_ MORITZ
HARTMANN’S —
_ GESAMMELTE
1113:142 BD. lad
AUS DUBLIN ....
Moritz Hartmann, Ludwio
Bamberger, Wilhelm Vollmer
Ic; Ci 1 IL Ri
VAILABLE
Moritz Hartmann's
Geſammelte Werke,
Dritter Band.
— au — —
Stuttgart,
Verlag der J. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1873.
Bucbruderei ber J. G. Eotta’fhen Buchhandlung in Stuttgart.
1180220
PT
2292
42
1873
Inhalt.
Seite
Briefe aus Dublin , >. > > — — 01
Die Gefchichte des Königs Laura . . . . . . 44
Tagebuch aus Langueboe und Provene . 2 2 2 2.57
tovencalen (Volkslieder und Balladen) . . . . 295
Der große Lader .» 2 2 eo nn nn 2.886
Wanderungen durch celtiiches Land . . . 2 2 2 2. 405
Bilder aus Dänemarft . , . , » a» 2» 2.2, 0, , 485
Briefe aus Dublin,
Noritz Hartmann, Werke II.
Famine is in thy cheeks,
Need and oppression starveth in thy eyes,
Upon thy back hangs ragged misery,
The world is not thy friend, nor the world's law.
Shakespeare.
Erfter Brief.
Dublin, im Juhi 1850.
Liebe Freundin! Ich laſſe mich nicht gern nad) zwei Tagen
vergeſſen und fuche kurzem Freundesgebächtniß wenigſtens An:
fangs durch Briefe nachzuhelfen. Ein anderer Zwed dieſer Zeilen
ift, Sie aufzufordern, ja diejelbe Reife zu machen, die ich jebt
theilmeife hinter mir habe. Drei Tage find es erft, feit ich Lon—
don verlaflen, und wie viel des Intereſſanten habe ich fchon er:
lebt und gejehen. Bis gegen Birmingham gleicht das ganze Land
einem einzigen ungeheuren Parke, wo Alles Wohlitand ift und
Behagen; die Städte und Fleden mit den graziöfen engliichen
Ihürmen und Landhäufern thun, als ob fie nur fo zum Spaße
gemacht worden, um bie Jllufion des Parkes zu vervolljtändigen.
— Aber Birmingham raucht Einem jchmwarz entgegen wie eine
Hölle. Ich habe es nur eine Stunde lang vom Bahnhof aus ge:
jehen; doch mußte ich mich fragen, ob ich den Muth hätte, unter
diefe3 „sulphurous canopy,“ wie Campbell fagt, zu tauchen.
— Don da bis Liverpool nichts als Effen, Dampf, Kohlen; nur
Strafford liegt wie eine Dafe dazwifchen.
Liverpool ließ mich bald die englifchen Parks vergeſſen. Bis
jpät in die Nadıt und den andern Tag bis Mittag ftieg ich durch)
Gaſſen und Gäßchen; aber ich fam darunter an folde, in die ich
nicht zu treten wagte. Dieſe Armuth, dieſes Elend, dieſes Ver:
fommenfjein der menjhlihen Race — man glaubt nicht, daß e3
übertroffen werben kann; nämlich wohl zu merken, bevor man
Dublin gejehen hat. Und neben diefer Armuth diejer ungeheure
4 Briefe aus Dublin.
Reichthum! Liverpool ift al3 Seeftabt faft noch beveutenver als
London; der Hafen ijt größer und fhöner und unendlich male:
riſch. Einem unjhuldigen Reifenden, z. B. einem Schamreijenden
an der Seite feiner jungen, eben aufgeblühten Frau, der nicht
mit unglüdjeligen fozialen Bedürfniſſen im Leibe in der Welt
herumzieht und den es nicht treibt, in Seitengäßchen zu friechen,
aus denen ihm Peſt und Verweſung entgegenatbpmen — einem
jolden Reiſenden kann Liverpool, vom Waſſer aus gefehen, als
eine der malerijchiten und jchönften Städte der Welt erfcheinen.
Aber eine traurige Enttäufhung harrt Deflen, der fih näher an
dieß Dunftgebilde heranwagt.
Unfere Fahrt war außerordentlih ſchön. Liverpool ift lange
fihtbar mit feinen Leuchtthürmen und feinem Kaftel. Wie e3
verſchwindet, treten die Hügel von Wales hervor, als freundliche
Begleiter. Schiff an Schiff fliegt vorüber. Endlich waren wir
auf hoher See. Die Geſellſchaft war gleichgültig, einige ſchöne
Kinder ausgenommen, die auf dem Verdecke fpielten, und einen
Srländer, der fih feinen Rod flidte, wahrſcheinlich um feine
Heimatinfel mit einigen neuen Fliden zu ehren. Aber die Arbeit
war umfonft. Wo er feine Nadel einjenkte, riß das morſche
Zeug, und e3 entitand ein neues Loch. So arbeitete der arme
Kerl mit bewunderungsmwürbiger Ruhe den ganzen Nahmittag.
— Einmal wurde die gefammte Gefellihaft in Alarm gebracht;
es erſcholl der Ruf „purpoises!* und Alles eilte, um hinabzu:
jehen. Eine ganze Schaar der genannten, ungeheuren Fijche
ſchwamm um dad Schiff, tauchte auf und unter und fpielte,
ziemlich graziös, auf der leuchtenden Fluth. Ich aber fuchte ver:
geben3 in meinem Wörterbuche nach purpoises und weiß fo nod)
jegt nicht, ob ih Haifiſche, Walfifche oder Delphine gejehen; ich
glaube, es werben die legtern gemejen fein. — Der Sonnen:
untergang war, wie Ihre Landzleute jagen würden, ſehr nied—
lih. — Bis jpät in die Nacht lag ich in meinen Mantel gehüllt
auf dem Verdeck. Was kümmert e3 Sie, liebe Freundin, daß
ich da folgende Verſe gedacht habe?
Zweiter Brief. 5
Auf weiten Meer allein!
Allein auf weiten Meer!
Nur Himmel, Mondenfcein,
Seevögel um mich ber.
Doch zieht ins Herz mir ein
Etwas, das thut wie Du,
O Glüd: 's ift mehr als Ruh,
j 's iſt das Bergeffenfein!
Aber Sie merken diefem Briefe wohl an, wie fürdterlich |
müde ich bin; morgen fchreibe ich weiter — gute Nacht.
weiter Brief.
Dublin, im Juli.
Als ih Samftag Nachts die Feder binlegte, um mein müdes
Haupt zur Ruhe zu bringen, wußte ih nicht, daß ſich mein Stoff
jo ungeheuer anhäufen würde, daß ich heute nicht weiß, wo an-
fangen. Brieflich bin ich noch auf offener See, träumend, Meer:
luft athmend, Verſe mahend — und in der That ijt mein
ganzer Kopf, mein ganzes Herz mit Dubliner trauriger und
Ihöner Wirklichkeit angefült. — Wie unendlich Schönes habe
ich gefehen! Doch ich will Ihnen feinen enthufiaftiichen Brief,
jondern nur einen guide j&hreiben für den Fall, daß Gie noch
hierher fommen follten. — Als ih Sonnabend Morgens er:
machte, befand ich mich im Hafen von Dublin; die jhöne Nacht
hatte mich jo lange auf dem Verdeck zurüd gehalten, daß ich da:
für den Sonnenaufgang auf dem Meere verjchlafen hatte.
Wie ruht es fich fo füß
In traulicher Kabine
Beim gleichgemeßnen Schlag
Der treibenden Maſchine,
6 Briefe aus Dublin.
Wenn an das Fenfterlein
Die nächt'ge Welle fchlägt,
Gleichwie an unfer Herz
Das Leben, das uns trägt.
Auf merkwürdige Weife kam ich in ein very cheap hotel.
Der Mann, der mir das Gepäd trug, follte mic) ins Hamilton:
Hotel bringen, das man mir auf dem Schiffe empfohlen hatte.
Da aber das Hotel noch gejhlofien war, ging mein Mann ohne
Phraſe weiter und pochte an das nädjfte, indem er mich einfach
verſicherte, e3 ſei ganz gleichgültig, in weldhem Hotel man wohne,
wenn man überhaupt nur wohne. — Das war denn das erite
Beijpiel irifher Naivität. Das zweite gab mir der Kellner, ver
mir, indem er fi die Augen rieb, Vorwürfe machte, warum ich
auch fo früh füme, — Yc begab mich fogleih auf die Wande—
rung; mit welchem Erfolg, mögen Sie daraus beurtheilen, daß,
als ich um zehn Uhr Herrn John Ball befuchte, an den ich eine
Empfehlung hatte, derſelbe nicht wenig eritaunt war über meine
Dubliner Kenntnifje und mir gar nicht glauben wollte, daß ich
erft vor vier Stunden angelommen. — Die Stadt ijt außer:
ordentlich ſchön, maleriſch, intereflant, eigenthümlid und wäre
gewiß auch) eine der angenehmften, wenn Einem nicht auf Schritt
und Tritt das fürchterlichite, jammervollfte Elend entgegenträte.
Man kann fich feinen Begriff machen von diefer Armuth, von
ihrer Ausdehnung und den entjeglihen Schlupfwinteln, in denen
fie haust; fogar jene von Srländern bewohnte Gafje, die ich
Ihnen in London zeigte, gibt noch nicht die entferntejte Ahnung
von dem, was man hier auf Schritt und Tritt antrifft. Denken
Gie fi eine ganze große Stadt aus ſolchen Gaſſen beſtehend,
wie jene in London, und nur von den Aermſten aus jener Gaſſe
bewohnt — und Sie haben immer erft einen ſehr ſchwachen Be:
griff von den meiften Stadttheilen Dublins. Höchftens der zehnte
Mann, dem man begegnet, ift anftändig gelleivet. Von ven
andern haben gewiß fieben fein Hemde an; wenn fie aud die
Röcke bis hinauf zugelnöpft haben, fo verrathen e3 doch unzählige
Zweiter Brief. 7
Stellen, die den nackten Leib zeigen. Ja ich habe unendlich
Viele geſehen, die mehr nackt waren als bekleidet. Das ſchöne
Märchen von dem perſiſchen Könige, der das Hemd des Glüd—
lichſten brauchte, überall nachſuchen ließ und endlich den Glück—
lihiten ohne Hemd fand, ift hier ein doppeltes Märchen, ja ein
Hohn. Diefe ausgehungerten, verthierten Gejtalten find jo weit
gefommen, daß fie überhaupt feines Glüdes mehr fähig find;
rhachitiſch geboren, wachen fie hungernd auf und fterben an der
Auszehrung. Alle Weiber gehören der Proftitution an, und e3
find darunter oft fo holde, liebe Weſen, dab man nicht nur fie
jelbjt beklagen muß, fondern mit ihnen auch die Menfchen, denen
fie hätten Glüd geben können. Die meiſten Irländerinnen find
ſchön oder haben wenigſtens fanfte Züge; aber deſto fchredlicher
ift die Schrift, welche das Lajter auf diefe feinen Gefichter ge:
zeichnet hat. Fat alle tragen das jo hübſch kleidende Mäntelchen,
das wir auch in Deutſchland 3. B. in der Gegend von Eiſenach
baben, und gewiß alle ohne Ausnahme den Strohhut, an dem
man aud in London die irische Bettlerin erkennt; mag er noch
fo zerriffen und zerfhligt fein, der Hut darf. nicht fehlen. —
Ein Deutſcher, ven ich bier traf und der Irland feit Jahren
tennt, faßte feine ganze Kenntniß und fein ganzes Urtheil in
folgende Worte zufammen: Ein gewiß fehr originelles Volt, wo
jeve Bettlerin einen Hut und jeder Mann ein lururiöjes O' vor
feinem Namen trägt.
Und ein fonderbares Volk ift e3 allerdings, in jeder Be:
ziehung verfhieden von allen fontinentalen Völkern. Die meilte
Aehnlichkeit hat e3 vielleicht noch mit den Lazzaronen Neapels;
doch iſt es gutmüthiger, naiver und troß der Verderbniß, die
ihm das Elend nothwendig eingeimpft hat, auch reiner. Der
Irländer ift kein Lazzarone von Natur, er arbeitet willig, um
fich fein tägliches Brod zu verdienen. Aber er thut es gern mit
Heiterfeit und jträubt ſich gegen die verthierende Anjtrengung,
die der Engländer verlangt. Hat er nicht Recht darin? find wir
wirflih nur da, um zu arbeiten? oder find wir vielmehr da, um
8 Briefe aus Dublin,
- zu leben? Wäre die Arbeit gerecht vertheilt, ich meine, Jedem
müßte noh Raum und Zeit genug zum Lebensgenufje bleiben.
So aber, wie ſich England und die moderne Welt die Sache ein:
gerichtet haben, müflen allerdings Millionen am Pfluge, an den
Maſchinen, in den Minen verdumpfen und zu Grunde gehen,
damit einige Wenige in gänzlicher Unthätigkeit dahinſchwelgen
fönnen. Die Natur, melde die Wahrheit ift und melcher ver
Irländer nahe fteht, fträubt jich in ihm gegen diefe Ausbeutung
und Verbumpfung.
Und gerade Das iſt's, was die Engländer an ihm verurtheis
len; wenn er verhungert bei feinem Sträuben gegen vierzehn:
ftündige Arbeit, jo hat er Recht und ift ein Märtyrer der Wahr:
beit und Freiheit im Menfchen. —
Aber traurig ift es freilich, diefe Märtyrer in der Nähe zu
jeben ; ver Hunger, nicht3 Anderes gibt den Weibern dieſes zarte
Ausfehen, der Müßiggang diefe feinen unverdorbnen Glieder,
die man bedauern muß. Die Männer liegen vor ihren Woh—
nungen, an den Straßeneden, auf den Brüden und lungern
hinaus, ob fich fein Verdienſt will fehen lafjen. Wenn ein Frem-
der vorübergeht, jtreden jie ftumm die Hand aus; Viele haben
auch Das aufgegeben und liegen nur noch regung3los da und
betrachten den bejjern Rod des Vorübergehenden over jehen das
Droſchkenroß, vielleicht neidiſch, an, wie es feinen Futterjad vor:
gebunden hat. — In den Gaflen, wohin man fieht, Mütter mit
Kindern auf den Armen, mit Rindern vor und hinter ji, wie
eine traurige Gluckhenne, die fein Korn findet.
Die Wohnungen dieſer Unglüdlichen, welche wenigſtens drei
DViertheile von Dublins Gafjen einnehmen (wenn auch nicht der
Ausdehnung, do der Zahl nad, da fie in den engern Gafjen
wohnen, während natürlih die Wohlhabenden fich in breiten
Straßen und Square ausdehnen) — dieſe Wohnungen, 3. B.
in der Nähe von St. Patrid3 Street, zu befchreiben, das erlaflen
Sie mir. ch habe viel gejehen in böhmifchen Dörfern und
Judengaſſen, ich bin auch in Schlefien gereist und in jenem
%
*
Zweiter Brief. 9
Theile Weſtphalens, wo die Reichen ſo fromm ſind; auch hatte
ich immer Phantaſie genug, mir das Geſehene verzehnfacht zu
denken, wenn ich in Reiſebeſchreibungen von iriſchem Elend las.
Aber wenn meine Phantaſie auch alles früher Geſehene verhun—
dertfacht auf einander gehäuft hätte zu einem Alpengebirge von
Elend, fie hätte dag nicht erreicht. Robert Emmet hatte Recht,
da3 Hauptquartier feiner Revolution nach Patriks Street zu ver:
legen; da ift ein ewiger Stoff zu Revolutionen aufgeſchichtet, ein
unfterbliches Heer wohnt da für die Revolution. — Mögen fie
jet im engliſchen Barlament Bill auf Bill einbringen, mögen
fie Workhouses auf Workhouses errichten, mögen vie Unis
tarier noch jo mohlthätig fein und fogar den hundertſten Theil
anjtatt des taufenditen von ihren Renten für die Armen verwen:
den: diefem Leiden, das England feit Jahrhunderten gefäet hat,
helfen fie nicht mehr ab, diefer Krebs ift nicht mehr auszufchnei-
den, er wird weiter frejlen und zeritören — ob England mit?
ob Srland, das arme, ifolirte Irland in feinem Siehhaufe allein?
— Das iſt die Frage,
Macaulay ſpricht in der Einleitung zu feiner Geſchichte mit
Stolz von den engliihen Abenteurern, die im fernen Indien
Reiche gründeten, größer und dauerhafter al3 das Reich Aleran-
derd, Aber ijt e3 ein Ruhm, im fernen Indien Reihe zu grün-
den, wenn das ſchwarze Elend zu Haufe vor der eigenen Thüre
lagert? Zeiten werden fommen, da man auf folhen Ruhm mit
Beratung zurüdbliden wird. Wirklich edle Völfer waren nie
erobernde; jie blieben daheim und ſchmückten fich „wie die Rofe
ſelbſt ſich ſchmückt.“ Afiyrier, Babylonier und Perſer durchzogen
die Welt als Eroberer; die Griechen zogen nur aus, um als
Argonauten geahnte Ideale zu ſuchen, oder als Trojafahrer, um
geraubte Weiber heimzubringen, oder endlich um mit friedlichen
Kolonien die öde Welt zu bevölkern und neuk Herde ver Geſittung
zu errichten.
Aber ich vergefle, daß die Engländer in Srland ſelbſt Er:
oberer find und zwar noch heut zu Tage. MUeberall gewährt
10 Briefe aus Dublin.
Dublin ven Anblid einer eroberten Stadt; Soldaten, in London
eine Seltenheit, gibt e3 bier in unzähliger Menge; auf Schritt
und Tritt begegnet man rothgerödten Schaaren. Ueberall ftehen
Kafernen von ungeheurer Größe, und das Kaſtell in der Mitte
ver Stadt ift ein wahres Zwing Dublin. Die policemen, die
Sie in London fo ſehr als Diener des Publikums bewunderten,
find bier ebenfo vollfommene Poliziften , wie auf dem Continent;
die meiften tragen dide Stöde und find raub und unfreundlic.
Das Volk jagen fie vor ſich her, wie man Vieh treibt; bei Ver:
haftungen werfen fie den Arrejtanten nieder und ftoßen und fchla-
gen ihn. — Schon in London, al3 ich einft einem policeman
Vorwürfe machte über fein rohes Betragen gegen ein Bettelkind,
welches er jhlug und fneipte, antwortete er mir furz: Bah, it
is an irish girl. — ®enn man einen $rländer fragt, was die
runden Thürme bedeuten, die fih auf den Anhöhen der Bay
binziehen, antwortet er: Sie find gegen die Franzofen oder Ame—
tifaner, wenn fie uns einmal zu Hülfe kommen follten. Daß
vie Thürme ihnen zum Nugen und zum Schuß des Hafens da
jein könnten, fällt ven Srländern nicht ein. Auf Frankreich blicken
fie noch immer mit Vertrauen und Freundſchaft, wie die Polen,
obwohl fie wie diefe ſchon hundertmal von Frankreich betrogen
worden find. Ein Srländer, dem ich bemerkte, daß man mid
meine3 Bartes wegen bier weniger ausladhe al3 in England,
antwortete mir; das fommt daher, weil man Sie für einen Fran—
zojen hält, und wir lieben die Franzofen. — In neuerer Zeit
indeſſen hat fih der hoffende Blick Irlands auch auf Amerika
gerichtet. In der That ift dieß das einzige Land, woher ihm
wirklich Hülfe kommen kann; aber wie lange wird dieß noch
dauern?
Auch Straßen, Monumente und Häufer zeigen, wie man ber
eroberten Stadt mit Gewalt ein engliſches Gepräge geben und
ihr einreden will, als ob die Gejhichte Englands, der Ruhm
Englands auch ihr Ruhm und ihre Geihichte fei. Die meilten
Straßen, nur die älteften ausgenommen, tragen berühmte engliſche
Zweiter Brief. 11
Namen. Die Moore-Street iſt die einzige, die einen iriſchen
Namen neueren Datums trägt. Sonſt fieht man Grafton-
Street — Cumberland-Street ıc. Letztere nad jenem Edlen
genannt, der an der Spitze der blutigen Orangemen Hebjagden
auf Jrländer anftellte. Bor Trinity-College figt der Mann zu
Pferde, der das Collegium den Irländern verfchlofien, und mie
zum Hohn jteht auf dem Sodel, daß e3 „ob restitutam fidem“
errichtet worden. ch meine das Monument Wilhelms III. Kann
ed da wundern, daß ein Verfehwörer beim Eintritt in die Ver—
ſchwörung ſich's ausbedungen, fobald die Revolution ausbräche,
ven Wilhelm in die Luft jprengen zu dürfen? Das ift nun frei:
lich nicht geihehen, aber eine Genugthuung fünnen die Jrländer
in der Häßlichleit des Monumentes finden. Braun angeſtrichen,
mit goldenen Ligen um Schulter und Gürtel, figt Wilhelm der III.
da auf feinem diden Pferde, wie ein Häuptling der Rothhäute
in feinem jhönjten Staate. Nur feine Haltung, der nad vorn
gebeugte Oberleib und der nad hinten herausgeitredte untere
Theil, find ächt englifh. In der ſchönen Sadville Street ſteht
Nelfon auf feiner Säule, und vom Phönirparfe aus beherricht
eine Pyramide mit den Namen der Wellington’ihen Schlacht:
felver die Stadt. Beide Helden hätte Irland lieber gefchlagen
als fiegreich gefehen. Aber was hilft'3? England behandelt Jr:
land, wie fchlechte Erzieher ein Kind behandeln: eg muß bie
Speijen verfchluden, die es nicht mag.
Eines der traurigften Monumente in Dublin ijt das ehema—
lige House of commons, wo einft doch wenigſtens ein Schatten
von Freiheit wohnte und wo jeßt England mit feinem Oelde
berriht. Denn das House of Commons ijt in die Bank um—
gewandelt. Das große mweitläufige, Cäulengetragene Gebäude
aus dunklen Duadern hat ein wirklich hiftorifches Gefiht. Auf
den erjten Blid erzählt es Einem lange, rührende Geſchichten.
‘ch mußte bei feinem Anblid immer an den herrlichen, rührenden
Moment denken, da der Heine Grattan mit den feurigen Augen
bier vom Portale aus zum Volke ſprach, als ver legte Reft iriſcher
12 Briefe aus Dublin,
Unabhängigkeit dur die jogenannte Union begraben war.
Das Volk trug ihn jauchzend auf feinen Schultern durch die
Gallen — mas hat das genübt? Vielleicht doch etwas. Im
Volksgewühle verftedt ftand damals ein kleiner, breitjchultriger
Junge, Daniel D’Connell; wer fann berechnen, welche großen
Entihlüffe er fhon damals gefaßt? — No heute nennt das
Volf das Säulengetragene Gebäude nur fein House of commons.
63 hängt überhaupt mit unabänderlicher Treue an feinen alten
Erinnerungen, wie an feinen todten und lebenden Märtyrern;
Lord Eduard Fißgerald, Wolf Tone, Ruſſell, Robert Emmet
find ihm beilige Namen. Doc werden fie alle von O'Connell
überragt, den man nur den Befreier nennt oder den großen
Agitator. Bor jedem großen wie Eleinen Bilverladen hängt fein
Porträt, rings umher die Porträts von Mitchell, Smith O'Brien,
3. Duffey u. ſ. w. Unter dem Bilde O’Briens fand ich folgen-
den Vers:
Whether on the scaffold high,
Whether in the battle’s van,
The fittest place, where man can die,
Is where he dies for man.
Was in der Ueberjegung etwa fo heißen mag:
Ob hier auf dem Schaffote hoch,
Ob wo der Tod der Schladhten wirbt —
Es ftirbt der Menſch am Schönften, mo
Er für die Menſchen ftirbt.
Ich war dabei, wie ein zerrifjener Irländer einem Haufen
gleich Zerrifiener diefe Verfe vorlas; fie wurden mit einem Hurrah
auf alle guten Patrioten und auf die Deportirten beantwortet.
Trotzdem jedoch geht die Repealagitation nicht vorwärts; fie
ichläft fogar feit dem Tode O'Connell's immer tiefer und tiefer
ein. So wahr ift ed, daß auch die größte und gerechtefte Sache
von Perfönlichkeiten abhängt; eine traurige Wahrheit für alle
Autoritätsbelämpfer! — Das Meeting, dem ich heute beimohnte,
Zweiter Brief. 15
ſcheint mir das legte gemwejen zu fein. Seit dem Tode de3 großen
Agitator3 verfammelten ſich die Repealer jeve Woche einmal in
der Reconciliationg » Hall; aber die Zahl wurde immer geringer,
und heute belief fie fich nicht auf hundert. Den Präfidentenftuhl
nahm ein Herr Samuel Law ein; die Bänfe der Patrioten und
Repealer waren beſetzt, aber die Bänke des Comite3 blieben leer.
Sohn O'Connell war das einzige von den Comit&mitglievern,
das erſchien. Er wurde von der Eleinen Verfammlung mit ge:
ſchwenkten Hüten und lauten Cheer® empfangen. Aber jein
melancholiſches Gelicht fonnte diefer enthufiaftiiche Empfang nicht
aufbeitern. Im Gegentheil begann er, jobald der Präſident
feinen Siß eingenommen batte, ſich bitter zu beflagen über die
Theilnahmlofigkeit des Landes und über da3 Erfterben des Eifers
für die große Sache. Der Präfident ſprach im felben Tone und
zog betrübte Barallelen zwijchen einjt und jegt, zwifchen der Zeit,
da die Reconciliations: Hall voll gepfropft und die Repealiteuer
wöchentlich Taufende von Pfunden einbrachte, und zwiſchen ver
Gegenwart, da ſich eben fo wenig Shillinge als Repealer jehen
laflen. Bei diefen Worten warfen Einige aus dem Publikum
kleine Summen auf den Sefretärstifch ; die Meiften indeß feufzten
bloß und bielten ihre Hände regungslos in den leeren Tafchen.
Auf der Galerie weinten einige Weiber. Zulegt fündigte John
D’Connell den Beihluß de3 Comites an, die Meeting3 auszu-
jegen und eine befjere Zeit abzuwarten. Die Ajjociation, bemerfte
er ausprüdlih, fei damit noch nicht aufgelöst, das Comité be:
ftehe fort und werde mit allen Kräften weiter arbeiten; aber die
nuglojen Meetings jeien aufgejhoben, vertagt. Man jah ihm
an, dab er jelbjt nicht an feine Worte glaubte; eben jo wenig
thaten e3 vie Zuhörer. Aber al3 er von feinem guten Willen
ſprach, von feiner Bereitwilligfeit, für die „große Sache” Alles
zu thun, wurde er wieder mit lärmender Begeifterung begrüßt.
Auch von feinen Heinen Fähigkeiten, vom Bewußtfein feiner Un:
bedeutendheit ſprach er einige Worte, die jedoch vom Widerſpruch
feiner Zuhörer erftidt wurden. — Hierauf zerftreute ſich die
14 Briefe aus Dublin.
Gejellihaft jchweigend. ch hatte die Ueberzeugung, der Sterbe-
jtunde der Repealmeetings beigewohnt zu haben. Die jo groß
begonnen, die die Aufmerkjamkeit der ganzen Welt auf ſich ge-
zogen und einjt das eijerne England in feinem Innern hatte
beben maden, endete hier jchweigend, geräujchlog, wie ein Strom
im Sande, wie ein einjt Berühmter, nun Vergeffener im dunklen
Winkel eines Hoſpitals feinen legten Athem verhaudt.
Die Reconciliations:Hall ift ein einfaches, jolides Gebäude am
Hafenquai, fait ohne allen andern äußern Schmud al3 das Bas—
relief ver Harfe von Erin. Der innere Saal iſt eben jo einfach.
Rings um die Wand läuft eine geräumige Galerie für die Frauen,
die O'Connell's eifrigfte Anhängerinnen waren; er hatte auch fait
in jeder feiner Meetingsreden ein Kompliment für fie bereit. Zu
Füßen des hbocherhöhten Präfidentenjtuhls jteht der Tiſch der
Sekretäre; recht3 und links laufen die Bänke für das Comite und
für „ausgezeichnete Fremde.” Doch kann man für einen Sir:
pence einen jolchen ausgezeichneten Plag erhalten. Co wenigjtens
that ich und hatte den Vortheil, die ganze Verſammlung en face
und Sohn O’Connell dicht neben mir zu jehen. Letzterer macht
nicht den Eindrud eines bedeutenden Menſchen, auch richt wenn
er fpriht. Don feinem Vater ſcheint er wenige Eigenjchaften
geerbt zu haben. In der Rede iſt er befangen, oft fehlt ihm ver
Ausprud für Das, was er jagen will, dann entſteht eine Baufe,
während welcher er zur Erde jieht oder mit den Bapieren in feiner
Hand jpielt; endlich findet er das Wort, aber e3 ijt viel ſchwä—
cher, al3 man es nad dem Anfange des Satzes erwartet hatte.
— Auch wird John D’Connell ſchwerlich noch an Bedeutung
wachen. Er ijt nicht mehr in dem Alter, in dem man lernt.
Sein Haupt ijt fahl und die Frifche der Jugend von jeinem Ge—
ht, das zu den gewöhnlichſten gehört, längit gewichen. Mit
jeinem Vater hat er, nad) den Bildern zu ſchließen, auch äußer:
(ih nicht die geringjte Aehnlichkeit. Er ſcheint ein einfacher, an-
jtändiger Menſch zu jein, nicht3 mehr und nicht3 weniger. Sein
Pater war, wie alle Menjchen, vie geichaffen find, große Mafjen
Zweiter Brief. 15
in Bewegung zu jegen, ein höchſt zujammengejegter Charalter.
Diefes erſah ih auch aus einem Gefprähe, das ich in einer
tleinen Kneipe mit Männern aus dem Volke führte, die ihn alle
ganz genau gelannt hatten. Das war ein Löwe, fagte der Eine,
jtärfer al3 der Löwe Britanniens. — O nein, jagte ein Zweiter,
er war nur ftark wie ein Löwe und edel, ſonſt war er ein Fuchs.
Ein Bulldog war er, rief ein Dritter. Nein! ein Kampfhahn,
fchrie ein Vierter darein, und ein Fünfter, der halbbetrunfen
auf der Bank lag, erhob ſich gravitätiich und ftammelte: Er war
ein großer Advokat und ein großer Feloherr, aber er liebte zu
jehr den Frieden.
Der Mann, der den legten Zujag machte, jah mir gerade
jo aus, als dächte er weniger an die friedliche Agitation als an
die Worte O'Connell's, die wie ein Vermächtniß an feine Nation
in goldenen Lettern auf Sammt geftidt in der Halle über dem
Präfiventenftuhle prangen und die da lauten: The man who
commits a crime gives strength to the enemy.
O’Connell; während auf der andern Seite des Stuhles golden
auf ſchwarzem Sammt zu lefen ift: O’Connell is dead! Irish-
men as you revere his Memory owing to his Principles.
Lepteres ift nun weniger der Fall und hat feine Gründe.
Die Schüler und Nachfolger O’Connell’3 find feine friedlichen
Agitatoren, fondern offene Revolutionäre, Es ſcheint mehr als
Zufall, e3 ſcheint geihichtliche Vorjehung zu fein, daß O’Connell
gerade vor Anbruc des Jahres 1848 die Augen gejchlofien hat.
Gewiſſe Punkte gibt es, an denen angelangt die Gejchichte fi)
mit Reformen und friedlichen Agitationen nicht begnügen kann;
die Mitchells und Smith O'Brien find in ihrer Zeit eben fo be:
techtigt, wie es der alte Dan in der feinen gemweien.
16 Briefe aus Dublin.
Dritter Brief.
Eine Stunde ſpäter.
Ich bin geftört worden dur einen Mann, der mir von
einem Antiquar ein Badet alter Bücher und Brochüren über die
Revolution der united Irishmen und über die Inſurrektion
von 1803 brachte. Als ich ihn für feine Mühe bezahlte, be:
merkte ich, daß er mit zu der großen Schaar Derjenigen gehörte,
von denen man nicht jagen kann, daß ihnen das Hemde näher ift
al3 der Rod. Ach bot ihm eines an, ohne von ihm dafür den
Stoff zu einer Dichtung zu verlangen. Ueberraſcht wog er e3
lange in feiner Hand, ſah bald mid), bald das Geſchenk an und
fragte endlich, was er damit follte. ch fette ihm in ſchöner Rede
den Vortheil eines ſolchen Befisthbums auseinander, machte aber
offenbar nur geringen Eindrud damit. — Ich bin's nicht gewöhnt,
fagte er endlich mit Achjelzuden. Und auf die Frage, ob er denn
nie ein Hemde getragen, antwortete er: D ja, einige Mal, aber
das ift jchon lange her. — Nach einigen Minuten fragte er wie:
der: Aljo das Hemd gehört jegt mir? — Ya wohl! — Nun da
e3 mein ift, fann ich damit machen, was ich will; ich verkaufe es
Ihnen. Und fo fpredhend, bot er mir e3 an mit dem liebenswür⸗
digſten Lächeln und der graziöjeiten Bewegung von der Welt.
Nehmen Sie es, fügte er hinzu, ich laſſe es Ihnen jehr billig;
für drei Pence gehört e3 Ihnen. Ich gab ihm die drei Pence
und ließ ihn mit dem Hemde gehen. Da haben Gie ein kleines,
ächt iriſches Geſchichtchen. Mir ift es als Unterbredhung lieb; e3
bat mich aus dem Rolitifiren herausgerifjen, und ich verlafje das
Thema, das feit zehn Jahren alle Zeitungen befjer behandelt
baben, um Ihnen den herrlichen Tag zu beſchreiben, welchen ich
gejtern verlebt habe.
Es war Sonntag. Die Sonne fhhien herrlich; fein Wölkchen
bevedte den Himmel, und ich machte mich früh, auf, um nad)
Kingstown zu fahren. Es ijt eine der ſchönſten Fahrten, die man
Dritter Brief. 17
‚machen kann. Die Eifenbahn geht längs des ſüdlichen Ufers der
Dubliner Bai hin und theilweije duch die Bai felbit: die Wagen
find Elugerweije ganz offen, jo daß Einem von dem herrlichen An-
blicke nicht3 verloren geht. — Nach und nad) verjchwindet Dublin,
nur Majten und Thürme bliden über die Gärten und dur ven
blauen Morgendampf dem Neijenden nad. Die Bai thut fi
weit auf und immer weiter und weiter und zeigt Einem am jen-
feitigen Ufer das einfame Vorgebirge von Houth Head, welches
die Feljeninfel, Jrelands Eye, das melancholiſche Auge Irlands,
mit feinen Zaden verftedt. Fern im Diten treiben einzelne Geg-
ler, die die Fluth erwarten, um in den gaftlihen Golf einzulau:
fen. Ganz nahe der Eijenbahn liegen da und dort ganz traurig
ausſehende Schiffe, die die Ebbe auf dem Trodenen zurückge—
laſſen — wie Menfchen mit einem verfehlten Leben. Die Anker,
die tief im Schlamme fteden, fcheinen eine Ironie; umſonſt
zaust der Morgenwind an den eingerefiten Segeln. — Wir
tommen nad Blad Rod. Es find das fhöne und befcheidene
Landhäuſer, die ſich terrafjenartig den Hügel hinauf und die Eifen-
bahn entlang ziehen bis gegen Kingstown. Aber englijche Villen
find es nicht; in den Gärten, die der Engländer mit Kaktufjen
bepflanzt hätte, treibt die Kartoffel ihre bejcheidene, meijt krankende
Blüthe.
Doch ift es ſchön hier. Die Nähe des Meeres wirft feinen
Glanz zurüd auf die Hügel, die Bäume und Büſche neigen und
‘ beugen fi im Morgenmwinde, kreiſende Möven ftreichen und über
den Weg, der noch zu ihrem Gebiete gehört — über den Waſſern
begegnen ſich die Klänge der Sonntagsgloden aus Kingstown
und Dublin — in den Gärten zwifchen Büſchen und Lauben
jigen Väter, Mütter und Kinder beim Frühftüd und ſchwingen
uns zum Gruße Hüte und Tücher — auf den Spigen der Hügel
jtehen überall einzelne Maften, die dem Sonntag zu Ehren Flag:
gen wallen lafjen. Der Lofomotivführer ſcheint zu jhlafen oder
zu beten, denn wir gleiten ſacht und langfam durd all die Schön:
heit hin. — In Kingstown jteigen wir an dem Kleinen, Tieblichen
Morigk Hartmann, Werke. IH. 2
18° Briefe aus Dublin.
Hafen aus, in deſſen Bufen gewaltige Dampfer ruhig träumen,
die des Abend3 nach Liverpool und Belfaft treiben follen, und
andre, die ſich zu Sonntagsfpazierfahrten bereit machen. Der
Leuchtthurm glänzt im Sonnenlichte, und auf den Felsblöden, die
am Ufer umber liegen, wie bie zerftreuten Trümmer eines ge
waltigen Palaftes, lagern die Gruppen harrender Kirchengänger
und lafien ſich die Sonne auf die Gefichter brennen. Kingston
ift ein ſchöner Fleden, ver fih vom Hafen aus eine fanfte Höhe
hinanzieht, während ihn im Hintergrunde die halbkahlen Fels:
mafjen von Dalfey überragen. Im Vordergrunde zeigt eine Reihe
von prächtigen Landhäuſern, die auf den Meerbujen hinausgehen,
ihre glänzende Stirne. Terrafjen und Gärten ziehen fich bis zum
Hafen hinab.
‘ch habe hier einen Brief an einen Jung-Jrländer abzugeben,
deſſen Adreſſe ich nicht weiß. Ich frage, und bald bin ich von
einer ganzen Schaar guter Leute umgeben, die mir alle helfen
wollen und die fih wieder nad allen Winden zeritreuen, um ſich
zu erkundigen. — Nach einer Stunde vergeblichen Suchens trete
ich in einen Fruchtladen, um zu frühſtücken. Die Mädchen da—
ſelbſt erzählen mir, daß Kingstown von Katholiken, Proteſtan⸗
ten, Quäkern und Methodiſten bewohnt iſt, die alle in größter
Friedlichkeit zuſammenleben.
Von Kingstown fuhr ich auf der atmoſphäriſchen Eiſenbahn
nach Dalkey. Man ſieht vom Lande nicht viel, da die Bahn
größtentheil unter ver Erbe hinläuft. Wie ich wieder an Tages:
ficht emporftieg, glaubte ich in einem italienischen Dorfe zu jein.
Aus verbranntem oder aufgefhwernmtem Boden wachſen grüne
Gärten, freundliche und prachtvolle Landhäufer heraus. Zwiſchen
Häufern und Öärten blickt von allen Seiten das unendliche Meer
durch, das ſchäumend an die Felskoloſſe des Ufers fchlägt. Ueber:
ragt ift das ganze Dorf von einem gewaltigen Bergkegel, deſſen
Spitze mit einer Pyramide gekrönt, deſſen Abhänge von großen
Felsblöden bevedt find, zwifchen welchen da3 Grün nur ſparſam
durchleuchtet. Hier und da trägt er ein einſames Haus auf ſeinem
Dritter Brief. 19
Rüden. Bon diejer Seite ahnt man e3 nicht, daß der rohe Ge-
jelle in ein Brucftüd des Paradieſes blidt, in die Bai von
Killiney. —
Ich weis nicht, wohin mich zuerjt wenden, und folge der
Menge, die aus dem Bahnhofe jtrömt. Ein freundlicher Gentle-
man ſchloß fih mir an. A fine day, Sir! — A very fine
day, Sir! — Dann fpricht er franzöfifch, ich antworte ihm und
bemerfe, daß ich ein Deutſcher fei. — Ein Deutfcher! ruft er,
jehen Sie, welches Buch ich in der Tafche mit mir trage! —
Und er zieht Schillers dreißigjährigen Krieg hervor. — Ich lerne
Deutſch, jagte er, — ich liebe diefe Sprache, es ift die fanftefte,
jüßefte, mohlklingenpite aller Sprachen. — Ich bin zu höflich
und zu patriotifeh, um zu widerſprechen.
Er hielt mir das Buch vor (es ſah aus wie das griechifche
Leſebuch eines ſchlechten Schülers, der ſich mit mander pia fraus
für's Examen vorbereitet) und erfundigte ſich nad) der Bedeutung
verſchiedener Worte, die er mit aller Mühe und mit allen Wörter:
büchern nicht enträthjeln konnte. Es waren meift unregelmäßige
Imperfekta und Bartizipia. — Der Sag: Unter Darimilian II.
genofjen die Proteftanten eine vollfommene Toleran; — hatte
ihm ſchweres Kopfbrechen verurfaht. — Die Ahnung, daß „Öe:
noſſen“ von Genießen herfommen fönne, half ihm nidt,
denn dann begriff er erjt nicht, was es heißen folle: „Toleranz
ejjen?“
Man wird mit einem Irländer fo fchnell befannt, und bier
half noch die Dankbarkeit, mir einen guten Freund und für den
ganzen Tag einen liebenswürbigen und jehr unterrichteten Cicerone
zu geben. Er führte mich durch die langen Gartenitraßen von
Daltey, vorbei an den Häufern, die jih unter dem Namen Sor—
rent auf dem Vorgebirge aneinanderreihen, der Anhöhe zu auf
einen Punkt, wo ſich der Meerbufen von Killiney plößlich vor
mir öffnete,
Welch ein Anblid! Gewiß einer der jhönften der Welt. —
Das Meer fchneidet hier tief ing Sand, welches ſich plöglic und
20 Briefe aus Dublin.
faft jteil aus der Tiefe erhebt und in ampbhitheatralifch gereihten
Hügeln und Bergen die Bucht umarmt. Tiefblau und ruhig
träumt unten das Meer und wirft dunkle Schatten auf die Ab:
hänge der Berge, die fih mit Behagen in ihm zu baden fcheinen.
Aber immer beller und heller werben die Tinten nach oben zu.
Die Heineren Hügel find in ein janftes Nofenlicht getaucht, mwels
ches fih nah und nach in ſchimmerndes Goldgelb verwandelt,
bis die höchſten Spitzen der einzelnen kahlen Berge im helliten,
brennendften Sonnenlichte glühen. Diefe werden fern im Süden
wieder von dem hohen Willow-Gebirge dunkelblau und ſchwarz
überragt, als von einem erniten Hintergrunde, Es ift das das
berühmte Gebirge, die Heimat des fühnen iriſchen Jungen, bie
Heimat ver Revolution, das Ajyl der Patrioten. Links von ung,
an dem nördlihen Ausläufer des Amphitheaters, auf fanfter
Anhöhe jtehen die wenigen, halb eleganten unausgebauten Häus
fer, die die ganze Bai beherrfchen und fich wie ein junges Mäd—
hen in dem fleinen See bejpiegeln. Sie nennen fih, und nicht
mit Unrecht: Sorrent. Sorrent! ſcheinen fie ftolz zu rufen —
Sorrent! troß unferer Armuth — Gorrent! troß unferer Unbe:
rühmtheit — Sorrent! nad vorn, Sorrent! nah rüdmwärts.
Genügt dir, o Wanderer, nicht die Idylle ver Killeeny:Bai, jo
fieb dih um nah der Pracht der Dubliner Bucht, mit ihren
Klippen und Felfen, mit ihren janften Abhängen und Gärten
von Kingstomn, mit ihren Schiffen und Kähnen, mit ihren Häu-
jerfronen von Dublin, mit ihrem ſchroffen und fteinigen Houtbh:
Head, mit ihrem melandolifhen Eiland von Irelands Eye, das
fehnfühtig in die Weite hinausblidt und vorwurfsvoll hinüber
nad) der Küfte von Albion! — Und die befcheidenen Häufer von
Sorrent haben Recht, fo zu fprechen. Wohin du von ihren Alta:
nen fiehit, überall Schönheit, ivyllifhe und melandolifhe Schön:
heit. — ihnen gegenüber im Süden glänzen die weißen Hütten
von Bray, das aus dem dunklen Grunde der Wiklow-Berge
friſch und keck hervorfpringt, als wollte es in die Tiefen ver
lodenden blauen See fih ftürzen, und hinter ihm, wie eine
Dritter Brief. 2]
geballte Zauft, ftredt fich das Vorgebirge von Bray:Head drohen
gegen Oſten.
Mit Ausnahme der beiden, einander jo fernen Endpunkte
von Sorrent und Bray ijt die ganze, weite Bai nur menig be:
baut. In der Tiefe einige Fijcherhütten, auf den Abhängen bie
und da eine einfame, mit ärmlicher, angejtrengter Eleganz er:
baute Billa — auf der Spige eines kahlen Kegel3 eine einfame
Pyramide. Die Berge an ihrem Fuße in der Nähe des Meeres
ohne Vegetation, auf ihrem Gipfel verbrannt, in der Mitte voll
von Riffen und Elaffenden Spalten, die faum verhüllt find.
Tropdem macht Alles den Eindrud tiefen Friedens, möglichen
Glückes. — Die Bat ift, wie Alles in Irland, wie die Menjchen:
angelichter, denen man die Fähigkeit zum Glüde, zur Heiterkeit,
wie die Felder, denen man unbenugte Fruchtbarkeit anfieht —
Alles fönnte hier jhön fein. — In der Bai von Killeeny baut _
die Phantafie leicht Säulengetragene Villen auf, zaubert ohne
Anſtrengung Rebengelänvde auf die Abhänge, ja jogar Dliven-
und Mandelbäume und Pinien — denn Alles athmet hier ſüd—
lihe Belebungsfähigfeit — und mitten in das Paradies heitere
und glüdlihe Menjchen, die jo jchöne Bilder geben würden, wie
die von Leopold Robert.
Um mich den entzüdenden Anblid aus dem künſtleriſch um:
gränzenden Rahmen eines Fenſters genießen zu laſſen, führte
mich mein gefälliger Cicerone in das Landhaus eines Freundes,
das fich einige hundert Fuß über dem Meere aus einem freund:
lihen Garten erhob, Die Thüren des Gartens wie der Stuben
jtanden offen, obwohl alle Bewohner ausgeflogen waren, die
weiblichen, um in der Kirche von Dalkey zu beten, die männlichen,
um unten im Meere zu baden. Sm einer der Stuben faß fehon
ein Bejucher, der den Hausherrn erwartete, ein berühmter Ad:
vofat aus Dublin, eine große gewaltige Geſtalt, berühmt bei ven
Irländern wegen jeines unübertroffenen Nahahmungstalentes,
das er oft bei Meetings benugt, um feine Landsleute an O'Con⸗
nell zu erinnern, Es foll ganz außerordentlich fein, wie genau
22 Briefe aus Dublin.
er Geberde, Ton und Bewegung des großen Agitator3 nachzu—
ahmen verjteht. Er bringt die Irländer dadurch oft in Entzüden
und zu Thränen. Mein Führer jtellte mid ihm als einen Freund
Irlands vor, und ich wurde fogleich mit der größten Herzlichkeit
aufgenommen, eben jo vom Hausherrn, der bald mit noch trie-
fenden Haaren ankam. Mit diefem, einem Herrn Steevens, ehe:
maligem Redakteur eines Repealer:Blattes, war die Freundſchaft
noch leichter geſchloſſen. Denn als er mich nach feinem Freunde
Mr. Jakob Venevey fragte und ich mich ihm ebenfalls als einen
alten Freund deſſelben (trog Erfurt, dachte ich bei mir) zu er:
fennen gab, wurde ich von den drei Männern als zur großen
iriſchen Familie gehörig betrachtet. Unfer Wirth überfloß vom
Lobe Jakob Venedey's, den er einen noble, accomplished and
clever gentleman nannte. Er hatte ihn oft bei D’Connell und
deſſen Meetings gefehen und konnte feine Theilnahme, feine Ein:
jiht in die irischen Angelegenheiten und endlich fein Buch über
Irland nicht genug preifen. — Ueberhaupt fand ih, daß Vene:
dep in Irland fehr bekannt, fait populär fei. In vielen Privat:
bibliothefen ſah ich fein Buch in englijcher Ueberjegung, ebenjo
in allen Buchhandlungen und bei vielen Antiquaren. Gleich bei
meinem erjten Ausgang in Dublin fah ich vier Eremplare davon
bei dem Gaffen-Antiquar in Great:Brunswid:Street neben ein:
ander, alle mit offenen Büchertiteln aufgejtellt und darüber einen
breiten Zettel befeftigt, mit der Infchrift: a celebrated Ger-
man's opinions about Ireland. — Ich nahm es als ein gutes
Omen, daß mir in diefer fremden Welt gleich Anfangs der Name
Deſſen entgegentrat, der mir ſchon einmal in der Fremde in
mancherlei Nöthen treu beigeftanden.
Mährend wir fo da faßen und gemüthlich plauderten, belebte
ſich die Bucht tief unter und immer mehr und mehr. Heitere
Sonntagsvergnüglinge fuhren auf Heinen Kähnen hinüber nad
Bray, um fih am Fuße der Berge am Bergthaue, gemeinhin
Whisky genannt, zu laben und des Abends ald monneberaujchte
Bienen in ihre Zellen zurückzukehren. — Die milde feuchte Luft,
Dritter Brief. 93
die troß der brennenden Sonnenhige über den Wellen bebte,
brachte die fernften Gegenftände nahe und ließ die entfernteiten
Zöne laut und deutlih an unfer Ohr Elingen. Es war, als ob
die weißen Gegel der fliegenden Barken hart an unferem Feniter
vorbeiftrihen, als wären fie mit der Hand zu erreihen — die
Zäujhung wurde noch durch die Gartenmauer vor dem Fenſter
vollendet, die den ganzen Bergabhang verdedte und nur das
blaue Meer fehen ließ, und durch die Lieder, welche voll und
klar von unten heraufhallten. Deutlich erkannte ich aus einer mit
Frauen und Mädchen gefüllten Barke die Melodie des last rose
of Summer, und aus einer anderen den melandholifchen Refrain:
Robert A Roon. Welcher Irländer würde nicht durch den An-
blid der Wiklow-Berge an den Helden erinnert, deflen Tod dieſes
Lied beklagt! Kennen Sie e3? Man hört es in Dublin oft, fehr
oft durch die Nacht erzittern, mit feiner monotonen Grabmelodie,
die noch jhauerliher und trauriger klingt als feine Worte —
verzweifelt, hoffnungslos, aufgegeben. Der Refrain faſt zwiſchen
jeder Zeile klingt dumpf und gebrochen, wie das Echo zwiſchen
Auinen, wie die Schollen, die auf einen Sargdedel fallen. Hier
haben Sie e8 in ungefährer Ueberfegung. Die Worte find der
unglüdlihen Sarah Curran, der Geliebten Robert Emmet’3, in
ven Mund gelegt, aber es fingt fie das ganze Volk, das fie nicht
vergejlen hat, trogdem das Lied lange Zeit bei ſchwerer Strafe
verboten war. Es hatte dafjelbe Schidjal und wirkte auf jeine
Landsleute ebenfo wie das berühmte Lied der Mauren von Gra—
nada: „Wehe mir, Alhama.“
Des Lebens Freude liegt in diefem Grabe, Robert A Roon,
Hier Alles, was ich lieb und theuer habe, Robert A Roon,
Gemahl du meiner Seele — in dem Schreine
Iſt „leiste, bange Heimat“ — ac) die deine,
Der Hoffnung, Freiheit, Liebe — und die meine, Robert A Roon.
Doch Thränen müfjen fallen ungejehen, Robert A Roon,
Noch aus den Schollen will fein Grün erftehen, Robert A Roon,
24 \ Briefe aus Dublin.
Kein Leihenftein darf deinen Namen tragen,
Es darf fein Mund von deiner Treue ſagen,
Es darf fein Herz zu deinem Ruhme fchlagen, Robert A Roon.
Des Heldendichters Wehlaut, dir zu Preife Robert A Roon,
Muß jchweigen, ſchweigen muß der Harfe Weife, Nobert A Roon,
Kein einz’ger Seufzerhauch darf ihr entgleiten,
Zu klagen all die todten Herrlichkeiten —
Den Ton verloren haben ihre Saiten, Robert A Roon.
Die Nacht ift rauh und Falt, die Winde jagen, Robert A Roon,
Biel fälter mag mein Herz im Bufen ſchlagen, Robert A Roon,
Nie wird mir heitre Sonne wieder jcheinen,
Nie kann mein Herz mehr zu erwarmen meinen,
O es ift falt, erftorben — gleich dem deinen, Robert A Roon.
Ich möchte nie von diefem Ort mich trennen, Robert A Roon,
Ach, welchen andern joll ich Heimat nennen? Robert A Roon.
D hätten fie mich fort mit dir getragen,
Biel heißen Dank wird’ ich dem Tode fagen,
Mein Brautbett wäre mir der Todtenjchragen, Robert A Roon.
Ein einzig Hoffen füllet mein Gemitthe, Robert A Roon,
Daß ih um zu verwelfen nur erblühte, Robert A Roon,
Nie wieder kann mein Herz in Blüthe prangen,
Bon Mehlthau ift fein tieffter Keim umhangen
Und alle Lebensfreude ift vergangen, Robert A Roon.
Die trauervolle Melodie dieſes Geſanges gehört urfprünglich
einer alten irischen Ballade „Eileen a Roon“, deren "gefeierter
Held, ein Ahnherr des Lord Molesworth, in Holby-Park, Graf:
ihaft Willow, lebte. Händel erklärte, er wäre viel lieber der
Komponift diefer Melodie al3 irgend einer andern modernen
Kompofition. Nach Hardiman bedeutet der Refrain „A Noon“:
meines Herzens geheimer Schatz — my heart’s secret trea-
sure.
Im Innerſten bewegt durch den Anblid al’ des Schönen
und die Töne des Liedes, die Hagevoll heraufzitterten, ſtand ich
auf und ging hinaus in den Garten. Wem wurde eö beim
Dritter Brief. 95
Anfchauen großartiger Natur nicht zu enge in der Stube, wen hat
e3 dann nicht hinausgetrieben ins Freie mit dem unbeftimmten
Drange, diefem Schönen näher zu fein, darein zu tauchen und
darin unterzugehen? Aber da fteht man „der große Hand, ad
wie fo Hein“, man fteht auf Einem Flede, und Alles ringgumber
bleibt fo ferne wie vorher. An die Gartenmauer gelehnt, ſah ich
hinaus ins unendliche Meer, und mein Innerſtes fühlte und rief,
was e3 ſchon einmal fühlte und rief:
Allgottheit, nimm mich auf, löſ' mich in Tropfen Thau’s,
Wie er am Blatte hängt, laß ungemefj’ne Fernen
Mich ewiglich durchziehn, hin zwifchen Blum’ und Sternen,
Laß mit dem Ozean mich unerkannt verfhwimmen,
Laß mit dem Strom von Licht, der mich umraufcht, verglimmen,
Daß ih mid nicht als Eins und Einfames empfinde,
Gleich dem verftoßenen und mutterlofen Kinde!
Die Freunde famen mir nah, und während fich die beiden
Gäſte zu mir gefellten und ebenfall3 bewegt hinaus fahen in das
unendlich Schöne, ging unjer Wirth durch den Garten und juchte
die jhönften Blumen aus. Die band er dann zum Strauß und
bot mir fie als freundliches Gajtgefchenf. Sein Heiner Sohn
that dafjelbe. Das ift jo ächt iriich = finnig, fo ganz des Volfes
würdig, da3 die janften Melodien und die vielen Elfenfagen
beligt. |
Endlih nahm ich Abſchied. Mein freundlicher Führer ver:
ließ mich nicht und begleitete mich nach Dalkey zurüd, mo ſich
zwifchen ven Klippen die männliche Jugend verjammelte, um zu
baden. Auch wir warfen unfere Kleider auf einen Felsblock und
ftürzten uns in die heranbraufende Fluth. Es war eine ſchöne
Sjene. Der breite, alte Thurm auf dem Hügel des Ufers warf
feine diden Schatten auf die Badeſtelle; immer wilver jtürmten
die Mellen heran und warfen ihre weißen Raketen über vie
Häupter der höchſten Klippen, die hier wie Heine Thürme weit
in dad Meer hinauslaufen. Aus der Ferne jcholl der jubelnde
Auf der fühniten Schwimmer, die der heranſtürmenden Fluth
26 Briefe aus Dublin.
entgegenarbeiteten oder ſich an die vorbeijegelnden Kähne hefteten
und mit den drin fitenden Frauen und Mädchen jcherzten. Da
plöglich tönt ein Angſt- und Hülferuf hinter mir. Ich ſah mich
um — ein junger, ungefähr eilf Jahre alter Irländer kämpfte
mit der Fluth, die fih unaufhörlich über feinen Kopf wälzte und
ihn endlich auf den Grund warf. Mit leichter Mühe und ohne
alle Gefahr erreichte ich ihn und trug ihn watend auf die nädjite
Klippe. Während ich ihn hinftellte, benußte die tüdifche Fluth
meine vorgebeugte Stellung, ftürzte fih mit Gewalt auf meinen
Rüden und warf mi an den Feljen. Meine Bruft war ver:
wunbet, und es gab Blut. Diefer Zufall machte aus dem Nichts
eine That und aus den Mitbadenden und den Zufhauern am
Ufer meine Freunde. Beim Anblid meiner blutenden Bruft ftürz:
ten fie Alle laut ſchreiend herbei — die Bademwärter famen ſchwim—⸗
mend, die Zufchauer fprangen angefleivet ins Waſſer, um mir
zu helfen. Es war nicht nöthig. Aber der ganze Schwarm wollte
mich nicht mehr verlafjen, und von ihm begleitet, 30g ich in Daltey
ein. — Da mir mein Yührer noch verfchievene ſchöne Punkte
zeigen wollte, gab mir die Majorität meiner Begleiter ein Nendez:
vous in einem Gaſthausgarten. — Mein Gicerone führte mich
durch unterirdiihe Gänge an eine Quelle, die hart am Meere
das labendite Süßwaſſer jprudelt. Die unterirdifchen Gänge, die
ſich in verſchiedenen Windungen einige hundert Schritte hinziehen,
haben an der Dede einzelne Deffnungen, die ihnen ein magijches
Clair-obseur geben. Mädchen mit Krügen auf dem Kopfe
gingen hin und wieder — da und dort faßen auf den Steinen
einzelne Gejellihaften, die ſich wor der Hite des Tages hierher
geflüchtet hatten, auch einzelne Liebespaare oder einfame Träu:
mer. Die Quelle felbjt, die befcheiden und ſchmucklos aus dem
grauen Geſtein hervorſprudelt, ift durch mannigfache Sagen poe:
tifirt und durch viele Lieder gefeiert. Als wir wieder ans Tages:
licht kamen, ftanden wir vor dem Garten des Lorb:Lieutenants
von Irland. Es ift das eine ganz einfache grüne Fläche hart am
Ufer des Meeres. Der grünliche Rafen ift überall von gewaltigen,
Dritter Brief. 237
ungebeuren Felsfolojjen durchbrochen, die gelbe Kryptogamen
beveden. Nur bier und da fteht ein ärmlicher Baum. Mit
einem Wort: eine Heine Wüſte. Im erften Augenblide ift
man über dieje Einfachheit erjtaunt — aber fie macht dem Ge:
ſchmacke des Beſitzers alle Ehre. Diefe Felskoloſſe wären leicht
zu fprengen und wegzuräumen gewejen — eine künſtliche Vege—
tation von franfenden Bäumen und Blumen hätte fich leicht ber:
vorrufen lafjen — gevduldige Statuen fann man überall hinftellen
und fentimentale Lauben überall zufammentleben. Aber der Be:
figer hat es verjtanden, welchen harmonischen Kontraft diejer
wilde Fled Erde bildet neben ver lieblihen, jchönen Bat von
Dublin. Die Felsblöde liegen kalt und ftarr da, aber das kom—
mende und fliehende Meer umbraust und umlijpelt fie mit ewigen
Leben — ihre Kryptogamen und Flechten treiben keine Blüthen,
aber das jhlummernde Meer wirft feinen verklärenden Schimmer
auf fie und das ftürmende feine weißen Schaumfloden. Dem
Ganzen entjprechend ijt die einfache Billa, die fi am Eingange
des Gartens erhebt und mit glänzenden Augen über die Fable
Fläche und ihr Geftein hinausfieht auf die blauen Wellen und
die weißen Segel. — Nehnlich ift der Garten der Nonnen in der
Nähe,. der nur von einer niederen Mauer eingefchlojien ift. Die
Dede entjpricht befjer, al3 es dunkle, heimliche Zaubgänge könn—
ten, dem einfamen Leben diefer Frauen. Auch madten fie einen
ſchauerlichen Eindrud auf mich, wie ich fie mit gefreujten Armen
in ihren dunklen Gewändern auf dem fahlen Boden umberwan:
deln und zwiſchen den Steinblöden wie zwifchen Gräbern bald ver:
ſchwinden, bald wieder auftauchen ſah. Nur das prächtige, neu:
erbaute, mit aller Pracht und Eleganz ausgeftattete Kloftergebäude
erregt eine unangenehme Empfindung, wenn man an das Elend
denkt, welches neun und neunzig Hundertel der irifchen Laien
ervrüdt. — Die das Gelübde der Armuth ablegen, willen ſich
überall, au in Irland, behaglich einzurichten.
Auf dem Wege zum Gafthaufe fah ich noch das Landhaus
O Connell's, das jegt feines Sohnes Sohn bewohnt. Es iſt ein
28 Briefe aus Dublin.
nettes, einftödiges Haus, von Gärten umgeben, die mit Statuen
geſchmückt find. Das Thor ift mit hiberno : celtifhen Inſchriften
verjehen. Im Gafthausgarten fand ich ſchon die ganze Gejell-
haft verfammelt, die ich vor einer halben Stunde verlafien
hatte. Laute Cheer3 auf den „Retter“ empfingen mid. Das
machte mich Anfangs etwas verlegen ; doch wurde ich bald bei:
mich und gemüthlich in der Gefellfhaft. An einem langen Tiſch
am Nande des Meeres, von dem wir nur durch eine niedrige
Mauer getrennt waren, jo daß ung ohne fie die Fluth die Füße
beipült hätte, wurde ein frugales Mittagsmahl eingenommen.
Unter Bewunderung de3 herrlihen Abends und mit beiteren
Geſprächen verjtrich die Zeit. Ein Advokat, der eben von den
mandernden Aſſiſen (eircuit) aus dem Lande zurücdgefehrt war,
erzählte von den merfwürbigften Prozeſſen und freute jih, daß
nit ein Dieb, nicht ein Näuber, ja nicht einmal irgend ein
Mörder verurtheilt worden. Die ganze Gefellihait freute ſich
mit ihm. Der Irländer betrachtet jedes Verbrechen, das von
Einem jeiner Landsleute begangen wird, als einen Theil des
großen Krieges, den feine Nation gegen England führt. England
gibt ja die Gefege — wie jollten fie ehrwürdig fein? — Ihm it
jeder Verbrecher, den der Advokat durchbringt, ein aus den
Klauen englifcher Juſtiz gerettetes irifches Kind. Vielleicht haben
fie Recht; fie mögen durch Erfahrung dahin gekommen fein, wo:
bin unjere vorgejchrittenjten Vhilofophen durch Schlüffe fommen,
daß der Verbrecher nur ein Unglüdlicher, ein vernachläfligtes Kind
der Gejellichaft, ein Opfer veralteter Gefeggebung ſei. — Wie
joll Der nicht jtehlen, dem hiſtoriſches Recht den Ader jtahl, auf
dem er gerne im Echweiße des Angejichts fein Weib, feine Kinder
ernähren möchte — mie leicht kommt er vom Diebjtahl zum Raub,
vom Raub zum Morde, wie leicht jind diefe Schritte gethan,
während starvation daheim den Säugling verzehrt und das
Weib zu Haufe wacht und wartet auf die geftohlene Beute, die
ihr Kind erretten foll! —
Die Sonne ſank jhon tief, al3 ich auf der Eifenbahn von
Vierter Brief. 29
Kingstown nah Dublin zurüdfuhr. Die Fluth hatte die Schiffe
erlöst, und fie tanzten luftig auf den bewegten.Wellen, der Abend:
wind pfiff in den eingerefiten Segeln, auf der hohen Bai flogen
die Dampfer hinaus ins offene Meer, am linken Ufer überall
Iuftige Spaziergänger, die fingend in ihre Häuser zurüdfehrten
— der Mond ftieg endlich voll und leuchtend auf — am Bahn:
bofe drängte fich eine fröhliche Menge, und wie der Jrländer am
Sonntage alle Mühen der Woche vergißt, fo vergaß ih, daß ich
mich in der Hauptjtadt der Noth befand, und wie Jene vom Berg:
thaue beraufcht, taumelte ich berauſcht von all’ dem erlebten
Schönen zurüd in meine Wohnung, um mir kalte Umjchläge
auf meine verwundete Bruft zu machen, was ich noch heute fort:
jege und welchem Umſtande Sie diejen langen, langen Brief ver:
danken. Leben Sie wohl.
Vierter Brief.
Herr John Ball, ein Engländer und einer der erjten Beamten
Irlands, an den ich von einem großen Gelehrten aus London,
feinem Freunde, ein Empfehlungsſchreiben mitbrachte, bejucht
mich nicht, weil ic in einem Hafen-Hotel zweiter Klaſſe wohne
und nicht, wie ich es ihm verfprodhen, eine theure Wohnung auf
Stephens-Green bezogen habe. Bielleiht auch, weil er meine
Empfehlungen an mehrere Jung-Irländer gejehen. Es ijt mir
ganz recht — denn fonjt hätte ich ven ganzen ſchönen vorgeſtrigen
Tag verloren und mit ihm und einer falhionablen Gejellihaft
im Frad und zu Pferde eine Landpartie machen müſſen. Wahr:
ſcheinlich hätte er mir au die Schreden und Gefahren folder
Exkurſionen, wie ich fie gejtern Nacht noch machte, jo ausgemalt,
daß ich fie unterlafjen hätte.
Ich brachte nämlich fait die ganze Naht in den fürdhter:
lihjten Nothquartieren zu. Um fünf Uhr ungefähr verließ ich
30 Briefe aus Dublin.
mein Hotel am Eden-Quai und wanderte dem Anna-Liffey ent:
gegen, der Dublin in zwei Hälften theilt und innerhalb der Stadt
von acht ſchönen und geihmadvollen Brüden überwölbt iſt.
Diefer Fluß ift es vorzugsweiſe, der Dublin das Malerifche gibt,
das e3 hat. Rechts und links laufen bequeme breite Quais bin,
die vom Fluſſe durch eine nievere Mauer, auf der andern Seite
dur ununterbrochene Häuferreihen begrängt fint. Auf den Quais
bat Dublin Aehnlichkeit mit Paris. Sind die Gebäude auch meift
unbedeutend, fo bilven fie doch eine jehöne Perfpeftive, die im
Dften durch den Hafen und feine Mafte, im Weften dur den
Park mit jeinen Hügeln und feiner gewaltigen Wellington-Byra-
mide Fünftlerifch abgejchloffen ijt. Einzelne Gebäude ftechen durch
ihre Maſſenhaftigkeit oder ihre bejondere Bauart hervor und ge:
währen dem Auge die in einer tiefen Perjpeftive nothwendige
Abwechſelung; jo z. B. die großen Magazine am Hafen, das
Guftom:Houfe, ferner der ganz eigenthümlihe Bau der Four
Courts. Es wäre diefes ein ganz gejchmadvoller, italienifcher
Palaft, wenn er nicht durch einen ganz baroden Ueberbau ent:
ftellt wäre, der mit unzähligen Säulen und einer ungeheuren
gräulihen Metalltuppel ſich plöglih aus ihm erhebt, wie ein
zweites Haus, von dem man nicht begreift, mie es da hinauf:
gefommen; fo unabhängig, jo volllommen al3 ein Ganzes ftellt
e3 ſich dar.
Am Ellis-Quai vorbei bog ich rechts in die Gafle und um
die ungeheuren königlichen Kafernen und ftand auf heiligem Bo:
den. Dort liegt Arbour:Hill, der Erefutionsplag, auf welchem
die meiften Braven der united-Irishmen-Revolution binge:
richtet wurden. Jetzt ftehen einzelne Häufer da; doc iſt es hier
öde und ſchaurig. In nächſter Nähe liegen ein großes Hofpital
und ein Gefängniß; von der Stadt ift die ganze Gegend durch
die Kafernen getrennt. Robert Emmet, auf den ih immer
wieber zurüdlomme, al3 auf meinen Liebling unter den iriſchen
Rebellen, al3 auf einen der liebenswertheſten aller Revolutionäre
aller Zeiten, bat ihn nur kurze Zeit vor feiner eigenen Hinrihtung
Vierter Brief. 31
beſungen. Hier iſt das „Arbour-Hill“ überſchriebene Gedicht in
flüchtiger, aber getreuer Ueberſetzung;
Nicht ſtolze Säulen prangen hier,
Wo Opfer ruh'n der heil'gen Sache,
Doch, ach, das Blut, das hier vergoſſen,
Zum Himmel ſchreit es auf um Rache.
Um Rad’ auf des Despoten Haupt,
Dem Menjchenelend Freude madt,
Der Thränen trinkt, von Noth gemeint,
Und, wenn fie fließen, ihrer lacht.
Um Rache auf den harten Richter,
Der feine Hand in Blut getaucht,
Der Unreht mit dem Schwert bewaffnet
Und nie des Rechtes Wage braucht.
Um Rade für das Land, das Grab,
Dem eignen, elenden Geſchlecht,
Drauf welke Freiheit neigt das Haupt,
Und wo der Menſch nur lebt als Knecht.
D heilig Recht, befrei’ dieß Land
Bon Tyrannei, die uns erdrückt,
Nimm deinen Stuhl, nimm deine Wage,
Doch ſei nicht mehr dein Schwert gezüdt.
Nicht nach Vergeltung ftreben wir,
Zu lang ſchon währt des Schredens Zeit,
Die Freiheit fomme gnadenreid
Und unbefledt von Grauſamkeit.
Nicht ſoll des Unterdrüders Ajche
Sein mit des Dulders Staub gemengt —
Dieß ift der Ort, den Erin! Söhne
Für Erins Glüd mit Blut getränft.
AU Die, fo hier gebettet find,
Jedweder ſei gebenedeit,
Geſegnet ſei ihr Angedenken,
Ihr Ruhm durchdringe alle Zeit.
32 Briefe aus Dublin.
Sie ruh'n in ungeweihten Boden,
Den Priefterhand gejegnet nit, —
Kein Glockenſchall ruft hier zur Andacht,
Kein Denkmal, das zur Zukunft jpricht.
Doch jegnet hier das Herz des Armen,
Doch weinet hier der Patriot —
Die tragen ihren Ruhm zum Himmel,
Die heiligen den ſchönen Tod.
So friedlih und fern von allen Rachegedanken fang in auf:
braufender Jugendzeit derjelbe Robert Emmet, ver, einige Jahre
jpäter, im reifern Alter als einer der gefährlichften Rebellen auf
demjelben Plage durch den Strang vom Leben zum Tode ge:
bracht wurde. Wie vielen unjerer humaniftiihen, verfühnungs:
ſehnſüchtigen Jünglinge ijt vielleicht ein ähnliches Schidjal be:
ſchieden! Nicht wir machen die Revolution. In Irland bat fie
der „Fromme“ George gemacht, dem fein Gewiſſen es nicht er:
laubte, die Jrländer zu emanzipiren, und der „große“ Pitt, ver
deswegen zweimal jein Portefeuille nieberlegte, aber e3 zum
dritten Male doch wieder annahm und aus zarter Rüdficht für
das zarte Gewiſſen des Königs die Frage ruhen und Millionen
Irländer ihrem Elende preisgegeben ließ. Freilich beftand ein
Denunziationsgejeß, nach welchem Jeder, der jeinen Freund ver:
rieth, wenn diejer katholiih war, mit den Gütern des Freundes
belohnt wurde; freilich bejtand ein andres Geſetz, welches dem
tatholifhen Vater das Recht benahm, der Hüter und Erzieher
jeiner Kinder zu fein; und es bejtand ein drittes, welches erlaubte,
den Katholifen auf offener Landftraße feines Pferdes zu berau:
ben, wenn er, befragt, jeinen Glauben eingeftand; freilich befahl
noch ein viertes Gejeß, das ungehorjame und von feinem Glauben
abgefallene Kind mit dem Vermögen jeines katholiſchen Vaters
zu belohnen; und ein fünftes, welches die katholiſche Erziehung
zu verhindern wußte und den katholiſchen Lehrer als Verführer
ftrafte; und ein jechötes, nach) welchem Fatholifche Priefter verbannt
und bei der Rüdfehr gehängt wurden; und ein fiebentes, welches
Dierter Brief. ' 33
. Katholifen vom Grundbeſitz ausſchloß, ob nun Erbſchaft oder
Kauf ein Necht dazu gegeben; — ferner beftanden noch Gejege,
welche den Befig von Waffen und da3 Studium der Juris—
prudenz verboten und von jedem bezahlten oder Chren:Amte aus:
ſchloſſen und den Katholifen nicht geftatteten, bei welcher Wahl
aud immer zu votiren oder im Parlamente zu ſitzen — aber was
liegt an alle Dem? Der große Pitt ſchonte das zarte Gewiſſen
des frommen Könige. — Arbour-Hill ift ein guter Flecken ver
Erde, um über den eigentlichiten Werth großer Minifter und
frommer Könige nachzudenken.
So in der That nachdenkend, fam ich auf Kingsbrivge an; da
zerjtreute mich ein ſchöner Anblid und ließ mich alle Minifter und
Könige der Welt vergelien. An das Brückengeländer gelehnt,
ftand das reizendjte Menjchenpaar — ein Junge von höchſtens
neunzehn, ein Mädchen won höchſtens ſechzehn Jahren. Sie
hatten ihre Arme ineinander geſchlungen und ſahen hinab in die
Tiefe des Flufied. Der Junge, groß und ſchlank, mit blafjem
Gefiht, Feder Aolernafe, freier Stirn, unter der blaue Augen
hervorleuchteten, mit didem, ſchwarzem Haar, das wirr und
breit auf die Schulter herabfiel, ließ durch das höchſt einfache
aber ſehr zerrifiene Leinengewand einen feinen, doch mustulöfen
Körper jehen, der in der ſchlanken Mitte von einem engen, breiten
Gürtel umſchloſſen war. Das Mädchen trug das unausmweichliche
Mäntelhen und den noch unausweichlichern Hut. Alles an ihr
war zerpflüdt und zerriffen; das Mäntelhen, unten ganz aus:
gefranzt, ftarrte von Schmutz, der Hut war voll Löcher, die mit
Blumen und Blättern verjtopft waren. Das afchblonde Haar
lag halb zerzaust auf der ungewajchenen Stirn. Aber mitten.
durch all ven Schmutz drang der Strahl unendlich rührender
Schönheit. Das Rehauge blidte ſanft und mild, die Feine, doch
etwas gebogene Naje jprad von Geift und Verſtand, der etwas
breite Mund mit vollen Lippen ließ eine Reihe glänzenver Perl:
zähne jehen, und Kinn und Wangen waren troß Noth und Elend
noch fanft gerundet. Die Jugend erträgt jo viel, ehe ſie ſich
Mori Hartmann, Werke. TI. 3
34 Briefe aus Dublin.
entſchließt, aus einem ſchönen Antlig zu ſcheiden. Das Mäntelchen,
da3 fie über tie Schultern geworfen hatte, um fich bequemer an
das Geländer zu lehnen, ließ eine fhöne zarte Bruft fehen, die
ſich durch die zerfajerte Hülle eines ſchwarzſeidenen Tuches weiß
und glänzend hervorbrängte. Die Hand, die das Kinn ftüßte,
obwohl gebräunt, war lieblih anzufehen, und um den fchmalen
und Kleinen Zuß, der nadt in abgetretenen Schuhen ſtak, hätte
fie mande deutſche Herzogin beneidet. — Endli gab fie ihre
nachdenkliche Stellung auf, nahm dem Zungen feine rothe, kecke
Müge ab und ftrid) ihm die ſchwarzen Loden von ver glänzenden
Stirn. Ih jah Amor und Pſyche als irische Bettelfinder verkleidet.
Bald bemerkten fie mich, der, auf dem Quai ſtehend, jie be:
obachtete. Sie ſprachen einige Worte, die ich nicht hören konnte —
dann verließ fie ihn und fam mit dem fanfteften Lächeln auf mich
zu. Ich glaubte, fie wolle mid anbetteln, und ftedte fchon die
Hand in die Tajche. Aber nein! — Sie fragte mich — ich will
die Frage nicht wiederholen. Ob es der Bruder oder Geliebte
war, den fie verließ, um an mich diefe Frage zu ftellen — ob
e8 der Bruder over Geliebte war, der ihr ruhig nachſah und
rubig das Reſultat abmwartete — es ijt gleich jchredlih. ch
jchüttelte traurig und erjchüttert das Haupt; fie wollte wieder
gehen. Aber ich bielt fie zurüd, um fie nad ihrem Ber:
hältniß zu jenem jchönen Jungen zu fragen; — e3 war ihr Ge—
liebter! Ich fragte fie nach ihrem Namen; fie hieß Juddy. Einen
Shilling, den ic ihr gab, ließ ich ihr in die Hand fallen, denn
ih wagte nicht, fie zu berühren, jo arg ftarrte daS ganze Ge:
ihöpf von Schmut. Sie grüßte dankend und wollte wieder gehen,
als mir einfiel, daß Juddy für meine Nachterfurfion der befte
Gicerone fein könnte, weshalb ich fie bat, mich gegen neun Uhr
in St. Thomas Street zu erwarten. Sie verſprach e3.und eilte
mit ihrer Beute zum Geliebten zurüd.
Sch wanderte am Bahnhofe und an des Decan Swifts Gaſſe
porbei nah dem Royal: Hofpital, wo die englifchen Soldaten,
mitten unter irifchen Elenden, ein behagliches Dafein verleben.
Vierter Brief. 35
Ihre Wohnung beiteht aus einem großen, weitläufigen Gebäude
und einem endlojen, großartigen Garten, in den man mir den
Eingang geftattete. Auf dem Rüdivege gegen Little James-Str.
fam ich in Gegenden, die man in der Nähe einer großen Stadt
für unmöglich halten jollte. Hütten, aus vier lehmigen Wänden
zufammengeflebt, die faum das verfaulte Dad) zu tragen im
Stande find, bilden ganze Gaſſen. Fenſter gibt es bier faft
gar Feine — die Thüren, die unmittelbar aus der einzigen Stube,
aus welcher das ganze Haus befteht, auf die Gafje führen, jtehen
ewig offen, um Licht und Luft einzulafen, und zeigen die ganze,
ungeheuere Aermlichleit des Innern. Bon Betten faft nirgends
eine Spur — an ven Wänden hier und da ein Bret ald Bat
befeftigt, zwiſchen zwei Blanfen nahe an der Dede einiges Ge-
ihirr, im Winkel der kupferne Theefefjel, das ift der ganze Haus:
rath einer oft zahlreichen Familie. Dieje lebt meift in der Gafle,
da fie fih in der Stube verfammelt faum bewegen könnte. Bor
den Thüren fpielten ſchmutzige, halbnadte Kinder, bei ihnen oft
die Mutter, die, das Kinn in beide Hände geftügt, gedankenlos
in die Welt ſah. Erwachſene Jungen jtanden müßig an die
Hütten gelehnt — nur jelten bettelte mich ein oder das andere
Kind an. Die Gaſſen find in diefer Gegend natürlich ungeebnet
und ungepflajtert. E3 geht bergauf und bergab. — Eben als id)
mic) fragte, ob e3 rathſam wäre, im guten Rode bier eine Mitter:
nacht3promenade zu machen, las ich reht3 von mir an der Ede
einer jehr engen Straße, die in die Tiefe führte, die Inſchrift:
Murderer:Street. — Um einen Begriff von der Architektur dieſes
Stabttheiles zu geben, will ic Ihnen die Ruinen von ungefähr
ſechs oder fieben Häufern befchreiben. Sie lagen mir rechts, an
einen Kleinen Hügel gelehnt, der einen Garten trug. Der Befiger
dieſes Gartens hatte ihn mit einer jchlechten, lehmigen, faum
manneshohen Mauer umzogen, die am Fuße des Hügels hinlief.
So entjtand zwijchen der Mauer und dem allmählig ſich erheben:
den Hügel eine Vertiefung. Was thut der geniale, jpefulative
Broprietär? Er dedt diefe Vertiefung zwifchen Hügel und Mauer
36 Briefe aus Dublin.
mit Brettern zu, durchbricht die Mauer felbft an ſechs oder fieben
Stellen, ſcheidet die jeh3 oder fieben Stellen, zu denen dieſe
Thüren führen, durch lehmige Wände und hat jo eine Anzahl
Mohnungen gewonnen, die er an ſechs oder fieben Familien ver:
miethet. Die hinterfte Wand war durch den nadten Hügelabhang
gebilvet. Wir würden unſer Vieh nicht in einen ſolchen Stall
ſtellen. — Daß diefe Löcher bewohnt geweſen, konnte man noch
deutlich erkennen, aber die elenden Wände hatten dem Negen nicht
wiberjtehen können und waren als aufgeweichter Lehm augein-
andergegangen; jo wurden die armen Troglopyten obdachlos, und
ver Befiser fam um die jährliche Rente von einigen Pfunden. In—
deſſen zweifle ich nicht, daß diefer unternehmende Kopf die Woh—
nungen wieder rejtauriren wird, jobald nur befjere Jahre kom—
men. Dieſes Jahr iſt qu jchlecht für das Volk von Irland, und
die Bewohner beſſerer Häufer konnten ihren Miethzins nicht be:
zahlen — warum ſoll er ſich vergeblihe Koſten machen?
Punkt neun Uhr fand ic mid in St. Thomas:Street. Juddy
faß auf einer Vorhaustreppe, umgeben von Kindern, denen fie
allerlei Poſſen vormachte. Als fie mich erblidte, kam fie mir
freundlich lächelnd entgegen und machte jenen objoleten Anir aus
dem vorigen Jahrhundert, der auf dem Kontinente ſchon aus:
geftorben ift, aber in Jrland von den Weibern aus dem Volke
noch ſehr häufig angewendet wird. Sie wollte ſich zutraulid an
meinen Arm hängen, ich erklärte ihr aber kurz und deutlich, daß
ich nicht3 von ihr verlange, al3 Führerdienfte, und daß ich dur
fie ihre Freunde und Leute aus dem Volle kennen zu lernen
wünſche. Am Liebjten, fügte ich hinzu, würde ich mit Ihnen,
Miß Juddy, in irgend einer Kneipe zu Nacht eſſen, wo Sie
fonft, wenn Sie einen Shilling zu viel haben, zu foupiren pflegen.
Juddy veritand mich jogleih und bielt ſich in ehrwürbiger
Entfernung. Nach einem langen prüfenden Blid fagte fie: Ad,
Sir! ih errathe! Sie wollen die armen Leute von Srland
malen!? — Wie kommen Sie darauf, Miß Juddy? — Im
vorigen Herbite, antwortete fie, war aud ein Gintleman aus
J
Vierter Brief. 37
London hier, der ein ganzes Wirthshaus und mich dazu abmalte.
— Jetzt erſt wußte ich, warum mir Juddy ſo bekannt erſchienen
war. Ich ſah ſie an — ſie war offenbar das Original des
„Irish Girl,“ das auf der Londoner Kunſtausſtellung des
legten Frühlings fo fehr gefallen hat. Ich konnte nicht umhin,
ihr zu erzählen, welche Eroberungen fie in London gemadt.
Sie hörte mir aufmerkſam zu und mwar fichtlich erfreut. Doc
ihien fie fih nicht aus Eitelkeit zu freuen, im Gegentheil, e3
batte den Anfchein, al3 wäre fie mit ernjten Gedanken beichäftigt.
Sie verfant in minutenlanges Stillſchweigen, während deſſen ſich
ihre ſchöne Stirn in Falten legte und ihre rofigen Lippen unver:
ftändlihde Worte vor fih hin murmelten. Mehrere Mal wollte
fie jpredhen, bielt aber immer wieder inne. Endlich blieb fie
ſtehen, ſah mir keck ins Gefiht und fhien um einige Zoll zu
wachſen — dann wieder jchlug fie die Augen nieder und fragte
mit monotoner Stimme: Was glauben Sie, Gintleman, würde
ih den Londoner Gintlemen gefallen? —
Ich verſchwieg verblüfft und hatte nicht das Gewiſſen, meine
bejahende Ueberzeugung auszuſprechen.
Juddy ließ ſich durch mein Schweigen nicht ſtören, und ohne
meine Antwort abzuwarten, fuhr fie fort: Peggy aus Galway,
wo ih aud ber bin, war ein armes Mädchen wie ih, und
nicht einmal fo fhön wie ih — das kann ich Ihnen fagen, dear
Sir, denn alle Leute behaupten es. Sie ging nad) London —
und jegt fährt fie im Hyde-Park mit zwei jchönen Pferden, in
einem ſchönen Wagen und hat einen Bedienten hinter fich figen,
wie die Lady des Lordlieutenant3 von Irland. So wenigſtens
erzählt Barry und Alle, die aus London fommen. Vor Kurzem
ſoll ihr ein indischer Prinz ein Kleid aus lauter Diamanten ge:
ſchenkt haben, vielleicht nimmt er fie auch mit in fein Land und
macht fie zu einer Prinzeſſin.
Obwohl ich ihr den größten Theil ihrer Erzählung hätte be—
ftätigen können, ſchwieg ich doch hartnädig. Das ſchien fie zu
geniren, und fie nahm fchnell wieder das Wort auf: Freilich
“
38 Briefe aus Dublin.
könnte ich auch nach Liverpool gehen oder Glasgow und dort in
der Fabrik arbeiten, um nicht zu verhungern. Aber wer ſchwört
mir, daß ich nicht verhungere, bevor ich Arbeit gefunden habe?
Und wenn ih fie gefunden habe — ich habe es an jo vielen
Mädchen gejehen, die aus England zurüdgelommen find, vie
lange Arbeit macht Einen in zwei Jahren jo krank und häßlich,
und ic kann noch menigjtens zwölf bis fünfzehn Jahre ſchön
bleiben, wenn ich nur zu ejlen habe und nicht vierzehn Stunden
des Tages arbeiten muß. Was meinen Sie? —
Um nur etwas zu fagen, fragte ih: Und wenn Sie nad)
London gehen, Mit Juddy, was foll aus Ihrem Geliebten
werden ?
Aus wen? — aus Bill? — lachte fie laut auf: den nehme
ich mit, und er wird mein Kutjcher.
Ich ſchwieg wieder; im Angeficht des drohenden Hungers, von
dem fie jo ruhig ſprach und wie von einer ausgemachten Sache,
hielt ich mich zu einer Moralpredigt ganz und gar nicht berufen.
Unter ſolchen Geſprächen wurde es Nacht, und wir famen in
die Nähe von Golden Lane in ein Labyrinth von dunklen und
engen Gaflen. Vor den Häufern ſaßen Weiber und Mädchen
in zerlumpten Kleidern, welche Juddy freundlihd und mit Witzen
grüßten. Auf den Schwellen jpielten oder jchliefen die Kinder.
Nicht ein Fenfter war erleuchtet; nur felten brannte eine öffent:
liche Laterne und warf ihr rothes, zitterndes Licht auf die male:
riihen Gruppen, unter denen ſich wenige Männer, aber viele
Meiber mit Pfeifen im Munde befanden. Manche Gruppen, die
wieder auf den Schwellen gegenüber faßen, fangen mit dumpfer
Stimme melandolifhe Lieder oder hörten ven Worten eines Er:
zähler8 zu. Die Zrländer lieben das Märchen und die fchau-
rigen, blutigen Gejchichten. — Auf einem etwas freiern Plage,
der durch mehrere Laternen beleuchtet war, bildete die Menge
einen großen Kreis und ſah einem Tänzer zu, der unter Jauch—
zen und Singen feine Sprünge machte. Es war Juddy's Bill,
dem ein alter Mann im grauen Flausrode mit eine? Klarinette
Vierter Brief. 39
auffpielte. Tänzer und Mufifant waren auf diefen etwas elegan:
tern Platz gekommen, um Geld zu verdienen, aber im Feuer ihrer
Kunft vergaßen fie dieſe gemeine Abjiht, und die Kunſt wurde
ihnen Selbftzwed. Sie tanzten und fpielten für das Voll, das
ihnen aufmerffam und dantbarlfür das Feſt zuſah und zuhörte.
Das ift jo Acht iriſch. — Bill führte eine Art ſpaniſchen Tanzes
auf und bielt vier Blechſtückchen anftatt der Kaftagnetten in ver
Hand. Er ſchwang und wiegte fih: auf feiner ſchlanken Taille
mit großer Grazie, und während er im Kreije herumfprang, hatte
er jedem der Mädchen, die ihn umjtanden und ihn mit ihren
very-well aufmunterten, etwas Schönes zu jagen, ohne einen
Augenblid außer Athem zu kommen. Als er Juddy erblidte,
warf er ihr einen Kuß zu, grüßte mich felbjt ſehr höflich und
tanzte fort. Ebenſo ruhig ging Juddy mit mir weiter, big wir
in der Nähe von Combe-Puddle vor einem alten, ſchwarzen Haufe
Halt machten. Juddy nahm mich an der Hand, und nachdem fie
gebeten hatte, des Schmutzes wegen auf den Fußipigen zu gehen,
führte fie mich dur einen endlos langen, hohen und dunklen
Gang in einen Hof, auf den aus einem halb mit Papier ver:
lebten Fenfter ein ſchwaches Licht fiel. Vor der Schwelle der
Thüre auf der andern Seite de3 Hofes, auf die wir losgingen,
lag ein betrunfener Irländer, der mir, als ich über ihn hinweg—
jtieg, ein „bloody Ruffian“ zurief und mit lallender Stimme
ven Hund, der neben ihm lag, auf ung zu been fuchte. Sein
Wächter mag ihn nicht verftanden haben, oder mochte gewohnt
gewejen jein, feinen Herrn als Schwelle vor Kneipen liegen zu
jeben, und ließ uns ruhig pafliren.
Wir traten in eine Stube, die fo ſchlecht beleuchtet war, daß
ih weder Menſchen noch Gegenſtände unterfcheiven konnte; nur
das laute Gejchrei, das aus einem Winkel, und das dumpfe
Schnarchen, das aus dem andern heraustönte, verrieth mir, dab
ih mich in Gefellichaft befand.
Ohne fih um dieſe zu kümmern, nahm Juddy die Talg:
lampe, die einzige Leuchte der Stube, vom Kamin und beleuchtete
4) Briefe aus Dublin.
mir eine Zeihnung, die, von der Feuchtigkeit des Raumes ſchon
bedeutend ſchadhaft und fledig, an der Wand befeftigt war; offen-
bar das Werk einer fehr fertigen Künftlerhand. Es rührte von
dem Maler her, von dem mir Juddy gefprochen, den fie eben:
fall3 in diefe Kneipe geführt, um ihn mit armen Leuten befannt
zu machen, und der e3 bier als Andenken zurüdgelafien hatte.
Juddy nannte die Zeichnung „eine heilige Familie auf der Flucht
nad) Aegypten“, und doch ftellte fie nichts Anderes vor, al3 einen
armen Irländer, der mit feinem Weibe und dem Säugling vom
unbarmberzigen Landlord aus feiner Hütte in's Elend gejagt
wurde. Eo ſehr ilt es wahr, daß der Menfch fich feine Götter
nad) jeinem Ebenbilde ſchafft.
Nah Belichtigung der Zeichnung ftellte mih Juddy der Ges
ſellſchaft vor, die ich jegt erft, da die Lampe auf dem Tifche ftand,
genau erkennen konnte. Sie beftand aus fünf bis ſechs Män-
nern, die um einen Tisch in der Ede herumfaßen, wenn wir nit
auch die acht bis zehn Perfonen, Männer und Weiber, die ein-
zeln oder gepaart auf dem Boden herumlagen und ſchliefen, zur
Gejellihaft zählen wollen. Am Kamine kniete ein altes Weib,
welches eine abgejchälte Felvrübe an den fpärlichen Kohlen dün—
ftete, und jobald eine Stelle daran etwas geweiht war, fie mit
ihrem zahnlofen Munde benagte. — Die Männer am Tijche
empfingen mic) freundlich und riefen fogleich bei meiner Annähe—
rung: Plat dem Gintleman und feiner Lady, und rüdten zu:
jammen, um uns die beiten Plätze auf den Stühlen einzuräu=
men. Das ganze Mobiliar der Stube, die, groß und weit und
hochgewölbt, es verrieth, daß fie einft beſſere Tage gejehen hatte,
beſtand aus dem Tiſche, an dem wir faßen, einem andern in der
entgegengejegten Ede, einem erblindeten Spiegel über dem Ka—
mine mit abgeſchabtem Golvrahmen und einigen Brettern, die, an
die Wand befeftigt und von rohen Holzklögen oder Steinen ges
tragen, ala Bänke die Stube umgaben. An einer der Wände
hing die Ruine eines alten eihenen Schranfes, an dem no
jeine Schnigereien zu erfennen waren. In feinem Schooße trug
Vierter Brief. 41
er einige Theetaſſen, einen Krug und fünf oder ſechs mehr oder
weniger bejchädigte Gläfer. — Die Männer an unferm Tijche,
alle zerlumpt und zerriffen, faßen unbefhäftigt da — einen aus:
genommen, der eine Taſſe Thee vor fich ſtehen hatte, aus der er
von Zeit zu Zeit zur Pfeife einen Schlud that. Diefer fpielte
ven verjchlofjenen Charakter, der dem Irländer fo unnatürlich
und komiſch fteht, verhielt fich kalt und machte den prüfenden
Menſchenkenner, indem er die Augen zudrüdte und mich von der
Seite anblinzelte.
Ich fragte, ob bier für mich und meine Lady ein Nachteilen
zu haben wäre? — Der Wirth, einer der Männer, die am Tiſche
jaßen, zudte die Achfel und bot mir eine einfache Taſſe Thee an.
Sch bewunderte Juddy's Uneigennügigkeit, die ich doch zu einem
Souper eingeladen hatte und die mich trogdem in diefe Kneipe
führte, von der fie wußte, daß fie feine lukulliſchen Mahle bieten
fonnte. Aber Juddy hatte mich zuerſt bedacht, da ich arme Leute
hatte jehen wollen, und vergaß ſich felbit, die an diefem Tage
nicht mehr als eine Waſſerrübe gegeſſen hatte. Ich half mir,
indem ich den Wirth fragte, ob es ihn nicht beleidigen würde,
wenn ich aus einem Speijehaufe von Corn: Market ebenjo viele
Beefiteal3 und entjprechende Porter-Krüge fommen ließe, als ſich
Perfonen am Tiſche befänden. Der Wirth ging mit tauſend
Freuden auf meinen Vorſchlag ein, und die Männer dankten mir
jehr böflih, doch nicht abweifend für meine Einladung. Ein
Mädchen, das am Boden fchlief, wurde gewedt, ich gab ihr Geld,
und fie lief, um das Beftellte zu holen. Meine Gäſte wurden
zutraulicher, und jelbjt Barry, fo hieß der Verſchloſſene, der prü-
fende Menjchentenner, gab feine beobadhtende Poſition auf. Er
rüdte etwas näher und fragte mich nad) meinem VBaterlande. —
Ah, Deutfhland! — rief er — das kenne ich ganz genau, das
liegt gleich hinter Holland! — Richtig! Sie waren jhon dort,
Mr. Barıy? — Das eben nicht, aber ich war in Amfterdam, als
ih noch Heizer auf dem Dampfichiffe war. — Sie waren Heizer
auf einem Dampfichiffe?
42 Briefe aus Dublin,
Auf diefe meine Frage lächelte die ganze Geſellſchaft. Was
war der Barry nicht ſchon Alles! fagte Einer. Das machte mich
neugierig, und ich fah Barry fragend an. Er wollte nicht heraus
mit der Sprache, rüdte bin und ber, ftopfte die Pfeife und nahm
wieder feine Miene des Menfchenfenners an. Aber welcher Jr:
länder widerſteht einer zweimal mit Interefje wiederholten Frage?!
So fing auch Barıy mit einem Male jehr berevt an: Thaddy
bat Recht! was war ich nicht fhon Alles! Daß ich nicht auch
Ihon auf dem Throne von Irland faß, iſt nur zu verwundern.
Ich war, wie ich Ihnen fagte, Heizer auf einem Dampfſchiffe;
das Schiff ging zu Grunde mit Mann und Maus, ich allein ret-
tete mich. Danı arbeitete ich in einer Walifer Grube, um den
Engländern ihre [hwarzen Diamanten an's Tageslicht zu für:
dern; das ganze Koblenbergwerf gerieth in Brand; darauf wan-
derte ih nah Mancheiter, arbeitete vier Wochen in einer Fabrik,
der Beliger fallirte, wir wurden alle brovlos, vierhundert meijt
irifche Kinder — dann ging ich nach Liverpool und wurde wie:
der Maſchinenheizer einer großen Fabrik; der Keſſel ſprang,
tödtete vier Menfchen und riß mir die zwei Finger weg, die Sie
bier ſehen! — Bei diefen Worten ftredte mir Barry die Hand
bin, an der allerdings zwei Finger fehlten. Da hatte ich einen
echten „irish bull.“ —
Barıy fuhr fort: Bei diefer Gelegenheit kam ich mit meinem
Herrn in Streit, und er jagte mich fort, mid mit meinen zwei
abgerifjenen Fingern. Wo follte ich nun Arbeit hernehmen mit
zwei abgerifjenen Fingern? Wochenlang irrte ih in Lancafter:
Shire und in Wales herum und bettelte und hungerte, und fürch—
terli hungrig fam ich fo eines Abends in Holyhead an. So
ftand ich da und ſah hungrig hinüber über's Meer, Irland ent-
gegen, dem ſchönen, grünen Eiland. — Wenn ich ſchon verhun-
gern joll, warum nicht lieber in Srland? — dachte ih — das
ift einem Jrländer viel angemefjener und natürlicher. Ein unge:
beures Heimweh ergriff mich, und in der Nacht band ich einen
Kahn los — es war ein jhöner, grün und roth angeftrichener
Bierter Brief. 45
Segelkahn — und fteuerte hinaus ins irische Meer. Ich hatte
eine gute Fahrt, der Wind war günjtig, und nad faum zwei Ta:
gen lief ih glüdlich, aber außerordentlich hungernd im Hafen von
Dublin ein. — Natürlich hatte ich während meiner ganzen Ueber:
fahrt feinen Bifjen gegeflen, der Kahn war mit Provifion nicht
verfehen, und ich hatte Fein Geld, mir welche anzuſchaffen. So
fam ich in Dublin an, ausgemergelt, wie eine Leiche. Die Waſ—⸗
jerluft zehrt jo fürdhterlih. Mein erftes Geſchäft in Dublin war,
zu betteln. Aber, Sir, ich bettelte ven ganzen Tag und mit
größtem Fleiße, und ich befam feinen Penny. Da mollte ich
meine ganze Habjeligfeit, ven Kahn, verkaufen, fehr billig ver:
faufen — Gott! ich hätte ihn für einen Sirpence hergegeben,
und er war boch unter Brüdern ſechs Pfund werth. — Bei der
Gelegenheit fperrten fie mich ein, denn fie verdächtigten mid),
den Kahn geftohlen zu haben. Ich verjuchte feine Wiverlegung,
denn im Gefängniß befam ich zu eſſen. Dort jaß ich drei Jahre.
Bor ſechs Wochen kam ich heraus und hungerte wieder, bis mir
der Herr einen franzöfifhen Gentleman ſchickte, der mich nad)
Wicklow mitnahm, weil ich die ſchönen Geſchichten der fchönften
Grafihaft der Welt auf die jchönfte Manier zu erzählen weiß.
Da habe id) doch fo viel verdient, daß ich heute, nachdem mic)
ver franzöfifche Gentleman ſchon acht Tage verlaffen, noch eine
Taſſe Thee zu bezahlen im Stande bin.
Das beſtellte Ejjen war indeß angelommen, und die ganze
Geſellſchaft verjank in andächtiges und doc ıhätiges Stillſchwei—
gen. Bald waren jämmtliche Beejjteat3 verſchwunden, nur die
Porterkrüge jtanden noch halb voll da. Barry wijchte ſich den
Mund ab und ftredte mir die Hand über den Tijch entgegen.
Sir, fagte er, Sie haben mir mit diefem Beefiteak einen reellen
Dienft erwiejen. ch wünſche herzlich, Ihnen dafür irgend einen
Gegendienjt erweijen zu fönnen.
Das wird nicht jo jehwer fein, antwortete ih, Sie jagten
vorhin, daß Sie die ſchönſten Geſchichten der ſchönſten Grafichaft
der Welt auf die ſchönſte Weife zu erzählen willen — mohlan,
44 Briefe aus Dublin.
ih liebe jehr die irifchen Gejchichten, erzählen Sie mir eine
ſolche.
Barry lächelte, räuſperte ſich, that noch einen Schluck, lehnte
ſich zurück, rieb ſich die Hände und ſagte: Ich bin bereit! —
Sir, Sie werden nach Vollendung der Geſchichte ſagen: ich habe
mich an den rechten Mann gewendet; Sie werden ſagen: Irland
hat die ſchönſten Geſchichten der Welt. Sie werden ſich dann
geſtehen müfjen: Ich habe vie ſchönſte der ſchönſten Geſchichten
der Welt gehört und dieſe iſt
Die Geſchichte des Königs Lavra.
Lange, lange Zeit, bevor der Herr ſeine Apoſtel mit dem
Heile ins ferne Irland ſchickte und St. Patrick die Drachen und
Schlangen ins Meer jagte, lebte und regierte auf dieſer Inſel
der König Lavra. König Lavra war ein Irländer und hatte ein
gutes Herz. Aber ein Leibesfehler, der ihn entſtellte, machte ihn
manchmal grauſam, und dieſer Leibesfehler beſtand in Eſelsohren,
die ihm viele Zoll hoch am Kopfe wuchſen. Um ſie zu verbergen,
trug König Lavra ſehr lange Haare und that ſo, als ob er dieſen
Schmuck ſehr liebte. Ja, er trieb es ſo weit, daß er allen ſeinen
Unterthanen bei Todesſtrafe befahl, ſich ebenfalls die Haare
wachſen zu laſſen. So kam es bald, daß damals jedem Irländer
Kopf, Hals, Nacken und Rücken von dicken Haarwellen bedeckt
waren, und man gewöhnte ſich ſo ſehr an dieſe Tracht, daß Einem
am Ende die Vorliebe des Königs gar nicht mehr als etwas Be:
jondere3 erfchien. Nur Einmal im Jahre ließ fich der König den
Bart fcheeren, da man doch den Bart nicht jo lang kann wachſen
laſſen wie die Haare; aber faum war das gefhehen, als der
König jedesmal dem Barbier den Kopf abſchlagen ließ. Man
zerbrach fi den Kopf darüber, warum der fonft jo gute König
ſich gegen die unfchuldigen Barbiere fo graufam zeige?
Am Ende nahm man allgemein an, de3 Königs Barthaare ſeien
von fo eigenthümlicher Befchaffenheit, daß ihm das Rafiren jedesmal
Vierter Brief. 45
die größten Schmerzen verurſache, daß er dieſe Schmerzen der Un:
geſchicklichkeit des Barbiers zufchreibe und daß er dann in einem
Anfall von Wuth, der vielleicht auch in der eigenthümlichen Be:
ſchaffenheit des Barthaares feinen Grund habe, ven armen Bar:
bier föpfen laſſe. So gab man fich zulegt auch über diefe Grau:
ſamkeit zufrieden. Nicht jo bald ruhig war die edle Zunft der
Barbiere, welche nichts fo ſehr fürchteten, als die Ehre, ihren
König barbieren zu dürfen. Im Laufe der Zeit bildete jich der
Brauch, daß, wenn der verhängnißvolle Rafirtag des Königs
berannahte, alle Barbiere des Reichs zufammentraten und ihre
Namen in einen Hut warfen. Defien Namen dann herausge—
zogen wurde, der beichtete, rafirte und jtarb.
Einmal fiel daS Loos auf den jungen und einzigen Sohn
einer Wittwe, deſſen Bater einjt das Glüd gehabt hatte, in einer
Schlacht dem Könige das Leben zu retten. Der junge Barbier
that jeine Prliht und wurde zum Tode geführt. Aber da drang
die unglüdlihe Mutter mitten dur alle Wachen des Palajtes
bis an den Thron, um den die gefallenen Barthaare noch herum:
lagen, warf fi dem Könige Lavra zu Füßen, erinnerte ihn an
den Dienft, den ihm ihr todter Mann erwiefen, ſprach von ihrem
Mittwenjammer, meinte und Elagte und hielt eine jo rührende
Rede, daß der König, ſich feiner Undankbarkeit gegen ven Vater
feines Opfers jhämend und von dem Unglüd der Wittwe ge:
rührt, dem jungen Barbier das Leben ſchenkte. Aber bevor er
ihn entließ, nahm er ihn noch einmal bei Seite und ließ ihn
ſchwören, nie und nimmer einer menſchlichen Seele nur eine
Sylbe von Dem zu vertrauen, was er gejehen hatte, und er:
nannte ihn noch zu feinem bejtändigen, lebenslänglichen Leib—
barbier. Der Sohn der Wittwe verſprach Alles, was der König
von ihm verlangte.
Das ganze Land freute fih darüber, daß der König auch
diefe einzige Graufamleit abgelegt, die ihn vwerunzierte, und
war voll Jubel und pries die Großmuth und den Edelſinn
Lavra's. Mehr als das ganze Land zufammen freute ſich natürlich
'46 Briefe aus Dublin.
der junge Barbier, ver jo fiherem Tode entronnen war. —
Seine Freude dauerte lange — aber nah und nad fing fein
Geheimniß an, ihn zu drüden. Es lajtete wie ein Alp auf feiner
Bruft — es fhnürte ihm die Kehle zu — es verjegte ihm den
Athem — e8 erftidte ihn fürmlid. Er wurde düfter, melando-
liſch, ſchweigſam und unendlich traurig. Seine gute Mutter
beobachtete ihn lange, am Ende mußte fie nicht, mas fie über
ven Zuftand ihres Sohnes denken follte, und fie entſchloß ſich,
fich bei einem weifen Manne Raths zu erholen. Der weile Mann
jagte ihr: Deinen Sohn drückt und würgt ein Geheimniß. Er
wird fo lange daran Franken, bis er es irgend Jemand anver:
traut hat. Und jo rathe ich ihm Folgendes. In der Grafſchaft
Wicklow fteht auf einem Kreuzwege eine einjame Weide, deren
Zweige, von Blättern ſchwer, auf allen Seiten bi zur Erbe
berabhängen. Im Innern diefer Weide wohnt eine Elfe. Dahin
gehe dein Sohn dieſe Naht, und wenn der Vollmond juft auf
die Weide jcheint, Erieche er unter ihr Laub und vertraue fein
Geheimniß dem Geifte, der fie bewohnt.-
Die Wittwe binterbrahte den Rath des weiſen Mannes
ihrem Sohn, und diefer that, wie die Mutter ſagte. Gleich in
ver eriten Nacht juchte er die Weide auf dem Kreuzwege in der
Grafihaft Willow auf und wartete nun, bis der Mond aufging
und feine Strahlen auf das Laub voll und glänzend fallen lief.
Dann kroch er unter die Zweige und flüfterte leije, leife dem
Stamme zu: Der König Lavra hat Eſelsohren! — Kaum hatte
er die Worte ausgejproden, als e3 ihm ſchon wie ein Stein vom
Herzen fiel; er wurde wieder luſtig und froh wie ehemals, und
die Wittwe war dem weiſen Manne jehr dankbar.
Kurze Zeit darauf begab es fi), daß einer der Sänger des
Königs juſt über den Kreuzweg in der Grafſchaft Widlom ging.
Wie er fo hinging, in Gedanken vertieft, ließ er die Harfe fallen,
die zerbradh. Er jah fih um, wie er den Schaden wieder gut
machen könnte, und erblidte die Weide, die ihm gutes Holz zu
bieten ſchien. Er zog fein goldenes Mefjer aus der Taſche, ſchnitt
Bierter Brief. 47
fih einen Zweig ab und befjerte die Harfe wieder aus. Am
Abende defielben Tages gab der König Lavra in feinem Palafte
ein großes Feſt, zu dem an fünfzigtaufend Gäfte verjammelt
waren. Nahdem man fich an der reichbejegten Tafel gehörig
erfreut hatte, follte auch gefungen werden. Der König gab dem
Sänger, der auf den Stufen des Thrones faß, ein Zeichen, und
er griff in die Saiten. Kaum aber hatte er die Saiten der Harfe
berührt, als fi anjtatt der gewohnten fühen Töne ein über:
natürliher Schrei hören ließ, und dieſer Schrei rief ganz deut:
ih: Der König Lavra hat Efelsohren! — Wie überrajcht und
erſchrocken waren da die fünfzigtaufend Gäfte! König Lavra jelbft
war wüthend und wollte alle fünfzigtaufend Gäfte hinrichten
laſſen, „venn — dachte er fih — was fünfzigtaufend Gäſte
wiſſen, wiſſen in einer Stunde fünfmalhunderttaufend, und was
in einer Stunde fünfmalhunderttaufend wiſſen, das weiß morgen
das ganze Land.” — Aber er konnt’ es doch nicht übers Herz
bringen, der gute irifche König, fünfzigtaufend unſchuldige Men:
Ihen hinrichten zu laffen, und da das Geheimniß einmal ver:
rathen war, ergab er ſich darein, ließ feine Haare kurz jhneiden
und zeigte künftig aller Welt feine Eſelsohren. Man kümmerte
ih nicht darum, denn ein gutes iriſches Herz ift ſelbſt unter
Eſelsohren etwas werth. Von jenem Abende an fonnte aud
Jedermann das Haar tragen, wie es ihm beliebte.
Die wunderbare Weide, dur die das Geheimnik des Kö:
nigs Lavra herausfam, fteht noch heute. Jeder Wanderer, der
die fhöne Grafſchaft Widlow, die „Ichönfte der Welt“, vurchitreift,
fann fie ſehen. Sie jteht da, umgeben von einer Umzäunung
einfacher auf einander geſchichteter Steine, auf daß fie die Hirten
nicht verlegen und fie noch lange fich erhalte, als ein liebes
Andenken an alte Zeiten, an den guten König Lavra und an
diefe wunderbare Gejchichte.
48 Briefe aus Dublin,
Ich mar ſehr erfreut über dieſe jhöne Midasgejhichte und
dankte Barry herzlich, indem ich ihm verficherte, daß ich mich
nun als feinen Schuloner fühle, da eine einzige folder Geſchichten,
jo erzählt, mehr werth jei al3 alle Beefſteaks der vereinigten König—
reihe. Barry rieb fich vergnügt die Hände; aber ein beftändiges
„Hm, Hm“ feines Nahbars Thaddy ftörte ihn. Was haft Du
gegen die Geſchichte einzumenden? fragte er dieſen ärgerlich.
Thaddy fagte: Ich habe dieſe Geſchichte ſchon oft gehört,
aber ſo oft ich ſie hörte, immer mußte ich mich fragen, warum
hat der erſte, beſte Barbier dem guten König Lavra, ſobald er
deſſen Kopf in Händen hatte, nicht den Hals abgeſchnitten?
Du ſprichſt, antwortete Barry, als wärſt du keine getaufte
Chriſtenſeele. Der jedesmalige Barbier des Königs hat vor
ſeinem verhängnißvollen Geſchäfte ſich gehörig durch Beichte und
Kommunion vorbereitet — er konnte alſo mit Ruhe vor unſern
Herrn und Heiland treten — dem König aber fiel es nicht ein,
zu beichten, und er hätte mit ſeinen Sünden müſſen hinfahren;
wie unchriſtlich waͤre es alſo von dem Barbier geweſen, ven
König in die Hölle zu jagen, während er mit Ruhe den Weg in
den Himmel antreten konnte? — Thaddy geſtand, daß er die
Sache nie von dieſer Seite betrachtet, und erflärte fih nun für
volltommen beruhigt.
Barry, mit feinem Erfolg zufrieden, jchien fich bereit zu
machen, eine neue Gejchichte zu erzählen, mir aber jchien eine
folde aus dem ſchönen Munde Juddy's viel intereffanter, und
ich forderte fie auf, noch bevor Jener jeine Bereitwilligfeit aus:
geſprochen hatte. Barry ergab fi darein und rief nur: Gie
fommt aus dem Welten, fie joll Ihnen eine Elfengefchichte
erzählen.
Gut, jagte Juddy, ich will erzählen, jo gut ich kann, aber
erlauben Sie mir, eine kurze Weile nachzudenken und eine unjerer
ſchönſten Geſchichten auszumählen.
Während Juddy nachdachte, gab mir Barry folgende Er—
klärung der Elfengeiſterwelt. — Die Elfen, ſagte er, ſind
Vierter Brief. 49
ehemalige Engel. Als Gott der Herr von dem abgefallenen
Satanas in feinem Himmelreidhe befriegt wurde, theilten fich die
Engel in drei Parteien. Die Einen liefen zu Satanas über und
wollten ihn zum Könige des Himmels ausrufen,; die Anderen
blieben dem Herrn treu und fämpften an feiner Seite gegen
Satan und die ruchlofen Engel; die Dritten wollten abwarten,
welche von den Parteien den Sieg erringen würde, um fi dann
zu der fiegreichen zu ſchlagen. Als dann Satanas von Gott dem
Herrn und feinem Sohne gejhlagen war, wurde er mit allen
jeinen abgefallenen Engeln in die Hölle gejagt, die treugeblie-
benen wurden die himmlischen Heerfchaaren, blieben im Himmel
und lobfingen Gott unter Anführung der Erzengel; die Dritten,
welche abwarten wollten, wurden zur Strafe für ihre Gleich—
gültigkeit zwifchen Himmel und Hölle auf die Erde gebannt, wo
fie unfichtbar leben in Bäumen und Felfen, in Quellen, Seen
und Flüffen. Sie find gut und lieben die Menfchen, denen fie
auch manchmal erjcheinen, ihnen in Leiden und Nöthen beizu:
jtehen. Beſonders gute und jchöne Leute werden auch mandhmal
von ihnen in ihrem unterirdiſchen Reiche freundlich aufgenommen
und, wenn fie manche Proben bejtanden haben, felbft zu Elfen
gemacht.
Mie dieſes meine Gejchichte beweifen wird, fügte —
hinzu, die begann:
Die Geſchichte vom Elfenkönig O'Donoghue.
Vor langer Zeit beherrſchte das ganze Land der Grafſchaft
Kerry ein wunderſchöner, junger und guter König. Sein Name
war O'Donoghue. Die größten Baumeiſter und Zauberer der
Welt hatten ihm auf hohen Bergen ein Schloß erbaut, das nicht
ſeines Gleichen hatte. Die Wände waren aus purem Golde, die
Thüren und Thore aus Kryſtall, das Dach aus feſtem Morgen:
roth. In ſeinem Garten wurde es niemals Winter, und Bäume
aus Indien und Arabien blühten da und Blumen, die niemals
Moritz Hartmann, Werke. III. 4
50 Briefe aus Dublin.
verwelkten. So lebte König O’Donoghue fehr glüdlih. Aber
eines Tages fam ihm die Laune, den großen Stein, welcher den
See in. feinem Garten ſchloß, wegzuheben, um feinen Rittern
und Edelfrauen feine große Kraft zu zeigen. Aber faum hatte
er den Stein weggehoben, als ſich ver See auf das Land ftürzte
und den größten Theil der Graffchaft Kerry überſchwemmte und
viele hunderttaujend Menfchen vergrub und die fhönen Fluren,
die fich fonft dort ausbreiteten, bevedte. Denn der See im Garten
des Königs war ein verzauberter See und grundlog. So ent-
jtanden die Seen von Killarney, das Wunder der Welt, ver
„Stolz Irlands.“ Die Inſel der Hirfche, die Infel der Eichen,
die fih aus ihrem Schooße erheben und ausſehen wie volle
Blumenkörbe, zeigen noch heute, wie jchön das Land gemeien
fein muß, das von den Wellen des verzauberten Sees bevedt
wurde. König O’Donoghue, der Gute, konnte ſich über feinen
Leichtfinn nicht beruhigen, verzweifelte und warf fi in die Flu—
then. Aber die Elfen, die im See von Killarney wohnen, fingen
ihn in ihren Armen auf und fuchten ihn zu tröften. Der junge,
gute, wunderfchöne König gefiel ihnen fo ſehr, daß fie ihn gerne
zum Elfenfönig gemacht hätten. Aber das durften fie nicht, fo
lange er ihnen nicht bemweijen fonnte, daß ihm die Menſchen ver:
geben hatten, und dieſes fonnte er nur durch die Liebe eines
ihönen, unjhuldigen Mädchens bemweifen. Jeden Maimorgen
ftieg nun König O’Donoghue herauf und umtritt die fchönen Ufer
des Killarneyſees und juchte ein Mädchen, das fhön und un—
ihuldig wäre und ihn liebte. Er fand feines und kehrte auf
jeinem weißen Roſſe traurig in den See zurüd, um am nächſten
Maimorgen wieder aufzutauden.
Einmal, vor langer, langer Zeit, lebte am Ufer des Killarney—
jee3 in einer kleinen Hütte eine Jungfrau Namens Melha. Sie
war fo unſchuldig wie eine Heilige und fo ſchön wie eine Elfe.
Kein Züngling der ganzen Grafſchaft Kerry wagte ſich, ihr in
Siebe zu nahen, jo unſchuldig war fie und fo ſchön. Das machte
die arme Melcha jehr traurig, und einfam ſchlich fie an den Ufern
Vierter Brief. 51
umber. Sie gewann die Einſamkeit und den jchönen Eee fo lieb,
daß fie am Ende die Menſchen vergaß, ihre ganze Zeit am Ufer
zubradhte, mit den Wellen ſprach, mit den Vögeln fang und mit
den Blumen fi unterhielt. Wenn e3 Naht war, konnte fie
faum den Morgen erwarten, um wieder hinauszugehen an den
See, jo jehr war ihr ganzes Herz erfüllt von einer Sehnſucht,
einer Liebe, die fie an die murmelnde und lispelnde Welle band.
Bejonders im Monat Mai war ihr oft zu Muthe, al3 müßte
fie fih auf einmal mitten in die Wellen werfen.
Einjt — e3 war an einem fehönen Maiabend — ſaß Melcha
wieder draußen am Ufer und horchte dem Lispeln der Wellen
und dem Raufhen des Laubes über ihrem Haupte. E3 wurde
jpät, fie wollte zurüd in die Hütte, aber fie fonnte nicht; eine
geheimnißvolle Macht hielt fie zurüd: es war ihr, als ob fie Je
mand am Rode hielt. Aber als' es immer fpäter wurde, raffte
fie fih auf und eilte, was fie fonnte, vom Ufer fort. Da lis—⸗
pelte e8 mit wunderfüßer Stimme aus den Wellen heraus:
Du jhöne Jungfrau, bleibe, bleibe,
Bermeile, bis der Morgen thaut:
Ich mahe Dich zur Elfenbraut,
Ih mahe Did zum Königsweibe.
Diejen füßen Tönen konnte fie nicht widerftehen ; jie ſank ing
Moos und entjchlief. Nach einigen Stunden wedte fie noch
jüßere Mufil. Sie ſah nad dem See, und im Morgengrauen
tauchte aus der Mitte der Wellen ein ſchönes Haupt empor, das
einen goldenen Helm mit weißem Federbuſche trug. Dide, ſchwarze
Loden fielen auf die Schultern herab; das Angejiht war weiß
wie Lilien und faft durhfichtig, die Augen waren blau, die
Zähne wie eine Perlenſchnur. Bald ftand ein ganzer Reiter auf
den Wellen. Er trug einen grünen Panzer von Smaragd und
ein langes, glänzendes Schwert. Sein Pferd war weiß wie
Morgennebel, und die Bügel und Zügel glänzten wie Thau. So
ritt der Neiter über den See auf Melcha zu, die ſich nicht regen
52 Briefe aus Dublin.
konnte. Er ſtieg vom Roſſe, das er an einen Baum band, und
legte ſich neben Melcha ins Moos. So ſchöne Worte ſprach er
zu ihr, daß ihr wohl ums Herz wurde und ſie zu lachen und zu
weinen begann wie ein Kind. Bald ſagte ſie ihm, daß ſie ihn
liebte, und er ſagte es ihr wieder. Dann gab er ſich ihr zu er:
fennen al3 König O’Donoghue, und als fie fagte, daß fie feine
Braut jein wollte, jtedte er ihr einen goldenen Ring an ven
Finger, und fie gab ihm ihre Schärpe. Dann küßte er fie und
verſprach, jie am Maimorgen des nächſten Jahres abzuholen,
um fie zu heirathen. Dann jtieg er wieder auf fein weißes Pferd,
ritt bis in die Mitte des Sees, winkte noch einmal mit der Hand
und verſank. Die ganze Luft Hang von Mufit, alle Bäume be-
gannen mit einem Male zu blühen, und Blätter und Blumen
riefen: König O’Donoghue ift Bräutigam ! Melcha glaubte, daß
jie geträumt babe, aber der Ring an ihrem Finger ſagte es ihr
deutlich, daß fie König O'Donoghue's Braut fei.
Am Liebjten hätte Melcha die ganze Zeit bis zum Maimorgen
des nächſten Jahres verjchlafen, jo jehr jehnte fie jich, des Königs
O'Donoghue Weib zu werden. Endlich fam der Abend vor jenem
Morgen. Sie zog ihr weißes Brautkleid an und ftedte Blumen
ins blonde Haar, das jie lang auf beiden Seiten herabfallen ließ.
Sp ftellte fie fih auf den Felfen hin, der heute der Fels der
Adler heißt, um den ganzen See zu überfchauen. Aber fie war:
tete lange; fein König O'Donoghue fam, und fie fürchtete fchon,
er hätte jeine Braut vergejjen. Aber als der Morgen zu grauen
begann, erkannte fie, wie im Zwielicht ver See jich öffnete. Aus
jeinem Schooße ftieg zuerjt eine Schaar von ſchönen Heinen Kna—
ben, melde Kränze, Sträuße und Blumentörbe in den Händen
trugen. Gekleidet waren fie in kurze, luftige, hellgrüne Wäms—
hen, die bie zarten Glieder faum bevedten; ihnen folgte eine
Reihe von Jungfrauen, welche goldene Gewänder, Schleier und
Gejhmeide aller Art auf rothen Kiffen trugen; gelleivet waren
jie in langwallende, faltige weiße Gewande, und ihre blonden
Locken jpielten im Wind. Gleich nad ihnen famen zwölf Harfner,
Vierter Brief. 53
theils Jünglinge in kurzen Gewändern, theils Greije mit breit
berabfließenvden Bärten, langen weißen Kaftanen. Sie fpielten
auf Harfen ſüße Melovdieen, und die Knaben, die neben ihnen
gingen, fangen dazu. So unter Harfenklang und Gefang tauchte
König O’Donoghue auf feinem weißen Roſſe empor. Er war
ander3 gekleidet al3 im vorigen Jahre. Seine ganze Rüftung
war weiß, ein weißer, breiter Mantel vedte ihm die Schultern
— aber auf der Bruft war die grüne Schärpe zu fehen, die ihm
Melcha geihenkt hatte. Auf den ſchwarzen Loden trug er eine
goldene Königskrone und in der Rechten ein Szepter von Elfen:
bein, auf deſſen Spite ein Kleeblatt von Golo erglänzte. Ihm
folgte noch eine Reihe von Pagen und Nittern und Frauen. Aber
der ganze Zug ftellte fi) auf dem entgegengefegten Ufer auf, und
Melha war von ihm durd die Breite des Sees getrennt. —
Dod erkannte fie, wie ihr der Bräutigam liebend zulächelte. Eine
ungeheure Sehnjucht ergriff fie, zu ihm zu gelangen, und fie
wollte vom Felſen hinabfpringen. Aber fie fürchtete, zu ertrinken,
ohne daß fie vielleicht ihr Bräutigam erretten könnte, und fie
zauberte und fing an zu meinen. Da ertönte es hinter ihr:
Nur zu, nur zu, du fchöne Fee!
Killarney- See
Thut feiner Königin nicht weh!
Da faßte fie fih ein Herz und fprang hinab — da ftand
der ganze Zug unten, und König O’Donoghue drüdte fie in feine
Arme. Die Harfner begannen zu fpielen, die Jünglinge, Knaben
und Mädchen zu fingen, und unter dem Rufe: Hod O’Donoghue,
König der Elfen, hoch Melcha, feine Königin! verfant der ganze
Elfen-⸗Königshof in die Tiefe des Sees.
Seit jener Zeit blüht und gebeiht das ſchöne Ufer des Kil-
larneyjees, denn der Elfenkönig liebt das Land, in dem feine
Königin geboren worden. Jeden Maimorgen taucht er noch aus
dem See, und glüdlich Derjenige, der ihn da erblidt, denn ihm
wird es wohl ergehen und er wird lange leben.
54 Briefe aus Dublin.
Unter diefen Erzählungen war es nad Mitternacht geworden.
Ich empfahl mich der Gefellihaft, weldhe mich mit den freund:
ſchaftlichſten Handedrücken entließ, und zog in Begleitung Juddy's
weiter. Der Stadttheil, in welchem wir uns befanden, „the
liberties,“ war ehemal3 der Si der reihen und ariftofratifchen
Bevölkerung Dublin und hatte feine befonderen Privilegien,
daher auch der Name. Später z0g fi die Gentry auf die luf—
tigere andere Seite des Fluſſes, und ihre alten, theils palaft:
artigen Gebäude wurden von der Armuth Dublins befeßt, die
fih durch bejtändigen Zuzug aus den ausgehungerten Grafſchaften
refrutirt. Ein ſolches Haus faßt oft mehrere Hunderte von Be:
wohnern, die in ihren Lumpen mit den hohen geräumigen, pom⸗
pöjen Stuben und Sälen, mit den Weberreften von Pracht in
Mandmalereien und Möbeln fonderbar und traurig genug fon:
traftiren. — Wir gingen dur die hohen und dunklen Gafjen
bin, über die Todtenftille gebreitet war, melde nur dann und
warn von einem unter freiem Himmel Schnardenden unter:
brochen wurde. Nach einigen Schritten ſchon erfannten wir, dab
wir und am Beten in der Mitte der Gafje hielten, da wir an
den Seiten oft über die Schläfer, die auf Thürfchwellen und
Treppen gelagert waren, ftolperten und die Armen um ihren
vielleicht einzigen Troſt brachten, um den Schlaf.
In einer der Gaffen fam ung aus einem breiten Fenfter ein
heller Lichtglang entgegen. Wir traten heran und ſahen durch
die zerbrochenen Scheiben. Auf dem Tifche lag die ſchöne Leiche
eine Mädchens, da3 in der Blüthe der Jahre heimgegangen
war. Gie war weiß gefleivet und trug einen grünen Kranz
im Haare. An jeder Seite ihres Todtenbettes brannten brei
Kerzen und über ihrem Haupte, das fanft gelehnt auf einem
Kiffen lag, leuchtete eine Talglampe. Rings um die Leiche jaßen
auf Schemeln oder auf dem Boden felbft mehrere Weiber, die
den Dampf ihrer Pfeifen wie Weihrauch auffteigen ließen und
die Leihe und die ganze Stube in dichte Schleier hüllten. Die
Männer, die ebenfalls in großer Anzahl zugegen waren, hielten
Vierter Brief. 55
ſich entfernter von der Leihe und faßen oder lagen plaudernd
oder jchlafend in den Stubeneden umher. Im Ganzen berrjchte
die Stille nicht, welche fonft Leihen zu umgeben pflegt. Im
Gegentheil unterhielten fich die Weiber jehr laut und vernehm:
lich. — $8 ift die Leiche der armen, ſchönen Honor, jagte mir
Juddy. Sie fam mit mir aus dem Welten und ſtarb an der
Auszehrung oder am Hunger. Es war die befte und lieblichſte
Perfon von der Welt. Es war ihr ausprüdliher Wille, daß
nad ihrem Tode eine „Wale“ (Todtennachtwache) gehalten werde,
obwohl dieſer heilige Brauch hier in Dublin längit abgelommen
it. Aber wir armen Leute aus dem Weiten halten noch viel
darauf und jparen dafür unfer ganzes Leben lang. Denn es ift
eine große Ehre, eine ſchöne Wale zu haben. Das Haus ift
offen, fügte fie hinzu — und ever fann eintreten, um einige
Baternofter für die Seele des Verftorbenen zu beten. — Juddy
trat auch hinein, kniete vor der Leiche nieder und verjank in in:
brünftiges Gebet, welches aber den Reit der Gefellihaft in ihrer
lauten und lärmenden Unterhaltung nicht im Geringiten jtörte.
— Ich ſelbſt ftand indefjen in der Stubenthüre und betrachtete
das eigenthümliche Bild; wenn ich die bizarren Gefichter der
Weiber abrehne, war es im Ganzen tragifh und unendlich
traurig. Auf der Bahre ein jhönes, junges Kind, das, vom
Elend aus feiner ſchönen Heimat getrieben, in der Fremde fein
Grab findet, und vor ihr eine noch ſchönere Blume auf den
Knieen, die vielleiht, ja gewik noch größerem Jammer entgegen:
gebt. — Juddy kußte mod) die Leiche ihrer ehemaligen Freundin,
dann den Fuß des Kruzifices in deren Händen und ging wieder,
faft jo ruhig und kalt, wie fie gelommen war. Nur war fie in
ven eriten Momenten etwas ſchweigſamer.
Auf den Quais fahen wir einen Konftabler, der mit feinem
Stode die Schläfer weckte, die dort auf den Trottoird umberlagen,
und fie in die engen Gafjen, die zu den Liberties führen, zurüd:
jagte; nur dort ſcheint es ihnen erlaubt zu fein, unter freiem
Himmel zu ſchlafen. Auf Carlisle-bridge trafen wir unſern
56 Briefe aus Dublin.
alten Freund Barry, der mit Thaddy, wie es fchien, in großer
Eile das andere Ufer zu gewinnen ftrebte. Juddy wollte ihn auf-
halten, aber er warf ihr nur einige Worte in gälifchem Dialekte
zu und eilte weiter. Juddy erklärte mir, daß Barry's Freund,
Thaddy, in diefem Augenblide mit der Polizei ſchlecht ſtehe, daß
diefe ihn in jener Kneipe ausgeipäht und daß nun Barry für
ihn einen neuen Schlupfwinkel auf der andern Seite des Stufe
oder vielleicht auch außerhalb der Stadt fuche.
Ueber ver Bai von Dublin bebte ſchon das Zwieliht des
anbrehenden Morgens, in den Segeln und Tauen des Hafens
regte ſich der Morgenwind, auf den Schiffen ſelbſt wurde es jchon
lebendig. Ich nahm von Juddy zärtlihen Abſchied und konnte
nicht umhin, fie zu bitten, ja die Reife nach London zu unter:
lafjen. Aber fie antwortete mit Achfelzuden: Was mollen Sie,
lieber Herr? Es findet fi nicht immer ein Mr. Ohr, der
jih eine armen verlorenen Gejchöpfes annimmt und es zur
reihen Frau macht. — Sie meinte den Kaufmann, der in Dublin
dadurch berühmt geworden, daß er, gerührt durch die Schönheit
eine3 verlorenen Mädchens, tiefem ein Putzwaarengeſchäft ein:
richtete und es von endlicher Ververbniß errettete. — Ich drückte
Juddy etwas Geld in die Hand, und indem ich ihr noch für ihre
Dienjte herzlich dankte, fügte ich hinzu: Hier, liebe Juddy, haft
du Geld genug, um einige Zeit zu leben und dich nach Arbeit
umzufehen.
Juddy drüdte mir die Hand und ging. Nach zehn Schritten
wandte fie fih noch einmal um, lachte und rief: Ich hab’ e3 ge
zählt; es reicht hin, um damit nad) London zu kommen. — Und
fie verſchwand im Dunkel der Weftmoreland:Street.
So iſt das Nachtleben in Dublin. Als ich auf meiner Stube
ankam, brannte mir der Kopf. Ich öffnete das Fenfter; groß
und prächtig ging über der Bai von Dublin die Sonne auf.
Tagebuch aus Sanguedoc und Provence.
Truth in her pure simplicity wants art
To put a feigned blush on,
John Ford.
Lehtes Kapitel als erſtes.
Ein Schloß am Meere — Langueboler Abende — Gäfte — Antikes und drift-
liches Leben — Bein und Seidenwürmer — „So lebt nun beine Sappho“ —
Der Aufruhr in den Gevennen — Drientirung.
Latour de Farges — fo heißt ein altes Schloß, das fi
auf einem ver legten ſüdlichen Ausläufer der Cevennen bejcei-
den, doch romantisch ſchön erhebt. Wie ein Poſten vor der un:
geheuren Feſtungsmauer des Cevennengebirges blidt e3 Hug und
mutbig weit hinaus über die Ebene Niederlanguedoc's bis ans
Meer. Hundert Schritte gegen Süden, und man befindet fih an
der Eifenbahn und in der Ebene. Einft war das Schloß, der
Thurm der Seigneurs de Farges, von Ringmauern, Thür:
men und Wallgräben umgeben; die Gräben find heute gefüllt
und von Vernis de Japon bepflanzt, die Wälle find gleichfalls
gefallen oder haben fich zu friedlihen Gartenmauern erniedrigt
und verdünnt. Nur ein Heine Stüd ift in feiner ganzen Höbe
mit der Galerie und der hinaufführenden Treppe ftehen geblieben.
Die drei Thürme aber ragen in ganzer Größe empor und fuchen
noch heute eine feudale Grimafje zu machen; ver eine breit und
ſchön überkuppelt, die andern von Zinnen und Zaden gekrönt.
Aber trog ihrer feudalen Maske haben auch fie fich friedlichen
Geſchäfte und friedlichen Einwohnern gewidmet. Der eine, ehemals
ein Gefängniß oder eine Folterfammer, — denn die Herren de
Farges hatten eigene Gerichtsbarkeit, — ift ein Taubenhaus ge:
worden; in dem andern verleben Kaninchen ein fybaritifches Da:
fein; nur der dritte ift ala Gefängniß eine Goldadlers aus ven
60 Tagebud aus Languedoc und Provence.
aufrührerifchen Cevennenbergen feinem urfprünglihen Charakter
treu geblieben. Anftatt des Wächter auf der Zinne figt ein ſtolzer
Pfau auf der gewaltigen Akazie am Thorthurme und warnt feine
junge Brut und die ganze basse-cour mit trompetendem Rufe, wenn
fih in den Lüften ein Geier der Berge wiegt, blidt aber ruhig
herab, wenn der zahme Falke über feine Kinder hinfliegt.
Auf der von den Thürmen flankirten Terraffe wachen junge
Pinien und andere jüdlihe Bäume auf; in den Winkeln boden
gewaltige Aloen. Ihre Blätter tragen zahllofe Infchriften und
find ein Stammbuch des Schloffes geworden. Da iſt mander
befannte Name zu lefen. Den Taubenthurm umſchlingt liebend
ein Nofenbaum, der den berühmten, von Ludwig dem From:
men gepflanzten Hildesheimer an Größe und Blüthen weit über:
trifft. Er bildet einen heiteren Kontraft gegen die Cypreſſen, die
auf ihn ihre melandolifhen Schatten werfen. Aber was jüb-
liche Vegetation vermöge, zeigt erſt die Anglaife, ein ſchattiger
Garten, der fih an die Terrafje fließt und gegen Dften auf
Lunel Viel und die weingefegneten Ebenen von Lunel blidt.
Der Rojen: und der Dichterlorbeer, die purpurblühende Granate,
die Cypreſſe und Pinie, die Stacheleiche, der rothe Judasbaum,
der wuchernde Vernis de Japon ftehen in dichten, engzujam-
mengebrängten Gruppen da und mweben fühle Dämmerung für
die Stunden der Sieſta. In ihren Zweigen fingen hundert
Nadtigallen Tag und Naht. Sie haben Zuhörer genug; denn
an der Gartenmauer wiegen unzählige, vielbefungene proven-
zaliſche Rofen ihre goldenen, weißen, rothen, braunen Kronen.
In folder Umgebung erhebt fi das eigentliche Schloß: ein
unregelmäßiges, altes Gebäude mit tiefen Fenjtern, dem das
platte Dach wie ein alter zu meit gewordener Hut tief in bie
Stirne bis auf die Augen fällt. E3 würde ein mürrifches Geſicht
machen, wenn die heitere Sonne des Südens, die es vergoldet,
das erlaubte; wenn der Gejang der Nachtigallen, die es um:
tönen, feine Düfterheit nicht in liebliche Melancholie verwandelte.
Dann fühlt man fi jo wohnlich in feinen Kreuze und Quer:
Letztes Kapitel als erftes. 61
gängen, in feinen breiten gewölbten Sälen, in feinen gepflajterten
fühlen Stuben, in deren Fenfter der Feigenbaum oder der Epheu
wie zum Gruße feine grüne Hand hereinjtredt. Als wollte die
Natur das liebe Net vor ven Fröften des Nordwindes ſchützen,
zieht fie von unten herauf einen aus Epheu und hundert andern
Sclingpflanzen gewobenen Teppich über die Mauern bis auf
das Dad. In wenigen Jahren. wird das ganze alte Gemäuer
einem grünen Nachtigallennefte ähnlich ſein. Auf der einen Seite,
dem Süd-Oſt zugewendet, wächſt ein Kleines Thürmchen mit
einem Balkon aus dem Gemäuer heraus. Dort fteige man
hinauf, um die ganze Herrlichkeit Niederlanguedoc's kennen zu
lernen, jenes Landes, von dem es heißt:
„Du findeft dort die Milde des Himmels, die Fruchtbarkeit
des Bodens, die Mannigfaltigfeit des Feldes, des Weingar-
ten3, der Wieje; die Verfchievenheit der Früchte, die Annehm-
lichkeiten des Hügels und der Ebene und eine außerordentliche
Zahl von Fleden, Schlöſſern, Dörfern und Städten.”
So beſchrieb Roland Laporte, der Weinbauer und große
Kamifardenprinz, dag Land, als er feinen General, den Schäfer:
fnaben und Bädergejellen Jean Cavalier, mit dem Herzogs:
titel belehnte und ihm dazu Niederlanguedoc, „wo ſchon jo viele
Menſchen jeinem Gejege gehorchten,” als kleine Gabe zu feiner
Verlobung ſchenkte. So bejchrieb er es vor hundert und fünfzig
Jahren, jo iſt es noch heute. Des Abends erfennt man feine
Gränze am Pharus der Grau, der fein Licht, wie ein beweg—
_ licher, ins Meer geſunkener Stern herüberfendet.
Wie herrlich war diefe Ebene zu jehen, ald am Johannisvor:
abend nad) der Sitte des Landes „vor all’ den Fleden, Schlöffern,
Dörfern und Städten,” ja vor jeder einzelnen Meierei die gewal-
tigen, von Weinreben genährten Flammenſäulen aufftiegen. Zn
weiter Ferne erblidte man dunkle Geftalten, wie Heren, dur
die feurige Lohe fliegen ; das waren die Bauern und Bäuerinnen,
welche glauben, daß ein folder Sprung durd die heilige Jo—
bannesflamme fie für das ganze Jahr vor dem in den Sümpfen
62 Tagebud aus Languedoc und Provence.
lauernden Fieber ſchütze. Wie grauenvoll ſchön war fie zu jehen,
als man in einer Herbitnacht die Sümpfe bei Aigues:Mortes in
Flammen ftedte, um fie mit der eigenen Ajche für das nächſte
Jahr zu düngen. Als ob Ninive und Babel und Perfepolig,
neben einander aufgeftellt, won Einer ungeheuren Flamme ver-
zehrt würden. Der Himmel brannte mit, und die neunzehn ge-
zadten Thürme von Aigues-Mortes ragten glühend in die Nacht
empor, wie die legten Reſte von Ninive, Babel und Perſepolis.
Die Sterne erbleichten, die Vögel in den Neftern erjchrafen vor
diefer Morgenröthe, aber ruhig und ftolz wiegten die Flammen—
fäulen einander ihre Häupter zu, wie ein feuriger Wald, veilen
Wipfel ein janfter Morgenwind bewegt.
Wie traurig aber war das Land, ald an einem jchönen
Junimorgen plöglic ein Heer von Nebeln aus dem Meere ftieg,
landete, fi mit den Nebeln der Sümpfe vereinigte und einen
traurigen, ſchaurigen Siegeszug über die Ebene hin begann.
Sie fhienen fo langfam zu wandern, und doc wie jchnell ver-
ihwanden Dörfer und Städte hinter ihnen, wie bald lag eine
weiße Nacht, ein feuchtes Leichentuch ausgebreitet über das ganze
Gefilde! Die Sonne erbleichte und verſchwand, die Lerchen ſanken
erihroden und ſtumm in ihre Nejter, den Leithammel ergriff
paniſcher Schreden, und mit tönender Glode lief er dem Schäfer
voraus, von den Garrigues fort nah Haufe in den Stall, und
ihm nad) die ganze Heerde. Die Bauern jagten: da drinn figen
die Fieber. Einzelne Tropfen, die zur Erde fielen, waren wie
TIhränen von Kindern, welde die Geijter geraubt und hinter
ihrem weißen Gewand verftedt forttragen in unbelannte Fernen.
Mer kennt das fchöne Volkslied der Griechen nicht, das von
Charo3 fingt, dem reitenden Tode, der auf Rüden, Hals und
Croupe feines Pferdes Greife, Zünglinge, Weiber, und, ad, fo
viele Kindlein entführt. Er reitet immer fort und will ſich nicht
aufhalten beim Brunnen; denn dort könnten die Geliebten ihre
Sünglinge, die Gatten die Gattinnen, die Mütter ihre Kinder
ertennen — „mer könnte dann fie trennen!”
Letztes Kapitel als erſtes. 63
Aber herrlich, unbeſchreiblich ſchön iſt das Land jeglichen
Abend, ſelbſt nach ſolchen Nebelmorgen. Wunderbar iſt die
Mannigfaltigkeit, die Verſchiedenheit der Sonnenuntergänge.
Jeden Tag ſchmückt ſich dieſe ewig junge Königin mit anderen
Reizen und Juwelen, um jeden Tag mit andrer und neuer
Schönheit in das Brautbett zu ſteigen. Bald iſt ſie in glühendes
Gold, bald in ſanftblauen Sammt, bald in dunklen Purpur ge—
kleidet. Die goldnen Wölklein, ihre Pagen, haben es von der
Herrin gelernt und ſind wie ſie unerſchöpflich in Erfindung neuer
Trachten. Silbern, golden und purpurn — manchmal auch in
Trauer gehüllt, folgen ſie ihr nach, tragen ſie ihre Schleppen
oder ſprengen auf feurigen Roſſen um ihren Siegeswagen. Lau:
niſch wechjelt fie ihr Kleid oft unzählige Male in der Minute,
blidt ebenjo ihr Gefiht bald lächelnd, bald melancholiſch, und
mit ihr ändert fich ihr ganzes Hofgelinde. Beherrſcht von ihren
Zaunen, beginnt die ganze Natur ein magifches Spiel. Die Ce:
vennen erglüben; ihr König, ver Pic St. Loup, erhigt fi und
ſieht mit leuchtender Stirne der Sonne entgegen, die ſich gnädig
lächelnd zu ihm niederbeugt; doch zieht fie weiter, und er verfintt
nah und nad in Trauer und mit ihm alle Bajallen, die vom
Urfeuer gehärteten Berge, alte Bulfane mit fahlen Schädeln.
Mit Sonnenuntergang beginnen vie hier jo häufigen Lufttäu-
ſchungen und Phantasmagorien. Alle Dörfer, Städte und Fleden
der ſüdöſtlichen Ebene fliegen mit einem Rud in unjere nächſte
Nähe; wir jehen jedes Fenſter, wir bliden in alle Gafjen, mir
jehen die Tamarisfen der Sümpfe, die im Abendwinde zit
tern, wir erkennen die Laterne des uralten Thurm3 de Con-
stance in Aigue-Mortes, ja wir hören die Gloden der ferniten
Kirhthürme. Im Weiten aber rüdt Alles in träumerifche Ferne,
in blaue, duftige Nebel. Nur die Dörfer auf den Höhen erglühen
in heiterem Lichte, auch St. Genies, obwohl der Stammort
Guizot3, deſſen Großvater jchon ein Berräther jeiner Glaubens:
brüder gewejen, denn die Sonne leuchtet glei gütig auf Gute
und Böſe. Das Schloß Castrie mit den hundert Bogen feiner
64 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Waſſerleitung gleicht einer fata morgana, die vor jedem Augen:
zwinfern verſchwinden kann — auch verfchwindet es. Dunkler
Abend ruht auf Thal und Ebene. Nur der Pinienhain vor uns
leuchtet noch wie grüner Sammt aus dem Dunkel. Bald wird
die Nacht kommen. Schon, mit einem Schlage iſt ſie da, die
ſchöne, blaue, ſternenbeſäete, Nachtigall-durchſungene proven—
zaliſche Nacht!
Es iſt geradezu lächerlich, das Alles beſchreiben zu wollen!
Ich thue es nicht; ich ſteige vom Balkon herab ins Schloß
zu meinen lieben Gaſtfreunden.
Durch die Bibliothek, wo franzöfifhe, deutſche, engliſche,
ſpaniſche, griechiſche und lateiniſche Klaſſiker über- und neben—
einander aufgeſtellt find, ja wo ſogar geheimnißvolle Sanskrit—
zeichen wie indiſche Schlingpflanzen den Studirtiſch bedecken,
gelange ich hinab in den Saal des erſten Stockes. Er iſt in ein
Atelier verwandelt. Der Schloßherr, der dort oben Sanskrit
ſtudirt und ſich an Nal und Damajanti entzückt, malt bier
unten die Portraits ſeiner Freunde; neben ihm ſitzt ſeine ſieben—
zehnjährige Tochter und ſtudirt anſpruchsloſe Schönheit an einem
Bettelkinde, das, wenn ſein Porträt vollendet, in wenigen Tagen
reich beſchenkt entlaſſen wird. An den Wänden hängen Zeich—
nungen und Cartons, Meiſterſtücke des frühverblichenen Papety.
Unwillkürlich haftet das Auge am reſtaurirten Pantheon, dem
Inbegriff aller Schönheit, das Papety mit Künſtlerliebe aus
tauſend Bruchſtücken zuſammengetragen und wieder hergeſtellt
hat. Indeſſen klingen aus dem Saale im Parterre Lieder von
Gluck, Mozart, Beethoven oder irgend einem uralten Italiener
herauf. Wenn ſie ſchweigen, erbrauſt der Erard in Beethoven'ſchen
Sonaten, in Bachiſchen Fugen oder lispelt graziöſe Melodien von
Couprin. Denn Schloß und Umgegend gehören einem Künftler,
der, horribile dietu, ein Sozialift und, admirabile dietu,
dabei ein reiher Mann iſt, der es verfteht, fich mit dem Schönen
aller Zeiten und aller Völker zu umgeben. Seine Gattin ift
eine weltberühmte deutſche Künftlerin, die hier in Languedoc'jcher
Letztes Kapitel als erftes. 65
Einſamkeit, auf Lorbeeren ruhend, ihr ſchönes Künftlerleben
weiter träumt. Gie ift die Sängerin, welche jang. Die Mufiferin
aber, die Beethoven’she Sonaten zum Lispeln der Cypreſſe jpielt,
ift ihre Ziehtochter, eine werlafjene junge Künftlerjeele, deren fie
fih gütig angenommen. So mwandere ich herauf und herunter,
von Poefie zu Malerei, von Malerei zu Gejang, von Geſang zu
Muſik. Ein ſchönes Leben, ſchön eingerahmt.
Eo, mein lieber Friß, „jo lebt nun deine Sappho!“ E3 bleibt
mir fein anderer Wunſch, als daß es allen Flüchtlingen jo er:
gehe, das alle ihr Vaterland in dem einen, großen und untheil:
baren der Künfte und’der Liebe wiederfinden und auf ihrer Flucht
io hold ausruhen mögen, wie ich.
Mit folder Einfamleit kann man ſich ſchon zufrieden geben;
doch werden wir oft auf angenehme oder abenteuerlihe Weije
geftört. Von den Befuchern der jogenannten guten Gejellihaft,
vie in aller Welt viejelbe ift, von den Freunden aus Montpellier
oder den benadhbarten Landhäuſern, will ich ſchweigen; die Bettler
und Abenteurer, die manchmal vorjpreden, find, mit Refpekt zu
jagen, viel interejjanter. Da pochte vor einigen Tagen ein narben:
bevedter Veteran aus der republikaniſchen und Kaiferzeit an die
Ihüre, denn die Vaterlandsvertheidiger gehen in Frankreich wie
in andern Ländern betteln, troß aller Invalidenhäufer. Er er:
‚zählte mit befanntem Feuer von feinen Campagnen und vom
Kaifer. Auf die Republif war er ſchlecht zu ſprechen, denn fie
hatte ihn mittelft der Ajlignaten um fein Geld gebradt. Als
Beweis zog er aus der Bruft eine alte Afjignate vom Jahre 93,
die er, da er fie doch nicht einwechſeln konnte, als Anventen an
jene ‚Zeit aufbewahrt hatte. Er ſchimpfte ganz gewaltig über
diefen unfruchtbaren Schag. Aber der Schloßherr zog ein Fünf:
frantenftüd aus der Tafhe, belehrte ihn über feinen unver:
zeihlihen Irrthum und erklärte fih beauftragt, im Namen der
alten Republif, die alte Afjignate einzulöfen. Wie groß und
freudig war das Erftaunen de3 alten Solvaten; dankbar küßte
er das Bildniß der neuen Republif auf dem Fünffrankenftüde
Morig Hartmann, Werke. III. 5
66 Tagebud aus Languedoc und Provence.
und ſchwur hoch und theuer, niemal3 mehr ein Wort gegen die
alte, ihre Mutter, jagen zu wollen. Er war ein Elfäker und
ſprach nur deutſch. Wie jonderbar, oder wie ich eigentlich
jagen jollte, wie betrübend Hangen feine Siegesberichte über die
deutjchen Campagnen in dieſer Sprade. Er deflamirte von
Jena und Wagram, als hätten feine Urahnen ſchon zu unjerem
„Srbfeinde“ gehört. D Arndt, Jahn und Binzer! ich gab die
legte Hoffnung auf, das Eljaß je wieder zu erobern. Die Ver:
räther, die Eljäßer, ſie befinden ſich leider wohl in franzöfifcher
Gejellichaft !
Ein anderes Mal bejuchte und, ebenfalls al3 Bettler, der
Sprößling eines bekannten, halbveutichen adeligen Haufes, das
Deutichland einen Dichter, der Schweiz und Frankreich verdient:
volle Krieger gegeben. Er ſah aus wie ein Jrländer, denn er
trug einen ſchwarzen Filzhut auf dem Kopfe und die elendejten
Qumpen auf dem Leibe. Nadt und bloß lugten die Zehen aus
den vielfach durchlöcherten Stiefeln; ein zerfafertes Frauenbruit:
tuch ſchlang jih eng um den Hals und hielt nothvürftig das
fnopfloje Hemd zufammen, deſſen Kragen ih Mühe gab, fteif,
obwohl ſchwatz, den unrafirten Bart zu umhegen. Der Stempel
alter Verkommenheit, vielleicht Verlumpung, lag auf dem ganzen
Gejichte und ließ das eigentliche Alter ſchwer erfennen. Er bettelte
mit Hülfe feines Adelsbriefes, den er mit fi trug. ALS ich in
die Küche trat, wo er ein Frühſtück verzehrte, war er eben eifrigft
bemüht, der Köchin, einem Bauernmädchen au3 Lunel Viel,
jeine Genealogie auseinanderzujegen, indem er eine Menge mit
Mappen verjehener Bapiere auf dem Küchentijch ausbreitete, wo
fie fich neben Würften und abgejtochenen Rebhühnern jonderbar
genug ausnahmen. Er ſprach nur ſchlecht franzöfiih, doch wurde
er beredt, da er auf feine Ahnen und die Bedeutung der ein:
zelnen Wappenbilder zu ſprechen fam. Er konnte nicht umhin,
Marion höflichft zu bitten, fie möchte ja nicht fein Haus mit dem
anderer adeliger Familien gleihen Namens verwechjeln, melde
viel jünger und bei Weitem nicht von jo gutem Adel jeien, als
Letztes Kapitel als erftes. 67
die jeinige. Die gutmüthige Marion meinte nur, er folle ja
Acht haben auf all’ die „Päſſe“, va Papiere armen Leuten, die
aus den Armenkaſſen jhöpfen wollen, jehr nothwendig wären,
und entfernte die Würjte, um fie mit den ſchmutzigen Dokumenten
nicht in Berührung kommen zu laſſen. Als mich der arme Don
Ranudo bemerkte, erröthete er janft über feine Konverjation mit
der Köchin und nahm den Franken, den ich ihm überbradhte, mit
tiefen Büdlingen in Empfang.
Wie Diejem jeine Wappen, jo dienten einem Andern zmei
Wolfsköpfe ad captandam benevolentiam. An einem ſchönen
Auguftnahmittage erfchien die ſchaurige Geſtalt des Wolfsjägers
plötzlich am Schloßthore und forderte den Lohn feines Gefittungs:
werkes al3 Verfolger und Ausrotter der wilden Beftien. rei:
ih nannte er diefen Lohn jeiner herkuliſchen Beftimmung ein
Almojen. Da nichts Sonderbares oder Eigenthümliches an einem
Maleratelier vorübergehen darf, citirte man ihn herauf in den
oberen Saal, als eben den Malenden das frievlichfte aller Ge:
dichte, Hermann und Dorothea, vorgelejen wurde, Taumelnd,
denn er war betrunfen, trat der Molfsjäger herein und warf
jeinen Sad vom Rüden vor die Füße der Staffeleien. Zwei
alte Molfsköpfe mit grinfenden Zähnen rollten hervor. Mit
ftammelnder Zunge erzählte er im Patois, daß er die einftigen
Träger diefer Köpfe in den Cevennen erjchlagen habe, und zwar
mit dem Knittel, den er in der Hand trug. Das iſt glaublich,
denn er jah nicht aus wie Einer, dem es genehm wäre, die fünf:
undzmwanzig Francz für den Yagdpaß zu bezahlen, den man
haben muß, um mit dem Gewehr in Feld oder Gebirge zu gehen.
Die Jade hatte er jchief über die Schulter geworfen; das Hemd
jtand porn weit auf und zeigte eine dihtbehaarte Bärenbruft ;
das dide, thieriſche Gejicht glühte von Wein, und die Fleinen
Augen waren verfhwollen. Kurz und ftämmig zufammenge:
drängt, breitf&hulterig und verthiert, wie er ausfah, glaubte man
e3, daß er ſich mit viehifcher Kaltblütigfeit in ein Rudel Wölfe
zu ftürzen fähig ſei — aber au, daß ihm Wolf: und Dienfcen-
68 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
leben gleich viel Werth hätten. Sonderbar lähelnd jah Shake—
ipeare aus feinem Rahmen auf diefen Caliban hernieder. Seine
Nähe war unheimlich; man ließ ein Geloftüd in feine Mütze
fallen, er warf jeine Wolfsköpfe wieder in den Sad, den Sad
auf die Schulter und taumelte aus der Thüre hinaus, verirrte
jih aber in den dunklen Gängen, wo er brummend nod lange
umbertaumelte. Allein auch er thut das Seine zur Geſittung.
So ziehen phantaftifche Geftalten durch unfern Sonnenſchein.
Häufiger al3 dieje aber find die harakteriftifchen, wenn fie auch
weniger vomantijch oder komisch find. Die Curé's, die in ihrer
Ihmwarzen Tracht mit den großbejchnallten Schuhen und breit:
främpigen Hüten auf Heinen Zwergpferden oder Ejeln, von
ihren Vicaire's begleitet, manchmal heranfprengen, um vom koft:
baren Muskat-Lunel zu often, will ih gar nicht erwähnen.
Intereſſanter jcheint mir 3. B. der brave Maurermeilter und
ehemalige napoleonijche Soldat, der vor längerer Zeit wüthend
ind Zimmer trat, nach der Sitte de3 Landes ächt ſpaniſch den
Hut auf dem Kopfe figen ließ und ſich ſelbſt unmuthig in einen
Fauteuil warf, zum die Leivensgejhichte jeiner Familie zu er:
zählen. Der gute Mann hatte die größte Luft, Großvater zu
werden; aber Diejenige, die ihm zuerjt zu diefem Glüde ver:
belfen fonnte, jeine pausbadige, jechzehnjährige Tochter, hatte
ih im Beichtftuhl überreden laſſen, es jei eine viel größere
MWonne, die Braut des Himmels zu werden, al3 den alten
Soldaten au3 der Kaiferzeit zum Großvater zu machen. Ueber
diejes Dogma war der arme Mann außer ſich gerathen. Mit ven
unebrerbietigiten Ausdrüden, die noch ein wenig nach imperialifti:
ſchem Lager rohen, [prach er vom Cure und der ganzen Kleriſei
und Kirchenwirthſchaft, obwohl er als Schweizer und Kantor der
‚Kirche jeines Dorfes gewiſſermaßen ſelbſt zu legterer gehörte. Cr
‚erzählte, wie er feinem devoten Töchterlein zu bemweifen juche,
daß es viel fhöner und gottgefälliger fei, geſunde Buben zu er:
‚zeugen,. als ein Faulenzerleben im Klojter zu führen, wie aber
dieſe Argumente über ihr verftodtes Gemüth nichts vermögen,
Letztes Kapitel als erſtes. 69
und mie er mit Prügeln ans Ziel zu gelangen hoffe. Bei dieſer
Gelegenheit kramte er eine lange Reihe ähnlicher Geſchichten von
Mädcenverführung durd die Curé's, mie er es nannte, aus
und ließ mich einen Blick thun in das Innere des Volkslebens,
in das Treiben der Pfaffen, die hier faft allmädtig find; aber
aud) in die gefunde Oppofition, die fich hier und da in gefunden
Gemüthern vorbereitet. Einige Zeit darauf jah ich die fragliche
Braut Gottes bei der Weinlefe befchäftigt; fie führte die Neben:
jichel jo rüftig wie Eine, und die: Scherze der jungen Winzer, und
die nichts weniger als nonnenhafte Miene, mit der fie aufgenommen
worden, ließen mich hoffen, daß die Prügel des Vaters über:
jeugende Kraft befeflen und die dide Bäuerin der Welt und ihren
Freuden wiedergegeben haben. Cine gleihe Metamorphofe be:
merkte ih an dem reizenden Heinen Nähmädchen, das auf dem
Schloſſe arbeitet. Auch fie fam mit Klöftergevanken zu ung,
aber jchon nach wenigen Wochen ſprach fie mit großer Salbung
von der heiligen Beitimmung „ver Mutter.” Wer weiß, welcher
Thirsis (fo heißen die verliebten Schäfer in ven hiefigen Volks—
liedern, wie in den deutſchen Zopfgedichten des vorigen Jahr:
hunderts) dieje Belehrung vollendet hat, die*hoffentlich dauern
wird troß der zehn Gebetbüher und der Unzahl von Heiligen:
bildern, welche Auguftine noch immer in ihrem Arbeitäforbe mit
ih herumträgt.
Wie eigenthümlich fontraftirt diefes katholiſche Weihwaſſer-,
Beichtſtuhl- und Nonnenleben mit den altklaſſiſchen, griechifchen
und römischen Reften, die Einem hier zu Lande überall begegnen
und aud auf unferem Schloffe nicht fehlen. Unmittelbar an den
Kaninchenthurm ſchließt ſich die Ferme oder Meierei, welche mit
der Wohnung des Schaffners, mit den Ställen der Maulthiere,
Eſel, Arbeits- und Reitpferde, mit der Schäferei und dem Hauſe
der Seidenzucht oder Magnanerie ein großes Viereck bildet, ſo
groß, wie vielleicht nicht der Palaſt des Pyliſchen Königs ge:
weſen. Die Wohnung des Schaffners oder Paire (ſprich Pa-ire
[Patois] ftatt pere; wir nennen ihn den Männer beherrſchenden
70 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Paire) ijt eine weite, hochgebühnte Halle, die, wenn fie auch
nicht ganz an die Halle des edlen Laertiaden erinnert, doc gewiß
die größte Aehnlichkeit mit jener jeines göttlihen Echweinbirten
bat. Ein heller Feuerjchein fällt aus dem gewaltigen Kamine,
in welchem eine rejpeftable Familie wohnen könnte; an feiner
vebengenährten Flamme fißt die uralte Patriarchin, die Maire
(ſprich Ma-ire) oder Mutter, und dreht den klaſſiſchen Spieß
oder beobachtet den Keſſel, der an eiferner Kette aus der Eſſe
berunterhängt, wenn jie nicht Raisind oder MWeinmus bereitet,
wie e3 Nejtor in feinem Zelte ven Gäſten vorjegte. Von der
Dede herab jchwebt die Ampel, diefelbe an Form und Geftalt,
wie fie alte Maler und Bilohauer der neugierigen Pſyche in die
Hand geben. Cine andere erhebt fich dort im Winkel auf er:
habenem Dreifuße. Neben ihr, in die Wand gemauert, befindet
ih die granitene Handmühle, an welcher einft Sklaven, und
unter ihnen ein unfterbliher Dichter, gejeufzt. In der andern
Ede reihen fi hohe, bauchige Thonkrüge mit engem Halfe und
doppelten Henkeln ; fie bewahren rothglühenden Wein oder koſt—
barere Wafjerflutb aus fernen, ab! bier zu Lande feltenen.
Quellen. Am diden Eichentifche figen drei-, vier, auch fünfmal
deö Tages, faft jo oft wie homerifche Helden, der Männer be:
herrſchende Paire, der Großknecht, der Schäfer, die Ochſen—
und Pfervefnechte, die Gjeltreiber und Felvarbeiter. Sie efjen
Meinmus, kräftige Fleifhe und koſtbare Früchte des Südens:
Pfirfihe, Feigen, Granatäpfel und Trauben; dazu trinken fie
des föftlichen Weines aus einem hohen Kruge, der nach rechts
im Kreiſe berumgeht. Der Barbar des Nordens glaubt einem
fabelhaften Mahle von Königen zuzufehen, und mit Wehmuth
denkt er der Bauern feiner Heimat und ihrer Kartoffeln, und
mit einem gewiſſen Unwillen ſieht er, wie man dem Fohlen,
das ſich frei herumtreibt und während des Mahles hereinfprengt,
rothen Wein aus antik geformter Schale zu trinken reiht. In—
deſſen fteht die uralte Maire und ihre Enkelin hinter den ſpeiſen—
den Männern, um fie zu bedienen. Nie würden fie es wagen,
Letztes Kapitel als erftes. 71
jih an den Tiſch der Männer zu jegen; weder Mutter, noch
Frau, noh Tochter hat dieſes Recht. Sie dürfen nur dienen.
Wenn fi die Männer erhoben haben, dann erjt ftellen fich die
Meiber mit der Schale in der Hand an den Kamin oder in
irgend einen jtillen Winkel und verzehren die Nefte des Mahles
ftehend. Auch dieſes Land mird einjt feinen Dorfgeſchichten—
ſchreiber finden; aber felbjt das große Talent George Sand's
wird bei diefen Dichtungen nicht ausreihen. Sie werden eines
bomerifhen Hauches bedürfen, um wahr zu fein. Aber Abbe
Fabre und feine ins Patois überjegte, und auf diefen Boden
übertragene. Odyſſee erijtiren ja fchon feit fait hundert Jahren !
Nur die Weinleje hat mich in meinen antifen Jllufionen ge
ftört. Eie bietet Niht3, was an Dionyjos und feinen mit Hülfe
des Rauſches mwelterobernden Zug erinnert. Die Winzerinnen,
vielleiht, wie e3 ihre Augen verratben, geheime Mänaden, find
öffentlich gute chriftliche Arbeiterinnen, die unter den Anien die
Röcke mit ftarfem Bande ummwinden, um beim Büden ſelbſt nicht
bis an die Knöchel griechiſch zu erſcheinen. Schweigend rüdt die
Schaar durd die Neben vorwärts und liejt, freilich mit antiker
Sichel, die gewaltigen Trauben ab, die von projaifhen Maul:
tieren ſogleich nad) der Kelter gebracht und dort fofort zeritampft
werben. In Strömen fällt die rothe Fluth won den Brettern
in die weiten, gemauerten Behälter, jtürzt fie chen vor ihrer -
Ankunft an der Kelter felbitkräftig aus der Wanne des Wagens.
Morgen ſchon dedt rofiger Schaum die Wiege des jungen Gottes
und fteigt jo betäubender Duft auf, daß die Tauben in der Nähe
Eier und Nejt verlaffen. Der Mann, der dort oben auf den
Kelterbrettern mit breiten Schuhen herumtanzt, und unter deſſen
Füßen Weinquellen entfpringen, beraufcht ſich durch die Naje
und tanzt unmwillfürlih, in janfte Seligfeit gewiegt, immer
weiter, ein traveftirter Silen. Auch wir können nicht wider:
ſtehen; Schuhe und Etrümpfe werfen wir ab, ſchürzen die Bein:
befleivung hinauf und tanzen mit auf den rothgefärbten Bret—
tern, al3 bätten wir die Zauberfiedel aus der Sage erklinaen
2 Tagebud) aus Languedoc und Provence,
gehört. Die Winzerinnen lachten darüber, daß die „Moussiours*
feltern und jo poflierlihb und unpraftiih auf den Trauben
berumtanzen; und lachend jegen fie jich unter den Delbaum, um
eine ihrer vielen Mahlzeiten zu halten, und ſchlingen, um jich
befjer vor der Eonne zu ſchützen, Weinlaub um die Stirnen.
Mie anders ging es einige Monate früher in dem oberen
Stodwerfe, gerade über ven Weinfeltern, ber. Dort ift die
Magnanerie, die große Halle, in welcher der große Kunftweber
und Architekt aus China, der Magnan oder Seidenwurm, jein
Weſen treibt. Anfangs ſah er fo Hein und unbedeutend aus,
daß ich ihm die Künfte gar nicht zugetraut hätte, die ich fpäter
al3 aufmerfjamer Beobadter an ihm bewundert. Sa, die
ganze Seidenzucht machte einen komiſchen und Kleinen Eindrud,
als die Magnaniere oder die Amme der Seidenwürmer mit ihren
Heinen Beuteln anfam, in melden jich die jiebenzehn Unzen
infuforiich Kleiner Seidenwürmer:Eier befanden. Der Eleine und
komiſche Eindrud dauerte noch fort, als die winzigen, Schwarzen
und fhmugigen Mürmlein in Millionen in einem Eiebe wimmel-
ten und faum die Handvoll Maulbeerblätter mit ihren kleinen
Mäulern zu bewältigen vermochten. Aber wunderbar jchnell
wuchjen fie heran, als fie ſich auf den Binjenlagern, die in der
Magnanerie neben: und übereinander aufgeitellt find, aus:
dehnten und ihre Induſtrie in großartigem Mapftabe begannen.
. Ein Wagen Maulbeerblätter nach dem andern fuhr in den Hoi,
einer nach dem andern verſchwand, aufgezehrt won den gefräßi-
‚gen Induſtriellen.“ Ganze Berge diejer beliebten Koſt warf
Ganz andere und viel ehrenvollere Epitheta gibt den Seidenwürmern
ver alte italienifhe Dichter Francesco Toninelli da Castel Franco in
feinem großen Gedichte: I Bombiei. leid in der erften Stanze heift es:
Di reptili et industri Cavalieri
L'opre cantar desio di pregio, e l’arte
Bachi d’Etruria e da Greci primieri
Bombiei detti, in questa e in quella parte.
Im Verlaufe des Gedichtes, welches er unter die Proteltion einer
Cecilia Cornaro ftellt, beehrt er die Eeidenmwürmer mit folgenden Titeln:
Letztes Kapitel als erfte2. 73
man über fie, jo daß fie unter der Wucht verſchwanden. Aber
das dauerte nur eine Minute. Schnell haben fie fich wieder
emporgearbeitet; jeder einzelne mählt fich fein Blatt und beginnt
e3 mit pedantifcher Emfigfeit von links nad) rechts zu benagaı,
und bewegt das Köpfchen fo jchnell dabei, al3 ob er die Sekunde
zu verlieren fürdhtete. So genährt, wählt er und verändert er
jih überaus fchnell, und nach vierzehn Tagen ift der Eleine,
ſchmutzig ſchwarze Wurm eine große, fingerlange, weiß: oder
goldglänzende Raupe geworden, der man fchon eine Beitimmung
in der Weltgejchichte zutraut. Der Magnan erfauft diefe Größe
nicht um einen geringen Preis. Wie alle Individuen und Völker
bat er jeine Kinderkrankheiten durchzumachen, und ihre Zahl be:
läuft fih bei ihm auf vier, im glüdlihen Falle auf nur drei
Krifen. Sentimentale Eeelen leiten dieje Krankheiten vom Heim:
weh ab, das der arme Wurm nad feinem Stammlande, dem
himmliſchen Mittelreihe China verfpürt, wo er in freier Luft,
unter märmerer Eonne fein Leben auf dem geliebten Maulbeer:
baume jelbit bis zur Verpuppung fortjpinnt, umklungen von
Millionen chineſiſchen Glodenfpielen. Andere aber leuguen diefe
fentimentale Dispofition des Seidenwurms, behaupten, daß
ihm ſüdfranzöſiſche Kirchengloden eben jo viel Werth haben, ala
Vermicelli santi, prole gentil di valorosi vermi, gentil vermi, nobil
vermi, preciosi e cari animaletti, vaghi pargoletti, gentil grege,
cortese grege etc. etc.
Den Theil des Gedichtes, welcher mit dem Leben der Seidenwürmer
flieht, beendet er fo:
Gite pur animosi Cavalieri
Fortunate e felici alme leggiadre
Delle fatiche vostre gite alteri
Nelle cieche prigioni oscure et adre,
Ch’a se vi chiamerä bianchi e leggeri
La celeste d’amor Ciprigna madre
Con novi corpi e con piü belle nostre
Mossa a pietä alle miserie vostre. A
Man kann doch nit mehr thun, al3 feinen Helden das Himmelreich
veriprehen? —
74 Tagebud aus Languedoc und Provence.
chineſiſche Carillons, und daß er in jeiner Heimat auch wenig-
jten3 in zwei Krankheiten der Natur den Zoll für ein jo bedeu—
tungsvolles, Seelenunfterblichfeit beweijendes, durch Kunſt ver:
ihöntes Dafein entrichten müſſe. Es ift aber ein harter Zoll.
Denn nad jeglicher Krankheit bleibt eine Unzahl von Magnans
todt und zufammengelauert da liegen, um fich nie wieder zu er:
beben, trotz ber duftigiten Maulbeerblätter, die man über ihre
Nafen ftreut. Ihre genejenen Brüder jteigen gemüthlos auf
die Leihname, um ihr epikureifches Leben weiter zu führen. Die
Seidenzüchtler felbit gehen während ver Krankheitstage mit
höchſt beſorgten Mienen umher, und wo zwei einander begegnen,
fann man Sicher fein, daß jie fich theilnehmend nach dem werthen
Befinden der gegenfeitigen Magnans erkundigen. Aber mit den
überftandenen Krankheiten find noch nicht alle Gefahren über:
wunden. Wenn der Seidenwurm genug Stoff in ſich geſammelt,
um nad dreimöchentlihem Schwelgen an feine unjterbliche Seele
denken und ſich wie ein Marabut feinen eigenen Sarg bereiten
zu können; wenn er ſchon an den aufgeitellten Reijern und
Zweigen hinanzuflimmen beginnt, um ſich einen gehörigen Winkel
zu ſuchen, wo er feinen Sarg aufhänge — in diefem kritiſchen
und entjcheidenden Augenblid kann ein einziges und leijes
Donnermwetter am Himmel die Verpuppung de Wurmes und
alle Hoffnungen des Seidenwurmzüchtlers zu Nichte macen.
Beim Donner des Himmel3 erfhridt der hinanklimmende Mag:
nan, erinnert fih, daß er troß China und Seide nur ein ge:
meiner Wurm, fteigt oder fällt vemüthig wieder auf den *
Boden herab, und um die Puppe, auf die Alles ankommt, und
um das Symbol der Unſterblichkeit iſt es gethan. Geht aber
dieſer kritiſche Augenblick ohne Gefahr und Donnerwetter vor—
über, dann bietet die Magnanerie einen in der That herrlichen
Anblick dar. Die trocknen Zweige und Reiſer, die man zwiſchen
den Binſenlagern ſo aufgeſtellt, daß ſie mit dem Fuße im Rohre
jteden, das obere Geäſte aber, von der fie überdachenden Binſen—
lage gehindert, herunter und aneinandergebogen wird, bilden
Letztes Kapitel al3 erftes. 75
unabfehbare Wölbungen, die dem Blide, je länger man fie be:
trachtet, die Illuſion unendliher Waldgänge oder langer gothi-
ſcher Hallen darbieten. Und in diefen Hallen war es andächtig
jtille. Der Lärm, den das ununterbrocdhene Nahrungsgeſchäft
verurjacht hatte, und das dem Klopfen des Regens auf ein
Schindeldach glich, hatte aufgehört, denn der Magnan aß nicht
mehr. Bedächtig kroch er überall die Zweige und Aeſte hinan
und ſuchte in den Wipfeln den für Anlage feines Cocons ge
eigneten Winkel. Da mar es erjtaunlich, mit welcher Umficht,
Klugheit und Ausdauer er fuchte, prüfte, maß und wählte.
Den hinteren Theil um ein Neftlein gerollt, jtredte er ven
vorderen weit aus und bejchnüffelte mit ven Fühlhörnern die
ganze Umgebung. Wenn die Unterfuhung fein günftiges Re:
jultat bot, ließ er es fich nicht verbdrießen, von Zweig zu Zweig
zu friehen, oder fogar den ganzen Baum hinabzuflettern und
e3 mit einem andern zu verjuchen, bis er den für feinen archi—
teftonifhen Zwed geeigneten Platz herausfand. Rüdjichtsvoll
umging er den Zmeig, an dem fich fchon ein Bruder angejiedelt
hatte, oder richtete fein eigenes Haus mit Kunft fo ein, daß er
wohl die Bäulichleiten des Nachbars benugte, aber niemals
ftörte. Hatte er einmal feinen Plag gefunden, dann fpannte er
erft die Seile aus, die das Haus tragen jollten; dann kauerte
und krümmte er fih zufammen und machte ſich an die Haupt:
arbeit. Ohne Unterbrehung ging nun das Köpfchen in der
Runde herum und fpann den unendlichen Faden, ver ſich bald
zu einem durchlichtigen, fchleierähnlihen Sarge geformt und
zujammengeflebt hatte. Da drin fieht man ihn mit Emfigfeit jo
fortarbeiten. Die Nacht bricht herein, und da ed wieder Tag
wird, ift er jchon hinter dichter Hülle verfjhwunden, Wenn man
das Ohr nahe hinhält, hört man wohl, daß er drin nicht müßig
figt, aber zu jehen ijt won feinem Wirken und Treiben nichts
mehr. Noch den dritten Tag hört man ein leifes Knijtern und
Knuspern ; dann aber wird es ftille, und laut: und regungslos
hängt der Cocon da. — Nicht alle fommen an ein fo glüdliches
6 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Ende. Eine Müde, das geringite Geräufh, vie leijeite Be:
rührung fann fie geftört haben, dann reißt der Faden up wird
nie wieder aufgenommen. Der arme Werfmeifter jtirbt auf oder
in feinem unvollendeten Werke. Noch unglüdlicher find, die
mit der Seidenlajt im Leibe nit den Baum hinaufzuflettern
vermögen und auf halbem Wege wieder herunterfallen. Cie
verjuchen den Weg nicht zum zweiten Male und jterben mit dem
Bemußtjein eines verfehlten Lebens. — Wenige Tage, nahdem
die Seidenwürmer in die Höhe zu fteigen begonnen, hat der
Wald fein Ausfehen verändert und gleicht jegt mehr einem
Weingarten. An allen Zweigen hängen die gelben und weißen
Cocons, dicht an einander gedrängt wie gewaltige Trauben.
Dann kommen die Weiber und jammeln jie in große Körbe,
dann verfauft man fie nah yon, dann wirft man fie in heißes
Mafjer und tödtet die Buppe, die von einem beflügelten Schmetter:
lingSliebeleben träumt, in der Chryfalide. Dann widelt man den
mit Kunft und Mühe gefponnenen Faden ab, der vielleicht ſchon
in wenigen Wochen als Seidenkleid um die Lenden einer femme
entretenue in der Rue Laffitte oder Chaussee d’Antin
rauſcht. Glüdlih, die vom Schidfal oder der Magnaniere Aus: .
erwäbhlten, die man aufbewahrt, um von ihnen Samen für das
fünftige Jahr zeugen zu laffen; fie erfüllen ihre ganze Entwid-:
lung und ihr ganzes Schidfal. Nach wenigen Tagen kriecht der
weiße, glänzend beflügelte Schmetterling heraus. Der durch—
löcherte Cocon taugt zwar nicht3, da der Faden durch das Loc)
in viele einzelne Stüde zerrifjen ift, der Schmetterling aber liebt
und zeugt, bis er, liebeberaufcht, endlich nad) langen Verwand—
lungen au3 den Armen der Liebe in die Arme des Todes fällt.
Friede feiner Aſche! Er hat ſchön gelebt und iſt Schön geftorben.
Den Vorzug hat er vor anderen Sterblichen voraus, daß feine
legten Tage auch die fehönjten waren und die liebereichften.
Die Maulbeerbäume aber, die ihn für fein Kunſt- und
Liebesleben genährt, jtehen indejjen traurig da. Ein vorzeitiger,
graujamer, Fünftliher Herbit hat fie betroffen, und fie ftreden
Letztes Kapitel als erftes. 77
nadte Arme zum Himmel empor, mährend jie von vollem,
reihem, treibendem Frühling umgeben find. Hier und da zeugt
ein einfames, vergeſſenes Blatt von ihrer einjtigen Herrlichkeit.
Aber die großmüthige Sonne des Südens kömmt ihnen zu Hülfe
und befleidet die Nadten. Sie gibt ihnen einen zweiten Früh—
ling, und nad vierzehn Tagen find jie jo dicht befleidet wie
zuvor. Allerdings haben die Blätter die erjte, volle und jaftige
Friſche nicht mehr; fie find nicht mehr fo grün, ſondern gelber,
als die erften waren, und ſcheinen Ältlih geboren. Es find eben
nicht mehr die Kinder der erften Jugend, nicht mehr die Kinder
des erften, treibenden Frühlings. Ein ähnliches Phänomen will
man an allen zweiten Dichterwerken bemerft haben.
Siehſt du, mein Freund, fo verfließt die Zeit im füplichen
Frankreich mit Kunftgenüffen, Weinlejen, öfonomifchen Studien
und Naturbetradhtungen. —
Märe ich erjt Geologe, wie interejjant könnte mich jelbft der
Boden dieſes Landes beſchäftigen, an deſſen Geftaltung Nep—
tunismus und Vulkanismus gleichen Antheil zu haben fcheinen.
(Denn ih Nicht: ©eologe fuche die beiden Syſteme in einem
dritten, einem Dilettanten-Syfteme zu vereinigen.) Vor Kurzem
erft hat Francois Sabatier auf feinem Grund und Boden, un:
gefähr hundert Schritte vom Schloſſe, jenjeil3 des Parkes eine
Grotte mit hübfchen Stalaktiten und alten Thierfnochen entdedt,
und jeit Jahren ſchon kennt man die drei tiefen Grotten, bie
aus dem Garten ded Herrn Gautier, eine Bierteljtunde von
uns, ins Cingeweide der Erde führen. Die ganze lange Kette
der Gevennen, die und und Niederlanguedoc im Norden und
Weſten umfpannt, verräth ihren Feuerurjprung auf den erjten
Blid. Der Boden hier auf der Höhe bis gegen die Cevennen
ift kallig und verbrannt; ganze weite Streden find von aller
Dammerde entblößt, aber feurig und nervös treibt er mitten
aus Geftein den gluthenvollen, capiteufen Wein heraus, während
die Rebe des muskulöſen Niederlandes, des theild vom Meere
verlafjenen, theils angeſchwemmten Bodens, wohl eine größere
⁊
78 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Menge Weines, aber phlegmatijcheren und friedlicheren hervor⸗
bringt. — Wenn wir ſo auf unſeren Camarguerpferden durch
die Felder dahinreiten, wiederhallt es oft plötzlich und dumpf
unter dem Hufe, und wir ſagen: Hier iſt eine Grotte. Dann
blicke ich zurück nach den durchhöhlten Bergen der Cevennen,
die im Untergange glänzen, und ich ſegne ſie; denn in ihren
Höhlen nahmen ſie gütig auf und ſchützten dort die liebſten
Helden dieſes Landes, die begeiſterten Kamiſarden.
Meinem rückwärts gekehrten Blicke entrollt ſich ein herrliches
Bild. Ich ſehe eine Nacht aus dem blutigen Jahre 1703. Aus
allen Höhlen der Berge fallen lohende Lichter auf die kalkigen
Abhänge. Die iſt in eine Waffenſchmiede umgewandelt, und
ihre Wölbung wiederhallt vom Klange der hundert arbeitenden
Hämmer; zu ihrem Takte erſchallen heilige Pſalmen oder Klage—
lieder (Complaintes), welche die Martyrien der „Hirten der
Wüſte“ feiern. Vor der andern Höhle, die dem Mundvorrath
beſtimmt, wimmelt es wie vor einem Ameiſenbau; die Getreuen
aus den Thälern des Gard, Gardons, des Vidourle und Tarn
tragen hier die letzten Reſte ihrer Habe zuſammen, um die
Kämpfer für ihre heilige Sache mit Speiſe und Trank zu ver—
ſorgen. Die dritte Höhle iſt das Schmerzenslager der Ver—
wundeten von Vergez, Vauvert, Nages, Aubais geworden;
ſterbend ſingen ſie noch ihre Hymnen oder horchen auf die Worte
ihrer Propheten. Auf einem Felſenplateau, beim Licht der
Fackeln, ſitzen, auf ihre Waffen geſtützt, der unbärtige, aber
heldenmüthige und kluge Jean Cavalier, der verwegene Catinat,
der wilde Ravanel, der glaubensſtarke Abraham, ver lamm—
fromme Clie Marion, die Führer der Kinder Gottes und ihre
Propheten. An ihrer Spige aber der große, herrliche, unbeug:
ſame, unbejtehlihe Roland, ein Held wie aus biblifchen Fabel:
zeiten. Er trägt prachtvolles Gewand mie ein Herzog; auch
hält man ihn fälfchlich für einen Prinzen, wie der Rohan war,
der ein halbes Yahrhundert vorher die Gläubigen mit feinen
tapferen Schwerte vertheidigte, und darum wurden an ihn von
k
Letztes Kapitel als erftc2. 79
Fürſten und Königen Geſandtſchaften abgeorbnet. Er empfängt
jie mit jo ftolzer und würdiger Majeftät, daß fie noch hartnädiger
al zuvor an eine geheimnikvolle Abjtammung aus königlichen
Hüften glauben. Und doc bleibt er nur ein bejcheidener Wein:
bauer aus dem Gebirge. Er ift der eigentlibe Echöpfer und Ge:
jtalter dieſes Krieges, der den Ruhm der ftolzeften Marjchälle
Ludwigs des XIV. zu Schanden machte; er hat die Cevennen
zur uneinnehmbaren Befte gemacht, an der ſich die Marfchälle,
die gewaltigen, fieggewohnten Heere, die von Mönchen geführten
„Jüngeren Söhne des Kreuzes“ und die fogenannten „weißen
Kamiſarden“ die Köpfe zerftoßen haben; er hat feinem Heimats—
gebirge alle dunflen Geheimnifle abgelaufcht, welche den Feind
in Verwirrung bringen und machen, daß er auf feinen Ber:
heerungszügen über Fallthüren, Nete und kochende Feuerjchlünde
ſchreitet. Noland Laporte ift der denkende, finnende, feuer:
iprühende Kopf des Aufruhrs in den Cevennen; Jean Cavalier
ift nur jein bewaffneter, jchlagfertiger Arm, ven er weit aus:
jtredt über die wilden Fluthen des Gard und bis hinab, bis
an die Sümpfe von Aigues-Mortes und die Ufer des mittel:
ländiihen Meeres. Dort foll ihm die Glaubensfchmefter Anna
von England ihre mächtige Hand bieten ; aber die Könige, troß
aller Glauben2brüderfchaft, find treulo3 und wollen nichts von
einem Bunde felbft mit dem heiligjten, gerechteften Aufruhr
wifjen, und wenn Sean Cavalier am Ufer erfcheint, verjchwindet
die englifhe Flottille auf der Höhe des Meeres. —
Roland Laporte und all’ die genannten Propheten und noch
viele andere werden eines ruhmvollen Märtyrertodes fterben.
Roland wird aus den Armen der Liebe geriffen und von einem
Verrätber für Silberlinge verfauft werden, wie ſchon einer jeiner
Vorläufer, Vivens, von einem PVerräther, Wilhelm Jordan,
verkauft worden. Abraham wird im furdtbaren Thurme de Con-
stance zu Aigued:Mortes ſchmachten, bis er fich dur ein Wun—
der in die Gebirge rettet, um die erlojchene Flamme auf3 Neue
anzufadhen und endlich doch in die blutigen Hände Baville's, des
80 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Alba von Languedoc, und Berwicks, des Baſtards Jakobs II., zu
fallen. Nur der kluge Jean Cavalier, der zu Kluge, wird ſich
retten, um mit weltlichen Ehren überhäuft ſeiner Heimat ferne
zu ſterben, und der gute Elie Marion, um in London die Wahr—
haftigkeit des Prophetenthums darzuthun.
Rings um die Gruppe der Feldherren, im Lichte, das aus
den Grotten fällt, auf Plateau's und Abhängen lagern die Schaa—
ren der „Kinder Gottes.“ Die Einen ſchlafen, müde von den über—
ſtandenen Kämpfen und den fliegenden Märſchen, das Haupt
auf den Stein gelegt, den Leib von der dünnen Kamiſa bedeckt,
die ihnen den Spitznamen verſchaffte, im Arme die Muskete, die
ſie ſich auf dem Schlachtfelde holen mußten. Die Andern ſitzen
auf den Steinen und horchen den Propheten und Prophetinnen,
Männern, Weibern und Kindern. Wer ſoll den Kindern nicht
glauben, da ſie die Bibel auswendig wiſſen, die ſie doch nie
geleſen haben; da ſie fortfahren, zu prophezeien und zum Kampfe
aufzumuntern, trotz Hunger, Gefängniß und blutiger Schläge,
die ſie von ihren Vätern haben erleiden müſſen. Denn die Väter
ſind vom Marſchall Montrevel mit dem Tode bedroht, wenn
ſich bei den Kindern „die Gabe” („le don“) zeigt. Wer ſoll ven
Kindern nicht glauben, da fie offenbar vom Geiſte erleuchtet find,
da eine andere al3 vie zarte Kinderftimme aus ihrer Bruft her:
vorkommt, da eine Stimme ſcharf als ein Schwert und gewaltig
als der Donner aus ihrem Munde hervorgeht; da ſelbſt Säug:
linge an der Brujt der Mutter zu ſprechen und zu prophezeien
anfangen? Große Wunder gejhehen in einem Volke, auf welchem
härtere Verfolgung lajtet ald die der Pharaonen und des He:
rodes. Vielleicht ift unter den Propheten, die in diefer Nacht
predigen, auch die ſchöne Iſabeau, welche bei Nages den Palm
anftimmte und die Kinder Gottes aus großer Fährlichkeit rettete;
welche bei Aubais mit dem Schwerte in beiden Händen die ge:
panzerten Reiter Ludwigs in die Flucht ſchlug. Der Heine Bas-
calin, der fhöne Junge aus Dauphine, ift längft gejtorben; er
war eines der erften Opfer des wilden Henkers St. Ruth.
Letztes Kapitel als erficd. sl
Während die Propheten predigen, bemerken e3 die Gläubi-
gen nicht, daß aus den Thälern eine rothe Lohe wie der Höllen—
pfuhl aufiteigt. Es find das ihre Meiereien und Dörfer und
Hütten, die auf Befehl des Marſchalls Montrevel in Flammen
aufgehen und zu Hunderten der Erbe gleih gemacht werden.
Denn fo will es Ludwig, dab das Land der Ketzer in eine ab-
fchredende Wüſte verwandelt, daß e3 den Wölfen und Füchſen
allein zur Heimat werde, und daß die Keger in ihren Grotten
an Hunger zu Grunde gehen, da er ihnen mit dem Schwerte
nicht beilommen fann. So mill e3 der alte, fromm gewordene
Ludwig im Namen Gottes, um feiner Sünden Fülle los zu
werden, jo will e3 fein Beichtvater Père Lahaije im Namen
des Papftes, jo mwill e3 der Apojtel Bofjuet im Namen feiner
Theſen und Bücher, jo will es aud) die gute Madame Maintenon,
die jo ſchöne Briefe jchreibt, um Herrn Louvois, dem Père
Sahaije und dem frommen Ludwig Beweiſe ihres Glaubens:
eifer3 zu geben, vie bei einer Neubekehrten fo nothwendig jind,
und wenn fie Millionen Freiheit, Gut und Leben koften jollten —
jo will es der ganze Hof, der Alles will, was Pere Lachaiſe,
der Beichtvater, und Madame Maintenon, die Maitrefje, wollen.
Nur die Ruinen von Port Royal und die geheimen Sanfeniften
fhütteln ihre Häupter und bereuen die Verfolgungen, die au
fie fich in früherer Zeit gegen die Protejtanten haben zu Schul:
den fommen laflen; nur der milde Fenelon feufzt und jchreibt
lamentable, oft anzügliche, aber immer gut ftplifirte Briefe felbft
nah Rom; nur der weile Bauban wagt es, laut zu murren und von
„retractation,* das ift Zurüdnahme der fanatiſchen Maßregeln,
zu fpreben, aber er muß ſich übeızgeugen, daß e3 nicht genug
ift, fein Vaterland mit einer undurchbrechbaren Kette von Feftun:
gen gegen Äußere Feinde zu umgeben, daß jein Vaterland vie
gefährlihiten Feinde, die fein Vauban'ſches Syſtem ferne zu
halten vermag, im Innern nähre. In den fogenannten gebil:
deten Klaſſen erwacht eine Art ſchwacher öffentliher Meinung,
: gewedt dur die Fyeuerbrände Pierre Bayle's, des Vaters
Morit Hartmann, Werke. II 6
82 Tagebud aus Yanguedoc und Brevence. '
Roltaire'3, die von Holland aus bis nach Perjailles fliegen, aber
noch nicht zünden; erit im Ballipieljaale fühlt man ihre Wir—
tungen, da ein protejtantiicher Baitor, Rabaut : Saint: Etienne,
zum Bräfidenten der Conftituante gewählt wird. — Racine grämt
ſich wäbrend des Cevennenfrieges im Stillen und jchreibt fein
Tendenzitüd Eſther, die Geſchichte eines verfolgten Volkes, und
ein anderes, „Athalie,“ in welchem er wenigjtens den Thron-
erben über jeine Bilichten zu belehren ſucht, da er den alten
Ludwig nicht mebr zu befehren hoffen kann.
Wie weit abgefommen bin ich von meinem Thema. Der
auf Grotten wiederballende Hufſchlag meines Pferdes führte mich
anderthalb Jabrhunderte zurüd in die Höhlen der Cevennen, aus
den Gevennen in die Tragödien Racine's. Siehit du, mein Freund,
das ijt die Gejet: und Schranfenlofigkeit, welche Julian Schmidt
Romantif nennt und die er jo jehr habt. Darum nehme ic) mid) zu—
jammen und fehre mit demjelben verführerifchen, in Träume wie:
genden Hufſchlag meines Chalif ſachte nach Latour de Farges
zurüd. ,
Diejes alte Schloß, ungefähr in der Mitte zwiſchen Mont:
pellier und Nimes, zwijchen den Gevennen und dem Meere,
nahe bei Lunel gelegen, jei der Orientirungspuntt, wenn du
mich auf meinen geordneten Reifen gegen Dften und Welten und
auf meinen regellojen Ausflügen nad) allen Richtungen der Wind—
rofe, wie ich dir fie in den folgenden Blättern erzähle, begleiten
willft. Wenn ich dich oft freuz und quer in die verfchiedenjten
Gegenden und Zeiten führe, jo nimm mir das nicht übel auf.
‘Jedes Sand wird mir erjt dann lebendig, wenn ich es mir mit
gemifjen Helden jeiner Gejchichte bevölfere, und ich bereife es,
wie man einen Roman liest, immer in Begleitung des „leidenden”
Helden, indem ich Alles oder das Meiſte, das ich ſehe und er-
lebe, auf ihn beziehe. Daß dieſe Helden meiner Reijeromane
oder Romanreifen meift die Unterbrüdten des Landes find —
das ift fo mein Gefhmad, meine Sympathie. In Jrland war
e3 Robert Emmet und die Katholifen, im füdlihen Frankreich
Letztes Kapitel als erſtes. s3
find e3 Noland, Jean Gavalter und die Protejtanten. Nächiten
Frühling bereife ih wahrſcheinlich Korfifa, und ſchon ahne ich,
dab Pascal Paoli mein Auserwählter fein wird; durchwandere
ih aber die Pyrenäen, dann werde ih mich allem Anjcheine
nad weniger um die idylliſch glüdliche Nepublif won Andora,
al3 um die Cagots fümmern, welche, wie man fagt, von den
Zimmerleuten abjtammen, die das Kreuz Chrifti gezimmert, und
darum in der Kirche noch abgejonderte Stühle haben, und faum
vor einem halben Jahrhundert al3 Ausgeftoßene ungeftraft an:
gejpudt werden durften. Es gibt Rationaliften, welche behaupten,
daß die Cagot3 nicht im geringiten Grade mit jenen Zimmer:
leuten verwandt, wohl aber unglüdliche Ueberreite der Albigenfer
jeien, und daß die Sage fpäter erfunden worden.
Latour de Farges, im Oftober 1851.
weites Kapitel.
Eine tobte Stadt — Märden — Nimes bis Avignon — Maifonscarrde und
Arena — Griehen und Römer — Ein tolled Gebäude — Chriſtenthum in Nimes.
Den 26. Mai 1851.
63 iſt ein wahres hiſtoriſches Mufeum, dieſes ſüdliche Frank:
reih. Gräbt man bier nad) alten Nebenwurzeln, jo findet man
Thränen: und Aſchenkrüge, Münzen mit dem Bildniſſe Nero's
und des-Antoninus Pius; jieht man irgendwo ein altes ſchwarz
angerauchtes Gebäude, jo heißt es, das kommt von arabiſchem
Feuer; fragt man nad dem Weg ind nächte Dorf, jo befommt
man eine Antwort zurüd, aus der Einem irgend ein alter, ruinen—
bafter Klang aus irgend einem Minftrel, Bernard von Venta—
dour, Fulco oder Marcabrun entgegentönt. Vor einigen Tagen
fuhr ih in das. wirflibe und wahrhaftige freuzfahrende Mittel:
alter ein. Schon jeit lange winkte mir die Tour de Constance
vom Rande des ſüdöſtlichen Horizontes fo jonderbar, fo geheim:
nißvoll wie eine alte, illuftrirte Chronik mit goldenen Spangen
und rothglühenden Bildern. Der alte Thurm blidt gerade in
mein Fenfter, und wenn die Phantasmagorie der hiefigen Luft:
täufhungen beginnt, rüdt er mir gerade auf den Leib, daß ich
glaube, ihn mit Händen faſſen, aus meinem Fenfter auf feine
Binnen fteigen zu können. Ueber feinen Rüden herüber lächelt
dann das blaue Meer, wie das Auge eines Käthchens, das ihrem
Nitter nachläuft.
So machte fih denn endlich die ganze Kolonie von Latour
de Farges an einem jchönen Sonntagmorgen auf. Die Eifen-
Zweites Kapitel. 85
bahn trug uns bis Lunel, von dort aus der Omnibus nad)
Marfillargue, dem reizenden Dorfe, bevedt von Ahornbäumen,
gewaltigen Linden und überall wuchernden Feigenbäumen. Die
Gärten laden im Schmucke taufendfarbiger Blüthen, und ba:
zwiſchen, in reich angelegten Spaziergängen, treiben fich die
Bauernjungen und Mädchen umher, die heiterer und wohlha⸗
bender ausſehen, als deutſche Reichsſtadtbürger. — Aber bald
hinter Marſillargue beginnen die ungeheuren Sümpfe, die ſich
ſüdlich bis ans mittelländiſche Meer, und längs der Küſte gegen.
Oſten hin über die rechte Rhonemündung, über das Rhonevelta
felbft, die Camargue bis gegen Arles ausdehnen. Vor wenigen
Jahrhunderten noch war diejes Land von den Wellen des Meeres
bedeckt; fie traten zurüd und ließen die Sümpfe Stehen, welche
heute die böfen Fieber ausathmen, und aus Aigues-Mortes,
dem wir zufteuerten, das machte, was es heut iſt, eine tobte
Stadt. —
So weit das Auge blidt, eine unendliche Fläche. Ueberall
wuchert das Schilfgras auf, und an feinen Rändern zittert die
Tamariske mit ihren feinen Zweigen und Blättern im Haude
des Seewindes. — In der Gamargue, dem Rhonedelta, wird
das Sand, wen auch nicht gefünder, doch fruchtbarer. Es gibt
Gras genug für die wilden Stiere, die fich dort herumtreiben,
und die trefflichen Gamarguerpferde, die hirtenlos einer wilden
Freiheit genießen gleih den Muftangs in Teras, bis fie wie
diefe von kühnen Jägern, faft auf diejelbe Weife wie in den
Prärien, eingefangen werden. — In neuerer Zeit verſuchte man
dort Reißpflanzungen anzulegen; der Verfuch ijt mißlungen, doch
gibt man die Hoffnung nicht auf. — Aber auch in der Nähe
von Aigues-Mortes (Aquae mortuae) ift das Land nicht eigent⸗
lich unfruchtbar, denn hier bedarf die Vegetation kaum des Bo⸗
dens, die Sonne allein genügt ihr. Der Boden ſcheint nur da
zu ſein, um dem Pflanzer anzuzeigen, wo er die Früchte zu
ſuchen hat von dem Samen, den er im Frühling ausgeſtreut.
Denn da, wo das Meer anſtatt des Sumpfes Flugſand zurück—
86 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
gelafjen bat, jtreut der Bauer doch jein Getreide aus, und, obwohl
feine Spur von Dammerde zu finden, nad wenigen Wochen
bringt ihm das Sandfeld die reichſte Ernte. Die Eonne allein
zieht fie groß; die Erde hat dabei nichts zu thun. Nur einen
Feind hat der Bauer zu fürdten, und das ijt der Wind, ver
ihm leicht Feld und Samen davontragen kann. Darum wenn er
jeinen Samen ausgejtreut, bevedt er ihn mit Stroh und dieſes
mit Brettern, und läßt jeine Saat jo lange unter der ſchützenden
Dede, bis fie hinveihend Wurzel geſchlagen. Freilich gegen das
Meer, das feine ziihenden Wellen manchmal im Sturme auf
jein altes, verlafienes Gebiet wirft, Tann er fie nicht ſchützen.
Nach langer Fahrt dur hirnverbrennende Sonnenhige und
auf einer Straße, die zwiichen den Sümpfen rechts und links
wohl Mühe hat ihre Solivität zu bewahren, kamen wir durch
den Thurm la Carbonniere, ver ſich plöglich in den Weg jtellt,
aber die Weiterfahrt durch eine hohe gothiihe Wölbung geftattet.
Er ift hoch und breit und in allen jeinen Dimenfionen gewaltig ;
nur der Reſt eines Vorwerkes, hat er doch das Anfehen eines
PBalajttrümmers, wie er in allen feinen Theilen, Zaden und
Parapeten und Wölbungen auf Sorgfältigjte ausgearbeitet ift.
Man bat nicht lange Zeit, ihn zu bewundern, venn plöglich biegt
man um ein Gehölz, das fich auf Heiner Höhe aus dem Sumpfe
erhebt, und da liegt Aigues:Mortes, die fabelhafte, wunderbare,
todte Stadt. —
Da jteht fie mit ihren dunklen, jonnenverbrannten Mauern,
mit ihren Thürmen und Zinken und Zaden, die Stadt aus dem
dreizehnten Jahrhunderte, fo ganz, jo wohl erhalten, jo unbe:
rührt, al3 hätte die Zeit eine Glasglode darüber geftellt. Die
Sümpfe find ein fürchterlihes Vorwerk, und die Fieber, die auf
ihren Thürmen und Zinnen ſitzen mit weithin treffendem Pfeile,
eine furdhtbare, unüberwindlihe Bejagung, der Fein Feind zu
nahen wagt.
Mir fuhren dur das voppelthürmige, hochgewölbte Thor
ein. Auf einen Nugenblid wird vie mittelalterlihe Jllufion von
Zweites Kapitel. 87
ven modernen Häufern verwiſcht. Aber ihre Anzahl ijt zu Klein,
fie jelbjt zu unbedeutend, als daß man lange an fie denten
tönnte. Sie verfhmwinden wieder und werden wie Heine Sand—
hügel zu Nichts vor den gewaltigen Mauern und Thürmen, vie
fie überall überragen. Sie jheinen nur für einen Moment da
zu fein und werden wieder verjchwinden wie die wenigen ſchwäch—
Tihen Menſchen, die ebenfalls fremd und nicht hierher gehörig
zwifchen ihren Gaſſen umberjchleihen. Zeigen es doch die großen,
grasbewachſenen Flächen in allen Eden und Enden, daß fie viele
Stadt des eijernen Zeitalter nicht auszufüllen vermögen. —
Wir verließen dieſe hinſiechende, moderne Welt und vertieften
uns ins Mittelalter. Durch eine kleine Pforte, über einen langen
ſteinernen Gang gelangten wir zur Tour de Constance, einem
maſſenhaften Thurme, der ſich, mie für die Ewigkeit gebaut,
außerhalb der Ringmauern, wo jie ein Halbrund bilden, wie
eine riefige Schildwache erhebt. Ein weiter, hoher, runder gotbi:
iher Saal nahm uns auf. Durch jhmale, kaum eine Hand
breite Rige fiel durch die zehn Ellen diden Mauern ein jpärliches
Licht, das, wie Mondſchein auf Sümpfen, am Boden hinkroch. —
Eine höchſt zierliche Wendeltreppe führt erjt auf die Galerie und
dann in einen zweiten, oberen Saal dejjelben Styles, von der:
jelben Größe, mit derjelben gewaltigen und eleganten Wölbung.
Nur daß im oberen Saale vie ſchöne gothiſche Salerie fehlt. Von
va gelangten wir auf die Platform de3 Thurmes, von welchem
fih am weftlichen Rande ein kleines Thürmchen erhebt, das mit
feinen Eifengittern einft der Pharus des Hafens geweſen, als
Aigues:Mortes noch nicht todtes Waller war und das Meer
friegerbeladene Schiffe aus und zu feinen Mauern trug. — Denn
die Stadt ijt vom heiligen Ludwig nah dem Vorbild Damiette’s
gebaut und zum erjten Kriegshafen des ſüdlichen Frankreichs
gemacht worden. Hier jchiffte er ſich auch zu feinen beiden Kreuz:
zügen ein.
Mie weit fliegt das Auge von der Höhe diejes Thurmes!
Im Norden und Weiten wird e3 in weiter ferne von den blauen,
88 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
mit rojenfarbenem Schleier überhangenen Bergen der Cevennen
aufgehalten, aber gegen Süden und Oſten fliegt es ins Unbe:
gränzte hinaus, über die Flächen der Gamargue, entgegen dem
Silberbande des großen Kanals, der von St. Gilles herablommt,
über die Sümpfe und Nhonemündungen, und endlich weit hinaus
ing heilige Meltmeer, das mit feinen weißen Segeln wie mit
wehenden Tüchern herüber grüßt und dazu mit blauem Auge
lächelt und die todte Pracht zu unferen Füßen vergeflen madht.
Aber immer wieder ſenkt ſich der Blid nah unten, nach dieſem
Stüd Mittelalter, das die eilende Zeit hier in der Einſamkeit
auf ihrer Flucht vergefien hat. In einem länglichen Viered, das
nur auf der Weftjeite faum bemerkbar eine Biegung macht,
dehnen fich die alten Mauern mit ihren Galerien, Zinten, Pa:
rapeten, Schießſcharten, Erfern, Treppen,. Thoren und Thür:
men. Bon lepteren zählten wir neunzehn, die einzeln oder ge:
paart ji in gleichen Entfernungen von einander erheben. Alle
find ſie mit gleiher Sorgfalt ausgeführt, alle mit NRofetten,
jteinernen Pflanzen und Berihlingungen, mit dem phantaftijchen
Gethier und mit all’ dem Echmude der gothiihen Kunſt geziert.
Einen Theil des inneren Steingeländes am Walle ausgenommen,
fehlt vom urjprüngligen Bau vielleicht fein Stein, vielleicht
nicht zehn Bierratben. Unbeweglich wie jhon jeit Jahrhunderten
iheinen die Quadern nod Jahrhunderte aufeinander liegen und
zu einer jeljigen Maſſe verwachjen zu wollen. Auf der Wande-
rung, die wir von der Tour de Constance aus auf den Gale:
rien der Mauern durch die Thürme rings um die Stadt antraten,
ſchien es uns, als bejichtigten wir einen Bau, deſſen großer
Werkmeiſter erjt gejtern Zirkel, Blei: und Winfelmage aus der
Hand gelegt. Nur die Eidechslein, die im Sonnenbrande jich
wärmten und und über den Weg huſchten, und die Feigenbäume,
die groß und ftattlih wild aus den Mauern heraus machen,
ohne einen Stein zu verrüden, zeigten uns, daß wir über einen
längjt verlaſſenen und menjchenvergefjenen Bau dahinjchritten. —
In einem der Thürme, der wie alle andern mit einem prächtigen
Zweited Kapitel. 89
Saal mit Kamin, beimlihen Fenfternifhen und Bänfen ver:
jehen und fo wohnlich anzufhauen war, als hätte noch geſtern im
Kamin die trauliche Flamme geprafjelt, machten wir nach mehr
al3 halbjtündiger Wanderung Halt, um unfer Frühſtück einzus
nehmen. — Der franzöfifhe Dichter, der mit ung war, nachdem
er ſich mit einem Glafe Lunel geftärkt, ſetzte ſich auf eine der
Bänke und begann mit einem Male folgende Gejhichte von
Aigues-Mortes zu erzählen:
Der Tod, wie Sie wifjen, gehört.ganz eigentlich unferer Erbe
an; er iſt durch und durch irdiſch; der Tod lebt und liebt und
zeugt wie unfereind. — Er hat Weib und Geliebte wie unferein®.
Eine feiner liebſten Geliebten ift die Belt; fie wohnt im gelobten
Lande, in einer Höhle am Rande des todten Meeres, wo er fie
ganz behaglic eingerichtet hat. Die Zeit der Kreuzzüge war für
die Peit eine gute Zeit; liefen ihr doch von allen Enden ber
Melt die Opfer in den Nahen, und wie bleib und mager fie
geweien, ſie wurde plöglich ftarf und did und gebar ihrem
Gatten, dem Tod, alljährlich ein Junges. Die Kinder der Belt
aber find die Fieber: das intermittirende Fieber, das gelbe
Fieber, das Nervenfieber ꝛc. Da ihre Familie fo heranwuchs,
wußte jie nicht mehr, was mit ihnen zu thun, wie fie zu bejchäfti:
gen, und vor Allem, wie fie zu nähren. Bejonders machte ihr
ihr Jüngſtes, ein Heiner, ſchwächlicher, blaſſer Zunge mit hohlen
Wangen und ſchwarzen Haaren, viele Sorge; er hatte einen
großen Thatendurft, und doch blieb ihm im Morgenlande, wo
feine Brüder angeftellt waren, nichts zu thun übrig. — Denn
der Vater Tod, der jo fchredlich viel zu thun hat, pflegte die
Kleinen zu beſchäftigen und fih von ihnen hülfreih an die Hand
gehen zu lafjen. Eines Tages, da er wieder feine Geliebte, die
Peit, bejuchte, klagte fie ihm die Noth, die fie mit dem Jungen
batte, und fragte den Vater, ob er nicht abhelfen könnte. Der
Tod dachte nah. Da er aber von feinen beſtändigen Wander:
zügen um die Welt alle Verhältniffe genau fennt, beſonders aber
alle Pläge, die vafant und zu vergeben. find, jo war er auch
90 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
nicht lange in Berlegenbeit. Er nahm den Kleinen Jungen auf
den Schooß, ftreichelte ihm die gelben MWängelein und ſprach:
Mein Herzensjunge! Nächſte Woche lichtet der heilige Ludwig
zu Damiette die Anker, um fich mit feinen Kreuzfahrern wieder
in jein jchönes Frankreich zurüdzubegeben. Es iſt wirklich ein
ſchönes Land, diefes ſchöne Frankreich; befonders ſchön find feine
ſüdlichen Küften, und auf diefen Küſten die ſchönſte Stadt ift die,
in deren Hafen der heilige Ludwig landen wird. ch ſchenke dir
diefe Stadt jammt Umgegend. Sie hat die größte Aehnlichkeit
mit Damiette und wird dich immer an dein Vaterland erinnern.
Du wirſt dich unſichtbar auf die Flotte begeben und mit dem
Könige in jener Stadt landen und dort dein Weſen treiben, wie
e3 dir beliebt. — Du fannft did auch ſchon auf dem Wege ein
wenig üben. — Wie der gute, bejorgte Vater jo ſprach, ſtand
er auf und füllte einen Schlauh mit Waſſer aus dem todten
Meere und hing ihn dem Söhnlein um. Diejes nimmft du mit!
— ſprach er weiter — du wirft den Inhalt dieſes Schlauches
rings um die Stadt ausgießen, es werden ſchöne Sümpfe ent:
jtehen und mit ihnen Dünfte und Giftblumen, und ich gebe dir
mein Wort darauf, daß dir in Kurzem die Herrihaft über Stadt
und Umgegend unbeftritten bleiben wird. — Wie der Bater ge:
jagt, jo hat der Eohn gethban, und Stadt und Umgegend ge:
hören ihm unbeftritten..— Die Wafler, die fich bier ringsum
ausdehnen, find Waſſer aus dem todten Meere — daher ber
Name Aigues:Mortes oder todte Wafler. —
Und daher werden wir das Fieber erwijchen, wenn wir uns
nicht bald aufmachen, fügte unfere vorforglihe Wirthin hinzu,
und Alles jprang auf und eilte in die Stadt hinab. — Schnell
wurde noch die Statue des heiligen Ludwig, ein fchönes Wert
Pradier's, charakteriftifch. und harmonirend mit der Umgebung,
bejehen, dann die Bemerkung gemacht, daß das Haus der armen
Freres Ignorantins das ſchönſte im Orte, dann noch die Apotheke
befichtigt, ein Haus im reinften Renaifjanceityle, das einzige würdige
neben diefen alten Mauern; dann warfen wir ung in den Wagen und
Zweites Kapitel. 9]
eilten davon. — Die hohen Thürme, die breiten Zinnen warfen
ung weitgejtredte Schatten nach, als follten wir uns noch lange
nicht dieſem ſteingewordenen mittelalterlihen Traume entwinden.
Aber ein Sonntagdvergnügling wedte ung ganz modern, indem
er ung ein Vive Ledru! in den Wagen bineinrief. Und jo
trennten wir uns von diejer Stadt, der armen Todten, die nicht
verweſen kann, die da liegt, wie eine gebannte Leiche, der Nie:
mand die Augen zubrüden und ein Ruhe bringendes Begräbniß
Ihaffen will; von dem Leuchtthurme, auf dem feit Jahrhunderten
fein Licht gebrannt, von dem Hafen, in deſſen Schooße anftatt
gewaltiger Maften ſchwächliche Schilfe ihre Häupter neigen, von
ven Prachtſälen ohne Gäfte, von den Wällen ohne Krieger.
Den 27. Mai 1851.
Bon Lunel trug mich der Dampfzug nad Nimes, wo ic
ſpät Abends ankam. — Es ift dieß mein dritter Beſuch in diefer
Stadt und gewiß noch nicht der legte; denn ich richte meine Aus:
flüge jo ein, daß fie mich meift über Nimes führen. Dieje Stadt
Frankreichs befigt ein Kleinod, das mich mit unwiderſtehlicher
Kraft, mit der Anmuth einer Geliebten, immer neu anzieht und
fefjelt, jo daß ich mich nad jtundenlanger Anſchauung nur mit
Mühe, ja mit einem gewiſſen Schmerze von ihm trenne, mit
dem Bemwußtfein, daß mir nur felten jo Schönes, fo Großes, jo
Beruhigendes auf meinen Wegen begegnen könne. — Diejes
Kleinod ift die jogenannte maison carr&e, der alte Römer:
tempel, der viel zu wenig befannt, viel zu kalt gerühmt worden
it. Diefer Tempel ijt gewiß eines der herrliditen von allen
Bauwerken, die ung die Alten gelajien, um die Welt zu jahr:
taufend langer Bewunderung zu zwingen. Das vollendete Eben:
maß, das Leben in jedem Theilchen, die Kleinheit der Mittel, um
großen Eindrud hervorzubringen, die Unfichtbarfeit jever ver:
ſtimmenden Abfiht, und endlich die heitere Ruhe, ich möchte
jagen, das Lächeln, das über das Ganze ausgegoflen, maden
diejes Heine Gebäude, das an Maſſe leicht von einem gemöhn-
92 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
lihen Bürgerhaufe übertroffen wird, zu einem vollendeten, ab:
geſchloſſenen Werte des Genies. — Bei feiner Betrachtung ſenkt
jih in das Gemüth fo tiefe Ruhe, wie fie der Grieche empfunden
haben mag, wenn er geopfert und, des gewonnenen Schutes
eines mächtigen Gottes gewiß, ſich zum Mahle fegte und den
Miſchkrug im Kreife gehen ließ. — Es lebt und regt ſich Alles
an dieſem herrlihen Baue. Nicht todt und fteinern ſtehen die
Säulen da; mit ihren Rannelirungen feinen fie nach Jahrtau—
jenden noch zu wachſen und fich zu bewegen, wie die heitere
Sonne des Südens auf ihnen fpielt, und zum Beſchauer die
melodiſche Sprache zu fprechen,* jo wie die Götter, melde grie:
chiſche Tempel bewohnten, menjhlih und melodiſch fpraden.
Man nennt den Tempel römiih; aber ich ſchwöre es, es war
ein griechifcher Meifter, der ihn erdacht und ausgeführt. O, das
fonnten die Römer nicht; fo was mußten ihre herrlichen Unter:
johten für fie ſchaffen, fowie fie ihnen die Götterbilver, die
Philoſophie, die Poefie borgen mußten, um die Blößen der ein:
gebildeten, gebildeten Barbaren zu deden, um den armen Reich:
thum zu vergolven.
Der kurze Weg über die Boulevard von der maison
carree nad) der Arena ift der Weg von Griehenland nad Rom.
Da ſtehſt du vor dem Kolofje, vor dem Rieſen, der dir mit
donnernder Stimme entgegenruft: Bewundere mich! Der blaue
Himmel Griechenlands, die göttliche Ruhe verſchwindet, und Wolfen
umziehen dein Gemüth. Nicht mehr Pindariſche Jubeloden hörft
du, oder des Demodofos herzerfreuenden Gejang, dein Herz,
wie der Miſchkrug des Griechen, „herrlicher Arbeit,” gibt nichts
mehr von feinem überjtrömenden Inhalte, um den heitern Göt«
tern zu jprengen. Es zieht ih furdtfam zufammen vor dem Win:
jeln der Opfer, das dir durch zwei Jahrtaufende herübertönt, und
du freuſt dich, wenn auch menſchlich, doch ſchadenfroh, daß
der blaſſe, goldlodige Nazarener diefem blutgenährten Unge:
beuer, daS man Rom nannte, mit feinem fanft fchreitenden
Fuße den Kopf zertreten. Freudig ruft du aus: Das hat der
Zweites Kapitel. 93
Proletarier unter den Proletariern, das hat der Verachtete, der
Jude gethban, und mußte er jelbjt darüber zu Grunde gehen.
Ich weiß nit, war e3 diejer Kontraft zwijchen Hellas und
Rom, war e3 der Umftand, dab ich in Stalien jchon größere
Werke diejer Art gejehen — das Amphitheater machte mir nur
den Eindrud des Gewaltigen, des Ungeheuren, Mafienbaften,
das äußerlich zwingt, das der hiſtoriſchen Erinnerungen bedarf,
um das Gemüth zu bewegen. Dieje hiſtoriſchen Erinnerungen
abgerechnet, ging ich kalt — ruhig dur die Gänge und Wöl:
bungen, kroch ih auf den zerbrochenen Sigreihen hinauf und
hinunter, und wurde nicht einmal durch die Engländer geitört,
die auf dem oberiten Rande ſaßen und geiſtlos auf die grasbe:
wacjene Fläche in der Tiefe hinabitarrten. Wie hätten fie
mich vor der maison carree beleidigt! Die Arena von Nimes
ift eine der bejterhaltenen, und man fann bier befjer al3 in
Verona und Arles die Einrichtung diefer Theater jtudiren; man
fann fogar erkennen, auf welche Weiſe fie dur hydrauliſche
Werke zu Naumachien verwendet wurde. — Die Behälter für
die wilden Thiere, wie für die Sklaven find volllommen erhalten,
ebenjo die unendlichen Gänge und die Thore, von denen man
eines ala das Thor des Proconfuls, das andere als das Thor
der Veitalinnen bezeichnet. Ya, in den Sigreihen, obwohl großen
Theils zerjtört, bemerkt man noch die verſchiedenen Abtheilungen,
wie fie für die verfchiedenen Bürgerflafjen bejtimmt waren. Die
Sklaven jagen, wie unſere Proletarier, auf der höchſten Höhe,
im Paradiefe, Dort oben befinden fich noch die durdlöcerten
Steine für die Stangen, welche das Leinwandzelt trugen, um
die Zuſchauer vor der Sonnenhige zu hüten. Es bedurfte gewiß
einer jehr Zunftwollen Vorrihtung, um das Theater, welches
30,000 Zuſchauer faßte, mit einer Leinwanddede zu überziehen. —
In den Gängen fieht man noch die gewiſſen Inſtitute, die zu den
Heinen und niedrigen Bequemlichkeiten des Lebens nothwendig
find. Bedenkt man, daß ſich diefer ungeheure Bau fo Eonferpirt
bat, obwohl, wie bei allen großen römischen Werfen, jede
94 Tagebuch und Languedoc aus Provence,
Gement fehlt, und die Steine fih nur durch ihre eigene Schwere
auf einander erhalten; — bedenkt man ferner, welcher Hebel
und Maſchinen e3 zu einem folhen Baue bedurfte, und fieht
man, wie zwedmäßig und ineinandergreifend bei dem großen
Eirund jeder Stein behauen, Nifche, Gänge und Windungen ſich
zu einem Ganzen, nad Einem Mittelpuntte jtrebend, zufammen:
fügen: muß man die Römer als große Mathematiker und als
die energijchiten Baumeijter der Welt bewundern, wenn man
ſich auch eine Viertelftunde vorher überzeugt hat, daß es ge:
ihmadvollere, erhabenere gegeben.
Die anderen römifchen Denkmäler, die Bäder der Diana,
an der waflerreihen Fontaine de Nimes, die jogleih an ihrem
Urfprunge einen förmlichen Fluß bildet, und die Porta Augufti
haben eigentlih nur noch antiquarifhen Werth. — Es find zu
Ende gehende Ruinen, die nur noch in einzelnen Theilen, in
MWölbungen, Moſaiken und Kleinen Verzierungen mancherlei Be:
lehrung bieten. Die Munizipalität der Stadt und mit ihr der
Architekt des Departements, Herr Feuer, ein Freund unſeres
Semper, den er als Dekorationsmaler beim Drespener Theater:
baue unterftügte, thun heutzutage alles Mögliche für Erhaltung
der antifen Monumente, Bor einem halben Jahrhunderte war
e3 anders; da wollte der Gemeinderath in einer Kleinen Geld—
lemme das Material der Arena an den Meijtbietenden verkaufen,
und vor ungefähr fiebenzig Jahren wußte Nimes jelbit nicht,
welch ein Denkmal römischer Gemwalt e3 in feinen Mauern be:
jige. Die Arena war nit nur ringsherum von den jchlechtejten
Gebäuden umjtellt und verjtedt, auch im Innern hat eine Be:
völferung von beinahe fünftaujend Einwohnern überallhin in
Logen und Löwenzwinger und Gänge und Schauplaß ihre Nejter
gellebt, jo dab vom eigentlihen Baue beinahe fein Stein zu
jehben und er jelbit ganz und gar vergejlen war. Heutzutage
geht nun wieder die Manie für die Antike ins Lächerliche. Die
guten Bürger von Nimes wollen Alles antif haben; jo haben
fie jih auch, und zwar in nächſter Nähe der maison carree,
Zweites Kapitel. 95
ein antifes Stadttheater gebaut, das fich neben dem griechijchen
Tempel wie eine Ode vom Leipziger Magifter Minktwig neben
einer Pindariſchen ausnimmt.
Eines der ſonderbarſten Gebäude, da3 man nur jehen kann,
it die Tour-Magne (turris magna), die fih auf einem Berg:
rüden, nördlich von Nimes, hoch in die Quft erhebt und Stadt
und Umgegend beherrſcht. Seit Jahren und Jahren frabbeln die
Antiquare an dem Steinhaufen herum, und es geht ihnen, wie
bei den Pyramiden: fie wiſſen nit, mas daraus zu maden.
Was jollte die Tour:Magne nicht ſchon Alles geweſen fein: eine
Warte, ein Fort, ein Grabdenkmal, ein Getreidemagazin, ein
Waſſerthurm, ja jogar ein Pharus in Mitte des Landes! —
Nicht ein Steinhen mill das Geheimniß dieſes merkwürdigen,
bizarren Baues verrathen; da jteht er ftumm und dumm und
macht eine verzerrte, höchſt unregelmäßige Grimafje auf jeine
Unterjucher. Nicht einmal, ob’3 ein Römer: oder Gelten: oder
mittelalterliher Yeudalbau ei, iſt herauszubringen. — Auf den
eriten Blid, bejonders wenn man ind Innere tritt, möchte man
glauben, es habe ihn irgend ein wildes Volk in feinen erjten
Anfängen, ohne Begriff von Zirkel und Linie roh und plan:
[08 al3 einen Berg aufgehäuft und dann in diefen Berg eine
Höhle gegraben. In der That ift es Einem, als ftände man
in einer der Grotten, wie man fie im Languedoc jo häufig
findet, und unwillkürlich fieht man fi nad Stalaltiten um.
Da ift von einem Ebenmaße nit die Spur. Bald rund, bald
edig, bald in breiten Winfeln, bald ſchmal und finfter jpringen
die Mauern toll und verwirrend vor und zurüd. — Nirgends
ein Ruhepunkt, nirgends ein Anfang oder ein Ende. Es iſt wie
der Traum eines wahnfinnigen Baumeifters, in deſſen Kopfe fich
alle Style und Formen wild und dunkel durdeinandertreiben.
Aber fteigt man die moderne Treppe hinauf und hinaus an eine
Art von Baluftrade, jo fieht man wieder zierlihe Pforten, regel:
mäßige Winkel, fhöne Verzierungen, funftvoll behauene Steine,
die alle von mehr al3 bloß ahnungsvollen Anfängen zeugen, und
96 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
e3 jcheint, al3 hätte ein Barbar den Bau begonnen und ein
Meiiter ihn vollendet. — Auf diejer Baluftrade vergikt man
leiht, auf welch wahnſinnigem Geftelle man fich befindet. —
Zu Füßen liegt das fchöne Nimes, von dem man durd ein
junges Pinienwäldchen getrennt ift; links und uns im Rüden
die Gevennen, binter denen eben vie Sonne fchlafen geht und
die kahlen Berge in violette Schleier hüllt — recht3 die weite
Ebene und die Rhone, der das grüne Wafjer der Fontaine de
Nimes langfamen Schrittes entgegenwandelt, wie eine römijche
Dame der Verfallzeit dem fiegreihen Barbaren des Nordens,
und und gegenüber, jhon in abendliches Grau verſunken, die
Alpen der jchönen Provence und die Kalkberge, hinter denen
Avignon von alter Herrlichkeit und alten Gräueln träumt.
Don der Tour:Magne ftieg ich durd das Pinienwäldchen
hinab auf den öffentlihen Spaziergang, der fich breit und grün
von den Bädern der Diana längs der Fontaine der Stadt ent:
gegendehnt. E3 war Sonntag. Unter den ungeheuren Kajtanien:
bäumen, wie fie nur die übliche Sonne am Ufer eines Fluſſes
großziehen kann, fpielte die Militärmufit Lanner'ſche Walzer,
ipazierten die Bewohner von Nimes oder faßen mit ihren Mädchen
und Frauen an den Tifhen und tranfen den füßen Wein des
Südens. Auf den Waſſern tummelten fich leichte Kähne und
flangen Lieder in der fühen provenzaliihen Mundart. — Die
Mädchen waren alle nad der Gitte de3 Landes in einfaches
Schwarz gefleivet; das philiftröfe Häubchen und das Spitzentuch
am Halje waren das einzige Helle an ihrem ganzen Anzuge. Um
ven Hals trugen fie, wie es bier Mode, eine, zwei bis drei
goldene Ketten. Eine ſolche, oder auch eine filberne fiel vom
Gürtel herab und trug eine Scheere, einen Schlüfjel, lange
Nadeln u. dgl, meift von Silber, oft fogar vergoldet. — Man
hält hier und im Lande viel auf diefen Schmud, und glüdlicher:
meije ift nur jelten ein Mädchen fo arm, daß es ſich ihn ver:
jagen müßte. Alles Bolt ſah mwohlhabend und heiter aus; be-
ſonders die drallen, vollen Mädchengeftalten mit rofigen Wangen
Zweites Kapitel. 97
auf braunem Grunde und dunfelglühenden Augen. Doc ift e3
noch nicht der vollendet ſchöne Typus, den ich fpäter in Arles
fennen lernen jollte, und in Beaucaire und Taradcon, die wahr:
jheinlih von Arles aus veredelt worden find.
An demjelben Tage babe ich noch die neuerbaute große Kirche
beſucht. Es fcheint den Nimefern mit dem byzantinischen Style
beiler zu gelingen, als mit dem antifen. Wenigftens zähle ich
diefe Kirhe, wenn ih St. Guilhem du Defert ausnehme, zum
Schöniten, was id in diefem Style geſehen. E3 it hier Alles fo
rein, jo ganz im Geifte diefer Form, als wäre diefe Kirche gleich:
zeitig mit jenem Monumente erbaut worden. Harmonijch mit dem
Baue jtimmen die enfauftiihen Malereien Flandrins,! des beiten
Heiligenmalers Frankreichs, wie man fi in Baris in den Kirchen
St. Mery und St. Germain de Pre und St. Vincent de Baul über:
zeugen fann. Schade, daß die Mittel der Stadt nicht ausreichen,
die ganze Kirche von dieſem Meifter ausſchmücken zu laſſen.
Schade, daß er anjtatt des Eoftipieligen Goldgrundes blauen
anbringen mußte, und dreimal Schade, daß ſich aud hier das
Unzulänglide und Unzuverläfjige der Enkauſtik bewährt; denn
überall dringen ſchon die weißen Fleden durch den blauen Grund.
Ich hebe vorzüglich das Hauptbild über dem Hochaltar, „Chriſtus
zu Throne, vor ihm ein König und ein Sklave knieend“ als
- Kompofition und die Himmelfahrt Pauli ala Kompofition und
Malerei hervor. — Leider reicht die Figur Chrifti nicht hin, den
ganzen Raum der Wölbung auszufüllen; aber der Maler hatte
fie für den goldenen Grund und nicht für den blauen berechnet,
was eine wejentliche Veränderung in der Wirkung hervorbringt.
— Auch fehen die beiden Apoftel rechts und links, obwohl riefig,
neben der Hauptfigur winzig aus. Von den PBalmtragenden
Prozefjionen rechts und links gefällt mir die der Weiber links
befjer al3 die der Männer. Aber der Maler hatte es aud) leicht;
er nahm die Modelle aus den ſchönſten Frauen des Landes, von
! Seitdem f.
Morig Hartmann, Werke. II. 7
08 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Tarascon und Arles, Kein Meifter braucht fih jchönere zu
wünſchen. Cine berühmte Schönheit, jegt in Montpellier vers
heirathet, erfannte ich auf den erften Blick, und Jever muß fie er:
fennen, der fie nur einmal gejehen. — Mit den Männern ging es
dem Maler ſchlechter. Da es ihm mit den Frauen geglüdt, glaubte
er's wahrſcheinlich bei den Männern wiederholen zu müſſen;
aber die Männer dieſes Landes haben nicht das Privilegium
ihrer Frauen, die griechiſche Schönheit durch Jahrtauſende un—
verfälſcht den kommenden Geſchlechtern zur Bewunderung und
Anbetung entgegenzutragen. Wie ſehr ſich Flandrin Mühe gab,
jeine Männer zu idealiſiren, es find platte, moderne Herren—
föpfe mit jehr ſchönen Bärten geblieben. Ich fand einige gute
Bekannte au Paris darunter, und meine Andacht war hin.
Ein anderes modernes Kunſtwerk, das nächſtens mit großem
Pomp und allerlei Feier-Spielen in der Arena eingeweiht werden
ſoll, hat mir weniger gefallen. Ich meine die Fontaine von
Pradier.! Die Stadt Nimes, in römischen Gewanden mit einer
Mauerkrone, jteht auf hohem Poſtamente, das jih aus dem
Baflin erhebt; ihr zu Füßen figen die vier Waflergottheiten des
Departements du Gard, als männlihe und weibliche Geftalten
perfonifizirt: Die Rhone, der Gardon, der Gard und die große
Fontaine de Nimes, von der ich oben geſprochen. Alles koloſſal
in reinem Marmor ausgeführt. Bon den Flußgottheiten kann
ich nur eine loben, den würdigen Alten, den graziös und maje:
ſtätiſch daſitzenden Rhodanus. Die andern find plump und un:
beholfen. Die Hauptfigur jteht jteif da, und ihrer Gewandung
ſieht man es an, daß fie von Stein ift; ihr Gejicht, wie fehr es
fih Mühe gibt, ernjt und würdig zu ſchauen, ift ein Orijetten-
geficht in vergrößertem Maßftabe. Oü le dos change de nom
bat ſich der Bildhauer eine Faltenlicenz erlaubt, die eine’gemifle
partie honteuse unäfthetiih und unnatürlih zugleih hervor:
treten läßt. Dagegen hätten ſich die Predigten der ehrwürdigen
ı Seitdem f.
Zweites Kapitel. 99
Väter richten follen, und nicht gegen die decenten nadten Ge:
ftalten, wie es jeit Wochen wirklich gefchieht. Alle Kanzeln
wieberhallen jeden Sonntag von Anathemen gegen die Nadten
der heidniſchen Fontaine. Das ift charakteriftifch für die from:
men Bäter; gegen das Häßliche, Indecente, wenn es nur leife
verhüllt ift, haben fie nichts — aber gegen das Nadte, und jei
es noch jo ſchön, eveifern fie fich gewaltig. Es ſoll ung nicht
wundern, wenn die Fontaine in einer Nacht zur Ehre Gottes in
die Luft gefprengt wird. Denn wie lange iſt's her, daß die gute
Stadt Nimes zur Ehre Gotte8 Hunderte von Proteftanten ges
ſchlachtet; warum nicht eine heidniſche Fontaine zerftören ? Frei—
lich ift Heidenthum hier nicht jo verabfcheut wie Proteſtantismus.
Den 28. Mai 1851.
Der Weg von Nimes bi Avignon ift ſehr angenehm. Die
Eifenbahncompagnie hatte die gute Idee, die Eifenbahn rechts
und linf3 mit prächtigen Pinien, und zwiſchen den Pinien mit
Ginſterſträuchen zu bepflanzen, vie bier eine bedeutende Höhe
erreihen und deren zahlloje goldene Blüthen einen ſüßen Duft
verbreiten. So verliert der Weg das Sterile, das font allen
Schienenmwegen eigen ift. Eine halbe Stunde hinter Nimes fährt
man durch einen langen Zunnel. Ans Tageslicht gelangt, dehnt
ih gegen Süden eine prächtige Ebene, die nur von unbebeu:
tenden, mit Städten und Fleden gefrönten Hügeln unterbrochen,
während gegen Norden die Ausficht durch eine fanfte Hügelfette
abgeiperrt ift, die bis nach Beaucaire an das Rhoneufer hinläuft,
wo, wie ein Schloß an der Kette, die Burg der ehemaligen
Grafen v. Beaucaire liegt. Ahr gegenüber in Tarascon, am
linten Ufer, fpiegeln fi die gewaltigen Schloßzinnen des guten
Königs Rene in den raſch und mild worbeieilenvden Fluthen.
Bon Süden herüber grüßen die Thürme von Bellegarve, ja ein
gutes Auge kann fogar die von Arles erjpähen. Auf dem Wege
von Tarascon nad Avignon ift die Ausficht gegen die Rhone
zu ebenfalls abgefperrt durch eine kahle, jandige Hügelreihe —
100 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
von ihr aus dehnt ſich die vielbejungene Ebene der Provence,
die gegen Dften von den jonderbar geformten Alpen begränzt
wird. Die hinterften hohen Berge laufen in breiten, gejtredten
Mellenlinien hin, aber die kleinern im Vorbergrunde, mit ihren
vielfach gezadten Gipfeln, find mie die Wellen eines vom Bor:
boten de3 Sturmes aufgeregten See's zu jhauen. Sie kochen
und fhäumen — feine große Welle rollt — aber hunderte von
Heinen Spigen, dur Feine runde Thäler getrennt, jpringen,
fprigen nebeneinander auf. — In der Ebene überall blühende
Gärten — ſchon ſenkt fih die Rebe und verhüllt ven nadten
Boden, daß er bald einer friedlichen Wieſe und nicht einer
aluthenvollen Weinpflanzung ähnlih wird. — Die Einförmig-
feit der Delbäume wird durd die Cypreſſe aufgehoben, welche
ernft und dunkel, einzeln oder in ganzen Hainen aus der grauen
Umgebung auffteigt. Wie fonderbar muthet e3 unfer Einen an,
ein einfaches Bauernhaus von mädtigen Cypreſſen, von breit:
wehenden Feigen: und blüthenlähelnden Mandelbäumen um:
geben zu fehen. — Es ift doch Alles anders, als jenjeit3 der
Berge, und ich glaube dem Sage, den neulich ein berühmter
Naturforfher gegen mid ausgefprodhen: Der Menjch ift von der
Natur nicht gemacht, um im Norden zu wohnen. Heidelberg
und der Rhein und Thüringen find die Grängen; — dab in
Preußen auch noch Menſchen wohnen — das hat die Noth—
wenbigfeit oder die Reflexion, nicht die Natur gethban oder
gewollt.
Drittes Kapitel.
Avignon und ber Palaft der Päpfte — Ville-Neuvesled-Apignon — Eine jhöne
Nonne — Ruinen — Die weiße Schredendzeit — Marſchall Brune.
Vom Süden aus gewährt Avignon einen jchönen, aber
nicht außergewöhnlihen Anblid. Bon dieſer Seite gejeben,
können ſich das goldene Mainz, das fromme Koblenz, die heilige
Colonia mit Avignon mefjen, aber nie vergefje ich den Eindrud,
den diefe Stadt auf mich gemacht, als ich fie, auf dem Dampf:
ihiffe von Norden fommend, zum erften Male erblidte. — Es
war mir, mie damals, al3 ich bei Sonnenuntergang von der
Höhe von Obtfehina das Meer zum erjten Male von Angeficht
zu Angefiht geſehen. Märchenhaft! — rein märdenhaft! —
Ich wüßte feinen andern Ausprud, um den Anblid zu bezeich—
nen, wenn ſich das Dampfichiff aus ven Rhone-Inſeln bei Roque:
maure herauswindet, und plöglih der Bapftpalaft mit feinen
Thürmen auf der einen Seite in die Höhe ragt, während auf
dem andern Ufer das Fort St. Andre und die alte Veite von
Ville⸗Neuve⸗les⸗Avignon ſich am abendrothen Himmel abzeichnen
— zwiſchen beiden die uralte Brüde Pont St. Eſprit, die mit
ihrer Kapelle mitten im Strome abbricht, als wäre e3 zu viel,
wenn dieſe beiden Herrlichkeiten mit einander verbunden wür—⸗
den. — Nur wenn man die älteften, fpanifchen Romanzen lieſt,
mo aus den dunkelglühenden, melodiſchen Verſen mandmal
Namen wie Segovia, Burgos, Stadt der Löwen, Alhambra,
Santa: Fe auftauhen — daß man ihre Zinnen und moofigen
Mauern vom Sonnenbrand bejchoffen zu fehen glaubt — nur
102 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
da wird Einem mandmal jo zu Muthe, wie bei dem erjten Anz
blide von Moignon. Aber faum am Quai angelangt, muß man
fich jehr zufammennehmen, um nicht ganz in Träumerei zu ver:
finfen und dur fie Gepäd und Zeit und Geld zu verlieren.
Das Bolt von Avignon ift im ganzen Süden al3 wahres Räuber:
gejindel verrufen; man jpricht nur mit Abſcheu oder Spott von
ven Bewohnern der heiligen Stadt, und wenn ich fo die Ger
jtalten betrachtete, die in Mafle ven ganzen Quai beſetzt hielten
und, wie Raubvögel die Beute, das ankommende Dampficiff
erwarteten — las ich auf diefen Gefichtern, dab der Ruf Recht
babe. Wilde, trogige, ih möchte jagen, blutvürjtige Köpfe,
die mit ihrem braungrauen Teint und dunklen Augen fih auf
Ihmädhtigen, doch knochigen und nervöſen Körpern jchnell hin
und ber bewegen. Ich erfannte die Gefährten Jourdan's, die
königlihen Freiwilligen, die Verdets, die Werkzeuge der Congre-
gationen und der Comité's von 1815 — ich erfannte genau die
Mörder des Marichalls Brune, die Kinder fünfhundertjähriger
stirhenberrichaft. Das Schiff hatte noch nicht angelegt und war
von den Portefaix fhon im Sturme genommen. Wie wilde
Katzen fprangen fie vom Quai über das Gelände auf das Ge:
päde los — jeder bemächtigte ſich eines, zweier, dreier Stüde
und gab es nicht mehr frei; der Eigenthümer mußte ed von
ihm in die Stadt tragen lafjen und mußte ihm bezahlen, was
er verlangte. Denn die Portefair bilden eine gefchlofiene Bande,
und einer fchadet dem andern nicht. Wenn man fich ſelbſt das
Gepäde tragen wollte, fie erlauben e8 nimmermehr. — Der
Kapitän, der an den andern Lantungspläben jo mufterhafte
Ordnung gehalten, bier ftand er ruhig auf feiner Galerie, denn
er weiß es aus alter Erfahrung, daß diefem Unmefen nicht zu
jteuern. — Wir übergaben unfer Gepäd einem ſolchen Banbiten-
geſichte und fuhren im Wagen durd die Porte de lDule nad
dem durch den Mord des Marjchalls Brune hiftorifch gewordenen
Hotel de la Pofte, das fpäter Hotel du Palais Royal, jest
Palais National heißt.
Drittes Kapitel. 103
Bald nad unferer Ankunft fuhren wir durch die Stadt dem
Bapitpalafte zu, den wir alle in der Nähe zu jehen zitterten, nachdem
er und ſchon von Ferne fo fehredenerregend entgegengetreten
war. Die Gafjen von Avignon, wie aller ſüdlichen Städte,
find jhmal und dunkel, aber die Häufer, auch die Eleinften,
haben in folge ihrer Struftur aus Quadern ein gewiſſes palaft:
ähnliches Anſehen; viele find in der That auch auf den Trüm—
mern der alten PBrälatenpaläfte und Klöfter entitanden. Oft ift
man überraſcht, hinter einer unjcheinbaren Hausthüre einen
weiten, bald gothiſchen, bald italienijcben, jäulenumgebenen
Klofterhof zu überbliden. — Man ſchaut im Vorbeigehen in ein
Eiſen- oder ein anderes Maarenlager, und der Blid bleibt an
einer prächtigen Spigbogenwölbung, an einem ehemaligen Hoc:
altar, an einer architektoniſch reihgejhmüdten Kanzel hängen.
Zwiſchen Eifenitangen oder Wollenballen blidt eine wohlerhaltene
Madonna im blauen Gewande, mit dem Dolch im Herzen, ber:
por. — Die Place de la Comedie ift der einzige große Platz der
Stadt — er ilt von hübſchen Privatgebäuden, von Kaffee:
häufern, vom Hotel de Ville mit feinen hundert Säulen und
feinem gothifhen Thurme aus dem vierzehnten Jahrhunderte,
und vom neuerbauten Theater, das dem Architekten Feucher
Ehre macht, jhön und malerifch umgeben. Des Abends treibt fid
bort die Bevölkerung aller Klafien umher. Bon bier nur no
eine kurze Strede, und wir ftanden vor dem Palafte der Päpſte.
— 63 ijt ein babylonifher Bau! — Groß, ungeheuer, ſchrecken—
erregend. — Vielleicht vor feinem andern Gebäude Europa'd
empfindet man biefen Schauer. Hoc aufitrebend von der höch—
jten Höhe des Kalkberges, an dem Avignon liegt — breit und
verfchloffen, mit wenigen und ſchmalen Spigbogenfenftern, mit
einem Thore, da3 troß jeiner Höhe Klein erfcheint im Verhältniß
zum Ganzen — drüdt ein geheimnißvolles Schweigen auf dieſe
Mauern und umgibt jie mitten im hellen Sonnenlichte des Sü—
dens eine Art von unbegreifliher Naht. Man fieht es ihnen
an: dur ihre Dide drang der Nothruf der verfchmachtenden
104 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Völker nicht hinein, drangen die Schreie priejterliher Orgien,
ob fie nun in Bachhanalen oder im Foltern der Glaubensopfer
bejtanden, nicht heraus. Diefe Mauern find des Grundes wür—
dig, auf dem fie ruhen. Johanna von Neapel erfaufte mit
Avignon die Abjolution für die Sünde des Gattenmorded. —
Tritt man in den ungeheuren Hof, in die gothifchen Säle, die ſich
einer über dem andern hoch empormwölben, auf die breiten Trep:
pen, jo erkennt man, wie die Bewohner dieſes PBalaftes von ihrer
Riejenhaftigfeit überzeugt waren. Die Dide der Mauern würde
jedem Bombenjturme widerſtehen, jomwie fie bis jegt der Zeit
mwiderjtanden haben. Das ganze ungeheure Gebäude ohne
Symmetrie und äußerlich erfennbaren Plan, ohne Sonnenblid,
ohne einen einzigen freundlich jchauenden Winkel, mit feinen
edigen Thürmen, Sinnen und Schießſcharten und Schwibbögen,
jteht da, als wäre es von Cyklopen aus einem einzigen Fels:
jtüde, au8 einem Gebirge gehauen worden. — Doch ift es nicht
auf einmal entftanden; Ein Menfchenalter, der Wille Eines
Menſchen reicht nicht hin, ein ſolches Merk aufzuführen. Jeder
ver bier reſidirenden Päpfte hat etwas zur Erweiterung de3 im
14. Jahrhundert angelegten Baues gethan: Clemens V., No:
bann XXI., Benedikt XII., Clemens VI., Innocenz VI.,
Urban V., Gregor XI.
Den Thurm Trouillad oder die Glaciere befamen wir nur
von Außen zu fehen; man jagt dem Fremden, die Glaciere be:
ftehe nicht mehr, viele Einheimische aber behaupten, man mwolle fie
nur nicht zeigen. Es wäre intereſſant, zu wiflen, was man eigent:
lich verbergen will, ob den Schauplag der Inquifitionsfolter, den
Dfen, wo die Zange glühend gemacht, die Rofte, auf denen die
Keber gebraten wurden; oder den Schaupla, wo der Knabe
Duprat, der feurige Mainville, der Apollo Rovere, der fenti-
mentale Schurfe, ehemalige Maulthiertreiber, ſpäter Krapp⸗
händler Mathieu Jouve, auch Jourdan, auch Coupestäte ge:
nannt, — die einen ihrem Gotte, die andern ihren Gögen in
ver Naht vom 16.— 17. October 1791 Opfer ſchlachteten. —
Drittes Kapitel. 105
Diefer tonifhe Thurm hat nur Eine Definung — dem Himmel
entgegen. Man jollte das Gejchrei der Geſchlachteten oder Ge:
folterten nicht in der Stadt und nicht nebenan in den Ge:
mächern der Karbinäle, Legaten und ihrer Courtifanen bören ;
e3 mußte fih an der Wölbung breden und ſchwach über dem
Palafte als ein Seufzer verbauen, den der Schritt der Wache
auf der Zinne übertönt. — In diefem Thurme verfeufzte auch
der arme Volkstribun Rienzi fein Leben und büßte, wie Huf,
jein Vertrauen auf ein Papſtwort. — Gerne drüdte ih mid an
diefem Thurme vorbei und mar froh, daß uns nicht das alte
Geipenft von einem Weibe, das ich im Hofe umberichleichen
gejeben, begleitete. Die Alte hat die Schreden jener Nacht von
91 miterlebt und erzählt fie gerne. Wozu die Erzählung? —
Man kann e3 ſich denken, was ein wüthendes Volk vermag,
das vier Jahrhunderte hindurch einen Thurm wie die Trouillas
betrachtete, am andern Ufer feines Fluſſes ein freies Volk fieht
und an feinen Mauern einen Anſchlag, in welchem der Papft
die Wiederherftellung der Inquifition gebietet. — Auf ſolchem
Boden müſſen ſolche Thaten wachſen. — Jourdan Coupe-töte
war vielleiht um fein rothes Haar jchledhter, als irgend einer
der Kardinäle, die dieſe ville carillonnante, mie fie Rabelais
nennt, bewohnten.
Einen Moment Ruhe von den Schreden gewährt ein hohes
Thurmgemach, in welchem fi noch Refte alter Fresten befin-
ven; ſchöne Bilder voll Naivität, wie fie den großen Befreiungs:
und Vollendungsperioden Mafaccio’3 und Raphael's vorher:
gehen. Man gibt fie für Giotto's Arbeit aus; es find Werte
jpäterer Maler, die auf dem Wege der Befreiung ſchon fort:
gejchritten waren. . Die Figuren, obwohl ebenfo naiv wie die
Giotto’3, find doch ſchon meniger gebunden, die Geſichter
haben ein weicheres Oval. E3 find vollendet fchöne darunter.
Viele Figuren ftehen ohne Köpfe da, und dieje follen juft die
ihönften gewejen und von funftfinnigen Offizieren gerettet wor:
ven fein, als die franzöfifche Regierung anfing, diefe herrlichen
106 Tagebuh aus Languedoc und Provence.
Denkmäler dem Berfalle preis zu geben. Man zeigte uns noch
mehrere Gemädher, die ebenjo ausgeſchmückt gemejen jein jollen,
die aber bereit mit Kalk übertündt find. Das Schloß iſt jeßt
eine Raferne, und in den Sälen lagern die Soldaten zu Hun:
derten. Die. Säle find zwar der Länge wie ver Höhe nach dur
eingeflidte Mauern und Fußböden zweifach und dreifach getheilt ;
doch reicht ein Viertheil des Raumes, den man auf einmal über:
ſehen fann und in dem vielleicht eine ganze Compagnie Platz
findet, bin, won der ungebeuren Ausdehnung und Höhe diefer
gothiſchen Wölbungen einen Begriff zu geben.
An den Papitpalait lehnt ſich die Kirche Notre-Dame des
Dons, welche die Grabmäler zweier Päpſte enthält. Intereſſant
an ihr iſt beſonders der Eingang mit ſeinen ächt römiſchen
Säulen, Ueberreſten eines römiſchen Tempels, auf deſſen Grunde
die Kirche aufgeführt ſein ſoll. An die Kirche ſchließt ſich der
ſchöne Spaziergang mit ſeinen prächtigen Bäumen, mit ſeiner
Terraſſe und der Statue des Mannes, der den Krapp ins Land
brachte, deſſen Kultur jetzt ſo viele Einwohner des Landes er:
nährt und den Soldaten ihre Hoſen färbt. Ich habe den Namen
dieſes großen Mannes vergeſſen. — Die Ausſicht geht von hier
der Rhone entgegen, faſt bis nach Orange, dem Stammſitze
der Oranien, hinüber nach Ville-Neuve-les-Avignon und rück—
wärts über das herrliche Land der Provence, bis an die See—
alpen und den Mont Ventou, der ſeinen gewaltigen Leib in
violette Gewande hüllt, gleich einem Kardinale. — Dorthin
gegen Nordweſten liegt Vaucluſe, das wir ſehen müſſen.
Dom Schloſſe aus fuhren wir um die Stadt. Die Feftungs:
mauern, ringsherum mit dem fehönen Kranze der Madiculi,
wie wir fie an den Befeſtigungswerken des 14. und 15. Jahr⸗
bundert3 fennen, befränzt, ift vollflommen erhalten und faft
ganz fihtbar; nur hie und da wächſt aus der Mauer, wie aus
der alten Zeit die neue, ein modernes Häuschen heraus, und
an diefem hinan weißblühende Mandel: und rofige Pfirſichbäume.
Diefe Wohnungen fehen jo lieblic ivylliih aus, dab man das
Drittes Kapitel. 107
Haus des Papſtes vergikt, und das thut Noth, wenn man fich
an den Herrlichkeiten Avignons jo freuen fol, wie fie e3 ver:
dienen.
An einem jhönen Maiabende,, während meines zweiten Be-
fuches, führten mic meine Wanderungen über die Kettenbrüde
und die Inſel aufs jenfeitige Ufer, vorbei am Fuße des
ruinenhaften Schlofjes, nah Ville-Neuve-les-Avignon. Mein
guter Stern hatte mich hierher und auf die Höhe des Fort St.
Andre gebraht — denn von diefem Standpunkte aus fieht
man Avignon erft recht in feiner ganzen Schönheit: die Rhone
als Vordergrund, den Palaſt größer und dräuender, als wenn
man fih in feiner Nähe befindet, und doch die harten Züge
durch die Ferne und das janfte Abenvlicht gemilvert; im Hinter:
grunde die Wellenlinien der Brovencer Berge mit ihrem Senior,
dem Bentour, in der Mitte. Ich dachte an Victor Hugo's tief-
finnigen Sag: Es ift doch befler, in Deug zu fein und Köln zu
jehen, als in Köln zu fein und Deuß zu ſehen. Ich ratbe
Jedem, der Avignon beſucht, ſich jogleich nach feiner Ankunft
aufzumachen und diefen Punkt aufzuſuchen; dann erft wird er
wiffen, in welcher Welt er fich befindet. Sie ift in der That
über alle Bejchreibung jhön! Ich konnte mid) nicht fatt fehen.
Erſt jpät vaffte ich mich auf, um ald voyageur conseiencieux
nod die Merkwürdigkeiten der hinter mir liegenden Ville-neuve
zu betrachten,
Zuerft ein altes Karthäuferklofter. Sein Dad iſt fo mit
Gras und Moos bewachſen, daß man es von der Höhe bes
Berges aus für ein brach liegendes Feld halten kann. In jeinein
Innern fleben, wie Schwalbennefter, viele Heine Wohnungen,
wahrſcheinlich aus dem Schutte des alten Kloſters zufammenge-
flebt. Die ehemals prächtige gothifche Kirche ift in eine Art von
Hof verwandelt und von Wagen, Karren und Adergeräthichaften
angefüllt. Rührend nimmt fi unter diefem Geräthe ein einzeln
ſtehender Spigbogen reinjten Style aus, und eine mehr als
lebensgroße Madonna, die mit milden ſchönen Zügen und gefaltenen
108 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Händen, wunderbar erhalten, auf das Gerümpel herabfieht.
Bon Außen find die Reſte dieſes einft gewiß prächtigen Baues
theilweife von ungeheuren Weinreben bevedt. Dieje edle Pflanze
gedeiht hier ganz beſonders gut. Ich ſah einen Weinſtock, der
allein mit feinen Reben alle Fenfter dreier breiftödiger Häufer
umranfte. — Im Hotel de Ville fand ich eine Bibliothef, auf
die ih mir erlaube die Geſchichtsſchreiber der Provence auf:
merkſam zu maden. Sie ift das Geſchenk eines vor einem halben
Sahrhundert verftorbenen, reihen Gelehrten und enthält inter:
eſſante Chroniken, Manuffripte und dide Bücher alter Kirchen:
mufif, von denen manche mit den farbenreichſten, friſchglühend—
ften Jluftrationen verfehen find. Auch das Klofter und Hofpital
der barmberzigen Schmweitern befuchte ih, um das aus dem Kart:
bäuferflofter hierher übertragene Maufoleum Innocenz' VI. zu
jehben. Man bildet fich bier gerne ein, das gothiihe Grabmal
jei von hohem Alter, doch erfennt man e3 auf den erften Blick
ala bloße Kopie, die nicht über zweihundert Jahre alt fein kann.
Im Klofterhofe ſaßen einige Schweitern mit weiblichen Arbeiten
beihäftigt und genoßen der fanften Abendkühle Bei meinem
Herannahen fenkten fie züchtig die Köpfe, doch vermochte ich bei
ihrer Erwiederung meines Grußes die hohe und zarte Schönheit
der Einen zu erfennen. Ich bevauerte den Verluſt nicht, den
die Welt dur ihre Frömmigkeit erleidet, denn ein heiliger Friede
lag über fie ausgegofien; ihre Wangen waren hold geröthet, und
fie fhien zufrieden und voll innern Glüdes. Zerftreut betrachtete
ich noch mehrere alte Gebäude, an denen diefer Fleden jo reich
it, und voll Einſamkeitsgedanken wanderte ich längs des Rhone—
uferd, dur Duft und Nachtigallenlieder nad Avignon zurüd. —
Die Rhone raufchte melodiſch, die Platanen der Inſel bewegten
fich leife im fäufelnden Abendwinde, und zwiſchen ven ſchwarzen
Thürmen der Pontifere ftand ftill und friedlich der bleiche Ge-
jelle. — O jhöner Süden! Die Natur hat ihre Phantafie er:
Ihöpft, um dich mit allen ihren Reizen zu ſchmücken, und der
Menſch gab dir die traurige Gefhichte, um deiner Schönheit
Drittes Kapitel. 109
noch den Neiz der Wehmuth zuzugefellen. Ja, dieſem Lande
fieht man es an, daß ed, wie der Alte zu jagen pflegt, eine
Geſchichte habe. — Aber jede Geſchichte ift traurig. Die goldene
Zeit hatte feine Gejchichte.
Den 29. Mai 1851.
Bei meiner Rüdkunft ind Palais-National-Hotel führte uns
die Wirthin in das unglüdfelige Zimmer, in weldhem 1815 die
Unthat an Marſchall Brune begangen worden. Es ift ein weites,
ihönes, mit dunflen Tapeten ausgeſchlagenes Gemach, das in
Nichts von feiner [hauervollen Geſchichte die Spuren trägt. Die
Begebenbeit, fowie überhaupt die Geſchichte des weißen Terro:
rismus, ift in Deutſchland noch zu wenig befannt; ich will fie
hier kurz und bündig in Erinnerung bringen, wie id) fie aus
Büchern, Akten und an Ort und Stelle gemachten Erkundigungen
tennen gelernt. Die Erinnerung an die Art und Weife, mie
gewille Mächte immer und überall ihre befiegten Feinde behan—
delt, kann zu feiner Zeit ſchaden.
Marſchall Brune war auch unter vem Empire halb und halb
Republilaner geblieben. Er machte Napoleon nicht den Hof, und
wurde von ihm und den Hofleuten zurüdgejegt. So kommt es,
daß fein Name, troß feines Charakters, feiner Siege, feiner Fähig—
feiten, nicht mit dem Ruhmesglanze umgeben ift, der manden
mittelmäßigen Scaufpieler ver Faiferlihen Tuilerien ſchmückt.
Brune lächelte und tröftete fich in feiner Einſamkeit mit den ſchönen
Wiſſenſchaften; er überfegte Horaz und verzierte jein Buch der
Reifen mit Verſen. Als Napoleon von Elba zurückkam und einen
energifhen Mann brauchte, um den dur Royaliften und Pfaffen
aufgewühlten Süden im Zaume zu halten‘, erinnerte er ſich des
zurüdgefegten Marſchalls. Nur ‚mit Widerwillen verließ Brune
feine Einfamleit, aber die Rüdfiht, daß fein Vaterland, bejon:
ders im Süden, vom engliſchen Erbfeinde bevroht war, bejtimmte
ihn, den ihm angebotenen PBoften anzunehmen. Nicht ohne trau:
tige Ahnungen. Denn als er die Annahme unterzeichnete, fagte
er zu den Umſtehenden: „Mir ift es, als hätt’ ich mein Todes:
110 Tagebud aus Languedoc und Provence.
urtbeil unterjchrieben” — und ala er bei der Abreife auf der
Treppe feiner Wohnung jtolperte, rief er lächelnd, doch traurig:
„Sin Römer würde umfehren.“
Mas er während der Hundert Tage in Toulon zur Verthei-
digung des Hafens und der franzöfifchen Flotte gegen die Eng:
länder und die mit ihnen verjchwornen royaliftifchen Einwohner,
was er zur Erhaltung der Ruhe im ganzen Süden mit einer nur
Hleinen Garnijon gegen die immer mächtiger anwachjenden „Lönig-
lihen Freiwilligen,” gegen die „Verdets“ und die Agenten der
Kongregationen getban — 23 gränzt and Unglaubliche, und
man lernt es erjt jchäten, wenn man die Blutjtröme fieht,
vie glei nach feiner Abjegung im ganzen Süden zu fließen
begannen, um jede Spur von Republifanismus, Bonapartismus
und Proteftantismus vom föniglihen Boden Frankreichs fortzu-
ſchwemmen. — Aber für diefe Anitrengungen wurde auch feiner
der Napoleonifhen Angeftellten während der Hundert Tage von
den königlich und Elerifal Gefinnten fo bitter, fo fanatifch gehaßt,
wie Brune. Man that alles Mögliche, um die Bevölkerung im
Beichtftuhl wie auf der Straße gegen ihn aufzubegen. Lügen
auf Zügen, mündliche wie gebrudte, wurden über ihn verbreitet;
nicht nur fromme Priejter und königliche Freiwillige, fondern
auch hohe Damen reisten won Stadt zu Stadt, von Dorf zu
Dorf, um die in London gedrudten Lügen unter das Volk aus:
zutbeilen. Die beliebtejte unter diejen war, daß fein Anderer
als Marſchall Brune die Prinzefjin Lamballe ermordet, daß er
e3 gemwejen, der ihren jhönen Kopf auf der Pile dur die Stadt
getragen. Daß Brune in den Septembertagen gar nicht in Paris
geweſen — was lag daran?
Nah der Schlaht bei Waterloo wuchs die Kühnheit der
weißen Partei, und troß der ungeheuren Anftrengungen mußte
Brune gemwifjermaßen unter feinen Augen die Mafjacres von
Marfeille auftauchen fehen, den Anfang jener Kette von Gräuel-
thaten, die ſich fogleih nad feinem Nüdtritt über Avignon,
Nimes, Uzes und die protejtantiihen Thäler der Cevennen aus:
Drittes Kapitel. 111
dehnte. — Brune ſah feine Macht jhwinden und erwartete mit
Ungeduld den Kommiſſär Ludwigs XVII., der ihn ablöjen
jollte, und von dem-er hoffte, daß e3 ihm bejjer gelingen werde,
jeine eigene Partei nieder: und vom Morden abzuhalten. Man
wußte damals noch nicht, daß die in die Provinzen gefandten
Kommandanten und Präfelten eben jo viele Agenten waren,
welche ven Mord der Bonapartiften, Republifaner und Proteſtan⸗
ten ſyſtematiſch leiten follten.
Marquis de Niviere fam endlib in Toulon an. Brune
legte die Gewalt in feine Hände nieder, nahm Abſchied von
jeinen Soldaten, die er herzlich und eindringlich ermahnte, fich
in das Unvermeidliche zu fügen, und nicht durch erfolglojen
Widerſtand das Unglüd Frankreichs zu vermehren, und erfuchte
den Marquis um Päſſe für fih und feine Adjutanten. Diefelben
wurden ihm in aller Form ausgeftellt, und der Marichall, be:
gleitet von zwei Adjutanten, verließ Toulon in der Nacht vom
31. Juli auf den 1. Auguſt, um fih nad Paris zu begeben,
wohin er von der neuen Regierung citirt worden war. Noch vor
jeiner Abreife wurde er mehrmals gewarnt, ja nicht über Avignon
zu gehen, da ein Komplott gegen fein Leben beftehe, das in
diefer Stadt zum Ausbrud fommen jolle. Man wollte vorfichtig
jein, man wollte Maßregeln ergreifen, aber der Marquis de
Riviere lächelte und machte Vorfiht und Mafregeln zu Nichte,
indem er verficherte, er jelbft habe jchon den ganzen Weg ent:
lang das Mögliche gethan. — Aber ſchon in Air wurde Brune
von einer Bande königlicher Freiwilliger angehalten. Sie wollten
ihn nicht weiter ziehen laſſen, trog Paß und Gegenreden; glüd:
licherweife erhob der Pöbel, der fich indejlen jammelte, ein
ſolches Gefchrei von Fluchen und Schimpfen und warf jo viele
Steine gegen den Wagen, daß die Pferde, ſcheu gemacht, plög:
li ausgriffen, durch die Vollsmenge brachen und den Marſchall
in wenigen Minuten aus der Stadt und dem Angejichte feiner
Verfolger brachten. — Ein Adjutant beſchwor ihn, nun die
Route über Avignon zu verlaffen und die viel ficherere über
112 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Grenoble einzujhlagen, fich jelbit ven Schimpf und dem Lande
vielleicht ein Verbredhen zu erjparen. Aber der Marfchall ant:
wortete kurz mit der Frage: Sollen wir Furcht zeigen? und feßte
den Weg auf der Straße nach Avignon fort, wo er am 2. Auguft
Vormittags zwiſchen 9 und 10 Uhr anfam und im Hotel de
la Poste oder Hotel Palais Royal abftieg, um die Pferde zu
wecfeln und ein Frühſtück einzunehmen.
Eine neugierige Menge jammelt fih um den Reifewagen
und prüft und betrachtet ihn harmlos. Diefe Menge wird durch
die vielen Bejucher vermehrt, welche in das Hotel jtrömen, um
bei dem zufällig ebenfall® anmwefenden neuen Präfelten des De-
partement3 Baucluje, Herrn von St. Chamans, Geſchäfte abzu-
machen oder ihre Komplimente anzubringen. — In den Winkeln
des Plages jchleihen einzelne Männer umher, die fich abjichtlich
fern zu halten feinen. Sie jhmweigen und beobachten das Hotel,
den Wagen, die daran bejhäftigten Diener und die immer an:
wachſende Menge. — Plöglic tritt einer diefer Männer hervor
und wirft den Namen Brune bin, begleitet von einigen Ber:
wünſchungen, und verjchwindet wieder. Mit ihm verſchwinden
jeine Geſellen; eine plögliche, unmwillfürliche Aufregung verdrängt
die Harmlofigkeit der Neugierigen. Schon ftrömen neue Schaa-
ren aus allen Gaſſen herbei — unter ihnen viele königliche
Freiwillige. Die jchreien: Tod dem Mörder! Nieder mit dem
Republifaner! Ein junger Mann fpringt hervor und überzeugt
die Menge in einer ausführlihen Rede, daß der Mörder ver
Zamballe fih auf vem Wege zur Loire-Armee befinde und beab-
jichtige, diefe nad der Provence zu führen, um fie aufs Neue
für den Ufurpator zu erobern und den fatholifhen Glauben und
die Lilie auszurotten. — Die Menge antwortete mit dem Rufe:
Nieder mit dem Mörder! In die Rhone mit ihm!
Indeſſen haben vie Kutjcher die Pferde angefpannt. Das
Bolt ftürzt fich auf fie, fpannt die Pferde aus und jagt fie in
den Hof zurüd. — Herr v. St. Chamans fteigt auf den Plag
berab und ſucht das Volk zu beruhigen, nachdem er den
Drittes Kapitel. 113
Marſchall beſchworen, jih zu beeilen und abzureifen. Das Volt
horcht auf die Stimme dieſes Ehrenmannes, der jeine Autorität
geltend macht. Die Pferde werden wieder angefpannt, der Mar:
ſchall und die Adjutanten fteigen ein, und nad menigen Mo-
menten braust der Wagen durch das nahe liegende Thor de
VDule, am Rhonequai dahin. Der Präfekt tritt ins Hotel zurück.
Da erwacht die Wuth der Freiwilligen aufs Neue. Ihm nad!
— riefen die Einen — Durch da3 Thor von Paris! — vie
Andern. Und die Erjten, blind vor Wuth, ftürzen dem Wagen
auf dem Duai du Rhone nah und verfolgen ihn mit Stein-
würfen; die Andern, liftiger, juchen ihm durch die Porte de
Paris, an welder der Wagen vorbeikommen muß, den Vorfprung
abzugemwinnen. Der Kutſcher des Marſchalls ahnt jo etwas; er
peitſcht die Rofje, jo mächtig er kann, fie bäumen fich, dann aber
greifen fie aus, und immer gegeißelt fliegen fie jhäumend, wüthend
dahin. Er wird die Porte de Paris vor den Freiwilligen vom
Plage de lOule erreihen. Schon ift er nahe. Aber noch, bevor
der Wägen da3 Thor erreicht, ftürzen fi ihm auf den Weg
poftirte Freiwillige entgegen. Die wüthenden Thiere achten ihrer
nicht und ftürzen mitten durch; die Freiwilligen jtieben augein-
ander. Noch einmal ift der Marfchall gerettet.
Aber als fie an das Thor von Paris kommen, jpringt eine
Scaar von Nationalgarden hervor. Die Einen kreuzen die Ge:
wehre und verftellen den Weg, die Andern ftoßen mit ihren
Bajonetten gegen die Bruft der Pferde. Dieje prallen blutend
zurüd und geben vem Wagen eine quere Stellung auf der Straße,
Die Bemühungen des Kutſchers find nun umſonſt, befonderz,
da fih Nationalgarden der Zäume bemäcdhtigt haben und da der
wachthabende Offizier mit dem Degen in der Hand bervortritt
und offiziell ven Baß verlangt. — Man übergibt ihn. Er
prüft lange und lange, obwohl Alles in Ordnung, obwohl ver
Paß ein folder, daß feinem Boften das Recht zuftebt, ihn abzu-
verlangen, over wenigftens die Pflicht hat, ihn ſogleich zurüd:
zugeben: e3 ift ver Paß eines Marjchalls von Frankreich. Trotzdem
Morik Hartmann, Werke. IM. 8
114 Tagebud aus Languedoc und Provence.
prüft ihn der Offizier, Herr Verger, noch immer und madt
Umftände und ſpricht von Rüdfehr in die Stadt und prüft ihn
noch immer, als ſchon das Geheul ver herbeieilenden Freimil:
ligen von der Place de !’Dule ganz in der Nähe zu hören. Endlich
find fie da; auch die Verfolger vom Rhonequai fommen an, die
dort aufgejtellten Freiwilligen find längſt da. Mit ihnen zugleich
fommt, Böſes ahnend, der brave Präfelt herbeigeeilt, und un-
glüclicherweije der jehr ehrenwerthe Maire der Stadt, Herr Puy.
Herr Puy war Maire aus den Hundert Tagen. Was der Prä-
feft als Bourbonijt hätte gut machen können, verdarb der verhaßte,
wohlmeinende Maire. Die Freiwilligen, das Volk, von der Ver:
folgung noch mehr aufgeregt, hören nicht mehr auf die Stimme
des Erjteren, bejonders da er Dajielbe will mit Herrn Puy.
Schon ijt der Wagen gewendet. Die Wüthenden rufen: In die
Rhone mit dem Mörder der Lamballe, dem Führeg der Loire:
Armee! Herr v. St. Chamans und Herr Puy bringen e3 endlich
menigftens dahin, daß man den Wagen zur Stadt zurüdfehren
läßt, und fie gehen zu beiden Seiten und machen unendliche
Anftrengungen, um die Mörder abzuhalten, die jeden Augenblid
ven Marjchall herausreißen wollen, und erleiden mit helden—
müthiger Geduld die Steinwürfe, die von allen Eeiten nieder:
regnen. Herr v. St. Chamans blutet und iſt einer Ohnmacht nahe,
aber er hält fih am Wagen und läßt nicht ab in feinen Be:
mühungen. So geht ver Zug langjam den langen Rhonequai
dahin. Der Marſchall fist ruhig im Wagen und verzieht feine
Miene. Auf die Vorwürfe des Adjutanten, daß er fich folder
Gefahr ausgeſetzt und Frankreich nicht diefe Schmach erfpart
habe, antwortete er nur: Gie haben Recht! — das find Mörder.
So fährt der Wagen wieder durch die Porte de l Dule, fo
kömmt er wieder auf dem Plage an. Der kluge Boftillon, der
die Zügel feinen Augenblid Iosgelafjen, läßt die Freiwilligen in
dem Wahne, daß fie allein die Pferde am Zaume führen, aber
vor dem Hotel angelangt, zieht er plöglich wieder die Zügel an,
gibt einen gewaltigen Geißelichlag, und mit einem Sprunge find
Drittes Kapitel. 115
die Pferde von ihren Führern befreit und der Wagen im Hofe
des Hotels verfhwunden. Hinter ihm fallen die Flügel des
Zhore3 zu und werden jogleic verbarrifadirt. Umſonſt werfen
ich ihm Wüthende entgegen, auf die Gefahr hin, zermalmt zu
werden; das Thor jchließt und weicht allen Stößen und Hieben
nicht. Der Generalmarſch wird gejchlagen, welcher die National:
garde zujammenrufen joll, daß fie das Leben des Marſchalls und
die Stabt vor einem Verbrechen bewahre. Erjt ſpät kommen,
Alles in Allem, ungefähr 100 Nationalgardijten zujammen, die
jih vor dem Thore des Hotel3 aufjtellen. Zu ihnen gejellen
jich der brave Präfekt, Herr Buy und ein Herr Balzac. Wahr:
ih eine Heine Schaar gegenüber der ungeheuren Menge, bie
immer mehr anwächst und den Platz und die benadhbarten Gaſſen
und die Fenſter und Dächer der Häufer bejegt. — Da den
Müthenden ihr Opfer für einen Augenblid entwijcht, werfen jie
jih auf Herrn Hughes, zeitweiligen Kommandanten der National:
garde, und wollen ihn mit Jußtritten tödten. Dem Maire, dem
Präfelten und einem Major Lambot gelingt es, ihn zu retten.
Aber da Fehrt fich die Wuth gegen den Maire. Nieder mit dem
Maire der Hundert Tage! jchreit es, nieder mit ihm! Und auf
die Bitte des Präfekten entfernt ſich Herr Puy.
Indeſſen figt der Marfchall in feinem Zinmer Nr. 3. —
Es iſt dunkel; die Vorhänge find vor die Fenjter gezogen, und er
darf fich ihnen nicht nahen, denn aus den Fenſtern der gegen:
überjtehenden Häufer und aus den Zweigen der gewaltigen
Bäume vor dem Haufe zielen Hunderte von Feuerröhren nad
allen Fenjtern des Hotel3, um den Marſchall niederzujtreden,
wenn er fich jehen laſſe. Dennoch jchiebt er von Zeit zu Zeit
den Vorhang ein wenig zurüd und mujtert tiefjinnig die Menge,
die feinen Tod will. Dann fehrt er wieder zum Tijche zurüd
und liest in den Papieren, die neben einer Brieftajche darauf
zerftreut liegen. Es find die legten Briefe jeiner Frau, und er
nimmt Abſchied von den geliebten Schriftzügen.
Dur die Entfernung Puy's, die ihnen ein Erfolg jcheint,
116 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
ermuntert, jtürzen jich die Mörder, die ſich indeſſen mit Haden
und Beilen bewafinet, auf Neue gegen das Thor des Hotel3.
Aber das Thor weicht nicht; es ift gut, leider zu gut verbarris
kadirt. Major Lambot, der fich indefjen zu den Vertheidigern
gefellt und das Kommando übernommen hatte, wird mit dem
riefigen Lajtträger Guindon handgemein, aber von dieſem zu
Boden geworfen; der Präfeft eilt herbei, um dem Major beizu:
jtehen, und wird bei dieſer Gelegenheit auf3 Neue verwundet
und muß fich blutend und todmüde zurüdziehen. — Die Stür:
menden fahren in ihrem Angriff auf das Thor fort; die Heine
Schaar ver Nationalgarde ladet und treibt fie dann mit Bajo—
netten zurüd. Die Mörder heulen und fliehen. Es ift ungefähr
zwei Uhr, und da die Menge vor den Bajonetten zurückwich, ift
Hoffnung da, den Marihall zu retten. Der Auflauf, hat fich
zum Theil zerftreut; ein großer Theil it plöglich verſchwunden,
unbeimlid; jchnell. Die wadern Vertheidiger überreden fi, daß
die Menge, ihrer vergeblihen Angriffe müde, fie endlich ganz
aufgegeben, und fie denfen daran, den Wagen des Marſchalls
wieder anjpannen zu lafjen.
Da plöglic erſchallt teufliihes Jubelgeſchrei aus der Mafje
des Volkes, die ſich noch auf dem Plage befindet. Lambot blidt
erfhroden auf: die Mörder find von rüdmwärts auf das Dad
des Hotels gejtiegen und dringen dur die Dahluden und
Fenſter ins Innere. Lambot jchlägt in Todesangft an das Thor
— aber e3 ijt verbarrifadirt. Das dauert eine Ewigkeit, bis
man e3 öffnet und bis der brave Lambot wird hineinpringen
fönnen, um den Marſchall zu beſchützen. BVielleiht fommt er
doch noch zur rechten Zeit, denn an der Thüre des Marjchalls
jtehen vier Mann Chafjeurd d'Angoulême unter dem Befehle
des Lieutenant? J. B. Didier. Der fann die Mörder eine
geraume Weile aufhalten. Schon tobt e3 die Treppen herab im
Innern des Hoteld und eilt e8 lärmend, jchreiend, wuthſchnau⸗
bend durch die langen Korridore. Die Mörder fommen an der
Thüre des Marfhalls an; Herr Didier macht feine Miene, fie
Drittes Kapitel. 117
zu vertheidigen, nur eine Minute lang nod), bis unten am Thore
die Balken weggeräumt find. Kerr Didier läßt die Mörder
pafliren. Die erften, die hineinjtürzen, find der Arbeiter Fargés
und der riejige Laftträger Guindon. |
Der Marſchall ſaß am Tiſche und las in den Briefen feiner
Frau; mie er den herannabenden Lärm hörte, zerpflüdte er die
geliebten Andenken, dann ging er ruhig, ohne Miene zu veräns
dern, gelajjen den Mördern entgegen. Was wollt ihr? fragte er
jtolz und falt, Fargés antwortet ihm mit einem Piſtolenſchuß;
er jehlt aber, da der Marjchall feinen Arm ergreift, und die
Kugel fliegt an ihm vorbei, zerreißt die Tapete und bleibt in der
Mauer jteden. Guindon ftößt feinen Mordgefellen zur Seite,
indem er lachend ruft: Jch will dir zeigen, wie man e3 machen muß.
— Er tritt einige Schritte zurüd, legt feinen Karabiner an, und
mit zerfchmettertem Haupte liegt der Marfchall auf dem Boden,
Er zudte nicht mehr — fein Geficht blieb unverändert. Die
Mörder riffen die Fenfter auf und verfündeten dem Volle den
Tod des Marſchalls; ein heulender, thierifcher Jubel empfing
diefe Nachricht. — Die Menge jtürzte nun gleichzeitig mit Lambot
durch das endlich, aber zu fpät geöffnete Thor und durdhtobte
das Hotel und plünderte e8 vom Keller bis unter’3 Dad. Hierauf
famen die Autoritäten und der Procureur, um den Thatbeftand
aufzunehmen. Das Protofoll, vom Unterfuhungsrichter Berger,
dem Vater de3 Lieutenant3 vom Parifer Thore, verfaßt, lautete
jo: „Daß die Volksaufregung, welche durch ungefähr vier Stun:
ven theils in, theils außer dem Hotel ftattgefunden, den Mar:
ihall mehreremal dahin gebracht, daß er ſich jelbit, bald mittelit
einer Feuerwaffe, bald mitteljt eine Meſſers das Leben zu
nehmen verſucht habe, daß er dann gegen halb drei Uhr fi
ver Piſtole eines Chafjeur v’Angouleme bemädtigt und fi
den Tod gegeben habe, indem er fich unter dem Halje auf der
rechten Seite einen Piſtolenſchuß beigebradt.”
Man legte die Leiche des Marſchalls in einen groben Sarg,
und einige wadere Männer erboten ſich, fie in eine der Kafernen-
118 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
fapellen zu übertragen. Kaum aber traten fie mit ihrer Laſt auf
den öffentlichen Play, al3 ſchon die königlichen Freiwilligen über
fie berfallen, ven Sarg erbredhen, die Leiche heraußreißen, fie
des Leichentuches entkleiven, zerhaden, verftümmeln und über
das Pflafter hinaus auf die Brüde fchleifen, von welcher aus
fie fie dann unter Hohngelädhter und Schimpf in die Rhone
werfen. Einige Schüfle werden ihr dann ala Ehrenfalve höhnend
nachgeſchickt.
Das iſt die Geſchichte von der Ermordung des Marſchalls
Brune — eine Geſchichte, die in der Reſtaurationszeit viele ihres
Gleichen findet.
Diertes Kapitel.
Vaucluſe — Petrarca — Ein Brief von Betrarca — Die berühmte Fontaine —
Laura’ Niht-Grab — Fortund Guiran — Parteien in Avignon — Thymian —
Avignoner Romantit — Avignoner Eagen und Gedichten.
Den 1. Juni 1851.
Avignon befuht und nicht Vaucluſe gejehen zu haben, das
wäre gewiß ein Verbrechen, mit dem beladen man fich nie und
nimmer vor feinen Freunden dürfte ſehen lafjen — das hieße
ja ein empfindungslojes, aller Poeſie unzugänglihes Herz
zeigen, das nicht würdig wäre, jich je an einem Sonett ergößt
zu haben. — Ich ſchreibe dieß lachend in mein Tagebuch, mehr
als zur Hälfte aber ift es mein tiefjter Ernft. Es iſt jo Mode
geworden, über Petrarca und feine taufend Sonette und Kan:
zonen zu lächeln, ohne daß die lähelnden Leute eigentlich wifien,
warum fie lächeln — ohne das fie bedenken, welche nationale
Bedeutung diefe liebevollen Sonette an Laura für das Volk des
Dichters haben. Dante hat fein Volk die Sprache des Himmels
und der Hölle gelehrt — Petrarca gab ihm die holde Sprade
der Erde. Der aber war immer groß, der einem Bolfe eine
Sprade gegeben. Nicht viel Größeres thaten Luther und Lefling,
die Zungenlöfer. Und ſelbſt, wenn Petrarca das nicht gethan
hätte, eine treue Liebe, die das Herz eines in feiner Epoche
hochbedeutenden Menſchen dur jo lange Zeit mitten in den
Kämpfen und mannigfachſten Beihäftigungen eines vielbewegten
Lebens jo ganz und gar auszufüllen, und das von Diplomatie
und Gelehrſamkeit nicht ausgedorrt zu werben vermochte, bleibt
immer und unter allen Umſtänden rührend und achtungswerth.
120 Tagebuch aus Yanguedoc und Provence.
Daß die Liebe Petrarca's eine joldhe gewejen, möge Denen, welche
niht an Verſe glauben, ein Privatbrief beweiſen, den er an
einen Freund über jeinen Aufenthalt in Baucluje geichrieben.
Er lautet:
„lie (in Clausa-Valle) juvenilem aestum, qui me
multos annos torruit (ut nosti) sperans illis umbraculis
‘ lenire, eo jam inde ab adolescentia saepe confugere
velut in arcem munitissimam solebam. Sed heu mihi
incauto! ipsa nempe remedia in exitium. Nam et his
quas mecum adduxeram curis ineumbentibus et in tantä
solitudine nulla prorsus ad incendium accurrente, despe-
ratius urebar. ltaque per os meum flamma cordis
erumpens, miserabili (sed ut quidam dixerunt) dulci
murmure, valles coelumque complebat. Hinc illa vul-
garia juvenilium laborum meorum cantica, quorum
hodie pudet ac poenitet, sed eodem morbo aflectis, ut
videmus, acceptissima.”
Der arme Mann! — er fhämt jich jeiner Liebegliever,
aber nicht jeiner Liebe.
Mit frübeftem Morgen fuhren wir aus der Stadt der Päpite
ab; unjer Weg führte drei Stunden lang durch das bejtangebaute
Land, durch Fruchtfelder und die ſchönſten Blatanenalleen. Das
faftige Dunkelgrün der ganzen Vegetation zeugt von der ſegen—
bringenden Nähe der Sorgue, deren Quelle die berühmte Fon-
taine de Bauclufe ift und die grün und freundlich allüberall
zwiſchen Gefträud und Gehäge dem Wanderer entgegenmurmelt,
zahlloſe Mühlen und Fabriken treibt und dur hundert Heine
Kanäle ihren Segen verbreitet, ehe fie ſich, die jugendliche, von
Liebesliedern großgefäugte Nymphe, in die wilde Umarmung
des Rhodanus wirft. Sie fünnte vorher noch Manches erzählen,
die junge Nymphe, Uraltes und Trauriges, vom Zuge des ein-
äugigen Karthagerd, deſſen Elephanten aus ihren Fluthen ge:
trunfen, und vom furchtbaren Saint:Ruth, der vor anderthalb
Sahrhunderten im Namen jeines Gotte3 und- jeines Königs ihr
Viertes Kapitel. 121
Gewand mit protejtantiihem Blute färbte. Aber bei ihrem füßen
Raufchen denkt man nur an die Sonette Petrarca’3. Bei l'Isle,
ver Heinen, aber ſchön gelegenen Stadt, bogen wir von der
Hauptitraße ab, und nad einer halben Stunde empfing ung
das vielgefeierte Thal.
Es öffnet ſich freundlich, aber Hein und unſcheinbar, jo daß
es an Öroßartigkeit vielleicht von jedem Thale der böhmifchen Ge:
birge, 3. B. vom Petſchauer Thale, übertroffen wird. Nichts
verräth das Gemwaltige ver Feljenmafje im Hintergrunde, die ſich
plöglid vorf&hiebt und dem Thale den Namen des „geſchloſſenen“
gibt. Sie ift durch kleine Hügel verdeckt; das Wafjer im Thal:
grunde eilt Har und ruhig dahin — eine hübſche, im Lande jehr
gewöhnliche Vegetation — einzelne Bauernhäujer von Maulbeer:
bäumen verdedt — Alles eine alltägliche, provenzaliſche Idylle.
Man kömmt an einem hübſchen Wafjerfall vorbei, der den Er:
wartungen de3 Bauclufer Pilgers nicht entjpricht, und man fragt
enttäuſcht: Fit das die berühmte Fontaine?! Zit das Vauclufe? —
Aber der Kutjcher lächelt und ſchweigt und gibt dem Pferde lächelnd
einen Beitichenhieb und fährt weiter. Mit einem Male ftredt ein
ungeheurer Rieje jein Haupt über die Hügel herüber und breitet
jein Gewand und jeine gewaltigen Arme aus nach allen Seiten —
e3 ift der Feld von Vaucluſe — ihm zu Füßen zuſammengekauert
liegt das Dorf, „wie die Sklavin zu des Herrn Füßen,“ aber fed
hinauf zu ihm bliden die Schloßtrümmer, die ſich über dem Dorfe
von einer einſam ſtehenden Spitze erheben. Das ift Baucluje ! —
man erkennt e3 an feiner Herrlichkeit, am raufchenden Bad, der,
plöglich wilder geworden, ſchnell und ſchäumend aus der Schlucht
bervorfommt, und an den fleinen Häujern, die fich mit den
Namen Laura und Betrarca jehmüden. Vor einem Gaſthaus
diejes Schilves jtiegen wir ab. Die erite Erfahrung, die wir da
madten, war, daß die Krebje und Forellen der Sorgue vor:
trefflih fchmeden, und der protejtantifhe Paftor in unjerer
Gejellihaft bemerkte, der Fluß hätte ſchon dieſer feiner Kinder
wegen verdient, von zwei fo großen Dichtern, wie Petrarca
122 Tagebud aus Languedoc und Provence.
und Dante (Paradifo 8. 59) bejungen zu merden. Auch ver:
fiherte man und, viele Neifende machten nur dieſes und nicht
des poetischen Genufje3 wegen den Abjtecher von Avignon hierher.
Nah eingenommenem Mahle traten wir unjere Wanderung
zur heiligen Quelle an. Die ungeheure Felswand, die gegen das
Dorf ihre weiten Arme ausjtredt, gewährt in der That einen
imponirenden Anblid. Die Jlufion eines Theater wird noch
dadurd erhöht, daß fat die ganze Ausdehnung der Wand ent-
lang Einfhnitte, regelmäßig geformte und gemwölbte Höhlen
(lithotomi cavi), in mehreren Reihen über einander, gleich wie
Logen binlaufen. An der Pyrämide, dem Monumente des Dich:
ters, vorbei gelangten wir bald zu gewaltigeren, die fich dicht
am Pfade, wie unabhängig vom Reft des Gebirges, aus dem
Boden erheben und die Heineren Verzierungen des ganzen unge:
beuren Gebäudes ausmachen und mit den Schloßruinen auf der
entgegengejegten Felsfpige harmonisch zufammenpaffen. Der Pad,
welcher an der Sorgue der Quelle entgegenführt, ift ein künſtlich
angelegter; unter feinem Geftein riefen hundert kleinere Quellen
bervor, deren Klingen und Murmeln mit dem gewaltigen Rauchen
des Fluffes, in den fie ftürzen, einen fchönen Chor bildet. Das
Mafler der Fontaine, die um Vieles höher liegt ald das Dorf,
fommt dem Wanderer, von Abjat zu Abjag fpringend, mit ge:
waltigem Braufen entgegen. Bald iſt das ganze geſchloſſene
Thal davon erfüllt, und je höher man fteigt und je gewaltiger
die Felsblöde werden, die den Fluthen den Weg verrammeln,
defto ftärfer wird das Rauſchen, deſto prächtiger werden bie
Waflerfälle, die unzählig über und neben einander bald als
filberne Bogen ſich wölben, bald wie ein Wildbad fi in die
Tiefe ftürzen, bald, in Millionen Berlen zerftäubt, in leere Luft
ji auflöfen. Endlich ift die ganze Fluth der Sorgue, die wir
fo hell und grün und friedlich unten im Thale gefannt haben,
in einen einzigen fochenden, weißen Gifcht verwandelt.
- Aber das ift nur Kindergefchrei, Kinderkrankheit, Keuch—
buften — oder, wenn man will, Leidenſchaft und Zerrifienheit
Vierte Kapitel, 123
der Jugend, vielleicht etwas Affektirtheit und Draperie dabei,
Drang in die Welt, erjte Liebe — der eigentlihe Charalter
dieſes poetiſchen Fluſſes ift do fo, wie wir ihn unten im Thale
fennen gelernt, wo er ftill und gemefien, in ruhigen Rhythmen
wandelnd, Nugen bringend, auf Harem Spiegel Himmel und
Erde mit Sternen und Blumen zeigt. Er hat's nicht geitohlen;;
er hat's von der Mutter, die wir fennen — wenn wir des
Pfades Ende erreicht haben.
Eben ſo grün und ruhig, als die Wellen der Sorgue
unten im Provencer Thale, liegt die Quelle von Vaucluſe in
ihrem tiefen Bette, in ſchöner Einſamkeit und holder Beſchrän—
tung da. Sie bildet einen kleinen See, der aber nur halb zu
ſehen iſt; die andere Hälfte ruht in der Grotte, tief im Felſen,
aus dem ſie hervorkommt. Es iſt, als wäre die Mutter aus der
ſtillen Stube herausgetreten, um ihrem Wildfange auf ſeinen
erſten Ausflügen liebend nachzuſehen. Ach, könnte ſie ihn unten
im Thale, zwiſchen Wieſen unter Platanen und Olivenbäumen
ſehen, ſie hätte ihre Freude an ihm.
Das Waſſer der Quelle iſt noch dunkler, als das der Sorgue.
Denn der Fels beugt ſich mit ſeinem Oberleibe weit über ſie
und hüllt ſie in ſeine ernſten Schatten. Er kann ſich deutlich in
ihr wiedererkennen, denn fie iſt jo klar, ſo ruhig, daß man es
kaum begreift, wie ſie von dem Sprudeln und Wirbeln in ihrer
nächſten Nähe nicht ergriffen wird. Kein Windhauch kräuſelt ſie,
denn die Felſen ringsum haben ſie ſorgſam eingehegt. Kaum
merklich bewegen ſich die Waſſerlilien, die in ihr ſchwimmen.
Eben ſo ſtill ſtehen die Cypreſſen am jenſeitigen Ufer, wo ſie
ſich auf der ſchmalen Terraſſe zwiſchen Fluß und Fels beſcheiden
hingeſtellt haben. Sie ſind heller als gewöhnlich die Cypreſſen
und klein; Einer unſerer Begleiter meinte, ſie ſähen wie grün
verſchleierte Engländerinnen aus, die da ſitzen und die berühmte
Fontaine de Vaucluſe in ihr Album zeichnen; ein Anderer aber
behauptete, es ſeien beabſichtigte Traueroden, aus denen hier
unwillkürlich kleine, zugeſpitzte Sonette geworden.
124 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Diefe Cypreſſen, die Wafjerlilien in der Fontaine, einige
wilde Blumen am Rande, und bie und da an den Etein ge
Hammerte Feigenbäume ausgenommen, gibt e8 im nächiten Um:
freije fajt gar feine Vegetation. Natürlich, die ganze Umgebung
bejteht aus kahlem, überhängendem Kaltfelfen, an dem ſich un-
möglih Dammerde feitjegen kann. Nur von der höchſten Höhe
herab, wie Ssriedensfahnen von einem Walle, wehten weißblü—
bende Manvelbäume. Wenn jie ein Wind bewegte, der unten
im Grunde Alles ruhig ließ, bebten einige fallende Blüthen lang:
jam in die Fontaine oder auf die Häupter der Cypreſſen nieder.
Aber Nahtigallen gab es auch hier, denn wo fehlen in ver Bro:
vence die Nadtigallen? — Sie faßen in den Cypreſſen und
jangen.
Mir hatten einen glüdlihen Tag, denn der Himmel war
umwölkt. Eine ſolche Felsgegend, von heißer, ſüdlicher Sonne be-
leuchtet, macht immer den Eindrud troftlofer Wüfte — aber
umwölkt, leicht beſchattet, mit gemilderter Farbe der gelben
Felfen haucht fie das Gefühl ſüßer, melandolifher Einjamleit.
Den 4. Juni 1851.
Nach Avignon zurüdgelehrt, habe ich das Grab der jchönen
Laura, die troß ihrer „Sternenaugen,“ wie mir fcheint, eine
gewaltige Philifterin gewejen — nicht beſucht. Einen ſolchen
Vorrath an Gefühl habe ich auf meine Reifen nicht mitgenom:
men, um mich am Grabe einer fünfhundertjährigen Schönen zu
begeijtern oder zu rühren, an einem Grabe, das nicht mehr be
ſteht, das die Revolution zerftört hat, und an deſſen Stelle ein
jentimentaler Engländer ein abgefhmadtes Monument geſetzt
bat. Das Leben hat mir immer mehr gegolten, als der ſchönſt
befungene Tod, und jo juchte ih es auch hier lieber auf ald das
Nichtgrab der ſchönen Laura. Ich hatte einen guten Eicerone
an meinem alten Freunde Fortune Guiran,i dem jehigen
! Seitdem j.
Viertes Kapitel. 125
Redakteur des Democrat de Bauclufe, den ich zufälliger Weife nad
langen Jahren bier wieder ſah. Es ift das verfelbe Fortune
Guiran, der im Jahre 1846 die vortrefflihen Briefe an Herrn
v. Remufat „über die Hegel’ihe Philoſophie“ in der Revue
Nouvelle veröffentlichte, in denen er ſich als ausgezeichneten
Styliften und Kenner der deutſchen Philoſophie bewährt hat.
Fortune Guiran hat lange in Deutfchland, befonders in Berlin
gelebt und ſich mit unferer Sprade und Literatur, vorzugsweiſe
ver philofophifhen, jo gründlich vertraut gemacht, mie wenige
Franzoſen. Er ſcheint für unfere Philofophie von Jugend auf
be und gejtimmt gewejen zu jein, da er ſchon im Collegium zu
Air, feiner Heimat, ald, was man in Frankreich nennt, ein
Atheift zu Gefängniß verurtheilt worden war. 3 ift natürlich,
daß im frommen Süden ſolche Früchte reifen. Später, befon-
ders unter dem Minijterium Guizot, hätte er eine glänzende
Garriere machen können, wenn er nur ein Mann ver Eleinften
Konzeflionen geweſen wäre. So aber lebte er in jtiller Zurüd:
gezogenheit, allein mit feiner veutichen Bildung, ohne Protektion,
die in Frankreich Alles ift, bis zur Februarrevolution. Nach
Ausbruch derjelben begriff er ſchnell ihre Unfruchtbarkeit, wenn
fie nicht von den Provinzen unterftügt würde. Er eilte in ven
ihm bejonder3 befannten Süden, übernahm, mit Selbitver:
leugnung, die Redaktion eines kleinen, demokratiſchen Lokal:
blattes zu Avignon und begnügte ſich mit der ſchweren Aufgabe,
die fo ſehr zurüdgebliebene, verpfaffte Bevölkerung über ihre
Intereſſen aufzullären. Seine Bemühungen haben Früchte ge:
tragen. Das ehemals durch und durch legitimiftiiche Avignon
ift heute wenigftens zu einem Drittheil zum demokratischen
Prinzipe befehrt;; die neuen Demokraten ſuchen ihre blutige, fana—
tiſche Vergangenheit aus der Zeit des Legitimisnus vergefien
zu machen, halten in ihrer Minderheit brüderlich zufammen und
geben der Gegenpartei ein imponirendes Beifpiel. Sie werden
darin von einem großen Theile der Landbevölkerung des Departe:
ments de Bauclufe gewifjenhaft unterftüst. Das Wirken Guirans
126 Tagebud; aus Languedoc und Provence.
v
wiederhallte bald in der Pariſer Journaliſtik, welche die der
Provinz fonft fo unflug verachtet, und er iſt heute der Mann,
den die demokratiſche Partei auf ihre Wahllifte ftellen wird, wenn
Louis Napoleon nit allen demofratifhen Mabhlliften ein Ende
mad. |
Wenn ih an feiner Seite die Stadt durchwanderte, war e3
mir leicht, die Parteileidenſchaften und die Barteien ſelbſt genau
fennen und unterjcheiven zu lernen. Die Einen grüßten mit
freundlichem Lächeln, während uns die Andern Blide tiefen
Haſſes zumarfen. Als ich mit ihm in den demofratijchen Gercle
ttat, wurde er mit Freudenzurufen empfangen, und ich jelbit,
da er mich al3 Flüchtling und Robert Blums Reifegefährten
nah Wien vorftellte, mit großer Verehrung behandelt. Es ift
unglaublich, wie populär ver Name Blums überall in Frant:
reich ift, wielleicht jo populär, wie noch nie der Name eines
fremden Freiheitsmenſchen geweſen, Franklin etwa ausgenommen.
Ein alter, langbärtiger Demagog vom Lande bot mir ald Bundes»
zeihen feinen Thymian an, den er im Knopflohe trug. Der
Thymian, bier eine Bergpflanze, ift ein Symbol der Freiheit,
das Erfennungzzeihen der Montagnarde. Auf einem Sonntags:
ipaziergange bemerkte ich noch viele Männer und Weiber, die
Thymianfträußchen auf der Bruft oder im Munde trugen. Die
Legitimiften hingegen hatten weiße Halstücher oder trugen an
Kleidern und Hüten die grüne Farbe als Crinnerung an die
Verdetz, die Anhänger des Grafen von Artois, jpätern Karl X.
Sie waren überall in der Mehrheit, und an Herausforderungen
oder Heinen Verhöhnungen fehlte e8 bie und da auch nicht.
Wenn es einft zu einer Entſcheidung fommt, wird Avignon
feinen alten Ruf der Wildheit und Grauſamkeit ſchwerlich Lügen
itrafen. Das Herz blutet Einem in Vorahnungen, wenn man
dieſe leidenfchaftlichen, unverſöhnlichen Gefichtszüge, Diejen heraus:
fordernden Gang, diefe rache- und fampfjüchtigen Augen be
trachtet. Keine Stadt de3 Südens trägt den Charakter unüber:
legter, blinder Leidenschaftlichkeit jo ausgeprägt auf ihrem Ge:
Piertes Kapitel. 127
fihte, wie Avignon. Ohne eine Waffe zu jehen, glaubt man
an heimliche Dolche, und wähnt man in einer italienifchen, von
Parteien zerriffenen Stadt des Mittelalters zu fein. Als wir
über die belebte Place de la Comedie wanderten, fragte mic
Fortuné Guiran, warum ich den Vers citire:
Der Tag wird heiß — die Capulets find draußen?
Ich hatte ihn unwillfürlich ausgeſprochen.
Mein Begleiter zeigte mir unter andern und mit Lächeln das
vergitterte, Fenſter einer Zelle im Bapjtpalafte, in melcder er
Schon mehreremal wegen Preßvergehen gebrummt hatte, Der Bapft:
palaft jegt aljo auch heute noch jeine Beitimmung fort. Es gibt
Gebäude, an denen ein ewiger Fluch zu hängen jcheint ; doch möchte
ih fie nicht vernichtet jehen. Manches dieſer Häufer fpricht
lauter und befjer als hundert Bücher. So ein Papſtpalaſt zu
Avignon z. B. widerlegt alle Boſſuets und de Maiftres der Welt
— troß ihrer Beredjamleit, troß ihrer liberalen Heuchelei.
Im innerften Innern joll Avignon die romantifchefte, Victor
Hugo'ſcheſte Stadt der Welt jein. Nirgends joll es jo viele ge
heime Thüren, Fallthüren, verborgene Gänge, Gemächer ꝛc.
geben, wie hier. Das rührt, wie man mir jagt, daher, daß die
meiften jegigen Privathäujer ehemalige Klöjter oder Prälaten:
paläjte gewejen, die unter einander zujammenhingen und der:
gleihen Künſte nöthig hatten, In einem Keller befindet ſich ein
eingemauerter Stein mit der Inſchrift: Weh' Dem, der mic
hebt! — Hinter diejem Stein will man ein fonderbares Raufchen
vernehmen, und die Leute jagen, e3 fließe ein unterirdifcher
Rhonearm an ihm vorbei, ver ſich hervorjtürzen und Avignon
in feinen Zluthen begraben würde, wenn man den Stein auf:
bübe. Alii alia. — Vor vielen Jahren joll ein zum Tode ver:
urtbeilter Verbrecher auf unbegreiflihe Weiſe aus feinem Ge:
fängnifje im päpftlihen Palaſte entflohen jein. Nach einiger
Zeit wieder eingebradht, verſprach er, die Stadt mit einem höchſt
wichtigen Geheimniſſe, das er entdedt, befannt zu machen, wenn
128 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
man ihm dafür das Leben ſchenke. Man begnadigte ihn zu
lebenzlängliher Haft, und er erzählte von einem geheimen
Gange, der ihn aus dem Palafte unterhalb der Rhone hinüber in
die Nähe von Fort St. André geführt habe. Diefe Gefchichte
erinnert an eine andere, die fih an ein Kruzifir, jegt im Beſitze
der Stadt, fnüpft. Diefes höchſt koſtbare Kunftwerf aus Elfen:
bein wurde von einem Noignoner Künftler gefertigt und der
Kirche als Löfegeld für das Leben feines Bruders angeboten,
der ebenfall® zum Tode verurtheilt worden war. Aber ver
Bruder des Künſtlers war nicht wie jener Andere ein gemeiner
Verbrecher geweſen, jondern ein politifcher, der fich in eine Ver:
ſchwörung gegen das Mönchsregiment eingelafien hatte. Und fo
wurde er nicht begnadigt, fondern hingerichtet, trotzdem daß
brüberliche Liebe, herrlihe Kunft und ver Salvator mundi
jelbft für ihn eingetreten waren.
Das find fo Avignoner Geſchichten, die, wie Alles in Avig:
non, mehr oder minder nah Mittelalter riehen. Die franzöft:
ſchen Romantiker, die fo fehr nah dem Schauerlihen und Ab:
fonderlihen fuchen, fennen die Geſchichte ihres eignen Landes
nicht, ſonſt würden fie diefe Stadt al8 unerſchöpfliche Fundgrube
ausbeuten.
Trotz der jchauerlihen Vergangenheit und der trüben Zu:
funft, deren Ahnung Einem bier mit trauriger Gewißheit auf
dem Herzen laftet, verläßt man Moignon doch nur ungerne.
Der Reifende freut fih, wo er Fremdartiges findet, und vom
Schauerlichen trennt ſich Jeder mit einem gewiſſen geheimniß-
vollen Bedauern. Ich gehe in das heitere Tarascon; auf dem
Wege werde ich die Durance begrüßen, einen meiner lieben,
poetijhen Flüffe, ſeit ich feinen Namen zum erſten Male in
Lenau's Klara Hebert kennen gelernt.
Fünftes Kapitel.
Taradcon — Das Schloß ded guten Königs Nend — Politiſche Gefangene —
Die heilige Martha — Einige alte Maler — Die Taradque — Die Ketten—
brüde — Beaucaire — Der Markt von Beaucaire — Ein beffifhes Mädchen —
Einft und jest.
Ten 6. Juni 1851.
Mer hat nicht die Erfahrung gemacht? Man kommt zum
erften Mal im Leben in eine der abenteuerlichiten, phantaftifcheiten
Gegenden, wie fie jich felten oder nie wiederholt, und doch fcheint
Einem Alles fo bekannt, al3 hätte man fie wenigitens im Mond:
‘heine, mit der Eilpoft vorüberfahrend, ſchon ein:, zwei-, drei:
mal geſehen. Aber das Phantaſtiſche ift ung eben vertrauter,
al3 das Gemwöhnlihe; an dieſem gehen wir unbewegt vorbei,
und fein Schatten der Erinnerung bleibt zurüd; an jenem bauen
wir emfig in unjeren fchönften ungejtörteften Stunden; mir
Ipinnen ung ein darin, wir machen e3 zu unferer Refidenz ; was
Wunder, daß, wenn es und dann im Leben begegnet, wir es
wie unjere liebe Heimat, jogar ohne Extaſe, nur mit freund:
Ihaftlihem Zuwinken begrüßen ? — So war es mir in Tarascon
auf der Rhonebrüde. Wer weiß, vielleiht habe ich dieſe ſchöne
Melt geträumt, ala ich, vor einem Claude Lorrain ftehend, ein
großer Maler zu jein wünfchte.
Es iſt ein bezaubernder Punkt. Die beiden Schlöjler von
Zarascon und Beaucaire liegen, durch die Rhone getrennt, ein:
ander gegenüber wie ein Löwe und ein Leopard, die ſich mit den
Augen meſſen, bevor fie zum Kampfe anfpringen — oder, um mit
Morig Hartmann, Werke. IM. 0
130 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Byron zu jagen, „wenn Euch diejes Bild nicht gefällt, da habt
ihr ein anderes”: Das Schloß von Tarascon fteht da am Rande
des Waſſerſpiegels, wie ein melandolifher König von Thule,
der feinen Becher ſinken ſieht; er hat zu diefer traurigen Scene
jeinen weiten Talar mit goldenen Sternen umgethan und die
alte zadige Krone aufgejegt — jo ſteht er da, fih im Wafler
befpiegelnd, bevor ihm die Augen finfen. Gegenüber aber, ver
Thurm von Beaucaire gleicht einem Edelknecht, der eben das Ge—
birge jagend durchlaufen und jo, mit der Lanze in der Hand,
das Hüfthorn an der Seite, auf der legten Spite der Berge
Halt macht; er jtaunt über den großen, berrlihen Fluß, über
das Königsjhloß am andern Ufer, und er ſchwingt jauchzend
das Barett. Um aber aus den Gleichniſſen herauszufommen :
Tarascon ift ein hübjches Städtchen, das aber durch fein Schloß,
durch den breiten und ftürmenden Rhonefluß, durch die Fühne
Kettenbrüde, durch den neuen, wahrhaft römijchen Viadukt der
Gijenbahn, durch die Nachbarſchaft von Beaucaire und durch die
ihönen Mädchen, die Schweitern der Arleſiſchen Griehinnen, zu
einem der herrlichiten Fleden des Südens wird. Zuerſt befucht
man jened Schloß, die ehemalige Reſidenz des guten Königs
Rene, des Dichters und Malers. Man ftaunt, warum felbft ein
jo „guter König,“ wie Renatus, es nothmendig befunden, fi
jo gewaltig zu befejtigen und ſich hinter fo dien Feftungsmauern
zu verfriehen. Das Schloß jteht unmittelbar an der Rhone, auf
einem Felfen, an deſſen Fuße die Wogen branden; auf den
andern Seiten ijt es von einem nunmehr trodenen Graben um:
geben, über den eine Brüde zu dem Riejenthore führt. So hat
e3 eine gewiſſe Nehnlichkeit mit Chillen, obwohl der Styl ein
ganz verjchiedener if. Man könnte ihn mit einiger Licenz
florentiniih nennen. Die ungeheuer hohen Mauern würden
kahl ausfehen und tobt, wenn nicht die ſchönen Krümmungen
der Thürme und der Goldglanz, der auf den Steinen liegt, fie
belebten. Bei Sonnenuntergang fieht die Veſte wie ein goldener
Palaft aus. Das ganz platte Dad ift von einer Baluftrave
Fünftes Kapitel. 131
befränzt, die won jehr zierlihen Machiculis getragen wird und
das Bild einer großen, mit vieler Kunft gearbeiteten Goldkrone
darbietet.
Mit dem erſten Schritt in das Innere verändert ſich das
Bild plötzlich. An die Stelle der Einfachheit tritt die reichſte und
geſchmackvollſte Gothik. Portale, Thürme, Niſchen, Fenſter und
Frieſe — Alles mit einer Sorgfalt gearbeitet, als wäre es von
einem Goldſchmiede ciſelirt, und um die Illuſion zu erhöhen, iſt
auch hier das Material, wie außen, von einem getränkten Gold—
glanze bedeckt, als wäre die Sonne des Südens daran hängen
geblieben. Und mit einer Verſchwendung ſind die Zieraten an—
gebracht, als handelte es ſich nicht um ein gewaltiges Schloß,
ſondern um einen Juwelenkaſten, um einen Kronenſchrein oder
ein Tabernakel.
So wohl ließ es ſich der gute König Renatus im Innern
werden, während er nach Außen das ernſte Geſicht eines ge—
harniſchten Ritters zeigte. Den ſchönſten Theil des Schloſſes
bildet der zweite Hof, an deſſen einer Seite eine kühle ſchattige
Halle hinläuft, und in deſſen Winkel Treppenthürmchen, ſchlank
wie Tannenſchafte, die ganze Höhe des Baues hinan wachſen.
Durch eines derſelben ſtiegen wir in die Höhe. Weite pracht—
volle Säle, die durch Gänge und Galerien und Seitentreppen
mit einander verbunden ſind, thaten ſich überall auf. — Die
Bänke in den tiefen Niſchen, die ſchönen Kamine zeugten von
ihrer Wohnlichkeit; die noch hie und da vergoldeten Decken,
welche in Holz geſchnitzte, in tiefen viereckigen Feldern farben—
glühende Wappen und Bilder tragen, von der Pracht dieſer
königlichen Säle. Das Licht, das nur ſpärlich durch die ſchmalen
Fenster oder vielmehr Nigen einfällt, gewährt eine romantifche
Dämmerung, die dem träumerifchen König behagt haben mag.
Auf dem platten Dache konnten wohl Hunderte von Edelfräulein
und Herren in provenzalifhen Nächten berumfpazieren und fich
von René's Minnehof unterhalten.
Diekmal trafen wir nur zwei arme Mädchen, die bier
132 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
gefangen gehalten werden, denn de3 guten Königs Schloß ift jegt
ein Gefängniß. Die Mädchen waren zu jehswöchentlicher Haft
verurtheilt, weil fie gegen ein altes Klatſchweib ihre Ehre thät-
lich vertheidigt hatten. Als wir auf die Terrafje traten, ver:
jtedten die armen Dinger ihre Geſichter. Auch in dem ſchönen
Hofe mit der Halle trafen wir ungefähr zwölf bis fünfzehn Ge:
fangene, diefe männlichen Geſchlechtes; politifche und gemeine
Verbrecher bunt unter einander. Doc fonnte man fie leicht von
einander untericheiden. Die Einen mit der platten Stirne ſahen
dumm darein und verthiert, oder auch frech ; Andere, der Schande
noch ungewohnt, verjtedten fich bei unjerem Herannahen hinter
den Pfeilern. Das waren die Diebe; daß wir uns nicht täufchten,
beftätigte ung der Gefängnißmwärter von der Höhe eines Thurmes
aus, wo wir fie ungejehen beobachten fonnten. Die politijchen
Verbrecher, meift jehr anftändig gelleivete, junge Leute, ſahen
uns mit freiem, offenem Blide an und erwiederten den Gruß
mit Freundlichkeit. Das Schidjal der meijten won diefen konnte
man aus verjchiedenen Inſchriften an den Mauern erfehen. Da
ftand einmal: Condamne & six mois de prison pour avoir
eri&: Vive Henri V. — auf einer andern Mauer: à quatre
mois, pour le cri seditieux: Vive la Republique — dans
lan III. de la République — in einem Winfel: dix huit
mois de prison pour avoir sauv& la ville natale d’une
&meute sanglante. Bei allen dieſen Infchriften waren die
Namen beigegeben, und der Gefängnißmwärter beftätigte brummend
und mit Widerwillen ihre Wahrhaftigkeit. — Erzählen dieſe drei
Inſchriften nicht die ganze Geſchichte, ſchildern fie nicht ausführ:
lich die ganze Lage des heutigen Frankreichs? — Man darf nicht
Heinrich V. leben laffen, aber der Ruf: es lebe die Republik!
wird ebenfall3 als Aufruhrsſchrei verurtheilt, während ein Dritter
im Gefängniß figt, weil er einen vielleicht den Regierungsmännern
ſehr willlommenen Aufruhr verhindert.
Wir durften die Gefangenen nicht anreden, aber der Ge:
fangenmwärter fonnte ung nicht hindern, einigen von ihnen die
Fünftes Kapitel. 133
Hand zu reihen. Ob es Legitimiften oder Republikaner waren,
wiſſen wir nicht.
Ganz nahe am Schloſſe des Königs Renatus liegt die Kirche,
die in mehr al3 einer Beziehung bemerfenswerth ift. Sie ift der
heiligen Martha geweiht und enthält das Grab dieſer Heiligen,
welche, wie die Legende erzählt, auf einem Eleinen Kahne ohne
Steuer, Ruder und Segel, allein von einem heiligen Winde ge:
trieben, aus dem gelobten Lande in diefes fromme gefommen
ift, um die Heiden zu befehren, was ihr auch glücklich gelungen
ift. Aehnliches erzählt vie Legende von den beiden Marien, von
Lazarus und anderen Heiligen, die dem Heilande beſonders nahe
ftanden. Die heilige Martha hat außer ver Belehrung nod eine
Helventhat vollbradht, indem fie die Tarasque, die das Land
verheerte, erlegt hat. Das Bildniß diejes ſcheußlichen Draden,
aus Holz gebaut, wird den neugierigen Neifenden für zwei Sous
noch heute gezeigt. Es foll jehr getroffen fein. Wer aber jo
glüdlich ift, am Tage der heiligen Martha in Tarascon zu fein,
fieht es, wie es von einer großen Prozeflion durch die Gaſſen
gezerrt wird. Cine Jungfrau, aber eine reine, führt ed am
blauen Bande. Die aufgellärten Einwohner von Tarascon aber
verfihern den Fremden, fie glaubten nicht an die Tarasque, ſon⸗
dern fie jähen bloß ein Sinnbild des Heidenthums darin, welches
die heilige Martha bezwungen bat.
Das Schiff der Kirche ift förmlich bedeckt von Bildern, welche
den Lebenslauf und den Tod diefer Heiligen zum Gegenſtand
haben. Sie jtammen von dem Meifter Bien, einem der vorzüg:
lichſten Maler Frankreihs im vorigen Jahrhundert und Lehrer
des berühmteren David. Den Zopf ihrer Zeit, der auc ihnen
anhängt, abgerechnet, find fie in der That auch durchgängig zu
loben und dem Beiten beizuzählen, was ihre Epoche hervor:
gebradht hat. Was Grazie, Farbe und feine Effekte betrifft, ſteht
Vien hoch über feinem theatralifhen Schüler. Er ijt freier,
natürlicher und durchgängig dramatiſch; beſonders zeichnen ſich
unter allen dieſen Bildern die „Predigt der heiligen Martha“
134 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
und ihr „Tod“ durch dieſe Vorzüge aus. Cinige Bilder von
Parrocel, dem Vorgänger Vien’3, übertreffen diefe an Urfprüng- -
lichkeit und natürlicher Kraft; es ift noch nicht die Geziertheit da,
welche die Periode Viens und felbft fchon Parrocels verrufen
madte. Aber Vien und Parrocel mit all ihren großen Bilvern,
mit all ihren unbejtreitbaren Vorzügen werden von einem Kleinen
Bilde verbunfelt, das ſich in einer Seitenfapelle der St. Martha:
firche befindet. Es ift das ein kleines Meifterftüd won Vanloo:
der Tod des heiligen Franziskus. Auf einem Bette von Binjen
liegt der fterbende Klausner. Um ihm die Agonie zu erleichtern,
deutet ein gütiger Engel, der fich zu ihm hbinabbeugt, mit der
linfen Hand nad dem Kreuze, welches ein anderer Kleiner Engel
emporrichtet. Die Auffaffung des Gegenjtandes ift fo großartig
in feiner Einfachheit, als ftammte das Bild aus der vorraphaeli-
ſchen Epoche und nicht aus Diderots Zeit, und fo überwältigend,
daß es diefen feinen encyklopädiftifchen Zeitgenoſſen begeijtert hat.
Da ift Alles fo wahr und ſchön, jo gar nicht verheiligt und ver:
fatholifirt, das Geficht des agonifirenden Eremiten ſowohl als ver
Engel, der eben fo gut des Nachbars Tochter fein fan, die herbei:
geeilt ift, um einem armen Sterbenden die Hand unter Haupt zu
legen und ihn mit frommen Worten zu tröften. Gewöhnlich vergißt
man bei diefem Meijterftüde dieſe einfache Erhabenheit der Kon:
zeption über ein großes Kunftjtüd, welches der Maler hier aus:
geführt hat. Ich meine die in der That wunderbare Verkürzung
des Engelsangefihts. Trotzdem fi der gute Himmel3bote aus
der Mitte des Bildes heraus in grader Richtung gegen den Be:
jhauer auf den Sterbenvden tief hinabbeugt, jieht man doch das
Heinfte Detail des ganzen Gefichtes aufs Deutlichſte, ohne daß es
im ©eringften an Schönheit verlöre. Es iſt ein Meifterftüd der
Zeichnung und Mobdellirung.
In einer unterirdifchen Kapelle befindet ſich das Grab der
Heiligen und ihr liegendes Bildniß in Stein gehauen. Ich habe
fie an einem Sonntage gefehen ; da hielt fie eine zinnerne Schale
in der Hand, um, fo zu fagen, eigenhändig die Gaben ber
Fünftes Kapitel. 135
Frommen in Empfang zu nehmen. Dafür war der Bortier an
ver Kirhe auf das Prachtvollſte gelleivet, Muſik und Eänger
aber herzlich ſchlecht. Das öftlihe Portal der Kirche und eine
Reihe von Säulen darüber find Eoftbare, unvergleichlich ſchöne
Nefte romanischen Styles und gehören mit zum Schönften, wa?
das füdlihe Frankreich an ſolchen Reſten aufzumweifen hat. Die
Bierlichkeit der Säulen, die anjpruchloje Kühnbeit der Wölbung
können aud) Den, der diejen Styl feiner oft aszetiſchen Knochen:
baftigfeit und feiner häßlichen Beigaben wegen nicht liebt, mit
ihm verjöhnen.
Noch ſchöner aber find die mweiblichen Geftalten, die nad
ver Mefje aus diefem Portale treten. Sie find, wie ich ſchon
gejagt, nahe Verwandte der Arlejerinnen, und ich behalte mir
die Beſchreibung diefer Legtern auf jpäter wor, bis mir felbit
nad Arles, dem Urfige der Schönheit, fommen.
Gegenüber von Tarascon, nur durh die Rhone getrennt
und durch eine luftige Kettenbrüde verbunden, liegt das roman:
tiſche Beaucaire mit feinem ruinirten Schlofje. Ich nenne vie
Kettenbrüde „Iuftig” — „ſtürmiſch“ wäre ein befleres Epitheton.
Denn eben jo gewaltig, wie die Rhone unter ihr, braujt ein
ewiger Sturmwind durch ihre Eifenftangen. Sie bebt und zittert
ewig und wiegt ſich hin und her, wie ein leichtes Seidenband
im Winde. Der Wanderer halte ſich feſt und made fich fo ſchwer
und gewictig, als möglih, wenn er über dieſen unbeimlichen
Steg wandelt, fonft hebt ihn der Sturm in die Höhe und taucht
ihn dann in die nichtS weniger als janften Wogen des Rhodanus.
So wenigitens hat er e3 vor einer Zeit mit einem jchwerbelajteten
Magen, mit Pferden und Fuhrmann gemacht. Bei diejer Ge:
fegenbeit zerriß er auch all die eifernen Bande, ald wären fie
Spinngewebe.
Das Beaucaire von heute ift ein trauriger, öder, armer
Sleden, den man nur noch feiner Schloßruinen wegen bejudt.
Sie find der Neft jener uralten Vefte, vor deren Mauern der
ungeheure Albigenferkrieg mit einer hartnädigen Belagerung des
136 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Sohnes Raimonds von Toulouje begonnen. Sie flößen Einem
noch beute mit ihrem gewaltigen Donjon, mit ihren Felſen—
mauern und den unzugänglichen Steinbrüden ganz bejondern
Reſpekt ein. Ich aber hielt mich doch lieber unten im Städtchen
auf, denn e3 war juft Marktzeit, und da gehört Beaucaire zu den
intereflantejten Fleden des Südens. Die jonftige Dede und
Traurigkeit weicht vem Lärm, der Gejchäftigkeit der bunteften
Bevölkerung. In allen Gafien und Gäßchen reihen fich reiche
MWaarenlager aneinander, und auf dem großen, baumbepflanzten
Plage längs der Rhone erhebt jih ein Bazar neben dem an
dern. Die bunteften Trachten geben der Meſſe von Beaucaire,
dem Leipzig des Südens, das Ausſehen eines orientalischen
Marktes. Auch fehlt ver Türke nicht, der gravitätiih auf- und
niederwandelnd feine orientaliichen Düfte und Ballame anbietet
oder, im Schatten einer Platane fitend, Ambrapfeifen und
Tſchibuls verkauft. In einem Zelte fingt ein brauner Araber
das Lob feines Honigkuchens, den er von den Küften Afrika's
berübergebradt, und lodt den meißen Burnus an, der ein
Stück nah dem andern verzehrend Allah preijt und der Dattel:
wälder jeiner Heimat gedenkt. Durch das Gebränge, behend
wie Schlangen, jhlüpfen ſpaniſche Zigeunermäpchen, mit Augen,
ſchwärzer als die des Araber, und halten die ſchönen Arleferinnen
auf, um ihnen eine ſchöne Zukunft zu prophezeien. Sonderbar
und melandolifch genug nimmt fich unter diefen glühenven, ero-
tiſchen Pflanzen das heſſiſche Mädchen aus, das, in jeinem kurzen
Röckchen mit dem ſchwarzen Sammtläpphen an einen Baum
gelehnt, deutſche Volkslieder, das halbe Wunderhorn, berabfingt.
Mid und den Profeffor an meiner Seite ausgenommen, ver:
jteht fie vielleicht feine Seele unter all ven Tauſenden, aber die
melandolifhen Töne rühren, und fie hat einen guten Markt.
Wie jubelt fie auf, da ich fie deuffch anrede und ihr fage, daß
ich aud „bei Frankfort, wo fie zu Haufe ift,“ befannt bin; da ich
fie aber frage, wie fie hieher gefommen, weiß fie mir nicht zu
antworten. Sie ift fo nad und nad von ihrem Schidfal „von
Fünftes Kapitel. 137
Frankfort“ immer weiter geihoben, von ihren Liedern immer
weiter getragen worden, bis ſie, ohne Ueberraſchung, hier unter
Burnufie, Arleferinnen, ſpaniſche Zigeunerinnen gerathen. Wo:
hin wird das vierzehnjährige Kind noch gerathen, wohin noch
getragen werden? —
Die Bazard und Zelte find eben jo viele Schakfammern der
fojtbarften Gold: und Silbergeräthe, der’ edelſten Stoffe aus
Drient und Dceident. Troß diefem Reichthum ift der Markt von
Beaucaire doch faum mehr ein Schatten von dem, was er im
Mittelalter gewejen. Da fteuerten genuefifche und venetianijche
Schiffe die Nhone herauf und braten ihre morgenländijchen
Schätze mit, um jie an die reihen Seigneurs des füdlichen Frank:
reih8 oder an die Kaufherren des goldenen Burgund zu ver:
faufen, oder fie gegen die Erzeugniffe der Eugen Flamänder
von Brügge und Gent, die ihnen hierher entgegen famen, aus:
zutaujchen. Mailand fchidte feine Juweliere und Goldſchmiede,
Toledo feine Schwertfeger, und zulegt auch Portugal jeine Ge:
würzjchiffe, die es auf den Küften Afrika's und Oſtindiens be—
laden hatte Selbft das fabelhafte Tripolis lief unter friedlicher
Flagge in viejelben Gewäſſer ein, die es in anderer Zeit nur
unter der rothen Korjarenflagge befahren. In ver Veſte Trin:
quetaille an der Rhone wachten indefjen bewaffnete Schaaren,
um das jchäßereiche Beaucaire vor tunififhen und algierijchen
Beſuchen zu jhügen. Auf dem Schloſſe ging es bei jolchen Ge:
legenheiten luftig her. Die Grafen von Touloufe waren fo frei:
gebig und gaftfrei. Dichter, Ritter, Künftler und große Kauf-
herren fanden da oben freundlihe Aufnahme, und Gefang und
Ritterfpiele ergögten die Gäfte.
Mit all diefer Pracht iſt es heute aus. Keine genuefischen,
venetianifchen, portugiefifhen Schiffe fteuern mehr die Rhone
aufwärts. Bon Avignon herab fliegt das Dampfſchiff und bringt
nur Öäfte aus der Nachbarſchaft, von Arles trägt die Eifenbahn
ſchöne Mädchen herüber, die fich wollen bewundern lafjen. Und
wenn der Markt nad) vierzehn Tagen verſchwunden, ift es wieder
138 Tagebud aus Languedoc und Provence.
öde in Beaucaire. Die Fremden eilen auf vem Omnibus vorbei,
um auf den Bahnhof und von da fo fchnell als möglih nad
Nimes oder Montpellier zu fommen. Hätte es nicht die Schiffer
des großen Kanals und die vierzehntägige Meſſe, die ihm einigen
Miethzins für Wohnungen und Magazine abwirft, Beaucaire
wäre der armfeligite Fleden des ſüdlichen Frankreichs.
| Sechstes Kapitel.
St. Remy — Antiquariide Betrahtungen — Gränzen des Griehentbums
von Marfeile — Römifhe Monumente — Mad. Lafarge — Die Alpinen —
Ein einfamer Schäfer — Die Monolitbftant — Die Herren von Baur —
Geſchichte der Waldenſer in Franfreid.
Den 26. Juli 1851.
Einige Stunden mwejtlid von Tarascon, am Fuße der fterilen
Alpinen, liegt St. Remy. Die römifhen Monumente allein
hätten mich nicht hierher und von der großen Straße abziehen
können, hätte ich nicht weiter in das Gebirge wandern wollen,
um auf feinem öjtlihen Abhange die wunderbare Stadt Les
Baur zu fehen, von der man mir fo viel erzählt hatte. Ich be:
reue den Fleinen Ummeg nit. St. Remy, da3 nette Städtchen,
bat nicht nur römiſche Monumente, e3 befitt überall, wohin
man fieht, lebende, jprechenve, lachende Erinnerungen an die
höheren Griehen. ch begreife die Archäologen und Hiſtoriker
nit, daß fie die Spuren alter Völferwanderungen nur nad
todten Mark: oder Leichenfteinen verfolgen und nicht Cinmal
das Auge aufihlagen, um in ein Menfchenantlig zu jehen, das
ihnen vielleiht mehr jagen kann, als alle Chroniken und In—
schriften. Nachdem ich ven Mädchen von St. Remy ins Geſicht
gejehen, behaupte ich fed vor jedem Archäologen und SHiftorifer,
ohne nur eine Münze, eine Infchrift, ein Manuffript geprüft zu
haben: bis hierher dehnten ſich nordwärts die Kolonien der
tapferen und ſchönen Phozeer aus Marfeille! Es ift derjelbe
vollendete Typus, diefelbe gerade, edle Nafe, verjelbe janft-
gebogne Naden der griehifhen Statuen, diejelbe ariſtokratiſche
140 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Hand, diejelben feinen Knöcel über einem jchönen, ſchmal ge:
dehnten Fuß — e3 iſt diefelbe Schönheit, die wir in Arles be:
wundern, die ung über Tarascon begleitet und ung in St. Remy
„Lebewohl“ lächelt, wenn wir uns in dem unmwirthbaren Gebirge
verlieren, an deſſen Fuße St. Remy liegt, und das wie eine
Gränze iſt zwifchen Barbarei und holdem Griechenthum. Auch
ven jchönen Kopfput aus Arles, der an die phrygiiche Mütze er:
innert, finden wir bier wieder. Ya, die Mädchen von St. Remy
wiſſen ihn noch ſchöner und mit mehr Grazie und Mannigfaltig-
feit zu binden, wie fie überhaupt im Rufe einer raffinirten Kotet-
terie ftehen. Wenn man die Zartheit ihres Gefichtes, die Fein:
beit ihrer Hände betrachtet, glaubt man gerne, was von diefen
Bäuerinnen erzählt wird, daß fie nur mit verjchleiertem Gefichte
und mit Handfchuhen auf dem Felde arbeiten. Daß dieß von
ven rauheren Männern geduldet, ja geliebt wird, zeigt vielleicht
auch deutlicher al3 die Münzenerklärung des Marquis de la Goy,
daß die Bewohner Yon St. Remy Hellenen ind.
Das Städchen fieht mit feinen wohnlichen Häufern, feiner
prachtvollen Vegetation, feinen fprudelnden Waſſern, feinen
vielen Café's fo freundlich aus, daß man Mühe hat, fi zu
überreden, man babe das uralte Glanum vor jih. Erſt eine
itarfe Viertelftunde hinter den Häufern reden die zwei berühmten
Monumente deutlich und überzeugend von feinem hohen Alter:
thbum. Sie gehören wohl zu den interejlanteften und fchönften
Antiten des ſüdlichen Frankreichs und beftehen aus einem
TIriumphbogen und einem Maufoleum.
Der Triumphbogen jteht auf einem maſſigen Unterbau, von
welchem aus er fih, in den Haupttheilen trefflich erhalten, mit
jeinem Portikus zu einer bedeutenden Höhe erhebt. Nur der
oberjte Theil des Ganzen, der auf die Wölbung drüdte, ift
gänzlich ruinirt, faſt bis hinab zu der herrlichen Guirlande, die,
aus Tannzapfen, Weintrauben, Dlivenzweigen beitehend, auf
beiden Seiten anmuthig und in ihren kleinſten Theilen vollendet
die Thore befränzt. Vier Bilafter vorifher Ordnung erheben fi)
Sechstes Kapitel. 14]
vom Sodel in den vier inneren Eden und tragen die meiten,
von Roſen geihmüdten Archivolte. Beide Hauptjeiten des Ge-
bäudes find recht? und linf3 von diefer mit je zwei, aljo im
Ganzen mit acht Säulen geihmüdt, die ungefähr auf halber
Höhe der innern Pilaſter beginnen und ſich mit ihren Kapitälen
faft um die halbe Länge über dieje erheben. Sie find fannelirt
und korinthifcher Ordnung. Da von jevem Gäulenpaar die eine
am äußerjten Ede des ganzen Gebäudes, die andere in der Näbe
der Archivolte angebracht ift, jo entjtehen zwiſchen ihnen auf
jever Hauptfeite zwei Zwifchenfelver oder flache Niſchen, die von
mehr und minder verftümmelten Basrelief? ausgefüllt find. —
Jedes Basrelief ftellt einen gefejlelten Mann an der Seite eines
gefefielten Weibes vor — die wohl unterworfene Provinzen be:
deuten jollen, da der Schnitt ihrer Kleidung auf barbarijche
Völkerſchaften ſchließen läßt. Von all diefen acht Figuren haben
nur zwei ihre Köpfe. Die weiblichen der einen Seite jcheinen
nicht jo wie die der andern gefefjelt zu fein. Die eine derjelben
bat Schilde, Kriegstrommeten, Fasces und allerlei Waffen zu
ihren Füßen und figt graziös, zugleich gebieterifh da, während
der gewaltige Mann an ihrer Seite an einen Baum gebunden
ift. — Alle diefe Figuren lehnen mit dem Rüden an dem Hinter:
grund, welcher mit breiter und reicher, hoch über ihre Köpfe ſich
erhebender Draperie geihmüdt iſt. Ueber der Guirlande, die
den Eingang ziert, jieht man noch Refte von langgeftredten Fi-
guren, die, nach der beiterhaltenen zu ſchließen, Fama, Victoria
u. dgl. vorjtellen mochten. Auch die beiven Schmaljeiten haben,
wie e3 noch die Reſte von Konfol3 verrathen, ehemals Bas:
relief3 getragen, doch ijt heute jede Spur verſchwunden. Obne
den zertrümmerten Ueberbau, der einzelne losgelöste Quadern
und Anfänge ohne Fortjegung und Fortjegungen ohne Anfänge
zeigt, würde der ganze Bau noch heute ganz und gar nichts
Auinenhaftes haben. Selbſt die zerbrohenen Säulen an den
vier Haupteden find jo regelmäßig, fait gerade in der Mitte
getheilt, daß ihr Anblid nur wenig ſtört. Wie bei allen Römer:
142 Tagebud aus Languedoc und Provence.
bauten, ift auch bei diejer das Maſſenhafte vorherrihend, und
jie würde vielleicht den Eindrud des Schwerfälligen machen, wenn
ihr nicht die feinen Skulpturen, die meilterhaft und zart gearbei:
teten Verzierungen, die beweglichen Kannelirungen der Säulen
und Pilaſter gewiſſermaßen Flügel gäbe. Um einen ungefähren
Begriff von dem Leben in diefem Gebäude zu geben, könnte man
vielleicht jagen, e3 jehe aus, al3 wäre ein Römer fein Architekt
und ein Grieche fein Bildhauer gewejen. Dieſes merkwürdige
Monument ift von Vielen al3 herrlich gepriejen, von Vielen als
unbedeutend verworfen worden — Niemand aber wird leugnen,
daß e3 immer ſchön ift, wenn man es nur al3 Rahmen für die
prachtvolle provenzalifhe Ebene betrachtet, die ſich jenſeits des
Bogens, im blauen Dufte jhwimmend, mit ihren cyprefjen:
reihen Fluren, mit ihren Waſſern und Bergen ausvehnt. Ich
meines Theiles habe vor diejer ewigen Jugend der Natur alle
Arhäologie der Welt vergefien.
Menige Schritte von diefem Kriegermonumente jteht ein an:
dered: das Maufoleum. Es iſt ruhiger, einheitlicher, darum
ſchöner. Auf einem pradtvollen Sodel, welcher felbft auf einem
gewaltigen, geftuften Unterbau von Quadern ruht, erhebt ſich
das Gebäude mit feinen zwei Stodwerfen zu einer Höhe von
20 Meter. Das erjte Stodwerk, welches fich gegen das Piedeftal
ein wenig zurüdzieht, iſt vieredig und aus vier Bogen zufammen:
gejegt, die nach den vier Weltgegenven bliden. Jeder dieſer
Bogen ift von Außen mit einer Guirlande befränzt, die im Halb:
freife nach beiden Seiten auf einfache, mit dorifchen Kapitälen
geſchmückte Pilafter herabfällt, während auf jeder der vier Eden
diejes Stockwerks eine fannelirte Säule mit attifcher Baſis und
reihem korinthiſchem Kapitäl prangt. Der Fries, welcher das
Ganze befrönt, zeigt Meerungeheuer, Sirenen, Opferinjtru:
mente zc. Ueber den Bogen erhebt ſich da3 zweite Stodwerl,
das, abgetragen und auf ein Piedeftal geftellt, für ſich ein rei:
zendes und in fich vollendetes Kunſtwerk geben würde. Es bildet
einen kleinen Tempel, der aus zehn Säulen und einer von diefen
Sechstes Kapitel. 143
getragenen Kuppel bejteht. In feinem Innern, von allen Seiten
fihtbar, jtehen zwei folofjale, in die Toga gekleivete Römer. Das
Ganze jcheint lebend, wie eine Pflanze, wie ein Blumenkelch.
Die Säulen find wie die an den Eden des erjten Stockwerkes
beſchaffen — fie find fannelirt, und Bafen und Kapitäle haben mit
jenen die größte Aehnlichkeit, nur find fie in jedem Theile feiner,
zarter, beweglicher, jowie fie vielleicht um ein Drittheil dünner
find. Der Fries, der jie von der Kuppel trennt, ift eine Blumen:
fette. Da die Kuppel eine koniſche Form hat und der ganze Tempel
mit feiner Bafe über dem erſten Stockwerke, ſowie diefer über dem
Piedeſtal und das wieder auf dem Unterbau ein wenig zurüdtritt,
gewinnt das Ganze etwas Pyramidaliſches, Himmelaufftrebendes
— ohne ſich, wie gothiſche Thürme, myſtiſch zu verlieren.
Bemerkenswerth ſind noch die Basreliefs, welche das Piedeſtal
ſchmücken. Sie haben von der Zeit und manchem Vandalen viel-
leiht am Meijten gelitten. Doch kann man bei näherer Betrad:
tung noch ungefähr den Gegenjtand erkennen, den fie voritellen'
jollen, und Manches in der Arbeit lobenswerth finden. Das
unbedeutendjte von allen ift wohl das nördliche, das ein Reiter:
gefecht vorftellt. Pferde, Menſchen — Alles ift hier gleich häßlich
und ungefchidt; Verkürzungen kommen da vor, die geradezu wie
die gewaltſamſten und unnatürlichjten Verrenkungen widerlich
find. Biel bejjer find, in manden Theilen ſogar meijterhaft, die
Basrelief3 der drei andern Seiten, von denen das eine eine Jagd,
da3 andere einen allegorijhen Triumphzug mit geflügelten Wei:
bern, und das dritte den Kampf um einen Leichnam, vielleicht
den Kampf um den todten Patroflus zum Gegenjtande hat. Ueber
den Figuren der Basreliefs find Blumenguirlanden angebragt,
die von Heinen Jungens, oft in den poſſierlichſten Stellungen,
getragen werden. Was den Kunftwerth betrifft, jteht das ganze
Basrelief in feinem Verhältniffe zum Net des Monumentes.
Das Material zu diefen beiden Monumenten von St. Remy,
jowie zu den meijten Bauten der Römerzeit und des Mittelalters
in diejen Ländern, jollen die ungeheuern Steinbrüche geliefert
144 Tagebud aus Languedoc und Provence.
haben, vie ſich nicht fern von hier unter den Alpinen hinziehen.
Sie find jo meitläufig und mit ihren hundert und hundert
Gängen jo labyrinthiſch verfchlungen, daß fih Niemand nur auf
eine Heine Entfernung bineinwagt, aus Furt, den Rückweg
nicht wieder zu finden. Man erzählte mir eine rührende Geſchichte
von zwei Kindern, die jich, Beeren juchend, in diefem Labyrinthe
verloren haben. Erſt nah fünftägigem Suchen fand man jie,
eins ana andere gelehnt, vem Tode nahe. Die frommen Seelen,
da fie fich fterben fühlten, hatte eing dem andern jeine Sünde
gebeichtet.
Links am Wege, der von St. Remy in die Alpinen führt,
liegt, von Bäumen ſchön bejchattet, ein einſames, mweitläufiges
Gebäude. Es ift ein Jrrenhaus und dient jegt der Mad. Lafarge,
die ed, der befiern Lage wegen, mit dem Gefängniß von Mont:
pellier vertaufcht hat, zur Wohnung. Wie e3 jcheint, kann Mad.
Lafarge ihren Aufenthaltsort nad) Belieben wählen. Das macht
die Broteftion bei einem forrumpirten Weibe, das ganz Franl:
reich für eine Giftmifcherin hält. ! Wenn einer der Gefangenen
von Belle⸗-Isle, der Gefundheit wegen, fein Gefängniß verändern
wollte, man würde ihm höchſtens eine Zelle auf der brennenden
Küfte von Bona geitatten.
Bald verihmwand auch dieſes Gebäude hinter und und mit
ihm die Lieblichkeit der weftlihen Provence. Immer aufmärts
fteigend, verloren wir ung in die MWüjtenei der Alpinen. Mit
dem erjten Schritte in die Schlucht, durch welche die Straße über
dieſen Gebirgszug führt, verſchwindet alle Vegetation. Kein
Grashalm, gejhmweige denn ein Baum, ift zu jehen. Aus den
vermitterten Schichten, die haltlos die Abhänge beveden, reden
fih gewaltige Felſenmaſſen vor, fpringen ungeheure Felskoloſſe
heraus und verfperren die Straße, die fih mühjam zwiſchen
diefen Kolofjen und einem Abgrunde fortwindet, je nach hundert
Schritten verſchwindet, um fich plößlic wieder und gewaltiam
! Sie wurde 1852 ganz begnadigt und ftarb nod im jelben Jahr.
Sechstes Kapitel, 145
über Gerölle weiter zu ſchleppen. Auf ven oberften Spigen der
Berge lagern Felsjtüde fo jonderbarer Bildung, daß man ver:
laſſene Schlöſſer, gigantiihe Rinverheerven, verfteinerte Hirten
zu fehen glaubt. — Zum Glüde war der Himmel ummölft und
hatte ein Wlagregen die Luft abgekühlt, ſonſt hätten wir wie
durch meilenweite Bleivächergefängnifje wandern müſſen. Auf
dem ftundenlangen Marſche, ver bald auf der nothoürftigen
Straße, bald im Bette eines vertrodneten Wildbaches fortging,
und auf dem wir nod, da wir einer Wüſte entgegenzogen, unjere
Lebensmittel mittragen mußten, begegnete ung feine menjchliche
oder thierifche Seele. Wir waren in der vollendetiten Einſam—
feit. Unſere Sorge blieb, ob die Sonne nicht doch die Wolkendecke
durchbrechen und und mit ihren heißen Pfeilen bejchieken werde.
Wir waren in den Hundstagen und in der Provence, und zwi:
ihen dieſen kahlen Felſen hätten wir jeden Strahl bundert-
und taujendfach gefühlt. Glüdlich erreichten wir die Höhe des
Gebirgsrüdens noch vorher. Die jenfeitige Ebene war bald er:
veicht, und nun ging der Weg dem Süden zu, das Gebirg ent:
lang, das wir der Breite nach überftiegen hatten. Durd die
vielen Schluchten fahen wir in fein troftlofes3 Innere. Am Ein:
gange der einen fanden wir feit Stunden die erfte menjchliche
Seele, einen Schäfer mit feinem riefigen Wolfshund; die Heerde
mweibete in der Schlucht. Der Mann fhien ganz glüdlich, wieder
einmal, nad langer Zeit vielleiht, Gefchöpfe feiner Gattung zu
jehen. Auch ließ er uns fobald nicht weiter, fondern begann ein
rührendes Klagelied über jeine Einſamkeit anzuſtimmen. ch
verjtand nur wenig von feinem Patois, aber der Ton feiner
Stimme, der Accent des Schmerze3 ging mir zu Herzen. „Smmer
nichts al3 dieſe Feljen zu ſehen, des Abends, wenn mir bie
Augen zufallen, und Morgens, wenn ich fie wieder aufjchlage,
und nichts als die Schafe und das elende Gras zwijchen den
Steinen — der Menſch ift nicht dazu gemacht!“ Er fragte ung,
woher wir fämen? — der Brofefjor antwortete ihm: aus Paris.
Paris! rief er aus und flug fih auf ven Hut. Seine Augen
Morig Hartmann, Werke II. 10
146 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
leuchteten; er jchien ſich eine phantaitiiche Voritellung von ver
Stadt zu mahen, in der jo viele Menjchen zuſammenwohnen.
Der Profejlor fragte ihn, ob er's zufrieden wäre, in Paris zu
wohnen, unter der Bedingung, nie wieder hierher zurüdzufehren ?
Er überlegte einen Moment, dann aber jehien er plößlich mit
jeinen Schafen und Felſen verjöhnt und antwortete mit einem
entihiedenen: Nein. Er erzählte ung no, daß fein Herr, ein
reicher Fabrifant aus St. Remy und Gutöbefiger in diefer Ge-
gend, ihm diefes Jahr 50 Franken von feinem Gehalte abziehe,
weil ver Hagel die Mandelbäume gejchlagen hatte, dann, daß
er beftändig auf feiner Hut fein müfje gegen die Wölfe, die jeven
Abend aus den Bergen hervorfommen. Mit vielen Segens—
wünjchen entließ er uns und zeigte und noch den fürzeiten Pfad,
ver nach Les Baur führt.
Es iſt bezeichnend für die Stadt, die wir jehen wollten, daß
diejer einzige Weg ſich bald ganz und gar verlor und troß aller
Mühe nicht wieder aufzufinden war. So ftiegen wir denn auf
gut Glüd mitten durh Wein: und Manvelbaumpflanzungen,
über ausgetrodnete Bäche, durch Heden und Gejträuche immer
gradaus dem Felſen entgegen, der gewaltig und breit den Horis
zont gegen Süden abjperrt und auf feiner höchſten Spige die
jonderbaren Ruinen eines Schlofjes trägt, von dem man nicht
weiß, ob fie nur die Fortſetzung des Felſens, oder ob der Fels
ihr fünftliher, von Cyklopenhand aufgeführter Unterbau: ift.
Denn diejer Feljen felbit läuft in feiner ganzen Breite, rechts
und lint3 vom Schloſſe, oben in Zinnen und Mauern aus, die
nicht durch die geringjte Fuge oder Rige von ihm getrennt find,
und blidt da und dort, tief unter diefen Zinnen und Mauern,
dem Wanderer mit Nijchen und Schießſcharten und Fenftern ent:
gegen. So präfentirt fi die Stadt Les Baur dem Wanderer
zuerft, und er fragt fi, ob er eines jener Naturfpiele, jener
unmillfürlih gigantiihen Nahahmungen menjchlicher Bauwerke
vor ſich habe, wie fie ihm fehon in den Alpinen, in den ausge:
ſchwemmten meitlihen GCevennen, im Thale von St. Guilhem du
Sechstes Kapitel. 147
Defert begegnet find? Hat er aber den Feljenweg, den er auf
halber Höhe des Berges endlich wiedergefunden, erjt ganz er:
Hommen, dann fieht er, um e3 in Einem Worte zu fagen, eine
ganze, große und prächtige Stadt aus einem Feljen gehauen, wie
der Bildhauer ein Menjchenbild, eine Baje aus dem nachgiebi-
gen Blode jhlägt. Ja! eine ganze, große, mit aller Pracht
des Mittelalter8 und der mwiedergeborenen Griechenfunft ge:
ſchmückte Stadt, eine Stadt mit Wällen und Thürmen und Zinken
und Zaden, mit Baläften, Kirchen, Kapellen, Hojpitälern, Ver:
ließen, mit Treppen, Balkonen und Terraſſen aus einem unge:
beuren Monolith gehauen — eine Stadt von lururiöfen Thebai:
den — eine Stadt, die vielleicht nicht ihres Gleichen findet, wenn
nicht in der fabelhaften Bergveite, von der Curtius in des Aleran-
ders Feldzügen erzählt, und über die wir jchon in der Schule
jtaunen oder lächeln.
Wenn man nun dur den ſchmalen Eingang in das Innere
und in die Gafjen tritt, erhebt ſich allerdings gewöhnliches, oder
wenigſtens von Menjchenhand aufgeführtes Gemäuer — aber
e3 jind nur Façaden, mas man ſieht — das Innere der Häufer,
die Vorfäle, Gemächer, Treppen find in den Feljen gegraben.
Hie und da ift aushelfend, und um mande Verbindung herzu:
jtellen, noch anderes Gemäuer angebracht. Alles aber im ſchön—
jten gothiſchen oder im Renaiſſanceſtyle won der edelſten Einfach—
beit. In einer Kapelle bemerkten wir erjt nach längerer Prüfung,
daß nur die ſchöne Spigbogenwölbung aufgejeßt war — im
Mebrigen bejtand fie aus Felswand, war jie nur eine gemeißelte
Vertiefung und, die Wölbung ausgenommen, nur ein Theil des
Einen großen Steines, der die Stadt bildet. — Nicht alle Häufer
jind fo vollflommen erhalten, wie dieſe Kapelle. Von vielen ift
der Vorderbau eingeftürzt und wird da durch eine wachjende
Wand von Winden und Flechten erjegt, die jich von der Höhe
herabſenkt und die Säle und Hallen mit einem Vorhange bevedt.
Die Facaden aber, die bis heute dem Berfalle widerjtanven,
bieten an Thüren und Fenftern mwahrhafte Meifterwerfe und
148 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
bilden mit den Felſen und den wilden Pflanzen da und dort fo
reizende Winkel, wie fie die [hönfte Phantafie eines Malers nicht
befjer erfinden fann. Ein Fenfter mit der Inſchrift „Post tene-
bras lux* (welche, nebenbei gejagt, auf Calvinismus hindeutet,
der in diefer Gegend jo mächtig gewefen), mit verjchievenen
Skulpturen in der Nachbarſchaft, will ich dem deutſchen Wanderer
noch beſonders empfohlen haben. Alle die Reſte der alten Stadt
verrathen, neben der Energie des Erbauers, eine entſchwundene
Pracht, ald wäre fie nur von Fürften, und einen Schönbeitsfinn,
al3 wäre fie nur von Dichtern bewohnt gewefen. Beides war,
wie wir fehen werben, gewiſſermaßen der Fall.
Tritt man au dieſen Gaſſen, die die untere Stadt bilden,
hinaus und hinauf auf das erhöhte Plateau, welches die Stadt
breit und luftig in einem Halbfreife umgibt, fo bietet fih ein
Anblid dar, der noch ſtaunenswerther ift, al3 der, an dem man
fih eben erfreut hatte. Zuerſt fieht man die Feſtungsmauern,
die eins mit dem Felfen find, und die nur dadurch entftehen
fonnten, daß man das ganze, weite Plateau ausgehauen hatte.
Dann aber auf einer gewaltigen Kante, die aus dem Urſtock er:
fteht, erhebt fih das Schloß, das die Stadt zu feinen Füßen,
die Thäler, die Berge und das ganze Land noch heute, obwohl
in Trümmern, ſtolz und mächtig beherrſcht. Auch hier ift das
angebqute Gemäuer größtentheils eingeftürzt, aber was thut e3?
Man fieht nun ungehindert in das innere des Schloſſes, das
feine Geheimniffe mehr hat; die zierlihen, aber unvergänglich
in den Felfen gehauenen Treppen führen aus freier Luft in freie
Quft, dur Hallen und Gemächer wehet der Wind, und in den
Berließen lagert provenzalifcher Sonnenſchein. Auf der höchften
Spige, neben einem balbverfallenen Thurme, fteht noch eine
einzelne Mauer mit zwei berrlihen Ogiven — ein würdiger
Rahmen für die weite Landjchaft, die fih unten ausdehnt: gegen
MWeften bis an den Pic St. Loup und die Küjfte von Cette, gegen
Oſten bis an die Schweizeralpen und gegen Süden auf die blaue
Fläche des mittelländifhen Meeres. Zu Füßen aber liegt ung
Sechstes Kapitel. 149
die traurige Stadt. Eelten, dab man in ihren Gafjen ein menic:
liches Weſen erblidt. Einft hat fie Taufende beherbergt in ihren
ſcheinbar unvergänglihen Mauern, heute bat jie 60— 70 Ein:
wohner, und dieje find im Sommer meist abwejend, um in den
Sümpfen der Camargue als Taglöhner ihr fümmerlices Brod
zu verdienen. Einjt war fie von Fürften, Rittern und Sängern
bewohnt, heute hat ſich das Elend in ihre Ruinen eingeniltet.
In den Gaflen ſahen wir nur wenige Weiber und Kinder müßig
vor den Häufern jigen; in der oberen Stadt fanden wir einen
Mann eifrig beichäftigt, die Facade eines prächtigen Haufes zu
jerftören, um eine Angel für feine Thüre zu fuhen. Wenn die
Einwohner jo mit ver Zerftörung fortfahren, wie fie jeit Jahren
begonnen haben, mwerden in Kurzem die herrlihen Bauten ver:
Ihmunden und von der ganzen Stadt nur die in den Felſen ge:
bauenen Theile übrig bleiben. Man hatte mir das Holpital mit
feinen pradtvollen Gewölben und Säulen gerühmt ; ich fand es
nicht mehr. Der Maire der Commune hatte es abgebroden, um
fih aus den Trümmern eine Gartenmauer und aus den Säulen
ein Gelände für eine Vizinalſtraße aufzuführen.
Wenn Aigues-Mortes einem fteinernen Nitter mit Schwert
und Schild und Lanze gleicht, wie wir ihn oft auf alten Grab»
mälern fehen, jo gleicht die Stadt Les Baur einer Leiche in
freier Luft, die langjam verwejt.
Die Umgebung ijt ihrer würdig. Gegen Süden iſt ihr ge:
mwaltiger Sodel von einem Amphitheater fteiler Felfen umgeben,
von denen fie nur durch ein ſchmales Thal oder vielmehr dur
einen Abgrund getrennt ift und die ihren äußerten Feſtungswall
bilden. Gegen Südweſten öffnen fih zwar die Felſen als ein
Paß; diefer ift aber jo ſchmal, daß er in geringer Entfernung
mit der Wand in Ein3 verſchwimmt. Mehrere Grotten, die ihre
hohlen Augen gegen Les Baur öffnen, find von Heiligen:
Legenden und Feenſagen belebt, und da und dort bliden aus dem
Gejtein Fagaden hervor, die eine Felfenwohnung à la Les-Baux
verrathen — mwürdige Landhäufer einer folhen Stadt.
150 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Der Ursprung Des Baur ift in Sagen gehüllt. Die Legende
Ihreibt ihre Gründung dem heiligen Dreikönig Balthafar, oder
einem jeiner Abkömmlinge gleihen Namens zu; daher auch der
Name Baltio, aus dem fpäter Baur wurde. Die Langue d’oc
verwandelt faft ebenjo oft wie die Langue d'oui das al in au.
Auch führten die Fürften von Baur einen Kometen mit einem
glänzenden Silberjhweif im Wappenjchilde, als Erinnerung an
den Leitjtern ver Magier. Unter den Eleinen Herren des Südens
waren die Herren von Baur die erften, melde fich im zehnten
Jahrhundert unabhängig und fouverän erklärten. Bald dehnte
jih ihreMacht faft über die ganze Provence aus, und wir fehen
fie durch mehrere Jahrhunderte im ganzen Süden eine große
und glänzende Nolle jpielen. Als Kaiſer Konrad wieder vie
deutihe Macht in Arelat herſtellt, fommen fie auch mit dem
Reihe in Berührung und treten bald ala Guelfen, bald als
Ghibellinen feindlich oder freundlich gegen die Hohenftaufen auf.
Ebenſo find fie bald Bundesgenofjen des Grafen von Toulouje,
bald milde Verfolger ver Waldenſer und Albigenfer. Zur Zeit
der Kreuzzüge erwerben fie jogar Nechte auf den byzantinifchen
und andere, neuere Throne des Orients. Durch Heirath werden
fie mit den verſchiedenſten Fürften: und Königsgeſchlechtern ver:
wandt, jo aud mit den Fürſten von Orange in der Dauphiné,
und jomit die Stammväter der Fürftengefchlechter, die noch heute
in Naflau herrſchen, vie ehemals Holland befreit und England
genommen haben. Cine rührende Geftalt unter den Töchtern
aus dem Haufe Baur ift die Prinzeſſin, welche einem ferbiichen
Fürſten vermählt wurde. Amurath blenvete ihren’ Gatten und
verjagte ihn aus feinen Ländern. Treu wie Antigone, folgt ihm
und leitet ihn feine Gemahlin ins Elend des Exiles. — Mit Karl
von Anjou kommt das Haus der Baur nad Stalien, das fie
durch mehrere Generationen als fiegreiche Feloherren, als Intri—
guanten, al3 Rathgeber oder Günjtlinge der Könige oder Köni-
ginnen beherrfhen und für ihren Glanz und ihre Bereicherung
ausbeuten. Bald haben fie unzählige Fürftentitel und ausgedehnte
Echtes Kapitel. 151
Ländereien in diefem Lande erobert und vergefien mebr und
mebr ihr Heimatland, und der Glanz ihrer Stadt verfällt.
Ihres höchſten und fchönjten Ruhmes aber erfreuten ſich
Stadt und Fürften pon Baur im zwölften und vreizehnten Jahr:
hundert, der Blüthezeit ver provenzaliiben Poeſie. Der Hof
von Baur war der Sammelpunkt aller Trouveurs oder Trouba:
dours — er wiederhallte von Geſang, er ſah Liederwettkämpfe
und Liebeshöfe. Unter allen Trobadouren, und man fann die
Zahl derer, die der fruchtbare Boden zwijchen dem Ebro und
Arno hervorbradte, nah Hunderten zählen, waren nur wenige,
die nicht einmal auf ihren Fahrten den fteilen Felſenpfad herauf:
titten, um fich wieder reich beſchenkt zu entfernen und die Tha—
ten, ven Ölanz, die Freigebigfeit, den Gejchmad der Füriten von
Baur zu verfünden, jo weit die romaniſche Sprache reichte. In
unzähligen Sirventen und Kanzonen werden fie gerühmt, und
viele ihrer Frauen und Töchter find der Gegenftand der Liebe,
de3 Preiſes bei den ausgezeichnetiten Troubadours. Fulco, der
deutſchen Lejern aus Lenau's Albigenjern befannt ift, verzehrte
fih in Liebe zu Frau Adelaſia, der Gattin feines Beſchützers
Berald, Fürſten von Baur. Dieſe Liebe machte ihn zum aus:
gezeihnetiten Dichter feiner Zeit und gab ihm Accente und Me—
lodien ein, durch die die provenzaliiche Dichterfprache bedeutend
bereichert wurde. Seine Liebe war unglüdli und wurde nod)
unglüdliher durch den Zod der geiftvollen und ſchönen Fürftin.
Doll Melandolie zog er fih in ein Mönchskloſter zurüd und ver:
fiel in jenen fchauerlihen Aëzetismus, der ihn auf den Bijchofs:
ftuhl von Toulouſe geführt und aus dem zarten Sänger den
fanatifhen Verfolger ver Walvenfer gemacht hat.
Wilhelm von Cabeſtan liebte Berengaria von Baur. Ihr
aber ſchien feine Leivdenfchaft noch zu ſchwach, zu kühl; um fie
heißer anzufachen, gab ihm die feurige Provenzalin einen Liebes:
trank, der ihn aufs Krankenlager warf. Nach langem Leiden
wieder genejen, wandte er ſich mit Widerwillen von Berengaria
ab und huldigte in unjhuldigen Liedern der Frau des Geiqneur
152 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Raimond von Seillans. Die Dame von Seillans liebte ihn
wieder. Aber der eiferfüchtige Gatte tödtete den Dichter, riß
ihm das Herz aus und fette es feiner Gattin zum Abendeſſen vor.
„Dieſes Alles ift gefchehen
Mit dem Herzen eines Dichters.“
Auf höchſt fonderbare MWeife wurde Blacas des Baur von
Sordello gefeiert. Diefer Dichter (derjelbe, ven Dante ins Pa:
radies verjegt — Sordello:Mantovano, der Verfafler des Teforo
de Tefori, der von berühmten Männern aller Zeiten handelt)
fomponirte nad dejien Tod ein höchſt energifches, noch heute
beitehendes Sirvente, in welchem er die meiften Machthaber
Europa’3 mit Namen aufruft und fie einladet, von dem Herzen
de3 edlen Blacas zu eſſen, um fich von jeinen Tugenden, die
ihnen mangeln, auf dieje Weife einzelne anzueignen. Wenn ich
mich recht erinnere, To findet ſich dieſes barode, aber muthige Ges
dicht überjegt in Diez’ vortrefflichem Buche über die Troubadours.
Aber nicht nur Beihüger und Helden der provenzaliichen
Poefie waren die Fürften von Baur; ihr Haus lieferte neben
mandem gelehrten Herrn auch mehrere trefflihe Dichter. Der
vorzüglichfte unter diefen war wohl Wilhelm von Baur, Prinz
von Drange. Seine Stoffe find edel, und die Sprade ijt der
Stoffe würdig. Aber jein Leben wurde ihm von Guy von Ca:
vaillon, einem andern Troubadour, aufs Unbarmberzigite ver:
bittert. Ununterbroden verfolgte ihn diejer Schalf mit feinem
Spotte. Den Stojf gaben zwei Abenteuer, die auf den Prinzen
allerdings den fürchterlihen Fluch der Lächerlichkeit warfen. Ein:
mal ließ er fih von einem Kaufmann auf die plumpejte Weije
prellen ; ein andermal nahmen ihn einige unbewajfnete Fiſcher
gefangen und verlauften ihn an jeinen Feind, den Herrn von
Poitiers.
Im dreizehnten Jahrhundert kommt noch ein Poet, Ram—
baud des Baur, vor, und im vierzehnten, da ſchon die Liebeshöfe
verjhmwinden und die provenzalifhe Poefie ihren Gipfelpuntt
Sechstes Kapitel. 153
hinter fih hatte, finden wir nod eine Prinzeflin von Baur in
einen bichterifchen Liebeshandel mit tragiijhem Ausgang ver:
wickelt. Baufjette von Baur liebte den Kanonikus von Arles,
Roger, der ihretiwegen aus der Kutte gefprungen war und ſich
an ihren Reizen zum Dichter begeiftert hatte. Das Paar gehörte
zu den jhönften im ganzen Süden und lebte einige Zeit glüdlich
im Genuffe der Poeſie und der gegenfeitigen Schönheit. Aber
ein Herr von Baur empfand ein Nergerniß über dieſe Liebe und
erihlug den Dichter. Da geſchah ſchon in jener Zeit, was ſeit
damals öfters gejchehen fein foll: die unglüdliche Wittwe ver-
heirathete fih. —
Der Art jind die Bilder und Erinnerungen, die am geijtigen
Auge des Wanderers vorüberziehben, wenn er auf der höchſten
Spige diejer Ruinen im einfamen Ogivenfeniter figt, die Beine
binunterbaumeln und die Blicke über die Stadt vor ihm und die
vielbefungene Provence, das Land der Blüthen und Gejänge,
ſchweifen läßt. Und fie begleiten ihn noch, wenn er ſich ſchon
längjt wieder in das fahle Gebirge verjenft hat. Weber uns
ſchwebten fie in Geftalt von fünf wilden Falten, die fich elektri-
ſchen Wollen entgegenſchwangen und, meite Kreife ziehend, die
herabdrohenden Blige, ihre Brüder, erwarteten.
Aus einer Brofhüre des Herrn Canonge in Nimes erfuhr
ih nod, daß Ludwig XIII., die Unbezwinglicheit diefer Felſen—
ftabt fürchtend, einen Theil ihrer Feſtungswerke zerfprengt habe,
damit fie nicht den Hugenotten als Aſyl diene, und daß die
Stürme von 1789 zur Zerftörung auch diefes Stüdes Mittel-
alter das Ihrige beigetragen haben. Die eine neue Zeit bauen,
dürfen feine antiquarifchen Grillen haben.
Aber im wilden Gebirge angelommen, wird man von den
romantischen Erinnerungen an die prachtliebenden Prinzen von
Baur, an Minnejänger und Liebesabenteuer verlaflen; die
rüdwärts blidende Bhantafie bevölkert dieſe Schluchten und Rige
mit armen Flüchtlingen, die, dem Schwerte des Verfolgers ent:
ronnen, in Höhlen und Wildniffen Verſtecke fuchen ; mit Trümmern
154 Tagebud aus Yanguedoc und Provence.
einer frommen und traurigen Gemeinde, die durch Jahrhunderte
mit unvergleihlibem Heldenmuthe ihr Kreuz getragen: die Heine
Gemeinde der Waldenier.
Im dreizehnten Jahrhunderte waren jie aus der Daupbine
und Piemont herübergetommen. Ihre Zahl erreichte nicht Die
zwanzig Taufend, aber ihr ftiller Fleiß verwandelte die Wild:
nifle der Provence bald in einen blühenden Garten. Geichicht:
jhreiber jagen, daß ein Stüd Yandes, das vor ihrer Ankunft
nicht vier Thaler Gewinnſt gebracht, kurze Zeit darauf für zmwei:,
drei= bis vierhundert vermiethet worden. Sie erbauten auch zwei:
undzwanzig größere und Kleinere Fleden, die fie friedlich bewohn-
ten. Felice erzählt von ihnen nad alten Chroniken:
„Es waren ruhige Leute, von guten Sitten, bei ihren Nach—
barn beliebt, treu ihrem Worte, ihren Verpflichtungen jtreng nad:
fommend, die für ihre Armen forgten und liebevoll waren gegen
den Fremdling. Man konnte jie auf Feine Weije zu Lälterung
oder Flüchen bewegen; fie ſchwuren nur, wenn es die Rechtspflege
verlangte. Auch daran erkannte man fie, daß fie fich aus jeder
Geſellſchaft, in welcher Unjchidliches verhandelt wurde, entfernten,
um fo ihr Mißfallen zu bezeugen. Man konnte ihnen nicht3 vor:
werfen, wenn nicht etwa, daß fie in Städten und bei Märkten die
Klofterkirchen wenig befuchten, und daß, wenn fie je hineingingen,
fie ihr Gebet verrichteten, ohne die Heiligen anzufehen. Sie gingen
an den Kreuzen und den Bildern auf den Wegen worüber, ohne
ihnen Ehrfurcht zu beweifen. Sie ließen feine Mefje lefen, noch
ein libera me, noch ein de profundis; fie bedienten ſich nicht
des gemeihten Wafjerd, und menn man e3 ihnen ins Haus
brachte, war e3 ihnen gleichgültig. Sie unternahmen feine Wall:
fahrten, um Ablaß zu gewinnen. Wenn es donnerte, madıten
fie dag Zeichen des Kreuzes nicht, und man fah fie weder für
Todte noch für Lebende Opfergaben darbringen.
„Zange unbekannt, erregten die Waldenfer weder die Hab-
jucht der Priefter no den Zorn der Großen, und die Adeligen,
deren Einkünfte fie vermehrten, beihüßten fie.. Sie wählten aus
Sechstes Kapitel. 155
ihrer Mitte ihre Paſteure oder „Barben“, die fie in Erkenntniß
und Ausübung der Schrift unterweifen follten. Zum erften Male
wurden dieſe Keter bei Ludwig XII. denunzirt, als dieſer dur
die Dauphine fam. Er ließ eine Unterſuchung anftellen, und als
er das Ergebnif fennen gelernt, befahl er, die ſchriftlichen Pro:
zeduren, die man jchon begonnen hatte, in den Rhone zu werfen,
und fagte: Dieje Leute find beſſere Chrijten als wir!
„Aber nicht fobald ließen die Priejter von der einmal be:
gonnenen Verfolgung ab, und als endlich, dur die Erfolge
Luthers und Zwingli’3 ermuntert, die Waldenfer in der Schweiz
eine franzöfifche Ueberſetzung ver Bibel drudten und fich ihnen
viele Adelige, Gelehrte, Advokaten ꝛc. zuneigten, brachte man
e3 dahin, daß das Parlament von Air folgenden Beſchluß faßte:
Siebenzehn Einwohner von Merindol (dem beveutenditen Orte
der Walvenfer) jollen lebendig verbrannt, ihren Weibern, Kin:
dern, Anverwandten joll der Prozeß gemacht werden, und wenn
fie nicht ergriffen werben fünnen, jind fie für ewige Zeiten aus
dem Königreiche verbannt. Die Häufer von Merindol find zu
ichleifen und bis auf den Grund zu zerftören, die Wälder follen
nievergehauen, die Fruchtbäume ausgerifjen und der Ort unbe:
wohnbar gemacht werben, jo dab fih Niemand dort niederlafien
fönne und dürfe.”
Franz J., der zu jener Zeit Rüdfichten für die proteſtantiſchen
Fürften Deutjchlands hatte, ſchickte einen Kommiflär in die
Provence, welcher über die Walvenjer einen ungefähr mit jener
Schilderung von Felice gleihlautenden Bericht abjtattete. Der
König ließ darauf hin den Beſchluß des Parlaments nicht voll:
ziehen, fondern, o der Gnade, „verzieh” den Waldenſern unter
der Bedingung, daß fie binnen drei Monaten in den Schooß der
allein jelig machenden Kirche zurüdfehren. Darauf jchidten die
Waldenfer an den König einen Boten mit ihrem Glaubens:
befenntnifje, in welchem fie jeden Satz mit dem Terte der Schrift
belegten. Franz I. war ganz erjtaunt und fragte, wo da ein
Fehler zu finden jei? Keiner feiner Priefter wagte, den Mund
156 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
aufzuthun. Aber die in der Provence ſchickten drei Doktoren der
Gottesgelehrtheit aus, die Ketzer zu befehren. Kurze Zeit darauf
hatten ſich alle drei Doktoren jelbft zur Lehre der Waldenſer
befannt.
Indeſſen hatte Franz I. mit Karl V. und dem Papſte einen
Pakt wegen Ausrottung der Kegerei gejchlofien, und von ven
Prieftern und feiner ſcheußlichen Krankheit, ihrer Bundesgenoflin,
mürbe gemacht, befahl er, dab man jenen jhauerlichen Beihluß
des Parlaments vollziehe.
Nun beginnt ein Schlachten, ein Würgen, ein Berheeren, wie es
bis dahin in Frankreich nur zur Albigenjerzeit vorgefommen war.
Mir wollen uns bei diefem blutigen Schaufpiele nicht auf:
halten. Wir wollen nur jagen, daß die zufammengerafften Söld—
ner, die bi3 dahin meift al3 Räuber in Stalien und den angrän—
zenden Provinzen ihr Weſen getrieben hatten, mit ſchwerer Münze
und Ablaß bezahlt wurden; daß alle Ortichaften ver Waldenjer
von Grund aus zerjtört, ihre Ernte vernichtet, ihre Straßen
aufgemühlt, ihre Brüden zerbrochen, ihre Brunnen gefüllt wur:
den. Sie jelbit, überrajcht, wurden größtentheils jogleid nieder:
gemacht; ein Theil wurde gefangen, um mit Pomp und zu Hun—
derten enthauptet oder verbrannt zu werden. Nur ein jehr Heiner
Reit flüchtete fich in diejes Gebirge, wo fidy ihm hinter nur dem
Flüchtling zugänglichen Felfen, in Schluchten und Grotten ein
ärmliches Aſyl bot. Da aber dieſe Dede eben jo ungaftlich war,
wie die Bewohner rings umher, denen der Legat des Papites
bei Todesſtrafe hatte verbieten lafjen, die Flüchtigen mit Lebens:
mitteln zu unterftügen, jo ging auch diefe Kleine Schaar jämmer:
lich zu Grunde. Sie verhungerte, und ihre Anochen bleichten in
der Wüſte viejes verbrannten Gebirges. — In Venaiſſin, da
man einmal in der Arbeit war, wurde jo gemwüthet, wie in
der Provence, und jo verſchwanden die legten Walvdenjer aus
Frankreich.
Ziebentes Kapitel.
Arles — Gefhichte der Stadt und der Heiratb der ſchönen Ghipiid, auch
Petta, auch Ariftorene genannt — Arelat — Die Arena und ihre verſchiedenen
Geſchichtsphaſen — Verwahrung gegen falfhe Borausfegungen — Gewiffen-
haftes Berbift über Glanz und Verfall der arlefifhen Schönheit — Ein Opfer
der Sitte — Mondſcheinsſchwelgereien — Der Alofterbof von St. Tropbime
und die Eliscampd — Das Mufeum — Ultramontaniämusß in Arles — Adolph
Stahrs Idylle.
Arles, im Juni 1851.
Arles präſentirt ſich ſchön, wie alle Städte, die an einem
großen Fluſſe liegen, Quai's und ein Gegenüber haben. Kömmt
dann noch eine Brüde, Bogen:, Ketten: oder Schiffbrücke dazu,
ift das Maleriihe vollendet. Dur dieſe Schönheiten zeichnen
fih Prag, Mainz, Frankfurt, Köln aus. Mit legterer Stadt hat
Arles eine gewifie Aehnlihkeit; der Rhone, obwohl um zwei
Dritttheile ſchmäler, erfegt den Rhein, Trinquetaille ift Arles—
Deug, die Schiffbrüde fehlt auch nicht, und anftatt des herrlichen
Domes bebt fih bier das antife Amphitheater mit feinen mau:
riſchen Thürmen hoch in den Himmel und überragt die ganze
Stadt, auf welcher noh um ein Jahrtaufend ſchwereres Alter:
thum laftet al3 auf Colonia. Ueberlafjen wir es Antiquaren und
Hiftorifern, ſich über das Alter Arles’ zu ftreiten; Thierry nennt
e3 eine der ältejten Städte Franfreihs, und wir wollen ihm
glauben. Die Arlefer ſelbſt preifen fie viel älter al3 Rom, und
wir wollen ihnen nicht glauben. Oder, wenn der Leſer will,
auch das und no dazu die verfchiedenen Behauptungen, daß
Arles von Trojanern, Celten, Pholeern, Juden ꝛc. gegründet
worden.
158 Tagebuch au3 Languedoc und Provence,
Wir wollen aus Gefälligfeit für die Stadt, deren Gaſt—
freundſchaft wir für einige Tage in Anſpruch nehmen, "und die
um feinen Preis die Tochter, fondern viel lieber die Mutter
Marfeille'3 fein will, annehmen, daß fie in der That jchon be:
jtanden habe und von den galliſchen Segobringern bewohnt ge:
mejen jei, al3 die flüchtigen und umherirrenden Phokeer oder
Phozeer an ver Feljenfüfte des Südens ihre Anfer warfen. So
haben wir jchon hier Gelegenheit, die fchöne und romantifche
Geichichte von der Gründung Marfeille'3 zu erzählen, die dann
freilich von Arles ausging.
Als die Phofeer am Ufer des heutigen Marjeille gelandet,
in der unjchuldigen Abſicht, ſich von da aus auf ehrliche Weife
mit Piraterei zu ernähren, hielten es die Führer Prothis und
Simos nur für anftändig, fi) dem Könige des Landes, der in
Arles Hof hielt, vorzuftellen. Diejer, Nenus oder au Senanus,
nahm fie ſehr hulovoll auf und lud fie ein, an dem Feſte Theil
zu nehmen, das er eben zu feiern im Begriffe jtand. Er wollte
nämlich feine Tochter verheirathen und nad) der Sitte des Landes
fie Demjenigen geben, ver ihr unter den beim Feſtmahle ver:
jammelten Männern am Beten gefiele. Es ijt gar nicht zu ver:
wundern, daß die ſchöne Ghipiis ihre Augen won den groben,
ungeichliffenen Celten ab und auf die ſchönen, feinen Griechen
wandte. Dann waren die Beiden niht nur Griehen, jondern
au Fremde, und der Fremde beſitzt das weibliche Herz im Vor:
hinein. Bei Tiſche gab aljo die ſchöne Ghipiis (meldhe anderwärts
auch Petta genannt wird) den Trinkpofal dem ſchönen Prothis,
da fie doch nicht Beide heirathen konnte. Das war das Zeichen
des Wohlgefallens, ver alte Vater ftand auf, gab feinen Segen,
. und die Sache war abgemadt. Die dummen Gelten machten große
Augen. Man ließ den Notar fommen, und der Schwiegervater
übermacte dem Eidam die ganze Umgegend feines Landungs-
plabes ; und jo iſt Marjeille entitanvden.
Und jo fam Arles im erften Momente ihrer Ankunft mit den
Griechen in Berührungen, und wie die Braut des Prothis ihren
Siebentes Rapitel. 159
ehrlihen Namen mit dem griehiichen Arijtorene vertaufchte,
ebenjo wich Arles’ Barbarei bald griedijcher Klugheit und
griehifcher Bildung. Nach weniger Zeit hat es ſich in eine Art
griechiicher Kolonie umgewandelt, und die Mutter hat, wie das
oft zu gejchehen pflegt, Sitten, Gewohnheiten, Anfiht und
Unterricht de weiter vorgejchrittenen Kindes angenommen. Als
Appendir Maſſilias, welches jpäter eine römische Stadt geworden,
fam e3 ebenfall3 unter römiſche Herrſchaft und war fogar die
Reſidenzſtadt mehrerer römischer Kaiſer. Die Spuren dieſer
legteren jind es bejonders, die man hier antrifft und anftaunt.
Wir Deutihen nannten uns au einmal Herren von Arles und
Arelat — aber fein Stein zeugt von unjerer Herrſchaft. Sie
war auch darnach, troßdem, daß die fräftigften unter den römi:
ihen Königen und deutſchen Kaijern jene Titel führten: Kon:
rad II., Heinrich III., Heinrich IV., Heinrih V., Konrad III.,
Friedrich Barbaroſſa, Philipp von Schwaben, Otto von Braun:
ichweig, Friedrich II.
Sch wohne im Hotel du Forum, auf dem Forum; da haft
du gleich eine Elafjifche Erinnerung. Werfe ich einen Blid aus.
dem Fenster, fällt er auf zwei uralte Säulen mit ſchönen Kapi-
tälen ; fie find ein Weberrejt römischer Thermen. Und begleitet
du mich erſt dur die alte Stadt und läßt deine Blide durch
die herrlichen Mäpchengeftalten nit ganz vom Nüglichen, Unter:
richtenden abziehen, jo will ich dir auf jedem Schritt ein Stüd
Römerthum zeigen. Bon Griechenthum iſt wenig übrig geblieben.
Es wurde von der Quadernfraft des Römerthums unterdrüdt;
aber e3 wuchs als ſchöne Menjchengeitalt aus den Rigen hervor,
wie Blumen aus dem Amphitheater, und blüht noch heute auf
ven folojjalen Ruinen,
Zuerft eilt ver Wanderer dem Koloſſe entgegen, der ihm
ihon von ferne groß und furchtbar entgegenblidt: dem Amphi—
theater. Es fteht auf einer felfigen Erhöhung und überbroht die
ganze Stadt.
Der Eoncierge führte uns ein, und ih, der ich ſchon die
160 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Ampbitbeater von Verona und Nime3 gejeben, jtand erjtaunt
und faſt erfhroden da. So ungeheure Mühe haben fich die Römer
gegeben, jo unendlich gewaltige Mittel haben fie angewendet,
nur um einem graufamen Gelüfte zu genügen? nur um ſich an
blutigen, Menfchenleben verzehrenden Spielen zu erfreuen?
Mein liebes Marfeille! dort ijt nicht3 der Art zu feben und Feine
Epur, daß fich jemals ein ſolches Theater dort befunden babe.
Iſt e3 den Römern mit diefen Abkömmlingen der Griechen ebenſo
gegangen, wie mit denen in Hellas? — mußten fie auch bier
mit langer Nafe abziehen, als fie ihnen dieſe fürdhterlichen Spiele
zumutbeten ?
Der Anblid ift jhauderhaft großartig. Obwohl die Sigreihen
(e3 jollen ‚ihrer zweiundvierzig geweſen jein) faſt alle zerjtört
find, der Kranz von Bogen, der die beiden noch beſtehenden
Stodwerfe befränzt hat, gänzlich abgebrochen it, und das Amphi—
theater nur den Eindrud einer Ruine macht, fo ijt diefer Eindrud
doch gewaltiger, als irgend ein großes, unberührtes, mit allen
Mitteln wirkendes Gebäude hervorbringen fann. Mitten in Arles
glaubt man hier in einer eigenen, fremden, von aller menſch—
lihen Gejellihaft entfernten Welt zu fein. Der Wind, der die
Bogen durchzieht und mit der Mauervegetation fpielt, hat einen
eigenen Oruftton ; beengende Einſamkeit weht aus allen Bogen,
Fugen und Nigen, als befände man fi) in einem ringsum ge:
ſchloſſenen, kahlen, fonnverbrannten Gebirgskeſſel. Es ift auch
ein kleines Gebirge, dieſes Amphitheater, troß feiner bewunderung3:
würdigen Symmetrie, troß jeiner kunſtvoll auf: und nebeneinander
gereihten Bogen, von denen wir nur die nad außen fehenden,
zweimal ſechzig, zählen können. Es ift ein Gebirge; fein Eirund
eine Lömengrube. Die maurifchen Thürme-— e3 find nur noch
zwei von vieren erhalten — ftören nicht die Symmetrie; denn
man denkt hier nicht an Symmetrie; fie tragen nur dazu bei, das
Großartige noch großartiger erſcheinen zu laffen. Wie fie fo todt
und ftarr, ohne allen Schmud, häßlich nadt daftehen, verkörpern
fie den Schauer, den man in der Tiefe empfindet, und der fich
Siebente3 Kapitel. 161
jelbftbetrügerifh und hinter Bewunderung funftooller und kräf—
tigfter Architektur verſteden will.
Die Thürme find von den Nrabern unter Abdurhaman erbaut
worden. Das Amphitheater diente ihnen als Feſtung in der
zweimaligen Belagerung durd die Franken. Es kann aber aud)
eine Armee beherbergen, da e3 einmal 30,000 Zuſchauer umfaßte.
Auch in den Parteikämpfen des Mittelalter diente es oft ala
Feftung; die Bartei, die e3 befaß, beherrichte die Stadt. Darum
ſuchten fo oft die Herren von Baur es in ihren Beſitz zu bringen,
da fie der Arles’ihen Republik gegenüber faſt dieſelbe Rolle
jpielten, wie die Grafen und Herzoge von Savoyen in der
Genfer Gejhichte. In fpäteren Jahrhunderten wurde e3 der Sig
des Elendes; Bettler und arme Handwerker nijteten fi ein und
wohnten, wo einjt die Beitien gehaust und die Cäjaren applaudirt.
©o blieb es bi3 in die neue Zeit. Jetzt ſcheint es in feine befte
Phafe getreten zu fein, denn es ift weder von Beitien und Gla—
diatoren, noch von barbarifhen Parteigängern, noch von hungern:
den Armen, fondern von taufend und aber taufend friedlichen
Schmalben bewohnt. €3 foll herrlich fein, wenn dieſe friedlichen
Bewohner blutiger Ruinen im Frühling als dichte, ſchwarze
Wollen anlommen und mit Gezwiticher fi auf ihre Trümmer:
wohnungen niederlaffen. E3 gibt Leute, die Tagelang vor dem
Amphitheater figen und dieſes Schaufpiel erwarten. Ebenfo ift
e3 in Nimes. Auch einen Bienenfhwarm fah ich emfig an einem
Loche in der Mauer aus: und einkrabbeln, um fich in die gefegnete
Ebene zu verbreiten oder mit honigbeladenen Füßchen heimzukehren.
Das mahnte an das Räthſel Simfons: vom Starten fommt
Süßigfeit.
Um den Schauern diejer antiken Welt zu entgehen, bejteige
man einen der Mauernthürme. Es wird Einem da zu Muthe, als
jtiege man aus der Unterwelt hinauf ins heitere Sonnenlidt.
Da unten lärmt die Stadt, braust die Rhone, ziehen auf Strom
und Kanälen hundert Schiffe und Kähne; von Tarascon herunter
dampft die neue Zeit, und über die Camargue herüber weht
Moritz Hartmann, Berke I. 11
162 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
erquidender Athem des Meeres. Weit, meit gegen Norden, in
Nebel gehüllt, ahnt man Avignon; aber leicht erfennbar grüßt
der Thurm de3 alten Schlofjes von Beaucaire, und wie und zu
Füßen liegen die Ruinen des gewaltigen Kloſters Monmajour,
das ein Merovinger gegründet und Karl der Große erweitert
bat — die Wohnung frommer Anachoreten, die fih in feinen
weiten Sälen verfammelt, nachdem fie die wüſten Berghöhlen
der Provence bevölkert hatten. Der Himmel ift blau — die
Schwalben zwitjchern — Alfred Meißner fingt in einer ſolchen
Arena:
Es jehnt nach Verbrechen
Gräßlich doch ſchön ſich das menfchliche Herz.
Nicht einen Augenblick ſehne ich mich nach Verbrechen; nicht
gräßlich und nicht ſchön. Ich ſehne mich, herauszukommen aus
dieſem großen, aus tauſend Toden gebauten, an der ganzen
Menſchheit begangenen Verbrechen, um mich an lebender Schön—
heit zu erfreuen.
Mein lieber Freund, für den ich dieſes Tagebuch ſchreibe,
und du, o Leſer, für den ich es drucken laſſe, haltet mich nicht
für einen jener Touriſten, die mit vollem Taſchenbuche, mit
tauſend vorher geſammelten Notizen und noch mehr Vorurtheilen
für und wider in ein Land kommen; bei denen ſich Notizen und
Vorurtheile nicht nach Dem, was ſie ſehen und erfahren, dehnen
und ſtrecken müſſen, ſondern das fremde Land, ſei es, wie es ſei,
ſich in das Prokruſtesbett ihres Notizenbuches oder ihres Vor:
urtheil3 fügen muß, mögen Kopf und Beine darüber verloren
gehen. Ich habe Reifende gekannt, die politifhe, moralifche,
äfthetifche Anfichten über Land und Leute, mit Einem Worte,
mehr als das halbe Buch, das fie fünftig herauszugeben beab:
jihtigten, fertig hatten, bevor fie das fremde Land nur mit
einem Fuße befchritten. Das waren gründliche Deutjche, die fich
mehr auf ihre Bücher und Konftruftionen al auf ihre Augen
Siebentes Rapitel. 163
und Ohren verlafjen haben. Wodurch unterfcheiden fie fih von
Alerander Dumas, der feine Reife dur Sizilien zwei Jahre,
bevor er den Boden Trinafria’3 betreten, hatte druden lafjen ?
Wodurch von Jules Janin, der die Nhone an Nimes vorbei:
fließen läßt? Ihre tiefen Bemerkungen find von der Wahrheit
noch weiter entfernt als die Rhone von Nimes. Die Rhone kann
und wird noch einmal durch einen Kanal mit Nimes verbunden
werden; der Strom von nationalöfonomijhen, politifchen,
moralifhen, äfthetifhen Weisheitsfägen jener Reifenden oder
Reifendinnen ift durch feinen Syllogismus, ja durch feine So:
pbismen mit der Wahrheit der Thatjachen zu verbinden. Wie
viel endlich wird platt und troden heruntergelogen, wie viel
Kunſtenthuſiasmus aus dem Guide de Voyage tranffribirt und
abgejungen „nur höher in der Quinte“!
Ich habe einmal eine gewiffe Dame meiner Bekanntſchaft
vor einer Mumie, die felbjt Röth erjchredt hätte, in unbeſchreib—
liher Entzüdung gefehen. Ich hatte niemals viel Sympathien
für Aegypten und ftand ruhig und ſchweigend neben ver Ber:
züdten. Gehen Sie, fagte fie mit einem Blid voll genialer
Verachtung, Sie haben feinen Kunft-, feinen Schönheitsfinn. —
Madame! — erwiederte ih — mißdeuten Gie dieje Kälte nicht,
e3 fehlt mir nur an Worten. Seit Jahren liebe ich diefe Mumie
auf3 Romantifchite. — Bon diefem Augenblide ftand ich bei
jener Dame in hoher Achtung, in allen Gejellihaften rühmte fie
meinen Runft: und Schönbeitzfinn.
Diefe ganze Vorbereitung foll eigentlich nicht3 Anderes fein
als eine Erhorte, ein warnendes Erempel, eine Mahnung, ein
Schwur, ein energifcher Entſchluß, nicht jo zu werden, wie Jene,
und in meinem Verdikt über die mweltberühmte Schönheit der
Arleferinnen fo unparteiifch zu fein wie ein Geſchworner. So
gebe ich e3 hier mit der Hand auf dem Herzen vor Gott und den
Menſchen ab: Die Arleferinnen find mit erſchwerenden Umſtänden
ihuldig, die ſchönſten Weiber Frankreihs, vielleicht Europa's
zu fein.
164 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Die Motivirung iſt Schwer; es muß der Thatbeſtand feit-
gejtellt werben.
Es ift ein Faktum, daß felbft prefjirte Reifende im Süden
anjtatt des hijtorishen Avignon oder des mweltbeveutenden Mar:
feille immer das kleinere Arles ald Ruhepunkt oder Nachtlager
auswählen; jo mächtig erwacht beim fernbinblidenden Amphi—
theater die Luft an der Antike in jeder männlichen Bruft; es ift
ein Faktum, daß ein Viertheil der männlichen Bevölkerung auf
zwanzig Meilen in der Runde die Sonntagsmefle in den Kirchen
von Arles allen anoeren Mefjen des frommen Südens vorzieht
und in der Stadt de3 heiligen Trophimus zufammenftrömt; es ift
ein Faktum, oder wie Berthold Auerbad jagen würde, „es iſt
tief begründet,” daß die Frauen des halben Frankreichs nicht
gerne über die von Arles jprechen, daß fie vielleicht im innerften
Herzen wünjchen, die Spuren ſchönen Hellenenthums hätten in
diefer Kolonie wie in Marjeille verfchwinden, oder ganz Arles
hätte in Sumpf verfinfen mögen wie Rhoda; es ift ferner ein
Faktum, daß man bier und da das Wort: „meine Frau ijt
aus Arles“ mit verjelben jelbjtgefälligen Miene ausſprechen
bört, als fagte der gute Mann eben: meine Befigungen liegen
in Kalifornien. — Facta loquuntur, und id wollte, id könnte
mich’ mit diefen Andeutungen begnügen, denn nichts ift jo miß:
lih als Beſchreibung von Schönheit. Therfites wird von Homer
lang und breit beſchrieben, bei Helena aber begnügt fich der
Dichter mit Andeutung der Wirkungen, die ihre Schönheit ſelbſt
auf Greife übt,.und bier und da mit dem ftereotypen Epitheton.
Daß die griehifche Linie die vorwaltende fei, hat der Lefer
ihon aus manchen vorhergehenden Bemerkungen entnommen.
Aber Stirne und Nafe, jelbft von untadeliger Schönheit und
voll ftolzejter Majeftät, würden, allein, nur wenig zu bedeuten
haben. Unter breitgewölbten, immer dunklen Brauen, unter
breiten Lidern und lang herabfallenden, halb gebogenen Wimpern,
dunkel wie Trauerfeide, liegt das Eluge, warme Auge Es ijt
nicht heiß glühend und nur glühend, wie man e3 meijt im Süden
Siebentes Kapitel. 165
antrifft; es ift aber, mie gejagt, warm und mit‘ Bewußtſein
warm. Es fennt die Schönheit, die es beleuchtet, und leuchtet
lachelnd, ftolz und froh. Der Macht feiner Herrin bewußt, jpielt
e3 nur mit der eigenen und fpart fie für entjcheidende Momente.
Beichattet und oft in tiefe Dunkel gehüllt von der Wimper,
läßt es in Zweifel, ob in der marmornen Höhle eine Gazelle
ruht oder eine Löwin, oder vielleicht nur ein einfames Veilchen
blüht. Man könnte vide Bücher fchreiben über die Augen der
Arleferinnen, über ihr bemußtes und unbemußtes Treiben und
Schaffen, über ihre Objektivität und Subjeltivität. Ihrer Farbe
nad find fie, obwohl over vielleiht weil auf griechiſchem Boden
wohnend, fosmopolitifher Natur. Die ſchwarzen, braunen, duntel:
grünen, blauen find faft gleich ftarf vertreten. Ein blaues ſah
ich von jo edlem Leibe getragen, fo janft und tief glühend unter
jtolzer Stirne und dunflem Haare, daß ich an die deutſche Mufe
dachte, die Iphigenie in Tauris geichaffen hat.
Der Mund ift, wie immer, in volliter Harmonie mit dem
Auge; die beiden jingen und variiren ftet3 dafjelbe Thema wie
Dur und Comes in einer Fuge. Mit den janft gejchwellten
rofigen Lippen, hinter denen untadelige Zähne fhimmern, mit
den feinen Mundwinkeln ift er Hug und ernft, und lächelnd, wie
jenes; fcheint er, mie jenes, ein füßes Geheimniß halb zu ver:
Ihmeigen, halb zu offenbaren. Er ſpricht auch mit gejchlofiener
Lippe. Das tadelloje Dval des Gefichtes bevedt der feinite Teint,
der fich mit dem ſchönſten englifehen oder fchottifchen meſſen kann;
e3 glüht unter der zarten Haut fo ftille und fanft, daß man
Pygmalions Statue im erften Augenblid der Belebung zu jehen
glaubt. Weberhaupt ift es, als wäre man von Modellen griedi-
ſcher Statuen, von den Urbilvern der Junonen und Minerven,
die wir kennen, ummandelt. Den vollendeten Kopf trägt ein
fanft gebogener Naden auf vollendeter, träftig einherjchreitender
Geitalt. Die ſchwellenden Brufthügel bliden wie zürnend aus:
einander gen Weit und Oft, und melodifhen Ganges ſchwingen
fih die Glieder alle in mufifalifchen Rhythmen.
166 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Die Tracht der Arleferinnen ift geeignet, ihre ganze Schön:
beit im vollften Lichte zu zeigen. in kleines Häubchen bededt
die nad oben in einen Knoten gewundene Haarflehte und
wird von einem breiten Sammtbande feitgehalten, das jih um
ven Kopf jchlingt, auf der einen Seite durch eine Nadel feitge-
halten wird und maleriſch mit dem Ende auf die Schulter herab-
fällt. Band und Häubchen zufammen bilden die volllommene
phrygiſche Mütze. Sie bededt nicht das ganze Haar, jondern
läßt auf den Scläfen die braunen oder blonden Scheitel in
ihrem ganzen Reihthume jehen und von den feinen Tinten ber
Wangen abjtehen. Naden und Hals find ganz fihtbar, da das
weiße Spitzentuch vorn und rüdwärt3 weit hinuntergezogen it;
die Brut zeigt ihre Form und bewegt fich frei in dem ſchwarzen
Jäckchen, an das ſich ein Rod gleicher Farbe anſchließt, kurz
genug, um den länglihen Fuß und die feinen Knöchel jehen zu
laſſen. — Wie lächerlich fehen die „Damen“ mit ihrer Parijer
Tracht neben den fo einfach gepugten Mädchen aus dem Volle
aus! Wie wenig verftehen fie fi auf ihren Vortheil!
Neben ihrer Schönheit ift noch der Geiſt der „Konver:
ſation,“ den diefe gefegneten Töchter der Erde befigen ſollen, weit
berühmt im Lande Frankreih. Sie haben immer Antworten
bereit, die zu ihrem fchönen Munde mie zu den Eugen Augen
paſſen; auch nimmt ſich die provenzaliihe Sprache auf ihren
Lippen ſchöner aus als in den Liedern der berühmteiten Trou-
badours. Sie find fi aber ihrer Macht bewußt. Man ſehe
nur, wie ftolz fie einherfchreiten, mit welcher graziöfen Majejtät
fie die Meinften Gejhäfte, die niedrigſten Verrichtungen voll:
führen! Denn nur von Mädchen aus dem Volke oder höchſtens
von Töchtern des Bürgers ift hier die Rebe.
Die Magd, die vor der Thüre fegt; das Ladenmädchen, das
ein Gefäß aus dem oberften Schreine herunterholt ; die Bürgers:
tochter, welche Früchte und Gemüje im breiten, blätterbededten
Korbe vom Markte trägt; die Müßigen, die an ihre jchlanten
Krüge gelehnt am Brunnen plaudern oder Arm in Arm über
Siebentes Kapitel. 167
den Plat wandeln: e3 find das eben fo viele Modelle zu ven
berrlichiten Statuen, zu den griechifcheiten Bildern. In ihrem
reichiten Glanze fieht man die Nrleferinnen am Eonntage. Da
ſtehen aber au die Männer in dichten Reiben rechts und links
an den Betjtühlen und betradhten die heidnifchen Gefichter, die
fih umfonft in riftlihe Andacht zu tauchen ſuchen. Nach der
Meſſe jtellt man fih vor dem prächtigen Portale der Kirche
Et. Trophime auf. Die Schönen find gnädig genug, jämmtlich
dur diefelbe Thüre zu geben, da fie wiſſen, daß fich die harren-
ven Blide Aller dahin wenden. Sie bemerken e3 zwar nicht und
find ſehr ernſt, aber fie verfehlen die gewiſſe privilegirte Thüre
doch niemals. Ebenfo würden fie e3 für ein Verbrechen, für eine
Unterlaffungsfünde halten, wenn fie des Nachmittags nicht auf
ver Promenade vor der Stadt erfchienen: die armen Reifenden
Tommen ja von fo weit ber, um diefe Promenade zu fehen.
Trotz dieſer leicht verzeihlichen Koketterie halten die Arle:
ferinnen jtreng auf Anftand und Sitte. Sie wifjen, wie ungerne
guter Ruf bei Schönheit verweilt, und thun das Ihrige, ihn an
fih zu feſſeln. Auch ift das Gefeg der öffentlihen Meinung
ſchwer und ftreng. Wehe dem armen Geſchöpf, das einen fchönen
Sehltritt thut; die Schande laftet auf ihm mit mittelalterlicher
Schwere. Mein freundlicer Führer zeigte mir ein verhülltes
Fenſter, hinter welchem feit acht Jahren ein ſolches unglüdjeligez
Geſchöpf fein Leben in tieffter Zurüdgezogenheit vertrauert. Nur
in dunkler Naht an der Seite ihrer Mutter wagt es manchmal
die ehemalige Königin der Arlejer Schönheiten, ihre Einſamkeit zu
verlafjen und einen Spaziergang außerhalb der Stadt zu maden.
Die übrige Zeit verbringt fie hinter dem dicht verhüllten Feniter,
in ihrer düfteren Stube. Sie war die Schönfte der Schönen, der
Stolz Arles’ gewefen, und vergaß fich einen Augenblid. An vie
Mauer des gegenüberftehenden Haufes gelehnt, jah ich traurig
hinauf zum Fenfter der armen Märtyrerin der Ehre, vielleicht
ihrer eignen Schönheit. Hätte man in diefem Augenblide vie
Leiche eines Helvdenjünglings, noch aus den Wunden blutend, im
168 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
offenen Earge an mir vorbeigetragen ; hätte ich dort, hundert
Schritte von mir, im griehijchen Theater ein Trauerfpiel des
Sophofles fpielen gejehen, e3 würden ſich nicht fo tragifche Ge:
fühle in mir geregt haben, wie beim Anblid diefes verhangenen
Fenfters.
Ih habe vom Glanze Arlefifcher Schönheit geſprochen, es
ift Pflicht, von ihrem Fall und Verfall zu reden. Und fo fei es
denn in Einem Worte gejagt: Ich habe keine ſchöne Arleferin
jenfeit3 der dreißig, vielleicht nicht einmal jenfeit3 der ſechsund⸗
zwanzig Jahre geſehen. Die Augen leuchten wohl noch, aber
wie magijche Lichter auf Ruinen; die ftolze Nafe bleibt immer
die ſtolze Naſe, aber rings um diefen Thurm des hohen Liedes
ift arge Verwüftung. Die Arleferinnen verwelten ſchnell, und
wie das Bewußtſein ihrer Schönheit ihnen in der Jugend den
berrlihen, gebieterifjhen Stolz gab, fo nimmt ihnen diefe trau:
rige Erfahrung den Muth, gegen den reißend fchnellen Verfall
zu fämpfen. Auch ift es jchwer, mit den heranwachſenden Ge:
ſchlechtern zu mwetteifern. Sie geben fid auf und laflen fich frühe
fallen. Mit etlihen und dreißig Jahren find fie jchlottrige
Königinnen. Ach warum haben dieje Griehinnen nicht die Gabe
der Homerifchen, die berrlichite Gabe, von der nur die Poefie
träumen fonnte, die Gabe ewiger Jugend !
Alte Leute Hagen, dab die Arlefifhe Schönheit überhaupt
im BVerfalle fei; ich glaube aber, das find die Jaudatores tem-
poris aeti, die ed nicht begreifen, warum ihnen. die Arleferinnen
von heute nicht fo gut gefallen wie die vor fünfzig Jahren. So
lange ich Arles durchwanderte, feine Antifen, Monumente, fein
Mufeum, feinen herrlichen Himmel und feine lebende Schönheit
betrachtete, verließ mich der Gedanke nicht, wie praftifch es wäre,
in diefer biftorifhen Stadt eine Malerjchule zu gründen. In
einem deutfchen Arles wäre das vielleicht längft geichehen.
Du wirft e8 mir nicht falfch deuten, daß ich mich bei diefem
Gegenitande fo ausführlich vermweilt habe. Um die platten Aus:
legungen Derjenigen, die Einem wohl erlauben, vor todtem
Siebentes Kapitel. 169
Marmor in Ertaje zu gerathen, jede Begeifterung für lebendige
Schönheit mit Fleifh und Blut aber methodiih verdammen,
um die fümmere ich mich nit. Du wirft di nur an die Verfe
Hebbel3 erinnern, die wir einander oft citirt haben:
Schönheit, wo ich did) erblide,
Huldige ich deinem Licht,
Und wie ich mich felbft erquide,
So erfüll’ ich eine Pflicht.
Den 12. Juni 1851.
Ein epikureiſcher Reifender, habe ich jegt eine neue Erfindung
gemacht, mie ich Arles auf raffinirte Weije genießen kann. Ich
betrachte es falt nur noch im Mondſcheine. Unter Tages fie ich
meift zu Haufe und leſe ſüdfranzöſiſche Gefchichten; wenn es
aber jtiller wird in den Gaflen und der volle Mond über die
Alpinen beraufzieht, mache ic mich auf, um all’ die Trümmer
und Refte, die ich in leibhaftigem Sonnenſcheine gejehen, von
den Schleiern de3 Mondes verhüllt aufs Neue zu betrachten.
Dieje provenzaliihen Schleier find jehr durchſichtig, der pro:
venzaliihe Mond ift nur eine wohl temperirte Sonne — die
Nacht ein blauer, mit Sternen geihmüdter Tag. So eben, es
ijt bald Mitternacht, komme id aus den Gängen des Klofters
St. Trophime zurüd, wo ich zwei herrlich einfame Stunden zu:
gebracht habe. E3ift ein wunderbares Kunſtwerk. Ein franzöfijcher
Schriftiteller jagt von jeinen Galerien: „Wenn es wahr iſt, daß
die Mauern Thebens beim Klange der Lyra, jo ift dieſes Haus
bei den Harmonien der Orgel, beim Dufte de3 Weihrauchs ge
baut worden.” — Der Mann hat fi gut außgebrüdt. Das Ge:
bäude ift Iuftig ſchön und unfaßbar, fait unförperlih wie Har-
monien und Weihraudpüfte, und verhält fich zu den Antifen
wie die Orgel zur Lyra. Eo begegnet man in Arles dem Griechen:
thbum, dem Römerthum und den jhönften Blüthen chriſtlichen
Mittelalters,
Der Klofterhof von St. Trophime ift ein regelmäßiges Viereck,
170 Zagebud) aus Languedoc und Provence.
das von vier Galerien, die fih in Winkeln aneinanderjchließen,
gebildet wird. Die vier Galerien oder Gänge, leile, unmerklich
von einander im Style abweichend, find höchſte Meiſterſtücke
mehrerer Jahrhunderte. In jedem Winkel befindet fich ein jtarfer
Vilaſter, der ganz aus zwei Statuen befteht, die mit ven beiden
bier zuiammenjtoßenden Gängen Fronte machen. Zwiſchen dieſen
zwei Hauptpilaftern befinden ſich auf jeder Seite in gleicher Ent:
fernung von einander und von den Edpilaftern recht und links
zwei andere, welche mit jenen die Hauptwölbung der Galerien
tragen. Und wieder zwifchen allen dieſen Pilaftern läuft eine
Reihe Heiner, unendlich zierliher Säuldyen hin, die paarmweije
auf der Breite der unteren wenig erhöhten Mauer aufgejtellt find
und mit ihren Kapitälen die Heinen Bogen tragen, die ſich von
einem Säuldenpaar zum andern lieblih ſchwungvoll fortwölben.
Alle Kapitäle find mit Efulpturen bevedt. Die Säulchen, die
Skulpturen an den Kapitälen, die Kleezüge, die Statuen, die
Pilaſter — Alles ift mit bewunderungswürdigem Geſchmacke
vertheilt, ausgearbeitet und zu einem harmonifchen Ganzen zu:
jammengeftellt.
Hier in der einen Galerie herrſcht noch der romaniſche Styl,
aber immer und überall fieht man ſchon die Keime des gothifchen,
die durchzubrechen ſtreben — und in der That, dort in dem
Gange gegenüber ift er bereits als vollendete Blume durchge:
brochen, während in dem Gange recht3 noch die ganze Einfachheit
und Naivität der erften chriftlichen Zeiten herrſcht, wie fie fich
in diefen Ländern noch in den Bauten des achten Jahrhunderts
ipiegeln. Diefem Gange gegenüber fteht fein Widerfpiel; man
bemerkt ſchon die Abnahme ver gothiſchen Kunſt, die noch in
ihrem Verfalle ſchön ift, und dadurch, daß fie jich der Weltlichkeit
zu nähern ſucht, wie die Reformation, einen neuen Reiz erhält.
Es ift eine in Stein gehauene Geſchichte des Chriftenthums,
diefes wunderbare Bauwerk des Klofterhofes von St. Trophime,
aber eine Gefchichte, wie fie im Gedichte lebt. Die vier herrlichen
Galerien, obwohl verfhieden, ftimmen doch und paflen io
Siebentes Kapitel, 171
harmoniſch zujammen wie die verfchiedenen Stimmen, mit denen
ein Sebajtian Bad einen cantus firmus umgibt. Wären vie
alten Meijter des Kontrapunftes Architekten geweſen, fie hätten
ſo gebaut.
Warum lieben e3 fogenannte Kunjtlenner und Freunde der
Schönheit, ihre Begeilterung nur für die Antike aufzufparen, und
wenden fih mit einem bornirten Lächeln von Allem ab, was
jpätere, ſogenannte chriftlihe Kunſt bervorgebradht hat? Ach
jage e3 ihnen zum Trotz: diefer Klofterhof von St. Trophime iſt
in feiner Art ein jo vollenvetes, befriedigendes, wohlthuendes
Kunſtwerk, wie die maison carrée in Nimes, die ich anzuer:
fennen und zu bewundern weiß.
Bon der Höhe der ruinenhaften Mauern, bei Tageslicht be:
trachtet, fieht der Hof mit feinen Säulchen wie ein Blumenkelch
mit hundert Staubfäven aus; im Mondſchein ift e3 eine ſchöne
Gruft. Der Nachtwind in den Bäumen, die über die Mauer
jehen, das Murmeln des Brunnens im Hofe nebenan jind nicht
mächtig genug, die tiefe Ruhe zu jtören, vie in diefen dunklen
Gängen auf alle Steine gebreitet ift. Und wenn es oben jtürmt,
man muß glauben, daß die Stille hier unten ewig und unab—
änderlich diejelbe bleibt. Ich ging in der romanijchen Galerie
auf und ab, der Mond war jchon vorbeigezogen, und tiefe Nacht
lag ringdum ; mir gegenüber im anderen Gange wandelten zwei
Schmeftern vom Orden der dames noires auf und nieder; fie
lispelten nur, ihre langen Schleier jtreiften manchmal an die
Säulden, und wenn fie über den Lichtitreif, den die Ampel vor
der Madonna warf, gegangen waren, waren fie wie von ber
Nacht verfchlungen. Ich hörte nur noch ihr Lispeln, das Lallen
de3 Brunnens, das Säuſeln der Blätter — bis fie wieder, in
den Lichtjtreif zurüdkommend, die Szene auf einen Moment
belebten. — Die dames noires find vielleicht die elegantejten
unter allen Frauenorden; fie tragen ein einfadhes, glänzend
ſchwarzes Kleid, das die ganze Geftalt, nicht wie das Gewand
der andern Orden, verpadt und unfenntlih macht, ſondern
172 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
vortheilhaft hervortreten läßt. Den Kopf bevedt zur Hälfte eine
kleine Kapuze, hinter welcher ein breiter Spigenrand hervorfommt,
der das ganze Geficht glänzend einrahmt. Dieſe Coiffure gleicht
dem befannten Maria-Stuart:Kopfpug. Rückwärts fällt von der
Kapuze ein langer ſchwarzer Schleier herab, der bis an die Knöchel
reicht. Bei diefen Nonnen habe ich die feiniten und gebilvetiten
Geſichter bemerkt. In folder Umgebung, in jolder Beleuchtung
und zu diefer Stunde find fie noch fchöner zu jehen. Ich hielt
mich zwijchen zwei Säulden fitend fo ftille als möglih, um die
beiden Luftwandelnden nicht zu ftören, denn hätten fie mich be:
merkt, fie würden fich wahrjcheinlich zurüdgezogen und fi jo um
eine traute Stunde gebracht haben, die ihnen lieb zu jein ſchien.
Ob fie an die Schweitern gedacht haben, die unter ihrem Schritte
überall in den Kloftergängen begraben find? — Ich betrachtete
nur ihre ſchönen Profile, die ſich auf der beleuchteten Wandfläche
zmwifchen den Säulen wie in einem Rahmen jharf abjchnitten,
und die ſchlanken Säulen felbft, die im leife fladernden Lichte
fich zu regen und fanft zu beben fchienen.
Die Mondfceinichwelgereien koften viel Geld, denn die Alte,
der die Aufficht über die Galerien anvertraut ift, läßt fich mit
Recht ihren wormitternädhtlihen Schlaf gut bezahlen, beſonders
wenn die Klojterthüre ſchon geſchloſſen und fie gezwungen ilt,
mich dur das Kirchenthor zu entlaffen, was der armen Frau
viele Mühe macht. Dann gehe ich durch den hochgemölbten Dom
an den hübſchen Basrelief3 vorbei und trete durch eine der
Seitenthüren hinaus auf die Treppe des berühmten Portals.
Es ift romanijhen Styl3, mit vielen bronzirt ausſehenden
Eäulen und einer Unzahl von kleinen Figürchen geihmüdt, fait
könnte man jagen überladen. Die Figuren, wahrſcheinlich aus
dem zwölften Jahrhundert, find plump und haben dumme, dide
Köpfe; glüdliher Weife find fie jehr klein und verſchwinden in
der Maſſe, wo fie dann eine Art von Arabesken bilden, vie ſich
aus gewiſſer Entfernung nicht übel ausnehmen. Auch hier merkt
man fchon den Uebergang aus dem romaniſchen in den gothiſchen
Siebentes Kapitel. 173
Styl; unmerklih, noch jehüchtern, läuft ver Bogen in eine Spige
aus. Das Granitjäulden, das den Eingang in zwei Hälften
theilt, ſieht faſt antif aus und iſt vielleiht das ſchönſte Glied
dieſes, meiner Meinung nad) viel zu berühmten Portals.
Bei Betrachtung des alten Obelisfen aus Granit, der ſich
nahe dem Portal in der Mitte des großen Plages erhebt, leiftet
der Mond dem Wanderer einen guten Dienft, wenn er fich dicht
in Wolken hüllt. Der Obelisk ift jo häßlich, fo nichtsſagend,
als nur ein Obelisk jein fann. Man fträube fich dagegen, jo viel
man will, dieje Antiquitäten haben nur einen antiquarijchen
Werth, und ganz und gar keinen andern. Cine dumme Nabel,
ein riefiger Zahnſtocher — was ift ein Obelisk anders? — Ein
Zuderhut hat ſchönere Formen.
Bom Obeliske fort wandere ich, immer im Mondjcheine, an
der Arena vorbei, durch Kleine enge Gäßchen dem Ende der Stadt
zu, um aud dem „Theater“ einen Bejuch zu machen. Griechen
haben e3 gebaut, um ihren Zandsleuten in Arles, zugleich den
Barbaren das Vergnügen griechiſcher Trauerfpiele zu bereiten.
Sie trugen ihre ſchönen Götter überall hin mit ih. Die Römer
bauten Arenen für Thier: und Gladiatorenfämpfe, die Hellenen
Bühnen für Sopholleifhe Tragödien. Das ift der Unterjchied.
Mitten unter zertrümmerten Quadern, Reften der unzähligen Sig:
reihen, erheben fi nur noch zwei intakte Säulen aus dunflem
Marmor und korinthiſcher Ordnung. Sie waren ein Theil der
Szene und lafjen auf die entſchwundene hohe Pracht ſchließen.
Aber wie unharmoniſch paßt das Thor dort in Welten zu diejen
Säulen, zu diefem ſchönen Halbkreis, zu diefer Anmuth, die
noch über die Trümmer wandelt — ift e8 nicht fo maflig, ſchwer
wie dad Thor einer römischen Arena? — Wohl ift es aud von
Römern gebaut.
Zwischen ven Duadern wuchert hohes Unkraut, um die pracht:
vollen Säulen ſchwirren Fledermäufe, die dunklen Gäßchen
ringaumber münden wie ſchwarze Bäche in das weißſchimmernde
Baſſin des Theaters, und wo das Händellatichen von Tauſenden
174 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
entzückter Griechen und zum Schönen befehrter Barbaren erjchallte,
dehnt fich traurige, ſchaurige Todtenſtille. Den armen Erbauern
dieſes Schönheitätempel3, wie muß ihnen im Grabe over in der
Urne zu Muthe fein, wenn fie e3 willen, daß ihre Säulen,
Frieje, Metopen geplündert und verftümmelt wurden, um chrijt-
lihe Kirchen zu ſchmücken?
Den 13. Juni 1851.
E3 ift Sonntag. Zmifchen dem Schaufpiel in der Kirche,
welche von der männlichen einheimifchen und fremden Bevölke—
rung, wie ich ſchon früher gejagt habe, nur aus purer Welt:
lichkeit befucht wird, und zwiſchen dem nachmittägigen, ähn:
lihen Schaufpiele auf der Promenade hatte ich gegen Mittag
vor meinem enter ein anderes, minder erfreuliches, Es ift
hergebracht, daß am Sonntage die armen Leute aus der Um—
gegend, beſonders aus dem fterilen Gebirge hier zufammenftrö-
men, um fich für die fommende Woche an Arbeitögeber zu ver:
miethen. Die Proprietär3 der Stadt und der nahen Camargue
willen fo, wo ihre Arbeiter zu ſuchen. Dieje jegen ſich während
und nad der Mefje auf die breite Erhöhung in der Mitte des
Forums und warten da, geduldig harrend, ob ihnen ein günftiges
Geſchick einen gutzahlenden Reichen zuführe. — Traurig und er-
geben jaßen fie da. Sie erinnerten mich nicht eben an einen
Sklavenmarft, aber in Verbindung mit dem römischen Forum
mahnten fie mich an die Angellagten, die in ſchlechten Kleidern,
das Mitleid ihrer Richter mit ftummen Bliden anflehend, auf
dem öffentlihen Markte ihr Urtheil erwarteten. Nach der Meſſe
famen gemach die Proprietärd an ; die Unterhandlungen begannen,
e3 wurde belebter , und nach und nach verloren fich die Arbeiter,
die ihren Handel abgeſchloſſen hatten. Nah Mittag ſchlichen nur
noch wenige mit traurigen Gefichtern auf und nieder und war:
teten immer und fahen mit hoffendem Blide den Zugängen des
Forums entgegen, während lujtige Gamins den Ball jchlugen,
über das Seil fprangen und hundert Pofjen trieben. Auch diefe
Gamins trugen zerriffene Kleider und ſchienen dem Elende nicht
Siebentes Kapitel. 175
ferne zu ftehen, aber jie hatten nicht Weib und Kinder zu er:
nähren; — aber fie find jung — fo jung, daß fie ſich eben fo
wenig um die Arbeit3: und Broplofigkeit ihrer Brüder als um
die in diefer Stunde vor der Stadt ſchaarenweiſe Iuftwandelnden
Schönheiten Arles’ befümmern. — Das Forum heißt auch place
des hommes, und in der That find auf diefem Plage fait nur
Männer, die ihre Gefchäfte abmachen, zu fehen. Selten, daß
eine weibliche Gejtalt über fein Tängliches Viered huſcht.
Nah Mittag ein Spaziergang nad den elis-camps, oder
champs elisees, ungefähr eine PVierteljtunde vor der Stadt.
Wenige Städte der Welt haben fo interefiante Grabmäler aus
den erſten hriftlihen Jahrhunderten. Die fhönften Särge find
zwar in das Arlefer Mufeum auf der place de l’hötel de ville
gebracht, aber es blieb genug übrig, um dem Fremden etwas
Erjtaunenswerthes, Schauderhaftes, in feiner Art ganz Neues
zu zeigen. Zu der Kirche, die ehemals in der Mitte des Begräb:
nißplages gelegen haben mag, führt eine lange Reihe der kolofjal-
ten Grabdenkmäler und Särge, die zmeis, dreis und vierfach
hinter einander aufgejtellt find, und die, je mehr man fich ver
alten Kirche nähert, an Zahl wachſen und endlich ordnungslos
ein Jrrgewinde von Särgen bilden. Alle dieſe Särge find folofjal,
als hätten fie Riefenleichen beherbergt, aus Stein gehauen, und
mit jo diden Wänden, als hätte man das feite Haus des Todes
noch befeitigen fönnen. Ob fie, Sarg und Grab zugleich, immer
fo auf der Fläche ver Erde geftanden, ob fie durch eigenthüm:
liche Ereigniffe oder durch Nachgrabung ins Tageslicht empor:
gehoben worden? — ich fonnt’ es nicht erfahren. Nach ihrer
Form zu fließen, ftanden fie, wie die Grabmäler der Alten,
immer fo den Blicken ver Lebenden ausgeftellt, Grab, Sarg und
Reichenftein zugleich. Die Leichen find verſchwunden — die Dedel
von den meisten Särgen weggejchoben; fo fcheinen jie neue Be:
wohner zu erwarten. Und wie fie gähnen, indeß das jchönfte,
blühendfte Leben in Geſtalt ſchöner Arleferinnen zwiſchen ihren
Reihen wandelt, ift das ein Gedanke, der ein wenig fröfteln macht.
176 Tagebuch au3 Languedoc und Provence.
Die einen waren mit Schutt gefüllt, und eine üppige Vege—
tation wuchs und blühte aus ihrem Schooße hervor ; einige Ziegen,
die auf den Särgen wie auf Felsitüden umberfprangen, nährten
ih davon und tranfen das Wafler, das fih in diefen Trögen
gejammelt hatte. ft das die ganze Metempiychoje? — Ich
dachte an die Worte des Dichters, die ich fo überfege :
Nein, Särge find nicht Chryjaliden,
Bleib ferne mir mit ſolchem Wahn;
Nur Ruhe ſuch' ih, Schlaf und Frieden;
Doch wären Flügel mir befchieden,
Um meine Hoffnung wär's gethan.
Das Leid — ich könnt' es wieder tragen,
Berlieren neu, was ich verlor.
Doch der Gedanfe macht mich zagen,
Daß ih das Glück aus fhönften Tagen
Erfahren jolle wie zuvor.
Die Kirche am Ende de3 langen, mit Särgen bejegten Ganges
ift jo jehr von Schling: und Mauerpflanzen bevedt, daß fie jelbft
aus geringer Entfernung einem Hügel gleicht, auf den ihr Thurm
mit feinen runden Bogenfenftern wie ein Tempelchen aufgefegt iſt.
Nah und nad verliefen fich die Lujtwandelnden, und diejes
Ortes würdige Stille lag auf den Särgen allen. Nur in den
Cypreſſen hinter der Kirche wurde es lebendiger, je tiefer die
Sonne ſank. Es fangen die Nacdhtigallen.
Ye länger man Arles kennt, deſto lieber gewinnt man eg,
denn e3 gewährt die Eine herrlihe, unbezahlbare, unſchätzbare
Gelegenheit, fich zu vertiefen. Der Geift aller Geſchichtsepochen,
der der neuen und neuelten aber am Wenigften, weht bier, faft
mit Augen fihtbar, mit Händen ergreifbar. Man braudt fein
Lobredner der guten alten und Verächter der neueren Zeiten zu
fein, um ſich manchmal mit befonderer Luft in die Vergangen:
beit zu verjenfen. Das Schöne, dem wir dort begegnen, ge:
währt Genuß an fib; die traurigen, rohen oder barbarifchen
Siebentes Kapitel. 177
Stellen erfcheinen in guten Momenten wie in den Felſen ge:
bauene rauhe Treppen, die am Ende doch auf den jonnigen
Gipfel und in den oben wartenden Barthenon führen, obne daß
man im Geringften ein Famulus Wagner zu fein braucht, der
fih freut, „wie man's am Ende jo herrlich weit gebracht hat“.
Und, mit Einem Worte, um mich deutſch auszubrüden, man
bat einmal die Freude, objektiv fein, betrachten zu dürfen.
Aber nur die Natur und nur die Gefhichte, die ſchon ihr Epitaph
bat, bieten und erlauben das.
Arles gleicht im Anfang mancher mittelalterlihen Chronif.
Noah, Troja, Ulyſſes, der Zauberer Virgilius, die heilige Jung:
frau, Plato, die Kirchenväter, König Salomo, Ariftoteles,
Juden, Heiden und Chriften, alles Schöne, Abenteuerliche und
. Unglaublihe kommt da im Miſch-Maſch vor und zeigt deutlicher,
al3 gelehrte und wohl fuftematifirte Weltgefchichte, welch’ ein
buntes Gewebe die Welt und ihre Geſchichte gewefen und nod)
ſei. Man wandelt hier aus einer Zeit in die andere, und mie
die Monumente eins auf die Grundfteine des andern, oder aus
den Trümmern längſt vergejjener gebaut find, wird Einem die
Konftruftion des Gedanfenbaues, deren äußerer Ausdrud nur
jene find, klar, und man ahnt, wie er die Welt „im Innerjten
zufammenhält“,
Das Mufeum mit feinen Aihenurnen, Thränenfläſchchen,
griechiſchen Göttinnen, römischen Jmperatoren, &rijtlichen Sarfo:
phagen, bis herab auf vie jchlechte Büfte Lamartine’s ijt ein
Arles im Kleinen.
63 befindet ſich in einer alten Kirde auf der place de
I’hötel de ville, gegenüber dem Obelisfen und dem Portale
von St. Trophime. Sein größter Schaf ift ein weiblicher Kopf,
der Reit einer lebensgroßen Statue, die eine Venus vorgeftellt
haben joll. Andere nennen fie auch eine Diana und behaupten,
daß die zwei Löcher, die man über ihrer Stirne entvedt hat, den
Halbmond getragen haben. Welcher der beiden Göttinnen er
immer angehört haben mag, er ijt der einen wie der andern
Morig Hartmann, Werke 11. 12
1
178 Tagebuch aus Yanguedoc und Provence.
würdig, ja man fönnte, um ihn nach Verdienſt zu preifen, be:
haupten, er vereinige die Schönheit, den Reiz der beiden Göttinnen
in ih. Ah, wenn er nur eine Nafe hätte! Die Venus von
Milo, geſchweige die Mediceiſche, wäre befiegt, obwohl der ganze
Götterleib verloren und nur noch Kopf, Hals und eine Schulter
übrig find. Es gibt im Süden Hunderte von Antiquaren, die
in dieſen armen Reit verliebt find und von Auffindung der man:
gelnden Naſe wie von Erfüllung eines theuerjten Wunfches träu-
men. Auch hat man ſchon in der That mandherlei Ausgrabungen
zu diefem Zmede veranftaltet, aber immer vergebens. An eine
Reftauration denkt man nicht, und mit Recht. Denn kein Künftler
würde e3 wagen, eine diejer Stirne, dieſer Wangen, viejes
Kinnes, dieſes Mundes würdige Nafe liefern zu wollen. Nur
dieſes Kopfes wegen fehrte ich immer und immer wieder ins
Muſeum zurüd, bis ich bemerkte, daß auch mid) die fire Idee
von der Naſe, von ihrer Auffindung, vom Unglüd ihres Man
gel3 zu ergreifen begann und ich wegblieb, um nicht zu werben
wie jene Antiquare und ewig und ewig an eine fehlende Nafe zu
denken. Nichts hat eine ſchauerlich übermältigendere Macht über
uns, al3 das unvollendete und verftümmelte Schöne.
Die von Skulpturen, Ba3: und Hautrelief3 bevedten Sarko:
pbage, die aus den Elis-camps ind Mufeum gebracht worden
und aus den erjten chrijtlihen Jahrhunderten herrühren, zeigen,
dab die Römer (die Arlefer nannten fih noch unter den Gothen
jo) aud vom Ehrijtenthum ihre Prachtliebe nit unterprüden
ließen, aber auch, daß es ihnen bereit3 an griehifchen Künjtlern
fehlte, um diejer auf ſchöne Weife zu genügen. Die Prachtliebe
ift noch die heidnifche, die über den Tod hinausgeht, aber vie
Kunſt an diefen Särgen ift ſchon eine neue, in Kindheit lallende,
unbeholfene und, wie man zu fagen pflegt, „naive“, Nur
wenige Jahrhunderte vor dieſen Särgen kann jene Venus ge
ihaffen worden jein — und meld’ ein Unterſchied bereit3 zwi—
ſchen der Kunſt, die jene, und der Kunſt, die dieſe hervorgebradt.
Ein Unterſchied wie zwijchen Plato und Origines.
Siebentes Kapitel. _ 179
Bemerfenswerth in diefem Mufeum jind noch die „Tänze:
rinnen”, Skulpturverzierungen, vom antiten Theater zu Arles
berrührend. Die Köpfe fehlen, aber die Leiber ſchwingen ſich
anmuthsvoll im Tanze, der Glieder herrliches Ebenmaß tritt bei
jeder Bewegung ſchön und reizend hervor, die Gewande fliegen
— Alles an diefen todten, fopflojen Trümmern lebt und tanzt
und freut fich des Lebens. Wenn fie noch Köpfe hätten, ich
glaube, fie würden fingen.
Auffallen müſſen die antiten Altäre, deren mehrere im Mu:
jeum aufgeltellt find. Es find, nad) ihrer Kleinheit zu jchließen,
offenbar Hausaltäre, aber mit welchem Gejhmad, mit meld’
edler Einfachheit, und doch wie reich verziert find fie gebaut.
Einer derfelben wurde, wie die Inſchrift jagt, von einer Frei-
gelafjenen errichtet; feine devote Königin verwendet heute jo viel
Geihmad und fo viele Koften auf ihren Betfchemel wie jene frei:
gelafjene Heibin auf diefen Altar. Diejer, ebenjo wie die andern,
it wie ein Piedeftal, darauf unfihtbar der Gott fteht, dem er
geweiht ift,
16. Juni 1851.
Mie jehr man auch Arles mit jeinen berrlihen antiken
Reiten, mit feinen Erinnerungen, mit jeiner lebenden Schönheit
lieb gewinnt — am Ende wird Einem die Stadt wegen ihres
gräulihen Mönchs- und Nonnenmwejens zuwider. Der Pfaffe
berrfcht hier unbeſchränkt und wird von der Pfäffin aufs Ge:
mwijlenhaftefte unterftügt. Es ift nicht zu erfahren, wie viele
geiſtliche Individuen beiderlei Geſchlechts die Griechenfolonie be:
berbergt, aber gewiß ift es, daß nicht der fünfte Theil der ganzen
Bevölterung nicht zu irgend einer von Prieftern zu priejterlichen
Zwecken geftifteten Brüderfchaften gehört. Bei Leichenzügen und
ven häufigen Prozeffionen fieht man die langen Schaaren von
Penitents bleus, gris, blanes und Gott weiß, von melden
Farben noch. Alle Mädchen tragen Amulette und Heiligen:
bilohen und verſchiedene Schaumünzen am Halfe. Das find
ebenfo viele Zeichen, daß fie ebenſo vielen religiöfen Gejelljchaften
180 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
angehören, die ihnen allen gewiſſe Andachtspflichten auflegen,
die über die Pflichten eines gewöhnlichen Chriftenmenjchen weit
hinausgehen. Natürlich ift Arles legitimiftiih. Damit ift aber
noch nicht gejagt, daß es den Bourbonen unbedingt anhängt.
Menn Louis Napoleon heute mit den Prieftern einen Bund
fchließt, jo hat er das ganze legitimiftiiche Arles in feiner Taſche,
troß der ganzen antinapoleoniftifhen Vergangenheit Arles’. Der
Unterricht ift bier auf Null reduzirt — die Ignoranz allgemein.
Die Schulen find in den Händen der Geijtlichleit, und die be
gnügt fih damit, wenn ihre Jüngerſchaft nur beten fann und
den Katechismus auswendig weiß. Schreiben und lefen wird da
natürlich auch gelehrt, aber auf eine Art, daß es der Schüler
auf die leichtefte Meife wieder vergefien kann. Bevorzugte oder
gefährliche Talente, bei denen folche Vergeklichkeit nicht voraus:
gefegt werben kann, ſucht man für den geiftlihen Stand zu ge:
winnen. Es iſt wahrhaft ſpaniſch.
Morgen verlaſſe ich die Stadt, die mir trotz alle Dem und
alle Dem lieb geworden iſt, um öfter wiederzukehren. Bis jetzt
iſt es mir noch nicht gelungen, die Familie aufzufinden, mit
welcher Adolph Stahr, wie er in ſeinem trefflichen Buche über
Italien erzählt, eine ſo ſchöne Idylle verlebt hat. Ich möchte
ihr ſo gerne einen Gruß von ihrem nordiſchen Gaſtfreund beſtellen.
Achtes Kapitel.
Marfeile — Griedenthbum und Chriſtenthum — Eine Herkules-Mythe — Der
Etang de Berre — NReifegrundfäge — Der Hafen, der Handel, das Leben,
die Kunſt — Die Arbeiterinnen — Glasgow und Marjeille — Die Wunder
von Rotres-Dame de la Garde — Schöne Traum: und Rauchpunkte — Papety —
Chateau d'gf, Mirabeau und Monte-Ehrifto — Wilde Jäger — Ricarb _
Ab nah Xir.
Marfeille, den 3. September 1851.
In Arles jtieg zugleih mit uns ein fonderbarer Mann in
den Wagen, den ich auf diefem klaſſiſchen Boden für den Gott
Aeolus jelbft zu halten alle Urfache hatte. Wahrfcheinlich reifte
er nad Marfeille, um irgend einem modernen Odyſſeus im An:
gejichte de3 Hafens Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er trug
einen großen Blafebalg mit fih, der wenigſtens drei Viertel
Manneshöhe hatte, und den er auf beide Handhaben wie auf
zwei Füße zwiſchen feine Beine jtellte, jo daß der Bauch fich
gerade zwijchen des Mannes Knieen befand, während das Blas—
rohr gegen das Geficht gerichtet war. Sobald nun der Mann
einige Hite verfpürte, drückte er mit beiden Knieen an und blies
fih einen Eleinen Sturmmwind in3 Gefiht, jo dab fih Haupt:
und Barthaare wild bewegten. In unbewahten Augenbliden
ſchob er das Rohr fogar zwiſchen die Weſte und fächelte ſich auch
die Bruft mit Zephyren. Wie dieß von der Gejellichaft bemerft
ward, bot er ihr fein Inſtrument zu gleihem Gebraude an, und
zwar höflicher Weiſe den Damen zuerft. Doc machte er wenig
Glück mit feiner Offerte.
Auf dem uns gegenüber haltenden Bahnzuge befanden ſich
182 Tagebuch aus Canguedoc und Provence.
in verfchiedenen Coupé's wenigftens fünfzehn Nonnen, die ganz
vergnügt und ungenirt in die Welt jahen und unfere Gejellichaft
mujterten. Es ift erſtaunlich, welche gewaltige Anzahl geiftlicher
Individuen beiderlei Gejchleht3 Einem bier auf allen Wegen und
Gtegen begegnet. Selten nur fteigt man in einen Waggon, ohne
einen Cure oder einige Schweitern von was immer für einem
Drden darin zu finden. Die Männer tragen immer ihre Breviere
mit jih, die Weiber ein Eolofjales ſilbernes oder eifernes Kreuz
auf der Brut, auch wohl, wenn e3 zu groß ift, wie einen Dolch
oder ein Schwert im Gürtel. :
Während wir längs der Camargue am jenjeitigen Rhoneufer
binfuhren, erzählte mir ein Jäger, der neben mir faß — denn
jeit Eröffnung der Jagd im Monat Auguft begegnet mar überall
ebenjo vielen Jägern, al3 man jeit Eröffnung der Unterricht:
freiheit Geijtliche findet — daß er geftern dort drüben in der Ca-
margue einen Ibis geſchoſſen. Das hörte ſich nun freilich zunächſt
wie eine ächte Jagdgeſchichte an: in der Folge indeſſen wurde mir
aus zuverläfligem Munde beftätigt, daß dieſer heilige Vogel in
der That zumeilen das Nil:Delta mit dem Nhone-Delta vertauſcht.
Hinter Arles fährt man durch das ſchönſte und fruchtbarfte
Land; die Weinpflanzungen find verfchwunden, an ihre Stelle
aber treten gut angebaute Getreide: und Kleefelvder und endlich
Wieſe an Wieſe — ein Anblid, ver doppelt erfreut, wenn man
aus dem an Wiejen jo armen Languedoc kommt. In weiter
Ferne treten die wüjten und wildgezadten Alpinen hervor, wie
eine fichere und unnahbare Mauer vor einem Parabdiefe.
Uber die Herrlichkeit des Paradieſes hat bald ein Ende. Mit
einem Male, wie auf einen Zauberfchlag, verwandelt ſich das
Land in Sumpf; fo weit das Auge reicht, nichts als hohes Rohr,
darin die Mähder kaum zu jehen find. Bald wird es noch troft:
lofer. Der Sumpf, der mwenigftend grün ift und ein gewiſſes
Leben heuchelt, ift ebenso fchnell in eine traurige, von Kieſel be:
deckte Wüſte übergegangen. Die todte Dammerde zwiſchen den
Steinen hat nit die Kraft, einen gejunden Halm zu treiben ;
Achtes Kapitel, 183
höchſtens bringt fie jene eigenthümlichen Heideſchwellungen her:
vor, die wir aus der Heimat der Heidfchnuden fennen. Auch
dieſe jedoch find jo ungenießbar, daß ſich nicht einmal ein fo be:
ſcheidenes Thier wie die Heidihnude damit begnügen würde;
nirgend eine Spur von Leben.
Dieß ift die Ebene der Grau, die vierzehn Lieues im Um—
fange bat. Sie entitand, der Sage nah, als Herkules, von
den Rieſen im Kampfe bedrängt, fich nicht mebr zu helfen wußte
und zu feinem Vater um Hülfe flehte. Da ließ Zeus einen Regen
von Steinen fallen, der die Giganten alle erfchlug. Eine einzige
feine Daſe gibt es in diefer Wüfte: und die joll ein Pole mit
dem ausdauernden Fleiß eines Urcivilifators geichaffen haben.
Endlich verläßt man mit einem Rud auch dieje troftloje Dede
und taucht in die eigenthümlichite Welt. Wenige Gegenden der
Erde mögen dem PVorüberfliegenden jo viele Abwechslung ge:
währen als die im Grunde nur jo kurze Strede zwijchen Arles
und Marfeille. Der BVielgereifte wird hier an das Verſchiedenſte
erinnert, und feine Phantaſie fliegt bald vahin, bald dorthin in
die entlegenften Länder. So eben glaubte ic) aus der Provence
nad Lüneburg verjegt zu jein, und jegt, da ich die Heide ver:
lajie, wähne ih auf einmal an der Thür des wilden Karſtes zu
ftehen ; wie ich aber in diefe trete und meinen Blid in den Schooß
des Heinen Gebirgs fchweifen lafle, das ſich aufthut, glaube ich
vielmehr einen ſchottiſchen Logh zu ſehen, den Logh fine, Logh
long — aber nein, e3 ijt der jogenannte Etang de Berre, ein
Finger, den das Meer dem Wanderer entgegenjtredt, jo wie die
Loghs Arme find, welche die nordijche See, jtrenger und vüjterer,
als ein Eroberer, aufs Land legt.
Der Etang de Berre kommt und verſchwindet, bis man
endlich längere Zeit an feinem Ufer hinfährt und ihn bei Sonnen:
untergang mit Muße betrachtet. Ein prächtiger See! Die Berge,
die ihn umgeben, find zwar aller Vegetation bar, kahl und trojt:
los; aber das ijt das Schöne im Süden, daß die Farben und
Töne, die Stimmungen, die beionders zu gewiſſen Tageszeiten
184 Tagebud aus Languedoc und Provence.
auf den Gegenjtänden liegen, Anbau, Vegetation, kurzum Alles
erfegen, mas im Norden nöthig it, um den Gedanken an die
Wüſte zu entfernen. Schon die tiefe, weiche Bläue des Sees
hätte genügt, die ganze Härte feiner Umgebung zu mildern; aber
obenein jpielten auf dieſen weißen Felſen noch alle die herrlichiten
Farben der untergehenden Sonne. Nicht mehr todt, kalkig, nein,
brennend ſahen fie aus; fie ftanden wie eine Schaar in weißes,
faltige3 Gewand Gekleideter da — dann hüllten fie fi in einen
rofigen Schleierhauch, der ſich nad) und nad) in ein mildes Violet
verwandelte — und endlich in ein tiefruhiges Blau überging.
Das ſchönſte Waldland mit allen Moojen und Zweigen und
Vögeln konnte nicht milder entſchlafen als diefe Wüfte. In ver
Mitte des Sees trat erjt bei einiger Dunkelheit eine Inſel her:
vor, als hätte fie jih vor dem Tageslichte verjtedtt gehalten und
liebte e3 erjt in der Nacht emporzutauden.
Ein Tunnel verfchlang ung; vielleicht der größte Tunnel der
Melt, Wir fuhren, obgleich ſehr jchnell, doch über aht Mir
nuten, bevor wir wieder and Tageslicht famen. Ans Tages:
licht? Nein: die Sonne war inzwifchen untergegangen, und it
fie einmal hinunter, wird hier fchnell Nacht, da fie in der reinen
Luft feine Feuchtigkeit findet, in der ſich ihr Licht nachſpiegeln
fönnte. Die goldenen Wolfen über den Bergen waren plöglich
ſchwarz geworden, die Berge ſelbſt verkrochen jih: es wurde
fühler, man hörte das Raufchen des Meeres. Als ich auf der
Höhe des Omnibus in Marjeille einfuhr, war ſchon Nachtleben
überall; der Hauch der großen Stadt wehte mid an, und das
iſt mohlthuend in Franfreih, wo die meilten Provinzialftädte
verphilijtern und neben Baris einen fleinftädtiichen, einen Dilet:
tantengeruch befommen.
Gleich nach meiner Ankunft machte ih noch einen langen
Spaziergang durch große und Eleine Gafjen. Ueberall viel Leben,
überall der Kosmopolitismus einer Seeftadt. Es iſt eben Markt
bier; auf dem Plage wimmelt e3 von Spaziergängern, man hört
viel engliſch und italienisch ſprechen und fieht vidbäuchige Türken
Achtes Kapitel. 185
und nerwöje Araber. Das Volk jcheint jehr luſtig. Noch einen
Epaziergang am Hafen, um den Wind durch die Taue pfeifen
zu hören, und dann nad Haufe, wo ih fpät nah Mitternacht
todmüde die Feder aus der Hand fallen laſſe.
4. September 1851.
Meinem Reijegrundfage gemäß, trat ich die Wanderung
dur die Stadt allein an, wie ich e3 immer thue, bevor ich Be:
fannte aufſuche oder Empfehlungsjchreiben abgebe. Es ift ein
jo behagliches Gefühl: noch bin ich unbefannt und unabhängig,
noch fann ich unbeobachtet unternehmen, was ich will, und brauche
feinen Genfor zu jcheuen. In einigen Stunden werde ich der
Zuvortommenbeit eines Gajtfreundes, einem für mich entworfenen
Plane, einer Einladung und vielleiht ſchon der Sitte der Stadt,
den Vorurtheilen einer Geſellſchaft oder einer Klafje angehören
— jegt bin ich noch frei!
Sp manderte ih dem Hafen zu. Das Quartier, das ich
pafliren mußte, ijt ein wahres Babylon. Es beherbergt alle
Sprachen und alle Trachten; die orientalifchen und afrilanifchen
find fait in der Mehrheit. Der Burnus aus Afrika iſt ein ge
wöhnliher Anblid; Turban und Fe fann man überall zu
Dugenden haben. Welch ein Leben am Hafen! Hunderte von
Schiffen werden aus- und eingeladen, Berge von Kaffeeballen,
Millionen grüner Zitronen, alle Spezereien des Orients und
Oceidents duften Einem entgegen. Rings um den Hafen zieht
ſich ein breiter Damm, der mit himmelhohen Häuſern beſetzt iſt.
Die Parterres ſind von Tavernen und von Magazinen eingenom—
men, welche letztere die Bedürfniſſe des Seevolfes befriedigen
und es jo malerifch ausftatten; da hängen die geitreiften Jaden,
die braunrothben Sad: oder Baskenmützen, die bunten Schärpen
und Gürtel. Aus den Tavernen und Tabagieen klingen Lieder
in allen Sprachen heraus; man fühlt die Bulje einer Welt ſchlagen.
Jenſeit des Maſtenwaldes erhebt fi auf fahlem, glühendem Berg:
fegel das Kaitell Notre- Dame de la garde, weiter gegen das
186 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Meer zu das Fort St. Jean mit jeiner terrafjenartigen Befeſti—
gung, ihm gegenüber das Fort St. Nicolas, ebenjo jtarf und
fejt wie jenes. Gleich zwei ungeheuren Bulldog liegen fie an
ven Pforten des Hafens; gegen ihren Willen fann feine englijche
Maflerratte pajliren. Aber noch weit hinaus über das Fort
St. Jean läuft ein Hügelzug, weit hinaus ins Meer: fein letter
Ausläufer fteht da wie ein vorgejchobener Poſten, der aufmerf-
fam die unendliche Fläche beobachtet. Er ift unbezahlbar , diejer
natürlihe Damm; an ihm brechen ſich die Wogen, die der Dit:
und Südwind aufwühlt, und die jonft im Hafen wüthen würden;
feine Menſchenkunſt hätte ihn jo feft zu bauen vermocht, hätte
ihn je zu bauen unternommen.
Um St. Nicolas herum biegt man gegen den neuen Hafen.
Die Ausfiht wird freier — gegen Süden ift fie unendlich, gegen
Weiten durch einen vullanifchen Gebirgszug begrenzt, der Einem
auf die Haut brennt, wenn man ihn nur anjieht. Das Meer iſt
von einer jo tiefen Bläue, daß der Norbländer e3 für Uebertrei-
bung halten würde, wenn er es jo gemalt ſähe. Dejto weißer
ſchimmern die hundert Segel der aus: und einlaufenden Schiffe
auf jeinen Grunde.
Durh Heine Gäßchen nahm ich den Weg in die Stabt
zurüd. Alles Leben iſt auf der Straße. Die Gewölbe jhütten
ihren Borrath hinaus, die Mädchen wachen, nähen, plätten
vor der Thüre; der Handwerker figt mit feiner Arbeit auf
ver Schwelle oder im Fenſter; Hunderte von mwandelnden
Kaufleuten bieten jchreiend ihre Waaren aus. Ich babe ein
Meib gejehen, da3 einen Fiſch auf dem Kopf balancirte, der
buchſtäblich zwei Mal jo groß war al3 jeine Trägerin. Zahlloje
Omnibus rafjeln auf dem Pflafter, mit ihnen die Badwagen,
die Eleinen Karren der Marktweiber, aber wenige elegante Equi:
pagen. Unter den fchattigen Bäumen des Cours St. Louis,
einer Art Pariſer Boulevards, liegen Schon frühe ſüdliche Fau—
fenzer. In den Gaſſen ijt viel Ehmug: aber — man lade dar:
über — die jüdlihe Sonne vergoldet und verklärt auch vielen.
Achtes Kapitel. 157
Dem Fremden, der mit dem Gedanken an die Griechen nad
Marfeille kommt, ift es nicht unangenehm, an einer Straßenede
„Bafle des Anaharfis“, auf einem Schilde „Gaſthaus der Pho—
feer” und auf einem andern den Namen Timon zu lefen. In
der großen Fruchthalle, wo er eigen zund Pfirſiche einfauft und
ihn die Verkäuferin freundlih nad feinem Vaterlande fragt,
denft er an die Fruchtverkäuferin des Theophraftus und an ihr:
„D Frembdling !“
Aus der Fruchthalle tretend, ſah ich das Mufeum neben
mir, und ich konnte der Verſuchung nicht widerftehen, mein Em:
pfehlungsjchreiben an den Direktor dajelbjt abzugeben. So kam
ic denn in die Kunft, bevor ich das Leben kennen gelernt. Die
Niederländer find hier am Beiten vertreten. Ein ächter Rubens,
„die Jagd“, eines der Fräftigften Bilder des Meiſters, was viel
jagen will. Uebrigens die befannten Geſtalten. Ein anderes,
„die Auferftehung Chrifti”, zeigt Rubens in feiner vollen Zeit:
lichleit, oder jo zu jagen, Irdiſchheit. Da ift feine Verhimme:
lung, feine Engelei, feine Heiligkeit, feine befonderen Lichter —
Alles menſchlich, irdifh und fauſtſtark. Chriftus mit einem Pa:
nier in der Hand, das er wie eine Lanze hält, tritt mit einem
großen Schritte und etwas wilder Gebärde aus dem Grabge—
wölbe, als träte er aus einem Gefängniß. So ſchreitet er auf
die Wächter los; und feines Wunders bedarf es, daß fie vor ihm
erſchrecken, auf das Antlig fallen oder auf und davongehen.
Seiner würdig ift das Bild feines Schülers Jourdan: „Chrijtus
mit den Apofteln im Kahne.“ Der Meifter figt im Vordertheile
des Schiffes und predigt den Jüngern; fie hören ihm mit mehr
oder weniger Andacht zu, Manche figen gemädlic da wie flä-
miſche Bauern; fie heucheln nicht und empfindeln nicht, aber
wenn e3 dazu kommt, etwas zu thun oder zu leiden, wird das
Wenige, das von den Worten des Lehrers in Ohr und Herzen
hängen bleibt, hinreichen, fie an ihre Pflicht zu mahnen. Der
nadte Kerl, der das Schiff führt, ift ein wahrer Rieſe und ſtößt
jo gut, daß man den Kahn in Bewegung fieht. Nirgends eine
188 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Spur von Konvenienz; natürlibe Grobheit neben natürlicher
Grazie, fede Zeichnung und breite Malerei, in Allem ein Cha:
after, eine Verfönlichleit. Dann ift noch ein Vandyk da, dem
man glauben muß, daß er wirklich einer ift: die Studien zu
feinem „Grafen Stafford“, und endlich ein unausmweichlicher
Snyders mit feinen Fischen, Melonen, Braten u. ſ. w. u. ſ. w.
Seine Bilder maden fatt, anjtatt den Appetit zu reizen.
Dom Mufeum fam ich wieder an den Hafen. Es war Mit:
tag geworden. In der Nähe der Kirche St. Victor faßen an
zweihundert Mädchen, gruppirt oder einzeln, im Kirchenjchatten,
auf Schwellen, in Vorhäufern, und vwerzehrten ihr Mittagsmahl.
Wahrſcheinlich Arbeiterinnen, die in den großen Hafenmagazinen
mit Einpaden und Affortiren, oder in der benachbarten Tabal:
fabrif bejchäftigt find. Sie mahnten mich an Glasgow, wo man
ebenfalla jo große Schaaren junger Arbeiterinnen zu gewiſſen
Stunden in den Gaſſen fieht. Aber doch welch’ ein Unterſchied!
Jedes diejer Mädchen bier in Marfeille hat fein Körbchen mit
den beiten Früchten, Melonen, Feigen, Pfirſichen, Weintrauben
angefüllt; dazu das blühendſte Brod, den köſtlichen Käſe von
Roquefort, die Arlefer Wurft und eine Flafche rothen Meines.
Die von Glasgow nagen an einer Brodfrume; auch im Anzuge,
jogar in Schmudjaden fieht man die Aiſance der Marfeiller
Arbeiterinnen. Die in Glasgow find in Lumpen gehüllt. Ein
gewifjes diſſolutes Leben fieht man auch hier diefen Mädchen an:
aber bei den wohlgenährten Südländerinnen jcheint die Folge
höchſt freiwilligen Entjehlufjes, was bei den Geltinnen des Nor:
dens Wirkung des Elends ift.
Abends.
Die Rue d’Aix, der Cours St. Louis, die Rue de Rome
(eine kleine Oxfordstreet) bilden zufammen einen impojanten
Straßenzug, welcher die Stadt in gerader Linie von Nordweſt
gegen Südoſt durdläuft. An dem einen Ende fchließt ihn der
Triumphbogen, am andern ein folofjaler Obelist. An dieſem
vorbei gelangt man in eine von Bäumen nnd Häufern ſchön
Achtes Kapitel. 189
bepflanzte Gegend außerhalb der Barriere, weldhe den jpanijchen
Titel eines Prado führt. Trotz der Schönheit diejes Parkes ver:
läßt man ihn doch gern; um ihn mit der Allee zu vertaufchen,
die gerades Wegs zum Meere an den Golf von Mordan führt.
Rechts und links reihen fih die fomfortabeljten Landhäuſer an
einander, die befjer als die Stabthäufer von der großen und viel:
verbreiteten Wohlhabenheit Marjeille'3 einen Begriff geben. Da
fieht man die prächtige fäulengetragene Billa neben der nod an—
ſpruchvollern Schweizerhütte; ein Banquier hatte jogar die Grille,
fein Landhaus volllommen in der Form einer gothifchen Kirche,
mit Spitbogenfenftern und Thüren, mit Thürmen und Roſetten
zu bauen.
Die Allee wird vom Meere plöglich abgejchnitten. An ihrem
Ende thut fi die herrliche Ausfiht auf den Golf von Mordan
auf. Vulkaniſche, wild zerrifiene Berge ftreden ihre Arme in
einem weiten Halbkreife gegen Süboften aus. Im Weiten wird
der Golf von den Marfeiller VBorgebirgen, von den trois freres
der Inſel Sf, mit ihren zwei Nachbarinſeln, und von den Bergen
de3 Sees von Berre abgefhnitten. Im Südoſten wagt fi ein
vom Vorgebirge abgelöfter Feljenkegel jogar meit hinaus ins
Meer, fo daß fich zwiſchen ihm und den Niffen des Ufers cine
dunkle Straße aufthut, welche wie der Dfeanosfluß in die Unter:
welt zu führen fcheint. Aber diejer wilde Rahmen ſchließt ein Bild
voll heiteren Friedens ein. Am Fuße der zerhadten und gezad:
ten Felſen liegen freundliche, mit ihren weißen Häufern weit hin:
ausihimmernde Dörfer, erheben ſich einzelne prächtige Villen,
ftredt eine üppige Vegetation ihre grünen Arme über das Ufer
hinab bis in die dunkle Fluth und drängt mit freundlicher Ge:
walt die Dünenbänfe von ihrem Stillleben zurüd. Auf ven kah—
len Feldwänden begegnen fich die Reflere de3 blauen Himmels
und.des noch blaueren Meeres, die zitternd in einander fpielen
und die Abhänge mit Tinten bededen, welche ein reiches bemeg-
te3 Pflanzenleben täujchend nahahmen.
In diefem Augenblid wird mit vieler Kunft und großen
190 Tagebuch) aus Languedoc und Provence.
Koften an einer Straße gebaut, melde vom Golfe längs des
Ufers, um die VBorgebirge biegend, nach Marfeille zurüdführen foll.
Der Ummeg ift groß, aber er wird lohnend. Mas kann es An:
genehmeres geben, al3 in offenem Wagen, vom Abendwinde an:
geweht, bei leuchtendem Meere allen diefen MWindungen des Fel-
jenufers zu folgen und fo langfam al3 möglich dem Gefaufe ver
Stadt entgegenzufahren, während von ferne der Leuchtthurm fein
weißes Licht, die verfpäteten Schiffe ihre Lieder, die nachglühen:
den Wolfen ihre Blite herüberſchicken? Ich folgte diefem neuen
Wege; rechts Gärten und Landhäujer, lint3 mir zu Füßen das
murmelnde Meer, dem hier und da ein Heiner Bach entgegenraufcht.
Aber nah einer halben Stunde wurde meine Wanderung von
geiprengten Felsblöden, Mafchinen, Balken und vergleichen ab:
geſchnitten; ich jtand auf einem Vorjpruna hoch über der Fluth
— der Weg führte nicht weiter. Mit Mühe Eletterte ich das
zerbrödelte Geſtein hinauf und verlor mich zwifchen ftillen Gar:
tenmauern, offenen Weideplägen, fahlen Hügeln, jteinigen
Schludten und Thälern. Mein Führer war das von fteiler
Höhe herabwintende Fort Notre-Dame de la garde; in Eile
erreichte ich eS, bevor die Sonne untergegangen war.
Die Kapelle von Notre-Dame de la garde ijt eine der be—
gnabdetjten des Landes und von den Frommen am Meijten be-
ſucht. Die Madonna über dem Altare, die Arbeit eines Mar:
ſeiller Künftler3, ift aus getriebenem Silber und thut fehr viele
Wunder. Die „ex-voto,* welche als Abbildungen verſchiede—
ner geheilter Glieder, glüdliher Entbindungen, überjtandener
Krankheiten, furdhtbarer, doc ſchadlos vorübergegangener Meer:
ftürme, im buchftäblichen Sinne des Wortes alle Wände der
Kapelle beveden, geben Zeugniß von der unausgefegten Wunder:
thätigfeit diefer Madonna. Doch hielt ich mich bei dieſen Mira:
teln nicht lange auf, bezahlte fie gläubig mit fünf Sous und
eilte hinaus, um das natürliche Creigniß eine Sonnenunter:
ganges auf dem mittelländijchen Meere nicht zu verfäumen.
Als ic auf die Platform trat, lag die Sonne ſchon als unge:
Achtes Kapitel, 191
heure Kugel auf dem äußeriten Rande des Horizonte. Hafen
und Stadt dedte bereit$ webende Dämmerung ; die Leuchtthürme
maren entzündet. Ueber ver Bläue de3 Meeres zitterte ein bräun—
liher Schleier. Aber die Spitzen der Berge leuchteten, und vie
Kuppen, die gleih einem gewaltigen Kandelaber die Sonne in
ihren Armen fejtzuhalten jchienen, jprühten und brannten wie
weißglühendes Metall. Langjam begann nun jenes gemifle
Rüden und Sinken des großen Erleuchters; die Strahlen ver:
loren ihre Kraft, man konnte dem Scheidenden ruhig ing Ange:
fiht Schauen, das unverhüllt dem Zurüdbleibenden lächelte.
Endlih lag ein ſchmaler Kranz wie ein Golddiadem auf dem
bödjten der Bergbäupter — und endlich verſchwand aud er.
Die Sonne verfant, und in diefem Augenblid flogen nad rechts
und links, wie zwei purpurne Schlangen, die tiefgetränkten Licht:
jtreifen hin am ganzen weſtlichen Horizont; fie bligten auf und
verbreiteten ſich als dunfelglühende Abendröthe über das halbe
Firmament. Ein leifer Wind erhob fih, und fanft lispelte und
murmelte da3 Meer, wie ein Kind im Einfchlafen. — Es ent:
ihlief, und Nacht lag rings umher. Aus der Stadt herauf zog
ein dumpfes Raujchen; die Lichter wurden angebrannt, die
Glocken begannen zu läuten.
Der öde Weg von Notre-Dame de la garde war belebt
von allen diefen Tönen; in der Nähe des Hafens famen mir
Schaaren von Mädchen fingend und lachend entgegen. Ich
iprang in einen Kahn und fuhr nah dem cinefifhen Balajte,
dem Fort St. Nicolas gegenüber. Auf allen Echiffen ging es jo
bäuslich her wie am heimischen Herde. Das Schiffsvolk jaß am
Tiſche gereiht und aß und trank; franzöſiſche, engliſche, deutjche,
griechifche Lieder ertönten von allen Seiten. Die Wafler waren
itill; mem Kahn fuhr leife dahin.
Es gibt gewifje Punkte in der Welt, die von der Vorfehung
eigens für faffeetrinfende Cigarrenrauder geſchaffen find, z. B.
das Cafe Tommafo in Trieft; die Bänfe vor der Boutique des
Sorbetverfäuferd auf der Riva dei Schiavoni in Venedig ; die
192 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Terrafie des Pojthotels in Varenna, mit dem Bli auf beide
Arme des Gomerjees; der Garten der drei Kronen in Venen,
mit der Ausficht auf den Leman, auf das Rouſſeau'ſche Meillerie
und in das Thal von Wallis; in Paris das Cafe de la Rotonde
im Garten deö Palais national; in London die Terrafje von
Adelaide-Hotel über der Themje und Londonbrivge; in Deutjch:
land die Brühl’ihe Terrafie und in Marfeille der Balkon des
Chinefiishen Haufe, der fogenannten Maison Isnard. Was
kann e8 Süßeres geben, als, die ungejegliche Cigarre im Munde,
den duftenden Mokka vor fih, jo gedankenvoll-gedankenlos da
zu figen, ganz jo wie der beturbante Drientale neben mir, und
binabzufehen auf diejen herchniſchen Wald von Maſten, auf das
bunte Schiffsvolf in feinen Schatten, auf die janftbewegte Welle,
die träumend an die Rippen der Riefendampfer plätjchert; auf
das ftille Fort St. Nicolas mit dem melancholiſchen Faktionär,
der mechanifch wie ein Pendel auf der Mauer hin und mieder
wandelt und deflen Bajonnet im Mondſchein blinkt, und endlich
auf die ſchwarze Unendlichkeit, die man das Meer nennt?! Hei:
tere und traurige Gedanken, aber beide fanft lächelnd und in
die Zukunft ſehend, ziehen Hand in Hand, fonderbar gepaart,
vorüber und verſchwimmen förperlos mit dem Murmeln des
Meeres, mit den Liedern des Hafens, mit dem Duft des Mond:
ſcheins, mit den Nebeln der Berge.
„Ob aud) die Jahre weiter ziehn,
Die Träume find geblieben;
Und dann — ob aud die Träume fliehn, —
Es bleibt das Lieben.”
Zwei blonde, deutjche, jehr liebenswürdige Jünglinge, wahr:
ſcheinlich Handlungsbeflifiene, ftörten mich auf höchſt unange:
nehme Weiſe aus der Gemüthlichkeit dieſes gedankenloſen Zu:
ftandes. Sie ſprachen ein ſchändliches Franzöfiih, und doch,
wenn man ihnen gedroht hätte, das Fort St. Jean an ihren
Hals zu hängen und fie ins Meer zu verfenfen, wo es am
Achtes Kapitel. 193
Tiefften ift, e8 wäre fein deutjcher Laut aus den Kerlen heraus:
zubringen gewejen! Ich zahlte meinen Kaffee, murmelte einige
ächt deutihe Flühe und ging voll unpatriotifher Gedanken
hbeimmärts.
5. September 1851.
Auf einem breiten Stuhle fit die große Gejtalt des heiligen
Joſephus. Haupt: und Barthaar find grau, die Züge von der
Sonne gebräunt, von Jahren und Erfahrungen gehärtet; ein
finnender Ernft fit auf den bufchigen Augenbraunen;; ein weißes,
faltige8 Gewand dedt die folofjalen Glieder. Ihm zwifchen ven
Knieen fteht das Kleine Chriftusfind, ein Proletarierjunge mit
etwa3 didem Kopf und fnodiger Stirn, aber feinen Lippen und
durhfichtigem Blid. Es hebt die Hand auf wie zum Segen, und
da e3 nach vorn fchreitet und auf der unterjten Stufe des Bildes
ftebt, ift e8, al3 wollte e3 aus der gemalten Traummelt plöglich
und mit einer gewiſſen wilden Gewalt in die wirkliche, irdifche
bineintreten. Das ift feiner jener vielen gemalten Heilande, die
fih von der Erde wegſehnen und jeden Augenblid die Himmel:
fahrt zu unternehmen drohen: diejer Heiland hat eine umgekehrte
Sehnſucht. — Dieß in ſchlechten und kurzen Worten die Beſchrei—
bung eines Altarbildes, das ih in einem alten Gemäuer zu
Marfeille befindet. Das alte Gemäuer heißt die Kirche St. Victor
und ift ein Rejt der Abtei gleiches Namens, die in der franzöfi-
ſchen Revolution zerftört worden. Der Maler vdiejes herrlichen
Bildes aber heißt Dominik Bapety.
Ih fage es meinen deutfhen Landsleuten nur vertraulich
ing Ohr: — fie bilden fi viel zu viel auf ihre Bekanntſchaft
mit aller Welt ein. Das Beite und Schönfte, das die Fremde
bervorbringt, entgeht ihnen oft über dem fchreienden, zudring:
lihen Mittelmäßigen. Die Scribes und Dumas, wel’ ein ge:
waltiges Bublitum haben fie jenfeitS des Rheins, wo der poejie-
volle Joylendichter Brizeur faum dem Namen nach bekannt ift!
Und wie mit der Poefie, ift e8 auch mit den anderen Künſten.
Die Horace Vernets und die Delarodhes, dieſe Scribes und
Morig Hartmann, Werke IM. 13
194 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Dumas der Malerei, entzüden unfere Banquierd und werden
auf deutſchen Kunſtausſtellungen bewundert. Wer fennt Papety,
einen der beveutendften Maler des modernen Frankreichs?
Die nur kurze Lebenzfrift, welche der Entfaltung diejes
großen Talente gegönnt war, und der zufällige Umftand, daß
fich die meiften feiner Bilder im Privatbefig befinden und mehr
oder weniger unzugänglich find, bilden allerdings eine Art von
Entihuldigung ; ftatt anzuflagen, will id daher mit kurzer Er:
mwähnung feiner Werte fortfahren und meine Landsleute mit
Papety befannt zu machen ſuchen. In Marfeille, feiner Vater:
ftadt, befinden fi noch zwei bedeutende Bilder dieſes jungen
Meifterd. Die Kirhe Marie majeure befigt die „heilige Philo—
mena“, eine einfache weibliche Geftalt, die mit ausgebreiteten
Armen aus dem Rahmen herauszujchweben ſcheint, und „Jeſus,
von beiden Eltern begleitet, au3 dem Tempel fommend.” Der
zarte, doch kräftige Anabe glüht no vom Feuer des Kampfes,
den er joeben mit den Schriftgelehrten bejtand. Mit emporge:
hobenen Armen jchreitet er vorwärts, noch ijt er in Begeilterung,
noch ſcheint er zu predigen, zu ftreiten und zu lehren. An feiner
rechten Seite, mit dem langen Stabe in der Hand, geht oje:
phus; ein Mann im kräftigſten Alter, mit der Miene des Be:
jhügers und Vormundes, iſt er entjchloffen, den Kleinen zu ver:
theidigen, auf deſſen Worte er mit aufmerkjamer Ruhe horcht.
Aber tiefere Gefühle bewegen die Mutter. Sie hüllt fi in ihr
dunfele® Gewand und hält die Hände fejt über die Bruft ge
drüdt. Langſamen Schritte und finnend folgt fie dem jchnell:
ſchreitenden Kinde; der mütterlihen Ahnung wird die ganze Be:
ftimmung ihres Sohnes Har, und erhabene Leidensbeſchlüſſe
faſſend, blidt fie ihm nad. Lebe wohl, jagt jie dem ruhigen
Mutterglüd, und ergeben begrüßt fie das reichere Leid, welches
fie aus dunkler Ferne kommen fieht. Eine jhön gepugte Cours
tiſane betrachtet mit einem Gemiſch von frivoler Neugierde und
ernjter Ahnung die Gruppe. Im Hintergrunde der Tempel mit
feiner jtolzen Säulenhalle, aus⸗ und eingehende Fromme, Schreiber
Achtes Kapitel. 195
und Shhriftgelehrte; römische Wachen und Soldaten in glän:
zender Rüftung — die ganze alte Welt, die e3 nicht ahnt, daß
port ihr zufünftiger Zerftörer als Kind zwiſchen Vater und
Mutter wandelt !
Ein eigenthümliches, anfang3 unbeftimmtes Gefühl bemäch—
tigt ſich des Beſchauers diefer Bilder. Sie find ein Räthjel,
etwas Neues; er weiß fie nicht zu Haflifiziren. Sind e3 Heiligen:
bilder? Nein — dazu find fie zu robuft, zu irdifch, uns zu nahe
verwandt. Sind es profane Bilder? — Noch weniger: denn e3
verklärt fie ein gewiſſer Schein, den wir einen SHeiligenfchein
nennen müjjen, da wir es einmal jo gewöhnt find. Sie ftellen
vielleiht doch Bewohner diefer Erde vor, aber diefer Erde, wie
fie werben foll, der künftigen Erde. Das iſt es: Papety iſt ein
Mann der Zukunft — wie alle großen Künftler, ein ahnungs—
volles Gemüth, das überall die Zukunft fucht, fieht und darftellt.
Zufällig kenne ich eine große Zahl Papety’fcher Werke: Del
bilder, Aquarelle, Cartons, die jih im Befit von Bekannten und
Freunden befinden und ſonſt dem Publiftum unzugänglich find,
Eines ver ſchwächeren unter diefen, dem Herrn Francois Saba:
tier gehörig, gibt mir den Schlüflel zum ganzen Weſen des
ahnungsvollen, ſchöpferiſchen Künſtlers. Es ift eine Allegorie —
denn der eine neue Welt juchte, die er noch auf diefer Erde nicht
fand, mußte er es nicht auch mit der undankbaren Allegorie ver:
ſuchen?
In dunklen Wolken ſitzt die kahlköpfige, graubärtige Ver:
gangenheit und liest im vergilbten Pergamente; neben ihr die
trübe Gegenwart, traurig, aufgegeben vor ſich hinjtarrend, mit
der linken Hand greift fie träumerifch nach dem vergilbten Per:
gamente, als wollte fie dort Rath holen in ihrer Rathlofigeit.
Läſſig liegt die Rechte, die Hand,der That, im Schoofe. Auch
fie werden bald die dunklen Wolken, die fie ſchon halb umhüllen,
verſchlingen. Indeſſen aber, von Beiden ungefehen, fliegt aus
blauem Hintergrunde die leuchtende Geftalt des Genius der Zu:
kunft hervor. Sein fchimmernde3 Gewand ift von Sternen
196 Tagebud aus Languedoc und Provence.
umränbert; fein Geſicht ift ernft und doch liebe: und verheißungs—
voll lähelnd. Die Arme breitet ver heilige Knabe aus, al3 wolle
er eine Welt an fein Herz drüden.
Diefer Genius der Zukunft, ift e8 nicht derfelbe Knabe,
welcher dort predigend und ftreitend aus dem Tempel tritt, mu:
thig vormwärt3 dem Glaubenden entgegenfchreitet und eine alte,
obwohl glänzende, doch vermwitterte Welt hinter fich läßt? Iſt es
nicht derfelbe Knabe, ver dort auf dem andern Bilde aus dem
Schoofe des greifen Alters jegnend hervorgeht?
Die Zukunft war es, die Papety überall fuchte und fand;
in ihm ſelbſt, wie wir fie, an der Schwelle einer neuen Zeit
ftehend, nur ahnen; in der Weltgefchichte, wo fie ihm ſymboliſch
oder im Spiegel verklärter Vergangenheit entgegentritt; in der
Kunftgeihichte, wo jie als Blüthe des Menjchengeiftes anticipirt
zur Erſcheinung kommt.
Eine Anefoote und eine Erfahrung aus dem Leben Papety's
müfjen wir bier einſchalten, die mie feine Bilder für ihn charak—
teriftiih find. Bor Jahren, noch in Papety's früher Jugendzeit,
hatte Ingres, der jtrenge Meifter der Form und der etwas be:
ſchränkten Klaflizität, der den jungen Maler nicht bejonders
liebte, feine Schüler um fi verfammelt. Und zu dieſen jagte
er mit warnender Stimme: Meine Freunde, es gibt einen jungen
Menſchen in Frankreich, der noch unbekannt ift, noch nicht viel
weiß, der nur ftrebt und ſucht, — wenn er aber gefunden haben
wird, dann wehe Eu! —
Die warnende Prophezeiung des alten Meifters ſchien bald
in Erfüllung gehen zu wollen. Papety errang den erften Preis
der Afademie und wurde nah Rom gefhidt. Aber ven Preis,
melchen fie vem Schüler zuerkannt, konnte fie, die Vertreterin des
Fertigen und Alten, dem Manne, der mit feinem ganzen freien
Mefen hervortrat, nicht zugeitehen. „Der Traum vom Glüd”,
die erfte Frucht feines neuen Strebens und Wollens, ein gemwal:
tige3 Bild, das Papety bald nach Paris fandte, wurde von Aka:
demie und Regierung verſchmäht; zum erjten Male feit Menjchen:
Achtes Rapitel. 197
gedenken wies man die erjte Arbeit eines Preisgefrönten zurüd.
Und Akademie und Regierung hatten Recht mit ihrem Inſtinkte,
den die Gefahr eingibt. Im vorigen Jahrhundert hätten Hof
und Hofleute diefes Bild, das nichts Anderes ift, denn ein Traum
aus den Gärten de3 Akademos, Fleisch gewordenes platonifches
Wort, wie eine gefahrlofe, unfhädliche Idylle von Florian be:
wundert. Heute ſah man hinter dieſen friedlichen Gejtalten von
Liebenden, Lehrern, Schülern, fpielenden Kindern nicht3 als So:
zialismus und Revolution, hinter dem Tempel im Hintergrund
einen Club, eine Volksbank, ein Phalanstere — Gott weiß was!
Und im Grunde hatte man Redt. Die Idylle, dad Gedicht
des Frieden und der Liebe, ift das revolutionärfte Gedicht.
Denn wa3 wollen wir Anderes, als Liebe und Frieden, als die
Erfüllung des Papety'ſchen „Traumes vom Glück?“ als lieben,
lehren und belehrt fein? unfere Kinder, unfere Zukunft, in Blu:
men fpielen und aufwachſen fehen? Die Devife: „Brüderlich:
keit,“ welche die Gegenwart auf ihr Schladhtpanier fchreibt, jchreit
fie nicht mitten aus dem Kampfgewühle nach Frieden und Liebe?
Das gangbar gewordene Wort vom „Kriege gegen den Krieg“
— die verjchiedenen Friedensjekten und Phalanfterianer, welche
vorzeitig vielleicht, doch gewiß menſchlich, friedliche Eroberung des
Größten und Schönften predigen — ſelbſt die fomifchen Friedens:
kongreſſe, find fie nicht Symptome genug der tiefen Friedens:
ſehnſucht? Papety hat fie in ihrer Erfüllung gemalt. So ift der
Maler des Chriftus urfprünglih ein Idyllendichter, ein Ber:
förperer platonifcher Ideen, ein ſchöner genießender Heide, ein
Herold moderner Münfce.
Eine große Idee trägt alle Ideen in ihrem Schooße und
ruht im Schooße aller Ideen. Sie ift untheilbar und allvertheilt:
e3 ijt dieß der Pantheismus der Vernunft. Nur fcheinbar tritt
der Priefter aus ihrem Kreife, das fehende Auge fieht ihn immer
und überall mit ihrem Dienfte angethban. Der Maler des „Chris
ſtus“ und des „Zraumes von Glüd” ift derfelbe, der die „griechi-
ſchen Mädchen am Brunnen,“ eine Idylle aus dem fchönen Leben
193 Tagebuh aus Languedoc und Provence.
der Hellenen, gejhaffen hat. Mädchen mit ihren ſchlanken Wafler:
frügen in Hallen oder in ſüdlichem Sonnenſchein figend und
wandelnd, und jo lieblich plaudernd vielleicht wie jene Fontaine,
die dort zwifchen den Säulen hervormurmelt: es ift eben nichts
ale Schönheit und Friede, der große Traum von Glüd im Klei-
nen wiederholt — ein Regenbogen in prismatiſchem Glaje.
„Die Sterne in der eigenen Bruft,” die wir manchmal un:
jeren Willen nennen, mußten Bapety nothmwendig nad) dem Lande
führen, in welchem einft ein ver Vollendung nahe ftehendes,
durch unfere Liebe noch mehr verllärtes Volk gelebt, dag wie ein
in unferem Rüden aufgeftellter Spiegel und, wenn wir zurüd:
bliden, einen Theil der Welt zeigt, der wir zufteuern ; mußte er
nicht die zertrümmerten Anfänge „einer Zukunft” aufſuchen?
Die Cartons, die er aus Griechenland zurüdgebradht, find ein
Reliquienkaften von Erinnerungen an jede Stelle, die einft Schö—
ne3 und Großes gejehen hat. Ueber ven Tempeltrümmern, den
öden Thälern, den einfamen Lorbeerbüſchen weht ein Haud) Ie-
benden, unfterblihen Griechenthums, als follte der Lorbeer noch
heut die Stirne eines olympifchen Dichters befränzen, ald wären
foeben die Belämpfer der Barbarei dur diefe Thäler gegen
Marathon gezogen, als würde in diefen Tempeln noch jegt den
jhönen Göttern des Himmels und der Erde geopfert! Den Pars
thenon aber, ven Inbegriff aller Kunft und Schönheit, bat er,
„ein rüdwärts gelehrter Prophet,” wieder jo aufgebaut, wie er
die Augen des Perikles entzüdt hat.
So Ehrift und fo Heide, ſteht er von jelbit auf den über:
ſchauenden Höhen, die andere Geifter vor ihm aufgethürmt haben.
Das Höchſte, das die Kunft der modernen Welt in Worten und
Tönen hervorgebracht, nimmt er in fih auf und bringt es nod)
einmal hervor. Sein Wort ift die Form, fein Ton die Farbe.
Sn einem Palafte zu Florenz malt er die Meifterwerke Shake—
ſpeare's und Mozart: denn im Emwigen ijt die Zukunft.
Ich wollte nur auf Papety und die beherrjchende dee ſei—
ne3 Lebens aufmerkfjam maden; ihn zu Haflifiziren überlafje ich
Achtes Kapitel. 199
Anderen. Bilder zu bejchreiben, die ſelbſt nur die volllommenjte
Befchreibung find, halte ich für unnüg; ich bin ſchon zufrieden,
wenn ich nur dazu beitrage,' den Namen eines großen Künſtlers
meiter zu verbreiten. Bor einem Jahre hatte ich ihn ſelbſt noch
nie nennen gehört. Im September 1850 fprah man mir von
einem Requiem, das in der abjeit3 liegenden Kirche St. Vincent
de Paul zu Paris abgehalten wurde. Ein unbefannter Compofi-
teur Beſozzi hatte das Requiem komponirt, eine damals noch
unbefannte Sängerin Emmy Lagrua, die ſich zufällig aus Deutfch:
land hierher verirrt hatte, jang das ſchöne Trauerlied mit ihrer
feelenvollen Stimme, und die Freunde Papety's meinten eine
ftille Thräne. Er war im Alter Raphaels gejtorben. Aber vie
Götter ſcheinen ihren Lieblingen, die fie jung zu fid) nehmen,
die kurze Lebenzfrift dur einen klaren und heiteren Blid in
alle Zukunft auszudehnen und zu bereichern.
6. September 1851.
Um elf Uhr Morgens jtieg ich in den Kahn, um nad Chä-
teau d’If hinüberzufahren. Es war Winpftille, und die Fahrt
dauerte faſt eine Stunde. Ein Dampfihiff nad dem andern flog
an uns vorüber; das eine nad Algier, das andere nah Smyrna,
das dritte nach den Antillen, das vierte jogar nad Kalifornien.
Am Hafen hatte ich die Reiſenden gejehen, die mit ihrem Gepäd
auf vielen Kähnen diefen Dampfern entgegeneilten. Nur wenige
betrübte oder von Aufregung zeugende Gefichter habe ich unter
ihnen bemerkt; fo fehr hat man fich heutzutage an das Reifen in
die ferniten Zonen gewöhnt. Am Horizonte ftanden hundert
Schiffe mit herabhängenden Segeln wie angenagelt; des Mor:
gen3 hatten fie Dampfſchiffe dahingeſchleppt, aber fein Zuftzug
kam ihnen zu Hülfe. Wie ein Hohn auf die alte Welt und ihre
Mittel, zu leben und fich zu regen, jagten die Dampfſchiffe an
ihnen vorüber. Eines fhleppte eben einen beleibten Mufelmann,
von defien Mafte ver Halbmond auf die chriftliche Welt nieder—
ſah, in den nahen Hafen. Bor dem Fort St. Jean arbeitete
200 Tagebud aus Languedoc und Provence.
eine Dampfmaſchine, Berge von Sand in die fie umgebenden
Kähne ausſchüttend. i
Die Inſel If bietet trog ihrer Dede und Kahlheit doch einen
überaus malerifhen Anblid. Die Mauern, die fie umgeben,
müſſen fi den Formen des Felſens fügen und je nad) feinen
Riſſen und Höhen auf: und abjteigen, fo daß fie hier den Fuß
im Meere baden, während fie dort von fteilem Abhange luftig
niederſehen. Ueberall aber werden fie vom inneren Schloſſe mit
jeinen Zinnen und der Terrafje überragt. Den Hintergrund
bilden die zwei größeren Eilande, Ratonneau und Pomegue, die
durch eine Mauer verbunden find. Der Raum zwifchen beiden
bildet ven Hafen Dieudonne. Man nennt ihn Gottesgabe, weil
er faſt ganz von der Natur gejchaffen und die Menjchen nur
wenig zu thun hatten, um fich ihn nugbar zu machen. Beide
Inſeln find ebenfo wie If verbrannte, von Fort3 gekrönte Feld-
ftüde; Pomegue trägt noch das mweitläufige Gebäude der Qua—
rantaine auf feinen Schultern.
Ye näher man den Inſeln fommt, deſto fihtbarer wird der
aufiteigende Meeresgrund. Jede Heine Waflerpflanze it in dem
Malde von Seetang zu unterfheiden. Fiſche, Krabben und an-
deres Gethier treiben fi wie Wild im Forfte auf feinem Grunde
umber, während über ihm ber Seeftern hin und her ſchwebt.
Die Schatten der Wolfen am Himmel fallen bis in dieje tiefe,
verborgene Welt.
Eine theils in den Feljen gehauene Treppe führt in mancher:
lei Windungen zwifchen zwei Mauern in das Innere der Be:
fejtigung. Es beſteht aus dem Sclofje, einem Heinen Parallel:
epipedum, aus dem modernen, unbedeutenden Wohngebäude des
Concierge und aus fahlem, zerrifienem Felsboden faſt ohne alle
Vegetation. Im Graben des Schlofjes gedeiht fümmerlih ein
wilder Feigenbaum. Die ganze Bewohnerſchaft diejer Heinen
öden Welt jest fi in diefem Augenblide zufammen: aus dem
Concierge und feiner Frau, aus einem Lieutenant und zehn
Mann Soldaten, aus einer Ziege und einem kleinen korſiſchen
Achtes Kapitel. 201
Widder; die legteren haben innige Freundichaft geſchloſſen und
find ungertrennlih. Immer vereint, treiben fie fi auf dem
delfen und, wenn das Schloßthor geöffnet wird, in den Gängen
und auf den Zerrafien umher. Sie folgen aud den Fremden
in das Gefängniß Mirabeau’3 und ftören ihn ironisch in feinen
mwelthiftorifhen Betrachtungen.
Mit dem erften Schritt in den Schloßhof mußte ich laut
auflahen! Bor der Gefängnipthüre linf® am Eingang glänzte
mir die Inſchrift „Prison de Monte-Christo* entgegen. Der
Concierge ſah mich prüfend an, dann fagte er lächelnd: Eh
bien, Sie wiſſen es, soit! — Ich habe es nicht hingefchrieben,
und viele Fremde glauben es. — Er öffnete die Thüre, ich trat
in ein wirklich ſchauderhaftes Gefängniß, in ein Loch ohne Licht,
da3 wenige ausgenommen, welches durch ein Kleines Gitterchen
der Thüre fahl auf den Boden fällt, ein Loch, das nicht fünf
Schritt lang, kaum zwei Schritt breit und höchſtens drei Ellen
hoch ift. Das Gemäuer, ohne alle Bekleidung oder Tünche, be:
ſteht aus edig und jpig hervorragenden Steinen. Aus diefem
Gefängnifle Monte: Ehrifto’3 traten wir in das anftoßende de3
„Abbe Faria.” Ein Theil der Wölbung des erfteren bildet die
Geitenmauer dieſes beijeren und bequemeren Gefängniſſes. Man
fann in der That annehmen, daß zwei Gefangene in diefen bei:
den Löchern durch die leihtgemachte Entfernung einiger Steine
eine Verbindung berzuftellen vermögen. Diefen Troft kann ich
germanijchen Lejerinnen, die an Monte: Chrijto glauben, nicht
vorenthalten: Alerander Dumas hat Ort und Gelegenheit mit
vielem Geſchick benugt, um jein Märchen wahrjcheinlich zu machen.
Nur der berühmte Wurf im Sade läßt einigen Zmeifel auf:
fommen, da die Mauer, von deren Höhe der unbarmherzige Ro:
mancier den armen Monte:Chrifto jchleudert, von der Fläche des
Meeres durch unterjchienliches Felsgeftein jo bedeutend entfernt
it, daß man eben einiger Dumas'ſchen Romantik bevarf, um
einen folhen Wurf zu thun oder an ihn zu glauben. Wahrfcein:
ih um aud mir einige Gläubigfeit beizubringen, werficherte der
202 — Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Concierge: daß ſich in den Regiltern des Gefängnifjes wirklich
die Namen Abbe Faria und Dantes vorfinden, und zwar legte:
rer von der Bemerkung begleitet „wegen Expedition eines Briefes
von Bonaparte.” Auch diefes fei deutfchen Gemüthern zur Be:
ruhigung gewiflenhaft verzeichnet.
Die Treppe, die in den erſten Stod führt, und eine Galerie
braten mich aus Dumafifhen Gejhichten in die Geſchichte —
in das Gefängniß Mirabeau’s. Es befindet ſich gerade oberhalb
des Gefängnifies Monte-Chriſto's und entſpricht diefem in Lage,
Größe und Ausſehen. In meld’ Heinen Käfig wagte man diejen
gewaltigen Löwen einzufchließen, der mit dem Schütteln feiner
Mähne die Baftille gebrohen und alle Gefängnifje der Welt
mwenigitens erfchüttert hat! — Sehen Sie, ſagte der Concierge,
bier hat er lange Monate verbracht; ift es ein Wunder, daß er
die Freiheit liebte? — Eine Bemerkung, die mande Weisheit
manden Hijtorifers aufmiegen würde, wenn Mirabeau wirklich
die Freiheit geliebt hätte. Und doc hatte der Concierge Net:
Mirabeau liebte die Freiheit, aber wie Einer, der fie in feinem
eigenen Gefängnifle und nur, meil e8 fein Gefängniß, lieben
gelernt, nicht wie Der fie liebt, der die Haft der ganzen Welt
als jeine eigne fühlt.
Auf If hat ſich die Tradition erhalten, daß der Sohn des
Menihenfreundes nah einem Befuche feines Bruders das Heine
düftere Zoch mit dem nebenan befindlihen größeren und lichte:
ren Gelaß vertaufhen durfte. Ein ziemlich großes Gitterfenfter
geftattet die Ausficht gegen Süden auf das Meer. — Wie muß
dem kochenden, braufenden Menihen zu Muthe geweſen jein,
wenn er die Schiffe auf freiem Clement allen Weltgegenven zu:
fliegen jahb! Wenn e3 ftürmte, mag es in ihm am Düſterſten
ausgejehen haben: denn der Adler im Käfig, jo fagt man, it
bei ftürmendem Wetter am Traurigften. Er half jih, indem er
feine weltdurchſtürmenden Gedanken aus feinem Gemüthe heraus
auf das Papier warf; denn in diefem milderen Gefängnifle wa:
ren ihm Papier und Feder gejtattet. In einer Ede ift noch ein
Achtes Kapitel. 203
Ihmales Brett befeftigt, welches Mirabeau als Schreibepult ge-
dient haben foll.
Dem Gefängnifie des demagogijhen Ariftofraten jchräge
gegenüber befindet ſich das gemölbte Gemach, das einen prinz-
lihen Demokraten oder wenigitens einen, der e3 zu fein vorgab,
eine Zeit lang beherbergte, bevor er nach Paris befördert wurde,
um fein fheußliches Haupt der Guillotine varzubringen: Philipp
Egalite. Als er bier auf feiner Flucht aufgehalten worden,
ftopfte man Chateau d'If mit republifanifchen Soldaten und
Freimilligen voll, da man das Geld, die Freunde und die In—
triguen der Orleans fürdtete und eine jo foftbare Beute nicht
verlieren wollte. Dafjelbe Zimmer hat fpäter Lavalette bewohnt.
In dem großen Gemache nahe daran refidirte gezwungener
Meife der Generalftab Joachim Murats. Die jchlehten Wand—
malereien, die e3 anfüllen, find Erinnerungen an die langmei-
ligen Haftmonäte. Alle übrigen Gemächer des Schlofjes waren
noch vor Kurzem von den Juni: Infurgenten des Jahres 1848
bewohnt. Es waren ihrer 380, und wie der Concierge fagte, der
Lärm, den fie verführten, unerbört.
Bevor ich dem Concierge feinen Franken in die Hand ge-
brüdt und Abſchied genommen, erzählte er mir no, daß er ein
jehr einträglihes Geſchäft machen könnte, wenn er nur viele
Eremplare von Monte-Ehrifto vorräthig hätte. Die meilten Rei:
fenden erfundigten fih darnach, da e3 ihnen intereflant fcheine,
die Geſchichte auf ihrem Schauplage zu kaufen und fie als An-
denken mit in die Heimat zu nehmen. — Ich fragte, ob dieß
nit auch mit den Memoiren Mirabeau’3 der Fall ſei? — Nein,
antwortete er troden, aber bedeutungsvoll lächelnd. — Diefer
Mann war mir eigentlich einer der intereffanteften Gegenftände
auf dem öden Felſeneiland. Sein Gefiht wie fein Benehmen
zeugten von Harer Intelligenz, von menſchlichem Gefühl und
nebenbei von fpekulativer Klugheit. Mit fihtbarer Freude ver:
fündete er, daß er keinen Gefangenen unter feiner Aufficht habe,
und knüpfte die Hoffnung daran, daß es noch lange, vielleicht
204 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
immer fo bleiben werde. Im Gegentheil habe ich bei allen Ge:
fangenmärtern und Kerlermeijtern, die ich je kennen zu lernen
die Ehre hatte, eine um jo größere Freude, einen um fo größe:
ren Stolz bemerkt, je größer die Zahl, je ſchwerer die Strafe
ihrer Gefangenen gewejen. Mit ausprudsvollen Worten ſprach
er von der Schwere der Einſamkeit, die manchmal auf ihm laſte,
ihm, dem es doch frei ftehe, feinen Poſten zu verlaffen oder mit
dem Dampfichiffe wenigſtens zweimal in der Woche nah Mar-
jeille zu fahren, und zog daraus den Schluß, wie ſchwer erſt die
Cinjamkeit auf die gezwungenen Gefangenen drücken müfle. —
Freilih, fügte er mit einem vorfichtigen Seitenblid auf mid)
binzu, babe ih auch ſchon Gefangene gejehen, die eine ſolche
Gemüthsruhe, eine folhe Befriedigung ihrer ſelbſt ins Gefäng-
niß mitgebracht, daß e3 alle feine Schreden für fie verloren zu
haben ſchien. Sie können ſich nicht vorftellen, wie heiter viele
der Gefangenen von 1848 ihre Haft getragen und der Verur:
theilung entgegen geſehen haben. — Es iſt allerdings möglich,
und nach dem klugen Augenzwinkern und dem Beobachten zu
ſchließen, das ih an ihm bemerft habe, ijt e3 vielleicht jogar
wahrjcheinlih, daß der Mann feine Worte nad dem Charalter,
den er beim fremden vermuthet, ftellt und einrichtet; ich zeichne
ihn aber gerne fo, wie er fich mir gegeben. Leuten auf folchen
Voten ift es nicht Schwer, in mancher Beziehung Menfchenkenner
zu werben und allerlei Beobachtungen anzuftellen. Das bewies
mir auch die Bemerkung, daß die Engländer zuerjt und am Lieb:
jten auf Egalité's Kerker zueilen, ihn wie ven Käfig eines wilden
Thieres anjehen und oft anjpuden; daß ſich die Franzofen für
die Löcher Mirabeau's und Monte-Chriſto's gleich ſehr interefji-
ren, Deutijhe und — Rufien aber am Längjten bei Mirabeau
zu verweilen pflegen.
Mit einem leifen Südwindhauche fuhr ich gegen Marfeille
zurüd. Es war zwei Uhr, die Sonne brannte fürdhterlih. Ich
legte mich auf die gepoliterte Bank des Kahnes, um Siejta zu
balten, ſelbſt erftaunt über die Gemüthsruhe, mit der ich
Achtes Rapitel. 205
Chateau d'If beſucht und verlafjen. Einige Jahre früher nur noch
mit einem Funken von der Begeifterung, die ich bei erfter Leſung
der Biographie und der Reden Mirabeau’3 verfpürt, — wie
anders hätte ich diefen öden Feljen betrachtet, mit welchem Herz-
tlopfen ihn betreten! Seit damals aber haben jafobinifhe Ge:
danfen die Büſte, die ich ihm in meiner revolutionären Herz:
fammer aufgejtellt, zertrümmert; der Beſchluß ward mit Lärm
gefaßt und mit Schmerzen ausgeführt. Verſteckte Parkthüren,
die zu einer jhönen Königin führen, müflen von einem mädhti-
gen Zauber umgeben fein — aber Geld! Geld! armer, großer
Mann! — Traumlos fchlafend fam ih in Marjeille an; was
von Mirabeau zu träumen ift, habe ich ſchon vor langen Jahren
dur = und ausgeträumt.
Marfeille, ven 7. Auguft 1851.
Es iſt vier Uhr Morgend. In einer Stunde verlafje ich
diefe Stadt, die ich während eines furzen Aufenthaltes lieb ge:
wonnen habe. Sie ift trog dem Mangel an großen Einzelnheiten,
an monumentalen Gebäuden und bedeutenden Bildungsinftituten
doch in Allem und Jedem eine große Stadt. Auf Land, In—
jeln, Meer und Menjchenangelichtern liegt jener ausgeſprochene
Charakter des Südens, der für den Nordländer fo unendlichen
Reiz hat. Im regen Treiben der Gafien, im Lärm des Hafens
fühlt man das Herz erweitert und im Kontakte mit der ganzen
Melt. Man vergibt alles Komifche, das ſich die Parifer und die
füplihen Nahbarn gerne von Marjeille erzählen. Den etwas
findiihen Dialekt, der allerdings komiſch Klingt, ausgenommen,
find die Marfeiller nicht komiſcher al3 die andern Franzoſen, fie
find nur anders: aber eben dieſe Verjchiedenheit iſt den Centra—
Tifationsfüchtigen fo fonderbar und lächerlih. Ihr Selbitgefühl,
ihr Stolz, Bürger einer großen Weltitadt zu fein, wird den
Söhnen Marjeille'3 beſonders von den Pariſern zum fomijchen
Verbrechen gemacht. Diefe erzählen fich mitleidig, daß die Mar:
feiller jagen: wenn Paris eine Cannebière hätte (die große ſchöne
-
206 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Straße, die zum Hafen führt), dann wäre Paris ein Meines
Marjeille. Diefes erfundene Sprüchwort iſt allerdings für den”
Stolz der Marjeiller, aber au für die Eiferfucht der Parifer
harakteriftiih: da man aus Marfeille nicht eine Kleine Stadt
machen kann, fo erzählt man wenigſtens Kleines von den Mar:
feillern.
Sonntags gehen fie mit Kind und Kegel auf ihre Land:
bäufer oder Baftiden. Sie wären fehr glüdlih, dort Parks,
Wafjerfälle und Springbrunnen & la Versailles zu finden.
Aber die Vorjehung hat den Baftiven Quellen verfagt. So be:
laven fie denn Ochfen, Eſel und Maulefel mit heiliger Salzfluth
aus dem Meere und jchleppen fie mit großer Mühe und großen
Koften in Fäffern hinaus. Um eine gewiſſe Stunde läßt man
dann den auf diefe Weife genährten Springbrunnen oder die
Kaskaden fpielen; die Familie figt herum, betrachtet den dünnen
Waflerfaden und preist die Wunder und die Fülle der Natur.
Bevor der Faden zu Ende gefponnen, entfernt man ſich, um bie
Illuſion von der Unendlichkeit und Unerſchöpflichkeit mit fich
nah Marjeille ing Comptoir zurüdzutragen.
Aehnlihe Geihichten erzählt man von den Jagden der Mar:
jeiller, zu denen fie aus Nähe und Ferne Freunde und Belannte
einladen. Sie werden in einem hundert Schritt langen und
zwanzig Schritte breiten, von einer Mauer eingefaßten Raum
abgehalten. In der Mitte fteht ein einfamer Baum, der einen
Käfig mit Lockvögeln trägt. Was fi von diefen an fliegendem
Wilde anloden läßt, ift ein Raub der tapferen Jäger, die, in der
Umzäunung verfammelt, den erhabenen Moment abwarten, bis
fi eine Lerche oder Wachtel niederläßt.
Was übrigens die Jägerei betrifft, jo find die Bewohner
Languedocs und der Provence in diefem Stüde alle gleich lächer:
ih. In feinem Lande habe ich fo viel und mit fo großer Leis
denſchaft von Jagd und Yägerei jpreben hören, al3 bier, wo
der Hafe eine Seltenheit, von Hochwild feine Spur ift und
höchſtens ein Rebhuhn die mühfeligen Anftrengungen vieler heißer
Achtes Kapitel, 207
Tage belohnt. Wocenlang vor der gefeglichen Eröffnung der
Jagd pust man Flinten und Jagdtaſchen, näht man Jagdkleider
und fauft Munition ein. Diefe Jagdliebe ift um fo feuriger,
ala fie eine unglüdlihe ift. Sie fommt Niemandem zu Gute,
als dem Staat, dem fie ziemlich die Kafjen füllt, da jeder ein-
zelne Jäger einen Jagdpaß, der nur perfönlich iſt, bezahlen muß.
Für diefelbe Summe fünnte er fünfmal jo viel Wild kaufen, als
er in der ganzen Saifon mit der fürchterlichſten Mühe erlegt.
Aber die Leidenſchaft bemächtigt fih auch Jener, die den Pak
nicht bezahlen können oder wollen. So entjtehen ganze Banden
von Wilddieben, die in Schaaren das Land durchziehen und
einen Vernichtungsfrieg gegen die Rebbühner und legten Hafen,
einen Bertheidigungsfrieg gegen die Öendarmen und Gardes
champötres führen. Wenn ein folder ſich naht, fteden fie den
‘ Stiel eines Weinblattes in den Mund und biegen das Blatt
jelbjt mit der Unterlippe nad oben, fo daß es das Geficht be:
dedt und jie unfenntlih macht. Die zwei Einjchnitte im Blatte
lafien ihnen die Augen frei; jo fchießen fie auf Gendarmen und
Gardes champ£tres. Beſonders furdtbar haben ſich auf diefe
Weiſe die Bewohner einzelner Dörfer in der Nähe von Sommieres
gemadht; man erzählt jo viele tolle und fühne Streiche von
ihnen, daß diejelben gejammelt einen Cooper'ſchen Roman bil:
den würden,
Die Nürnberger Lächerlichleiten von Marjeille haben mich
zu weit geführt, und ich will nicht wieder zu ihnen zurüdfehren.
Im Gegentheile will ih, e8 in einem feiner Söhne feiernd, von
Marfeille würdigen Abſchied nehmen. Ich habe von Papety
geſprochen; e3 wäre ungerecht, vom jüngſten Künftler Marfeille'3
zu ſchweigen, befonders da ich jehon, ungerecht genug, von einem
jeiner älteren, won Puget, dem Bildhauer, Maler und Ardi-
teften aus der Zeit Ludwigs XIV., geſchwiegen habe. Der
jüngjte fünftlerijehe Sohn diejer jonft dur und dur fommer:
ziellen und fünftlerifh wenig produftiven Stadt ift Ricard, ber:
jelbe, defjen Portrait3 im legten Pariſer Salon jo bedeutendes
208 Tagebud aus Languedoc und Provence.
und fo gerechtes Auffehen gemadt. Die Regierung gab ihm die
Medaille, das Bublitum das Zeugnig, in diefem Face das Beite
geleiftet zu haben. Ricard war lange in Jtalien, bejonders in
Venedig, durdhreiste dann die Niederlande und England und
hatte fo die bejte Gelegenheit, die größten PVortraitmaler aller
Zeiten, Titian und Vandyf, zu ftudiren. Aus diefem Studium
30g er die bejten Früchte; dem Zitian hat er feine unübertroffene
Farbe, dem Vandyk feine edle Eleganz und Grazie abgelaufct.
Aber Farbe, Grazie und Eleganz find nur Heine Vorzüge, wenn
der Portraitmaler feine Bilder nit, wie eben Titian und Van—
dyk, wie Giorgione, Rembrandt, Belasquez gethan haben, zu:
gleich dramatifch und hiſtoriſch zu beleben weiß, wenn er e3 ſich
nicht bewußt ift, daß er zugleich Hiftorienmaler ift, daß auf jedem
Geſicht ein Schatten und ein Strahl feiner Zeit liegt, daß jedes
Geſicht einen Theil der ganzen Chronik feines Zeitalters bildet.
Ricard hat das begriffen und malt darnach: wohl das höchſte
Lob, dad man einem jungen Künftler von ſechsundzwanzig Jah—
ren geben fann. Wer feine Bilder im legten Salon gejehen, hat
bie Heberzeugung, daß Frankreih in Kurzem an Ricard ! einen
der bedeutenditen Portraitmaler befigen wird.
Es jchlägt fünf Uhr — die Pferde ſchaudern — es ijt heller
Tag; ich eile, nah Air zu fommen, dem Wahlorte des Mannes,
deſſen Kerker ich gejtern beſucht habe.
I! + am 23. Januar 1873.
Meuntes Kapitel.
Air — Todesftile im ariftofratifhen Quartier — Langeweile, Mirabeau
unbelannt — Monumente — König Rense ald Maler — St. Chamas — Pont
Roque-Favour — Noftradamus — Ein ſüdliches Gewitter — Das Geftüte
der Republif und feine Helden.
Air, 6. September 1851.
Kaum fünf Stunden bin ich hier, und ſchon weiß ich nicht
mehr, was mit meiner Zeit zu beginnen, obwohl ich noch eine
Stunde mit klaſſiſchen Wafchungen in ven Bädern des Sertius
zugebracht habe. Die Merkwürdigkeiten find erſchöpft; das Mu:
feum, das in folhen Fällen aushelfen muß, iſt gefchloffen. Ein
Ausflug nah dem Thurm Cäjars wäre eine verbienftliche, eine
MWalfahrt nah dem Berge St..Victoire, wo die Teutonen von
Marius gefehlagen wurden, wäre eine patriotifche Unternehmung,
aber e3 brütet etwas Unerflärliches in der Atmofphäre, daß man
fih nit hinauswagt. Die Leute. laufen mit verhülltem Gefichte
durch die Gaflen ; die Hite ift ganz fürchterlich, ver Wind brennt,
wenn man die Hand emporhebt, und treibt vide, weiße Staub:
wolken in Wirbeln auf, dur die die Sonne bald braun, bald
bläulih grau zu fehen iſt. Es hat etwas vom Samum, oder als
follte ein Erdbeben oder etwas dergleichen ausbrechen. Die
Bäume des Corfo, die ich heute Morgen bei meiner Ankunft grün
gejehen, find weiß wie nach einem Schneefall. Die Verordnung
des Präfelten, welche vor einer Stunde noch bei heiterem Wetter
angejchlagen wurde und das Tragen der rothen Farbe al auf:
rühreriſch verbietet, kann diejen Effekt nicht hervorgebracht haben.
Die Leute jagen mir, daß ein folhes Wetter ganz und gar nicht
Morig Hartmann, Werke. II. 14
210 Tagebud) aus Sanguedoc und Provence.
zu den Eigenthümlichleiten des Landes gehöre, und daß es etwas
Bejonderes zu bedeuten habe. Ich will es abwarten und dir
indeſſen fchreiben, mein lieber Fritz. Zuerſt aber ftede ich den
rothen, algieriihen Beutel, aus dem ich eben dieſes Papier be:
zahlt habe, in den Sad, um nicht mit der Autorität in Konflikt
zu fommen, denn ich jchreibe im Kaffeehaufe.
Um fünf Uhr verlieh ich Marfeille. Die Pferde gingen jo
fchnell, als e8 auf den fait immer auflteigenden Wegen nur
möglich it. Dennod fuhren wir an zwei Stunden mitten durd)
Landhäuſer oder Baſtiden. Sie dehnen fich ohne Unterbredung
weit und breit um die Stadt aus und geben ihr fo die jcheinbar
ungeheuere Ausdehnung, die man von Notre-Dame de la garde
anjtaunt. Sie jind meilt in üppigen Pinien, Cypreſſen, Xorbeer:
büſchen ganz verjtedt und erfreuen ſich won ihren Hügeln der
herrlichſten Ausficht über die Stadt, die Injelgruppe von If und
das blaue Meer. Der Rojenlorbeer (Dleander) jteht trog der
vorgerüdten Jahreszeit noch in volliter Blüthe und athmet lieb:
lihe Düfte und Farben. Das Getümmel der Stadt hört lange
nicht auf; fruchtbeladene Wagen fommen Einem von allen Seiten
entgegen ; Reifende und Landleute aus ver Umgegend jtrömen
ab und zu. Eine Kuchenverfäuferin trat noch jchläfrig aus ihrem
Haufe in der Voritadt, ihr Korb trug die Inſchrift: Liberte,
Egalite, Fraternite. Kaum trat fie von der Schwelle, al3 fie
ihre Waare ſchon in einem Liede anzupreifen begann. Sie jpefu:
lirte mit Kunſt und Politik, um ihre Waare an Mann zu bringen.
Sie that nichts Anderes, al3 mancher berühmt Gewordene.
Der lachende Umkreis von Marfeille verwandelt fich endlich
in die in der Provence obligate Wüfte, der man begegnen muß,
wenn man nur drei Stunden im Wagen figt. Wir fuhren zwi-
ichen fahlen Bergen hin, über die hinaus dunflere, zum Theil
bewalvete berüberlugten. An ihrem Fuße lagert Wir — lang
geftredt, wie es daliegt, mit der Vegetation, die in feiner Nähe
zunimmt, mit den zwei gothifchen Thürmen, fieht es fich nicht
übel an — man glaubt eine große Stadt vor ſich zu haben.
Neuntes Kapitel. 211
Die Illuſion verwandelt fich bald in eine andere. Auf dem
Cours oder Corfo angelommen, glaubt man fich in einem Kur:
orte zu befinden, was doc Air längjt zu fein aufgehört bat.
Die lange und breite Straße des Cours ift von einer jchönen
Allee durchlaufen, in deren Schatten ſich Kaffeehaus an Kaffee:
haus reiht. Hier befinden ſich auch alle Poſt-, Meffagerie: und
Omnibusbureaur — an zwanzig große Wagen ftehen immer zur
AUbreije bereit; andere fommen und gehen. Auf den Balkonen
der Gaſthäuſer langweilen fih langweilige Engländer und Eng:
länderinnen. Vor den Café's figen und rauchen die im Süden
jo üppig gebeihenden Müfliggänger in Civil: und Militärkleivern.
Nur die Fremden und Reifenden bringen Leben und Bewegung
hervor: die einheimijhe Stadt jheint gar nichts zu thun zu
haben. Das wird noch wahrjcheinliher, wenn man fich in die
Gaſſen ſüdlich vom Cours verſenkt. Es ift das das ehemalige
ariftofratiihe Quartier von Air, welches dem Orte allein Be:
deutung gegeben hatte. Die provenzalifche Ariftofratie war vor
der Revolution eine der reichiten und ftolzeften von Frankreich,
und Air, wo fie ihr Parlament hatte, war ihr Hauptjig. Die
Parlamente find gefallen, mit ihnen der parlamentarifche Adel
und die Parlamentsjtädte. Die Güter des ſehr legitimijtifchen
Adels, der emigrirt war, famen in bürgerlichen Bejig, und nun
fteht das prächtige Quartier mit feinen Paläjten, mit jeinen
ftolzen Balkonen todt und leer. Das Gras wächst in den Straßen;
die Fenfter find gejchloflen; die unteren Stodwerfe find von
Wäſcherinnen bewohnt; die prächtigen Bejtibules find Sattler:
und Wagnerwerkftätten geworden. Uralte Blatanen werfen ihren
melancholiſchen Schatten auf dieſe geſtorbene Welt: die Waſſer
der giſterne aus den Zeiten Ludwigs XIV. ſprechen in dieſer
Stille ſo laut, daß man ihr monotones Murmeln im entfernteſten
Winkel dieſes Stadttheils hört, daß ſie im Innern der Paläſte
zu wiederhallen ſcheinen. Ich wollte mich nach dem Hauſe Mira—
beau's erkundigen und fand in allen dieſen Gaſſen keine Seele,
die ich befragen konnte. Ich kam wieder auf den Corſo zurüd,
912 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
fragte nad) rechts und links — e3 wußte mir es fein Menſch zu
jagen; fo gab ich es auf und vertiefte mich in die winklige, edige,
fhmalgaflige innere Stadt. Da ging e3 etwas lebendiger ber,
denn es war Wochenmarkt. Aber immer fonnte man bemerfen,
daß man ſich in einer Stadt befinde, die dreimal fo viele Ein-
wohner mit Bequemlichkeit beherbergen Eonnte.
Auch bier viele alte, palaftähnliche Gebäude; ich trat auf
gut Glüd in das eine und andere und mußte Wölbungen,
Treppen, Töniglihe Raumverfhwendung bewundern.
Zwiſchen diefen Häufern norpfranzöfifhen, arijtofratifchen
Styles aus dem 17. Jahrhundert und_dem Anfang des 18,, wie
wir fie au in Deutfchland fennen, nimmt fi) das Palais der
Juſtiz, ganz italienischer Art, mit feinen unzähligen Säulen,
mit feinem weißen Glanze, fehr frembartig aus. Es hat eine ſchöne
Vorhalle, vor der die beiden berühmten Rechtsgelehrten Bourtales
und Simeon — in weißen Marmor gehauen — mit ihren Orden
und Spitencravatten ſehr breit und würdig auf marmornen
Thronen figen. Der innere Hof ift zu fehr von Säulen über:
laden. Man fieht nichts als Säulen über Säulen. Neben dieſer
Verſchwendung nimmt fich die ſchmale Doppeltreppe deſto ärm-
licher aus.
Ich verließ den Palaft, um die berühmte Kathedrale aufzu:
ſuchen. Es ift ein unorbentliches, großes Haus, halb im Spip-
bogen-, halb im Rundbogenftyle gebaut und gar nicht fo viel
daran zu bewundern, als Bücher und Reifende Einem glauben
machen möchten. Das Intereſſanteſte an ihr ift eine mit Skulp—
turen bevedte Thüre, die wahrfcheinlich aus dem 16. Jahrhundert
ftammt. Die Skulpturen ftellen verſchiedene Tugendey und die
zwölf Propheten dar. Die Gefichter find mit außerordentlicher
Sorgfalt gearbeitet und haben ein jhönes Relief. Befonders zu
loben ijt die Einfachheit des Ganzen, die bei ähnlichen Arbeiten,
wie mir fie in Belgien, Deutſchland und Stalien fehen, meift zu
mangeln pflegt.
Eine andere Merkwürdigkeit der Katheprale von St. Sauveur
Neuntes Kapitel. 213
iſt das ſchöne Bild, das man dem König Rene zufchreibt. Es
jtellt die Jungfrau mit dem Kinde über einem Baume ſchwebend
vor; ein Engel ruft einen Hirten herbei, der fich geblenvet die
Augen mit der einen Hand bevedt, während die andere den
Schuh vom Fuße ziehen will. Vielleicht ift es der Hirte Mofes.
Viele Ausleger glauben, viele bejtreiten e3; denn, jagen die
Legteren, was hätte die Jungfrau mit dem Kinde in jener Ge:
fhichte mit dem Dornbufhe zu thbun? — Aber wenn David
Chriftum anfündigt, warum foll Moſes nicht die Jungfrau jhon
im Dornbufche gejehen haben? Ich ſehe nicht ein: es ift Eines
jo möglih wie das Andere. Mebrigens kommen uns bei den
Malern früherer Jahrhunderte fehr oft ſolche Ragout3 aus alt:
und neutejtamentlichen Stoffen bereitet vor. Man muß zu jo
frommen Werken wenig Verſtand und viel Glauben mitbringen,
dann thut man ihnen am Wenigften Unrecht. Auch die Gefhichte
muß man auf Momente vergeflen. Dieſes alles bei Seite, ver:
räth das Bild eine Meifterhand. Zu diefer Reinheit der Zeich:
nung, zu diefer Lebendigkeit und Harmonie. der Farben, zu
diefem leichten Ausdruck der Wahrheit in Stellung und Mienen
bringt es feine königliche Dilettantenhand.
Das Bild ift von zwei Flügelthüren bededt, welche innen
und außen von derjelben Hand und mit größerem Glüde noch
als das Hauptbild gemalt find. Auf den vier Flächen fieht man
die Jungfrau mit dem Engel Gabriel — den König Rene und
fein Weib — wieder den König Rene in Gefellihaft zweier
männlicher und einer weiblichen Heiligen — die Königin in
ähnlicher Gejelfhaft. Der Kopf der Heiligen auf diefer vierten
Bildfläche ift unendlich reizend und ſchön; er überftrahlt weit die
Himmelskönigin und die Erdenlönigin. Letztere ijt allerdings
bedeutend häßlich. Daß das Bild nicht von König Rene hetrühre,
beweist fein eigenes Portrait auf dem einen Flügel; der Kopf
bat eine ſolche Stellung, daß er ſich unmöglich felbit gemalt
haben kann. Daß aber diefer Kopf wie da3 ganze Werk von
einem und demfelben Meifter herrühre, ift nicht zu leugnen; es
214 Tagebuh aus Languedoc und Provence.
ift. ein und verjelbe Charakter in Zeichnung, Farbe und Auf:
faflung. Bon König René's Kopfe ftrahlt ein fo beftimmter, in:
dividueller Ausdrud, daß man von der Aehnlichkeit des Portraits
fejt überzeugt ift.
Ein Mann, der fo malen konnte, im fünfzehnten Jahr:
hundert jo malen fonnte, hätte ſich nicht mit Regieren abgegeben.
König Ludwig hat weniger gelungene Poefien gemacht und hat
für fie feinen Thron verlafjen; denn welchem Künftler, wenn er
die Wahl hatte, wäre fie zwiſchen Kunft und Thron ſchwer ge:
worden. So jhließe ich auch daraus, daß das Bild wohl ein
Gejhent König René's fei, daß man ſich mit der Zeit gemöhnt
babe, es „das Bild von König Rene” zu nennen, daß er es aber
mit feinem Binfel berührt habe. Er wäre fonjt auch als Dialer
etwas befannter geworden, denn es ift des größten Malers feiner
Zeit würdig. Auf dem Piedeftal der Brunnenftatue, welche die
Airer dem guten König Nene aufgerichtet, heißt es, feine Lieb:
Iingsbejhäftigung jei Beglüdung feiner Unterthanen gemejen.
Connu! Connu! Rechts und links find die Medaillen zweier
Rathgeber, wie zwei verantwortlihe Minifter beigegeben.
Giehjt du, lieber Frig, wenn ich dir noch fage, daß es
bier einen deutfhen Schufter Namens Wagner gibt, der fein
Haus zum deutſchen Stiefel nennt, und daß fich der Verräther
gar nicht darum kümmert, daß die Teutonen bier gejchlagen
worden, daß er fich aber jehr für Mirabeau interefjirt — fo habe
ih dir das Merkwürdigite,mitgetheilt, wa3 von Air überhaupt
mitzutbeilen ift, und ich eile nach der Poit, um nad St. Chamas
und von dort nad Arles zurüdzufahren.
St. Chamas, 6. September 1851 Nachmittag.
Mit Hülfe von fünf feurigen Hengjten flog. ih von Air nad
St. Chamas, und e3 ift gut zu fliegen über diefe unerquidliche
Strede, befonders wenn ein Gewitter in der Luft hängt. Schwarz
lag das Gebirge hinter uns und hüllte fi immer dichter in
Wolken ein. Kaum war der Thurm Cäſars zu fehen, aber drohend
Neuntes Kapitel. 215
brad der Berg St. Victoire dur alle Wolfen. Er heißt eigents
fih nur Victoire oder Victoria. So haben ihn die Römer zum
Andenken an ihren Sieg über die Germanen genannt, aber das
fpätere Chriſtenthum hat fein „St.“ hinzugefügt, und e3 hat fi
wohl auch ein phantafievolles Pfäfflein gefunden, das die Legende
zu dem „St.“ erfann. Genug, man verehrt jet dort eine heilige
Victoria. Neben mir im Imperiale ſaß ein poetifcher Airer, der
mir die Topographie des Landes erklärte. Von der Schlacht der
Römer und Germanen fprah er mit einer Befriedigung, als
wäre er jelbjt ein Römer, und mit einem Intereſſe, als ſpräche
er von Marengo. Sie jheint überhaupt der biftorifche Stolz der
Gegend zu fein. Alles, was er mir erzählte, belegte er zugleich
mit pathetifhen Verſen, die von feiner Mache zu fein fehienen.
Bon dem armen, unbelannten Flüßchen, der Arc, an defien Ufern
fich der Kampf entſponnen, behauptet er in feinen Berjen, e3 nähme
mehr Pla in der Geſchichte, als in feinem Bette ein. Das
nenne ich doch eine patriotiſche Illuſion.
Links von ung lagen die weiß jhimmernden Bogen des
Pont de Roque: Favour, den ich ſchon diefen Morgen gejehen
babe. Er verbindet zwei ziemlich hohe Berge und bildet den
ihönften Theil der großartigen Waflerleitung, welche die fernen
Mafjer ver Durance nah Marfeille führt. Ein fühnes, römer:
mwürdiges Merk, bei dem die Marjeiller weder Geld, nody Mühe
und Kunſt geipart haben.
In der Nähe von St. Chamas zeigte man mir den Fleden
Salon, ungefähr zwei Stunden Weges von uns entfernt, am
Fuße der Berge, welche die große Ebene begränzen. Dort ruht
in feinem Grabe der berühmte Gelehrte und Charlatan des
16. Jahrhunderts: Noſtradamus. Er war in dem nicht fernen
St. Remy von jüdischen Eltern geboren, trieb Arznei, bezwang
in mehreren Städten Südfrankreich die Peſt, bezog dafür eine
Rente von ver Stadt Air und zog fih mit diefer nah Salon
zurüd, wo er ji die Zeit mit Prophezeien verkürzte. Ueber
feinem Grabe foll fein trefflihes Portrait fich befinden.
216 Tagebuch aus Languedoc und Provence
Hier in Et. Chamas wird eben heute das Feſt des Lokal:
heiligen gefeiert. In der Ferne fehe ich viel gepußtes Volk; es
wäre intereflant, e3 in der Nähe zu ſehen. Es ift das hier im
Süden, wo jeder Kleine Ort feinen bejonderen Heiligen und fein
befonderes Felt bat, die beſte Gelegenheit, das Volf kennen zu
lernen. Die Feſte drängen fich feit Anfang Auguft und hören
erſt jpät nach der Weinlefe auf. Von diefer, je,nah den Hoff:
nungen, die fie erregt oder erfüllt, hängt vie Lebendigkeit, die
Freude, der Pomp der Felte ab. — Aud eine römische Brüde
vor dem Eingang in das romantifch gelegene Dorf wäre intereflant ;
aber ich fürchte ven Bahnzug zu verfäumen, da ich noch heute in
Arles fein muß. ch begnüge mich damit, den Etang de Berre
zu betrachten. Wie romantifch lieblich jah er aus, wie voll Süden,
als ich ihn vor einigen Tagen gejehen, heute blidt er wie ein
beiliger See an einem nordifhen Göttertempel, auf dem cimme-
rifche Nacht lagert. Das Gemitter, das ſich jeit heute Morgen
vorbereitet, liegt, zu dichten Wolken geballt, auf feinen Waſſern
und über feinen Bergen. Bald wird es losbrechen; die Luft ift
von Elektrizität überladen. Noch brütet es und ſcheint über feine
eigene Wuth nachzudenken. Die Lokomotive pfeift; e3 geht nad
Arles zurüd. Wenn ich St. Chamas nad Jahren mwiederjehe,
wird es wahrjcheinlich ein ganz anderes Ausfehen haben. Man
trägt fich feit lange mit dem Gedanken, den Etang de Berre in
einen Hafen zu verwandeln. Die Vortheile wären unermeßlic ;
die Schiffe würden einige Meilen tief ins Land dringen und da
jo fiher vor Anker liegen, wie ein heimgefehrter Wanderer an
feinem Herde. Dann aber Ade, Marfeille, altes Maflalia !
Deine Stunde hat gefchlagen — deine Börfe verfällt, und deine
Geldjäde wandern nordwärts in das jegt mweltvergefjene, arme
St. Chamas.
Arles, 6. September 1851, Mitternacht.
Das war ein Wetter, wie ich es in dieſem Leben und wahr:
iheinlih aud in einem vergangenen nicht geſehen habe. Ich
weiß es nun, was die Energie eines ſüdlichen Sturmes, von ber
Neuntes Kapitel. 317
man mir jchon viel gefprochen, zu bedeuten habe, Kaum hatten
wir St. Chamas verlafjen, als fih auch fchon die Wolfen vom
Gtang de Berre aufmachten, um ung zu verfolgen. Sie erreichten
und auf der Ebene der Grau, verbreiteten ſich mit Blitzesſchnelle
über den ganzen Himmel und jenkten fi dann fo tief, daß wir
wie in einer Nebelfappe jtafen. Wenn man vorwärts ſah, war
es, al3 würde die Lolomotive die dunklen Mauern, die fich vor
ihr aufthürmten, nicht, durchbrechen können. Ohne alles Vorſpiel
begann e3 mit Regen, Donner und Blitz zugleih. Der Donner
des einen Blitzes war noch nicht verhallt, als ihn fchon ein an:
derer Blitz durhfchnitt und ein anderer Donner ihm ing Wort
fiel. Hundert Gewitter jchienen fih auf diefer Ebene ein Rendez-
vous gegeben zu haben, um einen polnifchen Reichstag abzuhalten.
Es waren lauter Dantons, welche ſprachen, und am Ende wurde
man bandgemein. Blig auf Blig büllte die Erbe, jo weit man
jehen Eonnte, in eine violette Nacht. Der Regen floß in Niagara:
fällen herab. Ein Geiftliher im Wagen zog fein Brevier hervor
und begann eifrig zu leſen; einige Weiber beteten, ein nervöſes
verhüllte jih den Kopf mit dem Mantel ihres Nachbars und warf
fich unter die Banf, In der Sumpfgegend lag das Scilf, das
jo ſchwer zu brechen ift, niedergefchmettert da; die Tamarisken
zerrauften fih in Verzweiflung das Haar, und die Pappeln
neigten und beugten fib. Endlich konnte aud die Lokomotive
nicht weiter; fie ftodte mehreremals, feufzte tief auf und jagte
meiter, bis fie wieder außer Athem ſtehen blieb. Einmal ſchlug
der Blig faum zehn Schritte von uns in den Boden, und der
Heine See, der ſich gefammelt hatte, fprigte in Atomen in die
Luft. Hundert Köpfe redten ſich aus den Fenftern hervor und
riefen dem Mafchinenführer zu, doch zu halten, da fie fürdteten,
die Reibung der Waggons fünnte den Blig auf ihre Häupter
ziehen. Der Mafchinenführer aber hörte fie nicht over wollte
unter Dad fommen. So langten wir enblic in Arles an. Viele
Reifende, die weiter gewollt, fprangen doc entjegt au3 dem
Magen, glüdlich unter Dach zu fein. Auf dem Bahnhofe mußten
218 Tagebud aus Languedoc und Provence.
wir an eine Stunde warten, bis fich die Omnibus entichlojien,
und in die Stadt zu führen. Auf dem Wege dahin drängten ſich
zahllofe Spaziergänger in den Wagen, um den Regenjtrömen zu
entgehen, und wir mußten uns entjchließen, zarte Meiblein auf
den Schooß zu nehmen. E3 waren Arleferinnen, und jo tröftete
man ſich über dieſes Schidjal. Die Gafjen waren überſchwemmt;
nun fite ich fchon feit fünf Stunden im Hotel des Forums, und
nod hat das Unwetter feinen Moment in feiner Gewaltſamkeit
nachgelafjen. Man fürchtet für die Nacht einen Spaziergang der
Rhone in Arles’ Gaffen. Das ift wahrhaftig nichts Gewöhn—
liches ; das iſt ein außerorventliche3 Naturereigniß, fo gewaltig
wie ein Erdbeben, oder der Ausbruch des Veſuvs. Bei all’ den
Strömengüfjen iſt e3 jest um Mitternacht noch jo heiß, wie e3
um Mittag war. Das war e3 aljo, was der Samum von heute
Morgen zu beveuten hatte. Sch bin überzeugt, daß man von
diefem Gewitter im Sande jprechen wird.
| 7. September 1851.
Nah dem Kirhengange, denn es ijt Sonntag heute, habe
ih mich weiter mit menſchlicher Schönheit nicht beichäftigt,
um mich deſto ungejtörter der Bewunderung von Thierſchönheit
binzugeben. Sch bejuchte das große Geftüte der Republif. Ein
pradtvolles Inſtitut; alles jo reinlih und elegant gehalten, als
wäre e3 für Hofdamen und nicht für ſinnlich geftimmte Hengite
eingerichtet. Alle Bferderacen Frankreichs find hier aufs Wür—
digfte vertreten und werden faum von den Eremplaren fremder
oder gefreuzter Gejchlechter werdunfelt. Das normanniſche Roß
bat fich feiner verben Musfelhaftigkeit neben dem Engländer nicht
zu Shämen; e3 wäre ſonſt die falihe Scham des derben Bauers—
mannes neben dem Gentleman. Die anglo:normannifche Race
erinnert aufs Deutlichſte an mande Gefichter, die man im eng:
lichen Oberhaufe gejehen. Nur der ächte Araber mit feiner
Nervofität, mit feinen feurigen Augen, feinem feinen Kopf und
der fait menſchlichen Naſe ragt durch eine gewiſſe pinchifche
Neuntes Kapitel. 219
Ariftofratie über die anderen hervor und darf ein gewiſſes Recht
auf ariftofratifhes Gebahren in Anſpruch nehmen. Ciner be:
findet fih bier, der feinen ehemaligen Befiger zum reihen Mann
gemacht hat. Nachdem er ihm bunderttaufend Franken in Wetten
gewonnen, ließ er fich für eine gleihe Summe noch an die Re:
gierung verkaufen. Wie viele bejjere Männer haben fich zu
Heinerem Breije an Regierungen verfauft! — Es ift eine böfe
Zeit, da die Pferde mehr gelten, al3 ſolche würdige Staats:
bürger. Allerdings ift es noch problematiih, ob der Sophiit,
jo heißt der edle Renner, dem Staate nicht befjere Dienite leijten
wird, al3 all’ die andern Verkauften, an die ich bier denke. —
Ein gewiſſer brauner Angloaraber, ven kennen zu lernen ich aud)
noch die Ehre hatte, hat bis jegt noch feinen Reiter auf feinem
Rüden geduldet, aber feine Pflichten als Societär des Gejtütes
ſoll er gewifjenhafter und treuer erfüllen, als alle feine Collegen.
Tout eomme chez nous.
Der heutige Tag iſt einmal der Thierheit gewidmet. In den
Gaſſen fehe ih einen großen Anfchlagezettel, der einen Stier:
fampf in Tarascon ankündigt. Diejes für den Süden Frank—
reichs jo harakterijtiihe Schaufpiel darf nicht verfäumt werden.
Ich pade ein und fliege nah Tarascon. — Lebe wohl ſchönes
und jchönbewohntes Arles! Wann werde ich dich miederjehen
mit deinen Antifen, mit deinem Mittelalter und, was mehr ilt,
mit deiner lebenden, blühenden, liebenden und geliebten
Gegenwart?! —
Behntes Kapitel.
Stierhegen in Taradcon — Rohheit der Einwohner — Eine Kindeömörberin —
Ankunft in Rimes — Ausflug nah dem Pont bu Gard — Eine Kamifarbengrotte,
Nimes, 8. September 1851.
Vom Thürmchen eines Privathaufes in Tarascon habe ich
dem graufamen Spiele zugejehen, deſſen man — nur
noch die Spanier für fähig hält.
Das Theater war mit ſo merkwürdiger Sorglofigteit fon=
ftruirt, als ob hier von Heinen Gaufeleien und nicht von Käm—
pfen mit wilden, eben erft aus den Sümpfen geholten Stieren
die Rede wäre. Man kann fagen, daß fie in offener Gaſſe ftatt-
fanden ; ein Beweis, wie vertraut die Leute des Südens mit der:
gleichen fein mögen. Die breite Gaſſe, welche vom Schloſſe des
Königs Rene auf der einen, von den Privathäufern auf der an-
dern Seite gebildet wird, war an den zwei Ausgangspunkten
ganz einfach durch zwei Brettermände geſchloſſen, und dieje von
fo binfälliger Natur, daß fie der Stier mit einem Hörnerftoß
hätte über den Haufen werfen können. Die eine war auch jo
nadläflig hingelehnt, daß fie während des Kampfes mehreremal
niederfiel. ine Unbequemlichkeit hat nad der Meinung des
Kenners diefer Schauplag darin, daß er durch den Schloßgraben
in eine obere und untere Hälfte getheilt wird, und dieſe Unbe—
quemlichfeit wurde heute noch durch das Wafjer erhöht, welches
von der gejtrigen Rhoneüberſchwemmung im Graben ftehen ges
blieben war. An den Wänden der erwähnten Privathäufer waren
Strid: und Holzleitern angebradt, um den verfolgten Stier:
fämpfern die Möglichkeit der Rettung zu geben. Diefer Leitern
Zehntes Kapitel. 221
waren unzählige, denn — das ift das Eigenthümlihe und
Schmähliche diefer Spiele im ſüdlichen Frankreich — denn auch
ber Toreados waren unzählige; mit einem Worte jo viele ala
Zuſchauer. Das ganze Volk, Jeder, der die wenigen Sous be
zahlen kann. Männer, Weiber, Kinder, Alles ohne Unterſchled
wird in die Umzäunung eingelaflen.
Bei meiner Ankunft hatten die Kämpfe ſchon begonnen, ein
Stier hatte bereit3 das Seinige gethan, und man erwartete den
zweiten. — Die Hunderte von Zuſchauern ftanden in Gruppen
zufammen und unterhielten ſich aufs Lebhafteſte. Vieler Blide
ſahen ſtarr nad) der Stallthüre, aus welcher der erwartete Käm—
pfer fommen follte. Ueberall Geſchrei, Rufen, Zanken, Pfeifen,
Ausbrüche der Ungeduld. Endlich that ſich die Thüre auf, ein
Jubelgeſchrei erhob fih, und auf dem Kampfplag erſchien ver
fehnlihft Erwartete. Die erften Schritte lief er ganz harmlos
dahin, keines Kampfes, keiner Gefahr, keines Feindes gemärtig.
Bald mußte er alle drei kennen lernen. Ein Gefchrei voll Wuth
und blutiger Luft empfing ihn, darauf ein Regen von Steinen
und von Stöden, vor feinen Augen wehten hundert der buntejten
Tücher, und plöglih umringte ihn eine fchreiende Menge mit
Hohn und Spott und Herausforderungen. — Jetzt ſtutzte der
arme Opferftier. Unſchlüſſig, ob er fich vertheidigen foll, hält er
einen Moment inne und betrachtet die Menge, dann wendet er
fih um und eilt der Thüre zu, aus der er gefommen war. Neue
Schläge, Stiche, Hohngeſchrei verfolgen ihn. Er findet die Thüre
verſchloſſen und kehrt mit halb erwachtem Zorn zurüd. Mit vor:
gejtredten Hörnern jtürzt er auf die Menge der Feinde los, die
auseinanderftiebt wie Sand im Winde und fi auf die Leitern
und Planken rettet. Viele werfen fih aufs Geficht und bleiben
regung3los liegen. Der Stier eilt an ihnen vorbei, ſpringt über
das Gelände des Schloßgrabens und hinein in das Wafler, mo
er wieder ruhig jtehen bleibt. Aber das Funkeln der Augen,
der hoch in die Luft gehobene Schweif zeigen, daß ihn fein Gleich:
muth zu verlaflen beginnt.
222 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Die edlen Helden, die jich bei feiner erjten Drohung in un:
erreihbare Poſitionen geflüchtet oder den Tod geheuchelt haben,
find jegt empört, daß er ſich den Angriffen ihrer Ueberzahl zu
entziehen ſucht. In Maſſen jtürzen fie ihm nad, fie waten durch's
Waſſer und greifen ihn von allen Seiten zugleich an, bis fie ihn
auf den trodenen Theil des Schloßgrabens gelodt haben. Dort
entwidelt fih nun erft der eigentlihe Kampf. Männer und
Buben umringen den Stier, reizen ihn, fordern ihn heraus durch
Schläge und Stihe. Während er fich dem Einen mit den Hörnern
zuwendet, padt ihn der Andere am Schweife und Ienkt jeine Auf:
merkſamkeit nach einer andern Seite, aber ſchon hat ein Dritter
und gleich darauf ein Vierter ihm einen Stich oder einen Schlag
‚ in den Schenkel oder auf die Rippen verfegt. Der Stier madt
einen gewaltigen Sprung, die Menge flieht auf die Felſen, auf
denen das Schloß jteht.
Das innigjte Mitleid mit dem armen Thiere und ein tiefes
Gefühl der Empörung gegen die Barbaren ergreift den civilie
firten Zufchauer. Er nimmt Partei für den feige und graufam
Verfolgten und freut fich an der drohenden, imponirenden Gtel-
lung, die er jegt einnimmt.
Schmarz von der Spite des Hornes bis an das legte Ende
des Schmweifes und bis zur unterjten Klaue, leicht beweglih und
flint, faft anmuthig in der Ruhe, mit jchlanfen Beinen und
ſchlankem Halfe, war es ein prachtvoller Anblid, wie er jegt gleich
einem Löwen beide Flanken mit dem Schweife jchlug, wie er erft
die Vorderflaue, dann die hintere am Boden wetzte, daß er tiefe
Furchen grub und den Sand weit hinter fich zurüdwarf, wie er
jeine Waffe, die Hörner, prüfend auf: und niederwiegte und das
in Wuth immer mehr erglühende Auge aus dem ſchwarzen Kör—
per heller und heller leuchtete. Ein dumpfes Brüllen begleitete
dieje Vorbereitungen zum Angriff. Dann ſtand er ftill und maß
jeine Feinde, die ihn in den Graben verfolgt und ſich auf die
jteilen Feljen gerettet hatten. Sie waren jtille und Hammerten
ih frampfhaft an die ſchmalen Vorjprünge. Auch die übrigen
Zehntes Kapitel. 993
Zuſchauer wurden ſchweigſam, und tiefe Stille herrichte über der
eben erſt brüllenvden Mafle. „Der ift böfe,“ hörte man bier und
da murmeln.
Wie es feine Stellung und feine Vorbereitungen vorher er:
rathen ließen, jo that auch der Stier. Dießmal begann er ven
Angriff. Mit ungeheurer Wuth und mit der Schnelligkeit einer
gejchleuderten Kugel warf er fih auf den Feljen, an welchem
feine nächjften Feinde hingen. Seine Natur vergefjend, verjuchte
er e3 fogar, zu Klettern, glitt aber bei jedem Berjudhe von dem
glatten Geftein herab. Durch die vergeblihen Angriffe ermuthigt,
fingen wieder die Helden ihren Kampf mit Stöden und Tüchern
an, um ihn zu neuen vergeblichen Anftrengungen zu reizen. Der
Stier ermüdete nicht, er unternahm einen Sturm nad) dem an:
dern. Wenn er unverrichteter Sahe vom Geftein herabglitt,
trat er einige Schritte zurüd, weßte Horn und Klaue aufs Neue,
brüllte und warf ſich wieder auf die uneinnehmbare Feſtung der
Feinde, die, immer mehr ermutbigt, ihn dur Händellatjchen,
Hohngelächter, geſchwungene Tücher und Schläge mit langen
Stäben zu immer größerer Wuth zu reizen juchten. Aber Elüger
als feine Feinde, ließ der Stier von feinen erfolgloferi Angriffen
plöglich ab. Ruhig jtellte er fich hin, offenbar feſt entſchloſſen, in
diefer Stellung zu verharren, bis Einer oder der Andere vom
Felfen herabfteige. E3 war eine förmliche Belagerung. Starr,
wie in Erz gegofjen, ftand er; nur der Kopf bewegte ſich manch—
mal bin und her, um die ganze feindliche Linie zu beobachten.
Das dauerte jo einige Minuten. Aber die Zufchauer auf der
oberen Hälfte des Schauplages fingen an fi zu langweilen, fie
wollten feinen Blofus, fie wollten Kampf, vielleiht Blut. Wie
auf ein gegebenes Zeichen regnete ein Hagel von Steinen auf
den Stier nieder, ungeheures Gefchrei erhob fich, hundert bunte,
meift rothe Tücher wehten. Aber der Stier ließ fih nicht aus
jeinem Gleichmuthe und der einmal eingenommenen Stellung
bringen, unbetümmert um Steine, Gejchrei, bunte Tücher, ftand
er ſtarr und reglo mie zuvor, immer die Feinde beachtend, die
224 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
er fih ala Ziel auserjehen hate. Schon flo purpurnes Blut
aus vielen Wunden an Kopf und Körper, aber er zudte nicht;
nur manchmal ſchob er voll Beratung mit dem Hinterfuße einen
Stein weg, der neben ihm niedergefallen war. — Das Gejcrei
der Zufchauer nahm zu, man ſchimpfte über die Tüde und das
Phlegma des Stieres und über die Unternehmer, die jo jchlechte
Subjekte vem Volke vorzuführen wagten, man jehrie und rief; es
drohte ein Aufruhr gegen die Entrepreneurs aufzubrechen; man
“wollte den Stall ftürmen und andere Gtiere loslaflen; auch wollte
man den Kampf nicht auf den Schloßgraben beſchränkt ſehen,
man wollte ihn oben haben, mo fi die Mehrzahl der Verſam—
melten befand.
Da erjchienen denn, ungefähr nad einer DViertelftunde des
Geſchreis, die Piqueurd. Drei Männer in Hemdärmeln durd:
mwateten das Waſſer und gingen vorfichtigen Schritte auf den
Stier los. In den Händen trugen fie die Trident3 oder Drei-
zade, breifpigige, fharfe, fejte Gabeln, am Ende einer langen
Stange befeftigt. Die Piqueurs find Knechte der Adminijtration
und beftimmt, einen zu ruhigen Stier mit ihren Inftrumenten in
Muth zu bringen oder, wenn er fich zu mweit von der Stätte des
Schauplatzes verliert, wie im gegenwärtigen Falle, ihn zurüdzu:
führen, indem fie fih, nachdem fie ihn gehörig gereizt, von ihm
dorthin verfolgen laſſen. Alle drei griffen ven Stier auf einmal
von hinten an, fo daß er gezwungen war, feine Aufmerkjamteit
vom Felſen ab und auf die Feinde zu wenden, die ihm direkt auf
den Leib rüdten. Er zauderte nicht einen Augenblid und nahm
mutbig den überlegenen Kampf an. Er bog den Naden und
ftürzte mit vorgeitredten Hörnern auf die drei Piqueurs los.
Aber dieſe hielten ftramm die Dreizade vor; der Stier ftürzte
darein und bohrte fich felbft drei dreifahe Wunden in die Stirn.
Er bebte zurüd und fchüttelte das Blut ab, das dunkel und did
bervorquoll und ihm im Augenblide eine fhauerlihe Maske
über das ganze Geficht bildete. Kaum hatte er die Augen frei, als
er wieder den Kampf begann. Aber ſchon flohen die Piqueurs; der
Zehntes Kapitel. 225
Stier verfolgt fie durchs Mafler, hinauf auf den oberen Edhaus
plag, wo ihn am Rande ſchon eine dichtgebrängte Menge mit
Schreien erwartet... Der Zmed ijt erreicht, die Piqueurs ver:
ſchwinden, die Männer und Buben vom Feljen fpringen hinab
und verfolgen den Berfolgenden ; bald wird der Kampf ein allge:
meiner fein. Aber jebt hätte es leicht geſchehen können, daß der
Eier feine Wuth wenigſtens an einem feiner menjhlichen Feinde
gekühlt hätte. Denn dort, wo der obere Schauplag mit dem
Gıaben durch einen ziemlich fteilen Abhang verbunden ift, fonnte
die enggedrängte Menge nicht fchnell genug vor dem anftürmen:
ven Stiere augeinanderfiieben, und in der That padte diefer einen
Mann aus der fliehenden Hinterreihe. Man konnte es nicht
deutlich unterfcheiden, ob der Mann fich felbit hingeworfen oder
ob ihn der Etier niedergeftürzt hatte, man ſah ihn nur zu Füßen
feines fürchterlihen Feindes und diefen einige Augenblide mit
feinem Horn auf ibm berummwühlen. Wie aus Einem Munde
erſcholl der Schrei des Entſetzens, al3 der Etier weiter lief und
der Mann wie todt auf dem Boden Tiegen blieb. Aber kaum
hatte fich der Etier auf einige Schritte entfernt, um die Menge
zu verfolgen, al3 der Todte aufiprang und glüdlic, jo davon zu
fonmen, aus dem Circus eilte. Vom linken Auge floß ihm ein
Etrom von Blut, die Kleiver waren vom Horn fo zerfeht, daß
fie, al3 er jidy erhob, wie Zunder von ihm abfielen und nur ein
Etüd von der Jade und vom Hemde am Oberleibe hängen blich,
Wenn nit die Wunde, hätte ihn die Eham zwingen müflen,
den Echauplaß zu verlaflen.
Jetzt, da man den Stier oben hatte, nahm erft das Vergnü—
gen den Charakter an, den das Volk wollte. Bon allen Seiten
umringten ihn dichte Haufen, die ihn verböhnten, ſtachen, ſchlu—
gen. Wandte ich der Stier gegen einen folhen Haufen, fo ftob er
auseinander; die Einen klammerten fih an die Bretterwand, die
Andern Shmangen fi auf die Leitern, die Dritten warfen fich in
langen Reiben längs der Mauer fteif wie Todte auf den Boden.
Indeſſen hat fib ſchon ein neuer Haufe gebilvet, der wie ein
Morig Hartmann, Berfe, 11. 15
226 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Schwarm von Hornifjen auf da3 gequälte, wie toll hin und ber
rennende Thier zuftürzt. — Das ift das eigentliche Spiel, wie es
beliebt ift.
So ging es mit geringer Abwechslung dur Stunden fort.
Ein Stier nad dem andern fam harmlos aus dem Stalle, um,
ihon nad wenigen Minuten zur äußerten Wuth gebracht zu fein
und nad halbjtündiger oder ftündiger Verfolgung der grauſam—
ften Art, aus vielen Wunden blutend, wieder dahin zurüdzufehren,
um einem anderen Plag zu maden. So habe ich fünf oder ſechs
Stiere fommen und gehen gejeben. Um etwas Abwechslung ins
Spiel zu bringen, läßt man manchmal zwei oder auch drei zugleich
aufdem Schauplage. Dießmal war man gezwungen, die ganze Zeit
hindurch zwei draußen zu laſſen, da der arme Kämpfer, deſſen
Thaten ich bejchrieben, durch feine Lift und durch feine Gewalt
vom Kampfplage zu bringen war. Es ſchien, al3 wollte er ſich
um jeden Preis rächen. — Die andern folgten dem taureau-
guide, oder Führerftier, der gezähmt und dazu abgerichtet ift,
die fampfunfähig oder müde gemachten in den Stall zurüdzu:
führen. — Rührend war e3, wenn zwei, drei oder mehrere Stiere
zugleich auf dem Plage waren, wie fie ſich jogleih zufammen-
fanden und faft ein Quarre& bildeten, um fih gemeinjhaftlich
gegen den gemeinjchaftlihen Feind zu vertheidigen. Aber man
wußte fie immer zu trennen. Endlich, ſchon gegen Abend, er:
ſchien ein prächtiger Stier, der zwiſchen den Hörnern die rothe
Kokarde trug. Wer ihm diefe vom Kopfe reißt, gewinnt einen
beftimmten Heinen Preis von 5 bis 6 Fred. Man bezeichnete
einen gewiſſen derben, zugleich flinfen Lümmel al3 ven wahr:
icheinlihen Sieger. Er war es auch; leife ſchlich er, nach langen,
vergeblihen Anftrengungen, von der Seite an der Stier heran,
padte zu gleicher Zeit ein Horn und die Kokarde — ein Rud,
und er hatte den Preis gewonnen. — Mit einem Sprunge hatte
er fich der Verfolgung des Stier entzogen, den ſchon Andere an:
fielen und fo vom Sieger abzogen.
Ich habe ſchon erwähnt, daß fih Zujchauer jedes Standes,
Zehntes Kapitel. 227
jedes Alters, jedes Geſchlechts im Circus befanden, und daß fie
Zuſchauer und handelnde Berjonen zugleih waren. Daß Jungen
von 8 und 10 Jahren am Kampfe Theil nahmen, künnte man
ala Gaffenbuberei auslegen und müßte es nicht für charalteri-
ftifch für das Volk und feine Leidenschaft für diefe Spiele halten.
Mas aber bezeichnend ift, unglaublich Hingt und doch nicht min:
der wahr ift: ich habe mitten im Circus, oft mitten in dem Hau:
fen, der den Stier angrifj, oder vor ihm floh, viele Ammen
mit Kindern aufdem Arme, eine mitdem Kinde an
der Bruft gefeben.
Nah dieſen legten Worten darf ich wohl feine Sylbe mehr
hinzufügen, um die Leidenſchaft für diefe Spiele, oder vielmehr
die Wuth, zu harakterifiren. Sie wird den Kindern anerzogen,
die nach den Schuljtunden Stiergefeht fpielen, indem dem einen
Knaben künftlihe Hörner um den Kopf gebunden werden und
die andern ihn auf alle mögliche Weije plagen.
Wenn ein öffentliher Stierfampf jtattfinden foll, hört man
Tage lang vorher in allen Kaffeehäufern und in Familienfreifen
davon fpredhen, und wenn er vorbei, wird jede Phafe, jede ge-
ringfte Einzelnheit defjelben mit einer Wichtigleit durchdiskutirt,
ala ob e3 fih um das Wohl des Staates handelte Am Bor:
abend verfammelt ſich jchon die halbe Bevölkerung eines Ortes,
um die Stiere, die au der Camargue hergetrieben werden,
am Eingange des Stalled zu erwarten und wo möglich durch
Herausforberungen, geheim angebrachte Verwundungen, das
" Spiel jogleich zu beginnen.
Bei folher Leidenſchaftlichkeit ſollte man eigentli mehr
Muth vorausſetzen; was aber dieje Spiele beſonders bezeichnet,
ift neben der Graufamteit die niedrigjte Feigheit. Denn es ift
im Grunde fein Kampf, e3 ift nur ein Neden und Quälen und
Plagen des armen Thieres; man reizt ed nur zur Wuth, man
läßt e8 nur leiden, ohne daß es ſich gegen die Uebermacht des
Feindes, bei ven angebrachten Vorſichtsmaßregeln und ver regel-
mäßigen Flucht, ſobald der Stier einen ernjten Angriff macht,
298 Tagebud aus Languedoc und Provence.
vertheidigen oder für feine Leiden rächen Fönnte, Dadurch wird
der Anblid eines ſolchen Schaufpiels hier widerlicer, ald er es
in dem viel verrufenen Spanien fein mag. Dort fämpfen einige
verlorne Subjelte, die vielleicht der Hunger zu ſolchem Gewerbe
zwingt, einen ernten und tapfern Kampf, fie allein auf eigene
Fauft, Einer oder höcftens nur Einige gegen die Gewalt des
Stierd; bier wagt man es, in ungebeurer Ueberzahl den Feind
taum anzugreifen, man quält ihn nur auf niederträctige Weiſe.
Ich geitehe e3, daß ich während der ganzen Stunde, die der
Kampf tauerte, Partei gegen meine Gattung für den Etier ges
nonmen habe. Oft mußte ich mich mit Widermillen abwenden.
Einer meiner Nahbarn madte die Bemerkung: Wenn die Stiere
heute Nacht in ihre Sümpfe zurüdfehren, werden fie den Brüdern
von den wilden Beitien erzählen, die fie fennen gelernt haben.
Die unglüdlihen Thiere, die jo traurige Beftimmung haben,
find Kinder der Camargue, de3 großen eigenthümlichen Sumpf:
landes, das man auch das Nihonedelta nennt. Eie jind nicht
übermäßig groß oder muskulös, aber nervös, flink und feurig.
Sm ruhenden Zujtande, wie im Laufe, haben fie eine gemwille
leichte Grazie, die jie vor anderen ihrer Gattung auszeichnet.
Hier, wo man, durd die hiltoriihen Denkmäler daran gewöhnt,
gern Alles aus uralten Zeiten herleitet, nennt man fie Ablömms
linge der puniſchen Stiere, die Hannibal bei feinem Durchzuge
ins Land gebracht haben foll, ebenfo wie man die Gamargues
pferde Abtömmlinge der Araberrojje nennt, welde die Mauren
bei ihrem Abzuge in der Camargue vergejlen haben. Hhrer
Farbe, ihrem Feuer, ihrer Raſchheit nad, könnte man die Stiere
allerdings für Landsleute der Numidier halten. Eie werden
in den Eümpfen geboren und wachſen dafelbft unter freiem Him—
mel in mwilver Freiheit auf, bis fie zur Schlachtbank n die be
nachbarten Städte oder zu den bejchriebenen Epielen abgeführt
werden. Von legteren fommen jie wieder in ihre Sumpfe oder
Maraid oder Baluden zurüd. Des Abends werden fie entweder
fich jelbjt überlajjen fortgejagt, wo fie dann allein ihre Heimat
Zehntes Kapitel. 2239
wiederfinden, oder werden von Reitern, die mit langen Epiehen
bewaffnet find, dahin zurüdgetrieben. Tiefe Neiter bringen fie
auch, nicht ohne Gefahr und Mühe (ungefähr wie man in Teras
bei ähnlichen Gelegenheiten zu verfahren pflegt), zum erften Male
in ihrem Leben unter Menfchen und auf den Kampfplat.
Ebenſo graufam, doch weniger widerlich, mögen die Ferra:
den, eine ähnliche Art von Epielen, fein, die ich aber nicht ſelbſt
gejehen habe. Da kämpfen Einzelne mit dem Stiere. Es kommt
darauf an, ihn mit gefreuzten Armen an den Hörnern, oder an
einem Horn und einem Fuße zu paden und ihn niederzuftürzen,
wo ihm dann ein rothglühendes Eijen mit dem Namenszuge des
Beſitzers auf den Schenkel gebrüdt wird.
Aber alle Thierquälerei übertreffend, ungeheuer und fait
myſtiſch grauenvoll ift die dritte Art von Spielen (wie fann man
bier noch von Spielen reden!), die an gewiſſen Feten jtattfinden.
Da wird der Etier vorn an den Hörnern und rückwärts am
Schweif mit ſtarken Striden gebunden, von vor: und nachſchrei⸗
tenden Männern feftgehalten, daß er fich weder nach rechts no
nad links bewegen fann und feinen Ausweg zur Flucht bat.
Eo wird er den ganzen Tag, oft mehrere Tage durd die Gafjen
vdes Dorfes geführt und von den Bewohnern ununterbrochen ges
plagt, gereizt, gefhlagen und geftechen, bis er den Leiden oder
der ohnmächtigen Wuth erliegt und todt zufammenbrict.
Mas jagen Eie zu diefem Vergnügen? Iſt der Menſch eine
ernfthafte Beftie oder nicht? und wie amüfirt ſich diefe ernfthafte
Beitie? — Man begreift e3 in manchen Momenten, daß ein be:
geiftertes Mitglied eines Antithierquälervereing zugleich ein Reak—
tionär oder Menfchenfeind fein kann.
Dieje Spiele werden nod lange nicht unterdrüdt werben.
Regierung und gefeßgebende Verſammlung Frankreichs haben
eine jo heilige Echeu vor Eigenthum und Cigenthümern. Und
. die Etiere bringen den Eigenthümern fo viel Geld ein: ift das
nicht einer Nüdficht werth? Im Departement du Gard Jind fie
zeitweilig verboten; man nahm von mehreren Unglüdsfälen,
230 Tagebuch au3 Languedoc und Provence.
die vorfamen, Veranlafjung zum Verbot. In Aigues-Vives z. B.
wurde vor Kurzem ein Yamilienvater von Stieren aufgefpießt
und zwei junge Leute ander3 getödtet. Der eigentlihe Grund
der Unterbrüdung aber war, daß man das Zujammenjtrömen
einer gewaltigen Volksmaſſe im Departement du Gard ſcheuet
— ſei e3 bei was immer für Gelegenheit. Kam doch felbit auf
den Markt von Beaucaire Herr Carlier, der Bolizeipräfekt, in höchſt
eigener Perſon, von fünfundzwanzig Agenten begleitet, um den
unf&huldigen Markt zu überwachen. — In vielen Dörfern beharrt
das Volk trog des Verbotes bei jeinen Spielen; da ſchickt man
Soldaten hin, tödtet die Stiere und erflärt den Belagerungszu:
jtand. — Darin ijt der Grund zu ſuchen, warum die Regierung
im Departement du Gard ſich der armen Stiere und de3 menſch—
lihen Gefühle® annimmt, im legitimijtifchen Departement ver
Bouches du Rhone aber die Barbarei nad) wie vor fortbeitehen
läßt. Politik darf feine Sentiment3 haben, ſagte man im vorigen
Jahrhundert. Als ich in der Naht von Tarascon nah Nimes
fuhr, erlebte id) etwas, das mir als die traurige und nothwendige
Konfequenz fo böfer Gewohnheiten wie die Stierfämpfe erſchien.
Auf einer der Nebenftationen empfing uns eine aus mehreren
hundert Köpfen beftehende Volksmaſſe; jhon von Ferne hatten
wir ihr Gejchrei mitten dur den Lärm des Bahnzuges gehört;
e3 nahm noch zu, al3 wir una näherten, und ſchien fi, da wir
bielten, in Raferei verwandeln zu wollen. Wir jtedten die Köpfe
aus dem Wagen und erfuhren, daß die zwei Gendarmen, die wir
in der Mitte des Volkshaufens erblidten, eben im Begriffe waren,
mit einem Weibe, das fie führten, in ven Wagen zu Steigen, um
ih nah Nimes, dem Sige des Gerichte, zu begeben. Das Weib,
jeit Jahren von ihrem Manne getrennt, hatte ein Kind geboren,
von dem man nicht wußte, wo e3 hingelommen war. Der Volt:
haufe hatte fih verfammelt, um die Unglüdliche noch zu ver:
höhnen; das war das Gefchrei, das ung empfangen hatte, das in .
dem Augenblide, da die Unglüdliche in den Wagen ftieg, fi in
furchtbares Gelächter verwandelte und fich als ziſchendes, pfeifen:
Zehntes Kapitel. 231
des, jchreiendes Charivari fortjegte, als der Bahnzug ſchon längſt
in Bewegung war. Mit Schmerzen jage ich es: wieder waren e3
die Weiber, die fich hier als Furien auszeichneten. O die Sphinr
halb Göttin, halb Unthier! — Neben mir im Wagen ſaß ein,
Ihmwarzer Pfaff, der eben jo dumm⸗-neugierig wie die Andern dem
traurigen Schaufpiel zufah. Ein Wort jeines liebenden Meiſters,
eine Erinnerung nur an das Aufheben des erjten Steines hätte
dieſe Menge vielleicht abgehalten, ein gefallenes Weib, das fich be:
teit3 in den Händen der Gerechtigkeit befand, zu verhöhnen und
es fein Urtheil vorher koſten zu lafien und auf bitterere Meije,
als es das Gericht bieten kann. Aber ver Pfaff ſchwieg. Freilich
dazu ijt er nicht da, feine Pflicht it e3 nur, Faften zu predigen,
und die dagegen fündigen, mit Buße zu belegen. — Erbrüdt von
all’ der Rohheit, die ih an diefem Tage verkörpert gejehen, kam
ih in Nimes an. Im Bahnhof jah ich die arme Sünderin aus
vem Wagen jteigen; fie hielt daS Geficht mit beiden Händen be:
dedt; die Gendarmen behandelten fie menfhlid. —
Nimes, den 9. September 1851.
Das Frühſtück bei Durand, einem Reftaurant und Gaftro:
nomen erhabener Größe, war eingenommen und wir, ein lieber
Freund und ic, jo würdig vorbereitet zu dem Ausfluge, den wir
vor hatten. Beim Frübftüd bediente uns ein Kellner, der Thiers
beißt und die frappantefte Aehnlichkeit hat mit dem gemefenen
Minifter gleiches Namens, der in diefem Augenblide feinen ab:
getragenen Napoleonismus, feine Geihichte des Konfulates und
des Kaiferreiche3 bereut und fie eines Tages vielleiht noch bit:
terer bereuen wird. Der Kellner und Doppelgänger de3 reuigen
Staatsmannes ift zugleich jein Coufin. Man muß dergleichen
Vorkommniſſe aufzeichnen, da fie, wenn die Dinge jo fortgehen,
bald zu den größten Sonverbarkeiten gehören und die Verwun—
derung unferer Nachkommen erregen werden.
Geftärkt durch das Frühſtück, das uns der Bürger Thiers
fervirte, beftiegen wir das Cabriolet, um einer der merkwürdigſten
232 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
und erhabenften Römerbauten, dem fogenannten Bont du Card,
unjern Befuch zu machen. Der Weg ging während zwei bis drei
Etunden durd eine ziemlich unerquidliche Gegend; erft in der
Nähe des Gard oder Gardon, am Eingange in ein ſchön ber
bautes Thal, das durd ein alte8 Schloß gehütet und von alten
Bäumen bejchattet wird, wird fie freundlicher und gibt dem Ge:
müthe jene Heiterkeit, die zum Genufje eines erhabenen, antiken
Kunftwerkes unumgänglich nothwendig ift.
Mo diejes Heine Thal in das größere des Gard oder Gar:
don mündet, liegt ein freundliches Dorf, das den Stapelplat
aller Befucher des römiſchen Monumentes bildet. Es ijt herge-
bradt, daß man im Gafthaufe Pferd und Wagen jtehen läßt,
und von da aus zu Fuß den Gardon entgegen geht, während
welcher Zeit das freundliche Gaſthaus ein üppig ſüdliches Mittag:
eſſen für die Rückkehrenden bereitet. Dieſes Gafthaus gibt dem
fremden Wanderer auch einen Führer mit. Der Führer heißt
Porthos, wie der Eine der Dumas’ihen Mousfetiere, und ift
unter feinen Kollegen ‘gewiß einer der merfwürdigiten dieſes
Jahrhunderts. Den Namen eines Cicerone verdient er nicht,
denn ſchweigſam, ja ftumm, gebt er neben dem Wanderer einher
und begnügt fi), durch einfaches Etehenbleiben auf die jhönjten
Anz und Ausfihtspunkte aufmerlfam zu machen. Er unter:
fcheidet ih dadurh aufs Vortheilhaftejte von feinen Kollegen,
die gewöhnlich im Wanderer feinen eigenen Gedanken aufkom—
men lafjen und e3 für ihre Pflicht halten, die ganze Zeit mit
eingelerntem Geplauder auszufüllen. Eine andere Tugend un:
jeres Führers ift die, daß er dem Wanderer eine gewiſſe Sicherheit
einflößt, daß man mit ihm durch Wüften und Wälder ohne Furcht
vor Räubern, jo wie hier den Cevennen entgegen, wandern könnte,
ohne die geringfte Scheu vor den Wölfen, die in ihren Höhlen
lagern. Denn troß feinem gutmüthigen Auge fieht man e3 ihm
an, daß er, gereizt, furdtbar werden und won feiner ganz gewal—
tigen Leibesbefchaffenheit, die an den Löwen erinnert, von feiner
außerordentlihen Kraft, die ihm den Namen des flärkjten unter
Zehntes Kapitel. 233
den Mousfetieren verfchafft bat, mit großem Erſolg Gebraud
maden könnte. Und all’ diefe Tugenden, wie billig, uneigens
nügig jtcllt er fie dem Fremdling zu Gebote. Niemals — ih
weiß es gewiß — hat er aud nur das Heinfte Trinkgeld für
jeine Bemühungen angenommen; aber er veiſchmäht es nicht,
bei der Nüdfehr ins Gaſthaus, freundlich und bejcheiden am
Mittagefjen tbeil: und fo, wahrhaft feinfühlend, dem dankbaren
Fremdling ein Stüd feiner Danteslaft abzunehmen. — Unter
Menſchen find diefe Tugenden alle ausgeſtorben, beſonders unter
jenen Menſchen, die auf der großen Touriftenftraße oder in der
Nähe berühmter Monumente wohnen — wie das die edlen Etauf-
faher der Schweiz, die hofenlofen Clans Hochſchottlands, die
romantiſchen Räuber Kalabriens und der Legaticnsrath Gerhard
in Leipzig beweifen. Unter Menſchen find fie aufgeftorben; fie
haben fi in die Hunde geflüchtet — denn Porthos ift, was idy
zu jagen vergefjen habe, nicht3 Anderes als ein Hund, ein großer,
gewaltiger, riefiger Hund, der aus den menfchenleeren Ebenen
der Camargue ftammt, feine Stammgenofjen an Weisheit, Schöne
heit, Größe und Kraft weit überragt, den Etolz feines Haus
wirthes und den Troft des fremden Wanderers ausmacht.
Hundert Schritte hinter dem Torfe, auf einer Heinen Ers
höhung blieb er zuerft jtehen und ſah nad) rüdwärts. Wir folgten
feinem Auge und erblidten eine überaus niedliche Kettenbrüde,
die luftig und geifterhaft über dem tiefen und wilden Flußbett
des Gardon ſchwebt und überaus malerijch zwei ſchöne Dörfer
verbindet.
Nad) zwanzig Minuten ungefähr waren wir an dem Punkte
angelangt, wo man den Bont du Gard zum erften Male erblidt.
Der Anblid ift jo groß, jo überwältigend, daß wir lange, lange
Zeit, gebannt an diefelbe Stelle, fiehen blieben, als fürdteten
wir, mit einem Echritte vorwärts oder rüdmwärts ein Atom dieſer
Schönheit zu verlieren. Porthos mußte dieſes Gefühl zu wür—
digen, denn er legte fich rubig hin und überließ uns dem großen
Eindrude. Wie dankbar war ich ihm für feine Stummheit! Ein
234 Tagebud) aus Languedoc und Provence,
anderer Gicerone an feiner Stelle hätte die Schönheit zu anato-
mifiren angefangen und eine Rede gehalten, von der ein einziges
Wort hinreicht, in Verzweiflung zu bringen.
Wie freue ich mich, die Amphitheater von Nimes und Arles
vor dem Pont du Gard gejehen zu haben; nad diejem wären fie
mir Hein und bäßlich erfchienen. Auf diefem großartigiten aller
Aquädufte ver Welt liegt neben der ganzen riefenbaften Gewalt
des Römerthbums, oder vielmehr verhüllend über diejer, ein Neiz
von Schönheit und Anmuth, wie er fonjt ven Römermwerfen zu
fehlen pflegt, und wie er felbjt bei ven herrlichſten Bauten aller
Zeiten und aller Style felten ift. Frankreich befist im Pont du
Gard ein Kleinod, das es hüten und bewahren follte, wie nur
irgend eine Koftbarfeit, die einem Lande, einem Volke Werth gibt;
und einen ber ſchönſten Nefte jener Welt, die mit ihrem Abfalle
den Geift von Jahrtaufenden groß zu nähren im Stande war,
63 ift ein unfreundliches, wildes, felfiges Thal, das der
Pont du Gard durchſchneidet und zum Wallfahrt3orte des ferner
Wanderer macht. Rechts und links fteil und rauh abfallenve
Felſen, die theilmeife von milder und ftruppiger Vegetation be-
dedt find, und an deren Fuße fi eine mit Mühe gemonnene
Straße hindrüdt. Tief unten im Grunde rollen die gelben Wellen
des Gardon, die nur angeſchwollen im Stande find, die Feljen-
Elippen in ihrem Schooße zu beveden. Was fie da an Wildem
und Unwirthlihem verhüllen, erjegen fie reichlich durch ihr eige-
ne3, hochaufſpritzendes Getos, durch die Wuth ihrer Schnellungen
und den Sturm gegen die römifchen Pfeiler, die ihnen ruhig
Troß bieten.
Der Pont du Card befteht aus drei Bogenreihen, die in
drei Stodwerfen über einander fortlaufen. Das unterfte Stod:
werk, das mit den Füßen theils im Wafler, theils auf den Felfen
des Flußbettes und der Ufer fteht, jet fih aus ſechs gewaltigen
Bogen zufammen. Ueber diejes erjte Stockwerk läuft da? zweite
mit elf, und über dieſes zweite das dritte mit fünfunddreißig
Bogen hin. Die Bogen jedes oberen Stodwerkes find um ein
Zehntes Kapitel. 235
Bedeutendes Kleiner al3 die Bogen des Stockwerkes, das feine
Baſis bildet, und obwohl der ganze Bau oben, wo er die höchfte
Höhe der beiden Berge verbindet, breiter fein muß, al3 an feinem
Fuße, wo er nur von Ufer zu Ufer geht, fo gewinnt das Ganze doch
auf diefe Weife, d. i. durch Verkleinerung des Maßftabes der Bo:
gen nad oben zu, und dur die Durchfichtigkeit der Bogen felbit
etwas Leichtes, Quftiges, ich möchte jagen Vegetabilifches, mo:
dur e3 wie von Natur in die Höhe ftrebt und die Schwere
feiner Maffenhaftigkeit vergeſſen macht, ohne an natürlicher
Mürde und Größe zu verlieren. Einer der unteren Bogen iſt
breiter al3 die anderen in derjelben Reihe; er überfpannt allein
ven Fluß, wenn fich diefer in feinem gewöhnlichen Zuftande be:
findet und nicht von Regen oder dem gejchmolzenen Schnee der
Gevennen angeſchwollen iſt. Ebenfall3 breiter ift der über ihm
ftehende Bogen der oberen Reihe; aber dieſe Heine Unregelmäßig-
feit, die durch die Breite des Fluſſes geboten war, verjchwindet
ganz in dem ungeheuren Werke, deſſen Symmetrie fie gar nicht
ftört. Bemerkt man fie au, jo trägt fie nur bei, vem Baue den
wohlthuenden Anichein der Unmillfürlichkeit, des Entftandenen
und nicht Gemachten zu geben.
Erſt das dritte Stockwerk trägt das Rinnjaal oder den eigent-
lihen Theil ver Wafjerleitung, denn der Bont du Gard — was
ih wohl nicht erft zu bemerfen brauche — ift der Träger des
Waſſers von einem Ufer zum andern, jenes Haren, hellen Waſſers,
da3 die Römer 41,000 Meter weit aus den Gebirgen, über Berg
und Thal, ihrer lieben Stadt Nemaufus zugeführt und den bei—
den Bächen, die man heute Aure und Niran nennt, zu Nuß und
Frommen ihrer römijchen Bürger entzogen haben. Die Rinne,
hoch genug, daß ein Mann mit einiger Neigung de3 Kopfes unter
ihrer Dede fortwandeln kann, ift oben von behauenen Steinen
überdacht und unten und an den Seiten vermittelft eines Cements
dicht gemacht. Diejer Kitt ift fo wortrefflich, daß noch heute das
Regenmwafler, welches durch die oberen, von der Zeit gemachten
Deffnungen einfällt, nur durch Verdunſtung entfernt wird und
236 Tagebuch au Languedoc und Provence.
daß e3 de3 Hammers und des Meißels bevürfte, um ihn zu ver:
legen. An den Mauern hat ſich hier und da eine üppige ſüdliche
Vegetation angefiedelt, die nur dazu beiträgt, das Leben und Ne:
gen in dieſem unvergleichlihen Kunſtwerke zu erhöhen und zu
vermannigfadhen. Aber jelbft die wilden Feigenbäume, die, wie
wir es bier oft jehen, ihre Wurzeln in den fefteften Felfen bohren,
haben e3 nicht vermocht, einen Stein aus feinen Fugen zu drän:
gen. So feſt find dieſe auf einander gefchichtet, felbit da, wo fie
fein Kitt, jondern die bloße Berechnung des Architekten und die
Genauigfeit des Steinmeßen verbinden. So feiert hier im Kleis
nen wie im Großen der menfchliche Geift einen großen Triumph
über die Materie. Mit diejem Einen Baue verbindet er ja vom
gewaltigen Strome getrennte Berge, verfegt er Flüffe und
zeugt ein Kunſtwerk, das ftärfer ift, al3 Felfenmauern. Eo un:
bedeutend find die Schäden, die ihm die Zeit und manche Bars
baren zuzufügen vermocdten, daf er noch heute dem Befchauer
denjelben Eindrud macht, defjen ih Agrippa erfreut haben muß,
als er ihn vollendet ſah und fi fagte, ein Monument aere
perennius feiner geliebten Provinz gegeben zu haben. Die mo:
derne Brüde, die man an den Fuß des Pont du Gard geklebt
bat, um die Chaufjee von einem Ufer zum andern zu führen,
ninmt fich neben diefem fo unbedeutend aus, daß fie ganz ver:
ſchwindet, dem Werke ganz und gar feinen Eintrag thut, und daß
es Einem nicht einfällt, den Baumeifter derfelben der Arroganz
und das Tepartement der Taftlofigkeit anzullagen.
Wie groß die Römer ald Adminiftratoren waren, und wie fie
für die Heinen Bedürfniſſe ihrer Bürger ebenfo gut al3 für die
großen forgten, beweist der Heine Fußweg, den jie am dritten
Etodwerfe des Aquäduftes angebradt haben, um Fußwanderern
den Weg über den oft angefhwollenen Fluß zu erleichtern. Une
willfürlich erinnert man ſich da an eine gewifje Gijenbahnbrüde,
die über die Loire führt. Umfonft petitioniren die Bewohner der
beiden Ufer um einen Fußweg, der mit den geringiten Koſten
angebracht werden fünnte. Sie erlangen ihn nicht, und der jedes
Zehntes Kapitel. 237
Jahr austretende Strom verhindert oft Wochen lang die Verbin:
dung naher, im eifrigen Verkehr lebender Nachbarn, die fich da:
dur in Handel und Wandel geftört ſehen. Wenn man nur
großartige Brüden, Tunnels, Monumente, Mufeen, Univerfi:
täten bat, mit denen man A la tete de la civilisation mars
ſchirt — was liegt an FZußiteigen und Dorfjhulen?
Noch an ein andered modernes Kunſtwerk wurde ich durch
den Bont du Gard erinnert: an den Pont de Roque-Favoure,
in der Nähe von Air, den ich vor einigen Tagen geſehen, und
der den Marfeillern frifhes, füßes Gebirgsmwafler zuführt. Ge:
wiß ein verbienftliche® und jchönes Werk; eine Waflerleitung,
mwie fie moderne Jahrhunderte ſonſt nicht gefchaffen haben. Ich
babe fie angeftaunt und doch — wie Hein erjcheint fie mir jegt,
wenn ich fie neben den Pont du Gard jtelle.
Wahrhaft erhoben nahm ich Abſchied von diejem in feiner
Art berrlihften Monumente. Wenn ich mich oft vor römijchen
Bauten zweifelnd fragen mußte, ob ich diefen von fo Vielen bes
mwunderten Nömern nicht Unrecht thue, indem ich fie bloß kalt
oder halb erfchroden anjtaune, jo nahm ich dießmal die Genug:
thuung mit, von ganzem Herzen und mit ganzer Seele bewun-
dert und im innerjten Gemüthe Preislieder auf diefe berechnen»
den Unterdrüder einer Welt gefungen zu haben.
Ganz in der Nähe des Pont du Gard bemerften wir noch
eine Grotte, die an ihrem Eingange von halbverfallenem Gemäuer
geſchloſſen war. Vielleicht eine jener Grotten, die Baville, der
Alba Languedocs, hat vermauern lafjen, nachdem fich die Pros
teftanten hineingeflüchtet hatten. Ich wandte mich ab, um mir
den erhabenen Eindrud dur die Mifere, die Einen bier noch fo
nahe liegt, nicht ftören zu laſſen. Genug diefes Elendes hatte
ib jton in feinen Spuren fennen gelernt. Der proteftantifche
Paltor aber, mein Freund, blieb lange und traurig vor den
boblen Augen diejer Grotte ftehen.
Eiftes Kapitel.
Baunages, das Kanaan ber Kinder Gotted — Calviſſon, bad Jerufalem —
Jean Eavalier, Saurin, Abauzit, Nogaret — Die Fruchtbarkeit Kanaans —
Griehifches Leben in Kanaan — Maffacre de St. Come — Ludwig Tied und
Thümmel — Die Emanzipation der Proteftanten durch Ludwig XVI. — Jean
Eavalier’3 Schlahten von Langlade und Nages — Witze ber Geſchichte — Die
modernen Proteftanten des ſüdlichen Frankreichs — Verhalten des Adels in
den Kämpfen der „Kinber Gottes“ oder „Kamiſarden“ — Geſchichtsquellen.
Galpijjon, 7. Auguſt 1851.
Seit vierzehn Tagen ungefähr fige ih in Calviſſon und
wohne in dem hiftorifhen Haufe, welches den großen Kamiſar⸗
denführer Jean GCavalier am Ende feiner Laufbahn eine Zeit
lang beherbergte. Ich ſchreibe dieß in feiner Stube. Bon hier
aus unterhandelte er mit dem Marſchall Billars, der fein Haupt:
lager in Nimes hatte, und erlag der Eitelfeit, mit Ludwig XIV.
puissance à puissance zu unterhandeln. Er verließ die Sache
feiner Glaubensbrüber, nachdem er für fie Jahre lang Wunder
ver Tapferkeit gethan, und zu einer Zeit, wo diefe noch entſchloſſen
waren, ihrem Propheten bis auf den legten Mann zu folgen.
Cavalier hat eine wunderbare Aehnlichkeit mit Görgey. Plötzlich
aus dem Nichts aufgetaucht, erfüllt er, ein armer, achtzehnjäh—
riger Schäferjunge, der die Heerden eines Andern hütet, die Welt
mit dem Rufe feiner Thaten und die Herzen feiner Kampfgenoflen
mit einem unbeugbaren Muthe, ver einer zehnfach überlegenen
Macht durch alle Wechjelfälle eines langen Krieges Stand hält,
Plöglih wird er felber müde, und er iſt der Einzige, der den
prophetiihen und aufmunternden Worten, die aus jeinem eige—
nen Munde kommen, nicht mehr glaubt. Marſchall Villars
Elftes Kapitel. 239
verfteht ſich auf Cavalier; er ladet ihn in jein Hauptquartier, er
empfängt und behandelt ihn, wie man den Heerführer einer feind-
lihen und legitimen Macht behandelt — voll von Stolz kehrt
Gavalier nah Calvifjon zurüd und weiß ed nicht, daß er ſich
eigentlih jchon in die Hände des Feindes gegeben, da er von
ihm Geld und Nahrung annimmt, um feine Kampfbrüder zu
erhalten. War es Komödie, war es ein Mittel, die Stimme feines
eigenen Gewifjens zu übertäuben, daß er auf den Ruinen des
protejtantifchen Tempeld nod jo mächtig und ergreifend prebigt
und wahrjagt, wie damals, da er als ſchwächlicher Schäferjunge
fih in den Grotten der Cevennen zum erjten Male zu den „Kin:
dern Gottes” gejellte? Wielleicht Beides — denn noch ftaf eine
Erinnerung des „Propheten“ in ihm, und ſchon war er auch der
Prahler, ver fpäter die unzuverläfjigen Memoiren gefchrieben.
Aber wir wollen nicht zu ftrenge mit ihm fein; jagt er doch felbft:
„Ich war ein Kind, und ich hatte Niemand, der mir hätte rathen
können.” Diefes wirklich Kindiſche und Kindliche in feinem ganzen
Weſen, das Vertrauen in königliche Verſprechungen, die jchmeichel:
bafte Art und Weife, wie man ibm von feindlicher Seite ent:
gegen fam, alles das ijt geeigneter, Gavalier zu entſchuldigen, ala
all’ die Gründe, die man anführt, den ungarischen Verräther rein
- zu wachen, und jtellt jenen vertrauenden, unwiſſenden Jüngling
hoch über diefen menjchenverachtenden, vielerfahrenen Mann, —
In Calvifjon hat der junge Hirt wohl die gewaltigiten Gemüths—
erfhütterungen feines Lebens erfahren. Nachdem er bier, von
wo aus er feine meiften und ruhmvolliten Schlachtfelder über:
fehen konnte, als König verehrt, als Prophet von dem herbei:
ſtrömenden Volke angebetet worden war; nachdem er fich in
Träume künftigen Ruhmes gewiegt und im Geijte fih an den
Siegen gefreut hatte, die er, der Konvention mit dem Marfchall
Villars gemäß, als Oberfter Ludwigs XIV. auf fpanifchen
Schlachtfeldern erfämpfen follte, kehrt er eines Tages in fein
Lager zurüd und findet die „Kinder Gottes“ vom heftigiten Zorn
gegen ihn entbrannt. Sie empfangen ihn als Verräther, der
240 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
die Sache Gottes verlaflen will, mit Spott und Verwünſchungen;
fein Befebl wird nicht mebr gehört; er iſt entfegt, und die ihm
in jede Todesgefahr gefolgt, wenden fih von ihm und folgen
jegt dem wilden Propheten Ravanel, der geihworen hat, den
Tegten Trorfen Blut für das Evangelium zu verfprigen. Was
tümmern fie, die für ihren Gott fterben wollen, die Punkte, die
Cavalier mit dem Marfchall aufgelegt? enthält doc keiner die
Beltätigung, daß fie ihre Tempel wieder aufführen, überall das
ob Gottes fingen können. Cavalier befhmwört, bittet, weint —
umfonft! Er ijt verlaffen, und nur dem armen Propheten Moſes
dankt er es, dab ihm der ftarre Ravanel, „das Schwert Gottes,“
nicht eine Kugel durch den Kopf jıat. Beſchämt ehrt er, der
verjprocen hatte, mit einem Negimente zu fommen, nur von
wenigen Freunden begleitet, zum Marſchall zurüd; die Frau
Marſchallin, der er vorgeitellt wird, erjucht ihn, ihr in ihrem
Boudoir ein wenig zu prophetiliren. Er jchweigt. — Als er
in den Kahn fteigt, um über die Rhone zu fahren und fein
Vaterland für immer zu verlaflen, will er noch einen Pſalm an
ftimmen, als letztes Lebewohl — der Offizier, der ihr begleitet,
verbietet es. — In Versailles fieht ihn der große König von der
Eeite wie cin wildes Thier an und zudt die Achſel, und wenige
Wochen nad feiner pompbaften Unterbandlung mit den Mars-
ſchall flüchtet er bei Nacht und Nebel mit feinem Häuffein von
Freunden über die Schweizer Gränze, um dem Kerker ju entgehen,
der ihn, treg königlicher Verſprechungen, in Neubreijad oder in
einer Baltille erwartet,
Galvifjen ift nit nur durch Gavalier, es war zu allen
Zeiten in der Geſchichte der VBroteftanten berühmt. Lange Zeit
fpielte e& den Hauptort des Proteitantiemus in Vaunages und
Umgegend, und am Eingang in die Cevennen gelegen, war es
ver Vermittler zwiſchen den Gebirgsbemobnern und den Bros
teftanten Nieverlanguedocd, der Ebene, die ſich von Vergez bis
and Meer binzieht. Hier wurde auch der große Repner der freien
Arminianer, Saurin, geboren, deſſen Haus man noch heute in
Elftes Kapitel. 241
der Nähe des Tempel3 zeigt, und von hier flüchtete ſich in zarter
Jugend, um den Dragonaden zu entgehen, an der Hand feiner
Mutter jener Abauzit, der Freund Newtons, Leibnig’ und Sean
Jaques'. Er jtammte won einem berühmten arabifchen Arzte,
der im zwölften Sahrhunderte in dieſes Land einwanderte und
einen Stamm gründete, in dem ſich Wiſſenſchaft und freie For:
{hung forterbten. Sein legter Abkömmling fist durch Zufall
heute wieder in Galvifjon — es ift der verdienſtvolle und be:
redte Paſtor Abauzit. — Der ziemlich hohe Hügel vor meinem
Haufe trägt die Ruinen des Schlofjes, welches der Familie des
großen Rechtögelehrten Nogaret gehörte, der im breizehnten Jahr:
hunderte mit der Obrfeige, die er dem Papfte Bonifazius ge:
geben, und die in ganz Europa mwiederhallte, gewiffermaßen bie
Reformation begonnen bat.
Die Bewohner des heutigen Calviſſon find friedliche Leute,
denen man nichts von der Ekſtaſe, die ihre Vorfahren ergriffen,
und nichts vom Prophetenthbum, das jene beherrſchte, anmerft.
Nur wenn Einem in der Gafje das Raſſeln des Mebeftuhles oder
der Krämpler entgegenfhallt, denkt man unmillfürlih an bie
Meber und Krämpler, die die größere Anzahl von Propheten
geliefert haben. Aber auch dieje Gewerbe find in Abnahme, da
ihnen‘ die Majchinen von Nimes eine überlegene Konkurrenz
machen, und die Galvifjoner bejchäftigen fich mit Bereitung von
füßen Compot3, deren Stoff ihnen die herrlichen Früchte von
Baunages liefern und die fie in alle Welt verjenden.
Baunages heißt das große Kefjelthal, welches fich hinter
Calviſſon plöglich breit und weit ausdehnt. Am Fuße der fahlen
Berge, die es umgeben, ijt e3 ringsumher von einer bedeutenden
Anzahl größerer und kleinerer Fleden befränzt. Hiſtoriſch, oder
anderweitig die beveutendften unter diefen find St. Come, Cla:
tenfac, Gavairac, Zanglade, St. Dionify u. f. w. Seinen Namen
bat diefes Thal von dem Fleden Nages, der an feinem Eingange
gegenüber von Galvifjon liegt; die Kinder Gottes aber nannten
es feines gejegneten Bodens wegen: Kanaan. in der That ijt
Morig Hartmann, Werke. II. 16
242 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
e3 eines der fruchtbariten Thäler des Südens. In diejem Augen
blide erliegen die Bäume unter der Weberzahl ihrer Früchte;
trotz des großen Handels, den man treibt, weiß man nicht, was
mit der ungeheuren Menge von Feigen, Mandeln, Pfirſichen,
Melonen, Pflaumen und Trauben anzufangen. Man gibt jie
ven Ziegen als Futter. Vor und nad der Weinleje eſſen Men-
ſchen und Thiere nicht3 al8 Trauben — Biegen, Hunde, Pferde,
Gel und Maulefel nähren fi von der köſtlichen Beere, die jo
treffliche Weine liefert, daß man fie in Paris ald Madeira, Ma:
laga und Alicante verkauft. Der Wein von Langlade kann mit
vem beiten Bordeaur metteifern und kommt au als folder in
den Handel. Auf vielen Bauernhöfen fann man in verjchiedenen
Winkeln und Eden, unter Brennholz und Gerümpel verjtedt,
ungeheure Fäfler ſtehen ſehen, die voll des edelſten Weines find.
Nach zwanzig Jahren einmal fällt es dem Beliger ein, ſolch ein
Faß anzuftehen, und fiehe da, er findet einen edel gealterten
Saft, den er Madeira, Malaga, Alicante tauft. Die franzöfiichen
Gefege und die Octrois der Städte find Schuld, daß der Bauer
feine Reichthümer nicht jo verwerthet, wie er es unter anderen
Umftänden könnte. Auch fehnt man ſich nirgends fo wie bier
nach Free Trade. Doch ift Alles wohlhabend; die man hier Arme
nennt, find immer nod Leute, die ihr gutes Stüd gejegneten
Bodens befigen, da der Boden vielgetheilt ift. Die Gemeinden
alle haben, mehr weil es Brauch als Bedürfniß ift, ihre Armen—
kaſſen, doch werden fie jelten in Anſpruch genommen. Wenn e&
geſchieht, io gejchieht ed, mie mich verichiedene Paſtore und
Maires verfihern, nur von den Allerärmften, die mit dieſem
NZuſchuſſe ihre Steuern bezahlen.
Bei mehreren Ausflügen in das Land von Vaunages hatte
ich Gelegenheit, mich an dieſer Mohlhabenbeit zu erfreuen. Die
Dörfer find eben nicht immer jehr reinlih — das liegt im Cha-
rakter des Südländers — aber nirgends tritt Einem das trau-
rige Bild der Noth entgegen. Ich habe hier noch feinen Bettler
gejehen. Faſt jedes Dorf hat irgend einen monumentalen Schmud
Elftes Kapitel. 245
— einen Brunnen, eine Kirche, ein Gemeindehaus — alle aber
find mit ihren engen Gafjen, mit ihren Quaderhäufern, mit
ihren Treppen, die vom erften Stode auf die Straße führen,
mit ihren Platformen vor den Thüren der oberen Stodwerte,
mit den tiefen und gemölbten „Salons“ ebener Erde, vor
denen ber fchattige Vorhang weht, und in die man im Vorüber:
gehen blidt — alle find fie malerifh und würden dem Künftler
mit den müßigen Gruppen der Männer und der arbeitfamen
Weiber manden fhönen und dankbaren Stoff bieten. Der Lan:
mann ift mit feinem Weberfluffe nicht geizig. Wandert man an
der Seite eines in diefer Gegend nur halbwegs Bekannten, wie
es bei mir der Fall gewejen, jo wird man jeden Augenblid ge
beten, einzufehren und einige Früchte und ein Glas Wein ein:
zunehmen. Der Wirth entjchuldigt fih dann, daß er nicht Bier
anbieten könne, womit man in diefem Weinlande den Gaft be:
jonders zu ehren glaubt. So fann man wie ein homerifcher Held
von Gaſtmahl zu Gaftmahl wandern, Bei einem Bauer in St.
Come nahm ich ein wahrhaft fürftliches ein — die ebeljten Weine,
die ſüßeſten Früchte und die beiten Fleiſche erbrüdten vie Tafel.
Die beiden Hausfrauen, Schwiegermutter und Schnur, bedienten
uns wie Stlavinnen und jegten fih, nad) der Sitte des Landes,
nicht zu Tiſche. Die große, geräumige Halle, aus der man auf
die Vorhalle, die zugleih Küche ift, bliden kann, ſobald ver
wallende Vorhang aufgeht; der Bratjpieß am Herde und das
friihe Fleifh daran; die urfprünglihen Handmühlen; die zwei-
bentligen Krüge; die ſchlanken Amphoren, in denen der Wein,
und die ungeheuren, bauchigen Thongefäfle, in denen das Waſſer
aufbewahrt wird; die Ampel, die von der Dede herabhängt, mit
ihrem oben überbogenen Griffe, ganz in der Form, wie man fie
in Pompeji findet — enbli draußen der blaue, molfenloje
Himmel und das Lorbeergebüfh, das durch die Fenjter Kühlung
weht — reicht das Alles nicht hin, einen vom füßen Weine halb-
betäubten Wanderer zu überzeugen, daß er ſich in fhönen, an:
tifen Zeiten, unter jhönem klaſſiſchem Himmel befinde, als Gaſt
244 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
bei irgend einem Männerbeherrihenden? Nur die Hausgötter
verrietben, daß man fich in moderner Welt befinde. An der
Wand hingen die Bilder von Barbès, von Ledru:Rollin, mit
der rothen Echärpe und Schleife, von Raspail an feinem Ger
fängnißgitter. — Nah dem Mahle führte man ung in fühle
Gartenftuben, wo Betten zur Siefta bereitet waren. Beim Er:
wachen bot man Wafler zum Waſchen und fühen Wein zur Er:
quidung, und wieder erhob man die Hände zum leder berei:
teten Mahle.
Als fih die fürdhterlihe Hige gelegt hatte, gingen wir durch
eine allmählig auffteigende Schluht Wem Gebirge zu, nad ber
fogenannten Fontaine de Robert, um einen koniſchen Berg
berum. Nach ziemlich langer, bejchwerlicher Wanderung ftanden
wir auf hiſtoriſchem Boden. Das freundliche Thal VBaunages
war verfhmwunden; kahle, verwitterte Berge jtarrten uns an;
ſchweigende Einſamkeit umgab uns, und fo weit das Auge durch
die Schluchten dringen konnte, nichts als troftloje Gebirgswüſte.
Wie wahr hat Ludwig Tied in feinem „Aufruhr in den Ge:
vennen“ die Zufammenktunftsorte der Kamifatden, wo fie der
Begeifterung der Propheten horchten, zu ſchildern verjtanden.
Menn er, wie ich es glaube, diefe Gegenden nicht ſelbſt gejehen,
dann ijt die Divination des Dichters zu bewundern, Auf dem
Heinen Plateau, auf dem wir ftanden, verfammelten fich eines
Tages die Kinder Gottes in großer Anzahl, um ſich von ihrem
Propheten prebigen zu laſſen. Zu Hunderten lagen fie da, lau:
ſchend, feines Ueberfalles gewärtig, und horchten den Worten,
die aus dem Laube eines Nußbaumes zu ihnen erfchallten. Aber
fie waren von den Katholifen jenfeit3 des Berges verrathen.
Plöglih mwimmelte es ringsum auf allen Bergfpigen von könig:
lihen Truppen, und Kugeln regneten in die fromme Schaar. Nur
jehr Wenige ſollen entlommen fein. Le massacre de St. Come
ift nod immer eine jhredlihe Erinnerung im Herzen des Volkes.
— Der Berg, der und von Vaunages trennte, ſcheint ein Be⸗
graͤbnißplatz der Römer geweſen zu fein. Häufig findet man,
Elftes Kapitel. 245
befonder3 am füdlichen Abhange, antike Aſchenkrüge, die aber
von den Arbeitern fogleich zerſchlagen werden, da man in ihrem
Bauche Münzen vermuthet. Wenn fie aber nur Aſche enthalten,
werden die Scherben bei Seite geworfen. Vor Kurzem fand man
eine gewaltige Bleikifte. An jeder ver vier Eden befand ſich ein
Aſchenkrug. Die Ajchentrüge wurden zerbroden, die Kifte nad
dem Gewicht verkauft. Oft ftößt der Spaten auf Grabjteine, da
es aber zu beſchwerlich wäre, diefe ganz auszugraben, zieht man
es vor, fie wieder mit Erde zu beveden. Die Bewohner diejer
Gegenden find eben doch feine Griechen.
| l
z 8. Auguft 1851.
Ungefähr drei viertel Stunden von St. Come gegen Diten
liegt Glarenfac. Es wäre nichts von diefem Dorfe zu berichten,
wenn es nicht, nad der Meinung vieler Bewohner dieſer Ge-
gend, in der Schredengzeit der franzöfifhen Revolution eine ge:
wife Rolle gejpielt hätte. Kurze Zeit vor 1789 warf der Geig:
neur von Clarenfac fein Auge auf das ſchöne Weib eines Bauern,
feines Unterthbanen. Um ungehindert die Reize der ſchönen Un-
terthbanin genießen zu können, jchidt er, ein zweiter König David,
ihren Mann, den armen Uria, fort nad) Nimes, mit dem jtrengen
Befehle, mehrere Tage in diefer Stadt zu verweilen und, mas
er auch immer hören möge, fie bei Androhung der härteften
Strafen nicht zu verlaffen. Der arme Knecht gehorcht. Aber
faum drei Tage in Nimes, bemächtigt ſich feiner die gewaltigſte
Unruhe. Er hält es nicht länger aus, und in der Nacht jchleicht
er in fein Dorf zurüd. Er horcht vor feinem Haufe und hört
und fieht endlich durch eine Fenfterrige jein Weib im verzwei-
felten Kampfe gegen den gnädigen Herrn. Er dringt hinein —
und wird in jeiner eigenen Stube von jeinem Herrn, der be:
waffnet ift, erſchlagen. Es ift gefchehen, und Niemand wagt, von
der That zu ſprechen. Der Edelmann jegt feine Bewerbungen
bei der jchönen Wittwe fort. Aber der Erjhlagene hat einen
Freund, einen Wildfhügen. Diefer weiß gut zu zielen, und auf
246 Tagebuh aus Languedoc und Provence.
freiem Felde einmal rächt er den Todten durch einen einfachen
Schuß aus dem Gebüſche. Er wird, ich glaube, dafür lebendig
aufs Rad geflochten. Die Zeit hat nicht Zeit, die Erinnerung an
diefe Gefhichte aus den Köpfen der Bauern des Vaunages zu
ftreihen. Die Nevolution bridt aus, und die gebrochenen
Schlöfjer, die verftümmelten Wappen, vie Flucht fo vieler Seig—
neur3 zeugen, wie lebhaft dieſe Erinnerung noch in den Köpfen
gefpuft habe. Uebrigens waren alle dieſe Seigneurs diefer eif:
rigen Proteftanten eifrige Katholiken — um fo eifrigere und ver:
folgungsfüchtigere, als fie alle Apoftaten und fogenannte Neu:
befehrte waren, vie nächſten Abkömmlinge jener Ariftofraten, die
die Glaubensfahe und ihre Kämpfer verließen und verriethen,
fobald e3 fi nur noch um den Glauben und nicht, wie zur Hu:
genotten: und Frondgeit, um Feudal- und Coterie-Intereſſen
handelte. Faſt alle Aveligen Languedoc haben ſich zur Zeit ver
Gevennenfriege auf diefe Weife bewährt. D’Aigallierd und der
alte Marquis von Salgas find rühmlihe Ausnahmen. Zwar
nahmen fie beide nicht Theil an dem Kampfe ihrer Landsleute
und Glaubensgenoſſen; aber der Erfte ſuchte wenigftens ala
Vermittler zwifchen diefen und dem Hofe fein Möglichftes zu thun
‚ und verleugnete feine Ueberzeugung auch in den ſchwierigſten
Lagen nicht, und der Andere war den Cevenolen freundlich, ver:
gaß feinen Adel, zeigte feine Sympathie für die begeifterten
Hirten und verhehlte fie nicht, felbjt ald® man ihn im hoben
Alter auf die Galeerenbank von Cette fchmiedete,
Bon Clarenfac fuhren wir nad Caverac, dem Dorfe, in
welchem unfer Thümmel unter arkadiſchen Echäfern ein elyfei-
ſches Leben geführt haben will. Nun, dieſes arkadiſche Dorf ift
heute das unfreundlichſte, roheſte, ſchmutzigſte in Vaunages und
als ſolches im ganzen Lande verrufen. Wir ſahen das Schloß,
das ehemals dem Herrn von Caverac, heute der Commune ge—
hört. Der große Park iſt in Weingärten verwandelt; nur einige
ſteife Tarushecken und eine prachtvolle Cypreſſenwand zeugen von
der entſchwundenen Herrlichkeit. Der proteſtantiſche Tempel, der
Elftes Kapitel. 247
ſich wie die Schule und der Kommunalfaal im Sclofie befindet,
beſitzt eine Kanzel, die eine Geihichte hat. Man fieht es ihr auf
den erjten Blid an, daß fie einmal eine Cheminée gewefen. Ahr
berrliher, jehr bunter Marmor ijt das Gefchent eines Papſtes
an einen Abbe, welcher einft in Caverac gewohnt und mit dem
Marmor für jeine wüthenden Pamphlete gegen die Protejtanten
belohnt worden. Und heute predigt der proteftantiihe Paſtor von
dieſem Marmor herab und Hopft ihn wahrfcheinlich mit beſonders
heiliger Luft. In diefem Schloſſe ſoll auch Baville, der unerbitt:
liche Verfolger der Proteftanten, nad dem Mafjacre von St. Come
übernachtet haben. Die Herren von Caverac haben in früheren
Jahrhunderten bejondere Hoheitsrechte im Lande befefien. Sie
bielten eine Art von Hof, und die Adeligen der Umgegend
tbeilten fich in folhe, welche bei Hoffeierlichfeiten bloß bi3 ans
Gitter, und in jolde, welche in das innere gelafjen wurden,
um fnieebeugend ihre Aufwartung machen zu dürfen. Heute fit
ver Conseil municipal de3 jouveränen Volkes von Caverac in
ven fhönften Salons des feudalen Schloffes. — Ich fah da ein
Grab in einem Privatgarten — Aehnliches jah ich ſchon in Nages
und anderen Fleden des Landes, Das Volk liebt e3 bier, feine
Lieben in der Nähe, in einem Garten am Haufe, auf einem
benachbarten Felde zu beftatten. Das Gefe ift eigentlich dagegen,
aber die Sitte ift ftärfer. Sie rührt aus der Zeit her, da man
ven Proteftanten Fein ehrliches Begräbnik geftatten wollte, da
man ihnen feinen Begräbnißplag anmwies und ihnen, was fie
auch verſchmäht hätten, nicht erlaubte, ihre Todten in katholiſch
geweihten Boden zu bergen. — Ich kann nicht umbin, bier das
Edikt Ludwigs XVI. mitzutbeilen, welches nad langen Kämpfen,
wohlgemerkt im Jahre 1787, erichienen ift und den Proteftanten
eine Art von bürgerlicher Eriftenz zugejtand. Ich überſetze es
aus dem vortrefjlihen Buche Napoleon Peyrats: „Histoire des
Pasteurs du Dösert* und enthalte mich jeder Bemerkung :
„Wir Ludwig XVI, König von Frankreich, überzeugt von
„Der Fruchtloſigkeit Jahrhundert langer Berfolgungen und weichend
248 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
„der öffentlihen Meinung, die euch in Schuß nimmt, haben be=
„I&loflen, viel mehr aus Nothwenvigfeit al3 aus Sympathie, euere
„bürgerliche Erijtenz anzuerkennen; in Folge Deſſen werden von
„nun an euere Weiber und Kinder legitim, euere perjönliche
„Freiheit geachtet, euer Gottesvienft geduldet, euer Handel frei
„Sein. Für diefe königliche Gnade werdet ihr dem Staatsdienſte
„unterworfen und die katholiſche Religion, die einzig herrſchende,
„zu unterhalten verpflichtet fein; aber im Uebrigen bleibet ihr für
„immer von allen Nemtern der Verwaltung, der Rechtöpflege, des
„Unterrichts ausgejchlofien und jedes Mittels zum Einfluffe auf
„ven Staat beraubt. Mit Einem Worte, es wird eud von uns
„micht3 bewilligt, als wa3 das natürliche Recht euch zu verweigern
„nicht erlaubt."
9. Auguft 1851.
Reifen! — Es ift wohl die ſchönſte und unſchuldigſte aller
Leidenschaften, die Reifeluft. — Aber ohne Ziel ift das Reifen
faft fo traurig, wie ein Leben ohne Zwed, ohne Idee. Wenn
nicht die Heimat das legte Ende des Wanderer, der vielen
Mühen ſüßer Lohn ift, ift es ein Irren in der Wüſte, ein
Im⸗Kreiſe-Gehen, ein Streifzug durch eine unendliche Fläche, von
deren Horizonte fein fchattiger Baum, kein gaftliches Licht wintet.
Der Wanderer muß die Ausſicht auf einen heimifchen Herd haben,
um den herum jeine Lieben jiten, die mit Theilnahme den Er:
zählungen von fremden Ländern, von Abenteuern und beftandener
Mühſal horchen. George Sand bejchreibt einmal das füß uns
heimliche Gefühl des Alleinfeing in fremder Ferne, irgendwo in
einem weltvergejienen Thale, in einem labyrinthifchen Gebirge, da
man ſich jagt: „Jetzt bift du zum erften Male allein, feine Seele
weiß dich zu juchen; jet bijt du frei; dir, dir ganz allein und
den Geiſtern in dir überlafjen.” Wenn aber diefes Gefühl ein
alltägliche geworden, dann hat e3 feinen Reiz verloren. — Ich
jhreibe dieß, auf einem Felsjtüde figend, befchattet von einem
wilden Brombeerftraud), der mich gütig gelabt hat, da ich feit
Stunden, vom Wege verirrt, allen Menjhenwohnungen ferne
Elftes Kapitel. 249
bin. Bor mir ein jchmaler Pfad, nur felten von der Ziege und
dem Jäger ohne permis de chasse betreten — er verliert ſich
in verwittertem Geftein — um mich dehnt fich weit und breit eine
table Gebirgsmüfte, aus grauen Bergrüden zuſammengeſtückelt.
Meit hinter mir der freundlihe Gau Vaunages und meit vor
mir die Ketten der Hochcevennen, die vierfah und fünffach,
gezadt und in langgeftredten Linien binziehen. Ein grauer
Schleier zittert in der Mittagsſonne glühend über ihren Häuptern.
Nichts bewegt fi rings, als etwa eine Eivechje, die aus den
faltigen Steinen ſchlüpft, und, durd zwei Hügelreihen von mir
getrennt, die Flügel einer Windmühle, die einförmig und einzeln
auftaudhen und verjehwinden. — Empfinde ich jenes jüß uns
heimliche Gefühl? Mehr als jeder Andere braucht der Wan
derer eine Heimat — der gezwungen Reijende wandert nicht —
er flieht.
10. Auguſt 1851.
Schräge gegenüber von Gaverac, am füblichen Rande und
in der öjtlihen Hälfte des großen Keſſelthales liegt Langlade,
die Heimat des beften Weines von Vaunages. Auf feiner Höhe
ſteht noch heute die Windmühle, an deren Fuß eine der bedeu—
tenditen und ruhmvolliten, obwohl unglüdlihen Schlachten der
Kamifarden begonnen hat. Marſchall Montrevel war abgerufen
und jollte dem Marſchall Billard Pla machen. Cr wollte
Languedoc nicht verlaffen, ohne den Ruhm wenigftend Eines
bedeutenden Sieges mit ſich zu Hofe fortzutragen. Zu diefem
Ende that er alles Mögliche; er ſtreute falſche Gerüchte über feine
Abreife aus, um die Kamifarden, die ihm auflauerten, irre zu
führen, theilte feine Truppen in mehrere Haufen, ließ fie Kreuz.
und Querzüge und maskirte Märjche machen und jammelte fie
endlich alle und mit Einem Male um Baunages herum, wo ſich
eben Cavalier befand und von Dorf zu Dorf zog, um zu predigen.
Gavalier hatte eben die Feltungsmauern von Clarenfac nieder:
gerifien und auf ihren Trümmern gepredigt und propbetifirt.
Bon da zog er in das gegenüberliegende Langlade und ließ feine
250 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Kamijarden, ungefähr 700 Mann Infanterie und 100 Reiter, in
den Weingärten am Fuße des Berges lagern. Müde von ven
ununterbrochenen Streifereien, fielen fie bei herannahenver Nacht
in einen tiefen Schlaf. Auch Cavalier, auf einem Steine figend,
entfchlummerte leife. Nur wenige Reitervorpoften wachten. Da
plöglich wimmelt e3 auf den Höhen hinter ihnen von königlichen
Dragonern, die mit verhängten Zügel und mit den Rufe: tue!
tue! auf das Kamiſardenlager losfprengen. Die Kinder Gottes
fahren aus dem Schlaf und greifen zu den Waffen, und die
hundert Reiter ſchwingen ſich auf ihre Pferde. Mit letteren ftürzt
Cavalier jogleih auf den Feind und führt einen jo gewaltigen
Choc aus, daß dieſer weicht und endlich zu fliehen beginnt.
Der Prophet Catinat verfolgt ihn; aber GCavalier, dem beim
eriten Angriff das Pferd unter dem Leibe weggeſchoſſen worden,
fann ihm nur nachfehen. Er fammelt feine Infanterie, um fie
aus der Gefahr zu retten, die er von allen Enden beraufziehen
ſieht; denn die erften Schüſſe hatten die von allen Seiten auf:
geftellten Truppen gemwedt, und fie ziehen von Rechts und Links
und Gegenüber in gewaltigen Kolonnen heran, das Gro3 unter
Anführung des Marſchalls. Legteres füllt die Ebene; die Höhen
find von den gefammelten Truppen bevedt, und rüdwärt3 fommt
der verfolgende Gatinat, felber verfolgt, au den Ebenen von
Vergez zurüd, wo er das Regiment Charleroi getroffen, mit dem
vereinigt fih die gejchlagenen Dragoner gegen ihn ehren. Die
Kamiſarden find eingefchlojien ; die Uebermacht des Feindes un-
geheuer. Nur gegen Nages, welches jenjeit3 des Berges liegt,
jheint ein Entlommen möglid; wenn Gavalier es erreicht, ebe
ihm der Marfchall folgen kann, fchlägt er fich vielleicht durch vie
dort ftehenden Truppen; ein Bauer will ihm noch dazu einen
Hohlweg zeigen, vermittelit deflen er das Dorf gewiß früher
erreicht, al3 der Marfchall. Unglüdjeligerweife folgt ihm Cavalier.
Mar der Bauer ein Verräther? Denn als die Kamifarden am
Ende des Hohlweges ankamen, iſt er von allen Seiten dicht be:
jeßt, und die Kugeln regnen auf fie herab. Gavalier ſtürmt und
Elftes Kapitel. 251
bahnt jich mit unglaublicher Tapferkeit einen Weg mitten durch
ven Feind. Gr ilt num in der Nähe von Nages, troß der Ber:
rätberei oder Dummbeit de3 Bauern ; aber auch diefes Dorf iſt
angefüllt von feindlichen Truppen, die ihm aus allen Gallen,
auf allen Wegen und Pfaden, zwiſchen Gärten und Gehölzen
entgegenjtrömen — der Weg, der zur Ebene führt, ijt von
Neiterei dicht bejegt und wahrſcheinlich auch vom Regiment
Charleroi, das Catinat bis hierher verfolgt hatte. Nur noch vie
Höhe hinter ihm, die er vorhin durch den Hohlmeg umgangen
hatte, it frei. Set will er fie nehmen, um fich dort zu ver:
theidigen, oder von ihr in die Ebene binabzuftürzen. Er wendet
fih ihr zu — da ijt indeſſen ver Marſchall auf ihrer höchſten
Spige angelommen — die Mauern der Weingärten jind alle
befegt — und wie Mauern ſtehen von allen Seiten die könig—
lihen Kolonnen, eine hinter der andern,
In diefem fürchterlihen Augenblide ruft Gavalier feinen
Leuten folgende Worte zu: Kinder, wir find gefangen und lebendig
gerädert, wenn e3 uns an Muth fehlt. Es bleibt uns nur Ein
Mittel: wir müſſen uns Bahn brechen und diefen Leuten auf
ven Leib rüden. Folget mir und haltet feit zufammen !
Nach diefer Anrede beginnt der verzweifeltſte, verbiſſenſte,
bartnädigfte Kampf, Wüthend ftürzen ſich die Kamiſarden auf
die Feinde; nicht mehr mit dem Yeuerrohr, man fchlägt ſich mit
vem Bajonett in der Hand; auch diefes wird fortgeworfen, und
wie in der Schlacht bei Cannä umſchlingt man fich mit den Armen,
faßt man fih an den Köpfen, an den Haaren und Händen;
Zähne find die beliebteften Waffen. Die Feinde dringen immer
mächtiger, mafjenhafter vor, die Kamifarden verlieren fich einzeln
in den Wellen und find zerjtreut. Nur mit der größten Mühe
reißt fie Cavalier von ihren Opfern los und fammelt fie wieder
zu Scaaren,
Der Weg von Nages in die Ebene, die ſich gegen Calviſſon
hin erftredt, ift von dem Heinen Fluſſe Rosny durchſchnitten,
der, von Caverac kommend, feine ärmlichen Wellen dem Bidourle
252 Tagebud aus Languedoc und Provence.
zuführt, wenn er nicht in der Sommerhige ſchon auf halbem
Wege gänzlich verdampft ift. Die Straße von Sommieres nach
Nimes führt mittelft einer Brüde, eine Heine BVierteljtunde von
Nages, über diefen Bad. Die Brüde mußte Cavalier pafliren,
wenn er die Ebene von Galviffon und den Weg ins Freie ge:
winnen wollte. Die Zeit drängte, denn die Sonne war dem
Sinfen nahe. Dorthin wendete er fich mit feiner kleinen, wieder:
gefammelten Schaar und führt gegen die auf der Brüde aufge:
ftellten Dragoner jo gewaltige Choc aus, dab nah und nad)
einzelne Haufen pafliren können. Auf diefe Weiſe aber bleibt er
felbft mit einem nur jehr Kleinen Peloton allein und abgeſchnitten
zurüd; denn die große Anzahl der Dragoner jammelt fi) nad
jedem Choc auf3 Neue und ftopft die Brüde immer wieder. Ein
rührender und bhelvdenmüthiger Zug, den Gavalier in feinen
Memoiren felbit erzählt, rettet ihn aus diefer mißlichen Lage. —
Unter feinen Lieutenant3 befand ſich auch fein zehnjähriger
Bruder, der fi jchon in mehreren Gefechten dur Helvdenmuth
und durch aufopfernde Liebe zu feinem brüderlichen Feldherrn
ausgezeichnet hatte. Er ritt einen Kleinen Camarguer Hengit und
trug einen Eleinen Jagdſtutzen, ein kurzes Schwert und im
Gürtel ein Paar Miniaturpiftolen ; Alles in Harmonie mit feiner
Heinen Gejtalt. Für diefen Tag, den er blutig heraufziehen ge-
jehen, hatte er jich noch beſonders „wie zu einem Feſte“ aufgepugt,
die Hemdärmel weit über den Ellenbogen zurüdgefhlagen und
um die Arme hochrothe Schleifen gemunden. So jprengte er, ven
Zügel auf den Hals feines Schladhtrofjes gelegt, die Piſtole in
der einen, das Heine Schwert in der andern Hand, überall ins
dichtejte Kampfgewühl und, da Piſtole und Schwert nicht meit
reichten, dem Feinde, den er fich auserſehen, immer auf den Leib.
Bei dem Sturme auf die Rosnybrüde war er einer der Eriten,
der die Feinde durchbrach und fie paflirte. Da er aber jah, wie
Diejenigen, die mit ihm herübergelommen waren, und mit ihnen
Catinat und Ravanel, das Weite fuchten, ohne den Uebergang
der Zurüdgebliebenen weiter zu befördern oder fih um ben
Elftes Kapitel. 253
abgeichnittenen Gavalier zu befümmern, warf er feinen Hengft quer
über die Straße, ſchnitt fo den Fliehenden den Weg ab, und die
Piftole emporhebend rief er ihnen entgegen: „Kinder Gottes! wo
eilet ihr hin? befegt die Ufer des Baches, greifet den Feind an!
dedet den Rüdzug meines Bruders!" — Die Fliehenden bleiben
ſtehen, thun, wie jener befiehlt, und Gavalier ift gerettet. In
guter Ordnung zieht er fich über das coupirte Terrain von Gal:
viſſon in die Schluchten gegenüber zurüd — immer verfolgt,
aber immer noch fämpfend, bi3 er fih mit Hülfe der im Süden
fchnell heranbrechenden Naht in den Gehölzen verliert und fo
bald den Bliden des Feindes gänzlich entjchwindet.
Dieß ift der blutige Tag des 16. April 1704, einer der un:
glüdlichiten und ruhmvolliten für die Kamiſarden. Der Kampf
gegen einen mehr als ſechsfach überlegenen Feind hat von Mor:
gens zwei Uhr bis in die Nacht gedauert, und das Schlachtfeld
gewann in feinem Verlaufe eine Ausdehnung von mehr als zwei
Stunden. Jeder Fuß breit Boden mußte aufs Blutigfte erfochten
werden. Man weiß nicht, ſoll man mehr die Hartnädigkeit, den
Muth, die Ausdauer, die Todesveradhtung der Kamifarden oder
die Kaltblütigkeit, den ficheren Blid ihres Führer8 bewundern,
der mitten unter unzähligen Hinterhalten und Fallen, von allen
Seiten und immer neu umftellt, ftet3 da3 im Augenblide ficherfte
Mittel zur Rettung, den im Momente einzig möglichen Ausweg
eripähte? Als einige Wochen darauf Billard das Schlachtfeld
befichtigte und fi den Verlauf des Kampfes erzählen lieb, rief
diefer vielleicht bedeutendfte Feldherr Ludwigs XIV., dieſer in
der That kompetente Richter, voll VBerwunderung aus: Wahrlich,
das ift Cäfars würdig ! — Und in feinen Memoiren wiederholt
er noch: Cavalier benahm fih an jenem Tage auf eine Weife,
die alle Welt in Erftaunen jeßen muß. Ein homme de rien,
ohne Erfahrung in der Kriegstunft, der fich in den ſchwierigſten
und delifateften Lagen jo benimmt, wie e3 ein großer Feldherr
gethan hätte!
Die großen Heldenmuth auch Cavalier in der Schlacht bei
254 Tagebuch aus Yanguedoc und Provence.
Nages bewährt haben mag, jie jcheint doc der Anfang feines
inneren Verfalle3 geweſen zu jein. Kurze Zeit nad) diefer Nieder-
lage beginnt er jeine Unterhandlungen mit Billar®, während alle
jeine Kampfgenoſſen nod den ungeſchwächten Muth bewahren.
Gr hatte die Uebermacht kennen gelernt und beginnt die reguläre
Kriegskunſt, die Kombination, zu rejpeltiren, den ungeregelten
Muth, den Kampf auf eigene Fauſt, die Geltung der Perſönlich—
feit zu verachten. Al Prophet hat er feine Eriegeriiche Laufbahn
in den Gevennen begonnen; er bejchließt fie als Solvat. An die
Stelle der Begeifterung ift die Berehnung, an die Stelle der
Aufopferungsluft für eine heilige Sade ift eitle Ruhmſucht ge
treten, an die Stelle des Prieſterthums gedantenlojer militärifcher
Ehrgeiz. Einer regulären Armee anzugehören, in ihr einen hohen
Rang einzunehmen, jeheint ihm das höchſte Ziel aller Wünſche.
Nicht mehr wofür, jondern ob er ſich überhaupt fchlagen werde,
ijt noch bei ihm die Frage. In dem Traftate, den er mit Villars
abichließt, fteht der Artikel, der ihm ein Regiment, eine Oberjten-
ftelle und Schladhtfelver in Spanien und Portugal verfpricht,
obenan. Er ift bereit, fih für Ludwig XIV., den Verfolger
ſeines Glauben und feiner Landsleute, gegen England, das
beißt gegen feinen bisherigen Bundesgenofjen, zu ſchlagen. Sit
das vielleicht franzöfiicher Patriotismus? Keineswegs! Denn
als jener Traktat nicht in Szene gejegt werden fann, geht er in
jarbinifch:engliihe Dienfte und kämpft auf denjelben Schlacht:
feldern gegen Ludwig, auf denen er deſſen Fahnen hatte folgen
wollen. Er war zum Condottiere geworden und jtirbt am Ende
als militäriſcher Gouverneur der engliihen Inſel Wight.
Nicht umhin kann ich, hier des Zufallſpieles zu erwähnen,
das ich aus Napoleon Peyrats Buch kennen lerne; daß nämlich
Cavalier durch feine Heirath mit dem ſchauerlichen Jeſuiten Pere
Lachaiſe, dem Beichtvater Ludwigs XIV. und fanatiſchen Feinde
der Kamiſarden, und mit Voltaire verwandt worden iſt. — In
Chelſea, das damals ein einſames Dorf, heute eine Vorſtadt
Londons bildet, zeigte man mir die Gaſſe, in welcher Cavalier
Elſtes Kapitel. 255
die legten Jahre jeines Eriles verlebte. Diefelbe Gafje hat no
andere große Verbannte Frankreichs gefeben: den edlen Labourlie,
den Katholiten, der aus dem Gevennenaufruhr das machen wollte,
was jein fpäterer Nachfolger und Nachbar in verjelben Gafle,
Mirabeau, aus der Berfammlung der Notabeln gemacht hatte:
feine proteftantifche, Feine Eatholifche, jondern eine die Menjchheit
ergreifende, joziale Revolution. Heute ijt dieſes Dorf der fran-
zöſiſchen DVerbannten der jtille Aufenthaltsort englifcher, ver
Gejellihaft müder Berühmtheiten. Dort wohnt Thomas Moore,
der Sänger der irijhen Leiden, und Thomas Garlyle, ver
Geſchichtsſchreiber der franzöfiihen Revolution und Bewunderer
jeines früheren Nachbarn Mivabeau. „Der alle Formeln ver:
ihludt hat,” Schidjal! Wind! Menfhen, Staub und Blüthen !
Wie wirbelt Alles durcheinander, voneinander und zufammen —
aus allen Zeiten, an allen Orten und zulegt macht Alles nur
Eines aus! — Und wie ich hier an die Kamifarden denke, an
Rad und Galgen, die einit auf allen dieſen Bergen prangten,
an die Scheiterhaufen, die unmeit von bier, in Nimes und
Montpellier, rauchten, da jchon Voltaire lebte, an die Gaſſe vor
meinem Haufe, in der ſich vor faum 35 Jahren noch die Pro—
tejtanten gegen die frommen Sendlinge der Kongregationen ver-
theidigen mußten, mit Gewehren, die jie fchnell aus der Erde
iharrten — und wie ich mich wieder an den Sänger der irijchen
Leiden erinnere, rufe ih aus: Was der Katholizismus am Pro:
teſtantismus im füdlichen Frankreich verbrodhen — e3 findet nicht
jeine3 Gleichen, wenn nit in Tem, was die Proteſtanten an
den Katholiken Irlands gethan.
10. Auguſt 1851.
Heute, Sonntag, wohnte ic dem proteftantifchen Gottes:
dienfte im biefigen Tempel bei. Beide, Gottesdienit und Tempel,
find von höchſter Einfachheit. Letzterer ift ein längliches, gewölbtes,
von Galerien umgebenes Gebäude, mit einer jäulengetragenen
Vorhalle. Im Innern fein Bild, fein Zeichen, nicht einmal ein
Kruzifir — der Thüre gegenüber die hölzerne Kanzel, vor ihr
%
256 Tagebuch au3 Languedoc und Provence,
in Reihen aufgeftellte Strohſeſſel. Der Gotte&dienit beitand aus
einer Predigt, in welcher viel von Gott, wenig von Chriftus
die Rede war; die „Grace,“ welche den Hauptinhalt ausmachte,
wurde nicht calviniſtiſch troftlos, jondern als Liebe Gottes zu
den Menfchen dargeftellt. Ein anderer Vorzug der Predigt war
ihre Kürze. Dann murde vom Prediger ein Gebet für die
Nepublif verlefen, worauf die Abjingung eines Pſalmes folgte.
Die Palmen der Proteftanten Frankreichs find ihrer Geſchichte
und ihrer Stammväter wegen interejlant. Ihr Compofiteur ift
Goudimel, der ſchon unter Franz I. lebte und nad der Bar-
tbolomäusnacht in Lyon getödtet wurde. Die Ueberjeger oder
Dichter der Palmen find Clemens Marot und Theodor de Bäze.
Die Worte haben ſich allerding3 modernifirt, aber die Kompo—
fition ift diefelbe geblieben; viefelben ernten, einfach erhabenen
Laute, wie fie unter ven Salven der Bartholomäusmörder und
fpäter in der Wüſte der Cevennen ertönten. Auffallend war e3
mir, daß einzelne Männer während des ganzen Gottesdienftes
den Hut auf dem Kopfe behielten; freilich liebt e8 der Südfran-
zoje ebenfo wenig wie der Spanier, fein jtolze8 Haupt zu ent—
blößen, aber in ver Kirche muß es doch fonderbar erjcheinen.
Weniger jonderbar, vielmehr natürlich erfchien mir das fonjtige
ungenirte Betragen der ganzen Gemeinde, das fich mit einer
ftillen, ungeheuchelten Andacht ganz gut vertrug. Obenan, der
Kanzel ganz nahe, jaßen die Mitglieder des Konfiftoriums; denn
jede proteftantifche Gemeinde, die eine Kirche befitt, hat auch ihr
Konfiftorium, das, aus Laien, beftehend, vollkommen frei, feine
Autorität über fich erkennt, den Paſtor nah Gutdünken wählt
und die Kirchenangelegenheiten verwaltet.
An der Verfafjung der protejtantifchen Kirche im x füblichen
Frankreich wäre wenig oder nicht3 zu tadeln. Sie ift frei und
bietet ihren Gliedern alle Mittel, die Geiftlichkeit vor Verpfaffung
zu bewahren. Aber man madt von diefen Mitteln feinen Ge:
brauch, dazu fehlt es — es fei offen herausgejagt — fomohl
bei Laien wie bei Geiftlihen an der nothwendigen Bildung.
Elftes Kapitel. 257
Das ganze Leben des franzöfiihen Proteftantismus ift in
Stagnation gerathen und Außert fih höchſtens in einem fleinen,
nergelnden, gehäfligen Antagonismus gegen die römische Kirche.
Bon einem Streben nad innerer Ausbildung, nach Erweiterung
und Fortfchritt ift nirgends die Mede, wie man es doch vom
Proteftantismus in unmittelbarer Nachbarſchaft der feindlichen
Kirche; wie man e3 von einer Minorität, die trog aller” Freiheit
und Gleichheit unterdrückt und zurüdgefegt ift und jegt mehr als
jeit lange, und wie man e3 endlich nad geſchichtlichen Ante—
zedentien erwarten follte. Die Laien find, wie alles Volk Süd:
frankreichs, wenig vom Lichte erhellt, und die Paſtoren find es
verbältnißmäßig (einige Ausnahmen ungerechnet) noch weniger.
Die Legteren, in der Trägheit der Ignoranz, verjchanzen ſich in
alten Formen und Worten, die fie, um ihre Verfchanzung, mie
fie glauben, dauerhaft zu machen, mehr und mehr. erſtarren
lafjen. Alles friſche Leben wird fo fern als möglich gehalten, und
die jungen Leute, die, meiſt aus Deutſchland, in neuerer Zeit
manchmal mit neuen Gedanken, mit Fortſchrittsverſuchen heran-
rüden, jehen bald ihre Ohnmacht dem überlegenen und ver:
Ihanzten Feinde gegenüber ein, ergeben fih in das Unver:
meidlidhe und heulen mit den Wölfen, wenn fie nicht den Beruf
gänzlich verlafler. Vor Kurzem erſt, um ein Beifpiel für viele
anzuführen, mweigerten ſich die Paftoren eines ganzen Kantons,
der Konfefration eines jungen Kollegen beizumohnen, weil er in
feiner Theſe behauptet hatte, die heilige Schrift fei wohl ihrem
Inhalte, aber nicht ganz der Form nad vom heiligen Geifte
infpirirt. — Allgemeines Entjegen ergriff die frommen Serren
über das unfelige Gift, welches die jungen Leute aus Deutſch—
land herüberbringen, denn Herr Vignié, jener junge Kandidat,
bat ein halbes Jahr in Deutfhland ftudirt.
Aber die Unwiſſenheit ift nicht die einzige Urſache des Ver—
falle3 der franzöfifchen proteitantifchen Kirche; er hat tiefere und
verdammenswerthere Gründe, und unter dieſen nenne ich nur,
da ih einmal im Ausplaudern bin, die herrſchende Intrigue.
Morig Hartmann, Werke. II. 17
258 Tagebud au Languedoc und Provence.
Nach der franzöjiichen Revolution that ſich, wie in allen Sphären,
auch hier ein regeres Leben fund, welches dem erjhlafften Körper
Grfriihung und Verjüngung verſprach. Das jchredte das Fromme
England, und es warf fich mit feinem plumpen Eifer und feinen
diden Geldſäcken darüber her, und mit feinem gottjeligen Gelve
ihuf es die Methodiften; Genf hingegen ſchuf, ebenfall3 mit
Geld, die Pjeudo-Rationaliften, welche wenigitens ebenjo anti-
philoſophiſch und, der abfichtlihen Unmifjenheit ver Methopiften
gegenüber, unabjichtlih unmiflend find. Beide Parteien be-
fämpfen fich gegenfeitig mit der höchſten Erbitterung, fchelten
einander fanatijh und ungläubig, und da bier nicht Gedanke
gegen Gedanke, jondern Intrigue gegen Intrigue, Eigennuß
gegen Eigennug kämpft, gehen alle edleren Anterefjen darüber
zu Grunde. Der Paſtor, der nicht Partei ergreift und jich nicht
von einer. der beiden Seiten bezahlen läßt (denn die Zahlungen
gehen noch heute fort, und die von englifcher Seite verdienten
e3 zuerit, die Aufmerkjamleit des aufrichtigen Proteftanten auf
jich zu ziehen), wird weggeſchoben und bringt e3 nie zu irgend
welcher Bedeutung. Die Revue de Theologie in Straßburg
macht gegen dieje Parteien eine wohlgemeinte, aber vergebliche
DOppofition. Die Gefhichte ihres Herausgebers iſt für die Genfer
Partei harakteriftiih. Er wurde nur darum jeiner Stelle ala
Profeffor verluftig, mweil er fo verderbt war, Neanders, des
fürchterlihen Rationalijten, Meinung über die Bekehrung Sauli
nicht al3 die feine hinzuftellen, jondern bloß al3 die Meinung
eine berühmten Gottesgelehrten zu citiren.
Wie günftig geftimmt und wie durch die heldenmüthige
Gefhihte und das lange Martyrium voreingenommen für die
Protejtanten man immer in diefe Gegenden fommen möge, wie
jehr man fih ihnen bei ihrem Republifanismus nahe fühle —
fieht man diefe Dinge genauer, fann man doch nicht umhin, den
Kopf zu ſchütteln. Erſt nad langem Kampfe jchreibe ich dieje
Andeutungen nieder, nachdem ih, durch Monate und mancdherlei
Umftände begünftigt, Berfonen und Zuftände in der Nähe
Elftes Kapitel. 259
betrachtet habe. Allerdings muß ich hinzufügen, daß der pro-
teftantijche Klerus vom Fatholiihen diefes Landes an Jgnoranz
babylonijh überragt wird. Ich ſpreche nur von der Ignoranz
dieſes Lepteren; feine übrigen Eigenſchaften find diefelben wie
überall und befannt.
Und da ich einmal von Theologie jprehe, darf ich wohl
auch eines Klingelbeutel3 erwähnen. Einer der merkwürdigſten
jeinem Inhalte nach ift wohl nad jedem Sonntagsgottesdienfte
der von Calviffon. Der Paſtor erlaubte mir, ihn zu durchwühlen
und jo viele Münzen, als ich nur wollte, auszutaufhen. Da
fand ich denn unter andern beſonders römische und rufjische. —
Ya, römische und rufliiche, wie jonderbar das auch Elingen mag.
So berühren jih Zeiten und Völker, Viele römiſche Münzen,
wie ih ſchon oft erwähnt, Furfiren bier unter den Bauern als
Gouftüde, und man liebt e3, fie in ven Klingelbeutel zu werfen,
da man in etwas entlegeneren Gegenden, wo man an ihren
Anblid weniger gewöhnt ift, oft zaudert, fie al3 Sous anzu:
nehmen. Die Kirche aber, denkt der Bauer, hat einen guten
Magen. — Die rufliihen Kopeken find im Süden nod aus der
Zeit der Invafion fehr häufig. — Ich fand zwei römische „Sous“
— der eine aus der Zeit des Antoninus, mit wohlerhaltenem
Gepräge des Kopfes und der Inſchrift. Beides war auf der
anderen bedeutend zerjtört, die Inſchrift unlesbar. Ich rathe
den Numismatifern des Nordens, fih mit den Pfarrern des
Südens in Verbindung zu ſetzen.
11. Auguſt 1851.
Geftern machte ich noch einen Spaziergang nad Nages, um
das berühmte Schladhtfelv noch einmal in Augenjchein zu nehmen,
und ich ſah, daß e3 gut war! Auf dem Wege begegnete ich vielen
fonntäglich gepugten Bauern, die mit ihren Familien den Abend
auf ihren Feldern, die Gärten gleichen, zubringen und Früchte
jammeln. Sie zeigten mir mehrere Aeder, die als Gräber der
Gefallenen bezeichnet werden und in denen man no in unferen
260 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Tagen oft Menſchenknochen findet. Diefe Felder zeigen deutlich
den Weg an, den Gavalier auf feinem NRüdzuge genommen.
Vom Ballon des Pfarrhaufes aus überblidt man die Hälfte des
Schladtfeldes, beute ein blühender Garten, der in vem Augen:
blide, da ich ihn gefehen, in Abendgluth und in den holdſeligſten
Frieden getaucht war. — Diejer Beſuch erinnerte mich an eine
andere, aber fiegreihe Schlacht, die Cavalier im Jahre 1703,
am 13. November, daſelbſt geſchlagen. Er war mit nur wenigen
bewaffneten Kamiſarden in der friedlichſten Abjicht von der Welt
hierher gefommen. Er wollte nur predigen und die Kinder Gottes
von Nages, die er auf dem Hügel hinter dem Dorfe verfammelte
und zu denen noch andere Kinder Gotte3 aus der Umgegend
berbeigeftrömt waren, durch fein begeiftertes Wort zur Ausdauer
ermutbigen. Wirklich hatte er fchon zu predigen angefangen, als
er eine gewaltige Heermacht, Fußvolk und Neiter, unter An:
führung des ſehr tapfern Firmacon, heranftürmen fieht. Cavalier
ift der Erjte, der dem Feinde entgegeneilt, um feine Stärke zu
erfennen. Kaum bat er fi aber auf eine gewille Entfernung
von feinen Leuten fortgewagt, al3 aus einem von Dlivenbäumen
bevedten Hohlwege ein Kornett mit zwei Dragonern hervor:
jprengt. „Du bijt Cavalier,“ ruft der Kornett, „ich fenne did) !
Du entrinnst nicht, jo ergib dih! Du ſollſt gutes Quartier
haben !" — „ch will aber nicht !” antwortet Cavalier und fchießt
mit feinem Gewehre den armen Kornett nieder. — Einer der
Dragoner hat zugleih auf Gavalier angelegt, aber gefehlt.
Gavalier ift gejhidter, reift nach dem eriten Schuß die beiden
Pijtolen aus dem Gürtel und erlegt den Dragoner, mit der
andern Pijtole verfolgt er den ſchon fliehenvden zweiten Dragoner
und läßt nicht ab, bis er aud) den vom Pferde geſchoſſen. Dann
erjt fehrt er zu den Seinen zurüd. Die wenigen bewaffneten
Kamifarden haben fih indeflen hinter den Gartenmauern vor
den unbemwaffneten in Schlachtordnung geitellt und beginnen bald,
von Dämmen, Mauern und Bäumen gefhüst, eine mörderiſche
Füfillade auf den anftürmenden Feind. Aber diefe Ordnung
Elftes Kapitel. 261
dauert nicht lange. Die Weiber können dem Kampfe nicht fo
ruhig vom Hintertreffen aus zufehen. Sie durchbrechen die
Reihen der bewaffneten und unbemwaffneten Männer, fpringen
auf die Mauern und lafjen mit Gejchrei einen ungeheuern
Steinregen auf die Dragoner niederfchmettern. Aber auch damit
noch begnügen fie fich nicht. Sie ftürzen fih von den Mauern
hinab und dringen in die Gehege, in denen fich der erfchrodene
Feind feitzuftellen jucht. Ihnen nad) dringen die Männer, dem
Gefchrei, dem Steinregen der Weiber Gewehrbonner und Kugel:
regen nahjendend. An der Spite der Weiber fteht ein junges
Mädchen, eine Brophetin, Louiſe Guignon, auch Lucretia, die
Vivaraiferin genannt. Mit dem Rufe: Hoch das Schwert Gideons!
Hoch das Schwert des Emwigen! wirft fie ſich ins dichtefte Gedräng
des Feindes. Gie hat das Schwert eines gefallenen Reiters mit
beiven Händen ergriffen und tödtet, was ihr begegnet. Die
Weiber ahmen ihr Beifpiel nad, die Männer folgen den Weibern.
Aus einem Gehege nad) dem andern wird der Feind getrieben,
noch bevor er ſich recht aufgeltellt. Bevor noch der Befehl zum
Angriff gegeben, ift er vom Steinregen, vom heftigen Andrang,
vom Gejchrei der Weiber, vom Geſang der Pjalmen aus ver
Faſſung gebracht; er zieht ſich zurüd; er flieht endlich, aus
taujend Wunden blutend, bis er ſich hinter Bizac wieder fammelt,
um von Galvifjon aus Berftärfung an ſich zu ziehen. Nach
Stunden fehrt er nad) Nages zurüd, um feine Schmad zu rächen.
Aber längſt hat Cavalier feine Predigt beendigt, längſt ijt er
mit den Rindern Gotted aus der Gegend verſchwunden.
Bon Nages wanderte ich nad) dem kaum eine halbe Stunde
jüplich gelegenen Baifliere, der legten Gränze der Vaunages,
des Kleinen Kanaan der Kamiſarden. Bejcheiden liegt das ſchöne
Dorf am Fuße eines bedeutenden Hügel3, von welchem herab
ein noch heute mit tüchtigen Mauern und Thürmen prangendes
Schloß das Dorf und die Gegend beherrſcht und in den etwas
einförmigen Anblid viefes Winkels romantiihe Abwechslung
bringt. Die Revolution brachte es in bürgerlichen Beſitz. Einft
262 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
gehörte es dem in ven Religionskriegen verrufenen Baron St. Come.
Er mar einer ver vielen Abgefallenen; aber noch ſchlechter als
dieje, jpielte er lange Zeit die Rolle des treuen Proteftanten,
um feine Glaubensbrüber für Lohn deſto ficherer zu verrathen.
Erſt nachdem er dur offenen Verrath den föniglihen Truppen,
die er al3 Führer hätte zurüdichlagen follen, Nimes geöffnet und
fich fo feine Rolle für die Zukunft unmöglich gemadt hatte, warf
er den Mantel ver Heuchelei ab und trat als ſchamloſer Agent
Baville'3 und als unbarmherziger Denunziant auf. Vor diefem
Schloſſe erhielt er den definitiven Lohn feiner Denunziatiönchen.
Denn als er es eines Morgens in feiner Karofje, von guter
Escorte bevedt, verließ, um fich nad) Nimes zu begeben, wartete
ihm Gatinat, der Prophet, auf.
Man glaube nicht, daß ich Tendenz oder wohlfeile Polemik
gegen den Adel made, indem ich fo oft auf den Abfall, ven
Ihändlihen Verrath, vie apoftatifche Verfolgungsfuht ver
Languedoc'ſchen Ariftokratie zurückkomme. In den bejten Quellen,
die ich hier beigeben werde, darunter fatholifhe, fann man fi
von der Wahrheit des Gefagten überzeugen, von der Wahrheit,
daß die Adeligen nicht3 von den größten Schändlichkeiten, vom
bitterften Verrath an ihren Glaubensgenofjen abhielt, nachdem
e3 den Anjchein gewonnen hatte, daß auf proteftantifcher Seite
wenig Bortheil zu holen war. Die Vergleihung mit anderen
Zeiten und Ländern, die Nuganwendung und die Moral über:
laſſe ih dann dem Lefer felbft.
Diefes aber find die Quellen, die ich theila zu dem erwähnten
Bwede, theild für jene Lefer aufzeichne, die durch das bereits
Erzählte etwa auf die nähere Kenntniß der Geſchichte der ſüd—
franzöfifchen Protejtanten begierig geworden find. Ich begnüge
mid vor der Hand mit der Hinweifung, bis es mir in jpäteren
und befjeren Zeiten vielleicht gegönnt ift, dem deutſchen Publikum
ein Werk über dieſen Gegenftand, der feine Aufmerkjamfeit jo
jehr verdient, felbjt vorzulegen.
Die „Gefhichte der Proteftanten Franfreih3 von Anfang der
Glftes Kapitel. 263
Reformation bis auf unjere Tage” von ©. de Felice, Profeflor
der Moral in Montauban. Dieſes neuefte Geſchichtswerk der
Proteftanten it gleich ausgezeichnet dur feine Form wie durch
feinen Inhalt. Aus dem durchgängig edlen Style blickt allüberall
Mahrheitsliebe und Treue durch. Trogdem, daß das ſtarke
Volumen dagegen zu Sprechen jcheint, jchließt es doch alles Kleine
und Anekdotiſche aus und befchäftigt ſich nur mit der Hauptfache
und mit Dem, was dieje charafterifirt.
„Geſchichte der Hirten der Wüſte“ feit der Rüdnahme des
Ediktes von Nantes bis auf die franzöfiihe Revolution von
Napoleon Peyrat. 2 Theile. Ein verbienjtliches, mit großem
Fleiße gearbeitete® Buch, dem man nur hier und da den be:
ıhränkten Theologen und darum aud den Parteimann anfieht.
Trotzdem frei von Kleinlichkeit, edel in der Auffafjung und, wo
ih der Theolog vergißt, ein meiter Geſichtskreis. Komiſch ift
Herr Peyrat, wo er auf die Philoſophen des vorigen Jahr:
bundert3 zu ſprechen kommt; er kann ihre großen Verdienſte,
die fie fih, wenn auch nicht um den Proteftantismus, do um
die Proteftanten erworben haben, nicht leugnen — und foll er
fie loben, die Gottlofen? Er ift fehr genirt.
„Geſchichte der reformirten Kirche von Nimes“ von A.Borrel,
Obmohl nur eine Spezialgefchichte, ift fie bei der großen Be:
deutung, die Nimes im Süden hat und immer hatte, doch ge
zwungen, weit auszugreifen, und bietet viel des Lehrreichen und
Leſenswerthen.
„Geſchichte der Unruhen in den Cevennen und des Kamiſarden—
friege3” von Court, Verfaſſer des „franzöſiſchen unparteiiſchen
Patrioten.” Der Verfaſſer dieſes höchft verdienſtvollen Buches it
identifch mit jenem Court, den die franzöfifchen Proteftanten als
Regenerator ihrer Kirche verehren, mit demſelben, ver die leben®-
gefährliche Sendung übernahm, unter Ludwig XV. „in der Wüſte“
das Evangelium zu predigen, der der Brophetenanardie ein Ende
gemacht und in Laufanne das Seminarrftiftete, um die Propheten
dur ordentlihe Paſtoren zu erjegen. Sein Buch iſt gemiß
264 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
vortrefflich zu nennen; es bat alle damals zugänglichen Quellen
erſchöpft, es gibt unendlich viele und nur charalteriſtiſche Details
und bat den Grund zur Gefhichtihreibung über diejen Gegen:
jtand gelegt. Der Verfaſſer hat dazu felbjt noch viele Augen:
zeugen des Kamifarbenkrieges gelannt und den Schauplag bis
ins Kleinfte ſtudirt — aber er ijt parteiifch, nicht eben ſehr wild
parteiiſch — aber doc ein klein wenig pfäffiſch parteiiſch und
zwar nicht gegen die Feinde der Kamifarden, fondern gegen dieſe
jelbft, d. i. gegen die Propheten. Die demokratiſche Theokratie,
die jo lange in den Gevennen geherrſcht, da die Kamifarden fi
aller Baftoren entjchlugen und nicht erjt fragten, ob Dem, der
ihnen predigte und fie begeijterte, die Hand aufgelegt worden,
die jelbft alle im Nothfalle aus dem Stegreife predigten, die
Bibel auglegten und die Pſalmen ohne Vorfänger fangen — die
demokratiſche Theofratie ift dem Hierarhen Court, ohne daß er
es gefteht, ein Heiner Dorn im Auge. Es iſt erflärlih, hat doch
der wohlmeinende Dann fein Leben lang gegen ihre Ueberbleibjel
und die mit ihnen verbundene Anardie, wie er es nannte, zu
fümpfen gehabt.
Die „Memoiren” Cavaliers, die englifch erfchienen find.
Gavalier prahlt ein wenig, ja es ijt noch die Frage, ob er nicht
ein wenig lügt. Eo z. B. ift es noch immer problematifh, ob er
wirklich diefe Unterredung mit Ludwig XIV. gehabt, in ver er
dem König fo ſchöne Lehren gibt und von der er jo ausführlich
erzählt. Nach St. Simon hat fih ihn Ludwig XIV. nur auf der
Treppe von Verſailles zeigen laſſen und ift in der Ferne adhjjel-
zudend an ihm vorübergegangen. Auch hat fih nur von einer
ſolchen entrevue und nicht won einer Unterredung die Tradition
in der Familie erhalten. Ein Herr Cavalier, der legte Abkömm-
ling de3 Haufes, den ich im Jahr 1845 in Paris kennen gelernt,
bat mir wenigftens fo gejagt. — Die Memoiren Cavaliers find
auch fpät und aus dem Gedächtniſſe gefchrieben, ohne alle Hülfs—
mittel von Noten und Aufzeichnungen. Diefe, jcheinbar eine der
bejten, ift doch eine der trüben, wenn aud) interefjanten Quellen.
Elftes Kapitel. 265
„Der wiedererwachte Fanatismus“ (le fanatisme renou-
vel&), vier Bände, zur Zeit und auf dem Schauplaße des Cevennen⸗
frieges jelbft gejchrieben. Der Verfaſſer Loupreleuil erzählt
gut und einfach, was er gefehen und gehört, zwar nicht immer
mit viel Kritif, aber ftet3 in der beiten Abficht, die Wahrheit zu
jagen. Er iſt fatholifcher Prieſter und ganz katholifcher Prieiter,
aber ohne blinden Fanatismus. Menjchlih und mitleidig läßt
er ein Herz für die Leiden der Untervrüdten jehen und fühlt
manchmal Bewunderung für ihren Heldenmuth.
Ganz anders ift Flechier, Biſchof von Nimes. Seine „aus:
gewählten Briefe” ftellen ihn ganz jo dar, wie die Hiftorifer.
Fanatiſch, verfolgungsjüdhtig, jefuitiich geiftreih, biegfam und
ichmiegjam dem Hofe und den Großen gegenüber, graufam gegen
die Bejiegten, ſchmeichelnd der noblen Weltlichkeit, iſt er ſelbſt
galant und bel esprit — in der Gefahr ift er feig. Man muß
ihn fennen, um zu willen, mit welchen Feinden es die Kamifarden
zu thun hatten, und daß fie nie und nimmer auf menschliche Be:
handlung rechnen und da3 Schwert einjteden durften.
Gegen dieſes Letztere jcheinen „die Memoiren des Mar:
ihall Villars“ zu ſprechen, fcheinen aber aud nur, denn
bei näherer Einficht erkennt man aus diefen zwar nicht vom
Marſchall felbjt gejchriebenen, doch infpirirten Memoiren, daß
der Huge und faft menjchenfreundliche Billar mit feiner Ver:
jöhnungspolitit am Hofe Ludwigs XIV. allein jtand. Denn die
Reite der Partei Colbert, die Fenelon und Vauban, die Ruinen
von Port Royal fann man doc nicht zum Hofe zählen.
„Die Gejhichte des Fanatismus“ Bruey's. Der Ber:
fajler, als ehemaliger Protejtant und al3 Apoſtat nach der
Rüdnahme des Edikts von Nantes, ift ein viel eifrigerer Feind
der Kamijarden, als jener Priefter von St. Germain — er
übertreibt und verleumdet wohl auch gerne. Doc fchreibt er gut
und bringt als Zeitgenofje und Augenzeuge viel Thatſächliches.
Die mancherlei Widerfprüche in feinem Buche find leicht heraus:
zufinden.
266 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Die Briefe der Frau von Maintenon, dieſer Frau, die
ihledhter it, ald ihr Auf. Gegen intime Freunde wagt fie es,
fih über manden verfaulten Charakter, der in dem Gevennen:
friege eine Rolle gejpielt, offen und wahrhaftig auszuſprechen,
obwohl fie venfelben bei Hofe unterftügt. Man erkennt, wie
wenig bei den Helferähelfern Ludwigs XIV. die Religion, wie
viel ihr eigenes Anterefje zu bedeuten hatte, und daß in den
Cevennen Taufende gefhlachtet wurden, um in Verfailles einen
tleinen Plaß zu behaupten.
Bon hohem Interefje müflen die Memoiren d’Aigalliers fein,
des friedfeligen, vermittelnden Mannes, der zwijchen den Gevennen
und Berfailles hin und her reiste und dem blutigen Kriege durch
Nachgiebigkeit von beiden Seiten ein Ende zu machen fuchte.
Der gute Mann hat feine Memoiren gefchrieben, das ift gewiß,
und darin beide Lager und den Hof nad eigener Anſchauung
geſchildert, ob aber diefe Aufzeihnungen noch bejtehen, das ift
fraglid. Man behauptet, das ſich das Driginalmanuffript in
ver Bibliothek zu Genf befinde. Von anderer Seite wird das
beitritten, oder das in Genf fein follende Manuftript als apokryph
bezeichnet.
me — —
Bwölftes Kapitel.
Bas-Vaunages — Ein vierfarbiges Dorf — Die Quäfer und Methopdiften —
Engliihe Religion, engliſches Geld — Abbe Jean Baptifle Favre's Dbras
Patouèzas — Einiges über Volks- und Patoispoefie im ſüdlichen Frankreich —
Grotten und Schladten der Kamifarden — Eine Nömerbrüde — Wieder ein
Schladtfeld Jean Cavalier's — Cavalier und Roland — Rückkehr nad
Vaunages.
16. Auguſt 1851.
Bon Calviſſon aus erreiht man zu Pferde den ſüdweſtlich
gelegenen Fleden Gongenies in einer halben Stunde. Man muß
Congenies gejehen haben, denn es ijt in biefen Landen wegen
feiner gemifchten Bevölkerung berühmt. Seine 1500—2000 Ein:
wohner theilen fih zu ungefähr gleichen Theilen in Katholiken,
Reformirte, Methodilten und Quäker. Allgemein werden fie
wegen der Eintracht gelobt, die unter ihnen troß diefer Glaubens—
verfchiedenheit herricht. Sieht man aber die Dinge in der Näbe,
jo überzeugt man fich bald, daß es mit diefer evangelifchen Fried:
jeligfeit nicht jo meit ber fei, und zwar find es die frommen
Methodijten, welche Zwietracht und Hader ftiften. Immer Bibel:
fprüche und Pjalmen im Munde, find fie heftige Eiferer, die ven
lieben Nachbar entweder befehren wollen oder die Verachtung
gegen Alle, die der Gnade nicht theilhaft geworden, offen zur
Schau tragen. E3 ijt eben ver Hodhmuth der befonders Frommen,
der fie auszeichnet. Ihr Urfprung, ihre Entitehungsgeihichte
find auch nicht von Fleden frei. Nicht nur, daß fie englifches
Geld zuerit ins Leben gerufen, engliihe, evangeliſche Klugheit
bat fie au organifirt. Vor Jahren fam ein Millionär, einer
268 Tagebuch auß Languedoc und Provence.
von denen, wie wir fie auch in Deutjchland fennen, nad
Congenies, gewann durd Zureden, fogenannte Unterftüßungen,
eine Anzahl Einwohner für fih und gemwöhnte jie nah und nach,
den proteftantifchen Tempel, feine Geiftlihen und die früheren
Glaubensübungen zu vernadläfligen und zu verachten. Darüber
beunruhigt, fragten ihn bei einer Eynode in Nimes die refor-
mirten Bajtoren nad feinem Zwede, und ob er denn Willens fei,
eine Theilung in die ohnehin ſchwache evangeliihe Kirche zu
bringen. Mr. Curt, der Mifjionär, gab die beruhigendſten Ant—
worten, verjprah, was man nur wollte, und man ließ ihn ge-
währen. Nach einem halben Jahre hatte er gegen feine fümmts
lihen Beriprehungen gehandelt.
Das Quäferthum ift eine eingeborene Pflanze und hat in
jeinem Urfprunge gar nicht mit dem Quäferthume Englands
gemein. Die biefigen jtammen bdireft von den Kamiſarden.
Gewöhnt an die demokratiſche Theokratie der Kinder Gottes und
an die Predigten, die unmittelbar aus dem Munde ver Begeifterten
im Bolfe hervorfamen, wollte fih ein Theil der Protejtanten
feiner Art von Paſtoraten mehr fügen und verharrte außerhalb
der Hierarchie, welde nad langen Bemühungen Court (nicht zu
verwechjeln mit dem obengenannten Miffionär Curt) im vorigen
Jahrhundert organifirte. Die fromme Nafe der engliihen Quäker
batte fie bald ausgemittert, und da beide in dieſem Hauptpunkte
einig waren, war e3 nicht ſchwer, die gänzliche Vereinigung zu
Stande zu bringen und diefe Cevenolen zur Annahme auch der
Aeußerlichkeiten, der Sitten und Formen ver engliſchen Quäker
zu bewegen. Heute fieht es ihnen Niemand an, daß diefe Stillen
im Lande die Ablömmlinge der wilden Kinder Gottes find.
Bor dem Dorfe dehnt fich ein großer, neuer Begräbnißplatz
aus, der in zwei ungleiche Theile getheilt ift. Der kleine gehört
den Katholiken, der größere den Nichtlatholiten gemeinſchaftlich.
Die Quäler haben ihr Bruderhaus, die Methodiften ihre Bet:
ftuben und die Reformirten ihren Tempel. Zu Anfang diejes
Jahrhunderts mußten ſich diefe Legteren noch aus einem Oliven:
Zwölftes Kapitel. 269
baume heraus predigen laffen. Daß die Katbolifen bier auch ihre
Kirche haben, verfteht fih von felbit; fie bauen ſich überall
Kirchen und Kapellen, und wenn nur zwei Katholiken im Dorfe
wohnen follten, wie 3. B. in Nages. In diefem Augenblid er:
richten fie, zum ftillen Aerger der Reformirten, in allen Dörfern,
auf allen Straßen dieſes proteftantifchen Landes Kreuze zu Ehren
des Jubiläums. Wenn aber bei einer Prozeflion in Nimes ein
vorübergehender Proteftant den Hut nicht tief genug abziebt,
entitebt ein Aufruhr.
Ein dreiviertelftündiger Ritt trug mich aus dieſem vierfarbigen
Dorfe über Berg und Thal dem hübſchen Aubais zu, welches
wegen feiner ſchönen Lage in einem in diefem Lande fo jeltenen
Wieſenthale und wegen feines gewaltigen Schlofjes, das in der
Revolution zerftört worden, den Reifenden ſchon zu interefliren
vermag. Mich aber interejlirte es vorzugsweiſe megen eines
verfpäteten Troubadour3, der im vorigen Jahrhunderte bier fein
halbes Leben verbrachte, unbefannt und ohne Anerkennung, als
objfurer Bibliothefar des Marquis d'Aubais. Es ift das der
Abbe Jean Baptifte Favre, der wenigen deutſchen Lefern befannt
jein mag. In Languedoc fennt und liebt ihn nicht nur das ge:
bildete Bublitum; mande feiner geiftvollen Scherze find aud
dem ungebildeten geläufig, und feine Sitje de Cadaroussa bat
den Valets mancher Ferme manchen Winterabend verlürzt. Er
ift im Jahre 1728 in der Nähe von Sommidre3 geboren und
ftarb 1783 als Bibliothefar auf dem Schloſſe Aubais, ohne daß
mehr als einige unbedeutende Kleinigkeiten von ihm gedrudt und
befannt worden wären. Nach den wenigen ihn überlebenven
Nachrichten fpielte er im Schloffe und den benadhbarten Dörfern
als Rathgeber, Freund, Lehrer und befonvers als heiterer und
erheiternder Gejellihafter ein wenig die Rolle des Pfaffen vom
Kahlenberge. Aus feinen Schriften aber, die feit feinem Tode
zu mehreren Malen gefammelt herausgegeben wurben, ! erfennen
| Obras Patouözas de M. Favre. A Mounpey6. 1839. Iſt mohl
die letzte Ausgabe,
270 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
wir in ihm einen fernen Berwandten jener zahlreihen Dichter-
familie oder vielmehr Dynaftie, die dur alle Literaturepochen
Frankreichs durchgeht, für fie bezeichnend ift und der franzöfifchen
Literatur neben allen anderen Literaturen ihren befonderen und
nur ihr eigenthümlichen Stempel aufprüdt: der Familie der
Rabelaig, Mathurin Renier, Lafontaine, Moliere, Beaumardaiz,
Beranger — mit ihren größeren und kleineren Nebenzweigen.
Favre gehört zu diefer Familie, und da wir feinen Werth nicht
übertreiben wollen, wie man das bei neuen Entdedungen gerne
thut, jo wiederholen wir, allerdings al3 ferner Anverwandte.
Er bejigt wie Jene den gemwiljen heiteren Geilt, der vom deutſchen
und engliijhen Humor jo verjchieden it und den die Franzoſen
von heute mit Vorliebe als esprit gaulois bezeihnen. Seine
vier in der Languedoker Mundart gejchriebenen Bände enthalten
unendlich viel Wig, Rabelais’ihe Derbheit und Haren, gefunden
Menjchenverftand, ver ſehr oft, naiv und bündig ausgeſprochen,
bomerifh anmuthet. — Sein befanntejte3 und beliebtejtes Wert
ift das ſchon erwähnte komiſche Heldengedicht „die Belagerung
von Cadarufja,” in welchem fich der Abbé bejonder3 über ven
Klerus, die Mönde und den päpftlichen Legaten in Avignon
luftig macht. — Die Parodieen der Odyſſee und der Aeneide,
in eben fo Elangvollen, gereimten Verſen, mie jene Gedicht,
find nit nur eine Art Meberfegung aus den alten Spraden ins
Languedoc'ſche, fie find zugleich eine Uebertragung vom klaſſiſchen
Boden auf den fühfranzöfifhen, wo fih aus Griechen- und
NRömerzeiten noch jo Vieles von alten Zuftänden, Sitten, Trachten
und Geräthichaften erhalten hat. Die Könige und Helden der
alten Dichter find ihm reihe Bauern, die Königshöfe und Hallen
ſüdfranzöſiſche Meiereien, die Kämpfe und Schlachten ſüdfranzöſiſche
Prügeleien oder noch heutzutage übliche, aus antiker Zeit jtammende
Kampfipiele und Uebungen jeder Art. So auf die heimiſchen
ländlihen Zujtände angewendet, werben jene Gejänge unter der
Feder des geiftwollen Dichters neue Dichtungen, die zugleich treue
Sittenſchilderungen und humoriſtiſche Dorfgefchichten find. Wie
Zwöljtes Kapitel. 271
voll und ſchön das Neuprovenzaliihe des Abbé Favre klingt,
mögen die Ginleitungsverje jeiner Belagerung von Cadaruſſa
beweiſen:
Yeou qu'ay long-tens sus moun vièouloun
Rasclat, e'n despie d’Apoulloun,
A la sourdina & sans malica
La glouera daou famous Ulissa,
Yoy, sus un sujèt pus nouvel,
Embe& l’assistenga daou Ciel,
Infätigable vie ou lounayre,
Vole ensaja moun saoupre fäyre.
Muza, se m’ajudes un paon
La bezougna anara pas maou.
Anen, vieia Nympha, couraje! .
S’ajis pas que d& ſà tapaje.
E quinta fenna n’ayma pas
Lou cariioun & lou tracas?
Neben der Ueberjegung der achten Satire des Horaz und
einiger Epigramme de3 Martial in die Languedofer Mundart,
findet man in den vier Bänden noch zwei Komödien, eine Art
Novelle und ein fleines komiſches Gedicht „die Predigt des Herrn
Sijtre” lou sermoun d& Mossou Sistre — eine fomijche
Darftellung dörflicher Kanzelberedtfamkeit. In dieſen legten
genannten Werfen tritt überall jener Humor hervor, der nicht
unter Thränen lächelt, fondern mit breiten weißen Zähnen lacht;
ein geiltreiher Jean qui rit. In einigen franzöfifhen Gedichten,
die Abbe Favre bei Lebzeiten veröffentlichte, foll er voll:
fommen unbedeutend, Fiſch im Trodnen jein. Das erinnert an
unferen öjterreihijchen Stelzhammer, der ſo prächtige Dialekt:
gedichte und jo platte hochdeutſche ſchreibt. Das Beifpiel Abbe
Favre's follte feinen poetijhen Landsleuten von heute als
Warnung und Fingerzeig dienen, vor welchen Klippen fie fich
zu wahren haben, auf weldem Felde fie Lorbeeren erwerben
können. Der Bäder von Nimes, Herr Reboul, den Lamartine
2972 Tagebud aus Languedoc und Provence.
über Kopf „in den Ruhm geftürzt hat,“ wäre vielleicht ein ganz
leivliher Patoispoet geworden, wenn er den Handwerker hätte
die ihm natürlihe Sprade ſprechen laflen. Herr Neboul aber
ift eitel, fpricht hochfranzöfifch, in gefpreizten Alerandrinern von
Agamemnon und Achilles und bat fi fo zu einem affeltirten,
verfpäteten und oft böchft lächerlichen Nachahmer ver Klaſſiker
gemacht. Aehnliches Fünnte man dem talentvolleren und natür—
liheren Charles Boncy, dem Maurergefellen au Toulon, vor:
werfen. Sein Gedicht über das Nauchen läßt es ahnen, welche
Ihönen Accente, welde tiefen Naturlaute in diefem Dichter
ihlummern; fpräde er, wie e3 ihm um's Herz ift, von ber
Leber weg, mie er ſich mit feinen Kollegen unterhält, fie kämen
in allen feinen Gedichten zum Vorjchein. So aber zwingt er fich,
wie ein gebildeter Barifer zu ſprechen; wie beengt muß fib da
ein ehrlicher Handwerker aus der Provence fühlen. Auch büßt
er den Zwang, den er feiner Muſe angethan ; troß George Sand,
die ihn mit einer herrlichen Vorrede in die Welt eingeführt, trog
Arago und Beranger, die ihn mit gebrudten Briefen unter:
ftügten, ift er fhon nach wenigen Jahren fo viel wie vergefien.
Freilich haben die Volkspoeten und die Volfapoefie im "heutigen
Frankreich auch außer der Sprache einen fchweren Stand. Im
Volke ift die Naivität verfhwunden, welche der Naturpoefie
Seele und Leben gibt, und die fogenannte Kunftpoefie ift noch
niht auf dem Punkte angelangt, wo fie, wie in Deutſchland,
mie bei Goethe, Uhland, Heine, Wilhelm Müller, mit der Eins
fahheit und Natur der Volkspoeſie zufammentrifft — auf jenem
höchſten Punkt der Kunft. Die franzöfifhen Romantifer haben
den Weg dahin erft angebahnt. Dem Volkspoeten fehlt auf der
einen Seite die Naivität, auf der andern die Bildung und der
kritiſche Blid, die zu jenem ſchönen Gipfelpunfte führen. Man
nenne mir nicht Beranger! — Beranger ift ein großer Dichter,
den das Volk allenfall3 verfteht, aber er ift fein Volks-, fein
Naturpoet, |
Die Stellung der füdfranzöfifhen Patoispoeten, wenn ‚wir
%
Zwöljtes Kapitel. 273
fie nicht Voltspoeten nennen wollen, wird noch dur das Ber:
hältniß und den Zuftand ihrer Sprache erſchwert. Am Längjten
fonnten fie fih allerdings in einer Provinz erhalten, wo man
am Längften „die Franzoſen“ fagte, wenn man vom Volfe des
Nordens ſprach, wo man durch Geſchichte, Charalter, verfchiedene
Neligionsauffafiung, felbjt verſchiedene politiihe Inſtitutionen
dem Lande der Langue d’oui am Fernten ftand. Seit der Ne:
volution centralifirt fih Frankreich immer mehr in Eitte, Geſet
und Sprade, und die von Dec liegt in der Agonie, noch ehe die
nordiihe deren ganze Stelle beim Volke auszufüllen vermag.
Schon in einem halben Jahrhunderte vielleicht werden die Lieder,
die bereit3 heute faft nur für den Kirchthurm gefungen werden,
über dem Grabe der Mutter gänzlich verflingen. Die Langue d'oe
bat längjt ihr Loos erfüllt; fie bejteht nur noch aus Nuinen,
die ſich mit franzöfiihen Spradhfragmenten ſtützen, und es könn—
ten größere Patoisdichter al3 Jasmin, der Berüdenmadher aus
Agen, kommen, fie würden fie nicht wieder aufbauen. — In
einem "halben Jahrhunderte wird e3 vielleicht noch einen partiku—
laren Patriotismus geben, der die Schönheiten de3 Südens den
Nordländern im Liede rühmen wird, aber das Lied wird ein
franzöjijches fein, wie das Lied de3 liebenswürdigften Idyllen—
dichterd, des Bretonen Brizeur. Dann wird aud dem Volks:
poeten die franzöſiſche Sprache die natürliche fein. Heute muß
man ihm zurufen: warum zwingft du dich, in einer dir halb:
fremden Sprache zu fingen? — und fingt er in feinem Pateis,
bedauert man das vorausfichtlich kurze Leben feines wahr em:
pfundenen Gejanges.
Das Schloß von Aubais, da8 mich zu folder Abſchweifung
verleitet hat, liegt ungefähr eine PViertelmeile wei von dem
fogenannten Roque d'Aubais, einem kalkigen Felſenpaß, durch
den jich der zu Zeiten wilde Gebirgsjohn, der Vidourle, einen
Durbgang erzwungen bat. Uebrigens braucht e3 nicht einmal
eineö wilden Baches, um einen Feljenrüden, wie fie die hiejigen
Gebirge bilden, zu durchbrechen. Das kalkige Geitein ijt ver:
Morig Hartmann, Werke. II. 18
-
274 Tagebudy aus Languedoc und Provence.
mwittert, die Schichten liegen nur loje über einander, und das
Innere ift meiſt von Grotten und natürlichen Gängen durchhöhlt.
Auch diejer wild ausfebende Vidourlepaß enthält reht3 und links
mehrere Grotten, von denen die größere am Fuße des Felfens
fich befindet, gerade da, wo ihn der Vidourle beipült, fo daß
man nur mit einem Kahn zu ihr gelangen kann. Wahrfcheinlich
war auch fie einmal eine Waffenfammer, ein Getreidemagazin
oder ein Hofpital der Kamiſarden. Wenigſtens hielten fie fich
viel in der Nähe auf, und Gavalier hat auch bier einen Sieg
über die Föniglihen Dragoner errungen, die in zwei Haufen auf
ihn heranfamen, um ihn einzujchließen und defto ficherer zu ver:
derben. Gavalier aber ftellte ihnen Anfangs nur fechzig Rekruten
entgegen, bie feine andere Waffe hatten, als die David’ihe
Schleuder de3 Hirten. Cin Hagel von Steinen regnete auf die
Dragoner nieder und brachte fie in Unordnung. Dann erjt brad;
GCavalier mit feinen ſchwerer Bewaffneten hinter dem Feljen
hervor und erjhlug, mas fih ihm entgegenftellte. In zwei
Haufen war der Feind angeflommen, nad) zwei Seiten hin ergriff
er die Flucht. So viele Pferde wurden erobert, daß Cavalier
feine Neiterei nad diefem Tage bedeutend vergrößern konnte,
In dieſem Kampfe bei dem Felſen von Aubais zeichnete ſich
wieder die junge Prophetin aus, die bei Nages wie eine Deborah
gefämpft hatte. Cavalier zog nad gemonnenem Siege gegen
Congenied, um, wie er immer pflegte, dem Herru zu danfen,
zu predigen, zu prophetifiren, Befeftigungen niederzureißen und
einige Berräther zu richten.
Folgt man dieſem Gebirgsflufe, der vorzugsweife der Kami—
farbenfluß ift, fo führt er durch die Ruinen eines altfranzöjifchen
Parkes plöglich vor einen Neft der alten Nömerwelt. Uniern von
Gallargues erbeben jich aus feiner hier träge ſchleichenden Welle,
rechts und lint3 von Gebüſch bevedt, zwei prächtige Bogen,
Refte einer Nömerbrüde. Sie war ein Theil der großen Straße,
die von Nimes nad Montpellier führte, zum größten Theile noch
heute bejtcht und in der Volksſprache von den vielen römischen
Zwölftes Kapitel. 975
Münzen, die man in ihrem Schutte findet, lou camin de la
moneta beißt. In der Nähe der Brüde will man noch tiefge:
grabene Gleiſe entdeden, die Ueberreſte der Epuren fein follen,
wie fie die Römer auf manden ihrer Straßen angelegt haben.
Die Brüde, aus ſchön behauenen Quadern beftehend, ift außer:
ordentlich zweckmäßig gebaut, um die im Winter und Frühling
wild heranftürmende Woge des Vidourle zu brechen, bevor fie
ſelbſt die Brüde bricht. Die zwei Bogen, welde in der Mitte
des Fluſſes ftehen, waren durch zwei andere mit den beiden Ufern
verbunden. Dieſe aber find verſchwunden. Noch zu Anfang
dieſes Jahrhunderts foll die ganze Brüde geftanden haben, Nur
die Steinbrüjtung hat gefehlt. Aber die Hirten von Lunel, um
die von Gallargues zu hindern, daß fie ihre Schafe auf die
Garrigues oder Weidepläße am meitlihen Ufer treiben, haben
den Bogen auf jener Eeite abgebrodhen. Aug Trog, obwohl
zwecklos, haben nun die Hirten von Gallargues auf ihrer Seite
dafjelbe gethban. Eo find im füplichen Frankreich die ſchönſten
Denkmale römischer Kunft zu Grunde gezangen, und wie zahl:
reih waren fie in diefer von den Römern beſonders geliebten
und begünftigten Provinz, in der dieje nur eine Fortſetzung ihres
Stalien gejehen haben.
Von Gallargues fommen wir auf der Eifenbahn nach Verges,
von wo aus wir wieder die Ebene von Languedoc bis gegen
Aigues Morte3 und das Meer überjehen — jeder Bunft auf
diejer weiten Fläche ift mit einem Siege Gavaliers bezeichnet.
Beſonders um ihretwillen hat er fich feine herrliche Kavalerie
geſchaffen. Wie ein Blitz aus den Wolfen fuhr er aus dem Ge:
birge auf die Ebene nieder, flug, und die Wolfe fchloß ſich
wieder hinter ihm. Der größere Roland, die eigentliche Eeele,
der Geijt jenes großen Aufruhrs, faß in der großen Wolfe;
Gavalier war der Blig von feiner Hand gejchleudert. Auch in
Vergez hat Gavalier mit 80 Reitern einen Sieg gegen mehrere
Kompagnien erfochten.
Bon bier kehren wir nordwärts wieder nad) Calviſſon zurüd
276 Tagebud aus Languedoc und Provence.
und haben jo aud die Bas-Vaunages, das Anhängſel jenes
Kanaans, durhmwandert. Das Thal, das uns nad Calvifjon
führt, iſt offenbar ein ehemaliges Flußbett, das bei Vergez endete,
da e3 dort in das Meer mündete, das ſich heute um die ganze Breite
der Ebene zurüdgezogen hat. Der Fluß kam aus den Vaunages,
welches Thal feiner ganzen Form nad ein See gewejen fein muß.
Die Deffnung zwifhen Calvifjon und Nages zeigt deutlih, daß
er hier durchgebrochen. Die beiden einander gegenüberliegenden
Bergesenden find wie die zwei regelmäßig abfallenden Theile
eines Dammes, zwijchen dem eine wilde Fluth fih den Ausgang
erftürmte. Auf den Abhängen der nördlichen Berge der Baunages
ift e8 auch nicht ſchwer, die ehemaligen und noch lebendigen
Quellen zu entdeden, welche den Eee geſpeist haben.
Dreizehntes Kapitel.
Zwei Briefe an deutfche Redaktionen.
Erſter Brief.
Aus dem Seebade.
An die Redaktion des Deutfhen Mufeums.
Au Graudu Roi, den 3. Auguft 1851.
Leder richtige deutſche Schriftfteller hält e3 bekanntlich für
feine Pflicht, wo er ſich in einem Badeorte befindet, auch fofort
einen Bericht über Leben und Treiben deſſelben an befreundete
Zeitjehriften zu fenden. Auch ich folge diefem Herfommen, indem
ih mich heute der bier fo nothwendigen Eiefta beraube, um
Ihnen aus einem Ceebade zu Schreiben, das vielleicht noch nie
in deutjchen Blättern genannt worden. Au Grau — mo liegt
der Grau? Karl Ritter felbft, glaube ich, wäre nicht im Stande
diefe Frage zu beantworten, ohne daß ihn irgend Jemand deßhalb
tadeln dürfte. Denn der Grau ijt eigentlich ein Nicht3, eine Ein-
bildung ; eine Grille etliher Fifcher; der Boden, auf dem dieſes
Nichts liegt, ijt fein Boden, das Land diejes negativen Bodens
ift kein Land; nichts ijt hier wahr und wirklich und dauernd als
das ſchöne, blaue Mittelländifche Meer!
Da willen Sie denn nun wenigitens die Richtung, in welcher
Sie den Grau zu juchen haben. Aber thun Sie e3 bald — denn
vielleicht fchon über Nacht hat die Fluth den Grau hinweggefpült,
278 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
oder er verfinkt in den Boden, der fein Boden ift. Hat dieſer
verrätberiihe Boden doch ſchon Schönere3 und Größeres ver:
Ihlungen! Hier lag vor Jahrtauſenden Rhoda, das ſüdliche
Vineta, eine Kolonie der Griehen von Nhodus, die ungefähr
gleichzeitig mit den Phozeern aus Marfeille an diefen Küften
landeten. — Sie verſchwand. Im Mittelalter bauten Benedik—
tiner ein prachtoolles Klojter, hoch über dem verfunfenen Nhoda
mit feinen Tempeln und Säulenhallen und ichönen Menfchen ;
und das Klofter und die Benediktiner verihmwanden, und nur
wenn das Waſſer jehr niedrig fteht, ſoll man noch Trümmer der
Klofterthürme erbliden. — Auf dem Damm, welchen die Kunit
aufgeführt, um mitten durh Sumpf und Moor den großen
Kanal, der von Beaucaire berablommt, ficher bis and Meer zu
führen, liegen einige Fijcherhütten und ein Douanenhaug; auf
den äußerſten Spihen ſteht ein beicheidener, aus Quadern auf:
geführter Leuchtthurm. Dieſes Alles zufammengenommen nennt
man den Grau. Wenn ich noch hinzufüge, daß man gewöhnlich
gegen Weiten den Leuchtthurm von Cette, die weingefegnete Küjte
von Frontignan fieht, und daß eben heute, freilich bei jehr durch:
fihtiger Luft, am füplichen Horizonte klar und einladend die
Derge der Balearen auftauchen, fo find Sie hoffentlich voll-
fonımen orientirt.
Im Minter it der Grau gänzlich verlaſſen; höchſtens ein
oder zwei Fiſcher, der Leuchtthurmmwächter, drei Douaniers
machen feine ganze Bevölkerung aus. Der Nordwind, der aus
den Gevennen bläjt, zauſt willfürlih an den Schilfdächern und
gräbt da3 auf dem Damm liegende Wrad noch tiefer in den
Sand. In dieſem Augenblide dagegen ift es bier jo lebhaft wie
nur irgend auf einer Düne. Die guten Mütter aus Nimes und
Montpellier bringen ihre Kinder hierher, um ihnen von den Ur:
wajlern de3 Meeres die Civilifation aus den Gliedern jpülen zu
lafien; die Bajtoren der „Kinder Gottes” aus den Cevennen, die
eben nicht mehr Kamifarden find, fuchen hier ihre Nerpojität
los zu werden, und Sonntags bringt die Barke Schaaren von
Dreizehntes Kapitel. 279
Beſuchern aus den Etädten des Languedoc, die fih an ven
friihen Früchten des Mecres erquiden wollen,
Und ganz ernftlich rathe ich jedem deutſchen Landsmann, der
in diefe Gegenden kommt, jo zu thun wie Jene; er wird ein wun—
derbares Land fennen lernen. Eine Stunde von hier, den Kanal
aufwärts, liegt die todte Stadt Aigues-Mortes mit ihren neunzehn
wobhlerhaltenen Thürmen aus dem 13. Jahrhundert. Sie war
einmal ein großer Kriegshafen, vielbewohnt, gebaut nad dem
Mufter von Damiette, und jah alle Kreuzfahrer, die zur Wieder:
eroberung des heiligen Grabes aus Frankreich zogen, in ihren
Mauern, Jetzt hat fi das Meer von ihr auf mehr als eine
Stunde entfernt, die Fieber nahmen fie in Beſitz und haben die
Menschen fortgetrieben. Ringsumber, meilenweit, im Oſten bis
gegen Arles, dehnt ſich nun das elende, peſthauchende Mittelving
von Land und Meer; nichts als Sumpf, weite Teihe, Wälder
von Schilf, wahre Pampas, ftehen gebliebenes Meerwaſſer, das
in der Nacht leuchtet, hier und da eine einfame Pinie, an den
Sumpfrändern im Geewinde zitternde Tamarisken; in ihrem
Schatten ruht der wilde Büffel oder das weiße, in wilder Freiheit
aufwachſende Camarguerroß, ein Abfömmling der edlen Zucht,
welche die Araber im Lande vergeſſen haben.
Der Grau, wenn auch ftrauche und baumlos, bildet eine
Daje in diefer Wüſte. Die Fieber fangen bier erjt gegen Ende
Auguſt an; dann flüchtet, was zu leben Luft hat. Bis dahin
jedoch lebt man ruhig und begnügt fich mit ereignibleeren Tagen
und ftiller Anfhauung der Natur. Nur einmal des Tages kommt
die ganze einheimische und fremde Bevölkerung in Bewegung,
wenn nämlich die Fiſcherbarken von hoher See zurüdfehren und
auf dem Damm den Neihthum ihres Fangs aus den Neben
werfen. Da ſieht man fo tolles, fonderbare3 und wunderbares
Gethier, wie es nur Pififtratus in Indien gefehen oder Karl
Vogt befchrieben hat. Fiſche jo platt wie ein Zeitungsblatt, tau—
jendarmige Bolypen, Seeſterne, Fiſche mit Menfchenangefichtern,
andere menfchenähnliche, die gleich neben dem Kopf den Magen
280 Tagebudy aus Languedoc und Provence.
haben, Seetrebfe, Mammuths ihrer Gattung. — Wahrhaft ſchön
dagegen find die Gruppen, die fih dabei aus den Fiſchern bilden,
mit ihren langen braunen oder rothen Sachmützen, die auf die
Schultern herabfallen, mit den blutrothben Schärpen und Gürteln
und den geitreiften Jacken; zwifchen ihnen ſchwarzäugige Weiber,
Mädchen und Kinder, an die fie die Beute vertheilen, um fie
Schnell auf ven Markt zu tragen — ein lebendiger Leopold Robert !!
Zuweilen wedt auch ein Ruf die Siefta haltenden Badegäſte;
fie eilen auf ven Damm hinaus, um die Delphine zu fehen, die
in Schaaren auf blauer See vorüberziehen, oft zu Hunderten,
fih dem Lande nähern und wieder fliehen, tänzelnd und fpringend
und Purzelbäume jchlagend. Es geht ein Mythus auf dem
Grau, daß diefe Freunde Arion’3, des Meifterd der Töne, ſich
diejes Fahr häufiger zeigen als jonft, und zwar aus Urfaden.
Denn mit dem Murmeln des Meeres, mit dem Gefange der
Brife tönen dieſes Jahr noch andere Klänge um die Wette, die
Meer und Brije beichämen: e3 find Beethoven’sche Sonaten. Sie
fommen aus einer Fifcherhütte, in welcher unfere Landamännin,
Wilhelmine Claus, die große Künftlerin, wohnt. Diefelbe fam
mit ihrer mütterlichen Freundin Karoline Sabatier hierher, um
Erholung und Kräfte zu fuchen beim berrlihen Meere, nachdem
ein großer Berluft ihr tiefen Schmerz bereitet.
So iſt über dem verjunfenen Rhoda Allee Mythus oder
Idylle. Selten nur, wie profanes Tageslicht durch eine plöglich
geöffnete Thüre aufs Theater, fällt ein politifches grelles Licht
auf den Grau und feine Bewohner. Wer kann den Zeitungen
entfliehen und den Erzählungen der Befucher? So ift man aud
bier noch fanft erfchüttert vom Tode Dllivier'3, des Redakteurs
des Suffrage univerfel in Montpellier. ! Sie werden von diefem
politiichen Duelle gehört haben und von dem traurigen Tode des
Ihönen, jungen, boffnungsvollen Republifanere. Aber melde
Bedeutung diefer Tod für das ſüdliche Frankreich habe, Tann
I Bruder Emile Ollivier’3, des fpäteren Deputirten und nacdhherigen -
napoleonifhen Minifters.
Treizehntes Kapitel. 281
man in der Ferne unmöglich ermeſſen; bald wird Ariftide Olivier
mit dem Glorienihimmer Armand Garrel’3 umgeben und fein
Name eine Fahne jein.
Und die Republitaner bier zu Lande haben fich feit Tange
nad einer Fahne gefehnt ; viele von ihnen bilden ſich ein, fie hier
im Süden würden die Grften fein, die eine Fahne brauden.
Wenn Heinrih V. oder Henri Quatre II. wirflid Muth hat, fo
jagen fie, und irgendwo in Frankreich einen Streich ausführen will,
ſo fann er e3 nirgends beffer al3 an der ſüdlichen Küſte. Languedoc
ijt heutzutage die einzige Vendee in Frankreich. Montpellier ift
legitimiftifh zum Erzeß, die kleineren Städte wie Lunel ahmen
gern die Hauptftadt nah, und in den Dörfern regieren die Curés.
Nur Eines ift verbrießlich dabei; die Schwelle des Nordens, die
Gevennen find von einem abjcheulih republitaniihen Volks—
jtamme bewohnt, und über dieſe Schwelle müßte doch der gute
Heinrih, wenn er in die Burg feiner Väter einziehen wollte.
Und was Ludwig XIV. gegen eine Handvoll Schäfer und Wolle:
främpler mit feinen berühmteften Marfchällen nicht vermochte,
wird ed Heinrich mit einigen verfchimmelten Namen, Titeln und
Rechten vermögen?! Befonders da ihm auch im Rüden, in der
Ebene Languedoc's, Feinde auflauern würden, die Proteftanten
von Marfillargues, Gallargues, die ewig den Thurm von Con:
jtance vor Augen haben, der fie an die gebleichten Gebeine in
jeinem Innern und an die gottjelige Regierung der frommen
Bourbonen erinnert. Marfillargues ijt ein eigenthümlicher Fleden,
„torrumpirt” bis in den innerjten Kern, das heißt dur und
durch republifanifch, trog feines Reichthums. Das kommt daber,
jagte mir ein Legitimiſt aus Montpellier mit unterbrüdtem
Seufzer, daß die Leute Proteftanten und ans Denken gewöhnt
find. Darum ift der Heine Fleden auch im Belagerungszuftand ;
jede Woche kommen einige Kommiffäre dahin, um nad Ber:
ſchwörungen zu fuchen. Das legte Mal fanden fie nur eine Frau,
die ihr neugebornes Kind Ledru:Rollin taufen ließ; fie fonfis:
zirten das Kind und ftellten es umgetauft der Mutter zurüd, die
232 Tagebud aus Languedoc und Provence.
noch zehn Franken Tauffoften zahlen mußte. Aber im Dorfe
beißt der Junge dennod nicht anders als Ledru, und ich ſah
alte Leute an dem Kinde mit abgezogenem’Hute vorübergehen:
Bon jour, eitoyen Ledru!
Aber wen foll die Wunder nehmen, da die Verderbniß ja
fo alt ift in Marfillargues! Vor vierzehn Tagen lernte ich dort
einen Greig kennen, der fi rühmte, von den famöfen Freiwilligen
des Südens zur Zeit der Legislative und einer der Erſten ge:
weſen zu fein, welche die Marjeillaife durch Frankreich folpor:
tirten. Er nannte fie noch immer mit ihrem urjprünglichen
Namen „Les enfants de Ja patrie.* Ein Straßburger Blatt
hatte fie ſammt den Noten nach Marjillargues gebrad,;t, und der
proteftantiiche Vorfänger in der Kirche war der Erite, der fie
entzifferte.
Eine halbe Stunde von Marjillargues liegt Lunel; da find
mir auf einmal in einer ganz anderen Welt. Alles in Lunel ift
Legitimift. ALS Louis Napoleon, gleich gütig gefinnt den Legi—
timiften wie den Nepublifanern, vor Kurzem das Heinrichgfeit
verbot, wie unglüdlih war man in Lunel! Aber fo lange fie
noch den guten Muscat haben, wiſſen fich jelbft die Legitimiften
über ſolche Kalamitäten zu tröften.
Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen über jo geringfügige
Dinge jchreibe wie franzöfifhe Dörfer. Aber die Dörfer find eg,
die im Jahre 52 den Ausſchlag geben werden; nämlid wenn
es nicht fhon vorher ein coup d'état gethan. In Dörfern und
Borftädten ift das eigentliche Leben einer Nation, und gerade das
berüdjichtigt man fo felten. Die Städte find nur die Abftraftion
dieſes Lebens. Korrefpondenzen aus Paris können Sie gedruckte,
lithographirte, gejchriebene genug haben: aber wann findet jich
auch Jemand, der über Zuftände und Stimmungen im Grau
oder aus Marfillargues und Qunel berichtet?
Auf Neuigkeiten über Kunft und Wiſſenſchaft müſſen Sie
dabei freilich verzichten. Das Volk diefer Gegenden, obwohl in
feinen Adern griechifches, arabifches und germanifhes Blut flieht,
Dreizehntes Kapitel. 283
weiß nicht3 von Kunſt und Wifienfchaft; es ift wahrhaft barbarifch
in diefer Beziehung. Die proteftantischen Dörfer find calviniftifch
ausgetrodnet, die katholiſchen ganz in der Gewalt der Pfaffen,
der grauen Echmeitern und freres ignoranlins; Herr von
Falloux Tiebt diejes Land, trog der proteſtantiſchen Miſchung,
ganz bejonderd. Wenn ſich nicht hier und da in einem Duvrier
der alte provenzaliihe Geilt regte, der ihn zu Liedern in der
Volksmundart begeifterte, es gäbe feine Boefie; wenn nit in
dem oder jenem Flecken irgend ein herumziebender deuticher Mus
fifant als Organift figen bliebe, es gäbe feine Mufik bier. In
meiner Nachbarſchaft Tebt ein junger Bauer, deſſen Flöte man
jo mande Nacht mit der provenzaliihen Nachtigall wetteifern
hörte. Aber er hatte die unglüdliche Koee, auch zuweilen des
Eonntags die Bäuerinnen nad feiner Flöte tanzen zu laſſen.
Da trat vor einigen Tagen der Cure in feine Stube, öffnete,
ohne ein Wort zu jagen, den Schrank und zerbrach das jündige
Inſtrument. C'était la derniere flüte du pays, jagte mir
Elagend der alte Vater des Mufifanten. Was das Land an Kunft
und Künſtlern hervorbringt, flüchtet fi unter diefen Umſtänden
jo ſchnell es kann nad) Baris: Paris ift demnach keineswegs bloß
anzuflagen, dab e3 Alles verjchlinge, es rettet auch Vieles, was
in den barbarifchen Provinzen zu Grunde geben würde.
Ein Beweis für die Barbarei des Volkes in Languedoc ift
auch die Art und Weije, wie e3 die Alterthümer behandelt, die
jo oft bei Umgrabungen auf den Feldern gefunden werden. Die
berrlihiten römischen Aichenfrüge, von denen manden Frühling
jo viele gefunden werden, daß ſich ganze Muſeen davon be:
reichern könnten, werden ſogleich zerfchlagen, um in ihrem Bauche
nah Münzen zu ſpähen. Und in der That find diefe Gegenden
für den Münzenfammler fehr ergiebig; die ſeltenſten Münzen
und Medaillen kauft man nah dem Gewicht. Vor Kurzem
wurde bei St. Come eine Kite gefunden, die zwanzigtaufend
Franes Metallmerth hatte. Auf dem fogenannten chemin de
la monnaie, einer Nömerftraße, die fi) von Nimes nah Mont:
284 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
pellier zieht, und die das Volt nad ihrer Ergiebigkeit getauft
bat, findet man jeit Jahrhunderten die feltenften Münzen, und
noch immer ijt der Vorrath nicht erfchöpft, es ift ordentlich, als
märe eine lede Kriegskaſſe von einer tauben Escorte dieſen ganzen
Weg entlang transportirt worden.
Da ih von Barbaren fpredhe, will ih noch eine Sitte er:
wähnen, die hier jeden Frühling einige Menſchenleben koſtet.
Ich meine die Stierfämpfe, die alljährlih im Frühling fat in
jedem Dorfe dem Volke zum Beiten gegeben werben. Sie unter:
Icheiden ji von den fpanifchen Stiergefehten nur dadurch, daß
fie mit weniger Pomp und waffenlos ausgeführt werden. Es
icheint dabei weniger auf Kraft al3 auf Gewandtheit anzulommen.
Der Toreabor padt feinen Feind, einen ungezähmten Stier aus
der Camargue, mit gefreuzten Armen an den Hörnern und ringt
ihn nieder, oder jucht ihn vielmehr durch Schnelligkeit, durch
einen gewaltigen Ruck zu überrafhen und zu betäuben. Ich ſah
ein Kleines, ſchmächtiges Schulmeifterlein mit der Brille auf der
Nafe, der einen Stier nad) dem anderen auf den Nüden legte.
In Lunel dagegen hat ein einziger Stier mehreren Männern die
Bäuche aufgefchligt. In Folge deſſen find die Stierhegen für
diejes Jahr verboten. Doch giebt e3 Leute genug, melde be
haupten, die Stierheten feien nur darum unterfagt worden,
weil fie den Parteien Gelegenheit geben, ſich zu verjammeln, be:
fonder8 aber den Rothen mit ihren rothen Kravatten zu er:
ſcheinen. — Wie jehr übrigens die Bevölkerung an diefem grau:
famen Spiele hängt, beweiſt ein Fall, der fich neulich zugetragen.
Der Präfelt jhidte zwanzig Soldaten nad Aigues:Vives, um
eine Stierhege zu verhindern. Sogleich rüdte die ganze National:
garde des Fleckens bewaffnet und mit geladenen Gemwehren aus
und vertrieb die Abgefandten des Präfelten. In einem anderen
Sleden konnten die Soldaten die Feſtlichkeit nur dadurch ver:
hindern, daß fie die Stiere erfchoflen. — Diefe armen Opfer
einer blutigen Sitte werden der Bevölkerung von den Wittwen
geliefert, die fih aufs Neue verheirathen; fehlt es am einer
Dreizehntes Kapitel. | 285
folhen, fo werden die einzelnen Stiere in der Camargue oder
dem Rhonedelta mit 3—400 Franken bezahlt.
Ich habe, vom Volke diefes Landes fprechend, fo oft die
Worte „Barbarei” und „barbarifch” gebraucht, daß ich es für
meine Pflicht halte, auch noch etwas über feine Vorzüge hinzu:
zufügen. Aeußerliche hat e3 nur in geringem Maße; e3 ift hier
nicht die edle Race von jenfeit3 der Rhone, wo fait nody auf allen
Gefichtern, beſonders den weiblichen, der Stempel griedhifcher
Schönheit ruht. Hier fcheint diefe mit der Kolonie der Rhodier
verfhmunden zu fein, und daß fich die Nefte der Römerſchönheit
im Kontakt mit Celten und Franken leicht barbarifirten, finde
ih begreiflib und natürlid; denn der Nömer hatte nicht die
Schönheit „in ihm ſelbſt.“ An vie dunfeln Augen, die Einem
allenthalben begegnen, gewöhnt man ſich bald, ja man ſehnt fich
nah einem blauen, wie man ſich aus der Hige der biefigen
ſchattenloſen Gegenden in die fanfte Dämmerung eines deutjchen
Malvdes jehnt. — Wie eigenthümlih, daß Einem jenfeit der
Rhone, auf dem griehifchen Boden von Arles, Tarascon, St.
Remy die Hige nicht fo tödtlich erjcheint, und daß man bort
unter hellenifchen Stirnen blauen Augen begegnet! — Aber ich
wollte ja von den Vorzügen und Tugenden des Volfes in
Languedoc ſprechen, und da muß ich den tief eingewurzelten
Unabhängigkeitsfinn rühmen, der es vielleiht vor allen anderen
Stämmen Franfreihs auszeichnet. Der Bauer, der Taglöhner,
der Duvrier, der Reiche und Arme — feiner fennt den geringiten
Unterjchied der Stände, feiner begreift, daß man in einem dient:
lichen Verhältniffe ftehen könne. Herren und Anechte gibt es hier
nit, es gibt nur eine freie Uebereinkunft, eine Verpflichtung
zu gegenfeitigen Leiftungen auf font volllommen gleihem Fuße;
der Bewohner von Languedoc ift vollfommen Rouſſeau'ſcher
Egalitätsmenſch. — Und dabei doch Legitimift?! Ja wohl, und
oft müthender Legitimift! Das find fo Dinge, die hinter dem
Rüden der Logik vorgehen. — Geſcheite Leute haben mir dieſe
Erſcheinung als Paganismus erklärt, der in jedem ſüdlichen
286 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Volke ftede und eines äußern Symbols der Verehrung bedürfe,
dieſes Eymbol aber, wie der Neapolitaner den heiligen Januariug,
prügele, wenn e3 ihm nicht feinen Willen thut.
Denken Eie davon, was Eie wollen, und leben Eie wohl
Zweiter Brief.
Deutihthum und Deutiche in Languedor.
An die Nedaltion der Hannoverſchen Preſſe.
Aus dem alten, einfamen Thurme, den ich auf einem
der legten Auslaufer der Gevennen im Angeſichte der Ebene
Languedoc's und de3 mittelländiihen Meeres bewohne, kann ich
Ihnen leiver nur wenige oder gar feine Neuigkeiten fchreiben.
Grlauben Eie mir aljo, von meinem überfihtlihen Standpunkte
aus überfihtlih und allgemein und deutsch zu fein. Erlauben
Sie mir, Alles, wa3 fih an deutichen Landsleuten, deuifchen
Einwirkungen, Erinnerungen, Eympathien und Keimen fünftiger
Sympathien zwijchen der Nhone und dem Herault findet, zus
ſammenzutragen und mir aus all’ dem ein Kleines Baterländchen
zufammenzuftoppeln, mit dem ich vielleicht nody einem Vaduzer
Batrioten gegenüber groß thun kann. Eiſchrecken Eie nicht. —
Es fällt mie nit ein, verjährte Rechte auf das Arelat, das
übrigens jenfeit3 der Nhone liegt, geltend zu machen, und fo
alte Streitigkeiten aus den Zeiten Konrad’3 III. aufzumärmen.
Es würde mir auch fchwerlid gelingen. Aber wir haben in
neuerer Zeit andere Eroberungen gemadt, die ſchöner Jind, als
jene der in Etierhäute gehüllten Germanen, und ſchöner als die
der glänzenden Hohenftaufen. Wenn ich aus meinem Fenſter
blide, glaube ich von den kaltigen Höhen der Cevennen die Frag:
mente des blauen, romantischen Banier3 wallen zu jehen, das
der alte Meifter Tied dvahingepflanzt; und unweit von den Nuinen
Dreizchntes Kapitel. 287
des Schlofies von Beaucaire, im alten St. Gilles, Tiegt Pierre
de Caftelnau, deſſen Ermordung Lenau’3 Trauerfang einleitet.
Und mwenn ich mit dem Volke fpredhe, tönen mir aus feinem
ihönen Idiome ruinenhbafte Klänge au3 den Liedern de3 Ka:
ftelland von Couci, Durand's, Nudell’3, Bertran de Born's
entgegen, jener Troubadoure, die wieder der deutjche Troubadour
Uhland bejungen -hat.
Ya, wir Deutfhen find Koamopoliten! — Es ift ein alter
Sat, über den fchon viel gefeufzt worden. Aber laffen wir Die
darüber feufzen, die rubig daheim an ihrem deutfchen Ofen
figen umd fi die Hände wärmen. Dem Unjtäten und Flüchtigen
ift 3 ein Labjal, auf feinen Wegen den Fetzen deutſchen Kos:
mopolitismus zu begegnen.
Der Languedocjhe Proteftantismus ift wohl der diesjeitige
Grundſtein jener Negenbogenbrüde, die fih vom Pie St. Loup
aus dem deutjchen Harze entgegenwölbt und in der Nähe von
Eisleben niederfällt. Ehon im fiebzehnten Sahrhunderte, be:
jonder3 aber in den Gevennenfriegen, wandte man von bier
aus hülfefuchende Blicke auf die Glaubensbrüder in Norddeutſch—
land, freilich meift vergeben®, doch hat man fich gewöhnt, dahin
zu ſehen und zu horchen. Manchmal fam dod ein Trojteswort
von dort her und, was mehr war, ein Drohwort, das in Ber:
ſailles niederfiel; wie 3. B. das Drohwort aus dem tabakouf:
tenden Munde des Vaters Friedrichs des Großen, weldes in
Berjailles einen fo bedeutenden Duft verbreitete, daß man auf
eine Zeit vergaß, in Langucdoc Nad und Galgen und Scheiter:
haufen aufzurichten. Die Toleranz der philojophiichen, dann die
Freiheit der Nevolutions : Zeit bradten die nordiſchen Glaubens—
brüder wieder in-Vergefienheit, und die Baltoren, die den Pro:
pheten folgten, gingen nah Genf und Lauſanne, um ſich ihre
Gottesgelehrtheit von dort zu holen. In neuerer Zeit hat ſich
das wieder gedreht. Genfer und Paufanner Weisheit reicht nicht
mehr aus; Rouſſeau kann die Theologie nicht mehr brauchen, und
einen Schleiermacher hat franzöſiſcher Boden noch nicht hervor:
288 Tagebud) aus Yanguedoc und Provence.
gebracht. So wandern die jungen Theologen mit dem leichten
Gepäde der Montauban’ihen Gelehrjamkeit über den Rhein
nad Heidelberg, Tübingen, Berlin — und wenn fie zurüd-
fommen, bringen fie deutſche Gedanken mit, über die die alten
Kollegen die Köpfe fchütteln — deutihe Bücher, um fih in
dieſen Gedanken zu verhärten, und manchmal deutfche Frauen,
weibliche Apoftel für die deutſche Sprache. Vor einigen Wochen
befuchte ih einen Paſtor im Gebirge. Während ich den Ab:
wejenden erwartete, ſah ich mich unter feinen Büchern um, und
jiehe da, unter dem dreiundvierzigften Grade fand ich neben
einander aufgereihbt: Goethe, Schiller, Lefling, Herver, den
ganzen Hegel, die Disjecta Membra Schelling's, Schleiermacher,
Greuzer, de Wette und eine große Schaar deutſcher Dichter und
Romanſchriftſteller. — Mein Wirth empfing mid mit einem
deutſchen Gruß und führte mich dann zu einer Dame, in deren
Bibliothef ich fogar den originalen Iffland feit Jahren zum
erften Male wieder ſah. Ich konnte der Verfuchung nicht wider:
jtehen und habe mir für die Nacht zum Einfchlafen unter Langue—
docihem Himmel einen Band bürgerlicher Thränen ausgebeten.
Ein anderer Baltor in Vaunages, dem Kanaan der Kami:
farben, war zur Beit meines Befuches eben mit Ueberfegung der
Predigten von Dräfele, dem Großvater meines lieben Freundes
Th. Althaus, befhäftigt. Der Mann war nie in Deutſchland ge:
mejen, hat aber in feiner Einſamkeit von felbjt Deutſch gelernt
und iſt ein wüthender Ueberfeger geworden. Ich empfahl ihm
ven Enkel feines Originals zur Ueberſetzung, der mir noch lieber
wäre, al ver Großvater. Er fragte, ob er ein Theologe? Aller:
dings, antwortete ih, aber ein jehr avancirter! Das jchredte
den Mann nicht ab, und er ſchrieb fich die Titel der beiden theos
logifhen Werke auf: „Die Märchen aus der Gegenwart” und
„Aus dem Gefängniß.”
Montpellier hat unter feinen drei Paftoren jogar einen wirt:
lihen, ächten Deutfhen, einen Landsmann der Guftel von
Blafewig bei Dresden. Aecht deutſch bejchäftigt er fich mit
Dreizehntes Kapitel. 239
Dingen, welde vie einheimiſchen Kollegen längſt vergeſſen haben.
Gr ftudirt die Ramijardenkriege und ihren Schauplag an Ort und
Stelle und macht Entdedungen, für die ihm die Geſchichts—
forfhung dankbar fein wird.
Die Baftoren haben die Laien ihrer Gemeinden und dieje
wieder ihre katholiſchen Landsleute angeſteckt. Deutſch zu lernen
iſt Mode geworden, und es hat ſich ein deutſches Bonnen: und
Gouvernantenfyftem ausgebildet, das mit dem franzöfiichen in
Deutfhland, bejonders in Defterreih, die größte Nehnlichkeit hat.
Wenn ih nad Montpellier fomme, it der weltberühmte Benrou,
von dem aus man die Pyrenäen ſehen kann, mein Liebling®-
ipaziergang. Da wimmelt e3 von Bonnen mit ihren Kindern, und
mir ift e&, als ob ich in Firmenich's Völkerſtimmen umherſpazierte.
Da unterfcheide ich leicht die feinfühige Tochter von den fteilen
Ufern der bilvungduftenden Spree, die ſchwäbiſche Maid mit den
bellblauen Augen, die blonde, jchönfarbige Jungfrau von der
Leine, die „mollete” Wienerin. Da höre ich: „Juſtav, jehen Sie
nich fo jchnelle; Sie find, wahrhaftigen Sott, ein Jameng !" —
Gleih daneben erzählt die Schmwäbin ver ihr ſympathiſchen
Mienerin: „Meine Augüfchte iſch e guts Mädle — i fann nit
anderfch ſage“ — und die Wienerin antwortet: „X kann mi ab
nit bElagen, aber ver Ghalt iS halt unbeteitend.” — Und mitten
durch hört man die weife Mahnung einer helltlingenden S—timme:
„S—predhen Sie nit bef—tändig, Gie find ein Plauderähr !“
Man darf fich über dieſe verfchiedenen reinen Idiome nicht
wundern. Die meilten Mütter Montpelliers find gläubig, und
jede ſchwört hoch und theuer, daß ihre Bonne die reinjte Aus:
iprahe habe. Manche haben wohl eine dunkle Ahnung davon,
wie e3 mit dem Atticismus ihrer Ammen beftellt fei, aber fie
laffen ihren Kindern lieber eine faljche Ausfprache, als eine faliche
Religion einimpfen. Denn bei den eifrigen Katholiten und eben
jo eifrigen Proteftanten Montpellierd und Nimes’, gibt die Kon:
fellion bei ver Wahl der Gouvernante oder Bonne den Ausſchlag.
So kann e3 mit der Zeit fommen — wunderbar find die Wege
Morig Hartmann, Werke. IM. 19
290 Tagebud aus Languedoc und Provence.
der Borfehung — daß die Katholiken des Südens bayerifch oder
öfterreihifch, die Proteftanten preußifch oder hannöveriſch fprechen..
Allerdings kommt mande pia fraus vor. Manch armes, prote-
ftantijhes Gefhöpf aus dem Norden, um nur eine Stelle zu
haben, verleugnet wie Auguft von Sachen die Religion der Väter
und gibt fich zeitweilig für. alleinfelig gemacht aus. Mont-
pellier vaut bien une messe. Sie büßen diefe unſchuldige
Apoftafie jede Woche zwei Tage lang bei Faftenfpeifen ab. —
Im Allgemeinen werben fie gut behandelt. Man jet bei ver
deutihen Jungfrau fürchterlich viel Sittlichfeit voraus und vers
mutbet bei ihr ein Uebermaß von Gemüth, und liebt fie darum.
Dazu fommt, daß der an feinem Lande fo fehr hängende Franz
zoſe Jeden bedauert, der feine Heimat zu meiden gezwungen ift,
und ihm fein 2008 zu erleichtern fucht. Wenn man auch manch—
mal eine Dame über ihre Bonne Hagen hört, kann man doch
jiher fein, daß fie am Ende ſich felbft begütigend hinzufügt:
Pauvre fille, elle est si loin de sa patrie! Die ſüdlichen
Frauen find überhaupt zärtlihe Mütter und übertragen eimas
von ihrer Liebe zu den Kindern auf deren Amme, fobald nur
dieſe jelbjt etwas Neigung für die Heinen Schwarztöpfe zeigt.
Um aber von dem Bonnenmwefen, dem Privatunterricht und
dem PVeyrou loszulommen, machen wir einen Sprung auf die
benadhbarte Hochſchule. — In der Halle der durch fo viele Jahre
hunderte berühmten medizinischen Schule begrüßen uns ſogleich
die Bilder von Haller, Wolff, Zimmermann. Sehen wir ung
unter den Lebenden um und borchen wir nad den Syſtemen,
welche die Schule beherrſchen, jo erfahren wir von einer alten
Partei, die nächſtens unter den Schlägen der Revolutionäre er=
liegen wird, jener furchtbaren Revolutionäre, die in Deutjchland
einen Hauptfiß haben, der Nevolutionäre in der Phyſiologie und
Botanik. Neulich hat dieje revolutionäre Partei einen gewaltigen
Sieg durd die Ernennung des Herrn Martins zum Direltor des
botanifhen Gartens errungen. Herr Martins ift ein Deutjcher
von Abftammung und ift troß feines Proteftantismus ernannt
Dreizehntes Kapitel. 291
worden, und zwar zum Nachfolger des fo hoch gefeierten Delille.
Herr Martins ift derſelbe, der mit Agafjiz und Vogt auf den
Gletfhern gemejen, die berühmten Reifen im Norden gemacht,
Goethe's Metamorphoje der Pflanzen überfegt hat und den Fran:
zofen zu beweiſen ſucht, daß die Keime aller und der höchſten Er:
rungenſchaften der Wiffenihaft in den Büchern des Alten von
Meimar aufzufinden jeien.
Und da wir einmal in der medizinischen Schule find, fteigen
wir einige Treppen hinauf. Wir gelangen in ein höchft interej-
fantes, mit fohönen Bildern ausgeſchmücktes Maleratelier. Da
wohnt der Kaflirer der medizinischen Fakultät, Herr Laurent,
derfelbe, der faft das ganze ſüdliche Frankreich illuftrirt und durch
feine Zeichnungen viel zur Kenntniß der großen Kunſtſchätze dieſes
Landes beigetragen hat. Herr Laurent iſt ein enthufiaftifcher Ver⸗
ehrer von Allem, was deutſche Kunſt heißt: von deutſcher Muſik,
Malerei, Poeſie. Bei ihm hört man die neueſte Muſik von Ro—
bert Schumann, Ferdinand Hiller, Rietz, Heller u. ſ. w. Bei
ihm findet man die neueſten Werke der Kunſtvereine und die
jüngſten Poeten des ſingenden Deutſchlands. Man lernt ihn
durch Taillandier oder Taillandier durch ihn kennen; ſo kommt
man auch manchmal in die Hörſäle der Afademie der ſchönen
Wiſſenſchaften, und da hört man, wie diefer Profefjor vor einem
höchſt zahlreihen Publikum ununterbrohen Parallelen zwiſchen
deutſcher und franzöfifcher Literatur zieht und nicht immer zum
Bortheil der letzteren.
Uber kehren wir wieder zu unfern wirklichen und wahrhaf:
tigen Landsleuten zurüd. Wenn wir genau nachſuchen, finden
wir fie auch im Schooße der reichjten und einheimifchiten Bour:
geoifie, wo fie ſogar zu einer Art von Patriziat gelangt find.
Ihre Namen, felbft in der franzöfiichen Verftümmelung, muthen
uns heimifh an. Es find das die Familien, die im vorigen
Jahrhundert fih im Norden Deutſchlands mit den proteftanti-
Ihen Emigranten verjchmwägert haben und mit diejen fpäter
nad dem Süden gelommen oder von ihnen nachgezogen worden
2923 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
find. Sie waren vor der Revolution nur auf den Handel be
ſchränkt und haben, wie die meilten Proteftanten der Städte,
Reihthum und Anjehen erworben. Ihre Abitammung feheinen
fie noch nicht ganz vergefien zu haben ; wenigfteng zeigten fie noch
vor Kurzem durch ihr fchönes Benehmen gegen die Frau eines
Berliner Gelehrten, die in Montpellier plötzlich Wittwe geworden,
daß fie noch ein Herz für deutjche Landsleute haben. In ihrer
Mitte zählen fie noch mehrere Nachzügler aus der neuen und neue:
ften Zeit, die weniger der Proteftantismus als der Wein, oder
vielmehr der Weinhandel, hiehergezogen hat. Unter diefen lernte
ich erft vor Kurzem eine liebenswürdige Landsmännin aus Bur:
tehude kennen. Buxtehude! Eine germaniſche Welt liegt in diefem
Namen. Bei feinem Klange wurde mir fo wehmüthig zu Muthe,
mie dem Odyſſeus gemwejen fein mag, al3 er den Schatten feiner
Mutter gefehen, den er doch verfcheuchen mußte,
Das jüngfte Deutihland hat auch fein Kontingent geftellt.
Unter den Studenten der medizinifhen Schule ftechen die blon-
den Gefichter hervor, man redet fie an und erfährt, daß es Stu:
denten aus der Pfalz oder aus Baden feien: Flüchtlinge, die die
Eine Fakultät der Hochſchule zweckmäßig benugen und nolentes
volentes Medizin ftudiren. Sie haben Vorgänger in diefem
Schidjal; denn auf dem Lande gibt es deutſche Aerzte, die das
Frankfurter Attentat, jeligen Andenkens, ebenfalls nah Mont:
pellier und in die Arme der Medizin getrieben hat. Auf ähnliche
Weiſe wurde das Land mit einer Unzahl polnischer Aerzte ver:
forgt. — Unter den Flüchtlingen, wie ein rathgebender und im-
mer zur Hülfe bereiter Patriarch, lebt der Vater des armen Dortu
mit feiner Frau. Die unglüdlihen Eltern haben ſich freiwillig
aus dem Lande verbannt, das ihnen das einzige Kind genommen.
Möge fie bier neben der Cypreſſe der Lorbeerbaum tröften.
Einen fhmerzlihen Verluſt hat vor Kurzem die flüchtige Kolonie
von Montpellier dur den Tod des guten, braven Peter Fries
erlitten. Das Bedauern war allgemein, obwohl er nur von
Menigen gelannt war; denn die deuten Flüchtlinge find bier
Dreizehntes Kapitel. 293
beliebt, da jie durch einige mwirklih liebenswürdige Individuen
repräjentirt find, und man ihre Art und Weife, wie fie das Eril
ertragen, ohne zu verfallen, und wie fie fich ihr tägliches Brod zu
erwerben wiſſen, die Achtung nicht verfagen fann. Manche find
in Gejellfhaften gern gefehen, Andere haben ſich als Lehrer im
Schooße der beiten Familien Freunde erworben.
Ich lade Sie nicht ein, mit mir einen Flug durths offene Land zu
machen, um neben den Paſtoren noch andere Spuren von Deutjch:
thum zu entveden. Ic gebe Ihnen nur die tröftliche Verficherung,
daß Sie hier und da auf gutes Bier jtoßen, und wenn Sie ji dann
nah dem Verfaſſer erkundigen, wird Ihnen ein Sohn der Ba:
varia in die Arme fallen. In diefem rührenden Momente Elingt
Ihnen aus irgend einer Wohnung eines reihen Proprietärs die
Arie von „Wir winden dir den Jungfernkranz“ oder ein Straußi:
her Walzer entgegen. Sie folgen diefen Tönen, und durchs Fen—
jter erbliden Sie die Heine Franzöfin am Klavier; neben ihr jigt
ein blonder Jüngling, der Chiron der Gegend und der Organift
der Kirche. Ja, felbft wenn Sie in die Unterwelt, d. i. in die
Koblengruben der Gevennen hinabfteigen, hören Sie die Sprade
Ihrer Mutter, denn deutſche Bergleute leiten die Ausbeutung.
Kommen Sie aber erjt nad Cette in den Hafen, dann hören Sie
im herrlichſten Plattveutich fluchen. Diefen Genuß hatte ich dort
erit vor Kurzem auf dem Danziger Schiffe „Thomas“ wo ich mic
troß der Dresdener Konferenzen unter dem preußifchen Aoler
ſehr wohl befand.
Aber Sie haben wohl ſchon genug ‚des füdfranzöfifchen
Deutſchthums. Wenn ich Ihnen zu viel des Kleinen und Klein:
lichen zugetragen habe, das Sie im Herzen Deutſchlands nicht
interejjirt, jo verzeihen Sie das dem Sammlerfleiße des „Lieb:
habers“ und gejtehen Sie mir zu, daß ich mir wenigſtens ein
Raduzer Vaterland zufammengeflidt habe, welches noch den Vor:
theil bat, in jeiner Kleinheit die ganze Buntheit de großen deut:
hen darzuftellen. ch fomme mir vor, wie jener franzöfifche
Emigrant, von dem mir mein Großvater erzählt hat. Der arme
294 Tagebuh aus Languedoc und Provence,
Marquis mußte fih feinen Lebensunterhalt mit Holzfchnitereien
erwerben; aber für alles Geld fchnigte er nichts Anderes als fran-
zöfifche Schlöffer: Verfailles, St. Cloud, Fontainebleau. — So
fhnite ih mir einen deutfchen Duodezftaat, und zwar mitten in
der Republik. „Zu Straßburg auf der Schanz“ und „Wär’ ich
ein wilder Falke” — hundert Vplfslieder, das ganze Wunderhorn
klingt mir ſchon im Kopfe, und ich ſehe mit Zufriedenheit, daß
ich einen gewiffen geheimen Zwed erreicht habe. Leben Eie wohl!
Bald fchreibe ih Ihnen von andern Ufern.
„O du mein Deutfhland, ih muß marſchiren.“
Provencnlen.
Volklslieder und Balladen — überjegt und bearbeitet.
Wenn das Spottlied auf Napoleon, obgleich es noch im
Munde des Volkes lebt, als ein politiihes Epigramm nicht zur
reinen Gattung gezählt wird, fo find eigentlid nur die erften bier
mitgetheilten fünf Lieder als Volkslieder zu bezeichnen. Die Ge:
dichte „Brovenzalifches Morgenſtändchen,“ „der Dieb” und „das
Matrojenlied” find Bearbeitungen nach Thematen, welche dem
Ueberfeger von längft verſchollenen Gefängen geliefert wurden.
Die Ballade auf König Franz’ I. Gefangenſchaft it eine in der
Form tief unter dem franzöfifhen Driginalvolfsliede ftehende
provenzaliihe Bearbeitung, die ebenfalls längſt vom Volfe ver:
geſſen ift und hier nur mitgetheilt wird, weil fie der Heberjeger
zufällig einmal in einem alten Buche gefunden hat. Das Gedicht
„an die rechte Hand“ ijt vielleicht nie gefungen worden, wird aber
feines Inhalts wegen, der durch die Zeit feiner Entjtehung noch
größeren Werth erhält, ver Mittheilung für würdig erachtet. „Die
beiden Seraphim” und „An die Tyrannen“ ſollen al3 Proben
neuprovenzalifcher Poeſie in diefem Tagebuche Platz finden. Die
Ausbeute an eigentlihen Volksliedern bejchränft ſich alfo bloß
auf die erjten fünf Stüde und muß nothwendiger Weife als eine
fehr arme betrachtet werden. Es ijt das nicht die Schuld des
Sammler3, der mit der Abjicht und der Hoffnung, eine reiche
Ernte zu maden, in den jangberühmten Süden, auf den Hafli
{hen Boden der Troubadours gelommen war und ſich ange:
ftrengt bat, fo viel al3 möglich zu fammeln. Alte Bücher und
296 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Anthologien hätten mir allerdings eine große Anzahl proven-
zalifcher Lieder liefern können, aber ich hatte mir vorgenommen,
nur folde zu jammeln und als eigentliche Volkslieder anzuer:
fennen, die noch heutigen Tages im Munde des Volkes leben.
Der deutjche Leſer möge aus der ärmlichen Ausbeute jchließen,
was ich enttäufcht und mit Schreden felbft erfannt habe: das
ſüdfranzöſiſche Volk jingt nicht mehr. Von den fünf erjten Lie
dern habe ih auch nur vier fingen hören, und daß jelbit dieje
Produkte der Kunftpoefie aus dem achtzehnten oder fiebenzehnten
Jahrhunderte feien, wird er an dem fchäferlichefentimentalen Cha:
rafter, an den Namen Thirfis und Daphnis erfennen. Ihr poe-
tifcher Werth ift unbedeutend, und auch jie wären ihren älteren
Brüdern aus den bejieren Zeiten provenzaliiher Poeſie wahr:
ſcheinlich ſchon ins Grab gefolgt, wenn ihnen nicht die zum Theil
jehr reizenden, oft überaus melandolifchen und getragenen Me
(odieen das Leben gefriftet hätten. Ich geftehe es, daß ich hier
und da wohl noch Gelegenheit gehabt hätte, das eine oder das
andere Lied bei Hochzeiten und andern Feiten dem Munde des
Boltes abzulaufhen — aber meijt waren diefe Lieder ſchon fo
vom franzöſiſchen Idiom „envahi,* daß jie faum mehr als pro:
venzalifche anzuerkennen gewejen, und bafirten faft immer auf fo
ſchlechten Wigen, daß ich alle Luft zu ihrer Aufzeichnung verloren.
Es thut mir leid, wenn ic) den deutſchen Lefer, der ſich das Nach—
tigallenland von Volksliedern durchklungen denkt, um eine jhöne
Täuschung ärmer mache — aber ich kann nicht anders, Ich wie:
verhole e3: das jübfranzöfifche Volk fingt nicht mehr. Nie ift auf
freiem Felde, in der Ferme, am Herde, im Dorfe, wo fich das
Bolt verfammelt, ein originales provenzalifches Lied an mein
Ohr gedrungen, Es iſt natürlid, daß ein Volk, das beleidigt ift,
wenn ihm jein Pfarrer in der heimifchen Sprache predigt, in
diefer Sprache nicht mehr fingt. Ein einzigesmal begegnete es
mir im Baunages, daß mir aus der Ferne ein Chor von Männer:
jtimmen entgegentönte. Ich ſetzte mich hin und wartete, bis der
Gefang heranfam; e3 waren die Republifaner von Calviſſon, die
Provengalen. 29%
den Pariſer Chant du depart jangen. Und ein einziges Mal
börte ih auf freiem Felde ein unter einem Dlivenbaume figendes
Kind fingen: e3 fang die Marjeillaife. Diefes Heine Mädchen hat
mir mehr bewiejen, als die ganze, große Echaar neuprovenzalis
cher, Dichter, die den Schönen Süden bevölfern, und unter denen
e3 höchſt talentwolle gibt. Wir brauchen bloß Jasmin, Rouma-
nille, Aubanel, Croufillat, Miftral zu nennen. Troß ihren Be:
mühungen wird, zum Glüde Frankreichs, in wenigen Jahrzehn:
ten das Publikum, Das ihre Sprache verjteht, ganz oder zum
großen Theile weggejchmolzen fein. Das Idiom wird von der
nordfranzöfiichen Sprache nad und nach weggenagt. Selbit die
Dichter weichen, ohne e3 zu willen, dem modernen, nordifchen
Andrange. MarysLafon, ein fompetenter Richter, wirft dem be:
rühmtejten unter ihnen, dem Perüdenmacher Jasmin vor, daß
er die Sprache, in der er dichte, nicht fenne. Aber aud) die tieffte
und gründlichite Kenntniß würde gegen die hiftorische Nothwen:
digfeit nicht3 vermögen. Cine große Produktionskraft könnte dem
ausfterbenden Romano » Brovenzalifchen vielleicht für einige Zeit
das Leben friften — aber dieſe fehlt. Selbſt die beveutenditen
unter den provenzalifchen Dichtern, wie z. B. Roumanille aus
St. Remy, zeichnen fich dur bloße Iyrifche Einzelnheiten aus;
große Erfindungd: und Geftaltungsfraft ift vielleicht nicht einem
Einzigen nachzurühmen. Sie begnügen fih, die ſchöne Sprache
Ihön klingen zu lafjen, und oft beſchränkt fich ihr ganzer Werth
auf die melodifche Form, auf den holden Zufammenklang. Eines
der bedeutendſten Produkte der legten Zeit „Li Sounjarello “
(die Träumerinnen) von Roumanille beftätigt dag. !
Mit den „Complaintes,* den Klagegefängen auf prote-
ſtantiſche Märtyrer, welche noch im vorigen Jahrhundert jo häufig
gejungen wurden und eine der beften Quellen für proteftantijche
Geſchichte abgeben, fteht es nicht befjer al3 mit den profanen
Volksliedern. Sie find verſchollen, und die nicht ſchon von eifrigen
' Die feitdem erfchienene Mirejo, ein großes epiſch-lyriſches Gedicht
von Miftral, jcheint dem zu widerſprechen — ſcheint aber nur.
298 | Tegebuch aus Languedoc und Preprare.
„Hirten ver Wüſte“ auf3 Parier gebannt wurden, find beute
verloren. Eelbft in ven verborgeniten Thälern der Cevennen
werben fie nicht mehr gejungen, wohl aber nod die franzöfichen,
(von Element Maroi überjegten) Palmen.
Diefe wenigen Worte zur Cbarafteriftit der Sprach⸗ und
Vollsliedzuſtände, zugleich zur Entihuldigung, dab meine Emte
jo ärmlih ausgefallen. Bielleiht reicht e3 bin, wenn ich kurz
fage: Der Eammler provenzaliiber Nolkzlieder ift im Jahre
1851 bereit3 zu fpät gefommen.
A l’oumbra d’aou bouscatje.
Die Flötentöne irrten
Bis her zum fchatt’gen Hag;
E3 feierten die Hirten
Heut einen frohen Tag.
Ich aber fit und weide
Die Heerden, ad, allein:
Und jeufze, was ich leide,
In den Haren Quell hinein,
Und wenn mein Herz gedenfet
Der alten ſchönen Zeit,
Um ihn, der mich gefränfet,
Wein’ ich in meinem Leid.
So jeufze durch die Nacht ich
In meines Herzens Noth —
Bor Sehnen faft verfhmadt ich,
Biel beffer wär der Tod.
— — — —
Provengalen, 299
Tirsis n’es mort, pecayre!
Firfis ift todt, o wehe!
Weint, Böglein, auf fein Grab,
Ihr Blümlein legt, ich flehe,
Die luſt'gen Farben ab.
Betrübte Taubenherzen,
Berliebte Nachtigall,
Bereint mit meinen Schmerzen
Der füßen Stimme Schall.
D’una pastoura trop eruela
Un jeun Dafnis se planissiait.
Ein junger Daphnis weint und Hlagte,
Denn graufam war die Schäferin —
Ganz in der Nähe floh und jagte
Ein armes Täubchen her und Bin.
Und wie fie Hin und wieder irrte,
Ausftieß fie, ach, jo trüben Ton,
Es lauſchte und es jah der Hirte,
Wie fie in ein Gebüſch entflohn.
Die Heinen Bögelein im Nefte,
Sie ſaßen fill und lautlos da,
Weil eine Schlange vom Geäfte
Furchtbar und drohend niederjah.
Sie ſchlug Daphnis mit einem Schlage
Des Hirtenftabs, daß todt fie ſank.
Ihm ift, als ob das Täubchen fage:
D habe Dank, o habe Danf!
300
Tagebud) aus Languedoc und Provence.
Quant vous veze tout me play.
An dir gefällt mir Alles zur Stund,
Du mwürdeft den todten Stamm beleben,
Das Waffer fommt mir in den Mund,
Seh id) dein Lachen, dein heiteres Leben.
Fröhlich und froh!
Ich hab fie noch nicht, doch werd ich fie frein;
Fröhlich und froh,
Ich hab fie noch nicht, doch mein muß fie fein.
Und fehrte fi) der Himmel um
Als wie der Kuchen in der Pfanne,
Ich trüge feft Dur Grad und Krumm
Die Lieb zu meiner braunen Hanne.
Fröhlich und froh!
Ich hab fie noch nicht, doch werd ich fie frein;
Fröhlich und froh,
Ich hab fie noch nicht, doc mein muß fie fein.
Wenn wo ein Dieb in Herzen bricht,
Gleich führt man gegen did Beſchwerden;
Berftedft du deine Augen nicht,
Wirft du einmal gehangen werden.
Sröhlih und froh!
Ich hab fie noch nicht, doc) werd ich fie frein;
Fröhlich und froh,
Ich hab fie noch nicht, Doch mein muß fie fein.
Hochzeitslied.
Zu jeder Zeit, in jedem Land
Begriffen's Leute von Verſtand,
Im Leben und im Sterben bleibe
Gar nichts vergleichbar mit dem Weibe.
Provengalen.
Es lebe die Ehe!
Der Lieb’ ein Hoch gebracht!
Es lebe die Ehe,
Es lebe die Liebe bei Tag und bei Nacht.
Das Weib, das ift im Haufe ganz,
Was eine Geige ift beim Tanz.
Ohne Weib herrſcht Todesſchweigen,
Ohne Geige ftodt der Reigen.
Es lebe die Ehe!
Der Lieb’ ein Hoch gebradıt!
Es Iebe die Ehe,
Es Iebe die Liebe bei Tag und bei Nacht.
Der junge Gatte lachet jehr,
Ein groß Berdienft bei meiner Ehr!
An feiner Stelle würden heute
Sehr laden auch gefcheitre Leute.
Es lebe die Ehe!
Der Lieb’ ein Hoch gebradt!
Es Iebe die Ehe,
Es lebe die Liebe bei Tag und bei Nacht.
Es lächelt auch die junge Braut,
Doch nur im Herzen und nicht laut,
Der Brauch will, daß im Hochzeitsfleide
Man jauere Gefichter fchneide.
Es lebe die Ehe!
Der Lieb’ ein Hoch gebradt!
Es lebe die Ehe,
Es lebe die Liebe bei Tag und bei Nadıt.
301
302 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Morgenftändden. !
Nicht Harfen, nicht Flöten,
Es finget mein Leid —
Der Tag ift nicht weit,
Die Wolfen erröthen.
Bon meinem Trauerliede
War hold dein Traum erfüllt,
Es hat did) füßer Friede
Wie Seide weih umhüllt.
Richt Harfen, nit Flöten,
Es finget mein Leid ꝛc.
Schlag auf deine füßen
Schwarzäugelein jetzt —
Vom Thaue benett
Will ich dich begrüßen.
Sieh, dem Dlivenbaume
Lacht ſchon die Sonne zu,
Blick du, noch halb im Traume,
Mir in das Herz die Ruh.
Nicht Harfen, nit Flöten,
Es finget mein Leid ꝛc.
Die Nebel, die fteigen,
Bededen dag Haus —
D komme heraus,
O wolle dich zeigen.
Der Morgen wird jo milde
Un deine Schläfe wehn —
Du mirft dein Traumgebilde
In meinem Auge jehn.
Nicht Harfen, nicht Flöten,
Es finget mein Leid,
Der Tag ift nicht weit,
Die Wolfen erröthen.
ı MWahrfcheinlich ein Neft oder eine Nachahmung der alten provenzalijchen
Aubades oder Morgenftänddhen (von Aube.)
——
Provengalen. 303
Matrofenlied.
O hör's durch alle Ferne,
Durch alles Leid, das Wort,
Ich ſchwör's beim Licht der Sterne:
Dich lieb ich immer fort.
Es beben mir im Innern,
Als ſchwellender Accord,
Die Sehnſucht, das Erinnern:
Dich lieb ich immer fort.
Ob auch in kaltem Wehe
Das Leben mir verdorrt,
Ob es in Blüthen ſtehe:
Dich lieb ich immer fort.
Wenn es ein Jenſeits giebet,
Dich werd ich lieben dort
Wie ich dich hier geliebet:
Dich lieb ich immer fort.
Das Schönſte, was ich habe
An meines Schiffes Bord,
Iſt deiner Liebe Gabe —
Dich lieb ich immer fort.
Und wo ich immer lande,
An welchem fernen Ort,
Ich ruf's an jedem Strande:
Dich lieb ich immer fort.
Ich ruf's an jedem Strande;
Das liebe, liebe Wort
Kennt man in jedem Lande:
Dich lieb ich immer fort.
O hör's durch alle Ferne,
Durch Luſt und Leid das Wort,
Ich ſchwör's beim guten Sterne:
Dich lieb ich fort und fort.
304
Tagebud aus Languedoc und Provence.
Der Dieb.
Nichts Süßres ift, als feinem Yicb
Stet3 geben, immer geben —
In Perpignan verlor ein Dieb
Am Galgen drum fein Leben.
Set du getroft, du armes Lieb,
Der Herr hat ihm vergeben,
Er hat ja mur, der arme Dieb,
Geftoblen, um zu geben.
Der Mann, der die Gejege jchrieb
Und der fie anbefohlen,
Der hatte feine Seele lieb,
Sonft hätt auch er geftohlen.
Stehl ic dem Felde, was es trieb
An Gold: und Silberrofen,
Warum nicht auch für dich, o Lieb,
Das Geld aus Rod und Hofen?
Stehl ich dir Küſſe doch, o Lieb,
Und werde nicht gehangen,
Was jol ih nicht ein Tajchendieb
Für dich zu fein verlangen ?
Nichts Süßres ift, als feinem Yieb
Stet3 geben, immer geben,
Und wenn mir nicht mehr übrig blieb,
So geb ich ihr mein Leben.
Provengalen. 305
An die rechte Hand,
Bon Drygnan — (Anfang des XVII. Jahrhunderts.)
Did, Rechte, pries fein Mund genug,
Geziemend klingt dein Lob aus meinem:
Ahnfrau von Hammer, Schwert und Pflug,
Bift du das Alles auch in Einem.
Dir fohreibft — ob Hein in Lettern gleich —
Gedanken, die wie Ström’ aus Schluchten
Durchziehen mandes weite Neid
Und fernes Land und Feld befruchten.
Du bildeft — hier ein wohnlih Haus,
Gewänder dort, die feftlich ſchmücken,
Und Hundert Dinge führft du aus,
Die Tieblich jedes Aug entziiden.
Du nährft — ob auch der Stirne Schweiß
Auf deine Schwielen niederthauet ;
Sie ftehn dir, wie der Furche Gleis
Dem Ader, den du felbft bebauet.
Ich finge deinen Ruhm am Pflug,
Bejahend winket mir der Spaten;
Es pries dich noch Fein Mund genug,
Genoſſin du der ſchönſten Thaten.
Mich Haft du lebenslang genährt! —
Des Hammers Lob laß ih den Schmieden,
Dem Roft, dem Noft laß ich das Schwert,
Und mir laß ich den Pflug, den Frieden.
Morig Hartmann, Werke 11. 90
306 Zagebud aus Languedoc und Provence.
König Franz I. in der Gefangenfdaft.
Als der König zog aus Frankreich,
Zu gewinnen fremdes Yand,
Fiel an Pavia's Thore
Er den Spaniern in die Hand.
„Gib dich, gib dich, König Frankreichs!
Wo nicht, mußt du untergehn!“
— „Ich fol Franfreihs König fein?
Niemals hab ich ihn geſehn.““
Heben auf des Mantels Zipfel,
Und die Lilie fehn fie dort —
Nehmen ihn und binden ihn,
ns Gefängniß muß er fort.
Fort zum finftern Thurm, in welchen
Mond und Sonne niemals fahn,
Wenn nicht durd ein Fenfterlein —
Kommt ein Poftillon heran.
„Poftillon, der Briefe bringet,
Sag, was in Paris man fpricht ?“
— „Daß der König ift gefangen,
Sagt man, wenn getödtet nicht.““ —
„Poftillon, Fehr mit der Poſt um,
Nah Paris Fehr um gefhwind,
Grüße ſchönſtens mir mein Weib,
Grüße mir mein feines Kind.
Daß fie Münzen prägen laffen
So viel nur Paris im Stand,
Und mir eine Ladung fenden,
Daß ich Heimkehr in mein Land.“ 1
Faſt der ganze Inhalt diejes ſudfranzöſiſchen Liedes findet ſich in einem
der vielen nordfranzöfiigen, die auf die Schladyt von Pavia gemadjt wurden.
Das nordfranzöfiihe hat einen fatirifhen Anjtrid) und beginnt mit Spott
auf den Herren La Palice und endet mit einem böhmischen Ausfall auf den
Provengalen. 307
Herzog von Guiſe. Die ganze Form ift beffer und gebildeter als die des
füdfranzöfifchen hier mitgetheilten Vollsliedes, welches nur eine Nahahmung
des andern zu fein fcheint. Das Original lautet fo:
Helas! La Palice est mort,
II est mort devant Pavie.
Helas! s’il n’etait pas mort i N
I seroit encore en vie.
Quant le roy partit de France,
A la malheur il partit;
Il en partit le Dimanche
Et le Lundi il fut pris.
Il en partit ete.
Rens, rens toy, Roy de France,
Rens toy done, car tu es pris.
Rens etc.
Js ne suis point roy de France,
Yous ne savez qui je suis.
Je suis pauvre gentilhomme,
Qui s’en va par le pays.
Regarderent à sa casaque,
Aviserent trois fleurs de Iys,
Regarderent ä son espée,
Frangoys ils virent escry.
Ils le prirent et le menerent
Droit au chäteau de Madrid.
Et le mirent dans une chambre
Qu’on ne voiroit jour ne nuit.
Que par une petite fenetre,
Qu’estoit au chevet du lict.
Regardant par la fenetre
Un courrier par la passit.
Courrier, qui porte lettre,
Que dit on du roy & Paris?
Par ma foy, mon gentilhomme
On ne sait s’il est mort ou vif.
308 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Courrier qui porte lettre,
Retourne t'en ä Paris.
Et va — t’en ä ma mere
Va dire & Montmorency.
Qu’on fasse battre monnaie
Aux quatre coins de Paris.
S’iln’y ade l’or en France
Qu’on en prenne à St. Denis.
Que le dauphin en am£ene,
Et mon petit fils Henry.
Et à mon Cousin de Guise
Qu’il vienne icy me requery.
*
Et à mon cousin de Guise
Qu’il vienne icy me requery.
Pas plus töt dit la parolle
Que monsieur de Guise arrivy.
Aro l’aben attrabat ete. !
Spottlied auf Napoleon, aus dem Jahre 1815.
Nun haben wir ihn eingefangen,
Den Bogel mit den großen Flügeln;
Nun haben wir ihn eingefangen
Und ihm geftußt die großen Flügel.
t Wir theilen diefes Volksepigramm nur deßhalb mit, weil es, feit
lange vergefjen, fonderbarer Weiſe in diefem Jahre plötzlich wieder auf:
taudt. Es heißt nämlich im Original:
Aro l’aben attrabat
L’aouzel d& las grossos alos;
Aro l’aben attrabat
E l’aben dözalatat.
Provengalen. 309
Die beiden Serafim.
Li dous Serafin von J. Roumanille aus St, Remy.
ALS die Hirten angebetet
Gottes Kindlein an der Krippe,
Weinten zwei der weißen Engel,
Weinend jang da ihre Lippe:
(Der Erfte:)
Auf dem Knie der Mutter fehe
Weinen ih dag Kindlein, wehe!
Kenn die Quelle feiner Klage:
O Jeſu, heil’ger Geift,
Du weißt,
Daß die Stirn an jenem Tage
Dir die Dornenkron’ zerreißt.
ALS die Hirten angebetet
Gottes Kindlein an der Krippe,
Weinten zwei der weißen Engel,
Weinend fang da ihre Lippe:
(Der Zweite:)
Soll mein Herz nicht fein voll Leide?
Sollen wir nicht weinen beide?
Soll das Kindlein auch nicht wimmern?
O Jeſu, heil'ger Geift,
Du weißt,
Daß fie ſchon am Kreuze zimmern,
Das die Glieder dir zerreißt.
Als die Hirten angebetet
Gottes Kindlein an der Krippe,
Weinten zwei der weißen Engel,
Weinend ſang da ihre Lippe:
310 Zagebuh aus Languedoc und Provence.
(Beide:)
Ad, er ift and Kreuz gefchlagen!
Aus dem Leide fteigen Klagen
Auf zum Vater von dem Sohne.
O Jeſu, heil’ger Geift,
Du weißt,
Daß der Menſch nach deiner Krone,
Nach dem Kreuz mit Spotte weist.
Als die Hirten angebetet
Gottes Kindlein an der Krippe,
Weinten zwei der weißen Engel,
Weinend fang da ihre Lippe,
Die Tyrannen.
Aus Li Provengalo, von Th. Aubanel aus Avignon,
Motto: Ahi dura terra, perche non t’aprist :?
Dante. Inferno.
Wo eilft du mit dem großen Meffer hin?
— „Köpf' abhau'n, weil ich der Henker bin.”
O fieh das Blut von deinem Kleide thauen,
Und deinen Fingern — Henker, waſche dich!
„Warum? nod Manches bleibt zu thun fiir mich,
Es gibt noch viele Köpfe abzubauen.“
Wo eifft du mit dem großen Meffer hin?
— „Köpf abhau'n, weil ich der Henker bin.“
Ich weiß! — Doch bift du Vater je geworden ?
Ein Kinderblid hat dich wohl nie bewegt?
Ganz ohne Scheu, von feinem Trunk erregt,
Kannſt du die Mutter fammt dem Kinde morden,
Wo eilft du mit dem großen Meffer hin?
—,„Köpf' abhau'n, weil ich der Henker bin.“
PBrovencalen. all
Gepflaftert ift der Markt mit deinen Zodten,
Was lebend noch, fleht mit gebeugtem Knie;
Sprich, warft du je ein Menſch, wart dur es nie?
— „Laß mich mein Tagmwerf thun, wie mir geboten.“
Wo eilft du mit dem großen Mefjer hin?
— „Köpf’ abhau'n, weil ich der Henker bin.“
— Sprich, meinft du nicht aus deines Bechers Grunde,
In deinem Wein zu trinken Blut, das roth?
Und wenn du iffeft, glaubft du nicht das Brod
Zu Menfhenfleifh verwandelt dir im Munde?
Wo eilft du mit dem großen Meffer hin?
— „Köpf' abhau’n, weil ich der Henker bin.“
Bor Müdigkeit jeh ich den Schweiß dich wiſchen;
Halt ein! vol Scharten ift ja jhon dein Schwert.
Es kann gejchehn, daß es daneben fährt,
Weh dir, wenn deine Opfer dir entwijchen.
Wo eilft du mit dem großen Mefjer hin?
— „Köpf' abhau’n, weil ich der Henfer bin.“
Sie find entwifht! Zum Blod, der roth umquollen,
Fest beuge du das Haupt — die Schulter nadt —
Die Sehne deines Haljes kracht und fnadt,
D Henker, nun wird dein Kopf niederrollen.
Schleift friih das große Meſſer, jchleift und jchleift,
Ergreift des Henkers eignes Haupt, ergreift.
Vierzehntes Kapitel.
Montpellier — Ein Wort Goethe’3 — Erfte Eindrüde — Bauart der Stadt —
Peyrou und Edplanade — Alexander Roufjel und Peter Durand — Elaube
Broufjon und fein Henfer — Ludwig XIV. und Philipp II., Baville und
Alba — Proteftanten und Katholiken — Gefelfhaft, Erziehung, Moralität —
Das Bolt von Montpellier und feine Sprache — Pecahré! — Eine Anekdote —
Journalismus — Herr Danjon, ein fonderbarer Schwärmer.
Montpellier, Mitte September 1851.
— „es ift mir recht aufgefallen: daß man eigentlih nur
von fremden Ländern, wo man mit Niemand in Berhältniß fteht,
eine leibliche Reifebejchreibung machen könnte. Ueber den Drt,
wo man gewöhnlich fih aufhält, wird Niemand wagen etwas
zu jchreiben, es müßte denn von bloßer Aufzählung der vor:
handenen Gegenftände die Rede fein: ebenfo geht es mit Allem,
was und nod) einigermaßen nabe ijt ; man fühlt erit, daß es eine
Impietät wäre, wenn man aud) fein gerechteſtes, mäßigſtes
Urtheil über die Dinge öffentlich ausfprechen wollte. Dieje Bes
trachtungen führen auf artige Rejultate und zeigen mir den Weg,
der zu gehen ift.“
Diefe Worte Goethe's, die jeder Tourift oder Neifebejchreiber
vornhin in fein Notizenbuch ſetzen follte, kommen mir un:
willtürlih ins Gedächtniß, da ich darangehe, mit einigen Bemer:
fungen über Montpellier mein Tagebuch zu vervollitändigen.
Während meines fiebenmonatlihen Aufenthaltes im Süden habe
ich in diefer altberühmten Stadt jo viel Gaſtfreundſchaft genoflen,
haben fih jo mancherlei Beziehungen, Belanntichaften und
Freundesverhältniffe gebildet, daß ich vollfommen jene Beengnik
fühle, die der Alles Vor: und Nachempfindende in jenen Worten
Vierzehntes Kapitel. 313
ausgedrüdt. An diejes die Feder beengende Gefühl der Delikateſſe
fchließt fih no ein anderer Nachtheil. Die eriten Eindrüde,
die gewöhnlich die beften und wahrften find und fich mit größerer
Leichtigkeit, ohne alle Anftrengung, faft naiv wiedergeben laflen,
find von vielen nachfolgenden verdrängt, jo daß beim Nieder:
fohreiben eine Arbeit des Gedächtniſſes beginnt, die der Un:
befangenbeit, ich möchte jagen, Einfalt des wahrhaftigen Erzählers
Eintrag thut.
Kaum kann ich mich mehr des eriten Eindrudes erinnern,
den Montpellier auf mich gemacht hat. ch weiß nur, daß es an
einem regnerifchen Apriltage war, da mid) der Bahnzug hierher
brachte, und daß mir traurig und enge zu Muthe wurde,
als wir uns in den diden Mauern der Feltung verloren, die
Ludwig XIII. al3 ein Zmwing-Montpellier vor die Stadt hin-
gemauert. Die fhönen Gemüfegärten, die bereit3 von Kohl und
Blüthen bevedt waren, vie breite mit prächtigen Bäumen be:
jegte Esplanade, welche fi zwijchen dem Kajtell und der Stabt
ausdehnt, konnten den trüben Eindruck des regnerifhen und
düfteren Tages halber nicht aufheitern. Die innere Stadt mit
ihren hundert Gäßchen, die ſich wahrhaft gordiſch und finn-
verwirrend in einander fchlingen, erſchien mir als ein unauflög-
barer Knoten und wurde dem Wanderer unbehaglich, der, ftolz
auf feinen Ortsfinn, fonft gewohnt ift, ſich in der fremdeften und
verwideltiten Stadt im Laufe ver erjten Stunden zurecht zu finden.
Aber mit dem Himmel Härte fih auch die Düfterheit des
eriten Eindruds auf, und im Laufe des Sommers hatte ich oft
Gelegenheit, die Weisheit der alten Gründer und Bewohner
Montpellierd zu preifen und fie dafür zu fegnen, daß fie ihre
Häufer jo nahe als möglich an einander gerüdt und auf diefe
Art für ewigen Schatten geforgt haben. Wenn Montpellier der
modernen Neigung der meiften Städte folgen und feine ſchmalen,
winklihen Gafjen in breite, langgezogene verwandeln wollte, es
würde unbewohnbar werden, oder feine jämmtlichen Kinder dem
Sonnenftihe ausfegen. So aber, wie die Stadt heute befchaffen
314 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
ift, fann man jie fajt ihrer ganzen Fänge und Breite nad) immer
angemejjen bejchattet durchwandern, und fönnen Handwerker
und Krämer, jelbit in den beißeften Tagen, ihre Geſchäfte ges
mächlich fortfegen. Und nicht nur vor dem Sonnenbrande ilt
man dur dieſe Bauart der alten Stadt gefjhügt — nod ein
gefährlicherer Feind wird durch fie von den guten Bürgern Mont:
pellier8 abgehalten; e3 iſt das der Wind, der jonft fait ununter:
broden fie durdtoben und, aus allen Weltgegenden fommend,
an Bruft und Lungen nagen würde, während er jept an den
äußersten Winkeln abprallt und nicht durch all’ die Wendungen
und Windungen zu dringen vermag. Gegen die Atmoiphäre,
die er, wenn er in Geſtalt des Mijtral oder des Sirocco er:
ſcheint, mit ſich führt, ſchützen freilich weder die Windungen
nod die Schatten der alten, hohen Häufermajjen. |
Die Stadt, obwohl auf einem Hügel liegend, gewährt von
feiner Geite einen recht maleriihen Gefammtanblid, während
fie in ihrem Inneren oder an verichiedenen Enden einzelne
Punkte befigt, von denen au3 man fich der herrlichſten Ausficht
ind Land erfreut. Der fehönfte diefer Punkte ift ver Beyrou,
eine am Weſtende der Stadt fich erhebende Esplanade. Die
Ausficht, die man da genießt, nennen die Montpellierenjer mit
etwas übertriebenem Stolze eine der fhönften der Well. Man
jieht vom Peyrou aus die hübſchen Landhäuſer, die ſich, gut
gruppirt mit ihren Cypreſſen, Platanen, Lorbeerbäumen und
Granatbüfchen, weit hinaus vor die Stadt erftreden, und jenſeits
diefer Ländhäufer gegen Norden die kaltigen, verbrannten Berge
der Cevennen mit ihrem König, dem Pic St. Coup, gegen Süden
das lächelnde, blaue Mittelländifche Meer, das kaum eine halbe
Meile von der Stadt entfernt ift, mit den grünen Sümpfen an
feinen Ufern und mit der Inſel Maguelone und der Ruine der
altberühmten Kirche in feinem Schooße; gegen Welten, bei
bejonders Harem Wetter, jenfeit3 ver legten Ausläufer der
Gevennen, die ihre Arme dem Meere entgegenbreiten, jogar die
riefigen, in fanfter Bläue ſchwimmenden Häupter der Pyrenäen.
Vierzehntes Kapitel. 315
Die Cevennen jcheinen, wenn die Luft von der Feuchtigkeit des
naben Meere durchwoben ijt, jo nabe gerüdt, daß man ihre
Sträude und einfam nidenvden Alpenblüthen mit der Hand er:
reihen und in ihre Höhlen und Riffe mit einem kühnen Schritte
eingehen zu können wähnt. Auf der dem Peyrou entgegengefegten
Esplanade fann man zugleich mit Gevennen und Pyrenäen die
Alpen mit ihrem Repräfentanten, dem Mont Ventour, erbliden
und fo im jelben Momente, mit Einem Blicke Hifpania, Helvetien,
la belle France und durch das Medium des Mittelländifchen
Meeres das fabelhafte Afrika begrüßen. Ein meltumfaflendes
Herz kann hier eben fo gute Nahrung finden, al3 ein hypochon—
prifhes, das fih in Betrachtung über die Kleinheit der Reiche
diefer Welt, ja felbjt dieſer armen Erde ergehen will. Ein beſſer
und heiterer geitimmtes wird fich hier an ihrer Schönheit erfreuen,
beſonders fo lange, als es nicht an die Gräuel denkt, deren Schau:
platz der jchöne, herrlich Peyrou, oder die lachende Esplanade
vor dem Kaſtell geweſen.
Unglücfeliger Weife kamen fie mir zu früh ing Gedächtniß,
als ich auf dem Peyrou jtand, und mich zufällig ummendend, die
Statue und den Triumphbogen Ludwigs XIV. in feiner Mitte
und vor feinem Eingange erblidte. — Möge man noch jo große
Aquädufte mit allen Quellen der Gebirge, ja, möge man das
ganze Mittelmeer mit feiner lächelnden, heiligen Salzfluth hierher
leiten — alle die Wellen wajchen den Blutfled nicht ab, ver
dieſen herrlihen Punkt der Erde für ewige Zeiten entjtellt: und
möge man bier noch jo viele Blumen pflanzen und Lindenblüthe
duften laſſen — alle Gerüche des Drientes und Occidentes über:
täuben jeinen Blutgeruch nicht. Es ift ja noch fo friſch, das Blut
der Märtyrer, die bier ihr Leben aushauchten für die ihnen
heilige Sache. Gemöhnlid glaubt man, daß die Hinrichtungen
der Proteftanten auf dem Peyrou mit dem Tode Ludwigs XIV.
ihr Ende ereicht haben; das ift aber falſch. Noch unter Ludwig XV.
fah ver Beyrou viele und erhabene Märtyrer „des reinen Glau-
ben3,” viele Martertode ver „Hirten der Wüſte.“ Alerander Rouflel
316 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
verhauchte hier im Jahre 1728. Sein Verbrechen war, ven Pro:
teftanten der Gevennen unter Mühen, Noth und Drangfal, käm—
pfend mit Hunger und Durſt, verfolgt von Höhle zu Höhle,
gepredigt zu haben. Um Geld verkauft, wurde er barhaupt,
barfuß, mit dem Strid um den Hals, zum Richtplatz gefchleift.
Nach feiner Wohnung befragt, antwortete er: Der Himmel ift
mein Dach! Während ihn auf dem Weg zum Richtplak und bei
der Folter die Jeſuiten umdrängten und Berleugnung feines
Glaubens verlangten, betete er für feine Richter und den Henler.
In der Sterbeftunde fang er wie Huß mit feiter Stimme einen
Palm. R
Sp wie Mlerander Rouſſel erging es bier auf dem Peyrou
dem armen Greife Peter Durand. Sein Verbrechen war, An:
toine Court geholfen zu haben, al3 er die durch die Kriege zer:
ftreute Heerde der Cevenolen wieder zu einer Gemeinjchaft
fammeln wollte. Er jtarb im Jahre 1732. Fünf Sefuiten er:
ihöpften ihre Beredſamkeit, ihre Verfprehen und Drohungen
vergebens an ihm. Er blieb feit wie ein Feld. Die Folge diefer
Martyrien war, daß die Abtrünnigen wieder in den Schooß des
Protejtantismug zurüdlehrten, daß neue Befehrungen vorlamen,
daß die Proteftanten neuen Muth und neue Kraft gewannen,
daß fie fich wieder fammelten und organifirten und eine fefte
Gemeinſchaft bildeten, die allen Verfolgungen zum Troß ihr
Leben friftete, bis die Baftille ftürzte und die Begeifterten von
Berfailles Freiheit und Gleichheit verfündigten und Rabaut de Gt.
Etienne, den Protejtanten, zu ihrem Vorfigenden gemacht haben.
Doch find diefe Martyrien, wie ſchaurig fie au, wie groß
auch ihre Folgen waren, nur das leife verklingende Nachfpiel der
graufamen Tragödie, weldhe Ludwig XIV., nachdem er fromm
geworden, im ganzen Süden aufgeführt, und deren Kataftrophen
fich meilt auf dem Peyrou, auf der Esplanade und in den Kerkern
Montpellierd entwideln. Ich will hier nur an einen der größten
Helden des ſüdfranzöſiſchen Proteftantismu3 erinnern, deſſen
Muth, deffen Ausdauer, deſſen Leiden den Ruhm der Gefchichte
Vierzehntes Kapitel. 317
eben jo gut verdienen, ald irgend ein heilige? Martyrium, als
irgend eine große That des Schwertes, de3 Wortes oder der
Erfindung.
Claude Brouffon war im Jahre 1647 zu Nimes geboren
und wirkte in männlicher Jugend als Advokat bei ven Tribunalen
von Caſtres und Zouloufe, al3 Vertheidiger der Unſchuld oder
der menschlichen Verirrung. Als die einleitenden Vorfpiele zum
Miderrufe des Ediktes von Nantes begannen, al3 endlich der
Widerruf, begleitet von den Dragonaden und frommen Mord:
thaten erfolgte, trat er vorzugsweiſe ald Anwalt der unterdrüdten
Protejtanten auf. Sein Wort war mächtig. Da man fein Still:
ſchweigen umſonſt mit glänzenden Sinefuren zu erlaufen ver:
ſuchte, begann man, ihn zu plagen und zu verfolgen, und zwang
ihn endlich zur Flucht. Da ging er, wie mander Märtyrer alter
Zeiten, wie Clia3 und Chriftus, in die „Wüſte,“ d. i. in die
Gebirge zu den Leidenden und Berfolgten und predigte allmädhtig.
Die Regierung zitterte vor dem verjagten Advokaten, der nun
zum Prieſter, zum Propheten geworden war. Man machte
Jagd auf ihn, wie auf ein wildes Thier, und mie ein verfolgtes
Wild juchte er Schuß und Zuflucht auf unwegſamen Hocalpen,
in alten Höhlen und Grotten. Mehrmal wurde er auf feiner
ewigen Flucht gezwungen, die Gränzen de3 Vaterlandes zu über:
ichreiten, um einen Augenblid auf fremdem Boden aufzuathmen.
Aber immer kehrte er wieder zurüd, immer mit demfelben Eifer
für die Sache, die ihm heilig war, immer in viejelben Drang:
fale und Gefahren zurüd. Im Jahre 1693 wurde ein Preis von
fünfhundert Louis auf feinen Kopf geſetzt. Erſt im Jahre 1698,
alſo jehr Eurz vor Ausbruch des Cevennenkrieges, wurde Claude
Brouflon zu Dleron gefangen genommen und nad Montpellier
gebracht. Als er das Blutgerüft beftieg, wurde das Wort, das
er noch an das Volk richten wollte, durch achtzehn Trommler
übertäubt. Wir wollen nicht die Hiftorifer feiner Partei, wir
wollen auch nicht die Jeſuiten über ihn Sprechen laflen; wir
wollen hören, wie ſich der Henker, der ihn vom Leben zum Tode
318 Tagebuch und Languedoc aus Provence.
brachte, über ihn ausdrüdt. Seine Worte find treu aufbewahrt
worden, und fie lauten fo:
„Ih babe mehr al3 zweihundert Verurtheilte hingerichtet,
aber feiner hat mich je fo zittern gemacht, wie Herr Broufion.
Als man ihn auf die Folter legte, waren der Kommiflär und die
Richter bleiher und zitterten mehr als er, der betend feine
Augen gen Himmel wandte. Wenn ich gefonnt hätte, ich wäre
entflohen, um nicht einen fo trefflihen Mann tödten zu müſſen.
Wenn ich reden dürfte, ich wüßte mancherlei Dinge über ihn zu
jagen; gewiß, er ſtarb wie ein Heiliger.“
Aus diefer Ausfage des Henkers, den wir viel fieber als
Geſchichtsquelle gelten laſſen, al3 den klaſſiſchen Bifchof Flechier,
geht hervor, wie jehr die Henker des Statthalter3 von Languedoc,
Herrn de Baville, jchon Jahre vor Ausbruch der Cevennen:
unruhen befhäftigt waren. Diejer eine Henker hatte bereits im
Yahre 1698 mehr als zweihundert Verurtheilte hingerichtet, und
Herr Baville-Lamoignon hatte überall in feiner Statthalterei,
in Nimes, in Beaucaire, in Beziers u. ſ. w. viele Henker, und
all die Städte, ja, viele Heine Fleden erlebten fo jchaurige
Scaufpiele wie Montpellier. Baville:-Lamoignon war ein jehr
thätiger und feines Sultans würdiger Satrap. Er reiste viel
in feiner Provinz umher und hinterließ überall gleihe Blut:
ſpuren. In Nimes vermied ich es, fie aufzufuchen ; dort war ich
froh, fie über den Antiken vergejjen zu können. Montpellier ift
eine Stadt des Mittelalter, und Alles ladet bier ein, den
Spuren der uns noch jo nahe liegenden Gejchichte nachzugehen.
Die Gegenwart bietet wenig, was die faum achthundertjährige
Vergangenheit vergefien machte.
Auh vor der Weltgefchichte, der Weltrichterin, gibt es
Perfönlichkeiten, die Glüd, over, wie die Franzoſen fagen,
„de la chance“ haben. Zu diefen Begünftigten gehören un:
itreitig Qudwig XIV. „ver Große” mit feinem Languedoker Statt:
halter Baville-Lamoignon. Wenn man von graufamen Königen
und graufamen Statthaltern fpricht, ift es hergebradht z. B. von
Vierzehntes Kapitel. 319
Philipp II. und Herzog Alba zu ſprechen. Doch lebten beide in
einer Zeit, da zwei feindliche Brinzipe, deren eines fie vertraten,
ſich gemwillermaßen zum erften Male und darum mit größerer
Heftigkeit, mit Zanatismus, entgegentraten. Das ihnen feind:
liche Prinzip war durch ein fernes, ihnen dur Eitte, Gewohnheit,
Charakter, Anſchauungsweiſe und Blut vielfah fremdes Bolt
vertreten, welches ſich noch dazu religiös und, politifch zugleich
empörte. Philipp und Alba mit ihren ſchwarzen Armeen find
von der Inquifition erzogen und getrieben, und ihre Jugend iſt
von Auto-da:Fe3 groß genährt. Ihre Bildung ift um mehr als
ein Jahrhundert jünger, ihr Blut um zehn Breitegrade heißer.
Ludwig XIV. und BavilleLamoignon haben Port:Royal hinter
jih, ein Volk, das bereitö Colbert, Vauban, Fenelon, Corneille,
Racine, Moliere, Lafontaine hervorgebracht, um ſich; fie ftehen
an der Wiege Voltaire's und Roufjeau’3 und hören jchon die
Stimme Peter Bayle’3, des Vaters der Encyklopädie. Sie
baben es mit Stammgenofjen, mit Kindern vejlelben Landes,
mit Brüdern zu thun, mit loyalen Bürgern, die nichts wollen,
als ihren Tempel befuhen, ihre Kleinen im felben Glauben er:
ziehen, der ihnen durch Edikte, feierliche Cide und Friedens:
ſchlüſſe als ungefährvet übermacht und zugefichert worden iſt.
Die Beiden betämpfen eine Religionsgenoſſenſchaft, die dur
Jahrhunderte im Sande einheimifh und jonft Niemand mehr
anftößig ift, al3 dem Klerus, den bereits Pascal in jeiner
Nadtheit dargeitellt hat. 1 Und doch begehen fie Thaten, vor
Wir können nicht umhin, hier an einige Anekdoten zu erinnern, die
für die Frömmigkeit Ludwigs und jeiner Zeit harakteriftifch find.
Nah einer verlornen Schlaht rief der König entrüftet aus: Gott hat
aljo vergeffen, was id) für ihn gethan habe.
Zu Louvois, defjen Benehmen in den Religionsftreitigfeiten er billigte,
fagte der König eines Tages: Ich weiß nicht, wie Ihnen Gott eines Tages
Ihre Bemühungen anrehnen wird; was mid betrifft, ich werde fie
gewiß nie vergefjen. Memoiren des Herzogs von Richelieu.
Der Herzog von Orleans, als er 1506 zur italienifhen Armee abging,.
wollte Augrand von Yontpertuis, einen luftigen Gejellen, der aber nicht im
320 Tagebud aus Languedoc und Provence.
denen die Gräuel Alba’s in Belgien zu einer wahren Kleinigkeit
zufammenfchrumpfen; und doch nennt man Ludwig XIV. nur,
wenn von glänzenden Regenten die Rede ilt, und vergißt Baville—
Lamoignon, wenn die blutigen Schlädhter ver Völker aufgezählt
werben. Das ift das Glüd, die Chance in ver Weltgefchichte.
Aber wir wollen auch nicht verjchweigen, mas Baville des
Guten gethan hat; freilich werden wir zur Aufzählung feiner
guten Thaten nicht vieler Worte bedürfen. Dieſen Peyrou, auf
dem wir ftehen, hat er, nachdem er ihn mit dem edelſten Blute
getränft und gefittet, zu dem gemacht, was er heute ijt: eine
fchöne Terraffe, ein lieblicher Spaziergang, nachdem er ein ſtei—
niger Hügel geweſen, und die Natur, die gütige, läßt hier Blumen
und prächtige Bäume wachſen, hat ringsumber ftolze Gebirge
aufgeftellt und hat in der Nähe das blaue Meer ausgegofien, um
mit all diefer Pracht Banille-Lamoignon und die Geißeln und
Leiden der Menjchheit vergeflen zu machen.
Nah dem Tode Baville-Lamoignons und Ludwigs XIV.
erhielt der PBeyrou einen neuen Schmud an dem Aquädufte,
einem Theil der großen Waflerleitung, welche der Stadt Mont:
pellier das füße Wafler der Quelle von St. Clement in einer
Länge von beinahe 14,000 Meter zuführt. Der Theil vefjelben,
welcher ven Peyrou mit der gegenüberliegenden, durch ein tiefes
Thal getrennten Höhe verbindet, hat eine Länge won beinahe
900 Meter. Er bejteht aus zwei Stodwerfen, die fih aus 53
unteren und 183 oberen Bogen zufammenfegen. Er bietet einen
prächtigen und ftolzen Anblid und endet am Chateau d'eau,
einem jech3edigen, mit Forinthifchen Säulen und Basreliefs
Dienfte war, mit fi nehmen. Der König, der e3 erfuhr, fragte feinen
Neffen, warum er einen Janfeniften in feine Geſellſchaft ziehe? — Er ein
Janjenift! fagte der Prinz. — Iſt er nicht, fragte der König wieder, der
Sohn jener Närrin, die Arnaud nachlief? — Es ift mir unbelannt, ante
wortete der Prinz, was feine Mutter war; aber, was den Sohn berrifft, jo
weiß ih nit, ob er an Gott glaubt. — Ich bin alſo ſchlecht un’ errichtet,
fagte der König naid und ließ Fontpertuis al3 einen für den Glauben uns
gefährlihen Menſchen mit dem Herzog abreijen. Duclos’ Memoiren.
Bierzehntes Kapitel. 321
geihmüdten Baue, der ſich über dem Baſſin und jeinen Kaskaden
ſchön empormwölbt. In der Mitte des Platzes, zwiichen dem Cha-
teau d’eau und dem Triumphbogen, der in die Stadt führt, er:
bebt fi eine folofjale Reiterjtatue. Wir wollen vergefien, dab
fie Ludwig XIV. vorftellt, und fie wird mit all den Monu—
menten in Mitten dieſer jchönen Natur ihre Wirkung nicht ver:
fehlen. Vergeſſen wir überhaupt die Gejchichte und ihre Helven,
wenn mir an einem jchönen Sommerabend bier lujtwandeln,
vielleiht an der Seite einer jchönen Frau und eines lieben
Freundes; borchen wir auf die Muſik, die unter den Bäumen
erihallt, auf die Nachtigallenliever, die um die Wette aus dem
Schatten der Palmenbäume, begeiftert von den 2otosblumen im
botanifhen Garten, dort unten lieblih erklingen; jehen wir in
die ſüdſchwarzen Augen Iuftwandelnvder Frauen und fpielenver
Kinder; freuen wir ung mit dem dunkelblauen Meere, mit den
purpurnen Abendwolfen, mit den glühenden Spiten der Ce:
vennen. Die Sonne ſinkt; fiehe da! bevor fie verfanf, durch—
leuchtete fie einen Wolkenriß und zeigte ung ein erhabenes Py—
rendäenhaupt. Gute Naht, Spanien !
23. September 1851.
Es wäre ungerecht, über Geſchichte und Natur die lebende
Gegenwart, das Treiben, Fühlen und Denken rings um uns zu
vergefien. Sehen wir uns im Montpellier von heute um; die
Rejultate unjerer Unterfuhung werden, ich fage es mit Schmer;,
nicht die tröftlichiten fein.
Montpellier gehört, Dank feiner alten Univerfität und der
Akademie, zu den gebildetiten Städten des ſüdlichen Frankreichs
— und doch, meld einen niedrigen Grad der Bildung nimmt
man bei näherer Betradhtung wahr! Die Profefjoren, unter
denen einige böchitgebilvete, ſtehen mit ihren wiſſenſchaftlichen
und Rulturbedürfniffen allein; die Studenten find „Kümmel:
türlen”, die — eine allgemeine Krankheit des heutigen Frankreich —
nichts Anders im Sinne haben, als ihre Garriere zu machen, fich
Morig Hartmann, Werke. III. - 21
322 Zagebud aus Languedoc und Provence.
die Mittel und Titel de3 allergewöhnlichſten Brovderwerbes zu
verichaffen, eine Neigung, die man in den legten Jahren leider
auch im deutſchen Univerjitätäleben beobachtet haben will. Wenn
doch ein junger Mann ausnahmsmweije eine höhere Bildungzjtufe
erreicht, fann er e3 in feiner Vaterjtadt nicht lange aushalten
und wandert nad Paris. Die Mädchen befommen eine befchräntte
Klojtererziehung und bleiben ihr Lebenlang in der Gewalt der
Plaffen, denen fie dann als Mütter wieder ihre Kinder hingeben.
Die Geiitlihen haben eine um fo größere Gewalt, als fie in der
That ein im katholiſchen Sinne ziemlich vormwurfsfreie3 Leben
führen und, jelber ungebilvet und bloße Werkzeuge des höheren
Klerus, an ihren Dogmen und Gelübden mit Aufrichtigkeit und
Aufopferung hängen. Cine jo erzogene Gejellihaft it arm an
gejelligem Stoff, und jo jteht denn auch die Gejelligteit auf
ſchwachen Füßen. Für Künfte und Wiflenfchaften fann man ji
und darf man fich kaum interefjiren — wovon foll man jprechen?
womit die Abende ausfüllen ? was foll die Gemüther verbinden ?
Die Frauen unterhalten ſich von ihren religiöfen Uebungen; die
Männer, die das langweilt, obwohl jie e3 billigen, gehen in ihre
Gercles. Dort kann es auch kaum zu politiihen Diskuſſionen
fommen, da man nad politiichen Farben weit getrennt iſt.
Eines der Haupthemmnifje der Gejelligleit bildet die Reli—
gionsperfchiedenheit der Einwohner. Proteftantismus und Katho-
lizismus bilden zwei ganz verjchievdene Welten in Montpellier,
und der Klerus thut gewifienhaft das Seinige, um die trennende
Kluft jo lange als möglich Haffend zu erhalten. Die äußere Bil-
dung, der Lauf per Zeit, Interefien und Gewohnheit haben es
zwar dahin gebracht, dab die beitehende Feindſeligkeit won ge-
willen Zonventionellen Schleiern fanft vwerhüllt it. Aber im
Grunde der Seele verabjcheuen die Katholiten den Ketzer, und
fieht der Proteftant mit Stolz und einigem Hochmuth auf den
blinden PBapiften herab. Der devote Katholik ift intolerant, der
trodene Kalvinift ift fchroff und ſchwer verſöhnlich. Es geht dar—
aus hervor, daß man, wie es gewöhnlich gefchieht, den Katholiten
Vierzehntes Kapitel, 323
Unreht thäte, wenn man ihnen allein die Urfache ver be:
jtehenden Trennung in die Schuhe ſchieben wollte. Ich kenne
manche Beilpiele der Zuvorfommenheit von katholischer und deren
Zurüdmweijen von proteftantifcher Seite. Freilich find die Wunden
der Protejtanten kaum vernarbt, und es ijt natürlich, daß fie
ih jheuen, mit Denen in Berührung zu kommen, die fie ge:
ichlagen haben. Um fo mehr, al3 noch der Stolz überftandener
Leiden und bewieſener Ausdauer hinzulommt. Die Zatholijche
Toleranz ift auch nicht groß; die Fatholiihen Frauen halten e3
noch meijt für Sünde, mit den verirrten Schafen irgend eine
Gemeinjchaft zu pflegen, oder ſich der Verjuhung, der Gefahr
der Anſteckung auszufegen. Doch iſt man hier nicht fo fanatiſch
wie in manchen anderen Städten de3 Südens, wie z. B. in
Nimes. Wenigſtens hat ſich Montpellier bei keiner der Gelegen:
heiten beſchmutzt, die andere Städte zu Ruchloſigkeiten verleitet
haben. Weder die eriten Jahre der Revolution, noch die Reſtau—
rationgzeit wurden benugt, um den alten Glaubengeifer blutig
geltend zu machen, wie dieß in Nimes gejchehen ift, wo man
Protejtantismus, Republitanismus und Bonapartismus ın Einen
Topf zufammenmwarf und aus all Dem einen großen Vorwand
zu Mord und Todtſchlag zufammenbraute. Die Montpellierenjer
find im Grunde ein gutmüthiges Völfchen, und wenn ſich ihrer
einmal die Bildung mit derjelben Gewalt zu bemädhtigen ver:
ftände, wie e3 die Kirche und die Unbildung bisher verftanden
haben — all die traurigen Ueberreite trauriger Zeit würden bald
verſchwinden. An Geijtesanlagen fehlt es ihnen nicht; Beweis
die Fugen und weiſen Männer, die es in neuer Zeit herworge:
bracht hat, ganz zu ſchweigen von dem Glanze, mit dem e3 ſich
durch mehrere Jahrhunderte al3 franzöfifhes Salerno umgeben.
In Montpellier und Umgegend wurden geboren: Cambon, der
Gründer de3 großen Buches; Bonnier d'Alco, eines der Opfer
des ſchmählichen Geſandtenmordes von Raſtatt und Gefährte
Jean Debrie'3; Cambaceres, Konful der Republik; Daru, der
treffliche Geſchichtsſchreiber Venedigs und der Bretagne; Fabre, der
324 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
brave Maler und Freund P. 2. Courrier's und noch viele andere
treffliche Leute, die in Künſten und Wiſſenſchaften ausgezeichnet
waren. Im vorigen Jahrhundert heben wir nur Paul Riquet
hervor, ven großartigen Baumeijter und Ingenieur, ven Schöpfer
des in feiner Art berrlichiten Werkes, des Kanals von Languedoc.
Zur Zeit jcheint Montpellier allerdings feine großen Söhne,
die Nahahmung und Naceiferung, die ſolche Mujterbilder er:
regen jollten, die Mitarbeiterihaft am Ruhme des Vaterlandes
vernachläfligt und vergeflen zu haben. Dan verkleinjtädtert mehr
und mehr. Die Söhne der guten Gejellihaft werben, wie ge:
fagt, zum bloßen Broderwerb oder zur Verzehrung angeerbter
Renten erzogen. Die Töchter Fatholifher Herkunft werden bis
in ihr fiebenzehntes oder achtzehntes Jahr in Klöfter geichloflen.
Sobald fie das väterlihe Haus wieder betreten, ohne mehr ala
das Nothoürftigite und viele Gebete gelernt zu haben, ſucht man
fie von jedem männlihen Umgange, wahrhaft türkiſch, abzu-
jchließen und dann jo ſchnell als möglich zu verheirathen. Die
Heirath wird vermittelt Kuppelei oder in Folge elterlicher Ueber:
einkunft geſchloſſen. Oft ift fie jahrelang vorher beftimmt. Den
jungen Leuten wird an einem jchönen Morgen verkündet, daß fie
ſich verheirathen werden — dann bringt man fie des Decorums
wegen ein: oder zweimal zufammen — dann wird der Notar ge:
holt und der Kontrakt wie bei jedem anderen Kaufe abgemacht.
So kommen „anjtändige” Chen zufammen. Dem verheiratheten
Manne erlaubt man, jein Glüd, wenn er es zufällig in einer
ſolchen Ehe nicht finden jollte, auswärts und auf Nebenwegen
zu ſuchen. Wenn fih aber, wie dieß vor nicht gar langer Zeit
gejchehen ijt, die junge Frau in den eriten beften Mann, den fie
nad ihrer Verheirathung fennen lernt, mit dem ganzen erſten
Feuer verliebt, wahnjinnig wird und fich ins Waller ftürzt —
jo nennt man das eben „Wahnfinn“. Glüdlicherweije kommt
dergleichen jelten vor, da die jungen Mädchen jo unnatürlich ere
jogen werben, daß zur Zeit ihrer Verheirathung fein natürliches
Gefühl mehr Kraft genug bat, fo energijch hervorzubrechen. Das
Vierzehntes Kapitel. 325
Prinzip aber, das alle dieſe Zuftände beberricht, nennt man im
frommen Eüden: Moralität.
Aehnliches erzählt man mir und habe ich felbjt über die Mo:
ralität der Landbewohner erfahren. Die Bauernmädchen find
höchſt moralifh. Ein „Monsieur“ (d. i. Jeder, der nicht Bauer,
Zagelöhner oder Duvrier ift) wird jelten oder nie Glück bei ihnen
maden. Ihre Freuden bleiben en famille, und en famille
ift man nicht geizig oder allzu jtreng gegen einander, Bei der
Heirath aber fieht man ganz genau auf Vermögensumjtände und,
ſehr arijtofratiih, auf Herkunft und Anfehen der Familie.
Alles Andere ift mehr oder weniger Nebenfache. Die Ehe bringt
jelten mehr al3 zwei Kinder hervor. Auch ijt die Bevölkerung
vieler Fleden in der Abnahme. Die Curé's, die gegen jo Vieles,
gegen Fleiſcheſſen am Freitag, gegen Tanzen am Eonntag zu
predigen wiſſen, haben fein Wort gegen dieſen widerlichen, ſyſte—
matilirten Malthufianismus,
Das Volt von Montpellier hat mir immer den Eindruck der
Gutmüthigfeit und Urfprünglichfeit gemacht, und in der That
jcheint es ſich, was Charafter anbetrifitt, von ver Bevölkerung
mancher jüdlicher Städte, von Avignon und Nimes zum Beilpiel,
höchſt vwortheilhaft zu unterſcheiden. Auch die Gefchichte Ipricht
im Vergleih mit den genannten Städten zu Montpellier Bor:
theil. Alle Gräuelthaten, deren Schauplag Montpellier gemweien,
find auf Rechnung ver jeweiligen Regierung zu ſchreiben. Das
Bolt hat ſich dabei nicht betheiligt; im Gegentheil zeigt es uns
die Geſchichte oft im heldenmüthigen Kampfe für das Gute, oder
wenigſtens im würdigen Wivderftand dem Schlechten gegenüber,
während Nimes und Avignon nicht jelten die Barbarei der Re:
gierungen aufs Thätigjte unterftügten. Schon der vorherrichende
Gejihtsausprud der Montpellierenfer legt für fie ein günſtiges
Zeugniß ab und befräftigt das der Geſchichte. Er ijt voll Gut:
mütbigfeit troß den glühenven, ſchwarzen Augen, trog dem
dunfel gebräunten Teint, dem krauſen ſchwarzen Haar, und
läßt für Momente vergeffen, daß die eigentliche Schönheit
326 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
der Formen fehlt — ein Mangel, ver ſonſt im Süden auf:
fallen müßte. Man iſt freundlih, zuvorkommend, bienitfertig,
gaskogniſch-geſprächig, mit einem Worte: liebenswürdig und trotz
dem Mangel an Bildung frei, ungezwungen, oft anmuthig in
Benehmen und Bewegungen. Das Volt wird in dieſen Eigen:
ſchaften noch unterftügt dur fein mohlflingendes Patois. Es
rühmt fi, die Sprache Languedoc3 und der Provence am Schönften
zu ſprechen, und ich glaube, man thäte ihm Unrecht, wenn man
ihm diefen Ruhm ftreitig machen wollte. Wie in Italien, drüdt
au im füdlichen Frankreich jede einzelne Stadt dem allgemeinen
Idiom ihren eigenen Stempel auf, jo daß es dem geübten Obre
nicht ſchwer wird, nach den erften Worten ven Marjeillefen, den
Arlefen, den Avignonefen, den Nimois, den Montpellierenfer
zu erfennen. Das Patois Marfeille'3 klingt etwas kindiſch, trotz
der Mühe, die es fich gibt, wichtig und männlich zu thun; das
von Arles iſt fofett; da3 von Avignon wild wie Avignons Be-
wohner. Das pfeifende s ijt vorherrſchend, und man glaubt
jeden Augenblid das sus! sus! zu hören, mit weldhem vie
Avignoneſer Mörder fo oft auf ihre Opfer losſtürzten. Minder
wild, doch noch ziemlich rauh ift das Patois der Nimois, aber
melodiſch, bald weich, bald jtolz wie das Spanifche, Elingt Die
Sprade Montpellierd. Ich war barbarifh und ungebildet genug,
ſie mit viel größerer Freude zu hören als das Franzöſiſche. Cie
it reih an volltönenden Vofalen und vermeidet, man möchte
jagen mit Sorgfalt, die Anhäufung harter Mitlaute. In ver
That wähnt man fih manchmal auf Momente in die Geſellſchaft
ſtolz und elegant fprechender Hidalgo's verjegt, und die Illuſion
wird durch die häufig wiederkehrenden Wörtchen el, las, es,
durch viele vollflommen jpanifche Ausprüde, durd die vollen
Sylben befonders der weiblichen Endungen auf a und as, ſowie
dur die Konftruftion der Verfette und Imperfekte noch erhöht.
Mehr oder weniger hat das Patois Montpelliers dieſe Cigen-
ſchaften mit den Dialekten faft des ganzen Südens gemein, mas
aber die Montpellierenfer vor den Anderen neben ver Weichheit
Diergehnted Rapitel, 327
ihres Dialektes auszeichnet, ijt die Ausipradhe und Anwendung
des Heinen Wörtchend pecayre.
Ich bin ebenfo wenig im Stande, eine Definition dieſes
Wörtchens zu geben, als e3 jelbft ven beredteften Montpellieren:
jern möglid war, mir feinen Sinn in flaren Worten begreiflich
zu maden. „Pecayre* ijt eben „Pecayre!* Es überjegen
oder auch nur jeinen Klang durd die Schrift wieder geben zu
wollen, wäre vergeblihe Mühe. Die Betonung, die Art und
Weiſe, wie es im Momente des Gebrauches in Mufik geſetzt, im
Sate angebradt, mit dem Reſte der Rede gruppirt wird, wie
e3 fich zu Frage, Antwort, Ausruf, Erzählung u. f. w. verhält,
geben ihm erjt einen Sinn und den momentanen Charakter. Die
Patoispoeten bedienen fich jeiner mit vielem Geſchick und Nutzen;
beſonders graziös, lieblih, mufifaliih, überaus reizend aber
tlingt e3 im Munde der Montpellierenjerin. E3 ijt zwar nod in
vielen anderen Gegenden des Südens adoptirt, nirgends aber
weiß man davon jo ſchön Gebrauch zu machen, mie im mweib:
fihen Theile ver Bevölkerung von Montpellier. „Pecayre* ijt
der Montpellierenjerin, was der Sevillanerin der Fächer und die
Mantille find. Sie jagt Alles mit Hülfe des einen Wörtchens,
jo wie diefe mit Hülfe der beiden Inſtrumente alle ihre Gefühle
telegraphiſch ausprüdt.
Man fagt zu der Montpellierenjerin: Willen Sie jhon, daß
der brave Ariftive Olivier gefallen ijt? — Pecayre! ruft jie
erihroden und jchlägt die Hände zufammen. — Was Sie fhöne
ihwarze Augen haben. — Pecayr&! lädelt fie kolett. — hr
armes Kind hat wohl viel gelitten in der legten Krankheit? —
Pecayr&! antwortet fie mit einem Seufzer. — Aber wie blühen
Sie find; man wäre verjucht, fih in Gie zu verlieben. —
Pecayre&! antwortet fie jpöttifch.
Aber am Beſten vrüdt das Volkslied die Mannigfaltigkeit des
Wörtchens Pecayre aus. Es beginnt jo:
Qu’&s poulit lou mot pecayre,
Esprima ce qu’on pot senti.
328 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Es un mot qu’es fact per vou playre
On se rejouis de l’a oui.
Pecayr& esprima la tendressa,
Pecayre esprima lou desi,
Pecayr& esprima la tristessa,
Pecayr& esprima lou plesi.
Mas deutſch ungefähr heißen will:
D meld ein Schönes Wort, das Wort: Pecayre! —
Was man nur fühlt, vermag es auszudrüden;
Es ift ein Wort, gemacht, euch zu gefallen,
Hört man e8 faum, muß es entzüden.
Pecayre! rufen die verliebten Herzen!
Pecayr&! ruft die ſehnſuchtsvolle Bruft,
Pecayre! rufen Kummer, Gram und Schmerzen,
Pecayr&! ruft das Glüd und ruft die Luft.
Doch macht, troß der Schönheit des Patois, trogdem e3 aus⸗
drudsvoller, liebliher und kräftiger ift als die franzöſiſche Sprache,
diefe immer größere Fortichritte und wird ſich mohl bald ver
ganzen Bevölkerung bemächtigt haben. Schon hat ſich dieje daran
gewöhnt, fie als die ausſchließlich offizielle und politifhe und als
Ausprud der Bildung zu betrachten, und jelbft in der Kirche will
das Volk nur die franzöfiihe Spradhe hören. Die Gebete, der
Katehismus find franzöfiih, und der Cure muß franzöſiſch pre:
digen, wenn er fein Auditorium nicht beleidigen will. Daß die
Kenntniß der nordfranzöftiihen Sprache ihr Alter (wenigſtens in
diefem Grade) nur erit nad Jahrzehnten zähle, beweist eine
Anekdote, die jelbit die Montpellierenier mit Lächeln erzählen.
Als der Herzog von Richelieu, der Don Juan des vorigen Jahr:
bundert3, zum Gouverneur von Languedoc ernannt wurde und
nah Montpellier, feiner Refivenz, fam, gab ihm zu Ehren die
Frau irgend eines Präfiventen irgend eines Tribunals eine große
Soiree. Die Dame fuhr jelbft von Haus zu Haus, um die ele-
ganteften und gebilveiften Frauen der Stadt einzuladen, zugleich
um ihnen einzujhärfen, für viefen Abend ihr beſtes Franzöſiſch
Vierzehnted Kapitel. 329
bervorzubolen, um der Stadt vor diefem elegantejten Manne des
Hofes feine Schande zu machen. Die Damen thaten, wie ihnen
. von ihrer Wirthin eingefhärft worden. Und doch! und doch! —
o traurige Ueberraſchung! doch rief der Herzog von Richelieu um
Ende der Soirée: Tiens! man hat mir immer gejagt, daß das
Patois von Montpellier jo ſchwer zu verjtehen ift, und ich ver:
ftehe fait Alles, was diefe Damen fagen, mit nur geringer An:
ftrengung !
Im Jahre 1848 verfuchte man es, eine demofratijche Zei:
tung, im Patois gejchrieben, herauszugeben, aber das Unter:
nehmen fand feinen Anklang, während im Gegentheil das legi:
timiftifhe Journal „L’Echo du Midi* und das demokratiſche
„Le suffrage universel“*, beide franzöfifh, auf guten Füßen
jtehben. Das letztere verdankt feine Popularität dem Geiſte
und der frijhen Kraft jeines Mitbegründers, des jungen Arijtide
Dlivier, der vor einigen Monaten im Duell mit einem Legiti:
miften gefallen ift. Doc bat es wohl nicht mehr lange zu leben,
da es bereit die Aufmerkjamfeit der Regierung auf fich gezogen,
und dieſe die demokratiſchen Journale der Provinz noch mehr
fürdtet, al3 die von Paris. Auch den hier beftehenden legitimi-
ſtiſchen Journalen iſt fein langes Leben zu prophezeien; Louis
Napoleon wird ihnen ſchwerlich dankbar dafür fein, daß fie feine
Wahl unterftügt haben. Wenn der Coup d’etat eine Wahrheit
wird, werden republifanifche, wie legitimiftiiche und orleaniftifche
Zeitungen durch oftroyirte napoleoniſche gemaltjam erjegt werben.
Der Redakteur der einen der legitimiftifchen Zeitungen, des Mes-
sager du Midi, Herr Danjou, ift in vielfadher Beziehung ein
mertwürdiger Mann. Daß er fürs fompletefte Mittelalter ſchwärmt
und ſtark ultramontanijirt, wäre nicht auffallend — merkwürdig
an biejem gebildeten Manne ift, daß er den lateinischen und
griechiſchen Klaſſikern unverföhnlihen Haß geſchworen, und daß
er Homer, Sophokles, Horaz u. j. w. in feinem kleinen, mweltwer:
geſſenen Blatte mit erjtaunlicher Ausdauer den Krieg madt. Er
ftellt fie ald die Urquellen der Freiheitsideen, al3 Verderber der
330 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Jugend dar und will fie um jeden Preis aus den Schulen ge:
morfen jehen. 1 Auf welche Weile Herr Danjou fie erfegen und
welche andere, befiere Baſis ver Bildung er geben will, willen.
wir nicht, aber wir müfjen ihm Gerechtigfeit wiverfahren lafjen:
indem wir befennen, daß er tiefer fieht und gründlicher ift, als
jeine ultramontanen Gefährten. Er jcheint zu willen, welches
Unheil Chryfoloras und die beiden Laskaris angerichtet, und e3
mag ihm aufgefallen fein, daß die Reformation die Zwillings—
ſchweſter ver Renaiflance und mit ihr im jelben Momente ge:
boren worden ijt. Diefer Gründlichkeit wegen, wie lächerlich fte
uns aud) ericheint, Fann Herr Danjou mit feinem Heinen Blättchen
doch gefährlich werden, obwohl viefes Blättchen ſonſt viel Un-
praftiihes debitirt und ziemlich fchlecht gefchrieben iſt. Herr
Danjou ift einer der beten Orgelipieler Frankreichs; ſchade, daß
er ſich mit diefem Ruhme nicht begnügt bat.
! Diefe Agitation Danjou’3 hat feitdem yrüchte getragen. Danjou
ftarb 1866.
— — — — — —
Fünfzehntes Kapitel.
Montpellier — Der botanijhe Garten — Herr Martind — Das Grab Narcifia
Young’3 — Eine Pia Fraus — Die Univerfität und ihre Gründung — Ihre
Geſchichte, ibr großer Ruf, ihre Berühmtheiten im Mittelalter — Der große
Lacher — Rabelais und feine Späße, Rabelais und fein Zeitalter — Rabelais
und Gerbantes — Robe de Rabelaid — Kultus des Genied — Profeſſor St. Rene
Taillandier — Bie zu Montpellier Doktoren gemacht werden.
25 Geptember 1851.
Unfern vom Peyrou, in einer Vertiefung, liegt der botani-
Ihe Garten, der zwar nicht jehr ausgedehnt, doch fehr reih an
den feltenjten Pflanzen aller Zonen iſt. Beſonders ſchön find die
Bäume, die in feinem Schooße gedeihen; man fieht herrliche
Gremplare. Doc ift der botaniſche Garten von Montpellier nicht
eine Ahnung von dem, was er fein könnte, da Lage und Klima
ihn geeignet machen, alle derartigen Jnftitute Europa's meit zu
übertreffen. Daß er nicht ift, was er fein könnte, daran ift nun
wieder die unglüdjelige franzöfiiche Centralijation Schuld, deren
traurige und auszehrende Wirkungen man immer und überall,
in jedem Winkel des Landes fpürt. Was kümmern ſich die fran-
zöfifchen Gentralifatoren darum, daß der Pariſer Jardin des
Plantes nicht halb fo begünftigt und von Natur geeignet ijt, das
Ideal eines folhen Inſtitutes darzujtellen — er liegt eben bei
Paris, darum müfjen Sorgfalt, Mühe, Geld an ihn verſchwendet
werden, während man die botanischen Gärten der Provinz ver:
nadhläfligt oder eingeben läßt. Der botaniſche Garten von Mont:
pellier könnte eine der ſchönſten Zierden, einer der Haupthebel
der Wiflenichaft werden — aber warum gehört er einer Provin-
zialjtadt, wenn auch der älteften und berühmteſten medizinijchen
332 Tagebud aus Languedoc und Provence.
Schule Franfreih8 an? — da muß er jih denn mit einigen
taufend Francs begnügen, welche die Gentralijation die Güte
bat, zu feinem Unterhalt auszujegen. Ohne die gütige Sonne
des Südens wäre er mit diefem elenden Almojen vielleicht längjt
eingegangen. Herr Martins, ein jtrebjamer, geiftreicher, junger
Gelehrter, der vor Kurzem zum Direftor des Garten? ernannt
worden ijt, wird mohl das Seinige thun, die Ehre des uralten
Inftitut3, troß der Ungunjt der Verhältniffe, aufrecht zu erhals
ten, vielleicht zu erhöhen. Ein Mann, der von Goethe’jchem
Geifte jo erfüllt ift, mie Herr Martins, fann da nicht müßig
bleiben, wo die Natur hülfreihe Hand leiftet, und muß das
Ueberfommene, allen Hinderniffen zum Trog, zu erweitern und
zu einem Ziele zu führen verjucht fein.
Eine biftorifhe Merkwürdigkeit in diefem botanischen Garten
itellt ein einfaches gemölbte® Gemäuer dar, das, von alten
Bäumen düjter bejchattet, in der Erbe jtedt, und das mit ſchau—
rigem Tone dem Wanderer ein siste viator! entgegenruft. Es
iit das Grabmal Narcifja’3, der Tochter Young's, des Dichter3
der „Nachtgedanken.“ Young fam mit jeinem franfen Liebling
nad Montpellier, um in der linden Quft des Südens für die
binfchwindenden Zungen Heilung zu juchen. Umſonſt. Narciſſa
ftarb, und da fie al3 Kegerin in jener Zeit zu Montpellier fein
ehrliches Begräbniß finden fonnte, trug fie der Dichter bei Nacht
und Nebel in feinen Armen auf den neutralen Boden der Natur:
wiſſenſchaft, die ebenſo wenig von Katholizismus weiß, wie von
Anglifanismus, um fie da zu verſcharren und mit ihren Atomen
Roſe und Lotos zu nähren. Die Inſchrift auf ihrem Grabe
„Placandis Nareissae Manibus* rührt von Talma ber. Als
diejer Künjtler nah Montpellier fam, war es protejtantifchen
Gräbern bereitö gegönnt, ein Epitaph zu tragen, und Talma,
gerührt von der Geihichte, dem Tod und dem Begräbniß Nar:
ciſſa's, erfand, vor ihrem Grabe jtehend, das Epitapb und lieb
es binjegen. So weit die Sage, die den Fremden intereflirt.
Aber glaubwürdige Leute verficherten mich, dab Narcifja nie und
Funfzehntes Kapitel. 333
nimmer bier im botanijhen Garten geruht habe. Young trug
die traurige Lajt weit hinaus und vergrub fie auf irgend einem
Aderfelve. Die Tradition von dieſer Begebenheit hatte ſich er:
halten, und zu Anfang dieſes Jahrhunvert3 hat fie ein Direktor
des botanifhen Gartens benugt, um dem fchlecht bejolveten
Wächter deſſelben, der viele Kinder hatte, ein gutes Einfommen
zu verfchaffen. Er lieb das unbedeutende Gemäuer aufführen,
taufte es Narciſſa's Grab und fagte zum Wächter: Nun ziehe den
reifenden Engländern fo viel Shillinge als möglih aus der
Taſche, was denn die Wächter des botaniſchen Gartens bi3 auf
ven heutigen Tag gewillenhaft befolgt haben jollen und wohl
noch lange befolgen werden. Wenn ich ihren Einkünften dur
dieſe Enthüllung ſchade, thut e3 mir herzlich leid. Aber Wahr:
beit vor Allem, oder jedenfalls die Skepſis. Hat man doch die
Authentizität heiligerer Gräber und hiftorifcherer Perſonen an:
gezmeifelt.
Zweckmäßig nahe dem botaniihen Garten liegt die medizi-
niihe Schule, jenes Inftitut, welches der Stadt durch Jahr—
hunderte über die Erde tönenden Ruhm gegeben und ihr den
Namen des franzöfiihen Salerno verſchaffte. Sie wurde bereits
im elften Jahrhundert von den Schülern des Arabers Ebn-Sayn,
auch Avicenna genannt, gejtiftet, welche im zwölften Jahrhundert
die Jünger des Averroes von Cordoba zu Nachfolgern hatten.
Zu einer eigentlichen Univerfität erhoben und mit den Fakultäten
des Rechts, der Theologie und der ſchönen Künſte verbunden
wurde fie erft im 13. Jahrhundert. In dieſer Epoche erhielt fie
auch ihre eriten Regeln und Geſetze, die vom heiligen Stuhle
ausgingen und vom Kardinal Konrad diktirt wurden. Ungefähr
gleichzeitig mit Montpellier erhielten die Städte Toulouje, Air,
Bordeaur, Balence, Cahors, Poitierd und Bourges hohe Schu:
len, und allen viefen Stiftungen lagen viefelben Motive zu
Grunde, und alle gingen fie von der Kirche aus, Nicht daß fie
Merk: und Uebungsftätten des Geijtes hätte gründen, Forjchen
und Willen hätte begünftigen mwollen — Solches von ihr
334 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
vorausfegen, hieße ihr schwer Unrecht thun und ihr ganzes Weſen
verfennen. Im Gegentheil jollten die Univerjitäten Feſtungen
werden, in denen der Geiſt eingejperrt, in denen er mit Leichtig—
feit überwacht werden follte. Die Univerfitäten gehören mit zu
den jinnreichiten Erfindungen der Geiftlichkeit. Der Geiſt, wel—
cher in Geftalt von unzähligen Troubadours frei, ungebunden
den ganzen Süden durchzog, von Lorbeerbüfchen beihattet ein
ſüßes Kindlein mit der Poeſie des Ketzerthums erzeugt hat und
dieje3 Kind der Liebe mit feinen verführeriihen Augen in Hütten
und Schlöſſer einführte — diejer gefährliche, antipapijtiiche, kecke
Geijt mußte in Ketten und Schnüritiefel geftedt und von tonſu—
rirten Mönchen bewacht werden, wenn er, nad dem Falle von
Zoulouje, nicht noch einmal furchtbar drohend, allen Montfort3
zum Trotz, eritehen ſollte. Da nun die Kegerei im Blute erftidt
und mit ihr die Troubadourpoefie gejtorben war, mußte man
alles Denken und Fühlen des phantajievollen, Teihtbeweglichen
Süpländers in einzelne Refervoirs leiten, die leicht zu bewachen
waren, und folche Refervoir3 waren die neuen Univerfitäten. Die
Theologie jpielte natürlich die erite Geige; die Gründung wurde
durch päpitlihe Bullen geheiligt; die Mehrzahl der Profeſſoren
trug die Tonſur; die Biihöfe waren die Aufjeher und Richter;
die Legaten gaben die Gejege. So überwucherte das fanonifche
Recht das weltliche; jo wurde die Philojophie zur Kafuiftit und
Scholaſtik, und fo durfte die widerſpänſtigſte Schußbefohlene der
Kirche, die Naturwilfenichaft, mit offenen Augen nicht ſehen, mit
offenen Ohren nicht hören. Gewiſſe Freiheiten, die man der
Univerfität dem Bürger gegenüber einräumte und die, wie 3. B.
in Zoulouje, zu Mord und Todtſchlag führten, ließen die Stla-
verei der Kirche gegenüber vergefjen.
Uber trog der durchdachten Anlage des Planes, troß der
Uebergewalt und Vormundſchaft der Kirche, ließ ſich die allmäd;
tige Naturwifienfchaft, ließ ſich der einmal befreite Geijt die Luft
an Forjchen und Denken nicht ganz unterdrüden. Die Autorität
de3 Xelteren bezwang in Montpellier die auferlegte Herrichaft
Yünfzehntes Kapitel. 335
der Kirche, die Naturwiſſenſchaft trieb im vierzehnten Jahr:
hundert neue Blüthen und erwarb der Stadt jenen großen Ruhm,
den jie durch die folgenden Jahrhunderte zu bewahren mußte,
und der die bebeutendften Geiſter aus Nähe und Ferne anzog.
Blaife Armengaud übertrug ſchon gegen Ende des dreizehnten
Jahrhunderts die Errungenjchaften der forfchenvden Araber auf
hrijtlihen Boden und überjegte den Avicenna aus dem Arabi—
ſchen ins Lateinifhe. Bernhard von Gordon erwarb durd fein
Lilium Medieinae großen Ruhm; ebenfo Guido von Chauliac
durd) jein Inventarium seu colleetorium in parte chirurgi-
cali seu medieinae; Arnold von Ville-neuve ift einer jener
wandernden Lehrer, die im Mittelalter von Schule zu Schule
zogen und den Samen der Wiſſenſchaft ausftreuten. Er lehrte
zu Montpellier, Paris, Rom, Cordoba, — Diefe und nod
viele andere Meifter thaten in Montpellier das Jhrige, um die
Naturwiſſenſchaft groß zu ziehen, ihr durch das Mittelalter
hindurch das Leben zu friften, bis fie, am jechszehnten Yahr:
hundert angelangt, mit dem wiedergeborenen Griechenthbum ver:
einigt, die Welt vom Alp befreite, der jeit der Völkerwanderung .
auf ihr gelajtet hatte.
Nicht viel beſſer erging es der Kirche mit ihrer zweiten Zieh:
tochter, der Jurisprudenz. Die Medizin, wie jehr fie auch im
Geheimen und unbewußt die Dogmen unterwühlte, fonnte doc)
lange al3 ein Ausfluß der göttlihen Gewalt „quia Altissimus
cereavit de terra medieinam“ dargejtellt werden, und fie lie
fich diefe Darftellung gefallen. Die Jurisprudenz ſchloß fich ihrer
Natur nah bald an die mweltlihe Gewalt an, und überall, wo
da3 Imperium mit der Ecelesia in Streit gerieth, ftellte fie
ih auf Seite des erfteren. Juſtinian und die Inſtitutiones
galten ihr mehr al3 die Kirchenväter und Konzilienbefchlüffe, und
io fehen wir fie in Montpellier ſchon zu Anfang des vierzehnten
Jahrhunderts in Geitalt de3 berühmten Nogaret, des Ohrfeigen:
austheilers, ald Bundesgenofjin Philipps des Schönen, i. e. der
mwiderftrebenden Weltlichleit auftreten. Noch herrichte der auf:
336 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
rübrerifche Geift Nogaret’3 in Montpellier, al3 dajelbit Francesco
PVetrarca ankam, nachdem er ſchon in Stalien Retorica, Dia-
lettica und Grammatica ſtudirt hatte, denn es war „in quell”
eta comun giudizio che lo studio delle leggi fosse mezzo
efficacissimo per conseguire fortune ed onori. Per la qual
cosa a Monpellieri il se fe tosto condurre.“ Jung wie er
war, leicht entzündlih und treu aushaltend, jog er bald die ver-
verblihen Lehren der Verräther ein, die ſich die Kirche erzogen
hatte, wurde zum Bolitifer, lernte den Unterſchied zwijchen Recht
und Dogma, Himmel und Erde kennen, und der Freund der
Päpfte und Karvinäle, der Dichter, der jeine Lorbeerkrone dem
heiligen Petrus anbot, wurde der Advokat des römischen Volkes,
freute fih im Grunde über den Aufſtand Cola Rienzi's, forderte
die LTügelburger auf, das Imperium wieder berzuftellen —
wurde, mit einem Worte: ein Ghibelline. Der Art mißrathene
Söhne hat fi die jo kluge Kirhe in den von ihr erfundenen
Zwingburgen de3 Geijtes, von Prag bis Montpellier und weiter,
lange vor dem ganz und gar burchlegerten ſechszehnten Jahr:
hundert gezogen. Welch ein Troft!
Der große Lader.
Allerlei Gejtalten, Bilder und Gedanken durchziehen ven
Kopf, wenn man fih in dem alten bifhöflihen Gebäude zu
Montpellier, vem Site der medizinischen Schule, ergeht und die
unzähligen Bortrait3 alter Lehrer und Zierven der Wiflenfchaft
betrachtet, die alle Wände ber weiten und vielen Säle beveden.
Auch etwas patriotiihen Stolz fühlt man, wenn man im Haupt:
ſaale die germaniihen Namen Haller, Wolff, Zimmermann ıc.
entdedt. Aber recht wohl und glüdlih und heiter wird Einem
erit zu Muthe, wenn man bort jenem Montpellierenfer Profeſſor
Namens Alcofribas Nafier, auch Meiſter Spötter oder Rabbi
Fünfzehntes Kapitel. 337
Ley, auch Francois Rabelais genannt, in die Augen fiebt. Man
bat einen jener franzöfifchen Geifter vor fih, der neben ven
Beiten, Freieiten aller Nationen genannt werden kann. Rabelais!
Wie ein Janus fteht er zwifchen zwei Zeiten, aber nach beiven
Seiten hin blidt er mit weißen Zähnen lächelnd; rüdwärt3 auf
den fterbenden, ungeſchlachten Gargantua, vorwärts nach Pan:
tagruel, dem Menfchheitsbeglüder, dem guten Manne, der alle
Dürftenden zum labenden Kelche des Lebens, des Wiſſens und
Geniebens ladet. Gieht man e3 ihm nit an, daß der früh:
zeitig von Mönchen verfolgt werden mußte? — dab er lachend
aus dem Kerker trat? lachend ein Lebenlang zwiſchen Scheiter:
haufen, die ihn rings umdrohten, hindurchſchlüpfte? Daß er
lachend half, heilte und erhabenfte Wahrheiten ausſprach? Daß
er endlich lachend ftarb und ladhend am Ende rief: Tirez le
rideau, la farce est jouge!? Das ganze Leben Rabelais', der
ganze Rabelais felbft ift nichts als ein einziges großes Laden,
ein freudiges Lachen, ein prophetiiches Lachen, welches das ganze
ſechszehnte Jahrhundert durchtönt; ein Lachen aus Freude über
den Untergang der Nacht, über den lieblich aufgehenven Tag,
über die neuentvedte Welt im Welten; über das neugeborene
Griehenthum und feine Zwillingsichwefter, die Schönheit; über
die Kunjt und die Naturkenntniß, die fich vereint erheben, das
alte Dunkel aufzullären; über den großen, herrlichen Kampf,
ven die Reformatoren in allen Ländern kämpften. Le rire est
le propre de Phomme! ſagte er am Krankenbette im Hofpital
und am Krankenbette ver Menſchheit. Man kann den Vorfteher
des Hofpitals von Lyon nur ſchwer von jenem Rabelais trennen,
der in feinen Büchern der ganzen Menfchheit angehört. Was er
in jener Eigenjhaft jagt, gilt auch vom Dichter des Pantagruel,
vom Erfinder des Bantagruelismus: Minoisdu medecin chagrin,
tetrique, rebarbatif, catoman, mal-plaisant, malcontent,
severe, réchigné contriste le malade; et du medeein la
face joyeuse, sereine, gracieuse, ouverte, plaisante rejouit
le malade, Cela est tout Eprouv& et tout certain.
Morig Hartmann, Werke. I. 22
338 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Hat er fich nicht felbit gemalt, wie er dort von der Wand
herab, wie er überall aus jeinem Buche, aus feinen tollen und
doch jo beveutungsvollen Geſchichten hervorblidt? Rabelais, der
mit Lachen heilende Arzt, ift der Humoriſt par excellence.
Hoch oben ſchwebt er über dem gewaltigen Schlachtfeld, welches
man das jech3zehnte Jahrhundert nennt, und wie eine Sonne
lächelt er herab auf die Kämpfenden. Da unten fämpfen Ber:
gangenheit und Gegenwart, Kirche und Tempel, Dogma und
Wahrheit, Zerrbild und Schönheit; da unten kämpfen oder rüften
fih Klemens, Karl V., Franz I., Heinrih VIII., Luther, Hutten,
Reuchlin, die Mediceer, Mafaccio, Leonardo, die Flüchtlinge
aus Hella3; Raphael eriteht, Michel Angelo erhebt feinen Hammer,
Cervantes und Shakeſpeare liegen in der Wiege, und Gutten-
berg hat jchon alle Waffen geſchmiedet, und der unendliche Ozean
ift fein Geheimniß mehr, und die Erde bewegt ſich doch, und
die firhlihen Schöpfungstage find Lügen geftraft. Rabelais
fieht, weiß, ahnt das Alles. Kennt er nicht die Griechen jo gut
wie fein Freund Bude? ift er nicht Arzt, der die Geheimnifle
der Pflanzen und Thiere erforfcht hat? hat er auf den Thürmen
von Lyon nicht den Gang der Geftirne belaufcht? hat er nicht
mit Luft in den Werkſtätten feines Freundes Dolet den Preßbengel
fnarren gehört und ihm gerne als niederer Korrektor gedient?
ift er nicht ein Freund aller Neformatoren? wie follten ihm
Augen und Ohren fehlen für Alles, was neu auftaucht, geboren
wird und der Welt eine neue, ſchöne Zeit verſpricht? wie jollte
er nicht aus ganzem vollem Herzen lachen und wieder laden und
noch laden? Rabelais ijt die vollendete und volltommenite Ber:
fonifizirung des jhönften Theile jeiner Zeit; — fein Brudjitüd:
menſch, jondern einer jener Punkte in der Weltgefchichte, in welcher
alle jhönften Strahlen einer ganzen, großen Epoche zujammen:
laufen und ſich zu einem Fokus fammeln, der dann meiter
leuchtet durd) Jahrhunderte. Wenn Alles zu Grunde ginge, mas
von den Thaten und dem Etreben des jehszehnten Jahrhunderts,
vielleicht des größten der neuen Aera, zeugt, und nur Rabelais
Fünfzehntes Kapitel. 339
übrig bliebe: aus feinen Späßen könnte man fich das Verlorene
rekonſtruiren. Und das jtellt ihn uns größer dar, als den größe:
ren Künftler Cervantes, feinen jüngeren Bruder, der mit ihm
fo viel Aehnliches hat. Vergeſſen wir e3 nicht, daß ſchon Rabe:
lai3 mit feiner Chronif von Gargantua denjelben Zmwed vor
Augen hatte, wie Gervantes mit feinem Ingenioso Hidalgo
Don Quijote. Auch Rabelais zog mit feiner Chronik gegen den
unter Franz I., dem „ritterlihen König“, neuerwachten Ritter:
thumsunfinn und damit zugleich gegen das Gelpenftifche, nicht
mehr Lebenswürbige, gegen das Alte zu Felde, indem er es
verlachte. Später freilich gab er feiner Idee eine größere Aus:
dehnung und fügte an die alte, todte die neue, lebensfreudige
Welt des Pantagruelismus — ein rüdwärt3 und vorwärts ge:
fehrter Prophet; ein Todtengräber und Schöpfer.
Wir müflen fie lieben, diefe Montpellierenfer Hochſchule,
weil fie ihn als Schüler und Lehrer geſehen, weil fie ſchnell jei-
nen ganzen Werth zu würdigen verjtanden und noch heute fein
Angedenten mit Frömmigkeit bewahrt. Es war ein großer Tag
für fie, da der alte Student Francois Rabelais, vom Durft nad
Wiſſen getrieben, feinen Einzug hielt in Montpellier. Die Menge
drängte ſich eben in den großen Univerfitätjaal, um einer öffent:
lihen Disputation beizumohnen. Rabelais, nod in Reijekleidern,
folgt ihr und fteht befcheiden im Gebränge der Laien und horcht
aufmerkſam den meifen Worten der gelehrten Doktoren. Nah
und nach aber wird ihm jonderbar und weh zu Muthe, denn er
merkte, daß er über den Gegenftand, der eben diskutirt wird,
über medizinifche. Botanik, Beflered und Wahreres zu fagen
wüßte, al3 die gelehrten Doktoren in ihren breiten Roben. Allein
als Laie und bloßer Zuhörer im Gebränge des profanen Bulgus,
als bloßer, wenn aud) vierzigjähriger Schüler, ohne Baccalaureats:
oder Doktortitel, ift es ihm nicht erlaubt, au nur ein Wörtchen
feiner Weisheit vorzubringen, oder ſich als Disputator zu
melden. Es drüdt ihn, es quält ihn, Er beginnt die furdt-
barften Grimafjen zu ſchneiden, er zudt die Achjeln, er ſchüttelt
340 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
den Kopf, er fletſcht die Zähne, er fchlägt die Bruft, er hält
fih den Leib, denn die falſchen Thejen und Hypotheſen jcheinen
ihm Bauchgrimmen zu verurfadhen. Aller Blide richten ſich auf
ven fonderbaren Klerikus, der feinen falihen Satz, fein faljches
Citat, feinen grammatifaliihen Schniger vertragen kann. End:
lich bemerkt ihn auch der Präfes, und wie er ihm ins Gefidht
fieht, vergißt er die afademijche Regel und ladet ven Laien ein,
doc vorzutreten und fich zu erleichtern. Rabelais tritt vor. So:
gleich verändert fich fein ganzes Weſen. Ein hoher Ernjt leuchtet
von feiner Stine; fein Auge glänzt; feine edle Haltung gebietet
Allen, die ihn mit Lächeln haben in die Schranken treten fehen,
plöglih Achtung und Aufmerkſamkeit. Mit anmuthiger Würde
entſchuldigt er zuerjt feine Kühnheit, daß er, ein einfacher Schü-
ler, es wage, an jo gelehrten Disputationen Theil zu nehmen ;
dann ftürzt er mit Eins mitten in die Fragen und löſt eine nad)
der andern auf das Giegreichite. Ungeheurer Applaus bricht aus,
die Fakultät ift entzüdt und läßt ihm dieſe Disputation als
Baccalaureat3eramen gelten; Volk und Schüler führen ihn im
Triumph nad) feiner Herberge. Vier Wochen verfließen, und ſchon
fteht der Schüler ald Lehrer auf der Kanzel und erklärt die Apho:
rismen de3 Hippofrates und erläutert die ars parva des Galenus,
die er, mit dem griehiihen Manuffript in der Hand, von den
zahlreichen Verftößen der Ueberjeger befreit und in urfprünglicher
Reinheit herftellt. Bald gehörten ihm die ganze Univerfität und
die Herzen aller Schüler, die er mit Heiterkeit beherrſchte. Der
Herr Profeſſor, der die ars parva des Galenus dozirte und unter
allen Profefjoren das größte Auditorium hatte, verſchmähte e3
nicht, Komödien zu machen und in ihnen, 'troß der Tonfur, die
er aus dem Klojter mitgebracht, felbit zu fpielen. Seine „mora:
liche Komödie von dem Manne, der ein ftummes Weib geheirathet
hatte,” in welcher er ſich über die Aerzte luftig macht und bie
von Moliere in feinem „Medeein malgré lui* nachgeahmt
worden ijt, rührt aus der erften Zeit, da fich der arme Mönch,
der halb und halb aus der Kutte gejprungen, mit aller Lebensluſt
Fünfzehntes Kapitel. 341
ins Studententhbum geworfen. Er fpielte mit Studenten, von
denen mehrere berühmt geworden jind, 3. B. Wilhelm Rondelet,
der im Bantagruel vorkömmt, und der der Naturwiflenichaft große
Dienfte geleiftet, und Antonius Saporta, der fpäter eines ver
Lichter der Fakultät geworden. E3 muß ein ſchönes Leben gewefen
jein auf diefer Univerfität, da fie jo Hug war, auf Rabelais'⸗
ſchen Humor einzugehen, und gelehrte Leute fich nicht jcheuten,
in einer Komöbdie aufzutreten, in welcher die Unzulänglichfeit oder
die Charlatangfeite ihrer Wiſſenſchaft durchgehechelt wurde. Ob
das jemal3 auf einer deutſchen Univerfität möglich geweſen ijt
oder möglich fein wird? Was Montpellier betrifft, fo hat Rabe:
lais durch feinen Humor dort nicht an Achtung verloren, im
Gegentheil fcheint fein Anfehen ſehr fchnell gewachſen zu fein.
Dafür fpricht wenigftens der Umftand, dab er ſchon im eriten
Fahre feines Aufenthaltes von der Univerfität mit einer für dieje
wichtigen Miffion nad Paris betraut wurde. Duprat, der Kanz:
ler Franz’ I., wahrfcheinlih von der Parifer Univerfität gegen
die von Mons puellarum aufgereizt, wollte ver legteren gegen
alles Recht einen großen Theil ihres Eigenthums und ihrer Ein:
fünfte fonfisziren. Die Kalamität zu Nichte zu machen wurde ber
Baccalaureus Franeiscus Rabelaesus an den Kanzler abge
ordnet. Der Weg von Montpellier nach Paris war bald zurüd-
gelegt; ſchwerer war e3, vom Hausthor des Kanzlers in fein Ge:
mac) vorzudbringen. Es war dem Abgeordneten der alma mater
von Montpellier nicht möglich, eine Audienz beim Kanzler zu ers
langen. Sein Humor half ihm auch da aus der Verlegenheit. —
Plöglich erfcheint er aufs Tollfte aufgepugt vor dem Palaſt
Duprat’3. Er trägt einen weiten, grünen Raftan, eine hohe ar:
meniſche Müge, herabfallende Strümpfe, ein ungeheures Tinten:
faß im Gürtel, eine noch ungeheuerlichere Brille auf der Naje, mit
einem Worte, er fieht jo aus, wie er jpäter einmal feinen liebens—
würdigen Panurg auftreten läßt. Bald fammelt ſich eine unge:
beure Menjhenmenge um den tollen Armenier, der fie mit den
komiſcheſten Witzen unterhält. Endlich erfcheint auch der Kanzler
342 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
am Fenſter, und wie er den Zufammenlauf und die tolle Erfchei-
nung in Mitten ver Menge bemerkt, ſchickt er einen Pagen ab,
daß er fih nad den näheren Umſtänden erkundige. Rabelais
antwortet diefem auf die Frage, wer er jei: ich bin der große
Kalbſchlächter. Das fcheint dem Kanzler böchjt fonverbar, und er
Ihidt den Pagen mit neuen Fragen ab. Dießmal antwortet
Rabelais lateiniſch. Der Page holt einen aufmwartenden Edelmann,
der lateinifch verjtehbt. Der Edelmann fommt, Rabelai3 antwor:
tet griebiih. Man holt einen Griehen, Rabelais antwortet
ſpaniſch. Man läßt fchnell einen Edelmann fommen, ver jpanifch
verfteht, dießmal bedient ſich Rabelai3 ver englifhen Sprace,
und dann ſpricht er deutih, dann italienisch, dann endlich
bebräifh, vor jedem Dolmetſch in einer Sprade, die einen
anderen nothwendig macht. Der Kanzler ift erftaunt, und va er
gerne für einen Freund gelehrter Leute gilt, läßt er Rabelais zu
fh herauffommen. Der Zweck des Gejandten von Montpellier
und feines Spaßes ijt erreicht; dießmal fpricht er franzöfifch, und
er fpricht es mit fo viel Geift, mit fo viel Anmuth, daß ver
Kanzler Duprat Alles bewilligt, was er von ihm verlangt. Sieg:
reich kehrt er nach Montpellier zurüd.
Aber man würde nicht fertig, wenn man auf die ganze
Odyſſee des Rabelais'ſchen Lebens und feiner Einzelnheiten ein-
gehen wollte, von vem Momente an, da er die Trinkftube ſeines
Vaters verläßt, oder mit bewaffneter Hand aus dem Kloſterkerker
befreit wird, bis er auf feinem Todtenbette zu Meudon den le:
ten Wig macht. Glaubft du, fragt ihn der Geiftlihe, der ihn für
den Himmel ausrüftet und ihm die Oblate vorhält, glaubit du,
dab bier Jeſus Chriftus in Perfon gegenwärtig ift? — ®ie
jollte ich nicht? antwortete der Luftige Cur& von Meudon, wähne
ih ihn doch zu fehen, wie er in Serufalem einzieht von einem
Ejel getragen! Eine der ſchönſten Epifoden diejes langen, reichen
und bewegten Lebens ift wohl die Reife, die Rabelais mit feinen
liebiten Schülern und Freunden auf kleinem Kahne von Mont:
pellier nach ven Hyeriſchen Infeln macht, und der er in ſpätem
Fünfzehntes Kapitel. 343
Alter noch mit bejonderer Luſt gedenkt. Das wäre ein Etoff,
würdig, von einem Dichter geftaltet zu werben.
Aber die Kerze ift herabgebrannt, vie Bäume des Peyrou
beginnen im Morgenwinde zu flüftern, für mic eine Mahnung,
daß ich mich nicht tiefer auf Rabelais einlaflen darf — fürmwahr,
ich wüßte nicht, wo zu enden. Nichts mehr von ven Hoffnungen,
die Calvin auf Rabelais gebaut, und die der trodene Inquiſitor
aufgegeben, va er in das ’lachende Geficht gefehen, das nicht zu:
fammenpaßte mit dem Scheiterhaufen, auf dem Servetus ver:
brannte; nicht3 mehr von Rabelais’ Reifen nah Rom und feinen
Geſandtſchaften; nichts von feinen Unterhandlungen mit Päpften
und Königen und nichts von feiner Wiederermedung de3 alten,
klaſſiſchen Garums, das die Epikureer Roms entzücdt hat und
neuerdings von Clement Marot in Verſen gefeiert wurde, wie
ehemals von Horaz und Martial, und nichts von feinem Ber:
vienjt, den römischen Salat nad Frankreich gebracht zu haben.
Aber von ver Robe de Rabelais müfjen wir ſprechen, da wir
in Montpellier find. Die Robe, die er trug, da er als Gefandter
ver Fakultät nach Paris ging, wurde durch Jahrhunderte als
eine koftbare Reliquie aufbewahrt. Die Baccalaurei trugen fie
bei ihrem fünften Eramen. Unglüdlicherweife nahm jeder ein
Stüd davon mit fi al3 Erinnerung an Rabelais und an die
Schule, deren Zierde er geweſen. So wurde fie zerfeßt wie eine
alte Fahne und ſchrumpfte mit der Zeit zu einer kurzen Jade zu—
fammen, jo daß man ſchon mehrmal gezwungen war, fie zu er—⸗
neuern. Aber die Benennung Robe de Rabelais und ver alte
Braud find geblieben. Sie ijt von rothem Tuche und hat breite
Aermel und einen Sammtkragen. Möge fie noch lange ein Wahr:
zeichen dieſer alten Schule und mitten in einem verpfafften Lande
die Erinnerung an einen freien, lebensfreudigen Menſchen bleiben.
Sole Angedenken haben immer ihr Gutes; ſolche Reliquienver:
ehrung bildet ein treffliches Gegengewicht der andern gegenüber.
Der Kultus des Genius, der allein fei ewig und unangefochten.
O, wenn man uns unjere Gläubigfeit nur erleichtern und ung
344 Tagebud aus Languedoc und Provence.
erlauben wollte, dort, wo man uns Heilige vorjegt, Geniuſſe
der Menjchheit zu verehren, mie glüdlih und wie einig wären
mir oft.
Montpellier, den 26. September 1851.
Doh nur der Lebende hat Recht! So mollen wir dieſes
Kapitel über die Univerjität von Montpellier nicht fließen, ohne
vom lebenden Tage geiprodhen zu haben. Daß das Inftitut in
Folge der franzöfiichen Centralifation herabgejunfen ift von jeiner
einjtigen Höhe, haben wir jhon angedeutet. Doc) it noch Manz
che3 da, was ung interejliren fann. Der Montpellierenfer Pro—
feſſor St. Rene Taillandier, der id) ein Recht erworben hat, in
deutjcher Literatur ein Wort mitzufprechen, ijt uns befannt. Ich
habe ihn exit in jeinen Vorlefungen, dann in feinem häuslichen
Leben kennen gelernt, und ich fann Deutjchland die Verfiherung
geben, daß er nicht, wie Gutzkow einmal behauptete, eine Heine’jche
Fiktion fei, jondern daß er wirklich und wahrhaftig exiſtire. Tail
landier ift fein Mythus, fein Symbol, keine Heine'ſche Dichtung,
jondern ein leibhaftiger Profeflor, und zwar ein eleganter, deutſch
iprehender Brofefjor, der suo motu in der Revue des deux
mondes jein Votum über die deutfche Literatur abgibt, Ich
babe ihn zuerjt in einem Hörjaale der Afademie-fennen gelernt,
wo er vor einem aus Damenhüten, l&gion d’honneur, Stu:
denten und Bloujen zujammengejegten Bublitum über franzö-
ſiſch⸗klaſſiſche Literatur las. Sein Vortrag zeichnet ſich durch große
Klarheit und minutiöſe Kenntniß ſeines Gegenſtandes, wie durch
Eleganz und feinen Styl, aus und iſt ferne von aller falſchen
Deklamation und jenem Charlatanismus, der in Frankreich oft
aus dem Hörſaal ein Theater macht. Trotzdem gehört ſein Kur—
ſus zu den beliebteſten und beſuchteſten und zieht er die Zuhörer
aller Klaſſen an. Da ich ihn ein zweites Mal hörte, las er über
neue Literatur und ſpeziell über Beranger. Sein Gegenſtand
gab ihm Gelegenheit zu trefflichen Bemerkungen über politifche
Funfzehntes Kapitel. 345
Poefie und zu Bergleihungen franzöſiſcher politiicher Dichter mit
deutichen. Es machte mir einen eigenthümlichen und füßen Ein:
drud, am Ufer de3 mittelländiichen Meeres, in der Nähe der fabel:
haften Inſel Maguelone, von Uhland, Lenau, Anaftafius Grün
ſprechen und mit Liebe und Anerkennung ſprechen zu hören. Gibt
e3 in Deutjchland bereits eine Zehrfanzel, der diefe Namen Leben:
der Hafjiich genug erjcheinen, um ſie vor einem Auditorium er:
ſchallen zu lafjen? Ich fuchte Taillandier’3 Belanntihaft, und
jie wurde mir leicht gemacht. Er hatte mich ſchon zu jehr gelobt
und zu jehr getavelt, al3 daß ich ihm hätte ganz fremd jein
können, und da ich in jeinen Tadel mit ganzem Herzen einjtimmte,
war die Befangenheit, die gebildeter und wohlwollender Menſchen
in einem jolhen Falle nicht würdig ift, bald dahin. Außerdem
it Taillandier’3 Haus allen Deutſchen immer gaftlih offen, und
jo befand ich mich bald wohl und heimiſch, wo ich mit Liebe von
deutjhem Geiſte und jeinen Schöpfungen in deutfchen Worten
jprechen hörte, wo ich deutiche Bücher fand und vor Allem eine
liebenswürdige Hausfrau, und mo, wenn ich fpäter daſelbſt her:
bergte, Beit'3 Germania über meinem Bette hing. Taillandier's
Häuslichkeit gehört zu den ſchönſten und glüdlichiten, die mir auf
meinen vielfachen Wanderungen begegnet find, und zu denjenis
gen, über die der Wanderer, der an ihrem Herde ausruht, aus
vollem Herzen den Segen „langer Dauer” ausjpridt. Ein be:
quemes, angeerbtes Vermögen, ein fortlaufendes gutes Einkom—
men, eine geadhtete Stellung, Luft am Willen, ein Haus und
ein arten, eine Bibliothet und Arbeitsjtube, in welche Rojen:
lorbeer, Granatbaum und Nadtigallen Duft, Blüthe und Lieder
ftreuen, eine Frau, die zu den Schönheiten des Landes gezählt
wird und trogdem doc nur ihrem Haufe angehört, Kinder, die
diefer Mutter würdig jind — braudt es mehr? — Glüd und
behagliches Schaffen find fein Verdienſt unter ſolchen Umftänden,
und ich will Taillandier darum nicht rühmen.
Einen Theil diejes Sommers hindurd arbeitete Taillandier
an einem Artifel über Jeremias Gotthelf, und ich hatte Gelegen—
346 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
beit, zu beobachten, mit welcher Gewiſſenhaftigkeit er auf feinen
Gegenitand einzugehen ſucht und wie fern er allen germanijchen
Einflüfterungen ftehe — ein Umftand, der von vielen feiner Ge-
tadelten geleugnet wird. Da ich mit zu diejen Letzteren, wenig:
ſtens theilweife zu ihnen gehöre, fo wird mein Zeugniß fo viel
Gültigkeit haben, al3 der Andern Vermuthung. Es ift außer:
ordentlich, welche Mühe fich dieſer franzöſiſche Profeſſor gibt, ſich
über den Gegenitand, den er Fritifirt, jo viel ald nur möglich zu
unterrichten. So hat ſich bei ihm neben ver allgemeinen Kennt:
niß der deutſchen Spradhe und Literatur, die er ſich in Heidel—
berg und Straßburg erworben, noch ein großer Schat von Der
tailfenntniflen geſammelt, der ihn befähigt, auf Spezialitäten ein:
zugehen und jede neue Erfcheinung ſchnell — nad) feiner Art —
zu verſtehen. Ich fage nad) feiner Art — denn Taillandier ijt
immer Franzoje und fteht jeinem ganzen Wejen nad deutjcher
Philofophie und deutſcher Kritif eben fo ferne, als dem radikalen
Streben, das heutigen Tages das innerjte eben unferes Vater:
landes bewegt. Er ijt ein Gelehrter und Literator, fteht aber,
wie der größte Theil feiner franzöfifchen Kollegen, aufer ber
Zeit und ftemmt ſich gegen diefe, die ſich nicht aufhalten läßt.
Daher jene Artikel, wie der über die deutiche Nationalverjamm:
lung und feine Borliebe für die lebloſe, deutſche Eonftitutionelle
Bartei. Aber was ihn zum Ichlechten Politiker macht, fommt ihm
oft bei der Kritik zu Statten. Im Grunde ein abjoluter Aejtheti-
fer und urfprünglic ein Poet (Zaillandier hat in feiner Jugend
ein großes Iyriiches Gedicht „Beatrice“ gefchrieben) und Freund
vieler Voeten, vergißt er alle Politik, mo ihm das Schöne ent:
gegentritt; dann lobt er den Radifalen wie den verjpäteten Ro:
mantifer. In diefem Augenblide gebt er mit dem Gedanken um,
eine Gejchichte der deutſchen Literatur zu ſchreiben; es wäre dieß
das erjte Werk dieſer Art in Frankreich und würde bei der er-
wachten Sympathie für überrheinifche Literatur großen Anklang
finden. Doc wartet er mit der Ausführung feines Planes, bis
ihn feine Garriere nach Paris führt, wo er den Quellen näher
Fünfjehntes Kapitel. 347
fein wird, Diefer Zeitpunkt fann nicht mehr lange auf ji ware
ten laflen. Frankreich hat wenige Gelehrte, die mit einer aus—
ländifchen, beſonders germaniſchen Literatur, fo vertraut find,
und ſchon fehe ih St. Rene Taillandier ala Profefjor am College
de France over an der Sorbonne.
Aber von der Univerfität und ihren Profefioren ſprechend,
darf ich einer Promotion nicht vergefien, ver ich beigemohnt
babe. Gin guter Mann aus Béziers, der zu weiterem Avance:
ment den Doktortitel nöthig hatte, jaß auf der Bank vor den
vier Profefjoren, die in weite, ſeidene Talare gehüllt waren.
Er faß da wie auf der Armefünderbanf. Die Theſen, die er ſich
geftellt hatte, waren aus der Philoſophie Petri de Vineis, des
Kanzlers Friedrichs II. von Hohenftaufen, genommen. Eine jün:
gere Philoſophie, jo jcheint es, braucht ein Kandidat im fünlichen
Frankreich nicht zu fennen. Aber auch mit diefer war der Mann
auf der Armefünderbanf nicht fehr vertraut. Das fchadete ihm
nit, da die Proſeſſoren oder Graminatoren diefe Gelegenheit
nur benugen wollten, um ihre eigene Gelehrſamkeit glänzen zu
lafjen, und feineswegs die Abficht hatten, dem Kandidaten, der
Vater von fünf Kindern war und eine ehrwürdige Glage leuch—
ten ließ, zu jchaden. Abbe F., einer der geiftvollften Profeſſoren
der Montpellierenfer Fakultät, nabm die Partei des Papftes
Innocenz und des Papſtthums überhaupt und zog fo gemaltig
gegen den Friedrich von Hohenitaufen los, daß meinem deutjchen
Gemüthe bange und ich für den liebenswürbigen Heiden Fried:
rich gezittert hätte — wenn die ganze Gefchichte nicht eben einer
Poſſe ähnlich geweien wäre. Der Kandidat wagte auch nichts
gegen den Papit vorzubringen und ließ fich ruhig belehren. So
lief das Ganze höchſt gemüthlich ab, und der Familienvater ent:
fernte ſich als Doktor es lettres. Petrus de Vineis wurde jei-
nen Marmot3 erbarmungslos geopfert.
Sechszehntes Kapitel.
Montpellier — Politifhe Parteien — Religion — Ein hiftorifher Rüdblid —
Chamford und Brizard — Aunft — Das Mufee Fabre und feine Geſchichte —
Seine Shäge — Bierzehn Winde — Ufurpirter Ruf des Klima’3 und Warnung —
Opfer deö Alima’3 — Polniſche und deutſche Flüchtlinge — Peter Fries aus
der Pfalz — Glüd reines Flüchtlings.
Montpellier, den 29. September 1851.
Die katholiſch-religiöſen Zuftände des Landes laſſen von jelbft
auf die politifhen, auf die Gejinnung der Minderheit fließen.
Das Land der Penitents blancs, bleus ete., da3 Land der
unzähligen „Brüder“ und „Schweitern” kann nicht anders als
legitimiftifch fein. Das Prieftertbum muß nothwendigermeije
am Gottesgnadenthbum hängen, und das Priejtertbum vertheilt
auf Dorf: und Stadtlanzeln und in den Beichtjtühlen die politi:
ſche Barole. Freilich meift nur an die Weiber, aber die Weiber
erziehen die Kinder und bejtimmen die Atmojphäre des ganzen
Hauſes. Die Legitimität ift eine dent heißen Süden bequeme
Religion, da fie am Wenigiten Bewegung verlangt und der heid-
niihen Phantafie, die lieber an einem äußeren Symbol als an
einer abftraften Idee hängt, angemefjener ift. Sie ift nicht die
Folge oder das Kind des Nachdenkens, ſondern im Gegentheil
ein Mittel, dem Nachventen aus dem Wege zu gehen. Damit ift
noch nicht gejagt, daß Louis Napoleon, wenn er den Staat?:
jtreih, an deſſen Realifirung wir nicht zweifeln, glücklich über:
jteht, in diefem Lande großen Widerftand erfährt. Man wird
aud ihn als eine von Gott eingejegte Obrigfeit „acceptiren” —
bier wie vielleicht überall in Franfreih, mo das fait accompli
Sechszehntes Kapitel. 349
almädtig ift. Nirgends wie in Frankreich ift der Satz wahr, daß
jeder Ausgang ein Oottesurtheil ift. Kommt noch hinzu, daß
Louis Napoleon, der Konful, Präſident oder Kaifer fich mit der
Geiftlichfeit verbindet, fo iit er feines Sieges im Süden faſt ge:
wiß — benußt er aber erjt mit einiger Gefchidlichfeit ven Vor:
theil, den ihm die vorhergehenden Regierungen durch Vernad:
läſſigung der materiellen Zuftände im Süden in die Hände ge:
geben; verſchafft er vem Lande, das in feinem Reichthum erftickt
und vergebens nach Geld ſchmachtet, Mittel und Abſatzwege, um
feine Produkte, beſonders die föjtlihen Weine, an den Mann
zu bringen; ſchafft er eine Art Free Trade nad außen dur Han-
velötraftate, oder auch nur nah innen dur Abjichaffung des
Dftrois in den Städten: dann kann Louis Napoleon überzeugt
fein, daß daſſelbe Land, welches unter Umftänden eine Vendée
werden könnte, in Hymnen und Lobgefänge zu Ehren des neuen
Erlöjer3 ausbrehen werde. — Wenn er diefe Mittel vernad:
läfligt, kann es bier im Falle eines coup d’etat allerdings zu
allerlei, vielleicht fehr blutigen Reibungen fommen — wenig:
ftens zu Anfang des neuen Regimes. Die Zahl der eigentlichen
Anhänger des Napoleonismus ift fehr gering, während e3 neben
den Legitimiften eine ftarke und thätige republifanifhe Minderheit
gibt. Sie befteht aus den Arbeitern und faft allen Proteftanten
der Städte und des offenen Landes. Beſonders die aus ven
Gebirgen find eifrige Republifaner, die fi immer mehr zu or:
ganifiren ſuchen. Der Prozeß gegen Herrn Gent in Nimes
wird nicht abſchreckend genug wirken, oder zur Folge haben, daß
fih die Republifaner im entſcheidenden Momente ganz ftill ver:
halten. In der proteftantifhen Partei gibt e3 wieder eine Kleine,
orleaniftiihe Sekte. Es find das die Reichen der Städte, ſpeku—
lative PBroteftanten, denen der Bankſchwindel unter Louis Phi:
lipp wohlgethan bat, und die nicht vergeflen können, daß ein
Minifter, Guizot, troß aller Bündniſſe mit den Jejuiten, einer
der ihren, ein Kalvinift geweſen. Eine fomijche Eitelfeit, die in
der Leidensgejhichte der Proteftanten ihre Erflärung findet.
350 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Außerdem find dieje Reichen der Natur der Sache nad) realtio-
när und fonjervativ, und da es ihnen Religion und Erinnerun:
gen verbieten, ſich an die Legitimiften anzuſchließen, Hammern
fie ih an die Nachkommen Louis Philipp’3, von dem fie wiſſen,
daß er trog freres ignorantins und Sonderbund viel mehr ein
Voltairianer als Bofjuetift gewefen. Ihre Zahl ift Hein, und es
fomme, was da mag, fie werden nur die Rolle der Zufchauer
jpielen und, wenn Louis Napoleon den Weinen ihrer großen
Pflanzungen einen guten Abzugskanal verjchafft, bald mit zu
den satisfaits, den vollfommen Befriedigten gehören. Das
Produkt aller dieſer Faktoren wird troß der innewohnenden Feind:
jeligfeit, wie gejagt, einige Reibungen etwa ausgenommen, end:
lihe allgemeine Befriedigung und Annahme Deflen fein, was
Paris angenommen hat. Das allmädhtige fait accompli, das
Parifer, wird endlich jiegreih über all diefen Parteien, über
Legitimiſten, Republifanern, über Orleanijten, über Proteitan-
ten und Katholifen, vielleiht in Geftalt eines imperialen Adler
mit ausgebreiteten Fittihen ſchweben und durch die Gafjen Ni:
mes’ und Montpellier'3 perfonifizirt in zwei anhänglichen Prä-
feften mit dem rothen Bande im Knopfloche wandeln — und
das jo lange, bis etwas Anderes fommt.
Indeſſen herrſcht nicht eine einzige von allen diefen Parteien,
fondern herriht der Eure im Beichtftuhl und dehnt feine Macht
in die verborgenften Winkel der Gläubigen aus, Mag Herr
Ballan no fo viele Defrete an Mairien und Straßeneden Ele:
ben lafjen, feine Macht ſchrumpft troß aller Sergeanten und Sol:
daten, die ihm zu Dienjten jtehen, zufammen vor der Gewalt des
einzelnen Cure, de3 eigentlihen Autofraten in dieſem Lande,
Es gibt in diefem Zeitalter vielleicht feine zwei Erdſtriche mehr
in Europa, die jo unbedingt, der Gewalt der Pfaffen verfallen
wären, wie da3 ſüdliche Frankreich. Der Fremde glaubt fic
mandhmal in das fechszehnte Jahrhundert und auf jpanifchen
Boden verſetzt. Ueberall begegnet man den Zeichen der Sklave:
rei, welche dem Volke von der Kirche aufgelegt werden. Wenige
Sechszehntes Kapitel. 351
Frauen aus dem Volle und den höheren Ständen gibt es, die
nicht ein Kreuzhen, einen Rofenkranz, ein Halsband trügen,
al3 Zeichen, daß fie diefer oder jener Schweiterfchaft angehören,
die von irgend einem Geiftlihen unbefchränft regiert wird. Pro:
zeffionen und Begräbniffe verrathen, dab auch ein großer Theil
der männlichen Bevölferung kirchlicher Disziplin verfallen ift;
denn da jieht man fie in großer Anzahl als weiße, blaue, ſchwarze
und noch andersfarbige Büßende auftreten. Selbft junge Män:
ner von Stande thun fich unter geiftlicher Leitung, nachdem fie
al3 Bacheliers die Kollegien verlafien, zu Brüderfchaften zufam:
men und geboren der kirchlichen Parole. Bei der weiblichen
Jugend forgt man dafür, daß fie fih zu den frommen Verbin—
dungen jchlagen, noch ehe fie das Klofter verlafjen. Und mitten
durch dieſe Bevölkerung wandeln mit leifem Schritte, till trium:
pbirend, die zabllofen Priejter und Nonnen aller Gattungen.
Man thäte dem Charakter und dem Geilte des franzöfischen
Süpdländers Unrecht, wenn man nur in ihnen die Gründe diefer
Zuftände, die über Provence und Languedoc ausgebreitet find,
fuhen wollte. Diefe Zuftände beruhen auch auf biftorifcher
Grundlage. Die Nahbarfhaft Avignon’s, der Hof des päpft-
lihen Legaten daſelbſt, der erſt vor ſechszig Jahren abgezogen
ift, haben das Ihrige gethan, um den mittelalterlichen Geiit jo
tief einzupflanzen, daß er dem Sturme der franzöfifchen Revos
Iution Stand hielt und mancher Revolution Stand balten wird.
Es eriftirt eine im Jahre 1790 vom Abbe Gabriel Brizard her:
ausgegebene Brojhüre, welche über die Wirkſamkeit jenes Hofes
ausführliche Aufſchlüſſe gibt, und aus der man erkennt, daß noch
Geſchlechter ind Grab jinten müflen, ehe die Spuren jener Wirk:
famfeit ganz verwijcht werden. Chamfort, der dieſes Buch. von
feinem fiebenzehnhundertneunziger Standpunfte aus betrachtet,
fagt bei diefer Gelegenheit: In dieſer Atmojphäre des Fanatis:
mus erhitzten ſich alle Köpfe des ſüdlichen Frankreichs. Wenn
Provence, Languedoc, Dauphiné, ſelbſt Lyon die Gräuel der
Ligue ärger verſpürt haben, ſo trägt die Nachbarſchaft des Legaten
352 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
und des Hofes von Avignon die Schuld. Avignon war das
Centrum der Kabalen, das Arjenal, wo man die Waffen und die
Ketten für die Dauphine, für das Lyonnais, für die Provence
und Languedoc ſchmiedete; Avignon war das „entrepöt“ der
Indulgenzen und der inzendiarifchen Breves. Dort haben KarlIX.
und Heinrich III. die lächerlichen Prozeſſionen, die Brüderſchaf—
ten der Büßenden, die indezenten Maskeraden, die fie an ihren
Hof verpflanzten, lieben gelernt. Der Art ijt ver Urſprung der
frommen Pofjen, die in den jüdlihen Provinzen einen in ven
andern Theilen des Reiches fait erlofchenen Yanatismus bis auf
unfere Tage erhalten haben, deſſen legte Funken noch alle Die-
jenigen beunrubigten, die, ſchmerzlich getroffen von den aus dem
Aberglauben geborenen Uebeln, viejen für „nicht genug tobt“
hielten. Abbe Brizard bemerkt, daß die franzöfifchen Könige ih:
ren Unterthanen viel Unglüd, fich felbit wielleiht mande Un-
ruhe erjpart haben würden, wenn fie Avignon und deſſen Terri-
torium in ihren Beſitz gebracht hätten, was fie konnten u. f. w.
Was Chamfort und Brizard von der Einwirkung der päpſt—
lihen Legaten auf den Geijt der füplichen Provinzen jagen, wird
durch heutige Zuftände, wenn dieſe auch nicht mehr jo jehr er:
jchredend auftreten, noch immer bejtätigt — aber Chamfort und
Brizard helfen uns die ſüdlichen Provinzen entſchuldigen. Das
verdammende Urtheil, das jih uns auf die Lippen drängt, halten
wir zurüd mit Rüdjiht auf die milvdernden Umſtände, melche
das Zeugniß der Gejhichte varbringt, und wir jprechen die im
Grunde guten PBrovenzalen frei von all den Verbrechen gegen
den heiligen Geijt, die fie nur verblenvdet begangen haben und
noch begehen, da wir nun wiſſen, wo der eigentliche Uebelthäter
zu fuchen ift.
Aeſthetiſche Verehrer „ver finnlihen Religion” pflegen als
legte8 Argument zu ihrer Vertheivigung die Produktivität an
Kunftwerken anzuführen. Dieje erwarten gewiß, in Montpellier
große Kunftihäge zu entdeden; fie täufhen fi. Eine einzige
Kirche von Bedeutung befitt die Stadt, und diefe ift ein Ideal
Sechszehntes Kapitel. 353
des Ungefhmads. Ihre Wände, jo wie die der andern Kirchen,
find von einer Heiligenmalerei der allertrivialften Sorte bededt
und bleiben hinter den Kirhen von Nimes und Tarascon weit
zurüd. Ueberhaupt treibt die Kunft, auch die profane, in Mont:
pellier gar feine, oder nur fpärlihe Blüthen. In diefem Augen:
blide befindet fich bier ein junger, talentvoller Maler, Namens
Gabanel, Montpellierenfer von Abjtammung. Er kehrt joeben
von Rom zurüd, wohin er von der Regierung, mit einem Preije
gekrönt, geſchick wurde und mo er ein großes, mit manden
Fehlern behaftetes, doch vielverfprechendes Bild vollendet hat.
Er malt mit großer Gejhidlichkeit die guten Bürger und DBür:
gerinnen von Montpellier, um fich für Baris auszurüjten, wo er
hoffentlich eine glüdliche Carriere machen wird. ! Herrn Laurent,
ven Sekretär der medizinifhen Fakultät, habe ich jhon in mei:
nem Briefe über das Deutſchthum in Languedoc erwähnt. Das
Atelier diejes für alle Kunſt empfänglihen Mannes ift ein rei:
ches und intereflantes Muſeum, das der Fremde nicht vernach—
läfligen jol. Bor Kurzem bejuchte ihn der Düffelvorfer Meifter
Schirmer, dem er in Aufjuhung der Schönheiten Languedoc's
hülfreich zur Seite ſtand.
Aber einen großen Schatz befigt die fonit unkünftlerifche
Stadt an ihrer Bildergalerie. Dieje ift ihres erjten Gründers
jowohl, als ihrer Gefchichte, volllommen würdig. Urjprünglich
gehörte fie dem italieniſchen Tragiker Alfieri, welcher fie zum
Theile geerbt, zum Theile jelber gefammelt hatte. Er vermachte
fie als Liebesangedenten der befannten Gräfin Albani, dem le:
ten Sprößling der Stuart, und diefe wieder überließ fie, aus
einem freudigen und reichen Leben fcheidend, ihrem letzten
Freunde, dem Maler Fabre, der aus Montpellier ſtammte. Es
it das derjelbe Fabre, ven Paul Louis Courrier in jeinem Auf:
jage „une conversation dans la villa Albani“ fo geijtreich
Iprehend und als Hauptperfon anführt. Er ftarb erſt im Jahre
Es ift das der feither berühmt gewordene Cabanel, Mitglied des
Inftituts,
Moritz Hartmann, Werke. II. 23
354 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
1836, und da er feine Kinder hinterließ, ſetzte er feine Vaterſtadt
Montpellier als Erbin feiner Kunftihäge ein. Montpellier gab
der Gemäldejammlung aus Dankbarkeit für den Erblaſſer den
Namen „Musee Fabre.‘“ Das Musee Fabre gehört zu den
beveutenditen Kunjtiammlungen der franzöfiichen Provinzen, da
es nicht durch Almofen der Regierung, jondern dur den Kunit-
ſinn beveutender und fünftlerifcher Menſchen gegründet und er:
mweitert worden iſt.
ALS Perle diefer Sammlung bezeichnen wir eine „heilige Fa-
milie” von Paul Veroneſe. Das Bild zeichnet fih durd alle
glänzenden, hellſtrahlenden Eigenjchaften dieſes frischen, fröhlichen
und farbenreihen Meifter3 aus. „Es ift,“ fagte ein bedeutender
franzöfifher Maler, der einmal an meiner Seite das Muſeum
durchſchritt, „es ift wie auf Diamant mit diamantnen Farben ges
malt.” In der That bricht ein Strom von Licht und Glanz aus
demfelben hervor, al3 wäre e3 eine große Anzahl aneinander ge:
reihter funkelnder Diamanten. Dieſem zunächſt jteht ein Kleines
höchſt einfaches Bortrait, da3 man gewöhnlich Raphael ſelbſt zu—
Ichreibt. Mein Begleiter, der Maler und Kunitkenner, meinte,
e3 jei höchſtens aus der Schule Raphael’3, und zwar müſſe es
von einem deutſchen Schüler Raphael’3 gemalt fein, denn e3 be:
figt neben all’ dieſen Eigenjchaften, die uns glauben machen,
daß e3 vom Meifter jelbit herrühre, jene Einfachheit und Naivi:
tät, die im Atelier Raphael’3 nur ein aus dem Norden herjtam:
mender Sünger bewahren fonnte. Es war ein ranzoje, der jo
ſprach; aber ein Franzofe, der die Kunftihäge Italiens, Frank—
reichs und Deutfchlands gleihmäßig ftudirte, und ich gebe jein
Urtheil, das mir mwohlthat, gerne wieder. — Ein Portrait Ti:
tian’3, wahrjcheinlich von einem liebenden Schüler gemalt, gehört
zu jener Gattung hiſtoriſcher Portraits, die im engen Rahmen
eine3 menſchlichen Gejichtes eine ganze Zeit und den Geift eines
ganzen Volkes wiederfpiegeln. Dafjelbe läßt fich von einem Por-
trait Franz’ des Erften jagen, das von Raphael herrühren joll.
Ich weiß mich aber nicht zu erinnern, daß irgendwo in Kunit-
Sechszehntes Kapitel. 355
oder profaner Gejchichte zu lejen ſei: Raphael Sanzio von Ur:
bino hat König Franz dem Erſten von Frankreich die Ehre an-
gethan, ihn zu malen. Hat doch die Geſchichte nicht vergeflen,
es gewiſſenhaft aufzuzeihnen, daß Titian dieje Ehre dem König
Franz und dem Kaifer Karl angethan. Auch NRibera, der Dü—
jtere, der Igrifch:epifche Dichter Ruysvdael, Teniers, Dftade, Paul
Potter find würdig vertreten. Natürlich fehlt e3 in einer fran—
zöfiichen Galerie auch nicht an einem Proudhon, aus dem die
Franzojen gerne mehr machen möchten, alö er ift, und am Wenig:
ften an einem Poufjin, den fie gerne al3 ebenbürtig in die Ge:
jellichaft ver Raphaele, Leonardo's und Titian’3 ſchmuggeln möd;:
ten. Der größte Theil der andern Bilder gehörte nad) ver Be:
zeichnung meines Begleiter3 in die Gattung der Blagues, und
jie legen fi Namen von Malern bei, die fie nie mit einem Pin-
jel berührt haben.
In einem der Nebenjäle findet man eine neuangefaufte
Marmorftatue von Pradier, irgend eine fabelhafte Brinzeflin, die
durch ihr langes Haar berühmt ift, vielleicht die Prinzeſſin Ra:
punzel, darſtellend. Auch hier begegnet dem guten Pradier, was
ihm bei den meiften feiner Werke begegnet: er verdirbt das Beſt—
angelegte durch irgend einen Anhang von Ungeihmad, ver die
einzelnen Schönheiten feines Werkes vergefien macht. Die Prin:
zeflin ift eine ganz nette, graziöjfe Perſon, aber die ungeheure
Mafje marmorner Haare erdrüdt die Arme unter ihrem Gemidht,
und man bevauert, daß der Marmorblod, der ihr unförmlich
vom Hintertopfe herabhängt, nicht zwedmäßiger zu irgend einem
Heinen Herkules verwendet worden ift. Auc vor diefer Statue
fiel mir ein, wa3 ich ſchon oft von Pradier'ſchen Bildwerken den:
fen mußte: ob er nicht beſſer gethan hätte, ein Maler zu werden ?
Wenigitens paflirt e3 ihm oft, daß er in Stein haut, mas ſich
auf der Leinwand gut ausnehmen würde, in der Skulptur aber
an den um den Hals gehängten Mühlftein erinnert. Auch glau:
ben wir, daß die Werke dieſes, obwohl nit talentlofen Künſt—
ler3 ind Meer ver Zeiten und in Bergefienheit finfen werden.
356 Tagebuch au3 Languedoc und Provence.
Unfichtbarer Flügel bevarf jedwedes Kunſtwerk, wenn es fich über
dem „Abgrund, der ewig offen”, halten foll, und viefe Flügel
beißen: Schönheit und Anmuth.
30. September 1851.
Heute am legten Septembertage leuchtete und glühte vie
Sonne fo gewaltig, wie fie e3 bei uns in Deutſchland oder auch)
in Paris nicht in den Hundstagen zu thun pflegt. Auf den bei-
ben Tag folgte ein lauer, überaus milder, blauer, wohlthuender
Abend. Solche täufchende Meteorologie mag der Stadt Mont:
pellier noch mehr als ihre medizinifhe Schule ihre große Be-
rühmtheit bei allen Bruſtkranken verjchafft haben, die feit Jahr:
hunderten bier zufammenjtrömten und noch zufammenjtrömen,
um Heilung zu juchen für ihr zehrendes Leid. Es iſt eine Täu—
ſchung wie eine andere; die janitäre Berühmtheit Montpellier’3
eine Berühmtheit wie mande andere, die auf ſchwachen Füßen
jteht. Die milden Tage, Abende und Nächte, deren wir ung hier
allerdings jehr oft erfreuen, werben weit aufgeiwogen von den
verfchiedenartigiten Winden, die Staub aufregend die Gaſſen
Montpellier’3 durcfegen und an Franken Lungen viel fchneller
zehren, als mancher verjchrieene Norbwind. Montpellier befigt
nicht weniger als vierzehn verjchievenartige Winde, die es oft
viele Tage nad) einander in fchneller Abwechslung von ven ent:
gegengefegteften Seiten bejtürmen; bald wüthend und mit lau:
tem Lärm, bald perfid fchleichend und leife am Lebensmark der
armen Kranken nagend. Nach einigezogenen Erkundigungen und
nah Erfahrungen, die ich bei verſchiedenen Kranken ſelbſt ge-
madt babe, halte ich es für Pflicht, das Klima Montpellier's
feiner faljhen und betrügerifchen Berühmtheit zu entkleiden.
Vielleiht war es anders in jener Zeit, al3 die Cevennen noch
von Wäldern bevedt die rauhen Gäſte des Nordens und die treu«
lofen des Weſtens abhielten. Doc ijt ver raube Gaſt aus dem
Norden, die TZramontana, nicht fo gefährlih, wie der Miftral,
der aus der Provence, oder der Gerd, der aus dem Departement
Sechszehntes Kapitel. 357
de l'Aude herüberweht. Die jchredlichiten Gäfte aber find die
über das Mittelländifhe Meer aus Afrika kommenden Lüfte,
wahricheinlih Anverwandte des Sirocco. Pflanzen und Thiere
brechen unter ihrem Hauche zufammen; wohin fie blafen, da
wird Alles jchlaff, müde und zu Tode betrübt. Wenn dieſen
Ihaurigen Gäften der aus Nordweſt jtammende Magiftral, der
friiche, aufheiternde Genoſſe, oder, über das janft gefräufelte Meer
ſchreitend, der gluthenlinvernde Garbin folgt — dann ijt es für
arme Kranke gewöhnlich jchon zu fpät. Der friſche Magiftral
- und der fanfte Garbin fönnen mit dem beften Willen nicht wieder
gut machen, wa3 die andern Brüder ſchon verdorben haben.
Vor Kurzem erit hat e3 ein Berliner Gelehrter, der Hülfe
ſuchend hierher gekommen war, zu jpät erfahren müſſen, daß
Montpellier feinen guten Ruf nicht verdiene. Wahrſcheinlich ift
aud der gute Peter Fries, den fie vor einigen Wochen begraben,
den Einwirfungen diefes Klimas erlegen. Den andern deutſchen
Flüchtlingen — dieſes bei Gelegenheit zur Beruhigung ihrer
Freunde in Deutſchland — geht es wohl, Mehrere haben die in
Münden oder Heidelberg durd die Vorgänge von 1849 unter:
brodenen medizinifhen Studien an der hiefigen Hochſchule
wieder aufgenommen und werden bald neben den polnifchen und
deutihen Verbannten aus den Dreißiger Jahren in Städten und
Flecken des ſüdlichen Frankreichs wohlthätig als Aerzte wirken.
Man iſt hier daran gewöhnt, daß ein mit fremdem Accent ſpre—
hender Arzt ans Krankenbett tritt; in unzähligen Orten des füd-
lihen Frankreichs haben fih Polen und Deutſche angeſiedelt,
nachdem jie, plöglid aus ihren Verhältniffen herausgerijien, die
Gelegenheit in Montpellier benugend, für empfangene Wunden
in der Naturwifjenfchaft Heilung gefucht und fie für fid und an-
dere gefunden haben. Jetzt gehören fie überall, wo fie figen, zu
den angejehenften und beliebteften Bürgern.
Auf andere Weife hat vor zwei Monaten ein deutfcher Flücht:
ling jein Glüd und feinen Herd gegründet. Halb traurig, weil
er verbannt, halb Iuftig, weil er doch jung, ganz geldlos, weil
358 Tagebud aus Languedoc und Provence.
er Beides, fam der Heidelberger Studioſus H. direft von Baden
oder aus der Pfalz hierher nah dem Mons Puellarum. Gr
hatte den großen Plan, durch Lektionen ganz Montpellier zu ger:
manifiren, weil dieſes aber doch nur langjam von Gtatten ging,
ſuchte er eine vergeflene Kunft hervor und ging mit diejer nad
Brod. Mit geborgten Crayons zeichnete er auf geborgtes Papier
zahlende Gefichter. Und dieweil er jo wirkte und jtrebte, warf
eine reiche, Schöne, unter ihm wohnende Bürgerstochter ein lieben-
des Auge auf ihn. Die lang wehenden Heidelberger Kometen:
haare, die blauen Augen, die teutonische Eichengeſtalt mögen ihr
gewaltig imponirt haben, wie vergleichen ſchon vor zweitaufend
Jahren zwischen Weibern romanifcher Race und Jünglingen ger:
manijhen Blutes vorgelommen. Dem germanijchen Jünglinge
leuchtet dieje Liebe eines holvjeligen Geſchöpfes ein:
Aber wird er auch willfonmen jcheinen,
Wenn er theuer nicht die Gunft erfauft ?
Er ift noch ein Heide mit den Seinen,
Und fie find ſchon Ehriften und getauft.
Oder mit andern Worten: ver deutſche Jüngling ift ein roth
glänzender Republifaner, das Mädchen und ihre ganze. Familie
find ſchneeweiße Legitimiften. Aber eine einzige Tochter gibt man
felbjt einem verbannten Republikaner, und das Drama endet heiter.
Die Hochzeitsgäſte find pure Leaitimiften,; damit er ſich aber
nicht zu einfam fühle, und weil zufällig im Momente feine deut:
ſchen Flüchtlinge anmwefend find, ladet fich der Bräutigam zu den
dreunden der Braut noch die ganze Redaktion des ſcharlachrothen
„Suflrage universel“ an Anverwandten Statt. Trogdem ver:
fließt die Hochzeit auf die allerfriedlichfte und heiterjte Weije, und
des fühen Weines ftrömt, als wäre das Krüglein von Hana zugegen.
Aus dieſer ganzen Gefhichte wurde eine feine Idylle ge:
macht und diefe fäuberlich in Verſe gebracht; zum Mindeſten ver-
dienet der Gejang den Lorbeer, der den Braten umjchlang.
Siebenzehntes Kapitel.
Sette — Ein legitimiftifher Reiſegefährte — Erinnerung an Karl X. —
Mireval — Julius Cäfar — Marfeille und der Einfluß der Griechen — Das
Schloß von Mireval und eine Geſchichte aus feiner Vergangenheit — Geſchichte
Mariend von Montpellier und ihres Sohnes — Frontignan — Eine merk—
würbige Eifenbabnftrede — Pofitives über Cette — Cette Iınd Montpelier —
Beſuch auf der Danziger Brigg „Thomas“ — Hafen und Stadt — Römiſche
Alterthümer — Ein frangöfifhes Volkslied.
Montpellier, im Oktober 1851.
Ich komme aus Cette zurüd. Die Stadt jah traurig aus,
wie fie in Regen und Nebel, die aus dem Etang de Thau auf:
ftiegen, und in die Dünfte des mittelländijchen Meeres eingehüllt,
ſtumm und verlaflen dalag. Selbit das Meer, das ich im Mai
von der Höhe des Kaftell3 aus nach jahrelanger Trennung lächelnd
und ſüdlich blau wiedergeſehen, blidte heute hyperboreiih und
unbeimlih. Aber da ich der guten Stadt Cette nicht Unrecht
thun will, und dieweil man die Dinge immer in ihren ſchönen
Momenten darftellen joll, zieh ich e3 vor, von jenem eriten Mais
bejuche zu jprechen.
Es war ein lachender Maitag, da ih in den Wagen jtieg,
um Gette zum erjten Male zu befuchen. Die Waggons waren an:
gefüllt von reihen Montpellierenjern, die binausfuhren, um
Wohnung für die Seebadezeit zu bejtellen, und von Kaufberren,
die in der Hafenjtadt ihre Weine an Spiritusfabrifanten verkaufen
wollten. Mich führte das Glüd mit einem Legitimiften zufammen,
ver, al3 er erfuhr, daß ich aus Defterreich ftamme, mich per se
für einen Reaftionär nahm und zum Bertrauten feiner legitimi-
ftiihen Hoffnungen machte.
360 Tagebuch aus Languedoc und Provence, '
— Welch ein herrliches Land, dieſes Deiterreich, ſagte er, jo
ohne alle Veränderungen immer gleihmäßig fortlebend im Schuße
jeine3 Kaiferhaufes. Ich kann Ihnen die Achtung, die mir diefes
Sand und diefe Regierung einflößen, gar nicht bejchreiben. Und
welche ſchöne Einigkeit zwiſchen diejer Regierung und der ruſſi⸗—
fchen herrſcht! Das arme Frankreich ſteht ſeit Jahren ijolirt da
und ift nicht im Stande, fi einen ſolchen Bundesgenofien zu
verfchaffen. Natürlich, welcher weife Monarch kann ſich mit einem
Volke einlafien, das fo jehr vom Freiheitsſchwindel eingenommen
it. — Da Gie aus Defterreih kommen, kennen Sie vielleicht
unferen König, Heinrich den Fünften?
— Natürlich! Ich habe ihn fhon in meiner früheften Jugend
fehr oft in Prag gejehen, und zwar, wie er mit feinen Hof:
meijtern ganz populär auf3 Eis ging und mitten unter den Stus
denten und Schülern Schlittſchuh lief.
— Der gute Prinz! gewiß hat man ihn in Prag jehr ge—
liebt; Ihr Kaiferhaus ausgenommen, verfteht e3 fein regierendes
Geſchlecht fo gut, wie die Bourbonen, ſich beliebt zu machen.
Sch verſichere Sie, fie find in Frankreich jo beliebt und jo po=
pulär, als nur — ich wüßte nicht wen zu nennen,
— Zum Beifpiel: Beranger, fügte ich hinzu.
— Sie ſcherzen und machen jich mit Recht über die Franzofen
Iuftig, die ihre Verehrung an den erften Beiten hängen, wie z. B.
an einen liederlihen Dichter. Aber glauben Sie mir, daß, wenn
die Bourbonen zurüdfämen, ſich alle diefe Sympathien , die man
an ſolches Volk verfchwendet, um fie fonzentriren würden. Meinen
Sie nicht, daß jet, da die Ruhe in Europa mwiederhergeftellt ift,
die fonjerwativen Mächte und Defterreich vor allen daran denken,
Heinrih V. auf den Thron feiner Väter zurüdzuführen?
— Ich muß Sie dagegen fragen, ob Sie glauben, daß eine
Regierung Beitand hätte, welche dem Lande von Fremden auf:
gedrungen würde? Die Erfahrung fcheint dagegen zu fprechen.
Auch Scheint Frankreich heute noch darüber verdrießlich zu fein,
daß diefes nur einmal möglich war.
Siebenzehntes Kapitel. 361
— Sie irren fih, Frankreich war den vereinigten Mächten
überaus dankbar und würde es wieder fein, wenn dieje den
mweifen Gedanken hätten, die Ordnung herzuftellen und ung unjere
Könige wiederzugeben. Das find leere Vhrafen, denen Sie nicht
glauben müfjen. Den Fremden, der uns unjere Könige wieder:
gibt, betrachten wir mit Recht al3 unferen Wohlthäter, und Die
dagegen ſprechen, find nicht die Freunde Frankreichs, jondern
verfluchte Revolutionäre.
— Ich meine, daß die Mächte nicht genug aufopfernd fein
werden, Heinrichs V. wegen ihre Armeen marſchiren zu laflen,
und daß fie fih damit begnügen werden, wenn Louis Napoleon
die Monarchie wieder beritellt.
— Hätte er es nur ſchon gethan und der Republik ein Ende
gemacht; ich verfichere Sie, ganz Frankreich wünſcht nichts jehn:
licher. Man würde ihn fegnen dafür, denn dann wäre doch Hoff:
nung, daß Handel und Induſtrie wieder aufblühen.
Ich begnügte mich mit der Erfahrung, wieder einen Legitis
miften gefunden zu haben, der ſich um die Schmach feines Landes
nur jehr wenig fümmert, der für Heinrich V. ſchwärmt, und doch
wieder jchnell bereit Louis Napoleon acceptirt, pourvu, daß
diefer nur Handel und Induſtrie wieder in Blüthe bringt. Zum
bundertiten Male habe ih nun dieſe Erfahrung in den vers
fchiedeniten Theilen Frankreichs gemadt, und ich befinne mid
nicht, fie als bezeichnend für das Gros der heutigen Legitimiſten
binzuftellen. Ein 2egitimift ift fein Patriot, ein Patriot ift
fein Legitimift. Die Induſtrie fteht höher als das göttliche
Recht, und mit Hülfe der einen fann Louis Napoleon das andere
bejiegen. |
Unwillfürlih mußte ich bei dieſem Geſpräche mich eines
Momentes erinnern, den ich in früher Jugend erlebt habe. Es
war an einem bitterfalten Wintertage, ich, ein Heiner Junge,
lief eben mit meinen Büchern unter dem Arm aus dem Gymna:
fium. Halbe Duntelheit lag jhon auf dem alten Prag, die
Fenſterſcheiben waren mit Eisblumen bevedt, der Reif blieb in
362 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
den Haaren hängen, Alles lief, um fo ſchnell als möglih an ven
warmen Dfen zu fommen — da fam in der Nähe des alten
Pulvertburms dem Graben zu eine gewaltige, hohbepadte jhwarze
Karoſſe angeraffelt. Die Poftillone mit ihren großen Stiefeln
fpornten die Pferde, welche Wolfen von Dampf aushaudten und
von weißem Frofte bededt waren. Aus dem balbverfrorenen
Magenfenfter blidte ein altes, vwerfallenes Geficht in die traurigen
Gaſſen. Unheimlich rollte der Wagen den Graben hinab dem
Hradſchine zu. Einige verfpätete Mittagsgäfte, die in der Gaſt—
ftube zum ſchwarzen Rofje behaglich ihre Cigarre rauchten, zud-
ten, da die Karofje vorüberfuhr, mitleidig die Achjeln, und da
ih fie fragte, wem die große Nafe, die dide Lippe und das
graue Haar da drin im Wagen angehöre, antworteten fie: dem
franzöfiichen König, Karl X.
An diefen Föniglihen Einzug mußte ich denfen, als ſich der
fogenannte Legitimijt erpektorirt hatte. Eben wollte ich ihm er:
zählen, daß ih auch Karl X. gefehen habe, al3 wir auf der
Station Mireval hielten, und mein 2egitimift verwandelte fich
aus einem Politiker in einen gefälligen Cicerone. Das ift Mire-
val, jagte er, dort drüben liegt mein Landhaus; fo lange ih va -
wohne, leje ich feine Zeitung. Won jenem Berge gegenüber bat
Cäjar das Thal zum erſten Male erblidt und fagte zu feinem
Adjutanten: „Bemwundere dieſes Thal,“ und daher ver Name
dieſes Fleckens: Mirare vallim.
Es ift doch fonderbar, wie man überall, wohin diefer Mann
feinen Fuß feßte, das Angevenfen an feinen Namen in hundert
Traditionen bewahrt hat, wie man überall Urfprung und Ab-
ftammung gerne an ihn fnüpft. In den verfchiedenften Theilen
Galliens und in Belgien, jelbft in England, wo er ſich doch nur
einen Moment aufgehalten, habe ich dieſe Erfahrung gemadht.
Belgien hat nur drei populäre Sagenhelden, und unter dieſen ift
Julius Cäfar der populärfte, um mie viel näher ihm auch vie
andern zweie, Karl ver Fünfte und Maria Therefia, durch Zeit
und Wirken ftehen. Es ift nicht zu zweifeln, daß Cäſar wirklich
Siebenzehntes Kapitel. 363
in dieſen Gegenden war; dieſes Thal aber taufte er vielleicht,
al3 er hierher fam, um vie griehifchen Städte, die Kolonien
Mafilias, zu unterwerfen und fo ihre Mutterjtadt, die e3 mit
dem Senate hielt, zu ftrafen. Bezeichnend für den gebilveten
Tyrannen iſt es, daß er dieſer Stadt die Macht, die ihm hätte
ſchaden können, raubte, daß er ihr aber aus Achtung für ihre
Abjtammung und ihre hohe griehiihe Bildung Verfafjung und
_ Unabhängigkeit beließ. Ueberall in dieſem Lande wird man an
Julius Cäſar, an die Nömer, mehr aber nob an die Griechen
erinnert. Der Boden, über den ich jest fahre, war vielleicht ein-
mal griechiſcher Boden — ja war e3 gewiß, denn nad Oſten
und Weiten, nah Djten bis gegen das heutige Genua, nad
Weiten bis tief hinein nah Spanien, den ganzen nördlichen
Küftenbogen des Mittelländifchen Meeres entlang erftredten ſich
die Kolonien und Städte ver Phokeer. Mehr als fünfundzwanzig
größere Städte jollen, von ihnen gegründet, hier geblüht haben.
Wie weit fih das mafliliihe Griechenthum ind Innere des
Landes erjtredte, iſt Schwer zu ermitteln, da ſich hier die Gränzen
im Dunkel der gallifhen Wälder verlieren. Nur in der Provence
fann man mit einiger Beitimmtheit feine nörbliche Gränze an-
geben. Saint Remy, das alte Glanum, war gewiß eine griedhi-
ihe Stadt. Daß aber au an diefen Küften der griechiſche Ein-
fluß und griechiſche Bildung bis tief in das Land hinein gewirkt
haben, beweist der Umſtand, daß viele celtiſche Völkerfchaften,
felbft im Centrum Galliens, ihre barbarifhen Gottheiten mit
ven jchönen hellenifchen vertaujcht ; daß fie griechiſche Zahlen an:
genommen und ihren Münzen ein griechiiches Gepräge gegeben
haben. Es iſt fein Wunder, daß der griechiſche Baum fo reiche
Zweige trieb und jo breiten Schatten warf, war doch feine Wurzel
eine feſte, mächtige, die fortwährend aus ihrer Muttererde neue
Nahrung jog. Es ijt wahrhaft rührend, mit welcher Liebe vie
Griehen der galliihen Küjten an ihrer Mutter hingen, mit
welcher liebenven Sorgfalt und Aengjtlichkeit fie Alles tbaten, um
in ihrer urjprünglihen Heimat nicht vergellen zu werben und
—
564 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
um fie felbft nicht zu vergeflen. Diefe Liebe zur Mutter hat fie
— mie das wohl Jedem geht — vor vielem Böfen bewahrt. Die
Gefandtihaften nah Griechenland zu pythifchen und olympifchen
Spielen ſcheinen ſehr häufig, der Verkehr mit den joniihen und
peloponnefiihen Griechen jehr frequent gemejen zu fein. Die
Gefandten braten die ſchönſten Produkte des Athenienfiihen
Geiftes mit nad Haufe, und man nahm fie mit Liebe auf. Was
in Griechenland des Schönen gedacht, gejagt, gefungen, gemalt
und gebildet worden, es fand an der galliihen Küfte feinen
Miederhall und Wiederſchein. Die alten Traditionen lebten hier
ſogar jehöner fort al3 in den Stammfigen. Während in Athen
und Griechenland überhaupt die Jugend fih nur nod mit So:
phifterei und Rabulilterei abgab (fiehe Ariftophanes Fragmente),
jang und liebte man bier die göttlichen Gefänge Homer's, die
im Peloponnes und in Attila nur nod im Munde des Bauern
lebten. Yolirt und von Barbaren umgeben, mußten die Städte
treu zufammenbhalten und wurden nicht durch innere, fo zu jagen,
Familienkriege demoralifirt, wie die Republifen Griechenlands;
und während in diefen all’ die Laſter herrfchen,, die Ariftophanes
züchtigt, und perſiſches Geld die bürgerliche Pflichterfüllung be:
lohnt, wirft das Beifpiel der Maffilifchen Städte milvdernd und
mohlthätig auf hundert rohe Völkerſchaften. Noch zweihundert
Jahre ſpäter bilden fie die Halbbarbaren, die Römer, und flößen
ihnen hohe Achtung ein; ja, noch ein halbes Jahrtauſend nad
Ariftophanes und feiner MWeibervolföverfammlung bezeichnet Ta:
citus die Mafliliihe Erziehung als die Hauptgrundlage jener
Tugend, die er an Agricola rühmt. Freilich ſehen wir fie jchon
kurze Zeit nah Zacitus dem Verderben anheimgefallen und ijt
der Name Maililier und verderbter Menfh fynonym geworden ;
aber wir wollen die Maflilier darum nicht anklagen. Ihr Ber:
derbniß jcheint uns das hiftorifch-providenzielle Verhängniß. Sie
fonnten und durften jener Fäulniß nicht widerftehen, melche vie
ganze Welt angefreflen hatte und die beftimmt war, die in Na:
tionalitäten, in Römerthum und Barbarenthum getheilte Erde
Siebenzehntes Kapitel. 365
zu verzehren, um jie durd ein neues, fosmopolitifches Prinzip
verjüngt auferjtehen zu laſſen.
Aber der griechifche Geift war darum doch nicht verloren.
Jene feinfinnliche, fajt raffinirte, mit vollendeter Kunftform plötz⸗
lih mitten im Mittelalter bervorfpringende Poefie, jene fertige
und abgerundete Givilifation, die plötzlich in diefen Gegenden
mitten dur die diden römiſchen und germanifhen Schichten
durchbricht — iſt es nicht der hellenifche Geift, der, metamor:-
phofirt, auferfteht? E3 war die erſte Renaiffance, und wie die
zweite hat fie fi, freilich mit minderer Gewalt, in ganz Europa
fühlbar gemadt. Jene Schloß: und Hofpoefie der Troubadours,
welche die Hobenftaufen im Arelat fennen gelernt — doch das
würde uns zu meit führen, und zu barod würde es dem Deutjchen
Elingen, wenn ich feinen Walther von der Vogelmweide mit den
Griehen, mit den jonifhen Griehen in Verbindung bringen
wollte; er würde es kindiſche Spiele ver Phantafie nennen und
wäre vielleicht beleidigt, wenn ich feinen germanijchen Minne-
jängern einen Anhauch griehifhen Zephyrs vindizirte. Eben jo
barod fäme e3 ihm vor, wenn ich, auf franzöfifchem Boden ver:
weilend, die Verjchiedenheit zwifchen der warmen blumigen Be:
redtſamkeit der Girondiften und den falten Syllogismen Robes:
pierre'3 und feiner Landsleute von Demofthenes und Aeſchines
berleiten wollte: Und doch — und doch — aber ich habe ven
Muth nicht, fortzufabren.
Bleiben wir in Mireval. Mitten unter den grauen Häufern
bes Fleckens auf einem Heinen Hügel erhebt fich ein breites, vier:
edige3, von abgejtumpften uralten Thürmen flankirtes Schloß.
Diejes Schloß war der Schauplak einer Gefhichte, die würdig
gewejen wäre, von ber Königin von Navarra erzählt zu werben.
Man weiß, daß der König von Aragonien Peter IL. die Tochter
des legten Grafen von Montpellier, Marie, geheirathet und fich
jo in den Beſitz eines großen Theil des ſüdlichen Frankreichs
gefegt. Die Heirath gefiel dem guten König vorzugsweiſe des
reihen Heirathögutes wegen, und er fah nicht allzukritifch nach
366 Tagebuch au3 Languedoc und Provence.
den Reizen der Braut. In Montpellier wurde die Hochzeit ge:
feiert; aber jie ging nicht weiter als über den priefterlihen Segen,
denn als die Nacht heranfam, meigerte fi) der gute König, die
Ehe zu „accompliren.” Ungeheuere Berlegenheit Aller, tiefer
Schmerz der Braut, Niemand weiß ſich die Weigerung de3 guten,
jungen, Berje madhenden und immer galanten Königs zu erklären,
denn häßli war die Braut eben nicht. Sie war nicht häßlich
— aber jhöner, unendlich ſchöner war die junge, fofette Gräfin
von Mireval, die der Hochzeit al3 Gaſt beimohnte. Dieje lächelt,
fie jheint die Urjache der Weigerung zu fennen, und da jie der
König mit aller Liebenswürdigkeit eines Troubadours umgibt, it
bald der ganze Hof in das Geheimniß eingeweiht. Und jo zieht
man die jhöne Gräfin ins Intereſſe und gewinnt jie, daß fie mit
Selbitaufopferung zur „Accomplirung” der Che verhelfe. Sie
verdoppelt ihre Kofetterie; der König, ein Spanier, glüht; er
wirft fich ihr zu Füßen; er erreicht endlich feinen Zmwed; vie
Gräfin von Mireval wird ihn in diefer Nacht, in ihrem Schloſſe
zu Mireval heimlich empfangen. Die jhöne Nacht naht heran.
Dhne Panzer und Schienen bejteigt der gute König jein Pferd
und reitet und reitet — lieblich fingt die Nachtigall in Langue—
doker Nächten — und reitet nad Mireval. Der gewiſſe Page
oder die gewiſſe Kammerfrau empfängt ihn an dem gewiſſen
Hinterpförtchen und führt ihn an der, Hand durd Gärten, dunfle
Gänge ıc. in das Gemach. E3 iſt dunkel; die Keufchheit der
Gräfin duldet feine Nachtlampe. Der gute König ift glüdlich,
jehr glüdlih. Wie er fehr glücklich ift, gehen plöglich alle Thüren
auf, und mit Fadeln und Lichtern ſtürzt der ganze Montpellierenfer
und Aragoniihe Hofſchwarm herein, und an ihrer Spige die
jhöne, lachende Gräfin von Mireval, Der König ift erftaunt
und jieht, was er gethan. Aragon und Montpellier find völfer:
rechtlich vereinigt, und die Hausmacht mehrt fih. Dem Könige
aber geſchah Recht. Warum dachte er nit an die Verje des
Ariftophanes, und warum ſprach er fie vorjorglih nicht als
Gebet aus:
Siebenzehntes Kapitel. 367
Tichtauge du der lehmgebornen Lampe,
Beim Schwung des Rads geformt von Zöpferhand,
Strahlft aus den Schnäuzen Sonnenglanz du aus,
Sp leuchte mir!
Dir nur vertrauen wir, du bift uns nah
Im Kämmerdhen, wenn mit gewandter Kunft
In Aphrodite's Dienft wir uns bemühn.
Wer ſcheuchte den verſchwiegnen Augenzeugen
Berliebter Kämpfe, dih, aus dem Gemach?
Du ftrahlft allein im tief geheime Buchten ꝛc. ꝛc.
Nach Andern ereignete fich der nächtig ſchwarze Betrug erft
drei Jahre nach der Hochzeit und haben nicht die Hofleute, fon:
dern die zwölf Konſuln der Languedoker Städte die Nacht im
Nebenzimmer und zwar bei gemweihten Kerzen und im Gebet zu:
gebracht, und waren fie es, welche wieder mit den gemeihten
Kerzen den Irrthum des Königs aufhellten. Gemiß ift, daß der
König Peter, noch mehr gereizt gegen die Königin, fi aufs
Neue ganz von ihr abwendete und die Königin eimem einfamen
Leben im Schloſſe Mireval und die Lande Aragonien und Mont:
pellier der Trauer über den Mangel an legitimen Erben überließ.
Da geſchah es, dab der König eines Tages ganz vergnügt und
aufgeregt fein Geftüte von Lattes verließ. Ein Edelmann aus
feinem Gefolge, Namens Guillem von Arcala, hatte den guten
Gedanken, aljo zum König zu ſprechen: Sennor, wir fünnten
wohl, anftatt uns jegt auf die Jagd zu begeben, die Königin,
unfere Herrin, im Schloffe Mireval beſuchen; Eure Hoheit fünnte
eine zweite Nacht mit ihr verbringen, und wir würden, wenn e3
euch gefällig, mit der Kerze in der Hand wachen, und Gott in
feiner Gnade würde Euch einen gejegneten Sohn bejceeren.
Der König, von diejen Worten gerührt, that, wie der Edelmann
anrieth, und am andern Morgen nahm er ganz vergnügt die
Königin auf die Krupe ſeines Pferdes und ritt mit ihr nad
Montpellier. Die guten Bürger der Stadt waren über dag Glüd
ihrer Prinzeflin jo erfreut, daß fie große Fefte feierten und bei
368 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
dieſer Gelegenheit einen Tanz erfanden, welcher, le chevalet
genannt, noch heute in Montpellier üblich ift. Jene Nacht aber
gab dem in ver Geſchichte unter dem Namen „Jakob der Eroberer“
befannten Könige das Leben. Trogdem konnte der gute Köniy
Peter jeinen Widerwillen gegen Marie von Montpellier nicht
ganz befiegen und ließ fi nad der Sitte des breizehnten Jahr:
hunderts ohne Weiterd von ihr fheiden, um fich mit einer an:
dern Marie, Nichte Amauri’3, König! von Yerufalem, zu ver:
mählen. Marie von Montpellier ging nah Rom, um ſich beim
Papite zu beklagen und die Scheidung zu hintertreiben. Da ſtarb
fie und zwar an Gift. Das Volk betrachtete fie al3 eine Heilige;
und wenn jemal3 Leiden und Demüthigung ein Recht auf diefen
Titel haben, jo hat ihn die gute Marie von Montpellier verbient;
denn, wie ihr mannbares Alter, jo war ſchon ihre frühe Jugend
eine Kette ver bitterften Erfahrungen. Cine böſe Stiefmutter,
Agnes, verheirathete fie ſchon im elften Jahre an Barral, Bizegrafen
von Marjeille, und zwang fie, den Rechten auf Montpellier zu
Gunſter ihrer, Agnes’, Kinder zu entjagen. Zu fünfzehn Jahren
Wittwe, kehrt fie mit reicher Erbichaft in das väterliche Haus
zurüd. Die böfe Stiefmutter nimmt ihr die Schäge ab und verhei-
rathet fie auf3 Neue an den Grafen von Comminges, einen wahren
Blaubart, ver zur Zeit noch an zwei andere Frauen verheirathet
war, was aber in jener Epoche nicht genirte und von der Kirche
weiter nicht gerügt wurde, wenn man, wie der Graf von Com:
minges, zu den DBerfolgern der Albigenjer gehörte. Marie gebar
ihm zwei Töchter, wurde aber jo graufam von ihm bebanvelt,
daß fie lieber zu ihrer Stiefmutter zurückkehrte; aber die Leiden,
die fie bier erwarteten, waren jo groß, daß fie jene im Haufe
des Grafen von Comminges vergaß und wieder zu ihm zurüd:
ging. Aber aufs Neue fürchterlich geplagt, ſah fie ſich gezwungen,
ein zweites Mal zu entfliehen. Zum Glüd ftarb ihr Vater Wil:
helm gerade in diefem Momente, und da feine Heirath mit Agnes,
weil feine erjte Frau noch am Leben war, vom Papfte nicht ans
erlannt wurde, trat Marie von Montpellier in ihre Erbfchafts-
Siebenzehntes Kapitel. | 369
rechte und gewann fih dadurch jenes Glüd an der Seite des
Königs Peter von Aragonien, welches mit Gift und Heiligen:
gerud endete, Ein wahres mittelalterlihes Weiberjbidjal, das
Schidjal der armen Marie von Montpellier.
Mir fönnen nicht umhin, bier noch eine kurze Geſchichte
ihres Sohnes, Jakobs de3 Groberers, zu geben, da fie eine wür—
dige Fortfegung der Geſchichte feiner Eltern bildet. Wir kennen
fie genau aus feinen eigenen Memoiren, die er in prowenzalijcher
Sprache fchrieb. Er galt für einen der frömmften Fürjten aller
Beiten, weil er über taufend Kirchen baute und bereicherte. Im
Sabre 1229 verftieß er Eleonore von Kajtilien, denn er bejann
fih fünf Jahre nad feiner Heirath, daß fie in einem gewiſſen
Grade mit ihm verwandt war, und vermählte fich mit Jolanthe
von Ungarn. Diefe neue Ehe erwedte die Wuth und die Eifer
fucht einer feiner Maitrefien, Therefe Giles Vivaura, welcher er,
wie er felbjt gebeichtet, die Che verſprochen hatte. Der Erzbiſchof
von Girona, jein Beichtvater, unterftügte die Anſprüche The:
reſens und fchrieb darüber einen Brief an den Papſt Innocenz
ven Vierten, in welchem er al3 Zeuge für Therefe auftrat. König
Jakob lud ihn auf jein Zimmer ein und ließ ihm da, weil er
das Beichtjiegel verlegt hatte, die Zunge ausjhneiden. Der
Papſt beitrafte dieſe Vertheidigung des Beichtgeheimnifjes mit
dem Bannfluch, der aber den König in ſeinem luſtigen Leben
nicht weiter ſtörte. Nach dem Tode Jolanthe's nahm er wieder
Thereſe Giles Vidaura zu ſich und gab ſie für ſeine Frau aus;
aber bald ihrer überdrüſſig, bat er den Papſt Klemens den
Vierten brieflich um die Erlaubniß, dieſe Halbehe brechen und
Berenguella, eine alte, aber nicht ganz verroſtete Liebe, heirathen
zu dürfen. Noch ein Jahr vor ſeinem Tode nahm er eine an—
dere Dame, die er ihrem Manne entführt hatte, zu ſich ins
Haus, und da ihm der Papſt, Gregor der Zehnte, darüber Vor:
würfe machte, entjehuldigte er ſich mit der Schönheit diefer Frau
und mit ber Gefahr, die fie erwarte, wenn fie zu ihrem Manne
zurüdkehrte. Dem Papſte ſchien dieſe Entſchuldigung einleuchtend.
Moritz Hartmann, Werke III 24
370 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Nicht jobald beruhigt über das Don Yuan: Leben ihres Königs
waren die guten Bürger von Montpellier. Sie ftanden mehrere-
mals auf und verfuchten fih als Republik zu konftituiren.
Das mißlang ihnen, denn nad) dem Tode Jakobs fehen wir ſie
wieder der jüngern Linie feines Haufes unterthänig.
Unfehlbar wird man durch jeden Feudalbau auf ſolche hroni-
falifhe Erinnerungen zurüdgeführt. In der That, fie find nicht
geeignet, den Worten des Legitimiften, der zufällig an der Seite
de3 Reifenden ist, Eingang zu verfchaffen und feinen Bekeh—
rungsverſuchen wirkſamen Vorſchub zu leiſten.
Gleich hinter Mireval verwandelt ſich das Land in jenen
Amphibienboden, der ganz Niederlanguedoe vom Fuße des Ce—
venniſchen Mittelgebirges an bis ana Meer, von ven Mündungen
der Rhone bis gegen Agde hin charakterifirt. Was nicht Sumpf
ift, iſt dürrer, graslofer, nadter Kalkſtein. Aus folhem Boden
wächst der foftbare Wein von Frontignan. Er ift fo heiß, fo
folid, jo mädtig, wie irgend ein fpanifcher Wein, aber ihm
fehlt die Blume, die der Muskat von Lunel felbft im hohen
Alter bewahrt. Der Stadt Frontignan nicht ferne erhebt ſich ein
Kalkberg, in deſſen Innerem man jelbit tief unter der Meeres:
flähe Süßwaflerformationen in nädjfter Nähe von Seeforma—
tionen gefunden hat. Meer und Land haben ſich in diefen Ge—
genden lange um die Herrſchaft geitritten, und nod) ift der Streit
nicht entſchieden. Das fühlt man vorzug3mweife, wenn man von
Frontignan weiter nach Cette fährt. Die alte Straße, deren
Haupttheil, die Beyrade, eine Art von Bogenbrüde bildete, ift
heute natürlich verlaflen; man fährt auf der Eifenbahn. Sie
geht buchſtäblich durchs Meer und ift in diefer Beziehung gewiß
eine der fonderbarften Europa's. Rechts und links nichts ala
blaues Gemwäfler, daS bei ftarlem Nord: oder Südwind jeine
Wellen über das Menſchenwerk jhleudern muß. Rechts und
lints Kähne und große Schiffe, in deren Gefjellfchaft der Wagenzug
dahinfliegt. Wenn die Lofomotive aus dem Geleife ſpränge, wir
würben hinabfahren in die heilige Salsfluth, und Fiſcherkähne
Siebenzehntes Kapitel. 371
würden ung retten. Wie erjtaunlid muß den Delphinen, die
dort ihre Häupter dem Sonnenſchein entgegenftreden und plump
umbergaufeln, die große Seejhlange erfcheinen, die mit glü—
henden und dampfenden Nüftern durch ihr Element, durd ihre
Heimat dahinfaust. Der Streifen des Eifenbahndammes ſchrumpft
in der Ferne, gegen Cette, zu folder Dünne zufammen, daß er
in dem blauen Elemente ganz verſchwindet, und man glaubt,
gerades Meges in das Meer hineinzufahren, beſonders da das
Gewäſſer rechts, das man bis jegt immer leicht überblidte, immer
breiter wird und fich endlich al3 großer See, al3 der &tang de
Thau ausdehnt. Die Angſt dauert nicht lange; wir gelangen
auf feftem Boden im Bahnhofe von Cette an.
Ich blättere zurüd in meinem Tagebuche, um dort die No:
tizen über meinen erften Befuh im Mai aufzufuhen und um
mich deutlich an die erften hier empfangenen Eindrücke zu erin-
nern. Ich finde nichts, als:
Da fit ich wieder
Zu deinen Füßen,
Du herrliches, jeelenerweiterndes Meer.
Dir bring id) dar
Andächtige Huldigung
Wie meiner Königin,
Meiner Geliebten.
Ich tauche mein Haupt
In deine Wellen,
Die heilige Taufe
Durchdringt mic) mit Schauern ꝛc. zc.
Damit ift nichts zu maden. So fhreibt man kein Tagebuch;
fo empfiehlt man fich feinen Landsleuten nicht al3 einen Mann,
der auf Nügliches achtet. Darum anders. Die Stadt Cette treibt
ftarten Erporthandel mit Wein, Spiritus, allerlei fabrizirten
Liqueuren und dem weißeſten beſtkryſtalliſirten Salze des Mittel:
ländifchen Meeres. Die Fifcherei wird hier großartig betrieben,
’
372 Tagebud) aus Languedoc und Provence,
vorzugsweiſe um die Zeit, wenn die Fiſche aus dem &tang de
Thau ins Mittelmeer zurüdfehren, da man ihnen an den Aus:
gängen auflauert. Dieje Auswanderungsfriit aus dem étang
de Thau und den andern Salzgewäflern umfaßt den langen
Zeitraum vom-1. Julius bis zum 1. März. In ven Zwanziger
Sabren (leiver habe ich nur alte Quellen vor mir!) wurden wäh-
rend des Fiſchfanges eines einzigen Jahres 23,700 Quintaur
Weißfiſch, 7,150 Quintaur Aal, 45,000 Quintaur Mujcheltbiere
u. j. mw. erbeutet. Das ijt viel, wie ich glaube.
Troß diefem einheimischen Reichthume an Naturproduften
und trog dem trefflihen Hafen, der der beite unter den franzö—
fiichen des Mittelmeeres iſt, hat ſich Cette noch nicht zu einem
felbftändigen Leben emporgearbeitet. Die Kaufleute und Pro:
prietäre von Montpellier, mit ihren Weinen und Spiritufjen,
die fie aus den jchlechteren. Weingattungen bereiten, die Ban-
quier3 mit ihrem altangejtammten Gelve fpielen bier noch immer
die Hauptrolle. Cette iſt nur ihre Boutique. Cette ijt für Mont:
pellier ungefähr, was Bremerhafen für Bremen ijt. Aber Das
wird nicht immer jo bleiben. Der Verkehr mit Afrifa wird von
Tag zu Tag lebhafter; Cette wird den Mittelmann zwifchen ver
Kolonie und mwenigitens dem halben Frankreich abgeben und fo,
ohne Marjeille zu jchaden, für fi genug zu thun befommen.
Neue Wichtigkeit wird es erlangen, wenn erjt die Eifenbahn nad)
Bordeaur gebaut und jo die Verbindung mit dem großen Dean
bergejtellt ijt, für welde ver Südkanal nicht ausreiht. Dann
werden die Reichen von Montpellier einfehen, daß ein bloßer
Rutſcher nad) Cette auf ein oder zwei Stündchen für ihre Gefchäfte
nicht genügend fei, und fie werden mit ihren diden Kapitalien
ganz und gar nad) Cette überfieveln. Die Einheimijchen, die bis
jest nur die Commis de3 Montpellierenjer Kapital gemejen,
werben ſich emanzipiren; fie werden unterbeflen, von ihrer guten
Lage begünjtigt, genug für ji gewonnen haben, um ihren Play
für eigene Rechnung auszubeuten. Und fo kann es fommen, daß
Cette von jebt in einem Jahrzehnt eine bedeutende Handelsſtadt
Sicbenzehntes Kapitel. 373
fein wird, und fo kann es fommen, dab Montpellier yerfällt und
feine Bejtimmung erfüllt. E3 hat jeine Macht durch Vermitte:
lung Billeneuve’3 von Maguelone genommen, es wird jie direft
an Gette abgeben; und fo wird es die Folgen ver Gentralijation,
die e3 auch um feinen geijtigen Halt, um die Univerfität, ges
bracht hat, noch fchmerzlicher fühlen.
Die Stadt Cette, der wir eine jo große Zukunft prophezeien,
ijt noch nicht zweihundert Jahre alt. Vor dem Jahre 1666 war
der jchmale Landſtrich, den fie einnimmt, von einigen armen
Fiſcherhütten bejegt; in jenem Jahre legte man den Grund zum
Molo, am Ausfluffe des großen Kanal, um den aus: und ein:
laufenden Schiffen eine Station zu fihern. Der Punkt bewährte
ih, und man legte einen zweiten, im Halbfreis ins Meer hin:
einlaufenden Damm an, und der Hafen war fertig. Die Fiſcher—
hütten verwandelten fich in Häufer, und noch unter Ludwig XIV.
erhielt der Sleden Cette Munizipalitätsrechte. Vor Ausbruch der
jranzöfifchen Revolution belief ſich die Einwohnerzahl bereit auf
10,000. Stadt und Hafen find durch zwei Fort3 und ein Kaftell
geihügt. Legteres erhebt jich ziemlich maleriſch auf dem ſonſt
fahlen, troſtlos ausjehenden Kaltberge, welcher der Stadt an
jeinem Fuße nur einen jchmalen Strich bequemen Terraing gönnt
und fie an den Sumpf und ans Meer drängt. Er wird es büßen ;
denn bald wird die Stadt dem Beispiele des Kaſtells folgen und
feinen Rüden hinanklettern, um von dort aus ihr Neid, das
Mittelländische Meer, zu überſchauen. Um Dajjelbe zu thun,
wanderte ich gleich nach meiner Ankunft den fahlen Bergrüden
hinauf. Kein Straub, fein Baum gibt Schatten, und fo fam
ic halb gebraten in der Mittagsfonnenhige oben auf dem Kaftelle
an. Der Offizier geftattete mir freundlich den Eintritt, und ein
Sergeant führte mich auf den höchſten Punkt der Fortififation.
Es gibt feinen Punkt in Languedoc, der für die Meeresausſicht
jo günftig wäre, wie diefer. Gegen Südweſten ift ver Horizont
von den mwolfenähnlich verſchwimmenden Bergen der Küften von
Roufjillon und Katalonien begränzt; gegen Süden fliegt der Blick
374 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
-
ungehindert ind unermeßlihe Weite, über das tiefpunfelblaue
Meer den weißen Segeln nad) und entgegen ; gegen Often ergeht
er fih auf den grünen Ebenen Niederlanguedoc's, ruht er auf
den Ruinen von Maguelone, auf ven Zinnen von Aigues:Mortes,
auf den Randhäufern und Schlöffern, welche die Ebene nordwärts
befränzen. In nächſter Nähe laht der See von Thau wie ein
Miniaturbild des großen Mittelländifhen Meeres. Mir zu Füßen
lag das Fort, das den Hafen unmittelbar in feinen Schuß nimmt.
In diefem Augenblide hat e3 noch eine andere, eine traurige
Beftimmung. Achtundfünfzig freie Söhne ver Wüfte, Häuptlinge
der Bebuinen, verbringen in feinen kahlen Mauern ein einför:
miges Gefangenenleben. Im Hafen daran mwimmelt ed von
Schiffen, von hin: und herfahrenden Matrofen, von aus- und
einladenden Arbeitern. Wie ich hinabſtieg, bemerkte ich unter
den hundert Schiffen eines, das jtolz feine Flagge, den preußis
ſchen Adler, wehen ließ, jo jtolz, al3 ſtünde eine deutſche Flotte
binter ihm, um e3 zu ſchützen. Es war die Danziger Brigg
„Thomas“. Ach rief es vom Molo aus deutfch an, und fofort wurde
ein Boot abgeſchickt, um mich zu holen. Mit befonderer Freude
Eletterte ih am Tau hinan und befand mich auf deutfchem Boten.
Kapitän, Steuermann und Matrojen, Oftpreuße, Hannoveraner
und Friesländer waren fehr erfreut, einen deutfchen Landsmann
bei fi zu empfangen und Neuigkeiten aus dem Vaterlande zu
erfahren. Denn feit langer Zeit ſchon trieben fie ſich in den ver:
ichiedenften europäifchen und amerikanischen Gewäſſern umber
und mußten nichts von Allem, was fich feit beinahe zwei Jahren
im deutſchen Vaterlande zugetragen hatte. Ihre Flagge hätte
jonjt wohl nicht fo ftolz geweht. Sehr deutſch-einig klangen der
preußifche, der hannöveriſche, der plattveutfche, der böhmiſch—
deutſche Dialekt während halbjtündigen Geſpräches ineinander,
jo dab ich glaubte, in der Baulsfirche zu fein. Dort wie bier
breitete der ſchwarze Vogel feine Griffe über ung aus. Ich ſchied,
um pflichtgemäß noch die Stadt zu durchwandern.
Die Kneipen am Hafen tragen Infchriften in den verfchiedeniten
Siebenzehntes Kapitel, 375
Sprachen. Ueber ver Thüre der einen las ih: „Hier wird deutſch
gekocht,“ über einer anderen: „Hier wird deutſch getrunken,“
was mir bewies, daß das Schiff Thomas aus Danzig keine
Ausnahme ſei, und daß dieſe Gewäſſer wohl häufig von germa—
nischen Roftren durchfurcht werden. Die Hauptitraße läuft parallel
mit dem Kanale hin, welder ven &tang de Thau mit dem
Meere verbindet, und gleicht in ihrer ganzen Ausvehnung einem
einzigen großen Zelte. Denn die zahlloſen Kaffeehäufer und vie
vielen Boutiquen rechts und links breiten große Leinwanddächer
aus, die in der Mitte der Gafie zufammenftoßen und fie ganz
beveden. Im Schatten liegen die trägen Sübländer und die See—
fahrer, die froh find, im Hafen zu fein, und rauchen geſchmug—⸗
gelte Cigarren und verzehren Berge von Eid. Am Ausgang
dieſer bezelteten Straßen, in einem großen Kaffeehaufe, verſam—
meln fich die Spiritushändler und machen mit großem Lärm ihre
Geſchäfte ab. Ich verließ diefe Spirituswelt, um einige Reſte
der alten, klaſſiſchen aufzufuchen, da ich einmal gelefen hatte,
daß fih in Cette noch Reſte alter, römischer Waflerbehälter. be-
fänden, Aber mein Nachfragen war umfonft; Niemand mußte
mir Auskunft zu geben, und bald von der Wanderung in ber
furchtbaren Sonnenhitze ermübet, kehrte ich zu den Zelten zurüd,
um mich an Eis und Sorbet zu erquiden. Es that mir leid, daß
ich meine Zeit fo verlieren mußte, aber die Sonne wollte e3 nicht
anders, und jo begnügte ih mich mit. dem Bemußtfein, auf
römifhem Boden Siefta zu halten. Denn es iſt fein Zmeifel,
daß da, wo jegt Cette liegt, ehemals eine römiſche Stadt geftan-
ven habe, vie fich vielleicht auf maſſiliſch-griechiſchem Fundamente
erhoben. Neben jenen römischen Waflerbehältern fand man zu
Anfang diefes Jahrhunderts in der Nähe der Grundftüde won
lous Mazets zwei verjehüttete, römiſch konſtruirte Kanäle und
die Ruinen mehrerer Häufer, deren Boden mit ſchönen Moſaiken
bevedt waren. Außerdem den Arm einer Marmorjtatue, eine
ihöne korinthifehe Säule und über vierhundert Medaillen und
Münzen von Auguftus an bis auf Conjtantinus. War doch
376 Tagebud aus Languedoc und Provence.
diefe ganze Küfte, jo zu jagen, ohne Unterbrechung bededt von
römischen Städten, die heute ganz verſchwunden find. Wo iſt
Forum Domitii hingerathen? wa3 ift mit Forum Neronis ge-
ichehen? Wer hat die prächtige Stadt zerſtört, die fih an der
Stelle de3 heutigen Fabreques erhob? Vielleiht war Cette nur
eine Villeggiatur, oder eine größere Seebadeanftalt, in welcher die
reihen Römer aus den genannten Städten einen Theil ihres
Sommers zubrachten. Daß e3 aber auf römifchen Grundlagen
ruht, it gewiß. Sehr wundert e3 mich, daß jeine erjte Grund:
jteinlegung nicht Julius Cäfar zugefchrieben wird, diefem Mann,
den die nachrömijche Zeit und die erjte Hälfte des Mittelalters
zum Gründer par excellence erhoben hat, und an deſſen Namen
ich große Städte wie fleine Fleden des Südens und Nordens jo
gerne anlehnen, um ſich einen adeligen Stammbaum zu geben.
Wie es Abend war, ging ich noch einmal hinaus an den
Hafen; in den Kneipen war e3 Iujtig, aber von einem ver Schiffe
klang ein überaus trauriges Lied in franzöfiiher Sprache. Es
fang es ein Mann, der nahe beim Steuer jab und die Beine
hinunter über Bord baumeln ließ. Die Melodie zog unendlich
melancholiſch über die Wellen und durch das Liipeln des Abend—
windes und das Geklapper der Naaen und Taue. Leider fann
ich jie nicht wiedergeben, aber vie Morte der eriten Strophen
kann ich ungefähr überjegen.
Schön Iſabeau,
Ich ziehe fort auf der Welle,
Fortzieh ich, ach!
Du ſtehſt betrübt auf der Schwelle
Und blickſt mir nach.
Schön Iſabeau,
Ich ziehe fort auf der Welle.
Schön Iſabeau,
Ich ziehe fort auf der Welle,
Das Meer iſt breit,
Mein Schiff, das ſegelt ſo ſchnelle,
Siebenzehntes Kapitel, 377
Sort zieh’ ich weit.
Schön Iſabeau,
Ich ziehe fort auf der Welle.
Schön Iſabeau,
Ich ziehe fort auf der Welle,
Die See geht hohl,
Mein Schiff, das fegelt jo Schnelle,
Du lebe wohl.
Schön Iſabeau,
Ich ziehe fort auf der Welle.
Die traurige Melodie begleitete mich noch, al3 ich ſpät nad
Montpellier zurückkehrte, und jegt, da ich diejes fchreibe, klingt
ſie wieder lebendig in meinem Herzen. Ich glaube, daß ich ſie
nicht vergeſſen werde. Die tiefe Trauer, die ſie ausdrückt, er—
innerte mich an das iriſche Volkslied „Kobert a Roon“, das
ih bei Dublin gehört habe. —
Adtzehntes Kapitel.
Der Pinientburm und die Beifjagung des Noftradamus — Autoritäten, melde
Montpellier loben — Der Brunnen Jaques Coeur's — Maguelone — Der
Roman von Beter von Provence und der Shönen Maguelone — Melufine —
Die fübfrangöfifhen Sagen — Eine literarifhe Moftifilation — Ausflug nad
St. Guilbem le dejert — Ein Fermier general — Aniane und der heilige
Benedift — Südfranzöſiſche Bräuche — Die Drac's — Der Herault — Die
Müble von Clamous — Eine fonderbare Brüde — St. Builbem le deſert und
fein Gründer Wilhelm Rurznafe, Herzog von Aquitanien — Das wilde Thal,
Felſen, Adler, giftiges Getbier.
Montpellier, den 2. Oktober 1851.
Und fo mögen die drei Pinien auf dem Thurme ver alten
Stadtmauer noch lange fortgrünen und breite Aeſte in die Luft
jtreden, mwie Feitpaniere, denn von ihnen — jo jagt es der Pro:
phet Noſtradamus und jo glaubt e3 das Volt — von ihnen hängt
das Wohl und der Beftand der guten Stadt Montpellier ab. So
lange fie, die fich fühn binaufgepflanzt haben auf die Spitze des
hoben Thurmes, troß ihren gefährlichen Standpunkten, troß den
Stürmen, die fie dort oben ummehen, fortgrünen auf feiten
Wurzeln, jo lange wird auch die gute Stadt feititehen auf ihrem
Grunde, obwohl er von flüchtigen Queckſilberadern durchzogen
it. Ich fpreche diefen Segen von ganzem Herzen aus, und ich
bin nicht der Erjte, der es thut, nicht der Erfte, der aus diejen
Gegenden mit Bedauern fcheidet. Ich habe alte und uralte Vor:
gänger, die, vom Wind des Zufall oder vom Verhängniß hier:
bergetragen,, vor ihrem Echeiden die Stadt gerühmt und geprie:
jen haben. ch zitire nur den alten Joſephus Scaliger, welder
ſprach: „Wäre e8 mir vergönnt, an einem Orte zu leben, ver
Achtzehntes Kapitel. 379
meinem Herzen theuer ift, ich wählte die Stadt Montpellier und
machte jie zum Neſte meiner alten Zage, E3 gibt feinen Ort, wo
man feine Tage ſüßer verleben könnte, ſei es ver holden Luft,
jei e3 der Sitten der Einwohner oder der Annehmlichkeiten des
Lebens wegen.” — Ihren Glanz rühmt ſchon der gute Doktor Rabbi
Benjamin in feinen Stineribus: „Wir brachen, fagt er, von Beziers
auf und erreichten in zwei Tagen Monstremblans, welches die
Einwohner ehemal3 Montem pessularum nannten und heute
Montpellier heißen. Die Stadt, die aller Orten an Kaufmanns:
waaren Ueberfluß hat, liegt ungefähr zwei Stunden vom Meere
entfernt.“ (Der gute Rabbi Benjamin in feinem Talar muß nur
ſehr langſame und Heine Schritte gemacht haben.) Neben ver
Wiſſenſchaft interefjirt ihn der Handel, und er fügt feiner Lob—
preijung Montpellier's hinzu:
„Ad mercaturam confluunt christianorum et ınuha-
medanorum plurimi et e regionibus Algarbiae, Lom-
bardiae et regno magnae illius Romae universo, regno
aegyptio, terra isra@litica et Graecia, Gallia, Hispania
et Anglia. Man hört vafelbit vie Sprachen aller Völker, und
die Schiffe ver Genuefen und Piſaner bringen fie, die zahllojen
Söhne aller Länder, nad Montpellier.“
Jaques Coeur, der Zumelier und Schagmeijter Karls VII.,
der Rothſchild des fünfzehnten Jahrhunderts, wenn man ihn jo
nennen fann, da er ein wirklicher Handelsherr war, der die Pro:
dukte einer Melt in Umlauf feste und nicht ein bloßer Papier:
und Börfenmäller in großartigem Styl — Jaques Coeur, den
ich lieber den franzöfiihen Fugger nenne, hat aus Montpellier
den Mittelpunkt feines ungeheueren Handels gemacht und nicht
wenig zum mittelalterlihen Glanz der Stadt beigetragen. Gewiß
trug auch fein Beijpiel, eben fo wie die in Montpellier reſidirende
Wiſſenſchaft, viel dazu bei, ver Stadt wie dem Lande jenes Bür-
gerbewußtjein zu geben, welches beide durch viele Jahrhunderte
dem Feudalismus gegenüber geltend zu machen mußten. An
diefen unternehmenden Mann erinnert noch ein alter gemauerter
380 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
Brunnen, den, wie man jagt, die Stadt feiner Yürjorge ver:
dankt, und der noch heute der Brunnen Jaques Coeur’3 heißt.
Es ift natürlih, daß man mit all diefen Erinnerungen an
die Vergangenheit Montpellier3 endlih bis an ihrem Urfprung
anlangt, und da dieſer eigentlih auf der romantiſchen Inſel
Maguelone zu ſuchen ijt, und da dieſe Inſel jo einlavdend, ewig
mahnend von dort aus dem Mittelländiichen Meere herübermwintt,
macht man fich denn endlich auf, und wenn man ed auch nur
thäte, um eine Lüde im Tagebuche auszufüllen.
Zwiſchen den hübjchen Villen der reihen Bürger von Mont:
pellier, zwiſchen Gartenmauern und Weinfeldern geht es Anfangs
ganz gemüthlich vorbei an Rondelet oder Rondibilis, dem Land:
baufe, das im Rabelais vorfommt, vorbei an Mans und Morin,
den reihen Meiereien. Gleich hinter Morin wird es troſtlos öde.
Rechts und links nicht3 als Sümpfe, die, in diejer Jahreszeit
ihon des Rohres und Scilfes beraubt, nicht einmal mehr das
Grün haben, das im Hochſommer ein gemwiljes Leben heuchelt
und Tod und Fäulniß verlarot. Auf einem jchmalen Knüppel:
damme durch eine Allee zwerghafter Tamarisfen gelangt man
an das Ufer des Mofjon, der ſich, zwiſchen mühjam zufammen:
gehaltenen Ufern, durch den Sumpf windet. Wir jtiegen in den
‚Kahn, der uns dort erwartete. Meer und Erde verfchmanden
zwiſchen den doch niedrigen Ufern. Auf ihnen ericien von Zeit
zu Beit ein jchneeweißer, lömengroßer Schäferhund von der
pyrenäiſchen Nace und glogte und mit menjchenjcheuen Augen
an. Aus der Ferne höchſtens Schafgeblöd. Nach halbftündiger
Fahrt tauchten plöglid einige Fijcherhütten mitten aus dem
Sumpfe empor. Wenn Ovid, jagte einer unjerer Reifegenofien,
die Reſidenz der Langeweile hätte befchreiben wollen, er würde
dieſe Hütten bejchrieben haben. Gie beitanden ganz einfach aus
zufammengeflodhtenem Sumpfrohre. Dede diefer Hütten hatte
ihren bejonderen Hafen, d. i. einen Einfchnitt in den Damm,
der grade lang und fchmal genug war, um einen Kahn faſſen zu
fönnen. Diefer Damm felbit ift ein fchmaler Strih Landes, der
Achtzehntes Kapitel. 331
ven Fluß vom Sumpfe fcheidet, und von dem man nicht einfieht,
warum er jich eines Tages nicht ebenfall3 in Sumpf verwandeln
und wie ein fauler Fifch auseinander geben foll? Man begreift
aud nicht, wozu fich der Fluß jo viele Mühe gibt und jtunden:
weit durch Sümpfe frieht, da er rechts und links Gelegenheit
genug hätte, fich zu ergießen. Aber das jind jo vorgefaßte Mei:
nungen, dab man fich ins Meer ergießen müſſe. Unſer Rhein
ift als Deutfcher viel vorurtheilsfreier und verliert fich, man weiß
nicht wie. — Da wir den Hütten ganz; nahe famen, bemerkten
wir allerdings, dab ſich zwijchen ihnen gewifje Verhältniſſe be:
fanden, welche anjtändigen Häufern nicht unähnlih waren. CS
find das die Jagdhäufer, vie fich reihe Montpellierenjer für die
Zeit der Entenjagd bier erbauen. Vor der Hütte unjeres Gon:
doliers, der uns freundlich eingeladen hatte, ftiegen wir für einen
Moment aus. Er hat ein reizendes Töchterchen, und wie lang:
mweilig mir auch dieſe ganze Gegend, die nicht Fiſch noch Fleiſch,
nicht Meer und nicht Land it, Anfangs erfchienen war, jo fam
mir bei ihrem Anblid doch die Idee, dab dieſe Fiſcherhütte der
prächtigſte Schauplag für eine Idylle wäre. Wie elend jie auch
ausſah, verrieth fie im Innern doc eine große Wohlhabenbeit.
Ihr Beliger hieß uns bei jich willlommen und benahm ſich mit
jener Ungezwungenheit und Freiheit, die dem Manne aus dem
Volke hier eigen find. Es wurde uns wohl an feinem Herde. Er
fegte und und fib Stühle, und fein Töchterchen kredenzte treff:
lihen Wein des Landes. Vor der Thüre, auf dem Fluſſe trieben
fich fünf Jungen herum, die mit Fifchfang in großen, über die
ganze Breite des Fluſſes gejpannten Netzen bejhäftigt waren.
Die Jungen find Findelhauskinder, die er zu ji) genommen.
Die erjten fünf Jahre wird ihm für ihre Verpflegung eine ge:
wife Summe bezahlt; nad den fünf Jahren behält er fie als
Lehrlinge, und fpäter ſteht es ihnen frei, in die Marine zu
treten. Sie ſahen ganz vergnügt aus, rauchten ihre brule-geule
und trieben fich ganz luftig auf dem Fluſſe umher plus heureux
que des rois, Für die foziale Stellung diejer Kinder ijt es
382 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
bezeichnend, daß fie feine Familiennamen haben. — An der Wand
der Fifcherhütte hing das Bild des unglüdlihen Ariſtide Olivier
in jhönem Rahmen. Ariftive ijt ein Märtyrer geworden und
wird bier beim Volke wie ein Heiliger verehrt. —
Nah kurzer Weiterfahrt famen wir aus dem Fluffe in den
großen Kanal, der von Beaucaire nach Aigue-Mortes, von
Aigues:Mortes nad Cette führt. Diefer Kanal geht hier eigent-
(ich hon durchs Meer, auch nährt er ſich nur von gejalzenem
Waſſer. Er ijt eine ruhige, gradlinige Waſſerſtraße durch das
Reich der heiligen Salzfluth und in flüfliger Subftanz nichts
Anderes al3, etwas weiter oben gegen Cette zu, die Eijenbahn
ift, die ebenfall3 durd die Bläue der mittelländifchen Wellen
führt. Möven, Seeadler, allerlei Sumpf: und Meervögel kreis:
ten über unjeren Häuptern.
So landeten wir endli an dem Kleinen Damm, der vom
Kanal zu der weltberühmten, jagenhaften, vielbefungenen Inſel
Maguelone führt. Es fieht heute traurig aus, dieſes kleine
Eiland, das einjtens eine CitE und einen mädtigen Biſchofsſitz
auf feinem ſchmalen Rüden getragen und Frankreich und den
meiften Völkern Europa's ein Stüd Poefie geliefert hat, das bis
zum heutigen Tage im Munde des Volkes friſch und blühen
fortlebt. Wer kennt nicht die wunderbare Geſchichte Peters von
Provence und der ſchönen Maguelone? In Deutfchland ver:
kauft man fie für ſechs Kreuzer. Vielleicht intereflirt e8 manchen
Landsmann, etwas über die Geſchichte dieſes Romans zu erfab:
ren; jo überfege ich hier ein Fragment aus der Monographie
des gelehrten Renouvier aus Montpellier, welche der Künitler
Saurent mit ſchönen Lithographien geſchmückt hat. Dort heißt
es: „Gariel jpriht von Bernard de Treviez, Kanonikus und
Poet von Maguelone, der im 12, Jahrhundert gelebt und den
Roman vom- Peter von Provence und der ſchönen Maguelone
verfaßt hat, in welchem er die feiner Kirche im Jahre 1079 durch
Peter, Grafen von Melgueil, und Adalmude, feiner Frau, ge:
machten Scenfungen feiern wollte. Gewiß maren zur Zeit
Achtzehntes Kapitel. 383
Gariel’3 die Ueberlieferungen über den Roman von der ſchönen
Maguelone noch frifh genug, um für uns einigen Werth zu
haben; fo ift die Meinung des Herrn Raynouard, welcher die
Mittheilungen des guten Kanonikus (Gariel) adoptirt und mit
ihm in Uebereinftimmung binzufügt, daß dieſer Roman fpäter
von PBetrarca, während er fi mit dem Studium des kanonifchen
Rechts an der Univerfität Montpellier beichäftigte, verbeflert
worden fei. Aber Herr Raynouard fagt doch nicht, wie mancher
Andere, dab aud Rabelais feine Hand an den Roman gelegt
habe. Wie immer e3 ſich damit verhalten möge, heute gibt man
zu, daß Bernard de Trevie;, Kanonikus von Maguelone, einen
Roman in provenzalifhen Verfen verfaßt habe, der wie fo viele
andere verloren gegangen ift. Der Urjprung Maguelone’3 war
darin anders al3 in der Legende und ganz anders als in den
gelehrten Erörterungen, melde ſpäter folgten, aber jedenfalls
auf eine poetifchere Weife erklärt. Die Gründung feiner Kirche
und Stadt bildeten darin das Ende der Pilgerfahrt einer nicht
weniger in Frömmigkeit al3 in Liebe feurigen und treuen Yung:
frau. Das Gedicht eriftirte no im 15. Jahrhundert und wurde
damals und mehreremal3 feit jener Zeit ins Franzöfifche und Ka:
talanijche übertragen, unter dem Titel: Ystoire du chevalier
Pierre, fils du comte de Provence et de la belle Ma-
guelone, fille du roi de Naples. Verachtet von den Fadı-
literatoren, erhielt fih diefer Roman in der Literatur des Volkes,
für welches er wahrſcheinlich auch gedichtet worden war. Aller:
dings verlor er mit jeder Umwandlung etwas von feiner Ur:
iprünglichkeit und feinem Werthe, aber er läßt doc überall die
Reinheit ver Gefühle, die Einfalt der Form durchſcheinen, durch
welches fich jenes unnachgeahmte Schriftthpum auszeichnet. Selbit
in unferer Zeit fehren wir noch mit Vergnügen zurüd zu den
rührenden Abenteuern Pierre'3 und Maguelonen’3, „qui ves-
quirent en saincte et honneste vie et moururent sainc-
tes personnes, et furent ensevelis en l’Eglise St. Pierre,
la oü Maguelone institua l’ospital. Et à present ya
384 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
une belle église en lhonneur de Dieu et de St. Pierre et
St. Paul, auxquels plaise nous resjouyr en toutes tribulations
en ce monde et en la fin nous mener en la gloire du paradis.*
Dieſe Kirche des heiligen Pierre, die aljo vie jagenhafte
Maguelone gebaut haben foll, ijt neben einigen Heinen Reiten
vom ehemaligen Klofter heute allein noch übrig von der ganzen
Stadt und dem prächtigen Biſchofsſitz, welchen einjt Bäpite und
Könige befuchten. Und auch dieje Kirche, wie traurig fieht fie
aus! Dede und einjam erhebt fie ſich aus dem Eleinen, öden und
einfamen Eilande. Cinige Kleine Bäume bejchatten ihren Fuß;
aus ihrem Scheitel wuchert Unfraut, das im Seewinde bebt, und
die Schiffe, die auf hohem Meere vorüberziehen, würdigen das
alte Gemäuer feines Blides. Kein Anker fällt vor diefem Ufer,
um das jich einjtens Sarazenen jo wild gebalgt haben. Cinige
Rinder, der Schaffner mit Weib und Kind find die einzigen Be—
wohner, und das Land, das ehemals jo jtolze Titel trug, ge:
hört als „eine Propriete” einer jimplen Profefjorswittwe aus
Montpellier. Mill man nicht die romanische Bauart der Kirche
und einige jhön ausgeführte Detail3 daran bewundern, fragt
man jih nad wenigen Minuten, warum man denn eigentlich
bierher gefommen? Aljo gehen wir um und in die Slirche.
Daß fie ein lateinifches Kreuz bildet, verjteht ſich bei einer
romaniſchen Kirche, die wahrjcheinlich aus dem elften Jahrhun—
dert jtammt, von jelbit. Auffallender ift das Cingangsthor, das
eine arabijhe Reminiszenz zu fein ſcheint. Das Thor, oder viel:
mehr die Thüre — denn es ijt von unbedeutender Höhe und
Breite — trägt als Oberfchwelle einen mit großer Zierlichkeit be:
bauenen Monolith, deſſen Basreliefs, Blätterwindungen faſt
römiſch anzujehen find. — Rings um dieſe Arabesten läuft fol-
gende jinnige Inſchrift:
7 Ad portum vitae: sitientes quique venite:
Has intrando fores: vestros componite mores.
Hine intrans ora: tua semper crimina plora,
Quidquid peccatur: lacrimarum fonte lavatur. +
Achtzehntes Kapitel. 385
Ueber dem Monolith mit der Inſchrift erhebt fich ein faſt
jpigiger Bogen, deſſen Giebelfelo von einem fehr hübſchen Bas:
relief ausgefüllt ift, welches Chrijtum, von den Symbolen ver
vier Evangeliiten umgeben, varftellt. Der Bogen iſt abwechfelnd
aus ſchwarzen und weißen Marmorjteinen gebildet, eine Art zu
bauen, mie fie bei ven Arabern in Spanien oft vorfam. Rechts
und links von der Thüre befinden ſich noch zwei Basreliefs von
ſehr untergeorbnetem Werthe und barbariſcher Arbeit: ver heilige
Peter mit den Schlüfjeln und der heilige Baul mit dem Schwerte.
Heußerlih it ſonſt an der Kirche nichts Bemerkenswerthes.
Die Strebepfeiler find unbedeutend, die Verzierungen, die fie
einſt getragen haben mögen, find verſchwunden. Die Thürme
find gefallen. Nur über dem nördlichen Tranſept erhebt ſich
no einer um einige Ellen oberhalb des Daches. Intereſſanter
ift die Kathedrale von Innen. Bor Allem erjtaunt man, wie gut
fie fih da in allen ihren kleinſten Theilchen erhalten bat. Man
fann beinahe jagen, daß fein Stein von jeiner Stelle gerüdt ſei.
Es ſcheint eine unbedeutende Zufälligfeit, werın man bier oder
dort ein kleines romanifches Säulchen ein wenig vermwittert fieht.
Zwei fchlanfe Säulen laufen an den beiden Tranfepten,
man möchte jagen, mit Schnelligkeit die Wände hinan und tragen
auf faft doriſchen Kapitälen die intakte Wölbung. -Beleuchtet von
den drei Rundbogenfenftern des hohen Chores, fcheinen fie zu
Yeben. Bom Eingange aus gejehen ſchließen ſich die romanischen
Säulen zwifchen diefen harmonifc an fie an, fo daß die ganze
Kirche wie aus Einem Guſſe oder wie zugleich gewachſen erjcheint.
Die Säulden über dem Hochaltar zwiſchen den Fenſtern find
von bejonderer Feinheit, ihre Kapitäle, wie wir fie aus der ſchön—
jten Zeit der byzantinischen Kunjt fennen. Dafjelbe gilt von ven
größeren Säulen, melde recht3 und links die Kreuzmölbungen
der Tranjepte tragen. Nur daß bier die Kapitälform wechielt;
bald erjcheint fie beinahe korinthiſch, bald doriſch, bald zuſam—
mengejegt, bald mit den phantaftiichen Thieren des Byzantinis⸗
mus. Doc ftört diefe Verfchiedenheit der zierenden Details nicht;
Morig Hartmann, Werke III. 25
386 Tagebud) aus Languedoc und Provence.
fie verlieren fich im harmonischen Ganzen auf harmonifche Weife,
während jie dem Betrachter de3 Ginzelnen eine nicht nur nicht
itörende, jondern vielmehr erfreuliche Abwechslung bietet. — In
den Tranjepten, welche Kapellen bilveten, liegen Bruchſtücke
von verjchiedenen Sarkophagen und Ausihmüdungen alter Grä-
ber. Eines derjelben jchreibt das Volf der ſchönen Maguelone zu;
leider ijt e8 das Grab irgend eines alten Kardinals.
| Mittelit zweier mächtiger Steintreppen ftiegen wir auf das
bemoojte Dach der Kirche, um oben nicht3 Anders al3 die Rui—
nen eines alten Saales, ver ſich im Thurme befindet, zu fehen.
Von da vermag man die Inſel in ihrer ganzen Kleinheit zu
würdigen; in zwanzig Minuten vielleicht kann man fie in ihrem
ganzen Umfange umgehen. Jenſeits der Sümpfe liegt Pille:
Neuve, dahin ſich die Einwohner von Maguelone vor den Saras
zenen geflüchtet haben. Ville-Neuve ijt heute nicht viel beveu-
tungsvoller al3 das ganz verlafjene Maguelone; e3 hat die von
dieſem geerbte Herrlichkeit wieder an das fpäter entjtandene Mont-
pellier abtreten müjjen. „So wandeln die Kronen von Haupt zu
Haupt.” Bille-Neuve ijt der Geburtsort des großen Arnaud von
VilleNeuve, ver das 13. Jahrhundert mit feinem Ruhme er-
füllte. Nicht nur war er hochgefeierter Staatsmann, Gottesge—
lehrter, Arzt — er verjtand es auch, Gold zu machen und —
Branntwein zu deftilliren. Ihm jchreibt man wenigſtens die Er:
findung diefes Getränfes zu, das gewiß mehr Leute vergiftet,
al3 Arnaud mit aller Magie jemals geheilt hat. Obwohl er
Leibarzt mehrerer Könige von Aragonien und Sizilien, ja jelbit
des Papſtes gewejen, wurden jeine Schriften, freilic erſt nad)
jeinem Tode, vom heiligen Gerichte zu Tarragona verurtheilt und
auf dem Scheiterhaufen al3 fegerijch verbrannt. Cr ftarb im
Jahre 1313 — oder wurde, wie man in Spanien fagte, vom
Zeufel geholt. Es gejhah ihm Recht, des Branntweins wegen.
Das Meer erjhien mir hier zum erften Male im Leben als
„Waſſerwüſte“. Es ijt todt und öde; die Segel auf feiner Höhe
ſcheinen fich zu beeilen, um nur an diejer Küfte fo fchnell als
Achtzehntes Kapitel. 38%
möglich vorbeizufommen. Wäre nicht der Bli auf die fchöne
Gevennentette mit ihrem Könige, dem Pic St. Loup, das Auge
hätte feinen erquidlihen Halt. Stundenweit gegen Norden hat
ſich kein folider Bunkt gefunden, auf dem fi ein Dorf hätte
niederlajjen können. Nur zeritreute Landhäufer oder Mazes er⸗
blickt man, und dieſe ſind, der Fieber wegen, unbewohnt. Doch
iſt der Boden jenſeits der Sümpfe überaus fruchtbar und fett.
In der Nachbarſchaft der beiden Landhäuſer Mans und Morin,
wo ich auf meinem Rückwege Freunde beſuchte, ſah ich große
Weinſtöcke, die einer einzigen Traube glichen, ſo dicht bedeckt
waren ſie von der edlen Frucht. Die Winzerinnen füllten große
Körbe oft mit der Leſe eines einzigen Stockes. Man hat hier
auch mehr Wein als Trinkwaſſer. Bei meiner Rückkunft nach
Montpellier war ich eigentlich froh, dieſem Sumpflande entflohen
zu ſein. Ich hatte nicht viel mehr zurückgebracht, als das Be—
wußtſein, an einem hiſtoriſch und literariſch denkwürdigen Flecken
nicht vorübergegangen zu ſein, daS Bewußtſein erfüllter Reiſepflicht.
Die ſchöne Maguelone aber gemahnt mich an eine andere
Sage, die ebenfalls im ſüdlichen Frankreich ihren Urſprung hat
und bei uns nicht weniger befannt, ja populärer geworden: ift,
al3 die von der abenteuernden Prinzeſſin. Erinnere ich mid
doch ganz deutlich, welche Schauer ich empfand, wenn daheim
auf meinem Dorfe der Wind in den Kaminen jammerte und die
Magd fagte: das ift ta heska Melusina — das ift die ſchöne
Melufine, die weint und klagt, weil fie nicht zu ihren Kindern
fommen fann. Die ſchöne Melufine hat wirklih und wahrhaftig
gelebt, und zwar war fie die Schweiter des Herzogs Guilhem
von Poitier3 und die Frau Raimunds von Lufignan. Eigentlid)
bie fie Marie, den Namen Melufine aber befam jie von den
zwei Schlöffern, Melle und Lufignan, die ihrem Gatten gehör:
ten, und welche fie abmechjelnd bewohnte. Da fie e3 liebte, ſich
in ihre Gemächer einzufchließen und Bücher zu lefen, was in
ihrem, dem elften Jahrhunderte allerdings einen jeltenen und
jonderbaren Gefhmad vorausfegt, war man bald überzeugt,
388 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
daß fie darin geheime Künfte und Zauberei treibe, und bald
bieß es, daß fie fich jeden achten Tag wenigſtens zur Hälfte in
einen Drachen oder in eine Schlange verwandle.
Sonderbar ift e3, daß alle diefe Sagen, ſo wie die, welche
ſich auf ihren Bruder, den großen Herzog Guilhem, wie auf
deſſen Freund Wilhelm beziehen, nur noch in fünfranzöfifhen
Chronifen, wie 3. B. in Adamar's, in Fulbert’3 de Chartres, in
Konrad Wocerius’ Chroniken und ganz und gar nicht mehr im
- Munde des Volles leben. Daß- die provenzalifchen Lieder der
großen Troubadourepoche vergeſſen worden find, ift nicht zu ver:
wundern; fie haben nie vem Volke, fie haben immer ven Höfen
und Schlöflern angehört und ftiegen erſt zur Zeit ihres Verfalles
mit den Jongleurs auf den Marktplag der großen Städte hinab.
Dort konnten fie mit ihrem ſchönen Klang wohl ziemlich gefallen,
mochten aber mit ihrem raffinirten Gefühlsleben dem derben Kern
des eigentlihen Volles nicht zufagen. Daß aber diefe Sagen,
welche gewiß einen populären Urjprung haben und der Vhantajie
des Volkes angemefjen find, jo ganz feinem Gevädtniffe ent—
jhwanden, darüber darf man fih, mie gejagt, billig wundern.
Auch bier muß der Albigenfer Krieg erflärend aushelfen. Ein
mächtiger Blutjtrom fließet er zwifchen dem alten und neuen
Languedoc; in feinem cocytijchen Geheul verhallt, mas von jen-
jeit3 herüberzudringen fucht. Man würde es fonft nicht begrei«
fen, wie dieſe unendliche Menge von Sagen und Legenden, welche
das ſüdliche Frankreich bis zu Ende des zwölften Jahrhunderts
bevölfert haben, und deren fpärliche Reſte wir nur noch in
Büchern auffinden, jo verſchwinden und der Erinnerung des
Volkes entrücdt werden konnten, während mehrere, und unter ihnen
die ſchönſten, fern von der heimischen Duelle noch heute fortleben.
Bevor ich heute mein Tagebuch aus der Hand lege, will
ich noch einer literarifhen Moftifitation erwähnen, die fih auf
Maguelone bezieht, und die nur in der Gefchichte der Meinhold—
ſchen Berniteinhere neuerer Zeit ihres Gleichen findet. Vor einigen
Jahren trat ein junger Mann in Südfrankreich, ich glaube, er ift
Achtzehntes Kapitel. 389
in Agde geboren, plöglich mit dem urfprünglichen Romane von
Peter von Provence und der ſchönen Maguelone auf. Er hatte
ihn, wie er jagte, in irgend einem alten Archiv entdeckt und ließ
ihn druden. Alle Leute von Fach und alle Akademiker waren
entzüct über diefen Fund, und vorzugsweiſe die Akademiker waren
e3, welche an die Nechtheit glaubten und alle fchüchternen Zweifler
mit ihrer Gelehrſamkeit niederfchlugen. In Zeitungen und
Akademiefigungen rühmte man die Urfprünglichkeit und Naivität
des Gedichte und prie3 man das Glüd und das Verdienſt des
Finderd. Nachdem diejer mit Muße einige Jahre hatte verftreichen
lafjen und die gelehrten Akademiker alle genugfam blamirt waren,
trat er mit der Erklärung hervor, daß der ganze Roman von
feiner Mache fei, und daß er nichts Anderes gewollt, als ſich
über die Afademifer luftig machen, was ihm denn, wie er dank:
bar anerfenne, glüdlich gelungen ſei. Er erklärte ferner, wie er
e3 gemacht, um ſich vor dem frupulöfeften Forfcher feine Blöße
zu geben. Während feiner ganzen Arbeit hatte er mittelalterliche
gereimte Romane vor jich liegen und hütete fih, nur Ein anderes
Wort oder eine einzige andere Wendung anzubringen, al3 die er
in feinen Vorbildern gefunden. Nach diefer Erklärung fehlte es
natürlich wieder nicht an Leuten, die den Betrug geahnt hatten,
ebenjo wenig als an Tablern, die das Merk in feiner ganzen
Konzeption als ein verfehltes und mittelmäßiges bezeichneten.
Es ging ihm, wie es Macpherfon gegangen wäre, wenn er nicht
reinen Mund zu halten gewußt hätte, und wie e3 dem armen
Chatterton erging, nur daß der Verfafler des Romans Maguelone
ſich die Sache nicht fo zu Herzen nahm wie der englifche Dichter,
und heiteren Muth genug hatte, über die Gefoppten zu lachen
und jeinen Roman, nachdem er ihm Spaß genug gemacht, wie
der in Vergefienheit ſinken zu laſſen.
Montpellier, im Oftober 1851.
Mit reiheren Eindrüden, al3 Maguelone gewährt, Eehrt
man von Sankt Guilhem le defert oder Saint Guilhem du deſert
390 Tagebuch au3 Languedoc und Provence.
zurüd. Schon der Weg dahin bietet Manches, was da interejlant
ift. Aber um Alles zu genießen, muß man fich ſchmerzlich früb
aufmachen, wenn man noch am felben Tage, wenn au jehr
jpät, nad Montpellier zurücehren will; denn Eaint Guilhem
le deſert liegt jenfeitS des Herault tief im Gebirge verftedt, meh—
rere Meilen fern von der Hauptitabt des Departements. So
ſaßen wir an einem ſchönen Frühlingstage ſchon um vier Uhr
Morgens in einem’ breiten, bequemen Wagen und fuhren dem
Weiten zu. Es war eine phantaftifh zufammengewürfelte Gejell-
haft. Neben mir im Wagen ſaß eine der ſchönſten Profefjors-
frauen, die je eine Univerfität geſehen hat; mir gegenüber ein
orleaniftifh gefinnter Profeſſor, neben viefem ein ehemaliger
Präfeft Ledru Nollin’3 und auf dem Bode neben dem Kuticher,
mit der Mappe unter dem Arm, ein Mann, der fich ven Teufel
um alle Bolitit, wohl aber um jeden Straub am Wege, um
jedes Wölklein am Himmel und jeden Schatten in den Schluch—
ten des Gebirges kümmerte. E3 war da3 unfer Freund und Füh—
ver, der von Allen, die ihn kennen, „ver Vater der Natur“ genannt
wird, Man könnte ihn bier zu Lande auch den Vater der Kunſt
nennen, denn wie er fich bemüht, die ſchönſte Muſik der größten
Meifter im Lande zu naturalifiven, ebenfo hat er durch feine an-
geitvengten Arbeiten alle Reſte alter Kunft, die fih in dieſem
Lande finden, aus der Nacht barbarifher Vergeſſenheit gerettet,
indem er ſie gezeichnet, bejchrieben und in verdienjtoollen Samm:
lungen dem Publitum übergeben hat. Aud Saint Guilhem mit
jeinen arditektonifchen und natürlichen Schönheiten verdankt ihm
die Auferftehung aus der Vergefienheit. Konnten wir einen beſſe—
ven Führer haben als diefen Vater der Natur, der jeden Bau:
vejt, jeden malerifhen Winkel in ganz Provence und Languedoc
fennt und mit Verſtändniß deutet?
Ungefähr eine Stunde hinter Montpellier famen wir an den
Ueberreften eine3 alten Schlojjes vorbei, das in der Ebene an
einem Bache liegt; was davon noch übrig ift, weite Marftälle
und ein großes Theater, weitläufige Mauern eines großen park:
Achtzehntes Kapitel. 391
ähnlichen Gartens, zeugen von üppiger Pracht. Es gehörte ehe:
mals einem Fermier general oder Steuerpächter unter Ludwig
dem Fünfzehnten — iſt alſo vom Schweiße des Volkes gebaut.
Man jagt, daß der König einmal dajelbjt eingefehrt und daß
zu diejer Gelegenheit das prächtige Theater gebaut worden ſei.
Dafür durfte der Fermier general dem armen Volfe einige
Millionen mehr erprejjen. Diejer Spefulant war ein Barvenü und
fam nur durch die größte Frechheit zu der von jo Vielen beneideten
Stellung. Urfprünglihd war er nichts als ein Müfliggänger,
der jih in den Gaſſen von Paris umbertrieb und nicht wußte,
was mit fich und feinem Magen anzufangen. Die geheime Polizei
war damal3 noch nicht jo ausgebildet, um jedes verlorene
Subjekt bejhäftigen zu fönnen. Da hörte der Cole, daß in Ber:
jaille3 die Steuer zu verlaufen ſei, dab fich aber fein Pächter
finde, weil man zu enorme Summen forderte. Die Bompadour
war von jo großen Bedürfniffen geplagt! Er verſchafft ſich jo
viel Geld, um für einen Tag die pradtvolljte Equipage, mehrere
Bediente und ein Hofkleid miethen zu können. So ausgerüjtet
fährt er in Verjailles vor — die Wachen machen dem großen
Seigneur Plag, und er dringt mit Geräuſch bis in das Vorzim:
mer des Königs, dem er jagen läßt, daß ſich ein Steuerpächter
melde, bereit, auf die Forderungen des Hofes einzugehen. Der
König nimmt ihn mit Emprefjement auf, und der Handel wird ab:
geſchloſſen. Dem neuen Fermier general, der keinen Sou in der
Taſche hat, ift es nicht Schwer, fich fofort große Summen zu ver:
ſchaffen, die er als Abjchlagzahlung erlegt; den Reſt hat er bald
aus dem Volke herausgepreßt, und was darüber, füllt ihm vie
Taſchen. In Kurzem ift er ein reiher Mann; er weiß ſich in feiner
Stellung zu erhalten, gibt vem Könige Felte und der Pompadour
Baares, und wird fo einer der gloriojeiten Fermiers generaur,
die jemals Frankreich beglüdt und die Revolution geheizt haben.
Jenſeits feines Schlojjes verloren wir ung im Mittelgebirge,
das die Cevennen vom Meere trennt. Die Straße geht eine Zeit:
lang an tiefen Schluchten hin und durch Thäler, die nicht einmal
392 Tagebud aus Languedoc und Provence.
von einzelnen Hütten bevölfert find. Die grünen, nur von
Gras bededten Hügel, obwohl viel weniger großartig, erinnern
bier und da an einzelne Gegenden des Weſthighlands in Schott-
land. Nach drei Stunden ungefähr famen wir, nachdem Gignac
pafirt war, in Aniane, einem Eleinen, netten Städtchen von
ungefähr dreitaufend Einwohnern an. Aniane befigt noch Reſte
eines Kloſters, welches die fultiwirenden Benediktinermönde, der
refpettabeljte aller Orden, die das Mittelalter hervorgebracht,
gebaut haben. Der heilige Benediktus von Aniane felbit hat
e3 gegründet. Cr war der Sohn eines gothiſchen Grafen von
Maguelone und wurde furze Zeit vor der Zerftörung feiner
Baterftadt durch Karl Martell geboren. Trogdem brachte er feine
Jugend am Hofe Pipin’3 des Kleinen zu. Aber das Hofleben
mochte ihm nit behagen, und er gründete am Fluffe Anian,
welcher heute Gorbiere heißt, ein Klofter, da3 bald von dreihun—
dert Mönchen bewohnt war. Yhre Gefellihaft mag nicht die an=
genehmite gewejen fein, denn Benedikt verließ fie und ging wies
der zu Hofe, aber nur um am Ende diefen auf Neue zu ver:
lafjen. Er kehrte ing Klofter zurüd, wo er im Jahre 821 ftarb
und zu den Heiligen einging. Das Klofter, das er gegründet,
wurde nie vollendet, und die großen Bruchſtücke wurden zur
Zeit der Revolution zu einer Pfarrei, einer Gemeindeliche und
einer großen Fabrik verwendet. Das Klofter ging zu Grunde,
aber die Bürgergemeinde, die ſich ringsumher anfievelte und
dem frommen Haufe ihren Urfprung verdankt, befteht noch heute
und bildet das freundliche Städtchen Aniane. Auch die guten
Bücher und Chroniken, melde die Beneviftiner gejchrieben, be:
ftehen noch und leiften und nütliche Dienfte — auch die Felder
und Wieſen, die jie gefchaffen, da fie mit dem Beile der Ge:
fittung Wildnifje ausrodeten und Feljen urbar machten, blühen
noch heute und tragen Früchte für Menſch und Vieh.
Aniane hat noch manche hübjche Volksfitte aus dem Mittel:
alter erhalten. So z. B. ift e3 Brauch, daß alle Neuverheiratheten
Sonntag vor Karneval Lorbeerzweige an die Giebel ihrer
\
Achtzehntes Kapitel. 393
Häufer fteden. Die Männer wandern von Haus zu Haus und
fammeln die Zorbeerzweige ein, angeführt vom älteiten Ehemann
des Jahres, und Alle trinken in jedem Haufe, das einen Lor—
beerfranz trägt. Des Abends werden mit der Fadel in der Hand
auf dem großen Plage vielerlei Tänze ausgeführt, an denen die
Meiber nicht Theil nehmen. Diefer Umſtand, die Fadeln und der
Lorbeer deuten vielleicht auf den griechiſchen Urſprung des Tanzes
und der ganzen Eitte hin. Den Tänzern folgen durch alle Win:
dungen des Tanzes die Greije des Ortes und tragen ihnen mein:
gefüllte Flaſchen und Becher nad), die während des Tanzes geleert
werben.
Ungefähr eine halbe Stunde hinter Aniane gelangt man
endlih an die Brüde des Herault und an den Cingang des
furchtbar wilden Thales, das nach Saint Guilhem le defert führt.
Die Brüde ſoll auf römijchen Fundamenten ruhen und ein Theil
der Römerftraße gewefen fein, die nach Touloufe führte. Unmeit
von der Brücde liegt das Dorf Saint Jean de Fos, und etwas
weiter das uralte Schloß Montpeyrour. Diefe ganze Gegend ift
von ihr eigenthümlichen Geiftern, die man Drac nennt, bevöl:
fert. Ihr Hauptfiß ift eine Art Brunnenabgrund zu Montpey:
rour. Doch gibt es gute und böfe Drac's, und gelehrte Ausleger
fehen in den erften die Laren und Penaten, in den letteren die
Lemuren der Alten. Die guten gehen oft in Menjchengeftalt
unter die Leute auf den Markt in die Stadt, zu Hochzeitsfeiten
u. |. w., wie wir da3 von unferen Wafjermännern kennen. Die
böfen jchieben ihre Kinder den Ammen in die Arme, und oft
faugt fo ein Drackind zwanzig Ammen das Leben aus. Dft
lafien fie goldne Stäblein, Ringe oder Becher auf dem Fluſſe
ihmwimmen, und wenn ein Kind herankommt, um das glänzende
Spielzeug zu holen, ziehen fie e3 tückiſch in die Tiefe. Nicht
alle wohnen in jenem Brunnen, viele haufen auch, wie unjere
Kobolde und Wichtelmännden, in verlafjenen Wächterhütten oder
in verjtedten Winkeln bewohnter Häufer. St. Jean le %03 ift
neben feinen Geiftern megen der großartigen Kapernfabrifation
394 Tagebud aus Languedoc und Provence.
berühmt, welche den Ort reih und die Gaftronomen Frankreichs
und Europas glücklich macht.
An der Heraultbrüde angefommen, jtedte die jhöne Frau
Brizeur’ Idylle „Marie“, aus der jie uns vorgelefen hatte, um
uns für ihren Lieblingsvichter zu gewinnen, in die Taſche. Und
jie that Net daran. Das iſt feine Scene, kein Schauplag für
die Idylle, was ſich an der Heraultbrüde vor uns aufthat.
Tief unter diefer Brüde, die ein fehöner, hoher, aus meh—
teren Bogen bejtehenvder Bau iſt, fommt der Fluß Herault aus
der furchtbaren Schlucht hervor. Er fcheint aufzuathmen, er
ſcheint das Gefühl des eben Geretteten zu haben. Ruhig bleibt
er unmittelbar vor der Brüde ftehen und breitet ſich gemächlich
aus, um das Licht der Sonne mit Behagen einzujaugen und
fih mit Harem Blicke, froh des Dafeins, in der Welt umzujehen.
Seit Stunden ift ihm ja dieſes Glüd nicht zu Theil geworden.
Er kommt aus Nacht hervor, er tritt aus einer Miniaturbölle.
Mir gingen ihr entgegen, indem wir aus dem Wagen jtiegen,
die Brüde überjchritten und jenſeits, auf dem rechten Ufer des
Herault, nordwärts unjere Wanderung fortjegten. Dort drängt
ih die Straße am Fuße einer ungeheuren Felſenwand zwiſchen
diefer und dem Fluffe St. Guilhem entgegen, und zwar in frampf-
haften Krümmungen, als hätte fie Angit, in den gähnenden Ab—
grund zu gleiten. Da unten aber iſts fürchterlich.
Bald Happten die beiven Feldwände, die an der Herault-
brüde enden, mwie zwei Kerferthüren hinter uns zufammen. Das
offene Land verſchwand — wir waren in der Gebirgswüſte. Da
gedeiht kein Grashalm, kein Blümlein, kein Strauch. Wo follte
auch an diejen fteilen Wänden eine Handvoll Dammerde baften
fönnen? Nur der fede, doch leicht zerbrechliche Feigenbaum jtredte
bier und da aus einer Ritze feine Fahne hervor — doch ſah er
verzweifelt aus. Uns zu Füßen aber rollte und grollte es, zifchte
und pfiff ed. Die große Schlucht ift von einer fchmaleren, ihrer
ganzen Ausdehnung entlang, durchſchnitten, und in dieſer
zweiten Schlucht quält fih, immer hörbar, jelten zu ſehen, ver
Achtzehntes Kapitel. 395
Herault ab. Man muß frech auf Feljenvorjprünge treten, wenn
man ihn da unten in feinem Marterbette erbliden will. Ad,
wie er ſich plagt! wie ihn die Felſen zerreißen, wie er ſich windet,
wie er weint, und mie er ſchäumt vor Wuth, und das Alles in
dunkler Kammer. Nur zweie habe ich noch fo leiden jehen: vie
Neuß, mie fie den Gotthardäberg hinab tollt, und die Aar, da
fie von der falten Grimfel ihrem gewiſſen Falle entgegenjammert.
Es ift ein fehr unglüdlicer Fluß, der Herault, und feine Lauf:
bahn eine der martervolliten, und das Alles, um ſchon nad) weni:
gen Stunden mit Einbuße feiner Individualität im All, im
Meere aufzugeben. Ein ſchöner Troft, der Shelley'ſche: Du bleibit
im All! Wir fönnen doc nie umhin, bei Flüffen an individuelles
und menschliches Leben zu denken, und das ijt natürlih. Es
gibt nicht3 in der Natur, was an das menschliche Daſein jo jehr
erinnert. Die Pflanze ift unbeweglih und ftumm und darum fo
ferne von uns, den fo Bewegten, Meinenden und Jubelnden.
Unter den Flüſſen aber gibt e3 Heine und mittelmäßige und große
und gewaltige. Jeder hat feinen beſonderen, ihm eigenthümlichen
Charakter; jeder hat feinen Lebenslauf, fein Schidfal. ever
wirft auf feine Weife; jeder hat feine Quelle, wächst durch ihm
eigenthümliche Zuflüffe und endet wie ver Menſch, invem er in
einem anderen aufgeht, fi verbunftet, im Sande verliert, oder
im großen All regelmäßig bejtattet wird und unerkannt in Atomen
wieder auferfteht. Der eine und der andere verliert fich mitten
in feinem ftolzen Laufe — tout comme chez nous.
Was aber den Herault betrifft, jo hat er jein ganz bejonve-
res Schidjal. Seit Jahrtaufenden arbeitet er daran, ſich einen
ordentlichen Weg zu bahnen, und je mehr er arbeitet, deſto jchlim:
mer wird fein Pfad. Je mehr er wühlt, deſto größer wird das
Labyrinth von ausgeſchwemmtem Gejtein, dur das er fich zu
winden hat, und deito tiefer und der Sonne immer mehr entrüdt
wird fein Bett. So fommt es au, daß diefes unten viel, viel
breiter als oben, und daß e3 zum größten Theile ganz überdacht
it. An einer Stelle ftredt fich eine Felsplatte jo breit, weit und
396 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
dünn hervor, daß fie ihren Namen, Regenſchirm des Herault,
verdient. Da wir es jahen, kam eben viel Regenwafler, das fich
im Gebirge gefammelt hatte, aus einer Seitenfhludht hervor und
floß über das Parapluie in hundert Fleinen Bächen wie ein
Schleier hinab in die Tiefe, daß es unten erflang. E3 war lieb-
lich anzufeben und anzuhören.
Daß der Herault fein Jüngling mehr an Jahren, erfennt
man da, wo das Ufer nicht jo fteil ijt, an dem aufgehäuften Ge—
ftein, mit defjen Ausfchwemmung und Polirung er gewiß Jahr:
hunderte lang bejchäftigt geweſen fein muß; ja, vielleiht war
das urfprünglihe Bett des Knaben Herault das ganze obere
Selfenthal, das er nah und nad durchgewühlt bis zu der jchma=
len Schlucht, in ver er fich jegt aufhält. In der That hat das
Ganze etwas vom Urmweltlihen, und wir in unjeren Fräden und
modernen Kleidern, wir Tourijten, Brofefjoren, Brofefjorenfrauen
und Präfekten waren anachroniſtiſche Wandler auf einem Boden,
mit dem Ichthyoſauren befler zufammenftimmen würden. Etwas
weiter gegen St. Guilhem le vejert am linken Ufer frijtet ein er—
bärmlicher Eichenhain, an die Feldwand geflammert, ein erbärm-
lihes Dafein: ein wahres Symbol der Schwäche, die Eiche in
ihrem Verfall. Dem Eichenhaine gegenüber, am rechten Ufer hoch
über der.Straße, haben zwijchen Feld und künftlih aufgeführten
Mauern die Menjchen einige Dammerde zufammengetragen, in
welcher Dlivenbäume und Weinreben fteden. Traurige hängende
Gärten! Bon Zeit zu Zeit fommt ein Wildbad und trägt Mauern,
Dammerde, Dlivenbäume und Neben hinab in den Grund, dann
fommt der Menſch, ringt die Hände, trodnet die Thränen und
trägt fie wieder hinauf, um im nächſten Frühling oder Herbft
dieſelbe Arbeit von Neuem zu beginnen.
Aber ich habe einen der fehönften Punkte, der fich unfern
vom Eingange in das Thal findet, überfprungen, doch gehört er
zu den malerifchiten. Das ift die Mühle von Clamous. Sie
jteht fed und prächtig mit einem Thurme verfehen am Rande des
Abgrundes. Die Waſſer des Herault’3, des wilden, tollen, ſchwer—
Achtzehntes Kapitel. 397
müthigen, find zu unpraftiih, um, menigiten® bier, nützlich
ein nüglihes Mübhlrad zu treiben. Darum bezieht die Mühle
den nöthigen Wafferverbrauh aus der Fontaine de Clamous
(fons clamosa), vie nicht fünfzehn Ellen fern von der Mühle
in ihrer Wiege liegt. Diefe Wiege ift eine gewaltige Grotte im
Felſen, aus welcher der Quell mit fo ungeheuerer Waflermenge
bervorfommt, daß er gleih an feinem Urjprung Mühlräder in
die mildefte Bewegung zu fegen vermag. Sein Wafler iſt hell
und grün, wie es aus dem Feljen hervorfommt, aber filberweiß
und perlend, wie ed al3 Katarakt von der Mühle hinabftürzt in
den Herault. Wie fchnell iſt dieſes Geſchick erfüllt nach einem
Wege von fünfzehn Schritten, und doch wie nüglihb. Man fagt,
daß das Waſſer der Grotte mit den Gewäſſern des Sees von Thau
bei Cette, mit dem Drachrunnen, mit den Quellen von Mont:
pellier u. ſ. mw. durch unterirdiihe Gänge in Verbindung it.
Mas ift nicht glaublich in diefem durchhöhlten Lande?
In der Nähe der Mühle von Clamous gibt e8 noch mehrere
Kleinere, die aber nicht jo befeftigt und mit feinem Thurme ges
Ihmüdt find. Sie fehen wie große Maulmurfshügel aus, oder
auch wie Heine, aus Baditeinen gebaute merifanifhe Tempel,
wie wir fie aus Abbildungen fennen. Sie find oben und nad)
den Seiten abgerundet, wie abgejpülte Steine, damit die Fluth
des Herault, der oft austritt und das ganze Thal erfüllt, deſto
unfhädlider über fie dahingehe. An diefen Mühlen verloren
wir den „Vater der Natur“ aus unferer Gefellichaft; er ließ uns
allein weiter wandern und pflanzte fich mit feiner Zeichengeräth:
ſchaft auf einen ausgeſchwemmten Stein im Angefichte des Thurmes
auf. Der Punkt, wie gejagt, verdient diefe Aufmerkjamfeit,
und der Künjtler, der an ihm vorüberginge, wäre fein rechter
Künſtler. Nicht viel weniger ſchön ift es weiter oben, wo bie
Trümmer eines Feudalbaues mit einem Thurme kahl, melando-
liſch, aber harmoniſch mit der ganzen Umgebung in das dunlle
Bett des Gebirgsſtromes hineinfehen.
In der Nähe von St. Guilhem wird es freundlider. Wenn
398 Tagebuch aus Languedoc und Provence.
man auf der Wanderung bis hierher vergeflen, daß man die
funftoolle Straße, auf der man gewandelt, den fleißigen Bene:
diktinern dankt, fo wird man hier gewiß durch die Heinen, grü-
nen Wieſen, durch die fchattigen Bäume, die ſich ſchon buſchweiſe
um den Eingang in das Dorf drängen, daran erinnert, daß dieſe
Civilijatoren einmal bier gemwaltet haben.
Aber bevor wir in den Fleden St. Guilhem eintreten, habe
ich noch eines jonderbaren Dings zu erwähnen, das fi unmit:
telbar davor befindet. Es ift das eine Hängebrüde der eigenthüm—
lichften Art, wie fie gewiß nicht wieder in Europa zu finden ift,
und die an Einfachheit und Urfprünglichkeit felbit die indiani-
ihen und indifchen weit hinter fich zurüdläßt. Sie führt über
das Abgrundbett des Herault und bejteht aus einem einzigen
Seile. Das Seil ift an beiden Ufern folid befeitigt. An dem
Seile hängt ein kurzes Stridlein, das oben ein Rädchen hat,
welches am Seile binläuft und unten einen fleinen Stab von
ungefähr einer Elle querüber trägt. Auf diefen Stab jegt man
jih, indem man beide Beine darüberftredt, jo daß man das
Stridlein, an dem er hängt, vor jich hat. Mit ven Händen hält
man ſich am oberen Geile. Da diefes Seil nicht ftraff geſpannt
ift, jondern eine Kurve bildet, fliegt man, jobald der Fuß das
Ufer von fich ſtößt, weit über die Mitte der ganzen Brüde hin
und dur das eigene Gewicht fat die Hälfte der auffteigenden
Kurve hinan. Den Eleinen Reft der aufjteigenden Kurve über:
windet man leicht, indem man, noch bevor das Rädchen in Ruhe
fommt, mit der einen Hand das Seil erfaßt und fich weiter hin-
auf bis an3 Ufer hinarbeitet. Ich ſah fo ein altes Weib, das
einen großen Bündel Brennholz auf dem Kopfe trug, mit größter
Geſchwindigkeit über den Abgrund des Herault fliegen. Schöner
war der Anblid, al3 ein junges Mädchen mit der Harfe im
Arme berüberfchwebte. Es ſah geijterhaft aus. Nur der Mon:
jhein fehlte, um an einen über Abgründen ſchwebenden, fingen:
den Elfengeift zu glauben.
Endlich müſſen wir doch in St. Guilhem eintreten. Ich
Achtzehntes Kapitel. 39)
thue e3 mit Zagen, da ich doch einmal die Verpflichtung über:
nommen habe, vergleihen zu bejchreiben, und die begründete
Angſt fühle, diefer Verpflihtung nicht nachkommen zu können.
Einem Deutſchen ilt es ja nicht erlaubt, jich jo zu helfen, mie
e3 ein franzöfifcher Reifebejchreiber gethban, indem er einfach
jagte: Ein Maler müßte in St. Guilhem wenigſtens acht Tage
zubringen. Wahr ift er, diefer ächt franzöfifhe Touriftenfag, aber
von den mannigfahen Schönheiten St. Guilhem’s gibt er denn doc
feinen Begriff. St. Guilhem le dejert liegt linf3 von der Straße, auf
der wir bis jeßt gewandelt und die weiter dem Herault entgegen in
die Cevennen führt, am Eingang in ein großes Keſſelthal. Diejen
Eingang füllt e8 ganz aus mit uralten Häufern und mit einer über:
aus üppigen Vegetation. Dem Ankommenden breitet e3 zwei Arme
entgegen, wie zur Umhalſung. Zwifchen diefen zwei Häuferarmen,
die mit ihren Granatbäumen, Pinien u. f. w., mit ihren von
Epheu überdedten Wänden und Giebeln auch einem großen Halb:
franze ähnlich find, befindet ſich ein tiefes Baflin, in das, mitten
aus den Käufern fommend, die Waller des Gebirgsbaches Ber:
dus in berrlihen Kaskaden hbinabplätfchern. Das Baflin iſt
von Wajjerpflanzen aller Art angefüllt und feine Ränder mit
dihtem Buſchwerk bejegt, in welchem unzählige Nachtigallen
jingen. Am Gelände dieſes Bedens jtanden wir wie gebannt
und jchweigend. Hinter uns erhob ſich eine ungeheure, himmel:
hohe Felswand, die von Grotten durchwühlt ift. Aber dieje be:
fommt man nicht zu fehen, fie find von einem dichten, diden
Epheuſchleier verdedt; auf ihren Vorjprüngen prangen Granat:
bäume mit ihren rothglühenden Blüthen. Vor uns, aber jen:
jeit3 de3 Baſſins und des Dorfes, auf dem gegenüber hoch und
allgewaltig fich erhebenden Felsberge ftehen die Ruinen eines
Schloſſes, das man das Schloß Don Juan's nennt. Es hat an
der fteilen Wand nirgends Platz genug gefunden, um ſich ge
mächlich niederzulafien, und jo jteht es auf einzelnen Abjägen,
ein Theil über dem andern, und fieht aus, al3 ob es mit Mühe
den Berg hinanklimmen wollte, mit Mühe und doch fühn und
400 Tagebud aus Languedoc und Provence.
fed, wie ein Gemjenjäger. Kaum begreift man, wie e3 fih da
oben erhalten fann. Wer war diefer Don Juan, der da oben
fein Neft hingeflebt hatte? Niemand mußte e8 mir zu jagen,
und jo jchließe ich aus dem Namen, daß e3 einer der Herrn ge:
weſen war, die mit Peter von Nragonien ins Land famen. Was
er immer gewejen, er hatte gewiß für Schönheiten der Natur
ebenjo viel Sinn, al3 fein verrufener Namensbruder für die
Reize des Meibes, und mit derjelben Kedheit nahm er fie in
Beſitz. Am Fuße des einen Schloßthurmes faß ein Hirtenfnabe,
flein wie ein Punkt, und rings umber in dem gelben Geftein
ſuchten Schafe und Ziegen ihr Futter. Ihre Gloden Elangen
melodifch zufammen mit den Nachtigallenlievern in der Tiefe.
Und noch babe ich von den Klofterruinen, von dem alten Kirch:
thburme, von den gothiſchen Fenjtern in allen, au ven Eleinjten
Häufern, die rings um das Baſſin aus Bäumen und Gebüſch
bervorbliden, nicht? gejagt. Ich will es auch fürder nicht thun,
jondern einfach meine Wanderung fortjegen.
Wir gehen um das Baflin herum und gelangen auf den
Hauptplat des Dorfes, der einen einzigen Ausgang hat und von
uralten Häufern, von den Ruinen des Kloſters und der Kirche
aus Karl des Großen Zeiten, gebildet wird. In der Mitte
plätfhert der Brunnen, der da3 ganze Mittelalter hindurch auf
wunderbare MWeije heilende Kraft übte; der ganze Platz, fo ſchön,
jo malerifh, al3 nur irgend einer der Welt, iſt noch heute ein
Stüd Mittelalter, jo wohl erhalten, wie die Mauern von Aigues:
Mortes.
St. Guilhem le deſert iſt von einem der Paladine und Neffen
Karls des Großen gegründet, von Wilhelm von Aquitanien, auch
Wilhelm Kurznafe genannt, welcher in mander Chronik des
Mittelalter und in einem gereimten Romane gefeiert wird. Nach—
dem er ſich gegen die Sarazenen als Held bemwiefen und am Hofe
Karoli Magni ein etwas liederliches Leben geführt hatte, wurde
er mit einem Male fromm und gründete diefes Klofter, welchem
er jeinen Namen gab. Bor ihm hieß der Fleden Gellone. Er
Achtzehntes Rapitel. 401
jeßte fich mit dem heiligen Benediktus von Aniane ins Einver:
nehmen und lernte von ihm, wie man Klöfter gründet und Mönche
in Zucht bringt. Kaifer Karolus unterftügte ihn, indem er ihm
ein Stüd des wahren Kreuzes verehrte, welches Wilhelm von
Aquitanien, der fpätere heilige Wilhelm, in einem eifernen Kaſten
und zu Fuße vom Hofe Karl3 des Großen, vielleiht von Aachen
oder Ingelheim, bis hierher trug. Bei dieſer Gelegenheit joll er
fih ein Weh angethban haben, daran er fein ganzes Leben lang
zu tragen hatte. Die Mönche, die er in Saint Guilhem verjam:
melte, gaben ihm auch viel zu ſchaffen, bevor fie es lernten, fich
in die Zucht und Negel des heiligen Benediktus zu fügen. Troß
dieſer traurigen Erfahrungen, die er in der Frömmigkeit machte,
bewog er doch zwei feiner Schweftern, ein Gleiches zu tbun und
in ein benachbartes Klofter zu gehen. Er felbt ließ fih im Jahre
806 einkleiden und ftarb als ein Heiliger.
Bon dem großen Kloftergebäude, das er gründete, find nur
noch ſchwache Refte übrig. Ein ſchöner, von romanischen Säul-
hen getragener Gang, das Bruchſtück einer breiten und fchön
angelegten Treppe und Spuren von Gemädern, die ſich in den
oberen Stodwerfen an die Kirche lehnten. Der Klofterbof ift von
Unfraut überwuchert und feine Wände von Epheugeminden und
allerlei Flechten bevedt; hie und da bliden byzantinifche Skulp-
turen al3 Thier: und Menjhengeftalten hervor. Die Kirche aber
it faft ganz fo erhalten, wie fie wahrfcheinlic im zehnten oder
elften Jahrhunderte, da der romaniſche Styl ſchon nad) der Höhe
zu jtreben anfing, renovirt, ausgebaut over vielleibt ganz und
gar neu aufgeführt worden, und ift jedenfalls eines der interefjan-
teften Denkmäler vorgothifcher Architektur. Hier ift noch Feine
Spur von jener Ahnung des Spitzbogens, wie fie in Saint
Trophime zu Arles jhon bervortritt; im Gegentheil weist Alles
zurüd auf dunkle, antike Erinnerungen. Im Einklang mit diefer
Kirche ſtehen viele einzelne Häufer des Fleckens, die nah und
nad von dem reihen Klojter, wahrfcheinlich für feine Beamten,
oder von einzelnen Reihen, die ſich hierher zurüdgezogen, ohne
Morig Hartmann, Werke III. 236
402 Tagebud aus Languedoc und Provence.
fih einkleivden zu laffen, gebaut worden find. Darunter find
manche in ächt gothiihem Style ausgeführt.
Hinter dem Fleden Saint Guilhem le deſert öffnet fich mit
einem Male groß und breit ein furchtbares Kefjelthal, welches,
die Pforte gegen den Herault zu ausgenommen, feinen anderen
Ausgang hat, al3 denjenigen, den der hier haufende Adler findet,
den Ausgang dem Himmel entgegen. Ringsumher im meiten
Kreije erheben fich fteile, oft jenkrecht abfallende ungeheure Fels:
wände, aus denen zablloje einzelne Feljennadeln in den ver:
ſchiedenſten Richtungen und Bildungen hervorragen. In ihren
Löchern, die unnahbar find, hauft der Adler und verenden die
Lämmer, die er den Heerden unten in den Thälern entführt.
Es iſt ein Thal, wie e3 im orientaliihen Märchen vorfommt,
aus dem man nur auf den Flügeln des Greifes oder mit Hülfe
des magijchen Pferdes der Abbafliden entkommen kann.
Do haben die Menſchen, längs der Wände über dem Stein:
gerölle, das ji an ihnen aufgehäuft, einen Pfad angebracht,
der wie eine Galerie auf: und abjteigend ringsherum führt. Auf
diefem Pfade jegten wir, von zwei Hirtenfnaben geführt, unjere
Wanderung fort. Ueber halsbrecheriſche Viadukte durch Luft:
jtrömungen, die an manden Stellen aus den Klüften hervor:
famen und fo gewaltig rauſchten und fortrifien wie Wildbäche,
gelangten wir endlich an jenem hohen Punkte an, wo der Verdus,
gerade Saint Guilhem gegenüber, aus einem Heinen Walde her—
vortommt und fih in fühnen Sprüngen hinabwirft in den Thal:
grund. Da unten nährt er Wiefen und Flachsfelder, welche die
Tiefe mit einem grünen, faftigen Teppiche beveden und mit den
gelben Felswänden ringsumber auf das Schönfte fontraftiren.
Die Hirtenknaben, unfere Führer, wollten ſich vor ung mit ihrer
Geſchicklichkeit produziren und mandes Aolerneft erklettern ; aber
fie glitten jedesmal an den polirten Wänden ab. Am Berbus an:
gefommen, verboten fie ung, von dem Waſſer zu trinken oder auch
nur die Hand hineinzutauden. Aus ihrem jchwerverftändlichen
Kauderwälſch entnahmen wir, daß fie es für vergiftet halten, jo
Achtzehntes Kapitel. 403
lange e3 hier oben fließt, aber für unſchädlich, ſobald es unten im
Thale angelangt it. Auch von giftigen und verzauberten Thieren,
die fih da oben an den Quellen aufhielten, fauderwälichten fie und
zeigten eine große Scheu vor den Spinnweben und Raupenneftern,
die allerdings ungewöhnlich groß überall am Geſträuche hingen.
Als wir nach Saint Guilhem le dejert zurückkamen, lag ſchon
Dämmerung auf dem Thale, und wir fonnten die Mühle, vie
oberhalb de3 Fleckens liegt und noch aus den Zeiten de3 Grün:
ders jtammen fol, nicht mehr bejudhen. Kaum, daß mir Zeit
hatten, ven „Vater der Natur“, der fich in den Klippen des Herault
verloren hatte, aufzufuhen. Mit Gewalt riffen wir ihn vom
Bufen feiner Tochter los, warfen ihn und feine gefüllte Zeichen:
mappe in den Wagen und fuhren gegen Montpellier zurüd, wo
wir erſt gegen Mitternacht anfamen. Den Platz von Saint Guil-
hem le vejert, den idyllifchen Frieden, der darauf lagerte, als
fich des Abends, da wir abreiften, die Einwohner in Gruppen
vor ihren altromantifchen Häufern fammelten, da die Glode der
alten Kirche ertünte und die Heerde vom Schloffe Don Juan's
zurüdfehrte — ja ganz Saint Guilhem le dejert mit all jeinem
Schönen, ih nahm e3 daguerreotypirt in meinem Gehirne mit,
und ich will das Lichtbild fo gut verwahren, daß e3 ſich nie und
nie vermwijchen foll.
* *
*
Und ſo habe ich den Herault überſchritten und mit ihm die
Gränze, die ich mir geſteckt hatte. Da drüben liegt noch ſchönes
und hiſtoriſches Land; Toulouſe mit ſeinem Kapitol und mit den
Schlachtfeldern der Albigenſerſtreiter; Béziers, der Geburtsort
Matfres von Ermengaud, des Vorläufers Dante's; Rouſſillon
und Perpignan mit den ſüßen Weinen und noch ſüßeren Frauen;
die Pyrenäen mit ihren Höllen und Paradieſen — aber es iſt
genug für dieſes Jahr. So packe ich die loſen Blätter zuſammen,
ſchicke ſie an den Verleger und frage: Wollen Sie es auch mit
Dieſem wagen? — Wenig oder nichts habe ich an den loſen
404 Tagebuch aus Languedoc und Provence,
Blättern arrangirt oder redigirt, fondern gebe fie fo, wie fie
meijt an Ort und Stelle, oder nad Notizen unmittelbar nad
der Einkehr in mein Standquartier niedergefchrieben wurden.
Sch gebe fie jogar mit manden Wiederholungen und Wider:
fprüchen ; denn diejes Verfahren halte ich für erfprießlih, wenn
man eben nicht3 al3 ein Tagebuch geben will, deſſen einzige
Tugend oft die Unmittelbarkeit, das Friſche und gewiſſermaßen
unabfichtliche Wiederfpiegeln ift. Der leichteren Drientirung wegen
babe ich meine Ausflüge geographifch geordnet, ohne auf ihre
chronologiſche Folge Rüdjicht zu nehmen. So fommt es, daß der
Manvelbaum auf der einen Geite blüht, während er auf der
folgenden ſchon in Früchten ſteht. So darf der wohlmollenve
Lefer auch in dieſer Beziehung nicht den allzukritifchen Mafjtab
an die beiven Bänpchen legen; fie follen nur ein Andenken fein,
das die Freunde in der Heimat zur Erinnerung zwingt, und ein
liebender Gruß an das theuere Vaterland — ein Delzweig, den
ih am Wege abbreche und jegnend gegen Nordoften ſchwinge.
Von einem Fortſchritte, von weiterer Entwidelung zu zeugen,
fällt viefem anſpruchloſen Tagebuche nicht ein. Es ift noch eine
Frage, ob in ver Ferne, unter dem Einfluß der Angſt, dem Vater:
lande entfremdet zu werden — ob unter diefen Umftänden und
manden anderen traurigen, überhaupt von ruhiger Entwidelung
die Rede fein fann. Wir wollen uns auf diefes trübe Thema
nicht weiter einlafjen und nicht Klageliever anftimmen, die, jhon
fo oft mit Kofetterie angeftimmt, verdächtig geworben find. So
viel ift fiher: nicht nur gewiſſe mythiſche Giganten büßen, ver
Mutter Erde enthoben, ihre Kraft ein. Die alten celtifchen Barden:
fagten: Dreier Dinge bevarf die Begeifterung: des äußerlichen
Gedeihens, des liebenden Umgangs und des Lobes. — Auf
fremdem Boden wachſen dieje drei Fojtbaren Dinge nur fehr ſpär—
lih. Ein Troſt aber bleibt. Welches immer das Unglüd jei,
das ein Schidjal über und verhängt: ein Gott entſcheidet, ob es
zum Gewichte werben foll, das in vie Tiefe zieht, ob zu Fittigen,
die zur Höhe tragen. So möge es ein günftiger Gott entſcheiden.
Wanderungen durxch celliſches Land.
—— —
Digitized by Google
I.
Abreife von Nantes, — Raoul der Blaubart. — Sodom im Boccage, — Paim—
Hoeuf und Et. Nazaire. — Die Loiremündung. — Der Your. — Eroific, —
Wüſte. — Tregate und die erfien celtifchen Laute. — Guerande und ber bes
rühmte Marquis von G. — Ein Jefuit ald Reifegefährte. — La Roche-Bernard
und die berühmte Kettenbrüde.
Die koloſſale Statue der heiligen Anna, der PBatronin aller
Schiffer und Seefahrer, jtredte uns von ihrem erhabenen Stand—
punkte am rechten Loireufer fegnend die Hände nah, al3 wir an
einem ſchönen Auguftmorgen auf einem prächtigen Dampfer die
Loire hinunter fuhren. Mit Vergnügen fagten wir der guten
und Schönen Stadt Nantes unjer Zebewohl; denn was hatte fie
uns zu bieten? Gie ift eine franzöfifche Sceftadt wie drei und
vier andere und überrafcht den Fremden, der die uralte, die
fabelhafte Bretagne jucht, nur mit Täufhungen. Seit die Franken
den galliihen Boden eroberten, gehörte fie der fränfifchen Be:
megung an und wurde alles urfprünglich Bretonijche in ihr ver:
nichtet. Zwar fpielte fie immer eine Rolle in der bretonifchen
Geſchichte, aber doch immer nur als eine franzöfiihe Zwingburg
ver Bretonen. Sie war der Aufenthalt der farolingifchen Statt:
balter,; die von dort aus den Tribut eintrieben, wie das alte
Volkslied von Noemenoju, einem der Befreier und National:
belven der Bretagne, bemeist. Als fie den Franken von den
Normannen abgenommen und verwüjtet, dann von dem celtijchen
Helden Allan dem Fuchs oder dem „Krausbart“ wieder erobert
und mit der Bretagne definitiv vereinigt wurde, wurde fie doc
aufs Neue von romaniſch redenvden Völkern au3 dem Diten
405 Wanderungen durd) celtifches Land.
angefüllt. So blieb fie ven franzöſiſchen Herrjchern und dem fran=
zöfifchen Elemente immer leicht zugänglih, und in dem großen,
Sahrhunderte langen Kampfe der Unabhängigkeit wird Nantes
in Chronifen und Volksliedern nur genannt, wenn von Bedrängniß,
von Nationalunglüd, von Martyrifirung volksthümlicher Helven
die Nede ift. Wir aber, Frankreichmüde, ftrebten nach dem alten
romantijchen Lande des Königs Artus und feine? Waffengenofjen,
des Königs Hoel, nad dem Lande der Tafelrunde, des Amadis,
Lanzelot, Triftan, der Fee Morgane, des Barden Myrdhin oder
Merlin, mit Einem Worte nad) jenem Lande, das aller Poeſie
und allen Poeten des Mittelalter3 in Frankreich, England,
Deutihland und Stalien Stoff und Helden lieferte. Erſt wo
celtiihe Laute an unjer Ohr Eangen, wollten wir unſer Reije:
ziel al3 erreicht betrachten; waren es doch celtiſche Volkslieder,
die und aus unjern Pariſer Manfarden heraus an die Ufer des
atlantifchen Ozeans gelodt hatten.
Hätten wir bloße Romantik gefucht, in der Nähe von Nantes
mürden wir genug gefunden haben. Ich nenne 5. B. nur das
Schloß Raoul des Blaubart3, deſſen Ruinen ſich wenige Stunden
nördlih von der Stadt an einem fleinen See reizend ſchön er-
heben. Zwilchen den Ruinen wachen fieben Trauerbäume zur
Erinnerung an die jieben Weiber, die der edle Ritter für ihre
Neugierde etwas hart beitraft hatte. Südlich von Nantes jahen
wir den See Grand:lieu, das todte Meer Frankreichs ; er bevedt
mit feiner etwas düſter blidenden Welle die im Jahr 580 ver:
ihlungene Stadt Herbavdila, das moderne Sodom. Ihr Ber:
breden war, daß fie den heiligen Martin von Bertou — nicht
zu verwechjeln mit dem heiligen Martin von Tours — Bifchof
von Nantes, mit Spott aufnahm, als er dahin fam, ihr alt:
heidniſche Sünden vorzuhalten und das Wort Gottes zu predigen.
Alle Einwohner gingen zu Grunde, ausgenommen der Mann
und die Frau, die den heiligen Martin gaftlich bei ſich aufge:
nommen; ja jelbjt die rau verdarb und wurde in einen Stein
verwandelt, als fie jich gegen die Verabredung ummandte, um
Wanderungen durd celtiiches Land. 409
einen weiblichen Blid auf das jchredlihe Schaufpiel zu werfen.
Die Zeiten haben fich jehr geändert; denn, wenn dem halb offi—
ziellen „Sührer durch die Bretagne” eben feines halb offiziellen
Charakters wegen zu glauben ift, fo ift das Land, das einftens
ein Gomorra zur Hauptitabt hatte, heutzutage die Heimat der
tugendbaftejten und edelſten Menſchen. Denn aljo fpricht diejes
wahrhaftige Buch: „Die charakteriftiichen Tugenden der Ein:
wohner der Loire inferieure find: der Freimuth, die Menfchen:
liebe und die Bejcheidenheit ; alle Pflichten , welche die Menſchheit,
die Familie, das Vaterland auferlegen, erfüllen fie ohne Zwang
und ohne Prahlerei. An den ärmſten wie in den reichſten Ge:
genden wird nie ein Unglüdlicher an der Pforte eines Hofes oder
einer Hütte erfcheinen, ohne Hülfe und Gaftfreundjchaft zu em:
pfangen. Er ruht an jevem Herde aus, er wird nie abgemwiejen,
und das Unglüd it hier feine Schande. Der Unglüdlihe, mit
dem der Arbeiter fein Brod theilt, wird bei Tijche zuerſt be-
dient u. ſ. mw.” |
Raſch fuhren wir an diejen tugenphaften Gejtaden dahin.
Die Loire wird immer breiter und mächtiger, je mehr fie jich dem
Dcean nähert, und kommt' noch die Ebbe hinzu, fliegt der Dampfer
ohne Anjtrengung pfeilfchnell dem Weiten entgegen. Nur die
Gruppe von zwölf größeren und kleineren Inſeln, die fich zwifchen
Nantes und Paimboeuf in den Weg ftellt, zwingt ihn manchmal
zu Ummegen. Dieje Inſeln waren es, die ung der Tugend ber
heutigen Franzoſen vergefjen und der alten Gallier gevenfen
ließen; denn auf diefen Heinen Eilanvden erhoben ich einjtens
berühmte Klöjter voll gefürdhteter Druiden und Druidefjen und
riejige Dolmen und Menhire. Heute find alle Refte des Druiden:
kultus verſchwunden, und auften Inſeln und zwijchen ihren hohen
Gräjern wandeln jtatt der Drovilte und der Normas langbärtige
Böde und unjchuldige Kühe. Nichts erinnerte ung, daß wir ung
im galliihen Lande befanden, als nur einige Bauern am Bord,
welche ächtefte gallifche, weite, faltige Pumphoſen, die unver:
fäljchten und direkten Ablömmlinge der Braccae, trugen.
410 Wanderungen durch celtifches Land.
Wir hielten einige Zeit in Paimboeuf, einem hübſchen
Städtchen von ungefähr viertaujend Einwohnern, das wir fchnell
durhmwanderten. Unſere Bewunderung erregte ein über das
Niveau der höchſten Springfluth erhabener, zweihundert Fuß
langer und zwanzig Fuß breiter Molo, der ganz aus Quader—
jteinen gebaut iſt und den Schiffen, die fi vor den Stürmen
des atlantifhen Ozeans in die Flußmündung retten, eine ſichere
Zuflubt gewährt. Ein folder Zufluctzort ift auch St. Nazaire,
das an der äußerſten Mündung der Loire liegt, und ſolche Aſyle
find hier nicht überflüflig, da fih bei Stürmen die Schiffe auf
offener See, wo fie von zahlreichen Klippen und Riffen bedroht
find, nicht halten können und doch wegen der jtarfen Strömung
der Loire auch nicht bis Nantes vorzudringen im Stande find;
jo fommt e3, daß fie oft Tage, ja Wochen lang in einem folchen
Zufludtshafen liegen bleiben, und fo hat auch St. Nazaire, das
dem Ozean näher liegt, eine Wichtigkeit erlangt, die ihm eine
Cifenbahn von Nantes verfchafite. Denn fchon iſt es beinahe
zur Gewohnheit geworben, bei den geringiten Hinderniſſen in
St. Nazaire zu löfhen und die Waaren, die nah Nantes be
jtimmt find, daſelbſt in eigens dazu errichteten Magazinen auf:
zuftapeln. Die Rheder von Nantes gewinnen dadurch, bei we:
nigen Transportloften zu Land, viel Zeit; der Hafen von Nantes
aber fcheint auf diefe Weife immer mehr verlieren zu follen.
St. Nazaire ift außerdem die Heimat der geſchickteſten Lootſen an
der Loiremündung.
Diefe wird Schon oberhalb St. Nazaire jo breit und gewaltig,
daß dem Sciffenden die Städtchen, Fleden und Hügel des nörd—
liben Ufer3 zu Eleinen Punkten zuſammen ſchrumpfen und das
jüdlihe Land, flahes Alluvium des gewaltigen Stroms, faſt
gänzlich verſchwindet. Aus dem tiefliegenden Küftenftriche fteigen
des Morgens wie bei Mittagshitze, Sumpfland verrathend, Dünfte
und Nebel auf, die noch jeden erhabenen Gegenitand, der auf
feften Boden deuten fönnte, verdeden. Wer die Roire, den lieb:
lihen Fluß, im innern Frankreich gejehen bat, erkennt jie bier
Wanderungen durch celtifches Land. 411
nicht wieder; denn, eine gewaltige Waſſermaſſe, mwälzt fie fich
breit und ruhig ihrem Untergange entgegen, und durchbricht fie
den Damm, den ihr die Brandung des Ozeans entgegen fett.
Wenige große Ströme Europa’3 fterben jo groß, in folder Kraft,
in jo voller Majeftät. Jenſeits St. Nazaire hat fie ſchon die
Färbung des Ozeans angenommen und gleicht ihre Mündung
einem großen Golf, der nah Süden zu unendlich jcheint. Schon
tanzen Seejterne am Schiffe vorbei, kreiſchen Möven um vie
Maften und lehnt fich mander Reijende, als wäre fein Haupt
zu gedankenjchwer, über das Schiffsgeländer. Wehe, daß vie
heilige Salzfluth immer mit jolhen Libationen begrüßt fein will!
Nicht lange, und wir entdedten an der Gränze der blauen
Fläche einen dunfeln Punkt, an welchem leicht und forgenlos
viele weiße Segel vorübertanzten, -Eleinere, die die Fiſcherbarken
zur Gardinenjagd führten, größere, die wie ausgebreitete Fittige
ungebeurer Vögel nad fernen Küften ftrebten, nah Hispania,
nad der Mündung des Tajo, nad) Rio-Janeiro, nach den Ufern
der großen Republif. Und doch iſt jener ſchwarze Punkt, an dem
fie bei heiterem Sonnenſchein fo luftig vorübertanzen, eine fo
böje Klippe, wie die grauenvollen Symplegaden des ſchwarzen
Meeres. Es ijt das die Felſenbank des Four, die ſich mehr ala
eine Stunde lang von Norden nad Süden aus dem Meere er:
hebt und jchon ganzen Flotten den Untergang gebracht hat. Jetzt
trägt fie einen gewaltigen Leuchtthurm, der vielleicht eben fo ſchwer
zu erbauen war, als der von Eddiſtone. Die beiven Mächter, die
ihn bewohnen und des Nachts die heilige menjchenfreundliche
Flamme nähren, befleiven das mwohlthätigfte, vielleicht aber aud
das beſchwerlichſte Amt in Frankreih und Navarra. Gie find
zu ewiger Gefangenichaft verdammt; denn e3 it ihnen nicht er:
laubt, einen Kabn zu befigen, da man fürchtet, daR fie möglicher
Weiſe einmal in allzu drobender Gefahr, um ihr Leben bejorgt,
ven Pharus verlaffen fünnten. Ihre Wohnftube hat nur eine
Ausdehnung von neun Fuß, und nur auf der Galerie, die um
ven Leuchtthurm geht, iſt es ihnen möglich, ein wenig Bewegung
412 "Wanderungen durd celtiſches Land.
zu machen. Nur Einmal in der Woche, wenn man ihnen von
Groific Lebensmittel und Brennmaterial überbringt, fehen jie ein
fremdes Menfchenangefiht. Auch diefe Freude ift ihmen zur Zeit
der Nequinoktialftürme verfagt, denn da ilt die Brandung um
die Klippe fo gewaltig, daß fich fein Kahn heranmwagen darf, und
fo figen fie oft wochenlang in ihrem unentrinnbaren Gefängnifie,
mitten in der grauenvollen Waſſerwüſte und jehen von dem ers:
bebenden Thurme aus nicht3, al3 die“ weiß ſchäumenden Häupter
der Wellen, und hören nichts, al3 das Heulen des Sturmes und
das Gepolter der Brandung, die drohend an Klippe und Thurm
rüttelt. Es find grauenvolle Belagerungen, die diefer Menjcen-
bau aushalten muß; der ganze Strom Okeanos, mit allen ihm
zu Gebote ftehenden Gemwalten, arbeitet gegen feine Grundfeiten.
Bon oben aus den dichtgeballten Wolken, den Bundesgenoſſen
des Meeres, fällt Blit auf Blitz, das Heine Licht verhöhnend,
das die Menfchen da unten angezündet haben; von den Seiten
jtürmen die verrufenften Winde heran, und oft ſchon joll ver
Ihurm wie ein junger Baum gezittert und geſchwankt haben.
Man denke fich in ſolchen Momenten die beiden Wächter in ihrer
Stube figend, oder auf der Galerie in den gigantijchen Kampf
der Elemente hinaus ftarrend. Ob dieje zwei ftillen, ausgejegten
und unbefannten MWohlthäter der Menſchheit, dieje herrlichen
Dulder, nicht eben fo gut das Kreuz der Chrenlegion verdienten,
wie Herr Fiorentino für feine Herrn Fould geleifteten Dienite?
Als wir in Croific landen wollten, war e3 jchon tiefe Ebbe,
und wir mußten auf offener See liegen bleiben; bald aber fam
eine ganze Slottille Heiner Fifcherbarken, um ung abzuholen, und
wir fuhren unter Ruderſchlag und fehr lebhaften Geipräd durch
die lange und ſchmale Bai, die den Hafen von Croific bilvet
und gegen Weiten durch einen langen fünftlichen Damm gegen
den Einbrucd des Meeres und des Dünenjandes gefichert ift. Wir
merften jogleih, daß wir uns in dem Lande befinden, das ganz
Europa mit Sardinen verforgt, denn alle Gefpräche der Fifcher
und ihrer Patrone drehten fih um den Sardinenfang, ver feit
Wanderungen durd celtifches Land. 413
einigen Tagen begonnen hatte. Die Beute ſchien dieje® Jahr
jehr reich werden zu wollen, und vie Fiſcher waren ſehr beitern
Muthes. Auch die Hummern, die „Kardinäle des Meeres,“ wie
fie Victor Hugo anticipirend nennt, zeigten fich dieſes Jahr in
ungeheurer Anzahl. Einige Tage vor unferer Ankunft waren auf
Belle:isle 14,000, fage vierzehntaufend Stüd verfammelt, welche
zwei Dampfihiffe abwarten mußten, um nad Nantes befördert
zu werben.
Croific, obwohl nicht übel gebaut, ijt ein öder und trauriger
Flecken. Der Seewind treibt ununterbrochen jtaubigen Sand
durch die Straßen, die Sonne brennt unbarmberzig, und ver:
bunden mit dem Widerjcheine des Meeres, blendet und thut jie
den Augen wehe, wohin man immer blide. Im jalzigen Flug—
jande, aus dem die ganze Landzunge von Croific beiteht, gedeiht
fein Baum und fein Straub, die Schatten geben könnten; nur
nördlih von der Stadt hat man mit Mühe und Notb ein
ärmliches Gebüſch zu Stande gebracht, das aber nicht im Ge-
ringjten einer Dafe gleicht. Aus den Salinen tragen die Weiber
ihmusiges Salz in hölzernen Kübeln. Halb nadt, wie fie find,
fann man e3 beurtbeilen, daß ihre Gejtalten eben fo ſcheußlich
find wie ihre Gefichter. In Croific fing unfere Erfahrung an,
daß der weibliche Theil des celtiihen Stammes in der Bretagne,
was förperlihe Schönheit betrifft, tief unter dem männlichen
jteht, und daß ſich Armoricum in diefer Beziehung jehr von Sr:
land, weniger von Schottland unterjcheidet. Und da die Gel:
tinnen Groifics nicht einmal celtiſch fprachen und die fremden Kur:
gäfte, die müde durch die Gafjen ſchlichen, nichts bejonders
Anziehendes hatten, jo machten wir uns auf, um meiter ins
Innere vorzudringen,
Mir famen uns vor wie Wanderer in der Wüſte; die Sonne
brannte fürchterlih auf den fandigen, ganz und gar unbejchat:
teten Boden, und die furze Wanderung bis Tregatte wäre ohne
ven erquidenden Hauch, der mandhmal von dem Meere rechts
und links herüberwehte, obne die erhebende Ausfiht auf den
414 Wanderungen durch celtifches Land.
atlantiihen Ozean unendlich ermüdend geweſen. In Tregatte, einem
Heinen Dorfe, überrafchte ung der Anblid zweier Bäume, die in
diejer Gegend eine große Seltenheit und die noch dazu gebannt
jind, weil jie nebjt dem breiten Kirchthurm, neben dem fie ſtehen,
als Richtzeihen für die aus dem Norden fommenden Schiffer
dienen, denen fie einen Wink geben, daß der unnahbare Four
nicht fern ift. Noch mehr al3 die Bäume überrafchten uns die
Laute, die in Tregatte an unjer Ohr Hangen; e3 war die ächte,
uralte Celteniprade. Doch iſt fie nur eine Ausnahme in diejer
ſonſt ganz franzöfirten Gegend, denn Tregatte ijt eine Kolonie
von Bretonen aus dem Innern des Landes, welche unfruchtbare
Felder verließen, um bier am Ufer de3 Meeres Salzernten zu
halten. Man nennt fie „Baludiers,“ von den Salzſümpfen, vie fie
ausbeuten, und die fie in ordentlihe Salinen umgewandelt haben.
Diefe beitehen aus großen Beden, welche wieder in mehrere Ab:
theilungen zerfallen, und in die, bei jeder Fluth, mit Hülfe von
Kanälen, das Seewaſſer einjtrömt. Zwiſchen den Beden ziehen
fi breite Dämme hin, auf denen da3 gewonnene Sal; aufge:
häuft wird. Die Ernte beginnt im Frühling und dauert bis zum
Eintritt der Fröfte, um welche Zeit man die Beden für den ganzen
Winter mit Seewaſſer füllt und die Kanäle jchließt, um den
Lehmboden, der den Grund der Salinen bildet, vor dem Frofte
zu jhügen. Auf einem Saljdamme fitend, unterhielten wir uns
lange mit einem Paludier und jeiner Frau, die und die Kunft
der Salzgewinnung erklärten. Bei dieſer Gelegenheit konnten
wir au das Koftüm diejer Leute jtudiren, welches aus uralter
Zeit zu ftammen ſcheint. Die Frau trug einen Kopfpuß, der mit
der Hauptbededung der Sphinre die größte Aehnlichkeit hatte,
einen kurzen fammtenen Spenjer und mehrere Leinwandröde, die
fih um die Hüften breit aufbaufhten. Der Mann hatte die
galliihen Braccae, drei Weiten von verjchiedenen Farben, von
denen die obere immer kürzer mar als die untere, jo daß man
alle drei bewundern fonnte, einen langen Leinwandrod mit
furzem Rüden und langen Schößen, und einen breiten Filzbut,
Wanderungen durch celtiſches Land. 415
dejien Krempe rückwärts aufgeichlagen war. Aus einiger Ent:
fernung hätte man dieſen Celten für einen jlavifhen Bauern aus
Mähren nehmen fünnen.
Mieder nah halbitündiger mühjeliger Wanderung, einen
fonnverbrannten und fahlen Abhang hinan, dur eine Reihe
von Zöllnern, melde die Salzgegend bewachen, famen wir durch
ein gethürmtes Thor in die Stadt Guerande und damit auf
biftorifhen Grund und Boden. Die Stadt wurde von den Römern
angelegt, und ihnen verbanft fie die foliden Mauern, die fie in
einer zweimaligen Belagerung gegen die Normannen bejhügten.
Doch wurde fie in dem Succeflionsfampf zwijchen Charles de
Blois und Jean de Montfort mit Sturm genommen und des
größten Theiles ihrer Einwohner beraubt. Man fieht e3 ihr auf
ven erjten Blid an, daß fie eine hiſtoriſche Rolle geipielt hat.
Ihre ganz aus Quadern gebauten Wälle mit zehn Thürmen, die
engen und hoben Thore, das alte granitne Schloß mit feinen
noch älteren Wachtthürmen bliden mit düfterem Ernſt auf Land
und Meer. Bon der Höhe des Schlofjes fieht man mehrere Golfe,
den meiten Ozean, die Sandwüſte von Croific mit ihren Galz-
fümpfen, Belle-Isle, die Heineren Inſeln Hedi und Houat und
fogar die hiſtoriſche Landzunge von Quiberon. Das edle Ge:
ichlecht der Nevet, denen Guérande gehörte, tritt faft immer auf,
wo e3 fich in der bretonifchen Geſchichte um die nationale Unab:
hängigteit des Landes von Frankreich handelt, und wird deßhalb
viel gefeiert in den Volksliedern, welche den Bretonen die Ge:
ſchichtsbücher erjegen.
Nur Ein Nevet machte eine Ausnahme und ſpukt als „Marquis
von Guerande” in den Volksliedern wie ein böfer Geift, mit dem
man Rinder jhredt. Er machte fich berüchtigt durch die Oraus
famfeit, mit der er feine Unterthbanen behandelte, durch das
Müftlingsleben, das er ſchon in früher Jugend auf Koften der
Frauen und Töchter feiner Bauern auf feinen Befigungen führte.
Es geht die Sage, daß feine arme Mutter, die ihn nicht von
jeinem Sündenleben zurüdhalten fonnte, jedes Mal, wenn er
416 Wanderungen durd; celtifches Land.
das Schloß verließ, die Sturmglode läutete, um die Dörfer zu
warnen und die Unterthanen vom Herannahen ihres Tyrannen
in Renntniß zu feßen. Da floh und verjtedte fih, wem feine
Glieder oder feine Keufchheit lieb waren. Troß viefer Vorficht
der Mutter gelang e3 dem edlen Marquis, mehrere Schandthaten,
ja jogar Morde zu begehen, die ihn am Ende zwangen, das Land
zu verlaffen. Er begab fi an ven Hof Ludwigs XIV., ven er,
wie aus Frau v. Sevigné zu erjehen ift, durch jeine Grazie und
jein feines Weſen entzüdte. Er wurde für einige Zeit ver Löwe
von Verfailles. Fabula docet, daß die feinen und wegen ihrer
Anmuth weltberühmten Seigneur3 von Berfailles auf ihren
Gütern Keine Scheufale waren und daß die Bauern in ihrem
Urtheile von dem Urtheil des großen Königs und der Frau v. Se—
vigne bedeutend abmwichen. Uebrigens ift Louis, Marquis v. Gué—
rande, in feinem Altes jehr fromm geworden. Gott hat ihm
wohl feine Sünden vergeben, nicht aber das Volt, das noch
immer ſchreckliche Balladen von ihm fingt.
Wen da der Dichter hinein gebannt,
Den fann fein Gott mehr retten!
Im Bojthaufe, wo wir Pferde beitellten, muchten wir die
Bekanntſchaft eines höchſtens ſechsundzwanzig Jahre alten Jeſuiten,
der an Geſtalt ein Apollo und an geiſtreicher Liebenswürdigkeit
ein Abbé des achtzehnten Jahrhunderts war. Mit großer An—
muth machte er den beiden Töchtern des Poſthalters den Hof,
ohne errathen zu laſſen, welche von Beiden er bevorzugte. Die
jungen Damen’ waren ſehr andächtig geſtimmt und ſchienen es
jehr zu bedauern, al3 dieſer Seelentröfter feine Reife mit uns
fortjeßte. Abbe ©. unterhielt uns jo vortrefflih, daß mir ver
Landſchaft, durch die wir fuhren, trotzdem fie uns mit ihrer
ihönen Vegetation nad ver Sandmwüjte, die wir durchwandert
batten, hätte gefallen müſſen, faum einige Aufmerkſamkeit ſchenkten.
Der junge Jeſuit brachte ung einen hohen Begriff vom breto:
niſchen Klerus bei, einen noch höheren von feiner Gefellfchaft,
Wanderungen durd) celtifches Land. 417
obwohl wir zufällig in Paris mehrere jeiner gebilvetiten und
geiftreichiten Brüder gefannt hatten. Abbe ©. ſchien ung ein
unmiderftehlicher Mifjionär und ein Mann, der fih im Nothfall,
und wenn der Zweck die Mittel heiligt, auch in Frad und Tanz:
ſchuhen mitten unter ſündigen Weiblein zu bewegen fähig wäre.
Er erinnerte mich an jenen Marquis, von dem die Sage geht,
daß er ebenfalls der berühmten Gefellihaft angehört, und der an
einem gewiffen Kleinen proteftantiihen Hofe mehr Belehrungen
zu Stande brachte, als der Pere Hug in der ganzen Mongolei.
Seine Soutane wie fein breiter Hut waren vom feinften Stoff;
weiß blidten die etwas magern Hände aus den ſchwarzen Aermeln
hervor. Das Auge voll Gluth beleuchtete doch mit janftem Lichte
ein blafjes, evel geformte, freundlich lächelndes Geficht. Er
ſprach über Alles, nur nicht über Politik und Religion, und wir
waren rüdjicht3volle Jefuiten genug, folhen Gegenftänden mit
verfelben Zartheit auszumeihen. Das Barifer Leben ließ ihn
kalt, Italien begeijterte ihn, England ſchien er zu haffen und für
Deutjchland, als für ein Feld ausgebreiteter Thätigkeit, ſich fehr
zu interefliren. Zu unferem Erſtaunen fannte er manchen Namen
manches deutſchen Politikers und Hiftoriferd und überhaupt die
meiften deutichen Gelehrten, deren Neigungen einen theologischen
Anftrich haben. Doch nannte er nicht einen einzigen reinen Theologen.
Sein Geſpräch wurde immer interejlanter, je langmeiliger
die Gegend wurde; denn bald folgte auf die gutbebaute Gegend
um Guerande öde Troftlofigkeit, verfrüppelte Waldung und Heide,
Heide, Heide. Ich blättere in meinem Tagebuche und fehe mit
Schreden, wie oft jich diefer Ausruf: Heide, Heide, Heide, auf
wenigen Bogen wiederholt; und ich blättere in Arthur Jungs
berühmten Tagebuche und jehe, wie auch er, vor achtzig Jahren
durch die Bretagne reifend, immer wieder landes, landes aus—
ruft. Selbſt ver Jeſuit verſtummte bei dem traurigen Anblid,
und wir waren alle froh, als vie mwohlthätjg verhüllende Nacht
fam und wir endlih im Hotel St. Sylveſtre in dem Heinen
Städtchen La Roche-Bernard ausruhen konnten. Der Jeſuit
Mori Hartmann, Werke. I. 27
418 Wanderungen durch celtifches Land.
verſprach uns gleich bei der Ankunft ein herrliches Schaufpiel, und
al3 wir und mit Speife und Trank geftärkt, hielt er Wort, indem
er und im Mondjchein vor die Stadt führte, um ung die großartigfte
und kühnſte Kettenbrüde Frankreich, vielleicht Europa’s, zu zeigen.
Das Bett der Villaine gleiht einem tiefen Abgrund in ven
Alpen; die Seitenwände fallen beinahe ſenkrecht ab, und in der
Nähe des Waſſers klann man fich mitten in einem wilden Gebirgs-
zuge wähnen. Es war nicht möglih, aus folder Tiefe einen
Mittelpfeiler zur Stügung der Brüde aufzuführen; e3 hätte Das
einen babylonijhen Thurm gegeben. So hängt denn diefes uns
geheure Spinnengemwebe fürchterlich Iuftig an ven höchſten Rändern
des Abgrunds und zittert jelbjt unter dem Schritte des einfamen
MWandererd, wie ein vom Wind getragener Sommerfaden. Bon
ver Sohle des Abgrunds aus geſehen, erfcheint fie wie jene haar—
breite Brüde, über welche die Gerechten Muhameds ins Paradies
eingehen, von der die Sünder und Ungläubigen in die ſchwarze
Bernihtung ftürzen. Bon der Brüde erfcheinen die Schiffe mit
ihren hohen Maſten und Segeln, die aus der nahen Mündung,
ver Billaine ins Land dringen, oder au8 dem Innern dem Ozean
entgegen ſchwimmen, als unendlich Kleine Kinderfpielzeuge, auf
denen Steuermann und Matroje dem Auge verſchwinden. Es
war wie ein Traum der Nacht, ten wir bier im Mondſchein
erlebten. Das Rauſchen der Wellen, die fi unten dur Felfen
winden, drang nicht bis zu uns herauf, eben fo wenig hörten wir
den Fall des Steins, den wir hinunter warfen.
Als wir bei hellem Morgenlichte über die Brüde weiter wars
derten, erſchien fie ung nicht minder traumhaft und luftig; ja
der Abgrund, der unter ihr gähnte, war in der Haren Beleuch—
tung noch grauenhafter anzuſchauen als im mildernden, fanft
verhüllenden Mondlicht. Mit dem erften Schritt auf feftem Boden
befanden wir uns im Departement des Morbiban.
Il.
Morbihban. Heide — Mufillac, — Der Herr von Basvalan. — Vannes. —
Morbihan oder das Heine Meer. — Lochmariacaer und die Druibenfteine. —
Aureh. — Die Schlacht bei Aurey. — Die Menhire von Carnac, — Henne-
bont, jeine Gedichte, Hanne die Flamme, — Lorient und PRort- Louis, —
Land und Leute,
Wir traten ins Land der Veneten, welche Cäfar fo viel zu
Ihaffen machten und deren Ableger, freilich nach einer höchſt un:
beglaubigten Sage, die ftolze Venetia in den Lagunen des adria=
tiihen Meeres fein fol. So betraten wir das Land, das die
legte Zufluchtsſtätte des Druidismus war, al3 cr vom Römer:
thum und fpäter noch mehr vom Chriftenthbum bevrängt wurde;
da3 Land, das au im Mittelalter der Schauplaß großer, faft
unaufhörliher Kämpfe geweſen und noch in neuerer Zeit, unter
Anführung feiner Priefter, unbefiegten republifanifchen Heeren
unheimlichen Widerftand geleiftet hat. Aber nicht3 in unferer
Umgebung deutete darauf, daß mir uns auf fo hiſtoriſch belebtem
Boden befanden. Wieder Heide, Heide, Heide! — Eine rothe
Ebene dehnte fih unabfehbar vor uns aus, die Erika ſchüttelte
fih im Morgenwind, kleines Geſträuch, gelb blühende Difteln,
abgeblühter Ginfter erhoben fih dort und da mie Inſeln aus der
gähnenden Einförmigfeit. Wie im Traum, dumpf hinbrütend,
wandert man durch eine foldhe Gegend; der Schritt des Reife:
gefährten ertönt unheimlih, und die Gedanken verlieren alle Con:
touren und zerfließen in die öde Weite. E3 war eine wahre Er-
quidung, als zwifchen dem Heidefraut zwei Gendarmen auf:
tauchten und unfere Päfje zu fehen verlangten. Sie lafen fie mit
420 » Wanderungen durd celtifhes Land.
Muse und prüften jeven Zug unjeres Geficht3 und jedes Stüd
unferer Kleivung. Doch fchienen fie dieß viel mehr, um fi zu
jerftreuen, denn aus polizeilihem Pflichtgefühl zu thun.
Angefüllt vom horror vacui, müde des leeren Nichts,
famen wir in Mufillac an, einem Städtchen, das mich durd
feine Aermlichkeit und feinen Schmug an manden irischen Fleden
und daran erinnerte, daß ich mich unter Gelten befinde, vie
überall beftimmt zu fein fcheinen, in Unfauberfeit unterzugeben.
Mie ein das Städtchen auch war, ſo ſchien es doch mit geiſt—
lichen Seelforgern ſtark verſehen; wohin man blidte, man jah
überall Schwarzröde hin und ber fchlüpfen, und als wir um
die Mittagszeit dur die Gaſſen gingen, ſahen wir fie an den
verfhiedenften Tiſchen obenan figen. Es iſt befannt, daß die
Bretagne noch heute, wie zur Zeit des heiligen Columban und
wie zur Epoche der unbeeidigten Priefter, das gelobte Land der
Seiftlichkeit ift. Daran find wohl auch die vielen Heiligen Schuld,
die das Land in größerer Anzahl bejigt als irgend eine andere
hriftlihe Gegend. Das fommt daher, daß die Bifhöfe und Ka—
pitel bis ins zehnte Jahrhundert das Recht hatten, heilig zu ſpre—
hen, ohne die Erlaubniß aus Rom abzuwarten. So fam es,
daß jeder Sprengel und jedes Klojter fein Anjehen durch einen
oder mehrere einheimijche Heilige zu erhöhen juchte. Neben dieſen
Familienheiligen wurden noch fehr viele irische und wälſche abop:
tirt, melde ſich als Stammgenofjen viele Verdienſte um das
bretonifche Chrijtenthum erwarben und im Lande leicht einge:
bürgert wurden. So wird z. B. der heil. Batrid hier faft eben
jo fehr verehrt wie in Irland und fpielt auch die heil. Urfula
mit ihren eilftaufend Jungfrauen eine ſehr große Rolle, obwohl
jie niemals bretonifchen Boden betreten hat. Sie wurde nämlich
von Seeräubern aufgefangen, als fie mit den Jungfrauen nad
der Bretagne reiste, um fich dafelbjt an die aus England kom—
menden Eroberer zu verheirathen, melde ſich mit den Töchtern
des Landes nicht vermiſchen wollten. Ein Hauptwunder in der
Legende der beil, Urfula und der eilftaufend Jungfrauen ijt es,
Wanderungen durch celtifhes Land. 491
daß fie ungefähr hundert Jahre vor ihrer Abreife aus dem
Paterlande in Köln am Rhein angelommen ift.
Doc das gehört nicht hieher. „Utere non reditura,“ jo
fautet die Infchrift über der Sonnenuhr zu Mufillac. Wir
nahmen uns die Warnung zu Herzen und reisten fo ſchnell als
möglich weiter. Das erfte Dorf, das wir berührten, ſprach wieder
celtifch, und von nun an begleitete uns das alte Idiom durch
Tage und Wochen. Das Land bis Banned ift nur zum Theil
Heideland; der Blid des Wanderers kann fi wieder an be:
bauten Feldern, Hainen, grünen Thälern und fehr oft an rei-
zend gelegenen Edelſitzen erquiden. Rechts von der Straße jahen
wir das ſchöne Schloß Basvalan, deſſen Beliger, ein Mann ur:
alten Adels, vor Kurzem feine Kuhhirtin geheirathet und durd
diefe That unendlich populär, von feinen Standesgenoflen aber
in den Bann gethan worden ift.
Ueber römische, merovingifhe und farolingiihe Schlacht—
felver gelangten wir endlich in die Stadt, welche die lokale Gitel-
feit gerne für den Hauptort der Veneten, für das alte Dario
ricum, celtifch Duariorif ausgibt, melde e8 aber, wie Fremin—
ville beweist und Curfon glaubt, niemals gewejen. Denn die
Beihreibung Cäfard vom Oppidum (de bello gallico, drittes
Buch) paßt ganz und gar nicht auf Bannes, wohl aber auf
Sochmariacaer. Auch hat die Stadt in ihrer nächften Umgebung
nicht3, was an die Römer: oder Druidenzeit erinnerte; ihre
Trümmer wie ihre noch ftehenden Gaffen und Monumente tragen
fämmtlih den Stempel des Mittelalter8, fo der Thurm des
Gonnetable, der Reſt des Schlofjes de Hermine, in welchem
Johann IV. feine Schandthat an Cliffon verübte, aber nicht zu
Ende führte, mweil der Schloßvogt nicht fchleht genug war, den
Mord zu begehen; jo ferner das Schloß de la Motte, deſſen
Grundmauern aus dem fechsten Jahrhundert ftammen, und
endlich die Kathedrale, welche ebenfalls ſchon im ſechſsten Jahr:
hundert vom heil. Patern gegründet fein foll, im eilften Jahr:
hundert von den Normannen verbrannt und romanijch wieder
N
422 Wanderungen durd) celtijches Land.
aufgebaut und im fünfzehnten Jahrhundert abermals halb go=
thiſch, halb romaniſch, jo wie fie jegt dafteht, renovirt wurde.
Gie befigt zwei herrliche Grabmonumente, von denen das eine
durch feinen ftrengen und einfachen, etwas ascetiſchen Styl, Das
andere durch künftlerifche Vollendung ausgezeichnet ift.
Die Gafjen der Stadt mit ihren Giebeln, Schieferdächern,
überhaupt mit ihrem ganzen Charakter, erinnern an die ältejten
Quartiere Frankfurts, nicht aber die Menſchen, vie ihr Mög:
lichjtes thun, ſich durch Häßlichfeit und dumme Phyfiognomien
vor der Majorität der Ervenbewohner augzuzeichnen. Ihr Typus
jcheint no tief unter dem der Landbewohner zu jtehen und
deutet nicht im Geringften auf irgend welche Vermiihung mit
franzöfifhem Blut. Doc fpricht hier der Bürger franzöfifh, und
e3 gibt mehrere franzöfifhe Buchhandlungen. Aber melde Buch—
bandlungen! Nicht eine einzige konnte uns ein hiſtoriſches oder
antiquarifches, auf das Land bezüglihes Buch verkaufen, ob:
wohl feine Provinz Frankreichs, wie die Bretagne, und in der
Bretagne kein Departement, wie das des Morbihan, fo viele Lokal—
geſchichtſchreiber und fchriftftellernde Antiquare befigt. AL die
großen Buchhandlungen waren nur von Gebet: und Andachts—
büchern, ascetifhen Erbauungswerlen, Legenden und Wunder:
geſchichten angefüllt. Wir fonnten uns das erklären, da wir auch
bier die Gafjen von Prieftern, meiſt Jeſuiten, förmlich bevöl-
fert fahen.
Diefem geiftlichen Leben entfprechend war es, daß der Bi:
ihof dem Bankett der Generalväthe, dem wir beimohnten, präfi-
dirte. Es wurden viele loyale und fromme Toaſte ausgebradht,
und der Wein floß in Strömen; der Cider aber, das hiltorijche
Getränk der Bretonen, in dem man ficy ſchon zu Zeiten ver
Nömer und Merlin's beraufchte, war trog dem partifularen Pa:
triotismus ausgefhloffen. Das Felt, das der Präfelt am fol:
genden Abend den Generalräthen gab, erinnerte ung doch wieder
daran, daß mir in Frankreih waren; da ſprach Alles von Paris,
da wiederholte man Pariſer Wite und behandelte da3 neuejte
Wanderungen durd) celtifches Land. 423
Pariſer Vaudeville mit derſelben Wichtigkeit, mit welcher geitern
die höchſten Intereſſen de3 engeren Vaterlandes bejprochen mot:
den. Trog aller Feite und aller Liebenswürdigfeit, mit der uns
franzöfifhe Beamte entgegenfamen, langweilten wir uns doch
nad faum achtundvierzigftündigem Aufenthalte in Vannes, und
eines jehr frühen Morgens verließen wir auf der offiziellen Scha:
luppe de3 Departementalingenieurs den ſchönen, von einer pracht:
vollen Promenade eingefaßten Hafen, um den berühmtejten
Druidendenkmälern Europas entgegen zu fteuern.
Raſch und reißend, wie ein angefchwollener Bergitrom, jtürzt
ſich hier zur Zeit der Ebbe die Welle aus dem Hafen und feinen
Kanälen in den Chenal, aus dem Chenal in den Bujen des
Morbihan, aus dem Morbihan in den großen Ozean. Unzählige
Inſeln, Klippen, Rifſe und Vorgebirge ftemmen ſich ihr ent:
gegen, hemmen und drängen fie, daß überall Wirbel und tolle
Strömungen entjtehen und das ganze Morbihan einem kochenden
Kefjel gleicht. Auf diefem wahrhaft toll gewordenen Meere flogen
wir in einem beftändigen Schwindel dahin; die Ruderer arbei-
teten mit angejtrengten Kräften und drehten die Schaluppe her:
über und hinüber, um den Trichtern, die fich überall vor uns
aufthaten, zu entgehen. Nicht immer gelang e3 ihnen, und das
Fahrzeug drehte ih wie im Tanze. Vorwärts fehend erblidten
wir ein Labyrinth von Gängen, die ſich zwiſchen Inſeln und
Klippen hinwanden; unfere Seeleute behaupteten, e3 gebe im
Morbihan jo viele Eilande und hervorragende Felſen ald Tage
im Jahre. Der alte Steuermann erinnerte fi noch an die Zeit,
da der Hafen von Vannes von englifchen Kriegsſchiffen blofirt
und die Inſeln hinter ihnen in ihrer Gewalt waren und allen
Bretonen, die fich nicht für die Republif oder Napoleon fchlagen
wollten, fichere Zufluchtsftätten gewährten. Viele von viefen,
geborene Seeleute, gingen in englifhe Dienfte und kämpften
gegen ihr Vaterland, bis fie unter der Reſtauration wieder heim-
tehren durften. Dieß mag wohl eine der Urſachen fein, warum
man an ven bretonifchen Küjten gegen vie Engländer milder
424 Wanderungen durch celtifches Land.
geftimmt ift, al3 im übrigen Frankreich. Cine andere Urjache ift
der Gewinn, der diefen Küften durch den beftändigen Verkehr
mit England zufließt. Uebrigens darf man nicht vergeflen, daß
die Bretagne eine der jüngften Erwerbungen Frankreichs iſt, daß
fie fih am Längſten gegen die Abhängigkeit von Franfreih ge—
wehrt, daß der Bertrag von Bannes 1532, welcher jie mit
Frankreich vereinigte, nie populär geworden, und daß fi noch
unter Heinrich IV. und Ludwig XII ein ganz gewaltiger Geift
der Unabhängigkeit geltend machte. Diejer Geilt der Unabhän—
gigfeit, der den erjten Bourbonen fo viele Sorgen madte, war
e3 eben, welcher den legten Bourbonen gegen Legislative, Kon
vent und Napoleon Krieger und Verſchwörer lieferte und es den
unbeeidigten Prieftern erleichterte, den Fanatismus des Volks
bis zu der berühmt gewordenen Grauſamkeit hinaufzufchrauben.
So liefert auch die Chouanerie, die einen Starken religiöjen Bei-
Ihmad hatte, ven Beweis, daß jeder Religionskrieg — und die
Bretonen betrachten ihren Aufftand als einen ſolchen — aus
politiichen und nationalen Urſachen hervorgeht.
Die Inſeln und Klippen, durch die wir fuhren, jind dem
bretoniſchen Volke au als Zufluchtsftätten der nicht beeidigten
Priejter werth. Hier wohnten fie in Höhlen und unter Druiden-
fteinen, bier lafen fie geheime Meſſe und verfammelten fie die
Gläubigen, 'die ihnen dafür, wie die Raben des Propheten,
Speife und Trank zutrugen. So wiederholt Alles fih im Leben.
Hieher flüchteten jich einft die alten Druiden vor einer neuen
Zeit und einem neuen Ölauben.
Mit Mühe, ja beinahe mit Lebensgefahr banden wir unjer
Fahrzeug an die Inſel Gavarnis (Ziegeninjel), von deren Höhe
ung ein Dolmen begrüßte.
„In die Traum- und Zauberjphäre
Sind wir, ſcheint es, eingegangen!“
Wir Hommen das fehr jteile Ufer hinan und jtanden bald am
Eingange eines dunfeln, ungefähr zwölf Schritte langen Ganges.
Wanderungen durch celtifhes Land. 425
Diefer Gang beitand aus rechts und links aufgeftellten glatten
Steinen, welche oben von eben jo glatten bevedt waren. Alle
trugen auf ihrer ganzen Fläche jene unentzifferbare Schrift, die
mit feiner andern Nehnlichkeit hat und aus langen, in einander
geichlungenen, gerundeten Zügen beſteht. Man könnte fie eben
jo gut für eingegrabenen Arabeskenſchmuck halten. Durch diejen
Gang gelangten wir in die Höhle, die dur den Dolmen ges
bildet wird. Es ift das ein Meiner Kreis von aufgeftellten Stei-
nen, die auf ihren Häuptern eine ungeheure rohe Platte tragen.
Die Höhle, welche höchſtens vier Schritte breit und lang ift,
wird durch die Lüden, die die rohen Steine oben offen laſſen,
beleuchtet. Aus der Höhle traten wir auf die Platform und be:
merften da eine Kleine, von der Mitte ausgehende, in den Stein
gehauene Rinne, welche an den Nand und von da in die Höhle
führte; mwahrjcheinlih floß dur fie das Blut der Opferthiere,
vielleicht der Opfermenfchen, in das innere. Es war ung eigen:
thümlich zu Muthe, als wir auf dem Steine daftanden, der einft
Kanzel und Altar gewejen, von dem der Ovat die Göttergebote
verkündete, auf welchem der Druide mit fteinerner Art und jteis
nernem Herzen jein'Opfer würgte. Von außen ift der Dolmen
fat ganz von angeflogener Dammerde bevedt, doc jo, daß die
große Steinplatte frei ift und wie ein ungeheurer Pilz über das
Eiland hervorragt, und fo, dab man aud aus der Entfernung
die ungefähre Form des innern Baus und des hineinführenden
Ganges erkennen fann.
Bon der Höhe diejes Dolmen hat man eine prachtvolle Aus:
fiht*über den Archipel und ſüdwärts auf die Halbinfel, welche
die prächtige Abtei St. Gildas, den Aufenthaltsort Abälards,
und den Fleden Sarzeau, die Heimat Lefage’3, trägt. Noch
auf andern Inſeln bemerkten wir Druidenfteine, aber wir eilten
an ihnen vorbei, um nad 2ochmaricaer zu gelangen, welches
offenbar die Hauptſtadt der armorischen Druiden geweſen. Nach
mancherlei Ummegen, zu denen uns die Starken Strömungen
zwangen, nachdem uns 'manche fcheußliche Felfennafe mitten aus
4936 Wanderungen durch celtifches Land.
den Fluthen entgegengejtarrt, landeten wir endlich am alten Da:
rioricum, welche3 heute Yochmariacaer, d. i. der Ort der ſchönen
Maria heißt. Die Hauptjtadt der Veneten, ſpätere Römerſtadt,
ift heute zu einem kleinen, zerrijienen, überaus ſchmutzigen
dleden, mit noch ſchmutzigeren zweitaufend Einwohnern, herab:
geſunken und würde wohl nie von einem Wanderer bejucht wer:
den, wenn fie nicht die berühmteften Druidendenkmäler bejäße.
Mir machten uns fogleih auf, um die ganze Umgegend zu
durdjitreifen, die, obwohl fteinarm von Natur, den Eindrud
eines Feljenlandes macht, jo maflenhaft, fo groß ragen überall
aus der grünen Ebene die Dolmen und Menhire empor. Man
begreift nicht, auf welche Weije diefe Steine über Meer und Land
bieher gebracht worden find, und man muß annehmen, daß fie
die Druiden als erratifche Blöde hier vorgefunden haben; denn
allen mechaniſchen Künften unferer Zeit würde es noch außer:
orventlih ſchwierig werden, jo gewaltige Felsjteine von Ort zu
Ort zu bewegen. Aber felbjt wenn dieſe Felsblöde durch Natur:
gewalten hieher gebracht worden — e3 bleibt doch immer er:
ftaunlih, wie die Druiden, dieſe Prieſter ohne Kunft, ſolche
Maſſen als Menhire, d. i. aufrechte Steine, aufitellen oder als
Dolmen, d. i. als Tafelfteine, über andere, untergeftellte erheben
fonnten. Weit mehr als vie ägyptifhen Könige, die Erbauer
von Memphis und Theben, ihre Unterthanen, müſſen die galli—
ſchen Prieſter die ganze rohe Naturfraft ihrer Gläubigen in ihrer
Gewalt gehabt haben. Iſt e8 doch nicht anzunehmen, daß fie,
die in Wäldern und unter rohen Steinplatten hausten, vie ihre
Opfer mit jteinerner Art tödteten, die ſolche plumpe, nicht ein-
mal am Anfange der Kunft ftehende Monumente errichteten,
daß fie irgend welche Mafchinen beſaßen, die ihnen dabei hätten
behülflih fein Eönnen. Diefe Felfen previgen laut, daß ver
Glaube Berge verjegt.
Unmeit von Lochmariacaer erhebt ſich ein offenbar ebenfalls
durch Kunft entjtandener Hügel, welchen man den Berg Helve
nennt. An feinem Fuße fteht ein Dolmen, deſſen Platform in
Wanderungen durch celtifches Land. 427
zwei Stüde zerbroden iſt. Sein Inneres ift in zwei Eleine
Zimmer abgetheilt. Weftlih vom Fleden findet ſich der „Tiſch
des Cäſar,“ wie man gewöhnlich einen der intereſſanteſten Dolmen
benennt. Al3 wir dort anfamen, droſch eben ein armer Land:
mann jein mageres Getreide auf dem Tiſche Cäſars. Es ijt eigen:
tbümlih, wie überall in jedem Winkel der Erde, wo vieler
außerordentliche Menſch ven Fuß hingefegt, jein Name im Munde
des Volks an hundert Gegenjtänden hängen blieb; wie überall
feine Befiegten ihm Monumente fegen, ja ſich ihres eigenjten Ei-
genthums entkleidven, um e3 ihm zujutheilen. Hier wo er die
große Schlacht gegen die Veneten lieferte, ihre befjeren Seeleute,
ihre Segelſchiffe mit feinen Landratten und Ruderbooten bejiegte,
bier, wo er die freiheit3luftigen Veneten ihrer Freiheit beraubte,
bier in ihrer eigenen Hauptjtadt berauben fich diejelben Veneten
eines ihrer ältejten, religiöfen Monumente, um damit den Namen
Cäſars zu verewigen. Doch ift Das nicht unnatürlid. Amedée
Thierry hat ganz Necht: es ilt ver Gründer Cäfar, der überall
Spuren ſeines Wirkens zurüdgelaffen, dem die Völker dankbar
find, dem ſie gerne jeve Gründung zufchreiben und an den fie
gerne anlnüpfen, wenn fie al3 altavelige Völker erfcheinen wollen.
Die Tafel Cäſars, jekt verjtümmelt, ruht nur noch auf
dreien ihrer Pfeiler, welche der ärmliche Ueberreſt eine3 großen,
ven Raum von dreißig Fuß einnehmenden Kreifes find. Der
Dolmen iſt jo bob, daß ein Mann fich unter ihm ganz bequem
aufrecht erhalten kann. Auf der innern Seite der Blatte bemerkt
man eine ſchon etwas vermitterte Infchrift und neben dieſer eine
fonderbare Figur, welche mehrere Antiquare für einen, Phallus
halten. Doc fcheint uns dieſe Hypothefe jehr gewagt. Barchou
de Penhouet hat diefe Inſchriften ſowohl, wie fämmtliche in der
Bretagne heimiſche Monumente für phönizifh oder auch für
ägyptiſch erklärt, was unter den Archäologen des Landes ein
homerifches Gelächter erregte. In der That hat unfer verehrter
Freund von der Akademie der Inſchriften feine genügenden Be:
weije für feine Behauptung aufführen können und hat fih nun
*
428 Wanderungen durch celtifches Land,
vor den Sticheleien der Bretonen ind Grab geflüchtet. „Er weiß
es nun beſſer,“ pflegte Mittermaier in Heidelberg mit einem
Blide gen Himmel auszurufen, wenn er von der irrigen Mei:
nung irgend eines todten Kriminaliften ſprach. Penhouet weiß
es nun auch befier und wird von irgend einem Kaufmann aus
Tyrus oder Sidon erfahren haben, daß fich phönizifche Kaufleute
nur felten und kurz auf diefen Küften aufgehalten, daß fie dann
ihre Zeit nicht damit verloren, rohe Steine aufzurichten oder über
einander zu legen, und daß der Dienjt Thors und Belens vom
Dienſte Molochs höllenweit verfchieden war.
In der Nähe dieſes Dolmen liegen die Trümmer des größten
bekannten Menhir, oder langen Steines. Er wurde wahrſcheinlich
von den erſten Chriſten umgeſtürzt und in fünf gewaltige Stücke
zerbrochen, die aber noch ſo neben einander liegen, daß man ihn
in ſeiner ganzen Größe beurtheilen kann. Er mißt an ſechzig
Pariſer Fuß, verjüngt ſich nach beiden Enden und iſt in der
Mitte am Breiteſten. Nicht weit von dieſem Menhir liegt ein an—
derer von zweiundzwanzig Fuß Länge, welchen das Volk Men
Brao Sao, d. i. aufrechter Stein des Tapfern, nennt. Neben
dieſen geſtürzten erheben ſich noch drei andere wie gewaltige Fels:
nadeln. Sie ftehen fämmtlih auf dem fchmaleren Ende und
werden nur durch wenige untergelegte Steine im Gleichgewicht
erhalten.
Außer den genannten gibt es rings um Lochmariacaer noch
viele andere Dolmen und Menhire, die mehr oder weniger den
andern gleichen und die wir nicht weiter befchreiben wollen. Aber
ihre Menge gibt der platten Halbinfel, auf der fie fih zufammen
drängen, ein eigenthümliches Ausjehen und erfüllt den Frem:
den, der zwifchen ihnen umher wandert, mit Schauern der Ur:
welt. ch könnte aber nicht fagen, daß dieſes Gefühl ein ange:
nehmes fei; der bloße Anblid diefer Monumente athmet Rob:
heit, Blutdurſt, Graufamfeit und madt den modernen Men:
hen vor den Gedanken, auf welchen Wegen ſchon die verborgene
Gottheit gejucht worden, erbeben. Das Meer, das Lochmariacaer
Wanderungen dur) celtifhes Land. 429
überall einjchließt, die Klippen und Strömungen, die e3 unnah:
bar machen, tragen noch dazu bei, die Dede und die Schauer,
die diejen Priefterwinkel erfüllen, zu erhöhen. Unmilltürlich ver-
gegenwärtigte ich e8 mir, wie an gewillen Tagen die Gläubigen
des ganzen Landes hier zufammen jtrömten, auf öden Wegen
zwiſchen Sümpfen und Moräften oder von den Injeln fommend,
zwiſchen den Klippen daher jteuernd auf ihren Kähnen mit den
Segeln von Ziegenfellen, wie die Priefter mit dem Eichenfranze
im Haar auf den Dolmen jtehend ihre myftifchen Formeln oder
die Priejterinnen die Zukunft verfündeten, wie fi das Opfer
auf dem Steine wand und da3 Blut in die Höhle träufelte,
Gewiß fand fi in den erjten Jahrhunderten jo mancher getaufte
Chriſt, der fih vom alten Glauben nit trennen konnte und
hinter dem Rüden des Apoſtels hieher ſchlich, um feine alten
Götter zu begrüßen. Es nüßte nicht3, daß man gewaltige Men:
bire fprengte, die Dolmen umjtürzte, das Volk blieb mit feinem
Glauben an diefen Steinen bangen und mwähnt ihre Schatten
und Höhlen noch heute, wenn auch nicht von Göttern, jo doc
von Geiftern, und zwar von guten ©eiltern bewohnt. - Die Feen
oder Groans find nichts Anderes als die alten Druideſſen, die
Pythien Galliens, welche faſt göttlicher Ehre genoßen.
Bon Lochmariacaer fegelten wir mwejtwärt3 in einen langen
ſchmalen Golf hinein. Die Küfte rechts war öde und jteinig,
während ſich das ſüdliche Ufer immer mehr und mehr mit Vege—
tation bekleidete und fich endlich in einen reizenden Park vers
wandelte, aus deſſen Hintergrunde ein freundliches Herrenhaus
blidte. Bald nahm der ganze Golf einen gemüthlichen und durch—
aus maleriſchen Charakter an und wurde ganz prächtig, al3 das
vielumbufchte Aurey mit feinem kleinen Hafen, mit feinen
Küftenfahrern, jeiner Flußmündung und jeinen über Berg und
Thal auf und nieder jteigenden Häufern auftauchte. Eine freund:
lihe Herberge nahm ung auf, und bald fand fich auch ein gebil-
deter Führer, der uns auf das Schlachtfeld von Aurey begleitete.
Die Heine, ganz gemüthlih blidende Ebene, vie von
430 Wanderungen durd celtifhes Land.
mancherlei Buſchwerk bejegt und in der Mitte von einem beſchei—
denen Bach durchfloſſen ift, hat in der bretonifchen Geſchichte bei:
nabe diejelbe Wichtigkeit wie die Ebene von Bosworth in der eng—
lichen. Die Schlaht von Aurey, die im Jahr 1364 geſchlagen
wurde, entſchied den langen Krieg zwijchen den Häufern Blois
und Montfort und fiherte dem legteren, das England befreundet
war, die Succefjion und damit dem Feinde Frankreichs jenen
Einfluß, den er während der langen Kriege des vierzehnten
Jahrhundert? zum Ruin Frankreichs jo trefflih zu benutzen
verftand,
Die Schlacht iſt neben ihrer allgemeinen Wichtigkeit noch
wegen vieler Einzelnheiten interefjant. Es ift ein ächter mittel:
alterliher Kampf, nur daß er im Ganzen mehr Beijpiele der
Treue und Ritterlichleit bietet, als man den ritterlichen Zeiten
gewöhnlich zujchreibt. Auch vereinigte er auf Heinem Raum die
größten Helden, welche damals beide Nationen aufzumeifen hat-
ten: auf Seiten Bloig’ und der Franzojen zuerjt den überaus
frommen Charles de Blois, der am Morgen des Schladhttages
drei Mefjen hörte, das Abendmahl nahm und no im legten
Augenblid, immer feinen Beichtvater mit fich führend, menige
Schritte von der feindlichen Front beichtete; dann Bertrand du
Guesclin, Beaumanoir, Rohan, Rochefort, Dinan u. a. Beau:
manoir war noch Tags vorher der Gefangene Montfort3 gewejen
und hatte von dieſem die Erlaubniß erhalten, in den Reihen
feiner Feinde gegen ihn zu kämpfen und zu fallen. Auf Seiten
der Engländer: der junge Montfort, Chandos, ver große Vor:
läufer Talbots, und Clifjon, der fpäter im franzöfifchen Dienfte
jo berühmt gewordene Connetable.
Die Armee Montfort3 und der Engländer war an Zahl die
ſchwächere, aber fie nahm die befjere Stellung ein und ließ Charles
de Blois über den Fluß fommen und trennte ihn von feinen Re:
jerven, die ihm im Augenblid der Niederlage nicht zu Hülfe
fommen konnten. Umſonſt hatte ihm Bertrand du Guesclin den
Uebergang über den Fluß und den Angriff widerrathen. Karl
Wanderungen durch celtifches Land. 431
bielt fich in feiner Seele für verpflichtet, den Kampf zu beginnen
und feinen Gegner mit eigener Hand zu erlegen, weil er es jeiner
Frau verfprochen hatte, In der That glaubte er gleich beim erjten
Choc, da er einen Ritter in mit Hermelin bededter Rüftung ſah,
auf Johann v. Montfort zu ftoßen; er ftürzte auf ihn und fpal:
tete ihm den Schädel. Aber er hatte fich geirrt und feine befte
Kraft verſchwendet. Bald wurde er von Feinden umringt, vom
Pferde geriffen und von einem englijchen Soldaten erſtochen.
Mit dem Ausruf „Domine Deus“ ftürzte er auf den Leichen:
haufen, der ſich um ihn gebildet hatte. Du Guesclin, welcher
mit Chando3 und Clifjon perſönlich zuſammen traf, wurde ges
fangen genommen, und alle andern bedeutenden Führer der fran—
zöfifhen Partei lagen unter den Todten, Die Jranzojen verloren
den Muth, flohen nad fiebenjtündigem Kampf und ließen auf
dem Schlachtfeld fünftaufend Todte. Die Engländer erlitten nur
einen Kleinen Verluft. Johann v. Montfort ließ den Leichnam
jeined Gegners aufjuchen und meinte über ihn, wie Cäſar über
die Leiche des. Pompejus. „Ach, mein Vetter,“ rief er aus,
„durch Eure Hartnädigfeit habt Ihr viel Leid über die Bretagne
gebracht; Gott vergebe es Euch! Ich beflage e3 jehr, daß hr
ein jo trauriges Ende genommen, und möchte es Gott gefallen,
daß Ihr noch im Stande wäret, Euch mit mir zu vertragen.”
Der Klerus ver Bretagne gab ſich alle Mühe, Karl von Blois
fanonifiren zu laffen, und erzählte viel von den Wundern, die
an jeinem Grabe gejchahen; aber der Papſt fand, daß die Bre:
tagne bereit3 Heilige genug hatte.
Am Tage vor der Schlacht fanden al3 Vorfpiele zwischen den
beiden Armeen mehrere Zmeilämpfe ftatt, die fpäter in mehreren
Volksballaden befungen wurden. Der intereffantefte unter diefen
Bweifämpfen war der des Engländer Walter Huet mit dem
Nitter v. Kergoet. Der Franzofe fiegte, indem er feinen Gegner
zu Boden warf, gab ihm aber das Pferd zurüd, damit er ſich
deſſen in der bevorftehenden Schlacht bediene. Die Schladht von
Aurey hat beim bretonijchen Volk eine fo fabelhafte Berühmtheit
432 Wanderungen durch celtifches Land.
erlangt, wie die berühmte Schlacht der „Dreißig,” die ebenfalls
in jener Epoche gefämpft wurde, und mie nur irgend eine be:
rühmte Schlaht, die das Scidjal einer Nation entichied. Die
Bretonen finden den großen Tag aufs Beftimmtefte in den Pros
phezeiungen Merlin vorausgefagt.
Die Stadt Aurey bejteht aus zwei Theilen, dem neueren
und freundlicheren mit Kai, Hafen, Flußmündung und ſchattigem
Gebüfch, und dem älteren auf der Höhe des Berges, deſſen
Gründung man dem König Artus zufchreibt. Ihr ältejtes Ge:
bäude iſt wohl die Kirche des heiligen Geiftes, gothiſch arabi:
ihen Styls und wahrfcheinlich aus dem dreizehnten Jahrhundert
ſtammend.
Auf der Hochebene, auf der dieſes intereſſante Gebäude ſteht,
weiter wandernd, kamen wir nach ungefähr einer Stunde in ein
elendes Dorf, hinter welchem ſich auf einem Hügel ein kleiner
Menhir erhebt. Er fiel uns vorzugsweiſe deßhalb auf, weil er,
auf ſeiner Spitze ein Kreuz tragend, mit einer Art von Bet—
ſchemel zu feinen Füßen, als das Symbol der geiſtlichen Ge—
ſchichte dieſes Landes erſchien. Er deutete uns außerdem an, daß
wir una der Gegend der Menhire näherten, denn wie Lochmaria—
caer vorzugsmweife durch feine Dolmen, jo ift Carnac an der Bai
von Quiberon beſonders durch feine aufrechten Steine berühmt.
Bevor wir e3 erreichten, mußten wir noch viel Heideland durch:
ziehen, welches aber nicht fo öde anzufchauen war, wie die uns
ihon befannten Heiden. Schöne Tannen: und Fichtenhaine er:
heben fi aus dem rothen Heidefraut, der Boden ijt angenehm
gewellt, mäßige Hügel, von Sapellen bejegt, erheben fih, aus
der Ferne glänzt dad Meer, und grün ftredt fich die lange und
ſchmale Halbinjel von Quiberon in die Fluth.
Der erjte Anblid von Garnac ift überaus großartig und
überrajchend. Wie weit man auch gewandert fei, man hat nichts
der Art gejehen. Kaum gibt e3 irgendwo etwas Sonderbarere3
als diefe Reihen formlojer Steine, die zum Theil vermwittert, mit
bemoosten Häuptern, wie ein verfteinertes Niefenheer vor Carnac
_ Wanderungen durch celtiihes Land. 433
daſtehen und ausſehen, al3 ob fie vorwärts rüden wollten. Die
Stille rings umher, die Einſamkeit, die dunkle Heide, von der
fich die grauen Steine jharf abheben, Alles trägt dazu bei, den -
Eindrud zu erhöhen, und man ftugt einen Augenblid, ehe man
e3 wagt, fih in die Gefellichaft diefer Zeugen uralter Zeiten zu
begeben. Näher tretend, erjtaunt man noch mehr über die Regel:
mäßigkeit in der Aufſtellung der aufrechten Steine. Ihre Zahl
beläuft ſich auf mehr als zwölfhundert, welche von Südoſt nad
Nordweſt in einer Länge von mehr ald 2000, und in einer Breite
von 150 Fuß in gerader Linie und in eilf Reihen neben einander
binlaufen.
Am nordweitlihen Eingang in die Reihen befindet fich ein
Halbkreis, der aus achtzehn großen Steinen bejteht, und wie auf
feiner Baſis mit feinen äußerjten Enden auf der erften und eilften
Reihe ruht. Die Steine, die fait alle auf dem dünneren Ende
fteben, find won verjchiedener Höhe, ſchwanken zwiſchen zwanzig
und fünf Fuß und haben zum größten Theil eine länglichte
Form. Doch liegen aud) hie und da ungeheure Blöde, die man
nicht Menhire oder lange Steine nennen Tann.
Noch im vorigen Jahrhundert belief fih die Zahl der Men-
hire von Garnac auf mehr als viertaufend; die verſchwundenen
wurden meift zu neuen Bauten verwendet. Seht hat die Negie-
rung dafür gejorgt, daß diefe Monumente für die Zukunft ge:
fihert find. Wie großartig muß der Anblid dieſes vollſtändigen
Todtenfeldes gemwejen fein! Denn dab wir bier nichts Anderes
vor uns haben, als einen altceltifchen pere Lachaise, ſcheint
heute außer Zweifel, obwohl verjchiedene Alterthumsforſcher Ver:
fchiedenes daraus machen wollten. Der eine, gejtügt auf vie
Tradition, weldhe die Steine von Garnac das Lager Cäſars
nennt, behauptet allen Ernjtes, dieſe Riejenjteine haben feinen
andern Zmed gehabt, al3 die Zelte römiſcher Soldaten zu tragen.
Ein anderer — und wieder ijt es der arme Herr von Penhouet
— ftügt fih auf den Namen „GCarnac,” der ihn an das ägyp—
tiſche Dorf gleiches Namens erinnert, findet, daß die Steine hier
Mori Hartmann, Werke. II. 28
434 Wanderungen dur celtifhes Land.
eben jo aufgeftellt feien, wie vie Sphinre in Theben, und zieht
daraus den Schluß, daß es Aegypter waren, welche dieſe Monu-
* mente aufitellten, ja jogar, daß die Bretonen von den Aegyptern
abjitammen. Ein dritter Archäolog gibt zwar zu, daß diefe Mo:
numente celtiſchen Urfprungs find, bringt fie aber mit vem 30:
diafus in Verbindung und behauptet, daß die eilf Steinreiben
die eilf Sternbilver darftellen, und daß die Celten eben nur eilf
Zodiakalzeichen gefannt haben.
Was joll der Lärm? Hundert berühmte und unberühmte
Volkslieder der Celten des Kontinent3 und der Inſeln Sprechen
von langen Steinen, die man über Gräbern aufgerichtet hat, oder
von bereit3 aufgerichteten Blöden, unter denen man den Todten
begrub. So ſpricht Offian in feinem Geſange über Fingal:
„Wenn Fingal auf dem Schlachtfelde gewüthet, lege mich unter
irgend einen denkwürdigen Stein, der künftigen Zeiten von mei:
nem Ruhme ſpreche.“ — Im Gejang Kathula: „Rathula erhebe
mein Grab auf diefem grünen Hügel, ftelle mir zu Häupten
diefen grauen Stein.” — Im Geſang Tighmora: „Siebit du
jenen Stein, der mitten im Graſe fein graues Haupt erhebt ?
Dort liegt ein Fürft vom Stamme Diar-Mud.” — In Kath:
Iuinna: „Da ſtehen wir an den Gräbern; aber wo find bie
Steine, welche die Rubeftätte unferer Freunde bezeichnen? Er:
hebet eure Häupter, graue und bemooste Steine, erhebet eure
Häupter und fagt und an, weſſen Gedächtniß ihr bewahrt.”
Solche Stellen fann man in Oſſian und in vielen andern
Bolksliedern finden. In Carnac haben ſich außerdem noh Namen
und Traditionen erhalten, welche die Anſicht, daß die Menbire
Grabmonumente find, unterjtügen. So heißt ein Theil des dor:
tigen Steinfeldes „Menek,“ was jo viel jagen will als „Gedächt:
niß oder Andenken,” und ein anderer Theil führt den Namen
Kerwarn oder Todesplat. In Cornwallis findet ſich ein dem
Felde von Carnac ganz ähnliches Gefilde, und die Einwohner
geben ihm ähnlihe Namen und knüpfen ähnliche Traditionen
von dafelbjt begrabenen Kriegern daran. Ich glaube, dieſes Alles
Wanderungen durch celtifches Land. 435
zujammen genommen reicht hin, vie urjprüngliche Beitimmung
der Menhire zu bezeugen; doch ſoll vamit nicht gefagt fein, daß
jämmtlihe Menhire Grabmonumente waren. Die höchften und
folojjalften unter ihnen, befonder3 wo fie in Eleinerer Anzahl
beijammen find, jcheinen eine andere Bejtimmung gehabt zu
haben. Man nimmt an, daß diefe gewiſſe Götter vorftellten und
daß die Dolmen, die fich meift neben den folofjalen Menhiren
finden, die Altäre waren, auf denen diejen Göttern geopfert
wurde. Dieß mag vorzugsweije von den Menbhiren in Loch
mariacaer gelten.
Der Fleden, der dem Steinfelde eine jo große Berühmtheit
verdankt, hat an ſich nichts Merkwürdiges, doch fieht er etwas
jolider aus als andere Dörfer feines Ranges, da er zum größten
Theil ohne Rüchſicht auf die Archäologie aus Druidenfteinen er=
baut it. So fonnte auch die Pfarrkirche größer und jchöner
werben als andere ihres Gleichen, abgejehen von den großen Ein:
fünften, die fie ihrem Heiligen verdankt, welcher, ein ausges
zeichneter Veterinär, alle Biehkrankheiten heilt und deßhalb von
allen Bauern der halben Bretagne beſucht wird. Cr hat aud)
einen Aushängejchild über jeiner Thüre, und dieſes bejicht aus
zwei gefunden, in ven Stein gehauenen Ochſen. Carnac hat nie
ein befjered Jahr, als wenn das Land von einer Viehjeuche
heimgeſucht wird. Man verficherte ung, daß die Pilger manch—
mal das franfe Vieh mit hieher bringen und e3 während des
Gebetes dem Heiligen in der Kirche ſelbſt vorjtellen.
Zurüd nad Aurey und weiter nach Norden. Hie und da
ein hübſches Herrenhaus mit Garten und Park, etwas ange:
bautes Land rings umher, dann wieder Heide, Heide, Seide,
In der Entfernung mandmal ein elende3 Dorf, denn die breto:
nischen Bauern wohnen nicht gern an der Landſtraße und haben
eine ſolche Abneigung vor der Berührung ver Welt, daß fie da,
wo ihnen die Regierung einen Weg an der Thüre vorüber führt,
dieje Thür vermauern und rüdwärts eine andere durchbrechen,
alfo ihr Haus gemwifjermaßen der Landitraße ven Rüden zulehren
436 Wanderungen durd celtifches Land.
laſſen. Diefer eine Zug harakterifirt wohl genug den bretoniichen
Volksſtamm und erklärt feine eherne Stabilität. Auf einer der
Heiden erhob ſich plöglich mitten aus den rothen Kräutern eine
Gruppe von Bettellindern vor ung; fie boten Blumen an und
fangen einige Lieder, deren Melotie, obwohl nur aus wenigen
Noten beſtehend, unendlich traurig war.
Vor Landevant machten wir die Befanntjchaft eines hüb—
ſchen und wohlkonſervirten Dolmen, wollen uns aber mit der
Beichreibung deſſelben nicht weiter aufhalten und nun ein= für
allemal von den Druideniteinen Abfchied nehmen. Nur wo ung
irgend ein bejonders merfwürdiger aufftößt, werde feiner erwähnt.
Bor Hennebont wurde die Landftraße jehr lebendig. Es war
Markt, und die Landleute ftrömten in die Stadt. Hunderte von
MWeibern ritten auf Heinen Pferden, mandmal zu Zmweien und
immer rittling zu Pferde figend; die Männer gingen meift zu
Fuß, Kleine bretoniſche Kühe, die die berühmte Butter geben,
vor fich ber treibend. Unter ven Männern bemerkten wir mande
ſchöne Geftali, mandes jhöne Gefiht; die Weiber, vorzugsweiſe
die älteren, waren ſämmtlich ſcheußlich; doch gab ihre fonderbare
Tracht, fo wie die bunte, der flowalifchen ähnliche ver Männer
dem Getümmel auf der Straße wie auf dem Markte etwas jehr
Malerifhes. Vor den Häufern Hennebont3 faßen fie in Kreifen
beijammen und tranfen Cider, das altnationale Getränf ver Bre:
tonen. Wie ſehr fie diefen Apfelmojt auch lieben, fo würden fie
fih heutzutage in dieſer Beziehung doch gern entnationalifiren
und denſelben mit franzöfiihem Wein vertaufchen; aber dazu
fehlt e8 an Gelb.
Der bretonijche Bauer ijt meijt ſehr arm; nur felten bringt
er es dazu, ein Eigenthum zu erwerben; er ift nur Pächter und
hängt von feinem Gutsheren ab. Diefen Zuftand verdankt er
feinem Benehmen zur Zeit der Revolution; er bat vwerblenvet
Alles gethban, um die alten, ihm ungünjtigen Verhältnifje auf:
recht zu erhalten, und der nationale Adel, der ihm gegenüber
ungefähr viejelbe Stellung einnahm wie ver fchottiiche in feinem
Wanderungen durch celtijches Land. 437
Clan, unterftüßt ihn natürlich in feinem Streben. Die alten cel-
tifhen Clanstraditionen find e3 vorzugsweiſe, mas die Choua-
nerie erklärt. Die Bauern, von ihren La Rochejacqueleins ange:
führt, wollten nichts von den Wohlthaten wiſſen, melde ihnen
Eonftituante und Legislative zudachten; fie erwarteten Alles vom
König ihrer Adeligen, und als dieſer zurüdfam, fühlte er fi
durch die Dankbarkeit, die er den Chouans ſchuldete, jo ſchrecklich
genirt, daß er zu einer Reije in die Bretagne, die er doch ver:
ſprochen hatte, nicht zu bewegen war, und die bretonifchen Ade—
ligen an jeinem Hofe hatten auch kein befonderes Intereſſe, den
doch immer etwas liberalen Ludwig in ihrem Lande zu begrüßen.
So blieb Alles beim Alten, und fo kommt es, daß der bretoniſche
Bauer heute zwar noch mit Stolz von der Treue feiner Väter
und den Thaten der Chouans erzählt, felber aber nicht die ge:
ringfte Luſt verfpürt, diefelbe Rolle zu übernehmen.
Hennebont liegt fehr ſchön am Abhang und am Fuße eines
grünen mit ſchönem Baumfchlag gefrönten Hügel3, welchen ber
bier ſchon breite Fluß Blavet befpült. Die Ueberrejte feiner alten
ftarfen Befeftigungen, eine Mauer mit Madicoulis, die Ruinen
eines Kaftelld mit gothiſchem Thore und zwei jtarlen Thürmen,
außerdem mehrere gothiſche Häufer im Innern der Stadt geben
ihr Charakter und zeugen von einer fhönen Vergangenheit.
Hennebont hielt in dem GErbftreite zwischen Blois und Mont:
fort mehrere Belagerungen aus, von denen jede fich durch irgend
eine Sonderbarfeit auszeichnet. Während der eriten wertheibigte
fie Olivier de Spinnefort für Karl de Blois, mährend fie fein
Bruder Heinrih de Spinnefort für Montfort belagert. E3 ge:
lang dem jüngeren Bruder, den älteren aus der Stadt zu loden,
ihn zum Gefangenen zu maden und ihn endlich zur gutmwilligen
Uebergabe der Stadt zu bewegen. Nun Montfort angehörig,
wurde fie bald darauf von Blois und den Franzofen belagert,
und bei diefer Gelegenheit erwarb fih Johanna, die Mutter de3
jungen Montfort, jenen großen Ruhm, ver ihre Zeit erfüllte,
heute noch in fehr ſchönen Volksliedern fortlebt und ihr den
455 Wanderungen dur celtiiches Land.
Beinamen „Hanne die Flamme“ verſchaffte. Furchtbar bevrängt,
nad) wochenlanger Belagerung, umgeben von einer bereit3 ver⸗
zagten Bejagung, ftürzte fih Johanna, nur von wenigen Ge—
treuen begleitet — jo wenigftens erzählt das Vollslied — in das
Lager der Franzofen, das fie in Flammen jegte und gänzlich ver-
nichtete. „Und der Wind verbreitete die Brunft und erhellte pie
Ihmwarze Naht. Und die Zelte waren verbrannt, und die Fran:
zojen waren gebraten, und dreitaufend waren zu Aiche verbrannt,
und es entwijchten nur hundert.” — „Am andern Morgen ſaß
Hanna die Flamme am Fenfter, und fie lächelte, wie fie ihre
Blide übers Land ftreichen ließ, und wie fie das zerftörte Lager
ſah und den Rau, der ſich aus dem Aſchenhaufen erhob, da
lächelte Hanna die Flamme wieder und fagte: Welch ſchöner
Dünger, o mein Gott! mein Gott, wel ſchöner Dünger. Für
Ein Korn werden wir zehne haben! Ganz wahr jagten die Alten:
Nichts macht das Korn fo trefflih wachen, ald Knochen der
Sranzofen, zermalmte Knochen ver Franzojen.”
Die dritte Belagerung, welche die Stadt wieder den Mont:
forts entriß und Blois überantwortete, ift dadurch ausgezeichnet,
daß fie der große Gonnetable Bertrand du Guesclin in Perfon
leitete und dabei die ungeheuerjten Katapulten zur Erſchütterung
der Stadtmauern anmendete. Gr nahm die Stadt, ſchonte die
Eingeborenen, machte aber die ganze englijche Beſatzung nieder,
mit Ausnahme zweier reicher Offiziere, die ihre Freiheit theuer
bezahlen mußten.
Aus der alten Stadt Hennebont wanderten wir in weniger
benn zwei Stunden in die neue Stadt Lorient, eine der neueiten
Frankreichs. Noch zu Ende des fiebzehnten Jahrhundert3 mar fie
ein elendes Dorf und wurde al3 foldhes der unglüdjeligen indi:
ſchen Kompagnie geſchenkt, welche e3 dahin brachte, daß ihr
Schützling in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ſchon eine
hübſche Stadt war, die ſchon fortblühen konnte, als die Kom:
pagnie felbft zu Grunde ging. Sie bilvete ein hübſches Stüd
ver Erbſchaft, welches Ludwig AV. von der Kompagnie überfam.
Wanderungen durch celtifhes Land. 439
Man fieht e3 ihr an, daß fie nicht entjtanden, fondern künſtlich
geihaffen worden, und alle die Leute, die Mannheimer und
Karlsruher Styl lieben, werden Lorient eine der jchönften
Städte Frankreichs nennen. Uns, die wir nicht für die geraden
Linien find, behagte es vorzüglich in der Vorjtadt Kerentreich,
die von einer wahrhaft ſüdlichen Vegetation umhüllt it. Auch
bat fie eine fchöne Kettenbrüde über den Scorf, welde eine pro:
jektirte großartige Granitbrüde erfegt. Schon war Alles zu dem
Bau vorbereitet, ſchon waren die Granitblöde gejchnitten und
Hunderttaufende ausgegeben, als die Beforgnik erwachte, daß
die Wafler, fih an den Pfeilern brechend und den Fluß aus:
wübhlend, den Hafen verfanden würden, und man gab alle Vor:
bereitungen auf und nahm zu der neuen Erfindung der Ketten:
brüden jeine Zuflucht.
Der große und fihere Hafen ift von prachtvollen Gebäuden
und Dämmen umgeben und fann ganze Flotten mit Sicherheit
beherbergen. Die Baupläge an der Rhede find fo ausgedehnt,
daß dafelbft dreißig große Kriegsschiffe auf einmal gebaut werden
können. Schöne, üppige, parfähnliche Spaziergänge umhüllen
und bejcatten dieſe großartigen Anlagen. In ihren dunfeln
Gängen begegnet man den wachhabenden Marineinvaliden und
neben ihnen — ein ſchöner Kontraft — den jungen Zöglingen
der Marinefchule mit ihren lebhaften, intelligenten Geſichtern,
die ſich fo vortheilhaft vor den Zöglingen der Landarmeejchulen
auszeichnen. Dort erhebt ſich auch der Signalthurm, der zugleich
als Leuchtthurm und Obfervatorium dient. Auf dem Marktplatz
ſteht als aufmunterndes Beifpiel für die Marinefhüler die Statue
des braven Geelieutenants Biffon, welcher ſich lieber in die Luft
ſprengte, als daß er ſich dem überlegenen Feinde übergeben hätte.
Das Monument ift von Gatteaur und erhebt fih, in Bronze
gegofien, über einer acht Meter. hohen Granitfäule.. Auf dem
Hötel de Ville interefjirte ung ver Saal, in weldhem die Ehen
geſchloſſen werden; er hat ganz die Form eines römiſchen Prä-
toriums.
440 Wanderungen durd celtifches Land.
Auf einem Kahne fuhren wir ſchräg über die Mündung des
Blavet nach der feiten Seeſtadt Port Louis, melde gewiſſer—
maßen noch zu Zorient gehört; die zu Ende des fechzehnten Jahr:
bundert3 noch ein armes Dorf war und unter der Republik Port
Libert hieß. Wie jung diefe Stadt aud) ift, hatte fie doch ſchon
eigenthümlihe Schidjale. Zu den eigenthümlichjten gehört es
wohl, daß fie eine Zeit lang den Spaniern gehörte, denen jie
vom Herzog von Mercoeur, dem Anführer der Liguerd und Prä-
tendenten der Bretagne, für geleiftete Hülfe überlafjen worden.
Erſt durch den Vertrag von Vervins kam fie in Heinrichs IV.
Gewalt, welchem die unpatriotifhe Handlung des Herzogs die
Eroberung der Bretagne nicht wenig erleihterte. Vor der Heinen
und fchleht gebauten Stadt, unter dem Waflerfpiegel, lauern
beimtüdifche Klippen, welche dem fremden Schiffer den Hafen
unnahbar und heimifche Lootſen unentbehrli machen. Diejer
Umjtand hat Port Louis ſchon mehrmald vor den Engländern
geſchützt, ſelbſt wenn fie das befjer befeftigte und höher hinauf
liegende Lorient angriffen. Von den Mauern der Stadt hat man
eine prächtige Ausjicht auf den meiten Ozean, auf die Inſeln
Groir und Belle⸗Jele.
Lorient und Port Louis find franzöfiihe Kolonien. Die in:
diſche Kompagnie hat daſelbſt franzöfiihe Kaufleute und Com
mis, die franzöfifche Regierung Beamte aus dem Dften ange:
ſiedelt; ur in den Vorftädten und an Markttagen wird hie und
da celtiſch geſprochen. Das Land rings umber ijt ganz celtiſch,
rein bretonifch; in vielen Dörfern findet man faum ein Indivi—
duum, das franzöfifch jpriht, und wenn der Bretone Frankreich
oder Franzofe fagt, jo hat das noch eine ganz andere Bedeutung
als bei ven Landleuten der Cevennen; ihm find die beiden Aus:
drüde gleich bedeutend mit „Ausland“ und „Fremder.“ Das hat
feinen Grund im furdtbar jtarren Nationaldarakter der Bre:
tonen, in der Unbemweglichkeit, die diefem Volksſtamme eigen:
thümlih ift, und die dur Sahrhunderte allen fremden an—
ftrebenden Elementen widerſtehen konnte, ohne die geringfte
Wanderungen durch celtifches Land. 441
Veränderung zu zeigen. Will man doch jelbit in ven bedeutendſten
Männern des Landes, wie Chateaubriand, Lamennais u. a,,
die doh die ganze Bildung Franfreihg in fih aufgenommen
haben, etwas jpezifiich Bretonifches bemerken. Die Bretonen find
ein Blod Granit, an welchem die franzöfiichen Wellen vergebens
nagen und nod lange vergebens nagen werden.
Mas der Franzöfirung diefes Volksſtammes befonder3 im
Wege fteht, ijt die im Weiten Europa’3 beifpiellofe Bedürfniß—
Iojigfeit, welche ihn nicht zwingt, fich dem Fremden zu nähern,
von ihm zu kaufen oder fih überhaupt mit der Welt zu mifchen.
Der Entel lebt wie der Urahn, er hat diefelben Sitten, diejelben
Anschauungen, diejelben Bedürfniſſe und dafjelbe Feld, das ihm
Stroh für Dah, Lager und Vieh, Nahrung und Leinenkleiver
liefert. Was hat er alfo jenfeit3 feines Hofraums und feiner
Feldmarke zu juhen? Wenn ihn die Konjfription zwingt,
Jahre lang in der Fremde zu verweilen, ftirbt er entweder am
Heimweh, oder wenn er glüdlih heimkehrt, gibt er ſich alle
Mühe, jo jchnell ald möglich) das wenige Franzöfifh wieder zu
vergejien und auf3 Neue ein guter Bretone zu werden.
Die Revolution hat e3 gezeigt, wie ferne diefe Gelten ven
Neugalliern ftehen. Das Lied, das fie damals als eine Art Anti:
Marjeillaife fangen, athmet nocd größeren Haß der Franzojen,
als das bereit3 angeführte, aus dem vierzehnten Jahrhundert
jtammende Volkslied. Die Marfeillaife, der e3 entgegengefeht
wurde, iſt ein Wiegenlied, mit diefem wuthjchnaubenden Gejange
verglichen. Er ift unter dem Namen „das Lied von den Blauen“
befannt; fo hießen den Bretonen die blau uniformirten Repu—
blifaner. |
III.
Finiftere, — Nlima, Charakter ded Landes und ber Einwohner. — Die
Bauern. — Die Bretagne und Franfreid. — Aberglauben. — Duimperle,
der heilige Graal und feine Kirhe, — Das Grab des Chouansführers. —
Boltädichter, Herr von Billemarque. — Pontaven. — Ruftefan und eine
Bollsballade. — Der Wald Luſu. — Der zitternde Stein. — Feftung Con:
carneau und eine Geſchichte aus dem Kriege der Ligue. — Duimper. —
Corantin, — Die Kathedrale. — König Gradlon. — St. Mathieu, — Ruinen
in der Umgegend.
Auf der breiten, ſchön befchatteten Landſtraße, die aus der
neuen Stadt Lorient in die uralte und fagenhafte Stadt Quim—
perl& führt, zogen wir in das in vieler Beziehung interefjantefte
Departement Frankreihs, in das Land Finiftere, ein. Als im
weftlichiten Theil Frankreichs gelegen, haben ſich darin celtifde
Sprade, Sitte, Sage und Lied am Reinften erhalten. Als Halb-
injel, wo die legten Ausläufer der ſchwarzen Berge oft bis an den
Rand des Meeres vorbringen und bi an dreihundert Bäche
dem Vater in den Schooß ſenden; al3 äußerſte granitene Brult
wehr gegen den Ozean und deſſen bis von dem Golf von Merito
beranftürmenden Strömungen; mit großartigen, bald milven,
bald lieblihen Küften, mit vier großen Meerbujen, eilf größeren
Buchten ftolzirend, ift diejed Departement zugleich auch eines der
malerifchften de3 großen Reiches. Die Vegetation trägt aud
das Ihre dazu bei. Die Nähe des Meeres läßt feinen raſchen
oder ſchädlichen Uebergang der Temperatur zu, fänftigt überall
das Klima, fo dab der Feigenbaum im Freien gedeiht, hie und
da Aloen blühen, die Tamarigke ihre Schweftern aus dem ſüd—
lihen Frantreih an ſtattlichem Wuchſe befhämt und vie Ufer
Wanderungen durch celtiſches Land. 443
der großen und Heinen Buchten oft jo jüplih warm anzujchauen
find, wie mande Bucht Staliend oder Griechenlands,
Geſchichte und Natur wurden noch dur die Kunſt bereichert,
denn kaum mag e3 in Mitteleuropa eine Landftrede von dieſer
geringen Ausdehnung geben , die fih, in Bezug auf Reihthum
an größeren und Hleineren Kunſtbauwerken des Mittelalter3, mit
dem Departement de Finiftere meſſen könnte. Nicht nur die großen
Städte befigen ihre Kathedralen, auch Kleinere Fleden, vergeilene
Dörfer prangen mit den berrlichiten gothifhen Kirchen: Kathe:
vralen in Heinem Maßftabe, deren ſchlanke und Iuftige Thürme in
ihrer Art fo ſchön, leicht und durchſichtig find, wie die Thürme der
berühmteften Münfter, und überall, wohin der Blid fich wendet,
aus der Tiefe eines Thalgrundes, an einem Waldfaume, mitten
aus den ärmlichſten Hütten prächtig emporiteigen. Ja, manch—
mal fteht ſolch ein wunderbares Kirchlein mitten in der Wiloniß;
das Dorf ijt verfhwunden, die Heide treibt die rothe Erifa an
einjt bewohnten Stätten; aber dag Kirchlein mit jeinem Thurm
oder Thürmchen fteht einfam, fich felbit genug, in fich ſelbſt be:
friedigt, in unvergängliher PBradt. Bon dem Kirchhofe, ver e3
einft umgeben, blieb nur noch ein bemooste3, nun von Heide:
traut bevedtes Kreuz, eine gejtürzte Säule, ein verftümmelter
Heiliger, hie und da aber aud irgend ein großes Maufoleum
von Säulen getragen, von Skulpturen bevedt, von Wappen und
Trophäen überragt; das Grab irgend eines Häuptling3, der die
Gegend beberrichte.
Aber mit den Kunstwerken, der Sprache und den Sitten
baben fich in dieſer merkwürdigen Halbinfel, wie in einer Rumpel-
tammer der Bretagne, alle alten Mißſtände und Fehler der Bre—
tonen am Dauerhaftejten erhalten. Dem Schmuge der Bauern in
Finiftere fieht man es an, daß er unjterblid ift und aus Ur:
zeiten ftammt. Da3 mußten wir jhen auf dem Wege nad
Quimperl&-erfahren, als wir in einem Dorfe Halt machten und
in einen der Höfe traten. Das Hauptgebäude bejteht aus einem
elenden Strohdache, noch elendern, aus Erde und rohen Steinen
444 Wanderungen durd) celtifches Land.
ausgeführten Mauern, in die eine niebrige Thüre führt und ein
ganz Meines, nahe dem Dache angebradhtes Loch, anftatt eines
Fenſters, das Licht einläßt. Der ganze innere Raum ift nur
durch eine niedrige, meiſt aus Ruthen geflochtene Zwijchenwand
in zwei Theile getrennt, deren einer vom Vieh bewohnt ift,
während fi im andern vor Schmutz braune und ſchwarze Ge—
ftalten menjhlicher Bildung umbertreiben. Die Dede ift von
Raub geſchwärzt, der immer wie dichte Gemitterwolfen über
den Häuptern der Bewohner lagert. Der Boden ift fein anderer
al3 das heilige Erdreich, voll von Löchern, in denen ſich die aus
dem Stalle kommenden, nicht3 weniger al3 jüß duftenden Flüſſig—
feiten jammeln, und in welden ein Kind mit Leichtigkeit er:
trinten kann. Rechts und links vom Kamin jtehen zwei große
Mandfchränfe ohne Thüren, die durch Bretter in viele Fächer
getheilt find. Diefe Fächer, mit Stroh angefüllt, find die Betten
der Familie und der Knechte; das fonftige Ameublement befteht
aus einem oder aus zwei Bänken, die als Sige und bei Mahl:
zeiten als Tifche dienen. Mit diefem ganzen Hausweſen jtimmt
die Sitte, fih niemals, auch an höchſten Feiertagen nicht, zu
wajchen, ganz harmonisch überein. In diejen ſchmutzigen Be:
haufungen ift der ſchmutzige Bretone fehr gaftfrei und immer
bereit, von feinem Vorrathe mitzutheilen, befonder3 wenn ihn
der fremde, der bei ihm einfehrt, in feiner eigenen Sprade an-
zufpredhen im Stande ift. Aber wer vermöchte e3 in diefer Um—
gebung, in diefer Atmofphäre, den von ſordider Hand gereichten
Bien anzunehmen? Aller Hunger, aller Appetit ift hin, bevor
man noch die Schwelle des bretonifhen Bauern überjdhritten
bat; denn jchon vor dem Haufe dehnt fich ein Meer von Unrath,
welches das Haus unnahbar macht und da3 der neugierige Rei—
jende aus Pflichtgefühl nur Einmal durchwatet.
Mas den Charakter de3 Bretonen betrifft, fo ift er bei Wei:
tem nicht fo wild, wie er in den franzöfifchen Städten geſchildert
wird, Wir fanden ihn fcheu, aber arglos, mandmal ſogar fehr
freundlid und mittheilfam, wenn wir ihn in feiner Sprade
Wanderungen dur celtiſches Land. 445
anrebeten, und wir mußten über die Freunde in Nantes lächeln,
Die uns angerathen hatten, und mit Vertheidigungswaffen zu
verfehen, al3 ob wir die Abruzzen hätten befuchen wollen. Die
Sache ift die, daß die Bretonen den Franzofen nicht lieben, und
daß diefer, der ſich dergleihen unangenehme Wahrheiten nicht
gerne zugefteht, und der noch weniger gerne in einen fremden
Volkscharakter eindringt, den bretonifchen volllommen mißdeutet.
Uns war e3 zum voraus ſchwer, an die Rohheit und abfolute
Barbarei des Volkes von Finiftere zu glauben, da wir mußten,
daß die bretonifche Poefie und die zahlreichen celtiihen Barden,
die fih dur fo viele Jahrhunderte in ununterbrocdener Reihe
folgen, beſonders in dieſem Landitrihe zu Haufe waren. Wir
mußten, daß bier noch heute das Volk dichte und finge, wir
fannten die neueften ſchönen Hervorbringungen der bretoniſchen
Volkspoeſie, und wir begriffen, warum ſich alle anderen Pro:
vinzen Frankreichs, deren Kehlen und Seelen verſtummt find,
von der bretonifchen abgeftoßen fühlen und fie, die noch einen
Reſt von urfprünglicher Poeſie befitt, für rein barbarijch er:
Hären. Freilihd — um ganz wahr zu fein — ſcheint fich heut:
zutage die Poefie größtentheild in Aberglauben aufzulöfen, und
daran mögen die modernen Druiden Schuld fein. Ueberall gibt
es gefährliche Kreuzmege, wo fi Teufel, Wiejen, wo ſich Elfen
verjammeln; Sümpfe voll todter Seelen und verdächtiger Srr:
liter, Heren, Wunderfteine, Wunderquellen, Wunderdoktoren,
Todesanzeihen und der ganze Apparat von Blend: und Zaubers
werfen, wie ihn faum drei andere Nationen zufammengenommen in
ihren Wunderarjenalen aufhäufen, Man könnte über die moderne
Mythologie der Bretonen ganze Bücher fchreiben. Emil Sou:
veſtre's Leben hat nicht ausgereicht, diefen Gegenftand zu er:
ſchöpfen, und die vielen Lokalſchriftſteller, die feit einem halben
Sahrhundert an diefer Fundgrube arbeiten, entveden immer
neue Gänge, in die fie fi noch einmal für ein Jahrhundert ver:
tiefen können.
Einen ſchönen blüthenvollen Abhang nieverfteigend, zogen wir
446 Wanderungen durch celtiſches Land.
in eine der Hauptſtädte bretonifcher Traditionen ein; Quimperlé
macht e3 jchon durch feine Lage begreiflih, warum fich bereit3 im
grauen Altertum geheimnißvolle Götterverehtungen dahin zurüd=
zogen und warum ed noch das Mittelalter liebte, myjtifche Meihen
und Verbrüderungen in jeinen Schooß zu verlegen. Die Stadt ift
am Zufammenfluffe ftille dahin mwandelnder, in tiefen Betten
faum leiſe liſpelnder Flüffe, der Ellé und der Sfole, wie auf
einer Inſel gelegen, dazu rings umher von hohen Bergen um:
geben, die fich, dicht bebufcht, im Hintergrunde feſt an einander
ichließen, und jo kann man jich leicht vorftellen, wie fih, als
jene Berge no von Urwäldern bevedt waren, Druiden hier ver:
jammelten und wie fih das jpätere Mittelalter den Montjal:
vatjch, den geheimnißvollen Aufbewahrungsort des heil. Graals
und jeiner Pfleger, in einem jolchen verjtedten Erbwinfel denken
modte. Denn Quimperle ift es, wo fih nad der Sage ver
Bretonen, die fich gerne mit den Britannen iventifiziren und
deren Sagen adoptiren, eine der Hauptfirchen des heil. Graals
befand und noch befindet.
Nach diefer Kirche führte über die Schönen Quais und dur
ihre üppigen Alleen unjer erjter Weg. Das alte, etwas düftere
Gebäude mit feinen Rundbogenfenſtern hat nicht3 Großartiges
an fih, es athmet etwas vom erjten, einfahen, andächtigen
Chrijtentbum, wie wir e3 ung mit Recht oder Unrecht vorftellen.
Bon jener äußeren Pracht, von jenem Zauberweſen, das in allen
Gedichten des Mittelalter3, die fich an die Graalsfage anfchließen,
jo wunderbar phantajtifh und Gemüth bewegend lebt und mebt,
bat fie nichts an fih. Sie erinnert eher an die erjten Kirchen:
väter und an die Heiligen der Thebaide, als an die vollfom:
menen und glänzenden Abenteurer, wie Titurell, PBarcival und
Lohengrin. Doc regte e3 ung eigenthümlich an, auf einer Erd:
icholle zu ftehen, welche durch die goldenen Fäden der Volksſage
und der begeijterungsreihen Poeſie mit unjerem Baterlande, mit
den Arabern Spaniens, mit dem fabelhaften Priefter Johannes, mit
dem fernen Indien, beinahe mit der ganzen alten Welt verbunden ift.
Wanderungen durch celtifches Land. 447
Andere verfallene Kirchen und Klöfter, deren Ruin das
Volk gerne, aber mit Unrecht, der Revolution zufchreibt, waren,
troß manch ſchönen gothifchen Ueberreftes, nicht im Stande, und
lange in der Stadt zurüdzubalten, die dem Fremden durch ihre
Unjauberfeit und dur den Lärm, den die Einwohner mit ihren
gewaltigen Holzſchuhen auf dem Steinpflafter vollführen, bald
zuwider wird. Die Unjauberfeit ift die bereits viel gerühmte,
der Lärm war uns etwas Neues. Duimperl& ift der Haupts
fabrifort für jene Fußbelleivung, welche den Schritt einer zarten
Jungfrau drei Gafjen weit hörbar madıt.
Wir flüchteten uns vor diefer ohrenzerreißenden Muſik zu:
erit auf die grünen Berge, von denen aus man die reizendfte
Ausfiht auf die üppig bewachſene Umgegend, auf Gärten und
Allen, auf die im Thal und auf dem Berge gelegene Stadt
und auf den Vereinigungspunft der beiven Flüfle genießt. Diefer
ſchöne Punkt ift es, welcher der Stadt ihren Namen gibt; den
Kymperl& ift nur eine Zufammenziehung aus kymper und
elle, was im Geltifchen fo viel bedeutet als: Vereinigung der
Ellé. Unfer Gaftfreund, Herr de la Villamarqué, der befannte
verdienjtvolle Sammler bretonifcher Volkslieder, machte unfern
Führer durch die Stadt und die malerische, in reicher Vegetation
jtehende Umgegend. Er zeigte und unter andern eine zu einem
Herrenhaufe gehörige Kapelle mit Holzjfulpturen aus der Re=
naifjancezeit, welche fonderbarer Weiſe ein Gemiſch von chriſt—
lihen Heiligen und altheidnifhen Göttern darjtellt. In derjelben
Kapelle befindet fich das Grab eines Chouansführerd. Der Grab:
ſchrift, welche Namen und Thaten des Verewigten enthält, it
ein höflihe8 „Un De profundis s’il vous plait“ hinzugefügt.
Mir mußten über diefe höfliche Bitte des Todten lächeln, haben
aber jeitvem das 8. v. p. auf vielen Leichenfteinen wieder ge:
funden.
Die Umgegend Quimperlé's ift noch heute die Heimat vieler
Volksdichter; aber wir waren nicht jo glüdlih, au nur Einen
derjelben fennen zu lernen. Der Berfaller des Volkslieds:
448 Wanderungen durch celtiſches Land.
„Die vergangene Zeit,” das viel gefungen wird, war feit meb:
teren Monaten als Wilddieb in Haft. Herr von Villemarqué,
der das Lied in feine ausgezeichnete Sammlung aufgenommen,
gibt fih alle Mühe, den gefeflelten Dichter zu befreien, mas
ihm in diefem Augenblid hoffentlich gelungen fein wird. Eine
Bäuerin, melde der erwähnten Sammlung das jüngjte Kind
bretoniijher Mufe, ein unendlich lieblihes Liebeslied, „vie
Schwalben,“ geliefert, trafen wir nicht zu Haufe. So mußten
wir ung mit dem profaifchen Volt begnügen, das wir in ſehr
großer Anzahl auf dem Viehmarkt verfammelt fanden. ES war
mehr al3 projaifh, ad, es war unendlih ſchmutzig. Doch fand
man unter den Männern überaus ſchöne Gefichter und Geftalten;
bei ven Weibern ganz das Gegentheil. Was uns an den Män:
nern mißfiel, waren die ungeheuren Pluderhojen, die fo tief ala
möglih und nur durch einen einzigen Knopf befeltigt waren, jo
daß man jeden Augenblid eine fchredliche Kataftrophe, nämlich
das gänzlibe Sinfen verjelben, befürdten mußte. Die Bauern
felbft jcheinen von diefer Furcht befeelt, denn ununterbrochen
ziehen fie rechts und links an den haltlofen, um fie nur an bie
äußerften Gränzen der Anftändigkeit zu bannen. Wenn man
bedenkt, daß dieſes Volk auf diefe Weiſe nun jeit zweitaufend
Sahren die Hälfte feiner Zeit verliert, jo begreift man, daß es
in Bildung und Gelehrfamfeit nicht weit fommen fonnte. Sn:
deſſen nahmen fie fich doch ganz hübfch aus, wie fie, vom Marfte
heimkehrend, auf ihren Pferden faßen, jeder fein Weib oder jein
Liebchen vor ſich im Sattel haltend.
Den Abend verbradhten wir in der liebenswürdigen Familie
des Herrn von Billemarque, Er zeigte ung die urfprünglicfte
Sammlung feiner Bollsliever, „Barzaz-Breiz,* im Manuffript,
mit allen Barianten, wie er fie in den verfchievdenen Gegenden
gefunden, mit Noten und Anmerkungen, vie ſich auf den Ort
der Auffindung oder auf die Berfon bezogen, die fie ihm mit:
getheilt, und wir fonnten uns aus dem Charakter des Manu:
ſtripts überzeugen, daß es eine leere Erfindung war, eine
Wanderungen durd celtiſches Land, 449
unbegründete Vermuthung, die aus Hrn. von Villemarque eine Art
von „Macpherfon“ machen wollte. In unfer Hotel zurückgekehrt,
wollten wir das Gefhäft des Herrn von Villemarqué fortjegen,
indem wir zwei reiche Bauernmäddhen, die fih der Bildung wegen
in der Stadt aufhielten und deren Stimmen ung gerühmt wurden,
zum Singen bringen wollten. Aber e8 war nicht möglid, aus
diefen bildungsfüchtigen Bäuerinnen, trog allen Bitten und Vor:
ftellungen, auch nur Ein einziges Volkslied hervorzuloden. Umfonft
faßen wir mit unfern Tafchenbüchern da, ih, um die Worte,
mein mufifalifher Reifegefährte, um die Noten aufzuzeichnen.
Nach langem Bitten ftimmte endlich die Eine an, und da fam
eine widerliche Arie aus der „Tochter des Negiments” zum Vor:
ſchein. Die ländlichen Jungfrauen ſchämten fich ihrer heimischen
Poefie und meinten, wir wollten uns über fie nur luftig machen.
So lernten wir die Herkulesarbeiten Arnims, Brentano’3, der
Brüder Grimm und Villemarque’3 würdigen.
Ohne die geringite poetifhe Ausbeute wanderten wir am
frühen Morgen durch eine lachende, aber an Dörfern arme Land»
Ichaft weiter nad) dem reizenden und ruhevollen Städtchen Pon—
taven, am Bache Aven, der fich hier plößlich fo ausbreitet, daß
er die Fluth bis an die Mauern des Städtchens heran fommen
läßt und ſelbſt größere Küftenfahrer bis hieher tragen kann.
Dennoch ift er in feiner Kleinheit oberhalb der Stadt bedeutend
malerifcher. Da windet er fih dur ungeheure Felsblöde, von
denen mehrere fehr pittoresfe Mühlen tragen. Der eine diejer
Felfen hat die Form eines ungeheuern Schuhs; auch nennt man
ihn den „Schuh des Gargantua.” Das Märchen vom Rieſen
Gargantua ift in diefen Gegenden älter als Rabelais’ Noman.
Hinter Pontaven bogen wir von der Straße ab, um die
Nuinen des Schlofjes Nuftefan oder rother Stefan zu befihtigen.
Bon diefem Schlofje, das Einige der Königin Blanche von Ka:
ftilien zufchreiben,, ift nicht mehr viel übrig; Wiefen und Frucht:
bäume find bis in fein Innerſtes vorgedrungen; nur die vier
Mauern des Hauptgebäudes, in der Mitte ein großer Thurm
Morig Hartmann, Werke. Ill. 29
450 Wanderungen durch celtiſches Land.
mit gothifchen Verzierungen und an jeder Ede ein Eleines
Thürmchen ftehen noch aufrecht. Der unterite Saal, ganz zer:
brödelt, dient einem benachbarten Bauern als Scheune und
Tenne. Man erzählt, daß, al3 der Hauptthurm zufammen ſtürzte,
die ganze Umgegend fo erjchüttert wurde, daß die Einwohner
des nahen Dorfs Nizon an ein Erdbeben glaubten, und daß die
Kirhengloden zu läuten anfingen. Uns intereflirtte dag Schloß
Auftefan als Schauplag der ſchönen Volfsballade „Genoveva
von Ruſtéfan,“ welde von dem Unglüd und dem Tode eines in
einen jungen Prieſter verliebten Evelfräuleins in fehr traurigen
Worten erzählt.
„Ah, Jannick,“ ruft fie dem abziehenden Jüngling zu, der
binzieht, um die Weihe zu empfangen, „ac, komm zurüd, und
ich gebe dir all mein Gut! Jannid, mein Freund, fomm zurüd,
und ich folge dir, wohin du gebt, und ich werde Holzſchuhe
tragen und mit dir zur Arbeit gehen. Doc hörft du meine
Bitte nicht, fo bringe mir die legte Delung.” Und der junge
Priejter antwortete: „Leider darf ich dir nicht horchen, denn ich
bin an Gott gebunden; feſt hält mich die Hand des Herrn, und
ih muß zur Weihe gehen.”
Der Pla vor Ruftefan war ehemal3 der Tanzplag des
Dolls; aber die Tänzer haben ſich von da zurüdgezogen, als fie
einmal um Mitternaht am Thurmfenfter die feurigen Augen
und das gejhorene Haupt eines Priefters jahen, und als fie
ih in den großen Saal flüchteten, fanden fie daſelbſt eine
ſchwarz bedeckte Todtenbahre, von brennenden Kerzen umgeben.
Oft um Mitternacht fieht man auch ein ſchönes Evelfräulein in
alter Tracht, wie es um das Schloß wandelt und ſingt und weint.
Jenſeits des Dorfes Nizon erſtreckt ſich wohl konſervirt in
urjprünglichiter Gejtalt und voll von Druidendenkmälern der
Wald Lufu, welchen man für den eigentlichjten Schauplag der
Goethe'ſchen „eriten Walpurgisnacht“ halten könnte; denn diejer
Wald, — deſſen Namen fo viel bedeutet wie „Geheimniß oder
Zauber” — mar die legte Zufluchtsftätte der Druiden, in welchem
Wanderungen durch celtiihes Land. 451
fie, von den chriſtlichen Miſſionären und ihren Jüngern be:
lagert, allerlei Zauber und Speftafel aufführten, um die Ver:
folger abzumehren und ihre Opfer und Gebete in Ruhe aus:
führen zu können.
Ein intereffanter Druidenftein findet fich hart an der Land:
ftraße, in der Nähe des Dorfes Tregunc, denn er wurde in
alten Zeiten gebraudt, um Gottesurtheile auszuſprechen. Vor
ihn wurden bie der Untreue angellagten Frauen geführt, und
wenn fie den ungeheuren Felſenblock mit Einer Hand in Be:
wegung jegen konnten, jprachen fie die Priefter frei. Wir hoffen,
daß bei den alten Celten dieſer Gegend auch nicht eine einzige
Frau wegen Untreue verurtheilt worden, denn wir leben der
fejten Weberzeugung, daß ſich die Weiber ſchon einige Zeit vor
der Hochzeit in das Geheimniß des Stein haben einweihen
lafjen. Er iſt nämlich mit einem vorjpringenden Ende auf einen
andern, aus dem Boden mit einer Spite hervorragenden Stein
im Gleichgewicht jo aufgelegt, daß ihn auch ein Kind, wenn e3
ihn nur am rechten Flede faßt, in zitternde Bewegung verfegen
kann. Auch beißt der Stein „der zitternde Stein.” Das Dorf
Tregunc, das diefen harten und doc jo nachgiebigen Richter
weiblicher Ehre befikt, rühmt fich noch eines andern Schatzes:
eines gothiſchen Kirchleins, das in feiner Art ein vollenvetes
Kleinod ift und würdig die Reihe jener ſchönen Dorffircen er:
öffnet, die wir am Eingang dieſes Kapitel3 erwähnt haben.
Wir waren in einem jchönen und romantifchen Lande;
rechts und linf3 von der Straße mwohlbebauete Felder, Ginjter:
ftauden, Baumgruppen, dunkle Haine und von Zeit zu Zeit
gegen Welten ein Blid aufs blaue Meer. Aber das ntereflan:
tefte war ung für den Abend viejes Tages aufgefpart: ich meine
die Heine Feſtung Concarneau, die in einer Heinen Bucht der
großen Bay de la Foreft, umgeben won Seewafler, auf einem
Felfen liegt, welcher in der Länge nicht mehr als vierhundert,
in der Breite höchſtens hundert Schritte hat. Nicht ganz am
Rande dieſes Steins laufen die uralten diden Feftungsmauern
452 Wanderungen durch celtijches Land.
aus Quaderjteinen mit vorjpringendem Parapet, Machicoulis
und bald vieredigen, bald runden Thürmen hin. Die kleine
Feſtung mitten im Seewafjer überrafcht beim erjten Anblid
und fieht ganz fabelhaft aus; ungefähr jo, wie man ſich ein
Dardanellenihloß vorjtellt. Auf einer Fähre gelangten wir an
ven befeftigten Stein und an das Thor, zu dem in den Granit
gehauene Treppen hinanführen. Nicht minder überrajhend, als
das Aeußere, it das Innere der Kleinen Stadt. Auf dem engen
Naume drängen fich die Häufer und darunter viele uralte gothifche
und zwei mittelalterlihe Kirchen dicht an einander. Bor den
Häufern figen Frauen, Mädchen und Kinder und ftriden und
fliden Nebe, während die männliche Bevölferung, ganz aus
Sardinenfifchern beſtehend, fich in ſechshundert Barken auf offe:
nem Meere herumtreibt. Vom Giebel der Häufer bis herab auf
das Pflafter, ja von Giebel zu Giebel über die Gafjen hin, und
jelbjt über die Feltungsmauern bis hinab ans Meer, find Netze
ausgeſpannt, daß es augfieht, ald ob vie alte Stadt vergeſſen
und verlafen, won irgend einer fabelhaften Spinne mit Einem
großen Gewebe überzogen worden wäre, Die wenigen Artilleri:
ften, melde die Befagung der alten Seefeſtung bilden, nehmen
fich unter diefem großen Netze auf den alten Befeſtigungen ganz
anachroniſtiſch aus.
Wie Hein auch dieſer befejtigte Stein fei, jo hat er doch in
der Gejhichte der Bretagne eine hübjche Rolle gefpielt. Ber:
trand du Guesclin hat ihn im Sturm genommen und wie einen
Opferjtein mit dem Blute der ganzen engliſchen Beſatzung ge:
färbt. Später eroberte ihn der Vicomte Rohan, aber am In—
terejlanteften ift er zur Zeit der Ligue. Wir wollen die höchft
merkwürdige Epifode des Bürgerfrieges bier fo mittheilen, mie
fie der Kanonikus Moreau in feiner handfchriftlihen Chronik er:
zählt und mie fie Freminville aus dem Manuftripte abfchreibt.
Dod bitten wir den Lefer, nicht zu vergeflen, daß der Erzähler
des Neligionskriegs ein Kanonilus ift:
„Soncarneau wurde am 17. Januar 1576 eingenommen
Wanderungen dur celtifches.Land. 453
und wieder übergeben am 22, defielben Monat3 Januar. Man
fagt, daß diefer befeftigte Pla nicht? Anderes war, als der Zu:
fluchtsort für Diebe und Galgenftride, daß, wenn Jemand feinen
Nachbar ermordet oder einen Diebjtahl begangen, ein Mädchen
oder ein Weib geraubt, er fih nad) Concarneau geflüchtet habe.
Diefer Pla wurde durch die ketzeriſchen Kalviniſten, Evelleute
des Landes, ungefähr dreißig an der Zahl, und geführt dur
die Herren de la Vigne, de la Houlle und Kermafjonnet, über:
raſcht. Aber der erſte Anftifter war befagter Kermafjonnet,
welcher befagten de la Vigne, einen moralifhen und wohlvenken-
den Mann, wenn man feine Religion ausnimmt, auf feine
Seite 309g. — Zu diejer Unternehmung gehörten auch Die von
La Rochelle, welche fich alle zu der befagten Religion bekannten,
und welche Hülfe bereit hielten, um fie abzuſchicken, ſobald man
die Wegnahme ver Stadt erfahren. An dem zur Ausführung
beftimmten Zage näherten fie fich bis auf zwei oder dreihundert
Schritte dem Hauptthore an der Abendjeite von Concarneau
und hielten ſich hinter alten Häuſern verjtedt; und wohl wiſſend,
daß gewöhnlich nur ein over zwei Mann und meiſt nur der Thor:
wärter, wa3 an jenem Tage der Fall war, Wache hielt, Tießen
fie einen ihrer Bewaffneten bi3 an das Thor vordringen, welcher
Bewaffnete den Hauptmann zu fprechen verlangte. Der Thor:
wärter fagte ihm, der Hauptmann fei nicht da; da jprang der
Reiter vom Pferde auf die Zugbrüde, worgebend, daß er ihm
Briefe zu überreichen habe, und allerlei Papiere aus der Taſche
ziehend, ließ er eines auf den Boden fallen, erwartend, daß e3
der Thorwächter vienjtfertig aufheben werde, was auch geſchah;
denn wie er ſich darnach büdte, zog der Reiter ſchnell einen Dolch,
ftieß ihn dem armen Thorwächter in die Rippen und tödtete
ihn, ohne daß er einen Seufzer ausftoßen fonnte. Die gethan,
gab er den Zurüdgebliebenen ein Zeichen, welche jchnell, ohne
Widerſtand, herbeifpringen, einziehen, fih ohne Blutvergießen zu
Herren des Platzes machen, die Thorſchlüſſel ergreifen und die
Einwohner ins Gefängniß fegen, einige wenige ausgenommen,
454 Wanderungen durd) celtifhes Land.
weil die Anführer in ihren Häufern wohnten, Dieß war eine
wahre Zulafjung Gottes; denn daher fam ihr Unglüd und gänz-
liche Vernichtung und die Befreiung des Platzes. Die Hugenotten,
nun Meijter der Stabt, ordnen, was fie für nöthig hielten, richten
die Kanonen, machen Kugeln, Pulver und andere Dinge bereit
und bejejtigen die ſchwächſten Punkte; ftellen Tag und Nadt
überall Wachen aus und fenden zu Meer Eilboten nah La
Rocelle, um ihre Brüder in Chrifto, fo nannten fie fie, von
dem Erfolg ihrer Unternehmung zu benachrichtigen. Sie baten
außerdem injtändigft, ihnen Hülfe zu ſchicken, die jehr noth—
wendig, da fie, nur dreißig waffenfähige Männer, ſchon durch die
Gemeinden belagert jeien. Das war richtig; denn fie waren
faum eingezogen, als man in allen Sprengeln die Sturmglode zu
läuten anfing, fo daß zwei Stunden fpäter ver Platz von der Bevöl:
ferung, achtkauſend Mann an der Zahl, und von vielen vom Adel
umzingelt war. Auf diefe Art fonnte der Feind Tag und Nacht
nicht aus der Stadt, al3 zur See, und dieß auch nur bei Nacht
und mit großer Gefahr, um jo mehr als ihr Thor den Arkebujen
ausgejegt war. Nach angebrodhener Nacht gaben Die draußen
Alarm, um die Belagerten zu ermüden, welche in jo Kleiner
Zahl nicht ausruhen konnten. Denn bald glaubte man eine Er:
Himmung der Mauern, bald daß man an das Thor Feuer legen
wollte. — So waren fie gezwungen, fortwährend unter den Waffen
zu jein, und trog ihrer großen Wachjamleit wäre man in ber
zweiten Nacht eingedrungen, wenn die Leitern nicht zu kurz geweſen
wären. Die Belagerten, da fie in der Nacht nicht jchlafen
fonnten, verwandten dazu den Tag und ließen dann nur Schild:
wachen auf den Mauern.”
Der Kanonikus Moreau erzählt weiter, wie noch die Stadt
Quimper unter Anführung de3 Herrn von Pratmaria den Bes
lagerern ſtarken Sukkurs fhidte und daß man den Herrn de la
Vigne mit einer großen goldenen Kette, die dreimal um feinen
Hals ging, oft auf den Stadtmauern fah, und fährt fort:
„Die Belagerung dauerte auf diefe Weife vom 17. bis zum
Wanderungen dur celtifches Land. 455
22. Januar. Da gab e3 einen jungen Mann zu Goncdrneau, bei
welchem Herr von Kermaflonnet mit einigen Andern wohnte und
der bewegen nicht wie die andern Einwohner eingefperrt worden
war. Er hieß Charles Le Bris, Kaufmann aus Quimper, und
wie er einmal in fein Haus zurüdfehrte, fand er dafelbit den
bejagten Herrn von Kermafjonnet und einen andern Edelmann,
welche ſich in ihren Kleidern auf das Bett geworfen hatten und
im ſichern Schlummer lagen, weil fie die ganze Nacht gemacht
hatten. Sie hatten nur ihre Degen und Gürtel mit den Dolchen
auf den Tiſch neben dem Bette gelegt. Beſagter Kermafjonnet
batte die Thorfchlüfjel in einem Bunde um feinen Arm, daß es
unmöglich oder gefährlich war, fie ihm, ohne ihn zu weden, weg:
zunehmen. Der junge Mann erwog, wie elend die Stadt und
das Land wären, ſowohl in Beziehung auf die Religion, als in
Rückſicht auf die Ehre und die Mittel, wenn dieſe Leute da ver:
blieben, und wie ſchwer es jein müßte, fich ihrer zu entledigen,
wenn die erwartete Hülfe aus La Rochelle anläme; er erwog
ferner die Schöne Gelegenheit, dem Lande einen ausgezeichneten
Dienft zu leijten, fo wie, daß die Andern alle ſchliefen, ausge:
nommen die Schildwachen auf ven Mauern, und daß Niemand
in der Straße war. So beſchloß er denn, eine That der Ehre
und de3 Muthes auszuführen, und er ging hin und nahm die
beiden Doldhe der beiden Schlafenden und ftach fie beide in die
Bruft, und Stoß auf Stoß führend, tödtete er Beide, ohne daß
fie Zeit hatten, auch nur einen Schrei auszuftoßen. Nun. die
Beiden todt, nimmt Le Bris die Schlüffel und wandert die
Straßen entlang, al3 ob nicht3 vorgefallen wäre, dem Haupt
thore der Stadt zu, um fie den Belagerern zu öffnen. Wie er
fo hinging, war ein Soldat auf den Mauern, welcher feine Aufs
regung bemerkte und dachte, daß er etwas zu ihrem Schaden
unternehmen wolle, weßwegen er fich oben auf der Mauer dem
Thore näherte. Befagter Le Bris näherte fih in Eile und der
Soldat au, dann fing er an zu laufen, ſchwitzend und keuchend,
um das Thor zu öffnen, und der Soldat, um ihn daran zu
456 Wanderungen durch celtifches Land.
verhindern, dag nadte Schwert in der Fauft und Verrath! rufend.
Über die Mauer war an der Stelle, wo der Soldat herabjteigen
wollte, jehr bob, und da er die Schlüfjel in den Händen des
bejagten Le Bris jah, that er den gefährlichen Sprung und warf
fih von der Höhe der Mauer hinab auf das Pflafter, und war
e3 wie ein Wunder, daß er nicht den Hals gebroden; er that
ſich fein Leid, das ihn verhindert hätte, fich ſchnell zu erheben,
und er lief zum Thore, hoffend, Le Bris zuvor zu fommen, und
er wäre bei Zeiten angefommen, wenn nicht zum Glüde und
dur eine bejondere Gnade Gottes der erſte Schlüflel, den Le
Bris, welcher die Schlüjfel des Thors nicht kannte, verfuchte, der
rechte gewejen wäre, und ſobald er ihn drehte, fiel die Zugbrüde,
und das Thor öffnete fih. Le Bris lief hinaus, die Belagerer
rufend und den Soldaten hinter fih, welcher ihn außerhalb des
Thores verfglgte, das Schwert falt in feinen Rippen, und welcher
nicht zu fterben fürdhtete, wenn er nur Jenen tödtete. Und in
der That lief er jo weit, daß er ſich umzingelt ſah, und da er
nicht vor und nicht zurüd konnte, warf er fih in den Schlamm
auf der Seejeite, wo er getödtet wurde und wurde die Stadt auf
dieje Weife genommen, den 22. Januar 1576. Die Feinde, welche
theil3 auf der Mauer, theils eingefchlafen waren, wurden alle
getödtet. Nachdem die Wuth der Eolvaten vorüber war, warfen
fie ih auf einen Diener des Herrn de la Vigne, welcher noch
allein übrig war und welchen man aus der Stadt bradte, um
ihn zu erfchießen. Und als man ihn hinführte, hörte er den Herrn
von PBratmaria nennen, und er fragte, ob diefer Herr da wäre.
Die ihn gefangen hielten, fagten Ja. „Laßt mich zu ihm ſprechen,“
jagte er, und wie er vor ihn geführt wurde, flüfterte er ihm leije
zu: „Wenn Ihr mir das Leben retten könnt, will ic Euch jos
gleich die goldene Kette des Herrn de la Vigne verfchaffen.” Der
Herr von Pratmaria fagte ihm, daß er wohl feinen Tod verhüten
werde, und befagte goldene Kette wurde ihm ausgeliefert. Und
er jhidte den Diener an das Parlament von Rennes, wo er
ſechs oder fieben Monate fpäter hingerichtet wurde.”
Wanderungen durch celtifches Land. 457
Nach diefer merkwürdigen Begebenheit, die an die Belage:
rungen ſchottiſcher Schlöfjer unter den Douglas und Stuarts er:
innert, wurbe Lezonnet, der tapfere Priefter, Kommandant der
nunmehr fatholiihen Bejagung. Er übergab die Stadt ohne
Zaudern, al3 Heinrih IV. den Proteftantismus abſchwur und
leiftete diejem gegen die Ligue, namentlich gegen die jehr ligui—
ſtiſche Stadt Duimper, große Dienfte.
Der Art Erinnerungen werden beim Anblid diejer Kleinen
Feſtung fo lebendig, daß die Phantafie unaufpaltfam in hifto:
rifche Zeiten zurüd fchweift und man für den frijch waltenden
Neiz der Gegenwart blind wird. Dennoch, al3 wir genug auf
den Wällen umber gewandelt, ruhten unfere Augen mit Ber:
gnügen bald auf dem ſchönen Thale, durch das ein Fleiner Bad)
dem Meerbufen zueilt, bald auf der Heinen Bucht, die von Hun—
derten von Filcherbarfen bededt war. R
Bergauf und bergab, erit vom Meere begleitet, dann von
einem prächtigen Wald ſchön befränzt, führt die Straße fünf
Stunden weit nordwärt3 in die Hauptjtabt des Departements,
nad) dem alten Quimper:Gorentin, einer der Städte, von denen
die Sranzofen, wie wir von Nürnberg, gerne närrifche Geſchichten
erzählen; vergleihen Gewohnheiten eines Volks haben wohl ge:
wöhnlich ihre Urſachen mehr in dem Volk, das die Narrheiten
erzählt, 'als in der Stadt, von der ſie erzählt werden. Quimper
hat eine ganz ernſte, theilweiſe ſogar ſchauerlich fanatiſche Ge—
ſchichte; ſeine Einwohner haben ſich viele Jahre überaus tapfer
und ausdauernd erwieſen; es hat auch nicht eine einzige Epiſode
in ſeinem tauſendjährigen Leben, die es lächerlich machen könnte.
Dennoch machen ſich die Franzoſen über dieſe Stadt eben ſo luſtig,
wie über das höchſt ehrenwerthe, ſpekulative, hoch aufſtrebende
Marſeille. Das kommt wohl daher, daß die Franzoſen alles ihnen
Fremde mißverſtehen und lieber das Mißverſtandene verlachen,
als ſich darüber aufklären.
Die größte Lächerlichkeit, die man Denen von Quimper—
Corentin vorwerfen kann, iſt wohl die, daß ſie den Namen ihrer
458 Wanderungen durd celtifhes Land.
Stadt gerne von Chorinäus, einem aus Troja entwifchten Helden,
berleiten, während der Name Gorentin erjt im fünften Jahr:
hundert zu Ehren des erften Bifchof3 und Apoſtels diejer Gegend
binzugelommen und der Name Quimper einfach won dem celti-
ſchen Kymper, d. h. Zufammenfluß, abftammt. Die Stadt liegt
nämlich) an der Vereinigung des Odet und des Eir, welche beide
Flüffe, unterhalb derfelben in einem ſchmalen Meerarm zufammen
treffend, mit grünen und überaus üppig befchatteten Ufern das
alte Quimper aufs Schönfte einrahmen. Der Hafen, auf dejien
breiten Quai3 die Promenaden auslaufen und fich mit riefigen
Bäumen großartig ausdehnen, ift nicht3 Anderes als das legte
Ende des langen Meerarm3, welcher ſchwere Schiffe bis an die
Stadtmauer herauf führt. Dort, und wo die beiden Flüfle hart
an den alten Feſtungswerken oder den bemoosten Häufern vor:
über ziehen, gehört Quimper zu den malerifchiten Städten, die
e3 gibt. Da finden fih Winkel, die, rein photographiſch aufge:
nommen, die vollendetjten Kunſtwerke liefern würden. Dort warn:
verten wir bei Sonnenaufgang und Untergang umber, und es
fojtete uns jedes Mal einige Meberwindung, in die innere Stadt
zurüd zu kehren, welche nur wenig zu bieten hat und, troß der
fonderbaren Trachten ihrer Bewohner und der Landleute aus der
Umgegend, bald langweilig wird. Das beveutenpfte Gebäude
derjelben ift die Kathedrale, die größte der Bretagne, gothiſchen
Styl3 und auf den Ruinen einer älteren Kirche im fünften Jahr:
hundert aufgeführt. Sie zeichnet ſich dadurch aus, daß ihre Achſe
nicht gerade durch geht und daß das Außerfte Ende der Abfive
nicht dem Portale gegenüber liegt, die Achſe weicht im Chor gegen
die rechte Seite bedeutend ab. Der Architeft hat ſich hier nicht
das Kreuz felbit, fondern den Gefreuzigten zum Mufter genommen
und die nad) der rechten Seite geneigte Abfide jol das geneigte
Haupt des Heilands vorftellen. Uebrigens ſteht diefe architekto:
niſch myſtiſche Sonderbarkeit nicht allein da; die Kathedrale von
Quimper hat fie mit mehreren andern, aus derſelben Zeit ftam:
menden Kirchen Frankreichs gemein. Die Facade ift, wie beim
Wanderungen durch celtifches Land, 459
Kölner Dom, von zwei ſtarken Thürmen eingefaßt, und über das
reich gefhmüdte Portal läuft eine Baluftrade hin, auf welcher
ebemal3 die Reiterjtatue des Königs Grallon oder Gradlon ftand,
welcher nad) dem Untergang feiner Hauptjtadt Is der eigentliche
Gründer von Quimper wurde. Die Thürme wurden, man könnte
faſt jagen, wie natürlich bei einer gothiſchen Kirche, nicht vollendet.
Ehemals fand auf und vor der Kathedrale ein fonvderbares
Volksfeſt jtatt. An einem gewiſſen Tage beftieg ver Biſchof, ge:
folgt vom ganzen Klerus und der Munizipalität, die Platform,
wo Hymnen gefungen und große Mufifftüde ausgeführt wurden,
Mährend deſſen ftieg ein Stabtfolvat, eine Flafche in der einen,
ein Glas und eine Gerviette in der andern Hand, auf das Pferd
de3 Königs Oradlon, Er goß das Glas voll und bot e3 dem
bronzenen König an; da diefer aber nicht tranf, leerte er es
felber und mwifchte vem König den Mund mit der Serviette. Hier:
auf warf er das Glas unter die vor der Kathedrale verfammelte
Menge. Der Glüdliche, dem es gelang, das Glas in der Luft
aufzufangen, ohne daß e3 in Stüde ging, erhielt vom Biſchof
eine Belohnung von fünfhundert Frants. Das Felt wurde damit
bejchloffen, daß man dem König Gradlon einen —— in
die Hand ſteckte.
Einen netten Gegenſatz zur Kathedrale bildet die Kirche St.
Mathieu, ganz im Style und in der Größe jener Heinen Dorf:
firen, von denen wir ſchon gefprodhen haben. Ihr Dad kann
vielleiht ein Großgewachſener mit der Hand erreihen. Alle
Gebäude, die fie umgeben, ftehen, was ihre Größe betrifft, im
rechten Verhältniß zu ihr. Wir glaubten uns auf diefem Plate
auf dem Forum der Liliputer zu befinden.
Die Umgegend von Quimper ijt reiher an alten Gebäuden,
al3 die Stadt ſelbſt, wir nennen nur das alte Schloß de la Foret,
mit feinen diden Thürmen am Ufer des Odet; das Schloß Coat-
bily, in der Mitte einer reich bebufchten Landſchaft; das Herren:
haus Kerdur, ganz in der Nähe deſſelben, mit zwei Thürmen,
einer Kapelle und malerifhen Zinnen; die Burg Kerhinet, und
460 Wanderungen durch celtiſches Land.
enblih das uralte Pullinan, welches König Grallon bewohnt
haben foll, und das in der That noch einiges Mauerwerk befigt,
das aus dem fünften Jahrhundert ftammen fünnte Von Kirchen
und Kirchlein, die über die ganze Umgegend ausgeſtreut find, wollen
wir bloß die Kleine gothijche Kirche der Mutter Gottes erwähnen
und die Nefte einer befeftigten Kommanberie der Tempelberrn,
die das Volk „ven Tempel der falihen Götter” nennt, melde
Bezeihnung wohl von den Vorjtellungen berrührt, die man ſich
von dem geheimen Treiben der TZempelheren machte. Bis zu ihrer
Vernichtung durch Philipp den Schönen waren fie in der Bretagne
eben jo mächtig und reicher als heute die Sefuiten; aber nad
ihrem Falle, da man fie zu fürchten aufgehört, dichtete ihnen das
phantafievolle bretonijhe Volk alle mögliche Teufelei an, und
die Ueberrefte ihrer MWohnhäufer werden heutzutage nur mit
Grauen betradtet. Darauf deutet auch der Name eines andern
Schloſſes der Tempelherrn, in der Nähe von Quimper; man
nennt e3 „die Wohnung des Wiſſens oder der geheimen Willen:
ſchaft“ (Kergujel), mas fo viel jagen will, als: Zauberei. Und
in der That fieht das alte Haus arabijchen Styl3 wie eine Her:
berge von Adepten, Nekromanten und Taufendkünftlern aus.
So reih an Ruinen oder mohlerhaltenen Gebäuden des
Mittelalter3, ja jelbjt ver alten Zeit (denn auch hier fanden wir
wieder viele Druidenfteine) ift die Umgegend von Duimper, daß
wir nad) zweitägiger Wanderung matt und überfättigt von Ruinen
in die Stadt zurüdkehrten, voll Sehnſucht nad) dem großen Ozean
und nad dem Schaufpiele, das uns Neifebücher und Freunde
an der jchredlihen Pointe du Raz verſprachen. Dorthin, als
nad) dem Klimar unferer Reife, machten wir ung, an einem ſchönen
Sonntagsmorgen, das Herz voll Erwartung, auf.
IV.
Die Halbinfel von Plogoff zwifhen den Golfen von Aubierne und Douars
nenez. — Ponteroig. — Der Ligueur La Fontenelle — Audierne. — Blutegels
teih. — Der Camao. — Plogoff, dad Dorf ber Fährleute der Todten. —
Sagen und religiöje Anfihten. — Volkslieder über Paradied und Hölle. —
Die Pointe du Ray, die Klippen, bie Hölle, die Bai des Trepaſſes. — Die
Sinjel Sein. — Die verfuntene Stadt 38 oder Kerid. — Wanderung durchs
innere Land; fein Charakter, feine Zuftände. — Douarnenez. — Sardinens
fang und Handel, — Die Inſel Triftan und Fontenelle.
Mir hätten unmöglih einen befferen Tag wählen können,
denn das Land, das aus ftrogender Ueppigfeit bald wieder in
öde Heide überging, hätte uns eben jo wenig gefallen, als vie
politilchen Geſpräche des Advokaten und des Zöllners, die mit ung
im Wagen faßen, wenn e3 nicht überall auf das Schönfte von
den nah den Kirhen in allen Richtungen hinwallenden Sand:
leuten belebt gewefen wäre. Unzählige Pilger wanderten durch
die rothe Erika, auf vielgefchlungenen Pfaden, die Hüte mit
wilden Blumen gefhmüdt; andere famen uns auf der Landitraße
entgegen, Mann und Weib auf Einem Pferde figend, manchmal
Mann, Weib und Kind; oft trug ein einziger Pferverüden drei
Männer, daß wir auf das Lebhaftefte an die Haimonskinder er:
innert wurden. Dazu hallte aus den unzähligen gothiſchen Kirch
lein von allen Seiten, durch den beitern, fanft vurchfeuchteten
Morgen, dörfliches Sonntagsglodengeläute zu ung herüber, fo
daß jelbjt der Advokat andächtig geftimmt wurde und feine Plai:
doyers für die Stadt Duimper einftellte. Bor Douarnenez wurde
ber Weg plöglich wild und romantifh. Das Land hügelt fich;
462 Wanderungen dur celtifches Land.
die Kirchen, unter andern die in Liedern viel befungene von
Ploare, bliden von bedeutenden Erhöhungen herab; in Der Ferne
gegen Welten erheben fich ſchroffe Felswände, die fih bald als Ufer
de3 herrlichen Golfes von Douarnenez ausbreiten. Jn Douarnene;
hielten wir uns dießmal nur wenige Minuten auf, angeſtarrt von
den Bauern, die an fremde Gefichter nicht gewöhnt find, und
eilten auf jehr freundlicher Straße an einem ganz einfamen Kirch—
lein und einem großartigen gothiſchen Maujoleum, mitten im ver
Einfamfeit der Heide, vorüber, bergauf und bergab, nach Pont:
croir, und jo befanden wir ung auf jener höchſt merfwürdigen
Landzunge, zwijchen den Golfen von Douarnenez und Audierne,
welche die weſtlichſte Spite Franfreih3 ift und in dem fchauer:
lihen Kap der Pointe du Raz endet.
Die Heine Stadt Bontcroir befigt eine gothiſche Kirche, die
Ah dur ihre Schönheit unter all den Heinen gothiſchen Kirchen
der niedern Bretagne auszeichnet. Aber Shön mie fie ift, erinnert
fie auch an eine der [heußlichften Thaten des Krieges der Ligueurs
und an einen jeiner verabjcheuungsmwürdigiten Parteigänger. La
Fontenelle oder auch Fontenelle, der Ligueur, war eines der furdt:
barjten Ungeheuer, die jemals ein Religionskrieg mit Blute gro
gefäugt. Guy Eder de la Fontenelle war ein jüngerer Sohn des
Haufes Beaumanoir, deſſen Ahnherr fich in der Schlacht der Dreifig
jo jehr auszeichnete. Der Kanonikus Moreau in feiner Chronik
der Ligue erzählt von ihm: „Als er zu Paris, wo ich ihn im
Jahre 1587 gejehen, Schüler war, gab er ſchon Anzeichen feines
künftigen verderbten Lebens, indem er mit feinen Genofjen ewig
im Streite lag. Im Jahr 1589 verkaufte er Bücher und Schul:
Heid, jchaffte fich für das gewonnene Geld einen Degen und einen
Dolch, floh aus ver Schule, um die Armee des Herzogs du Maine,
des Hauptes der katholiſchen Partei, aufzufuchen, und kehrte nad)
der Bretagne zurüd. Fünfzehn bis jechzehn Jahre alt, mijchte
er fi) unter das für die Ligueurs bewaffnete Voll, das ihn gut
aufnahm, weil er aus gutem Haufe und ihr Landsmann war,
und ihm, ba er einen aufgewedten Geift zeigte, gerne gehordte,
Wanderungen durch celtifches Land. 463
Gefolgt von einigen Dienern feines ältern Bruders und andern
jungen Adeligen feiner Gemeinde, fing er an, die Fleden zu
plündern und Gefangene zu maden, ohne Rüdficht auf die
Partei.”
Der Kanonikus, parteiiſch für die Ligueurs, erzählt nicht,
wie Sontenelle bei jeder Gelegenheit auf die niederträchtigfte Weife
fein Wort brach, wie er Frauen und Mädchen entführte und aufs
Brutaljte behandelte, Hunderte von Dörfern in Brand jtedte und
an einem einzigen Tage, aus purer Graufamleit, 1500 Bauern
niedermegelte. Eine der jheußlichiten Thaten verübte er in Bont:
croir. Nachdem er die Stadt genommen und den größten Theil
der Einwohner niedergemacht, zog fi) der Kommandant derfelben,
Villerouault, der zum König hielt, mit den angefehenjten Ein:
wohnern in die Kirche zurüd. Auch diefe wurde genommen, und
die Belagerten verbarrifadirten fi, als in ihrer legten Zuflucht:
ftätte, im ſchönen gothiſchen Thurm, aus deſſen durchbrochenen
Verzierungen, wie aus Schießſcharten, ſie ein wohlgenährtes und
mörderiſches Feuer unterhielten. Fontenelle, der viele Leute ver—
lor, ohne den Thurm nehmen zu können, fing an, mit Villerouault
zu parlamentiren, verſprach ihm und Allen, die mit ihm waren,
freien Abzug und beſchwor die Kapitulation mit den heiligſten
Eiden. Der Kapitän, der ſeine Gattin bei ſich hatte, nahm den
Antrag gerne an; aber kaum hatte er die Thurmthüre geöffnet,
als ſich Fontenelle mit ſeinen Leuten auf ihn ſtürzte, ihn an einen
Kirchenpfeiler band und ihn zwang, ein Augenzeuge der größten
Scheußlichkeiten zu fein, welche die Ligueurs an feiner Frau ver:
übten. Hierauf ließ er den Unglüdlihen, zugleich mit einem
greifen Priefter, den er in der Kirche fand, auf dem Plage von
Ponteroix auffnüpfen.
Fontenelle endete, wie er es verdiente, zwar nicht als Ligueur
und Räuber ; denn als er einmal den Königlichen in die Hände
fiel, wurde ihm von einem geizigen Kommandanten für großes
Geld die Freiheit verkauft, und fpäter war er mit in die Amnejtie
begriffen, welche Heinrich IV. feinen erbitterten Feinden angedeihen
464 Wanderungen durch celtifches Land.
ließ. Aber Fontenelle konnte nicht ruhen und nahm Theil an
der Verfhmwörung des Marfhalld Biron und wurde zu Paris
auf dem Greveplage lebendig aufs Rad geflodten. Much das
Volkslied verurtheilt nit den Ligueur Fontenelle; es kennt ihn
bloß als eine Art von Don Juan, der reihe und ſchöne Erbinnen
entführt, und nennt ihn den jchönjten Jungen, Der jemals
Männerkleiver getragen. Bon den Erbinnen, die er entführt,
wird er nach dem Gedicht aufs Zärtlichjte geliebt, und mit feinem
Tode, den es überaus poetijch darftellt, hat e8 das größte Mit:
leid, und das Lied fchließt mit ven Worten: „Wer immer nad
Gaodelan (Schloß Fontenelle's) fommt, Dem wird daS Herz meh
thun; das Herz weh thun vor Kummer, wenn er ſieht, wie das
Feuer im Herd erlofchen ift, wenn er fieht die Neſſel wachen auf
der Thürfchmwelle und im Erdgeſchoß; im Erdgeſchoß und im Saale,
und wie die fchlechten Leute ſich da jo breit machen.”
Die Kirhe von PVonteroir wird, wie all die zahlreichen
fhönen Kirchen der untern Bretagne, vom Volle den Englänvern
zugefchrieben. Für diefe Behauptung ſpricht nichts, al3 die flade
Mölbung, welche diefe Kirchen mit der englifhen Gothif gemein
haben.
Der Weg zwiſchen Ponteroix und Aubdierne ift würdig, zwei
fo anmuthige Städtchen zu verbinden. Rechts zieht fih ſchönes
Hügelland, links der blaue Meeresarm bin, der aus dem Golfe
kommt und den Hafen von Audierne bildet: einen reizenden Hafen,
von prächtigen Dämmen, freundlichen Häufern, grünen Hügeln
und gewaltig hoch aufjchießenden Bäumen eingefaßt. Doc
liegen in feinem Schooße nur Heine Fiſcherbarken vor Anker;
größeren Edhiffen ift er unnahbar, denn an feinem Eingange be:
ginnt jener grauenvolle Kranz von Klippen und Riffen, der ji
um die Pointe du Raz bis an den Eingang der Bat von Douar:
nenez binjchlingt.
In Audierne beginnt das Ende der Welt, auf feinem Markt:
platze verſcheidet die civilifirte Landftraße ; feine Häufer find die
legten, die an die behagliche Wohnlichkeit unſeres gebilveten Welt:
Wanderungen dur celtifches Land. 465
theile3 erinnern. Nur wenige Schritte hinter Audierne, und wir
waren in der Wüfte, in einem pfablofen Lande, wo fo zu fagen
Alles aufhört, in einem Erdwinkel, den ich die Alten von cimme:
riſcher Nacht bevedt gedacht hätten. Ein Heiner Teich am Wege,
düfter und von Schilf eingefaßt, paßte zu der ganzen Landfchaft.
In feiner Mitte, an einen Pfahl gebunden, ftand ein unglüd-
feliges altes Pferd, welches Blutegelfiicherei trieb und Fifcher,
Lockſpeiſe und Angel zugleih fein mußte. Denn es wird nur
bingeftellt, auf dab ſich die Blutſauger an feine Beine hängen.
Ob diejes arme Pferd, das fein Leben lang treulich gearbeitet
batte, nicht dafjelbe Necht gehabt hätte, wie das perfische der
Sage, die Glode der Klage zu ziehen ?
Ueber den Sumpf bin flog der ſchöne bunte Vogel Pecheur
Martin, deſſen Bekanntſchaft ih fhon in den Sümpfen Langue—
docs gemacht hatte. Es ijt das derſelbe Vogel, der unter dem
Namen Camao da3 ganze Mittelalter hindurch in Spanien eine
große Rolle geipielt. In jedem Haufe, befonders in adeligen
Häufern, wurde ein Camao mit Sorgfalt gehegt und gepflegt;
denn er war ein Ehrenwächter des Hauſes. So lange er ji
wohl befand und im Käfig Iuftig hin und her jprang, wußte der
Ehemann, daß auf feiner Ehre fein Fleden haftete; kränkelte er
aber, oder ftarb er fogar, dann wußte man, daß die Ehre des
Haufe dahin war, und mander Eheherr wurde & la Don
Gutière der Arzt feiner Ehre. Von einem ſolchen Ereigniß und
dem Namen dieſes ehrebefhügenden Vogels foll der Familien:
namen Camoens hergeleitet fein.
Durch die MWüftenei des Plateaus, zwifchen rohen Stein:
mauern, welche kümmerliches Erdreic zufammenhalten und Saat
und Scholle gegen den Nordwind ſchützen follen, weiter mans
dernd, kamen wir nad) Blogoff, dem öſtlichſten und legten Dorf
diefer Gegend, dem Dorf der Harone. Denn bier wohnen die
Fischer, welche ſchon zu Cäfars Zeiten, und der Sage nad) manch—
mal aud jegt no, des Nachts von abgejchievdenen Seelen ger
wedt werden und dieſe auf ihren Kähnen auf die Todteninjeln
Morig Hartmann, Werke II. 30
466 Wanderungen durch celtifches Land.
bringen müflen. Ein Schiff, das in Stein gehauen fi über dem
Portale der Kirche befindet, deute noch heute auf die pſycho—
pompifhe Beihäftigung der Männer von Plogoff. Ehemals
waren fie diefer Beichäftigung halber fteuerfrei; auh brauchten
fie ihre eigenen Kähne nicht zu verwenden, denn am Ufer des
Meeres angelangt, fanden fie daſelbſt dunkle Schiffe, Die offen:
bar von Paſſagieren jhon überfüllt waren; denn das Waſſer
ftieg ihnen bi8 an den Rand, und man hörte überall ein leb—
baftes Geflüfter; doch waren die Paſſagiere felbft unfichtbar.
Der Fiſcher ſetzte ſich ſchweigend ans Ruder und machte in nidt
mehr al3 einer Stunde eine ungeheure Reife, von der er jelbft
im ſchlechteſten Wetter glüdlich zurückkehrte. Die Leute von Plogoff
und der ganzen Halbinjel glauben noch heute mit Procopius, dab
das Land der Geligen over das Elyfium der Druiden im Weſten
ihrer Küfte, im Schooß des Ozeans, liege. Es ift ihnen Leicht,
ihre alten, von den Druiden ererbten Traditionen mit ihrem
riftlihen Glauben zu verföhnen und zu vermifhen; denn nad
jenem, wie nad) diefem, hat die Seele drei Kreife zu durchlaufen:
den Kreis der Schmerzen, den Kreis der Reinigung und den
Kreis der unendlichen Seligfeit. Die bretonifchen Barden fügen
mande Einzelnheiten hinzu; fo den See der Todesangft und
den See der Gebeine, die Thäler des Blutes und das ungeheure
Meer, das in den unendlihen Abgrund mündet.
Zur Zeit unferes Beſuchs in Plogoff waren nicht3 als Weiber
zu fehen, in der Kirche wie auf der Heide rings um; die Männer
alle fort, entweder auf weiter Fahrt, oder in den Golfen und in
der Nähe der Küften, auf dem Sardinenfang. Was bier in diefem
Winkel Frankreich geboren wird, ift zum Voraus der See be
ftimmt. Alle die Dörfer der großen Landgränze find von Fiſchern
und Seeleuten bewohnt, oder vielmehr nur von ihren Weibern
und Töchtern. Die Männer ſchwimmen auf offener See. Der
Sardinenfang mag ein trauriges Gewerbe fein, denn aus allen
denftern und Augen diefer Gegend blidt die niederſchlagendſte
Armuth. Wenn ein Sardinenfänger in den Monaten Auguft und
Wanderungen durch celtifches Land. 467
September, der Blüthenzeit ſeines Gewerbes, ſechzig Franken
gewinnt, nennt er das Jahr ein glüdliches. Der große Gewinn
fließt den Kaufleuten von Douarnenez und Nantes in die Tafchen,
die allerdings auch jedes Jahr bei dem fehr gewagten Handel,
der ungeheure Koſten verurfadht, ihr halbes Vermögen aufs Spiel
feßgen. Mit den fechzig Franken, mit Heinen Nebengewinnften,
die ihm mandmal als Piloten abfallen, und mit ven Frutti di
mare, Fiſchen, Krabben, Hummern, Mufcelthieren ꝛc. fchlägt
fich der Fischer dieſer Gegend mit feiner Familie durch die Sorgen
des Jahrs; er lebt in ewigem Kampfe mit den Elementen und
der Noth. Die wenigen und ſchlechten Felver der jteinigen Hoch:
ebene gehören beſonders Begünftigten, die nad langen Fahrten
aus fernjten Meeren mit einigem Geld heimgefehrt find. Bei
einem ſolchen Glüdlihen, der fi eine angenehme Häuslichkeit
eingerichtet hatte, waren wir eingefehrt. Der Mann, ver alle
Meere der Erde gejehen und fich freute, wieder in feinem Dorfe,
vor Anker zu liegen, jchien ganz das Bewußtſein feines Glücks
zu haben.
Weiter durch öde Heide, zwiſchen ärmlichem Kraut und
nadtem Geſtein, nicht die geringite Abwechslung. Nur ein Kleines
Kirchlein unterbrach die Einförmigkeit, da3, unbedeutend, wie es
auch it, und neben den fchönen Kirchen des Landes faum der
Erwähnung werth, doch bei den Bewohnern in fehr großem An—
ſehen jteht und jedes Jahr Hunderte, ja vielleiht Zaufende von
Pilgern empfängt; denn fein Matrofe wird zu See gehen, ohne
erst hier feine Andacht verrichtet zu haben. Während feiner Ab:
wejenheit fommt auch feine Mutter, fein Weib oder feine Braut
bieher, um ihm von der Madonna eine glüdliche Reife zu er:
flehen. Nach diefer Madonna hieß das Kirchlein urfprünglid:
„Notre Dame de bon voyage;* der Abkürzung halber nannte
man e3 dann La chapelle du bon voyage, und fo noch heute
La chapelle du St. Bon voyage, und das Landvolk hat
nun vergejien, daß die Kapelle eigentlich der heiligen Jungfrau
geweiht ift, und glaubt darin einen Heiligen Namens Bon Voyage
*
468 Wanderungen durd celtifches Land.
verftedt. So entjtehen neue Heilige. Auf diefe Art find ja auch
St. Elmo und die heilige Veronika entitanden.
Unfer Führer wußte viel vom heil. Bon Voyage zu erzählen,
wie die Weiber der Matrofen oft, wenn ein Sturm über die
Landzunge zieht, an feiner Kapelle auf ven Sinieen liegen und
um die Rettung ihrer Männer flehen; wie diefe dann, heimgekehrt,
berichten, daß fie um biefelbe Stunde am Kap Horn oder bei
Bandiemensland in großer Gefahr geweſen und durch ein uner:
Härte Wunder entwiſcht find, und dergleihen Schiffergeſchichten
mehr. Lange erzählte er no, indem wir durch die Heide wan—
derten, aber wir hörten nicht mehr zu, denn vor uns lag ber
unendlihe Ozean, und wir ftanden am Borfprung der Pointe
du Naz, wie in der Spihe eines ungeheuren verfteinerten Schiffes.
Das Schaufpiel, das fih uns darbot, ift unbefchreiblic.
Man denke fih die unendlihe See von Klippen durchbohrt,
. blauend in weiter Ferne, aber fhäumend im Vordergrunde, in
nächiter Berührung, fogar im ewigen Kampfe mit den Feljen-
wänden der Teufeläbrüde, oder in ewiger Brandung an den Ur:
veiten des Nägeli- Grates oder der fehauerlihen Grimfel: bie
Schauer des öden Feljengebirg®, des vermitterten, vermählt oder
im Streite mit dem Grauen der Meeresmwüfte. Lieblih, beinahe
fanft lächelnd, erjcheint neben der Pointe du Raz das Kap Tä-
naron, wohin doch die Griehen den Eingang in die Welt der
Schatten verlegten. Mehrere hundert Fuß tief fällt diefe Bruft:
wehr Europas in den Ozean. Gebaut it fie aus ungeheuren
Telsblöden, die chaotiſch über einander liegen und einſtens, ehe
die nagende Welle fie zerjplitterte, einen einzigen Etein aus:
machten. Nunmehr heult und pfeift ver Wind durch die Gänge
und Schluchten, die ſich zwischen ihnen gebildet haben. Schreck—
licher aber find die Höhlen und unendlichen Grotten, welche bie
Mellen durch Jahrtauſende am Fuße diefer Felfenmaflen tief ins
Eingeweide der Erde gegraben haben. Wenn die Fluth mit atlan:
tiiher Kraft heran braust und erft nur Schaum zu den gähnen-
den Höhlenmäulern hinauffprigt, vann aber mit vollem Schwalle ‚
Wanderungen durch celtiſches Land. 469
bineinjtrömt und die Luft herausprängt, ift es, als ob dieſe
Höhlen die Heimat der atlantifhen Stürme wären; denn bald
donnernd, bald braufend dringt die herausgepreßte Luft hervor,
big fie nad und nad an dem immer enger werdenden Ausgange
wie eine Schlange ziſcht und pfeift. Und wenn dann die Fluth
fih wieder zurüd zieht und das Meer ſchon längit im tiefjten
Bette liegt, fommt jener Schwall aus den Eingeweiden der Erde
zurück und fällt als wilder Katarakt wie unterirdifhe Ströme in
die Tiefe. Diefem Schaufpiele ſehen, vom kochenden Schaume
umgeben, unzählige und riefige Klippen zu, die, wie Kleinere
Burgen um die Landvefte, im meiten Halbfreis rings um das
Kap du Raz gelagert find und von Welle und Wind, im Laufe
der Jahrtaufende, nach und nad) in fonderbare Formen umgewandelt
worden. Da liegt ein Löwe mit ausgeftredten Pranken, dort
ein verjteinertes Schiff mit formlofen Maften und Segeln; gegen
Norden dehnt fih im Sonnenuntergang, unheimlich lächelnd,
die Bai der Verunglüdten, an welcher kein Schiffer ohne Stoß:
gebet vorüber zieht. Nach der Ausfage der Ummohner liegen auf
ihrem Grunde mehr Seeleute begraben, al3 rings auf den Küften
im Sonnenliht athmen. Aber uns zu Füßen, ein erfchredendes
Gemiſch von Felfen und Meerfhaum, liegt die Hölle, wohin
die Celten mit größerer Wahrfcheinlichkeit, als die Griehen an
das Kap Tänaron, den Eingang in die Unterwelt verlegten. Die
Felſen bier find fo roth, als wären fie von ewigen Feuer ums
züngelt, und der Schaum fprigt jo hoch in die Luft, als wäre er
eitel Rau aus der Hölleneffe.
Dor uns, im Schooße des Ozeans, umgeben von unzähligen
Klippen und Niffen, die fich bis fieben Stunden weit ind Meer
erſtrecken, meift eingehüllt in Nebel oder in die Schleier auf:
fprigenden Meerſchaums, düfter, unheimlich, weltvergefien, liegt
die Inſel Sein, welche einige Alte für die Ultima Thule, andere
für die Todteninfel der Gelten hielten. Pomponius Mela, de
situ orbis, fagt von ihr: die Inſel Sein liegt an der Küfte der
Oſſismianer und ift durch das Orakel einer gallifchen Gottheit
470 Wanderungen durch celtifches Land.
merkwürdig. Die Priefterinnen dieſes Gottes bewahren eine
ewige Keufchheit; fie find neun an der Zahl. Die Gallier nennen
fie Cenas und glauben, daß fie, von einem beſondern Geifte be—
jeelt, mittelft ihrer Sprüche auf dem Meere und in den Lüften
Stürme erregen, fich in jeve Art Thier verwandeln, eingewur:
zelte Krankheiten heilen und prophezeien können.
Diefe Priefterinnen haben fi in der That eine Heimat ge
wählt, welche die Schauer der Gläubigen nur erhöhen fonnte.
Rings umber Dede des Meeres und toddrohende Klippen, Spring:
fluthen, die manchmal über das ganze Eiland fegen, und Nebel,
die e3 oft wochenlang mit undurchdringlichen Schleiern verhüllen.
Auf dem Eiland felbit Fein Baum, kein Strauch, feine Blume.
Ueber ihm, in ven Lüften, fein fingender und fein ftummer
Vogel. Die häufigen Stürme, die Fröfte, die ewige Trauer der
Natur tödten Alles, nur der Menſch gedeiht auf diefer Todteninfel.
Den armen Fifchern und Lootſen, die fie heute bewohnen,
den Arzt nicht fennen und meift achtzig Jahre alt werden, rühmt
man die größten Tugenden nah: Einfachheit und Reinheit der
Gitten, eine rührende Liebe für ihren fahlen Felfen und vor
Allem Bereitwilligkeit, in aller Noth und Gefahr bülfreich beizu-
ftehen, und da haben fie in der That viel zu thun, denn bie
faum zwei Seemeilen breite Straße zwifchen der Inſel und dem
Feltlande ift für den Seefahrer eine wahre Todespforte, einer
der gefährlichſten Seewege der Welt. Herr Caftera erzählt in den
„Annales maritimes“, daß die Einwohner der Inſel Sein vom
Jahr 1763 bis zum Jahr 1807 von einem gewiſſen Untergang
gerettet haben: ein Linienfhiff, eine Fregatte, zwei Korvetten,
einen Schooner, drei Kauffahrer, deren einer fünfhundert Mann
Soldaten an Bord hatte, fünf Bemannungen von Kriegd: oder
Kauffabrteifchiffen und außerdem achthundert und neunzehn
Menſchen, von denen dreihundert dem „Séduiſant“ angehörten,
welches Schiff an dem Tevende, der ſchrecklichſten Klippe ver
Umgegend, fcheiterte. Die Oeretteten vermehrten damals die
Einwohnerzahl fo unverhältnigmäßig, daß fie nad) eilf Tagen,
Wanderungen durch celtifches Land, 471
da fie die Inſel des fortvauernden Sturms wegen nicht vers
laſſen konnten, ſammt ihren Rettern in Gefahr waren, Hungers
zu fterben.
Sagen und Volkslieder behaupten, und die Geologie beftätigt
ihre Behauptung, daß dieje Felfen, Klippen und Inſeln nur die
Reſte eines Skeletts find, welches einftens grünes Land, mit
blühenden Städten und Fleden, zufammengehalten. Am Fuße
der heutigen Pointe du Raz lag die Stadt Is oder Ys oder au
nach dem Anonymus von Ravenna „Keris”, die Reſidenz des
großen armorifhen König Gradlon. Die Ditfee hat ihre ver:
funfene Stadt Veneta, die Nordjee Stavoren, das Mittelmeer
bat fein Rhoda, der atlantifhe Ozean hat jeine Inſel Atlantis
und die Stadt Is. Diefe fcheint von allen verfunfenen Städten
die am Wenigften fabelbafte; die Natur des Orts ſpricht dafür,
daß e3 hier in der That feites Land gegeben, welches, vielleicht
allmählig, vielleicht durch eine gewaltige Kataftrophe weggeriſſen
worden, und außerdem fahen die Schiffer no vor kurzer Zeit,
bei Elarer Welle, im Grunde de3 Meeres allerlei altes Gemäuer
und bezeichnen noch heute gewifje Stellen in der Nähe des Ufers
mit Namen, welche einft die Viertel und Gaflen der Stadt ger
tragen haben follen.
Den Untergang der Stadt fehreibt da3 Volk den Sünden
der Prinzeflin Dahut, der Tochter des Königs Gradlon, zu. Im
Uebermutbe einer wilden Nacht, erhigt von einem Gelage, ſchleicht
fie ih, um ihrem Buhlen zu gefallen, an das Bett des Vaters
und ftiehlt vem Schlafenvden den Schlüffel, den koftbaren Schlüffel,
den er immer am Gürtel befeftigt trägt und feinem Menjchen
anvertraut. Denn diefer koſtbare Schlüfjel öffnet das Schleufen:
thor eine3 gewaltigen See3, der beftimmt ift, das Uebermaß der
Fluth aufzunehmen und fie von der Stadt abzuhalten. Berauſcht
von Wein und Liebe, öffnet fie mit ihrem Buhlen da3 ver:
bängnißvolle Thor, und die Fluth bricht herein, und begräbt die
Prinzeflin und die ganze Stadt. Nur der gerechte König Gradlon
entgeht auf feinem treuen Rofje dem Verderben, und jo gelangt
472 Wanderungen durd celtifches Land.
er nah Quimper, das er zu feiner Hauptftadt macht, und das
ihn, wie wir erwähnt haben, mit fammt feinem Roſſe auf die
Kathedrale ftellt.
Du Fägerdmann, du folft mir fagen,
Sahft du wohl Gradlons wildes Roß,
Sahft du's durch diefe Thäler jagen?
„Nicht fah ich's kommen durch die Föhren,
Doch durch die Nacht, tripp, trapp, tripp, trapp,
Hab’ ich's wie Feuer braufen hören.”
Abweihend vom Volksliede erzählt die Sage, dab König
Gradlon e3 verfucht habe, feine fündige Tochter Dahut auf der
Kroupe feines Pferde aus dem DVerderben zu retten; aber die
Fluth ftürzte ihm nah und verfolgte ihn, bis eine furchtbare
Stimme aus der Luft erſcholl, welde rief: „Stoße den böjen
Geift von dir, den du mit dir führſt!“ Er ftürzte die Prinzeflin
vom Pferde, die Fluth verſchlang fie und zog ſich mit ihr zurüd,
während König Gradlon weiter floh. Sage und Lied vertan
deln Dahut in eine Art Loreley oder Eirene, welche noch heute
auf den Felfen über der verjunfenen Stadt Is erſcheint, ihr
goldenes Haar kämmt und dabei traurige Lieder fingt.
Du Fifcher, fahft du an den Fluthen
Die Meermaid ftehen, die ihr Haar,
Ihr goldenes, kämmt in Mittagsgluthen?
„Ich jah fie wohl und mußte lauſchen
Dem Lied der ſchönen weißen Maid;
Es war fo trüb, wie Wellen raufchen.”
Noch eine andere Sage nennt die unglüdlihe Prinzeſſin
Ahes und erzählt von ihr, daß fie ihre Liebhaber in den Ab:
grund bei dem Dorfe Huelgoat habe werfen laſſen. Das Ge
winmer, dad man noch heute aus der Tiefe des Abgrundes hören
fann, iſt das Gewimmer der Buhlen, die nicht zur Ruhe kom:
men fönnen.
Wanderungen dur celtifches Land. 473
Der Untergang der Stadt Js, nad all dem Gejagten auch
eine Art Sodom, wurde vom heil. Gmenole zu Anfang des fünften
Jahrhunderts prophezeit, und auf diefe Prophezeiung deutet das
Volkslied in feinem orafelhaften Anfange.
„Haft du vernommen, wohl vernommen,
Wie zu dem Könige von Is
Der Mann ſprach, der von Gott gekommen?
„Berbann’ die Liebe aus dem Herzen,
Nicht gib dich Hin der tollen Luft,
Denn nad der Freude fommen Schmerzen.
„Vom Fiſch verzehrt, ihr Prafferzungen,
Wird werden, wer den Fifch verzehrt,
Und wer verfchlingt, der wird verfchlungen.
„Wer Wein trinkt aus dem Gold, dem Haren,
Wird Waffer trinken wie ein Fiſch,
Und wer nicht weiß, der wird erfahren.”
Aber nicht nur an verwunfchene Prinzeflinnen, fagenhafte
Könige, verfunfene Städte wird man auf der Pointe du Raz er:
innert; auch die neuere Gefchichte hat die Küften und das Meer
mit manchem Creigniß belebt. In derjelben gefährlichen Straße,
zwilchen der Inſel und dem Feftlande, durch die das Schiff ſelbſt
bei ruhigem Wetter mit unendlicher Vorſicht gefteuert werden
muß, fand der berühmte Kampf des Droit de l'homme gegen
eine engliſche Uebermadt ftatt. Man kann fich für Menjchen:
ſchlächterei fchmwerlih ein unheimlicheres Theater auswählen,
Wenn ich nicht irre, war es auch in diefer Gegend, wo der Ven—⸗
geur feinen furchtbaren Kampf beitand. Bon Civilifation zeugen
bloß die beiden Leuchtthürme, von denen der eine vor uns, an
der Außeriten Spiße des Kaps, der andere auf der Inſel Sein
fteht, die einander wohlwollend zuwinken und die Baflage und
die Alippenhäupter beleuchten. Jever Leuchtturm, wie er ge
wöhnlich auf irgend einem verlornen Boften in der Einfamleit
. leuhtend, warnend, führend, zurechtweifend daſteht, hat mic
474 Wanderungen durch celtifches Land.
von jeher mit ehrfurchtsvoller Rührung erfüllt. Der Leuchtthurm
ift einer der fehönften Gedanken der Menfchheit, jeder eine Säule,
ein Denkmal der Menjchenliebe. Weld ein ungeheurer Weg vom
Leuchtthurm zu den Holzſtößen, welche griechiſche Küſtenbewohner
des ſchwarzen Meeres in Sturmesnächten entzünden, um den ge—
ängſtigten Schiffer auf irre Bahnen, auf Sandbänke und Klippen
zu locken. Dieſe beiden Feuer ſind die ſprechendſten Symbole
von „Menſchenherzens Süd und Norden.“
Das Plateau der Pointe du Raz ſtimmt ſehr gut mit dem
wilden Schauſpiele, das man von ſeiner Höhe, wie von einem
Balkon überſchaut. Der Boden iſt nur von kümmerlichem Graſe
bedeckt, das halbwilde, verkrüppelte Schafe abweiden. Auf einem
Felſenblock lagert der Hirtenknabe; natürlich fehlt auch hier der
Menhir nicht, und wie ein zauberhaftes Zeichen des Makrokosmus
ſcheint in ſolcher Umgebung eine Art von Sonnenuhr, die
in einen verwitterten Stein gegraben iſt. Die legten Sonnen—
ftrahlen verwandelten diefe ganze, große Welt in eine gefpeniter:
bafte. Die Inſel Sein mit ihren Klippen tauchte plöglich höher
empor und jchien dem Feltlande näher zu rüden, bis fie eben in
dem Momente, da fie fih ſcheinbar mit der Pointe du Raz ver:
einigen wollte, mit Einem Mal von der Nacht verfchlungen wurde,
Das Ziegen:Kap, ein mweißglänzender Felſen im Norden, fchritt
wie ein Geift über die Wellen, die entjchlafen waren und im
Zraum feufzten. Da kehrten wir der Pointe du Raz den Rüden,
und es war ung, wie mir über die Heide nad Plogoff zurüd:
eilten, al3 ob wir mit geängftigtem Herzen vor Geiftern flöhen.
Bon Plogoff wanderten wir meiter nach dem nörblich ge
legenen Dorfe Kleven. Unſere Abfiht war, dafelbft einen Kahn
zu miethen und auf dem Golf nah Douarnenez zurüdzufehren.
Aber vergebens war unfer ftundenlanges Harren und Suden;
fämmtlihe Kähne des Fiſcherdorfes und fämmtliche Fifcher waren
auf der Sardinenjaad. An eine direkte Wanderung nad) Douar:
nenez war nicht zu denken, denn in diefem Lande gibt es weder
Meg nod Steg, und man prophezeite und, daß wir mit den
Wanderungen durch celtifhes Land. 475
wenigen Meilen leicht einen oder zwei Tage verlieren fünnten
und und den größten Entbehrungen und Mühſeligkeiten ausfegen
würden. Wie wahr diefe Angaben, überzeugten wir uns, als
wir uns endlich entihlofien, die Landzunge von Norden nad
Süden zu durhfchneiden, um wieder nach Auderne und auf bie
Zanpftraße zu gelangen. In der furdtbarften Sonnenhige, auf
Feldwegen, die fich immer nad kurzer Strede im Geftein, auf
Aedern, im Geftrüpp verloren, ſchlugen wir ung mühjelig durch
das vermwilderte Land, Manchmal famen wir in Dörfer, deren
weiblihe Einwohner vor ung flohen over und wie wunderbare
Fabelthiere betrachteten. Von Männern war nichts zu fehen als
Geijtlihe, die auf den Dorfplägen in Gruppen zufammenftanden,
oder übers Land gingen. Es waren meift junge Sefuiten. „Sit
fein La Chalotai3 da!“ pflegte bei foldhen Gelegenheiten mein
Reifegefährte auszurufen, anfpielend auf ven Procureur-gen£ral
des Barlament3 von Rennes, Caradeuf de La Chalotais, welcher
im vorigen Jahrhundert, der Erfte in der Bretagne, die berühmte.
Geſellſchaft angriff und ihre Verfaffung al3 mit der ftaatlichen Orb:
nung unvereinbar denunzirte. Er mußte feinen Muth fo lange
in der Bajtille büßen, bis die Jefuiten aus Frankreich vertrieben
wurden.
In all ven von den Sefuiten gehüteten Dörfern war e3 ung
unmöglid, unfere erjchöpften Kräfte durch einen Biſſen Brod
wieder herzuftellen; der Schmuß war gar zu groß. Wir mußten
una mit dem Trunk Waller begnügen, den uns mitten in der
Wildniß eine, an einfamer Kapelle murmelnde Quelle gaftlich
anbot. Doch hatten wir diefen Labetrunf nicht umfonft; kaum
war die hohle Hand gefült, als ein Mann im abgejchabten
Priefterrod aus der reizenden Kapelle trat und und zu verjtehen
gab, wie ed nur billig wäre, dem Heiligen der Kapelle ein Al-
mofen zulommen zu laffen, da ihm die Quelle angehöre und ihr
Waſſer manderlei Wunder bewirke.
Nirgends fanden wir eine Seele, die franzöſiſch geſprochen
oder verftanden hätte; und bei ſolchen Gelegenheiten pflegte
476 Wanderungen durch celtijches Land.
wieder mein Reifegefährte auszurufen: „Das Konzil von Rheims
ſcheint hier noch nicht gewirkt zu haben.“ Er meinte jenes Konzil
de3 Jahres 813, welches alle Diejenigen, die bei der bretonijchen
Sprade verharrten, für barbariſch, undriftlih, zu allen öffent
lihen Aemtern unfähig erllärte, Wie wunderbar, daß das unfehl-
bare Konzil bei jo guten Chriften, wie die Bretonen, nah mehr
als taufend Jahren noch nicht gewirkt hat; und noch wunder:
barer, daß man heutzutage von der ©eiltlichkeit, die doch das
Konzil rejpeftiren muß, behauptet, daß fie das bretonifche Volt
in feiner treuen Anbänglichleit an die Mutterfprache beftärke, um
e3 von dem Franzöfifhen getrennt und von den möglihen Ein:
flüffen franzöſiſcher Bücher frei zu erhalten. Diefe Bemühungen
werben dem Klerus fehr erleichtert; denn die Zahl derjenigen
Bauern, die auch nur bretonifch leſen können, verhält ſich zu der
Zahl ver leſenden Bauern im übrigen Frankreich, wie 1 zu 30,
und Gott weiß, wie gering die Zahl der franzöfifchen Bauern ift,
die ſich mit diefer Wifjenfchaft abgeben. Man berechne darnad)
die Maffe von Bildung, die im bretoniſchen Volle ftedt.
Matt und müde, wie nach einer Wüftenwanderung, famen
wir in dem lieblihen Auderne an, wo wir glüdlicherweife einen
Omnibus fanden, der uns rafch nad) Douarnenez bradte. Wir
machten die Reife in Gefellfhaft hübfcher, franzöfisch ſprechender,
eleganter Mädchen, die ung nach dem kurzen Aufenthalt auf der
wilden Landzunge, nad dem Anblide fo vieler häßlicher Geltinnen,
wie neue und wohlthuende Erjcheinungen anmutheten. E3 waren
Töchter reicher Kaufleute, die in Douarnenez nicht felten find.
Noch auf andere und unangenehme Weife mußten wir es
bald fühlen, daß wir in der Hauptftadt des Sardinenhandels
eingezogen. Douarnenez it wie ein Theil des Dante'ſchen Höllen:
zirfel3, in welchem die Verdammten durch üble Gerüche gepeinigt
werden. Die Gaſſen find wie gepflaftert mit todten Fiſchen, die
in Fäulniß übergeben und Düfte verbreiten, die das fchredliche
Gegentheil find von Rofendüften. Aus den Magazinen fommen
mit ähnlichen Wohlgerühen gefhmwängerte Luftftrömungen, und
Wanderungen durch celtifches Land. 477
mit dieſen miſchen fi die Ausdünftungen der Deltonnen und
Fäſſer, die überall bereit ftehen, die Ausbeute der ungefähr ſechs
Mochen dauernden Filherei aufzunehmen. Die Menfchen, die
an uns vorübergeben, find von der Atmofphäre, die fie umgibt,
durchdrungen. An den Ufern ftehen große Schaluppen, die bis
hoch über den Rand mit Eardinen angefüllt find. Man wirft
die Ernte des Meeres, ald wäre e3 Getreide, mit großen Schau:
feln in die Tonnen oder direkt aus dem Kahn, wie beim MWorfeln
in große Scheunen, wo Hunderte von Männern und Weibern
bejchäftigt find, fie in Tonnen zu ordnen und mit Del zu durch—
tränten.
‚Um ung ein wenig aus der verpejteten Atmofphäre zu retten,
“ gingen wir des Abends längs ver Bai an dem ſchönen, etwas
erhöhten Ufer hin, erfreut von dem lieblihen Anblid, welchen
die Kleinen Dörfer im Norden und im Süden des Golfs, aus
dunklen Büfchen glänzend, gewähren. Wir fuhren auch auf einem
Heinen Kahn hinaus, um das herrliche Beden in jeiner ganzen
Ausdehnung betrachten zu können. Da fieht fi denn Douarnenez
mit dem benadybarten Ploare und feinem gothijchen Thurme
ganz maleriſch an; aber etwas ernjt und drohend blidt aus weiter
Ferne das enge Thor am Ziegenfap, das in den Ozean führt
und an deſſen Schwelle mandherlei Klippen lauern. Bei Sonnen:
untergang jahen wir uns plößlich von einer ungeheuren Flotte
umgeben: von der Fluth und einem friſchen Weſtwinde getrieben,
famen fchnell nad einander, einzeln in langen Neihen oder in
dichten Gruppen mit geſchwellten Segeln, an fünf: bis ſechs—
hundert große Schaluppen heran, alle, alle ohne Ausnahme
mit einer Ausbeute, die fih hoc über die Fahrzeuge ohne
Derded erhob. Sie jammelten ji ih dem fihern Hafen von
Douarnenez, und jogleich ging es an ein Ausladen und Einpaden,
auch nahmen die am Ufer mwartenden Weiber und Slinder an
der Arbeit Theil, daß e3 in Douarnenez wie in einem Ameifen:
haufen zu wimmeln begann. Go geht ed durch Wochen jeg-
liben Tag.
478 Wanderungen dur celtijches Land.
Um ein Kap bogen wir in eine Heine Bucht des großen
Meerbufens und landeten an der Inſel Triftan, die malerifch ala
ein Kleiner Kegel ganz in der Nähe von Douarnenez liegt und
auf ihrem etwas fteilen Gipfel eine Eleine Befeftigung mit zwölf
Kanonen trägt. Auf einer Küftenftrede von zwanzig bis dreißig
deutſchen Meilen hat Frankreich vielleicht eine größere Anzahl
von Feſtungswerken, als England an feinen ſämmtlichen Küſten.
Mo jetzt die Batterie angebracht ift, ftand einft eine Art von
Schloß oder Heiner Fejtung, der Hauptzuflucdhtsort, die Wolf:
böhle des fürchterlihen Ligueurs La Fontenelle, der ſich hier
mehrmals mit Erfolg gegeh die Royaliften vertheidigte, obwohl
man bei niedriger Ebbe von Douarnenez trodenen Fußes auf die
Inſel Triftan gelangen fann. Hierher brachte er die geftohlenen
Schätze und die entführten reichen Erbinnen. Mit Miderjtreben
kehrten wir in die Gafjen von Douarnenez zurüd, und ic mußte
unwillkürlich Vergleihungen anftellen und an die mir befannten
Stäbthen und Fleden der Häringsfiſcher in Schottland denken,
in denen, troß der ungeheuern Fifcherei, die da getrieben. wird,
doch immer die möglichfte Reinlichkeit herrſcht. Leichten Herzens
nahmen wir ſchon am nächften Morgen Abſchied von der Sar-
dinenhauptjtadt, zu deren Annehmlichkeiten fich noch die ununter-
brochene, ohrzerreißende Mufif der Holzihuhe gejellte, um uns
in den Diftrift von Chateaulin und in eine andere Landzunge,
in die von Crozon, zu verfenfen und wieder einmal frifche Luft
zu athmen.
V,
Halbinfel Erogon, — Loch Ronan und feine Legende. — Die große und berühmte
Düne ded Riz. — Abenteuer auf berfelben. — Die merfwürbigen Tamaristen,
Inneres der Halbinfel Crozon. — Die berühmten Grotten von Morgatte, —
Lanveau. — Der Golf von Breſt. — Rückkehr in bie civilifirte Welt.
Auf einem Charbanc, wie fie dieß kunſtverſtändige Land
bervorzubringen verfteht, fegten wir unfere Reife fort. Der Ber
ſitzer dieſes Beförderungsmittel3 angehender Märtyrer fegte uns
feinen zehnjährigen Sohn ala Kutſcher auf den Bod, um nicht
jelbjt den Tag zu verlieren, den er den Sardinen zu widmen ges
dachte. Unjeliger, nicht wußteft vu, daß du uns und deinen Er:
zeugten aus Durft nad ſchnödem Golde einem beinahe unentrinn-
baren Berberben, dem Zorne Poſeidons, preis gabeft! Oder
baft du vielleicht deinem Sohne Hippolyt geflucht, und ver
Geftadeerjhütterer hörte deinen Fluch? Diefes war ung zum
Unheil. Zwar verſprachſt du ung, daß wir ungefährbet am Orte
unferer Beſtimmung anlangen follten, aber dieß warb wahrlich
nicht vollendet. Doch davon fpäter.
Zur Zeit fuhren wir aufs Angenehmfte durch tiefe Hohlwege,
die dicht befchattet waren, unter Fruchtbäumen bin, die ihre
Zweige jo tief niederfenkten, daß wir faum durchzudringen ver:
mochten. Als wir wieder au3 den grünen Lauben ans Tageslicht
gelangten, befanden wir ung in einer blühenden Landſchaft und
vor den legten Ausläufern der ſchwarzen Berge, die ſich hier
beinahe bi3 and Meer heran drängen, und wieder nach ſehr kurzer
Fahrt in dem Fleden Loch Ronan, der mit feinen alten ſchwarzen
Häufern auf heiligem Boden fteht. Hier lag einft in verwachſener
480 Wanderungen durch celtifches Land.
Wildniß die Sievelei des heil. Ronan, eines der Apoftel und vor:
züglichften Heiligen der Bretagne. Er war nicht in dem Thal ges
boren, fondern kam, mie viele andere Heilige diefes Landes, aus
dem ftammvermwandten Irland. Wie fein Landsmann, der heil.
Kiwin, ahnte er das Chriftentbum und war er ein Chrift, noch
ehe ein Apoftel den iriſchen Boden betreten. Doc begab er fich,
um die Einzelheiten de3 neuen Glaubens fennen zu lernen, nach
dem fchon theilmeije befehrten England, ließ fich dafelbit die gute
Botſchaft mittheilen und begab fich hierauf in das armorijche
Land, wo er predigte, Ungeheuer erlegte, Wunder that und als
armer Gremit ein heiliges Leben führte. Der erfte Juni ift der
Tag feines Feſtes, und da verfammeln ſich unzählige Leidende und
Preithafte, um feine Grabjteine zu berühren und Heilung zu
finden.
Don Loch Ronan bogen wir wieder links ab von der Straße,
um einen Ummeg um den Golf zu erfparen und über die be—
rühmte große Düne, die man „la Lieue de Greve“ oder den
Riz nennt, der Halbinfel Crozon entgegen zu fahren. Dieje
Düne ijt ihrer Ausdehnung und ihrer Schönheit wegen im
ganzen Lande. berühmt. Zur Zeit der Ebbe iſt fie, die fehr
langſam und leife gegen das Meer abfällt, von außerordentlicher
Breite, und man liebt e8 dann, von Süden nad Norden fahrend,
über die fandige Fläche, die jo glatt ijt wie eine geftampfte
Tenne, den Weg zu nehmen und fo den großen Bogen be3
eigentlichen Ufers abzufchneiden. Eo zu thun, hatte auch der Be:
figer unfere3 Wagens feinem Sohne geheißen, und diejer, folgfam
dem väterlichen Gebot, fuhr nun hart an der Welle, nicht be
denfend, daß unfer längerer Aufenthalt am Grabe des beil,
Ronan uns um die zur Fahrt über die Düne günftige Zeit ge
bradt hatte.
Quftig fuhr er darauf log, immer etwas nach recht3 einbiegend,
da die Fluth von lint3 langſam heranzukommen begann. Wir
bemerkten die Gefahr nicht, da unfere Aufmerkfamleit auf die
unzähligen Fifcherboote abgelenkt war, vie heute, da fich der Golf
Wanderungen durch celtiſches Land, 481
mit Sardinen gefüllt hatte, kaum einige hundert Schritte von
ung mit dem Fange bejehäftigt waren. Da hören wir mit Einem
Male ein eigenthümliches Plätjhern in unferer nächſten Nähe,
wir bliden auf und fehen, wie unfer Bferd durch die ſchäumenden
Fluthränder, die da und dort ſchon als einzelne Bäche vorwärts
drangen, trabte. Umfonft peitihte der Junge das arme Thier;
die Fluth kam immer fchneller heran, und da wir das Terrain
rekognoszirten, erfannten wir mit Schreden, daß fie nur bis zu
einer gemwifjen Heinen Entfernung langſam jteigen werde, daß ſie
aber dann, wenn fie eine gewiſſe Höhe erreicht, auf der gegen
das Land zu ganz ebenen Düne mit reißender Schnelligfeit vor:
wärt3 dringen müſſe. An ein Umkehren war nicht zu denken;
das tiefere Terrain lag hinter uns und war bereit3 vom Waſſer
bededt, welches in einem großen Halbfreis längs des Ufers vor:
wärts drang und uns ſchon mit einem ungeheuern Arm um:
Hammerte. Die trodene Düne, die noch vor uns lag, fah aus
wie eine Landzunge, die nur einen einzigen Ausweg bot, an ver
Stelle, der wir zugefehrt waren. Wie jchnell die Fluth herbei
eilte, zeigten ung die Fiſcherbarken, die ihr folgend, immer näher
an uns heran ſchwammen.
Unfer Heiner Automedon verlor den Kopf, fing zu meinen
an und vergaß das Einzige, was ihm zu thun blieb, das Pferd
anzutreiben. Ich feßte ihn in den Wagen und nahm feinen
engen Pla ein, womit aber eine foftbare Zeit verloren ging.
Denn num ftürmten bereit die großen Wellen heran. In jchred:
licher Nähe erhoben ſich ihre weißen Häupter, höher al3 unfer
Pferd; zerfloffen aber noch glüdlicherweife, als ob fie ung eine
> Galgenfrift gewähren wollten, zwiſchen unjern Rädern zu uns
ſchädlicher Flachheit. Wir hatten noch einen wenigſtens zwanzig
Minuten langen Weg vor und. Wie fehr ih auch das Pferd
antrieb, ich konnte nicht hoffen, vor Eintritt der vollen Fluth ang
Ufer zu gelangen. Mein Reifegefährte tröftete fich ſchon damit,
daß die Fifcherbonte in der Nähe waren und daß fie uns im
ärgiten Falle vielleicht zu Hülfe fommen könnten. Daß fie unfere
Morig Hartmann, Werke. 11. 31
482 Wanderungen durd celtifches Land.
Noth bemerkt hatten, zeigten fie, indem fie uns von ferne Zei—
hen machten und durch Geberden und Rufe, die aber im Braufen
der Wellen verhallten, zu jchnellerer Fahrt aufmunterten. Ich
meinestheil3 hoffte wenig von der Hülfe der Sarbinenfifher, da
mir ihre Schaluppen nicht flach genug fchienen, um biß zu ung
vordringen zu können, und fie feine Kleinen Kähne zum Auss
ſchicken bei ficy hatten.» Ich wandte meine Augen einem Manne
zu, der am nördlichen Ufer des Golfs im Kleinen Nahen hinfuhr
und den unfere Stimme im gefährlihen Augenblid erreihen
konnte, |
Indeſſen war es jegt nody meine Aufgabe, den beiten Weg
zu ſuchen und, wenn aud manchmal durd einzelne Bäche, von
einer trodenen Stelle zur andern zu fahren und dann, wo die
Waſſermaſſe ſchon in großer Ausdehnung vereinigt war, mid an
die feichteren Stellen zu halten. Trog all diefer Bemühungen
meinerfeit3 und der gewifjenhafteiten Anjtrengungen unjeres
Pferdes, das offenbar die Gefahr witterte, fuhren wir doch
ſchon bis beinahe an die Achje durchs Waſſer und mußten jeden
Augenblid erwarten, daß eine Woge unfer Vehikel überſchwemme
oder gar umftürze. Es war der kritiſchſte Augenblid. Die ganze
Düne war bereit3 von Waffer bevedt, nur ein ſchmaler erhöhter
Streifen lief weiß wie eine Stange, die man dem Ertrinfenden
veiht, vom Lande her ung entgegen. Diefer Streifen wurde
glüdlicherweije erreicht und auf ihm wie auf einem Damme in
gerader Linie die Fahrt fortgefegt. Zwar war auch hier noch
nicht die Hälfte des übrigen Wegs zurüdgelegt, als ſchon alles
Trodene vor uns verfehwunden war; aber die Fluth ftieg auf
diefem Damme doch nicht fo hoch, um uns an der glüdlichen
Landung zu hindern. Mit einem freudigen Blid und beinahe
mit feiner legten Kraft zog uns das Pferd and Nettungsufer,
und wie athmeten wir auf, als wir, Taum wenige Minuten in
Sicherheit, die großen Wogen ſahen, die ſich über den Weg hin—
ſtürzten, den wir ſo eben verlaſſen hatten.
In Reiſebüchern leſen wir, daß dieſe Düne wegen der herr—
Wanderungen durch celtifches Land. 483
lihen Mufcheln und der interefjanten Mollusken, die das Meer hier
auswirft, merkwürdig ift. Der Lejer wird ung verzeihen, daß
wir ung in der Lage, in der wir uns befanden, mit dieſer Merk:
würdigkeit nicht gründlich bejchäftigt haben. Im Mauthhaufe
am Ufer, wo wir ung erholten, erzählten uns die Zöllner, daß
dergleichen Abenteuer auf diefer Düne keine Seltenheit feien, daß
man mandmal bei aller Vorſicht von der Fluth, die hier nir-
gends einen Wideritand finde, überrafcht werden könne. Am
Mauthhaufe ſelbſt findet fich eine der größten Merkwürdigkeiten
der Bretagne, mehrere Tamarisfen, welche die Höhe, Dide und
Beltigfeit ftarfer Bäume erlangt haben und für den jüblichen
Charakter des Klimas diefer Gegend fprechende Zeugen find. Nicht
in Languedoc, nit in Stalien habe ich diefen Baum zu folcher
Stärfe gedeihen jehen.
Bald änderte fih die Scene. Schon nad kurzer Fahrt war
die reiche Vegetation der Küfte verſchwunden und wieder nichts
als Heide, Heide, Heide, Das Land ijt das häßlichſte Bild im
Ihönften Rahmen, denn die Ufer rings umher, die an der Bai
von Breit, die am Golf von Douarnenez, jo wie die dem Ozean
zugefehrten, jind nicht3 al3 eine ununterbrochene Reihe der herr:
lichften Landſchaftsbilder, in denen fih Meer, Felſen, Buchten
und üppigite Vegetation in jchönfter Harmonie vereinigen; aber
im Innern nichts als Heidefraut und hie und da, als traurige
Staffage, ein armer ausgehungerter Bauer, der die Heide als
Brennmaterial für den Winter einfammelt. Ich dachte an
Heinrich IV., ver bei feiner Reife durch die Bretagne erſchrocken
und gerührt ausrief: „Ach, wie jollen mir die armen Bretonen
Steuern bezahlen?” und an Sully, ver beim Anblid des Landes
die vierzigtaufend Thaler zurüd mies, die ihm die Stände als
Ehrengeſchenk zugedacht hatten.
Bei Crozon, von welchem Flecken die Halbinſel ihren Namen
hat, wird das Land mit einem Mal ſchöner. Der Flecken liegt
auf einer angenehmen Höhe und genießt der herrlichſten Ausſicht
auf ein Thal ihm zu Füßen und auf das Meer mit ſeinen vielen
484 Wanderungen dur celtiſches Land.
Buchten und Golfen. Der ganze Fleden athmet hohe Alterthüm-
lichkeit. Vor Jahrhunderten gehörte er einer der älteften Familien
der Bretagne, den Rohans, deren Ablömmlinge, durch fonderbare
Schidjale, aus diefem weftlihen Winkel Europas nah Böhmen
verſchlagen wurden.
Die größte Merkwürdigkeit Crojons find die berühmten
Grotten von Morgatte, deren kleinſte vierzig Barifer Fuß bod,
achtzig Fuß breit und unendlic tief iſt. Es ift das Meer, melches
fie in die quarzigen Ufer der Bucht gegraben hat und mabr:
Scheinlih noch heute in feiner Arbeit fortfährt. In zwei der:
jelben fann man bei tiefer Ebbe trodenen Fußes eindringen,
aber die ſchönſte und großartigjte, die ausfieht wie ein unter:
irdifher Dom, kann man nur in einem Kahne befahren. Ihre
Dede, kryftallifirt und orydirt, glänzt in hundert Farben und ift
außerdem mit den ſchönſten Guirlanden und Sträußen, Die aus
den Ritzen hervorwachſen, geziert.
Bon Crozon quer durchs Land nad Lanveau, das ein höchſt
langmweiliger Fleden wäre, wenn man bafelbjt nicht zum erjten
Mal die herrlihe, die unvergleichliche Rhede von Breft zu fehen
befäme. Am Fuße eines der vielen Kajtelle, vie fie befchügen,
fhifften wir ung ein, und von einem fonträren Wind gehindert,
oder vielmehr begünftigt, waren wir gezwungen, auf diefem berr:
lihiten Golfe viele Stunden lang bin und her, zu laviren und
alle feine Ufer und feine unzähligen Buchten mit den Befeftigungen
über venjelben in ganz nahen Augenſchein zu nehmen.
Nah vierjtündiger Fahrt legte unfer Kahn envlich zwiſchen
unzähligen Leviathans an; wir ſprangen ans Land und freuten
und, nad wocenlanger Wanderung wieder in der zivilifirten
Melt zu fein. Zivilifirt, bejonders nad wochenlangem Umgang
mit bretonifhen Bauern, waren die Gefichter der vielen Marine
offiziere, die uns begegneten; zivilifirt war die Dame, die in
einem der erſten Häufer am Hafen, am Flügel figend, in biejer
fernen Stadt eine Sonate von Mendelsſohn jpielte: — Heil dir,
mein Vaterland!
Hilder aus Dänemark.
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(1859.)
I.
Es gibt unfhuldig ausfehende, höchſt geachtete Bücher, die
gefährlicher find, als die verjchrieenften. Lord Bacon's Eſſays
find ein Buch voll Weisheit, aber e3 kann Schlimmes wirken,
e3 Kann verführen, wie Aretin’3 Buch mit den Slluftrationen
von Giulio Romano, wenn auch auf anderem, idealerem Ge:
biete. Sein faum zwei Seiten langer Eſſay über die Freuden
der Lekture, nebenbei gejagt eines der größten ftyliftifchen Mei:
jterftüde, kann Bücherwürmer fabriziren, die alle Pflichten des
Kindes, Gatten, Vaters, Bürger und Menfhen vernadläfli-
gen; fein Eſſay über dag Reifen kann aus den Menjchen Stördhe
machen, und zwar überzeugte Stördhe, Störche von Gefinnung,
die im Stande find, auf ihr VBagabundenthum ftolz zu fein und
auf alle gefitteten Hausthiere mitleivig herabzufehen. Bacon
macht aus dem Reifen eine erhabene Kunft, eine Art Alchymie,
die aus Unbedeutendem Gold ſchafft, aus der bloßen Bewegung
eine Form und Manifejtation der dee, aus dem Ausflug einen
alerandrifchen Eroberungszug. Warum nicht reifen, wenn man
mit einigen Thalern in der Taſche ein Goldmacher, Künftler und
Eroberer werden fann? Auf, nah Balencia! ruft der Eine:
„En route pour la France!“, der Andere, „Stalien! Weib
pad ein!” der Dritte — und der Vierte, wenn er fich zufällig
in Hamburg aufhält: Auf, nad Altona, nad Kiel, nad Kopen:
bagen zu Thorwaldſen, nad Heljingör zu Hamlet!
Man hat den Eſſay von Bacon gelefen, man fühlt fi von
der heiligen Pflicht durchbrungen, wieder einmal einen Winkel
der Welt zu beſchauen; ſchon hat man einen Handfad gepadt,
488 Pilder au3 Dänemark.
ihon einen gefälligen Freund beredet, einige Stationen weit mit:
zureifen, jchon find wir im Bahnhof von Altona. Wir braufen
durch den jhönen Wald non Pinneberg, dann weiter durch das
ftammverwandte, bier etwas monotone Land von Holjtein und
find nad drei Stunden in Kiel, um uns fofort zu überzeugen,
daß wir an der Gränze Deutichlands, dem MWefen nach im äch—
teften Deutichland find. Denn
a) ijt die berrlihe Bucht, die fich gleich bei Ankunft vor
uns aufthut, in Deutichland jelbit jo unbefannt, wie fie es als
eine deutiche Schönheit jein muß,
b) liegt in ihr, dem herrlichjten Kriegshafen ver Welt, in
dem eine deutiche Flotte wie in Abrahams Schooß ruhen fönnte,
nicht ein einziges deutjches Kriegsſchiff,
e) iſt diefer herrlichſte deutſche Hafen halbdäniſch,
d) hat er ſchon Franzoſen und Engländern die erſprießlichſten
Dienite geleiftet,
e) hätte ihn Rußland gar zu gern.
Uebrigens ijt Kiel nicht peu connu en histoire, und wir
wollen uns bei Bejchreibung feiner Giebelhäufer und ftillen
Gallen um jo weniger aufhalten, als dieſe noch ftiller waren als
gewöhnlich; denn die hundert fünfundzwanzig Studenten und
zweiundvierzig Lehrer, deren fich die berühmte Univerjität er:
freut, waren meijt auf Pfingjtreifen. Auch wanderten wir fo:
fort durch die prächtige Allee, an wohnlichſten Landhäuſern vor:
bei nad) dem idylliſchen Seebade Düjternbroof, das viel zu
wenig befannt ift, einer Anhöhe entgegen, um eine Weberjicht
des Golfes zu gewinnen. Da famen wir an einer großen Merk:
würbigfeit vorbei, an einem Erzeugniß deutſchen Fleißes, deut:
cher Gelehrjamfeit und deutſcher Affimilirungsfraft: ich meine
die Cyklopen-Mauer, die nicht von Cyklopen, fondern im Gegen:
theil von dem gelehrten Archäologen Forhhammer aufgeführt
worden und welche die Beitimmung hat, die Chaufjee gegen das
Gerölle einer Anhöhe zu jehügen. Sie fam mir vor, wie ein
Cyklop in Frad und weißer Kravatte. Ihren mit Kunft wild—
Bilder au Dänemark. 489
gemachten Steinen jieht man den gelehrteiten Willen an, ſich
wild pelasgiſch an einander zu reihen und fo zu thun, als jtän:
den jie in Mykene und nicht in Düjternbroof -- eine Abjicht,
die offenbar fo gut gemeint ift, daß fie nicht im Geringiten ver:
jftimmt. Ich bevauere nur die Archäologen der Zukunft, die,
eine Collopen: Mauer in der Nähe von Hünengräbern findend,
erjt recht nicht willen werden, was aus den Peladgern zu ma:
hen; waren fie Urgriechen, waren fie IleAuoyoı, oder waren
fie jogar Germanen? Bei diefer Gelegenheit erlaube ich mir
ebenfall3 eine Frage. Warum hat man noch nicht folgende Hy:
potheje aufgeftellt? Pelasger und Hellenen bildeten urſprünglich
einen Staat, aber eine Art Feudalſtaat. Die Pelasger waren
die herrjhenden Könige und Barone, die in den cyklopiſchen
Bauten hausten; die Hellenen waren die unterbrüdte und be:
berrichte Menge. Die Hellenen, die wir bereit3 aus Mythe und
Geſchichte kennen, find die durch Nevolutionen bereit3 befreite
Menge, welche, halb republifanifh, halb monarchiſch, in neuen
Ideen und alten Traditionen lebend, die neue Kulturperiode be:
ginnen. Das gehört freilich nicht hieher, aber ſolche Fragen er:
füllen die Quft einer Univerfitätsftadt und drängen fi beim
Anblid einer funfelnagelneuen Cyklopen: Mauer mit Gewalt
beran. Doch konnten fie uns nicht die Ruhe rauben, die man
mit der Luft vom Düfternbroof einathmet. Das Wehen und
Liſpeln in den üppig belaubten Bäumen, die ftillen Landhäufer,
die mäßigen Hügel, die den Golf befränzen, das janft dahin:
jtreihende Segel, der milde Wellenſchlag, die Fiicherbörfer am
anderen Ufer — Alles flößt den Glauben und das Gefühl ein,
daß bier aufgeregte und franfe Lebensgeiſter und Nerven auch
ohne Seebad zu Gejundheit und Ruhe gelangen. Hier badet
vor Allem die Seele in fanftem und erfriihendem Wellenfchlag.
Hier findet der ruhelofe Wanderer wieder einen jener unzähligen
Punkte, wo er die erfehnte Hütte oder das beſcheidene Landhaus
mit zehntaufend Bänden ausgewählter Bücher, mit Statuen im
Garten, mit italienischen Bildern in den Stuben, mit Rheinwein
490 Bilder aus Dänemark,
im Keller zu befigen wünſcht. Man fieht, ich jchildere vie
Schönheit ver Natur nicht in ihren Einzelheiten, jezirend, ana=
tomilirend, tödtend, fondern wie ein Meilter in ihren Wirkun—
gen auf dad Gemüth.
Gegen Abend machten wir einen Spaziergang um das
Außerfte Ende des Golfes, und auf diefem Wege hatten wir einen
Cicerone, wie man fih ihn unmöglich beffer wünſchen kann,
denn diefer Gicerone verjteht e3 nicht nur, mit Bauern und Fi:
ſchern Plattveutih und die Sprade ihres Herzens zu fpreden,
er veriteht und deutet auch die Sprache des Straudes am Wege,
der Welle am Strande, des Vogel3 und der Abendwolke. Der
Lefer wird mir Das glauben, wenn ich ihm fage, daß diefer Ci:
cerone Klaus Groth Duidborn beißt. Es kennt ihn hier jedes
Kind — mas kein Wunder wäre, da er den Kindern das jchöne
Buch Bor de Goeren gefchrieben, wenn die Kinder nicht die
größten Egoiften und undankbarſten Geſchöpfe der Welt wären,
die fih wenig um die Urheber der Gedichte kümmern, die fie
auswendig lernen — und es kennt ihn jeder Erwachſene. Ein
Mann, der uns feine Wohnung nicht zu zeigen wußte, ſchämte
jich diefer Unmiffenheit und verficherte, daß er den Poeten ganz
wohl fenne. Mir entriffen ihn feiner gemüthlihen Dichter:
wohnung, und er führte uns durch einen langen, von Heden
eingefaßten Hohlweg der Art, wie fie für Holitein im Ganzen
harakteriftifh fein fol. Diefe Heden haben den holfteinijchen
Jägern den Krieg fehr erleichtert, und diefer Umftand ſowohl,
als diefe Heden erinnerten mid an das Boccage, das, ebenfalls
von ſolchen Hohlwegen und Heden durchſchnitten, den „großen
Krieg“, den Krieg der Chouans gefehen und, duch feine Be:
Ihaffenheit begünftigt, ihn fo verlängern und wirkſam maden
fonnte. Beide Länder haben überhaupt in Natur und Geſchichte
viel Aehnlichkeit. Beide find zum Theil angeſchwemmter Grund,
und die Bewohner beider mußten fi gewöhnen, auf dem ſchwan—⸗
fen Boden mit ftrammen Beinen zu ftehen, und in ſich viel Rube
und Widerſtandskraft ausbilden; beide führten Kriege für
Bilder aus Dänemarf. 491
ihre Unabhängigkeit; die Bewohner Holfteins möchten fich ihrer
Regierung mit derfelben Loyalität entäußern, mit der die Söhne
de3 Boccage an der alten hingen; das Boccage hatte in feinem
Bejtreben ebenfo die Majorität der Nation gegen fih, wie Hol:
jtein die Majorität der vaterländifhen Negierungen. Db die
von Boccage eben fo ebrenfefte und redliche Leute find, mie die
Holiten, weiß ich freilich nicht, da ich, in jenen Gegenden wan-
dernd, feinen folhen Apologeten feiner Heimat an der Seite
hatte, wie bier. Klaus Groth erzählte mir won der Tüchtig:
keit und Ehrlichkeit feiner Landsleute mande ſchöne Geſchichte.
Eine ziemlich hochgeftellte Gerichtsperfon beklagte fi beinahe
über ihre Ueberflüfligkeit, da in ihren Gerichtsbezirken fo viel
wie Nichts zu thun fei. Kein Verbrechen, fein Vergehen! Cin
Königreich, ein Dänemark für ein Verbrechen!
In einem gewiſſen Gehölze dieſes Bezirkes, an einer Quelle,
an der ein Weg vorbeiführt, fteht feit zehn, ſage feit zehn Jah—
ren dafjelbe Trinkglas. Es ift nicht angefettet, wie dergleichen
öffentliche Trinkgefäße zu fein pflegen, es fteht frei da, feit zehn
Jahren, am Wege, an ver freien Quelle. Ich finde diefes Glas
jehr rührend, eben fo mwie ich immer gefunden habe, daß jene
Ketten an den unheimlichen, meiſt eifernen Bechern eine Anklage
gegen das Menſchengeſchlecht raſſelten und zu bemeijen fchienen,
daß es felbit Ketten verdiene. DBejagtes Glas follte, wenn es
einmal fein irvifches Dafein bejchließt, in jeinen Scherben im
Germaniſchen Mufeum aufbewahrt werben.
Noh Manches fanden wir, was in ein Germanifches Mus
ſeum paßte, 3. B. in dem Dorfe, dem wir und um den Golf
biegend näherten, auf vielen Giebelfpigen der Bauernhäufer und
Scheunen jene geheimnißvollen Pferveköpfe, welche wahrſchein—
lih aus uralter fächfifcher Zeit ftammen und die Mande al3
Veberrefte des Wodansdienſtes betrachten, oder im Sandfruge,
einer gemüthlichen Kneipe, die fich jett geſchmacklos und platt
Milhelminen : Höhe nennt, die berühmte Rothe Grüße, die e3
verdiente, ihre Herrfchaft über weitere Länvderftreden auszudehnen.
492 Pilder aus Dänemark.
Aber ſo ſind die Deutſchen; ſie wiſſen ihre ſchönſten Eigenthüm—
lichkeiten nicht geltend zu machen.
Dann kamen wir in ein anderes Dorf, Ellenbeck, ein lieb—
liches Neſt, wie gemacht, um eine Idylle dahin zu verlegen; ein
ins Nordiſche und Gemüthliche aus dem Südlichen und Antiken
überſetztes Bild Leopold Robert's. Klaus Groth mußte ſich da
ſehr heimiſch fühlen, und darum mußten wir ihm trotz Sturm
und Regen dahin folgen. Es liegt unmittelbar am Golf, an
einem kleinen Abhange, von dem herab ſich zwiſchen den Hütten
breite, mehr als jene archäologiſche Mauer pelasgiſch ausſehende
Treppen herabziehen. Auf den Stufen zerſtreut ſitzen Weiber
und Mädchen am Waſſer, treiben ſich unzählige blondköpfige
Kinder herum, die ſich neugierig um die Fremden drängen, an
den Bäumen hängen Fiſchernetze, welche die Eigenthümer mit
langen Nadeln ausbeſſern. Man lädt uns ein, in die Hütten
zu treten, die reinlich und wohnlich ſind, jedoch wie Schiffskajü—
ten anmuthen. Es iſt, als hätten ſie hier ihre Schiffe ans Land
gezogen, um von einem langen Wanderleben in gaſtlicher Bucht
auszuruhen. Aber die Knaben ſptechen von neuen Reifen, und
Einer will Admiral werden. Vielleiht haben wir mit einem
fünftigen Suffren, Jean Bart oder Tromp geſprochen.
Abends fuhren wir unter einem Negenbogen über den Golf
zurüd dem Dampfihiffe zu, und ich verlafje Freund und Gaſt—
freund.
Wann treffen wir uns, Brüder,
Auf einem Schifflein wieder?
Mid Einjamen trägt die Prince fort, und zwar dem
Sturme entgegen, fo bald wir die friedliche Bucht von Kiel hinter
und haben. Der Mond, die Sterne, der ganze Himmel mar
ſeekrank. Und Gräßliches begann, foldhes, das man am Beften
nicht bejchreibt. Als ich des Morgens, bei heiterem Sonnen:
lihte, aus den Tiefen auf das Verded tauchte, fchlichen geftern
noch blühende Gefihter umher wie Schatten, die den Obolus
vergejjen und um den Cingang der Unterwelt ſchweben. Aber
Bilder aus Dänemarf. 493
bier loden ſchon die grünen Ufer Amager's, dort grüßt Schweden,
mit jenem Malmö, das uns fo viel Verbruß und Kopfbrechen
verurfachte in Zeiten, die entſchwunden find.
Kopenhagen präfentirt fih fo ſchön, al3 man ed nad den
rühmendſten Beichreibungen erwartet. Läge es nicht fo flach,
erhöben ſich feine binterften Häuferreihen nur etwas über die
vorderen, hätte e3 einige begränzende Höhen im Hintergrunde,
e3 könnte fich mit den fchönft gelegenen Seeſtädten meflen. Die
beiden Fort3, die fih am Cingange in den Hafen unmittelbar
aus dem Waſſer erheben, tragen, wenn aud nicht durd ihre
Bauart, doch dur ihre Lage das Ihrige zur malerifchen Schön:
heit Kopenhagens bei und tröften wohl ſchon dadurch die patrio⸗
tiſchen Dänen, die alles Däniſche gern gelobt fehen, darüber,
vaß fie ein englifhes Bombardement eben fo wenig verhüten
fönnten, als e3 ehemals die alten Befeftigungen vermodhten.
Der Hafen dehnt fih groß und herrlih aus. Er ift in zmei
Theile gefhieden; in dem einen drängen fich voll Leben und Be:
wegung die Handelsſchiffe aller Nationen, in dem anderen ſchla—
fen die Kriegsſchiffe einen traumlofen Schlaf. Dieſe Orlogs—
fchiffe find gewaltige Gebäude, aber wie der Name ung veraltet
fcheint, fo ſcheinen fie jelbjt veraltet und obfolet. Wie fie abge:
tafelt und unter Dächern da liegen, machen fie den Eindruck,
als hätten fie ſchlafend die Dede über ven Kopf gezogen und als
murmelten fie: wir wollen ſchlafen, die Gefhichte, die da draußen
vorgeht, gebt und nicht® an. Gott und die Dänen mögen
e3 mir verzeihen: diefe alten Kriegsſchiffe erinnerten mich an die
osmaniſche Flotte, die eben jo, nur etwas mehr vernachläſſigt,
im goldenen Horn ſchnarcht. Was den Türken Navarin, war
den Dänen wohl das englifhe Bombardement, wenn man über:
haupt einem einzelnen Ereignifle den Tod einer Flotte zujchreiben
fann. Einzelne Greignifle in der Gejhichte find meiſt nur
der Schlußpunft einer Periode, und es liegt im Grunde wenig
daran, ob diefes Ereigniß einige Jahre früher oder jpäter ein-
tritt. In Beziehung auf Flotten if das noch mehr ver Fall,
494 Bilder aus Dänemarf.
als in Beziehung auf jedes andere Organ einer Nation. In
feinem herrlichen Kriegsheer, in feiner gefeggebenden Berfamm:
lung, in feiner Bank oder Akademie fonzentrirt ih daS Leben
eines Volkes jo intenfio und jo ausgeiproden, wie auf ver
Flotte einer jeefahrenden Nation. Iſt die Zeit diefer Nation
vorüber, dann ijt es gleichgültig, ob fie in Grund gebohrt, ob
fie entführt wird, oder ob fie unthätig im Hafen verfault.
Daß die im Kriegshafen ſchlummernde Flotte dereinſt Däne—
mark einen refpeftablen Theil der Weltherrichaft gegeben , daß
die daneben noch ein: und auslaufenden Handelsſchiffe bis auf
den heutigen Tag ihre Pflicht thun, erfennt man bei den erjten
Wanderungen duch die Stadt. In vielen Theilen Stille und
Dede, wie in einer penjionirten Großjtadt, in vielen anderen
Leben und Bewegung eines vergnügten und wohlhabenden Völk
leins, das nicht verlernt hat, feine Kräfte zu brauchen, fich zu
regen und im Gefühle feiner Kräfte und in der Sicherheit, die
Fleiß und Muth gewähren, ſich der Freude hinzugeben. Aber
die Stadttheile, die aus alter Zeit jtammen, zeugen von einer
Größe, einem Bemwußtfein, einem ausgeſprochenen Charalter,
weldhen die modernen Straßen nicht aufzuweijen haben. Es ijt
der Anfang des 17. Jahrhunderts, der Kopenhagen den Stempel
aufgevrüdt hat, welchem es jeine biftoriihe Phyfiognomie
verdankt, und in der That iſt das die bewegtejte, am Weiteften
ausgreifende, jo zu jagen, fosmopolitifchite Zeit Dänemarks.
Die Gebäude, die aus diefer Zeit jtammen, wie 3.2. die Börſe,
haben einen größeren und edleren Charakter, als ihre Zeitge:
nofjen aus anderen Ländern, in denen in biefer Epoche fchon
Kraft und Gefchmad des ſechzehnten Jahrhunderts erſtorben
waren. Dänemark aber befand ſich damals in voller Thätigkeit
und war dazu in ſeinem Norden außerhalb des Verfalls, der
ſich des ganzen Südens bemächtigte. Dieſer Umſtand iſt für die
bedeutenden Bauten Dänemarks überhaupt bezeichnend. An
Schlöſſern und Paläſten, die erſt unter Chriſtian IV. aufgeführt
ſind, entdeckt man mit Staunen eine Einfachheit, eine Kraft,
Bilder au Dänemark. 495
einen Gejhmad, wie fie weiter füblih nur zu Anfang der Re
naijjance, ungefähr hundert Jahre früher, vorfommen. In der
Friſche des Nordens hat fich die ſchöne Südfrucht länger konſer—
virt, al in ihrer Heimat, und unter Chriftian IV. fühlte fi
Dänemark, caeteris imparibus, wie ſich Frankreich unter
Franz I. gefühlt hatte. Aber im Verlaufe des fiebenzehnten
Jahrhunderts kam es mit dem übrigen Europa fchon zu fehr in
Berührung; die Gejchmadlofigfeit des großen Jahrhunderts
Ludwigs XIV. machte fi) auch hier geltend, und Perüde, Zopf
und Puder charalterifiren bier wie in anderen Städten, was
Könige, Adel und Zünfte gefchaffen. Doch auch diefe Schöpfun:
gen zeugen noch vom jpeziellen Reichthume Dänemarks und von
ver Verſchwendung des Adels und der Könige, bie immer an
Verſailles dachten, bier wie in anderen Ländern. Die Kapitel:
Ueberſchriften der Gejchichte, die man aus dem fteinernen Buche
Kopenhagen herausleſen kann, laſſen fih alfo ungefähr wie
folgt bezeichnen: Nachträglices 16. Jahrhundert (fiehe Börfe,
Arjenal und einige Kirchen); überwundenes Hof-Lafaienthum
(ſiehe die verödeten, geradlinigen Straßen mit Wappen und
Gijengittern und die grasbewachſenen Plätze vor den Schlöffern);
fortlebendes Bürgerthbum am Hafen und in der modernen Stadt,
und endlich neuejter Anbau des fonftitutionellen Staatsbürgers
und die Landhäufer, in denen Börſen-Spekulanten, wie überall,
von ihren Spekulationen nicht ausruhen.
In diejer legteren Beziehung, was die neuen Bauten und
ihre Bewohner betrifft, hat Kopenhagen Aehnlichkeit mit allen
großen Städten des Kontinents; was e3 aber auszeichnet, ift
jeine berrlihe Natur, die eigentlih feine Architektur, feinen
Neihthum und feine Armuth gleihgültig macht. In welchem
Buftande immer, Kopenhagen in feiner Lage wäre ftet3 eine rei:
zende Stadt — und wäre es gebaut wie Mannheim. Sie liegt
in einem Strauße, den Amphitrite lächelnd in Händen bält und
den Göttern des Olymps zeigt. Es gibt wohl fein Meer, das
zugleih mit einer folhen Stadt eine folhe Fülle der Vegetation
496 Bilder aus Dänemarf,
mwieberfpiegelt, und wohl fein Seeufer, das fich bis zum äußer-
ften Rande mit ſolchem Kranze ſchmückt. Die Zweige der Linde
und der Eiche, die Blüthen des Apfelbaumes und des lieder:
ftrauches niden ihre Grüße den geheimnißvollen Meerpflanzen
zu, die ihnen aus kryſtallener Welt entgegenbliden. Die joge:
nannte „Lange Linie”, die aus dem Treiben des Hafens, an
der Gitadelle vorbei, hart am Meere durch dichten Laubſchatten
dem Norden entgegenführt, während neben dem Spaziergänger
der Fiſcher mit dem Ne in der Hand durchs Waſſer matet,
linf3 überall freundlide Häufer aus dem Gebüfche bliden, rechts
unzählige Segel weißfhimmernd fich von der blauen Fläche ab:
beben und den Sund beleben, aus naher Ferne die Küfte Schwe:
dens grüßt, und ganz nahe vor ung feenhaft duftig hinter fei-
nen Dünften und binter dem durchſichtigen Schleier, den der
Hafen aus Tauen und Naaen webt, die Stadt wie eine Fata
Morgana zittert — die Lange Linie ift an ſchönen Sommer:
tagen gewiß einer der jchönften Spaziergänge der Welt. Ihre
Schönheit muß Odyſſeen weden in jeglicher Phantafie und jene
Sehnsucht ins Unerivliche, wie jedes große Kunſtwerk. In diejer
Allee auf: und abwandernd, glaubte ich nicht mehr, daß jene
Nordlandsreden nad) Sizilien, Peloponnes und Byzanz fegelten,
um einer rauhen Heimat zu entfliehen, ich glaubte, daß die
Eine Schönheit in ihnen die Sehnfuht nah der anderen er-
mwedte, und daß fie die Herrlichfeit des Südens aufjuchten, weil
fie die Wahlverwandtichaft alles Schönen dazu zwang. Sie ma-
ren die unmwillfürlihen Boten, die dem griechiſchen Archipel und
dem Hellespont die Grüße der norbijchen Gejchwifterlinder, der
baltifhen Infeln und des Sundes braten. Freilih habe ich
die Lange Linie an jonnigen Juni:Morgen und «Abenden durd-
wandert; in Dezember:Tagen hätte ich ſchwerlich ſolche Phanta—
fieen gehabt.
Aber Thorwaldſen! Rechtfertigt nicht auch diefer nordifche
Grieche ſolche Phantafterei?
Man kann nicht von Kopenhagen ſprechen, ohne immer und
Bilder aus Dänemark. 497
immer an Thorwaldfen zu denken; er ift der Genius loci, er
erfüllt die Stadt in allen Räumen, bis in die entfernteften
Winkel, wie ein Gemäfjer, wie ein Duft. Schon auf hoher Eee
jagt der dänifche NReifegefährte zum Fremden: Sehen Sie dort
den ftumpfen Thurm mit dem Kreuze darauf? Das ift die Frauen:
firhe; da ift die große Zohannes : Gruppe, da find Ehriftus und
die Apoftel und der Engel mit dem Taufbeden von Thorwalbjen.
Im Hafen erinnern die gefhnigten Schiffsfiguren an die Schule,
die der große Biloner bei feinem Pater durchmachte, die Pri—
märſchule in Holz; an Landhäufern und in den Straßen ſieht
man Basreliefs und Zeichnungen nah Thorwaldſen; in den
Häufern Krüge, Blumentöpfe, Vaſen in Biscuit und gebrannter
Erde, die den Einfluß eines von den Mufen und Grazien ges
jegneten Genius befunden. Endlich gelangt man auf den Plap,
wo neben der Königeburg und dem Haufe, in dem fich die Ver:
treter de Landes verfammeln, fich wie ein Tempel das Thor:
waldſen-Muſeum erhebt, und tritt man in dieſes Mufeum, das
an fiebenhundert Werke des Meifters enthält, und denkt man
noch an die Frauenkirche und an den Einfluß, den diefes Genie
auf feine Landsleute ausgeübt, und an den gerechten Stolz, den
e3 ihnen eingeflößt — dann muß man zugeben, daß nie ein
Künftler jeine Vaterſtadt fo reich befchenkt hat, wie Thorwaldſen
Kopenhagen. Dan muß befennen, daß wenige Menjchen in ver
Geſchichte ihr Vaterland auf fo ſchöne Weife ausgeftattet, daß
wenige auf diefe Art Mohlthäter ihrer Landsleute geworden. Und
diefer Mann bat in dem monumentjüchtigen Kopenhagen kein
Monument? Nein! Aber man kann darum den Takt und den
guten Gejhmad der Kopenhagener nur loben. Mit größerem
Nechte als die Londoner Paulskirche kann Kopenhagen dem Frem—
den antwprten: Quaeris monumentum? Cireumspice! —
In der That ift ganz Kopenhagen fein Monument. Vor ihm
war es ein Kaufmannshafen, in dem berrfchfüchtige Adelige,
ganz und halb verrüdte Könige ihr Weſen trieben, und nebenbei
eine ſchöne Stadt — jebt fieht, wer Augen hat, zu jehen, Geifter
Morig Hartmann, Werte IM. 32
493 Bilder aus Dänemarf.
dur die Luft jchreiten, die ſchön find, wie Thorwaldſen'ſche
Grazien, und dem Empfindenden jind in ſolcher Gejellihaft Nacht
und Morgen fo hold, wie jene Basreliefs, die wir alle kennen.
Denn mit dem Genius fteht die Natur im ewigen Bunde,
Was dir Eine verjpricht, Leiftet die Andre gewiß.
Das Thorwaldjen:Mufeum ijt die größte Merkwürdigkeit
Kopenhagens und allein ſchon eine Reife werth. Es ift einzig in
jeiner Art, denn nie hat jich eine Nation diefe Mühe gegeben,
die jprechenden Zeugnifje der Größe eines ihrer Söhne jo ge
wifjenhaft und fo volljtändig auf einem Punkte zu verfammeln,
wie e3 hier geſchehen. Diejer Tempel ift das innere eines großen
und fchöpferiihen Lebens, und ftaunend blidt man hinein und
faft erjchroden über die Kraft, die Einem gefegneten Menjchen
verliehen jein fann. Dan blidt in diefe großen Hallen und Heinen
Loggien, die mit Werken der Schönheit angefüllt find, und man
glaubt, in den Geift des Bildners zu fehen, aus deſſen weiten
MWerkftätten und ftillen Winkeln die herrlichen Gedanken gebildet
und verkörpert hervortreten. In der Mitte diefer lebenden Ge:
danten liegt das Grab des Künftlers, und um das Grab und
die Werke drängt ji ein Volk, das fi an diefen Gedanken er:
friſcht — und die Unfterblichleit wird ein faßlicher, fich ver:
förpernder Gedanke.
Es kann meine Abficht nicht fein, einen Führer durch dieje
Galerie zu jchreiben: das ift ſchon auf eine bejjere Weije ge:
ſchehen, als ich «3 zu thun im Stande wäre. Ich will nur auf
eine Seite des vielfeitigen Thorwaldſen'ſchen Genius aufmerf:
fam machen, welche man über feinen höheren Schöpfungen, den
rein idealen, meift zu fehr überfehen hat: ich meine jein Talent
für das Portrait im Medaillon, in der Büfte und in der Statue,
Hier ift eine Schaar von zeitgenöflifhen Gefichtern verjammelt,
welche dereinft dem Hiftorifer, der in Geſichtern wie in Akten:
jtüden zu leſen verfteht, jo gut dienen werden, wie die zuver:
läfligjten Quellen. Die Phyfiognomieen Wilhelms von Humbolbt,
Bilder aus Dänemarf. 499
Joſeph Poniatomsty’3, Pius’ VII, Horace Vernet’3, Kardinal
Confalvi’3, König Ludwig's von Baiern, Napoleon’3, Walter
Scott’3, Lord Byron's, Metternih’3, Schwarzenberg’3, Aleran:
der’3 von Rußland, Chriſtian's VIIL., Friedrich's VIL, Tiedge's
und unzählige andere find eben fo viele Blätter aus unferer
Kultur, aus unferer Leidend- und Freudengeſchichte. Die Por:
trait Statue, die fi in der legten Loge der linken Galerie be-
findet — fie ftellt irgend eine Gräfin oder Fürftin vor, ich
glaube die Fürftin Bariatinsgfa — gehört mit zum Schönften,
wa3 in diefem Genre überhaupt gemadt.ift. ch glaube nicht,
daß die griedhifch römische Zeit, die in diefem Fache fo ftark war,
etwas Schönere hervorgebracht, und daß ich übertreibe, wenn
ich jage, daß fie die fogenannte Julia im Louvre übertreffe. Sie
ift entzüdend durch Schönheit, Anmuth und Leben; die geheim:
nißvollſte Spealifirung der Realität. — Es iſt ſchwer, fich bei
Thorwaldſen darüber Ear zu werden, was ihn zu einer befon-
deren Perjönlichleit made, was ihn von den großen Meiftern
der Antike unterfcheivde. Der äußeren unterjheidenden Merkmale
in der Skulptur find fo wenige, und nähert man fich dem Speal,
jo nähert man ſich der Antike und erfcheint höchſtens als ihr
Fortjeger, wenn man nicht als eine ganz ausnahmsweiſe Er:
jheinung mit riefiger Kraft wie Michel Angelo aus dem Zu:
ſammenhange mit der Weltgefhichte heraustritt, wie ein Titan
aus der Reihe der Olympier, oder wenn man nicht, wie Ber:
nini, die Kunft, die der Emwigfeit angehört, dem flüchtigen Mo—
mente unterwirft. Die Portraits Thorwaldjen’3 halfen mir,
gaben mir den Schlüfjel zu feiner Eigenthümlichkeit, jeiner Pers
ſönlichkeit. Wie er diejen ihre Geſchichte, ihren ethiſchen Inhalt
zu geben und fie dadurch zu ibealifiren, da, wo die weibliche
Schönheit vorwaltet, zur höchſten Jpeal: Statue zu erheben ver:
jteht, jo gibt er wieder den Ideal-Statuen eine Heine Doſis
Realität, die fie ung menſchlich näher bringt. Die gewilje Un:
nahbarfeit, die auf der griechiſchen Skulptur al3 auf einer vor:
zugsweiſe religiöfen Kunft liegt, entfernt uns nicht von den
500 Bilder aus Dänemarf.
Thorwaldſen'ſchen Idealen; fie erfüllen uns auch nicht mit jener
unendlichen Wehmuth und Sehnfucht, die vielleicht aus dem Ge:
fühle der Entfernung zwifchen ung und dem Ideale entjpringen.
Thorwaldſen ift unjer Zeitgenofle ; feine Ideale ftehen ung näher,
jo zu jagen nit auf jo hohen Piedeftalen, wie die Antike, darum
vielleicht überhaupt tiefer. Er ift weniger olympiſch, er iſt mehr
irdifch; er ift ein Grieche, fo weit e3 der große Künjtler immer
ift, aber er ift ein Sohn unferer Zeit. Er ift, abgejehen vom
Hinten eines jeden Vergleiches, ein umgekehrter Goethe; während
diefer die Realität ivealifirt, gibt Thorwaldjen dem Ideale einen
Beigefhmad der Realität.
Da bin ih, wo jeder Deutiche anlommen muß, wenn er
eine halbe Stunde geplaudert hat, und wo er nicht aufhören
fann, wenn er ſich nicht mit Energie Schweigen gebietet. So
will ich bier meinen erjten Brief jchließen.
Il
Ich ſchreibe Ihnen zwijchen halb zehn und zehn Uhr Abends,
am Fenfter figend, ohne anderes Licht, als das mir der Himmel
direkt zufendet. Die Laternen auf dem Kongens Nytorv, dem
größten und ſchönſten Plage Kopenhagens, auf dem mein Hotel
liegt, find zwar entzündet, aber fie verzehren ein äſthetiſch-nutz—
loſes Fladerleben. Sie beleuchten nur ſich jelbft, aber Niemand
bedarf ihrer, jo hell iſt es noch in diefer Stunde, und diefe Helle
verwandelt fich noch jpät in der Nacht in ein bloßes Zwielicht.
Obwohl man das Alles von der unterften Schule her weiß und
und e3 fich berechnen fanı, daß es in Kopenhagen im Juni fo
ift und fein müſſe, überrajcht die Erfahrung darum nicht minder
und erfreut, wie eine Probe, welche die Richtigkeit eines gelösten
Rechen » Erempelö beweist. Diefe von der Natur gelieferten
florentinifchen Nächte willen die Kopenhagener, das vergnügungs«
Bilder aus Dänemart. 501
ſüchtigſte Völfhen der Erde, mit Vortheil auszubeuten, eben jo
wie fie im Winter den gefrorenen Sund zu Schlittſchuh⸗Partieen
im großartigften Maßſtabe und zu allerlei Unterhaltungen über
den Abgründen des Meere3 zu benugen verftehen. Die beiden
Vergnügungsorte Tivoli und Alhambra können lange juchen, bis
fie ihres Gleichen finden. Sie übertreffen bei Weitem Cremorn
gardens, Vauxhall, pr& Catalan und Wurftelprater — wenn
nicht durch ihre Ausdehnung, jo doch durch den Gejhmad ihrer
Anlagen, dur die Gemüthlichkeit ihrer Atmofphäre und durch
den Reihthum und die Mannigfaltigkeit ver Genüfje, die fie für
wenige Kreuzer bieten. Da findet man jegliche Art won Unter:
haltung, von der kindiſchſten angefangen, bis hinauf zur künſt—
lerifhen. In Alhambra gewährt ſchon der bloße Anblid der
ganzen Anlage im reinften maurifhen Style einen wahrhaft
füntlerifjhen Genuß; das Heine Theatergebäude dafelbit ift ein
wahres Kleinod, und die Leiſtungen feiner Künftler ftehen in
feinem zu argen Mißverhältniffe zu der jhönen Schale. Ich fah
dafelbjt eine Ballettänzerin, die das große Stadttheater hatte ver-
laflen müfjen, weil fie den Hermelin ihres Nufes etwa® befledt
batte. So tugendhaft ift man in Kopenhagen, und folche An:
forderungen ftellt man ſelbſt an Ballettänzerinnen! Tivoli hat
vor Alhambra die größere Ausdehnung voraus und befaß außer:
dem no vor Kurzem eine große Menagerie, deren beveutendite
Mitglieder, al3 da find Tiger, Eisbären ꝛc., vor einigen Tagen
auf das Jämmerlichſte zu Grunde gingen. Der Paris, der den
Untergang diefer Helden verurfachte, war, wie immer, ein Affe.
Er jpielte mit dem Feuer, das ift mit Zündhölzchen, und vie
ganze Menagerie ging in Flammen auf. Die armen Thiere heul:
ten in ihren Käfigen, aber die mitleivigften Gemüther konnten
ih nicht entjhließen, einen Tiger, einen Löwen ꝛc. in ihren
Armen aus den Flammen zu tragen. So gingen fie jämmerlich
zu Grunde — auch der Anftifter des Unheil, der Affe, wurde
von den Flammen verzehrt. Man jagt, er wollte fterben. Bei
diefer Gelegenheit ging für Kopenhagen und für mich ein inter:
502 Bilder aus Dänemarf,
eflanter Genuß verloren. Die Kopenhagener nämlich lieben das
Harlequin: und Bantomimen » Theater beinahe fo leidenſchaftlich,
wie die Staliener, und Tivoli wie Alhambra führen alltäglich
ihren Bierrot vor. Der Dichter Henrik Herz, den wir als Ber:
fafler von „König René's Tochter” kennen, fchrieb eine Pan:
tomime für das Tivoli-Theater, und e3 ift vorauszufegen, daß
diejer phantafievolle und romantische Poet etwas Schönes ge:
liefert. Sie jollte gerade in den Tagen meiner Anmefenheit auf:
geführt werden, aber alle dazu verfertigten und ſchon bereit lie:
genden Requifiten find bei dem Affenbrande zu Grunde gegangen,
und ich bin um den Genuß betrogen. D, die Affen! In allen
MWeltgegenden find fie ſchuld am Untergange der Stärke und am
Verderben des Schönen.
Diefe, fo wie alle anderen Beluftigungsorte find gleihmäßig
von Söhnen und Töchtern aller Stände beſucht. Ein vornehmes
Herabfehen oder Abſchließen fennt man in diefer Beziehung nicht.
Die Tochter des Kleinen Krämers luſtwandelt da neben ver ele—
gantejten Dame der bejten Gefellfhaft, und in der That Fönnte
die zismperlichfte Stiftspame diefe Orte befuchen, ohne daß vie
feinjte Stelle ihrer fammtnen Seele verlegt würde. Bei aller
Dergnügungsfucht zeichnet ſich das Kopenhagener Publikum dur
jeinen Anftand, fein maßvolles Benehmen aus. Ich erinnere
mich nicht, irgendwo, auch im ärgſten Gebränge, je ein Symptom
von Rohheit gefehen zu haben. Man wandelt umher, man freut
ih an den Schaufpielen, den gymnaftifchen Mebungen, ven
MWaflerfahrten, ven Feuerwerken, am Orcheiter des großen Lumbye,
de3 hiefigen Strauß und Lanner, und kehrt jpät in der Nacht
eben jo ruhig und heiter in die Stadt zurüd. An ven Beluftigungs:
orten erkennt man e3 klar, wie demofratifh das Land ift. Wie
ganz andere Erfahrungen habe id in Holland gemacht, mo das
Volk roh und gemein, die Stände im höchſten Grade erklufiw
find, und troß aller Gejege die kraſſeſte religiöje Intoleranz
herrſcht! Von all Dem ift in Dänemark nicht die Rede. Die
wenigen Adeligen, die ſich noch etwas auf ihren Adel einbilven,
Bilder aus Dänemarf. 503
jpielen nur eine Heine Rolle im Staate und werden bald gar
feine fpielen. So kann man mwohl annehmen, daß die noch fo
junge demokratiſche Verfaflung aus den Sitten des Volkes ber:
ausgewachſen ift, und daß fie Beitand haben wird; wie man
andererjeit3 annehmen kann, daß Hollands Sitten feiner Ver:
fafjung nicht mehr entſprechen, und daß fein König bald in feinem
Königreiche verfuchen wird, was ihm al3 Herzog von Quremburg
fchon gelungen ift. Als eine Verkörperung dieſes däniſchen Weſens
betrachtete ich mit Freude den ehemaligen Minifter, jegigen Prä-
fiventen des höchſten Tribunals, Herrn Banks, eine Größe Däne—
marks, wie er in feinem grauen, alten Hut, mehr al3 einfach,
dur die Gafjen ging, und ließ ich mir erzählen, wie er al3 Minifter,
mit dem Portefeuille unter vem Arme, auf dem Bode des Om:
nibus zum Könige hinausfuhr, um Confeil zu halten.
Die demofratiihe Verfaffung ift in der That eine Wahrheit.
Alle Elemente des Staates wirken im Staate mit, und alle
Stände mit Ausnahme einer unendlich Heinen Bartei freuen ſich
ihrer aufs Aufrichtigſte. Man fühlt allgemein, daß man auf dem
Niedergange begriffen geweſen, daß dieſe Verfaſſung allen Venen
und Arterien des alten Körpers frisches Leben eingegofien, und
daß man ihr eine Friftung würdigen Beſtehens verdante, Es ift
aud ganz natürlih, daß die Dinge jo geworden find. Dänemarf
litt vorzugsweife unter einer Dligarchie, und nirgends war ber
Adel fo wenig berechtigt, jelbit hiftorifch fo wenig berechtigt, wie
in diefem Lande. Er ging weder aus einer Eroberung, nod aus
Verträgen, noch aus der Nothwendigkeit eines Schußes hervor.
Er bat einfach den freien Bauer unterdrüdt, und der Bauer war
der Hauptbeftandtheil diejes urfprünglich auf Freiheit und Gleich):
heit gegründeten Staates. Er hat feine Freiheit und dag ihm
widerfahrene Unrecht nie vergefien, er erinnerte ſich ftet3 feines
Rechtes, und daß frühzeitig die Könige im Kampfe gegen die hei:
mischen Unterbrüder auf feiner Seite ftanden. Mit ver leben:
digen Erinnerung an die verlorene Freiheit betrat er den Boden
ber neu gewonnenen, nicht als ein Sklave, der die Kette bricht.
504 Bilder aus Dänemark.
Als er fih nad Freiheit jehnte, wußte er, was er wünjchte; die
Freiheit war ihm nicht ein verſchwommenes Ideal, jondern ein
fompaftes Ding, und er brauchte nicht erſt den Uebergang durd)
die Anarchie durchzumachen. Wir werden die Inſel Seeland
durhmandern und uns überzeugen, daß der Landmann ein jo
guter und brauchbarer Bürger ift, wie der Städter. — Aber —
aber! Ueberall gibt es ein Aber.
Wenn Karl Stuart II. von irgend einem Unglüd, Mißver—
bältniß, Verbrechen fprechen hörte, fragte er fogleih: Who is
she? Wer ift fie? — Cr feßte immer voraus, daß ein Weib
dahinter jteden müfje. — Etwas ift faul im Staate Dänemark.
Ueber einen Winkel in feinem Regierungsmwejen wird jeder orbent:
lihe Däne Hagen ; einer gewiſſen Sache wird ſich ever ſchämen.
Who is she? — Sie ift vie Rasmuſſen, die jogenannte Gräfin
Danner. Sie führt, wie man erzählt, eine heilloje Wirthichaft.
Frauen diefer Art und Stellung braudten in Dänemark
nicht jo jchledht zu werden, wie in anderen Ländern. Sie haben
ein Beijpiel vor fih, daß man jelbjt in diefer Stellung einen
ihönen Duft der Weiblichkeit, einen poetiſchen Hauch, die Ach
tung der Gejchichte bewahren und in der Erinnerung des Volkes
geliebt fortleben könne. Gewöhnlich wird als ſolches Beijpiel die
Maintenon angeführt, weil fie ſchöne Briefe ſchrieb und mit diefen
Briefen die Nachwelt täufchte, wie fie die Mitwelt getäufcht hatte.
Sie war die Geliebte eines alten Deipoten, deſſen fcheußlichen
Schwächen und Neigungen fie jchmeichelte, um ihre eigenen herrſch—
jüchtigen und anderen häßlichen Begierden zu befriedigen. Un:
weit von Chriftiansborg, dem Schlofe der däniſchen Könige, ftcht
ein ſchönes Haus mit zwei Giebeln, im Style des fechzehnten
Jahrhunderts, das beherbergte eine Königsfreundin und Geliebte
ganz anderer und jchönerer Art. Hier wohnte Dyveke, das
Täubchen von Amjterdam, tie Geliebte Chriftians II. Sie, fo
wie ihr König und ihre Mutter, die kluge und energiſche Sig:
britte, find drei jo eigenthümliche und theilweiſe rätbfelhafte Er:
Icheinungen, daß eg, meiner unmaßgeblihen Meinung nach, weder
Bilder aus Dänemarf. 505
der Geſchichte noch der Poeſie bisher gelungen ift, fie in ihrem
ganzen Umfange und in ganzer Wahrheit varzuftellen. Man bat,
wie ich meine, viel zu wenig den Urjprung der beiden rauen
berüdfichtigt. Sie ftammten aus dem demofratiihen Holland;
das Schidjal verfchlug fie in ein Land, in welchem eben der Abel
feine furdtbarften Bedrüdungen ausübte und in welchem ein
Prinz beranreifte, der mitten im Volke wild aufmuchs, für dieſes
alle Sympathieen hatte und vor dem Adel zitterte, der Volk und
Königthum zugleich in Sklaverei zu verjenfen drohte. Es bedurfte
feiner Selbjtverleugnung, um fi mit dem Volke zu verbinden;
e3 ift aber fehr die Frage, ob er durd) allerlei Elend der jchlimm:
jten Art, dur Krieg, Niederlage, Verbannung und unendlich
lange Gefangenſchaft auf diefer Seite ausgeharrt hätte, wenn er
nit durch die innigfte Liebe mit Dyvele und durch fie mit ihrer
Mutter Sigbritte verbunden geweſen wäre. Bei der ſtarken Sig:
britte fand er Rath und Muth; bei der fanften und lieblichen
Dyveke Troft und Liebe, und er bedurfte all dieſer Hülfe, der
arme Chrijtian, denn er war verrüdt. Mehr al3 zwei Seelen
wohnten, ad! in feiner Bruft, und dieſe zerrten an ihm und
drohten jtet3, ihn zu zerreißen, al3 wäre er ein an viele Roß—
jchweife gebundener Verbrecher, der zum Zerriſſenwerden verur:
theilt ift. Die Adeligen haben jeine Geſchichte gefchrieben, darum
erjcheint er als der blutigfte Tyrann, während er nur das trau:
rigfte Opfer jeines Wahnfinnes war, und diefer Wahnfinn wieder
war nur die Folge feiner unglüdjeligen Antecedentien und feiner
Stellung. Im Volksleben, aber ohne alle Bildung aufgewachſen,
liebte er das Volk, blieb er rauh und hatte er die Ahnung aller
höchſten Bildungs: und Freiheitideen ; als ein Sohn des fech3:
zehnten Jahrhunderts fühlte er auch die Nothwendigkeit der Gens
tralifirung der Königsmacht und der Auflöfung des Feudalismus.
Er wollte und mußte mit dem Bolfe gehen, und war ein König;
und der Adel, der ihm gegenüberftand, war ftärfer al3 er. Ein
Vater des Volkes, zwang ihn der Noel, ein Henker zu fein.
Proteftant in Dänemark, zwang ihn die Politit, Katholif in
506 Bilder aus Dänemark.
Schweden zu fein; Freund des Volkes in Dänemark, mußte er
das Volk in Schweden befriegen, und den König, zu dem das
däniſche Volk Hülfe ſuchend und hoffend aufblidte, fieht das
ſchwediſche nur, wie er bis an die Anöchel durch das Stodholmer
Dlutbad mwatet. So groß find die Widerſprüche im Schidfal und
in Folge deflen im Charakter und in der Gefchichte diejes Königs,
daß fie feinen Gefchichtfchreiber verrüdt machen fönnten, was
Wunder, daß fie ihn verrüdt machten! Er ging tragiſch zu
Grunde und mit ihm feine plebejifche Egeria und feine Geliebte,
das holde Täubchen. Nur ein großer Piychologe kann dieſes un-
glüdjeligiten aller Könige Geſchichte fchreiben ; der Adel und die
ſchwediſchen Feinde, die es gethban, haben ſich der Pſychologie
nicht befleißigt, und bei legteren erfcheint er um fo werabjcheu:
ungswürdiger, al3 fie ihm ihren Guſtav Waſa entgegenitellen,
der jich vor fo vielen Königen der Erde durch feine Klugheit wie
durch feinen bon sens auszeichnet.
Allein diefe Ausflüge in die Geſchichte find nicht beluftigend,
und wir find bei ven Beluftigungsorten der Kopenhagener jtehen
geblieben. Zu dieſen gehört und fteht in erfter Reihe Klampen:
borg, der jhöne Badeort, mit dem Thiergarten. Hunderte von
offenen Omnibuffen, fogenannte Kaperwagen und unzählige
Equipagen fliegen jeven Sonntag in ununterbrochener Folge da:
hinaus, am Meeresitrande dahin, dur eine Doppelreihe lieb:
licher Lanphäufer, die zum Theil mit Thorwaldſen'ſchen Bas:
relief3 gefhmüdt find, während parallel mit den Wagen Kleine
Dampfichiffe auf der See andere Vergnüglinge derjelben jchönen
Beltimmung zuführen. Man kommt an einem Filcherdorfe vor:
bei, das idylliih und ärmlich mitten unter den behaglichen Land:
bäufern liegt und wegen jeiner vielen Schweine und Kinder be
rühmt ift.
Klampenborg mit feinen im Buchenjchatten träumenden, auf
da3 blaue Meer und das fagenhafte Skandinavien hinauglugen:
den Häufern fieht aus wie eine Kolonie von Glüdlichen, die fich
gejagt: „Genug endlich der Kämpfe und des Jammers der Welt!
Bilder aus Dänemarf. 507
bier wollen wir Hütten bauen und ruhig zufehen, wie gebilvete
Lazzaroni, die wahren und ächten Philoſophen. Wir wollen doch
ſehen, ob e3 nicht möglich ift, glüdlich zu fein.“ Der Thiergarten,
eine Art Wurjtelpraterd, der fih an Klampenborg anſchließt, ift
Klampenborg3 gemeinere, aber dithyrambiſche Fortſetzung; ein
Schlaraffenland, in welchem zum Klange des Leierkaftens und
der Pauke und unter dem Jauchzen der Menge alle gröberen
Genüſſe wahfen. Man fieht fih unmwillfürlih um, ob an den
Eichen und Buchen nicht Pfefferkuchen, Mein: und Bierflafchen
bangen und ob in der Luft nicht die gebratenen Tauben umber:
fliegen. Man ift im höchſten Grade erftaunt. Wer hätte im
kymmeriſchen Lande, im Lande der Hünen, der rauhen Reden,
„der uralt: grauen Nordlandsjage” ein ſolches Phäakenvölkchen
erwartet! Nur die alten Buchen und Eichen, die fih als ein
berrliber Wald, Schlöffer und Seen und murmelnde Bäche be:
fchattend, meit ind Land hineinziehen, lifpeln nordiſch märden:
haft und weben jenen Zauber, den die Balme um die gelobtejten
Länder de3 Morgenlandes nicht zu weben vermag.
Daſſelbe gilt von Frederilsborg Havn, einem großen Parfe,
zu dem man dur das Weſterthor und durch eine recht3 und
lint3 von Luftorten wimmelnde lange Vorſtadt gelangt. Uralte
Bäume, unendliche gemwundene, traumvolle Gänge, Heine Seen
und Kanäle, tiefes Buſchwerk voll Vogelfang, faftig grüne Matten
und Abhänge machen ihn zu einem Aufenthalte, wie ſich ihn nur
das finnigfte Herz wünfchen kann. In der That hat Deblen:
ſchläger in einem holdverſteckten Haufe daſelbſt einen großen Theil
feines Lebens, beſonders die ruhebevürftigen Jahre zugebradht.
Er war nicht fern von bier in einem befcheivenen Haufe geboren
und ruht nun ganz nahe feiner Geburtsftätte in einem jtillen
Friedhof, der mitten unter dem ſtädtiſchen Lurus rings umber
feinen ländlichen Charakter bewahrt hat. Das Haus, das er im
Frederiksborger Park bewohnte, war ihm als ein Alters:Tusculum
von der Regierung eingeräumt worden, auf daß er feine legten
Jahre ſchön und behaglib dahinträume, wie eine gealterte
508 Bilder aus Dänemark.
Nachtigall im Neſte. Dänemark, das iſt bekannt, hat es ſtets ver:
ftanden, die Talente, die es ehrten, wieder zu ehren, und zwar
war diefe Ehre felten unfruchtbar wie der Lorbeer. Es forgte
dafür, daß fie auch nährende Früchte trage, behaglihen Schatten
werfe und niederbrüdende Sorgen verſcheuche. Daß Dem noch
heute jo ift, beweist mir der einzige Bewohner, der das gewal-
tige Friedrichsberger Schloß, das von der Höhe dieſes Parkes
über Kopenhagen auf den Sund ünd meit ins Land fieht, ganz
allein inne bat. Diefer Einfiedler im Schloſſe ijt ein Gelehrter
und heißt Lewin. Gr hat nach großen Studien ein wiljenfchaft-
liches Wörterbuch der dänifchen Sprade & la Gebrüder Grimm
zu Schreiben angefangen. Er war noch beim A, al3 man ſchon
auf die verbienftlihe Arbeit aufmerkffam wurde, und damit fie
der Gelehrte in Ruhe fortfegen fünne, gab ihm der Staat jofort
einen Gehalt von 800 Thalern, und um für Leben und Sterben
jeiner Manufkripte fiher zu fein, kaufte man ihm diefe mit einer
hohen Summe ab. Da er aber diefer Manuffripte zu feiner
Arbeit bedarf, fo machte man ihn felbjt zum Konfervator feiner
Manujfripte und hatte fo unter dem netten Borwand, das Staat3-
Eigenthbum in Sicherheit zu bringen, den noch netteren, dem
verdienjtvollen Gelehrten eine Staatswohnung in dem gewaltigen
Schloſſe mit der herrlichen Ausficht anzumeifen.
Freilicd) ift der dänifche Staat, wenn er fi überhaupt einer
Siteratur rühmen will, gezwungen, viefe offiziell zu ernähren
und aufzumuntern, wenigſtens zum Theil, da das Kleine Publi-
kum dieß zu thun nicht im Stande wäre. Es ift nur die Frage,
ob andere Staaten ebenfalld die Nothwendigfeit einjehen würden
und dieje Ehre zu würdigen wüßten. Verhältnißmäßig gibt fein
anderer Staat Europa’ fo viel Geld zu Bildungszweden aus
und hat feiner jo große, fo viele Bildungs-Snftitute und fo viele
öffentliche und Privat: Fonds zur Unterftügung von Kunjt und
Wiſſenſchaft wie Dänemark, Wir wollen nur einiges hieher Ge:
hörige erwähnen. Es gibt hier eine Gefellfhaft, vie jährlich 20:
bis 30,000 Reichsthaler, eine andere, die 40: bis 50,000 zu
Bilder aus Dänemarf. 509
wiſſenſchaftlichen Zwecken, meiſt zur Unterftügung junger Talente,
ausgibt. Es gibt höhere und höchſte Unterricht3anitalten, welche
die Schüler während der ganzen Zeit ihrer Studien mit Allem,
jelbft mit Tafchengeld verforgen und ihnen ‚wenn fie die Anſtalt
verlaſſen, noch eine reſpektable Summe mitgeben, damit ſie die
erſten Schritte im Leben ungehindert thun und mit Ruhe und
Muße ſich eine Stellung ſchaffen können. Einer ſolchen Anſtalt
angehört zu haben, iſt eine Ehre, und man rühmt ſich ihrer, wie
es der Redakteur des Tageblattes, der geiſtvolle und unter:
nehmende Bille, in der That und mit Recht mir gegenüber gethan
hat. — Die Regenz oder Domus regia, die zur Univerſität ge—
hört, gibt hundert und zwanzig Studenten während der ganzen
Dauer ihrer Univerſitätsſtudien Koſt, Wohnung, Holz und 20
Reichsthaler jährlich und vertheilt außerdem an minder Begün—
ſtigte 9360 Reichsthaler. Das Kollegium Mediceum, Walfers:
dorfs, Eler3 Kollegien ernähren oder unterftügen mit Geld eine
große Anzahl von Studenten. Die Kunftalademie, die ihre
eigenen Fonds hat, erhält trogdem vom Staate alljährlih die
Summe von 12,000 Reichsthalern und theilt 5000 Reichsthaler
al3 Reifeftipendien aus. Außerdem votirt der Reichstag jährlich
bedeutende Summen zu ähnlichen Zwecken. Nach alledem wird
man fich nicht mehr wundern, daß man in Deutichland, Frank:
teih, Stalien fo oft jungen dänifchen Gelehrten, Dichtern, Mu:
filern, Malern, Bilvhauern, Technilern begegnet.
Auch die Wohlthätigkeitsanftalten, wie die Hofpitäler, das
Blindeninftitut 2c., find reich dotirt, und ihre Gebäude haben
meilt ein freundliches, nicht wie in anderen Ländern morofe3
und ascetiches Ausſehen, das den Fremden und den Bewohner
togleih an Noth und Elend erinnern muß. Doch mill ich diefe
nur erwähnen, da ich von der Zmwedmäßigfeit oder Unzweck—
mäßigkeit ihrer Einrihtungen nichts weiß und nichts verſtehe.
Sehr intereffirt hat mich vor dem Ofterthor eine Gruppe gleicher,
ſehr freundlicher Häufer. Es find Arbeiterwohnungen, eine Art
Cite ouvriere, die, frei entitanden und feiner polizeilichen
510 Bilder aus Dänemark.
Auffiht unterworfen, wächst und gedeiht, während die napoleo:
niftifche Grfindung diefes Namens fo wie die Parifer Schweizer:
bäuschen unter dem ſchützenden Auge der Mouchards jämmerlich
zu Grunde gingen, und zwar in fürzefter Zeit — wie eine
Pflanze, über die ein giftiger Wind dahinweht. Voriges Jahr
juchte ich eine foldhe Cit& ouvriere auf, fie war vom Erdboden
verſchwunden und war doch erjt ein Jahr vorher mit Pomp, mit
jozialiftifch -imperialiftifchen Reden und mit frommen Segens—
ſprüchen eingeweiht worden.
Eine ähnliche, aber weit großartigere, bereit3 aus dem An:
fang des 17. Jahrhunderts jtammende Stiftung oder Anftalt
find die Nyboder oder Neuen Buben, welche Chriftian IV., den
man überhaupt den Stifter, Fundator, nennen könnte, ange:
legt hat. Die Neuen Buden bejtehen aus einförmig und einfach
aufgeführten Häufern, die in langen, geraden, langweiligen
gelben Linien neben einander jtehen und dreißig bis vierzig
größere und kleinere Straßen, alfo eine ganze Stadt, bilden.
Bewohnt ijt diefe, einen ganzen großen Winkel zwijchen dem
Dfterthor und dem Wall ausfüllende Stadt ihrer Beitimmung
gemäß nur von dem fogenannten „feiten Stod” der Matrofjen
und Arbeiter der Marine mit ihren Offizieren; ein höherer Offi—
zier, zu Zeiten fogar ein Aomiral, wohnt in ihrer Mitte. Dean
jagte mir, daß die Wohnungen fo eingerichtet find, daß fie durch—
Ichnittlih Familien von acht Perjonen gejund und bequem be—
berbergen können. Das muß wohl fein, da in diefer Seemanns:
itadt jehr viele Zimmer an Studenten vermiethet werden. Dieſes
Zujammenwohnen war höchſt mwahrjcheinlih die Urſache jener
Intimität zwifchen Studenten und Matrofen, die ſich oft genug
zum Schreden der Regierung, meiftens in Aufläufen manifeftirte.
Durch die Straßen diefer Stadt wandernd, muß man annehmen,
daß die Seeleute mit ihren Familien ein ſehr behagliches Leben
führen. Durch helle, mit ſchönen Vorhängen ausgeftattete Feniter
blidt man in ſehr gemüthliche, einfach, aber bequem eingerichtete
Stuben. Wenn die Dinge fo fort gehen, werben dieſe gelben
R Bilder aus Dänemarf. 511
Häufer wohl bald mehr von Studenten al3 Matrojen bewohnt
werben, denn der „felte Stod” wird, wie man mir fagt, im:
mer dünner, was bei dem tiefen Schlafe, den die Flotte fchläft,
bei der Abnahme der Kolonieen und der Zunahme der Bildung
und Gelehrfamkeit nur natürlih wäre. Die bedeutendſte über:
feeifche Befigung, die den Dänen geblieben, ift Island, und auf
dieſes hat Frankreich bereit3 ein lüfternes Auge geworfen. Gie
jollen ji doch ja vor ihrem treuen Alliirten hüten, ver als Lohn
dafür, daß er fie in ihren Ufurpationen in Schleswig - Holjtein
unterftüßt, eines ſchönen Tages die fabelhafte Thule fordern
konnte.
Bei Erwähnung Schleswig-Holſteins bin ich dem patrioti—
ſchen Leſer, der fich von fo viel Lob, das ich unferem neueften
Erbfeinde fpende, gekränkt fühlen fönnte, eine Erklärung ſchuldig.
Ich habe es nicht einen Augenblid vergeflen, daß ich mich im
Lande eines Feindes befinde, und oft wurde ich daran erinnert,
daß der Däne in dieſem Augenblide unfer erbittertjter Feind ijt.
Aber als ich die ſchöne Bucht von Kiel verließ und den dänifchen
Gewäſſern zufteuerte, habe ih e3 mir geſchworen, unparteiiſch
zu fein und zu loben, was zu loben ift. Als ich den Haß und
die tiefe Erbitterung der Dänen bemerkte, wurde ich in meinem
Entſchluſſe nur beitärkt. Ya, fie hafjen ung aufrichtig, und ver
Fehler, den man ihnen allgemein vorwirft, die große Eitelkeit,
ift eine Wahrheit. Aber ich reife nicht, um gegen ihre Eitelkeit
zu predigen und fie zu befehren; ich jehe, worauf fie mit Recht
ftolz find, eine allgemeine Bildung, große Inftitutionen, popu-
läre Einrihtungen, humane Sitten und viel Freiheit. Bom
Feinde lernen, ijt ein altes Gebot höchſter Klugheit, und unpar:
teiiich anerkennen ift deutſch. „Dieß ift unfer !” jagt Goethe.
— — — — —
512 Bilder aus Dänemark.
III.
Die alten Einwohner des alten Gades waren kluge Leute;
ſie verſtanden ſich vortrefflich auf Welt und Menſchen. Bei ihnen
hatten die Götter der Kunſt und der Armuth zuſammen nur
Einen Tempel. Wie Recht ſie hatten, beweiſen ſelbſt jene Länder,
die für Kunſt und Künſtler ihr Möglichſtes thun, wie z. B. Däne⸗
mark. Trotz Allem iſt auch hier ein großer Künſtler dem Elend
zum Opfer gefallen, und zwar der bedeutendſte Vorläufer Thors
waldſen's, welcher Legtere auch nicht fo fir und fertig aus dem
"Boden herausgewachſen ilt, wie der große Haufe gewöhnlich
meint, daß Genied wachen. Sie haben immer Vorläufer, die
den Boden urbar madhen und die Saat ausftreuen. Thorwald—
jen’3 Johannes war MWiedevelt, und wahrlih, er war dieſer
Sendung würdig. Auf dem Mege vom Friedrichsberger Parke
in die Stadt fommen wir an dem Monumente vorbei, das vie
Bauern zum Dank für ihre Befreiung — ſchlechten Schulonern
it man für Bezahlung einer Schuld dankbar — dem Könige
Friedrich VI. errichtet haben. Es befteht aus einem Obelisken,
der auf einem Sodel ruht und deſſen Fuß von vier weiß: mars
mornen Statuen umgeben ift. — Dieje Statuen find edel: ein:
fah, anmuthig und ausprudsvoll und rühren, wie man mir
jagt, von Wiedevelt her. Die eine verjelben, melde Dänemark
vorjtellen ſoll, legt traurig die Hand aufs Herz und blidt, wie
von tiefer Neue geplagt, nach Nordweſten. Dort blinkt das
Maler, in das fich Wiedevelt, müde des Kampfes mit dem Elend
des Lebens, in trauriger Stunde ftürzte. Nun fagt die belebenve
Mothe, daß jene Statue trauere und fi nicht tröften könne über
einen folhen Verluſt und immer nad der verhängnißvollen
Gegend bliden müſſe. Wiedevelt hat hier Kopenhagen fein ſchön—
ſtes öffentlihes Monument gegeben ; das befte nad) diefem ift die
Neiterftatue vor der Amalienburg, dann folgt, dem Werthe nach,
das Standbild Friedrichs VI. im Parke von Biffen, das nicht
jo jchlecht ift, mie die Kopenhagener ſagen; das fchlechtefte und
Bilder au Dänemark. 513
abgeſchmackteſte von allen, eine wahre Karikatur, ift der Fried:
rih oder Chriftian, der auf Kongens Nytorv über Gefangene
und Ungeheuer vahinreitet. Bei der großen Anzahl beveutenver
Künftler, die Kopenhagen befigt, iſt es erftaunlih, daß es mit
dffentlihen Monumenten fo ärmlih und fchleht ausgejtattet er:
ſcheint. Warum benußt es nicht eine fo große Kraft, wie Seri-
hau, um fi der Ehre, Thorwaldſen's Stadt zu fein, würdig
zu zeigen? Sch habe diefen ausgezeichneten Künjtler, der eben
jo würdig ift, Thorwaldſen's Nachfolger zu fein, wie Wiedevelt
ver Borläuferfhaft würdig war, in feinem Atelier befucht und
mich überzeugt, daß er feinen Ruf weder dem feit Thorwalpjen
dem Lande günftigen Vorurtheile, noch der Clique verdankt.
Beide hätten im Gegentheil feinem Auflommen und feinem Rufe
nur ſchaden fönnen. Bei der abfoluten Verehrung für den
großen Meijter find die aus feiner Art und Weiſe abjtrahirten
Negeln zu Dogmen geworden, welche ſich der Anerkennung einer
neuen und unabhängigen Individualität hindernd entgegenitellen.
Die Clique, welche fih nah Thorwaldſen in Dänemark bildete,
ſich die nationale nannte, dadurd die Meinung der Nation kap—
tivirte und jene Dogmen in der That aufitellte, hat auch wirklich
gegen Jerichau Alles gethan, was den Menſchen Tränfen, ven .
Künftler aber durch Befiegung der Hinvernifje ftärfen und feiner
Vollendung entgegenführen mußte. Man nennt Bifjen, ein
großes Talent, dem Thorwaldſen die Beendigung mancher feiner
Werke vererbte, als Haupt jener nationalen Partei oder Clique;
er hat alle Tugenden und alle Fehler des treuen Anhängers und
Jüngers eines hingegangenen Genius. Er hat zu feinem Talente
nod die gute Tradition und die Sicherheit und Ruhe, die ſolche
Tradition der Schule gibt; aber, was anders iſt, als es dieſe
Tradition erlaubt, ift heterodox, ift Ketzerei. Auch die Treue hat
ihre Schattenfeiten, und die Religion de3 Genies hat ihren Fana—
tismus und ihre Opfer, wie jede andere.
Man jagt, daß Jerihau — und Andere mit ihm — unter
diejem Fanatismus haben leiden müſſen. Auch fand ich einen
Morig Hartmann, Werke. II. 33
514 Bilder au3 Dänemark,
Mann, der mir troß aller freundlichen Zuvorfommenbeit und
wahrhaft fünftlerifchen Liebensmwürbdigfeit etwas melancholiſch er=
ſchien. Doc vergaß ich den Schöpfer über feinen Werfen. Eine
Marmorgruppe gab mir ſofort Aufichluß über das Weſen des
Künitlers, in deſſen Atelier ich mich befand, und die anderen
Werke, die ich jpäter betrachtete, beftätigten mir einzeln, was
jene in der Gejfammtheit ausſprach. Die Gruppe ftellt Herkules
und Hebe dar. Aus Einem Marmorblode hat hier der Künitler
die Perfonifizirung der höchſten Kraft und die Perfonifizirung
der höchſten Anmuth herausgehauen, Wie die Beiden in dem
Einen Marmorblode vorhanden waren, jo find fie, Kraft und
Anmuth, in der Seele des Künſtlers da. Damit foll aber nicht
gejagt fein, daß die Beiden in der Gruppe fo vereinzelt darge:
jtellt feien, daß der Kraft die Anmuth, daß der Anmuth die Kraft
fehle. Jede hat von der anderen fo viel, al3 nothwendig ift, die
Wahlverwandtſchaft der Beiden, die Nothwendigkeit ihrer gött-
lihen Ehe, der ſchönſten aller Verbindungen, fühlen zu lafjen.
— In zwei anderen Einzeljtatuen gibt der Künjtler eine analoge
Untithefe. Sie ftehen einander gegenüber und heißen der Sklave
und die Sklavin: der Sklave, ein Jüngling voll männlichſten
Trotzes gegen fein Schidjal, die Sklavin, eine Jungfrau, das
Bild der weiblichjten Ergebung — jener eben jo erhebend, als
diefe rührend. Der Sklave erinnert in etwas an den Spartacus
in den Tuilerieen, der ehemals voll Trog das Schloß anjah,
und der jegt, auf Louis Napoleon’3 Befehl umgewandt, fein
troßiges Geſicht dem Volke zufehrt. Aber der Sklave Jerichau's
ift weniger pathetifh und natürlicher, al3 ver fonjt jo ſchöne
Spartacus. Seinen gefeflelten Händen zum Trotz, hebt er feine
Stirn fo ftolz empor, wie ein Ajar, ver die Blige des Himmels
berausfordert, während die Sklavin traurig Haupt und Naden
beugt, auf daß des Schidjal3 Ungemwitter darüber hinziehen, wie
über eine gebrochene Blume. ine liebliche Idylle neben dieſen
Tragödien ift die Schnitterin, die auf ihren Aehren entichlafen
ijt: das vollendetſte Bild glüdlicher Ruhe. Auch das Urbild des
Bilder aus Dänemarf. 515
„Sägers," ver zu Jerichau's Ruhm fo viel beigetragen, den
man aus Abgüffen fennt, und der in Kopenhagen neben Thor:
waldfen’schen Kopieen populär geworden it, ſehen wir im Atelier,
In diefem Augenblide arbeitet der Künftler an einem Medaillon:
portrait feiner Frau, welche al3 Elifabeth Baumann ſchon einen
berühmten Namen hatte, bevor fie ven berühmteren erheirathete.
Aber fie begnügt fih nicht mit dem erheiratheten und mitge:
brachten Gute; rüftig arbeitet fie darauf los, dag Ruhmeskapital
zu vermehren. Leider befamen wir nichts von ihren neuen Ar:
beiten’ zu ſehen, aber die Erinnerung an manches Alte, wie ein
Blid in diefes geiſt- und gemüthvolle Künftlergeficht, die Leb—
baftigfeit und ewige Jugend dieſer Frau find Bürgschaft genug,
daß fie mit Erfolg arbeitet. Selten begegnet man einem fo aus:
erwählten Künftlerehepaar und einer jo jhönen Künftlerwirth:
ſchaft, die, anjtatt die hergebrachte Künftlergenialität zur Schau
zu tragen, lieber ein ungezwungenes, gemüthliches, von fchönen
Kindern belebtes Hausweſen jehen läßt.
So kann man fi in Kopenhagen auch nach dem Thorwaldfen:
Mufeum und der Frauenkirche manden ſchönen Kunftgenuß ver:
ſchaffen, wenn man nur Zeit genug zu einer Wanderung durch
die Ateliers findet. Da mir dieſe fehlte, begnügte ich mich mit
dem Ueberblide, ven die Sammlung moderner dänischer Gemälde
im Chriftiansborger Schloffe gewährt. Unter den Lebenden ſchien
mir Marftrand in vielfacher Hinficht hervorzuragen; er malt meift
Scenen aus Holberg’schen Luftipielen, die dem dänischen Publi—⸗
kum ſehr geläufig find; auch ift er in der That jehr populär ge-
worden, und man findet Stiche nad feinen Bildern in allen
Kunſtläden und in den meiften Privatwohnungen. Er gibt feinen
Köpfen, überhaupt den ganzen Geftalten viel Ausdruck und in:
vividuellen Charakter und findet mit viel Geift und Takt den
Gränzpunkt, wo die Komöbdienfigur aufhört und die Karikatur
anfängt. Wenn er manchmal bis in dieſe hinüberftreift, jo findet
die Hebertreibung ihre Rechtfertigung in feinem Vorbilde Hol:
berg und in der Natur. Indeſſen müſſen wir trog Marftrand,
516 Bilder aus Dänemarf.
trog Erner, der dem Leben der holländiſchen Kolonieen auf
Amager mande poetifche Seite abzugewinnen weiß, troß Gärtner,
dem argen, aber talentvollen Realiften, trog noch manden
anderen Talenten es ausſprechen, daß wir die ganze Sammlung
moderner Bilder für zwei Eleine Bilder von Jens Juel hergäben,
der zu Ende de3 vorigen Jahrhundert3 lebte. Das ift ein er:
ftaunliches Talent; noch erſtaunlicher als er felbft aber iſt eg,
daß er, der trefflihe Zeichner, feine Kolorift und höchſt geſchmack—
volle Komponiſt, jo wenig befannt geworden, und daß die Dänen,
die jo gern jelbjt mit kleineren Talenten groß thun, für Ber-
breitung feines Ruhmes fo wenig gethan haben, Er jteht zum
Mindeſten auf gleiher Höhe mit Sir Joſua Reynolds.
Ein anderer Maler, der mir Urfache zur Verwunderung ge:
geben, ift Melbye, ver in diefer Galerie nur durch feine Abwe—
fenheit glänzt, während jich die Königsfäle ganz nahe bei mit
jeinen prächtigen Geejtüden ſchmücken. Wie fommt e3, daß diefer
trefflihe Künftler, der überall im Auslande, felbit in Frank—
reich neben Gudin jo große Anerkennung gefunden, in der Na:
tional= Galerie jeiner Heimat fehlt? Gehört er vielleicht nicht zu
der bemußten Clique? Hält er fich vielleicht zu unabhängig der
etwas bornirten realiftiihen, nationalen Schule gegenüber ?
Realiften und Nationale follten fehr froh fein, einen Künftler
zu befigen, der ihnen Flotte und Meer jo ſchön und fo wahr
malt, wie fein Anderer, Kein Anderer verjteht, wie Melbye,
ven Charakter und jo zu fagen das innere Leben des Schiffes;
er befeelt ed, er macht ein lebendes Weſen daraus, und Das
jollte einer Nation nicht zufagen, die ihre Orlogſchiffe ald Dra-
hen, als zauberhafte, lebende Weſen betrachtet hat? Wie An.
derſen in feinen Kindermärchen den Ball und den Kreiſel, den
Bleifoldaten, den Weihnachtsbaum ꝛc. belebt, wie er dem
Schwan, der Ente, der Nachtigall Geift und Gemüth gibt, fo
haucht Melbye in feinen größeren Konzeptionen in höherem Maße
den Schiffen Leben, Traum, Märchenhaftigfeit ein; er gibt ihnen
felbft ihre Nationalität und Gefchichte, Ja, diefer Marinemaler
Bilder aus Dänemark. 517
erhebt ſich manchmal zur Höhe des Hiſtorienmalers, wie z. B.
in dem „Seegefechte, in welchem Bothwell, der Gatte der Maria
Stuart, von einem däniſchen Kriegsſchiffe gefangen wird.“
Dieſes — dem Grafen Morry gehörende — und andere treffliche
Bilder ſahen wir in des Künſtlers Atelier, das man beſuchen
muß, um von der Mannigfaltigkeit dieſes Talentes, wie von
ſeiner Fähigkeit, ſich in alle Stimmungen der Natur zu verſen—
fen, einen Begriff zu befommen. Bor diefen mannigfaltigen
Bildern verfteht man es, warum die Griechen aus dem Proteus,
dem wandelbaren, einen Meergott machten. Hier haben wir das
ewig wandelbare, das lieblihe und das furchtbare, das veilchen-
blaue, homeriſch-purpurne und kymmeriſch⸗-ſchwarze, das lächelnde
und das treulofe, das öde und das blühende Meer, bier haben
wir e3 in allen Geftalten vor ung — aber immer ſchön, immer
wie fich ein foldher Gott oder Göttin in einer des Ideals fähi—
gen Seele wiederipiegeln muß.
Auf die Sammlung älterer Gemälde, wie viel Genuß fie
una au verfchafften, wollen wir nicht näher eingehen, da wir
überhaupt nichts wiederholen wollen, was man in Neifehand:
büchern oder Fremdenführern (3. B. in Lord’3 „Kopenhagen”)
eben jo gut oder bejjer finden fann. Sie ift im Ganzen nicht
jehr beveutend und fteht unter den öffentlichen Galerien Euro:
pa's in dritter oder vierter Reihe. Die Holländer find vorberr:
ſchend und bilden wohl die Hälfte der ganzen Sammlung. Man
nennt auch einige große Staliener, aber dieje find meiner Mei:
nung nach meift Kopieen oder Nahahmungen des Außerlichiten
Styles der Meijter vom Cinque-Cento. Von einigen bin ic
dejien gewiß, mwie 3. B. von dem fogenannten Leonardo. Aecht
mag der Dolce fein — aber was liegt an einem Dolce? Die
Perle der Sammlung ijt ein Rembrandt „Chrijtug in Emaus“,
eine grobe Pinſelei und eines der größten Licht: und Farben:
wunder dieſes Wunderthäters,
In ihrer Art bei Weitem bedeutender find die wiſſenſchaft—
lichen Sammlungen, und unter diefen vielleicht einzig und
518 Bilder aus Dänemarf.
unvergleihlih das ethnographiihe Mufeum und das nordiſche
Mufeum. Um das erjtere hat ſich der Etatsrath Thomfen bie
größten Verdienſte erworben, indem er, an eine Heine Kern:
Sammlung anfnüpfend, unermüdlich, eifrig und mit Sinn und
Auswahl ein langes Leben hindurch erwarb, ſammelte, oronete,
und zu diefen Zweden alle Gelegenheiten benugte und unzählige
Berbindungen über ven ganzen Erbball anfnüpfte. In der Anord-
nung und Aufftellung der jo erworbenen, aus allen Erdwinkeln
ftammenden Gegenjtände erwies er fich als einen wahren Ge:
Ihicht3-Philofophen, fo daß man, durch die langen Reihen der
Säle im Prinzenpalajt wandernd, durd die verfchiedenften Kul-
turfhichten und Entwidelungen menſchlicher Gejellfchaft zu wan-
dern meint. ch hatte das Glüd, diefe Wanderung zum Theil
an der Geite dieſes jugendfrischen Greiſes felbit zu machen und
fo einen Elareren Blid in feine Abfichten werfen zu fünnen. Da
fam ich denn zuerjt zu Völkern, welche von Bearbeitung ver Me-
talle nichts willen, dann zu anderen, welche wohl ſchon Metalle,
aber Eifen und Gold des Geijtes noch nicht bearbeiten, das ift:
noch feine Literatur haben, endlich zu Nationen, welche ihre Ge:
danken und Thaten bereit3 fingen oder auch ſchon aufzeichnen.
Aber Herr Thomfen weiß auch, daß der Menſch nicht nur ein
Produkt feines Geiftes, fondern aud ein Produkt feines Bodens
und Himmels ift, daß jede Kultur den Duft und die Farbe der
beiden trägt, und er hat die auf dieſe Bedingungen bezüglichen
Unterabtheilungen hervorgehoben. So erfahren mir denn aus
dem großen, mit ven Gegenftänden ſelbſt, anjtatt mit ven Wor:
ten gejchriebenen ethnographifchen Buche, daß von den Völkern,
welche die Metalle noch nicht kennen, die kalte Zone bewohnen:
die Grönlänver; die gemäßigte Zone: die Neufeeländer; die
warme Zone: die Neu-Kaledonier, die Neuhollänver, die Fidjchiz,
die Freundſchafts-, die Sandwichs- und die nilobarifchen Inſu—
laner ꝛc. Die Metalle werden bearbeitet in Lappland, Kanada,
Sibirien, Tatarei, in der Sahara ꝛc. Unter uns fremden Lite:
ratur-Völfern treten Indien, China, Japan mit Allem auf, was
Bilder aus Dänemarf. 519
der Menſch als ausgebildetes Mirtum GCompofitum von Thier
und Geift in Krieg und Frieden, im Haufe wie im Tempel
braucht oder auch nicht braudht.
3b glaube nit, daß die Weltumfegler auf ver Novara
während ihrer ganzen Fahrt jo viel des Urfprünglichen zu fehen
befommen, als dem Befucher diefer Thomſen'ſchen Schöpfung in
wenigen Stunden vorgeführt wird. Mir war es, als ſäße ich
auf einem bligfchnell fegelnden Gedankenſchiffe, das jetzt vor der
Fellhütte des Grönländers, jegt vor dem Filzzelte des Tataren,
jegt vor dem Pavillon eines Mandarins Anker wirft. Welche
Wohnungen, Fahrzeuge, Waffen, Hausgeräthe, Religionswerk—
zeuge babe ich geſehen! Schier jo reich wie der Erdboden mit
feiner Pflanzenwelt ſchien mir der menfchliche Geift mit den Pro:
dukten feiner Gedanken. Welch ein unerſchöpfliches Bilderbuch
für einfame Stunden hat fih Der gefchaffen, der das Alles über:
bliden kann!
Das zweite, vielleiht noh merkfwürdigere Muſeum, weil e3
in feiner Art nicht nur einzig ift, fondern wohl auch einzig blei-
ben wird, ift das der nordiſchen Alterthümer. Schon zählt e3
über zwölftaufend höchſt intereflante Nummern, die den Gedan-
ten des Beichauers in die Urzeiten des Nordens, in die tiefjten
Dunfelheiten der Anfänge menjhliher Gefittung zurüdleiten,
und es ijt beim Patriotismus der Dänen, die alle gern beitra:
gen, wo e3 fih um Bereicherung eines Schmudes ihres Vater:
landes, eines Nationalfchages handelt, und bei ven Hugen Maß—
regeln der Direktion vorauszufehen, daß die Zahl diefer Gegen:
ſtände noch bedeutend wachjen werde, Während die Bauern des
füplihen Frankreichs Urnen, Vaſen, Ajchenfrüge, Thränenfläjch:
hen und andere antike Gegenjtände, die fie jo oft unter Pflug
und Spaten auf ihren Feldern finden, barbarifch zerfhlagen und
antife Münzen und Schmuckſachen einfchmelzen laſſen over zer:
ftören, bringt der däniſche Bauer alle feine Funde getreulich in
da3 nordiſche Mujeum, denn e3 wird ihm der volle Metallmwerth
und, wenn der Gegenſtand bejonders interefjant ijt, noch eine
520 Bilder aus Dänemarf,
-befondere Prämie ausbezahlt. Dieje Huge Mafregel verdankt
man ebenfall3 dem ſchon gerühmten Herrn Thomjen, ver ſich
um dieſe Sammlung nicht geringere Verdienfte erworben, al3
um die ethnographiſche. Die Beamten, Gutäbeliter, Pfarrer
vom Lande thun von jelbft, wozu der Bauer dur Zahlung und
Prämien bewogen wird.
Auch diefe Sammlung hat Herr Thomfen jehr finnig und
überfichtlich eingetheilt: in die Urzeit und in die katholiſche Zeit.
Die nordiſche Urzeit dauert bekanntlich ſehr lange und erjtredt
ih, wie wir hier klar ſehen können, bis beinahe 1000 Jahre
nad Chrijti Geburt. Die ältefte Periode dieſer Urzeit ijt das
fteinerne Zeitalter, das ift die Zeit, die meijt nur jteinerne Waf—
fen und Hausgeräthe fannte; waren doch felbit die Lanzenfpigen
von Stein. Doch mußte auch gehärtetes Erdreich oder Bernftein
manchmal aushelfen. Ein tiefes Mitleid überfällt uns bei Be-
fihtigung 3. B. einer Art, in die mit größter Mühe ein Loch für
den Schaft gebohrt ift, und doch gehört diefe Art bereits einer
vorgejchrittenen Periode, einer höheren Kultur-Epoche an. Ein
ganzes Volk von Robinfons! Welhe Summe von Müh: und
Drangfalen! Und heute braust die Lolomotive an den Hünen-
gräbern vorbei, in denen dieſe Zeugniſſe der’Hülflofigkeit ge:
funden werden.
Dem fteinernen Zeitalter folgt das kupferne, das bis 500
Jahre nach Chrifti Geburt reiht. Um die Zeit lagen ſchon die
berrlihiten Tempel Griechenlands und Roms in Trümmern,
war bie Schule des Phidias längft vergeffen. Die Schwerter
find von Kupfer. Auch Gold bearbeitete man ſchon, meift in
ipiralförmigen Ringen, vie auch als Geld dienen mußten, da
man die Münze noch nicht kannte. Höchft intereffant find die
aus dieſer Zeit ftammenden Kriegstrompeten, die jogenannten
Luren, die eine großartige, geſchwungene, faft möchte ich jagen:
epiiche Form haben und jo vortrefflich gearbeitet find, daß fie
ihren uralten Ton, der die Reden zum Kampfe rief, bis auf den
heutigen Tag bewahrt haben.
Bilder aus Dänemark. 521
Endlich, endlich bricht das eiferne Zeitalter an. Wer follte
e3 glauben, daß mit dem Eijen, dem Stoffe der Fellel und
aller Mordwerkzeuge, das Tibull jo ſchwer verfluht, daß mit
dem Eifen das Zeitalter des Lichtes anbriht! Mit dem Eifen
erfcheint das Silber — dann das Glas und — fiat lux — die
Schrift und die Runen. Auch das Geld tritt mit dem Eifen auf;
freilich exit al3 fremde Münze. Aber die fremde Münze ift ein
Beweis der Berührung mit anderen Völkern und des Verkehrs
— und Verkehr heißt Givilifation.
Dem Gelde und dem Eiſen auf dem Fuße folgt die katho—
liſche Zeit. Man iſt in die große Familie eingetreten. Dieſe
Zeit hat ſchon europäiſche Familienähnlichkeit.
Auch hier waren wir ſo glücklich, von Herrn Thomſen pilo—
tirt zu werden, und wir bewunderten dieſen Jünglingsgreis faſt
eben ſo ſehr, wie eine alte Lure. Auch er hat ſeine ganze Friſche
bewahrt, und da ihm daran liegt, daß man die Sammlung und
ihre Bedeutung gehörig würdige, ſo erklärt er unermüdlich nach
rechts und links, gleichgültig, ob er ſich der däniſchen, deutſchen,
engliſchen, franzöſiſchen Sprache dabei bedienen muß.
Auch im Münzkabinette im Roſenburgſchloß war er unſer
Führer. Er iſt Kopenhagens alter Ueberall. Auch dieſe Samm-
lung iſt im höchſten Grade beachtenswerth. Sie zählt an 70,000
Nummern und unter dieſen Münzen aus der römiſchen Repu—
blik und höchſt ſeltene aus den älteſten Zeiten Rußlands, auch
alte perſiſche, japaniſche und viele mittelaſiatiſche aus den un—
zugänglichſten Epochen. Die nordiſchen Münzen gehen bis auf
die Zeit Svend Tveskjäg's zurück. Sehr intereſſant iſt ein ſchwe—
diſches Geldſtück: eine große, viereckige, roh zugeſchnittene, dicke
Kupferplatte mit fünf Stempeln. Dieſes Geld iſt ſehr geeignet,
das Unglück des Reichthums zu peranſchaulichen, denn wer nur
fünf ſolcher Münzen beſitzt, iſt ein Sklave des Beſitzes; er iſt an
die Scholle gebunden, er kann ſich nicht vom Flecke rühren. Um
eine kleine Summe ſolchen Geldes fortzubringen, bedürfte es
eines kräftigen Ochſengeſpannes. Mit ſolchem Gelde mußte der
522 Bilder aus Dänemarf.
arme Guſtav Wafa fein Land befreien. Oder iſt folche3 hyper⸗
fpartanifches Geld zur Befreiung der Menſchen geeigneter, als
die leicht tragbaren Staat3papiere und Banknoten? Nach ven
Erfahrungen ver Neuzeit follte man e3 glauben und Lykurg und
Guſtav Waja für die einzigen Gejeßgeber halten, die es mit der
Freiheit ehrlich gemeint haben.
Auf Rofenburg: Schloß wollen wir und nicht näher ein:
lafien; wir würden fonft nicht fertig, denn feine Sammlungen
find eben fo unendlich, wie feine Räume. Webrigens find fie
nicht jo interefjant wie die anderen, in fo fern fie in anderen
Städten — in Dresdens grünem Gewölbe, in Wiens Ambrafer
Sammlung, im Hotel Cluny ꝛc. — ihres Gleichen finden.
Am Intereſſanteſten ift das Schloß felbit, dad uns doppelt
überrafchte, da es in der Stadt liegt und doch jo ausſieht, als
ob e3 eigentlih wo im wilden Walde als ein pompöjes Jagd:
ſchloß liegen müßte. Es hat nicht? von einem ftädtifchen Pa:
lafte und alle Romantik eines verborgenen Königsſitzes. Es
müßte fih mit feinen gewaltigen Thürmen von der Höhe jteiler
Felfen in einem halbdunklen See jpiegeln und vor den über:
raſchten Augen eines in der Wildniß verirrten Wanderers auf:
tauchen, al3 hätte es Fee Morgana dvahingezaubert. In der That
lag e3 urfprünglih vor der Stadt; erft die neue Zeit hat die
Stadtmauer um dafjelbe herumgeführt; indeſſen erhält ver Bar,
der e3 mit alten und dichten Bäumen von den belebten und
modernen Straßen trennt, die nothwendige Jllufion. Der Mann,
von dem beinahe alle jchönen und bedeutenden Bauwerke Däne:
marf3 herrühren, Chriftian IV., hat auch dieſes Schloß erbaut.
Eine geniale und frifhe Natur, wie er war, bielt er alle Pe
danterie von fich fern, fam es ihm nie auf einen ſchulſtrengen
Styl, wohl aber auf das Schöne, Bedeutende an. So ilt es
aud hier ſchwer zu jagen, welchem Style eigentlich die Architektur
angehöre; der normanniſche, der gothifche, der italieniſche haben
fih vereinigt, und zwar in einer Weife, daß die ſchönſte Har—
monie zu Stande fam. Inigo Jones, den man als Architekten
Bilder au Dänemarf, 523
nennt, hat ſich feinen charakterloſen Eklektizismus zu Schulden
fommen laſſen; aus drei Schulen hat er einen einheitlichen
Gedanken abftrahirt.
Der Schloßgarten hat für uns Deutſche, die wir uns une:
ren Landsmann Struenfee durch verjchiedene Dichtungen zurüd:
erobert haben — vielleiht nur, um menigften3 in der Poefie
einen fo liberalen Minifter zu befiten —, neben feiner Schön:
beit noch viel Anziehendes. Hier gab Struenfee die leuchtenden
nächtlichen Fefte, die den melandolifhen König Chriftian VII.
zerftreuen follten, nebenbei aber vämmerige Winkel und Lauben
genug übrig ließen, in denen der Minifter der ſchönen Königin
Mathilde unbelaufchte Worte der Liebe zuflüftern konnte. Diefer
Predigerjohn muß jehr liebenswürbig gemwefen fein, da jeine Ge-
liebte die Strafe für ein fo kurzes Glüd fo lange mit jo großer
Grgebung getragen, und er muß ein treffliher Minifter geweſen
fein, da die- Dänen, die alles Gute, das ihnen von Deutfchen
zulommt, jo gern verfennen, ihn noch heute beklagen und ihn
allen nationalen Miniftern, die auf ihn folgten, vorziehen.
Doch müflen wir noch Einzelne aus dem Inneren und aus
den Sammlungen des Schlojjes erwähnen. Die ehrwürdigſte
Reliquie, der wir da begegnen, ijt wohl das Schwert Guſtav
Adolf's. Wir find nicht geneigt, Mordwerkzeuge jeglicher Art
groß gerührt oder mit Ehrfurcht zu betradhten, auch nicht, jede
große Menſchenſchlächterei als eine Helventhat zu bewundern,
aber beim Anblick viefes Schwerte fielen mir doc die Verje
ein, die Lafjalle in feiner Tragödie „Franz von Sickingen“ dem
Ulrich Hutten in ven Mund legt:
Denkt beffer von dem Schwert!
Ein Schwert, gefhwungen für die Freiheit, ift
Das fleifchgewordene Wort, von dem ihr predigt...
Das EChriftenthHum, e8 ward durchs Schwert verbreitet,
Durchs Schwert hat Deutjchland jener Karl getauft,
Den wir noch heut den Großen ftaunend nennen.
Es ward durchs Schwert das Heidenthum geftürzt,
524 Bilder au Dänemark.
Durchs Schwert befreit des Welterlöjers Grab,
Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
Durchs Schwert von Hellas Xerres heimgepeitjcht.
Und Wiffenfhaft und Künfte und geboren.
Durchs Schwert ſchlug David, Simfon, Gideon:
So vor- wie feitdem ward durchs Schwert vollendet
Das Herrliche, das die Geſchichte jah,
Und alles Große, was ſich jemal® wird vollbringen,
Dem Schwert zulegt verdankt e8 fein Gelingen.
Diefem Schwerte zunächſt al3 Neliquie ſteht das blutbefledte
Taſchentuch, das Chriftian IV. in der Schlacht, in der er das
‚Auge verlor, ruhig auf die Wunde drüdte, während er meiter
fommandirte. Alles, was dieſen tapferen, unternehmenden,
ſchöpferiſchen, praftifchen, bei allem Unglüd unermüdlichen König
berührt, ift ſchon an fich bedeutend. Rührend ift das Portrait
de3 Königs, das die unglüdlihe Prinzefjin Eleonore Chriſtine
im Gefängniß ftidte; Stoff zu einer patriotifhen Ballade der
fleine Anker, welcher Chriftian V. während eines wüthenden
Sturmes rettete, da alle Stride riffen und alle anderen Anker
verloren gingen. Aber höchſt komiſch find die Doktor-Diplome,
welche Oxford und Cambridge dem blödfinnigen Chriftian VII.
verehrten ; die beiden ehrwürdigen Univerfitäten haben e3 ſchon
unter Karl II. und Jakob II. bewiefen, wie wenig dazu gehört,
um ihre Anerkennung zu erlangen, und daß fie den Mangel an
gefundem Menjchenverftande, auf biftorifhe und theologiſche
Bücher geftügt, mit zur „Prärogative” rechneten. — Das
Spiegelzsimmer, deſſen Wände, Dede und Fußboden mit Spie:
geln ganz und gar ausgelegt find, wirft das Bild des Bejuchers
unzählige und aber unzählige Male zurüd und macht einen bei:
nahe unheimlichen Eindrud. Vielleicht war das nur bei mir der
Fall, weil ich mich der alten Gejhichte erinnerte, die man von
der Gerichtöbarkeit Venedigs erzählt. Die Zehn ließen einmal,
wie es heißt, ein Gefängniß jo mit Spiegelgläfern auslegen und
jperrten da einen Vatermörder fammt der Leiche des gemordeten
Bilder aus Dänemark. 525
Vaters hinein. Wohin er fih nun wandte, fah der Elende ſich
und jein Verbrechen ins Unendliche multiplizirt. Und man ließ
ihn dieſe Multiplifation fo lange betrachten, bis er in Rajerei
verfiel und fich ſelbſt zerfleifchte. — Gewaltig groß ift ver Rit-
terfaal ter Rojenburg; die Sage, daß der berühmte runde
Thurm von Kopenhagen fi feiner ganzen Länge nad) in diefem
Saale gemächlich ausftreden könnte, veranjchaulicht feine Größe.
Die Wände find mit in Dänemark fakrizirten Gobelins bevedt,
melde die Schlachten eines Chriftian darſtellen. Am oberen
Ende lagern drei koloſſale filberne Löwen um einen Thron, denn
ehemals fanden bier große offizielle Seierlichkeiten ſtatt. Jetzt
gehören die filbernen Löwen, wie alle die Schäße der Rofenburg,
obwohl. fie dereinft perfönliches Eigenthbum der Könige geweſen,
dem Staate, der das Alles an fih nahm, als er ernitlih an Be:
freiung dadhte.
Die Dänen find ein praftifches Völklein; viefes Lob muß
man ihnen auf Schritt und. Tritt fpenden. Nur eine Ruine in:
mitten der Stadt erinnert an vorübergehende Phantajterei; ſtände
fie in einer deutfhen Stadt, alle Welt würde fie als Symbol
deutfhen, unpraftiichen Sinnes betrachten und ausſchreien. Ich
meine die unvollendete Marmorlirche, die als moderne Ruine
mitten im bewegten Leben der Hauptſtadt höchſt melancholiſch ihr
obdachloſes Haupt und ihre unvollenvdeten Glieder dem Wind
und Wetter ausgefegt fieht. Im vorigen Jahrhundert hatte man
die eitle dee, ſich aud eine Marmorkirche beizulegen; aber es
fand fih am Ende doch, daß man zu einem foldhen florentini-
ſchen Luxus nicht Geld genug gehabt, und endlich fand fi, daß
man fie auf ſchwankenden, fumpfigen Grund gebaut, der eine
ſolche Laft zu tragen nicht im Stande war. Da mußte man denn
aus doppelter Urfache zu bauen aufhören; und da fteht ein An:
fang ohne Ende, der bei Weiten fein Kölner Dom ift und doc
nie fortgefegt werben wird,
Aber genug der Stadt, obwohl wir noch viel zu erzählen
hätten.
526 Bilder aus Dänemarf.
Auf und weiter! Sehen wir uns im Lande felbft um, ſehen
wir nah, ob uns Kopenhagen al3 Hauptitabt nicht einen Hum:
bug vorgemacht und ob das Land zu ihr in einem entfprechenden
Berhältniffe ſteht. So eine Haupfitadt ift oft eine Weltdame,
welche die Mifere der Familie und ihre eigene durch Benehmen
und Toilette zu verjteden weiß. Sehen wir, ob es aud in Däne-
marf jo it. — Aus dem Hafen laufen täglich leichte und fchnelle
Dampfichiffe; fie heißen Hamlet, Opbelia, Horatio. Merkſt du's?
Sie gehen nad Helfingör, nad der unjterblichen Terrafje, wo
des hochjeligen Königs Majeftät wandelt, bis der Hahn, des
jungen Tag’3 Trompete, ihn ins egefeuer zurüdruft. Das
müfjen wir ſehen; das ift Pflicht und Ruhm zugleih. Auf nad)
Hellingör !
IV. i
Mer Kopenhagen bejucht und fich von Hamlet, Horatio oder
Ophelia nicht nach Helfingör tragen läßt, begeht eine Sünde
gegen den Geijt ver Schönheit und die größte Sünde gegen fi
jelbjt; denn e3 ift ein heilige Gebot, daß man allüberall den
Spuren der Schönheit folge und daß der Lebende erlebe. Er:
leben nur ijt Zeben, und es kommt uns nicht Alles ins Haus
und auf die Stube, troß der prächtigſten Intuitionen.
Wer da will Geifter fehn,
Muß Geifterpfade gehn.
Auf dem Wege nad Helfingör fahren wir vielen Geijtern
entgegen: allen den Geiftefn, denen Shafefpeare Fleiſch und
Blut gegeben, feinem eigenen ungeheuren, der, das Haupt in
den Sternen, über Land und Meer jchreitet, dann dem norbi:
ihen Geiſte Dänemarks, dem Holger Danjfe, und endlich der
fosmopolitiihen Weißen Frau. Die Geifterpfade aber find in
Junitagen licht, "blau und lachend. Herrlich ift diefe Fahrt den
/
Bilder aus Dänemark. 527
Sund hinauf, die üppige Küſte mit ihren ſchimmernden Villen,
Fiſcherdörfern und ſchattigen Buchenhainen entlang, an Belle—
vue, Klampenborg, Tarbeck vorbei. Rechts haben wir Schweden
und die Inſel Hoen, auf der ſich einſt Tycho de Brahe Schloß
und Obſervatorium baute und in den Sternen las, bevor er
nach Prag ging zum verrückten Kaiſer Rudolf II. und in das
ſtille Benatek, um endlich, aus purer Rückſicht für die Hof—
etiquette, bei Tiſche ſeine Blaſe platzen zu laſſen, und elendiglich
zu ſterben. — Das Meer war ruhig und klar, wie ein in ſich
befriedigter Alpenſee, und wie einſt bei Salamis ſah ich auf ſei—
nen Grund, in ſeine geheimnißvollen Wälder und in das Trei—
ben feiner barocken Bewohner; die Luft, ſanft, feucht, war durch—
fihtig bis in die fernfte Ferne und brachte ung Dänemarks und
Schwedens Küjten fo nahe, daß wir glaubten, in die Fenfter
ſehen zu können. Eine Kriegs-Fregatte benugte den ſchönen Tag,
legte fich auf hoher See vor Anker und ſchoß zur Uebung nad
einem fehr fernen ſchwimmenden Ziele. Wie die Kugel über die
blaue Fläche binfuhr, ließ fie Heine weiße Rauchwölkchen auf
ihrer Spur zurüd, Wir fuhren nahe daran vorbei, da fahen wir
den diden König an Bord, den Fig:König. — Höher im Nor:
den fam ung ein leijer, milder Norbwind entgegen, und fiehe
da — ein hinreißendes Schaufpiel — mit ihm famen Hunderte
von Segeln, die jenfeit® Helfingdr Tage lang geträumt und ge:
wartet hatten und nun mit dem leijen Hauche fanft und groß
in die Oſtſee einfuhren. Der glatte Spiegel war mit Einem
Male glänzend weiß belebt; mafjenhaft, aber ſtill, faft regungs:
08, glitten fie vem Süden zu, und immer neue famen hinter
Kronborg hervor, al3 wollte der Geifterzug nimmer enden, als
läge dort hinter dem Vorgebirge die Heimat aller Schiffe, die
plöglih von Wanderluft ergriffen werden. Uns aber trug „Ham:
let” nah Norden.
Kronborg, das, den Sund beherrſchend, auf einem Vor:
iprunge liegt, fam ung zuerjt zu Gefichte. Es erinnerte mich an
die Dardanellen, wie überhaupt die ganze Gegend an die
528 Bilder aus Dänemarf.
Einfahrt in ven Hellefpont, nur daß ich die Ebene von Troja nicht
zur Rechten batte und im Herzen nicht die homerijche Andacht,
die mir an der Beſika-Bai und vor Tenedos den Athem benahm.
Ich war im Gegentheil ärgerlich. Ein junger, jehr gebilveter
Mann hatte ſich mir auf dem Schiffe angeſchloſſen und gab mir
mit großer Zuvorkommenheit Aufihluß über Dieß und Jenes;
er bot mir felbjt feinen Wagen an, den er in Helfingör hatte,
um mir die Reife ins Innere zu erleichtern. — Sie find ein
Deutfcher? fragte ih ihn. — Nein, erwiderte er, ich bin ein
Däne. — Wir fprachen weiter, und fiehe da, es ergab ſich aus
feinem Geſpräche, daß er ein Holjteiner war. Der Kerl hatte fein
Vaterland verleugnet. Ich drehte ihm auf die Entvedung bin
den Rüden, und als wir in Helfingör landeten, verließ er mid
fchnell, ohne Ave zu fagen und ohne mir aufs Neue feine Dienfte
und feinen Wagen anzubieten. Wahrſcheinlich einer von Denen,
die Garriere machen wollen. — Helſingör mit jeinem ‘Heinen
Hafen, feinen alten Häufern und der gewaltigen Maſſe des ge:
thürmten Kronborg, vom blauen Meere umarmt und zurück—
geipiegelt, nimmt fich fehr maleriih aus. In feinen langen,
ſchmalen, ſchlechtgepflaſterten Straßen iſt es ziemlich ftill, beinahe
ländlich. Es treibt bedeutenden Handel, aber ver Verkehr und
die Bewegung follen zur Zeit des Sundzolles, da alle Schiffe
bier Anker werfen mußten, viel belebter gewejen fein. Darum
Hagen die Einwohner fehr über die Abſchaffung dieſes Stüdes
Mittelalter. Ich nenne es nicht Seeräuberei, wie es die Erbitte:
rung über die gehäflige Form dieſes Zolles zu nennen beliebte,
da e3 wirklich unbillig geweſen wäre, Dänemark allein vie Koſten
für die Erhaltung aller in diefen gewundenen, vielfachen und
gefährlihen Gewäſſern nothwendigen Vorfichtsanftalten tragen
zu lafjen, um jo unbilliger, als diefe Anftalten vielen anderen
jeefahrenden Nationen eben fo und noch mehr zu Statten kamen,
als den Dänen felbit, und al3 die Schifffahrt Dänemarks zu den
großen Kojten in feinem Berhältnifie ftand. Die Form allein,
in der fih Dänemark Entihädigung verſchaffte, war, wie gejagt,
Bilder aus Dänemarf. 529
gehäflig, unferer Zeit unwürdig und der Schifffahrt hinverlich.
Um Helfingör feinen Verluft zu vergüten, denkt man daran, es
durch eine Eifenbahn mit der Hauptftadt zu verbinden, fobald
man nur Geld haben wird. Freilih hat das Projekt eine ftarfe
Partei gegen fih, melde behauptet, dab die Dampficifffahrt
genüge.
Durch die Stadt wandernd, konnte ich die Bemerkung machen,
wie groß die Fortjchritte der Givilifation feien, da fie jelbjt mit
ihren häßlichſten Ausgeburten in dieſe von einem Seeräuber,
Helling, gegründete Stadt im hohen Norden gedrungen ift. Die
engen Straßen wurden mir mehrere Male durch Krinolinen ver:
barrifadirt, und in einer fehr engen Seitengafje gerieth ich in
ein Kreuzfeuer von Klavieren, die aus mehreren offenen Fenſtern
rechts und links ſcheußliche Variationenmuſik mit Hinderniflen
auf die Straßen fpieen. Aber auch den guten Seiten der Civili:
jation begegnete ich in Helfingör. Das Volk iſt immer freund:
ih, überaus böflih, won guten Manieren und fehr vienjtbereit.
Sprit man Jemanden in deutfcher Sprade an, und er verfteht
den Fremden nicht, fieht er fih nur um, und er entdedt gewiß
im Bereiche feines Auges irgend ein Individuum, das Deutſch
ſpricht. Mir wenigſtens begegnete Das zu wiederholten Malen.
Bon Helfingör wanderte ih nad) Marienluft, einem ehe:
maligen föniglihen Luſtſchloſſe, das jegt, in eine Art Kurplag
verwandelt, ein reizendes Tusculum für viele Fremde bildet. E3
liegt an der ſchmalſten Stelle des Sundes, und Helſingborg, jo
wie viele einzelne -Häufer und Gehöfte auf der ſchwediſchen Seite,
eben jo das Gebirge Kullen find mit freiem Auge fehr deutlich
zu ſehen. Da entfaltet fih ein Landſchaftsbild, mit Segeln als
Staffage im Bordergrunde, ein Landſchaftsbild, welches ſich in
die Seele photographirt und das man für alle künftigen Zeiten
als ein liches Andenken mitnimmt. Den möchte ich fennen, oder
vielmehr nicht kennen, in defjen Erinnerung fich diefer Eindruck
zu verwifchen vermag. Stunden und Stunden lang faß id auf
ver berühmten „Zerraffe” hinter dem Haufe, vderfelben, wie
Moris Hartmann, Werke II. 34
530 Bilder au Dänemarf.
ernftlich verfichert wird, auf der Bernardo Wache hielt und auf
der „Es“ erfchien, auf der Horatio al3 ein scholar „Es“ an:
redete, und während ich da mein Beefiteak verzehrte, ſah ich eben
jo vergeiftigt hinaus, wie beim Kaffee und mit der Cigarre. Bei
dieſem Anblid beften unfichtbare Genien felbft dem Beefiteafefler
bläulihe Fittiche an die Seele. Ich hatte wieder eine Perle zu
den Berlen gefunden, die ich zu einer Schnur um den Naden
meiner Pſyche auf dem Erdboden ſammle. Zu den Erinnerungen
an die Thefie von Pera, an die Ruinen von Smyrna, an Su:
nium, an die Terrafje von Vevey, an die Pointe du Raz und
andere fügte ich die Terraſſe von Heljingör.
Natürlih beſuchte ich auch „Hamlet’3 Grab,” das mich
feiner Authentizität wegen, mit Reſpekt zu reden, an Monte
Chriſto's Gefängniß im Chateau d’Sf erinnerte. Und doch! —
troß diefer jpefulativen Profanation, die fih, noch immer fee
räuberifh, & la Helfing, zweiunddreißig Schillinge für den An-
blid diefes Grabes zahlen läßt, doc fühlt man fich hier, ſobald
man fih den Namen „Terrafje von Helfingör” ausfpriht, vom
Geifte Shafefpeare'3 ummeht, wie auf der Ebene von Slion
vom Geijte Homer’3. Selbit vie „Quelle Ophelia's,“ in ver ſich
die Holde nur hätte ertränten können, indem fie mit Gewalt den
Kopf unter Wafler hielt, und die man fo nennen mußte, weil es
in der ganzen Gegend Fein ſüßes Wafler gibt, in das man fie
ihatefpeariih hätte werfen können — felbjt diefen Humbug be:
trachtet man mit Andacht. Selbit diefer Schwindel mahnt ja an
die allmächtige Belebungskraft des Genie’. Wie mächtig zeigt
ſie fih aud) hier, da fie mit der Dichtung die alte nationale Sage
vom Prinzen Amlet in Jütland, wo fie zu Haufe ift, entwurzelte
und mit Allem, was fie hinzugethan, bieher verpflanzte — nur
weil Er, William, über feine Szene ſchrieb: Terrajje von
Hellingör.
Manche Forſcher verlegen den Geift von Hamlet’3 Vater auf
die Platform von Kronborg; Urfache genug, dieſe penfionirte
SundzolleDardanelle zu befuhen! Sie liegt, dur ein baum:
Bilder au Dänemarf. 531
bepflanztes Glaci3 von der Stadt getrennt, auf einem Vorjprunge,
überblidt den ganzen Sund und kann ihre Kanonenkugeln bei:
nahe bis an die ſchwediſche Küfte jchleudern. Kronborg : Schloß
ift eine fehr reſpektable Maſſe; die Mauern des eigentlichen Schloß:
gebäudes find gewaltig hoch, reich verziert, mannigfaltig und
voll Bewegung; die hohen Thürme vollenden feinen malerischen
Charakter. Es ift mit viel mehr Geſchmack ausgeführt, als folchen,
gewifjen pofitiven Zweden bejtimmten Schlöfjern oder Feſtungen
eigen zu fein pflegt, und ſchon diejer Umſtand läßt uns errathen,
daß ihm Chriftian IV. den Stempel aufgevrüdt hat, obwohl es
ihon unter Friedrich II. angelegt worden. Auch das Gemifch
von Gothiſch-Romaniſch-Renaiſſance-Styl verräth ihn, aber
nicht das Gemiſch allein, vielmehr der Geijhmad, das Sinnvolle
dieſes Gemiſches. Durch moderne Feltungsmauern, über Zug:
brüden gelangt man in den Hof, der öde ausfieht und ven Cha:
rafter eines Kajernenhofe® angenommen bat. In der That ift
Kronborg heute nicht3 Anderes mehr, als eine Kaferne, Es
wimmelte da von Soldaten. Ich näherte mich ihnen, um allerlei
Auskunft zu erlangen, und fiehe da, es waren Deutſche. — Ich
glaubte, jagte ich zu ihnen, hier nur Dänen zu finden. — Nein,
fagte Einer, nichts Dänen — mir find Holfteiner! Dabei blin-
zelte er mit dem einen Auge, und die Anderen lachten. — Nun,
nun, fagte ich abfihtlih, Holfteiner in diefer Feſtung und in
diefer Uniform find doch halbe Dänen! — Nein! riefen Mehrere,
und mit mehr Muth und lauter, als der Erſte, wir find Hol-
fteiner, wir find Deutſche! — Dieſe laute Berfiherung im Hofe
diejer däniſchſten Feftung that mir wohl, beſonders nad) der Er:
fahrung, die ich diefen Morgen mit dem Gentleman vom Dampf:
Ihiffe gemacht. Indeſſen fühlte ich feinen weiteren Beruf, ich
ver Gajt, hier aufrührifch zu wühlen, und ging mweiter, um das
Innere des Schlofjes zu bejehen. |
Die Kapelle hat eine gewifle Berühmtheit, aber ich fand fie
mit Ausfhmüdungen zu fehr überladen und zu Heinlich mit
Farben ausgeziert. — Eine der intereffanteften Erinnerungen,
532 Bilder aus Dänemark.
die fih an die Gemächer dieſes Schloffes knüpfen, ift die an vie
arme Mathilde, vie Geliebte Struenfee'3, welche in der Nacht,
da die Verſchwörung Julianend und Guldbergs ausbrach, als
Gefangene hiehergebradht wurde. Hier wohnte fie, bis fie nad
Gelle in die Verbannung geſchickt wurde, in daſſelbe Schloß
neben dem berühmten Zuchthauſe, das ich vor Kurzem erſt im
Mondenſchein, umklungen von Nacdtigallengefang und umduftet
von einem Walde von Blüthen, gejehen habe. Ein höchft poefie-
volles Zuchthaus. — Die Platform von Kronborg: Schloß ge:
währt eine Ausficht bis Kopenhagen und tief hinein nah Schwe-
den. Um die „Weiße Frau“, die auch hier fpazieren geht, zu
ſehen, war es noch zu früh am Tage, und Holger Danffe konnte
ich nicht befuchen, da er unten, unter den Wölbungen des Schlofjes
figt und der Fremde dafelbjt nicht Zutritt hat. Die Keller des
Kronborg: Schlofjes nämlih find Dänemarks Kyffhäufer oder
Untersberg, und Holger Danfte ift der National-Held und Geift,
der bei Gelegenheit hervorfommen und feinem Lande helfen foll,
ver dänische Barbarofja, Marko oder Artus,
V.
Um ins Innere des Landes vorzudringen, mußte ich Extras
poft nehmen und hatte jo nad langen Sahren wieder einmal ein
Vergnügen, deſſen Erijtenz in vielen Gegenden des Kontinentes
beinahe nicht mehr geahnt wird. Im offenen Wagen fuhr ich
über die Heinen Hügel dahin, die man in anderen Ländern kaum
al3 foldhe anerkennen würde. Rechts blieb der Hügel Odin's.
Aber nichts auf dem ganzen Wege reimte mit diefem alt=nor:
diſchen Namen; ich fuhr durch ein modernftes, civilifirteftes Land.
Dörfern begegnete ih zwar nur felten, aber die einzelnen Häufer
und Höfe, die über das Land zerftreut find und mitten unter den
zu ihnen gehörigen Feldern und Fluren liegen, athmen Wohl:
Bilder aus Dänemark. 533
jtand, Gemädhlichkeit, Bildung. Nirgends Armuth, nirgends
Rohheit. Bücher, Zeitungen, Schulen werden gemöhnlid als
Kriterien der Bildung eines Landes betrachtet; ich habe mich auf
allen meinen Reifen überzeugt, daß es noch ein andere und
vielleicht überzeugenderes Kriterium gebe, und dieſes ift die Rein—
lichkeit der Kinder. Man kann ficher fein, daß man fid) in einer
ungebilveten Gegend befindet, wo ſich auf der Straße unge:
wajchene, ſchmutzige Kinder, in zerrifjenen Kleidern, mit ftruppigen
Haaren berumtreiben. Ganz anders ift e8 im ganzen nördlichen
Seeland, das ih von Helfingdr aus durdftreift habe. Die Kin-
der find reinlich gewaſchen, einfach, aber gut, jelbit in ven Dör-
fern beinahe ſtädtiſch gekleidet ; die blonden Haare hübſch gelodt
oder in Flechten um den Kopf geſchlungen. Breite Sommerhüte
ihüten fie gegen die Sonne, die übrigens ihrem norbifchen In—
farnat nicht3 anzuhaber vermag. Dabei find vieje lieblidyen
Kinder überaus freundlih, nicht im Mindeften wild oder jcheu,
grüßen jeden Fremdling aufs Höflichjte und gehen auf jeden
Scherz ein, den er fich mit ihnen erlaubt. Es war immer ein
liebliher Anblid, wo eine Gruppe jpielend unter einem Baume
lag oder über Raine und Feldpfade der Schule zueilte. Ungefähr
eine halbe Stunde lang fuhr ich einmal in Geſellſchaft ſolcher
literarifcher Jugend beiderlei Geſchlechtes; ich lud eine Gruppe
von Fünfen ein, mit mir zu fahren, und lachend nahmen fie
meine Einladung an, ftiegen ein und ergößten mich und den
Poftillon, bis wir fie vor dem Schulhaufe abfegten. Volksſchulen
gibt e3 in größtmöglicher Anzahl in ganz Seeland. In vielen
Dörfern bemerkte ich allerlei Turnapparate, und auf Erfundigung
erfuhr ih, daß mit beinahe allen ee Turn: Anitalten
verbunden find.
Es war eine reizende Fahrt. Bon jeder kleinſten Anhöhe jah
man über die flache Küfte hinweg auf das blaue Meer, und wie
tief man fi auch ſchon im Lande befand, bei der durchſichtigen,
Haren Luft war es doch immer, als führe man in nächſter Nach
barſchaft der weißen Segel, die ruhig träumend dahinzogen. Die
534 Bilder aus Dänemarl.
Heinen Haine auf Anhöhen und in Thälern bildeten jaftige Vor:
bergründe und mandmal ſchöne Rahmen zu vollendeten See:
jtüden. Endlich verfhwand das Meer, denn wir waren im
Buchenwalde von Friedensburg, einem der ſchönſten Wälder, ver
alle Reize und nichts von dem Schreden oder der Düjterheit
eines Waldes befigt. In einen folhen Wald kann der rohe Zu:
fall, nie aber der Dichter, die Scene eines Verbrechens oder
einer wilden That verfegen; der Dichter, die menfhlihe Phan—
tafie überhaupt wird ihn nur mit Einfamen oder Gruppen be:
leben, die ein tief inniges Glüd oder Troft im Schooße der
Natur fuhen, wie das Kind im Schoofe der Mutter. Seeland
ilt das Land der ſchönen Wälder. Iſt das Meer verſchwunden,
fo lächelt ung zum Erſatz dur das Didicht des Waldes mit
Einem Male der Esrom-See, ein Miniatur: See, aber groß
genug, um großer Schönheit al3 Spiegel zu dienen.
Am Ufer diefes See's, von diefem Walde umſchlungen, Tiegt
das Schloß Friedensburg. Wir find in der Gegend, wo es von
föniglihen Schlöffern wimmelt, was zwar nicht dem ökonomiſchen
Sinne, aber dem Gejhmade ver Könige Ehre madt. Die Klein:
heit Seelands in Anfchlag gebracht, gibt e3 vielleicht fein Land,
das fo viele und größartige Schlöffer befäße. Friedensburg
ſpeziell ift zwar durch feine Lage, nicht aber durch feine Bauart
ein gutes Zeugniß für den Gefhmad feines Erbauers, Fried:
rich's IV., der es als ein Denkmal an den mit Karl XII. ge
ſchloſſenen Frieden aufführen ließ. Daher der Name und daher
auch die gezwungene Form eines Friedenstempel3; daher auch
die Schlechte Bildjäule der Konkordia im Schloßhofe. Etwas Ba:
roderes als diefen Bau habe ich felten gejehen. Er bejteht zum
größten Theile aus Einer großen Halle, die fi) bis zur höchſten
Höhe des Schlofjes erhebt und ſich oben al3 Kuppel vereinigt.
Auf halber Höhe läuft eine Galerie herum, in welche viele Kor:
rivore münden, an die ſich wieder die Zimmer anreihen. Aus:
geſchmückt ift die große Halle mit ſchlechten Bildern, die fi auf
Friedrih und Karl beziehen. — Man erwartet an diejem lieb:
Bilder aus Dänemarf. 535
lichen See, in dieſem herrlichen Walde etwas Schöneres; das
Schloß ift öde, ungemüthlich, beinahe gejpenjterhaft und paßt fo
ganz allein zu den Gejpenjterfagen der Gegend. Wir befinden
uns bier nämlich in der Gegend des dänifchen „Wilden Jägers.“
König Woldemar wohnte nicht weit von hier, in einem mitten
im Gurre-See gelegenen Schlofje. Er verficherte, daß er mit
Vergnügen auf den Himmel Verzicht leiſten würde, wenn er nur
für alle Ewigkeit in dieſer ſchönen Gegend wohnen und jagen
könnte. Mit diefen Worten hat er ſich verfündigt, denn es ſteht
dem guten Chriften nicht frei, auf die geringjte himmlische Selig:
keit Verzicht zu leiten, und fein Wunsch ift ihm erfüllt worden.
Er wohnt und jagt nun ewig in diefen Wäldern, aber nicht mit
dem Geficht im Naden, fondern wie andere ordentliche Menjchen.
Auch iſt er fein böfes Gejpenjt, vor dem man ſich fürchtet, jon-
dern ein jovialer, guter Patron. Manchmal, bei bejonders
gutem Wetter, reitet jeine zarte Geliebte Tovedille mit ihm; das
fpricht jehr für Woldemar, denn ein Geift, der mit feiner Ge-
liebten im Mondenſchein augreitet, ijt gewiß ein gemüthlicher Geiſt.
Meiter durch den berrlihen Wald und nah faum einer
Stunde mäßigen Trabes taucht das Wunder Dänemarks, das
dänifhe Chenonceau, das alte Schloß Friedrihsborg, aus
Wald und Wällern auf. Wie das genannte franzöfiihe Schloß
erhebt jich Friedrichsborg mitten aus der Fluth eines Keinen See's,
aber größer, großartiger und pradhtvoller. Alle anderen Bauten
Chriftian’3 IV, erfcheinen uns mit Einem Male wie Eleine Ber:
ſuche und Vorarbeiten, die nur Kraft und Gejchmad für dieſes
Werk üben und bilden jollten. In ver That war er bei dieſem
Baue mit feinem ganzen Herzen, feinem ganzen Gemüthe, denn
er liebte diefe Gegend, in der er auf offenem Felde geboren war;
auch nannten die Schranzen feinen Plan, hier ein folches Wunder:
werk aufzuführen, einen „Kindertraum.” Vielleicht war es auch
ein Kindertraum, vielleiht ift das Schloß darum jo märdhen-
baft ausgefallen. Chambord etwa ausgenommen, fenne ich Fein
Königsſchloß auf plattem Lande, das fich mit diefem meljen könnte.
536 Bilder aus Dänemart.
Die Lage mitten im Waſſer; die prachtvollen Buchenhaine und
Gärten, die ſich überall jo nahe als möglich herandrängen, um
e3 zu befränzen; das gewaltige, vier Stod hohe Haupt-Gebäubde;
die fünf zum Himmel aufftrebenden, mafligen und doch fo Iuf:
tigen Thürme; die zahllofen Nebengebäude, die ſich anfchließen
und maleriſch gruppiren; die Brüden, Galerieen, Thore, die
Alles verbinden; die Wälle, Zinnen und Gräben, die in Win:
dungen das Ganze umſchließen; die bald rofige, bald duntle
Farbe des Material3, die edle, grüne Roſtfarbe der gewaltigen
Dächer — alles Das vereinigt ih zu einem fo wunderbaren
Ganzen, dab man an jeine Griftenz nicht glauben würde, wenn
man in diefen Höfen, Galerieen und Gängen Pagen, Nittern
und Edelfräulein begegnete. Die Dede und Stille aber, die auf
dem Schloſſe liegt, die zwei oder drei Deutſch redenden Schild—
wachen machen die ganze Erjcheinung glaubwürdig und leibhaftig.
Der Styl ift auch bier jehr jchwer mit Einem Worte zu be
jtimmen. Die Dänen thäten am Beten, wenn fie ihn einfach
den Styl Chriſtian's IV. nennten; da ſich diefer König im
Ganzen fo fonfequent blieb und offenbar einen beftimmten und
ausgejprodhenen Gejhmad hatte Auch Frievrihsborg Fönnte
man gothifch : buzantinifch = normannisch nennen, aber man würde
damit nur einen fehr entfernten Begriff von der Bauart geben;
Chriftian hat eben aus den überlieferten Elementen etwas An:
deres, Neues, Eigenes, Perſönliches gemadt. Die unteriten
Theile haben mit den genannten Stylen gar nichts zu fchaffen.
Da iſt im großen Hofe eine Halle, die den ſchönſten Florentinern
aus der Zeit des Erwachens Ehre machen würde, und in den
äußeren Niſchen der niebrigen Gebäude, welche den großen Hof
ſchließen, jtehen, dem Kommenden entgegen fehend, zwölf Sta=
tuen, die auch unter dem erften Cosmus gejchaffen fein könnten.
Im Allgemeinen haben die Skulpturen, die man in großer
Menge an Thoren, Säulen, Wänden findet und welche doch zu
Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts gejchaffen find, den
Charakter des fünfzehnten Jahrhunderts. Vollendete Produfte
Bilder aus Dänemark. 537
der Renaiſſance hätten in dieſen Norden, zu dieſen Thürmen
und gewaltigen Maſſen weniger gepaßt.
Ungern tritt man aus den Höfen in das Innere, denn kein
noch ſo prächtiger Saal kann den Genuß gewähren, den der An—
blick auch nur eines kleinen Winkels im Hofe gewährt. Aber der
gewiſſenhafte Reiſende muß. Stundenlang kann man in den
unendlichen Gängen und Gemächern umherwandern. Man ſieht
nur zu viel. Ein Eindruck verdrängt den anderen. Was bleibt,
iſt am Ende die Erinnerung an die ſchöne Ausſicht aus allen
Fenſtern, über die Buchenhaine dahin, über den Esrom-See,
den Arre-See und die lieblichen Gärten zu unſeren Füßen, dann
an die Schloßkirche, an den Ritterſaal und an die Portrait—
Galerie. Die Schloßkirche iſt vorzugsweiſe ihrer Größe und ihres
Reichthums wegen merkwürdig; aber das koſtbare Material, das
viele Silber iſt nicht mit Geſchmack verſchwendet, eben ſo das
Elfenbein an der Decke, obwohl Chriſtian ſelbſt daran gedrechſelt
haben ſoll. Der Ritterſaal über der Kirche, ein unendlich langer
Raum, wie man mir ſagt, der größte Ritterſaal in Europa, iſt
unbegreiflicher Weiſe ganz entſtellt, indem die Decke ſo niedrig
iſt, daß ſie auf den Kopf des Beſuchers zu drücken ſcheint. Im
Verhältniß zu ſeiner Länge müßte dieſer Saal wenigſtens drei
Mal ſo hoch ſein. Zum Ueberfluß iſt dieſe zudringliche Decke ſo
bunt mit kleinlichen Skulpturen ausgeſchmückt, daß fie ihre Niedrig—
feit nur noch zudringlicher bemerflih macht. — Viel intereflanter
ift die endlofe Portrait:Galerie. Da iſt ein Volk von berühmten
Dänen und Däninnen, auch Fremden, Königen, Prinzen, Ge
neralen, Miniftern, Hofleuten, Gelehrten, Intriguanten zc. ver
fammelt: für den Hiftorifer find dieſe Gefichter eben fo viele
lebendige Quellen. Manches diefer Augen wird ihm dunfle Stellen
der Geſchichte beſſer beleuchten, als es ein dickes Buch oder ein
würdig Pergamen vermag. Lange Zeit vermeilte ich wor dem
Portrait Tycho de Brahe's, erjtaunt über die Trivialität, faſt
möchte ih jagen: Gemeinheit diefer Züge. Vielleicht thut ihm
die abgehauene und wieder angefegte Naſe Unrecht. Auch
538 Bilder aus Dänemark.
Mathildens nicht unholdes Geſicht ſah ich, aber Struenſee war nicht
zu finden. Sein Portrait exiſtirt im Schloſſe, aber man hängt
es nicht auf, wie man im Dogen-Palaſt Marino Falieri's Portrait
nicht aufhängte und än deſſen Stelle die Worte ſchrieb: Hic est
locus Marini Falieri. So wird auch Jeder, der Mathildens
Portrait ſieht, auf ihrem Herzen die Worte leſen: Hier iſt der
Platz Struenſee's. Es nützt nichts. Man kann hiſtoriſche Por:
traits, trotz allem Willen der Könige, nicht mit dem Geſichte zur
Wand kehren. — Wie Franz J. in die Fenſterſcheibe von Cham—
bord ſein bekanntes Femme souvent varie, geſchrieben, ſo ſoll
Mathilde auch in eine Fenſterſcheibe dieſes Schloſſes einen Vers
geſchrieben haben — aber ich ſuchte ihn vergebens, ich fand ihn
nicht. Der merkwürdige Vers lautet:
O keep me innocent, make others great.
Sie wollte alfo feine Größe, und ihre Liebe ſchien ihr unjchulvig.
Die Stuterei in nächſter Nähe von Friedrichsborg habe ich
nicht beſucht. Doch find die Dänen auf dieſes Inſtitut fajt eben
jo ftolz, al3 auf den herrlichen Bau von Frievrihsborg. Sie
behaupten, daß man Pferde, wie die aus diejer Erziehungs
Anjtalt hervorgehenden, nicht wieder finde. Diefen Sommer hatten
fie auch Urfache, fich dieſes Befiges aufs Poſitivſte zu freuen,
denn in der kurzen Zeit des Kriegslärms haben fie an 16,000 Pferde
ins Ausland verkauft und große Geldfummen ins Land gebradht.
Gegen Abend fuhr ich von Friedrichsborg weiter, auch ohne
das Städtchen Hilleröd, das fih, wie Schuß ſuchend, an das
Schloß jhmiegt, gejehen zu haben. ch fürchtete, durch die Atmo—
jphäre einer Heinen Stadt um die Stimmung zu fommen, in die
mich die künſtleriſche und biftorifche Betrachtung des Schlofjes
verjegt hatte. Ich ſchied ungern. Die vertraulihe Bekanntſchaft
mit einem fo ſchönen, ftimmungsvollen, romantiſchen Baue müßte,
da3 fühlte ih, für ale Zukunft anregend wirken, Geijt und
Phantafie befruchten wie ein großes Gedicht. So bleibt es nur
ein Touriften-Eindrud, und man erfcheint fich felbit oberflächlich
Bilder au Dänemark. 539
und frivol, wenn man fi damit begnügt. Wie der Wilde Jäger
immer rüdwärts fehend, fuhr ich in den Abend und ins Land
hinein.
VI
So rückwärts gefehrten Gefichtes fuhr ich einft von Chambord,
der verlaffenen und verfallenden Meifterihöpfung Primaticcio's,
des Schüler Raphael's. Wie eine Fata Morgana ſchwebte
Friedrihsborg im Abendſchein am Horizonte, hob ſich bald ftolz
empor und fenkte ſich bald in die Tiefe, ala ob es jet in bie
Höhe, jet in den Erdboden verſchwinden wollte, je nachdem ich
über Thal oder Hügel der gewellten Ebene hinfuhr. Zum Glüd
verſchwand e3 doch endlich ganz, und ich hatte Augen und Muße,
das Land zu betrachten.
Es ift ein gejegnetes Land, und der Gegen ift die Frucht der
Arbeit. Da ift faum eine Hufe Erdbodens unbenugt gelafjen:
Alles, Alles aufs Fleißigfte angebaut. Die Saaten wogten wie
ein unendliche Meer, und ich glaubte, was man mir in Kopen-
bagen gejagt hatte, daß man jährlich vier Millionen Tonnen Ge:
treide ausführe, daß die Ausfuhr feit Aufhebung der Korngejege
in England ſich vervielfacht habe. Die Wälder und Forfte weichen
in diefer Gegend Seeland: ganz und gar der Agrikultur; erft
jenfeit des Roeſtilder Fjords heben fie wieder ihre Kronen empor.
Ueber diefen fernen Wäldern im Weften und über den blauen
Waſſern des Fjord3, der bereits hier und da auftauchte, lagen
die rofigiten Abendwolken und deforirten mit wehenden Schleiern
und faltigen Vorhängen einen wonnevollen Sonnen-Untergang.
Und als die Sonne untergegangen war, leuchteten die lichtge-
tränkten Wolken felbjtändig fort, und als fie nad) und nad
verglommen, blieb doc eine lichte, ruhevolle Dämmerung über
das Land ausgebreitet. Es war fo til, fo hochfeierlih. Ich ſah
mich um — und was fah mein erftauntes Auge? Ich fuhr durch
540 Bilder aus Dänemarf.
ein großartiges Todtenfeld, denn wohin ich jah, recht3 und links
in einem großen Kreife erhoben ſich überall gewaltige Hünen-
gräber mitten aus den friedlichen Feldern. Wie fie ih am lich:
ten Abendhimmel abjchnitten, fehienen fie immer größer und ges
maltiger zu werden. Eines derſelben hatte im Profil die größte
Aehnlichleit mit dem fogenannten Grabe des Achilles auf ver
trojaniihen Ebene. Hier und da lehnte fih ein Bauernhaus,
dem Nordwinde ausmweichend, an einen ſolchen Hügel, oder jchlang
jih ein Heiner Garten um feinen Fuß. Es war mir, als führe
ih in die Zeiten Ragnar Lodbroks, war doch auch die ganze Be:
leuchtung jo, wie man ſich das Licht dämmeriger Urzeiten vorzu⸗
ftellen pflegt; und 'e8 war mir, al3 ob ſich die Hünenhügel
jtredten und redten, um mir nachzufehen, al3 ich in Friedrich:
fund einfuhr.
Friedrihsjund ijt ein fleines Neſt, das aber feinen Fjord
auszubeuten verjteht. Hier wird viel von dem Getreide verladen,
da3 die Inſel ins Ausland ſchickt. Ich benußte den hellen Abend
— es wird bier gar nit Naht im Monat Juni — um nod
einen langen Spaziergang am Fjord zu machen; ein polnijcher
Jude, der fich viel in der Welt umgejehen und fich feit langer
Zeit in diefer Gegend aufhält, um fie handeln auszubeuten,
ſchloß fih mir an und wußte nicht genug vom Reihthum, vom
behaglihen Leben und von der Bildung der Bauern zu erzählen.
Er war förmlich empört über alles Gute, das er rühmen mußte.
— Stellen Sie ſich vor, rief er, Bauernmädchen fpielen Klavier!
Ihidt jih Das? Nein, bei Gott nit! Und ihr Geld geben fie
aus, wie große Herren, mit Gefhmad, für wirklich ſchöne Sachen.
Geld haben fie wie Mift für lauter Getreide und Pferde und
haben feine Idee, daß die Bauern anderswo anders leben und
eigentlich Ieben follen. Nein, bei Gott nicht, feine Idee! Was
fagen Sie dazu? Bücher haben fie au, in jedem Haufe find
Bücher, und fie lefen und fohreiben. Wenn ich Das in Polen er:
zähle, wird mir’3 fein Menſch glauben, bei Gott nicht! Ich werd's
auch nicht erzählen. Warum foll ich's erzählen und für einen
Bilder aus Dänemarf. 541
Lügner gehalten werden? Hab’ ich nicht Net? Stellen Sie fi
vor, hier in viefem Nejt, in dieſem Friedrichsſund — es ift
freilich fein Dorf, e3 iſt ein Städtchen, aber ein Städtchen wie
ein Dorf — was thu ich damit, daß es fich heißt ein Städtchen,
wenn e3 ein Neft ift — bier in dem Neſt Friedrichsſund lernen
die Heinen Mädchen zwei und drei fremde Sprachen, bei Gott,
fremde Spraden, Deutſch, Franzöſiſch, Engliſch, was weiß ich!
Da find jo Damen, die unterridhten in allen Sprachen. Haben
Sie Das fhon in Ihrem Leben gehört von fo einem Neft? Sie
find ja aud ein Mann, der viel herumgekommen ift in der Welt,
man jieht3 Yhnen an, auf Ehre, bei Gott, ich bin aud ein
Dann, der viel herumgelommen ift in der Welt, aber haben
Sie Das ſchon erlebt? Engliih, Franzöfifh und Deutſch, auf
Ehre! Kinder, Kleine Kinder! — Aber mas wahr ift, ift wahr;
Das muß ich jelber jagen, Geld geben fie aus, viel Geld, und
fie handeln nit, und man kann bier viel verdienen. Ich bitte
Sie, wär ich fonft hier? Was habe ich in Friedrihsfund zu
thun? Mein Lebtag habe ich nichts von Friedrichsſund gehört,
aber wo ver Menſch fein Auskommen findet, da bleibt er. Die
Zeiten find jhleht, muß man fehen, viel zu verdienen. Die
Bauern geben Geld aus wie die großen Herren; es jehidt ſich
nicht für Bauern, bei Gott, es ſchickt fih nicht, aber man ver-
dient. Was geht's mich an? Ich ſage Ihnen, ein fehr gebilvetes
Zand, bei Gott ein fehr gebilvetes, fehr ein gebilvetes Land!
Kommen viele Verbrechen vor? fragte ich.
Db Verbrechen vortommen? Warum follen nicht Verbrechen
vorfommen? Gewiß fommen Verbrechen vor; überall in ber
Melt, wo Menſchen find, kommen Verbrechen vor, bei Gott!
Unlängjt erft haben viele reiche Leute ein Verbrechen begangen.
Bei einem Wirthe, ver feinen Wein ſchenken darf, haben fie Wein
getrunfen, und vor Gericht haben fie gejagt, fie hätten allerdings
Mein getrunken, aber fie hätten ihn nicht bezahlt. Darauf aber
ijt der Knecht des Wirthes aufgetreten und hat gejagt, fie hätten
allerdings Wein getrunfen und hätten ihn allerdings auch bezahlt.
542 Bilder aus Dänemarf.
Gott, Allmächtiger, welche Schläge der Knecht von den reichen
Leuten befommen hat! Sie fünnen nämlich nicht leiden, wenn
einer denunzirt.
Diejes Geplauder, das tief in die Nacht hinein dauerte und
mir meine Beobachtungen beftätigte, war mir darum angenehm,
angenehmer, al3 die Lieder des Geſangvereins, der fich in einem
Saale des Gajthaufes neben meiner Stube verfammelte und
meinen unſchuldigen Schlaf mordete. Als er endlich ſchwieg, war
e3 die Helle der Nacht, die, mit Macht durch die Vorhänge drin—
gend, mich am Schlafen verhinderte. Ich mußte den Vorhängen
mit Plaid und Mantel zu Hülfe fommen, um mir eine fünftliche
Naht zu jchaffen. Nein, diefe nordiſchen Zwielichtsnächte wären
nicht nach meinem Geſchmack. Selbſt das Zmwielicht dauert höch:
ſtens zwei Stunden; ſchon in der zweiten Stunde nad Mitter:
naht iſt der ganze Himmel wieder weiß, und gegen drei Uhr
glänzt er hell und Har.
Sehr früh jaß ich ſchon wieder marjchbereit auf dem Damme,
ber mweit in den Fjord hinaugläuft, das Dampfſchiff erwartend
und die Wartezeit benugend, um mir das Bild diejer merfwür:
digen Landſchaft gehörig ins Gedächtniß zu prägen. Der Roe:
ſtilde Fjord ift eigentlich nur eine Fortjegung des breiteren Meer:
bujens Iſe Fjord, mit dem er durch einen fehmalen, gegen Weſten
gebogenen Hals oder Kanal zufammenhängt. In vielfadhen Win:
dungen, mit vielen Seitenbuchten, läuft er lang und ſchmal, tief
ins Land hinein, wie einer der ſchottiſchen Loghs. Doc hat er mit
diefen nur wenig Nehnlichkeit, denn während jene überall von
Bergen umgeben find und felbft im Innern des Landes und der
Gebirge den großen Charakter des Meeres tragen, find bier die
Ufer unbedeutend flah und würden fehr öde und unerquidlic
ausjehen, wenn nicht die weltlichen durch die prachtvolle Zaub-
waldung von Sägerspriis, wieder eines der Königsſchlöſſer,
einiges Leben hervorbrädhten. Die Hünengräber, die überall an
den Rändern de3 Roeftilde Fjord auffteigen, find nicht groß genug,
um ihn landſchaftlich zu Shmüden, fie thun es nur, jo zu jagen,
Bilder aus Dänemarf. 543
gedanklich, mit Hülfe der Reflerion. Denn freilich jtimmt es
ganz eigenthümlich, diejes öde Waſſer, das überall uralte, ge:
beimnißvolle, unbekannte Grabmale wiederfpiegelt; die Phantaſie
bevölfert die Ufer mit den Geftalten, die jegt, jeit taufend und
zweitaujend Jahren, in ihrem Schooße ruhen; anjtatt der Hügel
ſieht man ihre Einwohner in gewaltigen, geflügelten Helmen,
groß wie jene Buchen, in Schaaren dahinziehen, oder am Waller
lagern, oder auf diejen öden Geftaden in wildem Kampfe ein-
ander vernichten. Ich hatte vie nordiſche Gegend, die edda—
hafte, die ich bis jegt vergebens fuchte, gefunden. Alle Ber:
gleihungen mit dem Süden, alle Erinnerungen an hejperijche
oder hellenijche Lande hörten hier auf, troß der ſüdlichen Sonne,
der glühenden Luft, der Bläue des Fjords. Meine Augen muß:
ten mir jagen, daß er blau war; meine Bhantafie jah ihn ſchwarz,
denn zu den KHünengräbern, zu ver Dede ring3 umher paßte
Schwarz beffer, war kymmeriſche Dunkelheit eine natürlichere
Beleuchtung. Wie ich bei der Einfahrt in den Archipel, gleich
hinter Cythere und Melos, beim Anblid des blauäugigen Meeres,
der Schönheitzlinien der griechiſchen Berge die hellenifchen Dichter
befjer zu verjtehen glaubte, jo meinte ich auch jegt den Schlüflel
zu den ©eheimniffen der Edda und der alt= nordijchen Dichtung
und der Ajen:Religion gefunden zu haben. Das find jo Illu—
ſionen, Erkenntniſſe, die fih nit mit Gedankenhänden faflen
fallen, Blige, die einen Moment erleuchten — aber bezeichnend
jind fie doch. Tritt man in die Gegend von Ajodhia, oder Dude,
der Stadt der Jlfen, wird man gewiß Rama und Fiichma, die
Geſchichte der Bandu’3 und der Kuruinge und die ganze Religion
des Manu beſſer zu verftehen glauben.
Freilih, das Dampfihiff, das vom Norden herkam, mwedte
mich aus den altnordiihen Träumen und trug mid dem Süden
zu — wieder vorbei an Hünengräbern. Dampfſchiff und Hünen-
gräber! Mehr ald anderswo hat man bier Gelegenheit, Betrach:
tungen über den Wandel der Zeiten anzuftellen, Betrachtungen,
die aber zu allen Zeiten banal geweſen. Daß die Welt ſich ewig
544 Bilder aus Dänemarf.
verjünge, und daß wir mit unferer Gejchichte allein alt werden,
das ift eine alte, befannte Gefhichte, die man lieber vergeilen,
al3 immer wieder auffrifchen follte.
Der Roeftilvder Fjord gleicht einem See; die wenigen Fijcher:
und Schifferhäufer an feinen Ufern erinnern an die Wohnungen
märcenhafter Fergen. Die vielen Anhaltepunfte des Dampf:
jchiffes gelten nicht den ärmlichen Ufer: Ortjchaften, jondern den
Ihönen Schlöſſern und Evelfigen, die fich etwas weiter ins Land
hinein hinter Buchen verfteden und in einer Gegend liegen, die
eben jo fhön, wenn nicht fhöner fein foll, als das Land, das
wir bei Fredensborg und Friedrichsborg durchzogen haben.
In der Nähe von Roeſtilde erweitert ſich der Fjord zu einem
ziemlich breiten Beden, in dem wir lange hin und ber fuhren
und Heine Stationen madten, um Sonntags »Reijende aufzus
nehmen, bei welcher Gelegenheit wir vielfach hiſtoriſch-mytho—
logiſchen Boden berührten; venn die Gegend von Roejfilde ift vie
eigentlihe Heimat und Quelle, aus der die däniſche Gejchichte
geflofjen. Bei dem Namen Roeſtilde fieht der Däne, wie auf ein
Zauberwort, feine ganze mythiſche und urgeichichtliche Zeit. Hier
it das Hertha-Thal, in dem die großen Opferungen vollzogen
wurben, bier nicht fern der heilige See, aus dem die Mutter
alles Lebenden emportaudte, um dem Lande ihren Segen zu
fpenden, wofür ihr fo unzählige Opfer, auch Menfchenopfer, in
die Fluth nachgeworfen wurden; hier liebten ſich Thor und Freya.
Die vorhriftlihen Könige, die unförmlichen Reden mit ihrem
tiefigen Gefolge — „Krake“, „Skiold“, das Klingt, als ob von
Steinblöden die Rede wäre, — hausten bier im Schloſſe Zeire
und verjammelten in diefen Gegenden die freien Mannen zum
Thing. Dieje gewaltigen Hügel rings herum, die Hünengräber,
find ihre jegigen Wohnftätten.
Trotz alledem ift es hier bei Weitem nicht jo nordiſch, wie
am oberen Ende des Fjord. Die alte däniſche Reſidenzſtadt blidt
recht freundlich von ihrer Höhe herab, nachdem fie und mit drei
Domthürmen ſchon feit zwei Stunden gaftlih aus der Ferne
Bilder aus Dänemark. 545
gewinkt hat. Man fteigt vom Fjord eine ſchön bewachſene Anhöhe
hinauf und fteht vor dem berühmten Dom, der allein den Rei:
fenden anzieht, denn andere Merkwürdigkeiten und Schönheiten
bat die ziemlih ausgedehnte, aber von ber Höhe ihrer Bedeu:
tung herabgeſunkene Stadt Roeſtilde ſchwerlich aufzumeijen.
Mas mich fpeziell hier anzog, find die Grabmäler und Grüfte
der Könige. Was man in früher Jugend durd die Poeſie fennen
lernt, bleibt ewig anziehend, und wer kennt nicht „Rothſchilds
Gräber”! Als Heine Jungens haben wir diefe Klopftod’ihe Ode
dur zwei Jahre in unferer Chreftomathie mitgefchleppt. Nun
war ich jo nahe an „Rothſchilds Gräbern” und follte fie nicht
felbft kennen lernen ?
Der Dom, der die Grabmäler enthält, ift beinahe fo alt,
wie das Chriftenthbum in Dänemark; wenigſtens jteht er an der:
jelben Stelle, oder ift er die erweiterte Ausführung der Heinen
Kirche, die Harald Blauzahn, faum von Otto II. befehrt, bier
aufführte. Nah kaum drei Menfchenaltern war der Klerus ſchon
fo reih, daß er die Heine Kirche in den gewaltigen Dom ver:
wandeln fonnte, Der Verwandtenmord Kanut3 des Großen lie:
ferte jo große Reuegelver, daß Bischof Wilhelm, ein Engländer,
wie die meiſten Apoftel des Nordens, in Dänemark ein Gottes:
haus aufführen konnte, wie feine Heimat ſchon mehrere befaß.
Daher auch die angelfähfiihe Bauart, die man auch mit Un:
recht die fpät=byzantinifhhe nennt. Heute ift der Dom fo be
ſchaffen, durch viele Anbauten jo entitellt, daß man ſich jeine
urfprüngliche, in der That harmoniſche und kunſtvoll einfache
Geftalt nur mit Mühe herausfhälen kann. Er bildet urfprüng-
lih ein lateinifches Kreuz mit kurzen Armen und befteht aus
einem dreifachen Schiffe mit den zwei Kreuzflügeln, einem Bor:
gebäude und einem Chor:Umbau, der fih, rund, an die zwei
niedrigeren Seitenſchiffe anfhließt, und zwei Thürmen. Entitellt,
gefälicht wird diefer Bau durch Anbauten der verfchiedenften Art,
durch Kapellen und Vorhallen, aus dem 14., 15., 17., 18. und
19. Jahrhundert. Reftaurationen jeglicher Art, die durch Feuers:
Morig Har tmann, Werke. II. 35
546 Bilder aus Dänemark,
brünfte und andere Unglüdsfälle nothwendig und jedesmal im
Gejhmade der Zeit bewerkitelligt wurden, haben nod) zur Mas:
firung der urfprünglichen Einfachheit, die fih manchmal, wie
3. B. im Chore, zur Erhabenheit fteigert, daS Ihrige beigetragen.
Allein wir wollen ja vor Allem die Königsgruft fehen. Da
ſteht uns in gemwifjer Beziehung eine Enttäufhung bevor. Wir
erwarteten große Gruftgewölbe, die einen Gefammt: Eindrud
machen, wie 3. B. St. Denis, oder die fhönfte aller Grüfte, die
wir je gejehen, die der Großmeifter zu Malta — und fiehe da,
die Leihen der Könige und Königinnen find dur das ganze,
weitläufige Gebäude ausgeftreut, vereinzelt und liegen meift in
jo hellen Räumen, daß Dunkelheit und Atmofphäre, wie wir fie
zur Stimmung in Grüften wünſchen und brauchen, gänzlich ab:
geben. Wo ijt der Mönd, oder wenigſtens der ernfte Saktiftan
mit der Zadel in der Hand, die bei der Wanderung einzelne
Flämmchen auf den feuchten Boden fallen läßt? Der helle, grelle
Tag mit mittägiger Junifonne hat fein Amt übernommen.
Die Könige liegen in einzelnen Särgen oder Maufoleen im
Chor oder in den Kapellen, die rings um die Kirche laufen und
durch hohe, breite Fenfter beleuchtet find. Für den Berluft wird
man dadurd entſchädigt, daß man die Monumente, unter diefen
einzelne herrliche, gut betrachten kann. Aber es ift wie in einem
Mufeum.
Im Chor des Hochaltars erheben fich vier gewaltige, weiße
Marmor: Monumente, die auf den erſten Blid einen großen Ein:
drud machen, bei näherer Betrachtung aber ſehr verlieren und
ſich als Produkte einer verfallenden Kunft offenbaren. Die Mo-
numente Chriftians V. und feiner Gemahlin Charlotte Amalie
mit den Medaillon: Portraits, mit den Schlachten : Basreliefs
und den allegorifchen Perſonen der Gerechtigkeit, des Ueberfluſſes,
der Mohlthätigfeit, Selbjtkenntniß zc. ꝛc. haben noch mandes
Gute, befonders was die Arbeit betrifft; aber die Monumente
Friedrichs IV. und der Königin Chriftine (Tochter Guſtav Adolfs)
find wahre Modelle des Ungefhmads, wie fie nur das fieben:
U
— — —— — & ab
Bilder aus Dänemark. 547
zehnte Jahrhundert, die Perrüde, die ausfchweifende Richtung
Bernini’s in der Skulptur, hervorbringen konnten. Herzlich be
dauert man den fchönen, koftbaren Marmor.
Aber wir jollen entſchädigt werden. Eilen wir über zahllofe
Gräber von Bilhöfen, Kanzlern, Aomiralen, Prinzen in eine
der rechten Seitenfapellen. Sogleih beim Eintritte leuchtet ung
ein weißes Marmor: Monument entgegen, das und augenblid:
lich mit der wohlthätigen Ruhe eines Kunftwerkes anmuthet. In
der That ift e8 von Wiedevelt, dem Vorläufer Thorwaldſens.
Auf dem Sarge erhebt ih eine Säule mit dem Portrait Fried-
rih8 V.; am Fuße des Sarges jtehen die traurigen Geftalten
Dänemarks und Norwegens. Die Anmuth und Tiefe diejes
Merfes wird doppelt Har, wenn man fich nach recht3 wendet und
de3 englifhen Bilvhauers Stanley Monument der Königin Louiſe
betrachtet. Seine Basreliefs find überfein, durchfichtig, über:
trieben, wie gewiſſe englifche Tafchenbuch » Rupferftiche. — Noch
ein zweite Monument von Wiedevelt ift da (Chriftian VI.), das
dem erjten ebenbürtig iſt und fich eben fo durch feine Basrelief3
wie duch die Statuen trauernder Weiber als Merk eines wahr:
baft großen Meiſters dofumentirt. Es ift unbegreiflih, daß
Wiedevelt jo wenig befannt geworden, und daß er in Dänemark
jo arg zu Grunde gegangen.
Aber die Perle diefer ganzen Sammlung, ein wahrhaft groß-
artiges Kunſtwerk, das feines Gleichen ſucht und ſchwer finden
wird, das den höchſt talentwollen Wiedevelt weit übertrifft, iſt
das von dem Antwerpener Cornelius Floris herrührende Mo:
nument Chrijtiand III. Es fteht in der ſchönen gothifhen Ka—
pelle der heiligen drei Könige und ift ganz aus Marmor, der etwas
gelblich anläuft. Der König liegt da in feiner ganzen Rüftung;
Helm, Schwert und Handſchuhe liegen neben ihm. Vier Tra:
banten umjtehen, auf Schilde geſtützt, wachend den ruhenden
König. Eine Dede wird von vier Säulen getragen; auf diefer
Dede kniet wieder der König vor einem Kreuze; hier umftehen
ihn trauernde Genien, welche die Fadel ſenken. Jeder einzelne
548 Bilder aus Dänemarl.
Theil dieſes harmonievollen Ganzen ift an fi ein Kunjtwerf.
Der Inieende König, der ruhende, die Trabanten — man nehme
jede diefer Geftalten für fih, und man hat ein Meifterwerf voll
Kraft, Leben, Größe und wahrhaft erhabener Anmuth. Einen
der Trabanten foll Thorwaldfen lange finnend betrachtet und end:
lich erflärt haben, daß er ihn für eines der vollendetiten Werke
der Skulptur halte, und daß er jo was zu ſchaffen nicht fähig ſei.
Chriftian IV., der treffliche Architekt mit feinem künſtleriſchen
Sinne, hat die Schönheit diefes Werkes bald erfannt, denn er
wollte e8 in dem Monumente, das er jeinem Vater Friedrich II.
errichtete, reproduziren oder wenigſtens nachahmen lafjen. Aber
der Künftler war weniger fünftlerifch ala der Befteller. Er ahmte
wohl die Kompofition im Allgemeinen nah, wollte aber Corne:
lius Floris übertreffen, glaubte dieß mit Hülfe der Mafle thun
zu können, vergrößerte, übertrieb Alles, verrüdte die Verhältniſſe
und brachte etwas Plumpes zu Stande, das nur da ift, um Floris
noch höher in unferer Achtung zu ftellen. Das Intereſſanteſte
an diefem Monumente Friedrich3 II. ift uns dieſes Königs Wahl:
ſpruch. Er lautet: „Meine Hoffnung zu Gott allein, treu ift
Wildpret.“ Wildpret hieß fein Hund. Alfo auf Erden vertraute
er nur feinem Hunde,
Rasch weiter, wieder an unzähligen Gräbern und Portraits
vorbei, in die Kapelle unferes Lieblings Chriftian IV. Sie it.
eine der größten, aber eben weil man dieſen großen König feiner
würdig ehren und feine Grabjtätte prachtvoll ausſchmücken wollte,
ift man damit nicht fertig geworben, und hat der größte König
Dänemarks in Roeſtilde eigentlich fein Monument. Er, der mit
Friedrichsborg fertig geworden, hätte diefe Kapelle in Einem Jahre
fertig gemacht. Seht fieht e3 darin aus, wie in einer Werfitatt.
Die beiden Wanpflächen, welche große biftorifche Fresken, Chri—
ftian IV. ala Richter und ala Sieger in der Seefchlacht bei Fe:
mern darjtellend, aufnehmen follen, ftarren uns al3 öde, mörtel:
überworfene Felder an. Nur die Höhe der Kapelle ift ausgeſchmüdt,
und zwar jehr ſchön al fresco von dem jehr talentvollen Eddelien
Bilder aus Dänemarl, 549
(wenn ich nicht irre, einem Deutjchen), der aber im Jahre
1852 geftorben. Zwiſchen den Fenſtern jtebt die Bronze: Statue
Chriftians IV. von Thorwaldjen auf einem provijorischen böl-
zernen Sodel. Freilich reicht diefe Statue allein jchon hin, ein
würdiges Monument Chriftians abzugeben; fie ift eine der lie:
benswürbdigften und charafteriftiihften von Thorwaldſen; aber
man jähe fie doch gern in entjprechender Umgebung.
Neben all den prächtigen Königs: Monumenten fei noch ein
einfacher Stein genannt, weil er einen Dann bededt, der uns
jo viel werth ift, wie viele dänifche und andere Könige zufammen:
genommen. Es ijt der Grabjtein des Saro Grammatifus, Gr
it ein Fackelträger in den dunkelſten Gängen alter Zeiten, wäh:
rend jo viele Könige nur Lichtauslöfher in klarſten Zeiten
find. Er verdient unfere Verehrung mitten unter all den Königen,
ja, er ift uns lieber, als die meiften derjelben, wie ung Gre:
gorius von Tours, wenn er in St. Denis begraben wäre, auch
in vieler Beziehung lieber wäre, ala alle die Könige, deren Tha:
ten er bejchrieben, und al3 die meiften ihrer Nachfolger.
Mit einem überladenen Bahnzuge fuhr ich nach Kopenhagen
zurüd; auf allen Stationen drängte fi das Volk in Schaaren
heran, um an den Sonntags Vergnügungen der Hauptitadt fein
Theil zu haben, Ich ſaß neben einem dänijchen Gentleman, der
mi für einen Franzofen hielt, weil ih ihn bat, mir däniſche
Gelvforten in Franken zu erklären, und der mit mir Franzöſiſch
ſprach. Er politifirte im franzöfifhen Sinne. Was glauben Sie,
fragte er, wird Preußen an diefem Kriege gegen Frankreich Theil
nehmen? — Ich bezweifle e8, antwortete ih, Preußen rüjtet ſich
wohl nur, um bei der Vermittelung kräftig und nachdrücklich ein
entfheidendes Wort ausfprechen zu können. — Täuſchen Sie ſich
nicht, fagte der Däne, Sie haben feine Idee, wie diefe Deutfchen
an einander hängen, wie die Kletten !
Ich hüte mich, zu widerſprechen, hoch erfreut, daß es auf
der weiten Erde eine einzige menfchliche Seele gibt, die da glaubt,
daß die Deutfchen an einander hängen „wie die Kletten“. Diefer
550 Bilder auß Dänemarf.
Däne iſt eine der größten Merkwürdigkeiten, die ich in Däne-
mark gefunden. Der deutfche Bund follte ihn, wenn er noch
eriftirt, auffuchen laffen — er wird, als ein fo abjonderliches
Individuum, nicht Schwer zu finden fein — follte ihn auf Bundes:
foften nähren, leiden, prächtig leben und, wenn er ftirbt, ein:
balfamiren und im Thurn und Taris’shen Haufe aufftellen
laflen.
Da ih, nad Dieſem, dem Lefer unmöglich etwas Merk:
würdigeres mittheilen kann, jchließe ich hier meine Briefe aus
Dänemark.
Alſo die Deutſchen hängen an einander wie Kletten!
Nun ſag' mir Eins, man ſoll nicht Wunder glauben!
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