ehmug: aber — man lade dar: 
über — die jüdlihe Sonne vergoldet und verklärt auch vielen. 


Achtes Kapitel. 157 


Dem Fremden, der mit dem Gedanken an die Griechen nad 
Marfeille kommt, ift es nicht unangenehm, an einer Straßenede 
„Bafle des Anaharfis“, auf einem Schilde „Gaſthaus der Pho— 
feer” und auf einem andern den Namen Timon zu lefen. In 
der großen Fruchthalle, wo er eigen zund Pfirſiche einfauft und 
ihn die Verkäuferin freundlih nad feinem Vaterlande fragt, 
denft er an die Fruchtverkäuferin des Theophraftus und an ihr: 
„D Frembdling !“ 

Aus der Fruchthalle tretend, ſah ich das Mufeum neben 
mir, und ich konnte der Verſuchung nicht widerftehen, mein Em: 
pfehlungsjchreiben an den Direktor dajelbjt abzugeben. So kam 
ic denn in die Kunft, bevor ich das Leben kennen gelernt. Die 
Niederländer find hier am Beiten vertreten. Ein ächter Rubens, 
„die Jagd“, eines der Fräftigften Bilder des Meiſters, was viel 
jagen will. Uebrigens die befannten Geſtalten. Ein anderes, 
„die Auferftehung Chrifti”, zeigt Rubens in feiner vollen Zeit: 
lichleit, oder jo zu jagen, Irdiſchheit. Da ift feine Verhimme: 
lung, feine Engelei, feine Heiligkeit, feine befonderen Lichter — 
Alles menſchlich, irdifh und fauſtſtark. Chriftus mit einem Pa: 
nier in der Hand, das er wie eine Lanze hält, tritt mit einem 
großen Schritte und etwas wilder Gebärde aus dem Grabge— 
wölbe, als träte er aus einem Gefängniß. So ſchreitet er auf 
die Wächter los; und feines Wunders bedarf es, daß fie vor ihm 
erſchrecken, auf das Antlig fallen oder auf und davongehen. 
Seiner würdig ift das Bild feines Schülers Jourdan: „Chrijtus 
mit den Apofteln im Kahne.“ Der Meifter figt im Vordertheile 
des Schiffes und predigt den Jüngern; fie hören ihm mit mehr 
oder weniger Andacht zu, Manche figen gemädlic da wie flä- 
miſche Bauern; fie heucheln nicht und empfindeln nicht, aber 
wenn e3 dazu kommt, etwas zu thun oder zu leiden, wird das 
Wenige, das von den Worten des Lehrers in Ohr und Herzen 
hängen bleibt, hinreichen, fie an ihre Pflicht zu mahnen. Der 
nadte Kerl, der das Schiff führt, ift ein wahrer Rieſe und ſtößt 
jo gut, daß man den Kahn in Bewegung fieht. Nirgends eine 


188 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Spur von Konvenienz; natürlibe Grobheit neben natürlicher 
Grazie, fede Zeichnung und breite Malerei, in Allem ein Cha: 
after, eine Verfönlichleit. Dann ift noch ein Vandyk da, dem 
man glauben muß, daß er wirklich einer ift: die Studien zu 
feinem „Grafen Stafford“, und endlich ein unausmweichlicher 
Snyders mit feinen Fischen, Melonen, Braten u. ſ. w. u. ſ. w. 
Seine Bilder maden fatt, anjtatt den Appetit zu reizen. 

Dom Mufeum fam ich wieder an den Hafen. Es war Mit: 
tag geworden. In der Nähe der Kirche St. Victor faßen an 
zweihundert Mädchen, gruppirt oder einzeln, im Kirchenjchatten, 
auf Schwellen, in Vorhäufern, und vwerzehrten ihr Mittagsmahl. 
Wahrſcheinlich Arbeiterinnen, die in den großen Hafenmagazinen 
mit Einpaden und Affortiren, oder in der benachbarten Tabal: 
fabrif bejchäftigt find. Sie mahnten mich an Glasgow, wo man 
ebenfalla jo große Schaaren junger Arbeiterinnen zu gewiſſen 
Stunden in den Gaſſen fieht. Aber doch welch’ ein Unterſchied! 
Jedes diejer Mädchen bier in Marfeille hat fein Körbchen mit 
den beiten Früchten, Melonen, Feigen, Pfirſichen, Weintrauben 
angefüllt; dazu das blühendſte Brod, den köſtlichen Käſe von 
Roquefort, die Arlefer Wurft und eine Flafche rothen Meines. 
Die von Glasgow nagen an einer Brodfrume; auch im Anzuge, 
jogar in Schmudjaden fieht man die Aiſance der Marfeiller 
Arbeiterinnen. Die in Glasgow find in Lumpen gehüllt. Ein 
gewifjes diſſolutes Leben fieht man auch hier diefen Mädchen an: 
aber bei den wohlgenährten Südländerinnen jcheint die Folge 
höchſt freiwilligen Entjehlufjes, was bei den Geltinnen des Nor: 
dens Wirkung des Elends ift. 

Abends. 

Die Rue d’Aix, der Cours St. Louis, die Rue de Rome 
(eine kleine Oxfordstreet) bilden zufammen einen impojanten 
Straßenzug, welcher die Stadt in gerader Linie von Nordweſt 
gegen Südoſt durdläuft. An dem einen Ende fchließt ihn der 
Triumphbogen, am andern ein folofjaler Obelist. An dieſem 
vorbei gelangt man in eine von Bäumen nnd Häufern ſchön 


Achtes Kapitel. 189 


bepflanzte Gegend außerhalb der Barriere, weldhe den jpanijchen 
Titel eines Prado führt. Trotz der Schönheit diejes Parkes ver: 
läßt man ihn doch gern; um ihn mit der Allee zu vertaufchen, 
die gerades Wegs zum Meere an den Golf von Mordan führt. 
Rechts und links reihen fih die fomfortabeljten Landhäuſer an 
einander, die befjer als die Stabthäufer von der großen und viel: 
verbreiteten Wohlhabenheit Marjeille'3 einen Begriff geben. Da 
fieht man die prächtige fäulengetragene Billa neben der nod an— 
ſpruchvollern Schweizerhütte; ein Banquier hatte jogar die Grille, 
fein Landhaus volllommen in der Form einer gothifchen Kirche, 
mit Spitbogenfenftern und Thüren, mit Thürmen und Roſetten 
zu bauen. 

Die Allee wird vom Meere plöglich abgejchnitten. An ihrem 
Ende thut fi die herrliche Ausfiht auf den Golf von Mordan 
auf. Vulkaniſche, wild zerrifiene Berge ftreden ihre Arme in 
einem weiten Halbkreife gegen Süboften aus. Im Weiten wird 
der Golf von den Marfeiller VBorgebirgen, von den trois freres 
der Inſel Sf, mit ihren zwei Nachbarinſeln, und von den Bergen 
de3 Sees von Berre abgefhnitten. Im Südoſten wagt fi ein 
vom Vorgebirge abgelöfter Feljenkegel jogar meit hinaus ins 
Meer, fo daß fich zwiſchen ihm und den Niffen des Ufers cine 
dunkle Straße aufthut, welche wie der Dfeanosfluß in die Unter: 
welt zu führen fcheint. Aber diejer wilde Rahmen ſchließt ein Bild 
voll heiteren Friedens ein. Am Fuße der zerhadten und gezad: 
ten Felſen liegen freundliche, mit ihren weißen Häufern weit hin: 
ausihimmernde Dörfer, erheben ſich einzelne prächtige Villen, 
ftredt eine üppige Vegetation ihre grünen Arme über das Ufer 
hinab bis in die dunkle Fluth und drängt mit freundlicher Ge: 
walt die Dünenbänfe von ihrem Stillleben zurüd. Auf ven kah— 
len Feldwänden begegnen fich die Reflere de3 blauen Himmels 
und.des noch blaueren Meeres, die zitternd in einander fpielen 
und die Abhänge mit Tinten bededen, welche ein reiches bemeg- 
te3 Pflanzenleben täujchend nahahmen. 

In diefem Augenblid wird mit vieler Kunft und großen 


190 Tagebuch) aus Languedoc und Provence. 


Koften an einer Straße gebaut, melde vom Golfe längs des 
Ufers, um die VBorgebirge biegend, nach Marfeille zurüdführen foll. 
Der Ummeg ift groß, aber er wird lohnend. Mas kann es An: 
genehmeres geben, al3 in offenem Wagen, vom Abendwinde an: 
geweht, bei leuchtendem Meere allen diefen MWindungen des Fel- 
jenufers zu folgen und fo langfam al3 möglich dem Gefaufe ver 
Stadt entgegenzufahren, während von ferne der Leuchtthurm fein 
weißes Licht, die verfpäteten Schiffe ihre Lieder, die nachglühen: 
den Wolfen ihre Blite herüberſchicken? Ich folgte diefem neuen 
Wege; rechts Gärten und Landhäujer, lint3 mir zu Füßen das 
murmelnde Meer, dem hier und da ein Heiner Bach entgegenraufcht. 
Aber nah einer halben Stunde wurde meine Wanderung von 
geiprengten Felsblöden, Mafchinen, Balken und vergleichen ab: 
geſchnitten; ich jtand auf einem Vorjpruna hoch über der Fluth 
— der Weg führte nicht weiter. Mit Mühe Eletterte ich das 
zerbrödelte Geſtein hinauf und verlor mich zwifchen ftillen Gar: 
tenmauern, offenen Weideplägen, fahlen Hügeln, jteinigen 
Schludten und Thälern. Mein Führer war das von fteiler 
Höhe herabwintende Fort Notre-Dame de la garde; in Eile 
erreichte ich eS, bevor die Sonne untergegangen war. 

Die Kapelle von Notre-Dame de la garde ijt eine der be— 
gnabdetjten des Landes und von den Frommen am Meijten be- 
ſucht. Die Madonna über dem Altare, die Arbeit eines Mar: 
ſeiller Künftler3, ift aus getriebenem Silber und thut fehr viele 
Wunder. Die „ex-voto,* welche als Abbildungen verſchiede— 
ner geheilter Glieder, glüdliher Entbindungen, überjtandener 
Krankheiten, furdhtbarer, doc ſchadlos vorübergegangener Meer: 
ftürme, im buchftäblichen Sinne des Wortes alle Wände der 
Kapelle beveden, geben Zeugniß von der unausgefegten Wunder: 
thätigfeit diefer Madonna. Doch hielt ich mich bei dieſen Mira: 
teln nicht lange auf, bezahlte fie gläubig mit fünf Sous und 
eilte hinaus, um das natürliche Creigniß eine Sonnenunter: 
ganges auf dem mittelländijchen Meere nicht zu verfäumen. 
Als ic auf die Platform trat, lag die Sonne ſchon als unge: 


Achtes Kapitel, 191 


heure Kugel auf dem äußeriten Rande des Horizonte. Hafen 
und Stadt dedte bereit$ webende Dämmerung ; die Leuchtthürme 
maren entzündet. Ueber ver Bläue de3 Meeres zitterte ein bräun— 
liher Schleier. Aber die Spitzen der Berge leuchteten, und vie 
Kuppen, die gleih einem gewaltigen Kandelaber die Sonne in 
ihren Armen fejtzuhalten jchienen, jprühten und brannten wie 
weißglühendes Metall. Langjam begann nun jenes gemifle 
Rüden und Sinken des großen Erleuchters; die Strahlen ver: 
loren ihre Kraft, man konnte dem Scheidenden ruhig ing Ange: 
fiht Schauen, das unverhüllt dem Zurüdbleibenden lächelte. 
Endlih lag ein ſchmaler Kranz wie ein Golddiadem auf dem 
bödjten der Bergbäupter — und endlich verſchwand aud er. 
Die Sonne verfant, und in diefem Augenblid flogen nad rechts 
und links, wie zwei purpurne Schlangen, die tiefgetränkten Licht: 
jtreifen hin am ganzen weſtlichen Horizont; fie bligten auf und 
verbreiteten ſich als dunfelglühende Abendröthe über das halbe 
Firmament. Ein leifer Wind erhob fih, und fanft lispelte und 
murmelte da3 Meer, wie ein Kind im Einfchlafen. — Es ent: 
ihlief, und Nacht lag rings umher. Aus der Stadt herauf zog 
ein dumpfes Raujchen; die Lichter wurden angebrannt, die 
Glocken begannen zu läuten. 

Der öde Weg von Notre-Dame de la garde war belebt 
von allen diefen Tönen; in der Nähe des Hafens famen mir 
Schaaren von Mädchen fingend und lachend entgegen. Ich 
iprang in einen Kahn und fuhr nah dem cinefifhen Balajte, 
dem Fort St. Nicolas gegenüber. Auf allen Echiffen ging es jo 
bäuslich her wie am heimischen Herde. Das Schiffsvolk jaß am 
Tiſche gereiht und aß und trank; franzöſiſche, engliſche, deutjche, 
griechifche Lieder ertönten von allen Seiten. Die Wafler waren 
itill; mem Kahn fuhr leife dahin. 

Es gibt gewifje Punkte in der Welt, die von der Vorfehung 
eigens für faffeetrinfende Cigarrenrauder geſchaffen find, z. B. 
das Cafe Tommafo in Trieft; die Bänfe vor der Boutique des 
Sorbetverfäuferd auf der Riva dei Schiavoni in Venedig ; die 


192 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Terrafie des Pojthotels in Varenna, mit dem Bli auf beide 
Arme des Gomerjees; der Garten der drei Kronen in Venen, 
mit der Ausficht auf den Leman, auf das Rouſſeau'ſche Meillerie 
und in das Thal von Wallis; in Paris das Cafe de la Rotonde 
im Garten deö Palais national; in London die Terrafje von 
Adelaide-Hotel über der Themje und Londonbrivge; in Deutjch: 
land die Brühl’ihe Terrafie und in Marfeille der Balkon des 
Chinefiishen Haufe, der fogenannten Maison Isnard. Was 
kann e8 Süßeres geben, als, die ungejegliche Cigarre im Munde, 
den duftenden Mokka vor fih, jo gedankenvoll-gedankenlos da 
zu figen, ganz jo wie der beturbante Drientale neben mir, und 
binabzufehen auf diejen herchniſchen Wald von Maſten, auf das 
bunte Schiffsvolf in feinen Schatten, auf die janftbewegte Welle, 
die träumend an die Rippen der Riefendampfer plätjchert; auf 
das ftille Fort St. Nicolas mit dem melancholiſchen Faktionär, 
der mechanifch wie ein Pendel auf der Mauer hin und mieder 
wandelt und deflen Bajonnet im Mondſchein blinkt, und endlich 
auf die ſchwarze Unendlichkeit, die man das Meer nennt?! Hei: 
tere und traurige Gedanken, aber beide fanft lächelnd und in 
die Zukunft ſehend, ziehen Hand in Hand, fonderbar gepaart, 
vorüber und verſchwimmen förperlos mit dem Murmeln des 
Meeres, mit den Liedern des Hafens, mit dem Duft des Mond: 
ſcheins, mit den Nebeln der Berge. 


„Ob aud) die Jahre weiter ziehn, 
Die Träume find geblieben; 
Und dann — ob aud die Träume fliehn, — 
Es bleibt das Lieben.” 


Zwei blonde, deutjche, jehr liebenswürdige Jünglinge, wahr: 
ſcheinlich Handlungsbeflifiene, ftörten mich auf höchſt unange: 
nehme Weiſe aus der Gemüthlichkeit dieſes gedankenloſen Zu: 
ftandes. Sie ſprachen ein ſchändliches Franzöfiih, und doch, 
wenn man ihnen gedroht hätte, das Fort St. Jean an ihren 
Hals zu hängen und fie ins Meer zu verfenfen, wo es am 


Achtes Kapitel. 193 


Tiefften ift, e8 wäre fein deutjcher Laut aus den Kerlen heraus: 
zubringen gewejen! Ich zahlte meinen Kaffee, murmelte einige 
ächt deutihe Flühe und ging voll unpatriotifher Gedanken 
hbeimmärts. 

5. September 1851. 

Auf einem breiten Stuhle fit die große Gejtalt des heiligen 
Joſephus. Haupt: und Barthaar find grau, die Züge von der 
Sonne gebräunt, von Jahren und Erfahrungen gehärtet; ein 
finnender Ernft fit auf den bufchigen Augenbraunen;; ein weißes, 
faltige8 Gewand dedt die folofjalen Glieder. Ihm zwifchen ven 
Knieen fteht das Kleine Chriftusfind, ein Proletarierjunge mit 
etwa3 didem Kopf und fnodiger Stirn, aber feinen Lippen und 
durhfichtigem Blid. Es hebt die Hand auf wie zum Segen, und 
da e3 nach vorn fchreitet und auf der unterjten Stufe des Bildes 
ftebt, ift e8, al3 wollte e3 aus der gemalten Traummelt plöglich 
und mit einer gewiſſen wilden Gewalt in die wirkliche, irdifche 
bineintreten. Das ift feiner jener vielen gemalten Heilande, die 
fih von der Erde wegſehnen und jeden Augenblid die Himmel: 
fahrt zu unternehmen drohen: diejer Heiland hat eine umgekehrte 
Sehnſucht. — Dieß in ſchlechten und kurzen Worten die Beſchrei— 
bung eines Altarbildes, das ih in einem alten Gemäuer zu 
Marfeille befindet. Das alte Gemäuer heißt die Kirche St. Victor 
und ift ein Rejt der Abtei gleiches Namens, die in der franzöfi- 
ſchen Revolution zerftört worden. Der Maler vdiejes herrlichen 
Bildes aber heißt Dominik Bapety. 

Ih fage es meinen deutfhen Landsleuten nur vertraulich 
ing Ohr: — fie bilden fi viel zu viel auf ihre Bekanntſchaft 
mit aller Welt ein. Das Beite und Schönfte, das die Fremde 
bervorbringt, entgeht ihnen oft über dem fchreienden, zudring: 
lihen Mittelmäßigen. Die Scribes und Dumas, wel’ ein ge: 
waltiges Bublitum haben fie jenfeitS des Rheins, wo der poejie- 
volle Joylendichter Brizeur faum dem Namen nach bekannt ift! 
Und wie mit der Poefie, ift e8 auch mit den anderen Künſten. 
Die Horace Vernets und die Delarodhes, dieſe Scribes und 

Morig Hartmann, Werke IM. 13 


194 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Dumas der Malerei, entzüden unfere Banquierd und werden 
auf deutſchen Kunſtausſtellungen bewundert. Wer fennt Papety, 
einen der beveutendften Maler des modernen Frankreichs? 

Die nur kurze Lebenzfrift, welche der Entfaltung diejes 
großen Talente gegönnt war, und der zufällige Umftand, daß 
fich die meiften feiner Bilder im Privatbefig befinden und mehr 
oder weniger unzugänglich find, bilden allerdings eine Art von 
Entihuldigung ; ftatt anzuflagen, will id daher mit kurzer Er: 
mwähnung feiner Werte fortfahren und meine Landsleute mit 
Papety befannt zu machen ſuchen. In Marfeille, feiner Vater: 
ftadt, befinden fi noch zwei bedeutende Bilder dieſes jungen 
Meifterd. Die Kirhe Marie majeure befigt die „heilige Philo— 
mena“, eine einfache weibliche Geftalt, die mit ausgebreiteten 
Armen aus dem Rahmen herauszujchweben ſcheint, und „Jeſus, 
von beiden Eltern begleitet, au3 dem Tempel fommend.” Der 
zarte, doch kräftige Anabe glüht no vom Feuer des Kampfes, 
den er joeben mit den Schriftgelehrten bejtand. Mit emporge: 
hobenen Armen jchreitet er vorwärts, noch ijt er in Begeilterung, 
noch ſcheint er zu predigen, zu ftreiten und zu lehren. An feiner 
rechten Seite, mit dem langen Stabe in der Hand, geht oje: 
phus; ein Mann im kräftigſten Alter, mit der Miene des Be: 
jhügers und Vormundes, iſt er entjchloffen, den Kleinen zu ver: 
theidigen, auf deſſen Worte er mit aufmerkjamer Ruhe horcht. 
Aber tiefere Gefühle bewegen die Mutter. Sie hüllt fi in ihr 
dunfele® Gewand und hält die Hände fejt über die Bruft ge 
drüdt. Langſamen Schritte und finnend folgt fie dem jchnell: 
ſchreitenden Kinde; der mütterlihen Ahnung wird die ganze Be: 
ftimmung ihres Sohnes Har, und erhabene Leidensbeſchlüſſe 
faſſend, blidt fie ihm nad. Lebe wohl, jagt jie dem ruhigen 
Mutterglüd, und ergeben begrüßt fie das reichere Leid, welches 
fie aus dunkler Ferne kommen fieht. Eine jhön gepugte Cours 
tiſane betrachtet mit einem Gemiſch von frivoler Neugierde und 
ernjter Ahnung die Gruppe. Im Hintergrunde der Tempel mit 
feiner jtolzen Säulenhalle, aus⸗ und eingehende Fromme, Schreiber 


Achtes Kapitel. 195 


und Shhriftgelehrte; römische Wachen und Soldaten in glän: 
zender Rüftung — die ganze alte Welt, die e3 nicht ahnt, daß 
port ihr zufünftiger Zerftörer als Kind zwiſchen Vater und 
Mutter wandelt ! 

Ein eigenthümliches, anfang3 unbeftimmtes Gefühl bemäch— 
tigt ſich des Beſchauers diefer Bilder. Sie find ein Räthjel, 
etwas Neues; er weiß fie nicht zu Haflifiziren. Sind e3 Heiligen: 
bilder? Nein — dazu find fie zu robuft, zu irdifch, uns zu nahe 
verwandt. Sind es profane Bilder? — Noch weniger: denn e3 
verklärt fie ein gewiſſer Schein, den wir einen SHeiligenfchein 
nennen müjjen, da wir es einmal jo gewöhnt find. Sie ftellen 
vielleiht doch Bewohner diefer Erde vor, aber diefer Erde, wie 
fie werben foll, der künftigen Erde. Das iſt es: Papety iſt ein 
Mann der Zukunft — wie alle großen Künftler, ein ahnungs— 
volles Gemüth, das überall die Zukunft fucht, fieht und darftellt. 

Zufällig kenne ich eine große Zahl Papety’fcher Werke: Del 
bilder, Aquarelle, Cartons, die jih im Befit von Bekannten und 
Freunden befinden und ſonſt dem Publiftum unzugänglich find, 
Eines ver ſchwächeren unter diefen, dem Herrn Francois Saba: 
tier gehörig, gibt mir den Schlüflel zum ganzen Weſen des 
ahnungsvollen, ſchöpferiſchen Künſtlers. Es ift eine Allegorie — 
denn der eine neue Welt juchte, die er noch auf diefer Erde nicht 
fand, mußte er es nicht auch mit der undankbaren Allegorie ver: 
ſuchen? 

In dunklen Wolken ſitzt die kahlköpfige, graubärtige Ver: 
gangenheit und liest im vergilbten Pergamente; neben ihr die 
trübe Gegenwart, traurig, aufgegeben vor ſich hinjtarrend, mit 
der linken Hand greift fie träumerifch nach dem vergilbten Per: 
gamente, als wollte fie dort Rath holen in ihrer Rathlofigeit. 
Läſſig liegt die Rechte, die Hand,der That, im Schoofe. Auch 
fie werden bald die dunklen Wolken, die fie ſchon halb umhüllen, 
verſchlingen. Indeſſen aber, von Beiden ungefehen, fliegt aus 
blauem Hintergrunde die leuchtende Geftalt des Genius der Zu: 
kunft hervor. Sein fchimmernde3 Gewand ift von Sternen 


196 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


umränbert; fein Geſicht ift ernft und doch liebe: und verheißungs— 
voll lähelnd. Die Arme breitet ver heilige Knabe aus, al3 wolle 
er eine Welt an fein Herz drüden. 

Diefer Genius der Zukunft, ift e8 nicht derfelbe Knabe, 
welcher dort predigend und ftreitend aus dem Tempel tritt, mu: 
thig vormwärt3 dem Glaubenden entgegenfchreitet und eine alte, 
obwohl glänzende, doch vermwitterte Welt hinter fich läßt? Iſt es 
nicht derfelbe Knabe, ver dort auf dem andern Bilde aus dem 
Schoofe des greifen Alters jegnend hervorgeht? 

Die Zukunft war es, die Papety überall fuchte und fand; 
in ihm ſelbſt, wie wir fie, an der Schwelle einer neuen Zeit 
ftehend, nur ahnen; in der Weltgefchichte, wo fie ihm ſymboliſch 
oder im Spiegel verklärter Vergangenheit entgegentritt; in der 
Kunftgeihichte, wo jie als Blüthe des Menjchengeiftes anticipirt 
zur Erſcheinung kommt. 

Eine Anefoote und eine Erfahrung aus dem Leben Papety's 
müfjen wir bier einſchalten, die mie feine Bilder für ihn charak— 
teriftiih find. Bor Jahren, noch in Papety's früher Jugendzeit, 
hatte Ingres, der jtrenge Meifter der Form und der etwas be: 
ſchränkten Klaflizität, der den jungen Maler nicht bejonders 
liebte, feine Schüler um fi verfammelt. Und zu dieſen jagte 
er mit warnender Stimme: Meine Freunde, es gibt einen jungen 
Menſchen in Frankreich, der noch unbekannt ift, noch nicht viel 
weiß, der nur ftrebt und ſucht, — wenn er aber gefunden haben 
wird, dann wehe Eu! — 

Die warnende Prophezeiung des alten Meifters ſchien bald 
in Erfüllung gehen zu wollen. Papety errang den erften Preis 
der Afademie und wurde nah Rom gefhidt. Aber ven Preis, 
melchen fie vem Schüler zuerkannt, konnte fie, die Vertreterin des 
Fertigen und Alten, dem Manne, der mit feinem ganzen freien 
Mefen hervortrat, nicht zugeitehen. „Der Traum vom Glüd”, 
die erfte Frucht feines neuen Strebens und Wollens, ein gemwal: 
tige3 Bild, das Papety bald nach Paris fandte, wurde von Aka: 
demie und Regierung verſchmäht; zum erjten Male feit Menjchen: 


Achtes Rapitel. 197 


gedenken wies man die erjte Arbeit eines Preisgefrönten zurüd. 
Und Akademie und Regierung hatten Recht mit ihrem Inſtinkte, 
den die Gefahr eingibt. Im vorigen Jahrhundert hätten Hof 
und Hofleute diefes Bild, das nichts Anderes ift, denn ein Traum 
aus den Gärten de3 Akademos, Fleisch gewordenes platonifches 
Wort, wie eine gefahrlofe, unfhädliche Idylle von Florian be: 
wundert. Heute ſah man hinter dieſen friedlichen Gejtalten von 
Liebenden, Lehrern, Schülern, fpielenden Kindern nicht3 als So: 
zialismus und Revolution, hinter dem Tempel im Hintergrund 
einen Club, eine Volksbank, ein Phalanstere — Gott weiß was! 

Und im Grunde hatte man Redt. Die Idylle, dad Gedicht 
des Frieden und der Liebe, ift das revolutionärfte Gedicht. 
Denn wa3 wollen wir Anderes, als Liebe und Frieden, als die 
Erfüllung des Papety'ſchen „Traumes vom Glück?“ als lieben, 
lehren und belehrt fein? unfere Kinder, unfere Zukunft, in Blu: 
men fpielen und aufwachſen fehen? Die Devife: „Brüderlich: 
keit,“ welche die Gegenwart auf ihr Schladhtpanier fchreibt, jchreit 
fie nicht mitten aus dem Kampfgewühle nach Frieden und Liebe? 
Das gangbar gewordene Wort vom „Kriege gegen den Krieg“ 
— die verjchiedenen Friedensjekten und Phalanfterianer, welche 
vorzeitig vielleicht, doch gewiß menſchlich, friedliche Eroberung des 
Größten und Schönften predigen — ſelbſt die fomifchen Friedens: 
kongreſſe, find fie nicht Symptome genug der tiefen Friedens: 
ſehnſucht? Papety hat fie in ihrer Erfüllung gemalt. So ift der 
Maler des Chriftus urfprünglih ein Idyllendichter, ein Ber: 
förperer platonifcher Ideen, ein ſchöner genießender Heide, ein 
Herold moderner Münfce. 

Eine große Idee trägt alle Ideen in ihrem Schooße und 
ruht im Schooße aller Ideen. Sie ift untheilbar und allvertheilt: 
e3 ijt dieß der Pantheismus der Vernunft. Nur fcheinbar tritt 
der Priefter aus ihrem Kreife, das fehende Auge fieht ihn immer 
und überall mit ihrem Dienfte angethban. Der Maler des „Chris 
ſtus“ und des „Zraumes von Glüd” ift derfelbe, der die „griechi- 
ſchen Mädchen am Brunnen,“ eine Idylle aus dem fchönen Leben 


193 Tagebuh aus Languedoc und Provence. 


der Hellenen, gejhaffen hat. Mädchen mit ihren ſchlanken Wafler: 
frügen in Hallen oder in ſüdlichem Sonnenſchein figend und 
wandelnd, und jo lieblich plaudernd vielleicht wie jene Fontaine, 
die dort zwifchen den Säulen hervormurmelt: es ift eben nichts 
ale Schönheit und Friede, der große Traum von Glüd im Klei- 
nen wiederholt — ein Regenbogen in prismatiſchem Glaje. 

„Die Sterne in der eigenen Bruft,” die wir manchmal un: 
jeren Willen nennen, mußten Bapety nothmwendig nad) dem Lande 
führen, in welchem einft ein ver Vollendung nahe ftehendes, 
durch unfere Liebe noch mehr verllärtes Volk gelebt, dag wie ein 
in unferem Rüden aufgeftellter Spiegel und, wenn wir zurüd: 
bliden, einen Theil der Welt zeigt, der wir zufteuern ; mußte er 
nicht die zertrümmerten Anfänge „einer Zukunft” aufſuchen? 
Die Cartons, die er aus Griechenland zurüdgebradht, find ein 
Reliquienkaften von Erinnerungen an jede Stelle, die einft Schö— 
ne3 und Großes gejehen hat. Ueber ven Tempeltrümmern, den 
öden Thälern, den einfamen Lorbeerbüſchen weht ein Haud) Ie- 
benden, unfterblihen Griechenthums, als follte der Lorbeer noch 
heut die Stirne eines olympifchen Dichters befränzen, ald wären 
foeben die Belämpfer der Barbarei dur diefe Thäler gegen 
Marathon gezogen, als würde in diefen Tempeln noch jegt den 
jhönen Göttern des Himmels und der Erde geopfert! Den Pars 
thenon aber, ven Inbegriff aller Kunft und Schönheit, bat er, 
„ein rüdwärts gelehrter Prophet,” wieder jo aufgebaut, wie er 
die Augen des Perikles entzüdt hat. 

So Ehrift und fo Heide, ſteht er von jelbit auf den über: 
ſchauenden Höhen, die andere Geifter vor ihm aufgethürmt haben. 
Das Höchſte, das die Kunft der modernen Welt in Worten und 
Tönen hervorgebracht, nimmt er in fih auf und bringt es nod) 
einmal hervor. Sein Wort ift die Form, fein Ton die Farbe. 
Sn einem Palafte zu Florenz malt er die Meifterwerke Shake— 
ſpeare's und Mozart: denn im Emwigen ijt die Zukunft. 

Ich wollte nur auf Papety und die beherrjchende dee ſei— 
ne3 Lebens aufmerkfjam maden; ihn zu Haflifiziren überlafje ich 


Achtes Kapitel. 199 


Anderen. Bilder zu bejchreiben, die ſelbſt nur die volllommenjte 
Befchreibung find, halte ich für unnüg; ich bin ſchon zufrieden, 
wenn ich nur dazu beitrage,' den Namen eines großen Künſtlers 
meiter zu verbreiten. Bor einem Jahre hatte ich ihn ſelbſt noch 
nie nennen gehört. Im September 1850 fprah man mir von 
einem Requiem, das in der abjeit3 liegenden Kirche St. Vincent 
de Paul zu Paris abgehalten wurde. Ein unbefannter Compofi- 
teur Beſozzi hatte das Requiem komponirt, eine damals noch 
unbefannte Sängerin Emmy Lagrua, die ſich zufällig aus Deutfch: 
land hierher verirrt hatte, jang das ſchöne Trauerlied mit ihrer 
feelenvollen Stimme, und die Freunde Papety's meinten eine 
ftille Thräne. Er war im Alter Raphaels gejtorben. Aber vie 
Götter ſcheinen ihren Lieblingen, die fie jung zu fid) nehmen, 
die kurze Lebenzfrift dur einen klaren und heiteren Blid in 
alle Zukunft auszudehnen und zu bereichern. 


6. September 1851. 

Um elf Uhr Morgens jtieg ich in den Kahn, um nad Chä- 
teau d’If hinüberzufahren. Es war Winpftille, und die Fahrt 
dauerte faſt eine Stunde. Ein Dampfihiff nad dem andern flog 
an uns vorüber; das eine nad Algier, das andere nah Smyrna, 
das dritte nach den Antillen, das vierte jogar nad Kalifornien. 
Am Hafen hatte ich die Reiſenden gejehen, die mit ihrem Gepäd 
auf vielen Kähnen diefen Dampfern entgegeneilten. Nur wenige 
betrübte oder von Aufregung zeugende Gefichter habe ich unter 
ihnen bemerkt; fo fehr hat man fich heutzutage an das Reifen in 
die ferniten Zonen gewöhnt. Am Horizonte ftanden hundert 
Schiffe mit herabhängenden Segeln wie angenagelt; des Mor: 
gen3 hatten fie Dampfſchiffe dahingeſchleppt, aber fein Zuftzug 
kam ihnen zu Hülfe. Wie ein Hohn auf die alte Welt und ihre 
Mittel, zu leben und fich zu regen, jagten die Dampfſchiffe an 
ihnen vorüber. Eines fhleppte eben einen beleibten Mufelmann, 
von defien Mafte ver Halbmond auf die chriftliche Welt nieder— 
ſah, in den nahen Hafen. Bor dem Fort St. Jean arbeitete 


200 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


eine Dampfmaſchine, Berge von Sand in die fie umgebenden 
Kähne ausſchüttend. i 

Die Inſel If bietet trog ihrer Dede und Kahlheit doch einen 
überaus malerifhen Anblid. Die Mauern, die fie umgeben, 
müſſen fi den Formen des Felſens fügen und je nad) feinen 
Riſſen und Höhen auf: und abjteigen, fo daß fie hier den Fuß 
im Meere baden, während fie dort von fteilem Abhange luftig 
niederſehen. Ueberall aber werden fie vom inneren Schloſſe mit 
jeinen Zinnen und der Terrafje überragt. Den Hintergrund 
bilden die zwei größeren Eilande, Ratonneau und Pomegue, die 
durch eine Mauer verbunden find. Der Raum zwifchen beiden 
bildet ven Hafen Dieudonne. Man nennt ihn Gottesgabe, weil 
er faſt ganz von der Natur gejchaffen und die Menjchen nur 
wenig zu thun hatten, um fich ihn nugbar zu machen. Beide 
Inſeln find ebenfo wie If verbrannte, von Fort3 gekrönte Feld- 
ftüde; Pomegue trägt noch das mweitläufige Gebäude der Qua— 
rantaine auf feinen Schultern. 

Ye näher man den Inſeln fommt, deſto fihtbarer wird der 
aufiteigende Meeresgrund. Jede Heine Waflerpflanze it in dem 
Malde von Seetang zu unterfheiden. Fiſche, Krabben und an- 
deres Gethier treiben fi wie Wild im Forfte auf feinem Grunde 
umber, während über ihm ber Seeftern hin und her ſchwebt. 
Die Schatten der Wolfen am Himmel fallen bis in dieje tiefe, 
verborgene Welt. 

Eine theils in den Feljen gehauene Treppe führt in mancher: 
lei Windungen zwifchen zwei Mauern in das Innere der Be: 
fejtigung. Es beſteht aus dem Sclofje, einem Heinen Parallel: 
epipedum, aus dem modernen, unbedeutenden Wohngebäude des 
Concierge und aus fahlem, zerrifienem Felsboden faſt ohne alle 
Vegetation. Im Graben des Schlofjes gedeiht fümmerlih ein 
wilder Feigenbaum. Die ganze Bewohnerſchaft diejer Heinen 
öden Welt jest fi in diefem Augenblide zufammen: aus dem 
Concierge und feiner Frau, aus einem Lieutenant und zehn 
Mann Soldaten, aus einer Ziege und einem kleinen korſiſchen 


Achtes Kapitel. 201 


Widder; die legteren haben innige Freundichaft geſchloſſen und 
find ungertrennlih. Immer vereint, treiben fie fi auf dem 
delfen und, wenn das Schloßthor geöffnet wird, in den Gängen 
und auf den Zerrafien umher. Sie folgen aud den Fremden 
in das Gefängniß Mirabeau’3 und ftören ihn ironisch in feinen 
mwelthiftorifhen Betrachtungen. 

Mit dem erften Schritt in den Schloßhof mußte ich laut 
auflahen! Bor der Gefängnipthüre linf® am Eingang glänzte 
mir die Inſchrift „Prison de Monte-Christo* entgegen. Der 
Concierge ſah mich prüfend an, dann fagte er lächelnd: Eh 
bien, Sie wiſſen es, soit! — Ich habe es nicht hingefchrieben, 
und viele Fremde glauben es. — Er öffnete die Thüre, ich trat 
in ein wirklich ſchauderhaftes Gefängniß, in ein Loch ohne Licht, 
da3 wenige ausgenommen, welches durch ein Kleines Gitterchen 
der Thüre fahl auf den Boden fällt, ein Loch, das nicht fünf 
Schritt lang, kaum zwei Schritt breit und höchſtens drei Ellen 
hoch ift. Das Gemäuer, ohne alle Bekleidung oder Tünche, be: 
ſteht aus edig und jpig hervorragenden Steinen. Aus diefem 
Gefängnifle Monte: Ehrifto’3 traten wir in das anftoßende de3 
„Abbe Faria.” Ein Theil der Wölbung des erfteren bildet die 
Geitenmauer dieſes beijeren und bequemeren Gefängniſſes. Man 
fann in der That annehmen, daß zwei Gefangene in diefen bei: 
den Löchern durch die leihtgemachte Entfernung einiger Steine 
eine Verbindung berzuftellen vermögen. Diefen Troft kann ich 
germanijchen Lejerinnen, die an Monte: Chrijto glauben, nicht 
vorenthalten: Alerander Dumas hat Ort und Gelegenheit mit 
vielem Geſchick benugt, um jein Märchen wahrjcheinlich zu machen. 
Nur der berühmte Wurf im Sade läßt einigen Zmeifel auf: 
fommen, da die Mauer, von deren Höhe der unbarmherzige Ro: 
mancier den armen Monte:Chrifto jchleudert, von der Fläche des 
Meeres durch unterjchienliches Felsgeftein jo bedeutend entfernt 
it, daß man eben einiger Dumas'ſchen Romantik bevarf, um 
einen folhen Wurf zu thun oder an ihn zu glauben. Wahrfcein: 
ih um aud mir einige Gläubigfeit beizubringen, werficherte der 


202 — Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Concierge: daß ſich in den Regiltern des Gefängnifjes wirklich 
die Namen Abbe Faria und Dantes vorfinden, und zwar legte: 
rer von der Bemerkung begleitet „wegen Expedition eines Briefes 
von Bonaparte.” Auch diefes fei deutfchen Gemüthern zur Be: 
ruhigung gewiflenhaft verzeichnet. 

Die Treppe, die in den erſten Stod führt, und eine Galerie 
braten mich aus Dumafifhen Gejhichten in die Geſchichte — 
in das Gefängniß Mirabeau’s. Es befindet ſich gerade oberhalb 
des Gefängnifies Monte-Chriſto's und entſpricht diefem in Lage, 
Größe und Ausſehen. In meld’ Heinen Käfig wagte man diejen 
gewaltigen Löwen einzufchließen, der mit dem Schütteln feiner 
Mähne die Baftille gebrohen und alle Gefängnifje der Welt 
mwenigitens erfchüttert hat! — Sehen Sie, ſagte der Concierge, 
bier hat er lange Monate verbracht; ift es ein Wunder, daß er 
die Freiheit liebte? — Eine Bemerkung, die mande Weisheit 
manden Hijtorifers aufmiegen würde, wenn Mirabeau wirklich 
die Freiheit geliebt hätte. Und doc hatte der Concierge Net: 
Mirabeau liebte die Freiheit, aber wie Einer, der fie in feinem 
eigenen Gefängnifle und nur, meil e8 fein Gefängniß, lieben 
gelernt, nicht wie Der fie liebt, der die Haft der ganzen Welt 
als jeine eigne fühlt. 

Auf If hat ſich die Tradition erhalten, daß der Sohn des 
Menihenfreundes nah einem Befuche feines Bruders das Heine 
düftere Zoch mit dem nebenan befindlihen größeren und lichte: 
ren Gelaß vertaufhen durfte. Ein ziemlich großes Gitterfenfter 
geftattet die Ausficht gegen Süden auf das Meer. — Wie muß 
dem kochenden, braufenden Menihen zu Muthe geweſen jein, 
wenn er die Schiffe auf freiem Clement allen Weltgegenven zu: 
fliegen jahb! Wenn e3 ftürmte, mag es in ihm am Düſterſten 
ausgejehen haben: denn der Adler im Käfig, jo fagt man, it 
bei ftürmendem Wetter am Traurigften. Er half jih, indem er 
feine weltdurchſtürmenden Gedanken aus feinem Gemüthe heraus 
auf das Papier warf; denn in diefem milderen Gefängnifle wa: 
ren ihm Papier und Feder gejtattet. In einer Ede ift noch ein 


Achtes Kapitel. 203 


Ihmales Brett befeftigt, welches Mirabeau als Schreibepult ge- 
dient haben foll. 

Dem Gefängnifie des demagogijhen Ariftofraten jchräge 
gegenüber befindet ſich das gemölbte Gemach, das einen prinz- 
lihen Demokraten oder wenigitens einen, der e3 zu fein vorgab, 
eine Zeit lang beherbergte, bevor er nach Paris befördert wurde, 
um fein fheußliches Haupt der Guillotine varzubringen: Philipp 
Egalite. Als er bier auf feiner Flucht aufgehalten worden, 
ftopfte man Chateau d'If mit republifanifchen Soldaten und 
Freimilligen voll, da man das Geld, die Freunde und die In— 
triguen der Orleans fürdtete und eine jo foftbare Beute nicht 
verlieren wollte. Dafjelbe Zimmer hat fpäter Lavalette bewohnt. 

In dem großen Gemache nahe daran refidirte gezwungener 
Meife der Generalftab Joachim Murats. Die jchlehten Wand— 
malereien, die e3 anfüllen, find Erinnerungen an die langmei- 
ligen Haftmonäte. Alle übrigen Gemächer des Schlofjes waren 
noch vor Kurzem von den Juni: Infurgenten des Jahres 1848 
bewohnt. Es waren ihrer 380, und wie der Concierge fagte, der 
Lärm, den fie verführten, unerbört. 

Bevor ich dem Concierge feinen Franken in die Hand ge- 
brüdt und Abſchied genommen, erzählte er mir no, daß er ein 
jehr einträglihes Geſchäft machen könnte, wenn er nur viele 
Eremplare von Monte-Ehrifto vorräthig hätte. Die meilten Rei: 
fenden erfundigten fih darnach, da e3 ihnen intereflant fcheine, 
die Geſchichte auf ihrem Schauplage zu kaufen und fie als An- 
denken mit in die Heimat zu nehmen. — Ich fragte, ob dieß 
nit auch mit den Memoiren Mirabeau’3 der Fall ſei? — Nein, 
antwortete er troden, aber bedeutungsvoll lächelnd. — Diefer 
Mann war mir eigentlich einer der intereffanteften Gegenftände 
auf dem öden Felſeneiland. Sein Gefiht wie fein Benehmen 
zeugten von Harer Intelligenz, von menſchlichem Gefühl und 
nebenbei von fpekulativer Klugheit. Mit fihtbarer Freude ver: 
fündete er, daß er keinen Gefangenen unter feiner Aufficht habe, 
und knüpfte die Hoffnung daran, daß es noch lange, vielleicht 


204 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


immer fo bleiben werde. Im Gegentheil habe ich bei allen Ge: 
fangenmärtern und Kerlermeijtern, die ich je kennen zu lernen 
die Ehre hatte, eine um jo größere Freude, einen um fo größe: 
ren Stolz bemerkt, je größer die Zahl, je ſchwerer die Strafe 
ihrer Gefangenen gewejen. Mit ausprudsvollen Worten ſprach 
er von der Schwere der Einſamkeit, die manchmal auf ihm laſte, 
ihm, dem es doch frei ftehe, feinen Poſten zu verlaffen oder mit 
dem Dampfichiffe wenigſtens zweimal in der Woche nah Mar- 
jeille zu fahren, und zog daraus den Schluß, wie ſchwer erſt die 
Cinjamkeit auf die gezwungenen Gefangenen drücken müfle. — 
Freilih, fügte er mit einem vorfichtigen Seitenblid auf mid) 
binzu, babe ih auch ſchon Gefangene gejehen, die eine ſolche 
Gemüthsruhe, eine folhe Befriedigung ihrer ſelbſt ins Gefäng- 
niß mitgebracht, daß e3 alle feine Schreden für fie verloren zu 
haben ſchien. Sie können ſich nicht vorftellen, wie heiter viele 
der Gefangenen von 1848 ihre Haft getragen und der Verur: 
theilung entgegen geſehen haben. — Es iſt allerdings möglich, 
und nach dem klugen Augenzwinkern und dem Beobachten zu 
ſchließen, das ih an ihm bemerft habe, ijt e3 vielleicht jogar 
wahrjcheinlih, daß der Mann feine Worte nad dem Charalter, 
den er beim fremden vermuthet, ftellt und einrichtet; ich zeichne 
ihn aber gerne fo, wie er fich mir gegeben. Leuten auf folchen 
Voten ift es nicht Schwer, in mancher Beziehung Menfchenkenner 
zu werben und allerlei Beobachtungen anzuftellen. Das bewies 
mir auch die Bemerkung, daß die Engländer zuerjt und am Lieb: 
jten auf Egalité's Kerker zueilen, ihn wie ven Käfig eines wilden 
Thieres anjehen und oft anjpuden; daß ſich die Franzofen für 
die Löcher Mirabeau's und Monte-Chriſto's gleich ſehr interefji- 
ren, Deutijhe und — Rufien aber am Längjten bei Mirabeau 
zu verweilen pflegen. 

Mit einem leifen Südwindhauche fuhr ich gegen Marfeille 
zurüd. Es war zwei Uhr, die Sonne brannte fürdhterlih. Ich 
legte mich auf die gepoliterte Bank des Kahnes, um Siejta zu 
balten, ſelbſt erftaunt über die Gemüthsruhe, mit der ich 


Achtes Rapitel. 205 


Chateau d'If beſucht und verlafjen. Einige Jahre früher nur noch 
mit einem Funken von der Begeifterung, die ich bei erfter Leſung 
der Biographie und der Reden Mirabeau’3 verfpürt, — wie 
anders hätte ich diefen öden Feljen betrachtet, mit welchem Herz- 
tlopfen ihn betreten! Seit damals aber haben jafobinifhe Ge: 
danfen die Büſte, die ich ihm in meiner revolutionären Herz: 
fammer aufgejtellt, zertrümmert; der Beſchluß ward mit Lärm 
gefaßt und mit Schmerzen ausgeführt. Verſteckte Parkthüren, 
die zu einer jhönen Königin führen, müflen von einem mädhti- 
gen Zauber umgeben fein — aber Geld! Geld! armer, großer 
Mann! — Traumlos fchlafend fam ih in Marjeille an; was 
von Mirabeau zu träumen ift, habe ich ſchon vor langen Jahren 
dur = und ausgeträumt. 


Marfeille, ven 7. Auguft 1851. 

Es iſt vier Uhr Morgend. In einer Stunde verlafje ich 
diefe Stadt, die ich während eines furzen Aufenthaltes lieb ge: 
wonnen habe. Sie ift trog dem Mangel an großen Einzelnheiten, 
an monumentalen Gebäuden und bedeutenden Bildungsinftituten 
doch in Allem und Jedem eine große Stadt. Auf Land, In— 
jeln, Meer und Menjchenangelichtern liegt jener ausgeſprochene 
Charakter des Südens, der für den Nordländer fo unendlichen 
Reiz hat. Im regen Treiben der Gafien, im Lärm des Hafens 
fühlt man das Herz erweitert und im Kontakte mit der ganzen 
Melt. Man vergibt alles Komifche, das ſich die Parifer und die 
füplihen Nahbarn gerne von Marjeille erzählen. Den etwas 
findiihen Dialekt, der allerdings komiſch Klingt, ausgenommen, 
find die Marfeiller nicht komiſcher al3 die andern Franzoſen, fie 
find nur anders: aber eben dieſe Verjchiedenheit iſt den Centra— 
Tifationsfüchtigen fo fonderbar und lächerlih. Ihr Selbitgefühl, 
ihr Stolz, Bürger einer großen Weltitadt zu fein, wird den 
Söhnen Marjeille'3 beſonders von den Pariſern zum fomijchen 
Verbrechen gemacht. Diefe erzählen fich mitleidig, daß die Mar: 
feiller jagen: wenn Paris eine Cannebière hätte (die große ſchöne 


- 


206 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Straße, die zum Hafen führt), dann wäre Paris ein Meines 
Marjeille. Diefes erfundene Sprüchwort iſt allerdings für den” 
Stolz der Marjeiller, aber au für die Eiferfucht der Parifer 
harakteriftiih: da man aus Marfeille nicht eine Kleine Stadt 
machen kann, fo erzählt man wenigſtens Kleines von den Mar: 
feillern. 

Sonntags gehen fie mit Kind und Kegel auf ihre Land: 
bäufer oder Baftiden. Sie wären fehr glüdlih, dort Parks, 
Wafjerfälle und Springbrunnen & la Versailles zu finden. 
Aber die Vorjehung hat den Baftiven Quellen verfagt. So be: 
laven fie denn Ochfen, Eſel und Maulefel mit heiliger Salzfluth 
aus dem Meere und jchleppen fie mit großer Mühe und großen 
Koften in Fäffern hinaus. Um eine gewiſſe Stunde läßt man 
dann den auf diefe Weife genährten Springbrunnen oder die 
Kaskaden fpielen; die Familie figt herum, betrachtet den dünnen 
Waflerfaden und preist die Wunder und die Fülle der Natur. 
Bevor der Faden zu Ende gefponnen, entfernt man ſich, um bie 
Illuſion von der Unendlichkeit und Unerſchöpflichkeit mit fich 
nah Marjeille ing Comptoir zurüdzutragen. 

Aehnlihe Geihichten erzählt man von den Jagden der Mar: 
jeiller, zu denen fie aus Nähe und Ferne Freunde und Belannte 
einladen. Sie werden in einem hundert Schritt langen und 
zwanzig Schritte breiten, von einer Mauer eingefaßten Raum 
abgehalten. In der Mitte fteht ein einfamer Baum, der einen 
Käfig mit Lockvögeln trägt. Was fi von diefen an fliegendem 
Wilde anloden läßt, ift ein Raub der tapferen Jäger, die, in der 
Umzäunung verfammelt, den erhabenen Moment abwarten, bis 
fi eine Lerche oder Wachtel niederläßt. 

Was übrigens die Jägerei betrifft, jo find die Bewohner 
Languedocs und der Provence in diefem Stüde alle gleich lächer: 
ih. In feinem Lande habe ich fo viel und mit fo großer Leis 
denſchaft von Jagd und Yägerei jpreben hören, al3 bier, wo 
der Hafe eine Seltenheit, von Hochwild feine Spur ift und 
höchſtens ein Rebhuhn die mühfeligen Anftrengungen vieler heißer 


Achtes Kapitel, 207 


Tage belohnt. Wocenlang vor der gefeglichen Eröffnung der 
Jagd pust man Flinten und Jagdtaſchen, näht man Jagdkleider 
und fauft Munition ein. Diefe Jagdliebe ift um fo feuriger, 
ala fie eine unglüdlihe ift. Sie fommt Niemandem zu Gute, 
als dem Staat, dem fie ziemlich die Kafjen füllt, da jeder ein- 
zelne Jäger einen Jagdpaß, der nur perfönlich iſt, bezahlen muß. 
Für diefelbe Summe fünnte er fünfmal jo viel Wild kaufen, als 
er in der ganzen Saifon mit der fürchterlichſten Mühe erlegt. 
Aber die Leidenſchaft bemächtigt fih auch Jener, die den Pak 
nicht bezahlen können oder wollen. So entjtehen ganze Banden 
von Wilddieben, die in Schaaren das Land durchziehen und 
einen Vernichtungsfrieg gegen die Rebbühner und legten Hafen, 
einen Bertheidigungsfrieg gegen die Öendarmen und Gardes 
champötres führen. Wenn ein folder ſich naht, fteden fie den 
‘ Stiel eines Weinblattes in den Mund und biegen das Blatt 
jelbjt mit der Unterlippe nad oben, fo daß es das Geficht be: 
dedt und jie unfenntlih macht. Die zwei Einjchnitte im Blatte 
lafien ihnen die Augen frei; jo fchießen fie auf Gendarmen und 
Gardes champ£tres. Beſonders furdtbar haben ſich auf diefe 
Weiſe die Bewohner einzelner Dörfer in der Nähe von Sommieres 
gemadht; man erzählt jo viele tolle und fühne Streiche von 
ihnen, daß diejelben gejammelt einen Cooper'ſchen Roman bil: 
den würden, 

Die Nürnberger Lächerlichleiten von Marjeille haben mich 
zu weit geführt, und ich will nicht wieder zu ihnen zurüdfehren. 
Im Gegentheile will ih, e8 in einem feiner Söhne feiernd, von 
Marfeille würdigen Abſchied nehmen. Ich habe von Papety 
geſprochen; e3 wäre ungerecht, vom jüngſten Künftler Marfeille'3 
zu ſchweigen, befonders da ich jehon, ungerecht genug, von einem 
jeiner älteren, won Puget, dem Bildhauer, Maler und Ardi- 
teften aus der Zeit Ludwigs XIV., geſchwiegen habe. Der 
jüngjte fünftlerijehe Sohn diejer jonft dur und dur fommer: 
ziellen und fünftlerifh wenig produftiven Stadt ift Ricard, ber: 
jelbe, defjen Portrait3 im legten Pariſer Salon jo bedeutendes 


208 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


und fo gerechtes Auffehen gemadt. Die Regierung gab ihm die 
Medaille, das Bublitum das Zeugnig, in diefem Face das Beite 
geleiftet zu haben. Ricard war lange in Jtalien, bejonders in 
Venedig, durdhreiste dann die Niederlande und England und 
hatte fo die bejte Gelegenheit, die größten PVortraitmaler aller 
Zeiten, Titian und Vandyf, zu ftudiren. Aus diefem Studium 
30g er die bejten Früchte; dem Zitian hat er feine unübertroffene 
Farbe, dem Vandyk feine edle Eleganz und Grazie abgelaufct. 
Aber Farbe, Grazie und Eleganz find nur Heine Vorzüge, wenn 
der Portraitmaler feine Bilder nit, wie eben Titian und Van— 
dyk, wie Giorgione, Rembrandt, Belasquez gethan haben, zu: 
gleich dramatifch und hiſtoriſch zu beleben weiß, wenn er e3 ſich 
nicht bewußt ift, daß er zugleich Hiftorienmaler ift, daß auf jedem 
Geſicht ein Schatten und ein Strahl feiner Zeit liegt, daß jedes 
Geſicht einen Theil der ganzen Chronik feines Zeitalters bildet. 
Ricard hat das begriffen und malt darnach: wohl das höchſte 
Lob, dad man einem jungen Künftler von ſechsundzwanzig Jah— 
ren geben fann. Wer feine Bilder im legten Salon gejehen, hat 
bie Heberzeugung, daß Frankreih in Kurzem an Ricard ! einen 
der bedeutenditen Portraitmaler befigen wird. 

Es jchlägt fünf Uhr — die Pferde ſchaudern — es ijt heller 
Tag; ich eile, nah Air zu fommen, dem Wahlorte des Mannes, 
deſſen Kerker ich gejtern beſucht habe. 


I! + am 23. Januar 1873. 


Meuntes Kapitel. 


Air — Todesftile im ariftofratifhen Quartier — Langeweile, Mirabeau 

unbelannt — Monumente — König Rense ald Maler — St. Chamas — Pont 

Roque-Favour — Noftradamus — Ein ſüdliches Gewitter — Das Geftüte 
der Republif und feine Helden. 


Air, 6. September 1851. 

Kaum fünf Stunden bin ich hier, und ſchon weiß ich nicht 
mehr, was mit meiner Zeit zu beginnen, obwohl ich noch eine 
Stunde mit klaſſiſchen Wafchungen in ven Bädern des Sertius 
zugebracht habe. Die Merkwürdigkeiten find erſchöpft; das Mu: 
feum, das in folhen Fällen aushelfen muß, iſt gefchloffen. Ein 
Ausflug nah dem Thurm Cäjars wäre eine verbienftliche, eine 
MWalfahrt nah dem Berge St..Victoire, wo die Teutonen von 
Marius gefehlagen wurden, wäre eine patriotifche Unternehmung, 
aber e3 brütet etwas Unerflärliches in der Atmofphäre, daß man 
fih nit hinauswagt. Die Leute. laufen mit verhülltem Gefichte 
durch die Gaflen ; die Hite ift ganz fürchterlich, ver Wind brennt, 
wenn man die Hand emporhebt, und treibt vide, weiße Staub: 
wolken in Wirbeln auf, dur die die Sonne bald braun, bald 
bläulih grau zu fehen iſt. Es hat etwas vom Samum, oder als 
follte ein Erdbeben oder etwas dergleichen ausbrechen. Die 
Bäume des Corfo, die ich heute Morgen bei meiner Ankunft grün 
gejehen, find weiß wie nach einem Schneefall. Die Verordnung 
des Präfelten, welche vor einer Stunde noch bei heiterem Wetter 
angejchlagen wurde und das Tragen der rothen Farbe al auf: 
rühreriſch verbietet, kann diejen Effekt nicht hervorgebracht haben. 
Die Leute jagen mir, daß ein folhes Wetter ganz und gar nicht 

Morig Hartmann, Werke. II. 14 


210 Tagebud) aus Sanguedoc und Provence. 


zu den Eigenthümlichleiten des Landes gehöre, und daß es etwas 
Bejonderes zu bedeuten habe. Ich will es abwarten und dir 
indeſſen fchreiben, mein lieber Fritz. Zuerſt aber ftede ich den 
rothen, algieriihen Beutel, aus dem ich eben dieſes Papier be: 
zahlt habe, in den Sad, um nicht mit der Autorität in Konflikt 
zu fommen, denn ich jchreibe im Kaffeehaufe. 

Um fünf Uhr verlieh ich Marfeille. Die Pferde gingen jo 
fchnell, als e8 auf den fait immer auflteigenden Wegen nur 
möglich it. Dennod fuhren wir an zwei Stunden mitten durd) 
Landhäuſer oder Baſtiden. Sie dehnen fich ohne Unterbredung 
weit und breit um die Stadt aus und geben ihr fo die jcheinbar 
ungeheuere Ausdehnung, die man von Notre-Dame de la garde 
anjtaunt. Sie jind meilt in üppigen Pinien, Cypreſſen, Xorbeer: 
büſchen ganz verjtedt und erfreuen ſich won ihren Hügeln der 
herrlichſten Ausficht über die Stadt, die Injelgruppe von If und 
das blaue Meer. Der Rojenlorbeer (Dleander) jteht trog der 
vorgerüdten Jahreszeit noch in volliter Blüthe und athmet lieb: 
lihe Düfte und Farben. Das Getümmel der Stadt hört lange 
nicht auf; fruchtbeladene Wagen fommen Einem von allen Seiten 
entgegen ; Reifende und Landleute aus ver Umgegend jtrömen 
ab und zu. Eine Kuchenverfäuferin trat noch jchläfrig aus ihrem 
Haufe in der Voritadt, ihr Korb trug die Inſchrift: Liberte, 
Egalite, Fraternite. Kaum trat fie von der Schwelle, al3 fie 
ihre Waare ſchon in einem Liede anzupreifen begann. Sie jpefu: 
lirte mit Kunſt und Politik, um ihre Waare an Mann zu bringen. 
Sie that nichts Anderes, al3 mancher berühmt Gewordene. 

Der lachende Umkreis von Marfeille verwandelt fich endlich 
in die in der Provence obligate Wüfte, der man begegnen muß, 
wenn man nur drei Stunden im Wagen figt. Wir fuhren zwi- 
ichen fahlen Bergen hin, über die hinaus dunflere, zum Theil 
bewalvete berüberlugten. An ihrem Fuße lagert Wir — lang 
geftredt, wie es daliegt, mit der Vegetation, die in feiner Nähe 
zunimmt, mit den zwei gothifchen Thürmen, fieht es fich nicht 
übel an — man glaubt eine große Stadt vor ſich zu haben. 


Neuntes Kapitel. 211 


Die Illuſion verwandelt fich bald in eine andere. Auf dem 
Cours oder Corfo angelommen, glaubt man fich in einem Kur: 
orte zu befinden, was doc Air längjt zu fein aufgehört bat. 
Die lange und breite Straße des Cours ift von einer jchönen 
Allee durchlaufen, in deren Schatten ſich Kaffeehaus an Kaffee: 
haus reiht. Hier befinden ſich auch alle Poſt-, Meffagerie: und 
Omnibusbureaur — an zwanzig große Wagen ftehen immer zur 
AUbreije bereit; andere fommen und gehen. Auf den Balkonen 
der Gaſthäuſer langweilen fih langweilige Engländer und Eng: 
länderinnen. Vor den Café's figen und rauchen die im Süden 
jo üppig gebeihenden Müfliggänger in Civil: und Militärkleivern. 
Nur die Fremden und Reifenden bringen Leben und Bewegung 
hervor: die einheimijhe Stadt jheint gar nichts zu thun zu 
haben. Das wird noch wahrjcheinliher, wenn man fich in die 
Gaſſen ſüdlich vom Cours verſenkt. Es ift das das ehemalige 
ariftofratiihe Quartier von Air, welches dem Orte allein Be: 
deutung gegeben hatte. Die provenzalifche Ariftofratie war vor 
der Revolution eine der reichiten und ftolzeften von Frankreich, 
und Air, wo fie ihr Parlament hatte, war ihr Hauptjig. Die 
Parlamente find gefallen, mit ihnen der parlamentarifche Adel 
und die Parlamentsjtädte. Die Güter des ſehr legitimijtifchen 
Adels, der emigrirt war, famen in bürgerlichen Bejig, und nun 
fteht das prächtige Quartier mit feinen Paläjten, mit jeinen 
ftolzen Balkonen todt und leer. Das Gras wächst in den Straßen; 
die Fenfter find gejchloflen; die unteren Stodwerfe find von 
Wäſcherinnen bewohnt; die prächtigen Bejtibules find Sattler: 
und Wagnerwerkftätten geworden. Uralte Blatanen werfen ihren 
melancholiſchen Schatten auf dieſe geſtorbene Welt: die Waſſer 
der giſterne aus den Zeiten Ludwigs XIV. ſprechen in dieſer 
Stille ſo laut, daß man ihr monotones Murmeln im entfernteſten 
Winkel dieſes Stadttheils hört, daß ſie im Innern der Paläſte 
zu wiederhallen ſcheinen. Ich wollte mich nach dem Hauſe Mira— 
beau's erkundigen und fand in allen dieſen Gaſſen keine Seele, 
die ich befragen konnte. Ich kam wieder auf den Corſo zurüd, 


912 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


fragte nad) rechts und links — e3 wußte mir es fein Menſch zu 
jagen; fo gab ich es auf und vertiefte mich in die winklige, edige, 
fhmalgaflige innere Stadt. Da ging e3 etwas lebendiger ber, 
denn es war Wochenmarkt. Aber immer fonnte man bemerfen, 
daß man ſich in einer Stadt befinde, die dreimal fo viele Ein- 
wohner mit Bequemlichkeit beherbergen Eonnte. 

Auch bier viele alte, palaftähnliche Gebäude; ich trat auf 
gut Glüd in das eine und andere und mußte Wölbungen, 
Treppen, Töniglihe Raumverfhwendung bewundern. 

Zwiſchen diefen Häufern norpfranzöfifhen, arijtofratifchen 
Styles aus dem 17. Jahrhundert und_dem Anfang des 18,, wie 
wir fie au in Deutfchland fennen, nimmt fi) das Palais der 
Juſtiz, ganz italienischer Art, mit feinen unzähligen Säulen, 
mit feinem weißen Glanze, fehr frembartig aus. Es hat eine ſchöne 
Vorhalle, vor der die beiden berühmten Rechtsgelehrten Bourtales 
und Simeon — in weißen Marmor gehauen — mit ihren Orden 
und Spitencravatten ſehr breit und würdig auf marmornen 
Thronen figen. Der innere Hof ift zu fehr von Säulen über: 
laden. Man fieht nichts als Säulen über Säulen. Neben dieſer 
Verſchwendung nimmt fich die ſchmale Doppeltreppe deſto ärm- 
licher aus. 

Ich verließ den Palaft, um die berühmte Kathedrale aufzu: 
ſuchen. Es ift ein unorbentliches, großes Haus, halb im Spip- 
bogen-, halb im Rundbogenftyle gebaut und gar nicht fo viel 
daran zu bewundern, als Bücher und Reifende Einem glauben 
machen möchten. Das Intereſſanteſte an ihr ift eine mit Skulp— 
turen bevedte Thüre, die wahrfcheinlich aus dem 16. Jahrhundert 
ftammt. Die Skulpturen ftellen verſchiedene Tugendey und die 
zwölf Propheten dar. Die Gefichter find mit außerordentlicher 
Sorgfalt gearbeitet und haben ein jhönes Relief. Befonders zu 
loben ijt die Einfachheit des Ganzen, die bei ähnlichen Arbeiten, 
wie mir fie in Belgien, Deutſchland und Stalien fehen, meift zu 
mangeln pflegt. 

Eine andere Merkwürdigkeit der Katheprale von St. Sauveur 


Neuntes Kapitel. 213 


iſt das ſchöne Bild, das man dem König Rene zufchreibt. Es 
jtellt die Jungfrau mit dem Kinde über einem Baume ſchwebend 
vor; ein Engel ruft einen Hirten herbei, der fich geblenvet die 
Augen mit der einen Hand bevedt, während die andere den 
Schuh vom Fuße ziehen will. Vielleicht ift es der Hirte Mofes. 
Viele Ausleger glauben, viele bejtreiten e3; denn, jagen die 
Legteren, was hätte die Jungfrau mit dem Kinde in jener Ge: 
fhichte mit dem Dornbufhe zu thbun? — Aber wenn David 
Chriftum anfündigt, warum foll Moſes nicht die Jungfrau jhon 
im Dornbufche gejehen haben? Ich ſehe nicht ein: es ift Eines 
jo möglih wie das Andere. Mebrigens kommen uns bei den 
Malern früherer Jahrhunderte fehr oft ſolche Ragout3 aus alt: 
und neutejtamentlichen Stoffen bereitet vor. Man muß zu jo 
frommen Werken wenig Verſtand und viel Glauben mitbringen, 
dann thut man ihnen am Wenigften Unrecht. Auch die Gefhichte 
muß man auf Momente vergeflen. Dieſes alles bei Seite, ver: 
räth das Bild eine Meifterhand. Zu diefer Reinheit der Zeich: 
nung, zu diefer Lebendigkeit und Harmonie. der Farben, zu 
diefem leichten Ausdruck der Wahrheit in Stellung und Mienen 
bringt es feine königliche Dilettantenhand. 

Das Bild ift von zwei Flügelthüren bededt, welche innen 
und außen von derjelben Hand und mit größerem Glüde noch 
als das Hauptbild gemalt find. Auf den vier Flächen fieht man 
die Jungfrau mit dem Engel Gabriel — den König Rene und 
fein Weib — wieder den König Rene in Gefellihaft zweier 
männlicher und einer weiblichen Heiligen — die Königin in 
ähnlicher Gejelfhaft. Der Kopf der Heiligen auf diefer vierten 
Bildfläche ift unendlich reizend und ſchön; er überftrahlt weit die 
Himmelskönigin und die Erdenlönigin. Letztere ijt allerdings 
bedeutend häßlich. Daß das Bild nicht von König Rene hetrühre, 
beweist fein eigenes Portrait auf dem einen Flügel; der Kopf 
bat eine ſolche Stellung, daß er ſich unmöglich felbit gemalt 
haben kann. Daß aber diefer Kopf wie da3 ganze Werk von 
einem und demfelben Meifter herrühre, ift nicht zu leugnen; es 


214 Tagebuh aus Languedoc und Provence. 


ift. ein und verjelbe Charakter in Zeichnung, Farbe und Auf: 
faflung. Bon König René's Kopfe ftrahlt ein fo beftimmter, in: 
dividueller Ausdrud, daß man von der Aehnlichkeit des Portraits 
fejt überzeugt ift. 

Ein Mann, der fo malen konnte, im fünfzehnten Jahr: 
hundert jo malen fonnte, hätte ſich nicht mit Regieren abgegeben. 
König Ludwig hat weniger gelungene Poefien gemacht und hat 
für fie feinen Thron verlafjen; denn welchem Künftler, wenn er 
die Wahl hatte, wäre fie zwiſchen Kunft und Thron ſchwer ge: 
worden. So jhließe ich auch daraus, daß das Bild wohl ein 
Gejhent König René's fei, daß man ſich mit der Zeit gemöhnt 
babe, es „das Bild von König Rene” zu nennen, daß er es aber 
mit feinem Binfel berührt habe. Er wäre fonjt auch als Dialer 
etwas befannter geworden, denn es ift des größten Malers feiner 
Zeit würdig. Auf dem Piedeftal der Brunnenftatue, welche die 
Airer dem guten König Nene aufgerichtet, heißt es, feine Lieb: 
Iingsbejhäftigung jei Beglüdung feiner Unterthanen gemejen. 
Connu! Connu! Rechts und links find die Medaillen zweier 
Rathgeber, wie zwei verantwortlihe Minifter beigegeben. 

Giehjt du, lieber Frig, wenn ich dir noch fage, daß es 
bier einen deutfhen Schufter Namens Wagner gibt, der fein 
Haus zum deutſchen Stiefel nennt, und daß fich der Verräther 
gar nicht darum kümmert, daß die Teutonen bier gejchlagen 
worden, daß er fich aber jehr für Mirabeau interefjirt — fo habe 
ih dir das Merkwürdigite,mitgetheilt, wa3 von Air überhaupt 
mitzutbeilen ift, und ich eile nach der Poit, um nad St. Chamas 
und von dort nad Arles zurüdzufahren. 


St. Chamas, 6. September 1851 Nachmittag. 
Mit Hülfe von fünf feurigen Hengjten flog. ih von Air nad 
St. Chamas, und e3 ift gut zu fliegen über diefe unerquidliche 
Strede, befonders wenn ein Gewitter in der Luft hängt. Schwarz 
lag das Gebirge hinter uns und hüllte fi immer dichter in 
Wolken ein. Kaum war der Thurm Cäſars zu fehen, aber drohend 


Neuntes Kapitel. 215 


brad der Berg St. Victoire dur alle Wolfen. Er heißt eigents 
fih nur Victoire oder Victoria. So haben ihn die Römer zum 
Andenken an ihren Sieg über die Germanen genannt, aber das 
fpätere Chriſtenthum hat fein „St.“ hinzugefügt, und e3 hat fi 
wohl auch ein phantafievolles Pfäfflein gefunden, das die Legende 
zu dem „St.“ erfann. Genug, man verehrt jet dort eine heilige 
Victoria. Neben mir im Imperiale ſaß ein poetifcher Airer, der 
mir die Topographie des Landes erklärte. Von der Schlacht der 
Römer und Germanen fprah er mit einer Befriedigung, als 
wäre er jelbjt ein Römer, und mit einem Intereſſe, als ſpräche 
er von Marengo. Sie jheint überhaupt der biftorifche Stolz der 
Gegend zu fein. Alles, was er mir erzählte, belegte er zugleich 
mit pathetifhen Verſen, die von feiner Mache zu fein fehienen. 
Bon dem armen, unbelannten Flüßchen, der Arc, an defien Ufern 
fich der Kampf entſponnen, behauptet er in feinen Berjen, e3 nähme 
mehr Pla in der Geſchichte, als in feinem Bette ein. Das 
nenne ich doch eine patriotiſche Illuſion. 

Links von ung lagen die weiß jhimmernden Bogen des 
Pont de Roque: Favour, den ich ſchon diefen Morgen gejehen 
babe. Er verbindet zwei ziemlich hohe Berge und bildet den 
ihönften Theil der großartigen Waflerleitung, welche die fernen 
Mafjer ver Durance nah Marfeille führt. Ein fühnes, römer: 
mwürdiges Merk, bei dem die Marjeiller weder Geld, nody Mühe 
und Kunſt geipart haben. 

In der Nähe von St. Chamas zeigte man mir den Fleden 
Salon, ungefähr zwei Stunden Weges von uns entfernt, am 
Fuße der Berge, welche die große Ebene begränzen. Dort ruht 
in feinem Grabe der berühmte Gelehrte und Charlatan des 
16. Jahrhunderts: Noſtradamus. Er war in dem nicht fernen 
St. Remy von jüdischen Eltern geboren, trieb Arznei, bezwang 
in mehreren Städten Südfrankreich die Peſt, bezog dafür eine 
Rente von ver Stadt Air und zog fih mit diefer nah Salon 
zurüd, wo er ji die Zeit mit Prophezeien verkürzte. Ueber 
feinem Grabe foll fein trefflihes Portrait fich befinden. 


216 Tagebuch aus Languedoc und Provence 


Hier in Et. Chamas wird eben heute das Feſt des Lokal: 
heiligen gefeiert. In der Ferne fehe ich viel gepußtes Volk; es 
wäre intereflant, e3 in der Nähe zu ſehen. Es ift das hier im 
Süden, wo jeder Kleine Ort feinen bejonderen Heiligen und fein 
befonderes Felt bat, die beſte Gelegenheit, das Volf kennen zu 
lernen. Die Feſte drängen fich feit Anfang Auguft und hören 
erſt jpät nach der Weinlefe auf. Von diefer, je,nah den Hoff: 
nungen, die fie erregt oder erfüllt, hängt vie Lebendigkeit, die 
Freude, der Pomp der Felte ab. — Aud eine römische Brüde 
vor dem Eingang in das romantifch gelegene Dorf wäre intereflant ; 
aber ich fürchte ven Bahnzug zu verfäumen, da ich noch heute in 
Arles fein muß. ch begnüge mich damit, den Etang de Berre 
zu betrachten. Wie romantifch lieblich jah er aus, wie voll Süden, 
als ich ihn vor einigen Tagen gejehen, heute blidt er wie ein 
beiliger See an einem nordifhen Göttertempel, auf dem cimme- 
rifche Nacht lagert. Das Gemitter, das ſich jeit heute Morgen 
vorbereitet, liegt, zu dichten Wolken geballt, auf feinen Waſſern 
und über feinen Bergen. Bald wird es losbrechen; die Luft ift 
von Elektrizität überladen. Noch brütet es und ſcheint über feine 
eigene Wuth nachzudenken. Die Lokomotive pfeift; e3 geht nad 
Arles zurüd. Wenn ich St. Chamas nad Jahren mwiederjehe, 
wird es wahrjcheinlich ein ganz anderes Ausfehen haben. Man 
trägt fich feit lange mit dem Gedanken, den Etang de Berre in 
einen Hafen zu verwandeln. Die Vortheile wären unermeßlic ; 
die Schiffe würden einige Meilen tief ins Land dringen und da 
jo fiher vor Anker liegen, wie ein heimgefehrter Wanderer an 
feinem Herde. Dann aber Ade, Marfeille, altes Maflalia ! 
Deine Stunde hat gefchlagen — deine Börfe verfällt, und deine 
Geldjäde wandern nordwärts in das jegt mweltvergefjene, arme 
St. Chamas. 

Arles, 6. September 1851, Mitternacht. 

Das war ein Wetter, wie ich es in dieſem Leben und wahr: 
iheinlih aud in einem vergangenen nicht geſehen habe. Ich 
weiß es nun, was die Energie eines ſüdlichen Sturmes, von ber 


Neuntes Kapitel. 317 


man mir jchon viel gefprochen, zu bedeuten habe, Kaum hatten 
wir St. Chamas verlafjen, als fih auch fchon die Wolfen vom 
Gtang de Berre aufmachten, um ung zu verfolgen. Sie erreichten 
und auf der Ebene der Grau, verbreiteten ſich mit Blitzesſchnelle 
über den ganzen Himmel und jenkten fi dann fo tief, daß wir 
wie in einer Nebelfappe jtafen. Wenn man vorwärts ſah, war 
es, al3 würde die Lolomotive die dunklen Mauern, die fich vor 
ihr aufthürmten, nicht, durchbrechen können. Ohne alles Vorſpiel 
begann e3 mit Regen, Donner und Blitz zugleih. Der Donner 
des einen Blitzes war noch nicht verhallt, als ihn fchon ein an: 
derer Blitz durhfchnitt und ein anderer Donner ihm ing Wort 
fiel. Hundert Gewitter jchienen fih auf diefer Ebene ein Rendez- 
vous gegeben zu haben, um einen polnifchen Reichstag abzuhalten. 
Es waren lauter Dantons, welche ſprachen, und am Ende wurde 
man bandgemein. Blig auf Blig büllte die Erbe, jo weit man 
jehen Eonnte, in eine violette Nacht. Der Regen floß in Niagara: 
fällen herab. Ein Geiftliher im Wagen zog fein Brevier hervor 
und begann eifrig zu leſen; einige Weiber beteten, ein nervöſes 
verhüllte jih den Kopf mit dem Mantel ihres Nachbars und warf 
fich unter die Banf, In der Sumpfgegend lag das Scilf, das 
jo ſchwer zu brechen ift, niedergefchmettert da; die Tamarisken 
zerrauften fih in Verzweiflung das Haar, und die Pappeln 
neigten und beugten fib. Endlich konnte aud die Lokomotive 
nicht weiter; fie ftodte mehreremals, feufzte tief auf und jagte 
meiter, bis fie wieder außer Athem ſtehen blieb. Einmal ſchlug 
der Blig faum zehn Schritte von uns in den Boden, und der 
Heine See, der ſich gefammelt hatte, fprigte in Atomen in die 
Luft. Hundert Köpfe redten ſich aus den Fenftern hervor und 
riefen dem Mafchinenführer zu, doch zu halten, da fie fürdteten, 
die Reibung der Waggons fünnte den Blig auf ihre Häupter 
ziehen. Der Mafchinenführer aber hörte fie nicht over wollte 
unter Dad fommen. So langten wir enblic in Arles an. Viele 
Reifende, die weiter gewollt, fprangen doc entjegt au3 dem 
Magen, glüdlich unter Dach zu fein. Auf dem Bahnhofe mußten 


218 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


wir an eine Stunde warten, bis fich die Omnibus entichlojien, 
und in die Stadt zu führen. Auf dem Wege dahin drängten ſich 
zahllofe Spaziergänger in den Wagen, um den Regenjtrömen zu 
entgehen, und wir mußten uns entjchließen, zarte Meiblein auf 
den Schooß zu nehmen. E3 waren Arleferinnen, und jo tröftete 
man ſich über dieſes Schidjal. Die Gafjen waren überſchwemmt; 
nun fite ich fchon feit fünf Stunden im Hotel des Forums, und 
nod hat das Unwetter feinen Moment in feiner Gewaltſamkeit 
nachgelafjen. Man fürchtet für die Nacht einen Spaziergang der 
Rhone in Arles’ Gaffen. Das ift wahrhaftig nichts Gewöhn— 
liches ; das iſt ein außerorventliche3 Naturereigniß, fo gewaltig 
wie ein Erdbeben, oder der Ausbruch des Veſuvs. Bei all’ den 
Strömengüfjen iſt e3 jest um Mitternacht noch jo heiß, wie e3 
um Mittag war. Das war e3 aljo, was der Samum von heute 
Morgen zu beveuten hatte. Sch bin überzeugt, daß man von 
diefem Gewitter im Sande jprechen wird. 


| 7. September 1851. 

Nah dem Kirhengange, denn es ijt Sonntag heute, habe 
ih mich weiter mit menſchlicher Schönheit nicht beichäftigt, 
um mich deſto ungejtörter der Bewunderung von Thierſchönheit 
binzugeben. Sch bejuchte das große Geftüte der Republif. Ein 
pradtvolles Inſtitut; alles jo reinlih und elegant gehalten, als 
wäre e3 für Hofdamen und nicht für ſinnlich geftimmte Hengite 
eingerichtet. Alle Bferderacen Frankreichs find hier aufs Wür— 
digfte vertreten und werden faum von den Eremplaren fremder 
oder gefreuzter Gejchlechter werdunfelt. Das normanniſche Roß 
bat fich feiner verben Musfelhaftigkeit neben dem Engländer nicht 
zu Shämen; e3 wäre ſonſt die falihe Scham des derben Bauers— 
mannes neben dem Gentleman. Die anglo:normannifche Race 
erinnert aufs Deutlichſte an mande Gefichter, die man im eng: 
lichen Oberhaufe gejehen. Nur der ächte Araber mit feiner 
Nervofität, mit feinen feurigen Augen, feinem feinen Kopf und 
der fait menſchlichen Naſe ragt durch eine gewiſſe pinchifche 


Neuntes Kapitel. 219 


Ariftofratie über die anderen hervor und darf ein gewiſſes Recht 
auf ariftofratifhes Gebahren in Anſpruch nehmen. Ciner be: 
findet fih bier, der feinen ehemaligen Befiger zum reihen Mann 
gemacht hat. Nachdem er ihm bunderttaufend Franken in Wetten 
gewonnen, ließ er fich für eine gleihe Summe noch an die Re: 
gierung verkaufen. Wie viele bejjere Männer haben fich zu 
Heinerem Breije an Regierungen verfauft! — Es ift eine böfe 
Zeit, da die Pferde mehr gelten, al3 ſolche würdige Staats: 
bürger. Allerdings ift es noch problematiih, ob der Sophiit, 
jo heißt der edle Renner, dem Staate nicht befjere Dienite leijten 
wird, al3 all’ die andern Verkauften, an die ich bier denke. — 
Ein gewiſſer brauner Angloaraber, ven kennen zu lernen ich aud) 
noch die Ehre hatte, hat bis jegt noch feinen Reiter auf feinem 
Rüden geduldet, aber feine Pflichten als Societär des Gejtütes 
ſoll er gewifjenhafter und treuer erfüllen, als alle feine Collegen. 
Tout eomme chez nous. 

Der heutige Tag iſt einmal der Thierheit gewidmet. In den 
Gaſſen fehe ih einen großen Anfchlagezettel, der einen Stier: 
fampf in Tarascon ankündigt. Diejes für den Süden Frank— 
reichs jo harakterijtiihe Schaufpiel darf nicht verfäumt werden. 
Ich pade ein und fliege nah Tarascon. — Lebe wohl ſchönes 
und jchönbewohntes Arles! Wann werde ich dich miederjehen 
mit deinen Antifen, mit deinem Mittelalter und, was mehr ilt, 
mit deiner lebenden, blühenden, liebenden und geliebten 
Gegenwart?! — 


Behntes Kapitel. 


Stierhegen in Taradcon — Rohheit der Einwohner — Eine Kindeömörberin — 
Ankunft in Rimes — Ausflug nah dem Pont bu Gard — Eine Kamifarbengrotte, 


Nimes, 8. September 1851. 


Vom Thürmchen eines Privathaufes in Tarascon habe ich 
dem graufamen Spiele zugejehen, deſſen man — nur 
noch die Spanier für fähig hält. 

Das Theater war mit ſo merkwürdiger Sorglofigteit fon= 
ftruirt, als ob hier von Heinen Gaufeleien und nicht von Käm— 
pfen mit wilden, eben erft aus den Sümpfen geholten Stieren 
die Rede wäre. Man kann fagen, daß fie in offener Gaſſe ftatt- 
fanden ; ein Beweis, wie vertraut die Leute des Südens mit der: 
gleichen fein mögen. Die breite Gaſſe, welche vom Schloſſe des 
Königs Rene auf der einen, von den Privathäufern auf der an- 
dern Seite gebildet wird, war an den zwei Ausgangspunkten 
ganz einfach durch zwei Brettermände geſchloſſen, und dieje von 
fo binfälliger Natur, daß fie der Stier mit einem Hörnerftoß 
hätte über den Haufen werfen können. Die eine war auch jo 
nadläflig hingelehnt, daß fie während des Kampfes mehreremal 
niederfiel. ine Unbequemlichkeit hat nad der Meinung des 
Kenners diefer Schauplag darin, daß er durch den Schloßgraben 
in eine obere und untere Hälfte getheilt wird, und dieſe Unbe— 
quemlichfeit wurde heute noch durch das Wafjer erhöht, welches 
von der gejtrigen Rhoneüberſchwemmung im Graben ftehen ges 
blieben war. An den Wänden der erwähnten Privathäufer waren 
Strid: und Holzleitern angebradt, um den verfolgten Stier: 
fämpfern die Möglichkeit der Rettung zu geben. Diefer Leitern 


Zehntes Kapitel. 221 


waren unzählige, denn — das ift das Eigenthümlihe und 
Schmähliche diefer Spiele im ſüdlichen Frankreich — denn auch 
ber Toreados waren unzählige; mit einem Worte jo viele ala 
Zuſchauer. Das ganze Volk, Jeder, der die wenigen Sous be 
zahlen kann. Männer, Weiber, Kinder, Alles ohne Unterſchled 
wird in die Umzäunung eingelaflen. 

Bei meiner Ankunft hatten die Kämpfe ſchon begonnen, ein 
Stier hatte bereit3 das Seinige gethan, und man erwartete den 
zweiten. — Die Hunderte von Zuſchauern ftanden in Gruppen 
zufammen und unterhielten ſich aufs Lebhafteſte. Vieler Blide 
ſahen ſtarr nad) der Stallthüre, aus welcher der erwartete Käm— 
pfer fommen follte. Ueberall Geſchrei, Rufen, Zanken, Pfeifen, 
Ausbrüche der Ungeduld. Endlich that ſich die Thüre auf, ein 
Jubelgeſchrei erhob fih, und auf dem Kampfplag erſchien ver 
fehnlihft Erwartete. Die erften Schritte lief er ganz harmlos 
dahin, keines Kampfes, keiner Gefahr, keines Feindes gemärtig. 
Bald mußte er alle drei kennen lernen. Ein Gefchrei voll Wuth 
und blutiger Luft empfing ihn, darauf ein Regen von Steinen 
und von Stöden, vor feinen Augen wehten hundert der buntejten 
Tücher, und plöglih umringte ihn eine fchreiende Menge mit 
Hohn und Spott und Herausforderungen. — Jetzt ſtutzte der 
arme Opferftier. Unſchlüſſig, ob er fich vertheidigen foll, hält er 
einen Moment inne und betrachtet die Menge, dann wendet er 
fih um und eilt der Thüre zu, aus der er gefommen war. Neue 
Schläge, Stiche, Hohngeſchrei verfolgen ihn. Er findet die Thüre 
verſchloſſen und kehrt mit halb erwachtem Zorn zurüd. Mit vor: 
gejtredten Hörnern jtürzt er auf die Menge der Feinde los, die 
auseinanderftiebt wie Sand im Winde und fi auf die Leitern 
und Planken rettet. Viele werfen fih aufs Geficht und bleiben 
regung3los liegen. Der Stier eilt an ihnen vorbei, ſpringt über 
das Gelände des Schloßgrabens und hinein in das Wafler, mo 
er wieder ruhig jtehen bleibt. Aber das Funkeln der Augen, 
der hoch in die Luft gehobene Schweif zeigen, daß ihn fein Gleich: 
muth zu verlaflen beginnt. 


222 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Die edlen Helden, die jich bei feiner erjten Drohung in un: 
erreihbare Poſitionen geflüchtet oder den Tod geheuchelt haben, 
find jegt empört, daß er ſich den Angriffen ihrer Ueberzahl zu 
entziehen ſucht. In Maſſen jtürzen fie ihm nad, fie waten durch's 
Waſſer und greifen ihn von allen Seiten zugleich an, bis fie ihn 
auf den trodenen Theil des Schloßgrabens gelodt haben. Dort 
entwidelt fih nun erft der eigentlihe Kampf. Männer und 
Buben umringen den Stier, reizen ihn, fordern ihn heraus durch 
Schläge und Stihe. Während er fich dem Einen mit den Hörnern 
zuwendet, padt ihn der Andere am Schweife und Ienkt jeine Auf: 
merkſamkeit nach einer andern Seite, aber ſchon hat ein Dritter 
und gleich darauf ein Vierter ihm einen Stich oder einen Schlag 
‚ in den Schenkel oder auf die Rippen verfegt. Der Stier madt 
einen gewaltigen Sprung, die Menge flieht auf die Felſen, auf 
denen das Schloß jteht. 

Das innigjte Mitleid mit dem armen Thiere und ein tiefes 
Gefühl der Empörung gegen die Barbaren ergreift den civilie 
firten Zufchauer. Er nimmt Partei für den feige und graufam 
Verfolgten und freut fich an der drohenden, imponirenden Gtel- 
lung, die er jegt einnimmt. 

Schmarz von der Spite des Hornes bis an das legte Ende 
des Schmweifes und bis zur unterjten Klaue, leicht beweglih und 
flint, faft anmuthig in der Ruhe, mit jchlanfen Beinen und 
ſchlankem Halfe, war es ein prachtvoller Anblid, wie er jegt gleich 
einem Löwen beide Flanken mit dem Schweife jchlug, wie er erft 
die Vorderflaue, dann die hintere am Boden wetzte, daß er tiefe 
Furchen grub und den Sand weit hinter fich zurüdwarf, wie er 
jeine Waffe, die Hörner, prüfend auf: und niederwiegte und das 
in Wuth immer mehr erglühende Auge aus dem ſchwarzen Kör— 
per heller und heller leuchtete. Ein dumpfes Brüllen begleitete 
dieje Vorbereitungen zum Angriff. Dann ſtand er ftill und maß 
jeine Feinde, die ihn in den Graben verfolgt und ſich auf die 
jteilen Feljen gerettet hatten. Sie waren jtille und Hammerten 
ih frampfhaft an die ſchmalen Vorjprünge. Auch die übrigen 


Zehntes Kapitel. 993 


Zuſchauer wurden ſchweigſam, und tiefe Stille herrichte über der 
eben erſt brüllenvden Mafle. „Der ift böfe,“ hörte man bier und 
da murmeln. 

Wie es feine Stellung und feine Vorbereitungen vorher er: 
rathen ließen, jo that auch der Stier. Dießmal begann er ven 
Angriff. Mit ungeheurer Wuth und mit der Schnelligkeit einer 
gejchleuderten Kugel warf er fih auf den Feljen, an welchem 
feine nächjften Feinde hingen. Seine Natur vergefjend, verjuchte 
er e3 fogar, zu Klettern, glitt aber bei jedem Berjudhe von dem 
glatten Geftein herab. Durch die vergeblihen Angriffe ermuthigt, 
fingen wieder die Helden ihren Kampf mit Stöden und Tüchern 
an, um ihn zu neuen vergeblichen Anftrengungen zu reizen. Der 
Stier ermüdete nicht, er unternahm einen Sturm nad) dem an: 
dern. Wenn er unverrichteter Sahe vom Geftein herabglitt, 
trat er einige Schritte zurüd, weßte Horn und Klaue aufs Neue, 
brüllte und warf ſich wieder auf die uneinnehmbare Feſtung der 
Feinde, die, immer mehr ermutbigt, ihn dur Händellatjchen, 
Hohngelächter, geſchwungene Tücher und Schläge mit langen 
Stäben zu immer größerer Wuth zu reizen juchten. Aber Elüger 
als feine Feinde, ließ der Stier von feinen erfolgloferi Angriffen 
plöglich ab. Ruhig jtellte er fich hin, offenbar feſt entſchloſſen, in 
diefer Stellung zu verharren, bis Einer oder der Andere vom 
Felfen herabfteige. E3 war eine förmliche Belagerung. Starr, 
wie in Erz gegofjen, ftand er; nur der Kopf bewegte ſich manch— 
mal bin und her, um die ganze feindliche Linie zu beobachten. 
Das dauerte jo einige Minuten. Aber die Zufchauer auf der 
oberen Hälfte des Schauplages fingen an fi zu langweilen, fie 
wollten feinen Blofus, fie wollten Kampf, vielleiht Blut. Wie 
auf ein gegebenes Zeichen regnete ein Hagel von Steinen auf 
den Stier nieder, ungeheures Gefchrei erhob fich, hundert bunte, 
meift rothe Tücher wehten. Aber der Stier ließ fih nicht aus 
jeinem Gleichmuthe und der einmal eingenommenen Stellung 
bringen, unbetümmert um Steine, Gejchrei, bunte Tücher, ftand 
er ſtarr und reglo mie zuvor, immer die Feinde beachtend, die 


224 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


er fih ala Ziel auserjehen hate. Schon flo purpurnes Blut 
aus vielen Wunden an Kopf und Körper, aber er zudte nicht; 
nur manchmal ſchob er voll Beratung mit dem Hinterfuße einen 
Stein weg, der neben ihm niedergefallen war. — Das Gejcrei 
der Zufchauer nahm zu, man ſchimpfte über die Tüde und das 
Phlegma des Stieres und über die Unternehmer, die jo jchlechte 
Subjekte vem Volke vorzuführen wagten, man jehrie und rief; es 
drohte ein Aufruhr gegen die Entrepreneurs aufzubrechen; man 
“wollte den Stall ftürmen und andere Gtiere loslaflen; auch wollte 
man den Kampf nicht auf den Schloßgraben beſchränkt ſehen, 
man wollte ihn oben haben, mo fi die Mehrzahl der Verſam— 
melten befand. 

Da erjchienen denn, ungefähr nad einer DViertelftunde des 
Geſchreis, die Piqueurd. Drei Männer in Hemdärmeln durd: 
mwateten das Waſſer und gingen vorfichtigen Schritte auf den 
Stier los. In den Händen trugen fie die Trident3 oder Drei- 
zade, breifpigige, fharfe, fejte Gabeln, am Ende einer langen 
Stange befeftigt. Die Piqueurs find Knechte der Adminijtration 
und beftimmt, einen zu ruhigen Stier mit ihren Inftrumenten in 
Muth zu bringen oder, wenn er fich zu mweit von der Stätte des 
Schauplatzes verliert, wie im gegenwärtigen Falle, ihn zurüdzu: 
führen, indem fie fih, nachdem fie ihn gehörig gereizt, von ihm 
dorthin verfolgen laſſen. Alle drei griffen ven Stier auf einmal 
von hinten an, fo daß er gezwungen war, feine Aufmerkjamteit 
vom Felſen ab und auf die Feinde zu wenden, die ihm direkt auf 
den Leib rüdten. Er zauderte nicht einen Augenblid und nahm 
mutbig den überlegenen Kampf an. Er bog den Naden und 
ftürzte mit vorgeitredten Hörnern auf die drei Piqueurs los. 
Aber dieſe hielten ftramm die Dreizade vor; der Stier ftürzte 
darein und bohrte fich felbft drei dreifahe Wunden in die Stirn. 
Er bebte zurüd und fchüttelte das Blut ab, das dunkel und did 
bervorquoll und ihm im Augenblide eine fhauerlihe Maske 
über das ganze Geficht bildete. Kaum hatte er die Augen frei, als 
er wieder den Kampf begann. Aber ſchon flohen die Piqueurs; der 


Zehntes Kapitel. 225 


Stier verfolgt fie durchs Mafler, hinauf auf den oberen Edhaus 
plag, wo ihn am Rande ſchon eine dichtgebrängte Menge mit 
Schreien erwartet... Der Zmed ijt erreicht, die Piqueurs ver: 
ſchwinden, die Männer und Buben vom Feljen fpringen hinab 
und verfolgen den Berfolgenden ; bald wird der Kampf ein allge: 
meiner fein. Aber jebt hätte es leicht geſchehen können, daß der 
Eier feine Wuth wenigſtens an einem feiner menjhlichen Feinde 
gekühlt hätte. Denn dort, wo der obere Schauplag mit dem 
Gıaben durch einen ziemlich fteilen Abhang verbunden ift, fonnte 
die enggedrängte Menge nicht fchnell genug vor dem anftürmen: 
ven Stiere augeinanderfiieben, und in der That padte diefer einen 
Mann aus der fliehenden Hinterreihe. Man konnte es nicht 
deutlich unterfcheiden, ob der Mann fich felbit hingeworfen oder 
ob ihn der Etier niedergeftürzt hatte, man ſah ihn nur zu Füßen 
feines fürchterlihen Feindes und diefen einige Augenblide mit 
feinem Horn auf ibm berummwühlen. Wie aus Einem Munde 
erſcholl der Schrei des Entſetzens, al3 der Etier weiter lief und 
der Mann wie todt auf dem Boden Tiegen blieb. Aber kaum 
hatte fich der Etier auf einige Schritte entfernt, um die Menge 
zu verfolgen, al3 der Todte aufiprang und glüdlic, jo davon zu 
fonmen, aus dem Circus eilte. Vom linken Auge floß ihm ein 
Etrom von Blut, die Kleiver waren vom Horn fo zerfeht, daß 
fie, al3 er jidy erhob, wie Zunder von ihm abfielen und nur ein 
Etüd von der Jade und vom Hemde am Oberleibe hängen blich, 
Wenn nit die Wunde, hätte ihn die Eham zwingen müflen, 
den Echauplaß zu verlaflen. 

Jetzt, da man den Stier oben hatte, nahm erft das Vergnü— 
gen den Charakter an, den das Volk wollte. Bon allen Seiten 
umringten ihn dichte Haufen, die ihn verböhnten, ſtachen, ſchlu— 
gen. Wandte ich der Stier gegen einen folhen Haufen, fo ftob er 
auseinander; die Einen klammerten fih an die Bretterwand, die 
Andern Shmangen fi auf die Leitern, die Dritten warfen fich in 
langen Reiben längs der Mauer fteif wie Todte auf den Boden. 
Indeſſen hat fib ſchon ein neuer Haufe gebilvet, der wie ein 

Morig Hartmann, Berfe, 11. 15 


226 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Schwarm von Hornifjen auf da3 gequälte, wie toll hin und ber 
rennende Thier zuftürzt. — Das ift das eigentliche Spiel, wie es 
beliebt ift. 

So ging es mit geringer Abwechslung dur Stunden fort. 
Ein Stier nad dem andern fam harmlos aus dem Stalle, um, 
ihon nad wenigen Minuten zur äußerten Wuth gebracht zu fein 
und nad halbjtündiger oder ftündiger Verfolgung der grauſam— 
ften Art, aus vielen Wunden blutend, wieder dahin zurüdzufehren, 
um einem anderen Plag zu maden. So habe ich fünf oder ſechs 
Stiere fommen und gehen gejeben. Um etwas Abwechslung ins 
Spiel zu bringen, läßt man manchmal zwei oder auch drei zugleich 
aufdem Schauplage. Dießmal war man gezwungen, die ganze Zeit 
hindurch zwei draußen zu laſſen, da der arme Kämpfer, deſſen 
Thaten ich bejchrieben, durch feine Lift und durch feine Gewalt 
vom Kampfplage zu bringen war. Es ſchien, al3 wollte er ſich 
um jeden Preis rächen. — Die andern folgten dem taureau- 
guide, oder Führerftier, der gezähmt und dazu abgerichtet ift, 
die fampfunfähig oder müde gemachten in den Stall zurüdzu: 
führen. — Rührend war e3, wenn zwei, drei oder mehrere Stiere 
zugleich auf dem Plage waren, wie fie ſich jogleih zufammen- 
fanden und faft ein Quarre& bildeten, um fih gemeinjhaftlich 
gegen den gemeinjchaftlihen Feind zu vertheidigen. Aber man 
wußte fie immer zu trennen. Endlich, ſchon gegen Abend, er: 
ſchien ein prächtiger Stier, der zwiſchen den Hörnern die rothe 
Kokarde trug. Wer ihm diefe vom Kopfe reißt, gewinnt einen 
beftimmten Heinen Preis von 5 bis 6 Fred. Man bezeichnete 
einen gewiſſen derben, zugleich flinfen Lümmel al3 ven wahr: 
icheinlihen Sieger. Er war es auch; leife ſchlich er, nach langen, 
vergeblihen Anftrengungen, von der Seite an der Stier heran, 
padte zu gleicher Zeit ein Horn und die Kokarde — ein Rud, 
und er hatte den Preis gewonnen. — Mit einem Sprunge hatte 
er fich der Verfolgung des Stier entzogen, den ſchon Andere an: 
fielen und fo vom Sieger abzogen. 

Ich habe ſchon erwähnt, daß fih Zujchauer jedes Standes, 


Zehntes Kapitel. 227 


jedes Alters, jedes Geſchlechts im Circus befanden, und daß fie 
Zuſchauer und handelnde Berjonen zugleih waren. Daß Jungen 
von 8 und 10 Jahren am Kampfe Theil nahmen, künnte man 
ala Gaffenbuberei auslegen und müßte es nicht für charalteri- 
ftifch für das Volk und feine Leidenschaft für diefe Spiele halten. 
Mas aber bezeichnend ift, unglaublich Hingt und doch nicht min: 
der wahr ift: ich habe mitten im Circus, oft mitten in dem Hau: 
fen, der den Stier angrifj, oder vor ihm floh, viele Ammen 
mit Kindern aufdem Arme, eine mitdem Kinde an 
der Bruft gefeben. 

Nah dieſen legten Worten darf ich wohl feine Sylbe mehr 
hinzufügen, um die Leidenſchaft für diefe Spiele, oder vielmehr 
die Wuth, zu harakterifiren. Sie wird den Kindern anerzogen, 
die nach den Schuljtunden Stiergefeht fpielen, indem dem einen 
Knaben künftlihe Hörner um den Kopf gebunden werden und 
die andern ihn auf alle mögliche Weije plagen. 

Wenn ein öffentliher Stierfampf jtattfinden foll, hört man 
Tage lang vorher in allen Kaffeehäufern und in Familienfreifen 
davon fpredhen, und wenn er vorbei, wird jede Phafe, jede ge- 
ringfte Einzelnheit defjelben mit einer Wichtigleit durchdiskutirt, 
ala ob e3 fih um das Wohl des Staates handelte Am Bor: 
abend verfammelt ſich jchon die halbe Bevölkerung eines Ortes, 
um die Stiere, die au der Camargue hergetrieben werden, 
am Eingange des Stalled zu erwarten und wo möglich durch 
Herausforberungen, geheim angebrachte Verwundungen, das 
" Spiel jogleich zu beginnen. 

Bei folher Leidenſchaftlichkeit ſollte man eigentli mehr 
Muth vorausſetzen; was aber dieje Spiele beſonders bezeichnet, 
ift neben der Graufamteit die niedrigjte Feigheit. Denn es ift 
im Grunde fein Kampf, e3 ift nur ein Neden und Quälen und 
Plagen des armen Thieres; man reizt ed nur zur Wuth, man 
läßt e8 nur leiden, ohne daß es ſich gegen die Uebermacht des 
Feindes, bei ven angebrachten Vorſichtsmaßregeln und ver regel- 
mäßigen Flucht, ſobald der Stier einen ernjten Angriff macht, 


298 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


vertheidigen oder für feine Leiden rächen Fönnte, Dadurch wird 
der Anblid eines ſolchen Schaufpiels hier widerlicer, ald er es 
in dem viel verrufenen Spanien fein mag. Dort fämpfen einige 
verlorne Subjelte, die vielleicht der Hunger zu ſolchem Gewerbe 
zwingt, einen ernten und tapfern Kampf, fie allein auf eigene 
Fauft, Einer oder höcftens nur Einige gegen die Gewalt des 
Stierd; bier wagt man es, in ungebeurer Ueberzahl den Feind 
taum anzugreifen, man quält ihn nur auf niederträctige Weiſe. 
Ich geitehe e3, daß ich während der ganzen Stunde, die der 
Kampf tauerte, Partei gegen meine Gattung für den Etier ges 
nonmen habe. Oft mußte ich mich mit Widermillen abwenden. 
Einer meiner Nahbarn madte die Bemerkung: Wenn die Stiere 
heute Nacht in ihre Sümpfe zurüdfehren, werden fie den Brüdern 
von den wilden Beitien erzählen, die fie fennen gelernt haben. 
Die unglüdlihen Thiere, die jo traurige Beftimmung haben, 
find Kinder der Camargue, de3 großen eigenthümlichen Sumpf: 
landes, das man auch das Nihonedelta nennt. Eie jind nicht 
übermäßig groß oder muskulös, aber nervös, flink und feurig. 
Sm ruhenden Zujtande, wie im Laufe, haben fie eine gemwille 
leichte Grazie, die jie vor anderen ihrer Gattung auszeichnet. 
Hier, wo man, durd die hiltoriihen Denkmäler daran gewöhnt, 
gern Alles aus uralten Zeiten herleitet, nennt man fie Ablömms 
linge der puniſchen Stiere, die Hannibal bei feinem Durchzuge 
ins Land gebracht haben foll, ebenfo wie man die Gamargues 
pferde Abtömmlinge der Araberrojje nennt, welde die Mauren 
bei ihrem Abzuge in der Camargue vergejlen haben. Hhrer 
Farbe, ihrem Feuer, ihrer Raſchheit nad, könnte man die Stiere 
allerdings für Landsleute der Numidier halten. Eie werden 
in den Eümpfen geboren und wachſen dafelbft unter freiem Him— 
mel in mwilver Freiheit auf, bis fie zur Schlachtbank n die be 
nachbarten Städte oder zu den bejchriebenen Epielen abgeführt 
werden. Von legteren fommen jie wieder in ihre Sumpfe oder 
Maraid oder Baluden zurüd. Des Abends werden fie entweder 
fich jelbjt überlajjen fortgejagt, wo fie dann allein ihre Heimat 


Zehntes Kapitel. 2239 


wiederfinden, oder werden von Reitern, die mit langen Epiehen 
bewaffnet find, dahin zurüdgetrieben. Tiefe Neiter bringen fie 
auch, nicht ohne Gefahr und Mühe (ungefähr wie man in Teras 
bei ähnlichen Gelegenheiten zu verfahren pflegt), zum erften Male 
in ihrem Leben unter Menfchen und auf den Kampfplat. 

Ebenſo graufam, doch weniger widerlich, mögen die Ferra: 
den, eine ähnliche Art von Epielen, fein, die ich aber nicht ſelbſt 
gejehen habe. Da kämpfen Einzelne mit dem Stiere. Es kommt 
darauf an, ihn mit gefreuzten Armen an den Hörnern, oder an 
einem Horn und einem Fuße zu paden und ihn niederzuftürzen, 
wo ihm dann ein rothglühendes Eijen mit dem Namenszuge des 
Beſitzers auf den Schenkel gebrüdt wird. 

Aber alle Thierquälerei übertreffend, ungeheuer und fait 
myſtiſch grauenvoll ift die dritte Art von Spielen (wie fann man 
bier noch von Spielen reden!), die an gewiſſen Feten jtattfinden. 
Da wird der Etier vorn an den Hörnern und rückwärts am 
Schweif mit ſtarken Striden gebunden, von vor: und nachſchrei⸗ 
tenden Männern feftgehalten, daß er fich weder nach rechts no 
nad links bewegen fann und feinen Ausweg zur Flucht bat. 
Eo wird er den ganzen Tag, oft mehrere Tage durd die Gafjen 
vdes Dorfes geführt und von den Bewohnern ununterbrochen ges 
plagt, gereizt, gefhlagen und geftechen, bis er den Leiden oder 
der ohnmächtigen Wuth erliegt und todt zufammenbrict. 

Mas jagen Eie zu diefem Vergnügen? Iſt der Menſch eine 
ernfthafte Beftie oder nicht? und wie amüfirt ſich diefe ernfthafte 
Beitie? — Man begreift e3 in manchen Momenten, daß ein be: 
geiftertes Mitglied eines Antithierquälervereing zugleich ein Reak— 
tionär oder Menfchenfeind fein kann. 

Dieje Spiele werden nod lange nicht unterdrüdt werben. 
Regierung und gefeßgebende Verſammlung Frankreichs haben 
eine jo heilige Echeu vor Eigenthum und Cigenthümern. Und 
. die Etiere bringen den Eigenthümern fo viel Geld ein: ift das 
nicht einer Nüdficht werth? Im Departement du Gard Jind fie 
zeitweilig verboten; man nahm von mehreren Unglüdsfälen, 


230 Tagebuch au3 Languedoc und Provence. 


die vorfamen, Veranlafjung zum Verbot. In Aigues-Vives z. B. 
wurde vor Kurzem ein Yamilienvater von Stieren aufgefpießt 
und zwei junge Leute ander3 getödtet. Der eigentlihe Grund 
der Unterbrüdung aber war, daß man das Zujammenjtrömen 
einer gewaltigen Volksmaſſe im Departement du Gard ſcheuet 
— ſei e3 bei was immer für Gelegenheit. Kam doch felbit auf 
den Markt von Beaucaire Herr Carlier, der Bolizeipräfekt, in höchſt 
eigener Perſon, von fünfundzwanzig Agenten begleitet, um den 
unf&huldigen Markt zu überwachen. — In vielen Dörfern beharrt 
das Volk trog des Verbotes bei jeinen Spielen; da ſchickt man 
Soldaten hin, tödtet die Stiere und erflärt den Belagerungszu: 
jtand. — Darin ijt der Grund zu ſuchen, warum die Regierung 
im Departement du Gard ſich der armen Stiere und de3 menſch— 
lihen Gefühle® annimmt, im legitimijtifchen Departement ver 
Bouches du Rhone aber die Barbarei nad) wie vor fortbeitehen 
läßt. Politik darf feine Sentiment3 haben, ſagte man im vorigen 
Jahrhundert. Als ich in der Naht von Tarascon nah Nimes 
fuhr, erlebte id) etwas, das mir als die traurige und nothwendige 
Konfequenz fo böfer Gewohnheiten wie die Stierfämpfe erſchien. 
Auf einer der Nebenftationen empfing uns eine aus mehreren 
hundert Köpfen beftehende Volksmaſſe; jhon von Ferne hatten 
wir ihr Gejchrei mitten dur den Lärm des Bahnzuges gehört; 
e3 nahm noch zu, al3 wir una näherten, und ſchien fi, da wir 
bielten, in Raferei verwandeln zu wollen. Wir jtedten die Köpfe 
aus dem Wagen und erfuhren, daß die zwei Gendarmen, die wir 
in der Mitte des Volkshaufens erblidten, eben im Begriffe waren, 
mit einem Weibe, das fie führten, in ven Wagen zu Steigen, um 
ih nah Nimes, dem Sige des Gerichte, zu begeben. Das Weib, 
jeit Jahren von ihrem Manne getrennt, hatte ein Kind geboren, 
von dem man nicht wußte, wo e3 hingelommen war. Der Volt: 
haufe hatte fih verfammelt, um die Unglüdliche noch zu ver: 
höhnen; das war das Gefchrei, das ung empfangen hatte, das in . 
dem Augenblide, da die Unglüdliche in den Wagen ftieg, fi in 
furchtbares Gelächter verwandelte und fich als ziſchendes, pfeifen: 


Zehntes Kapitel. 231 


des, jchreiendes Charivari fortjegte, als der Bahnzug ſchon längſt 
in Bewegung war. Mit Schmerzen jage ich es: wieder waren e3 
die Weiber, die fich hier als Furien auszeichneten. O die Sphinr 
halb Göttin, halb Unthier! — Neben mir im Wagen ſaß ein, 
Ihmwarzer Pfaff, der eben jo dumm⸗-neugierig wie die Andern dem 
traurigen Schaufpiel zufah. Ein Wort jeines liebenden Meiſters, 
eine Erinnerung nur an das Aufheben des erjten Steines hätte 
dieſe Menge vielleicht abgehalten, ein gefallenes Weib, das fich be: 
teit3 in den Händen der Gerechtigkeit befand, zu verhöhnen und 
es fein Urtheil vorher koſten zu lafien und auf bitterere Meije, 
als es das Gericht bieten kann. Aber ver Pfaff ſchwieg. Freilich 
dazu ijt er nicht da, feine Pflicht it e3 nur, Faften zu predigen, 
und die dagegen fündigen, mit Buße zu belegen. — Erbrüdt von 
all’ der Rohheit, die ih an diefem Tage verkörpert gejehen, kam 
ih in Nimes an. Im Bahnhof jah ich die arme Sünderin aus 
vem Wagen jteigen; fie hielt daS Geficht mit beiden Händen be: 
dedt; die Gendarmen behandelten fie menfhlid. — 


Nimes, den 9. September 1851. 

Das Frühſtück bei Durand, einem Reftaurant und Gaftro: 
nomen erhabener Größe, war eingenommen und wir, ein lieber 
Freund und ic, jo würdig vorbereitet zu dem Ausfluge, den wir 
vor hatten. Beim Frübftüd bediente uns ein Kellner, der Thiers 
beißt und die frappantefte Aehnlichkeit hat mit dem gemefenen 
Minifter gleiches Namens, der in diefem Augenblide feinen ab: 
getragenen Napoleonismus, feine Geihichte des Konfulates und 
des Kaiferreiche3 bereut und fie eines Tages vielleiht noch bit: 
terer bereuen wird. Der Kellner und Doppelgänger de3 reuigen 
Staatsmannes ift zugleich jein Coufin. Man muß dergleichen 
Vorkommniſſe aufzeichnen, da fie, wenn die Dinge jo fortgehen, 
bald zu den größten Sonverbarkeiten gehören und die Verwun— 
derung unferer Nachkommen erregen werden. 

Geftärkt durch das Frühſtück, das uns der Bürger Thiers 
fervirte, beftiegen wir das Cabriolet, um einer der merkwürdigſten 


232 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


und erhabenften Römerbauten, dem fogenannten Bont du Card, 
unjern Befuch zu machen. Der Weg ging während zwei bis drei 
Etunden durd eine ziemlich unerquidliche Gegend; erft in der 
Nähe des Gard oder Gardon, am Eingange in ein ſchön ber 
bautes Thal, das durd ein alte8 Schloß gehütet und von alten 
Bäumen bejchattet wird, wird fie freundlicher und gibt dem Ge: 
müthe jene Heiterkeit, die zum Genufje eines erhabenen, antiken 
Kunftwerkes unumgänglich nothwendig ift. 

Mo diejes Heine Thal in das größere des Gard oder Gar: 
don mündet, liegt ein freundliches Dorf, das den Stapelplat 
aller Befucher des römiſchen Monumentes bildet. Es ijt herge- 
bradt, daß man im Gafthaufe Pferd und Wagen jtehen läßt, 
und von da aus zu Fuß den Gardon entgegen geht, während 
welcher Zeit das freundliche Gaſthaus ein üppig ſüdliches Mittag: 
eſſen für die Rückkehrenden bereitet. Dieſes Gafthaus gibt dem 
fremden Wanderer auch einen Führer mit. Der Führer heißt 
Porthos, wie der Eine der Dumas’ihen Mousfetiere, und ift 
unter feinen Kollegen ‘gewiß einer der merfwürdigiten dieſes 
Jahrhunderts. Den Namen eines Cicerone verdient er nicht, 
denn ſchweigſam, ja ftumm, gebt er neben dem Wanderer einher 
und begnügt fi), durch einfaches Etehenbleiben auf die jhönjten 
Anz und Ausfihtspunkte aufmerlfam zu machen. Er unter: 
fcheidet ih dadurh aufs Vortheilhaftejte von feinen Kollegen, 
die gewöhnlich im Wanderer feinen eigenen Gedanken aufkom— 
men lafjen und e3 für ihre Pflicht halten, die ganze Zeit mit 
eingelerntem Geplauder auszufüllen. Eine andere Tugend un: 
jeres Führers ift die, daß er dem Wanderer eine gewiſſe Sicherheit 
einflößt, daß man mit ihm durch Wüften und Wälder ohne Furcht 
vor Räubern, jo wie hier den Cevennen entgegen, wandern könnte, 
ohne die geringfte Scheu vor den Wölfen, die in ihren Höhlen 
lagern. Denn troß feinem gutmüthigen Auge fieht man e3 ihm 
an, daß er, gereizt, furdtbar werden und won feiner ganz gewal— 
tigen Leibesbefchaffenheit, die an den Löwen erinnert, von feiner 
außerordentlihen Kraft, die ihm den Namen des flärkjten unter 


Zehntes Kapitel. 233 


den Mousfetieren verfchafft bat, mit großem Erſolg Gebraud 
maden könnte. Und all’ diefe Tugenden, wie billig, uneigens 
nügig jtcllt er fie dem Fremdling zu Gebote. Niemals — ih 
weiß es gewiß — hat er aud nur das Heinfte Trinkgeld für 
jeine Bemühungen angenommen; aber er veiſchmäht es nicht, 
bei der Nüdfehr ins Gaſthaus, freundlich und bejcheiden am 
Mittagefjen tbeil: und fo, wahrhaft feinfühlend, dem dankbaren 
Fremdling ein Stüd feiner Danteslaft abzunehmen. — Unter 
Menſchen find diefe Tugenden alle ausgeſtorben, beſonders unter 
jenen Menſchen, die auf der großen Touriftenftraße oder in der 
Nähe berühmter Monumente wohnen — wie das die edlen Etauf- 
faher der Schweiz, die hofenlofen Clans Hochſchottlands, die 
romantiſchen Räuber Kalabriens und der Legaticnsrath Gerhard 
in Leipzig beweifen. Unter Menſchen find fie aufgeftorben; fie 
haben fi in die Hunde geflüchtet — denn Porthos ift, was idy 
zu jagen vergefjen habe, nicht3 Anderes als ein Hund, ein großer, 
gewaltiger, riefiger Hund, der aus den menfchenleeren Ebenen 
der Camargue ftammt, feine Stammgenofjen an Weisheit, Schöne 
heit, Größe und Kraft weit überragt, den Etolz feines Haus 
wirthes und den Troft des fremden Wanderers ausmacht. 

Hundert Schritte hinter dem Torfe, auf einer Heinen Ers 
höhung blieb er zuerft jtehen und ſah nad) rüdwärts. Wir folgten 
feinem Auge und erblidten eine überaus niedliche Kettenbrüde, 
die luftig und geifterhaft über dem tiefen und wilden Flußbett 
des Gardon ſchwebt und überaus malerijch zwei ſchöne Dörfer 
verbindet. 

Nad) zwanzig Minuten ungefähr waren wir an dem Punkte 
angelangt, wo man den Bont du Gard zum erften Male erblidt. 
Der Anblid ift jo groß, jo überwältigend, daß wir lange, lange 
Zeit, gebannt an diefelbe Stelle, fiehen blieben, als fürdteten 
wir, mit einem Echritte vorwärts oder rüdmwärts ein Atom dieſer 
Schönheit zu verlieren. Porthos mußte dieſes Gefühl zu wür— 
digen, denn er legte fich rubig hin und überließ uns dem großen 
Eindrude. Wie dankbar war ich ihm für feine Stummheit! Ein 


234 Tagebud) aus Languedoc und Provence, 


anderer Gicerone an feiner Stelle hätte die Schönheit zu anato- 
mifiren angefangen und eine Rede gehalten, von der ein einziges 
Wort hinreicht, in Verzweiflung zu bringen. 

Wie freue ich mich, die Amphitheater von Nimes und Arles 
vor dem Pont du Gard gejehen zu haben; nad diejem wären fie 
mir Hein und bäßlich erfchienen. Auf diefem großartigiten aller 
Aquädufte ver Welt liegt neben der ganzen riefenbaften Gewalt 
des Römerthbums, oder vielmehr verhüllend über diejer, ein Neiz 
von Schönheit und Anmuth, wie er fonjt ven Römermwerfen zu 
fehlen pflegt, und wie er felbjt bei ven herrlichſten Bauten aller 
Zeiten und aller Style felten ift. Frankreich befist im Pont du 
Gard ein Kleinod, das es hüten und bewahren follte, wie nur 
irgend eine Koftbarfeit, die einem Lande, einem Volke Werth gibt; 
und einen ber ſchönſten Nefte jener Welt, die mit ihrem Abfalle 
den Geift von Jahrtaufenden groß zu nähren im Stande war, 

63 ift ein unfreundliches, wildes, felfiges Thal, das der 
Pont du Gard durchſchneidet und zum Wallfahrt3orte des ferner 
Wanderer macht. Rechts und links fteil und rauh abfallenve 
Felſen, die theilmeife von milder und ftruppiger Vegetation be- 
dedt find, und an deren Fuße fi eine mit Mühe gemonnene 
Straße hindrüdt. Tief unten im Grunde rollen die gelben Wellen 
des Gardon, die nur angeſchwollen im Stande find, die Feljen- 
Elippen in ihrem Schooße zu beveden. Was fie da an Wildem 
und Unwirthlihem verhüllen, erjegen fie reichlich durch ihr eige- 
ne3, hochaufſpritzendes Getos, durch die Wuth ihrer Schnellungen 
und den Sturm gegen die römifchen Pfeiler, die ihnen ruhig 
Troß bieten. 

Der Pont du Card befteht aus drei Bogenreihen, die in 
drei Stodwerfen über einander fortlaufen. Das unterfte Stod: 
werk, das mit den Füßen theils im Wafler, theils auf den Felfen 
des Flußbettes und der Ufer fteht, jet fih aus ſechs gewaltigen 
Bogen zufammen. Ueber diejes erjte Stockwerk läuft da? zweite 
mit elf, und über dieſes zweite das dritte mit fünfunddreißig 
Bogen hin. Die Bogen jedes oberen Stodwerkes find um ein 


Zehntes Kapitel. 235 


Bedeutendes Kleiner al3 die Bogen des Stockwerkes, das feine 
Baſis bildet, und obwohl der ganze Bau oben, wo er die höchfte 
Höhe der beiden Berge verbindet, breiter fein muß, al3 an feinem 
Fuße, wo er nur von Ufer zu Ufer geht, fo gewinnt das Ganze doch 
auf diefe Weife, d. i. durch Verkleinerung des Maßftabes der Bo: 
gen nad oben zu, und dur die Durchfichtigkeit der Bogen felbit 
etwas Leichtes, Quftiges, ich möchte jagen Vegetabilifches, mo: 
dur e3 wie von Natur in die Höhe ftrebt und die Schwere 
feiner Maffenhaftigkeit vergeſſen macht, ohne an natürlicher 
Mürde und Größe zu verlieren. Einer der unteren Bogen iſt 
breiter al3 die anderen in derjelben Reihe; er überfpannt allein 
ven Fluß, wenn fich diefer in feinem gewöhnlichen Zuftande be: 
findet und nicht von Regen oder dem gejchmolzenen Schnee der 
Gevennen angeſchwollen iſt. Ebenfall3 breiter ift der über ihm 
ftehende Bogen der oberen Reihe; aber dieſe Heine Unregelmäßig- 
feit, die durch die Breite des Fluſſes geboten war, verjchwindet 
ganz in dem ungeheuren Werke, deſſen Symmetrie fie gar nicht 
ftört. Bemerkt man fie au, jo trägt fie nur bei, vem Baue den 
wohlthuenden Anichein der Unmillfürlichkeit, des Entftandenen 
und nicht Gemachten zu geben. 

Erſt das dritte Stockwerk trägt das Rinnjaal oder den eigent- 
lihen Theil ver Wafjerleitung, denn der Bont du Gard — was 
ih wohl nicht erft zu bemerfen brauche — ift der Träger des 
Waſſers von einem Ufer zum andern, jenes Haren, hellen Waſſers, 
da3 die Römer 41,000 Meter weit aus den Gebirgen, über Berg 
und Thal, ihrer lieben Stadt Nemaufus zugeführt und den bei— 
den Bächen, die man heute Aure und Niran nennt, zu Nuß und 
Frommen ihrer römijchen Bürger entzogen haben. Die Rinne, 
hoch genug, daß ein Mann mit einiger Neigung de3 Kopfes unter 
ihrer Dede fortwandeln kann, ift oben von behauenen Steinen 
überdacht und unten und an den Seiten vermittelft eines Cements 
dicht gemacht. Diejer Kitt ift fo wortrefflich, daß noch heute das 
Regenmwafler, welches durch die oberen, von der Zeit gemachten 
Deffnungen einfällt, nur durch Verdunſtung entfernt wird und 


236 Tagebuch au Languedoc und Provence. 


daß e3 de3 Hammers und des Meißels bevürfte, um ihn zu ver: 
legen. An den Mauern hat ſich hier und da eine üppige ſüdliche 
Vegetation angefiedelt, die nur dazu beiträgt, das Leben und Ne: 
gen in dieſem unvergleichlihen Kunſtwerke zu erhöhen und zu 
vermannigfadhen. Aber jelbft die wilden Feigenbäume, die, wie 
wir es bier oft jehen, ihre Wurzeln in den fefteften Felfen bohren, 
haben e3 nicht vermocht, einen Stein aus feinen Fugen zu drän: 
gen. So feſt find dieſe auf einander gefchichtet, felbit da, wo fie 
fein Kitt, jondern die bloße Berechnung des Architekten und die 
Genauigfeit des Steinmeßen verbinden. So feiert hier im Kleis 
nen wie im Großen der menfchliche Geift einen großen Triumph 
über die Materie. Mit diejem Einen Baue verbindet er ja vom 
gewaltigen Strome getrennte Berge, verfegt er Flüffe und 
zeugt ein Kunſtwerk, das ftärfer ift, al3 Felfenmauern. Eo un: 
bedeutend find die Schäden, die ihm die Zeit und manche Bars 
baren zuzufügen vermocdten, daf er noch heute dem Befchauer 
denjelben Eindrud macht, defjen ih Agrippa erfreut haben muß, 
als er ihn vollendet ſah und fi fagte, ein Monument aere 
perennius feiner geliebten Provinz gegeben zu haben. Die mo: 
derne Brüde, die man an den Fuß des Pont du Gard geklebt 
bat, um die Chaufjee von einem Ufer zum andern zu führen, 
ninmt fich neben diefem fo unbedeutend aus, daß fie ganz ver: 
ſchwindet, dem Werke ganz und gar feinen Eintrag thut, und daß 
es Einem nicht einfällt, den Baumeifter derfelben der Arroganz 
und das Tepartement der Taftlofigkeit anzullagen. 
Wie groß die Römer ald Adminiftratoren waren, und wie fie 
für die Heinen Bedürfniſſe ihrer Bürger ebenfo gut al3 für die 
großen forgten, beweist der Heine Fußweg, den jie am dritten 
Etodwerfe des Aquäduftes angebradt haben, um Fußwanderern 
den Weg über den oft angefhwollenen Fluß zu erleichtern. Une 
willfürlich erinnert man ſich da an eine gewifje Gijenbahnbrüde, 
die über die Loire führt. Umfonft petitioniren die Bewohner der 
beiden Ufer um einen Fußweg, der mit den geringiten Koſten 
angebracht werden fünnte. Sie erlangen ihn nicht, und der jedes 


Zehntes Kapitel. 237 


Jahr austretende Strom verhindert oft Wochen lang die Verbin: 
dung naher, im eifrigen Verkehr lebender Nachbarn, die fich da: 
dur in Handel und Wandel geftört ſehen. Wenn man nur 
großartige Brüden, Tunnels, Monumente, Mufeen, Univerfi: 
täten bat, mit denen man A la tete de la civilisation mars 
ſchirt — was liegt an FZußiteigen und Dorfjhulen? 

Noch an ein andered modernes Kunſtwerk wurde ich durch 
den Bont du Gard erinnert: an den Pont de Roque-Favoure, 
in der Nähe von Air, den ich vor einigen Tagen geſehen, und 
der den Marfeillern frifhes, füßes Gebirgsmwafler zuführt. Ge: 
wiß ein verbienftliche® und jchönes Werk; eine Waflerleitung, 
mwie fie moderne Jahrhunderte ſonſt nicht gefchaffen haben. Ich 
babe fie angeftaunt und doch — wie Hein erjcheint fie mir jegt, 
wenn ich fie neben den Pont du Gard jtelle. 

Wahrhaft erhoben nahm ich Abſchied von diejem in feiner 
Art berrlihften Monumente. Wenn ich mich oft vor römijchen 
Bauten zweifelnd fragen mußte, ob ich diefen von fo Vielen bes 
mwunderten Nömern nicht Unrecht thue, indem ich fie bloß kalt 
oder halb erfchroden anjtaune, jo nahm ich dießmal die Genug: 
thuung mit, von ganzem Herzen und mit ganzer Seele bewun- 
dert und im innerjten Gemüthe Preislieder auf diefe berechnen» 
den Unterdrüder einer Welt gefungen zu haben. 

Ganz in der Nähe des Pont du Gard bemerften wir noch 
eine Grotte, die an ihrem Eingange von halbverfallenem Gemäuer 
geſchloſſen war. Vielleicht eine jener Grotten, die Baville, der 
Alba Languedocs, hat vermauern lafjen, nachdem fich die Pros 
teftanten hineingeflüchtet hatten. Ich wandte mich ab, um mir 
den erhabenen Eindrud dur die Mifere, die Einen bier noch fo 
nahe liegt, nicht ftören zu laſſen. Genug diefes Elendes hatte 
ib jton in feinen Spuren fennen gelernt. Der proteftantifche 
Paltor aber, mein Freund, blieb lange und traurig vor den 
boblen Augen diejer Grotte ftehen. 


Eiftes Kapitel. 


Baunages, das Kanaan ber Kinder Gotted — Calviſſon, bad Jerufalem — 
Jean Eavalier, Saurin, Abauzit, Nogaret — Die Fruchtbarkeit Kanaans — 
Griehifches Leben in Kanaan — Maffacre de St. Come — Ludwig Tied und 
Thümmel — Die Emanzipation der Proteftanten durch Ludwig XVI. — Jean 
Eavalier’3 Schlahten von Langlade und Nages — Witze ber Geſchichte — Die 
modernen Proteftanten des ſüdlichen Frankreichs — Verhalten des Adels in 
den Kämpfen der „Kinber Gottes“ oder „Kamiſarden“ — Geſchichtsquellen. 


Galpijjon, 7. Auguſt 1851. 

Seit vierzehn Tagen ungefähr fige ih in Calviſſon und 
wohne in dem hiftorifhen Haufe, welches den großen Kamiſar⸗ 
denführer Jean GCavalier am Ende feiner Laufbahn eine Zeit 
lang beherbergte. Ich ſchreibe dieß in feiner Stube. Bon hier 
aus unterhandelte er mit dem Marſchall Billars, der fein Haupt: 
lager in Nimes hatte, und erlag der Eitelfeit, mit Ludwig XIV. 
puissance à puissance zu unterhandeln. Er verließ die Sache 
feiner Glaubensbrüber, nachdem er für fie Jahre lang Wunder 
ver Tapferkeit gethan, und zu einer Zeit, wo diefe noch entſchloſſen 
waren, ihrem Propheten bis auf den legten Mann zu folgen. 
Cavalier hat eine wunderbare Aehnlichkeit mit Görgey. Plötzlich 
aus dem Nichts aufgetaucht, erfüllt er, ein armer, achtzehnjäh— 
riger Schäferjunge, der die Heerden eines Andern hütet, die Welt 
mit dem Rufe feiner Thaten und die Herzen feiner Kampfgenoflen 
mit einem unbeugbaren Muthe, ver einer zehnfach überlegenen 
Macht durch alle Wechjelfälle eines langen Krieges Stand hält, 
Plöglih wird er felber müde, und er iſt der Einzige, der den 
prophetiihen und aufmunternden Worten, die aus jeinem eige— 
nen Munde kommen, nicht mehr glaubt. Marſchall Villars 


Elftes Kapitel. 239 


verfteht ſich auf Cavalier; er ladet ihn in jein Hauptquartier, er 
empfängt und behandelt ihn, wie man den Heerführer einer feind- 
lihen und legitimen Macht behandelt — voll von Stolz kehrt 
Gavalier nah Calvifjon zurüd und weiß ed nicht, daß er ſich 
eigentlih jchon in die Hände des Feindes gegeben, da er von 
ihm Geld und Nahrung annimmt, um feine Kampfbrüder zu 
erhalten. War es Komödie, war es ein Mittel, die Stimme feines 
eigenen Gewifjens zu übertäuben, daß er auf den Ruinen des 
protejtantifchen Tempeld nod jo mächtig und ergreifend prebigt 
und wahrjagt, wie damals, da er als ſchwächlicher Schäferjunge 
fih in den Grotten der Cevennen zum erjten Male zu den „Kin: 
dern Gottes” gejellte? Wielleicht Beides — denn noch ftaf eine 
Erinnerung des „Propheten“ in ihm, und ſchon war er auch der 
Prahler, ver fpäter die unzuverläfjigen Memoiren gefchrieben. 
Aber wir wollen nicht zu ftrenge mit ihm fein; jagt er doch felbft: 
„Ich war ein Kind, und ich hatte Niemand, der mir hätte rathen 
können.” Diefes wirklich Kindiſche und Kindliche in feinem ganzen 
Weſen, das Vertrauen in königliche Verſprechungen, die jchmeichel: 
bafte Art und Weife, wie man ibm von feindlicher Seite ent: 
gegen fam, alles das ijt geeigneter, Gavalier zu entſchuldigen, ala 
all’ die Gründe, die man anführt, den ungarischen Verräther rein 
- zu wachen, und jtellt jenen vertrauenden, unwiſſenden Jüngling 
hoch über diefen menjchenverachtenden, vielerfahrenen Mann, — 
In Calvifjon hat der junge Hirt wohl die gewaltigiten Gemüths— 
erfhütterungen feines Lebens erfahren. Nachdem er bier, von 
wo aus er feine meiften und ruhmvolliten Schlachtfelder über: 
fehen konnte, als König verehrt, als Prophet von dem herbei: 
ſtrömenden Volke angebetet worden war; nachdem er fich in 
Träume künftigen Ruhmes gewiegt und im Geijte fih an den 
Siegen gefreut hatte, die er, der Konvention mit dem Marfchall 
Villars gemäß, als Oberfter Ludwigs XIV. auf fpanifchen 
Schlachtfeldern erfämpfen follte, kehrt er eines Tages in fein 
Lager zurüd und findet die „Kinder Gottes“ vom heftigiten Zorn 
gegen ihn entbrannt. Sie empfangen ihn als Verräther, der 


240 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


die Sache Gottes verlaflen will, mit Spott und Verwünſchungen; 
fein Befebl wird nicht mebr gehört; er iſt entfegt, und die ihm 
in jede Todesgefahr gefolgt, wenden fih von ihm und folgen 
jegt dem wilden Propheten Ravanel, der geihworen hat, den 
Tegten Trorfen Blut für das Evangelium zu verfprigen. Was 
tümmern fie, die für ihren Gott fterben wollen, die Punkte, die 
Cavalier mit dem Marfchall aufgelegt? enthält doc keiner die 
Beltätigung, daß fie ihre Tempel wieder aufführen, überall das 
ob Gottes fingen können. Cavalier befhmwört, bittet, weint — 
umfonft! Er ijt verlaffen, und nur dem armen Propheten Moſes 
dankt er es, dab ihm der ftarre Ravanel, „das Schwert Gottes,“ 
nicht eine Kugel durch den Kopf jıat. Beſchämt ehrt er, der 
verjprocen hatte, mit einem Negimente zu fommen, nur von 
wenigen Freunden begleitet, zum Marſchall zurüd; die Frau 
Marſchallin, der er vorgeitellt wird, erjucht ihn, ihr in ihrem 
Boudoir ein wenig zu prophetiliren. Er jchweigt. — Als er 
in den Kahn fteigt, um über die Rhone zu fahren und fein 
Vaterland für immer zu verlaflen, will er noch einen Pſalm an 
ftimmen, als letztes Lebewohl — der Offizier, der ihr begleitet, 
verbietet es. — In Versailles fieht ihn der große König von der 
Eeite wie cin wildes Thier an und zudt die Achſel, und wenige 
Wochen nad feiner pompbaften Unterbandlung mit den Mars- 
ſchall flüchtet er bei Nacht und Nebel mit feinem Häuffein von 
Freunden über die Schweizer Gränze, um dem Kerker ju entgehen, 
der ihn, treg königlicher Verſprechungen, in Neubreijad oder in 
einer Baltille erwartet, 

Galvifjen ift nit nur durch Gavalier, es war zu allen 
Zeiten in der Geſchichte der VBroteftanten berühmt. Lange Zeit 
fpielte e& den Hauptort des Proteitantiemus in Vaunages und 
Umgegend, und am Eingang in die Cevennen gelegen, war es 
ver Vermittler zwiſchen den Gebirgsbemobnern und den Bros 
teftanten Nieverlanguedocd, der Ebene, die ſich von Vergez bis 
and Meer binzieht. Hier wurde auch der große Repner der freien 
Arminianer, Saurin, geboren, deſſen Haus man noch heute in 


Elftes Kapitel. 241 


der Nähe des Tempel3 zeigt, und von hier flüchtete ſich in zarter 
Jugend, um den Dragonaden zu entgehen, an der Hand feiner 
Mutter jener Abauzit, der Freund Newtons, Leibnig’ und Sean 
Jaques'. Er jtammte won einem berühmten arabifchen Arzte, 
der im zwölften Sahrhunderte in dieſes Land einwanderte und 
einen Stamm gründete, in dem ſich Wiſſenſchaft und freie For: 
{hung forterbten. Sein legter Abkömmling fist durch Zufall 
heute wieder in Galvifjon — es ift der verdienſtvolle und be: 
redte Paſtor Abauzit. — Der ziemlich hohe Hügel vor meinem 
Haufe trägt die Ruinen des Schlofjes, welches der Familie des 
großen Rechtögelehrten Nogaret gehörte, der im breizehnten Jahr: 
hunderte mit der Obrfeige, die er dem Papfte Bonifazius ge: 
geben, und die in ganz Europa mwiederhallte, gewiffermaßen bie 
Reformation begonnen bat. 

Die Bewohner des heutigen Calviſſon find friedliche Leute, 
denen man nichts von der Ekſtaſe, die ihre Vorfahren ergriffen, 
und nichts vom Prophetenthbum, das jene beherrſchte, anmerft. 
Nur wenn Einem in der Gafje das Raſſeln des Mebeftuhles oder 
der Krämpler entgegenfhallt, denkt man unmillfürlih an bie 
Meber und Krämpler, die die größere Anzahl von Propheten 
geliefert haben. Aber auch dieje Gewerbe find in Abnahme, da 
ihnen‘ die Majchinen von Nimes eine überlegene Konkurrenz 
machen, und die Galvifjoner bejchäftigen fich mit Bereitung von 
füßen Compot3, deren Stoff ihnen die herrlichen Früchte von 
Baunages liefern und die fie in alle Welt verjenden. 

Baunages heißt das große Kefjelthal, welches fich hinter 
Calviſſon plöglich breit und weit ausdehnt. Am Fuße der fahlen 
Berge, die es umgeben, ijt e3 ringsumher von einer bedeutenden 
Anzahl größerer und kleinerer Fleden befränzt. Hiſtoriſch, oder 
anderweitig die beveutendften unter diefen find St. Come, Cla: 
tenfac, Gavairac, Zanglade, St. Dionify u. f. w. Seinen Namen 
bat diefes Thal von dem Fleden Nages, der an feinem Eingange 
gegenüber von Galvifjon liegt; die Kinder Gottes aber nannten 
es feines gejegneten Bodens wegen: Kanaan. in der That ijt 

Morig Hartmann, Werke. II. 16 


242 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


e3 eines der fruchtbariten Thäler des Südens. In diejem Augen 
blide erliegen die Bäume unter der Weberzahl ihrer Früchte; 
trotz des großen Handels, den man treibt, weiß man nicht, was 
mit der ungeheuren Menge von Feigen, Mandeln, Pfirſichen, 
Melonen, Pflaumen und Trauben anzufangen. Man gibt jie 
ven Ziegen als Futter. Vor und nad der Weinleje eſſen Men- 
ſchen und Thiere nicht3 al8 Trauben — Biegen, Hunde, Pferde, 
Gel und Maulefel nähren fi von der köſtlichen Beere, die jo 
treffliche Weine liefert, daß man fie in Paris ald Madeira, Ma: 
laga und Alicante verkauft. Der Wein von Langlade kann mit 
vem beiten Bordeaur metteifern und kommt au als folder in 
den Handel. Auf vielen Bauernhöfen fann man in verjchiedenen 
Winkeln und Eden, unter Brennholz und Gerümpel verjtedt, 
ungeheure Fäfler ſtehen ſehen, die voll des edelſten Weines find. 
Nach zwanzig Jahren einmal fällt es dem Beliger ein, ſolch ein 
Faß anzuftehen, und fiehe da, er findet einen edel gealterten 
Saft, den er Madeira, Malaga, Alicante tauft. Die franzöfiichen 
Gefege und die Octrois der Städte find Schuld, daß der Bauer 
feine Reichthümer nicht jo verwerthet, wie er es unter anderen 
Umftänden könnte. Auch fehnt man ſich nirgends fo wie bier 
nach Free Trade. Doch ift Alles wohlhabend; die man hier Arme 
nennt, find immer nod Leute, die ihr gutes Stüd gejegneten 
Bodens befigen, da der Boden vielgetheilt ift. Die Gemeinden 
alle haben, mehr weil es Brauch als Bedürfniß ift, ihre Armen— 
kaſſen, doch werden fie jelten in Anſpruch genommen. Wenn e& 
geſchieht, io gejchieht ed, mie mich verichiedene Paſtore und 
Maires verfihern, nur von den Allerärmften, die mit dieſem 
NZuſchuſſe ihre Steuern bezahlen. 

Bei mehreren Ausflügen in das Land von Vaunages hatte 
ich Gelegenheit, mich an dieſer Mohlhabenbeit zu erfreuen. Die 
Dörfer find eben nicht immer jehr reinlih — das liegt im Cha- 
rakter des Südländers — aber nirgends tritt Einem das trau- 
rige Bild der Noth entgegen. Ich habe hier noch feinen Bettler 
gejehen. Faſt jedes Dorf hat irgend einen monumentalen Schmud 


Elftes Kapitel. 245 


— einen Brunnen, eine Kirche, ein Gemeindehaus — alle aber 
find mit ihren engen Gafjen, mit ihren Quaderhäufern, mit 
ihren Treppen, die vom erften Stode auf die Straße führen, 
mit ihren Platformen vor den Thüren der oberen Stodwerte, 
mit den tiefen und gemölbten „Salons“ ebener Erde, vor 
denen ber fchattige Vorhang weht, und in die man im Vorüber: 
gehen blidt — alle find fie malerifh und würden dem Künftler 
mit den müßigen Gruppen der Männer und der arbeitfamen 
Weiber manden fhönen und dankbaren Stoff bieten. Der Lan: 
mann ift mit feinem Weberfluffe nicht geizig. Wandert man an 
der Seite eines in diefer Gegend nur halbwegs Bekannten, wie 
es bei mir der Fall gewejen, jo wird man jeden Augenblid ge 
beten, einzufehren und einige Früchte und ein Glas Wein ein: 
zunehmen. Der Wirth entjchuldigt fih dann, daß er nicht Bier 
anbieten könne, womit man in diefem Weinlande den Gaft be: 
jonders zu ehren glaubt. So fann man wie ein homerifcher Held 
von Gaſtmahl zu Gaftmahl wandern, Bei einem Bauer in St. 
Come nahm ich ein wahrhaft fürftliches ein — die ebeljten Weine, 
die ſüßeſten Früchte und die beiten Fleiſche erbrüdten vie Tafel. 
Die beiden Hausfrauen, Schwiegermutter und Schnur, bedienten 
uns wie Stlavinnen und jegten fih, nad) der Sitte des Landes, 
nicht zu Tiſche. Die große, geräumige Halle, aus der man auf 
die Vorhalle, die zugleih Küche ift, bliden kann, ſobald ver 
wallende Vorhang aufgeht; der Bratjpieß am Herde und das 
friihe Fleifh daran; die urfprünglihen Handmühlen; die zwei- 
bentligen Krüge; die ſchlanken Amphoren, in denen der Wein, 
und die ungeheuren, bauchigen Thongefäfle, in denen das Waſſer 
aufbewahrt wird; die Ampel, die von der Dede herabhängt, mit 
ihrem oben überbogenen Griffe, ganz in der Form, wie man fie 
in Pompeji findet — enbli draußen der blaue, molfenloje 
Himmel und das Lorbeergebüfh, das durch die Fenjter Kühlung 
weht — reicht das Alles nicht hin, einen vom füßen Weine halb- 
betäubten Wanderer zu überzeugen, daß er ſich in fhönen, an: 
tifen Zeiten, unter jhönem klaſſiſchem Himmel befinde, als Gaſt 


244 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


bei irgend einem Männerbeherrihenden? Nur die Hausgötter 
verrietben, daß man fich in moderner Welt befinde. An der 
Wand hingen die Bilder von Barbès, von Ledru:Rollin, mit 
der rothen Echärpe und Schleife, von Raspail an feinem Ger 
fängnißgitter. — Nah dem Mahle führte man ung in fühle 
Gartenftuben, wo Betten zur Siefta bereitet waren. Beim Er: 
wachen bot man Wafler zum Waſchen und fühen Wein zur Er: 
quidung, und wieder erhob man die Hände zum leder berei: 
teten Mahle. 

Als fih die fürdhterlihe Hige gelegt hatte, gingen wir durch 
eine allmählig auffteigende Schluht Wem Gebirge zu, nad ber 
fogenannten Fontaine de Robert, um einen koniſchen Berg 
berum. Nach ziemlich langer, bejchwerlicher Wanderung ftanden 
wir auf hiſtoriſchem Boden. Das freundliche Thal VBaunages 
war verfhmwunden; kahle, verwitterte Berge jtarrten uns an; 
ſchweigende Einſamkeit umgab uns, und fo weit das Auge durch 
die Schluchten dringen konnte, nichts als troftloje Gebirgswüſte. 
Wie wahr hat Ludwig Tied in feinem „Aufruhr in den Ge: 
vennen“ die Zufammenktunftsorte der Kamifatden, wo fie der 
Begeifterung der Propheten horchten, zu ſchildern verjtanden. 
Menn er, wie ich es glaube, diefe Gegenden nicht ſelbſt gejehen, 
dann ijt die Divination des Dichters zu bewundern, Auf dem 
Heinen Plateau, auf dem wir ftanden, verfammelten fich eines 
Tages die Kinder Gottes in großer Anzahl, um ſich von ihrem 
Propheten prebigen zu laſſen. Zu Hunderten lagen fie da, lau: 
ſchend, feines Ueberfalles gewärtig, und horchten den Worten, 
die aus dem Laube eines Nußbaumes zu ihnen erfchallten. Aber 
fie waren von den Katholifen jenfeit3 des Berges verrathen. 
Plöglih mwimmelte es ringsum auf allen Bergfpigen von könig: 
lihen Truppen, und Kugeln regneten in die fromme Schaar. Nur 
jehr Wenige ſollen entlommen fein. Le massacre de St. Come 
ift nod immer eine jhredlihe Erinnerung im Herzen des Volkes. 
— Der Berg, der und von Vaunages trennte, ſcheint ein Be⸗ 
graͤbnißplatz der Römer geweſen zu fein. Häufig findet man, 


Elftes Kapitel. 245 


befonder3 am füdlichen Abhange, antike Aſchenkrüge, die aber 
von den Arbeitern fogleich zerſchlagen werden, da man in ihrem 
Bauche Münzen vermuthet. Wenn fie aber nur Aſche enthalten, 
werden die Scherben bei Seite geworfen. Vor Kurzem fand man 
eine gewaltige Bleikifte. An jeder ver vier Eden befand ſich ein 
Aſchenkrug. Die Ajchentrüge wurden zerbroden, die Kifte nad 
dem Gewicht verkauft. Oft ftößt der Spaten auf Grabjteine, da 
es aber zu beſchwerlich wäre, diefe ganz auszugraben, zieht man 
es vor, fie wieder mit Erde zu beveden. Die Bewohner diejer 
Gegenden find eben doch feine Griechen. 
| l 
z 8. Auguft 1851. 
Ungefähr drei viertel Stunden von St. Come gegen Diten 
liegt Glarenfac. Es wäre nichts von diefem Dorfe zu berichten, 
wenn es nicht, nad der Meinung vieler Bewohner dieſer Ge- 
gend, in der Schredengzeit der franzöfifhen Revolution eine ge: 
wife Rolle gejpielt hätte. Kurze Zeit vor 1789 warf der Geig: 
neur von Clarenfac fein Auge auf das ſchöne Weib eines Bauern, 
feines Unterthbanen. Um ungehindert die Reize der ſchönen Un- 
terthbanin genießen zu können, jchidt er, ein zweiter König David, 
ihren Mann, den armen Uria, fort nad) Nimes, mit dem jtrengen 
Befehle, mehrere Tage in diefer Stadt zu verweilen und, mas 
er auch immer hören möge, fie bei Androhung der härteften 
Strafen nicht zu verlaffen. Der arme Knecht gehorcht. Aber 
faum drei Tage in Nimes, bemächtigt ſich feiner die gewaltigſte 
Unruhe. Er hält es nicht länger aus, und in der Nacht jchleicht 
er in fein Dorf zurüd. Er horcht vor feinem Haufe und hört 
und fieht endlich durch eine Fenfterrige jein Weib im verzwei- 
felten Kampfe gegen den gnädigen Herrn. Er dringt hinein — 
und wird in jeiner eigenen Stube von jeinem Herrn, der be: 
waffnet ift, erſchlagen. Es ift gefchehen, und Niemand wagt, von 
der That zu ſprechen. Der Edelmann jegt feine Bewerbungen 
bei der jchönen Wittwe fort. Aber der Erjhlagene hat einen 
Freund, einen Wildfhügen. Diefer weiß gut zu zielen, und auf 


246 Tagebuh aus Languedoc und Provence. 


freiem Felde einmal rächt er den Todten durch einen einfachen 
Schuß aus dem Gebüſche. Er wird, ich glaube, dafür lebendig 
aufs Rad geflochten. Die Zeit hat nicht Zeit, die Erinnerung an 
diefe Gefhichte aus den Köpfen der Bauern des Vaunages zu 
ftreihen. Die Nevolution bridt aus, und die gebrochenen 
Schlöfjer, die verftümmelten Wappen, vie Flucht fo vieler Seig— 
neur3 zeugen, wie lebhaft dieſe Erinnerung noch in den Köpfen 
gefpuft habe. Uebrigens waren alle dieſe Seigneurs diefer eif: 
rigen Proteftanten eifrige Katholiken — um fo eifrigere und ver: 
folgungsfüchtigere, als fie alle Apoftaten und fogenannte Neu: 
befehrte waren, vie nächſten Abkömmlinge jener Ariftofraten, die 
die Glaubensfahe und ihre Kämpfer verließen und verriethen, 
fobald e3 fi nur noch um den Glauben und nicht, wie zur Hu: 
genotten: und Frondgeit, um Feudal- und Coterie-Intereſſen 
handelte. Faſt alle Aveligen Languedoc haben ſich zur Zeit ver 
Gevennenfriege auf diefe Weife bewährt. D’Aigallierd und der 
alte Marquis von Salgas find rühmlihe Ausnahmen. Zwar 
nahmen fie beide nicht Theil an dem Kampfe ihrer Landsleute 
und Glaubensgenoſſen; aber der Erfte ſuchte wenigftens ala 
Vermittler zwifchen diefen und dem Hofe fein Möglichftes zu thun 
‚ und verleugnete feine Ueberzeugung auch in den ſchwierigſten 
Lagen nicht, und der Andere war den Cevenolen freundlich, ver: 
gaß feinen Adel, zeigte feine Sympathie für die begeifterten 
Hirten und verhehlte fie nicht, felbjt ald® man ihn im hoben 
Alter auf die Galeerenbank von Cette fchmiedete, 

Bon Clarenfac fuhren wir nad Caverac, dem Dorfe, in 
welchem unfer Thümmel unter arkadiſchen Echäfern ein elyfei- 
ſches Leben geführt haben will. Nun, dieſes arkadiſche Dorf ift 
heute das unfreundlichſte, roheſte, ſchmutzigſte in Vaunages und 
als ſolches im ganzen Lande verrufen. Wir ſahen das Schloß, 
das ehemals dem Herrn von Caverac, heute der Commune ge— 
hört. Der große Park iſt in Weingärten verwandelt; nur einige 
ſteife Tarushecken und eine prachtvolle Cypreſſenwand zeugen von 
der entſchwundenen Herrlichkeit. Der proteſtantiſche Tempel, der 


Elftes Kapitel. 247 


ſich wie die Schule und der Kommunalfaal im Sclofie befindet, 
beſitzt eine Kanzel, die eine Geihichte hat. Man fieht es ihr auf 
den erjten Blid an, daß fie einmal eine Cheminée gewefen. Ahr 
berrliher, jehr bunter Marmor ijt das Gefchent eines Papſtes 
an einen Abbe, welcher einft in Caverac gewohnt und mit dem 
Marmor für jeine wüthenden Pamphlete gegen die Protejtanten 
belohnt worden. Und heute predigt der proteftantiihe Paſtor von 
dieſem Marmor herab und Hopft ihn wahrfcheinlich mit beſonders 
heiliger Luft. In diefem Schloſſe ſoll auch Baville, der unerbitt: 
liche Verfolger der Proteftanten, nad dem Mafjacre von St. Come 
übernachtet haben. Die Herren von Caverac haben in früheren 
Jahrhunderten bejondere Hoheitsrechte im Lande befefien. Sie 
bielten eine Art von Hof, und die Adeligen der Umgegend 
tbeilten fich in folhe, welche bei Hoffeierlichfeiten bloß bi3 ans 
Gitter, und in jolde, welche in das innere gelafjen wurden, 
um fnieebeugend ihre Aufwartung machen zu dürfen. Heute fit 
ver Conseil municipal de3 jouveränen Volkes von Caverac in 
ven fhönften Salons des feudalen Schloffes. — Ich fah da ein 
Grab in einem Privatgarten — Aehnliches jah ich ſchon in Nages 
und anderen Fleden des Landes, Das Volk liebt e3 bier, feine 
Lieben in der Nähe, in einem Garten am Haufe, auf einem 
benachbarten Felde zu beftatten. Das Gefe ift eigentlich dagegen, 
aber die Sitte ift ftärfer. Sie rührt aus der Zeit her, da man 
ven Proteftanten Fein ehrliches Begräbnik geftatten wollte, da 
man ihnen feinen Begräbnißplag anmwies und ihnen, was fie 
auch verſchmäht hätten, nicht erlaubte, ihre Todten in katholiſch 
geweihten Boden zu bergen. — Ich kann nicht umbin, bier das 
Edikt Ludwigs XVI. mitzutbeilen, welches nad langen Kämpfen, 
wohlgemerkt im Jahre 1787, erichienen ift und den Proteftanten 
eine Art von bürgerlicher Eriftenz zugejtand. Ich überſetze es 
aus dem vortrefjlihen Buche Napoleon Peyrats: „Histoire des 
Pasteurs du Dösert* und enthalte mich jeder Bemerkung : 
„Wir Ludwig XVI, König von Frankreich, überzeugt von 
„Der Fruchtloſigkeit Jahrhundert langer Berfolgungen und weichend 


248 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


„der öffentlihen Meinung, die euch in Schuß nimmt, haben be= 
„I&loflen, viel mehr aus Nothwenvigfeit al3 aus Sympathie, euere 
„bürgerliche Erijtenz anzuerkennen; in Folge Deſſen werden von 
„nun an euere Weiber und Kinder legitim, euere perjönliche 
„Freiheit geachtet, euer Gottesvienft geduldet, euer Handel frei 
„Sein. Für diefe königliche Gnade werdet ihr dem Staatsdienſte 
„unterworfen und die katholiſche Religion, die einzig herrſchende, 
„zu unterhalten verpflichtet fein; aber im Uebrigen bleibet ihr für 
„immer von allen Nemtern der Verwaltung, der Rechtöpflege, des 
„Unterrichts ausgejchlofien und jedes Mittels zum Einfluffe auf 
„ven Staat beraubt. Mit Einem Worte, es wird eud von uns 
„micht3 bewilligt, als wa3 das natürliche Recht euch zu verweigern 
„nicht erlaubt." 
9. Auguft 1851. 

Reifen! — Es ift wohl die ſchönſte und unſchuldigſte aller 
Leidenschaften, die Reifeluft. — Aber ohne Ziel ift das Reifen 
faft fo traurig, wie ein Leben ohne Zwed, ohne Idee. Wenn 
nicht die Heimat das legte Ende des Wanderer, der vielen 
Mühen ſüßer Lohn ift, ift es ein Irren in der Wüſte, ein 
Im⸗Kreiſe-Gehen, ein Streifzug durch eine unendliche Fläche, von 
deren Horizonte fein fchattiger Baum, kein gaftliches Licht wintet. 
Der Wanderer muß die Ausſicht auf einen heimifchen Herd haben, 
um den herum jeine Lieben jiten, die mit Theilnahme den Er: 
zählungen von fremden Ländern, von Abenteuern und beftandener 
Mühſal horchen. George Sand bejchreibt einmal das füß uns 
heimliche Gefühl des Alleinfeing in fremder Ferne, irgendwo in 
einem weltvergejienen Thale, in einem labyrinthifchen Gebirge, da 
man ſich jagt: „Jetzt bift du zum erften Male allein, feine Seele 
weiß dich zu juchen; jet bijt du frei; dir, dir ganz allein und 
den Geiſtern in dir überlafjen.” Wenn aber diefes Gefühl ein 
alltägliche geworden, dann hat e3 feinen Reiz verloren. — Ich 
jhreibe dieß, auf einem Felsjtüde figend, befchattet von einem 
wilden Brombeerftraud), der mich gütig gelabt hat, da ich feit 
Stunden, vom Wege verirrt, allen Menjhenwohnungen ferne 


Elftes Kapitel. 249 


bin. Bor mir ein jchmaler Pfad, nur felten von der Ziege und 
dem Jäger ohne permis de chasse betreten — er verliert ſich 
in verwittertem Geftein — um mich dehnt fich weit und breit eine 
table Gebirgsmüfte, aus grauen Bergrüden zuſammengeſtückelt. 
Meit hinter mir der freundlihe Gau Vaunages und meit vor 
mir die Ketten der Hochcevennen, die vierfah und fünffach, 
gezadt und in langgeftredten Linien binziehen. Ein grauer 
Schleier zittert in der Mittagsſonne glühend über ihren Häuptern. 
Nichts bewegt fi rings, als etwa eine Eivechje, die aus den 
faltigen Steinen ſchlüpft, und, durd zwei Hügelreihen von mir 
getrennt, die Flügel einer Windmühle, die einförmig und einzeln 
auftaudhen und verjehwinden. — Empfinde ich jenes jüß uns 
heimliche Gefühl? Mehr als jeder Andere braucht der Wan 
derer eine Heimat — der gezwungen Reijende wandert nicht — 
er flieht. 
10. Auguſt 1851. 

Schräge gegenüber von Gaverac, am füblichen Rande und 
in der öjtlihen Hälfte des großen Keſſelthales liegt Langlade, 
die Heimat des beften Weines von Vaunages. Auf feiner Höhe 
ſteht noch heute die Windmühle, an deren Fuß eine der bedeu— 
tenditen und ruhmvolliten, obwohl unglüdlihen Schlachten der 
Kamifarden begonnen hat. Marſchall Montrevel war abgerufen 
und jollte dem Marſchall Billard Pla machen. Cr wollte 
Languedoc nicht verlaffen, ohne den Ruhm wenigftend Eines 
bedeutenden Sieges mit ſich zu Hofe fortzutragen. Zu diefem 
Ende that er alles Mögliche; er ſtreute falſche Gerüchte über feine 
Abreife aus, um die Kamifarden, die ihm auflauerten, irre zu 
führen, theilte feine Truppen in mehrere Haufen, ließ fie Kreuz. 
und Querzüge und maskirte Märjche machen und jammelte fie 
endlich alle und mit Einem Male um Baunages herum, wo ſich 
eben Cavalier befand und von Dorf zu Dorf zog, um zu predigen. 
Gavalier hatte eben die Feltungsmauern von Clarenfac nieder: 
gerifien und auf ihren Trümmern gepredigt und propbetifirt. 
Bon da zog er in das gegenüberliegende Langlade und ließ feine 


250 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Kamijarden, ungefähr 700 Mann Infanterie und 100 Reiter, in 
den Weingärten am Fuße des Berges lagern. Müde von ven 
ununterbrochenen Streifereien, fielen fie bei herannahenver Nacht 
in einen tiefen Schlaf. Auch Cavalier, auf einem Steine figend, 
entfchlummerte leife. Nur wenige Reitervorpoften wachten. Da 
plöglich wimmelt e3 auf den Höhen hinter ihnen von königlichen 
Dragonern, die mit verhängten Zügel und mit den Rufe: tue! 
tue! auf das Kamiſardenlager losfprengen. Die Kinder Gottes 
fahren aus dem Schlaf und greifen zu den Waffen, und die 
hundert Reiter ſchwingen ſich auf ihre Pferde. Mit letteren ftürzt 
Cavalier jogleih auf den Feind und führt einen jo gewaltigen 
Choc aus, daß dieſer weicht und endlich zu fliehen beginnt. 
Der Prophet Catinat verfolgt ihn; aber GCavalier, dem beim 
eriten Angriff das Pferd unter dem Leibe weggeſchoſſen worden, 
fann ihm nur nachfehen. Er fammelt feine Infanterie, um fie 
aus der Gefahr zu retten, die er von allen Enden beraufziehen 
ſieht; denn die erften Schüſſe hatten die von allen Seiten auf: 
geftellten Truppen gemwedt, und fie ziehen von Rechts und Links 
und Gegenüber in gewaltigen Kolonnen heran, das Gro3 unter 
Anführung des Marſchalls. Legteres füllt die Ebene; die Höhen 
find von den gefammelten Truppen bevedt, und rüdwärt3 fommt 
der verfolgende Gatinat, felber verfolgt, au den Ebenen von 
Vergez zurüd, wo er das Regiment Charleroi getroffen, mit dem 
vereinigt fih die gejchlagenen Dragoner gegen ihn ehren. Die 
Kamiſarden find eingefchlojien ; die Uebermacht des Feindes un- 
geheuer. Nur gegen Nages, welches jenjeit3 des Berges liegt, 
jheint ein Entlommen möglid; wenn Gavalier es erreicht, ebe 
ihm der Marfchall folgen kann, fchlägt er fich vielleicht durch vie 
dort ftehenden Truppen; ein Bauer will ihm noch dazu einen 
Hohlweg zeigen, vermittelit deflen er das Dorf gewiß früher 
erreicht, al3 der Marfchall. Unglüdjeligerweife folgt ihm Cavalier. 
Mar der Bauer ein Verräther? Denn als die Kamifarden am 
Ende des Hohlweges ankamen, iſt er von allen Seiten dicht be: 
jeßt, und die Kugeln regnen auf fie herab. Gavalier ſtürmt und 


Elftes Kapitel. 251 


bahnt jich mit unglaublicher Tapferkeit einen Weg mitten durch 
ven Feind. Gr ilt num in der Nähe von Nages, troß der Ber: 
rätberei oder Dummbeit de3 Bauern ; aber auch diefes Dorf iſt 
angefüllt von feindlichen Truppen, die ihm aus allen Gallen, 
auf allen Wegen und Pfaden, zwiſchen Gärten und Gehölzen 
entgegenjtrömen — der Weg, der zur Ebene führt, ijt von 
Neiterei dicht bejegt und wahrſcheinlich auch vom Regiment 
Charleroi, das Catinat bis hierher verfolgt hatte. Nur noch vie 
Höhe hinter ihm, die er vorhin durch den Hohlmeg umgangen 
hatte, it frei. Set will er fie nehmen, um fich dort zu ver: 
theidigen, oder von ihr in die Ebene binabzuftürzen. Er wendet 
fih ihr zu — da ijt indeſſen ver Marſchall auf ihrer höchſten 
Spige angelommen — die Mauern der Weingärten jind alle 
befegt — und wie Mauern ſtehen von allen Seiten die könig— 
lihen Kolonnen, eine hinter der andern, 

In diefem fürchterlihen Augenblide ruft Gavalier feinen 
Leuten folgende Worte zu: Kinder, wir find gefangen und lebendig 
gerädert, wenn e3 uns an Muth fehlt. Es bleibt uns nur Ein 
Mittel: wir müſſen uns Bahn brechen und diefen Leuten auf 
ven Leib rüden. Folget mir und haltet feit zufammen ! 

Nach diefer Anrede beginnt der verzweifeltſte, verbiſſenſte, 
bartnädigfte Kampf, Wüthend ftürzen ſich die Kamiſarden auf 
die Feinde; nicht mehr mit dem Yeuerrohr, man fchlägt ſich mit 
vem Bajonett in der Hand; auch diefes wird fortgeworfen, und 
wie in der Schlacht bei Cannä umſchlingt man fich mit den Armen, 
faßt man fih an den Köpfen, an den Haaren und Händen; 
Zähne find die beliebteften Waffen. Die Feinde dringen immer 
mächtiger, mafjenhafter vor, die Kamifarden verlieren fich einzeln 
in den Wellen und find zerjtreut. Nur mit der größten Mühe 
reißt fie Cavalier von ihren Opfern los und fammelt fie wieder 
zu Scaaren, 

Der Weg von Nages in die Ebene, die ſich gegen Calviſſon 
hin erftredt, ift von dem Heinen Fluſſe Rosny durchſchnitten, 
der, von Caverac kommend, feine ärmlichen Wellen dem Bidourle 


252 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


zuführt, wenn er nicht in der Sommerhige ſchon auf halbem 
Wege gänzlich verdampft ift. Die Straße von Sommieres nach 
Nimes führt mittelft einer Brüde, eine Heine BVierteljtunde von 
Nages, über diefen Bad. Die Brüde mußte Cavalier pafliren, 
wenn er die Ebene von Galviffon und den Weg ins Freie ge: 
winnen wollte. Die Zeit drängte, denn die Sonne war dem 
Sinfen nahe. Dorthin wendete er fich mit feiner kleinen, wieder: 
gefammelten Schaar und führt gegen die auf der Brüde aufge: 
ftellten Dragoner jo gewaltige Choc aus, dab nah und nad) 
einzelne Haufen pafliren können. Auf diefe Weiſe aber bleibt er 
felbft mit einem nur jehr Kleinen Peloton allein und abgeſchnitten 
zurüd; denn die große Anzahl der Dragoner jammelt fi) nad 
jedem Choc auf3 Neue und ftopft die Brüde immer wieder. Ein 
rührender und bhelvdenmüthiger Zug, den Gavalier in feinen 
Memoiren felbit erzählt, rettet ihn aus diefer mißlichen Lage. — 

Unter feinen Lieutenant3 befand ſich auch fein zehnjähriger 
Bruder, der fi jchon in mehreren Gefechten dur Helvdenmuth 
und durch aufopfernde Liebe zu feinem brüderlichen Feldherrn 
ausgezeichnet hatte. Er ritt einen Kleinen Camarguer Hengit und 
trug einen Eleinen Jagdſtutzen, ein kurzes Schwert und im 
Gürtel ein Paar Miniaturpiftolen ; Alles in Harmonie mit feiner 
Heinen Gejtalt. Für diefen Tag, den er blutig heraufziehen ge- 
jehen, hatte er jich noch beſonders „wie zu einem Feſte“ aufgepugt, 
die Hemdärmel weit über den Ellenbogen zurüdgefhlagen und 
um die Arme hochrothe Schleifen gemunden. So jprengte er, ven 
Zügel auf den Hals feines Schladhtrofjes gelegt, die Piſtole in 
der einen, das Heine Schwert in der andern Hand, überall ins 
dichtejte Kampfgewühl und, da Piſtole und Schwert nicht meit 
reichten, dem Feinde, den er fich auserſehen, immer auf den Leib. 
Bei dem Sturme auf die Rosnybrüde war er einer der Eriten, 
der die Feinde durchbrach und fie paflirte. Da er aber jah, wie 
Diejenigen, die mit ihm herübergelommen waren, und mit ihnen 
Catinat und Ravanel, das Weite fuchten, ohne den Uebergang 
der Zurüdgebliebenen weiter zu befördern oder fih um ben 


Elftes Kapitel. 253 


abgeichnittenen Gavalier zu befümmern, warf er feinen Hengft quer 
über die Straße, ſchnitt fo den Fliehenden den Weg ab, und die 
Piftole emporhebend rief er ihnen entgegen: „Kinder Gottes! wo 
eilet ihr hin? befegt die Ufer des Baches, greifet den Feind an! 
dedet den Rüdzug meines Bruders!" — Die Fliehenden bleiben 
ſtehen, thun, wie jener befiehlt, und Gavalier ift gerettet. In 
guter Ordnung zieht er fich über das coupirte Terrain von Gal: 
viſſon in die Schluchten gegenüber zurüd — immer verfolgt, 
aber immer noch fämpfend, bi3 er fih mit Hülfe der im Süden 
fchnell heranbrechenden Naht in den Gehölzen verliert und fo 
bald den Bliden des Feindes gänzlich entjchwindet. 

Dieß ift der blutige Tag des 16. April 1704, einer der un: 
glüdlichiten und ruhmvolliten für die Kamiſarden. Der Kampf 
gegen einen mehr als ſechsfach überlegenen Feind hat von Mor: 
gens zwei Uhr bis in die Nacht gedauert, und das Schlachtfeld 
gewann in feinem Verlaufe eine Ausdehnung von mehr als zwei 
Stunden. Jeder Fuß breit Boden mußte aufs Blutigfte erfochten 
werden. Man weiß nicht, ſoll man mehr die Hartnädigkeit, den 
Muth, die Ausdauer, die Todesveradhtung der Kamifarden oder 
die Kaltblütigkeit, den ficheren Blid ihres Führer8 bewundern, 
der mitten unter unzähligen Hinterhalten und Fallen, von allen 
Seiten und immer neu umftellt, ftet3 da3 im Augenblide ficherfte 
Mittel zur Rettung, den im Momente einzig möglichen Ausweg 
eripähte? Als einige Wochen darauf Billard das Schlachtfeld 
befichtigte und fi den Verlauf des Kampfes erzählen lieb, rief 
diefer vielleicht bedeutendfte Feldherr Ludwigs XIV., dieſer in 
der That kompetente Richter, voll VBerwunderung aus: Wahrlich, 
das ift Cäfars würdig ! — Und in feinen Memoiren wiederholt 
er noch: Cavalier benahm fih an jenem Tage auf eine Weife, 
die alle Welt in Erftaunen jeßen muß. Ein homme de rien, 
ohne Erfahrung in der Kriegstunft, der fich in den ſchwierigſten 
und delifateften Lagen jo benimmt, wie e3 ein großer Feldherr 
gethan hätte! 

Die großen Heldenmuth auch Cavalier in der Schlacht bei 


254 Tagebuch aus Yanguedoc und Provence. 


Nages bewährt haben mag, jie jcheint doc der Anfang feines 
inneren Verfalle3 geweſen zu jein. Kurze Zeit nad) diefer Nieder- 
lage beginnt er jeine Unterhandlungen mit Billar®, während alle 
jeine Kampfgenoſſen nod den ungeſchwächten Muth bewahren. 
Gr hatte die Uebermacht kennen gelernt und beginnt die reguläre 
Kriegskunſt, die Kombination, zu rejpeltiren, den ungeregelten 
Muth, den Kampf auf eigene Fauſt, die Geltung der Perſönlich— 
feit zu verachten. Al Prophet hat er feine Eriegeriiche Laufbahn 
in den Gevennen begonnen; er bejchließt fie als Solvat. An die 
Stelle der Begeifterung ift die Berehnung, an die Stelle der 
Aufopferungsluft für eine heilige Sade ift eitle Ruhmſucht ge 
treten, an die Stelle des Prieſterthums gedantenlojer militärifcher 
Ehrgeiz. Einer regulären Armee anzugehören, in ihr einen hohen 
Rang einzunehmen, jeheint ihm das höchſte Ziel aller Wünſche. 
Nicht mehr wofür, jondern ob er ſich überhaupt fchlagen werde, 
ijt noch bei ihm die Frage. In dem Traftate, den er mit Villars 
abichließt, fteht der Artikel, der ihm ein Regiment, eine Oberjten- 
ftelle und Schladhtfelver in Spanien und Portugal verfpricht, 
obenan. Er ift bereit, fih für Ludwig XIV., den Verfolger 
ſeines Glauben und feiner Landsleute, gegen England, das 
beißt gegen feinen bisherigen Bundesgenofjen, zu ſchlagen. Sit 
das vielleicht franzöfiicher Patriotismus? Keineswegs! Denn 
als jener Traktat nicht in Szene gejegt werden fann, geht er in 
jarbinifch:engliihe Dienfte und kämpft auf denjelben Schlacht: 
feldern gegen Ludwig, auf denen er deſſen Fahnen hatte folgen 
wollen. Er war zum Condottiere geworden und jtirbt am Ende 
als militäriſcher Gouverneur der engliihen Inſel Wight. 

Nicht umhin kann ich, hier des Zufallſpieles zu erwähnen, 
das ich aus Napoleon Peyrats Buch kennen lerne; daß nämlich 
Cavalier durch feine Heirath mit dem ſchauerlichen Jeſuiten Pere 
Lachaiſe, dem Beichtvater Ludwigs XIV. und fanatiſchen Feinde 
der Kamiſarden, und mit Voltaire verwandt worden iſt. — In 
Chelſea, das damals ein einſames Dorf, heute eine Vorſtadt 
Londons bildet, zeigte man mir die Gaſſe, in welcher Cavalier 


Elſtes Kapitel. 255 


die legten Jahre jeines Eriles verlebte. Diefelbe Gafje hat no 
andere große Verbannte Frankreichs gefeben: den edlen Labourlie, 
den Katholiten, der aus dem Gevennenaufruhr das machen wollte, 
was jein fpäterer Nachfolger und Nachbar in verjelben Gafle, 
Mirabeau, aus der Berfammlung der Notabeln gemacht hatte: 
feine proteftantifche, Feine Eatholifche, jondern eine die Menjchheit 
ergreifende, joziale Revolution. Heute ijt dieſes Dorf der fran- 
zöſiſchen DVerbannten der jtille Aufenthaltsort englifcher, ver 
Gejellihaft müder Berühmtheiten. Dort wohnt Thomas Moore, 
der Sänger der irijhen Leiden, und Thomas Garlyle, ver 
Geſchichtsſchreiber der franzöfiihen Revolution und Bewunderer 
jeines früheren Nachbarn Mivabeau. „Der alle Formeln ver: 
ihludt hat,” Schidjal! Wind! Menfhen, Staub und Blüthen ! 
Wie wirbelt Alles durcheinander, voneinander und zufammen — 
aus allen Zeiten, an allen Orten und zulegt macht Alles nur 
Eines aus! — Und wie ich hier an die Kamifarden denke, an 
Rad und Galgen, die einit auf allen dieſen Bergen prangten, 
an die Scheiterhaufen, die unmeit von bier, in Nimes und 
Montpellier, rauchten, da jchon Voltaire lebte, an die Gaſſe vor 
meinem Haufe, in der ſich vor faum 35 Jahren noch die Pro— 
tejtanten gegen die frommen Sendlinge der Kongregationen ver- 
theidigen mußten, mit Gewehren, die jie fchnell aus der Erde 
iharrten — und wie ich mich wieder an den Sänger der irijchen 
Leiden erinnere, rufe ih aus: Was der Katholizismus am Pro: 
teſtantismus im füdlichen Frankreich verbrodhen — e3 findet nicht 
jeine3 Gleichen, wenn nit in Tem, was die Proteſtanten an 
den Katholiken Irlands gethan. 
10. Auguſt 1851. 

Heute, Sonntag, wohnte ic dem proteftantifchen Gottes: 
dienfte im biefigen Tempel bei. Beide, Gottesdienit und Tempel, 
find von höchſter Einfachheit. Letzterer ift ein längliches, gewölbtes, 
von Galerien umgebenes Gebäude, mit einer jäulengetragenen 
Vorhalle. Im Innern fein Bild, fein Zeichen, nicht einmal ein 
Kruzifir — der Thüre gegenüber die hölzerne Kanzel, vor ihr 


% 


256 Tagebuch au3 Languedoc und Provence, 


in Reihen aufgeftellte Strohſeſſel. Der Gotte&dienit beitand aus 
einer Predigt, in welcher viel von Gott, wenig von Chriftus 
die Rede war; die „Grace,“ welche den Hauptinhalt ausmachte, 
wurde nicht calviniſtiſch troftlos, jondern als Liebe Gottes zu 
den Menfchen dargeftellt. Ein anderer Vorzug der Predigt war 
ihre Kürze. Dann murde vom Prediger ein Gebet für die 
Nepublif verlefen, worauf die Abjingung eines Pſalmes folgte. 
Die Palmen der Proteftanten Frankreichs find ihrer Geſchichte 
und ihrer Stammväter wegen interejlant. Ihr Compofiteur ift 
Goudimel, der ſchon unter Franz I. lebte und nad der Bar- 
tbolomäusnacht in Lyon getödtet wurde. Die Ueberjeger oder 
Dichter der Palmen find Clemens Marot und Theodor de Bäze. 
Die Worte haben ſich allerding3 modernifirt, aber die Kompo— 
fition ift diefelbe geblieben; viefelben ernten, einfach erhabenen 
Laute, wie fie unter ven Salven der Bartholomäusmörder und 
fpäter in der Wüſte der Cevennen ertönten. Auffallend war e3 
mir, daß einzelne Männer während des ganzen Gottesdienftes 
den Hut auf dem Kopfe behielten; freilich liebt e8 der Südfran- 
zoje ebenfo wenig wie der Spanier, fein jtolze8 Haupt zu ent— 
blößen, aber in ver Kirche muß es doch fonderbar erjcheinen. 
Weniger jonderbar, vielmehr natürlich erfchien mir das fonjtige 
ungenirte Betragen der ganzen Gemeinde, das fich mit einer 
ftillen, ungeheuchelten Andacht ganz gut vertrug. Obenan, der 
Kanzel ganz nahe, jaßen die Mitglieder des Konfiftoriums; denn 
jede proteftantifche Gemeinde, die eine Kirche befitt, hat auch ihr 
Konfiftorium, das, aus Laien, beftehend, vollkommen frei, feine 
Autorität über fich erkennt, den Paſtor nah Gutdünken wählt 
und die Kirchenangelegenheiten verwaltet. 

An der Verfafjung der protejtantifchen Kirche im x füblichen 
Frankreich wäre wenig oder nicht3 zu tadeln. Sie ift frei und 
bietet ihren Gliedern alle Mittel, die Geiftlichkeit vor Verpfaffung 
zu bewahren. Aber man madt von diefen Mitteln feinen Ge: 
brauch, dazu fehlt es — es fei offen herausgejagt — fomohl 
bei Laien wie bei Geiftlihen an der nothwendigen Bildung. 


Elftes Kapitel. 257 


Das ganze Leben des franzöfiihen Proteftantismus ift in 
Stagnation gerathen und Außert fih höchſtens in einem fleinen, 
nergelnden, gehäfligen Antagonismus gegen die römische Kirche. 
Bon einem Streben nad innerer Ausbildung, nach Erweiterung 
und Fortfchritt ift nirgends die Mede, wie man es doch vom 
Proteftantismus in unmittelbarer Nachbarſchaft der feindlichen 
Kirche; wie man e3 von einer Minorität, die trog aller” Freiheit 
und Gleichheit unterdrückt und zurüdgefegt ift und jegt mehr als 
jeit lange, und wie man e3 endlich nad geſchichtlichen Ante— 
zedentien erwarten follte. Die Laien find, wie alles Volk Süd: 
frankreichs, wenig vom Lichte erhellt, und die Paſtoren find es 
verbältnißmäßig (einige Ausnahmen ungerechnet) noch weniger. 
Die Legteren, in der Trägheit der Ignoranz, verjchanzen ſich in 
alten Formen und Worten, die fie, um ihre Verfchanzung, mie 
fie glauben, dauerhaft zu machen, mehr und mehr. erſtarren 
lafjen. Alles friſche Leben wird fo fern als möglich gehalten, und 
die jungen Leute, die, meiſt aus Deutſchland, in neuerer Zeit 
manchmal mit neuen Gedanken, mit Fortſchrittsverſuchen heran- 
rüden, jehen bald ihre Ohnmacht dem überlegenen und ver: 
Ihanzten Feinde gegenüber ein, ergeben fih in das Unver: 
meidlidhe und heulen mit den Wölfen, wenn fie nicht den Beruf 
gänzlich verlafler. Vor Kurzem erſt, um ein Beifpiel für viele 
anzuführen, mweigerten ſich die Paftoren eines ganzen Kantons, 
der Konfefration eines jungen Kollegen beizumohnen, weil er in 
feiner Theſe behauptet hatte, die heilige Schrift fei wohl ihrem 
Inhalte, aber nicht ganz der Form nad vom heiligen Geifte 
infpirirt. — Allgemeines Entjegen ergriff die frommen Serren 
über das unfelige Gift, welches die jungen Leute aus Deutſch— 
land herüberbringen, denn Herr Vignié, jener junge Kandidat, 
bat ein halbes Jahr in Deutfhland ftudirt. 

Aber die Unwiſſenheit ift nicht die einzige Urſache des Ver— 
falle3 der franzöfifchen proteitantifchen Kirche; er hat tiefere und 
verdammenswerthere Gründe, und unter dieſen nenne ich nur, 
da ih einmal im Ausplaudern bin, die herrſchende Intrigue. 

Morig Hartmann, Werke. II. 17 


258 Tagebud au Languedoc und Provence. 


Nach der franzöjiichen Revolution that ſich, wie in allen Sphären, 
auch hier ein regeres Leben fund, welches dem erjhlafften Körper 
Grfriihung und Verjüngung verſprach. Das jchredte das Fromme 
England, und es warf fich mit feinem plumpen Eifer und feinen 
diden Geldſäcken darüber her, und mit feinem gottjeligen Gelve 
ihuf es die Methodiften; Genf hingegen ſchuf, ebenfall3 mit 
Geld, die Pjeudo-Rationaliften, welche wenigitens ebenjo anti- 
philoſophiſch und, der abfichtlihen Unmifjenheit ver Methopiften 
gegenüber, unabjichtlih unmiflend find. Beide Parteien be- 
fämpfen fich gegenfeitig mit der höchſten Erbitterung, fchelten 
einander fanatijh und ungläubig, und da bier nicht Gedanke 
gegen Gedanke, jondern Intrigue gegen Intrigue, Eigennuß 
gegen Eigennug kämpft, gehen alle edleren Anterefjen darüber 
zu Grunde. Der Paſtor, der nicht Partei ergreift und jich nicht 
von einer. der beiden Seiten bezahlen läßt (denn die Zahlungen 
gehen noch heute fort, und die von englifcher Seite verdienten 
e3 zuerit, die Aufmerkjamleit des aufrichtigen Proteftanten auf 
jich zu ziehen), wird weggeſchoben und bringt e3 nie zu irgend 
welcher Bedeutung. Die Revue de Theologie in Straßburg 
macht gegen dieje Parteien eine wohlgemeinte, aber vergebliche 
DOppofition. Die Gefhichte ihres Herausgebers iſt für die Genfer 
Partei harakteriftiih. Er wurde nur darum jeiner Stelle ala 
Profeffor verluftig, mweil er fo verderbt war, Neanders, des 
fürchterlihen Rationalijten, Meinung über die Bekehrung Sauli 
nicht al3 die feine hinzuftellen, jondern bloß al3 die Meinung 
eine berühmten Gottesgelehrten zu citiren. 

Wie günftig geftimmt und wie durch die heldenmüthige 
Gefhihte und das lange Martyrium voreingenommen für die 
Protejtanten man immer in diefe Gegenden fommen möge, wie 
jehr man fih ihnen bei ihrem Republifanismus nahe fühle — 
fieht man diefe Dinge genauer, fann man doch nicht umhin, den 
Kopf zu ſchütteln. Erſt nad langem Kampfe jchreibe ich dieje 
Andeutungen nieder, nachdem ih, durch Monate und mancdherlei 
Umftände begünftigt, Berfonen und Zuftände in der Nähe 


Elftes Kapitel. 259 


betrachtet habe. Allerdings muß ich hinzufügen, daß der pro- 
teftantijche Klerus vom Fatholiihen diefes Landes an Jgnoranz 
babylonijh überragt wird. Ich ſpreche nur von der Ignoranz 
dieſes Lepteren; feine übrigen Eigenſchaften find diefelben wie 
überall und befannt. 

Und da ich einmal von Theologie jprehe, darf ich wohl 
auch eines Klingelbeutel3 erwähnen. Einer der merkwürdigſten 
jeinem Inhalte nach ift wohl nad jedem Sonntagsgottesdienfte 
der von Calviffon. Der Paſtor erlaubte mir, ihn zu durchwühlen 
und jo viele Münzen, als ich nur wollte, auszutaufhen. Da 
fand ich denn unter andern beſonders römische und rufjische. — 
Ya, römische und rufliiche, wie jonderbar das auch Elingen mag. 
So berühren jih Zeiten und Völker, Viele römiſche Münzen, 
wie ih ſchon oft erwähnt, Furfiren bier unter den Bauern als 
Gouftüde, und man liebt e3, fie in ven Klingelbeutel zu werfen, 
da man in etwas entlegeneren Gegenden, wo man an ihren 
Anblid weniger gewöhnt ift, oft zaudert, fie al3 Sous anzu: 
nehmen. Die Kirche aber, denkt der Bauer, hat einen guten 
Magen. — Die rufliihen Kopeken find im Süden nod aus der 
Zeit der Invafion fehr häufig. — Ich fand zwei römische „Sous“ 
— der eine aus der Zeit des Antoninus, mit wohlerhaltenem 
Gepräge des Kopfes und der Inſchrift. Beides war auf der 
anderen bedeutend zerjtört, die Inſchrift unlesbar. Ich rathe 
den Numismatifern des Nordens, fih mit den Pfarrern des 
Südens in Verbindung zu ſetzen. 


11. Auguſt 1851. 

Geftern machte ich noch einen Spaziergang nad Nages, um 
das berühmte Schladhtfelv noch einmal in Augenjchein zu nehmen, 
und ich ſah, daß e3 gut war! Auf dem Wege begegnete ich vielen 
fonntäglich gepugten Bauern, die mit ihren Familien den Abend 
auf ihren Feldern, die Gärten gleichen, zubringen und Früchte 
jammeln. Sie zeigten mir mehrere Aeder, die als Gräber der 
Gefallenen bezeichnet werden und in denen man no in unferen 


260 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Tagen oft Menſchenknochen findet. Diefe Felder zeigen deutlich 
den Weg an, den Gavalier auf feinem NRüdzuge genommen. 
Vom Ballon des Pfarrhaufes aus überblidt man die Hälfte des 
Schladtfeldes, beute ein blühender Garten, der in vem Augen: 
blide, da ich ihn gefehen, in Abendgluth und in den holdſeligſten 
Frieden getaucht war. — Diejer Beſuch erinnerte mich an eine 
andere, aber fiegreihe Schlacht, die Cavalier im Jahre 1703, 
am 13. November, daſelbſt geſchlagen. Er war mit nur wenigen 
bewaffneten Kamiſarden in der friedlichſten Abjicht von der Welt 
hierher gefommen. Er wollte nur predigen und die Kinder Gottes 
von Nages, die er auf dem Hügel hinter dem Dorfe verfammelte 
und zu denen noch andere Kinder Gotte3 aus der Umgegend 
berbeigeftrömt waren, durch fein begeiftertes Wort zur Ausdauer 
ermutbigen. Wirklich hatte er fchon zu predigen angefangen, als 
er eine gewaltige Heermacht, Fußvolk und Neiter, unter An: 
führung des ſehr tapfern Firmacon, heranftürmen fieht. Cavalier 
ift der Erjte, der dem Feinde entgegeneilt, um feine Stärke zu 
erfennen. Kaum bat er fi aber auf eine gewille Entfernung 
von feinen Leuten fortgewagt, al3 aus einem von Dlivenbäumen 
bevedten Hohlwege ein Kornett mit zwei Dragonern hervor: 
jprengt. „Du bijt Cavalier,“ ruft der Kornett, „ich fenne did) ! 
Du entrinnst nicht, jo ergib dih! Du ſollſt gutes Quartier 
haben !" — „ch will aber nicht !” antwortet Cavalier und fchießt 
mit feinem Gewehre den armen Kornett nieder. — Einer der 
Dragoner hat zugleih auf Gavalier angelegt, aber gefehlt. 
Gavalier ift gejhidter, reift nach dem eriten Schuß die beiden 
Pijtolen aus dem Gürtel und erlegt den Dragoner, mit der 
andern Pijtole verfolgt er den ſchon fliehenvden zweiten Dragoner 
und läßt nicht ab, bis er aud) den vom Pferde geſchoſſen. Dann 
erjt fehrt er zu den Seinen zurüd. Die wenigen bewaffneten 
Kamifarden haben fih indeflen hinter den Gartenmauern vor 
den unbemwaffneten in Schlachtordnung geitellt und beginnen bald, 
von Dämmen, Mauern und Bäumen gefhüst, eine mörderiſche 
Füfillade auf den anftürmenden Feind. Aber diefe Ordnung 


Elftes Kapitel. 261 


dauert nicht lange. Die Weiber können dem Kampfe nicht fo 
ruhig vom Hintertreffen aus zufehen. Sie durchbrechen die 
Reihen der bewaffneten und unbemwaffneten Männer, fpringen 
auf die Mauern und lafjen mit Gejchrei einen ungeheuern 
Steinregen auf die Dragoner niederfchmettern. Aber auch damit 
noch begnügen fie fich nicht. Sie ftürzen fih von den Mauern 
hinab und dringen in die Gehege, in denen fich der erfchrodene 
Feind feitzuftellen jucht. Ihnen nad) dringen die Männer, dem 
Gefchrei, dem Steinregen der Weiber Gewehrbonner und Kugel: 
regen nahjendend. An der Spite der Weiber fteht ein junges 
Mädchen, eine Brophetin, Louiſe Guignon, auch Lucretia, die 
Vivaraiferin genannt. Mit dem Rufe: Hoch das Schwert Gideons! 
Hoch das Schwert des Emwigen! wirft fie ſich ins dichtefte Gedräng 
des Feindes. Gie hat das Schwert eines gefallenen Reiters mit 
beiven Händen ergriffen und tödtet, was ihr begegnet. Die 
Weiber ahmen ihr Beifpiel nad, die Männer folgen den Weibern. 
Aus einem Gehege nad) dem andern wird der Feind getrieben, 
noch bevor er ſich recht aufgeltellt. Bevor noch der Befehl zum 
Angriff gegeben, ift er vom Steinregen, vom heftigen Andrang, 
vom Gejchrei der Weiber, vom Geſang der Pjalmen aus ver 
Faſſung gebracht; er zieht ſich zurüd; er flieht endlich, aus 
taujend Wunden blutend, bis er ſich hinter Bizac wieder fammelt, 
um von Galvifjon aus Berftärfung an ſich zu ziehen. Nach 
Stunden fehrt er nad) Nages zurüd, um feine Schmad zu rächen. 
Aber längſt hat Cavalier feine Predigt beendigt, längſt ijt er 
mit den Rindern Gotted aus der Gegend verſchwunden. 

Bon Nages wanderte ich nad) dem kaum eine halbe Stunde 
jüplich gelegenen Baifliere, der legten Gränze der Vaunages, 
des Kleinen Kanaan der Kamiſarden. Bejcheiden liegt das ſchöne 
Dorf am Fuße eines bedeutenden Hügel3, von welchem herab 
ein noch heute mit tüchtigen Mauern und Thürmen prangendes 
Schloß das Dorf und die Gegend beherrſcht und in den etwas 
einförmigen Anblid viefes Winkels romantiihe Abwechslung 
bringt. Die Revolution brachte es in bürgerlichen Beſitz. Einft 


262 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


gehörte es dem in ven Religionskriegen verrufenen Baron St. Come. 
Er mar einer ver vielen Abgefallenen; aber noch ſchlechter als 
dieje, jpielte er lange Zeit die Rolle des treuen Proteftanten, 
um feine Glaubensbrüber für Lohn deſto ficherer zu verrathen. 
Erſt nachdem er dur offenen Verrath den föniglihen Truppen, 
die er al3 Führer hätte zurüdichlagen follen, Nimes geöffnet und 
fich fo feine Rolle für die Zukunft unmöglich gemadt hatte, warf 
er den Mantel ver Heuchelei ab und trat als ſchamloſer Agent 
Baville'3 und als unbarmherziger Denunziant auf. Vor diefem 
Schloſſe erhielt er den definitiven Lohn feiner Denunziatiönchen. 
Denn als er es eines Morgens in feiner Karofje, von guter 
Escorte bevedt, verließ, um fich nad) Nimes zu begeben, wartete 
ihm Gatinat, der Prophet, auf. 

Man glaube nicht, daß ich Tendenz oder wohlfeile Polemik 
gegen den Adel made, indem ich fo oft auf den Abfall, ven 
Ihändlihen Verrath, vie apoftatifche Verfolgungsfuht ver 
Languedoc'ſchen Ariftokratie zurückkomme. In den bejten Quellen, 
die ich hier beigeben werde, darunter fatholifhe, fann man fi 
von der Wahrheit des Gefagten überzeugen, von der Wahrheit, 
daß die Adeligen nicht3 von den größten Schändlichkeiten, vom 
bitterften Verrath an ihren Glaubensgenofjen abhielt, nachdem 
e3 den Anjchein gewonnen hatte, daß auf proteftantifcher Seite 
wenig Bortheil zu holen war. Die Vergleihung mit anderen 
Zeiten und Ländern, die Nuganwendung und die Moral über: 
laſſe ih dann dem Lefer felbft. 

Diefes aber find die Quellen, die ich theila zu dem erwähnten 
Bwede, theild für jene Lefer aufzeichne, die durch das bereits 
Erzählte etwa auf die nähere Kenntniß der Geſchichte der ſüd— 
franzöfifchen Protejtanten begierig geworden find. Ich begnüge 
mid vor der Hand mit der Hinweifung, bis es mir in jpäteren 
und befjeren Zeiten vielleicht gegönnt ift, dem deutſchen Publikum 
ein Werk über dieſen Gegenftand, der feine Aufmerkjamfeit jo 
jehr verdient, felbjt vorzulegen. 

Die „Gefhichte der Proteftanten Franfreih3 von Anfang der 


Glftes Kapitel. 263 


Reformation bis auf unjere Tage” von ©. de Felice, Profeflor 
der Moral in Montauban. Dieſes neuefte Geſchichtswerk der 
Proteftanten it gleich ausgezeichnet dur feine Form wie durch 
feinen Inhalt. Aus dem durchgängig edlen Style blickt allüberall 
Mahrheitsliebe und Treue durch. Trogdem, daß das ſtarke 
Volumen dagegen zu Sprechen jcheint, jchließt es doch alles Kleine 
und Anekdotiſche aus und befchäftigt ſich nur mit der Hauptfache 
und mit Dem, was dieje charafterifirt. 

„Geſchichte der Hirten der Wüſte“ feit der Rüdnahme des 
Ediktes von Nantes bis auf die franzöfiihe Revolution von 
Napoleon Peyrat. 2 Theile. Ein verbienjtliches, mit großem 
Fleiße gearbeitete® Buch, dem man nur hier und da den be: 
ıhränkten Theologen und darum aud den Parteimann anfieht. 
Trotzdem frei von Kleinlichkeit, edel in der Auffafjung und, wo 
ih der Theolog vergißt, ein meiter Geſichtskreis. Komiſch ift 
Herr Peyrat, wo er auf die Philoſophen des vorigen Jahr: 
bundert3 zu ſprechen kommt; er kann ihre großen Verdienſte, 
die fie fih, wenn auch nicht um den Proteftantismus, do um 
die Proteftanten erworben haben, nicht leugnen — und foll er 
fie loben, die Gottlofen? Er ift fehr genirt. 

„Geſchichte der reformirten Kirche von Nimes“ von A.Borrel, 
Obmohl nur eine Spezialgefchichte, ift fie bei der großen Be: 
deutung, die Nimes im Süden hat und immer hatte, doch ge 
zwungen, weit auszugreifen, und bietet viel des Lehrreichen und 
Leſenswerthen. 

„Geſchichte der Unruhen in den Cevennen und des Kamiſarden— 
friege3” von Court, Verfaſſer des „franzöſiſchen unparteiiſchen 
Patrioten.” Der Verfaſſer dieſes höchft verdienſtvollen Buches it 
identifch mit jenem Court, den die franzöfifchen Proteftanten als 
Regenerator ihrer Kirche verehren, mit demſelben, ver die leben®- 
gefährliche Sendung übernahm, unter Ludwig XV. „in der Wüſte“ 
das Evangelium zu predigen, der der Brophetenanardie ein Ende 
gemacht und in Laufanne das Seminarrftiftete, um die Propheten 
dur ordentlihe Paſtoren zu erjegen. Sein Buch iſt gemiß 


264 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


vortrefflich zu nennen; es bat alle damals zugänglichen Quellen 
erſchöpft, es gibt unendlich viele und nur charalteriſtiſche Details 
und bat den Grund zur Gefhichtihreibung über diejen Gegen: 
jtand gelegt. Der Verfaſſer hat dazu felbjt noch viele Augen: 
zeugen des Kamifarbenkrieges gelannt und den Schauplag bis 
ins Kleinfte ſtudirt — aber er ijt parteiifch, nicht eben ſehr wild 
parteiiſch — aber doc ein klein wenig pfäffiſch parteiiſch und 
zwar nicht gegen die Feinde der Kamifarden, fondern gegen dieſe 
jelbft, d. i. gegen die Propheten. Die demokratiſche Theokratie, 
die jo lange in den Gevennen geherrſcht, da die Kamifarden fi 
aller Baftoren entjchlugen und nicht erjt fragten, ob Dem, der 
ihnen predigte und fie begeijterte, die Hand aufgelegt worden, 
die jelbft alle im Nothfalle aus dem Stegreife predigten, die 
Bibel auglegten und die Pſalmen ohne Vorfänger fangen — die 
demokratiſche Theofratie ift dem Hierarhen Court, ohne daß er 
es gefteht, ein Heiner Dorn im Auge. Es iſt erflärlih, hat doch 
der wohlmeinende Dann fein Leben lang gegen ihre Ueberbleibjel 
und die mit ihnen verbundene Anardie, wie er es nannte, zu 
fümpfen gehabt. 

Die „Memoiren” Cavaliers, die englifch erfchienen find. 
Gavalier prahlt ein wenig, ja es ijt noch die Frage, ob er nicht 
ein wenig lügt. Eo z. B. ift es noch immer problematifh, ob er 
wirklich diefe Unterredung mit Ludwig XIV. gehabt, in ver er 
dem König fo ſchöne Lehren gibt und von der er jo ausführlich 
erzählt. Nach St. Simon hat fih ihn Ludwig XIV. nur auf der 
Treppe von Verſailles zeigen laſſen und ift in der Ferne adhjjel- 
zudend an ihm vorübergegangen. Auch hat fih nur von einer 
ſolchen entrevue und nicht won einer Unterredung die Tradition 
in der Familie erhalten. Ein Herr Cavalier, der legte Abkömm- 
ling de3 Haufes, den ich im Jahr 1845 in Paris kennen gelernt, 
bat mir wenigftens fo gejagt. — Die Memoiren Cavaliers find 
auch fpät und aus dem Gedächtniſſe gefchrieben, ohne alle Hülfs— 
mittel von Noten und Aufzeichnungen. Diefe, jcheinbar eine der 
bejten, ift doch eine der trüben, wenn aud) interefjanten Quellen. 


Elftes Kapitel. 265 


„Der wiedererwachte Fanatismus“ (le fanatisme renou- 
vel&), vier Bände, zur Zeit und auf dem Schauplaße des Cevennen⸗ 
frieges jelbft gejchrieben. Der Verfaſſer Loupreleuil erzählt 
gut und einfach, was er gefehen und gehört, zwar nicht immer 
mit viel Kritif, aber ftet3 in der beiten Abficht, die Wahrheit zu 
jagen. Er iſt fatholifcher Prieſter und ganz katholifcher Prieiter, 
aber ohne blinden Fanatismus. Menjchlih und mitleidig läßt 
er ein Herz für die Leiden der Untervrüdten jehen und fühlt 
manchmal Bewunderung für ihren Heldenmuth. 

Ganz anders ift Flechier, Biſchof von Nimes. Seine „aus: 
gewählten Briefe” ftellen ihn ganz jo dar, wie die Hiftorifer. 
Fanatiſch, verfolgungsjüdhtig, jefuitiich geiftreih, biegfam und 
ichmiegjam dem Hofe und den Großen gegenüber, graufam gegen 
die Bejiegten, ſchmeichelnd der noblen Weltlichkeit, iſt er ſelbſt 
galant und bel esprit — in der Gefahr ift er feig. Man muß 
ihn fennen, um zu willen, mit welchen Feinden es die Kamifarden 
zu thun hatten, und daß fie nie und nimmer auf menschliche Be: 
handlung rechnen und da3 Schwert einjteden durften. 

Gegen dieſes Letztere jcheinen „die Memoiren des Mar: 
ihall Villars“ zu ſprechen, fcheinen aber aud nur, denn 
bei näherer Einficht erkennt man aus diefen zwar nicht vom 
Marſchall felbjt gejchriebenen, doch infpirirten Memoiren, daß 
der Huge und faft menjchenfreundliche Billar mit feiner Ver: 
jöhnungspolitit am Hofe Ludwigs XIV. allein jtand. Denn die 
Reite der Partei Colbert, die Fenelon und Vauban, die Ruinen 
von Port Royal fann man doc nicht zum Hofe zählen. 

„Die Gejhichte des Fanatismus“ Bruey's. Der Ber: 
fajler, als ehemaliger Protejtant und al3 Apoſtat nach der 
Rüdnahme des Edikts von Nantes, ift ein viel eifrigerer Feind 
der Kamijarden, als jener Priefter von St. Germain — er 
übertreibt und verleumdet wohl auch gerne. Doc fchreibt er gut 
und bringt als Zeitgenofje und Augenzeuge viel Thatſächliches. 
Die mancherlei Widerfprüche in feinem Buche find leicht heraus: 
zufinden. 


266 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Die Briefe der Frau von Maintenon, dieſer Frau, die 
ihledhter it, ald ihr Auf. Gegen intime Freunde wagt fie es, 
fih über manden verfaulten Charakter, der in dem Gevennen: 
friege eine Rolle gejpielt, offen und wahrhaftig auszuſprechen, 
obwohl fie venfelben bei Hofe unterftügt. Man erkennt, wie 
wenig bei den Helferähelfern Ludwigs XIV. die Religion, wie 
viel ihr eigenes Anterefje zu bedeuten hatte, und daß in den 
Cevennen Taufende gefhlachtet wurden, um in Verfailles einen 
tleinen Plaß zu behaupten. 

Bon hohem Interefje müflen die Memoiren d’Aigalliers fein, 
des friedfeligen, vermittelnden Mannes, der zwijchen den Gevennen 
und Berfailles hin und her reiste und dem blutigen Kriege durch 
Nachgiebigkeit von beiden Seiten ein Ende zu machen fuchte. 
Der gute Mann hat feine Memoiren gefchrieben, das ift gewiß, 
und darin beide Lager und den Hof nad eigener Anſchauung 
geſchildert, ob aber diefe Aufzeihnungen noch bejtehen, das ift 
fraglid. Man behauptet, das ſich das Driginalmanuffript in 
ver Bibliothek zu Genf befinde. Von anderer Seite wird das 
beitritten, oder das in Genf fein follende Manuftript als apokryph 
bezeichnet. 


me — — 


Bwölftes Kapitel. 


Bas-Vaunages — Ein vierfarbiges Dorf — Die Quäfer und Methopdiften — 

Engliihe Religion, engliſches Geld — Abbe Jean Baptifle Favre's Dbras 

Patouèzas — Einiges über Volks- und Patoispoefie im ſüdlichen Frankreich — 

Grotten und Schladten der Kamifarden — Eine Nömerbrüde — Wieder ein 

Schladtfeld Jean Cavalier's — Cavalier und Roland — Rückkehr nad 
Vaunages. 


16. Auguſt 1851. 

Bon Calviſſon aus erreiht man zu Pferde den ſüdweſtlich 
gelegenen Fleden Gongenies in einer halben Stunde. Man muß 
Congenies gejehen haben, denn es ijt in biefen Landen wegen 
feiner gemifchten Bevölkerung berühmt. Seine 1500—2000 Ein: 
wohner theilen fih zu ungefähr gleichen Theilen in Katholiken, 
Reformirte, Methodilten und Quäker. Allgemein werden fie 
wegen der Eintracht gelobt, die unter ihnen troß diefer Glaubens— 
verfchiedenheit herricht. Sieht man aber die Dinge in der Näbe, 
jo überzeugt man fich bald, daß es mit diefer evangelifchen Fried: 
jeligfeit nicht jo meit ber fei, und zwar find es die frommen 
Methodijten, welche Zwietracht und Hader ftiften. Immer Bibel: 
fprüche und Pjalmen im Munde, find fie heftige Eiferer, die ven 
lieben Nachbar entweder befehren wollen oder die Verachtung 
gegen Alle, die der Gnade nicht theilhaft geworden, offen zur 
Schau tragen. E3 ijt eben ver Hodhmuth der befonders Frommen, 
der fie auszeichnet. Ihr Urfprung, ihre Entitehungsgeihichte 
find auch nicht von Fleden frei. Nicht nur, daß fie englifches 
Geld zuerit ins Leben gerufen, engliihe, evangeliſche Klugheit 
bat fie au organifirt. Vor Jahren fam ein Millionär, einer 


268 Tagebuch auß Languedoc und Provence. 


von denen, wie wir fie auch in Deutjchland fennen, nad 
Congenies, gewann durd Zureden, fogenannte Unterftüßungen, 
eine Anzahl Einwohner für fih und gemwöhnte jie nah und nach, 
den proteftantifchen Tempel, feine Geiftlihen und die früheren 
Glaubensübungen zu vernadläfligen und zu verachten. Darüber 
beunruhigt, fragten ihn bei einer Eynode in Nimes die refor- 
mirten Bajtoren nad feinem Zwede, und ob er denn Willens fei, 
eine Theilung in die ohnehin ſchwache evangeliihe Kirche zu 
bringen. Mr. Curt, der Mifjionär, gab die beruhigendſten Ant— 
worten, verjprah, was man nur wollte, und man ließ ihn ge- 
währen. Nach einem halben Jahre hatte er gegen feine fümmts 
lihen Beriprehungen gehandelt. 

Das Quäferthum ift eine eingeborene Pflanze und hat in 
jeinem Urfprunge gar nicht mit dem Quäferthume Englands 
gemein. Die biefigen jtammen bdireft von den Kamiſarden. 
Gewöhnt an die demokratiſche Theokratie der Kinder Gottes und 
an die Predigten, die unmittelbar aus dem Munde ver Begeifterten 
im Bolfe hervorfamen, wollte fih ein Theil der Protejtanten 
feiner Art von Paſtoraten mehr fügen und verharrte außerhalb 
der Hierarchie, welde nad langen Bemühungen Court (nicht zu 
verwechjeln mit dem obengenannten Miffionär Curt) im vorigen 
Jahrhundert organifirte. Die fromme Nafe der engliihen Quäker 
batte fie bald ausgemittert, und da beide in dieſem Hauptpunkte 
einig waren, war e3 nicht ſchwer, die gänzliche Vereinigung zu 
Stande zu bringen und diefe Cevenolen zur Annahme auch der 
Aeußerlichkeiten, der Sitten und Formen ver engliſchen Quäker 
zu bewegen. Heute fieht es ihnen Niemand an, daß diefe Stillen 
im Lande die Ablömmlinge der wilden Kinder Gottes find. 

Bor dem Dorfe dehnt fich ein großer, neuer Begräbnißplatz 
aus, der in zwei ungleiche Theile getheilt ift. Der kleine gehört 
den Katholiken, der größere den Nichtlatholiten gemeinſchaftlich. 
Die Quäler haben ihr Bruderhaus, die Methodiften ihre Bet: 
ftuben und die Reformirten ihren Tempel. Zu Anfang diejes 
Jahrhunderts mußten ſich diefe Legteren noch aus einem Oliven: 


Zwölftes Kapitel. 269 


baume heraus predigen laffen. Daß die Katbolifen bier auch ihre 
Kirche haben, verfteht fih von felbit; fie bauen ſich überall 
Kirchen und Kapellen, und wenn nur zwei Katholiken im Dorfe 
wohnen follten, wie 3. B. in Nages. In diefem Augenblid er: 
richten fie, zum ftillen Aerger der Reformirten, in allen Dörfern, 
auf allen Straßen dieſes proteftantifchen Landes Kreuze zu Ehren 
des Jubiläums. Wenn aber bei einer Prozeflion in Nimes ein 
vorübergehender Proteftant den Hut nicht tief genug abziebt, 
entitebt ein Aufruhr. 

Ein dreiviertelftündiger Ritt trug mich aus dieſem vierfarbigen 
Dorfe über Berg und Thal dem hübſchen Aubais zu, welches 
wegen feiner ſchönen Lage in einem in diefem Lande fo jeltenen 
Wieſenthale und wegen feines gewaltigen Schlofjes, das in der 
Revolution zerftört worden, den Reifenden ſchon zu interefliren 
vermag. Mich aber interejlirte es vorzugsweiſe megen eines 
verfpäteten Troubadour3, der im vorigen Jahrhunderte bier fein 
halbes Leben verbrachte, unbefannt und ohne Anerkennung, als 
objfurer Bibliothefar des Marquis d'Aubais. Es ift das der 
Abbe Jean Baptifte Favre, der wenigen deutſchen Lefern befannt 
jein mag. In Languedoc fennt und liebt ihn nicht nur das ge: 
bildete Bublitum; mande feiner geiftvollen Scherze find aud 
dem ungebildeten geläufig, und feine Sitje de Cadaroussa bat 
den Valets mancher Ferme manchen Winterabend verlürzt. Er 
ift im Jahre 1728 in der Nähe von Sommidre3 geboren und 
ftarb 1783 als Bibliothefar auf dem Schloſſe Aubais, ohne daß 
mehr als einige unbedeutende Kleinigkeiten von ihm gedrudt und 
befannt worden wären. Nach den wenigen ihn überlebenven 
Nachrichten fpielte er im Schloffe und den benadhbarten Dörfern 
als Rathgeber, Freund, Lehrer und befonvers als heiterer und 
erheiternder Gejellihafter ein wenig die Rolle des Pfaffen vom 
Kahlenberge. Aus feinen Schriften aber, die feit feinem Tode 
zu mehreren Malen gefammelt herausgegeben wurben, ! erfennen 


| Obras Patouözas de M. Favre. A Mounpey6. 1839. Iſt mohl 
die letzte Ausgabe, 


270 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


wir in ihm einen fernen Berwandten jener zahlreihen Dichter- 
familie oder vielmehr Dynaftie, die dur alle Literaturepochen 
Frankreichs durchgeht, für fie bezeichnend ift und der franzöfifchen 
Literatur neben allen anderen Literaturen ihren befonderen und 
nur ihr eigenthümlichen Stempel aufprüdt: der Familie der 
Rabelaig, Mathurin Renier, Lafontaine, Moliere, Beaumardaiz, 
Beranger — mit ihren größeren und kleineren Nebenzweigen. 
Favre gehört zu diefer Familie, und da wir feinen Werth nicht 
übertreiben wollen, wie man das bei neuen Entdedungen gerne 
thut, jo wiederholen wir, allerdings al3 ferner Anverwandte. 
Er bejigt wie Jene den gemwiljen heiteren Geilt, der vom deutſchen 
und engliijhen Humor jo verjchieden it und den die Franzoſen 
von heute mit Vorliebe als esprit gaulois bezeihnen. Seine 
vier in der Languedoker Mundart gejchriebenen Bände enthalten 
unendlich viel Wig, Rabelais’ihe Derbheit und Haren, gefunden 
Menjchenverftand, ver ſehr oft, naiv und bündig ausgeſprochen, 
bomerifh anmuthet. — Sein befanntejte3 und beliebtejtes Wert 
ift das ſchon erwähnte komiſche Heldengedicht „die Belagerung 
von Cadarufja,” in welchem fich der Abbé bejonder3 über ven 
Klerus, die Mönde und den päpftlichen Legaten in Avignon 
luftig macht. — Die Parodieen der Odyſſee und der Aeneide, 
in eben fo Elangvollen, gereimten Verſen, mie jene Gedicht, 
find nit nur eine Art Meberfegung aus den alten Spraden ins 
Languedoc'ſche, fie find zugleich eine Uebertragung vom klaſſiſchen 
Boden auf den fühfranzöfifhen, wo fih aus Griechen- und 
NRömerzeiten noch jo Vieles von alten Zuftänden, Sitten, Trachten 
und Geräthichaften erhalten hat. Die Könige und Helden der 
alten Dichter find ihm reihe Bauern, die Königshöfe und Hallen 
ſüdfranzöſiſche Meiereien, die Kämpfe und Schlachten ſüdfranzöſiſche 
Prügeleien oder noch heutzutage übliche, aus antiker Zeit jtammende 
Kampfipiele und Uebungen jeder Art. So auf die heimiſchen 
ländlihen Zujtände angewendet, werben jene Gejänge unter der 
Feder des geiftwollen Dichters neue Dichtungen, die zugleich treue 
Sittenſchilderungen und humoriſtiſche Dorfgefchichten find. Wie 


Zwöljtes Kapitel. 271 


voll und ſchön das Neuprovenzaliihe des Abbé Favre klingt, 
mögen die Ginleitungsverje jeiner Belagerung von Cadaruſſa 
beweiſen: 
Yeou qu'ay long-tens sus moun vièouloun 

Rasclat, e'n despie d’Apoulloun, 

A la sourdina & sans malica 

La glouera daou famous Ulissa, 

Yoy, sus un sujèt pus nouvel, 

Embe& l’assistenga daou Ciel, 

Infätigable vie ou lounayre, 

Vole ensaja moun saoupre fäyre. 


Muza, se m’ajudes un paon 
La bezougna anara pas maou. 
Anen, vieia Nympha, couraje! . 
S’ajis pas que d& ſà tapaje. 
E quinta fenna n’ayma pas 
Lou cariioun & lou tracas? 


Neben der Ueberjegung der achten Satire des Horaz und 
einiger Epigramme de3 Martial in die Languedofer Mundart, 
findet man in den vier Bänden noch zwei Komödien, eine Art 
Novelle und ein fleines komiſches Gedicht „die Predigt des Herrn 
Sijtre” lou sermoun d& Mossou Sistre — eine fomijche 
Darftellung dörflicher Kanzelberedtfamkeit. In dieſen legten 
genannten Werfen tritt überall jener Humor hervor, der nicht 
unter Thränen lächelt, fondern mit breiten weißen Zähnen lacht; 
ein geiltreiher Jean qui rit. In einigen franzöfifhen Gedichten, 
die Abbe Favre bei Lebzeiten veröffentlichte, foll er voll: 
fommen unbedeutend, Fiſch im Trodnen jein. Das erinnert an 
unferen öjterreihijchen Stelzhammer, der ſo prächtige Dialekt: 
gedichte und jo platte hochdeutſche ſchreibt. Das Beifpiel Abbe 
Favre's follte feinen poetijhen Landsleuten von heute als 
Warnung und Fingerzeig dienen, vor welchen Klippen fie fich 
zu wahren haben, auf weldem Felde fie Lorbeeren erwerben 
können. Der Bäder von Nimes, Herr Reboul, den Lamartine 


2972 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


über Kopf „in den Ruhm geftürzt hat,“ wäre vielleicht ein ganz 
leivliher Patoispoet geworden, wenn er den Handwerker hätte 
die ihm natürlihe Sprade ſprechen laflen. Herr Neboul aber 
ift eitel, fpricht hochfranzöfifch, in gefpreizten Alerandrinern von 
Agamemnon und Achilles und bat fi fo zu einem affeltirten, 
verfpäteten und oft böchft lächerlichen Nachahmer ver Klaſſiker 
gemacht. Aehnliches Fünnte man dem talentvolleren und natür— 
liheren Charles Boncy, dem Maurergefellen au Toulon, vor: 
werfen. Sein Gedicht über das Nauchen läßt es ahnen, welche 
Ihönen Accente, welde tiefen Naturlaute in diefem Dichter 
ihlummern; fpräde er, wie e3 ihm um's Herz ift, von ber 
Leber weg, mie er ſich mit feinen Kollegen unterhält, fie kämen 
in allen feinen Gedichten zum Vorjchein. So aber zwingt er fich, 
wie ein gebildeter Barifer zu ſprechen; wie beengt muß fib da 
ein ehrlicher Handwerker aus der Provence fühlen. Auch büßt 
er den Zwang, den er feiner Muſe angethan ; troß George Sand, 
die ihn mit einer herrlichen Vorrede in die Welt eingeführt, trog 
Arago und Beranger, die ihn mit gebrudten Briefen unter: 
ftügten, ift er fhon nach wenigen Jahren fo viel wie vergefien. 
Freilich haben die Volkspoeten und die Volfapoefie im "heutigen 
Frankreich auch außer der Sprache einen fchweren Stand. Im 
Volke ift die Naivität verfhwunden, welche der Naturpoefie 
Seele und Leben gibt, und die fogenannte Kunftpoefie ift noch 
niht auf dem Punkte angelangt, wo fie, wie in Deutſchland, 
mie bei Goethe, Uhland, Heine, Wilhelm Müller, mit der Eins 
fahheit und Natur der Volkspoeſie zufammentrifft — auf jenem 
höchſten Punkt der Kunft. Die franzöfifhen Romantifer haben 
den Weg dahin erft angebahnt. Dem Volkspoeten fehlt auf der 
einen Seite die Naivität, auf der andern die Bildung und der 
kritiſche Blid, die zu jenem ſchönen Gipfelpunfte führen. Man 
nenne mir nicht Beranger! — Beranger ift ein großer Dichter, 
den das Volk allenfall3 verfteht, aber er ift fein Volks-, fein 
Naturpoet, | 

Die Stellung der füdfranzöfifhen Patoispoeten, wenn ‚wir 


% 


Zwöljtes Kapitel. 273 


fie nicht Voltspoeten nennen wollen, wird noch dur das Ber: 
hältniß und den Zuftand ihrer Sprache erſchwert. Am Längjten 
fonnten fie fih allerdings in einer Provinz erhalten, wo man 
am Längften „die Franzoſen“ fagte, wenn man vom Volfe des 
Nordens ſprach, wo man durch Geſchichte, Charalter, verfchiedene 
Neligionsauffafiung, felbjt verſchiedene politiihe Inſtitutionen 
dem Lande der Langue d’oui am Fernten ftand. Seit der Ne: 
volution centralifirt fih Frankreich immer mehr in Eitte, Geſet 
und Sprade, und die von Dec liegt in der Agonie, noch ehe die 
nordiihe deren ganze Stelle beim Volke auszufüllen vermag. 
Schon in einem halben Jahrhunderte vielleicht werden die Lieder, 
die bereit3 heute faft nur für den Kirchthurm gefungen werden, 
über dem Grabe der Mutter gänzlich verflingen. Die Langue d'oe 
bat längjt ihr Loos erfüllt; fie bejteht nur noch aus Nuinen, 
die ſich mit franzöfiihen Spradhfragmenten ſtützen, und es könn— 
ten größere Patoisdichter al3 Jasmin, der Berüdenmadher aus 
Agen, kommen, fie würden fie nicht wieder aufbauen. — In 
einem "halben Jahrhunderte wird e3 vielleicht noch einen partiku— 
laren Patriotismus geben, der die Schönheiten de3 Südens den 
Nordländern im Liede rühmen wird, aber das Lied wird ein 
franzöjijches fein, wie das Lied de3 liebenswürdigften Idyllen— 
dichterd, des Bretonen Brizeur. Dann wird aud dem Volks: 
poeten die franzöſiſche Sprache die natürliche fein. Heute muß 
man ihm zurufen: warum zwingft du dich, in einer dir halb: 
fremden Sprache zu fingen? — und fingt er in feinem Pateis, 
bedauert man das vorausfichtlich kurze Leben feines wahr em: 
pfundenen Gejanges. 

Das Schloß von Aubais, da8 mich zu folder Abſchweifung 
verleitet hat, liegt ungefähr eine PViertelmeile wei von dem 
fogenannten Roque d'Aubais, einem kalkigen Felſenpaß, durch 
den jich der zu Zeiten wilde Gebirgsjohn, der Vidourle, einen 
Durbgang erzwungen bat. Uebrigens braucht e3 nicht einmal 
eineö wilden Baches, um einen Feljenrüden, wie fie die hiejigen 
Gebirge bilden, zu durchbrechen. Das kalkige Geitein ijt ver: 

Morig Hartmann, Werke. II. 18 


- 


274 Tagebudy aus Languedoc und Provence. 


mwittert, die Schichten liegen nur loje über einander, und das 
Innere ift meiſt von Grotten und natürlichen Gängen durchhöhlt. 
Auch diejer wild ausfebende Vidourlepaß enthält reht3 und links 
mehrere Grotten, von denen die größere am Fuße des Felfens 
fich befindet, gerade da, wo ihn der Vidourle beipült, fo daß 
man nur mit einem Kahn zu ihr gelangen kann. Wahrfcheinlich 
war auch fie einmal eine Waffenfammer, ein Getreidemagazin 
oder ein Hofpital der Kamiſarden. Wenigſtens hielten fie fich 
viel in der Nähe auf, und Gavalier hat auch bier einen Sieg 
über die Föniglihen Dragoner errungen, die in zwei Haufen auf 
ihn heranfamen, um ihn einzujchließen und defto ficherer zu ver: 
derben. Gavalier aber ftellte ihnen Anfangs nur fechzig Rekruten 
entgegen, bie feine andere Waffe hatten, als die David’ihe 
Schleuder de3 Hirten. Cin Hagel von Steinen regnete auf die 
Dragoner nieder und brachte fie in Unordnung. Dann erjt brad; 
GCavalier mit feinen ſchwerer Bewaffneten hinter dem Feljen 
hervor und erjhlug, mas fih ihm entgegenftellte. In zwei 
Haufen war der Feind angeflommen, nad) zwei Seiten hin ergriff 
er die Flucht. So viele Pferde wurden erobert, daß Cavalier 
feine Neiterei nad diefem Tage bedeutend vergrößern konnte, 
In dieſem Kampfe bei dem Felſen von Aubais zeichnete ſich 
wieder die junge Prophetin aus, die bei Nages wie eine Deborah 
gefämpft hatte. Cavalier zog nad gemonnenem Siege gegen 
Congenied, um, wie er immer pflegte, dem Herru zu danfen, 
zu predigen, zu prophetifiren, Befeftigungen niederzureißen und 
einige Berräther zu richten. 

Folgt man dieſem Gebirgsflufe, der vorzugsweife der Kami— 
farbenfluß ift, fo führt er durch die Ruinen eines altfranzöjifchen 
Parkes plöglich vor einen Neft der alten Nömerwelt. Uniern von 
Gallargues erbeben jich aus feiner hier träge ſchleichenden Welle, 
rechts und lint3 von Gebüſch bevedt, zwei prächtige Bogen, 
Refte einer Nömerbrüde. Sie war ein Theil der großen Straße, 
die von Nimes nad Montpellier führte, zum größten Theile noch 
heute bejtcht und in der Volksſprache von den vielen römischen 


Zwölftes Kapitel. 975 


Münzen, die man in ihrem Schutte findet, lou camin de la 
moneta beißt. In der Nähe der Brüde will man noch tiefge: 
grabene Gleiſe entdeden, die Ueberreſte der Epuren fein follen, 
wie fie die Römer auf manden ihrer Straßen angelegt haben. 
Die Brüde, aus ſchön behauenen Quadern beftehend, ift außer: 
ordentlich zweckmäßig gebaut, um die im Winter und Frühling 
wild heranftürmende Woge des Vidourle zu brechen, bevor fie 
ſelbſt die Brüde bricht. Die zwei Bogen, welde in der Mitte 
des Fluſſes ftehen, waren durch zwei andere mit den beiden Ufern 
verbunden. Dieſe aber find verſchwunden. Noch zu Anfang 
dieſes Jahrhunderts foll die ganze Brüde geftanden haben, Nur 
die Steinbrüjtung hat gefehlt. Aber die Hirten von Lunel, um 
die von Gallargues zu hindern, daß fie ihre Schafe auf die 
Garrigues oder Weidepläße am meitlihen Ufer treiben, haben 
den Bogen auf jener Eeite abgebrodhen. Aug Trog, obwohl 
zwecklos, haben nun die Hirten von Gallargues auf ihrer Seite 
dafjelbe gethban. Eo find im füplichen Frankreich die ſchönſten 
Denkmale römischer Kunft zu Grunde gezangen, und wie zahl: 
reih waren fie in diefer von den Römern beſonders geliebten 
und begünftigten Provinz, in der dieje nur eine Fortſetzung ihres 
Stalien gejehen haben. 

Von Gallargues fommen wir auf der Eifenbahn nach Verges, 
von wo aus wir wieder die Ebene von Languedoc bis gegen 
Aigues Morte3 und das Meer überjehen — jeder Bunft auf 
diejer weiten Fläche ift mit einem Siege Gavaliers bezeichnet. 
Beſonders um ihretwillen hat er fich feine herrliche Kavalerie 
geſchaffen. Wie ein Blitz aus den Wolfen fuhr er aus dem Ge: 
birge auf die Ebene nieder, flug, und die Wolfe fchloß ſich 
wieder hinter ihm. Der größere Roland, die eigentliche Eeele, 
der Geijt jenes großen Aufruhrs, faß in der großen Wolfe; 
Gavalier war der Blig von feiner Hand gejchleudert. Auch in 
Vergez hat Gavalier mit 80 Reitern einen Sieg gegen mehrere 
Kompagnien erfochten. 

Bon bier kehren wir nordwärts wieder nad) Calviſſon zurüd 


276 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


und haben jo aud die Bas-Vaunages, das Anhängſel jenes 
Kanaans, durhmwandert. Das Thal, das uns nad Calvifjon 
führt, iſt offenbar ein ehemaliges Flußbett, das bei Vergez endete, 
da e3 dort in das Meer mündete, das ſich heute um die ganze Breite 
der Ebene zurüdgezogen hat. Der Fluß kam aus den Vaunages, 
welches Thal feiner ganzen Form nad ein See gewejen fein muß. 
Die Deffnung zwifhen Calvifjon und Nages zeigt deutlih, daß 
er hier durchgebrochen. Die beiden einander gegenüberliegenden 
Bergesenden find wie die zwei regelmäßig abfallenden Theile 
eines Dammes, zwijchen dem eine wilde Fluth fih den Ausgang 
erftürmte. Auf den Abhängen der nördlichen Berge der Baunages 
ift e8 auch nicht ſchwer, die ehemaligen und noch lebendigen 
Quellen zu entdeden, welche den Eee geſpeist haben. 


Dreizehntes Kapitel. 
Zwei Briefe an deutfche Redaktionen. 


Erſter Brief. 
Aus dem Seebade. 


An die Redaktion des Deutfhen Mufeums. 


Au Graudu Roi, den 3. Auguft 1851. 


Leder richtige deutſche Schriftfteller hält e3 bekanntlich für 
feine Pflicht, wo er ſich in einem Badeorte befindet, auch fofort 
einen Bericht über Leben und Treiben deſſelben an befreundete 
Zeitjehriften zu fenden. Auch ich folge diefem Herfommen, indem 
ih mich heute der bier fo nothwendigen Eiefta beraube, um 
Ihnen aus einem Ceebade zu Schreiben, das vielleicht noch nie 
in deutjchen Blättern genannt worden. Au Grau — mo liegt 
der Grau? Karl Ritter felbft, glaube ich, wäre nicht im Stande 
diefe Frage zu beantworten, ohne daß ihn irgend Jemand deßhalb 
tadeln dürfte. Denn der Grau ijt eigentlich ein Nicht3, eine Ein- 
bildung ; eine Grille etliher Fifcher; der Boden, auf dem dieſes 
Nichts liegt, ijt fein Boden, das Land diejes negativen Bodens 
ift kein Land; nichts ijt hier wahr und wirklich und dauernd als 
das ſchöne, blaue Mittelländifche Meer! 

Da willen Sie denn nun wenigitens die Richtung, in welcher 
Sie den Grau zu juchen haben. Aber thun Sie e3 bald — denn 
vielleicht fchon über Nacht hat die Fluth den Grau hinweggefpült, 


278 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


oder er verfinkt in den Boden, der fein Boden ift. Hat dieſer 
verrätberiihe Boden doch ſchon Schönere3 und Größeres ver: 
Ihlungen! Hier lag vor Jahrtauſenden Rhoda, das ſüdliche 
Vineta, eine Kolonie der Griehen von Nhodus, die ungefähr 
gleichzeitig mit den Phozeern aus Marfeille an diefen Küften 
landeten. — Sie verſchwand. Im Mittelalter bauten Benedik— 
tiner ein prachtoolles Klojter, hoch über dem verfunfenen Nhoda 
mit feinen Tempeln und Säulenhallen und ichönen Menfchen ; 
und das Klofter und die Benediktiner verihmwanden, und nur 
wenn das Waſſer jehr niedrig fteht, ſoll man noch Trümmer der 
Klofterthürme erbliden. — Auf dem Damm, welchen die Kunit 
aufgeführt, um mitten durh Sumpf und Moor den großen 
Kanal, der von Beaucaire berablommt, ficher bis and Meer zu 
führen, liegen einige Fijcherhütten und ein Douanenhaug; auf 
den äußerſten Spihen ſteht ein beicheidener, aus Quadern auf: 
geführter Leuchtthurm. Dieſes Alles zufammengenommen nennt 
man den Grau. Wenn ich noch hinzufüge, daß man gewöhnlich 
gegen Weiten den Leuchtthurm von Cette, die weingefegnete Küjte 
von Frontignan fieht, und daß eben heute, freilich bei jehr durch: 
fihtiger Luft, am füplichen Horizonte klar und einladend die 
Derge der Balearen auftauchen, fo find Sie hoffentlich voll- 
fonımen orientirt. 

Im Minter it der Grau gänzlich verlaſſen; höchſtens ein 
oder zwei Fiſcher, der Leuchtthurmmwächter, drei Douaniers 
machen feine ganze Bevölkerung aus. Der Nordwind, der aus 
den Gevennen bläjt, zauſt willfürlih an den Schilfdächern und 
gräbt da3 auf dem Damm liegende Wrad noch tiefer in den 
Sand. In dieſem Augenblide dagegen ift es bier jo lebhaft wie 
nur irgend auf einer Düne. Die guten Mütter aus Nimes und 
Montpellier bringen ihre Kinder hierher, um ihnen von den Ur: 
wajlern de3 Meeres die Civilifation aus den Gliedern jpülen zu 
lafien; die Bajtoren der „Kinder Gottes” aus den Cevennen, die 
eben nicht mehr Kamifarden find, fuchen hier ihre Nerpojität 
los zu werden, und Sonntags bringt die Barke Schaaren von 


Dreizehntes Kapitel. 279 


Beſuchern aus den Etädten des Languedoc, die fih an ven 
friihen Früchten des Mecres erquiden wollen, 

Und ganz ernftlich rathe ich jedem deutſchen Landsmann, der 
in diefe Gegenden kommt, jo zu thun wie Jene; er wird ein wun— 
derbares Land fennen lernen. Eine Stunde von hier, den Kanal 
aufwärts, liegt die todte Stadt Aigues-Mortes mit ihren neunzehn 
wobhlerhaltenen Thürmen aus dem 13. Jahrhundert. Sie war 
einmal ein großer Kriegshafen, vielbewohnt, gebaut nad dem 
Mufter von Damiette, und jah alle Kreuzfahrer, die zur Wieder: 
eroberung des heiligen Grabes aus Frankreich zogen, in ihren 
Mauern, Jetzt hat fi das Meer von ihr auf mehr als eine 
Stunde entfernt, die Fieber nahmen fie in Beſitz und haben die 
Menschen fortgetrieben. Ringsumber, meilenweit, im Oſten bis 
gegen Arles, dehnt ſich nun das elende, peſthauchende Mittelving 
von Land und Meer; nichts als Sumpf, weite Teihe, Wälder 
von Schilf, wahre Pampas, ftehen gebliebenes Meerwaſſer, das 
in der Nacht leuchtet, hier und da eine einfame Pinie, an den 
Sumpfrändern im Geewinde zitternde Tamarisken; in ihrem 
Schatten ruht der wilde Büffel oder das weiße, in wilder Freiheit 
aufwachſende Camarguerroß, ein Abfömmling der edlen Zucht, 
welche die Araber im Lande vergeſſen haben. 

Der Grau, wenn auch ftrauche und baumlos, bildet eine 
Daje in diefer Wüſte. Die Fieber fangen bier erjt gegen Ende 
Auguſt an; dann flüchtet, was zu leben Luft hat. Bis dahin 
jedoch lebt man ruhig und begnügt fich mit ereignibleeren Tagen 
und ftiller Anfhauung der Natur. Nur einmal des Tages kommt 
die ganze einheimische und fremde Bevölkerung in Bewegung, 
wenn nämlich die Fiſcherbarken von hoher See zurüdfehren und 
auf dem Damm den Neihthum ihres Fangs aus den Neben 
werfen. Da ſieht man fo tolles, fonderbare3 und wunderbares 
Gethier, wie es nur Pififtratus in Indien gefehen oder Karl 
Vogt befchrieben hat. Fiſche jo platt wie ein Zeitungsblatt, tau— 
jendarmige Bolypen, Seeſterne, Fiſche mit Menfchenangefichtern, 
andere menfchenähnliche, die gleich neben dem Kopf den Magen 


280 Tagebudy aus Languedoc und Provence. 


haben, Seetrebfe, Mammuths ihrer Gattung. — Wahrhaft ſchön 
dagegen find die Gruppen, die fih dabei aus den Fiſchern bilden, 
mit ihren langen braunen oder rothen Sachmützen, die auf die 
Schultern herabfallen, mit den blutrothben Schärpen und Gürteln 
und den geitreiften Jacken; zwifchen ihnen ſchwarzäugige Weiber, 
Mädchen und Kinder, an die fie die Beute vertheilen, um fie 
Schnell auf ven Markt zu tragen — ein lebendiger Leopold Robert !! 

Zuweilen wedt auch ein Ruf die Siefta haltenden Badegäſte; 
fie eilen auf ven Damm hinaus, um die Delphine zu fehen, die 
in Schaaren auf blauer See vorüberziehen, oft zu Hunderten, 
fih dem Lande nähern und wieder fliehen, tänzelnd und fpringend 
und Purzelbäume jchlagend. Es geht ein Mythus auf dem 
Grau, daß diefe Freunde Arion’3, des Meifterd der Töne, ſich 
diejes Fahr häufiger zeigen als jonft, und zwar aus Urfaden. 
Denn mit dem Murmeln des Meeres, mit dem Gefange der 
Brife tönen dieſes Jahr noch andere Klänge um die Wette, die 
Meer und Brije beichämen: e3 find Beethoven’sche Sonaten. Sie 
fommen aus einer Fifcherhütte, in welcher unfere Landamännin, 
Wilhelmine Claus, die große Künftlerin, wohnt. Diefelbe fam 
mit ihrer mütterlichen Freundin Karoline Sabatier hierher, um 
Erholung und Kräfte zu fuchen beim berrlihen Meere, nachdem 
ein großer Berluft ihr tiefen Schmerz bereitet. 

So iſt über dem verjunfenen Rhoda Allee Mythus oder 
Idylle. Selten nur, wie profanes Tageslicht durch eine plöglich 
geöffnete Thüre aufs Theater, fällt ein politifches grelles Licht 
auf den Grau und feine Bewohner. Wer kann den Zeitungen 
entfliehen und den Erzählungen der Befucher? So ift man aud 
bier noch fanft erfchüttert vom Tode Dllivier'3, des Redakteurs 
des Suffrage univerfel in Montpellier. ! Sie werden von diefem 
politiichen Duelle gehört haben und von dem traurigen Tode des 
Ihönen, jungen, boffnungsvollen Republifanere. Aber melde 
Bedeutung diefer Tod für das ſüdliche Frankreich habe, Tann 


I Bruder Emile Ollivier’3, des fpäteren Deputirten und nacdhherigen - 
napoleonifhen Minifters. 


Treizehntes Kapitel. 281 


man in der Ferne unmöglich ermeſſen; bald wird Ariftide Olivier 
mit dem Glorienihimmer Armand Garrel’3 umgeben und fein 
Name eine Fahne jein. 

Und die Republitaner bier zu Lande haben fich feit Tange 
nad einer Fahne gefehnt ; viele von ihnen bilden ſich ein, fie hier 
im Süden würden die Grften fein, die eine Fahne brauden. 
Wenn Heinrih V. oder Henri Quatre II. wirflid Muth hat, fo 
jagen fie, und irgendwo in Frankreich einen Streich ausführen will, 
ſo fann er e3 nirgends beffer al3 an der ſüdlichen Küſte. Languedoc 
ijt heutzutage die einzige Vendee in Frankreich. Montpellier ift 
legitimiftifh zum Erzeß, die kleineren Städte wie Lunel ahmen 
gern die Hauptftadt nah, und in den Dörfern regieren die Curés. 
Nur Eines ift verbrießlich dabei; die Schwelle des Nordens, die 
Gevennen find von einem abjcheulih republitaniihen Volks— 
jtamme bewohnt, und über dieſe Schwelle müßte doch der gute 
Heinrih, wenn er in die Burg feiner Väter einziehen wollte. 
Und was Ludwig XIV. gegen eine Handvoll Schäfer und Wolle: 
främpler mit feinen berühmteften Marfchällen nicht vermochte, 
wird ed Heinrich mit einigen verfchimmelten Namen, Titeln und 
Rechten vermögen?! Befonders da ihm auch im Rüden, in der 
Ebene Languedoc's, Feinde auflauern würden, die Proteftanten 
von Marfillargues, Gallargues, die ewig den Thurm von Con: 
jtance vor Augen haben, der fie an die gebleichten Gebeine in 
jeinem Innern und an die gottjelige Regierung der frommen 
Bourbonen erinnert. Marfillargues ijt ein eigenthümlicher Fleden, 
„torrumpirt” bis in den innerjten Kern, das heißt dur und 
durch republifanifch, trog feines Reichthums. Das kommt daber, 
jagte mir ein Legitimiſt aus Montpellier mit unterbrüdtem 
Seufzer, daß die Leute Proteftanten und ans Denken gewöhnt 
find. Darum ift der Heine Fleden auch im Belagerungszuftand ; 
jede Woche kommen einige Kommiffäre dahin, um nad Ber: 
ſchwörungen zu fuchen. Das legte Mal fanden fie nur eine Frau, 
die ihr neugebornes Kind Ledru:Rollin taufen ließ; fie fonfis: 
zirten das Kind und ftellten es umgetauft der Mutter zurüd, die 


232 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


noch zehn Franken Tauffoften zahlen mußte. Aber im Dorfe 
beißt der Junge dennod nicht anders als Ledru, und ich ſah 
alte Leute an dem Kinde mit abgezogenem’Hute vorübergehen: 
Bon jour, eitoyen Ledru! 

Aber wen foll die Wunder nehmen, da die Verderbniß ja 
fo alt ift in Marfillargues! Vor vierzehn Tagen lernte ich dort 
einen Greig kennen, der fi rühmte, von den famöfen Freiwilligen 
des Südens zur Zeit der Legislative und einer der Erſten ge: 
weſen zu fein, welche die Marjeillaife durch Frankreich folpor: 
tirten. Er nannte fie noch immer mit ihrem urjprünglichen 
Namen „Les enfants de Ja patrie.* Ein Straßburger Blatt 
hatte fie ſammt den Noten nach Marjillargues gebrad,;t, und der 
proteftantiiche Vorfänger in der Kirche war der Erite, der fie 
entzifferte. 

Eine halbe Stunde von Marjillargues liegt Lunel; da find 
mir auf einmal in einer ganz anderen Welt. Alles in Lunel ift 
Legitimift. ALS Louis Napoleon, gleich gütig gefinnt den Legi— 
timiften wie den Nepublifanern, vor Kurzem das Heinrichgfeit 
verbot, wie unglüdlih war man in Lunel! Aber fo lange fie 
noch den guten Muscat haben, wiſſen fich jelbft die Legitimiften 
über ſolche Kalamitäten zu tröften. 

Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen über jo geringfügige 
Dinge jchreibe wie franzöfifhe Dörfer. Aber die Dörfer find eg, 
die im Jahre 52 den Ausſchlag geben werden; nämlid wenn 
es nicht fhon vorher ein coup d'état gethan. In Dörfern und 
Borftädten ift das eigentliche Leben einer Nation, und gerade das 
berüdjichtigt man fo felten. Die Städte find nur die Abftraftion 
dieſes Lebens. Korrefpondenzen aus Paris können Sie gedruckte, 
lithographirte, gejchriebene genug haben: aber wann findet jich 
auch Jemand, der über Zuftände und Stimmungen im Grau 
oder aus Marfillargues und Qunel berichtet? 

Auf Neuigkeiten über Kunft und Wiſſenſchaft müſſen Sie 
dabei freilich verzichten. Das Volk diefer Gegenden, obwohl in 
feinen Adern griechifches, arabifches und germanifhes Blut flieht, 


Dreizehntes Kapitel. 283 


weiß nicht3 von Kunſt und Wifienfchaft; es ift wahrhaft barbarifch 
in diefer Beziehung. Die proteftantischen Dörfer find calviniftifch 
ausgetrodnet, die katholiſchen ganz in der Gewalt der Pfaffen, 
der grauen Echmeitern und freres ignoranlins; Herr von 
Falloux Tiebt diejes Land, trog der proteſtantiſchen Miſchung, 
ganz bejonderd. Wenn ſich nicht hier und da in einem Duvrier 
der alte provenzaliihe Geilt regte, der ihn zu Liedern in der 
Volksmundart begeifterte, es gäbe feine Boefie; wenn nit in 
dem oder jenem Flecken irgend ein herumziebender deuticher Mus 
fifant als Organift figen bliebe, es gäbe feine Mufik bier. In 
meiner Nachbarſchaft Tebt ein junger Bauer, deſſen Flöte man 
jo mande Nacht mit der provenzaliihen Nachtigall wetteifern 
hörte. Aber er hatte die unglüdliche Koee, auch zuweilen des 
Eonntags die Bäuerinnen nad feiner Flöte tanzen zu laſſen. 
Da trat vor einigen Tagen der Cure in feine Stube, öffnete, 
ohne ein Wort zu jagen, den Schrank und zerbrach das jündige 
Inſtrument. C'était la derniere flüte du pays, jagte mir 
Elagend der alte Vater des Mufifanten. Was das Land an Kunft 
und Künſtlern hervorbringt, flüchtet fi unter diefen Umſtänden 
jo ſchnell es kann nad) Baris: Paris ift demnach keineswegs bloß 
anzuflagen, dab e3 Alles verjchlinge, es rettet auch Vieles, was 
in den barbarifchen Provinzen zu Grunde geben würde. 

Ein Beweis für die Barbarei des Volkes in Languedoc ift 
auch die Art und Weije, wie e3 die Alterthümer behandelt, die 
jo oft bei Umgrabungen auf den Feldern gefunden werden. Die 
berrlihiten römischen Aichenfrüge, von denen manden Frühling 
jo viele gefunden werden, daß ſich ganze Muſeen davon be: 
reichern könnten, werden ſogleich zerfchlagen, um in ihrem Bauche 
nah Münzen zu ſpähen. Und in der That find diefe Gegenden 
für den Münzenfammler fehr ergiebig; die ſeltenſten Münzen 
und Medaillen kauft man nah dem Gewicht. Vor Kurzem 
wurde bei St. Come eine Kite gefunden, die zwanzigtaufend 
Franes Metallmerth hatte. Auf dem fogenannten chemin de 
la monnaie, einer Nömerftraße, die fi) von Nimes nah Mont: 


284 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


pellier zieht, und die das Volt nad ihrer Ergiebigkeit getauft 
bat, findet man jeit Jahrhunderten die feltenften Münzen, und 
noch immer ijt der Vorrath nicht erfchöpft, es ift ordentlich, als 
märe eine lede Kriegskaſſe von einer tauben Escorte dieſen ganzen 
Weg entlang transportirt worden. 

Da ih von Barbaren fpredhe, will ih noch eine Sitte er: 
wähnen, die hier jeden Frühling einige Menſchenleben koſtet. 
Ich meine die Stierfämpfe, die alljährlih im Frühling fat in 
jedem Dorfe dem Volke zum Beiten gegeben werben. Sie unter: 
Icheiden ji von den fpanifchen Stiergefehten nur dadurch, daß 
fie mit weniger Pomp und waffenlos ausgeführt werden. Es 
icheint dabei weniger auf Kraft al3 auf Gewandtheit anzulommen. 
Der Toreabor padt feinen Feind, einen ungezähmten Stier aus 
der Camargue, mit gefreuzten Armen an den Hörnern und ringt 
ihn nieder, oder jucht ihn vielmehr durch Schnelligkeit, durch 
einen gewaltigen Ruck zu überrafhen und zu betäuben. Ich ſah 
ein Kleines, ſchmächtiges Schulmeifterlein mit der Brille auf der 
Nafe, der einen Stier nad) dem anderen auf den Nüden legte. 
In Lunel dagegen hat ein einziger Stier mehreren Männern die 
Bäuche aufgefchligt. In Folge deſſen find die Stierhegen für 
diejes Jahr verboten. Doch giebt e3 Leute genug, melde be 
haupten, die Stierheten feien nur darum unterfagt worden, 
weil fie den Parteien Gelegenheit geben, ſich zu verjammeln, be: 
fonder8 aber den Rothen mit ihren rothen Kravatten zu er: 
ſcheinen. — Wie jehr übrigens die Bevölkerung an diefem grau: 
famen Spiele hängt, beweiſt ein Fall, der fich neulich zugetragen. 
Der Präfelt jhidte zwanzig Soldaten nad Aigues:Vives, um 
eine Stierhege zu verhindern. Sogleich rüdte die ganze National: 
garde des Fleckens bewaffnet und mit geladenen Gemwehren aus 
und vertrieb die Abgefandten des Präfelten. In einem anderen 
Sleden konnten die Soldaten die Feſtlichkeit nur dadurch ver: 
hindern, daß fie die Stiere erfchoflen. — Diefe armen Opfer 
einer blutigen Sitte werden der Bevölkerung von den Wittwen 
geliefert, die fih aufs Neue verheirathen; fehlt es am einer 


Dreizehntes Kapitel. | 285 


folhen, fo werden die einzelnen Stiere in der Camargue oder 
dem Rhonedelta mit 3—400 Franken bezahlt. 

Ich habe, vom Volke diefes Landes fprechend, fo oft die 
Worte „Barbarei” und „barbarifch” gebraucht, daß ich es für 
meine Pflicht halte, auch noch etwas über feine Vorzüge hinzu: 
zufügen. Aeußerliche hat e3 nur in geringem Maße; e3 ift hier 
nicht die edle Race von jenfeit3 der Rhone, wo fait nody auf allen 
Gefichtern, beſonders den weiblichen, der Stempel griedhifcher 
Schönheit ruht. Hier fcheint diefe mit der Kolonie der Rhodier 
verfhmunden zu fein, und daß fich die Nefte der Römerſchönheit 
im Kontakt mit Celten und Franken leicht barbarifirten, finde 
ih begreiflib und natürlid; denn der Nömer hatte nicht die 
Schönheit „in ihm ſelbſt.“ An vie dunfeln Augen, die Einem 
allenthalben begegnen, gewöhnt man ſich bald, ja man ſehnt fich 
nah einem blauen, wie man ſich aus der Hige der biefigen 
ſchattenloſen Gegenden in die fanfte Dämmerung eines deutjchen 
Malvdes jehnt. — Wie eigenthümlih, daß Einem jenfeit der 
Rhone, auf dem griehifchen Boden von Arles, Tarascon, St. 
Remy die Hige nicht fo tödtlich erjcheint, und daß man bort 
unter hellenifchen Stirnen blauen Augen begegnet! — Aber ich 
wollte ja von den Vorzügen und Tugenden des Volfes in 
Languedoc ſprechen, und da muß ich den tief eingewurzelten 
Unabhängigkeitsfinn rühmen, der es vielleiht vor allen anderen 
Stämmen Franfreihs auszeichnet. Der Bauer, der Taglöhner, 
der Duvrier, der Reiche und Arme — feiner fennt den geringiten 
Unterjchied der Stände, feiner begreift, daß man in einem dient: 
lichen Verhältniffe ftehen könne. Herren und Anechte gibt es hier 
nit, es gibt nur eine freie Uebereinkunft, eine Verpflichtung 
zu gegenfeitigen Leiftungen auf font volllommen gleihem Fuße; 
der Bewohner von Languedoc ift vollfommen Rouſſeau'ſcher 
Egalitätsmenſch. — Und dabei doch Legitimift?! Ja wohl, und 
oft müthender Legitimift! Das find fo Dinge, die hinter dem 
Rüden der Logik vorgehen. — Geſcheite Leute haben mir dieſe 
Erſcheinung als Paganismus erklärt, der in jedem ſüdlichen 


286 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Volke ftede und eines äußern Symbols der Verehrung bedürfe, 
dieſes Eymbol aber, wie der Neapolitaner den heiligen Januariug, 
prügele, wenn e3 ihm nicht feinen Willen thut. 

Denken Eie davon, was Eie wollen, und leben Eie wohl 


Zweiter Brief. 


Deutihthum und Deutiche in Languedor. 


An die Nedaltion der Hannoverſchen Preſſe. 


Aus dem alten, einfamen Thurme, den ich auf einem 
der legten Auslaufer der Gevennen im Angeſichte der Ebene 
Languedoc's und de3 mittelländiihen Meeres bewohne, kann ich 
Ihnen leiver nur wenige oder gar feine Neuigkeiten fchreiben. 
Grlauben Eie mir aljo, von meinem überfihtlihen Standpunkte 
aus überfihtlih und allgemein und deutsch zu fein. Erlauben 
Sie mir, Alles, wa3 fih an deutichen Landsleuten, deuifchen 
Einwirkungen, Erinnerungen, Eympathien und Keimen fünftiger 
Sympathien zwijchen der Nhone und dem Herault findet, zus 
ſammenzutragen und mir aus all’ dem ein Kleines Baterländchen 
zufammenzuftoppeln, mit dem ich vielleicht nody einem Vaduzer 
Batrioten gegenüber groß thun kann. Eiſchrecken Eie nicht. — 
Es fällt mie nit ein, verjährte Rechte auf das Arelat, das 
übrigens jenfeit3 der Nhone liegt, geltend zu machen, und fo 
alte Streitigkeiten aus den Zeiten Konrad’3 III. aufzumärmen. 
Es würde mir auch fchwerlid gelingen. Aber wir haben in 
neuerer Zeit andere Eroberungen gemadt, die ſchöner Jind, als 
jene der in Etierhäute gehüllten Germanen, und ſchöner als die 
der glänzenden Hohenftaufen. Wenn ich aus meinem Fenſter 
blide, glaube ich von den kaltigen Höhen der Cevennen die Frag: 
mente des blauen, romantischen Banier3 wallen zu jehen, das 
der alte Meifter Tied dvahingepflanzt; und unweit von den Nuinen 


Dreizchntes Kapitel. 287 


des Schlofies von Beaucaire, im alten St. Gilles, Tiegt Pierre 
de Caftelnau, deſſen Ermordung Lenau’3 Trauerfang einleitet. 
Und mwenn ich mit dem Volke fpredhe, tönen mir aus feinem 
ihönen Idiome ruinenhbafte Klänge au3 den Liedern de3 Ka: 
ftelland von Couci, Durand's, Nudell’3, Bertran de Born's 
entgegen, jener Troubadoure, die wieder der deutjche Troubadour 
Uhland bejungen -hat. 

Ya, wir Deutfhen find Koamopoliten! — Es ift ein alter 
Sat, über den fchon viel gefeufzt worden. Aber laffen wir Die 
darüber feufzen, die rubig daheim an ihrem deutfchen Ofen 
figen umd fi die Hände wärmen. Dem Unjtäten und Flüchtigen 
ift 3 ein Labjal, auf feinen Wegen den Fetzen deutſchen Kos: 
mopolitismus zu begegnen. 

Der Languedocjhe Proteftantismus ift wohl der diesjeitige 
Grundſtein jener Negenbogenbrüde, die fih vom Pie St. Loup 
aus dem deutjchen Harze entgegenwölbt und in der Nähe von 
Eisleben niederfällt. Ehon im fiebzehnten Sahrhunderte, be: 
jonder3 aber in den Gevennenfriegen, wandte man von bier 
aus hülfefuchende Blicke auf die Glaubensbrüder in Norddeutſch— 
land, freilich meift vergeben®, doch hat man fich gewöhnt, dahin 
zu ſehen und zu horchen. Manchmal fam dod ein Trojteswort 
von dort her und, was mehr war, ein Drohwort, das in Ber: 
ſailles niederfiel; wie 3. B. das Drohwort aus dem tabakouf: 
tenden Munde des Vaters Friedrichs des Großen, weldes in 
Berjailles einen fo bedeutenden Duft verbreitete, daß man auf 
eine Zeit vergaß, in Langucdoc Nad und Galgen und Scheiter: 
haufen aufzurichten. Die Toleranz der philojophiichen, dann die 
Freiheit der Nevolutions : Zeit bradten die nordiſchen Glaubens— 
brüder wieder in-Vergefienheit, und die Baltoren, die den Pro: 
pheten folgten, gingen nah Genf und Lauſanne, um ſich ihre 
Gottesgelehrtheit von dort zu holen. In neuerer Zeit hat ſich 
das wieder gedreht. Genfer und Paufanner Weisheit reicht nicht 
mehr aus; Rouſſeau kann die Theologie nicht mehr brauchen, und 
einen Schleiermacher hat franzöſiſcher Boden noch nicht hervor: 


288 Tagebud) aus Yanguedoc und Provence. 


gebracht. So wandern die jungen Theologen mit dem leichten 
Gepäde der Montauban’ihen Gelehrjamkeit über den Rhein 
nad Heidelberg, Tübingen, Berlin — und wenn fie zurüd- 
fommen, bringen fie deutſche Gedanken mit, über die die alten 
Kollegen die Köpfe fchütteln — deutihe Bücher, um fih in 
dieſen Gedanken zu verhärten, und manchmal deutfche Frauen, 
weibliche Apoftel für die deutſche Sprache. Vor einigen Wochen 
befuchte ih einen Paſtor im Gebirge. Während ich den Ab: 
wejenden erwartete, ſah ich mich unter feinen Büchern um, und 
jiehe da, unter dem dreiundvierzigften Grade fand ich neben 
einander aufgereihbt: Goethe, Schiller, Lefling, Herver, den 
ganzen Hegel, die Disjecta Membra Schelling's, Schleiermacher, 
Greuzer, de Wette und eine große Schaar deutſcher Dichter und 
Romanſchriftſteller. — Mein Wirth empfing mid mit einem 
deutſchen Gruß und führte mich dann zu einer Dame, in deren 
Bibliothef ich fogar den originalen Iffland feit Jahren zum 
erften Male wieder ſah. Ich konnte der Verfuchung nicht wider: 
jtehen und habe mir für die Nacht zum Einfchlafen unter Langue— 
docihem Himmel einen Band bürgerlicher Thränen ausgebeten. 

Ein anderer Baltor in Vaunages, dem Kanaan der Kami: 
farben, war zur Beit meines Befuches eben mit Ueberfegung der 
Predigten von Dräfele, dem Großvater meines lieben Freundes 
Th. Althaus, befhäftigt. Der Mann war nie in Deutſchland ge: 
mejen, hat aber in feiner Einſamkeit von felbjt Deutſch gelernt 
und iſt ein wüthender Ueberfeger geworden. Ich empfahl ihm 
ven Enkel feines Originals zur Ueberſetzung, der mir noch lieber 
wäre, al ver Großvater. Er fragte, ob er ein Theologe? Aller: 
dings, antwortete ih, aber ein jehr avancirter! Das jchredte 
den Mann nicht ab, und er ſchrieb fich die Titel der beiden theos 
logifhen Werke auf: „Die Märchen aus der Gegenwart” und 
„Aus dem Gefängniß.” 

Montpellier hat unter feinen drei Paftoren jogar einen wirt: 
lihen, ächten Deutfhen, einen Landsmann der Guftel von 
Blafewig bei Dresden. Aecht deutſch bejchäftigt er fich mit 


Dreizehntes Kapitel. 239 


Dingen, welde vie einheimiſchen Kollegen längſt vergeſſen haben. 
Gr ftudirt die Ramijardenkriege und ihren Schauplag an Ort und 
Stelle und macht Entdedungen, für die ihm die Geſchichts— 
forfhung dankbar fein wird. 
Die Baftoren haben die Laien ihrer Gemeinden und dieje 
wieder ihre katholiſchen Landsleute angeſteckt. Deutſch zu lernen 
iſt Mode geworden, und es hat ſich ein deutſches Bonnen: und 
Gouvernantenfyftem ausgebildet, das mit dem franzöfiichen in 
Deutfhland, bejonders in Defterreih, die größte Nehnlichkeit hat. 
Wenn ih nad Montpellier fomme, it der weltberühmte Benrou, 
von dem aus man die Pyrenäen ſehen kann, mein Liebling®- 
ipaziergang. Da wimmelt e3 von Bonnen mit ihren Kindern, und 
mir ift e&, als ob ich in Firmenich's Völkerſtimmen umherſpazierte. 
Da unterfcheide ich leicht die feinfühige Tochter von den fteilen 
Ufern der bilvungduftenden Spree, die ſchwäbiſche Maid mit den 
bellblauen Augen, die blonde, jchönfarbige Jungfrau von der 
Leine, die „mollete” Wienerin. Da höre ich: „Juſtav, jehen Sie 
nich fo jchnelle; Sie find, wahrhaftigen Sott, ein Jameng !" — 
Gleih daneben erzählt die Schmwäbin ver ihr ſympathiſchen 
Mienerin: „Meine Augüfchte iſch e guts Mädle — i fann nit 
anderfch ſage“ — und die Wienerin antwortet: „X kann mi ab 
nit bElagen, aber ver Ghalt iS halt unbeteitend.” — Und mitten 
durch hört man die weife Mahnung einer helltlingenden S—timme: 
„S—predhen Sie nit bef—tändig, Gie find ein Plauderähr !“ 
Man darf fich über dieſe verfchiedenen reinen Idiome nicht 
wundern. Die meilten Mütter Montpelliers find gläubig, und 
jede ſchwört hoch und theuer, daß ihre Bonne die reinjte Aus: 
iprahe habe. Manche haben wohl eine dunkle Ahnung davon, 
wie e3 mit dem Atticismus ihrer Ammen beftellt fei, aber fie 
laffen ihren Kindern lieber eine faljche Ausfprache, als eine faliche 
Religion einimpfen. Denn bei den eifrigen Katholiten und eben 
jo eifrigen Proteftanten Montpellierd und Nimes’, gibt die Kon: 
fellion bei ver Wahl der Gouvernante oder Bonne den Ausſchlag. 
So kann e3 mit der Zeit fommen — wunderbar find die Wege 
Morig Hartmann, Werke. IM. 19 


290 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


der Borfehung — daß die Katholiken des Südens bayerifch oder 
öfterreihifch, die Proteftanten preußifch oder hannöveriſch fprechen.. 
Allerdings kommt mande pia fraus vor. Manch armes, prote- 
ftantijhes Gefhöpf aus dem Norden, um nur eine Stelle zu 
haben, verleugnet wie Auguft von Sachen die Religion der Väter 
und gibt fich zeitweilig für. alleinfelig gemacht aus. Mont- 
pellier vaut bien une messe. Sie büßen diefe unſchuldige 
Apoftafie jede Woche zwei Tage lang bei Faftenfpeifen ab. — 
Im Allgemeinen werben fie gut behandelt. Man jet bei ver 
deutihen Jungfrau fürchterlich viel Sittlichfeit voraus und vers 
mutbet bei ihr ein Uebermaß von Gemüth, und liebt fie darum. 
Dazu fommt, daß der an feinem Lande fo fehr hängende Franz 
zoſe Jeden bedauert, der feine Heimat zu meiden gezwungen ift, 
und ihm fein 2008 zu erleichtern fucht. Wenn man auch manch— 
mal eine Dame über ihre Bonne Hagen hört, kann man doch 
jiher fein, daß fie am Ende ſich felbft begütigend hinzufügt: 
Pauvre fille, elle est si loin de sa patrie! Die ſüdlichen 
Frauen find überhaupt zärtlihe Mütter und übertragen eimas 
von ihrer Liebe zu den Kindern auf deren Amme, fobald nur 
dieſe jelbjt etwas Neigung für die Heinen Schwarztöpfe zeigt. 
Um aber von dem Bonnenmwefen, dem Privatunterricht und 
dem PVeyrou loszulommen, machen wir einen Sprung auf die 
benadhbarte Hochſchule. — In der Halle der durch fo viele Jahre 
hunderte berühmten medizinischen Schule begrüßen uns ſogleich 
die Bilder von Haller, Wolff, Zimmermann. Sehen wir ung 
unter den Lebenden um und borchen wir nad den Syſtemen, 
welche die Schule beherrſchen, jo erfahren wir von einer alten 
Partei, die nächſtens unter den Schlägen der Revolutionäre er= 
liegen wird, jener furchtbaren Revolutionäre, die in Deutjchland 
einen Hauptfiß haben, der Nevolutionäre in der Phyſiologie und 
Botanik. Neulich hat dieje revolutionäre Partei einen gewaltigen 
Sieg durd die Ernennung des Herrn Martins zum Direltor des 
botanifhen Gartens errungen. Herr Martins ift ein Deutjcher 
von Abftammung und ift troß feines Proteftantismus ernannt 


Dreizehntes Kapitel. 291 


worden, und zwar zum Nachfolger des fo hoch gefeierten Delille. 
Herr Martins ift derſelbe, der mit Agafjiz und Vogt auf den 
Gletfhern gemejen, die berühmten Reifen im Norden gemacht, 
Goethe's Metamorphoje der Pflanzen überfegt hat und den Fran: 
zofen zu beweiſen ſucht, daß die Keime aller und der höchſten Er: 
rungenſchaften der Wiffenihaft in den Büchern des Alten von 
Meimar aufzufinden jeien. 

Und da wir einmal in der medizinischen Schule find, fteigen 
wir einige Treppen hinauf. Wir gelangen in ein höchft interej- 
fantes, mit fohönen Bildern ausgeſchmücktes Maleratelier. Da 
wohnt der Kaflirer der medizinischen Fakultät, Herr Laurent, 
derfelbe, der faft das ganze ſüdliche Frankreich illuftrirt und durch 
feine Zeichnungen viel zur Kenntniß der großen Kunſtſchätze dieſes 
Landes beigetragen hat. Herr Laurent iſt ein enthufiaftifcher Ver⸗ 
ehrer von Allem, was deutſche Kunſt heißt: von deutſcher Muſik, 
Malerei, Poeſie. Bei ihm hört man die neueſte Muſik von Ro— 
bert Schumann, Ferdinand Hiller, Rietz, Heller u. ſ. w. Bei 
ihm findet man die neueſten Werke der Kunſtvereine und die 
jüngſten Poeten des ſingenden Deutſchlands. Man lernt ihn 
durch Taillandier oder Taillandier durch ihn kennen; ſo kommt 
man auch manchmal in die Hörſäle der Afademie der ſchönen 
Wiſſenſchaften, und da hört man, wie diefer Profefjor vor einem 
höchſt zahlreihen Publikum ununterbrohen Parallelen zwiſchen 
deutſcher und franzöfifcher Literatur zieht und nicht immer zum 
Bortheil der letzteren. 

Uber kehren wir wieder zu unfern wirklichen und wahrhaf: 
tigen Landsleuten zurüd. Wenn wir genau nachſuchen, finden 
wir fie auch im Schooße der reichjten und einheimifchiten Bour: 
geoifie, wo fie ſogar zu einer Art von Patriziat gelangt find. 
Ihre Namen, felbft in der franzöfiichen Verftümmelung, muthen 
uns heimifh an. Es find das die Familien, die im vorigen 
Jahrhundert fih im Norden Deutſchlands mit den proteftanti- 
Ihen Emigranten verjchmwägert haben und mit diejen fpäter 
nad dem Süden gelommen oder von ihnen nachgezogen worden 


2923 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


find. Sie waren vor der Revolution nur auf den Handel be 
ſchränkt und haben, wie die meilten Proteftanten der Städte, 
Reihthum und Anjehen erworben. Ihre Abitammung feheinen 
fie noch nicht ganz vergefien zu haben ; wenigfteng zeigten fie noch 
vor Kurzem durch ihr fchönes Benehmen gegen die Frau eines 
Berliner Gelehrten, die in Montpellier plötzlich Wittwe geworden, 
daß fie noch ein Herz für deutjche Landsleute haben. In ihrer 
Mitte zählen fie noch mehrere Nachzügler aus der neuen und neue: 
ften Zeit, die weniger der Proteftantismus als der Wein, oder 
vielmehr der Weinhandel, hiehergezogen hat. Unter diefen lernte 
ich erft vor Kurzem eine liebenswürdige Landsmännin aus Bur: 
tehude kennen. Buxtehude! Eine germaniſche Welt liegt in diefem 
Namen. Bei feinem Klange wurde mir fo wehmüthig zu Muthe, 
mie dem Odyſſeus gemwejen fein mag, al3 er den Schatten feiner 
Mutter gefehen, den er doch verfcheuchen mußte, 

Das jüngfte Deutihland hat auch fein Kontingent geftellt. 
Unter den Studenten der medizinifhen Schule ftechen die blon- 
den Gefichter hervor, man redet fie an und erfährt, daß es Stu: 
denten aus der Pfalz oder aus Baden feien: Flüchtlinge, die die 
Eine Fakultät der Hochſchule zweckmäßig benugen und nolentes 
volentes Medizin ftudiren. Sie haben Vorgänger in diefem 
Schidjal; denn auf dem Lande gibt es deutſche Aerzte, die das 
Frankfurter Attentat, jeligen Andenkens, ebenfalls nah Mont: 
pellier und in die Arme der Medizin getrieben hat. Auf ähnliche 
Weiſe wurde das Land mit einer Unzahl polnischer Aerzte ver: 
forgt. — Unter den Flüchtlingen, wie ein rathgebender und im- 
mer zur Hülfe bereiter Patriarch, lebt der Vater des armen Dortu 
mit feiner Frau. Die unglüdlihen Eltern haben ſich freiwillig 
aus dem Lande verbannt, das ihnen das einzige Kind genommen. 
Möge fie bier neben der Cypreſſe der Lorbeerbaum tröften. 
Einen fhmerzlihen Verluſt hat vor Kurzem die flüchtige Kolonie 
von Montpellier dur den Tod des guten, braven Peter Fries 
erlitten. Das Bedauern war allgemein, obwohl er nur von 
Menigen gelannt war; denn die deuten Flüchtlinge find bier 


Dreizehntes Kapitel. 293 


beliebt, da jie durch einige mwirklih liebenswürdige Individuen 
repräjentirt find, und man ihre Art und Weife, wie fie das Eril 
ertragen, ohne zu verfallen, und wie fie fich ihr tägliches Brod zu 
erwerben wiſſen, die Achtung nicht verfagen fann. Manche find 
in Gejellfhaften gern gefehen, Andere haben ſich als Lehrer im 
Schooße der beiten Familien Freunde erworben. 

Ich lade Sie nicht ein, mit mir einen Flug durths offene Land zu 
machen, um neben den Paſtoren noch andere Spuren von Deutjch: 
thum zu entveden. Ic gebe Ihnen nur die tröftliche Verficherung, 
daß Sie hier und da auf gutes Bier jtoßen, und wenn Sie ji dann 
nah dem Verfaſſer erkundigen, wird Ihnen ein Sohn der Ba: 
varia in die Arme fallen. In diefem rührenden Momente Elingt 
Ihnen aus irgend einer Wohnung eines reihen Proprietärs die 
Arie von „Wir winden dir den Jungfernkranz“ oder ein Straußi: 
her Walzer entgegen. Sie folgen diefen Tönen, und durchs Fen— 
jter erbliden Sie die Heine Franzöfin am Klavier; neben ihr jigt 
ein blonder Jüngling, der Chiron der Gegend und der Organift 
der Kirche. Ja, felbft wenn Sie in die Unterwelt, d. i. in die 
Koblengruben der Gevennen hinabfteigen, hören Sie die Sprade 
Ihrer Mutter, denn deutſche Bergleute leiten die Ausbeutung. 
Kommen Sie aber erjt nad Cette in den Hafen, dann hören Sie 
im herrlichſten Plattveutich fluchen. Diefen Genuß hatte ich dort 
erit vor Kurzem auf dem Danziger Schiffe „Thomas“ wo ich mic 
troß der Dresdener Konferenzen unter dem preußifchen Aoler 
ſehr wohl befand. 

Aber Sie haben wohl ſchon genug ‚des füdfranzöfifchen 
Deutſchthums. Wenn ich Ihnen zu viel des Kleinen und Klein: 
lichen zugetragen habe, das Sie im Herzen Deutſchlands nicht 
interejjirt, jo verzeihen Sie das dem Sammlerfleiße des „Lieb: 
habers“ und gejtehen Sie mir zu, daß ich mir wenigſtens ein 
Raduzer Vaterland zufammengeflidt habe, welches noch den Vor: 
theil bat, in jeiner Kleinheit die ganze Buntheit de großen deut: 
hen darzuftellen. ch fomme mir vor, wie jener franzöfifche 
Emigrant, von dem mir mein Großvater erzählt hat. Der arme 


294 Tagebuh aus Languedoc und Provence, 


Marquis mußte fih feinen Lebensunterhalt mit Holzfchnitereien 
erwerben; aber für alles Geld fchnigte er nichts Anderes als fran- 
zöfifche Schlöffer: Verfailles, St. Cloud, Fontainebleau. — So 
fhnite ih mir einen deutfchen Duodezftaat, und zwar mitten in 
der Republik. „Zu Straßburg auf der Schanz“ und „Wär’ ich 
ein wilder Falke” — hundert Vplfslieder, das ganze Wunderhorn 
klingt mir ſchon im Kopfe, und ich ſehe mit Zufriedenheit, daß 
ich einen gewiffen geheimen Zwed erreicht habe. Leben Eie wohl! 
Bald fchreibe ih Ihnen von andern Ufern. 
„O du mein Deutfhland, ih muß marſchiren.“ 


Provencnlen. 
Volklslieder und Balladen — überjegt und bearbeitet. 


Wenn das Spottlied auf Napoleon, obgleich es noch im 
Munde des Volkes lebt, als ein politiihes Epigramm nicht zur 
reinen Gattung gezählt wird, fo find eigentlid nur die erften bier 
mitgetheilten fünf Lieder als Volkslieder zu bezeichnen. Die Ge: 
dichte „Brovenzalifches Morgenſtändchen,“ „der Dieb” und „das 
Matrojenlied” find Bearbeitungen nach Thematen, welche dem 
Ueberfeger von längft verſchollenen Gefängen geliefert wurden. 
Die Ballade auf König Franz’ I. Gefangenſchaft it eine in der 
Form tief unter dem franzöfifhen Driginalvolfsliede ftehende 
provenzaliihe Bearbeitung, die ebenfalls längſt vom Volfe ver: 
geſſen ift und hier nur mitgetheilt wird, weil fie der Heberjeger 
zufällig einmal in einem alten Buche gefunden hat. Das Gedicht 
„an die rechte Hand“ ijt vielleicht nie gefungen worden, wird aber 
feines Inhalts wegen, der durch die Zeit feiner Entjtehung noch 
größeren Werth erhält, ver Mittheilung für würdig erachtet. „Die 
beiden Seraphim” und „An die Tyrannen“ ſollen al3 Proben 
neuprovenzalifcher Poeſie in diefem Tagebuche Platz finden. Die 
Ausbeute an eigentlihen Volksliedern bejchränft ſich alfo bloß 
auf die erjten fünf Stüde und muß nothwendiger Weife als eine 
fehr arme betrachtet werden. Es ijt das nicht die Schuld des 
Sammler3, der mit der Abjicht und der Hoffnung, eine reiche 
Ernte zu maden, in den jangberühmten Süden, auf den Hafli 
{hen Boden der Troubadours gelommen war und ſich ange: 
ftrengt bat, fo viel al3 möglich zu fammeln. Alte Bücher und 


296 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Anthologien hätten mir allerdings eine große Anzahl proven- 
zalifcher Lieder liefern können, aber ich hatte mir vorgenommen, 
nur folde zu jammeln und als eigentliche Volkslieder anzuer: 
fennen, die noch heutigen Tages im Munde des Volkes leben. 
Der deutjche Leſer möge aus der ärmlichen Ausbeute jchließen, 
was ich enttäufcht und mit Schreden felbft erfannt habe: das 
ſüdfranzöſiſche Volk jingt nicht mehr. Von den fünf erjten Lie 
dern habe ih auch nur vier fingen hören, und daß jelbit dieje 
Produkte der Kunftpoefie aus dem achtzehnten oder fiebenzehnten 
Jahrhunderte feien, wird er an dem fchäferlichefentimentalen Cha: 
rafter, an den Namen Thirfis und Daphnis erfennen. Ihr poe- 
tifcher Werth ift unbedeutend, und auch jie wären ihren älteren 
Brüdern aus den bejieren Zeiten provenzaliiher Poeſie wahr: 
ſcheinlich ſchon ins Grab gefolgt, wenn ihnen nicht die zum Theil 

jehr reizenden, oft überaus melandolifchen und getragenen Me 
(odieen das Leben gefriftet hätten. Ich geftehe es, daß ich hier 
und da wohl noch Gelegenheit gehabt hätte, das eine oder das 
andere Lied bei Hochzeiten und andern Feiten dem Munde des 
Boltes abzulaufhen — aber meijt waren diefe Lieder ſchon fo 
vom franzöſiſchen Idiom „envahi,* daß jie faum mehr als pro: 
venzalifche anzuerkennen gewejen, und bafirten faft immer auf fo 
ſchlechten Wigen, daß ich alle Luft zu ihrer Aufzeichnung verloren. 
Es thut mir leid, wenn ic) den deutſchen Lefer, der ſich das Nach— 
tigallenland von Volksliedern durchklungen denkt, um eine jhöne 
Täuschung ärmer mache — aber ich kann nicht anders, Ich wie: 
verhole e3: das jübfranzöfifche Volk fingt nicht mehr. Nie ift auf 
freiem Felde, in der Ferme, am Herde, im Dorfe, wo fich das 
Bolt verfammelt, ein originales provenzalifches Lied an mein 
Ohr gedrungen, Es iſt natürlid, daß ein Volk, das beleidigt ift, 
wenn ihm jein Pfarrer in der heimifchen Sprache predigt, in 
diefer Sprache nicht mehr fingt. Ein einzigesmal begegnete es 
mir im Baunages, daß mir aus der Ferne ein Chor von Männer: 
jtimmen entgegentönte. Ich ſetzte mich hin und wartete, bis der 
Gefang heranfam; e3 waren die Republifaner von Calviſſon, die 


Provengalen. 29% 


den Pariſer Chant du depart jangen. Und ein einziges Mal 
börte ih auf freiem Felde ein unter einem Dlivenbaume figendes 
Kind fingen: e3 fang die Marjeillaife. Diefes Heine Mädchen hat 
mir mehr bewiejen, als die ganze, große Echaar neuprovenzalis 
cher, Dichter, die den Schönen Süden bevölfern, und unter denen 
e3 höchſt talentwolle gibt. Wir brauchen bloß Jasmin, Rouma- 
nille, Aubanel, Croufillat, Miftral zu nennen. Troß ihren Be: 
mühungen wird, zum Glüde Frankreichs, in wenigen Jahrzehn: 
ten das Publikum, Das ihre Sprache verjteht, ganz oder zum 
großen Theile weggejchmolzen fein. Das Idiom wird von der 
nordfranzöfiichen Sprache nad und nach weggenagt. Selbit die 
Dichter weichen, ohne e3 zu willen, dem modernen, nordifchen 
Andrange. MarysLafon, ein fompetenter Richter, wirft dem be: 
rühmtejten unter ihnen, dem Perüdenmacher Jasmin vor, daß 
er die Sprache, in der er dichte, nicht fenne. Aber aud) die tieffte 
und gründlichite Kenntniß würde gegen die hiftorische Nothwen: 
digfeit nicht3 vermögen. Cine große Produktionskraft könnte dem 
ausfterbenden Romano » Brovenzalifchen vielleicht für einige Zeit 
das Leben friften — aber dieſe fehlt. Selbſt die beveutenditen 
unter den provenzalifchen Dichtern, wie z. B. Roumanille aus 
St. Remy, zeichnen fich dur bloße Iyrifche Einzelnheiten aus; 
große Erfindungd: und Geftaltungsfraft ift vielleicht nicht einem 
Einzigen nachzurühmen. Sie begnügen fih, die ſchöne Sprache 
Ihön klingen zu lafjen, und oft beſchränkt fich ihr ganzer Werth 
auf die melodifche Form, auf den holden Zufammenklang. Eines 
der bedeutendſten Produkte der legten Zeit „Li Sounjarello “ 
(die Träumerinnen) von Roumanille beftätigt dag. ! 

Mit den „Complaintes,* den Klagegefängen auf prote- 
ſtantiſche Märtyrer, welche noch im vorigen Jahrhundert jo häufig 
gejungen wurden und eine der beften Quellen für proteftantijche 
Geſchichte abgeben, fteht es nicht befjer al3 mit den profanen 
Volksliedern. Sie find verſchollen, und die nicht ſchon von eifrigen 

' Die feitdem erfchienene Mirejo, ein großes epiſch-lyriſches Gedicht 
von Miftral, jcheint dem zu widerſprechen — ſcheint aber nur. 


298 | Tegebuch aus Languedoc und Preprare. 


„Hirten ver Wüſte“ auf3 Parier gebannt wurden, find beute 
verloren. Eelbft in ven verborgeniten Thälern der Cevennen 
werben fie nicht mehr gejungen, wohl aber nod die franzöfichen, 
(von Element Maroi überjegten) Palmen. 

Diefe wenigen Worte zur Cbarafteriftit der Sprach⸗ und 
Vollsliedzuſtände, zugleich zur Entihuldigung, dab meine Emte 
jo ärmlih ausgefallen. Bielleiht reicht e3 bin, wenn ich kurz 
fage: Der Eammler provenzaliiber Nolkzlieder ift im Jahre 
1851 bereit3 zu fpät gefommen. 


A l’oumbra d’aou bouscatje. 


Die Flötentöne irrten 
Bis her zum fchatt’gen Hag; 
E3 feierten die Hirten 
Heut einen frohen Tag. 


Ich aber fit und weide 
Die Heerden, ad, allein: 
Und jeufze, was ich leide, 
In den Haren Quell hinein, 


Und wenn mein Herz gedenfet 
Der alten ſchönen Zeit, 
Um ihn, der mich gefränfet, 
Wein’ ich in meinem Leid. 


So jeufze durch die Nacht ich 
In meines Herzens Noth — 
Bor Sehnen faft verfhmadt ich, 
Biel beffer wär der Tod. 


— — — — 


Provengalen, 299 


Tirsis n’es mort, pecayre! 


Firfis ift todt, o wehe! 
Weint, Böglein, auf fein Grab, 
Ihr Blümlein legt, ich flehe, 
Die luſt'gen Farben ab. 
Betrübte Taubenherzen, 
Berliebte Nachtigall, 

Bereint mit meinen Schmerzen 
Der füßen Stimme Schall. 


D’una pastoura trop eruela 
Un jeun Dafnis se planissiait. 


Ein junger Daphnis weint und Hlagte, 

Denn graufam war die Schäferin — 
Ganz in der Nähe floh und jagte 
Ein armes Täubchen her und Bin. 
Und wie fie Hin und wieder irrte, 
Ausftieß fie, ach, jo trüben Ton, 
Es lauſchte und es jah der Hirte, 
Wie fie in ein Gebüſch entflohn. 


Die Heinen Bögelein im Nefte, 
Sie ſaßen fill und lautlos da, 
Weil eine Schlange vom Geäfte 
Furchtbar und drohend niederjah. 
Sie ſchlug Daphnis mit einem Schlage 
Des Hirtenftabs, daß todt fie ſank. 
Ihm ift, als ob das Täubchen fage: 
D habe Dank, o habe Danf! 


300 


Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


Quant vous veze tout me play. 


An dir gefällt mir Alles zur Stund, 

Du mwürdeft den todten Stamm beleben, 

Das Waffer fommt mir in den Mund, 

Seh id) dein Lachen, dein heiteres Leben. 
Fröhlich und froh! 

Ich hab fie noch nicht, doch werd ich fie frein; 
Fröhlich und froh, 

Ich hab fie noch nicht, doch mein muß fie fein. 


Und fehrte fi) der Himmel um 

Als wie der Kuchen in der Pfanne, 

Ich trüge feft Dur Grad und Krumm 

Die Lieb zu meiner braunen Hanne. 
Fröhlich und froh! 

Ich hab fie noch nicht, doch werd ich fie frein; 
Fröhlich und froh, 

Ich hab fie noch nicht, doc mein muß fie fein. 


Wenn wo ein Dieb in Herzen bricht, 

Gleich führt man gegen did Beſchwerden; 

Berftedft du deine Augen nicht, 

Wirft du einmal gehangen werden. 
Sröhlih und froh! 

Ich hab fie noch nicht, doc) werd ich fie frein; 
Fröhlich und froh, 

Ich hab fie noch nicht, Doch mein muß fie fein. 


Hochzeitslied. 


Zu jeder Zeit, in jedem Land 
Begriffen's Leute von Verſtand, 
Im Leben und im Sterben bleibe 
Gar nichts vergleichbar mit dem Weibe. 


Provengalen. 


Es lebe die Ehe! 
Der Lieb’ ein Hoch gebracht! 
Es lebe die Ehe, 


Es lebe die Liebe bei Tag und bei Nacht. 


Das Weib, das ift im Haufe ganz, 
Was eine Geige ift beim Tanz. 
Ohne Weib herrſcht Todesſchweigen, 
Ohne Geige ftodt der Reigen. 
Es lebe die Ehe! 
Der Lieb’ ein Hoch gebradıt! 
Es Iebe die Ehe, 


Es Iebe die Liebe bei Tag und bei Nacht. 


Der junge Gatte lachet jehr, 
Ein groß Berdienft bei meiner Ehr! 
An feiner Stelle würden heute 
Sehr laden auch gefcheitre Leute. 
Es lebe die Ehe! 
Der Lieb’ ein Hoch gebradt! 
Es Iebe die Ehe, 


Es lebe die Liebe bei Tag und bei Nacht. 


Es lächelt auch die junge Braut, 
Doch nur im Herzen und nicht laut, 
Der Brauch will, daß im Hochzeitsfleide 
Man jauere Gefichter fchneide. 

Es lebe die Ehe! 
Der Lieb’ ein Hoch gebradt! 
Es lebe die Ehe, 


Es lebe die Liebe bei Tag und bei Nadıt. 


301 


302 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Morgenftändden. ! 


Nicht Harfen, nicht Flöten, 
Es finget mein Leid — 
Der Tag ift nicht weit, 
Die Wolfen erröthen. 

Bon meinem Trauerliede 

War hold dein Traum erfüllt, 

Es hat did) füßer Friede 

Wie Seide weih umhüllt. 
Richt Harfen, nit Flöten, 
Es finget mein Leid ꝛc. 


Schlag auf deine füßen 
Schwarzäugelein jetzt — 
Vom Thaue benett 
Will ich dich begrüßen. 
Sieh, dem Dlivenbaume 
Lacht ſchon die Sonne zu, 
Blick du, noch halb im Traume, 
Mir in das Herz die Ruh. 
Nicht Harfen, nit Flöten, 
Es finget mein Leid ꝛc. 


Die Nebel, die fteigen, 

Bededen dag Haus — 

D komme heraus, 

O wolle dich zeigen. 
Der Morgen wird jo milde 
Un deine Schläfe wehn — 
Du mirft dein Traumgebilde 
In meinem Auge jehn. 

Nicht Harfen, nicht Flöten, 

Es finget mein Leid, 

Der Tag ift nicht weit, 

Die Wolfen erröthen. 


ı MWahrfcheinlich ein Neft oder eine Nachahmung der alten provenzalijchen 
Aubades oder Morgenftänddhen (von Aube.) 


—— 





Provengalen. 303 


Matrofenlied. 


O hör's durch alle Ferne, 
Durch alles Leid, das Wort, 
Ich ſchwör's beim Licht der Sterne: 
Dich lieb ich immer fort. 


Es beben mir im Innern, 
Als ſchwellender Accord, 
Die Sehnſucht, das Erinnern: 
Dich lieb ich immer fort. 


Ob auch in kaltem Wehe 
Das Leben mir verdorrt, 
Ob es in Blüthen ſtehe: 
Dich lieb ich immer fort. 


Wenn es ein Jenſeits giebet, 
Dich werd ich lieben dort 
Wie ich dich hier geliebet: 
Dich lieb ich immer fort. 


Das Schönſte, was ich habe 
An meines Schiffes Bord, 
Iſt deiner Liebe Gabe — 
Dich lieb ich immer fort. 


Und wo ich immer lande, 
An welchem fernen Ort, 
Ich ruf's an jedem Strande: 
Dich lieb ich immer fort. 


Ich ruf's an jedem Strande; 
Das liebe, liebe Wort 
Kennt man in jedem Lande: 
Dich lieb ich immer fort. 


O hör's durch alle Ferne, 
Durch Luſt und Leid das Wort, 
Ich ſchwör's beim guten Sterne: 
Dich lieb ich fort und fort. 


304 


Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Der Dieb. 


Nichts Süßres ift, als feinem Yicb 
Stet3 geben, immer geben — 
In Perpignan verlor ein Dieb 
Am Galgen drum fein Leben. 


Set du getroft, du armes Lieb, 
Der Herr hat ihm vergeben, 
Er hat ja mur, der arme Dieb, 
Geftoblen, um zu geben. 


Der Mann, der die Gejege jchrieb 
Und der fie anbefohlen, 
Der hatte feine Seele lieb, 
Sonft hätt auch er geftohlen. 


Stehl ic dem Felde, was es trieb 
An Gold: und Silberrofen, 
Warum nicht auch für dich, o Lieb, 
Das Geld aus Rod und Hofen? 


Stehl ich dir Küſſe doch, o Lieb, 
Und werde nicht gehangen, 
Was jol ih nicht ein Tajchendieb 
Für dich zu fein verlangen ? 


Nichts Süßres ift, als feinem Yieb 
Stet3 geben, immer geben, 
Und wenn mir nicht mehr übrig blieb, 
So geb ich ihr mein Leben. 


Provengalen. 305 


An die rechte Hand, 


Bon Drygnan — (Anfang des XVII. Jahrhunderts.) 


Did, Rechte, pries fein Mund genug, 
Geziemend klingt dein Lob aus meinem: 
Ahnfrau von Hammer, Schwert und Pflug, 
Bift du das Alles auch in Einem. 


Dir fohreibft — ob Hein in Lettern gleich — 
Gedanken, die wie Ström’ aus Schluchten 
Durchziehen mandes weite Neid 
Und fernes Land und Feld befruchten. 


Du bildeft — hier ein wohnlih Haus, 
Gewänder dort, die feftlich ſchmücken, 
Und Hundert Dinge führft du aus, 

Die Tieblich jedes Aug entziiden. 


Du nährft — ob auch der Stirne Schweiß 
Auf deine Schwielen niederthauet ; 
Sie ftehn dir, wie der Furche Gleis 
Dem Ader, den du felbft bebauet. 


Ich finge deinen Ruhm am Pflug, 
Bejahend winket mir der Spaten; 
Es pries dich noch Fein Mund genug, 
Genoſſin du der ſchönſten Thaten. 


Mich Haft du lebenslang genährt! — 
Des Hammers Lob laß ih den Schmieden, 
Dem Roft, dem Noft laß ich das Schwert, 
Und mir laß ich den Pflug, den Frieden. 


Morig Hartmann, Werke 11. 90 


306 Zagebud aus Languedoc und Provence. 


König Franz I. in der Gefangenfdaft. 


Als der König zog aus Frankreich, 
Zu gewinnen fremdes Yand, 
Fiel an Pavia's Thore 
Er den Spaniern in die Hand. 


„Gib dich, gib dich, König Frankreichs! 
Wo nicht, mußt du untergehn!“ 
— „Ich fol Franfreihs König fein? 
Niemals hab ich ihn geſehn.““ 


Heben auf des Mantels Zipfel, 
Und die Lilie fehn fie dort — 
Nehmen ihn und binden ihn, 
ns Gefängniß muß er fort. 


Fort zum finftern Thurm, in welchen 
Mond und Sonne niemals fahn, 
Wenn nicht durd ein Fenfterlein — 
Kommt ein Poftillon heran. 


„Poftillon, der Briefe bringet, 
Sag, was in Paris man fpricht ?“ 
— „Daß der König ift gefangen, 
Sagt man, wenn getödtet nicht.““ — 


„Poftillon, Fehr mit der Poſt um, 
Nah Paris Fehr um gefhwind, 
Grüße ſchönſtens mir mein Weib, 
Grüße mir mein feines Kind. 


Daß fie Münzen prägen laffen 
So viel nur Paris im Stand, 
Und mir eine Ladung fenden, 

Daß ich Heimkehr in mein Land.“ 1 


Faſt der ganze Inhalt diejes ſudfranzöſiſchen Liedes findet ſich in einem 
der vielen nordfranzöfiigen, die auf die Schladyt von Pavia gemadjt wurden. 
Das nordfranzöfiihe hat einen fatirifhen Anjtrid) und beginnt mit Spott 
auf den Herren La Palice und endet mit einem böhmischen Ausfall auf den 


Provengalen. 307 


Herzog von Guiſe. Die ganze Form ift beffer und gebildeter als die des 
füdfranzöfifchen hier mitgetheilten Vollsliedes, welches nur eine Nahahmung 
des andern zu fein fcheint. Das Original lautet fo: 


Helas! La Palice est mort, 

II est mort devant Pavie. 

Helas! s’il n’etait pas mort i N 
I seroit encore en vie. 


Quant le roy partit de France, 
A la malheur il partit; 

Il en partit le Dimanche 

Et le Lundi il fut pris. 


Il en partit ete. 
Rens, rens toy, Roy de France, 
Rens toy done, car tu es pris. 


Rens etc. 
Js ne suis point roy de France, 
Yous ne savez qui je suis. 


Je suis pauvre gentilhomme, 
Qui s’en va par le pays. 
Regarderent à sa casaque, 
Aviserent trois fleurs de Iys, 
Regarderent ä son espée, 
Frangoys ils virent escry. 
Ils le prirent et le menerent 
Droit au chäteau de Madrid. 


Et le mirent dans une chambre 
Qu’on ne voiroit jour ne nuit. 


Que par une petite fenetre, 
Qu’estoit au chevet du lict. 


Regardant par la fenetre 
Un courrier par la passit. 


Courrier, qui porte lettre, 
Que dit on du roy & Paris? 


Par ma foy, mon gentilhomme 
On ne sait s’il est mort ou vif. 


308 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 
Courrier qui porte lettre, 
Retourne t'en ä Paris. 


Et va — t’en ä ma mere 
Va dire & Montmorency. 


Qu’on fasse battre monnaie 
Aux quatre coins de Paris. 


S’iln’y ade l’or en France 
Qu’on en prenne à St. Denis. 


Que le dauphin en am£ene, 
Et mon petit fils Henry. 


Et à mon Cousin de Guise 
Qu’il vienne icy me requery. 


* 


Et à mon cousin de Guise 
Qu’il vienne icy me requery. 
Pas plus töt dit la parolle 

Que monsieur de Guise arrivy. 


Aro l’aben attrabat ete. ! 


Spottlied auf Napoleon, aus dem Jahre 1815. 


Nun haben wir ihn eingefangen, 
Den Bogel mit den großen Flügeln; 
Nun haben wir ihn eingefangen 
Und ihm geftußt die großen Flügel. 


t Wir theilen diefes Volksepigramm nur deßhalb mit, weil es, feit 
lange vergefjen, fonderbarer Weiſe in diefem Jahre plötzlich wieder auf: 
taudt. Es heißt nämlich im Original: 


Aro l’aben attrabat 
L’aouzel d& las grossos alos; 
Aro l’aben attrabat 
E l’aben dözalatat. 


Provengalen. 309 


Die beiden Serafim. 


Li dous Serafin von J. Roumanille aus St, Remy. 


ALS die Hirten angebetet 
Gottes Kindlein an der Krippe, 
Weinten zwei der weißen Engel, 
Weinend jang da ihre Lippe: 


(Der Erfte:) 


Auf dem Knie der Mutter fehe 
Weinen ih dag Kindlein, wehe! 
Kenn die Quelle feiner Klage: 
O Jeſu, heil’ger Geift, 
Du weißt, 
Daß die Stirn an jenem Tage 
Dir die Dornenkron’ zerreißt. 


ALS die Hirten angebetet 
Gottes Kindlein an der Krippe, 
Weinten zwei der weißen Engel, 
Weinend fang da ihre Lippe: 


(Der Zweite:) 


Soll mein Herz nicht fein voll Leide? 
Sollen wir nicht weinen beide? 
Soll das Kindlein auch nicht wimmern? 
O Jeſu, heil'ger Geift, 
Du weißt, 
Daß fie ſchon am Kreuze zimmern, 
Das die Glieder dir zerreißt. 


Als die Hirten angebetet 
Gottes Kindlein an der Krippe, 
Weinten zwei der weißen Engel, 
Weinend ſang da ihre Lippe: 


310 Zagebuh aus Languedoc und Provence. 


(Beide:) 

Ad, er ift and Kreuz gefchlagen! 
Aus dem Leide fteigen Klagen 
Auf zum Vater von dem Sohne. 

O Jeſu, heil’ger Geift, 

Du weißt, 
Daß der Menſch nach deiner Krone, 
Nach dem Kreuz mit Spotte weist. 


Als die Hirten angebetet 
Gottes Kindlein an der Krippe, 
Weinten zwei der weißen Engel, 
Weinend fang da ihre Lippe, 


Die Tyrannen. 
Aus Li Provengalo, von Th. Aubanel aus Avignon, 


Motto: Ahi dura terra, perche non t’aprist :? 
Dante. Inferno. 
Wo eilft du mit dem großen Meffer hin? 
— „Köpf' abhau'n, weil ich der Henker bin.” 


O fieh das Blut von deinem Kleide thauen, 

Und deinen Fingern — Henker, waſche dich! 
„Warum? nod Manches bleibt zu thun fiir mich, 
Es gibt noch viele Köpfe abzubauen.“ 


Wo eifft du mit dem großen Meffer hin? 
— „Köpf abhau'n, weil ich der Henker bin.“ 


Ich weiß! — Doch bift du Vater je geworden ? 
Ein Kinderblid hat dich wohl nie bewegt? 

Ganz ohne Scheu, von feinem Trunk erregt, 
Kannſt du die Mutter fammt dem Kinde morden, 


Wo eilft du mit dem großen Meffer hin? 
—,„Köpf' abhau'n, weil ich der Henker bin.“ 


PBrovencalen. all 


Gepflaftert ift der Markt mit deinen Zodten, 

Was lebend noch, fleht mit gebeugtem Knie; 

Sprich, warft du je ein Menſch, wart dur es nie? 

— „Laß mich mein Tagmwerf thun, wie mir geboten.“ 


Wo eilft du mit dem großen Mefjer hin? 
— „Köpf’ abhau'n, weil ich der Henker bin.“ 


— Sprich, meinft du nicht aus deines Bechers Grunde, 
In deinem Wein zu trinken Blut, das roth? 

Und wenn du iffeft, glaubft du nicht das Brod 

Zu Menfhenfleifh verwandelt dir im Munde? 


Wo eilft du mit dem großen Meffer hin? 
— „Köpf' abhau’n, weil ich der Henker bin.“ 


Bor Müdigkeit jeh ich den Schweiß dich wiſchen; 
Halt ein! vol Scharten ift ja jhon dein Schwert. 
Es kann gejchehn, daß es daneben fährt, 
Weh dir, wenn deine Opfer dir entwijchen. 

Wo eilft du mit dem großen Mefjer hin? 

— „Köpf' abhau’n, weil ich der Henfer bin.“ 
Sie find entwifht! Zum Blod, der roth umquollen, 
Fest beuge du das Haupt — die Schulter nadt — 
Die Sehne deines Haljes kracht und fnadt, 
D Henker, nun wird dein Kopf niederrollen. 

Schleift friih das große Meſſer, jchleift und jchleift, 

Ergreift des Henkers eignes Haupt, ergreift. 





Vierzehntes Kapitel. 


Montpellier — Ein Wort Goethe’3 — Erfte Eindrüde — Bauart der Stadt — 
Peyrou und Edplanade — Alexander Roufjel und Peter Durand — Elaube 
Broufjon und fein Henfer — Ludwig XIV. und Philipp II., Baville und 
Alba — Proteftanten und Katholiken — Gefelfhaft, Erziehung, Moralität — 
Das Bolt von Montpellier und feine Sprache — Pecahré! — Eine Anekdote — 
Journalismus — Herr Danjon, ein fonderbarer Schwärmer. 


Montpellier, Mitte September 1851. 

— „es ift mir recht aufgefallen: daß man eigentlih nur 
von fremden Ländern, wo man mit Niemand in Berhältniß fteht, 
eine leibliche Reifebejchreibung machen könnte. Ueber den Drt, 
wo man gewöhnlich fih aufhält, wird Niemand wagen etwas 
zu jchreiben, es müßte denn von bloßer Aufzählung der vor: 
handenen Gegenftände die Rede fein: ebenfo geht es mit Allem, 
was und nod) einigermaßen nabe ijt ; man fühlt erit, daß es eine 
Impietät wäre, wenn man aud) fein gerechteſtes, mäßigſtes 
Urtheil über die Dinge öffentlich ausfprechen wollte. Dieje Bes 
trachtungen führen auf artige Rejultate und zeigen mir den Weg, 
der zu gehen ift.“ 

Diefe Worte Goethe's, die jeder Tourift oder Neifebejchreiber 
vornhin in fein Notizenbuch ſetzen follte, kommen mir un: 
willtürlih ins Gedächtniß, da ich darangehe, mit einigen Bemer: 
fungen über Montpellier mein Tagebuch zu vervollitändigen. 
Während meines fiebenmonatlihen Aufenthaltes im Süden habe 
ich in diefer altberühmten Stadt jo viel Gaſtfreundſchaft genoflen, 
haben fih jo mancherlei Beziehungen, Belanntichaften und 
Freundesverhältniffe gebildet, daß ich vollfommen jene Beengnik 
fühle, die der Alles Vor: und Nachempfindende in jenen Worten 


Vierzehntes Kapitel. 313 


ausgedrüdt. An diejes die Feder beengende Gefühl der Delikateſſe 
fchließt fih no ein anderer Nachtheil. Die eriten Eindrüde, 
die gewöhnlich die beften und wahrften find und fich mit größerer 
Leichtigkeit, ohne alle Anftrengung, faft naiv wiedergeben laflen, 
find von vielen nachfolgenden verdrängt, jo daß beim Nieder: 
fohreiben eine Arbeit des Gedächtniſſes beginnt, die der Un: 
befangenbeit, ich möchte jagen, Einfalt des wahrhaftigen Erzählers 
Eintrag thut. 

Kaum kann ich mich mehr des eriten Eindrudes erinnern, 
den Montpellier auf mich gemacht hat. ch weiß nur, daß es an 
einem regnerifchen Apriltage war, da mid) der Bahnzug hierher 
brachte, und daß mir traurig und enge zu Muthe wurde, 
als wir uns in den diden Mauern der Feltung verloren, die 
Ludwig XIII. al3 ein Zmwing-Montpellier vor die Stadt hin- 
gemauert. Die fhönen Gemüfegärten, die bereit3 von Kohl und 
Blüthen bevedt waren, vie breite mit prächtigen Bäumen be: 
jegte Esplanade, welche fi zwijchen dem Kajtell und der Stabt 
ausdehnt, konnten den trüben Eindruck des regnerifhen und 
düfteren Tages halber nicht aufheitern. Die innere Stadt mit 
ihren hundert Gäßchen, die ſich wahrhaft gordiſch und finn- 
verwirrend in einander fchlingen, erſchien mir als ein unauflög- 
barer Knoten und wurde dem Wanderer unbehaglich, der, ftolz 
auf feinen Ortsfinn, fonft gewohnt ift, ſich in der fremdeften und 
verwideltiten Stadt im Laufe ver erjten Stunden zurecht zu finden. 

Aber mit dem Himmel Härte fih auch die Düfterheit des 
eriten Eindruds auf, und im Laufe des Sommers hatte ich oft 
Gelegenheit, die Weisheit der alten Gründer und Bewohner 
Montpellierd zu preifen und fie dafür zu fegnen, daß fie ihre 
Häufer jo nahe als möglich an einander gerüdt und auf diefe 
Art für ewigen Schatten geforgt haben. Wenn Montpellier der 
modernen Neigung der meiften Städte folgen und feine ſchmalen, 
winklihen Gafjen in breite, langgezogene verwandeln wollte, es 
würde unbewohnbar werden, oder feine jämmtlichen Kinder dem 

Sonnenftihe ausfegen. So aber, wie die Stadt heute befchaffen 


314 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


ift, fann man jie fajt ihrer ganzen Fänge und Breite nad) immer 
angemejjen bejchattet durchwandern, und fönnen Handwerker 
und Krämer, jelbit in den beißeften Tagen, ihre Geſchäfte ges 
mächlich fortfegen. Und nicht nur vor dem Sonnenbrande ilt 
man dur dieſe Bauart der alten Stadt gefjhügt — nod ein 
gefährlicherer Feind wird durch fie von den guten Bürgern Mont: 
pellier8 abgehalten; e3 iſt das der Wind, der jonft fait ununter: 
broden fie durdtoben und, aus allen Weltgegenden fommend, 
an Bruft und Lungen nagen würde, während er jept an den 
äußersten Winkeln abprallt und nicht durch all’ die Wendungen 
und Windungen zu dringen vermag. Gegen die Atmoiphäre, 
die er, wenn er in Geſtalt des Mijtral oder des Sirocco er: 
ſcheint, mit ſich führt, ſchützen freilich weder die Windungen 
nod die Schatten der alten, hohen Häufermajjen. | 
Die Stadt, obwohl auf einem Hügel liegend, gewährt von 
feiner Geite einen recht maleriihen Gefammtanblid, während 
fie in ihrem Inneren oder an verichiedenen Enden einzelne 
Punkte befigt, von denen au3 man fich der herrlichſten Ausficht 
ind Land erfreut. Der fehönfte diefer Punkte ift ver Beyrou, 
eine am Weſtende der Stadt fich erhebende Esplanade. Die 
Ausficht, die man da genießt, nennen die Montpellierenjer mit 
etwas übertriebenem Stolze eine der fhönften der Well. Man 
jieht vom Peyrou aus die hübſchen Landhäuſer, die ſich, gut 
gruppirt mit ihren Cypreſſen, Platanen, Lorbeerbäumen und 
Granatbüfchen, weit hinaus vor die Stadt erftreden, und jenſeits 
diefer Ländhäufer gegen Norden die kaltigen, verbrannten Berge 
der Cevennen mit ihrem König, dem Pic St. Coup, gegen Süden 
das lächelnde, blaue Mittelländifche Meer, das kaum eine halbe 
Meile von der Stadt entfernt ift, mit den grünen Sümpfen an 
feinen Ufern und mit der Inſel Maguelone und der Ruine der 
altberühmten Kirche in feinem Schooße; gegen Welten, bei 
bejonders Harem Wetter, jenfeit3 ver legten Ausläufer der 
Gevennen, die ihre Arme dem Meere entgegenbreiten, jogar die 
riefigen, in fanfter Bläue ſchwimmenden Häupter der Pyrenäen. 


Vierzehntes Kapitel. 315 


Die Cevennen jcheinen, wenn die Luft von der Feuchtigkeit des 
naben Meere durchwoben ijt, jo nabe gerüdt, daß man ihre 
Sträude und einfam nidenvden Alpenblüthen mit der Hand er: 
reihen und in ihre Höhlen und Riffe mit einem kühnen Schritte 
eingehen zu können wähnt. Auf der dem Peyrou entgegengefegten 
Esplanade fann man zugleich mit Gevennen und Pyrenäen die 
Alpen mit ihrem Repräfentanten, dem Mont Ventour, erbliden 
und fo im jelben Momente, mit Einem Blicke Hifpania, Helvetien, 
la belle France und durch das Medium des Mittelländifchen 
Meeres das fabelhafte Afrika begrüßen. Ein meltumfaflendes 
Herz kann hier eben fo gute Nahrung finden, al3 ein hypochon— 
prifhes, das fih in Betrachtung über die Kleinheit der Reiche 
diefer Welt, ja felbjt dieſer armen Erde ergehen will. Ein beſſer 
und heiterer geitimmtes wird fich hier an ihrer Schönheit erfreuen, 
beſonders fo lange, als es nicht an die Gräuel denkt, deren Schau: 
platz der jchöne, herrlich Peyrou, oder die lachende Esplanade 
vor dem Kaſtell geweſen. 

Unglücfeliger Weife kamen fie mir zu früh ing Gedächtniß, 
als ich auf dem Peyrou jtand, und mich zufällig ummendend, die 
Statue und den Triumphbogen Ludwigs XIV. in feiner Mitte 
und vor feinem Eingange erblidte. — Möge man noch jo große 
Aquädufte mit allen Quellen der Gebirge, ja, möge man das 
ganze Mittelmeer mit feiner lächelnden, heiligen Salzfluth hierher 
leiten — alle die Wellen wajchen den Blutfled nicht ab, ver 
dieſen herrlihen Punkt der Erde für ewige Zeiten entjtellt: und 
möge man bier noch jo viele Blumen pflanzen und Lindenblüthe 
duften laſſen — alle Gerüche des Drientes und Occidentes über: 
täuben jeinen Blutgeruch nicht. Es ift ja noch fo friſch, das Blut 
der Märtyrer, die bier ihr Leben aushauchten für die ihnen 
heilige Sache. Gemöhnlid glaubt man, daß die Hinrichtungen 
der Proteftanten auf dem Peyrou mit dem Tode Ludwigs XIV. 
ihr Ende ereicht haben; das ift aber falſch. Noch unter Ludwig XV. 
fah ver Beyrou viele und erhabene Märtyrer „des reinen Glau- 
ben3,” viele Martertode ver „Hirten der Wüſte.“ Alerander Rouflel 


316 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


verhauchte hier im Jahre 1728. Sein Verbrechen war, ven Pro: 
teftanten der Gevennen unter Mühen, Noth und Drangfal, käm— 
pfend mit Hunger und Durſt, verfolgt von Höhle zu Höhle, 
gepredigt zu haben. Um Geld verkauft, wurde er barhaupt, 
barfuß, mit dem Strid um den Hals, zum Richtplatz gefchleift. 
Nach feiner Wohnung befragt, antwortete er: Der Himmel ift 
mein Dach! Während ihn auf dem Weg zum Richtplak und bei 
der Folter die Jeſuiten umdrängten und Berleugnung feines 
Glaubens verlangten, betete er für feine Richter und den Henler. 
In der Sterbeftunde fang er wie Huß mit feiter Stimme einen 
Palm. R 

Sp wie Mlerander Rouſſel erging es bier auf dem Peyrou 
dem armen Greife Peter Durand. Sein Verbrechen war, An: 
toine Court geholfen zu haben, al3 er die durch die Kriege zer: 
ftreute Heerde der Cevenolen wieder zu einer Gemeinjchaft 
fammeln wollte. Er jtarb im Jahre 1732. Fünf Sefuiten er: 
ihöpften ihre Beredſamkeit, ihre Verfprehen und Drohungen 
vergebens an ihm. Er blieb feit wie ein Feld. Die Folge diefer 
Martyrien war, daß die Abtrünnigen wieder in den Schooß des 
Protejtantismug zurüdlehrten, daß neue Befehrungen vorlamen, 
daß die Proteftanten neuen Muth und neue Kraft gewannen, 
daß fie fich wieder fammelten und organifirten und eine fefte 
Gemeinſchaft bildeten, die allen Verfolgungen zum Troß ihr 
Leben friftete, bis die Baftille ftürzte und die Begeifterten von 
Berfailles Freiheit und Gleichheit verfündigten und Rabaut de Gt. 
Etienne, den Protejtanten, zu ihrem Vorfigenden gemacht haben. 

Doch find diefe Martyrien, wie ſchaurig fie au, wie groß 
auch ihre Folgen waren, nur das leife verklingende Nachfpiel der 
graufamen Tragödie, weldhe Ludwig XIV., nachdem er fromm 
geworden, im ganzen Süden aufgeführt, und deren Kataftrophen 
fich meilt auf dem Peyrou, auf der Esplanade und in den Kerkern 
Montpellierd entwideln. Ich will hier nur an einen der größten 
Helden des ſüdfranzöſiſchen Proteftantismu3 erinnern, deſſen 
Muth, deffen Ausdauer, deſſen Leiden den Ruhm der Gefchichte 


Vierzehntes Kapitel. 317 


eben jo gut verdienen, ald irgend ein heilige? Martyrium, als 
irgend eine große That des Schwertes, de3 Wortes oder der 
Erfindung. 

Claude Brouffon war im Jahre 1647 zu Nimes geboren 
und wirkte in männlicher Jugend als Advokat bei ven Tribunalen 
von Caſtres und Zouloufe, al3 Vertheidiger der Unſchuld oder 
der menschlichen Verirrung. Als die einleitenden Vorfpiele zum 
Miderrufe des Ediktes von Nantes begannen, al3 endlich der 
Widerruf, begleitet von den Dragonaden und frommen Mord: 
thaten erfolgte, trat er vorzugsweiſe ald Anwalt der unterdrüdten 
Protejtanten auf. Sein Wort war mächtig. Da man fein Still: 
ſchweigen umſonſt mit glänzenden Sinefuren zu erlaufen ver: 
ſuchte, begann man, ihn zu plagen und zu verfolgen, und zwang 
ihn endlich zur Flucht. Da ging er, wie mander Märtyrer alter 
Zeiten, wie Clia3 und Chriftus, in die „Wüſte,“ d. i. in die 
Gebirge zu den Leidenden und Berfolgten und predigte allmädhtig. 
Die Regierung zitterte vor dem verjagten Advokaten, der nun 
zum Prieſter, zum Propheten geworden war. Man machte 
Jagd auf ihn, wie auf ein wildes Thier, und mie ein verfolgtes 
Wild juchte er Schuß und Zuflucht auf unwegſamen Hocalpen, 
in alten Höhlen und Grotten. Mehrmal wurde er auf feiner 
ewigen Flucht gezwungen, die Gränzen de3 Vaterlandes zu über: 
ichreiten, um einen Augenblid auf fremdem Boden aufzuathmen. 
Aber immer kehrte er wieder zurüd, immer mit demfelben Eifer 
für die Sache, die ihm heilig war, immer in viejelben Drang: 
fale und Gefahren zurüd. Im Jahre 1693 wurde ein Preis von 
fünfhundert Louis auf feinen Kopf geſetzt. Erſt im Jahre 1698, 
alſo jehr Eurz vor Ausbruch des Cevennenkrieges, wurde Claude 
Brouflon zu Dleron gefangen genommen und nad Montpellier 
gebracht. Als er das Blutgerüft beftieg, wurde das Wort, das 
er noch an das Volk richten wollte, durch achtzehn Trommler 
übertäubt. Wir wollen nicht die Hiftorifer feiner Partei, wir 
wollen auch nicht die Jeſuiten über ihn Sprechen laflen; wir 
wollen hören, wie ſich der Henker, der ihn vom Leben zum Tode 


318 Tagebuch und Languedoc aus Provence. 


brachte, über ihn ausdrüdt. Seine Worte find treu aufbewahrt 
worden, und fie lauten fo: 

„Ih babe mehr al3 zweihundert Verurtheilte hingerichtet, 
aber feiner hat mich je fo zittern gemacht, wie Herr Broufion. 
Als man ihn auf die Folter legte, waren der Kommiflär und die 
Richter bleiher und zitterten mehr als er, der betend feine 
Augen gen Himmel wandte. Wenn ich gefonnt hätte, ich wäre 
entflohen, um nicht einen fo trefflihen Mann tödten zu müſſen. 
Wenn ich reden dürfte, ich wüßte mancherlei Dinge über ihn zu 
jagen; gewiß, er ſtarb wie ein Heiliger.“ 

Aus diefer Ausfage des Henkers, den wir viel fieber als 
Geſchichtsquelle gelten laſſen, al3 den klaſſiſchen Bifchof Flechier, 
geht hervor, wie jehr die Henker des Statthalter3 von Languedoc, 
Herrn de Baville, jchon Jahre vor Ausbruch der Cevennen: 
unruhen befhäftigt waren. Diejer eine Henker hatte bereits im 
Yahre 1698 mehr als zweihundert Verurtheilte hingerichtet, und 
Herr Baville-Lamoignon hatte überall in feiner Statthalterei, 
in Nimes, in Beaucaire, in Beziers u. ſ. w. viele Henker, und 
all die Städte, ja, viele Heine Fleden erlebten fo jchaurige 
Scaufpiele wie Montpellier. Baville:-Lamoignon war ein jehr 
thätiger und feines Sultans würdiger Satrap. Er reiste viel 
in feiner Provinz umher und hinterließ überall gleihe Blut: 
ſpuren. In Nimes vermied ich es, fie aufzufuchen ; dort war ich 
froh, fie über den Antiken vergejjen zu können. Montpellier ift 
eine Stadt des Mittelalter, und Alles ladet bier ein, den 
Spuren der uns noch jo nahe liegenden Gejchichte nachzugehen. 
Die Gegenwart bietet wenig, was die faum achthundertjährige 
Vergangenheit vergefien machte. 

Auh vor der Weltgefchichte, der Weltrichterin, gibt es 
Perfönlichkeiten, die Glüd, over, wie die Franzoſen fagen, 
„de la chance“ haben. Zu diefen Begünftigten gehören un: 
itreitig Qudwig XIV. „ver Große” mit feinem Languedoker Statt: 
halter Baville-Lamoignon. Wenn man von graufamen Königen 
und graufamen Statthaltern fpricht, ift es hergebradht z. B. von 


Vierzehntes Kapitel. 319 


Philipp II. und Herzog Alba zu ſprechen. Doch lebten beide in 
einer Zeit, da zwei feindliche Brinzipe, deren eines fie vertraten, 
ſich gemwillermaßen zum erften Male und darum mit größerer 
Heftigkeit, mit Zanatismus, entgegentraten. Das ihnen feind: 
liche Prinzip war durch ein fernes, ihnen dur Eitte, Gewohnheit, 
Charakter, Anſchauungsweiſe und Blut vielfah fremdes Bolt 
vertreten, welches ſich noch dazu religiös und, politifch zugleich 
empörte. Philipp und Alba mit ihren ſchwarzen Armeen find 
von der Inquifition erzogen und getrieben, und ihre Jugend iſt 
von Auto-da:Fe3 groß genährt. Ihre Bildung ift um mehr als 
ein Jahrhundert jünger, ihr Blut um zehn Breitegrade heißer. 
Ludwig XIV. und BavilleLamoignon haben Port:Royal hinter 
jih, ein Volk, das bereitö Colbert, Vauban, Fenelon, Corneille, 
Racine, Moliere, Lafontaine hervorgebracht, um ſich; fie ftehen 
an der Wiege Voltaire's und Roufjeau’3 und hören jchon die 
Stimme Peter Bayle’3, des Vaters der Encyklopädie. Sie 
baben es mit Stammgenofjen, mit Kindern vejlelben Landes, 
mit Brüdern zu thun, mit loyalen Bürgern, die nichts wollen, 
als ihren Tempel befuhen, ihre Kleinen im felben Glauben er: 
ziehen, der ihnen durch Edikte, feierliche Cide und Friedens: 
ſchlüſſe als ungefährvet übermacht und zugefichert worden iſt. 
Die Beiden betämpfen eine Religionsgenoſſenſchaft, die dur 
Jahrhunderte im Sande einheimifh und jonft Niemand mehr 
anftößig ift, al3 dem Klerus, den bereits Pascal in jeiner 
Nadtheit dargeitellt hat. 1 Und doch begehen fie Thaten, vor 


Wir können nicht umhin, hier an einige Anekdoten zu erinnern, die 
für die Frömmigkeit Ludwigs und jeiner Zeit harakteriftifch find. 

Nah einer verlornen Schlaht rief der König entrüftet aus: Gott hat 
aljo vergeffen, was id) für ihn gethan habe. 

Zu Louvois, defjen Benehmen in den Religionsftreitigfeiten er billigte, 
fagte der König eines Tages: Ich weiß nicht, wie Ihnen Gott eines Tages 
Ihre Bemühungen anrehnen wird; was mid betrifft, ich werde fie 
gewiß nie vergefjen. Memoiren des Herzogs von Richelieu. 

Der Herzog von Orleans, als er 1506 zur italienifhen Armee abging,. 
wollte Augrand von Yontpertuis, einen luftigen Gejellen, der aber nicht im 


320 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


denen die Gräuel Alba’s in Belgien zu einer wahren Kleinigkeit 
zufammenfchrumpfen; und doch nennt man Ludwig XIV. nur, 
wenn von glänzenden Regenten die Rede ilt, und vergißt Baville— 
Lamoignon, wenn die blutigen Schlädhter ver Völker aufgezählt 
werben. Das ift das Glüd, die Chance in ver Weltgefchichte. 

Aber wir wollen auch nicht verjchweigen, mas Baville des 
Guten gethan hat; freilich werden wir zur Aufzählung feiner 
guten Thaten nicht vieler Worte bedürfen. Dieſen Peyrou, auf 
dem wir ftehen, hat er, nachdem er ihn mit dem edelſten Blute 
getränft und gefittet, zu dem gemacht, was er heute ijt: eine 
fchöne Terraffe, ein lieblicher Spaziergang, nachdem er ein ſtei— 
niger Hügel geweſen, und die Natur, die gütige, läßt hier Blumen 
und prächtige Bäume wachſen, hat ringsumber ftolze Gebirge 
aufgeftellt und hat in der Nähe das blaue Meer ausgegofien, um 
mit all diefer Pracht Banille-Lamoignon und die Geißeln und 
Leiden der Menjchheit vergeflen zu machen. 

Nah dem Tode Baville-Lamoignons und Ludwigs XIV. 
erhielt der PBeyrou einen neuen Schmud an dem Aquädufte, 
einem Theil der großen Waflerleitung, welche der Stadt Mont: 
pellier das füße Wafler der Quelle von St. Clement in einer 
Länge von beinahe 14,000 Meter zuführt. Der Theil vefjelben, 
welcher ven Peyrou mit der gegenüberliegenden, durch ein tiefes 
Thal getrennten Höhe verbindet, hat eine Länge won beinahe 
900 Meter. Er bejteht aus zwei Stodwerfen, die fih aus 53 
unteren und 183 oberen Bogen zufammenfegen. Er bietet einen 
prächtigen und ftolzen Anblid und endet am Chateau d'eau, 
einem jech3edigen, mit Forinthifchen Säulen und Basreliefs 


Dienfte war, mit fi nehmen. Der König, der e3 erfuhr, fragte feinen 
Neffen, warum er einen Janfeniften in feine Geſellſchaft ziehe? — Er ein 
Janjenift! fagte der Prinz. — Iſt er nicht, fragte der König wieder, der 
Sohn jener Närrin, die Arnaud nachlief? — Es ift mir unbelannt, ante 
wortete der Prinz, was feine Mutter war; aber, was den Sohn berrifft, jo 
weiß ih nit, ob er an Gott glaubt. — Ich bin alſo ſchlecht un’ errichtet, 
fagte der König naid und ließ Fontpertuis al3 einen für den Glauben uns 
gefährlihen Menſchen mit dem Herzog abreijen. Duclos’ Memoiren. 


Bierzehntes Kapitel. 321 


geihmüdten Baue, der ſich über dem Baſſin und jeinen Kaskaden 
ſchön empormwölbt. In der Mitte des Platzes, zwiichen dem Cha- 
teau d’eau und dem Triumphbogen, der in die Stadt führt, er: 
bebt fi eine folofjale Reiterjtatue. Wir wollen vergefien, dab 
fie Ludwig XIV. vorftellt, und fie wird mit all den Monu— 
menten in Mitten dieſer jchönen Natur ihre Wirkung nicht ver: 
fehlen. Vergeſſen wir überhaupt die Gejchichte und ihre Helven, 
wenn mir an einem jchönen Sommerabend bier lujtwandeln, 
vielleiht an der Seite einer jchönen Frau und eines lieben 
Freundes; borchen wir auf die Muſik, die unter den Bäumen 
erihallt, auf die Nachtigallenliever, die um die Wette aus dem 
Schatten der Palmenbäume, begeiftert von den 2otosblumen im 
botanifhen Garten, dort unten lieblih erklingen; jehen wir in 
die ſüdſchwarzen Augen Iuftwandelnvder Frauen und fpielenver 
Kinder; freuen wir ung mit dem dunkelblauen Meere, mit den 
purpurnen Abendwolfen, mit den glühenden Spiten der Ce: 
vennen. Die Sonne ſinkt; fiehe da! bevor fie verfanf, durch— 
leuchtete fie einen Wolkenriß und zeigte ung ein erhabenes Py— 
rendäenhaupt. Gute Naht, Spanien ! 


23. September 1851. 

Es wäre ungerecht, über Geſchichte und Natur die lebende 
Gegenwart, das Treiben, Fühlen und Denken rings um uns zu 
vergefien. Sehen wir uns im Montpellier von heute um; die 
Rejultate unjerer Unterfuhung werden, ich fage es mit Schmer;, 
nicht die tröftlichiten fein. 

Montpellier gehört, Dank feiner alten Univerfität und der 
Akademie, zu den gebildetiten Städten des ſüdlichen Frankreichs 
— und doch, meld einen niedrigen Grad der Bildung nimmt 
man bei näherer Betradhtung wahr! Die Profefjoren, unter 
denen einige böchitgebilvete, ſtehen mit ihren wiſſenſchaftlichen 
und Rulturbedürfniffen allein; die Studenten find „Kümmel: 
türlen”, die — eine allgemeine Krankheit des heutigen Frankreich — 
nichts Anders im Sinne haben, als ihre Garriere zu machen, fich 

Morig Hartmann, Werke. III. - 21 


322 Zagebud aus Languedoc und Provence. 


die Mittel und Titel de3 allergewöhnlichſten Brovderwerbes zu 
verichaffen, eine Neigung, die man in den legten Jahren leider 
auch im deutſchen Univerjitätäleben beobachtet haben will. Wenn 
doch ein junger Mann ausnahmsmweije eine höhere Bildungzjtufe 
erreicht, fann er e3 in feiner Vaterjtadt nicht lange aushalten 
und wandert nad Paris. Die Mädchen befommen eine befchräntte 
Klojtererziehung und bleiben ihr Lebenlang in der Gewalt der 
Plaffen, denen fie dann als Mütter wieder ihre Kinder hingeben. 
Die Geiitlihen haben eine um fo größere Gewalt, als fie in der 
That ein im katholiſchen Sinne ziemlich vormwurfsfreie3 Leben 
führen und, jelber ungebilvet und bloße Werkzeuge des höheren 
Klerus, an ihren Dogmen und Gelübden mit Aufrichtigkeit und 
Aufopferung hängen. Cine jo erzogene Gejellihaft it arm an 
gejelligem Stoff, und jo jteht denn auch die Gejelligteit auf 
ſchwachen Füßen. Für Künfte und Wiflenfchaften fann man ji 
und darf man fich kaum interefjiren — wovon foll man jprechen? 
womit die Abende ausfüllen ? was foll die Gemüther verbinden ? 
Die Frauen unterhalten ſich von ihren religiöfen Uebungen; die 
Männer, die das langweilt, obwohl jie e3 billigen, gehen in ihre 
Gercles. Dort kann es auch kaum zu politiihen Diskuſſionen 
fommen, da man nad politiichen Farben weit getrennt iſt. 
Eines der Haupthemmnifje der Gejelligleit bildet die Reli— 
gionsperfchiedenheit der Einwohner. Proteftantismus und Katho- 
lizismus bilden zwei ganz verjchievdene Welten in Montpellier, 
und der Klerus thut gewifienhaft das Seinige, um die trennende 
Kluft jo lange als möglich Haffend zu erhalten. Die äußere Bil- 
dung, der Lauf per Zeit, Interefien und Gewohnheit haben es 
zwar dahin gebracht, dab die beitehende Feindſeligkeit won ge- 
willen Zonventionellen Schleiern fanft vwerhüllt it. Aber im 
Grunde der Seele verabjcheuen die Katholiten den Ketzer, und 
fieht der Proteftant mit Stolz und einigem Hochmuth auf den 
blinden PBapiften herab. Der devote Katholik ift intolerant, der 
trodene Kalvinift ift fchroff und ſchwer verſöhnlich. Es geht dar— 
aus hervor, daß man, wie es gewöhnlich gefchieht, den Katholiten 


Vierzehntes Kapitel, 323 


Unreht thäte, wenn man ihnen allein die Urfache ver be: 
jtehenden Trennung in die Schuhe ſchieben wollte. Ich kenne 
manche Beilpiele der Zuvorfommenheit von katholischer und deren 
Zurüdmweijen von proteftantifcher Seite. Freilich find die Wunden 
der Protejtanten kaum vernarbt, und es ijt natürlich, daß fie 
ih jheuen, mit Denen in Berührung zu kommen, die fie ge: 
ichlagen haben. Um fo mehr, al3 noch der Stolz überftandener 
Leiden und bewieſener Ausdauer hinzulommt. Die Zatholijche 
Toleranz ift auch nicht groß; die Fatholiihen Frauen halten e3 
noch meijt für Sünde, mit den verirrten Schafen irgend eine 
Gemeinjchaft zu pflegen, oder ſich der Verjuhung, der Gefahr 
der Anſteckung auszufegen. Doch iſt man hier nicht fo fanatiſch 
wie in manchen anderen Städten de3 Südens, wie z. B. in 
Nimes. Wenigſtens hat ſich Montpellier bei keiner der Gelegen: 
heiten beſchmutzt, die andere Städte zu Ruchloſigkeiten verleitet 
haben. Weder die eriten Jahre der Revolution, noch die Reſtau— 
rationgzeit wurden benugt, um den alten Glaubengeifer blutig 
geltend zu machen, wie dieß in Nimes gejchehen ift, wo man 
Protejtantismus, Republitanismus und Bonapartismus ın Einen 
Topf zufammenmwarf und aus all Dem einen großen Vorwand 
zu Mord und Todtſchlag zufammenbraute. Die Montpellierenjer 
find im Grunde ein gutmüthiges Völfchen, und wenn ſich ihrer 
einmal die Bildung mit derjelben Gewalt zu bemädhtigen ver: 
ftände, wie e3 die Kirche und die Unbildung bisher verftanden 
haben — all die traurigen Ueberreite trauriger Zeit würden bald 
verſchwinden. An Geijtesanlagen fehlt es ihnen nicht; Beweis 
die Fugen und weiſen Männer, die es in neuer Zeit herworge: 
bracht hat, ganz zu ſchweigen von dem Glanze, mit dem e3 ſich 
durch mehrere Jahrhunderte al3 franzöfifhes Salerno umgeben. 
In Montpellier und Umgegend wurden geboren: Cambon, der 
Gründer de3 großen Buches; Bonnier d'Alco, eines der Opfer 
des ſchmählichen Geſandtenmordes von Raſtatt und Gefährte 
Jean Debrie'3; Cambaceres, Konful der Republik; Daru, der 
treffliche Geſchichtsſchreiber Venedigs und der Bretagne; Fabre, der 


324 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


brave Maler und Freund P. 2. Courrier's und noch viele andere 
treffliche Leute, die in Künſten und Wiſſenſchaften ausgezeichnet 
waren. Im vorigen Jahrhundert heben wir nur Paul Riquet 
hervor, ven großartigen Baumeijter und Ingenieur, ven Schöpfer 
des in feiner Art berrlichiten Werkes, des Kanals von Languedoc. 

Zur Zeit jcheint Montpellier allerdings feine großen Söhne, 
die Nahahmung und Naceiferung, die ſolche Mujterbilder er: 
regen jollten, die Mitarbeiterihaft am Ruhme des Vaterlandes 
vernachläfligt und vergeflen zu haben. Dan verkleinjtädtert mehr 
und mehr. Die Söhne der guten Gejellihaft werben, wie ge: 
fagt, zum bloßen Broderwerb oder zur Verzehrung angeerbter 
Renten erzogen. Die Töchter Fatholifher Herkunft werden bis 
in ihr fiebenzehntes oder achtzehntes Jahr in Klöfter geichloflen. 
Sobald fie das väterlihe Haus wieder betreten, ohne mehr ala 
das Nothoürftigite und viele Gebete gelernt zu haben, ſucht man 
fie von jedem männlihen Umgange, wahrhaft türkiſch, abzu- 
jchließen und dann jo ſchnell als möglich zu verheirathen. Die 
Heirath wird vermittelt Kuppelei oder in Folge elterlicher Ueber: 
einkunft geſchloſſen. Oft ift fie jahrelang vorher beftimmt. Den 
jungen Leuten wird an einem jchönen Morgen verkündet, daß fie 
ſich verheirathen werden — dann bringt man fie des Decorums 
wegen ein: oder zweimal zufammen — dann wird der Notar ge: 
holt und der Kontrakt wie bei jedem anderen Kaufe abgemacht. 
So kommen „anjtändige” Chen zufammen. Dem verheiratheten 
Manne erlaubt man, jein Glüd, wenn er es zufällig in einer 
ſolchen Ehe nicht finden jollte, auswärts und auf Nebenwegen 
zu ſuchen. Wenn fih aber, wie dieß vor nicht gar langer Zeit 
gejchehen ijt, die junge Frau in den eriten beften Mann, den fie 
nad ihrer Verheirathung fennen lernt, mit dem ganzen erſten 
Feuer verliebt, wahnjinnig wird und fich ins Waller ftürzt — 
jo nennt man das eben „Wahnfinn“. Glüdlicherweije kommt 
dergleichen jelten vor, da die jungen Mädchen jo unnatürlich ere 
jogen werben, daß zur Zeit ihrer Verheirathung fein natürliches 
Gefühl mehr Kraft genug bat, fo energijch hervorzubrechen. Das 


Vierzehntes Kapitel. 325 


Prinzip aber, das alle dieſe Zuftände beberricht, nennt man im 
frommen Eüden: Moralität. 

Aehnliches erzählt man mir und habe ich felbjt über die Mo: 
ralität der Landbewohner erfahren. Die Bauernmädchen find 
höchſt moralifh. Ein „Monsieur“ (d. i. Jeder, der nicht Bauer, 
Zagelöhner oder Duvrier ift) wird jelten oder nie Glück bei ihnen 
maden. Ihre Freuden bleiben en famille, und en famille 
ift man nicht geizig oder allzu jtreng gegen einander, Bei der 
Heirath aber fieht man ganz genau auf Vermögensumjtände und, 
ſehr arijtofratiih, auf Herkunft und Anfehen der Familie. 
Alles Andere ift mehr oder weniger Nebenfache. Die Ehe bringt 
jelten mehr al3 zwei Kinder hervor. Auch ijt die Bevölkerung 
vieler Fleden in der Abnahme. Die Curé's, die gegen jo Vieles, 
gegen Fleiſcheſſen am Freitag, gegen Tanzen am Eonntag zu 
predigen wiſſen, haben fein Wort gegen dieſen widerlichen, ſyſte— 
matilirten Malthufianismus, 

Das Volt von Montpellier hat mir immer den Eindruck der 
Gutmüthigfeit und Urfprünglichfeit gemacht, und in der That 
jcheint es ſich, was Charafter anbetrifitt, von ver Bevölkerung 
mancher jüdlicher Städte, von Avignon und Nimes zum Beilpiel, 
höchſt vwortheilhaft zu unterſcheiden. Auch die Gefchichte Ipricht 
im Vergleih mit den genannten Städten zu Montpellier Bor: 
theil. Alle Gräuelthaten, deren Schauplag Montpellier gemweien, 
find auf Rechnung ver jeweiligen Regierung zu ſchreiben. Das 
Bolt hat ſich dabei nicht betheiligt; im Gegentheil zeigt es uns 
die Geſchichte oft im heldenmüthigen Kampfe für das Gute, oder 
wenigſtens im würdigen Wivderftand dem Schlechten gegenüber, 
während Nimes und Avignon nicht jelten die Barbarei der Re: 
gierungen aufs Thätigjte unterftügten. Schon der vorherrichende 
Gejihtsausprud der Montpellierenfer legt für fie ein günſtiges 
Zeugniß ab und befräftigt das der Geſchichte. Er ijt voll Gut: 
mütbigfeit troß den glühenven, ſchwarzen Augen, trog dem 
dunfel gebräunten Teint, dem krauſen ſchwarzen Haar, und 
läßt für Momente vergeffen, daß die eigentliche Schönheit 


326 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


der Formen fehlt — ein Mangel, ver ſonſt im Süden auf: 
fallen müßte. Man iſt freundlih, zuvorkommend, bienitfertig, 
gaskogniſch-geſprächig, mit einem Worte: liebenswürdig und trotz 
dem Mangel an Bildung frei, ungezwungen, oft anmuthig in 
Benehmen und Bewegungen. Das Volt wird in dieſen Eigen: 
ſchaften noch unterftügt dur fein mohlflingendes Patois. Es 
rühmt fi, die Sprache Languedoc3 und der Provence am Schönften 
zu ſprechen, und ich glaube, man thäte ihm Unrecht, wenn man 
ihm diefen Ruhm ftreitig machen wollte. Wie in Italien, drüdt 
au im füdlichen Frankreich jede einzelne Stadt dem allgemeinen 
Idiom ihren eigenen Stempel auf, jo daß es dem geübten Obre 
nicht ſchwer wird, nach den erften Worten ven Marjeillefen, den 
Arlefen, den Avignonefen, den Nimois, den Montpellierenfer 
zu erfennen. Das Patois Marfeille'3 klingt etwas kindiſch, trotz 
der Mühe, die es fich gibt, wichtig und männlich zu thun; das 
von Arles iſt fofett; da3 von Avignon wild wie Avignons Be- 
wohner. Das pfeifende s ijt vorherrſchend, und man glaubt 
jeden Augenblid das sus! sus! zu hören, mit weldhem vie 
Avignoneſer Mörder fo oft auf ihre Opfer losſtürzten. Minder 
wild, doch noch ziemlich rauh ift das Patois der Nimois, aber 
melodiſch, bald weich, bald jtolz wie das Spanifche, Elingt Die 
Sprade Montpellierd. Ich war barbarifh und ungebildet genug, 
ſie mit viel größerer Freude zu hören als das Franzöſiſche. Cie 
it reih an volltönenden Vofalen und vermeidet, man möchte 
jagen mit Sorgfalt, die Anhäufung harter Mitlaute. In ver 
That wähnt man fih manchmal auf Momente in die Geſellſchaft 
ſtolz und elegant fprechender Hidalgo's verjegt, und die Illuſion 
wird durch die häufig wiederkehrenden Wörtchen el, las, es, 
durch viele vollflommen jpanifche Ausprüde, durd die vollen 
Sylben befonders der weiblichen Endungen auf a und as, ſowie 
dur die Konftruftion der Verfette und Imperfekte noch erhöht. 
Mehr oder weniger hat das Patois Montpelliers dieſe Cigen- 
ſchaften mit den Dialekten faft des ganzen Südens gemein, mas 
aber die Montpellierenfer vor den Anderen neben ver Weichheit 


Diergehnted Rapitel, 327 


ihres Dialektes auszeichnet, ijt die Ausipradhe und Anwendung 
des Heinen Wörtchend pecayre. 

Ich bin ebenfo wenig im Stande, eine Definition dieſes 
Wörtchens zu geben, als e3 jelbft ven beredteften Montpellieren: 
jern möglid war, mir feinen Sinn in flaren Worten begreiflich 
zu maden. „Pecayre* ijt eben „Pecayre!* Es überjegen 
oder auch nur jeinen Klang durd die Schrift wieder geben zu 
wollen, wäre vergeblihe Mühe. Die Betonung, die Art und 
Weiſe, wie es im Momente des Gebrauches in Mufik geſetzt, im 
Sate angebradt, mit dem Reſte der Rede gruppirt wird, wie 
e3 fich zu Frage, Antwort, Ausruf, Erzählung u. f. w. verhält, 
geben ihm erjt einen Sinn und den momentanen Charakter. Die 
Patoispoeten bedienen fich jeiner mit vielem Geſchick und Nutzen; 
beſonders graziös, lieblih, mufifaliih, überaus reizend aber 
tlingt e3 im Munde der Montpellierenjerin. E3 ijt zwar nod in 
vielen anderen Gegenden des Südens adoptirt, nirgends aber 
weiß man davon jo ſchön Gebrauch zu machen, mie im mweib: 
fihen Theile ver Bevölkerung von Montpellier. „Pecayre* ijt 
der Montpellierenjerin, was der Sevillanerin der Fächer und die 
Mantille find. Sie jagt Alles mit Hülfe des einen Wörtchens, 
jo wie diefe mit Hülfe der beiden Inſtrumente alle ihre Gefühle 
telegraphiſch ausprüdt. 

Man fagt zu der Montpellierenjerin: Willen Sie jhon, daß 
der brave Ariftive Olivier gefallen ijt? — Pecayre! ruft jie 
erihroden und jchlägt die Hände zufammen. — Was Sie fhöne 
ihwarze Augen haben. — Pecayr&! lädelt fie kolett. — hr 
armes Kind hat wohl viel gelitten in der legten Krankheit? — 
Pecayr&! antwortet fie mit einem Seufzer. — Aber wie blühen 
Sie find; man wäre verjucht, fih in Gie zu verlieben. — 
Pecayre&! antwortet fie jpöttifch. 

Aber am Beſten vrüdt das Volkslied die Mannigfaltigkeit des 
Wörtchens Pecayre aus. Es beginnt jo: 

Qu’&s poulit lou mot pecayre, 
Esprima ce qu’on pot senti. 


328 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Es un mot qu’es fact per vou playre 
On se rejouis de l’a oui. 

Pecayr& esprima la tendressa, 
Pecayre esprima lou desi, 

Pecayr& esprima la tristessa, 
Pecayr& esprima lou plesi. 


Mas deutſch ungefähr heißen will: 
D meld ein Schönes Wort, das Wort: Pecayre! — 
Was man nur fühlt, vermag es auszudrüden; 
Es ift ein Wort, gemacht, euch zu gefallen, 
Hört man e8 faum, muß es entzüden. 
Pecayre! rufen die verliebten Herzen! 
Pecayr&! ruft die ſehnſuchtsvolle Bruft, 
Pecayre! rufen Kummer, Gram und Schmerzen, 
Pecayr&! ruft das Glüd und ruft die Luft. 


Doch macht, troß der Schönheit des Patois, trogdem e3 aus⸗ 
drudsvoller, liebliher und kräftiger ift als die franzöſiſche Sprache, 
diefe immer größere Fortichritte und wird ſich mohl bald ver 
ganzen Bevölkerung bemächtigt haben. Schon hat ſich dieje daran 
gewöhnt, fie als die ausſchließlich offizielle und politifhe und als 
Ausprud der Bildung zu betrachten, und jelbft in der Kirche will 
das Volk nur die franzöfiihe Spradhe hören. Die Gebete, der 
Katehismus find franzöfiih, und der Cure muß franzöſiſch pre: 
digen, wenn er fein Auditorium nicht beleidigen will. Daß die 
Kenntniß der nordfranzöftiihen Sprache ihr Alter (wenigſtens in 
diefem Grade) nur erit nad Jahrzehnten zähle, beweist eine 
Anekdote, die jelbit die Montpellierenier mit Lächeln erzählen. 
Als der Herzog von Richelieu, der Don Juan des vorigen Jahr: 
bundert3, zum Gouverneur von Languedoc ernannt wurde und 
nah Montpellier, feiner Refivenz, fam, gab ihm zu Ehren die 
Frau irgend eines Präfiventen irgend eines Tribunals eine große 
Soiree. Die Dame fuhr jelbft von Haus zu Haus, um die ele- 
ganteften und gebilveiften Frauen der Stadt einzuladen, zugleich 
um ihnen einzujhärfen, für viefen Abend ihr beſtes Franzöſiſch 


Vierzehnted Kapitel. 329 


bervorzubolen, um der Stadt vor diefem elegantejten Manne des 
Hofes feine Schande zu machen. Die Damen thaten, wie ihnen 
. von ihrer Wirthin eingefhärft worden. Und doch! und doch! — 
o traurige Ueberraſchung! doch rief der Herzog von Richelieu um 
Ende der Soirée: Tiens! man hat mir immer gejagt, daß das 
Patois von Montpellier jo ſchwer zu verjtehen ift, und ich ver: 
ftehe fait Alles, was diefe Damen fagen, mit nur geringer An: 
ftrengung ! 

Im Jahre 1848 verfuchte man es, eine demofratijche Zei: 
tung, im Patois gejchrieben, herauszugeben, aber das Unter: 
nehmen fand feinen Anklang, während im Gegentheil das legi: 
timiftifhe Journal „L’Echo du Midi* und das demokratiſche 
„Le suffrage universel“*, beide franzöfifh, auf guten Füßen 
jtehben. Das letztere verdankt feine Popularität dem Geiſte 
und der frijhen Kraft jeines Mitbegründers, des jungen Arijtide 
Dlivier, der vor einigen Monaten im Duell mit einem Legiti: 
miften gefallen ift. Doc bat es wohl nicht mehr lange zu leben, 
da es bereit die Aufmerkjamfeit der Regierung auf fich gezogen, 
und dieſe die demokratiſchen Journale der Provinz noch mehr 
fürdtet, al3 die von Paris. Auch den hier beftehenden legitimi- 
ſtiſchen Journalen iſt fein langes Leben zu prophezeien; Louis 
Napoleon wird ihnen ſchwerlich dankbar dafür fein, daß fie feine 
Wahl unterftügt haben. Wenn der Coup d’etat eine Wahrheit 
wird, werden republifanifche, wie legitimiftiiche und orleaniftifche 
Zeitungen durch oftroyirte napoleoniſche gemaltjam erjegt werben. 
Der Redakteur der einen der legitimiftifchen Zeitungen, des Mes- 
sager du Midi, Herr Danjou, ift in vielfadher Beziehung ein 
mertwürdiger Mann. Daß er fürs fompletefte Mittelalter ſchwärmt 
und ſtark ultramontanijirt, wäre nicht auffallend — merkwürdig 
an biejem gebildeten Manne ift, daß er den lateinischen und 
griechiſchen Klaſſikern unverföhnlihen Haß geſchworen, und daß 
er Homer, Sophokles, Horaz u. j. w. in feinem kleinen, mweltwer: 
geſſenen Blatte mit erjtaunlicher Ausdauer den Krieg madt. Er 
ftellt fie ald die Urquellen der Freiheitsideen, al3 Verderber der 


330 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Jugend dar und will fie um jeden Preis aus den Schulen ge: 
morfen jehen. 1 Auf welche Weile Herr Danjou fie erfegen und 
welche andere, befiere Baſis ver Bildung er geben will, willen. 
wir nicht, aber wir müfjen ihm Gerechtigfeit wiverfahren lafjen: 
indem wir befennen, daß er tiefer fieht und gründlicher ift, als 
jeine ultramontanen Gefährten. Er jcheint zu willen, welches 
Unheil Chryfoloras und die beiden Laskaris angerichtet, und e3 
mag ihm aufgefallen fein, daß die Reformation die Zwillings— 
ſchweſter ver Renaiflance und mit ihr im jelben Momente ge: 
boren worden ijt. Diefer Gründlichkeit wegen, wie lächerlich fte 
uns aud) ericheint, Fann Herr Danjou mit feinem Heinen Blättchen 
doch gefährlich werden, obwohl viefes Blättchen ſonſt viel Un- 
praftiihes debitirt und ziemlich fchlecht gefchrieben iſt. Herr 
Danjou ift einer der beten Orgelipieler Frankreichs; ſchade, daß 
er ſich mit diefem Ruhme nicht begnügt bat. 


! Diefe Agitation Danjou’3 hat feitdem yrüchte getragen. Danjou 
ftarb 1866. 


— — — — — — 


Fünfzehntes Kapitel. 


Montpellier — Der botanijhe Garten — Herr Martind — Das Grab Narcifia 
Young’3 — Eine Pia Fraus — Die Univerfität und ihre Gründung — Ihre 
Geſchichte, ibr großer Ruf, ihre Berühmtheiten im Mittelalter — Der große 
Lacher — Rabelais und feine Späße, Rabelais und fein Zeitalter — Rabelais 
und Gerbantes — Robe de Rabelaid — Kultus des Genied — Profeſſor St. Rene 
Taillandier — Bie zu Montpellier Doktoren gemacht werden. 


25 Geptember 1851. 

Unfern vom Peyrou, in einer Vertiefung, liegt der botani- 
Ihe Garten, der zwar nicht jehr ausgedehnt, doch fehr reih an 
den feltenjten Pflanzen aller Zonen iſt. Beſonders ſchön find die 
Bäume, die in feinem Schooße gedeihen; man fieht herrliche 
Gremplare. Doc ift der botaniſche Garten von Montpellier nicht 
eine Ahnung von dem, was er fein könnte, da Lage und Klima 
ihn geeignet machen, alle derartigen Jnftitute Europa's meit zu 
übertreffen. Daß er nicht ift, was er fein könnte, daran ift nun 
wieder die unglüdjelige franzöfiiche Centralijation Schuld, deren 
traurige und auszehrende Wirkungen man immer und überall, 
in jedem Winkel des Landes fpürt. Was kümmern ſich die fran- 
zöfifchen Gentralifatoren darum, daß der Pariſer Jardin des 
Plantes nicht halb fo begünftigt und von Natur geeignet ijt, das 
Ideal eines folhen Inſtitutes darzujtellen — er liegt eben bei 
Paris, darum müfjen Sorgfalt, Mühe, Geld an ihn verſchwendet 
werden, während man die botanischen Gärten der Provinz ver: 
nadhläfligt oder eingeben läßt. Der botaniſche Garten von Mont: 
pellier könnte eine der ſchönſten Zierden, einer der Haupthebel 
der Wiflenichaft werden — aber warum gehört er einer Provin- 
zialjtadt, wenn auch der älteften und berühmteſten medizinijchen 


332 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


Schule Franfreih8 an? — da muß er jih denn mit einigen 
taufend Francs begnügen, welche die Gentralijation die Güte 
bat, zu feinem Unterhalt auszujegen. Ohne die gütige Sonne 
des Südens wäre er mit diefem elenden Almojen vielleicht längjt 
eingegangen. Herr Martins, ein jtrebjamer, geiftreicher, junger 
Gelehrter, der vor Kurzem zum Direftor des Garten? ernannt 
worden ijt, wird mohl das Seinige thun, die Ehre des uralten 
Inftitut3, troß der Ungunjt der Verhältniffe, aufrecht zu erhals 
ten, vielleicht zu erhöhen. Ein Mann, der von Goethe’jchem 
Geifte jo erfüllt ift, mie Herr Martins, fann da nicht müßig 
bleiben, wo die Natur hülfreihe Hand leiftet, und muß das 
Ueberfommene, allen Hinderniffen zum Trog, zu erweitern und 
zu einem Ziele zu führen verjucht fein. 

Eine biftorifhe Merkwürdigkeit in diefem botanischen Garten 
itellt ein einfaches gemölbte® Gemäuer dar, das, von alten 
Bäumen düjter bejchattet, in der Erbe jtedt, und das mit ſchau— 
rigem Tone dem Wanderer ein siste viator! entgegenruft. Es 
iit das Grabmal Narcifja’3, der Tochter Young's, des Dichter3 
der „Nachtgedanken.“ Young fam mit jeinem franfen Liebling 
nad Montpellier, um in der linden Quft des Südens für die 
binfchwindenden Zungen Heilung zu juchen. Umſonſt. Narciſſa 
ftarb, und da fie al3 Kegerin in jener Zeit zu Montpellier fein 
ehrliches Begräbniß finden fonnte, trug fie der Dichter bei Nacht 
und Nebel in feinen Armen auf den neutralen Boden der Natur: 
wiſſenſchaft, die ebenſo wenig von Katholizismus weiß, wie von 
Anglifanismus, um fie da zu verſcharren und mit ihren Atomen 
Roſe und Lotos zu nähren. Die Inſchrift auf ihrem Grabe 
„Placandis Nareissae Manibus* rührt von Talma ber. Als 
diejer Künjtler nah Montpellier fam, war es protejtantifchen 
Gräbern bereitö gegönnt, ein Epitaph zu tragen, und Talma, 
gerührt von der Geihichte, dem Tod und dem Begräbniß Nar: 
ciſſa's, erfand, vor ihrem Grabe jtehend, das Epitapb und lieb 
es binjegen. So weit die Sage, die den Fremden intereflirt. 
Aber glaubwürdige Leute verficherten mich, dab Narcifja nie und 


Funfzehntes Kapitel. 333 


nimmer bier im botanijhen Garten geruht habe. Young trug 
die traurige Lajt weit hinaus und vergrub fie auf irgend einem 
Aderfelve. Die Tradition von dieſer Begebenheit hatte ſich er: 
halten, und zu Anfang dieſes Jahrhunvert3 hat fie ein Direktor 
des botanifhen Gartens benugt, um dem fchlecht bejolveten 
Wächter deſſelben, der viele Kinder hatte, ein gutes Einfommen 
zu verfchaffen. Er lieb das unbedeutende Gemäuer aufführen, 
taufte es Narciſſa's Grab und fagte zum Wächter: Nun ziehe den 
reifenden Engländern fo viel Shillinge als möglih aus der 
Taſche, was denn die Wächter des botaniſchen Gartens bi3 auf 
ven heutigen Tag gewillenhaft befolgt haben jollen und wohl 
noch lange befolgen werden. Wenn ich ihren Einkünften dur 
dieſe Enthüllung ſchade, thut e3 mir herzlich leid. Aber Wahr: 
beit vor Allem, oder jedenfalls die Skepſis. Hat man doch die 
Authentizität heiligerer Gräber und hiftorifcherer Perſonen an: 
gezmeifelt. 

Zweckmäßig nahe dem botaniihen Garten liegt die medizi- 
niihe Schule, jenes Inftitut, welches der Stadt durch Jahr— 
hunderte über die Erde tönenden Ruhm gegeben und ihr den 
Namen des franzöfiihen Salerno verſchaffte. Sie wurde bereits 
im elften Jahrhundert von den Schülern des Arabers Ebn-Sayn, 
auch Avicenna genannt, gejtiftet, welche im zwölften Jahrhundert 
die Jünger des Averroes von Cordoba zu Nachfolgern hatten. 
Zu einer eigentlichen Univerfität erhoben und mit den Fakultäten 
des Rechts, der Theologie und der ſchönen Künſte verbunden 
wurde fie erft im 13. Jahrhundert. In dieſer Epoche erhielt fie 
auch ihre eriten Regeln und Geſetze, die vom heiligen Stuhle 
ausgingen und vom Kardinal Konrad diktirt wurden. Ungefähr 
gleichzeitig mit Montpellier erhielten die Städte Toulouje, Air, 
Bordeaur, Balence, Cahors, Poitierd und Bourges hohe Schu: 
len, und allen viefen Stiftungen lagen viefelben Motive zu 
Grunde, und alle gingen fie von der Kirche aus, Nicht daß fie 
Merk: und Uebungsftätten des Geijtes hätte gründen, Forjchen 
und Willen hätte begünftigen mwollen — Solches von ihr 


334 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


vorausfegen, hieße ihr schwer Unrecht thun und ihr ganzes Weſen 
verfennen. Im Gegentheil jollten die Univerjitäten Feſtungen 
werden, in denen der Geiſt eingejperrt, in denen er mit Leichtig— 
feit überwacht werden follte. Die Univerfitäten gehören mit zu 
den jinnreichiten Erfindungen der Geiftlichkeit. Der Geiſt, wel— 
cher in Geftalt von unzähligen Troubadours frei, ungebunden 
den ganzen Süden durchzog, von Lorbeerbüfchen beihattet ein 
ſüßes Kindlein mit der Poeſie des Ketzerthums erzeugt hat und 
dieje3 Kind der Liebe mit feinen verführeriihen Augen in Hütten 
und Schlöſſer einführte — diejer gefährliche, antipapijtiiche, kecke 
Geijt mußte in Ketten und Schnüritiefel geftedt und von tonſu— 
rirten Mönchen bewacht werden, wenn er, nad dem Falle von 
Zoulouje, nicht noch einmal furchtbar drohend, allen Montfort3 
zum Trotz, eritehen ſollte. Da nun die Kegerei im Blute erftidt 
und mit ihr die Troubadourpoefie gejtorben war, mußte man 
alles Denken und Fühlen des phantajievollen, Teihtbeweglichen 
Süpländers in einzelne Refervoirs leiten, die leicht zu bewachen 
waren, und folche Refervoir3 waren die neuen Univerfitäten. Die 
Theologie jpielte natürlich die erite Geige; die Gründung wurde 
durch päpitlihe Bullen geheiligt; die Mehrzahl der Profeſſoren 
trug die Tonſur; die Biihöfe waren die Aufjeher und Richter; 
die Legaten gaben die Gejege. So überwucherte das fanonifche 
Recht das weltliche; jo wurde die Philojophie zur Kafuiftit und 
Scholaſtik, und fo durfte die widerſpänſtigſte Schußbefohlene der 
Kirche, die Naturwilfenichaft, mit offenen Augen nicht ſehen, mit 
offenen Ohren nicht hören. Gewiſſe Freiheiten, die man der 
Univerfität dem Bürger gegenüber einräumte und die, wie 3. B. 
in Zoulouje, zu Mord und Todtſchlag führten, ließen die Stla- 
verei der Kirche gegenüber vergefjen. 

Uber trog der durchdachten Anlage des Planes, troß der 
Uebergewalt und Vormundſchaft der Kirche, ließ ſich die allmäd; 
tige Naturwifienfchaft, ließ ſich der einmal befreite Geijt die Luft 
an Forjchen und Denken nicht ganz unterdrüden. Die Autorität 
de3 Xelteren bezwang in Montpellier die auferlegte Herrichaft 


Yünfzehntes Kapitel. 335 


der Kirche, die Naturwiſſenſchaft trieb im vierzehnten Jahr: 
hundert neue Blüthen und erwarb der Stadt jenen großen Ruhm, 
den jie durch die folgenden Jahrhunderte zu bewahren mußte, 
und der die bebeutendften Geiſter aus Nähe und Ferne anzog. 
Blaife Armengaud übertrug ſchon gegen Ende des dreizehnten 
Jahrhunderts die Errungenjchaften der forfchenvden Araber auf 
hrijtlihen Boden und überjegte den Avicenna aus dem Arabi— 
ſchen ins Lateinifhe. Bernhard von Gordon erwarb durd fein 
Lilium Medieinae großen Ruhm; ebenfo Guido von Chauliac 
durd) jein Inventarium seu colleetorium in parte chirurgi- 
cali seu medieinae; Arnold von Ville-neuve ift einer jener 
wandernden Lehrer, die im Mittelalter von Schule zu Schule 
zogen und den Samen der Wiſſenſchaft ausftreuten. Er lehrte 
zu Montpellier, Paris, Rom, Cordoba, — Diefe und nod 
viele andere Meifter thaten in Montpellier das Jhrige, um die 
Naturwiſſenſchaft groß zu ziehen, ihr durch das Mittelalter 
hindurch das Leben zu friften, bis fie, am jechszehnten Yahr: 
hundert angelangt, mit dem wiedergeborenen Griechenthbum ver: 
einigt, die Welt vom Alp befreite, der jeit der Völkerwanderung . 
auf ihr gelajtet hatte. 

Nicht viel beſſer erging es der Kirche mit ihrer zweiten Zieh: 
tochter, der Jurisprudenz. Die Medizin, wie jehr fie auch im 
Geheimen und unbewußt die Dogmen unterwühlte, fonnte doc) 
lange al3 ein Ausfluß der göttlihen Gewalt „quia Altissimus 
cereavit de terra medieinam“ dargejtellt werden, und fie lie 
fich diefe Darftellung gefallen. Die Jurisprudenz ſchloß fich ihrer 
Natur nah bald an die mweltlihe Gewalt an, und überall, wo 
da3 Imperium mit der Ecelesia in Streit gerieth, ftellte fie 
ih auf Seite des erfteren. Juſtinian und die Inſtitutiones 
galten ihr mehr al3 die Kirchenväter und Konzilienbefchlüffe, und 
io fehen wir fie in Montpellier ſchon zu Anfang des vierzehnten 
Jahrhunderts in Geitalt de3 berühmten Nogaret, des Ohrfeigen: 
austheilers, ald Bundesgenofjin Philipps des Schönen, i. e. der 
mwiderftrebenden Weltlichleit auftreten. Noch herrichte der auf: 


336 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


rübrerifche Geift Nogaret’3 in Montpellier, al3 dajelbit Francesco 
PVetrarca ankam, nachdem er ſchon in Stalien Retorica, Dia- 
lettica und Grammatica ſtudirt hatte, denn es war „in quell” 
eta comun giudizio che lo studio delle leggi fosse mezzo 
efficacissimo per conseguire fortune ed onori. Per la qual 
cosa a Monpellieri il se fe tosto condurre.“ Jung wie er 
war, leicht entzündlih und treu aushaltend, jog er bald die ver- 
verblihen Lehren der Verräther ein, die ſich die Kirche erzogen 
hatte, wurde zum Bolitifer, lernte den Unterſchied zwijchen Recht 
und Dogma, Himmel und Erde kennen, und der Freund der 
Päpfte und Karvinäle, der Dichter, der jeine Lorbeerkrone dem 
heiligen Petrus anbot, wurde der Advokat des römischen Volkes, 
freute fih im Grunde über den Aufſtand Cola Rienzi's, forderte 
die LTügelburger auf, das Imperium wieder berzuftellen — 
wurde, mit einem Worte: ein Ghibelline. Der Art mißrathene 
Söhne hat fi die jo kluge Kirhe in den von ihr erfundenen 
Zwingburgen de3 Geijtes, von Prag bis Montpellier und weiter, 
lange vor dem ganz und gar burchlegerten ſechszehnten Jahr: 
hundert gezogen. Welch ein Troft! 


Der große Lader. 


Allerlei Gejtalten, Bilder und Gedanken durchziehen ven 
Kopf, wenn man fih in dem alten bifhöflihen Gebäude zu 
Montpellier, vem Site der medizinischen Schule, ergeht und die 
unzähligen Bortrait3 alter Lehrer und Zierven der Wiflenfchaft 
betrachtet, die alle Wände ber weiten und vielen Säle beveden. 
Auch etwas patriotiihen Stolz fühlt man, wenn man im Haupt: 
ſaale die germaniihen Namen Haller, Wolff, Zimmermann ıc. 
entdedt. Aber recht wohl und glüdlih und heiter wird Einem 
erit zu Muthe, wenn man bort jenem Montpellierenfer Profeſſor 
Namens Alcofribas Nafier, auch Meiſter Spötter oder Rabbi 


Fünfzehntes Kapitel. 337 


Ley, auch Francois Rabelais genannt, in die Augen fiebt. Man 
bat einen jener franzöfifchen Geifter vor fih, der neben ven 
Beiten, Freieiten aller Nationen genannt werden kann. Rabelais! 
Wie ein Janus fteht er zwifchen zwei Zeiten, aber nach beiven 
Seiten hin blidt er mit weißen Zähnen lächelnd; rüdwärt3 auf 
den fterbenden, ungeſchlachten Gargantua, vorwärts nach Pan: 
tagruel, dem Menfchheitsbeglüder, dem guten Manne, der alle 
Dürftenden zum labenden Kelche des Lebens, des Wiſſens und 
Geniebens ladet. Gieht man e3 ihm nit an, daß der früh: 
zeitig von Mönchen verfolgt werden mußte? — dab er lachend 
aus dem Kerker trat? lachend ein Lebenlang zwiſchen Scheiter: 
haufen, die ihn rings umdrohten, hindurchſchlüpfte? Daß er 
lachend half, heilte und erhabenfte Wahrheiten ausſprach? Daß 
er endlich lachend ftarb und ladhend am Ende rief: Tirez le 
rideau, la farce est jouge!? Das ganze Leben Rabelais', der 
ganze Rabelais felbft ift nichts als ein einziges großes Laden, 
ein freudiges Lachen, ein prophetiiches Lachen, welches das ganze 
ſechszehnte Jahrhundert durchtönt; ein Lachen aus Freude über 
den Untergang der Nacht, über den lieblich aufgehenven Tag, 
über die neuentvedte Welt im Welten; über das neugeborene 
Griehenthum und feine Zwillingsichwefter, die Schönheit; über 
die Kunjt und die Naturkenntniß, die fich vereint erheben, das 
alte Dunkel aufzullären; über den großen, herrlichen Kampf, 
ven die Reformatoren in allen Ländern kämpften. Le rire est 
le propre de Phomme! ſagte er am Krankenbette im Hofpital 
und am Krankenbette ver Menſchheit. Man kann den Vorfteher 
des Hofpitals von Lyon nur ſchwer von jenem Rabelais trennen, 
der in feinen Büchern der ganzen Menfchheit angehört. Was er 
in jener Eigenjhaft jagt, gilt auch vom Dichter des Pantagruel, 
vom Erfinder des Bantagruelismus: Minoisdu medecin chagrin, 
tetrique, rebarbatif, catoman, mal-plaisant, malcontent, 
severe, réchigné contriste le malade; et du medeein la 
face joyeuse, sereine, gracieuse, ouverte, plaisante rejouit 
le malade, Cela est tout Eprouv& et tout certain. 
Morig Hartmann, Werke. I. 22 


338 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Hat er fich nicht felbit gemalt, wie er dort von der Wand 
herab, wie er überall aus jeinem Buche, aus feinen tollen und 
doch jo beveutungsvollen Geſchichten hervorblidt? Rabelais, der 
mit Lachen heilende Arzt, ift der Humoriſt par excellence. 
Hoch oben ſchwebt er über dem gewaltigen Schlachtfeld, welches 
man das jech3zehnte Jahrhundert nennt, und wie eine Sonne 
lächelt er herab auf die Kämpfenden. Da unten fämpfen Ber: 
gangenheit und Gegenwart, Kirche und Tempel, Dogma und 
Wahrheit, Zerrbild und Schönheit; da unten kämpfen oder rüften 
fih Klemens, Karl V., Franz I., Heinrih VIII., Luther, Hutten, 
Reuchlin, die Mediceer, Mafaccio, Leonardo, die Flüchtlinge 
aus Hella3; Raphael eriteht, Michel Angelo erhebt feinen Hammer, 
Cervantes und Shakeſpeare liegen in der Wiege, und Gutten- 
berg hat jchon alle Waffen geſchmiedet, und der unendliche Ozean 
ift fein Geheimniß mehr, und die Erde bewegt ſich doch, und 
die firhlihen Schöpfungstage find Lügen geftraft. Rabelais 
fieht, weiß, ahnt das Alles. Kennt er nicht die Griechen jo gut 
wie fein Freund Bude? ift er nicht Arzt, der die Geheimnifle 
der Pflanzen und Thiere erforfcht hat? hat er auf den Thürmen 
von Lyon nicht den Gang der Geftirne belaufcht? hat er nicht 

mit Luft in den Werkſtätten feines Freundes Dolet den Preßbengel 
fnarren gehört und ihm gerne als niederer Korrektor gedient? 
ift er nicht ein Freund aller Neformatoren? wie follten ihm 
Augen und Ohren fehlen für Alles, was neu auftaucht, geboren 
wird und der Welt eine neue, ſchöne Zeit verſpricht? wie jollte 
er nicht aus ganzem vollem Herzen lachen und wieder laden und 
noch laden? Rabelais ijt die vollendete und volltommenite Ber: 
fonifizirung des jhönften Theile jeiner Zeit; — fein Brudjitüd: 
menſch, jondern einer jener Punkte in der Weltgefchichte, in welcher 
alle jhönften Strahlen einer ganzen, großen Epoche zujammen: 
laufen und ſich zu einem Fokus fammeln, der dann meiter 
leuchtet durd) Jahrhunderte. Wenn Alles zu Grunde ginge, mas 
von den Thaten und dem Etreben des jehszehnten Jahrhunderts, 
vielleicht des größten der neuen Aera, zeugt, und nur Rabelais 


Fünfzehntes Kapitel. 339 


übrig bliebe: aus feinen Späßen könnte man fich das Verlorene 
rekonſtruiren. Und das jtellt ihn uns größer dar, als den größe: 
ren Künftler Cervantes, feinen jüngeren Bruder, der mit ihm 
fo viel Aehnliches hat. Vergeſſen wir e3 nicht, daß ſchon Rabe: 
lai3 mit feiner Chronif von Gargantua denjelben Zmwed vor 
Augen hatte, wie Gervantes mit feinem Ingenioso Hidalgo 
Don Quijote. Auch Rabelais zog mit feiner Chronik gegen den 
unter Franz I., dem „ritterlihen König“, neuerwachten Ritter: 
thumsunfinn und damit zugleich gegen das Gelpenftifche, nicht 
mehr Lebenswürbige, gegen das Alte zu Felde, indem er es 
verlachte. Später freilich gab er feiner Idee eine größere Aus: 
dehnung und fügte an die alte, todte die neue, lebensfreudige 
Welt des Pantagruelismus — ein rüdwärt3 und vorwärts ge: 
fehrter Prophet; ein Todtengräber und Schöpfer. 

Wir müflen fie lieben, diefe Montpellierenfer Hochſchule, 
weil fie ihn als Schüler und Lehrer geſehen, weil fie ſchnell jei- 
nen ganzen Werth zu würdigen verjtanden und noch heute fein 
Angedenten mit Frömmigkeit bewahrt. Es war ein großer Tag 
für fie, da der alte Student Francois Rabelais, vom Durft nad 
Wiſſen getrieben, feinen Einzug hielt in Montpellier. Die Menge 
drängte ſich eben in den großen Univerfitätjaal, um einer öffent: 
lihen Disputation beizumohnen. Rabelais, nod in Reijekleidern, 
folgt ihr und fteht befcheiden im Gebränge der Laien und horcht 
aufmerkſam den meifen Worten der gelehrten Doktoren. Nah 
und nach aber wird ihm jonderbar und weh zu Muthe, denn er 
merkte, daß er über den Gegenftand, der eben diskutirt wird, 
über medizinifche. Botanik, Beflered und Wahreres zu fagen 
wüßte, al3 die gelehrten Doktoren in ihren breiten Roben. Allein 
als Laie und bloßer Zuhörer im Gebränge des profanen Bulgus, 
als bloßer, wenn aud) vierzigjähriger Schüler, ohne Baccalaureats: 
oder Doktortitel, ift es ihm nicht erlaubt, au nur ein Wörtchen 
feiner Weisheit vorzubringen, oder ſich als Disputator zu 
melden. Es drüdt ihn, es quält ihn, Er beginnt die furdt- 
barften Grimafjen zu ſchneiden, er zudt die Achjeln, er ſchüttelt 


340 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


den Kopf, er fletſcht die Zähne, er fchlägt die Bruft, er hält 
fih den Leib, denn die falſchen Thejen und Hypotheſen jcheinen 
ihm Bauchgrimmen zu verurfadhen. Aller Blide richten ſich auf 
ven fonderbaren Klerikus, der feinen falihen Satz, fein faljches 
Citat, feinen grammatifaliihen Schniger vertragen kann. End: 
lich bemerkt ihn auch der Präfes, und wie er ihm ins Gefidht 
fieht, vergißt er die afademijche Regel und ladet ven Laien ein, 
doc vorzutreten und fich zu erleichtern. Rabelais tritt vor. So: 
gleich verändert fich fein ganzes Weſen. Ein hoher Ernjt leuchtet 
von feiner Stine; fein Auge glänzt; feine edle Haltung gebietet 
Allen, die ihn mit Lächeln haben in die Schranken treten fehen, 
plöglih Achtung und Aufmerkſamkeit. Mit anmuthiger Würde 
entſchuldigt er zuerjt feine Kühnheit, daß er, ein einfacher Schü- 
ler, es wage, an jo gelehrten Disputationen Theil zu nehmen ; 
dann ftürzt er mit Eins mitten in die Fragen und löſt eine nad) 
der andern auf das Giegreichite. Ungeheurer Applaus bricht aus, 
die Fakultät ift entzüdt und läßt ihm dieſe Disputation als 
Baccalaureat3eramen gelten; Volk und Schüler führen ihn im 
Triumph nad) feiner Herberge. Vier Wochen verfließen, und ſchon 
fteht der Schüler ald Lehrer auf der Kanzel und erklärt die Apho: 
rismen de3 Hippofrates und erläutert die ars parva des Galenus, 
die er, mit dem griehiihen Manuffript in der Hand, von den 
zahlreichen Verftößen der Ueberjeger befreit und in urfprünglicher 
Reinheit herftellt. Bald gehörten ihm die ganze Univerfität und 
die Herzen aller Schüler, die er mit Heiterkeit beherrſchte. Der 
Herr Profeſſor, der die ars parva des Galenus dozirte und unter 
allen Profefjoren das größte Auditorium hatte, verſchmähte e3 
nicht, Komödien zu machen und in ihnen, 'troß der Tonfur, die 
er aus dem Klojter mitgebracht, felbit zu fpielen. Seine „mora: 
liche Komödie von dem Manne, der ein ftummes Weib geheirathet 
hatte,” in welcher er ſich über die Aerzte luftig macht und bie 
von Moliere in feinem „Medeein malgré lui* nachgeahmt 
worden ijt, rührt aus der erften Zeit, da fich der arme Mönch, 
der halb und halb aus der Kutte gejprungen, mit aller Lebensluſt 


Fünfzehntes Kapitel. 341 


ins Studententhbum geworfen. Er fpielte mit Studenten, von 
denen mehrere berühmt geworden jind, 3. B. Wilhelm Rondelet, 
der im Bantagruel vorkömmt, und der der Naturwiflenichaft große 
Dienfte geleiftet, und Antonius Saporta, der fpäter eines ver 
Lichter der Fakultät geworden. E3 muß ein ſchönes Leben gewefen 
jein auf diefer Univerfität, da fie jo Hug war, auf Rabelais'⸗ 
ſchen Humor einzugehen, und gelehrte Leute fich nicht jcheuten, 
in einer Komöbdie aufzutreten, in welcher die Unzulänglichfeit oder 
die Charlatangfeite ihrer Wiſſenſchaft durchgehechelt wurde. Ob 
das jemal3 auf einer deutſchen Univerfität möglich geweſen ijt 
oder möglich fein wird? Was Montpellier betrifft, fo hat Rabe: 
lais durch feinen Humor dort nicht an Achtung verloren, im 
Gegentheil fcheint fein Anfehen ſehr fchnell gewachſen zu fein. 
Dafür fpricht wenigftens der Umftand, dab er ſchon im eriten 
Fahre feines Aufenthaltes von der Univerfität mit einer für dieje 
wichtigen Miffion nad Paris betraut wurde. Duprat, der Kanz: 
ler Franz’ I., wahrfcheinlih von der Parifer Univerfität gegen 
die von Mons puellarum aufgereizt, wollte ver legteren gegen 
alles Recht einen großen Theil ihres Eigenthums und ihrer Ein: 
fünfte fonfisziren. Die Kalamität zu Nichte zu machen wurde ber 
Baccalaureus Franeiscus Rabelaesus an den Kanzler abge 
ordnet. Der Weg von Montpellier nach Paris war bald zurüd- 
gelegt; ſchwerer war e3, vom Hausthor des Kanzlers in fein Ge: 
mac) vorzudbringen. Es war dem Abgeordneten der alma mater 
von Montpellier nicht möglich, eine Audienz beim Kanzler zu ers 
langen. Sein Humor half ihm auch da aus der Verlegenheit. — 

Plöglich erfcheint er aufs Tollfte aufgepugt vor dem Palaſt 
Duprat’3. Er trägt einen weiten, grünen Raftan, eine hohe ar: 
meniſche Müge, herabfallende Strümpfe, ein ungeheures Tinten: 
faß im Gürtel, eine noch ungeheuerlichere Brille auf der Naje, mit 
einem Worte, er fieht jo aus, wie er jpäter einmal feinen liebens— 
würdigen Panurg auftreten läßt. Bald fammelt ſich eine unge: 
beure Menjhenmenge um den tollen Armenier, der fie mit den 
komiſcheſten Witzen unterhält. Endlich erfcheint auch der Kanzler 


342 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


am Fenſter, und wie er den Zufammenlauf und die tolle Erfchei- 
nung in Mitten ver Menge bemerkt, ſchickt er einen Pagen ab, 
daß er fih nad den näheren Umſtänden erkundige. Rabelais 
antwortet diefem auf die Frage, wer er jei: ich bin der große 
Kalbſchlächter. Das fcheint dem Kanzler böchjt fonverbar, und er 
Ihidt den Pagen mit neuen Fragen ab. Dießmal antwortet 
Rabelais lateiniſch. Der Page holt einen aufmwartenden Edelmann, 
der lateinifch verjtehbt. Der Edelmann fommt, Rabelai3 antwor: 
tet griebiih. Man holt einen Griehen, Rabelais antwortet 
ſpaniſch. Man läßt fchnell einen Edelmann fommen, ver jpanifch 
verfteht, dießmal bedient ſich Rabelai3 ver englifhen Sprace, 
und dann ſpricht er deutih, dann italienisch, dann endlich 
bebräifh, vor jedem Dolmetſch in einer Sprade, die einen 
anderen nothwendig macht. Der Kanzler ift erftaunt, und va er 
gerne für einen Freund gelehrter Leute gilt, läßt er Rabelais zu 
fh herauffommen. Der Zweck des Gejandten von Montpellier 
und feines Spaßes ijt erreicht; dießmal fpricht er franzöfifch, und 
er fpricht es mit fo viel Geift, mit fo viel Anmuth, daß ver 
Kanzler Duprat Alles bewilligt, was er von ihm verlangt. Sieg: 
reich kehrt er nach Montpellier zurüd. 

Aber man würde nicht fertig, wenn man auf die ganze 
Odyſſee des Rabelais'ſchen Lebens und feiner Einzelnheiten ein- 
gehen wollte, von vem Momente an, da er die Trinkftube ſeines 
Vaters verläßt, oder mit bewaffneter Hand aus dem Kloſterkerker 
befreit wird, bis er auf feinem Todtenbette zu Meudon den le: 
ten Wig macht. Glaubft du, fragt ihn der Geiftlihe, der ihn für 
den Himmel ausrüftet und ihm die Oblate vorhält, glaubit du, 
dab bier Jeſus Chriftus in Perfon gegenwärtig ift? — ®ie 
jollte ich nicht? antwortete der Luftige Cur& von Meudon, wähne 
ih ihn doch zu fehen, wie er in Serufalem einzieht von einem 
Ejel getragen! Eine der ſchönſten Epifoden diejes langen, reichen 
und bewegten Lebens ift wohl die Reife, die Rabelais mit feinen 
liebiten Schülern und Freunden auf kleinem Kahne von Mont: 
pellier nach ven Hyeriſchen Infeln macht, und der er in ſpätem 


Fünfzehntes Kapitel. 343 


Alter noch mit bejonderer Luſt gedenkt. Das wäre ein Etoff, 
würdig, von einem Dichter geftaltet zu werben. 

Aber die Kerze ift herabgebrannt, vie Bäume des Peyrou 
beginnen im Morgenwinde zu flüftern, für mic eine Mahnung, 
daß ich mich nicht tiefer auf Rabelais einlaflen darf — fürmwahr, 
ich wüßte nicht, wo zu enden. Nichts mehr von ven Hoffnungen, 
die Calvin auf Rabelais gebaut, und die der trodene Inquiſitor 
aufgegeben, va er in das ’lachende Geficht gefehen, das nicht zu: 
fammenpaßte mit dem Scheiterhaufen, auf dem Servetus ver: 
brannte; nicht3 mehr von Rabelais’ Reifen nah Rom und feinen 
Geſandtſchaften; nichts von feinen Unterhandlungen mit Päpften 
und Königen und nichts von feiner Wiederermedung de3 alten, 
klaſſiſchen Garums, das die Epikureer Roms entzücdt hat und 
neuerdings von Clement Marot in Verſen gefeiert wurde, wie 
ehemals von Horaz und Martial, und nichts von feinem Ber: 
vienjt, den römischen Salat nad Frankreich gebracht zu haben. 
Aber von ver Robe de Rabelais müfjen wir ſprechen, da wir 
in Montpellier find. Die Robe, die er trug, da er als Gefandter 
ver Fakultät nach Paris ging, wurde durch Jahrhunderte als 
eine koftbare Reliquie aufbewahrt. Die Baccalaurei trugen fie 
bei ihrem fünften Eramen. Unglüdlicherweife nahm jeder ein 
Stüd davon mit fi al3 Erinnerung an Rabelais und an die 
Schule, deren Zierde er geweſen. So wurde fie zerfeßt wie eine 
alte Fahne und ſchrumpfte mit der Zeit zu einer kurzen Jade zu— 
fammen, jo daß man ſchon mehrmal gezwungen war, fie zu er—⸗ 
neuern. Aber die Benennung Robe de Rabelais und ver alte 
Braud find geblieben. Sie ijt von rothem Tuche und hat breite 
Aermel und einen Sammtkragen. Möge fie noch lange ein Wahr: 
zeichen dieſer alten Schule und mitten in einem verpfafften Lande 
die Erinnerung an einen freien, lebensfreudigen Menſchen bleiben. 
Sole Angedenken haben immer ihr Gutes; ſolche Reliquienver: 
ehrung bildet ein treffliches Gegengewicht der andern gegenüber. 
Der Kultus des Genius, der allein fei ewig und unangefochten. 
O, wenn man uns unjere Gläubigfeit nur erleichtern und ung 


344 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


erlauben wollte, dort, wo man uns Heilige vorjegt, Geniuſſe 
der Menjchheit zu verehren, mie glüdlih und wie einig wären 
mir oft. 


Montpellier, den 26. September 1851. 


Doh nur der Lebende hat Recht! So mollen wir dieſes 
Kapitel über die Univerjität von Montpellier nicht fließen, ohne 
vom lebenden Tage geiprodhen zu haben. Daß das Inftitut in 
Folge der franzöfiichen Centralifation herabgejunfen ift von jeiner 
einjtigen Höhe, haben wir jhon angedeutet. Doc) it noch Manz 
che3 da, was ung interejliren fann. Der Montpellierenfer Pro— 
feſſor St. Rene Taillandier, der id) ein Recht erworben hat, in 
deutjcher Literatur ein Wort mitzufprechen, ijt uns befannt. Ich 
habe ihn exit in jeinen Vorlefungen, dann in feinem häuslichen 
Leben kennen gelernt, und ich fann Deutjchland die Verfiherung 
geben, daß er nicht, wie Gutzkow einmal behauptete, eine Heine’jche 
Fiktion fei, jondern daß er wirklich und wahrhaftig exiſtire. Tail 
landier ift fein Mythus, fein Symbol, keine Heine'ſche Dichtung, 
jondern ein leibhaftiger Profeflor, und zwar ein eleganter, deutſch 
iprehender Brofefjor, der suo motu in der Revue des deux 
mondes jein Votum über die deutfche Literatur abgibt, Ich 
babe ihn zuerjt in einem Hörjaale der Afademie-fennen gelernt, 
wo er vor einem aus Damenhüten, l&gion d’honneur, Stu: 
denten und Bloujen zujammengejegten Bublitum über franzö- 
ſiſch⸗klaſſiſche Literatur las. Sein Vortrag zeichnet ſich durch große 
Klarheit und minutiöſe Kenntniß ſeines Gegenſtandes, wie durch 
Eleganz und feinen Styl, aus und iſt ferne von aller falſchen 
Deklamation und jenem Charlatanismus, der in Frankreich oft 
aus dem Hörſaal ein Theater macht. Trotzdem gehört ſein Kur— 
ſus zu den beliebteſten und beſuchteſten und zieht er die Zuhörer 
aller Klaſſen an. Da ich ihn ein zweites Mal hörte, las er über 
neue Literatur und ſpeziell über Beranger. Sein Gegenſtand 
gab ihm Gelegenheit zu trefflichen Bemerkungen über politifche 


Funfzehntes Kapitel. 345 


Poefie und zu Bergleihungen franzöſiſcher politiicher Dichter mit 
deutichen. Es machte mir einen eigenthümlichen und füßen Ein: 
drud, am Ufer de3 mittelländiichen Meeres, in der Nähe der fabel: 
haften Inſel Maguelone, von Uhland, Lenau, Anaftafius Grün 
ſprechen und mit Liebe und Anerkennung ſprechen zu hören. Gibt 
e3 in Deutjchland bereits eine Zehrfanzel, der diefe Namen Leben: 
der Hafjiich genug erjcheinen, um ſie vor einem Auditorium er: 
ſchallen zu lafjen? Ich fuchte Taillandier’3 Belanntihaft, und 
jie wurde mir leicht gemacht. Er hatte mich ſchon zu jehr gelobt 
und zu jehr getavelt, al3 daß ich ihm hätte ganz fremd jein 
können, und da ich in jeinen Tadel mit ganzem Herzen einjtimmte, 
war die Befangenheit, die gebildeter und wohlwollender Menſchen 
in einem jolhen Falle nicht würdig ift, bald dahin. Außerdem 
it Taillandier’3 Haus allen Deutſchen immer gaftlih offen, und 
jo befand ich mich bald wohl und heimiſch, wo ich mit Liebe von 
deutjhem Geiſte und jeinen Schöpfungen in deutfchen Worten 
jprechen hörte, wo ich deutiche Bücher fand und vor Allem eine 
liebenswürdige Hausfrau, und mo, wenn ich fpäter daſelbſt her: 
bergte, Beit'3 Germania über meinem Bette hing. Taillandier's 
Häuslichkeit gehört zu den ſchönſten und glüdlichiten, die mir auf 
meinen vielfachen Wanderungen begegnet find, und zu denjenis 
gen, über die der Wanderer, der an ihrem Herde ausruht, aus 
vollem Herzen den Segen „langer Dauer” ausjpridt. Ein be: 
quemes, angeerbtes Vermögen, ein fortlaufendes gutes Einkom— 
men, eine geadhtete Stellung, Luft am Willen, ein Haus und 
ein arten, eine Bibliothet und Arbeitsjtube, in welche Rojen: 
lorbeer, Granatbaum und Nadtigallen Duft, Blüthe und Lieder 
ftreuen, eine Frau, die zu den Schönheiten des Landes gezählt 
wird und trogdem doc nur ihrem Haufe angehört, Kinder, die 
diefer Mutter würdig jind — braudt es mehr? — Glüd und 
behagliches Schaffen find fein Verdienſt unter ſolchen Umftänden, 
und ich will Taillandier darum nicht rühmen. 

Einen Theil diejes Sommers hindurd arbeitete Taillandier 
an einem Artifel über Jeremias Gotthelf, und ich hatte Gelegen— 


346 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


beit, zu beobachten, mit welcher Gewiſſenhaftigkeit er auf feinen 
Gegenitand einzugehen ſucht und wie fern er allen germanijchen 
Einflüfterungen ftehe — ein Umftand, der von vielen feiner Ge- 
tadelten geleugnet wird. Da ich mit zu diejen Letzteren, wenig: 
ſtens theilweife zu ihnen gehöre, fo wird mein Zeugniß fo viel 
Gültigkeit haben, al3 der Andern Vermuthung. Es ift außer: 
ordentlich, welche Mühe fich dieſer franzöſiſche Profeſſor gibt, ſich 
über den Gegenitand, den er Fritifirt, jo viel ald nur möglich zu 
unterrichten. So hat ſich bei ihm neben ver allgemeinen Kennt: 
niß der deutſchen Spradhe und Literatur, die er ſich in Heidel— 
berg und Straßburg erworben, noch ein großer Schat von Der 
tailfenntniflen geſammelt, der ihn befähigt, auf Spezialitäten ein: 
zugehen und jede neue Erfcheinung ſchnell — nad) feiner Art — 
zu verſtehen. Ich fage nad) feiner Art — denn Taillandier ijt 
immer Franzoje und fteht jeinem ganzen Wejen nad deutjcher 
Philofophie und deutſcher Kritif eben fo ferne, als dem radikalen 
Streben, das heutigen Tages das innerjte eben unferes Vater: 
landes bewegt. Er ijt ein Gelehrter und Literator, fteht aber, 
wie der größte Theil feiner franzöfifchen Kollegen, aufer ber 
Zeit und ftemmt ſich gegen diefe, die ſich nicht aufhalten läßt. 
Daher jene Artikel, wie der über die deutiche Nationalverjamm: 
lung und feine Borliebe für die lebloſe, deutſche Eonftitutionelle 
Bartei. Aber was ihn zum Ichlechten Politiker macht, fommt ihm 
oft bei der Kritik zu Statten. Im Grunde ein abjoluter Aejtheti- 
fer und urfprünglic ein Poet (Zaillandier hat in feiner Jugend 
ein großes Iyriiches Gedicht „Beatrice“ gefchrieben) und Freund 
vieler Voeten, vergißt er alle Politik, mo ihm das Schöne ent: 
gegentritt; dann lobt er den Radifalen wie den verjpäteten Ro: 
mantifer. In diefem Augenblide gebt er mit dem Gedanken um, 
eine Gejchichte der deutſchen Literatur zu ſchreiben; es wäre dieß 
das erjte Werk dieſer Art in Frankreich und würde bei der er- 
wachten Sympathie für überrheinifche Literatur großen Anklang 
finden. Doc wartet er mit der Ausführung feines Planes, bis 
ihn feine Garriere nach Paris führt, wo er den Quellen näher 


Fünfjehntes Kapitel. 347 


fein wird, Diefer Zeitpunkt fann nicht mehr lange auf ji ware 
ten laflen. Frankreich hat wenige Gelehrte, die mit einer aus— 
ländifchen, beſonders germaniſchen Literatur, fo vertraut find, 
und ſchon fehe ih St. Rene Taillandier ala Profefjor am College 
de France over an der Sorbonne. 

Aber von der Univerfität und ihren Profefioren ſprechend, 
darf ich einer Promotion nicht vergefien, ver ich beigemohnt 
babe. Gin guter Mann aus Béziers, der zu weiterem Avance: 
ment den Doktortitel nöthig hatte, jaß auf der Bank vor den 
vier Profefjoren, die in weite, ſeidene Talare gehüllt waren. 
Er faß da wie auf der Armefünderbanf. Die Theſen, die er ſich 
geftellt hatte, waren aus der Philoſophie Petri de Vineis, des 
Kanzlers Friedrichs II. von Hohenftaufen, genommen. Eine jün: 
gere Philoſophie, jo jcheint es, braucht ein Kandidat im fünlichen 
Frankreich nicht zu fennen. Aber auch mit diefer war der Mann 
auf der Armefünderbanf nicht fehr vertraut. Das fchadete ihm 
nit, da die Proſeſſoren oder Graminatoren diefe Gelegenheit 
nur benugen wollten, um ihre eigene Gelehrſamkeit glänzen zu 
lafjen, und feineswegs die Abficht hatten, dem Kandidaten, der 
Vater von fünf Kindern war und eine ehrwürdige Glage leuch— 
ten ließ, zu jchaden. Abbe F., einer der geiftvollften Profeſſoren 
der Montpellierenfer Fakultät, nabm die Partei des Papftes 
Innocenz und des Papſtthums überhaupt und zog fo gemaltig 
gegen den Friedrich von Hohenitaufen los, daß meinem deutjchen 
Gemüthe bange und ich für den liebenswürbigen Heiden Fried: 
rich gezittert hätte — wenn die ganze Gefchichte nicht eben einer 
Poſſe ähnlich geweien wäre. Der Kandidat wagte auch nichts 
gegen den Papit vorzubringen und ließ fich ruhig belehren. So 
lief das Ganze höchſt gemüthlich ab, und der Familienvater ent: 
fernte ſich als Doktor es lettres. Petrus de Vineis wurde jei- 
nen Marmot3 erbarmungslos geopfert. 


Sechszehntes Kapitel. 


Montpellier — Politifhe Parteien — Religion — Ein hiftorifher Rüdblid — 

Chamford und Brizard — Aunft — Das Mufee Fabre und feine Geſchichte — 

Seine Shäge — Bierzehn Winde — Ufurpirter Ruf des Klima’3 und Warnung — 

Opfer deö Alima’3 — Polniſche und deutſche Flüchtlinge — Peter Fries aus 
der Pfalz — Glüd reines Flüchtlings. 


Montpellier, den 29. September 1851. 

Die katholiſch-religiöſen Zuftände des Landes laſſen von jelbft 
auf die politifhen, auf die Gejinnung der Minderheit fließen. 
Das Land der Penitents blancs, bleus ete., da3 Land der 
unzähligen „Brüder“ und „Schweitern” kann nicht anders als 
legitimiftifch fein. Das Prieftertbum muß nothwendigermeije 
am Gottesgnadenthbum hängen, und das Priejtertbum vertheilt 
auf Dorf: und Stadtlanzeln und in den Beichtjtühlen die politi: 
ſche Barole. Freilich meift nur an die Weiber, aber die Weiber 
erziehen die Kinder und bejtimmen die Atmojphäre des ganzen 
Hauſes. Die Legitimität ift eine dent heißen Süden bequeme 
Religion, da fie am Wenigiten Bewegung verlangt und der heid- 
niihen Phantafie, die lieber an einem äußeren Symbol als an 
einer abftraften Idee hängt, angemefjener ift. Sie ift nicht die 
Folge oder das Kind des Nachdenkens, ſondern im Gegentheil 
ein Mittel, dem Nachventen aus dem Wege zu gehen. Damit ift 
noch nicht gejagt, daß Louis Napoleon, wenn er den Staat?: 
jtreih, an deſſen Realifirung wir nicht zweifeln, glücklich über: 
jteht, in diefem Lande großen Widerftand erfährt. Man wird 
aud ihn als eine von Gott eingejegte Obrigfeit „acceptiren” — 
bier wie vielleicht überall in Franfreih, mo das fait accompli 


Sechszehntes Kapitel. 349 


almädtig ift. Nirgends wie in Frankreich ift der Satz wahr, daß 
jeder Ausgang ein Oottesurtheil ift. Kommt noch hinzu, daß 
Louis Napoleon, der Konful, Präſident oder Kaifer fich mit der 
Geiftlichfeit verbindet, fo iit er feines Sieges im Süden faſt ge: 
wiß — benußt er aber erjt mit einiger Gefchidlichfeit ven Vor: 
theil, den ihm die vorhergehenden Regierungen durch Vernad: 
läſſigung der materiellen Zuftände im Süden in die Hände ge: 
geben; verſchafft er vem Lande, das in feinem Reichthum erftickt 
und vergebens nach Geld ſchmachtet, Mittel und Abſatzwege, um 
feine Produkte, beſonders die föjtlihen Weine, an den Mann 
zu bringen; ſchafft er eine Art Free Trade nad außen dur Han- 
velötraftate, oder auch nur nah innen dur Abjichaffung des 
Dftrois in den Städten: dann kann Louis Napoleon überzeugt 
fein, daß daſſelbe Land, welches unter Umftänden eine Vendée 
werden könnte, in Hymnen und Lobgefänge zu Ehren des neuen 
Erlöjer3 ausbrehen werde. — Wenn er diefe Mittel vernad: 
läfligt, kann es bier im Falle eines coup d’etat allerdings zu 
allerlei, vielleicht fehr blutigen Reibungen fommen — wenig: 
ftens zu Anfang des neuen Regimes. Die Zahl der eigentlichen 
Anhänger des Napoleonismus ift fehr gering, während e3 neben 
den Legitimiften eine ftarke und thätige republifanifhe Minderheit 
gibt. Sie befteht aus den Arbeitern und faft allen Proteftanten 
der Städte und des offenen Landes. Beſonders die aus ven 
Gebirgen find eifrige Republifaner, die fi immer mehr zu or: 
ganifiren ſuchen. Der Prozeß gegen Herrn Gent in Nimes 
wird nicht abſchreckend genug wirken, oder zur Folge haben, daß 
fih die Republifaner im entſcheidenden Momente ganz ftill ver: 
halten. In der proteftantifhen Partei gibt e3 wieder eine Kleine, 
orleaniftiihe Sekte. Es find das die Reichen der Städte, ſpeku— 
lative PBroteftanten, denen der Bankſchwindel unter Louis Phi: 
lipp wohlgethan bat, und die nicht vergeflen können, daß ein 
Minifter, Guizot, troß aller Bündniſſe mit den Jejuiten, einer 
der ihren, ein Kalvinift geweſen. Eine fomijche Eitelfeit, die in 
der Leidensgejhichte der Proteftanten ihre Erflärung findet. 


350 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Außerdem find dieje Reichen der Natur der Sache nad) realtio- 
när und fonjervativ, und da es ihnen Religion und Erinnerun: 
gen verbieten, ſich an die Legitimiften anzuſchließen, Hammern 
fie ih an die Nachkommen Louis Philipp’3, von dem fie wiſſen, 
daß er trog freres ignorantins und Sonderbund viel mehr ein 
Voltairianer als Bofjuetift gewefen. Ihre Zahl ift Hein, und es 
fomme, was da mag, fie werden nur die Rolle der Zufchauer 
jpielen und, wenn Louis Napoleon den Weinen ihrer großen 
Pflanzungen einen guten Abzugskanal verjchafft, bald mit zu 
den satisfaits, den vollfommen Befriedigten gehören. Das 
Produkt aller dieſer Faktoren wird troß der innewohnenden Feind: 
jeligfeit, wie gejagt, einige Reibungen etwa ausgenommen, end: 
lihe allgemeine Befriedigung und Annahme Deflen fein, was 
Paris angenommen hat. Das allmädhtige fait accompli, das 
Parifer, wird endlich jiegreih über all diefen Parteien, über 
Legitimiſten, Republifanern, über Orleanijten, über Proteitan- 
ten und Katholifen, vielleiht in Geftalt eines imperialen Adler 
mit ausgebreiteten Fittihen ſchweben und durch die Gafjen Ni: 
mes’ und Montpellier'3 perfonifizirt in zwei anhänglichen Prä- 
feften mit dem rothen Bande im Knopfloche wandeln — und 
das jo lange, bis etwas Anderes fommt. 

Indeſſen herrſcht nicht eine einzige von allen diefen Parteien, 
fondern herriht der Eure im Beichtftuhl und dehnt feine Macht 
in die verborgenften Winkel der Gläubigen aus, Mag Herr 
Ballan no fo viele Defrete an Mairien und Straßeneden Ele: 
ben lafjen, feine Macht ſchrumpft troß aller Sergeanten und Sol: 
daten, die ihm zu Dienjten jtehen, zufammen vor der Gewalt des 
einzelnen Cure, de3 eigentlihen Autofraten in dieſem Lande, 
Es gibt in diefem Zeitalter vielleicht feine zwei Erdſtriche mehr 
in Europa, die jo unbedingt, der Gewalt der Pfaffen verfallen 
wären, wie da3 ſüdliche Frankreich. Der Fremde glaubt fic 
mandhmal in das fechszehnte Jahrhundert und auf jpanifchen 
Boden verſetzt. Ueberall begegnet man den Zeichen der Sklave: 
rei, welche dem Volke von der Kirche aufgelegt werden. Wenige 


Sechszehntes Kapitel. 351 


Frauen aus dem Volle und den höheren Ständen gibt es, die 
nicht ein Kreuzhen, einen Rofenkranz, ein Halsband trügen, 
al3 Zeichen, daß fie diefer oder jener Schweiterfchaft angehören, 
die von irgend einem Geiftlihen unbefchränft regiert wird. Pro: 
zeffionen und Begräbniffe verrathen, dab auch ein großer Theil 
der männlichen Bevölferung kirchlicher Disziplin verfallen ift; 
denn da jieht man fie in großer Anzahl als weiße, blaue, ſchwarze 
und noch andersfarbige Büßende auftreten. Selbft junge Män: 
ner von Stande thun fich unter geiftlicher Leitung, nachdem fie 
al3 Bacheliers die Kollegien verlafien, zu Brüderfchaften zufam: 
men und geboren der kirchlichen Parole. Bei der weiblichen 
Jugend forgt man dafür, daß fie fih zu den frommen Verbin— 
dungen jchlagen, noch ehe fie das Klofter verlafjen. Und mitten 
durch dieſe Bevölkerung wandeln mit leifem Schritte, till trium: 
pbirend, die zabllofen Priejter und Nonnen aller Gattungen. 
Man thäte dem Charakter und dem Geilte des franzöfischen 
Süpdländers Unrecht, wenn man nur in ihnen die Gründe diefer 
Zuftände, die über Provence und Languedoc ausgebreitet find, 
fuhen wollte. Diefe Zuftände beruhen auch auf biftorifcher 
Grundlage. Die Nahbarfhaft Avignon’s, der Hof des päpft- 
lihen Legaten daſelbſt, der erſt vor ſechszig Jahren abgezogen 
ift, haben das Ihrige gethan, um den mittelalterlichen Geiit jo 
tief einzupflanzen, daß er dem Sturme der franzöfifchen Revos 
Iution Stand hielt und mancher Revolution Stand balten wird. 
Es eriftirt eine im Jahre 1790 vom Abbe Gabriel Brizard her: 
ausgegebene Brojhüre, welche über die Wirkſamkeit jenes Hofes 
ausführliche Aufſchlüſſe gibt, und aus der man erkennt, daß noch 
Geſchlechter ind Grab jinten müflen, ehe die Spuren jener Wirk: 
famfeit ganz verwijcht werden. Chamfort, der dieſes Buch. von 
feinem fiebenzehnhundertneunziger Standpunfte aus betrachtet, 
fagt bei diefer Gelegenheit: In dieſer Atmojphäre des Fanatis: 
mus erhitzten ſich alle Köpfe des ſüdlichen Frankreichs. Wenn 
Provence, Languedoc, Dauphiné, ſelbſt Lyon die Gräuel der 
Ligue ärger verſpürt haben, ſo trägt die Nachbarſchaft des Legaten 


352 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


und des Hofes von Avignon die Schuld. Avignon war das 
Centrum der Kabalen, das Arjenal, wo man die Waffen und die 
Ketten für die Dauphine, für das Lyonnais, für die Provence 
und Languedoc ſchmiedete; Avignon war das „entrepöt“ der 
Indulgenzen und der inzendiarifchen Breves. Dort haben KarlIX. 
und Heinrich III. die lächerlichen Prozeſſionen, die Brüderſchaf— 
ten der Büßenden, die indezenten Maskeraden, die fie an ihren 
Hof verpflanzten, lieben gelernt. Der Art ijt ver Urſprung der 
frommen Pofjen, die in den jüdlihen Provinzen einen in ven 
andern Theilen des Reiches fait erlofchenen Yanatismus bis auf 
unfere Tage erhalten haben, deſſen legte Funken noch alle Die- 
jenigen beunrubigten, die, ſchmerzlich getroffen von den aus dem 
Aberglauben geborenen Uebeln, viejen für „nicht genug tobt“ 
hielten. Abbe Brizard bemerkt, daß die franzöfifchen Könige ih: 
ren Unterthanen viel Unglüd, fich felbit wielleiht mande Un- 
ruhe erjpart haben würden, wenn fie Avignon und deſſen Terri- 
torium in ihren Beſitz gebracht hätten, was fie konnten u. f. w. 

Was Chamfort und Brizard von der Einwirkung der päpſt— 
lihen Legaten auf den Geijt der füplichen Provinzen jagen, wird 
durch heutige Zuftände, wenn dieſe auch nicht mehr jo jehr er: 
jchredend auftreten, noch immer bejtätigt — aber Chamfort und 
Brizard helfen uns die ſüdlichen Provinzen entſchuldigen. Das 
verdammende Urtheil, das jih uns auf die Lippen drängt, halten 
wir zurüd mit Rüdjiht auf die milvdernden Umſtände, melche 
das Zeugniß der Gejhichte varbringt, und wir jprechen die im 
Grunde guten PBrovenzalen frei von all den Verbrechen gegen 
den heiligen Geijt, die fie nur verblenvdet begangen haben und 
noch begehen, da wir nun wiſſen, wo der eigentliche Uebelthäter 
zu fuchen ift. 

Aeſthetiſche Verehrer „ver finnlihen Religion” pflegen als 
legte8 Argument zu ihrer Vertheivigung die Produktivität an 
Kunftwerken anzuführen. Dieje erwarten gewiß, in Montpellier 
große Kunftihäge zu entdeden; fie täufhen fi. Eine einzige 
Kirche von Bedeutung befitt die Stadt, und diefe ift ein Ideal 


Sechszehntes Kapitel. 353 


des Ungefhmads. Ihre Wände, jo wie die der andern Kirchen, 
find von einer Heiligenmalerei der allertrivialften Sorte bededt 
und bleiben hinter den Kirhen von Nimes und Tarascon weit 
zurüd. Ueberhaupt treibt die Kunft, auch die profane, in Mont: 
pellier gar feine, oder nur fpärlihe Blüthen. In diefem Augen: 
blide befindet fich bier ein junger, talentvoller Maler, Namens 
Gabanel, Montpellierenfer von Abjtammung. Er kehrt joeben 
von Rom zurüd, wohin er von der Regierung, mit einem Preije 
gekrönt, geſchick wurde und mo er ein großes, mit manden 
Fehlern behaftetes, doch vielverfprechendes Bild vollendet hat. 
Er malt mit großer Gejhidlichkeit die guten Bürger und DBür: 
gerinnen von Montpellier, um fich für Baris auszurüjten, wo er 
hoffentlich eine glüdliche Carriere machen wird. ! Herrn Laurent, 
ven Sekretär der medizinifhen Fakultät, habe ich jhon in mei: 
nem Briefe über das Deutſchthum in Languedoc erwähnt. Das 
Atelier diejes für alle Kunſt empfänglihen Mannes ift ein rei: 
ches und intereflantes Muſeum, das der Fremde nicht vernach— 
läfligen jol. Bor Kurzem bejuchte ihn der Düffelvorfer Meifter 
Schirmer, dem er in Aufjuhung der Schönheiten Languedoc's 
hülfreich zur Seite ſtand. 

Aber einen großen Schatz befigt die fonit unkünftlerifche 
Stadt an ihrer Bildergalerie. Dieje ift ihres erjten Gründers 
jowohl, als ihrer Gefchichte, volllommen würdig. Urjprünglich 
gehörte fie dem italieniſchen Tragiker Alfieri, welcher fie zum 
Theile geerbt, zum Theile jelber gefammelt hatte. Er vermachte 
fie als Liebesangedenten der befannten Gräfin Albani, dem le: 
ten Sprößling der Stuart, und diefe wieder überließ fie, aus 
einem freudigen und reichen Leben fcheidend, ihrem letzten 
Freunde, dem Maler Fabre, der aus Montpellier ſtammte. Es 
it das derjelbe Fabre, ven Paul Louis Courrier in jeinem Auf: 
jage „une conversation dans la villa Albani“ fo geijtreich 
Iprehend und als Hauptperfon anführt. Er ftarb erſt im Jahre 

Es ift das der feither berühmt gewordene Cabanel, Mitglied des 
Inftituts, 

Moritz Hartmann, Werke. II. 23 


354 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


1836, und da er feine Kinder hinterließ, ſetzte er feine Vaterſtadt 
Montpellier als Erbin feiner Kunftihäge ein. Montpellier gab 
der Gemäldejammlung aus Dankbarkeit für den Erblaſſer den 
Namen „Musee Fabre.‘“ Das Musee Fabre gehört zu den 
beveutenditen Kunjtiammlungen der franzöfiichen Provinzen, da 
es nicht durch Almofen der Regierung, jondern dur den Kunit- 
ſinn beveutender und fünftlerifcher Menſchen gegründet und er: 
mweitert worden iſt. 

ALS Perle diefer Sammlung bezeichnen wir eine „heilige Fa- 
milie” von Paul Veroneſe. Das Bild zeichnet fih durd alle 
glänzenden, hellſtrahlenden Eigenjchaften dieſes frischen, fröhlichen 
und farbenreihen Meifter3 aus. „Es ift,“ fagte ein bedeutender 
franzöfifher Maler, der einmal an meiner Seite das Muſeum 
durchſchritt, „es ift wie auf Diamant mit diamantnen Farben ges 
malt.” In der That bricht ein Strom von Licht und Glanz aus 
demfelben hervor, al3 wäre e3 eine große Anzahl aneinander ge: 
reihter funkelnder Diamanten. Dieſem zunächſt jteht ein Kleines 
höchſt einfaches Bortrait, da3 man gewöhnlich Raphael ſelbſt zu— 
Ichreibt. Mein Begleiter, der Maler und Kunitkenner, meinte, 
e3 jei höchſtens aus der Schule Raphael’3, und zwar müſſe es 
von einem deutſchen Schüler Raphael’3 gemalt fein, denn e3 be: 
figt neben all’ dieſen Eigenjchaften, die uns glauben machen, 
daß e3 vom Meifter jelbit herrühre, jene Einfachheit und Naivi: 
tät, die im Atelier Raphael’3 nur ein aus dem Norden herjtam: 
mender Sünger bewahren fonnte. Es war ein ranzoje, der jo 
ſprach; aber ein Franzofe, der die Kunftihäge Italiens, Frank— 
reichs und Deutfchlands gleihmäßig ftudirte, und ich gebe jein 
Urtheil, das mir mwohlthat, gerne wieder. — Ein Portrait Ti: 
tian’3, wahrjcheinlich von einem liebenden Schüler gemalt, gehört 
zu jener Gattung hiſtoriſcher Portraits, die im engen Rahmen 
eine3 menſchlichen Gejichtes eine ganze Zeit und den Geift eines 
ganzen Volkes wiederfpiegeln. Dafjelbe läßt fich von einem Por- 
trait Franz’ des Erften jagen, das von Raphael herrühren joll. 
Ich weiß mich aber nicht zu erinnern, daß irgendwo in Kunit- 


Sechszehntes Kapitel. 355 


oder profaner Gejchichte zu lejen ſei: Raphael Sanzio von Ur: 
bino hat König Franz dem Erſten von Frankreich die Ehre an- 
gethan, ihn zu malen. Hat doch die Geſchichte nicht vergeflen, 
es gewiſſenhaft aufzuzeihnen, daß Titian dieje Ehre dem König 
Franz und dem Kaifer Karl angethan. Auch NRibera, der Dü— 
jtere, der Igrifch:epifche Dichter Ruysvdael, Teniers, Dftade, Paul 
Potter find würdig vertreten. Natürlich fehlt e3 in einer fran— 
zöfiichen Galerie auch nicht an einem Proudhon, aus dem die 
Franzojen gerne mehr machen möchten, alö er ift, und am Wenig: 
ften an einem Poufjin, den fie gerne al3 ebenbürtig in die Ge: 
jellichaft ver Raphaele, Leonardo's und Titian’3 ſchmuggeln möd;: 
ten. Der größte Theil der andern Bilder gehörte nad) ver Be: 
zeichnung meines Begleiter3 in die Gattung der Blagues, und 
jie legen fi Namen von Malern bei, die fie nie mit einem Pin- 
jel berührt haben. 

In einem der Nebenjäle findet man eine neuangefaufte 
Marmorftatue von Pradier, irgend eine fabelhafte Brinzeflin, die 
durch ihr langes Haar berühmt ift, vielleicht die Prinzeſſin Ra: 
punzel, darſtellend. Auch hier begegnet dem guten Pradier, was 
ihm bei den meiften feiner Werke begegnet: er verdirbt das Beſt— 
angelegte durch irgend einen Anhang von Ungeihmad, ver die 
einzelnen Schönheiten feines Werkes vergefien macht. Die Prin: 
zeflin ift eine ganz nette, graziöjfe Perſon, aber die ungeheure 
Mafje marmorner Haare erdrüdt die Arme unter ihrem Gemidht, 
und man bevauert, daß der Marmorblod, der ihr unförmlich 
vom Hintertopfe herabhängt, nicht zwedmäßiger zu irgend einem 
Heinen Herkules verwendet worden ift. Auc vor diefer Statue 
fiel mir ein, wa3 ich ſchon oft von Pradier'ſchen Bildwerken den: 
fen mußte: ob er nicht beſſer gethan hätte, ein Maler zu werden ? 
Wenigitens paflirt e3 ihm oft, daß er in Stein haut, mas ſich 
auf der Leinwand gut ausnehmen würde, in der Skulptur aber 
an den um den Hals gehängten Mühlftein erinnert. Auch glau: 
ben wir, daß die Werke dieſes, obwohl nit talentlofen Künſt— 
ler3 ind Meer ver Zeiten und in Bergefienheit finfen werden. 


356 Tagebuch au3 Languedoc und Provence. 


Unfichtbarer Flügel bevarf jedwedes Kunſtwerk, wenn es fich über 
dem „Abgrund, der ewig offen”, halten foll, und viefe Flügel 
beißen: Schönheit und Anmuth. 


30. September 1851. 


Heute am legten Septembertage leuchtete und glühte vie 
Sonne fo gewaltig, wie fie e3 bei uns in Deutſchland oder auch) 
in Paris nicht in den Hundstagen zu thun pflegt. Auf den bei- 
ben Tag folgte ein lauer, überaus milder, blauer, wohlthuender 
Abend. Solche täufchende Meteorologie mag der Stadt Mont: 
pellier noch mehr als ihre medizinifhe Schule ihre große Be- 
rühmtheit bei allen Bruſtkranken verjchafft haben, die feit Jahr: 
hunderten bier zufammenjtrömten und noch zufammenjtrömen, 
um Heilung zu juchen für ihr zehrendes Leid. Es iſt eine Täu— 
ſchung wie eine andere; die janitäre Berühmtheit Montpellier’3 
eine Berühmtheit wie mande andere, die auf ſchwachen Füßen 
jteht. Die milden Tage, Abende und Nächte, deren wir ung hier 
allerdings jehr oft erfreuen, werben weit aufgeiwogen von den 
verfchiedenartigiten Winden, die Staub aufregend die Gaſſen 
Montpellier’3 durcfegen und an Franken Lungen viel fchneller 
zehren, als mancher verjchrieene Norbwind. Montpellier befigt 
nicht weniger als vierzehn verjchievenartige Winde, die es oft 
viele Tage nad) einander in fchneller Abwechslung von ven ent: 
gegengefegteften Seiten bejtürmen; bald wüthend und mit lau: 
tem Lärm, bald perfid fchleichend und leife am Lebensmark der 
armen Kranken nagend. Nach einigezogenen Erkundigungen und 
nah Erfahrungen, die ich bei verſchiedenen Kranken ſelbſt ge- 
madt babe, halte ich es für Pflicht, das Klima Montpellier's 
feiner faljhen und betrügerifchen Berühmtheit zu entkleiden. 
Vielleiht war es anders in jener Zeit, al3 die Cevennen noch 
von Wäldern bevedt die rauhen Gäſte des Nordens und die treu« 
lofen des Weſtens abhielten. Doc ijt ver raube Gaſt aus dem 
Norden, die TZramontana, nicht fo gefährlih, wie der Miftral, 
der aus der Provence, oder der Gerd, der aus dem Departement 


Sechszehntes Kapitel. 357 


de l'Aude herüberweht. Die jchredlichiten Gäfte aber find die 
über das Mittelländifhe Meer aus Afrika kommenden Lüfte, 
wahricheinlih Anverwandte des Sirocco. Pflanzen und Thiere 
brechen unter ihrem Hauche zufammen; wohin fie blafen, da 
wird Alles jchlaff, müde und zu Tode betrübt. Wenn dieſen 
Ihaurigen Gäften der aus Nordweſt jtammende Magiftral, der 
friiche, aufheiternde Genoſſe, oder, über das janft gefräufelte Meer 
ſchreitend, der gluthenlinvernde Garbin folgt — dann ijt es für 
arme Kranke gewöhnlich jchon zu fpät. Der friſche Magiftral 
- und der fanfte Garbin fönnen mit dem beften Willen nicht wieder 
gut machen, wa3 die andern Brüder ſchon verdorben haben. 

Vor Kurzem erit hat e3 ein Berliner Gelehrter, der Hülfe 
ſuchend hierher gekommen war, zu jpät erfahren müſſen, daß 
Montpellier feinen guten Ruf nicht verdiene. Wahrſcheinlich ift 
aud der gute Peter Fries, den fie vor einigen Wochen begraben, 
den Einwirfungen diefes Klimas erlegen. Den andern deutſchen 
Flüchtlingen — dieſes bei Gelegenheit zur Beruhigung ihrer 
Freunde in Deutſchland — geht es wohl, Mehrere haben die in 
Münden oder Heidelberg durd die Vorgänge von 1849 unter: 
brodenen medizinifhen Studien an der hiefigen Hochſchule 
wieder aufgenommen und werden bald neben den polnifchen und 
deutihen Verbannten aus den Dreißiger Jahren in Städten und 
Flecken des ſüdlichen Frankreichs wohlthätig als Aerzte wirken. 
Man iſt hier daran gewöhnt, daß ein mit fremdem Accent ſpre— 
hender Arzt ans Krankenbett tritt; in unzähligen Orten des füd- 
lihen Frankreichs haben fih Polen und Deutſche angeſiedelt, 
nachdem jie, plöglid aus ihren Verhältniffen herausgerijien, die 
Gelegenheit in Montpellier benugend, für empfangene Wunden 
in der Naturwifjenfchaft Heilung gefucht und fie für fid und an- 
dere gefunden haben. Jetzt gehören fie überall, wo fie figen, zu 
den angejehenften und beliebteften Bürgern. 

Auf andere Weife hat vor zwei Monaten ein deutfcher Flücht: 
ling jein Glüd und feinen Herd gegründet. Halb traurig, weil 
er verbannt, halb Iuftig, weil er doch jung, ganz geldlos, weil 


358 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


er Beides, fam der Heidelberger Studioſus H. direft von Baden 
oder aus der Pfalz hierher nah dem Mons Puellarum. Gr 
hatte den großen Plan, durch Lektionen ganz Montpellier zu ger: 
manifiren, weil dieſes aber doch nur langjam von Gtatten ging, 
ſuchte er eine vergeflene Kunft hervor und ging mit diejer nad 
Brod. Mit geborgten Crayons zeichnete er auf geborgtes Papier 
zahlende Gefichter. Und dieweil er jo wirkte und jtrebte, warf 
eine reiche, Schöne, unter ihm wohnende Bürgerstochter ein lieben- 
des Auge auf ihn. Die lang wehenden Heidelberger Kometen: 
haare, die blauen Augen, die teutonische Eichengeſtalt mögen ihr 
gewaltig imponirt haben, wie vergleichen ſchon vor zweitaufend 
Jahren zwischen Weibern romanifcher Race und Jünglingen ger: 
manijhen Blutes vorgelommen. Dem germanijchen Jünglinge 
leuchtet dieje Liebe eines holvjeligen Geſchöpfes ein: 


Aber wird er auch willfonmen jcheinen, 
Wenn er theuer nicht die Gunft erfauft ? 
Er ift noch ein Heide mit den Seinen, 
Und fie find ſchon Ehriften und getauft. 


Oder mit andern Worten: ver deutſche Jüngling ift ein roth 
glänzender Republifaner, das Mädchen und ihre ganze. Familie 
find ſchneeweiße Legitimiften. Aber eine einzige Tochter gibt man 
felbjt einem verbannten Republikaner, und das Drama endet heiter. 
Die Hochzeitsgäſte find pure Leaitimiften,; damit er ſich aber 
nicht zu einfam fühle, und weil zufällig im Momente feine deut: 
ſchen Flüchtlinge anmwefend find, ladet fich der Bräutigam zu den 
dreunden der Braut noch die ganze Redaktion des ſcharlachrothen 
„Suflrage universel“ an Anverwandten Statt. Trogdem ver: 
fließt die Hochzeit auf die allerfriedlichfte und heiterjte Weije, und 
des fühen Weines ftrömt, als wäre das Krüglein von Hana zugegen. 
Aus dieſer ganzen Gefhichte wurde eine feine Idylle ge: 
macht und diefe fäuberlich in Verſe gebracht; zum Mindeſten ver- 
dienet der Gejang den Lorbeer, der den Braten umjchlang. 


Siebenzehntes Kapitel. 


Sette — Ein legitimiftifher Reiſegefährte — Erinnerung an Karl X. — 

Mireval — Julius Cäfar — Marfeille und der Einfluß der Griechen — Das 

Schloß von Mireval und eine Geſchichte aus feiner Vergangenheit — Geſchichte 

Mariend von Montpellier und ihres Sohnes — Frontignan — Eine merk— 

würbige Eifenbabnftrede — Pofitives über Cette — Cette Iınd Montpelier — 

Beſuch auf der Danziger Brigg „Thomas“ — Hafen und Stadt — Römiſche 
Alterthümer — Ein frangöfifhes Volkslied. 


Montpellier, im Oktober 1851. 

Ich komme aus Cette zurüd. Die Stadt jah traurig aus, 
wie fie in Regen und Nebel, die aus dem Etang de Thau auf: 
ftiegen, und in die Dünfte des mittelländijchen Meeres eingehüllt, 
ſtumm und verlaflen dalag. Selbit das Meer, das ich im Mai 
von der Höhe des Kaftell3 aus nach jahrelanger Trennung lächelnd 
und ſüdlich blau wiedergeſehen, blidte heute hyperboreiih und 
unbeimlih. Aber da ich der guten Stadt Cette nicht Unrecht 
thun will, und dieweil man die Dinge immer in ihren ſchönen 
Momenten darftellen joll, zieh ich e3 vor, von jenem eriten Mais 
bejuche zu jprechen. 

Es war ein lachender Maitag, da ih in den Wagen jtieg, 
um Gette zum erjten Male zu befuchen. Die Waggons waren an: 
gefüllt von reihen Montpellierenjern, die binausfuhren, um 
Wohnung für die Seebadezeit zu bejtellen, und von Kaufberren, 
die in der Hafenjtadt ihre Weine an Spiritusfabrifanten verkaufen 
wollten. Mich führte das Glüd mit einem Legitimiften zufammen, 
ver, al3 er erfuhr, daß ich aus Defterreich ftamme, mich per se 
für einen Reaftionär nahm und zum Bertrauten feiner legitimi- 
ftiihen Hoffnungen machte. 


360 Tagebuch aus Languedoc und Provence, ' 


— Welch ein herrliches Land, dieſes Deiterreich, ſagte er, jo 
ohne alle Veränderungen immer gleihmäßig fortlebend im Schuße 
jeine3 Kaiferhaufes. Ich kann Ihnen die Achtung, die mir diefes 
Sand und diefe Regierung einflößen, gar nicht bejchreiben. Und 
welche ſchöne Einigkeit zwiſchen diejer Regierung und der ruſſi⸗— 
fchen herrſcht! Das arme Frankreich ſteht ſeit Jahren ijolirt da 
und ift nicht im Stande, fi einen ſolchen Bundesgenofien zu 
verfchaffen. Natürlich, welcher weife Monarch kann ſich mit einem 
Volke einlafien, das fo jehr vom Freiheitsſchwindel eingenommen 
it. — Da Gie aus Defterreih kommen, kennen Sie vielleicht 
unferen König, Heinrich den Fünften? 

— Natürlich! Ich habe ihn fhon in meiner früheften Jugend 
fehr oft in Prag gejehen, und zwar, wie er mit feinen Hof: 
meijtern ganz populär auf3 Eis ging und mitten unter den Stus 
denten und Schülern Schlittſchuh lief. 

— Der gute Prinz! gewiß hat man ihn in Prag jehr ge— 
liebt; Ihr Kaiferhaus ausgenommen, verfteht e3 fein regierendes 
Geſchlecht fo gut, wie die Bourbonen, ſich beliebt zu machen. 
Sch verſichere Sie, fie find in Frankreich jo beliebt und jo po= 
pulär, als nur — ich wüßte nicht wen zu nennen, 

— Zum Beifpiel: Beranger, fügte ich hinzu. 

— Sie ſcherzen und machen jich mit Recht über die Franzofen 
Iuftig, die ihre Verehrung an den erften Beiten hängen, wie z. B. 
an einen liederlihen Dichter. Aber glauben Sie mir, daß, wenn 
die Bourbonen zurüdfämen, ſich alle diefe Sympathien , die man 
an ſolches Volk verfchwendet, um fie fonzentriren würden. Meinen 
Sie nicht, daß jet, da die Ruhe in Europa mwiederhergeftellt ift, 
die fonjerwativen Mächte und Defterreich vor allen daran denken, 
Heinrih V. auf den Thron feiner Väter zurüdzuführen? 

— Ich muß Sie dagegen fragen, ob Sie glauben, daß eine 
Regierung Beitand hätte, welche dem Lande von Fremden auf: 
gedrungen würde? Die Erfahrung fcheint dagegen zu fprechen. 
Auch Scheint Frankreich heute noch darüber verdrießlich zu fein, 
daß diefes nur einmal möglich war. 


Siebenzehntes Kapitel. 361 


— Sie irren fih, Frankreich war den vereinigten Mächten 
überaus dankbar und würde es wieder fein, wenn dieje den 
mweifen Gedanken hätten, die Ordnung herzuftellen und ung unjere 
Könige wiederzugeben. Das find leere Vhrafen, denen Sie nicht 
glauben müfjen. Den Fremden, der uns unjere Könige wieder: 
gibt, betrachten wir mit Recht al3 unferen Wohlthäter, und Die 
dagegen ſprechen, find nicht die Freunde Frankreichs, jondern 
verfluchte Revolutionäre. 

— Ich meine, daß die Mächte nicht genug aufopfernd fein 
werden, Heinrichs V. wegen ihre Armeen marſchiren zu laflen, 
und daß fie fih damit begnügen werden, wenn Louis Napoleon 
die Monarchie wieder beritellt. 

— Hätte er es nur ſchon gethan und der Republik ein Ende 
gemacht; ich verfichere Sie, ganz Frankreich wünſcht nichts jehn: 
licher. Man würde ihn fegnen dafür, denn dann wäre doch Hoff: 
nung, daß Handel und Induſtrie wieder aufblühen. 

Ich begnügte mich mit der Erfahrung, wieder einen Legitis 
miften gefunden zu haben, der ſich um die Schmach feines Landes 
nur jehr wenig fümmert, der für Heinrich V. ſchwärmt, und doch 
wieder jchnell bereit Louis Napoleon acceptirt, pourvu, daß 
diefer nur Handel und Induſtrie wieder in Blüthe bringt. Zum 
bundertiten Male habe ih nun dieſe Erfahrung in den vers 
fchiedeniten Theilen Frankreichs gemadt, und ich befinne mid 
nicht, fie als bezeichnend für das Gros der heutigen Legitimiſten 
binzuftellen. Ein 2egitimift ift fein Patriot, ein Patriot ift 
fein Legitimift. Die Induſtrie fteht höher als das göttliche 
Recht, und mit Hülfe der einen fann Louis Napoleon das andere 
bejiegen. | 
Unwillfürlih mußte ich bei dieſem Geſpräche mich eines 
Momentes erinnern, den ich in früher Jugend erlebt habe. Es 
war an einem bitterfalten Wintertage, ich, ein Heiner Junge, 
lief eben mit meinen Büchern unter dem Arm aus dem Gymna: 
fium. Halbe Duntelheit lag jhon auf dem alten Prag, die 
Fenſterſcheiben waren mit Eisblumen bevedt, der Reif blieb in 


362 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


den Haaren hängen, Alles lief, um fo ſchnell als möglih an ven 
warmen Dfen zu fommen — da fam in der Nähe des alten 
Pulvertburms dem Graben zu eine gewaltige, hohbepadte jhwarze 
Karoſſe angeraffelt. Die Poftillone mit ihren großen Stiefeln 
fpornten die Pferde, welche Wolfen von Dampf aushaudten und 
von weißem Frofte bededt waren. Aus dem balbverfrorenen 
Magenfenfter blidte ein altes, vwerfallenes Geficht in die traurigen 
Gaſſen. Unheimlich rollte der Wagen den Graben hinab dem 
Hradſchine zu. Einige verfpätete Mittagsgäfte, die in der Gaſt— 
ftube zum ſchwarzen Rofje behaglich ihre Cigarre rauchten, zud- 
ten, da die Karofje vorüberfuhr, mitleidig die Achjeln, und da 
ih fie fragte, wem die große Nafe, die dide Lippe und das 
graue Haar da drin im Wagen angehöre, antworteten fie: dem 
franzöfiichen König, Karl X. 

An diefen Föniglihen Einzug mußte ich denfen, als ſich der 
fogenannte Legitimijt erpektorirt hatte. Eben wollte ich ihm er: 
zählen, daß ih auch Karl X. gefehen habe, al3 wir auf der 
Station Mireval hielten, und mein 2egitimift verwandelte fich 
aus einem Politiker in einen gefälligen Cicerone. Das ift Mire- 
val, jagte er, dort drüben liegt mein Landhaus; fo lange ih va - 
wohne, leje ich feine Zeitung. Won jenem Berge gegenüber bat 
Cäjar das Thal zum erſten Male erblidt und fagte zu feinem 
Adjutanten: „Bemwundere dieſes Thal,“ und daher ver Name 
dieſes Fleckens: Mirare vallim. 

Es ift doch fonderbar, wie man überall, wohin diefer Mann 
feinen Fuß feßte, das Angevenfen an feinen Namen in hundert 
Traditionen bewahrt hat, wie man überall Urfprung und Ab- 
ftammung gerne an ihn fnüpft. In den verfchiedenften Theilen 
Galliens und in Belgien, jelbft in England, wo er ſich doch nur 
einen Moment aufgehalten, habe ich dieſe Erfahrung gemadht. 
Belgien hat nur drei populäre Sagenhelden, und unter dieſen ift 
Julius Cäfar der populärfte, um mie viel näher ihm auch vie 
andern zweie, Karl ver Fünfte und Maria Therefia, durch Zeit 
und Wirken ftehen. Es ift nicht zu zweifeln, daß Cäſar wirklich 


Siebenzehntes Kapitel. 363 


in dieſen Gegenden war; dieſes Thal aber taufte er vielleicht, 
al3 er hierher fam, um vie griehifchen Städte, die Kolonien 
Mafilias, zu unterwerfen und fo ihre Mutterjtadt, die e3 mit 
dem Senate hielt, zu ftrafen. Bezeichnend für den gebilveten 
Tyrannen iſt es, daß er dieſer Stadt die Macht, die ihm hätte 
ſchaden können, raubte, daß er ihr aber aus Achtung für ihre 
Abjtammung und ihre hohe griehiihe Bildung Verfafjung und 
_ Unabhängigkeit beließ. Ueberall in dieſem Lande wird man an 
Julius Cäſar, an die Nömer, mehr aber nob an die Griechen 
erinnert. Der Boden, über den ich jest fahre, war vielleicht ein- 
mal griechiſcher Boden — ja war e3 gewiß, denn nad Oſten 
und Weiten, nah Djten bis gegen das heutige Genua, nad 
Weiten bis tief hinein nah Spanien, den ganzen nördlichen 
Küftenbogen des Mittelländifchen Meeres entlang erftredten ſich 
die Kolonien und Städte ver Phokeer. Mehr als fünfundzwanzig 
größere Städte jollen, von ihnen gegründet, hier geblüht haben. 
Wie weit fih das mafliliihe Griechenthum ind Innere des 
Landes erjtredte, iſt Schwer zu ermitteln, da ſich hier die Gränzen 
im Dunkel der gallifhen Wälder verlieren. Nur in der Provence 
fann man mit einiger Beitimmtheit feine nörbliche Gränze an- 
geben. Saint Remy, das alte Glanum, war gewiß eine griedhi- 
ihe Stadt. Daß aber au an diefen Küften der griechiſche Ein- 
fluß und griechiſche Bildung bis tief in das Land hinein gewirkt 
haben, beweist der Umſtand, daß viele celtiſche Völkerfchaften, 
felbft im Centrum Galliens, ihre barbarifhen Gottheiten mit 
ven jchönen hellenifchen vertaujcht ; daß fie griechiſche Zahlen an: 
genommen und ihren Münzen ein griechiiches Gepräge gegeben 
haben. Es iſt fein Wunder, daß der griechiſche Baum fo reiche 
Zweige trieb und jo breiten Schatten warf, war doch feine Wurzel 
eine feſte, mächtige, die fortwährend aus ihrer Muttererde neue 
Nahrung jog. Es ijt wahrhaft rührend, mit welcher Liebe vie 
Griehen der galliihen Küjten an ihrer Mutter hingen, mit 
welcher liebenven Sorgfalt und Aengjtlichkeit fie Alles tbaten, um 
in ihrer urjprünglihen Heimat nicht vergellen zu werben und 


— 


564 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


um fie felbft nicht zu vergeflen. Diefe Liebe zur Mutter hat fie 
— mie das wohl Jedem geht — vor vielem Böfen bewahrt. Die 
Gefandtihaften nah Griechenland zu pythifchen und olympifchen 
Spielen ſcheinen ſehr häufig, der Verkehr mit den joniihen und 
peloponnefiihen Griechen jehr frequent gemejen zu fein. Die 
Gefandten braten die ſchönſten Produkte des Athenienfiihen 
Geiftes mit nad Haufe, und man nahm fie mit Liebe auf. Was 
in Griechenland des Schönen gedacht, gejagt, gefungen, gemalt 
und gebildet worden, es fand an der galliihen Küfte feinen 
Miederhall und Wiederſchein. Die alten Traditionen lebten hier 
ſogar jehöner fort al3 in den Stammfigen. Während in Athen 
und Griechenland überhaupt die Jugend fih nur nod mit So: 
phifterei und Rabulilterei abgab (fiehe Ariftophanes Fragmente), 
jang und liebte man bier die göttlichen Gefänge Homer's, die 
im Peloponnes und in Attila nur nod im Munde des Bauern 
lebten. Yolirt und von Barbaren umgeben, mußten die Städte 
treu zufammenbhalten und wurden nicht durch innere, fo zu jagen, 
Familienkriege demoralifirt, wie die Republifen Griechenlands; 
und während in diefen all’ die Laſter herrfchen,, die Ariftophanes 
züchtigt, und perſiſches Geld die bürgerliche Pflichterfüllung be: 
lohnt, wirft das Beifpiel der Maffilifchen Städte milvdernd und 
mohlthätig auf hundert rohe Völkerſchaften. Noch zweihundert 
Jahre ſpäter bilden fie die Halbbarbaren, die Römer, und flößen 
ihnen hohe Achtung ein; ja, noch ein halbes Jahrtauſend nad 
Ariftophanes und feiner MWeibervolföverfammlung bezeichnet Ta: 
citus die Mafliliihe Erziehung als die Hauptgrundlage jener 
Tugend, die er an Agricola rühmt. Freilich ſehen wir fie jchon 
kurze Zeit nah Zacitus dem Verderben anheimgefallen und ijt 
der Name Maililier und verderbter Menfh fynonym geworden ; 
aber wir wollen die Maflilier darum nicht anklagen. Ihr Ber: 
derbniß jcheint uns das hiftorifch-providenzielle Verhängniß. Sie 
fonnten und durften jener Fäulniß nicht widerftehen, melche vie 
ganze Welt angefreflen hatte und die beftimmt war, die in Na: 
tionalitäten, in Römerthum und Barbarenthum getheilte Erde 


Siebenzehntes Kapitel. 365 


zu verzehren, um jie durd ein neues, fosmopolitifches Prinzip 
verjüngt auferjtehen zu laſſen. 

Aber der griechifche Geift war darum doch nicht verloren. 
Jene feinfinnliche, fajt raffinirte, mit vollendeter Kunftform plötz⸗ 
lih mitten im Mittelalter bervorfpringende Poefie, jene fertige 
und abgerundete Givilifation, die plötzlich in diefen Gegenden 
mitten dur die diden römiſchen und germanifhen Schichten 
durchbricht — iſt es nicht der hellenifche Geift, der, metamor:- 
phofirt, auferfteht? E3 war die erſte Renaiffance, und wie die 
zweite hat fie fi, freilich mit minderer Gewalt, in ganz Europa 
fühlbar gemadt. Jene Schloß: und Hofpoefie der Troubadours, 
welche die Hobenftaufen im Arelat fennen gelernt — doch das 
würde uns zu meit führen, und zu barod würde es dem Deutjchen 
Elingen, wenn ich feinen Walther von der Vogelmweide mit den 
Griehen, mit den jonifhen Griehen in Verbindung bringen 
wollte; er würde es kindiſche Spiele ver Phantafie nennen und 
wäre vielleicht beleidigt, wenn ich feinen germanijchen Minne- 
jängern einen Anhauch griehifhen Zephyrs vindizirte. Eben jo 
barod fäme e3 ihm vor, wenn ich, auf franzöfifchem Boden ver: 
weilend, die Verjchiedenheit zwifchen der warmen blumigen Be: 
redtſamkeit der Girondiften und den falten Syllogismen Robes: 
pierre'3 und feiner Landsleute von Demofthenes und Aeſchines 
berleiten wollte: Und doch — und doch — aber ich habe ven 
Muth nicht, fortzufabren. 

Bleiben wir in Mireval. Mitten unter den grauen Häufern 
bes Fleckens auf einem Heinen Hügel erhebt fich ein breites, vier: 
edige3, von abgejtumpften uralten Thürmen flankirtes Schloß. 
Diejes Schloß war der Schauplak einer Gefhichte, die würdig 
gewejen wäre, von ber Königin von Navarra erzählt zu werben. 
Man weiß, daß der König von Aragonien Peter IL. die Tochter 
des legten Grafen von Montpellier, Marie, geheirathet und fich 
jo in den Beſitz eines großen Theil des ſüdlichen Frankreichs 
gefegt. Die Heirath gefiel dem guten König vorzugsweiſe des 
reihen Heirathögutes wegen, und er fah nicht allzukritifch nach 


366 Tagebuch au3 Languedoc und Provence. 


den Reizen der Braut. In Montpellier wurde die Hochzeit ge: 
feiert; aber jie ging nicht weiter als über den priefterlihen Segen, 
denn als die Nacht heranfam, meigerte fi) der gute König, die 
Ehe zu „accompliren.” Ungeheuere Berlegenheit Aller, tiefer 
Schmerz der Braut, Niemand weiß ſich die Weigerung de3 guten, 
jungen, Berje madhenden und immer galanten Königs zu erklären, 
denn häßli war die Braut eben nicht. Sie war nicht häßlich 
— aber jhöner, unendlich ſchöner war die junge, fofette Gräfin 
von Mireval, die der Hochzeit al3 Gaſt beimohnte. Dieje lächelt, 
fie jheint die Urjache der Weigerung zu fennen, und da jie der 
König mit aller Liebenswürdigkeit eines Troubadours umgibt, it 
bald der ganze Hof in das Geheimniß eingeweiht. Und jo zieht 
man die jhöne Gräfin ins Intereſſe und gewinnt jie, daß fie mit 
Selbitaufopferung zur „Accomplirung” der Che verhelfe. Sie 
verdoppelt ihre Kofetterie; der König, ein Spanier, glüht; er 
wirft fich ihr zu Füßen; er erreicht endlich feinen Zmwed; vie 
Gräfin von Mireval wird ihn in diefer Nacht, in ihrem Schloſſe 
zu Mireval heimlich empfangen. Die jhöne Nacht naht heran. 
Dhne Panzer und Schienen bejteigt der gute König jein Pferd 
und reitet und reitet — lieblich fingt die Nachtigall in Langue— 
doker Nächten — und reitet nad Mireval. Der gewiſſe Page 
oder die gewiſſe Kammerfrau empfängt ihn an dem gewiſſen 
Hinterpförtchen und führt ihn an der, Hand durd Gärten, dunfle 
Gänge ıc. in das Gemach. E3 iſt dunkel; die Keufchheit der 
Gräfin duldet feine Nachtlampe. Der gute König ift glüdlich, 
jehr glüdlih. Wie er fehr glücklich ift, gehen plöglich alle Thüren 
auf, und mit Fadeln und Lichtern ſtürzt der ganze Montpellierenfer 
und Aragoniihe Hofſchwarm herein, und an ihrer Spige die 
jhöne, lachende Gräfin von Mireval, Der König ift erftaunt 
und jieht, was er gethan. Aragon und Montpellier find völfer: 
rechtlich vereinigt, und die Hausmacht mehrt fih. Dem Könige 
aber geſchah Recht. Warum dachte er nit an die Verje des 
Ariftophanes, und warum ſprach er fie vorjorglih nicht als 
Gebet aus: 


Siebenzehntes Kapitel. 367 


Tichtauge du der lehmgebornen Lampe, 

Beim Schwung des Rads geformt von Zöpferhand, 
Strahlft aus den Schnäuzen Sonnenglanz du aus, 
Sp leuchte mir! 

Dir nur vertrauen wir, du bift uns nah 

Im Kämmerdhen, wenn mit gewandter Kunft 

In Aphrodite's Dienft wir uns bemühn. 

Wer ſcheuchte den verſchwiegnen Augenzeugen 
Berliebter Kämpfe, dih, aus dem Gemach? 

Du ftrahlft allein im tief geheime Buchten ꝛc. ꝛc. 


Nach Andern ereignete fich der nächtig ſchwarze Betrug erft 
drei Jahre nach der Hochzeit und haben nicht die Hofleute, fon: 
dern die zwölf Konſuln der Languedoker Städte die Nacht im 
Nebenzimmer und zwar bei gemweihten Kerzen und im Gebet zu: 
gebracht, und waren fie es, welche wieder mit den gemeihten 
Kerzen den Irrthum des Königs aufhellten. Gemiß ift, daß der 
König Peter, noch mehr gereizt gegen die Königin, fi aufs 
Neue ganz von ihr abwendete und die Königin eimem einfamen 
Leben im Schloſſe Mireval und die Lande Aragonien und Mont: 
pellier der Trauer über den Mangel an legitimen Erben überließ. 
Da geſchah es, dab der König eines Tages ganz vergnügt und 
aufgeregt fein Geftüte von Lattes verließ. Ein Edelmann aus 
feinem Gefolge, Namens Guillem von Arcala, hatte den guten 
Gedanken, aljo zum König zu ſprechen: Sennor, wir fünnten 
wohl, anftatt uns jegt auf die Jagd zu begeben, die Königin, 
unfere Herrin, im Schloffe Mireval beſuchen; Eure Hoheit fünnte 
eine zweite Nacht mit ihr verbringen, und wir würden, wenn e3 
euch gefällig, mit der Kerze in der Hand wachen, und Gott in 
feiner Gnade würde Euch einen gejegneten Sohn bejceeren. 
Der König, von diejen Worten gerührt, that, wie der Edelmann 
anrieth, und am andern Morgen nahm er ganz vergnügt die 
Königin auf die Krupe ſeines Pferdes und ritt mit ihr nad 
Montpellier. Die guten Bürger der Stadt waren über dag Glüd 
ihrer Prinzeflin jo erfreut, daß fie große Fefte feierten und bei 


368 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


dieſer Gelegenheit einen Tanz erfanden, welcher, le chevalet 
genannt, noch heute in Montpellier üblich ift. Jene Nacht aber 
gab dem in ver Geſchichte unter dem Namen „Jakob der Eroberer“ 
befannten Könige das Leben. Trogdem konnte der gute Köniy 
Peter jeinen Widerwillen gegen Marie von Montpellier nicht 
ganz befiegen und ließ fi nad der Sitte des breizehnten Jahr: 
hunderts ohne Weiterd von ihr fheiden, um fich mit einer an: 
dern Marie, Nichte Amauri’3, König! von Yerufalem, zu ver: 
mählen. Marie von Montpellier ging nah Rom, um ſich beim 
Papite zu beklagen und die Scheidung zu hintertreiben. Da ſtarb 
fie und zwar an Gift. Das Volk betrachtete fie al3 eine Heilige; 
und wenn jemal3 Leiden und Demüthigung ein Recht auf diefen 
Titel haben, jo hat ihn die gute Marie von Montpellier verbient; 
denn, wie ihr mannbares Alter, jo war ſchon ihre frühe Jugend 
eine Kette ver bitterften Erfahrungen. Cine böſe Stiefmutter, 
Agnes, verheirathete fie ſchon im elften Jahre an Barral, Bizegrafen 
von Marjeille, und zwang fie, den Rechten auf Montpellier zu 
Gunſter ihrer, Agnes’, Kinder zu entjagen. Zu fünfzehn Jahren 
Wittwe, kehrt fie mit reicher Erbichaft in das väterliche Haus 
zurüd. Die böfe Stiefmutter nimmt ihr die Schäge ab und verhei- 
rathet fie auf3 Neue an den Grafen von Comminges, einen wahren 
Blaubart, ver zur Zeit noch an zwei andere Frauen verheirathet 
war, was aber in jener Epoche nicht genirte und von der Kirche 
weiter nicht gerügt wurde, wenn man, wie der Graf von Com: 
minges, zu den DBerfolgern der Albigenjer gehörte. Marie gebar 
ihm zwei Töchter, wurde aber jo graufam von ihm bebanvelt, 
daß fie lieber zu ihrer Stiefmutter zurückkehrte; aber die Leiden, 
die fie bier erwarteten, waren jo groß, daß fie jene im Haufe 
des Grafen von Comminges vergaß und wieder zu ihm zurüd: 
ging. Aber aufs Neue fürchterlich geplagt, ſah fie ſich gezwungen, 
ein zweites Mal zu entfliehen. Zum Glüd ftarb ihr Vater Wil: 
helm gerade in diefem Momente, und da feine Heirath mit Agnes, 
weil feine erjte Frau noch am Leben war, vom Papfte nicht ans 
erlannt wurde, trat Marie von Montpellier in ihre Erbfchafts- 


Siebenzehntes Kapitel. | 369 


rechte und gewann fih dadurch jenes Glüd an der Seite des 
Königs Peter von Aragonien, welches mit Gift und Heiligen: 
gerud endete, Ein wahres mittelalterlihes Weiberjbidjal, das 
Schidjal der armen Marie von Montpellier. 

Mir fönnen nicht umhin, bier noch eine kurze Geſchichte 
ihres Sohnes, Jakobs de3 Groberers, zu geben, da fie eine wür— 
dige Fortfegung der Geſchichte feiner Eltern bildet. Wir kennen 
fie genau aus feinen eigenen Memoiren, die er in prowenzalijcher 
Sprache fchrieb. Er galt für einen der frömmften Fürjten aller 
Beiten, weil er über taufend Kirchen baute und bereicherte. Im 
Sabre 1229 verftieß er Eleonore von Kajtilien, denn er bejann 
fih fünf Jahre nad feiner Heirath, daß fie in einem gewiſſen 
Grade mit ihm verwandt war, und vermählte fich mit Jolanthe 
von Ungarn. Diefe neue Ehe erwedte die Wuth und die Eifer 
fucht einer feiner Maitrefien, Therefe Giles Vivaura, welcher er, 
wie er felbjt gebeichtet, die Che verſprochen hatte. Der Erzbiſchof 
von Girona, jein Beichtvater, unterftügte die Anſprüche The: 
reſens und fchrieb darüber einen Brief an den Papſt Innocenz 
ven Vierten, in welchem er al3 Zeuge für Therefe auftrat. König 
Jakob lud ihn auf jein Zimmer ein und ließ ihm da, weil er 
das Beichtjiegel verlegt hatte, die Zunge ausjhneiden. Der 
Papſt beitrafte dieſe Vertheidigung des Beichtgeheimnifjes mit 
dem Bannfluch, der aber den König in ſeinem luſtigen Leben 
nicht weiter ſtörte. Nach dem Tode Jolanthe's nahm er wieder 
Thereſe Giles Vidaura zu ſich und gab ſie für ſeine Frau aus; 
aber bald ihrer überdrüſſig, bat er den Papſt Klemens den 
Vierten brieflich um die Erlaubniß, dieſe Halbehe brechen und 
Berenguella, eine alte, aber nicht ganz verroſtete Liebe, heirathen 
zu dürfen. Noch ein Jahr vor ſeinem Tode nahm er eine an— 
dere Dame, die er ihrem Manne entführt hatte, zu ſich ins 
Haus, und da ihm der Papſt, Gregor der Zehnte, darüber Vor: 
würfe machte, entjehuldigte er ſich mit der Schönheit diefer Frau 
und mit ber Gefahr, die fie erwarte, wenn fie zu ihrem Manne 
zurüdkehrte. Dem Papſte ſchien dieſe Entſchuldigung einleuchtend. 

Moritz Hartmann, Werke III 24 


370 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Nicht jobald beruhigt über das Don Yuan: Leben ihres Königs 
waren die guten Bürger von Montpellier. Sie ftanden mehrere- 
mals auf und verfuchten fih als Republik zu konftituiren. 
Das mißlang ihnen, denn nad) dem Tode Jakobs fehen wir ſie 
wieder der jüngern Linie feines Haufes unterthänig. 

Unfehlbar wird man durch jeden Feudalbau auf ſolche hroni- 
falifhe Erinnerungen zurüdgeführt. In der That, fie find nicht 
geeignet, den Worten des Legitimiften, der zufällig an der Seite 
de3 Reifenden ist, Eingang zu verfchaffen und feinen Bekeh— 
rungsverſuchen wirkſamen Vorſchub zu leiſten. 

Gleich hinter Mireval verwandelt ſich das Land in jenen 
Amphibienboden, der ganz Niederlanguedoe vom Fuße des Ce— 
venniſchen Mittelgebirges an bis ana Meer, von ven Mündungen 
der Rhone bis gegen Agde hin charakterifirt. Was nicht Sumpf 
ift, iſt dürrer, graslofer, nadter Kalkſtein. Aus folhem Boden 
wächst der foftbare Wein von Frontignan. Er ift fo heiß, fo 
folid, jo mädtig, wie irgend ein fpanifcher Wein, aber ihm 
fehlt die Blume, die der Muskat von Lunel felbft im hohen 
Alter bewahrt. Der Stadt Frontignan nicht ferne erhebt ſich ein 
Kalkberg, in deſſen Innerem man jelbit tief unter der Meeres: 
flähe Süßwaflerformationen in nädjfter Nähe von Seeforma— 
tionen gefunden hat. Meer und Land haben ſich in diefen Ge— 
genden lange um die Herrſchaft geitritten, und nod) ift der Streit 
nicht entſchieden. Das fühlt man vorzug3mweife, wenn man von 
Frontignan weiter nach Cette fährt. Die alte Straße, deren 
Haupttheil, die Beyrade, eine Art von Bogenbrüde bildete, ift 
heute natürlich verlaflen; man fährt auf der Eifenbahn. Sie 
geht buchſtäblich durchs Meer und ift in diefer Beziehung gewiß 
eine der fonderbarften Europa's. Rechts und links nichts ala 
blaues Gemwäfler, daS bei ftarlem Nord: oder Südwind jeine 
Wellen über das Menſchenwerk jhleudern muß. Rechts und 
lints Kähne und große Schiffe, in deren Gefjellfchaft der Wagenzug 
dahinfliegt. Wenn die Lofomotive aus dem Geleife ſpränge, wir 
würben hinabfahren in die heilige Salsfluth, und Fiſcherkähne 


Siebenzehntes Kapitel. 371 


würden ung retten. Wie erjtaunlid muß den Delphinen, die 
dort ihre Häupter dem Sonnenſchein entgegenftreden und plump 
umbergaufeln, die große Seejhlange erfcheinen, die mit glü— 
henden und dampfenden Nüftern durch ihr Element, durd ihre 
Heimat dahinfaust. Der Streifen des Eifenbahndammes ſchrumpft 
in der Ferne, gegen Cette, zu folder Dünne zufammen, daß er 
in dem blauen Elemente ganz verſchwindet, und man glaubt, 
gerades Meges in das Meer hineinzufahren, beſonders da das 
Gewäſſer rechts, das man bis jegt immer leicht überblidte, immer 
breiter wird und fich endlich al3 großer See, al3 der &tang de 
Thau ausdehnt. Die Angſt dauert nicht lange; wir gelangen 
auf feftem Boden im Bahnhofe von Cette an. 

Ich blättere zurüd in meinem Tagebuche, um dort die No: 
tizen über meinen erften Befuh im Mai aufzufuhen und um 
mich deutlich an die erften hier empfangenen Eindrücke zu erin- 
nern. Ich finde nichts, als: 


Da fit ich wieder 
Zu deinen Füßen, 
Du herrliches, jeelenerweiterndes Meer. 
Dir bring id) dar 
Andächtige Huldigung 
Wie meiner Königin, 
Meiner Geliebten. 


Ich tauche mein Haupt 
In deine Wellen, 
Die heilige Taufe 
Durchdringt mic) mit Schauern ꝛc. zc. 


Damit ift nichts zu maden. So fhreibt man kein Tagebuch; 
fo empfiehlt man fich feinen Landsleuten nicht al3 einen Mann, 
der auf Nügliches achtet. Darum anders. Die Stadt Cette treibt 
ftarten Erporthandel mit Wein, Spiritus, allerlei fabrizirten 
Liqueuren und dem weißeſten beſtkryſtalliſirten Salze des Mittel: 
ländifchen Meeres. Die Fifcherei wird hier großartig betrieben, 


’ 


372 Tagebud) aus Languedoc und Provence, 


vorzugsweiſe um die Zeit, wenn die Fiſche aus dem &tang de 
Thau ins Mittelmeer zurüdfehren, da man ihnen an den Aus: 
gängen auflauert. Dieje Auswanderungsfriit aus dem étang 
de Thau und den andern Salzgewäflern umfaßt den langen 
Zeitraum vom-1. Julius bis zum 1. März. In ven Zwanziger 
Sabren (leiver habe ich nur alte Quellen vor mir!) wurden wäh- 
rend des Fiſchfanges eines einzigen Jahres 23,700 Quintaur 
Weißfiſch, 7,150 Quintaur Aal, 45,000 Quintaur Mujcheltbiere 
u. j. mw. erbeutet. Das ijt viel, wie ich glaube. 

Troß diefem einheimischen Reichthume an Naturproduften 
und trog dem trefflihen Hafen, der der beite unter den franzö— 
fiichen des Mittelmeeres iſt, hat ſich Cette noch nicht zu einem 
felbftändigen Leben emporgearbeitet. Die Kaufleute und Pro: 
prietäre von Montpellier, mit ihren Weinen und Spiritufjen, 
die fie aus den jchlechteren. Weingattungen bereiten, die Ban- 
quier3 mit ihrem altangejtammten Gelve fpielen bier noch immer 
die Hauptrolle. Cette iſt nur ihre Boutique. Cette ijt für Mont: 
pellier ungefähr, was Bremerhafen für Bremen ijt. Aber Das 
wird nicht immer jo bleiben. Der Verkehr mit Afrifa wird von 
Tag zu Tag lebhafter; Cette wird den Mittelmann zwifchen ver 
Kolonie und mwenigitens dem halben Frankreich abgeben und fo, 
ohne Marjeille zu jchaden, für fi genug zu thun befommen. 
Neue Wichtigkeit wird es erlangen, wenn erjt die Eifenbahn nad) 
Bordeaur gebaut und jo die Verbindung mit dem großen Dean 
bergejtellt ijt, für welde ver Südkanal nicht ausreiht. Dann 
werden die Reichen von Montpellier einfehen, daß ein bloßer 
Rutſcher nad) Cette auf ein oder zwei Stündchen für ihre Gefchäfte 
nicht genügend fei, und fie werden mit ihren diden Kapitalien 
ganz und gar nad) Cette überfieveln. Die Einheimijchen, die bis 
jest nur die Commis de3 Montpellierenjer Kapital gemejen, 
werben ſich emanzipiren; fie werden unterbeflen, von ihrer guten 
Lage begünjtigt, genug für ji gewonnen haben, um ihren Play 
für eigene Rechnung auszubeuten. Und fo kann es fommen, daß 
Cette von jebt in einem Jahrzehnt eine bedeutende Handelsſtadt 


Sicbenzehntes Kapitel. 373 


fein wird, und fo kann es fommen, dab Montpellier yerfällt und 
feine Bejtimmung erfüllt. E3 hat jeine Macht durch Vermitte: 
lung Billeneuve’3 von Maguelone genommen, es wird jie direft 
an Gette abgeben; und fo wird es die Folgen ver Gentralijation, 
die e3 auch um feinen geijtigen Halt, um die Univerfität, ges 
bracht hat, noch fchmerzlicher fühlen. 

Die Stadt Cette, der wir eine jo große Zukunft prophezeien, 
ijt noch nicht zweihundert Jahre alt. Vor dem Jahre 1666 war 
der jchmale Landſtrich, den fie einnimmt, von einigen armen 
Fiſcherhütten bejegt; in jenem Jahre legte man den Grund zum 
Molo, am Ausfluffe des großen Kanal, um den aus: und ein: 
laufenden Schiffen eine Station zu fihern. Der Punkt bewährte 
ih, und man legte einen zweiten, im Halbfreis ins Meer hin: 
einlaufenden Damm an, und der Hafen war fertig. Die Fiſcher— 
hütten verwandelten fich in Häufer, und noch unter Ludwig XIV. 
erhielt der Sleden Cette Munizipalitätsrechte. Vor Ausbruch der 
jranzöfifchen Revolution belief ſich die Einwohnerzahl bereit auf 
10,000. Stadt und Hafen find durch zwei Fort3 und ein Kaftell 
geihügt. Legteres erhebt jich ziemlich maleriſch auf dem ſonſt 
fahlen, troſtlos ausjehenden Kaltberge, welcher der Stadt an 
jeinem Fuße nur einen jchmalen Strich bequemen Terraing gönnt 
und fie an den Sumpf und ans Meer drängt. Er wird es büßen ; 
denn bald wird die Stadt dem Beispiele des Kaſtells folgen und 
feinen Rüden hinanklettern, um von dort aus ihr Neid, das 
Mittelländische Meer, zu überſchauen. Um Dajjelbe zu thun, 
wanderte ich gleich nach meiner Ankunft den fahlen Bergrüden 
hinauf. Kein Straub, fein Baum gibt Schatten, und fo fam 
ic halb gebraten in der Mittagsfonnenhige oben auf dem Kaftelle 
an. Der Offizier geftattete mir freundlich den Eintritt, und ein 
Sergeant führte mich auf den höchſten Punkt der Fortififation. 
Es gibt feinen Punkt in Languedoc, der für die Meeresausſicht 
jo günftig wäre, wie diefer. Gegen Südweſten ift ver Horizont 
von den mwolfenähnlich verſchwimmenden Bergen der Küften von 
Roufjillon und Katalonien begränzt; gegen Süden fliegt der Blick 


374 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


- 


ungehindert ind unermeßlihe Weite, über das tiefpunfelblaue 
Meer den weißen Segeln nad) und entgegen ; gegen Often ergeht 
er fih auf den grünen Ebenen Niederlanguedoc's, ruht er auf 
den Ruinen von Maguelone, auf ven Zinnen von Aigues:Mortes, 
auf den Randhäufern und Schlöffern, welche die Ebene nordwärts 
befränzen. In nächſter Nähe laht der See von Thau wie ein 
Miniaturbild des großen Mittelländifhen Meeres. Mir zu Füßen 
lag das Fort, das den Hafen unmittelbar in feinen Schuß nimmt. 
In diefem Augenblide hat e3 noch eine andere, eine traurige 
Beftimmung. Achtundfünfzig freie Söhne ver Wüfte, Häuptlinge 
der Bebuinen, verbringen in feinen kahlen Mauern ein einför: 
miges Gefangenenleben. Im Hafen daran mwimmelt ed von 
Schiffen, von hin: und herfahrenden Matrofen, von aus- und 
einladenden Arbeitern. Wie ich hinabſtieg, bemerkte ich unter 
den hundert Schiffen eines, das jtolz feine Flagge, den preußis 
ſchen Adler, wehen ließ, jo jtolz, al3 ſtünde eine deutſche Flotte 
binter ihm, um e3 zu ſchützen. Es war die Danziger Brigg 
„Thomas“. Ach rief es vom Molo aus deutfch an, und fofort wurde 
ein Boot abgeſchickt, um mich zu holen. Mit befonderer Freude 
Eletterte ih am Tau hinan und befand mich auf deutfchem Boten. 
Kapitän, Steuermann und Matrojen, Oftpreuße, Hannoveraner 
und Friesländer waren fehr erfreut, einen deutfchen Landsmann 
bei fi zu empfangen und Neuigkeiten aus dem Vaterlande zu 
erfahren. Denn feit langer Zeit ſchon trieben fie ſich in den ver: 
ichiedenften europäifchen und amerikanischen Gewäſſern umber 
und mußten nichts von Allem, was fich feit beinahe zwei Jahren 
im deutſchen Vaterlande zugetragen hatte. Ihre Flagge hätte 
jonjt wohl nicht fo ftolz geweht. Sehr deutſch-einig klangen der 
preußifche, der hannöveriſche, der plattveutfche, der böhmiſch— 
deutſche Dialekt während halbjtündigen Geſpräches ineinander, 
jo dab ich glaubte, in der Baulsfirche zu fein. Dort wie bier 
breitete der ſchwarze Vogel feine Griffe über ung aus. Ich ſchied, 
um pflichtgemäß noch die Stadt zu durchwandern. 

Die Kneipen am Hafen tragen Infchriften in den verfchiedeniten 


Siebenzehntes Kapitel, 375 


Sprachen. Ueber ver Thüre der einen las ih: „Hier wird deutſch 
gekocht,“ über einer anderen: „Hier wird deutſch getrunken,“ 
was mir bewies, daß das Schiff Thomas aus Danzig keine 
Ausnahme ſei, und daß dieſe Gewäſſer wohl häufig von germa— 
nischen Roftren durchfurcht werden. Die Hauptitraße läuft parallel 
mit dem Kanale hin, welder ven &tang de Thau mit dem 
Meere verbindet, und gleicht in ihrer ganzen Ausvehnung einem 
einzigen großen Zelte. Denn die zahlloſen Kaffeehäufer und vie 
vielen Boutiquen rechts und links breiten große Leinwanddächer 
aus, die in der Mitte der Gafie zufammenftoßen und fie ganz 
beveden. Im Schatten liegen die trägen Sübländer und die See— 
fahrer, die froh find, im Hafen zu fein, und rauchen geſchmug—⸗ 
gelte Cigarren und verzehren Berge von Eid. Am Ausgang 
dieſer bezelteten Straßen, in einem großen Kaffeehaufe, verſam— 
meln fich die Spiritushändler und machen mit großem Lärm ihre 
Geſchäfte ab. Ich verließ diefe Spirituswelt, um einige Reſte 
der alten, klaſſiſchen aufzufuchen, da ich einmal gelefen hatte, 
daß fih in Cette noch Reſte alter, römischer Waflerbehälter. be- 
fänden, Aber mein Nachfragen war umfonft; Niemand mußte 
mir Auskunft zu geben, und bald von der Wanderung in ber 
furchtbaren Sonnenhitze ermübet, kehrte ich zu den Zelten zurüd, 
um mich an Eis und Sorbet zu erquiden. Es that mir leid, daß 
ich meine Zeit fo verlieren mußte, aber die Sonne wollte e3 nicht 
anders, und jo begnügte ih mich mit. dem Bemußtfein, auf 
römifhem Boden Siefta zu halten. Denn es iſt fein Zmeifel, 
daß da, wo jegt Cette liegt, ehemals eine römiſche Stadt geftan- 
ven habe, vie fich vielleicht auf maſſiliſch-griechiſchem Fundamente 
erhoben. Neben jenen römischen Waflerbehältern fand man zu 
Anfang diefes Jahrhunderts in der Nähe der Grundftüde won 
lous Mazets zwei verjehüttete, römiſch konſtruirte Kanäle und 
die Ruinen mehrerer Häufer, deren Boden mit ſchönen Moſaiken 
bevedt waren. Außerdem den Arm einer Marmorjtatue, eine 
ihöne korinthifehe Säule und über vierhundert Medaillen und 
Münzen von Auguftus an bis auf Conjtantinus. War doch 


376 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


diefe ganze Küfte, jo zu jagen, ohne Unterbrechung bededt von 
römischen Städten, die heute ganz verſchwunden find. Wo iſt 
Forum Domitii hingerathen? wa3 ift mit Forum Neronis ge- 
ichehen? Wer hat die prächtige Stadt zerſtört, die fih an der 
Stelle de3 heutigen Fabreques erhob? Vielleiht war Cette nur 
eine Villeggiatur, oder eine größere Seebadeanftalt, in welcher die 
reihen Römer aus den genannten Städten einen Theil ihres 
Sommers zubrachten. Daß e3 aber auf römifchen Grundlagen 
ruht, it gewiß. Sehr wundert e3 mich, daß jeine erjte Grund: 
jteinlegung nicht Julius Cäfar zugefchrieben wird, diefem Mann, 
den die nachrömijche Zeit und die erjte Hälfte des Mittelalters 
zum Gründer par excellence erhoben hat, und an deſſen Namen 
ich große Städte wie fleine Fleden des Südens und Nordens jo 
gerne anlehnen, um ſich einen adeligen Stammbaum zu geben. 

Wie es Abend war, ging ich noch einmal hinaus an den 
Hafen; in den Kneipen war e3 Iujtig, aber von einem ver Schiffe 
klang ein überaus trauriges Lied in franzöfiiher Sprache. Es 
fang es ein Mann, der nahe beim Steuer jab und die Beine 
hinunter über Bord baumeln ließ. Die Melodie zog unendlich 
melancholiſch über die Wellen und durch das Liipeln des Abend— 
windes und das Geklapper der Naaen und Taue. Leider fann 
ich jie nicht wiedergeben, aber vie Morte der eriten Strophen 
kann ich ungefähr überjegen. 


Schön Iſabeau, 
Ich ziehe fort auf der Welle, 
Fortzieh ich, ach! 
Du ſtehſt betrübt auf der Schwelle 
Und blickſt mir nach. 
Schön Iſabeau, 
Ich ziehe fort auf der Welle. 


Schön Iſabeau, 
Ich ziehe fort auf der Welle, 
Das Meer iſt breit, 
Mein Schiff, das ſegelt ſo ſchnelle, 


Siebenzehntes Kapitel, 377 


Sort zieh’ ich weit. 
Schön Iſabeau, 
Ich ziehe fort auf der Welle. 


Schön Iſabeau, 
Ich ziehe fort auf der Welle, 
Die See geht hohl, 
Mein Schiff, das fegelt jo Schnelle, 
Du lebe wohl. 
Schön Iſabeau, 
Ich ziehe fort auf der Welle. 


Die traurige Melodie begleitete mich noch, al3 ich ſpät nad 
Montpellier zurückkehrte, und jegt, da ich diejes fchreibe, klingt 
ſie wieder lebendig in meinem Herzen. Ich glaube, daß ich ſie 
nicht vergeſſen werde. Die tiefe Trauer, die ſie ausdrückt, er— 
innerte mich an das iriſche Volkslied „Kobert a Roon“, das 
ih bei Dublin gehört habe. — 


Adtzehntes Kapitel. 


Der Pinientburm und die Beifjagung des Noftradamus — Autoritäten, melde 
Montpellier loben — Der Brunnen Jaques Coeur's — Maguelone — Der 
Roman von Beter von Provence und der Shönen Maguelone — Melufine — 
Die fübfrangöfifhen Sagen — Eine literarifhe Moftifilation — Ausflug nad 
St. Guilbem le dejert — Ein Fermier general — Aniane und der heilige 
Benedift — Südfranzöſiſche Bräuche — Die Drac's — Der Herault — Die 
Müble von Clamous — Eine fonderbare Brüde — St. Builbem le deſert und 
fein Gründer Wilhelm Rurznafe, Herzog von Aquitanien — Das wilde Thal, 
Felſen, Adler, giftiges Getbier. 


Montpellier, den 2. Oktober 1851. 

Und fo mögen die drei Pinien auf dem Thurme ver alten 
Stadtmauer noch lange fortgrünen und breite Aeſte in die Luft 
jtreden, mwie Feitpaniere, denn von ihnen — jo jagt es der Pro: 
phet Noſtradamus und jo glaubt e3 das Volt — von ihnen hängt 
das Wohl und der Beftand der guten Stadt Montpellier ab. So 
lange fie, die fich fühn binaufgepflanzt haben auf die Spitze des 
hoben Thurmes, troß ihren gefährlichen Standpunkten, troß den 
Stürmen, die fie dort oben ummehen, fortgrünen auf feiten 
Wurzeln, jo lange wird auch die gute Stadt feititehen auf ihrem 
Grunde, obwohl er von flüchtigen Queckſilberadern durchzogen 
it. Ich fpreche diefen Segen von ganzem Herzen aus, und ich 
bin nicht der Erjte, der es thut, nicht der Erfte, der aus diejen 
Gegenden mit Bedauern fcheidet. Ich habe alte und uralte Vor: 
gänger, die, vom Wind des Zufall oder vom Verhängniß hier: 
bergetragen,, vor ihrem Echeiden die Stadt gerühmt und geprie: 
jen haben. ch zitire nur den alten Joſephus Scaliger, welder 
ſprach: „Wäre e8 mir vergönnt, an einem Orte zu leben, ver 


Achtzehntes Kapitel. 379 


meinem Herzen theuer ift, ich wählte die Stadt Montpellier und 
machte jie zum Neſte meiner alten Zage, E3 gibt feinen Ort, wo 
man feine Tage ſüßer verleben könnte, ſei es ver holden Luft, 
jei e3 der Sitten der Einwohner oder der Annehmlichkeiten des 
Lebens wegen.” — Ihren Glanz rühmt ſchon der gute Doktor Rabbi 
Benjamin in feinen Stineribus: „Wir brachen, fagt er, von Beziers 
auf und erreichten in zwei Tagen Monstremblans, welches die 
Einwohner ehemal3 Montem pessularum nannten und heute 
Montpellier heißen. Die Stadt, die aller Orten an Kaufmanns: 
waaren Ueberfluß hat, liegt ungefähr zwei Stunden vom Meere 
entfernt.“ (Der gute Rabbi Benjamin in feinem Talar muß nur 
ſehr langſame und Heine Schritte gemacht haben.) Neben ver 
Wiſſenſchaft interefjirt ihn der Handel, und er fügt feiner Lob— 
preijung Montpellier's hinzu: 

„Ad mercaturam confluunt christianorum et ınuha- 
medanorum plurimi et e regionibus Algarbiae, Lom- 
bardiae et regno magnae illius Romae universo, regno 
aegyptio, terra isra@litica et Graecia, Gallia, Hispania 
et Anglia. Man hört vafelbit vie Sprachen aller Völker, und 
die Schiffe ver Genuefen und Piſaner bringen fie, die zahllojen 
Söhne aller Länder, nad Montpellier.“ 

Jaques Coeur, der Zumelier und Schagmeijter Karls VII., 
der Rothſchild des fünfzehnten Jahrhunderts, wenn man ihn jo 
nennen fann, da er ein wirklicher Handelsherr war, der die Pro: 
dukte einer Melt in Umlauf feste und nicht ein bloßer Papier: 
und Börfenmäller in großartigem Styl — Jaques Coeur, den 
ich lieber den franzöfiihen Fugger nenne, hat aus Montpellier 
den Mittelpunkt feines ungeheueren Handels gemacht und nicht 
wenig zum mittelalterlihen Glanz der Stadt beigetragen. Gewiß 
trug auch fein Beijpiel, eben fo wie die in Montpellier reſidirende 
Wiſſenſchaft, viel dazu bei, ver Stadt wie dem Lande jenes Bür- 
gerbewußtjein zu geben, welches beide durch viele Jahrhunderte 
dem Feudalismus gegenüber geltend zu machen mußten. An 
diefen unternehmenden Mann erinnert noch ein alter gemauerter 


380 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


Brunnen, den, wie man jagt, die Stadt feiner Yürjorge ver: 
dankt, und der noch heute der Brunnen Jaques Coeur’3 heißt. 

Es ift natürlih, daß man mit all diefen Erinnerungen an 
die Vergangenheit Montpellier3 endlih bis an ihrem Urfprung 
anlangt, und da dieſer eigentlih auf der romantiſchen Inſel 
Maguelone zu ſuchen ijt, und da dieſe Inſel jo einlavdend, ewig 
mahnend von dort aus dem Mittelländiichen Meere herübermwintt, 
macht man fich denn endlich auf, und wenn man ed auch nur 
thäte, um eine Lüde im Tagebuche auszufüllen. 

Zwiſchen den hübjchen Villen der reihen Bürger von Mont: 
pellier, zwiſchen Gartenmauern und Weinfeldern geht es Anfangs 
ganz gemüthlich vorbei an Rondelet oder Rondibilis, dem Land: 
baufe, das im Rabelais vorfommt, vorbei an Mans und Morin, 
den reihen Meiereien. Gleich hinter Morin wird es troſtlos öde. 
Rechts und links nicht3 als Sümpfe, die, in diejer Jahreszeit 
ihon des Rohres und Scilfes beraubt, nicht einmal mehr das 
Grün haben, das im Hochſommer ein gemwiljes Leben heuchelt 
und Tod und Fäulniß verlarot. Auf einem jchmalen Knüppel: 
damme durch eine Allee zwerghafter Tamarisfen gelangt man 
an das Ufer des Mofjon, der ſich, zwiſchen mühjam zufammen: 
gehaltenen Ufern, durch den Sumpf windet. Wir jtiegen in den 
‚Kahn, der uns dort erwartete. Meer und Erde verfchmanden 
zwiſchen den doch niedrigen Ufern. Auf ihnen ericien von Zeit 
zu Beit ein jchneeweißer, lömengroßer Schäferhund von der 
pyrenäiſchen Nace und glogte und mit menjchenjcheuen Augen 
an. Aus der Ferne höchſtens Schafgeblöd. Nach halbftündiger 
Fahrt tauchten plöglid einige Fijcherhütten mitten aus dem 
Sumpfe empor. Wenn Ovid, jagte einer unjerer Reifegenofien, 
die Reſidenz der Langeweile hätte befchreiben wollen, er würde 
dieſe Hütten bejchrieben haben. Gie beitanden ganz einfach aus 
zufammengeflodhtenem Sumpfrohre. Dede diefer Hütten hatte 
ihren bejonderen Hafen, d. i. einen Einfchnitt in den Damm, 
der grade lang und fchmal genug war, um einen Kahn faſſen zu 
fönnen. Diefer Damm felbit ift ein fchmaler Strih Landes, der 


Achtzehntes Kapitel. 331 


ven Fluß vom Sumpfe fcheidet, und von dem man nicht einfieht, 
warum er jich eines Tages nicht ebenfall3 in Sumpf verwandeln 
und wie ein fauler Fifch auseinander geben foll? Man begreift 
aud nicht, wozu fich der Fluß jo viele Mühe gibt und jtunden: 
weit durch Sümpfe frieht, da er rechts und links Gelegenheit 
genug hätte, fich zu ergießen. Aber das jind jo vorgefaßte Mei: 
nungen, dab man fich ins Meer ergießen müſſe. Unſer Rhein 
ift als Deutfcher viel vorurtheilsfreier und verliert fich, man weiß 
nicht wie. — Da wir den Hütten ganz; nahe famen, bemerkten 
wir allerdings, dab ſich zwijchen ihnen gewifje Verhältniſſe be: 
fanden, welche anjtändigen Häufern nicht unähnlih waren. CS 
find das die Jagdhäufer, vie fich reihe Montpellierenjer für die 
Zeit der Entenjagd bier erbauen. Vor der Hütte unjeres Gon: 
doliers, der uns freundlich eingeladen hatte, ftiegen wir für einen 
Moment aus. Er hat ein reizendes Töchterchen, und wie lang: 
mweilig mir auch dieſe ganze Gegend, die nicht Fiſch noch Fleiſch, 
nicht Meer und nicht Land it, Anfangs erfchienen war, jo fam 
mir bei ihrem Anblid doch die Idee, dab dieſe Fiſcherhütte der 
prächtigſte Schauplag für eine Idylle wäre. Wie elend jie auch 
ausſah, verrieth fie im Innern doc eine große Wohlhabenbeit. 
Ihr Beliger hieß uns bei jich willlommen und benahm ſich mit 
jener Ungezwungenheit und Freiheit, die dem Manne aus dem 
Volke hier eigen find. Es wurde uns wohl an feinem Herde. Er 
fegte und und fib Stühle, und fein Töchterchen kredenzte treff: 
lihen Wein des Landes. Vor der Thüre, auf dem Fluſſe trieben 
fich fünf Jungen herum, die mit Fifchfang in großen, über die 
ganze Breite des Fluſſes gejpannten Netzen bejhäftigt waren. 
Die Jungen find Findelhauskinder, die er zu ji) genommen. 
Die erjten fünf Jahre wird ihm für ihre Verpflegung eine ge: 
wife Summe bezahlt; nad den fünf Jahren behält er fie als 
Lehrlinge, und fpäter ſteht es ihnen frei, in die Marine zu 
treten. Sie ſahen ganz vergnügt aus, rauchten ihre brule-geule 
und trieben fich ganz luftig auf dem Fluſſe umher plus heureux 
que des rois, Für die foziale Stellung diejer Kinder ijt es 


382 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


bezeichnend, daß fie feine Familiennamen haben. — An der Wand 
der Fifcherhütte hing das Bild des unglüdlihen Ariſtide Olivier 
in jhönem Rahmen. Ariftive ijt ein Märtyrer geworden und 
wird bier beim Volke wie ein Heiliger verehrt. — 

Nah kurzer Weiterfahrt famen wir aus dem Fluffe in den 
großen Kanal, der von Beaucaire nach Aigue-Mortes, von 
Aigues:Mortes nad Cette führt. Diefer Kanal geht hier eigent- 
(ich hon durchs Meer, auch nährt er ſich nur von gejalzenem 
Waſſer. Er ijt eine ruhige, gradlinige Waſſerſtraße durch das 
Reich der heiligen Salzfluth und in flüfliger Subftanz nichts 
Anderes al3, etwas weiter oben gegen Cette zu, die Eijenbahn 
ift, die ebenfall3 durd die Bläue der mittelländifchen Wellen 
führt. Möven, Seeadler, allerlei Sumpf: und Meervögel kreis: 
ten über unjeren Häuptern. 

So landeten wir endli an dem Kleinen Damm, der vom 
Kanal zu der weltberühmten, jagenhaften, vielbefungenen Inſel 
Maguelone führt. Es fieht heute traurig aus, dieſes kleine 
Eiland, das einjtens eine CitE und einen mädtigen Biſchofsſitz 
auf feinem ſchmalen Rüden getragen und Frankreich und den 
meiften Völkern Europa's ein Stüd Poefie geliefert hat, das bis 
zum heutigen Tage im Munde des Volkes friſch und blühen 
fortlebt. Wer kennt nicht die wunderbare Geſchichte Peters von 
Provence und der ſchönen Maguelone? In Deutfchland ver: 
kauft man fie für ſechs Kreuzer. Vielleicht intereflirt e8 manchen 
Landsmann, etwas über die Geſchichte dieſes Romans zu erfab: 
ren; jo überfege ich hier ein Fragment aus der Monographie 
des gelehrten Renouvier aus Montpellier, welche der Künitler 
Saurent mit ſchönen Lithographien geſchmückt hat. Dort heißt 
es: „Gariel jpriht von Bernard de Treviez, Kanonikus und 
Poet von Maguelone, der im 12, Jahrhundert gelebt und den 
Roman vom- Peter von Provence und der ſchönen Maguelone 
verfaßt hat, in welchem er die feiner Kirche im Jahre 1079 durch 
Peter, Grafen von Melgueil, und Adalmude, feiner Frau, ge: 
machten Scenfungen feiern wollte. Gewiß maren zur Zeit 


Achtzehntes Kapitel. 383 


Gariel’3 die Ueberlieferungen über den Roman von der ſchönen 
Maguelone noch frifh genug, um für uns einigen Werth zu 
haben; fo ift die Meinung des Herrn Raynouard, welcher die 
Mittheilungen des guten Kanonikus (Gariel) adoptirt und mit 
ihm in Uebereinftimmung binzufügt, daß dieſer Roman fpäter 
von PBetrarca, während er fi mit dem Studium des kanonifchen 
Rechts an der Univerfität Montpellier beichäftigte, verbeflert 
worden fei. Aber Herr Raynouard fagt doch nicht, wie mancher 
Andere, dab aud Rabelais feine Hand an den Roman gelegt 
habe. Wie immer e3 ſich damit verhalten möge, heute gibt man 
zu, daß Bernard de Trevie;, Kanonikus von Maguelone, einen 
Roman in provenzalifhen Verfen verfaßt habe, der wie fo viele 
andere verloren gegangen ift. Der Urjprung Maguelone’3 war 
darin anders al3 in der Legende und ganz anders als in den 
gelehrten Erörterungen, melde ſpäter folgten, aber jedenfalls 
auf eine poetifchere Weife erklärt. Die Gründung feiner Kirche 
und Stadt bildeten darin das Ende der Pilgerfahrt einer nicht 
weniger in Frömmigkeit al3 in Liebe feurigen und treuen Yung: 
frau. Das Gedicht eriftirte no im 15. Jahrhundert und wurde 
damals und mehreremal3 feit jener Zeit ins Franzöfifche und Ka: 
talanijche übertragen, unter dem Titel: Ystoire du chevalier 
Pierre, fils du comte de Provence et de la belle Ma- 
guelone, fille du roi de Naples. Verachtet von den Fadı- 
literatoren, erhielt fih diefer Roman in der Literatur des Volkes, 
für welches er wahrſcheinlich auch gedichtet worden war. Aller: 
dings verlor er mit jeder Umwandlung etwas von feiner Ur: 
iprünglichkeit und feinem Werthe, aber er läßt doc überall die 
Reinheit ver Gefühle, die Einfalt der Form durchſcheinen, durch 
welches fich jenes unnachgeahmte Schriftthpum auszeichnet. Selbit 
in unferer Zeit fehren wir noch mit Vergnügen zurüd zu den 
rührenden Abenteuern Pierre'3 und Maguelonen’3, „qui ves- 
quirent en saincte et honneste vie et moururent sainc- 
tes personnes, et furent ensevelis en l’Eglise St. Pierre, 
la oü Maguelone institua l’ospital. Et à present ya 


384 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


une belle église en lhonneur de Dieu et de St. Pierre et 
St. Paul, auxquels plaise nous resjouyr en toutes tribulations 
en ce monde et en la fin nous mener en la gloire du paradis.* 

Dieſe Kirche des heiligen Pierre, die aljo vie jagenhafte 
Maguelone gebaut haben foll, ijt neben einigen Heinen Reiten 
vom ehemaligen Klofter heute allein noch übrig von der ganzen 
Stadt und dem prächtigen Biſchofsſitz, welchen einjt Bäpite und 
Könige befuchten. Und auch dieje Kirche, wie traurig fieht fie 
aus! Dede und einjam erhebt fie ſich aus dem Eleinen, öden und 
einfamen Eilande. Cinige Kleine Bäume bejchatten ihren Fuß; 
aus ihrem Scheitel wuchert Unfraut, das im Seewinde bebt, und 
die Schiffe, die auf hohem Meere vorüberziehen, würdigen das 
alte Gemäuer feines Blides. Kein Anker fällt vor diefem Ufer, 
um das jich einjtens Sarazenen jo wild gebalgt haben. Cinige 
Rinder, der Schaffner mit Weib und Kind find die einzigen Be— 
wohner, und das Land, das ehemals jo jtolze Titel trug, ge: 
hört als „eine Propriete” einer jimplen Profefjorswittwe aus 
Montpellier. Mill man nicht die romanische Bauart der Kirche 
und einige jhön ausgeführte Detail3 daran bewundern, fragt 
man jih nad wenigen Minuten, warum man denn eigentlich 
bierher gefommen? Aljo gehen wir um und in die Slirche. 

Daß fie ein lateinifches Kreuz bildet, verjteht ſich bei einer 
romaniſchen Kirche, die wahrjcheinlich aus dem elften Jahrhun— 
dert jtammt, von jelbit. Auffallender ift das Cingangsthor, das 
eine arabijhe Reminiszenz zu fein ſcheint. Das Thor, oder viel: 
mehr die Thüre — denn es ijt von unbedeutender Höhe und 
Breite — trägt als Oberfchwelle einen mit großer Zierlichkeit be: 
bauenen Monolith, deſſen Basreliefs, Blätterwindungen faſt 
römiſch anzujehen find. — Rings um dieſe Arabesten läuft fol- 
gende jinnige Inſchrift: 

7 Ad portum vitae: sitientes quique venite: 
Has intrando fores: vestros componite mores. 
Hine intrans ora: tua semper crimina plora, 
Quidquid peccatur: lacrimarum fonte lavatur. + 


Achtzehntes Kapitel. 385 


Ueber dem Monolith mit der Inſchrift erhebt fich ein faſt 
jpigiger Bogen, deſſen Giebelfelo von einem fehr hübſchen Bas: 
relief ausgefüllt ift, welches Chrijtum, von den Symbolen ver 
vier Evangeliiten umgeben, varftellt. Der Bogen iſt abwechfelnd 
aus ſchwarzen und weißen Marmorjteinen gebildet, eine Art zu 
bauen, mie fie bei ven Arabern in Spanien oft vorfam. Rechts 
und links von der Thüre befinden ſich noch zwei Basreliefs von 
ſehr untergeorbnetem Werthe und barbariſcher Arbeit: ver heilige 
Peter mit den Schlüfjeln und der heilige Baul mit dem Schwerte. 

Heußerlih it ſonſt an der Kirche nichts Bemerkenswerthes. 
Die Strebepfeiler find unbedeutend, die Verzierungen, die fie 
einſt getragen haben mögen, find verſchwunden. Die Thürme 
find gefallen. Nur über dem nördlichen Tranſept erhebt ſich 
no einer um einige Ellen oberhalb des Daches. Intereſſanter 
ift die Kathedrale von Innen. Bor Allem erjtaunt man, wie gut 
fie fih da in allen ihren kleinſten Theilchen erhalten bat. Man 
fann beinahe jagen, daß fein Stein von jeiner Stelle gerüdt ſei. 
Es ſcheint eine unbedeutende Zufälligfeit, werın man bier oder 
dort ein kleines romanifches Säulchen ein wenig vermwittert fieht. 

Zwei fchlanfe Säulen laufen an den beiden Tranfepten, 
man möchte jagen, mit Schnelligkeit die Wände hinan und tragen 
auf faft doriſchen Kapitälen die intakte Wölbung. -Beleuchtet von 
den drei Rundbogenfenftern des hohen Chores, fcheinen fie zu 

Yeben. Bom Eingange aus gejehen ſchließen ſich die romanischen 
Säulen zwifchen diefen harmonifc an fie an, fo daß die ganze 
Kirche wie aus Einem Guſſe oder wie zugleich gewachſen erjcheint. 
Die Säulden über dem Hochaltar zwiſchen den Fenſtern find 
von bejonderer Feinheit, ihre Kapitäle, wie wir fie aus der ſchön— 
jten Zeit der byzantinischen Kunjt fennen. Dafjelbe gilt von ven 
größeren Säulen, melde recht3 und links die Kreuzmölbungen 
der Tranjepte tragen. Nur daß bier die Kapitälform wechielt; 
bald erjcheint fie beinahe korinthiſch, bald doriſch, bald zuſam— 
mengejegt, bald mit den phantaftiichen Thieren des Byzantinis⸗ 
mus. Doc ftört diefe Verfchiedenheit der zierenden Details nicht; 
Morig Hartmann, Werke III. 25 


386 Tagebud) aus Languedoc und Provence. 


fie verlieren fich im harmonischen Ganzen auf harmonifche Weife, 
während jie dem Betrachter de3 Ginzelnen eine nicht nur nicht 
itörende, jondern vielmehr erfreuliche Abwechslung bietet. — In 
den Tranjepten, welche Kapellen bilveten, liegen Bruchſtücke 
von verjchiedenen Sarkophagen und Ausihmüdungen alter Grä- 
ber. Eines derjelben jchreibt das Volf der ſchönen Maguelone zu; 
leider ijt e8 das Grab irgend eines alten Kardinals. 
| Mittelit zweier mächtiger Steintreppen ftiegen wir auf das 
bemoojte Dach der Kirche, um oben nicht3 Anders al3 die Rui— 
nen eines alten Saales, ver ſich im Thurme befindet, zu fehen. 
Von da vermag man die Inſel in ihrer ganzen Kleinheit zu 
würdigen; in zwanzig Minuten vielleicht kann man fie in ihrem 
ganzen Umfange umgehen. Jenſeits der Sümpfe liegt Pille: 
Neuve, dahin ſich die Einwohner von Maguelone vor den Saras 
zenen geflüchtet haben. Ville-Neuve ijt heute nicht viel beveu- 
tungsvoller al3 das ganz verlafjene Maguelone; e3 hat die von 
dieſem geerbte Herrlichkeit wieder an das fpäter entjtandene Mont- 
pellier abtreten müjjen. „So wandeln die Kronen von Haupt zu 
Haupt.” Bille-Neuve ijt der Geburtsort des großen Arnaud von 
VilleNeuve, ver das 13. Jahrhundert mit feinem Ruhme er- 
füllte. Nicht nur war er hochgefeierter Staatsmann, Gottesge— 
lehrter, Arzt — er verjtand es auch, Gold zu machen und — 
Branntwein zu deftilliren. Ihm jchreibt man wenigſtens die Er: 
findung diefes Getränfes zu, das gewiß mehr Leute vergiftet, 
al3 Arnaud mit aller Magie jemals geheilt hat. Obwohl er 
Leibarzt mehrerer Könige von Aragonien und Sizilien, ja jelbit 
des Papſtes gewejen, wurden jeine Schriften, freilic erſt nad) 
jeinem Tode, vom heiligen Gerichte zu Tarragona verurtheilt und 
auf dem Scheiterhaufen al3 fegerijch verbrannt. Cr ftarb im 
Jahre 1313 — oder wurde, wie man in Spanien fagte, vom 
Zeufel geholt. Es gejhah ihm Recht, des Branntweins wegen. 
Das Meer erjhien mir hier zum erften Male im Leben als 
„Waſſerwüſte“. Es ijt todt und öde; die Segel auf feiner Höhe 
ſcheinen fich zu beeilen, um nur an diejer Küfte fo fchnell als 


Achtzehntes Kapitel. 38% 


möglich vorbeizufommen. Wäre nicht der Bli auf die fchöne 
Gevennentette mit ihrem Könige, dem Pic St. Loup, das Auge 
hätte feinen erquidlihen Halt. Stundenweit gegen Norden hat 
ſich kein folider Bunkt gefunden, auf dem fi ein Dorf hätte 
niederlajjen können. Nur zeritreute Landhäufer oder Mazes er⸗ 
blickt man, und dieſe ſind, der Fieber wegen, unbewohnt. Doch 
iſt der Boden jenſeits der Sümpfe überaus fruchtbar und fett. 
In der Nachbarſchaft der beiden Landhäuſer Mans und Morin, 
wo ich auf meinem Rückwege Freunde beſuchte, ſah ich große 
Weinſtöcke, die einer einzigen Traube glichen, ſo dicht bedeckt 
waren ſie von der edlen Frucht. Die Winzerinnen füllten große 
Körbe oft mit der Leſe eines einzigen Stockes. Man hat hier 
auch mehr Wein als Trinkwaſſer. Bei meiner Rückkunft nach 
Montpellier war ich eigentlich froh, dieſem Sumpflande entflohen 
zu ſein. Ich hatte nicht viel mehr zurückgebracht, als das Be— 
wußtſein, an einem hiſtoriſch und literariſch denkwürdigen Flecken 
nicht vorübergegangen zu ſein, daS Bewußtſein erfüllter Reiſepflicht. 

Die ſchöne Maguelone aber gemahnt mich an eine andere 
Sage, die ebenfalls im ſüdlichen Frankreich ihren Urſprung hat 
und bei uns nicht weniger befannt, ja populärer geworden: ift, 
al3 die von der abenteuernden Prinzeſſin. Erinnere ich mid 
doch ganz deutlich, welche Schauer ich empfand, wenn daheim 
auf meinem Dorfe der Wind in den Kaminen jammerte und die 
Magd fagte: das ift ta heska Melusina — das ift die ſchöne 
Melufine, die weint und klagt, weil fie nicht zu ihren Kindern 
fommen fann. Die ſchöne Melufine hat wirklih und wahrhaftig 
gelebt, und zwar war fie die Schweiter des Herzogs Guilhem 
von Poitier3 und die Frau Raimunds von Lufignan. Eigentlid) 
bie fie Marie, den Namen Melufine aber befam jie von den 
zwei Schlöffern, Melle und Lufignan, die ihrem Gatten gehör: 
ten, und welche fie abmechjelnd bewohnte. Da fie e3 liebte, ſich 
in ihre Gemächer einzufchließen und Bücher zu lefen, was in 
ihrem, dem elften Jahrhunderte allerdings einen jeltenen und 
jonderbaren Gefhmad vorausfegt, war man bald überzeugt, 


388 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


daß fie darin geheime Künfte und Zauberei treibe, und bald 
bieß es, daß fie fich jeden achten Tag wenigſtens zur Hälfte in 
einen Drachen oder in eine Schlange verwandle. 

Sonderbar ift e3, daß alle diefe Sagen, ſo wie die, welche 
ſich auf ihren Bruder, den großen Herzog Guilhem, wie auf 
deſſen Freund Wilhelm beziehen, nur noch in fünfranzöfifhen 
Chronifen, wie 3. B. in Adamar's, in Fulbert’3 de Chartres, in 
Konrad Wocerius’ Chroniken und ganz und gar nicht mehr im 
- Munde des Volles leben. Daß- die provenzalifchen Lieder der 
großen Troubadourepoche vergeſſen worden find, ift nicht zu ver: 
wundern; fie haben nie vem Volke, fie haben immer ven Höfen 
und Schlöflern angehört und ftiegen erſt zur Zeit ihres Verfalles 
mit den Jongleurs auf den Marktplag der großen Städte hinab. 
Dort konnten fie mit ihrem ſchönen Klang wohl ziemlich gefallen, 
mochten aber mit ihrem raffinirten Gefühlsleben dem derben Kern 
des eigentlihen Volles nicht zufagen. Daß aber diefe Sagen, 
welche gewiß einen populären Urjprung haben und der Vhantajie 
des Volkes angemefjen find, jo ganz feinem Gevädtniffe ent— 
jhwanden, darüber darf man fih, mie gejagt, billig wundern. 
Auch bier muß der Albigenfer Krieg erflärend aushelfen. Ein 
mächtiger Blutjtrom fließet er zwifchen dem alten und neuen 
Languedoc; in feinem cocytijchen Geheul verhallt, mas von jen- 
jeit3 herüberzudringen fucht. Man würde es fonft nicht begrei« 
fen, wie dieſe unendliche Menge von Sagen und Legenden, welche 
das ſüdliche Frankreich bis zu Ende des zwölften Jahrhunderts 
bevölfert haben, und deren fpärliche Reſte wir nur noch in 
Büchern auffinden, jo verſchwinden und der Erinnerung des 
Volkes entrücdt werden konnten, während mehrere, und unter ihnen 
die ſchönſten, fern von der heimischen Duelle noch heute fortleben. 

Bevor ich heute mein Tagebuch aus der Hand lege, will 
ich noch einer literarifhen Moftifitation erwähnen, die fih auf 
Maguelone bezieht, und die nur in der Gefchichte der Meinhold— 
ſchen Berniteinhere neuerer Zeit ihres Gleichen findet. Vor einigen 
Jahren trat ein junger Mann in Südfrankreich, ich glaube, er ift 


Achtzehntes Kapitel. 389 


in Agde geboren, plöglich mit dem urfprünglichen Romane von 
Peter von Provence und der ſchönen Maguelone auf. Er hatte 
ihn, wie er jagte, in irgend einem alten Archiv entdeckt und ließ 
ihn druden. Alle Leute von Fach und alle Akademiker waren 
entzüct über diefen Fund, und vorzugsweiſe die Akademiker waren 
e3, welche an die Nechtheit glaubten und alle fchüchternen Zweifler 
mit ihrer Gelehrſamkeit niederfchlugen. In Zeitungen und 
Akademiefigungen rühmte man die Urfprünglichkeit und Naivität 
des Gedichte und prie3 man das Glüd und das Verdienſt des 
Finderd. Nachdem diejer mit Muße einige Jahre hatte verftreichen 
lafjen und die gelehrten Akademiker alle genugfam blamirt waren, 
trat er mit der Erklärung hervor, daß der ganze Roman von 
feiner Mache fei, und daß er nichts Anderes gewollt, als ſich 
über die Afademifer luftig machen, was ihm denn, wie er dank: 
bar anerfenne, glüdlich gelungen ſei. Er erklärte ferner, wie er 
e3 gemacht, um ſich vor dem frupulöfeften Forfcher feine Blöße 
zu geben. Während feiner ganzen Arbeit hatte er mittelalterliche 
gereimte Romane vor jich liegen und hütete fih, nur Ein anderes 
Wort oder eine einzige andere Wendung anzubringen, al3 die er 
in feinen Vorbildern gefunden. Nach diefer Erklärung fehlte es 
natürlich wieder nicht an Leuten, die den Betrug geahnt hatten, 
ebenjo wenig als an Tablern, die das Merk in feiner ganzen 
Konzeption als ein verfehltes und mittelmäßiges bezeichneten. 
Es ging ihm, wie es Macpherfon gegangen wäre, wenn er nicht 
reinen Mund zu halten gewußt hätte, und wie e3 dem armen 
Chatterton erging, nur daß der Verfafler des Romans Maguelone 
ſich die Sache nicht fo zu Herzen nahm wie der englifche Dichter, 
und heiteren Muth genug hatte, über die Gefoppten zu lachen 
und jeinen Roman, nachdem er ihm Spaß genug gemacht, wie 
der in Vergefienheit ſinken zu laſſen. 


Montpellier, im Oftober 1851. 
Mit reiheren Eindrüden, al3 Maguelone gewährt, Eehrt 
man von Sankt Guilhem le defert oder Saint Guilhem du deſert 


390 Tagebuch au3 Languedoc und Provence. 


zurüd. Schon der Weg dahin bietet Manches, was da interejlant 
ift. Aber um Alles zu genießen, muß man fich ſchmerzlich früb 
aufmachen, wenn man noch am felben Tage, wenn au jehr 
jpät, nad Montpellier zurücehren will; denn Eaint Guilhem 
le deſert liegt jenfeitS des Herault tief im Gebirge verftedt, meh— 
rere Meilen fern von der Hauptitabt des Departements. So 
ſaßen wir an einem ſchönen Frühlingstage ſchon um vier Uhr 
Morgens in einem’ breiten, bequemen Wagen und fuhren dem 
Weiten zu. Es war eine phantaftifh zufammengewürfelte Gejell- 
haft. Neben mir im Wagen ſaß eine der ſchönſten Profefjors- 
frauen, die je eine Univerfität geſehen hat; mir gegenüber ein 
orleaniftifh gefinnter Profeſſor, neben viefem ein ehemaliger 
Präfeft Ledru Nollin’3 und auf dem Bode neben dem Kuticher, 
mit der Mappe unter dem Arm, ein Mann, der fich ven Teufel 
um alle Bolitit, wohl aber um jeden Straub am Wege, um 
jedes Wölklein am Himmel und jeden Schatten in den Schluch— 
ten des Gebirges kümmerte. E3 war da3 unfer Freund und Füh— 
ver, der von Allen, die ihn kennen, „ver Vater der Natur“ genannt 
wird, Man könnte ihn bier zu Lande auch den Vater der Kunſt 
nennen, denn wie er fich bemüht, die ſchönſte Muſik der größten 
Meifter im Lande zu naturalifiven, ebenfo hat er durch feine an- 
geitvengten Arbeiten alle Reſte alter Kunft, die fih in dieſem 
Lande finden, aus der Nacht barbarifher Vergeſſenheit gerettet, 
indem er ſie gezeichnet, bejchrieben und in verdienjtoollen Samm: 
lungen dem Publitum übergeben hat. Aud Saint Guilhem mit 
jeinen arditektonifchen und natürlichen Schönheiten verdankt ihm 
die Auferftehung aus der Vergefienheit. Konnten wir einen beſſe— 
ven Führer haben als diefen Vater der Natur, der jeden Bau: 
vejt, jeden malerifhen Winkel in ganz Provence und Languedoc 
fennt und mit Verſtändniß deutet? 

Ungefähr eine Stunde hinter Montpellier famen wir an den 
Ueberreften eine3 alten Schlojjes vorbei, das in der Ebene an 
einem Bache liegt; was davon noch übrig ift, weite Marftälle 
und ein großes Theater, weitläufige Mauern eines großen park: 


Achtzehntes Kapitel. 391 


ähnlichen Gartens, zeugen von üppiger Pracht. Es gehörte ehe: 
mals einem Fermier general oder Steuerpächter unter Ludwig 
dem Fünfzehnten — iſt alſo vom Schweiße des Volkes gebaut. 
Man jagt, daß der König einmal dajelbjt eingefehrt und daß 
zu diejer Gelegenheit das prächtige Theater gebaut worden ſei. 
Dafür durfte der Fermier general dem armen Volfe einige 
Millionen mehr erprejjen. Diejer Spefulant war ein Barvenü und 
fam nur durch die größte Frechheit zu der von jo Vielen beneideten 
Stellung. Urfprünglihd war er nichts als ein Müfliggänger, 
der jih in den Gaſſen von Paris umbertrieb und nicht wußte, 
was mit fich und feinem Magen anzufangen. Die geheime Polizei 
war damal3 noch nicht jo ausgebildet, um jedes verlorene 
Subjekt bejhäftigen zu fönnen. Da hörte der Cole, daß in Ber: 
jaille3 die Steuer zu verlaufen ſei, dab fich aber fein Pächter 
finde, weil man zu enorme Summen forderte. Die Bompadour 
war von jo großen Bedürfniffen geplagt! Er verſchafft ſich jo 
viel Geld, um für einen Tag die pradtvolljte Equipage, mehrere 
Bediente und ein Hofkleid miethen zu können. So ausgerüjtet 
fährt er in Verjailles vor — die Wachen machen dem großen 
Seigneur Plag, und er dringt mit Geräuſch bis in das Vorzim: 
mer des Königs, dem er jagen läßt, daß ſich ein Steuerpächter 
melde, bereit, auf die Forderungen des Hofes einzugehen. Der 
König nimmt ihn mit Emprefjement auf, und der Handel wird ab: 
geſchloſſen. Dem neuen Fermier general, der keinen Sou in der 
Taſche hat, ift es nicht Schwer, fich fofort große Summen zu ver: 
ſchaffen, die er als Abjchlagzahlung erlegt; den Reſt hat er bald 
aus dem Volke herausgepreßt, und was darüber, füllt ihm vie 
Taſchen. In Kurzem ift er ein reiher Mann; er weiß ſich in feiner 
Stellung zu erhalten, gibt vem Könige Felte und der Pompadour 
Baares, und wird fo einer der gloriojeiten Fermiers generaur, 
die jemals Frankreich beglüdt und die Revolution geheizt haben. 

Jenſeits feines Schlojjes verloren wir ung im Mittelgebirge, 
das die Cevennen vom Meere trennt. Die Straße geht eine Zeit: 
lang an tiefen Schluchten hin und durch Thäler, die nicht einmal 


392 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


von einzelnen Hütten bevölfert find. Die grünen, nur von 
Gras bededten Hügel, obwohl viel weniger großartig, erinnern 
bier und da an einzelne Gegenden des Weſthighlands in Schott- 
land. Nach drei Stunden ungefähr famen wir, nachdem Gignac 
pafirt war, in Aniane, einem Eleinen, netten Städtchen von 
ungefähr dreitaufend Einwohnern an. Aniane befigt noch Reſte 
eines Kloſters, welches die fultiwirenden Benediktinermönde, der 
refpettabeljte aller Orden, die das Mittelalter hervorgebracht, 
gebaut haben. Der heilige Benediktus von Aniane felbit hat 
e3 gegründet. Cr war der Sohn eines gothiſchen Grafen von 
Maguelone und wurde furze Zeit vor der Zerftörung feiner 
Baterftadt durch Karl Martell geboren. Trogdem brachte er feine 
Jugend am Hofe Pipin’3 des Kleinen zu. Aber das Hofleben 
mochte ihm nit behagen, und er gründete am Fluffe Anian, 
welcher heute Gorbiere heißt, ein Klofter, da3 bald von dreihun— 
dert Mönchen bewohnt war. Yhre Gefellihaft mag nicht die an= 
genehmite gewejen fein, denn Benedikt verließ fie und ging wies 
der zu Hofe, aber nur um am Ende diefen auf Neue zu ver: 
lafjen. Er kehrte ing Klofter zurüd, wo er im Jahre 821 ftarb 
und zu den Heiligen einging. Das Klofter, das er gegründet, 
wurde nie vollendet, und die großen Bruchſtücke wurden zur 
Zeit der Revolution zu einer Pfarrei, einer Gemeindeliche und 
einer großen Fabrik verwendet. Das Klofter ging zu Grunde, 
aber die Bürgergemeinde, die ſich ringsumher anfievelte und 
dem frommen Haufe ihren Urfprung verdankt, befteht noch heute 
und bildet das freundliche Städtchen Aniane. Auch die guten 
Bücher und Chroniken, melde die Beneviftiner gejchrieben, be: 
ftehen noch und leiften und nütliche Dienfte — auch die Felder 
und Wieſen, die jie gefchaffen, da fie mit dem Beile der Ge: 
fittung Wildnifje ausrodeten und Feljen urbar machten, blühen 
noch heute und tragen Früchte für Menſch und Vieh. 

Aniane hat noch manche hübjche Volksfitte aus dem Mittel: 
alter erhalten. So z. B. ift e3 Brauch, daß alle Neuverheiratheten 
Sonntag vor Karneval Lorbeerzweige an die Giebel ihrer 


\ 


Achtzehntes Kapitel. 393 


Häufer fteden. Die Männer wandern von Haus zu Haus und 
fammeln die Zorbeerzweige ein, angeführt vom älteiten Ehemann 
des Jahres, und Alle trinken in jedem Haufe, das einen Lor— 
beerfranz trägt. Des Abends werden mit der Fadel in der Hand 
auf dem großen Plage vielerlei Tänze ausgeführt, an denen die 
Meiber nicht Theil nehmen. Diefer Umſtand, die Fadeln und der 
Lorbeer deuten vielleicht auf den griechiſchen Urſprung des Tanzes 
und der ganzen Eitte hin. Den Tänzern folgen durch alle Win: 
dungen des Tanzes die Greije des Ortes und tragen ihnen mein: 
gefüllte Flaſchen und Becher nad), die während des Tanzes geleert 
werben. 

Ungefähr eine halbe Stunde hinter Aniane gelangt man 
endlih an die Brüde des Herault und an den Cingang des 
furchtbar wilden Thales, das nach Saint Guilhem le defert führt. 
Die Brüde ſoll auf römijchen Fundamenten ruhen und ein Theil 
der Römerftraße gewefen fein, die nach Touloufe führte. Unmeit 
von der Brücde liegt das Dorf Saint Jean de Fos, und etwas 
weiter das uralte Schloß Montpeyrour. Diefe ganze Gegend ift 
von ihr eigenthümlichen Geiftern, die man Drac nennt, bevöl: 
fert. Ihr Hauptfiß ift eine Art Brunnenabgrund zu Montpey: 
rour. Doch gibt es gute und böfe Drac's, und gelehrte Ausleger 
fehen in den erften die Laren und Penaten, in den letteren die 
Lemuren der Alten. Die guten gehen oft in Menjchengeftalt 
unter die Leute auf den Markt in die Stadt, zu Hochzeitsfeiten 
u. |. w., wie wir da3 von unferen Wafjermännern kennen. Die 
böfen jchieben ihre Kinder den Ammen in die Arme, und oft 
faugt fo ein Drackind zwanzig Ammen das Leben aus. Dft 
lafien fie goldne Stäblein, Ringe oder Becher auf dem Fluſſe 
ihmwimmen, und wenn ein Kind herankommt, um das glänzende 
Spielzeug zu holen, ziehen fie e3 tückiſch in die Tiefe. Nicht 
alle wohnen in jenem Brunnen, viele haufen auch, wie unjere 
Kobolde und Wichtelmännden, in verlafjenen Wächterhütten oder 
in verjtedten Winkeln bewohnter Häufer. St. Jean le %03 ift 
neben feinen Geiftern megen der großartigen Kapernfabrifation 


394 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


berühmt, welche den Ort reih und die Gaftronomen Frankreichs 
und Europas glücklich macht. 

An der Heraultbrüde angefommen, jtedte die jhöne Frau 
Brizeur’ Idylle „Marie“, aus der jie uns vorgelefen hatte, um 
uns für ihren Lieblingsvichter zu gewinnen, in die Taſche. Und 
jie that Net daran. Das iſt feine Scene, kein Schauplag für 
die Idylle, was ſich an der Heraultbrüde vor uns aufthat. 

Tief unter diefer Brüde, die ein fehöner, hoher, aus meh— 
teren Bogen bejtehenvder Bau iſt, fommt der Fluß Herault aus 
der furchtbaren Schlucht hervor. Er fcheint aufzuathmen, er 
ſcheint das Gefühl des eben Geretteten zu haben. Ruhig bleibt 
er unmittelbar vor der Brüde ftehen und breitet ſich gemächlich 
aus, um das Licht der Sonne mit Behagen einzujaugen und 
fih mit Harem Blicke, froh des Dafeins, in der Welt umzujehen. 
Seit Stunden ift ihm ja dieſes Glüd nicht zu Theil geworden. 
Er kommt aus Nacht hervor, er tritt aus einer Miniaturbölle. 
Mir gingen ihr entgegen, indem wir aus dem Wagen jtiegen, 
die Brüde überjchritten und jenſeits, auf dem rechten Ufer des 
Herault, nordwärts unjere Wanderung fortjegten. Dort drängt 
ih die Straße am Fuße einer ungeheuren Felſenwand zwiſchen 
diefer und dem Fluffe St. Guilhem entgegen, und zwar in frampf- 
haften Krümmungen, als hätte fie Angit, in den gähnenden Ab— 
grund zu gleiten. Da unten aber iſts fürchterlich. 

Bald Happten die beiven Feldwände, die an der Herault- 
brüde enden, mwie zwei Kerferthüren hinter uns zufammen. Das 
offene Land verſchwand — wir waren in der Gebirgswüſte. Da 
gedeiht kein Grashalm, kein Blümlein, kein Strauch. Wo follte 
auch an diejen fteilen Wänden eine Handvoll Dammerde baften 
fönnen? Nur der fede, doch leicht zerbrechliche Feigenbaum jtredte 
bier und da aus einer Ritze feine Fahne hervor — doch ſah er 
verzweifelt aus. Uns zu Füßen aber rollte und grollte es, zifchte 
und pfiff ed. Die große Schlucht ift von einer fchmaleren, ihrer 
ganzen Ausdehnung entlang, durchſchnitten, und in dieſer 
zweiten Schlucht quält fih, immer hörbar, jelten zu ſehen, ver 


Achtzehntes Kapitel. 395 


Herault ab. Man muß frech auf Feljenvorjprünge treten, wenn 
man ihn da unten in feinem Marterbette erbliden will. Ad, 
wie er ſich plagt! wie ihn die Felſen zerreißen, wie er ſich windet, 
wie er weint, und mie er ſchäumt vor Wuth, und das Alles in 
dunkler Kammer. Nur zweie habe ich noch fo leiden jehen: vie 
Neuß, mie fie den Gotthardäberg hinab tollt, und die Aar, da 
fie von der falten Grimfel ihrem gewiſſen Falle entgegenjammert. 
Es ift ein fehr unglüdlicer Fluß, der Herault, und feine Lauf: 
bahn eine der martervolliten, und das Alles, um ſchon nad) weni: 
gen Stunden mit Einbuße feiner Individualität im All, im 
Meere aufzugeben. Ein ſchöner Troft, der Shelley'ſche: Du bleibit 
im All! Wir fönnen doc nie umhin, bei Flüffen an individuelles 
und menschliches Leben zu denken, und das ijt natürlih. Es 
gibt nicht3 in der Natur, was an das menschliche Daſein jo jehr 
erinnert. Die Pflanze ift unbeweglih und ftumm und darum fo 
ferne von uns, den fo Bewegten, Meinenden und Jubelnden. 
Unter den Flüſſen aber gibt e3 Heine und mittelmäßige und große 
und gewaltige. Jeder hat feinen beſonderen, ihm eigenthümlichen 
Charakter; jeder hat feinen Lebenslauf, fein Schidfal. ever 
wirft auf feine Weife; jeder hat feine Quelle, wächst durch ihm 
eigenthümliche Zuflüffe und endet wie ver Menſch, invem er in 
einem anderen aufgeht, fi verbunftet, im Sande verliert, oder 
im großen All regelmäßig bejtattet wird und unerkannt in Atomen 
wieder auferfteht. Der eine und der andere verliert fich mitten 
in feinem ftolzen Laufe — tout comme chez nous. 

Was aber den Herault betrifft, jo hat er jein ganz bejonve- 
res Schidjal. Seit Jahrtaufenden arbeitet er daran, ſich einen 
ordentlichen Weg zu bahnen, und je mehr er arbeitet, deſto jchlim: 
mer wird fein Pfad. Je mehr er wühlt, deſto größer wird das 
Labyrinth von ausgeſchwemmtem Gejtein, dur das er fich zu 
winden hat, und deito tiefer und der Sonne immer mehr entrüdt 
wird fein Bett. So fommt es au, daß diefes unten viel, viel 
breiter als oben, und daß e3 zum größten Theile ganz überdacht 
it. An einer Stelle ftredt fich eine Felsplatte jo breit, weit und 


396 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


dünn hervor, daß fie ihren Namen, Regenſchirm des Herault, 
verdient. Da wir es jahen, kam eben viel Regenwafler, das fich 
im Gebirge gefammelt hatte, aus einer Seitenfhludht hervor und 
floß über das Parapluie in hundert Fleinen Bächen wie ein 
Schleier hinab in die Tiefe, daß es unten erflang. E3 war lieb- 
lich anzufeben und anzuhören. 

Daß der Herault fein Jüngling mehr an Jahren, erfennt 
man da, wo das Ufer nicht jo fteil ijt, an dem aufgehäuften Ge— 
ftein, mit defjen Ausfchwemmung und Polirung er gewiß Jahr: 
hunderte lang bejchäftigt geweſen fein muß; ja, vielleiht war 
das urfprünglihe Bett des Knaben Herault das ganze obere 
Selfenthal, das er nah und nad durchgewühlt bis zu der jchma= 
len Schlucht, in ver er fich jegt aufhält. In der That hat das 
Ganze etwas vom Urmweltlihen, und wir in unjeren Fräden und 
modernen Kleidern, wir Tourijten, Brofefjoren, Brofefjorenfrauen 
und Präfekten waren anachroniſtiſche Wandler auf einem Boden, 
mit dem Ichthyoſauren befler zufammenftimmen würden. Etwas 
weiter gegen St. Guilhem le vejert am linken Ufer frijtet ein er— 
bärmlicher Eichenhain, an die Feldwand geflammert, ein erbärm- 
lihes Dafein: ein wahres Symbol der Schwäche, die Eiche in 
ihrem Verfall. Dem Eichenhaine gegenüber, am rechten Ufer hoch 
über der.Straße, haben zwijchen Feld und künftlih aufgeführten 
Mauern die Menjchen einige Dammerde zufammengetragen, in 
welcher Dlivenbäume und Weinreben fteden. Traurige hängende 
Gärten! Bon Zeit zu Zeit fommt ein Wildbad und trägt Mauern, 
Dammerde, Dlivenbäume und Neben hinab in den Grund, dann 
fommt der Menſch, ringt die Hände, trodnet die Thränen und 
trägt fie wieder hinauf, um im nächſten Frühling oder Herbft 
dieſelbe Arbeit von Neuem zu beginnen. 

Aber ich habe einen der fehönften Punkte, der fich unfern 
vom Eingange in das Thal findet, überfprungen, doch gehört er 
zu den malerifchiten. Das ift die Mühle von Clamous. Sie 
jteht fed und prächtig mit einem Thurme verfehen am Rande des 
Abgrundes. Die Waſſer des Herault’3, des wilden, tollen, ſchwer— 


Achtzehntes Kapitel. 397 


müthigen, find zu unpraftiih, um, menigiten® bier, nützlich 
ein nüglihes Mübhlrad zu treiben. Darum bezieht die Mühle 
den nöthigen Wafferverbrauh aus der Fontaine de Clamous 
(fons clamosa), vie nicht fünfzehn Ellen fern von der Mühle 
in ihrer Wiege liegt. Diefe Wiege ift eine gewaltige Grotte im 
Felſen, aus welcher der Quell mit fo ungeheuerer Waflermenge 
bervorfommt, daß er gleih an feinem Urjprung Mühlräder in 
die mildefte Bewegung zu fegen vermag. Sein Wafler iſt hell 
und grün, wie es aus dem Feljen hervorfommt, aber filberweiß 
und perlend, wie ed al3 Katarakt von der Mühle hinabftürzt in 
den Herault. Wie fchnell iſt dieſes Geſchick erfüllt nach einem 
Wege von fünfzehn Schritten, und doch wie nüglihb. Man fagt, 
daß das Waſſer der Grotte mit den Gewäſſern des Sees von Thau 
bei Cette, mit dem Drachrunnen, mit den Quellen von Mont: 
pellier u. ſ. mw. durch unterirdiihe Gänge in Verbindung it. 
Mas ift nicht glaublich in diefem durchhöhlten Lande? 

In der Nähe der Mühle von Clamous gibt e8 noch mehrere 
Kleinere, die aber nicht jo befeftigt und mit feinem Thurme ges 
Ihmüdt find. Sie fehen wie große Maulmurfshügel aus, oder 
auch wie Heine, aus Baditeinen gebaute merifanifhe Tempel, 
wie wir fie aus Abbildungen fennen. Sie find oben und nad) 
den Seiten abgerundet, wie abgejpülte Steine, damit die Fluth 
des Herault, der oft austritt und das ganze Thal erfüllt, deſto 
unfhädlider über fie dahingehe. An diefen Mühlen verloren 
wir den „Vater der Natur“ aus unferer Gefellichaft; er ließ uns 
allein weiter wandern und pflanzte fich mit feiner Zeichengeräth: 
ſchaft auf einen ausgeſchwemmten Stein im Angefichte des Thurmes 
auf. Der Punkt, wie gejagt, verdient diefe Aufmerkjamfeit, 
und der Künjtler, der an ihm vorüberginge, wäre fein rechter 
Künſtler. Nicht viel weniger ſchön ift es weiter oben, wo bie 
Trümmer eines Feudalbaues mit einem Thurme kahl, melando- 
liſch, aber harmoniſch mit der ganzen Umgebung in das dunlle 
Bett des Gebirgsſtromes hineinfehen. 

In der Nähe von St. Guilhem wird es freundlider. Wenn 


398 Tagebuch aus Languedoc und Provence. 


man auf der Wanderung bis hierher vergeflen, daß man die 
funftoolle Straße, auf der man gewandelt, den fleißigen Bene: 
diktinern dankt, fo wird man hier gewiß durch die Heinen, grü- 
nen Wieſen, durch die fchattigen Bäume, die ſich ſchon buſchweiſe 
um den Eingang in das Dorf drängen, daran erinnert, daß dieſe 
Civilijatoren einmal bier gemwaltet haben. 

Aber bevor wir in den Fleden St. Guilhem eintreten, habe 
ich noch eines jonderbaren Dings zu erwähnen, das fi unmit: 
telbar davor befindet. Es ift das eine Hängebrüde der eigenthüm— 
lichften Art, wie fie gewiß nicht wieder in Europa zu finden ift, 
und die an Einfachheit und Urfprünglichkeit felbit die indiani- 
ihen und indifchen weit hinter fich zurüdläßt. Sie führt über 
das Abgrundbett des Herault und bejteht aus einem einzigen 
Seile. Das Seil ift an beiden Ufern folid befeitigt. An dem 
Seile hängt ein kurzes Stridlein, das oben ein Rädchen hat, 
welches am Seile binläuft und unten einen fleinen Stab von 
ungefähr einer Elle querüber trägt. Auf diefen Stab jegt man 
jih, indem man beide Beine darüberftredt, jo daß man das 
Stridlein, an dem er hängt, vor jich hat. Mit ven Händen hält 
man ſich am oberen Geile. Da diefes Seil nicht ftraff geſpannt 
ift, jondern eine Kurve bildet, fliegt man, jobald der Fuß das 
Ufer von fich ſtößt, weit über die Mitte der ganzen Brüde hin 
und dur das eigene Gewicht fat die Hälfte der auffteigenden 
Kurve hinan. Den Eleinen Reft der aufjteigenden Kurve über: 
windet man leicht, indem man, noch bevor das Rädchen in Ruhe 
fommt, mit der einen Hand das Seil erfaßt und fich weiter hin- 
auf bis an3 Ufer hinarbeitet. Ich ſah fo ein altes Weib, das 
einen großen Bündel Brennholz auf dem Kopfe trug, mit größter 
Geſchwindigkeit über den Abgrund des Herault fliegen. Schöner 
war der Anblid, al3 ein junges Mädchen mit der Harfe im 
Arme berüberfchwebte. Es ſah geijterhaft aus. Nur der Mon: 
jhein fehlte, um an einen über Abgründen ſchwebenden, fingen: 
den Elfengeift zu glauben. 

Endlich müſſen wir doch in St. Guilhem eintreten. Ich 


Achtzehntes Kapitel. 39) 


thue e3 mit Zagen, da ich doch einmal die Verpflichtung über: 
nommen habe, vergleihen zu bejchreiben, und die begründete 
Angſt fühle, diefer Verpflihtung nicht nachkommen zu können. 
Einem Deutſchen ilt es ja nicht erlaubt, jich jo zu helfen, mie 
e3 ein franzöfifcher Reifebejchreiber gethban, indem er einfach 
jagte: Ein Maler müßte in St. Guilhem wenigſtens acht Tage 
zubringen. Wahr ift er, diefer ächt franzöfifhe Touriftenfag, aber 
von den mannigfahen Schönheiten St. Guilhem’s gibt er denn doc 
feinen Begriff. St. Guilhem le dejert liegt linf3 von der Straße, auf 
der wir bis jeßt gewandelt und die weiter dem Herault entgegen in 
die Cevennen führt, am Eingang in ein großes Keſſelthal. Diejen 
Eingang füllt e8 ganz aus mit uralten Häufern und mit einer über: 
aus üppigen Vegetation. Dem Ankommenden breitet e3 zwei Arme 
entgegen, wie zur Umhalſung. Zwifchen diefen zwei Häuferarmen, 
die mit ihren Granatbäumen, Pinien u. f. w., mit ihren von 
Epheu überdedten Wänden und Giebeln auch einem großen Halb: 
franze ähnlich find, befindet ſich ein tiefes Baflin, in das, mitten 
aus den Käufern fommend, die Waller des Gebirgsbaches Ber: 
dus in berrlihen Kaskaden hbinabplätfchern. Das Baflin iſt 
von Wajjerpflanzen aller Art angefüllt und feine Ränder mit 
dihtem Buſchwerk bejegt, in welchem unzählige Nachtigallen 
jingen. Am Gelände dieſes Bedens jtanden wir wie gebannt 
und jchweigend. Hinter uns erhob ſich eine ungeheure, himmel: 
hohe Felswand, die von Grotten durchwühlt ift. Aber dieje be: 
fommt man nicht zu fehen, fie find von einem dichten, diden 
Epheuſchleier verdedt; auf ihren Vorjprüngen prangen Granat: 
bäume mit ihren rothglühenden Blüthen. Vor uns, aber jen: 
jeit3 de3 Baſſins und des Dorfes, auf dem gegenüber hoch und 
allgewaltig fich erhebenden Felsberge ftehen die Ruinen eines 
Schloſſes, das man das Schloß Don Juan's nennt. Es hat an 
der fteilen Wand nirgends Platz genug gefunden, um ſich ge 
mächlich niederzulafien, und jo jteht es auf einzelnen Abjägen, 
ein Theil über dem andern, und fieht aus, al3 ob es mit Mühe 
den Berg hinanklimmen wollte, mit Mühe und doch fühn und 


400 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


fed, wie ein Gemjenjäger. Kaum begreift man, wie e3 fih da 
oben erhalten fann. Wer war diefer Don Juan, der da oben 
fein Neft hingeflebt hatte? Niemand mußte e8 mir zu jagen, 
und jo jchließe ich aus dem Namen, daß e3 einer der Herrn ge: 
weſen war, die mit Peter von Nragonien ins Land famen. Was 
er immer gewejen, er hatte gewiß für Schönheiten der Natur 
ebenjo viel Sinn, al3 fein verrufener Namensbruder für die 
Reize des Meibes, und mit derjelben Kedheit nahm er fie in 
Beſitz. Am Fuße des einen Schloßthurmes faß ein Hirtenfnabe, 
flein wie ein Punkt, und rings umber in dem gelben Geftein 
ſuchten Schafe und Ziegen ihr Futter. Ihre Gloden Elangen 
melodifch zufammen mit den Nachtigallenlievern in der Tiefe. 
Und noch babe ich von den Klofterruinen, von dem alten Kirch: 
thburme, von den gothiſchen Fenjtern in allen, au ven Eleinjten 
Häufern, die rings um das Baſſin aus Bäumen und Gebüſch 
bervorbliden, nicht? gejagt. Ich will es auch fürder nicht thun, 
jondern einfach meine Wanderung fortjegen. 

Wir gehen um das Baflin herum und gelangen auf den 
Hauptplat des Dorfes, der einen einzigen Ausgang hat und von 
uralten Häufern, von den Ruinen des Kloſters und der Kirche 
aus Karl des Großen Zeiten, gebildet wird. In der Mitte 
plätfhert der Brunnen, der da3 ganze Mittelalter hindurch auf 
wunderbare MWeije heilende Kraft übte; der ganze Platz, fo ſchön, 
jo malerifh, al3 nur irgend einer der Welt, iſt noch heute ein 
Stüd Mittelalter, jo wohl erhalten, wie die Mauern von Aigues: 
Mortes. 

St. Guilhem le deſert iſt von einem der Paladine und Neffen 
Karls des Großen gegründet, von Wilhelm von Aquitanien, auch 
Wilhelm Kurznafe genannt, welcher in mander Chronik des 
Mittelalter und in einem gereimten Romane gefeiert wird. Nach— 
dem er ſich gegen die Sarazenen als Held bemwiefen und am Hofe 
Karoli Magni ein etwas liederliches Leben geführt hatte, wurde 
er mit einem Male fromm und gründete diefes Klofter, welchem 
er jeinen Namen gab. Bor ihm hieß der Fleden Gellone. Er 


Achtzehntes Rapitel. 401 


jeßte fich mit dem heiligen Benediktus von Aniane ins Einver: 
nehmen und lernte von ihm, wie man Klöfter gründet und Mönche 
in Zucht bringt. Kaifer Karolus unterftügte ihn, indem er ihm 
ein Stüd des wahren Kreuzes verehrte, welches Wilhelm von 
Aquitanien, der fpätere heilige Wilhelm, in einem eifernen Kaſten 
und zu Fuße vom Hofe Karl3 des Großen, vielleiht von Aachen 
oder Ingelheim, bis hierher trug. Bei dieſer Gelegenheit joll er 
fih ein Weh angethban haben, daran er fein ganzes Leben lang 
zu tragen hatte. Die Mönche, die er in Saint Guilhem verjam: 
melte, gaben ihm auch viel zu ſchaffen, bevor fie es lernten, fich 
in die Zucht und Negel des heiligen Benediktus zu fügen. Troß 
dieſer traurigen Erfahrungen, die er in der Frömmigkeit machte, 
bewog er doch zwei feiner Schweftern, ein Gleiches zu tbun und 
in ein benachbartes Klofter zu gehen. Er felbt ließ fih im Jahre 
806 einkleiden und ftarb als ein Heiliger. 

Bon dem großen Kloftergebäude, das er gründete, find nur 
noch ſchwache Refte übrig. Ein ſchöner, von romanischen Säul- 
hen getragener Gang, das Bruchſtück einer breiten und fchön 
angelegten Treppe und Spuren von Gemädern, die ſich in den 
oberen Stodwerfen an die Kirche lehnten. Der Klofterbof ift von 
Unfraut überwuchert und feine Wände von Epheugeminden und 
allerlei Flechten bevedt; hie und da bliden byzantinifche Skulp- 
turen al3 Thier: und Menjhengeftalten hervor. Die Kirche aber 
it faft ganz fo erhalten, wie fie wahrfcheinlic im zehnten oder 
elften Jahrhunderte, da der romaniſche Styl ſchon nad) der Höhe 
zu jtreben anfing, renovirt, ausgebaut over vielleibt ganz und 
gar neu aufgeführt worden, und ift jedenfalls eines der interefjan- 
teften Denkmäler vorgothifcher Architektur. Hier ift noch Feine 
Spur von jener Ahnung des Spitzbogens, wie fie in Saint 
Trophime zu Arles jhon bervortritt; im Gegentheil weist Alles 
zurüd auf dunkle, antike Erinnerungen. Im Einklang mit diefer 
Kirche ſtehen viele einzelne Häufer des Fleckens, die nah und 
nad von dem reihen Klojter, wahrfcheinlich für feine Beamten, 
oder von einzelnen Reihen, die ſich hierher zurüdgezogen, ohne 

Morig Hartmann, Werke III. 236 


402 Tagebud aus Languedoc und Provence. 


fih einkleivden zu laffen, gebaut worden find. Darunter find 
manche in ächt gothiihem Style ausgeführt. 

Hinter dem Fleden Saint Guilhem le deſert öffnet fich mit 
einem Male groß und breit ein furchtbares Kefjelthal, welches, 
die Pforte gegen den Herault zu ausgenommen, feinen anderen 
Ausgang hat, al3 denjenigen, den der hier haufende Adler findet, 
den Ausgang dem Himmel entgegen. Ringsumher im meiten 
Kreije erheben fich fteile, oft jenkrecht abfallende ungeheure Fels: 
wände, aus denen zablloje einzelne Feljennadeln in den ver: 
ſchiedenſten Richtungen und Bildungen hervorragen. In ihren 
Löchern, die unnahbar find, hauft der Adler und verenden die 
Lämmer, die er den Heerden unten in den Thälern entführt. 
Es iſt ein Thal, wie e3 im orientaliihen Märchen vorfommt, 
aus dem man nur auf den Flügeln des Greifes oder mit Hülfe 
des magijchen Pferdes der Abbafliden entkommen kann. 

Do haben die Menſchen, längs der Wände über dem Stein: 
gerölle, das ji an ihnen aufgehäuft, einen Pfad angebracht, 
der wie eine Galerie auf: und abjteigend ringsherum führt. Auf 
diefem Pfade jegten wir, von zwei Hirtenfnaben geführt, unjere 
Wanderung fort. Ueber halsbrecheriſche Viadukte durch Luft: 
jtrömungen, die an manden Stellen aus den Klüften hervor: 
famen und fo gewaltig rauſchten und fortrifien wie Wildbäche, 
gelangten wir endlich an jenem hohen Punkte an, wo der Verdus, 
gerade Saint Guilhem gegenüber, aus einem Heinen Walde her— 
vortommt und fih in fühnen Sprüngen hinabwirft in den Thal: 
grund. Da unten nährt er Wiefen und Flachsfelder, welche die 
Tiefe mit einem grünen, faftigen Teppiche beveden und mit den 
gelben Felswänden ringsumber auf das Schönfte fontraftiren. 
Die Hirtenknaben, unfere Führer, wollten ſich vor ung mit ihrer 
Geſchicklichkeit produziren und mandes Aolerneft erklettern ; aber 
fie glitten jedesmal an den polirten Wänden ab. Am Berbus an: 
gefommen, verboten fie ung, von dem Waſſer zu trinken oder auch 
nur die Hand hineinzutauden. Aus ihrem jchwerverftändlichen 
Kauderwälſch entnahmen wir, daß fie es für vergiftet halten, jo 


Achtzehntes Kapitel. 403 


lange e3 hier oben fließt, aber für unſchädlich, ſobald es unten im 
Thale angelangt it. Auch von giftigen und verzauberten Thieren, 
die fih da oben an den Quellen aufhielten, fauderwälichten fie und 
zeigten eine große Scheu vor den Spinnweben und Raupenneftern, 
die allerdings ungewöhnlich groß überall am Geſträuche hingen. 

Als wir nach Saint Guilhem le dejert zurückkamen, lag ſchon 
Dämmerung auf dem Thale, und wir fonnten die Mühle, vie 
oberhalb de3 Fleckens liegt und noch aus den Zeiten de3 Grün: 
ders jtammen fol, nicht mehr bejudhen. Kaum, daß mir Zeit 
hatten, ven „Vater der Natur“, der fich in den Klippen des Herault 
verloren hatte, aufzufuhen. Mit Gewalt riffen wir ihn vom 
Bufen feiner Tochter los, warfen ihn und feine gefüllte Zeichen: 
mappe in den Wagen und fuhren gegen Montpellier zurüd, wo 
wir erſt gegen Mitternacht anfamen. Den Platz von Saint Guil- 
hem le vejert, den idyllifchen Frieden, der darauf lagerte, als 
fich des Abends, da wir abreiften, die Einwohner in Gruppen 
vor ihren altromantifchen Häufern fammelten, da die Glode der 
alten Kirche ertünte und die Heerde vom Schloffe Don Juan's 
zurüdfehrte — ja ganz Saint Guilhem le dejert mit all jeinem 
Schönen, ih nahm e3 daguerreotypirt in meinem Gehirne mit, 
und ich will das Lichtbild fo gut verwahren, daß e3 ſich nie und 


nie vermwijchen foll. 


* * 
* 


Und ſo habe ich den Herault überſchritten und mit ihm die 
Gränze, die ich mir geſteckt hatte. Da drüben liegt noch ſchönes 
und hiſtoriſches Land; Toulouſe mit ſeinem Kapitol und mit den 
Schlachtfeldern der Albigenſerſtreiter; Béziers, der Geburtsort 
Matfres von Ermengaud, des Vorläufers Dante's; Rouſſillon 
und Perpignan mit den ſüßen Weinen und noch ſüßeren Frauen; 
die Pyrenäen mit ihren Höllen und Paradieſen — aber es iſt 
genug für dieſes Jahr. So packe ich die loſen Blätter zuſammen, 
ſchicke ſie an den Verleger und frage: Wollen Sie es auch mit 
Dieſem wagen? — Wenig oder nichts habe ich an den loſen 


404 Tagebuch aus Languedoc und Provence, 


Blättern arrangirt oder redigirt, fondern gebe fie fo, wie fie 
meijt an Ort und Stelle, oder nad Notizen unmittelbar nad 
der Einkehr in mein Standquartier niedergefchrieben wurden. 
Sch gebe fie jogar mit manden Wiederholungen und Wider: 
fprüchen ; denn diejes Verfahren halte ich für erfprießlih, wenn 
man eben nicht3 al3 ein Tagebuch geben will, deſſen einzige 
Tugend oft die Unmittelbarkeit, das Friſche und gewiſſermaßen 
unabfichtliche Wiederfpiegeln ift. Der leichteren Drientirung wegen 
babe ich meine Ausflüge geographifch geordnet, ohne auf ihre 
chronologiſche Folge Rüdjicht zu nehmen. So fommt es, daß der 
Manvelbaum auf der einen Geite blüht, während er auf der 
folgenden ſchon in Früchten ſteht. So darf der wohlmollenve 
Lefer auch in dieſer Beziehung nicht den allzukritifchen Mafjtab 
an die beiven Bänpchen legen; fie follen nur ein Andenken fein, 
das die Freunde in der Heimat zur Erinnerung zwingt, und ein 
liebender Gruß an das theuere Vaterland — ein Delzweig, den 
ih am Wege abbreche und jegnend gegen Nordoften ſchwinge. 
Von einem Fortſchritte, von weiterer Entwidelung zu zeugen, 
fällt viefem anſpruchloſen Tagebuche nicht ein. Es ift noch eine 
Frage, ob in ver Ferne, unter dem Einfluß der Angſt, dem Vater: 
lande entfremdet zu werden — ob unter diefen Umftänden und 
manden anderen traurigen, überhaupt von ruhiger Entwidelung 
die Rede fein fann. Wir wollen uns auf diefes trübe Thema 
nicht weiter einlafjen und nicht Klageliever anftimmen, die, jhon 
fo oft mit Kofetterie angeftimmt, verdächtig geworben find. So 
viel ift fiher: nicht nur gewiſſe mythiſche Giganten büßen, ver 
Mutter Erde enthoben, ihre Kraft ein. Die alten celtifchen Barden: 
fagten: Dreier Dinge bevarf die Begeifterung: des äußerlichen 
Gedeihens, des liebenden Umgangs und des Lobes. — Auf 
fremdem Boden wachſen dieje drei Fojtbaren Dinge nur fehr ſpär— 
lih. Ein Troſt aber bleibt. Welches immer das Unglüd jei, 
das ein Schidjal über und verhängt: ein Gott entſcheidet, ob es 
zum Gewichte werben foll, das in vie Tiefe zieht, ob zu Fittigen, 
die zur Höhe tragen. So möge es ein günftiger Gott entſcheiden. 





Wanderungen durxch celliſches Land. 


—— — 





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I. 


Abreife von Nantes, — Raoul der Blaubart. — Sodom im Boccage, — Paim— 

Hoeuf und Et. Nazaire. — Die Loiremündung. — Der Your. — Eroific, — 

Wüſte. — Tregate und die erfien celtifchen Laute. — Guerande und ber bes 

rühmte Marquis von G. — Ein Jefuit ald Reifegefährte. — La Roche-Bernard 
und die berühmte Kettenbrüde. 


Die koloſſale Statue der heiligen Anna, der PBatronin aller 
Schiffer und Seefahrer, jtredte uns von ihrem erhabenen Stand— 
punkte am rechten Loireufer fegnend die Hände nah, al3 wir an 
einem ſchönen Auguftmorgen auf einem prächtigen Dampfer die 
Loire hinunter fuhren. Mit Vergnügen fagten wir der guten 
und Schönen Stadt Nantes unjer Zebewohl; denn was hatte fie 
uns zu bieten? Gie ift eine franzöfifche Sceftadt wie drei und 
vier andere und überrafcht den Fremden, der die uralte, die 
fabelhafte Bretagne jucht, nur mit Täufhungen. Seit die Franken 
den galliihen Boden eroberten, gehörte fie der fränfifchen Be: 
megung an und wurde alles urfprünglich Bretonijche in ihr ver: 
nichtet. Zwar fpielte fie immer eine Rolle in der bretonifchen 
Geſchichte, aber doch immer nur als eine franzöfiihe Zwingburg 
ver Bretonen. Sie war der Aufenthalt der farolingifchen Statt: 
balter,; die von dort aus den Tribut eintrieben, wie das alte 
Volkslied von Noemenoju, einem der Befreier und National: 
belven der Bretagne, bemeist. Als fie den Franken von den 
Normannen abgenommen und verwüjtet, dann von dem celtijchen 
Helden Allan dem Fuchs oder dem „Krausbart“ wieder erobert 
und mit der Bretagne definitiv vereinigt wurde, wurde fie doc 
aufs Neue von romaniſch redenvden Völkern au3 dem Diten 


405 Wanderungen durd) celtifches Land. 


angefüllt. So blieb fie ven franzöſiſchen Herrjchern und dem fran= 
zöfifchen Elemente immer leicht zugänglih, und in dem großen, 
Sahrhunderte langen Kampfe der Unabhängigkeit wird Nantes 
in Chronifen und Volksliedern nur genannt, wenn von Bedrängniß, 
von Nationalunglüd, von Martyrifirung volksthümlicher Helven 
die Nede ift. Wir aber, Frankreichmüde, ftrebten nach dem alten 
romantijchen Lande des Königs Artus und feine? Waffengenofjen, 
des Königs Hoel, nad dem Lande der Tafelrunde, des Amadis, 
Lanzelot, Triftan, der Fee Morgane, des Barden Myrdhin oder 
Merlin, mit Einem Worte nad) jenem Lande, das aller Poeſie 
und allen Poeten des Mittelalter3 in Frankreich, England, 
Deutihland und Stalien Stoff und Helden lieferte. Erſt wo 
celtiihe Laute an unjer Ohr Eangen, wollten wir unſer Reije: 
ziel al3 erreicht betrachten; waren es doch celtiſche Volkslieder, 
die und aus unjern Pariſer Manfarden heraus an die Ufer des 
atlantifchen Ozeans gelodt hatten. 

Hätten wir bloße Romantik gefucht, in der Nähe von Nantes 
mürden wir genug gefunden haben. Ich nenne 5. B. nur das 
Schloß Raoul des Blaubart3, deſſen Ruinen ſich wenige Stunden 
nördlih von der Stadt an einem fleinen See reizend ſchön er- 
heben. Zwilchen den Ruinen wachen fieben Trauerbäume zur 
Erinnerung an die jieben Weiber, die der edle Ritter für ihre 
Neugierde etwas hart beitraft hatte. Südlich von Nantes jahen 
wir den See Grand:lieu, das todte Meer Frankreichs ; er bevedt 
mit feiner etwas düſter blidenden Welle die im Jahr 580 ver: 
ihlungene Stadt Herbavdila, das moderne Sodom. Ihr Ber: 
breden war, daß fie den heiligen Martin von Bertou — nicht 
zu verwechjeln mit dem heiligen Martin von Tours — Bifchof 
von Nantes, mit Spott aufnahm, als er dahin fam, ihr alt: 
heidniſche Sünden vorzuhalten und das Wort Gottes zu predigen. 
Alle Einwohner gingen zu Grunde, ausgenommen der Mann 
und die Frau, die den heiligen Martin gaftlich bei ſich aufge: 
nommen; ja jelbjt die rau verdarb und wurde in einen Stein 
verwandelt, als fie jich gegen die Verabredung ummandte, um 


Wanderungen durd celtiiches Land. 409 


einen weiblichen Blid auf das jchredlihe Schaufpiel zu werfen. 
Die Zeiten haben fich jehr geändert; denn, wenn dem halb offi— 
ziellen „Sührer durch die Bretagne” eben feines halb offiziellen 
Charakters wegen zu glauben ift, fo ift das Land, das einftens 
ein Gomorra zur Hauptitabt hatte, heutzutage die Heimat der 
tugendbaftejten und edelſten Menſchen. Denn aljo fpricht diejes 
wahrhaftige Buch: „Die charakteriftiichen Tugenden der Ein: 
wohner der Loire inferieure find: der Freimuth, die Menfchen: 
liebe und die Bejcheidenheit ; alle Pflichten , welche die Menſchheit, 
die Familie, das Vaterland auferlegen, erfüllen fie ohne Zwang 
und ohne Prahlerei. An den ärmſten wie in den reichſten Ge: 
genden wird nie ein Unglüdlicher an der Pforte eines Hofes oder 
einer Hütte erfcheinen, ohne Hülfe und Gaftfreundjchaft zu em: 
pfangen. Er ruht an jevem Herde aus, er wird nie abgemwiejen, 
und das Unglüd it hier feine Schande. Der Unglüdlihe, mit 
dem der Arbeiter fein Brod theilt, wird bei Tijche zuerſt be- 
dient u. ſ. mw.” | 

Raſch fuhren wir an diejen tugenphaften Gejtaden dahin. 
Die Loire wird immer breiter und mächtiger, je mehr fie jich dem 
Dcean nähert, und kommt' noch die Ebbe hinzu, fliegt der Dampfer 
ohne Anjtrengung pfeilfchnell dem Weiten entgegen. Nur die 
Gruppe von zwölf größeren und kleineren Inſeln, die fich zwifchen 
Nantes und Paimboeuf in den Weg ftellt, zwingt ihn manchmal 
zu Ummegen. Dieje Inſeln waren es, die ung der Tugend ber 
heutigen Franzoſen vergefjen und der alten Gallier gevenfen 
ließen; denn auf diefen Heinen Eilanvden erhoben ich einjtens 
berühmte Klöjter voll gefürdhteter Druiden und Druidefjen und 
riejige Dolmen und Menhire. Heute find alle Refte des Druiden: 
kultus verſchwunden, und auften Inſeln und zwijchen ihren hohen 
Gräjern wandeln jtatt der Drovilte und der Normas langbärtige 
Böde und unjchuldige Kühe. Nichts erinnerte ung, daß wir ung 
im galliihen Lande befanden, als nur einige Bauern am Bord, 
welche ächtefte gallifche, weite, faltige Pumphoſen, die unver: 
fäljchten und direkten Ablömmlinge der Braccae, trugen. 


410 Wanderungen durch celtifches Land. 


Wir hielten einige Zeit in Paimboeuf, einem hübſchen 
Städtchen von ungefähr viertaujend Einwohnern, das wir fchnell 
durhmwanderten. Unſere Bewunderung erregte ein über das 
Niveau der höchſten Springfluth erhabener, zweihundert Fuß 
langer und zwanzig Fuß breiter Molo, der ganz aus Quader— 
jteinen gebaut iſt und den Schiffen, die fi vor den Stürmen 
des atlantifhen Ozeans in die Flußmündung retten, eine ſichere 
Zuflubt gewährt. Ein folder Zufluctzort ift auch St. Nazaire, 
das an der äußerſten Mündung der Loire liegt, und ſolche Aſyle 
find hier nicht überflüflig, da fih bei Stürmen die Schiffe auf 
offener See, wo fie von zahlreichen Klippen und Riffen bedroht 
find, nicht halten können und doch wegen der jtarfen Strömung 
der Loire auch nicht bis Nantes vorzudringen im Stande find; 
jo fommt e3, daß fie oft Tage, ja Wochen lang in einem folchen 
Zufludtshafen liegen bleiben, und fo hat auch St. Nazaire, das 
dem Ozean näher liegt, eine Wichtigkeit erlangt, die ihm eine 
Cifenbahn von Nantes verfchafite. Denn fchon iſt es beinahe 
zur Gewohnheit geworben, bei den geringiten Hinderniſſen in 
St. Nazaire zu löfhen und die Waaren, die nah Nantes be 
jtimmt find, daſelbſt in eigens dazu errichteten Magazinen auf: 
zuftapeln. Die Rheder von Nantes gewinnen dadurch, bei we: 
nigen Transportloften zu Land, viel Zeit; der Hafen von Nantes 
aber fcheint auf diefe Weife immer mehr verlieren zu follen. 
St. Nazaire ift außerdem die Heimat der geſchickteſten Lootſen an 
der Loiremündung. 

Diefe wird Schon oberhalb St. Nazaire jo breit und gewaltig, 
daß dem Sciffenden die Städtchen, Fleden und Hügel des nörd— 
liben Ufer3 zu Eleinen Punkten zuſammen ſchrumpfen und das 
jüdlihe Land, flahes Alluvium des gewaltigen Stroms, faſt 
gänzlich verſchwindet. Aus dem tiefliegenden Küftenftriche fteigen 
des Morgens wie bei Mittagshitze, Sumpfland verrathend, Dünfte 
und Nebel auf, die noch jeden erhabenen Gegenitand, der auf 
feften Boden deuten fönnte, verdeden. Wer die Roire, den lieb: 
lihen Fluß, im innern Frankreich gejehen bat, erkennt jie bier 


Wanderungen durch celtifches Land. 411 


nicht wieder; denn, eine gewaltige Waſſermaſſe, mwälzt fie fich 
breit und ruhig ihrem Untergange entgegen, und durchbricht fie 
den Damm, den ihr die Brandung des Ozeans entgegen fett. 
Wenige große Ströme Europa’3 fterben jo groß, in folder Kraft, 
in jo voller Majeftät. Jenſeits St. Nazaire hat fie ſchon die 
Färbung des Ozeans angenommen und gleicht ihre Mündung 
einem großen Golf, der nah Süden zu unendlich jcheint. Schon 
tanzen Seejterne am Schiffe vorbei, kreiſchen Möven um vie 
Maften und lehnt fich mander Reijende, als wäre fein Haupt 
zu gedankenjchwer, über das Schiffsgeländer. Wehe, daß vie 
heilige Salzfluth immer mit jolhen Libationen begrüßt fein will! 

Nicht lange, und wir entdedten an der Gränze der blauen 
Fläche einen dunfeln Punkt, an welchem leicht und forgenlos 
viele weiße Segel vorübertanzten, -Eleinere, die die Fiſcherbarken 
zur Gardinenjagd führten, größere, die wie ausgebreitete Fittige 
ungebeurer Vögel nad fernen Küften ftrebten, nah Hispania, 
nad der Mündung des Tajo, nad) Rio-Janeiro, nach den Ufern 
der großen Republif. Und doch iſt jener ſchwarze Punkt, an dem 
fie bei heiterem Sonnenſchein fo luftig vorübertanzen, eine fo 
böje Klippe, wie die grauenvollen Symplegaden des ſchwarzen 
Meeres. Es ijt das die Felſenbank des Four, die ſich mehr ala 
eine Stunde lang von Norden nad Süden aus dem Meere er: 
hebt und jchon ganzen Flotten den Untergang gebracht hat. Jetzt 
trägt fie einen gewaltigen Leuchtthurm, der vielleicht eben fo ſchwer 
zu erbauen war, als der von Eddiſtone. Die beiven Mächter, die 
ihn bewohnen und des Nachts die heilige menjchenfreundliche 
Flamme nähren, befleiven das mwohlthätigfte, vielleicht aber aud 
das beſchwerlichſte Amt in Frankreih und Navarra. Gie find 
zu ewiger Gefangenichaft verdammt; denn e3 it ihnen nicht er: 
laubt, einen Kabn zu befigen, da man fürchtet, daR fie möglicher 
Weiſe einmal in allzu drobender Gefahr, um ihr Leben bejorgt, 
ven Pharus verlaffen fünnten. Ihre Wohnftube hat nur eine 
Ausdehnung von neun Fuß, und nur auf der Galerie, die um 
ven Leuchtthurm geht, iſt es ihnen möglich, ein wenig Bewegung 


412 "Wanderungen durd celtiſches Land. 


zu machen. Nur Einmal in der Woche, wenn man ihnen von 
Groific Lebensmittel und Brennmaterial überbringt, fehen jie ein 
fremdes Menfchenangefiht. Auch diefe Freude ift ihmen zur Zeit 
der Nequinoktialftürme verfagt, denn da ilt die Brandung um 
die Klippe fo gewaltig, daß fich fein Kahn heranmwagen darf, und 
fo figen fie oft wochenlang in ihrem unentrinnbaren Gefängnifie, 
mitten in der grauenvollen Waſſerwüſte und jehen von dem ers: 
bebenden Thurme aus nicht3, al3 die“ weiß ſchäumenden Häupter 
der Wellen, und hören nichts, al3 das Heulen des Sturmes und 
das Gepolter der Brandung, die drohend an Klippe und Thurm 
rüttelt. Es find grauenvolle Belagerungen, die diefer Menjcen- 
bau aushalten muß; der ganze Strom Okeanos, mit allen ihm 
zu Gebote ftehenden Gemwalten, arbeitet gegen feine Grundfeiten. 
Bon oben aus den dichtgeballten Wolken, den Bundesgenoſſen 
des Meeres, fällt Blit auf Blitz, das Heine Licht verhöhnend, 
das die Menfchen da unten angezündet haben; von den Seiten 
jtürmen die verrufenften Winde heran, und oft ſchon joll ver 
Ihurm wie ein junger Baum gezittert und geſchwankt haben. 
Man denke fich in ſolchen Momenten die beiden Wächter in ihrer 
Stube figend, oder auf der Galerie in den gigantijchen Kampf 
der Elemente hinaus ftarrend. Ob dieje zwei ftillen, ausgejegten 
und unbefannten MWohlthäter der Menſchheit, dieje herrlichen 
Dulder, nicht eben fo gut das Kreuz der Chrenlegion verdienten, 
wie Herr Fiorentino für feine Herrn Fould geleifteten Dienite? 
Als wir in Croific landen wollten, war e3 jchon tiefe Ebbe, 
und wir mußten auf offener See liegen bleiben; bald aber fam 
eine ganze Slottille Heiner Fifcherbarken, um ung abzuholen, und 
wir fuhren unter Ruderſchlag und fehr lebhaften Geipräd durch 
die lange und ſchmale Bai, die den Hafen von Croific bilvet 
und gegen Weiten durch einen langen fünftlichen Damm gegen 
den Einbrucd des Meeres und des Dünenjandes gefichert ift. Wir 
merften jogleih, daß wir uns in dem Lande befinden, das ganz 
Europa mit Sardinen verforgt, denn alle Gefpräche der Fifcher 
und ihrer Patrone drehten fih um den Sardinenfang, ver feit 


Wanderungen durd celtifches Land. 413 


einigen Tagen begonnen hatte. Die Beute ſchien dieje® Jahr 
jehr reich werden zu wollen, und vie Fiſcher waren ſehr beitern 
Muthes. Auch die Hummern, die „Kardinäle des Meeres,“ wie 
fie Victor Hugo anticipirend nennt, zeigten fich dieſes Jahr in 
ungeheurer Anzahl. Einige Tage vor unferer Ankunft waren auf 
Belle:isle 14,000, fage vierzehntaufend Stüd verfammelt, welche 
zwei Dampfihiffe abwarten mußten, um nad Nantes befördert 
zu werben. 

Croific, obwohl nicht übel gebaut, ijt ein öder und trauriger 
Flecken. Der Seewind treibt ununterbrochen jtaubigen Sand 
durch die Straßen, die Sonne brennt unbarmberzig, und ver: 
bunden mit dem Widerjcheine des Meeres, blendet und thut jie 
den Augen wehe, wohin man immer blide. Im jalzigen Flug— 
jande, aus dem die ganze Landzunge von Croific beiteht, gedeiht 
fein Baum und fein Straub, die Schatten geben könnten; nur 
nördlih von der Stadt hat man mit Mühe und Notb ein 
ärmliches Gebüſch zu Stande gebracht, das aber nicht im Ge- 
ringjten einer Dafe gleicht. Aus den Salinen tragen die Weiber 
ihmusiges Salz in hölzernen Kübeln. Halb nadt, wie fie find, 
fann man e3 beurtbeilen, daß ihre Gejtalten eben fo ſcheußlich 
find wie ihre Gefichter. In Croific fing unfere Erfahrung an, 
daß der weibliche Theil des celtiihen Stammes in der Bretagne, 
was förperlihe Schönheit betrifft, tief unter dem männlichen 
jteht, und daß ſich Armoricum in diefer Beziehung jehr von Sr: 
land, weniger von Schottland unterjcheidet. Und da die Gel: 
tinnen Groifics nicht einmal celtiſch fprachen und die fremden Kur: 
gäfte, die müde durch die Gafjen ſchlichen, nichts bejonders 
Anziehendes hatten, jo machten wir uns auf, um meiter ins 
Innere vorzudringen, 

Mir famen uns vor wie Wanderer in der Wüſte; die Sonne 
brannte fürchterlih auf den fandigen, ganz und gar unbejchat: 
teten Boden, und die furze Wanderung bis Tregatte wäre ohne 
ven erquidenden Hauch, der mandhmal von dem Meere rechts 
und links herüberwehte, obne die erhebende Ausfiht auf den 


414 Wanderungen durch celtifches Land. 


atlantiihen Ozean unendlich ermüdend geweſen. In Tregatte, einem 
Heinen Dorfe, überrafchte ung der Anblid zweier Bäume, die in 
diejer Gegend eine große Seltenheit und die noch dazu gebannt 
jind, weil jie nebjt dem breiten Kirchthurm, neben dem fie ſtehen, 
als Richtzeihen für die aus dem Norden fommenden Schiffer 
dienen, denen fie einen Wink geben, daß der unnahbare Four 
nicht fern ift. Noch mehr al3 die Bäume überrafchten uns die 
Laute, die in Tregatte an unjer Ohr Hangen; e3 war die ächte, 
uralte Celteniprade. Doch iſt fie nur eine Ausnahme in diejer 
ſonſt ganz franzöfirten Gegend, denn Tregatte ijt eine Kolonie 
von Bretonen aus dem Innern des Landes, welche unfruchtbare 
Felder verließen, um bier am Ufer de3 Meeres Salzernten zu 
halten. Man nennt fie „Baludiers,“ von den Salzſümpfen, vie fie 
ausbeuten, und die fie in ordentlihe Salinen umgewandelt haben. 
Diefe beitehen aus großen Beden, welche wieder in mehrere Ab: 
theilungen zerfallen, und in die, bei jeder Fluth, mit Hülfe von 
Kanälen, das Seewaſſer einjtrömt. Zwiſchen den Beden ziehen 
fi breite Dämme hin, auf denen da3 gewonnene Sal; aufge: 
häuft wird. Die Ernte beginnt im Frühling und dauert bis zum 
Eintritt der Fröfte, um welche Zeit man die Beden für den ganzen 
Winter mit Seewaſſer füllt und die Kanäle jchließt, um den 
Lehmboden, der den Grund der Salinen bildet, vor dem Frofte 
zu jhügen. Auf einem Saljdamme fitend, unterhielten wir uns 
lange mit einem Paludier und jeiner Frau, die und die Kunft 
der Salzgewinnung erklärten. Bei dieſer Gelegenheit konnten 
wir au das Koftüm diejer Leute jtudiren, welches aus uralter 
Zeit zu ftammen ſcheint. Die Frau trug einen Kopfpuß, der mit 
der Hauptbededung der Sphinre die größte Aehnlichkeit hatte, 
einen kurzen fammtenen Spenjer und mehrere Leinwandröde, die 
fih um die Hüften breit aufbaufhten. Der Mann hatte die 
galliihen Braccae, drei Weiten von verjchiedenen Farben, von 
denen die obere immer kürzer mar als die untere, jo daß man 
alle drei bewundern fonnte, einen langen Leinwandrod mit 
furzem Rüden und langen Schößen, und einen breiten Filzbut, 


Wanderungen durch celtiſches Land. 415 


dejien Krempe rückwärts aufgeichlagen war. Aus einiger Ent: 
fernung hätte man dieſen Celten für einen jlavifhen Bauern aus 
Mähren nehmen fünnen. 

Mieder nah halbitündiger mühjeliger Wanderung, einen 
fonnverbrannten und fahlen Abhang hinan, dur eine Reihe 
von Zöllnern, melde die Salzgegend bewachen, famen wir durch 
ein gethürmtes Thor in die Stadt Guerande und damit auf 
biftorifhen Grund und Boden. Die Stadt wurde von den Römern 
angelegt, und ihnen verbanft fie die foliden Mauern, die fie in 
einer zweimaligen Belagerung gegen die Normannen bejhügten. 
Doch wurde fie in dem Succeflionsfampf zwijchen Charles de 
Blois und Jean de Montfort mit Sturm genommen und des 
größten Theiles ihrer Einwohner beraubt. Man fieht e3 ihr auf 
ven erjten Blid an, daß fie eine hiſtoriſche Rolle geipielt hat. 
Ihre ganz aus Quadern gebauten Wälle mit zehn Thürmen, die 
engen und hoben Thore, das alte granitne Schloß mit feinen 
noch älteren Wachtthürmen bliden mit düfterem Ernſt auf Land 
und Meer. Bon der Höhe des Schlofjes fieht man mehrere Golfe, 
den meiten Ozean, die Sandwüſte von Croific mit ihren Galz- 
fümpfen, Belle-Isle, die Heineren Inſeln Hedi und Houat und 
fogar die hiſtoriſche Landzunge von Quiberon. Das edle Ge: 
ichlecht der Nevet, denen Guérande gehörte, tritt faft immer auf, 
wo e3 fich in der bretonifchen Geſchichte um die nationale Unab: 
hängigteit des Landes von Frankreich handelt, und wird deßhalb 
viel gefeiert in den Volksliedern, welche den Bretonen die Ge: 
ſchichtsbücher erjegen. 

Nur Ein Nevet machte eine Ausnahme und ſpukt als „Marquis 
von Guerande” in den Volksliedern wie ein böfer Geift, mit dem 
man Rinder jhredt. Er machte fich berüchtigt durch die Oraus 
famfeit, mit der er feine Unterthbanen behandelte, durch das 
Müftlingsleben, das er ſchon in früher Jugend auf Koften der 
Frauen und Töchter feiner Bauern auf feinen Befigungen führte. 
Es geht die Sage, daß feine arme Mutter, die ihn nicht von 
jeinem Sündenleben zurüdhalten fonnte, jedes Mal, wenn er 


416 Wanderungen durd; celtifches Land. 


das Schloß verließ, die Sturmglode läutete, um die Dörfer zu 
warnen und die Unterthanen vom Herannahen ihres Tyrannen 
in Renntniß zu feßen. Da floh und verjtedte fih, wem feine 
Glieder oder feine Keufchheit lieb waren. Troß viefer Vorficht 
der Mutter gelang e3 dem edlen Marquis, mehrere Schandthaten, 
ja jogar Morde zu begehen, die ihn am Ende zwangen, das Land 
zu verlaffen. Er begab fi an ven Hof Ludwigs XIV., ven er, 
wie aus Frau v. Sevigné zu erjehen ift, durch jeine Grazie und 
jein feines Weſen entzüdte. Er wurde für einige Zeit ver Löwe 
von Verfailles. Fabula docet, daß die feinen und wegen ihrer 
Anmuth weltberühmten Seigneur3 von Berfailles auf ihren 
Gütern Keine Scheufale waren und daß die Bauern in ihrem 
Urtheile von dem Urtheil des großen Königs und der Frau v. Se— 
vigne bedeutend abmwichen. Uebrigens ift Louis, Marquis v. Gué— 
rande, in feinem Altes jehr fromm geworden. Gott hat ihm 
wohl feine Sünden vergeben, nicht aber das Volt, das noch 
immer ſchreckliche Balladen von ihm fingt. 


Wen da der Dichter hinein gebannt, 
Den fann fein Gott mehr retten! 


Im Bojthaufe, wo wir Pferde beitellten, muchten wir die 
Bekanntſchaft eines höchſtens ſechsundzwanzig Jahre alten Jeſuiten, 
der an Geſtalt ein Apollo und an geiſtreicher Liebenswürdigkeit 
ein Abbé des achtzehnten Jahrhunderts war. Mit großer An— 
muth machte er den beiden Töchtern des Poſthalters den Hof, 
ohne errathen zu laſſen, welche von Beiden er bevorzugte. Die 
jungen Damen’ waren ſehr andächtig geſtimmt und ſchienen es 
jehr zu bedauern, al3 dieſer Seelentröfter feine Reife mit uns 
fortjeßte. Abbe ©. unterhielt uns jo vortrefflih, daß mir ver 
Landſchaft, durch die wir fuhren, trotzdem fie uns mit ihrer 
ihönen Vegetation nad ver Sandmwüjte, die wir durchwandert 
batten, hätte gefallen müſſen, faum einige Aufmerkſamkeit ſchenkten. 
Der junge Jeſuit brachte ung einen hohen Begriff vom breto: 
niſchen Klerus bei, einen noch höheren von feiner Gefellfchaft, 





Wanderungen durd) celtifches Land. 417 


obwohl wir zufällig in Paris mehrere jeiner gebilvetiten und 
geiftreichiten Brüder gefannt hatten. Abbe ©. ſchien ung ein 
unmiderftehlicher Mifjionär und ein Mann, der fih im Nothfall, 
und wenn der Zweck die Mittel heiligt, auch in Frad und Tanz: 
ſchuhen mitten unter ſündigen Weiblein zu bewegen fähig wäre. 
Er erinnerte mich an jenen Marquis, von dem die Sage geht, 
daß er ebenfalls der berühmten Gefellihaft angehört, und der an 
einem gewiffen Kleinen proteftantiihen Hofe mehr Belehrungen 
zu Stande brachte, als der Pere Hug in der ganzen Mongolei. 
Seine Soutane wie fein breiter Hut waren vom feinften Stoff; 
weiß blidten die etwas magern Hände aus den ſchwarzen Aermeln 
hervor. Das Auge voll Gluth beleuchtete doch mit janftem Lichte 
ein blafjes, evel geformte, freundlich lächelndes Geficht. Er 
ſprach über Alles, nur nicht über Politik und Religion, und wir 
waren rüdjicht3volle Jefuiten genug, folhen Gegenftänden mit 
verfelben Zartheit auszumeihen. Das Barifer Leben ließ ihn 
kalt, Italien begeijterte ihn, England ſchien er zu haffen und für 
Deutjchland, als für ein Feld ausgebreiteter Thätigkeit, ſich fehr 
zu interefliren. Zu unferem Erſtaunen fannte er manchen Namen 
manches deutſchen Politikers und Hiftoriferd und überhaupt die 
meiften deutichen Gelehrten, deren Neigungen einen theologischen 
Anftrich haben. Doch nannte er nicht einen einzigen reinen Theologen. 

Sein Geſpräch wurde immer interejlanter, je langmeiliger 
die Gegend wurde; denn bald folgte auf die gutbebaute Gegend 
um Guerande öde Troftlofigkeit, verfrüppelte Waldung und Heide, 
Heide, Heide. Ich blättere in meinem Tagebuche und fehe mit 
Schreden, wie oft jich diefer Ausruf: Heide, Heide, Heide, auf 
wenigen Bogen wiederholt; und ich blättere in Arthur Jungs 
berühmten Tagebuche und jehe, wie auch er, vor achtzig Jahren 
durch die Bretagne reifend, immer wieder landes, landes aus— 
ruft. Selbſt ver Jeſuit verſtummte bei dem traurigen Anblid, 
und wir waren alle froh, als vie mwohlthätjg verhüllende Nacht 
fam und wir endlih im Hotel St. Sylveſtre in dem Heinen 
Städtchen La Roche-Bernard ausruhen konnten. Der Jeſuit 

Mori Hartmann, Werke. I. 27 


418 Wanderungen durch celtifches Land. 


verſprach uns gleich bei der Ankunft ein herrliches Schaufpiel, und 
al3 wir und mit Speife und Trank geftärkt, hielt er Wort, indem 
er und im Mondjchein vor die Stadt führte, um ung die großartigfte 
und kühnſte Kettenbrüde Frankreich, vielleicht Europa’s, zu zeigen. 

Das Bett der Villaine gleiht einem tiefen Abgrund in ven 
Alpen; die Seitenwände fallen beinahe ſenkrecht ab, und in der 
Nähe des Waſſers klann man fich mitten in einem wilden Gebirgs- 
zuge wähnen. Es war nicht möglih, aus folder Tiefe einen 
Mittelpfeiler zur Stügung der Brüde aufzuführen; e3 hätte Das 
einen babylonijhen Thurm gegeben. So hängt denn diefes uns 
geheure Spinnengemwebe fürchterlich Iuftig an ven höchſten Rändern 
des Abgrunds und zittert jelbjt unter dem Schritte des einfamen 
MWandererd, wie ein vom Wind getragener Sommerfaden. Bon 
ver Sohle des Abgrunds aus geſehen, erfcheint fie wie jene haar— 
breite Brüde, über welche die Gerechten Muhameds ins Paradies 
eingehen, von der die Sünder und Ungläubigen in die ſchwarze 
Bernihtung ftürzen. Bon der Brüde erfcheinen die Schiffe mit 
ihren hohen Maſten und Segeln, die aus der nahen Mündung, 
ver Billaine ins Land dringen, oder au8 dem Innern dem Ozean 
entgegen ſchwimmen, als unendlich Kleine Kinderfpielzeuge, auf 
denen Steuermann und Matroje dem Auge verſchwinden. Es 
war wie ein Traum der Nacht, ten wir bier im Mondſchein 
erlebten. Das Rauſchen der Wellen, die fi unten dur Felfen 
winden, drang nicht bis zu uns herauf, eben fo wenig hörten wir 
den Fall des Steins, den wir hinunter warfen. 

Als wir bei hellem Morgenlichte über die Brüde weiter wars 
derten, erſchien fie ung nicht minder traumhaft und luftig; ja 
der Abgrund, der unter ihr gähnte, war in der Haren Beleuch— 
tung noch grauenhafter anzuſchauen als im mildernden, fanft 
verhüllenden Mondlicht. Mit dem erften Schritt auf feftem Boden 
befanden wir uns im Departement des Morbiban. 


Il. 


Morbihban. Heide — Mufillac, — Der Herr von Basvalan. — Vannes. — 

Morbihan oder das Heine Meer. — Lochmariacaer und die Druibenfteine. — 

Aureh. — Die Schlacht bei Aurey. — Die Menhire von Carnac, — Henne- 

bont, jeine Gedichte, Hanne die Flamme, — Lorient und PRort- Louis, — 
Land und Leute, 


Wir traten ins Land der Veneten, welche Cäfar fo viel zu 
Ihaffen machten und deren Ableger, freilich nach einer höchſt un: 
beglaubigten Sage, die ftolze Venetia in den Lagunen des adria= 
tiihen Meeres fein fol. So betraten wir das Land, das die 
legte Zufluchtsſtätte des Druidismus war, al3 cr vom Römer: 
thum und fpäter noch mehr vom Chriftenthbum bevrängt wurde; 
da3 Land, das au im Mittelalter der Schauplaß großer, faft 
unaufhörliher Kämpfe geweſen und noch in neuerer Zeit, unter 
Anführung feiner Priefter, unbefiegten republifanifchen Heeren 
unheimlichen Widerftand geleiftet hat. Aber nicht3 in unferer 
Umgebung deutete darauf, daß mir uns auf fo hiſtoriſch belebtem 
Boden befanden. Wieder Heide, Heide, Heide! — Eine rothe 
Ebene dehnte fih unabfehbar vor uns aus, die Erika ſchüttelte 
fih im Morgenwind, kleines Geſträuch, gelb blühende Difteln, 
abgeblühter Ginfter erhoben fih dort und da mie Inſeln aus der 
gähnenden Einförmigfeit. Wie im Traum, dumpf hinbrütend, 
wandert man durch eine foldhe Gegend; der Schritt des Reife: 
gefährten ertönt unheimlih, und die Gedanken verlieren alle Con: 
touren und zerfließen in die öde Weite. E3 war eine wahre Er- 
quidung, als zwifchen dem Heidefraut zwei Gendarmen auf: 
tauchten und unfere Päfje zu fehen verlangten. Sie lafen fie mit 


420 » Wanderungen durd celtifhes Land. 


Muse und prüften jeven Zug unjeres Geficht3 und jedes Stüd 
unferer Kleivung. Doch fchienen fie dieß viel mehr, um fi zu 
jerftreuen, denn aus polizeilihem Pflichtgefühl zu thun. 
Angefüllt vom horror vacui, müde des leeren Nichts, 
famen wir in Mufillac an, einem Städtchen, das mich durd 
feine Aermlichkeit und feinen Schmug an manden irischen Fleden 
und daran erinnerte, daß ich mich unter Gelten befinde, vie 
überall beftimmt zu fein fcheinen, in Unfauberfeit unterzugeben. 
Mie ein das Städtchen auch war, ſo ſchien es doch mit geiſt— 
lichen Seelforgern ſtark verſehen; wohin man blidte, man jah 
überall Schwarzröde hin und ber fchlüpfen, und als wir um 
die Mittagszeit dur die Gaſſen gingen, ſahen wir fie an den 
verfhiedenften Tiſchen obenan figen. Es iſt befannt, daß die 
Bretagne noch heute, wie zur Zeit des heiligen Columban und 
wie zur Epoche der unbeeidigten Priefter, das gelobte Land der 
Seiftlichkeit ift. Daran find wohl auch die vielen Heiligen Schuld, 
die das Land in größerer Anzahl bejigt als irgend eine andere 
hriftlihe Gegend. Das fommt daher, daß die Bifhöfe und Ka— 
pitel bis ins zehnte Jahrhundert das Recht hatten, heilig zu ſpre— 
hen, ohne die Erlaubniß aus Rom abzuwarten. So fam es, 
daß jeder Sprengel und jedes Klojter fein Anjehen durch einen 
oder mehrere einheimijche Heilige zu erhöhen juchte. Neben dieſen 
Familienheiligen wurden noch fehr viele irische und wälſche abop: 
tirt, melde ſich als Stammgenofjen viele Verdienſte um das 
bretonifche Chrijtenthum erwarben und im Lande leicht einge: 
bürgert wurden. So wird z. B. der heil. Batrid hier faft eben 
jo fehr verehrt wie in Irland und fpielt auch die heil. Urfula 
mit ihren eilftaufend Jungfrauen eine ſehr große Rolle, obwohl 
jie niemals bretonifchen Boden betreten hat. Sie wurde nämlich 
von Seeräubern aufgefangen, als fie mit den Jungfrauen nad 
der Bretagne reiste, um fich dafelbjt an die aus England kom— 
menden Eroberer zu verheirathen, melde ſich mit den Töchtern 
des Landes nicht vermiſchen wollten. Ein Hauptwunder in der 
Legende der beil, Urfula und der eilftaufend Jungfrauen ijt es, 


Wanderungen durch celtifhes Land. 491 


daß fie ungefähr hundert Jahre vor ihrer Abreife aus dem 
Paterlande in Köln am Rhein angelommen ift. 

Doc das gehört nicht hieher. „Utere non reditura,“ jo 
fautet die Infchrift über der Sonnenuhr zu Mufillac. Wir 
nahmen uns die Warnung zu Herzen und reisten fo ſchnell als 
möglich weiter. Das erfte Dorf, das wir berührten, ſprach wieder 
celtifch, und von nun an begleitete uns das alte Idiom durch 
Tage und Wochen. Das Land bis Banned ift nur zum Theil 
Heideland; der Blid des Wanderers kann fi wieder an be: 
bauten Feldern, Hainen, grünen Thälern und fehr oft an rei- 
zend gelegenen Edelſitzen erquiden. Rechts von der Straße jahen 
wir das ſchöne Schloß Basvalan, deſſen Beliger, ein Mann ur: 
alten Adels, vor Kurzem feine Kuhhirtin geheirathet und durd 
diefe That unendlich populär, von feinen Standesgenoflen aber 
in den Bann gethan worden ift. 

Ueber römische, merovingifhe und farolingiihe Schlacht— 
felver gelangten wir endlich in die Stadt, welche die lokale Gitel- 
feit gerne für den Hauptort der Veneten, für das alte Dario 
ricum, celtifch Duariorif ausgibt, melde e8 aber, wie Fremin— 
ville beweist und Curfon glaubt, niemals gewejen. Denn die 
Beihreibung Cäfard vom Oppidum (de bello gallico, drittes 
Buch) paßt ganz und gar nicht auf Bannes, wohl aber auf 
Sochmariacaer. Auch hat die Stadt in ihrer nächften Umgebung 
nicht3, was an die Römer: oder Druidenzeit erinnerte; ihre 
Trümmer wie ihre noch ftehenden Gaffen und Monumente tragen 
fämmtlih den Stempel des Mittelalter8, fo der Thurm des 
Gonnetable, der Reſt des Schlofjes de Hermine, in welchem 
Johann IV. feine Schandthat an Cliffon verübte, aber nicht zu 
Ende führte, mweil der Schloßvogt nicht fchleht genug war, den 
Mord zu begehen; jo ferner das Schloß de la Motte, deſſen 
Grundmauern aus dem fechsten Jahrhundert ftammen, und 
endlich die Kathedrale, welche ebenfalls ſchon im ſechſsten Jahr: 
hundert vom heil. Patern gegründet fein foll, im eilften Jahr: 
hundert von den Normannen verbrannt und romanijch wieder 


N 


422 Wanderungen durd) celtijches Land. 


aufgebaut und im fünfzehnten Jahrhundert abermals halb go= 
thiſch, halb romaniſch, jo wie fie jegt dafteht, renovirt wurde. 
Gie befigt zwei herrliche Grabmonumente, von denen das eine 
durch feinen ftrengen und einfachen, etwas ascetiſchen Styl, Das 
andere durch künftlerifche Vollendung ausgezeichnet ift. 

Die Gafjen der Stadt mit ihren Giebeln, Schieferdächern, 
überhaupt mit ihrem ganzen Charakter, erinnern an die ältejten 
Quartiere Frankfurts, nicht aber die Menſchen, vie ihr Mög: 
lichjtes thun, ſich durch Häßlichfeit und dumme Phyfiognomien 
vor der Majorität der Ervenbewohner augzuzeichnen. Ihr Typus 
jcheint no tief unter dem der Landbewohner zu jtehen und 
deutet nicht im Geringften auf irgend welche Vermiihung mit 
franzöfifhem Blut. Doc fpricht hier der Bürger franzöfifh, und 
e3 gibt mehrere franzöfifhe Buchhandlungen. Aber melde Buch— 
bandlungen! Nicht eine einzige konnte uns ein hiſtoriſches oder 
antiquarifches, auf das Land bezüglihes Buch verkaufen, ob: 
wohl feine Provinz Frankreichs, wie die Bretagne, und in der 
Bretagne kein Departement, wie das des Morbihan, fo viele Lokal— 
geſchichtſchreiber und fchriftftellernde Antiquare befigt. AL die 
großen Buchhandlungen waren nur von Gebet: und Andachts— 
büchern, ascetifhen Erbauungswerlen, Legenden und Wunder: 
geſchichten angefüllt. Wir fonnten uns das erklären, da wir auch 
bier die Gafjen von Prieftern, meiſt Jeſuiten, förmlich bevöl- 
fert fahen. 

Diefem geiftlichen Leben entfprechend war es, daß der Bi: 
ihof dem Bankett der Generalväthe, dem wir beimohnten, präfi- 
dirte. Es wurden viele loyale und fromme Toaſte ausgebradht, 
und der Wein floß in Strömen; der Cider aber, das hiltorijche 
Getränk der Bretonen, in dem man ficy ſchon zu Zeiten ver 
Nömer und Merlin's beraufchte, war trog dem partifularen Pa: 
triotismus ausgefhloffen. Das Felt, das der Präfelt am fol: 
genden Abend den Generalräthen gab, erinnerte ung doch wieder 
daran, daß mir in Frankreih waren; da ſprach Alles von Paris, 
da wiederholte man Pariſer Wite und behandelte da3 neuejte 


Wanderungen durd) celtifches Land. 423 


Pariſer Vaudeville mit derſelben Wichtigkeit, mit welcher geitern 
die höchſten Intereſſen de3 engeren Vaterlandes bejprochen mot: 
den. Trog aller Feite und aller Liebenswürdigfeit, mit der uns 
franzöfifhe Beamte entgegenfamen, langweilten wir uns doch 
nad faum achtundvierzigftündigem Aufenthalte in Vannes, und 
eines jehr frühen Morgens verließen wir auf der offiziellen Scha: 
luppe de3 Departementalingenieurs den ſchönen, von einer pracht: 
vollen Promenade eingefaßten Hafen, um den berühmtejten 
Druidendenkmälern Europas entgegen zu fteuern. 

Raſch und reißend, wie ein angefchwollener Bergitrom, jtürzt 
ſich hier zur Zeit der Ebbe die Welle aus dem Hafen und feinen 
Kanälen in den Chenal, aus dem Chenal in den Bujen des 
Morbihan, aus dem Morbihan in den großen Ozean. Unzählige 
Inſeln, Klippen, Rifſe und Vorgebirge ftemmen ſich ihr ent: 
gegen, hemmen und drängen fie, daß überall Wirbel und tolle 
Strömungen entjtehen und das ganze Morbihan einem kochenden 
Kefjel gleicht. Auf diefem wahrhaft toll gewordenen Meere flogen 
wir in einem beftändigen Schwindel dahin; die Ruderer arbei- 
teten mit angejtrengten Kräften und drehten die Schaluppe her: 
über und hinüber, um den Trichtern, die fich überall vor uns 
aufthaten, zu entgehen. Nicht immer gelang e3 ihnen, und das 
Fahrzeug drehte ih wie im Tanze. Vorwärts fehend erblidten 
wir ein Labyrinth von Gängen, die ſich zwiſchen Inſeln und 
Klippen hinwanden; unfere Seeleute behaupteten, e3 gebe im 
Morbihan jo viele Eilande und hervorragende Felſen ald Tage 
im Jahre. Der alte Steuermann erinnerte fi noch an die Zeit, 
da der Hafen von Vannes von englifchen Kriegsſchiffen blofirt 
und die Inſeln hinter ihnen in ihrer Gewalt waren und allen 
Bretonen, die fich nicht für die Republif oder Napoleon fchlagen 
wollten, fichere Zufluchtsftätten gewährten. Viele von viefen, 
geborene Seeleute, gingen in englifhe Dienfte und kämpften 
gegen ihr Vaterland, bis fie unter der Reſtauration wieder heim- 
tehren durften. Dieß mag wohl eine der Urſachen fein, warum 
man an ven bretonifchen Küjten gegen vie Engländer milder 


424 Wanderungen durch celtifches Land. 


geftimmt ift, al3 im übrigen Frankreich. Cine andere Urjache ift 
der Gewinn, der diefen Küften durch den beftändigen Verkehr 
mit England zufließt. Uebrigens darf man nicht vergeflen, daß 
die Bretagne eine der jüngften Erwerbungen Frankreichs iſt, daß 
fie fih am Längſten gegen die Abhängigkeit von Franfreih ge— 
wehrt, daß der Bertrag von Bannes 1532, welcher jie mit 
Frankreich vereinigte, nie populär geworden, und daß fi noch 
unter Heinrich IV. und Ludwig XII ein ganz gewaltiger Geift 
der Unabhängigkeit geltend machte. Diejer Geilt der Unabhän— 
gigfeit, der den erjten Bourbonen fo viele Sorgen madte, war 
e3 eben, welcher den legten Bourbonen gegen Legislative, Kon 
vent und Napoleon Krieger und Verſchwörer lieferte und es den 
unbeeidigten Prieftern erleichterte, den Fanatismus des Volks 
bis zu der berühmt gewordenen Grauſamkeit hinaufzufchrauben. 
So liefert auch die Chouanerie, die einen Starken religiöjen Bei- 
Ihmad hatte, ven Beweis, daß jeder Religionskrieg — und die 
Bretonen betrachten ihren Aufftand als einen ſolchen — aus 
politiichen und nationalen Urſachen hervorgeht. 

Die Inſeln und Klippen, durch die wir fuhren, jind dem 
bretoniſchen Volke au als Zufluchtsftätten der nicht beeidigten 
Priejter werth. Hier wohnten fie in Höhlen und unter Druiden- 
fteinen, bier lafen fie geheime Meſſe und verfammelten fie die 
Gläubigen, 'die ihnen dafür, wie die Raben des Propheten, 
Speife und Trank zutrugen. So wiederholt Alles fih im Leben. 
Hieher flüchteten jich einft die alten Druiden vor einer neuen 
Zeit und einem neuen Ölauben. 

Mit Mühe, ja beinahe mit Lebensgefahr banden wir unjer 
Fahrzeug an die Inſel Gavarnis (Ziegeninjel), von deren Höhe 
ung ein Dolmen begrüßte. 


„In die Traum- und Zauberjphäre 
Sind wir, ſcheint es, eingegangen!“ 


Wir Hommen das fehr jteile Ufer hinan und jtanden bald am 
Eingange eines dunfeln, ungefähr zwölf Schritte langen Ganges. 


Wanderungen durch celtifhes Land. 425 


Diefer Gang beitand aus rechts und links aufgeftellten glatten 
Steinen, welche oben von eben jo glatten bevedt waren. Alle 
trugen auf ihrer ganzen Fläche jene unentzifferbare Schrift, die 
mit feiner andern Nehnlichkeit hat und aus langen, in einander 
geichlungenen, gerundeten Zügen beſteht. Man könnte fie eben 
jo gut für eingegrabenen Arabeskenſchmuck halten. Durch diejen 
Gang gelangten wir in die Höhle, die dur den Dolmen ges 
bildet wird. Es ift das ein Meiner Kreis von aufgeftellten Stei- 
nen, die auf ihren Häuptern eine ungeheure rohe Platte tragen. 
Die Höhle, welche höchſtens vier Schritte breit und lang ift, 
wird durch die Lüden, die die rohen Steine oben offen laſſen, 
beleuchtet. Aus der Höhle traten wir auf die Platform und be: 
merften da eine Kleine, von der Mitte ausgehende, in den Stein 
gehauene Rinne, welche an den Nand und von da in die Höhle 
führte; mwahrjcheinlih floß dur fie das Blut der Opferthiere, 
vielleicht der Opfermenfchen, in das innere. Es war ung eigen: 
thümlich zu Muthe, als wir auf dem Steine daftanden, der einft 
Kanzel und Altar gewejen, von dem der Ovat die Göttergebote 
verkündete, auf welchem der Druide mit fteinerner Art und jteis 
nernem Herzen jein'Opfer würgte. Von außen ift der Dolmen 
fat ganz von angeflogener Dammerde bevedt, doc jo, daß die 
große Steinplatte frei ift und wie ein ungeheurer Pilz über das 
Eiland hervorragt, und fo, dab man aud aus der Entfernung 
die ungefähre Form des innern Baus und des hineinführenden 
Ganges erkennen fann. 

Bon der Höhe diejes Dolmen hat man eine prachtvolle Aus: 
fiht*über den Archipel und ſüdwärts auf die Halbinfel, welche 
die prächtige Abtei St. Gildas, den Aufenthaltsort Abälards, 
und den Fleden Sarzeau, die Heimat Lefage’3, trägt. Noch 
auf andern Inſeln bemerkten wir Druidenfteine, aber wir eilten 
an ihnen vorbei, um nad 2ochmaricaer zu gelangen, welches 
offenbar die Hauptſtadt der armorischen Druiden geweſen. Nach 
mancherlei Ummegen, zu denen uns die Starken Strömungen 
zwangen, nachdem uns 'manche fcheußliche Felfennafe mitten aus 


4936 Wanderungen durch celtifches Land. 


den Fluthen entgegengejtarrt, landeten wir endlich am alten Da: 
rioricum, welche3 heute Yochmariacaer, d. i. der Ort der ſchönen 
Maria heißt. Die Hauptjtadt der Veneten, ſpätere Römerſtadt, 
ift heute zu einem kleinen, zerrijienen, überaus ſchmutzigen 
dleden, mit noch ſchmutzigeren zweitaufend Einwohnern, herab: 
geſunken und würde wohl nie von einem Wanderer bejucht wer: 
den, wenn fie nicht die berühmteften Druidendenkmäler bejäße. 

Mir machten uns fogleih auf, um die ganze Umgegend zu 
durdjitreifen, die, obwohl fteinarm von Natur, den Eindrud 
eines Feljenlandes macht, jo maflenhaft, fo groß ragen überall 
aus der grünen Ebene die Dolmen und Menhire empor. Man 
begreift nicht, auf welche Weije diefe Steine über Meer und Land 
bieher gebracht worden find, und man muß annehmen, daß fie 
die Druiden als erratifche Blöde hier vorgefunden haben; denn 
allen mechaniſchen Künften unferer Zeit würde es noch außer: 
orventlih ſchwierig werden, jo gewaltige Felsjteine von Ort zu 
Ort zu bewegen. Aber felbjt wenn dieſe Felsblöde durch Natur: 
gewalten hieher gebracht worden — e3 bleibt doch immer er: 
ftaunlih, wie die Druiden, dieſe Prieſter ohne Kunft, ſolche 
Maſſen als Menhire, d. i. aufrechte Steine, aufitellen oder als 
Dolmen, d. i. als Tafelfteine, über andere, untergeftellte erheben 
fonnten. Weit mehr als vie ägyptifhen Könige, die Erbauer 
von Memphis und Theben, ihre Unterthanen, müſſen die galli— 
ſchen Prieſter die ganze rohe Naturfraft ihrer Gläubigen in ihrer 
Gewalt gehabt haben. Iſt e8 doch nicht anzunehmen, daß fie, 
die in Wäldern und unter rohen Steinplatten hausten, vie ihre 
Opfer mit jteinerner Art tödteten, die ſolche plumpe, nicht ein- 
mal am Anfange der Kunft ftehende Monumente errichteten, 
daß fie irgend welche Mafchinen beſaßen, die ihnen dabei hätten 
behülflih fein Eönnen. Diefe Felfen previgen laut, daß ver 
Glaube Berge verjegt. 

Unmeit von Lochmariacaer erhebt ſich ein offenbar ebenfalls 
durch Kunft entjtandener Hügel, welchen man den Berg Helve 
nennt. An feinem Fuße fteht ein Dolmen, deſſen Platform in 


Wanderungen durch celtifches Land. 427 


zwei Stüde zerbroden iſt. Sein Inneres ift in zwei Eleine 
Zimmer abgetheilt. Weftlih vom Fleden findet ſich der „Tiſch 
des Cäſar,“ wie man gewöhnlich einen der intereſſanteſten Dolmen 
benennt. Al3 wir dort anfamen, droſch eben ein armer Land: 
mann jein mageres Getreide auf dem Tiſche Cäſars. Es ijt eigen: 
tbümlih, wie überall in jedem Winkel der Erde, wo vieler 
außerordentliche Menſch ven Fuß hingefegt, jein Name im Munde 
des Volks an hundert Gegenjtänden hängen blieb; wie überall 
feine Befiegten ihm Monumente fegen, ja ſich ihres eigenjten Ei- 
genthums entkleidven, um e3 ihm zujutheilen. Hier wo er die 
große Schlacht gegen die Veneten lieferte, ihre befjeren Seeleute, 
ihre Segelſchiffe mit feinen Landratten und Ruderbooten bejiegte, 
bier, wo er die freiheit3luftigen Veneten ihrer Freiheit beraubte, 
bier in ihrer eigenen Hauptjtadt berauben fich diejelben Veneten 
eines ihrer ältejten, religiöfen Monumente, um damit den Namen 
Cäſars zu verewigen. Doch ift Das nicht unnatürlid. Amedée 
Thierry hat ganz Necht: es ilt ver Gründer Cäfar, der überall 
Spuren ſeines Wirkens zurüdgelaffen, dem die Völker dankbar 
find, dem ſie gerne jeve Gründung zufchreiben und an den fie 
gerne anlnüpfen, wenn fie al3 altavelige Völker erfcheinen wollen. 

Die Tafel Cäſars, jekt verjtümmelt, ruht nur noch auf 
dreien ihrer Pfeiler, welche der ärmliche Ueberreſt eine3 großen, 
ven Raum von dreißig Fuß einnehmenden Kreifes find. Der 
Dolmen iſt jo bob, daß ein Mann fich unter ihm ganz bequem 
aufrecht erhalten kann. Auf der innern Seite der Blatte bemerkt 
man eine ſchon etwas vermitterte Infchrift und neben dieſer eine 
fonderbare Figur, welche mehrere Antiquare für einen, Phallus 
halten. Doc fcheint uns dieſe Hypothefe jehr gewagt. Barchou 
de Penhouet hat diefe Inſchriften ſowohl, wie fämmtliche in der 
Bretagne heimiſche Monumente für phönizifh oder auch für 
ägyptiſch erklärt, was unter den Archäologen des Landes ein 
homerifches Gelächter erregte. In der That hat unfer verehrter 
Freund von der Akademie der Inſchriften feine genügenden Be: 
weije für feine Behauptung aufführen können und hat fih nun 


* 


428 Wanderungen durch celtifches Land, 


vor den Sticheleien der Bretonen ind Grab geflüchtet. „Er weiß 
es nun beſſer,“ pflegte Mittermaier in Heidelberg mit einem 
Blide gen Himmel auszurufen, wenn er von der irrigen Mei: 
nung irgend eines todten Kriminaliften ſprach. Penhouet weiß 
es nun auch befier und wird von irgend einem Kaufmann aus 
Tyrus oder Sidon erfahren haben, daß fich phönizifche Kaufleute 
nur felten und kurz auf diefen Küften aufgehalten, daß fie dann 
ihre Zeit nicht damit verloren, rohe Steine aufzurichten oder über 
einander zu legen, und daß der Dienjt Thors und Belens vom 
Dienſte Molochs höllenweit verfchieden war. 

In der Nähe dieſes Dolmen liegen die Trümmer des größten 
bekannten Menhir, oder langen Steines. Er wurde wahrſcheinlich 
von den erſten Chriſten umgeſtürzt und in fünf gewaltige Stücke 
zerbrochen, die aber noch ſo neben einander liegen, daß man ihn 
in ſeiner ganzen Größe beurtheilen kann. Er mißt an ſechzig 
Pariſer Fuß, verjüngt ſich nach beiden Enden und iſt in der 
Mitte am Breiteſten. Nicht weit von dieſem Menhir liegt ein an— 
derer von zweiundzwanzig Fuß Länge, welchen das Volk Men 
Brao Sao, d. i. aufrechter Stein des Tapfern, nennt. Neben 
dieſen geſtürzten erheben ſich noch drei andere wie gewaltige Fels: 
nadeln. Sie ftehen fämmtlih auf dem fchmaleren Ende und 
werden nur durch wenige untergelegte Steine im Gleichgewicht 
erhalten. 

Außer den genannten gibt es rings um Lochmariacaer noch 
viele andere Dolmen und Menhire, die mehr oder weniger den 
andern gleichen und die wir nicht weiter befchreiben wollen. Aber 
ihre Menge gibt der platten Halbinfel, auf der fie fih zufammen 
drängen, ein eigenthümliches Ausjehen und erfüllt den Frem: 
den, der zwifchen ihnen umher wandert, mit Schauern der Ur: 
welt. ch könnte aber nicht fagen, daß dieſes Gefühl ein ange: 
nehmes fei; der bloße Anblid diefer Monumente athmet Rob: 
heit, Blutdurſt, Graufamfeit und madt den modernen Men: 
hen vor den Gedanken, auf welchen Wegen ſchon die verborgene 
Gottheit gejucht worden, erbeben. Das Meer, das Lochmariacaer 


Wanderungen dur) celtifhes Land. 429 


überall einjchließt, die Klippen und Strömungen, die e3 unnah: 
bar machen, tragen noch dazu bei, die Dede und die Schauer, 
die diejen Priefterwinkel erfüllen, zu erhöhen. Unmilltürlich ver- 
gegenwärtigte ich e8 mir, wie an gewillen Tagen die Gläubigen 
des ganzen Landes hier zufammen jtrömten, auf öden Wegen 
zwiſchen Sümpfen und Moräften oder von den Injeln fommend, 
zwiſchen den Klippen daher jteuernd auf ihren Kähnen mit den 
Segeln von Ziegenfellen, wie die Priefter mit dem Eichenfranze 
im Haar auf den Dolmen jtehend ihre myftifchen Formeln oder 
die Priejterinnen die Zukunft verfündeten, wie fi das Opfer 
auf dem Steine wand und da3 Blut in die Höhle träufelte, 
Gewiß fand fi in den erjten Jahrhunderten jo mancher getaufte 
Chriſt, der fih vom alten Glauben nit trennen konnte und 
hinter dem Rüden des Apoſtels hieher ſchlich, um feine alten 
Götter zu begrüßen. Es nüßte nicht3, daß man gewaltige Men: 
bire fprengte, die Dolmen umjtürzte, das Volk blieb mit feinem 
Glauben an diefen Steinen bangen und mwähnt ihre Schatten 
und Höhlen noch heute, wenn auch nicht von Göttern, jo doc 
von Geiftern, und zwar von guten ©eiltern bewohnt. - Die Feen 
oder Groans find nichts Anderes als die alten Druideſſen, die 
Pythien Galliens, welche faſt göttlicher Ehre genoßen. 

Bon Lochmariacaer fegelten wir mwejtwärt3 in einen langen 
ſchmalen Golf hinein. Die Küfte rechts war öde und jteinig, 
während ſich das ſüdliche Ufer immer mehr und mehr mit Vege— 
tation bekleidete und fich endlich in einen reizenden Park vers 
wandelte, aus deſſen Hintergrunde ein freundliches Herrenhaus 
blidte. Bald nahm der ganze Golf einen gemüthlichen und durch— 
aus maleriſchen Charakter an und wurde ganz prächtig, al3 das 
vielumbufchte Aurey mit feinem kleinen Hafen, mit feinen 
Küftenfahrern, jeiner Flußmündung und jeinen über Berg und 
Thal auf und nieder jteigenden Häufern auftauchte. Eine freund: 
lihe Herberge nahm ung auf, und bald fand fich auch ein gebil- 
deter Führer, der uns auf das Schlachtfeld von Aurey begleitete. 

Die Heine, ganz gemüthlih blidende Ebene, vie von 


430 Wanderungen durd celtifhes Land. 


mancherlei Buſchwerk bejegt und in der Mitte von einem beſchei— 
denen Bach durchfloſſen ift, hat in der bretonifchen Geſchichte bei: 
nabe diejelbe Wichtigkeit wie die Ebene von Bosworth in der eng— 
lichen. Die Schlaht von Aurey, die im Jahr 1364 geſchlagen 
wurde, entſchied den langen Krieg zwijchen den Häufern Blois 
und Montfort und fiherte dem legteren, das England befreundet 
war, die Succefjion und damit dem Feinde Frankreichs jenen 
Einfluß, den er während der langen Kriege des vierzehnten 
Jahrhundert? zum Ruin Frankreichs jo trefflih zu benutzen 
verftand, 

Die Schlacht iſt neben ihrer allgemeinen Wichtigkeit noch 
wegen vieler Einzelnheiten interefjant. Es ift ein ächter mittel: 
alterliher Kampf, nur daß er im Ganzen mehr Beijpiele der 
Treue und Ritterlichleit bietet, als man den ritterlichen Zeiten 
gewöhnlich zujchreibt. Auch vereinigte er auf Heinem Raum die 
größten Helden, welche damals beide Nationen aufzumeifen hat- 
ten: auf Seiten Bloig’ und der Franzojen zuerjt den überaus 
frommen Charles de Blois, der am Morgen des Schladhttages 
drei Mefjen hörte, das Abendmahl nahm und no im legten 
Augenblid, immer feinen Beichtvater mit fich führend, menige 
Schritte von der feindlichen Front beichtete; dann Bertrand du 
Guesclin, Beaumanoir, Rohan, Rochefort, Dinan u. a. Beau: 
manoir war noch Tags vorher der Gefangene Montfort3 gewejen 
und hatte von dieſem die Erlaubniß erhalten, in den Reihen 
feiner Feinde gegen ihn zu kämpfen und zu fallen. Auf Seiten 
der Engländer: der junge Montfort, Chandos, ver große Vor: 
läufer Talbots, und Clifjon, der fpäter im franzöfifchen Dienfte 
jo berühmt gewordene Connetable. 

Die Armee Montfort3 und der Engländer war an Zahl die 
ſchwächere, aber fie nahm die befjere Stellung ein und ließ Charles 
de Blois über den Fluß fommen und trennte ihn von feinen Re: 
jerven, die ihm im Augenblid der Niederlage nicht zu Hülfe 
fommen konnten. Umſonſt hatte ihm Bertrand du Guesclin den 
Uebergang über den Fluß und den Angriff widerrathen. Karl 


Wanderungen durch celtifches Land. 431 


bielt fich in feiner Seele für verpflichtet, den Kampf zu beginnen 
und feinen Gegner mit eigener Hand zu erlegen, weil er es jeiner 
Frau verfprochen hatte, In der That glaubte er gleich beim erjten 
Choc, da er einen Ritter in mit Hermelin bededter Rüftung ſah, 
auf Johann v. Montfort zu ftoßen; er ftürzte auf ihn und fpal: 
tete ihm den Schädel. Aber er hatte fich geirrt und feine befte 
Kraft verſchwendet. Bald wurde er von Feinden umringt, vom 
Pferde geriffen und von einem englijchen Soldaten erſtochen. 
Mit dem Ausruf „Domine Deus“ ftürzte er auf den Leichen: 
haufen, der ſich um ihn gebildet hatte. Du Guesclin, welcher 
mit Chando3 und Clifjon perſönlich zuſammen traf, wurde ges 
fangen genommen, und alle andern bedeutenden Führer der fran— 
zöfifhen Partei lagen unter den Todten, Die Jranzojen verloren 
den Muth, flohen nad fiebenjtündigem Kampf und ließen auf 
dem Schlachtfeld fünftaufend Todte. Die Engländer erlitten nur 
einen Kleinen Verluft. Johann v. Montfort ließ den Leichnam 
jeined Gegners aufjuchen und meinte über ihn, wie Cäſar über 
die Leiche des. Pompejus. „Ach, mein Vetter,“ rief er aus, 
„durch Eure Hartnädigfeit habt Ihr viel Leid über die Bretagne 
gebracht; Gott vergebe es Euch! Ich beflage e3 jehr, daß hr 
ein jo trauriges Ende genommen, und möchte es Gott gefallen, 
daß Ihr noch im Stande wäret, Euch mit mir zu vertragen.” 
Der Klerus ver Bretagne gab ſich alle Mühe, Karl von Blois 
fanonifiren zu laffen, und erzählte viel von den Wundern, die 
an jeinem Grabe gejchahen; aber der Papſt fand, daß die Bre: 
tagne bereit3 Heilige genug hatte. 

Am Tage vor der Schlacht fanden al3 Vorfpiele zwischen den 
beiden Armeen mehrere Zmeilämpfe ftatt, die fpäter in mehreren 
Volksballaden befungen wurden. Der intereffantefte unter diefen 
Bweifämpfen war der des Engländer Walter Huet mit dem 
Nitter v. Kergoet. Der Franzofe fiegte, indem er feinen Gegner 
zu Boden warf, gab ihm aber das Pferd zurüd, damit er ſich 
deſſen in der bevorftehenden Schlacht bediene. Die Schladht von 
Aurey hat beim bretonijchen Volk eine fo fabelhafte Berühmtheit 


432 Wanderungen durch celtifches Land. 


erlangt, wie die berühmte Schlacht der „Dreißig,” die ebenfalls 
in jener Epoche gefämpft wurde, und mie nur irgend eine be: 
rühmte Schlaht, die das Scidjal einer Nation entichied. Die 
Bretonen finden den großen Tag aufs Beftimmtefte in den Pros 
phezeiungen Merlin vorausgefagt. 

Die Stadt Aurey bejteht aus zwei Theilen, dem neueren 
und freundlicheren mit Kai, Hafen, Flußmündung und ſchattigem 
Gebüfch, und dem älteren auf der Höhe des Berges, deſſen 
Gründung man dem König Artus zufchreibt. Ihr ältejtes Ge: 
bäude iſt wohl die Kirche des heiligen Geiftes, gothiſch arabi: 
ihen Styls und wahrfcheinlich aus dem dreizehnten Jahrhundert 
ſtammend. 

Auf der Hochebene, auf der dieſes intereſſante Gebäude ſteht, 
weiter wandernd, kamen wir nach ungefähr einer Stunde in ein 
elendes Dorf, hinter welchem ſich auf einem Hügel ein kleiner 
Menhir erhebt. Er fiel uns vorzugsweiſe deßhalb auf, weil er, 
auf ſeiner Spitze ein Kreuz tragend, mit einer Art von Bet— 
ſchemel zu feinen Füßen, als das Symbol der geiſtlichen Ge— 
ſchichte dieſes Landes erſchien. Er deutete uns außerdem an, daß 
wir una der Gegend der Menhire näherten, denn wie Lochmaria— 
caer vorzugsmweife durch feine Dolmen, jo ift Carnac an der Bai 
von Quiberon beſonders durch feine aufrechten Steine berühmt. 
Bevor wir e3 erreichten, mußten wir noch viel Heideland durch: 
ziehen, welches aber nicht fo öde anzufchauen war, wie die uns 
ihon befannten Heiden. Schöne Tannen: und Fichtenhaine er: 
heben fi aus dem rothen Heidefraut, der Boden ijt angenehm 
gewellt, mäßige Hügel, von Sapellen bejegt, erheben fih, aus 
der Ferne glänzt dad Meer, und grün ftredt fich die lange und 
ſchmale Halbinjel von Quiberon in die Fluth. 

Der erjte Anblid von Garnac ift überaus großartig und 
überrajchend. Wie weit man auch gewandert fei, man hat nichts 
der Art gejehen. Kaum gibt e3 irgendwo etwas Sonderbarere3 
als diefe Reihen formlojer Steine, die zum Theil vermwittert, mit 
bemoosten Häuptern, wie ein verfteinertes Niefenheer vor Carnac 


_ Wanderungen durch celtiihes Land. 433 


daſtehen und ausſehen, al3 ob fie vorwärts rüden wollten. Die 
Stille rings umher, die Einſamkeit, die dunkle Heide, von der 
fich die grauen Steine jharf abheben, Alles trägt dazu bei, den - 
Eindrud zu erhöhen, und man ftugt einen Augenblid, ehe man 
e3 wagt, fih in die Gefellichaft diefer Zeugen uralter Zeiten zu 
begeben. Näher tretend, erjtaunt man noch mehr über die Regel: 
mäßigkeit in der Aufſtellung der aufrechten Steine. Ihre Zahl 
beläuft ſich auf mehr als zwölfhundert, welche von Südoſt nad 
Nordweſt in einer Länge von mehr ald 2000, und in einer Breite 
von 150 Fuß in gerader Linie und in eilf Reihen neben einander 
binlaufen. 

Am nordweitlihen Eingang in die Reihen befindet fich ein 
Halbkreis, der aus achtzehn großen Steinen bejteht, und wie auf 
feiner Baſis mit feinen äußerjten Enden auf der erften und eilften 
Reihe ruht. Die Steine, die fait alle auf dem dünneren Ende 
fteben, find won verjchiedener Höhe, ſchwanken zwiſchen zwanzig 
und fünf Fuß und haben zum größten Theil eine länglichte 
Form. Doch liegen aud) hie und da ungeheure Blöde, die man 
nicht Menhire oder lange Steine nennen Tann. 

Noch im vorigen Jahrhundert belief fih die Zahl der Men- 
hire von Garnac auf mehr als viertaufend; die verſchwundenen 
wurden meift zu neuen Bauten verwendet. Seht hat die Negie- 
rung dafür gejorgt, daß diefe Monumente für die Zukunft ge: 
fihert find. Wie großartig muß der Anblid dieſes vollſtändigen 
Todtenfeldes gemwejen fein! Denn dab wir bier nichts Anderes 
vor uns haben, als einen altceltifchen pere Lachaise, ſcheint 
heute außer Zweifel, obwohl verjchiedene Alterthumsforſcher Ver: 
fchiedenes daraus machen wollten. Der eine, gejtügt auf vie 
Tradition, weldhe die Steine von Garnac das Lager Cäſars 
nennt, behauptet allen Ernjtes, dieſe Riejenjteine haben feinen 
andern Zmed gehabt, al3 die Zelte römiſcher Soldaten zu tragen. 
Ein anderer — und wieder ijt es der arme Herr von Penhouet 
— ftügt fih auf den Namen „GCarnac,” der ihn an das ägyp— 
tiſche Dorf gleiches Namens erinnert, findet, daß die Steine hier 

Mori Hartmann, Werke. II. 28 


434 Wanderungen dur celtifhes Land. 


eben jo aufgeftellt feien, wie vie Sphinre in Theben, und zieht 
daraus den Schluß, daß es Aegypter waren, welche dieſe Monu- 
* mente aufitellten, ja jogar, daß die Bretonen von den Aegyptern 
abjitammen. Ein dritter Archäolog gibt zwar zu, daß diefe Mo: 
numente celtiſchen Urfprungs find, bringt fie aber mit vem 30: 
diafus in Verbindung und behauptet, daß die eilf Steinreiben 
die eilf Sternbilver darftellen, und daß die Celten eben nur eilf 
Zodiakalzeichen gefannt haben. 

Was joll der Lärm? Hundert berühmte und unberühmte 
Volkslieder der Celten des Kontinent3 und der Inſeln Sprechen 
von langen Steinen, die man über Gräbern aufgerichtet hat, oder 
von bereit3 aufgerichteten Blöden, unter denen man den Todten 
begrub. So ſpricht Offian in feinem Geſange über Fingal: 
„Wenn Fingal auf dem Schlachtfelde gewüthet, lege mich unter 
irgend einen denkwürdigen Stein, der künftigen Zeiten von mei: 
nem Ruhme ſpreche.“ — Im Gejang Kathula: „Rathula erhebe 
mein Grab auf diefem grünen Hügel, ftelle mir zu Häupten 
diefen grauen Stein.” — Im Geſang Tighmora: „Siebit du 
jenen Stein, der mitten im Graſe fein graues Haupt erhebt ? 
Dort liegt ein Fürft vom Stamme Diar-Mud.” — In Kath: 
Iuinna: „Da ſtehen wir an den Gräbern; aber wo find bie 
Steine, welche die Rubeftätte unferer Freunde bezeichnen? Er: 
hebet eure Häupter, graue und bemooste Steine, erhebet eure 
Häupter und fagt und an, weſſen Gedächtniß ihr bewahrt.” 
Solche Stellen fann man in Oſſian und in vielen andern 
Bolksliedern finden. In Carnac haben ſich außerdem noh Namen 
und Traditionen erhalten, welche die Anſicht, daß die Menbire 
Grabmonumente find, unterjtügen. So heißt ein Theil des dor: 
tigen Steinfeldes „Menek,“ was jo viel jagen will als „Gedächt: 
niß oder Andenken,” und ein anderer Theil führt den Namen 
Kerwarn oder Todesplat. In Cornwallis findet ſich ein dem 
Felde von Carnac ganz ähnliches Gefilde, und die Einwohner 
geben ihm ähnlihe Namen und knüpfen ähnliche Traditionen 
von dafelbjt begrabenen Kriegern daran. Ich glaube, dieſes Alles 


Wanderungen durch celtifches Land. 435 


zujammen genommen reicht hin, vie urjprüngliche Beitimmung 
der Menhire zu bezeugen; doch ſoll vamit nicht gefagt fein, daß 
jämmtlihe Menhire Grabmonumente waren. Die höchften und 
folojjalften unter ihnen, befonder3 wo fie in Eleinerer Anzahl 
beijammen find, jcheinen eine andere Bejtimmung gehabt zu 
haben. Man nimmt an, daß diefe gewiſſe Götter vorftellten und 
daß die Dolmen, die fich meift neben den folofjalen Menhiren 
finden, die Altäre waren, auf denen diejen Göttern geopfert 
wurde. Dieß mag vorzugsweije von den Menbhiren in Loch 
mariacaer gelten. 

Der Fleden, der dem Steinfelde eine jo große Berühmtheit 
verdankt, hat an ſich nichts Merkwürdiges, doch fieht er etwas 
jolider aus als andere Dörfer feines Ranges, da er zum größten 
Theil ohne Rüchſicht auf die Archäologie aus Druidenfteinen er= 
baut it. So fonnte auch die Pfarrkirche größer und jchöner 
werben als andere ihres Gleichen, abgejehen von den großen Ein: 
fünften, die fie ihrem Heiligen verdankt, welcher, ein ausges 
zeichneter Veterinär, alle Biehkrankheiten heilt und deßhalb von 
allen Bauern der halben Bretagne beſucht wird. Cr hat aud) 
einen Aushängejchild über jeiner Thüre, und dieſes bejicht aus 
zwei gefunden, in ven Stein gehauenen Ochſen. Carnac hat nie 
ein befjered Jahr, als wenn das Land von einer Viehjeuche 
heimgeſucht wird. Man verficherte ung, daß die Pilger manch— 
mal das franfe Vieh mit hieher bringen und e3 während des 
Gebetes dem Heiligen in der Kirche ſelbſt vorjtellen. 

Zurüd nad Aurey und weiter nach Norden. Hie und da 
ein hübſches Herrenhaus mit Garten und Park, etwas ange: 
bautes Land rings umher, dann wieder Heide, Heide, Seide, 
In der Entfernung mandmal ein elende3 Dorf, denn die breto: 
nischen Bauern wohnen nicht gern an der Landſtraße und haben 
eine ſolche Abneigung vor der Berührung ver Welt, daß fie da, 
wo ihnen die Regierung einen Weg an der Thüre vorüber führt, 
dieje Thür vermauern und rüdwärts eine andere durchbrechen, 
alfo ihr Haus gemwifjermaßen der Landitraße ven Rüden zulehren 


436 Wanderungen durd celtifches Land. 


laſſen. Diefer eine Zug harakterifirt wohl genug den bretoniichen 
Volksſtamm und erklärt feine eherne Stabilität. Auf einer der 
Heiden erhob ſich plöglich mitten aus den rothen Kräutern eine 
Gruppe von Bettellindern vor ung; fie boten Blumen an und 
fangen einige Lieder, deren Melotie, obwohl nur aus wenigen 
Noten beſtehend, unendlich traurig war. 

Vor Landevant machten wir die Befanntjchaft eines hüb— 
ſchen und wohlkonſervirten Dolmen, wollen uns aber mit der 
Beichreibung deſſelben nicht weiter aufhalten und nun ein= für 
allemal von den Druideniteinen Abfchied nehmen. Nur wo ung 
irgend ein bejonders merfwürdiger aufftößt, werde feiner erwähnt. 

Bor Hennebont wurde die Landftraße jehr lebendig. Es war 
Markt, und die Landleute ftrömten in die Stadt. Hunderte von 
MWeibern ritten auf Heinen Pferden, mandmal zu Zmweien und 
immer rittling zu Pferde figend; die Männer gingen meift zu 
Fuß, Kleine bretoniſche Kühe, die die berühmte Butter geben, 
vor fich ber treibend. Unter ven Männern bemerkten wir mande 
ſchöne Geftali, mandes jhöne Gefiht; die Weiber, vorzugsweiſe 
die älteren, waren ſämmtlich ſcheußlich; doch gab ihre fonderbare 
Tracht, fo wie die bunte, der flowalifchen ähnliche ver Männer 
dem Getümmel auf der Straße wie auf dem Markte etwas jehr 
Malerifhes. Vor den Häufern Hennebont3 faßen fie in Kreifen 
beijammen und tranfen Cider, das altnationale Getränf ver Bre: 
tonen. Wie ſehr fie diefen Apfelmojt auch lieben, fo würden fie 
fih heutzutage in dieſer Beziehung doch gern entnationalifiren 
und denſelben mit franzöfiihem Wein vertaufchen; aber dazu 
fehlt e8 an Gelb. 

Der bretonijche Bauer ijt meijt ſehr arm; nur felten bringt 
er es dazu, ein Eigenthum zu erwerben; er ift nur Pächter und 
hängt von feinem Gutsheren ab. Diefen Zuftand verdankt er 
feinem Benehmen zur Zeit der Revolution; er bat vwerblenvet 
Alles gethban, um die alten, ihm ungünjtigen Verhältnifje auf: 
recht zu erhalten, und der nationale Adel, der ihm gegenüber 
ungefähr viejelbe Stellung einnahm wie ver fchottiiche in feinem 


Wanderungen durch celtijches Land. 437 


Clan, unterftüßt ihn natürlich in feinem Streben. Die alten cel- 
tifhen Clanstraditionen find e3 vorzugsweiſe, mas die Choua- 
nerie erklärt. Die Bauern, von ihren La Rochejacqueleins ange: 
führt, wollten nichts von den Wohlthaten wiſſen, melde ihnen 
Eonftituante und Legislative zudachten; fie erwarteten Alles vom 
König ihrer Adeligen, und als dieſer zurüdfam, fühlte er fi 
durch die Dankbarkeit, die er den Chouans ſchuldete, jo ſchrecklich 
genirt, daß er zu einer Reije in die Bretagne, die er doch ver: 
ſprochen hatte, nicht zu bewegen war, und die bretonifchen Ade— 
ligen an jeinem Hofe hatten auch kein befonderes Intereſſe, den 
doch immer etwas liberalen Ludwig in ihrem Lande zu begrüßen. 
So blieb Alles beim Alten, und fo kommt es, daß der bretoniſche 
Bauer heute zwar noch mit Stolz von der Treue feiner Väter 
und den Thaten der Chouans erzählt, felber aber nicht die ge: 
ringfte Luſt verfpürt, diefelbe Rolle zu übernehmen. 

Hennebont liegt fehr ſchön am Abhang und am Fuße eines 
grünen mit ſchönem Baumfchlag gefrönten Hügel3, welchen ber 
bier ſchon breite Fluß Blavet befpült. Die Ueberrejte feiner alten 
ftarfen Befeftigungen, eine Mauer mit Madicoulis, die Ruinen 
eines Kaftelld mit gothiſchem Thore und zwei jtarlen Thürmen, 
außerdem mehrere gothiſche Häufer im Innern der Stadt geben 
ihr Charakter und zeugen von einer fhönen Vergangenheit. 

Hennebont hielt in dem GErbftreite zwischen Blois und Mont: 
fort mehrere Belagerungen aus, von denen jede fich durch irgend 
eine Sonderbarfeit auszeichnet. Während der eriten wertheibigte 
fie Olivier de Spinnefort für Karl de Blois, mährend fie fein 
Bruder Heinrih de Spinnefort für Montfort belagert. E3 ge: 
lang dem jüngeren Bruder, den älteren aus der Stadt zu loden, 
ihn zum Gefangenen zu maden und ihn endlich zur gutmwilligen 
Uebergabe der Stadt zu bewegen. Nun Montfort angehörig, 
wurde fie bald darauf von Blois und den Franzofen belagert, 
und bei diefer Gelegenheit erwarb fih Johanna, die Mutter de3 
jungen Montfort, jenen großen Ruhm, ver ihre Zeit erfüllte, 
heute noch in fehr ſchönen Volksliedern fortlebt und ihr den 


455 Wanderungen dur celtiiches Land. 


Beinamen „Hanne die Flamme“ verſchaffte. Furchtbar bevrängt, 
nad) wochenlanger Belagerung, umgeben von einer bereit3 ver⸗ 
zagten Bejagung, ftürzte fih Johanna, nur von wenigen Ge— 
treuen begleitet — jo wenigftens erzählt das Vollslied — in das 
Lager der Franzofen, das fie in Flammen jegte und gänzlich ver- 
nichtete. „Und der Wind verbreitete die Brunft und erhellte pie 
Ihmwarze Naht. Und die Zelte waren verbrannt, und die Fran: 
zojen waren gebraten, und dreitaufend waren zu Aiche verbrannt, 
und es entwijchten nur hundert.” — „Am andern Morgen ſaß 
Hanna die Flamme am Fenfter, und fie lächelte, wie fie ihre 
Blide übers Land ftreichen ließ, und wie fie das zerftörte Lager 
ſah und den Rau, der ſich aus dem Aſchenhaufen erhob, da 
lächelte Hanna die Flamme wieder und fagte: Welch ſchöner 
Dünger, o mein Gott! mein Gott, wel ſchöner Dünger. Für 
Ein Korn werden wir zehne haben! Ganz wahr jagten die Alten: 
Nichts macht das Korn fo trefflih wachen, ald Knochen der 
Sranzofen, zermalmte Knochen ver Franzojen.” 

Die dritte Belagerung, welche die Stadt wieder den Mont: 
forts entriß und Blois überantwortete, ift dadurch ausgezeichnet, 
daß fie der große Gonnetable Bertrand du Guesclin in Perfon 
leitete und dabei die ungeheuerjten Katapulten zur Erſchütterung 
der Stadtmauern anmendete. Gr nahm die Stadt, ſchonte die 
Eingeborenen, machte aber die ganze englijche Beſatzung nieder, 
mit Ausnahme zweier reicher Offiziere, die ihre Freiheit theuer 
bezahlen mußten. 

Aus der alten Stadt Hennebont wanderten wir in weniger 
benn zwei Stunden in die neue Stadt Lorient, eine der neueiten 
Frankreichs. Noch zu Ende des fiebzehnten Jahrhundert3 mar fie 
ein elendes Dorf und wurde al3 foldhes der unglüdjeligen indi: 
ſchen Kompagnie geſchenkt, welche e3 dahin brachte, daß ihr 
Schützling in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ſchon eine 
hübſche Stadt war, die ſchon fortblühen konnte, als die Kom: 
pagnie felbft zu Grunde ging. Sie bilvete ein hübſches Stüd 
ver Erbſchaft, welches Ludwig AV. von der Kompagnie überfam. 


Wanderungen durch celtifhes Land. 439 


Man fieht e3 ihr an, daß fie nicht entjtanden, fondern künſtlich 
geihaffen worden, und alle die Leute, die Mannheimer und 
Karlsruher Styl lieben, werden Lorient eine der jchönften 
Städte Frankreichs nennen. Uns, die wir nicht für die geraden 
Linien find, behagte es vorzüglich in der Vorjtadt Kerentreich, 
die von einer wahrhaft ſüdlichen Vegetation umhüllt it. Auch 
bat fie eine fchöne Kettenbrüde über den Scorf, welde eine pro: 
jektirte großartige Granitbrüde erfegt. Schon war Alles zu dem 
Bau vorbereitet, ſchon waren die Granitblöde gejchnitten und 
Hunderttaufende ausgegeben, als die Beforgnik erwachte, daß 
die Wafler, fih an den Pfeilern brechend und den Fluß aus: 
wübhlend, den Hafen verfanden würden, und man gab alle Vor: 
bereitungen auf und nahm zu der neuen Erfindung der Ketten: 
brüden jeine Zuflucht. 

Der große und fihere Hafen ift von prachtvollen Gebäuden 
und Dämmen umgeben und fann ganze Flotten mit Sicherheit 
beherbergen. Die Baupläge an der Rhede find fo ausgedehnt, 
daß dafelbft dreißig große Kriegsschiffe auf einmal gebaut werden 
können. Schöne, üppige, parfähnliche Spaziergänge umhüllen 
und bejcatten dieſe großartigen Anlagen. In ihren dunfeln 
Gängen begegnet man den wachhabenden Marineinvaliden und 
neben ihnen — ein ſchöner Kontraft — den jungen Zöglingen 
der Marinefchule mit ihren lebhaften, intelligenten Geſichtern, 
die ſich fo vortheilhaft vor den Zöglingen der Landarmeejchulen 
auszeichnen. Dort erhebt ſich auch der Signalthurm, der zugleich 
als Leuchtthurm und Obfervatorium dient. Auf dem Marktplatz 
ſteht als aufmunterndes Beifpiel für die Marinefhüler die Statue 
des braven Geelieutenants Biffon, welcher ſich lieber in die Luft 
ſprengte, als daß er ſich dem überlegenen Feinde übergeben hätte. 
Das Monument ift von Gatteaur und erhebt fih, in Bronze 
gegofien, über einer acht Meter. hohen Granitfäule.. Auf dem 
Hötel de Ville interefjirte ung ver Saal, in weldhem die Ehen 
geſchloſſen werden; er hat ganz die Form eines römiſchen Prä- 
toriums. 


440 Wanderungen durd celtifches Land. 


Auf einem Kahne fuhren wir ſchräg über die Mündung des 
Blavet nach der feiten Seeſtadt Port Louis, melde gewiſſer— 
maßen noch zu Zorient gehört; die zu Ende des fechzehnten Jahr: 
bundert3 noch ein armes Dorf war und unter der Republik Port 
Libert hieß. Wie jung diefe Stadt aud) ift, hatte fie doch ſchon 
eigenthümlihe Schidjale. Zu den eigenthümlichjten gehört es 
wohl, daß fie eine Zeit lang den Spaniern gehörte, denen jie 
vom Herzog von Mercoeur, dem Anführer der Liguerd und Prä- 
tendenten der Bretagne, für geleiftete Hülfe überlafjen worden. 
Erſt durch den Vertrag von Vervins kam fie in Heinrichs IV. 
Gewalt, welchem die unpatriotifhe Handlung des Herzogs die 
Eroberung der Bretagne nicht wenig erleihterte. Vor der Heinen 
und fchleht gebauten Stadt, unter dem Waflerfpiegel, lauern 
beimtüdifche Klippen, welche dem fremden Schiffer den Hafen 
unnahbar und heimifche Lootſen unentbehrli machen. Diejer 
Umjtand hat Port Louis ſchon mehrmald vor den Engländern 
geſchützt, ſelbſt wenn fie das befjer befeftigte und höher hinauf 
liegende Lorient angriffen. Von den Mauern der Stadt hat man 
eine prächtige Ausjicht auf den meiten Ozean, auf die Inſeln 
Groir und Belle⸗Jele. 

Lorient und Port Louis find franzöfiihe Kolonien. Die in: 
diſche Kompagnie hat daſelbſt franzöfiihe Kaufleute und Com 
mis, die franzöfifche Regierung Beamte aus dem Dften ange: 
ſiedelt; ur in den Vorftädten und an Markttagen wird hie und 
da celtiſch geſprochen. Das Land rings umber ijt ganz celtiſch, 
rein bretonifch; in vielen Dörfern findet man faum ein Indivi— 
duum, das franzöfifch jpriht, und wenn der Bretone Frankreich 
oder Franzofe fagt, jo hat das noch eine ganz andere Bedeutung 
als bei ven Landleuten der Cevennen; ihm find die beiden Aus: 
drüde gleich bedeutend mit „Ausland“ und „Fremder.“ Das hat 
feinen Grund im furdtbar jtarren Nationaldarakter der Bre: 
tonen, in der Unbemweglichkeit, die diefem Volksſtamme eigen: 
thümlih ift, und die dur Sahrhunderte allen fremden an— 
ftrebenden Elementen widerſtehen konnte, ohne die geringfte 


Wanderungen durch celtifches Land. 441 


Veränderung zu zeigen. Will man doch jelbit in ven bedeutendſten 
Männern des Landes, wie Chateaubriand, Lamennais u. a,, 
die doh die ganze Bildung Franfreihg in fih aufgenommen 
haben, etwas jpezifiich Bretonifches bemerken. Die Bretonen find 
ein Blod Granit, an welchem die franzöfiichen Wellen vergebens 
nagen und nod lange vergebens nagen werden. 

Mas der Franzöfirung diefes Volksſtammes befonder3 im 
Wege fteht, ijt die im Weiten Europa’3 beifpiellofe Bedürfniß— 
Iojigfeit, welche ihn nicht zwingt, fich dem Fremden zu nähern, 
von ihm zu kaufen oder fih überhaupt mit der Welt zu mifchen. 
Der Entel lebt wie der Urahn, er hat diefelben Sitten, diejelben 
Anschauungen, diejelben Bedürfniſſe und dafjelbe Feld, das ihm 
Stroh für Dah, Lager und Vieh, Nahrung und Leinenkleiver 
liefert. Was hat er alfo jenfeit3 feines Hofraums und feiner 
Feldmarke zu juhen? Wenn ihn die Konjfription zwingt, 
Jahre lang in der Fremde zu verweilen, ftirbt er entweder am 
Heimweh, oder wenn er glüdlih heimkehrt, gibt er ſich alle 
Mühe, jo jchnell ald möglich) das wenige Franzöfifh wieder zu 
vergejien und auf3 Neue ein guter Bretone zu werden. 

Die Revolution hat e3 gezeigt, wie ferne diefe Gelten ven 
Neugalliern ftehen. Das Lied, das fie damals als eine Art Anti: 
Marjeillaife fangen, athmet nocd größeren Haß der Franzojen, 
als das bereit3 angeführte, aus dem vierzehnten Jahrhundert 
jtammende Volkslied. Die Marfeillaife, der e3 entgegengefeht 
wurde, iſt ein Wiegenlied, mit diefem wuthjchnaubenden Gejange 
verglichen. Er ift unter dem Namen „das Lied von den Blauen“ 
befannt; fo hießen den Bretonen die blau uniformirten Repu— 
blifaner. | 


III. 


Finiftere, — Nlima, Charakter ded Landes und ber Einwohner. — Die 
Bauern. — Die Bretagne und Franfreid. — Aberglauben. — Duimperle, 
der heilige Graal und feine Kirhe, — Das Grab des Chouansführers. — 
Boltädichter, Herr von Billemarque. — Pontaven. — Ruftefan und eine 
Bollsballade. — Der Wald Luſu. — Der zitternde Stein. — Feftung Con: 
carneau und eine Geſchichte aus dem Kriege der Ligue. — Duimper. — 
Corantin, — Die Kathedrale. — König Gradlon. — St. Mathieu, — Ruinen 
in der Umgegend. 


Auf der breiten, ſchön befchatteten Landſtraße, die aus der 
neuen Stadt Lorient in die uralte und fagenhafte Stadt Quim— 
perl& führt, zogen wir in das in vieler Beziehung interefjantefte 
Departement Frankreihs, in das Land Finiftere, ein. Als im 
weftlichiten Theil Frankreichs gelegen, haben ſich darin celtifde 
Sprade, Sitte, Sage und Lied am Reinften erhalten. Als Halb- 
injel, wo die legten Ausläufer der ſchwarzen Berge oft bis an den 
Rand des Meeres vorbringen und bi an dreihundert Bäche 
dem Vater in den Schooß ſenden; al3 äußerſte granitene Brult 
wehr gegen den Ozean und deſſen bis von dem Golf von Merito 
beranftürmenden Strömungen; mit großartigen, bald milven, 
bald lieblihen Küften, mit vier großen Meerbujen, eilf größeren 
Buchten ftolzirend, ift diejed Departement zugleich auch eines der 
malerifchften de3 großen Reiches. Die Vegetation trägt aud 
das Ihre dazu bei. Die Nähe des Meeres läßt feinen raſchen 
oder ſchädlichen Uebergang der Temperatur zu, fänftigt überall 
das Klima, fo dab der Feigenbaum im Freien gedeiht, hie und 
da Aloen blühen, die Tamarigke ihre Schweftern aus dem ſüd— 
lihen Frantreih an ſtattlichem Wuchſe befhämt und vie Ufer 


Wanderungen durch celtiſches Land. 443 


der großen und Heinen Buchten oft jo jüplih warm anzujchauen 
find, wie mande Bucht Staliend oder Griechenlands, 

Geſchichte und Natur wurden noch dur die Kunſt bereichert, 
denn kaum mag e3 in Mitteleuropa eine Landftrede von dieſer 
geringen Ausdehnung geben , die fih, in Bezug auf Reihthum 
an größeren und Hleineren Kunſtbauwerken des Mittelalter3, mit 
dem Departement de Finiftere meſſen könnte. Nicht nur die großen 
Städte befigen ihre Kathedralen, auch Kleinere Fleden, vergeilene 
Dörfer prangen mit den berrlichiten gothifhen Kirchen: Kathe: 
vralen in Heinem Maßftabe, deren ſchlanke und Iuftige Thürme in 
ihrer Art fo ſchön, leicht und durchſichtig find, wie die Thürme der 
berühmteften Münfter, und überall, wohin der Blid fich wendet, 
aus der Tiefe eines Thalgrundes, an einem Waldfaume, mitten 
aus den ärmlichſten Hütten prächtig emporiteigen. Ja, manch— 
mal fteht ſolch ein wunderbares Kirchlein mitten in der Wiloniß; 
das Dorf ijt verfhwunden, die Heide treibt die rothe Erifa an 
einjt bewohnten Stätten; aber dag Kirchlein mit jeinem Thurm 
oder Thürmchen fteht einfam, fich felbit genug, in fich ſelbſt be: 
friedigt, in unvergängliher PBradt. Bon dem Kirchhofe, ver e3 
einft umgeben, blieb nur noch ein bemooste3, nun von Heide: 
traut bevedtes Kreuz, eine gejtürzte Säule, ein verftümmelter 
Heiliger, hie und da aber aud irgend ein großes Maufoleum 
von Säulen getragen, von Skulpturen bevedt, von Wappen und 
Trophäen überragt; das Grab irgend eines Häuptling3, der die 
Gegend beberrichte. 

Aber mit den Kunstwerken, der Sprache und den Sitten 
baben fich in dieſer merkwürdigen Halbinfel, wie in einer Rumpel- 
tammer der Bretagne, alle alten Mißſtände und Fehler der Bre— 
tonen am Dauerhaftejten erhalten. Dem Schmuge der Bauern in 
Finiftere fieht man es an, daß er unjterblid ift und aus Ur: 
zeiten ftammt. Da3 mußten wir jhen auf dem Wege nad 
Quimperl&-erfahren, als wir in einem Dorfe Halt machten und 
in einen der Höfe traten. Das Hauptgebäude bejteht aus einem 
elenden Strohdache, noch elendern, aus Erde und rohen Steinen 


444 Wanderungen durd) celtifches Land. 


ausgeführten Mauern, in die eine niebrige Thüre führt und ein 
ganz Meines, nahe dem Dache angebradhtes Loch, anftatt eines 
Fenſters, das Licht einläßt. Der ganze innere Raum ift nur 
durch eine niedrige, meiſt aus Ruthen geflochtene Zwijchenwand 
in zwei Theile getrennt, deren einer vom Vieh bewohnt ift, 
während fi im andern vor Schmutz braune und ſchwarze Ge— 
ftalten menjhlicher Bildung umbertreiben. Die Dede ift von 
Raub geſchwärzt, der immer wie dichte Gemitterwolfen über 
den Häuptern der Bewohner lagert. Der Boden ift fein anderer 
al3 das heilige Erdreich, voll von Löchern, in denen ſich die aus 
dem Stalle kommenden, nicht3 weniger al3 jüß duftenden Flüſſig— 
feiten jammeln, und in welden ein Kind mit Leichtigkeit er: 
trinten kann. Rechts und links vom Kamin jtehen zwei große 
Mandfchränfe ohne Thüren, die durch Bretter in viele Fächer 
getheilt find. Diefe Fächer, mit Stroh angefüllt, find die Betten 
der Familie und der Knechte; das fonftige Ameublement befteht 
aus einem oder aus zwei Bänken, die als Sige und bei Mahl: 
zeiten als Tifche dienen. Mit diefem ganzen Hausweſen jtimmt 
die Sitte, fih niemals, auch an höchſten Feiertagen nicht, zu 
wajchen, ganz harmonisch überein. In diejen ſchmutzigen Be: 
haufungen ift der ſchmutzige Bretone fehr gaftfrei und immer 
bereit, von feinem Vorrathe mitzutheilen, befonder3 wenn ihn 
der fremde, der bei ihm einfehrt, in feiner eigenen Sprade an- 
zufpredhen im Stande ift. Aber wer vermöchte e3 in diefer Um— 
gebung, in diefer Atmofphäre, den von ſordider Hand gereichten 
Bien anzunehmen? Aller Hunger, aller Appetit ift hin, bevor 
man noch die Schwelle des bretonifhen Bauern überjdhritten 
bat; denn jchon vor dem Haufe dehnt fich ein Meer von Unrath, 
welches das Haus unnahbar macht und da3 der neugierige Rei— 
jende aus Pflichtgefühl nur Einmal durchwatet. 

Mas den Charakter de3 Bretonen betrifft, fo ift er bei Wei: 
tem nicht fo wild, wie er in den franzöfifchen Städten geſchildert 
wird, Wir fanden ihn fcheu, aber arglos, mandmal ſogar fehr 
freundlid und mittheilfam, wenn wir ihn in feiner Sprade 


Wanderungen dur celtiſches Land. 445 


anrebeten, und wir mußten über die Freunde in Nantes lächeln, 
Die uns angerathen hatten, und mit Vertheidigungswaffen zu 
verfehen, al3 ob wir die Abruzzen hätten befuchen wollen. Die 
Sache ift die, daß die Bretonen den Franzofen nicht lieben, und 
daß diefer, der ſich dergleihen unangenehme Wahrheiten nicht 
gerne zugefteht, und der noch weniger gerne in einen fremden 
Volkscharakter eindringt, den bretonifchen volllommen mißdeutet. 
Uns war e3 zum voraus ſchwer, an die Rohheit und abfolute 
Barbarei des Volkes von Finiftere zu glauben, da wir mußten, 
daß die bretonifche Poefie und die zahlreichen celtiihen Barden, 
die fih dur fo viele Jahrhunderte in ununterbrocdener Reihe 
folgen, beſonders in dieſem Landitrihe zu Haufe waren. Wir 
mußten, daß bier noch heute das Volk dichte und finge, wir 
fannten die neueften ſchönen Hervorbringungen der bretoniſchen 
Volkspoeſie, und wir begriffen, warum ſich alle anderen Pro: 
vinzen Frankreichs, deren Kehlen und Seelen verſtummt find, 
von der bretonifchen abgeftoßen fühlen und fie, die noch einen 
Reſt von urfprünglicher Poeſie befitt, für rein barbarijch er: 
Hären. Freilihd — um ganz wahr zu fein — ſcheint fich heut: 
zutage die Poefie größtentheild in Aberglauben aufzulöfen, und 
daran mögen die modernen Druiden Schuld fein. Ueberall gibt 
es gefährliche Kreuzmege, wo fi Teufel, Wiejen, wo ſich Elfen 
verjammeln; Sümpfe voll todter Seelen und verdächtiger Srr: 
liter, Heren, Wunderfteine, Wunderquellen, Wunderdoktoren, 
Todesanzeihen und der ganze Apparat von Blend: und Zaubers 
werfen, wie ihn faum drei andere Nationen zufammengenommen in 
ihren Wunderarjenalen aufhäufen, Man könnte über die moderne 
Mythologie der Bretonen ganze Bücher fchreiben. Emil Sou: 
veſtre's Leben hat nicht ausgereicht, diefen Gegenftand zu er: 
ſchöpfen, und die vielen Lokalſchriftſteller, die feit einem halben 
Sahrhundert an diefer Fundgrube arbeiten, entveden immer 
neue Gänge, in die fie fi noch einmal für ein Jahrhundert ver: 
tiefen können. 

Einen ſchönen blüthenvollen Abhang nieverfteigend, zogen wir 


446 Wanderungen durch celtiſches Land. 


in eine der Hauptſtädte bretonifcher Traditionen ein; Quimperlé 
macht e3 jchon durch feine Lage begreiflih, warum fich bereit3 im 
grauen Altertum geheimnißvolle Götterverehtungen dahin zurüd= 
zogen und warum ed noch das Mittelalter liebte, myjtifche Meihen 
und Verbrüderungen in jeinen Schooß zu verlegen. Die Stadt ift 
am Zufammenfluffe ftille dahin mwandelnder, in tiefen Betten 
faum leiſe liſpelnder Flüffe, der Ellé und der Sfole, wie auf 
einer Inſel gelegen, dazu rings umher von hohen Bergen um: 
geben, die fich, dicht bebufcht, im Hintergrunde feſt an einander 
ichließen, und jo kann man jich leicht vorftellen, wie fih, als 
jene Berge no von Urwäldern bevedt waren, Druiden hier ver: 
jammelten und wie fih das jpätere Mittelalter den Montjal: 
vatjch, den geheimnißvollen Aufbewahrungsort des heil. Graals 
und jeiner Pfleger, in einem jolchen verjtedten Erbwinfel denken 
modte. Denn Quimperle ift es, wo fih nad der Sage ver 
Bretonen, die fich gerne mit den Britannen iventifiziren und 
deren Sagen adoptiren, eine der Hauptfirchen des heil. Graals 
befand und noch befindet. 

Nach diefer Kirche führte über die Schönen Quais und dur 
ihre üppigen Alleen unjer erjter Weg. Das alte, etwas düftere 
Gebäude mit feinen Rundbogenfenſtern hat nicht3 Großartiges 
an fih, es athmet etwas vom erjten, einfahen, andächtigen 
Chrijtentbum, wie wir e3 ung mit Recht oder Unrecht vorftellen. 
Bon jener äußeren Pracht, von jenem Zauberweſen, das in allen 
Gedichten des Mittelalter3, die fich an die Graalsfage anfchließen, 
jo wunderbar phantajtifh und Gemüth bewegend lebt und mebt, 
bat fie nichts an fih. Sie erinnert eher an die erjten Kirchen: 
väter und an die Heiligen der Thebaide, als an die vollfom: 
menen und glänzenden Abenteurer, wie Titurell, PBarcival und 
Lohengrin. Doc regte e3 ung eigenthümlich an, auf einer Erd: 
icholle zu ftehen, welche durch die goldenen Fäden der Volksſage 
und der begeijterungsreihen Poeſie mit unjerem Baterlande, mit 
den Arabern Spaniens, mit dem fabelhaften Priefter Johannes, mit 
dem fernen Indien, beinahe mit der ganzen alten Welt verbunden ift. 


Wanderungen durch celtifches Land. 447 


Andere verfallene Kirchen und Klöfter, deren Ruin das 
Volk gerne, aber mit Unrecht, der Revolution zufchreibt, waren, 
troß manch ſchönen gothifchen Ueberreftes, nicht im Stande, und 
lange in der Stadt zurüdzubalten, die dem Fremden durch ihre 
Unjauberfeit und dur den Lärm, den die Einwohner mit ihren 
gewaltigen Holzſchuhen auf dem Steinpflafter vollführen, bald 
zuwider wird. Die Unjauberfeit ift die bereits viel gerühmte, 
der Lärm war uns etwas Neues. Duimperl& ift der Haupts 
fabrifort für jene Fußbelleivung, welche den Schritt einer zarten 
Jungfrau drei Gafjen weit hörbar madıt. 

Wir flüchteten uns vor diefer ohrenzerreißenden Muſik zu: 
erit auf die grünen Berge, von denen aus man die reizendfte 
Ausfiht auf die üppig bewachſene Umgegend, auf Gärten und 
Allen, auf die im Thal und auf dem Berge gelegene Stadt 
und auf den Vereinigungspunft der beiven Flüfle genießt. Diefer 
ſchöne Punkt ift es, welcher der Stadt ihren Namen gibt; den 
Kymperl& ift nur eine Zufammenziehung aus kymper und 
elle, was im Geltifchen fo viel bedeutet als: Vereinigung der 
Ellé. Unfer Gaftfreund, Herr de la Villamarqué, der befannte 
verdienjtvolle Sammler bretonifcher Volkslieder, machte unfern 
Führer durch die Stadt und die malerische, in reicher Vegetation 
jtehende Umgegend. Er zeigte und unter andern eine zu einem 
Herrenhaufe gehörige Kapelle mit Holzjfulpturen aus der Re= 
naifjancezeit, welche fonderbarer Weiſe ein Gemiſch von chriſt— 
lihen Heiligen und altheidnifhen Göttern darjtellt. In derjelben 
Kapelle befindet fich das Grab eines Chouansführerd. Der Grab: 
ſchrift, welche Namen und Thaten des Verewigten enthält, it 
ein höflihe8 „Un De profundis s’il vous plait“ hinzugefügt. 
Mir mußten über diefe höfliche Bitte des Todten lächeln, haben 
aber jeitvem das 8. v. p. auf vielen Leichenfteinen wieder ge: 
funden. 

Die Umgegend Quimperlé's ift noch heute die Heimat vieler 
Volksdichter; aber wir waren nicht jo glüdlih, au nur Einen 
derjelben fennen zu lernen. Der Berfaller des Volkslieds: 


448 Wanderungen durch celtiſches Land. 


„Die vergangene Zeit,” das viel gefungen wird, war feit meb: 
teren Monaten als Wilddieb in Haft. Herr von Villemarqué, 
der das Lied in feine ausgezeichnete Sammlung aufgenommen, 
gibt fih alle Mühe, den gefeflelten Dichter zu befreien, mas 
ihm in diefem Augenblid hoffentlich gelungen fein wird. Eine 
Bäuerin, melde der erwähnten Sammlung das jüngjte Kind 
bretoniijher Mufe, ein unendlich lieblihes Liebeslied, „vie 
Schwalben,“ geliefert, trafen wir nicht zu Haufe. So mußten 
wir ung mit dem profaifchen Volt begnügen, das wir in ſehr 
großer Anzahl auf dem Viehmarkt verfammelt fanden. ES war 
mehr al3 projaifh, ad, es war unendlih ſchmutzig. Doch fand 
man unter den Männern überaus ſchöne Gefichter und Geftalten; 
bei ven Weibern ganz das Gegentheil. Was uns an den Män: 
nern mißfiel, waren die ungeheuren Pluderhojen, die fo tief ala 
möglih und nur durch einen einzigen Knopf befeltigt waren, jo 
daß man jeden Augenblid eine fchredliche Kataftrophe, nämlich 
das gänzlibe Sinfen verjelben, befürdten mußte. Die Bauern 
felbft jcheinen von diefer Furcht befeelt, denn ununterbrochen 
ziehen fie rechts und links an den haltlofen, um fie nur an bie 
äußerften Gränzen der Anftändigkeit zu bannen. Wenn man 
bedenkt, daß dieſes Volk auf diefe Weiſe nun jeit zweitaufend 
Sahren die Hälfte feiner Zeit verliert, jo begreift man, daß es 
in Bildung und Gelehrfamfeit nicht weit fommen fonnte. Sn: 
deſſen nahmen fie fich doch ganz hübfch aus, wie fie, vom Marfte 
heimkehrend, auf ihren Pferden faßen, jeder fein Weib oder jein 
Liebchen vor ſich im Sattel haltend. 

Den Abend verbradhten wir in der liebenswürdigen Familie 
des Herrn von Billemarque, Er zeigte ung die urfprünglicfte 
Sammlung feiner Bollsliever, „Barzaz-Breiz,* im Manuffript, 
mit allen Barianten, wie er fie in den verfchievdenen Gegenden 
gefunden, mit Noten und Anmerkungen, vie ſich auf den Ort 
der Auffindung oder auf die Berfon bezogen, die fie ihm mit: 
getheilt, und wir fonnten uns aus dem Charakter des Manu: 
ſtripts überzeugen, daß es eine leere Erfindung war, eine 





Wanderungen durd celtiſches Land, 449 


unbegründete Vermuthung, die aus Hrn. von Villemarque eine Art 
von „Macpherfon“ machen wollte. In unfer Hotel zurückgekehrt, 
wollten wir das Gefhäft des Herrn von Villemarqué fortjegen, 
indem wir zwei reiche Bauernmäddhen, die fih der Bildung wegen 
in der Stadt aufhielten und deren Stimmen ung gerühmt wurden, 
zum Singen bringen wollten. Aber e8 war nicht möglid, aus 
diefen bildungsfüchtigen Bäuerinnen, trog allen Bitten und Vor: 
ftellungen, auch nur Ein einziges Volkslied hervorzuloden. Umfonft 
faßen wir mit unfern Tafchenbüchern da, ih, um die Worte, 
mein mufifalifher Reifegefährte, um die Noten aufzuzeichnen. 
Nach langem Bitten ftimmte endlich die Eine an, und da fam 
eine widerliche Arie aus der „Tochter des Negiments” zum Vor: 
ſchein. Die ländlichen Jungfrauen ſchämten fich ihrer heimischen 
Poefie und meinten, wir wollten uns über fie nur luftig machen. 
So lernten wir die Herkulesarbeiten Arnims, Brentano’3, der 
Brüder Grimm und Villemarque’3 würdigen. 

Ohne die geringite poetifhe Ausbeute wanderten wir am 
frühen Morgen durch eine lachende, aber an Dörfern arme Land» 
Ichaft weiter nad) dem reizenden und ruhevollen Städtchen Pon— 
taven, am Bache Aven, der fich hier plößlich fo ausbreitet, daß 
er die Fluth bis an die Mauern des Städtchens heran fommen 
läßt und ſelbſt größere Küftenfahrer bis hieher tragen kann. 
Dennoch ift er in feiner Kleinheit oberhalb der Stadt bedeutend 
malerifcher. Da windet er fih dur ungeheure Felsblöde, von 
denen mehrere fehr pittoresfe Mühlen tragen. Der eine diejer 
Felfen hat die Form eines ungeheuern Schuhs; auch nennt man 
ihn den „Schuh des Gargantua.” Das Märchen vom Rieſen 
Gargantua ift in diefen Gegenden älter als Rabelais’ Noman. 

Hinter Pontaven bogen wir von der Straße ab, um die 
Nuinen des Schlofjes Nuftefan oder rother Stefan zu befihtigen. 
Bon diefem Schlofje, das Einige der Königin Blanche von Ka: 
ftilien zufchreiben,, ift nicht mehr viel übrig; Wiefen und Frucht: 
bäume find bis in fein Innerſtes vorgedrungen; nur die vier 
Mauern des Hauptgebäudes, in der Mitte ein großer Thurm 

Morig Hartmann, Werke. Ill. 29 


450 Wanderungen durch celtiſches Land. 


mit gothifchen Verzierungen und an jeder Ede ein Eleines 
Thürmchen ftehen noch aufrecht. Der unterite Saal, ganz zer: 
brödelt, dient einem benachbarten Bauern als Scheune und 
Tenne. Man erzählt, daß, al3 der Hauptthurm zufammen ſtürzte, 
die ganze Umgegend fo erjchüttert wurde, daß die Einwohner 
des nahen Dorfs Nizon an ein Erdbeben glaubten, und daß die 
Kirhengloden zu läuten anfingen. Uns intereflirtte dag Schloß 
Auftefan als Schauplag der ſchönen Volfsballade „Genoveva 
von Ruſtéfan,“ welde von dem Unglüd und dem Tode eines in 
einen jungen Prieſter verliebten Evelfräuleins in fehr traurigen 
Worten erzählt. 

„Ah, Jannick,“ ruft fie dem abziehenden Jüngling zu, der 
binzieht, um die Weihe zu empfangen, „ac, komm zurüd, und 
ich gebe dir all mein Gut! Jannid, mein Freund, fomm zurüd, 
und ich folge dir, wohin du gebt, und ich werde Holzſchuhe 
tragen und mit dir zur Arbeit gehen. Doc hörft du meine 
Bitte nicht, fo bringe mir die legte Delung.” Und der junge 
Priejter antwortete: „Leider darf ich dir nicht horchen, denn ich 
bin an Gott gebunden; feſt hält mich die Hand des Herrn, und 
ih muß zur Weihe gehen.” 

Der Pla vor Ruftefan war ehemal3 der Tanzplag des 
Dolls; aber die Tänzer haben ſich von da zurüdgezogen, als fie 
einmal um Mitternaht am Thurmfenfter die feurigen Augen 
und das gejhorene Haupt eines Priefters jahen, und als fie 
ih in den großen Saal flüchteten, fanden fie daſelbſt eine 
ſchwarz bedeckte Todtenbahre, von brennenden Kerzen umgeben. 
Oft um Mitternacht fieht man auch ein ſchönes Evelfräulein in 
alter Tracht, wie es um das Schloß wandelt und ſingt und weint. 

Jenſeits des Dorfes Nizon erſtreckt ſich wohl konſervirt in 
urjprünglichiter Gejtalt und voll von Druidendenkmälern der 
Wald Lufu, welchen man für den eigentlichjten Schauplag der 
Goethe'ſchen „eriten Walpurgisnacht“ halten könnte; denn diejer 
Wald, — deſſen Namen fo viel bedeutet wie „Geheimniß oder 
Zauber” — mar die legte Zufluchtsftätte der Druiden, in welchem 


Wanderungen durch celtiihes Land. 451 


fie, von den chriſtlichen Miſſionären und ihren Jüngern be: 
lagert, allerlei Zauber und Speftafel aufführten, um die Ver: 
folger abzumehren und ihre Opfer und Gebete in Ruhe aus: 
führen zu können. 

Ein intereffanter Druidenftein findet fich hart an der Land: 
ftraße, in der Nähe des Dorfes Tregunc, denn er wurde in 
alten Zeiten gebraudt, um Gottesurtheile auszuſprechen. Vor 
ihn wurden bie der Untreue angellagten Frauen geführt, und 
wenn fie den ungeheuren Felſenblock mit Einer Hand in Be: 
wegung jegen konnten, jprachen fie die Priefter frei. Wir hoffen, 
daß bei den alten Celten dieſer Gegend auch nicht eine einzige 
Frau wegen Untreue verurtheilt worden, denn wir leben der 
fejten Weberzeugung, daß ſich die Weiber ſchon einige Zeit vor 
der Hochzeit in das Geheimniß des Stein haben einweihen 
lafjen. Er iſt nämlich mit einem vorjpringenden Ende auf einen 
andern, aus dem Boden mit einer Spite hervorragenden Stein 
im Gleichgewicht jo aufgelegt, daß ihn auch ein Kind, wenn e3 
ihn nur am rechten Flede faßt, in zitternde Bewegung verfegen 
kann. Auch beißt der Stein „der zitternde Stein.” Das Dorf 
Tregunc, das diefen harten und doc jo nachgiebigen Richter 
weiblicher Ehre befikt, rühmt fich noch eines andern Schatzes: 
eines gothiſchen Kirchleins, das in feiner Art ein vollenvetes 
Kleinod ift und würdig die Reihe jener ſchönen Dorffircen er: 
öffnet, die wir am Eingang dieſes Kapitel3 erwähnt haben. 

Wir waren in einem jchönen und romantifchen Lande; 
rechts und linf3 von der Straße mwohlbebauete Felder, Ginjter: 
ftauden, Baumgruppen, dunkle Haine und von Zeit zu Zeit 
gegen Welten ein Blid aufs blaue Meer. Aber das ntereflan: 
tefte war ung für den Abend viejes Tages aufgefpart: ich meine 
die Heine Feſtung Concarneau, die in einer Heinen Bucht der 
großen Bay de la Foreft, umgeben won Seewafler, auf einem 
Felfen liegt, welcher in der Länge nicht mehr als vierhundert, 
in der Breite höchſtens hundert Schritte hat. Nicht ganz am 
Rande dieſes Steins laufen die uralten diden Feftungsmauern 


452 Wanderungen durch celtijches Land. 


aus Quaderjteinen mit vorjpringendem Parapet, Machicoulis 
und bald vieredigen, bald runden Thürmen hin. Die kleine 
Feſtung mitten im Seewafjer überrafcht beim erjten Anblid 
und fieht ganz fabelhaft aus; ungefähr jo, wie man ſich ein 
Dardanellenihloß vorjtellt. Auf einer Fähre gelangten wir an 
ven befeftigten Stein und an das Thor, zu dem in den Granit 
gehauene Treppen hinanführen. Nicht minder überrajhend, als 
das Aeußere, it das Innere der Kleinen Stadt. Auf dem engen 
Naume drängen fich die Häufer und darunter viele uralte gothifche 
und zwei mittelalterlihe Kirchen dicht an einander. Bor den 
Häufern figen Frauen, Mädchen und Kinder und ftriden und 
fliden Nebe, während die männliche Bevölferung, ganz aus 
Sardinenfifchern beſtehend, fich in ſechshundert Barken auf offe: 
nem Meere herumtreibt. Vom Giebel der Häufer bis herab auf 
das Pflafter, ja von Giebel zu Giebel über die Gafjen hin, und 
jelbjt über die Feltungsmauern bis hinab ans Meer, find Netze 
ausgeſpannt, daß es augfieht, ald ob vie alte Stadt vergeſſen 
und verlafen, won irgend einer fabelhaften Spinne mit Einem 
großen Gewebe überzogen worden wäre, Die wenigen Artilleri: 
ften, melde die Befagung der alten Seefeſtung bilden, nehmen 
fich unter diefem großen Netze auf den alten Befeſtigungen ganz 
anachroniſtiſch aus. 

Wie Hein auch dieſer befejtigte Stein fei, jo hat er doch in 
der Gejhichte der Bretagne eine hübjche Rolle gefpielt. Ber: 
trand du Guesclin hat ihn im Sturm genommen und wie einen 
Opferjtein mit dem Blute der ganzen engliſchen Beſatzung ge: 
färbt. Später eroberte ihn der Vicomte Rohan, aber am In— 
terejlanteften ift er zur Zeit der Ligue. Wir wollen die höchft 
merkwürdige Epifode des Bürgerfrieges bier fo mittheilen, mie 
fie der Kanonikus Moreau in feiner handfchriftlihen Chronik er: 
zählt und mie fie Freminville aus dem Manuftripte abfchreibt. 
Dod bitten wir den Lefer, nicht zu vergeflen, daß der Erzähler 
des Neligionskriegs ein Kanonilus ift: 

„Soncarneau wurde am 17. Januar 1576 eingenommen 


Wanderungen dur celtifches.Land. 453 


und wieder übergeben am 22, defielben Monat3 Januar. Man 
fagt, daß diefer befeftigte Pla nicht? Anderes war, als der Zu: 
fluchtsort für Diebe und Galgenftride, daß, wenn Jemand feinen 
Nachbar ermordet oder einen Diebjtahl begangen, ein Mädchen 
oder ein Weib geraubt, er fih nad) Concarneau geflüchtet habe. 
Diefer Pla wurde durch die ketzeriſchen Kalviniſten, Evelleute 
des Landes, ungefähr dreißig an der Zahl, und geführt dur 
die Herren de la Vigne, de la Houlle und Kermafjonnet, über: 
raſcht. Aber der erſte Anftifter war befagter Kermafjonnet, 
welcher befagten de la Vigne, einen moralifhen und wohlvenken- 
den Mann, wenn man feine Religion ausnimmt, auf feine 
Seite 309g. — Zu diejer Unternehmung gehörten auch Die von 
La Rochelle, welche fich alle zu der befagten Religion bekannten, 
und welche Hülfe bereit hielten, um fie abzuſchicken, ſobald man 
die Wegnahme ver Stadt erfahren. An dem zur Ausführung 
beftimmten Zage näherten fie fich bis auf zwei oder dreihundert 
Schritte dem Hauptthore an der Abendjeite von Concarneau 
und hielten ſich hinter alten Häuſern verjtedt; und wohl wiſſend, 
daß gewöhnlich nur ein over zwei Mann und meiſt nur der Thor: 
wärter, wa3 an jenem Tage der Fall war, Wache hielt, Tießen 
fie einen ihrer Bewaffneten bi3 an das Thor vordringen, welcher 
Bewaffnete den Hauptmann zu fprechen verlangte. Der Thor: 
wärter fagte ihm, der Hauptmann fei nicht da; da jprang der 
Reiter vom Pferde auf die Zugbrüde, worgebend, daß er ihm 
Briefe zu überreichen habe, und allerlei Papiere aus der Taſche 
ziehend, ließ er eines auf den Boden fallen, erwartend, daß e3 
der Thorwächter vienjtfertig aufheben werde, was auch geſchah; 
denn wie er ſich darnach büdte, zog der Reiter ſchnell einen Dolch, 
ftieß ihn dem armen Thorwächter in die Rippen und tödtete 
ihn, ohne daß er einen Seufzer ausftoßen fonnte. Die gethan, 
gab er den Zurüdgebliebenen ein Zeichen, welche jchnell, ohne 
Widerſtand, herbeifpringen, einziehen, fih ohne Blutvergießen zu 
Herren des Platzes machen, die Thorſchlüſſel ergreifen und die 
Einwohner ins Gefängniß fegen, einige wenige ausgenommen, 


454 Wanderungen durd) celtifhes Land. 


weil die Anführer in ihren Häufern wohnten, Dieß war eine 
wahre Zulafjung Gottes; denn daher fam ihr Unglüd und gänz- 
liche Vernichtung und die Befreiung des Platzes. Die Hugenotten, 
nun Meijter der Stabt, ordnen, was fie für nöthig hielten, richten 
die Kanonen, machen Kugeln, Pulver und andere Dinge bereit 
und bejejtigen die ſchwächſten Punkte; ftellen Tag und Nadt 
überall Wachen aus und fenden zu Meer Eilboten nah La 
Rocelle, um ihre Brüder in Chrifto, fo nannten fie fie, von 
dem Erfolg ihrer Unternehmung zu benachrichtigen. Sie baten 
außerdem injtändigft, ihnen Hülfe zu ſchicken, die jehr noth— 
wendig, da fie, nur dreißig waffenfähige Männer, ſchon durch die 
Gemeinden belagert jeien. Das war richtig; denn fie waren 
faum eingezogen, als man in allen Sprengeln die Sturmglode zu 
läuten anfing, fo daß zwei Stunden fpäter ver Platz von der Bevöl: 
ferung, achtkauſend Mann an der Zahl, und von vielen vom Adel 
umzingelt war. Auf diefe Art fonnte der Feind Tag und Nacht 
nicht aus der Stadt, al3 zur See, und dieß auch nur bei Nacht 
und mit großer Gefahr, um jo mehr als ihr Thor den Arkebujen 
ausgejegt war. Nach angebrodhener Nacht gaben Die draußen 
Alarm, um die Belagerten zu ermüden, welche in jo Kleiner 
Zahl nicht ausruhen konnten. Denn bald glaubte man eine Er: 
Himmung der Mauern, bald daß man an das Thor Feuer legen 
wollte. — So waren fie gezwungen, fortwährend unter den Waffen 
zu jein, und trog ihrer großen Wachjamleit wäre man in ber 
zweiten Nacht eingedrungen, wenn die Leitern nicht zu kurz geweſen 
wären. Die Belagerten, da fie in der Nacht nicht jchlafen 
fonnten, verwandten dazu den Tag und ließen dann nur Schild: 
wachen auf den Mauern.” 

Der Kanonikus Moreau erzählt weiter, wie noch die Stadt 
Quimper unter Anführung de3 Herrn von Pratmaria den Bes 
lagerern ſtarken Sukkurs fhidte und daß man den Herrn de la 
Vigne mit einer großen goldenen Kette, die dreimal um feinen 
Hals ging, oft auf den Stadtmauern fah, und fährt fort: 

„Die Belagerung dauerte auf diefe Weife vom 17. bis zum 


Wanderungen dur celtifches Land. 455 


22. Januar. Da gab e3 einen jungen Mann zu Goncdrneau, bei 
welchem Herr von Kermaflonnet mit einigen Andern wohnte und 
der bewegen nicht wie die andern Einwohner eingefperrt worden 
war. Er hieß Charles Le Bris, Kaufmann aus Quimper, und 
wie er einmal in fein Haus zurüdfehrte, fand er dafelbit den 
bejagten Herrn von Kermafjonnet und einen andern Edelmann, 
welche ſich in ihren Kleidern auf das Bett geworfen hatten und 
im ſichern Schlummer lagen, weil fie die ganze Nacht gemacht 
hatten. Sie hatten nur ihre Degen und Gürtel mit den Dolchen 
auf den Tiſch neben dem Bette gelegt. Beſagter Kermafjonnet 
batte die Thorfchlüfjel in einem Bunde um feinen Arm, daß es 
unmöglich oder gefährlich war, fie ihm, ohne ihn zu weden, weg: 
zunehmen. Der junge Mann erwog, wie elend die Stadt und 
das Land wären, ſowohl in Beziehung auf die Religion, als in 
Rückſicht auf die Ehre und die Mittel, wenn dieſe Leute da ver: 
blieben, und wie ſchwer es jein müßte, fich ihrer zu entledigen, 
wenn die erwartete Hülfe aus La Rochelle anläme; er erwog 
ferner die Schöne Gelegenheit, dem Lande einen ausgezeichneten 
Dienft zu leijten, fo wie, daß die Andern alle ſchliefen, ausge: 
nommen die Schildwachen auf ven Mauern, und daß Niemand 
in der Straße war. So beſchloß er denn, eine That der Ehre 
und de3 Muthes auszuführen, und er ging hin und nahm die 
beiden Doldhe der beiden Schlafenden und ftach fie beide in die 
Bruft, und Stoß auf Stoß führend, tödtete er Beide, ohne daß 
fie Zeit hatten, auch nur einen Schrei auszuftoßen. Nun. die 
Beiden todt, nimmt Le Bris die Schlüffel und wandert die 
Straßen entlang, al3 ob nicht3 vorgefallen wäre, dem Haupt 
thore der Stadt zu, um fie den Belagerern zu öffnen. Wie er 
fo hinging, war ein Soldat auf den Mauern, welcher feine Aufs 
regung bemerkte und dachte, daß er etwas zu ihrem Schaden 
unternehmen wolle, weßwegen er fich oben auf der Mauer dem 
Thore näherte. Befagter Le Bris näherte fih in Eile und der 
Soldat au, dann fing er an zu laufen, ſchwitzend und keuchend, 
um das Thor zu öffnen, und der Soldat, um ihn daran zu 


456 Wanderungen durch celtifches Land. 


verhindern, dag nadte Schwert in der Fauft und Verrath! rufend. 
Über die Mauer war an der Stelle, wo der Soldat herabjteigen 
wollte, jehr bob, und da er die Schlüfjel in den Händen des 
bejagten Le Bris jah, that er den gefährlichen Sprung und warf 
fih von der Höhe der Mauer hinab auf das Pflafter, und war 
e3 wie ein Wunder, daß er nicht den Hals gebroden; er that 
ſich fein Leid, das ihn verhindert hätte, fich ſchnell zu erheben, 
und er lief zum Thore, hoffend, Le Bris zuvor zu fommen, und 
er wäre bei Zeiten angefommen, wenn nicht zum Glüde und 
dur eine bejondere Gnade Gottes der erſte Schlüflel, den Le 
Bris, welcher die Schlüjfel des Thors nicht kannte, verfuchte, der 
rechte gewejen wäre, und ſobald er ihn drehte, fiel die Zugbrüde, 
und das Thor öffnete fih. Le Bris lief hinaus, die Belagerer 
rufend und den Soldaten hinter fih, welcher ihn außerhalb des 
Thores verfglgte, das Schwert falt in feinen Rippen, und welcher 
nicht zu fterben fürdhtete, wenn er nur Jenen tödtete. Und in 
der That lief er jo weit, daß er ſich umzingelt ſah, und da er 
nicht vor und nicht zurüd konnte, warf er fih in den Schlamm 
auf der Seejeite, wo er getödtet wurde und wurde die Stadt auf 
dieje Weife genommen, den 22. Januar 1576. Die Feinde, welche 
theil3 auf der Mauer, theils eingefchlafen waren, wurden alle 
getödtet. Nachdem die Wuth der Eolvaten vorüber war, warfen 
fie ih auf einen Diener des Herrn de la Vigne, welcher noch 
allein übrig war und welchen man aus der Stadt bradte, um 
ihn zu erfchießen. Und als man ihn hinführte, hörte er den Herrn 
von PBratmaria nennen, und er fragte, ob diefer Herr da wäre. 
Die ihn gefangen hielten, fagten Ja. „Laßt mich zu ihm ſprechen,“ 
jagte er, und wie er vor ihn geführt wurde, flüfterte er ihm leije 
zu: „Wenn Ihr mir das Leben retten könnt, will ic Euch jos 
gleich die goldene Kette des Herrn de la Vigne verfchaffen.” Der 
Herr von Pratmaria fagte ihm, daß er wohl feinen Tod verhüten 
werde, und befagte goldene Kette wurde ihm ausgeliefert. Und 
er jhidte den Diener an das Parlament von Rennes, wo er 
ſechs oder fieben Monate fpäter hingerichtet wurde.” 


Wanderungen durch celtifches Land. 457 


Nach diefer merkwürdigen Begebenheit, die an die Belage: 
rungen ſchottiſcher Schlöfjer unter den Douglas und Stuarts er: 
innert, wurbe Lezonnet, der tapfere Priefter, Kommandant der 
nunmehr fatholiihen Bejagung. Er übergab die Stadt ohne 
Zaudern, al3 Heinrih IV. den Proteftantismus abſchwur und 
leiftete diejem gegen die Ligue, namentlich gegen die jehr ligui— 
ſtiſche Stadt Duimper, große Dienfte. 

Der Art Erinnerungen werden beim Anblid diejer Kleinen 
Feſtung fo lebendig, daß die Phantafie unaufpaltfam in hifto: 
rifche Zeiten zurüd fchweift und man für den frijch waltenden 
Neiz der Gegenwart blind wird. Dennoch, al3 wir genug auf 
den Wällen umber gewandelt, ruhten unfere Augen mit Ber: 
gnügen bald auf dem ſchönen Thale, durch das ein Fleiner Bad) 
dem Meerbufen zueilt, bald auf der Heinen Bucht, die von Hun— 
derten von Filcherbarfen bededt war. R 

Bergauf und bergab, erit vom Meere begleitet, dann von 
einem prächtigen Wald ſchön befränzt, führt die Straße fünf 
Stunden weit nordwärt3 in die Hauptjtabt des Departements, 
nad) dem alten Quimper:Gorentin, einer der Städte, von denen 
die Sranzofen, wie wir von Nürnberg, gerne närrifche Geſchichten 
erzählen; vergleihen Gewohnheiten eines Volks haben wohl ge: 
wöhnlich ihre Urſachen mehr in dem Volk, das die Narrheiten 
erzählt, 'als in der Stadt, von der ſie erzählt werden. Quimper 
hat eine ganz ernſte, theilweiſe ſogar ſchauerlich fanatiſche Ge— 
ſchichte; ſeine Einwohner haben ſich viele Jahre überaus tapfer 
und ausdauernd erwieſen; es hat auch nicht eine einzige Epiſode 
in ſeinem tauſendjährigen Leben, die es lächerlich machen könnte. 
Dennoch machen ſich die Franzoſen über dieſe Stadt eben ſo luſtig, 
wie über das höchſt ehrenwerthe, ſpekulative, hoch aufſtrebende 
Marſeille. Das kommt wohl daher, daß die Franzoſen alles ihnen 
Fremde mißverſtehen und lieber das Mißverſtandene verlachen, 
als ſich darüber aufklären. 

Die größte Lächerlichkeit, die man Denen von Quimper— 
Corentin vorwerfen kann, iſt wohl die, daß ſie den Namen ihrer 


458 Wanderungen durd celtifhes Land. 


Stadt gerne von Chorinäus, einem aus Troja entwifchten Helden, 
berleiten, während der Name Gorentin erjt im fünften Jahr: 
hundert zu Ehren des erften Bifchof3 und Apoſtels diejer Gegend 
binzugelommen und der Name Quimper einfach won dem celti- 
ſchen Kymper, d. h. Zufammenfluß, abftammt. Die Stadt liegt 
nämlich) an der Vereinigung des Odet und des Eir, welche beide 
Flüffe, unterhalb derfelben in einem ſchmalen Meerarm zufammen 
treffend, mit grünen und überaus üppig befchatteten Ufern das 
alte Quimper aufs Schönfte einrahmen. Der Hafen, auf dejien 
breiten Quai3 die Promenaden auslaufen und fich mit riefigen 
Bäumen großartig ausdehnen, ift nicht3 Anderes als das legte 
Ende des langen Meerarm3, welcher ſchwere Schiffe bis an die 
Stadtmauer herauf führt. Dort, und wo die beiden Flüfle hart 
an den alten Feſtungswerken oder den bemoosten Häufern vor: 
über ziehen, gehört Quimper zu den malerifchiten Städten, die 
e3 gibt. Da finden fih Winkel, die, rein photographiſch aufge: 
nommen, die vollendetjten Kunſtwerke liefern würden. Dort warn: 
verten wir bei Sonnenaufgang und Untergang umber, und es 
fojtete uns jedes Mal einige Meberwindung, in die innere Stadt 
zurüd zu kehren, welche nur wenig zu bieten hat und, troß der 
fonderbaren Trachten ihrer Bewohner und der Landleute aus der 
Umgegend, bald langweilig wird. Das beveutenpfte Gebäude 
derjelben ift die Kathedrale, die größte der Bretagne, gothiſchen 
Styl3 und auf den Ruinen einer älteren Kirche im fünften Jahr: 
hundert aufgeführt. Sie zeichnet ſich dadurch aus, daß ihre Achſe 
nicht gerade durch geht und daß das Außerfte Ende der Abfive 
nicht dem Portale gegenüber liegt, die Achſe weicht im Chor gegen 
die rechte Seite bedeutend ab. Der Architeft hat ſich hier nicht 
das Kreuz felbit, fondern den Gefreuzigten zum Mufter genommen 
und die nad) der rechten Seite geneigte Abfide jol das geneigte 
Haupt des Heilands vorftellen. Uebrigens ſteht diefe architekto: 
niſch myſtiſche Sonderbarkeit nicht allein da; die Kathedrale von 
Quimper hat fie mit mehreren andern, aus derſelben Zeit ftam: 
menden Kirchen Frankreichs gemein. Die Facade ift, wie beim 


Wanderungen durch celtifches Land, 459 


Kölner Dom, von zwei ſtarken Thürmen eingefaßt, und über das 
reich gefhmüdte Portal läuft eine Baluftrade hin, auf welcher 
ebemal3 die Reiterjtatue des Königs Grallon oder Gradlon ftand, 
welcher nad) dem Untergang feiner Hauptjtadt Is der eigentliche 
Gründer von Quimper wurde. Die Thürme wurden, man könnte 
faſt jagen, wie natürlich bei einer gothiſchen Kirche, nicht vollendet. 

Ehemals fand auf und vor der Kathedrale ein fonvderbares 
Volksfeſt jtatt. An einem gewiſſen Tage beftieg ver Biſchof, ge: 
folgt vom ganzen Klerus und der Munizipalität, die Platform, 
wo Hymnen gefungen und große Mufifftüde ausgeführt wurden, 
Mährend deſſen ftieg ein Stabtfolvat, eine Flafche in der einen, 
ein Glas und eine Gerviette in der andern Hand, auf das Pferd 
de3 Königs Oradlon, Er goß das Glas voll und bot e3 dem 
bronzenen König an; da diefer aber nicht tranf, leerte er es 
felber und mwifchte vem König den Mund mit der Serviette. Hier: 
auf warf er das Glas unter die vor der Kathedrale verfammelte 
Menge. Der Glüdliche, dem es gelang, das Glas in der Luft 
aufzufangen, ohne daß e3 in Stüde ging, erhielt vom Biſchof 
eine Belohnung von fünfhundert Frants. Das Felt wurde damit 
bejchloffen, daß man dem König Gradlon einen —— in 
die Hand ſteckte. 

Einen netten Gegenſatz zur Kathedrale bildet die Kirche St. 
Mathieu, ganz im Style und in der Größe jener Heinen Dorf: 
firen, von denen wir ſchon gefprodhen haben. Ihr Dad kann 
vielleiht ein Großgewachſener mit der Hand erreihen. Alle 
Gebäude, die fie umgeben, ftehen, was ihre Größe betrifft, im 
rechten Verhältniß zu ihr. Wir glaubten uns auf diefem Plate 
auf dem Forum der Liliputer zu befinden. 

Die Umgegend von Quimper ijt reiher an alten Gebäuden, 
al3 die Stadt ſelbſt, wir nennen nur das alte Schloß de la Foret, 
mit feinen diden Thürmen am Ufer des Odet; das Schloß Coat- 
bily, in der Mitte einer reich bebufchten Landſchaft; das Herren: 
haus Kerdur, ganz in der Nähe deſſelben, mit zwei Thürmen, 
einer Kapelle und malerifhen Zinnen; die Burg Kerhinet, und 


460 Wanderungen durch celtiſches Land. 


enblih das uralte Pullinan, welches König Grallon bewohnt 
haben foll, und das in der That noch einiges Mauerwerk befigt, 
das aus dem fünften Jahrhundert ftammen fünnte Von Kirchen 
und Kirchlein, die über die ganze Umgegend ausgeſtreut find, wollen 
wir bloß die Kleine gothijche Kirche der Mutter Gottes erwähnen 
und die Nefte einer befeftigten Kommanberie der Tempelberrn, 
die das Volk „ven Tempel der falihen Götter” nennt, melde 
Bezeihnung wohl von den Vorjtellungen berrührt, die man ſich 
von dem geheimen Treiben der TZempelheren machte. Bis zu ihrer 
Vernichtung durch Philipp den Schönen waren fie in der Bretagne 
eben jo mächtig und reicher als heute die Sefuiten; aber nad 
ihrem Falle, da man fie zu fürchten aufgehört, dichtete ihnen das 
phantafievolle bretonijhe Volk alle mögliche Teufelei an, und 
die Ueberrefte ihrer MWohnhäufer werden heutzutage nur mit 
Grauen betradtet. Darauf deutet auch der Name eines andern 
Schloſſes der Tempelherrn, in der Nähe von Quimper; man 
nennt e3 „die Wohnung des Wiſſens oder der geheimen Willen: 
ſchaft“ (Kergujel), mas fo viel jagen will, als: Zauberei. Und 
in der That fieht das alte Haus arabijchen Styl3 wie eine Her: 
berge von Adepten, Nekromanten und Taufendkünftlern aus. 

So reih an Ruinen oder mohlerhaltenen Gebäuden des 
Mittelalter3, ja jelbjt ver alten Zeit (denn auch hier fanden wir 
wieder viele Druidenfteine) ift die Umgegend von Duimper, daß 
wir nad) zweitägiger Wanderung matt und überfättigt von Ruinen 
in die Stadt zurüdkehrten, voll Sehnſucht nad) dem großen Ozean 
und nad dem Schaufpiele, das uns Neifebücher und Freunde 
an der jchredlihen Pointe du Raz verſprachen. Dorthin, als 
nad) dem Klimar unferer Reife, machten wir ung, an einem ſchönen 
Sonntagsmorgen, das Herz voll Erwartung, auf. 


IV. 


Die Halbinfel von Plogoff zwifhen den Golfen von Aubierne und Douars 
nenez. — Ponteroig. — Der Ligueur La Fontenelle — Audierne. — Blutegels 
teih. — Der Camao. — Plogoff, dad Dorf ber Fährleute der Todten. — 
Sagen und religiöje Anfihten. — Volkslieder über Paradied und Hölle. — 
Die Pointe du Ray, die Klippen, bie Hölle, die Bai des Trepaſſes. — Die 
Sinjel Sein. — Die verfuntene Stadt 38 oder Kerid. — Wanderung durchs 
innere Land; fein Charakter, feine Zuftände. — Douarnenez. — Sardinens 
fang und Handel, — Die Inſel Triftan und Fontenelle. 


Mir hätten unmöglih einen befferen Tag wählen können, 
denn das Land, das aus ftrogender Ueppigfeit bald wieder in 
öde Heide überging, hätte uns eben jo wenig gefallen, als vie 
politilchen Geſpräche des Advokaten und des Zöllners, die mit ung 
im Wagen faßen, wenn e3 nicht überall auf das Schönfte von 
den nah den Kirhen in allen Richtungen hinwallenden Sand: 
leuten belebt gewefen wäre. Unzählige Pilger wanderten durch 
die rothe Erika, auf vielgefchlungenen Pfaden, die Hüte mit 
wilden Blumen gefhmüdt; andere famen uns auf der Landitraße 
entgegen, Mann und Weib auf Einem Pferde figend, manchmal 
Mann, Weib und Kind; oft trug ein einziger Pferverüden drei 
Männer, daß wir auf das Lebhaftefte an die Haimonskinder er: 
innert wurden. Dazu hallte aus den unzähligen gothiſchen Kirch 
lein von allen Seiten, durch den beitern, fanft vurchfeuchteten 
Morgen, dörfliches Sonntagsglodengeläute zu ung herüber, fo 
daß jelbjt der Advokat andächtig geftimmt wurde und feine Plai: 
doyers für die Stadt Duimper einftellte. Bor Douarnenez wurde 
ber Weg plöglich wild und romantifh. Das Land hügelt fich; 


462 Wanderungen dur celtifches Land. 


die Kirchen, unter andern die in Liedern viel befungene von 
Ploare, bliden von bedeutenden Erhöhungen herab; in Der Ferne 
gegen Welten erheben fich ſchroffe Felswände, die fih bald als Ufer 
de3 herrlichen Golfes von Douarnenez ausbreiten. Jn Douarnene; 
hielten wir uns dießmal nur wenige Minuten auf, angeſtarrt von 
den Bauern, die an fremde Gefichter nicht gewöhnt find, und 
eilten auf jehr freundlicher Straße an einem ganz einfamen Kirch— 
lein und einem großartigen gothiſchen Maujoleum, mitten im ver 
Einfamfeit der Heide, vorüber, bergauf und bergab, nach Pont: 
croir, und jo befanden wir ung auf jener höchſt merfwürdigen 
Landzunge, zwijchen den Golfen von Douarnenez und Audierne, 
welche die weſtlichſte Spite Franfreih3 ift und in dem fchauer: 
lihen Kap der Pointe du Raz endet. 
Die Heine Stadt Bontcroir befigt eine gothiſche Kirche, die 
Ah dur ihre Schönheit unter all den Heinen gothiſchen Kirchen 
der niedern Bretagne auszeichnet. Aber Shön mie fie ift, erinnert 
fie auch an eine der [heußlichften Thaten des Krieges der Ligueurs 
und an einen jeiner verabjcheuungsmwürdigiten Parteigänger. La 
Fontenelle oder auch Fontenelle, der Ligueur, war eines der furdt: 
barjten Ungeheuer, die jemals ein Religionskrieg mit Blute gro 
gefäugt. Guy Eder de la Fontenelle war ein jüngerer Sohn des 
Haufes Beaumanoir, deſſen Ahnherr fich in der Schlacht der Dreifig 
jo jehr auszeichnete. Der Kanonikus Moreau in feiner Chronik 
der Ligue erzählt von ihm: „Als er zu Paris, wo ich ihn im 
Jahre 1587 gejehen, Schüler war, gab er ſchon Anzeichen feines 
künftigen verderbten Lebens, indem er mit feinen Genofjen ewig 
im Streite lag. Im Jahr 1589 verkaufte er Bücher und Schul: 
Heid, jchaffte fich für das gewonnene Geld einen Degen und einen 
Dolch, floh aus ver Schule, um die Armee des Herzogs du Maine, 
des Hauptes der katholiſchen Partei, aufzufuchen, und kehrte nad) 
der Bretagne zurüd. Fünfzehn bis jechzehn Jahre alt, mijchte 
er fi) unter das für die Ligueurs bewaffnete Voll, das ihn gut 
aufnahm, weil er aus gutem Haufe und ihr Landsmann war, 
und ihm, ba er einen aufgewedten Geift zeigte, gerne gehordte, 





Wanderungen durch celtifches Land. 463 


Gefolgt von einigen Dienern feines ältern Bruders und andern 
jungen Adeligen feiner Gemeinde, fing er an, die Fleden zu 
plündern und Gefangene zu maden, ohne Rüdficht auf die 
Partei.” 

Der Kanonikus, parteiiſch für die Ligueurs, erzählt nicht, 

wie Sontenelle bei jeder Gelegenheit auf die niederträchtigfte Weife 
fein Wort brach, wie er Frauen und Mädchen entführte und aufs 
Brutaljte behandelte, Hunderte von Dörfern in Brand jtedte und 
an einem einzigen Tage, aus purer Graufamleit, 1500 Bauern 
niedermegelte. Eine der jheußlichiten Thaten verübte er in Bont: 
croir. Nachdem er die Stadt genommen und den größten Theil 
der Einwohner niedergemacht, zog fi) der Kommandant derfelben, 
Villerouault, der zum König hielt, mit den angefehenjten Ein: 
wohnern in die Kirche zurüd. Auch diefe wurde genommen, und 
die Belagerten verbarrifadirten fi, als in ihrer legten Zuflucht: 
ftätte, im ſchönen gothiſchen Thurm, aus deſſen durchbrochenen 
Verzierungen, wie aus Schießſcharten, ſie ein wohlgenährtes und 
mörderiſches Feuer unterhielten. Fontenelle, der viele Leute ver— 
lor, ohne den Thurm nehmen zu können, fing an, mit Villerouault 
zu parlamentiren, verſprach ihm und Allen, die mit ihm waren, 
freien Abzug und beſchwor die Kapitulation mit den heiligſten 
Eiden. Der Kapitän, der ſeine Gattin bei ſich hatte, nahm den 
Antrag gerne an; aber kaum hatte er die Thurmthüre geöffnet, 
als ſich Fontenelle mit ſeinen Leuten auf ihn ſtürzte, ihn an einen 
Kirchenpfeiler band und ihn zwang, ein Augenzeuge der größten 
Scheußlichkeiten zu fein, welche die Ligueurs an feiner Frau ver: 
übten. Hierauf ließ er den Unglüdlihen, zugleich mit einem 
greifen Priefter, den er in der Kirche fand, auf dem Plage von 
Ponteroix auffnüpfen. 

Fontenelle endete, wie er es verdiente, zwar nicht als Ligueur 
und Räuber ; denn als er einmal den Königlichen in die Hände 
fiel, wurde ihm von einem geizigen Kommandanten für großes 
Geld die Freiheit verkauft, und fpäter war er mit in die Amnejtie 
begriffen, welche Heinrich IV. feinen erbitterten Feinden angedeihen 


464 Wanderungen durch celtifches Land. 


ließ. Aber Fontenelle konnte nicht ruhen und nahm Theil an 
der Verfhmwörung des Marfhalld Biron und wurde zu Paris 
auf dem Greveplage lebendig aufs Rad geflodten. Much das 
Volkslied verurtheilt nit den Ligueur Fontenelle; es kennt ihn 
bloß als eine Art von Don Juan, der reihe und ſchöne Erbinnen 
entführt, und nennt ihn den jchönjten Jungen, Der jemals 
Männerkleiver getragen. Bon den Erbinnen, die er entführt, 
wird er nach dem Gedicht aufs Zärtlichjte geliebt, und mit feinem 
Tode, den es überaus poetijch darftellt, hat e8 das größte Mit: 
leid, und das Lied fchließt mit ven Worten: „Wer immer nad 
Gaodelan (Schloß Fontenelle's) fommt, Dem wird daS Herz meh 
thun; das Herz weh thun vor Kummer, wenn er ſieht, wie das 
Feuer im Herd erlofchen ift, wenn er fieht die Neſſel wachen auf 
der Thürfchmwelle und im Erdgeſchoß; im Erdgeſchoß und im Saale, 
und wie die fchlechten Leute ſich da jo breit machen.” 

Die Kirhe von PVonteroir wird, wie all die zahlreichen 
fhönen Kirchen der untern Bretagne, vom Volle den Englänvern 
zugefchrieben. Für diefe Behauptung ſpricht nichts, al3 die flade 
Mölbung, welche diefe Kirchen mit der englifhen Gothif gemein 
haben. 

Der Weg zwiſchen Ponteroix und Aubdierne ift würdig, zwei 
fo anmuthige Städtchen zu verbinden. Rechts zieht fih ſchönes 
Hügelland, links der blaue Meeresarm bin, der aus dem Golfe 
kommt und den Hafen von Audierne bildet: einen reizenden Hafen, 
von prächtigen Dämmen, freundlichen Häufern, grünen Hügeln 
und gewaltig hoch aufjchießenden Bäumen eingefaßt. Doc 
liegen in feinem Schooße nur Heine Fiſcherbarken vor Anker; 
größeren Edhiffen ift er unnahbar, denn an feinem Eingange be: 
ginnt jener grauenvolle Kranz von Klippen und Riffen, der ji 
um die Pointe du Raz bis an den Eingang der Bat von Douar: 

nenez binjchlingt. 

In Audierne beginnt das Ende der Welt, auf feinem Markt: 
platze verſcheidet die civilifirte Landftraße ; feine Häufer find die 
legten, die an die behagliche Wohnlichkeit unſeres gebilveten Welt: 


Wanderungen dur celtifches Land. 465 


theile3 erinnern. Nur wenige Schritte hinter Audierne, und wir 
waren in der Wüfte, in einem pfablofen Lande, wo fo zu fagen 
Alles aufhört, in einem Erdwinkel, den ich die Alten von cimme: 
riſcher Nacht bevedt gedacht hätten. Ein Heiner Teich am Wege, 
düfter und von Schilf eingefaßt, paßte zu der ganzen Landfchaft. 
In feiner Mitte, an einen Pfahl gebunden, ftand ein unglüd- 
feliges altes Pferd, welches Blutegelfiicherei trieb und Fifcher, 
Lockſpeiſe und Angel zugleih fein mußte. Denn es wird nur 
bingeftellt, auf dab ſich die Blutſauger an feine Beine hängen. 
Ob diejes arme Pferd, das fein Leben lang treulich gearbeitet 
batte, nicht dafjelbe Necht gehabt hätte, wie das perfische der 
Sage, die Glode der Klage zu ziehen ? 

Ueber den Sumpf bin flog der ſchöne bunte Vogel Pecheur 
Martin, deſſen Bekanntſchaft ih fhon in den Sümpfen Langue— 
docs gemacht hatte. Es ijt das derſelbe Vogel, der unter dem 
Namen Camao da3 ganze Mittelalter hindurch in Spanien eine 
große Rolle geipielt. In jedem Haufe, befonders in adeligen 
Häufern, wurde ein Camao mit Sorgfalt gehegt und gepflegt; 
denn er war ein Ehrenwächter des Hauſes. So lange er ji 
wohl befand und im Käfig Iuftig hin und her jprang, wußte der 
Ehemann, daß auf feiner Ehre fein Fleden haftete; kränkelte er 
aber, oder ftarb er fogar, dann wußte man, daß die Ehre des 
Haufe dahin war, und mander Eheherr wurde & la Don 
Gutière der Arzt feiner Ehre. Von einem ſolchen Ereigniß und 
dem Namen dieſes ehrebefhügenden Vogels foll der Familien: 
namen Camoens hergeleitet fein. 

Durch die MWüftenei des Plateaus, zwifchen rohen Stein: 
mauern, welche kümmerliches Erdreic zufammenhalten und Saat 
und Scholle gegen den Nordwind ſchützen follen, weiter mans 
dernd, kamen wir nad) Blogoff, dem öſtlichſten und legten Dorf 
diefer Gegend, dem Dorf der Harone. Denn bier wohnen die 
Fischer, welche ſchon zu Cäfars Zeiten, und der Sage nad) manch— 
mal aud jegt no, des Nachts von abgejchievdenen Seelen ger 
wedt werden und dieſe auf ihren Kähnen auf die Todteninjeln 

Morig Hartmann, Werke II. 30 


466 Wanderungen durch celtifches Land. 


bringen müflen. Ein Schiff, das in Stein gehauen fi über dem 
Portale der Kirche befindet, deute noch heute auf die pſycho— 
pompifhe Beihäftigung der Männer von Plogoff. Ehemals 
waren fie diefer Beichäftigung halber fteuerfrei; auh brauchten 
fie ihre eigenen Kähne nicht zu verwenden, denn am Ufer des 
Meeres angelangt, fanden fie daſelbſt dunkle Schiffe, Die offen: 
bar von Paſſagieren jhon überfüllt waren; denn das Waſſer 
ftieg ihnen bi8 an den Rand, und man hörte überall ein leb— 
baftes Geflüfter; doch waren die Paſſagiere felbft unfichtbar. 
Der Fiſcher ſetzte ſich ſchweigend ans Ruder und machte in nidt 
mehr al3 einer Stunde eine ungeheure Reife, von der er jelbft 
im ſchlechteſten Wetter glüdlich zurückkehrte. Die Leute von Plogoff 
und der ganzen Halbinjel glauben noch heute mit Procopius, dab 
das Land der Geligen over das Elyfium der Druiden im Weſten 
ihrer Küfte, im Schooß des Ozeans, liege. Es ift ihnen Leicht, 
ihre alten, von den Druiden ererbten Traditionen mit ihrem 
riftlihen Glauben zu verföhnen und zu vermifhen; denn nad 
jenem, wie nad) diefem, hat die Seele drei Kreife zu durchlaufen: 
den Kreis der Schmerzen, den Kreis der Reinigung und den 
Kreis der unendlichen Seligfeit. Die bretonifchen Barden fügen 
mande Einzelnheiten hinzu; fo den See der Todesangft und 
den See der Gebeine, die Thäler des Blutes und das ungeheure 
Meer, das in den unendlihen Abgrund mündet. 

Zur Zeit unferes Beſuchs in Plogoff waren nicht3 als Weiber 
zu fehen, in der Kirche wie auf der Heide rings um; die Männer 
alle fort, entweder auf weiter Fahrt, oder in den Golfen und in 
der Nähe der Küften, auf dem Sardinenfang. Was bier in diefem 
Winkel Frankreich geboren wird, ift zum Voraus der See be 
ftimmt. Alle die Dörfer der großen Landgränze find von Fiſchern 
und Seeleuten bewohnt, oder vielmehr nur von ihren Weibern 
und Töchtern. Die Männer ſchwimmen auf offener See. Der 
Sardinenfang mag ein trauriges Gewerbe fein, denn aus allen 
denftern und Augen diefer Gegend blidt die niederſchlagendſte 
Armuth. Wenn ein Sardinenfänger in den Monaten Auguft und 








Wanderungen durch celtifches Land. 467 


September, der Blüthenzeit ſeines Gewerbes, ſechzig Franken 
gewinnt, nennt er das Jahr ein glüdliches. Der große Gewinn 
fließt den Kaufleuten von Douarnenez und Nantes in die Tafchen, 
die allerdings auch jedes Jahr bei dem fehr gewagten Handel, 
der ungeheure Koſten verurfadht, ihr halbes Vermögen aufs Spiel 
feßgen. Mit den fechzig Franken, mit Heinen Nebengewinnften, 
die ihm mandmal als Piloten abfallen, und mit ven Frutti di 
mare, Fiſchen, Krabben, Hummern, Mufcelthieren ꝛc. fchlägt 
fich der Fischer dieſer Gegend mit feiner Familie durch die Sorgen 
des Jahrs; er lebt in ewigem Kampfe mit den Elementen und 
der Noth. Die wenigen und ſchlechten Felver der jteinigen Hoch: 
ebene gehören beſonders Begünftigten, die nad langen Fahrten 
aus fernjten Meeren mit einigem Geld heimgefehrt find. Bei 
einem ſolchen Glüdlihen, der fi eine angenehme Häuslichkeit 
eingerichtet hatte, waren wir eingefehrt. Der Mann, ver alle 
Meere der Erde gejehen und fich freute, wieder in feinem Dorfe, 
vor Anker zu liegen, jchien ganz das Bewußtſein feines Glücks 
zu haben. 

Weiter durch öde Heide, zwiſchen ärmlichem Kraut und 
nadtem Geſtein, nicht die geringite Abwechslung. Nur ein Kleines 
Kirchlein unterbrach die Einförmigkeit, da3, unbedeutend, wie es 
auch it, und neben den fchönen Kirchen des Landes faum der 
Erwähnung werth, doch bei den Bewohnern in fehr großem An— 
ſehen jteht und jedes Jahr Hunderte, ja vielleiht Zaufende von 
Pilgern empfängt; denn fein Matrofe wird zu See gehen, ohne 
erst hier feine Andacht verrichtet zu haben. Während feiner Ab: 
wejenheit fommt auch feine Mutter, fein Weib oder feine Braut 
bieher, um ihm von der Madonna eine glüdliche Reife zu er: 
flehen. Nach diefer Madonna hieß das Kirchlein urfprünglid: 
„Notre Dame de bon voyage;* der Abkürzung halber nannte 
man e3 dann La chapelle du bon voyage, und fo noch heute 
La chapelle du St. Bon voyage, und das Landvolk hat 
nun vergejien, daß die Kapelle eigentlich der heiligen Jungfrau 
geweiht ift, und glaubt darin einen Heiligen Namens Bon Voyage 


* 


468 Wanderungen durd celtifches Land. 


verftedt. So entjtehen neue Heilige. Auf diefe Art find ja auch 
St. Elmo und die heilige Veronika entitanden. 

Unfer Führer wußte viel vom heil. Bon Voyage zu erzählen, 
wie die Weiber der Matrofen oft, wenn ein Sturm über die 
Landzunge zieht, an feiner Kapelle auf ven Sinieen liegen und 
um die Rettung ihrer Männer flehen; wie diefe dann, heimgekehrt, 
berichten, daß fie um biefelbe Stunde am Kap Horn oder bei 
Bandiemensland in großer Gefahr geweſen und durch ein uner: 
Härte Wunder entwiſcht find, und dergleihen Schiffergeſchichten 
mehr. Lange erzählte er no, indem wir durch die Heide wan— 
derten, aber wir hörten nicht mehr zu, denn vor uns lag ber 
unendlihe Ozean, und wir ftanden am Borfprung der Pointe 
du Naz, wie in der Spihe eines ungeheuren verfteinerten Schiffes. 

Das Schaufpiel, das fih uns darbot, ift unbefchreiblic. 
Man denke fih die unendlihe See von Klippen durchbohrt, 
. blauend in weiter Ferne, aber fhäumend im Vordergrunde, in 
nächiter Berührung, fogar im ewigen Kampfe mit den Feljen- 
wänden der Teufeläbrüde, oder in ewiger Brandung an den Ur: 
veiten des Nägeli- Grates oder der fehauerlihen Grimfel: bie 
Schauer des öden Feljengebirg®, des vermitterten, vermählt oder 
im Streite mit dem Grauen der Meeresmwüfte. Lieblih, beinahe 
fanft lächelnd, erjcheint neben der Pointe du Raz das Kap Tä- 
naron, wohin doch die Griehen den Eingang in die Welt der 
Schatten verlegten. Mehrere hundert Fuß tief fällt diefe Bruft: 
wehr Europas in den Ozean. Gebaut it fie aus ungeheuren 
Telsblöden, die chaotiſch über einander liegen und einſtens, ehe 
die nagende Welle fie zerjplitterte, einen einzigen Etein aus: 
machten. Nunmehr heult und pfeift ver Wind durch die Gänge 
und Schluchten, die ſich zwischen ihnen gebildet haben. Schreck— 
licher aber find die Höhlen und unendlichen Grotten, welche bie 
Mellen durch Jahrtauſende am Fuße diefer Felfenmaflen tief ins 
Eingeweide der Erde gegraben haben. Wenn die Fluth mit atlan: 
tiiher Kraft heran braust und erft nur Schaum zu den gähnen- 
den Höhlenmäulern hinauffprigt, vann aber mit vollem Schwalle ‚ 


Wanderungen durch celtiſches Land. 469 


bineinjtrömt und die Luft herausprängt, ift es, als ob dieſe 
Höhlen die Heimat der atlantifhen Stürme wären; denn bald 
donnernd, bald braufend dringt die herausgepreßte Luft hervor, 
big fie nad und nad an dem immer enger werdenden Ausgange 
wie eine Schlange ziſcht und pfeift. Und wenn dann die Fluth 
fih wieder zurüd zieht und das Meer ſchon längit im tiefjten 
Bette liegt, fommt jener Schwall aus den Eingeweiden der Erde 
zurück und fällt als wilder Katarakt wie unterirdifhe Ströme in 
die Tiefe. Diefem Schaufpiele ſehen, vom kochenden Schaume 
umgeben, unzählige und riefige Klippen zu, die, wie Kleinere 
Burgen um die Landvefte, im meiten Halbfreis rings um das 
Kap du Raz gelagert find und von Welle und Wind, im Laufe 
der Jahrtaufende, nach und nad) in fonderbare Formen umgewandelt 
worden. Da liegt ein Löwe mit ausgeftredten Pranken, dort 
ein verjteinertes Schiff mit formlofen Maften und Segeln; gegen 
Norden dehnt fih im Sonnenuntergang, unheimlich lächelnd, 
die Bai der Verunglüdten, an welcher kein Schiffer ohne Stoß: 
gebet vorüber zieht. Nach der Ausfage der Ummohner liegen auf 
ihrem Grunde mehr Seeleute begraben, al3 rings auf den Küften 
im Sonnenliht athmen. Aber uns zu Füßen, ein erfchredendes 
Gemiſch von Felfen und Meerfhaum, liegt die Hölle, wohin 
die Celten mit größerer Wahrfcheinlichkeit, als die Griehen an 
das Kap Tänaron, den Eingang in die Unterwelt verlegten. Die 
Felſen bier find fo roth, als wären fie von ewigen Feuer ums 
züngelt, und der Schaum fprigt jo hoch in die Luft, als wäre er 
eitel Rau aus der Hölleneffe. 

Dor uns, im Schooße des Ozeans, umgeben von unzähligen 
Klippen und Niffen, die fich bis fieben Stunden weit ind Meer 
erſtrecken, meift eingehüllt in Nebel oder in die Schleier auf: 
fprigenden Meerſchaums, düfter, unheimlich, weltvergefien, liegt 
die Inſel Sein, welche einige Alte für die Ultima Thule, andere 
für die Todteninfel der Gelten hielten. Pomponius Mela, de 
situ orbis, fagt von ihr: die Inſel Sein liegt an der Küfte der 
Oſſismianer und ift durch das Orakel einer gallifchen Gottheit 


470 Wanderungen durch celtifches Land. 


merkwürdig. Die Priefterinnen dieſes Gottes bewahren eine 
ewige Keufchheit; fie find neun an der Zahl. Die Gallier nennen 
fie Cenas und glauben, daß fie, von einem beſondern Geifte be— 
jeelt, mittelft ihrer Sprüche auf dem Meere und in den Lüften 
Stürme erregen, fich in jeve Art Thier verwandeln, eingewur: 
zelte Krankheiten heilen und prophezeien können. 

Diefe Priefterinnen haben fi in der That eine Heimat ge 
wählt, welche die Schauer der Gläubigen nur erhöhen fonnte. 
Rings umber Dede des Meeres und toddrohende Klippen, Spring: 
fluthen, die manchmal über das ganze Eiland fegen, und Nebel, 
die e3 oft wochenlang mit undurchdringlichen Schleiern verhüllen. 
Auf dem Eiland felbit Fein Baum, kein Strauch, feine Blume. 
Ueber ihm, in ven Lüften, fein fingender und fein ftummer 
Vogel. Die häufigen Stürme, die Fröfte, die ewige Trauer der 
Natur tödten Alles, nur der Menſch gedeiht auf diefer Todteninfel. 

Den armen Fifchern und Lootſen, die fie heute bewohnen, 
den Arzt nicht fennen und meift achtzig Jahre alt werden, rühmt 
man die größten Tugenden nah: Einfachheit und Reinheit der 
Gitten, eine rührende Liebe für ihren fahlen Felfen und vor 
Allem Bereitwilligkeit, in aller Noth und Gefahr bülfreich beizu- 
ftehen, und da haben fie in der That viel zu thun, denn bie 
faum zwei Seemeilen breite Straße zwifchen der Inſel und dem 
Feltlande ift für den Seefahrer eine wahre Todespforte, einer 
der gefährlichſten Seewege der Welt. Herr Caftera erzählt in den 
„Annales maritimes“, daß die Einwohner der Inſel Sein vom 
Jahr 1763 bis zum Jahr 1807 von einem gewiſſen Untergang 
gerettet haben: ein Linienfhiff, eine Fregatte, zwei Korvetten, 
einen Schooner, drei Kauffahrer, deren einer fünfhundert Mann 
Soldaten an Bord hatte, fünf Bemannungen von Kriegd: oder 
Kauffabrteifchiffen und außerdem achthundert und neunzehn 
Menſchen, von denen dreihundert dem „Séduiſant“ angehörten, 
welches Schiff an dem Tevende, der ſchrecklichſten Klippe ver 
Umgegend, fcheiterte. Die Oeretteten vermehrten damals die 
Einwohnerzahl fo unverhältnigmäßig, daß fie nad) eilf Tagen, 


Wanderungen durch celtifches Land, 471 


da fie die Inſel des fortvauernden Sturms wegen nicht vers 
laſſen konnten, ſammt ihren Rettern in Gefahr waren, Hungers 
zu fterben. 

Sagen und Volkslieder behaupten, und die Geologie beftätigt 
ihre Behauptung, daß dieje Felfen, Klippen und Inſeln nur die 
Reſte eines Skeletts find, welches einftens grünes Land, mit 
blühenden Städten und Fleden, zufammengehalten. Am Fuße 
der heutigen Pointe du Raz lag die Stadt Is oder Ys oder au 
nach dem Anonymus von Ravenna „Keris”, die Reſidenz des 
großen armorifhen König Gradlon. Die Ditfee hat ihre ver: 
funfene Stadt Veneta, die Nordjee Stavoren, das Mittelmeer 
bat fein Rhoda, der atlantifhe Ozean hat jeine Inſel Atlantis 
und die Stadt Is. Diefe fcheint von allen verfunfenen Städten 
die am Wenigften fabelbafte; die Natur des Orts ſpricht dafür, 
daß e3 hier in der That feites Land gegeben, welches, vielleicht 
allmählig, vielleicht durch eine gewaltige Kataftrophe weggeriſſen 
worden, und außerdem fahen die Schiffer no vor kurzer Zeit, 
bei Elarer Welle, im Grunde de3 Meeres allerlei altes Gemäuer 
und bezeichnen noch heute gewifje Stellen in der Nähe des Ufers 
mit Namen, welche einft die Viertel und Gaflen der Stadt ger 
tragen haben follen. 

Den Untergang der Stadt fehreibt da3 Volk den Sünden 
der Prinzeflin Dahut, der Tochter des Königs Gradlon, zu. Im 
Uebermutbe einer wilden Nacht, erhigt von einem Gelage, ſchleicht 
fie ih, um ihrem Buhlen zu gefallen, an das Bett des Vaters 
und ftiehlt vem Schlafenvden den Schlüffel, den koftbaren Schlüffel, 
den er immer am Gürtel befeftigt trägt und feinem Menjchen 
anvertraut. Denn diefer koſtbare Schlüfjel öffnet das Schleufen: 
thor eine3 gewaltigen See3, der beftimmt ift, das Uebermaß der 
Fluth aufzunehmen und fie von der Stadt abzuhalten. Berauſcht 
von Wein und Liebe, öffnet fie mit ihrem Buhlen da3 ver: 
bängnißvolle Thor, und die Fluth bricht herein, und begräbt die 
Prinzeflin und die ganze Stadt. Nur der gerechte König Gradlon 
entgeht auf feinem treuen Rofje dem Verderben, und jo gelangt 


472 Wanderungen durd celtifches Land. 


er nah Quimper, das er zu feiner Hauptftadt macht, und das 
ihn, wie wir erwähnt haben, mit fammt feinem Roſſe auf die 
Kathedrale ftellt. 
Du Fägerdmann, du folft mir fagen, 
Sahft du wohl Gradlons wildes Roß, 
Sahft du's durch diefe Thäler jagen? 


„Nicht fah ich's kommen durch die Föhren, 
Doch durch die Nacht, tripp, trapp, tripp, trapp, 
Hab’ ich's wie Feuer braufen hören.” 


Abweihend vom Volksliede erzählt die Sage, dab König 
Gradlon e3 verfucht habe, feine fündige Tochter Dahut auf der 
Kroupe feines Pferde aus dem DVerderben zu retten; aber die 
Fluth ftürzte ihm nah und verfolgte ihn, bis eine furchtbare 
Stimme aus der Luft erſcholl, welde rief: „Stoße den böjen 
Geift von dir, den du mit dir führſt!“ Er ftürzte die Prinzeflin 
vom Pferde, die Fluth verſchlang fie und zog ſich mit ihr zurüd, 
während König Gradlon weiter floh. Sage und Lied vertan 
deln Dahut in eine Art Loreley oder Eirene, welche noch heute 
auf den Felfen über der verjunfenen Stadt Is erſcheint, ihr 
goldenes Haar kämmt und dabei traurige Lieder fingt. 


Du Fifcher, fahft du an den Fluthen 
Die Meermaid ftehen, die ihr Haar, 
Ihr goldenes, kämmt in Mittagsgluthen? 


„Ich jah fie wohl und mußte lauſchen 
Dem Lied der ſchönen weißen Maid; 
Es war fo trüb, wie Wellen raufchen.” 


Noch eine andere Sage nennt die unglüdlihe Prinzeſſin 
Ahes und erzählt von ihr, daß fie ihre Liebhaber in den Ab: 
grund bei dem Dorfe Huelgoat habe werfen laſſen. Das Ge 
winmer, dad man noch heute aus der Tiefe des Abgrundes hören 
fann, iſt das Gewimmer der Buhlen, die nicht zur Ruhe kom: 
men fönnen. 


Wanderungen dur celtifches Land. 473 


Der Untergang der Stadt Js, nad all dem Gejagten auch 
eine Art Sodom, wurde vom heil. Gmenole zu Anfang des fünften 
Jahrhunderts prophezeit, und auf diefe Prophezeiung deutet das 
Volkslied in feinem orafelhaften Anfange. 


„Haft du vernommen, wohl vernommen, 
Wie zu dem Könige von Is 

Der Mann ſprach, der von Gott gekommen? 
„Berbann’ die Liebe aus dem Herzen, 

Nicht gib dich Hin der tollen Luft, 

Denn nad der Freude fommen Schmerzen. 
„Vom Fiſch verzehrt, ihr Prafferzungen, 
Wird werden, wer den Fifch verzehrt, 

Und wer verfchlingt, der wird verfchlungen. 


„Wer Wein trinkt aus dem Gold, dem Haren, 
Wird Waffer trinken wie ein Fiſch, 
Und wer nicht weiß, der wird erfahren.” 


Aber nicht nur an verwunfchene Prinzeflinnen, fagenhafte 
Könige, verfunfene Städte wird man auf der Pointe du Raz er: 
innert; auch die neuere Gefchichte hat die Küften und das Meer 
mit manchem Creigniß belebt. In derjelben gefährlichen Straße, 
zwilchen der Inſel und dem Feftlande, durch die das Schiff ſelbſt 
bei ruhigem Wetter mit unendlicher Vorſicht gefteuert werden 
muß, fand der berühmte Kampf des Droit de l'homme gegen 
eine engliſche Uebermadt ftatt. Man kann fich für Menjchen: 
ſchlächterei fchmwerlih ein unheimlicheres Theater auswählen, 
Wenn ich nicht irre, war es auch in diefer Gegend, wo der Ven—⸗ 
geur feinen furchtbaren Kampf beitand. Bon Civilifation zeugen 
bloß die beiden Leuchtthürme, von denen der eine vor uns, an 
der Außeriten Spiße des Kaps, der andere auf der Inſel Sein 
fteht, die einander wohlwollend zuwinken und die Baflage und 
die Alippenhäupter beleuchten. Jever Leuchtturm, wie er ge 
wöhnlich auf irgend einem verlornen Boften in der Einfamleit 

. leuhtend, warnend, führend, zurechtweifend daſteht, hat mic 


474 Wanderungen durch celtifches Land. 


von jeher mit ehrfurchtsvoller Rührung erfüllt. Der Leuchtthurm 
ift einer der fehönften Gedanken der Menfchheit, jeder eine Säule, 
ein Denkmal der Menjchenliebe. Weld ein ungeheurer Weg vom 
Leuchtthurm zu den Holzſtößen, welche griechiſche Küſtenbewohner 
des ſchwarzen Meeres in Sturmesnächten entzünden, um den ge— 
ängſtigten Schiffer auf irre Bahnen, auf Sandbänke und Klippen 
zu locken. Dieſe beiden Feuer ſind die ſprechendſten Symbole 
von „Menſchenherzens Süd und Norden.“ 

Das Plateau der Pointe du Raz ſtimmt ſehr gut mit dem 
wilden Schauſpiele, das man von ſeiner Höhe, wie von einem 
Balkon überſchaut. Der Boden iſt nur von kümmerlichem Graſe 
bedeckt, das halbwilde, verkrüppelte Schafe abweiden. Auf einem 
Felſenblock lagert der Hirtenknabe; natürlich fehlt auch hier der 
Menhir nicht, und wie ein zauberhaftes Zeichen des Makrokosmus 
ſcheint in ſolcher Umgebung eine Art von Sonnenuhr, die 
in einen verwitterten Stein gegraben iſt. Die legten Sonnen— 
ftrahlen verwandelten diefe ganze, große Welt in eine gefpeniter: 
bafte. Die Inſel Sein mit ihren Klippen tauchte plöglich höher 
empor und jchien dem Feltlande näher zu rüden, bis fie eben in 
dem Momente, da fie fih ſcheinbar mit der Pointe du Raz ver: 
einigen wollte, mit Einem Mal von der Nacht verfchlungen wurde, 
Das Ziegen:Kap, ein mweißglänzender Felſen im Norden, fchritt 
wie ein Geift über die Wellen, die entjchlafen waren und im 
Zraum feufzten. Da kehrten wir der Pointe du Raz den Rüden, 
und es war ung, wie mir über die Heide nad Plogoff zurüd: 
eilten, al3 ob wir mit geängftigtem Herzen vor Geiftern flöhen. 

Bon Plogoff wanderten wir meiter nach dem nörblich ge 
legenen Dorfe Kleven. Unſere Abfiht war, dafelbft einen Kahn 
zu miethen und auf dem Golf nah Douarnenez zurüdzufehren. 
Aber vergebens war unfer ftundenlanges Harren und Suden; 
fämmtlihe Kähne des Fiſcherdorfes und fämmtliche Fifcher waren 
auf der Sardinenjaad. An eine direkte Wanderung nad) Douar: 
nenez war nicht zu denken, denn in diefem Lande gibt es weder 
Meg nod Steg, und man prophezeite und, daß wir mit den 


Wanderungen durch celtifhes Land. 475 


wenigen Meilen leicht einen oder zwei Tage verlieren fünnten 
und und den größten Entbehrungen und Mühſeligkeiten ausfegen 
würden. Wie wahr diefe Angaben, überzeugten wir uns, als 
wir uns endlich entihlofien, die Landzunge von Norden nad 
Süden zu durhfchneiden, um wieder nach Auderne und auf bie 
Zanpftraße zu gelangen. In der furdtbarften Sonnenhige, auf 
Feldwegen, die fich immer nad kurzer Strede im Geftein, auf 
Aedern, im Geftrüpp verloren, ſchlugen wir ung mühjelig durch 
das vermwilderte Land, Manchmal famen wir in Dörfer, deren 
weiblihe Einwohner vor ung flohen over und wie wunderbare 
Fabelthiere betrachteten. Von Männern war nichts zu fehen als 
Geijtlihe, die auf den Dorfplägen in Gruppen zufammenftanden, 
oder übers Land gingen. Es waren meift junge Sefuiten. „Sit 
fein La Chalotai3 da!“ pflegte bei foldhen Gelegenheiten mein 
Reifegefährte auszurufen, anfpielend auf ven Procureur-gen£ral 
des Barlament3 von Rennes, Caradeuf de La Chalotais, welcher 
im vorigen Jahrhundert, der Erfte in der Bretagne, die berühmte. 
Geſellſchaft angriff und ihre Verfaffung al3 mit der ftaatlichen Orb: 
nung unvereinbar denunzirte. Er mußte feinen Muth fo lange 
in der Bajtille büßen, bis die Jefuiten aus Frankreich vertrieben 
wurden. 

In all ven von den Sefuiten gehüteten Dörfern war e3 ung 
unmöglid, unfere erjchöpften Kräfte durch einen Biſſen Brod 
wieder herzuftellen; der Schmuß war gar zu groß. Wir mußten 
una mit dem Trunk Waller begnügen, den uns mitten in der 
Wildniß eine, an einfamer Kapelle murmelnde Quelle gaftlich 
anbot. Doch hatten wir diefen Labetrunf nicht umfonft; kaum 
war die hohle Hand gefült, als ein Mann im abgejchabten 
Priefterrod aus der reizenden Kapelle trat und und zu verjtehen 
gab, wie ed nur billig wäre, dem Heiligen der Kapelle ein Al- 
mofen zulommen zu laffen, da ihm die Quelle angehöre und ihr 
Waſſer manderlei Wunder bewirke. 

Nirgends fanden wir eine Seele, die franzöſiſch geſprochen 
oder verftanden hätte; und bei ſolchen Gelegenheiten pflegte 


476 Wanderungen durch celtijches Land. 


wieder mein Reifegefährte auszurufen: „Das Konzil von Rheims 
ſcheint hier noch nicht gewirkt zu haben.“ Er meinte jenes Konzil 
de3 Jahres 813, welches alle Diejenigen, die bei der bretonijchen 
Sprade verharrten, für barbariſch, undriftlih, zu allen öffent 
lihen Aemtern unfähig erllärte, Wie wunderbar, daß das unfehl- 
bare Konzil bei jo guten Chriften, wie die Bretonen, nah mehr 
als taufend Jahren noch nicht gewirkt hat; und noch wunder: 
barer, daß man heutzutage von der ©eiltlichkeit, die doch das 
Konzil rejpeftiren muß, behauptet, daß fie das bretonifche Volt 
in feiner treuen Anbänglichleit an die Mutterfprache beftärke, um 
e3 von dem Franzöfifhen getrennt und von den möglihen Ein: 
flüffen franzöſiſcher Bücher frei zu erhalten. Diefe Bemühungen 
werben dem Klerus fehr erleichtert; denn die Zahl derjenigen 
Bauern, die auch nur bretonifch leſen können, verhält ſich zu der 
Zahl ver leſenden Bauern im übrigen Frankreich, wie 1 zu 30, 
und Gott weiß, wie gering die Zahl der franzöfifchen Bauern ift, 
die ſich mit diefer Wifjenfchaft abgeben. Man berechne darnad) 
die Maffe von Bildung, die im bretoniſchen Volle ftedt. 

Matt und müde, wie nach einer Wüftenwanderung, famen 
wir in dem lieblihen Auderne an, wo wir glüdlicherweife einen 
Omnibus fanden, der uns rafch nad) Douarnenez bradte. Wir 
machten die Reife in Gefellfhaft hübfcher, franzöfisch ſprechender, 
eleganter Mädchen, die ung nach dem kurzen Aufenthalt auf der 
wilden Landzunge, nad dem Anblide fo vieler häßlicher Geltinnen, 
wie neue und wohlthuende Erjcheinungen anmutheten. E3 waren 
Töchter reicher Kaufleute, die in Douarnenez nicht felten find. 

Noch auf andere und unangenehme Weife mußten wir es 
bald fühlen, daß wir in der Hauptftadt des Sardinenhandels 
eingezogen. Douarnenez it wie ein Theil des Dante'ſchen Höllen: 
zirfel3, in welchem die Verdammten durch üble Gerüche gepeinigt 
werden. Die Gaſſen find wie gepflaftert mit todten Fiſchen, die 
in Fäulniß übergeben und Düfte verbreiten, die das fchredliche 
Gegentheil find von Rofendüften. Aus den Magazinen fommen 
mit ähnlichen Wohlgerühen gefhmwängerte Luftftrömungen, und 


Wanderungen durch celtifches Land. 477 


mit dieſen miſchen fi die Ausdünftungen der Deltonnen und 
Fäſſer, die überall bereit ftehen, die Ausbeute der ungefähr ſechs 
Mochen dauernden Filherei aufzunehmen. Die Menfchen, die 
an uns vorübergeben, find von der Atmofphäre, die fie umgibt, 
durchdrungen. An den Ufern ftehen große Schaluppen, die bis 
hoch über den Rand mit Eardinen angefüllt find. Man wirft 
die Ernte des Meeres, ald wäre e3 Getreide, mit großen Schau: 
feln in die Tonnen oder direkt aus dem Kahn, wie beim MWorfeln 
in große Scheunen, wo Hunderte von Männern und Weibern 
bejchäftigt find, fie in Tonnen zu ordnen und mit Del zu durch— 
tränten. 

‚Um ung ein wenig aus der verpejteten Atmofphäre zu retten, 
“ gingen wir des Abends längs ver Bai an dem ſchönen, etwas 
erhöhten Ufer hin, erfreut von dem lieblihen Anblid, welchen 
die Kleinen Dörfer im Norden und im Süden des Golfs, aus 
dunklen Büfchen glänzend, gewähren. Wir fuhren auch auf einem 
Heinen Kahn hinaus, um das herrliche Beden in jeiner ganzen 
Ausdehnung betrachten zu können. Da fieht fi denn Douarnenez 
mit dem benadybarten Ploare und feinem gothijchen Thurme 
ganz maleriſch an; aber etwas ernjt und drohend blidt aus weiter 
Ferne das enge Thor am Ziegenfap, das in den Ozean führt 
und an deſſen Schwelle mandherlei Klippen lauern. Bei Sonnen: 
untergang jahen wir uns plößlich von einer ungeheuren Flotte 
umgeben: von der Fluth und einem friſchen Weſtwinde getrieben, 
famen fchnell nad einander, einzeln in langen Neihen oder in 
dichten Gruppen mit geſchwellten Segeln, an fünf: bis ſechs— 
hundert große Schaluppen heran, alle, alle ohne Ausnahme 
mit einer Ausbeute, die fih hoc über die Fahrzeuge ohne 
Derded erhob. Sie jammelten ji ih dem fihern Hafen von 
Douarnenez, und jogleich ging es an ein Ausladen und Einpaden, 
auch nahmen die am Ufer mwartenden Weiber und Slinder an 
der Arbeit Theil, daß e3 in Douarnenez wie in einem Ameifen: 
haufen zu wimmeln begann. Go geht ed durch Wochen jeg- 
liben Tag. 


478 Wanderungen dur celtijches Land. 


Um ein Kap bogen wir in eine Heine Bucht des großen 
Meerbufens und landeten an der Inſel Triftan, die malerifch ala 
ein Kleiner Kegel ganz in der Nähe von Douarnenez liegt und 
auf ihrem etwas fteilen Gipfel eine Eleine Befeftigung mit zwölf 
Kanonen trägt. Auf einer Küftenftrede von zwanzig bis dreißig 
deutſchen Meilen hat Frankreich vielleicht eine größere Anzahl 
von Feſtungswerken, als England an feinen ſämmtlichen Küſten. 
Mo jetzt die Batterie angebracht ift, ftand einft eine Art von 
Schloß oder Heiner Fejtung, der Hauptzuflucdhtsort, die Wolf: 
böhle des fürchterlihen Ligueurs La Fontenelle, der ſich hier 
mehrmals mit Erfolg gegeh die Royaliften vertheidigte, obwohl 
man bei niedriger Ebbe von Douarnenez trodenen Fußes auf die 
Inſel Triftan gelangen fann. Hierher brachte er die geftohlenen 
Schätze und die entführten reichen Erbinnen. Mit Miderjtreben 
kehrten wir in die Gafjen von Douarnenez zurüd, und ic mußte 
unwillkürlich Vergleihungen anftellen und an die mir befannten 
Stäbthen und Fleden der Häringsfiſcher in Schottland denken, 
in denen, troß der ungeheuern Fifcherei, die da getrieben. wird, 
doch immer die möglichfte Reinlichkeit herrſcht. Leichten Herzens 
nahmen wir ſchon am nächften Morgen Abſchied von der Sar- 
dinenhauptjtadt, zu deren Annehmlichkeiten fich noch die ununter- 
brochene, ohrzerreißende Mufif der Holzihuhe gejellte, um uns 
in den Diftrift von Chateaulin und in eine andere Landzunge, 
in die von Crozon, zu verfenfen und wieder einmal frifche Luft 
zu athmen. 


V, 


Halbinfel Erogon, — Loch Ronan und feine Legende. — Die große und berühmte 

Düne ded Riz. — Abenteuer auf berfelben. — Die merfwürbigen Tamaristen, 

Inneres der Halbinfel Crozon. — Die berühmten Grotten von Morgatte, — 
Lanveau. — Der Golf von Breſt. — Rückkehr in bie civilifirte Welt. 


Auf einem Charbanc, wie fie dieß kunſtverſtändige Land 
bervorzubringen verfteht, fegten wir unfere Reife fort. Der Ber 
ſitzer dieſes Beförderungsmittel3 angehender Märtyrer fegte uns 
feinen zehnjährigen Sohn ala Kutſcher auf den Bod, um nicht 
jelbjt den Tag zu verlieren, den er den Sardinen zu widmen ges 
dachte. Unjeliger, nicht wußteft vu, daß du uns und deinen Er: 
zeugten aus Durft nad ſchnödem Golde einem beinahe unentrinn- 
baren Berberben, dem Zorne Poſeidons, preis gabeft! Oder 
baft du vielleicht deinem Sohne Hippolyt geflucht, und ver 
Geftadeerjhütterer hörte deinen Fluch? Diefes war ung zum 
Unheil. Zwar verſprachſt du ung, daß wir ungefährbet am Orte 
unferer Beſtimmung anlangen follten, aber dieß warb wahrlich 
nicht vollendet. Doch davon fpäter. 

Zur Zeit fuhren wir aufs Angenehmfte durch tiefe Hohlwege, 
die dicht befchattet waren, unter Fruchtbäumen bin, die ihre 
Zweige jo tief niederfenkten, daß wir faum durchzudringen ver: 
mochten. Als wir wieder au3 den grünen Lauben ans Tageslicht 
gelangten, befanden wir ung in einer blühenden Landſchaft und 
vor den legten Ausläufern der ſchwarzen Berge, die ſich hier 
beinahe bi3 and Meer heran drängen, und wieder nach ſehr kurzer 
Fahrt in dem Fleden Loch Ronan, der mit feinen alten ſchwarzen 
Häufern auf heiligem Boden fteht. Hier lag einft in verwachſener 


480 Wanderungen durch celtifches Land. 


Wildniß die Sievelei des heil. Ronan, eines der Apoftel und vor: 
züglichften Heiligen der Bretagne. Er war nicht in dem Thal ges 
boren, fondern kam, mie viele andere Heilige diefes Landes, aus 
dem ftammvermwandten Irland. Wie fein Landsmann, der heil. 
Kiwin, ahnte er das Chriftentbum und war er ein Chrift, noch 
ehe ein Apoftel den iriſchen Boden betreten. Doc begab er fich, 
um die Einzelheiten de3 neuen Glaubens fennen zu lernen, nach 
dem fchon theilmeije befehrten England, ließ fich dafelbit die gute 
Botſchaft mittheilen und begab fich hierauf in das armorijche 
Land, wo er predigte, Ungeheuer erlegte, Wunder that und als 
armer Gremit ein heiliges Leben führte. Der erfte Juni ift der 
Tag feines Feſtes, und da verfammeln ſich unzählige Leidende und 
Preithafte, um feine Grabjteine zu berühren und Heilung zu 
finden. 

Don Loch Ronan bogen wir wieder links ab von der Straße, 
um einen Ummeg um den Golf zu erfparen und über die be— 
rühmte große Düne, die man „la Lieue de Greve“ oder den 
Riz nennt, der Halbinfel Crozon entgegen zu fahren. Dieje 
Düne ijt ihrer Ausdehnung und ihrer Schönheit wegen im 
ganzen Lande. berühmt. Zur Zeit der Ebbe iſt fie, die fehr 
langſam und leife gegen das Meer abfällt, von außerordentlicher 
Breite, und man liebt e8 dann, von Süden nad Norden fahrend, 
über die fandige Fläche, die jo glatt ijt wie eine geftampfte 
Tenne, den Weg zu nehmen und fo den großen Bogen be3 
eigentlichen Ufers abzufchneiden. Eo zu thun, hatte auch der Be: 
figer unfere3 Wagens feinem Sohne geheißen, und diejer, folgfam 
dem väterlichen Gebot, fuhr nun hart an der Welle, nicht be 
denfend, daß unfer längerer Aufenthalt am Grabe des beil, 
Ronan uns um die zur Fahrt über die Düne günftige Zeit ge 
bradt hatte. 

Quftig fuhr er darauf log, immer etwas nach recht3 einbiegend, 
da die Fluth von lint3 langſam heranzukommen begann. Wir 
bemerkten die Gefahr nicht, da unfere Aufmerkfamleit auf die 
unzähligen Fifcherboote abgelenkt war, vie heute, da fich der Golf 


Wanderungen durch celtiſches Land, 481 


mit Sardinen gefüllt hatte, kaum einige hundert Schritte von 
ung mit dem Fange bejehäftigt waren. Da hören wir mit Einem 
Male ein eigenthümliches Plätjhern in unferer nächſten Nähe, 
wir bliden auf und fehen, wie unfer Bferd durch die ſchäumenden 
Fluthränder, die da und dort ſchon als einzelne Bäche vorwärts 
drangen, trabte. Umfonft peitihte der Junge das arme Thier; 
die Fluth kam immer fchneller heran, und da wir das Terrain 
rekognoszirten, erfannten wir mit Schreden, daß fie nur bis zu 
einer gemwifjen Heinen Entfernung langſam jteigen werde, daß ſie 
aber dann, wenn fie eine gewiſſe Höhe erreicht, auf der gegen 
das Land zu ganz ebenen Düne mit reißender Schnelligfeit vor: 
wärt3 dringen müſſe. An ein Umkehren war nicht zu denken; 
das tiefere Terrain lag hinter uns und war bereit3 vom Waſſer 
bededt, welches in einem großen Halbfreis längs des Ufers vor: 
wärts drang und uns ſchon mit einem ungeheuern Arm um: 
Hammerte. Die trodene Düne, die noch vor uns lag, fah aus 
wie eine Landzunge, die nur einen einzigen Ausweg bot, an ver 
Stelle, der wir zugefehrt waren. Wie jchnell die Fluth herbei 
eilte, zeigten ung die Fiſcherbarken, die ihr folgend, immer näher 
an uns heran ſchwammen. 

Unfer Heiner Automedon verlor den Kopf, fing zu meinen 
an und vergaß das Einzige, was ihm zu thun blieb, das Pferd 
anzutreiben. Ich feßte ihn in den Wagen und nahm feinen 
engen Pla ein, womit aber eine foftbare Zeit verloren ging. 
Denn num ftürmten bereit die großen Wellen heran. In jchred: 
licher Nähe erhoben ſich ihre weißen Häupter, höher al3 unfer 
Pferd; zerfloffen aber noch glüdlicherweife, als ob fie ung eine 
> Galgenfrift gewähren wollten, zwiſchen unjern Rädern zu uns 
ſchädlicher Flachheit. Wir hatten noch einen wenigſtens zwanzig 
Minuten langen Weg vor und. Wie fehr ih auch das Pferd 
antrieb, ich konnte nicht hoffen, vor Eintritt der vollen Fluth ang 
Ufer zu gelangen. Mein Reifegefährte tröftete fich ſchon damit, 
daß die Fifcherbonte in der Nähe waren und daß fie uns im 
ärgiten Falle vielleicht zu Hülfe fommen könnten. Daß fie unfere 

Morig Hartmann, Werke. 11. 31 


482 Wanderungen durd celtifches Land. 


Noth bemerkt hatten, zeigten fie, indem fie uns von ferne Zei— 
hen machten und durch Geberden und Rufe, die aber im Braufen 
der Wellen verhallten, zu jchnellerer Fahrt aufmunterten. Ich 
meinestheil3 hoffte wenig von der Hülfe der Sarbinenfifher, da 
mir ihre Schaluppen nicht flach genug fchienen, um biß zu ung 
vordringen zu können, und fie feine Kleinen Kähne zum Auss 
ſchicken bei ficy hatten.» Ich wandte meine Augen einem Manne 
zu, der am nördlichen Ufer des Golfs im Kleinen Nahen hinfuhr 
und den unfere Stimme im gefährlihen Augenblid erreihen 
konnte, | 

Indeſſen war es jegt nody meine Aufgabe, den beiten Weg 
zu ſuchen und, wenn aud manchmal durd einzelne Bäche, von 
einer trodenen Stelle zur andern zu fahren und dann, wo die 
Waſſermaſſe ſchon in großer Ausdehnung vereinigt war, mid an 
die feichteren Stellen zu halten. Trog all diefer Bemühungen 
meinerfeit3 und der gewifjenhafteiten Anjtrengungen unjeres 
Pferdes, das offenbar die Gefahr witterte, fuhren wir doch 
ſchon bis beinahe an die Achje durchs Waſſer und mußten jeden 
Augenblid erwarten, daß eine Woge unfer Vehikel überſchwemme 
oder gar umftürze. Es war der kritiſchſte Augenblid. Die ganze 
Düne war bereit3 von Waffer bevedt, nur ein ſchmaler erhöhter 
Streifen lief weiß wie eine Stange, die man dem Ertrinfenden 
veiht, vom Lande her ung entgegen. Diefer Streifen wurde 
glüdlicherweije erreicht und auf ihm wie auf einem Damme in 
gerader Linie die Fahrt fortgefegt. Zwar war auch hier noch 
nicht die Hälfte des übrigen Wegs zurüdgelegt, als ſchon alles 
Trodene vor uns verfehwunden war; aber die Fluth ftieg auf 
diefem Damme doch nicht fo hoch, um uns an der glüdlichen 
Landung zu hindern. Mit einem freudigen Blid und beinahe 
mit feiner legten Kraft zog uns das Pferd and Nettungsufer, 
und wie athmeten wir auf, als wir, Taum wenige Minuten in 
Sicherheit, die großen Wogen ſahen, die ſich über den Weg hin— 
ſtürzten, den wir ſo eben verlaſſen hatten. 

In Reiſebüchern leſen wir, daß dieſe Düne wegen der herr— 


Wanderungen durch celtifches Land. 483 


lihen Mufcheln und der interefjanten Mollusken, die das Meer hier 
auswirft, merkwürdig ift. Der Lejer wird ung verzeihen, daß 
wir ung in der Lage, in der wir uns befanden, mit dieſer Merk: 
würdigkeit nicht gründlich bejchäftigt haben. Im Mauthhaufe 
am Ufer, wo wir ung erholten, erzählten uns die Zöllner, daß 
dergleichen Abenteuer auf diefer Düne keine Seltenheit feien, daß 
man mandmal bei aller Vorſicht von der Fluth, die hier nir- 
gends einen Wideritand finde, überrafcht werden könne. Am 
Mauthhaufe ſelbſt findet fich eine der größten Merkwürdigkeiten 
der Bretagne, mehrere Tamarisfen, welche die Höhe, Dide und 
Beltigfeit ftarfer Bäume erlangt haben und für den jüblichen 
Charakter des Klimas diefer Gegend fprechende Zeugen find. Nicht 
in Languedoc, nit in Stalien habe ich diefen Baum zu folcher 
Stärfe gedeihen jehen. 

Bald änderte fih die Scene. Schon nad kurzer Fahrt war 
die reiche Vegetation der Küfte verſchwunden und wieder nichts 
als Heide, Heide, Heide, Das Land ijt das häßlichſte Bild im 
Ihönften Rahmen, denn die Ufer rings umher, die an der Bai 
von Breit, die am Golf von Douarnenez, jo wie die dem Ozean 
zugefehrten, jind nicht3 al3 eine ununterbrochene Reihe der herr: 
lichften Landſchaftsbilder, in denen fih Meer, Felſen, Buchten 
und üppigite Vegetation in jchönfter Harmonie vereinigen; aber 
im Innern nichts als Heidefraut und hie und da, als traurige 
Staffage, ein armer ausgehungerter Bauer, der die Heide als 
Brennmaterial für den Winter einfammelt. Ich dachte an 
Heinrich IV., ver bei feiner Reife durch die Bretagne erſchrocken 
und gerührt ausrief: „Ach, wie jollen mir die armen Bretonen 
Steuern bezahlen?” und an Sully, ver beim Anblid des Landes 
die vierzigtaufend Thaler zurüd mies, die ihm die Stände als 
Ehrengeſchenk zugedacht hatten. 

Bei Crozon, von welchem Flecken die Halbinſel ihren Namen 
hat, wird das Land mit einem Mal ſchöner. Der Flecken liegt 
auf einer angenehmen Höhe und genießt der herrlichſten Ausſicht 
auf ein Thal ihm zu Füßen und auf das Meer mit ſeinen vielen 


484 Wanderungen dur celtiſches Land. 


Buchten und Golfen. Der ganze Fleden athmet hohe Alterthüm- 
lichkeit. Vor Jahrhunderten gehörte er einer der älteften Familien 
der Bretagne, den Rohans, deren Ablömmlinge, durch fonderbare 
Schidjale, aus diefem weftlihen Winkel Europas nah Böhmen 
verſchlagen wurden. 

Die größte Merkwürdigkeit Crojons find die berühmten 
Grotten von Morgatte, deren kleinſte vierzig Barifer Fuß bod, 
achtzig Fuß breit und unendlic tief iſt. Es ift das Meer, melches 
fie in die quarzigen Ufer der Bucht gegraben hat und mabr: 
Scheinlih noch heute in feiner Arbeit fortfährt. In zwei der: 
jelben fann man bei tiefer Ebbe trodenen Fußes eindringen, 
aber die ſchönſte und großartigjte, die ausfieht wie ein unter: 
irdifher Dom, kann man nur in einem Kahne befahren. Ihre 
Dede, kryftallifirt und orydirt, glänzt in hundert Farben und ift 
außerdem mit den ſchönſten Guirlanden und Sträußen, Die aus 
den Ritzen hervorwachſen, geziert. 

Bon Crozon quer durchs Land nad Lanveau, das ein höchſt 
langmweiliger Fleden wäre, wenn man bafelbjt nicht zum erjten 
Mal die herrlihe, die unvergleichliche Rhede von Breft zu fehen 
befäme. Am Fuße eines der vielen Kajtelle, vie fie befchügen, 
fhifften wir ung ein, und von einem fonträren Wind gehindert, 
oder vielmehr begünftigt, waren wir gezwungen, auf diefem berr: 
lihiten Golfe viele Stunden lang bin und her, zu laviren und 
alle feine Ufer und feine unzähligen Buchten mit den Befeftigungen 
über venjelben in ganz nahen Augenſchein zu nehmen. 

Nah vierjtündiger Fahrt legte unfer Kahn envlich zwiſchen 
unzähligen Leviathans an; wir ſprangen ans Land und freuten 
und, nad wocenlanger Wanderung wieder in der zivilifirten 
Melt zu fein. Zivilifirt, bejonders nad wochenlangem Umgang 
mit bretonifhen Bauern, waren die Gefichter der vielen Marine 
offiziere, die uns begegneten; zivilifirt war die Dame, die in 
einem der erſten Häufer am Hafen, am Flügel figend, in biejer 
fernen Stadt eine Sonate von Mendelsſohn jpielte: — Heil dir, 
mein Vaterland! 


Hilder aus Dänemark. 


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(1859.) 
I. 


Es gibt unfhuldig ausfehende, höchſt geachtete Bücher, die 
gefährlicher find, als die verjchrieenften. Lord Bacon's Eſſays 
find ein Buch voll Weisheit, aber e3 kann Schlimmes wirken, 
e3 Kann verführen, wie Aretin’3 Buch mit den Slluftrationen 
von Giulio Romano, wenn auch auf anderem, idealerem Ge: 
biete. Sein faum zwei Seiten langer Eſſay über die Freuden 
der Lekture, nebenbei gejagt eines der größten ftyliftifchen Mei: 
jterftüde, kann Bücherwürmer fabriziren, die alle Pflichten des 
Kindes, Gatten, Vaters, Bürger und Menfhen vernadläfli- 
gen; fein Eſſay über dag Reifen kann aus den Menjchen Stördhe 
machen, und zwar überzeugte Stördhe, Störche von Gefinnung, 
die im Stande find, auf ihr VBagabundenthum ftolz zu fein und 
auf alle gefitteten Hausthiere mitleivig herabzufehen. Bacon 
macht aus dem Reifen eine erhabene Kunft, eine Art Alchymie, 
die aus Unbedeutendem Gold ſchafft, aus der bloßen Bewegung 
eine Form und Manifejtation der dee, aus dem Ausflug einen 
alerandrifchen Eroberungszug. Warum nicht reifen, wenn man 
mit einigen Thalern in der Taſche ein Goldmacher, Künftler und 
Eroberer werden fann? Auf, nah Balencia! ruft der Eine: 
„En route pour la France!“, der Andere, „Stalien! Weib 
pad ein!” der Dritte — und der Vierte, wenn er fich zufällig 
in Hamburg aufhält: Auf, nad Altona, nad Kiel, nad Kopen: 
bagen zu Thorwaldſen, nad Heljingör zu Hamlet! 

Man hat den Eſſay von Bacon gelefen, man fühlt fi von 
der heiligen Pflicht durchbrungen, wieder einmal einen Winkel 
der Welt zu beſchauen; ſchon hat man einen Handfad gepadt, 


488 Pilder au3 Dänemark. 


ihon einen gefälligen Freund beredet, einige Stationen weit mit: 
zureifen, jchon find wir im Bahnhof von Altona. Wir braufen 
durch den jhönen Wald non Pinneberg, dann weiter durch das 
ftammverwandte, bier etwas monotone Land von Holjtein und 
find nad drei Stunden in Kiel, um uns fofort zu überzeugen, 
daß wir an der Gränze Deutichlands, dem MWefen nach im äch— 
teften Deutichland find. Denn 

a) ijt die berrlihe Bucht, die fich gleich bei Ankunft vor 
uns aufthut, in Deutichland jelbit jo unbefannt, wie fie es als 
eine deutiche Schönheit jein muß, 

b) liegt in ihr, dem herrlichjten Kriegshafen ver Welt, in 
dem eine deutiche Flotte wie in Abrahams Schooß ruhen fönnte, 
nicht ein einziges deutjches Kriegsſchiff, 

e) iſt diefer herrlichſte deutſche Hafen halbdäniſch, 
d) hat er ſchon Franzoſen und Engländern die erſprießlichſten 
Dienite geleiftet, 

e) hätte ihn Rußland gar zu gern. 

Uebrigens ijt Kiel nicht peu connu en histoire, und wir 
wollen uns bei Bejchreibung feiner Giebelhäufer und ftillen 
Gallen um jo weniger aufhalten, als dieſe noch ftiller waren als 
gewöhnlich; denn die hundert fünfundzwanzig Studenten und 
zweiundvierzig Lehrer, deren fich die berühmte Univerjität er: 
freut, waren meijt auf Pfingjtreifen. Auch wanderten wir fo: 
fort durch die prächtige Allee, an wohnlichſten Landhäuſern vor: 
bei nad) dem idylliſchen Seebade Düjternbroof, das viel zu 
wenig befannt ift, einer Anhöhe entgegen, um eine Weberjicht 
des Golfes zu gewinnen. Da famen wir an einer großen Merk: 
würbigfeit vorbei, an einem Erzeugniß deutſchen Fleißes, deut: 
cher Gelehrjamfeit und deutſcher Affimilirungsfraft: ich meine 
die Cyklopen-Mauer, die nicht von Cyklopen, fondern im Gegen: 

theil von dem gelehrten Archäologen Forhhammer aufgeführt 
worden und welche die Beitimmung hat, die Chaufjee gegen das 
Gerölle einer Anhöhe zu jehügen. Sie fam mir vor, wie ein 
Cyklop in Frad und weißer Kravatte. Ihren mit Kunft wild— 


Bilder au Dänemark. 489 


gemachten Steinen jieht man den gelehrteiten Willen an, ſich 
wild pelasgiſch an einander zu reihen und fo zu thun, als jtän: 
den jie in Mykene und nicht in Düjternbroof -- eine Abjicht, 
die offenbar fo gut gemeint ift, daß fie nicht im Geringiten ver: 
jftimmt. Ich bevauere nur die Archäologen der Zukunft, die, 
eine Collopen: Mauer in der Nähe von Hünengräbern findend, 
erjt recht nicht willen werden, was aus den Peladgern zu ma: 
hen; waren fie Urgriechen, waren fie IleAuoyoı, oder waren 
fie jogar Germanen? Bei diefer Gelegenheit erlaube ich mir 
ebenfall3 eine Frage. Warum hat man noch nicht folgende Hy: 
potheje aufgeftellt? Pelasger und Hellenen bildeten urſprünglich 
einen Staat, aber eine Art Feudalſtaat. Die Pelasger waren 
die herrjhenden Könige und Barone, die in den cyklopiſchen 
Bauten hausten; die Hellenen waren die unterbrüdte und be: 
berrichte Menge. Die Hellenen, die wir bereit3 aus Mythe und 
Geſchichte kennen, find die durch Nevolutionen bereit3 befreite 
Menge, welche, halb republifanifh, halb monarchiſch, in neuen 
Ideen und alten Traditionen lebend, die neue Kulturperiode be: 
ginnen. Das gehört freilich nicht hieher, aber ſolche Fragen er: 
füllen die Quft einer Univerfitätsftadt und drängen fi beim 
Anblid einer funfelnagelneuen Cyklopen: Mauer mit Gewalt 
beran. Doch konnten fie uns nicht die Ruhe rauben, die man 
mit der Luft vom Düfternbroof einathmet. Das Wehen und 
Liſpeln in den üppig belaubten Bäumen, die ftillen Landhäufer, 
die mäßigen Hügel, die den Golf befränzen, das janft dahin: 
jtreihende Segel, der milde Wellenſchlag, die Fiicherbörfer am 
anderen Ufer — Alles flößt den Glauben und das Gefühl ein, 
daß bier aufgeregte und franfe Lebensgeiſter und Nerven auch 
ohne Seebad zu Gejundheit und Ruhe gelangen. Hier badet 
vor Allem die Seele in fanftem und erfriihendem Wellenfchlag. 
Hier findet der ruhelofe Wanderer wieder einen jener unzähligen 
Punkte, wo er die erfehnte Hütte oder das beſcheidene Landhaus 
mit zehntaufend Bänden ausgewählter Bücher, mit Statuen im 
Garten, mit italienischen Bildern in den Stuben, mit Rheinwein 


490 Bilder aus Dänemark, 


im Keller zu befigen wünſcht. Man fieht, ich jchildere vie 
Schönheit ver Natur nicht in ihren Einzelheiten, jezirend, ana= 
tomilirend, tödtend, fondern wie ein Meilter in ihren Wirkun— 
gen auf dad Gemüth. 

Gegen Abend machten wir einen Spaziergang um das 
Außerfte Ende des Golfes, und auf diefem Wege hatten wir einen 
Cicerone, wie man fih ihn unmöglich beffer wünſchen kann, 
denn diefer Gicerone verjteht e3 nicht nur, mit Bauern und Fi: 
ſchern Plattveutih und die Sprade ihres Herzens zu fpreden, 
er veriteht und deutet auch die Sprache des Straudes am Wege, 
der Welle am Strande, des Vogel3 und der Abendwolke. Der 
Lefer wird mir Das glauben, wenn ich ihm fage, daß diefer Ci: 
cerone Klaus Groth Duidborn beißt. Es kennt ihn hier jedes 
Kind — mas kein Wunder wäre, da er den Kindern das jchöne 
Buch Bor de Goeren gefchrieben, wenn die Kinder nicht die 
größten Egoiften und undankbarſten Geſchöpfe der Welt wären, 
die fih wenig um die Urheber der Gedichte kümmern, die fie 
auswendig lernen — und es kennt ihn jeder Erwachſene. Ein 
Mann, der uns feine Wohnung nicht zu zeigen wußte, ſchämte 
jich diefer Unmiffenheit und verficherte, daß er den Poeten ganz 
wohl fenne. Mir entriffen ihn feiner gemüthlihen Dichter: 
wohnung, und er führte uns durch einen langen, von Heden 
eingefaßten Hohlweg der Art, wie fie für Holitein im Ganzen 
harakteriftifh fein fol. Diefe Heden haben den holfteinijchen 
Jägern den Krieg fehr erleichtert, und diefer Umftand ſowohl, 
als diefe Heden erinnerten mid an das Boccage, das, ebenfalls 
von ſolchen Hohlwegen und Heden durchſchnitten, den „großen 
Krieg“, den Krieg der Chouans gefehen und, duch feine Be: 
Ihaffenheit begünftigt, ihn fo verlängern und wirkſam maden 
fonnte. Beide Länder haben überhaupt in Natur und Geſchichte 
viel Aehnlichkeit. Beide find zum Theil angeſchwemmter Grund, 
und die Bewohner beider mußten fi gewöhnen, auf dem ſchwan—⸗ 
fen Boden mit ftrammen Beinen zu ftehen, und in ſich viel Rube 
und Widerſtandskraft ausbilden; beide führten Kriege für 


Bilder aus Dänemarf. 491 


ihre Unabhängigkeit; die Bewohner Holfteins möchten fich ihrer 
Regierung mit derfelben Loyalität entäußern, mit der die Söhne 
de3 Boccage an der alten hingen; das Boccage hatte in feinem 
Bejtreben ebenfo die Majorität der Nation gegen fih, wie Hol: 
jtein die Majorität der vaterländifhen Negierungen. Db die 
von Boccage eben fo ebrenfefte und redliche Leute find, mie die 
Holiten, weiß ich freilich nicht, da ich, in jenen Gegenden wan- 
dernd, feinen folhen Apologeten feiner Heimat an der Seite 
hatte, wie bier. Klaus Groth erzählte mir won der Tüchtig: 
keit und Ehrlichkeit feiner Landsleute mande ſchöne Geſchichte. 
Eine ziemlich hochgeftellte Gerichtsperfon beklagte fi beinahe 
über ihre Ueberflüfligkeit, da in ihren Gerichtsbezirken fo viel 
wie Nichts zu thun fei. Kein Verbrechen, fein Vergehen! Cin 
Königreich, ein Dänemark für ein Verbrechen! 

In einem gewiſſen Gehölze dieſes Bezirkes, an einer Quelle, 
an der ein Weg vorbeiführt, fteht feit zehn, ſage feit zehn Jah— 
ren dafjelbe Trinkglas. Es ift nicht angefettet, wie dergleichen 
öffentliche Trinkgefäße zu fein pflegen, es fteht frei da, feit zehn 
Jahren, am Wege, an ver freien Quelle. Ich finde diefes Glas 
jehr rührend, eben fo mwie ich immer gefunden habe, daß jene 
Ketten an den unheimlichen, meiſt eifernen Bechern eine Anklage 
gegen das Menſchengeſchlecht raſſelten und zu bemeijen fchienen, 
daß es felbit Ketten verdiene. DBejagtes Glas follte, wenn es 
einmal fein irvifches Dafein bejchließt, in jeinen Scherben im 
Germaniſchen Mufeum aufbewahrt werben. 

Noh Manches fanden wir, was in ein Germanifches Mus 
ſeum paßte, 3. B. in dem Dorfe, dem wir und um den Golf 
biegend näherten, auf vielen Giebelfpigen der Bauernhäufer und 
Scheunen jene geheimnißvollen Pferveköpfe, welche wahrſchein— 
lih aus uralter fächfifcher Zeit ftammen und die Mande al3 
Veberrefte des Wodansdienſtes betrachten, oder im Sandfruge, 
einer gemüthlichen Kneipe, die fich jett geſchmacklos und platt 
Milhelminen : Höhe nennt, die berühmte Rothe Grüße, die e3 
verdiente, ihre Herrfchaft über weitere Länvderftreden auszudehnen. 


492 Pilder aus Dänemark. 


Aber ſo ſind die Deutſchen; ſie wiſſen ihre ſchönſten Eigenthüm— 
lichkeiten nicht geltend zu machen. 

Dann kamen wir in ein anderes Dorf, Ellenbeck, ein lieb— 
liches Neſt, wie gemacht, um eine Idylle dahin zu verlegen; ein 
ins Nordiſche und Gemüthliche aus dem Südlichen und Antiken 
überſetztes Bild Leopold Robert's. Klaus Groth mußte ſich da 
ſehr heimiſch fühlen, und darum mußten wir ihm trotz Sturm 
und Regen dahin folgen. Es liegt unmittelbar am Golf, an 
einem kleinen Abhange, von dem herab ſich zwiſchen den Hütten 
breite, mehr als jene archäologiſche Mauer pelasgiſch ausſehende 
Treppen herabziehen. Auf den Stufen zerſtreut ſitzen Weiber 
und Mädchen am Waſſer, treiben ſich unzählige blondköpfige 
Kinder herum, die ſich neugierig um die Fremden drängen, an 
den Bäumen hängen Fiſchernetze, welche die Eigenthümer mit 
langen Nadeln ausbeſſern. Man lädt uns ein, in die Hütten 
zu treten, die reinlich und wohnlich ſind, jedoch wie Schiffskajü— 
ten anmuthen. Es iſt, als hätten ſie hier ihre Schiffe ans Land 
gezogen, um von einem langen Wanderleben in gaſtlicher Bucht 
auszuruhen. Aber die Knaben ſptechen von neuen Reifen, und 
Einer will Admiral werden. Vielleiht haben wir mit einem 
fünftigen Suffren, Jean Bart oder Tromp geſprochen. 

Abends fuhren wir unter einem Negenbogen über den Golf 
zurüd dem Dampfihiffe zu, und ich verlafje Freund und Gaſt— 
freund. 

Wann treffen wir uns, Brüder, 
Auf einem Schifflein wieder? 

Mid Einjamen trägt die Prince fort, und zwar dem 
Sturme entgegen, fo bald wir die friedliche Bucht von Kiel hinter 
und haben. Der Mond, die Sterne, der ganze Himmel mar 
ſeekrank. Und Gräßliches begann, foldhes, das man am Beften 
nicht bejchreibt. Als ich des Morgens, bei heiterem Sonnen: 
lihte, aus den Tiefen auf das Verded tauchte, fchlichen geftern 
noch blühende Gefihter umher wie Schatten, die den Obolus 
vergejjen und um den Cingang der Unterwelt ſchweben. Aber 


Bilder aus Dänemarf. 493 


bier loden ſchon die grünen Ufer Amager's, dort grüßt Schweden, 
mit jenem Malmö, das uns fo viel Verbruß und Kopfbrechen 
verurfachte in Zeiten, die entſchwunden find. 

Kopenhagen präfentirt fih fo ſchön, al3 man ed nad den 
rühmendſten Beichreibungen erwartet. Läge es nicht fo flach, 
erhöben ſich feine binterften Häuferreihen nur etwas über die 
vorderen, hätte e3 einige begränzende Höhen im Hintergrunde, 
e3 könnte fich mit den fchönft gelegenen Seeſtädten meflen. Die 
beiden Fort3, die fih am Cingange in den Hafen unmittelbar 
aus dem Waſſer erheben, tragen, wenn aud nicht durd ihre 
Bauart, doch dur ihre Lage das Ihrige zur malerifchen Schön: 
heit Kopenhagens bei und tröften wohl ſchon dadurch die patrio⸗ 
tiſchen Dänen, die alles Däniſche gern gelobt fehen, darüber, 
vaß fie ein englifhes Bombardement eben fo wenig verhüten 
fönnten, als e3 ehemals die alten Befeftigungen vermodhten. 
Der Hafen dehnt fih groß und herrlih aus. Er ift in zmei 
Theile gefhieden; in dem einen drängen fich voll Leben und Be: 
wegung die Handelsſchiffe aller Nationen, in dem anderen ſchla— 
fen die Kriegsſchiffe einen traumlofen Schlaf. Dieſe Orlogs— 
fchiffe find gewaltige Gebäude, aber wie der Name ung veraltet 
fcheint, fo ſcheinen fie jelbjt veraltet und obfolet. Wie fie abge: 
tafelt und unter Dächern da liegen, machen fie den Eindruck, 
als hätten fie ſchlafend die Dede über ven Kopf gezogen und als 
murmelten fie: wir wollen ſchlafen, die Gefhichte, die da draußen 
vorgeht, gebt und nicht® an. Gott und die Dänen mögen 
e3 mir verzeihen: diefe alten Kriegsſchiffe erinnerten mich an die 
osmaniſche Flotte, die eben jo, nur etwas mehr vernachläſſigt, 
im goldenen Horn ſchnarcht. Was den Türken Navarin, war 
den Dänen wohl das englifhe Bombardement, wenn man über: 
haupt einem einzelnen Ereignifle den Tod einer Flotte zujchreiben 
fann. Einzelne Greignifle in der Gejhichte find meiſt nur 
der Schlußpunft einer Periode, und es liegt im Grunde wenig 
daran, ob diefes Ereigniß einige Jahre früher oder jpäter ein- 
tritt. In Beziehung auf Flotten if das noch mehr ver Fall, 


494 Bilder aus Dänemarf. 


als in Beziehung auf jedes andere Organ einer Nation. In 
feinem herrlichen Kriegsheer, in feiner gefeggebenden Berfamm: 
lung, in feiner Bank oder Akademie fonzentrirt ih daS Leben 
eines Volkes jo intenfio und jo ausgeiproden, wie auf ver 
Flotte einer jeefahrenden Nation. Iſt die Zeit diefer Nation 
vorüber, dann ijt es gleichgültig, ob fie in Grund gebohrt, ob 
fie entführt wird, oder ob fie unthätig im Hafen verfault. 

Daß die im Kriegshafen ſchlummernde Flotte dereinſt Däne— 
mark einen refpeftablen Theil der Weltherrichaft gegeben , daß 
die daneben noch ein: und auslaufenden Handelsſchiffe bis auf 
den heutigen Tag ihre Pflicht thun, erfennt man bei den erjten 
Wanderungen duch die Stadt. In vielen Theilen Stille und 
Dede, wie in einer penjionirten Großjtadt, in vielen anderen 
Leben und Bewegung eines vergnügten und wohlhabenden Völk 
leins, das nicht verlernt hat, feine Kräfte zu brauchen, fich zu 
regen und im Gefühle feiner Kräfte und in der Sicherheit, die 
Fleiß und Muth gewähren, ſich der Freude hinzugeben. Aber 
die Stadttheile, die aus alter Zeit jtammen, zeugen von einer 
Größe, einem Bemwußtfein, einem ausgeſprochenen Charalter, 
weldhen die modernen Straßen nicht aufzuweijen haben. Es ijt 
der Anfang des 17. Jahrhunderts, der Kopenhagen den Stempel 
aufgevrüdt hat, welchem es jeine biftoriihe Phyfiognomie 
verdankt, und in der That iſt das die bewegtejte, am Weiteften 
ausgreifende, jo zu jagen, fosmopolitifchite Zeit Dänemarks. 
Die Gebäude, die aus diefer Zeit jtammen, wie 3.2. die Börſe, 
haben einen größeren und edleren Charakter, als ihre Zeitge: 
nofjen aus anderen Ländern, in denen in biefer Epoche fchon 
Kraft und Gefchmad des ſechzehnten Jahrhunderts erſtorben 
waren. Dänemark aber befand ſich damals in voller Thätigkeit 
und war dazu in ſeinem Norden außerhalb des Verfalls, der 
ſich des ganzen Südens bemächtigte. Dieſer Umſtand iſt für die 
bedeutenden Bauten Dänemarks überhaupt bezeichnend. An 
Schlöſſern und Paläſten, die erſt unter Chriſtian IV. aufgeführt 
ſind, entdeckt man mit Staunen eine Einfachheit, eine Kraft, 


Bilder au Dänemark. 495 


einen Gejhmad, wie fie weiter füblih nur zu Anfang der Re 
naijjance, ungefähr hundert Jahre früher, vorfommen. In der 
Friſche des Nordens hat fich die ſchöne Südfrucht länger konſer— 
virt, al in ihrer Heimat, und unter Chriftian IV. fühlte fi 
Dänemark, caeteris imparibus, wie ſich Frankreich unter 
Franz I. gefühlt hatte. Aber im Verlaufe des fiebenzehnten 
Jahrhunderts kam es mit dem übrigen Europa fchon zu fehr in 
Berührung; die Gejchmadlofigfeit des großen Jahrhunderts 
Ludwigs XIV. machte fi) auch hier geltend, und Perüde, Zopf 
und Puder charalterifiren bier wie in anderen Städten, was 
Könige, Adel und Zünfte gefchaffen. Doch auch diefe Schöpfun: 
gen zeugen noch vom jpeziellen Reichthume Dänemarks und von 
ver Verſchwendung des Adels und der Könige, bie immer an 
Verſailles dachten, bier wie in anderen Ländern. Die Kapitel: 
Ueberſchriften der Gejchichte, die man aus dem fteinernen Buche 
Kopenhagen herausleſen kann, laſſen fih alfo ungefähr wie 
folgt bezeichnen: Nachträglices 16. Jahrhundert (fiehe Börfe, 
Arjenal und einige Kirchen); überwundenes Hof-Lafaienthum 
(ſiehe die verödeten, geradlinigen Straßen mit Wappen und 
Gijengittern und die grasbewachſenen Plätze vor den Schlöffern); 
fortlebendes Bürgerthbum am Hafen und in der modernen Stadt, 
und endlich neuejter Anbau des fonftitutionellen Staatsbürgers 
und die Landhäufer, in denen Börſen-Spekulanten, wie überall, 
von ihren Spekulationen nicht ausruhen. 

In diejer legteren Beziehung, was die neuen Bauten und 
ihre Bewohner betrifft, hat Kopenhagen Aehnlichkeit mit allen 
großen Städten des Kontinents; was e3 aber auszeichnet, ift 
jeine berrlihe Natur, die eigentlih feine Architektur, feinen 
Neihthum und feine Armuth gleihgültig macht. In welchem 
Buftande immer, Kopenhagen in feiner Lage wäre ftet3 eine rei: 
zende Stadt — und wäre es gebaut wie Mannheim. Sie liegt 
in einem Strauße, den Amphitrite lächelnd in Händen bält und 
den Göttern des Olymps zeigt. Es gibt wohl fein Meer, das 
zugleih mit einer folhen Stadt eine folhe Fülle der Vegetation 


496 Bilder aus Dänemarf, 


mwieberfpiegelt, und wohl fein Seeufer, das fich bis zum äußer- 
ften Rande mit ſolchem Kranze ſchmückt. Die Zweige der Linde 
und der Eiche, die Blüthen des Apfelbaumes und des lieder: 
ftrauches niden ihre Grüße den geheimnißvollen Meerpflanzen 
zu, die ihnen aus kryſtallener Welt entgegenbliden. Die joge: 
nannte „Lange Linie”, die aus dem Treiben des Hafens, an 
der Gitadelle vorbei, hart am Meere durch dichten Laubſchatten 
dem Norden entgegenführt, während neben dem Spaziergänger 
der Fiſcher mit dem Ne in der Hand durchs Waſſer matet, 
linf3 überall freundlide Häufer aus dem Gebüfche bliden, rechts 
unzählige Segel weißfhimmernd fich von der blauen Fläche ab: 
beben und den Sund beleben, aus naher Ferne die Küfte Schwe: 
dens grüßt, und ganz nahe vor ung feenhaft duftig hinter fei- 
nen Dünften und binter dem durchſichtigen Schleier, den der 
Hafen aus Tauen und Naaen webt, die Stadt wie eine Fata 
Morgana zittert — die Lange Linie ift an ſchönen Sommer: 
tagen gewiß einer der jchönften Spaziergänge der Welt. Ihre 
Schönheit muß Odyſſeen weden in jeglicher Phantafie und jene 
Sehnsucht ins Unerivliche, wie jedes große Kunſtwerk. In diejer 
Allee auf: und abwandernd, glaubte ich nicht mehr, daß jene 
Nordlandsreden nad) Sizilien, Peloponnes und Byzanz fegelten, 
um einer rauhen Heimat zu entfliehen, ich glaubte, daß die 
Eine Schönheit in ihnen die Sehnfuht nah der anderen er- 
mwedte, und daß fie die Herrlichfeit des Südens aufjuchten, weil 
fie die Wahlverwandtichaft alles Schönen dazu zwang. Sie ma- 
ren die unmwillfürlihen Boten, die dem griechiſchen Archipel und 
dem Hellespont die Grüße der norbijchen Gejchwifterlinder, der 
baltifhen Infeln und des Sundes braten. Freilih habe ich 
die Lange Linie an jonnigen Juni:Morgen und «Abenden durd- 
wandert; in Dezember:Tagen hätte ich ſchwerlich ſolche Phanta— 
fieen gehabt. 

Aber Thorwaldſen! Rechtfertigt nicht auch diefer nordifche 
Grieche ſolche Phantafterei? 

Man kann nicht von Kopenhagen ſprechen, ohne immer und 


Bilder aus Dänemark. 497 


immer an Thorwaldfen zu denken; er ift der Genius loci, er 
erfüllt die Stadt in allen Räumen, bis in die entfernteften 
Winkel, wie ein Gemäfjer, wie ein Duft. Schon auf hoher Eee 
jagt der dänifche NReifegefährte zum Fremden: Sehen Sie dort 
den ftumpfen Thurm mit dem Kreuze darauf? Das ift die Frauen: 
firhe; da ift die große Zohannes : Gruppe, da find Ehriftus und 
die Apoftel und der Engel mit dem Taufbeden von Thorwalbjen. 
Im Hafen erinnern die gefhnigten Schiffsfiguren an die Schule, 
die der große Biloner bei feinem Pater durchmachte, die Pri— 
märſchule in Holz; an Landhäufern und in den Straßen ſieht 
man Basreliefs und Zeichnungen nah Thorwaldſen; in den 
Häufern Krüge, Blumentöpfe, Vaſen in Biscuit und gebrannter 
Erde, die den Einfluß eines von den Mufen und Grazien ges 
jegneten Genius befunden. Endlich gelangt man auf den Plap, 
wo neben der Königeburg und dem Haufe, in dem fich die Ver: 
treter de Landes verfammeln, fich wie ein Tempel das Thor: 
waldſen-Muſeum erhebt, und tritt man in dieſes Mufeum, das 
an fiebenhundert Werke des Meifters enthält, und denkt man 
noch an die Frauenkirche und an den Einfluß, den diefes Genie 
auf feine Landsleute ausgeübt, und an den gerechten Stolz, den 
e3 ihnen eingeflößt — dann muß man zugeben, daß nie ein 
Künftler jeine Vaterſtadt fo reich befchenkt hat, wie Thorwaldſen 
Kopenhagen. Dan muß befennen, daß wenige Menjchen in ver 
Geſchichte ihr Vaterland auf fo ſchöne Weife ausgeftattet, daß 
wenige auf diefe Art Mohlthäter ihrer Landsleute geworden. Und 
diefer Mann bat in dem monumentjüchtigen Kopenhagen kein 
Monument? Nein! Aber man kann darum den Takt und den 
guten Gejhmad der Kopenhagener nur loben. Mit größerem 
Nechte als die Londoner Paulskirche kann Kopenhagen dem Frem— 
den antwprten: Quaeris monumentum? Cireumspice! — 
In der That ift ganz Kopenhagen fein Monument. Vor ihm 
war es ein Kaufmannshafen, in dem berrfchfüchtige Adelige, 
ganz und halb verrüdte Könige ihr Weſen trieben, und nebenbei 
eine ſchöne Stadt — jebt fieht, wer Augen hat, zu jehen, Geifter 
Morig Hartmann, Werte IM. 32 


493 Bilder aus Dänemarf. 


dur die Luft jchreiten, die ſchön find, wie Thorwaldſen'ſche 
Grazien, und dem Empfindenden jind in ſolcher Gejellihaft Nacht 
und Morgen fo hold, wie jene Basreliefs, die wir alle kennen. 


Denn mit dem Genius fteht die Natur im ewigen Bunde, 
Was dir Eine verjpricht, Leiftet die Andre gewiß. 


Das Thorwaldjen:Mufeum ijt die größte Merkwürdigkeit 
Kopenhagens und allein ſchon eine Reife werth. Es ift einzig in 
jeiner Art, denn nie hat jich eine Nation diefe Mühe gegeben, 
die jprechenden Zeugnifje der Größe eines ihrer Söhne jo ge 
wifjenhaft und fo volljtändig auf einem Punkte zu verfammeln, 
wie e3 hier geſchehen. Diejer Tempel ift das innere eines großen 
und fchöpferiihen Lebens, und ftaunend blidt man hinein und 
faft erjchroden über die Kraft, die Einem gefegneten Menjchen 
verliehen jein fann. Dan blidt in diefe großen Hallen und Heinen 
Loggien, die mit Werken der Schönheit angefüllt find, und man 
glaubt, in den Geift des Bildners zu fehen, aus deſſen weiten 
MWerkftätten und ftillen Winkeln die herrlichen Gedanken gebildet 
und verkörpert hervortreten. In der Mitte diefer lebenden Ge: 
danten liegt das Grab des Künftlers, und um das Grab und 
die Werke drängt ji ein Volk, das fi an diefen Gedanken er: 
friſcht — und die Unfterblichleit wird ein faßlicher, fich ver: 
förpernder Gedanke. 

Es kann meine Abficht nicht fein, einen Führer durch dieje 
Galerie zu jchreiben: das ift ſchon auf eine bejjere Weije ge: 
ſchehen, als ich «3 zu thun im Stande wäre. Ich will nur auf 
eine Seite des vielfeitigen Thorwaldſen'ſchen Genius aufmerf: 
fam machen, welche man über feinen höheren Schöpfungen, den 
rein idealen, meift zu fehr überfehen hat: ich meine jein Talent 
für das Portrait im Medaillon, in der Büfte und in der Statue, 
Hier ift eine Schaar von zeitgenöflifhen Gefichtern verjammelt, 
welche dereinft dem Hiftorifer, der in Geſichtern wie in Akten: 
jtüden zu leſen verfteht, jo gut dienen werden, wie die zuver: 
läfligjten Quellen. Die Phyfiognomieen Wilhelms von Humbolbt, 


Bilder aus Dänemarf. 499 


Joſeph Poniatomsty’3, Pius’ VII, Horace Vernet’3, Kardinal 
Confalvi’3, König Ludwig's von Baiern, Napoleon’3, Walter 
Scott’3, Lord Byron's, Metternih’3, Schwarzenberg’3, Aleran: 
der’3 von Rußland, Chriſtian's VIIL., Friedrich's VIL, Tiedge's 
und unzählige andere find eben fo viele Blätter aus unferer 
Kultur, aus unferer Leidend- und Freudengeſchichte. Die Por: 
trait Statue, die fi in der legten Loge der linken Galerie be- 
findet — fie ftellt irgend eine Gräfin oder Fürftin vor, ich 
glaube die Fürftin Bariatinsgfa — gehört mit zum Schönften, 
wa3 in diefem Genre überhaupt gemadt.ift. ch glaube nicht, 
daß die griedhifch römische Zeit, die in diefem Fache fo ftark war, 
etwas Schönere hervorgebracht, und daß ich übertreibe, wenn 
ich jage, daß fie die fogenannte Julia im Louvre übertreffe. Sie 
ift entzüdend durch Schönheit, Anmuth und Leben; die geheim: 
nißvollſte Spealifirung der Realität. — Es iſt ſchwer, fich bei 
Thorwaldſen darüber Ear zu werden, was ihn zu einer befon- 
deren Perjönlichleit made, was ihn von den großen Meiftern 
der Antike unterfcheivde. Der äußeren unterjheidenden Merkmale 
in der Skulptur find fo wenige, und nähert man fich dem Speal, 
jo nähert man ſich der Antike und erfcheint höchſtens als ihr 
Fortjeger, wenn man nicht als eine ganz ausnahmsweiſe Er: 
jheinung mit riefiger Kraft wie Michel Angelo aus dem Zu: 
ſammenhange mit der Weltgefhichte heraustritt, wie ein Titan 
aus der Reihe der Olympier, oder wenn man nicht, wie Ber: 
nini, die Kunft, die der Emwigfeit angehört, dem flüchtigen Mo— 
mente unterwirft. Die Portraits Thorwaldjen’3 halfen mir, 
gaben mir den Schlüfjel zu feiner Eigenthümlichkeit, jeiner Pers 
ſönlichkeit. Wie er diejen ihre Geſchichte, ihren ethiſchen Inhalt 
zu geben und fie dadurch zu ibealifiren, da, wo die weibliche 
Schönheit vorwaltet, zur höchſten Jpeal: Statue zu erheben ver: 
jteht, jo gibt er wieder den Ideal-Statuen eine Heine Doſis 
Realität, die fie ung menſchlich näher bringt. Die gewilje Un: 
nahbarfeit, die auf der griechiſchen Skulptur al3 auf einer vor: 
zugsweiſe religiöfen Kunft liegt, entfernt uns nicht von den 


500 Bilder aus Dänemarf. 


Thorwaldſen'ſchen Idealen; fie erfüllen uns auch nicht mit jener 
unendlichen Wehmuth und Sehnfucht, die vielleicht aus dem Ge: 
fühle der Entfernung zwifchen ung und dem Ideale entjpringen. 
Thorwaldſen ift unjer Zeitgenofle ; feine Ideale ftehen ung näher, 
jo zu jagen nit auf jo hohen Piedeftalen, wie die Antike, darum 
vielleicht überhaupt tiefer. Er ift weniger olympiſch, er iſt mehr 
irdifch; er ift ein Grieche, fo weit e3 der große Künjtler immer 
ift, aber er ift ein Sohn unferer Zeit. Er ift, abgejehen vom 
Hinten eines jeden Vergleiches, ein umgekehrter Goethe; während 
diefer die Realität ivealifirt, gibt Thorwaldjen dem Ideale einen 
Beigefhmad der Realität. 

Da bin ih, wo jeder Deutiche anlommen muß, wenn er 
eine halbe Stunde geplaudert hat, und wo er nicht aufhören 
fann, wenn er ſich nicht mit Energie Schweigen gebietet. So 
will ich bier meinen erjten Brief jchließen. 


Il 


Ich ſchreibe Ihnen zwijchen halb zehn und zehn Uhr Abends, 
am Fenfter figend, ohne anderes Licht, als das mir der Himmel 
direkt zufendet. Die Laternen auf dem Kongens Nytorv, dem 
größten und ſchönſten Plage Kopenhagens, auf dem mein Hotel 
liegt, find zwar entzündet, aber fie verzehren ein äſthetiſch-nutz— 
loſes Fladerleben. Sie beleuchten nur ſich jelbft, aber Niemand 
bedarf ihrer, jo hell iſt es noch in diefer Stunde, und diefe Helle 
verwandelt fich noch jpät in der Nacht in ein bloßes Zwielicht. 
Obwohl man das Alles von der unterften Schule her weiß und 
und e3 fich berechnen fanı, daß es in Kopenhagen im Juni fo 
ift und fein müſſe, überrajcht die Erfahrung darum nicht minder 
und erfreut, wie eine Probe, welche die Richtigkeit eines gelösten 
Rechen » Erempelö beweist. Diefe von der Natur gelieferten 
florentinifchen Nächte willen die Kopenhagener, das vergnügungs« 


Bilder aus Dänemart. 501 


ſüchtigſte Völfhen der Erde, mit Vortheil auszubeuten, eben jo 
wie fie im Winter den gefrorenen Sund zu Schlittſchuh⸗Partieen 
im großartigften Maßſtabe und zu allerlei Unterhaltungen über 
den Abgründen des Meere3 zu benugen verftehen. Die beiden 
Vergnügungsorte Tivoli und Alhambra können lange juchen, bis 
fie ihres Gleichen finden. Sie übertreffen bei Weitem Cremorn 
gardens, Vauxhall, pr& Catalan und Wurftelprater — wenn 
nicht durch ihre Ausdehnung, jo doch durch den Gejhmad ihrer 
Anlagen, dur die Gemüthlichkeit ihrer Atmofphäre und durch 
den Reihthum und die Mannigfaltigkeit ver Genüfje, die fie für 
wenige Kreuzer bieten. Da findet man jegliche Art won Unter: 
haltung, von der kindiſchſten angefangen, bis hinauf zur künſt— 
lerifhen. In Alhambra gewährt ſchon der bloße Anblid der 
ganzen Anlage im reinften maurifhen Style einen wahrhaft 
füntlerifjhen Genuß; das Heine Theatergebäude dafelbit ift ein 
wahres Kleinod, und die Leiſtungen feiner Künftler ftehen in 
feinem zu argen Mißverhältniffe zu der jhönen Schale. Ich fah 
dafelbjt eine Ballettänzerin, die das große Stadttheater hatte ver- 
laflen müfjen, weil fie den Hermelin ihres Nufes etwa® befledt 
batte. So tugendhaft ift man in Kopenhagen, und folche An: 
forderungen ftellt man ſelbſt an Ballettänzerinnen! Tivoli hat 
vor Alhambra die größere Ausdehnung voraus und befaß außer: 
dem no vor Kurzem eine große Menagerie, deren beveutendite 
Mitglieder, al3 da find Tiger, Eisbären ꝛc., vor einigen Tagen 
auf das Jämmerlichſte zu Grunde gingen. Der Paris, der den 
Untergang diefer Helden verurfachte, war, wie immer, ein Affe. 
Er jpielte mit dem Feuer, das ift mit Zündhölzchen, und vie 
ganze Menagerie ging in Flammen auf. Die armen Thiere heul: 
ten in ihren Käfigen, aber die mitleivigften Gemüther konnten 
ih nicht entjhließen, einen Tiger, einen Löwen ꝛc. in ihren 
Armen aus den Flammen zu tragen. So gingen fie jämmerlich 
zu Grunde — auch der Anftifter des Unheil, der Affe, wurde 
von den Flammen verzehrt. Man jagt, er wollte fterben. Bei 
diefer Gelegenheit ging für Kopenhagen und für mich ein inter: 


502 Bilder aus Dänemarf, 


eflanter Genuß verloren. Die Kopenhagener nämlich lieben das 
Harlequin: und Bantomimen » Theater beinahe fo leidenſchaftlich, 
wie die Staliener, und Tivoli wie Alhambra führen alltäglich 
ihren Bierrot vor. Der Dichter Henrik Herz, den wir als Ber: 
fafler von „König René's Tochter” kennen, fchrieb eine Pan: 
tomime für das Tivoli-Theater, und e3 ift vorauszufegen, daß 
diejer phantafievolle und romantische Poet etwas Schönes ge: 
liefert. Sie jollte gerade in den Tagen meiner Anmefenheit auf: 
geführt werden, aber alle dazu verfertigten und ſchon bereit lie: 
genden Requifiten find bei dem Affenbrande zu Grunde gegangen, 
und ich bin um den Genuß betrogen. D, die Affen! In allen 
MWeltgegenden find fie ſchuld am Untergange der Stärke und am 
Verderben des Schönen. 

Diefe, fo wie alle anderen Beluftigungsorte find gleihmäßig 
von Söhnen und Töchtern aller Stände beſucht. Ein vornehmes 
Herabfehen oder Abſchließen fennt man in diefer Beziehung nicht. 
Die Tochter des Kleinen Krämers luſtwandelt da neben ver ele— 
gantejten Dame der bejten Gefellfhaft, und in der That Fönnte 
die zismperlichfte Stiftspame diefe Orte befuchen, ohne daß vie 
feinjte Stelle ihrer fammtnen Seele verlegt würde. Bei aller 
Dergnügungsfucht zeichnet ſich das Kopenhagener Publikum dur 
jeinen Anftand, fein maßvolles Benehmen aus. Ich erinnere 
mich nicht, irgendwo, auch im ärgſten Gebränge, je ein Symptom 
von Rohheit gefehen zu haben. Man wandelt umher, man freut 
ih an den Schaufpielen, den gymnaftifchen Mebungen, ven 
MWaflerfahrten, ven Feuerwerken, am Orcheiter des großen Lumbye, 
de3 hiefigen Strauß und Lanner, und kehrt jpät in der Nacht 
eben jo ruhig und heiter in die Stadt zurüd. An ven Beluftigungs: 
orten erkennt man e3 klar, wie demofratifh das Land ift. Wie 
ganz andere Erfahrungen habe id in Holland gemacht, mo das 
Volk roh und gemein, die Stände im höchſten Grade erklufiw 
find, und troß aller Gejege die kraſſeſte religiöje Intoleranz 
herrſcht! Von all Dem ift in Dänemark nicht die Rede. Die 
wenigen Adeligen, die ſich noch etwas auf ihren Adel einbilven, 


Bilder aus Dänemarf. 503 


jpielen nur eine Heine Rolle im Staate und werden bald gar 
feine fpielen. So kann man mwohl annehmen, daß die noch fo 
junge demokratiſche Verfaflung aus den Sitten des Volkes ber: 
ausgewachſen ift, und daß fie Beitand haben wird; wie man 
andererjeit3 annehmen kann, daß Hollands Sitten feiner Ver: 
fafjung nicht mehr entſprechen, und daß fein König bald in feinem 
Königreiche verfuchen wird, was ihm al3 Herzog von Quremburg 
fchon gelungen ift. Als eine Verkörperung dieſes däniſchen Weſens 
betrachtete ich mit Freude den ehemaligen Minifter, jegigen Prä- 
fiventen des höchſten Tribunals, Herrn Banks, eine Größe Däne— 
marks, wie er in feinem grauen, alten Hut, mehr al3 einfach, 
dur die Gafjen ging, und ließ ich mir erzählen, wie er al3 Minifter, 
mit dem Portefeuille unter vem Arme, auf dem Bode des Om: 
nibus zum Könige hinausfuhr, um Confeil zu halten. 

Die demofratiihe Verfaffung ift in der That eine Wahrheit. 
Alle Elemente des Staates wirken im Staate mit, und alle 
Stände mit Ausnahme einer unendlich Heinen Bartei freuen ſich 
ihrer aufs Aufrichtigſte. Man fühlt allgemein, daß man auf dem 
Niedergange begriffen geweſen, daß dieſe Verfaſſung allen Venen 
und Arterien des alten Körpers frisches Leben eingegofien, und 
daß man ihr eine Friftung würdigen Beſtehens verdante, Es ift 
aud ganz natürlih, daß die Dinge jo geworden find. Dänemarf 
litt vorzugsweife unter einer Dligarchie, und nirgends war ber 
Adel fo wenig berechtigt, jelbit hiftorifch fo wenig berechtigt, wie 
in diefem Lande. Er ging weder aus einer Eroberung, nod aus 
Verträgen, noch aus der Nothwendigkeit eines Schußes hervor. 
Er bat einfach den freien Bauer unterdrüdt, und der Bauer war 
der Hauptbeftandtheil diejes urfprünglich auf Freiheit und Gleich): 
heit gegründeten Staates. Er hat feine Freiheit und dag ihm 
widerfahrene Unrecht nie vergefien, er erinnerte ſich ftet3 feines 
Rechtes, und daß frühzeitig die Könige im Kampfe gegen die hei: 
mischen Unterbrüder auf feiner Seite ftanden. Mit ver leben: 
digen Erinnerung an die verlorene Freiheit betrat er den Boden 
ber neu gewonnenen, nicht als ein Sklave, der die Kette bricht. 


504 Bilder aus Dänemark. 


Als er fih nad Freiheit jehnte, wußte er, was er wünjchte; die 
Freiheit war ihm nicht ein verſchwommenes Ideal, jondern ein 
fompaftes Ding, und er brauchte nicht erſt den Uebergang durd) 
die Anarchie durchzumachen. Wir werden die Inſel Seeland 
durhmandern und uns überzeugen, daß der Landmann ein jo 
guter und brauchbarer Bürger ift, wie der Städter. — Aber — 
aber! Ueberall gibt es ein Aber. 

Wenn Karl Stuart II. von irgend einem Unglüd, Mißver— 
bältniß, Verbrechen fprechen hörte, fragte er fogleih: Who is 
she? Wer ift fie? — Cr feßte immer voraus, daß ein Weib 
dahinter jteden müfje. — Etwas ift faul im Staate Dänemark. 
Ueber einen Winkel in feinem Regierungsmwejen wird jeder orbent: 
lihe Däne Hagen ; einer gewiſſen Sache wird ſich ever ſchämen. 
Who is she? — Sie ift vie Rasmuſſen, die jogenannte Gräfin 
Danner. Sie führt, wie man erzählt, eine heilloje Wirthichaft. 

Frauen diefer Art und Stellung braudten in Dänemark 
nicht jo jchledht zu werden, wie in anderen Ländern. Sie haben 
ein Beijpiel vor fih, daß man jelbjt in diefer Stellung einen 
ihönen Duft der Weiblichkeit, einen poetiſchen Hauch, die Ach 
tung der Gejchichte bewahren und in der Erinnerung des Volkes 
geliebt fortleben könne. Gewöhnlich wird als ſolches Beijpiel die 
Maintenon angeführt, weil fie ſchöne Briefe ſchrieb und mit diefen 
Briefen die Nachwelt täufchte, wie fie die Mitwelt getäufcht hatte. 
Sie war die Geliebte eines alten Deipoten, deſſen fcheußlichen 
Schwächen und Neigungen fie jchmeichelte, um ihre eigenen herrſch— 
jüchtigen und anderen häßlichen Begierden zu befriedigen. Un: 
weit von Chriftiansborg, dem Schlofe der däniſchen Könige, ftcht 
ein ſchönes Haus mit zwei Giebeln, im Style des fechzehnten 
Jahrhunderts, das beherbergte eine Königsfreundin und Geliebte 
ganz anderer und jchönerer Art. Hier wohnte Dyveke, das 
Täubchen von Amjterdam, tie Geliebte Chriftians II. Sie, fo 
wie ihr König und ihre Mutter, die kluge und energiſche Sig: 
britte, find drei jo eigenthümliche und theilweiſe rätbfelhafte Er: 
Icheinungen, daß eg, meiner unmaßgeblihen Meinung nach, weder 


Bilder aus Dänemarf. 505 


der Geſchichte noch der Poeſie bisher gelungen ift, fie in ihrem 
ganzen Umfange und in ganzer Wahrheit varzuftellen. Man bat, 
wie ich meine, viel zu wenig den Urjprung der beiden rauen 
berüdfichtigt. Sie ftammten aus dem demofratiihen Holland; 
das Schidjal verfchlug fie in ein Land, in welchem eben der Abel 
feine furdtbarften Bedrüdungen ausübte und in welchem ein 
Prinz beranreifte, der mitten im Volke wild aufmuchs, für dieſes 
alle Sympathieen hatte und vor dem Adel zitterte, der Volk und 
Königthum zugleich in Sklaverei zu verjenfen drohte. Es bedurfte 
feiner Selbjtverleugnung, um fi mit dem Volke zu verbinden; 
e3 ift aber fehr die Frage, ob er durd) allerlei Elend der jchlimm: 
jten Art, dur Krieg, Niederlage, Verbannung und unendlich 
lange Gefangenſchaft auf diefer Seite ausgeharrt hätte, wenn er 
nit durch die innigfte Liebe mit Dyvele und durch fie mit ihrer 
Mutter Sigbritte verbunden geweſen wäre. Bei der ſtarken Sig: 
britte fand er Rath und Muth; bei der fanften und lieblichen 
Dyveke Troft und Liebe, und er bedurfte all dieſer Hülfe, der 
arme Chrijtian, denn er war verrüdt. Mehr al3 zwei Seelen 
wohnten, ad! in feiner Bruft, und dieſe zerrten an ihm und 
drohten jtet3, ihn zu zerreißen, al3 wäre er ein an viele Roß— 
jchweife gebundener Verbrecher, der zum Zerriſſenwerden verur: 
theilt ift. Die Adeligen haben jeine Geſchichte gefchrieben, darum 
erjcheint er als der blutigfte Tyrann, während er nur das trau: 
rigfte Opfer jeines Wahnfinnes war, und diefer Wahnfinn wieder 
war nur die Folge feiner unglüdjeligen Antecedentien und feiner 
Stellung. Im Volksleben, aber ohne alle Bildung aufgewachſen, 
liebte er das Volk, blieb er rauh und hatte er die Ahnung aller 
höchſten Bildungs: und Freiheitideen ; als ein Sohn des fech3: 
zehnten Jahrhunderts fühlte er auch die Nothwendigkeit der Gens 
tralifirung der Königsmacht und der Auflöfung des Feudalismus. 
Er wollte und mußte mit dem Bolfe gehen, und war ein König; 
und der Adel, der ihm gegenüberftand, war ftärfer al3 er. Ein 
Vater des Volkes, zwang ihn der Noel, ein Henker zu fein. 
Proteftant in Dänemark, zwang ihn die Politit, Katholif in 


506 Bilder aus Dänemark. 


Schweden zu fein; Freund des Volkes in Dänemark, mußte er 
das Volk in Schweden befriegen, und den König, zu dem das 
däniſche Volk Hülfe ſuchend und hoffend aufblidte, fieht das 
ſchwediſche nur, wie er bis an die Anöchel durch das Stodholmer 
Dlutbad mwatet. So groß find die Widerſprüche im Schidfal und 
in Folge deflen im Charakter und in der Gefchichte diejes Königs, 
daß fie feinen Gefchichtfchreiber verrüdt machen fönnten, was 
Wunder, daß fie ihn verrüdt machten! Er ging tragiſch zu 
Grunde und mit ihm feine plebejifche Egeria und feine Geliebte, 
das holde Täubchen. Nur ein großer Piychologe kann dieſes un- 
glüdjeligiten aller Könige Geſchichte fchreiben ; der Adel und die 
ſchwediſchen Feinde, die es gethban, haben ſich der Pſychologie 
nicht befleißigt, und bei legteren erfcheint er um fo werabjcheu: 
ungswürdiger, al3 fie ihm ihren Guſtav Waſa entgegenitellen, 
der jich vor fo vielen Königen der Erde durch feine Klugheit wie 
durch feinen bon sens auszeichnet. 

Allein diefe Ausflüge in die Geſchichte find nicht beluftigend, 
und wir find bei ven Beluftigungsorten der Kopenhagener jtehen 
geblieben. Zu dieſen gehört und fteht in erfter Reihe Klampen: 
borg, der jhöne Badeort, mit dem Thiergarten. Hunderte von 
offenen Omnibuffen, fogenannte Kaperwagen und unzählige 
Equipagen fliegen jeven Sonntag in ununterbrochener Folge da: 
hinaus, am Meeresitrande dahin, dur eine Doppelreihe lieb: 
licher Lanphäufer, die zum Theil mit Thorwaldſen'ſchen Bas: 
relief3 gefhmüdt find, während parallel mit den Wagen Kleine 
Dampfichiffe auf der See andere Vergnüglinge derjelben jchönen 
Beltimmung zuführen. Man kommt an einem Filcherdorfe vor: 
bei, das idylliih und ärmlich mitten unter den behaglichen Land: 
bäufern liegt und wegen jeiner vielen Schweine und Kinder be 
rühmt ift. 

Klampenborg mit feinen im Buchenjchatten träumenden, auf 
da3 blaue Meer und das fagenhafte Skandinavien hinauglugen: 
den Häufern fieht aus wie eine Kolonie von Glüdlichen, die fich 
gejagt: „Genug endlich der Kämpfe und des Jammers der Welt! 


Bilder aus Dänemarf. 507 


bier wollen wir Hütten bauen und ruhig zufehen, wie gebilvete 
Lazzaroni, die wahren und ächten Philoſophen. Wir wollen doch 
ſehen, ob e3 nicht möglich ift, glüdlich zu fein.“ Der Thiergarten, 
eine Art Wurjtelpraterd, der fih an Klampenborg anſchließt, ift 
Klampenborg3 gemeinere, aber dithyrambiſche Fortſetzung; ein 
Schlaraffenland, in welchem zum Klange des Leierkaftens und 
der Pauke und unter dem Jauchzen der Menge alle gröberen 
Genüſſe wahfen. Man fieht fih unmwillfürlih um, ob an den 
Eichen und Buchen nicht Pfefferkuchen, Mein: und Bierflafchen 
bangen und ob in der Luft nicht die gebratenen Tauben umber: 
fliegen. Man ift im höchſten Grade erftaunt. Wer hätte im 
kymmeriſchen Lande, im Lande der Hünen, der rauhen Reden, 
„der uralt: grauen Nordlandsjage” ein ſolches Phäakenvölkchen 
erwartet! Nur die alten Buchen und Eichen, die fih als ein 
berrliber Wald, Schlöffer und Seen und murmelnde Bäche be: 
fchattend, meit ind Land hineinziehen, lifpeln nordiſch märden: 
haft und weben jenen Zauber, den die Balme um die gelobtejten 
Länder de3 Morgenlandes nicht zu weben vermag. 

Daſſelbe gilt von Frederilsborg Havn, einem großen Parfe, 
zu dem man dur das Weſterthor und durch eine recht3 und 
lint3 von Luftorten wimmelnde lange Vorſtadt gelangt. Uralte 
Bäume, unendliche gemwundene, traumvolle Gänge, Heine Seen 
und Kanäle, tiefes Buſchwerk voll Vogelfang, faftig grüne Matten 
und Abhänge machen ihn zu einem Aufenthalte, wie ſich ihn nur 
das finnigfte Herz wünfchen kann. In der That hat Deblen: 
ſchläger in einem holdverſteckten Haufe daſelbſt einen großen Theil 
feines Lebens, beſonders die ruhebevürftigen Jahre zugebradht. 
Er war nicht fern von bier in einem befcheivenen Haufe geboren 
und ruht nun ganz nahe feiner Geburtsftätte in einem jtillen 
Friedhof, der mitten unter dem ſtädtiſchen Lurus rings umber 
feinen ländlichen Charakter bewahrt hat. Das Haus, das er im 
Frederiksborger Park bewohnte, war ihm als ein Alters:Tusculum 
von der Regierung eingeräumt worden, auf daß er feine legten 
Jahre ſchön und behaglib dahinträume, wie eine gealterte 


508 Bilder aus Dänemark. 


Nachtigall im Neſte. Dänemark, das iſt bekannt, hat es ſtets ver: 
ftanden, die Talente, die es ehrten, wieder zu ehren, und zwar 
war diefe Ehre felten unfruchtbar wie der Lorbeer. Es forgte 
dafür, daß fie auch nährende Früchte trage, behaglihen Schatten 
werfe und niederbrüdende Sorgen verſcheuche. Daß Dem noch 
heute jo ift, beweist mir der einzige Bewohner, der das gewal- 
tige Friedrichsberger Schloß, das von der Höhe dieſes Parkes 
über Kopenhagen auf den Sund ünd meit ins Land fieht, ganz 
allein inne bat. Diefer Einfiedler im Schloſſe ijt ein Gelehrter 
und heißt Lewin. Gr hat nach großen Studien ein wiljenfchaft- 
liches Wörterbuch der dänifchen Sprade & la Gebrüder Grimm 
zu Schreiben angefangen. Er war noch beim A, al3 man ſchon 
auf die verbienftlihe Arbeit aufmerkffam wurde, und damit fie 
der Gelehrte in Ruhe fortfegen fünne, gab ihm der Staat jofort 
einen Gehalt von 800 Thalern, und um für Leben und Sterben 
jeiner Manufkripte fiher zu fein, kaufte man ihm diefe mit einer 
hohen Summe ab. Da er aber diefer Manuffripte zu feiner 
Arbeit bedarf, fo machte man ihn felbjt zum Konfervator feiner 
Manujfripte und hatte fo unter dem netten Borwand, das Staat3- 
Eigenthbum in Sicherheit zu bringen, den noch netteren, dem 
verdienjtvollen Gelehrten eine Staatswohnung in dem gewaltigen 
Schloſſe mit der herrlichen Ausficht anzumeifen. 

Freilicd) ift der dänifche Staat, wenn er fi überhaupt einer 
Siteratur rühmen will, gezwungen, viefe offiziell zu ernähren 
und aufzumuntern, wenigſtens zum Theil, da das Kleine Publi- 
kum dieß zu thun nicht im Stande wäre. Es ift nur die Frage, 
ob andere Staaten ebenfalld die Nothwendigfeit einjehen würden 
und dieje Ehre zu würdigen wüßten. Verhältnißmäßig gibt fein 
anderer Staat Europa’ fo viel Geld zu Bildungszweden aus 
und hat feiner jo große, fo viele Bildungs-Snftitute und fo viele 
öffentliche und Privat: Fonds zur Unterftügung von Kunjt und 
Wiſſenſchaft wie Dänemark, Wir wollen nur einiges hieher Ge: 
hörige erwähnen. Es gibt hier eine Gefellfhaft, vie jährlich 20: 
bis 30,000 Reichsthaler, eine andere, die 40: bis 50,000 zu 


Bilder aus Dänemarf. 509 


wiſſenſchaftlichen Zwecken, meiſt zur Unterftügung junger Talente, 
ausgibt. Es gibt höhere und höchſte Unterricht3anitalten, welche 
die Schüler während der ganzen Zeit ihrer Studien mit Allem, 
jelbft mit Tafchengeld verforgen und ihnen ‚wenn fie die Anſtalt 
verlaſſen, noch eine reſpektable Summe mitgeben, damit ſie die 
erſten Schritte im Leben ungehindert thun und mit Ruhe und 
Muße ſich eine Stellung ſchaffen können. Einer ſolchen Anſtalt 
angehört zu haben, iſt eine Ehre, und man rühmt ſich ihrer, wie 
es der Redakteur des Tageblattes, der geiſtvolle und unter: 
nehmende Bille, in der That und mit Recht mir gegenüber gethan 
hat. — Die Regenz oder Domus regia, die zur Univerſität ge— 
hört, gibt hundert und zwanzig Studenten während der ganzen 
Dauer ihrer Univerſitätsſtudien Koſt, Wohnung, Holz und 20 
Reichsthaler jährlich und vertheilt außerdem an minder Begün— 
ſtigte 9360 Reichsthaler. Das Kollegium Mediceum, Walfers: 
dorfs, Eler3 Kollegien ernähren oder unterftügen mit Geld eine 
große Anzahl von Studenten. Die Kunftalademie, die ihre 
eigenen Fonds hat, erhält trogdem vom Staate alljährlih die 
Summe von 12,000 Reichsthalern und theilt 5000 Reichsthaler 
al3 Reifeftipendien aus. Außerdem votirt der Reichstag jährlich 
bedeutende Summen zu ähnlichen Zwecken. Nach alledem wird 
man fich nicht mehr wundern, daß man in Deutichland, Frank: 
teih, Stalien fo oft jungen dänifchen Gelehrten, Dichtern, Mu: 
filern, Malern, Bilvhauern, Technilern begegnet. 

Auch die Wohlthätigkeitsanftalten, wie die Hofpitäler, das 
Blindeninftitut 2c., find reich dotirt, und ihre Gebäude haben 
meilt ein freundliches, nicht wie in anderen Ländern morofe3 
und ascetiches Ausſehen, das den Fremden und den Bewohner 
togleih an Noth und Elend erinnern muß. Doch mill ich diefe 
nur erwähnen, da ich von der Zmwedmäßigfeit oder Unzweck— 
mäßigkeit ihrer Einrihtungen nichts weiß und nichts verſtehe. 
Sehr intereffirt hat mich vor dem Ofterthor eine Gruppe gleicher, 
ſehr freundlicher Häufer. Es find Arbeiterwohnungen, eine Art 
Cite ouvriere, die, frei entitanden und feiner polizeilichen 


510 Bilder aus Dänemark. 


Auffiht unterworfen, wächst und gedeiht, während die napoleo: 
niftifche Grfindung diefes Namens fo wie die Parifer Schweizer: 
bäuschen unter dem ſchützenden Auge der Mouchards jämmerlich 
zu Grunde gingen, und zwar in fürzefter Zeit — wie eine 
Pflanze, über die ein giftiger Wind dahinweht. Voriges Jahr 
juchte ich eine foldhe Cit& ouvriere auf, fie war vom Erdboden 
verſchwunden und war doch erjt ein Jahr vorher mit Pomp, mit 
jozialiftifch -imperialiftifchen Reden und mit frommen Segens— 
ſprüchen eingeweiht worden. 

Eine ähnliche, aber weit großartigere, bereit3 aus dem An: 
fang des 17. Jahrhunderts jtammende Stiftung oder Anftalt 
find die Nyboder oder Neuen Buben, welche Chriftian IV., den 
man überhaupt den Stifter, Fundator, nennen könnte, ange: 
legt hat. Die Neuen Buden bejtehen aus einförmig und einfach 
aufgeführten Häufern, die in langen, geraden, langweiligen 
gelben Linien neben einander jtehen und dreißig bis vierzig 
größere und kleinere Straßen, alfo eine ganze Stadt, bilden. 
Bewohnt ijt diefe, einen ganzen großen Winkel zwijchen dem 
Dfterthor und dem Wall ausfüllende Stadt ihrer Beitimmung 
gemäß nur von dem fogenannten „feiten Stod” der Matrofjen 
und Arbeiter der Marine mit ihren Offizieren; ein höherer Offi— 
zier, zu Zeiten fogar ein Aomiral, wohnt in ihrer Mitte. Dean 
jagte mir, daß die Wohnungen fo eingerichtet find, daß fie durch— 
Ichnittlih Familien von acht Perjonen gejund und bequem be— 
berbergen können. Das muß wohl fein, da in diefer Seemanns: 
itadt jehr viele Zimmer an Studenten vermiethet werden. Dieſes 
Zujammenwohnen war höchſt mwahrjcheinlih die Urſache jener 
Intimität zwifchen Studenten und Matrofen, die ſich oft genug 
zum Schreden der Regierung, meiftens in Aufläufen manifeftirte. 
Durch die Straßen diefer Stadt wandernd, muß man annehmen, 
daß die Seeleute mit ihren Familien ein ſehr behagliches Leben 
führen. Durch helle, mit ſchönen Vorhängen ausgeftattete Feniter 
blidt man in ſehr gemüthliche, einfach, aber bequem eingerichtete 
Stuben. Wenn die Dinge fo fort gehen, werben dieſe gelben 


R Bilder aus Dänemarf. 511 


Häufer wohl bald mehr von Studenten al3 Matrojen bewohnt 
werben, denn der „felte Stod” wird, wie man mir fagt, im: 
mer dünner, was bei dem tiefen Schlafe, den die Flotte fchläft, 
bei der Abnahme der Kolonieen und der Zunahme der Bildung 
und Gelehrfamkeit nur natürlih wäre. Die bedeutendſte über: 
feeifche Befigung, die den Dänen geblieben, ift Island, und auf 
dieſes hat Frankreich bereit3 ein lüfternes Auge geworfen. Gie 
jollen ji doch ja vor ihrem treuen Alliirten hüten, ver als Lohn 
dafür, daß er fie in ihren Ufurpationen in Schleswig - Holjtein 
unterftüßt, eines ſchönen Tages die fabelhafte Thule fordern 
konnte. 

Bei Erwähnung Schleswig-Holſteins bin ich dem patrioti— 
ſchen Leſer, der fich von fo viel Lob, das ich unferem neueften 
Erbfeinde fpende, gekränkt fühlen fönnte, eine Erklärung ſchuldig. 
Ich habe es nicht einen Augenblid vergeflen, daß ich mich im 
Lande eines Feindes befinde, und oft wurde ich daran erinnert, 
daß der Däne in dieſem Augenblide unfer erbittertjter Feind ijt. 
Aber als ich die ſchöne Bucht von Kiel verließ und den dänifchen 
Gewäſſern zufteuerte, habe ih e3 mir geſchworen, unparteiiſch 
zu fein und zu loben, was zu loben ift. Als ich den Haß und 
die tiefe Erbitterung der Dänen bemerkte, wurde ich in meinem 
Entſchluſſe nur beitärkt. Ya, fie hafjen ung aufrichtig, und ver 
Fehler, den man ihnen allgemein vorwirft, die große Eitelkeit, 
ift eine Wahrheit. Aber ich reife nicht, um gegen ihre Eitelkeit 
zu predigen und fie zu befehren; ich jehe, worauf fie mit Recht 
ftolz find, eine allgemeine Bildung, große Inftitutionen, popu- 
läre Einrihtungen, humane Sitten und viel Freiheit. Bom 
Feinde lernen, ijt ein altes Gebot höchſter Klugheit, und unpar: 
teiiich anerkennen ift deutſch. „Dieß ift unfer !” jagt Goethe. 


— — — — — 


512 Bilder aus Dänemark. 


III. 


Die alten Einwohner des alten Gades waren kluge Leute; 
ſie verſtanden ſich vortrefflich auf Welt und Menſchen. Bei ihnen 
hatten die Götter der Kunſt und der Armuth zuſammen nur 
Einen Tempel. Wie Recht ſie hatten, beweiſen ſelbſt jene Länder, 
die für Kunſt und Künſtler ihr Möglichſtes thun, wie z. B. Däne⸗ 
mark. Trotz Allem iſt auch hier ein großer Künſtler dem Elend 
zum Opfer gefallen, und zwar der bedeutendſte Vorläufer Thors 
waldſen's, welcher Legtere auch nicht fo fir und fertig aus dem 
"Boden herausgewachſen ilt, wie der große Haufe gewöhnlich 
meint, daß Genied wachen. Sie haben immer Vorläufer, die 
den Boden urbar madhen und die Saat ausftreuen. Thorwald— 
jen’3 Johannes war MWiedevelt, und wahrlih, er war dieſer 
Sendung würdig. Auf dem Mege vom Friedrichsberger Parke 
in die Stadt fommen wir an dem Monumente vorbei, das vie 
Bauern zum Dank für ihre Befreiung — ſchlechten Schulonern 
it man für Bezahlung einer Schuld dankbar — dem Könige 
Friedrich VI. errichtet haben. Es befteht aus einem Obelisken, 
der auf einem Sodel ruht und deſſen Fuß von vier weiß: mars 
mornen Statuen umgeben ift. — Dieje Statuen find edel: ein: 
fah, anmuthig und ausprudsvoll und rühren, wie man mir 
jagt, von Wiedevelt her. Die eine verjelben, melde Dänemark 
vorjtellen ſoll, legt traurig die Hand aufs Herz und blidt, wie 
von tiefer Neue geplagt, nach Nordweſten. Dort blinkt das 
Maler, in das fich Wiedevelt, müde des Kampfes mit dem Elend 
des Lebens, in trauriger Stunde ftürzte. Nun fagt die belebenve 
Mothe, daß jene Statue trauere und fi nicht tröften könne über 
einen folhen Verluſt und immer nad der verhängnißvollen 
Gegend bliden müſſe. Wiedevelt hat hier Kopenhagen fein ſchön— 
ſtes öffentlihes Monument gegeben ; das befte nad) diefem ift die 
Neiterftatue vor der Amalienburg, dann folgt, dem Werthe nach, 
das Standbild Friedrichs VI. im Parke von Biffen, das nicht 
jo jchlecht ift, mie die Kopenhagener ſagen; das fchlechtefte und 


Bilder au Dänemark. 513 


abgeſchmackteſte von allen, eine wahre Karikatur, ift der Fried: 
rih oder Chriftian, der auf Kongens Nytorv über Gefangene 
und Ungeheuer vahinreitet. Bei der großen Anzahl beveutenver 
Künftler, die Kopenhagen befigt, iſt es erftaunlih, daß es mit 
dffentlihen Monumenten fo ärmlih und fchleht ausgejtattet er: 
ſcheint. Warum benußt es nicht eine fo große Kraft, wie Seri- 
hau, um fi der Ehre, Thorwaldſen's Stadt zu fein, würdig 
zu zeigen? Sch habe diefen ausgezeichneten Künjtler, der eben 
jo würdig ift, Thorwaldſen's Nachfolger zu fein, wie Wiedevelt 
ver Borläuferfhaft würdig war, in feinem Atelier befucht und 
mich überzeugt, daß er feinen Ruf weder dem feit Thorwalpjen 
dem Lande günftigen Vorurtheile, noch der Clique verdankt. 
Beide hätten im Gegentheil feinem Auflommen und feinem Rufe 
nur ſchaden fönnen. Bei der abfoluten Verehrung für den 
großen Meijter find die aus feiner Art und Weiſe abjtrahirten 
Negeln zu Dogmen geworden, welche ſich der Anerkennung einer 
neuen und unabhängigen Individualität hindernd entgegenitellen. 
Die Clique, welche fih nah Thorwaldſen in Dänemark bildete, 
ſich die nationale nannte, dadurd die Meinung der Nation kap— 
tivirte und jene Dogmen in der That aufitellte, hat auch wirklich 
gegen Jerichau Alles gethan, was den Menſchen Tränfen, ven . 
Künftler aber durch Befiegung der Hinvernifje ftärfen und feiner 
Vollendung entgegenführen mußte. Man nennt Bifjen, ein 
großes Talent, dem Thorwaldſen die Beendigung mancher feiner 
Werke vererbte, als Haupt jener nationalen Partei oder Clique; 
er hat alle Tugenden und alle Fehler des treuen Anhängers und 
Jüngers eines hingegangenen Genius. Er hat zu feinem Talente 
nod die gute Tradition und die Sicherheit und Ruhe, die ſolche 
Tradition der Schule gibt; aber, was anders iſt, als es dieſe 
Tradition erlaubt, ift heterodox, ift Ketzerei. Auch die Treue hat 
ihre Schattenfeiten, und die Religion de3 Genies hat ihren Fana— 
tismus und ihre Opfer, wie jede andere. 

Man jagt, daß Jerihau — und Andere mit ihm — unter 
diejem Fanatismus haben leiden müſſen. Auch fand ich einen 

Morig Hartmann, Werke. II. 33 


514 Bilder au3 Dänemark, 


Mann, der mir troß aller freundlichen Zuvorfommenbeit und 
wahrhaft fünftlerifchen Liebensmwürbdigfeit etwas melancholiſch er= 
ſchien. Doc vergaß ich den Schöpfer über feinen Werfen. Eine 
Marmorgruppe gab mir ſofort Aufichluß über das Weſen des 
Künitlers, in deſſen Atelier ich mich befand, und die anderen 
Werke, die ich jpäter betrachtete, beftätigten mir einzeln, was 
jene in der Gejfammtheit ausſprach. Die Gruppe ftellt Herkules 
und Hebe dar. Aus Einem Marmorblode hat hier der Künitler 
die Perfonifizirung der höchſten Kraft und die Perfonifizirung 
der höchſten Anmuth herausgehauen, Wie die Beiden in dem 
Einen Marmorblode vorhanden waren, jo find fie, Kraft und 
Anmuth, in der Seele des Künſtlers da. Damit foll aber nicht 
gejagt fein, daß die Beiden in der Gruppe fo vereinzelt darge: 
jtellt feien, daß der Kraft die Anmuth, daß der Anmuth die Kraft 
fehle. Jede hat von der anderen fo viel, al3 nothwendig ift, die 
Wahlverwandtſchaft der Beiden, die Nothwendigkeit ihrer gött- 
lihen Ehe, der ſchönſten aller Verbindungen, fühlen zu lafjen. 
— In zwei anderen Einzeljtatuen gibt der Künjtler eine analoge 
Untithefe. Sie ftehen einander gegenüber und heißen der Sklave 
und die Sklavin: der Sklave, ein Jüngling voll männlichſten 
Trotzes gegen fein Schidjal, die Sklavin, eine Jungfrau, das 
Bild der weiblichjten Ergebung — jener eben jo erhebend, als 
diefe rührend. Der Sklave erinnert in etwas an den Spartacus 
in den Tuilerieen, der ehemals voll Trog das Schloß anjah, 
und der jegt, auf Louis Napoleon’3 Befehl umgewandt, fein 
troßiges Geſicht dem Volke zufehrt. Aber der Sklave Jerichau's 
ift weniger pathetifh und natürlicher, al3 ver fonjt jo ſchöne 
Spartacus. Seinen gefeflelten Händen zum Trotz, hebt er feine 
Stirn fo ftolz empor, wie ein Ajar, ver die Blige des Himmels 
berausfordert, während die Sklavin traurig Haupt und Naden 
beugt, auf daß des Schidjal3 Ungemwitter darüber hinziehen, wie 
über eine gebrochene Blume. ine liebliche Idylle neben dieſen 
Tragödien ift die Schnitterin, die auf ihren Aehren entichlafen 
ijt: das vollendetſte Bild glüdlicher Ruhe. Auch das Urbild des 


Bilder aus Dänemarf. 515 


„Sägers," ver zu Jerichau's Ruhm fo viel beigetragen, den 
man aus Abgüffen fennt, und der in Kopenhagen neben Thor: 
waldfen’schen Kopieen populär geworden it, ſehen wir im Atelier, 
In diefem Augenblide arbeitet der Künftler an einem Medaillon: 
portrait feiner Frau, welche al3 Elifabeth Baumann ſchon einen 
berühmten Namen hatte, bevor fie ven berühmteren erheirathete. 
Aber fie begnügt fih nicht mit dem erheiratheten und mitge: 
brachten Gute; rüftig arbeitet fie darauf los, dag Ruhmeskapital 
zu vermehren. Leider befamen wir nichts von ihren neuen Ar: 
beiten’ zu ſehen, aber die Erinnerung an manches Alte, wie ein 
Blid in diefes geiſt- und gemüthvolle Künftlergeficht, die Leb— 
baftigfeit und ewige Jugend dieſer Frau find Bürgschaft genug, 
daß fie mit Erfolg arbeitet. Selten begegnet man einem fo aus: 
erwählten Künftlerehepaar und einer jo jhönen Künftlerwirth: 
ſchaft, die, anjtatt die hergebrachte Künftlergenialität zur Schau 
zu tragen, lieber ein ungezwungenes, gemüthliches, von fchönen 
Kindern belebtes Hausweſen jehen läßt. 

So kann man fi in Kopenhagen auch nach dem Thorwaldfen: 
Mufeum und der Frauenkirche manden ſchönen Kunftgenuß ver: 
ſchaffen, wenn man nur Zeit genug zu einer Wanderung durch 
die Ateliers findet. Da mir dieſe fehlte, begnügte ich mich mit 
dem Ueberblide, ven die Sammlung moderner dänischer Gemälde 
im Chriftiansborger Schloffe gewährt. Unter den Lebenden ſchien 
mir Marftrand in vielfacher Hinficht hervorzuragen; er malt meift 
Scenen aus Holberg’schen Luftipielen, die dem dänischen Publi—⸗ 
kum ſehr geläufig find; auch ift er in der That jehr populär ge- 
worden, und man findet Stiche nad feinen Bildern in allen 
Kunſtläden und in den meiften Privatwohnungen. Er gibt feinen 
Köpfen, überhaupt den ganzen Geftalten viel Ausdruck und in: 
vividuellen Charakter und findet mit viel Geift und Takt den 
Gränzpunkt, wo die Komöbdienfigur aufhört und die Karikatur 
anfängt. Wenn er manchmal bis in dieſe hinüberftreift, jo findet 
die Hebertreibung ihre Rechtfertigung in feinem Vorbilde Hol: 
berg und in der Natur. Indeſſen müſſen wir trog Marftrand, 


516 Bilder aus Dänemarf. 


trog Erner, der dem Leben der holländiſchen Kolonieen auf 
Amager mande poetifche Seite abzugewinnen weiß, troß Gärtner, 
dem argen, aber talentvollen Realiften, trog noch manden 
anderen Talenten es ausſprechen, daß wir die ganze Sammlung 
moderner Bilder für zwei Eleine Bilder von Jens Juel hergäben, 
der zu Ende de3 vorigen Jahrhundert3 lebte. Das ift ein er: 
ftaunliches Talent; noch erſtaunlicher als er felbft aber iſt eg, 
daß er, der trefflihe Zeichner, feine Kolorift und höchſt geſchmack— 
volle Komponiſt, jo wenig befannt geworden, und daß die Dänen, 
die jo gern jelbjt mit kleineren Talenten groß thun, für Ber- 
breitung feines Ruhmes fo wenig gethan haben, Er jteht zum 
Mindeſten auf gleiher Höhe mit Sir Joſua Reynolds. 

Ein anderer Maler, der mir Urfache zur Verwunderung ge: 
geben, ift Melbye, ver in diefer Galerie nur durch feine Abwe— 
fenheit glänzt, während jich die Königsfäle ganz nahe bei mit 
jeinen prächtigen Geejtüden ſchmücken. Wie fommt e3, daß diefer 
trefflihe Künftler, der überall im Auslande, felbit in Frank— 
reich neben Gudin jo große Anerkennung gefunden, in der Na: 
tional= Galerie jeiner Heimat fehlt? Gehört er vielleicht nicht zu 
der bemußten Clique? Hält er fich vielleicht zu unabhängig der 
etwas bornirten realiftiihen, nationalen Schule gegenüber ? 
Realiften und Nationale follten fehr froh fein, einen Künftler 
zu befigen, der ihnen Flotte und Meer jo ſchön und fo wahr 
malt, wie fein Anderer, Kein Anderer verjteht, wie Melbye, 
ven Charakter und jo zu fagen das innere Leben des Schiffes; 
er befeelt ed, er macht ein lebendes Weſen daraus, und Das 
jollte einer Nation nicht zufagen, die ihre Orlogſchiffe ald Dra- 
hen, als zauberhafte, lebende Weſen betrachtet hat? Wie An. 
derſen in feinen Kindermärchen den Ball und den Kreiſel, den 
Bleifoldaten, den Weihnachtsbaum ꝛc. belebt, wie er dem 
Schwan, der Ente, der Nachtigall Geift und Gemüth gibt, fo 
haucht Melbye in feinen größeren Konzeptionen in höherem Maße 
den Schiffen Leben, Traum, Märchenhaftigfeit ein; er gibt ihnen 
felbft ihre Nationalität und Gefchichte, Ja, diefer Marinemaler 








Bilder aus Dänemark. 517 


erhebt ſich manchmal zur Höhe des Hiſtorienmalers, wie z. B. 
in dem „Seegefechte, in welchem Bothwell, der Gatte der Maria 
Stuart, von einem däniſchen Kriegsſchiffe gefangen wird.“ 
Dieſes — dem Grafen Morry gehörende — und andere treffliche 
Bilder ſahen wir in des Künſtlers Atelier, das man beſuchen 
muß, um von der Mannigfaltigkeit dieſes Talentes, wie von 
ſeiner Fähigkeit, ſich in alle Stimmungen der Natur zu verſen— 
fen, einen Begriff zu befommen. Bor diefen mannigfaltigen 
Bildern verfteht man es, warum die Griechen aus dem Proteus, 
dem wandelbaren, einen Meergott machten. Hier haben wir das 
ewig wandelbare, das lieblihe und das furchtbare, das veilchen- 
blaue, homeriſch-purpurne und kymmeriſch⸗-ſchwarze, das lächelnde 
und das treulofe, das öde und das blühende Meer, bier haben 
wir e3 in allen Geftalten vor ung — aber immer ſchön, immer 
wie fich ein foldher Gott oder Göttin in einer des Ideals fähi— 
gen Seele wiederipiegeln muß. 

Auf die Sammlung älterer Gemälde, wie viel Genuß fie 
una au verfchafften, wollen wir nicht näher eingehen, da wir 
überhaupt nichts wiederholen wollen, was man in Neifehand: 
büchern oder Fremdenführern (3. B. in Lord’3 „Kopenhagen”) 
eben jo gut oder bejjer finden fann. Sie ift im Ganzen nicht 
jehr beveutend und fteht unter den öffentlichen Galerien Euro: 
pa's in dritter oder vierter Reihe. Die Holländer find vorberr: 
ſchend und bilden wohl die Hälfte der ganzen Sammlung. Man 
nennt auch einige große Staliener, aber dieje find meiner Mei: 
nung nach meift Kopieen oder Nahahmungen des Außerlichiten 
Styles der Meijter vom Cinque-Cento. Von einigen bin ic 
dejien gewiß, mwie 3. B. von dem fogenannten Leonardo. Aecht 
mag der Dolce fein — aber was liegt an einem Dolce? Die 
Perle der Sammlung ijt ein Rembrandt „Chrijtug in Emaus“, 
eine grobe Pinſelei und eines der größten Licht: und Farben: 
wunder dieſes Wunderthäters, 

In ihrer Art bei Weitem bedeutender find die wiſſenſchaft— 
lichen Sammlungen, und unter diefen vielleicht einzig und 


518 Bilder aus Dänemarf. 


unvergleihlih das ethnographiihe Mufeum und das nordiſche 
Mufeum. Um das erjtere hat ſich der Etatsrath Thomfen bie 
größten Verdienſte erworben, indem er, an eine Heine Kern: 
Sammlung anfnüpfend, unermüdlich, eifrig und mit Sinn und 
Auswahl ein langes Leben hindurch erwarb, ſammelte, oronete, 
und zu diefen Zweden alle Gelegenheiten benugte und unzählige 
Berbindungen über ven ganzen Erbball anfnüpfte. In der Anord- 
nung und Aufftellung der jo erworbenen, aus allen Erdwinkeln 
ftammenden Gegenjtände erwies er fich als einen wahren Ge: 
Ihicht3-Philofophen, fo daß man, durch die langen Reihen der 
Säle im Prinzenpalajt wandernd, durd die verfchiedenften Kul- 
turfhichten und Entwidelungen menſchlicher Gejellfchaft zu wan- 
dern meint. ch hatte das Glüd, diefe Wanderung zum Theil 
an der Geite dieſes jugendfrischen Greiſes felbit zu machen und 
fo einen Elareren Blid in feine Abfichten werfen zu fünnen. Da 
fam ich denn zuerjt zu Völkern, welche von Bearbeitung ver Me- 
talle nichts willen, dann zu anderen, welche wohl ſchon Metalle, 
aber Eifen und Gold des Geijtes noch nicht bearbeiten, das ift: 
noch feine Literatur haben, endlich zu Nationen, welche ihre Ge: 
danken und Thaten bereit3 fingen oder auch ſchon aufzeichnen. 
Aber Herr Thomfen weiß auch, daß der Menſch nicht nur ein 
Produkt feines Geiftes, fondern aud ein Produkt feines Bodens 
und Himmels ift, daß jede Kultur den Duft und die Farbe der 
beiden trägt, und er hat die auf dieſe Bedingungen bezüglichen 
Unterabtheilungen hervorgehoben. So erfahren mir denn aus 
dem großen, mit ven Gegenftänden ſelbſt, anjtatt mit ven Wor: 
ten gejchriebenen ethnographifchen Buche, daß von den Völkern, 
welche die Metalle noch nicht kennen, die kalte Zone bewohnen: 
die Grönlänver; die gemäßigte Zone: die Neufeeländer; die 
warme Zone: die Neu-Kaledonier, die Neuhollänver, die Fidjchiz, 
die Freundſchafts-, die Sandwichs- und die nilobarifchen Inſu— 
laner ꝛc. Die Metalle werden bearbeitet in Lappland, Kanada, 
Sibirien, Tatarei, in der Sahara ꝛc. Unter uns fremden Lite: 
ratur-Völfern treten Indien, China, Japan mit Allem auf, was 


Bilder aus Dänemarf. 519 


der Menſch als ausgebildetes Mirtum GCompofitum von Thier 
und Geift in Krieg und Frieden, im Haufe wie im Tempel 
braucht oder auch nicht braudht. 

3b glaube nit, daß die Weltumfegler auf ver Novara 
während ihrer ganzen Fahrt jo viel des Urfprünglichen zu fehen 
befommen, als dem Befucher diefer Thomſen'ſchen Schöpfung in 
wenigen Stunden vorgeführt wird. Mir war es, als ſäße ich 
auf einem bligfchnell fegelnden Gedankenſchiffe, das jetzt vor der 
Fellhütte des Grönländers, jegt vor dem Filzzelte des Tataren, 
jegt vor dem Pavillon eines Mandarins Anker wirft. Welche 
Wohnungen, Fahrzeuge, Waffen, Hausgeräthe, Religionswerk— 
zeuge babe ich geſehen! Schier jo reich wie der Erdboden mit 
feiner Pflanzenwelt ſchien mir der menfchliche Geift mit den Pro: 
dukten feiner Gedanken. Welch ein unerſchöpfliches Bilderbuch 
für einfame Stunden hat fih Der gefchaffen, der das Alles über: 
bliden kann! 

Das zweite, vielleiht noh merkfwürdigere Muſeum, weil e3 
in feiner Art nicht nur einzig ift, fondern wohl auch einzig blei- 
ben wird, ift das der nordiſchen Alterthümer. Schon zählt e3 
über zwölftaufend höchſt intereflante Nummern, die den Gedan- 
ten des Beichauers in die Urzeiten des Nordens, in die tiefjten 
Dunfelheiten der Anfänge menjhliher Gefittung zurüdleiten, 
und es ijt beim Patriotismus der Dänen, die alle gern beitra: 
gen, wo e3 fih um Bereicherung eines Schmudes ihres Vater: 
landes, eines Nationalfchages handelt, und bei ven Hugen Maß— 
regeln der Direktion vorauszufehen, daß die Zahl diefer Gegen: 
ſtände noch bedeutend wachjen werde, Während die Bauern des 
füplihen Frankreichs Urnen, Vaſen, Ajchenfrüge, Thränenfläjch: 
hen und andere antike Gegenjtände, die fie jo oft unter Pflug 
und Spaten auf ihren Feldern finden, barbarifch zerfhlagen und 
antife Münzen und Schmuckſachen einfchmelzen laſſen over zer: 
ftören, bringt der däniſche Bauer alle feine Funde getreulich in 
da3 nordiſche Mujeum, denn e3 wird ihm der volle Metallmwerth 
und, wenn der Gegenſtand bejonders interefjant ijt, noch eine 


520 Bilder aus Dänemarf, 


-befondere Prämie ausbezahlt. Dieje Huge Mafregel verdankt 
man ebenfall3 dem ſchon gerühmten Herrn Thomjen, ver ſich 
um dieſe Sammlung nicht geringere Verdienfte erworben, al3 
um die ethnographiſche. Die Beamten, Gutäbeliter, Pfarrer 
vom Lande thun von jelbft, wozu der Bauer dur Zahlung und 
Prämien bewogen wird. 

Auch diefe Sammlung hat Herr Thomfen jehr finnig und 
überfichtlich eingetheilt: in die Urzeit und in die katholiſche Zeit. 
Die nordiſche Urzeit dauert bekanntlich ſehr lange und erjtredt 
ih, wie wir hier klar ſehen können, bis beinahe 1000 Jahre 
nad Chrijti Geburt. Die ältefte Periode dieſer Urzeit ijt das 
fteinerne Zeitalter, das ift die Zeit, die meijt nur jteinerne Waf— 
fen und Hausgeräthe fannte; waren doch felbit die Lanzenfpigen 
von Stein. Doch mußte auch gehärtetes Erdreich oder Bernftein 
manchmal aushelfen. Ein tiefes Mitleid überfällt uns bei Be- 
fihtigung 3. B. einer Art, in die mit größter Mühe ein Loch für 
den Schaft gebohrt ift, und doch gehört diefe Art bereits einer 
vorgejchrittenen Periode, einer höheren Kultur-Epoche an. Ein 
ganzes Volk von Robinfons! Welhe Summe von Müh: und 
Drangfalen! Und heute braust die Lolomotive an den Hünen- 
gräbern vorbei, in denen dieſe Zeugniſſe der’Hülflofigkeit ge: 
funden werden. 

Dem fteinernen Zeitalter folgt das kupferne, das bis 500 
Jahre nach Chrifti Geburt reiht. Um die Zeit lagen ſchon die 
berrlihiten Tempel Griechenlands und Roms in Trümmern, 
war bie Schule des Phidias längft vergeffen. Die Schwerter 
find von Kupfer. Auch Gold bearbeitete man ſchon, meift in 
ipiralförmigen Ringen, vie auch als Geld dienen mußten, da 
man die Münze noch nicht kannte. Höchft intereffant find die 
aus dieſer Zeit ftammenden Kriegstrompeten, die jogenannten 
Luren, die eine großartige, geſchwungene, faft möchte ich jagen: 
epiiche Form haben und jo vortrefflich gearbeitet find, daß fie 
ihren uralten Ton, der die Reden zum Kampfe rief, bis auf den 
heutigen Tag bewahrt haben. 


Bilder aus Dänemark. 521 


Endlich, endlich bricht das eiferne Zeitalter an. Wer follte 
e3 glauben, daß mit dem Eijen, dem Stoffe der Fellel und 
aller Mordwerkzeuge, das Tibull jo ſchwer verfluht, daß mit 
dem Eifen das Zeitalter des Lichtes anbriht! Mit dem Eifen 
erfcheint das Silber — dann das Glas und — fiat lux — die 
Schrift und die Runen. Auch das Geld tritt mit dem Eifen auf; 
freilich exit al3 fremde Münze. Aber die fremde Münze ift ein 
Beweis der Berührung mit anderen Völkern und des Verkehrs 
— und Verkehr heißt Givilifation. 

Dem Gelde und dem Eiſen auf dem Fuße folgt die katho— 
liſche Zeit. Man iſt in die große Familie eingetreten. Dieſe 
Zeit hat ſchon europäiſche Familienähnlichkeit. 

Auch hier waren wir ſo glücklich, von Herrn Thomſen pilo— 
tirt zu werden, und wir bewunderten dieſen Jünglingsgreis faſt 
eben ſo ſehr, wie eine alte Lure. Auch er hat ſeine ganze Friſche 
bewahrt, und da ihm daran liegt, daß man die Sammlung und 
ihre Bedeutung gehörig würdige, ſo erklärt er unermüdlich nach 
rechts und links, gleichgültig, ob er ſich der däniſchen, deutſchen, 
engliſchen, franzöſiſchen Sprache dabei bedienen muß. 

Auch im Münzkabinette im Roſenburgſchloß war er unſer 
Führer. Er iſt Kopenhagens alter Ueberall. Auch dieſe Samm- 
lung iſt im höchſten Grade beachtenswerth. Sie zählt an 70,000 
Nummern und unter dieſen Münzen aus der römiſchen Repu— 
blik und höchſt ſeltene aus den älteſten Zeiten Rußlands, auch 
alte perſiſche, japaniſche und viele mittelaſiatiſche aus den un— 
zugänglichſten Epochen. Die nordiſchen Münzen gehen bis auf 
die Zeit Svend Tveskjäg's zurück. Sehr intereſſant iſt ein ſchwe— 
diſches Geldſtück: eine große, viereckige, roh zugeſchnittene, dicke 
Kupferplatte mit fünf Stempeln. Dieſes Geld iſt ſehr geeignet, 
das Unglück des Reichthums zu peranſchaulichen, denn wer nur 
fünf ſolcher Münzen beſitzt, iſt ein Sklave des Beſitzes; er iſt an 
die Scholle gebunden, er kann ſich nicht vom Flecke rühren. Um 
eine kleine Summe ſolchen Geldes fortzubringen, bedürfte es 
eines kräftigen Ochſengeſpannes. Mit ſolchem Gelde mußte der 


522 Bilder aus Dänemarf. 


arme Guſtav Wafa fein Land befreien. Oder iſt folche3 hyper⸗ 
fpartanifches Geld zur Befreiung der Menſchen geeigneter, als 
die leicht tragbaren Staat3papiere und Banknoten? Nach ven 
Erfahrungen ver Neuzeit follte man e3 glauben und Lykurg und 
Guſtav Waja für die einzigen Gejeßgeber halten, die es mit der 
Freiheit ehrlich gemeint haben. 

Auf Rofenburg: Schloß wollen wir und nicht näher ein: 
lafien; wir würden fonft nicht fertig, denn feine Sammlungen 
find eben fo unendlich, wie feine Räume. Webrigens find fie 
nicht jo interefjant wie die anderen, in fo fern fie in anderen 
Städten — in Dresdens grünem Gewölbe, in Wiens Ambrafer 
Sammlung, im Hotel Cluny ꝛc. — ihres Gleichen finden. 
Am Intereſſanteſten ift das Schloß felbit, dad uns doppelt 
überrafchte, da es in der Stadt liegt und doch jo ausſieht, als 
ob e3 eigentlih wo im wilden Walde als ein pompöjes Jagd: 
ſchloß liegen müßte. Es hat nicht? von einem ftädtifchen Pa: 
lafte und alle Romantik eines verborgenen Königsſitzes. Es 
müßte fih mit feinen gewaltigen Thürmen von der Höhe jteiler 
Felfen in einem halbdunklen See jpiegeln und vor den über: 
raſchten Augen eines in der Wildniß verirrten Wanderers auf: 
tauchen, al3 hätte es Fee Morgana dvahingezaubert. In der That 
lag e3 urfprünglih vor der Stadt; erft die neue Zeit hat die 
Stadtmauer um dafjelbe herumgeführt; indeſſen erhält ver Bar, 
der e3 mit alten und dichten Bäumen von den belebten und 
modernen Straßen trennt, die nothwendige Jllufion. Der Mann, 
von dem beinahe alle jchönen und bedeutenden Bauwerke Däne: 
marf3 herrühren, Chriftian IV., hat auch dieſes Schloß erbaut. 
Eine geniale und frifhe Natur, wie er war, bielt er alle Pe 
danterie von fich fern, fam es ihm nie auf einen ſchulſtrengen 
Styl, wohl aber auf das Schöne, Bedeutende an. So ilt es 
aud hier ſchwer zu jagen, welchem Style eigentlich die Architektur 
angehöre; der normanniſche, der gothifche, der italieniſche haben 
fih vereinigt, und zwar in einer Weife, daß die ſchönſte Har— 
monie zu Stande fam. Inigo Jones, den man als Architekten 


Bilder au Dänemarf, 523 


nennt, hat ſich feinen charakterloſen Eklektizismus zu Schulden 
fommen laſſen; aus drei Schulen hat er einen einheitlichen 
Gedanken abftrahirt. 

Der Schloßgarten hat für uns Deutſche, die wir uns une: 
ren Landsmann Struenfee durch verjchiedene Dichtungen zurüd: 
erobert haben — vielleiht nur, um menigften3 in der Poefie 
einen fo liberalen Minifter zu befiten —, neben feiner Schön: 
beit noch viel Anziehendes. Hier gab Struenfee die leuchtenden 
nächtlichen Fefte, die den melandolifhen König Chriftian VII. 
zerftreuen follten, nebenbei aber vämmerige Winkel und Lauben 
genug übrig ließen, in denen der Minifter der ſchönen Königin 
Mathilde unbelaufchte Worte der Liebe zuflüftern konnte. Diefer 
Predigerjohn muß jehr liebenswürbig gemwefen fein, da jeine Ge- 
liebte die Strafe für ein fo kurzes Glüd fo lange mit jo großer 
Grgebung getragen, und er muß ein treffliher Minifter geweſen 
fein, da die- Dänen, die alles Gute, das ihnen von Deutfchen 
zulommt, jo gern verfennen, ihn noch heute beklagen und ihn 
allen nationalen Miniftern, die auf ihn folgten, vorziehen. 

Doch müflen wir noch Einzelne aus dem Inneren und aus 
den Sammlungen des Schlojjes erwähnen. Die ehrwürdigſte 
Reliquie, der wir da begegnen, ijt wohl das Schwert Guſtav 
Adolf's. Wir find nicht geneigt, Mordwerkzeuge jeglicher Art 
groß gerührt oder mit Ehrfurcht zu betradhten, auch nicht, jede 
große Menſchenſchlächterei als eine Helventhat zu bewundern, 
aber beim Anblick viefes Schwerte fielen mir doc die Verje 
ein, die Lafjalle in feiner Tragödie „Franz von Sickingen“ dem 
Ulrich Hutten in ven Mund legt: 


Denkt beffer von dem Schwert! 
Ein Schwert, gefhwungen für die Freiheit, ift 
Das fleifchgewordene Wort, von dem ihr predigt... 
Das EChriftenthHum, e8 ward durchs Schwert verbreitet, 
Durchs Schwert hat Deutjchland jener Karl getauft, 
Den wir noch heut den Großen ftaunend nennen. 
Es ward durchs Schwert das Heidenthum geftürzt, 


524 Bilder au Dänemark. 


Durchs Schwert befreit des Welterlöjers Grab, 
Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben, 
Durchs Schwert von Hellas Xerres heimgepeitjcht. 
Und Wiffenfhaft und Künfte und geboren. 

Durchs Schwert ſchlug David, Simfon, Gideon: 
So vor- wie feitdem ward durchs Schwert vollendet 
Das Herrliche, das die Geſchichte jah, 

Und alles Große, was ſich jemal® wird vollbringen, 
Dem Schwert zulegt verdankt e8 fein Gelingen. 


Diefem Schwerte zunächſt al3 Neliquie ſteht das blutbefledte 
Taſchentuch, das Chriftian IV. in der Schlacht, in der er das 
‚Auge verlor, ruhig auf die Wunde drüdte, während er meiter 
fommandirte. Alles, was dieſen tapferen, unternehmenden, 
ſchöpferiſchen, praftifchen, bei allem Unglüd unermüdlichen König 
berührt, ift ſchon an fich bedeutend. Rührend ift das Portrait 
de3 Königs, das die unglüdlihe Prinzefjin Eleonore Chriſtine 
im Gefängniß ftidte; Stoff zu einer patriotifhen Ballade der 
fleine Anker, welcher Chriftian V. während eines wüthenden 
Sturmes rettete, da alle Stride riffen und alle anderen Anker 
verloren gingen. Aber höchſt komiſch find die Doktor-Diplome, 
welche Oxford und Cambridge dem blödfinnigen Chriftian VII. 
verehrten ; die beiden ehrwürdigen Univerfitäten haben e3 ſchon 
unter Karl II. und Jakob II. bewiefen, wie wenig dazu gehört, 
um ihre Anerkennung zu erlangen, und daß fie den Mangel an 
gefundem Menjchenverftande, auf biftorifhe und theologiſche 
Bücher geftügt, mit zur „Prärogative” rechneten. — Das 
Spiegelzsimmer, deſſen Wände, Dede und Fußboden mit Spie: 
geln ganz und gar ausgelegt find, wirft das Bild des Bejuchers 
unzählige und aber unzählige Male zurüd und macht einen bei: 
nahe unheimlichen Eindrud. Vielleicht war das nur bei mir der 
Fall, weil ich mich der alten Gejhichte erinnerte, die man von 
der Gerichtöbarkeit Venedigs erzählt. Die Zehn ließen einmal, 
wie es heißt, ein Gefängniß jo mit Spiegelgläfern auslegen und 
jperrten da einen Vatermörder fammt der Leiche des gemordeten 


Bilder aus Dänemark. 525 


Vaters hinein. Wohin er fih nun wandte, fah der Elende ſich 
und jein Verbrechen ins Unendliche multiplizirt. Und man ließ 
ihn dieſe Multiplifation fo lange betrachten, bis er in Rajerei 
verfiel und fich ſelbſt zerfleifchte. — Gewaltig groß ift ver Rit- 
terfaal ter Rojenburg; die Sage, daß der berühmte runde 
Thurm von Kopenhagen fi feiner ganzen Länge nad) in diefem 
Saale gemächlich ausftreden könnte, veranjchaulicht feine Größe. 
Die Wände find mit in Dänemark fakrizirten Gobelins bevedt, 
melde die Schlachten eines Chriftian darſtellen. Am oberen 
Ende lagern drei koloſſale filberne Löwen um einen Thron, denn 
ehemals fanden bier große offizielle Seierlichkeiten ſtatt. Jetzt 
gehören die filbernen Löwen, wie alle die Schäße der Rofenburg, 
obwohl. fie dereinft perfönliches Eigenthbum der Könige geweſen, 
dem Staate, der das Alles an fih nahm, als er ernitlih an Be: 
freiung dadhte. 

Die Dänen find ein praftifches Völklein; viefes Lob muß 
man ihnen auf Schritt und. Tritt fpenden. Nur eine Ruine in: 
mitten der Stadt erinnert an vorübergehende Phantajterei; ſtände 
fie in einer deutfhen Stadt, alle Welt würde fie als Symbol 
deutfhen, unpraftiichen Sinnes betrachten und ausſchreien. Ich 
meine die unvollendete Marmorlirche, die als moderne Ruine 
mitten im bewegten Leben der Hauptſtadt höchſt melancholiſch ihr 
obdachloſes Haupt und ihre unvollenvdeten Glieder dem Wind 
und Wetter ausgefegt fieht. Im vorigen Jahrhundert hatte man 
die eitle dee, ſich aud eine Marmorkirche beizulegen; aber es 
fand fih am Ende doch, daß man zu einem foldhen florentini- 
ſchen Luxus nicht Geld genug gehabt, und endlich fand fi, daß 
man fie auf ſchwankenden, fumpfigen Grund gebaut, der eine 
ſolche Laft zu tragen nicht im Stande war. Da mußte man denn 
aus doppelter Urfache zu bauen aufhören; und da fteht ein An: 
fang ohne Ende, der bei Weiten fein Kölner Dom ift und doc 
nie fortgefegt werben wird, 

Aber genug der Stadt, obwohl wir noch viel zu erzählen 
hätten. 


526 Bilder aus Dänemarf. 


Auf und weiter! Sehen wir uns im Lande felbft um, ſehen 
wir nah, ob uns Kopenhagen al3 Hauptitabt nicht einen Hum: 
bug vorgemacht und ob das Land zu ihr in einem entfprechenden 
Berhältniffe ſteht. So eine Haupfitadt ift oft eine Weltdame, 
welche die Mifere der Familie und ihre eigene durch Benehmen 
und Toilette zu verjteden weiß. Sehen wir, ob es aud in Däne- 
marf jo it. — Aus dem Hafen laufen täglich leichte und fchnelle 
Dampfichiffe; fie heißen Hamlet, Opbelia, Horatio. Merkſt du's? 
Sie gehen nad Helfingör, nad der unjterblichen Terrafje, wo 
des hochjeligen Königs Majeftät wandelt, bis der Hahn, des 
jungen Tag’3 Trompete, ihn ins egefeuer zurüdruft. Das 
müfjen wir ſehen; das ift Pflicht und Ruhm zugleih. Auf nad) 
Hellingör ! 


IV. i 

Mer Kopenhagen bejucht und fich von Hamlet, Horatio oder 
Ophelia nicht nach Helfingör tragen läßt, begeht eine Sünde 
gegen den Geijt ver Schönheit und die größte Sünde gegen fi 
jelbjt; denn e3 ift ein heilige Gebot, daß man allüberall den 
Spuren der Schönheit folge und daß der Lebende erlebe. Er: 
leben nur ijt Zeben, und es kommt uns nicht Alles ins Haus 
und auf die Stube, troß der prächtigſten Intuitionen. 


Wer da will Geifter fehn, 
Muß Geifterpfade gehn. 


Auf dem Wege nad Helfingör fahren wir vielen Geijtern 
entgegen: allen den Geiftefn, denen Shafefpeare Fleiſch und 
Blut gegeben, feinem eigenen ungeheuren, der, das Haupt in 
den Sternen, über Land und Meer jchreitet, dann dem norbi: 
ihen Geiſte Dänemarks, dem Holger Danjfe, und endlich der 
fosmopolitiihen Weißen Frau. Die Geifterpfade aber find in 
Junitagen licht, "blau und lachend. Herrlich ift diefe Fahrt den 


/ 


Bilder aus Dänemark. 527 


Sund hinauf, die üppige Küſte mit ihren ſchimmernden Villen, 
Fiſcherdörfern und ſchattigen Buchenhainen entlang, an Belle— 
vue, Klampenborg, Tarbeck vorbei. Rechts haben wir Schweden 
und die Inſel Hoen, auf der ſich einſt Tycho de Brahe Schloß 
und Obſervatorium baute und in den Sternen las, bevor er 
nach Prag ging zum verrückten Kaiſer Rudolf II. und in das 
ſtille Benatek, um endlich, aus purer Rückſicht für die Hof— 
etiquette, bei Tiſche ſeine Blaſe platzen zu laſſen, und elendiglich 
zu ſterben. — Das Meer war ruhig und klar, wie ein in ſich 
befriedigter Alpenſee, und wie einſt bei Salamis ſah ich auf ſei— 
nen Grund, in ſeine geheimnißvollen Wälder und in das Trei— 
ben feiner barocken Bewohner; die Luft, ſanft, feucht, war durch— 
fihtig bis in die fernfte Ferne und brachte ung Dänemarks und 
Schwedens Küjten fo nahe, daß wir glaubten, in die Fenfter 
ſehen zu können. Eine Kriegs-Fregatte benugte den ſchönen Tag, 
legte fich auf hoher See vor Anker und ſchoß zur Uebung nad 
einem fehr fernen ſchwimmenden Ziele. Wie die Kugel über die 
blaue Fläche binfuhr, ließ fie Heine weiße Rauchwölkchen auf 
ihrer Spur zurüd, Wir fuhren nahe daran vorbei, da fahen wir 
den diden König an Bord, den Fig:König. — Höher im Nor: 
den fam ung ein leijer, milder Norbwind entgegen, und fiehe 
da — ein hinreißendes Schaufpiel — mit ihm famen Hunderte 
von Segeln, die jenfeit® Helfingdr Tage lang geträumt und ge: 
wartet hatten und nun mit dem leijen Hauche fanft und groß 
in die Oſtſee einfuhren. Der glatte Spiegel war mit Einem 
Male glänzend weiß belebt; mafjenhaft, aber ſtill, faft regungs: 
08, glitten fie vem Süden zu, und immer neue famen hinter 
Kronborg hervor, al3 wollte der Geifterzug nimmer enden, als 
läge dort hinter dem Vorgebirge die Heimat aller Schiffe, die 
plöglih von Wanderluft ergriffen werden. Uns aber trug „Ham: 
let” nah Norden. 

Kronborg, das, den Sund beherrſchend, auf einem Vor: 
iprunge liegt, fam ung zuerjt zu Gefichte. Es erinnerte mich an 
die Dardanellen, wie überhaupt die ganze Gegend an die 


528 Bilder aus Dänemarf. 


Einfahrt in ven Hellefpont, nur daß ich die Ebene von Troja nicht 
zur Rechten batte und im Herzen nicht die homerijche Andacht, 
die mir an der Beſika-Bai und vor Tenedos den Athem benahm. 
Ich war im Gegentheil ärgerlich. Ein junger, jehr gebilveter 
Mann hatte ſich mir auf dem Schiffe angeſchloſſen und gab mir 
mit großer Zuvorkommenheit Aufihluß über Dieß und Jenes; 
er bot mir felbjt feinen Wagen an, den er in Helfingör hatte, 
um mir die Reife ins Innere zu erleichtern. — Sie find ein 
Deutfcher? fragte ih ihn. — Nein, erwiderte er, ich bin ein 
Däne. — Wir fprachen weiter, und fiehe da, es ergab ſich aus 
feinem Geſpräche, daß er ein Holjteiner war. Der Kerl hatte fein 
Vaterland verleugnet. Ich drehte ihm auf die Entvedung bin 
den Rüden, und als wir in Helfingör landeten, verließ er mid 
fchnell, ohne Ave zu fagen und ohne mir aufs Neue feine Dienfte 
und feinen Wagen anzubieten. Wahrſcheinlich einer von Denen, 
die Garriere machen wollen. — Helſingör mit jeinem ‘Heinen 
Hafen, feinen alten Häufern und der gewaltigen Maſſe des ge: 
thürmten Kronborg, vom blauen Meere umarmt und zurück— 
geipiegelt, nimmt fich fehr maleriih aus. In feinen langen, 
ſchmalen, ſchlechtgepflaſterten Straßen iſt es ziemlich ftill, beinahe 
ländlich. Es treibt bedeutenden Handel, aber ver Verkehr und 
die Bewegung follen zur Zeit des Sundzolles, da alle Schiffe 
bier Anker werfen mußten, viel belebter gewejen fein. Darum 
Hagen die Einwohner fehr über die Abſchaffung dieſes Stüdes 
Mittelalter. Ich nenne es nicht Seeräuberei, wie es die Erbitte: 
rung über die gehäflige Form dieſes Zolles zu nennen beliebte, 
da e3 wirklich unbillig geweſen wäre, Dänemark allein vie Koſten 
für die Erhaltung aller in diefen gewundenen, vielfachen und 
gefährlihen Gewäſſern nothwendigen Vorfichtsanftalten tragen 
zu lafjen, um jo unbilliger, als diefe Anftalten vielen anderen 
jeefahrenden Nationen eben fo und noch mehr zu Statten kamen, 
als den Dänen felbit, und al3 die Schifffahrt Dänemarks zu den 
großen Kojten in feinem Berhältnifie ftand. Die Form allein, 
in der fih Dänemark Entihädigung verſchaffte, war, wie gejagt, 


Bilder aus Dänemarf. 529 


gehäflig, unferer Zeit unwürdig und der Schifffahrt hinverlich. 
Um Helfingör feinen Verluft zu vergüten, denkt man daran, es 
durch eine Eifenbahn mit der Hauptftadt zu verbinden, fobald 
man nur Geld haben wird. Freilih hat das Projekt eine ftarfe 
Partei gegen fih, melde behauptet, dab die Dampficifffahrt 
genüge. 

Durch die Stadt wandernd, konnte ich die Bemerkung machen, 
wie groß die Fortjchritte der Givilifation feien, da fie jelbjt mit 
ihren häßlichſten Ausgeburten in dieſe von einem Seeräuber, 
Helling, gegründete Stadt im hohen Norden gedrungen ift. Die 
engen Straßen wurden mir mehrere Male durch Krinolinen ver: 
barrifadirt, und in einer fehr engen Seitengafje gerieth ich in 
ein Kreuzfeuer von Klavieren, die aus mehreren offenen Fenſtern 
rechts und links ſcheußliche Variationenmuſik mit Hinderniflen 
auf die Straßen fpieen. Aber auch den guten Seiten der Civili: 
jation begegnete ich in Helfingör. Das Volk iſt immer freund: 
ih, überaus böflih, won guten Manieren und fehr vienjtbereit. 
Sprit man Jemanden in deutfcher Sprade an, und er verfteht 
den Fremden nicht, fieht er fih nur um, und er entdedt gewiß 
im Bereiche feines Auges irgend ein Individuum, das Deutſch 
ſpricht. Mir wenigſtens begegnete Das zu wiederholten Malen. 

Bon Helfingör wanderte ih nad) Marienluft, einem ehe: 
maligen föniglihen Luſtſchloſſe, das jegt, in eine Art Kurplag 
verwandelt, ein reizendes Tusculum für viele Fremde bildet. E3 
liegt an der ſchmalſten Stelle des Sundes, und Helſingborg, jo 
wie viele einzelne -Häufer und Gehöfte auf der ſchwediſchen Seite, 
eben jo das Gebirge Kullen find mit freiem Auge fehr deutlich 
zu ſehen. Da entfaltet fih ein Landſchaftsbild, mit Segeln als 
Staffage im Bordergrunde, ein Landſchaftsbild, welches ſich in 
die Seele photographirt und das man für alle künftigen Zeiten 
als ein liches Andenken mitnimmt. Den möchte ich fennen, oder 
vielmehr nicht kennen, in defjen Erinnerung fich diefer Eindruck 
zu verwifchen vermag. Stunden und Stunden lang faß id auf 
ver berühmten „Zerraffe” hinter dem Haufe, vderfelben, wie 

Moris Hartmann, Werke II. 34 


530 Bilder au Dänemarf. 


ernftlich verfichert wird, auf der Bernardo Wache hielt und auf 
der „Es“ erfchien, auf der Horatio al3 ein scholar „Es“ an: 
redete, und während ich da mein Beefiteak verzehrte, ſah ich eben 
jo vergeiftigt hinaus, wie beim Kaffee und mit der Cigarre. Bei 
dieſem Anblid beften unfichtbare Genien felbft dem Beefiteafefler 
bläulihe Fittiche an die Seele. Ich hatte wieder eine Perle zu 
den Berlen gefunden, die ich zu einer Schnur um den Naden 
meiner Pſyche auf dem Erdboden ſammle. Zu den Erinnerungen 
an die Thefie von Pera, an die Ruinen von Smyrna, an Su: 
nium, an die Terrafje von Vevey, an die Pointe du Raz und 
andere fügte ich die Terraſſe von Heljingör. 

Natürlih beſuchte ich auch „Hamlet’3 Grab,” das mich 
feiner Authentizität wegen, mit Reſpekt zu reden, an Monte 
Chriſto's Gefängniß im Chateau d’Sf erinnerte. Und doch! — 
troß diefer jpefulativen Profanation, die fih, noch immer fee 
räuberifh, & la Helfing, zweiunddreißig Schillinge für den An- 
blid diefes Grabes zahlen läßt, doc fühlt man fich hier, ſobald 
man fih den Namen „Terrafje von Helfingör” ausfpriht, vom 
Geifte Shafefpeare'3 ummeht, wie auf der Ebene von Slion 
vom Geijte Homer’3. Selbit vie „Quelle Ophelia's,“ in ver ſich 
die Holde nur hätte ertränten können, indem fie mit Gewalt den 
Kopf unter Wafler hielt, und die man fo nennen mußte, weil es 
in der ganzen Gegend Fein ſüßes Wafler gibt, in das man fie 
ihatefpeariih hätte werfen können — felbjt diefen Humbug be: 
trachtet man mit Andacht. Selbit diefer Schwindel mahnt ja an 
die allmächtige Belebungskraft des Genie’. Wie mächtig zeigt 
ſie fih aud) hier, da fie mit der Dichtung die alte nationale Sage 
vom Prinzen Amlet in Jütland, wo fie zu Haufe ift, entwurzelte 
und mit Allem, was fie hinzugethan, bieher verpflanzte — nur 
weil Er, William, über feine Szene ſchrieb: Terrajje von 
Hellingör. 

Manche Forſcher verlegen den Geift von Hamlet’3 Vater auf 
die Platform von Kronborg; Urfache genug, dieſe penfionirte 
SundzolleDardanelle zu befuhen! Sie liegt, dur ein baum: 


Bilder au Dänemarf. 531 


bepflanztes Glaci3 von der Stadt getrennt, auf einem Vorjprunge, 
überblidt den ganzen Sund und kann ihre Kanonenkugeln bei: 
nahe bis an die ſchwediſche Küfte jchleudern. Kronborg : Schloß 
ift eine fehr reſpektable Maſſe; die Mauern des eigentlichen Schloß: 
gebäudes find gewaltig hoch, reich verziert, mannigfaltig und 
voll Bewegung; die hohen Thürme vollenden feinen malerischen 
Charakter. Es ift mit viel mehr Geſchmack ausgeführt, als folchen, 
gewifjen pofitiven Zweden bejtimmten Schlöfjern oder Feſtungen 
eigen zu fein pflegt, und ſchon diejer Umſtand läßt uns errathen, 
daß ihm Chriftian IV. den Stempel aufgevrüdt hat, obwohl es 
ihon unter Friedrich II. angelegt worden. Auch das Gemifch 
von Gothiſch-Romaniſch-Renaiſſance-Styl verräth ihn, aber 
nicht das Gemiſch allein, vielmehr der Geijhmad, das Sinnvolle 
dieſes Gemiſches. Durch moderne Feltungsmauern, über Zug: 
brüden gelangt man in den Hof, der öde ausfieht und ven Cha: 
rafter eines Kajernenhofe® angenommen bat. In der That ift 
Kronborg heute nicht3 Anderes mehr, als eine Kaferne, Es 
wimmelte da von Soldaten. Ich näherte mich ihnen, um allerlei 
Auskunft zu erlangen, und fiehe da, es waren Deutſche. — Ich 
glaubte, jagte ich zu ihnen, hier nur Dänen zu finden. — Nein, 
fagte Einer, nichts Dänen — mir find Holfteiner! Dabei blin- 
zelte er mit dem einen Auge, und die Anderen lachten. — Nun, 
nun, fagte ich abfihtlih, Holfteiner in diefer Feſtung und in 
diefer Uniform find doch halbe Dänen! — Nein! riefen Mehrere, 
und mit mehr Muth und lauter, als der Erſte, wir find Hol- 
fteiner, wir find Deutſche! — Dieſe laute Berfiherung im Hofe 
diejer däniſchſten Feftung that mir wohl, beſonders nad) der Er: 
fahrung, die ich diefen Morgen mit dem Gentleman vom Dampf: 
Ihiffe gemacht. Indeſſen fühlte ich feinen weiteren Beruf, ich 
ver Gajt, hier aufrührifch zu wühlen, und ging mweiter, um das 
Innere des Schlofjes zu bejehen. | 
Die Kapelle hat eine gewifle Berühmtheit, aber ich fand fie 
mit Ausfhmüdungen zu fehr überladen und zu Heinlich mit 
Farben ausgeziert. — Eine der intereffanteften Erinnerungen, 


532 Bilder aus Dänemark. 


die fih an die Gemächer dieſes Schloffes knüpfen, ift die an vie 
arme Mathilde, vie Geliebte Struenfee'3, welche in der Nacht, 
da die Verſchwörung Julianend und Guldbergs ausbrach, als 
Gefangene hiehergebradht wurde. Hier wohnte fie, bis fie nad 
Gelle in die Verbannung geſchickt wurde, in daſſelbe Schloß 
neben dem berühmten Zuchthauſe, das ich vor Kurzem erſt im 
Mondenſchein, umklungen von Nacdtigallengefang und umduftet 
von einem Walde von Blüthen, gejehen habe. Ein höchft poefie- 
volles Zuchthaus. — Die Platform von Kronborg: Schloß ge: 
währt eine Ausficht bis Kopenhagen und tief hinein nah Schwe- 
den. Um die „Weiße Frau“, die auch hier fpazieren geht, zu 
ſehen, war es noch zu früh am Tage, und Holger Danffe konnte 
ich nicht befuchen, da er unten, unter den Wölbungen des Schlofjes 
figt und der Fremde dafelbjt nicht Zutritt hat. Die Keller des 
Kronborg: Schlofjes nämlih find Dänemarks Kyffhäufer oder 
Untersberg, und Holger Danfte ift der National-Held und Geift, 
der bei Gelegenheit hervorfommen und feinem Lande helfen foll, 
ver dänische Barbarofja, Marko oder Artus, 


V. 


Um ins Innere des Landes vorzudringen, mußte ich Extras 
poft nehmen und hatte jo nad langen Sahren wieder einmal ein 
Vergnügen, deſſen Erijtenz in vielen Gegenden des Kontinentes 
beinahe nicht mehr geahnt wird. Im offenen Wagen fuhr ich 
über die Heinen Hügel dahin, die man in anderen Ländern kaum 
al3 foldhe anerkennen würde. Rechts blieb der Hügel Odin's. 
Aber nichts auf dem ganzen Wege reimte mit diefem alt=nor: 
diſchen Namen; ich fuhr durch ein modernftes, civilifirteftes Land. 
Dörfern begegnete ih zwar nur felten, aber die einzelnen Häufer 
und Höfe, die über das Land zerftreut find und mitten unter den 
zu ihnen gehörigen Feldern und Fluren liegen, athmen Wohl: 


Bilder aus Dänemark. 533 


jtand, Gemädhlichkeit, Bildung. Nirgends Armuth, nirgends 
Rohheit. Bücher, Zeitungen, Schulen werden gemöhnlid als 
Kriterien der Bildung eines Landes betrachtet; ich habe mich auf 
allen meinen Reifen überzeugt, daß es noch ein andere und 
vielleicht überzeugenderes Kriterium gebe, und dieſes ift die Rein— 
lichkeit der Kinder. Man kann ficher fein, daß man fid) in einer 
ungebilveten Gegend befindet, wo ſich auf der Straße unge: 
wajchene, ſchmutzige Kinder, in zerrifjenen Kleidern, mit ftruppigen 
Haaren berumtreiben. Ganz anders ift e8 im ganzen nördlichen 
Seeland, das ih von Helfingdr aus durdftreift habe. Die Kin- 
der find reinlich gewaſchen, einfach, aber gut, jelbit in ven Dör- 
fern beinahe ſtädtiſch gekleidet ; die blonden Haare hübſch gelodt 
oder in Flechten um den Kopf geſchlungen. Breite Sommerhüte 
ihüten fie gegen die Sonne, die übrigens ihrem norbifchen In— 
farnat nicht3 anzuhaber vermag. Dabei find vieje lieblidyen 
Kinder überaus freundlih, nicht im Mindeften wild oder jcheu, 
grüßen jeden Fremdling aufs Höflichjte und gehen auf jeden 
Scherz ein, den er fich mit ihnen erlaubt. Es war immer ein 
liebliher Anblid, wo eine Gruppe jpielend unter einem Baume 
lag oder über Raine und Feldpfade der Schule zueilte. Ungefähr 
eine halbe Stunde lang fuhr ich einmal in Geſellſchaft ſolcher 
literarifcher Jugend beiderlei Geſchlechtes; ich lud eine Gruppe 
von Fünfen ein, mit mir zu fahren, und lachend nahmen fie 
meine Einladung an, ftiegen ein und ergößten mich und den 
Poftillon, bis wir fie vor dem Schulhaufe abfegten. Volksſchulen 
gibt e3 in größtmöglicher Anzahl in ganz Seeland. In vielen 
Dörfern bemerkte ich allerlei Turnapparate, und auf Erfundigung 
erfuhr ih, daß mit beinahe allen ee Turn: Anitalten 
verbunden find. 

Es war eine reizende Fahrt. Bon jeder kleinſten Anhöhe jah 
man über die flache Küfte hinweg auf das blaue Meer, und wie 
tief man fi auch ſchon im Lande befand, bei der durchſichtigen, 
Haren Luft war es doch immer, als führe man in nächſter Nach 
barſchaft der weißen Segel, die ruhig träumend dahinzogen. Die 


534 Bilder aus Dänemarl. 


Heinen Haine auf Anhöhen und in Thälern bildeten jaftige Vor: 
bergründe und mandmal ſchöne Rahmen zu vollendeten See: 
jtüden. Endlich verfhwand das Meer, denn wir waren im 
Buchenwalde von Friedensburg, einem der ſchönſten Wälder, ver 
alle Reize und nichts von dem Schreden oder der Düjterheit 
eines Waldes befigt. In einen folhen Wald kann der rohe Zu: 
fall, nie aber der Dichter, die Scene eines Verbrechens oder 
einer wilden That verfegen; der Dichter, die menfhlihe Phan— 
tafie überhaupt wird ihn nur mit Einfamen oder Gruppen be: 
leben, die ein tief inniges Glüd oder Troft im Schooße der 
Natur fuhen, wie das Kind im Schoofe der Mutter. Seeland 
ilt das Land der ſchönen Wälder. Iſt das Meer verſchwunden, 
fo lächelt ung zum Erſatz dur das Didicht des Waldes mit 
Einem Male der Esrom-See, ein Miniatur: See, aber groß 
genug, um großer Schönheit al3 Spiegel zu dienen. 

Am Ufer diefes See's, von diefem Walde umſchlungen, Tiegt 
das Schloß Friedensburg. Wir find in der Gegend, wo es von 
föniglihen Schlöffern wimmelt, was zwar nicht dem ökonomiſchen 
Sinne, aber dem Gejhmade ver Könige Ehre madt. Die Klein: 
heit Seelands in Anfchlag gebracht, gibt e3 vielleicht fein Land, 
das fo viele und größartige Schlöffer befäße. Friedensburg 
ſpeziell ift zwar durch feine Lage, nicht aber durch feine Bauart 
ein gutes Zeugniß für den Gefhmad feines Erbauers, Fried: 
rich's IV., der es als ein Denkmal an den mit Karl XII. ge 
ſchloſſenen Frieden aufführen ließ. Daher der Name und daher 
auch die gezwungene Form eines Friedenstempel3; daher auch 
die Schlechte Bildjäule der Konkordia im Schloßhofe. Etwas Ba: 
roderes als diefen Bau habe ich felten gejehen. Er bejteht zum 
größten Theile aus Einer großen Halle, die fi) bis zur höchſten 
Höhe des Schlofjes erhebt und ſich oben al3 Kuppel vereinigt. 
Auf halber Höhe läuft eine Galerie herum, in welche viele Kor: 
rivore münden, an die ſich wieder die Zimmer anreihen. Aus: 
geſchmückt ift die große Halle mit ſchlechten Bildern, die fi auf 
Friedrih und Karl beziehen. — Man erwartet an diejem lieb: 


Bilder aus Dänemarf. 535 


lichen See, in dieſem herrlichen Walde etwas Schöneres; das 
Schloß ift öde, ungemüthlich, beinahe gejpenjterhaft und paßt fo 
ganz allein zu den Gejpenjterfagen der Gegend. Wir befinden 
uns bier nämlich in der Gegend des dänifchen „Wilden Jägers.“ 
König Woldemar wohnte nicht weit von hier, in einem mitten 
im Gurre-See gelegenen Schlofje. Er verficherte, daß er mit 
Vergnügen auf den Himmel Verzicht leiſten würde, wenn er nur 
für alle Ewigkeit in dieſer ſchönen Gegend wohnen und jagen 
könnte. Mit diefen Worten hat er ſich verfündigt, denn es ſteht 
dem guten Chriften nicht frei, auf die geringjte himmlische Selig: 
keit Verzicht zu leiten, und fein Wunsch ift ihm erfüllt worden. 
Er wohnt und jagt nun ewig in diefen Wäldern, aber nicht mit 
dem Geficht im Naden, fondern wie andere ordentliche Menjchen. 
Auch iſt er fein böfes Gejpenjt, vor dem man ſich fürchtet, jon- 
dern ein jovialer, guter Patron. Manchmal, bei bejonders 
gutem Wetter, reitet jeine zarte Geliebte Tovedille mit ihm; das 
fpricht jehr für Woldemar, denn ein Geift, der mit feiner Ge- 
liebten im Mondenſchein augreitet, ijt gewiß ein gemüthlicher Geiſt. 

Meiter durch den berrlihen Wald und nah faum einer 
Stunde mäßigen Trabes taucht das Wunder Dänemarks, das 
dänifhe Chenonceau, das alte Schloß Friedrihsborg, aus 
Wald und Wällern auf. Wie das genannte franzöfiihe Schloß 
erhebt jich Friedrichsborg mitten aus der Fluth eines Keinen See's, 
aber größer, großartiger und pradhtvoller. Alle anderen Bauten 
Chriftian’3 IV, erfcheinen uns mit Einem Male wie Eleine Ber: 
ſuche und Vorarbeiten, die nur Kraft und Gejchmad für dieſes 
Werk üben und bilden jollten. In ver That war er bei dieſem 
Baue mit feinem ganzen Herzen, feinem ganzen Gemüthe, denn 
er liebte diefe Gegend, in der er auf offenem Felde geboren war; 
auch nannten die Schranzen feinen Plan, hier ein folches Wunder: 
werk aufzuführen, einen „Kindertraum.” Vielleicht war es auch 
ein Kindertraum, vielleiht ift das Schloß darum jo märdhen- 
baft ausgefallen. Chambord etwa ausgenommen, fenne ich Fein 
Königsſchloß auf plattem Lande, das fich mit diefem meljen könnte. 


536 Bilder aus Dänemart. 


Die Lage mitten im Waſſer; die prachtvollen Buchenhaine und 
Gärten, die ſich überall jo nahe als möglich herandrängen, um 
e3 zu befränzen; das gewaltige, vier Stod hohe Haupt-Gebäubde; 
die fünf zum Himmel aufftrebenden, mafligen und doch fo Iuf: 
tigen Thürme; die zahllofen Nebengebäude, die ſich anfchließen 
und maleriſch gruppiren; die Brüden, Galerieen, Thore, die 
Alles verbinden; die Wälle, Zinnen und Gräben, die in Win: 
dungen das Ganze umſchließen; die bald rofige, bald duntle 
Farbe des Material3, die edle, grüne Roſtfarbe der gewaltigen 
Dächer — alles Das vereinigt ih zu einem fo wunderbaren 
Ganzen, dab man an jeine Griftenz nicht glauben würde, wenn 
man in diefen Höfen, Galerieen und Gängen Pagen, Nittern 
und Edelfräulein begegnete. Die Dede und Stille aber, die auf 
dem Schloſſe liegt, die zwei oder drei Deutſch redenden Schild— 
wachen machen die ganze Erjcheinung glaubwürdig und leibhaftig. 

Der Styl ift auch bier jehr jchwer mit Einem Worte zu be 
jtimmen. Die Dänen thäten am Beten, wenn fie ihn einfach 
den Styl Chriſtian's IV. nennten; da ſich diefer König im 
Ganzen fo fonfequent blieb und offenbar einen beftimmten und 
ausgejprodhenen Gejhmad hatte Auch Frievrihsborg Fönnte 
man gothifch : buzantinifch = normannisch nennen, aber man würde 
damit nur einen fehr entfernten Begriff von der Bauart geben; 
Chriftian hat eben aus den überlieferten Elementen etwas An: 
deres, Neues, Eigenes, Perſönliches gemadt. Die unteriten 
Theile haben mit den genannten Stylen gar nichts zu fchaffen. 
Da iſt im großen Hofe eine Halle, die den ſchönſten Florentinern 
aus der Zeit des Erwachens Ehre machen würde, und in den 
äußeren Niſchen der niebrigen Gebäude, welche den großen Hof 
ſchließen, jtehen, dem Kommenden entgegen fehend, zwölf Sta= 
tuen, die auch unter dem erften Cosmus gejchaffen fein könnten. 
Im Allgemeinen haben die Skulpturen, die man in großer 
Menge an Thoren, Säulen, Wänden findet und welche doch zu 
Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts gejchaffen find, den 
Charakter des fünfzehnten Jahrhunderts. Vollendete Produfte 


Bilder aus Dänemark. 537 


der Renaiſſance hätten in dieſen Norden, zu dieſen Thürmen 
und gewaltigen Maſſen weniger gepaßt. 

Ungern tritt man aus den Höfen in das Innere, denn kein 
noch ſo prächtiger Saal kann den Genuß gewähren, den der An— 
blick auch nur eines kleinen Winkels im Hofe gewährt. Aber der 
gewiſſenhafte Reiſende muß. Stundenlang kann man in den 
unendlichen Gängen und Gemächern umherwandern. Man ſieht 
nur zu viel. Ein Eindruck verdrängt den anderen. Was bleibt, 
iſt am Ende die Erinnerung an die ſchöne Ausſicht aus allen 
Fenſtern, über die Buchenhaine dahin, über den Esrom-See, 
den Arre-See und die lieblichen Gärten zu unſeren Füßen, dann 
an die Schloßkirche, an den Ritterſaal und an die Portrait— 
Galerie. Die Schloßkirche iſt vorzugsweiſe ihrer Größe und ihres 
Reichthums wegen merkwürdig; aber das koſtbare Material, das 
viele Silber iſt nicht mit Geſchmack verſchwendet, eben ſo das 
Elfenbein an der Decke, obwohl Chriſtian ſelbſt daran gedrechſelt 
haben ſoll. Der Ritterſaal über der Kirche, ein unendlich langer 
Raum, wie man mir ſagt, der größte Ritterſaal in Europa, iſt 
unbegreiflicher Weiſe ganz entſtellt, indem die Decke ſo niedrig 
iſt, daß ſie auf den Kopf des Beſuchers zu drücken ſcheint. Im 
Verhältniß zu ſeiner Länge müßte dieſer Saal wenigſtens drei 
Mal ſo hoch ſein. Zum Ueberfluß iſt dieſe zudringliche Decke ſo 
bunt mit kleinlichen Skulpturen ausgeſchmückt, daß fie ihre Niedrig— 
feit nur noch zudringlicher bemerflih macht. — Viel intereflanter 
ift die endlofe Portrait:Galerie. Da iſt ein Volk von berühmten 
Dänen und Däninnen, auch Fremden, Königen, Prinzen, Ge 
neralen, Miniftern, Hofleuten, Gelehrten, Intriguanten zc. ver 
fammelt: für den Hiftorifer find dieſe Gefichter eben fo viele 
lebendige Quellen. Manches diefer Augen wird ihm dunfle Stellen 
der Geſchichte beſſer beleuchten, als es ein dickes Buch oder ein 
würdig Pergamen vermag. Lange Zeit vermeilte ich wor dem 
Portrait Tycho de Brahe's, erjtaunt über die Trivialität, faſt 
möchte ih jagen: Gemeinheit diefer Züge. Vielleicht thut ihm 
die abgehauene und wieder angefegte Naſe Unrecht. Auch 


538 Bilder aus Dänemark. 


Mathildens nicht unholdes Geſicht ſah ich, aber Struenſee war nicht 
zu finden. Sein Portrait exiſtirt im Schloſſe, aber man hängt 
es nicht auf, wie man im Dogen-Palaſt Marino Falieri's Portrait 
nicht aufhängte und än deſſen Stelle die Worte ſchrieb: Hic est 
locus Marini Falieri. So wird auch Jeder, der Mathildens 
Portrait ſieht, auf ihrem Herzen die Worte leſen: Hier iſt der 
Platz Struenſee's. Es nützt nichts. Man kann hiſtoriſche Por: 
traits, trotz allem Willen der Könige, nicht mit dem Geſichte zur 
Wand kehren. — Wie Franz J. in die Fenſterſcheibe von Cham— 
bord ſein bekanntes Femme souvent varie, geſchrieben, ſo ſoll 
Mathilde auch in eine Fenſterſcheibe dieſes Schloſſes einen Vers 
geſchrieben haben — aber ich ſuchte ihn vergebens, ich fand ihn 
nicht. Der merkwürdige Vers lautet: 


O keep me innocent, make others great. 


Sie wollte alfo feine Größe, und ihre Liebe ſchien ihr unjchulvig. 

Die Stuterei in nächſter Nähe von Friedrichsborg habe ich 
nicht beſucht. Doch find die Dänen auf dieſes Inſtitut fajt eben 
jo ftolz, al3 auf den herrlichen Bau von Frievrihsborg. Sie 
behaupten, daß man Pferde, wie die aus diejer Erziehungs 
Anjtalt hervorgehenden, nicht wieder finde. Diefen Sommer hatten 
fie auch Urfache, fich dieſes Befiges aufs Poſitivſte zu freuen, 
denn in der kurzen Zeit des Kriegslärms haben fie an 16,000 Pferde 
ins Ausland verkauft und große Geldfummen ins Land gebradht. 

Gegen Abend fuhr ich von Friedrichsborg weiter, auch ohne 
das Städtchen Hilleröd, das fih, wie Schuß ſuchend, an das 
Schloß jhmiegt, gejehen zu haben. ch fürchtete, durch die Atmo— 
jphäre einer Heinen Stadt um die Stimmung zu fommen, in die 
mich die künſtleriſche und biftorifche Betrachtung des Schlofjes 
verjegt hatte. Ich ſchied ungern. Die vertraulihe Bekanntſchaft 
mit einem fo ſchönen, ftimmungsvollen, romantiſchen Baue müßte, 
da3 fühlte ih, für ale Zukunft anregend wirken, Geijt und 
Phantafie befruchten wie ein großes Gedicht. So bleibt es nur 
ein Touriften-Eindrud, und man erfcheint fich felbit oberflächlich 


Bilder au Dänemark. 539 


und frivol, wenn man fi damit begnügt. Wie der Wilde Jäger 
immer rüdwärts fehend, fuhr ich in den Abend und ins Land 
hinein. 


VI 


So rückwärts gefehrten Gefichtes fuhr ich einft von Chambord, 
der verlaffenen und verfallenden Meifterihöpfung Primaticcio's, 
des Schüler Raphael's. Wie eine Fata Morgana ſchwebte 
Friedrihsborg im Abendſchein am Horizonte, hob ſich bald ftolz 
empor und fenkte ſich bald in die Tiefe, ala ob es jet in bie 
Höhe, jet in den Erdboden verſchwinden wollte, je nachdem ich 
über Thal oder Hügel der gewellten Ebene hinfuhr. Zum Glüd 
verſchwand e3 doch endlich ganz, und ich hatte Augen und Muße, 
das Land zu betrachten. 

Es ift ein gejegnetes Land, und der Gegen ift die Frucht der 
Arbeit. Da ift faum eine Hufe Erdbodens unbenugt gelafjen: 
Alles, Alles aufs Fleißigfte angebaut. Die Saaten wogten wie 
ein unendliche Meer, und ich glaubte, was man mir in Kopen- 
bagen gejagt hatte, daß man jährlich vier Millionen Tonnen Ge: 
treide ausführe, daß die Ausfuhr feit Aufhebung der Korngejege 
in England ſich vervielfacht habe. Die Wälder und Forfte weichen 
in diefer Gegend Seeland: ganz und gar der Agrikultur; erft 
jenfeit des Roeſtilder Fjords heben fie wieder ihre Kronen empor. 

Ueber diefen fernen Wäldern im Weften und über den blauen 
Waſſern des Fjord3, der bereits hier und da auftauchte, lagen 
die rofigiten Abendwolken und deforirten mit wehenden Schleiern 
und faltigen Vorhängen einen wonnevollen Sonnen-Untergang. 
Und als die Sonne untergegangen war, leuchteten die lichtge- 
tränkten Wolken felbjtändig fort, und als fie nad) und nad 
verglommen, blieb doc eine lichte, ruhevolle Dämmerung über 
das Land ausgebreitet. Es war fo til, fo hochfeierlih. Ich ſah 
mich um — und was fah mein erftauntes Auge? Ich fuhr durch 


540 Bilder aus Dänemarf. 


ein großartiges Todtenfeld, denn wohin ich jah, recht3 und links 
in einem großen Kreife erhoben ſich überall gewaltige Hünen- 
gräber mitten aus den friedlichen Feldern. Wie fie ih am lich: 
ten Abendhimmel abjchnitten, fehienen fie immer größer und ges 
maltiger zu werden. Eines derſelben hatte im Profil die größte 
Aehnlichleit mit dem fogenannten Grabe des Achilles auf ver 
trojaniihen Ebene. Hier und da lehnte fih ein Bauernhaus, 
dem Nordwinde ausmweichend, an einen ſolchen Hügel, oder jchlang 
jih ein Heiner Garten um feinen Fuß. Es war mir, als führe 
ih in die Zeiten Ragnar Lodbroks, war doch auch die ganze Be: 
leuchtung jo, wie man ſich das Licht dämmeriger Urzeiten vorzu⸗ 
ftellen pflegt; und 'e8 war mir, al3 ob ſich die Hünenhügel 
jtredten und redten, um mir nachzufehen, al3 ich in Friedrich: 
fund einfuhr. 

Friedrihsjund ijt ein fleines Neſt, das aber feinen Fjord 
auszubeuten verjteht. Hier wird viel von dem Getreide verladen, 
da3 die Inſel ins Ausland ſchickt. Ich benußte den hellen Abend 
— es wird bier gar nit Naht im Monat Juni — um nod 
einen langen Spaziergang am Fjord zu machen; ein polnijcher 
Jude, der fich viel in der Welt umgejehen und fich feit langer 
Zeit in diefer Gegend aufhält, um fie handeln auszubeuten, 
ſchloß fih mir an und wußte nicht genug vom Reihthum, vom 
behaglihen Leben und von der Bildung der Bauern zu erzählen. 
Er war förmlich empört über alles Gute, das er rühmen mußte. 
— Stellen Sie ſich vor, rief er, Bauernmädchen fpielen Klavier! 
Ihidt jih Das? Nein, bei Gott nit! Und ihr Geld geben fie 
aus, wie große Herren, mit Gefhmad, für wirklich ſchöne Sachen. 
Geld haben fie wie Mift für lauter Getreide und Pferde und 
haben feine Idee, daß die Bauern anderswo anders leben und 
eigentlich Ieben follen. Nein, bei Gott nicht, feine Idee! Was 
fagen Sie dazu? Bücher haben fie au, in jedem Haufe find 
Bücher, und fie lefen und fohreiben. Wenn ich Das in Polen er: 
zähle, wird mir’3 fein Menſch glauben, bei Gott nicht! Ich werd's 
auch nicht erzählen. Warum foll ich's erzählen und für einen 








Bilder aus Dänemarf. 541 


Lügner gehalten werden? Hab’ ich nicht Net? Stellen Sie fi 
vor, hier in viefem Nejt, in dieſem Friedrichsſund — es ift 
freilich fein Dorf, e3 iſt ein Städtchen, aber ein Städtchen wie 
ein Dorf — was thu ich damit, daß es fich heißt ein Städtchen, 
wenn e3 ein Neft ift — bier in dem Neſt Friedrichsſund lernen 
die Heinen Mädchen zwei und drei fremde Sprachen, bei Gott, 
fremde Spraden, Deutſch, Franzöſiſch, Engliſch, was weiß ich! 
Da find jo Damen, die unterridhten in allen Sprachen. Haben 
Sie Das fhon in Ihrem Leben gehört von fo einem Neft? Sie 
find ja aud ein Mann, der viel herumgekommen ift in der Welt, 
man jieht3 Yhnen an, auf Ehre, bei Gott, ich bin aud ein 
Dann, der viel herumgelommen ift in der Welt, aber haben 
Sie Das ſchon erlebt? Engliih, Franzöfifh und Deutſch, auf 
Ehre! Kinder, Kleine Kinder! — Aber mas wahr ift, ift wahr; 
Das muß ich jelber jagen, Geld geben fie aus, viel Geld, und 
fie handeln nit, und man kann bier viel verdienen. Ich bitte 
Sie, wär ich fonft hier? Was habe ich in Friedrihsfund zu 
thun? Mein Lebtag habe ich nichts von Friedrichsſund gehört, 
aber wo ver Menſch fein Auskommen findet, da bleibt er. Die 
Zeiten find jhleht, muß man fehen, viel zu verdienen. Die 
Bauern geben Geld aus wie die großen Herren; es jehidt ſich 
nicht für Bauern, bei Gott, es ſchickt fih nicht, aber man ver- 
dient. Was geht's mich an? Ich ſage Ihnen, ein fehr gebilvetes 
Zand, bei Gott ein fehr gebilvetes, fehr ein gebilvetes Land! 

Kommen viele Verbrechen vor? fragte ich. 

Db Verbrechen vortommen? Warum follen nicht Verbrechen 
vorfommen? Gewiß fommen Verbrechen vor; überall in ber 
Melt, wo Menſchen find, kommen Verbrechen vor, bei Gott! 
Unlängjt erft haben viele reiche Leute ein Verbrechen begangen. 
Bei einem Wirthe, ver feinen Wein ſchenken darf, haben fie Wein 
getrunfen, und vor Gericht haben fie gejagt, fie hätten allerdings 
Mein getrunken, aber fie hätten ihn nicht bezahlt. Darauf aber 
ijt der Knecht des Wirthes aufgetreten und hat gejagt, fie hätten 
allerdings Wein getrunfen und hätten ihn allerdings auch bezahlt. 


542 Bilder aus Dänemarf. 


Gott, Allmächtiger, welche Schläge der Knecht von den reichen 
Leuten befommen hat! Sie fünnen nämlich nicht leiden, wenn 
einer denunzirt. 

Diejes Geplauder, das tief in die Nacht hinein dauerte und 
mir meine Beobachtungen beftätigte, war mir darum angenehm, 
angenehmer, al3 die Lieder des Geſangvereins, der fich in einem 
Saale des Gajthaufes neben meiner Stube verfammelte und 
meinen unſchuldigen Schlaf mordete. Als er endlich ſchwieg, war 
e3 die Helle der Nacht, die, mit Macht durch die Vorhänge drin— 
gend, mich am Schlafen verhinderte. Ich mußte den Vorhängen 
mit Plaid und Mantel zu Hülfe fommen, um mir eine fünftliche 
Naht zu jchaffen. Nein, diefe nordiſchen Zwielichtsnächte wären 
nicht nach meinem Geſchmack. Selbſt das Zmwielicht dauert höch: 
ſtens zwei Stunden; ſchon in der zweiten Stunde nad Mitter: 
naht iſt der ganze Himmel wieder weiß, und gegen drei Uhr 

glänzt er hell und Har. 
Sehr früh jaß ich ſchon wieder marjchbereit auf dem Damme, 
ber mweit in den Fjord hinaugläuft, das Dampfſchiff erwartend 
und die Wartezeit benugend, um mir das Bild diejer merfwür: 
digen Landſchaft gehörig ins Gedächtniß zu prägen. Der Roe: 
ſtilde Fjord ift eigentlich nur eine Fortjegung des breiteren Meer: 
bujens Iſe Fjord, mit dem er durch einen fehmalen, gegen Weſten 
gebogenen Hals oder Kanal zufammenhängt. In vielfadhen Win: 
dungen, mit vielen Seitenbuchten, läuft er lang und ſchmal, tief 
ins Land hinein, wie einer der ſchottiſchen Loghs. Doc hat er mit 
diefen nur wenig Nehnlichkeit, denn während jene überall von 
Bergen umgeben find und felbft im Innern des Landes und der 
Gebirge den großen Charakter des Meeres tragen, find bier die 
Ufer unbedeutend flah und würden fehr öde und unerquidlic 
ausjehen, wenn nicht die weltlichen durch die prachtvolle Zaub- 
waldung von Sägerspriis, wieder eines der Königsſchlöſſer, 
einiges Leben hervorbrädhten. Die Hünengräber, die überall an 
den Rändern de3 Roeftilde Fjord auffteigen, find nicht groß genug, 
um ihn landſchaftlich zu Shmüden, fie thun es nur, jo zu jagen, 


Bilder aus Dänemarf. 543 


gedanklich, mit Hülfe der Reflerion. Denn freilich jtimmt es 
ganz eigenthümlich, diejes öde Waſſer, das überall uralte, ge: 
beimnißvolle, unbekannte Grabmale wiederfpiegelt; die Phantaſie 
bevölfert die Ufer mit den Geftalten, die jegt, jeit taufend und 
zweitaujend Jahren, in ihrem Schooße ruhen; anjtatt der Hügel 
ſieht man ihre Einwohner in gewaltigen, geflügelten Helmen, 
groß wie jene Buchen, in Schaaren dahinziehen, oder am Waller 
lagern, oder auf diejen öden Geftaden in wildem Kampfe ein- 
ander vernichten. Ich hatte vie nordiſche Gegend, die edda— 
hafte, die ich bis jegt vergebens fuchte, gefunden. Alle Ber: 
gleihungen mit dem Süden, alle Erinnerungen an hejperijche 
oder hellenijche Lande hörten hier auf, troß der ſüdlichen Sonne, 
der glühenden Luft, der Bläue des Fjords. Meine Augen muß: 
ten mir jagen, daß er blau war; meine Bhantafie jah ihn ſchwarz, 
denn zu den KHünengräbern, zu ver Dede ring3 umher paßte 
Schwarz beffer, war kymmeriſche Dunkelheit eine natürlichere 
Beleuchtung. Wie ich bei der Einfahrt in den Archipel, gleich 
hinter Cythere und Melos, beim Anblid des blauäugigen Meeres, 
der Schönheitzlinien der griechiſchen Berge die hellenifchen Dichter 
befjer zu verjtehen glaubte, jo meinte ich auch jegt den Schlüflel 
zu den ©eheimniffen der Edda und der alt= nordijchen Dichtung 
und der Ajen:Religion gefunden zu haben. Das find jo Illu— 
ſionen, Erkenntniſſe, die fih nit mit Gedankenhänden faflen 
fallen, Blige, die einen Moment erleuchten — aber bezeichnend 
jind fie doch. Tritt man in die Gegend von Ajodhia, oder Dude, 
der Stadt der Jlfen, wird man gewiß Rama und Fiichma, die 
Geſchichte der Bandu’3 und der Kuruinge und die ganze Religion 
des Manu beſſer zu verftehen glauben. 

Freilih, das Dampfihiff, das vom Norden herkam, mwedte 
mich aus den altnordiihen Träumen und trug mid dem Süden 
zu — wieder vorbei an Hünengräbern. Dampfſchiff und Hünen- 
gräber! Mehr ald anderswo hat man bier Gelegenheit, Betrach: 
tungen über den Wandel der Zeiten anzuftellen, Betrachtungen, 
die aber zu allen Zeiten banal geweſen. Daß die Welt ſich ewig 


544 Bilder aus Dänemarf. 


verjünge, und daß wir mit unferer Gejchichte allein alt werden, 
das ift eine alte, befannte Gefhichte, die man lieber vergeilen, 
al3 immer wieder auffrifchen follte. 

Der Roeftilvder Fjord gleicht einem See; die wenigen Fijcher: 
und Schifferhäufer an feinen Ufern erinnern an die Wohnungen 
märcenhafter Fergen. Die vielen Anhaltepunfte des Dampf: 
jchiffes gelten nicht den ärmlichen Ufer: Ortjchaften, jondern den 
Ihönen Schlöſſern und Evelfigen, die fich etwas weiter ins Land 
hinein hinter Buchen verfteden und in einer Gegend liegen, die 
eben jo fhön, wenn nicht fhöner fein foll, als das Land, das 
wir bei Fredensborg und Friedrichsborg durchzogen haben. 

In der Nähe von Roeſtilde erweitert ſich der Fjord zu einem 
ziemlich breiten Beden, in dem wir lange hin und ber fuhren 
und Heine Stationen madten, um Sonntags »Reijende aufzus 
nehmen, bei welcher Gelegenheit wir vielfach hiſtoriſch-mytho— 
logiſchen Boden berührten; venn die Gegend von Roejfilde ift vie 
eigentlihe Heimat und Quelle, aus der die däniſche Gejchichte 
geflofjen. Bei dem Namen Roeſtilde fieht der Däne, wie auf ein 
Zauberwort, feine ganze mythiſche und urgeichichtliche Zeit. Hier 
it das Hertha-Thal, in dem die großen Opferungen vollzogen 
wurben, bier nicht fern der heilige See, aus dem die Mutter 
alles Lebenden emportaudte, um dem Lande ihren Segen zu 
fpenden, wofür ihr fo unzählige Opfer, auch Menfchenopfer, in 
die Fluth nachgeworfen wurden; hier liebten ſich Thor und Freya. 
Die vorhriftlihen Könige, die unförmlichen Reden mit ihrem 
tiefigen Gefolge — „Krake“, „Skiold“, das Klingt, als ob von 
Steinblöden die Rede wäre, — hausten bier im Schloſſe Zeire 
und verjammelten in diefen Gegenden die freien Mannen zum 
Thing. Dieje gewaltigen Hügel rings herum, die Hünengräber, 
find ihre jegigen Wohnftätten. 

Trotz alledem ift es hier bei Weitem nicht jo nordiſch, wie 
am oberen Ende des Fjord. Die alte däniſche Reſidenzſtadt blidt 
recht freundlich von ihrer Höhe herab, nachdem fie und mit drei 
Domthürmen ſchon feit zwei Stunden gaftlih aus der Ferne 


Bilder aus Dänemark. 545 


gewinkt hat. Man fteigt vom Fjord eine ſchön bewachſene Anhöhe 
hinauf und fteht vor dem berühmten Dom, der allein den Rei: 
fenden anzieht, denn andere Merkwürdigkeiten und Schönheiten 
bat die ziemlih ausgedehnte, aber von ber Höhe ihrer Bedeu: 
tung herabgeſunkene Stadt Roeſtilde ſchwerlich aufzumeijen. 
Mas mich fpeziell hier anzog, find die Grabmäler und Grüfte 
der Könige. Was man in früher Jugend durd die Poeſie fennen 
lernt, bleibt ewig anziehend, und wer kennt nicht „Rothſchilds 
Gräber”! Als Heine Jungens haben wir diefe Klopftod’ihe Ode 
dur zwei Jahre in unferer Chreftomathie mitgefchleppt. Nun 
war ich jo nahe an „Rothſchilds Gräbern” und follte fie nicht 
felbft kennen lernen ? 

Der Dom, der die Grabmäler enthält, ift beinahe fo alt, 
wie das Chriftenthbum in Dänemark; wenigſtens jteht er an der: 
jelben Stelle, oder ift er die erweiterte Ausführung der Heinen 
Kirche, die Harald Blauzahn, faum von Otto II. befehrt, bier 
aufführte. Nah kaum drei Menfchenaltern war der Klerus ſchon 
fo reih, daß er die Heine Kirche in den gewaltigen Dom ver: 
wandeln fonnte, Der Verwandtenmord Kanut3 des Großen lie: 
ferte jo große Reuegelver, daß Bischof Wilhelm, ein Engländer, 
wie die meiſten Apoftel des Nordens, in Dänemark ein Gottes: 
haus aufführen konnte, wie feine Heimat ſchon mehrere befaß. 
Daher auch die angelfähfiihe Bauart, die man auch mit Un: 
recht die fpät=byzantinifhhe nennt. Heute ift der Dom fo be 
ſchaffen, durch viele Anbauten jo entitellt, daß man ſich jeine 
urfprüngliche, in der That harmoniſche und kunſtvoll einfache 
Geftalt nur mit Mühe herausfhälen kann. Er bildet urfprüng- 
lih ein lateinifches Kreuz mit kurzen Armen und befteht aus 
einem dreifachen Schiffe mit den zwei Kreuzflügeln, einem Bor: 
gebäude und einem Chor:Umbau, der fih, rund, an die zwei 
niedrigeren Seitenſchiffe anfhließt, und zwei Thürmen. Entitellt, 
gefälicht wird diefer Bau durch Anbauten der verfchiedenften Art, 
durch Kapellen und Vorhallen, aus dem 14., 15., 17., 18. und 
19. Jahrhundert. Reftaurationen jeglicher Art, die durch Feuers: 

Morig Har tmann, Werke. II. 35 


546 Bilder aus Dänemark, 


brünfte und andere Unglüdsfälle nothwendig und jedesmal im 
Gejhmade der Zeit bewerkitelligt wurden, haben nod) zur Mas: 
firung der urfprünglichen Einfachheit, die fih manchmal, wie 
3. B. im Chore, zur Erhabenheit fteigert, daS Ihrige beigetragen. 

Allein wir wollen ja vor Allem die Königsgruft fehen. Da 
ſteht uns in gemwifjer Beziehung eine Enttäufhung bevor. Wir 
erwarteten große Gruftgewölbe, die einen Gefammt: Eindrud 
machen, wie 3. B. St. Denis, oder die fhönfte aller Grüfte, die 
wir je gejehen, die der Großmeifter zu Malta — und fiehe da, 
die Leihen der Könige und Königinnen find dur das ganze, 
weitläufige Gebäude ausgeftreut, vereinzelt und liegen meift in 
jo hellen Räumen, daß Dunkelheit und Atmofphäre, wie wir fie 
zur Stimmung in Grüften wünſchen und brauchen, gänzlich ab: 
geben. Wo ijt der Mönd, oder wenigſtens der ernfte Saktiftan 
mit der Zadel in der Hand, die bei der Wanderung einzelne 
Flämmchen auf den feuchten Boden fallen läßt? Der helle, grelle 
Tag mit mittägiger Junifonne hat fein Amt übernommen. 

Die Könige liegen in einzelnen Särgen oder Maufoleen im 
Chor oder in den Kapellen, die rings um die Kirche laufen und 
durch hohe, breite Fenfter beleuchtet find. Für den Berluft wird 
man dadurd entſchädigt, daß man die Monumente, unter diefen 
einzelne herrliche, gut betrachten kann. Aber es ift wie in einem 
Mufeum. 

Im Chor des Hochaltars erheben fich vier gewaltige, weiße 
Marmor: Monumente, die auf den erſten Blid einen großen Ein: 
drud machen, bei näherer Betrachtung aber ſehr verlieren und 
ſich als Produkte einer verfallenden Kunft offenbaren. Die Mo- 
numente Chriftians V. und feiner Gemahlin Charlotte Amalie 
mit den Medaillon: Portraits, mit den Schlachten : Basreliefs 
und den allegorifchen Perſonen der Gerechtigkeit, des Ueberfluſſes, 
der Mohlthätigfeit, Selbjtkenntniß zc. ꝛc. haben noch mandes 
Gute, befonders was die Arbeit betrifft; aber die Monumente 
Friedrichs IV. und der Königin Chriftine (Tochter Guſtav Adolfs) 
find wahre Modelle des Ungefhmads, wie fie nur das fieben: 


U 
— — —— — & ab 


Bilder aus Dänemark. 547 


zehnte Jahrhundert, die Perrüde, die ausfchweifende Richtung 
Bernini’s in der Skulptur, hervorbringen konnten. Herzlich be 
dauert man den fchönen, koftbaren Marmor. 

Aber wir jollen entſchädigt werden. Eilen wir über zahllofe 
Gräber von Bilhöfen, Kanzlern, Aomiralen, Prinzen in eine 
der rechten Seitenfapellen. Sogleih beim Eintritte leuchtet ung 
ein weißes Marmor: Monument entgegen, das und augenblid: 
lich mit der wohlthätigen Ruhe eines Kunftwerkes anmuthet. In 
der That ift e8 von Wiedevelt, dem Vorläufer Thorwaldſens. 
Auf dem Sarge erhebt ih eine Säule mit dem Portrait Fried- 
rih8 V.; am Fuße des Sarges jtehen die traurigen Geftalten 
Dänemarks und Norwegens. Die Anmuth und Tiefe diejes 
Merfes wird doppelt Har, wenn man fich nach recht3 wendet und 
de3 englifhen Bilvhauers Stanley Monument der Königin Louiſe 
betrachtet. Seine Basreliefs find überfein, durchfichtig, über: 
trieben, wie gewiſſe englifche Tafchenbuch » Rupferftiche. — Noch 
ein zweite Monument von Wiedevelt ift da (Chriftian VI.), das 
dem erjten ebenbürtig iſt und fich eben fo durch feine Basrelief3 
wie duch die Statuen trauernder Weiber als Merk eines wahr: 
baft großen Meiſters dofumentirt. Es ift unbegreiflih, daß 
Wiedevelt jo wenig befannt geworden, und daß er in Dänemark 
jo arg zu Grunde gegangen. 

Aber die Perle diefer ganzen Sammlung, ein wahrhaft groß- 
artiges Kunſtwerk, das feines Gleichen ſucht und ſchwer finden 
wird, das den höchſt talentwollen Wiedevelt weit übertrifft, iſt 
das von dem Antwerpener Cornelius Floris herrührende Mo: 
nument Chrijtiand III. Es fteht in der ſchönen gothifhen Ka— 
pelle der heiligen drei Könige und ift ganz aus Marmor, der etwas 
gelblich anläuft. Der König liegt da in feiner ganzen Rüftung; 
Helm, Schwert und Handſchuhe liegen neben ihm. Vier Tra: 
banten umjtehen, auf Schilde geſtützt, wachend den ruhenden 
König. Eine Dede wird von vier Säulen getragen; auf diefer 
Dede kniet wieder der König vor einem Kreuze; hier umftehen 
ihn trauernde Genien, welche die Fadel ſenken. Jeder einzelne 


548 Bilder aus Dänemarl. 


Theil dieſes harmonievollen Ganzen ift an fi ein Kunjtwerf. 
Der Inieende König, der ruhende, die Trabanten — man nehme 
jede diefer Geftalten für fih, und man hat ein Meifterwerf voll 
Kraft, Leben, Größe und wahrhaft erhabener Anmuth. Einen 
der Trabanten foll Thorwaldfen lange finnend betrachtet und end: 
lich erflärt haben, daß er ihn für eines der vollendetiten Werke 
der Skulptur halte, und daß er jo was zu ſchaffen nicht fähig ſei. 

Chriftian IV., der treffliche Architekt mit feinem künſtleriſchen 
Sinne, hat die Schönheit diefes Werkes bald erfannt, denn er 
wollte e8 in dem Monumente, das er jeinem Vater Friedrich II. 
errichtete, reproduziren oder wenigſtens nachahmen lafjen. Aber 
der Künftler war weniger fünftlerifch ala der Befteller. Er ahmte 
wohl die Kompofition im Allgemeinen nah, wollte aber Corne: 
lius Floris übertreffen, glaubte dieß mit Hülfe der Mafle thun 
zu können, vergrößerte, übertrieb Alles, verrüdte die Verhältniſſe 
und brachte etwas Plumpes zu Stande, das nur da ift, um Floris 
noch höher in unferer Achtung zu ftellen. Das Intereſſanteſte 
an diefem Monumente Friedrich3 II. ift uns dieſes Königs Wahl: 
ſpruch. Er lautet: „Meine Hoffnung zu Gott allein, treu ift 
Wildpret.“ Wildpret hieß fein Hund. Alfo auf Erden vertraute 
er nur feinem Hunde, 

Rasch weiter, wieder an unzähligen Gräbern und Portraits 
vorbei, in die Kapelle unferes Lieblings Chriftian IV. Sie it. 
eine der größten, aber eben weil man dieſen großen König feiner 
würdig ehren und feine Grabjtätte prachtvoll ausſchmücken wollte, 
ift man damit nicht fertig geworben, und hat der größte König 
Dänemarks in Roeſtilde eigentlich fein Monument. Er, der mit 
Friedrichsborg fertig geworden, hätte diefe Kapelle in Einem Jahre 
fertig gemacht. Seht fieht e3 darin aus, wie in einer Werfitatt. 
Die beiden Wanpflächen, welche große biftorifche Fresken, Chri— 
ftian IV. ala Richter und ala Sieger in der Seefchlacht bei Fe: 
mern darjtellend, aufnehmen follen, ftarren uns al3 öde, mörtel: 
überworfene Felder an. Nur die Höhe der Kapelle ift ausgeſchmüdt, 
und zwar jehr ſchön al fresco von dem jehr talentvollen Eddelien 


Bilder aus Dänemarl, 549 


(wenn ich nicht irre, einem Deutjchen), der aber im Jahre 
1852 geftorben. Zwiſchen den Fenſtern jtebt die Bronze: Statue 
Chriftians IV. von Thorwaldjen auf einem provijorischen böl- 
zernen Sodel. Freilich reicht diefe Statue allein jchon hin, ein 
würdiges Monument Chriftians abzugeben; fie ift eine der lie: 
benswürbdigften und charafteriftiihften von Thorwaldſen; aber 
man jähe fie doch gern in entjprechender Umgebung. 

Neben all den prächtigen Königs: Monumenten fei noch ein 
einfacher Stein genannt, weil er einen Dann bededt, der uns 
jo viel werth ift, wie viele dänifche und andere Könige zufammen: 
genommen. Es ijt der Grabjtein des Saro Grammatifus, Gr 
it ein Fackelträger in den dunkelſten Gängen alter Zeiten, wäh: 
rend jo viele Könige nur Lichtauslöfher in klarſten Zeiten 
find. Er verdient unfere Verehrung mitten unter all den Königen, 
ja, er ift uns lieber, als die meiften derjelben, wie ung Gre: 
gorius von Tours, wenn er in St. Denis begraben wäre, auch 
in vieler Beziehung lieber wäre, ala alle die Könige, deren Tha: 
ten er bejchrieben, und al3 die meiften ihrer Nachfolger. 

Mit einem überladenen Bahnzuge fuhr ich nach Kopenhagen 
zurüd; auf allen Stationen drängte fi das Volk in Schaaren 
heran, um an den Sonntags Vergnügungen der Hauptitadt fein 
Theil zu haben, Ich ſaß neben einem dänijchen Gentleman, der 
mi für einen Franzofen hielt, weil ih ihn bat, mir däniſche 
Gelvforten in Franken zu erklären, und der mit mir Franzöſiſch 
ſprach. Er politifirte im franzöfifhen Sinne. Was glauben Sie, 
fragte er, wird Preußen an diefem Kriege gegen Frankreich Theil 
nehmen? — Ich bezweifle e8, antwortete ih, Preußen rüjtet ſich 
wohl nur, um bei der Vermittelung kräftig und nachdrücklich ein 
entfheidendes Wort ausfprechen zu können. — Täuſchen Sie ſich 
nicht, fagte der Däne, Sie haben feine Idee, wie diefe Deutfchen 
an einander hängen, wie die Kletten ! 

Ich hüte mich, zu widerſprechen, hoch erfreut, daß es auf 
der weiten Erde eine einzige menfchliche Seele gibt, die da glaubt, 
daß die Deutfchen an einander hängen „wie die Kletten“. Diefer 


550 Bilder auß Dänemarf. 


Däne iſt eine der größten Merkwürdigkeiten, die ich in Däne- 
mark gefunden. Der deutfche Bund follte ihn, wenn er noch 
eriftirt, auffuchen laffen — er wird, als ein fo abjonderliches 
Individuum, nicht Schwer zu finden fein — follte ihn auf Bundes: 
foften nähren, leiden, prächtig leben und, wenn er ftirbt, ein: 
balfamiren und im Thurn und Taris’shen Haufe aufftellen 
laflen. 

Da ih, nad Dieſem, dem Lefer unmöglich etwas Merk: 
würdigeres mittheilen kann, jchließe ich hier meine Briefe aus 
Dänemark. 

Alſo die Deutſchen hängen an einander wie Kletten! 


Nun ſag' mir Eins, man ſoll nicht Wunder glauben! 


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