Himmel und Erde
Urania-Gesellschaft
I
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Himmel und Erde.
Illustrierte
naturwissenschaftliche Monatsschrift
Herausgegeben
von der
GESELLSCHAFT URANIA ZU BERLIN.
Redakteur: Dr. P. Schwahn.
BERLIN.
Verlag von Hermann Paetel.
1908.
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THL" ('IL' -7 Y<jHK
PUBLIC LIBRARY
»58! 3«
ASTOF*. LENOX AND
TILDEN FOU N DATIONS
H 1923 L,
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
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Verzeichnis der Mitarbeiter
am XV. Bande der illustrierten naturwissenschaftlichen Monatsschrift
„Himmel und ErdeM.
Ax mann, Dr. med., in Erfurt 241. 481.
Bendt, Kranz, in Berlin 13.
Börnatein, Prof. Dr. R, in Berlin 59.
Dannemann, Dr. Fr., in Barmen 297.
Detmer, Prof. Dr. W., in Jena 193.
251. 310.
Donath, Dr. B., in Berlin 9Ăź. 185. 237.
238. 23». 288. 289. 335. 375. 376. 384.
422. 423. 430. 431. 473. 479. 4S0. 520.
Feuth. Ludw., in Berlin 433.
F.oerster, August, in Charlotteri-
burg 134.
Gallenkamp, W., in MĂĽnchen 116.
452.
Qoldhammer, Prof. Dr. D. A., in
Petersburg 97.
Graff, Dr. K., in Hamburg 288.
GĂĽnther, Ludw., in FĂĽrstenwalde
529.
H&pke, Prof. Dr. C, in Bremen 89.
Ratscher, Leopold, in Budapest 41.
42. 44. 92. 141. 231. 232. 285. 332. 333.
379. 424. 426. 429. 475. 476. 553.
Kleinpoter, Dr. H., in Omunden 221.
Lakowitz, Dr., in Danzig 225.
Lampe, Dr. Felix, in Berlin 22
Lendenfeld, Prof. Dr. R. von, in Prag
1 65.
Mover, Dr. Joh. C, in Steglitz 49.
Michaelis, Siegfried, in Berlin 145.
Pirani. Dr. M. von, in BerĂĽn 191.335.
336. 337. 377. 522.
Rauter, Dr. G., in Berlin 79. 175. 188.
189. 190. '33. 283. 320. 332. 380. 405. 463.
Riem, Dr. Joh., in Berlin 40.93. 139.
140. 228. 229. 230. 235. 282. 283. 330.
374. 382 470. 525. 548. 560.
Risten part, Dr. F.. in Berlin 419. 514.
515 557. 558.
Rumpelt, Dr Alexander, in Taor-
mina 410. 496.
S c h e i n e r , Prof. Dr. J., in Potadam 88.
Schmidt, Dr A, in Berlin 36. 45. 46.
96 14«. 287. 477. 479. 480. 517. 523.
Schwahn.'Dr. P., in Berlin 128.
Sokal, Eduard, in Berlin 371. 397.543.
Ssolowjew, A., in Petersburg 348.
Umlauft, O., in Berlin 140. 143. 331.
Wedding, Prof. Dr. H., Geheimer
Bergrat, in Berlin 385.
Weinstein, Prof. Dr. B., in Berlin
155. 207. 264.
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Inhalt des fĂĽnfzehnten Bandes
Grössere Aufsatze. 8eit„
Retrachtnngen ĂĽber das Wesen des Lebens. Von Prof. R. von Lendenfeld
in Pra# 1. ('.">
*Pic moderne Dampfmaschine. Von Franz Bendt in Berlin 13
Vom Panama- und Nikaragua-Kanal. Von Dr Felix Lampe in Borlin. . 22
*Das Pflanzenkleid der Erde. Von Dr. Juh. Gcor^ Meyer in Ste^iit^ . l'.>
Hie (irazer Wetterechiels-Konferenz vom 21. bis >*4. Jnli d. J. Von Prof.
Dr. R. Bornstein in Berlin 511
Technische Zweimonatschau. Von Dr. Gustav Rauter in Berlin. ... 79
Ein Jahrhundert der Physik. Von Prof. Dr. D. A. Goldhammer in
Petersburg 97
Astronomische Chemie. Von W. Gallenkamp in MĂĽnchen .... 116. 452
*l)ie Pram- Expedition Sverdrups. Aua der Zeitschrift .Naturen- ĂĽbersetzt
Ton Dr. P. St:h walin I2S
•Professor Wilhelm Foerster : : : , : : . , , ; , : ; , . , IM
* Otto Ten Gnericke. Zu seinem 30ĂĽjahrigen Geburtstag. Von Siegfried
M irhaelis in Berlin . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . LLi
Iber die Grundlagen der Naturwissenschaften. Von Prof. Dr. B. Weinstein
in Berlin - â– - â– i.V.. 207 2iĂĽ
Technische Zweimonatschan. Von Dr. Gustav Rauter in Berlin .... 17,'>
•Reisehilder ans Algerien. Tunesien und der Sahara. Von Pro'. W. Detmer
in Jona 193. 251. 310
Ernst Mach und die ., Analyse der Empfindungen'*- Von Dr. H. Kleinpeter
in Gmundon 221
Über P.äderwirkunjten. Von Dr. med. Axmann in Erfurt 241
'Die Dreifnrbenprojektion in der Lrania. Von Dr. B. Donath in Berlin . 289
Die Naturwissenschaften im Zeitalter der Entdeckung des Energieprinzipes.
Von Dr. Fr. Panne mann in Barmen . , . . , , , . . : . 2ĂĽl
Technische Rnndschan. Von Dr. Gustav Rauter in Berlin 320
Elektrizität und Materie. Von Dr. M. von Pirani in Chiirlottenbur^ . . .">37
'Unter den Kirgisen. Von A. Ssolowjew in Petersburg 34*
Ans dem Institnt Pastenr. Von Eduard Sokal in Berlin . . , , , , , 3J_l
'Ăśber selbstverzeichnende Pyrometer. Von Prof. Dr. H. Wedding in Berlin 385
Zur Naturgeschichte des Ă„thers. Von Eduard Sokal in Charlottenburg 3i>7
Geologische Ausblicke nnd RĂĽckblicke. Von Dr. G. Rauter in Berlin, . . 4' >â– ">
Sizilianisrhe Skizzen. VII- Weihnachten in Sizilien. Von Di. Alexander
Rumpelt in Taormina 410
* Die Gewinnung der Steinkohle in einer Zeche des Rnhrkohlengebietcs. Von
Ludwig Feuth in Berlin 433
'echniache Rnndschau. Von Dr. Gustav Hauter in Berlin 4>i.i
jogle
VIII Inhalt.
• Licht wirk äug nnd Lichtheilnng. Von Dr. med. Axmann in Erfurt. . . 481
FrĂĽhlingstage am Mittelmeer. VHI. Fastnachtin Sizilien. Von Dr. Alexander
49C
* .Ifthnnnps Hevelins Kin T.plienshilil aus ilftn VV1I lahrhiimlprt Von l.nHw
GĂĽnther in FĂĽrstenwalde
Aus dem lleiche des Eises nnd der Glut. Von Eduard Sokal in Charlottenburg
Kometensystenie. Von Dr. Joh. Riem in Berlin
>48
Ein Hetruc an der Wissenschaft. Von L Katsehor in Budapest
r).r):i
Mitteilungen.
Ilic Natur der Sonne
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Die \ii7alil ilpr Sterne
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Die Dnrcliinesser von kleinen Planeten
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222
Kintlnfs elektrischer Wellen auf das (iehirn
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Modppno liolroiilo-FIpVAtnroii
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I her die relative Helligkeit der Hauptlinien im Spektrum einiger Gasnebel .
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Nebenprodukte des Petroleums .
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Die Lehre von den tiusionen
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Mine iillitnialsliche Irsachc der Eiszeit
Die blaue Farbe des Himmels . .
— m. ^ — 1
Kin merkwĂĽrdiges Meteor
Veränderlichkeit kleiner Planeten
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Verstand oder Naturtrieb?
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Oer seit Jahrzehnten innerhalb der Merkurhahn vermntete Planet ....
Der grĂĽne Strahl hei Sonnenuntergang . .
•j.s:i
Das Perpetnnm mobile und die Gewinnung (lässiger Luft
Speisesjenossen . .
Die Sonnenkorona
Sven Hedin :vm
Naturgas in Deutschland .
Der neue Photnphnnoirraph von Pcrveiika . .
37">
Inhal i. IX
>r.U-
Ostwald nnd Grofs, Vervielfältigung photographischer Aufnahmen ohne Licht 377
Die Feigen-. Ueis- und Teeknltnren in den Vereinigten Staaten 37'j
Zur Krage der >1iillverhrcnnung .".so
Schon wieder ein neuer Stern . . , . . . . . , , , 41ä
Eine nene Entdeckung an Röntgenstrahlen 422
KĂĽckahbildmigen auf photographisehen Platten 428
l)ie Znkunft der riugmaschincn . 424
Etwas ĂĽber Deister- und Gespcnsterglatiben 4*26
Neuartige Gewehe 42H
Iber Planetenatmosphären 470
Von der Entwickelung des lenkbaren Luftschiffes - 47:;
Neue Nahmngsmittelforschnngcn 175
>loturjachten 47fi
Alte und neue Fernrohrohjektive 177
*Eine Eigenschaft der grofsen Nebel 514
Neun Sterne mit veränderlicher Geschwindigkeit im Visionsradin» .... 515
Uber Sichtbarmachung und Gröfsenbestimuinng ultraiuikroskopischer Teilchen.
mit besonderer Anwendung anf Goldrnbingläser 517
Ăśber die Gleichheit der Fortpflanznngsgeschwindigkcit der X-Strahlen und des
Lichtes in der Luft 517
Das Problem stereoskopischcr Photographie kleiner Gegenstände 520
*Kine pliotographische Aufnahme im l'unkeln .... 5-20
Telephouie ant weile Entfernungen, System Pupin ">_'-2
l>ie Frage nach dem L'rsprung der Petroleum-Lager 523
l>ie Nchclmassen, welche den neuen Stern im Perseus umgaben ">:>7
Eine grofse Sehclgrnppe unweit des Poles der Milchstrafse . 558
[>ie Gebilde des Mondes . . . , . -V-d
Neues vom Straiifs , . . . . , . . . . . ^ . . . , : 'AI
Ein mnstergiltiger Spitalhan 503
Interessante bauliche Prophezeiungen 5t»5
F.in trackener Saigs*» . . . 5Kfi
Selmt/anzug gegen elektrische Hochspannung ... ~>t'<8
Erdgas in Osterreich 5t'.s
Stickstoffgewinnnug ans der atmosphärischen Luft - 5i;i'
Zum Nachweise von Pferdefleisch 570
Die halbkreisförmigen Kanäle im Ohr 571
Bibliographisches.
Wnnschmann. E. : 'beschichte der Physik <le^ XIX. .Jahrhunderts . . 45
Wilhelmy. A.: Ik-schichte der Chemie des. XIX. .Jahrhunderts 15
Pnhde. A : Kidkniule für höhere Lehranstalten . . . . 4t>
Verzeichnis der der Redaktion zur Besprechung eingesandten BĂĽcher . 4n
Partheil. G : Die drahtlose Tcle^raphie i>'*>
Erdmaiin, IL: Lehrhnch der anorganischen C'hr:nie 'Mi
Huber, Ph.: Katechismus der Mechanik %
Bachmetiew: Experimentelle entomologische Studien vom physikalisch-
rheinischen Standpunkt aus 143
Muhl, F.: Der Unterricht in der Pflanzenkunde durch die Lebensweise der
Pflanze bestimmt 144
X Inhalt.
Fischer, K.: Der naturwissenschaftliche Unterricht in England, insbesondere
in Physik und Chemie 144
Rifharz, F.: Neuere Fortschritte auf dem Gebiete der Elektrizität .... HU
Pederscn. H.: Durch den indischen Archipel 191
Encyklopädie der Photographie, herausgegeben von Wi 1 h elm Knapp: 237. 2,".s
v. fliibl: Der Platindruck
Stolze, F.; Die Kunat dca Vorgröfserns auf Papieren und Platten
Reifs. A-: Die Entwicklung der photographiscb.cn Bronisilberplatte
und die Entwickler
LĂĽppo-Kramer: Wissenschaftliche Arbeiten auf dem Qebiete der Pho-
tographie
Scheffler, H. : Das photographische Objektiv
Mnsmacher, K : Kurze Biographien berĂĽhmter Physiker ... . . 238
Halbmonatliches Literaturverzeichnis der Fortschritte der Physik 23^)
Aus Natnr nnd Geisteswelt, herausgegeben von Teubner: 287
Janson : Meeresforschung und Meereslehen
Scheffcr, W.: Das Mikroskop, seine Optik, i.lcschichte und Anwendung
Giesensenhagep, K.: Auf Java und Sumatra. StreifzDge und Forschungs-
reisen im Lande der Malaien . : , , , : . , , = = , . , , 2>I
Droit, 0.: Mars, eine Welt im Kampf uma Dasein 288
Donath, B. : Physikalisches Spielbuch fĂĽr die Jugend . . 288
Linke. F.: Moderne Luftschiffahrt 335
Wiesengrund, B.: Die Elektrizität 335
Wildermann. M. : Jahrbuch der Naturwissenschaften L'Ql — 1902. . . . ;YM\
Ed er, I, M. : Die Grundlagen der Photographie mit Gelatine Emulsionen. . 384
Königsherger, L.: Hermann von Hclmholtz . 430
Miethe, A.: Lehrbuch der praktischen Photographie . . . 431
Pizzighclli, («.: Anleitung zur Photographie . . I.il
N'euhaiil's, II.: Lehrbuch der Projektion 431
BĂĽchner. L.: Kraft und Stoff 47r>
Stark. 1: Die Elektrizität in Hasen ■17'J
Knndt, A. : Vorlesungen ĂĽber Experimentalphysik 480
Lurentz. H. A : Sichtbare und unsichtbare Bewegungen 480
Verzeichnis der der Redaktion zur Besprechung eingesandten BĂĽcher . 527. 572
Pernter, J. 31.: Meteorologische Optik 571
Himmelserscheinungen.
KĂĽr Dezember ĂśtO'J und Januar, Februar II").*)
;»:>
Marz, April, Mai \'M):\
'.'::."»
„ Juni, Juli, August WW.) . . ,
r.s-j
.v>">
Sprechsaal.
Einflufs elektrischer Wellen auf das Gehirn 240
Namen- und Sachregister
zum fĂĽnfzehnten Bande.
Athors, Zur Naturgeschichte des 397.
Algerien, Reisebilder aus 193. 251.
310.
Amerika, Telephonisches aus 231.
Analyse der Empfindungen, Ernst
Mach und die 221.
Apex, Der 230.
Astronomische Chemie IUI. 452.
Atmosphärische Luft, Stickstoff-
gewinnung aus der 569.
Ausblicke und RĂĽckblicke, Geolo-
logische 405.
Bachmetiew: Experimentelle ento-
molugische Studien 143.
Bä d er w irk un ge n , ("bor 241.
Bauliche Prophezeiungen, Interes-
sant» hdn.
Besiedeluug, Dauernde, von Nowaja
Semija 140.
He wassorung in Australien 332.
Bewegungen, Sichtbare und unsicht-
bare. Von Loretitz 4S0.
Bromsilberplatte. Die Entwicklung
der photographischen, und die Ent-
wickler. Von Reifs 237.
HĂĽ eh er, Verzeichnis der der Re-
daktion zur Besprechung eingo-
sandten 4(5. 527. 572.
BĂĽchner: Kraft und Stoff 479.
Cervonka, Der neue Photophono-
graph von 375.
Chemie, Astronomische llfi. 452.
Chemie, Geschichte der, des XIX
Jahrhunderts. Von Wilhelmy 45.
Chemie. Lehrbuch der anorganischen.
Von Erdmann 96.
Dampfmaschine, Die moderne 18.
Deutschland, Naturgas in :;32.
Diamanten, Einfluss violetter Strah-
len auf 376.
Donath: Physikalisches Spielbuch fĂĽr
die Jugend 288.
Dreifarbenprojektion, Die, in der
Urania 289.
Durchmesser, Die, von kleinen Pla-
neten 40
Drofs: Mars, eine Welt im Kampf
ums Dasein 288.
Eder: Die Grundlagen der Photo-
graphie mit Gelatine-Emulsionen 384.
E i sen. Die Lötung von, mit Eisen 190.
Eises und der (Mut, Aus dem Reiche
Eiszeit, Die mutmafsliche Ursache
der 225.
Eldorado, Wie man ein, schafft 232.
Elektrischer Wellen, Einftufs, auf
das Gehirn 41. 24<>
Elektrizität, Die. Von Wiesengrund
335.
Elektrizität, Die, in Gasen. Von
Stark 479
Elektrizität, Neuere Fortschritte auf
dem Oebioto der. Von Richarz 191.
Elektrizität und Materie 337.
Empfindungen, Ernst Mach und die
Analyse der 221.
Energieprinzipe8,D ^Naturwissen-
schaften im Zeitalter der Entdeckung
Ha« 9ft7
Entdeckung, Eine neue, an Röntgen-
strahlen 422.
Entomologische Studien. Von Bach
motiew 143.
Erdgas in Oesterreich 568-
Er de. Das Pilanzenkleid der 49.
XII Inhalt.
Erdkunde lür höhere Lehranstalten liriizor WYtiorschn'fs-KnntVrt'M* vom
Von Pahde 46.
Erdmann: Lehrbuch der anorga-
nischen Chemie 96.
Experimentalphysik, Vorlesungen
ĂĽber. Von Kundt 480.
Farbe, Die blaue, des Himmels 228.
Fastnacht in Sizilien 4%.
Feigenkultur in den Vereinigten
Staaten 379.
Fernrohre mäfsiger Gröfse 140.
Fernrohrobjektive, Alle und neue
477.
Kinrher- Dor naturwissenschaftliche
Unterricht in England 144.
FlĂĽssiger Luft. Das Perpetuum mo-
bile und die Gewinnung 2S'.
Fl ugmaseh inen, Die Zukunft der
ĂśL
Foerstt-r, Professor Wilhelm 134
Fram-Expedition, Die, Sverdrups
12S.
FrĂĽhlingstage am Mittelmeor VIII
49t'..
Gas nobel, Ăśber die relative Hellig-
keit der Hauptlinien im Spektrum
einiger SS.
Oasionen. Die Lehre von den 1S5.
Gebilde, Die, des Mondes 5«>Ü.
Geburtstag. Zu Otto von Guerickea
3'H)jährigem 14.*>.
Gehirn, Einflute elektrischer Wellen
auf das 41 240.
Geister- und Gespcnstcrglauben, Et-
was ĂĽber 42fi.
Geologische Ausblicke und HĂĽck-
MieLo 411'.
Geschichte der Chemie des XIX.
Jahrhundorts Von Wilhelmy 4*>.
Geschichte der Physik des XIX.
Jahrhunderts. Von Wunschmann 4.'».
Guspenstor gl au heu. Etwas ĂĽber
Geister- und 4"2*>.
O e treido- Ele vatoren, Moderne 44.
tiewebe, Neuartige 420.
Gewinnung, Die, der Steinkohle in
einer Zeche des Uuhrkohlengebietcs
t
Giesen hageu: Auf Java und Suma-
tra >S7.
Glut, Aus dem Reiche des Kiscs und
21 bis 24 Juli d..I 59.
GrĂĽne Strahl, Der, bei Sonnenunter-
gang 283.
Grundlagen, Die, der Naturwissen-
schaften 155. 207. 2l>4.
Guericke, Otto von 145.
Helmholtz, Hermann von. Von
Königsberger 430.
Hevelius Johannes 529.
Himmels, Die blaue Farbe des 228.
Himmelserscheinungeu 93. 235.
382. 52'».
Himmelskarte, Die photographischo
139
Hochspannung, Schutzanz ug gegen
elektrische 568.
HĂĽhl, von: Der Platindruck 237.
Huber: Katechismus der Mechauik 9f,.
Indischen Archipel, Durch den. Von
Pedersen 191.
Institut Pasteur, Aus dem 371.
Jahrhundert, Ein, der Physik 97.
Jauson, Meeresforschung und Meeres-
Ipben
Java und Sumatra. Von Giesenhagen
2S7
Kanäle, Die halbkreisförmigen, im
Ohr 571.
Kirgisen, Unter den 34S.
Knapp: Encykiopadio der Photogra-
phie 237.
Kometeusysleme 548.
Königsberger: Heini tnn von Helm-
holtz 430.
Kraft und Stoff. Von Milchner 479.
Kundt: Vorlesungen ĂĽber Experi-
mentalphysik ISO.
Lebens, Betrachtungen ĂĽber das
Wesen des I. li.'i.
Lenk baten Luftschiffes, Von der
Entwickelung de» 47.1.
Lichtheiluug und Lichtwirkung 4SI.
Linker M^lnne Luftschiffahrt 3:^5.
Lötung, Die, von Eiseu mit Kisen 190.
Lorentz: Sichtbare und unsichtbare
Bewegungen 4 SO.
Lü p ]u> • K ramer: Wissenschaftliche
Arbeiten auf dem Gebiete der Photo-
graphie 33S.
Luftschiffahrt. Moderne. Von Linke
Inhalt.
XI II
Luftschiffe». Von der Entwicklung
des lenkbaren 473
Mach. Ernst, und die Analyse der
Empfindungen 221.
Mars, eine Welt im Kampf ums Da-
sein. Von Drofs 288.
Martinique, Vulkanische Asche von
89.
Massennahrungsmittel, Zwei 42.
Matorie und Elektrizität :(37.
Mechanik, Katechismus der. Von
Huber 96.
Meeresforschung und Meeresleben.
Von Janson 287.
Merkurbahn, Der seit Jahrzehnten
innerhalb der, vermutete Planet 282.
Meteor, Ein merkwürdiges 22».
Meteorologische Optik. Von Pernter
571.
Miethe, Lehrbuch der praktischen
Photographie 431.
Mikroskop, Das, seine Optik, Ge-
schichte und Anwendung 287.
Milchstrafse, Eine grofse Nebel-
gruppe unweit des Poles der, 558.
Mineralwässer, Natürliche und
kĂĽnstliche 189.
Mittelmeer, FrĂĽhlingstage am 496.
Mondes, Die Gebilde des 560.
Moskitos, Ein Feldzug gegen die 333.
Motorjachten 476.
MĂĽllverbrennung, Die Frage der
380.
Musmacher: Kurze Biographien be-
rĂĽhmter Physiker 238.
Mustergiltiger Spitalbau. Ein 563.
Nachweise, Zum, von Pferdefleisch
570.
Nahrungsmittelforschungen,
Neue 475.
Nahrungsmittel, Zwei Massen- 42.
Naturgas in Deutschland 332.
Naturgeschichte, Zur, des Ă„thers
397.
Naturtrieb, Verstand oder 233.
Natur- und Goisteswelt. Herausge-
geben von Teubner 287.
Naturwissenschaften, Die, im Zeit-
alter der Entdeckung des Energie-
prinzipes 297.
Naturwissenschaften, Jahrbuch
der, 1901-1902. Von Wildermann 336.
Naturwissenschaften, Ăśber die
Grundlagen der 155. 207. 264.
Nebel, Eine Eigenschaft der grofsen
514.
Nebelgruppe, Eine grofse, unweit
des Poles der Milchstrafse 558.
Nebelmassen, Die den neuen Stern
im Perseus umgebenden 557.
Nebenprodukte des Petroleums 141.
Neuhau fs: Lehrbuch der Projektion
431.
Nikaragua-, Vom, und Panama-Kanal
22.
Nowaja Semlja, Dauernde Besiede-
lung von 140.
Objektiv, Das photographische. Von
Scheffler 338.
Ă–sterreich, Erdgas in 568.
Ohr, Die halbkreisförmigen Kanäle
im 571.
Optik, Meteorologische. Von Pernter
571.
Pah de: Erdkunde für höhere Lehr-
anstalten 46.
Panama-, Vom, und Nikaragua-Kanal
22.
Partheil: Die drahtlose Telegraphie
96.
Pas t our, Aua dem Institut 371.
Pedersen: Durch den indischen
Archipel 191.
Pernter, J M.„ Meteorologische Optik
571.
Perpetuum mobile, Das, und die
Gewinnung flĂĽssiger Luft 283.
Perseus, Die den neuen Stern, um-
gebenden Nebelmassen 557.
Petroleumlager, Die Frage nach
dem Ursprung der 523
Petroleums, Nebenprodukte des 141.
Pferdefleisch, Zum Nachweise von
570.
Pflanzenkleid, Das, der Erde 49.
Pflanzenkrankheiten, Gegen 42.
Pflanzenkunde, Der Unterricht in
der. Von Pfuhl 144.
P f u h 1 : Der Unterricht in der Pflanzen-
kunde 144.
Photographie, Anleitung zur. Von
Pizzigbelli 431.
Photographie, Das Problem stereo-
skopischer, kleiner Gegenstände 52t».
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XIV
Inhalt.
Photographie, Encyklopädie der.
Von Knapp 237.
Photographie, Lehrbuch der prak-
tischen. Von Miethe 431.
Photographie mit Gelantine-Emul-
sionen, Die Grundlagen der. Von
Eder 384.
Photographie, Wissenschaftliche
Arbeiten auf dem Gebiete der. Von
LĂĽppo-Kramer 338.
Photographische Aufnahme, Eine,
im Dunkeln 520.
Photographische Himmelskarte,
Die 139.
Photographischen Platten, RĂĽck-
abbildungen auf 423.
P h ot o graph i sc h e r Aufnahmen, Ver-
vielfältigung, ohne Licht 377.
Photophonograph, Der neue. Von
Cervenka 375.
Physik, Geschichte der, des XI X.Jahr-
hunderts. Von Wunschmann 45.
Physik, Halbmonatliches Literat ur-
verseichnis der Fortschritte der 231».
Physik, Ein Jahrhundert der 97.
Physikalisches Spielbuch fĂĽr die
Jugend. Von Donath 288
Physiker, Kurze Biographien be-
rĂĽhmter. Von Musmacher 238.
Pizzighelli: Anleitung zur Photo-
graphie 431.
Planet, Der seit Jahrzehnten inner-
halb der Merkurbahn vermutete
282.
Planeton atmosphären, Über 470.
Planeten, Die Durchmesser von
kleineu 10.
Planeten, Die Uradrehuugszeiten der
äufseren 330.
Planeten, Veränderlichkeit kleiner
229
Platindruck. Von v. HĂĽhl 237.
Platingruben, Eröffnung neuer 188
Projektion, Lehrbuch der. Von
Neuhaufs 431.
Prophezeiungen, Interessante bau-
liebe 565.
Pyrometer, Ăśber selbstverzeichnen-
de 385.
Reifs: Die Entwicklung der photo-
graphischen Bromsilberplntten und
die Entwickler 237.
Reisebilder aus Algerien, Tunesien
und der Sahara 193. 251. 310.
Reis- und Teekultur in den Ver-
einigten Staaten 379.
Richarz: Neuere Fortschritte auf dem
Gebiete der Elektrizität 191.
Röntgenstrahlen. Eine neue Ent-
deckung an 422.
RĂĽckabbildungen aul photographi-
schen Platten 423.
Ruhrkohlengebietes. Die Gewin-
nung der Steinkohle in einer Zeche
des 433.
Rundschau, Technische 320. 464.
Russische Wasserbauprojekte 92.
Sahara, Reisebilder aus der 193 251.
310.
Salzsee, Ein trockener 566.
Scheffer: Das Mikroskop, seine Op-
tik, Geschichte und Anwendung 287.
Scheffler: Das photographische Ob-
jektiv 338.
Schutzanzug gegen elektrische
Hochspannung 568.
Sichtbarmachung ultramikroskopi-
scher Teilchen 517.
Sizilien, Fastnacht in 196.
Sizilien, Weihnachten in 410.
Sizilianische Skizzen VII 410.
Sonne, Dio Natur der 3G.
Sonnenkorona. Die 330.
Sonnenuntergang, Der grĂĽne Strahl
bei 2»3.
Speisegenossen 285.
Spektrum, Ăśber die relative Hellig-
keit der Hauptlinien im, einiger Gas-
nebel SS.
Spitalbau, Ein mustergiltiger 563.
Sprechsaal 240.
Stark: Die Elektrizität in Gasen 4"!>.
Steinkohle, Die Gewinnung der, in
einer Zeche des Ruhrkohlengebietes
433.
Stereoskopischer Photographie, Das
Problem, kleiner Gegenstände 520.
Stern. Schon wieder ein neuer 419.
Sterne. Anzahl der 40.
Sterne, Neun, mit veränderlicher Ge-
schwindigkeit im Visionsradius 515.
Stickstoffgewinnung aus der at-
mosphärischen Luft 569.
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Inhalt.
XV
Stolze. Die Kunst des Vergröfserns
auf Papieren und Platten 237.
Strahl, Der grĂĽne, bei Sonnenunter-
gang >83.
Strahlen, Einflute violetter, auf Dia-
manten 376.
Straufs. Neues vom 561.
Sven Hedin 331.
Sverdrups, Die Fram- Expedition 128.
TftftliniHrhfl Rundschau 320. 4<U.
Tgchnisrhfl Zweimnnatoschau 79. 175.
Telegraphie, Die drahtlose. Von
Partheil 96.
Telephonie auf weite Entfernungen,
System Pupin 522.
T e i e \> h o n i s c h es aus Amerika 'â– ?.'<! .
T uiu'su-n, Reisel >i Uior aus 19:',. 1 , :U (.).
Ultrami kroBkopischer Teilchen.
Sichtharmachnng ~>I7,
Umdrehu ngszeiten der äufseren
Planeten 330.
Unterricht, Der naturwissenschaft-
liche. Von Fischer 144.
I rania, Die Dreifarbenprojektion in
der 2>t>.
Veränderlichkeit kleiner Planeten
229.
Vereinigten Staaten, Die Feigen-,
Reis- und Teakultnr in den M79
Verstand ndar Naturtrieb 233.
Vervielfältigung photographischer
Aufnahmen ohne Licht 377.
Visionsradius, Neun Sterne mit ver-
änderlicher Geschwindigkeit im 515.
Vulkanische Asche von Martinique
89.
Wasserbau- Projekte, Russische 92.
Weih nachtun in Sizilien 410.
Weltall, Betrachtungen ül»er das 374.
Wesen des Lehens, Betrachtungen
ii hör da.« 1.
Wetterschiefs-Konferenz vom 21.
bis 24. Juli d. J , Die Orazer 59.
Wi,-8cn^rund: Die Elektrizität 33."».
\V 1 1 (1 c r rn an n : .Jahrbuch der Natur-
wissenschaften r.'Qi r.H'2 :;:ih.
Wilhelmy: Geschichte der Chemie
des XIX. Jahrhunderts 45.
Wissenschaft, Ein Betrug an der 553.
Wtinschmann: Geschichte der Phy-
sik des XIX. Jahrhunderts 45.
X- S trah 1 e n , Ăśber die Gleichheit der
Fortptlan/unsgesehindigkeit der, und
des Lichtes in der Luft 517,
Zeche des Ruhrkohlengebietes, Die Ge-
winnung der Steinkohle in einer 433.
Zweimonatsschau, Technische 79.
Iii
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- fn- 'r-.
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Betrachtungen ĂĽber das Wesen des Lebens.
Von Professor R. von LendenMd in Prag.
^iHVem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnis entspricht die An-
^JK/ nähme, dafs sich die Erde stotig abkühlt, dafs sie an ihrer
rJj£f Oberfläche einstens eine viel höhere Temperatur besafs als
jetzt.
Alle chemischen Verbindungen werden bei hinreichend hoher
Temperatur zersetzt. Bei sehr starker Hitze kann ĂĽberhaupt keine
chemische Verbindung bestehen, da giebt es nur „Elemente4* oder
nicht einmal solche, sondern nur noch einfachere (auf der Erdober-
fläche unbekannte) Energieträger (Stoffe). Je mehr die Temperatur
sinkt, um so mehr und um so kompliziertere chemische Verbindungen
können sich bilden. Nahe unter der Temperaturgrenze, bei welcher
die Bildung einer chemischen Verbindung möglich wird, ist ihr Gefiige
ein lockeres, und sie befindet sich in ziemlich labilem Oleichgewichte.
Als die Erdoberfläche nahe bis zu der gegenwärtig auf ihr
herrschenden Temperatur abgekĂĽhlt war, wurde die Bildung jener un-
zähligen und so überaus mannigfaltigen Verbindungen des Kohlenstoffes
mit Wasserstoff, Sauerstoff, dann Stickstoff und anderen Elementen, welche
wir „organische Verbindungen14 nennen, möglich, und viele von ihnen
werden damals auch thatsächlich gebildet worden sein. Sie befanden
sich, wegen der ihrer thermischen Existenzgrenze nahen Temperatur,
in mehr oder weniger labilem Oleicbgewichte: infolge der Einwirkung
äufserer Einflüsse und auch infolge ihrer Einwirkung aufeinander
werden sie fortwährend verändert, zerstört und neu gebildet worden sein.
Der Grad und die Art wechselseitiger Atomanziehung ist von
den jeweilig herrschenden Umständen (Temperatur, Druck etc.) ab-
hängig. Indem diese sich ändern, ändern sich auch jene und damit
die Verbindungen selbst, die durch jene Atomanziehuugen (Affini-
HJmroel and Erde. 190Ăś. XV. L 1
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2
taten) gebildet und zusammengehalten werden, welche von allen die
jeweils kräftigsten sind. Stets konkurrieren alle Affinitäten mitein-
ander; siegend wird die kräftigste den vorhandenen Stoff naoh sich
selbst anordnen, und diese wird die den gegebenen physikalischen
Verhältnissen am besten entsprechende sein.
Viele Krystalle enthalten Wasser (Krystallwasser), z. B. Oips
Ist Oips (schwefelsaurer Kalk) in Wasser gelöst, so sind die Gips-
moleküle (CaS04) unregelmäfsig mit den Wassermolekülen (H20)
gemischt. Wird dieser Mischung Wasser (durch Verdunstung) ent-
zogen, so krystallisiert eine Mischung von H>0 und CaS04 in be-
stimmter Form und Zusammensetzung (1 Ca S 04, 2 H2 0) heraus.
Nehmen wir an, dafs gleichzeitig im Wasser auch andere, in-
differente, keinen Einflufs auf dieses Herauskrystallisieren ausĂĽbende
Salze gelöst sind, und verfolgen wir dann den Vorgang. Ein«*
MolekĂĽlgruppe von 1 CaS04 und 2 H20 scheidet sich in fester und
bestimmter Form (Oipskrystall) aus und wirkt so auf die benach-
barten, noch im flĂĽfsigen Zustand befindlichen und den Krystall um-
spĂĽlenden MolekĂĽle von Wasser, Oips und den anderen, in ersterem
gelösten, indifferenten Salzen ein, dafs diesem Gemisch 1) CaS04 und
H20 MolekĂĽle, nicht aber die anderen Salze entzogen werden; 2) das
Verhältnis der Zahl der entzogenen CaS04 Moleküle und der H20
Moleküle immer genau 1 : 2 beträgt; und 3) die letzteren in derselben
Anordnung der Krystalloberfläche angefügt werden, welche die Moleküle
im Innern des Krystalls besitzen. Wir können das Heran raffen aufsen-
liegender, gleichartiger Stoffe von seiten eines solchen Krystalls als
Aufnahme von Nahrung, das Gleichartigordnen derselben als Assimi-
lation und die im Gefolge beider auftretende Gröfsenzunahme als ein
einfaches Wachstum bezeichnen. Solcherart einem lebenden Wesen
vergleichbar ist ein Krystall nur so lange, als er von einer gesättigten
Lösung seiner Substanz umgeben und im Wachsen begriffen ist. Ist
die Lösung, aus der er entstand, eingetrocknet oder sonstwie entfernt
worden, so bleibt der Krystall in der Regel unverändert, und er gleicht
dann einem ruhenden Samenkorn oder einem eingetrockneten Bären-
tierchen. Wenngleich Krystalle von derselben chemischen Zusammen-
setzung zumeist dieselbe innere Struktur besitzen, so giebt es
dooh auoh Stoffe, die verschieden krystallisieren. Die innere
Struktur ist beim Graphit und Diamant verschieden, obwohl beide
aus Kohlenstoff bestehen, die äufsere Gestalt ist beim Kalkspat so
schwankend, dafs man bereits ĂĽber 250 verschiedene Krystallformen
und ĂĽber 1000 verschiedene Kombinationen derselben bei diesem
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3
Mineral unterschieden hat. Diese Unterschiede der äufseren Gestalt
sind die Folgen von Unterschieden in der Art der Anordnung der
Teilchen (MolekĂĽle oder MolekĂĽlgruppen), welche, wie eben diese
Formver6chiedenheiten zeigen, ihrerseits nicht nur von der chemischen
Natur des Körpers (Krystalls) selbst, sondern auch von den während
der Krystallisation auf ihn einwirkenden äufseren Einflüssen, der
Temperatur, dem Diuck etc., abhängen. Jene organischen Kohlen-
stoffverbindungen, welche zur Bildung kommen mufsten, als die Erde
eine der jetzigen ähnliche Temperatur erlangt hatte, werden sich in
dieser Hinsicht ebenso wie Mineralkrystalle verhalten haben.
Manche Beobachtungen über konzentrierte Lösungen und über ge-
schmolzene Legierungen von Metallen weisen darauf hin, dafs nicht nur
die kleinsten Teilchen fester, sondern auch weicher, ja sogar flĂĽssiger
Körper sich unter Umständen in rogolmäfsiger Weise anordnen und eine
Struktur erlangen, welche eine krystallinische genannt werden kann.
Es erscheint die Annahme daher wohl nicht unstatthaft, dafs einzelne
von den wasserreichen, mit viel „Krystallwasser" ausgestatteten,
organischen Verbindungen, die zur Bildung gelangten, weich waren
und dabei eine krystallinische Struktur, das heifst eine gesetzmäfsige
Anordnung der Teilchen, besafsen.
Diejenige von diesen weichen Kohlenstoffverbindungen, deren
Teile unter den gegebenen physikalischen Verhältnissen durch die
kräftigste Affinität zusammengehalten wurden, und welche deshalb in
dem Affinitätskampfe den Sieg davontrug, war das Protoplasma.
Wo die Verhältnisse seine Entstehung begünstigten, da entstand es,
und von hier aus breitete es sich nach der Art eines wachsenden
Krystalls ĂĽberallhin aus. Wegen seiner Weichheit kann es nioht
in die Höhe gewachsen sein, sondern mute sich horizontal ausgebreitet
haben. Da es die Stoffe, durch deren Heranraffen und Gleichan-
ordnen es sich bildete und wuchs, einem Krystall ähnlioh aus einer
wässerigen Lösung entnahm, mufs es sich im Wasser befunden haben.
Da es schwerer als Wasser war, lag es am Grunde desselben Es
wird also am Grunde des Urmeeres unabhängig voneinander ent-
standene, horizontal ausgebreitete Plasmafladen gegeben haben, welche
sich infolge der Assimilation immer weiter ausbreiteten. Die Rasch-
heit dieser Ausbreitung (dieses Wachstums) hing von den Verhält-
nissen, dem Gehalt des Meerwassers an gelösten Nährstoffen, der Tem-
peratur etc. ab. Da nun diese äufseren Einflüsse an verschiedenen
Stellen verschiedene waren, wird die Kontur der Plasmafladen unregel-
mäfsig, lappig geworden sein. Durch ungünstige Einflüsse, vulka-
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4
nisohe AusbrĂĽche und dergleichen, werden Teile der anfangs kont*-
nuierlichen Plasmafladen zerstört und diese selbst zerstückelt worden
sein. Die einzelnen TeilstĂĽcke wuchsen weiter und werden frĂĽher
oder später stellenweise aneinander oder an anderwärts entstandene
PlasmastĂĽoke angestofsen sein.
Wenn schon, wie wir oben gesehen haben, verschiedene äufsere
EinflĂĽsse so auf die aus einer und derselben Substanz bestehenden,
wachsenden Mineralkrystallindividuen einwirken, dafs sie in Bezug auf
ihre Gestalt verschieden werden, so läfst es sich wohl denken, dafs
sie auf das weiche, wasserreiche Plasma, dessen ohemische Konstitution
eine unvergleichlich kompliziertere ist, in erheblich stärkerer Weise
derart einwirken werden. Da nun die einzelnen UrplasmastĂĽcke ver-
schiedenen äufseren Einflüssen ausgesetzt waren, so werden sie
sicherlich in Bezug auf ihre Assimilationskraft ungleich geworden sein.
Was wird die Folge eines Aneinanderstossens zweier solcher ver-
schiedener Urplasmavarietäten gewesen sein?
Die Beobachtung jetzt lebender Organismen lehrt, dafs drei Fälle
eintreten können, wenn die Plasmaleiber verschiedener Individuen
zusammenstossen : 1) Sie stofseu sich gegenseitig ab und kommen
infolgedessen gar nicht in Kontakt, wie die plasmatischen Pseudo-
podien zweier nebeneinander sitzender Sonnentierchen; 2) sie
mischen sich und vereinigen sich zu einem Ganzen, wie die Myxamöben
der LohblĂĽte zu einem Plasmodium, oder H) das eine frifst das
andere auf.
Die gegenseitige Abstpfsung von der gleichen Art angehörigcn
Individuen dürfte wohl eine erst später, im Laufe der phylogeneti-
schen Entwicklung erworbene Eigenschaft sein, die jenen Urplasma-
fladen noch nicht zukam. Wenn jene Urplasmafladen sich berĂĽhrten,
werden sie sich wohl in allen Fällen vereinigt haben. War ihre Assi-
milationskraft die gleiche, so wird Verschmelzung eingetreten sein,
ähnlich wie zwei Gypskrystalle sioh zu einem Zwilling vereinigen;
war dagegen die Assimilationskraft des einen eine grössere wie jene
der anderen, so wird der erstere die Substanz des anderen aus ihrem
GefĂĽge gerissen und nach der eigenen GefĂĽgeart neu angeordnet,
assimiliert haben. Im ersteren Falle spielte sich ein Vorgang ab,
durch welchen die GefĂĽge beider Teile erhalten blieben. Im letzteren
Falle wurde das Gefüge der einen Plasmainasse zerstört und ihre
Substanz nach dem Muster des GefĂĽges der anderen Piasraamasse neu
angeordnet. Der erste Fall war der Ausgangspunkt fĂĽr die Ent-
wicklung der Plasmodienbildung, Konjugation, Befruchtung und ge-
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schlechllichen Fortpflanzung; der zweite Fall der Ausgangspunkt der
Entwiokelung der für die Tiere charakteristischen Ernährungsart des
Auffressens schwächerer Organismen durch stärkere. Wir kommen
also zu der Vermutung, dafs es am Urmeergrunde Plasmafladen
gegeben habe, welche Stoffe aus dem sie umgebenden Wasser assi-
milierten, zuweilen einander auffrafsen, zuweilen miteinander sich
mischten und zuweilen infolge von physikalischen Veränderungen
ihrer Umgebung ganz oder teilweise zerstört wurden. Gegenwärtig
giebt es derartige Plasmafladen nicht. Vor einigen Dezennien glaubte
man im tiefen Meeresgrunde Bildungen dieser Art entdeckt zu haben.
Huxley nannte dieselben Bathybius haeckelii. Später erwies sioh
dies aber als eine Täuschung. Jener Bathybius war kein Plasma,
sondern ein durch den bei der Konservierung der Tiefseeschlamm-
proben verwendeten Alkohol erzeugter, wässeriger Gipsniederschlag.
Wir haben oben gesehen, dafs das Wachstum dieser Plasma-
fladen von den äufseren Verhältnissen abhängig und in jener Richtung
am raschesten sein mufs, in welcher die meisten Nährstoffe liegen.
Wenn ein wachsender Krystall die gleichartigen Stoffe der
Mutterlösung an sich reifst, so kann das nur Folge einer Anziehung
sein, welche er auf diese Stoffe ausĂĽbt. Ist nun der Krystall weich
wie das Plasma, so wird diese Anziehung nicht nur zur Folge haben,
dafs sich die Nährstoffe dem Plasma zu, sondern auch dafs sich das
Plasma den Nährstoffen zu bewegt: es wird den nahrungsreichen
Stellen entgegenfliefsen. Diejenige Urplasma Varietät, welohe naoh
einer solchen Richtung hin am raschesten (liefst, wird anderen Ur-
plasmavarietäten gegenüber im Vorteil gewesen sein, weil sie denselben
die assimilierbaren Stoffe vorwegnehmen konnte.
Die Plasmavarietäten, deren inneres Gefüge eine rasche Be-
wegung nach den Nahrungsquellen hin bedingte, werden sich daher
immer mehr ausgebreitet und immer mehr von den verfĂĽgbaren
Stoffen, aus denen sie bestanden, assimiliert haben. Der „Kampf ums
Dasein", welcher nichts Anderes als das Bestreben ist, allen verfĂĽg-
baren und brauchbaren Stoff in einem dem eigenen gleichen GefĂĽge
anzuordnen, wird daher zur ZĂĽchtung rasoh nach der Richtung der
Nahrung hin sich bewegender Urplasmavarietäten geführt haben.
Da sich das Plasma bei einer die gewöhnliche Temperatur nur
wenig übersteigenden Wärme chemisch zersetzt, das heifst die An-
ordnung der Teile desselben, sein Gefüge verändert wird, so befindet
sich dasselbe in einem wenig stabilen Zustande: geringe äufsere Ein-
wirkungen vermögen es zu beeinflussen. Sein Reiohtum an Kohlen-
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Stoff und Wasserstoff lassen die Annahme zu, dass das Plasma oxy-
dierbar, brennbar, sein Reichtum an Stickstoff, dafs es, einem Explosiv-
stoffe vergleichbar, imstande ist, durch Ă„nderungen seines inneren
GefĂĽges lebhafte, dynamische Wirkungen hervorzubringen. Wegen
der geringen Stabilität des Plasmas werden gewifs sehr oft durch
Änderungen der äufseren Einflüsse solche „Verbrennungen" und
„Explosionen" in demselben herbeigeführt worden sein. Es läfst sich
denken, dafs manche von ihnen nur Teile des Ganzen, etwa nur jene
betrafen, welche mit freiem Sauerstoff in BerĂĽhrung kamen. In einem
solchen Falle wĂĽrde durch die Preisgebung (Oxydation) eines kleinen
Teils eine dynamische Wirkung erzielt werden können, welche im
stände wäre, eine Bewegung in den anstoßenden Teilen hervorzu-
bringen. Bei den grofsen Vorteilen, welche die Raschheit der Be-
wegung in der Richtung nach den Nahrungsquellen hin bot, mufs es
• von gröfster Bedeutung gewesen sein, diese auf der dynamischen
Verbrennungswirkung beruhenden Bewegungen dazu zu verwenden,
die aus der Anziehung der zu assimilierenden Stoffe resultierende,
langsame Bewegung gegen dieselben hin zu beschleunigen. Dafs bei
irgend einer Urplasmavarietät eine Abhängigkeit jener dynamischen
Verbrennungsbewegung von dieser Anziehungsbewegung, welche den
genannten Zweck erfĂĽllte, zur Ausbildung gelangt sein kann, ist nicht
zu bestreiten, und es ist vollkommen sicher, dafs eine solche, wenn
sie vorkam, der Urplasmavarietät, welche sie besafs, solche Vorteile
bieten mufste, dafs diese alsbald ĂĽber alle anderen den Sieg im Kampfe
ums Dasein davontrug. Später mufste dann diese Beweglichkeit des
Plasmas durch die natĂĽrliche Auslese im Kampfe ums Dasein immer
weiter ausgebildet werden.
Wenn wir uns einen ausgedehnten Plasmafladen vorstellen, so
werden wir deutlich erkennen, dafs irgend eine an einem Teile seines
Randes wirkende, bewegende Kraft nicht eine Bewegung des Ganzen
wird hervorbringen können. Es wird sich violmehr, wegen der
weichen, halbflĂĽssigen Beschaffenheit des Plasmas, jener Teil, auf
welchen die bewegende Kraft einwirkt, von der ĂĽbrigen Masse los-
reifsen und dem Zuge folgend sich fortbewegen. Diese Fortbewegung
eines Teiles wird um so leichter ausgeführt werden können, je kleiner
der betreffende Plasmateil ist. Auch hierauf Einflufs nehmend, wird
die Zuchtwahl dahin wirken, eine durch solche Bewegungsimpulse
hervorgerufene Teilung in möglichst kleine Stücke zu erzielen,
und wir können uns denken, dafs diese Teilung später von äufseren
Einflüssen unabhängig gemacht und der Konstitution des Plasmas
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selbst in der Weise eingeprägt worden Bein wird, dafs jedes Stück,
sobald es eine gewisse Gröfse erreicht hat und infolge weiterer Assi-
milation und weiteren Wachstums darüber hinaus zu vergrößern
sich ansohickt, in zwei Teile zerfällt, die wieder nur bis zu dieser
Gröfse heranwachsen, um sich dann ihrerseits abermals zu teilen. Dies
mufste dazu fĂĽhren, dafs an die Stelle der grofsen ad infinitum fort-
wachsenden PJasmaOaden kleine, bestimmte Dimensionen nicht ĂĽber-
steigende Plasmastücke traten, welche, mit einer beträchtlichen Be-
weglichkeit ausgestattet, stets dahin eilten, wo es Nahrung gab. Diese
Wesen werden ebenso, wie frĂĽher die grofsen Plasmafladen, wenn sie
aneinander stiefsen, entweder verschmolzen sein oder sich einander
aufgefressen haben.
Das thatsächliche Verhalten der jetzt lebenden Organismen läfst
den RĂĽckschlufs zu, dafs eine ab und zu erfolgende Verschmelzung
verschiedener, einander sehr ähnlicher, aber doch nicht ganz gleicher
Individuen solcher Art das Plasma kräftigte, im Laufe der Zeit ein-
getretene Verluste ersetzte, Schäden ausbesserte und dieWiderstands- und
Assimilationskraft erhöhte. Deshalb mufste die natürliche Zuchtwahl
eine derartige Auswahl unter jenen Wesen treffen, dafs nur die,
welche in sich die Fähigkeit und das Bestreben hatten, zuweilen
solcherart mit anderen zu verschmelzen, furtexistieren konnten.
Kleine plasmatische Wesen ohne erkennbare innere Struktur,
welche jenen kleinen PlasmastĂĽcken gleichen, die sich, wie oben aus-
gefĂĽhrt, im Laufe der Zeit aus den grofsen Urplasmafladen entwickelt
haben, sollen noch gegenwärtig vorkommen. Sie sind von Haeckel
Moneren genannt worden. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob es jetzt
wirklich solche Moneren giebt.
Die Assimilation, Gleichanordnung des herangerafften, umgeben-
den Stoffes wird wohl eine allmähliche, gewisse rmafsen stufenweise
gewesen sein. Das GefĂĽge desselben wird gewisse Stadien der Orga-
nisation durchlaufen haben, ehe es das eigentliche PlasmagefĂĽge er-
langte, und wir können uns daher wohl vorstellen, dafs nur der innere,
zentrale Teil der Substanz der Körper dieser Wesen aus vollkommen
fertigem Plasma bestand, während sich die Substanz der oberflächlichen
Partien noch auf einer tieferen Organisationsstufe befand. Diese Diffe-
renzierung zwischen dem Inneren und dem Ă„ufseren erwies sich als so
vorteilhaft, dafs dieselbe von der Zuchtwahl im Laufe der Zeit immer
weiter ausgebildet wurde und schliefslich dazu fĂĽhrte, dafs der mittlere,
vollkommen organisierte Teil als Kern von dem äufseren, weniger hoch
organisierten Plasma scharf abgegrenzt wurde.
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Wesen, die aus einem weichen, halbflĂĽssigen Plasma bestehen
und im Inneren einen Kern enthalten, giebt es auch gegenwärtig-.
Es sind die einfaohen Protozoen, die Amoeben und ihre Verwandten,
und wir können wohl annehmen, dafs die Organismen, die zu jener
Zeit die höchststehenden Lebewesen auf der Erde waren, den jetzt
lebenden, einfachen Protozoen gegliohen haben.
Ein solches einfaches Protozoon ist die Amoeba princeps; sie
lebt am Grunde süTser Gewässer und erscheint als eine dünne, der
UnterInge mit der einen Flache sich anschmiegende Platte von sehr
unregelmäßigem Umrifs und etwa 0,1 mm Duichmesser. Der ganze
Körper besteht aus weichem, halbflüssigem Plasma. Der äufsere Teil
dieses Plasmas ist körnchenfrei, durchsichtig und glashell; der innere
Teil birgt verschiedene Einlagerungen und erscheint daher trĂĽbe,
körnig und undurchsichtig. In demselben finden sioh kugelige,
wassererfĂĽllte Blasen, Vakuolen, mehr oder weniger verdaute Reste der
aufgenommenen Nahrung, zahlreiche Körnchen verschiedener Gröfse,
ferner ein grofser, kugeliger Kern und zuweilen auch kleine Kryslallc
von oxalsaurem Kalk.
An einer solchen Amoebe lassen sich Bewegung, Reizbar-
keit, Nahrungsaufnahme, Atmung, Verdauung, Wachstum
und Vermehrung wahrnehmen.
Die Bewegung geschieht in der Weise, dafs an irgend einer
Stelle des Randes des platten Körpers eine Vorwölbung auftritt, welche
sich erhöht und die Gestalt eines breiten Lappens annimmt. Zunächst
besteht dieser Lappen blofs aus dem hyalinen, äufseren Plasma.
Während der Lappen sich noch weiter vergröfsert, tritt dann auch
das körnige, innere Plasma in ihn ein. Ebenso wie solcherart die
Substanz, aus der die Amoebe besteht, in der Richtung des Lappens
vorrĂĽckt, wird ihm gegenĂĽber auf der anderen, bei der Bewegung
hinteren Seite die Substanz eingezogen. Die Bewegung der Toilchen
an der Unterseite des vorrĂĽckenden Lappens ist eine rollende und
allem Anscheine nach durch eiue plötzliche Verstärkung der Adhäsion
zur Unterlage hervorgerufen. Der RĂĽckzug des Hinterrandes der
Amoebe dagegen dĂĽrfte die Folge einer Adhnsionsabnahme sein.
Die Reizbarkeit erkennt man an den Beziehungen der Rasch-
heit und Richtung dieser Bewegung zu äufseren Einflüssen. Die An-
wesenheit von Sauerstoff beschleunigt, der Mangel an Sauerstoff ver-
langsamt die Bewegung. Gelinde Erwärmung beschleunigt, gelinde
Abkühlung verlangsamt die Bewegung. Bei stärkerer Erwärmung
oder stärkerer Abkühlung wird die Bewegung eingestellt. Im Wasser
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in geringer Menge gelöste Stoffe sind z. T. ohne Einflute (Kochsalz),
z. T. beschleunigen sie die Bewegung (assimilierbare, organische
Stoffe), z. T. verlangsamen sie die Bewegung oder bringen dieselbe
zum Stillstande (Gift). Ebenso wie die Geschwindigkeit wird auch
die Richtung der Bewegung von äufseren Umständen beeinflufst.
Das Licht ĂĽbt auf viele Protozoen einen anziehenden (Heliotropis-
mus, Phototaxis) oder abstofsenden Einflufs aus. Im ersteren Falle
kriechen diese Organismen dem Lichte zu und sammeln sich an der
dem Lichte zugewendeten Seite des Aquariums an. Im letzteren Falle
kriechen sie vom Lichte fort und sammeln sich an der dunkelsten
Stelle des Aquariums an.
Befindet sich in dem Wasser ein assimilierbarer Körper (Nah-
rung), welcher, wenn auch in geringem Mafse, löslich ist, so entsteht
eine Lösung, welche in seiner nächsten Nähe am konzentriertesten
ist und nach der Ferne hin an Konzentration abnimmt. Der hieraus
sich ergehende Unterschied in der chemischen Beschaffenheit der
verschiedenen Teile des Wassers wirkt derart auf die Amoeben ein,
dafs sie sich in der Richtung der gröfseren Konzentration hin be-
wegen (Chemotaxis), wobei sie der in Lösung befindlichen Nahrung
selbst immer näher kommen (Trophotaxis) und sie schließlich er-
reichen. Zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen wird
die Bewegungsrichtung auch von den anderen Protozoen beeinflufst;
sie kriechen dann aufeinander zu, um miteinander behufs Bewerk-
stelligung eines teilweisen Stoffaustausches auf kürzere oder längere
Zeit zu verschmelzen. In diesem Falle werden wohl ausgeschiedene
Stoffwechselprodukte, die in Lösung übergehen, die Wegweiser sein,
so dafs wir es auch hier mit Chemotaxis zu thun haben, die aber
nicht eine Trophotaxis, sondern eine Sexuotaxis ist.
Wir sehen also, dafs äufsere Einflüsse auf die Raschheit und die
Richtung der Bewegung einwirken. Wenn auch einige von diesen
Einwirkungen, namentlich die Trophotaxis, die Bewegung des Plasmas
dem zu assimilierenden Stoffe entgegen, in weniger deutlicher Form
schon bei den Urplasmafladen angetroffen werden, so erscheinen sie doch
in der Form, wie wir sie bei den Amoeben antreffen, als zweck-
mäfsige, zielbewufste, auf einer Reaktionsfähigkeit des Plasmas be-
ruhende Handlungen. Alle Thätigkeiten des lebenden Plasmas, alle
Thätigkeit aller Lebewesen und auch des Menschen sind nichts Anderes
als derartige Reaktionen auf äufsere Einwirkungen. Wie die ein-
fachen Protozoen sind auch wir auf ausreichende Versorgung mit
Sauerstoff angewiesen und können auf einer 6000 ra hohen Bergspitze
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10
wegen der dortigen Luft VerdĂĽnnung, des dortigen Sauerstoffmangels
nicht im entferntesten so viel Arbeit leisten wie unten im Tieflande.
Wie ein einfaches Protozoon ist auch die Eidechse, wenn's kĂĽhl ist,
lethargisch, in der Sonnenwärme aber lebhaft, und wie sie werden
auch die höher organisierten Organismen von stärkerer Kälte oder
Hitze gelähmt und getötet. Wie auf die einfachen Protozoen wirken
auch auf die höheren Organismen giftige, im Wasser, bezw. in der
Luft enthaltene chemische Stoffe, z. B. Chloroform, lähmend ein. Und
wie bei den Protozoen wird auch bei den höheren Tieren die Richtung
der Bewegung durch äufsere Einflüsse bestimmt. Das Licht zieht die
nächtlichen Insekten au (Phototaxis), es stöfst den Maulwurf und
den Tausendfufs ab. Die von der Nahrung ausgehenden, sich im
Wrasser lösenden oder in der Luft verdunstenden Stoffe ziehen den
Krebs, die Fliege und den Hund ebenso an wie der Duft seiuer Lieb-
lingsspeise den hungrigen Menschen: sie alle zeigen dieselbe Tro-
photaxis wie die einfachen Protozoen. Endlioh wirkt der zur Paarungs-
zeit von den einzelnen Individuen ausgehende Geruch kräftig an-
ziehend auf das andere Geschlecht, und nichts ist dem Manne so lieb
als der zarte Duft, der von dem geliebten Weibe ausgeht: auch die
Sexuotaxis gilt fĂĽr uns gerade so wie fĂĽr die einfachen Protozoen.
Bei uns nun ist die Auslösung solcher Reaktionsbewegungen durch
von aufsen her einwirkende Reize unter normalen Verhältnissen eine
bewurste Thätigkeit. Der betreffende Reiz regt unsere Psyche an,
wir werden desselben — in Form einer subjektiven Vorstellung —
bewufst, und gleichzeitig fĂĽhlen wir in uns den Drang, die demselben
entsprechende Thätigkeit auszuüben, einen Drang, der uns — als Be-
gierde — gleichfalls zum Bewußtsein kommt. Tiere und Kinder
folgen im allgemeinen ohne weiteres diesem Drang, der besonnene
Mensch giebt ihm aber nur dann nach, wenn die Ăśberlegung ihm
zeigt, dafs die Stillung der Begierde ihm keinen Nachteil bringen
wird. Daraus, dars bei uns diese Vorgänge von Bcwufslseins-
erscheinungen begleitet werden, dafs eine ununterbrochene Reihe von
immer weniger hoch organisierten Lebewesen uns mit den einfachen
Protozoen verbindet, und dafs jeder Mensch sich aus einem, einem
Protozoon ähnlichen Ei entwickelt, können wir schliefsen, dafs auch
bei den einfachen Protozoen diese Vorgänge von Bewufstseins-
eracheinungen begleitet werden, dars also die Protozoen gerade so
bewufst, zielbewuĂźt handeln wie der Mensch. Dann mĂĽssen wir aber
sagen, dafs auch den Urplasmafladen, aus denen die Protozoen her-
vorgegangen sind, Bewufstsein innewohnte, und endlich, dafs das
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Bewufstsein überhaupt allen assimilierenden Körpern, den wachsenden
Krystallen ebenso wie dem lebenden Plasma zukomme und dafs es
nicht etwa auf die organische Welt, auf die Tierwell oder gar auf den
Menschen Beschränktes ist
Die Nahrungsaufnahme wird von den einfachsten Protozoen,
den Amoeben, in der Weise bewerkstelligt, dafs sie zunächst tropho-
taktisch dahin kriechen, wo es etwas zu fressen giebt, und dann den
betreffenden Nahrungskörper durch allseitiges Umfliefsen in sich auf-
nehmen. Ihre Nahrung besteht aus kleinen Organismen, niederen
Pflanzen, Algen und Bakterien. Diese Nahrungsaufnahme ist eine
einfache Folge der Anziehung, welche zwischen dem Plasma und den
Stoffen besteht, aus denen der Nahrungskörper zusammengesetzt ist,
und die das Plasma an sich zu reifsen und sich selbst krystallinisch
gleichzuge8talten — zu assimilieren — bestrebt ist. In ähnlicher
Weise nehmen die Kragenzellen der Spongiengeifselkammern und die
weiften Blutkörperchen der höheren Tiere die verschiedensten festen
Körper, die Zellen der Üarmauskleidung Fetltröpfchen etc. auf.
Die Bewegungen der Amoeben sind auf jene dynamischen Kräfte
zurĂĽckzufĂĽhren, welche bei der Oxydation, d. h. Verbrennung kleiner
Plaamateile, frei werden. Der hierzu nötige Sauerstoff wird dem um-
gebenden Wasser entnommen. Die Verbrennungsprodukte sind Kohlen-
säure und andere, stickstoffhaltige Stoffe. Mit der Kohlensäure war nicht
viel anzufangen, die anderen StolTwechselprodukte aber konnten zum
Teil für die Zwecke des Organismus verwertet werden. Wir können
uns wohl vorstellen, dafs es verschiedene Arten solcher Stoffe gab
und dafs ihre Zusammensetzung von den äufseren Verhältnissen ab-
hängig und daher Schwankungen unterworfen war. Im allgemeinen
werden diese Stoffe, da sie Verbrennungsprodukte und sauerstoffreioh
waren, den Charakter von Säuren besessen haben, welche zum Teil
wohl lösend auf anstossende, nooh mehr auf aufgenommene Nahrungs-
körper eingewirkt haben werden. Da die Erzeugung von saueren
Verbrennungsprodukten, welche solcherart die Assimilation durch
Auflösung fester Nahrungskörper unterstützten, von grofsem Vorteil
war, mutete die Zuchtwahl dieselbe immer weiter ausbilden und diese
Säurebildung den Zwecken der Ernährung immer dienstbarer machen.
Bei den einfachen Protozoen wird diese Säure über die aufge-
nommenen Nahrungskörper ergossen und löst ihre Weichteile unter
Bildung salzähnlicher Verbindungen auf. Auf die so entstandene Lö-
sung wirkt dann das umgebende Plasma in bekannter Weise wie ein
Krystall die brauchbaren Stoffe heranraffend und dem eigenen GefĂĽge
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gleich anordnend, assimilierend ein, wodurch neues, dem alten Plasma
gleiches gebildet und diesem angefĂĽgt wird. Ein Teil des solcherart
Assimilierten wird zur Gröfsenzunahme verwendet, der Rest ist dazu
bestimmt, später verbrannt zu werden und die zur Bewegung nötige
Kraft frei zu machen. Im ersteren Falle handelt es sich um die
Einverleibung des Stoffes, im letzteren um die Einverleibung der Kraft
Bei den Protozoen bleiben die aufgenommenen Nahrungskörper
etwa 20 Stunden vom Plasma umschlossen. Während dieser Zeit
werden sie von der verdauenden Säure ausgelaugt. Ihre unlöslichen
Reste werden dann, wenn alle Nährstoffe herausgezogen sind und da-
her die Assimilierungs-AnziehuDg zwischen ihnen und dem Plasma
aufgehört hat, wieder ausgestoßen.
Wir sehen also, dafs die einfachen Protozoen den Stoff und die
Kraft, deren sie zur ErfĂĽllung ihrer Zwecke bedĂĽrfen, in Form von
Nahrung und Sauerstoff von aufsen her beziehen: sie essen und
atmen wie die höheren Tiere und der Mensch. Sind sie mit Nahrungs-
körpern angefüllt, so wird ihre Assimilationskraft durch diese so in
Anspruch genommen, dafs fĂĽr eine Wirkung naoh aufsen keine solche
mehr ĂĽbrig bleibt: sie haben keinen Hunger, sie sind satt und nehmen
vorläufig keine weitere Nahrung auf.
Nicht alle stickstoffhaltigen Oxydationsprodukte der Verbrennung
werden als verdauende Sekrete benĂĽtzt Einige sind unbrauchbar
(Harn) und werden ausgeschieden, andere zu anderen Zwecken, zur
Bildung von Pigment, Skeletten etc., verwertet.
Wir haben oben gesehen, dafs das aus der Assimilation resul-
tierende Wachstum infolge der Vorteile, welche die Kleinheit bot, von
der Zuchtwahl derart beeinflufst wurde, dafs es nicht zu einer Ver-
größerung der. Individuen ad infinitura, sondern zu einer Gröfsen-
zunahme bis zu einer bestimmten Dimension und — wenn die Assi-
milation dann noch fortdauerte — zu einer Teilung führte. Leicht ist
es, an den Amoeben diesen Vorgang zu beobachten: sie wachsen bis
zu einer bestimmten Qröfse heran und teilen sich hierauf in zwei
gleich groĂźe StĂĽcke, die wieder nur so lange wachsen, bis sie die
Gröfse der Mutter erreicht haben, um sich dann neuerdings zu teilen.
Wir bemerken bei diesem Vorgange, dafs zuerst der Kern sich teilt,
worauf der Plasmaleib duroh eine EinschnĂĽrung, die immer tiefer
wird, in zwei Hälften zerlegt wird. Dieser Vorgang ist jene Ver-
mehrung durch Teilung, welohe fĂĽr die ganze organische Welt
von der allergrößten Wichtigkeit ist. (Schlüte folgt.)
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<3§
Die „moderne" Dampfmaschine.
Von Franz Bendt in Berlin.
<$Ve Grofsinduslrie im modernen Sinne hat sich hauptsächlich unter
v cy Einwirkung der Dampfmaschine entwickelt Die Schöpfung1
eines James Watt pafste sich mit merkwĂĽrdiger Leichtigkeit
den Forderungen der Technik in fast allen ihren Zweigen an und ge-
staltete dadurch auch die wirtschaftlichen Verhältnisse und die tech-
nischen KĂĽnste in ganz neuer Weise um. Diese Schmiegsamkeit der
Dampfmaschine hat nicht am wenigsten ihren Grund darin, dafs fast
ein Jahrhundert hindurch der Gelehrte und der Ingenieur, der Tech-
niker und der Konstrukteur ihren Witz fast allein dieser Vorrichtung
zuwandten. In der Tat ist sie denn auch dadurch zu einem Kunst-
werke gediehen, das in unserer, an technischen Kunsterzeugnissen so
unendlich reichen Zeit dennoch einzig dasteht. Die tausendfache Ver-
wendbarkeit der Dampfmaschine gab den Ingenieuren Gelegenheit,
sich in jeder nur denkbaren Konstruktion zu ĂĽben; und so ist sie
denn auch als die Hauptlehrmeisterin des Technikers zu betrachten!
Das macht es wiederum erklärlich, dafs sie wie ein geliebtes und ver-
hätscheltes Kind überwacht wurde, und alles daran gesetzt ward, um
ihre guten Eigenschaften zu verstärken und ihre Fehler zu heben oder
wenigstens zu vermindern.
Dennoch ist nicht zu leugnen, dafe der Dampfmaschine ein eigen-
artiger Ăśbelstand innewohnt, dem die hohe Kunstfertigkeit des ver-
flossenen Jahrhunderts nicht zu begegnen vermochte!
Das physikalische Grundgesetz, in dem die moderne Naturwissen-
schaft gipfelt, ist das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Es be-
sagt, dafs keine Energie in der Welt verloren, noch gewonnen werden
kann, sondern dafs ĂĽberall nur Energieverwandlung stattfindet So ent-
spricht z. B. eine bestimmte Wärmemenge einer bestimmton Menge
mechanischer Arbeit; beide stehen in einem Zahlenverhältnis, dessen
ErgrĂĽndung zu den stolzesten Ergebnissen menschlichen Scharfsinns
gehört. Die Leistung der Dampfmaschine, nach diesem Gesetz be-
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urteilt und bemessen, führt merkwürdigerweise zu einem kläglichen
Ergebnis. Das technisch nicht hoch genug zu preisende Kunstwerk
erscheint uns, vom wirtschaftlichen Standpunkte betraohtet, als eine
leichtsinnige Verschwenderin an schwer bezahlter Kraft. Es ist nicht
schwierig, diese unerfreuliche Thatsache zu begreifen, wenn man sich
der einfachsten Vorgänge erinnert, die sich in der bethätigten Dampf-
maschine vollziehen.
Sie setzt sich bekanntlich im wesentlichen aus drei Teilen zu-
sammen, deren geniales Ineinandergreifen allein der Schöpfertätigkeit
eines James Watt zu danken ist: aus dem Dampfkessel, dem Cylinder
mit Kolben und dem Dampfverdichter, dem sogenannten Kondensator.
Zwischen diesen Teilen entwickelt sich folgendes Spiel: Die im
Dampfkessel erzeugten Wassergase dringen in den Cylinderraum ein
und dehnen sich dort, ähnlich den Spiralen einer gespannten Feder,
energisch und mit grofser Kraft aus. So zwingen sie den Kolben,
sich in einer bestimmten Richtung vorwärts zu bewegen, wodurch
wiederum Räder und Maschinenelemente aller Art in Antrieb gesetzt
und zur bewufsten Betätigung gebracht werden können.
Hat der Kolben das Ende des Cylinders erreicht, dann ver-
anlagt eine Meisterkonstruktion Watts, dars neuer Dampf in den
entgegengesetzten Teil des Cylinderraumes eintritt; zugleich verbindet
sie den ersten noch dampferfĂĽllten Raum mit einem luftentleerten
Gefäfse, dem schon erwähnten Kondensator, der fortdauernd von
kaltem Wasser umspĂĽlt wird.
Der neu zutretende Dampf treibt, wie leicht einzusehen ist, den
Kolben nach der anderen Seite und den verbrauchten Dampf in den
Kondensator hinein. Im Kondensator wird der Dampf wieder zu
Wasser verdichtet; seine Kraft ist damit verbraucht und vernichtet!
Die wirtschaftliche Bilanz der Maschine ergiebt sich jetzt leicht
aus den Temperaturunterschieden, die zwischen dem neugeborenen
Dampfe, der dem Kessel entströmt, dem verbrauchten Dampfe, der
dem Kondensator zutreibt und dem Kondensatorwasser selbst bestehen.
Der gewaltige Recke, der Dampf, der den Kessel verläfst, um
soine Energie zu betätigen, verfügt über eine Temperatur von etwa
100° der hundertteiligen Skala.*) Nach vollendeter Arbeit im Cylinder
tritt er darauf mit einer Temperatur von nur 60°, wie die Er-
fahrung gelehrt hat, in den Kondensator ein. Nur ein Anteil von
vierzig Grad der Temperatur des Wasserdampfes hat also — den Ver-
*) Die neueren Dampfmaschinen arbeiten mit Wassergasen von höherer
Temperatur; die Zahl ist hier nur der Einfachheit haibor gesetzt worden.
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lust, den die Wärmestrahlung hervorruft, nooh mit einbegriffen — zur
Erzeugung von Arbeit gedient! Der in den Kondensator gedrĂĽckte
Dampf von 60° wird, wie wir schon ausführten, zu Wasser verdichtet,
und die ihm noch innewohnende Kraft damit nutzlos ver-
worfen und verschwendet. Die Dampfmaschine kann dement-
sprechend mit einem Tiere verglichen werden, das nur befähigt ist,
den dritten Teil der zugefĂĽhrten besten Nahrung zu verdauen.
In der Tat, die Konstruktion der Dampfmaschine ist charakte-
ristisch fĂĽr die aufblĂĽhende und werdende Technik des verflossenen
Jahrhunderts. Vorzüglich in der ersten Hälfte desselben war die Ober-
fläche des Erdballes noch reich beschickt mit gewaltigen Waldungen,
und die schwarzen Diamanten schienen in unerschöpflichen Lagern
das Erdinnere zu erfĂĽllen. Ein uferloses Meer von Kraft bot sich dem
Menschen dar; was wunder, dafs er sich nicht in kleinlicher, in
krämerhafter Weise um die gröfseren oder geringeren Energiemengen
kĂĽmmerte, die seine Maschinen verzehrten. Die Freude am mecha-
nischen Kunstwerk ĂĽbertraf den Wert solcher rechnerischen Betrach-
tungen, die wir jetzt nĂĽchtern und notgedrungen aus wirtschaftlichen
GrĂĽnden anstellen mĂĽssen.
Wie wir soeben auseinandersetzten, wird die thatsächliche
Leistung der Wattschen Dampfmaschine durch ein Temperaturgefälle
von 100° auf 60° veranlagt Die Notwendigkeit wirtschaftlicher Be-
handlung technischer Einrichtungen hat während der letzten 10 Jahre
wiederholt zur Erwägung der Frage geführt, ob das bisher unbeachtete
Temperaturgefälle im Kondensator nicht nutzbringend zu ver-
wenden sei?
Nach vielen vergeblichen BemĂĽhungon und nach Uberwindung
grofser konstruktiver Schwierigkeiten ist es jetzt dem Professor Josse
von der Technischen Hochschule zu Charlottenburg gelungen, das
Problem in sehr gesohickter Weise zu lösen. Die bisher an das Kon-
densatorwasser nutzlos abgegebene und verschwendete Wärme ver-
mag er jetzt in zweckmäfsiger Weise auszunutzen.
Die sogenannte Ab Wärmekraftmaschine Josses mufs daher
als ein sehr hervorragender technischer Fortschritt bezeichnet werden.
Wie wir uns erinnern, wird die Arbeit in der Dampfmaschine
durch Wassergase verursacht Um diese zu erzeugen, bedarf man
einer Temperatur von 100°. Es ist also ganz unmöglioh, durch die
Wärme der Dämpfe im Kondensator — die nur eine Temperatur von
60° besitzen — von neuem wirkungsvolle Oase aus Wasser zu er-
zeugen. Die moderne Chemie gebietet aber ĂĽber FlĂĽssigkeiten, die
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einen sehr viel niedrigeren Vergasungs- und Siedepunkt als das
Wasser besitzen, und die daher schon bei einer Temperatur von nur
60°, oder wohl gar darunter, in arbeitskräftige, werktätige Gase um-
gewandelt werden können.
Eine solche Flüssigkeit ist nun die schweflige Säure. Sie
wurde von Josse aus wichtigen, hier nioht zu erörternden Gründen
ausgewählt, um die bisher in der alten Dampfmaschine verschwendete
Wärme — die Abwärme — nutzbar zu verwenden.
Um das auszufĂĽhren, mufste allerdings der Verdichter, der Kon-
densator der neuen Maschine, in ganz eigenartiger Weise verändert
werden.
Fig. 1. Schoma der Ma*chln*.
Der Kondensatorraum, in den die Abgase, die im Cylinder der
Dampfmaschine bereits ihre Schuldigkeit getan haben, eintreten, ist
in der neuen Maschine mit vielen Röhren durchzogen, welche mit ein-
ander in Verbindung stehen. Die Köhren werden ohne Aufhören durch
eine kleine, selbstthätig wirkende Pumpe mit flüssiger, schwefliger
Säure gefüllt. — Tritt nun der Abdampf von 60° in den Köhren-
kondensator ein, dann gibt er den gröfston Teil seiner Wärme-
menge an die schweflige Säure in den Köhren ab, verwandelt sie in
ein tatkräftiges Gas und wird selbst zu Wasser!
Das Gas der schwefligen Säure dient im Weiteren
dazu, den Kolben eines zweiten Cylinders zu betreiben.
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Die Arbeit, die es leistet, entspricht dem Gewinn der Josseschen
Abdampfmaschine !
Schematische Übersichten, wie sie häufig für wissenschaftliche
Auseinandersetzungen nötig erscheinen, sind für den Laien meist lang-
weilig und unverdaulich. Aber wie eine einfache Landkarte die
Kenntnis der verschlungenen Pfade eines uns bisher unbekannten
Landes aufserordentlich erleichtert, so vermag man auch an der Hand
einer gut gewählten sohematischen Übersicht ein schnelleres Ver-
ständnis technischer Vorgänge herbeizuführen, als ohne ein solches
Hilfsmittel.
Ăśberlegen wir uns daher noch einmal die geschilderten Vor-
gänge der Jos 8 eschen Abwärmemaschine an unserer Figur 1. Sie
gibt in einfachen Umrissen die wichtigsten Maschinenelemente breit
auseinandergezogen wieder.
In A erblickt man den Querschnitt des Cylindere der gewöhn-
lichen Wasserdampfmaschine mit dem Kolben und dem daran sitzenden
Schwungrade, während B den dazu gehörenden Verdichter (Konden-
sator) darstellt Wie wir schilderten, ist er mit Röhren durchzogen,
welche fortdauernd mit schwefliger Säure beschickt werden. G und
D bieten die entsprechenden Zeichnungen für die Abwärmemaschine
dar, und zwar dient G als Gylinder, und D als Kondensator. Die
Röhren in D durchfliefst fortwährend kühles Wasser zur steten Ver-
dichtung der Dämpfe der schwelligen Säure.
Einen ganz eigenartigen Mechanismus beobachtet man in der
kleinen Pumpe E, die die Bewegung der flüssigen schwefligen Säure
ge wissermarsen einleitet. Folgt man von E aus der Richtung des
Pfeiles, dann sieht man, wie die Säure durch die Röhren zum ersten
Kondensator B getrieben wird, als Dampf in den Cylinder C eintritt, als
Dampf nach D gelangt und als FlĂĽssigkeit wiederum den Konden-
satorraum verläfst, um dann von neuem den Kreislauf zu beginnen.
Die technisch so vorteilhaft wirkende schweflige Säure ist
ĂĽbrigens hygienisch nichts weniger als empfehlenswert; ihre
Dämpfe gehören von Alters her zu den gefürchtetsten Chemikalien.
Es ist jedoch dem Konstrukteur gelungen, seine Maschine so voll-
kommen abzudichten, dafs auch die empfindlichsten GeruchBnerven
in der Nähe der Maschine nichts von den Dämpfen wahrzunehmen
vermögen. Das beweist, wie vorsichtig die Jossesche Maschine
durchgearbeitet ist, und wie sparsam sie arbeitet. E9 geht eben
von der schwefligen Säure während ihres Kreislaufes durch die
Himmel und Erd*. 1002. XV. 1. 2
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Röhrenkombination nichts verloren! Wir haben es hier, wenn man
will, mit einer Art perpetuum mobile zu thun.
Diese langen AusrĂĽhrungen sind nun hinreichend, um auoh den
äufseren Aufbau der neuen Maschine mit Nutzen und Interesse über-
schauen zu können. Unsere Bilder in Fig. 2 (siehe Titelblatt) und 3, die
das vermitteln sollen, besitzen auch einen historischen und dauernden
Wert, weil sie die zuerst gebaute Abwärmemaschine darstellen, an der
in den Versuchsräumen des Maschinenlaboratoriums der Technischen
Fig. & Dia Wasierdampfmagcrune mit der Abwärmekraftmaichine < Kaltdampfcylinder »
vereinigt. Hinten die beiden Vordichter.
Hochschule zu Charlottenburg die ersten Versuche ausgefĂĽhrt wurden,
und an der der Erfinder seine Idee bis zur Vollendung ausbildete.
In Figur 2 erblickt man eine Wasserdampfmaschine mit stehen-
den und liegenden Cylindern, dem ĂĽblichen Schwungrade und all den
vielen Hegulirvorrichtungen, welche das Kind James Watts in seiner
heutigen Vollendung auszeichnen. Die Maschine dient dazu, um eine
Elektrizitätsspenderin, eine Dynamomaschine, die man links im Vorder-
grunde gut ĂĽberschauen kann, in Bewegung zu setzen. Sie ver-
sorgt die Räume des Maschinen laboratoriums mit Licht Unmittelbar
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vor dem Beschauer neben dem liegenden Dampfcyliuder fällt ein mit
Backsteinen gemauerter Raum auf, der gleichsam fĂĽr irgend eine Ver-
wendung vorbereitet zu sein scheint. In unserem dritten Bilde ist
hier in der Tat der sogenannte Kai tdampfcy Ii nder, d. h. der Cy-
linder der Abdampfmaschine, eingefĂĽgt. Bemerkenswert (siehe Fig. 4)
sind die beiden grofsen vertikalen Röhren, die zu dem Kaltdampf-
cylinder fĂĽhren und die sich dadurch in ihrem Aussehen von
einander unterscheiden, dafs die eine von einem sehr dichten YVanne-
mantel umgeben ist, während die andere kahl erscheint Durch die
Fig. 4. Die Abwarmekraftmaichine mit dem KaJ tdampfcy linder.
erste tritt der kraftbeschwerte Dampf der schwefligen Säure in den
Cylinder ein, durch die andere verläfst er sie wiederum nach ge-
taner Arbeit Berührt man jede der beiden Röhren mit einem Ther-
mometer, dann ergiebt die Messung an der geschĂĽtzten eine Tempe-
ratur von 60°, die andere zeigt eine solche von nur 15 bis 20° an.
Aus der Temperaturdifferenz dieser beiden Teile der Abdampfmaschine
ist der Techniker imstande, die Wirkung seiner Maschine zu be-
6Ăśmmen.
Im Hintergrunde des Bildes 3 sind endlioh noch zwei wagerecht
gelagerte, walzenartige Gefäfse zu beobachten, die das Äufsere der
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beiden Verd ichter (Fig. 5 stellt sie allein dar) wiedergeben, von denen
wir im vorstehenden so viel gesprochen haben. Wenn der Raum be-
Fig .">. Die beiden Verdichter.
schränkt ist, pflegt man sie zumeist im Keller oder wohl auch auf dem
Dache des Maschinenhauses unterzubringen.
Neben der EinfĂĽhrung in das Wesen und die Arbeitsart der
Josse sehen Abwärmekraftraaschine geben unsere beiden Bilder 2
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21
und 3 auch den einfachen Beweis, dafs es ohne Weiteres möglich
ist, eine jede gewöhnliche Dampfmaschine in eine moderne
Abwärmedampfmaschine zu verwandeln.
Die erste kombinierte Josse sehe Ab Wärmekraftmaschine in der
Technischen Hochschule zu Charlottenburg bot durch ihre vielen Mefs-
vorrichtungen, die sie schon allein im Interesse des Unterrichts be-
sitzt, die beste Gelegenheit, die grofsen Vorteile darzulegen, welche durch
Anbringung des Kaltdarapfcylinders an einer gewöhnlichen Dampf-
maschine errungen werden. Professor Josse fand z. B., dafs bei
Mitwirkung dieses Cylinders die dargestellte Dynamomaschine auf
unseren Bddern 40 Prozent mehr leistet, als wenn die Dampfmaschine
allein arbeitet.
Ein weiteres Studium hat dann gezoigt, dafs die vereinigte
Dampf- und Abwärmemaschine auch noch in anderer Beziehung viele
wirtschaftlichen Vorteile mit sich bringt. Sie erfordert eine geringere
Dampfmenge als eine gewöhnliche Maschine bei gleicher Leistung und
ermöglicht das sogar mit einer Kohlenersparnis von 7 v. H. Was
das in den Zeiten der Kohlennot zu besagen hat, dĂĽrfte ohne weiteres
klar sein.
Josses Maschine, die von der Abwärme-Kraftmaschinen-
Gesellschaft in Berlin gebaut wird, ist zweifellos eine Sparmeisterin
ersten Ranges. FĂĽr sehr viele technischen Einrichtungen und fĂĽr
bisher noch unbrauchbare Kraftquellen beginnt sie bereits neue Ver-
wendungsarien zu erschlieĂźen.
Die bisher verschwendeten Wärmemengen, z. B. der Schornsteine
und Hochöfen, der heifsen Gas- und Wasserquellen können durch
Josses Werk — indem man sie zur Verdampfung der schwefligen
Säure in der Abdampfmaschine verwendet — zu nutzbringender
Tätigkeit in den Dienst der Menschen gestellt werden.
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»
i
Vom Panama- und Nikaragua- Kanal.
Von Dr. Felix Laaat in Berlin
4 Jahrhunderten wird die Möglichkeit
~yp^ Seeschiffen einen geraden Weg vom Atlantische
Weltmeer mittelst eines Kanals durch das westindische
Festland zu bahnen. Seit 3 Jahrzehnten sind absch liefsende Unter-
suchungen der fĂĽr den Durchstich geeigneten Ijmdstrecken im Gange,
und seit 20 Jahren ist die grofse Bauunternehmung der Panama strafte
in AusfĂĽhrung begriffen. Trotzdem herrschen noch viele Zweifel ĂĽber
die Möglichkeit der Kanalanlage, über die für ihre Durchführung
passendste Ă–rtlichkeil, ĂĽber die vom vollendeten Werk zu erwarten-
den Einflüsse auf den Handelsverkehr der verschiedenen Völker und
auf politische Machtverscbieburgen. Mehrere Umstände treffen zu-
sammen, um gerade jetzt alle diese einer Beantwortung noch harren-
den Fragen zu einer Besprechung zu bringen, die lebhafter ist als
je zuvor.
Der Ausbau des mittelamerikanischen Kanals bedeutet eine Ab-
wandelung gegebener Naturverbälmisse durch dt n Menschen, und der
Eifer, mit dem dieser Eingriff in den Naturzustand unternommen wird,
hangt ab von der Gröfse der Vorteile, welche die Menschheit sich
verspricht, und von der Griese des Widerstandes, den die Natur
leistet Bald erschweren gleitende Schichten im Baden oder lockeres
Sumpfland die Befestigung der Kanal böschungen. bald harte Gesteine
die Sprengarbeiten; an einer Stelle sind die Obertl;ichenschwankungen
des Gelindes zu beträchtlich, an einer anderen stehen zwar Täler zur
ang, sind aber erfüllt von Flüssen, die durch häufige Hoch-
r, durch SchlammfĂĽhrung oder durch Stromschnellen die
Ausnutzung für den Durchstich gefährlich machen: überall hindert
das tropische, feuchte Klima, weit es die Gesundheu der Arbeiter be-
droht und durch unablässig in ihm wuchernden Ptlantenwuchs alle
Voruntersuchungen der Bodenarten und Geländeverhältnisse mühsam,
ja stellenweise unmöglich macht. Zu diesen Schwierigkeiten, wie sie
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noch keine andere Kanalanlage auf Erden zu ĂĽberwinden hatte, gesellt
eich der überall in Westindien tätige Vulkanismus und die Häufig-
keit der Erdbeben. Gerade die heftigen Naturereignisse auf den An-
tillen und in Guatemala haben in diesem Jahre daran gemahnt, dato
bei der Wahl der Kanalstrecke die RĂĽcksioht auf die Anzahl und
Stärke der Bodenerschütterungen, welohe aus den verschiedenen Gegen-
den bekannt sind, in ernste Erwägung gezogen werden mufs. Alle
diese Widerstände der westindischen Landeseigenart gegen den Durch-
stich haben im Laufe der Zeiten verschiedene Völker zu überwinden
versucht Der Nachdruck, mit dem das Wagnis angegriffen, das
GlĂĽck, mit dem die DurchfĂĽhrung versucht wurde, war bestimmt durch
die wirtschaftliche Kraft, die politische Macht, die technische Kunst
des unternehmenden Staates oder der sich vergesellschaftenden Privat-
kapitalien.
Die ersten Europäer, welche nach Mittelamerika gelangten, waren
die Spanier. Sie suchten auf der Fahrt naoh Westen Ostasien und Indien
zu erreichen, wetteifernd mit den Portugiesen, welohe demselben Ziel
auf dem Weg um SĂĽdafrika zustrebten. Bald unterstand diese Stratee
um das Kapland dem portugiesischen Einflute, während man in Spanien
des anfänglichen Irrtums inne wurde, dafs die von Kolumbus ge-
fundenen Länder nicht Teile von Indien, sondern Erdgebiete seien
welche bisher noch unbekannt gewesen waren und deren Lage den
Weg nach China und den GewĂĽrzinseln versperrt. Nur ein kĂĽnst-
licher Durohbruch durch die trennende Landschranke liefs den spa-
nischen Wettbewerb in Ost- und SĂĽdasien gegen den portugiesischen
möglich erscheinen. Ferdinand Cortez beschäftigte sich mit der Mög-
lichkeit eines Kanals ĂĽber die Landenge von Tehuantepek; im Jahre
1528 erwog man den ersten Panamakanal in Madrid und noch 1553
wird davon gesprochen, dafs in Panama, Nikaragua oder Tehuantepek
eine Kunststrafse für Seeschiffe angelegt werden könne und müsse.
Als später Philipp II. Portugal, die portugiesischen Kolonien und die
Herrschaft ĂĽber den sĂĽdafrikanischen Weg erbte, wurde der Kanal
ĂĽberflĂĽssig. Vielmehr war es geraten, nicht durch so gewaltige Bau-
unternehmungen die Augen heranwachsender Nebenbuhler, etwa der
Briten und Niederländer, auf das westindische Kolonialgebiet zu
lenken; verlangte doch die allgemein giltige Anschauung ĂĽber die
politische und wirtschaftliche Verwaltung ĂĽberseeischer Besitzungen
in erster Hinsicht die Gewährleistung der Staatsoberaufsicht über allen
Handel und Wandel, und durch fremden Wettbewerb mutete diese
ebenso wie durch jede Verkehrserleichterung erschwert werden. Hatte
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man zu Karls V. Zeit wenig Sorge gezeigt, data die Landesnatur einem
mittelamerikaniaohen Kanal zu grofse Schwierigkeiten bereiten könne,
so lebte man sich jetzt umgekehrt in den Gedanken ein, es sei sĂĽnd-
haft, die von Qott erschaffene Anordnung von Land und Wasser zu
ändern. Die Landschranke sei zwischen das Atlantische und Pazi-
fische Meer gestellt, damit die Wucht der Wellen, die in den ver-
einigten Ozeanbecken zu gewaltig sein wĂĽrde, gezĂĽgelt werde. Auch
als Portugal sich im 17. Jahrhundert von Spanien gelöst hatte, und
der ostindische Weg ums Kap der guten Hoffnung vornehmlich von
Engländern und Holländern befahren wurde, nahm man in Spanien
die alten Pläne eines westindischen Durchstichs nicht auf, vielleicht
zu einem guten Teil deshalb nicht, weil englische Freibeuter die Land-
enge von Nikaragua und bequeme Übergänge über das mittelamerika-
nische Festland im Atrato-Gebiet geradezu neu entdeckten und zur
Einrichtung einer Weltverkehrsstrafse empfahlen. Erst als das habs-
burgische Herrschergeschlecht durch die Bourbonen abgelöst war und
französischer Wettbewerb unbekümmert durch Handelserschwerungen
um die Südspitze von Amerika herum während des 18. Jahrhunderts
im östlichen Stillen Meer auftauchte, da hielt man es in Madrid für
geraten, die alten KanalentwĂĽrfe neu zu prĂĽfen und dadurch sich als
Herren in den ĂĽberseeischen Besitzungen zu erweisen. Aber in der
Folge der politischen Bewegungen, welche die französische Revolution
und die Weltmachtstellung des ersten Kaisertums begleiteten, kam es
zum Abfall der mittel- und sĂĽdamerikanischen Kolonien. Die neu-
entstandenen Freistaaten waren weder finanziell noch politisch kräftig
genug, um den Durchstich durchs westindische Festland selbständig
zu ermöglichen; aber sie waren lebhafter als das frühere Mutterland
Spanien darauf bedacht, durch gesteigerten Verkehr ihr Wirtschafts-
leben zu stärken, und nichts konnte diesem natürlichen Verlangen
förderlicher sein, als wenn ein mittelamerikanischer Kanal eine neue
grofse Weltverkehrsstrafse durch ihre Gebiete gelegt oder ihnen doch
nahe gebracht hätte. 8eit den zwanziger Jahren des neunzehnten
Jahrhunderts traten die Vereinigten Staaten von Mittelamerika werbend
fĂĽr den Durchstichsgedanken auf, den aber mangels eines kraftvollen
Staates als Unternehmer nun ein Hauch von Internationalität umgiebt.
Von Deutschland aus war die junge Wissenschaft der Erdkunde
herangewachsen und erleichterte die Erkenntnis der Gegenden, in
denen die Anlage möglich sein würde. Von England her hatten frei-
händlerisohe Grundsätze die theoretische Auffassung von Handel und
Wandel und die praktische Handhabung des Verkehrswesens und der
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Kapitalsvergesellschaftungen umgestaltend beeinflufst. Einem Fran-
zosen war der Bau des Meere verbindenden Suezkanals gelungen.
Es sohien, als ob diese verschieden gearteten Bewegungen
im Kulturleben der einzelnen europäischen Völker bei ihrer Vereini-
gung machtvoll genug sein mĂĽfsten, um die Frage des mittelamerika-
nischen Kanals einer Lösung entgegen zu führen. Sie wurde viel-
fach als kulturelle Hauptaufgabe des 19. Jahrhunderts angesehen, und
wenn auch von 1824 an sich immer wieder die zum Durchstich ge-
bildeten Gesellschaften aus Mangel an Mitteln zur Einstellung ihrer
Arbeiten gezwungen sahen, obwohl man nirgends ĂĽber die Vorunter-
suchungen hinausgekommen war, wollte doch niemand zugeben, dafs
der Kampf des Menschen gegen die Naturverhältnisse aussichtslos sei,
so lange man neben der Ăśberwindung der in ihnen liegenden
Schwierigkeiten noch auf finanziellen Gewinn hoffte. Zu vielver-
sprechend schien die Aussicht auf die freie Handelsstrafse von
Europa nach den pazifischen KĂĽsten von Nord- und SĂĽdamerika, nach
Australien, Japan und China, als dafs nicht die Kosten der Anlage
durch die Erträge des Kanalzolles reichlich gedeckt werden müfsten
und allen, die ihre Gelder zu der grofsen Unternehmung hergeben
wollten, dereinst reiche Zinsen brächten. Der Vergleich mit der
schnell steigenden Einnahme der Suezgesellschaft lag zu nahe. Erst
das Elend, welches dem Zusammenbruch der von Lesse ps ins Leben
gerufenen Panama- Gesellschaft folgte, der einzigen Gesellschaft, die
wirklich nennenswerte Durchsticharbeiten ausgefĂĽhrt hat, liefs eine
nüchterne Auffassung der Verhältnisse Platz greifen. Nun wieder-
holte sich die Mär vom Fuchs und den sauren Trauben. Welchen
Erfolg konnte man sich ernstlich vom Kanal versprechen? Von
Europa aus ist der Weg nach Indien, China und Japan durch den
Suezkanal näher als durch den künftigen mittelamerikanischen Durch-
stich, nach dem australischen Festland etwa ebenso weit. Allerdings
werden Zeitverluste und Frachtkosten aller Fahrten naoh der nord-
amerikanischen Westküste und nach den nördlichen Staaten des west-
lichen SĂĽdamerika, also nach Ekuador, Peru, Bolivia, durch den zu
erbauenden Kanal bei weitem kleiner sein als auf dem bisher ĂĽb-
lichen Weg um das Kap Horn. Aber fĂĽr die etwa nach S. Francisko
gehenden GĂĽter kommt in Betracht, dafs die Eisenbahnen, welche das
Festland von Amerika durchqueren, keine Mittel schonen werden, um
den drohenden Wettbewerb des westindischen Kanals zu vereiteln, und
in den südamerikanischen Ländern ist das wirtschaftliche Leben so
schwach, dafs von Schiffen nach ihnen hin oder von ihnen her nicht
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grofse EinkĂĽnfte an Kanalzoll zu erwarten sind. Die Mehrzahl der
Lasten, um die es sich bei der Ausfuhr dieser Länder handelt, Sal-
peter, Borax und ähnliche, eine teure Fracht nicht vertragende Roh-
stoffe werden auf Segelschiffen befördert, welche den Zeitverlust nioht
so sehr scheuen als die Kosten, die ihnen aus der Notwendigkeit er-
wachsen, sich durch den Kanal schleppen zu lassen. Kurz, die Hoff-
nung auf Verzinsung der bei der Anlage unterzubringenden Gelder
schwand zusammen, während die Erfahrungen der Panama-Gesell-
schaft die Kostenanschläge für die technische Durchführung wachsen
liefsen. Wohl versuchte eine amerikanische Gesellschaft nach dem
Zusammenbruch des Lessepsschen Unternehmens an einer anderen
Stelle, in Nikaragua, noch einmal die Herstellung eines Kanals; aber
sie erlahmte schnell, und von ihren Arbeiten ist nichts erhalten,
während in Frankreich sich eine zweite Panama-Gesellschaft gebildet
hatte, um das Werk ihrer Vorgängerin wenigstens nicht verfallen zu
lassen. So besteht also gegenwärtig ein zu etwa zwei Fünfteln fer-
tiger Panainakanal, dessen Besitzer aus gĂĽnstigem Verkauf an einen die
Arbeiten vollendenden Unternehmer einigen Gewinn zu erzielen hoffen,
es besteht ferner eine Reihe von Bevorrechtungen und Abmachungen
zwicben dem Staat Kolumbien als dem Besitzer von Grund und Boden
und der Landeshoheit und zwischen der Panama-Gesellschaft, die zumeist
von Franzosen gebildet ist. Der Staat Nikaragua dagegen ist weder
an ältere Verträge gebunden, noch gibt es eine Gesellschaft, die hier
einen Kanal anlegen will. Ăśberhaupt erscheint es ausgeschlossen,
dafs private Kapitalien in ausreichender Menge sich des Durchstichs
noch annehmen werden; denn die zu ĂĽberwindenden Schwierigkeiten
gelten jetzt als zu grofs und der vom fertigen Kanal zu erwartende
Ertrag wird als zu klein beurteilt.
Die Entwickelung der mittelamerikanischen Verkehrsfrage wĂĽrde
durch eine ähnliche Stockung gehemmt sein wie im 16. Jahrhundert,
und ähnlich würde man sich mit der von dem Menschen nicht be-
siegbaren Macht der Naturverbältnisse trösten, wenn die Anschauungen
ĂĽber die wirtschaftlichen und politischen Aufgaben des Staates sich
nicht geändert hätten. Als Spanien Vormacht in Amerika war, sah
man die Pflicht einer guten Regierung darin, die Staatsmacht durch Ein-
schränkung der Freiheiten der eigenen Bürger und durch Fernhalten
fremdländischer Einflüsse zu kräftigen. Jetzt sollen den Staatsbürgern
gerade recht weit ausgroifende Wirkungskreise eröffnet werden, da-
mit im Wettbewerb mit dem Auslande das heimische Wirtschaftsleben
erstarke. Vormacht in Amerika ist inzwischen ein neuer Staat ge-
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worden, der national anscheinend viel weniger scharf umrissen ist
als das Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts, aber dafĂĽr im amerika-
nischen Boden selbst wurzelt. FĂĽr die Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika bedeutet der Kanal einen grofsen Vorteil. Er verbindet das
Ost- mit dem Westufer des Staatsgebietes, zwischen denen bisher ein
ĂĽber 10000 Seemeilen weiter Weg ums stĂĽrmische Kap Horn lag. Er
eröffnet den geraden Zugang von den Sitzen der Regierung und der
grofsen Handelshäuser an der atlantischen Küste zu den überseeischen
Besitzungen im grofsen Weltmeer, den Sandwichinseln und Philippinen.
Er gestattet die einheitliche Verwertung der Kriegsschiff-Geschwader
im Mexikanischen Golf und im Stillen Ozean und hebt dadurch den
Nachteil auf, dafs die pazifische und mexikanische Flotte durch das
Festland von Miltelamerika, diese und die atlantische duroh den Insel-
kranz der Bahama und kleinen Antillen getrennt sind, welche im
wesentlichen den Engländern gehören. Der Kanal erscheint stra-
tegisch als notwendige Ergänzung- des Erwerbs von Porto Rico und
den dänischen SL Thomas-Inseln; denn erst wenn diese Inseln und
der Durchstich in der Hand des Staates sind, stehen die Meere im
vollen Umkreis der Flotte offen. Vor allem wird das wirtschaftliche
Gedeihen des Landes vom Kanäle Vorteil haben; denn wenn auch
europäische Schiffe Ostasien schneller über Suez als über Westindien
erreichen, von New- York aus ist ein Wettbewerb mit Europa auf
diesem wichtigsten Weltmarkt der Zukunft nur möglich, wenn den
Amerikanern durch den Kanal ein Weg eröffnet wird, der nach Japan
kĂĽrzer iĂźt als die Strecke von England ĂĽber Suez, nach Yokohama
und nach Schanghai etwa ebensoweit. Nach der WestkĂĽste von SĂĽd-
und Nordamerika wird die Entfernung von New- York aus, sobald das
westindische Festland von Seeschiffen durchfahren wird, ebenfalls be-
deutend kĂĽrzer sein als von Liverpool oder Bremen und Hamburg,
und die Möglichkeit billigerer Frachtsätze wird der nordamerikanischen
Einfuhr nach Chile, Peru, Ekuador vor der europäischen den Vor-
sprung sichern. Die gröfsere Lebhaftigkeit solcher Handelsverbin-
dungen wird die nordamerikanische Industrie und die Handelsflotte
der Vereinigten Staaten auf Kosten der europäischen wachsen lassen.
Kurz, so grofs erscheint der Nutzen des mittelamerikanischen Kanals
fĂĽr das Staatswesen der Union, dafs alle Bedenken wegen der ent-
gegenstehenden Naturschwierigkeiten nur noch den Wert haben,
Zweifel ĂĽber die passendste Stelle fĂĽr den Durchstich aufkommen zu
lassen, nicht aber BefĂĽrchtungen, ob die Unternehmung fĂĽr Menschen-
kraft durchführbar sei. Auf unmittelbaren Ertrag durch Kanalzölle
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mute der Staat als Unternehmer verziohten; der mittelbare Nutzen ist
grofs genug. Soweit also ist die Erkenntnis jetzt vorgeschritten,
genau 400 Jahre, nachdem die verkehrhemmende Landschranke
zwischen den Ozeanen entdeckt ist. Man kann die Erinnerung an
diese letzte Tat des Kolumbus in der Empfindung feiern, dafs die
Beseitigung des Verkehrshindernisses jetzt sicherer in Aussicht steht
als jemals frĂĽher.
Zu den drei Stellen, welche man schon zur Zeit Kaiser Karls V.
fĂĽr den Kanalbau passend gefunden hatte, gesellten sich im Laufe
der vielfachen Untersuchungen und während der lebhaften Gesell-
schaftsbildungen zum Zwecke des Durchstichs immer neue, von den
ortsansässigen Behörden meist warm empfohlene Örtlichkeiten, die für
die Anlage gĂĽnstig sein sollten, und an vielen von ihnen war die
technische Durchführung auf verschiedene Weise möglich. Als
Lesseps im Jahre 1879 einen internationalen Kongrefs in Paris zu-
stande brachte, auf welchem die Kanalfrage beraten werden sollte,
gab es mehr als 30 DurchstichentwĂĽrfe. Solche Mannigfaltigkeit ist
nur durch die Eigenart des Oberflächenbaues im mittelamerikani-
schen Festland erklärbar. Ganz äußerlich angesehen scheint diese
LandbrĂĽcke den sĂĽd- und nordamerikanischen Kontinent organisch
miteinander zu verbinden, indem die sĂĽdamerikanischen Anden ĂĽber
das westindische Festland fort den nordamerikanisohen die Hand
reichen; in Wirklichkeit aber ist der mittelamerikanische Landstreifen
aus ganz verschieden gearteten Gliedern zusammengeschweifst Der
gewundene Verlauf der KĂĽsten, der im wesentlichen der Anordnung
des Gebirgsskeletts im Landesinneren entspricht, unterscheidet — ebenso
wie die Zersplitterung des Gebietes unter ;3 getrennte Freistaaten und
Teile des südamerikanischen Kolumbien — das westindische Festland
von dem groĂźzĂĽgigen, massigen Bau des nord- und sĂĽdamerikanischen
Kontinentes und von der weiträumigen Ausgestaltung der Staaten-
gebilde in diesen Festländern. Nicht einmal Fauna und Flora von
SĂĽd- und Nordamerika sind ĂĽber die westindische LandbrĂĽcke durch
Wanderungen einzelner Arten in nennenswerten Austausch getreten.
Doch darf man aus dieser Tatsache nicht auf ein allzu jugendliches
Alter des Landzusammenhanges schliefsen; denn in den beiden Meeren
neben dem Festlande sind wohl noch die Gattungen der Seetiere
gleich, die Arten aber verschieden. Hebungen und Senkungen des
Landes, Durchgriffe einzelner Meeresstrafsen von der atlantischen nach
der pazifischen Seite mögen im Tertiär an örtlich eng begrenzten
Stellen noch mehrfach vorgekommen sein; aber die Mannigfaltigkeit
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der Gesteine erlaubt nicht die Annahme, daĂź in der Kreidezeit oder
später eine gemeinsame große Überflutung des westindischen Fest-
landes stattgefunden habe.
Wo in der Landschaft Darien Mittel- und SĂĽdamerika anein-
andergrenzen , fehlt es sowohl an einem inneren Zusammenhange
wie an einer klaren Scheide zwischen den Festländern. Ein Netz-
werk von Talbildungen zwischen unregelmäßig in- und aneinander-
geschobenen HĂĽgelgruppen, die 100 bis 200 m hoch sind, trennt den
Karaibischen und den Stillen Ozean, den Ansatz des mittelamerika-
nischen Gebietes vom Tal des Atrato, das zwischen der KĂĽsten-
kordillere und den nördlichsten Zügen der südamerikanischen Anden
verläuft Schon Humboldt hatte zu Nachforschungen aufgefordert,
ob nicht irgend eine LĂĽcke im Gebirge die Verbindung dieses in das
Karaibische Meer sich ergieĂźenden, sehr wasserreichen Stromes mit dem
Stillen Ozean ermögliche, und der Amerikaner Selfridge hat noch
auf dem Pariser KanalkongreĂź EntwĂĽrfe zu einem Festlandsdurchstich
in dieser Gegend vorgelegt; aber die zu durchbrechende Kordillere ist
so hoch, dafs aufsor umfänglichen Schleusenanlagen, Tür die es wahr-
scheinlich an hinreichender Wasserspeisung fehlen wĂĽrde, ein groĂźer
Schiffstunnel notwendig würde. Aufserdem liegen die Häfen des
Stillen Ozeans bereits in dem fĂĽr Segelschiffe ungĂĽnstigen Gebiet
ständiger Windstillen, und auf der Seite desKaraibischen Golfs beeinträch-
tigt eine groĂźe Barre am Eingang zum Atrato die Schiffbarkeit des
Fahrwassers. Auoh alle Forschungen im darischen HĂĽgellande, ob
nicht an irgend einer Stelle die Wasserscheide zwischen der atlanti-
schen und pazifischen Küste niedrig läge und den Durchstich gestatte,
fĂĽhrten nach oft auflebenden Hoffnungen voller Zuversichtlichkeit
immer wieder zu Enttäuschungen. Die Zahl der für dieses Gebiet
entworfenen Kanalpläne ist sehr groß. Kommt doch streckenweis auf
der Landenge von St. Blas das eine Ufer dem anderen in Luftlinie auf
60 km nahe; aber dort erhebt sioh bereits an Stelle der Hii^el^ruppen
eine gedrungene Kette aus hartem Gneis und aus Sand- oder Kalksteinen.
Trotzdem hat man auoh ĂĽber diese Landenge von St. Blas den Kanal
legen wollen, indem ein Tunnel die Gebirgsmasse durchschneiden sollte;
selbst die niedrigste PaĂźscharte wĂĽrde hier noch ĂĽber 200 m hoch
sein. In der Gegend der Landenge von Panama endet dieser Ge-
birgszug. Das Gelände erscheint wieder aufgelöst in unregelmäßig
angeordnete HĂĽgel, die hier aus Traohyten und Doleriten bestehen,
mäßig hoch sind und einen Übergang von nur 78 m Höhe zwischen
sioh lassen, welcher vom Rio Grande, einem in die pazifische Panama-
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bucht abfliefeenden kleinen Wasserlauf, zum Tal des wasserreichen,
nahe der Stadt Colon in das Karaibisohe Meer mĂĽndenden Rio Chagres
führt. Der Unterlauf des Chagres verläuft in Sumpfland und lookeren
Ansohwemmungsmassen. Da Colon und Panama brauchbare Hafen sind,
und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Eisenbahn die beiden Städte
verbindet, sodafs sie an den Durchgangsverkehr gewöhnt sind, mufs diese
Enge des westindischen Festlandes als brauchbar fĂĽr den Durohstich
bezeichnet werden. Der Kanal wĂĽrde wegen seiner Windungen und
wegen der Notwendigkeit, in der Panamabucht eine vertiefte Fahr-
rinne herzustellen, auf 78 km Länge zu berechnen sein. Etwa 80 km
auf atlantischer Seite liegt er in dem ebenen Gelände des Chagrestales;
dann mufs er ansteigen. Die französischen Kanalpläne, wie sie auf
dem Pariser Kongrefs von 1879 vorgelegt und später im einzelnen
festgestellt wurden, verlangten freilich einen Durchstich in Meeres-
höhe. Dabei unterschätzte man die Menge des auszusohaohtenden
Gesteins und die Zeit, welche erforderlich ist, um die abgesprengten
Massen beiseite zu sohaffen. -In dem gebirgigen Lande, das in seinen
unruhigen, aber milden Oberflächenformen dem deutsohen Mittelgebirge
ähnelt, fehlt meist die Möglichkeit, die ausgegrabenen Gesteine in der
unmittelbaren Nähe ihrer Herkunftstätte unterzubringen. Erst im Ver-
lauf der Arbeiten ergab sich ferner die Notwendigkeit, die bei der
Ausschachtung entstehenden Böschuugen viel sanfter geneigt herzu-
stellen, als anfänglich geplant war. Die Kraft der tropischen Regen-
gĂĽsse und der Mangel an Drainage in der Umgebung der Kanal-
anlage verursachten nämlich häufige Abrutschungen der durchfeuchteten
Bodenmassen in das schon gegrabene Bett.
Aufserdem zeigte sioh, dafs die Gesteine des Untergrundes durch-
aus nicht, wie vermutet war, aus gesundem, hartem Fels vulkanischen
Ursprunges bestehen; sie erscheinen vielmehr von gleitenden Mergel-
sohichten durchsetzt. Dieser Umstand erhöhte wiederum die aufzu-
wendenden Kosten für die Sicherung der Kunststrafse und die Länge
der fĂĽr die technische Vollendung der Arbeiten zu beanspruchenden
Zeit Zuletzt war noch eine Schwierigkeit zu überwinden, nämlich
die Frage, wo man mit dem Chagres bleiben konnte, dessen Tal der
Kanal benutzen sollte. Am sichersten wäre gewesen, ihm ein neues
vom Kanal fernes Bett zu graben, doch davon schreckten die Kosten
ab. Wollte man die Flufsgewässer ruhig dem Kanal zuführen, so
waren ungeheuere Stauvorkehrungen im Oberlauf notwendig; denn
man beobaohtete, dafs der Strom, der in trockenen Monaten nur
12 obm Wasser in der Sekunde fĂĽhrt, in nassen auf 200, bis zu 2000 cbm
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Wasserführung: anwachsen, also stärker werden kann als das Mittelwasser
des Rheins bei Köln. Solohe Wassermassen bedrohten den Kanal mit
grofser Gefahr. Sohliefslioh bekehrte sich Lesseps zur Notwendig-
keit, den Durohstioh in Meereshöhe durch einen Schleusen kanal zu
ersetzen, erschĂĽtterte aber damit alles Vertrauen der Panama-Gesell-
schaft, weil er gerade Jahre hindurch mit allem Nachdruck betont
hatte, nur ein schleusenloser Kanal werde Verkehr genug an sich
ziehen, um die Zinsen des Anlagekapitals zu decken. Die mehr-
fachen, von der Gesellschaft aufgenommenen Anleihen wurden schon
während der Arbeiten aus dem Gesamtvermögen verzinst, zum Teil
sogar sehr hoch, und nun brach die Panik aus, dafs kĂĽnftig wahr-
scheinlich ĂĽberhaupt nicht Einnahmen genug zu erwarten seien.
Aufserdem war durchgängig die Ansicht verbreitet, dafs für einen
Sohleusenkanal Panama nicht einmal die beste Stelle in Mittelamerika
darstelle, dafs vielmehr die Enge von Nikaragua der gegebene Platz
fĂĽr eine Schleusenanlage sei. So erfolgte im Jahre 1889 gleichzeitig
die Einstellung der Arbeiten in Panama und die BegrĂĽndung einer
Nikaragua-Gesellschaft.
Zwischen den Gebteten von Panama und Nikaragua liegt die
Landschaft Veragua mit prächtigen Naturhäfen auf beiden Festland-
seiten und der Staat Costarica, den man fĂĽr den geordnetsten der
oft von Parteiwirren zerrissenen Republiken von Mittelamerika an-
sieht Nicht im ganzen Umfang seines Gebietes, wohl aber in einem
von Meer zu Meer das Land durchsetzenden Strich herrscht in der
Tat die gröfste wirtschaftliche Blüte, die auf dem westindischen Fest-
land anzutreffen ist FĂĽr eine Kanalanlage kommt aber weder Veragua
mit seiner lĂĽckenlosen, hoch aufsteigenden Bergkette noch Costarica
in Betracht; denn hier trifft sich ein Zug aus jung- eruptivem Ge-
stein, dessen Rücken mächtige, nooh kürzlich tätige Vulkane trägt,
mit einer zweiten Kette, in der unter jung-vulkanischem Gestein ein
alter Gebirgskern liegt, zu einem massigen Hochlande zusammen,
und diesem RĂĽckgrat des Landes ist im SĂĽden noch eine Kalk-
steinkette und im Norden parallel streichendes tertiäres Hügelketten-
land beigesellt. Die gröfseren Flüsse im Norden von Costarioa
laufen, den Leitlinien dieses Aufbaues folgend, gar nioht den KĂĽsten
zu, sondern werden an der Grenze von Nikaragua vom S. Juan auf-
gefangen, der die grofsen Binnenseen des anders gearteten Gebiets
von Nikaragua nach dem Karaibenmeer entwässert Dieser Strom
scheint eine Kanalanlage ungemein zu erleichtern; deshalb knĂĽpften
sich schon seit alter Zeit eine Reihe von EntwĂĽrfen an sein Tal,
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tai no-cb in der Gegenwart herrscht Zweifel, ob die Landenge von
Panama oder die von Nikaragua gĂĽnstiger fĂĽr den Kanal sei Die
ATsordaung des OberCacbe nbaues von N.karagua ist leicht zu ĂĽber-
srĂĽ'jfs. Ecre in der Achse des Festlandes streichende Senke, in
â– i- r d:? beaiea .rrofsen Seebecken von Managua und Nikaragua und
e.ne Re_he ansehnlicher Vulkane hegen, trenn ein scnmales. in das
>t...e Meer faxendes, niedriges Bertiand im Wessen vor. breiten, eben-
ia..s : ci". iui*-rd, weldgen Lar.dLacr.eo im Osten. c:e sich xum S.
. .-in _nd naci der iranischen Küste ioiichec An ±r lagert dann
».vi e.n von Urwald bedecktes F.aerl*rd. Die Hügel-
i-ru-r. it>;i- n -er Landsenke uci dem patirschesa Ufer lassen Nie-
d- rurgea x« :scien s ei. m den^c die Wasserser-;de bis *-f rund 50 m
Se^ilr.* id=ar^i:; ce F.dss* d.rse* Ger-eos s;ni alle klein und
: rv Taler s:rd d-rvi Au:>c::ve~:n_ngeu v.--a 10 r i m Ilohe
*„sge:\ . 1 ,e Li^dmassen c<s l.vh drr Serie sind v:n atlantischen
F ..ss<er ~e: d_r.-.urvbt K.er rat s:ci :x: ; = 7e.-z.ar lebhafter
^ vi^ nz.j b^-ĂĽi dessen Ges-te.rsrnasser -en 3.-1 a r ..den. An
d-r S^sre s.nd d.* lVl:as d.eser F.dsse r-dd Sc - wetz. - ar umgreifen
r_*a=:^r^e« aeddser. Der S. l-ar be-grerr: das H.<r_ard im Sdien.
_n t-zr-r Ke de v.r W—reln ütvr a_sda_fer.de Grate l.Är.erer Ge-
sce.^r :.de; an n^r K~s:e r.n »r;:es I\ ,'a. an dessen Nordseite
re v_ ».d~:d~s:e-r _:.an:.scr.er H..iJ.-r v.r. N i.ar_g-__ l egt, der
>-^_-^r der V - -sc d. .ard dz ~ a_sge>e\_ ; 1" e G-wässer des S_ Juan
sc.dts; >_z d : _rädddst k.ir. da s.f derd drr\ ">e~ B mecsee e_tstaind_eii;
_:~r der .ss*. d.: v;:-. CV^-.r.ci *_< d -> r . _>rr, dr^rer. grolse
\-r^z^z. a - Scdd-acari. d^r S. Car..-<s bi; .r.jv:- r.s r_ :•. 7 -ö cbm
-.-ad. dd_ L .r r;.fvr __::-..r:e :"_r e-d:r 2_a_.a. v>r=e;iea d.eser
v^-ä' ^dd_-_d.rr_ -*e^ d de iWr.Udr^ d:s S. / _ _:-Vn:crd__dS und
..rren .;.e \Y «s*rv.r_:_* :..-v_ das S. -y azl •;,reytd^ und
a--_ A.-acr* des IL.vi ad... s. *;« d.e Sdd - -^edad^ea rdr refügt
»e-r-drn. : > i-d= . re ed S. I ..-s-dr de ire . cd d.rcd: Strom-
sdd-t d d Scd ad.rv. Advr Sd-ed^r-, d^vn .d;;\Vij«: — d Hebung
d > F._.S5>- d> d.rvdi SUdadi.a^ec * . ^ : ra^ ;d.\Are«? Fahr-
»*ss^r ? s Sr^ .er. IVr S^sd e^e-, l.e^r. . ^rö z: über
d:d V;vr. s. d* -d v. Ire., di : > s~ , > d. c- Je : -. agv. Die
, >fr_^rd: ::.».* ^i- ^-r\ s. :? *_>.; a^s 14 zaai den
">.dÄÄ*. An ddd. K-^ded. S- dd il - . • : Ad.sc: r; dec "vft~% .m;e
_ >~ä« ^e F^?. :: . > ; %-s'wd, id s. .d ^ ;e«d-.vi der See
«r^irow.. i;::r 1. dv > u der Na-- e \ .. ^j^; disev . '"d-eie^re*. £ebt
^e 7 d r.s id. r-d.d > dd r uad. b d?r A de* ivana-s vom
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See nach dem Stillen Meer hat man mehrere Pläne im Laufe der
Zeiten aufgestellt; am besten ist wohl die Benutzung des Rio-Grande-
Thales, so dafs Brito der Endhafen sein wĂĽrde, eine offene Rhede, die
erst durch Kunstbauten zu einem brauchbaren Platz fĂĽr Schiffe um-
gewandelt werden raufs. Von Greyton bis Brito wĂĽrde der Weg duroh
das Festland etwa 275 km lang sein; etwa 110 km wĂĽrden auf die
Fahrt ĂĽber den Binnensee entfallen.
Der grofse See im Landesinnern, der ein natĂĽrliches Speise-
becken fĂĽr die Schleusenanlagen im Osten und Westen und eine
treffliche Ausweichstelle für beliebig viele Schiffe von den gröfsten
Formen darbietet, daneben die von der Natur geradezu vorgezeiohnete
Ă–ffnung dieses Beckens nach dem atlantischen Meere durch das S.
Juan-Thal haben bei der Wahl zwischen der zwar schmaleren, aber
.inscheinend viel mehr festländischen Gebirgsenge von Panama und
ilem Gebiet von Nikaragua etwas ungemein Bestechendes. FĂĽr die
Vereinigten Staaten als Kanalunternehmer gesellt sich der Vorzug
ninzu, dafs Nikaragua ihrem Lande näher liegt, so dafs Schiffe für
den Weg von New-Orleans nach S. Franzisko eine beträchtliche Zeit-
verkĂĽrzung gewinnen wĂĽrden, wenn sie nicht ĂĽber Panama, sondern
durch Nikaragua fĂĽhren. Aufserdem ist Nikaragua ein kleiner, ziem-
lich wehrloser Staat, der zwar eifersĂĽchtig auf seine Hoheitsrechte
sieht, dem man aber die Beherrschung dor Kanalstrecke doch wohl
einfacher abgewinnen wĂĽrde als dem Staate Kolumbien, dem dio
Panama-Enge gehört Dieser ist in das Staatensystem von Südamerika
eingereiht, das mit sorgsamen Blicken die alles verschlingende Aus-
dehnungstendeoz der nordamerikanischen Union verfolgt. Vor allem
bestehen ja die alten Verträge mit der französischen Gesellschaft fort,
nach deren Wortlaut die Ăśberweisung aller Bau- und Betriebsgerecht-
samen an einen fremden Staat verboten ist. Dagegen hat seit dem
vergangenen Jahr die Union in Nikaragua freie Hand. Bis dahin
bestand nämlich ein in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Eng-
land uud den Vereinigten Staaten geschlossener Vertrag, dafs keins
von beiden Ländern selbständig die Frage eines Nikaragua- Kanals
lösen werde. Dadurch war der Union im Gebiet von Nikaragua die
Freiheit zu handeln genau so benommen wie durch die Arbeiten der
französischen Gesellschaft in Panama. Grofsbritannien hat jedoch
während der Beengtheit in den diplomatischen Beziehungen und in
der Fähigkeit der Machtentfaltung zur Zeit des Burenkrieges ohne
ersichtliche Gegengabe der Vereinigten Staaten auf diesen Vertrag
verzichtet, so dafs die Union in Nikaragua jetzt den Kanal unange-
H-mmrl und Erde. 100B. XV. 1. 3
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fochten bauen kann, wenn sie nur will. Neben Panama und Nika-
ragua kommt eine andere Stelle des westindischen Durchstichs nicht
mehr in Frage. Allerdings ist einmal ein Kanal von der Fonseca-
Bai nach dem in den Golf von Honduras mĂĽndenden Flufs Polochok
empfohlen; aber selbst die kĂĽrzere und niedrigere Landenge von
Tehuantepek, die nördlichste für den Durchstich allenfalls mögliche
Stelle, wĂĽrde einen viel zu langen Kanalbau und rund 40 Schleusen
erfordern; in Nikaragua wird man nur 10, in Panama nur 8, vielleicht
blofs 7 Schleusen anbringen mĂĽssen.
Dafs in den Vereinigten Staaten eine lebhafte Strömung zu
Gunsten des Nikaragua-Kanals und gegen die Panama- Anlage besteht
und von jeher bestanden hat, zumal seit die französischen Arbeiten
wie ein Eingriff in die Interessensphäre der Amerikaner angesehen
wurden, ist sehr erklärlich; aber man mufs wünschen, dafs diese
imperialistisch gefärbte Bevorzugung der nüchternen Erwägung Platz
mache, welche die von der Natur dargebotenen Verhältnisse achtet
und in der Abänderung derselben das Mafs der den Menschen ge-
gebenen Macht nicht überschätzt Der Nikaraguakanal besitzt keine
Häfen, und es ist schwer glaublich, dafs Greytown vor dem Versan-
den, Brito vor den Winden sich wird schĂĽtzen lassen; dagegen sind
Colon und Panama brauchbare, erprobte Häfen. Der Nikaraguakanal
verlangt von den Seeschiiren, dafs sie 200 km länger durchs Binnen-
land fahren und sich durch 2 Schleusen mehr, d h. um 10 m höher heben
lassen als im Panamadurchstich, dessen Scheitelstrecke etwa 30 m
hoch liegen wĂĽrde. Die Windungen des Nikaraguakanals, besonders
auf der Strecke von Brito bis zum Binnensee sind stärker als die der
Panamastrafse, also grofsen Schiffen wegen der Gefahr anzulaufen un-
angenehmer. Der Boden auf der Panamaenge gehört zu den am sel-
tensten erschütterten Gebieten im erdbebenreichen Westindien, während
im Bereich des künftigen Nikaragua-Kanals mehrere noch thätige
Vulkane liegen. Gefahrdrohend erscheint in Panama vornehmlich
die Abdämmung des wild anschwellenden Chagres; aber Sperrbauten
von nicht geringerem Umfange und von schwierigeren Fundamen-
tierungsverbältnis8en verlangt die Aufstauung des San Juan. Selbst
dem Nikaraguasee, dem gröfsten Stolz der Kanalanlage in dieser
Gegend, wollen manche nicht mehr trauen, da sein Wasserstand
schwankt, und die Möglichkeit vorliegt, dafs er sich langsam ver-
ringert. In jedem Falle sind sämtliche Schwierigkeiten, welche die
Panamastrafse bietet, durch Arbeiten und ständig erneute Versuche
während eines Zeitraums von 2 Jahrzehnten bekannt, während nie-
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mand sagen kann, welchen unvermuteten Aufgaben man in Nikaragua
noch begegnet. Dio Kosten der Vollendung dos Panamadurchstichs
lassen sich mit viel gröfserer Sicherheit auf 597,8 Mill. Mark be-
rechnen, zu denen noch 170 Mill. Mark als Kaufpreis fĂĽr alle Hechte
und Besitzungen der französischen Gesellschaft kommen, als der Preis
fĂĽr den Bau des Nikaraguakanals auf 842 Mill. Mark. Und zuletzt
darf nicht aufser acht gelassen werden, dafs der Zeitpunkt der Be-
triebseröffnung bei der Panamastrafse, die doch schon zu mehr als
einem Drittel vollkommen fertig ist, näher liegen mufs als der, an wel-
chem die Durchfahrt des ersten Seeschiffs durch Nikaragua zu erwarten
ist. Wenn trotzdem die Vereinigten Staaten noch schwanken, so liegt
die Vermutung nahe, dafs die Leute recht haben, welche die ZurĂĽck-
haltung der Union gegenĂĽber dem Ankauf der Panama- Arbeiten als
Mittel der Amerikaner ansehon, von der französischen Gesellschaft
einen niedrigen Kaufpreis und vom Staate Kolumbien hohe Rechte
im Kanalgebiet zu erwirken. WĂĽrde schliefslich der Panamakanal in
die Hand der Vereinigten Staaten gelangen, so wĂĽrde Frankreich sich
sagen können, dafs es durch sein rauliges Vorgehen beim Durchstich
der Landenge von Suez die Machtstellung der Engländer im Mittel-
ländischen Meer und in Ägypten hat stützen helfen und durch seine
Pionierarbeit am entsprechenden Durchstich der Landengo von Pa-
nama die Gewalt der Nordamerikaner im Umkrois des Grofsen Ozeans
und im westlichen SĂĽdamerika. FĂĽr den allgemeinen Nutzon der
Menschheit ist dann aber von neuem die natürliche Schöpfung erfolg-
reich durch künstlichen Eingriff gewaltsam verändert worden.
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Die Natur der Sonne.
Die Sonne erscheint dem Auge als eine scharfumgrenzte Kugel
und ist dementsprechend auch zuerst als glĂĽhend fest oder glĂĽhend,
flĂĽssig angeseheu worden Da nun aber ihre Temperatur, so schwer
sich auch suverlässige Werte ermitteln lassen, sicher mehrere Tausend
iJrade betragt und das Innere des Sonnenkörpers noch bedeutend
heilser sein mul's als die aufseren Schichten, so entstanden Zweifel, ob
d e Sonne tbatsachhch tl-issi^ oder gar fest sein konnte. Wenn man
vtfrmuteu darf, dafs die Souaenteoiperatur weit ĂĽber die kritische
Temperatur aLer Elemente hinausgeht, so bleibt gar keine andere An-
nahme ĂĽbrig, als d.e eines Oasballes, dessen Dichtigkeit infolge des
enormen Druckes tou aufsen nach innen bis zu grofser Höhe an-
steigt. Sobald man aber diese Annahme ĂĽber die Natur der Sonne
mache, n .sseu die scharte Begrenzung, die Flecke und Protube-
ranzeu optisch erklärt werden, die vorher anscheinend nur durch
mechanische l'rsachen sich erklären lieiseu.
Ine scharfe Betfrenzung ist vor mehreren Jahren von A. Schmitt
und Od Kuov •,jrk'.;irt worden, wobei a.::' eine Abhandlung des Mathe-
matikers Kummer zuruckge^ri.'fen wird, «J.e iieser IS<;0 in der Ber-
liner Akademie der VVbsjseuscha^en zeiesen Im:. Wenn ein Lichr-
?!rsh» :u einer 'Jasuiosse vvn Jec Natur unserer Atmosphäre verläuft,
diu unten dicht uud nach oben b.u dĂĽnner ist. so tnufs die AuĂźen-
seite ies Struhls i:ie v-.-a der E>:e aeg"wau-irej, ĂĽa sie in opdscn
dĂĽnnerem Stotf veriai.:?, vorei'eo, und dadurch eine KrĂĽmmung des
Slranies eiutreieu. Aa/ der ĂĽ:-ie !uM i.eso K:-imniuug keine andere
b'jige iis i:e, dius wr h< mmriskörper noch Sehen können, die schon
vom Liiiri ont verdeck' ^em mui^u u. W tri a »er ierL.ciitsirahi aui einem
Planeten £• Oßweil L^tmensiotten, wees &. B. ier Jupiter ist. ver-
i.iUi'f; so ^•••ot 's auch Stra.i eu, i;e Uu '>rg»*u weder .mr 'Oberfläche
zurüi.ti.v'jiii-ii. und suiCiif. die in einet» ibrnzctiirtacheu Kreis den
P'un« ".Ii Hinuuioii. C< ,&l :>ü 'Uli i'eiMttUtetf Spiel Jer Phantasie, sich
au>z>itua«< u, <Hf*c ei.i ';i'*mi:h r t»v i jcs JSp*l*r. i»'u Kummer als
Google
37
Beispiel nimmt, seinen ganzen Planeten betrachten kann; wie die
Kugelfläche des Planeten ihm als hohle Schale erscheint, in deren
Mitte er steht und an deren Rand er mit einem Lichtstrahl, der
den ganzen Planeten umläuft, sich selbst zu einem breiten Bande aus-
einandergezogen erblickt. Die Sonne kann dort nie untergehen, denn
wenn sie auch der Beobachter in seinem Nadir, also unter seinen
FĂĽfsen hat, so mĂĽssen doch Strahlen von ihr, den Jupiter umlaufend,
in das Auge des Beobachter gelangen, der die Sonne als Band rund
am Himmel liegen sieht.
Bei diesem Strahlenverlauf, dessen Notwendigkeit sich also durch
strenge mathematische Berechnung ergiebt, existiert auch ein Strahl,
der, stets in gewisser Höhe die Gasmasse durchlaufend, in sich selbst
bleibt. Strahlen, die dem Mittelpunkte näher bleiben, kehren in
tiefere Schichten zurück, andere, die höher liegen, entfernen sich
weiter vom Mittelpunkt Wenn wir nun senkrecht zu der Linie von
unserm Auge nach dem Sonnenmittelpunkt eine Ebene mitten durch
die Sonne legen und Strahlen betrachten, die von diesem Sonnen-
schnitt aus in unser Auge gelangen, so ergiebt sich, dafs die äufsersten
Strahlen, die unser Auge treffen, schwach gebogen nur die Rand-
schichten des gasförmigen Sonnen balls durchlaufen haben, dafs aber
an der Stelle des in sich selbst verlaufenden Strahls eine grofse Hel-
ligkeits-Ă„nderung dadurch eintritt, dafs die nach innen hin liegenden
Strahlen aus tieferen Schichten der Sonne stammen, also viel licht-
stärker sind. Dieser Helligkeitsunterschied aber erzeugt uns den Ein-
druck von der Sonnenoberfläche; die Sonnenmasse reicht dagegen
thatsächlich ohne irgend eine sprunghafte Dichtigkeitsänderung weit
darüber hinaus. — Bei dieser Annahme sind dann auch die Pro-
tuberanzen nicht als Springbrunnen von glĂĽhendem Wasserstoff, die
plötzlich mit fabelhafter Geschwindigkeit dem Sonnenkörper entströmen,
sondern als optische Erscheinungen zu erklären, die zu uns aus anderen
Teilen der Sonne Licht gelangen lassen, von denen wir vorher nichts
wahrnahmen. Auch die Sonnonflecken können nicht Wolken, Schlacken
oder dgl. sein, sondern sie müssen ebenfalls optisch erklärt werden.
Dieser Teil der Sonnentheorie ist nun kĂĽrzlich von W. H. Julius
(Astrophysical. Journal XII, 183), H. Ebert (Astron. Nachrichten 1901,
155 S. 177) und R. W. Wood (Philosophical Magazine 1901 ser. 6,
vol. I p. 551—555) weiter ausgebildet worden (cf. A. Berberich in
der Nat. Rundschau 1900 No. 49 und 1901 No. 27). Zur Erklärung der
Protuberanzen etc. gehen diese Forscher von der anomalen Dispersion
aus. Mit diesem Namen bezeichnet man die Eigenschaft von Körpern
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mit Oberflächen färben, den Teil des Spektrums mit niedrigen Schwin-
gungszahlen stärker zu brechen als den anderen mit grofsen Zahlen.
Betrachtet man ein durch ein Glasprisma mit senkrechter, brechender
Kante erzeugtes Spektrum durch ein wagerecht liegendes FlĂĽssigkeits-
prisma, das von einer Fuchsinlösung etc. gebildet wird, so sieht man
ein Absorptionsspektrum, dessen Teile so verschoben sind, dafs sie
dem Absorptionsstreifen sich asymptotisch nähern. Von dort aus
wächst der Brechungsquotient bis zur Absorptionsstelle hin rasch und
nimmt vom Violett aus in ähnlicher Weise ab. Bei den Versuchen
der genannten Physiker bestand das zweite Prisma aus Natriumdampf.
Lag die brechende Kante des Natriumprismas horizontal und oben, so
sah Julius das rott« Ende des Spektrums bis Dj nach unten abge-
lenkt, hinter D2 begann das Licht weit oben und senkte sich wieder,
so dafs der Oesamteindruck der eines Bandes mit 2 Spitzen war. Das
Licht zwischen Dj und D2 war S- förmig verbogen. Dabei waren aber
die Absorptienslinien zu breit, und zwar um die Breite des in der
Nachbarschaft abgelenkten Lichtes. Ähnliche Verhältnisse sind nun
auf der Sonne denkbar. Wenn Licht aus den tiefen Schichten, von da,
wo infolge des grofsen Druckes auch Gase ein kontinuierliches
Spektrum geben, in die höheren Schichten, die sogenannte Chromo-
sphäre kommt, so erfährt es auf seinem Wege die Absorption, die wir
in den Fraunhoferschen Linien erkennen. Dabei kann nun infolge
anomaler Dispersion Licht, das solchen Linien benachbart ist, ähnlich
wie bei dem Juliusschen Versuch, nach aufsen abgelenkt werden,
so dafs es sich den hellen Linien der Chromosphäre anschliefst Dann
wären diese Linien wenigstens zum Teil als durch anomale Dispersion
abgelenktes Licht anzusehen. Dasselbe kann aber auch von den Pro-
tuberanzen gelten. Wir sehen bei dieser Annahme in ihnen nicht
Massen von Wasserstoff, die mit ungeheurer Geschwindigkeit aus der
Sonne hervorbrechen, sondern den Wasserstofflinien benachbartes
Licht, das durch anomale (durch Dichtigkeitsstörungen hervorgerufene)
Dispersion ĂĽber den scheinbaren Sonnenrand hinaus projiziert ist
Bei den Versuchen von Ebert wurde eine kĂĽnstliche Sonne
hergestellt durch eine Linse, die infolge geeigneter Beleuchtung durch
Bogenlicht ihr Licht nach verschiedenen Richtungen aussandte. Das
Natriumdampfprisma wurde dahinter erzeugt durch ein auf Wasser
verbrennendes StĂĽck Natrium, dessen Dampf am Anfang und Ende
des Verbrennungsvorganges eine kegelförmige Gestalt hatte. Das auf
einem Karton aufgefangene Bild dieser Linse zeigte an der Stelle der
Natriumflamme eine Verdunkelung, entsprach also einem Bild der
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Sonne mit einem Fleck. Wurde nun durch einen Spall ein schmaler
Streifen ĂĽber dem Fleck herausgeschnitten uud im Spektralapparat
betrachtet, so zeigten sich bedeutende Verbreiterungen der Natrium-
linien; Erscheinungen, die nach dem Dopplcrschen Prinzip gedeutet,
mächtige Geschwindigkeiten in der Richtung des Visionsradius an-
zeigen mĂĽssten. Daher folgt schon hieraus, dafs dieses Prinzip nicht
immer ohne weiteres zur Deutung von Bewegungen im Visionsradius
herangezogen werden darf.
Lag nun das vom Spalt ausgesonderte Licht am Linsenrande
und stand die Natriumflamrae so, dafs das Licht der Bogenlampe
durch den konisch geformten Fufs der Flamme hindurch ging, so hob
sich der kĂĽnstliche Sonnenrand, und bei reichlicher Dampfentwickelung
schössen zu beiden Seiten der D-Linie helle Flammensäulen auf. Die un-
regelmäfsige Form des Natriuuvlampfkegels warf soviel Licht in den
sonst dunklen Raum hinein, dafs man eine stattliche Protuberanz er-
blickte.
Wood richteto die die Natriumdämpfe enthaltende Bunsenflamme
auf eine liegende Gipsplatte und erhielt dabei dicht auf ihr eino dunkle
Schicht, die Natriumdampf von schnell abnehmender Dichtigkoit ent-
hielt. Das im Brennpunkt einer Linse liegende Sonnenbild, das an
eine Stelle dieser Schicht gebracht wird, mĂĽfste nun, nach allen Seiten
Licht ausstrahlend, ein kontinuierliches Spektrum geben, es ergaben
sich aber nur die Natriumlinien, die verschwanden, sobald das Sonnen-
licht abgeblendet wurde. Hieraus folgt, dafs homogenes Licht durch
anomale Dispersion ein Linienspektrum geben kann.
Hiernach ergiebt sich das folgende Bild von der Natur der
Sonne: Sie ist eine Gasmasse, deren Dichtigkeit stetig nach aufsen
hin abnimmt; die scheinbare Begrenzung entsteht dadurch, dafs wegen
des besonderen Verlaufs von Lichtstrahlen in derartigen Gaskugeln
von den inneren Schichten mehr Licht nach aufsen kommt, als von
den äufseren, wobei eine Schicht von bestimmter Dichtigkeit die Grenze
bildet; der Sonnendurchmesser ist aber auch nicht der Durchmesser
einer begrenzten Kugel, sondern der Durchmesser dieser Grenzschicht;
die Flecken und Protuberanzen sind — wenigstens in der Regel —
rein optische Erscheinungen, die durch anomale Dispersion zu er-
klären sind, wobei dahingestellt bleiben murs, ob auch Gasmassen
von innen heraus vorbrechen, die die Grenzschicht soweit hinaus-
schieben, dafs dadurch eine Protuberanz, eine Aufbauschung des
Sonnenrandes entsteht. A. S.
*
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Die Anzahl der Sterne, die auf einer Platte sichtbar werden,
hängt aufser von der photographirter Stelle am Himmel noch von der
Länge der Belichtungszeit ab. Darüber sind bei der zur Zeit noch in
der Herstellung begriffenen photographischen Himmelskarte allerlei An-
gaben gesammelt worden. Die Sternwarte Greenwich bearbeitet den
Gürtel zwischen 65° und 70° XÖrdl. Dekl.; für diese Gegend hat man
im allgemeinen gefunden, dafs, wenn man die Anzahl der Sterne, die
Argel anders Durchmusterung von der neunten Gröfse angiebt, als
Einheit ansetzt, dann bei 20 Sek. Belichtung die 3 V3 fache, bei 6 Mi-
nuten die 151 jfache, und bei 40 Minuten die 73 fache Anzahl von
Sternen auf der Platte erscheint. NatĂĽrlich kann man die Belichtungs-
art nach Belieben verlängern, so dafs die Anzahl der überhaupt an
einer bestimmten Stelle nachweisbaren Sterne ĂĽberaus grofs werden
kann. Jedoch hat dies darin seine Grenze, dafs fĂĽr die niedrigsten
Größenklassen die Belichtungszeit unverhältnismärsig ausgedehnt
werden mute, so dafs die dadurch tiervorgerufene Mehrarbeit dem
erzielten Gewinn nicht mehr entspricht R.
$
Die Durchmesser von kleinen Planeten hat Barnard jahrelang
an den grofsen Instrumenten der Licksternwarte und der Yerkesstern-
warte gemessen. Bei den mannigfachen Schwierigkeiten, die der-
artige Messungen beeinflussen, ist es nicht zu verwundern, dafs die
folgenden von ihm gefundenen Zahlenwerte von frĂĽher anderweitig
bekannt gegebenen erheblich abweichen. Er findet die Durchmesser
von Ceres = 767, Pallas — 489, Juno = 193, Vesta — 38ö km. und
giebt an, dafs ihm die Planetenscheibchen stets vollkommen rund er-
schienen seien, so dafs man bei ihnen kaum an die TrĂĽmmer eines in
StĂĽcke gegangenen Planeten denken darf. Einer vor kurzem er-
schienenen Statistik der kleinen Planeten von Bauschinger ent-
nehmen wir, dafs unter den 458 bis 1. Januar 1901 bekannten Pla-
neten nur 12 einen Durchmesser von mehr als 240 km, 41 von
160 bis 240 km, 201 von 80 bis 160 km haben, die ĂĽbrigen sind noch
kleiner. Ihr Gesamtvolumen ist etwa = 1 ^ der Erde, und von
dieser GrüTse kommt auf Vesta und Ceres zusammen etwa die Hälfte,
während die 12 gröfsten Körperchen für sich 3 ;; des Planetenringes
in Anspruch nehmen. Es ist daher auch erklärlich, dafs bisher, und
wohl auch in Zukunft, eine störende Wirkung von 2 solchen Körpern
aufeinander, oder auf einen Kometen, oder von allen zusammen auf
einen der grofsen Planeten nicht nachweisbar ist. R.
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Einflufs elektrischer Wellen auf das Gehirn.
Bekanntlich veranlassen in der drahtlosen Telegraphie die Hertz-
echen Wellen des Äthers Metallstaub, „zusammenzuhängen". Die
neuesten Experimente des amerikanischen Physikers A. F. Coli ins
lehren nun» dafs jene Wellen auch die Zellen des Menschen- und
Tierhirns zur Kohäsion bringen. Die Beobachtung des unangenehmen
Einflusses, den Gewitter auf nervöse, gichtische und rheumatische
Personen auszuĂĽben pflegen, bildete den Anstofs zu seinen Unter-
suchungen. Oanz besonders interessierte ihn der Fall eines acht-
jährigen Mädchens in Philadelphia, welches bei Donner und Blitz stets
in Zuckungen verfiel und schliefslicb, als der Blitz in ein etwa 400 m
entferntes Haus einschlug tot umfiel. Dieser Tod wurde allgemein
der Angst des Kindes zugeschrieben, Coli ins aber fĂĽhrte ihn auf
elektrische Wellen zurĂĽck. Er verwendete bei seinen Forschungen
einen, dem Hertzschen ähnlichen Apparat, der Funken von 2 und
Wellen von 30 cm Länge erzeugte. An die Stelle der gewöhnlichen
Kohlenkohäratoren traten Hirnzellen — teils tote, teils lebende —
und dies zeigten die gleichen Kohäsions-Ergebnisse, d. h. ihr elektrischer
Widerstand sank. Beim menschlichen Hirn zeigten die grauen Teile
mehr Empfindlichkeit gegen die Wellen als die weifsen. Am empfind-
lichsten erwiesen sich die rostbraunen Teile des kleinen Gehirns, am
wenigsten empfindlich das den Mittelpunkt der Nerven bildende Mark.
Als Co 11 ins eines Tages den Widerstand des Hirns mit einer
Wheats toneschen Wage zu messen versuchte, bemerkte er an der
galvanometrischen Nadel scheinbar unerklärliche Schwingungen; die
Ursache dieses Fallens und Steigens des Widerstandes wurde ihm erst
durch einen Donnerschlag offenbar, der einen Sturm ankĂĽndigte und den
Beweis lieferte, dafs die durch Blitz hervorgerufenen elektrischen Wellen
auch aufs Hirn eine Kohäsionswirkung ausüben. Als der Sturm den
Höhepunkt erreichte, ersetzte er den Galvanometer durch ein Telephon
und hörte nun das Zusammenhangen des Hirns in Gestalt von Tönen,
wie sie beim Eintauchen rotglĂĽhenden Metalls in Wasser entstehen.
Die krankhaften Erscheinungen infolge von Gewittern möchte Co Hins
dadurch erklären, dafs elektrische Wellen auf das grofse Gehirn ein-
wirken. Das kleine Gehirn sei eine Art „Lenker von Muskelbewegungen,
und die Wellen können vorhandene Leiden verschlimmern". Er folgert,
dafs sich die Kohäsion infolge Hertzscher Wellen im ganzen Nerven-
system äufsert und dafs das Furchtgefühl häufig von diesen Wellen
herrĂĽhrt Mehr als die Fasern werden die Zellen des Hirns beeinflufst,
— so sehr, dafs Blitzwellen den Tod herbeiführen können.
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42
Von den <ol lins sehen Experimenten sprechend, betont eine
technische Zeitschrift >.,Electrical World and Engineer", Newyork)
deren Bedeutung fĂĽr die Hypothese, dafs die Telepathie ein Ergebnis
der Ăśbertragung von Ă„therwellen von einem Hirn auf ein anderes
sei. Der Londoner „Electrician" ist ebenfalls der Ansicht, dafs die
elektrischen Welleu der drahtlosen Telegraphie eine, unter UmstĂĽnden
„vielleicht sogar gefährliche" Kohäsion des Gehirns erzeugen könne.
Und in der Londoner ..Review of Reviews1- wird daran erinnert, dafe
die Einwirkung der Ätherwellen auf die Nerven — das Hervorrufen
von Niedergeschlagenheit und Zittern während eines Gewitters —
bereits 1SJ3 von Munro in seinem fesselnden englischen Buche „Die
Romantik der Elektrizität" vermutet wurde. Jedenfalls wird dieser
wichtige und interessante Gegenstand noch sehr viel von sich sprechen
machen. L. K.
*
Gegen Pflanzenkrankheiten. J. B. Carruthers veröffentlicht
in der „Contemporary Review" einen höchst anziehenden Artikel über
die VerhĂĽtung von Pflanzenkrankheiien: diese hĂĽit er fĂĽr ebenso
ausrottbar wie manche Tierkrankheit. Er berechnet den jährlichen
Verlust Ostindiens durch die Hopfenlatis auf 91, den Ceylons durch
die Kaffeeblattkrankheit auf 15 und den Australiens durch Weizenrost
auf 3 Millionen Pfd. Sierl. Vorbeugungsmafsregeln könnten einen
grofsen Teil solcher Verluste verhĂĽten. Die Vereinigten Staaten
wenden jährlich 3 Mill. Dollars auf für die Bezahlung sehr vieler Fach-
leute, deren BemĂĽhungen auf die Verbesserung der Landwirtschaft
und die Verhinderung oder UnterdrĂĽckung epidemischer Pilunzen-
krankheaen gerichtet sind — eine vorzügliche Kapitalsanlage! Die
Hygiene der Pflanzen beruht im grofsen ganzen auf denselben Ge-
setzen wie die der Menschen und Tiere. „Tote oder kranke Pflanzen
sollten vernichtet oder mittels Abzugsgräben abgesondert, angesteckte
Pflanzen aus dem Ausland entweder giinzlich ausgeschlossen oder der
Quarantäne unterworfen werden." — tsch-
*
Zwei Massen -Nahrungsmittel. Der Mais und die Banane sind
wohlbekannt und in vielen Landern sehr beliebt; doch hat man bisher
im allgemeinen nicht geahnt, dafs sie berufen sind, in der Volks-
ernährung eine förmliche Umwälzung hervorzurufen. Was den Mais
betrifft, so dĂĽrften sich namentlich die Vereinigten Staaten fĂĽr ihre
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43
riesige Produktion, falls sie diesen Artikel in jenen Ländern Europas,
die ihn jetzt verschmähen (England, Deutschland, Frankreich etc.),
populär zu machen verstehen, gewaltige neue Absatzgebiete verschaffen
können. In einer Abhandlung über die Pariser „Maieküche14 (im
New-Yorker „Forum") erklärt J. S. Crawfurd diese Getreidegattung
für die „wertvollste aller Pflanzen". Für Menschen und Tiere aufser-
ordentlich nahrhaft, ernährt es — was keine andere Körnerfrucht thut —
sämtliche Landwirtschaftstiere vom Geflügel aufwärts ausnahmslos
sehr reichlich. „Millionen von Europäern wären vortrefflich daran,
könnten sie von dem billigen amerikanischen Mais Gebrauch machen;
es ist unberechenbar, welch ungeheuren Umfang der Maismarkt in
Europa annehmen könnte, wenn der Artikel genügend bekannt wäre."
Ohnehin hat sich die Ausfuhr seit zehn Jahren verdoppelt; die sibirische
Bahn wĂĽrde den Export nach Europa bedeutend erleichtern.
Der Mais ist so billig, dafs sein Mehl in der Union nur halb
so viel kostet wie Weizenmehl. In Paris besteht seit einigen Jahren
ein Restaurant („Maisküche"), in welchem eine schier endlose Reihe
von Maisgerichten und Maissuppen unentgeltlich verabreicht wird.
Der Kalorien wert des Maismehls ĂĽbertrifft den des Roggen- und
Weizenmehls, des Reises und der Rollgerste um 4 — ."> Prozent, Sein
Proteingehalt ist viel höher als der des geschälten Reises und der
europäischen Gerste, sein Fettgehalt doppelt so grols wie der des
Reises, der Gerste, des Weizens und des Roggens. Die Verwend-
barkeit des Maises ist im ĂĽbrigen eine ungemein vielseitige. Crawford
zählt folgende Produkte auf, die daraus gewonnen werden: gelbes und
weirses Mehl, Perlgries, Rollkorn, BĂĽchsenraais (grĂĽn oder enthĂĽlst),
Maizena, allerlei Backpulver, Stärke, Flookengries, Ölkuchen, mehrere
Ă–lgattungen, Traubenzucker, Glukose, Alkohol, Whiskey, entkeimtes
Braumehl, Firnis, Bier, Syrup, Sahne, Sahnenraehl, GrĂĽtze fĂĽr die
Tafel und fĂĽr Brauereien, Malz, MatratzenhĂĽlsen, Cellulose fĂĽr den
Schiffsbau, Knallmais, Gummi, Gummipaste, Kleberfutter, verschiedene
Salben u. s. w.
Ein fast ebenso nützlicher Artikel scheint die Banane zu sein —
jene exotische Obstsaat von köstlichem Wohlgeschmack, die man in
Mitttel-Europa nur aus den Delikatessenhandlungen kennt. Der eng-
lische Fachmann Clarke Nuttall schrieb jüngst in „Longman's
Magazine": „Die Banane ist viel, viel ertragreicher als die Haupt-
nahrungsraittel der Kulturwelt: Weizen und Kartoffeln. Sie ist 133 mal
fruchtbarer als der Weizen und 44 mal als die Kartoffel: d. h. ein
Feld, das 33 Pfund Weizen oder 99 Pfund Kartoffeln abwĂĽrfe, wĂĽrde
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4000 Pfund Bananen bringen, ohne auch nur entfernt so viel Arbeit zu
erfordern. Dabei läfst sich die Banane in der vielseitigsten Weise
verwenden. In rohem Zustand bildet sie ein ebenso erquickendes
wie aromatisches Obst. Geschält, in der Milte gespalten, etwas gezuckert
und in Butter gebraten, liefert sie eine vorzĂĽgliohe Speise. Die Tropen-
bewohner geniefsen die zarten jungen Schöfslinge gekocht mit Vor-
liebe als GemĂĽse; desgleichen die unreife Frucht, solange sie grĂĽn
ist. Ein überaus nahrhaftes Gericht ergiebt das schwammige, stärke-
haltige Mark des zerstofsenen und gekoohten Stengels. Aus dem ge-
prefsten und gegohrenenSaft wird ein dem Apfelwein ähnlich schmecken-
des Getränk gewonnen.1-
In den Tropen bildet die Banane das Hauptlebensmittel von
Millionen Menschen. Mit Recht meint Nuttall, dafs sie es, bei rich-
tigem Anfassen der Sache, auch in Europa werden könnte. Er weisi
ihr den ersten Rang unter den Vegetahilien an — wie Crawford
dem Mais — , denn sie „ist erwiesenormafsen 25 mal so nahrhaft wie
unser Weizenbrot und 44mal so wie die Kartoffel", also zweifollos
berufen, in der Volksernährung der Zukunft eine wichtige Rolle zu
spielen. Sie müfste ebenso getrocknet und in Mühlen vermählen
werden wie die Körnerfrüchte. Der Nährwert des Mehls wäre derselbe
wie der des rohen Obstes, und der Vorteil des Mehls wĂĽrde sein, dafs
es leichter versendbar wäre als die relativ unhaltbare Frucht selbst.
Die Chicagoer essen schon jetzt gern und viel Bananenbrot. Aus-
gezeichnet Ăźchmeckt auch die Bananenmarmelade.
Aus der Faser dieser herrlichen Frucht macht man Seile, Schuh-
riemen und Tauwerk; bald dĂĽrfte sie auch in der Textilindustrie
ausgedehnte Verwendung finden. Sogar ein recht gutes Papier liefse
sich aus ihr gewinnen. Da der Saft der Banane sehr viel Tannin
enthält, wäre er zur Herstellung trefflicher Tinte und Stiefelwichse
geeignet. Das aus den Blättern tropfende Wachs könnte ebenfalls
gewerblich ausgenutzt werden. Die so gefĂĽrchtete Abnahme der
Weizenproduktion braucht die Welt nicht mehr zu beunruhigen; der
Mais und die Banane können den Ertrag mehr als reichlich ersetzen.
L. K— r.
Moderne Getreide - Elevatoren. In den Vereinigten Staaten
wurden im Jahre 1901 über 80 Millionen Acres (ä 40 ^2 Ar) Landes
mit Getreide bebaut, d. h. um 10 Millionen mehr als 10 Jahre vorher.
Die Ernte betrug über 2000 Mill. BushelB. Selbstverständlich können
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so ungeheure Mengen nicht auf einmal verkauft werden; das meiste
kommt zunächst in die Eisenbahn-Elevatoren. Die Entladung der
Wagen geschieht durch Röhren, deren jede rund 10 000 Busheis
(;i 36 '/s Liter) pro Stunde hebt, so dafs mit Hilfe einer entsprechenden
Anzahl von Röhren ein Getreidezug mit 1500 Tonnen in einer Stunde
gehoben werden kann. Die Entnahme aus den Elevatoren vollzieht
sich mit einer Geschwindigkeit von 25000 Busheis (rund 9087 Hekto-
liter) pro Stunde. Im „Engineering Magazine" lesen wir: „Einer dieser
Elevatoren überträgt seinen Inhalt so schnell, dafs die erste Partie
einer Wagenladung, deren letzte Partie noch im Wagen liegt, sich
bereits im Kielraum des jenseits des Elevators verankerten Schiffes
befindet." Einer der gröfsten Elevatoren verladet gleichzeitig pro
Tag 300 000 Busheis Getreide auf Schifte und entladet 600 Wagen-
ladungen! — d — r.
Das deutsche Jahrhundert in Einzelschriften. Herausgegeben von George
Stock hausen. Berlin F. Schneider & Co., H. Klinsmann. 1901.
X. Wunscbmanu, Prof. Dr. E.: Geschichte der Physik im XIX. Jahr-
hundert. 98 S. 8°. 2,50 M., geh. 3,50 M.
XI. Wilbelmy, Dr. A.: Geschichte der Chemie im XIX. Jahrhundert.
142 S. 8«. 3 50M., geb. 4,50 M.
Die vorliegenden beiden Bücher gehören zu einem Sammelwerk, das In
12 Abteilungen die Entwicklung der Dichtung, Kunst. Philosophie, Wirtschaft
und der Rechte, der Geschichte, Musik, Marine, Kriegskunst, Hygiene, Physik,
Chemie und Biologie im 19. Jahrhundert schildert. Beim Gang der Darstellung
der Geschichte der Physik wird die ĂĽbliche Einteilung in Mechanik, Akustik
u. s. w. beibehalten und besprochen, wie die führenden Männer in dem be-
handelten Zeitabschnitt ihr Fach gefördert haben. Biographische Notizen ver-
vollständigen das gegebeno Bild.
In derGescbichte der Chemie finden wir die Fortschritte in der analytischen,
anorganischen, organischen, physikalischen, technischen, Agrikultur- und
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4f>
physiologischen Chemie. Ein sehr grofser Teil des Buches ist der Entwickelung
der chemischen Industrie gewidmet, in welcher die Sprengstoffe, Fette, DĂĽnge-
mittel, Metallerze, Farbstoffe besprochen wordon, deren Daistellung und Ver-
wendung unserer Zeit ja ihr besonderes Gepräge gegeben haben.
Wer sich ĂĽber diese beiden so wichtigen Zweige der Naturwissenschaften,
und ihre Entwickelung im Ii). Jahrhundert schnell und bequem unterrichten
will, der wird den Vc- anstaltern dieses Sammelwerkes und den Verfassern der
beiden vorliegenden BĂĽcher fĂĽr ihre Arbeit Dank wissen und die beiden BĂĽcher
gern zur Hand nehmon.
Pahde, Dr. Adolf: Erdknude für höhere Lehranstalten. HI. Mittelstufe.
Zweites StĂĽck. Mit 8 Vollbildern und Abbildungen im Text.
Glogau, lt»01 Flemming. 1W S 8'.
In dem vorliegenden Schulbuch giebt der Verfasser die zweite Hälfte
des Lehrbuches der Eidkunde fĂĽr die Unter- Tertia ; ein vierter Teil, der den
Lehrstoff fĂĽr Obertertia und dio Oberklas>en enthalten soll, wird in Aussicht
gestellt. Der Stoff dieses vorliegenden Teiles mnfarst: das Meer, Australien,
Amerika, Afrika, Asien und die deutschen Kolonieen.
Verzeichnis der der Redaktion zur Besprechung elugesaudleu BĂĽcher.
Mitteilungen der Grossh Sternwarte zu Heidelbctg. Herausgegeben von
\V. Valentin>-r. I Photoinetnscho Beobachtung des Merkur während
der totalen Sonnenfinsternis am .'S. Mai 1 '.»00 in Ovar von E.Jost. Karls-
ruhe, C. Braun. ID'M.
Mitteilungen der Königlichen Universitätssternwarte zu Breslau. Erster
Band. Herausgegeben von dem Direktor der Sternwarte Jul. II. G. Fianz.
Mit <: Tafeln. Breslau, Maruschke & Borndt, IDOL
Musmacher, C. Kurze Biographien berĂĽhmter Physiker. Freiburg i. Breis-
gau, Hcrdcrsche Verlagsbuchhandlung. H'02.
Xeuhaufs, R. Lehrbuch der Projektion. Mit 66 Abbildungen. Halle a. S,
Wilh. Knapp, 1001.
Observation s des Pmtubfrances Solaircs. Faites & l'observatoire d'Odessa
du moia de janvier 1 S*. » 7 jusqu'au mois de janvier 1 1*01. Odessa, 11*01.
Op polzer, E. Zur Theorie der Scinlillation der Fixsterne. Wien, Carl Oerolds
Sohn, 1001.
Pahde, A. Erdkunde für höhere Lehranstalten, III Teil, Mittelstufe. Mit S
Vollbildern und (5 Abbildungen im Text. Glogau, Flemming, 1^01.
Partheil, G. Dr. Drahtlose Teleyraphie. Allgemein verständlich dargestellt.
Berlin, Geldes & Hödel, li»o2.
Pernter, J. M. Meteorologische Optik Mit zahlreichen Textfiguren. I. Ab-
schnitt: Seite 1 — *>4 und Titelbogen Wien. W. Braurnüllcr, 1902
Picard, E. Quelques r^tlexions sur la meeanique suivics d'une premiere let/on
de dynamique. Paris, Gauthier- Villats, Imp Libr., 1!»02.
Pizzighelli, G. Anleitung zur Photographie Mit 20."» in den Text gedruckten
Abbildungen und 24 Tafeln. Elfte vermehrte und verbesserte Autlage.
Halle a. S., Wilh. Knapp. VM)\.
Pfuhl. F. Der Unterricht in der Hllanzenkunde durch die Lebensweise der
Pflanze bestimmt. Leipzig, B G. Teubner, li*<»2.
Publications of the Leander Mc. Cormick Ohservatory of the University of
Virginia. Vol II, part I. The Orbit of Enceladus. Charlottcsville. Uni-
versity Pres*. li»01.
Digitized by Google
47
Pnblications of the Lick Observatory of the Univeraity of California. Vol. V,
1901.
Publications of the United States Naval Observatory. Second Serie« Vol. I
Washington. Gov. Printing Offlee, l'.M)0.
Publikationen der v. Kuffner'schen Sternwarte. VI. Band 1. Teil. Inhalt: 1.
Zonen-Beobachtungen der Sterne zwischen 5" *><>' und 10" 10' sĂĽdlicher
Deklination von Dr. L. de Ball. 2. Notiz, betreffend die im 3. Bande
dieser Publikationen veröffentlichte Abhandlung: Dr. Eberhard. Die
Kosiuogonie von Kant. Wien, Wilh. Flick, 1902.
Rapport Ammei sur PKtat de PObservatoire de Paris pour Panuee 11)00 par
M. M. Loewy, Paris, Impriraerie Nationale.
Repport of the Superintendent of the United States Naval Observatory for
the fis.hal year ending June .'10, 1901. Washington Gov. Print Office, J!>01.
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("6 Abbildungen im Text und I Tafel (Aus Natur und Geisteswelt. Samm-
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wart. Nebst Textfiguren und einer Tafel in Farbendruck. Leipzig. Museum
f. Völkerkunde, 1901.
Stontzel. A. Die Entstehung der Materie und der Nobularsystome. Ein Ent-
wurf. Mit 3 Tafeln. Hamburg. E. A. Christians, 1901.
Supplementary Notes of the Atlas Stellarum Variabilium. I. The new Star
in Perseus. II. Some Engraved Charts of Pagson's Proposed Atlas,
Washington D. C , 1901.
Weiler, W. Lehrbuch der Physik fĂĽr den Schulunterricht und zur Selbst-
belehrung. I. Band: Magnetismus und Elektrizität Mit 44o in den Text
eingedruckten meist farbigen Abbildungen. II. Band: Mechanik. Mit 2'>0
in den Text eingedruckten meist farbigen Abbildungen. III. Band:
Schwingungen und Wellen; Akustik: Lehre vom Schall. Mit SO in den
Text eingedruckten meist farbigen Abbildungen. Esslingen, J.F.Schreiber,
1901.
Weiler, W. Physikalisches Experimentier- und Lese-Buch mit vielen Frei-
handversuchen. FĂĽr den Schulunterricht und zur Selbstbelehrung. Mit
257 in den Text eingedruckten meist farbigen Abbildungen. Esslingen.
J. F. Schreiber, 1901.
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48
Weltall und Menschheit Naturwunder und Menscbenwerke. Geschichte
der Erforschung der Natur und Verwertung der Naturkräfte. Heraus-
gegeben von Hans Kraemor in Verbindung mit hervorragenden Fach-
männern. Lieferung 1—3. Berlin, Deutsches Verlagsbaus Bong & Co., 1902.
Wissmann, H. Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nacli
Ost. Von 1880 bis 1883 ausgefĂĽhrt von PauI Pogge und Herrmann von
Wissmunn. Mit einem Textbilde. 29 Vollbildern nach Photographien uud
Originalskizzen, 34 Textbildern und einer {Carte. Achte Auflage. Berlin,
H. Walther, 1902.
Wolf, C. Histoire de l'Observatpire de Paris de sa Fondation a 1703. Paris,
Gauthier-Villars. Inip. Libr , 1902.
Worgitzky, G. ĂźlĂĽtengeheimnisse. Eine BlĂĽtenbiologie in Einzelbildern.
Mit 25 Abbildungen im Text. Leipzig, B. G. Teubner, 1901.
WĂĽllen wober, F. W. Diagramme der elektrischen und magnetischen Zu-
stände und Bewegungen. Zugleich ein Beitrag zur Beantwortung der
Fragen: Was ist Elektrizität? Was ist Magnetismus? Mit ca. 60 Original-
zeichnungen auf 10 Lithogr. Quart-Tafeln. Leipzig. Job. Ambros. Barth,
1901.
Zenger, K. W. Die Meteorologie der Sonne und das Wetter im Jahre 181«),
zugleich Wetterprognose fĂĽr die Jahre 1900 und 1910. Prag, Selbstvor-
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Zenker, W. Das Walten der Natur. Streiflichter auf eine neue Weltanschauung.
Braunschweig, A. Graff, 1901.
Zepf, Job. Wie könneu die Methoden naturwissenschaftlicher Forschung für
den Unterricht fruchtbar gemacht werden? Leipzig, B. G. Teubner, 1901.
Ziegler, H. E Ăśber den derzeitigen Stand der Dcszeudenzlehre in der Zoo-
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Ziemssen, C. Himmelsanschauung und Weltanschauung. Gedanken und
Beiträge zur Geschichte ihrer gemeinsamen Entwickelung, ihrer Förderer
und ihrer Deuter. Gotha, C. F. Thienomann, 1902.
Zürn, E. S. Die Hausgans, ihre Naturgeschichte, Schläge, Geschichte, Haltung,
Zucht, Pflege, Füttorung, Mästung und Nutz Verwendung. Mit drei Rasse-
bildern von Tiermaler J. Bungartz.
— Maikäfer und Engerlinge. Ihre Lebens- und Schädigungsweise, sowie ihre
erfolgreiche Vertilgung. Leipzig, Horm. Seemann Nachf., Ii»01.
Verlag: Hermann PttUl in tWIin. - L>ruek : Wilhelm Oronaa'i Buchdrucker«) in Berlin • Schöneberg.
Pfir die Ke<iaclion Yermnlwortlirb : Dr, P. Sehwahn in Berlin.
Unberechtigter Naehdroek »a*> dem Iobi.lt die»«r Zeitschrift untersagt.
Cbfreetinngwecbt vorbehalten.
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Das Pflanzenkleid der Erde.
Von Dr. Job. Georg Meyer In Steglitz.
eit die Abstammungslehre die Grundlage der modernen Natur-
forschung auf den Gebieten der Tier- und Pflanzenkunde ge-
worden ist, weirs man, dars die gegenwärtige Gestaltung der
Lebewesen und ihre Verbreitung ĂĽber die Erde hin eine Folge
sind der geschichtlichen Entwickelung seit dem ersten Entstehen
organischen Lebens in den ältesten geologischen Perioden. Geschichte
und Geographie der Pflanzenwelt bilden so eine einheitliche Wissen-
schaft. Die Gegenwart ist nur der einstweilige Abschlufs dieses ge-
waltigen zeitlichen Phänomens, sie wird nach einigen Jahrhundert-
tausenden ebenso überwunden sein, wie heute die Tertiärzeit mit
ihrer Flora.
Im folgenden wollen wir nun versuchen, dem geneigten Leser
einen kurzen Überblick zu geben über die allmähliche Entwickelung
des Pflanzenreiches und dessen Verteilung, Differenzierung, Sonderung
um den Erdball in der Gegenwart.
In den ältesten Zeiten organischen Lebens auf unserer Erde,
aus denen uns durch Versteinerungen und AbdrĂĽcke Ăśberlieferungen
erhalten sind, gab es nur ganz niedrige Pflanzen. Die tiefsten und
also ältesten Erdschichten haben bisher nur Seetange, und zwar zum
Teil sehr zweifelhafte Formen, geliefert; aber bald, das heifst ver-
bältnismäfsig bald, erscheinen die schon bedeutend höher stehenden
Gefäfskryptogamen, die nicht nur wie Algen, Flechten und Moose aus
einzelnen Zellen zusammengesetzt sind, sondern deren Zt llen sich zu
langen Gefärsreihen und -strängen vereinigen: Calamiten oder eigen-
artige Schachtelhalme Bärlappflanzen oder Lepidodendron-Arten, unter
ihnen die bald wieder aussterbenden Sigelbäumo, und Farne treten
auf. Den Gefäfskryptogamen schliefsen sich später die im System
Himmel and Erde 1902 XV. 2 4
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50
folgenden Koniferen oder Nadelhölzer an. Über die ganze Erde hin
scheint damals dasselbe feuchtheifse tropische Klima geherrscht zu
haben. In ungeheurer Fülle und Gröfee der Einzelwesen, jedoch
in geringer Abwechselung der Formen und Arten brachten die dama-
ligen Land flachen auf ihren Mooren und Sümpfen üppige Wälder der
genannten Pflanzengattungen hervor, und heute stehen wir vor den
verkohlten Resten derselben, wenn wir die Steinkohlengebiete der
Saar und der Ruhr, Schlesiens, Schottlands, Nordamerikas u. s. w.
durchwandern. Eine Sonderung der Pflanzen nach Klimaten hatte
noch kaum stattgefunden, am Ă„quator und an den Polen herrschte
gleichmäfsige Hitze. Allerdings hat es den Anschein, als ob gegen
den Schlufs der sogenannten Steinkohlenperiode um den Indischen
Ozean herum in dem Gebiete des jetzigen Indien, SĂĽdafrika und
Australien eine Eiszeit mit Gletschern und Schneemassen existiert
und eine Pflanzenwelt in diesen Gegenden hervorgerufen habe, welche
mit der erst etwas später über die ganze Erde verbreiteten Flora Ähnlich-
keit besals. Sollte sich damals hier ein Erdpol befunden haben, so
müfste der andere in dem äquatorialen Gebiete des Greisen Ozeans ge-
wesen sein, und die Brdachse mĂĽfste seitdem ihre Lage etwa um 90 Grad
vorändert haben. Indessen erscheint es nach neueren Studien von
W. Rranco nicht ausgeschlossen, dafs manche dieser auf eine Eis-
zeit deutenden Erscheinungen durch andere Ursachen herbeigefĂĽhrt
worden sind.
In den nachfolgenden Zeitaltern, dem Mittelalter der Erde,
haben die Kryptogamen, also die Farne, Rärlappe und Sigelbäume,
ihre führende und herrschende Rolle ausgespielt; die Nadelhölzer oder
Koniferen, welche frĂĽher nur in bescheidener Anzahl auftraten, ge-
winnen an Boden und drängen die anderen, niedriger organisierten
Pflanzen mehr in den Hintergrund: Es bricht die Zeit der Koniferen
oder Gymnospermen an; Arten, welche unseren heutigen Lebensbäumen
und Araucarien nahe stehen, bildeten damals sich weithin erstreckende
Waldungen, in welche sich auch riesige Vertreter unserer jetzt
lebenden kleinen Schachtelhalme mischten, während Farne auf das
Unterholz zurückgedrängt waren. Zu besonders hoher Entwickelung
gelangen auch dio jetzt nur in wenigen Formen unter den Tropen
und in subtropischen Gegenden dahinsiechenden Zapfenpalmen oder
Cycadeen, welche eine Verbindung zwischen den Nadelhölzern und
Farnen darstellen. Auch die Monocotylen, die erste Abteilung der
Angiospermen, der höheren Blutenpflanzen treten in verschiedenen
Gras- und Schilfformen auf.
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öl
Gegen das Ende dieses Mittelalters der Erde aber tritt eine
höchst wichtige Änderung im Pflanzenkleide der letzteren ein: Statt
der bisher vorherrschenden Zapfenpalmen erscheinen die ersten Laub-
bäume, welche heute drei Viertel des gesamten Pflanzenlebens bilden.
Die ältesten zur Kreidezeit erscheinenden Vertreter dieser jetzt so ver-
breiteten Dicotylen waren Feigen-, Eichen-, Weiden-, Pappel-, Lorbeer-
und Ahornbäume.
So hat sich das anfangs ganz einfach in der Algenform er-
scheinende Pflanzenreich im Laufe der Jahrhunderttausende differen-
ziert, gesondert: zunächst in Zellen- und Gefäfskryptogamen, dann
kommen die Zapfenpalmen und Nadelhölzer hinzu und drängen die
baumartigen Farne in das Unterholz der von ihnen nun selbst ge-
bildeten Hochwälder zurück; diesen folgten Gräser, Lilien und end-
lich die Laubbäume.
Die Neuzeit der Erdgeschichte brachte den letzteren eine
ungeheure Entwiokelung, während Nadelhölzer und Gefäfskryptogamen
immer mehr au Boden verloren. — Palmen, Bananen, Myrten treten
auf, und bald macht sich auch eino Gliederung des bisher fast gleich-
mäfsigen irdischen Klimas bemerklich: In Mitteleuropa verschwindet
das tropische Klima, das vorher noch in Grönland herrschte, und
macht einem subtropischen, dieses einem gemäteigten Platz. Eichen,
Buchen, Birken, Erlen, Weiden bilden jetzt die Laubwälder in Nord-
und Mitteleuropa; auf den schwellenden, von ihnen beschatteten
Moosteppichen blühten Alpenrosen, Azaleen, Primeln und Heidekräuter
in prachtvollen Farben; Pilze wucherten auf den feuchten, faulenden
Wurzelstöcken. Von Stamm zu Stamm schlangen sich unserem Geifs-
blatt verwandte Pflanzen, und dieselbe Gattung bildete das GebĂĽsch
und das Gesträuch des Unterholzes.
Jetzt erfolgte in Nord- und Mitteleuropa eine langanhaltendo
allgemeine Vergletscherung von Skandinavien, von den Alpen und
den Mittelgebirgen aus; ebenso war Nordamerika vereist Arktische Tier-
und Pflanzenformen drangen ein und blieben . in den Gebirgen zum
Teil sefshaft, auch dann noch, als mit dem Verschwinden der Eismasseu
das gegenwärtige Pflanzenloben in unseren Gebieten festen Fufs fafste.
Die Erde hatte sich also allmählich mit grünem Laube und mit
blühenden Blumen geschmückt, einen Garten „Eden" zum Empfange
des erst in der letzten der geschilderten Perioden auftretenden Menschen
hervorgebracht, mit welchem die bisher nur stumpf und sorgenlos
der Gegenwart lebende Tierwelt zu einem vernĂĽnftigen und sittlichen
Persönlichkeitsbewufstsein erwachte.
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Das Endergebnis dieser Entwickelung des Pflanzenreiches liegt
uns also in seinem gegenwärtigen Zustande vor: Seine jetzige räum-
liche Differenzierung, Sonderung oder Gliederung ist die Folge aller
der Umformungen und Entwicklungen von Arten und Gattungen,
aller Wanderungen und Verschleppungen, der Anpassungen an neue
Klima- und Bodenverhältnisse, der Siege und Niederlagen in den
Kämpfen um das Dasein — während der vergangenen Äonen.
Unsere Aufgabe soll es nun sein, diese räumliche Verbreitung
der Pflanzen ĂĽber die Erde den Lesern kurz vor Augen zu fĂĽhren
oder, mit anderen Worten, einen möglichst übersichtlichen Abrifs der
Pflanzengeographie zu geben.
Da die einst heifse Erde in Beziehung auf die Wärmezufuhr schon
seit lange auf die Sonne angewiesen ist, werden nicht alle ihre
Gebiete den gleichen Betrag der fĂĽr den Pflanzenwuchs mafsgebenden
Strahlen, sowie die gleiche Menge von Licht erhalten: den hohen,
mittleren und niederen Breiten haben sich verschieden geartete Floren
angepafst. Die Schiefe der Erdachse, deren segensreiche Folge
der Wechsel der Jahreszeiten ist, trägt dazu bei, die Mannigfaltigkeit
im Pflanzenkleide der Erde zu vermehren. Wo ferner die Festländer
in breiten, zusammenhängenden Massen auftreten, veranlassen sie ein so-
genanntes kontinentales Klima mit hei Isen Sommern und kalten Wintern;
wo sie dagegen in Halbinseln und Inseln gegliedert und zerstĂĽckelt
sind, herrscht ein mildes Seeklima. So ist auch fĂĽr die Gegenden
derselben Breitenlage eine Verschiedenartigkeit des Klimas vor-
handen, d. b. es tritt eine Abweichung des physischen von dem
mathematischen Klima ein. Die Erhebungen und Vertiefungen der
Erdfeste, die Gebirge, Hochebenen, Tiefländer und Täler, die ver-
schiedenen Bodenverhältnisse schließlich wirken ebenfalls mit, die
äufseren Bedingungen für das jedesmalige Pflanzenleben sehr mannig-
faltig zu gestalten.
Wie bekannt, erhält die Erde die meiste Sonnenwärme in den
Gebieten um den Äquator herum, also in den „Tropen". Hier ge-
langt infolgedessen auch das Pflanzenleben zu seiner ĂĽppigsten Ent-
faltung. Die Schönheit und Erhabenheit der tropischen Urwälder,
wie sie vorzĂĽglich in Amerika und Ostindien, aber auch in Afrika be-
obachtet wurde, ist schon oft geschildert worden. Keine Trocken-
periode unterbricht hier das gleichmäßige, feuchtheifse Klima. Seit
Jahrtausenden und aber Jahrtausenden streben die Bäume aufwärts, dem
Lichte entgegen; die einen kommen weiter als die anderen, es bilden
sich einzelne Stockwerke aus. In Brasilien ĂĽberragen schlanke Palmen,
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wie die Mauritiuspalme, mit dem belaubten Gipfel niedrigere Mimosen-,
Lorbeer-, Feigen- und Paranufsbäume; Luftwurzeln streben von den
Seiten der Stämme zum Boden und helfen den Baum stützen und
tragen, Lianen ziehen von Stamm zu Stamm, von Krone zu Krone;
der Erdboden wird von den altersschwachen umgestĂĽrzten, oder vom
Sturm niedergeworfeneo Baumriesen bedeckt. Ein Gras- oder Kraut-
teppich fehlt in der Regel, und der Waldboden ist oft kahl. Flurs-
mündungen und Küsten sind von den eigentümlichen Mangrovewäldern
mit ihren Luftwurzeln bedeckt
Gleich ĂĽppig wie in dem tropischen Amerika schmĂĽckt in Vorder-
und Hinderindien ein strotzeuder Pflanzenwuchs das Land. Unter
seinem Schatten, in den fruchtbaren Tälern des Ganges und des
Indus, zwischen Feigenbäumen und Kokospalmen, zwischen Bananen,
Brotfruchtbäumen, Tamarinden und riesigen Gräsern haben sich lange vor
dem Erwachen der indogermanischen Mittelmeervölker, etwa gleich-
zeitig mit dem Erblühen der altägyptischen Gesittung, die uralte ost-
indische Kultur und Religion entwickelt. — Das tropische Australien
ist durch die Inseln und durch sein Pflanzenleben eng mit dem in-
dischen Gebiete verbunden. Eigenartige Orchideen, Feigen- und
Farnbäume drücken ihm indessen einen besonderen Charakter auf;
sie bilden zusammen mit Bignonien und Lorbeerbäumen die Ur-
wälder.
Wo der Urwald in dem Gebiete der Tropen nicht Fufs fassen
oder sich wegen klimatischer Veränderungen nicht halten konnte,
bildeten sich andere Vegetationsformen aus. Zu beiden Seiten der
äquatorialen Gebiete werden Klima und Pflanzenwuchs durch eine
längere Periode der Trockenheit beeinflufst. Es treten daher Laub-
bäume auf, welche während dieser ungünstigen Zeit ihren Blätter-
schmuck abwerfen; sie gesellen sich zu den Palmen, den riesenhaften
Kaktuspflanzen, den tonnenförmig aufgeblähten Wollbäumen und den
immergrünen Gesträuchen. — Oft aber schwindet der Baumwuchs
ganz. Statt des üppigen Urwaldes und der während der Trocken-
zeit sonnendurchglĂĽhten und durchleuchteten, in der Regenzeit grĂĽ-
nenden, von Sohlinggewäohsen freien tropisohen Wälder dehnen sioh
die Savannen weithin über die höher gelegenen Flächen aus. Am
Orinocco nennt man sie Llanos, in Brasilien Campos. Während
der Regenzeit bedecken sie sich in einzelnen gesonderten Rasen-
flächen mit grob- und steifblättrigen Gräsern, zwischen denen sioh
hohe Säulen von Melonenkakteen erheben. Während der Trockenzeit
ruht das Pflanzenleben im Winterschlafe.
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liehen Polarkreise und darĂĽber aus; in Amerika reicht diese Zone von
Nordkarolina, Texas, Arkansas, von Nordkalifornien bis zur Hudson-
Bai und bis zum BĂĽren-See. Von SĂĽden nach Norden kann man leicht
drei Unterabteilungen abgrenzen.
In dem sĂĽdlichsten Gebiete, welches in Europa das nordwestliche
Spanien, Frankreich, SĂĽd- und Mitteldeutschland, die Schweiz, Ă–ster-
reich-Ungarn und die nördlichen Balkanländer sowie die Küstengebiete
des Schwarzen Meeres umfafst, wiegen Laubbäume und Trockenheit
liebende Kiefern vor. Blumenreiche Matten unterbrechen die einför-
migen Moore und Wiesen; Mais, Tabak, Pfirsiche und Kastanien
werden angebaut. Die Nordgrenze des Weinbaues bildet auch die
Nordgrenze dieses Gebietes.
Der zweite Abschnitt reicht von hier ĂĽber die Grenzen des Obst-
baues hinaus bis zur Nordgrenze des Sommerkorns, in ihm liegt auch
die Nordgrenze des Weizens. — Weite Gebiete im Süden dieser
mittleren Abteilung des europäisch-sibirischen Waldgebietes vermögen
indessen infolge der dort herrschenden Trockenzeit einen Baumwuchs
nicht hervorzubringen und sind daher durch eine Steppenvegetation
ausgezeichnet. Die russisch-sibirischen Steppen und auch die nord-
amerikanischen Prairien gehen südwärts in das oben geschilderte sub-
tropische Wüstengebiet allmählich über.
In dem dritten oder nördlichsten Abschnitte der in Rede stehenden
Zone gedeihen von Laubbäumen nur noch Birken, Fichten und Lärchen
herrschen dagegen vor, blühende Sträucher sowie Farne bedecken den
Boden. Weite Sumpfflächen sind schon mit arktischen Stauden-
gewächsen bedeckt.
Die weite Ausdehnung dieses altweltlichen Waldgebietes von
Westen nach Osten macht indessen auch eine Teilung senkrecht zu
dieser Richtung notwendig. Eine Scheidelinie bildet zunächst die
Grenze zwischen dem milden Seeklima und dem durch schroffe Gegen-
sätze ausgezeichneten Kontinentalklima. In der Verbreitung der Buche
spricht sich diese ganz vorzĂĽglich aus. Die Nord- und Ostgrenze dieses
herrlichen Waldbaumes geht vom südlichen Schweden über Königs-
berg, OstpreuĂźen, Galizien, Bukarest, dann quer durch das Schwarze
Meer und wieder zurĂĽck nach der NordkĂĽste von Kleinasien.
Das Buchen gebiet Europas selbst aber gliedert sich nooh
in drei Unterabteilungen; es folgen von West nach Ost: das franzö-
sische Gebiet der Kastanie, das deutsche der Edeltanne und das
ungarische der Cerris-Eiche.
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Die östlich der Buchengrenze gelegenen Gebiete mit kontinen-
talem Klima zeigen in der grofsen mittelrussischen Tiefebene herrliche
Laubwälder, in denen die Eichen ganz besonders hervortreten; nörd-
licher kommen die Birken, Fichten und Lärchen zur Geltung und be-
herrschen das ganze Gebiet ĂĽber den Ural hinĂĽber, durch Sibirien
bis Ochotsk und bis zu den pazifischen KĂĽsten des Amurlandes.
Die nördliche Mandschurei hat trotz der Nähe des Meeres ein kon-
tinentales Klima; die Amureiche (Quercus mongolicaj ist fĂĽr dieses
Gebiet besonders bezeichnend.
Auf der sĂĽdlichen Halbkugel hat die Zone der sommergrĂĽnen
Laub- und immergrünen Nadelholzwälder nur eine geringe Verbrei-
tung, da es hier an trockenem Lande infolge der Zuspitzung der
Erdteile fehlt Die südlichen Provinzen Chiles gehören indessen hier-
her. Das Klima ist milde, Regen fällt zu allen Jahreszeiten, Schnee
bleibt nur in den allersĂĽdlichsten Gebieten liegen. Aus diesem Grunde
erinnert das Pflanzenkleid noch an die subtropischen Floren. Die
meisten Bäume behalten ihr Laub. In der Regenzeit aber verlieren
einige dennoch dasselbe und deuten so einen Stillstand der Vege-
tation an. Die Waldlandschaft wiegt vor; im Norden nehmen an
ihrer Zusammensetzung noch Lorbeer, Myrte und dem Ă–lbaum ver-
wandte Arten teil, während Schlingpflanzen aus der Familie der
Lianen sich von Stamm zu Stamm, wie in den tropischen Urwäldern,
ranken. Im SĂĽden aber herrscht die Buche, von der es eine immer-
grĂĽne und eine sommergrĂĽne Art giebt, vor. Noch weiter sĂĽdlich treten
Moore an die Stelle der Wälder, doch nicht Moose und Gräser bilden
sie, sondern Lilien und Arten der Steinbreche.
Nördlich des amerikanischen und des europäisch -sibirischen
Waldgebietes, der Borealen-Zone, herrscht bis zum Absterben allen
organischen Lebens die Arktische Vegetationszone. Der Baum-
wuebs hat vollständig aufgehört, statt seiner bedecken die weiten
Flächen Staudengewächse, kriechende Halbsträucher von Weiden,
Birken und Heidelbeergewächsen, Gräser, Sumpfgräser, Moose und
Flechten. Vor der eisigen Luft schmiegt sich der Pflanzenwuchs, wie
auch auf hohen Gebirgen der wärmeren Zonen, an den wärmenden
Schofs des Erdbodens. Trotzdem aber schmĂĽcken der arktische
Mohn, Alpenrosen, Anemonen, Steinbrechen und andere Pflanzen die
baumlosen Ebenen mit herrlich gefärbten grofsen Blüten. Ein min-
destens neunmonatiger Winterschlaf unterbricht dieses spärliche
Pflanzenleben.
Eine ganz besonders charakteristische Landschaftsform bilden
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öS
die -Tundren-, die sich gürtelförmig um den Nordpol ausdehnen.
Auf ihnen wachsen nur Zellen kryptogamen und die niedrigsten Vertreter
des Pflanzenreiches. Moose und Flechten. In den feuchten Gebieten
Herrschen die ersteren. in den trockenen die letzteren vor; auf den
FJeehtentundren weiden das Renntier und der Moschusocbse. Auf
der sĂĽdlichen Halbkugel ist ein entsprechendes Gebiet nicht bekannt
Der jetzt in diesem Teile der Erde so kraftvoll vorgehenden Forschung
ist vielleicht seine Entdeckung vorbehalten.
Wir haben soeben die Pflanzenwelt in der horizontalen Richtung
ĂĽber die Erde hin nach einzelnen Zonen gegliedert. Jeder unserer
Leser weifs indessen wohl, dafs sie auch unter gleicher Länge und
Breite nach der verschiedenen Höhenlage eine andere ist und auch in
der vertikalen Richtung grofse Unterschiede aufweist. An mächtigen
Gebirgen in die Höhe klimmend, können wir die Floren der oben
geschilderten Pflanzenzonen, eine nach der anderen, ĂĽbereinander
beobachten, so dafs man umgekehrt die Erde mit einem Doppelberge
vergleichen kann, dessen Fufs die Aquatorzone, dessen Gipfel die beiden
Pole bilden.
Alle horizontalen klimatischen Vegetationsgebiete können wir
natĂĽrlich nur in d"n hohen Gebirgen der Tropen wiederfinden: in den
höheren Breiten setzen der Reihe nach die wärmeren Zonen aus. bis
bei den Gebirgen der Polarländer die arktische Flora schon an ihrem
Fufse beginnt.
FĂĽr die vertikale Verbreitung der Pflanzen ist allerdings
nicht allein die Erhebung der Orte ĂĽber den Meeresspiegel mafs-
gebend, sondern es kommen auch ganz besonders in Betracht: der
Standort die Exposition gegen »Sonne, Wind und Wetter, die Gestalt
des Gebirges, seine gröfsere und kleinere Ausdehnung. Jedes Ge-
birge, ja jede G«>birgsseite bedarf eigentlich in dieser Hinsicht einer
geänderten Betrachtung. Da eine Besprechung dieser Verhältnisse
zu weit fĂĽhren wĂĽrde, schliefsen wir hiermit unsere heuligen Aus-
einandersetzungen.
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Die Grazer Wetterschiefs -Konferenz
vom 21. bis 24. Juli d. Jahres.
Von Prof. Dr. R. Börnstein in Berlin.
c\^J)m Junihefto des vorigen Jahrganges fanden unsere Leser eine
Darstellung jener altĂĽberlieferten und in neuerer Zeit wieder aufge-
tauchten Bestrebungen, welche dahin gehen, drohenden Hagel-
schaden durch Schiefsen zu verhüten. Es wurde dabei erwähnt, daTs
jenes Verfahren namentlich in Ă–sterreich, Ungarn, Italien und Frankreich
viele Freunde gefunden habe, und dafs bereits zwei internationale Kon-
gresse zur Besprechung des Hagelschiefsens (6. bis 8. November 1899 in
Casale Monferrato und 25. und 26. November 1900 in Padua) veranstaltet
worden seien. Während nun bei diesen Gelegenheiten die gläubigen An-
hänger des Hagelschiefsens fast allein zu Wort kamen und in Padua sich
zu dem BeschluĂź verstiegen, dars die Wirksamkeit des Schiefsens sogar
gegen den Hagel als „undiskutierbar gewifsu anzusehen sei, trat im
folgenden Jahre eine gewisse AbkĂĽhlung ein. Auf einem italienischen
Sonderkongrers (22. bis 24. Oktober 1901 in Novara) stellte man fest,
es habe das Wetterschiersen sich auch im Jahre 1901 bewährt, jedoch
nur dort, wo in richtiger Weise und mit genĂĽgenden Mitteln geschossen
sei, und wo nicht Gewitter von ungewöhnlicher Stärke aufgetreten
seien. Diese im Vergleich zu den frĂĽheren Behauptungen recht be-
scheidene Meinung sollte als Richtschnur fĂĽr die italienischen Delegierten
dienen, welche an dem internationalen Kongrefs zu Lyon (15. bis
17. November 1901) teilnahmen. Hier wurde alsdann zu erklären be-
schlossen, das Wetterschiefsen verdiene sorgfältiges Studium seitens
der Wissenschaft, sowie das Vertrauen und die Hoffnung der Land-
wirte; man solle zusammenhängende Gebiete von bedeutender GröTse
mit einer ausreichenden Zahl von richtig ausgewählten und gut be-
dienten Schiefsapparaten versehen und sowohl auf die Vorhersagung
der Gewitter wie auf die Untersuchung ihres Auftretens und Fort-
schreitens möglichst grofse Sorgfalt verwenden.
Hiernach hielt es das k. k. österreichische Ackerbauministcrium
an der Zeit, zwar keinen Kongrers, wohl aber eine „internationale
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Experten -Konferenz fĂĽr Wetterschiefsangelegenheiten" nach Ă–sterreich
zu berufen. Etwa 80 Teilnehmer wurden dazu geladen; 68 Vertreter
der zuständigen Behörden, der Wissenschaft und der praktischen
Budenkultur aus Deutschland, Ă–sterreich, Ungarn, Italien, Frankreich,
Rufsland und Serbien fanden sich in der grĂĽnen Steiermark ein, um
vom 21. bis 24. Juli d. .1. in Graz ĂĽber die zwei von dem Ackerbau-
ministerium gestellten Fragen zu beraten:
1. Ist das Wetterschiefsen wirksam, unwirksam, oder ist seine
Wirkung zweifelhaft?
2. Was soll, falls man den letzteren Fall als gegeben ansieht,
geschehen, um ein Urteil ĂĽber die etwaige Wirksamkeit des
Wetterschiefsens zu gewinnen?
Es sei gleich erwähnt, dafs man auf die erste Frage mit grofser
Mehrheit die Wirkung des Wetterschiefsens fĂĽr zweifelhaft und weitere
Untersuchungen für wünschenswert erklärte.
Die Einflüsse, welche von den Anhängern des Hagelschiefsens
diesem zugeschrieben werden, sollen nicht sowohl auf den bereits ge-
bildeten Hagel zerstörend wirken, als vielmehr seine Entstehung rechtzeitig
verhindern. So wurde behauptet, dafs an vielen Orten Hagelschaden
aufzutreten pflegte, bis man regelmäfsig zu schiefsen begann; dafs im
Schiefsgebiet nicht, wohl aber rundherum Hagel gefallen sei; dafs
heranziehende Hagelwetter an der Grenze des Schiefsgebietes aufgehört
hätten; dafs Abnahme der Blitze, Drehen des Windes, Zerreifsen der
Wolken beim Schiefsen beobachtet seien; dars statt des gewöhnlichen
Hagels weiche, schneeige Massen („nevischio") gefallen seien u. s. w.
Ferner wurde angegeben, dafs der Hagelsich in geringer Höhe, 5- bis
600 m ĂĽber dem Meeresspiegel, bilde.
Diese Meinung ist von besonderer Wichtigkeit, weil es bisher
nicht gelungen ist, die Wirbelringe der Hagelkanonen erheblich höher
als 300 m ĂĽber den Standort des GeschĂĽtzes zu treiben, und weil also
ein Erreichen und Beeinflussen der Hagelwolken nur dann erwartet
werden kann, wenn diese tief genug schweben. In der Tat wurden
von anderer Seite Beobachtungen angeführt, welche eine viel höhere
Lage der hagelbildenden Wolken sehr wahrscheinlich machen. Man
täuscht sich leicht im Anblick der tiefliegenden untersten Wolken-
schicht, welche die darĂĽber schwebende, hagelfĂĽhrende Region ver-
deckt und deren Höhe zu erkennen hindert. Die untere Grenze der
Gewitterwolken ist danach in mindestens 2000 m, durchschnittlich etwa
in 2500 m Seehöhe zu suchen. Läge sie tiefer, so könnte man die
Kälte, welche den Hagel erzeugt, nicht verstehen.
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öl
Was ferner die anderen, zu Gunsten des Hagelscbiefsens an-
geführten Vorgänge betrifft, so hat man teils die gleichen Erscheinungen
auch in anderen Gegenden, wo nicht geschossen wurde, beobachtet,
teils denselben aus Anlafs des Hagelschiefsens mehr Aufmerksamkeit
als frĂĽher zugewendet; aufserdem aber liegen erst die Erfahrungen
weniger Jahre vor, aus welchen ein sicherer Schlufs nicht gezogen
werden kann. Ferner ist in Steiermark die Gewitterhäufigkeit bis gegen
das Jahr 1890 gewachsen, hat aber danach bis 1901 abgenommen;
der Hagel zeigt ähnliches Verhalten. Im Mai und Juni 1902 scheint
die Zahl der Unwetter etwa der des Vorjahres zu gleichen, der Juli
(in welchem die Grazer Beratung stattfand) hatte diesmal bereits mehr
Gewitter als 1901. Wenn diese Ă„nderung fortdauert, mĂĽfste in den
nächsten Jahren die Hagelhäufigkeit wachsen. Ebenfalls auf Zunahme
des Hagels in naherZukunft weist die Beobachtung der Sonnenflecken hin;
wenn die Menge der Sonnenflecken, wie es die Erfahrung anzudeuten
scheint, ähnliche Schwankungen zeigt wie die Gewitter- und Hagel-
häufigkeit, so müfste man jetzt eine Zunahme der letzteren erwarten. Und es
wĂĽrde, was bisher in den mit Hagelkanonen arbeitenden Gegenden eine
Schi efs Wirkung vortäuschen konnte, jetzt in das Gegenteil umschlagen.
Auch über die verschiedenen Erklärungsweisen, die man für die
vermutete Schiefswirkung anzufĂĽhren pflegt, wurden Meinungen aus-
getauscht. Dafs die Schallwellen den Hagel nicht hindern können,
dĂĽrfte jetzt allgemein zugegeben werden. Namentlich ist hier zu
erwägen, dafs, wenn eine derartige akustisohe Einwirkung bestände,
kein besseres Schutzmittel gegen den Hagel gedacht werden könnte,
als der Donner, der sich aber bekanntlich nicht als wirksam erweist.
Ferner ist die Vermutung ausgesprochen worden, es könnten die
im Wirbelring hinaufgeschleuderten Rauchteilchen als Kondensations-
kerne wirken, d. h. als Ansatzstellen fĂĽr die Bildung flĂĽssiger Wasser-
tröpfchen, durch deren Herabfallen das Material zur Hagelbildung der
Wolke entzogen wĂĽrde. Hiergegen ist schon frĂĽher eingewendet worden,
dafs meistens die Wirbelringe nicht hoch genug steigen, um in den
Hagelwolken eine Wirkung der erwähnten Art zu erzielen. Auch für
die Raketen, welche neuerdings in Frankreich hergestellt werden, wird
nur eine Steighöhe von 500 m angegeben, wobei noch zu bemerken
ist, dafs in Betreff dieser Zahl der französische Berichterstatter in Graz
erklärte, nicht aus eigener Kenntnis zu sprechen. Wenn es indessen
auch wirklioh gelingt, die Rauchteilchen bis in die Hagelwolken zu
bringen, so kann eine erhebliche Wirkung davon doch nicht erwartet
werden, wie folgende Rechnung lehrt. Ein Platzregen oder Hagel-
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schauer liefere eine Niederschlagshöhe von 5 mm, d. h. eine Wasser-
inenge von 5 Liter, welche auf der Fläche je eines Quadratmeters nieder-
fällt. Wenn man auf Grund neuerer Messungen annimmt, dafs ein
Kubikmeter der regnenden (oder hagelnden) Wolke 3 g flĂĽssiges
Wasser enthält, so müfste die Wolke, um jene Niederschlagshöhe zu
liefern, eine Mächtigkeit von 1667 m haben, oder eigentlich noch viel
mehr, denn sie erschöpft sich ja nicht durch den Reaen, sondern bleibt
auch nachher noch sichtbar. Derjenige Teil der Wolke, welcher ĂĽber
einem Quadratkilometer schwebt, wĂĽrde also mehr als 1667 Millionen
Kubikmeter erfüllen. Ein Quadratkilometer ist aber diejenige Fläche,
welche durch eine Hagelschiefsstation geschĂĽtzt werden soll. Dabei
pflegt man Pulverladungen von 180 g zu benutzen. W~ird nun statt
dessen angenommen, dafs 100 kg GeschĂĽtzpulver zur Explosion kommen,
und zwar nicht am Boden, sondern inmitten der Wolken, so bilden
sich 24 Kubikmeter Gas (auf 760 mm Quecksilberdruck und 0° be-
rechnet), welche eine Kugel von 1,79 m Radius erfĂĽllen wĂĽrden, und
etwa 56 kg Rauch. Wenn ferner angenommen wird, dafs dieser Hauch
sich in einer Kugel vom SOfachen Volumen, also mit etwa 7,7 m Radius
ausbreitet (was erfahrungsmäfsig schon sehr viel ist), so würde er
einen Raum von 1920 Kubikmetern erfüllen, d. h. nur ungefähr ein
Milliontel der Wolke durchdringen.
Also auch diese Erklärung ist hinfällig, und es bleibt von den
ĂĽber die Wirkung des Hagelschiefsens aufgestellten Vermutungen vor-
läufig nur noch diejenige bestehen, welche an den aufsteigenden Luft-
strom als wahrscheinliche Ursache der Hagelbildung anknĂĽpft. Ist
durch starke Erhitzung des Bodens und der untersten Luftschichten
ein labiles Gleichgewicht entstanden und wird dieses irgendwo gestört,
so strömen die warmen und darum leichten Luftmassen hier in starker
Bewegung hinauf, und durch die rasche Druckverminderung und
die daraus entstehende AbkĂĽhlung der Luft wird der raitgefĂĽhrte
Dampf kondensiert. Das entstehende Wasser kann beim Emporsteigen
überkaltet werden und dann plötzlich, z. B. durch Berührung mit aus
gröfserer Höhe fallenden Eis- oder Schneeteilchen, erstarren, um
als Hagel herabzufallen. Wenn die Wirkung der Hagelkanonen hoch
genug hinaufreicht, kann vielleicht ein einzelner Wirbelring zur Er-
zeugung eines solchen Vorganges fĂĽhren und die Hagelbildung aus-
losen; zahlreiche Wirbelringe, die, ĂĽber ein grofses Gebiet verteilt,
gleichzeitig hinaufgetrieben werden, mĂĽfsten dagegen ebenso viele
schwäohore aufsteigende Ströme hervorrufen und so das labile Gleich-
gewicht zerstören, ehe es an irgend einer Stelle zur Hagelbildung
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gekommen ist Aber man darf zunächst wohl zweifeln, ob die Wirbel-
ringe wirklich die für solche Leistung nötige Steigkraft besitzen.
Hiernach wird man es verstehen, dafs die Grazer Konferenz
erklärte, über die etwaige Wirkung des Wetterschiefsens sei ein ab-
schliefsendes Urteil noch nicht möglich. Um aber die zweite Frage
zu beantworten und die Mittel fĂĽr eine kĂĽnftige Beurteilung der
Schiefs Wirkung angeben zu können, nahm die Versammlung Kenntnis
von den technischen Vorrichtungen und Methoden des Sohiefsens und
gewann dadurch Veranlassung zu zwei reoht erfreulichen AusflĂĽgen
in die Qrazer Umgebung. Am zweiten Tage der Zusammenkunft
wurde in St. Katharein a. d. Lamming der Wetterschiefs -Versuchsplatz
der Grazer Firma Karl Greinitz Steffen besucht und dort einem
recht ausfĂĽhrlichen Versuchsschiefsen beigewohnt, welches die Wirk-
samkeit der verschiedenen Schiefsapparate zu vergleichen gestattete.
Bei den HorizontalschĂĽssen dienten mit Papier bespannte Ilolzrahmen
als Scheiben, an welchen die mechanische Kraft der Wirbelringe
sowie ihre Geschwindigkeit und Flugweite beobachtet werden konnte.
FĂĽr die Verfolgung der senkrechten SchĂĽsse war an einem benach-
barten Berg eine einfache Visiervorrichtung angebracht So gelang es,
die Ăśberlegenheit einer bestimmten Form und Ladung des Schiefs-
apparates vor anderen Vorrichtungen zu zeigen; die größte Schurs-
weite und Fluggeschwindigkeit trat auf bei Anwendungder„TypeE", auch
„System Suschnig" genannt, dessen Einzelheiten durch ausgedehnte und
sorgfältige Versuche während der letzten Jahre als günstig erkannt worden
waren und in den weiter unten mitgeteilten BeschlĂĽssen genannt sind.
Am dritten Versammlungstage wurde der Konferenz eine „suppo-
nierte Hagelabwehr1' vorgefĂĽhrt, sowie die wirkliche AusfĂĽhrung der
Schiefsvorrichtungen in dem zu schützenden Weinbau • Gebiet. Man
hatte dazu die Weingärten des Herrn Bürgermeisters Stiger in
Windisch - Feistritz gewählt, der als „Vater des modernen Wetter-
8chiefsensu das Verfahren in neuerer Zeit wieder in Aufnahme brachte.
Die prächtige Gebirgsgegend, in welcher uns diese Vorführungen
dargeboten wurden, das durchaus sachliche, nur auf Erkenntnis der
Wirklichkeit gerichtete Streben aller KongreĂźteilnehmer, und nicht
zum mindesten die ĂĽberaus liebenswĂĽrdige und gastfreundliche Auf-
nahme, welche wir bei den Behörden und Bewohnern des schönen
Landes fanden, machen die Erinnerung an die beiden Ausflugtage zu
einer höchst angenehmen. Von Interesse ist vielleicht eine Mitteilung,
die an einem jener Tage bei zufälliger Unterhaltung auftauchte, nämlich,
dafs man von streng religiöser Seite das Wetterschiefsen für bedenklich
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G4
erklärt habe, weil es gegen die Naturerscheinung des Hagels als einen
Teil der göttlichen Weltordnung gerichtet sei, dafs aber dieser Einwand
völlig entkräftet sei durch Nachweis des Schiefsens mit geweihtem
Pulver. In der Tat ist mittelst eines aus alter Zeit ĂĽberlieferten
Spruches die kirchliche Weihung des Pulvers geschehen, wobei man
aber in RĂĽcksicht auf die vielen im Gotteshause brennenden Kerzen
nicht das gesamte Pulver zur Kirche brachte, sondern nur einen
kleinen Teil, der nachher dem ĂĽbrigen Vorrat beigemengt wurde.
Der vierte Versammlungstag wurde durch Beratung derjenigen
Einzelheiten ausgefĂĽllt, welche fĂĽr die staatlich eingerichteten oder
unterstĂĽtzten Versuchs- Schiefsfelder empfohlen werden sollten. Man
beschlofs folgende Vorschläge zu machen:
1. Beim Hagelschiefsen soll die Ladung aus wenigstens 180 g
Sprengpulver oder entsprechender Menge eines anderen
Explosivstoffes bestehen; der auf die GeschĂĽtzmĂĽndung auf-
gesetzte Trichter soll 4 in Höhe haben.
2. Die amtlichen Versuchsfelder sollen nicht unter 3000 ha
zusammenhängende Fläche haben.
3. Die gröfste Entfernung zwischen den einzelnen Schiefsstationen
soll je nach der Ă–rtlichkeit 600 bis 1000 m betragen.
4. Ăśber die Beobachtungen, betreffend Gewitter und Hagel, sowie
ĂĽber die Ergebnisse der gegen den Hagel eingerichteten
Schutzmafsregeln soll möglichst genau berichtet werden.
Als Muster fĂĽr Schiefs -Versuchsfelder wird die Einrichtung
von Castelfranco Veneto empfohlen.
Zum Schiurs 3oien einige Angaben ĂĽber die Kosten des Hagel-
schiefsens hinzugefĂĽgt. FĂĽr die in den KonferenzbesohlĂĽssen empfohlene
Gröfse der Apparate betragen die Anschaffungskosten der Kanone
samt Trichter 240 Kronen, der Schiefshütte mit Zubehör etwa 100 Kronen,
zusammen etwa 340 Kronen (28ĂśM). Nimmt man an, dafs eine so aus-
gerĂĽstete Station zum Schutze von 100 Hektar genĂĽgt, und dafs fĂĽr
den Sommer 20 Gewitter mit je 30 SchĂĽssen in Betracht kommen,
so betragen die Betriebskosten eines Jahres fĂĽr Schiefsbedarf, Arbeits-
lohn, Unfallversicherung und Reparaturen etwa 144,08 Kronen. Dazu
kommt Amortisation und Verzinsung des Anlage- und Betriebskapitals
mit etwa 71,40 Kronen. Also sind die laufenden Kosten fĂĽr den Schutz
von 100 Hektar jährlich 215,48 Kronen, für 1 Hektar 2,15 Kronen
(l 83 M). Natürlich ist das nur eine ganz ungefähre Angabe, deren
Höhe mit der Ürtlichkcit sowie mit der Zahl der Gewitter und anderen
Umständen wechselt.
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Betrachtungen ĂĽber das Wesen des Lebens.
Von Profensor K. von Lenilenfcld in Prag.
y (SchluĂź)
^Q^us der Thatsache, dafs dlo Krystalle, die wir in der Natur an-
c'f^v treffen oder künstlich erzeugen, über eine gewisse, verhältnis-
mäfsig unbedeutende Gröfse nicht hinausgehen, sowie daraus,
date im allgemeinen die Krystalle um so weniger regelmäßig gestaltet
erscheinen, je gröfser sie sind, läfst sich der Schlufs ziehen, dafs die
von einer MolekĂĽlgruppe ausgehende gleichanordncnde. krystall bildende,
assimilierende Kraft im allgemeinen um so schwächer wird, je gröfser die
Zahl der gleichangeordneten Teilchen, je gröfser der ganze Krystall ist.
Wenn sich Krystalle in einer gesättigten Lösung des Stoffes, aus
dem sie bestehen, das heifst also in Umständen befinden, welche es
ihnen ermöglichen, ihre Assimilationskraft zu bethätigen, so bleiben
sie nicht unverändert, sondern sie wachsen oder sie lösen sioh auf.
Wenn man eine Anzahl kleiner Krystalle in eine gesättigte Lösung
der Substanz, aus der sie bestehen, bringt, bemerkt man, dafs einige
von den Krystallen wachsen, während andere verschwinden, aufgelöst
werden, um den Stoff, der von der Lösung an die wachsenden Kry-
stalle abgegeben wird, an die Lösung zurückzugeben. Die assi-
milationskräftigeren, lebenskräftigeren von diesen Krystallen fressen
also — indirekt — die schwächeren auf. An grofsen Gletschern läfst sich
sogar ein direktes Auffressen schwächerer durch stärkere Krystalle
wahrnehmen. Der ganze Gletscher ist aus fest miteinander ver-
bundenen, den Kaum zusammen fast vollkommen ausfĂĽllenden Eis-
kornern zusammengesetzt. Heim Schmelzen des Gletschereises werden
zuerst jene dĂĽnnen Eiskittsclnehten aufgetaut, welche die einzelnen
Körner miteinander verbinden, und es können dann die Körner selbst
isoliert werden. Jedes Gle^ehereiskorn ist, wie die optische Unter-
suchung zeigt, ein Krystallindividuum, das, durch die Nachbarkörner
an freier Entwickelung nach auTsen hin behindert, eine unregel-
mäfsige äufsere Gestalt erlangt hat Das* bemerkenswerte ist nun,
Hlmmol uod Krd«. iwt!. XV. 2. 5
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dafs an der Schneegrenze diese Eiskörner nur 1— 1'/2, der Stirne
grofser Gletscher aber zum Teil 10 cm und darĂĽber grofs sind. Diese
grofsen Eiskörner (Krystalle) des unteren Gletscherendes entstehen
wohl sicher in der Weise, dafs sie infolge ihrer gröfseren Assi-
milationskraft das Gefüge der Nachbarkrystalle zerstören, die Sub-
stanz derselben sich aneignen und ihrem eigenen Gefüge gemäfs neu-
anordnen, sie auffressen und assimilieren.
Wenn wir uns nun fragen, was die Ursache der thatsächlich
beobachteten Verschiedenheit der Assimilationskraft verschiedener,
nebeneinander gebildeter Krystailindividuen sein kann, so mĂĽssen
wir sagen, dafs diese Verschiedenheit nur auf Unterschieden in der
Festigkeit des GefĂĽges der kleinsten Teile der einzelnen Krystalle
beruhen könne. Da nun kleine, junge Krystalle im allgemeinen viel
regelmäßiger gestaltet sind wie grofse, alte, wird anzunehmen sein,
dafs die Festigkeit des Gefüges bei den ersteren gröfser als bei den
letzteren ist Es wird also anzunehmen sein, dafs sich in Fällen, wie
die beiden oben angefĂĽhrten, die jĂĽngeren Krystalle auf Kosten der
älteren vergröfsern, aber nur so lange, bis sie selber altersschwach
geworden sind und von anderen neugebildeten, noch jĂĽngeren Kry-
stallen aufgezehrt werden. Es wĂĽrden danach alle Krystalle, welche
sich in den zur Bethätigung ihrer Assimilationskraft erforderlichen
Bedingungen (in gesättigter Lösung der eigenen Substanz oder in
einer ihrem Schmelzpunkte gleichkommenden Temperatur) befinden,
unter Benutzung der auf sie einwirkenden Wärmeenergie fortwährend
wachsen, altersschwach werden, sich auflösen oder schmelzen und
dann neu sich bilden. Nur bei dem Fehlen der nötigen Energie in
weit unter ihrem Schmelzpunkte liegenden Temperaturen, beziehungs-
weise beim Fehlen eines Lösungsmittels in ihrer Umgebung, würden
sie ziemlich unverändert bleiben.
Bei der ersten Anlage eines Krystalls heften sich mehrero, zuerst
vielleicht zwei Teilchen (MolekĂĽle oder MolekĂĽlgruppen) aneinander,
und diese sind es, von welchen dann die krystallbildende Assi-
milationskraft ausgeht Diese Teilchen sind in den beiden oben be-
schriebenen Fällen Teile von alten Krystallen, die in Lösung über-
gegangen sind. Man könnte wohl annehmen, dafs jedes Teilchen für
sich noch keine krystallbildende, assimilierende Kraft besäfse, und
dafs erst von der Vereinigung zweier eine solche Kraft ausgeĂĽbt
würde. Die an übersättigton und unterkühlten Lösungen, beziehungs-
weise FlĂĽssigkeiten zu beobachtenden Erscheinungen lassen eine
solche Annahme wohl zu.
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Wir wollen nun untersuchen, wie sich das lebende Plasma, die
Protozoen und höheren Organismen in dieser Hinsicht verhalten.
Dabei mĂĽssen wir natĂĽrlich alle aus einem einfachen Protozoen
durch Teilung hervorgehenden Individuen zusammen als ein Ganzes
ansehen, das mit einem einzigen Krystallindividuum zu ver-
gleichen ist.
Wenn sich ein Protozoen längere Zeit hindurch duroh Teilung
vermehrt, und so aus einem einzigen Individuum sehr zahlreiche Indi-
viduen, die zusammen ein beträchtliches Volumen einnehmen, hervor-
gehen, bemerken wir eine deutliohe Abnahme der Assimilations- und
Widerstandskraft Die erstere zeigt sich darin, dafs die Fähigkeit
zur Nahrungsaufnahme und zum Waohstume herabgesetzt wird, und
die einzelnen Individuen nicht mehr bis zu ihrer normalen GröTse
heranwachsen; die letztere darin, dafs schädliche, äufsere Einflüsse,
krankheitserregende Bakterien, ungünstige Verhältnisse der Umge-
bung etc. ungemein leicht und rasch den Tod der Individuen herbei-
fĂĽhren. Beide Gruppen von Erscheinungen sind Folgen einer Locke-
rung des (krystallinisohen) PlasmagefĂĽges; 6ie mĂĽssen als senile De-
generation, als Altersschwäche aufgefafst werden. Rasch nehmen diese
Erscheinungen, wenn sie einmal aufgetreten sind, in aufeinander-
folgenden Generationen der durch Teilung sich vermehrenden Proto-
zoen zu, und unabänderlich führen sie sohliofslich den Tod aller her-
bei, wenn nicht rechtzeitig durch Konjugation eine VerjĂĽngung und
Neukräftigung zu stände gebracht wird.
Die Konjugation ist bei einigen, zu den Infusorien gehörigen
Protozoen, unter anderen bei Parameoium caudatum, sehr genau
studiert worden. Bei diesem walzenförmigen, mit schlagenden Härchen
bekleideten, im Wasser frei herumschwimmenden, mit zwei Kernen,
einem gröfseren Haupt- und einem kleineren Nebenkern ausgestatteten
Wesen beobaohten wir, dafs nach einer längeren oder kürzeren Periode,
während welcher fortgesetzte Vermehrung durch Teilung stattfindet, und
zwar häufig dann, wenn die Existenzbedingungen ungünstige werden,
Konjugation eintritt Zwei Exemplare legen sioh seitlich aneinander,
und es werden ihre Kerne höckerig und ihre Nebenkerne zu Teilungs-
spindeln. Die Nebenkerne teilen sich in je zwei kugelige Teile, von
denen ein jeder dann nochmals sich teilt, so dafe sohliefslich vier
Nebenkerne vorhanden sind, von denen drei der Degeneration anheim-
fallen, während der vierte sich nochmals teilt. Die beiden Teilstücke
dieses Nebenkernviertels sind der männliche und der weibliche Kon-
jugationskern. Die beiden männlichen Konjugationskerne werden
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ausgetauscht, am mit dem zurĂĽckgebliebenen, weiblichen Konjugations-
kerne des anderen Individuums zu einem neuen Kern zu verschmelzen.
Dieser teilt sich nun zu einem neuen Neben- und einem neuen
Hauptkern. Der alte Hauptkern sowie die drei der Degeneration an-
heimfallenden Teile des alten Nebenkernes sind inzwischen zerfallen
und vom Plasma aufgelöst worden. Die Verbindung der Individuen
wird wieder aufgehoben und jedes geht nun wieder seine eigenen
Wege.
Die Vereinigung der Neben kernachtel der zwei verschiedenen
Exemplare hat dieselbe Wirkung wie die Vereinigung zweier (oder
mehrerer?) Teilchen einer mineralischen Substanz zur Anlage eines
Krystalls: beide Individuen sind mit frischer Jugendkraft ausgestattet,
ihr GefĂĽge ist gefestigt, sie gleichen einem jungen, assimilations-
kräftigen Krystall, wachsen und vermehren sich energisch und rasch
durch Teilung und widerstehen mit grofser Kraft jenen ungĂĽnstigen
äufseren Einflüssen, welche ihr Gefüge, ihr Leben bedrohen.
In den atmenden und verdauenden, assimilierenden und wachsen-
den, auf Reize durch zweckmässige Bewegungen mit Bewustsein
reagierenden, durch Teilung in gleiche Hälften sich vermehrenden
und ab und zu mit anderen, gleichartigen verschmelzenden, sich kon-
jugierenden, aus Protoplasma und Zellkern zusammengesetzten amoeben-
ähnlichen, einfachen Protozoen haben wir jene Organismen vor uns,
aus welchen sich alle anderen Lebewesen, alle Tiere und Pflanzen
ableiten lassen und im Laufe der phylogenetischen Entwickelung auch
thatsächlich hervorgegangen sind.
Es gab eine Zeit, in welcher am oeben artige, einfache Protozoen
die am höchsten organisierten, tauglichsten und daher herrschenden,
plasmatischen Bildungen auf der Erde waren. Da diese Amoeben
wohl ĂĽber weite Gebiete, vielleicht ĂĽber du* ganze Erde verbreitet
waren, so werden sie — in den verschiedenen Gegenden — ver-
schiedenen klimatischen und sonstigen Verhältnissen ausgesetzt ge-
wesen sein. Diese Vefschiedenheiv:n werden die Amoeben selbst
verschieden gemacht, differenziert haben. Diejenigen, welche unter
den Verh.iltniss'.-n -leg Ortes, an dem sie sich befanden, die grĂĽl'ste
A^simüation.-kraft besagen — diesen Verhältnissen am besten an-
gepafst waren — werben natürlich stets alles an sich gerissen und
die minder gut angepaĂźten verd ringt haben. Solcherart werden sich
die Amoeben im Laufe d -r Zeir den an ihren Standorten herrschen-
den Verhältnissen immer :n< hr atizepafst haben, und es können, wenn
die Verh btnisse lange Zeit unveKndert blieben, auf diese Weise sehr weit-
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gehende Anpassungsänderungen zu stände gekommen sein. Eine
solche fortschreitende Anpassung an längere Zeit unverändert
bleibende Verhältnisse ist eine in der gleiohen Richtung fortschreitende,
phylogenetische Entwicklung. Jene Verschiedenheiten werden bewirkt
haben, dafs sich die Amoeben an dem einen Orte nach jener, an dem
anderen nach dieser Riohtung phylogenetisch entwickelten und aus den
anfangs gleichartigen Amoeben sehr verschiedenartige Organismen
wurden.
Zunächst sind da jene zwei verschiedenen, phylogenetischen
Entwickelungsrichtungen eingeschlagen worden, welohe in der Ein-
teilung der Organismenwelt in Pflanzen und Tiere zum Ausdruck
kommen. Einige Amoeben kamen dazu, eine grüngefärbte, eisenhaltige
Substanz (das Chlorophyll) als Stoffwechselprodukt zu erzeugen,
welche die in den Ă„therschwingungen des Lichtes enthaltene Kraft
derart umänderte, dafs sie zersetzend auf Kohlensäure und Wasser
einwirkte. Jene zerlegte sie in C und O, dieses in H und O, und
die dabei frei werdenden Elemente C, H und 0 verband sie so mit-
einander, dafs Stärke entstand und das überschüssige O als freier
Sauerstoff entwich. Diese Formen waren die Urahnen des Pflanzen-
reiches. Die Pflanzen wurden durch den Besitz des Chlorophylls in
die Lage versetzt, aus den umgebenden Medien (Wasser, Luft) mit Hilfe
des Lichtes ohne eigene Anstrengung den gröfsten Teil des Stoffes
und der Kraft, deren sie bedurften, zu erlangen, und sie gewöhnten
sich daran, die geringen Mengen der ĂĽbrigen Stoffe, die sie brauchten,
aus den Lösungen, die sie in sich einsaugten, zu extrahieren.
Viel ungünstiger lagen die Verhältnisse für jene Amoeben,
welche kein Chlorophyll erzeugten. Sie konnten nicht mit Hilfe des
Lichtes aus den allenthalben in HĂĽlle und FĂĽlle vorhandenen Ver-
bindungen, Kohlensäure und Wasser, organische Stoffe erzeugen, Kraft
gewinnen und aufspeichern; sie waren darauf angewiesen, nach wie
vor mit der Assimilation der komplizierteren, in unvergleichlich ge-
ringerer Menge vorhandenen Verbindungen auszukommen.
Einige von diesen erlangten aber eine so grofse Assimilations-
kraft, dafs es ihnen möglich wurde, die chlorophyllhaltigen, einfachen
Pflanzen zu bewältigen und aufzufressen. Diese wurden die Stamm-
eltern des Tierreichs.
Innerhalb beider Oruppen, des Pflanzenreiches sowohl als des
Tierreiches, fĂĽhrte der fortdauernde Konkurrenzkampf zu weiterer
phylogenetischer Entwickelung und zwar zunächst nach zwei analogen
Hauptrichtungen hin. Bei den Formen, welche die eine Entwiokelungs-
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riohtung einschlugen, blieben die duroh Teilung auseinander hervor-
gehenden Individuen alle gleich gestaltet, gleich befähigt und meist
ganz voneinander getrennt, nur selten in geringer Zahl in losem Zu-
sammenhange. Bei diesen wurden innerhalb jedes Individuums ver-
schiedene, zum Teil recht komplizierte Einrichtungen hervorgebracht,
welohe den Zweck hatten, sie zum Leben geschickt zu raachen. Bei
diesen Formen waren und sind alle Individuen imstande, sich durch
Teilung zu vermehren und durch Konjugation neu zu kräftigen (Pro-
tozoen, Protophyten).
Bei den Formen, welche die andere Entwickelungsrichtung ein-
schlugen, blieben sehr zahlreiche, durch Teilung aus einem einzigen
hervorgehende Individuen in einem festen und innigen Zusammenhang.
Die Weltgeschichte und die gegenwärtigen sozialpolitischen
Verhältnisse führen uns die Vorteile, welche eine weitgehende Arbeits-
teilung bietet, auf das deutlichste vor Augen. Ein Gemeinwesen,
dessen sämtliche Angehörige an allen vorkommenden Arbeiten in
gleichem Mafse teilnehmen, wĂĽrde gegenĂĽber anderen, die eine wohl-
entwickelte Arbeitsteilung besitzen, ungemein im Nachteile sein und
gegen sie im Konkurrenzkampfe sofort unterliegen.
Wenn nun in Folge des Zusammenbleibens der durch Teilung
aus einem Individuum hervorgegangenen Einzelwesen Protozoen- und
Protophytenkolonien zustande kamen, so werden diejenigen von
ihnen, deren Einzelindividuen die gemeinsame Arbeit unter sich auf-
teilten, anderen gegenĂĽber, welche dies nicht thaten, im Vorteil gewesen
sein und dies umsomehr, je weiter die Arbeitsteilung ausgebildet
wurde. Es mufste aus diesem Grunde die Zuchtwahl mächtig fördernd
auf die phylogenetische Entwickelung der Arbeitsteilung bei den
Protozoen- und Protophytenstöcken einwirken. Eine weitergehende
Arbeitsteilung ist aber nur dann möglich, wenn die Individuen, welche
verschiedene Funktionen zu verrichten haben, den einzelnen, von ihnen
zu leistenden Arbeiten entsprechend organisiert sind.
Wir können uns wohl vorstellen, dafs es ab und zu vorgekommen
sein mag, dafe — unter irgend welchen äufseren Einwirkungen — die
Teilung, welche zur Bildung solcher Protozoen- und Protophyten-
kolonien fĂĽhrte, eine im geringen Grade inaequale war. so dafs also
die aus einem Mutterindividuum hervorgegangenen Tochterindividuen
einander nicht vollkommen glichen, und es läfst sich leicht denken,
dafs bei der Teilung das eine TeilstĂĽck mehr von den einen, das
andere mehr von den anderen Elementen, aus denen die Mutter
zusammengesetzt war. zugeteilt erhielt. Geschah dies aber,
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so wird es fĂĽr die Ausbildung der Arbeitsteilung von solchem Vor-
teil gewesen sein, dafs die Zuchtwahl diese Inaequalität stark fördern
und zu einer immer weiteren Ausbildung bringen mutete. Die Vor-
teile, welche die Arbeitsteilung bot, veranlagten also ein immer
weiter gehendes Ungleichwerden der einzelnen Individuen jener Pro-
tozoen- und Protopbytenstöcke, welche diese Entwickelungsrichtung
eingeschlagen hatten. Je verschiedener aber die einzelnen Individuen
wurden, umsomehr muteten sie auch voneinander abhängig werden.
Jene, welche der Reizperception angepafät wurden, verloren z. B. die
Fähigkeit des Nahrungserwerbes und mufsten von den der Nahrungs-
aufnahme angepateten mit ernährt werden: mit der Differenzierung
der Individuen raufste eine Zunahme der Innigkeit ihres Zusammen-
hanges und der Abhängigkeit der einzelnen Individuen voneinander
Hand in Hand gehen. Indem sie dieser Entwickelungsrichtung folgten,
bildeten sich die einfachen Protozoen und Protophyten zu höheren
Tieren und Pflanzen aus. Man nennt die einzelnen Individuen, aus
denen solche Protozoen- und Protophytenkolonien bestehen, Zellen.
Sie gleichen in Bezug auf ihre wesentlichen Bestandteile (Plasma,
Kern) und in Bezug auf ihren morphologischen Wert den einzelnen
Protozoen und Protophyten.
Wir haben gesehen, dafs sich die Individuen — Zellen — zwar
fortwährend, ohne irgendwelche Beschränkung vermehren können,
dafs aber ab und zu eine Neukräftigung, wie sie durch die Konjugation
zustande gebracht wird, stattfinden mute, wenn dieselben oder, genauer
gesagt, die ganzen Reihen der durch Teilung auseinander hervor-
gehenden Individuen — Zellen ihre Assimilationskraft (Lebens-
kraft) und Uefügefestigkeit ungeschwächt erhalten sollen.
Bei jenen hoch organisierten Zellenkolonien, welche die höheren,
vielzelligen Tiere und Pflanzen darstellen, gehen aus einer einfachen
Zelle, der Eizelle, zahlreiche Reihen verschiedenartig differenzierter
Zellen durch Teilung hervor. Einige von diesen bilden dauernde
Bestandteile des Organismus, andero, wie z. B. die Zellen, welche die
äufsere Haut (Epidermis) des Menschen zusammensetzen, gehen fort-
während verloren und müssen ununterbrochen durch fortgesetzte Zell-
teilung ersetzt werden. Die den Körper zusammensetzenden Zell-
rethen können sich wegen ihres festen Verbandes miteinander und
ihrer hohen, einseitigen Differenzierung nicht konjugieren: ohne je-
mals durch eine Konjugation neu gekräftigt zu werden, müssen sie
sich fortwährend durch Teilung vermehren. Diesen, ohne Konjugation
fortwährend durch Teilung sich vermehrenden Zellreihen wird es
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gerade so gehen wie Reihen von Infusorien, welche durch fortgesetzte
Teilung ohne Konjugation auseinander hervorgehen: sie werden mit
der Zeit an Lebenskraft einbüfsen, schwächer und kleiner werden
und ihre Aufgaben (Funktionen) immer weniger gut verrichten.
Da bei einer höheren Pflanze, noch mehr bei einem höheren
Tier die verschiedenen Zellarten infolge ihrer weitgegangenen Diffe-
renzierung ganz und gar abhängig voneinander sind, so wird das
Sohwächerwcrden einer Zellart und diu damit verbundene Mangel-
haftigkeit der Verrichtung jener Funktion, die ihr zugeteilt ist, die
Lebenskraft des ganzen Organismus beeinträchtigen. Je nach der
Art des Organismus, je nach der ursprĂĽnglichen TĂĽchtigkeit des In-
dividuums und je nach den äufseren Umständen wird eine solche
Schwächung der Zellen, eine solche senile Degeneration, früher oder
später eintreten, und es wird einmal diese, einmal jene Zellenart der
Organismen zuerst von ihr betroffen werden. Die senile Degene-
ration ist unausbleiblich, ihr Eintreten bewirkt zuerst Krankheit, und
bei weiterem Fortschreiten den Tod des ganzen Körpers.
Während so jeder Körper (soma), jedes höhere, vielzellige Tier und
jede höhere, vielzellige Pflanze dem Tode geweiht ist, haben sich die
Keimzellen, die Eier und Spermatozoen, beziehungsweise Pollen, die
den Protozoen und Protophyten zukommende Kontinuität der Existenz,
die Unsterblichkeit bewahrt. Denn diese Zellen sind imstande, sich
miteinander zu vereinigen, sich zu konjugieren, und werden so immer
wieder von neuem gekräftigt: sie geniefsen die Vorteilo eines ewig sich
erneuernden Lebens und einer ewig sich erneuernden Jugendkraft.
In den vielzelligen, höheren Tieren und Pflanzen finden wir also
zweierlei Arten von Zellen; 1.) die den verschiedeneu Funktionen
angtparsten, welche keine Konjugation eingehen können und daher
dem Todo geweiht sind: diese Zellen bilden den Körper, das Sorna,
und wir nennen sie Somazellen; und 2.) die zur Konjugation und zu
ewigem Leben befähigten: diese Zellen sind die Ei-, Sperma und Pollen-
zellen, und wir nennen sie Keimzellen. Trotz der Unmöglichkeit einer
Konjugationsverjüngung können sich die Somazellen ziemlich lange
Zeit hindurch lebenskräftig erhalten und durch Teilung vermehren.
Diese Zeit ist die Maximaldauer des Lebens des Körpers. Wir wissen,
dafe die Sequoia gigantea in Kalifornien mehrere tausend Jahre alt
werden kann, dafs sich der Weinstock seit den Zeiten der Römer
durch Stecklinge — also ohne Konjugation — erhalten und ver-
mehrt hat. Wir wissen, dafs die Riesenschildkröte mehrere hundert
Jahre alt wird. Bei den allermeisten höheren Pflanzen und Tieren,
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7:}
und namentlich auch beim Menschen, ist aber jene maximale Lebens-
dauer eine viel kĂĽrzere.
Man sollte glauben, dafs die in anderen Hinsichten so mächtige,
natürliche Zuchtwahl wohl im stände gewesen sein müfste, die Lebens-
dauer der Körper zu verlängern — wenn sich bei einer Sequoia die
Zellen dreitausend Jahre lang ohne Konjugation durch Teilung ver-
mehren können, ohne erheblich geschwächt zu werden, warum sollte
das beim Menschen nicht möglich sein? Die zahllosen Gefahren, welche
alle Tiere und Pflanzen bedrohen, vernichten sie in fast allen Fällen,
lange bevor die senile Degeneration weiter vorgeschritten ist. Aus
diesem Grunde wĂĽrde eine, durch dio Zuchtwahl herbeigefĂĽhrte Ver-
längerung der inneren Lebensmöglichkeit einen gar nicht merklichen
Einflute auf die thatsächliche, durchschnittliche Lebensdauer ausgeübt
haben. Und weil eine solche Verlängerung der inneren Lebens-
möglichkeit keinen merklichen Vorteil bot, konnte sie von der natür-
lichen Zuchtwahl auch nicht merklich begĂĽnstigt werden: bei allen
schwächeren Formen unterblieb sie ganz, nur bei einigen, besonders
gut geschützten und äufseren Gefahren besonders wenig ausgesetzten
kam sie zur Geltung, und diese erlangten in der That die Fähigkeit,
lange zu leben. Unsere eigenen tierischen Vorfahren erfreuten sich
keiner solchen Immunität vor äufseren Gefahren, so dafs die natür-
liche Zuchtwahl nioht dazu kam, diesen eine längere, innere Lebens-
möglichkeit anzuzüchten. Jetzt, da durch die Civilisation und die
medizinische Wissenschaft die äufseren, den Menschen bedrohenden
Gefahren stark verringert worden sind, wird die Zuchtwahl sicher
auch dahin wirken, die innere Lebensmöglichkeit zu verlängern,
und es läfst sich vermuten, dafs in einer fernen Zukunft das Alter
der an ., Altersschwäche" sterbenden Menschen ein höheres sein wird
als jetzt.
Obwohl die Keimzellen der höheren Tiere und Pflanzen nicht
untereinander gleich sind wie zwei sich konjugierende Protozoen, so
ist doch der Vorgang, der bei der Vereinigung derselben stattfindet,
die Befruchtung, dem Wesen nach ganz derselbe. Von den zwei sioh
vereinigenden Keimzellen der höheren Tiere und Pflanzen ist immer
eine grofs und mit Reservenahrung ausgestattet, die andere klein und
nur aus den wesentlichen Bestandteilen, zu denen, namentlich bei den
Tieren, locomotorische Einrichtungen hinzukommen, zusammengesetzt
Die ersteren, die grofsen, nennt man weibliche Keimzellen, es sind die
Eizellen in den Eiern der Tiere und den Samen der Pflanzen, die
letzteren nennt man männliche Keimzellen, es sind die Spermatozoon
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74
der Tiere und die Pollen der Pflanzen. Die Schnecke, der Regen-
wurm und viele andere, namentlich niedere Tiere, sowie die meisten
Pflanzen erzeugen sowohl kleine (männliche) als auch grofse (weib-
liche) Keimzellen. Solche nennt man Zwitter. Die diözischen Pflanzen
und die meisten höheren Tiere mit Einschlufs des Menschen erzeugen
entweder blofs kleine (männliche) oder grofse (weibliche) Keimzellen.
Danach unterscheidet man bei ihnen Männchen und Weibchen.
Die wesentlichen Bestandteile dieser Keimzellen sind der Kern
und das Centrosoma. Der Kern ist der eigentliche Träger der elter-
lichen Charaktere. Das Centrosoma spielt bei der Entwickelung eine
dynamische Rolle. Jeder Keimzellenkern teilt sich (wie der Neben-
kern des sich konjugierenden Infusors) zweimal. Drei Viertelteile
desselben gehen zu Grunde; das ĂĽbrigbleibende Viertel vereinigt sich
mit dem ĂĽbrigbleibenden Viertel des Kerns der andersgeschlecht-
lichen Keimzelle. Aus dem so entstandenen Kern gehen dann durch
wiederholte Teilung die Kerne aller Zellen des Organismus, der sich
aus diesem Keimzellenpaar entwickelt, hervor.
Bei den höheren Tieren und auch beim Menschen geht eine
solche Kernvereinigung immer der Entwickelung voran. Viele niedere
Tiere und die meisten Pflanzen aber können sich auch aus unbe-
fruchteten Eiern, TeilstĂĽcken oder Knospen, ohne jegliche Kern-
misohung entwickeln. Diese „ungeschlechtliche* Fortpflanzungsweise
mufs aber ab und zu durch eine ..geschlechtliche", auf Kernmischung
beruhende unterbrochen werden, sonst fallen die späteren Generationen,
geradeso wie Infusorien, welche sich blofs durch Teilung vermehren,
der senilen Degeneration anheira und gehen zu Grunde.
Damit die Kernmischung den gewĂĽnschten Erfolg einer Neu-
kräfiigung, Verjüngung habe, müssen die beiden sich mischenden
Kerne in einem gewissen, geringen Mafse verschieden sein. Sind sie
sehr verschieden, gehören sie ganz verschiedenen „Spezies" an, so
mischen sie sich ĂĽberhaupt nicht. Begattet ein Hahn eine Ente, so
tritt keine Kornmischung, keine Befruchtung ein. Sind sie weniger
verschieden, gehören sie ähnlichen Arten an, so kann eine Ver-
mischung stattfinden, und es entsteht eine Bastardform, welche häufig
unfruchtbar ist. So erzeugen Pferd und Esel das unfruchtbare Maul-
tier. Gehören sie derselben Art, doch sonst verschiedenen, nicht mit-
einander näher verwandten Individuen an, so wird der gewünschte
Kräftiglingserfolg erzielt; dies ist der bei der Konjugation der Proto-
zoen und Profophyten und bei der Befruchtung der höheren Tiere
und Pflanzen gewöhnlich eintretende Fall. Gehören sie sehr ähn-
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7")
liehen, nahe verwandten Individuen an, so ist die Wirkung der Kern-
mischung eine weniger kräftigende, und die aus einer solchen Ver-
einigung hervorgehenden Individuen sind schwächer als ihre Eltern
(Inzucht). Wird die Inzucht längere Zeit, viele Generationen hin-
durch, fortgesetzt, so tritt senile Degeneration ein, und die betreffende
Familie geht zu Grunde. Am wenigsten gĂĽnstig ist die Wirkung
der Vermischung dann, wenn sich Kerne vereinigen, die demselben
Individuum entstammen (Selbstbefruchtung bei Zwittern).
Don hohen Wert, den die Kernmischung zwischen nicht näher
verwandten Individuen derselben Art hat, können wir aus dem grofsen
Aufwände ermessen, den die Natur macht, um solche Kernmischungen
zu erzielen. Die komplizierten und oft sehr voluminösen Begattungs-
organe und der Schmuck männlicher Tiere (Singvermögen der männ-
lichen Singvögel, Schmuckfedern der Paradiesvogel- und Fasanen-
Männchen, Geweihe der Hirsche) legen Zeugnis hierfür ab. Deutlicher
noch erkennen wir dies bei den höheren Pflanzen. Bei zwittrigen
Blüten sind alle möglichen Einrichtungen getroffen, um eine Selbst-
bestäubung (-Befruchtung) zu verhindern. Die auffallenden Blüten
selbst, ihre grellen Farben, der Duft, der von ihnen ausgeht, und der
sĂĽTse Nektar, den sie ausscheiden, sind nur dazu da, um Insekten
anzulocken, die dann von BlĂĽte zu BlĂĽte fliegend den Pollen von
einer zur anderen tragen und eine Befruchtung — Kernmischung —
zwischen verschiedenen Individuen herbeifĂĽhren. Bei den Koniferen
raufe der Wind den Pollen von einem Baum zum anderen bringen,
und da dieses Transportmittel ein höchst unzuverlässiges ist, mufs der
Pollen in ungeheuren Mengen erzeugt werden, um don gewĂĽnschten
Erfolg sicherzustellen. Die Pollenverschwendung ist bei den Koni-
feren eine geradezu unglaubliche, von 1000 Millionen Koniferenpollen-
individuen erreicht wohl nur eines sein Ziel, alle anderen gehen zu
Grunde, werden verschwendet.
Von den Somazellen, aus denen der menschliche Körper besteht,
werden täglich Tausende von Zellen, die fortwährend absterbenden,
austrocknenden und dann abfallenden Epithelzellen der äufseren Haut,
dem Untergange geweiht. Die aus Zellen entstandenen Haare und
Federn werden öfter abgeworfen; ebenso die Geweihe der Hirsche.
Die Blätter der Laubbäume unserer gemäfsigten Zone, welche aus
lebenden Zellen bestehen, sterben allherbstlich ab. Ăśberall sehen
wir, wie Teile fĂĽr das Wohl des Ganzen geopfert werden. Ebenso,
wie sich solche Teile zum Ganzen verhalten, verhalten sich die
Körper (Somata) der Tiere und Pflanzen zu den Keimzellen, welohe
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7t;
in ihnen leben und welche sie von Zeit zu Zeit verlassen, um neue
Körper aus sich hervorgehen zu lassen. Diese Keimzellen vermehren
sich auch fortwährend durch Teilung. Ab und zu verschmelzen zwei
miteinander (Befruchtung), und e6 giebt diese Verschmelzung (Kern-
misohung) Anlafs zur Beschleunigung der Zellvermehrung durch
Teilung und zum Verschiedenwerden der dabei entstehenden Zellen.
Wir können uns die Reihen der durch Teilung auseinander her-
vorgehenden Keimzellen als einen dichotomisch verästelten Baum
(Stammbaum) vorstellen, dessen Ă„ste vielerorts mit den Ă„sten anderer
solcher Bäume (Stammbäume) verschmelzen (Vereinigung von Sperma
und Ei). Aus jeder solcher Verschmelzungsstelle erhebt sich dann
ein dichtes BĂĽschel von verschiedenartigen Zweigen (die verschiede-
nen, aus der befruchteten Keimzelle hervorgehenden Somazellen).
Jedes solches ZweigbĂĽschel stellt ein tierisches oder pflanzliches Indi-
viduum dar. Die allermeisten Zweige dieses BĂĽschels sind kurz und
enden bald (beim Tode des Körpers), einige, die Reihen der ausein«
ander hervorgehenden, unsterblichen Keimzellen, erstrecken sich weiter,
ohne Ende: das ist der Baum, der fortwährend seine Blätter opfert
und sich täglich neu begrünt!
Wir ersehen hieraus, dafs im organischen Leben die Reihen der
Keimzellen, die Keimzellenserien, das eigentlich Wesentliche sind,
während die Individuen nur die Bedeutung von Organen dieser Keim-
zellenserien und keinen Selbstzweck haben. Die Individuen sind nur
die Mittel, die die Keimzellenserien sich selbst erzeugen, um damit
andere Keimzellenserien zu bekämpfen. Der Kampf ums Dasein ist
nicht ein Kampf zwischen den Individuen, sondern ein Kampf zwischen
den Keimzellenserien, und es sind in diesem Kampfe die Individuen
(Körper, Sorna) nur die Waffen und nicht die eigentlich Kämpfenden.
Jeder Organismus und jeder Mensch hat demnach die Aufgabe,
die in seinem Innern fortlebende Keimzellenserie zu hegen und zu
pflegen und ihrem Wohle stets, unbedingt und absolut in jeder Hin-
sicht das eigene Wohl unterzuordnen. Da die Keimzellenserien ast-
artig aus gemeinsamen Stämmen entspringen und durch die Befruch-
tung allenthalben miteinander zusammenhängen, erscheinen sie als
Netze, welche die einzelnen Körper (Individuen) verbinden. Diese
Netzstruktur der Keimzellenserien ist der graphische Ausdruck fĂĽr
die thatsächliche Verwandtschaft der Individuen untereinander.
In den Insektenstaaten (Bienen, Ameisen etc.) giebt es viele
Individuen, deren Geschlechtsorgane nicht zur Ausbildung gelangen,
in denen also keine Keimzellenserien fortleben. Ja diese Individuen,
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die Arbeiter und Soldaten, sind weit zahlreicher wie die keimzellen-
fdhrenden, geschlechtlichen. Auch sie sind Organe, Waffen der Keim-
zellenserie und haben als solche die Aufgabe, fĂĽr diejenige Keim-
zellenserie zu sorgen, der sie entsprossen sind. — Also haben nicht
nur die Eltern die Pflicht, fĂĽr ihre Kinder, sondern auch die Tanten
(die Arbeiterbienen sind ja solche Tanten) die Pflicht, fĂĽr ihre Nichten
und Neffen zu sorgen. In den Fällen, in denen viele Individuen der-
selben Art zusammenleben (BĂĽffelherden z. B.) und eine soziale Ein-
heit bilden, mĂĽssen alle fĂĽr einen und jeder fĂĽr alle einstehen: die
Individuen haben hier nicht nur fĂĽr Kinder und Nichten, sondern
auch fĂĽr entferntere Verwandte zu sorgen.
Überblicken wir diese Verhältnisse und die sozialen Formen,
die eich in den menschlichen Gesellschaften ausgebildet haben, so er-
kennen wir, dafs jedes Individuum dazu da ist, fĂĽr alle Keimzellen-
Serien in dem Verhältnis des Grades der Verwandtschaft zu
sorgen in erster Linie fĂĽr die eigene (eigenen Kinder), in zweiter
Linie fĂĽr jene der Geschwister (Netten und Nichten), dann fĂĽr jene
der Vettern ersten, zweiten Grades, und so fort. Alle Handlungen
der Tiere und auch des Menschen mĂĽssen derart sein, dafs sie diesen
Anforderungen entsprechen, das altruistische GefĂĽhl darf kein gleich-
mäßiges sein, es mufs von dein Grade der Verwandtschaft ab-
hängig und diesem genau proportional sein. Erforschen wir
uns selbst, so erkennen wir, dafs uns in der That eine solche gra-
duelle Liebe zu allen anderen Organismen innewohnt. Liegt ein
Bruder im Kampfe mit einem Fremden, werden wir dem Bruder bei-
stehen (Familienliebe). Kämpft ein Stammesgenosse gegen einen An-
gehörigen eines anderen Stammes, werden wir dem Stammesgenossen
beistehen (Nationalgefühl). Kämpft ein Mensch gegen einen Bären,
werden wir dem Menschen beistehen (Menschenliebe). Kämpft ein
höheres, uns näher verwandtes Tier gegen einen niedrigeren, uns
ferner stehenden Organismus, etwa ein Rind gegen Anthraxbazillen,
so werden wir mit dem Rinde MitgefĂĽhl haben. Die auf der That-
sache, dafs die Individuen nur Organe, Werkzeuge, Waffen der Keira-
zellenserien sind, beruhende Pflicht, alle anderen Organismen nach
dem Grade ihrer Verwandtschaft mit uns zu unterstĂĽtzen, mufs die
Grundlage einer jeden staatlichen und sozialen Einrichtung bilden:
in der That ruht auch die Gesetzgebung der civilisierten Staaten auf
dieser Grundlage (Erbrecht, Wehrpflicht, Altersversorgung etc.).
Werfen wir nun noch einmal den Blick zurĂĽck ĂĽber das von
uns durchwanderte Gebiet, so erkennen wir, dafs zur Zeit, als die
78
Erde den entsprechenden AbkĂĽhlungsgrad erreicht hatte, auf derselben
das Plasma entstanden ist, eine weiche Substanz hydratkrystallinischer
Natur. Diese Substanz reifst alle Stoffe, die aus denselben chemischen
Elementen bestehen, fortwährend an sich. Die Verhältnisse haben sie
dazu veranlafst, sich zu teilen, und die Teile (Protozoen, Keimzellen-
scrien) mufsten sich ab und zu vereinigen, um neu gekräftigt zu
werden, und sie mufsten Waffen (die Somata) erzeugen, um den Kon-
kurrenzkampf gegen andere Keimzellenserien siegreich bestehen zu
können. Jeder vielzellige Organismus, jede Pflanze, jedes Tier und
jeder Mensch ist so eine Waffe.
Die Lebewelt hat keine anderen Eigenschaften als die sogenannte
anorganische Natur, und sie steht in keinerlei Gegensatz zu dieser.
Diejenigen Zellenserien, welche die als Somata, Körper der viel-
zelligen Tiere und Pflanzen bekannten Waffen und Werkzeuge bildeten,
erlangten hierdurch eine entscheidende Ăśberlegenheit ĂĽber die ein-
zöllig bleibenden Protozoen und Protophyten. Der Mensch, welcher
es dank seiner ĂĽberlegenen Geisteskraft lernte, Waffen und Werk-
zeuge zur leichteren Erreichung seiner Zwecke, aus anderen, aufser ihm
gelegenen Dingen herzustellen, erlangte in analoger Weise hierdurch eine
entscheidende Ăśberlegenheit ĂĽber die ganze ĂĽbrige Organismen welt Die
Entwicklung dieser Waffen und Werkzeuge schreitet gegenwärtig
mit noch nie dagewesener Raschheit vorwärts. Dieser Fortschritt be-
festigt uns in unserer herrschenden Stellung in der Natur immer mehr
und mufs uns mit stolzer Freude erfĂĽllen. Aber wie sehr wir uns
auch durch diese Hilfsmittel der Technik ĂĽber die anorganische und
die ĂĽbrige organische Natur erheben, nie dĂĽrfen wir vergessen, dafs
wir einen Teil derselben bilden, dafs wir Fleisch von ihrem Fleische
sind.
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Technische Zweimonatsschau.
Von Dr. Gustav Rauter in Berlin.
enn wir in „Himmel und Erde" von jetzt ab alle zwei Monate
einen Bericht ĂĽber die Fortschritte der Technik in der letzten
Zeit geben werden, so ist der gegenwärtige Augenblick um
so mehr fĂĽr den Beginn eines solchen Unternehmens geeignet, als
gerade jetzt die Ausstellung in DĂĽsseldorf, Deutschlands erste wirk-
lich grorse Industrie-Ausstellung, aller Augen auf sich zieht und von
dem Stande der Technik in dem darin am meisten fortgeschrittenen
Teile unseres Vaterlandes ein so ĂĽberaus anschauliches Bild giebt.
Auch erheben sich ferner heute lauter als je immer zahlreichere
Stimmen, die auf die Wichtigkeit der Technik und ihrer Pflege hin-
deuten, und die fĂĽr sie selber, sowie namentlich auch fĂĽr den Tech-
niker, mit steigendem Nachdruck ein höheres Mars von Anerkennung
fordern, als es ihnen bisher zu teil geworden ist
Was letztere Forderungen anbetrifft, so sind sie ja erklärlich,
zeugen aber wohl immerhin von einer gewissen Ungeduld, die sich
nicht damit begnĂĽgt, zu arbeiten und zu schaffen, sondern die auoh
gleich ihre Tätigkeit mit Ehren allor Art gekrönt sehen will, während
sich diese doch schliefslich ohne viel Zuthun von selber einstellen
werden, wenn erst Technik und Techniker in einem längeren Zeit-
raum auch dem, der es nicht gorne sehen will, eindringlich genug
bewiesen haben werden, dafs sie nicht nur den augenblicklichen Be-
dĂĽrfnissen dienen, sondern Erzeugnisse von bleibendem Wert liefern,
und ein ebenso wichtiges wie unentbehrliches Glied in der Reihe
menschlicher Wissenschaften und Berufe sind. In der That ist ja
doch die Technik im heutigen Sinne nicht so sehr alt, wie es jetzt
vielleicht erscheint, wo man sie schon durchaus als etwas Selbstver-
ständliches hinnimmt. Noch Justus Liebig wurde seinerzeit ausge-
lacht, als er etwa zwischen 1815 und 1820 auf die Frage, was er
werden wolle, erwiderte, er wolle ein Chemiker werden. So wenig
dachte damals jemand schon an Chemie oder an chemische Technik
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80
als Lebensberuf. Auch die Dampfmaschine in brauchbarer Form ist
nicht viel älter als 100 Jahre; die eigentliche Entwickolung des Eisen-
hoch- und -BrĂĽckenbaues reicht nur etwa 50 Jahre zurĂĽck. Die feste
Rheinbrücke in Köln war damals neben der Dirschauer Brücke das erste,
viel angestaunte grofse Werk dieser Gattung. Das Aufkommen schliefs-
lich der elektrotechnischen und elektrochemischen Industrie haben wir
alle noch selber erlebt; noch vor 30 Jahren galten Dynamo-Maschinen
nur erst als ein unterhaltendes Spielzeug fĂĽr physikalische Kabinette.
Diese ungeheure Entwickelung vom Spielzeug bis zur viele Hun-
derte von Pferdekräften leistenden Maschine bezeichnet besser als
irgend etwas das plötzliche Emporschiefsen der Technik, ihren Über-
gang von immerhin bescheideneren Formen zu riesengrofsem Umfang.
Die Thatsache ist natĂĽrlich Veranlassung gewesen, dafs sich auch
weitere Kreise als bisher nicht nur den technischen Wissenschaften
und der technischen Praxis zugewendet haben, sondern dafs heute
auch fast ein jeder, der sich nicht beruf6mäfsig damit beschäftigt, doch
wenigstens den dringenden und durchaus berechtigten Wunsch hat,
ĂĽber ihre Fortschritte unterrichtet zu werden und von ihren Gesetzen
wenigstens das Allgemeinste zu erfahren.
Kehren wir von diesen einleitenden Bemerkungen nun wieder
zu unserem eigentlichen Gegenstande zurĂĽck, so linden wir, wie ge-
sagt, gegenwärtig in Düsseldorf das beste Bild von dem augenblick-
lichen Stande deutscher Technik. Betreten wir das Ausstellungs-
gelände von dem Haupteingange aus, so durchschreiten wir zunächst
alte Gartenanlasen, die noch zu dem Hofgarten gehören, auf den
DĂĽsseldorf so stolz ist, und von dem ein Teil in die Ausstellung hin-
eingezogen ist
Freilich können wir Iiier nicht in dem Rahmen einer Rundschau
die ganze DĂĽsseldorfer Ausstellung beschreiben; um uns nicht zu zer-
splittern, mĂĽssen wir uns fĂĽr heute auf ein kleineres Gebiet be-
schränken, zumal wir ja auch noch, dem Charakter unserer Rund-
schau entsprechend, nicht allein das in DĂĽsseldorf auf diesem Gebiete
Ausgestellte betrachten, sondern auch auf dessen ganze augenblick-
liche Lage einen Blick werfen wollen. Andererseits wird es sich
wiederum auch für später empfehlen, wenn wir in einer Rundschau
nicht immer alle Neuerungen vornehmen, die in allen Gebieten der
Technik in den letzten zwei Monaten haben von sich reden machen,
sondern dafs wir immer nur einen bestimmten, nicht zu grofsen Teil
der Technik besprechen. Hier dĂĽrfen wir dafĂĽr dann wohl etwas
weiter ausreifen, so dafs wir nicht ein Gewirr von allerhand kleinen
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Nachrichten, sondern vielmehr eine einigermaĂźen in eich geschlossene
Abhandlung geben. Wir wollen dementsprechend heute einmal das
Gebiet des Bauwesens in Augenschein nehmen, das auch dem Nicht-
Techniker um so näher liegen mufs, als er ja fortwährend, wie die
Schnecken von ihrem Haus, von Erzeugnissen des Bauwesens um-
geben ist, und schliefslich auch fĂĽr den Fall, dafs er einmal daran
denkt, sich ein eigenes Haus zu bauen, doch gerade auf diesem Ge-
biete einige Kenntnisse haben mufs, damit er sieh nicht dem ersten
besten Maurermeister blindlings zu ĂĽberlassen braucht. Dabei werden
denn leicht wegen mangelnder Sachkenntnis und Ăśberlegung mitunter
gerade sehr wichtige Teile eines Baues vergessen, Vorkommnisse, wie
sie leider nicht so sehr selten sind, als man etwa meinen sollte.
Am Ende des Hofgartenbezirkes der Ausstellung nun sehen wir
verschiedene gefällige Bauten, in denen sich die Tonwarenindustrie
dem Beschauer darstellt, und unter denen namentlich der prachtvolle
Pavillon der Firma Villeroy & Boch auffällt, der ein Meisterwerk der *
Majolika- und verwandter Techniken ist. Die hier gestellte Aufgabe,
möglichst alle Zweige der Tonwarenindustrie in Aufsen- und Innen-
ausstattung eines einzigen, nicht zu grofsen Gebäudes zur Geltung zu
bringen, war allerdings äufserst schwierig. Um so mehr ist es anzu-
erkennen, dafs deren Lösung dem entwerfenden Künstler, dem Archi-
tekten A. I. Pley er in Mainz, in vollendeter Weise geglĂĽckt ist
Sämtliche äufseren Baustücke sind Erzeugnisse der Terrakottenfabrik
in Merzig. Sie sind gröfstenteils nicht in Formen gegossen, sondern
als Original' Modelle gebrannt, wodurch sich der auĂźerordentliche Reiz
und die Frische der Reliefarbeiten erklären. Dieser Fortschritt in
der künstlerischen Verwertung der Majolika ist allerdings um so höher
anzuschlagen, als diese Technik durch die ewige Wiederholung immer
gleicher Modelle naoh einmal vorhandenen Gipsformen bereits sehr
stark an Ansehen eingebüßt hatte. Waren doch die Zeiten längst
vorĂĽber, in denen so bedeutende KĂĽnstler, wie die delia Robbia
in jahrzehntelanger Arbeit einen Bau mit Majoliken ausschmĂĽckten,
und glaubte man sich doch bis vor kurzem auch hier fa*>t allgemein
mit beliebiger Lagerware behelfen zu dĂĽrfen.
Weiter gehend treffen wir bald auf die sehr schön am Rhein
gelegene umfangreiche Ausstellung des Vereins Deutscher Portland-
cementfabriken und des Deutschen Betonvereins, ein Bauwerk, das
nebst dem Kunstpalast und dem Pavillon von Villeroy & Boch
allein vor dem Schicksal des Abgerissenwerdens nach Schlufs der
Ausstellung bewahrt bleiben wird. Die mächtige, eino unterkellerte
Himmel und Erd«. 1901 XV. 2. 6
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Terrasse darstellende Anlage, wurde in kĂĽrzester Zeit auf recht un-
günstigem Baugrund in Beton ausgeführt und zeigt alle möglichen
Arten von Betonbauweisen mit und ohne Eiseneinlagen in muster-
gĂĽltigen Ausfuhrungsformen. Insbesondere bemerkenswert ist hier
die grofse Figurengruppe nach einem Modell von Professor Karl
Janssen in DĂĽsseldorf, die sich inmitten einer Springbrunnenanlage
erhebt Diese ist ihrerseits wiederum auf mächtigen Gewölben auf-
gebaut, in denen man eine Bierkneipe untergebracht hat Rechts und
links von der Anlage erheben sich 35 m hoch zwei mächtige Beton-
sliulen mit vergoldeten Figuren, die den Beschauer schon von weitem
darauf hinweisen, was hier zu sehen ist. Eine 30 m weit gespannte
Betonbrücke mit Kämpfer- und Scheitelgelenken aus Granit, von nur
2 m Pfeilhöhe, ausgeführt von Dyckerhoff & Widmann in Biebrich,
zeigt uns die Leistungen des modernen BetonbrĂĽckenbaus, der sich
heute ebenbĂĽrtig dem Bau eiserner BrĂĽcken anreiht
Eine andere Ausstellung auf dem Gebiete des Cementbauwesens
ist die der Bude russchen Eisenwerke in Wetzlar, die in einem be-
sonderen, sehr geschmackvoll errichteten Bau ihre Erzeugnisse an
Schlackensteinen und sogenanntem Eisen portlandcement vorgefĂĽhrt
haben. Dieser Eisenportlandcement wird mit Hilfe von Hochofen-
schlacken gewonnen, die ja frĂĽher nichts weiter darstellten, als einen
äufserst lästigen Abfall der Eisenwerke. Man konnte sie nur los
werden, indem man sie auf die Halde schĂĽttete, was eine Menge von
Raum und Arbeit in Anspruch nahm. Gegenwärtig ist es geglückt
mit ihrer Hilfe auch Portlandcement herzustellen, der dem gewöhn-
lichen Portlandcement an GĂĽte nichts nachgeben soll. Auch Schlacken-
steine stellt die genannte Firma aus Hochofenschlacke her. Diese
werden dadurch gewonnen, dafs man die Hochofenschlacke durch
Einfliefsenlassen in einen Wasserstrom körnt worauf der so erhaltene
Schlackensand mit Kalkbrei angemacht und unter hohem Druck in
Formen geprefst wird. Das Verfahren ist der Herstellung der soge-
nannten Kalksandsteine in seinem Wesen durchaus ähnlich, die ja
neuerdings eine immer weitergehende Anwendung finden, und die
unter gĂĽnstigen Bedingungen mit aus Lehm gebrannten Ziegeln so-
wohl was Widerstandsfähigkeit, wie was Preis anbetrifft, durchaus in
Wettbewerb treten können.
Interessant ist auch auf dem Gebiete des Bauwesens die Aus-
stellung der Baufirma Alphons Custodis A-G. zu DĂĽsseldorf, die
uns in der Abteilung fĂĽr Wohlfahnsemrichtungen Modelle ihrer MĂĽll-
verbrennungsöfen nach System Horsfall vorführt Diese Öfen sind
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namentlich in Hamburg in einer grofscn Anlage ausgefĂĽhrt. Sie
bilden eigentĂĽmlich konstruierte Feuerungsanlagen, in denen der MĂĽll
ohne Zugabe eines besonderen Brennstoffes allein durch die Hitze der
in ihm enthaltenen verbrennlichen Bestandteile verbrannt wird. Er
entwickelt dabei so viel Wärme, dato diese zum Betriebe von Dampf-
kesseln in groĂźem Marsstabe nutzbar gemacht werden kann, so date
sich hierdurch allein schon die Kosten der Anlage bezahlt machen.
Namentlich aber sind auch die gesundheitlichen Vorteile des Ver-
fahrens sehr grofs, zumal es auoh gestatten soll, sogar die Sinkstoffe
der Kanalisation zugleioh mit dem Müll durch Verbrennen unschäd-
lich zu machen.
Die grofsen Eisenkonstruktionen und Maschinenhallen, erbau
von Heinrich Lehmann & Co. in DĂĽsseldorf-Oberbilk, sowie die
von der nämliohen Firma ausgeführten mächtigen Eisenbauten der
Ausstellung des Vereins fĂĽr die bergbaulichen Interessen im Ober-
bergamtsbezirke Dortmund, wie schliefslich auch die schönen Modelle
von Eisen bauten in dem besonderen Pavillon der Till man n sehen
Eisenbau-A-O. zu Remscheid seien hier nur erwähnt, da sie mehr in
das Gebiet des Ingenieurwesens fallen, als in das des eigentlichen
Bauwesens.
Wenden wir uns nunmehr dagegen dem eigentlichen Wohnhaus-
bau zu, so versäume man nicht, jedenfalls die hinter der mächtigen
Kruppsohen Halle aufgebauten Arbeiterwohnhäuser zu besuchen, die
mit ihrer hĂĽbschen Ausstattung und Einrichtung in Berlin und Um-
gegend recht gut als kleine Villen gelten könnten, und die uns in
erfreulicher Weise zeigen, wie sehr die Förderung des Arbeiter-
wohnungswesens am Rhein den Industriellen und Arbeitern, Behörden
und Vereinen am Herzen liegt. Auch das Haus der rheinischen
Schwemmsteinindustriellen ist hier von grofsem Interesse, in dem alle
Verwendungsweisen des im Rheinlande so sehr beliebten Schwemm-
steins vorgefĂĽhrt werden. Der Schwemmstein wird bekanntlich aus
dem sich bei Neuwied in so grofser Menge findenden vulkanischen
Sand unter Zusatz einer geringen Menge von Kalkmilch hergestellt
und zeichnet sich duroh sein äufserst leichtes Gewicht vorteilhaft aus.
Auoh sonst sind die eigentlich rheinischen Baustoffe namentlich
für den auswärtigen Besucher um so beachtenswerter, als sie aus den
alten vulkanischen Ablagerungen gewonnen werden, an denen das
Rheingebiet so reich ist Hier sind zunächst die Basaltsteine zu er-
wähnen, die, von der Natur in säulenförmiger Klüftung geliefert, viel-
fach ohne weitere Verarbeitung als Bausteine benutzt werden können,
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indem man einfach die Basaltsäulen in passender Länge als solche
verwendet. Namentlich im Wasserbauwesen spielt der Basalt eine
grofse Rolle, und zahlreiche Schiffsladungen davon gehen insbesondere
nach Holland, um dort bei den grofsen Schutzbauten gegen die Fluten
der Nordsee benutzt zu werden.
Wird der Basalt namentlich von den Westerwälder Basalt-Brüchen
G. m. b. H. zu Eiserfeld in einem geschmackvollen Bau ausgestellt,
der als hübsches Sommerhäuschen ohne weiteres zu verwenden wäre,
so stellt die Stein- und Tonindustrie-Gesellschaft Brohlthal in Köln
einen kasemattartigen Bau aus Tuffstein aus. Auch dieser Baustein
erfreut sich am Rhein grofser Beliebtheit, und namentlich zahlreiche
alte Kirchen sind aus ihm hergestellt. Vermählen dient der Tuffstein
hauptsächlich zur Gewinnung von Trafs, der zu Wasserbauten viel
gebrauoht wird. Im Innern dieses letzteren Bauwerkes Bind unter
anderem auch Pflastersteine aus Melaphyr, Kleinschlag aus Phonolitb,
Kratercement und Phonolithschmelzgestein fĂĽr die Glasfabrikation zu
sehen. Für gewöhnliches Flaschenglas wird nämlich heute in sehr
grofsem Umfange altes vulkanisches Gestein benutzt, das in seiner
Zusammensetzung dem Glase sehr nahe kommt, und wodurch eine
grofse Ersparnis gegenĂĽber der Verwendung von reinen Chemikalien
herbeigefĂĽhrt wird.
Dieser Reiohtum des Rheinlandes an natĂĽrlichen Steinen macht
es auch erklärlich, warum hier der Ziegelbau keine so grofse Bedeu-
tung gewonnen hat, wie etwa in Nord-Deutschland, und warum er
auch unter den Ausstellungsgegenständen fast gar nicht hervortritt
Ăśbrigens breitet sich auch auf dem Gebiete des Ziegelwesens heute
ein gewisser Umschwung vor, insofern der Geschmack fĂĽr maschinen-
geprefste glatte und in der Farbe durohaus gleichmäfstge Verblend-
steine sehr nachgelassen hat. Im Interesse einer guten kĂĽnstlerischen
Wirkung kommt man beute in den Kreisen der BaukĂĽnstler mehr
und mehr auf die Verwendung von handgestrichenen Ziegelsteinen
mit rauher Oberfläche und mit nicht ganz gleichmäfsiger Farbe zurück.
Unsere Verblendsteinfabrikanten wollen davon freilich noch wenig
wissen, da sie sich einmal auf die Erzeugung maschinengeprefster
Massenware eingerichtet haben, und sodann auch fälschlich in der Er-
zielung genau gleichmäfsiger Färbung aller Steine das Ziel ihres Ehr-
geizes sehen. Jedoch wird die geprefste Massenware immerhin fĂĽr
Bauten, bei denen es nicht darauf ankommt, wie die Steine kĂĽnstlerisch
wirken, also insbesondere ĂĽberall da zu verwenden sein, wo man sie
verputzt, während die Erzielung gleichmäfsiger Farbe nur eine un-
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nötige Selbstquälerei der Hersteller ist, deren Fortfall schliefslich
niemand Schmerzen bereiten wird. Daneben wird von den Bau-
kĂĽĂĽstlern auch vielfach die Forderung nach dem sogenannten Kloster-
format, das heifst nach einem gröfseren Ziegelstein format, erhoben.
Dessen Verwendung wird aber wohl nur auf bestimmte Bauten be-
schränkt bleiben, wo ein gröfseres Format ganz bestimmten Absichten
des KĂĽnstlers entsprechen soll. Im Gegensatz dazu ist ĂĽbrigens in
Holland, Belgien und vielen anderen Ländern ein weit kleineres Ziegel-
format gebräuchlich als in Deutschland, und auch mit diesem werden
sehr gute kĂĽnstlerische Wirkungen erzielt.
Gehen wir nun zu der inneren Ausstattung von Bauten ĂĽber, so
sind Heizung und Beleuchtung in der letzten Zeit aufserordentlich
vervollkommnet worden. Während für die Beleuchtung das elek-
trische Licht einerseits, das Auerlicht andererseits wohl im allgemeinen
herrschend bleiben werden, scheint dem Acetylenlicht nur ein be-
schränkter Wirkungskreis zuzufallen, nämlich zur Beleuchtung kleinerer
Anlagen und Ortschaften, in denen sich aus irgend welchen GrĂĽnden
die Errichtung einer Gasfabrik oder einer elektrischen Maschinen-
anlage nicht empfiehlt. Interessant ist auch das auf der Ausstellung
vorgefĂĽhrte Washingtonlioht der Washingtonlicht-Gesellschaft zu Elber-
feld, wobei Petroleum ohne Docht und unter hohem Druck verbrannt
wird, eine Beleuchtungsweise, die für Fabrikhöfe, Baustätten und der-
gleichen recht gut zu sein scheint.
Was die Heizung anbetrifft, so zeichnet sich hier vor allem die
Ausstellung der Firma F. Küppers busch & Söhne in Schalke in
Westfalen aus, die sich in einem eigenen Bau in der Nähe des Pano-
ramas befindet. Die Herde und Ă–fen fĂĽr die kleinsten Haushaltungen,
wie für die gröfsten Kasernen, Centralheizungs- und Lüftungsanlagen
aller Systeme, Wascheinrichtungen und Badeanstalten aller Art werden
hier in anschaulicher Weise vorgefĂĽhrt. Durch die rheinisohe Sitte,
dafs jedermann seinen eigenen Ofen besitzt, und dafs diese eisernen
Ă–fen, den Fortschritten der Technik entsprechend, leicht zu transpor-
tieren und leicht umzutauschen sind, werden auch die Mietshäuser in
Bezug auf die Heizung unabhängiger, während im östlichen Deutsch-
land jedermann genötigt ist, sich mit den nun einmal in seiner Woh-
nung eingebauten Kachelöfen zu behelfen, die öfter von ganz un-
glaublicher Konstruktion sind, und die namentlich eine schnelle Re-
gulierung der Heizung gar nicht gestatten.
Auch die Ă–fen von Junkers & Co. in Rheydt, sowie von
I. G. Houben Sohn Karl in Aachen werden allen Freunden prak-
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86
tischer Ofenanlagen gefallen. Von ersterer Firma interessieren nament-
lich die Centraianlagen fĂĽr die Erzeugung von warmem und kochen-
dem Wasser zur Kaffeebereitung, die ĂĽberall da willkommen sein
werden, wo man in Fabriken dem Alkoholgenufs durch Verabfolgung
billigen Kaffeewassers entgegenarbeiten will. Letztere Firma stellt
ausschliefslich Badeöfen her, die in ihren mannigfaltigen verschiedenen
Formen den Anforderungen eines jeden Haushalts aufs Beste ange-
paßt werden können. Auch die Ausstellung des Westfälischen Nickel-
walzwerkes Fleitmann, Witte & Co. in Schwerte mit seinem rein
Nickel-, nickelplatiertem und Neusilber-KĂĽchen- und Tafelgeschirr ist
durchaus sehenswert, findet doch das Nickel heute zu Haushaltungs-
zwecken eine immer mehr steigende Verwendung.
Von einigen anderen Ausstellern werden uns in der Nähe des
Haupteinganges, in passender gärtnerischer Umgebung gelegen, auch
Gewächshäuser nebst den dazu gehörigen Heizungen vorgeführt
Namentlich ist hier auch eine sehr einfache FirstlĂĽftung von Josef
Hesseler in Köln zu erwähnen, wobei die Firstbedachung des Glas-
hauses zum Zwecke der LĂĽftung mittelst einer Hebelvorrichtung hoch-
gehoben wird.
Was die Dachdeckung anbetrifft, so zeigen die Ausstellungen
der Vereinigten Deutschen Zinkwalzwerke einerseits wie der Gesell-
schaft vom Altenberge andererseits zahlreiche Formen der Verwen-
dung von Zinkblech zu diesem Zwecke, die in West-Deutschland
ziemlich verbreitet sind. Die Eindeokung mit einfach aneinander ge-
lötetem Zinkblech ist hier ein längst überwundener Standpunkt; viel-
mehr werden heute nur noch eigens fĂĽr diesen Zweck geprefste Deck-
platten verwendet. In ganz anderer Richtung fĂĽhrt Sieb eis Bau-
artikelfabrik in Rath bei DĂĽsseldorf ihre Patentasphaltbleiisolierung vor,
die durch ihre vollkommene Abdichtung es ermöglicht, flache Dächer
zu Gärten und zu vielen anderen Zwecken zu benutzen, ein Ziel, dem
ja auch die bekannten Holzcementdächer und ähnlichen Konstruktionen
zustreben. Dessen Erreichung sollte namentlich in grofsen Städten
mehr ins Auge gefafst werden als bisher, um sich wenigstens einiger-
mafsen den mangelnden Hof- und Gartenraum ersetzen zu können.
Wenden wir uns nun dem Tielbauwesen zu, so sind zahlreiche
Pläne und Modelle in der Abteilung für Bau- und Ingenieurwesen
geeignet, den Besucher zu fesseln. Die Königliche Rheinstrombau-
Verwaltung zu Koblenz zeigt Zeichnungen des Rheinstromes von Bingen
bis zur holländischen Grenze, Spezialpläne bemerkenswerter Strom-
streoken, Zeichnungen eines Tauchersoh achtes und eines Felsenbreohers,
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87
sowie schliefslich eine plastische Darstellung der Regulierung des
früher so sehr gefürchteten Binger Loches, das aber gegenwärtig,
dank der jahrzehntelangen unausgesetzten Tätigkeit der genannten
Verwaltung, seine Schrecken fĂĽr die Schiffahrt ganz eingebĂĽfst hat.
Regierungsbaumeister Hentrioh in Krefeld stellt Pläne der von
ihm entworfenen Projekte zu einem Kanal zwischen Rhein, Maas und
Scheide, von Krefeld nach Antwerpen, sowie zwischen Rhein und
Niers aus. Dieser Gedanke ist ja an sich nicht neu, und schon vor
Jahrhunderten dachte man au seine Ausführung; politische Erwägungen
haben diese aber immer wieder hintangehalten. Erst jetzt sind sie im
Anschlufs an den Bau des Krefelder Rheinhafens wieder Gegenstand
ernsthafter Erörterung geworden. Der Kanal, der die unmittelbare
Fortsetzung des geplanten preufsischen Mittellandkanals nach Westen
hin bildet, soll dessen Querschnittsabmessungen erhalten, unter Um-
ständen auch sogar für die Aufnahme von Schiffen zu 1000 Tonnen
eingerichtet werden. Der Rhein-Niers-Kanal ist als ein von Krefeld
ausgehender Stich -Kanal nach Gladbach und Rheydt von gleichen
Abmessungen wie jener gedacht.
Die Stadt Krefeld zeigt die Pläne ihrer jetzt in Angriff genommenen
grofsen Hafenbauten, fĂĽr die 12 Millionen Mark ausgesetzt sind; die
Stadt Rubrort zeigte uns Pläne ihrer Hafenanlagen und der geplanten
Erweiterungen, wie auch der bei Homberg ĂĽber den Rhein in Aussicht
genommenen Brücke. Auch die Pläne zu bedeutenden Erweiterungs-
bauten des Duisburger Hafens sind ausgestellt. Wie grofs der Verkehr
in jenen Rheinhäfen ist, geht daraus hervor, dafe der Schiffsverkehr
in den drei benachbarten Hafenanlagen von Duisburg, Hochfeld und
Ruhrort gegenwärtig IIV2 Millionen Tonnen, gegenüber 13 1/2 Millionen
Tonnen in Hamburg und Cuxhafen beträgt. Eine Betrachtung der
hier ausgestellten Pläne und der dazu gehörigen Zahlen und Tabellen
ist am besten geeignet, uns über die Gröfse und den Wert industrieller
Arbeit im rheinisch- westfälischen Industriegebiet ein Bild zu geben.
Die Bedeutung dieser Zahlen wird durch die Ăśberlegung noch unter-
stĂĽtzt, dafs der EisenbahngĂĽterverkehr in Rheinland, Westfalen und
Nassau etwa 45% des gesamten EisenbahngĂĽterverkehrs im preufsischen
Staate ausmacht.
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Ăśber die relative Helligkeit der Hauptlinien im Spektrum einiger
Gasnebel.
Von den drei Hauptlinien des Spektrums der Ciasnebel, die sämt-
lioh im grünblauen Teile des Spektrums befindlich sind, gehört die
dritte, am weitesten nach Blau zu gelegene dem Wasserstoffspektrum
an. Die Natur der beiden anderen Linien ist bisher noch unbekannt.
Man hat schon vielfach die relativen Helligkeiten der drei Linien
durch Taxierungen in den verschiedenen Nebeln festzustellen versucht,
doch weichen bei den einzelnen Beobachtern die Resultate dieser
Schätzungen sehr stark voneinander ab, so dafs sie nicht in Ein-
klang zu bringen sind und schon die Vermutung ausgesprochen worden
ist, dafs die Helligkeit der Linien bei einzelnen Nebeln vielleicht zeit-
lichen Schwankungen unterworfen sein könnte. Das ist zwar sehr
unwahrscheinlich, doch erscheint es immerhin auch aus anderen
GrĂĽnden wichtig, diese Helligkeitsverhiiltnisse durch Messung fĂĽr
einen bestimmten Zeitpunkt festzustellen. Die Lichtschwäche der
Nebellinien hat bis jetzt derartige photometrische Messungen verhindert:
kĂĽrzlich ist es jedoch den Herren Scheiner und Wi Ising in Pots-
dam mit Benutzung des grofsen Refraktors der dortigen Sternwarte
gelungen, diese Schwierigkeit fĂĽr die helleren Gasnebel zu ĂĽber-
winden.
Das Hauptresultat der mit einem Spektralphotometer erhaltenen
schwierigen Messungen ist in dem folgenden Satze zusainmengefafst:
„Das Helliirkeitsverhältnis zwischen der ersten und zweiten Linie ist
bei allen (Ol untersuchten Nebeln das gleiche, während das Verhältnis
von der ersten zur dritten Linie stark variiert.- Es ist bemerkens-
wert, dafs von den zahlreichen Heüiirkeitsschätzungen an Nebellinien
nur diejenigen des kĂĽrzlich verstorbenen amerikanischen Astronomen
Keeler mit diesem Ergebnisse ĂĽbereinstimmen.
Die Herren Scheiner und Wilsing ziehen aus ihrem Resul-
tate noch die folgenden SchlĂĽsse in Betreff der physischen Konstitu-
tin der Nebelflecke: -Wir machen darauf aufmerksam, dafs dieses
ReSttlUtf der Ansicht gĂĽnstig ist dafs die erste und zweite Nebellinie
89
dem gleichen, vorläufig noch unbekannten Stoffe angehören, und dafs
der Wasserstoff in den verschiedenen Nebeln nicht unter den gleichen
physikalischen Bedingungen (relative Menge?) leuchtet. Der schon
mehrfach, neuerdings von Herrn Belopolsky, ausgesprochenen An-
sicht, dafs die erste und zweite Nebellinie einem modifizierten Wasser-
stoffspektrum angehören, ist unser Resultat weniger günstig, ohne ihr
indessen zu widersprechen."
Die von den Verfassern gegebenen Endzahlen ihrer Beobach-
tungsergebnisse sind nur fĂĽr den Fachmann von Interesse ; sie haben
aber auch versucht, ihre Werte auf die sogenannte ^physiologische"
Helligkeit zu reduzieren, d. h. so anzugeben, wie sie durch direkte
Vergleichungen der drei Linien untereinander ohne die von physio-
logischen EinflĂĽssen freie spektral-photometrische Untersuchung er-
halten worden wäre.
Danach erscheint fĂĽr ein normales Auge die zweite Linie bei
allen Nebeln um IV2 Größenklassen schwächer als die erste. Für
die dritte Linie stellt sich das entsprechende Verhältnis bei den ver-
schiedenen Nebeln wie folgt:
Nebel
1. Linie
: 3. Linie
NGC. 6790
4,0 Gröfsonklassen
NGC. 7027
3,9
GC. 4964
3.6
GC. 4234
3,4
M
NGC. 6S91
3,4
•1
GC. 43D0
3,3
*'
GC. 4514
3,1
GC. 4373
2,9
•»«
Orionnebel
2,6
1»
(Die Nebel sind nach ihren Nummern in den beiden Hauptnobel-
katalogen angegeben; GC. = General-Catalogue, NGC. = New General-
Catalogue.) P.
Vulkanische Asche von Martinique.
Im Juni d. J. erhielt ich ĂĽber New- York eine Probe vulkanischer
Asche zugesandt, die dem grofsen Ausbruch des Mont Pelöe am
8. Mai (Himmelfahrt) entstammte. Sie war bei St. Pierre nahe am
Meeresufer gesammelt und hatte eine rötlich graue Farbe. Die kleinsten
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90
Staubteilchen hatten, unter dem Mikroskop betrachtet, etwa 0,01 mm
Durchmesser, gröfsere Fragmente 0,1 bis 1,5 mm. Ein kräftiger Stab-
magnet, der zuvor mit einer Lupe auf seine völlige Reinheit geprüft
worden war, wurde in der Asche hin und her bewegt und zeigte an
den Polen einen Bart von Eisenteilchen. Die glänzend schwarzen
Partikel hingen kettenartig aneinander und bestehen wahrscheinlich
aus Magneteisen Fe3 04. Dieselben Versuche hatte ich frĂĽher mit der
Asche des Vesuv und vom Ausbruche des Krakatau u. s. w. ange-
stellt, die ebenfalls magnetisches Eisen enthielten. Dabei ist jedoch
hervorzuheben, dafs die Asche des Krakatauausbruchs bei Surabaja
niedergefallen und von dort eingesandt war, bis wohin die Eisenmole-
kĂĽle schon einen Weg von nahe an eintausend Kilometer in der Luft
zurĂĽckgelegt hatten, trotzdem liefsen einzelne mikroskopische Krystalle
gut ausgebildete Oktaederflächen erkennen. Die übrigen Trümmer
der Poleeasche bestanden aus Silikatgesteinen, die eine Schmelzung
erlitten hatten und durch vulkanische Kräfte in die Höhe geschleudert
und zerstäubt waren. Einzelne Fragmente erschienen durchsichtig
und von grĂĽnlich gelber Farbe, die auf Olivin schliefsen liefe; ferner
liefsen sich Partikel von Feldspat, Quarz, Leucit (?), Augit und Glimmer
unterscheiden. Die vor dem Aschenfall sich entladenden hochge-
spannten Gase, die fast sämtlichen Einwohnern St. Pierres den Tod
brachten, bestanden wahrscheinlich aus schwefliger Säure und Chlor-
wasserstoff, vielleicht auch aus Schwefelwasserstoff. Daher rĂĽhrte
wohl die saure Reaktion, die eino kleine Menge der Asche beim Er-
wärmen mit destilliertem Wasser ergab.
Die empfindlichen Seismograph ischen Instrumente im Park Saint
Maur bei Paris haben den mit Erdbeben verbundenen ersten Aus-
bruch des Mont Pelee am Himmelfahrtstage gespĂĽrt, indem sie von
12 Uhr 6 Minuten mittags bis 8 Uhr abends starke Schwankungen
zeigten. Wenn man den Unterschied der Zeit von 4 Stunden 14 Mi-
nuten wegen der geographischen Länge in Betracht zieht, so ergiebt
sich, dafs der Ausbruch um 7 Uhr 50 Minuten stattfand, was mit der
gemeldeten Zeitangabe genau ĂĽbereinstimmt.
Weitere Aschenproben verdanke ich Herrn Otto Romberg,
Vorsteher der Bremischen Hauptagentur der Deutschen Seewarte, die
von Kapitän H. Wilms auf der Bremer Bark „Capeila" gesammelt
worden waren. Das 915 Tonnen grofse Schiff, daa im September im
hiesigen Freihafen die Ladung löschte, habe ioh besucht und nach-
stehendes bestätigt erhalten. Die rCapellau befand sich am 9. Juli
auf der Rückreise von Port of Spain der Insel Trinidad auf 14°
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Ol
20 ' N. und 62 0 45 ' W , als bei mäfsiger Brise aus ONO. und dunkler
Gewitterluft die ganze Atmosphäre von 12 Uhr mittags bis 8 Uhr
abends so mit Asche erfĂĽllt war, dafs man nicht in den Wind sehen
konnte. Sie fiel dicht auf das Schiff nieder, bedeckte die Takelung,
das Deck und die auf Deck befindlichen Mannschaften, dafs letztere
wie MĂĽllergesellen aussahen. Die Proben wurden gesammelt, bevor
der am Abend eintretende Regen den Niederschlag wieder wegwusch.
Das Barometer zeigte 765 mm, die dicht bewölkte Luft und das Meer-
wasser hatten die gleich hohe Temperatur von 27 0 C. Nach diesem
Bericht war der Schiffsort westlich von der SĂĽd spitze Martiniques
und ungefähr 150 km vom Mont Pelee, also in einer Entfernung wie
von Bremen bis Lübeck, oder von Berlin bis Halle. Demnach hätte
die Asche des Vulkans nur mit nordwestlichem Winde das Schiff er-
reichen können, der wahrscheinlich in den oberen Luftregionen herrschte,
um genannten Tage aber durch die Gegenströmung eines Ost-Nord-
Ostwindes in den unteren Regionen auf das Schiff fiel. Durch die
Eruption mufs die Asche mehrere Kilometer hoch geschleudert worden
sein, was auoh die damaligen Berichte namentlich vom Vulkan Soufriere
auf der Nachbarinsel angeben. Da der Mont Pelee am 6. Juli einen
erneuten Ausbruch hatte, über den die französische Zeitschrift „L'Illu-
Btration" vom 6. September unter BeifĂĽgung von mehreren photo-
graphischen Aufnahmen beriohtete, so dĂĽrfte der Aschenfall auf der
„Capella" von diesem Ausbruch herrühren.
Die zwei eingesandten Proben sind von hellgrauer Farbe und
staubförmige Produkte von gröfster Feinheit, die bei 150facher Ver-
gröfserung sich hauptsächlich als zerriebenes Silikatgestein darstellten
und mit destilliertem Wasser erhitzt auch eine schwach saure Reaktion
zeigten. Mit einem Magneten liefs sich ebenfalls eine Menge Eisen-
teilchen herausziehen, die trotz ihrer Schwere (Magneteisen hat das
spezifische Gewicht bis 5,1) eine solche Strecke in der Luft zurĂĽck-
gelegt hatten. Ein zweites Bremer Schiff, der „Kaiser1*, Kapitän
Lieseke, das auch hier im Freihafen lag, brachte ebenfalls eine
Probe Asche mit. Diese wurde etwa 900 bis 1 000 Seemeilen von Mar-
tinique an Bord gesammelt und an die Seewarte in Hamburg ein-
gesandt.
Die wunderbaren Dämmerungserscheinungen, die nach dem Aus-
bruch des Krakatau im August 1883 von Ende September an während
des ganzen ĂĽbrigen Jahres in unseren Breiten sichtbar waren, haben
sich nach den Eruptionen auf den westindischen Inseln hier nicht
eingestellt. Dagegen sind im Augustheft der Annalen der Hydro-
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5)2
graphie ungewöhnliche Abendröten beschrieben, die auf deutschen
Schiffen beobachtet und auf diese VulkanausbrĂĽche zurĂĽckgefĂĽhrt
wurden. Das Kriegsschiff „Gazelle-, Kommandant Graf v. Oriola,
nahm auf der Fahrt von Carupano nach La Guira vom 10. Mai d. J.
ein intensives Purpurlicht wahr. Noch eine Stunde nach Sonnenunter-
gang hatte dieser Schein eine ungewöhnlich starke Leuchtkraft bei
einer Ausdehnung von Nordwest bis West und einer Höhe von 15 °.
Ferner befinden sich im Tagebuche des Reichsposldampfers „Darm-
stadt", Kapitän De wei s, der vom 19. bis 23. Juni die Strecke von
11. bis 13. Grad n. Br. und von 52. bis 64. Grad ö. L. durchsegelte, Be-
merkungen über auffallend geröteten Westhimmel, dessen Färbung an
den genannten Tagen noch lange nach Sonnenuntergang deutlich
wahrnehmbar war. Am 22. Juni wurde dasselbe Phänomen auch
morgens eine Stunde vor Sonnenaufgang am Osthimmel beobachtet.
Bremen, Oktober 1902. Prof. Häpke.
Russische Wasserbauprojekte. Nun regt es sich auch in Rufs-
- land, das bisher in bautechnischer Hinsicht zurĂĽckgeblieben war.
Nicht weniger als drei kĂĽhne IngenieurkunststĂĽcke werden dort
geplant. Das harmloseste ist ein „Baltischer Kanal4- — ein schiffbarer
Kanal zwischen der nordwärts fliefsenden Düna und der in den nach
SĂĽden fliefsenden Dnjepr mĂĽndenden Beresina. Diese FlĂĽsse besitzen
bereits eine seichte Verbindung. Die Schaffung des geplanten Schiffs-
weges zwischen der Nordsee und dem Schwarzen Meer wĂĽrde die
Vertiefung vorhandener und die Anlegung neuer Kanäle in einer
Gesamtlänge von rund 1600 km erfordern. Die grossen Handels-
vorteile eines Baltischen Kanals würden nur durch das Zufrieren während
eines bedeutenden Teiles des Jahres beeinträchtigt werden. Auch
die AusfĂĽhrung der zweiten, von Leutnant Mendelejew, einem Sohn
des bekannten Chemikers, herrĂĽhrenden Idee, die Eindeichung des
Asowschen Meeres, wäre ein Segen für den russischen Ausfuhrhandel.
Es handelt sich darum, quer durch die Meerenge von Kertsch einen
Damm mit Schleusen zu errichten und das Niveau des Meeres um
etwa 3 m zu heben. Dieses ist jetzt so seicht, dafs grofse Schiffe
kilometerweit von den Haupthäfen ankern müssen. Die Kertscher
Meerenge ist so schmal, dafs ihr Tiefwasserstreifen nur rund 900 m
breit ist. Die Verhinderung des Abflusses ins Schwarze Meer wĂĽrde
dem Asowschen das erwiinsohe Niveau verleihen. Es wird berechnet,
dafs die Besteuerung der die Meerenge passierenden Waren mit nur
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A3
einer halben Kopeke pro Pud zur Deckung der Kapitalzinsen und
der Betriebskosten hinreichen wĂĽrde; jetzt erleiden die Schiffsredor
einen achtmal so hohen Verlust: 4 Kop. per Pud; folglich wĂĽrde
das Projekt, falls die Berechnungen stimmen, voraussichtlich sehr
rentabel sein.
Recht sensationell klingt der dritte der in Hede stehenden Plane,
welcher auf der Erwägung beruht, dafs Rufsland, namentlich dessen
Ost- und Südostprovinzen, alljährlich durch Dürre ungeheure wirt-
schaftliche Verluste erleidet. Verursacht wird die DĂĽrre teils durch
mafslose Ausrodung von Forsten, teils durch die das Klima Rufslands
ungünstig beeinflussende allmähliche Austrocknung von West-Mittel-
asien. Man hat daher den Gedanken gefafst, einige sibirische FlĂĽsse
derart nach Süden abzuleiten, dafs dadurch die Fläche des Aral- und
des Kaspischen Sees vervierfacht bezw. verdoppelt wĂĽrde, was eine
Vermehrung der Feuchtigkeit des Klimas der unter der DĂĽrre lei-
denden Gegenden herbeiführen bezw. die Bewässerung der Wüsten
und Steppen gestatten wĂĽrde. An Punkten, wo der Obi und der
Tobol hohe Ufer haben, soll über diese Ströme ein Damm gebaut
werden, so dafs das Wasser, wenn es die Uferhöhe erreicht, höher
wäre als der Spiegel des Aral- und viel höher als der des Kaspischen
Sees. Sodann wäre durch die Wasserscheide, wolche die nordwärts
fliefsenden Ströme Westasiens von den südwärts fli eisenden trennt,
ein kurzer Kanal zu fĂĽhren, der den WasserĂĽberschufs in den Aral-
see und mittelbar ins Kaspisohe Meer lenken wĂĽrde. Da die sibi-
rischen Gewässer jetzt grofsenteils nutzlos in unbewohnbaren Tundren
verloren gehen, so mĂĽfste die AusfĂĽhrung des grofsartigen Projekts
sehr heilbringend sein. — d — r.
Obersicht der Himmelserscheinungen fĂĽr
Dezember - Januar - Februar.
Der Sternhimmel. Die langen Nächte dieser Monate zeigen das schönste
Bild, das der gestirnte Himmel ĂĽberhaupt bieten kann; die an hellen Sternon
reiche Gruppe der einen grofsen Teil des Himmels bedeckenden Sternbilder
Fuhrmann, Stier, Zwillinge, Orion, grober und kleiner Hund ist anfangs von
Mitternacht an, später die ganze Nacht hindurch sichtbar, und verleiht den
W internachten ihren eigenartigen Charakter. Am östlichon Himmel erscheinen
dann noch Löwe, Jungfrau, Bootes und Krone, während in der Abenddämmerung
Leier, Adler, Schwan und Pegasus verschwinden. Im Zenith stehen nach ein-
Cassiopeia, Perseus, Fuhrmann und grofser Bär. Zur Orientierung mögen
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94
folgende hellere Sterne dienen, dio um Mitternacht nach Berliner Zeit kulminieren.
2.
Dezember
(jl Bridani
(4. Qr.)
(AR. 4* 41m,
D. — 3*
26')
9.
«
Ăź Orionis
(l. Gr.)
10
— 8
19
13.
<*
Ăź Tauri
(2. Gr.)
20
+ 28
31
IG.
e Orionis
(2. Gr.)
-
5
31
— 1
16
21.
Ăź Aurigae
(2. Gr.)
5
52
+ 44
56
28.
-
Ăź Canis maj.
(3. Gr.)
6
1 c
— 17
54
1.
Januar
a Canis maj.
(l. Gr.)
6
41
— lb
35
5.
n
c Lams maj.
(2. Gr.)
6
55
— 28
50
12.
Ăź Canis min.
(3. Gr )
tt
+ »
29
15.
•
a l<ams mm.
(l. ur.)
7
34
+ 5
9«
22.
-
i Navis
(3. Gr.)
8
3
— 24
1
27.
o Ursae maj.
(3. Gr.)
8
22
+ 61
3
3. Februar
C Hydrae
(3. Gr.)
8
50
4- 6
19
11.
*
« Hydrae
(2. Gr.)
y
23
- 8
14
16.
e Leonis
(3. Gr.)
9
40
+ 24
13
22.
«
a Leonis
(l.Gr.)
10
3
+ 12
36
28.
r
p Leonis
(4 Gr.)
10
28
+ 9
48
An veränderliehen Sternen sind zur Beobachtung geeignet und erreichen
zum Teil ihre gröfste Helligkeit:
T Cassiop.
(Helligk. 8.
Gr.) (AR.
0h
18»,
+ 559
15') Max. Dez. 4.
U Cepbei
(
T*
7. -
9.
. )
0
53
+ 81
21
Algoltypus.
R Arictis
1
»»
8.
- )
2
11
+ 24
37
Max. Dez. 4.
Ăź Persei.
(
2.
- )
:?
2
+ 10
35
Algol.
X Ceti
(
«
9.
- )
3
15
— 1
25
Max. Dez. 13.
>. Tauri
(
3. -
â– ->.
- )
3
55
+ 12
14
Algoltypus.
V Tauri
(
9.
- )
4
47
+ 17
22
Max. Doz. 22.
T Leporis
1
8.
- )
5
1
— 22
2
Max. Dez. 7.
W Geminor.
(
7.
- )
6
40
+ 15
24
Kurze Per.
R Canis maj.
(
6.-
7.
- )
7
15
- 16
12
Algoltypus.
S Cancri
<
*•
8. -
10.
- )
8
39
+ 19
22
Algoltypus.
R Ursae maj.
1
7.
, )
10
38
+ 09
17
Max. Dez. 7.
Y Virginis
(
9.
» )
12
29
— 3
53
Max. Dez. 16.
R Virginis
<
7.
„ )
12
34
+ ^
31
Max. Dez. 13.
W Virginis
(
9.
. )
13
21
_ 9
53
Kurze Per.
RS Virginis
(
•t
7.
, )
14
23
+ 5
(>
Max. Dez. 26.
R Ursao min.
(
**
9.
)
16
31
+ 72
28
irregulär
V Cephoi
(
"
7.
n )
23
52
+ 82
39
Max. Dez. 2.
Die Planeten. Merkur läuft von der Wage, Ende Januar und Anfang
Februar rückläufig im Steinbock, bis an den Wassermann, am 17. Januar als
Abendstern, 19° von der Sonne entfernt, wahrnehmbar, am 27. Februar als
Morgenstern, 27° von der Sonne abstehend. Venus, rechtläufig im Skorpion
bis zu den Fischen, wird Mitte Januar wieder Abendstern. Mars, rochtläufig
in der Jungfrau, geht Anfang Dezember nach Mitternacht auf; Jupiter, recht-
läufig im Steinbock und Wassermann, ist in S.W. sichtbar. Saturn, reebt-
läufig im Schützen und Steinbock ist unsichtbar. Uranus steht rechtläufig
bei lt Ophiuchi und ist unsichtbar. Neptun, rückläufig bei (* Geminorum, ist
dio ganzo Nacht Bichlbar.
An Meteoren fallen in die Tage des G.— 13. Dezember die des Radianten
bei Ü Geminorum, und in die Tage 1. — 3. Januar die des Radianten bei u Herculis.
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95
St*rnbede«kungen durch den Mond (sichtbar für Berlin):
Eintritt
Austritt
10. Dezember
C1 Piscium (5. Gr.)
8«>
22 «n
abends
9 h 33 m
abendĂź
13.
8» Tauri (4. „ )
2
56
frĂĽh
3
54
frĂĽh
16.
k Geminor. (4. „ )
6
38
abends
7
26
abends
16.
68 Geminor. (5. „ )
1
36
rfih
2
37
frĂĽh
12. Januar
26 Geminor, (fi. „ )
4
48
abends
5
27
abends
14. .
a Cancri (4. . )
9
14
10
11
19. -
h Virginis (5. „ )
0
42
frĂĽh
l.
23
frĂĽh
9. Februar
68 Geminor. (5. „ )
0
27
frĂĽh
1
31
frĂĽh
13. „
u Leonis (5. - )
5
47
6
45
Mond. Berliner Zeit.
Erstes Viert.
am
8.
Dezbr.
Au fg.
Oh
18m
mittags
Unterg.
Vollmond
i
15.
••
4
43
nachm.
7 h 48 «früh
Letztes Viert.
»*
21.
-
11
36 vorm.
Neumond
29.
7
20
Torrn.
4
2 nachm.
Erstes Viert.
n
6.
Januar
«
11
11
»
Vollmond
13.
••
-
4
39
nachm.
7
20 vorm.
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Erdnähe: 15. Dezember, 13. Januar, 10. Februar.
Erdferne: 2. Dezember, 29. Dezember, 25. Januar, 22. Februar.
Sonne. Sternzeit f. den Sonnenaufg. Sonnenunterg.
mittl. Bert. Mittag. Zeitgleichung. ^ Beriin.
1.
Dezember
16h 37m
28.8»
Um
7.9»
7h
49 m
3h
48 m
&
»
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5
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7
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3
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3
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18
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1
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3
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1.
Januar
18
39
42.1
+
3
16.7
8
13
3
53
8.
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8
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2
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+
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15.2
8
7
4
12
«2.
20
2
29.8
+
11
30.2
7
59
4
24
1.
Februar
20
4
55.4
13
38.8
7
46
4
42
8.
n
21
9
31.3
+
14
19.9
7
34
4
55
15.
n
21
37
7.1
+
14
21.4
7
21
5
9
22.
22
4
43.0
+
13
47.4
7
4
5
22
28.
22
28
22.3
12
53.6
6
54
5
33
R.
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Part heil, Gustav: Die drahtlose Telepraphie. Nach Vortragen im
Verein fĂĽr Landeskunde und Naturwissenschaften zu Dessau sowie im
elektrotechnischen Verein zu Leipzig allgemein verständlich dargestellt
Berlin. Gerder und Hödel. 1902. 47 S. 1,20 M.
Das Buch behandelt die Versuche und Entdeckungen von Hertz,
Branly, Marconi, Slaby-Arko und Braun und giebt ein Bild von dem,
was die drahtlose Telegraphie bisher orreicht hat.
Erdmann. Dr. H., Prof. a. d. kgl. techn. Hochschule zu Berlin. Lehrbuch
der anorganischen Chemie. Dritte Auflage (5. bis 8. Tausend). Mit
291 Abbildungen, 99 Tabellen, einer Recheutafel und G farbigen Tafeln.
Braunschwoig. Vieweg. 1902. 788 S. 15 M. (in Leinen geb.)
Selten hat ein Lehrbuch sich in diesom Tempo Freunde und Loser er-
worben wie das vorliegende. Im Jahre 1898 erschien es als neue Bearbeitung
dos Gorup-Bcsanezschen Lohrbuches, und in 4 Jahren sind rund 4000 Excm-
plare gekauft worden. Seine VorzĂĽge liegen darin, dafs es fĂĽr den, der Chemie
studiert oder der auf irgend einem ihrer Teilgebiete tatig ist, ein ausgezeich-
neter FĂĽhrer in die ganze anorganische Chemie ist. Die klare Darstellung und
die Abbildungen, sowie die Ratschläge und Warnungen ermöglichen die Aus-
fĂĽhrung der angegebenen Versuche fĂĽr den Leser, sofern ihm die erforder-
lichen Apparate zur VerfĂĽgung stehen. Das Vorkommen der Stoffe in geo-
logischer Hinsicht, sowie ihre medizinische Bedeutung als Gift oder Heilmittel,
endlich ihre technische Bedeutung im Wirtschaftsleben, ihre Produktions- und
Preisverhältnisse sind von dem Verfasser berücksichtigt worden.
(Die kritische Temperatur des Wasserstoffs ist auf S. 2G mit — 255°, auf
S. 112 mit — 242° angegeben. Die Höhe der Atmosphäre ist auf S. 22(> mit
80 km angegeben, was mit RĂĽcksicht auf die leuchtenden Wolken viel zu
niedrig ist.)
Huber, Pb.: Katechismus der Mechanik. Siebente Auflage, den Fort-
schritten der Technik entsprechend neu bearbeitet von Prof. Walther
Lange. Mit 205 in den Text gedruckten Abbildungen. 269 S. Leipzig.
J. J. Weber. 1902. 3,50 M.
Als No. 70 von Webers illustrierten Katechismen liegt hier der Kate-
chismus der Mechanik vor. Der Schwerpunkt des Buches liegt in der Technik;
wir lernen die Rollen, Scnraubeu, FlaschenzĂĽge, Wind- und Wasserdruck-
maechinen, endlich auch Dampf-, Luft- und Gasmaschinen kennen.
Verlag: Hermann Paetel in Berlin — Druck: Wilhelm Gronan's Buchdrnekerel In Berlin -Bchönebtrf.
Ffir die Redaclion rrrantwortli > : Dr. P. Schwann in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck am dem Inhalt dieser ZeiUehrift untersagt.
vorbehalten.
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Ein Jahrhundert der Physik.
Von Prof. Dr. D. A. Gddhammer.
(Rede, gehalten in der 3. allgemeinen Sitzung der 11. Versammlung russischer
Naturforscher und Ă„rzte in St Petersburg am :tfl. Dezember 15>01)
_ fl-2. Jan. 1902».
jie vun mir gewählte Bezeichnung meines Themas trügt ihren
Doppelsinn nicht zufällig: Wenn wir unsere heutigen Kennt-
nisse in der Physik mit denjenigen vergleichen, die man vor
100 Jahren besafs, so gelangen wir ohne Zweifel zu der Ăśberzeugung,
dafs das ganze Gebäude dieser Wissenschaft mit geringen Ausnahmen
ein Werk des 19. Jahrhunderts ist. Erwägen wir andererseits die Be-
deutung, welche die Physik im Leben des Kulturmenschen unserer
Zeit gespielt hat, su erkennen wir, date man mit Recht das vergangene
Jahrhundert als ein „Jahrhundert der Physik-' bezeichnen mute.
In der That! Versetzen wir uns im Geiste hundert Jahre rĂĽck-
wärts, in die ersten Tage des Jahres 1801. Damals war die Physik
historisch schon über 25 Jahrhunderte alt, und doch — was hat man
im Laufe dieser Jahrtausende zu Tage gefördert? Auf dem Gebiete
des Lichtes herrschte eine naive und grobe Anschauung ĂĽber flie-
gende Lichtteilchen; hie und da waren die Beobachter auf einzelne
Thatsachen der Diffraktion, der Interferenz, der Polarisation gestoteen,
aber eine physikalische Optik existierte noch gar nicht. In der Elek-
trizitätslehre waren nur Grundthatsachen der Elektrostatik bekannt;
einen Schritt weiter zum Aufbau der Lehre vom elektrischen Strome
hatte soeben Volta (1800) mit der Erfindung der berĂĽhmten Volta-
Saule gethan. Man kannte elementare Thatsachen des Magne-
aber man hatte weder eine Ahnung von elektromagnetischen
Erscheinungen noch von Strominduktion. Das Wesen der Wärme
war in dichten Nebel gehüllt; selbst die Theorie der Wärmeleitung
Himmel und Erde. 1902 XV. 3. 7
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98
harrte noch eines Fourier. Nur die Akustik war verhältnismäfeig
vollkommen, aber sogar die Sirene war noch nicht erfunden, und die
Chladnischen Klangfiguren waren noch ziemlich jung. Sehr gering
war auch die Kenntnis der allgemeinen Eigenschaften der Körper —
in allen ihreu Aggregatzuständen: Nur für die Oase war das Boole-
sche Gesetz aufgestellt. Technische Anwendungen der Physik gab es
uoch nicht, weil man nicht einmal Eisen von der nötigen zweck-
mäfsigen Beschaffenheit besafs und den Dampf nicht dienstbar zu
machen verstand. Erst am Vorabend des 19. Jahrhunderts wurden
Lokomobile und Lokomotive erfunden, erst 1779 wurde die erste
eiserne BrĂĽoke erbaut, und noch 1804 gab es keine eisernen Dampf-
kessel; noch 1829 mutete Stevenson einige Teile fĂĽr 6eine Loko-
motive aus Holz herstellen.
Zur allgemeinen Charakteristik jener Epoche mag an die merk-
würdige Thatsache erinnert werden, dafe noch 1771 die Universität
in Salamanco keinen Lehrer der Physik haben wollte, „weil Newton
nichts lehre, was ein guter Logiker oder Metaphysiker brauche,
und weil Gassendi und Descartes weit weniger mit den Offen-
barungen im Einklang seien als Aristoteles." Obwohl die Physik
bereits ziemlich lange von den Naturwissenschaften im allgemeinen
Sinne getrennt war, so lag doch noch 1830 an der Universität Leipzig
das Lehramt fĂĽr Physik, Physiologie und Naturwissenschaften in einer
Hand. Als der junge Helmholtz sich am Ende der dreifsiger Jahre
zum Studium der Physik anschickte, war nach seiner Aussage in den
Schulbüchern alles „mittelalterlich-alchymistisch." „Von Lavoisier's
und Davv's umwälzenden Entdeckungen war noch nicht viel in die
SchulbĂĽcher gedrungen. Obgleich man den Sauerstoff schon kannte,
spielte daneben doch auch das Phlogiston, der Feuerstoff, seine Rolle.
Das Chlor war noch die oxygenierte Salzsäure, das Kali und die
Kalkerde waren noch Elemente.14
Mufs ich dagegen erst aufzählen, was in den ersten Tagen des
20. Jahrhunderts in der Physik unser eigen ist? Wir haben uns
daran gewöhnt, es ist uns selbstverständlich geworden, dafs jeder Tag
Fortschritte des Wissens bringt; unsere Empfindlichkeit fĂĽr Neues ist
abgestumpft — kaum dafs uns neue technische Ausdrüoke noch über-
raschen. Was wĂĽrde ein Gelehrter aus dem 18. Jahrhundert sagen,
wenn er die Kapitelüberschriften der modernen Physik läse mit ihrer
dynamischen Theorie der Elektrizität, ihrer elektromagnetischen Licht-
theorie, ihrer mechanischen Wärmetheorie, ihrer kinetischen Thoorie
der Gase! Wie paradox wĂĽrden ihm unsere Diskussionen ĂĽber Ge-
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wicht und Anzahl der MolekĂĽle erscheinen, ĂĽber die Messung der
Geschwindigkeit des Lichtes auf dem Räume eines gewöhnlichen
Tisohes, ĂĽber Spektralanalyse, ĂĽber flĂĽssige Luft u. dergl. mehr! Oder
wäre es etwa für einen Gelehrten des 18. Jahrhunderts kein Para-
doxon, wenn er sprechen hörte von den unsichtbaren Strahlen, an-
fangend bei den ultravioletten, ultraroten und elektrischen bis zu den
X-Strahlen und den Strahlen anderer Buchstaben des Alphabetes, den
Becquerel-, Kathoden-, Radium-, Poloniumstrahlen u. s. w. — , deren
Grundeigenschaft anscheinend die ist, dafs sie keine Strahlen, sondern
Emanationen sind! Und nun gar die technischen Anwendungen un-
serer Wissenschaft, welche fast durchweg ins 19. Jahrhundert fallen 1
Der Naturforscher befindet sich in der Lage eines Zuschauers,
der zum ersten Male auf die BĂĽhne eines Theaters blickt und von
der Pracht der Dekorationen und der Schönheit der handelnden Per-
sonen bezaubert ist. Und in Wirklichkeit ist alles Trug und Schein,
von der Jugendlichkeit und Schönheit der Schauspieler bis zu dem
blinkenden Monde, der doch nur ein Requisit ist. Unser Auge, unser
GefĂĽhl sagen uns, dafs die Erde ruht, die Sonne sich bewogt, wir
empfinden den Druck der Atmosphäre nicht, und mehr als zwei Jahr-
tausende haben die Menschen den Sauerstoff geatmet, ohne sein Vor-
handensein zu ahnen. Wir haben keine Sinnesorgane für Elektrizität
und Magnetismus; wir nehmen nur einen winzigen Teil dor Töne so-
wohl des Liohtes wie des Schalles wahr. FĂĽr unsor Leben und Wirken
sind wir physisch viel schlechter ausgestattet, als das erste beste Tier
fĂĽr seine BedĂĽrfnisse. Der Geruch und das Wittern der Tiere fehlen
uns und warnen uns nicht vor drohender Gefahr; physisch sind wir
gleichsam hilflos den Raubtieren und Insekten zur Beute ĂĽberliefert.
Während der historischen Periode hat der Kulturmensch nioht nur
seine Sinnesorgane nicht vervollkommnet, sondern im Gegenteil manohe
physischen Fähigkeiten verloren, mit denen seine Urahnen begabt
waren. Wo etwa sind jetzt die Recken der alten Zeiten, wer vermag
heutzutage die WaflfenrĂĽstung eines mittelalterlichen Kitters zu tragen?
Wie sehr hat der Kulturmensch den Gesichts- und Geruchssinn des
Nomaden Mittelasiens eingebĂĽfst!
Aber bei einer solchen Ausartung hat uns die Physik — und
hauptsächlich im Laufe des 19. Jahrhunderts — die Möglichkeit gege-
ben, uns gewissermarsen evolutionierte Organe zu schaffen, welche
zudem durch ihre Vollkommenheit die unmittelbaren Gaben der Natur
unennefalich ĂĽbertreffen.
Ja, mehr als das: Physikalisohe Apparate ersetzen uns auoh
7«
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100
solohe Organe, welche uns die Natur vorenthalten hat: So ist der
Hertzsche Resonator ein „elektrisches Augeta; Photographie, phos-
phoreszierende Substanzen, Bolometer, Thermoelement — das sind
unsere Augen fĂĽr mn sichtbare Strahlen des Spektrums; die Magnet-
nadel ist unser Organ fĂĽr den Magnetismus, das Elektrometer fĂĽr die
Elektrizität, das Barometer für Druck u. s. w.
Wenn wir hierzu noch die mannigfachen modernen Maschinen,
Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telograph, Telephon, Mikrophon, Teleskop
und Mikroskop hinzufĂĽgen, so erhalten wir eine Liste von Apparaten,
in welcher alles aufser Barometer, Teleskop und Mikroskop eine Er-
rungenschaft des 19. Jahrhunderts ist.
Und sind etwa unsere Barometer, Mikroskope und Teleskope
ihren Vorfahren vergangener Jahrhunderte ähnlich?
Diese Idee der „Evolution" ist eine alte Spencersohe Idee;
neuerdings hat sie Wiener durch eine Reihe Ziffern illustriert.*; Ge-
statten Sie mir, einige Angaben daraus mitzuteilen: Unsere Hand
kann ein Gewicht bis auf Fehler von 10w/0 abschätzen — die beste
moderne Wage ist 20 Millionen Mal empfindlicher; das Barometer setzt
uns in stand, den Druck des hundertmillionsten Teiles einer Atmo-
sphäre zu messen; zwei Punkte, die Spitzen eines Zirkels, werden von
der Zunge als getrennt empfunden, wenn die Entfernung zwischen
ihnen millimetergrofs ist; das Auge kann auf 10 cm Entfernung noch
J/40 mm unterscheiden, die besten Mikroskope hingegen sind fast
200 mal empfindlicher. Das empfindlichste Auge unterscheidet im
Spektrum nicht mehr als 500 Nuancen Diffraktionsgitter und Bolo-
meter ergeben auf gleichem Räume bis 40000 solcher Nuancen. Die
Zeit können wir mit dem Ohre bis auf '//.oo Sekunde messen — die
speziellen Instrumente dagegen sind 200000 mal empfindlicher. Die
Temperatur giebt uns unser Gefühl kaum bis auf "/3 0 ('. an — das
Bolometer ist 200000 mal empfindlicher.
Wie wir sehen, ist unser Auge am schwersten zu vervoll-
kommnen; während die Physik in anderen Fallen die Empfindlichkeit
Hunderttausende und Millionen Male erhöht hat, ist diejenige unseres
Auges nur Hunderte von Malen gesteigert worden. Aber auch in
dieser Richtung haben wir nicht ohne Grund Hoffnung auf Fort-
schritte.
Die Sache verhält sich so, dafs die angedeutete Evolution uns
•) O. Wiener, Die Erweiterung unserer Sinne. Akadem. An-
uitlfivorlesung. Leipzig, 1900. Anm. d. Ăśbers.
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101
nicht blofs Wallen zum Kampf ums Dasein verlieben, sondern uns
auch befähigt hat, uns bis zu einem gewissen Grade von den Mängeln
unserer Organisation zu emanzipieren: Eis sind uns Erscheinungen
leicht zugänglich, welche wir unmittelbar nicht wahrzunehmen ver-
mögen, z. B. elektromagnetische; es ist uns nicht schwer, ein Sinnes-
werkzeug durch ein anderes zu ersetzen. Ein derartiges Beispiel
bietet die Optik der unsichtbaren Strahlen dar; von hier aus ist es
nicht schwer, einen Schritt weiter zu thun zur Optik des Blinden und
zur Akustik des Tauben — und etwas in dem Sinne werden wir
wahrscheinlich mit der Zeit in Bezug auf das Mikroskop schaffen
müssen. Wenn nämlich die Dimensionen eines Gegenstandes kleiner
Ä'8 V7000 mm s'nd, so ist die Wellenlänge der sichtbaren Strahlen am
violetten Ende des Spektrums schon nicht klein genug im Vergleioh
mit den Dimensionen dos Gegenstandes; denn dann sind, wie Helmholtz
und Abbe gezeigt haben, die Erscheinungen der Diffraktion von so
grofsem Einflute, dafs die Wirkung des Mikroskopes illusorisch er-
scheint Aber wir können uns ein Mikroskop vorstellen, bei welchem
man die ultravioletten Strahlen benutzt, deren Wellenlänge noch viel
kĂĽrzer ist; fĂĽr solohe Wellen ist Glas undurchsichtig; man wird ge-
zwungen sein, die Linsen aus Quarz oder vielleicht sogar aus einem
ganz neuen, fĂĽr das Auge undurohsiohtigen Material herzustellen; fĂĽr
solche Strahlen wird auch die Luft undurchsichtig, so dafs wir die
Linsen in einem Vakuum unterbringen mĂĽssen. Aber dann ist das
Auge als unmittelbares Wahrnehmungsorgan nutzlos; man wird es
durch einen fluoreszierenden Schirm, eine photographische Platte oder
etwas ganz Neues ersetzen. Versuche in dieser Richtung werden
bereits angestellt (Czapski, Schumann); hat doch die Photographie
dem Menschen am Himmel Welten entdeckt, die zuvor dem Auge
unerreichbar waren!
Im 18. Jahrhunderte begeisterte man sich an mechanischen Spiel-
zeugen, Automaten — Helmholtz hat unsere Fabriken mit Reobt
ebenfalls als Automaten in ihrer Art bezeichnet; nur sind sie viel
vollkommener, viel gewaltiger und, was die Hauptsache ist, viel zweck-
mäßiger, weil die Automaten des 18. Jahrhunderts Tausend ver-
schiedene menschliohe Dienstleistungen nachahmen sollten, unsere
Maschinen dagegen Tausende von Menschen ersetzen, die alle die gleiche
einfache Dienstleistung verrichten. Das Eingreifen des Menschen mit
seiner physischen Kraft wird mehr und mehr aus der Technik ver-
drängt, und Aristoteles' Traum von dem selbstthätigen Weber-
schiffchen ist faktisch verwirklicht worden.
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102
DĂĽrfen wir etwa in Anbetracht solcher Vergleiche nioht mit
Reoht behaupten, dafs alles Wichtige, alles Wesentliche in der Physik
im 19. Jahrhundert geschaffen worden ist, dürfen wir da nicht, wäh-
rend wir das vergangene Jahrhundert in den Abgrund der Ewigkeit
versenken, gleichzeitig auch das 100jährige Jubiläum unserer Wissen-
schaft feiern?
Aber wir haben uns hier erlaubt, das 19. Jahrhundert als ein
Jahrhundert der Physik zu bezeichnen anstatt der gewöhnlichen Be-
nennungen: „Jahrhundert des Eisens44, ..Jahrhundert des Dampfes
und der Elektrizität-, „Jahrhundert der Naturwissenschaft". Hat un-
sere Wissenschaft das Recht, sich eine so bevorzugte Rolle anzu-
marsen, ist ein solcher Anspruch eines Physikers nicht eigentlich
eine jalousie de metier?
Naoh der Definition Rowland's ist die Physik eine „Science
above all sciences, which deals with the foundation of the Universe- ;
die Physik beschäftigt sich „mit der Struktur der Materie, aus welcher
das Weltall gebaut ist; sie erforscht den Ă„thor, vermittelst dessen ver-
schiedene Teile der Materie, aus denen die Welt besteht, selbst auf
solche Entfernungen aufeinander wirken, bis zu denen zu gelangen
wir nicht hoffen dĂĽrfen, wie bedeutende Fortschritte unsere Wissen-
schaft auch in Zukunft machen mag44. Nach dieser modernen Defi-
nition der Physik giebt es keine Erscheinung, welohe nicht in ge-
wissem Sinne unter den Begriff der Physik fiele: Und in der That
umfafste bekanntlich die Physik zuerst die gesamte Naturwissen-
schaft.
Die erste Wissenschaft, die ihren eigenen Weg, getrennt von der
Physik, ging, war die Astronomie; ihr folgten dio Chemie und dann
auch die biologischen Wissenschaften. Ich brauche nicht hervorzu-
heben, dafs diese Scheidung ganz in Frieden vor sich ging; zum Ab-
schied erhielt die Astronomie das Fernrohr mit auf den Weg, die
Chemie die Wage, die Biologie das Mikroskop. Seitdem sehienen die
Gebiete dieser Wissenschaften ganz scharf voneinander getrennt.
Das Teleskop und das allgemeine Gravitationsgesetz waren alles,
dessen der Astronom bedurfte, um zu wissen, was am Himmelsgewölbe
gesohehen ist, geschieht und geschehen wird. Die Wage und die drei
Grundgesetze der Chemie — von der Erhaltung der Masse, von der
Konstanz chemischer Verbindungen und von den multiplen Propor-
tionen — schienen alles zu sein, was der Chemiker brauchte. Als
die biologischen Wissenschaften von der Physik abfielen, beschränkte
sich in ihnen alles auf die Beobachtung, Beschreibung und Klassi-
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103
fikalion; das Mikroskop und die vitale Kraft spielten bei den Natur-
forschern eine ähnliohe Rolle, wie das Teleskop und das Newton-
sche Oesetz bei den Astronomen. Und wie ist es jetzt?
Wir sehen, dafs die Scheidewände da errichtet waren, wo in der
Natur in Wahrheit keine vorhanden sein können. Die Astronomie
hat sehr bald ihre Aufgabe erschöpft und sich in das verwandelt,
was man jetzt „Astrometrie14 nennt; parallel damit hat ihr die Physik
neue Aufgaben, neue Werkzeuge, neue Forschungsmethoden geliefert.
So entstand die Astrophysik, und wir können nicht sagen, wo in der-
selben die Physik aufhört und die Astronomie anfängt. Spektral-
analyse und Photographie haben uns die Möglichkeit gegeben, an den
Himmelskörpern Bedeutenderes und Wichtigeres zu erforschen als
blofs ihre Bewegungen. Nooh mehrl Spektroskop und Diffraktions-
gitter haben uns in stand gesetzt, auch solche Bewegungen zu stu-
dieren, die auf anderem Wege nicht einmal der Beobachtung zugäng-
lich sein würden. Kirch hoff, ein Physiker, löst die Frage nach den
Bestandteilen der Sonne; Rowland, ein Physiker, liefert zuerst ein
Sonnenspektrum von der bemerkenswerten Gröfso von 2 m. Die
Physiker liefern den Astronomen die Prinzipien fĂĽr neue Fernrohre.
Spektroskope u. dergl. Die Physiker endlich fangen in der jĂĽngsten
Zeit an, für die Möglichkeit des Experimentes in der Astronomie zu
plädieren, für die Möglichkeit z. B., eine künstliche Sonnen-Corona
herzustellen u. dergl. m.
Ein ähnlicher Prozefs, noch viel früher einsetzend, geht in der
Chemie vor sich. Schon Lavoisier, Gay Lussac, Cavendish,
Davy, Faraday waren ebenso gut Chemiker wie Physiker. Die
Erfindung der Vo Itaseben Säule und später der Oalvanisoben
Elemente in der Physik hat der Chemie ein mächtiges Werkzeug der
Analyse in die Hand gelegt — die Elektrolyse und die Gesetze von
Faraday; die Spektralanalyse brachte die Entdeckung einer Anzahl
neuer Elemente mit sich. Dasselbe hat das Bogenlicht geleistet. Dalton,
Humboldt, Ampere, Dulong & Petit sind Physiker. Und schliefs-
lich beginnt vor unseren Augen die Verschmelzung der Chemie und
Physik in Gestalt einer jungen Wissenschaft, der physikalischen Che-
mie. Die Elektrizität, welche zuerst scheinbar als ein ganz isoliertes
Phänomen in der Physik dastand, spielt, wie sich jetzt allmählich
herausstellt, eine auĂźerordentlich wichtige Rolle bei den Prozessen der
chemischen Affinität. Nicht ohne Grund haben Faraday und Ber-
zelius diese Rolle prophezeit. Faraday war tief ĂĽberzeugt, dafs der
elektrische Strom dieselbe Kraft wie die ohemische Affinität sei, nur
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104
in einer anderen Form ; wie in der anorganischen, so sei auch vielleicht
in der organisierten Materie alles der Elektrizität unterthan. Das
Schema von Berzelius war noch einfaoher: Bei jeder chemischen
Verbindung- finde zwischen den entgegengesetzten Elektrizitäten ein
Ausgleich unter Erzeugung elektrischer Funken statt. Nicht genug
daran! Mit Hilfe der elektrischen Entladungen in Gasen ist es den
Physikern ansoheinend gelungen, selbst die chemisohen Atome der
Elemente zu zerspalten. Man ist in der Lage, diese Teilchen, die
„kleiner44 als Atome sind, die sogenannten Elektronen und Ionen, bis
zu einem gewissen Grade zu isolieren und ihre Eigenschaften zu er-
forschen; so thun die Physiker allmählich Schritte vorwärts zur Lösung
des Problemes der Zerlegung der Elemente, ja wahrscheinlich sogar
zur Vorwandlung eines Elementes in ein anderes, und auf diese Weise
kommen wir der Verwirklichung des Traumes der BegrĂĽnder der
Chemie, der Alchimisten, näher.
Und wie die Astronomie, so ist auch die Chemie allmählich in
der Physik aufgegangen, nicht diese in jene; ihr Lebon, ihr Gedeihen
hängen ab vom Leben und Gedeihen des mütterlichen Organismus der
Physik.
Dasselbe vollzieht sich auch iu der Biologie. Oder ist etwa nicht
die jĂĽngste der biologischen Wissenschaften, die Physiologie, in
dasselbe Verhältnis zu der Physik geraten, wie die physikalische
Chemie und die Astrophysik, ist sie etwa nicht eine Biophysik? Alles,
was über die Grenzen der gewöhnlichen Beschreibung und Klassifi-
kation hinausgeht, grĂĽndet sich auf die exakten Ergebnisse der
Physik und Chemie und steht in direkter Abhängigkeit von den
Fortschritten dieser Wissenschaften. Das Elementargebilde jedes Lebe-
wesens, die Zelle, welche den flauptgegenstand der Naturwissenschaft
im engeren Sinne des Wortes bildet, verliert vor unseren Augen mehr
und mehr sein Geheimnisvolles, lediglich dank dem Umstände, dafs sich
die besondere Aufmerksamkeit der Forscher auf die physikochemi-
schen Eigenschaften der Zelle, nicht aber ausschlieĂźlich auf ihre
morphologischen zu richten beginnt. Die Physik und Chemie liefern
entweder mit Hilfe von capillaren „künstlichen Amöben" oder mittelst
anderer Analogien immer mehr Beweise fĂĽr die Idee, dafs vielleicht
„die Zelle kein Wesen, sondern Stolf ist*'. Und wenn einerseits die
biologischen Laboratorien denen des Physikers oder Chemikers immer
ähnlicher zu werden beginnen, so wenden andererseits die Physiker
häufiger und häufiger ihre Aufmerksamkeit biologischen Erscheinungen
zu. So haben dip Experimente des Physikers Wiener dargethan,
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105
dafs wir in der Einwirkung des Lichtes auf die Chlorverbindungen
des Silbers dieselbe Erscheinung „mechanischer" Anpassung an die
Umgebung vor uns haben, wie sie Poulton an den Larven und
Puppen beobachtet hat, welche diese oder jene Farbe zu ihrem
Schutze annehmen; so findet ein anderer Physiker, Guillaume, eine
Analogie zwischen den Chlorverbindungen des Silbers einerseits und
den Eigenschaften des Chlorophylls der Pflanzen, dem Pigmente der
Neger und dem Sehpurpur des Auges andererseits ; so entdeckt die auf-
merksame Beobachtung der Veränderungen, welche feste Körper bei
Deformationen, bei Erwärmung und Abkühlung in ihrer Struktur er-
leiden, in der anorganischen Materie ebensolche Erscheinungen, welche
man in der Welt der Lebewesen als Phänomene des Kampfes ums
Dasein erkennen wĂĽrde.
Die Physik — gleich wie die Natur, welche einem zum Fenster
hereingeflogen kommt, wenn man sie zur Thür hinausgejagt hat —
dringt bisweilen, sozusagen mit Gewalt, in die Gebiete ein, in deuen
man sie ignorierte. So hat die Geologie lange Zeit das Alter der Erde
abzuschätzen gesucht, ohne sich um physikalische Oesetze zu kümmern.
Lord Kelvin dringt darauf, diese Berechnung zu ändern und richtig
zu stellen, und unser Planet wird viele Millionen Jahre jĂĽnger dank
dem Umstände, dafs bei der Rechnung der zweite Hauptsatz der
Thermodynamik beachtet wird — das Gesetz, dafs die Evolution der
Welt eine bestimmte Richtung einhält. Sogar in der praktischen Me-
dizin wurden die wichtigsten Fortschritte in neuerer Zeit hervor-
gerufen durch die Bethätigung eines physikalischen Standpunktes
gegenĂĽber vielen Erscheinungen, welche im lebenden Organismus
stattfinden, und durch Anwendung physikalischer Methoden in
der Diagnostik und der Therapie. Thermometer, Akustik, elektrische
Maschine, Induktionsspule und die Elektrolyse — alles das sind Werk-
zeuge des modernen Arztes, welche die mittelalterliche lateinische
Küche verdrängt haben. Die ohemischen und thermischen Wirkungen
der verschiedenartigen Strahlen bieten heutzutage neue Mittel zur Be-
kämpfung furchtbarer, zuvor unheilbarer Krankheiten. Und was be-
sonders merkwürdig ist — die Physiker haben zuerst das Skelett
eines lebenden Menschen durch seinen Leib hindurch geschaut, sie
zuerst haben die Wirkung hochgespannter Wechselströme wahrge-
nommen. Der Physiker und Astronom Airy konstruiert sich selbst,
nachdem er bei Augenspezialisten vergeblich Hilfe gesucht hat, im
Jahre 1825 die erste astigmatische Linse; ein Vierteljahrhundert danach
untersucht der Physiker Stokes die astigmatischen Augen, und erst
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1862 geht die Sache durch Donders in die Hände der Mediziner
ĂĽber. Genugsam bekannt ist die Rolle, welche die Physik und die
Chemie in dor modernen Bakteriologie spielen; und unwillkĂĽrlich
dĂĽnkt es uns, dafs Physik und Chemie in einer medizinischen Frage
von kapitaler Bedeutung, nämlich in der Frage der Unterscheidung
von Mikroorganismen, neue Methoden schaffen werden an Stelle der
rein empirischen Methoden der Gegenwart. Aber ich glaube, dafs die
angefĂĽhrten Thatsachen genĂĽgen, um den SchlĂĽte zuzulassen, dafs
das 19. Jahrhundert den Namen eines „Jahrhunderts der Physik"
verdient.
Jetzt entsteht die Frage, wodurch die besonderen Fortschritte
des vergangenen Jahrhunderts in der Physik und damit in der ge-
samten Naturwissenschaft bedingt sind. Abgesehen von den Fort-
schritten des Wissens können wir nicht behaupten, dafs sich das
H'. Jahrhundert wesentlich von frĂĽheren unterschiede. Wie vordem
starben Menschen an Seuchen dahin, wie vordem flössen auf Schlacht-
feldern Ströme von Menschenblut, wie vordem marterten Menschen
einander im Ideenwahne; selbst die Sklaverei existierte noch in der
Mitte des Jahrhunderts.
Also nicht in äufseren Umständen, also nicht in einer Wandlung
der menschlichen Natur liegen wesentlich die Ursachen der Fortschritte
der Wissenschaft. Nein! Darin sind sie begrĂĽndet, dafs die Menschen
riohtig denken gelernt haben, dafs sie den rechten Weg zur Erkennt-
nis der Natur gefunden, endlich darin, dafs sie verstanden, welche
Rollen Hypothesen, Theorien, Beobachtungen und Experimenten zu-
kommen, und wie diese anzuwenden sind; im vereinten Zusammen-
wirken derselben entdeckte man das Gesetz, das den ewigen Fort-
schritt der Menschheit beherrscht.
In der ersten Hälfte des H). Jahrhunderts trugen die experimen-
tellen Arbeiten einen sozusagen „elementaren" Charakter. Man mutete
alles von Anfang an erforschen, den Hauptgegenstand der Studien
bildeten die groben, prinzipiellen Thatsachen; man konnte mit ver-
hältnismäfsig einfachen Mitteln operieren. So haben Faraday,
Fresnel, Ampere u. a. gearbeitet. Damals erst kam der Gedanke
zum allgemeinen Bewufstsein, dafs die Physik ebenso gut eine expe-
rimentelle Wissenschaft ist wie die Chemie. In jener Zeit gab es
noch nicht an allen europäischen Universitäten physikalische Samm-
lungen, und wo sie existierten, sahen sie eher wie Kunstkammern aus;
und da versteht es sich, dafs der Unterrioht in Physik an der Tafel
gegeben wurde. In den dreiteiger und vierziger Jahren gestattete
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•
man den Hörern an der Universität Kasan den Zutritt zu dem physi-
kalischen Kabinett nur am Sonntag nach der Messe, ganz ebenso,
wie man heute Sonntags die Kinder in das zoologische Museum fĂĽhrt.
Zur gleichen Zeit hielt an der Universität Berlin Gustav Magnus
seine Vorlesungen ĂĽber Physik in seiner eigenen Wohnung und mit
seinen eigenen Instrumenten ab, und die Kollegien wurden erst dann
in das Universitätsgebäude verlegt, nachdem ihm die Fakultät sein
„Kabinett" abgekauft hatte. Sogar in Deutschland hatte man damals
keine Vorstellung von einem „physikalischen Laboratorium", obwohl
die chemischen bereits vorhanden waren. Das erste Laboratorium
war das Privatlaboratorium des erwähnten Magnus. Der verstorbene
Kundt erzählte gern, wie Magnus empfahl, physikalische Apparate
aus Cigarren kistchen herzustellen. Erst in den 60er und 70er Jahren
entstehen in Europa wirkliche physikalische Laboratorien an den Uni-
versitäten; man beginnt, Mittel zu physikalischen Forschungen zu be-
willigen. Seitdem hat der Fortschritt ein beschleunigtes Tempo ein-
geschlagen, und die Menschheit, welche gewohnt war, Millionen fĂĽr alle
möglichen Dinge, nur nicht für die Wissenschaft, auszugeben, sah mit
Staunen das zuvor Unerhörte: In Berlin erbaute man ein physi-
kalisches und physiologisches Institut mit einem Aufwände von 7 Mil-
lionen Mark.
Seitdem ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Die Mehrzahl dur
Universitäten und technischen Hochschulen Deutschlands erhielten neue
physikalische, ohemische, botanische, zoologische und andere Institute.
Nach dem Vorgange Deutschlands schritten auch andere Staaten Eu-
ropas und Amerikas dazu, Paläste der reinen Wissenschaft zu erbauen,
welche nicht selten mit einem imposanten wissenschaftlichen Komfort
ausgestattet worden sind. „Wissenschaftlicher Komfort" und „Institut""
sind neue Schlagwörter vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die neuen
Einrichtungen ziehen ein Heer von Gelehrten herbei. Aber dieses
Heer ist nicht wie ein Kriegsheer, sondern wie ein Heer von Ar-
beitern in gewaltigen, modernen industriellen Betrieben. -Gleichwie
der Erfolg in diesen von der rechtzeitigen EinfĂĽhrung technischer
Neuerungen abhängt, welche zur Arbeitserleichterung und Zeitersparnis
dienen, so empfängt die moderne wissenschaftliche Forschung, und ins-
besondere die physikalische, alles das, was nicht unmittelbar Zweck
der Forschung ist, alles was schon bei frĂĽheren Arbeiten angewandt
worden ist, aus den Händen der Technik. Um den Einflufs des Magne-
tismus auf die Lichtstrahlen zu entdecken, brauchte Zeeman ein
prächtiges Diflraktionsgitter, welches über 2000 M. wert war, dann
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108
einen sehr starken Elektromagneten, der mehren« Hunderte von Mark
kostete, und einen elektrischen Strom, einen von der Technik gelie-
ferten, von einer elektrischen Station. Zu den bekannten Versuchen
ĂĽber die allgemeine Gravitation standen Jolly im Jahre 1881 5775 kg
Blei zur VerfĂĽgung und Richarz und Krigar-Menzol im Jahre
1896 sogar mehr als 100000 kg. Um einige Decigramme von Salzen
zu gewinnen, welch«» neue Elemente, wie Polonium oder Radium ent-
halten, mutete man mit vielen Tausenden von Kilogrammen Pechblende
arbeiten (das Ehepaar Curie). Noch vor kurzem waren wir entzĂĽckt
von den Induktionsspulen mit 20 cm langer Funkenstrecke, von dem
Thomsonschen Galvanometer, von elektrischen Maschinen mit einigen
wenigen Scheiben — und jetzt braucht der Physiker Induktionsspulen
mit meterlanger Funkenstrecke, elektrische Maschinen mit 60 Scheiben,
Panzergalvanometer von Du Bois und Rubens, Batterien von 10000
Akkumulatoren (Trowbridge) und Transformatoren, welche 2 m lange
Funken geben! Faraday hat bekanntlich viele neue Erscheinungen
entdeckt; noch mehr aber von seinen Versuchen sind miteglĂĽckt, weil
ihm keine genĂĽgend genauen Instrumente zu Gebote standen. Fara-
day hat die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes in magne-
tisierten Gasen nicht bemerkt, Faraday hat die Einwirkung des
Magnetismus auf die Lichtstrahlen nicht gefunden u. dergl. mehr.
Die Wiederholung vieler solcher mifslungener Experimente mit den
mächtigen modernen Hilfsmitteln müsste unser Wissensgebiet merk-
lich erweitern. Das Anwachsen moderner, aus Experimenten ge-
schöpfter Kenntnisse ist vergleichbar mit der Wirkung dreier merk-
würdiger physikalischer Apparate, nämlich der Holtzschen Maschine,
der Siemensschen Dynamomaschine und der Lind eschen Maschine
zur VerflĂĽssigung der Luft; diese beruhen ganz auf dem genialen
Prinzip der Selbstverstärkung.
So auch in unserer Wissenschaft: Man beobachtet eine neue
Erscheinung, und sofort greifen viele Hände sie unabhängig von ein-
ander und von verschiedenen Seiten an, es fliefsen neue Hilfsmittel
zu von ganz verschiedenartigen Gebieten der Physik. Auf optische
Erscheinungen wendet man die Akustik an und umgekehrt, auf die
Elektrizität die Optik; hinwiederum finden neu entdeckte Erschei-
nungen in anderen Gebieten Anwendung als neue Methoden. Ge-
denken wir nur der Rolle, welche in der Physik Spiegelablesung,
Interferenzstreifen, Telephon u. a. spielen. Wir haben Zeitschriften,
welche speziell der Beschreibung neuer Apparate und Maschinen
tlienen: selbst manche engen Wissensgebiete besitzen ihre speziellen
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Zeitschriften: So existieren Zeitschriften fĂĽr Elektrotechnik, fĂĽr Mi-
kroskopie, fĂĽr Photographie, fĂĽr flĂĽssige Gase, fĂĽr die X-Strahlen, fĂĽr
Instrumentenkunde und allerlei mehr.
Als es in der ganzen Welt nur Dutzende von Physikern gab und
alles neu, alles unbekannt war, da hatte die „Zeit" für die Gelehrten
keine Bedeutung. Ganz anders jetzt. Moderne wissenschaftliche Thä-
tigkeit ist nur für denjenigen Forscher möglich, weloher in seinen
Arbeitsbedingungen nicht hinter anderen zurĂĽcksteht. Wenn er ge-
zwungen ist, sich einen Apparat erst selbst zu bauen oder ihn ad hoc
1000 km weit herkommen zu lassen, so wird er in seinen Resultaten
hinter demjenigen zurĂĽckbleiben, welcher den Apparat nur vom Fache
herunterzuholen braucht; aber bei dem fieberhaften Pulssohlag der
gelehrten Thätigkeit der Gegenwart schweben die wichtigen und
interessanten Fragen gewissermaĂźen in der Luft. Und bei gleichen
Kenntnissen und Talenten hat derjenige Erfolg, der in wissenschaft-
licher Hinsicht am besten ausgestattet ist, d. h. in Bezug auf Loka-
lität, Mittel und Instrumente. In Holland gab es bis in die 80er Jahre
des 19. Jahrhunderts hinein nur sehr wenig Physiker; aber um jene
Zeit errichtete man das physikalische Institut in Leyden, aus welchem
während des ersten Dezenniums (1885 — 1894) mehr als zwanzig Experi-
mental Untersuchungen und im Laufe der letzten sieben Jahre bereits
mehr als 70 hervorgingen! In allen diesen Fällen leistet die Technik
der reinen Wissenschaft eine unersetzliche UnterstĂĽtzung, und diese
VerbrĂĽderung erscheint als eine der charakteristischsten EigentĂĽm-
lichkeiten wissenschaftlicher Arbeit unserer Tage. Nicht nur hat die
Technik den Physikern und anderen Naturforschern fertige Hilfs-
mittel dargereicht, sondern es erwuchs auch umgekehrt aus den Be-
dĂĽrfnissen der Wissenschaft heraus ein neuer Zweig der Technik,
die Präcieionstechnik, welche speziell für wissenschaftliche Zwecke da
ist Doch nicht genug damit. Industrielle Betriebe schaffen sich
wissenschaftliche Laboratorien unter der Leitung von Gelehrten; so
z. B. giebt es in Berlin ein Etablissement, welches sioh mit dem Stu-
dium der Explosivstoffe beschäftigt und ein bedeutendes jährliches
Budget hat; ferner thun sich Techniker und Gelehrte zusammen (z. B.
Zeiss und Abbe, Siemens und Halske) zu gemeinsamer Arbeit,
und Vertreter der Technik sind sogar speziell fĂĽr wissenschaft-
liche Zwecke thätig; so ist unter Mitwirkung von Vertretern der In-
dustrie und Technik neuerdings an der Universität Göttingen ein In-
stitut für angewandte Physik errichtet und eine Gesellschaft zur För-
derung dieses Wissenszweiges gegrĂĽndet worden; so hat Abbe in
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\ - klE« dlt>
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111
Natur des Lichtes zu lösen. Eine ungeahnte Folgerung aus diesen
Experimenten hatte die Telegraphie ohne Draht zum Ergebnis. Und
so immer und überall. „Die wichtigsten praktischen Erfolge", sagt
Helmholtz, „sind ungeahnt aus Untersuchungen hervorgewachsen,
die dem Unkundigen als unnützeste Kleinkrämereien erscheinen
mochten, während der Kundige darin zwar ein bisher verborgenes
Verhältnis von Ursache und Wirkung sich offenbaren sah. aber diesem
zunächst doch nur in rein theoretischem Interesse nachspüren konnte.4.
Und gewifs in diesem Sinne sagt der Diohter:
„Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib."
Und ohne diese Göttin, ohne die Wissenschaft an und für sich
ist es überhaupt unmöglich, irgend ein technisches und praktisches
Ziel zu erreichen.
Vom Standpunkte des reinen Wissens zeiohnet sich das
19. Jahrhundert durch Erfolge aus, welohe die kühnsten Träume
der Weisen des Altertums ĂĽbertreffen. Wenn einem Gelehrten die
Wahrheit der Naturerkenntnis an sich lieb und teuer ist, so sind
dem Laien nur die Resultate dieser Erkenntnis wichtig; fĂĽr ihn
ist nur der Sieg ĂĽber den ewigen Feind, die Natur, wiohtig.
Auch zu solchen Siegen fĂĽhrte die Wissenschaft, aber nicht ĂĽberall
und nicht in allen StĂĽcken. Der Tod ist noch unbesiegt; hier ist
sehr wenig und nur hie und da etwas erreicht. Wir bekämpfen die
Epidemien auf etwas rationellere Weise als vorher, und dir? Bakteri-
ologie verspricht uns in Zukunft noch mehr, als sie bis jetzt gegeben
hat. Heutzutage sterben nicht mehr ganze Städte aus, heutzutage ist
das Leben in ihnen gesĂĽnder, die Sterblichkeit geringer geworden;
die Arbeit in den Fabriken ist nioht mehr so tödlich wie früher. Aber
ungeachtet aller dieser Segnungen der Kultur ist der Tod nicht ĂĽber-
wunden — der Tod der Kinder, der Tod der Männer in der Blüte
der Kraft! FĂĽr den Kampf gegen diesen Feind wendet die Mensch-
heit kolossale Kräfte auf, geistige sowohl als physische, wendet sie
Millionen Goldes auf, aber doch bleibt sie hilflos. Jene mafslosen
Hoffnungen, die das grofse Publikum im Hinblick auf die ersten be-
deutenden Fortschritte der Wissenschaft hegte, sind anscheinend nicht
in ErfĂĽllung gegangen. Auf der einen Seite, so alt wie die Welt ist,
das unaufhaltsame Streben, die Gesetze der Natur zu erkennen, eine
klare Vorstellung von den Erscheinungen der Umgebung zu gewinnen;
diesem Streben wird nur durch das fleifsige Studium vieler Dinge
GenĂĽge gethan, welohe dem Laien langweilig, schwierig und unver-
ständlich vorkommen. So grofse Eroberungen des Menschengeistes,
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wie das Gesetz der Energiezerstreuung, die kinetische Theorie der
Materie, die elektrische Theorie des Lichtes, die Existenz und die
Rolle des Äthers — Eroberungen, von deren Realität man sich erst
nach grĂĽndlichem Studium der Physik ĂĽberzeugen kann, scheinen dem
unvorbereiteten Laien als leere Behauptungen und Theorien, die keine
Zukunft haben. Skeptische Stimmen über diese „Theorien" lassen sich
in jĂĽngster Zeit selbst von der Seite vernehmen, von der man sie
nicht hätte erwarten sollen. Auf der anderen Seite — wenn ein
Kranker in den Augen des Arztes sein Todesurteil liest, selbst wenn
er dabei weifs, dafs die Wissenschaft die Sterblich keitsgefahr seiner
Krankheit von 70% auf 40% erniedrigt hat, was macht der Fortschritt
der Wissenschaft fĂĽr ihn und die Seinigen aus, wenn doch gerade
er einer unter den 4ü% ist? — Und nun, an der Neige des 19. Jahr-
hunderts, da sich die Männer der Wissenschaft anschickten, die Bilanz
ĂĽber die Eroberungen der Naturwissenschaften im Laufe desselben
zu ziehen, da erschallt aus dem grofsen Publikum ein Ruf, die Wissen-
schaft hiibu ihre Mission verfehlt, die Wissenschaft sei bankerott.
Aber hat man irgend ein Recht, so übermäfsige Forderungen an
die Wissensehaft zu stellen? Ist die Wissenschaft schuld daran, dafs
sie nicht mehr zu geben vermochte, als wirklich der Fall war? Be-
gegnet sie ĂĽberall dem Entgegenkommen, welches ihr gebĂĽhrt, und
dessen Mangel ihr Fortschreiten lähmt und hemmt? Räumt endlich
die moderne Gesellschaft der Wissenschaft den Rang ein, auf den sie
Anspruch hat? Nein und dreimal nein! . . .
Wenn dem Vaterlande Gefahr von äufseren Feinden droht, so
stehen die BĂĽrger auf wie ein Mann, Weib und Kind vergessend. Das
Ende des 19. Jahrhunderts ist durch eine besondero Einrichtung solcher
Art gekennzeichnet, die allgemeine Wehrpflicht. Aber die Natur mit
ihren furchtbaren Kräften, welche den hilflosen Menschen zu Staub
zermalmen und seinen Leib in Moleküle und Atome zerlegen — dieser
Feind ist doch viel schrecklicher und unbarmherziger als jeder noch
so kriegslustige Nachbar. Die allgemeine Pflicht, Gelehrter zu werden,
ist undenkbar. Aber die allgemeine Pflicht kann man fordern, der
Wissenschaft beizustehen und der kleinen Schar ihrer Mitarbeiter ihr
Streben zu erleiohtern, welche sich dem Suchen nach der Wahrheit
geweiht haben. Und geschieht das etwa in genĂĽgendem Mafse? Nein,
weil die Interessen des Tages, die Interessen des Marktes allenthalben
obenan auf dem Plane stehen ; das Bewufstsein von der unermeĂź-
lichen Bedeutung der Wissenschaft ist der modernen Gesellschaft noch
nicht in Fleisch und Blut übergegangen, und Ereignisse von höohster
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wissenschaftlicher Tragweite erregen keine lebendige Anteilnahme im
grofsen Publikum. Als Hertz die elektrische Natur des Lichtes durch
das Experiment bewiesen hatte, wufsten davon nur die Fachleute aus
den gelehrten Zeitschriften; als aber die ersten Versuche angestellt
wurden, die Hertz sehen Wellen zur drahtlosen Telegraphie zu ver-
wenden, da erfuhren die Gelehrten darĂĽber aus der Tagespresse.
Man wird uns entgegenhalten, dafs man Millionen fĂĽr die Wissen-
schaft ausgebe. Was aber bedeutet diese Summe heutzutage im Ver-
gleiche mit anderen Aufwendungen der modernen Staaten? Das Stu-
dium der Natur und die Offenbarung ihrer Geheimnisse verleihen dem
Menschen das höchste Gut und Glück. „Und trotz alledem1', fragte
Rowland in einer seiner letzten Reden, „wie wenig Laboratorien zur
Forschung giebt es in dieser Stadt (Baltimore), in diesem Lande
(Amerika) oder gar in der ganzen Welt?u „Hie und da", fährt er
fort, „finden wir einige winzige Gebäude mit ein paar Hunger leidenden
(starving) Professoren, welche mit den ihnen zu Gebote stehenden
geringen Mitteln zu erreichen suchen, soviel ihnen möglich ist.
Aber wo in der ganzen Welt existiert eine Einrichtung fĂĽr rein
wissenschaftliche Zwecke auf irgend einem Gebiete mit einem jähr-
lichen Budget von 100 Millionen Dollars? Wo ist der Forscher im
Dienste der reinen Wissenschaft, dessen Einkommen höher wäre als
das eines Tagelöhners oder eines Koches? Aber die 100 Millionen
Dollars sind gerade die Summe, die jährlich für Armee und Marine
aufgewandt werden, Einrichtungen, die doch nur die Vernichtung
fines anderen Volkes bezwecken. Bedenken sie nur, dars 1 % dieser
Summe den meisten als zu reichlich erscheint, sie zur Bewahrung
unserer Kinder und Enkel vor Elend und selbst vor dem Tode zu
verwenden!"
Nicht wahr, solche Worte klingen seltsam aus dem Munde des
Präsidenten der amerikanischen physikalischen Gesellschaft, aus dem
Munde Rowlauds, eines der hervorragendsten Vertreter der Natur-
wissenschaft in der grofsen transatlantischen Republik, obwohl dort
bekanntlich ganze Universitäten aus Privatmitteln unterhalten werden.
Solche Ă„ufserungen beweisen, dafs selbst in dem fortgeschrittenen
Amerika die Lage der Wissenschaft nicht die ist, die sie sein sollte.
Man sagt, die Wissenschaft habe wenig FrĂĽchte getragen. Aber
hat sie etwa viele Mitarbeiter aufzuweisen, und wer ist schuld daran,
dafs deren so wenige sind?
Nach Nietzsche besteht die Bestimmung des Volkes darin, grofse
Männer hervorzubringen. Aber die Genies der Menschheit kommen
Himmel and Erd». 1908. XV. 3 8
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nicht zufallig und auf Bestellung, sie sondern und filtrieren sich sozu-
sagen aus Hunderten und Tausenden gemeiner Gelehrten aus, welche
nur die Arbeit der Steinsetzei: an den Gebäuden verrichten, die die
Könige der Wissenschaft erstehen lassen. Wenn allein in der Wissen-
schaft das Unterpfand einer glĂĽcklichen Zukunft der Menschheit liegt,
so kann für sie kein Opfer zu grofs sein. „Pens^z, sachez et considerez
ceux qui pensent et savent. comme vos guideBu. lautet Buffons
Wort — nur ist dieser Wille im 19. Jahrhundert niclit erfüllt worden
und wird es vielleicht auch nicht im 20 . . .
Nein! Nicht von einem Hankerott der Wissenschaft darf man
reden, sondern vielmehr von der gewaltigen Macht, die sie an den
Tag gelegt hat. Und das aufser acht zu lassen, wäre nach alle dem,
was die Naturwissenschaft der Menschheit bereits geschenkt hat, ein
Verbrechen, welches für die späteren Geschlechter den Untergang be-
deuten wĂĽrde. Kann ein Zweifel darĂĽber bestehen angesichts der
Thatsache, dafs die Wissenschaft, deren Mitarbeiter jetzt nur nach
Tausenden zählen, die Huudetollwut, die Pest und die Diphtherie be-
kämpfen lehrte — dafs dieselbe Wissenschaft weit mehr zu leisten
vermöchte, wenn ihre Diener nach Millionen, ihre Genies nach Dutzen-
den zählten? Dasselbe Gold, das jetzt zum Kampfe gegen Krankheit
und Elend der Menschheit verbraucht wird, dasselbe Gold wĂĽrde, vor
hundert Jahren in der Pflege des reinen Wissens angelegt, Resultate
von unermefslich höherem Werte erzielt und schon längst hundert-
fältige Frucht getragen haben.
25 Jahrhunderte sind vergangon, seit „Physik4 und „Politik'*
als Wissenschaften geboren wurden. Heute sehen wir beide Worte
vereint im Titel einer Rektoratsrede.*) Wie paradox auch eine
derartige Zusammenstellung klingen mag, so liegt in ihr doch ein
tiefer Sinn. Wie Rowlands Rede, so beweist auch sie, dafs die
Forscher der reinen Wissenschaft in den verschiedensten Teilen
der Welt dieselbe Frage bekĂĽmmert: Ungeachtet aller praktischen
Erfolge brennt die Faokel des Wissens in der Welt nicht so hell,
wie sie sollte. Und in Rufsland? In Rufsland ist die Natur-
wissenschaft anderthalb Jahrhunderte alt. Obwohl diese Spanne Zeit
kurz ist, haben sich die russischen Naturforscher eine angesehene
Stellung unter den Gelehrten der Welt erworben, eingedenk des
Satzes, „dafs wir auf geistigem Gebiete nicht zurückstehen dürfen."
Und doch, wo finden wir bei uns solche Paläste der Wissenschaft.
*) O. Lehmann, Physik und Politik.
Fostrede. - Karlsruhe, IS»01
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115
solche Institut«', welche viele Millionen koßten, wie sie in Westeuropa
und Nordamerika zerstreut liefen? Und wenn schon dort die Ge-
lehrten mit Nachdruck immer mehr und mehr fĂĽr die Wissenschaft
fordern, was sollen wir da erst sagen? Sind auch die medizinischen
Wissenschaften leidlich bedacht, wird etwa fĂĽr die ĂĽbrigen Zweige der
Naturwissenschaft viel bei uns gethan, z. B. fĂĽr die Physik? Das
neue Jahrhundert sieht hier in Petersburg das erste wirkliche physi-
kalische Institut in Rufsland; wir wissen, daf6 ein zweites gegenwärtig
in Moskau im Bau begriffen ist, aber was hat das fĂĽr das grofse,
weite Rufsland zu sagen? Und in welcher prekären Lage befinden
sich die proviuzialen Universitäten, wo es nicht selten einfach un-
möglich ist, Unterricht zu erteilen oder zu arbeiten: wo unsere Zu-
hörer mit dem Gesicht gegen das Licht sitzen, und wo ein Apparat
für 1000 Rubel als Luxus gilt, wo der Kaum der „physikalischen In-
stitute44 300 bis 800 qm beträgt, während er Tausende von Quadrat-
metern einnehmen sollte! Die utilitaristische Ansicht hat bedauer-
licherweise in vielen Beziehungen eine zu grofse Bedeutung in un-
serem Vaterlande. Die industriellen und technischen Unternehmungen
beanspruchen in erster Reihe viele Millionen zur UnterstĂĽtzung; die
Gesellschaft ist bereit, die Mittel TĂĽr meteorologische Beobachtungen
zu bewilligen, aber sie verlangt gleich die Prophezeiung des Wetters
von heute auf morgen; die Gesellschaft ist bereit, Geld fĂĽr technische
Schulen herzugeben, weil diese uns die Ingenieure liefern ; man findet
Millionenstiftungen fĂĽr medizinische Kliniken, giebt es aber in Rursland
viele Stiftungen fĂĽr naturwissenschaftliche Einrichtungen, fĂĽr physi-
kalische und chemische Institute, welche die Interessen des reinen
Wissens vertreten?
Das .Jahrhundert der Physik, das Jahrhundert der Naturwissen-
schaft ist zu Knde. Welchen Namen werden unsere Urenkel dem
zwanzigsten Jahrhundert beilegen? Wir wissen es nicht. Aber wir
hoffen, dafs das neue Jahrhundert neue und gĂĽnstigere Bedingungen
fĂĽr die wissenschaftliche Arbeit schaffen wird. Hoffen wir, dafs der
klare Bach der Wissenschaft sich in breiten Wellen zu einem gewal-
tigen Strome ausdehne, und dafs die Zeit nicht mehr fern sei, in welcher
der Wahlspruch RuĂźlands, und nicht nur des gelehrten Rufsland,
lauten möge:
.,Es lebe die reine Wissenschaft!"
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Astronomische Chemie.
Von W. Gallenkamp in MĂĽnchen.
aum und Zeit sind die Ansohauungsformen unseres Geistes,
unter denen sich das gesamte Geschehen der äufseren Welt
in diesem unseren Geiste wiederspiegelt. Räumliche und zeit-
liche Mafse sind daher die Grundelemente aller unserer Wissen-
schaften, soweit sie mit diesen äufseren Erscheinungen zu thun haben.
Dafs die Astronomie schon seit den ältesten Zeiten mit Erfolg be-
strebt war, die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse des Himmels
festzulegen, braucht hier nicht erörtert zu werden; dafs die Mechanik,
dafs die Physik eine Erscheinung nur dann als wirklich erklärt an-
sieht, wenn sie die Komponenten derselben in räumliche und zeit-
liche Abhängigkeit voneinander und anderen gebracht haben, ist
ebenfalls bekannt Anders bei der Chemie. Bis vor kurzem war die
Chemie eine räum- und zeitlose Wissenschaft; in keiner ihrer
Reaktionen war die Zeit oder der Raum als bestimmender Faktor be-
rĂĽcksichtigt worden. Die noch junge physikalische Chemie hat hierin
Wandel geschaffen; eines ihrer ersten und wichtigsten Untersuchungs-
gebiete war die Feststellung des zeitlichen Verlaufs chemischer
Reaktionen. Diese Hereinziehung der Zeit in die chemische Reaktion
hat uns höchst bedeutsame neue Gesichtspunkte eröffnet. Leider ist
man im gleichen Sinne in räumlicher Beziehung nicht so glücklich und
auch nicht so eifrig gewesen. Wir haben allerdings eine Wissen-
schaft der Stereo- oder Kaumchemie, aber über mehr als die Anfänge
sind wir nicht hinausgekommen. In der That, um es gleich zu sagen,
wissen thun wir über die räumliche Seite chemischer Vorgänge gar-
nichts; wir sind also vollständig auf Vorstellungen angewiesen, die
um so plausibler sein werden, je mehr sie sich an schon bekannte
anschliefsen. Mit einer solchen Vorstellung beschäftigen sich die
folgenden AusfĂĽhrungen.
Dazu raufs ich ausgehen von den Vorstellungen und Bezeich-
nungen, wie sie bis jetzt in jedem chemischen Lehrbuch niedergelegt
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sind, also mit den ohemischen Formeln und Zeichen. Das nächste
Ziel der chemischen Forschung ist die Aufklärung der Zusammen-
setzung eines Körpers, einer Verbindung; hat sie dies erreicht, so
mufs sie von diesem Resultat in anschaulicher Form Bericht erstatten,
d. h. sie mufs uns auf irgend eine Weise statt eines nichtssagenden
Namens ein bezeichnendes deutliches Bild dieser Verbindung geben.
Die Bezeichnung der qualitativen Zusammensetzung einer Ver-
bindung allein giebt kaum ein Bild von derselben. Wenn wir mit
S den Schwefel, mit 0 den Sauerstoff und mit H den Wasserstoff be-
zeichnen, so würde uns die Konstatierung, dafs die Schwefelsäure aus
S, O und H besteht, noch keine klare Vorstellung von ihr geben;
denn solcher Verbindungen von S, O und H giebt es verschiedene.
Einen grofeen Schritt vorwärts tbun wir schon, wenn wir auch die
quantitative Zusammensetzung in der Formel ausdrĂĽcken und z. B.
nun die Schwefelsäure schreiben: H2 S04. Aber auch dies kann
(nicht bei der Schwefelsäure, wohl aber bei sehr vielen anderen Ver-
bindungen) noch nioht ausreichen, um die Verbindung eindeutig zu
kennzeichnen; wir müssen also noch näher auf die gegenseitige
Stellung, auf die Gruppierung der einzelnen Bestandteile eingehen.
Wir thun dies durch Aufstellung der sog. Konstitutionsformeln. Wenn
wir z. B. für Schwefelsäure statt des einfachen H2 SO , jetzt:
S-O-O.H
schreiben, so legt diese letztere Formel in der That die
—0—0 • H
inneren Verhältnisse des Schwefelsäuremoleküls klar vor Augen; man
sollte meinen, so klar, dafs jede weitere Verdeutlichung ĂĽberflĂĽssig
wäre. Und doch kommen recht viele Verbindungen, besonders orga-
nische (Kohlenstoff-) Verbindungen vor, bei denen auch diese Be-
zeichnung noch nicht genĂĽgt, bei denen zur Unterscheidung die Ebene
des Papieres nicht mehr ausreicht, bei denen vielmehr nur eine
räumliche Formel eindeutig bestimmend eintreten kann, um eben
die verschiedene Lagerung der Atome im Raum auszudrĂĽcken. So
HCl
H-H—C C-H-H
giebt es z. B. von der Verbindung • • 2 ver-
H-H-C C-H-H
V
HCl
schiedene Repräsentanten, die sich ohemisch und physikalisch ganz
deutlioh unterscheiden, fĂĽr deren Verschiedenheiten aber, wenn wir sie in
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â–
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der Formel ausdrĂĽcken wollen, wir auf der Ebene des Papieres keine
Unterscheidungsmöglichkeit haben. Dieselben können nur durch eine
räumliche Formel unterschieden werden, indem man für die Formel
des einen Körpers die Cl-Zeichen beide unterhalb oder beide oberhalb
der Papierebene, fĂĽr die andere das eine unterhalb, das andere ober-
halb derselben geschrieben denkt; nur dann unterscheiden sich die
beiden Formeln voneinander.
Hiermit sind wir an der Grenze der Bezeichnungsmöglichkeit
und wohl auch an der Grenze der Unterscheidungsnotwendigkeit an-
gelangt. Alle diese Bezeichnungen und Figuren, welche auf den Laien
beim Lesen einer ohemischen Abhandlung unwillkĂĽrlich abschreckend
wirken und in ihm sicher den Eindruck von einer Geheimschrift und
Geheimsprache hervorrufen mĂĽssen, gestatten nun dem Kundigen bis
zu einem gewissen Grade, ohne weiteres Zusammensetzung und Eigen-
schaften von Verbindungen, Verlauf und Grund von Reaktionen u. s. w.
mit einem Blick zu ĂĽbersehen, und haben der Wissenschaft, gerade
durch Klarlegung innerer Vorgänge, eminente Dienste geleistet.
Und doch verbirgt sich in ihnen eine grofse Gefahr.
Ich sagte oben: „bei denen nur eine räumliche Formel ein-
deutig bestimmend eintreten kann, um eben die verschiedene Lagerung
der Atome im Räume auszudrücken". Der Schlüte liegt nun nahe,
zu meinen, diese raumliche Formel sei ein Bild der räumlichen
Lagerung der Atome, ĂĽberhaupt die chemische Formel sei ein Ab-
bild der Konstitution der Moleküle. Und doch wäre dies ein sehr
verhängnisvoller Irrtun). Die Formeln sind ja nur Symbole, verein-
fachende Zeichen, die eine lange Beschreibung ersetzen sollen, und
haben nie und nimmer etwas mit der wirklichen Gestalt, dem wirk-
lichen Aussehen der betr. MolekĂĽle zu thun. Wenn wir fĂĽr die
räumliche Lagerung der Atome gewisser Verbindungen auch räum-
liche Formeln anwenden mĂĽssen, so dĂĽrfen wir nicht vergessen, dafs
räumliche Gebilde ja auch die Moleküle sind, für deren Formel, für
deren Symbol die Papierebene genĂĽgt. Wenn wir fĂĽr das oben an-
geführte 1,4-Dichlorhexahydrobenzol eine räumliche Formel brauchten,
weil die Lagerung der beiden Chloratome räumlich auf verschiedene
Weise stattfinden kann, so beweist der Umstand, dafs wir die Ăźchwefel-
S-O-o.H
ausdrücken können,
-0-0 . H
noch nicht, dafs die Lagerung ihrer Bestandteile nun auch in einer
Ebene stattfindet. Ein Unterschied zwischen l,4-l)ichlorhexabydro-
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benzol und Schwefelsäure in Bezug auf räumliche Lagerung ißt nicht
vorhanden ; räumliche Gebilde sind sie beide. Zur Bezeichnung ihrer
Eigenschaften aber ist in einem Fall ein ebenes Symbol ausreichend,
während im anderen nur ein räumliches ausreichend ist; ein Abbild
müfste in beiden Fällen ein räumliches sein.
Können wir nun ein solches direktes Abbild gewinnen?
Die Frage mufs leider verneint worden; jedenfalls vorläufig,
vielleicht ĂĽberhaupt Unsere heutigen Mikroskopo soheinen nicht
mehr sehr weit von der Grenze der überhaupt möglichen Leistungs-
fähigkeit entfernt zu sein, so dafs ein Kindringen auf diesem We»e
in den inneren Bau der Körper ausgeschlossen scheint, denn die auf
anderem Wege erschlossene oder wenigstens geahnte Kleinheit der
in Betracht kommenden Gröfsen liegt weit, weit unterhalb der je <t-
reich baren Grenze des Auflösungsvermögens unserer Mikroskope.
<>b die Zukunft andere Mittel finden wird, um ein direktes Abbild
der inneren Körperkonstitution zu erlangen, das wissen wir natürlich
nicht. Die besonders in den letzten lahrzehnten so zahlreich ge-
fundenen, frĂĽher nin geahnten neuen Beobachtungsmittel lassen, je
länger je mehr, ein ..Niemals- als eine zu gewagte Behauptung er-
scheinen und auch das unmöglich scheinende als möglich hinstellen.
Aber können wir uns wenigstens eine Vorstellung von dem
inneren Bau, eine Vorstellung von den thatsäch liehen Verhältnissen
machen, welche durch die chemischen Formeln symbolisch dargestellt
werden?
Wissen können wir, wie gesagt, nichts darüber; wir sind also
nur auf Induktion, auf SchlĂĽsse, und zwar auf AnalogieschlĂĽsse ange-
wiesen. Schon die Grundannahme, date ĂĽberhaupt die Substanzen ans
Molekülen und Atomen zusammengesetzt sind, können wir ja nicht
beweisen. Im Gegenteil, es sind schon viele gewichtige Stimmen laut
geworden, welche sich gegen diese Annahme aussprechen, welche die
Existenz von MolekĂĽlen und Atomen bezweifeln und dieselben nur
als Begriffe, als Bilder aufgefafst haben wollen. FĂĽr die folgenden
Ausführungen verschlägt dies nichts. Bild ist ja alles, was wir
durch unsere Sinne aufnehmen. Wie das Ding an sich aussiebt, das
wissen wir ja nicht: wir sehen es nur unter einem gewissen Bild,
ohne behaupten zu können, dafs dieses Bild identisch mit der Wirk-
lichkeit ist. Wir können nun aber nicht aus unserem Empfinden
herauskommen, fĂĽr unser Empfinden, d. h. fĂĽr uns ist dieses Bild
«•ben die Wirklichkeit. So wissen wir auch nicht, ob die Substanzen
aus MolekĂĽlen zusammengesetzt sind; fĂĽr unser gedankliches An-
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120
schauen können wir sie uns aber unter diesem Bilde erscheinen
lassen, solange dieses Bild unter allen Umständen gleich bleibt, d. h.
so lange die Annahme nicht mit anderen Erfahrungen in dauernden
Widerspruch tritt Eine Wahrheit ist ja auch niohts anderes, als eine
logisch mögliche Hypothese, gegen deren Annahme bis jetzt noch
keine Thatsachen gesprochen haben. Dafs die Molekularbypothese
auch logisch wahrscheinlich ist, werde ich gleich zeigen.
Ein AnalogieschluĂź setzt ein gemeinsames Band voraus. Dieses
ist in der ganzen Natur die Einheitlichkeit alles Geschehens. Die
Welt ist nur ein einziges, und so kann auch das Geschehen in der
Welt ĂĽberall nur ein einziges sein. Was an einem Orte geschieht, das
mufs unter gleichen Umständen an anderem Orte genau ebenso ge-
schehen. Ein Unterschied kann vor allem durch unsere mensch-
lichen Anschauungen nicht hineingebracht werden. Insbesondere
können solch relative Begriffe, wie grofs und kleiu, auch nicht den
geringsten Unterschied bewirken. Wollen wir also das fĂĽr uns un-
fafsbar kleine, die innere Konstitution der Körper begreifen lernen,
so brauchen wir nur von dieser Miniaturschrift der Natur unseren
Blick dahin zu heben, wo sie mit gewaltiger Lapidarsohrift geschrieben
steht: zum gestirnten Himmel.
Wir wissen, dafs wir sehr viele völlig gleichförmig, wie eine
Masse erscheinende Nebelflecke auflösen können in einzelne Sterne,
in einzelne Sonnen; wir wissen ferner von unserer Sonne ganz be-
stimmt, von den Sternensonnen in einzelnen Fällen fast bestimmt und
damit für alle mit gröfster Wahrscheinlichkeit, dafs sie von anderen
Körpern (Planeten) umkreist werden, um die nun ihrerseits wieder
ebensolche Körper (Monde) in regelmäfsiger Bewegung laufen. Unser
ganzes Sternsystein mit seinen ungezählten Sonnen und den diese
timkreisenden Trabanten wĂĽrde also auch, von einem entfernten
Standpunkt aus gesehen, nur wie ein winziges, gleichförmiges, an-
scheinend aus zusammenhängender Masse bestehendes Nebelfleckchen,
wie ein KrĂĽmelchen kosmischer Substanz, erscheinen. Ein Riesenwesen,
dem unser Milchstrafsenring unter seinem besten Miskroskop nicht
gröfser erscheinen würde, als uns die bekannten sechseckigen Feld-
chen des Kieselpanzers von Pleurosigma angulatum, wĂĽrde sich ver-
geblich bemühen, diese ihm gleiohförmig erscheinende Masse aufzu-
lösen in die einzelnen Teilchen, aus denen, wie wir ihm sagen
könnten, dieses sein Untersuchungsobjekt besteht In gleichem Falle
befinden wir uns nun den verschiedenen Körpern gegenüber, deren
innere Konstitution wir kennen lernen möchten. Da wir eben sahen,
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dafs grofs und kloin keinen prinzipiellen Unterschied machen kann,
so mĂĽssen wir logisch schliefsen, dafs auch in jedem kleinsten StĂĽck-
chen irgend welcher Substanz dieselben Aufbau- und Bewegungsver-
hältnisse herrschen müssen wie im Weltall. Denn was für uns ein
Weltall ist mit unfaĂźbaren Entfernungen, das ist fĂĽr das eben fin-
gierte Riesenwesen nichts anderes, als für uns jene minimalen Gröfsen,
die bei unseren Molekularannahmen vorherrschen, und die fĂĽr win-
zige Wesen, für welche Bruchteile von Lichtwellenlängen schon
.Siriusweiten wären, ebenfalls wieder ganz gewaltige Dimensionen dar-
stellen wĂĽrden. Die Einheitlichkeit der Welt zwingt uns also dazu,
anzunehmen, dafs ebenso wie Sternensysteme aus einzelnen rotieren-
den Körpern zusammengesetzt sind, auch jedes Sonnenstäubchen
wieder aus eben solchen einzelnen rotierenden Körpern, Molekülen,
besteht Sonst würde thatsächlich an irgend einer Stelle, die nur
von unserer beschränkten Begriffsbildung und unseren unzulänglichen
Sinneswerkzeugen abhin<>e, die Kontinuität, die Einheitlichkeit durch-
brochen. Mit anderen Worten: Atome und MolekĂĽle sind nichts
anderes, als Weltkurper und Weltkörpersysteme im kleinen; wie unser
Sonnensystem ein MolekĂĽl des riesigen Milohstrafsensystemes ist, so
ist ein Schwefelsäuremolekül nichts anderes als eines der zahllosen
Sonnensysteme in dem grofsen (oder kleinen, wie man will; denn
grofs und klein verlieren ihre Bedeutung) Weltall, das wir Menschen
_ein Tröpfchen Schwefelsäure" nennen.
Und nun komme ich wieder auf meine obige Frage zurĂĽck :
Können wir uns wenigstens eine Vorstellung von dem inneren Bau,
eine Vorstellung von den thatsächlichen Verhältnissen machen, welche
durch die chemischen Formeln symbolisch dargestellt werden? Wir
können es und müssen es auf Grund dieser eben dargelegten kos-
H-A
mischen Verhältnisse. Was wir auf dem Papier als 1 1 (Wasser)
H U
bezeichnen, ist also nicht ein, wie die Formel vermuten läfst, starr
und unbeweglich untereinander in der gezeichneten Weise ver-
bundenes Dreikörpersystem, sondern eine kleine Welt für sich, in der
die beiden H — Planeten in ewigem Tanze um den Centraikörper O,
die 0 — Sonne, kreisen, so wie der Mars vielleicht mit seinen beiden
fV-°-°.H
Monden duroh das Weltall eilt. Was wir \ , Schwefel-
U— O—O • H
säure nennen, ist wieder nicht eine in dieser Form ein für allemal
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starr miteinander verbundene Ansammlung von Atomen, sondern
wieder eine kleine Welt fĂĽr sich, in der (wie wir uns vorstellen
können) um den Zentralkörper S hier 4 Weltkörper <> kreisen, von
denen je zwei sich um ein gemeinsames Zentrum drehen, wobei jedes-
mal einen von ihnen als Trabant noch ein sechster und siebenter
Körper H umwandelt; oder astronomisch ausgedrückt: ein System, in
dem der Zentralkörper von 2 Doppelsternsystemen umkreist wird, in
denen je eine Sternsonne von einem Planeten begleitet wird. In
ganz ähnlicher Weise müssen wir uns alle die seltsamen chemischen
Formeln mit ihren vielen Kreuz- und Querstrichen umformen in die
Vorstellung von frei im Räume schwebenden Systemen umeinander
kreisender kleiner Weltkörperchen. W ie diese Systeme im einzelnen
aussehen, wie sie beschaffen sind u. s. w., das wissen wir natĂĽrlich
noch nicht: einzelnes können wir nur ahnen.
Ehe ich hierauf eingehe, sei es mir durch ein Beispiel uostaltet,
die ĂĽberraschende Ăśbereinstimmung zwischen den uns unbekannten
chemischen Vorstellungen und den uns bekannten astronomischen zu
zeigen, und zwar indem ich die Sache umdrehe und, anstatt die
ersteren astronomisch auszudrĂĽcken, die letzteren in chemisches Ge-
wand hĂĽlle, tl. h. astronomische Thatsaehen durch chemische Formeln
ausdrĂĽcke.
Angenommen, unser Sonnensystem bestände nur aus Sonne,
Erde mit ihrem einen Mond und 3 Planeten. Wenn wir die Sonne
durch das astronomisch-chemische Zeichen S, die Knie durch E, den
Mond durch M und einen Planeton durch PI ausdrĂĽcken, so haben
wir für dieses Sonnensystem zunächst die allgemeine Formel: SEMP1;,
die uns indessen noch gamichts über tlas Verhältnis der 6 Körper
zu einander besagt. Nun kommt Ptolemäus und stellt sein Welt-
system auf, wonach die Erde der Zentralkörper ist, den die anderen
umkreisen. Die Pto lern aussehe Formel würde sieh also demgemäfs
so schreiben: \ — S: hiernach würde also, chemisch gesprochen, die
J Hl,
Erde 5- wertig, die Sonne nur 1-wertiü sein: der Körper, den die
Form» ! darstellt (unser Sonnensystem), würde, chemisch ausgedrückt
<in frei erfundene!', aber leicht verständlicher Nomenklatur), ein Mono-
mondsoltriplanetogeoid sein. Die Formel stimmte indefs allmählich
nicht mehr mit den Heobachtungsresullaten ĂĽberein. Die 5- Wertigkeit
der Erde entsprach nicht ihren „Reaktionen", sie schien zu hoch; der
Sonne wiederum schien eine höhere Wertigkeit zuzukommen. So kam
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J23
man denn dazu, die Sonne als 4-wertig, die Erde nur als 2- werlig
anzusehen. Tycho de Brahe stellte also unter dieser Voraussetzung
1 M
die Konstitutionsformel unseres Sonnensystems so auf: -j
1— S l'l:;
d. Ii. er betrachtete unser System als Tripianetosolol-mouoiuondgcoYd.
mit andoren rein astronomischen Worten, er liefs die Planeten um die
Sonne, diese selbst aber, ebenso wie den Mond, um die Knie kreisen.
Schon vorher hatte Kopernikus die einzig richtige, auch heute- noch
i\— E-M
als giltiir angesehene Formel aufgestellt: \ und damit unser
P PI,
System als Triplaneto-monomondgeo-solol definiert, (»an/, genau diesen
tausendjährigen Kampf um die richtige Weltanschauung, um die Welt-
formel können wir nun vorfinden, wenn wir statt der astronomischen
Zeichen chemische einsetzen, z. B. Kohlenstoff (C) fĂĽr die Sonne.
Sauerstoff (O) TĂĽr die Erde, Wasserstoff (H) fĂĽr den Mond und Chlor
(Cl) fĂĽr einen Planeten. Die Formel: COHCI;} wĂĽrde au sieh nichts
über die Konstitution dieses Körpers (Oxvchloroform) besairen. Ein
il H
chemischer Pto lern aus kennte nun auf die Formel: II— C
V Ol,
gekommen sein und den Körper also als Monohvdrotrichlorcarboxyd
beschrieben haben, wĂĽrde aber heutzutage schon von dem ersten An-
fänger in der Chemie darüber belehrt werden, dars dieso Formel
total falsch sein mufs, weil C 4-wertig und O nur 2- wertig ist. Ein
chemischer Tvcho de Brahe resp. Kopernikus wĂĽrde nun die
ik-H
2 Möglichkeiten vertreten, entweder die Formel; I oder
U-(C Cl,» •
n-o-H
I d. h also die Bezeichnungen Tnehlorkohlenstoffhydroxvd
Ii Cl,
oder Hydroxyltrichlorkohlenstoff zu wählen. Diese zwei Formeln und
Auffassungen sind nun beide gleich berechtigt; der Unterschied liegt
nur darin, dafs man das eine Mal von dem O-Atom aus die Anord-
nung betrachtet, das andere Mal von dem C-Atom. Genau das Gleiche
haben wir auch beim tychonischen und kopernikanischen Weltsystem:
ersterea betrachtet die Sache vom Standpunkt der Erde aus, also geo-
zentrisch, letzteres von dem der Sonne, also heliozentrisch. In gleicher,
nur chemisoher Nomenklatur könnten wir also für die obigen beiden
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Fälle die genau aualogen Bezeichnungen oxygenozentrisoh resp. kar-
bonozentrisch anwenden. Das Unberechtigte der tychonischen Auf-
fassung unseres Weltsystems lag nur in der Annahme einer abso-
luten Ruhe der Erde; die Annahme einer relativen Ruhe der Erde
und demgemäfse Auffassung des ganzen Systems ist genau so be-
rechtigt, wie die verschiedenartige Auffassung der molekularen Welt-
systeme, die wir eben kennen gelernt haben. Denn nicht minder wie
bei diesen letzleren haben wir auch bei der Sonne gelernt, von einer
absoluten Ruhe abzusehen.
Die Analogie /wischen beiden Systemarten ist, wie es nicht
anders sein kann, eine vollkommene; und die astronomische Auf-
fassung kann uns manche wertvolle Fingerzeige zum Verständnis der
chemischen Reaktionen geben. Wir haben oft den Fall, dafs in einer
Verbindung einzelne Atome von Wasserstoff z. 13. viel leichter er-
setzbar, auswechselbar oder abtrennbar sind als andere der gleichen
C H,
Art. So z. B. ist in der bekannten Verbindung | (Essig-
* C-ü— O-H
säure) das alleinstehende H-Atom mit spielender Leichtigkeit ersetzbar
duroh beliebige andere Körper, ungleich schwieriger dagegen irgend
eines von den oberen drei. Die Formel giebt keinen Aufschlufs ĂĽber
den Grund hierfür; man kann nur in gelehrter „Geheimspraohe" kon-
statieren, dafs „ein Hydroxylwasserstoff leichter umsetzbar ist als ein
primärer*. Die astronomische Auffassung macht uns die Thatsaohe
viel plausibler: dir oberen 3 H- Atome spielen die Rolle von Planeten,
das untere, nicht direkt mit einem der Zentralkörper C verbundene
nur die eines Trabanten, und es liegt auf der Hand, dafs z. B. unser
Mond viel leichtor äufsereu Beeinflussungen zugänglich ist, viel leichter
..Störungen u erleidet, als Merkur oder Venus. Diese Störungen gehen
nun in den Molekularsystemen bis zu gänzlicher Entfernung eines
Körpers aus dem System, ohne dafs Ersatz eintritt. Das jetzt so viel
C-H
verwendete Acetvlen ist ein Beispiel hierfĂĽr. Die beiden mit-
C — H
einander verbundenen C-Atome könnten je 3 H-Atouie „binden", wie
sie es im Ă„than wirklich thun. Durch Austritt von je 2 H-Atomen
werden sie nun gezwungen, sich gegenseitig mit 3 Wertigkeiten zu
binden. Astronomisch aufgefaĂźt hat dieser Vorgang keine Schwierig-
keit: Aus dem Doppelsternsystem, in dem jede Sonne von 3 Planeten
umkreist wird, werden je 2 von diesen letzteren entfernt. Die damit
eingebĂĽĂźte Summe an Gravitation niufs, damit das System stabil
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bleibt, ausgeglichen werden durch eine andere Entfernung der beiden
C-Sonnen sowohl (das ist die geänderte Bindung) als ihrer beiden
verbleibenden Trabanten, und durch veränderte Geschwindigkeiten
ihrer Umläufe (das sind die geänderten Eigenschaften). Diese sogen,
„ungesättigten - Verbindungen könnten ein ganz entsprechendes Ana-
logen am Himmel finden, wenn z. B. der Jupiter oder Saturn aus
unserem Sonnensystem plötzlich entfernt würden. Unser System
brauchte deshalb noch nicht in TrĂĽmmer zu gehen, nur wĂĽrden unsere
Erde und alle ĂĽbrigen Planeten eine ganz andere Entfernung von der
Sonne und ganz andere Umlaufszeiten u. s. w. bekommen mĂĽssen; es
wĂĽrde eben fĂĽr einen auĂźenstehenden ein ganz anderes System, ein
„ungesättigtes44 Sonnensystem werden, ebenso wie aus dem Äthan das
ganz andersartige Acetylen geworden ist, ohne dafs aber, wie man
etwa aus der Formel, durch die vermehrten „Bindungsstriche'* ver-
muten könnte, die Eigenschaften des Kohlenstoffs sowohl als des
Wasserstoffs an sich andere geworden wären. Ich sagte eben, diese
ungesättigten Verbindungen könnten ein Analogon am Himmel
finden. Leider haben wir bis jetzt noch keins erlebt, weder hierfĂĽr,
noch überhaupt für Umsetzungen, für „Reaktionen". Die himmlischen
Systeme „reagieren" nicht aufeinander, wenigstens nicht, so lange
wir beobachtet haben. Das kann nicht ĂĽberraschen, wenn wir die
Verhältnisse von Kaum und Zeit beachten, unter denen die beiden
Klassen von Erscheinungen stehen.
Unser Mond braucht 28 Tage zu einem Umlauf um die Erde,
diese 365 Tage zur gleichen Bewegung um die Sonne, dieso letztere
wieder ca. 27 Milliouen Jahre, ehe sie ein einziges Mal eine gewisse
Bahn in ihrem System zurĂĽcklegt. Wenn wir nun diese Zahlen ver-
gleichen mit den in den Molekularsystemen vorherrschenden, wo sich
solche Umläufe in bis zu einigen Billionteln heruntergehenden
Bruchtheilen von Sekunden vollziehen, wenn wir die Entfernungen
der MolekĂĽle, die sich nach Tausendsteln von Millimetern bemessen,
vergleichen mit den kosmischen Entfernungen, bei denen sohliefslioh
nur noch «las Lichtjahr als auskömmlicher Marsstab dienen kann, so
werden wir verstehen, dafs es wohl möglich ist, wenn wir ungezählte
Milliarden von Zusammenstößen, Katastrophen. Reaktionen jener
Molekularsysteme beobachten können, ehe wir nur eine einzige von
den kosmischen „Reaktionen" sioh vor unseren Augen abspielen sehen.
Ob die von Zeit zu Zeit auftauchenden neuen Sterne solche Kata-
strophen darstellen, ob also hier ein kosmisch-chemischer Prozefs vor
sich geht, darĂĽber sind bekanntlich die Ansichten noch geteilt.
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Etwa* ĂĽberraschendes wĂĽrde ein solcher Vorgang fĂĽr uns nicht
haben.
Die astronomische Auffassung der chemischen Vorgänge kann
ujiH aber noch einen Fingerzeig geben, wie wir die angebliche „Ge-
heirasprache" der Chemiker und die Schwierigkeit, durch die sym-
bolischen Konstitutionsformeln allen AnsprĂĽchen gerecht zu werden,
überwinden können. Auch die Verhältnisse unseres Sonnensystems
drĂĽcken wir ja nicht durch einen einzigen Namen oder durch eine
einzige Formel aus; würden wir dies versuchen, so kämen solche
I Jngeheucrlichkeiten an Zeichen und Wortbildungen heraus, dafs auch
der schwierigst auszusprechende chemische Name im Vergleich nur
♦•ilel poetischer Wohlklang wäre. Wir haben das aber garcicht
nötig, weil wir ein viel exakteres, wissenschaftlicheres Mittel besitzen,
um sämtliche Verhältnisse im System klipp und klar darzulegen: die
sogen. Ephemeridentafeln, d. h. eine Tabelle, in der für alle Körper
des Systems Gröfsc, Mafse, Abstand von der Sonne, Umlaufszeit.
Neigungswinkel der Bahn u. s. w. genau verzeichnet stehen. Aus
diesen Tafeln können wir alle Eventualitäten, denen das System aus-
gesetzt ist. berechnen. Würden wir die Ephemeriden des uns nächsten
Sternsystems <* Centauri) ebenso genau kennen, so wĂĽrden wir bei
einem Zusaminenstofs der beiden Systeme, d. h. bei einer Reaktion
zwisohen den beiden Systemen genau berechnen können, welches
neue System daraus hervorgeht. Genau dasselbe dĂĽrfte nun auch
unser zu erstrebendes Ziel bei den molekularen Systemen worden. Erst
wenn wir Ephemeridentafeln für das System, das wir Schwefelsäure
nennen, besitzen, werden wir eine für alle Eventualitäten ausreichende
Kenntnis dieser Verbindung besitzen, auch für Fälle, über die uns
durch solch genaue Kenntnis werden wir Aufschlufs erhalten ĂĽber
manche uns heute noch ganz rätselhaft vorkommende Anomalien und
Einblick gewinnen in Möglichkeiten, die uns unsere heutigen Formeln
noch gar nicht träumen lassen. Verschieden weite Entfernungen, ver-
schiedene Bahnneigungen, verschiedene Geschwindigkeiten bedingen
naturgemäß in solchen Systemen Verschiedenheiten, denen gegenüber
unsere Formeln, selbst die räumlichen, stumm bleiben müssen.
Ol), wann und auf welche Weise eine solche „astronomische
Chemie" erreioht wird, dariibor läfst sich natürlich nichts sagen. Wie
man aus Störungen den Neptun errechnen konnte, wie man aus den
gar keine Auskunft giebt. Erst
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thermischen Eigenschaften der Gase Gröfse und Geschwindigkeit der
MolekĂĽle rein mathematisch ableiten konnte, so wird man vielleicht
auch spater diese Errechnung bis auf die das MolekĂĽl zusammen-
setzenden Atome ausdehnen können, ohne sie je zu Gesicht zu be-
kommen; wie ich schon Eingangs sagt«-, wird man ein „Niemals14 in
solchen Dingen nicht sprechen dĂĽrfen. Meine Aufgabe kann es hier
auch nur sein, eine solche Möglichkeit anzudeuten.
Dafs überhaupt die räumliche Vorstellung von chemischen Ver-
hältnissen nicht so naheliegend ist, wie die von kosmischen, die wir
tagtäglich vor Augen haben, beweist der eigentlich merkwürdige Um-
stand, dafs es den Ruhmestitel des bekannten Berliner Chemikers
Van t'Hoff begründet hat, überhaupt auf diese Räumliohkeit der
chemischen Vorgänge aufmerksam gemacht zu haben! Und das vor
noch gar nioht zu langer Zeit! Das beweist, wie sehr wir uns an die
I'apierebene, auf der unsere Formeln stehon, gewöhnt, wie sehr wir
räumlioh zu denken vergessen hatten.
(Fortwtzuntr folgt.)
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Die Fram-Expedition Sverdrups.*)
C^jSas jĂĽngste und wichtigste Ereignis, weiches die naturwissen-
>lcj sohaftlichen Kreise Norwegens beschäftigt, ist die Rückkehr
der Sverdrn p sehen Fram-Expedition.
Zu der Unzahl von GlĂĽckwĂĽnschen, welche dem kĂĽhnen Forscher
aus allen Teilen der civilisierten Welt zugingen, wollen auch wir den
unserigen hinzulugen und zugleich unserem Dank Ausdruok verleihen
für eine vierjährige aufopfernde Forschungsarbeit, die zum gröfsten
Teil unbekannten rCrdgebieten galt und die irotz des zur Ausbeute
vielleicht hohen Aufwandes doch ein dringendes BedĂĽrfnis fĂĽr die
Wissenschaft war.
In den Tagesblättern sind bereits ausführliche Mitteilungen über
den Keisoweg der Expedition während der vier Jahre gebracht worden ;
es liegt uns daher fern, Sverdrups Bericht hier in aller AusfĂĽhrlichkeit
wiederzugeben. Wir wollen nur an der Hand der beigefĂĽgten Karten-
skizze uns gegenwärtig halten, was in diesen Erdstrichen bereits er-
forsoht ist, und was noch der Erforschung harrt. Auch sei nicht
verschwiegen, dafs das Ziel, welches sich der Leiter der Expedition
anfänglich, ja noch bis zum Jahre 1898 setzte, unerreicht geblieben
ist. Verhältnisse, über welche menschliche Macht nicht zu gebieten
vermochte, stellten sich dem Vordringen der Expedition um Grönlands
Nordküste entgegen. Ursprünglich plante nämlich Sverdrup, von
Smithssund aus durch das enge Fahrwasser hindurchzudringen, welches
GrĂĽnland von Ellesmereland trennt, sodann gedachte er, weiter nord-
wärts an der noch unerforschten Insel vorbei, welche sich an Grön-
lands Nordspitze anschliefst, dieselbe östlich umkreisend, Grönlands
Nordost küste zu erreichen. Hier harrte ein größeres Ländergebiet,
welches bereits im Jahre 1670 um! 1675 gelegentlich gesehen, dann
aber zwei .Jahrhunderte der Vergessenheit anheimgefallen war, der
•) Aus der norwegischen Zeitschrift „Naturen4-, übersetzt von Dr. P. Schwahn.
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näheren Erforschung. Hätte Sverdrup diesen Plan durchführen
könnon, so hätten die Ergebnisse der Expedition ungleich mehr auf
«ler Hand gelegen, jedenfalls wären sio bedeutungsvoller für <!ie Wissen-
schalt gewesen.
Die Umstände wollten nicht, dafs dieser Plan glückte. Nachdem
die Expedition sich ein volles .Jahr im Fahrwasser zwischen Grönland
und Ellesmereland — von August 1898 bis August 1899 — aufge-
halten hatte, erwies es sich nach dem Stande der Eisverhältnisse als
unmöglich, auf dem oben bezeichneten Wege weiter nordwärts vor-
zudringen. So mufste denn Sverdrup in vernĂĽnftiger FĂĽrsorge fĂĽr
Schiff und Mannschaft von 1899—1900 im Jonessund sein Winter-
quartier nehmen. Dieser Jonessund leitet in ein noch wenig durch-
forschtes Gebiet, in dossen unmittelbarer Umgebung gegen den SĂĽden
zu allerdings schon verschiedene Expeditionen von den Zeiten Frank-
lins an ihr Arbeitsfeld gehabt hatten.*)
Auf 84° 25' westlicher Länge und 70° 29' nördlicher Breite nahm
die, Expedition während des zweiten Winters ihr Quartier. Den
dritten Winter verbrachte sie auf derselben Breite und 89° 0' west-
licher Länge, und aus dieser Position konnte man auch während des
vorangegangenen Sommers nicht recht vorwärts kommen, obwohl das
Fahrzeug nur 7 Viortelmeilen nach SĂĽden getrieben wurde. Die drei
letzten Winter wurden im wesentlichen ebenfalls an derselben Stelle
verbracht, wenigstens was das Schiff anbetrifft. Wäre die Expedition
nicht so vortrefflich fĂĽr Schlittentouren ausgerĂĽstet gewesen, so wĂĽrde
die geographische Ausbeute nur bescheiden sein.
In diesen Zeiten aufgezwungener Ruhe verliefen der Leiter und
die Teilnehmer der Expedition ihr Schiff, um in den unbekannten, eis-
erfüllten Wüsten nordwärts und westwärts Streifzüge vorzunehmen,
und die opferfreudige Bereitwilligung, mit der sie dies taten, erfordert
aufrichtige Bewunderung. Eine gewaltige Arbeit wurde auf diesen
Sehiittenexpeditionen erledigt, ja man kann wohl sagen, das eigent-
liche Wesen der Sverdrupschen Expedition beruhte auf ihnen. In-
dessen diente auch das Schiff in den wenig durchforschten Gebieten
während der drei Jahre als Beobachtungswarte. Ein reiches und wert-
volles meteorologisches und magnetisohes Beobachtungsmaterial wurde
gewonnen, ferner wurden mannigfache Gegenstände von naturhistori-
schem Interesse gesammelt und in die Heimat gefĂĽhrt.
Es steht zu erwarten, dafs die zoologischen und botanischen
*) Die durch den Lancastersuud fĂĽhrenden unterbrochenen Linien auf
der Karte geben die Routen verschiedener Expeditionen an.
Himmel und Erd*. 1902. XV. 3.
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Sohätze, welche die Naturforscher der Expedition auf ihren Streifzügen
zusammenbrachten , vielfach neue Ergebnisse an den Tag fördern
werden. Bezüglich der geologischen Ausbeute knüpft sich das gröfste
Interesse an die Fossilienfunde aus der Tertiärzeit und wahrschein-
lich auch Kohlenzeit, ĂĽber welohe in der Tagespresse ausfĂĽhrlich
berichtet worden ist. Schliefslich hat man auch ethnographisches
Material aus ehemaligen Eskimowohnstätten in den jetzt mensohen-
loeren Gegenden gesammelt; sie werden neues Lioht werfen auf die
Ausbreitunge Verhältnisse eines der merkwürdigsten Volksstämme
der Erde.
Die auf Schlittenexpeditionen durchforschten Landgebiete waren
zum gröfsten Teil noch völlig unbekannt. Wenn diese Schlitten-
expediuonen auch kein so grofses Areal, wie solche mit festem Aus-
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gangspunkt umfassen konnten, so scheint es doch, dafs gerade aus
diesem Grunde ein grösserer Detailreichtum bei den Untersuchungen
erzielt worden ist. In kurzen Worten lassen sich die auf Sohlitten-
expeditionen ausgefĂĽhrten Arbeiten folgendermaĂźen charakterisieren:
Im Spätherbst 1898 wurde eine Expedition landeinwärts über
Ellesmereland von der OstkĂĽste aus unternommen; dabei wurde eine
Anzahl Kartierungen im Hayessund ausgefĂĽhrt.
1899. Im FrĂĽhjahr machte man zwei Schlittenreisen quer duroh
Ellesmereland, die eine über das Eis, die andere etwas weiter nörd-
lich ĂĽber eisfreies Land. Im Herbst wurde der Sohiffsort etwa nach
dem Punkt im Jonessund verlegt, der auf der Karte durch einen kreis-
runden Fleck gekennzeichnet ist Von hier aus wurde dann abermals
eine Expedition ins Werk gesetzt, welche 68 Viertelmeilen westlioh
von der „Framu ein Depot errichtete und außerdem östlich von diesem
einen grofsen Fjord untersuchte.
1900. Im Frühjahr (im März) zog eine Expedition vom Depot
aus nach Westen bis zu einer Entfernung von 175 Viertelmeilen. Von
dort zogen dann vier Mann nach Norden an der unbekannten West-
küste von Ellesmereland entlang bis zu 79° nördlicher Breite. Hier
teilte sich die kleine Expedition in zwei Trupps. Der eine Trupp setzte *
die Reise nördlich an der Westküste fort und erreichte 81° nördlicher
Breite, der andere verfolgte eine mehr westliche Richtung, untersuchte
hier ein neues Land, das im Westen auftauchte und bei 98° westlicher
Länge erreicht wurde. Auf der Rückkehr kartierte dieser Trupp auch-
einen Fjordkoniplex, der sich ungefähr bei 89° westlicher Länge bis
zu 79 a nördlicher Breite erstreokt.
1901. Im April wurden gleichzeitig zwei Expeditionen nach Westen
und Norden ausgesandt Gegen Westen drang man bis zu der größten
Länge vor, welche überhaupt erreicht worden ist, nämlich bis zu 106°
westlich von Green wioh bei einer nördlichen Breite von 79 '/a°. Die
nach Norden ziehende Abteilung erreichte dagegen 80° 30' nördlicher
Breite und untersuchte hier neue Fjorde und Sunde, deren endgĂĽltige
Lage nach den bisher veröffentlichten Berechnungen sich jedoch noch
nicht bestimmt angeben läfst.
1902. Auch der letzte FrĂĽhling wurde zu einer grofsen Schlitten-
expedition benutzt. Sie hatte den Zweck, mögliohst nahe an den west-
lichsten oder sĂĽdlichsten Punkt heranzukommen, welchen Aldrichs
Schlittenexpedition im Jahre 1876 bei der Erforschung der NordkĂĽste
von Ellesmereland (oder Grantland) erreichte. Die Expedition kam
hierbei bis zu der größten nördlichen Breite, welche bei dem Sver-
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13:2
drupsohen Unternehmen überhaupt erzielt worden ist, nämlich bis zu
81 11 37'.
Auf der vorstehenden Kartenskizze sind die Stationen der „Fram-
eingezeichnet, und zwar die erste als schwarzes Viereck, die zweite
als sohwarzer Kreis, die des dritten und vierten Winters in Form
eines Kreuzes. Das von den Schlittenexpeditionen durchstreifte Land-
gebiet ist durch unterbrochene Linien gekennzeichnet, welche von der
letzten Station der „Fram" auslaufen.
Das hierbei in Betracht kommende Gebiet umfafst ein ganz be-
deutendes Areal, und die Arbeiten der Expedition mĂĽssen zweifellos
in geographischer und wissenschaftlicher Hinsicht als sehr wertvoll
bezeichnet werden. Allerdings wird man das Gefühl der Enttäuschung
verstellen, welches sich unwillkĂĽrlich in den breiten Massen des
Publikums ĂĽber diese Expedition geltend macht; denn dem Sverdrup-
schen Unternehmen fehlt das dramatische Element. Neue Fjorde und
Inseln in den öden Eiswüsten des amerikanischen Nordens sind ja
anscheinend kein genĂĽgend wĂĽrdiges Untersucliungsfeld fĂĽr eine mit
grofsen nationalen Mitteln ins Werk gesetzte Expedition.
Wir sind auch in dieser Hinsicht ein wenig verwöhnt. Die
vorangehende „Fram'-Expedition war ohne Zweifel in gröfserem Stile
angelegt, sowohl bezĂĽglich der Vorbereitungen als auch im Hinblick
auf die Resultate. Der damals zurückgelegte Reiseweg der „Frani-
war aufserordentlich viel gröfser: die Konstruktion des Schiffes und
der glĂĽokliche Gedanke der Forlbewegung desselben durch die Drift-
strömung zwischen Sibirien und Grönland eröffnete andererseits für
die Polarn.rschung ganz neue Bahnen. Mau wird diese Bahnen wieder
beschreiten, nachdem es sich erwiesen hat, dafs ein Erzwingen der
Durchfahrt durch den Smithsund und seine weiteren Verzweigungen
mit unĂĽberwindlichen Schwierigkeiten verbunden ist.
Schon frĂĽher haben mehrere Expeditionen, zum Teil mit tra-
gischem Ausgang, den Weg verfolgt, welchen die „Fram*i im Jahre
1898 einzuschlagen suchte. Dabei konnte das eine oder das andere
Expeditionsschiff um etwa drei Breitegrade weiter nach Norden, bis
zu 82" 30' vordringen. Ware nur der Sommer 16^ der Expedition
gĂĽnstig gewesen, so wĂĽrde es sicherlich Sverdrup geglĂĽckt sein, ent-
sprechend weit nach Norden zu gelangen. Gesetzt nun den Fall, dafs
der Ausgangspunkt seiner Schlittenexpeditionen irleich weit nach
Norden wie das Winterquartier von Narres 1S75 — l87t> vorgeschoben
wäre, so würde Sverdrup nach Mafsgabe der Ausdehnung der von
ihm unternommenen Sehlutenexpediti -neu eir.en „Nordpoirekord" er-
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I3.ri
reicht haben, der alle frĂĽheren bei weitem in den Schatten gestellt
hätte. Wir erwähnen dies nur, damit sich der Leser ein riohtiges Bild
von dem Umfang- der Sverdrupschen Schlittenreisen macht, nicht
etwa, weil wir solchen Nordpolrekorden eine höhere Bedeutung bei-
messen als jeder anderen Forschungsarbeit in den unbekannten ark-
tischen Regionen.
Wiederholen wir es, was wir schon sagten: Nach Mafsgabe der
Umstände hat die Expedition eine grofse und für die Wissenschaft
bedeutsame Arbeit geleistet. Auch ein Vorteil ist nicht zu unter-
schätzen, den sie vor mancher früheren Expedition in diesen gefahr-
vollen Einöden des Nordens voraus hat: sie bringt ihr Sohiff und fast
die ganze Mannschaft wohlerhalten in den heimatlichen Hafen.
So wollen wir denn Sverdrup und seinen Leuten im Namen
der Wissenschaft unseren Dank aussprechen fĂĽr die Opferwilligkeit,
mit der sie vier Jahre hindurch im Dienste der Wissenschaft tätig
gewesen sind.
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Professor Wilhelm Foerster.
Zu seinem 70. Geburtstage am 16. Dezember 1902.
c-gSo wie er in der Überschrift bezeichnet, hört sich der schlichte
Mann, dessen 70. Geburtstag vor der TĂĽr ist, lieber nennen,
als mit dem Titel „Geheimer Regierungsrat", den er seit Jahren
besitzt. Das ist bezeichnend fĂĽr den anspruchslosen Gelehrten, dessen
Sinnen und Trachten zeit seines Lebens kein anderes gewesen ist,
als sioh mit dem grofsen Mafs seiner Fähigkeiten auf dem von früher
Jugend an erkorenen Gebiet der Wissenschaften fĂĽr die Menschheit
so nützlioh wie möglich zu machen. Darum galt jederzeit der „Pro-
fessor' für ihn als die höchste erreiohte Ehrenstufe, über die in äufser-
lichen Ehren hinauszustreben er kein Verlangen trug. Und in Wahr-
heit, so BedeutendesFoerster in den mancherlei Nebenämtern zu seinem
Hauptamt, der Leitung der Berliner Sternwarte seit nunmehr beinahe
40 Jahren, geleistet hat, dem „Professor", dem Mann der Wissenschaft
in ihm, gebĂĽhrt doch das Hauptverdienst an dem segensvollen Schaffen,
das als die Frucht eines langen Lebens voll MĂĽhe und Arbeit dem
Jubilar nachzurĂĽhmen ist. Nicht zum geringsten Teile gilt dies auch
von seiner Betätigung für die „Urania", seine eigenste Schöpfung, und
fĂĽr diese Zeitschrift, deren MitbegrĂĽnder und eifriger Mitarbeiter er ist.
Denn es darf an dieser Stelle und bei diesem Anlafs gesagt
werden: Der Gedanke, in der Hauptstadt des Deutschen Reiches eine
Stätte zu gründen für das Bekanntwerden der grofsen Ergebnisse
der Naturwissenschaften in weitesten Kreisen und zugleich fĂĽr die Er-
weokung und Förderung der Freude an der Natur-Erkenntnis, ist dem
Kopfe Foersters entsprungen, wie nicht minder die GrundzĂĽge fĂĽr
die AusfĂĽhrung des Planes von ihm herrĂĽhren. Jahre hindurch hatte
er sich mit dem Projekt getragen; es stand im Glänze einer ge-
lungenen Verwirklichung lange vor seinem geistigen Auge. Mit
Freunden und Geistesverwandten, unter denen Werner Siemens an
erster Stelle zu nennen, war die Idee nach allen Seiten erwogen und
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135
durchgesprochen worden, nur die ausfĂĽhrende Hand fehlte noch.
Denn ein Unternehmen dieser Art schlofs die nebenamtliche Behand-
lung aus. Es verlangte eine sich ihm früh und spät ganz und gar
widmende, von vornherein die Absichten der BegrĂĽnder voll ver-
stehende und teilende, wissenschaftlich durchgebildete, doch auch eine
gute Dosis praktischer Befähigung besitzende Kraft, der neben „Welt-
manns Blick" des „Schwärmers Ernst" nicht fehlen durfte. Dafs und wie
< s Foerster gelang, eine solche Kraft zu finden, welche der „Urania"
zu Leben und Erfolg verhalf, ist in aller Erinnerung. Die Teilnahme
aller Kreise des Volkes an der „Urania" beweist, dafs sie die Stätte
edler Anregung und geistigen Genusses geworden und geblieben ist,
und als solche anerkannt ist.
Es kann nicht die Absioht dieser Zeilen sein, Foersters um-
fassende wissenschaftliche und gemeinnützige Tätigkeit umfänglich dar-
zulegen und nach GebĂĽhr zu wĂĽrdigen. DafĂĽr dĂĽnkt der siebenzig-
jährige Mann mit der Rüstigkeit und körperlichen Beweglichkeit des
JĂĽnglings uns noch zu jung und noch zu sehr inmitten einer schaffens-
freudigen Tätigkeit, al6 dafs ein Rückblick auf diese gestattet wäre. Es
stehen ihm hoffentlich noch manche Jahre in der Fortsetzung solcher
Tätigkeit in Aussicht Hier wollen wir nur etwas eingehender der
Beziehungen Foersters zur „Urania" und zur Zeitschrift „Himmel
und Erde" gedenken. Ehe es aber geschieht, sei in KĂĽrze und ohne
Anspruch an Vollständigkeit der Werdegang des verdienstvollen
Mannes mitgeteilt.
Wilhelm Foerster wurde am 16. Dezember 1832 als der
zweite Sohn des Kaufmanns und Tuchfabrikanten Friedrich Foerster
zu GrĂĽnberg in Schlesien geboren. Seinen ersten Unterricht genofs
er in der BĂĽrgerschule seiner Vaterstadt und, nachdem er deren Pen-
sum absolviert, seit 1844 noch bei dem von seinen SchĂĽlern hoch-
geschätzten Lehrer Roh de in einer höheren Knabenschule, aus
welcher sich später (1853) das jetzige Grünberger Realgymnasium
entwickelt hat. Der geweckte Knabe zeigte schon sehr frĂĽh eine
hervorragende Begabung, phänomenal nach der Seite des Gedächt-
nisses hin, und bald eine ausgeprägte Neigung für die Naturwissen-
schaften, die von tĂĽchtigen und anregend wirkenden Lehrern geweckt
und gefördert wurde. Ostern 1847 wurde der Vierzehnjährige in die
Obertertia des Maria Magdalenen - Gymnasiums zu Breslau aufge-
nommen. Nach Michaelis 1850 bestandenem Abiturienten-Examen
bezog Foerster die Universität Berlin, um sich mathematischen und
naturwissenschaftlichen Studien unter Leitung von Dove, Poggen-
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130
<lorf, Steiner, Joacbimsthal u. s. w. zu widmen, welchem Gebiet
speziell, das stand damals bei dem Jüngling, den nach einem möglichst
ausgedehnten Wissen verlangte, noch keineswegs fest. Die Ent-
scheidung fĂĽr die Astronomie erfolgte erst nach der Ostern 1852
geschehenen Übersiedelung Foersters auf die Universität Bonn
unter dem Ein flu Ts Argelan der«. Am 5. August 1854 promovierte
Foerster mit einer Abhandlung „de altitudine poli Bonnensi" und
kehrte noch im September des Jahres nach Beilin zurĂĽck, zu-
nächst um bis zum Herbst J86<~> seiner Militärpflicht bei der Garde-
Artillerie zu genĂĽgen, dann um vom 1. Oktober 1855 ab als zweiter
Assistent bei der Stern warte unter Enckc einzutreten. 1860 stieg
Fo erst er, da Bruhns einen Ruf an die Leipziger Sternwarte ange-
nommen, zum ersten Assistenten auf und ĂĽbernahm als solcher 1803,
als Encke durch Krankheit zur Arbeitseinstellung gezwungen wurde,
zuerst einstweilig und auftragsweise, die Leitung der Sternwarte. Nach
Enckes Tode aber wurde Foerster im März 1865 — erst 32 Jahre
alt — endgültig zum Direktor der Berliner Sternwarte ernannt. Von
seinen reichen Betätigungen in dieser Stellung seien nur erwähnt: Die
alljährlich umfangreicher gewordene Herausgabe des Berliner Jahr-
buches, die Bearbeitung des astronomischen Teiles des Preufsischen
Normalkalenders und viele Arbeiten im Interesse der Europäischen
Gradmessung und der Astronomischen Gesellschaft. Vor allem aber
ist seiner eifrigen und erfolgreichen Lehrtätigkeit an der Universität
zu gedenken. Dem Verbände der Universität gehört Foerster seit 1857
an, in welchem er sioh als Privatdozent habilitierte. AuĂźerordentlicher
Professor wurde er 1863, ordentlicher 1875. Seit 186'» an die Spitze
der Normal- Aichungskommission berufen, hat Foerster das grätete
Verdienst um die neue, mit der EinfĂĽhrung metrischen Mafses und
Gewichtes verbundene Aichordnung im Deutschen Reiche. Seine
Beziehungen zum Mafs- und Gewiohtswesen lenkten die Blicke der
Keichsregierung auf Foerster, als in den 70er Jahren die inter-
nationale Regelung dieses Gebietes zur Notwendigkeit wurde, und
ein geeigneter Vertreter Deutschlands zu den in Paris stattfindenden
Konferenzen zu entsenden war. Seine fruchtbare Tätigkeit für diese
hochwichtige Angelegenheit ist allseitig anerkannt worden. Seit einer
Reihe von Jahren ist Foerster der Vorsitzende der „Commission
internationale du metre1'. In Berlin in hoher Geltung steht seine
Tätigkeit für die Begründung eines geordneten Zeitwesens. Die
Normaluhren sind seine eigenste Schöpfung. Zahlreich sind die
von ihm in Vereinen und Gesellschaften gehaltenen Vorträge zur
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!M7
Popularisierung seiner Wissenschaft, der Astronomie, sowie in ange-
nehmster Erinnerung viele seiner formschönen Gelegenheitsreden, unter
denen die Denkrede nuf Alexander von Humboldt bei EnthĂĽll-
ung von dessen Denkmal 1SS3 besonder* erwähnt sei. Doch der
rastlose Geist Foersters strebte nach umfassenderer Tätigkeit. Das
letzte Jahrzehnt sah ihn, nachdem er von 1811 J 92 liektor der Uni-
versität gewesen, an der Spit/e der ethischen Bewegung und fiir
dieselbe erfolgreich bemüht, bis Überbürdung mit Amtsgeschäften ihn
netigte, den Vorsitz der Gesellschaft in andere Hände übergehen zu
lassen. Dafs auch das ..Schiller-Theater1 seiner Initiative entsprungen,
ist vielleicht nicht allgemein bekannt. Auf seinem Spezial-Gebiet ent-
sprach die Begründung und Leitung des „Vereins der Freunde der
Astronomie und kosmischen Physik'* so ganz dem auf Verbreitung
der Freude an der Naturerkenntnis gerichteten Sinne Foersters, wie
er sich im Laufe der Jahre wiederholt betätigt hatte.
Doch lassen wir den Jubilar selbst ĂĽber seine Absichten
sprechen. Als am II März 1888 die „Urania1, ins Leben getreten und
dieser Tat auf dem Fufse die Herausgabe der Zeilschrift „Himmel
und Erde" gefolgt war, deren erster Jahrgang von 1S8U datiert, da
schrieb Fo erst er im ersten Heft ĂĽber die Gedanken, welche fĂĽr
»lie „Urania" und „Himmel und Erde" maßgebend gewesen, u. a. fol-
gendes :
„Laut Statut ist der „Urania1* die Verbreitung der Freude an der
Naturerkenntnis zur Aufgabe gestellt. . . . Diesem Zwecke soll auch
die Zeitschrift dienen. . . . Die aus der Erkenntnis gewinnbare GlĂĽcks-
empfindung, die Freude an derselben, muFs die zur Erwerbung und
Erweiterung der Erkenntnis unerläfsliche Arbeit auf allen ihren Stufen
wecken und beleben helfen. ... In die Fähigkeit und in die offen-
bare Bestimmung des Menschen, sich unter den Schutz der erhabenen
Mächte des Seelenlebens vor dem niederen Zwange veränderlicher
Lust und Unlust zu flüchten und dort höheren Frieden zu finden,
setzt auch der Naturforscher den höchsten Adel der Menschennatur,
und zu jenen Mächten gehört mit einer unbeschreiblich sittigenden
Kraft die Freude an der Erkenntnis, im besonderen auch diejenige
an der Naturerkenntnis. . . . Die voraussetzungslosesb- Freude geniefst
der Monsch auf dem Gebiet des Schönen. . . . Aber auch die Natur-
betrachtung bietet den Sinnen und der Einbildungskraft unmittelbar
beglĂĽckende EindrĂĽcke dar. ... Es wird daher schon als eine in
hohem Grade erhebende und anregende Veranstaltung zu betrachten
sein, wenn z. B. dem Grofsstädter Anlafs und Gelegenheit zur Betrach-
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13*
lung des geslirnten Himmels geboten wird. Schon hierdurch wird
ihm eine Erhebung und Erquickung bereitet, welch»- erfahrungsmäfeig
weitreichende Anregungen zu ernsterer Beschäftigung mit den diesen
Eindrücken verwandten Gegenständen zor Folge hat Natureindrücke
von noch nachhaltigerer, dem G^nufs des menschlich Schönen
näher kommender Wirkung vermag die Naturforscbung mit ihren . . .
mächtigen Hülfsroitteln der Verfeinerung und Bereicherung der Wahr-
nehmung sowie der .experimentellen Nachbildung von Naturerschei-
nungen, ja der Hervorrufung von Erscheinungen, die in der Natur
in solcher Eigenart und Vollendung noch gar nicht wahrgenommen
wurden, schon jetzt immer weiteren Kreisen der Menschen zu bieten.
In der Gewährung aller dieser edeln Genüsse . . . läfst sich nun eine
Vielseitigkeit und eine gewisse Stufenfolge von Wirkungen erzielen,
welche dem Zweck des Ganzen, zur Erkenntnisarbeit anzuregen, fĂĽr
die allerverschiedensten Vorbildungsstufen und GeistesbedĂĽrfnisse Kr-
fĂĽllung verheifst.4-
Diese Worte sagen genug darĂĽber, in welchem Sinne das Unter-
nehmen der „Urania" und die Herausgabe der Zeitschrift ins Leben
gerufen wurde. Das Programm ist nach äufserster Möglichkeit treu
innegehalten worden. Es darf wohl ohne Cberhebung behauptet
werden, dafs in den wissenschaftlichen Vortragscyklen mustergĂĽltige
Veranstaltungen für das Verständnis der unaufhaltsam vorwärts schrei-
tenden Naturerkenntnis und für die Freude daran gegeben sind, während
im Theatersaal die Natur unmittelbar durch Reihen schöner, mit künst-
lerischem Feingefühl ausgewählter Bilder zu den Beschauern redet.
Fast in jedem Winter hat Professor Foerster sich an den Vorträgen
und nahezu unausgesetzt an den Veröffentlichungen dieser Zeitschrift
beteiligt. Noch in den letzten Wochen erfreute er durch einen Cyklus
von drei astronomischen Vorträgen in der Sternwarte der Urania, deren
zahlreicher Besuch bewies, welchen Beifall seine lebendige, lichtvolle
Vortragsweise findet. Hoffen wir also, dafs die jetzt erreichten
„Siebenzig44 noch recht lange die jugendlich -elastische Natur dieses
Mannes mit ihrem Einflufs verschonen werden, und dafs die „Urania"
wie „Himmel und Erde" seine Mitwirkung an ihren Aufgaben noch
manches Jahr geniefsen mögen !
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Die photographische Himmelskarte ist zur Zeit das «rötete
Werk, an dessen Herstellung- die Astronomen beteiligt sind. Sie um*
fafst den gesamten Sternhimmel vom Nordpol bis zum SĂĽdpol, und
ĂĽbertrifft dadurch an Ausdehnung bedeutend die Sternkataloge der
Astronomischen Gesellschaft, die mit dem 23. Grade sĂĽdl. Deklination
abschliessen, ganz abgesehen davon, dafs die Kataloge nur bis zur
9. Gröfse gehen, während die Himmelsaufnahmen viel weiter reichen.
Diese werden in 2 Serien hergestellt; die eine von kurzer Belichtungs-
zeit von 6 Minuten und 3'/;{ Minuten ergibt Platten, auf denen noch Sterne
11. Gröfse erscheinen; die andere mit einer Belichtung von 40 Minuten
gibt nooh die 14. Gröfsenklasse. Die erste Serie wird gemessen,
berechnet und als ein Sternkatalog veröffentlicht; die andere dagegen
auf dem Wege der HeliogravĂĽre als Sternatlas herausgegeben. Dies
klingt nun ganz einfach; man erhält aber eine Vorstellung von der
Gröfse dieses Unternehmens durch folgende Einzelheiten. 18 Stern-
warten beteiligten sich seit 1887 an der Arbeit; jede hat etwa 1200 Platten
von jeder Serie aufzunehmen und wird fĂĽr ihren Sternkatalog elwa
4 000O00 Sternbildchen erhalten, die alle einzeln gemessen und be-
rechnet werden mĂĽssen. Auch wenn nun ein hinreichendes Personal
an Beobachtern und Rechnern zur VerfĂĽguug steht, so ist es doch
nicht wunderbar, dafs diese Aufgabe noch lange ihrer Vollendung
harrt, abgesehen von den riesigen Kosten. Die Reproduktion ihrer
1200 Aufnahmen kostet fĂĽr eine Sternwarte etwa 2 000 000 M., und es
ist fraglich, ob jedes Institut einen derartigen Betrag zur VerfĂĽgung
hat Nimmt man aber an, dafs in einigen Jahrzehnten wirklich das
Riesenwerk vollendet ist, so fĂĽllt dieses allein ein ganzes Zimmer
einer Bibliothek; ein einziges Exemplar mit allen 22 000 zugehörigen
Karten füllt ein Fach von 10 Meter Länge an und wiegt 40 Centner!
Allerdings kann man auch jeder Karte die Ă–rter von Sternen mit der
Genauigkeit der besten Meridianbeobachtungen entnehmen und hat
ein absolut richtiges Bild des Himmels zu der Stunde der Aufnahme
R.
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140
An die Besitzer von Fernrohren mäßiger GröTse wendet sich
neuerdings der Direktor der Harvard Sternwarte, Pickering. Er
fĂĽhrt aus, dafs die von diesen Instrumenten geleistete Arbeit sich in
gar keinem Vorhältnisse zu ihrer sehr grofsen Zahl befinde. Aller-
dings gehören viele Uinge, wie Bewegungen in der Gesiohtslinie,
Mikrometermessungen, Oberflächenstudien bei Planeten durchaus in
das Gebiet der grölsten Instrumente. Aber man kann den kleineren
ein grofees und sehr vielversprechendes Arbeitsfeld angeben, auf dem
noch viele Beobachtungen anzustellen sind, und das einer unbegrenzten
Ausdehnung fähig ist, nämlich das Studium der veränderlichen Sterne
mit langsamem Eichtwechsel. Während bei Sternen mit kurzer Periode
und geringen Helligkeitsänderungen allerdings ganz genaue photo-
metrische Messungen notwendig sind, die gröfsere Instrumente er-
fordern, so genĂĽgt die von Argelander eingefĂĽhrte Methode der
Stufenschätzungen bei den langperiodischen durchaus. Die erforder-
liehen Vorbereitungen sind leicht zu beschaffen. Der Beobachter
wähle sich eine Reihe über den ganzen Himmel gleichmäfsig verteilter
Sterne, beobachte jeden wenigstens alle Woche einmal und schätze
seine Helligkeit nach den in der Nähe stehenden von bekannter
Oröfsenklasse. Um dies zu erleichtern, erscheinen neuerdings Sonder-
karten von Hagen, die für jeden Veränderlichen die in der Nähe
stehenden Steine mit Grörsenangaben zeigen. Aber auch sonst ist es
immer leicht, für jeden zu den Schätzungen benutzten Stern die genaue
Helligkeit zu erfahren. Das in dieser Zeitschrift alle Vierteljahr
gegebene Verzeichnis von veränderlichen Sternen ist unter diesen
Gesichtspunkten aufgestellt. FĂĽr einen Teil davon genĂĽgen schon
gute Theatergläser, während für die schwächeren ein sorgfältig ge-
arbeitetes 4 zölliges Instrument vollkommen ausreicht. Systematische
und über einen langen Zeitraum rogelmäfsig ausgedehnte Beobach-
tungen können für unsere Kenntnis dieser merkwürdigen Himmels-
körper von grofsem Nutzen sein. R.
f
Dauernde Besiedelung von Nowaja Semlja. Die Samojeden-
stämrae, welche die Eismeerküste zwischen der Petschora und der
.Jugorsohen Strafse bewohnen, verarmen in letzter Zeit durch Renntier-
seuchen, durch die rücksichtslose Ausbeutung von Seiten der Händler,
sowie wegen der außerordentlich geringen Erträgnisse von Jagd und
Fischerei so sehr, dafs sie ihrem völligen Aussterben entgegen zu
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Ul
gehen scheinen. Daher machte die russische Regierung schon im
Jahre 1894 den Vorsuch, diese Samojeden an der WestkĂĽste Nowaja
Semlja's anzusiedeln, welcho Gogend, im Gegensätze zu dem auch irn
Sommer vereisten Innern der Insel, wegen der Einwirkungen des
Golfstromes bewohnbar ist. Im Sommer weilen dort 2000 -3000 Samo-
jeden, welche sich mit der Jagd auf FĂĽchse, Nerze und andere Pelztiere,
tnit der äufserst lohnenden Häringsflsohcrei und dem Fange von
(Jansen beschäftigen. Ihr Hauptverdienst besteht aber in der reichen
Ausbeute wertvoller Federn, welche die ungeheuren Scharen hei-
mischer Vögel sichern.
Die Gesamteinnahmen der Kolonie betrugen in den letzten
5 Jahreu 20 861, die Kosten ihrer Erhaltung 13 677 Rubel.
Im Winter 1900 — 1901 überwinterten sogar ungefähr 100 Menschen
auf Nowaja Semlja, welche Dank der Vorkehrungen der russischen
Regierung trotz der polaren Lage von 73° n. Br. frei von Skorbut
blieben. O. U.
Nebenprodukte des Petroleums. Die grofse Stanciard-Ăślgellschalt,
doren Vorsitzender bekanntlich der Milliardär Rock efe Her ist, pflegte
frĂĽher mindestens ein Drittel ihres Produktes als vermeintlich wert-
lose Abfalle hinauszuwerfen; heute erzeugt sie aus diesen ĂĽber zwei-
hundert verschiedene Nutzartikel. Kein Tropfen geht verloren. Einst
wurde das Naphta verbrannt und der Teer durch Abfallröhren ab-
gelassen. Jetzt verarbeitet man das Naphta zu mehrereu Gasolin-
Nuancen zum Gebrauch in allerlei Gewerben und bei Motoren, Auto-
mobilen, Maschinen, Naphtabarkassen etc. Heizgasolin wird in Un-
massen - jährlich etwa 200 Mill. Liter — im Westen und Süden der
Vereinigten Staaten verwendet; die Verkäufer, die es in Zisternen
durch die Strafsen fahren, erzielen für die Gallone 6 — 8 Cents. Das
macht allein ungefähr 3' 2 Mill. Doli, im Jahr aus, die früher verloren
waren! In allen Grofsstädten der Union wird das Gasnaphta der
Standard Company zur Verstärkung des Wassergases benutzt, und
ihr Benzin, ebenfalls ein Nebenprodukt des Petroleums, findet in der
Industrie und im Haushalt mannigfache Verwendung.
Noch zahlreicher sind die durch Destillierung aus dem Teer
gewonnenen Erzeugnisse Hierher gehört vor allen das zur Her-
stellung von Gas dienende Gas- Ă–l, das namentlich in England zu
denselben Zwecken Verwendung findet wie das Naphta; sodann eine
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142
Reihe von geprefsten Paraffindestillaten, darunter Wachs; das aus-
geprefste öl wird zu sogen. Paraffin- Schmierölen oder zu Wagen-
schmiere u. dgl. verarbeitet. Die Fabrikanten von Asphalt, Vaselin,
Haaröl, Schuhwichse, Farben, Salben, Firnis, Kaugummi etc. beziehen
viele ihrer Rohstoffe von der Standard Company. Aus dem Petroleum-
wachs macht man Kerzen, Fackeln, Wachspapier, Waschwaohs, Kau-
gummi, auch benutzt man es in der Konservenbranche zum Diohten
von Obst, zum Ăśberziehen von Schinken u. s. w. Die bei der Her-
stellung von raffiniertem Pretoleum gebrauchte Säure wird nicht mehr,
wie ehedem, weggeworfen, sondern behufs nochmaliger Verwendung
aufbewahrt und ihre Abfälle in Dünger verwandelt. Das sich in den
Destillierblasen ansammelnde Gas, das man einst entweichen liefs,
dient jetzt als Brennmaterial.
WTie man sieht, werfen die nĂĽtzlichen Nebenprodukte des
Petroleums der Standard-Ölgesellschaft jährlich viele Millionen Dollars
ab ein Umstand, der den Preis des Petroleums herabdrĂĽckt, da
das Naphta und der Teer, frühor verschmäht, heute mehr wert sind
als der Hauptartikel. Dieser höhere Geldwert führt zur gründlichen
Befreiung des Petroleums von den genannten Bestandteilen und daher
indirekt, abgesehen von der Verbilligung, zu dessen größerer Reinheit
und Feinheit. L. K.
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Experimentelle eutomologiscbc Studieu vom physikalioli-cueinisrheii
Standpunkte ans. I. Temperaturverhältnisse bei Insekten.
(Leipzig 1901, W. En gel mann.)
Unter diesem Titel hat Herr Bachmetie w, ein Russe, seine Beobachtungen
an hulgarisehen Insekten veröffentlicht. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile
Im ersten Ahschnitte bespricht der Verfasser die eigeno Temperatur der In-
sekten, wie sie von Atmung, Ernährung und Bewegung, andererseits von der
Wärme und Feuchtigkeit der Luft beeinflußt wird. Die Temperatur des Insekts
war bei gewöhnlicher Feuchtigkeit und erhöhter Wärme der Luft niedriger
als die der Atmosphäre. War die Feuchtigkeit aber über das Normale gestiegen,
so war das Verhältnis umgekehrt. Daraus folgert nun Herr Bachmetiew,
dafs im ersten Falle die niedrigere Temperatur eine Folge der Verdunstung
sei. Die höchste Körperwärme, welche durch freiwillige Bewegung bei Schmetter-
lingen eintrat, betrug im Durchschnitt nicht mehr als 36" C; durch kĂĽnstliche
Bewegungsreize konnto sie aber bis auf 40° C. gesteigert werden. Besondere
Aufmerksamkeit wandte Herr Bachnletiev dem Umstände zu, dafs Schmetter-
linge oft ganz plötzlich aufhören, ihre Flüge! zu bewegon. Da er nun infolge
seiner Beobachtungen eine Ermüdung für ausgeschlossen hält, so erklärt er
diese Erscheinung als eine vorĂĽbergehende Muskelparalyse, welche durch
Temperaturerhöhung infolge der Bewegung eintritt. Mit derselben Begründung
glaubt er auch die Flugzeiten der Tag- und Nachtfalter erklären zu können.
Er nimmt an, dafs die Nachtfalter in den warmen Tagesstunden infolge einer
Muskelparalyse ruhen müfsten, während die spärlicher behaarten, helleren
Tagfalter, welche sich auch weniger kontinuierlich bewegen, dieser Oefahr erst
bei wesentlich höherer Temperatur ausgesetzt sind, hingegen in den kalten
Nachtstunden vor Kälte starr seien. Auch bestätigten sich die Annahmen, dafs
Hunger die Körperwärme herabsetze, stärkere Athmung dieselbe erhöhe.
Der zweite Teil der Arbeit behandelt die Temperaturgrenzen, welche
ein Insekt zu ertragen vermag. Das Maximum dieser Temperaturen schwankte
bei den von Bachraotiew beobachteten Schmetterlingen zwischen 46°— 53° C.
Diese Unterschiede wurden durch die verschiedene Gröfse und Verdunstung
und das wechselnde Wärmeleitungsvermögen, namentlich aber durch die
Variationen im Säftekoefficienten — d. h. im Verhältnisse von Eiweifssubstanzen
und Wasser in den Körpersäften — herbeigeführt. Denn das Ei weif» gerinnt
bei um so niederer Temperatur, .je mehr Wasser es enthalt
Die Höhe des absolut tötlichen Kältegrades (des vitalen Temperatur-
rainimums) macht Bachmetiew von der Abkühlungsgeschwindigkeit abhängig.
Abküblungsgoschwindigkeit aber nennt er „jene Anzahl »on Temperaturgraden,
um welche die Insektentemperatur während einer Minute, angefangen von einer
willkĂĽrlichen Temperatur abnimmt. Da? vitale Temperaturminimum lag in allen
Bcobachtungsfällen bei Insekten tiefer als der Gefrierpunkt- Die Differenz
zwischen dem Gefrierpunkt und der kritischen Temperatur nennt Bachmetiew
kurz don „Unterkältungsgrad", welcher sich bei verschiedenen Versuchen als
variabel erwies. Betreffs der Abhängigkeit der kritischen Temperatur von der
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Abkühlungsgeschwiudigkeit war der Verfasser nur im stände zu konstatieren,
data bei veränderter Abkühlung?geschwindigkeit auch der Untorkältungsgrad
verschieden; eine Gesetzmässigkeit liefa sich jedoch dabei nicht feststellen.
Im dritten Teil des interessanten Werkes folgen noch Untersuchungen
ĂĽber den Einflute von Spezies, Geschlecht und Entwickelungsstadiuin des
Insekts auf seine kritische Temperatur, welche jedoch noch zu keinem be-
friedigenden Abschlafs gebracht sind, da das bis jetzt gesammelte Beobachtungs-
material noch zu klein ist, um allgemeine SchlĂĽsse daraus induzieren zu
können, n. V.
Pfuhl, Dr. F.: Der Unterricht in der Pflanzenkunde dnrrh die Lebens-
weise der Pflanze bestimmt. Leipzig. Teubner. 100-2. ->,S0 M.
â– 2-23 8. 8 ".
Das Buch ist als HĂĽltebuch beim Unterricht TĂĽr die Hand des Lehrers
bestimmt und dem entsprechend gehalten. Dafs es auch fĂĽr weitere Krei.se,
fĂĽr alle Freunde der Pflanzenkunde geeignet ist, liegt daran, dafs der Ver-
fasser die drei Fragen: Wie ernährt, wie vermehrt, wie wehrt sich die Pflanze?
ĂĽberall untersucht und auch einfache Versuche angiebt. die zur Beantwortung
der F rügen dienen können. Auch der Abschnitt über die Anlage eines Pflanzcn-
gurtens ist so geschrieben, dafs jemand, dem ein Fleckchen Erde zur Ver-
fĂĽgung steht, .sich von dem Buch anleiten lassen kann. Abbildungen freilich
Milen.
Fi «ich er. Dr. Karl: Der naturwissenschaftliche Unterriebt in England,
insbesondere in Physik und Chemie. Mit einer Ăśbersicht der eng-
lischen Uuterrichtsliteratur zur Physik und Chemie und IS Abbil-
dungen im Text und auf 3 Tafeln. Leipzig. Teubner. L'OI. 94 S. 8 >.
3,60 M.
Der Verfasser hat zweimal England bereist, um Unterrichtsanstalten und
Methoden kennen zu lernen. Da es ihm bei seiner zweiten Reise möglich
war, seinen Aufenthalt in England auf ein volles Semester auszudehnen, so
hat er seine Studien sehr eingehend betreiben können. Als Hauptunterschied
zwischen englischem und deutschem Unterricht tritt der Umstand hervor, dafs
die Schüler dort in gröfserem Maf.se durch das Experiment lernen, das sie selbst
ausführen, während sie bei uns noch überwiegend auf «las angewiesen sind,
was sie sehen.
Verlag: Hermann Paetel in IWlin. - Krack: Wilhelm Gronau"! Bnchdrackerel in Batlin-Sciiön*b«r?.
For die Kedaetioa Tfnwtwortlkb : Dr. P. Seowihn in Batlio.
l'nharee btigter Nachdruck au» dem Inhalt di«««r Zeitschrift noter.aft
(ber»»tianj§reclit »orbehaHen.
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Otto von Guericke.
Zu seinem dreihundertjährigen Geburtstag-.
Von Siegfried Michaelis in Berlin.
c$n dein rastlosen Vorwärtsschreiten auf dem Gebiete der Natur-
J?) Wissenschaften hat unsere Zeit sich ' ein dankbares Gedächtnis
~~ für die Männer der Vergangenheit bewahrt, die als kühne Pioniere
den Weg, auf dem wir jetzt ringen, haben anbahnen helfen. Unter
ihnen ist einer der ersten der Magdeburger BĂĽrgermeister Otto
von Guericke gewesen, dessen Name auch eine fĂĽr einen Physiker
nicht gewöhnliche Popularität besitzt.
Otto von Guericke (oder Gericke, wie er seinen Namen
vor seiner 1666 erfolgten Erhebung in den Adelsstand durch Kaiser
Leopold I. schrieb) entstammte einer alten Magdeburger Patrizier-
familie, die, aus Braunschweig stammend, sich schon 1315 in Magde-
burg angesiedelt hatte. Bereits am Ende des fĂĽnfzehnten Jahrhunderts
finden wir einen Stephan Gericke im Rate der Stadt Magdeburg
und als Kämmerer, dessen Sohn Jakob schon als Bürgermeister
während vier Jahren, und in der folgenden Zeit spielten die Gerickes
stets eine Rolle in den städtischen Ämtern. Der Vater unseres Otto,
Hans Gericke, war ein Mann von hoher Bildung, der die Welt
und die Menschen aus eigener Anschauung auf weiten Reisen kennen
gelernt hatte. In seiner Jugendzeit lebte er als Junker am Hofe
des Königs von Polen Stephan Bathori, in dessen Diensten er an
Gesandtschaftsreisen teilnahm, die ihn u. a. nach Kopenhagen, Stock-
holm, Moskau, ja selbst nach Konstantinopel fĂĽhrten. Als er nach
dem Tode des Königs (1686) sich in Magdeburg niedergelassen hatte,
nahm er dort das Amt eines Kämmerers an und wurde später als
Schultheifs an die Spitze des berühmten Magdeburger Schöffengerichts
Himmel und Erde. 1903. XV 4 10
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berufon, ein Amt, das er bis zu seinem Tode (1620) bekleidet hat.
Aus seiner zweiten Ehe mit Anna von Zweidorff entstammte als
einziger Sohn unser Otto, geboren am 20. November 1G02.
Dem Knaben wurde eine sorgfältige Erziehung zu teil; den
Schulunterricht genofs er auf der damals rühmlichst bekannten städti-
schen Schule. In seinem fĂĽnfzehnten Lebensjahre, IG 17, bezog er die
Universität Leipzig, wo er sich dem juristischen Studium widmete.
Der Aufenthalt in Leipzig wurde jedoch infolge des 1618 ausge-
brochenen Krieges unsicher, so dafs ihn der Vater 1(>20 wieder zurĂĽck-
rief. Nach einem kurzen Besuch der hohen Schule in Helmstedt und
einem nochmaligen Aufenthalt in Magdeburg, wohin ihn der Tod
seines Vaters rief, nahm er das Studium der Jurisprudonz wieder in
Jena auf. Es ist ungewifs, wo und wann in ihm die Liebe zu den
Naturwissenschaften erwacht ist; 1623 finden wir ihn in Leyden, wo
er sich dem Studium der Physik, angewandten Mathematik, Mechanik
sowie dem der neueren Sprachen widmete. Dem Beispiele seines
â–
Vaters folgend, sammelte er vor seiner häuslichon Niederlassung
Kenntnisse von fremden Ländern und Menschen und zwar auf einer
neunmonatlichen Heise durch England und Frankreich.
Im Jahre 1626 trat er in das Ratskollegium seiner Vaterstadt
ein und vermählte sich in demselben Jahre mit Margarethe Ala-
mann. Während der Belagerung Magdeburgs durch Tilly im Jahre
1631 lieh er der Stadt seine ganze Kraft; als jedoch am 20. Mai die
Stadt im Sturme genommen wurde, sein Haus ausgeplĂĽndert und seine
Dienerschaft gefallen war, mufste er mit seiner Familie in das Haus
seines Oheims flĂĽchten. Er wurde gefangen genommen und in das
Feldlager von Fermersleben gefĂĽhrt, aber schonend behandelt und
gegen ein Lösegeld von dreihundert Talern freigegeben. Der aller
Mittel entblörste Mann fand ein Unterkommen im Heere Gustav
Adolfs, wo er unter dem Herzog Wilhelm von Sachsen-Weimar den
Posten eines Ingenieurs annahm, ging aber nach Magdeburg zurĂĽck,
als nach dem Abzug dor Kaiserlichen Truppen der schwedische Ge-
neral Banner die Stadt besetzte. Seine besten Kräfte widmete er
seinen Mitbürgern bei dem Wiederaufbau der fast völlig zerstörten
Stadt. Daneben betrieb er die Landwirtschaft und die Bierbrauerei,
da mit seinem Hause eine Brauereigerechtsame verbunden war. In
Anerkennung seiner Verdienste wurde er im Jahre 1646 zum BĂĽrger-
meister erwählt. In demselben Jahre ging er zu Torstenson, von
dem er die Zusicherung des Schutzes fĂĽr die Stadt Magdeburg er-
langte. Zum Danke schenkte ihm Guericke ein kostbares Schreib-
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zeug mit einer vergoldeten Himmelskugel, die durch ein Uhrwerk in
Bewegung gesetzt werden konnte, wahrscheinlich ein Erzeugnis seiner
eigenen, kunstfertigen Hand. Im Jahre 1646 nahm er im Auftrage
der Stadt Magdeburg, die ihre Privilegien bedroht sah, an dem west-
fälischen Friedenskongrefs teil. Die gleicho Veranlassung führte ihn
1649 noch einmal nach OsnabrĂĽck, sodann nach NĂĽrnberg und Wien.
Er hatte in Wien unter einer längeren Krankheit zu leiden und
kehrte erst Anfang des Jahres 1651 nach Magdeburg zurĂĽck, wo er
sich im folgenden Jahre zum zweiten Male mit Dorothea Leutkens
vermählte.
Da aber vom Kaiser keine Entscheidung zu erlangen war, be-
gab er sich 1652 in das Hoflager in Prag und 1654 zu dem Reichs-
tage nach Regensburg. Und noch einmal, 1659 60, hielt er sich im
Auftrage seiner Stadt in Wien auf.
In diese Zeit der durch die politischen Unruhen geforderten Tätig-
keit im Amte mit den vielen zeitraubenden Reisen fallen Guerickes
bedeutendste physikalischen Untersuchungen und Entdeckungen.
Die Erfindung der Luftpumpe wird gewöhnlich auf das Jahr 1650
gelegt, doch ist eine genaue Zeitbestimmung nicht möglich. Guericke
wurde zu seinen Versuchen ĂĽber die Luft durch den alten philo-
sophischen Streit ĂĽber die Existenz eines leeren Raumes veranlaĂźt.
Er griff das Problem vom experimentellen Standpunkte aus an, indem
er den leeren Raum herzustellen suchte. Bei seinen ersten Versuchen
verfuhr er folgendermafsen: Aus einem gut verpichten Weinfafs, das
vollständig mit Wasser gefüllt war, entfernte er letzteres vermittelst
einer Saugpumpe. An die Stelle des ausgepumpten Wassers drang
jedoch durch die Wände des Fasses Luft ein. Der Versuch mifslang
auch, als er das Fafs mit einem zweiten gleichfalls mit Wasser ge-
füllten Fasse umgab; denn nun drang das Wasser aus dem gröfseren
in das ausgepumpte kleinere Fafs. Jetzt ersetzte er dieses durch eino
kupferne Kugel, die durch eine mit einem Hahn verschliefsbare Röhre
mit einem Pumpenstiefel in Verbindung stand. Dieser konnte durch
einen Stöpfel nach aufsen geöffnet werden, wenn der Pumpenkolben
nach einwärts gedrückt wurde. Aus der Kugel entfernte er nun die
Luft direkt Nach einem vergeblichen Versuche, bei dem die nicht
völlig gleichmäßige Kugel durch den Druck der äufseren Luft zer-
barst, gelang das Experiment endlich. Dies war die erste Luftpump«»,
die Guericke später selbst noch verbesserte, besonders durch mög-
lichst vollkommene Dichtung der Hähne und durch die Montierung
des Pumpenstiefels an einem DreifĂĽĂźe, der die Bewegung des Kolbens
10*
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vermiuelsi eine» Hebels gestattete; denn bei seinen erster. Versuchen
konnten bei fortschreitender VerdĂĽnnung <ier Luft zwei Arbe.:er nur
mit Muhe den Kolben bewegen.
Eine Beschreibung der von Gu er icke angegebenen Versuche
mit dem 1 unverdünnten Räume können wir uns sparen: es sind o;e-
T^elben Experimente, an denen noch beute im physikalischen Unter-
richt die Wirkungen des 1-jftverdĂĽnnten Raumes gezeigt werden: Das
Erlöschen der Flamme, die Abnahme der I.eitungsfäbigkeit für Schall,
das Absterben von T;eren unter dem Rezipienten u. s. w.
FĂĽr die damalige Zeit die betreffs der Vorgang bei der Ver-
brennung noch die wunderlichsten Ansichten hatte, ist das Experiment
von dem Erloschen der Flamme im Vakuum von besonderer Bedeu-
tung gewesen. Guericke studierte ĂĽbrigens auch das Problem der
Verbrennung, und wie er durch den eben angefĂĽhrten Versuch den
Schlufs ziehen konnte, dafs eine Verbrennung nur bei Gegenwart von
Luft möglich ist, so folgerte er aus dem Umstand, dafs in einem unter
Wasser abgeschlossenen Gefäfs, in dem eine Kerze brannte, das
Wasser stieg, dafs eine Flamme Luft verzehre.
E* sei erlaubt, etwas länger bei dem berühmten Experimente
mit den Magdeburger lialbkugeln zu verweilen.
Die Kunde von Guerickes an Zauberei grenzenden Experi-
menten hatte sich schon in weitere Kreise verbreitet, so dafs Kaiser
Ferdinand III. auf dem Reichstage von Regensburg ihn um Vor-
fĂĽhrung derselben bitten liefs. Guericke, der die starken Wir-
kungen liebte, ersann einen Versuch, der auf seine fĂĽr die feinen
Wunder der Naturwissenschaften noch unempfänglichen Zeitgenossen
den tiefsten Eindruck auszuüben im stände war. Er schreibt im dritten
Buche seiner Experimenta nova: „Ich liefs mir zwei kupferne Halb-
kugeln machen, die ungefähr drei Viertel einer Magdeburger Elle im
Durchmesser hatten. Beide Hälften waren völlig gleioh. An der
einen war ein Hahn oder vielmehr ein Ventil angebracht, vermittelst
dessen die inwendige Luft aus der Kugel herausgezogen, die äußere
wieder hineingelassen werden konnte. Aufserdem befanden sich an
beiden Hälften noch eiserne Ringe, durch die Stricke gezogen werden
konnten, um Pferde anzuspannen. Dann liefs ich mir noch einen
Ring aus Leder machen, der mit einer Auflösung von WTachs und
Terpentin gut getränkt war, damit keine Luft hindurchgehen könne.
Diesen Lederring legte ich dann zwischen die aneinander gefĂĽgten
Halbkugeln, liefs aus ihnen die Luft schnell herausziehen und sah
nun, mit welcher Gewalt beide an den ledernen Ring geprefst wurden,
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so dafs sechzehn Pferde sie entweder gar nicht oder nur mit MĂĽhe
auseinanderreifsen konnten. Wenn dies aber endlich, wie es bisweilen
geschah, der Fall war. so vernahm man einen Knall, wie wenn ein
Fijf. '2. Gueriekat Wanerbaromater.
(10 Tafel der »Magdeburger Versuche.")
Schiefsgewehr abgeschosson wurde. Sobald aber wieder Luft in die
fest aneinandergeprefsten Halbkugeln eingelassen war. konnte sie jeder-
mann leicht voneinander trennen." Bei einem anderen Paar von dem
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Durchmesser einer Elle konnten selbst vierundzwanzig Pferde keine
Trennung- erzielen.
Der Eindruck dieser Versuche auf die Zuschauer war ungeheuer;
der Bischof von WĂĽrzburg, Johann Philipp, kaufte die Apparate,
die Guericke nach Regensburg gebracht hatte, ihm ab, um die Ver-
suche von den WĂĽrzburger Professoren wiederholen zu lassen. Einer
von diesen, der Jesuit Caspar Sc hott, Professor der Mathematik und
Physik, der mit Guericke in einen regen Briefwechsel trat, ver-
öffentlichte diese Versuche mit dessen Erlaubnis auch zum erstenmale
in seiner 1657 erschienenen Mechanica hydraulico-pneumatica sowie
später, 1664, in der Technica curiosa.
Aus der an der Luftpumpe beobachteten Elastizität der Luft
schlofs Guericke auf die abnehmende Dichtigkeit derselben mit
steigender Höhe und zeigte die Richtigkeit seiner Folgerung auf
folgende Weise. Er öffnete ein am Fufse eines Berges luftdicht ge-
schlossenes Gefäfs in gröfserer Höhe; es trat dann die Luft mit Zischen
aus, während bei der Umkehrung des Versuches die Luft am FuTse
des Berges einströmte. Zur Beobachtung der Änderungen in der
Luftdichtigkeit konstruierte er ein Manometer. An einem empfind-
lichen Wagebalken brachte er auf der einen Seite eine luftleere Kugel,
auf der anderen das Gegengewicht aus schwerem Metall an (Fig. 2).
Da das Volumen des Gegengewichtes im Verhältnis zu dem der Kugel
unbedeutend war, änderte sich auch das Gewicht beider bei Ände-
rungen im Luftdruck nicht im gleichen Verhältnis, so dafs bei dichterer
Luft das Gegengewicht, bei dĂĽnnerer die Kugel den Ausschlag gab.
Ein weiterer von Guericke angegebener Apparat zur Messung
der Luftdichtigkeit ist das Wasserbaromoter (Fig. 2). Ks bestand aus
einem ungefähr 11 m langen Rohre von dem Durchmesser eines kleinen
Fingers, das an seinem Hause hochgefĂĽhrt wurde. Das untere Ende
des Rohres tauchte in ein Gefärs mit Wasser, während an dem ober en
die Luft aus dem Rohre gepumpt werden konnte, so dars das Wasser
in das Rohr stieg, jedoch, wie schon Galilei gezeigt hatte, nur un-
gefähr 10 ra hoch, um diesen Punkt aber je nach der Höhe des Luft-
druckes pendelte. Bequemer war das Wettermännchen, das Guericke,
nachdem er auf dem Reichstage zu Regensburg das Toricellische
Barometer kennen geleint hatte, nach dessen Prinzip konstruierte.
Die Niveau Veränderungen des Quecksilbers wurden durch ein Holz-
männchen (Fig. 2), das auf ihm schwamm, angezeigt, der übrige Teil
des Apparates war jedoch verhĂĽllt, und Guericke machte aus seiner
Konstruktion ein Geheimnis, das erst Comiers 1684 lĂĽftete. Mit
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diesem Barometer entdeckte Guericke die Beziehungen des Luft-
druckes zum Wetter; greises Aufsehen erregte es, als er am 9. De-
zember 1660 einen verheerenden Sturm einigo Stunden vorausgesagt
hatte. Nach der Entdeckung von Perier, dafs der Luftdruck mit
zunehmender Erhöhung des Beobachtungspunktes abnimmt, versuchte
Guericke 1659 die Höhe des Brockens zu messen. Der Versuch
mifslang jedooh, da durch den Sturz eines Dieners bei der Besteigung
des Berges das Barometer zerbrach; einen zweiten Versuch hat
Guericke nicht unternommen, wohl wegen der damals mit einer
Besteigung des Brockens verbundenen Schwierigkeiten.
Bemerkenswert sind auch seine BemĂĽhungen, ein brauchbares
Thermometer zu konstruieren. Sein Luftthermometer oder, wie er es
selbst nannte, sein Perpetuum mobile bestand aus einer grofsen Hohl-
kugel, die nach unten mit zwei langen kommunizierenden Röhren in
Verbindung stand, die mit Weingeist oder Quecksilber gefĂĽllt waren.
Diesem Thermometer versuchte er einen festen Punkt fĂĽr eine allge-
mein gĂĽltige Skala zu geben, und bestitnmto hierfĂĽr die Temperatur
in der Zeit der ersten Nachtfröste.
Weniger Beachtung fanden bei seinen Zeitgenossen seine Ent-
deckungen auf dem Gebiete der Elektrizität und des Magnetismus.
Guericke gelangte hierzu infolge seiner NachprĂĽfung der von
dem englischen Arzte Gilbert in dessen Schrift „De magnete" (1600)
angegebenen Experimente. Zur Erzeugung kräftigerer Wirkungen
stellte sich Guericke eine Elektrisiermaschine her, die einfach aus
einer um eine zentrale Achse drehbaren Schwefelkugel bestand, die, auf
einem Holzgesteli montiert, mit der Hand gerieben werden mufste.
Mit HĂĽlfe dieses Apparates, fĂĽr den der Name Elektrisiermaschine in
unserem Sinne kaum zutrifft, da ihm ein charakteristischer Teil der-
selben, der Konduktor, noch fehlt, gelangen ihm einige wichtige neue
Entdeckungen. Er beobachtete zuerst, dafs ein Körper, der nach der
Anziehung von der Kugel der Elektrisiermaschine getrennt wird, nun
von dieser abgestofsen, jedoch wieder angezogen wird, sobald er
einen anderen Körper berührt hat. Andere Versuche zeigten ihm die
ersten Erscheinungen der elektrischen Leitungsfähigkeit und Induktion.
Bei dem Studium der magnetischen Erscheinungen fand er, dafs Eisen-
drähte magnetisch werden, wenn sie, von Norden nach Süden gerichtet,
liegend gehämmert werden, auch dars eiserne Stäbe, die, wie an
Fenstergittern, längere Zeit senkrecht gerichtet sind, im Laufe der Zeit
von selbst magnetisch werden.
Wie schon erwähnt, wurden Guerickes Experimente mit der
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Luftpumpe zuerst durch Caspar Schott beschrieben; zu einer Ver-
öffentlichung dieser und aller übrigen Versuche aus seiner eigenen
Feder konnte er sich erst spät entschliefsen. Die Schrift war, wie
aus dem Vorwort zu entnehmen ist, 1663 vollendet. Unterhandlungen
mit dem Verleger und die Anfertigung von Illustrationen verzögerten
das Erscheinen bis zum Jahre 1672. Als Honorar erhielt Guericke
fiinfundsiebzig Freiexemplare von der ersten und zwölf von jeder
folgenden Auflage. Es sei der Kuriosität halber erlaubt, den voll-
ständigen Titel des Werkes in der damals beliebten umständlichen
Form aufzufĂĽhren. Derselbe lautet:
Ottonis de Guericke Experimenta Nova (ut vocantur) Magde-
burgica de Vacuo Spatio Priraum ä R. P. Caspare Schotto, e
Societate Jesu, «S: Herbipolitanae Academiae Matheseos Professore.
Nunc veri> ab ipso Auetore PerfectiĂĽs edita, variisque aliis Ex-
periments aueta. Quibus accesserunt simul certa quaedam De
Aeris Pondere circa Terram; de Virtutibus Mundanis, & Systt-
mate Mundi Planetario; sicut & de Stellis Fixis, ac Spatio illo
Immenso, quod tarn intra quam extra eas funditur.
Die Schrift erschien: Amstedolami, Apud Joannem Janssonium
ä Waesberge, Anno 1672. Cum Privilegio S. Caes. Majestatis.
Gewidmet ist das Buch dem Grorsen KurrĂĽrsten. Es ist in
Rieben BĂĽcher eingeteilt:
I. De mundo ejusque systemate. secundum communiores philoso-
phorum sentencias.
Ii. De vacuo spatio.
III. De propriis experimentis, in denen die Versuche mit der Luft-
pumpe, dem Barometer u. s. w. besprochen werden.
IV*. Df virtutibus mundonis & aliis rebus inde dependentibus, mit
einer Beschreibung der magnetischen und elektrischen Erschei-
nungen.
V. De terraqueo globo & ejus sociä quae vocatur Luna, bemerkens-
wert durch die in dem Appendix de comelis geäufserte Ansicht,
dafs sich die Wiederkehr der Kometen bestimmen lassen mĂĽsse,
und wegen des Versuches einer Mondkarte.
VI. De systeinate mundi nostri planetario und
VII. De strllis fixis & eo quod finit eas.
Aurser diesem naturwissenschaftlichen Werk schrieb Guericke
eine bei seinen Lebzeiten nicht mehr im Druck erschienene lateinische
Geschichte der Stadt Magdeburg, die erst 1860 in deutscher Ăśber-
setzung von Friedrieh Wilhelm Hoffmann herausgegeben wurde,
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dem Verfasser der grofsen Biographie ĂĽuerickes, in der besonders
Guerickes politische Tätigkeit in ausführlichster Weise dargestellt ist.
Beim Erscheinen seiner Experimenta Nova hatte Gu er icke das
biblisohe Alter erreicht und wahrlich ein Leben hinter sich, das MĂĽhe
und Arbeit gewesen war. Seine amtliche Stellung wurde ihm lästig,
zumal seine Gesundheit nicht sehr fest war. So bat er denn schon
l(i76 um Entlassung von seinem BĂĽrgermeisterposten, die ihm jedoch
erst am 7. September 1678 zugebilligt wurde. Leider ist dem alten
Manne der Kummer nicht erspart geblieben, mit seiner Stadt, die
seiner unausgesetzten Mühe so viol zu danken hatte, noch in ärger-
liche Streitigkeiten ĂĽber seine Gerechtsame zu geraten. Er spricht
selbst davon in seinen hinterlassenen Aufzeichnungen: „Also habe
ich das meinige bey der Stadt gethan und wie Sie (der Hat und Aus-
schurs) in verschiedenen Ihren Attesten bekennet, keinen fleifs, sorge
und mühe gesparet, dadurch mein Privatwesen versäumet ... Ja
achtzehn Jahre in der Stadtangelegenheiten gereiset, und respectu
meiner beym ChurfĂĽrsten zu Sachsen restirenden Besoldung und dafs
ich die Lohen ĂĽber meines Vattern sei. hinterlassene beyde Ritter-
güter zu Alstedt und Nieder-Röblingen wegen ungleicher recommen-
dation, welche aufs diesen dor Stadt geleisteten Diensten entstanden,
viel mehr Schaden erlitten, als ich durch die Freiheit gowonnen.k*
Er fĂĽhrt nun einige durch ihn beim Kaiser durchgesetzte Vorteile fĂĽr
die Stadt an, und schlierst: ..Welches ich also urnb mehrer gedächtnifs
willen uffzusetzen nicht unterlassen wollen. u
Als im Jahre 1G81 die Pest in Magdeburg ausbrach, siedelte er
zu seinem einzigen noch lebenden Sohne Otto nach Hamburg ĂĽber,
wo er am 1 1. Mai 1686 starb. Sein Leichnam sollte nach Magdeburg
ĂĽberfĂĽhrt werden, doch ist nicht sioher, ob dies geschehen ist.
Guerickes Leben fiel in eine Zeit, die fĂĽr das Wiederaufleben
der Naturwissenschaften eine so bedeutende Holle spielte, wie das ver-
flossene neunzehnte Jahrhundert fĂĽr das Eingreifen der naturwissen-
schaftlichen Kenntnisse durch die vermittelnde Technik in das mensch-
liche Leben. Der Zwang dos Aristotelismus war gebrochen, das Experi-
ment zu seinem Rechte gekommen. Guericke selbst führt aus: „Daher
können die Philosophen, die nur an ihren Meinungen und Argumenten
festhalten, die Erfahrung aber unberĂĽcksichtigt lassen, nie zu sicheren
und richtigen SchlĂĽssen hinsichtlich der natĂĽrlichen Erscheinungen
in der KĂĽrperwelt gelangen. Wir sehen ja, dafs der menschliche
Verstand, wenn er die durch die Erfahrung gewonnenen Resultate
beachtet, oftmals viel weiter von der Wahrheit sich entfernt,
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als der Abstand der Sonne von der Erde beträgt. Wo Tatsachen
sprechen, bedarf es keiner kĂĽnstlichen Hypothese; wer jedoch vor
Augen liegende und ausgemachte Erfahrungen nioht als Beweise gelten
lassen will, mit dem ist nicht zu streiten oder Krieg zu fĂĽhren. Ein
solcher mag bei seiner vorgefafsten Meinung beharren und mit den
MaulwĂĽrfen in der Finsternis sein Wesen treiben.**
Wie anders ist doch diese Anschauung als die noch im sech-
zehnten Jahrhundert von den scholastischen Naturphilosophen ge-
äufserte Geringschätzung des Experimentes. Als Guericke seine
Probleme angriff, hatte der neue Same schon zu keimen begonnen:
Das Mikroskop und das Fernrohr zeigten die Wunder der kleinsten
und der gröTsten Welt, die Chemie trennte sich von der Alchemie,
dio durch die neue Methode gewonnenen Resultate mehrten sich ge-
waltig und räumten unter dem überlieferten Wissen auf. Von den
fĂĽhrenden Geistern seien statt vieler nur einige genannt, wie Galilei,
Kepler, Kiroher, Scheiner, Bacon, Harvey, Toricelli. Ihnen
reiht sich Guerioke wĂĽrdig an. Doppelt erstaunlich aber sind seine
Leistungen, wenn man bedenkt, dafs der gröfste Teil seiner Arbeits-
kraft von seinem Amte in Anspruch genommen war, und dafs seine
Entdeckungen in die traurigste Periode der deutschen Geschichte
fallen, in eine Zeit, die fĂĽr alles andere eher Gelegenheit bot, als fĂĽr
wissenschaftliche Arbeit.
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UIIIIIIMIIIttlllllllllllltlllll Hin III mint lliilllll IIIIII lilllllilllllllKIIIIIIIIIMIIIIIIIIIHItlIHHk
'»IHlllllllllllllllllllllllllllllliliilllliiilllllllllllllllHllllllllllllllllillllllllllllillllilllllnllllllllllllir
1 . â– â–
Ăśber die Grundlagen der Naturwissenschaften.
Von Professor Dr. B. Weinstein in Berlin.
c.j^W 1. Grundlagen im allgemeinen
1
H s kann jeden, der sich an der Denktätigkeit der Menschheit er-
cC9 freut, nur mit grofser Befriedigung erfĂĽllen, wenn er feststellen
darf, dafs diese Tätigkeit selbst auf Gegenstände sich richtet,
deren praktischer Nutzen nicht ohne weiteres erhellt, denen von
vielen sogar jetler praktische Xutzen ĂĽberhaupt abgesprochen wird.
Allein das Denken und Reimen gehört für einen glücklicherweise
sehr grofsen Teil der Menschen zu den Notwendigkeiten des Lebens;
fĂĽr manche ist der Trieb nach geistiger Nahrung fast so grofs wie
der nach leiblicher, für einen Newton, Goethe und ähnliche aus dem
Rahmen der durchschnittlichen Menschheit gänzlich herausfallende
Geister war er wohl noch viel gröfser.
Und noch mehr mufs es ĂĽber manche durch den erschwerten
Kampf ums Dasein hervorgebrachte häßliche Erscheinungen unserer
Zeit trösten, dafs fast in gleichem Schritt mit dem rein materiellen
Streben die geistige Regsamkeit gewachsen ist. Es ist, als ob die
Menschheit in jeder Tätigkeit eines gewissen nach entgegengesetzter
Richtung wirkenden Gegengewichts bedĂĽrfe, um sich aus Einom ins
Andere flüchten zu können und nicht in einem zu versimpeln und
unterzugehen. Zu keiner Zeit vielleicht ist so viel gedichtet worden
wie in unserer, zu keiner Zeit hat die Kunst überhaupt, trotz „Weber"
und „Fuhrmann Henschel", ein von der Wirklichkeit so losgelöstes
Gepräge getragen wie in unserer Zeit. Und doch sind wir stolz
auf unsere gewaltigen praktischen Errungenschaften, und doch ist
jeder gezwungen, sich ums Brot zeitig und sorglich zu mĂĽhen. Die
Summe der geistigen Arbeit, die auf dem Berufsgebiete nötig ist und
verwandt wird, schärft die Denktätigkeit überhaupt und macht sie
auch anderen Gebieten zugängig. Und übrigens sind die verschiedenen
Tätigkeiten wie die Naturerscheinungen miteinander verbunden, sie
gehen durcheinander, eine ruft die andere hervor, und mit den
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anscheinend materiellsten MĂĽhungen und Errungenschaften sind oft
rein ideale Zwecke verknĂĽpft. Mancher arbeitet fĂĽr seine Kleinheit,
kurz vor sich hinstarrend, und wirkt gleichwohl fĂĽrs Allgemeine und
in die weite Ferne.
Indessen sind die Fortschritte auf dem geistigen Gebiete auĂźer-
ordentlich viel seltener und langsamer als die auf dem rein praktischen.
Fragen, mit denen die Menschheit, ich möchte fast sagen, geboren
worden ist, weisen uns noch jetzt ein so geheimnisvolles Antlitz, als
wären sio im Moment erst gestellt worden. Wie die Menschheit
in allen kulturellen und sozialen Verhältnissen, in allen Zonen und
zu allen Zeiten eine verblĂĽffende Gleichartigkeit zeigt, die sich viel-
fach auf die geringfügigsten Objekte erstreokt, so hat sie auch ständig
und überall die gleichen Rätsel. Dafs nach vermeinter Enthüllung
eines Rätsels dem Chinesen oder Indier, was dahinter steckt, anders
erscheinen mag als dem Deutschen, hat damit nichts zu schaffen. Die
Antworten richten sich selten nach den Fragen, sondern meist nach den
WĂĽnschen und den BefĂĽrchtungen, und beide sind Produkte der ver-
gangenen und der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse. Darum spielen
auch die Fragen nicht bei allen Völkern und Rassen die gleiche Rolle,
ja bei dorn nämlichen Volke auch nicht zu allen Zeiten. Es ist sehr
merkwĂĽrdig zu beobachten, wie manche Fragen zu gewissen Perioden
entstehen, besser gesagt, hervorgeholt werden, dann mit einem oft
leidenschaftlichen Eifer allseitig und von allen Seiten untersucht
werden, um zulotzt, wenn die Menschheit sich mit ihnen lange genug ab-
gequält hat, fast gleichgiltig fallen gelassen zu werden. Spater, wenn
die vergebene einstige MĂĽhe vergessen ist, tauchen sie empor, um aber-
mals die Menschheit zu beschäftigen und zu quälen. Im folgenden
wird von solchen Fragen viel die Rede sein. Wir rechnen sie und
ihre Behandlung, insofern sie sich auf die Natur beziehen, zur Natur-
philosophie.
Der Name Naturphilosophie klang den Naturforschern nach
den seltsamen Leistungen einiger Philosophen im ersten Drittel des
vergangenen Jahrhunderts, die in den Theorieen Hegels gipfelten,
mißtönend; man wollto von dieser ganzen Philosophie nichts wissen.
Jetzt stecken wir, aus dem gleich in der Einleitung hervorgehobenen
BedĂĽrfnisse eines Gegengewichts, wieder mitten in dieser Natur-
philosophie, und manche Früchte, die sie gegenwärtig zeitigt, haben
nicht geringe Ă„hnlichkeit mit denen, die aui dem Baume Hegelscher
Philosophie erwachsen sind. Ich werde dem Leser im folgenden eine
Ăśbersicht ĂĽber unsere jetzigen Auffassungen im Gebiete der Natur-
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Wissenschaften geben und dabei — wozu der Schriftsteller das Recht
hat, wenn er es nur von allgemeineren Ideen sondert — auch einige
eigene Ansichten entwickeln. Das Thema ist sehr umfangreich, der
Aufsatz kann also nicht kurz sein; damit entschuldige ich zunächst
die lange Einleitung, es ist wie der Anlauf zu einem weiten
Sprunge.
Eine jede Wissenschaft mufs sich selbstverständlich auf etwas
aufbauen; dieses Etwas nennen wir einstweilen die Grundlagen der
Wissenschaft Es hat nun jede Wissenschaft zunächst ihre besonderen
Grundlagen, wodurch sie sich eben als die besondere Wissenschaft
kennzeichnet Dann aber gibt es auch Grundlagen, die allen Wissen-
schaften gemeinsam sind, so dafe keine ihrer entraten kann. Die
letzteren Grundlagen werden in der Bewertung naturgemäfs vor den
ersteren den Vorrang haben. Sie geniefsen aber zugleich den weniger
angenehmen Vorzug, unsicherer und umstrittener zu sein. Also all-
gemeine Grundlagen und besondere Grundlagen.
Nun nehmen wir gewisse Grundlagen mit grofser Zuversicht
an, manchmal mit so grofser, dafs wir an der Richtigkeit gar nicht
zweifeln. Wir nennen sie Axiome. Mit vielem VergnĂĽgen wird sich
gewifs der Leser der euklidischen Axiome in der Mathematik ent-
sinnen: Gleiches zu Gleichem addiert gibt Gleiches, zwischen zwei
Punkten in der Ebene ist der kĂĽrzeste Abstand die gerade Linie u. s. w.
Wer hat je daran gezweifelt, dafs das alles richtig ist? Doch werden
manche unterrichtetere Leser sagen, zugegeben! Aber um Axiome
handelt es sich darum doch nur in der Mathematik, mit welcher wir
in allen realen Wissenschaften zu tun haben.
Dann kommen Grundlagen, fĂĽr die wir zwar keine Sicherheit,
aber grofse Wahrscheinlichkeit beanspruchen, wir nennen sie Prinzipe.
In absteigender Reihe haben wir dann noch Gesetze, Annahmen und
Hypothesen oder Erklärungen. Die Fremdworte sollen hier nichts
weiter tun, als die Ordnung in der Folge der Grundlagen fest-
zustellen helfen.
Viele dieser Grundlagen kann man auch lediglich als Definitionen
fĂĽr etwas auflassen, z. B. die beiden oben angofĂĽhrten Axiome: zwei
Grölsen sind gleich, wenn sie zu Gleichem addiert, Gleiches ergeben,
eine Linie zwischen zwei Punkten ist gerade, wenn keine andere
Linie zwisohen diesen Punkten kĂĽrzer ist als sie. Also haben die
Grundlagen doch nicht die Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben, da
wir Definitionen als etwas Willkürliches, beliebig Abzuänderndes anzu-
sehen gewohnt sind? Indessen so darf die Sache doch nicht beurteilt
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1Ă–S
werden. Definitionen liefern den Wissenschalten Material, um sich
unzweideutig und ohne viele Worte ausdrücken zu können ; sie
stellen symbolische Worte her, die ganze Sätze, welche sonst nötig
sein wĂĽrden, entbehrlich machen. Hinter den Grundlagen aber steckt
noch etwas mehr, selbst wenn sie in Definitionen umgewandelt
werden können, nämlich eine Vorstellung, ein Bild von dem, worauf
sich die betreffende Grundlage bezieht, soi es, dafs das Bild sich selbst
darbietet oder dafs wir es schaffen. Aufserdem gibt es zweifellos
Grundlagen, die durch Definitionen nicht zu ersetzen sind. In Kants
Sprache könnten wir sie nur synthetische Grundlagen nennen, während
die anderen zum Teil analytischen Charakter tragen, und man manch-
mal wenigstens zweifeln kann, ob sie nicht mehr unterscheidend als mit-
teilend sind. Selbstverständlich sind Definitionen für eine Wissenschaft
von der gröfsten Wichtigkeit; viele Mifsverständnisse entstehen ledig-
lich durch mangelhafte Angabo der Bedeutung, die man einem Worte
unterlegt, und der berĂĽhmte ^Streit um Wortet besagt nichts weiter,
als dafs ein Wort von der einen Partei in dieser, von der andern in
jener Bedeutung aufgefafst wird. Daraus folgt auch, dafs die LektĂĽre
philosophischer Werke wesentlich erschwert ist durch unzureichende
Angaben ĂĽber die Wortbedeutung. Jeder Autor hat das Hecht, sich
seine Sprache zu schaffen; bildet sich docli unsere Sprache ĂĽber-
haupt nur auf diese Weise aus. Aber nicht immer vermag der Leser
die Erklärung selbst zu finden. Gerade in der Philosophie nun ist
wie in der Jurisprudenz schärfste Wortauffassung erforderlich. Zu
manchem Philosophen, der deutsch geschrieben hat, wĂĽrde man ein
Lexikon ganz freudig begrĂĽfsen.
Nun kommt noch dazu, dafs Worte ĂĽberhaupt im Laufe der
Zeit ihre Bedeutung ändern. Ich will hier zwei Beispiele aus Goethes
Faust anfĂĽhren. Im zweiten Teil, im dritten Akt, am Schlufs der
vierten Rede sagt Helena
Die FĂĽfse tragen mich so mutig nicht empor
Die hohen Stufen, die ich kindisch ĂĽbersprang.
Das Wort „kindisch" betonte eine Schauspielerin, die ich in
dieser Rolle sah, so, als hiefso kindisch so viel wie dumm, töricht
wie ein Kind; es ist aber offenbar in der Bedeutung „als Kindu, ..da
ich noch ein Kind war", zu verstehen, sonst gäbe es einen wunder-
lichen Sinn. Das zweite Beispiel ist die dritte und viorte Zeile im
letzten Chor des zweiten Teiles, das viel zitierte
Das Unzulängliche
Hier wirds Ereignis.
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Unter „ unzulänglich u verstehen wir jetzt etwas, was nicht zu-
reicht, unvollständig, unvollkommen ist. Hier bedeutet das Wort aber
wohl „das nicht zu erlangende^ Wer weifs, ob nicht die Stelle am
SchlĂĽte der Hexenszene im ersten Teil
Du siehst mit diesem Trank im Leibe
Bald Helenen in jedem Weibe
auch anders aufzufassen ist, als uns fast selbstverständlich scheinen
möchte. Wenigstens konnte ich mich nie des Eindrucks erwehren,
als ob nach diesen Worten Mephistopheles' etwas ganz Anderes folgen
sollte, als die furchtbare und so ergreifende Gretchentragödie. Aber
freilich der Dichter schreibt nicht immer, was er sich zuerst vorge-
nommen hat, sondern wozu ihn die Seele treibt.
2. Raum, Zeit, Substanz und Energie.
Noch an einem anderen Beispiel, das auch fĂĽr das folgende Be-
deutung hat, möchte ich zeigen, wie vieles von der Definition ab-
hängt. Kant spricht in seiner Kritik der reinen Vernunft sehr viel
von „Idealismus*. Von vornherein ist zu bemerken, dafs dieses Wort
bei ihm nicht die fadenscheinige Bedeutung hat, welche es bei uns
infolge Mifsbrauchs gewonnen hat. Ich werde erst einiges aus der
Kritik der reinen Vornunft zitieren und dann einige Bemerkungen an-
schliefsen; der Leser befindet sich dann sofort auch in den hier zu be-
sprechenden wichtigen Grundlagen. Es handelt sich um Erklärung'
von Raum und Zeit, gewifs Gegenstande, die den Grundlagen der
Naturwissenschaft angehören müssen. Kant entwickelte seine An-
sicht hierĂĽber gleich zu Beginn seines Werkes und dann sehr oft an
verschiedenen Stellen. Er sagt:
„WTir behaupten also die empirische Realität des Raumes
(in Ansehung aller möglichen äufseren Erfahrungen) obzwar wir zu-
gleich die transzendentale Idealität desselben, d. h., dafs er nichts
sei, sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weg-
lassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde
liegt, annehmen."
„Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität
der Zeit, d. i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die
jemals unseren Sinnen gegeben werden mögen. . . . Dagegen streiten
wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich,
auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung RĂĽcksicht
zu nehmen, schlechtbin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft
anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen,
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160
können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin
besteht also transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie.
wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschau-
ung abstrahiert, gar nichts ist, und den Gegenständen an sich selbst
(ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend
noch inhärierend beigezählt werden kann.-
Diese beiden Zitate werden ihrem Inhalte nach den meisten
Lesern wohl bekannt sein, denn sie enthalten die grundlegenden An-
sichten Kants von Raum und Zeit als den Formen unserer sinnlichen
äufseren und inneren Anschauungen, die auf alle Gegenstände gehen,
aber nur „sofern sie als Erscheinungen betrachtet werden, nicht aber
Dinge an sich selbst darstellen". Das ist Kants transzendentaler
Idealismus, der mit dem empirischen Realismus vereint ist;
und er bildet das Fundament von Kants Philosophie, weil -alle
unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung ist,
und die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wo-
für wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst be-
schaffen sind, als sie uns erscheinen. . . . Was es fĂĽr eine Bewandtnis
mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Re-
zeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich un-
bekannt-
Weiter sa^'t nun Kant:
_Also ist das Dasein aller Gegenstände äufserer Sinne zweifel-
haft. Diese Ungewißheit nenne ich Idealität äufserer Erscheinungen,
und die Lehre dieser Idealität heifst Idealistn."
-Unter einem Idealisten mufs man also nicht denjenigen ver-
stehen, der das Dasein äufserer Gegenstände der Sinne leugnet, sondern
der nur nicht einräumt: dafs es durch unmittelbare Wahrnehmung
erkannt werde, daraus aber schliefst, dafs wir ihrer Wirklichkeit
durch alle mögliche Erfahrung niemals völlig gewifs werden können.-*
In diesen beiden letzteren Zitaten bedeutet offenbar „Idealismus-
nicht ganz dasselbe, was oben unter Idealismus mit dem Zusatz „trans-
zendentaler" verstanden wurde; Kant bemerkt daher gleich darauf
-dars man notwendig einen zweifachen Idealismus unterscheiden mĂĽsse,
den „transzendentalen und den empirischen*. Erstoren erklärt
er wie früher angegeben. Der letztere zerfällt in zwei Arten, den
dogmatischen und den skeptisohen Idealismus.
„Der dogmatische Idealist würde derjenige sein, der das
Dasein der Materie leugnet, der skeptische, der sie bezweifelt, weil
er sie für unerweislich hält.-'
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Beide sind unzweideutig* von dem transzendentalen Idealismus
verschieden, da jener die empirische Realität der Gegenstände gänz-
lich leugnet, dieser sie bezweifelt, während der transzendentale Idea-
lismus alles als wirklich ansieht und nur nicht einräumt, dafs das
objektive Dasein der Gegenstände durch unmittelbare Wahrnehmung
erkannt werden kann, und Kant als transzendentaler Idealist die
empirische Realität von Raum und Zeit sogar behauptet.
Sehr wichtig fĂĽr die Beurteilung des Kantschen Idealismus ist
auch die nachfolgende Stelle, welche in der ersten und der, von dieser
in mancher wichtigen Beziehung verschiedenen, zweiten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft völlig gleichlautend sich findet
„Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend be-
wiesen: dafs alles, was im Räume oder Zeit angeschaut wird, mithin
alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erschei-
nungen, d. i. blofse Vorstellungen sind, die, sowie sie vorgestellt
werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, aufeer
unseren Gedanken keine an sich gegrĂĽndete Existenz haben. Diesen
Lehrbegriff nenne ich den transzendentalen Idealismus. Der
Realist in transzendentaler Bedeutung macht aus diesen Modifikationen
unserer Sinnlichkeit an sioh subsistierende Dinge, und daher blofse
Vorstellungen zu Sachen an sich. Man wĂĽrde uns unrecht tun,
wenn man uns den sohon längst verschrieenen empirischen Idea-
lismus zumuten wollte, der, indem er die eigene Wirklichkeit des
Raumes annimmt, das Dasein der ausgedehnten Wesen in demselben
leugnet, wenigstens zweifelhaft findet und zwischen Traum und Wahr-
heit in diesem StĂĽcke keinen genugsam erweislichen Unterschied
einräumt." Dagegen soll der empirische Idealist hinsichtlich der Er-
scheinungen des inneren Sinnes in der Zeit behaupten, „dafs diese
innere Erfahrung das wirkliche Dasein ihres Objekts einzig und allein
hinreichend beweise". Hierzu hat Kant in der zweiten Bearbeitung
noch die folgende Anmerkung gemaoht: „Ich habe ihn (den transzen-
dentalen Idealismus) auch sonst bisweilen den formalen Idealismus
genannt, um ihn von dem materialen, d. i. dem gemeinen, der die
Existenz äufserer Dinge selbst bezweifelt oder leugnet, zu unter-
scheiden". Er meint auch, dafs es in manchen Fällen besser ist, sich
dieser AusdrĂĽcke zu bedienen, als der oben genannten.
Wir haben hier drei weitere Bezeichnungen: der formale Idea-
lismus besagt dasselbe, was der transzendentale bedeuten soll, der
empirische und der materielle sind sich gleich und umfassen wohl
dasjenige, was frĂĽher als dogmatischer und skeptischer Idealis-
Hlmmol und Krd« 190». XV. 4 11
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mus bezeichnet worden ist. Dazu kommt noch der transzendentale
oder absolute Realismus als Gegenbegriff zum empirischen
Realismus. Ich könnte noch eine grofse Zahl weiterer Stellen aus
dem Kantsohen Werke anfĂĽhren. Die hier gebotenen genĂĽgen aber
völlig, um darzutun, dafs Kant zwei durchaus von einander ver-
schiedene Hauptarten des Idealismus unterscheidet. FĂĽr den trans-
zendentalen oder formalen Idealisten sind alle Gegenstände der Er-
fahrung Vorstellungen und wirklich, ob sie gleich darum nioht an
sich, d. i. aufser der Erfahrung (objektiv) wirklich sind. FĂĽr den
materialen, dogmatischen, skeptischen, empirischen Idealisten dagegen
sind diese Gegenstände überhaupt nicht vorhanden oder wenigstens
zweifelhaft. Jener steht im Gegensatz zu dem transzendentalen
Realisten, dem diese Gegenstände Sajchen an sich selbst sind,
dieser zu dem empirischen Realisten, dem alles wirklich im
obigen Sinne des transzendentalen Idealisten ist.
Aber welch eine Menge von Unterscheidungen fĂĽr ein Wort, das
uns in seiner Bedeutung so einfach und klar scheint! Und doch ist
keine dieser Unterscheidungen irgend zu entbehren, will man das
Kantsche System verstehen. Zweifellos gehen die Unterscheidungen
noch viel weiter, als der Verfasser dieses darzulegen im stände ist,
denn die Philosophen von Fach selbst sind noch nicht Ăśberfalles
einig, was Kant eigentlich gemeint hat Schopenhauer hat sogar
behauptet, Kant hätte in der zweiten Bearbeitung seiner Kritik der
reinen Vernunft das in der ersten Bearbeitung vertretene System ver-
lassen, und er hat dieses heftig genug zum Ausdruck gebracht Es
handelt sich dabei gerade um die Definition einer der vielen Arten
von Idealismus, die Kant bespricht und von denen er einige wider-
legt. Ich will den Leser nicht in das Labyrinth der sich wider-
streitenden Ansichten führen, ioh persönlich bin überzeugt, dafs Kant
immer nur ein System vertreten hat und Schopenhauers Vorwurf
ungerechtfertigt ist Die Hauptsache aber ist, dafs wir erkennen, wie
wichtig die Definition ist.
Dann aber hat der Leser auoh die Ansioht wohl des gröfsten
Philosophen ĂĽber Zeit, Raum und Dinge kennen gelernt, die, wenn
irgend etwas, den Grundlagen der Naturwissenschaft angehören. Auf
dem Boden dieser Ansicht stehen sehr viele Naturforscher und Philo-
sophen, während andere ihr freilich scharf widersprechen und sich
zum „transzendentalen Realismus u bekennen, dem alles wirklich an
sich ist, nicht blofs wirklich fĂĽr uns, oder zum ..dogmatischen Idealis-
mus", dem nichts ist. Die Reihenfolge wäre dogmatischer Idealismus,
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transzendentaler Idealismus, transzendentaler Realismus, vom Nichts
zum Absoluten. Und in diese Reihenfolge wird auch der Leser seine
Ansicht von der Sache einordnen. Der Naturforscher spricht gar
oft wie ein transzendentaler Realist; Kaum, Zeit, alle Dinge be-
handelt er wie Absolutes. Aber daraus ist hinsichtlich seiner eigent-
lichen Ansicht davon nichts zu schliefsen, er spricht sogar von Gegen-
ständen absolut, über deren Wesen ohne Kenntnis zu sein er ohne
weiteres eingesteht Wir werden diese Gegenstände bald kennen
lernen. Eis hundelt sioh dabei nur um bequeme Ausdrucksweise.
Zu Raum, Zeit und den Dingen habe ioh vom Standpunkt des
Naturforschers noch folgendes zu bemerken:
Der Raum ist ĂĽberall derselbe, oder wenn wir einen sinn-
lichen Ausdruck wählen wollen, der Raum hat überall die gleiche
Beschaffenheit. Wenn sonst nichts dazu kommt, kann allein durch
Veränderung des Ortes oder der Lage im Räume kein Körper
irgend wie seine Eigenschaften ändern. Das ist eigentlich das Wesent-
liche. Der Raum als solcher verleiht also den Substanzen entweder
gar keine Eigenschaften oder jeder Substanz immer nur die nämlichen.
Kennen wir diese Eigenschaften fĂĽr einen Ort oder eine Lage im
Räume, so linden wir sie in genau gleicher Weise an allen Orten
und in allen anderen Lagen, wenn eben nichts Anderes dazu kommt.
Der Leser wird dieses für selbstverständlich ansehen, es ist es aber
nicht, denn wir können uns Raumarten vorstellen, in denen allein
durch Orts- oder Lagenänderung tatsächlich die Körper ihre Eigen-
schaften ändern, etwa ihre Form krümmen oder gröfser oder kleiner
werden u. 8. f. So ist ein StĂĽok einer geraden Linie ĂĽberall auf dieser
geraden Linie sioh gänzlich gleich, ebenso ein Kreisstüok auf einem
Kreise; aber ein EllipsenstĂĽck murs, wenn es etwa an * einem Ende
der kleineren Axe abgeschnitten ist, sich fortwährend krümmen, so-
bald es in der Ellipse verschoben wird und dabei mit seiner ganzen
Länge stets in der Ellipse bleiben soll. Aus diesem Beispiel, welchem
sich ein entsprechendes über Stücke, die in Ebenen, Kugelfläohen oder
EUipsoidf lachen vorschoben werden, anreihen läfst, kann hinreichend
entnommen werden, was mit der obigen Behauptung fĂĽr den Raum
gemeint ist
Der Raum hat drei Abmessungen und zwar ge rade Ab-
messungen.
Im Räume liegen alle Gebilde, die wir uns vorstellen können,
also Linien, Flächen, Körper. Den ersteren schreiben wir eine Ab-
messung zu, den zweiten zwei Abmessungen, den dritten drei. Dabei
Ii*
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164
ist vorausgesetzt, dafs wir stets in dem betreffenden Gebilde bleiben,
und, was aufser ihm vorhanden ist, als nicht vorhanden ansehen, denn
sonst wĂĽrden wir beispielsweise fĂĽr einen Kreis bereits eine Ebene
beanspruchen mĂĽssen (worin er liegt); wir meinen aber damit nur
die Linie selbst in ihrer Erstreckung, nicht, was aus ihr heraustritt.
Schreiben wir also dem Räume drei Abmessungen zu, so schliefen
wir das, was nicht zum Raum gehört, von der Betrachtung aus, und wir
müssen es ausschliefen, weil wir für das Aufserräumliche keine Spur
einer Vorstellung haben. Der Raum ist nach Kant fĂĽr uns Grund-
lage einer jeden möglichen Vorstellung überhaupt. Dafs man trotz-
dem gedanklich weiter gehen kann und, etwa wie eine Kreislinie
einen Raum mit zwei, eine Kugelfläche einen Raum mit drei Ab-
messungen einschliefst, annehmen kann, unser Raum schliefse seiner-
seits einen Raum mit vier Abmessungen ein, sei gewissermaĂźen die Be-
grenzung eines solchen >vierdimensionalen< Raumes, wie die Kreis-
linie die des zweidimensionalen, die Kugelfläche die des dreidimen-
sionalen, ist selbstverständlich, und wir schliefen sehr häufig nach
dem Gesetz des Analogen — worüber noch zu sprechen sein wird —
weiter. Aber mehr als eine amĂĽsante Untersuchung kommt dabei nicht
heraus; die Naturwissenschaft zieht keinen Nutzen davon. Die vierte
Dimension hat schon oft die Menschheit beschäftigt; Berufene und
namentlich Unberufene haben sich viel mit ihr abgegeben, vielfach
ist mit ihr wahrer Spuk in des Wortes ureigenster Bedeutung ge-
trieben worden. Nun ist es mit der vierten Dimension und allen
noch höheren Dimensionen stiller geworden; man hat doch zu wenig
dabei profitiert, denn die daraus zitierten Geister haben in der Reircl
gar zu alberne AuskĂĽnfte gegeben.
Eine dritte Eigenschaft, die man unserem Räume zuschreibt, be-
sagt, der Raum sei geradlinig. Das ist nicht ohne weiteres ver-
ständlich; wir müssen zur Klarstellung Vorgänge zu Hilfe rufen. Am
einfachsten ziehen wir Bewegungsvorgänge heran. Die Erfahrung
hat gelehrt, dafs kein in Bewegung begriffener Körper die Richtung
seiner Bewegung ändert, wenn er nicht dazu von Aufsen gezwungen
wird. Demnach können wir auch sagen, ohne solchen Zwang bewegt
sich ein Körper in unserem Räume immer in der nämlichen Richtung,
also in gerader Linie. Der Raum selbst ĂĽbt einen Zwang gar nicht
aus, oder er übt ihn nur in der Weise aus, dafs der Körper ohne
Zutreten eines anderen Zwanges sich stets in gerader Linie bewegt.
Auch hier hat man Spekulationen über anders geartete Räume ange-
stellt, z. B. über solche, in denen Körper ohne Zwang sieh in Kreisen
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bewogen würden, Strahlen sicli nicht geradlinig, sondern kreisförmig
durch den Raum verbreiten, so dafs man seine eigene liebe RĂĽckseite
ohne Doppelspiegel sehen könnte, was unseren Damen gewifs sehr
willkommen wĂĽre. Und es ist ĂĽber solohe Spekulationen viel ge-
spottet worden, mit Recht und mit Unrecht.
Vom Räume gehen wir zur Zeit. Diese hat dem Räume ganz
entsprechende Eigenschaften.
Die Zeit ist immer die nämliche. Dieser Satz ist anscheinend
nicht zu beweisen, denn wir sehen, dafs in der Tat Körper im Laufe
der Zeit sich ändern. Allein wir bemerken doch, dafs manche Körper,
soweit wir es beurteilen können, ganz unverändert ausdauern, andere
nur geringe Ă„nderungen, wieder andere erhebliche Ă„nderungen er-
fahren u. s. f. Wollen wir also nicht annehmen, dafs die Zeit auf
verschiedene Substanzen verschieden wirkt, so bleibt nichts ĂĽbrig, als
vorauszusetzen, dafs es ĂĽberhaupt nicht die Zeit ist, wodurch Ver-
änderungen entstehen, sondern etwas Anderes. Wir nennen dieses
Andere Ursache und werden davon bald sprechen. In der mathe-
matischen Physik jedenfalls wird die Zeit an sich als auf die Natur
einilufslos angesehen; was geschieht, geschieht in ihr, nicht durch sie.
Die Zeit hat eine Abmessung. Es genĂĽgt eine Angabe
in der Zeit, um die Lage eines Ereignisses festzustellen; das brauoht
nicht genauer erläutert zu werden, unsere ganze Zeitrechnung beruht
ja darauf. Diese Abmessung wĂĽrde man geneigt sein, sich den
geraden Abmessungen im Räume analog zu denken; naturwissen-
schaftlich heifst das, daTs in der Zeit jede Bewegung ohne Ge-
schwindigkeitsänderung zwanglos geschieht, wie im Räume
jede Bewegung ohne Richtungsänderung.
Ăśber zwei- und mehrdimensionale Zeiten hat man merkwĂĽrdiger-
weise noch nicht spekuliert. Wie verhält es sich aber mit der der
Geradlinigkeit des Raumes entsprechenden Eigenschaft der Zeit?
Also, geht die Zeit immer nur nach einer Richtung hin oder kann sie
in sich zurückkehren? Wiederum müssen wir Vorgänge zu Hilfe
nehmen, und dann stellt sich die Frage so, ist, was einmal vergangen,
für alle Ewigkeit vergangen oder kommt es später wieder? Qern
möchte der gröfste Teil der Mensohheit, dem das irdische Jammertal
immer noch angenehm genug dĂĽnkt, die Frage im letzteren Sinne
bejaht wissen. So begierig ist der Mensch nach Wiederkommen, dafs
bekanntlich grofse philosophische und Religionssysteme auf solches
Wiederkommen eingerichtet sind, nioht immer freilich in der holden
menschlichen Gestalt, sondern oft — zur Strafe sohlecht geführten
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Daseins — in der unwürdigen Existenz eines wirklichen ... — der
Leser wird mich verstehen, auch wenn ich das Wort nicht ausspreche.
Ich erinnere an die in vieler Hinsicht so bewundernswerte Religions-
philosophie des Buddhismus, an die Metempsychose der Pythagoräer,
an entsprechende Lehren des Brahminismus und der ägyptischen
Religion. Indessen handelt es sich hier doch nicht um das gleiche. Hier
bezieht sich alles auf das Einzelne; das einzelne Wesen sollte
in der einen oder anderen Gestalt wiederkehren. In unserer Frage
dagegen ist das ganze All der Vorgänge gemeint, alle Vorgänge
sollten wiederkehren. Eine Vorstellung hiervon haben wir deshalb, weil
wir ja in der Tat Vorgänge wiederkehren sehen, wie zum Beispiel im
Kreislauf der Jahreszeiten, Tageszeiten, in gewissen Bewegungen, kurz
in denjenigen Erscheinungen, die wir periodische nennen. Und ein un-
gemein berĂĽhmtes Beispiel hat Laplace fĂĽr unser engeres Sonnen-
system dargetan. In diesem stören sioh die einzelnen Planeten, Monde
u. b. f. infolge der Anziehung, die sie auf einander ausĂĽben, in ihren Be-
wegungen. Dadurch ändern sich Lage und Ausdehnung ihrer Bahnen
um die Sonne. WĂĽrden diese Ă„nderungen stetig nach einer Richtung
gehen, so könnte dies z. B. bei unserer Erde nach unserem jetzigen
BedĂĽnken von fatalen Folgen fĂĽr ihre Lebewesen werden, indem sich
ihre Bahn immer mehr streckte und dadurch mehr und mehr Ent-
fremdung von der wärmenden Sonne entstände. Das ist nach
Laplace's Berechnungen glücklicherweise nicht der Fall. Die Stö-
rungen laufen so ab,dafs sie sich immer wieder ausgleichen und dafs die
Himmelskörper unseres Sonnensystems zur Sonne und zu einander
immer wieder in das nämliche Verhältnis zurückkehren. Nach den
Jahrtausenden, innerhalb deren dieses geschieht, darf der Leser aber
nicht fragen. Freili chist dies noch keine RĂĽckkehr der Zeit, sondern
nur eine solche in der Zeit, aber wir haben gar keine Möglichkeit
einer anderen Beurteilung. Ăśbrigens hat Cioero, ĂĽber den ich einmal
in einem alten Buche gelesen habe, „dafs er als Dichter wenig, als
Philosoph aber gar nicht getauget habe* auch auf RĂĽckkehr ge-
schlossen, und zwar weil wir uns der Vorgänge, die sich vor uns
abspielen oder bei denen wir beteiligt sind, oft so erinnern, als
hätten wir sie schon gesehen oder durchlebt. Er erklärt auch das
Lernen als ein Erinnern an frĂĽher Gekanntes. Man kann dabei aber-
gläubig werden, also lassen wir die Frage lieber ruhen. Es kam mir
nur darauf an, dafs der Leser weifs, um was es sich handelt, wenn
die Naturwissenschaft eine bestimmte Behauptung aufstellt; diese er-
klärt sich oft negativ besser als positiv.
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Das dritte im Bunde waren die Dinge. Sie sind im Raum und
in der Zeit
Wir sind leider gezwungen, die Dinge, mit denen die Natur-
wissenschaft es zu tun hat, in zwei Klassen zu teilen, von denen
eine, wie mancher Leser wohl sagen wird, nur Undinge enthält.
Gewöhnlich verstehen wir unter „Ding"' einen Gegenstand, der
mit unseren Sinnen wahrgenommen werden kann und so wahrge-
nommen wird, indem wir ihn sehen, fühlen, riechen, hören, schmeoken,
falls wir uns auf die fünf allgemein anerkannten Sinne beschränken.
Wir nennen diese Dinge alsdann auch Körper, Substanzen, Materien
u. s. f. Die Naturwissenschaft kennt aber noch andere Dinge, die —
soweit unsere bisherigen Wahrnehmungen gehen — als solche keinem
unserer Sinne zugänglich sind. Wir müssen dazu einstweilen zählen
Kräfte, Elektrizität und Magnetismus. Niemand noch hat eine Kraft
gesehen oder gehört u. s. f., niemand Elektrizität, Magnetismus sinnlich
(mit einem der Sinne) wahrgenommen. Indem man sich darauf bezog, dafe
alle sinnlich wahrnehmbare Sustanz schwer ist, nannte man die sinn-
lich nicht wahrnehmbaren Dinge: ĂĽnsohwere, Imponderabilien.
Früher hat man dazu noch die Wärme gezählt Die Kräfte froilich hat
man immer in anderer Weise behandelt Kant nennt die Wahrnehmung
-Ästhetik" — Substanzen wären also ästhetische Dinge, Imponderabilien
unästhetische; und fast möchte mau glauben, dafs diese Bezeichnung
in der jetzigen Bedeutung von unästhetisch aufgefafst wird, denn den
Naturforschern sind diese Imponderabilien ein Greuel. Von je her
haben sie sich bestrebt, dieselben aus den Wissenschaften zu entfernen.
Wir werden später sehen, wie und mit welchem Erfolg.
Wie kommen aber die nioht sinnlichen Dinge zur Wahrnehmung?
Genau so wie die sinnlioh wahrnehmbaren, durch ihre der sinnlichen
Wahrnehmung zugänglichen Wirkungen an sinnlich wahrnehmbaren
Substanzen. Alle vorgenannten Imponderabilien kennen wir nur, so-
fern sie sich an gewöhnlicher Substanz bemerkbar machen, sie selbst
sind uns verborgen, aber ihre Wirkungen stehen uns offen. Eine
Kraft kann z. B. einen Körper in Bewegung setzen, verunstalten oder
zertrümmern u. s. w.; Elektrizität einen Körper leuchtend maohen oder
dehnen, Körper zu Körper hinziehen, oder Körper von Körpor ent-
fernen u. 8. w. Was ein elektrischer Strom ist, vermag der gelehr-
teste Physiker nicht zu sagen; aber der Strom verrät sich, indem er
Magnetnadeln dreht, Körper erwärmt, Flüssigkeiten zersetzt, Körper
magnetisch macht, Licht hervorbringt, Strahlungen der verschiedensten
Art verursacht u. s. w. Das also ist sehr bemerkenswert, dafs alles
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Imponderabile an das Ponderabile gebunden ist wie die Seele, viel-
leicht zeitweilig, an den Leib. Substanz ist der Träger aller Vor-
ginge, sinnlicher und nicht sinnlicher Dinge. Vorgänge ohne Sub-
stanz kennen wir nicht. Beinahe wäre man versucht, dies als eine
selbstverständliche Banalität anzusehen, wenn wir uns nicht ein wenig
im Kreise drehten.
Nämlich: Waa ist denn Substanz? Der Naturforscher antwortet
auf diese Frage dadurch, data er Eigenschaften namhaft macht wo-
durch alle Substanz auf unsere Sinne wirkt Das ist selbstverständ-
lich keine Erklärung der Substanz. Aber was soll sonst noch an
Substanz erklärt werden, da doch alles aufser uns Befindliche durch
die Sinne allein wahrgenommen wird? Wenn wir von den Sinnes-
wahrnehmungen sprechen, wird diese Angelegenheit genauer be-
leuchtet werden. Indes vermag der tiefste Philosoph kaum etwas
Arideres ĂĽber Substanz zu sagen als der Naturforscher, denn was er
auch vorbringen mag, so hat er doch alles aus Erfahrung abgeleitet:
seine Angaben besagen im Grunde nichts Anderes, als was vom Natur-
forscher hingestellt wird. Heifst es z. B.: Substanz ist die Vereinigung
von Anziehung und Abstofsung, so ist die Anziehung der Ausdruck
dafĂĽr, dars es Substanz-Individuen giebt also einz ein e Substanzen,
Körper, die sich als Sonderexistenzen bezeugen, sich in sich zusammen-
halten; und die Abstofsung wiederum besagt, dafs dieses sich in sich
zusammenhalten nicht bis zur völligen Zusammenziehung in Nichts
geht, dafs die Körper Ausdehnung haben und behalten, woraus dann
auch die Undurchdringlichkeit folgt
Welche Eigenschaften man zur Definition der Substanz wählt,
ist ziemlich gleichgiltig, denn es scheint fast, als ob alle Substanzen
alle Eigenschatten besitzen, nur in mehr oder weniger auffallender
Stärke. Darum ist es auch ganz berechtigt, wenn verschiedene Wissens-
zweige verschiedene Eigenschaften zur Definierung der Substanz in
den Vordergrund stellen, z. B. die Mechanik Trägheit und Undurch-
dringlichkeit, die Akustik Elastizität u. s. w. So bringt auch Kant
in einer seiner lichtvollsten Abhandlungen, „Metaphysische Anfangs-
gründe der Naturwissenschaften", eine phoronomische Erklärung:
„Materie ist das Bewegliche im Kaum" für die Phoronomie, eine dy-
namische: „Materie ist das Bewegliche, sofern es den Raum erfüllt"
für die Dynamik, eine mechanische: „Materie ist das Bewegliche, so-
fern es als ein solches bewegende Kraft hat" fĂĽr die Meohanik, end-
lich eine phänomenologische: „Materie ist das Bewegliche, sofern es
als ein solches ein Gegenstand der Erfahrung 6ein kann" fĂĽr die
160
Phänomenologie. Der Leser braucht die fremdwörtlichen Bezeichnungen
der vier Wissenszweige nur ins deutsche zu ĂĽbertragen, um sofort zu
ersehen, wie sehr die jeweilige Definition dem betreffenden Wissens-
zweig entspricht. Und genau wie Kant hier, verfahren die Natur-
forscher bewufst oder unbewufst fast allgemein, und es läfst sich auch
kaum sagen, wie anders verfahren werden könnte. Ähnlich arbeitet
Kant schon in seiner merkwürdigen Jugendarbeit „Einige kurzgefafste
Betrachtungen ĂĽber das Feuer".
Aber selbstverständlich messen wir nicht allen Eigenschaften
der Substanzen gleiche Bedeutung bei. Ks gibt einige Eigenschaften,
die wir als fĂĽr die Substanzen ganz besonders bezeichnend betrachten.
Hierher gehört vor allem die Ausdehnung und die Existenz, also das
Vorhandensein in Raum und Zeit. Sodann die Undurchdringlichkeit
und die Trägheit. Die beiden ersten Eigenschaften sind die schlecht-
hin notwendigen, denn Aufserräumliches und Aufserzeitliches fassen
wir ĂĽberhaupt nicht auf; besser gesagt: alles, was wir auffassen, nimmt
die Form „räumlich" und „zeitlich1" an. Von den beiden anderen
Eigenschaften scheint die erste gewissen Erscheinungen sogar zu
widersprechen, denn wenn wir z. B. Zucker oder Salz in Wasser auf-
lösen, haben wir ein gleich mäfsiges Gemisch vor uns. Der Zucker oder
das Salz scheinen das Wasser ganz und gar durchdrungen zu haben,
sie befinden sich anscheinend genau da, wo das Wasser ist. Darauf
komme ich später zu sprechen, wenn ich von den hypothetischen
Grundlagen handle.
Die Trägheit aber besagt, dafs Substanz nichts aus sich selbst
heraus tut, sondern nur aus äufserem Antrieb, also unter Zwang.
Bei den beseelten Wesen wird die Trägheit durch die Seele über-
wunden. Das Wirken der Seele besteht in der Hervorbringung des
Willens oder der Wille ist ein Teil ihres Wirkens. Vermöge dieses
Willens wird die substanzielle Trägheit überwunden, aber unter Um-
ständen doch auch nicht vollständig, sondern unter Mitwirkung äufserer
Umstände. Der Leser denke nur daran, wie sohwer es ist, auf glatter
Bahn zu gehen. Der Wille ist darauf gerichtet, einen Fufs nach vor-
wärts zu richten; das geschieht, aber zugleich soll der andere fest
stehen bleiben; das geschieht nun nioht, wenn der Weg sehr glatt
ist, der andere Fufs gleitet nach rückwärts. Auf absolut glatter Bahn
wäre jedes Gehen trotz alles Wollens ganz unmöglich; je weiter der
Wille den einen Fufs naoh vorwärts treibt, desto mehr ginge der
andere gegen den Willen nach rückwärts, und gerade dieses ist in
der substantiellen Trägheit begründet. Den nicht beseelten Körpern
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schreiben wir nicht Willen zu; bei ihnen macht sich die Trägheit
darum noch auffallender bemerkbar als bei den beseelten Wesen. Doch
find nicht alle Körper gleicher räumlicher Gröfse auch gleich träge;
je dichter eine Substanz ist, desto träger ist sie, das lehrt die alltäg-
liche Erfahrung; das Mafs der Trägheit ist durch die Masse gegeben,
<lie Massigkeit. Insofern eine Substanz sioh nach aufsenhin um so
geltender macht, je weniger sie äufseren Einflüssen nachgibt, wird
die Stärke ihrer Existenz durch ihre Trägheit gemessen. Eine Sub-
stanz besteht also nicht blofs räumlich und zeitlich extensiv, sondern
auch intensiv. Die letztere ist eine Existenz ganz anderer Art ats
die erstere. Intensive Existenz kann bis zum absoluten Nichts herab-
sinken, extensive nicht Eine gänzlich trägheitslose Substanz könnte
also zwar momentan bestehen, jede geringste Arbeit jedoch wĂĽrde sie
ins Unbegrenzte treiben.
Übrigens ist die Trägheit eine sehr viel bedeutungsvollere Eigen-
schaft der Substanzen, als es auf den ersten Blick scheinen möchte; man
kann die Trägheit auf die ganze Natur mit allen ihren Erscheinungen
ausdehnen und gelangt dann zu einem merkwĂĽrdigen Prinzip, das
von ganz aufserordentlicher Wichtigkeit geworden ist, wie wir noch
sehen werden. Etwas Geheimnisvolles an ihr ist unverkennbar, und
unwillkürlich fragt man, wie äufsert eine Substanz ihre Trägheit?
Die Antwort: durch ihre Masse befriedigt nicht, auch abgesehen davon,
dafs wir umgekehrt Massen durch Trägheit ermitteln.
Als fĂĽnfte allgemeine Eigenschaft kann man auch noch die
„Schwere" der Substanzen bezeichnen, d. h. die Anziehung, welche
alle Substanzen aufeinander ausĂĽben. Ganz unschwere Substanzen
kennen wir nicht, alle Substanz ist schwer. Versuche, die gemacht
worden sind, Substanzen ihre Schwere zu entziehen, sind völlig fehl-
geschlagen.
Das sind also die substanziellen Eigenschaften, und während ver-
möge der beiden ersten Eigenschaften die Substanz als solche für sich
besteht, existiert sie vermöge der drei anderen der Aufsenwelt gegen-
ĂĽber, d. h. jede Substanz als Individuum gegenĂĽber den anderen
Substanzen. In der berĂĽhmten, so hoohpoetiscben Monadenlehre
Leibniz' wĂĽrden die ersten Eigenschaften dem Bewufstsein der
Monaden von sich selbst, die anderen dem Bewufstsein von der
Existenz anderer Monaden zuzuschreiben sein. Aber das nur neben-
bei, denn mancher wird vielleicht behaupten wollen, dafs ein Bewufst-
sein von sich selbst nicht bestehen kann, wenn nicht Bewufstsein von
etwas vorhanden ist, was nicht ich ist, mit anderen Worten, dafs Be-
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wufstsein etwas Relatives ist. Und der Naturforscher, der in dem All
und mit dem All lebt und alles auf sioh einwirken läfst, wird ganz
besonders zu solcher Behauptung geneigt sein.
Von den anderen zahllosen Eigenschaften schweige ich; sie
scheinen uns im Verhältnis zu den genannten stark zurücktretend,
zumal wir sie Substanzen beliebig mitteilen und entziehen zu können
vermeinen. In einem frĂĽheren, in dieser Zeitschrift erschienenen Auf-
satz „Über die elektromagnetischen Kräfte der Erde und über Kräfte
überhaupt44, habe ich hervorgehoben, dafs dies möglicherweise auf
Täuschung beruht, und dafs wir tatsächlich nichts zu ändern ver-
mögen, sondern höchstens durch Zusammenfügen von Verschiedenem
manches nach aufeen hervorzubringen vermögen, was mit jedem des Zu-
sammengefĂĽgten keine Ă„hnlichkeit hat.
Noch ist die Frage interessant, ob den nicht sinnlichen Sub-
stanzen von den obigen Eigenschaften einige ebenfalls zukommen,
und welche etwa. Bereits bei der ersten stooken wir. Ob Elektrizität
räumliche Ausdehnung hat, wer kann das sagen. Aber in der Zeit
existiert sie doch gewifs. Ihre Wirkung ja, aber sie selbst? Was
uns verwundert, ist, dafs sie räumlich vielfach nur selektiv existiert,
das heifst, dafs sie in einem Teile des Raumes sich bemerkbar macht,
während sie für andere Teile absolut nicht vorhanden ist. So wenn
sie einer metallenen Hohlkugel angehört; aufserhalb der Kugel und auf
der Kugel äu Teert sie Wirkungen, durch die wir sie erkennen, aber
im Hohlraum der Kugel gibt es nioht ein einziges Mittel, ihr Vor-
handensein auf der Kugel nachzuweisen; fĂĽr diesen Hohlraum
ist sie absolut nicht vorhanden, weder räumlich nooh zeitlich. Da
â– 4
aber alle nicht sinnliche Substanz fĂĽr uhb an sinnliche Substanz ge-
bunden ist, schreiben wir auch der nicht sinnlichen Substanz räumliche
und zeitliche Ausdehnung zu, und der Naturforscher rechnet damit
wie bei den sinnlichen Substanzen, selbst wenn es sich um so ein
unfafsbares Ding handelt wie eine Kraft. Sogar Begrenzungen
sohreiben wir ihnen zu, und darum wie bei den Substanzen geson-
derte, individuelle Existenz.
Wie wenig sicher wir aber in dieser Hinsicht sind, geht schon
daraus hervor, dafs wir unter Umständen, je nach ihrem substanziellen
Träger ihnen dreidimensionale, also räumliche, oder nur zweidimen-
sionale, also flächenhafte Ausdehnung beimessen. Letzteres, wenn
ihre Träger Metalle sind. Das Auskunftsmittel, ihnen auch in diesem
Falle eine gewifse Dicke anzurechnen, die nur so gering ist, dafs
wir sie nicht festzustellen vermögen, hilft nicht recht darüber hinweg.
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Nun kommt noch dazu die berĂĽhmte Faraday-Maxwellsche
Theorie, die diesen nioht sinnlichen Substanzen mindestens alles
Individuelle abspricht, so dafs sie ganz und gar ins All zerfliefsen
und nur dank der Störungen durch die gewöhnliche Substanz hervor-
treten, so dafs sie eben da, aber nur scheinbar, in bestimmter Form
vorhanden sind, wo diose Substanzen jeweilig sich befinden.
Hinsichtlich der zweiten Eigenschaft sinnlicher Materie mufs,
was wenigstens die Elektrizität und den Magnetismus anbetrifft, so-
gleich auf etwas aufmerksam gemacht werden. Diese erscheinen näm-
lich, wie bekannt, jedes in zwei Arten, die man daran erkennt, dafs
sie sich bald lieben und vereinigen, bald hassen und fliehen. Elek-
trizitäten gleicher Art stofsen sich heftig ab, die ungleicher Art ziehen
sich an. Daher sind Elektrizitäten gleicher Art für einander absolut
undurchdringlich, und umgekehrt Elektrizitäten ungleicher Art absolut
durchdringlich. Das erstere geht so weit, dafs Elektrizität geradezu
gezwungen werden raufs, sich individuell zu erhalten; sie flieht sich
selbst, sie treibt sich selbst auseinander, wenn ihr nioht die Wege
verlegt werden, was bekanntlich durch Isolation ihres Trägers geschieht.
Das zweite wiederum hat zur Folge, dafs Elektrizitäten ungleicher
Art sich so zu vereinigen streben, dafs sie nach aufsen hin nur noch
als absolut verschwistert erscheinen und — weil sie wesentlich ent-
gegengesetzte Eigenschaften haben — dadurch für die Aufsenwelt
ganz verschwinden. Sie sind da und doch nicht vorhanden, weil sie
sieh gegenseitig völlig durchdrungen haben.
Üio Eigenschaft der Trägheit hat Maxwell zu äufserst inter-
essanten Versuchen Anlafs gegeben. Das Wesentliche bestand darin,
dafs er probierte, ob man eine elektrische Turbine konstruieren kann,
das heirst eine Turbine, bei der statt Wasser Elektrizität strömt und
den — eben eine Trägheitsäufserung — Kückstoss verursacht, wo-
durch die Turbine in Drehung gerät. Die Versuche haben ein
ne^ativos Ergebnis geliefert; die Elektrizität ist nicht wie gewöhn-
liche Materie träge, wenigstens nicht in merklichem Grade.
Nun ist früher gesagt worden, dars bei gewöhnlichen Substanzen
die Trägheit ein Mafs für die Menge, die Masse, ist Die nicht sinn-
lichen Substanzen sind nicht träge, und doch spricht man, wie jeder
woifs, von ihrer Menge? Das ist richtig, wir rechnen mit Elektritäte-
mengen, z. B. in Amperes, mit magnetischen Mengen u. s. f., aber diese
Mengen bestimmen wir eben nicht aus Trägheitswirkungen, sondern
aus anderen Wirkungen, wie man ja auch Massen aus anderen Wir-
kungen als denen, die der Trägheit zuzuschreiben sind, ermitteln kann,
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173
z. B. aus den Wirkungen der Schwöre. Freilich mufs man sich dann
sehr hĂĽten, die Mengen nicht sinnlicher Substanz denen sinnlicher an
die Seite zu stellen; sie haben mit diesen absolut nichts gemein.
Endlioh finden wir Anziehung auch bei den nicht sinnlichen
Substanzen, zugleich aber auch Abstofsung. Ob letztere bei sinnlichen
Substanzen vorhanden ist, unterliegt dem Zweifel; bei der Betrachtung
der Konstitution der Substanz werden wir hierauf einzugehen haben.
Von den zahlreichen sonst noch an sinnlicher Substanz vorhandenen
Eigenschaften finden wir sehr viele an nicht sinnlicher Substanz nicht
vor, wie andererseits manche Eigenschaft nicht sinnlicher Substanzen
den sinnlichen Substanzen nicht zukommt.
Eine ganz besonders bedeutende Rolle unter den nicht sinnlichen
Dingen spielen für uns die Kräfte. Hierüber brauche ich nichts mehr
zu sagen, nachdem ich diesen Gegenstand in dem oben angefĂĽhrten
Aufsatz in dieser Zeitschrift schon so eingehend behandelt habe.
Bei der Auseinandersetzung des Prinzips der Kausalität werde ich
aber einiges hinzuzufĂĽgen haben.
Nun noch eine ungemein excellente Gröfse. Sie hat im Leben
der Menschheit von jeher eine sehr bedeutende Rolle gespielt, seit-
dem Adam und Eva das bequeme Dasein im Paradies aufgeben
mufsten. Den Naturforschern ist sie in ihrer Wichtigkeit auf be-
schränktem Gebiete zuerst vonLeibniz, dann allgemein von Julius
Robert Mayer klar gemacht worden. DafĂĽr aber hat man ihre
Wichtigkeit so allgemein und so hingebend anerkannt, dafs fast jeder
Naturforscher den Hut zieht, wenn von ibr die Rede ist, und dafs
manche in ihr das Ein und Alles in der Welt und in menschenwĂĽr-
diger Beschäftigung sehen. Ich meine natürlich die Arbeit oder
Energie. Hier haben wir es nur noch mit der Erläuterung zu tun,
die hohen Eigenschaften dieser Gröfse sind später zu behandeln.
In der Natur geht immer etwas vor. Der Zustand eines jeden
Dinges, sinnlichen oder nicht sinnlichen, ändert sich fortwährend. Das
ist eben das Leben in der Natur. In allen Vorgängen nun entsteht
Arbeit oder verzehrt sich Arbeit. Diese Arbeit kann in den ver-
schiedenartigsten Formen erscheinen, z. B. als Arbeit wie bei dem
Anheben eines Gewichts, als Arbeit wie beim Aufschlagen einer Kugel
auf einen Gegenstand, als Arbeit wie beim Dehnen oder Pressen oder
Biegen und Brechen von Körpern, als Wärme, als Tonstärke, als
Liohtstärke, als sogenannte Pferdekraft, Watt u. s. w. Aber wunderbar
ist, dafs all diese Arbeitsformen sich ineinander verwandeln lassen,
z. B. Wärme in Tonstärke, in Watts, in Pferdekräfte, in Arbeit beim
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Heben eines Gowiohts u. 8. w. Das ist lediglich aus der Erfahrung
entnommen. Wenn einer, dem die so auĂźerordentliche Verschieden-
heit der genannten Arbeiten auffällt, trocken logisch schließen will, so
wĂĽrde or sagen: es gibt fĂĽr jeden Vorgang in der Natur ein Etwas,
fĂĽr diesen Vorgang zwar besonderes, was aber in ein entsprechendes
Etwas eines beliebigen anderen Vorganges verwandelt werden kann,
und dieses Etwas nennen die Naturforscher Arbeit oder Energie,
gleichviel welchem Vorgang es angehört. Das ist also eine Art De-
finition. Und in der Tat ist es in diesem Falle gut, wenigstens das
Fremdwort Energie zu benutzen, da Arbeit im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch doch wesentlich nur eine, und zwar die uns allen bekannte
und oft recht unbequeme Bedeutung hat. Diese Eigenschaft der Energie,
alle möglichen Formen annehmen zu können, bildet die Brücke
zwischen den einzelnen Erscheinungen in der Natur, wodurch z. B.
zwei so aufserordentlich voneinander verschiedene Vorgänge, wie die
elektrischen und mechanischen, gleichwohl zu einander in Beziehung
gebracht werden können.
(Fortsetzung folgt.)
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- J
Technische Zweimonatsschau.
tVon Dr. Gustav Ranter in Berlin,
aben wir uns in unserer letzten Zweimonatsschau mit den Fort-
schritten der Baukunst beschäftigt, so wollen wir uns diesmal
auf ein ganz anderes Gebiet begeben, nämlich auf das der
chemischen Industrie. Wie das Bauwesen auf der Grenze zwischen
Kunst und Technik steht, und wie wir demzufolge bei der Verzeich-
nung seiner Fortschritte nur wenig unmittelbaren Zusammenhang
mit den Ergebnissen der Wissenschaft feststellen können, obschon
dieser natürlich in der Tat doch besteht, so fällt schon bei ober-
flächlicher Betrachtung der ohemischen Technik die Abhängigkeit
dieses Gebietes von den Fortschritten wissenschaftlicher Forschung
desto mehr ins Auge.
Wie auf allen anderen Gebieten der Technik, so sind auch in
der chemischen Industrie in den letzten Jahren vollständige Um-
wälzungen zu verzeichnen gewesen, die sich würdig alle dem an die
Seite stellen, was in den letzten hundert Jahren vorher geschaffen
worden ist Stand frĂĽher die chemische Industrie in der allerengsten
Verbindung mit dem Sodaverfahren nach Leblanc, und beherrschte
dieses Verfahren nicht nur die Darstellung der Soda, der Säuren und
des Chlors unmittelbar, sondern auoh in mehr oder weniger starkem
Grade alle anderen Zweige der chemischen Industrie, so ist dessen
grundlegende Wichtigkeit erst in den letzten Jahren ernstlich er-
schĂĽttert worden. Zwar war ihm schon seit fast 30 Jahren in dem
Ammoniaksodaverfahren ein mächtiger Wettbewerber erwachsen;
doch hatte dieses Verfahren trotz seiner weit verbreiteten Anwendung
nicht mehr als eine Ausnahmestellung in der chemischen Industrie
erringen können, insofern es zwar zum vollkommensten Herstellungs-
verfahren fĂĽr Soda geworden war, aber nicht in organischen Zu-
sammenhang mit anderen Industriezweigen hatte gebracht werden
können.
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17«;
Erst in den letzten Jahren war es die elektrolytische Zerlegung
des Kochsalzes einerseits, die Darstellung der Schwefelsäure nach
dem Kontaktverfahren andererseits, die die Grundlage dessen ganz
neu schufen, was wir als chemische GroĂźindustrie zu bezeichnen ge-
wöhnt sind, und worauf sich auch die Herstellung dessen aufbaut,
was unter dem Namen chemische Präparate erzeugt und teilweise auch
selber im gröTsten Maßstäbe hergestellt wird.
Wenn wir das Wesen des Leblanc-Sodaprozesses ganz kurz be-
zeichnen wollen, so besteht dieser darin, dafs man zunächst aus
schwefelhaltigen Rohstoffen, insbesondere aus Schwefelkies, durch
Oxydation der bei ihrer Verbrennung entstehenden schwefligsauren
Gase in den sogenannten Bleikammern unter Mitwirkung von Wasser
und Salpetersäure verhältnismäfsig verdünnte Schwefelsäure darstellt.
Die nötige Salpetersäure wird durch Einwirkung eines Teils der er-
haltenen Schwefelsäure auf Chilisalpeter gewonnen. Die Schwefel-
säure wird nunmehr durch Eindampfen verstärkt und alsdann mit
Kochsalz zu Salzsäure einerseits, zu schwefelsaurem Natron (oder
Sulfat) andererseits umgesetzt. Jene wird je nach BedĂĽrfnis, und
zwar gewöhnlich mittelst des Verfahrens nach Weldon, auf Chlor
und Chlorkalk verarbeitet. Das Sulfat dagegen wird durch Schmelzen
mit Kalkstein und Kohle in Rohsoda ĂĽbergefĂĽhrt, aus der dann wieder-
um die drei Hauptsorten der Soda, karbonisierte, kaustische und Kristall-
soda gewonnen werden. Der RĂĽckstand von der Verarbeitung der
Rohsoda enthält den zur Herstellung der Schwefelsäure verwendeten
Schwefel in Gestalt wenig wertvoller Verbindungen, doren Auf-
arbeitung sich kaum lohnt und im wesentlichen nur betrieben wird,
um eben die Rückstände zu beseitigen.
Bildet somit das Leblanc-Sodaverfahren eine geschlossene Gruppe
von Arbeitsvorgängen, die aufser Soda noch zahlreiche andere che-
mische Erzeugnisse hervorbringt, deren AusfĂĽhrung aber infolge ver-
hältnismäfsig grofsen Aufwandes an Brennstoffen einerseits, durch den
fast völligen Verlust des aufgewendeten Schwefels andererseits, ziem-
lich kostspielig ist, so arbeitet der Amraoniaksodaprozefs bedeutend
billiger, gibt aber nur ein einziges Erzeugnis, nämlich Soda allein.
Bei ihm werden in Salzsole Kohlensäure und Ammoniakgas einge-
pumpt, wobei unter Bildung von Salmiak doppelkohlensaures Natron
ausfällt. Aus dem Salmiak wird raitttelst Kalk das Ammoniak wieder
gewonnen; dem doppelkohlensauren Natron wird durch Erhitzen die
überschüssige Kohlensäure entzogen, die ebenso wie das Ammoniak
wieder in den Betrieb zurückkehrt, während die Soda alsdann ohne
177
weiteres fertig ist Als Abfall ergibt sich hier das aus der Um-
setzung des Kalks mit dem Salmiak entstehende Chlorcalcium, das
das ganze Chlor des Kochsalzes in weiter nioht nutzbar zu machender
Form enthält Jedoch mufs man es fast ganzlich weglaufen lassen,
weil es'sich wegen mangelnder Verwendung nicht lohnt, einen grösseren
Teil von der Chlorcalciumlauge einzudampfen.
Einen ungeheuren Fortschritt gegenĂĽber diesen beiden Verfahren
bildete in theoretischer Beziehung alsdann die praktische Verwirk-
lichung der Kochsalz-Elektrolyse, wobei dieses ohne weiteres durch
den elektrischen Strom in Chlor zerlegt wird, das entweicht und be-
liebig verarbeitet werden kann, sowie in Natrium, das durch Um-
setzung mit Wasser in Ă„tznatron verwandelt wird, und das hierbei
noch ferner Wasserstoff liefert. Hierbei werden unmittelbar beide
Bestandteile des Kochsalzes nutzbar gemacht, und zwar gleich in
Gestalt der gegenüber Salzsäure und Soda höher zu bewertenden Er-
zeugnisse Chlor und Ă„tznatron; aufserdem kann nebenbei auch noch
Wasserstoff gewonnen werden. Indessen so vorzĂĽglich dies Verfahren
auch an sich ist, so sind die Ausgaben nicht nur fĂĽr elektrischen
Strom, sondern auch fĂĽr die Instandhaltung der Zersetzungszellen
so bedeutend, dafs seine Anwendung sich nur unter besonders gĂĽn-
stigen Verhältnissen lohnt, nämlich da, wo, abgesehen von genügend
billigen Rohstoffen, entweder äufserst billiger Brennstoff vorhanden
ist oder wo ausgiebige Wasserkräfte in industriell verwertbarer Form
zu Gebote stehen.
Hatte das Amraoniaksodaverfahren den Leblanc-Sodaprozefs nur
auf die Herstellung von Schwefelsäure und Sulfat zurückgedrängt,
hatte die Elektrolyse die Rentabilität der Sulfatherstellung dadurch
vermindert, dafs sie das Chlor auf einem weit einfacheren Wege zu
liefern gestattete, als der seiner Herstellung aus der mit dem Sulfat
zugleioh gewonnenen Salzsäure es war, so war immer noch das alte
Schwefelsäure-Herstellungsverfahren in Bleikammern als das Fundament
des ganzen Leblanc-Sodaverfahrens ĂĽbrig geblieben. Da der Natur
der Sache nach weder der Ammoniaksodaprozefs noch die Elektrolyse
Schwefelsäure liefern konnten, so schien die Existenz der Bleikammern
auf voraussichtlich noch lange Zeit gesichert, als es sich vor einigen
Jahren plötzlich herausstellte, dass man schon lange ohne ihre Hilfe
Schwefelsäure im grössten Mafsstabe tatsächlich herstelle.
Die Entwiokelung des Schwefelsäureanhydridverfahrens und die
Art und Weise seiner EinfĂĽhrung in die Technik bieten, abgesehen
von der grofsen Wichtigkeit der Sache an sich, ein so schönes Bild
Himmol un.l Erde. V.XU XV. 4 12
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des Zusammenwirkens wissenschaftlicher Erwägungen und praktischer
Versuche einerseits, einor umsichtigen und das Geheimnis bis zuletzt
aufs erfolgreichste wahrenden Fabrik leitung andererseits, dafs es schon
deswegen äufserst interessant ist, sich hiermit näher bekannt zu
machen.
Schon der alte Berzelius hatte 1845 in seinem Lehrbuch der
Chemie die bereits damals nicht mehr neue Tatsache festgestellt, dafs
es möglich sei, durch Verbrennung entstandene schweflige Säure auf
Kosten des Sauerstoffes der Luft zu Sckwefelsäure zu oxydieren, in-
dem man bei einer etwas erhöhten Temperatur ein Gemenge beider
mit Platinschwamm oder sonst fein verteiltem Platin in BerĂĽhrung
bringe. Es habe sogar schon im Jahre 1831 Peregrine Phillips
ein englisches Patent auf die Darstellung von Schwefelsäure nach
diesem Grundsatze genommen, und ebenso hätten Döbereiner und
Magnus diese Erscheinung bestätigt.
Zahlreiche andere Theoretiker und Techniker versuchten sich
dann noch an der praktischen Ausfuhrung dieser Aufgabe, deren
Lösung so einfach schien, und über die man alles Nötige schon in
den Angaben von Peregrine Phillips enthalten glaubte. Aber so
viele Erfinder auch allen möglichen Scharfsinn hierbei aufwandten,
so ergebnislos blieben doch ihre Versuche. Zwar wurde immer Schwefel-
säure erhalten, aber die Ausbeute des Verfahrens blieb immer nur
äufserst gering; der gröfste Anteil an schwefliger Säure durchstrich
die mit den verschiedensten Kontaktsubstanzen gefĂĽllten Apparate,
ohne tatsächlich irgend welche Veränderung erfahren zu haben. Das
scheinbar so einfache Verfahren arbeitete demnach in der Tat so
teuer, dafs man es nioht einmal zur Herstellung rauchender Schwefel-
säure benutzen konnte, deren äufserst hoher Preis jedes mit nur
einigermafsen annehmbarer Ausbeute arbeitende Verfahren fĂĽr seinen
Erfinder äufserst lohnend gemacht haben würde. Naoh wie vor be-
hielten die St arck sehen Fabriken in Böhmen das Monopol auf die
Herstellung von rauchender Schwefelsäure. Dies wurde hier durch
die Destillation von Eisenvitriol gewonnen, das sich in der Hitze in
Eisonoxyd, schweflige Säure und Schwefelsäureanhydrid zersetzt
Der erste, der nach so zahlreichen erfolglosen Versuohen einen
praktischen Schritt auf dem Wege voran tat, war Clemens Winkler
zu Freiberg in Sachsen. Seine Erfolge sind um so merkwĂĽrdiger,
als er durch eine irrtĂĽmliche Ansicht ĂĽber die Erfordernisse des
SchwefelsäureanhydridverfahrenB zu seinem Vorschlage geführt wurde,
wie es denn ja ĂĽberhaupt nicht selten ist, dafs von irrtĂĽmlichen Vor-
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17'J
aussetzungen aus neue Entdeckungen gemacht und lang erstrebte
Ziele erreicht werden. Clemens Winkler kam nämlioh durch seine
Untersuchungen über die Bildung von Schwefelsäure aus schwefliger
Säure und Sauerstoff zu der Annahme, dafs nur ein genau abge-
messenes Gemisch von gerade zwei Raumteilen schwefliger Säure
und gerade einem Raumteil Sauerstoff die Eigenschaft besitze, mit
annähernder Vollständigkeit sich in Schwefelsäureanhydrid überführen
zu lassen. Alle anderen Gase dagegen, insbesondere ĂĽberschĂĽssiger
Sauerstoff selbst, seien geeignet, auf den Verlauf der Umsetzung einen
schädlichen Einflufs auszuüben. Die erste Aufgabe für Clemens
Winkler war demnach, ein Gemisch von einem Raumteil schweflig-
saurem Gas und einem Raumteil Sauerstoff herzustellen, und er erhielt
dieses in der Weise, dafs er gewöhnliche Schwefelsäure durch Ein-
tropfenlassen in glühende Gefäfse zerlegte. Sie zerfällt hierbei in
zwei Raumteile schweflige Säure, einen Raumteil Sauerstoff und zwei
Raumteile Wasserdampf. Der Wasserdampf wurde dann aus dem
Gemische durch Kondensation entfernt, so dafs die anderen beiden
Gase allein zurĂĽckblieben. Indem er diese nunmehr ĂĽber eine fein
verteiltes Platin enthaltende Kontaktsubstanz fĂĽhrte, so gelang es ihm
auf diese Weise Schwefelsäureanhydrid in industriellem Mafsstabe
herzustellen. Verschiedene deutsohe Fabriken führten die Ratschläge
von Winkler in die Praxis ein und überflügelten bald die böhmischen
Fabriken in der Herstellung von Schwefelsäureanhydrid.
Auch noch verschiedene andere Erfinder schlössen sich an
Winklers Veröffentlichungen an und gaben gleichfalls mehr oder
weniger brauchbare Vorschriften, unter denen die am meisten be-
achtete, aber ebenfalls auf irrtĂĽmlichen Voraussetzungen beruhende
Angabe die war, dato man die Vereinigung der beiden Gase durch
Druck wirksam unterstützen könne. Immerhin aber blieb nooh viel
zu tun ĂĽbrig, zumal wenn man bedachte, dafs die Ausbeute zwar
bei dem hohen Preise des Schwefelsäureanhydrids zunächst noch
finanziell befriedigend war, aber dennoch noch lange nicht das theo-
retisch Erreichbare darstellte. Denn es wurde auch so nur ein Teil
des Gasgemisches aus schwefliger Säure und Sauerstoff in Schwefel-
säureanhvdrid übergeführt, während ein beträchtlicher Prozentsatz die
Kondensationsapparate unzersetzt durchstrich und in dahinter geschal-
teten Bleikammern in gewöhnlicher Weise auf Schwefelsäure ver-
arbeitet werden mufste. Namentlich war aber die Grundlage des
ganzen Verfahrens insofern theoretisch wie praktisch nicht einwand-
frei, als man zur Herstellung des Sohwefelsäureanhydrids von der
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Schwefelsäure als solober ausgehen mutete. Es setzte also das
Schwefelsäureanhydridverfahren nach Clemens Winkler die vor-
herige Herstellung von Schwefelsäure voraus, während es dooh wün-
schenswert gewesen wäre, sich von dieser ganz unabhängig zu machen
und demgemäfs den ursprünglichen Gedanken von Peregrine
Phillips rein durchzuführen. Besonders störend war aber die Not-
wendigkeit der vorhergehenden Herstellung von Schwefelsäure unter
dem Gesichtspunkt, dafs man erst Schwefelsäure herstellte, diese dann
zersetzte, einen Teil der zersetzten Gase als Anhydrid kondensierte,
den Rest aber wiederum in Schwefelsäure zurückverwandelte, so dar»
ein grorser Teil der Schwefelsäure einen nutzlosen Kreislauf durch-
zumachen gezwungen war.
Man gelangte unter diesen Umständen allmählich immer mehr zu
der Ăśberzeugung, dafs auch das Verfahren nach Wink ler sich in
der Praxis nicht behaupten könne, und zwar um so mehr, als bei
stetig sinkenden Preisen dieses Erzeugnisses nach und nach die Her-
stellung von Schwefelsäureanhydrid in einer Reihe von Fabriken
wieder eingestellt werden mufste, die sie mit Hilfe dieses Verfahrens
betrieben hatten.
Nur eine Fabrik, nämlich die Badische Anilin- und Sodafabrik
in Ludwigshafen, konnte ihre Erzeugung an Schwefelsäureanhydrid
stetig vergrößern, ohne dafs jedoch irgend etwas darüber in die
Öffentlichkeit gedrungen wäre, nach welchem Verfahren von ihr
gearbeitet wurde. Endlich, im Jahre 1898, begann sich das Ge-
heimnis zu lĂĽften, indem die genannte Firma- ein Verfahren
zur Herstellung von Schwefeisäureanhydrid zum Patent anmeldete.
Die Überraschung war um so größer, als man bei dieser Gelegenheit
erfuhr, dafs man sohon seit zehn Jahren in Ludwigshafen naoh diesem
Verfahren mit gröfstem Erfolg arbeitete, und dafs man sogar so sehr
seinen Vorteil dabei finde, dafs man auch die gewöhnliche Schwefel-
säure aus Anhydrid darstelle, indem man dies einfach mit Wasser
auf den gewĂĽnschten Grad verdĂĽnne. Nun wurde es auch klar,
warum man in Ludwigshafen die Bleikammern zur Herstellung von
Schwefelsäure nach und nach abgebrochen hatte, ohne Ersatz dafür
in neuen Bleikammersystemen zu schaffen: das Bleikammerverfahren
war eben durch das Anhydrid verfahren verdrängt worden. Wunder-
bar war hierbei auch noch ganz besonders der Umstand, dafs die
Badische Anilin- und Sodafabrik eine derartige tief greifende Um-
wälzung ihres Fabrikbetriebes hatte vornehmen können, ohne dafs
darĂĽber etwas in die Ă–ffentlichkeit gedrungen war. Erst nach zehn.
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Jahren hielt es die Firma fĂĽr an der Zeit, die Patente anzumelden,
um nicht etwa durch Verrat ihres Geheimnisses um die Patentfähig-
keit ihrer Erfindung gebracht werden zu können, die den rechtlichen
Verhältnissen des Patentwesens zufolge nur vorhanden sein konnte,
so lange das betreffende Verfahren nooh nioht im Druoke beschrieben
oder offenkundig benutzt war.
Der Erfinder des neuen Verfahrens, dem die genannte Fabrik
im besonderen, sowie die chemische Wissenschaft und Technik im
allgemeinen schon manohen bedeutenden Fortschritt verdanken, ist
ein bei jener Fabrik angestellter Chemiker, Dr. R. Knietsch. Indem
dieser der Lösung der Aufgabe näher trat, aus Röstgasen der Schwefel-
kiesöfen und Luft bei Gegenwart von Kontaktsubstanzen ohne weiteres
Sohwefelsäureanhydrid zu erzeugen, so fragte er sioh natürlich zu-
nächst, ob die Behauptung von Winkler auch auf Tatsachen beruhe,
wonach die Umsetzung zwischen schwefliger Säure und Sauerstoff
nur unter AusschluĂź fremder Gase sowohl, wie auch eines Ăśber-
schusses einer der beiden sich verbindenden Stoffe vollständig ver-
laufen könne. Die angestellten Versuohe erwiesen bald, dafs jene
Annahme nur ein blofser Irrtum sei. Es wurden Versuche mit sorg-
fältig gereinigten Röstgasen angestellt, die im übrigen genau die Zu-
sammensetzung hatten, in der sie aus den Kiesöfen entwichen, die
demnach Sauerstoff im Ăśberschurs, und der Zusammensetzung der
atmosphärischen Luft entsprechende bedeutende Mengen an Stickstoff
enthielten. Die Umsetzung ging glatt vor sich, so lange man mit
sorgfältig gereinigten Gasen arbeitete; nahm man aber die Gase so
wie sie waren, so zeigte sioh, dafs die Kontaktwirkung bald nachliefs.
Ais Grund dieser Erscheinung fand man, dafs manche Beimengungen
der Röstgase die kataly tische Wirkung des Platins in außerordentlich
hohem Mafse zu beeinträchtigen im stände seien, und dafs namentlich
Arsen und Quecksilber hier ausserordentlich schädlich wirkten,
während Antimon, Wismut, Blei, Eisen, Zink und sonstige Stoffe nur
eine sozusagen mechanische Wirkung ausĂĽbten, indem sie sich mit
der Zeit in den Poren der Kontaktmasse festsetzten und diese ver-
stopften.
War die Reinigung der Röstgase von der letzteren Klasse von
Stoffen verbältnismäfsig leicht, so war es um so schwieriger, die in
gasförmigem Zustande in den Röstgasen enthaltenen Verbindungen
des Arsens und Quecksilbers aus ihnen niederzuschlagen. Es war
zu diesem Zwecke nötig, die Gase langsam abzukühlen und einer
systematisch fortgesetzten innigen BerĂĽhrung mit Wasser oder Sohwefel-
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siure zu unterwerfen. Diese war so lange fortzufĂĽhren, bis ihre
optische und chemische Untersuchung die vollkommene Abwesenheit
aller schädlichen Beimischungen ergab. Namentlich war merkwürdiger-
weise die Tatsache wichtig, dafs die AbkĂĽhlung der Gase nur langsam
erfolgen durfte, da bei rascher Abkühlung sich äufserst schwer nieder-
zuschlagende Nebel von Schwefe Isicreanhvdrid in ihnen sehwebend
erhielten, die Träger eines schädlichen Arsengebaltes waren. Auch
ist es wichtig, die abzukĂĽhlenden Gase von der BerĂĽhrung mit Elisen
auszuschliefsen. Zwar waren diese Gase und die in ihr enthaltene
Schwefelsäure nach den bisherigen Anschauungen der Wissenschaft
und Praxis unter den vorliegenden Umständen durchaus ohne Ein flu fs
auf dieses, jedoch zeigte es sich, dafs bei der BerĂĽhrung dieser beiden
Stoffe unter dem Einflüsse des Arsengehaltes der Röstgase ein durch
Kondensation nicht zu beseitigender Betrag an Arsen Wasserstoff ent-
wickelt wurde.
Auch die vollkommene Mischung der aus den Röstofen entweichen-
den Gase untereinander stellte sich als notwendig heraus, um nämlich
eine vollkommene Verbrennung des immer in gewissem Betrage in
ihnen enthaltenen freien Schwefels herbeizufĂĽhren. Auch dieser war
aus dem Grunde sehr schädlich, weil er gewisse Anteile an Arsen
enthielt, und weil gerade dieser Stoff als das allergrĂĽfste Hindernis
des Kontaktprozesses sich herausgestellt hatte.
Wie ferner die hiemach notwendig gewordene Mischung der
Gase vorzunehmen war, war wiederum ĂĽberraschend; dies geschieht
nämlich am besten durch Einblasen von Wasserdampf, um die in den
Rösl gasen vorhandene gasförmige Schwefelsäure zu verdünnen und
hierdurch niederzuschlagen, so dafs sie samt dem in ihr enthaltenen
Arsen, und zwar ohne Bildung von Arsen Wasserstoff, beseitigt wurde.
War somit der eine Grund fĂĽr die bisherigen Mifserfolge des
Schwefelsäureanhydridverfahrens erkannt und durch jahrelang an-
dauernde Arbeit beseitigt worden, so waren damit die zu ĂĽberwinden-
den Schwierigkeiten nur zur Hälfte aus dem Wege geräumt Es
zeigte sich nämlich, dafs auch die Temperatur äufserst wichtig war,
bei der man die Gasmischung mit dem Kontaktapparat in BerĂĽhrung
brachte. Man hatte früher diesem Umstände nur insofern Beachtung
geschenkt, als man dafĂĽr Sorge getragen hatte, die Reaktionsapparate
auf eine gewisse Temperatur zu erhitzen, um so die Umsetzung zu
ermöglichen. Man war aber nicht auf den Gedanken gekommen, dafs
andererseits auch eine obere Grenze bestehe, oberhalb deren sich (Jas
gebildete Schwefelsäureanhydrid wieder in seine Bestandteile zersetzte.
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Kurz gesagt, man hatte nicht beachtet, dafs es sich hier um einen
umkehrbaren Vorgang handelte, der nur innerhalb gewisser verhältnis-
mäfsig enger Teraperaturgrenzen in dem gewünschten Sinne verlief,
während unterhalb dieser Temperatur eine Einwirkung der Gase auf-
einander nicht eintrat, oberhalb ihrer dagegen eine RĂĽckzersetzung
des gebildeton Erzeugnisses vor sich ging. Es stellte sich heraus,
dafs die günstige Temperatur etwa zwischen 260 bis 520° C. lag.
Diese einzuhalten war um so schwieriger, weil bei der Vereinigung
von schwefliger Säure und Sauerstoff eine ganz bedeutende Menge
von Wärme frei wurde, und weil diese Wärme ohne weitere Vorsiohts-
mafsregeln so stark auf das gebildete Erzeugnis einwirkte, dafs eine
RĂĽckzersetzung des bereits entstandenen Anhydrids in ziemlich be-
deutendem Umfange eintrat.
Es wurde demzufolge die Einrichtung der Kontaktapparate in
der Art getroffen, dafs in ihrem Inneren senkrechte, mit zahlreichen
Siebeinsätzen angefüllte Rohre angeordnet wurden. Diese Siebeinsätze
trugen jeder eine gewisse Menge Kontaktsubstanz, so dafs hierdurch
eine innige Berührung der Gase mit dieser gewährleistet und anderer-
seits ein Zusammensetzen der Kontaktsubstanz vermieden wurde, da
sie selber nioht ihre eigene Last zu tragen hatte. Aufsen um die
Rohre wurde dann ein Mantel angeordnet, der zur ZufĂĽhrung der zu
reinigenden Gase diente. Diese kalten Gase wurden so durch die
BerĂĽhrung mit den heifsen Innenrohren auf die Reaktionstemperatur
angewärmt und entzogen hierduroh wiederum dem Innenraum die
überschüssige Wärme, so dafs es bei sorgfältiger Betriebsführung
nicht schwer war, stets innerhalb der fĂĽr einen gĂĽnstigen Verlauf des
Prozesses mafsgebenden Temperaturgrenze zu bleiben. Eine zweck -
mäfsig angeordnete Heizung mufste gleichfalls vorbanden sein, um
bei Inbetriebsetzung des Apparates die nötige Wärme zu erzielen, die
fĂĽr den Beginn der Umsetzung erforderlich war.
War somit die Herstellung des Sohwefelsäureanhydrids durch
alle Schwierigkeiten hindurch zu vollkommener technischer Brauch-
barkeit gefĂĽhrt worden, so bot sich sogleich die weitere Aufgabe, das
fertige Anhydrid behufs Herstellung rauchender und gewöhnlicher
Schwefelsäure zweckentsprechend zu kondensieren. Auch dies war
nioht so einfach, wie es wohl auf den ersten Blick den Ansohein
hatte; auch hier waren sorgfältig die in der Natur der Schwefelsäure
liegenden Bedingungen einzuhalten. Zunächst hatte sioh nämlich ge-
zeigt, dafs es keineswegs gleichgiltig war, worin man das Schwefel-
säureanhydrid sich absorbieren liefs, dafs vielmehr allein Schwefel-
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säure von 93 pCt. Gebalt an gewöhnlichem Schwefelsäurehydrat sich
hierzu eigne. Verwendet man schwächere Säure, so entstehen beim
Vermischen Hydratdämpfe, die sich nur sehr schwer kondensieren;
verwendet man stärkere Säure, so entweichen Anbydriddämpfe, die
ebenfalls nur schwierig niederzuschlagen sind. Man mufs deshalb
dus Schwefelsäureanbydrid in Schwefelsäure von genau 98 pCt ein-
leiten, die zugleich durch fortwährenden Zusatz verdünnterer Säure
immer auf dieser Stärke gehalten wird.
Will man andererseits rauohende Schwefelsäure darstellen, die
namentlich auch eisenfrei sein soll, so mufs man da« Anhydrid von
rauchender Schwefelsäure von solcher Stärke absorbieren lassen, dafs
sie stetig auf mindestens 27 pCt. Gehalt an freiem Schwefelsäure-
anhydrid erhalten bleibt. Es hat sich gezeigt, dafs nur rauchende
Säure von mindestens dieser Stärke eiserne Gefäfse verhältnismäfsig
wenig anzugreifen befähigt ist. Die weitere Verdünnung mufs dann
in nicht aus Eisen bestehenden Gefäfsen vorgenommen werden.
Wir haben somit in kurzen ZĂĽgen den Sland der chemischen
Grofsindustrie beim Aufkommen des Schwefelsäureanhydrid Verfahrens
sowie dieses selbst so geschildert, wie es sich nach den glänzenden
Entdeckungen von Knietsch darstellt Es konnte uicht ausbleiben,
dafs die Erfolge dieses grofsen Technikers auoh andere Erfinder zur
Nacheiferung anregten, um auch ihrerseits das Schwefelsäureanhydrid-
verfahren in technisch brauchbarer Weise ausführen zu können. Das
ist denn auch in größtem Marsstabe geschehen, und aufser den Pa-
tenten der Badischen Anilin- und Sodafabrik ist noch eine ganze
Reihe von Patenten anderer Firmen und Erfinder auf die Herstellung
von Schwefelsäureanbydrid genommen und mit mehr oder weniger
Erfolg in die Praxis eingefĂĽhrt worden. Es wĂĽrde den Raum des
vorliegenden Aufsatzes ĂĽberschreiten, wenn wir nun noch einen Streif-
zug durch das ganze gegenwärtig so ausgedehnte Gebiet der Sohwefel-
säureanhydriddarstellung unternehmen wollten; wir hoffen indessen,
gelegentlich wieder einmal auf diesen Gegenstand zurĂĽokzukommen.
Denn gerade die Entwickelung des Schwefelsäureanhydrid Verfahrens
ist eines der glänzendsten Beispiele fruchtbringender Vereinigung von
Wissenschaft und Teohnik.
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Die Lehre von den Gasionen ist in den letzten Jahren eifrig-
ausgebildet und mit Erfolg auf einige, der Erklärung bisher schwer
zugängliche, Gebiete angewendet worden. Als auf der Hamburger
Xaturforscherversammlung des vorigen Jahres Prof. H. Geitel ĂĽber
die Bedeutung der Gasionentheorie im Hinblick auf die verwickelten
Erscheinungen der atmosphärischen Elektrizität sprach, erweckten
seine ungemein klaren, kritisch sichtenden und bedeutenden Aus-
fĂĽhrungen das ungeteilte Interesse der anwesenden Fachwissenschaftler.
Jetzt liegt der Vortrag in erweiterter Form und versehen mit einem
wertvollen Literaturnachweis der gebildeten Leserwelt vor (Verlag
von Fried r. Vieweg & Sohn, Braunschweig). Von ihm gilt in noch
erhöhtem Mafse, was schon von den persönlichen Mitteilungen Geitels
zu sagen war: Beste Sichtung des Materials und verständliche Dar-
stellung, die gerade den verwickelten, sich scheinbar oft widersprechen-
den Beobachtungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Elektrizitäts-
erscheinungen so not tut. Seit Franklins Drachen versuchen hat es
nicht an Arbeiten über die Luftelektrizität gefehlt, auch nicht an
Theorien, ohne dafs darum gerade viel an positiver Kenntnis ge-
wonnen wäre. Zwar weifs man heute recht genau, dafs die Atmo-
sphäre einen von der Erdoberfläche stets verschiedenen elektrischen
Zustand aufweist, über die Kräfte aber, welche die Elektrizitätsmengen
voneinander scheiden und die Potentialdifferenz dauernd aufrecht
erhalten, ist man sich durchaus im unklaren. Die ultraviolette Sonnen-
strahlung, das magnetische Feld der Erde, selbst die in höchsten
Höhen angeblich vorhandenen Kathodenstrahlen haben zu einer Er-
klärung herhalten müssen. Meist mit geringem Erfolg. Das Problem
wird besonders verwickelt durch die Tatsache, dafs die Luft bis zu
einem gewissem Grade leitfähig ist und daher einen Ausgleich der
ungleichnamigen Elektrizitätsmassen zwischen Luft und Erde ständig
erlaubt. Es mufs mithin diesem Ausgleich ein äquivalentes Mafs von
trennendem Energieaufwand gegenĂĽberstehen, wenn anders nicht die
Zustandsdifferenz mit der Zeit schwinden soll, was durchaus nicht an-
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188
ultraviolette Strahlung, als in der Sonnenstrahlung enthalten, zu Hilfe
rufen. Eingehende Untersuchungen, besonders in Kellerräumen, in
denen die Luft stagniert und in hohem Mafse leitfähig- ist, haben die
Fähigkeit derselben, selbst freie Ionen zu bilden, unzweifelhaft er*
wiesen. Dafs die Luft diese Fähigkeit durch Beimischungen an radio-
aktiven Substanzen erlangt, ist immerhin wahrscheinlich, fraglich aber,
ob die von der Luft selbst gebildeten freien Ionen hinreichen, um alle
Erscheinungen der elektrischen Leitung in den unteren Schichten der
Atmosphäre zu erklären.
Wir können allen unseren Lesern, die sich für die Erscheinungen
der atmosphärischen Elektrizität interessieren, nur empfehlen, die
Geitel sehe BroschĂĽre zu lesen. Der Verfasser wendet sich durchaus
an die weiteren Kreise der Gebildeten und ist wie kaum ein zweiter
dazu berufen, seinen Stoff zu ordnen und vorzutragen. Dr. B. D.
Eröffnung neuer Platingruben.,
Das Platin ist leider einer der wenigen Stoffe, bei denen die Er-
zeugung mit der Nachfrage nicht gleichen Schritt hält. Während die
vorher fast ganz unbekannten, seltenen Erden plötzlich in grofser
Menge haben geliefert werden können, nachdem die Fabrikation der
GlĂĽhstrĂĽmpfe eine Verwendung fĂĽr sie gezeigt hatte, sind die Aus-
beuten an Platin, das in so grofsen Mengen in der ganzen ohemischen
Industrie gebraucht werden könnte, nur äufserst gering, und der Preis
dieses Metalles kommt daher fast schon dem des Goldes nahe. Da
interessiert es, zu hören, dafs gegenwärtig in den kanadisch - engli-
schen Besitzungen, und zwar im Staate Britisch Kolumbia, ungefähr
230 km östlich von Vancouver, sowie auch in dem benachbarten Ge-
biete Washington der Vereinigten Staaten, Platinbergwerke in Angriff
genommen werden sollen. Das Vorkommen von Platin dort ist aller-
dings schon seit 16 Jahren bekannt; jedoch hatte man ihm nie be-
sondere Bedeutung beigelegt.
Auch noch ein anderes Platin vorkommen in Britisch- Kolumbia,
bei Princpton, ist kĂĽrzlich entdeckt worden und soll ziemlich er-
giebig sein.
Obschon ferner auch in Neu -Süd -Wales sich Platin verhältnis-
märsig reichlich findet, so sind die bis jetzt hier gemachten Ausbeuten
nur beschränkt. Im Jahre 1900 wurden nur 16500 g im Werte von
20600 Mark gefördert, während die ganze Ausbeute von 1894 an
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18'J
258 kg im Werte von 254000 Mark betrug. Die Hauptschwierigkeit
ist hier die in den metallfĂĽhrenden Gebieten herrschende Trockenheit.
Das Platin findet sich in Legierung mit Eisen, Iridium, Osmium und
nooh verschiedenen anderen seltenen Metallen. Es kommt gewöhnlich
in Körnern oder Schuppen vor, zum Teil auch in massiven Stücken,
jedoch nur selten krystallisiert. Auch hat man es in Verbindung mit
Arsen in dem Metalle Sperrylit gefunden, das in kleinen WĂĽrfelchen
oder in Kombinationen von WĂĽrfeln mit Oktaedern auftritt, eine zinn-
ähnliche Farbe und einen schwarzen Strich besitzt
Die Fundstätte des Neu -Süd -Waleser Platins ist hauptsächlich
der Bezirk Fifield, ungefähr 420 km westlich von Sydney. Das Vor-
kommen besteht aus einem Strich sandiger Ablagerungen, in denen
es sich mit Oold zusammen auf einer Strecke von etwa 2 km findet.
Die Breite des Vorkommens beträgt nur ungefähr 18 bis 45 m, seine
Tiefenlage 18 bis 21 m. Platin und Oold findet sich in Körnern in
den Höhlungen des anstehenden Felsens und in dem sie unmittelbar
begrenzenden Schutt in einer nur ganz flachen Schicht. Dieser Schult
enthält 8 bis 20 g Platin und 1 V2 bis 5 g Gold in der Tonne. Die durch-
schnittliche Ausbeute betrug bei 269 Proben, die einer Reihe von
Gruben in Feldern längs dieses Striches entnommen waren, 11» g
Platin und 2 g Gold in der Tonne.
Natürliche und künstliche Mineralwässer. In einer kürzlich
veröffentlichten Untersuchung über die physikalischen und chemischen
Eigenschaften der Mineralwässer kommt H. Köppe auf Grund sehr
verwickelter theoretischer Betrachtungen zu dem Ergebnisse, dafs
kĂĽnstlich hergestelltes Mineralwasser, von genau der gleiohen ohemi-
schen Zusammensetzung wie das entsprechende natĂĽrliche Mineral-
wasser, doch nicht in allen Stücken dessen sämtliche physikalische
Eigenschaften besitze. Zur Erklärung dieser Tatsache Stellt er die
Vermutung auf, dafs im natĂĽrlichen Mineralwasser noch Stoffe vor-
handen seien, die durch die chemische, in der ĂĽblichen Weise aus-
geführte Untersuchung nicht bestimmt werden könnten. Er knüpft
hieran die Bemerkung, dafs dieses Ergebnis geeignet erscheine, den
Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Mineralwässern in
ein helles Licht zu setzen. Klarer als durch seine Untersuchungen
könne wohl kaum nachgewiesen werden, dafs selbst genau nach dem
chemischen Befunde angefertigte und diesem vollkommen entsprechende
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iyu
künstliche Mineralwässer doch mit den natürlichen nicht ganz genau
übereinstimmend sein können. Damit sei aber auch die Möglichkeit
nioht ausgeschlossen, dafs gerade diese unbekannten Stoffe oder die
jetzt als wirksam nachgewiesenen durch die Anwesenheit dieser un-
bekannten, erst die heilkräftige Wirksamkeit der natürlichen Quell-
wässer bedingten. — Es sei hierzu bemerkt, dafs inzwischen allerdings
die Stichhaltigkeit dieser Behauptungen Kopp es von anderer Seite
stark in Zweifel gezogen worden ist.
Die Lotung von Eisen mit Eisen. Den Lesern dieser Zeitschrift
dĂĽrfte die Herstellung und Sohweifsung von Metallen nach dem Ver-
fahren von Goldschmidt mittelst Aluminiums wohl durchgängig be-
kannt sein. KĂĽrzlich hat der Erfinder in einem in DĂĽsseldorf ge-
haltenen Vortrage hierĂĽber weitere Mitteilungen gemacht. Hiernach
beruhen die neuen Anwendungsformen seines Verfahrens hauptsächlich
auf seiner Verwendung zu Lötzwecken. Infolge der hohen Hitze, die
das mittelst Aluminiums unmittelbar aus dem Oxyd erschmolzene Eisen
besitzt, hat es die Fähigkeit erlangt, bei dem Aufgiefsen auf ein
Werkstück dessen Oberfläche sofort aufzuweichen, also mit ihm aufs
Innigste zu verschmelzen. Man kann unter diesen Umständen mit
Leichtigkeit Eisen auf Eisen und mit Eisen verlöten, ebenso wie man
Blei auf Blei mit Blei verlötet.
Auf diese Weise sei es möglich, nicht nur Schienen miteinander
auf zuverlässige Weise zu verbinden, sondern auch jede andere Art
von Trägern, Stab- oder Winkeleisen, Blechen, überhaupt jede Art
von Schmiede- oder Walzeisen. Eine solche Verschmolzung sei sogar
billiger herzustellen, als eine Verlaschung oder Vernietung und soll
in manchen Fällen schon aus diesem Grunde der bisherigen Arbeits-
weise durohaus vorzuziehen sein.
t
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Neuere Fortschritte auf dem Gebiete der Elektrizität- In gemeinver-
ständlicher Weise dargestellt von Prof. Dr. F. Richarz. (2. wenig
veränd. Auflage.) 1902. Teubner.
In der Form von 5 Vorträgen (127 Seiten) macht der Verfasser den Leser
in einfacher Weise ohne die Voraussetzung von wesentlichen Vorkenntnissen
mit den epochemachenden neueren Errungenschaften auf dem Gebiete der
Elektrizität bekannt. Dor 1. Vortrag behandelt die magnetisch' n und elek-
trischen Marseinheiten, der 2. die He rtzschen Schwingungen auf Drähten, der
3. die Hertzschon Wellen in freier Luft und Tolegraphie ohno Draht, der 4.
die Kraftlinientheorie von Faraday und die sich daraus entwickelnden An-
schauungen über das Wesen der Elektrizität und des Magnetismus, der 5. das
Gebiet der Kathoden und Röntgenstrahlen. Der aufserordenüich eleganten
und streng wissenschaftlichen Art wegen, mit der der Verfasser es versteht,
schwierigere theoretische Fragen, wie z. B. den Unterschied zwischen den
Mafssystcmen, die verschiedenen Theorien ĂĽber die Art der Ă„therbewegungen
bei den Lichtschwingungen u. a. mehr, gemeinverständlich zu erörtern, eignet
sich das Werkchen fĂĽr jeden, der sich ohne zu grofse Anstrengung einen
grĂĽndlichen Einblick in die genannten Gebiete verschaffen will. Bei einer
Neuauflage wäre es vielleicht nicht unvorteilhaft, das letzte Kapitel durch
einen Absatz über Becquerelstrahlen und Radioaktivität zu bereichern, mit Rück-
sicht auf die bedeutenden Nachforschungen, die gerade in allerneuester Zeit
auf diesem Gebiet gemacht worden sind. M. v. P.
*
Durch den Indischen Archipel. Eine KĂĽnstlerfahrt von Hugo V. Pe-
dersen. Mit 8 farbigen Einschaltbildern und zahlreichen schwarzen
Abbildungen nach Original-Zeichnungen des Verfassers. In Original-
Prachteinband M. 25. — (Stuttgart, Deutsche Verlags- Anstalt.)
Trotz der zahlreichen Schilderungen, die uns die letzten Jahre von den
Natur- und Kunstwundern der Inseln des Indischen Archipels gebracht haben,
sind alle Schätze, die diese märchenhafte, phantastische Welt in sich birgt,
noch keineswegs gehoben, ihre Geheimnisse noch nicht enthĂĽllt worden. Die
Entdeckerarbeit war bisher fast ausschliefslich von der wissenschaftlichen For-
schung geleistet worden. Aber gerade gegen die mit gelehrtem RĂĽstzeug be-
waffneten Forscher pflegen sich die Eingeborenen mifstrauisch zu verschliefscn,
und oft mutete selbst der glĂĽhendste Forschoreifer vor mancher Schwelle des
Geheimnisses Halt machen. Was den Gelehrten nicht gelungen ist, ist kĂĽrzlich
einem jungen KĂĽnstler, der mit nicht geringerer Wifsbegier in jene Zauberwelt
drang, besser geglückt. Durch eine Reihe von günstigen Zufällen unterstützt,
durch gewichtige Empfehlungen eiollutereicher Gönner gefördert, hat der junge
dänische Maler Hugo V. Pedersen während seines mehrjährigen Aufenthalls
in Sumatra und Java — dank seiner Kunst — das Glück gehabt, einen tiefen
192
Einblick in die Pracht der javanischen Förstenhöfe tun zu dürfen, deren
Inneres vor ihm noch keines Europäers Auge geschaut hat. Mit der begei-
sterten Freude des Entdeckers schildert er uns die von ihm zuerst gesehenen
Herrlichkeiten, und wo seine Beredsamkeit vertagt, greift sein Zeichenstift, der
rasch und sicher da« Charakteristische zu erfassen wu&:e. helfend ein. Von
dem sonst fast unnahbaren, mit Diamanten ĂĽberladenen Kaiser von Surakarta,
dessen Bildnis Pedersen für die Königin von Holland gemalt hat, bis zu dem
niedrigsten Wagenzieher und Kuli von Singapore labt der KĂĽnstler das Ge-
wimmel von Völkertvpen, das in keinem Teile Asiens so bunt und mannig-
faltig anzutreffen ist wie im Indischen Archipel, in Wort und Bild an unseren
Augen vorĂĽbeniehen. Eine Reihe besonders malerischer Erscheinungen ist
nach den Aquarellen des KĂĽnstlers in Facsimile-Farbendruck wiedergegeben
worden. Nicht minder lebhaft ist das Interesse des KĂĽnstlers an der Pracht
der tropischen Natur und an den herrlichen Bauwerken gewesen, die aus dnnkier,
noch unerforschter Vorzeit, in ihren Trümmern noch überwältigend, in die
Gegenwart hineinragen. Von der scbreckenerregenden Majestät der Vulkane
Javas und von den Wunderbauten des .Landes der tausend Tempel- erhält der
Leser durch Pedersens Zeichnungen zum erstenmale eine richtige Anschau-
ung. Frei von schwerfälliger Gelehrsamkeit, weifg der fröhlich plaudernde
Künstler «eine Leser zugleich aufs angenehmste zu unterhalten. So darf das
Werk, auf dessen kĂĽnstlerische Ausstattung in Druck, Papier und Einband die
gröfste Sorgfalt terwendet worden ist, auf vielseitige Teilnahme rechnen. Denn
das Interesse an der Völkerkunde an exotischen Stoffen überhaupt, ist in die
weitesten Kreise des gebildeten Publikums gedrungen.
V«ri»f: Rtnuu PMttl ia B*rüa. — linck: Wilhelm Groaaa't Bnchdraekerei In B«rlia-ScUn<>b*r<.
Ffir di« fi«d*ction »traatwortli h : Dr. P. Sckwahn ia Berlin,
rabweotatift« Ktchdreek »o» dem Inhalt di«Mr Zeitschrift nnt*r.»«t
CVmrtaasfWtcBt Torkebilten.
Algier: Kampes du Boulevard.
(Zu Seite 195.)
Nomadenzelt.
(Zu Seite 194.)
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194
langen Strafte wird von einer Terrasse gebildet, von der aus man
einen präohtigen Bliok auf das blaue Meer, die dasselbe umsäumen-
den, im üppigsten Grün prangenden Hügel und die das sohöne Bild
einrahmenden Atlasberge genietet Die andere Seite des Boulevard,
an der sich eine Dattelpalmenallee hinzieht, ist von Häusern begrenzt,
unter denen Arkaden hinlaufen. Gerade da, wo die Freitreppe empor-
steigt, ist auf der gegenĂĽberliegenden Seite der Strafse die Reihe der
Gebäude unterbrochen. Es dehnt sich hier ein öffentlicher Garten
aus, in welchem Palmen, Ficusbäume, Bambusgebüsche wachsen.
Wir durchschreiten die Anlage und befinden uns auf der Place de
la Republique, mitten im französischen Viertel Algiers, mit seinem
schönen Theater, eleganten Kaffees, hübschen Läden und sauber ge-
haltenen Strafsenzügen. Algier, die Hauptstadt Algeriens, zählt etwa
100000 Einwohner. Das Bild des Strafsenlebens der Stadt wird be-
sonders interessant und anziehend durch das Vorhandensein des
arabischen und maurischen Elementes der Bevölkerung. Immer wieder
aufs neue ist unsere Aufmerksamkeit dem Leben und Treiben der
Orientalen zugewandt, das sich uns hior zum erstenmal in all seiner
Buntfarbigkeit darbietet.
Die Araber gehören bekanntlich dem semitischen Stamme der
kaukasischen Rasse an. Viele derselben sind auch heute noch No-
maden und ziehen mit ihren Dromedaren, Pferden und Schafen im
Lande umher. Wenn es ihnen an einem Orte gefällt, schlagen sie
ihre grofsen, mit Kamelhaut bedeckten Zelte auf, die man oft zu sehen
Gelegenheit hat. Manche Araber haben ĂĽbrigens jetzt feste Wohn-
sitze. Die HĂĽtten, welche sie auf dem Lande erbauen, und die man
Gurbis nennt, haben von aufsen oft das Aussehen grofser Reisig-
haufen. Andere HĂĽtten sind aus an der Luft getrockneten Lehm-
ziegeln erbaut; sie tragen ein schräges Dach, hergestellt aus Sparren
und darauf gelegten BĂĽndeln eines Grases, das man in Algerien
„Diese" heifst. Eine niedrige Öffnung in einer der Lehmwände ge-
stattet den Eintritt in das Innere der HĂĽtte. Der Rauch des Feuers
kann nur durch diese Ă–ffnung entweichen, da Schornstein sowie
Fenster fehlen. Zur Lagerstätte dient ein etwas erhöht über dem
Boden angebrachtes, mit einer Matte belegtes Brett, Auf die Woh-
nungen der Araber in den Städten kommen wir noch zurück.
Über die Frage nach dem Ursprung der in den Städten als
Handwerker oder Kaufleute lebenden Mauren haben viele Meinungs-
verschiedenheiten geherrscht. Kobelts Ansicht dĂĽrfte aber wohl die
richtige sein, nach welcher die Mauren Mischlinge sind, hervor-
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gegangen aus der Verschmelzung von Elementen aller jener Völker,
die im Laufe der Jahrhunderte Nordafrika ĂĽberfluteten, also der ber-
berischen Urbevölkerung, Römer, Vandalen, Araber (seit über
1000 Jahre im Lande), der TĂĽrken und Franzosen.
Die Araber und Mauren, wenigstens die Männer, sind von
schlankem, hohem Wuchs. Ihre Kleidung ist in der Tat eine ĂĽber-
aus malerische. Sie tragen weite Beinkleider; den Oberkörper bedeckt
eine Jacke, über welcher wohlhabendere Männer ein langes, hemd-
artiges, aus weifser Seide gefertigtes Gewand anlegen. Vor allen
Dingen aber verleiht der Burnus, ein weiter, ärmelloser, vielfach
weifser, wollener Mantel den hohen Gestalten arabischer Abstammung
etwas Stattliches. Die Kopfbedeokung ist der Fez, richtiger Chechia
genannt, oder das mit brauner Kamelhaarschnur umwundene Kopf-
tuch (Turban). Die Frauen der Araber und Mauren, welche von auf-
fallend kleiner Statur sind, sieht man relativ selten auf der Strafse. •
Im Hause kleiden sich viele sehr reich. Wenn sie ausgehen, suchen
ilie meisten ihre Gestalt durch Oborgewänder, zumal aber das Gesicht,
möglichst zu verhüllen. Dazu dienen besonders der Haik, ein lang
nach hinten herabhängendes, über den Kopf gelegtes Tuch, und ferner
ein die untere Partie des Gesichtes verdeckendes anderes Tuch, so
dafs fast nur die Augen frei bleiben.
Im Verkehr mit Europäern zeigen die Araber ein sehr iremessenes
Wesen; bei vornehmeren fällt eine im ganzen Verhalten zur Schau
getragene Resignation auf, wodurch sogar die Spraohe einen eigen-
artig sanften Klang gewinnt. Aber unter der Maske dieser Resigna-
tion glimmt doch wohl der Hafs gegen das Europäertum.
Wenden wir uns, vor dem Theater auf der Place de la Repu-
blique stehend, nach rechts, so gelangen wir duroh eine ziemlich
breite Strafse auf die Place du Gouvernement. Hier befindet sich die
grofse Moschee, ein Kuppelbau mit nicht hohem Turm, dem Minaret,
von dem aus mehrmals am Tage das Gebet ausgerufen wird. Wenn
wir die Moschee betreten wollen, so mĂĽssen wir die FĂĽfse mit bereit-
stehenden Sandalen bekleiden. Das Innere des muhammedanisohen
Gotteshauses ist nicht, wie z. B. bei demjenigen von Konstantine, durch
Säulenreihen in einzelne Schiffe gegliedert, sondern stellt nur einen sehr
grofsen, höchst einfach gehaltenen Raum dar. Den Boden bedeckt
ein prachtvoller Riesentoppich, auf dem die Andächtigen sich nieder-
lassen, um ihr Gebet zu verrichten, wobei sie den Oberkörper häufig
nach vorn und rückwärts bewegen.
Nun betreten wir den arabischen Teil der Stadt Algier. Wir
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befinden uns sofort in einem Labyrinth enger Gassen und Oäfschen.
Vielfach ragen die oberen Stockwerke der Ilauser ĂĽber dos Krd-
geschors hervor, so dafs die auf den beiden Seiten der Strafse ge-
legenen Gebäude einander berühren, und man glaubt, sich unter
einem Torweg zu befinden. Viele Gassen steigen 6teil bergan und
bergab, fast ĂĽberall herrscht grofser Schmutz. Morgens werden Beel
durch die Strafsen getrieben, auf deren RĂĽcken ganz flache, breite
Körbe ruhen, die zur Aufnahme der Abfälle dienen. Wir erblicken
Algier: Innerei der grofsen Moschee
manche bedenklich aussehende, in zerrissenen, schmutzigen Burnus
gehĂĽllte Gestalt; vermummte Frauen huschen an uns vorbei; wir
blicken in arabische Kaffees hinein, in welchen Mauren oder Neger,
die Zigarette im Munde und die gefĂĽllte Kaffeetasse vor sich, auf
Matten am Moden lagern. Aus einem hĂĽhlenartigen, niedrigen Raum
schallt uns Stimmengewirr entgegen. Wir befinden uns am Eingang
zu einer arabischen Schule. In einem engen Gewölbe hocken zahl-
reiche Kinder dicht gedrängt auf dem Hoden bei einander. Sie halten
zerrissene, vergilbte Blätter in der Hand und lesen mit lauter Stimme
vor. Der Lehrer sitzt ganz hinten in der Kcke, um das Treiben seiner
Zöglinge zu überwachen.
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Auffallen' 1 erscheint es, wie einfach und schmucklos selbst die-
Häuser wohlhabenderer Mauren von aufsen aussehen. Fenster fehlen
nach der Strafse zu häufig gänzlich. Wir treten durch ein Tor in
ein Haus ein, ĂĽberschreiten einen Vorraum und steigen eine Stein-
treppe zum ersten Stock empor. Hier befindet sich ein Säulengang,
der in jedem echten arabischen Hause den Hofraum des Gebäudes auf
drei Seiten umgibt, während die vierte Seite durch eine Mauer des
Algier: Arabischer Stadtteil.
Nebenhauses begrenzt wird. Vom Säulengang aus betritt mau die
Gemächer, welche erheblich länger als breit sind. Die Türöffnung
ist häufig nur durch eine Portiere verhängt. Prächtige Teppiche
liegen auf dem Steinboden des am Abend durch Kerzen matt erleuoh-
teten Zimmers und bedecken die längs der Wände aufgestellten,
niedrigen Divans. Zwischen diesen steht ein Tisch mit niedrigem
Fufs und grofser, runder Platte. Man bringt uns in kleiner, zierlioher
Tasse, die in einem tassenartigen Untersatz ruht, gesĂĽfsten, schwarzen,
nicht vom Bodensatz befreiten Kaffee. Diesen sog. arabischen Kaffee
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bereitet man, indem man das Kaffeepulver nach Zuckerzusatz mit
Wasser kocht und ohne Filtration in die Tasse gierst.
Wunderbar schön ist die Umgegend von Algier. Die Strafsen,
welche nach Mustapha superieur, einem Vorort der Hauptstadt
Algeriens, fĂĽhren, sind mit hĂĽbschen Alleen versehen. Sie werden
teils von Dattelpalmen gebildet, auf deren infolge des Vorhandenseins
von Blattresten wie beschuppt erscheinenden Stämmen sioh hier im
feuchten Klima mancherlei Gräser und kleinere Kräuter angesiedelt
Algier: Mustapho. Palast des Gouverneurs.
haben, während solche Scheinepiphyten den Dattelpalmen der Wüste
völlig fehlen. Ändert' Alleen bestehen aus hohen Gummibäumen,
z. H. Ficus nitida, oder aus Schirms mollis, einem Buum mit herab-
hängenden, zart gefiederte Blätter tragenden Zweigen. An den Wegen
erblickt man zahlreiche Agavm; auch die Opuntien, welche die
Kaktusfeigen liefern, fehlen in der Nähe Algiers nicht.
Die ziemlich hohen, die Bucht von Algier umsäumenden Hügel-
ketten prangen im üppigsten Grün. Von der Höhe aus geniefst man
eine unvergleichliche Aussicht auf die Stadt, das blaue Meer und die
entfernteren GebirgszĂĽge des Atlas. Die HĂĽgel sind mit Villen ĂĽber-
säet, welche von grofsen Gärten umgeben werden. Ich wurde uianch-
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mal an die Parks erinnert, welche ich in Petropolis, unweit Rio de
Janeiro, gesehen hatte, deren Schönheit wohl unübertroffen dasteht.
Freilich fehlen in Algier, abgesehen von vielen anderen Gewächsen
der Tropen, die herrlichen Farnbäume, aber dennooh ist die Vege-
tation der Gärten unbeschreiblich anziehend. Man kultiviert hohe,
schnellwĂĽchsige Eucalypten, die, wenn sie 25 Jahre alt sind, schon
fast 2 m Stammumfang erlangen können. Ferner sind manche Palmen-
arten, Nadelhölzer, Orangen, Casuarinen, Strelitzen angepflanzt. Die
Anlagen sind geschmackvoll durchgefĂĽhrt und wohl gepflegt. Dunkle
Laubgänge wechseln mit grünen Rasenflächen, auf denen Gruppen
von Gesträuch malerisch verteilt erscheinen. Ein ganz wundervolles
Bild gewähren namentlich die Judasbäume (Cercis Siliquastrum) wenn
sie, ohne noch Blätter entfaltet zu haben, über und über mit Blüten
bedeckt sind, deren zartes Rosa sioh leuchtend vom grĂĽnen Rasen-
grunde abhebt. Dann die überaus farbenprächtigen Bougainvilleen,
Dornen tragende Kletterpflanzen, welche die Wände vieler Villen be-
kleiden.
Ganz besonderes Interesse beansprucht der dicht bei Algier ge-
legene Jardin d'Essai. Der Garten, von ca. 70 Hektar Gröfse, wurde
ursprünglich von der französischen Regierung für Versuchszwecke
angelegt, ist jetzt aber in die Hand einer Gesellschaft ĂĽbergegangen,
die ihn besonders zur Kultur zum Verkauf bestimmter Pflanzen ver-
wertet. Die weiten Flächen, auf denen man Baumschulen angelegt
hat, oder Cycadeen etc. kultiviert, sind von breiten Alleen durch-
zogen. Eine derselben wird von Platanen gebildet, deren Stämme
und Ă„ste bis hoch hinauf kletternder Efeu schmĂĽckt. Die berĂĽhm-
teste Allee ist jene nahe dem einen Eingange zum Garten, dicht bei
der kleinen StraufsenzĂĽchterei gelegene, in der hohe Dattelpalmen-
exemplare mit einer Fächerpalme (Livistona) und Draohenbäumen ab-
wechseln. Der Stamm dieser letzteren löst sich in nicht bedeutender
Hohe in Ă„ste auf, von denen jeder an seinem Ende einen riesigen
Schopf langer Blätter trägt. Ferner sei hier u. a. auf prächtige Kokos-
palmen, Bougainvilleen, Convolvulaceen, BambusgebĂĽsche und vor
allen Dingen auf die riesigen indischen Ficusbäume des Gartens
hingewiesen. Sie sind in einem weiten Kreise gruppiert. Unter
den Bäumen, welche Blätter von derber Konsistenz tragen, findet man
tiefen Schatten. Von den gleich mächtigen Armen in die Luft hin-
einragenden Seitenästen hängen Wurzelbüsohel hernieder, und einige
dieser horizontalen Seitenäste bilden sogar senkrecht nach abwärts
bis in den Boden hinein gewachsene StĂĽtzwurzeln, die bei einem
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200
Umfang bis zu 80 cm wohl dazu geeignet erscheinen, als Träger ge-
waltiger Lasten zu dienen.
•
Weit charakteristischer als in Algier ist das orientalische Leben
in Constantine und besonders in Tunis entwickelt. Die 464 km lange
Strecke von Algier nach Constantine legt man mit der Bahn in etwa
16 Stunden zurück; ungefähr die gleiche Zeit ist erforderlich, um von
Constantine nach Tunis zu gelangen. Von Algier aus durchfährt man
nach einigen Stunden die sehr schöne, von steil ansteigenden Fels-
wänden begrenzte Isserschlucht; später wird die Hochebene zwischen
grofeem und kleinem Atlas erreicht. Eine unabsehbare Ebene, die
wir stundenlaog durchreisen, dehnt sich vor uns aus. Kulturstätten
gibt es kaum. Die Vegetation des trockenen Bodens ist ärmlich.
Hier gedeiht ĂĽbrigens auch die Halpha (Stips tenacissima). ein Gras,
das besonders in der Provinz Oran in enormen Mengen wächst, und
einen Hauptausfuhrartikel Algeriens bildet. Der Wert der Pflanze
besteht darin, dafs ihre Blätter feste Fasern enthalten, welche in der
Papierfabrikation Verwendung Gnden.
Auch bei El-Guerra, dicht vor Constantine, befindet man sich
immer noch in der Steppe. Das Terrain ist aber dooh etwas hügelig»
und ein Bach mit schmalem Wiesenstreifen durohzieht das Gebiet.
Das grüne Land am Wasserlauf erscheint reich mit farbenprächtigen
BlĂĽten geschmĂĽckt, unter denen neben gelben Anemonen vor allen
Dingen die ziegelroten Köpfchen von Calendula bicolor auffallen. Die
hellgrauen KalkhĂĽgel sehen aus der Ferne fast vegetationslos aus;
wenn man dieselben emporsteigt, findet man aber dooh manche inter-
essante Steppen pflanze, z. B. Ăźulbooodium (?), Muscari neglectum
Globularia, Thymelaea hirsuta.
Auf der Reise von Constantine nach Tunis passiert man herr-
liche Gebirgsgegenden, namentlich im östlichen Teil der Provinz
Constantine. Die Gegend ist hier ĂĽberaus wildromantisch, und dem
Reisenden eröffnen sich zahlreiche höchst malerische Fernblicke auf
hohe Bergketten und tief eingeschnittene Talbildungen. Wir durch-
fahren auoh mit ausgedehnten Korkeichenwäldern bestandene Distrikte,
in denen noch heute Panther und Löwe, letzterer freilich sehr selten,
anzutreffen sind.
Wenn man sich in Constantine vom Bahnhof aus in die Stadt
begibt, so steht man sehr bald auf der weltberĂĽhmten BrĂĽcke El-
Kantara. Ein wundervolles Landschaftsbild bietet sich den staunenden
Blioken dar. Links sehen wir in die ganz enge, von senkrecht ab-
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fallenden, dunkel gefärbten Felswänden begrenzte Sehlucht des Kümmel
hinein, in welcher der Flute, in einer Tiefe von 120 in, schäumend
dahinbraust. Zu unserer Ăśberraschung ist aber rechts von der BrĂĽoke
nichts von einer eigentlichen Schlucht und dem Flute zu beobachten.
Der Rummel hat sioh nämlioh gerade hier, indem er die anstehenden
Kalkfelsen durchbohrte, ein unterirdisches Bett von einiger Länge ge-
schaffen, aus dem seine Gewässer erst weiter gen Norden wieder
hervorbrechen. Die Rummelschlucht kann man auoh besuchen und
dabei einen vollen Eindruck von ihrer groteartigen Naturscenerie und
der finsteren Pracht ihrer gewaltigen, oben völlig geschlossenen Felsen-
tore gewinnen.
Stehen wir auf der erwähnten Brüoke, so liegt vor uns Con-
stantine auf einem uns wenig zugeneigten Felsplateau, welches nach
dem die Stadt in weitem Bogen von SĂĽden naoh Norden umspannen-
den Rummel zu steil abstürzt und nur durch einen zunächst nicht
sichtbaren, schmalen Sattel mit den sich hinter der Stadt auftĂĽrmenden
OebirgszĂĽgen in direktem Zusammenhang steht.
In Conslantine herrscht reges Leben und groteer Oewerbefleifs,
^las merkt man sofort, wenn man die lange Rue Nationale durch-
wandert und endlioh die Place de Nemours erreicht. Das orientalische
Element tritt hier viel mehr als in Algier hervor, selbst in denjenigen
Strafeen, die von Franzosen bewohnt werden.
Tunesien, seit 1881 unter der Herrschaft der Franzosen (Algerien
ist schon seit 1830 französisch), wird als Regentschaft bezeichnet, ist
in der Tat aber eine Kolonie Frankreichs, denn der Bey in Tunis hat
so gut wie gar keinen Einflute mehr. Die Stadt Tunis zählt 145 000
Einwohner (80 000 Muslim, 40 000 Juden, 25 000 Europäer, besonders
Franzosen und Italiener). Tunis liegt zwischen zwei Seen, von denen
der sehr flache Lao de Tunis, auoh El-Bahira genannt, bei La
Goulette durch eine schmale Wasserstrafee mit dem Meer in Verbin-
dung steht und von einem kĂĽnstlich angelegten Kanal durchzogen
wird. Daher können heute selbst grotee Schiffe unmittelbar vor
Tunis ankern.
Der europäische Stadtteil von Tunis zeigt durchaus moderne
Bauart Besonders prächtig ist die breite Avenue de France. Hier
gibt es reich ausgestattete Läden, und ein überaus buntfarbiges
Strateenleben bietet sich unseren Blicken dar. Equipagen rollen auf
dem Pflaster dahin; sehr reich gekleidete Damen spazieren auf und
ab; die hohen, stattliohen Gestalten der Araber und Mauren, in meist
weife, hellblau oder gelblioh gefärbten Burnus gehüllt, schreiten an
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uns vorĂĽber. In Tunis sowie in den Nachbarorten fallen auoh be-
sonders die JĂĽdinnen in ihrem sonderbaren KostĂĽm auf. Sie tragen
helle Beinkleider, eine Seidenbluse, welche nicht bis zu den Knien
reicht, und spitze, goldgestickte MĂĽtzen ; in der Hauptstadt selbst hĂĽllen
sie ihre Gestalt meist in einen weifsen Mantel ein.
Durchschreiten wir die Avenue de France, so gelangen wir durch
Porte de France mitten in die orientalischen Quartiere von Tunis. Ein
Gewirr enger Strafsen und Gäfschen nimmt uns auf. Besonders merk-
wĂĽrdig sind hier die Bazargassen, ganze ZĂĽge zum Teil zusammen-
hängender, überwölbter Gänge, denen nur wenig Tageslicht durch die
Öffnungen ihrer Holz- oder Steindecken zuströmt. Zur Rechten und
zur Linken sehen wir Mauren sowie Juden in ihren offenen Läden
und Werkstätten eifrig bei der Arbeit. Eine dichte Menschenmenge
drängt sich vor den Verkaufsstellen, von denen jede ein anziehendes
Bild darstellt. Wir werden nicht müde, das farbenprächtige Leben zu
bewundern, welches sich uns in diesen Bazargassen oder SĂĽks dar-
bietet. In einem SOik werden z. B. nur ParfĂĽms, so das kostbare
Rosenöl, verkauft. Ks gibt einen Sök für Schuhwerk, einen anderen
fĂĽr Seidenstoffe, einen dritten, in dein nur Teppiche fabriziert und feil-
geboten werden, etc. Tritt mau in einen Laden ein, so wird man zu-
nächst mit Kaffee erfrischt; dann erst geht es an das Geschäft, und
nun mute man in einer Art um die Ware handeln, die bei uns absolut
undenkbar wäre.
Sehr interessant ist es. die Vorstädte von Tunis mit ihren nie-
drigen Häusern und ihren dicht an den Toren gelegenen Karawan-
serails zu besuchen. Auf den Plätzen produzieren sich hier, von
einem weiten Menschenring umgeben, Schlangenbändiger und Märchen-
erzähler.
Von Tunis aus sind auch die Kuinenstätten Karthagos leicht zu
erreichen. Man weifs. welche ungemein grofse Bedeutung Karthago im
Altertum als Handels- und Seemacht besafs. Nach Lage- der damals
gegebenen Verhältnisse entwickelte sich ein Konflikt zwischen Kar-
thago und Rom, und der sich entspinnende furchtbare Kampf ist erst
im Jahre 146 v. Chr. durch die unter Strömen Blutes erkaufte Er-
oberung und völlige Zerstörung der punischen Hauptstadt beendet
worden. Freilich blühte Karthago unter der Römerherrsohaft nochmals
auf; indessen schließlich fiel die Stadt durch die Einfälle der Van-
dalen, Beiisars sowie der Araber doch gänzlicher Vernichtung anheim.
Man denke sich eine weite Ebene, aus der einzelne niedere HĂĽgel
hervorragen, und die nach einer Seite hin vom Meere begrenzt wird.
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Die Ebene und die Hänge der Hügel sind übersät mit Steinen,
MauertrĂĽmmern, kleinen MosaikstĂĽcken, Scherben aller Art. Rot
blĂĽhender Mohn sowie Disteln wuchern ĂĽberall in ĂĽppigster FĂĽlle.
Alles ist durchglĂĽht von den heifsen Strahlen der Sonne, und die
ganze Gegend in LichtfĂĽlle gebadet. Man denke sich einen weiten
Raum, auf dem Bauschutt abgelagert ist, dann hat man ungefähr das
Bild der Ruinenstätten von Karthago.
Einigermarsen gut erhaltene Reste aus vergangener Zeit sind
nur noch in sehr geringer Zahl vorhanden, denn alles, was irgend-
wie brauchbar erschien, namentlich prachtvolle Säulen, hat man, wie
bekannt ist, im Laufe der Jahrhunderte fortgefĂĽhrt und zu Neubauten
verwendet. Nur hier und da stöTst man auf Mauerreste, z. B. am
Abhang jenes Hügels, dessen Höhe heute eine schöne Kirohe sowie
ein Kloster der Peres Blancs schmĂĽcken. Dieses Kloster birgt eine
sehr interessante Sammlung karthagischer AltertĂĽmer. Auch punische
und römische Zisternen, ferner punische Gräber, die man geöffnet
hat, sind noch vorhanden.
Den Wanderer, der die Ruinenstätten Karthagos beschreitet,
ĂĽberkommt ein wehmĂĽtiges GefĂĽhl. Wo ist alle Herrlichkeit und
Pracht menschlicher Werke geblieben? Wo sich einst eine mächtige
Stadt mit fast einer Million Einwohnern erhob, und blĂĽhendes, frisches
Leben pulsierte, da liegt heute alles in Schutt und TrĂĽmmern. Aber
geradeso wie vor 2000 Jahren strahlt die Sonne hernieder vom
wolkenlosen Himmel; ebenso wie damals rauscht das Meer heute
seine wundersame, geheimnisvolle Musik.
* *
*
Algerien gliedert sich seiner Natur nach in drei Teile. An der
Mittel meerkĂĽste. dem Atlas vorgelagert, ist das Terrain, das sogenannte
Teilgebiet, eben oder etwas hĂĽgelig. Hier sind fruchtbare Felder
vorhanden, auf denen man Gerste, Weizen, Weinstöcke, Oliven, Feigen.
Orangenbäume und viele Gemüse kultiviert. Die Wiesen, übrigens
auch diejenigen im Gebirge, prangen vielfach im buntesten BlĂĽten-
schmuck des Frühlings. Mannshohe Doldengewächse mit gelben
Blütenständen (Ferulal stehen an den Wegen. Herrlich blühende
Orchideen (Ophris), Gladiolen, Reseda alba, die wunderschöne Cerinthe
major, zierlicher Centranthus, Linum, Borago, Cruoiferen, Compositen
erfreuen das Auge. An nicht kultivierten Orten sind ferner drei Cha-
rakterpflanzen Algeriens sehr verbreitet und oft, ausgedehnte Boden-
flächen bedeckend, in ungeheurer Menge anzutreten. Wir haben
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hier die Zwergpalme Chamaerops humilis, die einzige Pflanze ihrer
Familie, die auoh in Europa, z. B. in Spanien, wild wächst, im Sinne.
Ferner zwei Liliaceeo, die Meerzwiebel (Soilla maritima), sowie As-
phodelus ramosus, mit knollig angeschwollenen Wurzeln, grund-
ständigen, langen Blättern und reichen, auf hohem Schaft empor-
gehobenen Blütenständen, deren Blüten eine hellviolette Farbe haben.
Den sandigen Strand des Mittelmeers bedeckt hier und da diohtes
GestrĂĽpp von Pistacia, das von Clematis und Lonicera durchwunden
wird. In unmittelbarer Nähe des Meeres bleiben die Pistacien infolge
starker Windwirkung ganz niedrig- und sehen aus, als ob sie be-
schnitten wären. Die Formation erinnert in der Tat an die Restin^a
der brasilianischen KĂĽste bei Rio de Janeiro.
Im Norden Algeriens begĂĽnstigen hohe Temperatur und das
Vorhandensein reichlicher Feuohtigkeitsmengen das Gedeihen der
Vegetation ungemein. Die Meteorologen haben 17,8° C. als mittlere
Temperatur ermittelt Die Regenmenge beträgt nach zehnjährigen
Beobachtungen im Mittel 697,8 mm. Es regnet besonders im Winter
und Frühjahr, während der Sommer sehr trocken ist.
An das Teilgebiet schliefst sich nach SĂĽden das Gebiet des
Atlas an, ein Faltengebirge, das zur Pliocänzeit (Tertiär) gebildet
wurde und aus Sohiefern, Graniten, Gneisen, Sandsteinen, Kreide u. s.w.
aufgebaut ist. Näheres über den Atlas ist bei Sievers nachzulesen.
Die höchsten Spitzen des Atlas (4500 m) liegen in Marokko. In
Algier unterscheidet man das nördliche Randgebirge, den kleinen
Atlas und, sĂĽdlich sich nach der Sahara abdachend, den grofsen Atlas.
Einzelne Höhen steigen in Algier bis 2300 m empor, z. B. der Dsohebel
Lella in der Dschurdsohura, der grofsen Kabylie. Zwischen grofsem
und kleinem Atlas liegt das Schott-Plateau. Es besitzt durchschnittlich
1000 m Erhebung und wird hier und da, z. B. bei Batna, von Quer-
ketten des Gebirges durchzogen. SĂĽdlich vom Atlas dehnt sich das
gewaltige Saharagebiet aus, von dem weiter unten die Rede sein wird.
In Algerien mufs jedem Reisenden die aufserordentliche Wald-
arraut des Landes auffallen. Freilich gibt es hier und da Wald-
bestände, z. B. solche einer Kiefernart (Pinus halepensis), und Kork-
eichen- sowie Zedernwälder. Letztere kann man z. B. bei Blida
sehen. Es ist dies eine kleine Stadt, sĂĽdwestlich von Algier gelegen,
in deren Nähe sehr ausgedehnte Orangen- und Mandarinenpflanzungen
und ein Olivenhain vorhanden sind, der aus besonders mächtigen,
uralten Bäumen besteht Diese Bäume beschatten das Grab eines
Marabut, eines muhammedanischen Einsiedlers. Die Zedern trifft
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man erst in bedeutenderer Höhe auf den Blida umgebenden Bergen
an. Sie waohsen bald vereinzelt, bald zu dichten, tiefen Schatten
spendenden Gruppen vereinigt, auf schieferigem, vielfach mit lookerem
Schutt bedecktem Boden.
Die algerische Zeder (Cederus atlantica) ist mit der Libanonzedor
ganz au fserord entlich nahe verwandt. Die jungen Pflanzen gleichen
im Wuchs unserer Fichte. Die älteren Bäume, von oft mäohtigem
Stammumfang, tragen eine breite Krone, deren in nicht gar bedeuten-
der Höhe entspringende Hauptäste fast senkrecht emporsteigen ,
während die von diesen ausgehenden Seitenäste eine horizontale
Wachtumsrichtung einhalten. Hier bei den Zedern wächst auch das
merkwĂĽrdige Bupleurum spinosum, welohes etwa 1 '2 m hohe und
einige Meter Durchmesser besitzende, fast kreisrunde GestrĂĽpppolster
bildet, sowie eine sehr hĂĽbsche Veilchenart, Viola Munbryana.
An Orten in Algerien, wo kein Kulturland, kein Wald, Steppe
oder WĂĽste vorhanden, ist nun vielfach in grofser Ausdehnung die
Broussaille entwickelt. Wir haben es hier mit einem Ăźuschwald zu
tun, der aus niedrigen Gesträuch- und Baumformen zusammengesetzt
wird und je nach Bodenbeschaffenheit und Klima verschiedenartigen
< harakter trägt. Bald ähnelt die Broussaille mehr den in Süd-
Frankreich, zumal auf Kalkboden, ausgedehnte Strecken Landes be-
deckenden Garigues, die aus dichtem GestrĂĽpp immergrĂĽner Eichen
(Quercus Hex und Q. ooccifera) bestehen und in denen Efeu,
Euphorbien, Cistus albitus, Rubus, SmĂĽax aspera. Ruscus aouleatus
reich vertreten sind; bald ist sie den Maquis des Kieselbodens
anderer Gebiete zu vergleichen.
Ganz in der Nähe Algiers ist die Broussaille zumal aus Cera-
tonia, Laurus nobilis, Olea, Rhamnus, Arbutus, Crataegus, Phillyrea,
Pistaoia, Quercus coooifera zusammengesetzt, die in Verbindung mit
Schlingpflanzen (Clematis, Aristoloohia, Smilax, Calystegia, Tamus
communis, Bryonia) ein an manchen Stellen undurchdringliches
Dickicht bilden. Von kleineren Gewächsen fallen hier besonders
Arum italicum, Acanthus mollis, Asparagus albus, Cistus auf. Ă„hn-
lich gemisoht ist auch die Broussaille bei Hammam-Meskutin, einem
nicht weit von Constantine in paradiesischer Gegend gelegenen Orte,
in dessen Nähe sich überaus charakteristische, malerische Bergformen
erheben. Sehr merkwĂĽrdig sind auch die hier entspringenden heifsen
Quellen. Das fast siedende, mächtige Dampfwolken ausstofsende
Wasser sprudelt aus kreisförmigen Löchern des Bodens hervor; es
hat, da es sehr reich an mineralischen Stoffen, besonders an Gips
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ist, bei seiner Abkühlung durch Absoheidung der genannten Körper
zur Entstehung etwa 4 m hoher Stalagmiten und an einem ca. 20 m
steil abfallenden Abhänge zur Bildung des sogenannten versteinerten
Wasserfalls Veranlassung gegeben.
Den Maquis zu vergleichen sind andere Broussailles in Algier,
z. B. solche bei Reghaia. In ziemlich weiten Abständen von ein-
ander stehen hier Korkeichen. Die Räume zwischen den Bäumen
werden von vielfach sehr dichtem GebĂĽsch ausgefĂĽllt, dessen inter-
essantestes Element Erica arlorea (eine Heideart) darstellt, eine Pflanze
von ca. 3 m Höhe, die völlig baumartigen Wuchs gewinnen kann.
Ferner sind bemerkenswert Pistacia, Arbutus unedo (Erdbeerbaum)
mit sehr scharfrandigen Blattern, Myrtus communis, Olea europaea,
Asparagus acutifolius.
Bei dem Studium der Buschwälder, überhaupt der Vegetation
Algeriens, fallen manche Anpassungen der Gewächse an die klima-
tischen Verhältnisse des Landes auf. Zunächst ist zu betonen, dafs
zahlreiche Gewächse, z. B. Eichen, Oleander, Myrten, Lorbeer, Pista-
cien u. s. w., immergrün sind. Die Blätter dieser Pflanzen vermögen daher
energische ernährungsphysiologische Tätigkeit, welche an die Gegen-
wart reichlicherer Wassermengen gekettet ist, im regnerischen Winter
und Frühjahr zur Geltung zu bringen. Während der Zeit des heifsen,
an Niederschlägen armen Sommers ist es ferner für die Blätter eines
grofsen Teiles der Mittelmeervegetation unbedingt erforderlich, dafs
sie mit Einrichtungen gegen zu starke Verdunstung ausgestattet sind.
Diesem biologischen BedĂĽrfnis wird in der Tat in recht verschiedener
Weise Rechnung getragen, und mit Schimper sei hier besonders in
dieser Beziehung auf häufig anzutreffende geringe Flächenentwicklung
der Blätter, schmale, zuweilen sogar nadeiförmige Gestalt derselben,
Behaarung, derbe, harte Konsistenz der Spreiten, starke Cuticularisierung
der Oberhaut u. s. w. hingewiesen.
(Fortsetzung fol^t.)
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Ăśber die Grundlagen der Naturwissenschaften.
Von Professor Dr. B. Weinstein in Berlin.
(Fortsetzung.)
■^rs 3. Vorgänge, Ursachen, Stetigkeit.
^T^Tnd ganz zum Sohlufs dieses Abschnitts ĂĽber die DeĂźnitions-
Grundlagen, die Vorgänge selbst Ob sie tatsächlich sind,
oder ob wir sie nur träumen, darauf kommt es dem Natur-
forscher nicht an, er studiert sie als wirklich und unterscheidet in
jedem Vorgang Stärke, Verlauf, Richtung und Ergebnis.
Die Stärke eines Vorgangs scheint leicht zu definieren, indessen
wechselt die Definition nach der Art des Vorgangs. Bei gewissen Vor-
gängen, beispielsweise bei solchen des Lichts, des Schalls, richtet sich
die Stärke nach der Energie, sie ist dieser proportional. Bei anderen
nach dem Kraft verbrauch oder der Kraftentwickelung innerhalb einer
gewissen Zeit, so beim Stöfs. Wieder bei anderen nach der Ge-
schwindigkeit, mit der der Vorgang sich abspielt, nach der Substanz-
menge, welche Umwandlungen unterliegt u. s. w. Meist richtet sich
die zur mathematischen Darstellung dienende Definition nach dem.
was die einfache Wahrnehmung als Stärke-(Intensitäts-)unterschiede
auffassen möchte.
Unter Verlauf, Weg eines Vorganges, versteht man die Art,
wie ein Vorgang sich abspielt, also den Vorgang aufgefafst von Zeit-
moment zu Zeitmoment, von Phase zu Phase seiner Entwickelung.
Wenn ein Vorgang so geartet ist, dafs er alle Phasen auch rückwärts
durchmachen kann, etwa wie man ein Rad ganz gleiohmäfsig sowohl
linksherum, wie, wiederum ganz gleichmäfsig, rechtsherum drehen, einen
Körper sowohl heben wie mit gleicher Geschwindigkeit auf gleichem
Wege senken kann, so nennen wir ihn umkehrbar oder reversibel;
ist das nicht der Fall, so heifst er nichtumkehrbar oder irrever-
sibel. In der Natur ist kaum ein Vorgang genau umkehrbar, raeist
bandelt es sich um mehr oder weniger unvollständige Umkehrbarkeit.
Auch gibt es Vorgänge, die man nur durch Zwangsmittel, zum Teil.
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umzukehren vormag. So geht die Wärme von selbst immer nur
nach Stellen, die kälter sind als ihr Ausgangsort; soll sie umgekehrt
nach Stellen gehen, die wärmer sind als ihr Ausgangsort, so bedarf
es dazu besonderer Mittel, die im ersten Falle nicht nötig sind.
Ebensowenig kann ein Körper, der, wenn man ihn freiläfet, von
selbst zur Erde fällt, wieder frei von der Erde aufsteigen; man
mufs ihn heben.
Der Loser wird schon raerkon, dafs der Gegenstand mit der
Frage nach Vorgängen zusammenhängt, die von selbst geschehen.
Man nennt solche Vorgänge natürliche Vorgänge, weil wir sie
in der Natur unter allen Umständen von selbst sich abspielen sehen.
Das Beispiel der Wärmestrahlung ist das berühmteste und augen-
fälligste. Hier scheint uns nichts vorhanden zu sein, was den Vorgang
hervorruft und unterhält, denn stets wenn Körper vorhanden sind, welche
ungleiche Temperatur haben, geht die Wärme von den wärmeren zu den
kälteren über. Ein natürlicher Vorgang ist es auch, dafs entgegen-
gesetzte Elektrizitäten sich vereinigen. Sollen sie sich trennen, so be-
darf es eines Zwangsmittels, des Elektrisierens, der lnlluenz oder der
Induktion. Die Erscheinungswelt, wie sie uns umgibt, beruht auf
solchen und ähnliohen natürlichen Vorgängen; manche mögen un-
natürlich sein, wie die Trennung der Elektrizitäten, dann spielen aber
andere wichtigere Vorgänge mit, die sich durch solche unnatürliche
die Bahn frei machen. Obwohl uns die natürlichen Vorgänge stetig
umgeben, vermögen wir in das innere Wesen derselben so wenig
einzudringen, wie in das der erzwungenen. Ja, die letzteren scheinen
uns verständlicher zu sein, weil wir wenigstens den Zwang kennen,
der sie hervorruft und unterhält, während wir bei den ersteren niohts
bemerken als den Vorgang selbst. Unserem Kausalitätsbedürfnis zu-
folge fragen wir bei den natürlichen Vorgängen nioht minder wie
bei den erzwungenen nach der Ursache, der Kraft. In einigen Fällen
glauben wir diese Kraft angeben zu können, so bei der natürlichen
Vereinigung entgegengesetzter Elektrizitäten die Anziehungskraft
zwischen solchen Elektrizitäten; in anderen sind wir selbst um einen
Namen für die Ursache verlegen, wie bei der freien Wärmebewegung.
Wir werden aber geneigt sein, in der Welt der Erscheinungen natĂĽr-
liche Ursachen und Zwangsmittel anzunehmen, die wir beide Kräfte
nennen. Indem man dann die erzwungenen Vorgänge, wie oben an-
gegeben, als durch natürliche mächtigere erzwungen ansieht, kann
man zu der Ansicht gelangen, dafs es an sich ĂĽberhaupt nur natĂĽr-
liche Ursachen gibt, d. h. die Erscheinungswelt von je besteht, und,
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was in derselben erzwungen aussieht, z. B. die Bewegung der Pla-
neten um die Sonne in krummen Bahnen, Folge natĂĽrlicher anderer
Erscheinungen ist. Die Kräfte wären dann nur ein Symbol für Er-
scheinungen selbst. Ich werde darauf später genauer eingehen; zum
Verständnis der gemachten Unterschiede zwischen umkehrbaren und
nichtumkehrbaren Vorgängen genügt das obige.
Wenn ein Vorgang in sich zurüokläuft, nennen wir ihn cyk lisch
oder einen Kreis Vorgang. Gewöhnlich verlangt man von den Sub-
stanzen, zwischen denen er sich abspielt, dafs alle am Ende des Vor-
gangs sich in genau denselben Umständen befinden, in welchen sie bei
Beginn des Vorgangs waren. Der Vorgang soll also die Substanzen
für sich und in ihrem Verhältnis zu einander nach allen durch ihn
etwa veranlafsten Ă„nderungen schliefslich in den ursprĂĽnglichen Zu-
stand zurĂĽckbringen. Nicht verlangt wird aber, dafe durch den Vor-
gang überhaupt nichts geschehen sei; es kann alles verändert sein,
was nicht substanziell ist, z. B. die Energie, indem Arbeit geschaffen
oder verbraucht ist Genau in sich zurück läuft wohl kein Vorgang
in der Natur. Allerdings sehen wir nach heiterem Wetter ein Ge-
witter sich zusammenziehen, sich stĂĽrmend, krachend und blitzend
entladen, dann sich verziehen und bemerken den Himmel so klar
wie zuvor. Aber Wolken sind als Wassermassen zur Erde gestĂĽrzt
oder der Sturm hat lose Gegenstände oder gar Bäume und Häuser
zertrĂĽmmert und durcheinander gewirbelt, oder die Blitze haben ge-
zĂĽndet u. s. w., wodurch dauernde Ă„nderungen in dem Zustand von.
Substanzen und ihrer Lage zu einander bewirkt sind.
Ăśber das, was man unter Richtung eines Vorganges versteht, ist
nach dem obigen nicht viel zu sagen. Bei gewöhnlichen Bewegungen
ist die Richtung des Vorganges diejenige der Bahn, in welcher die
Bewegung stattfindet, also an jeder Stelle der Zielpunkt, nach dem die
Bahn strebt. Bei anderen Vorgängen kann man die Richtung in
ähnlicher Weise als Effekt, auf den der Vorgang hinzielt, auffassen.
Es ist also ganz richtig, wenn man sagt, die Richtung der freien
Wärmebewegung sei immer nach kälteren Körpern hin, nämlich um
kältere Körper zu erwärmen, wärmere abzukühlen. Die Richtung
elektrischer Vorgänge geht nach Vereinigung ungleicher Elektrizitäten
und möglichster Ausbreitung gleicher Elektrizitäten. Die Richtung
eines Vorganges kann ebenso wie sein Weg durch Zwang
geändert werden. Nicht in allen Fällen sind wir im stände, für
die Ermittelung der Richtung eines Vorganges mathematische Regeln
anzugeben, was ja Aufgabe der mathematischen Physik ist.
Himmel und Erdo. 1903. XV. 6. 1*
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Das Ergebnis eines Vorganges zu ermitteln ist praktisch von
der höchsten Bedeutung. Aber da Vorgänge sehr mannigfaltige
Wirkungen zurücklassen können, mufs man sagen, welche von ihnen
man als Ergebnis betrachten will, alle, mehrere oder eine, z. B. bei
Explosionen etwa die chemische Umwandlung, die der Explosionsstoff
erfahren hat, welche Substanzen durch die Explosion zertrĂĽmmert
sind, wohin die TrĂĽmmer geschleudert sind u. s. f.
Die meisten Ergebnisse sind vom Verlauf, den der Vorgang
genommen hat, abhängig, also von allem, was vom Beginn bis zum Ende
geschehen ist. Manche Ergebnisse, und dazu gehört die Änderung der
Energie, sind aber gerade von diesem Verlauf unabhängig, sind also bei
gleichem Beginn und gleichem Ende immer die nämlichen, was auch
zwischen beiden sich abgespielt haben mag. Sie sind praktisch von
immenser Bedeutung, denn den Verlauf eines Vorgangs zu ermitteln
und festzustellen, ist schwerer, als der Leser glauben möchte, und oft
reicht hierzu unsere ganze Kenntnis und hingehendste Aufmerksamkeit
nicht aus.
Die bisher behandelten Grundlagen können nur zum Teil als
Definitions-Grundlagen angesehen werden, vieles darin sieht wie eine
Definition aus. Manches jedoch geht ĂĽber die Definition weit hinaus
und bezieht sich entweder unmittelbar auf Erfahrung, wie beispielsweise
die Auseinandersetzung über natürliche und erzwungene Vorgänge,
oder betrifft seelische Erscheinungen, von denen es nicht sicher ist,
ob sie in bestimmten Eigenschaften unserer Seele beruhen, die ihr
vor aller Erfahrung, a priori, gegeben sind oder die aus der Erfahrung
allmählich erworben sind. Die Naturforscher neigen wohl mehr zu
letzterer Ansicht. Doch ist zu bemerken, dafs die Eigenschaft der
Seele ĂĽberhaupt Erfahrung auf sich wirken zu lassen und in be-
stimmter Weise zu schliefsen, jedenfalls a priori sein mufs. Spiegelt
sich die Seele nicht die Welt selbst vor, wie in mĂĽfsigein Spiel
und davon haben wir so wenig Bewufstsein, dafs wir weit mehr
geneigt sind, die Welt ganz grobsinnlich als aufser uns absolut vor-
handen anzusehen und dafs wir wirkliche Einbildungen vielfach
fliehen, so mufs sie Eigenschaften besitzen, durch die sie mit dieser
Welt in Verbindung treten kann. Wir sagen, ihre Organe dazu seien
die Sinne. Wie sie sich den Körper baut, so insbesondere auch die
Organe. Warum sie aber die EindrĂĽcke, die diese Organe von aufsen
ihr zuführen, gerade so auffafst wie sie es tatsächlich tut, darüber
Utfst sich gar nichts sagen. Wir werden bald sehen, welch einen
Reichtum an Auffassungen sie besitzt. Diese Auffassungen mĂĽssen
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ihr eigen sein. Aber freilioh können sie durch äufsere Einwirkung
auf ihre Organe verändert werden.
So stehen wir schon bei den bis jetzt behandelten Grundlagen
zwischen Erfahrung und apriorischen Eigenschaften. Und dieses gilt
auch von der nun zu behandelnden Grundlage, die wir zwar als Prinzip
bezeichnen wollen, die jedoch keineswegs zu den reinen Prinzipien
zu reohnen ist, nämlich von dem Prinzip der Causalität.
Ăśber dieses Prinzip ist viel geschrieben worden. Es besagt,
dafs wir ĂĽberall nach der causa, der Ursache, fragen. Und der Streit
dreht sich wesentlich darum: Fragen wir, weil wir fragen mĂĽssen?
Oder fragen wir nur zufällig? Darauf, dafs es Menschen gibt,
die ĂĽberhaupt nicht fragen, dumpfen Geistes alles hinnehmen, wie es
ist, darf man sich nicht beziehen, sonst mĂĽfste man auf die schwierige
und unerquickliche Auseinandersetzung eingehen, warum ĂĽberhaupt
in der geistigen Betätigung so viele Differenzen bestehen. Wir können
nur sagen, der Trieb zur Frage ist ĂĽberall vorhanden, manche ĂĽber-
tönen ihn durch andere Triebe, z. B. durch den zur Bequemlichkeit,
wie die Möglichkeit zur Bewegung und der Wille dazu allen gegeben
ist, manche aber diesen Willen nicht wirken lassen, um dem stärkeren
Willen zur Ruhe oder zum Ausruhen folgen zu können.
Oft wird gesagt, die Kausalität sei aus der von uns so oft beobach-
teten Folge von Erscheinungen nach Gesetz und Regel gewonnen.
Aber steckt nicht schon darin, dafs wir Gesetz und Regel ĂĽberhaupt
bemerken, eine Art Causalität? Wir nehmen eine Reihe von Er-
scheinungen wahr, es fällt uns auf, dafs diese Erscheinungen sich in
bestimmter Weise abspielen; warum fällt uns das auf? Dazu kommt
noch, dafs die Causalität sich nioht allein auf gesetzlich geregelte
Vorgänge beschränkt, wir fragen auoh nach dem Grund für das
Vorhandene. Und fĂĽr wie fruchtlos man auch diese Frage be-
zeichnen mag, sie wird doch gestellt, und die Menschheit beschäftigt
und quält sich mit ihr seit ihrem Geborenwerden, und man kann fast
sagen unterschiedslos. Bezeichnen wir doch diejenigen Tiere als dio
stupidesten, die vor nichts erschrecken, sich ĂĽber nichts wundern,
sondern alle Erscheinungen teilnahmlos an sich vorĂĽber gehen lassen.
Etwas mehr als Schlufs aus Erfahrung scheint mir doch Causalität
zu sein. Man kann aus ihr sogar entnehmen, dafs die Seele der
Existenz eines andern aufser ihr bewufst ist und ihrer Fremdheit
diesem andern gegenüber; dafs sie ein Bewufstsein ihrer Individualität
und zugleich der Welt um sich besitzt, wie, worauf schon hingewiesen
ist, die Leibnizischen Monaden.
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Oer Naturforscher bezieht sich auf Causalität bei weitem nicht
in dem Umfange, in welchem sie geltend gemacht werden kann und
geltend gemacht wird. Manchmal fragt er auch nach dem Grund fĂĽr
Vorhandenes, jedoch nicht fĂĽr Vorhandenes als solches, sondern nur
fĂĽr die Form, in der es sich ihm bietet Das ist der statische Teil
der Causalität Dann fragt er nach dem Grund für Vorgange wieder-
um im statischen Sinne, jedoch namentlich nach dem Grund fĂĽr alle
Änderungen in der Natur, was der dynamische Teil der Causalität
wäre. Diesen Grund schreibt er gewissen Ursachen zu und zählt zu
diesen Ursachen auch die Kräfte. Nunmehr kann ich auf meinen
früheren Aufsatz verweisen, in welchem die Kräfte, ihr Wesen und
wie man sie und die Causalität wieder los werden kann, genau be-
sprochen ist; die ganze Causalität bis auf die eine, warum überhaupt
etwas ist und warum es ist, so wie es ist Aber in dieser Hinsicht
sind die Menschen überhaupt etwas närrisch; wäre es in der Welt
anders, so wĂĽrden sie ebenfalls fragen warum?
Wie man jedoch auch die Ursachen ansehen mag, ob real oder
nur eingebildet, der Naturforscher nimmt von ihnen vollständig Besitz,
unterscheidet sie nach Besonderheit und nach Stärke und rechnet mit
ihnen ganz so, als ob sie Objekte wären. Freilich Objekte eigener
Art denn man mufs ihnen nicht blofs Qualität und Quantität zu-
schreiben wie den Substanzen, sondern auch Riohtung wie den Vor-
gängen. Deshalb ist das Rechnen mit Ursachen, Kräften verwickelter
und kann allein auf Grund des Rechnens mit Objekten nicht bewirkt
werden. Es bedarf noch weiterer Regeln, welche die BerĂĽcksichtigung
der Richtung feststellen. Diese Regeln sind unter dem Namen des
Parallelogramms der Kräfte wohl bekannt. Sie sind anscheinend
einfach, bieten aber dem Verständnis manche Schwierigkeit die
dadurch nicht ĂĽberwunden werden kann, dafs man sie durch andere
Regeln, welche schliefslich auf sie zurĂĽckfĂĽhren, ersetzt Abgeleitet
sind sie wohl aus Erfahrung an Vorgängen, namentlich an Bewegungen,
mit denen man auch manchmal zahlenmäßig zu rechnen hat, und wo
die Richtung die gleiche Rolle spielt
Mit der Causalität aufs engste hängt die Erwartung zusammen,
die darin gipfelt, dafs wir von jeder Ursache stets die gleiche
Wirkung erwarten, wenn sie unter gleichen Umständen hervortritt.
Auf dieser Erwartung beruhen alle Voraussagungen. Bekanntlich
ist der Durst der Menschheit nach Voraussagungen sehr groĂź; wir
beurteilen sogar den Wert mancher Wissenschaft danach, wie weit
sie vorauszusagen vermag. Auch sind die Voraussagungen fĂĽr uns
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praktisch von grofser Bedeutung, weil fast unser ganzes Tun auf
Erwartungen beruht, selbst in denjenigen Fällen, in welchen wir
anscheinend darauf keinen Wert legen, nicht neugierig sind. Selbst-
verständlich bezieht sich das nicht auf die aus gedankenlosem Aber-
glauben oder ebenso gedankenlosem Unglauben fliefsenden Wahr-
sagungen und Prophezeiungen. Es ist bemerkenswert, wie die
Wissenschaft mehr und mehr die Ereignisse in das Gebiet des Vor-
aussagens einbezieht; ich erinnere nur an die Wettervoraus sagungen,
die allmählich eine wissenschaftliche Unterlage bekommen, nachdem sie
lange auf törichten Einbildungen, oder auf allerdings der Beobachtung
entnommenen immerhin aber doch unsicheren, sogenannten Bauern-
regeln beruhten.
Da wir genau gleiche Umstände und genau gleiche Ursachen nur
sehr selten zu erwarten haben, erweitert sioh die obige Annahme zu
der: unter annähernd gleichen Umständen bringen annähernd gleiche
Ursachen annähernd gleiche Wirkungen hervor.
Diese Annahme wird nicht jeder von vornherein als ganz klar
ansehen. Sicher trifft sie nicht zu, wo Ursaohen dazu kommen, die
nur auslösend tätig sind, denn diese Ursaohen können so unbe-
deutend sein, dafs mit ihnen oder ohne sie die eigentlich wirkenden
Ursachen sich sehr annähernd gleich bleiben. Haben wir beispiels-
weise zwei Pulverhaufen nebeneinander, beide gleioh beschaffen, so
bestehen in beiden gleiche mächtige Ursachen zur Explosion, die aus
der chemisoh-physikalischen Beschaffenheit sich ergeben. Kommt zu
dem einen die minimale Ursache eines hiueinfallenden Funkens, zu dem
andern nicht, so sind die Ursaohen fĂĽr die Explosion an sich bei beiden
immer nooh sehr annähernd gleich, aber der eine Pulverhaufen
explodiert, der andere nicht. Der Funke war die auslösende Ursaohe.
Ähnlich verhält es sich mit den Ursachen, die von unserem Willen
ausgelöst werden, wie die Muskelkraft. Hier ist es gut, zwei Be-
zeichnungen einzuführen, deren genaue Bedeutung erst später erhellen
wird, die aber auch jetzt verständlich gemacht werden können. Wenn
zur bemerkbaren Ă„nderung eines Zustandes stetige Wirkung von
Ursachen erforderlich ist, so nennen wir den Zustand stabil, ge-
nĂĽgt aber dazu ein ganz geringfĂĽgiger Antrieb, so heifst er
labil. Auslösende Kräfte nach Art der oben angegebenen wirken
wesentlich auf labile Zustände. Nunmehr wird man geneigt sein, die
erweiterte Hypothese wenigstens für stabile Zustände anzuerkennen,
aber Vorsicht in ihrer Anwendung ist immerhin geboten, wenngleich
wir von ihr stillschweigend den weitgehendsten Gebrauch machen.
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Hieran können wir unmittelbar eine andere Grundlage reihen,
den Schlu Ts der Analogie. Wenn wir ähnliche Vorgänge sehen, sind
wir geneigt, zwischen ihnen eine Verbindung anzunehmen. Ja, wenn
selbst für die Wahrnehmung ganz verschiedene Vorgänge nach
gleichen oder ähnlichen Gesetzen sich abspielen, halten wir sie für
analog und bringen sie zu einander in Beziehung. Der weiteste
Schlufs aus der Analogie besteht dann darin, dafs wir ĂĽberhaupt
beide Vorgänge für im Grunde genommen identisch ansehen, nicht
in Bezug auf die Wahrnehmung, die ja einem solchen Schiurs sofort
widersprechen kann, sondern hinsichtlich des eigentlichen Wesens.
Wie unsicher ein solcher Schlufs aus der Analogie ist, so hat er doch
vielfach aufserordentliche Dienste in der Wissenschaft geleistet Wir
werden bei den Erklärungen Beispiele davon kennen lernen. Die
moderne Physik verdankt ihm einen ihrer gröfsten Triumphe.
Da ich dem Leser keinen streng wissenschaftlichen Aufsatz
schreibe, sondern nur ihm in leicht verständlicher Weise ein sehr
schwieriges Kapitel der Wissenschaft, welches leider viel vernach-
lässigt wird, vorführen will, brauche ich mich weder an die strenge
Disposition noch an die genaue logische Aufeinanderfolge zu halten
Der obigen Auseinandersetzung ĂĽber Erwartung schliefse ich deshalb
aus GrĂĽnden der Ă„hnlichkeit das Prinzip der Stetigkeit an.
weiches besagt, dafs alle Wirkungen und Vorgänge nach Raum und
Zeit stetig verlaufen.
Keine Wirkung geht plötzlich in eine andere (ob gleich oder
ungleich geartete, ist nicht von Belang) über, kein Zustand plötzlich
in einen anderen, (das Wort plötzlich bezogen auf Zeit wie auf Raum).
Natura non facit saltus ist bereits ein altes Prinzip. Manohes scheint
ihm zu widersprechen, und in manchen Fällen wissen wir auch noch
nicht, wie wir es aufrecht erhalten sollen, aber die Zahl der Fälle, in
denen es zweifellos gilt, ist so grofs, und die Schwierigkeit, plötzliche
Ă„nderungen aufzufassen, ist fĂĽr uns so bedeutend, dafs wir das Prinzip
selbst in solchen Fällen als richtig annehmen, wo ihm anscheinend
widersprochen ist. Wenn ein Lichtstrahl auf eine spiegelnde Fläche
trifft, so wird er unter einem ganz scharfen Winkel zurĂĽckgeworfen;
die Änderung ist hier so plötzlich, dals wir sie fast als absolut plötz-
lich bezeichnen möchten. WTir nehmen aber an, dafs tatsächlich der
Strahl nicht in einem absolut scharfen Winkel genau an der Ober-
fläche des Spiegels umgeknickt wird, sondern dafs der Strahl, wenn
auch nur unendlichwenig, in die Substanz eindringt und dabei mehr
und mehr gebogen wird, nur dafs die Biegung so bedeutend ist dafs
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21 o
sie uns unmittelbar wie eine Knickung- ersoheint. Ă„hnliches findet
bei der Lichtbrechung statt und in vielen anderen FĂĽllen, so auch
bei den Explosionsvorgängen.
Von diesem Kontinuitätssatze hat man bekanntlich eine ungemein
wichtige und folgenreiche Anwendung hinsichtlich der Entwickelung
der Erde und der Lebewesen gemacht. Darwins Lehre von der
Entstehung der Arten beruht auf ihm (selbstverständlich auch noch
auf anderen Sätzen). Vorher freilich hatte man mehr der Annahm«
plötzlicher Schöpfungen und Vernichtungen gehuldigt, worüber viel-
leicht bei anderer Gelegenheit mehr zu sagen sein wird. Die Mathema-
tiker schliefen sich diesem Satze sehr sorgfältig an, wenigstens in
denjenigen Fällen, in welchen sie für die Naturwissenschaft arbeiten.
Doch stellt die Naturwissenschaft selbst auch Betrachtungen an, die
diesem Prinzip zu widersprechen scheinen.
4. Wahrnehmung.
Wir gehen nunmehr zu denjenigen Grundlagen ĂĽber, die an-
scheinend ganz auf Erfahrung beruhen:
Alle Wahrnehmung wird duroh die Sinne vermittelt und in der
besonderen Art dieser Sinne. Dadurch sind die sogenannten ĂĽber-
sinnlichen (besser aufsersinnlichen) Vorgänge von der Betrachtung
ausgeschlossen. Wie viele Sinne wir haben, ist nicht sicher; neben
den fünf bekannten wird auch noch von einem Sinn für Wärme und
einem für Kälte gesprochen. Von manchen Physiologen wird noch
der Raumsinn als besonderer Sinn anerkannt, der in einem Sinne
für Richtung im Räume besteht. Ob nicht die Menschheit allmählüh
noch weitere Sinne an sich entdecken wird, steht dahin; manche
glauben, einen besonderen Sinn für die Nähe von Körpern, für
Magnetismus u. a. m. zu haben; das mag sein und vielleicht mit der
nervösen Konstitution zusammenhängen.
Man gerät ins Uferlose, wenn man jeder Empfindung einen be-
sonderen Sinn zuschreiben will, und weife auch keine Organe zur
Aufnahme des Sinnes anzugeben (fĂĽr Temperatnrsinn und Raumsinn
sind solche Organe freilich namhaft gemacht).
Die Sinnesempfindungen werden von den Sinnesorganen aufge-
nommen und durch die Sinnesnerven ins Centrainervensystem fort-
geleitet, woselbst sie sich in Wahrnehmung umwandeln. Nur die
Einwirkung auf die Organe können wir noch als physikalisch od»>r
chemisch bezeichnen, nachher, bei der Fortleitung und Wahrnehmung
spielen ebenfalls noch physikalische und chemische Vorgänge sich
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ab; aber wesentlich sind es doch, insbesondere bei der Wahrnehmung,
seelische Momente, welche in Frage kommen. Bekannt ist, dafs viele
griechische Naturphilosophen annahmen, die Sinnesorgane streckten
selbst eine Art unsichtbarer Fühlfäden aus, mit denen sie die Aufsen-
welt gewissermafsen abtasteten. So sollten die Körper uns sichtbar
werden, indem aus den Augen, wie aus einer Laterne, FĂĽhlstrahlen sich
ausstreckten und die Körper absuchten. Wir gehen von der entgegen-
gesetzten Ansicht aus, dafs die Aufsenwelt auf unsere Sinne einwirkt
und unsere Seele diese Einwirkung in ihrer Weise auffafst.
Abhängig ist diese Auffassung von dem Sinnesorgan, auf welches
eingewirkt wird, weniger dagegen von der Art der Einwirkung. FĂĽr
die Vorstellung ganz gleiche Arten von Einwirkungen bringen doch
gänzlich verschiedene Wahrnehmungen hervor, je nach dem Organ, in
dem sie geschehen. Ein Druck auf die FĂĽhlorgane bringt die Wahr-
nehmung, die wir eben „Druck" nennen, ein Druck auf das Auge
(aufser der Druckwahrnehmung, weil auch das Auge FĂĽhlnerven be-
sitzt) die Wahrnehmung „Licht" hervor. Das ist die für die Er-
kenntnis der physikalischen Vorgänge ungemein wichtige Lehre von den
spezifischen Sinnes vermögen. Will man diese Lehre etwas über-
treiben, so kann man sagen: Jeder Sinn reagiert auf alle physi-
kalischen Einwirkungen, welcher A rt sie sein mögen, immer
nur mit gleicher Wa hrnehmu n g, der Gesichtssinn mit Licht,
der Gehörsinn mit Schall u. s. w. Für die Physik lernen wir hier-
aus, dafe man aus der Wahrnehmung nicht auf die Art des physi-
kalischen Vorgangs schliefsen darf, der sie hervorbringt. Wenn also
der Physiker behauptet, Bewegung könne die Wahrnehmung Licht
und Schall hervorrufen, so kann man sich gegen ihn nicht darauf
berufen, dafs Licht, Schall und Bewegung absolut verschiedene
Wahrnehmungen seien, seine Behauptung also unvei ständlich und
unrichtig sein mĂĽsse. Freilich richten sich die Wahrnehmungen nach
besonderen charakteristischen Merkmalen der betreffenden physika-
lischen Vorgänge. Der gleiche physikalische Vorgang Bewegung
kann sehr verschiedene solcher Merkmale haben, beispielsweise kann
die Bewegung eine stetig fortschreitende, eine drehende, eine pen-
delnde u. s. w. sein. Oft aber bedingen, wenigstens in der Vorstellung,
ganz geringe Unterschiede in den Merkmalen sehr bedeutende Unter-
schiede in der Wahrnehmung. Licht wird, wie wir sehen werden, durch
eine pendelnde Bewegung zur Wahrnehmung gebracht, von der Ge-
schwindigkeit dieser pendelnden Bewegung, die doch auf unsere Vor-
stellung von der Bewegung gar keinen Einflufs hat, hängt es aber ab,
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ob wir Rot, GrĂĽn, Blau u. s. w. wahrnehmen. Fast seheint es, als ob
die Seele sich in feinster Arbeitsteilung eine grofse Zahl von Organen
geschaffen hat, deren jedes entweder ĂĽberhaupt nur auf eine Einwir-
kung widerhallt, oder zwar auf mehrere, aber immer in der nämlichen
Weise, und als ob die Seele nach diesen Resonanzen im einzelnen
oder sie vermischend die Aufsenwelt wahrnimmt. Wo, wie in ge-
wissen Krankheitsfällen, diese Organe versagen oder anders wider-
hallen, fehlen auch die Wahrnehmungen ganz oder zum Teil oder
sind die Wahrnehmungen verändert.
Dieses betrifft alles die Qualität der Wahrnehmungen. Wir
finden aber, dafs eine und dieselbe Wahrnehmungsart uns bald stärker,
bald schwächer zum Bewufstsein kommt. Wahrnehmungen gleicher
Art können quantitativ voneinander verschieden sein; wir sprechen
deshalb von einer Intensität der Wahrnehmungen, diese hängt von
der Intensität der Einwirkung auf die Sinnesorgane ab. Indessen
nicht davon allein, sondern auch von der Disposition der Nerven und
des Nervenzentrums, womit nur gesagt ist, dafs unsere Sinne auf
äufsere Einwirkungen bald mehr, bald weniger leioht ansprechen.
Sieht man von den besonderen Fällen einer stärkeren oder schwächeren
Tätigkeit der Psyche selbst ab, oder von Krankheitsfällen, so sind die
beiden Grenzen fĂĽr die Wahrnehmung ausgeruhte Sinne und ermĂĽdete
Sinne. Im ersten Falle sind alle Wahrnehmungen viel intensiver wie im
letzteren, bei ausgeruhten Sinnen können Wahrnehmungen mit erheb-
licher Stärke auftreten, die bei ermüdeten Sinnen sogar gar nicht zum
Vorschein kommen. Die Ruhe und die ErmĂĽdung ist in Bezug auf die
Wahrnehmungen selbst zu verstehen. Ein anderer Umstand betrifft
die Aufmerksamkeit, die wir Wahrnehmungen widmen, veränderliche
Eindrücke sind deshalb leichter wahrnehmbar wie unveränderliche.
Unter sonst gleichen Verhältnissen wächst im allgemeinen die
Intensität der Wahrnehmung mit derjenigen des physikalischen Ein-
drucks auf die Sinne, jedoch keineswegs der Stärke des Eindrucks pro-
portional, sondern viel langsamer. Zunächst mufs der Eindruck eine
gewisse Stärke, den Schwellenwert, überschritten haben, ehe er
überhaupt zur Wahrnehmung führt. Sodann hört, wenn die Stärke
des Eindrucks eine gewisse Höhe überschritten hat, die Intensität der
Wahrnehmung ĂĽberhaupt fast ganz auf, mit weiterem Anwachsen des
Eindrucks zuzunehmen. Wir verlieren dann jedes Urteil ĂĽber die
Stärke des Eindrucks, wir wissen nur, dafe er stark ist, aber nicht
mehr wie stark. Zu allem dem kann sich jeder unzählige Beispiele
selbst zusammenstellen.
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21 s
Nicht minder bedeutend ist der Umstand, dafs auch fĂĽr quali-
tative Wahrnehmung- Grenzen bestehen. Wir unterscheiden bekannt-
lich bei Tönen ihre musikalische Höhe oder Tiefe, zu tiefe Töne
nehmen wir als solche nicht mehr wahr, sondern etwa noch als
knarrendes Geräusch, zu hohe Töne hören wir überhaupt nicht. Die
Skala der Tonwahrnehmung ist also nach oben und unten begrenzt.
Es gibt Tiere, die viel höhere Töne wahrnehmen, als wir Menschen.
Der physikalische Vorgang ist immer der nämliche, was für ein Ton
es auch sein mag, es handelt sich dabei um hin- und hergehende
Bewegungen in dor Luft oder anderen Substanzen; verschieden sind
die Geschwindigkeiten dieser Bewegungen, sie nehmen mit wachsen-
der Höhe zu. Die Seele scheint keine Organe ausgebildet zu haben,
die auf Töne von zu geringer und solche, die auf Töne zu starker Be-
wegung noch widerhallen. Ähnlich verhält es sich mit den Farben
des Liohtes; auch hier ist die Skala des Wahrnehmbaren begrenzt,
die physikalische Farbenskala ist mit der psychischen nur auf einer
kurzen Strecke identisch.
Das fĂĽr uns wichtige Ergebnis ist, dafs wir erstens physi-
kalische Qualität und Quantität durchaus von der Qualität
und Quantität der Wahrnehmung unterscheiden müssen»
zweitens unter Einhaltung der Unterscheidungsregeln ge-
danklich Wahrnehmungen nach Qualität und Quantität phy-
sikalisch beliebig fortsetzen dĂĽrfen, wenn dem Eindrucke
auch keine Wahrnehmung mehr entspricht. Es handelt sich
dann freilich wesentlich um Namen, die wir ĂĽber die Wahrnehmungs-
bedeutung hinaus anwenden.
Alle Wahrnehmung riohtet sioh auf Bestehendes oder auf Vor-
gehendes. Die Naturwissenschaft ist dem entsprechend beschreibend
(deskriptiv) oder erzählend (historisch), sie beschreibt eine Pflanze nach
Gestalt, Farbe, Duft u. s. w. und erzählt vom Wachsen, Blühen, Frucht-
bringen, Welken u. s. w. dieser Pflanze. In beider Hinsicht aber gilt
das zuletzt hervorgehobene Ergebnis des Prinzips der Sinneswahr-
nehmungen. Aus der Wahrnehmung des Vorhandenen können wir
nicht auf die wahre Natur dieses Vorhandenen schliefsen, ebenso-
wenig aus der des Vorgehenden auf die wahre Natur des Vor-
gehenden. Manchmal wird gesagt, dars, indem mehrere, oder gar
alle Sinne zugleich einen Eindruck vermitteln und dabei harmonisch
zusammen wirken oder sich gegenseitig kontrollieren, eine Gewähr
fĂĽr das Wahrgenommene gewonnen wird, z. B. fĂĽr ein Blatt, bei
welchem das Betasten die gleiche Gestaltung ergibt wie das Sehen.
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2 Iii
Dafs das nioht zutreffend sein kann, ist aber klar; die Wahrnehmung
einer Spitze durch AnfĂĽhlen und die durch Hinsehen sind vonein-
ander grundverschieden. Das einzige, was wir wissen, ist, dafs unter
Umständen einer Wahrnehmung stets eine bestimmte andere entspricht.
Aber nicht selten ruft eine WTahmehmun<r eine andere hervor, fĂĽr
die tatsächlich gar kein Objekt vorhanden ist, also eine Täuschung.
So gibt es Mensohen, welche einen Klang zu hören vermeinen,
wenn sie eine bestimmte Farbe sehen, und ich kenne einen in seiner
Wissenschaft hochangesehenen Gelehrten, welcher umgekehrt bei
jedem Vokal, den er spricht, eine Farbe empfindet, und zwar je nach
dem Vokal eine besondere Farbe, Vokale sind bekanntlich Klänge.
Selbst aus dem gewöhnlichen Leben lassen sich viele Beispiele von
solchen Wahrnehmungen anfuhren, die nioht durch Objekte, sondern
nur durch andere Wahrnehmung und Empfindung hervorgebracht
werden. Freilich spielt hier meist Empfindung und GemĂĽtserregung
mit Sinne täuschen nioht nur für sich, sondern veranlassen auch
andere Sinne zu täuschen, selbst wenn sie ihrerseits Wahrheit
sprachen. Und indem sie auch noch miteinander Wettstreiten, ver-
wirren sie oft das Bild des Wahrgenommenen derartig, dafs man
ĂĽberhaupt nicht mehr weife, was eigentlich wahrgenommen ist. Ein
soharfes Scheiden zwisohen der Wahrnehmung und dem Wahr-
genommenen ist also durchaus am Platze. Meist aber können wir
nichts weiter thun, als das Wahrgenommene so mitteilen, wie es
wahrgenommen ist, und es als das hinstellen, als was es wahrgenommen
ist. Im praktischen Leben verfährt man durchgängig so ; die Wissen-
schaft bemĂĽht sich, der Sache mehr auf den Grund zu gehen, wo sie
nicht rein beschreibend ist. Und dann gibt es darĂĽber hinaus Leute,
welche noch weiter gehen und aus reinen Täuschungen der Sinne
sich reale Welten aufbauen, woraus dann TischrĂĽoken, Geisterseherei,
vierdimensionales und manoher 'andere Unfug erwächst. Die letzteren
verfahren gerade entgegengesetzt wie der Forscher, der aus der Wahr-
nehmung des Wahrgenommenen zu erkunden suoht. Man kann das
ganz schön in Formeln bringen; Praktiker: Objekte gleich Wahr-
nehmung! Forscher: Objekte gleich Wahrnehmung? Spiritist: Wahr-
nehmung gleich Objekt! Der Herr in der Mitte ist der Zweifler.
Von dem Leser hoffe ich, dafs er sich diesem anschliefst; er wird bei
den Erklärungen sehen, wie der Forscher die Zweifel zu lösen sucht.
Wenn ferner Vorgängen unter Umständen gar keine Wahr-
nehmung entspricht und wir erst zu besonderen Mitteln greifen mĂĽssen,
um sie der Wahrnehmung zu ersohliefsen, so sind wir in keiner
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'220
Weise sicher, dafs nicht da, wo wir nichts bemerken, gleichwohl etwas
vorgeht. Indem man dieses mit der ferneren Erfahrung verbindet,
dars, je weiter die Hilfsmittel zur UnterstĂĽtzung unserer Sinne aus-
gebildet werden, wir um so mehr Objekte fĂĽr die Wahrnehmung
finden, dehnen wir die Welt mit allen ihren Erscheinungen ins Unbe-
grenzte aus; und das ist es, was wir meinen, wenn wir von Unend-
lichkeit und Ewigkeit sprechen, die nicht Vollendetes sein können,
sondern etwas nach allen Seiten hin Unbegrenztes. Der Naturforscher
begegnet oft bei Laien einem ungläubigen Kopfschütteln, wenn er
von Weltkörpern spricht, gegen deren ungeheure Gröfse die doch so
kolossale Sonne klein erscheint, und wenn er zugleich Körperohen von
so minimaler Winzigkeit annimmt, dafs ein Staubkorn sioh zu ihnen wie
die Sonne zum Korn verhält. Aber man mufs aus dem Erforschten
schliefsen, dafs der Mensch mit seinen Eigenheiten keinen Mafsstab
fĂĽr die Welt abgibt, und der Ausspruch eines alten griechischen
Philosophen, dafs der Mensch das Mafia aller Dinge sei, bezieht sich
nur auf die subjektive Beurteilung. Aus dieser Erkenntnis heraus
ist der Naturforscher zum objektiven Forscher geworden, der streng
nach den Tatsachen geht und vor SchlĂĽssen selbst dann nicht zurĂĽck-
schreckt, wenn sie menschliche Schwachheit berĂĽhren und mensch-
lichen Stolz verletzen.
(Schluh folgt.)
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Ernst Mach und die „Analyse der Empfindungen".
m Jahre 1886 erschien im Verlage von U. Fischer in Jena ein
seltsames Werk. „ Beiträge zur Analyse der Empfindungen" hiefs
ÂŁ der mehr bescheidene als auffallende Titel. Lange Zeit fand es auch
keine besondere Beachtung; war es doch gar zu sonderbar, dafs sich
ein Physiker auf Grund seiner philosophischen Weltanschauung
gegen die bisher allgemein ĂĽbliche Auffassung der Physiologen
wandte. Die glänzenden Ergebnisse der aus dem Berliner physika-
lischen Verein hervorgegangenen Physiologenschule liefsen so leicht
keinen Zweifel an der Allgewalt ihrer Methode autkommen. Und
nun kam gar ein Physiker, der gegen die physikalische Erklärung in
der Physiologie der Sinne als ein Allheilmittel Front maohte, ja der
den Spiefs umkehrte und der Physik von rein physiologischer Seite
her zu Hilfe eilen wollte. „Durch die tiefe Überzeugung, dafs die
Oesamtwissenschaft ĂĽberhaupt und die Physik insbesondere die
nächsten grofsen Aufklärungen über ihre Grundlagen von der Biologie
und zwar von der Analyse der Sinnesempfindungen zu erwarten hat,
bin ich wiederholt auf dieses Gebiet gefĂĽhrt worden". So lautete der
erste Satz in der Vorrede des Machsohen Buohes vom Jahre 1886.
Und was noch als erschwerend hinzukam, es waren wesentlich all-
gemein philosophische Erwägungen, für einen Physiker doch, seit-
dem die Philosophie mit Hegel so glänzend abgewirtschaftet hatte,
ein ganz verpönter Artikel, die ihn zur Opposition gegen die physi-
kalische Physiologenschule eines Du-Bois-Reymond oder Helm-
hol tz fĂĽhrte. Kein Wunder, dafe man achselzuckend oder mitleidig
lächelnd über derlei dilettantenhafte Schrullen hinwegging.
So verflossen denn 14 Jahre, bis eine neue Auflage des Buches
nötig wurde. Aber merkwürdig, diese zweite Auflage war binnen
4 Monaten vergriffen!
In der Tat hatte sich während dieser Zeit eine durchgreifende
Wandlung der Grundanschauungen in der Physik, Physiologie und
Von Dr. H. Kleinpeter in Omunden.
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222
Philosophie zu vollziehen begonnen, die heute freilich noch lange
nicht zu einem völligen Umschwung der landläufigen Ansichten ge-
fĂĽhrt hat, wenn sie ihn freilich doch zu erzielen hofft.
Auf physikalischem Gebiete galt es vordem als ein Axiom, dafs
sich alle Erscheinungen müfsten als mechanische erklären lassen.
Es war dies die Folge einerseits von der Erkenntnis der allgemeinen
Wechselwirkung aller „Naturkräfte41, der Wärme, des Lichtes, der
Elektrizität, wie sie durch die Betrachtungen und Forschungen eines
Faraday, Mayer, Joule, Helraholtz zum Gemeingute der Wissen-
schaft geworden war, andererseits die eines unrichtigen Kausalbc-
griffes. Man glaubte, Gleiches könne nur durch Gleiches hervor-
gebracht, bewirkt werden, Ursache und Wirkung mĂĽfsten gleich-
artig und quantitativ gleich sein. Da nun Wärme durch Bewegung
erzeugt werden könne, müsse Wärme von der Natur einer Bewegung
sein. Man hätto freilich auoh schliefsen können, da Arbeit durch
Wärme hervorgebracht werden könne, so müsse mechanische Arbeit
von der Natur einer Wärme sein. Allein die mechanischen grob-
sinnlichen Erscheinungen waren psychologisch das Geläufigere, und
so führte man die Wärmeerscheinungen auf die mechanischen zurück.
Es war nun das Verdienst Machs, die Unzulässigkeit dieses
Kausalschlusses gezeigt zu haben. Wie schon der schottische
Philosoph Hume vor mehr als 100 Jahren gelehrt hatte, ist es gar
nicht richtig, dafs wir überhaupt ein kausales Verhältnis wahrzu-
nehmen im Stande sind. Wir bemerken stets nur die Aufeinander-
folge zweier Erscheinungen, sehen aber nie das Wie des Bewirkens.
Wir können gar nicht hineinsehen in die Wirkungsweise der Dinge.
Dafs ein Ding einem andern gegenĂĽber handelnd auftritt, ist eine
personifizierende, mythologische Vorstellung. Pflicht einer exakten
Wissenschaft ist es nun aber — was Hume noch nicht erkannt
hatte — nur das anzunehmen, sich nur mit dem zu beschäftigen, was
erkennbar ist. Die exakte Wissenschaft hat es daher nur mit der
Beschreibung der Aufeinanderfolge zu tun. Das aber ist der Haupt-
grundsatz der antimechanistischen, phänomenologischen Naturan-
schauung.
In der Anerkennung dieses Grundsatzes ist nun Mach nicht
allein geblieben. Kirch hoff verkĂĽndete es als Aufgabe der Mechanik,
die in der Natur vorkommenden Bewegungen auf die einfachste Art
zu beschreiben. Wenn ich zu jeder Zeit den Ort eines jeden Massen-
punktes kenne, dann kann ich jede Aufgabe der Mechanik als ge-
lost betrachten. Kenne ich aufserdem zu jeder Zeit die Temperatur
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22.)
einer? jeden Punktes, so ist mir keine Aufgabe der reinen Wärmelehre
verschlossen. In demselben Sinne äufserte sich Heinrich Hertz.
Ks liegt nur wenig daran, wie ich zu den Gleichungen eines Ki-
scheinungsgebietes komme; genug an dem, dafs dieselben sich als ge-
eignet erweisen, die Phänomene zu beschreiben.
Weiter aber, als diese berĂĽhmten Physiker, geht Mach. Die
phänomenologische Naturauffassung bildet ihm nur einen Teil seiner
phänomenologischen einheitlichen Weltanschauung. .,Farben, Töne,
Wärme, Drucke, Räume, Zeiten u. s. w. sind in mannigfaltiger Weise
miteinander verknĂĽpft, und an dieselben sind Stimmungen, GefĂĽhle
und Willen gebunden. Aus diesem Gewebe tritt das relativ Festere
und Beständigere hervor, es prägt sich dem Gedächtnisse ein und
drückt sich in der Sprache aus. Als relativ beständiger zeigen sich
zunächst räumlich und zeitlich verknüpfte Komplexe von Farben,
Tonen, DrĂĽcken u. s. w., die deshalb besondere Namen erhalten und
als Körper bezeichnet werden. Absolut beständig sind solche
Komplexe keineswegs. Ks sind also nicht die Dinge (Körper), sondern
Farben, Töne, Drucke, Räume, Zeiten (was wir gewöhnlich Empfindun-
gen nennen) eigentliche Kiemen te der Welt. Es sind ;ilso nicht,
wie man gemeiniglich glaubt, die Empfindungen Zeichen gewisser
Dinge, sondern umgekehrt ein Ding ein Name fĂĽr einen ziemlich be-
ständigen Komplex von Erscheinungen.
Diese Anschauung hat Mach ĂĽber den Bereich der materiellen
Körperwelt hinaus ausgedehnt. Nicht nur die Körper sind nichts
Anderes als relativ beständige Vorstelluugsgruppen, sondern auch unser
Ich. Auch das besteht aus einem Komplex von Vorstellungen, Emp-
findungen und GefĂĽhlen, die mehr oder weniger miteinander zu-
sammenhängen, keineswegs aber einen absolut beständigen festen
Kern enthalten. Auch das Ich ist beständigem Wechsel unterworfen.
Das Ich des Greises ist von dem des JĂĽnglings oft so verschieden,
dafs sich beide fremd gegenĂĽberstehen.
Die Beobachtung dieser Elemente bildet somit die Aufgabe der
Wissenschaft. Der Dualismus tritt ganz zurück, „es gibt keine Kluft
zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draufsen,
keine Empfindung, der ein äufseres von ihr verschiedenes Ding
entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente, aus welchem sich das ver-
meintliche Drinnen und Draufsen zusammensetzt, die eben nur, je
nach der temporären Betrachtung, drinnen oder draufsen sind'1. „Eine
Farbe ist ein physikalisches Objekt, sobald wir z. B. auf ihre
Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle achten. Achten wir
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aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut, so ist sie ein
psychologisches Objekt, eine Empfindung. Nicht der Stoff,
sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden".
Auf diese Weise löst Mach die ganze materielle Welt in
Elemente auf, die zugleich auch Elemente der psychischen Welt sind,
und legt so den Grundstein zu einer streng wissenschaftlichen monisti-
schen Weltauschauuog. Sie unterdrĂĽckt weder die psychische Seite
wie der Materialismus oder Haeckel, noch die materielle, wie so viele
Gedankenbauten von Philosophen. Die Hervorkehrung und Präzi-
sierung dieser allgemeinen Weltanschauung ist es nun in erster Linie,
die Machs Buch „Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis
des Physischen zum Psychischen" zu einem so interessanten und
bedeutungsvollen macht Denn Mach hat seine Ansichten nirgends
in Form eines Systems veröffentlicht, sondern stets nur im Anschlufs
an andere wissenschaftliche Forschungen; der Gegenstand dieses
Werkes aber ist es, der am meisten zu so allgemeinen Betrachtungen
herausfordert und der dieses Buch infolgedessen zu einer Hauptquelle
der Mach sehen Gedankenwelt macht. Es ist aber gar kein Zweifel,
dafs das Interesse an derselben im steten Steigen begriffen ist, wie
nicht nur die sich mehrenden Neuauflagen älterer und jüngerer Werke
Machs, sondern auch viele Auseinandersetzungen in wissenschaft-
lichen Zeitschriften und BĂĽchern anderer Autoren beweisen. Dazu
kommt, dars Machs interessante Schreibart die LektĂĽre zu einem
wahren VergnĂĽgen macht, die allerdings eine Voraussetzung erfordert,
nämlich völlig vorurteilsfreies Herantreten an dieselbe. Machs Be-
deutung, aber auch Schwierigkeit liegt in der gänzlichen Emanzipation
ererbter Vorurteile; nur wer ihm darin zu folgen vermag, kann ihn
verstehen. Daher kommt es, dafs es zumeist nur die jĂĽngere Gene-
ration ist, die seine Gedanken aufzunehmen vermag, dafs in anderen
Anschauungen aufgewachsene ältere Männer aber oft eine geradezu
unbegreifliche absolute Verständnislosigkeit den einfachsten Ideen
Machs entgegenbringen. Das erklärt die Verschiedenheit der Urteile;
das erklärt aber auch das langsame aber stetige Steigen der An-
erkennung und läfst einen vollständigen Durchbruch derselben nur
als eine Frage der Zeit erscheinen.
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Eine mutmaĂźliche Ursache der Eiszeit.
Das Problem der Eiszeit hat die Geologen und Geophysiker von
jeher beschäftigt, ohne bis jetzt eine Lösung gefunden zu haben. Trotz
der Schwierigkeit oder gerade wegen der Schwierigkeit der Materie
ist das Interesse an dem Gegenstande rege geblieben, und jede neu
auftauchende Idee, die vielleicht die Beantwortung der Frage nach
der Ursache des diluvialen Glacialphänomens ermöglichen könnte,
mufs mit Freuden begrĂĽfst werden. Das Schicksal des neuen Geiste*-
kindes freilich ist der Zukunft vorbehalten.
Im Hinblick hierauf wird den Leser eine neue einschlägige Hy-
pothese interessieren, die vor einiger Zeit in der Naturforschenden
Gesellschaft in Basel von Dr. F. Sarasin zum Vortrag gebracht
wurde und die Anspruch auf Beachtung erheben darf, da sie einen
Weg vorzeichnet, auf welchem an der Hand meteorologischer und geo-
logischer Arbeiten eine Lösung des Problems wohl Aussicht auf Krfolg
haben könnte. Die neue Hypothese gehört in die Gruppe der soge-
nannten tellurischen Erklärungsversuche. Ohne hier die verschiedenen
Erklärungsversuche zu berühren, welche die Ursache der Eiszeit ent-
weder in rein kosmischen oder rein tellurischen Erscheinungen, endlich
in kombinierten Wirkungen tellurischer und kosmischer Verhältnisse
suchen, sei darauf hingewiesen, dafs die widerstreitenden Ansichten
doch in einem Punkte sich vereinigen, in der Meinung nämlich, dafs
zur Einleitung und Erhaltung einer Glacialperiode ein Sinken der
Jahrestemperatur und eine Steigerung der atmosphärischen Nieder-
schläge als wesentliche Faktoren anzusehen sind. Auch hat sich die
Ansicht abgeklärt, dafs diese Faktoren nicht lokale Folgeerscheinungen
bislang unbekannter Ursachen sein können, vielmehr auf dem ganzen
Erdenrund gleichzeitig zur Geltung kamen, oder mit anderen Worten,
dafs die diluviale Eiszeit auf unserem Planeten ĂĽberall in die Erschei-
nung getreten ist durch Vorschreiten der gerade damals vorhandenen
Gletscher auf einem Boden, der in seiner Ausbreitung den heutigen
Bimmel un.l Er Je. 1903. XV. 5. 15
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Verhältnissen im ganzen ziemlich genau entspricht; die Verteilung von
Wasser und Land dürfte zu jener Zeit annähernd die gleiche gewesen
sein wie gegenwärtig. Darin ist man wohl auch einig, dafs eine vor-
schreitende Ausbreitung der Höhengletscher hinein in das Tiefland
schon durch ein Sinken der mittleren Jahrestemperatur um einen Be-
trag von nur 3 — 4° C. bei gleichzeitig gesteigerten Feuchtigkeitsver-
hältnissen erfolgen mufs; eine Abnahme der gegenwärtigen mittleren
Jahreswärmo um 6° den alleräufsersten Grad der mittleren Kälte inner-
halb der Eiszeit bedeutet.
P. und F. SaraBin formulieren hiernach ihre Fragestellung
folgendermafsen : Gibt es eine Ursache, welche im stände ist, auf dem
ganzen Planeten die Sonnenwärme um etwa 4° C. auf lange Zeit hinaus
abzuschwächen und zugleich eine Steigerung der Luftfeuchtigkeit her-
vorzurufen? Diese Ursache nun glauben die Autoren in den vul-
kanischen Höhenstaubwolken gefunden zu haben. Um diese
Behauptung zu bekräftigen, weisen sie auf die Folgeerscheinungen der
gewaltigen Eruption des Krakatau im Sommer 1883 hin. Unter diesen
interessieren hier die gewaltigen Massen feinsten vulkanischen Staubes,
welche in beträchtlichen Höhen von Osten nach Westen die äqua-
torialen, später auch die Teile höherer Breiten der Erde während eines
Zeitraumes von 2—3 Jahren umkreisten. Sie bildeten zusammen mit
Eiskristallchen der gleichzeitig emporgeschleuderten Wasserdampf-
massen Nebelschleier, welche die bekannten glänzenden Dämmerungs-
erscheinungen hervorriefen. Nach Angaben verschiedener Beobachter
ist in niederen Breiten durch diese Nebel die tiefstehende Sonne ganz
verdeckt und selbst die Mittagssonne verschleiert worden. Das Tages-
gestirn konnte aus jenem Anlass oft mit ungeschĂĽtztem Auge be-
obachtet werden. In höheren Breiten traten diese Erscheinungen auch
auf, nur in abgeschwächter Form.
Von Wichtigkeit sind nun fĂĽr obige neue Hypothesen die
durch jene vulkanischen Höhennebel hervorgerufenen Einflüsse auf
die Temperatur und die Feuchtigkeit der unteren Luftschichten.
Förster- Berlin sagt in seinen schliefslichen Forschungsergebnissen,
betreffend die Krakatau-Phanomene 1889, dafs jene Nebelsohleier die
Licht- und Wärmestrahlungen der Sonne merklich geschwächt haben;
andere Beobachter konstatierten dieselbe Tatsache. Weiter werden
aus der Literatur Beläge dafür erbracht, dafs jene suspendierten Staub-
teilchen Wolken- und Nebelbildung begĂĽnstigten und Ursache sehr
hoher relativer Feuchtigkeit gewesen seien, so dafs die Wetterzustände
an der Erdoberfläche dadurch merklich beeinflufst wurden. Die
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227
kleinsten Staubteilchen können als Kerne für die Kondensation des
Wasserdampfes g-edient haben.
Aus diesem allen folgt, dafs durch die Eruption eines einzigen
Vulkanes bemerkbare Störungen der Licht-, Wärme- und Feuchtigkeits-
verhältnisse ausgedehnter Gebiete in den Tropen und den gemäfsigten
Zonen der Erde während 2 — 3 Jahren hervorgerufen worden sind. Die
gesteigerte Kraft der Kraukatau-Eruption erklärt sich aus dem Zutritt
des Meeres zu dem unterirdischen Feuerherde.
Ă„hnliche Erscheinungen haben nach P. und F. Sarasin am Ende
der Pliocän- und in der Pleistocän (Quartär)-Periode — das ist aber
gerade die Zeit jener in Rede stehenden ausgedehnten Eisausbreitungen
auf der Erde — stattgefunden. Denn in diese Zeit fallen nach geo-
logischen Feststellungen die DurchbrĂĽche von gewaltigen glutflĂĽssigen
Massen am Rande der neu gestalteten Festländer, die durch die heute
noch größtenteils tätigen, zahllosen Vulkane in ihrer räumlichen Ver-
teilung gekennzeichnet sind. Jene Eruptionen mĂĽssen denen des
Krakatau ähnlich gewesen sein, da auch sie infolge des Zutrittes des
nahen Meeres ganz gewaltige Intensität gehabt und zu der feinpulve-
rigen Zerstiobung der ausgeworfenen Gesteinsbrocken unter Empor-
schleudern von ungeheuren Dampfmassen gefĂĽhrt haben dĂĽrften. Die
Häufigkeit und langandauernde Aufeinanderfolge der pliocänen und
pleistocänen vulkanischen Eruptionen mufsten jene meteorologischen
Folgeerscheinungen in besonders kräftiger Weise hervorrufen. Die
schliefslich niedergegangenen Staubmassen könnten vielleicht in dilu-
vialen Löfsablagerungen noch nachgewiesen werden.
Es ist hiernaoh also anzunehmen, „dafs vom Ende der Pliocän-
zeit an durch die Glacialperiode die ganze Erde von einem Mantel un-
geheuerer Massen von Eruptionsstoffen, vermischt mit Wasserdampf
und Gasen, umhĂĽllt gewesen seiu. Ein Sinken der Temperatur durch
Herabminderung der Sonnenstrahlung während langer Zeiten, eine
gleichzeitige Steigerung der Feuchtigkeit und der Niederschläge, daher
«in Vordringen der vorhandenen Höhengletsoher und der nordischen
Eismassen mufsten nach obigem die unausbleiblichen Folgen sein.
In dieser so entstandenen und unterhaltenen Eisperiode konnten
Ruhe- und Rückschrittsperioden eintreten als Folgen längerer Ruhe-
pausen der vulkanisohen Tätigkeit; es sind dies die bekannten Inter-
glacialzeiten.
Nicht zu verschweigen ist, dafs im Laufe der ganzen Tertiärzeit
DurchbrĂĽche vulkanisoher Gesteinsmassen erfolgt sind, die vielleicht
Auch zu den oben geschilderten Vorgängen hätten Anlafs geben müssen.
15»
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228
Sarasin weißt aber darauf hin, dafs die tertiären Ergüsse zum
gröfsten Teil ohne bedeutende explosive Bogleiterscheinungen vor
sich gegangen, also im ganzen ruhig sich vollziehende DeckenergĂĽsso,
ähnlich dem Trapp in Vorderindien, gewesen seien.
Gesteigerte vulkanische Tätigkeit mit heftigen Eruptionen hat
nach der neuen Theorie zur Entstehung und Erhaltung einer Eiszeit
gefĂĽhrt. Eine StĂĽtze fĂĽr diese Annahme findet sich in Vorkommnissen
einer weiter zurĂĽckliegenden Periode der Erdgeschichte. Zur Perm-
formation nämlich haben heftige, weit ausgedehnte Bodenbewegungen
mit gewaltigen Eruptionen sich ereignet, und gerade aus jener Zeit
kennt man Spuren einer allgemeinen Vergletscherung, die mit dem
quartären Glacialphänomen in Parallele zu stellen sind. „Feuerzeiten
der Erde wurden demnach von Eiszeiten kausal begleitet".
Soweit die neue Theorie. Ist der Betrag, um welchen durch vul-
kanische Höhenstaubwolken die Temperatur herabgemindert und der
Feuchtigkeitsgrad der Erdatmosphäre erhöht wird, grofs genug, so daf<
die mittlere Jahrestemperatur um mindestens 4° herabgedrückt wird.
— eine Feststellung, die schwer ausführbar sein dürfte, — und ist der
Nachweis möglich, dafs die vulkanische Tätigkeit zu Ende der
Pliocän- und zu Anfang der Quartärzeit wirklich durch Häufigkeit und
Intensität der Ausbrüche ausgezeichnet war, so könnte die Hypothese
Sarasins wohl Aussicht auf Anerkennung erlangen.
Dr. Lakowitz-Danzig.
n
Die blaue Farbe des Himmels
wurde in der verschiedensten Weise erklärt; die einen suchten die
Deutung auf physikalischem Wege und stĂĽtzten sich auf die Versuche
Tyndalls an beleuchteten Dämpfen, während die anderen sich an
die Chemie hielten, und die eigene Farbe der Bestandteile der Atmo-
sphäre als Ursache anführten, ohne damit rechten Anklang zu finden.
Nun kommt Spring in LĂĽttich auf Grund anderer Ăśberlegungen und
Versuche zu ganz anderen Ergebnissen. Hatte Lord Rayleigh durch
mathematische Entwicklung dargelegt, dafs in trĂĽben Medien, also in
Luft, die mit feinsten Staubteilchen erfĂĽllt ist, die Polarisationsebeno
so liegt, wie es Tyndall beobachtet hatte, und dafs solche Medien
für durchfallendes Licht rötlich aussehen, für reflektiertes aber bläu-
lich, so wies Spring nach, dafs andere Strahlen als die blauen ebenso
polarisiert sind, so dafs der Beweis nicht mehr zwingend ist; vielmehr
mutete der Himmel sogar violett aussehen. Ferner kommen diese
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229
Staubteilchen nur bis zu 1000 oder 2000 m Höhe vor, und darf man
an die Reflexion an den GasmolekĂĽlen selber nicht denken, so dals
auch der Ursprung des Blau durch Reflexion hinfällig' ist. Dem
gegenĂĽber hat nun Hagenbach an die Schichten verschiedener
Dichtigkeit gedacht, welche die Atmosphäre durchkreuzen, und auf
diese Weise die Lichtstrahlen brechen und zurĂĽckwerfen. Jedenfalls
beweisen die Experimente von Spring, dafs ein trĂĽbes Medium einem
auf dessen Tiefe befindlichen Beobachter nur dann blau gefärbt er-
scheint, wenn das Medium an sich die blaue Farbe besitzt. Allein
der Gehalt an Sauerstoff ist vollkommen genĂĽgend, um dem Himmels-
gewölbe das blaue Aussehen zu verleihen, das Vorkommen von Staub-
teilchen hat nur die Wirkung, die Intensität des Blau zu schwächen,
und nioht, wie man meist glaubt, sie zu verstärken. R.
*
Ein merkwĂĽrdiges Meteor ist in Havre beobachtet worden. Es
war hell wie Venus und bewegte sich in gerader Linie von Capeila
nach ,3 Persei. Dort änderte es seine Richtung, beschrieb eine Art
Schleife, und eilte dann in einer Kurve auf Aldebaran zu. Die
ganze Erscheinung dauerte 12 Sekunden. Die Karte zeigt, dafs die
Verbindungslinien der Sterne einen Winkel von etwa 50° bilden, so
dafs eine sehr starke ßahnänderung vorliegt. Diese kommt wahr-
scheinlich daher, dafs der Körper die Luft vor sich her so stark zu-
sammendrückte, dafs ihre Elastizität ihn gewissermaßen zurückschau-
derte; jedenfalls hat er in der Atmosphäre sehr starken Widerstand
gefunden; das beweisen nioht nur sein Glanz, sondern auch die Tat-
sache, dafs er beim Verschwinden in 3 bis 4 StĂĽcke von der Hellig-
keit von Sternen der zweiten Gröfso zersprang. R.
f
Veränderlichkeit kleiner Planeten ist das neueste auf dem Ge-
biete dieser zahlreichen Körperchen. War es zwar schon früher öfter
vorgekommen, dafs die Gröfsenangaben eines Planeten von 2 Er-
scheinungen nicht miteinander zu vereinigen waren, so brachte die
Sorgfalt, die durch E. v. Oppolzer der Erscheinung des Eros ge-
widmet wurde, die ĂĽberraschende Feststellung, dafs dieser Planet in
der Tat von veränderlicher Helligkeit sei, indem er innerhalb von nur
5>/4 Stunden seine Helligkeit um 2 Gröfsenklassen änderte. Noch
viel merkwĂĽrdiger ist ĂĽbrigens, dafs diese Lichtschwankung keine
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230
dauernde Erscheinung1 ist, sondern nur zu gewissen Zeiten aufiritt.
Dies aufzuklären, mufs den Untersuchungen spaterer Jahre vorbe-
halten sein. Ob die Veränderlichkeit durch eine sehr unregelmäßige
Gestalt des Körpers zu erklären ist, der vielleicht einem grofsen
Felsblock zu vergleichen ist, oder ob die verschiedenen Teile der
Oberfläche das Licht verschieden reflektieren, kann ebenfalls noch
nicht entschieden werden. Nachdem diese EigentĂĽmlichkeit des Eros
bekannt geworden war, konnte es nicht mehr wunder nehmen, dafs
auch andere Planetoiden als veränderlich erkannt worden sind. So
zog der Planet Tercidina auf einer photographischen Platte von
Wolf einen Strich, einer Perlenschnur ähnlich, indem die Zeiten
gröfserer Helligkeit die dickeren Stellen der Linie bewirkten. Die
Periode war etwa 4 Stunden, später nur noch 100 Minuten, also auch
veränderlich, wie bei Eros. Jedenfalls wird sich unsere Kenntnis
derartiger Körper noch sehr vermehren. R,
Der Apex, d. h. der Punkt, auf den die Sonne sioh hinbewegt,
ist schon seit lange Gegenstand vieler Untersuchungen. Da der von
der Sonne seit Beginn der darauf bezĂĽglichen Beobachtungen zurĂĽck-
gelegte Weg sehr klein ist, so ist die Aufgabe der Apexbestimmung
etwa vergleichbar der Forderung, eine Linie von 1 km Länge abzu-
stecken, von der nur zwei um 1 mm voneinander entfernte Punkte des
einen Endes gegeben sind. Die Unsicherheit des anderen Endpunktes
leuchtet ohne weiteres ein. Man bestimmt den Apex auf Grund der
Ăśberlegung, dafs in dem Mafse und Sinne, wie die Sonne zwischen den
Sternen dahin läuft, diese gewissermaßen ebensoviel zurückbleiben
mĂĽssen, oder mit anderen Worten aus den Eigenbewegungen der
Sterne. Diese sind aber schwer zu bestimmen, denn bei vielen Sternen
ist der Zeitabstand der Beobachtungen noch viel zu gering, andere
sind wahrscheinlich Glieder von Doppelsternsystemen, die als solche
erst noch erkannt werden mĂĽssen. Jedenfalls sieht man, dafs je
gröfser der Zeitunterschied etwa gegen die Beobachtungen von Bessel
wird, und je mehr der früher vernachlässigte südliche Sternhimmel
seinen Beitrag liefert, um so genauer das Resultat werden wird, indem
sioh dann der oben erwähnte Abstand von 1 mm entsprechend ver-
gröfsert. Während man vor 50 Jahren allgemein einen Punkt in dem
sehr ausgedehnten Sternbild des Herkules als Apex bezeichnete, ver-
legen neuere Arbeiten von Newcomb. Kaptevn und Campbell
ihn etwa zwischen % und % Lvrae. R.
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231
Telephonisches aus Amerika. In den letzten Jahren hat sich
die materielle Lage der Farmer des Westens der Vereinigten Staaten
erheblich gebessert. Seit den schlechten Zeiten von 18D4 gibt es
in den Trans-Mississippi-Staaten keine Panik und keine Hvpotheken-
misere mehr. Der dortige Landwirt verfĂĽgt jetzt ĂĽber einen Re-
servefonds von Geld, Mut und Hoffnung. Die gedeihlichen Ver-
hältnisse äufsern sich am augenfälligsten in der Annahme moderner
wissenschaftlicher Erfindungen seitens des Landwirtes. In Kansas
und anderen westlichen Staaten hat er das Automobil eingefĂĽhrt.
Verbesserte Betriebsbehelfe, wie neuartige Maschinen etc., finden leb-
haften Absatz. Luxusartikel für den Haushalt oder den persönlichen
Gebrauch werden flott gekauft. Die neuerlich vielfach bewilligte
unentgeltliche Zustellung der Post und die Eröffnung langer Strecken
elektrischer Trarabahnen bringen die Farmer in immer innigeren
Verkehr mit den Städten. Einige der schwierigsten Probleme des
landwirtschaftlichen Lebens sind durch den Gebrauch des Telephons
gelöst worden. Eine immer gröfsere Anzahl von Farmen schliffet
sich zu kleinen Telephongesellschaften zusammen, um teils mitein-
ander, teils mit den Bevölkerungsmiltelpunkten in enge Berührung
zu kommen, Einkaufsbestellungen zu machen, Neuigkeiten zu erfahren,
die frĂĽher unbekannte Preisbewegung dauernd kennen zu lernen und
sich ĂĽber die gesellschaftliche Vereinsamung durch telephonisches
Geplauder hinwegzutäuschen. Im Umkreis vom 50 km von Chicngo
sind bereits fast 2000 Landwirte Telephoninhaber. Man takelt ent-
weder primitive gemeinsame Leitungen ii $ 10 pro Teilnehmer Her-
stellungskosten auf oder zahlt einer kleinen Gesellschaft monatlich
1 Doli. AbonnentengebĂĽhr. Im Staat Maryland giebt es tausende von
Farmern, die bei örtlichen Netzen abonniert sind, welche Netze immer
gröfser werden und sich allmählich aneinander schliefsen.
Allerneuestens hat sich das Telephon der Eisenbahn-Zugexpedition
bemächtigt, indem zunächst eine grofse amerikanische Bahngesellschaft
versuchsweise den Telegraphen durch das Telephon ersotzt hat, um
eine aufserordentliche Vereinfachung des Streckendienstes zu erzielen.
Mittels Hinzufügung eines Phonographen erlangt man ständige Auf-
zeichnungen der erteilten Befehle. Diese Neuerung wird gewifs zur
Beseitigung gar manoher Unfalls Ursache führen. Ermöglicht ist sie
durch die immer gröfsere Zunahme der Entfernungen, in welche
telephoniert werden kann; welche Möglichkeiten die Zukunft hinsiohtlich
der Verwertung langer Telephonstrecken noch bergen mag, kann
man heute kaum ahnen. K— r.
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2.U
Wie man ein Eldorado schafft.
Die nordamerikanischen Landwirte sind in den letzten Jahren
auch Männer der Wissenschaft und tüchtige Geschäftsleute geworden,
namentlich ist dies im Westen der Fall, wo sie ihre Farmen durch
allerlei technische Behelfe ertragsfähig machen müssen. Es ist geradezu
märchenhaft, wie sie in verhältnismäßig kurzer Zeit aus Sandwüsten
und total unfruchtbarem Hoden wahre Paradiese hervorzaubern. Dies
geschah auch mit dem Landstrich Utah, der mehr als ein Vierzehntel
der Gesamtfläche der Vereinigten Staaten ausmacht. Dort war die
Landwirtschaft, wie man sie unter gewöhnlichen Umständen treibt,
einfach unmöglich, da es fast gar keinen Regen gab. Diesen mufste
man vor allem kĂĽnstlich mit dem Spaten erzeugen, d. h. man fĂĽhrte
ein permanentes Berieselungssystem ein.
Die Resultate waren überraschend. Die Berieselungsgräben
machten den Mormonenstaat reich. Tausende von blĂĽhenden Farmen
bedecken jetzt den Landstrich, welchen man früher die „grorse
amerikanische WĂĽste'1 nannte. Vor fĂĽnfzig Jahren gedieh in SĂĽd-
Kalifornien nichts anderes als Kaktus und Mezquit; und heute ist es
ein fruchtbares, herrliches Land, von welchem jährlich 30000 Wagen
Zitronen und Orangen der besten Sorte verschifft werden. Ein Morgen
lindes, den man damals fĂĽr einen Dollar erstehen konnte, ist jetzt
Tausende von Dollars wert.
In Rockey Ford (im Arkansas -Tal, Colorado), wo Männer, die
man heute noch nicht alt nennen kann, nach BĂĽffeln jagten, erhebt
sich eine der gröfsten Zuckerfabriken, die meilenweit von berieselten
Rübenfeklern umgeben ist. Aus jener Gegend werden alljährlich
fĂĽnf- bis achthundert Wagenladungen Warzenmelonen verschilft. Im
letzten Jahre gelangten von dort 300000 Schafe zur Versendung, die
sich von der durch die Berieselung in der WĂĽste reichlich wachsenden
Luzerne ernährt hatten. Gegen Osten zu, in der Nähe der Kansas-
Staatslinie, besteht das gröfste Berieselungssystem Amerikas, ja eins
der gröfsten der Welt Es ist kürzlich mit einem Kostenaufwand von
ĂĽber einer Million Dollars fertig geworden und vermag 200000 Morgen
Landes zu berieseln. Seine fünfstöokigen Reservoirs bedecken
13000 Morgen und speisen sieben Kanäle in der Länge von 311 engl.
Meilen, die Ililfsgräben noch 200 engl. Meilen dazu. Dieses Be-
rieselungswerk ist kĂĽrzlich einer RĂĽben - Zuckerfabrikgesellschaft
ĂĽbertragen worden, welche ĂĽberdies 1Ăś0000 Morgen erstand und die
Absicht hat, dieselben mit Rübenbauern zu bevölkern und eine Fabrik
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233
grofsen Stils an einem gĂĽnstigen Punkt der Atchison-Topeka- und
Santa Ft-Eisenbahn zu errichten.
Wenn man bedenkt, dafs dieses Tal mit seinen Tausenden von
wohlhabenden Farmern, seinen ungeheuren Obstkulturen, seinen nach
Hunderttausenden zählenden Schafherden, seiner Zuckerfabrik, die im
vorigen Jahre 15000 Tonnen Zucker erzeugte, und mit der Aussicht
auf eine zweite, noch gröfsere, vor wenigen Jahren eine unfruchtbare
WĂĽste war, so mufs man vor den rĂĽhrigen landwirtschaftlichen
Pionieren den Hut ziehen. Aufser SĂĽd-Kalifornien ergibt kein anderer
Teil Nordamerikas bei so geringem Risiko einen so hohen Durch-
schnittsertrag per Acker wie das Arkansas-Tal.
Nach allein Gesagten ist es nicht zu verwundern, dafs die
Regierungs-Ländereien immer rarer werden; aber jene Gegend hat
nooh hundert Millionen Acker dĂĽrren Landes, das der Berieselung
harrt, und es heifst, dafs dort vierzig Acker berieselten Bodens ein
gröfsere8 Erträgnis abwerfen als das Vierfache im Osten. Selbst-
verständlich kann die Urbarmachung einer so ungeheuren Streck»*
nicht von heute auf morgen erfolgen; aber die Regierung bemĂĽht
sich, dieselbe nach und nach ebenfalls in ein Paradies verwandeln zu
helfen. B. K— r.
«
Verstand oder Naturtrieb?
In dem Aufsatze ĂĽber die Bedeutung der RegenwĂĽrmer, im
vorigen Jahrgange dieser Zeitschrift, war auf Seite 569—570 betont
worden, dafs aus dem Verhalten von RegenwĂĽrmern gegen ihnen ganz
unbekannte Gegenstände auf den Gebrauch von Verstand in der Be-
urteilung dieser Gegenstände seitens der Würmer geschlossen werden
mĂĽsse. Wenngleich diese Behauptung auf Darwin zurĂĽckgefĂĽhrt
wird, so dĂĽrfte es dooh wohl verfehlt sein, ganz allgemein auf Ver-
stand zu schliefsen, wo ein lebendes Wesen sich neuen Erscheinungen
gegenüber ohne weiteres zu helfen weifs. Gerade hier wäre es viel
richtiger, die Wirkung eines angeborenen Naturtriebes anzunehmen,
der das betreffende Wesen ohne eigene Ăśberlegung dazu zwingt,
irgend einer Erscheinung gegenĂĽber sich in einer bestimmten Riohtung
zu verhalten. Je höher entwickelt das betreffende Wesen ist, desto
mehr wird der angeborene und ohne Besinnen sich äufsernde Natur-
trieb einer Ăśberlegung Platz machen, und desto unschlĂĽssiger wird
das betreffende Wesen neuen Erscheinungen gegenĂĽber sich verhalten.
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'234
WĂĽrde ein sofortiges Reagieren auf neue Erscheinungen Verstand
verraten, so mühten wir namentlich solchen auch unbelebten Körpern
zusobreiben, die, miteinander in Verbindung gebracht, ohne weiteres
die entsprechenden chemischen und physikalischen Einwirkungen auf-
einander ausĂĽben, die in ihrer Natur liegen. Vorsetzen wir z. B. eine
Goldlösung mit Eisenvitriol, so ist ohne weiteres anzunehmen, dafs die
betreffenden Goldatome noch niemals mit EisenvitriolmolekĂĽlen zu-
sammen getroffen sind. Dessen ungeachtet wird sich aber alsbald die
in der Natur der Dinge liegende Ausfällung des Goldes durch das
Eisenvitriol vollziehen. Ebenso verhält es sich auch mit allen anderen
chemisch aufeinander einwirkenden, wenngleich in der Natur nie zu-
sammen vorkommenden Stoffen; sie wissen immer, was sie zu tun
haben, ohne dafs von Verstand die Rede wäre. Es wird auch im
allgemeinen niemand organischen Stoffen irgend welche Verstandes-
fähigkeiten zuschreiben, obgleich allerdings schon von mancher Seite
die kĂĽhne Behauptung aufgestellt worden ist, dafs die KohlenstofT-
atome in gewissem Grade schon von vornherein gedächtnisbildende
Eigenschaften besäfsen. Bei den niedrigen lebenden Wesen tritt nun
zu der allgemeinen chemischen Reaktionsfähigkeit der sie zusammen-
setzenden Stoffe noch ein gewisses Mafs von Naturtrieb hinzu, der
dem betreffenden Wesen als solchem eigentĂĽmlich ist, und der seine
Handlung lenkt Auf einer höheren Stufe tritt dann noch zu diesem
Naturtriebe die Überlegung hinzu. Während es bei jenem jeder Er-
scheinung gegenüber nur eine einzige Möglichkeit giebt, die ohne
weiteres wahrgenommen wird, so zeigt die Ăśberlegung bereits das
Vorhandensein mehrerer Möglichkeiten an, zwischen denen gewählt
werden kann. Von Überlegung kann demgemäfs erst dann geredet
werden, wenn das betreffende Wesen nioht mehr mit unbedingter
Sicherheit handelt, sondern sich offenbar schon im Zweifel darĂĽber
befindet, was es zu tun hat. G. R.
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§$$$ Himmelserscheinungen.
Ăśbersicht der Himmelserscheinungen fĂĽr
März - April - Mai.
Am Anfange dieser Zeit bieten die Abende noch einen durchaus winter-
lichen Anblick des Himmels, der durch die am westlichen Himmel zum Unter-
fange sich neigenden Sternbilder des Stier und Orion, sowie des tiof im SĂĽden
sichtbaren Sirius, und höher des kleinen Hund gekennzeichnet wird. Dio
Zwillinge stehen im Meridian, bald darauf der Löwe, während am östlichen
Himmel Jungfrau, Bootis und Krone aufzugehen begonnen haben. Gegen
Schlufs dieser Monate zoigt der Abendhimmel dann noch Scorpion, Hercules,
Leycr, Adler und Schwan, während Orion und Stier in den Strahlen der Abend-
sonne bis zum Herbst verschwinden. Im Juni erscheinen der Reiho nach
Fuhrmann, Orofser Bär und Jagdhunde. Dio genauere Orientierung geht aus der
Lage folgender hellerer Storno hervor, die um Mitternacht nach Berliner Zeit
kulminieren.
4. Marz
•< Hydrao
(3. Qr.)
(AR 10 h
45«»,
D. — 15°
41')
10. „
o Leonis
(2. Gr.)
11
t)
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3
10. n
3 Leonis
(2. Hr.)
il
44
+ 15
7
27. -
7, Virginis
(3. Gr.)
12
15
— 0
8
1. April
7 Virgiuis
(3. Gr.)
12
37
— 0
55
«. „
z Virginis
|3. Gr.)
12
57
11
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12. ..
a Virginis
(l.Gr.)
13
20
- 10
39
2.-,. ,
i Bootis
(l.Or.)
14
11
-J- 19
4!
4. Mai
i Librae
(2. Gr.)
14
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-15.
38
11. -
3 Librae
{2. Gr.)
15
12
- 9
2
19. ,
n Serpentis
(2. Gr.)
15
3t)
+ <•<
44
25. „
o Ophiuchi
(3. Gr.)
IC
9
— 3
27
31. „
C Ophiuchi
(3. Gr.)
IĂź
32
— 10
22
An veränderlichen Sternen sind zur Beobachtung geeignet und erreichen
zum Teil ihre gröfste Helligkeit:
W Cassiop.
(Helligk. 8.
Gr.) (AR
0 h 49«",
+ 58°
2') Max. Apr. 10.
ĂĽ Cephei
( n
7.-
. )
0
54
+ 81
21
Algoltypus.
T Arietis
( i»
8.
- )
2
43
+ 17
6
Max. März 30.
Ăź Persei.
' •>
2.-
4
- )
2
+ â– 10
Algol.
>. Tauri
( »
3. -
5.
- )
3
55
+ 12
13
Algoltypus.
R Aurigae
l "
7.
- )
5
9
+ 53
2»
Max. März 14.
U Aurigae
9.
- )
36
+ 32
0
Max. April 22.
T Geminor.
rt
0.
- )
7
43
+ 23
58
Max. Mai 13.
ĂĽ Cancri
\ 1
9.
- )
8
30
+ 19
14
Max. Mai 27.
T Hydrae
\ *»
8.
- )
8
51
- 8
46
Max. März 2t',.
W Cancri
\ »
9.
n )
9
4
+ 25
38
Max. Mai 31.
V Leonis
n
9.
, )
:i
55
+ 21
43
Max. März 27.
R Corvi
7.
n )
12
15
- 18
43
Max. April 11.
R Virginis
V *
7.
, )
12
34
+ 1
31
Max. Mai 8.
U Virginis
\ •«
8.
n )
12
46
+ «
5
Max. April 28.
o Librae
5. —
7.
« )
14
56
— 8
8
Algoltyus.
U Coronae
•*
8.-
9.
- )
15
14
+ 32
0
Algoltypus.
S Librae
( •»
8.
- )
15
16
-20
3
Max. Mai 22.
Digitized by Google
23Ăź
S Ursac min.
«Helligk. 8.
Grj
(AR. 33-,
+ T84 57
Max. April 2.
V Coronae
»
s.
15 4<:
4- 39 52
Max. März 17
U HercuĂĽs
i
» i
i« -21
-•- 10 7
Max. Mai 30.
RS HercuĂĽs
-
s.
17 18
- 23 1
Max. April 7.
d Serpcntis
<
••
5.-
G.
.. !
IS 22
~j 0 7
Kurze Per.
U Sagittae
-
7. -
9.
10 25
4- io 2r,
Algoltypus.
RV Aquilac
1
!».
- 1
10 SC
4- 9 42
Max. Mai 9.
Die Planeten. Merkur, rechtläufig im Steinbock, Wassermann, Fische,
Widder und Stier, kommt am IS. März dem Jupiter sehr nahe, bis auf l1/»0.
und ist am 10. Mai als Abendstern 21 von der Sonne entfernt wahrnehmbar.
Venus, rechtläufig in den Fischen, Widder, Stier und Zwillingen, ist Abend-
stern, zuletzt 3 Stunden hinter der Sonne untergehend. Mars, rückläufig in
der Jungfrau, wird Mitte Mai wieder rechtläufig, ist die ganze Nacht hindurch
sichtbar. Jupiter, rechtläufig im Wassermann, ist nicht mehr zu beobachten,
ebensowenig Saturn im Steinbock, und Uranus auf der Grenze zwischen
Ophiuchus und Schütze. Neptun, rechtläufig bei r, Geininorum. ist am west-
lichen Himmel zu finden.
Vom 1!».— 23. April ist ein reicher Meteorstrom zu beobachten, von dessen
vielen Radianten einer bei i Lyrae liegt.
Sternbedeckoogen durch den Mond (sichtbar fĂĽr Berlin):
10. März
10. .
!>. April
2. Mai
Mond
Erstes Viert
Vollmond
Letztes Viert.
Neumond
Erstes Viert
Vollmond
Letztes Viert
Neumond
Erstes Viert.
Vollmond
Letztes Viert
Neumond
Erdnähe
i Cancri (4. Gr.)
/. Cancri (5. „ )
j Leonis (5. „ >
C8 Geminor. (5. „ )
Eintritt
<; h im abends
1 1 50
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Austritt
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20. „
5. April
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10. „
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»
7
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abends
10. März, 5. April, 1. Mai, 2S. Mai.
Erdferne: 22. März, 10. April, 16. Mai.
Am 28. März findet eine in Berlin unsichtbare Sonnenfinsternis statt.
Am 11. April findet eine in Berlin sichtbare, partiolle Mondfinsternis
statt. Beginn der Finsternis abends 11'' 28'", Mitte 1 h 7m nachts, Ende
2h 45 n> früh. Mittl. Berliner Zeit. Der Mond wird fast völlig verfinstert
Sonne.
1. März
8. .
15. n
22 n
Sternzeit f. den
mittl. Bcrl Mittag.
22h 32m 18.9»
22 59 54.7
23 27 30.6
23 55 6.5
Zeitgleichung.
+ 12«a 42.6»
4 11 11.8
4- 9 20.9
+ 7 18.0
Sonnenaufg. Sonnenunterg.
fĂĽr Berlin.
6 h 51 m
6 35
6 10
6 3
5 h 35i
5 48
6 0
6 13
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15. .
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23.
3
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30.2
3
30.5
3
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7
50
31. .
-1
31
5.2
3
41.3
3
47
8
8
Encyklopadie der Photographie. Verlag von Wilhelm Knapp, Halle a. S.
Von dem weitverbreiteten Sammelwerk liegen uns folgende Neuer-
scheinungen bezw. Neuauflagen vor:
v. Hühl, Der l'latindruck. N.Auflage. Der gröfste Vorzug des Hübi-
schen BĂĽches ist seine Wissenschaftlichkeit. Die Chemie des Platindruckes ist
ausreichend behandelt, und auch dio neueren Theorieen des Sepia-Platinpro-
zesses haben BerĂĽcksichtigung gefunden. Dabei bleibt der Verfasser aber
durchaus auf dem Wege des Praktikers, und was er über die Präparations-
verfahren, insbesondere ĂĽber die kalte und heifse Entwicklung der Sepia-
Platinbilder, sowie ĂĽber die Auswertung der verschiedenen Methoden sjigt,
verdient in gleichem Mafso das Intoresse des Kachmannes, wie des Amateurs.
Dr. F. Stolze, Die Kunst dos Vergröfserns auf Papieren und
Platten. H. Auflage. Das 12 Bogen starke Werkchen ist durchaus fĂĽr die
BedĂĽrfnisse des Praktikers geschrieben. Er wird alles in ihm finden, was er
sucht. Den natĂĽrlichen und kĂĽnstlichen Lichtquellen widmet der erfahrene
• Verfasser eine eingehende Besprechung. Vorteile und Nachteile jeder Beiern h-
tungsart, vom Bogenlicht bis zum Prefagaslicht, werden einander sacbgen.ĂĽfs
gegenĂĽbergestellt, auch findet der Leser sehr verstandliche Auseinander-
setzungen ĂĽber die Verwendung achromatischer und unachromatischer Konden-
satoren punktförmigen und flächenförraigen Lichtquellen gegenüber. Die Ab-
bildungen in diesem Kapitel stehen leider nicht auf der Höhe des Textes, und
eine künftige Auflage wird jedenfalls die höchst antiquierte Duboscq- Lampe
mit Reflektor, sowie die völlig aufser Gebrauch gekommene elektrische Docht-
lampe durch modernere Typen ersetzen mĂĽssen. Was weiterhin ĂĽber die Ver-
gröfserungsapparato mit zerstreutem Licht, über die verschiedenen Vergröfse-
rungsrnethoden und die Behandlung der Papiere gesagt ist, zeichnet sich durch
■eine gehaltvolle und verständliche Darstellung aus. Wir stehen nicht an, un-
seren Lesern das BĂĽchlein bestens zu empfehlen.
Dr. A. Reifs, Die Entwickelung der photographischen Brom-
silberplatte und die Entwickler. In dem Buch ist neben der Praxis
auch dio Theorie eingehender behandelt Der Versuch des Verfassers, ncl en
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23ö
dem -Wie* auch das ..Warum" zu bringen und so dem Laien wie dem Fach-
mann den Genufa des Verständnisses für die leider nur zu oft rein mecha-
nischen und angelernten Manipulationen zu verschaffen, ist gewifs mit grofser
und aufrichtiger Freude zu begrĂĽfsen. Die Aufgabe ist sicher keine leichte
und ihre gemeinverständliche und interessante Durchführung des Dankes vieler
sicher. Man mute gestehen: der Verfasser weifs sie zu behandeln, aber es mufs
auch gesagt sein, die Freude des fachmännischen Lesers ist doch keine ganz
reine, denn der Verfasser hat es sich nicht versagen können, sein eigentliches
Thema mit einer Art elementarer Anleitung für Anlänger zu durchsetzen, die
den wahren Zweck des Buches oftmals gänzlich verhüllt. Derartige Einfüh-
rungen haben wir in der photographischen Literatur nachgerade im Ăśbermafs
Vielleicht entschliefst sich der Verfasser für die nächste Auflage zu einer Be-
arbeitung, die seine vortrefflichen Absichten unverhĂĽllt und frei von allem ĂĽber-
flüssigen Beiwerk zum Ausdruck kommen läfsL
Dr. LĂĽppo-Kramer, Wissenschaftliche Arbeiten auf dem Ge-
biete der Photographie. Dr. LĂĽppo-Kramer ist in der fachwissenschaft-
lichtm Welt als gewissenhafter und begabter Beobachter wohlbekannt. Seine
besondere Fähigkeit. Probleme scharf zu erfassen und klar darzustellen, kommt
auch in dem vorliegenden Heftchen, das im wesentlichen die schon in den
Jahren 1900—190*2 in der „Photographischen Correspondenz- veröffentlichten
Arbeiten des Verfassers noch einmal ĂĽbersichtlich zusammenstellt, deutlich
zum Ausdruck. Wir mĂĽssen unseren Lesern anheimgeben, das tĂĽchtige BĂĽch-
lein zu kaufen und zu lesen, da es uns hier an Platz fehlt, auf seinen Inhalt
nach GebĂĽhr einzugehen.
Hugo Schofflcr, Das Photographische Objektiv. Der Verfasser
will eine gemeinverständliche Darstellung des photograpbischen Objektivs mit
Heranziehung nur elementarster Mathematik geben. Er löst seine Aufgabe,
soweit dies mit den unzureichenden Mitteln eben möglich ist. Bisweilen leidet
die Homogenität der Darstellung unter dem begreiflichen Wunsch des Ver-
fassers, seine Leser merken zu lassen, dafs er noch einiges mehr weifs, als er
sagt. Auf den Laien wirkt dies verwirrend, dem Fachmann ist damit nicht
genĂĽtzt; in diesem Sinne bieten z. B. die Abschnitte ĂĽber die Pbotogrammetrie,
den Cyliudrographen (Verfasser meint die Vorrichtung zur Aufnahme von
Panoraraabildern) u. a. entweder zu viel oder zu wenig. B. D.
E. Musmacher: Kurze Biographien berĂĽhmter Physiker. Freiburg i. B.
Verlag der Herderschen Buchhandlung.
Wir begrĂĽfsen in dem Musmacherschen BĂĽchlein eine tĂĽchtige, fleifsige
und dankenswerte Arbeit. FĂĽr jeden, der eine Reihe von Biographien be-
rüinter Gelehrter schreiben will, ist naturgemäfs die Auswahl die schwerste
Aufgabe. Wir glauben, dafs der Verfasser hierin im allgemeinen glĂĽcklich
gewesen ist, bis etwa auf den heikelsten Punkt, dessen Erledigung allerdings,
wie wir zugeben, schwierig genug ist. Der Autor steht vor der Frage: Soll er
noch lebende Physiker ebenfalls aufnehmen und welche soll er als besonders
„berühmt-- kennzeichnen. Ist berühmt etwa gleichbedeutend mit „populär" V
Wird man ihn für kompetent halten, eine Auswahl zu treffen? Läfst sich ein
abschliefsendes Urteil überhaupt fällen, so lange noch der Streit der Meinungen
um ein unabgC8chlossenes Lebenswerk Hütet? Solche und ähnliche Gedanken
mögen wohl das Gehirn des armen Verfassers kreuzen, obgleich, unserer An-
sicht nach, eigentlich nur zwei Wege beschritten werden können und beide
/.um Ziele fĂĽhren. Entweder er behandle auch die modernen Gelehrten*
gestillten »ehr ausführlich, gleichzeitig irgend eine Stellungnahme deutlich ab-
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239
lehnend, oder er lasse sie ganz fort. Niemand wird ihm das ĂĽbel nehmen.
Statt dessen wählt Musmacher die unglückselige mittlere Linie und bringt
uns William Thomson, Röntgen und Edison. Die Bedeutung der Ge-
nannten selbstverständlich in allen Ehren; weswegen wir jedoch auch mit
dieser Auswahl nicht einverstanden sein können, haben wir bereits dargelegt,
umsomehr als von den verstorbenen Gröben oft solche eine Lebensbeschreibung
erhalten haben, deren Name, wie der Verfasser selbst sagt, in der Geschichte
nur fortleben, weil nach ihnen ein Apparat odor ein Uesetz benannt worden
ist, denen also eine allgemeine Bedeutung nicht zukommt. Vielleicht ent-
schliefst sich der Herr Verfasser dazu, in einer zweiten Auflage, die wir dem
Werkchen durchaus wĂĽnschen wollen, hinter der Lebensbeschreibung von
Heinrich Hertz einen deutlich begrĂĽndeten Strich zu machen.
Im ĂĽbrigen sind wir mit der Darstellung, welche jede Langatmigkeit
glĂĽcklich vermeidet, gern einverstanden. Sie ist anregend und liest sich gut,
auch versteht es der Verfasser, mit Geschick zu pointieren, ohne schematisch
zu sein. Kleine Ausstellungen, welche sich etwa noch auf das Fehlen einiger
Jahreszahlen (z. B. Tyndall, Todesjahr u. s. w.) beziehen, können den Wert
der Darbietung nicht schmälern. Nicht ganz so glücklich ist der Verfasser
bisweilen in kurzen wissenschaftlichen Charakteristiken. Hier könnte nach-
gebessert werden, z. B. was die Röntgenstrahlen anbelangt. Musmachor
charakterisiert wörtlich: „Diese sogen. Röntgenstrahlen sind dunkel und un-
sichtbar; sie dringen durch Holz, Zeug und andere Körper, während sie von
Knochen und Metallen nicht hindurchgelassen werden". Das ist nicht nur
teilweise falsch, sondern trifft auch gar nicht das wissenschaftlich Wesent-
liche. Es wird fĂĽr den . Verfasser ein Leichtes seiu, hier Abhilfe zu schaffen,
falls er es nicht eben vorzieht, nur die verstorbenen Geistesgröfsen auf dem
Gebiet der Physik zu bringen. Der Herr Verfasser wolle uns nicht falsch ver-
stehen: diese Ausstellungen geschehen nur in der guten Absicht und dem
Wunsche, sein Buch so vollkommen als möglich zu sehen. Dem kaufenden
Leserkreise, insbesondere auch den Lesern unserer Zeitschrift, empfehlen wir
das Musmachersche Buch durchaus. Es verdient, nicht nur in der Bibliothek
jedes Gebildeten zu stehen, sondern auch gelesen zu werden. Dr. B. D.
Halbmonatliches Literaturverzeichnis der Fortschritte der Physik.
Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
Von dem Wert dieser Publikation fĂĽr den praktisch oder theorotisch
arbeitenden Physiker wurde bereits gelegentlich des Erscheinens der ersten
Hefte gesprochen. Wir können jetzt hinzufügen, dafs die Veröffentlichungen
einander im versprochenen Tempo regelmäfsig gefolgt sind und in der Tat
eine lückenlose Gruppierung der einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten
des In- und Auslandes darbieten. Dr. B. D.
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Kinfluls elektrischer Wellen auf das Gehirn: Zu dorn im Oktoberheft
von „Himmel und Erde" enthaltenen Aufsat/ über den „Einflute elektrischer
Wellen auf das Gehirn" gehen uns von einem unserer Leser die folgenden
Bemerkungen zu:
In Paris besteht seit einiger Zeit eine wissenschaftliche Vereinigung unter dem
Namon _Soci6tci psy chologit| ue internationale", die den in erwähntem
Aufsatz berührten Fragen hauptsächlich ihre Aufmerksamkeit zuwendet. In
einem im vorigen Jahre erschienenen Berichte eines Mitgliedes dieser Vereini-
gung wird auf verschiedene geheimnisvolle, jedenfalls heute noch wenig er-
gründete Erscheinungen hingewiesen, die in der Zukunft möglicherweise noch
eine grofse Rolle zu spielen berufen sind, wie die Telepathie, die Suggestion
und dergl., und es wird die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit ins Auge ge-
faxt, dafs diese Erscheinungen sich auf den Einflute einer Art von elektro-
magnetischen Schwingungen, die ihren Weg vom Gehirn durchs Auge oder
umgekehrt nehmen, zurĂĽckfĂĽhren lassen. Nach der Ansicht von hervorragen-
den Gelehrten, u. a. von M. Flammarion, ist dabei vielleicht noch eine andere,
der elektromagnetischen ähnliche, psychische Kraft tätig, durch welche sich
die erwähnten, wie auch verwandte Erscheinungen, die Sympathie, das Funkeln
der Augen, der leuchtende strahlende Blick eines geistreichen Menschen und
dergl. erklären lassen. So sagt M. Flammarion in seinem Werke -l'Inconnu",
date es psychische Strömungen gibt, die den elektrischen Strömen ähnlich
sind, und date man nach seiner Ansicht ohne die Augen durch einen inneren,
psychischen, geistigen Sinn sehen könne. Wenn mau an das Vorhandensein
dieser noch unbekannteil Strömungen glaubt und das Gehirn als Sitz dieser
psychischen wie der Sehkraft annimmt, könnte man, natürlich in Fällen, wo
eine besondere Veranlagung dazu vorhanden ist, die Annahme zugeben, date,
nach dem Prinzip der drahtlosen Telegraphie, nicht allein der Anblick von
Dingen, sondern unter Umständen auch Gedanken auf weite Entfernungen, hier
seihst durch Hindernisse hindurch, ĂĽbermittelt und aufgenommen werden
können Welch wunderbare Perspektive für die Zukunft eröffnet sich uns
hiermit.
$
Vorlag: Hermann Paetel in Berlin. — Druck: Wilhelm Gronau'« Bnchdrackerel In Berlin -Schönebtrg.
FĂĽr die Hedactioo Yerantwortlicb : Dr P. Schwann in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aas dem Inhalt dieaer Zeitachrift nnUrfagt.
Cbersetmngererht Torbehalten.
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Über Bäderwirkungen.
Von Dr. med. Axinann in Erfurt.
4 '/\ lljährlich im Frühjahr pflegen sich bei den Ärzten die Bade-
lschriften einzufinden, als Vorläufer und Vorbereiter der be-
ginnenden Saison, und kein gewissenhafter Patient, dem es
ernstlich mit oder ohne triftigen Grund darum zu tun ist, die Schäden
des Winters am eigenen Körper im Sommer zu reparieren, wird ver-
säumen, seinen Doktor auf das eingehendste zu befragen, dafs er ihn
in das richtige, gerade fĂĽr ihn passende Bad sende.
Ob in Sole oder Jod, ob älkaligch-muriatisch oder -sulfatisch,
ob neutral-indifferent im- \\lltrw^"ser' (jder lediglich in frischer Luft
diätetisch die winterlichen Sünden und Gebrechen schwinden, die auf-
geregten Nerven besänftigt werde» sqllen, das verursacht bei dem
meist sehr aufgeklärten Stähä*p\irikte defc Kurpublikums manches Kopf-
zerbrechen.
Was wunder, dafs letzteres auch selbst die Nase in die Bade-
litteratur steckt!
So wird man insbesondere, im Badeort angelangt, mit verstän-
digem Eifer die Haupt- und Nebenwirkungen seiner Badequelle
studieren, damit man nicht duroh unzweckmäßiges Verhalten fahr-
lässig statt der Hilfe die Rache des Brunnengeistes heraufbeschwöre.
Die Nebenwirkungen bilden denn auch nicht zum wenigsten in
den speziellen Kurvorschriften ein besonderes Kapitel, sei es zur
Beruhigung der Kranken oder, um den Forderungen einer Weisheit
zu genĂĽgen, welche noch aus den Zeiten des balneologischen Mysti-
zismus stammt.
J<> nach der Empfänglichkeit pflegen sich anfänglich Heize oder
Depressionszustände auf Körper und Seele geltend zu machen, vorüber-
gehend neue Schmerzen und dergleichen einzustellen, welche ĂĽber-
nimm»! und Erdo. NHL XV «. If,
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wunden sein wollen, ehe die eigentliche Haupt- und Heilwirkung des
Bades zur Geltung kommt.
Als nooh der Brunnengeist, der genius loci, welcher auch heute
nooh, allerdings in anderem Sinne, die meisten Heilungen vollbringt,
in den Dampfschleiern des Sprudels wallte, da war man mit geheim-
nisvollen Erklärungen schnell zur Hand. So war es z. B. in dem be-
kannten Leuk im Wallis, einem Thermalbad von anerkannt trefflichen
Erfolgen, der berĂĽhmte Badeausschlag, weloher nach angemessener
Zeit auftreten mufste. um die Kur vollzumachen, da nur so einmal
das „Böse" herauskommen, und ferner nur durch eine derartig ^zer-
störte Haut die Heilkräfte Eingang in den inneren Organismus önden
konnten.
Wenn nun auch zugegeben werden mufs, dafs durch eine un-
verletzte Haut duroh die ĂĽblichen Badeanwendungen niemals
chemische Stoffe in ausreichender, wirksamer Menge in die Blut-
bahnen gelangen können, so hat doch die angeführte Hautentzündung
ebensowenig mit dem eigentlichen Kurerfolg — derselbe pflegt selbst
ohne diese einzutreten — zu tun, als der vielgenannte Baderheuma-
tismus, auoh eine Begleiterscheinung, von der es heifst, dafs der
Rheumatismus im Körper durch sie gewissermaßen aufgelockert
werde. Zugleich soll derselbe fĂĽr den anscheinend Gesunden ein
Zeichen sein, dafs auch er rheumatisch beanlagt ist.
Tatsächlich pflegen sich anfangs, besonders bei der Benutzung
indifferenter, d. h. gehaltloser Thermalquellen, der sogenannten Wild-
bäder, wohl bei den meisten Mensohen diffuse Schmerzen einzustellen,
welche wechselnd, bald da oder dort im Körper nicht eben starke
ziehende und stechende Empfindungen auslösen. Nach ausreichender
Gewöhnung, d. h. wenn die „Badekrisis" vorüber, verschwinden diese
rheumatoiden Anfälle wieder.
Man sucht diese Tatsachen mit einer klimatischen, durch das
Baden verstärkten Überempfindlicbkeit der Rheumatiker gegen Zug-
luft, Feuchtigkeit u. s. w. zu erklären, welche durch ein Abweichen,
und AbstofSen der obersten Hautschiohten begĂĽnstigt sei. Vielleicht
liefse sich aber doch dieser Vorgang etwas genauer und wissenschaft-
licher ins Auge fassen, wenn man bedenkt, dafs es gerade die in-
differenten Thermen sind, welohe uns hier zu denken geben.
Schon vor langen Jahren erklärte unter anderen der berühmte
Physiologe Ludwig in seinen Vorlesungen reines Wasser fĂĽr eines
der stärksten Gifte, und jetzt wissen wir durch die grundlegenden,
exakten Versuche von Kohlrauch, Koeppenu. a. nicht nur, wie
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â–
man wirklich chemisch reines Wasser herstellt, sondern auch, wie
man den Grad der Reinheit mifet, und wie sioh dann weiter die
einzelnen Wässer in ihren Wirkungen auf den Organismus verhalten
mĂĽssen.
Nachdem Kohl rauch auf keinerlei Weise, auoh nicht durch
wiederholte Destillation im luftleeren Raum, ein genĂĽgend reines
Wasser erhalten konnte, wandte er sich der Gefrierraethode zu, und
es gelang ihm die Befreiung des Wassers von allen Salzen und Ver-
unreinigungen durch den grĂĽndlichen, wiederholten Krystallisations-
prozefs des Gefrieren lassens. Die Reinheit des erhaltenen Produktes
bestimmte er vermöge der schon früher von ihm erfundenen Strom-
wage unter Vergleichung des elektrischen Leitungswiderstandes eines
Wechselstromes. — Je nach dem schwindenden Gehalt einer Lösung
von Salzen verringert sich auoh die Möglichkeit, einen elektrischen
Strom durch dieselbe bindurchfliefsen zu lassen. Auf diesem Wege
erhielt man schliefslich ein Wasser von sehr geringer Leitfähigkeit,
nämlich von 0,042, während die Kennziffer absolut reinen Wassers
mit 0,038 berechnet wurde. Diese untere Grenze zu erreichen war
also praktisch nicht mehr möglich.
Es sind das ganz auĂźerordentliche Resultate, wenn man bedenkt,
dafs schon Schmelzwasser aus Natureis WTerte von 2,5 bis 10,5, destil-
liertes Wasser, gekocht, von 10,0, mit Kohlensäure gesättigt, von 43,5
und das gewöhnliche, käufliche Aqua destillata gar von 49,2 aufweist.
Dann gehen die Ziffern bei den Leitungswässern gewaltig in die Höhe,
sie schwanken von 296,0 bis ca. 700.
Die Bäder liefsen sich natürlich diese neue Untersuchungs-
methode nicht entgehen, und so spielt die elektrische Leitfähig-
keit mit vollem Recht eine Rolle in der Brunnenanalyse.
So hat, um einige bekannte Quellen anzufĂĽhren, der Marien-
bader Ambrosiusbrunnen 1142,0, Georg Viktor in Wil-
dungen, die berĂĽhmte Quelle fĂĽr Blasenleiden, 1309,0, die Salz-
brunner Kronenquelle 2090. Dem gegenĂĽber haben dann natĂĽr-
lich die Wildbäder, d. h. die sogenannten indifferenten Wässer, wie
Wildbad im Scbwarzwald, Ragatz, Bormio, Gastein u. a.,
entsprechend den geringeren chemischen Beimengungen, eine schwache
elektrische Leitfähigkeit. — Gerade in Gastein zeigte es sich dann,
dafs bei der elektrischen Analyse eines Brunnens dieser mit einer
Kennziffer von 31,9 sogar destilliertes Wasser (49,2) an Reinheit ĂĽber-
traf. Das Wasser kann darum nicht getrunken werden, obwohl die
chemische Untersuchung dafĂĽr bisher keinen Grund angab.
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244
So fĂĽhrt diese Quelle schon seit Jahrhunderten den Namen
„Giftbrunnen". Der Genufs erregt Verdauungsstörungen, analog
dem von Eis- und Gletscherwasser.*)
Denn gerade das Wasser, welches aus den Toren unserer Alpen-
gletscher hervorbricht, hat noch höhere Grade der Reinheit, wie das
vom Firn stammende, aufzuweisen, da es seine Herkunft in erster
Linie dem FlĂĽssigwerden des Gletschers von unten infolge des un-
geheueren Druckes gewaltiger Eismassen verdankt. Um ein geläufiges
Beispiel anzufĂĽhren, beruht ja auch das Gleiten des Schlittschuhes
auf einer durch hohen Druck unter ihm erzeugten Wasserschicht.
Es kann darum gar nicht genug vor dem Trinken aus Gletscher-
bächen gewarnt werden. Mancher Tourist hat sich schon durch solche
Unvorsichtigkeit einen schlimmen Magenkatarrh geholt, der ihm die
ganzen Berge verleidete. — Dieses hygienische Moment kannte schon
Hippokrates, weicher in seinem Buche ,,-Ef/t äspojv, {»oa'-tov, t«5t:wvu
sagt: „Alles Schnee- und Eiswasser ist schleoht. Denn Wasser, das
einmal gefroren, nimmt seine frĂĽhere Beschaffenheit nicht wieder an;
sondern der klare, leichte und sĂĽfse Teil desselben wird aus-
geschieden und geht verloren, der trĂĽbste und schwerste hingegen
bleibt zurĂĽck." Er hatte also auch seine Beobachtung bezĂĽglich der
Reinigung durch die Gefriermethode gemacht und der Untaug-
lichkeit derartigen Trinkwassers. Die Kälte solcher Getränke kommt
hier erst als Gelegenheitsursache in Betracht, insofern sie lediglich
die Geschmacksnerven lähmt, den Wächter an der Pforte des Organis-
mus betäubt, dals er dem schädlichen Trunk den Eingang gestatte.
Denn, wie schon destilliertes Wasser, welches natürlioh ohne Zusätze
ebensowenig genossen werden kann, einen äußerst unangenehmen,
kratzend-faden Geschmack hat, so wĂĽrde auch jedermann gegen Eis-
und ähnliche Grade der Reinheit aufweisendes Wasser, sofern es die
innerhalb der Geschmacksempfindung liegenden Temperaturgrenzen
hat, energisch protestieren.
Bekanntlich wird die tierische Zelle, also das eigentliche
Grundelement für den Aufbau des Körpers aus dem Zellkern und
dem protoplasmatischen Zellenleib, einer Substanz, welche auch in
Wasser lösliche Salze enthält, gebildet. Der Begriff der Lösung
ist ferner, ohne den modernsten Auffassungen hierbei näher treten zu
wollen, als ein Gemisch von festen und flüssigen Körpern zu betrachten.
•) Vergl. auch: Axmann, Die Giftwirkung des Wassers; Jahrb. der Kgl.
Akademie gem. Wissenschaften zu Erfurt. Neue Folge. Heft 29, bei C. Villaret.
Erfurt,
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245
Bringt man nuu mit einer Lösung, welche eine bestimmte Menge eines
Salzes enthält, eine andere schwächere Lösung oder gar reines Wasser
in BerĂĽhrung, indem man dieselben vorsichtig aufeinander schichtet
oder durch eine Membran trennt, so wird in beiden Fällen, ent-
sprechend der Adhäsion oder Kohäsion der berührenden Flüssigkeiten
und der osmotischen EigentĂĽmlichkeit der Scheidewand, sofort ein
Ausgleich gegenseitig stattfinden, welcher mit einer gewissen Kraft-
entfaltung vor sich geht. Beiderseits wird das Bestreben vorhanden
sein, sich mehr oder weniger gleichmäßig zu vermengen. Es sind
dies die Molekularwirkungen flüssiger Körper, welche unter
die Begriffe der Diffusion und Endosmose fallen.
Diesen Wirkungen ist nun auch die Zelle hinsichtlich ihrer
Ix>benstätigkeit ausgesetzt Sio ist umgeben von Flüssigkeiten, welche
den fest-weichen, schwellenden Zustand der organischen Gewebe be-
dingend die Zelle am Leben erhalten, so lange ihre Zusammensetzung,
d. h. Gehalt an Salzen und anderen Beimengungen der normale ist.
Solange also die Zelle sich in BerĂĽhrung mit normaler Gewebs-
flĂĽssigkeit, mithin unter physiologischen Bedingungen befindet,
werden die vorhandenen diffusiven und osmotischen Molekularwirkungen
ihren Kräften und Widerstandsfähigkeiten angemessen sein. Nehmen
wir indessen an, man wĂĽrde dieselbe in mehr oder weniger, ja absolut
reines Wasser setzen oder sie im Körper davon umspülen lassen, so
inĂĽfste der ausgleichende Druck ein derartiger werden, dafs gewalt-
same, schädigende Einflüsse zu Tage treten. Selbst eine vorhandene
Membran könnte verletzt werden, und, wie durch einen gebrochenen
Schutzwall, würde das lösende Agens eindringen, alles gierig in sich
aufnehmend, was es von den Leben bedingenden, löslichen Substanzen
des Zellenleibes erhaschen kann. So wird das Protoplasma und
schliefslich der Zellkern selbst zu Grunde gerichtet. Freilich ist das
letztere gar nicht einmal nötig, sondern es genügt schon, die Zello
längere Zeit unter einem abnormen Druck zu halten, um Schädigungen
der Gesundheit zu bewirken.
Da die einzelnen Zellen sich bei ihrer vitalen Tätigkeit gegen-
seitig vertreten, so dafs die benachbarte gesunde der kranken zu
Hilfe kommt, kann man die Gröfse und Bedeutung derartiger Ein-
flĂĽsse auf den Gesamtorganismus ermessen. Ja, es tritt schliefslich
sogar ein förmliches Gefällo im Ausgleich der Körperflüssigkeiten
nach dem Angriffspunkte zu ein, welches selbst entferntere Gebiete in
Mitleidenschaft zieht.
Diese Vorgänge lassen sich sehr hübsch durch einen bekannten
246
Versuch der Physiologie illustrieren. Bringt man nämlich einen Bluts-
tropfen unter das Mikroskop, so erkennt man, wie die roten Blutzellen
oder Blutkörperchen bei Wasserzusatz aufquellen und, ihre bikonkave
Form verlierend, kugelig werden, um schliefslich ihren gefärbten
Inhalt an die flĂĽssige Umgebung abzutreten. Zuletzt bleibt nur noch
das Gerüst, das Stroma, des Körperchens übrig.
Durch Zusatz von Salzen aber kann man die Widerstandsfähig-
keit erhöhen, indem man einen normalen osmotischen oder Diffusions-
druck herstellt.
So hat sich am besten die Lösung eines neutralen Salzes, wie
Chlornatrium, in einer Stärke von 0,6 pCt. als eine die Zellen nicht
zerstörende Flüssigkeit erwiesen, welche, da sie den normalen Ge-
websflĂĽssigkeiten bezĂĽglich ihres Gehaltes am besten entspricht, kurz-
weg „physiologische Kochsalzlösung" genannt wird.*) Von
dieser physiologischen Kochsalzlösung macht nicht nur der Physiologe
und Biologo ausgiebigen Gebrauch zur Konservierung von Nerven-
Muskel- und Bindegewebspräparaten in frischem Zustand, sondern
auch der Chirurg, z. B. um einen abgetrennten Körperteil bis zur
Wiederanheilung lebensfähig zu erhalten.
Während sich der oben beschriebene Zerstörungsvorgang, je
nach der Schnelligkeit der chemischen Wirkung, bis zu einem förm-
lichen Zerplatzen der Blutkörperchen steigern kann, so läfst sich um-
gekehrt durch Zusatz konzentrierter Salzlösungen ihnen Wasser ent-
ziehen. Ihre Oberfläche wird dann höckerig und maulbeerartig, um
schliefslich, wie mit feinen Spitzen besetzt, die Form eines Morgen-
sterns oder Stechapfels anzunehmen.
Es ist dieses der entgegengesetzte Modus, welcher durch
Sohrumpfung zum Untergang fĂĽhrt; fĂĽr den Laien gewifs nicht sonder-
lich wunderbar, da man die vielfach zersetzenden und zerstörenden
Wirkungen chemischer Lösungen im Publikum eher kennt, als die
erhaltenden.
Hier ist der Punkt, welcher eine kleine Abschweifung recht-
fertigen möge. — Wie eben gesagt, wird es zunächst niemand wunder
nehmen, wenn man mit chemischen Agentien und mehr oder weniger
konzentrierten Lösungen Wirkungen erzielt, die je nach Art des
Chemismus giftig, weil Lebenselemente zerstörend, sein können; denn,
so spricht der „gesunde" Menschenverstand, alle Chemikalien, von der
Schwefelsäure bis zum Bittersalz und was sonst noch aus der Apo-
*) Neuerdings will man diese bosser auf 0,9 pCt. normiert wiesen
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theke oder vom Drogisten stammt, sind stärkere wie schwächere
Gifte. Dafs aber eine zum Aufbau unseres Körpers unentbehrliche
Substanz (das Wasser) gerade in seiner reinsten, ursprĂĽnglichen
und natĂĽrlichsten Beschaffenheit auch ein Gift sein soll, das geht
manchem „selbständigen Denkeru gegen die ausgetretenen Bahnen
seines Gehirnkastens.
Man kann hier das unwissenschaftliche, törichte und somit schäd-
liche Beginnen einer Heilmethode erkennen, welche, nur fĂĽr Natur
schwärmend, alles aus derselben stammende einwandsfrei mit Be-
schlag belegt und nicht bedenkt, dafs ihr Hauptwundermittel, Wasser,
wie es dem Körper wirklich zugute kommt, nichts weiter ist, als eine
mehr oder weniger starke chemisohe, je nachdem selbst giftige Lö-
sung; ja, noch mehr: mit seiner natürlichen Reinheit wächst die
Giftigkeit! So gehen z. B. Fische schon in destilliertem, sauerstoff-
haltigem Wasser in kurzer Zeit zu Grunde.
Es gibt sogenannte Wunderquellen von durchsichtiger Klarheit,
deren blaue Tiefe einen einzigartigen Blick vielfach bis auf den Grund
gestattet. Man denke nur an den berĂĽhmten Badersee in Ober-
bayern, den Blauen See im Berner Oberland, den Spring bei MĂĽhl-
berg und Plaue in ThĂĽringen. Dort spielt die Fauna im Wasser,
wie der Augenschein lehrt, keine grofse Rolle. Leider sind darĂĽber
keine genaueren Mitteilungen vorhanden. Im Spring sind jedenfalls
in der Nähe des Ursprungs keine Fische, auch nur niedere Algen,
während es sogar von der berühmten Quelle zu Devna, nahe dem
Schwarzen Meere, ausdrĂĽcklich heifst, dafs kein Tier darin lebe und
der Genuf8 „Fieber" erzeuge. Auch dort ist die blaue Farbe als
Charakteristikum der Reinheit vorhanden.
Sehen wir also ganz von den mechanischen Reizen des be-
wegten Wassers und den TemperatureinflĂĽssen ab, so wird es dem
Kurgast, welcher sich an der schönen, durchsichtig bläulichen Färbung
einer sogenannten indifferenten Therme im Marraorbassin erfreut, schwer
werden, der Ăśberzeugung zu huldigen, dafs solches gehaltloses
Wasser ihn heilen soll oder er geradezu in einem Giftbade (s. o.)
sitzt Und doch ist dem so, wenigstens in dem sohon mitgeteilten
Sinne. Während sich der Badende harmlos und behaglich im wohligen
Nafs dehnt und streokt, entspinnt sich ein niedlioher Kampf zwischen
den Urelementen seines Körpers und den Molekülen des Bade-
wassers.
Wenn nun auoh nicht geleugnet werden soll, dafs bei kĂĽrzerer
Badedauer unter Benutzung indifferenter Quellen das Wasser als rein
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physikalisches Agens nur eine Vermittlerrolle spielt, so tritt doch bei
längeren, regelmäfsigen Bädern eine derartige Lockerung und Quel-
lung der Haut ein, data nicht blofs die Elemente der Epidermis ange-
griffen werden, sondern auch ganz erhebliche Reizungen der Zellen
im Unterhautbindegewebe liegender Nerven statthaben. Die oben ge-
schilderten, auf veränderten diffusiblen und osmotischen Bedingungen
beruhenden Vorgänge treten in Kraft, teils Zellen zerstörend, teils ab-
norme Druckverhältnisse der Gewebsflüssigkeiten schaffend.
Dem Empfinden des Badegastes aber werden diese Angriffe
auf seinen Zellenbesitz direkt, sowie reflektorisch durch Nerven- und
Gefäfsvermittelung prompt in eine Art rheumatischer Sensationen um-
gesetzt Die Stärke dieser letzteren richtet sich selbstverständlich
nach der persönlichen Reizbarkeit. Da nun dieser Baderheumatismus
meist nicht sofort und zwisohen den einzelnen Bädern auftritt, so ist
wohl eine kumulative Wirkung anzunehmen durch allmählich tieferes
Eindringen der Badelösung und Vollsaugen der Hautsohichten. Außer-
dem wirkt die Wasserwärme mildernd ein, wenn auch empfindliche
Personen selbst dann nioht versohont bleiben.
In welcher eigentĂĽmlichen Weise diese rein ohemischen Neben-
einflüsse der Bäder des weiteren auf den Gesamtorganismus heil-
kräftig umgestaltend einwirken, eingehend zu erörtern, würde zu weit
führen. Nur so viel möge angedeutet werden, dafs der weitere Vor-
gang teils durch nutritive Reizung der betroffenen Gewebe funktionelle
Erregungen auslösend, teils rein reflektorisch wichtige Zentren der
Blutverteilung treffend, in ähnlicher Weise sich abspielt, wie bei den
physikalisch -mechanischen Hauptfaktoren: Wasserwärme und -Bewe-
gung. Wie auf dem Wege wechselnder Blutverteilung von der Haut
aus selbst die tiefer liegenden Organe reflektorisch erreioht werden
können, dürfte in der Ära unserer leider so oft wahllos wasser-
plantschenden Laienmedizin genĂĽgend bekannt sein. Oder viel-
leicht doch nicht?
So wenig, wie man die rein chemische, sagen wir sogar phar-
makologische Wirkung des Wassers unterschätzen darf, so inter-
essant ist der Fingerzeig, welcher sich aus dieser scheinbaren Neben-
wirkung fĂĽr die Bade- und nicht zum wenigsten Trinkkuren ĂĽber-
haupt ergibt. So ist nachgewiesen, dafs im Gegensatz zu gewöhn-
lichem Wasser, dessen regelmäfsiger Genufs eine Abnahme des
osmotischen Blutdruckes vorĂĽbergehend zur Folge hat, das Trinken
eines Mineralwassers eine längere Zeit dauernde Zunahme desselben
bewirkt.
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Unter dem verschiedenartigen Ansturm fremder MolekĂĽle worden
in den Zellen fortgesetzt veränderte Lösungsverhältnisse ihrer Salze
herrschen. Der Salzhunger, entstanden durch die Entziehung lebens-
wichtiger Salze, wird sie nioht zur Ruhe kommen lassen.
Nach der modernsten Theorie der Lösungen von Clausius-
Arrhenius findet bekanntlich bei der Auflösung von Salzmolekülen
eine Spaltung, Dissoziation, durch den Vorgang selbst statt. Die
in Lösung gehenden Moleküle stofsen sich an und zertrümmern sioh
gegenseitig unter dem Einflufs elektrischer Spannung in entgegen-
gesetzt geladene Atome oder Ionen. Während nun der Uauptteil
aller MolekĂĽle dissoziiert ist, werden sich die stark elektrisch gela-
denen Ionen fortgesetzt anziehen und abstofsen, d. h. wiedervereinigen
und trennen.
Zunächst revoltieren diese unruhigen Geister noch gegeneinander
unter sich und jeder hat seinen eigenen Willen, bis eine stärkere
Kraft über sie kommt in Gestalt eines die Lösung durchfliefsenden
elektrischen Stromes, wie z. B. zur Feststellung der elektrischen
Leitfähigkeit. Alsdann werden wie durch ein Staatsereignis die hete-
rogenen Elemente auseinander gerissen, die gleichgesinnten gesammelt,
und — gleiche Kappen, gleiche Brüder — ziehen sie als die zwei
grofsen Parteien der An- und Kathionen jede nach einer anderen
Richtung zu den Eintrittsstellen des elektrischen Fluidums, um an der
Grenze ihres Gebietes unter Konfiskation der Ladung an elektrischer
Energie ruhmlos festgehalten zu werden. Im Innern des Staates aber
bleibt all es scheinbar unverändert, während doch in Wirklichkeit
die sohon verwiokelten Zustände in ihren Feinheiten duch den elek-
trischen Störenfried sich noch komplizierter gestalten.
Auch im Reiche des menschlichen Körpers geht es ähnlich
zu. Hier ist es der hauptsächlich von du Bois-Reymond studierte
elektrische Muskelstrom, welcher einen Ausgleich sucht, wozu er
die umgebenden Gewebe durchqueren mufs. Während du Bois an-
nahm, dafs die Oberflächenspannungen eines Muskelzylinders der
Ausdruck elektromotorischer Kräfte sind, die den Muskelelementen
angehören, betraohtete er diese als Anordnung einer Voltaschen Säule,
deren Platten den mikroskopisch erkennbaren, sogenannten isotropen
und anisotropen Substanzen entsprechen. Diese Anordnung ist in
Verbindung mit umhĂĽllendem, indifferentem Bindegewebe elektromo-
torisch wirksam. Sollte man aber auch, wie es von anderer Seite ge-
schieht, die elektromotorische Kraft des unversehrten Muskels nicht
gelten lassen wollen, so ist durch die atmosphärische Umgebung
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sowie meteorologische EinflĂĽsse und fast ĂĽberall vorhandene elektrische
Wellen ausreichend für Entstehung von Potentialen im Körper ge-
sorgt, welche ihren Ausgleich gegenseitig finden mĂĽssen. Wollte
doch sogar erst kĂĽrzlich ein amerikanischer Forscher seelische Stim-
mungen und AngstgefĂĽhle durch Einwirkung elektrischer Wellen auf
die Gehirnzellen hervorgerufen wissen. —
Da hätten wir nun eine ganze Unmenge von Einflüssen, den
Stoffwechsel anzuregen, zunächst ein Chaos zu schaffen, aus dem dann
eine gesündere Anordnung und Funktion der Körperzellen erwächst,
wenn die streitenden Kräfte richtig dosiert und geleitet werden.
FĂĽr den Badereisenden ist es jedenfalls ein beruhigendes GefĂĽhl,
wenn er beim Ăśberschlagen der Kur- und Badetaxe auch anschaulioh
betrachtet, durch wie viele interessante, chemisch -physikalische Mög-
lichkeiten er wieder gesunden kann.
Freilich nur — Möglichkeiten! Denn die Natur tut uns immer
noch nicht ĂĽberall den Gefallen, alles so zu machen, wie wir es im
Laboratorium und Reagensglase gesehen haben. Der menschliche
Körper ist leider glücklicherweise noch keine Retorte, und man kann
daher, zumal in medizinischen Dingen, nicht genug warnen, sofern es
sich um eine unmittelbare Ăśbertragung von Theorien auf die Praxis
handelt. Wir laufen sonst Gefahr, wieder dem Mystizismus zu ver-
fallen, den wir oben als ĂĽberwundenen Standpunkt darstellten. Um
Theorien und Deutungs versuche aber sind die JĂĽnger der Wissen-
schaft niemals verlegen gewesen. Immerhin hegen wir doch die Hoff-
nung, dafs unsere bescheidenen Erwägungen einer gewissen Anregung,
die Physik nicht blofs fĂĽr die reine Physiologie, sondern noch mehr
fĂĽr das pathologische Gebiet der Medizin zu berĂĽcksichtigen, wert
sein möohten.
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Jim nun m i> m Ii iiiiii ii im in um Ii Iiiiiiiii 1 1 1 1 1 i II 1 1 m 1 1 1 1 1 1 1 1 n r 1 1 1 1 n im tut.
Reisebilder aus Algerien, Tunesien und der Sahara.
Von Dr. W. Detmer, Professor an der Universität Jena.
(Fortsetzung.)
<rCv\ /,on Algier aus trat ich eine Reise an, um einige Teile des Atlas
und das merkwĂĽrdige Volk der Kabylen kennen zu lernen.
Man fährt mit der Bahn nach Menerville und Tizi-Uzu. Von hier
aus gelangt man mit der Diligenoe in 5 Stunden auf ausgezeichneter,
27 km langer Fahrstrafse, welche unter Napoleon III. in 2 bis 3 Wochen
von 30 000 französischen Soldaten erbaut wurde, zum Fort National.
Die Strafse hält sich zunächst im Tal; dann steigt sie in vielen
Windungen die mit Oliven bestandenen Hänge der Vorberge des
Dschurdschuragebirges, der grofsen Kabylie hinan. Auf der Höhe
eröffnet sich uns ganz plötzlioh eine wunderbar schöne, großartige
Fernsicht auf die langgedehnten Ketten des Atlas, von denen wir
durch ein sehr tief einschneidendes Tal getrennt sind. Die noch schnee-
bedeckten Gipfel leuchten im Sonnenglanz. Mit scharfen Umrissen
heben sich die mannigfaltig gestalteten Felsbildungen vom blauen
Himmelshintergrunde ab. Eine erhabene Ruhe und Klarheit durch-
dringt das gesamte Landschaftsbild.
Das stark befestigte Fort National dient den Franzosen als StĂĽtz-
punkt bei eventuellen Aufständen der kriegerischen Kabylen. Noch
im Jahre 1871 hatten sich dieselben z. B. erhoben. 30 000 Mann
lagerten vor dem Fort, ohne dafs es ihnen jedoch gelungen wäre, die
Franzosen aus ihrer Stellung zu verdrängen. Seitdem wird die Ur-
bevölkerung des Landes strenger behandelt und namentlich erheb-
licher besteuert.
Von der Festung aus fuhrt die Fahrstrafse, auf der die Diligence
in rasender Eile dahinrollt, in einer Höhe von ca. 1000 m weiter. Bei
den vielfachen KrĂĽmmungen des Weges bieten sich stets neue, pracht-
volle Fernsichten dar. Das tiefe Tal, welches uns von dem Haupt-
teile der Dschurdschura trennt, bleibt meist zur Rechten. Die Abhänge
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zur Linken sind sehr kahl. Auch hier fehlt schöner Wald; nur ein-
zelne Baume und GestrĂĽpp von Quercus Hex bedecken den Boden.
Spät am Abend erreichen wir Michelet.
Etwa y2 Stunde entfernt von diesem kleinen Ort befindet sich
ein von katholischen Schwestern geleitetes Hospital und eine Missions-
Station der Peres Blancs. Die Missionare werden im Kloster zu
Maison-Carree bei Algier und später in dem Kloster bei Karthago vor-
gebildet und dann in die verschiedensten Teile Afrikas gesandt. Ich
hatte vom zuerst genannten Kloster aus Empfehlungen an den Pere
Baldit in Michelet erhalten, die mir in der Tat zum gröfsten Vorteil
gereichen sollten.
Bei uns begegnet man, selbst in den Kreisen der Gebildeten, oft
genug absolut unrichtigen Vorstellungen über die Tätigkeit der
Missionare in fernen Ländern. Häufig wird sogar mit einer gewissen
Geringschätzung über diese Männer geredet. Wer aber die Wirk-
samkeit der „Missions Africaines* näher kennen lernt, wird bald ein
anderes Urteil gewinnen. Es ist ergreifend, zu beobachten, mit welcher
aufopfernden, entsagenden Liebe die Missionare und besonders auch
die Schwestern im Hospital ihre schweren Pflichten freudig erfĂĽllen.
Das sind Menschen, die wirklich frei von Egoismus scheinen. Man
betrachte die Missionare in ihrer bescheidenen LebensfĂĽhrung; man
sehe, wie sie sich bemĂĽhen, die Jugend der Kabylen durch Unter-
richt und gutes Beispiel zu erziehen, oder wie sie immer bereit sind,
die Leiden der Kranken zu mildern. Man durchwandere mit der
sceur superieure die weiten, luftigen, überaus sauber gehaltenen Säle
des Hospitals, in denen 100 Kabylen, die zum Teil an furchtbaren
Krankheiten leiden, gebettet sind, und bemerke die milde, freundliche
Art, mit der alle behandelt werden. Nicht nur fĂĽr die geringe Zahl
der Christen, wolohe es in der Kabylie gibt, wird gesorgt, sondern
jeder HilfsbedĂĽrftige findet Obhut und Pflege. Auf solche Art ge-
winnt man sich das Zutrauen der Kabylen, von denen dann auch
einige ihren mubamedanisohcn Glauben aufgeben, um zum Christentum
ĂĽberzutreten.
Als ich Pere Baldit besuchte, forderte mich derselbe auf, ihn in
die Kabylendörfer Quarzoen und Taourirt zu begleiten, wo er Kranken-
besuche abzustatten hatte. Es war mir dies um so angenehmer, als
es für den Fremden nicht ohne weiteres möglich ist, in die Behau-
sungen der Bergbewohner zu gelangen.
Die Kabylen bilden einen Zweig des Berbernstammes. Sie sind
also, wie alle Berbern, und wie es auch die mit ihnen verwandten
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alten Ă„gypter waren, im Gegensatz zu den semitischen Arabern, Ha-
miten. Der Unterschied zwischen Arabern und Kabylen ist ein er-
heblicher, z. B. auch rĂĽcksichtlich der Sprache. Arabisch und Kaby-
lisoh sind grundverschieden von einander.
Der Kabylo ist Ackerbauer. Er kultiviert besonders Gerste.
Oliven- und Feigenbäume. Sein Dorf legt er hoch oben auf den
Bergen an, eine Gewohnheit, die nur unter BerĂĽcksichtigung gewisser
Eigenarten des höohst merkwürdigen Volkes, von dem wir reden, ver-
ständlich wird. Es hat nämlich, soweit wir unterrichtet sind (vergl.
Kobelt), niemals einen Kabylenstaat gegeben. Von jeher waren die
einzelnen Gemeinden völlig selbständig, und feindselige Unterneh-
mungen der Bewohner eines Dorfes gegen diejenigen eines anderen
fanden daher häufig statt. Das hooh gelegene Dorf liefe sich nun
natürlich leichter verteidigen, als ein an einem Abhänge oder gar im
Tal erbautes.
In der Gemeindeverwaltung spielt der Vorsteher eine wichtige
Rolle. Diesem sind Gemeindediener beigegeben, die durch ihren
roten Burnus auffallen. Die Rechtspflege liegt heute der Hauptsache
nach in den Händen der Franzosen.
Der Kabyle ist, wie allgemein behauptet wird, fleifsiger als der
Araber. Auf Reinlichkeit hält er wenig. Die Kabylinnen können
sich offenbar viel freier bewegen als die Araberinnen; sie tragen
auch niemals einen Schleier. Nach uraltem Brauch wird die Frau
von dem Manne, der sie heiraten will, dem Vater tatsächlich abge-
kauft. Auch Europäer können, wie man mir sagte, Kabylinnen
kaufen. Der Kaufpreis beträgt je nach Alter und Schönheit der Frau
10 Frs. bis 2000 Frs. Nach kaby lischer Anschauung murs das Mäd-
chen dem Willen des Vaters Folge leisten. Es kommt indesson heute
vor, dafs sich Kabylinnen, die sich nicht verheiraten lassen wollen, an
die französischen Gerichte wenden und von diesen in ihren Freiheits-
bestrebungen unterstĂĽtzt werden. Eine solche Frau ist freilich dann
gezwungen, ihr Dorf zu verlassen. Wir wollen uns nun die Wohn-
stätten der Kabylen, dieser Mensohen, welche mit zäher Energie alte
Sitten festgehalten haben, trotz aller StĂĽrme, die ĂĽber ihr Land dahin-
braueten, näher betrachten. Wir wenden uns der gröfseren, etwa
1200 Bewohner zählenden Gemeinde Taourirt zu.
Um das hoch gelegene, kreisförmig gebaute Dorf läuft aufsen
ein schmaler Fufspfad. Eine Mauer ist nicht vorhanden; die an der
Peripherie gelegenen Häuser sind aber dicht an einander gerückt, so
dafs ihre tür- und fensterlosen Aufsenwände gewissermaßen eine
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Mauer ersetzen. Das Dorf hat nur einen Eingang und einen Ausgang.
Jener wird durch einen kurzen, ĂĽberdachten Gang gebildet, an dessen
Seiten Steinbänke angebracht sind. Hier wird auch die Ratsversamm-
lung abgehalten, während ein unmittelbar benachbarter Kaum für die
Aufnahme von Fremden bestimmt ist. Die Häuser oder Gehöfte sind
ganz unregelmäfsig im Dorf gruppiert, alle aber sehr nahe zusammen-
gerĂĽckt, so dafs die Dorfwege nur wenige Fufs Breite haben. Die
Häuser, deren Mauern aus Steinen und Lehm aufgebaut werden, be-
sitzen schräge, aus Holzsparren und Dachpfannen hergestellte, und
durch eine im Innern der Wohnungen vorhandene Holzsäule gestützte
Bedachung. Mehrere Häuser bilden ein Gehöft, welches von einer
Familie, d. h. von dem Familienältesten und seinen verheirateten
Söhnen bewohnt wird. Eine Holztür schliefst das Gehöft nach der
Dorfgasse zu ab. Wir treten ein und befinden uns zunächst in einem
überwölbten Raum, zu dessen beiden Seiten Steinbänke für Fremde
angebracht sind, welche die Häuser nicht ohne weiteres besuchen
dĂĽrfen. Dann gelangen wir auf einen offenen Hofraum, der von den
Wohnungen umgeben wird. Eine niedrige, türlose Maueröffnung ge-
stattet den Eintritt in das Haus. Der Rauch des Feuers entweicht
durch diese Öffnung und durch ein Loch in einer der Wände. Jedes
Haus umschliefst nur zwei Räume, von denen der eine den Menschen,
der andere den Haustieren zum Aufenthaltsort dient
Der Kabyle trägt weite Beinkleider, darüber ein langes, hemd-
artiges Gewand, den Burnus und ein Kopftuch ohne Kamelhaarschnur.
Wenn der Kabyle auf der Wanderung Fremden seines Stammes be-
gegnet, so begrĂĽfst er diese durch Handkufs. Die Frauen sind nur
mit einem langen hemdartigen Gewand bekleidet, das durch ein um
die HĂĽften geschlungenes breites Band zusammengehalten wird. Eine
ganz leichte, buntfarbige, spitze MĂĽtze dient als Kopfbedeckung.
Tische, StĂĽhle, Betten gibt es in den Kabylenwohnungen nicht
Die Menschen schlafen auf einer Strohmatte, welohe sie auf den Fufs-
boden legen. Die Frauen sind vielfach eifrig damit beschäftigt, den
Burnus für die Männer zu weben. Die Feuerstelle des Hauses wird
durch eine kreisförmige Bodenvertiefung gebildet Die Kabyien ge-
niefsen morgens Feigen und Gerstenbrot abends aber Koufskoufs, ein
merkwĂĽrdiges Gericht von dem man ĂĽberhaupt viel in Algier redet
und das, sorgfältig zubereitet in der Tat ganz gut schmeckt. Mit
grofser Geschicklichkeit machen die Frauen im Hause Feuer an. Sie
zermahlen Gerstenkörner in einem flachen Steingefäfs mittelst eines
in seiner Mitte mit einem Loch versehenen Steines, rĂĽhren das Mehl
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mit wenig Wasser in einer grofsen flachen, aus dem Holz der Esohe
verfertigten Schale an, um die feuchte Masse dann durch SchĂĽtteln in
einem Sieb zu Graupen zu verarbeiten. Diese werden gedämpft, mit
Olivenöl angerührt und mit Fleischbrühe Übergossen. Das fertig her-
gerichtete Koufskoufs ifst man mit einem Fleischgericht. Olivenöl
bereiten die Kabylen solbst, indem sie die FrĂĽchte des Olivenbaums
in besonderen, durch Maultiere in Bewegung gesetzten MĂĽhlen zer-
kleinern und den gewonnenen Brei auspressen.
Die Moschee in Taourirt stellt einen absolut schmucklosen, fast
dunklen Raum dar, dessen Fufsboden mit einer Strohmatte belegt
ist. Das Minaret wird durch einen neben der Moschee stehenden
Turm gebildet, den der Priester mehrmals am Tag besteigt, um das
Gebet auszurufen. Das Priesteramt geht gewöhnlich vom Vater auf
den Sohn ĂĽber. Der Geistliche wird bezahlt; er besitzt ebenso wie
andere Dorfbewohner Felder, die er kultiviert; er darf sich auoh ver-
heiraten.
•
Nunmehr wollen wir einige Gebiete der wunderbaren Sahara
kennen lernen. Wir wenden uns von Algier aus östlich und fahren
bis zu dem bereits früher erwähnten Orte El-Guerra. Hier gebt von
der nach Constantine und Tunis weiterfĂĽhrenden Bahn eine Zweig-
bahn in sĂĽdlicher Richtung naoh Biskra ab, welche wir benutzen.
Nicht weit von El-Guerra erheben sich BergzĂĽge, deren Formen
besonders schön hervortreten, wenn sie von den Sonnenstrahlen ge-
troffen werden, aber doch einzelne Wolken langsam am Himmel
dahinsohweben, so dafs die Verteilung von Lioht und Sohatten auf
den fast vegetationslosen Hängen ununterbrochen wechselt Man
fährt zwisohen zwei Salzseen dahin, in deren Fluten sich die benach-
barten Höhen spiegeln. Batna wird erreicht, eine sehr regelmäßig
gebaute Stadt, in deren Nähe Lambessa liegt, ein Ort, reich an alt-
römischen, zum Teil noch recht gut erhaltenen Bauten. Wir gelangen
nach El-Kantara.
Das Hotel sowie der Bahnhof liegen in einem Gebirgskessel, der
von hohen, fast kahlen, mannigfaltig geformten Kalkbergen um-
schlossen wird, die, wenn sie von den Strahlen der Sonne oder des
Mondes getroffen werdeD, gleichsam selbst Licht auszusenden scheinen,
weil sie infolge ihrer weifBen Farbe so ungemein stark reflektierend
wirken. Der Felsenkessel wird von einem rauschenden Gebirgsbaoh
durchströmt. Wir folgen demselben auf seinem linken Ufer und ge-
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langen alsbald zu einem mächtigen Felsentor, welches so eng ist,
dass nur Raum bleibt für das schäumend dahinbrausende Gewässer
und die Strasse, auf der wir uns befinden, während der Schienenweg
der Bahn nach Biskra in einem Tunnel verborgen liegt Mit jedem
Schritt, den wir vorwärts tun, wächst unser Staunen über das wunder-
bar grofsartige, erhabene Landschaftsbild, welches sich unseren
Blicken darbietet. Wir befinden uns an einem Orte, der so bezeich-
nend von den Arabern „Fum es Sahara", das heifst: „Mund der
WĂĽste" genannt wird. Das Bild der WĂĽste ist wie mit Zauberschlag
vor unser Auge gerĂĽckt. Sie bildet hier eine Bucht, die zum Teil
von niedrigen Höhenzügen umrahmt wird. Nach einer Richtung hin
dehnt sich aber die in braungelben Farbentönen schimmernde Wüsten-
fläche grenzenlos vor uns aus, und dicht vor uns liegt ein aus vielen
tausend Stämmen bestehender Dattelpalmenbestand, den wir von
unserem erhöhten Standpunkte übersehen können.
Der Palmenwald der Oase von El-Kantara, der nördlichsten Oase
Afrikas, uraschliefst mehrere von Lehramauern umgebene Dörfer der
Eingeborenen; die Häuser haben aus an der Luft getrockneten Lehm-
ziegeln erbaute Wände und flache Dächer, aus Palmenstämmen und
Palmenblättern hergestellt.
Der Raum zwischen den Palmenbeständen der Oase und dem
mauerartig aufgetĂĽrmten Gebirge, das nur von dem Riesentor des
Fum es Sahara unterbrochen ist, wird von einer ausgedehnten
Trümmerhalde ausgefüllt, deren geneigte Oberfläche Felsblöcke, die
zum Teil gewaltige Dimensionen haben, bedecken. Zwischen den
Steinen gedeihen Pflanzen lErodium, Plantago, Labiaten, Scorzonera
Alexandrina, mit violetten BlĂĽten u. s. w.i, die durch Behaarung,
Ausscheidung ätherischer < >le, Knollenbildung (bei der genannten
Scorzonera) Anpassungen an die Trockenheit des von ihnen einge-
nommenen Standortes erkennen lassen.
Bei El-Kantara kommt auch das Chamäleon häufiger vor, welches
so merkwĂĽrdig ist durch den Farbenweehsel. den es infolge des
Wechsels der Temperatur und Beleuchtungsverhältnisse oder infolge
psychischer Erregung erleidet. Das Tier ist ferner durch den Besitz
einer wunderbar gebauten, an der Spitze klebrigen Zunge ausge-
zeichnet, die, indem sie weit hervorgeschnellt wird, zum Fangen von
Insekten dient. (Nahens vergleiche in Brehms Tierleben.)
Wenn wir El-Kantara mit der Bahn verlassen haben, so treten
die GebirgszĂĽge um so mehr zurĂĽck, je weiter wir kommen; immer
eigenartiger gestaltet sich aber der Anblick der weiten WĂĽstengebiete,
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•die wir durchfahren. Gegen Abend leuobten die Kalkgesteine der
-entfernten Berge in wundervollen, purpurnen oder tiefvioletten Farben-
töoen; die untergehende Sonne scheint eine Strahlenkrone zu tragen.
Die Nacht bricht an, und wir befinden uns in Biskra.
Zunächst einige allgemeine Bemerkungen über die Sahara
{näheres vergl. bei Oppel, Sievers und J. Walther). Die Wüste
Nordafrikas, ungefähr so grofs wie Europa, ist durchaus kein Tief-
land und auch durchaus nicht an allen Orten mit Sandmassen bedeckt.
Im ganzen und grofsen wird die Sahara von einem Hochland von
200 — 600 m Erhebung über dem Meere gebildet Nur hier und da
sind Depressionsgebiete vorhanden, und an einzelnen Stellen, z. B.
am Schott Melrir, liegt die Oberfläche des Bodens sogar tiefer als
der Spiegel des Mittelmeeres.
Im Innern der Sahara gibt es bis zu 2700 m Höhe ansteigende,
aus Granit^ Basalt, Schiefer und Sandsteinen gebildete Gebirge. Fast
die Hälfte des gesamten Wüstengebietes wird von den Hamadas
eingenommen, Hochebenen, die hier und da von Talbildungen (Wadis)
durchzogen werden, und deren steinharter Boden fast keine Vegetation
trägt. Dann spielen in der Mannigfaltigkeit der Gliederung der
Sahara die Aregregionen eine wichtige Rolle. Es ist dies die eigent-
liche Sandwüste, deren häufig zu hohen Dünen zusammengehäuftes
Bodenmaterial nicht in erster Linie durch Wassertätigkeit, wie früher
angenommen wurde, sondern durch Windwirkung an Ort und Stelle
gelangte. Dieser Sand entstand dadurch, dafs die Felsmassen der
Gebirge, nachdem sich das Meer vom heutigen Saharagebiet etwa zu
Beginn der Tertiärperiode völlig zurückgezogen hatte, verwitterten,
und die gebildeten Zersetzungsprodukte der Gesteine nunmehr von
Luftströmungen ergriffen, fortgeführt und als Sandmaterial in den
Aregregionen abgelagert wurden.
Von den Hamadas sind die Sahelgobiete der Hochebene zu
uuterscheiden, die infolge ihres etwas gröfseren Reichtumes an Vege-
tation Steppencharakter tragen. Auch die Regionen der typischen
Salzwüste und der Oasen zeigen ihr besonderes Gepräge. Die letzteren,
welche sioh an Orten befinden, an denen Bodensenkungen vor-
liegen, verdanken stets der Anwesenheit gröfserer Wassermengen ihr
Vorhandensein. Das Wasser strömt entweder oberirdisch in einem
Bach- oder Flufsbett, oder es tritt in Gestalt einer natĂĽrlichen Quelle
hervor. Es gibt aber auch Oasen mit unterirdischem Wasser. Die
Flüssigkeit kann sich dicht unter der Bodenoberfläche belinden, so
dafs die Wurzeln der Dattelpalmen sie zu erreichen vermögen; wenn
Himmel uod Erd. IWW XV. 6. 17
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der Wasserspiegel aber tief liegl, kann die Anlage artesischer Brunnen
vorzĂĽgliohe Dienste leisten.
Das Klima der Sahara (vergl. Hann, KlĂĽnatologie 1897 Bd. 3)
ist besonders durch grofee Hitze und Trockenheit sowie durch das
Auftreten bedeutender Temperaturschwankungen ausgezeichnet. In
Tougourt betragt z. B. die mittlere Temperatur 23,4° C, in Biskra
20,3° C. Die jährliche Regenmenge ist hier zu 199 mm ermittelt
worden. In El-Golea betragen die mittleren Jahresextreme der Tempe-
ratur 48 und — 3° C, Regenmenge nur 47 mm. Die Winde wehen
in der Sahara im Sommer aus Osten, im Winter, zu welcher Zeit sie
etwas Regen bringen können, aus Westen.
Die gesamte Vegetation der Wüste trägt mehr oder minder aus-
gesprochenen xerophilen Charakter, und man kann dieselbe mit
Schimper (Pflanzengeographie 1898) in zwei ökologische Gruppen
bringen. Man darf nämlich sogenannte Regen- und Grundwasser-
pflanzen unterscheiden.
Es gibt wenige perennierende Regenpflanzen, z. B. einige Zwiebel-
gewächse, deren oberirdische Organe zur Trockenzeit absterben. Die
meisten Regengewächse sind annuell, nach Volkens namentlich
Gräser, Papilionaceen und Kompositen. Diese Pflanzen vollenden den
Kreislauf ihres Lebens sehr schnell. Ihre Entwicklung fällt in die
Regenzeit, und sie sterben, wenn sie Samen produziert haben, rasch
ab. Auch gehört die berühmte Jerichorose hierher. Anastatica hiero-
chuntica, eine Crucifere, deren zur Reife gelangte FrĂĽchte bis zum
Eintritt der nächsten Regenperiode dadurch vor nachteiligen äufseren
EinflĂĽssen geschĂĽtzt werden, dafs sich die verdorrten Stengelteile der
PflaDze ĂĽber ihnen zusammenlegen.
Die Grund wassergewächse der Wüste, meist perennierend,
zeichnen sich vor allen Dingen durch ungemein tief gehende, oft
auch, wenigstens an ihrem oberen Ende, sehr dicke Wurzeln sowie
dadurch aus, dafs sie oberirdische Organe von typisch xerophilem
Bau erzeugen. Dieser prägt sich namentlich in der beschränkten Ent-
wickelung der Blattflächen, filziger Behaarung, Dicke der Cuticula
u. s. w. aus.
Biskra, eine der gröfsten und schönsten, wenngleich nicht eine
der besonders charakteristischen Oasen der Sahara, wird von einem
Flufs, dem Oned-Biskra, durchströmt. Das Vorhandensein des Wassers
gestattet es. mehr als 150 000 Dattelpalmen zu kultivieren (s. Titelblatt).
Die Gebirge, welche man von Biskra aus noch im Norden erblickt, ge-
hören der Auroskette (Rosenwan-rengebirgiö an; östlich erhebt sich die
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niedrige Sibankette. Nach SĂĽden dehnt sich die unermefsliche Ebene
der Sahara aus.
Biskra zerfällt in ein europäisches und ein arabisches Quartier.
Im letzteren ist in den Morgenstunden besonders der Marktplatz
sehenswert, denn hier entfaltet sich zu dieser Zeit ein ungemein buntes
Treiben. Abends hat man in der Oase Gelegenheit, die berĂĽhmten
Tänzerinnen vom Stamme der Ulad-Xoil zu sehen. Es gewährt
Arabische Tänzerinnen in Biskra.
dies indessen kein sonderliches VergnĂĽgen, denn der Tanz entbehrt
fast aller Grazie. Die Musik, welche die langsamen Bewegungen, der
mit vielem Schmuck behängten Mädchen begleitet, ist geradezu
fĂĽrchterlich.
Dicht bei Biskra liegt auch ein kleines Negerdorf, in welchem
sich den Tuareg entlaufene Sklaven angesiedelt haben. Interesse
gewährt ferner der Garten des Herrn Landon, dessen üppige Vege-
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260
tation hoher Palmen, Fikusarten, BambusgebĂĽschen, Bougainvilleen
u. s. w. so recht deutlich lehrt, was in einem trockenen Klima durch
.geeignete Bewässerung' erzielt werden kann.
EigentĂĽmlicher als Biskra ist ohne Zweifel die ca. 20 km ent-
fernt liegende Oase Sidi-Obka, die in aller Bequemlichkeit mit Wagen
erreicht werden kann. Man passiert das geröllreiche Bett des Oned-
Biskra und gelangt in einen Wüsten räum, der den Charakter der
Steppe trägt Auf dem vielfach steinharten Boden lagert nur eine
dĂĽnne, vom Winde herbeigetragene Sandschicht, die hier und da in-
folge von Salzeffloreszenzen wie bereift aussieht Die nicht gar spär-
liche Vegetation des Bodens bildet keine zusammenhängende Decke,
sondern sie ist auf kleinen HĂĽgelchen angesiedelt, deren Vorhanden-
sein den Eindruck hervorruft, als wäre die weite Fläche mit un-
zähligen bewachsenen Maulwurfshaufen übersät Am Horizont
taucht ein dunkeler Streifen auf. Nach einiger Zeit befinden wir uns
mitten in den Palmenhainen der Oase und erreichen bald den ca.
4000 Einwohner zählenden Ort Sidi-Obka.
Die Strafsen sind nicht breit aber doch lange nicht so eng, wie
diejenigen der Kabylendörfer, von denen früher die Rede war. Es
leben nur zwei Europäer in der Oase, der Besitzer eines kleinen
Cafes, sowie dessen Frau; sonst nur Eingeborene, deren aus an der
Luft getrockneten Lehmziegeln errichtete Häuser offene Hofräume
umgeben. Die ganz flachen Dächer der Gebäude sind aus Palmen-
stämmen, Palmenblättern und Erde hergestellt. Nach der Strafse zu
werden die Höfe durch eine Mauer und eine Tür abgeschlossen. In
Sidi-Obka herrschte ein ĂĽberaus reges Leben. Frauen sah man gar
nicht auf den Strafsen. Die Manner. unter ihnen auch der Scheikh
der Oase, drängten sich dagegen auf den Markt, um Einkäufe zu
machen. Unter den mancherlei Waren, die feilgeboten wurden, fielen
besonders Heuschrecken in grofsen Körben auf. Die Tiere, welche,
wenn man die Flügel nicht abrechnet, eine Länge von ca. 6 cm
haben, dienen der ärmeren Bevölkerung als wirkliches Nahrungs-
mittel. Ich hatte einmal in der Nähe von Biskra Gelegenheit, recht
bedeutende Ileuschreckenschwärnie zu beobachten. In unglaublich
groĂźer Individuenzahl flogen die Insekten durch die Luft Wenn
die Tiere abends zu Boden fallen, sammelt man sie, und in Salzwasser
gekocht geben sie ein Gericht ab. das gar nicht so schlecht schmeckt
Die Oase Sidi-Obka svht in der ganzen muhamedanischen
Welt in grofsem Ansehen. In dor mit Säulengingen und einem hohen
Miuaret geschmückten Moschee befindet sich nämlich das Grab Sidi-
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Obkas, eines Mannes, dessen Andenken heilig gehalten wird, da er
im 7. Jahrhundert durch sein Schwert wesentlich dazu beitrug, dem
Islam in Nordafrika Boden zu verschaffen.
Wenn man die Oase Biskra vertätet, so befindet man sieb sofort
auf trockenem Wüstenterrain. Die unabsehbare Fläche desselben,
vom hellsten Sonnenlicht ĂĽberflutet, schimmert in graugelben oder
braunen Farbentöneo, während die nach einigen Richtungen hin noch
sichtbaren kahlen Kalkberge rötliches oder zart violettfarbiges Lioht
reflektieren. Einer der Felsmassen vor uns ist eine fast weifs
erscheinende, hoch emporsteigende Sandmasse vorgelagert, die der
Wind dorthin transportiert hat. Wir glauben bald an Ort und Stelle
zu sein; aber der Schein trĂĽgt, denn bei der Klarheit der Luft dĂĽnken
uns selbst recht entfernte Objekte sehr nahe gerĂĽckt. Endlioh be-
treten wir die vegetationsarme, geneigte Fläohe des Sandes und arbeiten
uns mĂĽhsam empor. Das looker aufgeschichtete Material ist so sehr
von den Sonnenstrahlen durchglĂĽht, dafs wir trotz der Stiefel bei
längerem Verweilen an einem Ort ein unangenehmes Hitzegefühl an
den Fufssohlen verspüren. Am 23. März um 1 Uhr nachmittags be-
trug bei 23° C. Sohattentemperatur der Luft die Temperatur der Sand-
oberflächo 42-43° C. Im Sommer wird der Sand natürlich einen
noch erheblich höheren Wärmezustand annehmen.
Hier in der Umgegend Biskras gibt es, ganz abgesehen von
Halophyten, auf die wir an anderer Stelle zurĂĽckkommen, viele inter-
essante Wüstenge wäohse. Sehr verbreitet ist z. B. Peganum Harmala
(Familie der Rutaceen); ferner sind zu nennen Gräser, unangenehm
riechende Oleome arabica (Familie der Copparideen), deren oberirdische
Organe mit klebrigem Ăśberzug versehen sind, Euphorbia Guyoniana,
Atriplex mauritanica, behaarte Formen von Astraga und Thymelaea
iL s. w. Die oberirdischen Organe dieser Pflanzen sind mit ver-
schiedenartigen Einrichtungen ausgestattet, die zur Herabminderung
ihrer Verdunstungsgröfse dienen. Eine nicht minder grofse Bedeutung
für die Wasserökonomie vieler Wüstengewächse haben aber auch die
bei manchen derselben zur Entwickelung gelangten mächtigen Wurzeln,
welche schon so oft die Bewunderung der Reisenden erregten. Häufig
von erstaunlicher Länge, vermögen die Wurzeln weit in den Boden
einzudringen, um aus demselben Wasser zu schöpfen. In hohem
Grade ĂĽberrascht ist mau auch beim Ausgraben der Wurzeln von
Citrullua Colocynthis (Koloquinte) ĂĽber die enorme Dioke des oberen
Wurzelendes. Dasselbe dient sioher als Wasserreservoir, um den
am Boden lang hinkriechenden Stengeln sowie den Blättern, die
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einen ĂĽberaus bitteren Geschmack haben, selbst in regenloser Zeit
hinreichende Feuchtigkeitsmengen zur VerfĂĽgung zu stellen. Die
greisen, kugelrunden FrĂĽchte der Koloquinte findet man oft bei Biskra.
Es ist rĂĽhmend hervorzuheben, dafs die Franzosen in Nord-
Afrika vielfach vorzĂĽgliche Verbindungen nach entlegenen Orten ein-
gerichtet haben. So gibt es auch eine Art Post, die wöchentlich
mehrmals zwischen Biskra und Tougourt fährt, und den ca. 220 km
langen Weg gen SĂĽden in zwei Tagen zurĂĽcklegt. Mir lag besonders
Arabor auf der Reise durch die Wüst«.
daran, den Schott Melrir, sowie die ihn umgebende SalzwĂĽste kennen
zu lernen, und ich löste mir eine Fahrkarte nach der 106 km von
Biskra entfernten Oase Merayer.
Am 31. Marz, morgens um 4 Uhr, ging es fort. Das von dem
europäischen Teil Biskras durch einen weiten Zwischenraum getrennte
Altbiskra mit seinen schönen Palmenpflanzungen und die sich an diese
anschliersonden < ierstenfelder lagen nach kurzer Zeit hinter uns. Zu-
nächst ist noch eine Art Fahrstrafse vorhanden. Aber bald ver-
schwindet diese. Es geht ĂĽber Stock und Stein in rasender Eile in
die WĂĽste hinein, wobei die Heisenden oft die Empfindung haben, als
müfste der Wagen samt seinen Insassen im nächsten Moment zer-
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schmettert am Boden liegen. Aber die drei kräftigen Pferde eilen
immer weiter, und wir werden nur tĂĽchtig durchgeschĂĽttelt.
Die Wüste zeigt hier zunächst den Charakter der Steppe. Der
sandige Boden ist keineswegs eben; in mehr oder minder grofsen
Zwischenräumen erheben sich vielmehr auf ihm bewachsene Ilügel-
chen, welche bald nur die Gröfce von Maulwurfshaufen haben, oft
aber auoh 1 m Höhe besitzen, oder nooh viel gröTser sind. Offenbar
entstehen diese Erhebungen auf die Art, dafs der vom Winde fortge-
tragene und schliefslioh wieder zur Ruhe kommende WĂĽstensand sioh
dort, wo Pflanzen stehen, in besonders grofser Menge anhäuft, weil
die Gewächse ihm einen gewissen Schutz vor weiterem Transport ge-
währen. Die Bodenräume zwischen den Hügeln sind vegetationsfrei,
aber sie erscheinen infolge von Salzeffloreszenzen wie bereift. Dieses
Phänomen, in Verbindung mit der empfindlichen Kühle des Morgens,
können bei dem Reisenden die Vorstellung erwecken, als duroheile
er an einem Herbsttage, der bereits Reif brachte, die weite Ebene der
norddeutschen Heimat. Indesson bald werden wir durch merkwĂĽrdige
Erscheinungen wieder aus unseren Träumen geweckt.
Ein Schakal kreuzt unseren Weg; er kehrt von nächtliohen
StroiftĂĽgen heim in seinen Schlupfwinkel. Die Sonne taucht am
Horizont in Gestalt einer rotglühenden Kugel empor. Höher und
höher erhebt sich das Tagesgestirn, und weit mehr als in unseren
Breiten empfinden wir die Glut seiner Strahlen, denn die wasser-
dampfarme Atmosphäre absorbiert fast koine Wärme. Dieser Feuoh-
tigkeitsmangel der Luft bedingt zugleich eine wunderbare Klarheit
und Durchsichtigkeit derselben.
Es tauohen gröfsere oder kleinere Karawanen auf, die von Norden
gen SĂĽden oder in umgekehrter Richtung ziehen. Diese Karawanen,
oft aus einer ziemlich grofsen Anzahl von Dromedaren und einigen
Arabern bestehend, bewegen sich sehr langsam weiter. Sie legen an
einem Tage nur ca. 25—30 km zurück. Die Tiere suchen sich viel-
fach Nahrung, indem sie fortschreiten und dabei die "Wüsten kräuter
abrupfen. Ihre Last, die in Säcken verpackt ist, welche zu beiden
Seiten des RĂĽckens befestigt sind, besteht hauptsachlich aus Datteln
und Gerste. Die ersteren werden aus den Oasen nach Norden trans-
portiert, während die Gerste die Rückfracht in die Wüste bildet.
(Fortsetzung folgt.)
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Ăśber die Grundlagen der Naturwissenschaften.
Von Professor Dr. B. Weinstein in Berlin.
(Sohlufs.)
5. Welterhaltung.
s ist nun ein allgemeines Prinzip zu besprechen, welches wir als
das Prinzip der Erhaltung bezeichnen können. In der Welt
scheint alles in einem ewigen Wechsel begriffen zu sein. Gibt
es keinen „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht"? Bleibt nicht
trotz des stetigen Wechsels etwas erhalten? Die einfachste Antwort
darauf ist, gewifs die Welt selbst Verstehen wir unter Welt zunächst
nur die Gesamtheit aller in ihr vorhandenen Substanz, so gewinnen
wir hieraus das Prinzip von der Erhaltung der Substanz.
Diese Erhaltung könnte freilich so vor sich gehen, dafs so viel Substanz der
Welt etwa verloren geht, so viel ihr stetig neu zugefĂĽhrt wird. Wir auf
unserer Erde und soweit wir den Himmel durchforscht haben, sind
noch nie in die Lage gekommen, Substanz zu finden, die nicht schon
vorhanden war. Ferner wissen wir aus unseren eigenen Unter-
suchungen, dass wir durch keinen natürlichen Vorgang — er mag
geartet sein, wie er will — Substanz schaffen oder vernichten können.
Daraus schliefsen wir:
Substanz ist durch natürliche Vorgänge weder sohaff-
bar noch vernichtbar.
Dieses Prinzip bildet eine der wichtigsten Grundlagen der Natur-
wissenschaften. Es ist nichts als der Ausdruck von Erfahrung, die
seit je die Menschheit gemacht hat. Niemand erwartet eine Substanz
da zu finden, wo keine war, wenn sie nicht durch ihn oder andere
oder sonst auf „natürliche" Weise hingebracht ist Und ist umgekehrt
etwas verschwunden, so weifs jeder, dafs es sich an einem anderen
Ort befinden mufs; „aus der Welt gekommen kann es nicht sein",
lautet der volkstümliche Ausdruck. Nun können wir freilich
Substanzen so verwandeln, dafs sie ein ganz anderes Aussehen be-
kommen, als sie gehabt haben; namentlich die Chemie bietet uns Mittel
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dazu. Starres Eisen und luftiger Sauerstoff geben uns erdigen Rost,
ein Metall Natrium und ein Gas Chlor geben uns Salz u. s. w. Was
behauptet nun das obige Prinzip? Erinnern wir uns daran, dafs die
Substanzmenge das Mate der Trägheit abgab, so können wir sagen:
wir finden, dafs nach allen solchen Umwandlungen die neuen
Substanzen genau die gleiche Trägheit aufweisen, wie die Substanzen
vor der Umwandlung sie hatten, oder, wenn wir uns auf die Eigen-
schaft der Schwere bezieben, dafs die Substanzen nach der Um-
wandlung ebenso schwer sind wie vor derselben. Einen anderen
Ausspruoh werden wir später kennen lernen. Das Hauptgewicht ist
darauf zu legen, dafs es sich um das Vorhalten der Welt unter
„natürlichen14 Vorgängen handelt. Diesem gegenüber stehen die
^ĂĽbernatĂĽrlichen-4. Die Gottheit vermag der Welt nach Belieben zu
geben und zu nehmen. HierĂĽber steht der Menschheit weder ein Ur-
teil noch ein Verständnis zu, und gerade die fortschreitende Wissen-
schaft hat der Menschheit in dieser Hinsicht eine Einbildung nach
der anderen genommen; sie hat sie mehr und mehr gelehrt, dafs
ihrer Macht Schranken gezogen sind, die sie nicht zu ĂĽbersteigen
vermag.
Hier sogleich die zweite Schranke, das Prinzip von der Er-
haltung der Energie:
Energie ist durch natürliche Vorgänge weder schaff-
bar noch vernichtbar.
Dieses von Julius Robert Mayer entdeckte Prinzip stellt die
Energie auf gleiche Stufe mit der Substanz, selbstverständlich nur
formal. Energie ist nicht Substanz und Substanz nicht Energie. Es
ist schon bemerkt, dafs Energie in sehr verschiedenen Formen auf-
treten kann, ferner wurde bemerkt, dafs alle diese Formen in-
einander verwandelbar sind. Denken wir uns eine Reihe Energien
alle in eine Energie verwandelt, so haben wir nun eine bestimmte
Menge Energie. Lassen wir jene Energien in Vorgängen irgend
welche Umwandlungen durchmachen, wodurch sie ganz oder zum
Teil in andere Energien ĂĽbergehen, und denken uns alsdann
diese jetzigen Energien in dieselbe Energie ĂĽbergefĂĽhrt wie die ur-
sprĂĽnglichen, so erhalten wir ebensoviel Energie, wie vordem.
Man bemerkt, dafs dieses Prinzip etwas schwerer genau aus-
zudrĂĽcken ist wie das entsprechende fĂĽr Substanzen. Das kommt daher,
weil alle Substanzen in gleicher Weise gemessen werden können,
Energien dagegen erst, wenn sie in eine bestimmte Energieart um-
gewandelt sind. Gewöhnlich legt man diejenige Arbeit zu Grunde.
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welohe bei dem Heben von Gewichten verwendet wird, und man be-
zeichnet als mechanische Arbeitseinheit diejenige Arbeit, duroh welche
ein Gramm gegen die Schwerkraft der Erde um ein Centimeter gehoben
werden kann, oder welche geleistet wird, wenn ein Gramm von einem
Zentimeter Höhe herabfällt (praktisch nimmt man ein Kilogramm und
ein Meter). Indem man alle Energien so in meohanische Arbeitseinheiten
ausgedrĂĽckt denkt, kann man auch sagen:
Duroh keinen Vorgang läfst sich der gesamte mecha-
nische Arbeitswert von Energien vermehren oder ver-
mindern, wenn nicht von aufsen Energie dazu kommt oder
nach aufsen Energie abgegeben wird. Was an einer Stelle
an Energie verloren geht, wird an anderer Stelle an Energie
gewonnen.
Bei der Anwendung dieses Prinzips mute man sehr vorsichtig
sein; es darf ebensowenig wie bei dem frĂĽheren irgend etwas ĂĽber-
sehen werden, was Arbeit ist. Stehen uns bestimmte Kräfte zur Ver-
fĂĽgung, die Arbeiten bewirken, so kann es sich niemals um Ver-
mehrung oder Verringerung ihrer Leistungen, ihrer Arbeit, handeln.
Wir suchen ihre Leistung nach bestimmter Richtung zu lenken, z. B.
zum Erwärmen, zum Leuchten, zum Bewegen u. s. w.; das Höchste
haben wir erreicht, wenn die ganze Leistung dem gewollten Zweck
nutzbar gemacht ist; mehr zu erzielen ist nicht möglich, und je mehr
wir diesem Zwecke sohon zugefĂĽhrt haben, um so weniger ist noch
vorhanden. Dieses drĂĽckt man oft aueh so aus, dafs man sagt: ein
Perpetuum mobile sei nicht mĂĽg'lich. Dieser Ausdruck ist ein
wenig ungenau. Gemeint ist: eine Maschine, welche ohne Arbeits-
zufuhr, aus sich selbst heraus stets Arbeit schafft, sei nicht möglich.
Praktisch ist übrigens ein solchos Perpetuum mobile deshalb unmög-
lich, weil jede Maschine im Gange durch Reibung gehemmt wird. Die
Reibung verzehrt Energie, welche sich als Wärme an den reibenden
Stellen wiederfindet; diese Wärme strahlt nach aufsen, geht also der
Maschine verloren, woduroh ihre Arbeitsfähigkeit abnimmt. Mufs die
Maschine aufserdem noch Arbeit leisten, so mufs auch diese Arbeit
ersetzt werden, wenn sie in gleichem Mafse weiter arbeiten soll.
Gedanklich ist ein Perpetuum mobile, was nichts weiter bedeutet als
einen Gegenstand, ein Rad z. B., das sich ewig bewegt, wohl möglich,
nämlich, wenn man alle Bewegungshindernisse, wie Reibung in den
Achsen, gegen die Luft u. s. w. absolut entfernt. Aber Wert hätte das
nicht, weil eine solche Masohine auch keine Arbeit leisten dĂĽrfte.
Maschinen, welche Arbeit leisten und dabei sich selbst in Gang er-
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halten sollen, sind unmöglich; es gibt kein Mittel, solche Maschinen
zu konstruieren. Ăśber der ganz vergeblichen BemĂĽhung, solche
Maschinen anzufertigen, sind schon manche geschickte und kluge
Leute verrĂĽokt geworden.
Das Prinzip der Erhaltung der Energie ist viel weniger ein-
leuchtend als das der Substanz; in der Natur scheint es allgemeine
Geltung zu haben, wir können uns aber Fälle gedanklich konstruieren,
in denen es nicht mehr besteht. So verliert es seine Bedeutung,
wenn die Kräfte, durch welche Arbeiten geleistet oder gewonnen
werden, mit der Zeit Ă„nderungen erfahren, die nicht duroh andere
Änderungen ausgeglichen werden. Solche Kräfte dürfte es tatsäch-
lich nicht geben, aber vorstellbar sind sie gleichwohl. Die Bedeutung
dieses Prinzips fĂĽr Wissenschaft und Praxis ist eine aufserordentliohe
geworden, sie wird im folgenden noch schärfer hervortreten.
Substanz und Energie sind, soviel wir wissen, die einzigen
Dinge, welche in der Welt erhalten bleiben. Dagegen gibt es noch
etwas, was, wenn auch nicht vollständig, doch möglichst erhalten bleibt,
und das betrifft den natĂĽrlichen Zustand alles Vorhandenen. Es ist
hierĂĽber folgendes Prinzip aufgestellt worden:
Alle Vorgänge in der Natur verlaufen so, dafs der
natĂĽrliche Zustand der Substanzen in, jedem Moment durch-
schnittlich möglichst erhalten bleibt, während Substanz
und Energie genau erhalten bleiben.
Der Leser achte wohl auf das Wort „möglichst11; der Zustand
wird also nicht absolut erhalten wie die Substanz und Energie —
dem würde ja auch jede Erfahrung unmittelbar widersprechen — ,
sondern nur möglichst Ändert sich der natürliche Zustand etwa
durch Zwang, so ändert er sich doch so wenig, als unter den ob-
waltenden Verhältnissen noch zulässig ist. Besteht ein erzwungener
Zustand durch weiteren Zwang, und wird der Zwang aufgehoben, so
treten Vorgänge auf, die den natürlichen Zustand möglichst wieder-
herzustellen streben. Da man Zustandsänderungen als Wirkung von
irgend welchen Ursachen ansieht, so spricht man das obige Prinzip
auch so aus, dafs man sagt: Bei allen Vorgängen ist die Wir-
kung so gering als möglich. Man bezeichnet das Prinzip der
möglichsten Erhaltung des natürlichen Zustandcs alsdann
auch als Prinzip der kleinsten Wirkung (principium minimae
actionis). Als solohes ist es zuerst von dem Freunde Friedrichs des
Groden, dem Philosophon Maupertuis, in ein bestimmtes Gebiet der
Naturlehre (die Mechanik) eingefĂĽhrt worden. Maupertuis soll
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freilich auch den Ein/all gehabt haben, ein Loch von Europa durch
die Erde nach Amerika zu bohren, um bequem diesen Kontinent er-
reichen zu können. Das tut nichts; sein Prinzip hat sich als ausser-
ordentlich wichtig und weit über das beschränkte Wissensgebiet, dem
er es zuerst zuwies, bedeutungsvoll herausgestellt.
Da es nicht ganz leicht zu verstehen ist. will ich es naher
erläutern, zumal in der ihm hier gegebenen allgemeinen Fassung.
Offenbar ist es eine Art Trägheitsprinzip. Es besagt, wie Sub-
stanzen als solche träge sind, sind sie es auch mit Bezug auf ihren
natĂĽrlichen Zustand Es herrscht in der Natur ein Widerstreben
gegen jede Ă„nderung des bestehenden Zustandes, wenn nicht diese
Ă„nderung einen sozusagen noch natĂĽrlicheren Zustand
schafft als der bestehende. Mufs doch eine andere Ă„nderung
vor sich gehen, so kann das nur unter stetigem Zwang geschehen,
und es geschieht so, dafs möglichst wenig Unnatürliches vorfällt. Man
lasse einen Stein, den man in der Hand gehalten, los: er wĂĽrde an
sich da verbleiben, wo wir die Hand von ihm gezogen. Aber die
Erde zieht ihn herab, und er fällt zu ihr. Er könnte dieses auf allen
möglichen Wegen tun. es geschiebt aber auf geradem, kürzestem
Wege. Hätten wir ihn geworfen, so würde er einen krummen Weg
eingeschlagen haben, aber dieser krumme Weg ist dann so wenig
krumm und so kurz als nur möglich. Heinrich Hertz hat darum
dieses Prinzip in der Bewegungslehre als das Prinzip des ge-
radesten Weges bezeichnet.
Lichtstrahlen, die von der Sonne ausgehen, gelangen in unser
Auge auf dem geradesten, kĂĽrzesten Wege, auf dem sie die geringst-
mögliche Zeit verbrauchen. Stellen wir in diesen Weg Spiegel, Linsen,
Prismen u. s. w. auf, so werden die Strahlen von ihrem Wege abge-
bogen, gebrochen u. s. w. Ihr Weg ist dann viel komplizierter wie
frĂĽher; bestimmt ist er aber dadurch, dafs die Strahlen wieder in der
kürzestmöglichen Zeit ihr Ziel erreichen.
Wie sehr die Natur auf möglichste Erhaltung ihres Zustandes
bedacht ist, kann an einfachen Beispielen gezeigt werden, aus denen
auch erhellt, in welcher Weise sie den Ă„nderungen widerstrebt.
Bekanntlich werden Körper, wenn man sie erwärmt, gröfser, sie dehnen
sich allseitig aus. Indem sie sich aber ausdehnen, entsteht eine Ab-
kĂĽhlung; durch diese AbkĂĽhlung wird wieder Zusaramenziehung her-
vorgebracht. Ändern wir also den Zustand eines Körpers, indem
wir ihm Wärme zuführen und ihn dadurch sich zu dehnen zwingen,
so rufen wir zugleich die Gegenwirkung der AbkĂĽhlung hervor, und
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der Körper braucht sich nicht so weit zu dehnen, als er es ohne diese
Gegenwirkung tun mürste, er dehnt sich möglichst wenig. Wir
nehmen ferner einen Draht, dessen Enden mit den Polen einer Dy-
namomaschine oder einer galvanischen Batterie verbunden sind. Es
fliefst durch den Draht ein elektrischer Strom, das ist jetzt der natĂĽr-
liche Zustand des Drahtes und Stromes. Nun lösen wir ein Ende
des Drahtes von der Maschine; der Strom sollte sofort aufhören, aber
das Widerstreben der Natur zeigt sich darin, dafs nun im Drahte
selbst, also scheinbar ohne Wirkung der Maschine, ein Strom entsteht,
der den unterbrochenen einige Zeit fortsetzt. Dieses Beispiel können
wir noch weiter ausnutzen. Nachdem auch dieser Strom (er heifst der
Ă–ffnungs-Extrastrom) verschwunden ist, wird der Draht stromlos, und
das ist nun unter dem jetzigen Umstand (in welchem ein Ende von
der Maschine gelöst ist) sein natürlicher Zustand. Jetzt verbinden
wir den Draht wieder mit der Maschine; der frĂĽhere Zustand mute
sich ändern, indem der Strom in den Draht stürzt; sofort entsteht
aber im Draht eine Gegenwirkung, die den Strom hemmt, und die
er nur allmählich überwindet, so dafs er auch nur allmählich seine
ihm zukommende Stärke erreicht. Wir sagen, es sei beim Schliefsen
des Stromes ein ihm entgegenlaufender Schliefsungs-Extrastrom ent-
standen, darin äufsert sich in diesem Falle das Widerstreben der
Natur gegen Änderungen. Wir können noch fortfahren. Wir nehmen
einen geschlossenen Draht und nähern ihn dem vom Strom durch-
flossenen Draht; auch dieser Bewegung widerstrebt die Natur, denn
sofort entsteht in dem herangebrachten Draht ein Strom (Induktions-
strom), der von dem Strom im anderen Draht abgestofsen wird, so
dafs der heranbewegenden Kraft eine Gegenkraft wehrt. Wir halten
den Draht wieder in Ruhe, eine Gegenkraft ist nicht mehr nötig, und
der induzierte Strom schwindet, der zweite Draht ist wieder stromlos.
Jetzt entfernen wir diesen zweiten Draht vom stromdurchflossenen
ersten. Das ist abermals eine Zustandsänderung, und abermals ent-
steht im zweiten Draht ein induzierter Strom, der nunmehr aber so
fliefst, dafs er vom ersten Strom herangezogen wird. Die Annäherung
geschah unter Widerstreben, die Entfernung geht gleichfalls unter
Widerstreben vor sich, nur gegen die Ruhe hat die Natur nichts ein-
zuwenden. Das Widerstreben äufsert die Natur in der Hervorbringung
von Gegenwirkungen, wozu sie sich in diesem Falle, wie in dem
ganzen letzten Beispiel, elektrischer Ströme bedient, die sie selbst
hervorruft.
Das klingt sehr merkwĂĽrdig von einer Natur, die wir als tot
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zu bezeichnen pflegen; ob ist aber im GrĂĽnde nicht merkwĂĽrdiger
als die Trägheit der Substanz, und Beispiele liefsen sich in unbe-
grenzter Zahl beibringen. Ă„nderungslosigkeit scheint das Prinzip der
Natur zu sein, und es scheint ferner, als ob alle Vorgänge darauf
hinzielen, schliefslich zu einem solchen änderungslosen Zustand zu
gelangen, zu einem Zustand absoluter Ruhe im Weltall. Wer denkt
da nicht an Buddhas Lehre vom Nirwana, welches nicht einen Zu-
stand bedeutet, der nichts ist, sondern einen Zustand absoluter Ruhe,
absolut geistiger Nichttätigkeit, ohne Empfindung von Schinerz, Freude,
überhaupt ohne irgend eine Gemütsäufserung nach Seiten des Ange-
nehmen oder Unangenehmen, des Guten oder Bösen, worin gerade
die GlĂĽckseligkeit gesehen wird. Das entsprechende obige Prinzip
bezieht sich im Gegensatz dazu auf die nichtgeistige Welt (in unserem
Sinne), und es hat fĂĽr unser GefĂĽhl etwas Unangenehmes, weil wir
in der Veränderung das Leben, in der starren Ruhe den Tod sehen.
Das Prinzip der möglichsten Zustandserhaltung führt in den ver-
schiedenen Gebieten der Naturwissenschaft zu höchst merkwürdigen
Folgerungen, so namentlich in der Wärmelehre zu dem sonderbaren
und so schwer zu verstehenden sogenannten Carnotschen Satz.
Noch ist seine Bedeutung nicht entfernt hinreichend erkannt Viel-
leicht spreche ich bei anderer Gelegenheit eingehend ĂĽber dieses Prinzip,
welches eine Art Teleologie auch im Bereiche der leblosen Objekte
feststellt. Hier sei nur auf eines aufmerksam gemacht
Bei Berechnung von gewissen Substanzmengen und Energien
bedarf es nach den beiden ersten Erhaltungsgrundlagen keinerlei
Kenntnis der Vorgänge, wodurch Änderungen eingetreten sind.
Hat eine Gruppe von Substanzen oder Energien abgenommen, so
mufs die andere um ebensoviel zugenommen haben. Diese Unab-
hängigkeit von den Vorgängen ist es, welche diesen beiden ersten
Prinzipien die so eminent praktische Bedeutung verleiht, zumal sie
auch noch praktisch so eminent wichtige Gegenstände wie Substanz
und Arbeit betreffen. Ohne zu wissen, wie etwas geschehen, weifs
man doch sofort von diesen Gröfsen, was geschehen ist; der Weg
und die Richtung der Vorgänge sind für diese Gröfsen im Gesamt-
ergebnis ganz gleichgiltig. Nun ist es raeist sehr schwer, gerade die
Vorgänge selbst zu verfolgen und im Einzelnen zu durchschauen.
Man hat sich deshalb vielfach gewöhnt, nur von den beiden ersten
Prinzipien Gebrauch zu machen, die so ungemein bequem sind.
Manche haben auch geglaubt, in das Wesen der Vorgänge zu dringen,
sei doch ein vergebliches BemĂĽhen, deshalb reichten diese beiden
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Prinzipe fĂĽr uns ĂĽberhaupt aus. Allein das erstere kommt einem
banausischen Hintansetzen aller Einsieht im Verhältnis zur gewöhn-
lichen Praxis gleich, das zweite schliefst ein unnötiges Verzichtleisten
auf den Tag, bevor es noch Abend geworden ist, ein. Gewifs durch-
schauen wir nur wenig in der Natur, aber das Wenige mehrt sich
doch merklich. Vielfach hat man auch gesagt: alle Vorgänge be-
ruhen lediglich auf Umsetzungen zwischen Substanzen und solchen
zwischen Energien, also brauchte man keiner anderen Prinzipien als
der beiden diese Oröfsen betreffenden (Schule der Energetiker).
Darauf ist erstens zu erwidern, dafs wir es durchaus nicht wissen,
ob die Vorgänge lediglich Substanzen und Energien betreffen; vor
hundert und noch weniger Jahren hätten viele vielleicht gesagt, sie
beträfen nur Substanzen. Es ist immer gewagt, die Natur auf Be-
stimmtes zu beschränken. Zweitens aber bewirkt eben der Umstand,
dafs die beiden ersten Prinzipe gänzliche Unabhängigkeit von den
Vorgängen voraussagen, dafs man durch sie absolut nichts von der
Art der Umsetzungen jener Gröfsen erfahren kann, sie ermöglichen
also selbst in der Beschränkung auf Substanz und Energie ein eigent-
liches Studium der Natur nicht. Von vornherein kann hierĂĽber Un-
klarheit nicht herrschen, und wenn einige geglaubt haben, mit Hilfe
dieser Prinzipe tiefer in das Wesen der Vorgänge eindringen zu
können, so hat dieses auf Selbsttäuschung oder auf unbewufster Ein-
fĂĽhrung weiterer Annahmen beruht, denn was in den Grundlagen
nicht enthalten ist, kann auch nicht herausgerechnet werden.
Im Gegensatz zu den beiden ersten Prinzipien bezieht sioh das
dritte Prinzip auf die Vorgänge selbst. Schon das Wort „möglichst14
besagt, dafs Abhängigkeit von den Umständen vorhanden ist, dafs
je nach diesen der Zustand mehr oder weniger erhalten bleiben
kann, sonst wĂĽrde ja angegeben sein, bis zu welchem allgemein
giltigen Grade er erhalten bleibt. Dieses dritte Prinzip setzt also
ein Eingehen auf die Vorgänge selbst voraus, denn kein Vorgang
als solcher ist allein durch Anfang und Ende charakterisiert, sondern
nur, wenn er in allen seinen Phasen gegeben ist. Kehren wir das
Prinzip gewifsermafsen um, so würde es die Vorgänge selbst aus den
Ă„nderungen des natĂĽrlichen Zustand es erschliefsen lassen, und so wird es
in der Tat verwendet, und selbstverständlich zusammen mit den
beiden anderen Prinzipien, denn diese dĂĽrfen niemals verletzt
werden.
Gelten nun diese Prinzipien auch im Bereiche der nichtsinnlichen
Substanzen? Zweifel können eigentlich nur hinsichtlich des ersten Prin-
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zips bestehen, da Mengen bei ihnen zwar definiert, unterschieden werden,
aber mit Mengen, wie sie realen Substanzen angehören, wegen der
anscheinend vorhandenen Trägheitslosigkeit, nicht gleichgestellt werden
dürfen. Also: kann man z. B. Elektrizität ßchaffen und vernichten?
Wahrscheinlich werden die meisten Leser „gewifs, selbstverständlich1*
ausrufen, das wird ja schon in der Schule gezeigt". Und doch liegt
die Sache nicht ganz einfach, weil, wie schon frĂĽher gezeigt, eine
Elektrizität durch Vereinigung mit der andern Elektrizität für uns
verschwindet, also gleichwohl mit dieser noch vorhanden sein kann,
und wir eine Elektrizität so wenig schaffen können wie einen Mag-
netismus. Immer sind beide Elektrizitäten vorhanden. Von keiner
Elektrizität verschwindet etwas, ohne dafs von der andern Elektrizität
nicht die gleiche Menge verschwindet, keine Elektrizität wird hervor-
gebracht, ohne dafs zugleich auch die andere und in gleicher Menge
entsteht. Die Täuschung, als ob eine Elektrizität geschaffen oder
vernichtet werden könnte, entsteht nur dadurch, dafs die beiden Elek-
trizitäten sich an verschiedenen Orten oder auf verschiedenen Körpern
befinden, wie auf dem geriebenen Glasstab eine, auf der reibenden
Seide die andere. Bei dem Magnetismus liegen die Verhältnisse noch
viel klarer als bei der Elektrizität; hier müssen beide Magnetismen
selbst in den kleinsten Teilen eines Körpers vorhanden sein; bricht
man einen Magneten in Millionen StĂĽcke, so ist gleichwohl jedes
Stückchen ein vollständiger Magnet mit beiden Magnetismen.
Deshalb hat man geschlossen, dafs Elektrizität immer vorhanden
ist, und dafs unser „Schaffen" von Elektrizität in nichts anderem be-
ruht als in einem Trennen der vereinten beiden Elektrizitäten, und
unser Vernichten in einem Vereinen derselben. FĂĽr Magnetismus
gilt etwas Ă„hnliches, doch soll hier sogar das Trennen und Vereinen
nur scheinbar sein, worauf ich aber nicht eingehen kann, zumal
gleiches auch von der Elektrizität behauptet wird. Die Hauptsache
ist, dafs wir geneigt sein wĂĽrden, selbst das erste Erhaltungsprinzip
auf die nichtsinnlichen Substanzen auszudehnen.
Andere Erhaltungsprinzipien als die hier genannten sind nicht be-
kannt. Vielleicht gibt es auch nichts, was sonst noch ganz oder
möglichst erhalten bloibt, so lange wir uns im Bereich der nicht be-
seelten Natur bewegen. Von der beseelten Natur wird bekanntlich
von vielen die Erhaltung der Seele selbst behauptet. Gern gibt
man sich diesem Glauben hin, und angesichts des ĂĽmstandes, dafs
soviel Rohes erhalten bleibt, möchte man sich wundern, wenn das
Höchste zerstört würde. Aber freilich nehmen viele an, dafs die
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Seele nur die Ă„ufserung eines Zusammenspiels verschiedener Ursachen
ist und aufhört, wenn dieses Zusammenspiel mit der Beendigung des
Lebens beendet ist, wogegen sich sehr gewichtige Einwände selbst
vom Standpunkt des Naturforschers erheben lassen.
6. Die Naturgesetze.
Wir steigen in der Skala der Grundlagen eine weitere Stufe
herab und gelangen zu den Naturgesetzen, die praktisch von äufser-
ster Wichtigkeit sind. Naturgesetze sind Hegeln für die Vorgänge
in der Natur. Kennt man diese Regeln, so vermag man auf Grund
derselben die Entwiokelung jedes Vorgangs vorauszusagen, z. B. des
Vorgangs der Planetenbewegungen, der Finsternisse u. s. w. Natur-
gesetze schliefsen sich demgemäfs den Ursachen an und stellen fest,
in welcher Weise diese Ursachen wirken sollen. Sie sind sehr zahl-
reich, da ihrer fast in jedem Wissenszweige mehrere vorhanden sind.
Ihre Erkennung erfolgt meist aus den Erscheinungen und Vorgängen
der Natur selbst. Benannt sind sie vielfach nach dem Forscher, der
sie ermittelt hat, so das Newtonsche Gravitationsgesetz, das
Coulombsche Anziehungs- und Abstofsungsgesetz, das Neumann-
sche Induktionsgesetz u. s. w. Ihre Entdeckung ist mit grofsen
Schwierigkeiten verbunden, welche auch die Sicherheit ihrer Anwen-
dung beeinträchtigen. Zwei dieser Schwierigkeiten müssen vorgeführt
werden, weil sie fĂĽr das Wesen der Sache von Wichtigkeit sind.
Alle Erscheinungen in der Natur sind auf das engste mitein-
ander verbunden und vermögen sich mittelbar oder unmittelbar auch
durch leere Räume zu verbreiten. Daraus folgt: wir rinden niemals
eine Erscheinung rein FĂĽr sich vor, sie ist immer von anderen Er-
scheinungen begleitet, die sie selbst hervorruft, oder von denen sie
hervorgerufen ist, oder die vielleicht nebenhergehen. Dadurch ist das
Studium der Einzelerscheinung ungemein erschwert, und wenn wir
aus einem solchen Studium Gesetze fĂĽr die Einzelerscheinung ableiten,
vernachlässigen wir alles, was wir von dieser Erscheinung nicht haben
trennen können oder was uns dabei entgangen ist. Die Naturgesetze
können entweder zu kompliziert sein für die besondere Erscheinung,
nämlich wenn wir die Nebenerscheinungen, die wir nicht haben aus-
scheiden können, mit einbezogen haben, oder sie sind zu einfach,
wenn wir von der Erscheinung einzelnes ĂĽbersehen haben.
Noch wichtiger vielleicht ist der zweite Umstand. Alle Erfah-
rungen, die wir machen, betreffen Erscheinungen an ausgedehnten und
auf das mannigfaltigste gestalteten Körpern und in ausgedehnter Zeit.
Himmel und Erde. 1903. XV. <!. 18
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Nun hängt aber der Verlauf einer und derselben Erscheinung stets
von der Ausdehnung und der Gestalt der Körper ab und ebenso von
•der Zeit. Wenn wir ein Naturgesetz aufstellen wollen, welches für
alle Fälle pafst, müssen wir es so aussprechen, dafs wir es von einem
Falle fĂĽr alle anderen durch Rechnung oder Konstruktion zu ermitteln
vermögen. Seit Newton verfährt man deshalb in der Weise, dafs
man sich die Körper und die Zeit in unmefsbare kleine Teile zerlegt
denkt und das Naturgesetz fĂĽr solche unmefsbar kleinen Teile aufstellt
Für mefsbare Körper und Zeiten erhält man es dann durch Sunima-
tion. Nun aber studieren wir die Erscheinungen lediglich an solchen
Fällen, wo die Summation von der Natur schon ausgeführt ist Aus
â– den mannigfachen Summationen mĂĽssen wir also auf die einzelnen
Summanden schliefen, und das kann selbstverständlich nur mit grofser
Unsicherheit geschehen, da in der Reihe der Summanden Glieder vor-
handen sein können, die in der Summe nicht zum Vorschein kommen,
weil sie sich zusammen aufheben. Ein Gesetz auf unmefsbar Kleines
angewandt heifst ein Punktgesetz oder Elementargesetz. Punkt-
gesetze können mannigfachen mathematischen Ausdruck erhalten, ohne
dafs dadurch ihre Anwendbarkeit auf unmittelbare Erfahrung aufhört.
So kennt man in der Tat sechs oder sieben (eigentlich eine un-
zählige Menge) solcher Punktgesetze in der Lehre von der Wirkung
elektrischer Ströme aufeinander, die alle voneinander verschieden sind
und doch, auf ausgedehnte Ströme angewandt, alle genau dasselbe
ergeben.
Ăśbrigens werden Naturgesetze entweder durch umfassende Vor-
stellung der Erscheinungen in Verbindung mit mathematischer Ana-
logisierung intuitiv gefunden oder sie werden in mĂĽhsamem Aus-
probieren verschiedener AussprĂĽche ermittelt. Manche Naturgesetze
sprechen uns sehr an oder leuchten uns gar ein auoh ohne genauere
PrĂĽfung, anderen dagegen schenken wir erst nach reiflichster Unter-
suchung Vertrauen. Zuletzt gibt es solche, denen wir nur rein
rechnerischen Wert zuschreiben. Diese können unter Umständen
sehr nĂĽtzlich sein, haben jedoch fĂĽr die Sache selbst meist nur sehr
geringe Bedeutung. Zur bequemen Zusammenfassung massenhaften
Materials sind sie freilich nicht zu entbehren, namentlich in solohen
Gebieten, in denen es an einer rationellen Einsicht in den Zusammen-
hang der Erscheinungen noch mangelt, und das sind leider noch
immer bei weitem die meisten.
Die einzelnen Naturgesetze vorzufĂĽhren ist nioht Aufgabe dieser
Arbeit, nur das Allgemeine ist hervorzuheben. Es ist schon bemerkt,
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dafs diese Gesetze hauptsächlich mit den Ursachen in Verbindung
stehen, dementsprechend sagen die wichtigsten von ihnen Eigenschaften
der Ursachen aus.
Alle Kräfte gehen von wahrnehmbarer oder niohtwahr-
nehmbarer Substanz aus und wirken auf wahrnehmbare
oder niohtwahrnehmbare Substanz. Dem FrĂĽheren zufolge
scheint dieses fast selbstverständlich. Der Sitz der Ursachen sind die
Substanzen, und das Ziel derselben ebenfalls Substanzen. Das heifst,
wir erkennen Ursachen, Kräfte nur mit Bezug auf Substanz als Aus-
gangs- und Endpunkt Meist gehen die Kräfte von den Substanzen
in gerader Richtung aus, in einem Falle jedoch entwickeln sie sich aus
den Substanzen wie Wellenringe aus einem Zentrum; es sind die mag-
netischen Kräfte elektrischer Ströme. Ferner wirken Kräfte nichtsinn-
ücher Substanz nur auf nichtsinnliche Substanz, und Kräfte sinn-
lioher Substanz nur auf sinnliche Substanz. Diesem Satz scheint die
Erfahrung zu widersprechen: ein Magnet zieht Eisen an, auch wenn
letzteres unmagnetisch ist. Die Anziehung soll vom Magnetismus
herrühren, also hätte Magnetismus doch die sinnliche Substanz Eisen
angezogen. Der Leser wird schon wissen, wie dieser Widerspruch
gelöst wird. Der Magnet macht das Eisen erst zum Magneten und
sieht ihn dann als solchen an; da der Magnetismus seinen Träger
nicht verlassen kann, müssen die Träger der Anziehung folgen, ob-
wohl sie selbst gar nioht angezogen werden. In ähnlicher Weise
-lösen sich viele andere Widersprüche. Doch giebt es auch Fälle, in
denen wir noch nicht in der Lage sind, tu entscheiden.
Alle Kräfte nehmen in demselben Mafse zu oder ab,
wie die Substanzen (wahrnehmbare oder nichtwahrnehm-
bare) an Menge zunehmen oder abnehmen. Dieser Satz ist
fĂĽr die Gravitation von Newton entdeckt worden. Nach dem ersten
Satze stand er zu erwarten, doch ist er keineswegs selbstverständlich.
.Bei den sinnlichen Substanzen, für die wir u. a. auch in der Trägheit
ein Mafs der Menge besitzen, können wir den Satz prüfen. Bei den
nichtsinnliohen Substanzen dagegen dient er mehr dazu, die Mengen
dieser Substanzen selbst zu definieren. Ăśberhaupt hat dieser Satz
das Schicksal, seiner Bedeutung nach mehr in seiner Umkehrung ge-
wĂĽrdigt zu werden.
Alle Kräfte (und auch alle frei en Vorgänge) verbreiten
sich in di e Ferne mi t stetig abnehmender Stärke. Wir kennen
keine Kraft, welche mit wachsender Entfernung von ihrem Ausgangs-
orte an Stärke zunähme oder auch nur in der Stärke schwankte; stets
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findet stetiges Abnehmen statt. Wo gleichwohl Zunahmen oder
Schwankungen sich einstellen, hat dieses seinen Grund immer im
Zusammenwirken mehrerer Kräfte oder in besonderen äufseren Um-
ständen. Jede Kraft für sich aber folgt dem obigen Gesetz.
Die Abnahme scheint sogar, wenigstens bei denjenigen Kräften,
welche im Grofsen wirken, immer in derselben Weise zu geschehen,
nämlich naoh dem Newtonschen Gesetze umgekehrt propor-
tional dem Quadrate der Entfernung vom Ausgangsorte,
also wie die Abnahme der Lichtstärke. Bei den Kräften, die im.
Kleinen herischen, und die sich nur in geringsten Entfernungen be-
merkbar machen, sollen freilich auch andere Gesetze fĂĽr die Abnahme
l> latzgreifen. Aufserdem gibt es Fälle, in denen für die Stärke einer
Kraft nicht allein die Entfernung vom Ursprungsort entscheidend istv
sondern auch die besondere Lage der Ursprungssubstanz und der
Substanz, wo die Wirkung stattfindet Gekreuzt verlaufende Strom-
stĂĽoke wirken aufeinander ganz anders als parallel verlaufende,
wenn die Abslände der Mitten auch gleich grofs sind.
Dem obigen Satzo entspricht genau der folgende, der sioh auf
die Energie der Kräfte bezieht
Die Leistungsfähigkeit aller Kräfte auf dem Wege
zwischen zwei Substanzen hängt nur von der Entfernung
dieser beiden Substanzen, nicht etwa vom Wege ab. Diese
Leistungsfähigkeit ist allein entscheidend für das Ver-
halten der Kräfte nach jeder beliebigen Richtung. Der erste
Teil des Satzes ist zusammenzuhalten mit dem, was beim Prinzip der
Erhaltung der Energie über die Unabhängigkeit der Arbeit von dem
W ege, auf dem sie geleistet oder gewonnen ist gesagt wurde. Der
zweite Teil ist neu und nicht lejcht klar zu machen. Da unser Raum
dreidimensional ist, genĂĽgen fĂĽr jede Kraft drei Angaben, um sie
nach Stärke und Riohtung festzustellen, und sind solche drei Angaben
auch stets erforderlich. So wenn man ihre Stärke nach drei be-
stimmten Richtungen namhaft macht, kann man die Stärke nach jeder
anderen Richtung berechnen und ebenso die Richtung ĂĽberhaupt
Jener zweite Teil unseres Satzes besagt nun, dafs diese drei erforder-
lichen und hinreichenden Angaben allein aus einer Angabe zu
schöpfen sind, nämlich aus der über die Leistungsfähigkeit, Energie
der Kraft. Diese Leistungsfähigkeit die also ganz charakteristisch
ist, heifst auch Potential (nach Gaufs) oder Ergal (nach Clausius).
Kennt man sie, so vermag man überall aus ihr Stärke und Richtung
«icr Kraft zu bestimmen und ebenso die Stärke nach irgend einer
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von der eigentlichen Richtung der Kraft abweichenden Richtung.
Kräfte lassen sich also stets durch ihre Energien ersetzen. Es ist
noch nicht ganz sicher, ob dieser Satz ausnahmslose Anwendung
in der Natur findet, namentlich bestehen Zweifel im Bereiche des
Kleinen und Kleinsten. Als weiteres Oesetz ist hervorzuheben:
Kräfte wirken, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen,
also gleichzeitig stets so, als ob jede von ihnen fĂĽr sioh
allein bestände. Dieser Satz ist mit sehr grofser Vorsicht zu be-
nutzen. Dafs Kräfte unter Umständen im gemeinsamen Wirken ganz
andere Erscheinungen hervorbringen, als wenn sie einzeln fĂĽr sich
tätig sind, ist in dem öfter schon angeführten Aufsatz*) dargetan.
Darauf kann sich also das obige Oesetz nicht beziehen. Es betrifft
vielmehr solche Wirkungen, die jede Kraft auch fĂĽr sich allein im
Gefolge hat Diese Wirkungen werden durch das Zusammenarbeiten
mit anderen Kräften nicht geändert; kommen sie nicht zum Vorschein,
so müssen die anderen Kräfte gleich grofse Gegenwirkungen ausge-
ĂĽbt haben. Die Wirkung der betreffenden Kraft ist also nicht ver-
schwunden, auch nicht irgendwie verändert, sondern nur duroh vor-
handene andere Wirkungen nach aufsenhin kompensiert.
Endlich als letztes Gesetz:
Keine Substanz (ob wahrnehmbar oder nichtwahrnehm-
bar) empfängt irgend eine Wirkung, ohne eine gleich grofse
Gegenwirkung zu äufsern. Dieses Gesetz stammt von Newton
her und hat sich noch stets bewahrheitet, selbst in Erscheinungs-
klassen, die seinem grofsen Entdecker ganz unbekannt gewesen sind.
Es besagt, dafs in der Natur nichts einseitig geschieht, sondern alles
auf Gegenseitigkeit beruht. Kein Körper zieht einen anderen an,
ohne seinerseits auch von diesem angezogen zu werden, und zwar
mit der nämlichen Kraft, mit der er jenen anzieht. So fällt auch nicht
blofs ein Stein zur Erde, sondern ebenfalls die Erde zum Stein, nur
dafs die Erde infolge ihrer aufserordentlichen Grofse im Verhältnis
zum Stein diesem nur aurserordentlioh wenig entgegenkommt.
Wegen dieser absoluten Gegenseitigkeit mĂĽssen sich in einem
System von Substanzen alle Wirkungen und Gegenwirkungen insge-
samt aufheben. Und so können die inneren Kräfte nach Aufsen
nichts bewirken, wie grofs auch ihre Wirkungen innerhalb des
Systems sein mögen, beispielsweise nioht das System auch nur in die
geringste Bewegung nach Aufsen setzen. Hier darf ich auf den Ver-
*) Jahrg. XIV, S. 256.
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zweiflungssohrei Fauste hinweisen, den Wagner zum Motto seiner
herrliohen Faust-OuvertĂĽre genommen hat:
Der Gott, der mir im Busen wohnt,
Kann tief mein Innerstes erregen;
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann naoh Aufsen nichts bewegen.
In diesen Versen ist von der seelisohen Kraft dasselbe gesagt,
was wir eben von der Eigenschaft lebloser Substanzen hervorgehoben
haben; die Machtlosigkeit innerer Kräfte nach aufsenhin, trotz ge-
waltiger Wirkungen im Innern. Der Leser entschuldige diese
Parallelstellung mit dem hehren Diohterwort, aber Goethe war auch
einer der gröfsten Naturforscher, und in seinen Dichtungen steckt
mehr Naturwissenschaft, als gemeinhin angenommen wird.
Das sind die wichtigsten allgemeineren Naturgesetze, man kann
sie fĂĽglich auch den Prinzipen an die Seite stellen. Das Heer der
ĂĽbrigen Naturgesetze mufs ich ĂĽbergehen.
7. Erklärungen und Hypothesen.
Auf keinem Gebiete der Wissenschaft finden wir einen solohen
Tumult des Kampfes widerstreitender Meinungen, wie auf dem der
„ erklärenden u Hypothesen, und nirgends ist eine genaue Einsioht in das
Wesen der Sache so nötig, wie gerade hier. Denn die Erklärungen
haben nioht allein hohe intellektuelle Bedeutung, sondern auoh
praktische. Sie bieten das Mittel, die unendliche Natur zu ĂĽbersehen;
ohne sie wĂĽrden wir in der FĂĽlle des Gebotenen nicht Weg noch
Steg finden.
Wir können in der Tätigkeit des Erklärens vier Sohritte unter-
scheiden, duroh deren Darlegung zugleich erhellen wird, was
„Erklärung" selbst eigentlich bedeutet, da offenbar dieser Begriff
seinerseits einer Erklärung bedarf.
Im ersten Schritt fĂĽhren wir alle nooh so verwickelten Naturer-
scheinungen auf einige wenige zurĂĽck, wie wir das unabsehbare
Heer zusammengesetzter Körper durch Verbindungen weniger
Elemente aufbauen. Dieser Schritt ist der Wissenschaft ziemlich ge-
glĂĽckt: mechanische, akustische, thermische, optische, elektrische,
magnetische, ohemische Vorgänge — wir wollen diese sieben Vor-
gänge die Grundvorgänge nennen — , auf diese kann man alle
Vorgänge zurückführen. Einen oder mehrere Vorgänge dieser ge-
nannten suchen und finden wir also in allen Erscheinungen in der
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Natur, und wenn wir sie fĂĽr eine Erscheinung angegeben haben, ist
der erste Schritt in der Erklärung der Erscheinung getan.
Der zweite Schritt besteht in der Beantwortung der Frage, was
ist die Ursaohe, dafs diese Grundvorgänge in der betreffenden Er-
scheinung zu Tage treten? Diesen Schritt zu tun, ist schon sehr
viel schwieriger, und zwar hauptsächlich, weil die Natur ganz die-
selben Vorgänge auf den allerverschiedensten Wegen zu erzielen ver-
mag. Jeder weifs es heutzutage, dafs im Gewitter elektrische Ent-
ladungen einen Hauptvorgang bilden. Woher kommt aber die
Elektrizität im Gewitter? Es gibt wohl an dreifsig Erklärungen da-
für; alle können richtig sein, falls sie selbstverständlich nur solche
Vorgänge namhaft machen, aus denen Elektrizität auch entstehen
kann. Treffen nun tatsächlich alle zu, oder nur einige? und welche?
Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Vorgängen, z. B. solchen,
wo Wärme entsteht, da es kaum einen Vorgang gibt, der Wärme
nicht hervorzubringen oder zu verzehren vermöchte. Wahrscheinlich
verfährt die Natur, selbst bei Erscheinungen gleicher Art, überhaupt
nicht immer in gleioher Weise; es ist sehr wohl möglich, dafs die
Elektrizität in den Gewittern einmal duroh Reibung der Luft an den
Wolken und Staubteilchen, ein andermal durch Influenz oder Induktion,
ein drittes Mal durch kosmische EinflĂĽsse u. s. w. entsteht. Der Mangel
aller solcher Erklärungen beruht meistens darin, dafs diese sich allen-
falls nooh qualitativ prĂĽfen lassen, nicht aber auch quantitativ. Wir
können, um beim Beispiel des Gewitters stehen zu bleiben, wohl be-
urteilen, ob gemäfs der gebotenen Erklärung wirklich Elektrizität
entsteht, aber nicht mehr, ob auch so viel entsteht, als in den Ge-
wittern sich äufsert.
Der dritte Schritt betrifft die Erklärung der Grundvorgänge
selbst, und damit ist zunächst eine weitere Verringerung der Zahl
dieser Grundvorgänge gemeint Einerseits ist uns ihre Zahl noch zu
grofs, andererseits glauben wir, dafs gewisse von ihnen uns vor-
stellbarer sind als die anderen. Das letztere namentlich ist es, die
«,Vor8tellbarkeitu, wonach wir vor allem streben, und wonach wir
alles beurteilen. Wir suohen uns von allem eine Vorstellung, ein
Bild zu maohen. Dieses Bild gehört unserer Phantasie an. Ob es
der Wirklichkeit entspricht, kann niemand sagen. Gleichwohl wird
es nicht willkĂĽrlioh geschaffen, sondern nach bestimmten Denk-
gesetzen, worĂĽber wir sohon frĂĽher gehandelt haben.
Nun sind uns manche Bilder ungemein vertraut, weil sie sich
uns aus der Aufsenwelt ständig aufdrängen, andere dagegen stehen uns
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fremd gegenĂĽber. Bei dem Streben, eine Erscheinung zu durch-
dringen, werden wir naturgemäfs solche Bilder vorziehen, die uns am
vertrautesten sind, und wir werden die Erscheinung -erklärt" zu
haben glauben, wenn die Bilder uns befriedigen, wir bei ihnen be-
ruhigt stehen bleiben. Aber es kommt noch ein zweites hinzu: die
Bilder allein genügen noch nicht zur Erklärung, wir müssen sie auch
so aneinanderreihen können, dafs das Ganze eine Gesamtansicht von
der Erscheinung gibt, wie in den Stereoskopen die Einzelbilder vor-
handen sind, während das ganze Bild, z. B. die Bewegung eines galop-
pierenden Pferdes, durch die richtige Aneinanderreihung dieser Einzel-
bilder bedingt ist.
Die Wahl der Bilder nun ist von jeher streitig gewesen. Da uns
wahrnehmbare Substanz und Bewegung das Alltäglichste ist, so be-
stand schon in den frühesten Anfängen der Naturwissenschaften das
Bestreben, die Erscheinungen auf solche Substanz und Bewegung
zurĂĽckzufĂĽhren. Die Bilder wurden also aus dieser Substanz und
Bewegung genommen, so bereits von den griechischen und römischen
Naturforschern und Philosophen. Und in der Tat hat man mit
diesen — wie man sagt, mechanischen Bildern — so grofse Er-
folge erzielt, dafs dieser Art der Erklärung heutzutage der weitaus
gröfsere Teil der Naturforscher anhängt. Kaum ein Gebiet der Natur-
wissenschaft gibt es, in welchem diese Erkärungsweise nicht gute
Dienste geleistet hätte. Und wir kennen einige Gebiete, für welche
wir sie als unentbehrlich bezeichnen mĂĽssen. Der Leser weifs, welche
Triumphe sie in der Lehre vom Schall, vom Licht und von der
Wärme gefeiert hat. Oft hat sie Erscheinungen ableiten lassen, welche
bis dahin noch nicht beobachtet worden waren, und die man dann,
als das Experiment auf sie gerichtet wurde, tatsächlich fand, und so
fand, wie sie zufolge der Erklärung sein sollten. Aber damit ist
selbstverständlich nicht gesagt, dafs es durchaus rein mechanische Bilder
sein müssen, wodurch die Erscheinungen zu erklären sind. Bekannt-
lich hat man in der neuesten Zeit diese Bilder in der Lehre vom
Licht, wo sie in der sogenannten „Wellenlehre des Liohtesu so außer-
ordentliche Dienste geleistet hatten, zu Gunsten anderer Bilder — näm-
lich solchen von elektromagnetischen Wellen — verlassen, nicht weil
diese letzteren vorstellbarer sind, sondern weil sie noch mehr Er-
scheinungen des Lichtes umfassen als jene. Denn darauf ist jede
Erklärung gerichtet: die Erscheinung so vollständig als möglich ein-
zuschliofsen. Und was die Vorstellbarkeit anbetrifft, so hängt diese
von dem Umfang unserer Kenntnisse ab und davon, wie oft eine Er-
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scheinung uns entgegentritt, wodurch freilich der begriffliche Wert
einer Vorstellung sehr verliert. Doch handelt es sich bei den bisher
genannten Bildern immerhin noch um Substanz (wenn auch nicht
immer um nach unseren jetzigen Kenntnissen sinnlich wahrnehmbare)
und Bewegung.
Eine andere Wahl treffen dagegen Forscher, welche alles auf
das andere Unveränderliche in der Welt beziehen. Sic nehmen ihre
Bilder aus den Umwandlungen der Energien. Alle Erscheinungen
sind von solchen Umwandlungen begleitet, das wissen wir. Diese
Umwandlungen selbst sollen die Erscheinungen sein, mindestens
Bilder der Erscheinungen abgeben. Auf den ersten Blick möohte
man glauben, dafs wir es hier nur mit einem Spiel mit Worten
zu tun haben. Allein man darf nicht voreilig schliefsen. In der
mechanischen Erklärung nehmen wir die Bilder aus Substanz und
Bewegung, in dieser energetischen Erklärung aus Energie und Um-
wandlung. Beide Erklärungen entsprechen sich also vollständig. Die
eine setzt Energie, wo die andere Substanz hat, die eine Umwandlung,
wo die andere Bewegung annimmt. Selbst darin sind sie sich ähnlich,
dafs beide auch nicht Wahrnehmbares einschliefsen, denn der nicht
wahrnehmbaren Substanz steht Energie dieser nicht wahrnehmbaren
Substanz gegenĂĽber. Freilich kann letztere Energie in Energie wahr-
nehmbarer Substanz verwandelt werden, während — nach unserem
jetzigen Wissen wenigstens — nicht wahrnehmbare Substanz niemals
in wahrnehmbare ĂĽbergeht. DafĂĽr verlangt die Energetik aber, dafs
wir Energie als Bild unserer Vorstellung anerkennen sollen.
Das sind gegenwartig die beiden Erklärungsweisen in der
Naturwissenschaft, denen am meisten gehuldigt wird. Vielleicht
werden sie zu vereinigen sein, da Substanz und Energie beide das
Unveränderliche in der Welt sind und nichts geschieht wo nicht beide
beteiligt sind. WTie nun diese Erklärungsweisen in den Naturwissen-
schaften Anwendung finden, ist hier nicht auseinanderzusetzen.
Der vierte und letzte Schritt wĂĽrde eine Einsicht in das Wesen
der Dinge ĂĽberhaupt erfordern. Dazu reicht unsere seelischo Begabung
anscheinend nicht aus, und ich habe schon darauf hingewiesen, dafs
es möglicherweise an sich unrichtig ist, eine solohe Einsicht zu ver-
langen, wenn man nicht zugleich behaupten will, dafs wir und das
All Eins sind, oder wenn man nicht gar die Gedanken zur stolzesten
Höhe emporträgt.
- — • • «â–
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Der seit Jahrzehnten aas theoretischen GrĂĽnden innerhalb der
Merkurbann vermutete Planet
bildete fĂĽr die letzten Sonnenfinsternisse jedesmal den Gegenstand
eifrigen systematischen Suchens. Wenn er auch dadurch den Beob-
achtern entgehen könnte, dafs er während der wenigen Minuten
der Totalität sich hinter der Sonne aufhielte, so war dies doch im
allgemeinen nicht anzunehmen. Vor der Sonne hätte er sich als
kreisrunder, tiefschwarzer Fleck Ton anderen Flecken und auch durch
seine Ortsveränderung in der Zeit zwischen den Aufnahmen an ver-
schiedenen Orten deutlich unterscheiden mĂĽssen. Als Stern dagegen
raufste er eine bedeutende Helligkeit haben, wenn seine Masse ge-
nĂĽgen sollte, die ihm zugeschriebenen EinflĂĽsse auf die Merkurs-
bewegung auszuĂĽben. Die Ergebnisse bei der Finsternis von 1901
sind nun aber durchaus negativ gewesen; auf den Platten ist kein
Stern erschienen, der nicht als Fixstern schon vorher bekannt gewesen
wäre, und daher kann man wohl endgültig davon absehen, diesem ver-
muteten Körper noch länger die kostbaren Minuten der völligen Ver-
finsterung der Sonne zu widmen. Wie Perrine annimmt, liegt es
näher, die fein verteilte Materie, die uns als Zodiakallicht erscheint,
für jene Störungserscheinungen verantwortlich zu machen.
Etwas günstiger scheinen die Verhältnisse für den anderen,
aufserhalb der Neptunsbahn liegenden Planeten zu liegen. Aus Be-
trachtungen über die Bahnlage einer gröfseren Anzahl von Kometen
leitet Grigull in MĂĽnster Elemente des neuen Planeten ab. Danach
hat er zur Zeit eine Länge von etwa 356° und bewegt sich in einer
Entfernung, die etwa dem 50 fachen des Erdbahnradius entspricht,
um die Sonne einmal innerhalb 360 Jahren herum. Da die Neigung
■•ehr klein sein soll, könnte der Körper nicht fern von der Ekliptik
stehen, also etwa in der Gegend des Ăśbergangs vom Wassermann zu
den Fischen. Bedenkt man, dafs die ersten Neptunelemente von Lever-
rier mit den wahren fast keine Ă„hnlichkeit hatten, aber die Richtung,
in der Neptun gerade stand, sehr gut angaben, so wird man vielleicht
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mit den Werten von Grigull die Gegend dieses noch zu entdecken-
den Körpers bezeichnen können, um danaoh zu suchen. Vorausgesetzt
wird dabei, data ein solcher Körper überhaupt vorhanden ist, was
aus den Bewegungen des Neptun bisher nooh nicht gefolgert werden
konnte. R
*
Der grĂĽne Strahl bei Sonnenuntergang ist auf hoher See bis-
weilen beobachtet worden; er erscheint in dem Moment, wo die
Sonnenscheibe eben verschwunden ist, und dauert etwa eine Sekunde.
Die Vermutung lag nahe, dafs die am Horizont sehr dicke Schicht
unserer Atmosphäre, die der letzte Sonnenstrahl zu durchlaufen hat,
diesen in ein Spektrum auseinanderzieht, dessen Farben gegen das
GrĂĽn sehr schwach sind, sodafs dem blofsen, durch die Sonne vorher
geblendeten Auge dieser hellste Ton schon vermöge der Komplementär-
farbenwirkung allein siohtbar wird. Wenn dem aber so ist, so mĂĽssen
die anderen Töne doch vorhanden und vielleicht auoh nachweisbar
sein. Dieser Nachweis ist nun in der Tat einem Beobachter ge-
lungen. Mit Hilfe eines Doppelfernrohrs von Zeiss sab er, unter
sorgfältiger Schonung seiner Augen, wie das letzte Segment der
Sonnenscheibe von beiden Enden her grĂĽn aufleuchtete, bis diese
Farbe das ganze, immer schmäler werdende Segment einnahm.
Dies ist der grĂĽne Strahl fĂĽr das blofse Auge, der eine Sekunde
währte. Dann folgten sofort, einen kleinen Bruchteil der Sekunde
lang, Blau und Violett, jedoch aufsererdentlich sohwach und dem
blofsen Auge nioht wahrnehmbar. Das Zustandekommen der Er-
scheinung setzt einen dunst- und staubfreien, fernen Horizont voraus,
wie er auf hoher See angetroffen wird. R.
*
-
Das Perpetuum mobile und die Gewinnung flĂĽssiger Luft.
Bekanntlich hatte der Gedanke eines Perpetuum mobile frĂĽher
zahlreiche Anhänger, bis nach dem allgemeinen Durchdringen der
modernen wissenschaftlichen Anschauungen über das Verhältnis von
Kraft und Arbeit die UnausfĂĽhrbarkeit jener Aufgabe allgemein an-
erkannt wurde. Ein Perpetuum mobile sollte, kurz gesagt, eine
Maschine sein, aus der mehr Arbeit herauszuziehen wäre, als man
an Kraftaufwand in sie hineinsteckte; es sollte gleichsam eine Ăśber-
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leistung der Naturgesetze durch den menschlichen Geist vorstellen.
Liefse man z. Ii. duroh das Gefalle einer Wasserraasse eine Pumpe
antreiben, und höbe diese Pumpe das zu ihrem Betriebe nötige Wasser
und noch einen Teil mehr auf die erforderliche Höhe, so hätte man
ein Perpetuum mobile.
Dafs es indessen aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis zum
Trotz auch heute noch Erfinder gibt, die an die Möglichkeit einer
derartigen Maschine: denkon, beweist ein kĂĽrzlich an E. I. Hefs
in Rio de Janeiro erteiltes Patent. Die Sache ist um so inter-
essanter, als sich der Patentnehmer als mit der Konstruktion der
heutigen Maschinen zur Gewinnung flĂĽssiger Luft vertraut zeigt, und
diese nun nebenbei auch noch als Kraftmaschinen zu verwenden
gedenkt.
Wenn man Gase, insbesondere Luft, unter starken Druck bringt,
so verdichten sie sich bekanntlich, indem sie sich zugleich erwärmen.
Entzieht man ihnen nun durch eine Gegenstrom-KĂĽhlvorrichtung die
erzeugte Wärme wieder, zu deren Betrieb man in dem Apparat selbst
verflĂĽssigtes Gas benutzt, und kĂĽhlt sie dabei auch noch weiter ab,
so tritt unter der Einwirkung von Druck und Kälte eine Verllüssigung
der Gase ein. Hebt man nun plötzlich den auf ihnen lastenden Druck
wieder auf, so wird durch diese Druckverminderung eine schnellt'
Verdampfung eines Teiles des verflĂĽssigten Gases erzielt. Die hierzu
nötige Wärme wird nun aber einem anderen Teile des nämlichen Gases
wieder entzogen und veranlafst dieses somit, sich nooh weiter ab-
zukühlen. Ein Teil der hierdurch erzeugten weiteren Kälte wird dann,
wie oben erwähnt, zum Kühlen der verdichteten Gase benutzt. Auf
diese Weise gewinnt man durch Verdichtung, KĂĽhlung und teilweise
Wiederausdehnung der Gase die zu deren FlĂĽssighaltung auch unter
gewöhnlichem Druck erforderliohe Kälte.
Wie gesagt, geht hierbei ein Teil der in dem verflĂĽssigten Gase
enthaltenen Kraft verloren, indem bei der plötzlichen Druckver-
minderung eine teilweise Verdampfung des Gases stattfindet.
Es hat nun der bekannte Forscher auf dem Gebiete der nie-
drigen Wärmegrade, Raoul Pictet, in einem ebenfalls kürzlich er-
schienenen englischen Patent die bei der Ausdehnung des plötzlioh
verdampfenden Gases geleistete Arbeit wenigstens zum Teil dadurch
nutzbar zu machen vorgeschlagen, dafs er diesen Teil des Gases gegen
Schaufelräder strömen läfst, durch die ein gewisser Betrag der zu
ihrer ursprĂĽnglichen Verdichtung dienenden Kraft wiedergewonnen
werden soll. Pictet hofft, auf diese Weise etwa ein Drittel der
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Kraft sparen zu können. Zwei Drittel davon gibt also auch er ver-
loren, und in der Tat wird einmal duroh die notwendig werdende
Kühlung der verdichteten Gase, sodann aber auch durch die Unmög-
lichkeit, die lebendige Kraft der sich ausdehnenden Gase vollständig
auszunutzen, ein grofser Betrag der aufgewendeten Arbeit in Anspruch
genommen. Dazu kommen dann noch die zahlreichen Verluste durch
Reibung sowie durch Wärmeleitung und -Strahlung, die, wie bei jeder
Maschine, unvermeidlich sind, und die keineswegs vernachlässigt
werden dĂĽrfen.
Das Patent von He Ts beschreibt nun eine im Grundsätze der
Pictetschen ganz ähnliohe Maschine, von der er jedoch annimmt,
tiafs die bei der Verdampfung eines Teiles der gekĂĽhlten Gase sich
entwickelnde Kraft vollkommen genĂĽge, um nioht nur die Maschine in
(rang zu halten, sondern erforderlichenfalls auch noch darĂĽber hinaus
Arbeit zu leisten. Er bezeichnet somit seine Maschine als eine Vor-
richtung zur Gewinnung von flĂĽssiger Luft und von Betriebskraft.
Das wäre mit anderen Worten eine ohne hineingesteckte Kraft Arbeit
leistende Vorrichtung, ein sogenanntes Perpetuum mobile. G. R.
*
Speisegenossen.
Man hat schon oft die Beobachtung gemacht, dafs in der Tier-
welt gar seitsame Kameradschaften vorzukommen pflegen; freilich be-
ruhen diese nicht immer auf altruistischer Grundlage oder auf Selbst-
losigkeit, sondern ganz im Gegenteil stets auf krassem Egoismus. Sa
z. B. wurde ein Krokodil beobachtet, in dessen weit geöffneten Raohea
ein Vögelchen furchtlos ein- und wieder ausflog, die lästigen Fliegen
aufpickend und aus den Zähnen die Speisereste entfernend ; das Reptil
duldete das zierliche Tierchen als Zahnstocher. Genugsam bekannt
ist es, dafs Vögel sich mit Rindvieh befreunden und es von den in der
Haut eingegrabenen Zecken und Maden befreien. Es gibt auch Vöglein,
die sich aus demselben Grunde zu Gefährtinnen der Rhinozerosse
gemacht haben und sioh stets in deren Nähe aufhalten. Ebenso ein-
seitig ist der Pakt der Schakale, welohe den Löwen auf dem Fufse
folgen und sich von ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen —
pardon: die Knochen der eroberten Beute servieren lassen, ohne ihnen
je einen Gegendienst leisten zu können. Das gleiche Verhältnis be-
steht zwischen dem Hai und dem Pilotenfisch. Die Ameisennester sind
Zufluchtsstätten für Blattläuse und allerlei Käfer, da letztere gewisse
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28ĂĽ
SĂĽfsigkeiten von Bich geben, welche Leckerbissen fĂĽr die Ameisen
bilden. Gewisse Arten von Ameisen werden dagegen als Sklaven
benĂĽtzt, wenn sie sich in einen fremden Ameisenhaufen verirren;
Spinnen und Holzläusen wird uneigennützige Gastfreundschaft geboten
— so glaubt man wenigstens. Die seltsamste, aber auf Gegenseitig-
keit beruhende Kompagnieschaft herrscht zwischen dem Einsiedler-
krebs und der Seeanemone. Der Krebs findet es oft aus Selbst-
erhaltungstrieb ratsam, die Seeanemone auf seinem RĂĽcken zu tragen,
denn diese sieht zwar anscheinend sehr leicht verwundbar aus, ist es
aber tatsächlich nicht Sie ist nämlich ungenießbar, während dem Ein-
siedlerkrebs viel nachgestellt wird, weil er sehr schmackhaft ist Die
Seeanemone dagegen nährt sich von den Speiserestchen des Krebses.
Oft gesellt sich ihnen nooh ein dritter Partner zu, ein langer See-
wurm, der im KĂĽokhorn oder einer anderen vom Krebse adoptierten
Muschel lebt Er versieht keinerlei Arbeit und läfst sich nur füttern.
Anfangs nahm man an, dafs der Wurm für Wohnung und vollstän-
dige Verpflegung wenigstens die Muschel vom Unrat säubere; aber
nach aufmerksamen Beobachtungen stellte sich heraus, dafs er nicht
einmal dies tut b- -r.
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Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wiasonschaftlich-gemeinverständ-
licher Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens. Leipzig, Teubner.
12 monatlich erscheinende Bändchen. Geh. 1 M. Geb. 1,25 M.
Meereaforschung und Meeresleben. Von Dr. Janson. 30. Bändchen.
Das Mikroskop, seine Optik, Geschichte und Anwendung.
Von Dr. W. Scheffer. 35. Bändchen.
Von den beiden vorliegenden Bändchen der Teubnerschen Sammlung be-
spricht das erste ein Gebiet, das durch die Ausdehnung der deutschen Schiff-
fahrt, der Seefischerei, des ĂĽberseeischen Verkehrs u. s. w. unser Interesso
immer mehr in Anspruch nimmt. Wir lernen die Hilfsmittel kennen, mit denen
die Forscher der „Valdivia" und anderer Schiffe das Meer untersucht haben,
hören von ihren Entdeckungen und sehen auch manche der wunderbaren
Formen der Meeresfauna. Neben diesen biologischen Abschnitten sind auch
Ebbe und Flut und die Meeresströmungen in den Rahmen des Buches gezogen.
Aus dem zweiten Bändchen lernen wir nächst der Optik der Prismen,
Linsen und Linsenkombinationen das moderne Mikroskop mit seinen Neben-
apparaten kennen, aber auch die alten Instrumente, mit denen Hooke, Leeu-
wenhoek u. a. ihre Entdeckungen gemacht haben und die uns noch heute in
Erstaunen versetzen. Wer mit einem modernen Mikroskop arbeitet, wird gern
aus dem BĂĽchelchen lernen, auf welchem Wege sich dieses Instrument ent-
wickelt hat, das fĂĽr unsere Zoologie, Botanik, Mineralogie, Medizin u. s. w.
ganz unentbehrlich geworden ist.
Giesenhagen, Dr. K.: Auf Java und Sumatra. Streifzuge und For-
schungsreisen im Lande der Malaien. Mit IG farbigen Tafeln und
zahlreichen Abbildungen im Texte sowie einer Kartenbeilage. Leipzig.
Teubner. 1902. 270 S.
Der Verfasser hat im Herbst 1S99 eine mehr als halbjährige Reise durch
Java und Sumatra unternommen, um die dortige Pflanzenwelt zu studieren.
Wenn auch die wissenschaftlichen Ergebnisse und die Beobachtungen, auf die
es der deutschen Reichsregierung ankam, die bei der Bewilligung der Reise-
mittel die Interessen unserer Kolonien im Auge hatte, an anderer Stelle mit-
geteilt worden, so bleibt doch sehr vieles, was ein Forschungsreisender zum
Nutzen und zur Unterhaltung anderer ĂĽber solche Reise sagen und was
nur in solcher Form veröffentlicht werden kann. WeDn man mit ganz
knappen Worten angeben soll, was das Buch bietet, so ist es das: Man erfährt,
wie diese Reise und auch wohl eine Reise überhaupt in Tropenläudern ver-
läuft, welche Schwierigkeiten den Europäer überall erwarten, wie er aber auch
fast überall wieder Europäer findet, die ihm durch Rat und Tat seine Reise
zu erleichtern wissen. Man lernt auch nicht durch allgemeine Schilderungen,
sondern durch Beschreibung von besonderen Erlebnissen, wie die Malaien
leb.'n und wie das Land gestaltet ist.
Allen Freunden von guten Reisebeschreibungen sei das Buch aufs
wärmste empfohlen.
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288
Mars, eine Welt im Kampf nms Dasein, von Otto Drofs. Mit 3 Karten
und 3 Abbildungen. Leipzig, A. Hartlebens Verlag;.
Über den Planeten Mars und seine rätselhaften Erscheinungen sind \on
Nichtastronomen in den letzten Jahren soviel Kombinationen gemacht worden,
soviel Schriften und Schnftchen erschienen, dafs man gewohnt ist, alle weiteren
Darstellungen, die unseren Nachbarplaneten betreffen, mit grober Vorsicht in
die Hand zu nehmen. Das vorliegende, etwa 1G0 Seiten starke Buch unter-
scheidet sich von den erwähnten Broschüren über den Planeten Mars vorteil-
haft dadurch, dafs es keine neuen Hypothesen verteidigt, sondern nur die
bereits vorhandenen weiter ausbaut auf Grundlage der Arbeiten Schiaparellis,
Lnwells, Brenners u. a. Da der Verfasser von der Ăśberzeugung ausgeht, dafs
der Mars bewohnt sei, so kann es ihm nicht weiter verdacht werden, dafs er hin
und wieder beim Ausspinnen der Konsequenzen seiner Annahme die Grenze
wissenschaftlicher Forschung ĂĽberschreitet (2. u. 3. Kapitel des zweiten Buches).
Dagegen mufs dem ersten Buche, welches die allgemeinen kosmischen Verhältnisse
des Planeten behandelt, die Anerkennung strenger Korrektheit zu teil werden,
und dies um so mehr, als man kaum ein Gebiet der modernen Astronomie
nennen könnte, das der Verfasser hier nicht wenigstens vorübergehend streifte.
Die eingeschobenen, etwas schwulstig und nichtssagend klingenden Betrach-
tungen, die Einleitung und den Schlufs wĂĽrde mancher Leser gern vermissen,
da sie kaum einen Gedanken enthalten, abgesehen von der Bemerkung, dafs
die Gegner des Kopernikus Obskuranten, Zeloten, Neider und indifferenten
Geistespöbel darstellten und dafs die Ptolemäische Weltanschauung ein System
der Kurzsichtigkeit und Unwissenschaftlichkeit gewesen sei. Daran glaubt
doch sicher der Verfasser selbst nicht! K. G.
Dr. B. Donath : Physikalisches Spielbuch fĂĽr die Jueend. zugleich eine
leichtfafsliche Anleitung zu selbständigem Experimentieren und fröh-
lichem Nachdenken. l.">6 Abbildungen im Text. Verlag von Friedr.
Vieweg & Sohn, Braunschweig.
Wer das ziemlich umfangreiche und von der bekannten Verlagsanstalt
wissenschaftlicher Werke in vornehmster Weise ausgestattete Buch zur Hand
nimmt, wird zunächst angenehm überrascht sein, in ihm nicht eine lose Samm-
Ijng von allerhand physikalischeu Spielereien, sondern ein durchaus syste-
matisches, ernst angelegtes Werk zu finden. Nirgends ĂĽberwiegt die Illustration,
dem unterhaltenden und belehrenden Wort ist die erste Stelle eingeräumt und,
wie es uns scheinen will, ist der richtige Ton mit GlĂĽck getroffen. Der junge
Leser nimmt, gleichsam noch unbewufst, die GrundzĂĽge der modernen Physik-
lehre in sich auf, und man mufs es dem Verfasser Dank wissen, dass er die
Schwierigkeiten nicht meidet. Die Gesetze vom Beharrungsvermögen, vom
Schwerpunkt, vom spezifischen Gewicht sind ebenso sorgfältig an leicht anzu-
stellenden und unterhaltenden Experimenten erläutert, wie die Lichtreflexion
und -brechung, die Körperfarben, die Klanggesetze und die Beziehungen
zwischen Elektrizität und Magnetismus. An anregenden Ausblicken fehlt es
ebenfalls nicht, und der Fachmann wird mit Freude bemerken, dafs sich,
gleichsam als Leitmotiv, bald andeutungsweise, bald kräftig in den Vorder-
grund tretend, das Gesetz von der Erhaltung der Energie ĂĽberall erkennen
liifst. Alles in allem ein gewissenhaftes, gutes Buch, das wir unserem Lcser-
kreiso bestens empfehlen.
Verlag: Htnuii PaeUl in IWlin. - I>rnck: Wilhelm Oronaa't Bncbdraekerei In B.rlic - Sehönek.rj
FOr die Redaction renotwortlich : Dr. P. Schwann In Berlin.
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt diete? Zeitschrift uteuagt.
Ăśbereetitmg-areent ?orbehalten.
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Die Dreifarbenprojektion in der Urania.
Von Dr. B. Donath in Berlin.
c^Keit kurzem ist in der Urania ein Teil der Lichtbilderprojektion
nfe durch eine photographische Projektion in den natĂĽrlichen
Farben ersetzt worden. Das interessante Experiment ist wohl-
gelungen; es bedeutet nach gewisser Richtung den Höhepunkt und
Ahschlufs langjähriger wissenschaftlicher und technischer Bemühungen.
Was noch vor kurzer Zeit unmöglich schien, ist nunmehr Tatsache
und wird in Zukunft ein nicht mehr zu ĂĽbersehender Faktor natur-
kundlicher Unterhaltung und Belehrung sein. Es sei gestattet, mit
wenigen Worten auf das Prinzip des Verfahrens einzugehen.
Der Wunsch, das bunte Bild auf der Mattsoheibe in seinen
Farben zu fixieren, ist begreiflicherweise so alt wie die photographische
Kunst selbst. Man griff gleich anfangs das Problem auf und glaubte
sich dem Ziel einer glücklichen Lösung keineswegs fern, denn schon
Seebeck erhielt in seiner Kamera eine bunte Platte. Das war vor
nahezu hundert Jahren. Heute weifs man die Schwierigkeit der Auf-
gabe zu schätzen, man weifs auch, dafs die Lösung so nicht ausfallen
wird, wie der Laie sie erwartet. Ein neuer Zweck erfordert neue
Mittel. Wer daher glaubt, mit Hilfe seiner alten Kamera und mit
irgend einem besonders präparierten Papier in seinem Kopierrahmen
einmal naturfarbige Bilder zu erhalten, ist von vornherein festgelegt.
In Zukunft dĂĽrfte vielleicht nur das Negativverfahren ein rein photo-
graphisches sein; liefert es Platten, auf denen die Dichtigkeitsunter-
schiede zugleich Farbenverhältnisse bedeuten, so hat es offenbar seine
Schuldigkeit getan. Wie dann diese Platten zu einem bunten Positiv
verarbeitet werden, ob wieder mit Hilfe des Lichtes, ob durch ein
Druckverfahren oder durch Projektion, ist an sich gleichgĂĽltig und
ändert nichts an der Tatsache, dafs die Grundlagen der Farb-
Hlmmel ond Erde. HO* XV 7. 19
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290
Wirkung durch ein rein photographisches Verfahren ge-
wonnen wurden. Der Erfolg des Dreifarben Verfahrens bestätigt
die Richtigkeit dieser Anschauung.
Folgen wir der Young-Helmholtzschen Theorie, so dĂĽrfen
wir sagen, der Dreifarben-Aufnahmeapparat arbeitet wie unser Auge.
Nach Young-Helmholtz enthält unser Auge drei Arten von Nerven,
von denen die erste nur rot-, die zweite nur grĂĽn-, die dritte nur
violettempĂźndlich ist. Sie fĂĽhren eine Analyse der in der Natur ver-
tretenen Mischfarben in die drei genannten Grundfarben aus. Ist der
gesehene Körper etwa weifs, so werden alle drei Nervensorten erregt,
ist er gelb, so arbeiten die grĂĽn- und rotempfindlichen, ist er grĂĽn-
blau die violett- und grĂĽnempfindlichen Nerven. Aber auch jede
andere Farbenmischung wird zerlegt. Orange beispielsweise ist eine
additive Mischung von wenig GrĂĽn und viel Rot. Ein orangefarbener
Körper wird also, falls er nicht sehr hell ist und dann noch etwas
Weifs enthält, die violettempfindlichen Nerven garnicht, die grün-
empfindlichen etwas, die rotempfindlichen stark reizen.
Mit dieser Analyse auf der Netzhaut des Auges geht eine Syn-
these Hand in Hand. Sie kommt durch die Vermittelung des Gehirns
in unserem Bewulstsein zu stände und zeigt das aus den Grundfarben
wiederum entstandene Abbild der Natur.
Was im Auge zugleich vor sich geht, geschieht im
Farbenapparat nacheinander. Auch der Farbenapparat fĂĽhrt
eine Analyst! der Natur nach den drei Grundfarben aus. Seine Nerven
sind photographische Platten, denen durch besondere Farbenfilter
— das sind spektroskopisch genau bestimmte bunte Scheiben — ent-
weder nur violettes, nur grĂĽnes oder nur rotes Licht zugefĂĽhrt wird.
Man begreift, wie dann drei der Form nach gleiche, der Helligkeits-
verteilung nach aber verschiedene Aufnahmen entstehen mĂĽssen. Die
Platten sind zwar schwarz-weifs, enthalten aber das Farbenbekenntnis
der Natur in Form von Dichteunterschieden. Mehr braucht man nicht,
um eine Synthese auszufĂĽhren und die Natur wieder zu reproduzieren.
Nehmen wir beispielsweise an, ein Gegenstand sei grĂĽn gewesen,
so wird er nur auf der Platte erscheinen, deren Farbenfilter das GrĂĽn
hindurchläfst. Auf den beiden anderen Platten ist er nicht vorhanden.
War das Aufnahmeobjekt dagegen mit einer Mischfarbe behaftet, etwa
einem satten Orange, so wird es auf der sogenannten Rotplatte sehr
hell, auf der GrĂĽnplatte weniger hell, auf der Blauplatte garnicht er-
scheinen. War das Orange sehr hell, d. h. weifslich, so zeigt sich
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ein schwacher Lichteindruck auoh auf der Blauplatte u. s. f. Man
sieht, wie derart jede Farbenmischung auf photographisohem Wege
in ihre drei fJrundkomponenten zerlegt werden kann.
Diese photographische Farbenanalyse ist keineswegs neu. Wenn
wir die Namen Maxwell und H. W. Vogel als die Verfechter und
-je
-V s
Aufnahmen
durch dos
Violett - Filter.
Aufnahmen
durch das
GrĂĽn - Filter.
Aufnahmen
durch du
Rot -Filter.
Fitf. I. Aufnahmen mit dam Mieth»«chen Dr«ifarbenapp*ral.
Förderer der Idee nennen, so sieht der Leser, dafs die Anfänge des
Verfahrens ziemlich weit zurückliegen, etwa dreifsig Jahre. Später-
hin haben Zink, Lumiero, Jolly, Ives u. a. ihr bestes Können an
die Sache gesetzt Von ihnen ist namentlich Ives in weiteren Kreisen
durch seine farbigen Projektionen bekannt geworden. Wenn das
Verfahren trotz unverkennbarer Erfolge nicht ĂĽber ein interessantes
optisches Experiment hinauskam und noch vor drei Jahren praktisch
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292
wenig aussichtsvoll erschien, so lag dies hauptsächlich an der Unzu-
länglichkeit der Aufnahmeplatten.
Eine gewöhnliche photographische Platte ist, wie der Leser weifs,
grĂĽn- und rotblind. Sie sieht nur die Blaubestandteile der Aufsen-
welt und liefert naturgemäfs auch von ihr ein der Helligkeitsverteilung
nach falsches Bild. Man kann sich vorstellen, dafs eine derartige
Platte hinter einem strengen GrĂĽn- und Rotfilter eine stundenlange
Exposition erfordert Damit wird aber eine, praktischen Anforderungen
genügende, Dreifarbenaufnahme unmöglich. Wenn wir trotzdem heute
in der Urania Landschaften mit Sonnenuntergängen, Viehherden, selbst
Porträts in voller Farbenpracht bewundern können, so verdanken
wir diesen praktischen Erfolg der Mi eth eschen sog. panchromatischen
Platte, die durch eine, besondere Präparierung für alle drei Strahlen-
gattungen nahezu gleich empfindlich ist. Man ist nun in der Tat im-
stande, so sonderbar dies auch klingen mag, durch eine rote Dunkel-
kammerscheibe hindurch eine Momentaufnahme zu machen. Fig. 1
zeigt eine Dreifarbenaufnahme auf einer Mieth eschen panchromatischen
Platte. Es handelt sich linkerhand um einen Straufs von La France-
Rosen, rechts um eine Abendlandschaft mit menschlicher Staffage.
Wenn man weifs, dafs die oberste Aufnahme durch das Violettfilter,
die mittelste durch das OrĂĽnfllter, die unterste durch das Rotfilter
aufgenommen wurde, ist es bei einiger Ăśbung nicht schwer, die
Farben von der Platte abzulesen. Betrachtet man etwa den
Blumenstraufs, so erkennt man unschwer, dafs zwar in der Rot-
platte die Rosen, in der Grünplatte die Blätter am hellsten er-
scheinen, dafs aber in nicht unbeträchtlichem Mafse auch die
anderen Grundfarben an der Mischfarbe beider Gebilde teilnehmen.
Die Blätter, namentlich an der Spitze, waren offenbar gelbgrün —
Gelb entsteht aus einer additiven Mischung von Grün und Rot — und
die Blüten hellrot mit einem leichten bläuliohen Tageslichtschimmer
auf den Kanten und Spitzen. Bei der Landschaft fällt die Farben-
beurteilung begreiflicherweise schwerer, aber man erkennt doch auch
hier bei einiger Aufmerksamkeit, dafs das sommerliche Laub der Bäume
sich gegen die grünblaue Wasserfläche abhebt, dafs der Anstrich des
Kahnes aufsen rötlich, innen grün war, dafs das Mädchen helle Klei-
dung trug u. s. w.
Der Miethesche Dreifarbenaufnahmeapparat ist sehr kompendiös
und wiegt mit allem Zubehör nicht viel mehr als sonst ein guter,
stabiler Reiseapparat. Er kann daher bequem durch einen Mann
transportiert werden. Abbildung 2 zeigt denselben fertig zur Auf-
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nähme. Die bunten Scheiben für die drei Teilaufnahmen — oder
Lichtfilter, wie man fachmännisch sagt — sind in einem Schlitten
angeordnet, der sich zugleich mit der Kassette vor dem Kamera-Aus-
schnitt von oben nach unten bewegt. Es wird zuerst die blaue Auf-
nahme, dann die grĂĽne und schlieĂźlich die Hotaufnahme gemacht.
Wenn auch im allgemeinen die panchromatische Platte fĂĽr die drei
(irundfarben nahezu gleioh emp-
findlich ist, so werden doch
verschiedene Expositionszeiten
fĂĽr die drei Bilder erforderlich,
welche aber leicht durch Auspro-
bieren gefunden werden können.
Die Expositionszeiten Verhältnisse
mĂĽssen so getroffen werden, dafs
ein wirklich weifser Körper, in
zerstreutem Tageslicht aufgenom-
men, auf jedem der drei Teilbilder
die gleiche Deckung erzeugt. Wie
leicht ersichtlich, wird viel Zeit
bei der Aufnahme fĂĽr das Aus-
lösen der Schlittenvorrichtung
beansprucht; immerhin gelingt es
jedoch bei gutem Licht und etwa
mittlerer Objektiv -Ă–ffnung, Por-
träts in 7 bis 8 Sekunden herzu-
stellen, und es würde möglich
sein, noch kĂĽrzere Zeiten zu er-
zielen, falls es gelänge, einen
VerschluĂź zu konstruieren, der
sich automatisch auf die Exposi-
tionszeiten nach den Verhältnis-
zahlen einstellen liefse. Diese
Verhältniszahlen sind bei kurzen Expositionszeiten durch Auslösung
des Verschlusses mit der Hand begreiflicherweise nur sohwer genau
innezuhalten.
Mehr noch als der Schwarzweifsphotograph liegt der Farben-
photograph in ständigem Hader mit Wind und Wetter. Jede über
eine Wasserfläche laufende Windtrübung, jeder schwankende Zweig,
jeder während der drei Aufnahmen hervortretende Stimmungs- oder
Beleuchtungswechsel ruft natürlioh entweder bunte Ränder oder falsche
Fig. 2. Mietheicher Aufnahmeapparat
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Farben werte hervor. Diese Mängel treten tun 60 mehr zurück, je kürzer
sieb unter sonst gleichen Umständen die Aufnahmezeit gestalten läfst.
Sie wurden beseitigt sein, «renn es gelinge, die drei Aufnahmen zu
gleicher Zeit zu machen. Dieser Wunsch ist bisher noch unerfĂĽllt,
wenn auch mehrere theoretische Möglichkeiten eine praktische Lösung
des Problems aufser Frage stellen. Auch hier wird Intelligenz,
Können und Fleifs sicherlich bald einen Erfolg schaffen.
Die Synthese der Dreifarbenbilder geschieht objektiv auf dem
Projektionsschirm mit Hilfe dreier Bildwerfer, welche mit den Grund-
farben arbeiten. War die Dreifarbenprojektion bisher ein optische?
Experiment, das man gern einmal bei den Vorlesungen ĂĽber Licht und
Farbe seinen Hörern zeigte, und bei dem man dann gern alle kleinen
Unbequemlichkeiten und Ungenau igkeiten mit in den Kauf nahm, so
mufste dies nun anders werden. Sollte die Farbenprojektion nicht
fĂĽr sich bestehen, sondern in den Dienst der belehrenden Wissen-
schaft treten, so mufste sie in jeder Beziehung fertig und frei von
Schlacken sein. Im allgemeinen sind drei Hauptforderungen an einen
praktischen Farben-Projektionsapparat zu stellen: 1. sollen die Bilder
sehr grofs und dabei doch lichtstark sein, 2. mĂĽssen die drei licht-
liefernden Lampen unbedingte Gleichheit der Intensitäten in jedem
Augenblick haben und 3. sollen die drei Teilbilder schon genau zu
einander justiert sein, ehe der Zuschauer sie zu Gesicht bekommt,
der selbstverständlich keine Lust hat, bei irgend einem Vortrage erst
zu warten, bis nach komplizierten Justierversuchen aus dem bunten
Farben Wirrwarr auf der Leinwand ein einheitliches Deckbild ent-
standen ist Diese praktischen Anforderungen haben aus dem optischen
Instrument eine wirkliche Maschine gemacht. Der Apparat der Urania
int, was Lichtstärke und Vollkommenheit der Justierung anbelangt, so
ziemlich vollendet. In ihm werden nicht weniger als 45 HP teils in
Licht, teils in Wärme-Energie umgesetzt. Man weife, wie ungünstig
dieses Verhältnis ist. Von der in die Lampen eilenden elektrischen
Energie gehen etwa nur 10 pCL in Licht über und fast 90 pCt. in Wärme,
welche die kostbaren Linsensysteme in hohem Mafee gefährdet. Der
Leser erkennt an den Abbildungen (Fig. 3 u. Titelblatt), dafs der Apparat
nach seiner ganzen Anordnung eine Zweiteilung aufweist, so dafs die
Lampen auf die eine Seite, die Linsen auf die andere Seite kommen.
Letztere sind durch Luftisolationsschichten, Hartglasscheiben und
Wasserkühlkästen gegen die strahlende Wärme gesohützt. Um bei
'Jen drei Lampen gleiche Lichtlieferung zu erzielen, verfährt man
ihnlioh wie bei mehreren Dampfkesseln, die in gleicher Weise auf
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ein und dieselbe Dampfmaschine arbeiten sollen und daher mit Mano-
metern zur Druckmessung- ausgestattet sind. Auch die Lampen
haben je einen Spannungsmesser, durch den in jedem Augenblick die
Spannung an den Kohlespitzen kontrolliert wird. Gleichzeitig wird
auch die Stromstärke für jede Lampe beobachtet, so dafs die Regu-
lierung als eine durchaus genĂĽgende betrachtet werden darf. Um
Fig. 3. Projektionsapparat der Urania >ur Dreitarbaa-Synlhei«.
(Ansicht der Lampen und Reguliervorrichtungpn.)
jede unnĂĽtze Reflexion und daher jeden Lichtverlust zu vermeiden,
sind die Wasserkühlkästen zugleioh als Farbfilter ausgebildet, d. h.
sie enthalten FlĂĽssigkeiten, die mit Hilfe des Spektroskops auf die
Grundfarben Rot, GrĂĽn und Violett abgestimmt sind. Die Teilbilder,
als Diapositive auf Glas kopiert und auf den mittleren Bildbahnen
befindlich, werden daher von buntem Licht bestrahlt und dann von
den Objektiven zusammen auf dem Schirm abgebildet. Der Laie wird
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sich zumeist fĂĽr die Frage interessieren, wie denn nun das genaue
Aufeinanderfallen der drei Teilbilder auf dem Schirm erreicht wird.
Er denkt dabei an den Nebelbilderapparat seiner Kindheit und stellt
sich zumeist vor, es wĂĽrden die drei Projektionsapparate eine Wenig-
keit gegeneinander geneigt. Dies ist aber durchaus unzulässig, da
dann Verzeichnungen der Bilder unvermeidlich werden. Man läfst
daher die optischen Achsen der Apparate genau parallel und ver-
schiebt lediglich die Objektive ein wenig gegeneinander, da man weife,
dafs mit den Objektiven dann auch die Seitenbilder raitwandem und
so auf dem Mittelbild zur Deckung kommen. An die Genauigkeit
und Güte der Objektive werden selbstverständlich die allerhöchsten
Anforderungen gestellt. Sie sollen frei sein von Verzeichnung und
von Randunschärfe, aber ebenso sollen sie auch genau identisch sein,
d. h. von gleicher Brennweite. Diesen Anforderungen genĂĽgen selbst-
verständlich nur die allerteuersten Objektive. Für den besonderen
Fall wurden Triple-Anastigmate von Voigtländer & Sohn in Braun-
schweig gewählt, die sich noch ganz besonders durch ihre geringe
Linsenzahl und Linsendicke und daher durch ihren geringen inneren
Verlust an Reflexion und Absorption auszeichnen.
Die Justierung geschieht in der Laterne selbst für sämtliche Bilder,
indem ein Standardbild vor jeder Benutzung des Apparates genau zur
Einstellung gebracht wird. Da das Auswechseln der Bilder nicht viel
länger dauert wie bei jedem gewöhnlichen Projektionsapparat, genügt
nunmehr der neue Farbenbildwerfer der Urania in der Tat allen An-
forderungen der Praxis, wenn auch sein aufserordentlich hoher Preis
ihn einstweilen nur dem Dienste des Instituts selbst nutzbar machen
dĂĽrfte.
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■•in iiiii in ii ii 111 111 ii 111 ii ii ii iiiiiiiii ii ii Hi 111 ii iiiii i iiiiii iiii iiiiinii iiintiiiiiiiniiiiiiiiiiiit.
■••••«iiiiinii
*llllllllllllllt|l III III III III III II III Hill II II II Hill IIIIIIIII IIIIII Ulf
Die Naturwissenschaften im Zeitalter der Entdeckung
des Energieprinzips. ')
Von Dr. Fr Dannemann in Barmen.
4; ß ist ein erfreuliches Zeichen, dafs das Interesse der Fachmänner
,« und der Gebildeten sich in 6tets wachsendem Mafso der lange
vernachlässigten Geschichte der Naturwissenschaften zuwendet.
Ist doch 'lic.se Disziplin ohne Zweifel der bei weitem lohnendste und
interessanteste Teil der allgemeinen Kulturgeschichte, weil ein Ein-
blick in die Denk- und Arbeitsweise der grofsen Naturforscher ein
vortreffliches Mittel ist, eine Vertiefung des Wissens, eine Erhöhung
der Einsioht sowie eine Schulung des logischen Denkens hervorzu-
rufen. Die Geschichte der Naturwissenschaften, von Du Bois Key-
mond etwas emphatisch, aber doch mit einem gewissen Hechte als
die eigentliche Gesohichte der Menschheit bezeichnet, sollte deshalb in
nicht geringerem Grade als die sogenannte «Weltgeschichte44 zum Ge-
meingut aller Gebildeten werden.
Die Zeitschrift „Himmel und Erde44 will zwar in erster Linie mit
den neuesten Ergebnissen der Naturforschung und mit den heute
leitenden Ideen vertraut machen. Sie wird aber hin und wieder,
zumal bei besonderen Anlässen, gewifs auch gern die Blicke ihrer
Leser auf frĂĽhere Epochen in der Entwickelung der Naturwissen-
schaften richten. Mit dem Jahre 1902 sind sechs Dezennien ver-
flossen, seitdem Robert Mayer das Gesetz von der Erhaltung der
Energie, auf welches heute die gesamte Naturlehre gegrĂĽndet ist, klarer
als irgend jemand vor ihm aussprach. Die nachstehenden Zeilen
sollen versuchen, den Leser in jene Zeit der Entdeckung des Energie-
prinzips zurĂĽckzufĂĽhren und ihn erkennen zu lassen, dafs alle grofsen
Entdeckungen und Verallgemeinerungen nur aus dem geschichtlichen
>) Mit Zugrundelegung des vom Verfasser veröffentlichten Grundrisses einer
Geschichte der Naturwissenschaften, 2 Bde., Leipzig, Verlag von Wilhelm Kngel-
mann. 1. Auflage 18''G-1899, L Bd. 2. Auflage 1902. Bd. II. der vorstehende
Abhandlung zu Grunde liegt, erscheint in einigen Monaten in 2. Auflage.
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Zusammenhange heraus voll begriffen und gewürdigt werden können.
Ging doch dem Auffinden der Zcsammen hänge stets die Vertiefung
und Erweiterung der Vorstellungen parallel.
So begründete Galilei die Dynamik, indem er die alltäglichsten
mechanischen Vorgänge in der Welt der irdischen Erscheinungen be-
grifflich und experimentell analysierte. Keppler erkannte die Ge-
setze, nach welchen die Bewegung der Himmelskörper vor sich geht
Dann kam Newton und wies den Zusammenhang zwischen dem
Wurf und der Centraibewegung nach, indem er beide auf die Wirkung
einer Stofskraft und die konstante Anziehungsquelle der Himmelskörper
zurückführte. Einer Ausdehnung der mechanischen Erklärungsweise
auf die übrigen Gebiete der Naturwissenschaft stand zunächst die
herrschende Vorstellung von den Imponderabilien im Wege, welche
als Licht- und Wärmestoff, als elektrisches und magnetisches Fluidum,
als Phlogiston und Lebensgeister einen ganz ungenĂĽgenden Ersatz fĂĽr
den heutigen Kraftbegriff bildeten. In manchen Fällen glaubte man
sogar, ohne die Annahme ĂĽbernatĂĽrlicher EinflĂĽsse nicht auskommen
zu können.
Ja, Newton selbst war der Ansicht, dafs nur durch derartige
Einflüsse die Stabilität des Planetensystems aufreobt erhalten werde,
und erst Laplace hat dargetan, dafs eine solche Stabilität trotz aller
Ă„nderungen, welche die Bahnelemente der Planeten erleiden, ge-
sichert ist.
Erst gegen das Ende des 18. und während der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts wurden die genannten mystischen Vorstellungen
überwunden. Ermöglicht wurde dies daduroh, dafe jene von der
Philosophie schon lange gehegte Auffassung vom Wesen des Stoffes,
die wir die atomistische nennen, durch Dal ton auf den Rang einer
naturwissenschaftlichen Theorie erhoben wurde.
Jetzt erst konnte die mechanische Erklärungsweise auf die
chemischen Vorgänge ausgedehnt werden, in welchen man fortan das
Wechselspiel der Atome erblickte. Unter dem Einflufs der atomistischen
Auffassung waren auch die ersten Ansätze der mechanischen Wärme-
theorie zu stände gekommen. Ferner hatten Young und Fresnel
die Lichterscheinungen unter der Annahme eines gleichfalls aus ge-
trennten Teilen bestehenden Weltäthers erklärt, während die For-
schungen Oersteds und Amperes zahlreiche Beziehungen zwischen
den elektrischen und den magnetischen Vorgängen aufgedeckt hatten.
Ks soll nun unsere Aufgabe sein, zu zeigen, wie durch die Ent-
deckung neuer Tatsachen und Beziehungen auf allen Gebieten sowie
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duroh das Hinwegräumen veralteter Vorstellungsgebilde um die Mitte
des 19. Jahrhunderts eine einheitliehe, auf dem Energieprinzip be-
ruhende Weltauffassung, das Fundament der heutigen Naturwissen-
schaft, vorbereitet und geschaffen wurde.
Wir beginnen mit der Astronomie, welohe in dieser Periode einen
ihrer gröfsten Triumphe erlebte, indem das „geistige Auge einen Welt-
körper sah, ihm seinen Himmelsort, seine Bahn und seine Masse an-
wies, ehe nooh ein Fernrohr auf ihn gerichtet wurde."2) Der von
Hörschel aufgefundene Planet Uranus bereitete den Astronomen
nämlich grofse Schwierigkeiten, da Reohnung und Beobachtung gar-
nicht ĂĽbereinstimmen wollten. Es erhob sich daher die Frage, ob die
Theorie der Planetenbeweguog etwa nicht genĂĽgend ausgebildet sei,
und das Gravitationsgesetz z. ß. für gröfsere Entfernungen keine strenge
GĂĽltigkeit besitze; oder ob der Uranus noch anderen EinflĂĽssen ge-
horche neben denjenigen, welohe die Sonne, Jupiter und Saturn auf
ihn ausĂĽben.
Sollte es nioht unter der letzteren Annahme, so fragte man sich,
möglich sein, durch ein aufmerksames Studium der Abweichungen,
welche der Uranus darbietet, die bislang unbekannte Ursache dieser
Abweichungen zu ermitteln und den Punkt am Himmel anzugeben,
wo der fremde Körper, jene vermutliche Quelle aller Schwierigkeiten,
seinen Sitz hat? Diese Frage war es, mit der sich um das Jahr 1845
ein junger, bis dahin kaum bekannter Franzose namens Leverrier
beschäftigte. Das Problem war offenbar eine Umkehrung der von
Laplace zuerst bewältigten Störungsrechnung.
Hatte man früher aus der Kenntnis aller Elemente des störenden
Körpers die Abweichungen des Planeten von der elliptischen Bahn
berechnet, so galt es jetzt, aus der genauen Kenntnis dieser Ab-
weichungen die Stellung und die Masse des störenden Weltkörpers zu
ermitteln. Hierbei liefs sich Leverrier zunäohst durch einige
AnalogieschlĂĽsse leiten. Er nahm an, das zu entdeckende Gestirn sei
von der Sonne doppelt so weit wie der Uranus entfernt und befinde
sich in der Ebene der Ekliptik. Am 31. August des Jahres 1845
konnte er der Pariser Akademie die Bahnelemente, die Masse, den Ort
und die scheinbare Gröfse des vermuteten Planeten mitteilen. Da sich
die Berliner Sternwarte damals im Besitze einer sehr genauen Karte
der von Leverrier angegebenen Region des Himmels befand, so
wurde diese Warte von dem Ergebnis der Rechnung in Kenntnis ge-
») A. v. Humboldt, Kosmos II. S. 211.
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:*oo
setzt. An demselben Abend, als die Mitteilung aus Paris in die Häude
G alles gelangte, welcher derzeit in Berlin die Stelle eines astrono-
mischen Hilfsarbeiters innehatte, gelang diesem die Entdeckung des
gesuchten, später Neptun genannten äufsersten Planeten.
Hatte die Entdeckung- I.everriers bewiesen, dafs auch die
fernsten Glieder unseres Svstems dem Gesetz der Attraktion gehorchen,
so gelang es seit etwa 1830. die GĂĽltigkeit dieses Gesetzes auch fĂĽr
die entlegensten Fixsternregionen durch Berechnung und Beobachtung
der Doppelsternbahnen darzutun und auch hierdurch einer einheit-
liehen Auffassung des gesamten Naturgeschehens den Weg zu bahnen.
Letzteres erfolgte aber auf keinem Gebiete in gleichem Mafse
wie auf demjenigen der Physik, auf deren Boden eine solche Auf-
fassung recht eigentlich erwachsen sollte, um dann fĂĽr alle ĂĽbrigen
Zweige der Naturwissenschaft das verknĂĽpfende Band zu werden. Der
bedeutendste Physiker, welcher uns in diesem der Entdeckung des
Prinzips von der Erhaltung der Energie unmittelbar vorhergehenden
Zeitabschnitt begegnet, ist der Engländer Michael Faraday.
Seinem eigentlichsten Arbeitsfelde, der Elektrizitätslehre, wurde
er durch Oersteds Entdeckung des Elektromagnetismus zugefĂĽhrt
Man hatte sich in London die Aufgabe gestellt, statt der von Oersted
gefundenen blofsen Ablenkung eine bleibende Rotation des Magneten
durch den galvanischen Strom hervorzurufen. Der erste, dem die
Lösung dieses Problems gelang, war Faraday.
Er beschwerte den einen Pol des Magneten mit Platin und lief»
ihn dann derartig in einem mit Quecksilber gefĂĽllten Gefafse
schwimmen, dafs der andere Pol aus der FlĂĽssigkeit hervorragte.
Wurde dann ein Strom durch das Quecksilber von der Mitte nach
â– 1er Peripherie geleitet, so rotierte der Magnet um die Achse des
«iefäfses.
Neben dieser Erweiterung der von Oersted gemachten Ent-
deckung galt es auch, die Umkehrung des Phänomens, nämlich die
Erzeugung von Strom durch Magnetismus, zu bewirken. Wie Fara-
day diese Aufgabe bewältigte, hat er uns in seinen berühmten Experi-
::;ental-l*ntersuchungen gelehrt.
Die Veröffentlichung dieser -Experimental-Untersuchungen über
die Elektrizität- begann im Jahre 18 52. Das erste, was sie brachten,
war der Nachweis, dafs sowohl ein stromdurchtlossener Leiter als
auch ein Magnet ir. einem benachbarten Draht Ströme hervorzurufen
vermögen, dafs diese Induktionsströme aber nur von augenblicklicher
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Dauer sind und manche Ă„hnlichkeit mit der elektrischen Welle be-
sitzen, in welcher die Entladung einer Leydener Batterie besteht.
Faradays weitere BemĂĽhungen liefen nun darauf hinaus, alle
Zweifel zu beseitigen, ob man es bei den auf so verschiedene Weise
erzeugten Elektrizitätsarten stets mit ein und derselben Naturkraft zu
tun habe. Indem er ihre sämtlichen Wirkungen zusammenstellte und
verglich, gelangte er zur Überzeugung, „dafs die Elektrizität, aus
welcher Quelle sie auch herrĂĽhre, identisch sei in ihrer Natur. u Bei
dieser Untersuchung wurde seine Aufmerksamkeit besonders durch
die chemische Wirkung der Elektrizität gefesselt, auf welohe sich
eine zweite Gruppe seiner Entdeckungen bezieht. Zunächst schuf
Faraday für dieses Gebiet die noch heute gebräuchliche Nomen-
klatur.
Es ergab sich dann, date die zersetzende Wirkung des Strome»
der Elektrizitätsmenge proportional ist und nicht etwa von der
Konzentration des Elektrolyten oder von der Gröfse der Elektroden
abhängt
Auf dieses Gesetz grĂĽndete Faraday dann in dem Volta-Elektro-
meter einen Apparat, weloher die hindurchgegangene Elektrizitäts-
inonge zu messen gestattet Das Ergebnis seiner Versuohe gipfelte in
dem elektrolytischen Grundgesetz, nach welchem die Abscheidung der
Ionen durch ein und denselben Strom im Verhältnis der ohemisohen
Ă„quivalente stattfindet
Durch seine Arbeit ĂĽber die zersetzende Wirkung der galvani-
schen Säule gelangt nun Faraday, noch bevor Robert Mayer das
Gesetz von der Erhaltung der Energie formuliert, zu Anschauungen,
welche sich mit diesem allumfassenden Prinzip vollkommen decken.
„Die Kontakttheorie*4, so lauten seine Worte, „nimmt an, dafs ohne
einen Wechsel in der wirkenden Substanz und ohne den Verbrauch
von irgend einer Triebkraft ein Strom gebildet werden könne, der im
stände ist, einen mächtigen Widerstand zu überwinden und Körper zu
zerlegen. Es wäre dies in der Tat die Erschaffung einer Kraft aus
nichts. Es gibt mancherlei Vorgänge, bei welchen die Erscheinungs-
form sich in der Weise ändert dafs eine Umwandlung einer Kraft in
die andere stattfindet. Auf diese Weise können wir chemische Kräfte
in elektrischen Strom und diesen in chemische Kraft verwandeln. Die
schönen Versuohe von Seebeck beweisen den Übergang von Wärme
in Elektrizität und andere von Oersted und mir angestellte Experi-
mente die gegenseitige Verwandlungsfähi^keit von Elektrizität und
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302
Magnetismus. Allein in keinem Falle nicht «nmai bei den elektn-
*chen Fischen, findet eine Erschaffung- oder eine Erzeugung von Kruft
'Utt ohne einen entsprechenden Verbmuch von etwas anderem.- Diese
noch ehe sie zum vollen Durchbruch ^elan^eu, oft mehr oder
Faradaya Bemühungen, eine Beziehung zwischen der Elektrizität
.7. l der Schwerkraft aufzufinden, blieben jedoch ohne Ergebnis. In
dem Nachweis, dafs der Magnetismus eine auf sämtliche Materien
»irkende Kraft ist, bestand seine letzte grobe Entdeckung.
Auch die Wärmelehre erfuhr zu dieser Zeit einen wesentlichen
Fortach ritt, indem besonders durch Melloni die Identität der Licht-
end Wärmestrahlen nachgewiesen wurde. Der von Melloni zu diesem
Zwecke benutzte Apparat ist die Thermosäule in Verbindung mit dem
Multiplikator der Thermomultiplikaton. Vermittelst desselben gelang
es. nicht nur die Reflexion und Brechung, sondern auch die Beugung,
Interferenz, Doppelbrechung und Polarisation der strahlenden Wärme,
kurz deren völlige Übereinstimmung mit dem Lichte darzutun. So
*urde durch Melloni und seine Mitarbeiter der Beweis erbracht, dafs
♦ h nur eine Art von .Strahlen gibt, und dafs alle Unterschiede, durch
»eiche die optischen, thermischen und chemischen Wirkungen bedingt
*ir;d, auf Verschiedenheiten in der Wellenlänge und der Intensität
zurĂĽckgefĂĽhrt werden mĂĽssen.
Wir haben hiermit in der Hauptsache diejenigen grofsen Er-
rungenschaften der Physik kennen gelernt, welche eine einheitliche
Auffassung des Naturgescbehens anbahnten, und wollen jetzt, unter
dem gleichen Gesichtspunkte, die Fortschritte der Chemie während
dieses der Aufstellung des Prinzips von der Erhaltung der Kraft un-
mittelbar vorhergehenden Zeitraums verfolgen. Zunächst ist zu er-
wähnen, dafs diese Wissenschaft durch die Begründung der Elektro-
chemie sowie einer elektrochemischen Theorie des Oalvanismus und
der chemischen Verwandtschaft in die engste FĂĽhlung mit der Elektrizi-
tätslehre gekommen war.
Den klarsten Ausdruck fand jene Theorie durch Berzelius.
Ausgehend von der Tatsache, dafs alle verschiedenartigen Substanzen
entgegengesetzt elektrisch werden, wenn sie sich berĂĽhren, nahm Ber-
zelius an, jedes Atom besitze mindestens zwei Pole, deren Elektrizi-
tätsmengen verschieden grofs 6eien. Je nachdem die positive oder die
negative Elektrizität vorherrschend wäre, sollten die Teilchen bei der
Elektrolyse an die negative oder an die positive Elektrode wandern,
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303
während die chemische Vereinigung» in der Neutralisation der ent-
gegengesetzten Elektrizitäten bestände. Infolge dieser Neutralisation
sollten dann Licht und Wärme auf dieselbe Weise entstehen, wie es
bei der Leydener Flasche, dem Gewitter und der galvanischen Säule
der Fall ist. Diese ältere elektrochemische Theorie hat zwar den
Tatsachen gegenĂĽber nicht stand gehalten, aus ihr ist aber die neuere
Lehre vom galvanischen Strom hervorgegangen.
Die bedeutendste Errungenschaft ist indes die in dieser Periode
erfolgende BegrĂĽndung der organischen Chemie, eine trotz aller an-
erkennenswerten Mitwirkung der ĂĽbrigen Nationen vorwiegend deutsche
Geistestat. Das älteste Verfahren, um über die Zusammensetzung
von Stoffen aus dem Tier- und Pflanzenreich Aufschlufs zu gewannen,
bestand in der trockenen Destillation und in der Untersuchung der
hierbei auftretenden Produkte. Lavoisier verfuhr dann in der Weise,
dafs er den zu untersuchenden Körper in Sauerstoff verbrannte und
ihn dadurch in Verbindungen von bekannter Zusammensetzung (Wasser
und Kohlendioxyd) ĂĽberfĂĽhrte, deren Menge er zwar zu bestimmen
suchte, ohne jedoch hinlänglich genaue Resultate zu erhalten. An die
Stelle der durch Quecksilber abgesperrten Glocke Lavoisiers trat
jetzt die Verbrennungsröhre, in welcher die zu untersuchende Substanz
mit Sauerstoff abgebenden Mitteln, wie Kaliumchlorat oder Kupferoxyd,
erhitzt wurde. Ihre Vollendung erhielt die organische Elementar-
analyse aber erst durch Liebig, dessen zur Bestimmung des Kohlen-
dioxyds geschaffener Kugelapparat das Symbol der organischen Chemie«
geworden ist.
Wie zur Elementaranalyse, so hatte Lavoisier auch zu einer
Theorie der organischen Verbindungen den Anstofs gegeben. In dem
chemischen Lehrgebäude dieses Forschers spielte bekanntlich der
Sauerstoff die erste Rolle. Denjenigen Bestandteil einer Verbindung,
der nach Abzug des Sauerstoffs ĂĽbrig bleibt, nannte Lavoisier die
Basis oder das Radikal derselben. Für die anorganischen Körper er-
gab sich in der Regel, dafs dieses Radikal ein Element ist, während
es bei den dem Tier- und Pflanzenreich entstammenden Substanzen
aus zwei oder mehr Grundstoffen besteht
Als die eigentlichen Schöpfer der Radikaltheorie sind jedoch
Liebig und Wöhler zu bezeichnen. In einer gemeinschaftlichen
Arbeit über die Benzoesäure wiesen beide nach, dafs eine Anzahl aus
dem Bittermandelöl darstellbarer Verbindungen, darunter die Benzoe-
säure, ein aus drei Elementen bestehendes Radikal enthalten, von
denen das eine Sauerstoff ist. Der seit Lavoisier festgehaltene Ge-
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sichtepunkt, nach welchem dieses Element den Radikalen gegenĂĽber
eine besondere Stelle einnimmt, mufste somit aufgegeben werden.
Dafür hatte aber die organische Chemie, die ihre Hauptaufgabe zunächst
in der ZurĂĽckfĂĽhrung der stetig wachsenden Schar ihrer Verbindungen
auf bestimmte Atomgruppen erblickte, einen gewaltigen Impuls
empfangen, so dafs Ăźerzelius von jener Abhandlung der beiden
deutschen Forscher wohl sagen durfte, dafs sie fĂĽr die Chemie der
Kohlenstoffverbindungen den Anfang eines neuen Tages ankĂĽnde.
Mit WĂĽhler war Liebig durch eine der folgenreichsten Kontroversen
bekannt geworden. Liebigs erste Arbeit betraf das durch seine
explosiven Eigenschaften sehr gefährliche Knallsilber. Kurz vorher
hatte Wühler das völlig harmlose cy ansaure Silber untersucht. Als
Liebig die Analysen beider Salze verglich, stellte sich heraus, dafs
dieBe grundverschiedenen Verbindungen völlig gleich zusammenge-
setzt sind. Da ein Irrtum, den Lieb ig anfangs vermutet hatte, nicht
vorlag, so mufste der bis dabin geltende Grundsatz, dafs Substanzen
von derselben qualitativen und quantitativen Zusammensetzung identisch
seien, aufgegeben werden. Die Erscheinung wurde als Isomerie be-
zeichnet und aus einer verschiedenartigen Anordnung der Atome er-
klärt. Damit war die Frage nach der Konstitution der organischen
Verbindungen, welche eine Triebfeder fĂĽr alle weiteren Forschungen
auf diesem Gebiete geworden ist, in den Vordergrund des Interesses
gerĂĽckt.
Wühlers Untersuchungen über die Cy ansäure führten bald
darauf zu einer Entdeckung von solcher Bedeutung, dafs man mit ihr
wohl die neue Epoche der organischen Chemie anheben läfst. Bis
zum Jahre 1828 herrschte die Ansicht, dafs die Stoffe des Tier-
i;nd Pflanzenreichs nur unter Mitwirkung einer besonderen, zu den
Kräften der anorganischen Natur in einem gewissen Gegensatze stehen-
den Lebenskraft gebildet werden könnten. Berzelius hatte noch im
Jahre 1827 die organische Chemie als die Wissenschaft von denjenigen
Körpern definiert, die unter dem Einflufs der Lebenskraft entständen.
Ein Jahr später konnte Wöhle r an ihn schreiben: »Ich mufs Ihnen
erzählen, dafs ich Harnstoff inachen kann, ohne dazu Nieren oder
überhaupt ein Tier nötig zu haben." Dieser ersten Synthese einer
organischen Verbindung hat sich später die Darstellung einer grofsen
Anzahl von organischen Substanzen angeschlossen. Infolge dessen ist
der Glaube an eine besondere Lebenskraft der Ăśberzeugung gewichen,
dafs die Umsetzungen in den Organismen von denselben Regeln be-
herrscht werden, wie die leichter unserem Verständnis sich erschliessen-
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den Vorgänge in der anorganischen Natur, so data einer einheitlichen
Auffassung des gesamten Geschehens auch durch die moderne Chemie
vorgearbeitet wurde.
Letztere erschlofs auch ein Verständnis für die pflanzlichen Er-
nährungsvorgänge. Durch die Ernte werden dem Boden anorganische
Bestandteile entzogen. Da letztere unerläfsliche Nährstoffe für die
Pflanzen sind, so mufs es nach Lieb ig als Prinzip des Ackerbaues
gelten, dem Boden im vollen Mafse dasjenige wiederzugeben, was ihm
genommen wurde. Auf welche Weise diese Wiedergabe erfolgt, ob
in Form von Exkrementen, in welchen die Tiere die von den Pflanzen
erhaltenen Mineralbestandteile wieder ausscheiden, ob als Asche,
Knochen u. s. w., ist ziemlich gleichgĂĽltig. Man wird daher den Acker
auch mit kieselsaurem Alkali, phosphorsaurem Salz und ähnlichen
Präparaten düngen können, die sich in ohemischen Fabriken her-
stellen lassen. Der Erfolg sollte bald die Richtigkeit dieser von
Liebig vorgetragenen Lehren beweisen. Landwirtschaftliche Ver-
suchsanstalten wurden ĂĽberall errichtet; um den Bedarf von kĂĽnst-
lichem DĂĽnger zu decken, trat eine wichtige Industrie ins Leben.
Nicht minder aber wurde durch diese Ausdehnung wissenschaftlicher
Grundsätze auf das Gebiet der Gewerbtätigkeit einer einheitlichen
Betrachtung der gesamten Ersoheinungswelt der Boden bereitet.
Letzteres geschah in gleichem Mafse durch die enge VerknĂĽpfung,
welche die Botanik und die Zoologie erfuhren, indem Schwann den
Nachweis lieferte, dafs sämtliohe Organismen aus denselben Elementar-
gebilden zusammengesetzt sind. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
war die lange vernachlässigte mikroskopische Forschung wieder in
den Vordergrund getreten. Während aber die älteren Beobachter das
Hauptgewicht auf die form bestimmende Zell wand gelegt hatten, er-
kannte man die letztere jetzt als das Sekundäre und den Zellinhalt
als den eigentlichen Sitz der Lebensprozesse. Auf die Ă„hnlichkeit
des GefĂĽges gewisser tierischer Gewebe mit dem zelligen Bau der
Pflanzen war schon öfter hingewiesen worden, als Schwann es unter-
nahm, durch seine sich ĂĽber alle Teile des Tieres erstreckenden
„mikroskopischen Untersuchungen" die Übereinstimmung in der
Struktur und dem Wachstum aller Lebewesen darzutun. Nach
Schwanns Ausspruch ist die Zellenbildung das gemeinsame Ent-
wickelungsprinzip fĂĽr alle Teile der Organismen. Diese kĂĽhne Ver-
allgemeinerung, deren Nachweis bis in alle Einzelheiten erst im Laufe
der nachfolgenden Jahrzehnte geschehen konnte, hat nicht weniger wie
Hlmmol uod Erde. 1908. XV. 7. 20
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alle ĂĽbrigren in diesem Aufsatz dargestellten Fortschritte das wissen-
schaftliche Denken in neue Bahnen lenken helfen.
Die Beseitigung mystischer Vorstellungen sowie die ZurĂĽck-
fdhrung alles Geschehens auf sichergestellte, aus der Erfahrung ge-
schöpfte Begriffe wurde jetzt zur Losung. Ihr gegenüber konnte auch
die Geologie, welohe von jeher ein beliebter Tummelplatz der Hypo-
thesen gewesen war, nicht länger an der Katastrophenlehre Cuviers
und seiner Annahme wiederholter Schöpfungen festhalten. Hervor-
gerufen durch Lyell, entstand die neuere Richtung dieser Wissen-
schaft.
Unter der Voraussetzung, dafs die gestaltenden Kräfte während
der verflossenen und der heutigen Periode gleichartig gewesen und
der gesamte Naturverlauf ohne Unterbrechung vor sich gegangen sei,
erklärte man jetzt die gewaltigen Veränderungen, welche die Erdrinde
aufweist, aus der vieltausendfachen Summierung unbedeutender Ein-
flĂĽsse. Der Unterschied der Faunen und Floren frĂĽherer Perioden,
von der heutigen Lebewelt blieb dabei zunächst zwar ein Rätsel, bis
die schon von Lamarck behauptete VerknĂĽpfung aller organischen
Bildungen in der Lehre vom Transformismus zur Anerkennung
gelangte.
Einen beredten Ausdruck fand das in dieser Zeit zum Durch-
bruch kommende Bestreben, „die körperlichen Dinge in ihrem allge-
meinen Zusammenhange aufzufassen", in Alexander von Humboldts
Kosmos. Die Aufgabe, eine physische Weltbeschreibung zu liefern,
wurde durch dieses Werk zwar glänzend gelöst. Die Natur als ein
„durch innere Kräfte belebtes und bewegtes Ganzes* zu erkennen,
ward aber der Wissenschaft erst beschieden, nachdem Robert Mayer,
Joule und Helmholtz das Prinzip von der Erhaltung der Energie
gefunden hatten.
Mayer ging bei der Aufstellung dieses Prinzips von physiolo-
gischen Beobachtungen aus. Als er sich im Jahre 1840 in Java be-
fand, fiel es ihm bei Aderlässen auf, dafs das Blut der Armvene
eine ungemeine Röte besafs, so dafs man glauben konnte, eine Arterie^
getroffen zu haben. Den ansässigen europäischen Ärzten war dieses
Verhalten des Blutes von Personen, welche den Ăśbergang aus einem
gemäfsigten Klima zur Glut der Tropen durchmachen, wohl bekannt,
ohne dafs dadurch ihr Nachdenken besonders rege geworden,
während Mayer, ausgehend von dieser scheinbar unbedeutenden Be-
obachtung, zu dem tiefsten Einblick in den Zusammenhang des Natur-
ganzen gelangen sollte. Indem er die Farbeniinderung, welohe das.
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Blut in den Kapillargefäfsen erleidet, als den sichtbaren Reflex der in
dem Körper vor sich gehenden Oxydation betrachtete, kam Mayer
auf den Gedanken, nach einer Gröfeenbeziehung zwischen der Wärme-
entwiokelung und dem oxydierten Material zu suchen, um, wie er Bich
ausdrĂĽckt, die Bilanz zwischen Leistung und Verbrauch des Organis-
mus zu ziehen. Da nun ein Tier auch die Fähigkeit besitzt, Wärme
auf mechanische Art, z. B. durch Reibung hervorzurufen, so erhebt
sich die Frage, ob die gesamte, teils unmittelbar, teils auf mechani-
schem Wege, vom Organismus erzeugte Wärme dem im Körper vor
sich gehenden Verbrennungseffekte quantitativ entspricht oder äqui-
valent ist. Wenn wir dies bejahen, so ist auch zu vermuten, dafs die
zur Gewinnung von WTärme auf mechanischem Wege aufgewandte
Arbeit einem bestimmten Bruchteil dieses Effektes entsprechen wird.
So wurde Mayer darauf gefĂĽhrt, aus der physiologischen Verbren-
nungstheorie auf eine unveränderliche Gröfsenbeziehung zwischen
Wärme und Arbeit zu schliefsen.
Die physikalische Forschung war damals sohon auf dem Punkte
angelangt, dafs Mayer, ohne selbst Versuche anzustellen, das Ă„qui-
valent zwischen Wärme und Arbeit aus den vorhandenen Daten zu
berechnen vermochte. Aus der Wärmemenge, die verbraucht wird,
wenn ein Gas mit Ăśberwindung eines darauf lastenden Druckes, also
unter Leistung von Arbeit, sich ausdehnt, ergab sich, dafs diejenige
Arbeit, welche durch das Emporheben eines Gewichtes auf die Höhe
von 365 Metern dargestellt i6t, einer Wärmemenge äquivalent ist,
welche die Temperatur des gleichen Gewichtes Wasser von 0° auf 1°
erhöhen würde. Spätere Versuche haben für dieses mechanische
Wärmeäquivalent den Wert von 424 Kilogrammetern ergeben.
Die Abhandlung, in weloher Mayer seine Anschauungen ent-
wickelte, hatte das unverdiente, aber unter den näheren Umständen
begreifliche MiĂźgeschick, dafs ihr die Spalten einer physikalischen-
Zeitschrift verschlossen blieben. Sie wurde im Jahre 1842 in Liebigs
„Annalen der Chemie" abgedruckt und von den Fachgelehrten zunächst
nicht weiter beachtet. Einige Jahre später erschien eine gröfsere
Arbeit Mayers, in der er das Prinzip der Ă„quivalenz auf die Ge-
samtheit der Naturerscheinungen ausdehnte T) und der Wärme, der
Elektrizität und den übrigen „Imponderabilien" die Materialität unbe-
dingt absprach. „Es gibt", sagt Mayer, „in der Natur eine gewisse
») Mayer, Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dorn
Stoffwechsel. 184*».
20»
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Gröfse von immaterieller Beschaffenheit, welche bei allen zwischen
den beobachteten Objekten stattfindenden Veränderungen ihren Wert
behält, während ihre Erscheinungsform auf das Vielseitigste wechselt. u
Diese Gröfse wurde zuerst als „Kraft", und das von Mayer in obigen
Worten ausgesprochene Gesetz als das Prinzip von der Erhaltung der
Kraft bezeichnet In seiner heutigen Fassung lautet dieses Grund-
prinzip: Die Energie des Weltalls ist konstant.
Von einem anderen Gebiete ausgehend und seine Folgerungen
auf eine gröfse Zahl sinnreioher Experimente stützend, gelangte der
Engländer Joule fast zur selben Zeit wie Robert Mayer zur Er-
kenntnis der Äquivalenz zwischen Wärme und Arbeit. Joule be-
fafste sich seit 1840 mit der Wärme Wirkung des galvanischen Stromes.
Er fand dieselbe dem Widerstande und dem Quadrat der Strominten-
«ität proportional. Diese Untersuchung wurde auch auf Induktions-
ströme ausgedehnt, indem Joule die Erwärmung mafs, welche eine
gewisse Menge Wasser infolge der Wirkung dieser Ströme erfuhr.
Da die letzteren duroh die Drehung einer raagnet-elektrisohen Maschine,
also unter Aufwand von mechanischer Arbeit erzeugt wurden, so kam
Joule auf den Gedanken, die Kraft, welche seinen Apparat in Be-
wegung setzte, zu bestimmen und mit der erzeugten Wärmemenge zu
vergleichen. Seine Versuche ergaben, dafs diejenige Wärme, welche
die Temperatur von einem Pfund Wasser um 1° Fahrenheit erhöht,
einer mechanischen Kraft entspricht, die ein Gewicht von 838 Pfund
einen Fufs hoch zu heben vermag. Dieses „mechanische Wärme-
äquivalent" ermittelte Joule auch, indem er Wasser durch enge
Röhren trieb. Im letzteren Falle wurde die Temperatur von einem
Pfund Wasser schon bei einem Kraftaufwand von 770 Fufspfund um
einen Grad erhöht. „Ich werde keine Zeit verlieren", sagte Joule
am Schlufs seiner Abhandlung vom Jahre 1843, „diese Versuche zu
wiederholen und auszudehnen, da ich ĂĽberzeugt bin, dafs die gewal-
tigen Naturkräfte durch des Schöpfers Werke unzerstörbar sind, und
dafs man immer, wo man eine mechanische Kraft aufwendet, ein ge-
naues Äquivalent an Wärme erhält." Joule hat Wort gehalten und
seine Experimente ĂĽber diesen Gegenstand bis zum Jahre 1878 fort-
gesetzt. Seine letzten Bestimmungen ergaben fĂĽr jenes Ă„quivalent
einen Wert von 772,33 Fufspfund.
Angeregt duroh physiologische Untersuchungen wie Robert
Mayer, gelangte 1847 der damals 20 Jahre alte Helmholtz zu der-
selben grofsen Verallgemeinerung, welche Mayer zuerst ausgesprochen
und Joule fĂĽr einige Gebiete der Physik durch seine Versuche als
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gĂĽltig dargetan hatte. Helraholtz stellte sich die Aufgabe, das in
der Mechanik schon von Huygens eingefĂĽhrte Prinzip vom ausge-
schlossenen Perpetuum mobile auf das gesamte Gebiet der Naturlehre
zu ĂĽbertragen.
Obgleich sich die betreffende Arbeit von Helraholtz durch die
raathematische Behandlung des Gegenstandes und ihre streng wissen-
schaftliche Sprache von den Werken Mayers vorteilhaft unterscheidet,
fand sie gleichfalls in den „Annalen der Physik" keinen Platz, sondern
gelangte als selbständige Schrift zur Veröffentlichung. Diese Zurück-
haltung der Fachkreise, der auch Joule bei den englischen Physikern
und Chemikern anfangs begegnete, darf man nicht ohne weiteres fĂĽr
unberechtigt halten. Zweifel und Bedenken sind in unserem Zeitalter
nicht mehr imstande, das Licht einer neuen Wahrheit zu ersticken,
sondern sie haben oft genug dazu beigetragen, dafs dasselbe bald
darauf in hellem Glänze strahlen konnte. Auoh der Umstand mutete
fĂĽr die neue Lehre sprechen, dafs mehrere Forscher, ohne miteinander
in Verbindung zu stehen, von den verschiedensten Gesichtspunkten
ausgehend, schliefslich zu ihr durchgedrungen waren.
Unsere AusfĂĽhrungen haben gezeigt, dafs der Fortschritt der
gesamten Naturwissenschaften auf eine VerknĂĽpfung, wie sie in dem
Prinzip von der Erhaltung der Energie zum Ausdruck kam, hindrängte,
und dafs das Verdienst des einzelnen demgegenĂĽber nicht in solchem
Mafse in den Vordergrund gerĂĽckt erscheint, wie es bei manohen
anderen grofsen Entdeckungen und Verallgemeinerungen der Fall ist.
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Reisebilder aus Algerien, Tunesien und der Sahara.
Von Dr. W. Detmer, Professor an der Universität Jena.
(SchlĂĽte.)
ill man ein zum Reiten bestimmtes Dromedar besteigen oder
von demselben absteigen, so mufs das Tier sich in die Knie
legen, wozu es durch einen Druck des begleitenden Arabers
veranlafst wird. Manche Kamele sind übrigens äufserst widerspenstig
und auch bissig, so dafs man vorsichtig sein mufs. In die Knie
gesunken, stimmen die Tiere meist ein lautes GebrĂĽll an, welches bald
mehr demjenigen der Rinder, bald aber auch jenem grofser Raubtiere
ähnelt.
Die gewöhnlichen Dromedare bewegen sich, wie bereits erwähnt
worden ist, nur sehr langsam vorwärts. Dagegen züchtet man in
Tougourt besondere Tiere, die, sehr kräftig mit Gerste und Datteln
ernährt, in der Tat erstaunliche Marschleistungen zu vollbringen ver-
mögen und das Pferd in dieser Hinsicht weit übertreffen. Diese
Chameaux coureures dienen zumal zur Beförderung von Kurieren, die
im Dienste der Regierung stehen. Sie legen an einem Tage mehr als
100 km zurĂĽck; ihre Ausdauer ist dabei derartig grofs, dars sie im
stände sind, solche Märsche 6 Tage hintereinander durchzuführen.
Nach einiger Zeit befanden wir uns am wild zerrissenen Bett
eines kleinen Flusses, der noch etwas Wasser fĂĽhrte. Die Vegetation
erschien hier einigermafsen ĂĽppig. Wir passierten den Flufs, und der
Wagen hielt dann bei Bordi Saada, wo die Pferde zum erstenmal ge-
wechselt wurden. An der Station befindet sich nur ein festungsartig
angelegtes Gehöft, welches im wesentlichen militärischen Zwecken
dient. Die Franzosen haben nämlich in den letzten Jahrzehnten mit
bewunderungswĂĽrdiger Energie daran gearbeitet, sich die WĂĽste zu
orsohliefsen. Sie haben einige Militärposten in das Gebiet der Tuareg,
eines wilden Berbernstamraes der Sahara, bis 800 km sĂĽdlich von Biskra
vorgeschoben. Eine der wichtigsten Stationen dieser Linie ist aber
die Oase Tougourt, welche daher mit Biskra telegraphisch verbunden
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werden mutete. Der elektrische Telegraph genĂĽgt hier nioht. Die
Leitung desselben würde von aufständischen Arabern oder Tuareg*
zerstört werden und nicht leicht wieder herzustellen sein. Dagegen
hat der optische Telegraph, mit HĂĽlfe dessen man bei Dunkelheit
durch Lichtsignale Depeschen befördern kann, und dessen Stationen
etwa je 35 km voneinander entfernt liegen, in diesen unkultivierten
Hegenden noch seine hohe Bedeutung.
Die Pferde zogen wieder an; in schnellster Fahrt flog der Wagen
dahin ĂĽber festen, nur mit wenig Sand bedeckten, fast pflanzenleeren
Boden. Vielfach tritt der naokte Fels an der Oberfläche hervor. In
graugelben Farbentönen breitet sich die unermefsliche, in wunder-
barer LichtfĂĽlle daliegende WĂĽste vor dem Auge des Beschauers aus.
Die Sonne brennt heifs. Über dem einförmigen Landschaftsbilde wölbt
sioh die blaue Himmelsglocke.
Nach einigen Stunden wird in der kleinen Oase Chagga aber-
mals Halt gemacht. Wir genossen hier eine wunderliche Musik, in-
dem mehrere Frauen vor einer der elenden LehmhĂĽtten des Ortes
unaufhörlich einen überaus monotonen Gesang zum besten gaben*
Man sagte uns, dafs sich Eingeborene vor zwei Wochen verheiratet
hätten, und jene Frauen sängen nun bereits 14 Tage lang mit kurzen
Unterbrechungen vor dem Hause der neu Vermählten. Als Gegen-
gabe wird den KĂĽnstlerinnen Kaffee gereicht.
Weiter ging es ĂĽber sehr sandigen Grund, einmal durch ein
aufserordentlich breites, völlig ausgetrocknetes Flufsbett, das mit
tiefem Sand und Kies angefüllt war. Auf kleinen oder gröfseren
HĂĽgelchen, die sich in schon angegebener Weise bilden, wuohsen die
blattarme, gelbblĂĽhende Euphorbia Gujoniana, Traganum und Ephedra
fragilis. Wir erreichten Kef-el-Dor, abermals eine Station des opti-
schen Telegraphen, die hart am Rande eines WĂĽstenplateaus liegt.
Dasselbe fällt hier ziemlich erheblich und steil ab, so dafs wir das
vor uns ausgebreitete tiefere Terrain weithin zu ĂĽberblioken ver-
mögen.
Und welch ein wunderbar grofsartiges WĂĽstenbild enthĂĽllt sich
hier unseren Blicken! Wir stehen wirklioh im Begriff, in das Herz
der Wüste einzudringen. Die Aufmerksamkeit ist aufs höchste an-
gespannt.
Zur Rechten erheben sich einige eigenartig gestaltete Felsbil-
dungen. Vor uns dehnt sich eine weite, vegetationslose, bellgelb
schimmernde Sandfläche aus, die wir alsbald zu durchqueren haben.
An einigen Stellen ist der sehr feinkörnige Sand tu Dünen zusammen-
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geweht, welche, da sie keine Pflanzendecke tragen, beweglioh sind
und ihren Ort wechseln können. Zur Linken erheben sich mit spär-
licher Vegetation bekleidete, hohe DĂĽnen; hinter diesen glauben wir
aber zu unserem gröTsten Erstaunen ein weites Schneefeld mit einer
im Sonnenglanz blendend weifs leuchtenden Oberfläche zu erblicken.
Das ist der ersehnte, mit mächtiger Salzkruste bedeckte Schott Melrir,
und zwar jener Teil desselben, der unter dem Namen Sohott Merouar
bekannt ist. Wir kommen weiter unten auf den wunderbaren See zurĂĽck.
Wir fahren über die Sandfläche dahin. Ein Arm des Schott, in
dessen Nähe sich Salz und Sandwüste berühren, wird passiert Am
Horizont tauchen später, in Gestalt eines langgestreckten dunkelen
Bandes, die Palmenbestände der Oase Ourir auf. Bald liegt dieses
kleine Paradies der WĂĽste hinter uns, und um 6 Uhr abends langen
wir endlich sehr ermĂĽdet in der Karawanserai von Merayer (wenig
südl. von 34° n. B.) an.
Der Wagen bog in das Tor einer Mauer ein, welohe die eine
Seite eines grofsen, rechteckigen Hofes abschliefst, während die
übrigen Seiten desselben von Wohnräumen und Stallungen begrenzt
werden. Abends bot sich, wie sohon mehrfach an anderen Orten,
Gelegenheit, den unvergleichlichen Glanz zu bewundern, mit welchem
die Gestirne am klaren Himmel der WĂĽste leuohten.
Ich hatte eigentlich die Absicht, einige Zeitlang in der Oase
Merayer zu verweilen, da der Wirt der Herberge aber verreisen
mufste, zog ich es vor, nach dem 5 km entfernten Ourir zurĂĽck-
zukehren, um dort ein Unterkommen zu suchen. Der Weg fĂĽhrt
durch sehr ausgedehnte Palmenbestände (in der Oase Merayer gibt
es 125 000 Dattelpalmen), in deren Mitte die HĂĽtten der Eingeborenen
liegen. Jeder EigentĂĽmer hat seinen Palmengarten durch eine Lehm-
mauer von demjenigen seines Nachbarn abgegrenzt. Wir durch-
schreiten noch eine weite Sandfläche und befinden uns in Ourir.
Es ist bemerkenswert, da Ts diese Oase 16 m unter dem Spiegel
des Mittelmeeres liegt. Solche Bodendepressionen sind in der Sahara
nicht häufig, denn im allgemeinen ist das Terrain derselben erheblich
höher als das Meoresniveau gelegen. Von einer früher einmal ins
Auge gefalsten kĂĽnstlich einzuleitenden Ăśberflutung der WĂĽste kann
daher tatsächlich keine Rede sein.
Die Regenmenge, welche in Ourir fällt, ist sehr gering, etwa
nur 30 mm im Jahr. Die Schattentemperatur der Luft fand ich am
1., 2. und 3. April naohmittags zwischen 1 und 2 Uhr zu 22 — 25° C.
Im Sommer wird es natĂĽrlioh viel heifser, und in dem benachbarten
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Merayer hatte man selbst etwa Mitte März, als einige Tage der ge-
fĂĽrchtete, trockene, ungeheure Staubwolken mit sich fĂĽhrende WĂĽsten-
wind (Scirroco) wehte, eine Schattentemperatur von 38° C. beobachtet.
Die Nächte waren in Ourir angenehm kühl. Morgens 6 Uhr zeigte
das Thermometer in der Oase am 4. April 13° C, eine halbe Stunde
später in der Wüste aber nur 9°C.
Die Oase Ourir ist der WĂĽste Sahara im wahrsten Sinne des
Wortes abgewonnen worden. Es fehlt hier an natĂĽrlichen Quellen,
an einem Bach und auch an leicht erreichbarem Untergrundwasser.
Um das lebenspendende Wasser zu gewinnen, raufsten artesische
Brunnen angelegt werden. Dieselben haben eine Tiefe von 60 bis
100 m. Das Wasser quillt aus den in die Bohrlöcher eingeführten
Kisenrohren in bedeutender Menge hervor. Es mufs unter erheb-
lichem Druck stehen, hat immer eine Temperatur von 24°, und wird
in Gräben den Palmenbeständen zur häufigen Berieselung des Bodens
derselben zugefĂĽhrt.
Die Oase Ourir wurde von einer Pariser Aktiengesellschaft
hauptsächlich zur Kultur der Dattelpalme (man hat bis jetzt 25 000
Exemplare gepflanzt) angelegt. Ich wohnte bei dem Direktor dieser
Plantage, Herrn Ăźonheaure, und bin von diesem sowie von seiner
Familie in ĂĽberaus liebenswĂĽrdiger Weise aufgenommen worden.
Das Haus des Herrn Bonheaure, von festungsartigem Aussehen, um-
gibt von drei Seiten einen grofsen Hofraum; die vierte Seite dieses Hofes
wird von einer mit Eingangstoren versehenen Mauer begrenzt Im
Erdgeschofs des Hauses befinden sich Ställe und Wohnungen für
Gesinde. Im ersten Stock, zu dem vom Hof eine Holztreppe hinauf-
führt, Wohnräume für den Direktor sowie Speicher. Weibliches
Dienstpersonal findet man im Hause nicht; vielmehr wird das Kochen
von einem Eingeborenen besorgt, und ein anderer Mann wartet die
kleinen Kinder.
Den Koch habe ich wirklich bewundern mĂĽssen, besonders des-
halb, weil er es verstand, das in hervorragendem Mafse als Nahrungs-
mittel dienende Hammelfleisch — anderes Fleisch kommt selten auf den
Tisch — in immer neuen Formen zuzubereiten. Am ersten Ostertag
wurden wir durch ein besonders merkwĂĽrdiges Hammelgericht er-
freut Ein am Morgen dieses Tages geschlachtetes und sogleich ent-
häutetes Tier unterlag, ohne irgendwie zerlegt zu werden, der folgenden
Behandlung. Man zĂĽndete ein gelindes Holzfeuer im freien an.
In einiger Höhe über der verglimmenden Asche mufste der Hammel
nun 4 — 5 Stunden lang ganz langsam geröstet werden. Zwei Araber
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fafeten das Tier dazu an Vorder- und Hinterbeinen an, um dasselbe
nun, indem sie den Braten zuweilen mit Salzwasser begossen, uner-
mĂĽdlich ĂĽber der Glut zu drehen und zu wenden. Abends kam das
ganze Tier, in eine Serviette eingewickelt, auf die Tafel. Zu meiner
Verwunderung gab es weder Teller, noch Messer, noch Gabel; noch
mehr erstaunlo ich aber, als die TiBchgenossen einfach mit den Händen
Stücke des köstlichen Bratens losrissen und in den Mund führten.
Das Gericht war aber wirklich vorzĂĽglich. Der Araber hat recht,
wenn er dasselbe als ein Feslessen betrachtet und zumal dann be-
reitet, wenn er seine Gäste besonders ehren will.
Neben dem erwähnten Hause stehen in langen Reihen die aus
Lehm erbauten und mit einer aus Palmenblättern hergestellten Be-
dachung versehenen Hütten der ständigen Arbeiterschaft der Oase.
Jede HĂĽtte umfafst nur einen Raum. Die aus einem mit einer Matte
belegten Brett bestehende Schlafstelle ist in ca. V2 m Höhe über dem
Erdboden angebracht, nioht auf dem Boden selbst, wie z. B. in den
Wohnungen der Kabylen des Atlas. Man hat sich nämlich in Ourir
immer nach Möglichkeit vor den Skorpionen zu schützen, die hier
ziemlich häufig sind. Die Menschen fürchten den Stich dieses Tieres
sehr, den dasselbe mittelst seines Schwanzes ausfĂĽhrt, denn erfahrungs-
gemäfs bedingt eine eingetretene Vergiftung oft Siechtum oder ruft
bei Kindern sogar den Tod des betroffenen Individuums hervor.
Wahre Paläste sind die Wohnungen der ständigen Arbeiter jenen
in ihrer unmittelbaren Nähe errichteten Hütten gegenüber, welche
solche Arbeiter erbaut haben, die nur einige Zeit in der Oase tätig
sind. Sie besitzen, ebenso wie das Zelt eines Lappländers, die Gestalt
eines Zuckerhutes und bestehen aus in die Erde gestecktem, oben
xusammenneigendem Stangenwerk, das mit Palmen blättern bedeckt ist.
Eine kleine Ă–ffnung gestattet es, in die HĂĽtte hineinzukriechen.
Ourir liegt in einem Landstrich, den man Oned-Rir nennt. Die
Eingeborenen sind keine Araber, sondern sie gehören einer eigen-
tĂĽmlichen Mischrasse von Negern und Berbern an. Die Hautfarbe
dieser Menschen ist eine sehr dunkele. Die Männer tragen das Haar
ganz kurz rasiert Die Frauen sind auffallend klein. Ihr schwarzes
Haar reiben sie mit öl ein, so dafs es in langen, oft durch Henna
rötlich gefärbten Strähnen herabhängt. Arme und Hals der Frauen,
welche nicht von dem hemdartigen Gewand bedeckt werden, täto-
wieren sie.
In der Nähe der Arbeiterwohnungen befindet sich auch das
Grab eines Marabut. Diese Marabuts sind Einsiedler, die sich aus
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wirklicher oder geheuchelter Frömmigkeit von der Welt zurückziehen
und oft als Heilige und Wundertäter von ihren muhammedanischen
Glaubensgenossen verehrt werden. Wenn sich irgendwo ein Marabut
niedergelassen hat, und die Bevölkerung durch seine, mit lauter
Stimme geschrieencn Gebete auf ihn aufmerksam geworden ist, dann
baut man dem heiligen Manne eine Hütte und bringt ihm täglich
Nahrung. Stirbt der Einsiedler, so errichtet man ihm vielfach ein
Grab eines Marabut.
Grabdenkmal in Gestalt einer Kapelle, die von den Gläubigen be-
sucht wird. Ein neuer Marabut stellt sich alsbald ein, und derjenige
von Ourir scheint ein recht vergnĂĽgter Mann zu sein, dem das dolce
far niente gar wohl gefällt.
Die Dattelpalme, die wichtigste Kulturpflanze der Saharaoasen,
erzeugt einen Stamm von vielen (bis ca. 20) Metern Höhe und einen
Umfang, der oft mehr als 2 m beträgt. Dieser Stamm ist sehr selten,
wohl nur infolge von Verletzungen, verzweigt. Das Ende des säulen-
artigen Stammes trägt die herrliche Laubkrone, die aus vielen, 3 bis
4 m langen, mit mächtiger Mittelrippe versehenen, graugrünen Fieder-
blättern besteht. Indem die älteren Blätter absterben und im ver-
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trockneten Zustande herabhängen, erfährt die Schönheit der Pflanze
oft eine erhebliche Beeinträchtigung. Bei sorgfältiger Kultur entfernt
man ĂĽbrigens diese nutzlosen Teile des Baumes; sein Stamm bleibt
aber immer von den Resten der basalen Teile der Blätter bedeckt,
so dafs die Oberfläche desselben nicht geglättet sondern wie be-
schuppt erscheint.
Die Dattelpalme ist eine diöcische Pflanze, d. h. gewisse Indi-
viduen des Baumes erzeugen nur männliche, andere nur weibliche
Blüten. Dieselben sind zu grofsen, vielfach verzweigten Blütenständen
vereinigt, welche von einer mächtigen, anfangs völlig geschlossenen,
sich aber später öffnenden Scheide umgeben werden. Jede Einzel-
blüte besteht aus 6 Blütenhüllblättern sowie den Staubgefäfsen resp.
dem Fruchtknoten.
In Ourir standen die Dattelpalmen gerade in BlĂĽte. Man kulti-
viert in der Oase hauptsächlich weibliche und nur relativ wenige
männliche Bäume. Die Bestäubung wird auf künstlichem Wege aus-
geführt. Man schneidet kleine Zweige von den männlichen Blüten-
ständen ab und führt diese in die weiblichen Blütenstände ein. wenn
deren Scheide sich zu öffnen beginnt. Wird diese Arbeit, der man
natĂĽrlich viel Sorgfalt widmen mufs, zur rechten Zeit vorgenommen,
so ist die Befruchtung gesichert. Die Frucht stellt eine Beere mit
ĂĽberaus wohlschmeckendem Fleisch dar, das einen harteu Kern, den
Samen, umschliefst.
Die Vermehrung der Dattelpalme wird in der Kultur nicht durch
Samen herbeigeführt, denn sät man diesen aus, so erhält man er-
fahrungsgemäfs meistens männliche Pflanzen oder weibliche Indi-
viduen, die Früchte von geringerer Qualität produzieren. Man ver-
mehrt die Palme daher auf vegetativein Wege, Indem man die an der
Basis älterer Bäume zum Vorschein kommenden Schöfslinge aus-
pflanzt. Die Schöfslinge männlicher Palmen liefern immer wieder
männliche, diejenigen weiblicher Exemplare stets weibliche Individuen.
Nach etwa öjähriger Vegetation können die ersten Früchte von den
jungen, noch niedrigen Palmen geerntet werden. Der Baum ent-
wickelt sich fortan immer kräftiger; er kann ca. 100 Jahre alt werden.
Die Zeit der Ernte fällt in den Herbst Die völlig reifen Früchte
sind von bräunlicher Farbe, weich und sehr zuckerreich. Nicht gänz-
lich gereifte Datteln sehen gelblich aus; ihr Fleisch ist von etwas
hiirterer, mehliger Konsistenz. Ăśbrigens existieren viele, offenbar
durch die Kultur entstandene Varietäten der Dattelpalme, deren Früchte
einen recht verschiedenen Wert besitzen. Will man die Dattel längere
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Zeit aufbewahren, so verpackt man sie bei sorgfältiger Konservierung-
in Steintöpfen.
Die Dattelfrucht stellt in der Sahara nicht nur wie bei uns ein
Genufs-, sondern ein wirkliches Nahrungsmittel dar. Ăśberdies werden
bedeutende Dattelmengen in ferne Gegenden versandt, und aus diesen
Gründen hat die Kultur der Palme die höchste Bedeutung für die
WĂĽstenbewohner. Ein Baum kann einen Rohertrag im Wert von
20—80 Frcs. geben. Jede Palme, die Eingeborenen gehört, ist von der
französischen Regierung mit einer jährlichen Steuer von 0,5 Frcs. belegt,
die Franzosen selbst haben fĂĽr ihre Palmen keino Abgaben zu entrichten.
In Ourir gedeihen die ausgedehnten, wohlgepflegten Palmen-
bestande, in denen die Bäume in langen Reihen gruppiert sind, auf
einem sandigen, salzhaltigen Boden.
Ein arabisches Dichterwort sagt, „dafs die Königin der Oasen
(die Dattelpalme) ihren Fufs in das Wasser, ihr Haupt aber in das
Feuer des Himmels taucht."
Unter den Palmen kultiviert man in Ourir noch eine Reihe ver-
schiedener Pflanzen, Spargel, Kartoffeln, Aprikosen-, Feigenbäume,
besonders aber in neuerer Zeit mit gutem Erfolg Baumwolle. Die
Saat derselben erfolgt im März, die Ernte der Kapseln im September.
Die Palmenbestände in Ourir und anderen Oasen gewähren zu-
mal infolge ihrer Ausdehnung durchaus den Eindruck von Wäldern.
In der Nähe der menschlichen Wohnungen ist der Aufenthalt in
ihnen, wenigstens am Tage, nicht sehr angenehm, denn hier sind wir
dem Stich zahlreicher kleiner Fliegen ausgesetzt. Entfernen wir uns
aber weiter von den Häusern, so können wir uns ungestört dem
Zauber hingeben, den die Palmenwelt auszuĂĽben vermag. Immer
wieder aufs neue wird unser Auge duroh die vornehmen Formen
schön gewachsener Bäume gefesselt. Wir wandern in einem ge-
dämpften Licht unter den in langen Reihen gruppierten Palmen da-
hin; nur hier und dort strahlt das volle Sonnenlicht auf den sandigen
Boden hernieder. Wenn die Windsbraut durch die Kronen rauscht,
vernehmen wir ein an- und abschwellendes Wogen, welches dem-
jenigen in einem duroh Luftströmungen bewegten Nadelholzbestande
gleicht. Köstlich ist der Aufenthalt in einem Palmenwald kurz vor
Sonnenuntergang. Wenn dann die Dämmerung eintritt, beginnen
zahlreiche Frösche auf dem feuchten, überflutet gewesenen Boden ein
Konzert, und das Zirpen der Grillen vervollständigt dasselbe. Noch
später hören wir in kurzen Zwischenräumen die weithin vernehmbaren,
klagenden Laute der Eule.
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Wir wenden uns von der Oase Ourir dem nahen Schott Melrir
zu. An SanddĂĽnen vorĂĽberschreitend, gelangen wir immer mehr in
ein Gebiet, das den Typus echter Salzsteppe trägt Am Ufer des Sees
stehen vereinzelte TamariskenbĂĽsche (Tamarix gallica) von einigen
Metern Höhe, die schon aus weiter Entfernung sichtbar sind. Die
ĂĽbrige Vegetation bildet vielfach einen fast geschlossenen Rasen von
graugrüner Farbe, während die oft einige Fufs hohen Gewächse an
anderen Stellen ziemlich weite LĂĽcken zwischen sich lassen. Die
Oberfläche des Sandbodens ist durch Salzeinlagerung verkrustet Der
Schott selbst trägt keine Vegetationsdecke. Ein fast beängstigend wir-
kendes Todesschweigen herrscht in der von den heifsen Sonnenstrahlen
durchglühten und in Lichtfülle getauchten Einöde.
In der Umgegend von Ourir, zumal am Schott wachsen sehr
merkwĂĽrdige Pflanzen, von denen viele typische Halophyten sind;
Phelipea violacea, Limoniastrum Guyonianum, Nitraria tridentata, Zygo-
phyllum album, Juncus maritimus, Tamarix gallica, Statice veninosa,
Traganura nudatum, Salicornia fruticosa, Zollikofenia resedifolia. Die
meisten dieser Gewächse tragen xerophilen Charakter, der sich z. B.
in der geringen Gröfse ihrer Blätter, Succulenz der oberirdischen Or-
gane, heller Färbung der Oberfläche ihrer verholzten Stengel, Salz-
ausscheidung bei Tamarix und Nitraria ausprägt Neuere Unter-
suchungen haben in der Tat gelehrt, dafs es fĂĽr Pflanzen, die sehr
salzreichen Boden bewohnen, von grofser biologischer Bedeutung ist
wenn sie mit Schutzmitteln gegen lebhafte Transpiration versehen sind.
Der Schott Melrir nimmt die am tiefsten gelegenen Orte (ca. 30 m
unter dem Spiegel des Mittelmeeres) jener Bodendepression ein, in
der wir uns bei Ourir befinden. Er stellt ein Sammelbassin fĂĽr
Wasser dar. Weil indessen der Wasserzuflufs an sich sehr gering
ist, ferner aufserordentlich wenig Regen in den Wüstenregionen fällt
und zugleich im Sommer eine hohe Temperatur herrscht so fĂĽllt den
See höchstens im Winter eine gröfsere Menge Salzwasser an. So-
gleich bei Beginn der wärmeren Jahreszeit ist die Verdunstung viel
bedeutender als der Wasserzuflufs, und das Salz krystallisiert daher
an der Oberfläche des Schotts aus, denselben wie mit einer Schnee-
decke ĂĽberziehend.
Das Salz bedeckt den See in Gestalt einer mehr oder minder
dicken Kruste. Vielfach ist dieselbe so mächtig, dafs sie das Gewicht
des Menschen, der den See passiert, zu tragen vermag. An anderen
Stellen kann der Wanderer einbrechen, und das ist sehr gefährlich,
denn er ist dann unter Umständen rettungslos verloren, weil er in
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den sehr feinkörnigen, mit Salzwasser durchtränkten Sandmassen wie
in einem Schlamm versinkt.
Recht interessant gestaltete sich auch die RĂĽckfahrt von Ourir
nach Biskra. Ich reiste zusammen mit einem französischen General,
der von einer Inspektionsreise aus Tougourt heimkehrte, mit dessen
Adjutanten, Herrn Professor BrĂĽhl aus Paris, und einem Kaid, einem
FĂĽrsten der Nomaden der algerisohen Sahara. Bei Kef-el-Dor, mitten
in der Wüste, hielt der Wagen plötzlich. Vornehme Araber im
wallenden Burnus hielten zur Seite desselben Spalier. Ein Teppioh
war vom Wagen bis zum Eingang eines grofsen, in der WĂĽste auf-
geschlagenen Zeltes ausgebreitet. Der Kaid hatte das Zelt zu Ehren
des Generals errichten lassen. Er forderte Herrn BrĂĽhl und mich
auf, seine Gäste zu sein. Wir traten in das Zelt ein, das durch eine
aus Teppiohen gebildete Wand in zwei Räume geteilt war. In dem
kleineren Raum stand ein niedriger Diwan; in dem gröfseren, dessen
Boden und Wände prachtvolle Teppiche schmückten, ein reich ge-
deckter Tisch. Der Kaid selbst reichte uns Kaffee, Kuchen und ver-
zuckerte Mandeln. Nach etwa halbstĂĽndigem Aufenthalt verab-
schiedeten wir uns von unserem liebenswĂĽrdigen Wirt und reisten
weiter nach Biskra.
Angaben Uber benutzte Literatur:
Battandier et Trabut, L'Algerie, Paris, 1898.
Qaoll-Fels, Riviera, SĂĽdfrankreich, Corsica, Algerien und Tunis, 18'.)7. (Meyeis
ReisebĂĽcher.)
Haeckel, Deutsche Rundschau, 1890.
Hann, Handbuch der Klimatologie. 2. Auflage, 1897.
Kobelt, Reiseerinnerungen aus Algerien und Tunis, 1885.
v. Mal trau, Drei Jahre im Nordwesten von Afrika, 1868.
Oppel, Landschaftskunde, 1887.
Schimper, Pflanzengeographie auf physiologischer Grundlage, 1898.
Sievers, Afrika, 1891.
Tchihatchef, Spanien, Algerien und Tunis, 1882.
Volkens, Die Flora der ägyptisch-arabischen Wüste, 1887.
Walther, J., Das Oesetz der WĂĽstenbildung, Berlin, 1900.
Sehr dankbar bin ich den Herren Professoren Rattandier und Trabut in
Algier dafĂĽr, dass sie mich in entgegenkommendster Weise ĂĽber die Flora ihres
Land es orientierten. Herrn Prof. Hau sk n echt in Weimar sage ich verbindlichsten
Dank fĂĽr die Bestimmung mitgebrachter Pflanzen. Die Photographien, welche
zur Herstellung der Bilder dieses Aufsatzes dienten kaufte ich in Afrika.
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Technische Rundschau.
Von Dr. Gustav Lauter in Berlin.
n der Natur und Technik spielen die Silikate eine sehr grolse
Rolle. Bilden sie einerseits einen bedeutenden Teil der festen
Erdrinde, so werden sie andererseits in weitestem Umfange und
in reiohster Mannigfaltigkeit zu Gefäßen aller Ar:, zu Bausteinen und
sonst noch zu zahlreichen Zwecken verarbeitet.
Sowohl die natĂĽrlichen, wie die kĂĽnstlich hergestellten Silikate
und Silikatmischungen kommen in so sehr verschiedener Gestalt und mit
so zahlreichen Übergängen untereinander vor, dafs es schwer ist, sie
in ein geordnetes System zu bringen. So werden denn auch fast in
jedem einzelnen Lehrbuch die Gesteine sowohl, wie auch die Erzeug-
nisse der Glas- und keramischen Industrie nach ganz verschiedenen
Gesichtspunkten geordnet Die Verwirrung auf diesem Gebiete ist
sogar so grofs, dafe öfters dieselben Bezeichnungen bei dem einen
Schriftsteller etwas ganz anderes bedeuten, als bei dem anderen.
Für unsere Zweoke können wir vielleicht die natürlichen Silikate
folgendermaßen einteilen: Zunächst kämen die kristallisierten und
kristallinischen, einheitlich zusammengesetzten oder aus einer Mischung
verschiedener Silikate bestehenden Gesteine. Hierher wĂĽrden Quarz.
Granit, Lava und dergleichen gehören.
Es kämen dann die Silikate, die sich nicht durch kristallinische
Form, sondern durch gleichartige, amorphe Beschaffenheit auszeichnen,
wie z. B. Obsidian einerseits, Opal andererseits. Ihre Herkunft und
ihre Eigenschaften sind, den beiden gewählten Beispielen entsprechend,
verschieden, je nachdem sie durch rasches Erstarren einer feurigen
Schmelze oder durch Erhärten einer wässerigen Gallerte entstanden
sind. Sind die Vertreter dieser letzteren Klasse und ihrer beiden
Untergruppen schon verhältnismäfsig nicht häutig, so gehören vollends
die mehr oder woniger gebrannten und gesinterten Silikate zu den
mineralogischen MerkwĂĽrdigkeiten. Sie sind durch sogenannte geo-
logische Kontakt Wirkungen entstanden, indem vulkanische Massen ältere
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Sohiohten durchbrochen und sie an der BerĂĽhrungsstelle mehr oder
weniger stark erhitzt haben.
Schließlich wären dann noch die verkitteten Silikate zu nennen,
bei denen mehr oder weniger kleine oder grofse Teilchen durch ein
Bindemittel zu einer festen Masse zusammengehalten werden. Hierher
gehören Sandstein, Nagelfluh u. 8. w.
Diesen Gruppen natĂĽrlicher Silikate entsprechen auch im allge-
meinen die technisoh hergestellten Silikate, nur mit dem Unterschiede,
daĂź die Wichtigkeit der einzelnen Gruppen anders verteilt ist. Was
zunächst die kristallisierten Silikate anbetrifft, so werden solche inr
der Technik nur wenig hergestellt Von den gelegentlichen Versuchen
zur Erzeugung künstlicher Mineralien können wir hier ganz absehen.
Immerhin aber gehört hierher das entglaste Glas, sowie die daraus
neuerdings gewonnenen Erzeugnisse. Dagegen nehmen die amorphen
Silikate einen sehr grofsen Raum ein und bilden die Grundlage der
ganzen Glasindustrie. Auch das Wasserglas gehört hierher. Eben-
falls sind die gebrannten und gesinterten Silikate von größter Bedeu-
tung; die keramische und Ziegelindustrie beruhen auf ihrer Verarbei-
tung. Was schliefslioh die verkitteten Silikate anbetrifft, so gehören
hierher Mörtel, Kalksandstein und die Anwendung der Zemente.
Gehen wir nun zur Besprechung dessen ĂĽber, was die beiden
angefĂĽhrten Hauptgruppen von Silikaten fĂĽr die Technik bedeuten, so
kommen die natĂĽrlichen Silikate hier nach zwei Richtungen in Be-
tracht, nämlich einerseits insofern, als sie ohne weiteres benutzt wer-
den, zweitens soweit sie die Rohstoffe zur Herstellung der kĂĽnst-
lichen Silikate liefern. Die Verwendung der natĂĽrlichen Silikate an
und fĂĽr sich ist ausschlieĂźlich die als Baumaterial, wobei namentlich
ihre Wetterbeständigkeit einerseits, ihre bedeutende Druckfestigkeit
andererseits ausgenutzt wird. Die Bruch- und Zugfestigkeit der Sili-
kate ist dagegen verhältnismäßig nicht so sehr bedeutend ; in dieser
Beziehung werden sie von Holz und namentlich von Eisen weit ĂĽber-
troffen. Auch ist im allgemeinen die Feuerfestigkeit der natĂĽrlichen
Silikate nicht so sehr groĂź. Sie sind zwar an und fĂĽr sich durch
Feuer nur bei den höchsten Hitzegraden schmelzbar, werden aber
schon bei verhältnismäßig geringen Wärmegraden von Sprüngen
durchsetzt, so daĂź damit errichtete Bauwerke zusammenstĂĽrzen. Dieser
Umstand läßt sogar solide ausgeführte hölzerne Treppen als in ge-
wisser Hinsicht feuersicherer erscheinen als solche mit Granitstufen.
Jedoch zeichnen sich auch manche natĂĽrlichen Silikate, wie z. B. ge-
wisse Sandsteine, durch einen hohen Grad von Feuersicherheit aus.
Himmel und Erde. 1903. XV l 21
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Die gebrannten Steine dagegen besitzen eine grofee Widerstandsfähig-
keit gegen Beschädigungen durch Feuer.
Unter den künstlich erzeugten Silikaten ist es zunächst, wie
schon angedeutet, in der ersten Abteilung der kristallinischen Körper
allein das entglaste Glas, das in einem gewissen Umfange Ver-
wendung findet. Schon der alte Reaumur hatte beobachtet, dafs
Glas beim langsamen AbkĂĽhlen seine Durchsichtigkeit verliert und
zu einer Masse von kristallinischer Zusammensetzung erstarrt, die in
gewisser Hinsicht mit dem Porzellan einige Ă„hnlichkeit besitzt. Sie
wurde deshalb, namentlich frĂĽher, auch Rt-aumursches Porzellan ge-
nannt. Reaumur versprach sich seinerzeit viel von der Verwertung
dieses sogenannten eutglasten Glases, jedoch blieb eine solche bis in
die letzten Jahre vollständig aus. Erst vor noch nicht so langer Zeit
ist es einem französischen Ingenieur namens Garchey gelungen,
Hausteine, Fufsbodenbelagplatten u. s. w. aus entglastem Glase in
grofsem Mafstabe herzustellen. Der Erfinder hat den nach seinem
Verfahren gewonnenen Erzeugnissen den Namen Keramo gegeben, der
allerdings nicht sehr glücklich gewählt ist. Denn wenn es auch mit
der Masse eines keramischen Erzeugnisses, nämlich des Porzellans,
eine gewisse Ă„hnlichkeit besitzt, so ist es darum doch nicht ein Stoff,
dessen Verarbeitung unter den Begriff der Keramik fällt Denn kera-
mische Erzeugnisse sind als solche Produkte der Industrie anzu-
sprechen, die aus einer feuchten bildsamen Masse, nämlich aus Ton
oder irgend einer Tonmischung, geformt sind, die man danach einem
mehr oder weniger starken Brande unterworfen hat, und die schliefs-
lich als Gefäfse oder zu ähnlichen Zwecken dienen sollen.
Doch um nun zum Verfahren der Herstellung der Keramosteine
zurückzukehren, so geschieht diese in der Art, dafs Glasabfälle in
Kollergängen gemahlen und dann in Glaspulver, Glassand und Glaskies
von sechs verschiedenen Feinheitsgraden sortiert werden. Darauf wird
das so zerkleinerte Glas in Formen von Chamotte eingebracht und
zwar derartig, dafs der grobe Glaskies auf den Boden der Form
kommt, dafs dann immer feinere Glasteile folgen, bis zu oberst das
feinste Glaspulver aufgestreut wird. Alsdann wird die Glasmasse
längere Zeit auf Rotglut erhitzt, so dafs sich das Glas auf einer nioht
viel unterhalb seines Schmelzpunktes liegenden Temperatur befindet,
bei der es eben schon zu erweichen beginnt. Das Glas geht dann
allmählich in den entglasten Zustand über und verwandelt sich zu-
gleich in eine teigförmige Masse. Schliefslich wird es in nooh heifsem
Zustande mittelst einer hydraulischen Presse unter sehr starkem
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Druck in die gewĂĽnschte Form gebracht und alsdann dem KĂĽhlofen
zu vollständiger Abkühlung zugeführt. Die auf diese Weise erhaltenen
Platten bestehen aus einer zusammenhängenden Masse von entglastem
Glase. Sie haben die hohe Widerstandsfähigkeit von gewöhnlichem
Olas gegen Witterungseinflüsse vollständig bewahrt, übertreffen es
jedoch noch durch eine viel gröfsere Unerapfindlichkeit gegen
mechanische Beschädigungen.
Diese Keramosteine werden nicht nur in Frankreich, sondern
auch in Deutschland bereits in fabrikmäfsigem Marsstabe hergestellt;
jedoch soheint ihre Anwendung nicht in dem Umfange Eingang ge-
funden zu haben, wie es anfänglich wohl erwartet werden konnte.
Die glasigen Silikate bilden sohon seit Jahrtausenden das Er-
zeugnis der Glasindustrie. Diese Industrie stellt aus natĂĽrlichen Sili-
katen, nämlich Quarz einerseits, aus verschiedenen Chemikalien anderer-
seits, durch Zusammenschmelzen ihre Erzeugnisse her. Man kann im
allgemeinen die künstlich hergestellten Gläser als Silikate bezeichnen,
die im Durchschnitt etwa auf sechs MolekĂĽle Kieselerde ein MolekĂĽl
eines zweiwertigen und ein MolekĂĽl eines einwertigen Metalloxyds
enthalten, die sich also etwa von der allgemeinen Formel ableiten
R20 • RO • 6Si02. Ob man als Oxyd eines einwertigen Metalls hier
Natron, Kali oder ein sonstiges Alkali verwendet, ob man als zwei-
wertiges Metalloxyd Kalk, Baryt, Bleioxyd oder was sonst nimmt, ist,
ganz allgemein betrachtet, durchaus in das Belieben dessen gestellt,
der das Glas zu erschmelzen beabsichtigt; er wird auf alle Fälle ein
als Glas zu bezeichnendes Silikat erhalten. Jedoch spielen tatsäch-
lich bei der Auswahl der Materialien die Preise und Rohstoffe einer-
seits, die besonderen Anforderungen an das betreffende Glas anderer-
seits eine wichtige Rolle, so dafs jede GlashĂĽtte bei rationellem Ar-
beiten auf die Verwendung bestimmter Rohstoffe zu ihren Zwecken
angewiesen ist Die Gläser des Altertums waren zum Teil mittelst
der in Ă„gypten natĂĽrlich vorkommenden Soda erschmolzen und unter
diesen Umständen Natrongläser. Im Mittelalter und bis vor etwa hun-
dert Jahren bediente man sich dann zum Glasschmelzen vorzugsweise
der Holzpottasche und erhielt demgemäfs wesentlich Kaligläser. Neuer-
dings ist dagegen die Hauptmenge des hergestellten Glases mittelst
Soda oder Sulfat geschmolzenes Natronglas, wenn freilich ;auch Kali-
glas zu gewissen Zwecken ebenfalls in grösserem Umfange hergestellt
wird. Auch Kali und Natron zugleich enthaltendes Glas wird sehr
viel erzeugt. Es bietet fĂĽr das GlashĂĽttenwerk den Vorteil, dafs es
leichter schmilzt als mit Kali oder Natron alleinTthergestelltes Glas,
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Dagegen ist aber auch seine Widerstandsfähigkeit gegen chemische
und physikalische EinflĂĽsse entsprechend geringer, und namentlich zu
Thermometer? wecken ist es völlig unverwendbar, da an daraus her-
gestellten Thermometern der Nullpunkt keineswegs fest liegt, sondern
die unter der Bezeichnung Depression des Nullpunktes bekannte Er-
scheinung aufweist.
Ob und inwiefern sich das Glas aus einer Reihe von einzelnen
Silikaten oder Doppelsilikaten zusammensetzt, und welche Kieselsäuren
diesen Silikaten zu Grunde liegen mögen, darüber sind die Ansichten
noch immer sehr geteilt Während es bei Stoffen, die in Wasser oder
in einem anderen Lösungsmittel als solche löslich sind, oder die wir
in DampfTorm überfuhren können, oder die sich durch Hüifsmittel in
eine Reihe von ähnlich zusammengesetzten Stoffen von bekannter Kon-
stitution verwandeln lassen, verhältnismässig leicht ist, über die Mole-
kulargrötse und über die Konstitution Aufschlüsse zu gewinnen, so
sind die Gläser allen dahin zielenden Versuchen unzugänglich. Sie
sind durch chemische Hüifsmittel nur unter vollständiger Zerstörung
ihrer physikalischen und Molekularstruktur angreifbar. Ausserdem
läfet das Fehlen einer Kristallform Rückschlüsse auf etwa ähnlich
kristallisierte Stoffe nicht zu. Wir können nur soviel sagen dafs die
Gläser eia durch verhältnismäTsig rasche Abkühlung erstarrtes Silikat-
gemisch sind, dessen einzelne Bestandteile nicht Zeit gehabt haben,
sich zu wohlausgebĂĽdeten KristallmolekĂĽlen zusammenzufinden. Die
einzelnen Bestandteile sind daher noch im wesentlichen in derselben
Lage zueinander, wie sie sich in dem feurigen Schmelzflusse befunden
haben. Insofern man letzteren als eine feuerflüssige Lösung ver-
schiedener Silikate ineinander ansehen darf, so kann man hiernach
auch wohl mit Witt das Glas als eine feste Lösung von Silikaten
ineinander bezeichnen.
Wenn jedoch Witt in seiner neuesten Veröffentlichung über diesen
Gegenstand noch einen Schritt weiter geht und das Glas geradezu als
eine starre FlĂĽssigkeit bezeichnet so wird man dem wohl kaum bei-
stimmen dĂĽrfen. Wenn Witt bemerkt, dafs man am besten zu einem
Verständnisse der merkwürdigen Eigenschaften des Glases gelange,
wenn man es mcit als einen testen Körper, sondern als eine Flüssig-
keit HiUtasse, so wird d:es in dem eben angedeuteten Sinne ja un-
zweifelhaft zutreffen. \Vrr.:i er aber diese doch nur vergleichsweise
:M>l'irtwohte Bezeichnung n:cht mehr :oi bildlichen Sinne anwendet,
a.'it.ir-ru mts.ieh . :ch erklärt, dafs nichts entgegenstehe, das »üas auch
tu jedem S :me fĂĽr eine FlĂĽssigkeit zu halten, da eine FlĂĽssigkeit
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:i26
doch nicht schon aus dem Grunde den Anspruch auf die Bezeichnung
als solohe verliere, weil ihre Teilchen sich nioht mit der Schnelligkeit
vor unseren Augen vereohieben liefsen, die wir an sonstigen FlĂĽssig-
keiten gewöhnt seien, so heifst dies dooh nichts weiter, als dem Be-
griffe einer Flüssigkeit eine neue Bedeutung unterschieben. Während
wir mit fest und flĂĽssig sonst lediglioh auf den AggregatzuBtand sich
beziehende physikalische Begriffe zu verbinden gewohnt sind, so geht
aus den AusfĂĽhrungen Witts hervor, dafe er unter fest und flĂĽssig
ohemisoh-kristallographische Beziehungen verstanden haben will, in-
sofern er die kristallisierten Korper als fest, die amorphen Körper als
flĂĽssig anzusehen soheint.
Namentlich duroh das verschiedene Verhalten des kristallisierten
und des vorher geschmolzenen Quarzes sieht Witt seine Theorie be-
stätigt Während bekanntlich der Quarz die vorhin schon erwähnten
Eigenschaften der natürlichen Silikate in hohem Orade besitzt, näm-
lich duroh das Auftreten von Temperaturspannungen sehr leicht zu
zerklĂĽften und in kleine StĂĽcke zu zerspringen, so ist es neuerdings
gelungen, aus gesohmolzenem Quarze Gläser herzustellen, die in
jeder Beziehung die vorzĂĽglichen Eigenschaften der besten sonstigen
Gläser besitzen, und namentlich auoh gegen Temperaturschwankungen
äu teerst beständig sind. Allerdings ist das Verhalten des Quarzes
in diesen beiden Erscheinungsformen ziemlich unterschiedlich; aber
um es zu erklären, wird wohl vorläufig nooh der Unterschied der
Begriffe amorph und kristallinisch genĂĽgen, ohne dafs man deshalb
geradezu den Begriffsunterschied von fest und flĂĽssig aufzuheben
braucht.
Die Eigenschaften der G läser nach Durchsichtigkeit, Färbung,
Lichtbreohungsvermögen sowie bezüglioh ihrer Widerstandsfähigkeit
gegen chemische und physikalische EinflĂĽsse sind aufeerordentlioh
verschieden. Hier, wo es sich nur um eine Ăśbersicht ĂĽber die Wich-
tigkeit der Silikate fĂĽr die Technik im allgemeinen handelt, kann
darauf im einzelnen nioht eingegangen werden. Es sei nur soviel
bemerkt, dafs die Gläser trotz ihrer Festigkeit und trotz der an-
scheinend vollkommenen Gleichmäfsigkeit in ihrer Zusammensetzung
dooh in ihrem Innern duroh den Einflute namentlich des Lichtes noch
gewisse Zustandsänderungen erleiden. Die bekannteste davon ist die
Violettfärbung mit Mangan entfärbter Gläser durch das Sonnenlicht.
Bekanntlich wird den Gläsern bei ihrer Herstellung gewöhnlich ein
gewisser Prozentsatz an Mangansuperoxyd in Gestalt von Braunstein
zugesetzt, der dazu bestimmt ist, den färbenden Einflute der selbst in
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326
dem reinsten Glassatze noch stets enthaltenen Eisenoxydulverbindun-
gen aufzuheben. Diese werden hierbei einerseits durch Oxydation in
gelbfärbende Eisenoxyd Verbindungen verwandelt, und andererseits
wird das Gelb der letzteren durch die Violettfärbung des Mangans
optisch ausgeglichen. Mit der Zeit nun nehmen derartig entfärbte
Gläser im Sonnenlichte eine sehr stark violette Färbung an, wie man
sich an vielen Orten da ĂĽberzeugen kann, wo sonst gute Fenster-
scheiben sohon eine längere Reihe von Jahren hindurch dem Sonnen-
lichte ausgesetzt sind. Waren auf diese Fensterscheiben undurch-
sichtige Buchstaben aufgeklebt, oder war ein Teil von ihnen sonstwie
dem EinflĂĽsse des Lichtes entzogen, so trat an den betreffenden Stellen
die violette Färbung nicht auf. Neuerdings hat man gefunden, dafs
auch die von Radiumpräparaten und ähnlichen Stoffen ausgehenden
Strahlen derartige Färbungen hervorzurufen im stände sind, und zwar
im Gegensatz zu der Wirkung des Sonnenlichtes in aufserordentlich
kurzer Zeit. Die weit gröfsere Wirksamkeit dieser Strahlen gegen-
ĂĽber dem Glase geht auch daraus hervor, dafs diese sogar bleihaltiges
Glas sehr bald braun färben, eine Färbung, die Sonnenlicht überhaupt
nicht hervorbringen kann, und die sonst nur durch Erwärmen von
Bleiglas in reduzierender Flamme hervorgerufen wird.
Auch die Anlauffarben seien hier noch kurz erwähnt, bei denen
ebenfalls das Glas seine Färbung verändert, nachdem es bereits feste
Gestalt angenommen hat. Manche Färbungen des Glases sind näm-
lioh in dem Glase, nachdem es den Schmelzhafen verlassen hat und
in die gewünschte Form gebracht worden ist, zunächst nooh nicht
sichtbar, sondern erscheinen erst bei langsamem Wiedererwärmen,
das zur Erzielung der gewünschten Farbe in manohen Fällen noch
wiederholt werden mufs. Diese Anlauffarben werden darauf zurĂĽck-
gefĂĽhrt, dafs in diesem Falle der erste Beginn einer Entglasung in
der Art eintritt, dafs die betreffenden färbenden Körper, die zunächst
in dem Glasflufs gelöst waren, nunmehr sich in äu teerst feiner Ver-
teilung derart ausscheiden, dafs sie eine als Färbung in die Erschei-
nung tretende ganz feine Trübung verursachen. Als stärker getrübte
Gläser stellen sich dann die gewöhnlichen Alabastergläser, Milchgläser
oder dergleichen dar. Wenn wir das Glas als starre Lösung auffassen,
so können wir diese getrübten Gläser als Lösung mit einem darin in
der Schwebe befindlichen mehr oder weniger dichten Niederschlag
oder mit darin aufgeschwemmten fein verteilten, unlöslichen Körperchen
bezeichnen, ähnlich wie z. B. Schlammteilchen in Wasser aufge-
schwemmt dieses ohne Ă„nderung seiner sonstigen allgemeinen Eigen-
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327
schaften doch seiner Durchsichtigkeit berauben und entsprechend fär-
ben können.
Als zweite Untergruppe der kĂĽnstlich hergestellten geschmolze-
nen Silikate sind die Wassergläser zu bezeichnen, deren Anwendungs-
gebiet von dem der ĂĽbrigen Silikate durchaus verschieden ist. Wegen
ihrer Löslichkeit in Wasser sind sie weder zu Bauzwecken, nooh zur
Gefäfsherstellung zu benutzen. Ihre Anwendung beruht im wesent-
lichen darauf, dafs sie an eine schwache Säure gebundenes Alkali
enthalten. Hierdurch finden sie einen Anwendungskreis als Wasch-
mittel, der einigermafsen mit demjenigen der Soda sich berĂĽhrt.
AuĂźerdem dient Wasserglas noch in gewisser Hinsicht und unter ge-
wissen Voreichtsmafsregeln zum Tränken von Geweben gegen Ver-
brennen oder von Bausteinen gegen Verwitterung.
Wir kommen nunmehr zu der zweiten grofsen Gruppe der kĂĽnst-
lichen Silikate, nämlich zu denjenigen, die die Grundlage der kera-
mischen und Ziegelindustrie bilden. Während die Silikate der ersten
Gruppe durch das Sohmelzen verschiedener Materialien und nach-
heriges Formen der zu einer bildsamen Masse erstarrten Schmelze
erzeugt werden, so werden in der keramischen Industrie die sich in
der Natur vorfindenden, zu diesem Zwecke geeigneten Silikate, im
allgemeinen Ton genannt, mit geeigneten Zusätzen unter Wasserzusatz
zu einer knetbaren Masse durchgearbeitet, die dann im feuchten Zu-
stande in die gewĂĽnschte Form gebracht wird. Nunmehr findet erst
das Brennen statt, durch das die vorher nur schwach aneinander
klebenden einzelnen Teilchen mehr oder weniger fest miteinander
verbunden werden.
Je nach den hier zur Verwendung kommenden Hitzegraden
kommen verschiedene Zustandsänderungen der Tonmischung in Be-
tracht. Zunächst befindet sich der Ton in einem mehr oder weniger
feuchten Zustande. Dann an der Luft getrocknet nimmt er den luft-
trocknen Zustand an. In regenlosen oder doch verhältnismäfsig
trockenen Gegenden werden mitunter Ziegel schon in diesem luft-
trockenen ungebrannten Zustande zum Mauern verwendet. FĂĽr ge-
wöhnlich wird jedoch die Masse nunmehr einem Brande ausgeset2t.
Zunächst geht die Einwirkung des Feuers nur so weit, die einzelnen
Teilchen miteinander zu verbinden, ohne dafs die Masse ihre Porosität
verliert. Derartig schwach gebrannte Erzeugnisse sind z. B. die
meisten derjenigen Waren, die unter dem Namen Terrakotta bekannt
sind. Für Gefäfszwecke sind derartig schwach gebrannte Erzeugnisse
nicht zu benutzen, da sie einerseits die darin aufbewahrte FlĂĽssigkeit
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328
durchlassen wĂĽrden, andererseits auoh gegen chemisohe EinflĂĽsse
wenig widerstandsfähig sind. Um sie dennooh hierfür gebrauoben zu
können, werden sie mit der sogenannten Glasur überzogen, einem bei
verhältnismäfsig niedriger Temperatur schmelzenden und im übrigen
möglichst widerstandsfähigen Silikat Derartige glasierte schwach ge-
brannte Ware ist z. B. die gewöhnliche Töpferware, sowie auch das,
was man mit dem Namen Fayence bezeichnet
Brennt man stärker, so wird der Scherben — so nennt der Fach-
mann die Masse, aus der seine Erzeugnisse bestehen — mehr und
mehr ein dichtes Gefüge zeigen und schliefslich gegen Wasser gänz-
lich undurchlässig werden. Auf der Grenze zwischen dem leicht und
dem scharf gebrannten Scherben steht das Steingut während Stein-
zeug und namentlich Porzellan eine durch und durch gesinterte Masse
darstellen. Namentlich beim Porzellan kann diese Eigenschaft darum
sehr deutlioh in die Erscheinung treten, weil dieses Material einen
durchaus weifsen Scherben hat und weil man es in verhältnismäfsig
dünnen Wandstärken anwendet. Dies im Verein mit dem scharfen
Brande, der ein vollständiges Zusammensintern der Masse in sich ver-
ursacht verleiht dem Porzellan eine mehr oder weniger grofse Durch-
sichtigkeit so dafs es sioh in gewisser Hinsicht dem Glase nähert
WĂĽrden wir die Erhitzung des Porzellans noch weiter fortsetzen, so
wĂĽrde es zusammenschmelzen, und dann eine Art von geschmolzener
Glasmasse geben, die indessen nicht nach Art der Gläser verarbeitet
werden kann, weil sie eine durchaus verschiedene chemisohe Zusammen-
setzung von diesen besitzt
Hiermit wären wir bei einem weiteren wichtigen Unterschiede
zwischen den Erzeugnissen der Glas- und denen der keramischen
Industrie angelangt Während nämlich die Gläser Silikate der Al-
kalien und alkalischen Erden sind, so sind die keramischen Erzeug-
nisse wesentlich Tonerdesilikate, allerdings unter mehr oder weniger
starker Beimengung von anderen Stoffen, von denen namentlich auoh
die Alkalien in Betracht kommen. Umgekehrt enthalten ĂĽbrigens
auch manche Gläser verhältnismäfsig grofse Mengen von Tonerde.
Während die feinen Gläser fast tonerdefrei sind, so sind die gewöhn-
lichen, halbweifsen oder grünen Gläser ziemlich reich daran. Denn
während jene aus reinem Sand und reinen Alkaliverbindungen er-
schmolzen werden, so sind letzteren mehr oder weniger grofse Men-
den natĂĽrlicher und stets Tonerde enthaltender Silikate zugesetzt
Ă„hnlich wie mit den Erzeugnissen der eigentlichen keramischen
Industrie verhält es sich auch mit denen der Ziegelindustrie, wie auoh
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321»
mit Wandplatten, Fliesen u. s. w., die ebenfalls in den verschiedensten
Feuergraden gebrannt werden. Auch hier ist das Erzeugnis um so
widerstandsfähiger, je stärkeres Feuer man angewendet hat. Freilioh
ist es aber nioht eine Sache des Feuers allein, ein widerstandsfähiges
Erzeugnis hier zu erzielen, da es in erster Linie von der Art der
verwendeten Rohstoffe abhängt, ob sie überhaupt im stände sind, ein
starkes Feuer auszuhalten, ohne zusammenzusohmelzen.
Sohliefslioh kommen wir dann noch zur vierten Klasse, zu der-
jenigen der verkitteten Silikate, die den natĂĽrlichen Sandsteinen oder
dergleichen entsprechen. Es wĂĽrde zu weit fĂĽhren, wenn wir diese
Industrie hier ausfĂĽhrlich behandeln wollten; vielleicht bietet sioh bei
einer anderen Gelegenheit dazu eine Veranlassung. 8ie sei hier nur
angeführt, um unsere Betrachtung nicht unvollständig zu machen, die
wesentlich den Zweck hatte, zu zeigen, inwiefern die Klassifikation
der in der Technik verwendeten Silikate mit derjenigen der natĂĽr-
lichen Silikate in Ăśbereinstimmung gebracht werden kann, und die
bei dieser Gelegenheit auoh auf einige neue Tatsachen und Theorien
auf dem Gebiete der Glasindustrie hatte hinweisen wollen.
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Die Umdrehungszeiten der äufseren Planeten liefsen sich bisher
auf keine Weise feststellen, da es sich als unmöglich erwies, auf der
Oberfläche von Uranus oder Neptun Punkte aufzufinden, deren Be-
wegung- einen Schlufs auf Umdrehungszeit und Richtung des betreffenden
Körpers zugelassen hätte. Aufserdem versagte bei ihrer Kleinheit und
Lichtschwäche die spektroskopische Methode, die Geschwindigkeiten
in der Gesichtslinie fĂĽr die beiden Endpunkte des Ă„quators festzu-
stellen. Denn da hierzu sehr genaue Messungen nötig sind, so hätte die
Spaltbreite so eng gewählt werden müssen, dafs kein nennenswerter
Betrag an Licht mehr hindurchfallen konnte. Infolge dieses Ăśbelstandes
ist nun Deslandres in Meudon auf eine andere Methode verfallen.
Er beobachtet den Unterschied der Verschiebungen, die die gegenĂĽber-
stehenden Enden des Ă„quators im Spektroskop zeigen, indem sie dessen
Richtung ein wenig gegen die normale Lage verschieben, so dafs die
Planetenscheibe im Spektrum nicht mehr kreisförmig erscheint, sondern
als eine etwas geneigte Ellipse; und zwar ist die Gröfse dieser Neigung
abhängig von dem Betrag der Umdrehungsgeschwindigkeiten. Eine
PrĂĽfung der Methode am Jupiter gab Resultate, die mit den ander-
weitig erhaltenen gut stimmen, so dafs man dem fĂĽr Uranus gewonnenen
Ergebnis Glauben schenken darf. Dies zeigt nämlich, dafs dieser
Planet ebenso wie seine Monde rückläußge Bewegung hat, eine Tat-
sache, die zwar nach der Bahnlage der Mondbahnen zu erwarten war,
deren Beweis aber von grolsem Werte ist, da sie mit der Kant-
Laplaceschen Nebelhypothese ganz unvereinbar ist. R
*
Die Sonnenkorona zeigt zur Zeit der Maxima und Minima der
Fleckenperiode ein verschiedenes Aussehen, das auf einen Zusammen-
hang beider Erscheinungen hingewiesen hat. Neuerdings ist nun ein
weiteres BeweisstĂĽck fĂĽr die Existenz des inneren Zusammenhanges
geliefert worden. Bei der totalen Finsternis vom 17. Mai 1901 zeigte
sich in der Korona ein ausgedehntes Gebiet in Form eines Kegels,
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331
dessen Spitze der Sonne zugewandt war. Ks machte den Eindruok
einer wolkigen Masse, die von der Sonne wie ein vulkanischer Aus-
bruch ausgestofsen wurde. Nahe dem Punkte, wo die Kegelspitze
die Sonne berĂĽhrte, befand sich auch eine grofse schlanke Protu-
beranz, deren Ursprungsort mit dem jener Störung der Korona zu-
sammenzufallen schien. Nun war es aufserdem möglich, durch die
in Dehra Dun in Indien täglich gemachten Sonnenaufnahmen den
Nachweis zu liefern, dafs eine Fleckengruppe von beträchtlicher Gröfse
am Tage der Finsternis noch hinter dem Sonnenrande gewesen war,
und zwar an derselben Stelle, wo um die Zeit der Finsternis die Spitze
jenes Kegels und der ĂĽrsprungsort jener Protuberanz sich befunden
hatten. Es ist infolgedessen als erwiesen anzusehen, dafs die Gruppe
der Flecken mit ihren Fackeln, die grofse Protuberanz, und die ge-
waltige Störung der Korona dieselbe Ausgangsstelle, und wohl auch
dieselbe Ursache haben, eine Tatsache, die zwar schon lange vermutet
wurde, doch noch nie so schön festgestellt werden konnte. U.
t
Sven Hedln, der bekannte Forschungsreisende, erzählt in seinen
Briefen die vergeblichen Versuche, Lhassa, das buddhistische Heiligtum
Tibets, zu erreichen.
Da es unmöglioh war, mit der ganzen Karawane bis an die
heilige Stadt vorzudringen, so verliefe er, 14 Tagereisen vor Lhassa,
als Burjät verkleidet seine Expedition. Seine Begleitung bildeten
nur ein Lama und ein burjatischer Kosak. In der ersten Nacht nach
dem Aufbruch wurden ihm bereits seine besten Pferde gestohlen,
weshalb er einen Wachtdienst organisieren mufste, in welchem sich
die drei Teilnehmer trotz des strömenden Regens nachts alle drei
Stunden ablösten. Nach einer Woche traf die kleine Karawane auf
eine Schar tibetanischer Reiter, welche sie bis zur erwarteten Ankunft
des Provinzialgouverneurs in ihrem Lager zurĂĽckhielt Dieser kam
nach 5 Tagen an und lud den Forschungsreisenden zu sich ein. Da
Sven Hedin ablehnte, kam der Beamte selbst zu ihm und teilte ihm
in höflicher Weise mit, dafs an einen Besuch der heiligen Stadt nicht
zu denken wäre und dafs er gezwungen sei, die Umkehr der Ex-
pedition zu verlangen. Übrigens zeigten sich die Tibetaner äufserst
liebenswĂĽrdig und gastfrei. Sie versorgten Sven Hedin ohno Entgelt
mit Proviant, ersetzten auch die geraubten Pferde und geleiteten ihn
zu seiner Karawane zurĂĽck.
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332
Auch ein zweiter Versuch, Lhassa zu erreichen, scheiterte an
dem höflichen aber energischen Wideretande der Tibetaner, welche
nunmehr Sven Hedin zwangsweise bis an die indische Grenze be-
gleiteten, wo ihn eine vom Vizekönig Indiens entsandte Karawane
mit einer Einladung nach Kalkutta erwartete. O. U.
t
Naturgas in Deutschland. Bekannt sind die grofsartigen Vor-
kommen von Naturgas in Nordamerika, wo es zu industriellen Zwecken
in gröfstem Mafsstabe ausgenutzt wird. Neuerdings ist auch ein zwar
nur sehr beschranktes Vorkommen von Naturgas in Deutschland be-
kannt geworden, das sich im Gebiet der Westfälischen Steinkohlen,
und zwar auf der Zeche „Hansau bei Dortmund findet Daselbst
wurde im Anfange des Jahres 1898 eine Gasquelle 664 m tief erbohrt,
deren Zusammensetzung folgendes Untersuchungsergebnis lieferte:
Methan . . . 85.45 pCt
Stickstoff . . 12,59 _
Kohlensäure . 1,03 _
Sauerstoff . . 0,93 „
zusammen 100,00 pCt
Die Gasquelle wurde gefafst und diente zunächst y2 Jahr lang
zur Beleuchtung an Ort und Stelle. Später wurde das mit ungefähr
ein Sechstel Atmosphäre Druok austretende Gas mittelst einer Rohr-
leitung nach oben geleitet und zum Heizen eines Dampfkessels be-
nutzt Seine Menge beträgt so viel, dafs etwa 2000 kg Kohle täglich
dadurch erspart werden. G. R.
Bewässerung in Australien.
Höchst interessant ist ein Vortrag, den ein Herr Gibbons Coz
in der englischen Geographischen Gesellschaft ĂĽber diesen Gegen-
stand jĂĽngst gehalten hat Cox war es, der berufen wurde, in
Queensland artesische Brunnen zu graben. Nach seiner Ansicht ist
ein grofser Teil Australiens nichts anderes als ein Dach, welches ein
seit dem Bestehen der Erde angesammeltes ungeheures Wasserreservoir
bedeckt Jährlich fallen auf dieses Dach zwanzig Zoll Wasser, das
größtenteils rasch verdampft, doch saugen die porösen artesischen
Felsen viel davon auf, so dafs sie einen unerschöpflichen Wasser-
vorrat abgeben.
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333
In Queensland gibt es gegenwärtig 532 artesisohe Brunnen mit
einer Durchschnittsbohrung von 1197 Fufs Tiefe, zu einem Kosten-
preis von 26 Schilling pro Fufs. Man hat 800000 Pfund Sterling fĂĽr
Brunnenbohrungen ausgegeben, die täglich 351 Millionen Gallonen
Wassers liefern. Die artesischen Brunnen unter den Goldfeldern
West- Australiens sind nicht so wasserreich wie diejenigen Queens-
lands. Cox berichtet ganz erstaunliche Daten ĂĽber die Art, in welcher
artesisohe Brunnen riesige Wüstenflächen in herrliche Gärten ver-
wandelt haben; ĂĽber 300000 Quadratmeilen der Sahara sind durch
artesische Brunnen in fruchtbares Land verwandelt worden. 445 00fr
englische Quadratmeilen, d. h. ungefähr zwei Drittel von Queensland,
überdecken die ungeheuren Vorratsreservoire der artesisohen Wässer.
An manchen Stellen quillt dieses ganz heifs hervor; ja, ein Brunnen
zeigt sogar eine Temperatur von hundert Grad FahrenheiU
Obgleich West- Australien nicht so wasserreich ist wie Queens-
land, enthalten seine kalkreichen Sandfelsen, die unter dem Namen
aeolischer Sandstein bekannt sind, doch ziemlich viel Wasser. Ein
im Bahnhof von Perth gebohrter Brunnen von 700 Fufs Tiefe ergab
reichlich hervorquellendes, ausgezeichnetes Wasser.
Cox ist ĂĽberzeugt, dafs selbst die ob ihrer Trockenheit berĂĽch-
tigten nördlichen Distrikte in allen Teilen artesisches Wasser in Fülle
ergeben würden, denn er hält, entgegen anderen Anschauungen, die-
unterirdischen Wasser für unerschöpflich und ist von der Überzeugung
durchdrungen, dafs Bohrungen möglichst vieler artesischen Brunnen
Australien mit ständigen Flüssen und Bächen bereichern würden^
mittelst welcher man dann ausgiebige Bewässerungen ausführen könnte.
Und wie notwendig diese wären, geht wohl aus dem traurigen Um-
stände hervor, dafs 1900 in Queensland trotz der vielen artesischen
Brunnen noch immer beinahe fĂĽnf Millionen Schafe zu Grunde gingen,
d. h. 32 Prozent der gesamten Menge! Noch 1892 gab es in Queens-
land 22 Millionen Schafe, Ende 1900 sank die Zahl auf 10 500000.
In Neu-Seeland gab es 1891 61 Millionen Schafe; Ende 1899 fiel die
Zahl auf 39 Millionen. Traurige Folgen der grofsen DĂĽrre!
f
Ein Feldzug gegen die Moskitos. In Amerika wurde kĂĽrzlich
der Versuch gemacht, einen Feldzug gegen die so gefĂĽrchteten Mos-
kitos einzuleiten, und derselbe gelang ĂĽber alle Erwartung gut. In
einzelnen Gegenden der Vereinigten Staaten werden diese kleinen „
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mit dem freien Auge kaum wahrnehmbaren Insekten zu einer bösen
Landplage, so z. B. in Center Island (Long Island;, wo im vergangenen
Jahre infolge der furchtbaren Hitze und der zahllosen Gewitterregen
die Moskitoplage eine fast unerträgliche geworden war. Am Ufer
von Flüssen und Bächen oder über Marschland zu gehen, wurde
Menschen wie Tieren verhängnisvoll, denn sie wurden von wahren
Mosquitowolken eingehĂĽllt Man versuchte zuerst, auf einer 24 Kilo-
meter langen und 8 Kilometer breiten Fläche den giftigen Insekten
beizukommen, indem ihre Brutstätten zur Zeit des Larvenstadiums
mit einer dĂĽnnen Ă–lschicht bedeckt wurden, da man die Beobachtung
gemacht hatte, dafs die Moskitolarven zu ihrer Entwickelung Luft
zum Atmen bedürfen. Tatsächlich genügte selbst in einem tiefen
Teich eine sehr dĂĽnne Ă–lschicht zur Vernichtung der Brut Dort
wo man das Öl mittels sogen. „Petroliers* zur Anwendung brachte,
erlebte kein einziges Insekt das FlĂĽgelstadium; nur dort, wo man mit
dem öl nicht hinlänglich sorgfältig operiert hatte, entpuppten sich die
Larven zu giftigen Mo3kitos. In einer einzigen Saison gelang es,
Center Island von der unangenehmen und gefahrlichen Landplage
vollständig zu befreien. Vielleicht liefse sich dieselbe Methode auch
gegen andere giftige Insekten, deren es ja fast in jedem Lande gibt
— in Ungarn z. B. die so gefürchteten Kolumbäcser Fliegen, die
periodisch auftreten und fĂĽr Pferde und Rindvieh todbringend sind
— , mit Erfolg anwenden.
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Dr. Franz Linke: Moderne Luftschiffahrt. Berlin bei Alfred Schall.
Mit 37 Abbildungen und 24 Tafeln.
Der Verfasser macht es sich zur Aufgabe, das grosse Publikum mit der
modernen Luftschiffahrt zu befreunden und Tor allen Dingen jene alten Vor-
urteile zu beseitigen, welche im Luftschiffer auch heute noch nur den Akrobaten,
bestenfalls den Abenteurer sehen wollen. Mit jugendlichem Eifer schildert er
dem Leser die Luftschiffahrt als Mittel der Wissenschaft und des Sports. Seine
Darstellung ist in allen Punkten gewandt, er weifs trefflich zu erzählen von
jenen schweigenden Höhen, in denen der kühne Luftachiffer ganz allein ist,
in denen auch nicht der leiseste Laut mehr als Abgesandter der fernen Erd-
oberfläche und der Menschenwelt zu ihm dringt. Aber er weifs auch
zu berichten, dafs der moderne Luftfahrer nicht allein um des Genusses willen
die gefahrvollen Regionen der Erstarrung aufsucht. Es gelingt ihm recht gut,
durch eingestreute Abschnitte über die meteorologischen Verhältnisse und über
die Aufgaben, welche die physikalische Wissenschaft an den Luftfahrer stellt,
zu unterhalten und zugleich zu belehren. Nach einem, die Entwicklung der
Luftschiffahrt in grossen ZĂĽgen behandelnden Kapitel geht der Verfasser
dazu ĂĽber, das Herstellungsmatcrial der Ballons und alle jene Vorrichtungen, mit
welchen der Mensch hofft, der launenhaften Luftbewegung Herr zu werden,
zu beschreiben; dann spricht er von der FĂĽhrung des Ballons, die denn doch
umfassendere Kenntnisse erfordert, als der Laie sich denken mag. und schliefslich
beschreibt er eine Auffahrt, die glücklich verläuft und bei der dann so ziemlich
alles an interessanten Dingen vorgeht, was der Luftschiffer sich wĂĽnscht. Selbst
das „Sekts< hlofs" fehlt nicht, bei dem er landet Spätere Kapitel behandeln
die wissenschaftliche Luftschiffahrt allein. Die Darstellung zeigt hier die Ein-
flüsse, welche die atmosphärischen Elemente, Wind, Luit und Elektrizität
auf die Luftschiffahrt gewonnen haben. Den Schluss des Buches bilden
Darstellungen ĂĽber Registrier- und Fesselballons sowie die wissenschaftlichen
Drachen. Auch dem Problem der Lenkbarkeit des Luftschiffes und dem de«
persönlichen Fluges sind verständige Darstellungen gewidmet. Möge das Buch
im Publikum eine weite Verbreitung finden. B. D.
Wiesengrund, Dr. B.: Die Elektrizität. Ihre Erzeugung, praktische
Verwendung und Messung. Bearb. v. Prof. Dr. Rufsner. (Frank-
furt a. M. bei Bechold.)
Die Verfasser behandeln in aller KĂĽrze (78 Seiten) die elektrischen
Grundbegriffe, die Wirkungen des elektrischen Stromes im allgemeinen, die
wichtigsten MeĂźinstrumente, Maschinen, KraftĂĽbertragung, Beleuchtungstechnik,
elektrische Bahnen und Boote, Telegraphic mit und ohne Draht, Telephonie,
Anwendungen der Elektrizität in der Medizin. Da das Büchlein nicht tiefer
ins „Wesen der Dinge" eindringen will, sondern nur möglichst einfach be-
schreibt, empfiehlt es sich vor allem fĂĽr Laien, die sich einen kurzen Ăśber-
blick ĂĽber die modernen Erzeugnisse der menschlichen Kultur verschaffen
wollen. M. v. P.
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336
Jahrbach der Naturwissenschaften. 1901—1902. Enthaltend die hervor-
ragendsten Fortschritte auf den Gebieten: Physik, Chemie und che-
mische Technologie; angewandte Mechanik; Meteorologie und physi-
kalische Geographie; Astronomie und mathematische Geographie;
Zoologie und Botanik: Forst und Landwirtschaft; Mineralogie und
Geologie: Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte; Gesundheits-
pflege, Medizin und Physiologie; Länder- und Völkerkunde: Industrie
und industrielle Technik. Siebzehnter Jahrgang. Unter Mitwirkung
von Fachmännern herausgegeben von Dr. Max Wildermann.
Ein vortreffliches Buch, das seiner knappen, klaren Form und seiner
wissenschaftlichen Exaktheit wegen sich bereits in früheren Jahrgängen viele
Freunde erworben hat. In dem etwa 500 Seiten starken Band wird der Leser
mit allen hervorragenden Fortschritten auf den eben angegebenen Gebieten
soweit bekannt gemacht, als dies zur Oriontierung genĂĽgt Demjenigen, der
sich mit diesem oder jenem Gegenstand näher abgeben will, dienen die zahl-
reichen Literaturangaben als willkommener Wegweiser. Aus der grofsen FĂĽlle
des Stoffes mögen einzelno besonders interessante Artikel hervorgehoben
werden. Aus der Abteilung fĂĽr Physik: Telephonie ohne Draht, Telegraphie
ohne Draht, Schreibtelegraph, neue Tcslaversuche mit Strömen hober Frequenz
und Spannung u. s. w. Aus der Abteilung fĂĽr Botanik: Ăśber die Bedeutung
des BlattgrĂĽns fĂĽr das Pflanzenleben, ĂĽber die Stellung der BlĂĽten zum Lichte,
ĂĽber die Ausscheidung des Gummi arabicum ... Im Kapitel Zoologie wird
u a. in ausfĂĽhrlicher Weise die interessante Tatsache der Ăśbertragung der
Malaria und des gelben Fiebers durch die Moskitos erörtert und mit vielen
Figuren illustriert. In deu Mitteilungen aus der Meteorologie lesen wir von
neuen Untersuchungen ĂĽber das Wesen und Verhalten des Blitzes. Der fol-
gende Abschnitt bringt eine statistische Untersuchung ĂĽber den Nutzen des
Wetterschiofsens. Aus der angewandten Mechanik ist bemerkenswert: Ăśber
Kleinbahnen und Einzelfahrzeuge (Ăśbersicht ĂĽber den Betrieb der elektrischen
Straßenbahnen), über Luftschiffahrt. Der letztgenannte Artikel enthält eine
Besprechung der zahlreichen modernen Typen von lenkbaren Luftfahrzeugen.
Bei der Behandlung dieser und auch anderer „aktueller Fragen" (z. B. Tele-
graphie ohne Draht), ĂĽber die in der Tagespresse so viel phantasiert und auf-
getragen wird, dafs das Urteil des Publikums irregeleitet ist, berĂĽhrt es
ganz bosonders wohltuend, dafs die Verfasser es an einer objektiven wissen-
schaftlichen Kritik nicht haben fehlen lassen und zuweilen ausdrĂĽcklich die
Unglaubwürdigkeit dessen, ..was gesagt wird", betonen. — Aus dem Abschnitt
über Gesundheitspflege seien die Stichworte: Tuberkulose — Vegetarische Er-
nährung — Lichtheilverfahren herausgegriffen. — Möge diese kurze Übersicht,
die längst nicht alles berücksichtigen konnte, was der Berücksichtigung wert
wäre, genügen. M. v. P.
V«rl»g: H»rmnon P»«t«l in tWJio. - Druck: Wilhelm Groiwu'i Bochdreckerei In B«rUn-Bch6neb«r(.
Ffir die R>d»etion vwMtwortlicl) : Dr. F. Äebwahn in Berlin,
l'oberecbtigter Nachdruck »o« dem tnh»U dl««er ZeiUehrif» nnt*r^gt.
Üb*r»«tmng«»cht »orb*holt#n.
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Fi^. G. Kirgisischer Jäger und kirgisische Frau.
Fijj. 7. Eine Braut mit ihren jĂĽngeren Schwestern.
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Elektrizität und Materie.
Von Dr. M. v. Pirani in Charlottenburg.
as ist Elektrizität? Was ist Materie? Welches sind ihre
Wechselwirkungen? Das sind Fragen, die sich jedem
Physiker und jedem Laien täglich aufdrängen, Fragen, die zu
beantworten, das höchste Ziel jeder die Vollkommenheit anstrebenden
physikalischen Theorie sein mute, d. h. jeder Theorie, welohe es ver-
sucht, alle Naturerscheinungen möglichst einfach von einem geraein-
samen Standpunkt aus zu betrachten und zu erklären oder, grob
pesagt, „unter einen Hut zu bringen*. Demgemäfs läfst sich von
vornherein behaupten, dafs die Frage nach dem Wesen der Elektri-
zität von jeder Theorie beantwortet wird, und zwar von jeder in
verschiedener Weise.
Ums Jahr 1870 stellten Weber und Zöllner eine Theorie der
Elektrizität auf, in welcher sie diese als aus Atomen (kleinsten mate-
riellen Urteilohen) aufgebaut ansahen und damit sämtliche, damals
bekannten Erscheinungen der Elektrizität und des Magnetismus zu
erklären suchten.
1861 — 1862 erschienen Maxwells grundlegende Abhandlungen,
in denen sämtliche, bis dahin herrschenden Ansichten auf den Kopf
gestellt und die elektrischen Vorgänge als Bewegungen eines hypo-
thetischen „Fluidums*4 des Äthers angegeben wurden. Diese Theorie
hat sich die gröfsten Verdienste durch die Voraussage noch un-
bekannter Naturerscheinungen (z. B. der elektrischen Wellen)
und die Erkenntnis wichtiger Zusammenhänge (Licht und Elek-
trizität — elektromagnetische Optik) erworben und ist zur Zeit noch die
vorherrschende. So sehr man aber, wie gesagt, die Verdienste der
Max wel Ischen Theorie anerkennen raufs, so kann man sich doch
nicht verhehlen, dafs sie auf manchen Gebieten (ich greife die Elektro
Himmel und Erde. 1803. XV. &
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lyse heraus), in denen Wechselwirkungen zwischen Elektrizi-
tät und Materie erklärt werden sollen, wenig anschauliche und
nicht befriedigende Erklärungen gibt, ja Hypothesen hin zuzunehmen ge-
zwungen ist, die nicht in ihrem Programm verzeichnet sind Dieser
Umstand hat viele Gelehrten in neuester Zeit bewogen, auf den oben
erwähnten Gebieten einer anderen Theorie den Vorzug einzuräumen,
die, auf den Grundlagen der alten Weber sohen aufgebaut, von
Lorentz 1880 in seinem Werke ĂĽber die elektromagnetische Licht-
theorie niedergelegt ist, und die es seitdem zu einem aufserordentlich
hohen Grad der mathematischen Vollkommenheit (wenn auoh noch
nicht dem höchstmöglichen) gebracht hat Wir wollen im folgenden
versuchen, uns auf Grund der einfaohen Anschauung dieser Theorie
ĂĽber das Wesen der Materie und ihren Zusammenhang mit der Elektrizi-
tät einige bekannte physikalische Erscheinungen zu erklären.
lob komme zu den Voraussetzungen der Theorie: Jeder Körper
besteht aus kleinsten, noch im freien Zustande existenzfähigen Ele-
menten, den MolekĂĽlen. Diese MolekĂĽle haben noch die charakte-
ristischen (chemischen u. physikalischen) Eigenschaften des betrachteten
Körpers. Das Molekül wiederum ist im allgemeinen als Aggregat von
noch kleineren Teilchen anzusehen, den sogenannten Atomen, und
jedes Atom endlioh ist eine Welt fĂĽr sich im kleinen, wenn ich so
sagen darf. Die Atome wollen wir uns vorstellen als eine Vereini-
gung von „materiellen Funkten" oder punktförmigen Massen
von eminent geringer Ausdehnung und Schwere, welche gebundene
oder freie, d. h. abgebbare elektrische Ladungen (positive oder nega-
tive) besitzen. Diese materiellen Punkte heifsen Elektronen und
mögen sich zum Teil in kreisender Bewegung befinden und Schwin-
gungen mit einer gewissen festgesetzten Geschwindigkeit um fest-
liegende Centren vollfĂĽhren ; und zwar seien die negativ geladenen die
beweglichen Teilchen (warum, sehen wir nachher). Die negativen
Elektronen also rotieren nach Art der Planeten um feste Centren,
nämlich um die positiven Elektronen, durch deren Anziehung sie
in ihren Bahnen festgehalten werden. Die Anziehungen werden durch
den Liohtäther übertragen, ein Zwischenmedium, dessen nähere
Eigenschaften wir hier nicht erörtern wollen.
Es sei nur erwähnt, dafs dieser Äther durch die Elektronenbe-
wegungen in Spannungszustand versetzt wird, wie etwa eine
elastische Flüssigkeit, in der sich ein Körper fortbewegt Man könnte
nun fragen: Wie kommt die Theorie dazu, positive und negative Elek-
tronen in Bewegung in einem Atom anzunehmen? Und warum ziehen
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sioh die«e Elektronen unter gewissen Umständen an, unter anderen
nicht? Dafs wir ee mit zwei Arten von Elementarkörperohen in einem
Atom zu tun haben, kann natĂĽrlich nicht a priori behauptet werden,
sondern wir mĂĽssen dies durch Experimente belegen ; einige derselben
werden wir sogleioh kennen lernen. Warum aber diese beiden Elek-
tronenarten, die wir „positiv14 und „negativ" nennen, sioh anziehen,
wenn sie ungleichnamig elektrisch sind, sich abstoben, wenn sie gleiche
Elektrizitäten beherbergen, das kann man nicht erklären. Wir stofsen
hier, wie bei der Erklärung aller Naturerscheinungen auf letzte Gründe,
bei denen wir Halt zu maohen gezwungen sind. Jedooh kann man,
wie Herr Bjerkness jun. ganz kĂĽrzlich in der Physikalischen Ge-
sellschaft gezeigt hat, die Anziehung und Abstofsung elektrisch ge-
ladener Körper du roh die Analogie „pulsierender Kugeln" in einer
FlĂĽssigkeit veranschaulichen, so dafs man schliefelioh die elektrischen
Anziehungserscheinungen im letzten Grunde auf Bewegungserschei-
nungen in einer Flüssigkeit (dem „Äther" in unserem Fall) zurüok-
führen könnte. Die einzelnen Elektronen wären dann solche „pul-
sierenden Kugeln". Wir wollen uns aber hier mit den vorher ge-
machten Annahmen über den Zusammenhang zwischen Elektrizität
und Materie begnĂĽgen und zufrieden sein, wenn wir damit alle experi-
mentell gefundenen Tatsachen erklären können und womöglich einen
Ausblick auf neue Erscheinungen gewinnen. Es folgen einige be-
kannte Experimente, die der Theorie gemäfs ausgelegt werden sollen:
Reibt man einen Glasstab und berĂĽhrt damit ein Elektroskop, l)
so zeigen bekanntlich die Goldblättchen desselben eine Divergenz (sie
werden auseinandergetrieben), die wieder verschwindet, wenn man
die Kugel mit einem geriebenen Hartgummistab in BerĂĽhrung bringt.
Wie ist das zu erklären? Wie ist es zu erklären, dafs duroh Reibung
zweier Körper aneinander stets Elektrizität entsteht (natürlich nioht
immer gleichviel)? Durch die Reibung wird die Spannung an der
Oberfläche des geriebenen Körpers ein wenig verändert; dadurch
werden die Elektronen in den Atomen in Erregungszustand versetzt,
es entsteht ein Zustand, den wir Polarisation nennen; die positiven
Elektronen werden nach der einen Seite getrieben, oder besser „ge-
riohtet", die negativen nach der anderen. Reibt man z, B. Ebonit
(Hartgummi) mit einem Fuohsschwanz, so werden die negativen Elek-
tronen an die Oberfläche gerückt. Diese negativen Elektronen be-
>) Ein Elektroskop besteht aus einer Metallkugel auf einem Metallstiel,
der in zwei dünne Metall blättchen endigt Die Blättchen sind zum Schutz
Ton einem Glasgehäuse umgeben.
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wirken im Elektroskop eine Abstofsung der negativen Elektrooen
der Metallkugel in die Blätteben hinein (wir nahmen an, dafs ein
Teil der Elektronen frei beweglich ist), die sich infolgedessen ab-
stofsen, da sie nur gleichnamig geladen sind. Die Abstofsung wird
aufgehoben, sobald ich die negativen Elektronen wieder durch die
Anziehung eines positiv geladenen Körpers (geriebenes Glas) aus den
Blättchen zurückhole. Genau so gut kann ich das Elektroskop auch
durch BerĂĽhrung mit der (ungeladenen) Hand entladen.
Dann gleicht sich der in den Blättchen angesammelte Cber-
schufs negativer Elektronen durch meine Hand aus, weil jetzt die
Ladung sich über den ganzen Körper und die damit in Verbindung
stehende Erdoberfläche ausbreiten kann, und somit ihre Intensität pro
Flächeneinheit unendlich klein wird. Man braucht sich nun durchaus
nicht vorzustellen, dafs die Elektronen mit ungeheurer Geschwindigkeit
durch meine Hand zur Erde wandern, sondern wir wollen dem Vorgang
anders, mit Hilfe einer Analogie näher zu kommen suchen : Ich habe ein
langes, mit Wasser gefĂĽlltes horizontales Rohr, in dem ein Kolben ver-
schiebbar ist Drücke ich nun mit dem Kolben auf die Wasserfläche,
so fliefst sofort am anderen Ende etwas Wasser aus, aber es sind nicht
die gedrĂĽckten Wasserteilchen, die ausfliefsen, sondern andere, auf die
der Druck sich, von Teilchen zu Teilchen wandernd, ĂĽbertragen hat
So auch im vorliegenden Fall. Der ElektronenĂĽberschufs ĂĽbt einen
kleinen Ăśberdruck aus, es gehen vielleicht einzelne Elektronen auf
meine Hand ĂĽber; dadurch entsteht durch Fortpflanzung von Elektron
zu Elektron ein Ausflufs von negativen Elektronen nach der Erde.
Ganz ähnlich haben wir uns die Verhältnisse beim Fliefsen des
elektrischen Stromes in einem Draht vorzustellen, nur dafs hier
eine ungleich gröfsere Anzahl von Elektronen in Bewegung ist als
beim Elektrisieren, und dafs hier nicht nur die frei beweglichen
Elektronen, sondern auch die durch Anziehungskräfte miteinander
verbundenen beeinflufst werden. Sehen wir einmal von den freien
Elektronen — die die Oberflächenladungen bedingen, welche wir bei
jedem Strom beobachten können, — ganz ab, so werden duroh die
„elektromotorische Kraft*, d. h. die Kraft, welche den Strom zum
„Fliefsen" bringt, die positiven und negativen Elektronen gerichtet
(„polarisiert1*) und vielleicht auch teilweise voneinander losgetrennt
Die Kraft der gegenseitigen Anziehung bedingt dann, dafs beim Auf-
hören der elektromotorischen Kraft der ursprüngliche Zustand wieder
eintritt, und dafs beim Fliefsen des Stromes eine gewisse Arbeit ver-
braucht wird, welche sich durch eine Erhitzung des Metalls kundgibt.
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Die Kraft, zu deren Überwindung* die eben erwähnte Arbeit
Terwandt wird, nennt man den „Widerstand" des Metalles; derselbe
ist je nach der Art des Metalles fĂĽr gleichlange StĂĽcke verschieden.
Der Vorgang bei einem elektrischen Strom ist also einfach der,
da Ts die Elektronen in den Atomen geriohtet werden und, teilweise
getrennt, langsam zwischen den MolekĂĽlen des Stromleiters durch-
kriechen, die positiven nach der einen, die negativen nach der anderen
Seite. Der Weg, den jedes Elektron zurĂĽcklegt, kann dabei ein
minimaler sein, unmefsbar kleine Teile eines Millimeters betragen.
Man wird vielleicht einwerfen, dafs doch der elektrische Strom eine
mefsbar grofse Fortpflanzungsgeschwindigkeit von 300 000 km in
der Sekunde habe, und dafs seine Energie auch eine mefsbare Grofse
sei. Gewifs, diese beiden Behauptungen sind zutreffend, beweisen
aber nichts gegen die vorliegende Theorie, denn was die erste Be-
hauptung betrifft, so verweise ich auf das vorhin angefĂĽhrte Beispiel
mit der langen Wasserröhre, der zweite Einwand wird durch die
Überlegung hinfällig, dafs wir in der Tat nichts als die geleistete
Arbeit messen können, und diese kann sehr grofs sein, wenn die
Anziehungskräfte zwischen den Elektronen grofs sind, und wenn die
Elektronen sehr fest in die MolekĂĽle eingebettet sind, d. h. wenn die
Dichte der Substanz grofs ist.
Viel einfacher liegen die Verhältnisse in dem Fall, dafs wir
durch eine Flüssigkeit, z. B. durch eine verdünnte Salzlösung, einen
Strom hindurch senden. Schon die schwächste elektromotorische
Kraft bringt hier ein Phänomen hervor, welches wir gewöhnlich mit
.Zersetzung" bezeichnen, d. h. es scheidet sioh an beiden Polen etwas
ab, was wir als Gasblasen oder Niederschlag (galvanisches Ver-
fahren) wahrnehmen können. Das, was wir hier als Zersetzung be-
zeichnen, ist aber in Wahrheit etwas ganz Anderes. Denn eine Zer-
setzung würde eine Auseinanderfällung der Moleküle in verschiedene
Bestandteile bedeuten, und es mĂĽrste der elektrische Strom eine ganz
bestimmte, berechenbare elektromotorische Kraft („Gefälle*4 oder
Spannung) haben, ehe er dazu fähig ist In der Tat tritt die Er-
scheinung sohon lange vor der berechneten Spannung ein, wie Herr
Prof. Kohl rausch nachgewiesen hat
Wir sind also zu der Annahme gezwungen, dafs sich in der
FlĂĽssigkeit freie getrennte Teilohen sohon vorfinden, dafs dieselbe,
wie man sich hier ausdrückt, „dissociiert* ist. Diese Teilohen
haben teils positive, teils negative Ladungen, je nach der Art der
FlĂĽssigkeit, und werden infolgedessen von den Polen angezogen, wenn
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diese geladen sind. Sie wandern nach den Polen hin durch die
FlĂĽssigkeit, geben ihre Ladungen dort ab und werden als neutrale
Körper abgeschieden.
Durch geschickte Versuche hat Kohlrausoh und andere die
Geschwindigkeit dieser sogenannten „Ionen" festgestellt und gefunden,
dafs sie von der Natur des Elektrolyts und von der Konzentration
der Lösung abhängt. (Die Gröfsenordnung der Geschwindigkeit ist
hunderttausendstel Gentimeter in einer Sekunde.) — Es ist nun inter-
essant, festzustellen, eine wie grofse Elektrizitätsmenge ein solches
Elektron mitfĂĽhrt. Nehmen wir an, dafs in einem GasmolekĂĽl, welches
nur aus einem Atom besteht, ein freies Elektron enthalten sei, und
kennen wir die Anzahl der in einem Kubikoentimeter enthaltenen
MolekĂĽle dieses Gases (eine Zahl, die Lossohmidt berechnet hat),
so berechnet sioh die gesuchte Ladung in einfacher Weise. Es er-
gibt sich eine Zahl, die zeigt, dafs wir es hier mit einer Elektrizitäts-
menge zu tun haben, die auf eine ihr gleiohe in der Entfernung von
1 cm eine Anziehung, bezw. Abstofsung ausĂĽbt, die einer Kraft von
10 Grammgewioht nahe kommt (10 — 1Q ao — ein Hundertqua-
drillionstel).
Durch Betrachtungen, die man über das Verhältnis der Ladung
eines Wasserstoffatoms zu seiner Masse angestellt hat, hat man ge-
funden, dafs ein Elektron den zweitausendsten Teil eines Waaserstoff-
atoms ausmacht. Die physikalische Chemie berechnet nun das Ge-
wicht eines solchen Wasserstonatoms zu:
8, 3X10"* Gramm,
also wĂĽrde ein negatives Elektron ca. 4 X10-88 Gramm wiegen. Eine
ähnliohe Zahl fand To wn send für die Masse der bei dem Phänomen
der „Kathodenstrahlung* ausgesandten Teilchen:
3X10"5* 2)
Dies fĂĽhrt uns auf einen neuen Abschnitt unserer Betrachtung,
nämlich auf das Gebiet der Kath od en-, Röntgen- und Beoquerel-
schen Strahlen und den sogenannten Photoelektrischen Effekt,
d. h. den Ladungsverlust von negativ geladenen Körpern beim Be-
strahlen mit ultraviolettem Licht, lauter Erscheinungen, die, im Laufe
*) Es ist wahrscheinlich, dafs der „Geruch" eines Körpers auf der Aus-
eendung solcher Teilchen beruht. Wegen der Kleinheit derselben kann man
einen Gewichtsverlust nicht konstatieren. Die feinste Wage zeigt nicht mehr
als 10~* Gramm an.
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der letzten Jahrzehnte entdeckt, für die Praxis von gröfster Wichtig-
keit sind, und deren Erklärung allen älteren Theorien die gröfsten
Schwierigkeiten bereitet hat.
In einem zugesohmolzenen und stark luftleer gemachten Glas-
rohr (Röntgenrohr), durch das man mittelst eingeschmolzener Metall-
drähte einen Strom sendet, fangen bei etwa Viooo mm Druck (natür-
licher Luftdruok = 1 Atmosphäre = 760 mm Quecksilber) vom nega-
tiven Pol (Kathode) an Strahlen auszugehen, die das Glas da, wo sie
es treffen, zu hellem, grĂĽnlichem Leuohten bringen. Diese Strahlen
selbst sind vollkommen unsichtbar, sie lassen den ĂĽbrigen Teil
der Röhre dunkel, während sie nur ganz nahe um die Kathode herum
ein schwaches Leuchten hervorbringen, welches von der Zerstäubung
der Metalloberfläche herrührt Man nennt die so charakterisierten
dunklen Strahlen Kathodenstrahlen, das Leuchten an der
Kathode Kathodenlicht, die von der getroffenen leuohtenden Stelle des
Glases ausgehenden unsichtbaren Strahlen Röntgenstrahlen. Wie
man aus Ablenkungsbeobaohtungen mit Magneten, aus Untersuchung
der Ladungen, Betrachtung der Geschwindigkeit und vielem anderem
erkannt hat, hat man sich diese Kathodenstrahlen als kleine Massen-
teilchen vorzustellen, die in allen StĂĽcken den vorher beschriebenen
Elektronen gleichen. Ihre Ladung ist von derselben Größenordnung
wie die vorher berechnete der Elektronen, ihre Geschwindigkeit ist
1 3— Vg d«r Lichtgeschwindigkeit (die Geschwindigkeit des Liohts be-
trägt 300000 km in der Sekunde). Ein solches auf einen festen
Körper, z. B. Glas, auffliegendes Teilohen mufs mit explosionsartiger
Geschwindigkeit eine heftige Störung im umgebenden Lichtäther
(= Elektrische oder Lichtwelle) erzeugen, genau wie eine Pistolen-
kugel, welche auf eine Mauer auftrifft, eine Schallwelle auslöst, die
wir physiologisch als „Knall" empfinden. Die eben erwähnten Röntgen-
strahlen scheinen sich in Bezug auf die Liohtwellen und die elektrischen
Wellen, & h. die regelmäßig verlaufenden Ätherstörungen, wie ein
Knall zu einer Harmonie zu verhalten, d. h. sie scheinen eine Art
Mischungswelle darzustellen, in der vor allem die schnellsten Schwin-
gungen (ultraviolett u. s. w.) sehr stark vertreten sind. Das Medium der
Fortpflanzung ist hier nicht die Luft, sondern, wie schon gesagt, der
Lichtäther, den wir als eine für unsere Begriffe annähernd reibungs-
lose und vollkommen elastische FlĂĽssigkeit anzusehen haben. FĂĽr
die Möglichkeit des ausgeführten Vergleichs spricht auoh der Umstand*
dafs das Glas sich an der Stelle, wo die Röntgenstrahlen ausgehen,
sehr stark erhitzt Ein schlagender Beweis fĂĽr die Richtigkeit der
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neuen Annahmen der Elektronentheorie ist z. B. auch der kĂĽrzlich im
hiesigen physikalischen Institut von Herrn Leithäuser beobachtete
Umstand, dafs die Kathodenstrahlen beim Durchdringen sehr dĂĽnner
Metallbleche einen merklichen Geschwindigkeitsverlust er-
leiden, sowie der von Herrn Gehrke erbrachte Nachweis, dafs die
Kathodenstrahlen bei der Reflexion an Metalloberflächen ebenfalls an
Geschwindigkeit einbüTsen (vermutlich weil sie in die Oberfläche des
Metalles vermöge ihrer grofsen Geschwindigkeit und der selbst bei
hoher Politur verhältnismäfsigen Rauheit der Fläche eindringen).
Verwandt mit den Kathodenstrahlen ist die Erscheinung der Bec-
querels trah len. Es sind Strahlen, oder vielmehr kleine unsichtbare
Teilchen, die ohne Zutun3) von Uran- und Radiumpräparaten aus-
geben, in schwächerem Mafse auch von Wismut und anderen Körpern,
wenn man sie geeignet behandelt, und dieselben Eigenschaften haben,
wie die Kathodenstrahlen, sowohl was Geschwindigkeit, als was Ablenk-
barkeit, Ladung u. s. w. betrifft. Auch sie durchdringen Metallbleche.
Prof. Kaufmann und Prof. Abraham haben, der erste praktisch,
der zweite theoretisch gefunden, dafs die Masse der Elektronen, die
hier ins Spiel kommen, nur eine scheinbare ist und uns durch
elektrodynamische Effekte (Anziehung und Abstofsung) vorgetäuscht
wird, woraus man den Schlufs gezogen hat, dafs jede Masse wahr-
scheinlich nur eine Täuschung sei, da wir sie nur durch die Effekte
der Massenanziehung erkennen können, und diese »Gravitation" doch
auch nichts anderes sein kann als ein elektrodynamischer Effekt, zu-
mal sie nach denselben Anziehungsgesetzen wirkt. (Das Ge-
wicht ist die Massenanziehung durch die Masse der Erde.) Man kann
einwenden:
Aber warum findet sich nirgends in der Natur eine abstofsende
„Gravitation", warum stofsen sich zwei neutrale Körper niemals ab?
Der Einwand ist berechtigt und mufs so lange bestehen bleiben, als
man nicht nachgewiesen hat, dafs die Anziehung zwischen ungleich
geladenen Elektronen immer etwas gröfser ist als die Abstofsung
zwischen gleich geladenen, woraus sich dann immer ein Ăśberschufs
an Anziehung ergeben würde, wenn man zwei „neutrale" Körper
einander nähert. Sobald dies Experiment existiert und glaubwürdig
ausgefĂĽhrt ist, ist die Elektronentheorie keine blofse Theorie mehr,
3) Wir können nicht wissen, wieviel Energie in einem solchen Präparat
bei seiner Herstellung aufgespeichert wird. Es kann sehr viel sein, und auch,
wenn os wenig wäre, raüfste es sehr lange hinreichen, da die zur Emission
der Teilc hen erforderliche Energie unendlich klein ist.
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sondern ihre Hypothesen fallen unter die Kategorie der nachgewiesenen
Tatsachen. Aber bis jetzt existiert das Experiment noch nicht.
Noch eine Tatsache mag angefĂĽhrt sein, die sich fĂĽr die vorge-
tragene Theorie ins Feld führen läfst, und nach deren Besprechung
ich den Grund angeben möchte, warum die Theorie annimmt, dafs in
den Körpern nur negative freie Elektronen vorhanden sind, nicht
aber positive. Lenard hat gezeigt, dafs durch Bestrahlung einer
Metalloberfläche mit ultraviolettem Licht, welches z. B. im Bogen-
laropenlicht sehr reichlich vertreten ist, die Elektronen der Metalle in
so starkes Mitschwingen (Resonanz) versetzt werden, dafs sie mit
grofser Geschwindigkeit von der Oberfläche fortfliegen und dann ein
ganz ähnliches Verhalten zeigen wie die gewöhnlichen Kathodenstrahlen.
Betrachten wir endlich den eigentĂĽmlichen Umstand, dafs jedes Gas,
welches im natürlichen Zustande isoliert, beim Bestrahlen mit Röntgen-
strahlen oder ultraviolettem Licht, oder auch oft dadurch, dafs wir es
stark erhitzen, leitend wird, so ergibt sich daraus, dafs wir diese experi-
mentellen Resultate nur erklären können, wenn wir annehmen, dafs in
dem Gase, in dem Metalle frei bewegliche Teilchen vorhanden sind,
welche eine gewisse Ladung beherbergen. Aus dem Verhalten der
Teilchen geht hervor, dafs wir es hier größtenteils mit negativen
Elektronen zu tun haben (bei Metallen ausschlieĂźlich; bei Gasen sind
die positiven Teilchen, aber nicht die Elektronen, sondern die Ionen,
die selbst ein Konglomerat von Etektronen sind, auch beweglich). Haben
wir z. B. ein Gas, dessen Molekül nur ein Atom enthält, z. B. Queck-
silberdampf, so haben wir in demselben (1.) freie negative Elektronen,
(2.) die naoh Abspaltung dieser Elektronen noch ĂĽbrig bleibenden
Atorareste mit positiver Ladung, zwei Gröfsen, die sich, wie wir sahen,
bei Wasserstoff in Bezug auf ihre Gröfse wie 0,5:1000 verhalten.
Auch sonst kommt man allgemein bei DurchfĂĽhrung der Theorie zu
dem Resultat, dafs nur negative Elektronen frei vorkommen, während
die positiven stets an den Rest des Atoms gebunden sind, was auch
zu der Annahme gefĂĽhrt hat, dafs wir eigentlich nur eine Art von
Elektronen haben, eine Anschauung, die aber in neuester Zeit noch
nicht bearbeitet ist und wohl auch nur formelle Bedeutung hat loh
fĂĽhrte schon an, dafs auf Grund der an Kathodenstrahlen gemachten
Beobachtungen angenommen wird, dafs wir es bei allen Körpern
ebenso wie bei den Elektronen nur mit scheinbarer Masse zu tun
haben.
Wenn das der Fall ist, so mĂĽssen wir ohne weiteres die Vor-
aussetzungen der Mechanik aus unseren Annahmen ĂĽber die Konsti-
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tution der Materie ableiten können. Es wäre dann das erreicht, was
die theoretische Physik erreiohen will, ihr höchstes Ideal, alle Beob-
achtungen der ganzen Physik auf eine gemeinsame Grundbeobaohtung,
ein Urbewegungsphänomen zurückgeführt zu haben. Das einzige,
was uns heute noch daran hindert, ist das Fehlen des Experimentes,
von dem ich vorhin sprach.
loh möohte der Vollständigkeit halber, obgleioh es nicht in den
Rahmen dieses Aufsatzes hinein gehört, nicht unterlassen, auf ein
Gebiet hinzuweisen, auf dem die Elektronentheorie ebenfalls glänzende
Erfolge erzielt hat, nämlich auf das Gebiet der Optik. Es ist nachge-
wiesen worden, dafs sämtliche Dispersions- und Absorptionserscbei-
nungen auf die Mitschwingungen (Resonanzen) der negativen Elektronen
in den Substanzen zurĂĽckzufĂĽhren sind. Es ist ja bekannt, dafs man
das Licht ansieht als eine schnelle, periodische Bewegung des Lichtäthers
in der Form von tranversalen Wellen, etwa entsprechend den Wasser-
wellen. (Die Länge einer Welle im roten Teil des Spektrums beträgt
J jjjj- mm, im ultravioletten Teil mm <). Trifft nun eine solohe
Wellenbewegung ein Atom, welches selbst von Ă„ther durchdrungen
ist, und in welchem ein Elektron schwingt, so wird die Ă„therwelle
nioht durchgelassen werden, wenn das Elektron dieselbe Schwingungs-
dauer hat wie die Welle; denn dann wird es durch die Bewegung
des Ă„thers selbst in starkes Mitschwingen versetzt werden, die Energie
der Ă„therschwingung wird dabei verbraucht, die Ă„therwelle wird,
wie man zu sagen pflegt, absorbiert. Dafs dies keine blofse Behaup-
tung ist, wird z. B. durch die einfache Beobachtung belegt, dafs ein
Körper immer die Wellenlänge (Lichtsorte) absorbiert, die er aus-
sendet. Hat man zwei mit lichtloser Flamme brennende Gasbrenner,
sogenannte Bunsenbrenner, von denen der eine eine grofse flache,
der andere eine kegelförmige kleine Flamme erzeugt (verschiedene
Formen der Ă–ffnung), und sorgt man durch eine geeignete Vorrich-
tung dafür, dafs beiden Flammen die gleiohe Quantität Natrium oder
Kochsalz (Natriumchlorid) fortwährend zugeführt wird, so werden beide
mit schön gelb gefärbter Flamme brennen, die grofse natürlich heller
als die kleine. Betrachtet man nun die grofse Flamme, indem man
durch die kleine hindurch auf sie blickt, so sieht die kleine Flamme
wie ein dunkler Fleck auf hellem Grunde aus. Nach dem oben ge-
sagten kommt dies daher, dafs die kleine Flamme das Licht der
*) Elektrische Wellen haben denselben Charakter, sind aber nicht sicht-
bar. Ihre Länge beträgt 6 mm bis zu mehreren Kilometern.
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groben, da es dieselbe Wellenlänge hat wie das, welches sie selbst
aussendet, absorbiert, und in das Auge des Beobachters nur das viel
schwächere Licht der kloinen Flamme gelangt. Infolgedessen sieht
diese durch Kontrastwirkung wie ein dunkler Fleck auf der hellen,
rings um sie herum sichtbaren Liohtebene des Flaohbrenners aus.
Dies Experiment stammt von Bunsen. — Die Farbe eines Körpers ist
also bedingt durch die Eigenschwingung (eigentĂĽmliche Periode) seiner
Elektronen, und es soheint nach neueren Untersuchungen der höchst
merkwĂĽrdige Zusammenhang zu bestehen, dafs von Natur dunklere
Körper spezifisch schwerer sind als hellere (die Untersuchungen sind
für mehrere Klassen durchsichtiger Körper durchgeführt worden), —
wieder ein Zusammenhang zwischen Masse und Elektronenbewegung.
Eis wĂĽrde viel zu weit fĂĽhren, auf die zahlreichen Experimente, die
in allerneuester Zeit auf diesem Gebiete gemaoht worden sind, einzu-
gehen, es sollte eben nur auf das Gebiet der Optik in ihrem Verhältnis
zur Elektronentheorie ein kurzer Blick geworfen werden.
Fassen wir zum Schluss nooh einmal alles zusammen, was uns
die neue Theorie sagt:
Alle Körper bestehen aus kleinsten, allein existenzfähigen Teilohen,
den MolekĂĽlen; diese wieder sind ein Konglomerat von Atomen, und
diese endlich sind aufgebaut aus einem Weltsystem von positiven und
negativen Elektronen, von welchen letzteren einzelne frei beweglich
sind. Alle Bewegungen dieser Elektronen finden in einem ĂĽberaus
feinen und „dünnflüssigen« Medium statt, dem Liohtäther, und alle
Einwirkungen aufeinander werden durch diesen ĂĽbertragen. Wir
haben also die Lichtschwingungen als Bewegungen des Ă„thers, der
durch die Elektronen in Bewegung versetzt ist, zu betraohten, die
elektrischen Vorgänge teils ebenfalls als Bewegungen dieses Äthers
(elektrische Wellen), teils aber als Bewegungen der Elektronen selbst
aufzufassen. Auch die Massenanziehung, Trägheit und die mecha-
nischen Voraussetzungen lassen sioh höohst wahrscheinlich mit der
vorliegenden Theorie erklären, und es wird zweifellos in nicht
ferner Zeit an der Hand verfeinerter experimenteller Hilfsmittel der
Nachweis fĂĽr die Richtigkeit dieser Behauptung erbracht werden.
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Unter den Kirgisen.
Von A. Ssolowjew in Petersburg.
ohl ein jedes Volk auf Erden freut sich auf den FrĂĽhling, die
Zeit des Wiedererwachens der Natur, die Zeit des Gesanges
der Nachtigall und die Zeit der Liebe; aber wohl kein Volk
auf Erden erwartet den FrĂĽhling mit solcher Ungeduld und begrĂĽfst
ihn mit solcher Begeisterung wie die Kirgisen. Mit dem Winter er-
reicht fĂĽr den Kirgisen die Zeit von Entbehrungen der mannigfaltigsten
Art ihr Ende: die Zeit des Hungerns, der Engigkeit in den HĂĽtten, des
Gestankes und Schmutzes in den elenden Winterwohnungen, die Zeit
der immerwährenden Furcht, infolge plötzlich eintretender Naturereig-
nisse, wie Schnee, Glatteis u. s. w., ein Bettler zu werden.
Wenn die ersten Strahlen der jungen FrĂĽhlingssonne warm und
belebend ĂĽber die unermefsliche Steppe gleiten und das zarte GrĂĽn
des saftigen Grases hervorspriefst, so erfĂĽllt sich das Herz des aus-
gehungerten Nomaden mit neuen Hoffnungen, denn das Gras dient
dem unzähligen Vieh des Kirgisen als ausschliefsliche Nahrung und
spielt daher die wichtigste Rolle.
Kaum hat die Sonne den Schnee der Steppe geschmolzen und das
Erdreich getrocknet, so verläfst auch schon der Kirgise seinen Winter-
wohnsitz und schlägt irgendwo in der Nähe desselben seine Jurte auf.
Das eigentliche Nomadenleben kann jetzt allerdings noch nicht seinen
Anfang nehmen, da die zahlreichen kleinen FlĂĽfschen und Vertiefungen
mit dem Wasser des geschmolzenen Schnees die Steppe weithin
überschwemmen und sie so dem Vieh unzugänglich machen. Es ist
also erforderlich, in der Nähe der Überwinterungsplätze bis zum voll-
ständigen Abfliefsen des Wassere zu bleiben, was gewöhnlich bis
Mitte Mai dauert. Dann erst kann das wirkliche Nomadenleben seinen
Anfang nehmen, und die Kirgisen feiern den Beginn desselben volle
drei Tage durch ein Fest. „Kurbat aif genannt Da dieses Fest
einen charakteristischen Wendepunkt im Leben der Kirgisen darstellt,
ein Fest des höchsten Glückes und der Freude über die Befreiung
aus der Gefangenschaft des Winters bedeutet, so wollen wir dasselbe
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zum Ausgangspunkt unserer Schilderungen nehmen und uns im
Geiste auf die Steppe begeben, um dort das Leben und Treiben der
Kirgisen während eines Jahres von diesem Augenbliok an bis zum
Winter zu beobachten.
Am Tage des Beginns des Nomadenlebens reitet ein Teil der
männlichen Jugend vorauf zu den Viehhirten, um das sich langsam
vorwärts bewegende Vieh auf den Weg zu treiben, welchen der Aul
einzuschlagen beabsichtigt. Um dieselbe Zeit reifsen die Frauen in
aller Eile die Jurten ab, schnĂĽren das Hab und Gut in BĂĽndel und
Packen zusammen, laden es auf die Kamele und bepacken die von
letzteren gezogenen Arben. Gegen 9— 10 Uhr morgens setzt sich der
Aul in Bewegung. Die Männer und Frauen haben ihre schönsten
Kleider angezogen und den Pferden sind die schönsten Sättel und das
beste Zaumzeug angelegt Voran reiten die Greise des Auls, Ackesa-
kalü (Weifsbärte) genannt, dann folgt die Viehherde, hinter derselben
zu Pferde die männliche Bevölkerung des Auls und hinter dieser ein
ebensolcher Trofs von Frauen. Noch weiter hinten folgt das Zugvieh,
während die Arbeiter den Zug beschließen. Zu beiden Seiten des
Weges reitet die weibliche Jugend in ungezwungener Fröhlichkeit
einher (Figur 1). Die gesohmĂĽckten Reiter und Reiterinnen in ihren
phantastischen KostĂĽmen, die ĂĽbermĂĽtige, scherztreibende Jugend, die
lange Kette der beladenen Kamele, — dies alles gewährt unter den
lachenden Strahlen der Sonne, dem Schimmer des smaragdgrĂĽnen
Grases der ĂĽppigen Steppen Vegetation ein eigenartiges, originelles
und höchst malerisches Bild. Der Zug bewegt sich langsam vorwärts,
aber alle sind fröhlich, alle sind begeistert, singen Lieder, treiben
Scherze und jagen auf ihren wilden, mutigen und schnellen Pferden
einher, die sie trefflich zu lenken wissen.
Irgendwo am Ufer eines FlĂĽfschens, eines SĂĽfswasser-Sees oder
auch einfach an einer Vertiefung, welche eine genĂĽgende Menge ge-
schmolzenen Schneewassers enthält, macht der Aul Halt, Die Lasten
werden von den Tieren abgeladen, die Jurten aufgeschlagen, und die
Vorbereitungen zum Festschmaus getroffen.
Dieser Augenblick ist am geeignetsten dazu, um uns den Sommer-
aufenthaltsort des Kirgisen, die Jurte, etwas genauer anzusehen. Nach-
dem die Lasttiere entladen sind, schlagen die Frauen auf dem ausge-
wählten Platze zuerst das hölzerne Gerüst der Jurte auf. Der Durch-
messer desselben beträgt etwa 6 — 8 Meter, die Höhe 4—6 Meter. Die
Teile dieses Skelettes sind in Figur 2 ersichtlich. Jeder einzelne
Teil hat seine eigene Benennung und seine ganz besondere Bestim-
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mung. Der niedrige Teil des Skelettes der Jurte wird, wie dies eben-
falls aus unserer Abbildung- ersichtlich ist, mit einer dicken Bastmatte
umwickelt, welohe aus einer Steppenpflanze, der Lasiagrostis splendens,
von den Kirgisen Tschia genannt, eigenartig zubereitet ist. Weiter-
hin wird das ganze Skelett der Jurte mit Ausnahme des oberen
Kreises mit langen Filzmatten dergestalt umgeben, dafs der nächst-
höhere Teil dieser Filze den nächstniedrigeren Teil überragt. Der
obere frei gebliebene Teil, Tschan garak genannt, dient dazu, um
Fig. 1. Kirgisinnen zu Pferde.
Licht in die Jurte einfallen zu lassen; er besteht aus einem Kreuze
von nach oben gebogenen Leisten. Auf diesen Tschangarak wird nun
ein besonders grofser quadratförmiger Filz straff angezogen, der den
Namen Tunduk fĂĽhrt. An den vier Enden dieses Tunduks sind
Stricke befestigt, welche in das Innere der Jurte hineinreichen. Je
nachdem nun an dem einen oder anderen Ende gezogen wird, kann
man einen Teil des Tunduks beliebig nach der einen oder anderen
Seite umklappen, wodurch eine Ă–ffnung entsteht, welche eine ge-
nügende Menge Licht in die Jurte einfallen läfst.
Diese Ă–ffnung dient auch als Abzug fĂĽr den Rauch, wenn
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im Inneren der Jurte Feuer angezĂĽndet wird. Unsere besondere Auf-
merksamkeit verdient ferner der sogenannte Djilbau, welcher aus
zwei starken wollenen Stricken besteht, die, oben am Tschangarak
befestigt, bis an den Fufsboden reichen, und aus einem Pfahl,
welcher in der Mitte der Jurte fest in die Erde eingeschlagen ist.
Während eines heftigen Windes werden die Strioke fest angezogen
und am Pfahl befestigt, wodurch die Jurte eine grofse Widerstands-
fähigkeit erhält
Durch die Zweckmäfsigkeit und die kluge, sachgemäfse Anord-
nung der einzelnen Teile sowie ĂĽberhaupt aller Einrichtungen der
Fig. 2. Hölzernes Skelett der Jurte,
Jurte, welohe im Laufe von Jahrhunderten von den Leuten auf ihre
Brauchbarkeit geprĂĽft und vervollkommnet wurden, werden wir ge-
radezu in Staunen gesetzt. Ein gutes, an eine Arbe gespanntes Kamel
kann das ganze bewegliche Haus des Kirgisen, welches seine zahl-
reiche Familie beherbergt, mit Leichtigkeit fortschaffen. Die Filzteile
werden dem Kamel auf den Rücken gepackt, während die hölzernen
Teile auf die von demselben Kamel gezogene Arbe geladen werden.
Bei aller dieser Transportabilität, die bei dem nomadisierenden
Kirgisen eine so wichtige Rolle spielt, ist die Jurte auch dauer-
haft. In der ganzen Einrichtung rindet sich kein StĂĽck Holz, welches
stärker als 10 cm wäre, aber wie stark der Sturm, der über die
Steppe streicht, auch sein möge, die Jurte widersteht Im Innern der
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Jurte drĂĽokt der Djilbau dieselbe fest zur Erde, und von der Seite
und von oben ist die Jurte fest von Stricken und Wollstreifen um-
geben. Das zarte GerĂĽst der Jurte kracht, biegt sich zur Erde, aber
infolge der Elastizität der einzelnen Teile bricht es niemals. Die die
Jurte umgebenden Filzmatten sind so geschickt ĂĽbereinander ange-
ordnet, dafs weder Wind noch Regen in die Jurte eindringen können,
solange die einzelnen Filzteile heil sind.
Der Tunduk ist ohne jedes Glas und Rahmen, und dooh gibt
er soviel Licht, als man nur nötig hat, und zwar von der besten Seite,
nämlich von oben. Indem man bald von der einen, bald von der
anderen Seite des Tunduks zieht, kann man das Licht immer von der
Schattenseite erhalten.
Die Jurte läfst sich sehr schnell aufbauen; drei Frauen schaffen
diese Arbeit im Zeitraum von anderthalb Stunden. Die Jurten der
reichen Kirgisen sind sehr hĂĽbsch. Die sie bedeckenden Filze sind
von weifser Farbe und an den Rändern mit scharfsinnigen Mustern
von darauf genähten Ausschnitten aus schwarzem, rotem und blauem
Tuch geschmĂĽckt. Die aus Wolle und Pferdehaaren zubereiteten
Stricke und Streifen sind an den Enden mit Quasten verziert und
mit den verschiedenartigsten Farben bemalt. Die hölzernen Teile sind
mit gelbliohem und rötlichem Ocker, der aus gewissen Steppenpflanzen
gewonnen wird, bemalt Ganz besonderen Wert legen jedoch die
Kirgisen auf die innere Ausstattung der Jurte. Der Eingang zu der-
selben wird gewöhnlich durch einen schmalen Filzstreifen, der die
Form einer TĂĽr hat und mit irgend einem Muster verziert ist, ge-
schlossen. Mit ebensolchen gemusterten Filzen und Teppichen, letzteres
jedoch nur bei besonders reichen Kirgisen, wird auch der FuĂźboden
der Jurte ausgelegt.
In der Anordnung der Habseligkeiten und des Hausrats im
Innern der Jurte herrscht eine geheiligte, althergebrachte Ordnung.
An der dem Eingange gegenĂĽber liegenden Wand sind auf kleinen
Untergestellen Kisten, Kasten und Schatullen aufgestellt, welche die
verschiedenen Sachen des Kirgisen und die Mitgift fĂĽr die Braut ent-
halten. Vor dieser Wand von Kisten und Koffern werden besonders
schöne Filzdecken und Teppiche ausgebreitet. Ein Überflurs an Kisten,
Filzdecken und Teppichen zeugt vom Reichtum des Besitzers und
macht dessen Stolz aus. Diese Stelle ist auch der Ehrenplatz fĂĽr den
Gast, denn hier lüfst der gastfreundliche Kirgise seine Ehrengäste Platz
nehmen, indem er sie mit Kumys bewirtet. Einen solchen Augenblick
stellt unser Bild (Fig. 3) dar; im Hintergrund befinden sich die Koffer,
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353
davor die Gäste auf dem Ehrenplatze. Wenn der Hausherr seine
Gäste hierher einladet, sagt er mit einer entsprechenden Handbewe-
gung: „Tjör tschegenys*4, oder „djiaugery tschegenys", was
in deutscher Übersetzung etwa heifst: „Wollen Sie die Liebens-
würdigkeit haben, Platz zu nehmen" oder „Kommen Sie etwas höher
herauf-. Dies ist nach kirgisischen Begriffen die höchste Ehre, die
er einem Gaste zuteil werden lassen kann.
Noch näher der Tür zu, in der Mitte der Jurte, befindet sich
der Herd, „Otbassü" genannt Derselbe besteht aus einer kleinen
Verliefung in der Erde, in welcher das Feuer angemacht und worĂĽber
Fig. 3. Bewirtung der Gäste mit Kumys in einer kirgisischen Jurte.
der Dreifufs fĂĽr den Kessel gestellt wird, in welchem Milch gekocht
und Hammelfleisch zubereitet wird. Hier haben auch die TeegefäTse
u. s. w. ihren Platz.
Jetzt wollen wir einmal die Seiten der Jurte in Augenschein
nehmen. Rechts von der TĂĽr ist ein kleiner Platz abgeteilt durch eine
Scheidewand aus der schon erwähnten Pflanze Tschia. Dieser Ver-
schlag entspricht etwa unserer Vorratskammer. Hier werden Fleisch.
Eimer und ferner der Ssaba aufbewahrt, ein Sack aus Leder, der
zum Zubereiten des Kumys dient. Anfserdem befindet sich hier eine
Etagere, auf welcher verschiedenes Geschirr steht; verschiedene fettige
Efswaren werden hier ebenfalls aufbewahrt. Weiter nach hinten be-
findet sich zwischen der Vorratskammer und den Koffern das Schlaf-
zimmer der Wirtsleute, welches meist nur aus einem Bettirestell mit Bett
und Kissen besteht Bei den reichen Kirgisen ist dieser Raum durch
Himmel und Erde. 1903. XV. BL 23
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einen besonderen Vorhang abgeteilt FĂĽr den Wirt und die Wirtin
ist der Platz in der Jurte vor dem Bett Auf unserer Abbildung (Fig. 3>
steht die Wirtin vor dem Bett, welches hinten zum Teil sichtbar ist
Ein ebensolcher Platz auf der linken Seite ist fĂĽr die erwachsene
Tochter oder den erwachsenen Sohn bestimmt und wird gleichfalls
durch einen Vorhang abgeteilt
Der entsprechende Platz gegenĂĽber der Vorratskammer auf der
linken Seite ist für den Königsadler, den Lieblingshund und die kleinen
Kinder bestimmt.
Wie sich ein Ehrengast der TĂĽr gegenĂĽber setzt, so setzt sich
ein anderer Gast, ein Armer, Bittsteller u. 8. w., bescheiden links von
derselben. In der Einrichtung der Jurte haben zwei Teile eine be-
sondere Bedeutung — der Tschangarak und der Herd Otbassü.
Dieses sind geheiligte Teile, welche die Grundlage und den
Wohlstand der Familie symbolisieren. Beratungen jeder Art, Be-
urteilungen von Fragen, die sich auf das ganze Geschlecht beziehen,
u. s. w. gehen unter dem Schatten des „Ulkun Tschangarak", des
„väterliohen Tschangaraks14 vor sich, welcher von Geschlecht zu Ge-
schlecht geht wobei ihn der jĂĽngste Sohn erbt
Die Jurten der einzelnen Besitzer eines und desselben Geschlechts
werden gewöhnlich in der Nähe eines Wassers in Form eines grofsen
Halbkreises angelegt und bilden den sogenannten Aul, der nach
unseren Begriffen etwa einem Dorfe entspricht Ein Aul besteht
gröfstenteils aus 8—1*2 Jurten. Der Grund für diese verhältnismärsig
geringe Anzahl von Jurten ist darin zu suchon, dafs bei einer gröfse-
ren Menge einzelner Besitzer zuviel Vieh auf einem Fleck sein wĂĽrde.
Die Weideplätze der Umgebung würden infolgedessen zu schnell
abgegrast werden, wodurch die so umständlichen Nomadenzüge allzu
häufig erforderlich sein würden.
Wenden wir uns jetzt dem alltäglichen Leben der Kirgisen in
einem Sommer-Aul zu. Wir haben sie in dem Augenblicke verlassen,
als sie damit beschäftigt waren, die Vorbereitungen zum Festschmaus
zu treffen. Ein Hammel wird geschlachtet, dann macht man KĂĽgelchen
aus Teig, „Baurfsaki" genannt, die in Hammelfett gebraten werden,
und ferner „Airan", ein Getränk aus saurer, mit Wasser verdünnter
Kuhmilch. Das Lieblingsgetränk der Kirgisen ist der Kumys, ein
Getränk aus gesäuerter, gegorener Stutenmilch.
Wenn die Kirgisen des Nachbar-Auls, die schon frĂĽher ihre
Winterwohnungen verlassen haben, von diesen Vorbereitungen Kenntnis
erhalten haben, so kommen sie eingeladen oder auch uneingeladen
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355
zu Gaste, da sie einer herzlichen Aufnahme gewifs sind; denn erstens
sind die Kirgisen, wie alle Nomadenvölker, gastfreundlich, und diese
Sitte ist bei ihnen zur Pflicht geworden, und ferner kann der Kirgise,
wenn er seinen Nachbar reichlioh bewirtet hat, einer ebensolchen
Aufnahme von dessen Seite gewifs sein.
Der Aul ist voll von Volk und steckt voller Leben und Be-
wegung (siehe Figur 4). Man ifst Hammelfleisch, trinkt Airan und
Tee, welcher unter den Kirgisen in Form des sogenannten billigen
Ziegeltees stark verbreitet ist. Dann werden Lieder gesungen, wozu
auf der „Kobüs" und der „Dombra" gespielt wird. Die Kobü
Fig. 4. Vorbereitung tum Feiertag.
ist ein roh bearbeitetes Instrument in Form einer Mandoline mit
Saiten aus gedrehten Pferdehaaren. Man spielt darauf mit Bogen,
indem man das Instrument nicht gegen die Brust, sondern gegen
das Knie stĂĽtzt Die Dombra ist ein Instrument, welches die Form
einer zweisaitigen russischen Balalaika hat Von Zeit zu Zeit spen-
den die Zuhörer dem Sänger Beifall und versprechen ihm Geschenke.
Es geht nun ein Austausch von Neuigkeiten vor sich, und ferner
führt man Gespräche über Dinge, die im Leben des Kirgisen eine grofse
Rollo spielen, z. B. über die Heuernte, die grofsen .Jahrmärkte u. s. w.
Die ungezwungenste und herzlichste Fröhlichkeit herrscht in einem
solchen Aul oft bis zum frühen Morgen. Häusliche Belustigungen
solcher Art fangen gewöhnlich abends an. Wir nennen diese Be-
lustigungen häusliche im Gegensatz zu den grofsen Feierlichkeiten,
welche mehr den Charakter eines öffentlichen Festes tragen: Seelen-
messen, Hochzeiten u. e. w., wovon noch später die Rede sein wird.
•23*
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35*';
Der Feiertag ist zu Ende, die Gäste fort, und das alltägliche, wie
wir gewöhnlich sagen, das Leben der Arbeit tritt wieder in seine
Rcohte. Bei den Kirgisen trifft diese Bezeichnung jedoch nicht zu.
Wir werden bald sehen, <la(s der Kirgise sich sozusagen bei der
Natur in voller Pension befindet und ihm das zum Leben Notwendige
ohne MĂĽhe zufliefst.
Der Tag beginnt für den Aul ziemlich spät, die Frauen stehen
gegen 8 Uhr auf, während die Männer bis gegen 10 und 11 Uhr
schlafen. Die Frauen machen die Betten und bereiten alsdann das
FrĂĽhstĂĽck. Von \2 bis 1 Uhr werden die KĂĽhe, Schafe, Ziegen und
Pferde gemolken, die hierzu um diese Zeit von dem Hirten zusammen-
getrieben werden. Dieser Hirte ist ĂĽbrigens der einzige Mensch, der
im Aul mit Tagesanbruch aufsteht, um das Vieh auf die Weide
zu treiben.
Ein Mittagessen im eigentlichen Sinne, ein Zeitpunkt, an dem
sich die ganze Familie zu einem gemeinsamen Mahle versammelt, gibt
es bei den Kirgisen nicht. Man ifst zu den verschiedensten Tages-
zeiten, indem man sich etwas aus der Vorratskammer nimmt. WTeiter
vergeht der Tag damit, dafs die Frauen Airan und Kumys machen,
sowie aus der abgestandenen sauren Milch Butter bereiten. Der
RĂĽckstand dieser Ăźauren Milch wird ebenfalls nicht nutzlos fortgetan,
sondern man kocht daraus einen sauren Käse, „Kurf" genannt; ein
anderer Käse wird aus Schafmilch gewonnen, und wenn man ihn
etwas anders zubereitet, erhält man noch eine besondere Käseart, den
„Irimtschik". Wie wir gesehen haben, besorgt die Frau das Auf-
bauen und Abreifsen der Jurte, sie nährt die Kinder und sorgt für die
ganze Familie. Überhaupt liegen alle Arbeiten in den Händen der
Frau und zum Teil auch in denen der jĂĽngeren Familienmitglieder.
Die Männer betrachten die Arbeit als ihrer unwürdig und verbringen
die Zeit damit, sich gegenseitig zu besuchen oder einfach spazieren zu
reiten. Ferner besuchen sie die Jahrmärkte, um Vieh zu verkaufen,
und Einkäufe für ihren Haushalt zu machen. Dann suchen sie noch
einen geeigneten Platz für den nächsten Nomadenzug aus, und das
ist alles, was sie tun. Zu erwähnen ist noch, dafs die Herden von
Männern, gröfstenteils Arbeitern, gehütet werden. Ein solcher Hirt
und Arbeiter reitet gewöhnlich auf einem Ochsen in Begleitung des
unzertrennlichen Freundes der Hirten — seines Hundes (siehe
Figur 5). Der Ochse wird als Reittier bei den Kirgisen ĂĽberhaupt
nicht selten angetroffen. Das Titelbild (Figur (5) stellt einen kir-
gisischen Jäger dar.
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Abends melken die Frauen wiederum die KĂĽhe, Pferde, Schafe
und Ziegen und bereiten alsdann das Abendbrut. Die Kirgisen gehen
spät zu Bett. Nach dem Abendbrot werden noch lange Zeit Lieder
gesungen, dann erzählt man sich Märchen und plaudert, wobei man
um das im OtbassĂĽ, dem Herd, angezĂĽndete Feuer sitzt In solchen
Augenblicken des höchsten Vergnügens ruft der Kirgise auch wohl
die Worte aus: „arküm dagü chudau, otumyn bafsnun djiarülganfsünu,
was in deutscher Übersetzung ungefähr lautet: „Möge Gott gegen
jeden, der neben seinem Herd sitzt, gnädig sein'', womit er den
Wunsch ausdrĂĽckt, dafs anderen Leuten dasselbe GlĂĽck zuteil werden
möge, welches er selbst geniefst. Erst gegen Mitternacht herrscht
im Aul vollständige Ruhe. Die Hausfrau begibt sich zuletzt zu Betl,
nachdem sie vorher den Tundak sorgfältig geschlossen hat, damit
während der Nacht keine unreine Kraft in die Jurte eindringe. Vor
dem Schlafengehen ziehen sich alle ganz nackend aus und legen sich
so in das Bett, indem sie sich mit einer Decke zudecken.
Während des Sommers nährt sich der Kirgise hauptsächlich von
Tieren. Wie wir schon beiläußg erwähnt haben, besteht das Essen
Fig. V Ein kirgisischer Schafhirt
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358
der Kirgisen in verschiedenartigen Milchprodukten, Butter und Käse,
sowie in Fleisch. Als das schmackhafteste und am meisten geschätzte
Gericht gilt bei ihnen das Fleisch des Füllens; als höchste Leckerei
jedoch betrachten die Kirgisen das Fett. Einen grösseren Lecker-
bissen als Fett gibt es fĂĽr sie ĂĽberhaupt nicht, und wenn sie z. B.
auf die Süfsigkeit des Zuokers hinweisen wollen, so sagen sie: „Zucker
ist sĂĽfs wie Fett".
Von allen Getränken liebt der Kirgise am meisten den „Kumys":
er betrachtet ihn als ein heiliges Getränk und hält es für Sünde, etwas
davon auf die Erde zu giefsen. In der Tat ist auch der Kumys ein
äufserst schmackhaftes, leicht berauschendes und höchst nahrhaftes
Getränk. Durch den Gebrauch des Kumys nimmt das Körpergewicht
schnell zu, und sogar SohwindsĂĽchtige werden, wenn die Krankheit
noch nicht zu weit vorgeschritten ist, davon geheilt. Man sagt, dafs
der Kumys nirgends so gut als in der Kirgisensteppe sein soll,
was wohl weniger von der Art der Zubereitung als von der Be-
schaffenheit der kirgisischen Pferde und der Steppenvegetation
herrĂĽhrt. Die roichlichen und nahrhaften Speisen, die Neigung des
Kirgisen zu physischen VergnĂĽgungen, der freie Spielraum der sie
umgebenden unermefsliohen Steppe, die Sorglosigkeit um den folgen-
den Tag, das Fehlen jeder schweren Arbeit, alle die freudigen Er-
eignisse, die in diese Zeit des Nomadenlebens fallen, die gegenseitigen
Besuche der Mitglieder der verschiedenen Aule, dies alles macht es
uns verständlich, dafs der Frühling und der Anfang des Sommers für
den Kirgisen eine Kette von Feiertagen bildet.
Nachdem der Kirgise an dem von ihm ausgesuchten Orte etwa
zwei Wochen gelebt hat, in welcher Zeit vom Vieh die umliegenden
Weideplätze abgegrast sind, wandert er allmählich weiter, iudem er
sich erst von den Überwinterungsplätzen entfernt, um sich ihnen als-
dann von der entgegengesetzten Seite wieder zu nähern.
Jeder Stamm und jeder Aul hat seine ganz bestimmten Streoken,
auf denen die NomadenzĂĽge jahraus jahrein in derselben Reihen-
folge vor sich gehen. Die Länge einer solchen von den Nomaden
durchzogenen Strecke hängt von der Menge des vorhandenen Viehs
ab. Je gröfeer der Viehbestand ist, desto schneller sind die um-
liegenden Weideplätze abgegrast, und desto häufiger müssen alsdann
die NomadenzĂĽge vor sich gehen, wodurch die Ausdehnung derselben
bedingt wird. Ein bekannter reicher Kirgise am Flusse Nura, der
Sultan DchangĂĽr, durchwandert auf diese Weise jeden Sommer mehr
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:35t»
als 1000 kra. Die durchschnittliche Länge der von den Nomaden
durchzogenen Strecken schwankt zwischen 30 und 200 km.
Im Juli oder Anfang August wandert der Kirgise auf einem
solchen Nomadenzuge in die Nähe der Oberwinterungsplätze und fangt
an, Heu für den Winter zu mähen. Von jetzt ab beginnt die Zeit des
Leidens fĂĽr den Kirgisen. Bei der Arbeit der Heuernte helfen alle
Männer und Frauen nach Möglichkeit Bemerkenswert ist, dafs diese
Heuernten unter den Kirgisen mit jedem Jahre an Ausdehnung zu-
nehmen. Stellenweise gibt es sogar Mähmaschinen. Das Gras wird
nur am Ufer eines ausgetrockneten FluĂźbettes, eines Sees oder einer
Vertiefung gemäht, da wo es dicht und hooh steht und zum Mähen
nicht zu hart ist. An anderen Stellen läfet man das Gras als Winter-
weideplatz TĂĽr das Vieh stehen. Nachdem das Heu getrocknet ist,
schafft man dasselbe in die Überwinterungsplätze. Bis zum Herbst
selbst entfernen sich nun die Nomaden nicht mehr von den Winter-
wohnungen, aber andererseits meiden sie es auch sorgsam, sich mit
dem Vieh diesen Plätzen zu sehr zu nähern, um die Weideplätze in
der Umgebung fĂĽr den Winter in einem guten Zustande zu erhalten.
Aber ehe wir zu dem dĂĽsteren und traurigen Leben der Kirgisen
im Winter ĂĽbergehen, wollen wir nooh einige gemeinschaftliche Feste
und Ereignisse näher berühren, welche eine Abwechslung in das ge-
schilderte alltägliche, häusliohe Leben bringen. Hierzu gehören die
Sitzungen der kirgisischen Volksrichter, der Bij, und die der Vor-
steher der Woloste. In administrativer Hinsicht zerfällt der von uns
betrachtete Teil der Kirgisensteppe in Aule und Woloste. Ein
administrativer Aul besteht aus 100 — 200 Jurten. Die Leitung
desselben liegt in den Händen eines von dem Aul gewählten Ältesten.
Mehrere solcher Aule, etwa 1000— 2000 Jurten, bilden einen Wolostj,
welcher von einem ebenfalls gewählten Wolostj- Vorsteher geleitet
wird. Die vom Volke auf je drei Jahre gewählten Richter — Bij
genannt — entscheiden kleinere Streitigkeiten naoh den im Volke
herrschenden Sitten. Schwerere Fälle werden in den russischen Ge-
richten nach russischen Gesetzen abgeurteilt. Auf die näheren Einzel-
heiten dieser Einrichtungen einzugehen, verlohnt nicht der MĂĽhe, da
dieselben keine oharakteristisohe Seite im Leben des kirgisischen
Volkes bilden.
Um auf alle interessanten Einzelheiten der kirgisischen Ehe ein-
zugehen, fehlt es uns an Raum. In KĂĽrze wollen wir jedoch fol-
gendes hervorheben: Die Ehen werden bei den Kirgisen gewöhnlich
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sehr früh geschlossen. Die Mädchen werden meist zwischen 13
und 15 Jahren verheiratet; ausnahmsweise kommen jedoch auch
Fälle vor, in welchen die Ehen noch früher geschlossen werden.
Für die Braut mufs der Bräutigam ein Lösegeld bezahlen, den soge-
nannten Kalym, welcher aus etwa 37—47 Stück Grofsvieh besteht.
Bei den reichen Kirgisen ist dieses Lösegeld entsprechend höher, bei
den armen geringer. Dieser Kalym und ferner die Geschenke, welche
der Bräutigam den Verwandten seiner Braut zu machen verpflichtet
ist, werden einigerraafsen durch die Mitgift der Braut ausgeglichen.
Der Kirgise hat das Hecht, mehrere Frauen zu haben, was jedoch
nur sehr selten vorkommt, vielleicht der Mitgift oder des häuslichen
Friedens wegen.
Der Bräutigam hat lange vor der Hochzeit Zusammenkünfte mit der
Braut (Titelbild, Figur 7,. Was der FrĂĽhling fĂĽr den Aul bedeutet,
das bedeutet die Zeit des Brautstandes fĂĽr den einzelnen Kirgisen. Dieses
ist für ihn die glänzendste und schönste Zeit, die stets den Höhepunkt
seines Lebens bildet. Auf seinem schönsten Pferde, welohes auf
das prächtigste gesattelt ist, reitet der Bräutigam in einem seidenen
Wams und in Begleitung einiger flotter junger Männer in den Aul
der Braut, indem er der Sitte gemäfs den weiblichen Verwandten der
Braut Geschenke darbringt. „Der Bräutigam kommt! Der Bräutigam
kommt!", so meldet man der freudestrahlenden Braut. Die Gruppe
der geschmĂĽckten Reiter sprengt stolz in den Aul und steigt an
irgend einer seitlich liegenden Jurte ab. Bei einem solchen Besuche
versehen die Bewohner desselben Auls sogar einen Armen mit allem
Notwendigen, sich ihrer eigenen glĂĽcklichen Zeit erinnernd. Als Be-
gleiter des Bräutigams werden mit Vorliebe Sänger und Dichter —
,.Uljont.schi und Ostjaku — sowie gute Erzähler ausgewählt. Der Sitte
gemäfs darf der Vater der Braut von solchen Besuchen des Bräutigams
niohts wissen, ja er darf sogar bis zur Hochzeit nicht einmal das
Gesicht des Bräutigams sehen. Sollte er es aber doch zu sehen be-
kommen, so kann der Bräutigam hierfür eine Strafe — Aip — fordern.
Wie an allen wichtigen Ereignissen des Lebens, so nehmen auch
an der Verlobung alle Bewohner desselben Auls teil. Der Bräutigam
wird bewirtet, und die fĂĽr die Geschenke dankbaren weiblichen Ver-
wandten der Braut bemĂĽhen sich darum, dem Brautpaar ein unge-
störtes Plätzchen zu verschaffen, oft auch bauen sie sogar eine be-
sondere Jurte, wo sich der Bräutigam und die Braut den Freuden der
Liebe hingeben. Zu Ehren der Verlobten werden Loblieder gesungen
und interessante Spiele arrangiert, z. B. der TartĂĽfs, der Kampf
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zweier Parteien, von denen die eine die Braut rauben will, während
die andere dieselbe zurĂĽckzuhalten sucht, wobei natĂĽrlich immer die
Partei des Bräutigams siegt u. s. w. Überhaupt bilden solche Besuche
des Bräutigams nicht nur für die Braut selbst, sondern auch für den
ganzen Aul und sogar fĂĽr die benachbarten Aule einen hohen Feier-
tag. Ein noch grösseres Ereignis bildet der Tag der Hochzeit selbst.
Eine ebensolche Rolle spielt auch der Tag „Asch", welcher am
Todestag besonders geachteter Leute gefeiert wird. Wir wollen hier
nur bei denjenigen gemeinschaftlichen Veranstaltungen verweilen, zu
welchen, wie z. B. beim „Asch", die Tausende von Gästen Hunderte
von Werst zurĂĽcklegen.
Zuerst erfolgt eine reichliohe Bewirtung mit Fleisch. Dies
macht den Kirgisen ein ganz besonderes VergnĂĽgen und geht unter
Beobachtung eines ganz besonderen Rituells vor sich. Jeder Gast
erhält seinem Range entsprechend ein besonderes Stück: die Mullahs
und die Greise erhalten den Kopf, die Sultane und die Ehrengäste
das Schienbein, die Rippen, ein StĂĽck von der Leber und Fett, die Ein-
geweide erhalten die Frauen, den Hals die Pferdehirten, die Beine und die
Nieren bekommen die Knaben. Die Nichtinnehaltung dieses Zeremoniells
kann zu schweren Mifsverständnissen Aulafs geben. Nach dem Fleisch
wird eine ungeheure Menge Kumys getrunken, den die Gäste in einem
solchen Falle zur BeihĂĽlfe fĂĽr die Wirte selbst mitbringen mĂĽssen.
Wieviel bei solchen Gelegenheiten gegessen und getrunken wird,
geht aus folgenden Zahlen hervor. Ein kirgisischer Schriftsteller
sagt, dafs bei einem ihm bekannten reichen Kirgisen bei einer Toten-
feier 100 Pferde und bedeutend mehr Hammel geschlachtet wurden,
30 Pud (ca. 600 kg) GrĂĽtze und 10 Pud (ca. 160 kg) Rosinen verbraucht
und an die 1000 Eimer Kumys getrunken wurden. Für die Gäste
waren 200 Jurten aufgeschlagen worden, welch letztere zu diesem
Zwecke mit reich verzierten Teppichen und Filzdecken belegt waren.
Bei dem dann folgenden Pferderennen — Bauga — besteht der
erste Preis in 40 Pferden und 7 Kamelen. Nachdem die Bewirtung
mit Fleisch beendet ist, reiten alle auf die Steppe hinaus, um das
Wettrennen anzusehen. Die Entfernung der Ziele beträgt etwa
30 bis 40 Werst, die Pferde werden von Knaben geritten. Es ist
schwer, sich die Erregung der Zuschauer vorzustellen, wenn sich die
Wettkämpfer dem Ziele nähern. Der Lärm und die allgemeine Auf-
regung sind geradezu unbeschreiblich. Die Verwandten der Reiter
sowie die Bewohner desselben Auls sprengen den Wettkämpfern ent-
gegen und treiben deren müde Pferde durch wilde Zurufe, Schlägt
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u. 8. w. zu einem letzten Kraftaufwande an. Es entstehen heftige
Meinungsverschiedenheiten, und die ganze Sache endet nicht selten
mit einer wüsten Schlägerei. Mehrere Pferde erhalten Preise, welche
die von uns angeführte Höhe oft noch bedeutend übersteigen. Es
kommt sogar vor, dafs solche Preise in Mädchen bestehen, für
welche alsdann ein besonderer Kalym zu entrichten ist Aber der
Preis selbst spielt bei den Kirgisen nur eine nebensächliche Rolle,
denn die Verwandten des Siegers teilen dessen Preis gewöhnlich
unter sich. Die Hauptsache ist der Ruhm.
Solche Wettrennen haben bei den Kirgisen ungefähr dieselbe
Bedeutung wie die Olympischen Spiele bei den alten Griechen. Der
Name des Siegers und des Pferdes, welches den ersten Preis errungen
hat, werden weit auf der ganzen Steppe herumgetragen. Man er-
wähnt diese Namen mit Neid und mit grofser Achtung, und der ganze
Aul sowie der ganze Stamm sind stolz auf den GlĂĽcklichen.
In der Zwischenzeit, bis sich die Reiter dem Ziele nähern,
schauen die Gäste dem Ringkampfe besonders starker Männer zu,
um welohe sioh ein grofser Kreis bildet. Die erste Reihe dieses
Ringes sitzt mit untergeschlagenen FĂĽfsen, die zweite Reihe kniet,
die nächste Reihe sitzt auf Pferden, während die Zuschauer der
letzten Reihe auf den Sätteln stehen. Der Sieger, welcher seinen
Gegner zu Boden geworfen hat, erhält auch einen Preis, der eben-
falls in Vieh besteht
Wie wir schon des öfteren zu erwähnen Gelegenheit hatten,
werden Feierlichkeiten jeglicher Art bei den Kirgisen durch den Ge-
sang von Liedern begleitet Lieder singt bei ihnen jedermann: Frauen
und Männer und die Jugend beiderlei Geschlechts. Die Kirgisen haben
jedoch besondere Spezialisten von Sängern und zugleich Dichtern,
Gulontschi genannt welche sich immerauf derDombra begleiten.
Solche Sänger stehen bei den Kirgisen in hohem Ansehen, und der
Ruhm eines hervorragenden Sängers ertönt weit auf der ganzen Steppe
und ĂĽberlebt diesen selbst fĂĽr lange Zeit. Die EigentĂĽmlichkeit der
k irdischen Lieder besteht dann, d:if> der Sänger, mit Ausnahme
einiger ungebräuchlicher Lieder, die steh von Geschlecht zu Geschlecht
fortpflanzen, auf Grund eines bestimmten Motive?» jedesmal neue Verse
verfafst: er besingt historische Ereignisse, lobt einen erlauchten Gast,
druckt seine St immun;: und seine GefĂĽhle aus. Ist der Kirgise auf
der Wanderung und trifft er pK^/l ch eir.en kleinen Berg oder einen
kloinen lUcli an, so besingt er diesi :i In-rg oder Kaeh sofort in einem
l.iede, indem er andere Eindrucke d.tunt ve k:: .^"V
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Vom musikalischen Standpunkte aus darf man allerdings weder
das StĂĽok selbst noch die Begleitung einer Kritik unterziehen, aber
trotzdem ist der Eindruck, den diese Lieder hervorbringen, ein starkor
Die eintönigen Läufer der Dombra versetzen den Zuhörer in eine
eigenartige Stimmung und zwingen ihn, sich von der ihn umgebenden
Wirklichkeit zu trennen und seine Phantasie in die Welt zu versenken,
welohe der Sänger schildert Das Lied selbst ist langgezogen, etwas
eintönig und unabänderlich traurig, wird immer mit einem grofsen
Schwung des Geistes gesungen und begeistert die Zuhörer, welche
in dem Liede die unermeßliche Eintönigkeit der heimatlichen Steppe
mit dem hierdurch bedingten unbeständigen Glück in Lauten ausge-
drĂĽckt finden, wo ein blinder Zufall an einem einzigen Tage einen
Reichen zum Bettler machen kann, oder andere traurige Ereignisse,
welche im menschlichen Leben so häufig sind.
Wie zum Teil aus den vorhergegangenen Schilderungen ersicht-
lich ist sind die Kirgisen von weichem, sympathischem Charakter. Sie
sind wohlwollend, geduldig, ruhmliebend, geneigt zu gemeinsamen
Festlichkeiten, gastfreundlich und ferner zu FreundschaftsbĂĽndnissen
geneigt, die sie sogar mit Russen schliefsen. Was ihre geistigen
Fähigkeiten anbelangt, so sind sie verständig and wifsbegierig. Man
kann wohl mit Sicherheit annehmen, dafe die Kirgisen ein begabtes
Volk sind, welches Fähigkeit zum Zeichnen und zur Mathematik be-
sitzt, dessen Geist jedoch bei der jetzigen Lebensweise, bei dem Fehlen
jedes Impulses zu geistigem Leben, schnell erschlaffen und ganz
abstumpfen wird.
Neben den schon erwähnten Charaktereigenschaften sind aber noch
einige unsympathische Seiten des Charakters der Kirgisen hervorzu-
heben; sie sind lügnerisch und schmeichlerisch zu Höherstehenden
und despotisch zu Niederstehenden, insbesondere zu ihren Frauen. Im
Diebstahl findet der Kirgise nichts Böses, und wenn er von einem
besonders dreisten Diebstahl, Baranta genannt, hört welcher im
Forttreiben von Pferden besteht, so lobt er sogar den freohen Räuber.
Ihrer Religion nach sind die Kirgisen Mohammedaner-Sunniten,
aber sie sind sohwach im Glauben und haben sich mit den Ăśberliefe-
rungen des Korans viel heidnische ZĂĽge bewahrt Sie sind sehr aber-
gläubisch; unreine Geister, Djinü genannt, Hexen und Zanberer, so-
genannte Baxü, spielen bei ihnen gegenwärtig noch eine grofse Rolle.
Die Kirgisen sind mittelgrofs bis grofs und haben eine schön
entwickelte Brust Charakteristisch fĂĽr sie ist das flache Gesicht
die vorspringenden Backenknochen, die kleinen, immer dunklen und
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geschlitzten Augen, die braune Hautfarbe und die glatten, harten Haare.
(Fig 8). Infolgo des beständigen Lebens im Sattel haben sich bei den
Kirgisen kurze krumme Beine entwickelt. Bei einer im allgemeinen
guten physischen Entwicklung ist die Muskulatur der Kirgisen infolge
der Untätigkeit verhältnismäßig schwach entwickelt. Besondere Beach-
tung verdient die UnermĂĽdlichkeit des Kirgisen im Sattel; ferner ist
bemerkenswert, dafs Verwundungen jeder Art bei ihnen aufserordentlich
rasch heilen. Der Gesichtssinn und die Beobachtungsgabe sind durch
das Leben in der Steppe besonders scharf entwickelt. Da, wo ein
Russe durch ein Fernglas in der Steppe undeutliche Punkte er-
blickte, unterschied der kirgisische Dolmetscher mit blofsem Auge
zwei Reiter und ein vor einen Wagen gespanntos Pferd, indem er
noch hinzufĂĽgte, dufs dieses Pferd kein kirgisisches, sondern ein
russisches sei.
Der Kirgise verirrt sich nie, weder im Winter, wenn alle iiufseren
Gegenstände anscheinend unter dem Leichentuch des Schnees ver-
borgen sind, noch in einer stockfinsteren Herbstnacht, immer findet
er seinen Aul. Trifft ein Kirgise einen anderen allein in der Steppe,
so ist er imstande, sich noch nach Jahren aller Einzelheiten einer
solchen flĂĽchtigen Begegnung zu erinnern.
Aber ich möchte noch immer nicht zu den trostlosen, trüben
Wintertagen ĂĽbergehen. Wir wollen noch einige Zeit bei dem ver-
weilen, was den Grundstock alles Wohlstandes, aller Freude und
Hoffnung des Noraaden bildet — bei seinem Vieh.
Die Kirgisen betreiben vorzugsweise Schafzucht. Herden von
tausend und mehr Schafen gehören durchaus nicht zu den Seltenheiten,
<iie Herden der Reichen zählen sogar nach vielen tausend Stück. Die
hier gezĂĽchtete Art zeichnet sich durch grofsen Wuchs (fast bis zur
Gröfe eines Kalbesj, schmackhaftes Fleisch, mächtige Fettauswüohse
auf dem Hinterteil (bis zu 40 Pfund), Kurdruck genannt, aber schlechte
Beschaffenheit der Wolle aus. Diese Rasse von Schafen ist fĂĽr den
Kirgisen deshalb von besonders hohem Wert, weil sie sich dem ört-
lichen Klima sehr gut anzupassen! weifs. Aufser Fleisch und Fett
liefert das Schaf dem Kirgisen Milch. Wolle fĂĽr seine Fdzdecken und
Stricke, sowie Häute zu Kleidungsstücken. Wir haben schon gehört,
welche grofse Rolle der Hammel bei den kirgisischen Festlichkeiten
spielt. Kommt ein Gast an, ireht irgend ein besonderes Familien-
oreignis vor sich, oder zeigen sich die gefiederten Boten des FrĂĽh-
lings — in jedem Falle wird ein Hammel geschlachtet.
In kleineren Mengen halten die Kirgisen auch Ziegen, welche
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jedoch nicht allein der Milch wegen gezĂĽchtet werden, sondern auch
um den Schafherden als FĂĽhrer zu dienen. Die Schafe gehen z. B.
niemals zuerst ins Wasser, aber den Ziegen folgen sie immer.
Die Schafherde bildet den Grundstock des Wohlstandes des
Kirgisen, seine Lieblingstiere sind jedoch die Pferde. Es gewährt
einen wunderbaren Anblick, in der Steppe eine Herde von einigen
hundert Stück dieser stolzen, schönen Tiere in Freiheit zu sehen. Für
Fi(£. 8. Eine kirgisische Familie, darunter eine dreizehnjährige Frau
im weihen Kopftuch
den Kirgisen vereinigt sich in dem Pferde die Vorstellung der höchsten
Freuden. Mit Hilfe des Pferdes ĂĽberwindet er mit Leichtigkeit die
Entfernungen der unermefslichen Steppen, das Pferd liefert ihm Kumys
und das leckerste Fleisch, ferner Fell und Haare.
Das Arbeitstier der Kirgisen ist jedoch das Kamel. Dieses sanft-
mütige Tier, welches sich mit den gröbsten Stechpflanzen als Nahrung
begnĂĽgt und bis zu zehn Tagen ohne Wasser leben kann, ist hier
unersetzlich. Sven Hedin erzählt, dafs es vorgekommen ist, dafs
Kamele 12 Tage kein Wasser bekamen und dies gut ertrugen. Das
Kamel liefert dem Kirgisen ebenfalls Fleisch und Felle, die jedoch
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nicht besonders wertvoll sind. Seine Hauptverwendung findet es aber
als Lasttier; man beladet es mit Kisten, Koffern, KĂĽrben und setzt
noch die Kinder darauf. Dann spannt man es vor die Arbe, und
obgleich es unzufrieden stöhnt, sohleppt es doch geduldig die ganze
bewegliche Habe des Nomaden auf seinen Wanderungen fort.
In viel geringerer Anzahl wird bei den Kirgisen Hornvieh ge-
zĂĽchtet, weil dasselbe durchaus nicht dazu geeignet ist, sich im Winter
seine Nahrung selbst aus dem Sohnee hervorzuholen, doch hat auch
die Hornviehzucht bei den Kirgisen in den letzten Jahren an Umfang
zugenommen. Das Hornvieh liefert ebenfalls Fleisch, Milch, Häute,
Arbeitskraft und wird ferner besonders fĂĽr Hirten und Arbeiter als
Reittier benutzt. Andere Vieharten sowie Vögel züchten die Kirgisen
ĂĽberhaupt nicht.
Lange Zeit verbleibt der Kirgise auf den Herbstplätzen. Er friert
unbarmherzig und erkältet sich infolge von Frost und der Feuchtigkeit,
die in seine Jurte eindringen, aber noch immer will er nicht in die
Winterplätze ziehen. Er leidet lieber selber, um dem Vieh dio Winter-
Weideplätze länger zu erhalten. Aber endlich wird dio Kälte uner-
träglich, und die Kirgisen schliefsen ihre Nomadenlaufbahn, indem
sie in die Überwinterungsplätze wandern.
Jetzt wird alles schwache und kranke Vieh geschlachtet, welches
den Winter nicht aushalton würde, damit Vorräte an Fleisch für den
Winter gewonnen werden. Ferner bessert man die WinterhĂĽtten aus
und legt die Heuvorräte gut zusammen.
Bei den Winterwohnungen der Kirgisen fällt das enge Zusammen-
leben mit dem Vieh auf. Die Winterwohnung selbst ist ein plum-
pes, niedriges Bauwerk aus Erde mit einem meist niedrigen Dach,
mit Öffnungen für die Fenster, die aus Wärmerücksichten wenig
zahlreich angebracht und klein sind. Von drei Seiten wird dieses
Gebäude von geschlossenen Höfen und Zäunen für das Vieh umgeben,
alles gleichfalls aus Erde erbaut. Von aufsen macht dies alles den
Eindruck, als ob man einen unordentlichen Haufen von Erde, Rohr und
Heu-Abfällen erblickte, und erinnert mehr an die Höhle eines vorsint-
flutlichen Tieres, als an einen Wohnsitz fĂĽr Menschen (Figur 9).
Innen hat die Erdhütte gewöhnlich einen Raum für die Menschen
von 4 '/2 m Länge, 3 1 , ui Breite und 2 '/4 m Höhe mit einem oder
zwei Fenstern von :1 4 qm Gröfse. Dieses Zimmer wird meist in
zwei Hälften geteilt. Die vordere Hälfte, welche näher dem Fenster
zu gelegen ist, bildet eine breite Pritsche aus Brettern oder Balken,
die sich etwa 20 cm ĂĽber der Erde befindet. Diese Pritsohe ist ganz
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mit Filzdecken und allem möglichen Qerümpel belegt, sie ist der Ort,
an dem die Familie des Kirgisen Tag und Nacht verweilt.
Die andere, näher nach der Tür zu gelegene Hälfte der Erd-
hĂĽtte hat kein solches Untergestell. Hier befindet sich rechts in der
Ecke der plumpe Ofen. Die Ecke links von der EingangstĂĽr dient
als Stapelplatz für Wirtschaftssachen, sowie auch häufig als Zufluchts-
ort für Kälber und Lämmer. Hierhin wird auch die Kuh, welche
gekalbt hat, gebracht.
Fig. 9. Winterwohnurig der Kirgisen.
An den Wänden sind an hölzernen, einfach in die Wand ge-
steckten Haken Sattel, Zaumzeuge, Kleider, Filzdecken u. s. w. auf-
gehängt. Die kleinen Fenster sind mit grünem, trübem Glas, häufig
jedoch nur mit einer Tierblase verschlossen. Die TĂĽr geht nicht nach
aufsen, sondern in den anschlieĂźenden geschlossenen Viehhof.
Man kann sich denken, welcher Art das Leben in einer solchen
Winterhütte sein mufs! — — —
Das Halbdunkel und die Engigkeit, die niedrige Decke, die
Feuchligkeit und der Schimmel in allen Ecken und an den Wänden,
der betäubende Gestank und Schmutz der Wintersitze der Nomaden
bringen sogar die russischen Bauern, die durch einen Buran in einen
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Nomaden-Kstau geflĂĽchtet sind, in helle Verzweiflung. Allein die
verschiedenen Insekten genügen schon! —
In seinem Lebensunterhalt schränkt sich der Kirgise aufs
äufserste ein, er lebt den ganzen Winter über in beständigem Hunger
seinem Sprich worte gemäfs: „Kunde* tuifsaig bulerfsen antada brtui-
tafsäug ulerfst-n", d. h. wenn man sich jeden Tag satt ifst, so verarmt
man, aber wenn man sich auch nur einmal in der Woche nicht satt
ifst, so stirbt man. Tagaus tagein sitzt die Familie des Kirgisen bei
Kuje, d.h. einer Wassersuppe mit WeizengrĂĽtze und etwas Fleisch.
Das Fleisch fischt sich das Familienhaupt heraus und das andere
bleibt fĂĽr die ĂĽbrige Familie.
Aber alle diese Entbehrungen erträgt der Kirgise mit stoischem
Gleichmut; den Winter ignoriert er gleichsam, derselbe bedeutet fĂĽr
ihn nur eine Zeit, die schnell vorĂĽbergeht. Denn auf die Winterszeit,
diese Zeit der traurigen Notwendigkeit, folgt der milde, liebliche
Frühling, mit dem sich alle seine Gedanken beschäftigen. Wenn nur
das Vieh den Winter leichter überstehen möchte!
Wir wollen uns jetzt der Betrachtung der Viehhöfe zuwenden,
wobei wir durch deren sorgfältige Anlage seitens der Kirgisen in
Staunen gesetzt werden. FĂĽr jede Tierart ist eine besondere Abtei-
lung vorhanden. Ein Teil solcher Verschlage ist vollkommen ĂĽber-
dacht, um dem Vieh als Unterschlupf während eines Burans oder
starken Frostes zu dienen. Die Kamele, welche die Kälte besonders
schwer vertragen, werden in Filzdecken eingehĂĽllt Infolge des engen
Zusammenlebens von Mensch und Tier hat sich letzteres ganz er-
staunlich au seinen Herrn gewöhnt und ist ihm sehr zugetan. Beide
verstehen einander und wissen, dafs sie sich gegenseitig nicht ent-
behren können. Das Vieh kennt die Stimme seines Herrn; im Sommer
kommt es ohne Hirten in den Aul, um sich auszuruhen und melken
zu lassen. Die stärkste und wildeste Stute, welche imstande ist, mit
ihrem Huf auf einen Schlag einen Wolf zu töten, lälst sich willig von
einem Kirgisenmädchen melken.
Verlassen wir jetzt die enge HĂĽtte und treten wir hinaus auf
die freie Steppe, um zu beobachten, wie das Vieh des Kirgisen im
Winter weidet. Wir gewahren hier ein höchst eigentümliches, origi-
nelles Bild. Die Köpfe der Pferde sind sorgfältig zum Schnee ge-
noigt, mit mächtigen Schlägen ihrer Vorderfüfse wühlen sie denselben
auf und holen sich so das von den Kirgisen zu diesem Zwecke im
Sommer besonders geschonte Gras hervor. Hinter den Pferden folgen
die Kamele und sogar die Schafe und Ziegen. Nur das Hornvieh ist
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durchaus nicht imstande, auf diese Weise sich seine Nahrung selbst
unter dem Sohnee hervorzuholen. Wenn der Schnee nicht besonders
tief ist, kann das kirgisische Vieh sehr gut auskommen, und es bleibt
alsdann lange Zeit in dem guteD Ernährungszustände, in dem es sich
im Sommer befand. Aber ein UnglĂĽck ist es, wenn tiefer Schnee
fallt; dann droht dem ganzen Vieh des Kirgisen der Hungertod. In
einem solchen Falle mĂĽssen die Hirten mitten im Winter einen Nomaden-
zug unternehmen und mit dem Vieh naoh einem Berg oder einer HĂĽgel-
kette ziehen, weil hier der Schnee am schnellsten verschwindet. Die
Vorräte an Heu reichen nämlich nicht für eine lange Zeit aus.
Ein UnglĂĽck ist es ferner, wenn das Vieh in der Steppe von
einem Buran überrascht wird. Die geängstigten Tiere geraten dann in
eine unbeschreibliche Aufregung und können dem Anprall des Windes
und Schneesturmes nicht widerstehen. Sie rasen wie toll in der Rich-
tung des Windes fort, bis sie in irgend ein geschĂĽtztes Tal gelangen.
Die schwächeren Tiere halten diese wilde Jagd nicht aus, sie fallen
und erfrieren, oder kommen auf andere Weise um. Die ganze Herde
kann bei einer solchen Flucht an einen steilen Abhang geraten und
abstürzen u. s. w. Es ist daher verständlich, dafs die Kirgisen als
Pferdehirten fĂĽr den Winter nur die allergcwandtesten, intelligentesten
und kühnsten Leute wählen, welche dem Tabun überallhin folgen und
in leichten Koschs, einer Art von kleinen Jurten, wohnen.
Aber das entsetzlichste aller schlimmen Ereignisse ist fĂĽr das
kirgisische Vieh der Eintritt von Glatteis. Zu Anfang des FrĂĽhlings
und im Spätherbst kommt es vor, dafs auf einen warmen Tag eine
kalte Nacht und ein noch kälterer Morgen folgt. Dann gefriert der
geschmolzene Schnee und bedeckt die Steppe mit einer Eiskruste.
In einem solchen Falle sind selbst die mächtigen Hufe der Steppen-
pferde nicht imstande, das Gras zu erreichen; viele Tiere stĂĽrzen
auf dem glatten Eise. Dann riohtet der Kirgise seine ganze Hoffnung
auf den allmächtigen Allah. Wenn solches Wetter längere Zeit an-
dauert, droht dem ganzen Vieh der unvermeidliche Hungertod, und
ein reicher Besitzer kann ĂĽber Nacht an den Bettelstab gebracht werden.
Wir haben gesehen, dafs der Winter fĂĽr den Kirgisen nicht nur
Entbehrungen allerart, sondern auoh furchtbare, unabwendbare, ele-
mentare UnglĂĽcksfalle in sich birgt Freuen wir uns deshalb mit den
Kirgisen, dafs auch der Winter, wie alles auf Erden, ein Ende hat,
dafs die Sonne sich immer höher und höher am Firmament zeigt,
da Ts deren goldene Strahlen sogar auf den düsteren Wänden der
ErdhĂĽtte spielen. Die Kinder und die Hirten bringen mit jedem
Himmel und Erde. 1»08. XV. 8. 24
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Tage neue und angenehme Nachrichten: „Die Bäche fliefsen wieder
auf den Bergen, einige Stellen sind vom Schnee befreit und haben
sich mit zartem GrĂĽn bedeckt." Eine glĂĽhende Freude ĂĽber
das bevorstehende freie ungezwungene Leben zieht in das Herz des
Nomaden ein. Mit schnellen Schritten naht sich jener glĂĽckliche
Augenblick seines Lebens, den wir als Ausgangspunkt unserer Schil-
derungen gewählt hatten. „Gelobt sei Allah! Gelobt sei Allah!", so
tönt es aus dem Munde des vor Freude strahlenden Nomaden. Freuen
auch wir uns zum Abschied mit ihm und wĂĽd sehen ihm, dafs der
belebende, milde und segen spendende FrĂĽhling ihm alle die Wunden
heilen möge, die der grausame Winter geschlagen hat.
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Aus dem Institut Pasteur.
Von Eduard Sokal in Berlin.
^enn die Geschichte unseres Erdballs vom Standpunkte der
Kaninchen, Schafe, Hunde sowie der zahllosen anderen Vier-
fĂĽfsler, welche unseren Bakteriologen als Versuchstiere dienen,
geschrieben würde, so müfste der gegenwärtige Zeitabschnitt der medi-
zinischen Forschung entschieden als eine der unheilvollsten Epochen
aller Zeiten bezeichnet werden. Ein französischer Bakteriologe sagte
einmal, die Summe von Lust und Unlust sei demnach durch die neueren
Errungenschaften der Heilkunde gewifs nicht erheblich vermehrt,
resp. verringert worden. „Gibt es übrigens im Grunde ein paradoxeres
und aussichtsloseres Beginnen", meinte er scherzhaft, „als diesen
Kampf gegen die Bakterien, gegen die mikroskopisch kleinen Lebe-
wesen, welche eben darin, dafs sie die Ursache aller Krankheiten sind,
die BĂĽrgschaft unverwĂĽstlicher Gesundheit finden? Sollte es nicht das
einfachste und klĂĽgste sein, die Waffen zu strecken und sich diesen
unendlich kleinen Wiohten auf Gnade und Ungnade zu ergeben?
Doch wie gut ist es", fügte er gleich hinzu, „dafs Pasteur, Koch u. a
nicht dieser Ansicht waren1*.
In der Tat ist man weit entfernt davon, die Sohlacht verloren zu
geben, und auf der ganzen Linie wird der Kampf fortgesetzt. Manche
hoffen sogar, dafs wir an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt
sind. Mit dem sohweren RĂĽstzeug exakter chemischer Methoden so-
wie mit dem leichten Geschütz rein empirischer, tastender, plänkelnder
Versuche wird gleichzeitig vorgegangen. Und vielleicht, wie noch nie
zuvor, sind jetzt die beiden merkwürdigen Zwillingsgebäude, welche
den Namen „Institut Pasteur" tragen und in der Rue Dutot in Paris,
einer abgelegenen Seitengasse des Boulevard Montparnasse, sich vor
dem Getriebe der Grofsstadt verbergen, der Sitz eines mächtig pulsieren-
den Lebens!
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Begeben wir uns jetzt auf das Schlachtfeld; durchmustern wir
vorerst das Arsenal! Da marschieren in langen Kolonnen sorgfältig
etikettierter Flaschen und Fläschchen die erbittertsten Feinde der
Bakterien auf: die Antiseptika verschiedenartiger Natur. Da sind die
groben und mächtigen Vernichtungswerkzeuge, die der Bakteriologe
auf Schritt und Tritt nötig hat um „rein" arbeiten zu können, die
Sterilisierapparate. Das Wort „rein" ist hier in einem ganz eigentüm-
lichen und speziellen, in dem „bakteriologischen" Sinne gebraucht.
Ein StĂĽck kotiger Erde, das zu Kulturzwecken benutzt wird, kann,
nachdem es hinreichend lange Zeit der Einwirkung von Chloroform-
dämpfen ausgesetzt gewesen, dem Bakteriologen als „rein" gelten,
während z. B. ein glatt poliertes und sorgfältig gesäubertes Messer
durchaus nicht diesen Bedingungen entspricht. „Schmutz ist eine
Sache am unrechten Orte."
Es ist ohne weiteres klar, dafs die Sterilisation, die Zerstörung
der Mikroben durch Hitze und Chemikalien, nicht direkt als Heilmars*
regel ins Feld geführt werden kann. Diese Waffe ist viel zu mächtig
und furchtbar, um mit Leichtigkeit gehandhabt werden zu können,
und es gibt wohl kaum ein Antiseptikum, das nicht in höherem oder
geringerem Grade auch auf den menschlichen Organismus als Gift
einwirken wĂĽrde. Wohl aber leistet uns die Technik der Sterilisation
bei dem Studium der Bakterien ganz unschätzbare Dienste. Sie er-
möglicht es uns, bakterienfreie Nährböden darzustellen und dann auf
diesen einzelne, zu einem bestimmten Zwecke herausgegriffene Arten
zu züchten. Wir können so die Bakterien zur Entwickelung bringen,
ihre biologischen Eigenschaften studieren, ihre Existenzbedingungen
bestimmten Variationen unterwerfen und durch die experimentelle
„Synthese der Krankheit" den ersten Grundstein zu einer erfolgreichen
Bekämpfung derselben legen.
„Wer die Feinde will verstehen, raufs in der Feinde Lande
gehen*, könnte man mit Variierung des Schillerschen Ausspruches
sagen. Und dank den unsterblichen Untersuchungen von Pasteur
ist es uns möglich, in das Reich der Mikroben einzudringen! In diesem
kleinen Zimmer mit seinen schmucklosen kahlen Wänden, der „Schatz-
kammer1* des Pasteurschen Institutes, werden die historischen Doku-
mente dieses denkwĂĽrdigen Feldzuges aufbewahrt Da ist die be-
rühmte FJasche mit den doppeit^krümmten, gewundenen Röhren, an
denen die Staubpartikel der einstreichenden Luft sich festgesetzt
haben; sie beherbergt eine organische Substanz, die seit den 60er
Jahren in ihrem anscheinend offenen Schlupfwinkel allen Zersetzungen
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trotzt Mit ihrer Hilfe hat Pasteur die Unhaltbarkeit der Theorien
von der keimlosen Urzeugung nachgewiesen. Da sind die ersten un-
beholfenen schwerfälligen Modelle der Autoklaven und Sterilisier-
kolben. Diese Platten enthalten die ersten kĂĽnstlich gezĂĽchteten Ko-
lonieen der Mikroorganismen. Aber sie enthalten mehr als das! Da
mit ihrer Hilfe die VerdĂĽnnung des ursprĂĽnglich infizierenden Ma-
terials in geradezu phantastische Dimensionen getrieben und noch ein
Tropfen der verdünntesten Lösung als tödlich befunden werden konnte,
so enthalten sie den endgĂĽltigen, den entscheidenden Beweis fĂĽr die
lebende Natur des krankheitserzeugenden Agens. Nicht ohne RĂĽhrung
betrachtet man diese Gläser, durch deren Medium Pasteur die bizarren
Hieroglyphen der Natur entzifferte.
Aber wie jede grofse Entdeckung, hat die Pasteursche Lehre
von den Gärungen nicht nur eine Reihe alter Probleme einer befrie-
digenden Lösung entgegengeführt, sondern auch eine grorse Anzahl
neuer, ungeahnter Fragen entstehen lassen. Wenn das Wesen der
Krankheit in dem Eindringen der allgegenwärtigen Mikroorganismen
besteht und dieselben nur unter gewissen Bedingungen zerstört wer-
den können, die mit dem Leben überhaupt vereinbar sind, warum
führt dann nicht jede Erkrankung unabwendbar zu tödliohem Aus-
gange? Welchen inneren Umständen und Faktoren ist z. B. die Hei-
lung eines Typhuskranken zuzuschreiben? Welches ist im Grunde das
Wesen des Krankheitsprozesses, und in welcher Weise reagiert der
Organismus gegen das Eindringen der Bakterien?
Auf diese Frage antwortet uns der russische Gelehrte Metsch-
nikoff, wohl der bedeutendste SchĂĽler Pasteurs, mit folgender geist-
reichen und kĂĽhnen Hypothese: In den Masohen unserer Gewebe be-
finden sich in wechselnder Anzahl und Form sogenannte Wander-
zellen, die eben, weil sie an keine bestimmte Funktion angepafst sind,
die ursprüngliche amöboide Beweglichkeit der einzelligen Organismen
bewahrt haben. Metschnikoff schreibt ihnen nun auf Grund seiner
mikroskopischen Befunde die Fähigkeit zu, die Bakterien anzugreifen
und zu zerstören. Das Krankheitsdrama soll nach ihm ein wirklicher
«Kampf zwischen Zellen und Bakterien" sein, dessen Schauplatz unser
Organismus ist. Die Wirkung der Impfungen soll endlich auf einer
Art „Training- beruhen, duroh welchen die „Wanderzellen*4 („Phago-
cytenu) an die Zerstörung immer gröfserer Mengen von Bakterien
gewöhnt werden.
Manchmal freilich — und hier ist der dunkelste Punkt der gan-
zen Frage — ist auch Verrat im eigenen Lager zu befürchten. Die
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Phagocyten versagen unter dem einen oder dem anderen Vorwandt' —
welchem die Mediziner das fadenscheinige Mäntelchen ^Prädisposition"
umhängen — den Dienst, und nichts kann sie dazu bewegen, ihn wieder
aufzunehmen. Ein zweiter Pasteur wird wohl noch einmal den Vor-
hang, der über der Frage der „Prädisposition u schwebt, lüften und
diesen Hegriff seiner halb mythischen Bedeutung entkleiden.
Betrachtungen ĂĽber das Weltall hat Professor New comb in
Washington ein neues Werk benannt, das mit philosophischen und
mathematischen Mitteln die Fragen zu beantworten sucht, die das Welt-
all als Ganzes betreffen. Er versteht jedoch darunter gewissermaĂźen
nur die Insel im Räume, die das Milchstrarsensystem bildet, in dessen
Mitte etwa unser Sonnensystem liegt. Die Gesamtheit alles dessen,
was das Teleskop und die Trockenplatte zeigen, als Ganzes voraus-
gesetzt, von dem einen Gesetze der allgemeinen Schwere beherrscht,
erheben sich folgende Fragen. Sind die Sterne ĂĽber den ganzen
Kaum ziemlich gleichmäfsig verteilt? Reicht die raumdurchdringende
Kraft unserer Instrumente bis an die Grenzen dieses Raumes? Sind
die schwächsten Sterne nur wegen ihrer Entfernung so schwach, oder
sind sie so viel kleiner? Wie ist die räumliche Anordnung? Was
wird aus dem Ganzen nach Millionen von Jahren? Bleibt das System
erhalten, oder befindet sich alles in Auflösung? Man kann eine
brauchbare Antwort nur auf Grund sorgfältiger Beobachtungen geben.
Da unsere Beobachtungen aber viel zu kurze Zeit umfassen, so sind
viele Fragen noch unlösbar, doch fafst Newcomb die Ergebnisse
seiner Betrachtungen in folgendem zusammen:
Nimmt man als körperliche Einheit eine Kugel, deren Radius
200 000mal der Entfernung Erde -Sonne gleichkommt, so kommt im
Durchschnitt auf 8 solche Einheiten ein Stern. Unser Weltall ist ein
räumlich begrenztes Gebilde, doch schliefst das nicht aus, dafs sich
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weit aufserbalb desselben noch andere Welteninseln finden, von denen
wir keine Kenntnis haben. Die äufsere Grenze unseres Weltalls ist
ziemlich unregelmäfsig gestaltet: an derselben sind die Sterne spärlicher
verteilt. Ihre Entfernung von uns ist gröfeer als 3000 Lichtjahre
Ihre Ausdehnung ist in der durch die MilchstraĂźe bezeichneten Ebene
gröfser als senkrecht dazu. Die Zahl der zugehörigen Sterne beträgt
viele Hunderte von Millionen.
Diese Ansichten weichen von denen anderer Forscher, wie
Seeliger, Kapteyn, Schiaparelli, nicht unwesentlich ab, was in
der Sache begrĂĽndet ist; es ist aber immer dankenswert, wenn ein so
vielseitiger Astronom wie Newcomb seinen Scharfsinn derartigen
Problemen zuwendet. K.
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Der neue Photophonograph von Cervenka hat bei seiner ersten
Vorführung in Berlin bekanntlich zu unliebsamen Erörterungen in der
Presse Veranlassung gegeben. Wie man sagt, soll die Demonstration
nicht ganz einwandfrei gewesen sein. Wir enthalten uns zunächst
jeder Kritik und bringen unseren Lesern lediglich das Prinzip der
neuen Erfindung zur Kenntnis. Cervenka beabsichtigt, bei seiner
Sprechmaschine alle Nebengeräusche zu beseitigen, welche man nooh
immer als die gröfsten übelstände sowohl an den Phonographen wie
an den Grammophonen kennt. Sie rĂĽhren her von der rein mecha-
nischen Ăśbertragung der Schallschwingungen auf die Walze und auch
von der Reproduktion durch die in die Vertiefungen der Walze ein-
greifenden Stifte. Das unangenehme Nebengeräusch der älteren
Maschinen ist in der Tat oft geradezu unerträglich. Jedenfalls ist die
Wiedergabe der an Obertönen reichen menschlichen Stimme noch sehr
mangelhaft. Vor zwei Jahren etwa versuchte der dänische Ingenieur
Poulsen. die mechanische Ăśbertragung auf sehr geistreiche Weise
zu umgehen, indem er die in einem Mikrophonstromkreis hervor-
gerufenen Stromschwankungen auf ein fortlaufendes Stahlband ein-
wirken liefs. Die Laute wurden also in wechselnden Intensitäten der
Magnetisierung niedergelegt. Bei der Reproduktion glitt dann das
magnetisierte Stahlband an einer Magnetspule, ebenfalls wieder reibungs-
los, vorbei, um in ihr Induktionsströme hervorzurufen. Die elektrische
Energie wurde dann in einem Telephon in eine Lautwirkung umgesetzt
1 >ie grofsen Hoffnungen, welche man auf den Telephonographen setzte,
scheinen sich indes nicht erfĂĽllt zu haben, denn man hat in letzter
Zeit merkwürdig wenig von ihm gehört. Vielleicht hat Cervenka
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schtiefslich mehr (rlĂĽck. Das Prinzip seines Apparates ist kurz
folgendes: Wie ee schon der Name andeutet, schreibt der Photo-
phonograph seine Schrift mit einem Lichtstrahl. An der Aufnahme-
Membran ist ein Spiegelchen befestigt, das einen Lichtstrahl auf eine
kreisrunde, sich stetig bewegende photographische Platte wirft A1!p
Schwankungen des Spiegelchens tragen sich als Wellenlinien auf der
Platte ein. Diese Wellenlinien sind selbstverständlich die Resultanten
auch aus den Schwingungen sämtlicher Obertöne. Die Reproduktion
gesohieht so, dafs die photographische Platte auf Chromgelatine kopiert
wird. Läfst man diese quellen, so bleiben die Lautlinien als feine Ver-
tiefungen zurück und können nun als Matrize zur Herstellung einer
grofsen Anzahl von Hartgummiplatten dienen, falls man es nicht vor-
zieht, gleich nach dem Original Negativ-Zinkätzungen herzustellen.
Die Wiedergabe erfolgt nun genau so, wie bei dem bekannten < iratnmo-
phon. Ein Stift gleitet in den Spiral Windungen entlang und ĂĽbertragt
seine Bewegung auf eine Membran. Es unterliegt keinem Zweifel,
dafs der Cervenkasche Photophonograph eine wesentliche Ver-
besserung darstellt, was die Aufnahme anbelangt. Sollte es dem Er-
finder gelingen, die Reproduktion ebenfalls reibungslos herzustellen,
so dĂĽrfte seine Maschine von dem Ideal nicht mehr weit entfernt sein.
Als einen Ideal-Pbonographen aber wĂĽrde man erst einen solchen
bezeichnen dĂĽrfen, der die menschliche Sprache so wie sie ist, d. h.
in ihrer vollen Klangfarbe und ohne jedes Nebengeräusch wiedergibt
Dann dĂĽrfte endlich auch die Wissenschaft das langersehnte Instrument
zur vergleichenden Sprachforschung erhalten haben. Dr. B. D.
$
Einflute violetter Strahlen auf Diamanten. Die Fähigkeit kurz-
welliger Strahlenarten, die Luft zu ionisieren, d. h. so zu zerlegen,
dafs sie elektrisch leitfähig wird, hat in neuerer Zeit das Interesse
der Physiker besonders auf sich gelenkt. Auoh die Praxis hat ver-
sucht, aus der Einwirkung violetter Strahlung Nutzen zu ziehen.
Man denke nur an die Finsen sehen, auf eine Heilwirkung abzie-
lenden Versuche. Dem Laien ist weniger die ionisierende Eigenschaft
der kurzwelligen Strahlen, als vielmehr ihre Fähigkeit, gewisse Körper
zum Selbstleuchten, d. h. zum Fluorescieren zu bringen, bekannt. Der
Fluorescenzton ist nach der Stook eschen Regel stets ein tieferer
als der Ton der Erregerstrahlen. Fluoresciert also ein Körper rot,
so darf man annehmen, dafs die erregenden Strahlen demjenigen Teil
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377
des Spektrums angehören, daß vom Rot, bezüglich vom Gelb auf-
wärts nach den blauen und violetten Strahlen zu sich erstreckt.
Daraus folgt, dafs blaue und vioietto Fluorescenzwirkungen nur durch
Strahlen unsichtbarer Art hervorgerufen werden können. Ein gutes
Beispiel hierfür ist eine Äskulinlösung, die auoh in jenem Teil des
Spektrums noch lebhaft blau fluoresciert, in welchem unser Auge nichts
mehr zu erkennen vermag. Dieses ultraviolette Erregerlicbt wirkt
nun, wie die „Comptes rendus" mitteilen, auch ziemlich stark auf Dia-
manten ein. Es zeigt sich dabei ein merkwĂĽrdiger Zusammenhang
zwischen der Fluorescenz und dem Feuer der Edelsteine und zwar
so, dafs im allgemeinen der Btärker fluorescierende Stein auch das
stärkere Feuer besitzt Es wäre demnach die Fluorescenz eines der
Mittel, um den Wert des Diamanten festzustellen. MerkwĂĽrdiger noch
dĂĽrfte eine Erscheinung sein, die Chaumet an gelben Diamanten
beschreibt. Er fand nämlich, dafs seine Versuchsobjekte durch
längere Bestrahlung an Wert einbüfsten, indem sie einen unansehn-
lichen braunschwarzen Ton annahmen, der allerdings mit der Zeit
wieder etwas zurĂĽckging. Es ist einstweilen sohwer zu sagen, wie
sich dieses Phänomen erklärt Wir wollen bemerken, dafs sich ähn-
liche Fluorescenz-Erscheinungen auch an anderen Edelsteinen, z. B.
an den Rubinen, recht deutlich zeigen. Man kann unter Umständen
sogar die Herkunft der Edelsteinart an ihrer Fluorescenzfähigkeit
feststellen. So leuchten z. B. die Rubinen aus Siam nur sehr
schwach, während die Rubinen von Birma eine außerordentlich
intensive Strahlung aufweisen. D.
Ostwald und Grofs, „Vervielfältigung photographischer Auf-
nahmen ohne Licht". „ Photographie ohne Licht" oder „Katatypie14 haben
Prof. Ostwald und sein Assistent Dr. Grofs in Leipzig ein von
ihnen erfundenes Verfahren zur Reproduktion von Photographieen
auf chemischem Wege ohne Belichtung genannt, ein Verfahren,
das berufen zu sein scheint in der ganzen Reproduktionstechnik ge-
waltige Umwälzungen hervorzurufen. — Jedem Chemiker ist es ge-
läufig, dafs es bei vielen chemisohen Reaktionen zwischen zwei Sub-
stanzen nicht genĂĽgt diese beiden Substanzen zusammenzubringen
oder zusammen zu erhitzen, sondern dafs es der Gegenwart gewisser
Körper, sogenannter Katalysatoren bedarf, welche, ohne in dem Prozefs
mitzuwirken (sie verändern sich selbst nicht), dazu nötig sind, um
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37*
denselben einzuleiten oder zu beschleunigen. Wie man sich diese
Wirkung vorzustellen hat, ist noch nicht genügend aufgeklärt, die
Tatsache aber ist an unendlich vielen Beispielen nachgewiesen. Läfst
man z. B. Dämpfe von schwefliger Säure (entstehend durch Schwefel-
verbrennung) mit Sauerstoff bei Gegenwart von platiniertem Asbest
zusammentreten, so werden durch die katalytische Wirkung des fein
verteilten Platins beide Gase zu Schwefelsäureanhydrid vereinigt, das,
in Wasser geleitet, Schwefelsäure gibt. Etwas Umgekehrtes, d. h.
Zersetzung, tritt z. B. ein, wenn man ein mit Silbernitratlösung ge-
tränktes Papier dem Licht aussetzt. Das Silbernitrat wird bei Gegen-
wart organischer Substanz (Katalysator) vom Licht zerlegt, es wird
fein verteiltes Silber ausgeschieden, und man bekommt eine Schwär-
zung. Eine ähnliche Reaktion hat Ostwald bei seiner Erfindung
benutzt: Wasserstoffsuperoxyd wird nämlich bei Gegenwart von fein
verteiltem Silber (Katalysator) in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt.
Ăśberzieht man also eine entwickelte Bromsilbergelatineplatte mit einer
Lösung von Äther und Wasserstoffsuperoxyd (etwa 3 pCt.), so setzt
sich beim Verdampfen des Äthers das letztere in gleichmäßiger Schicht
auf der Platte ab und wird an den Stellen, wo dieselbe belichtet ist, durch
das dort anwesende Silber zersetzt, während es an den unbelichteten
Stellen bestehen bleibt. Man bekommt also ein unsichtbares positives
„Bild" von Wasserstoffsuperoxyd. Drückt man nun ein mit Gelatine
ĂĽberzogenes Papier auf die Platte, so zieht das Wasserstoffsuperoxyd
in dieses innerhalb weniger Sekunden ein, und man kann nun das
so übertragene Bild in einer Eisenvitriollösung entwickeln. — Das
schwach gelbliche Eisenbild läfst sich dann in Blutlaugensalz blau, in
Gallussäure violett, in Brenzkatechin grünschwarz, in anderen Stoffen
in allen möglichen Nuancen färben. Viele dieser Farben sind sehr
beständig (das Gallussäurebild besteht aus gewöhnlicher Tinte). Daher
hat das neue Reproduktionsverfahren aufser seiner grofsen Bequem-
lichkeit, Billigkeit und Zeitersparnis auch noch den Vorteil, dafs die
damit erzeugten Kopien dauerhafter sind als die auf dem alten Wege
gewonnenen. Dabei werden die Feinheiten des Originals, wie man mit
der Lupe konstatieren kann, vollkommen scharf wiedergegeben. Es ist
den Erfindern gelungen, auch andere in der Praxis gangbare Verviel-
fältigungsmethoden, wie Gummidruck, Dreifarbendruck etc., katalytisch
nachzubilden. Nähere Angaben über das skizzierte Verfahren sind
zunächst nicht in die Öffentlichkeit gedrungen, weil die Patent-
verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind. Dr. v. P.
*
371»
Die Feigen-, Reis- und Teekultur in den Vereinigten Staaten.
Der letzte Jahresbericht des landwirtschaftlichen Staats-Departe-
ments der Vereinigten Staaten enthält höchst befriedigende Beweise
seiner regen Tätigkeit, und dürften einige Daten auch unser Lese-
publikum interessieren, weil sie beweisen, welche Erfolge man mit
Energie und Ausdauer auf landwirtschaftlichem Gebiete erzielen kann.
Nach vielfachen vergeblichen Versuchen ist es der Geduld und dem
Fleifs des erwähnten Depaitements und der Obstzüchter von Kali-
fornien gelungen, die Smyrnafeige in Amerika heimisch zu machen.
„Vor zwei Jahren schon erntete man in Kalifornien elf Tonnen
Smyrnafeigen, und die Untersuchungen der Obstsachverständigen und
der Chemiker ergaben das erfreuliche Resultat, dafs unsere Feigen
die importierten an Wohlgeschmack bei weitem ĂĽbertreffen", heifst es
in dem Jahrbuch. Im vergangenen Jahre wurden sogar 50 bis 70
Tonnen geerntet, und diese neue Obstkultur ist bereits so gut einge-
fĂĽhrt, dafs man hofft, den ungeheuren Feigenbedarf der Republik mit
eigenen Erzeugnissen decken zu können.
Vor drei Jahren hat das rĂĽhrige landwirtschaftliche Departement
eine ungeheure Menge japanischen Reises eingefĂĽhrt und zu Saat-
zwecken verteilt. Obgleich Reis bekanntlich schon längst in gewissen
Teilen Amerikas gepflanzt wurde, ist der grofse Aufschwung, den die
Reiskultur in den letzten Jahren genommen, nur der klugen Aktion
der Regierung zu danken. Millionen Dollars wurden in Reispflan-
zungen angelegt, so dafs im Jahre 1900 um acht Millionen Pfund Reis
mehr erzeugt wurden als in den vorhergegangenen Jahren und 1901
bereits um 65 Millionen Pfund mehr als 1900. Infolgedessen war be-
greiflicherweise auch die Einfuhr in den drei letzten Jahren eine klei-
nere. Vor drei Jahren wurden 154 Millionen Pfund Reis nach
Amerika gebracht, 1901 jedoch nur mehr 73 Millionen, und man
erwartet mit Bestimmtheit, dafs in den nächsten Jahren Amerika
nicht nur seinen eigenen riesigen Bedarf an Reis decken, sondern
auch grofse Quantitäten exportieren dürfte.
Nicht minder erfolgreich haben sich die Versuche, in der Union
die Teestaude heimisch zu machen, erwiesen. Es hiefs anfangs, dafs
die hohen Kosten der Einführung ein günstiges Ergebnis unmöglich
machen würden; doch erklärt Sekretär Wi lson, dafs der Reingewinn
30 bis 40 Dollars pro Acre beträgt Demnach würde ein Teegarten
von 10 Acres (404 Ar) bei richtiger fachmännischer Behandlung einen
Reingewinn von 300 bis 400 Dollars jährlich abwerfen, während
50 Acres (2020 Ar) mindestens 1500 Dollars Reinerträgnis brächten;
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380
der Sekretär beriohtet ferner, dafs der in den Vereinigten Staaten er-
zeugte Tee von Sachverständigen bezüglioh des Geschmacks und
Aromas als mit dem importierten gleichwertig bezeichnet wurde.
Im vergangenen Jahr hat Dr. Oharies ĂĽ. Shepard in Summer-
ville (Süd- Karolina), der den gröfsten Teegarten in Amerika besitzt,
4500 Pfund des besten Tees erzeugt, der im Norden raschen Absatz
fand. Das landwirtschaftliche Staats-Departement läfst nun, von diesem
Erfolg angeeifert, einige junge Leute unter Dr. Shepards Anleitung
den technischen Teil der Teekultur studieren, und es steht zu er-
warten, dafs in nicht zu ferner Zeit Amerika seine eigenen blĂĽhenden
Teepflanzungen haben werde, da im SĂĽden Tausende von Morgen
Landes und Tausende von müfsigen Händen zu finden sind, die man für
diese Arbeit wird ausnützen können. Die Yankees sind eben in allem
und jedem unternehmungslustig — daher ihr riesiger und schneller
wirtschaftlicher Aufschwung. -tsoh-.
t
Zur Frage der MĂĽllverbrennung.
Bekanntlich bildet die Beseitigung der aus den Haushaltungen
sich ergebenden Abfälle, des sogenannten Mülls, eine wichtige Frage
für die Stadtverwaltungen. Während einerseits die staublose Abfuhr
des MĂĽlls zu zahlreichen Erfindungen Veranlassung gegeben hat, ist
andererseits auch die Frage noch immer nicht zur allseitigen Zu-
friedenheit gelöst, wohin denn der Müll schliefslich beseitigt werden
soll. Als DĂĽnger ist er immerhin ziemlich minderwertig, und seine
staubige Beschaffenheit, die AusdĂĽnstung der in ihm enthaltenen
Schmutzstoffe, sowie der lästige Umstand, dafs er so sehr viel Scherben
oder Metall enthält, beeinträchtigen seinen Wert hier in hohem Grade.
In England ist man deshalb schon seit längerem zu der Verwirk-
lichung des Gedankens ĂĽbergegangen, den MĂĽll einfach zu verbrennen,
wodurch die in ihm enthaltenen schädlichen Stoffe auf das Gründlichste
beseitigt werden, wie zugleich auoh eine Menge Wärme entwickelt
wird, die zu nutzbarer Arbeit Verwendung finden kann. Auf dem
Kontinent sind derartige Anlagen indessen noch wenig ausgefĂĽhrt,
was zum Teil in der verschiedenen Zusammensetzung des MĂĽlls in
den verschiedenen Ländern seinen Grund hat In England enthält er
nämlich viel mehr brennbare Bestandteile als anderswo, so dafs seine
Ausnutzung in dieser Hinsicht dort viel bequemer ist.
381
Auf der DĂĽsseldorfer Ausstellung sahen wir das Modell einer
MĂĽllverbrennungsanlage nach dem System Horsfall ausgestellt, die
von der Firma Alfons Custodis A.-G. in DĂĽsseldorf fĂĽr die Stadt
Hamburg ausgeführt worden ist, und die sich dort sehr gut bewährt
haben soll. Eine MĂĽllverbrennungsanlage nach Horsfall besteht aus
einer Reihe von Rostfeuerungen, auf die der zu verbrennende MĂĽll
aufgebracht wird. Am besten geschieht dies, indem die MĂĽllwagen
einfach oben auf den Ofen hinauffahren und durch die Bescbickungs-
öffhungen ihren Inhalt in diesen entleeren. Die Verbrennungsgaso
werden hierauf zunächst zum Vorwärmen der Verbrennungsluft be-
nutzt, so dafs diese schon mit einer beträchtlichen Hitze unter den
Rost geht und so die Verbrennung mit grofser Lebhaftigkeit unter-
hält. Hauptsächlich aber wird die Wärme der Verbrennungsgase zur
Erzeugung von Dampfkraft ausgenutzt, die dann weiter in Elektrizität
umgesetzt oder fĂĽr beliebige sonstige Zwecke verwendet werden kann.
Hamburg hat eine Anlage von 36 Rosten, wobei auf jedem Rost eine
zur Erzeugung von 16 PS. an Dampfkraft ausreichende Wärmemenge
erzielt wird. In England soll man sogar das fünffache an Wärme
aus einer einzigen Verbrennungszelle ziehen, ein Unterschied in der
Leistung, der allerdings äufserst bedeutend ist Die abfallenden
Schlacken können zu manchen Zwecken verwendet werden, insbe-
sondere zu Wegebauten und dergleichen. Als besonderer Vorzug
wird dem System noch nachgerĂĽhmt, dafs sich mit ihm auch die Sink-
stoffe der Kanalisation in einfachster Weise unschädlich machen liefsen;
jedoch scheinen in dieser Hinsicht in Deutschland wenigstens noch
keine Erfahrungen gesammelt zu sein. R.
Ăśbersicht der Himmelserscheinungen fĂĽr
Juni - Juli - August.
In dieser Zeit bietet der Himmel den an hellen Sternen ärmsten Anblick
dar; während die kurzen Nächte dem Beobachter nicht viele Zeit übrig lassen,
die wenig dunklen Stunden den Veränderlichen zu widmen. Löwe und Jung-
frau verschwinden bald am Abendhimmel, Scorpion ist noch tief im SĂĽden
wahrnehmbar; dafĂĽr aber treten jetzt Wassermann, Fische, Andromeda, Wal-
fisch, Stier und Fuhrmann nacheinander in den Abendstunden wieder auf, und
bei freiem Horizont im SĂĽden Fomalhaut im sĂĽdlichen Fisch. Am sĂĽdlichen
Himmel finden sich Krone, Herkules, Leyer, Adler und Schwan, während als
Zenithbilder Drache und Cepheus auftreten. Um Mitternacht nach Berliner Zeit
kulminieren folgende Sterne, deren Lage zur Orientierung dienen möge.
2. Juni
; Herkulis
(3. Gr.)
(AR. 16 b 38»,
D. + 31°
47')
9. ,
rt Ophiuchi
(2. Gr.)
17
5
- 15
36
15. „
o Ophiuchi
(2. Gr.)
17
30
+ 12
38
22. „
•/ Sagittarii
(3. Gr.)
18
0
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26
1. Juli
i Lyrae
(1. Gr.)
18
34
+ 38
42
- 8agittarii
(3. Gr.)
19
4
-21
11
18. „
a Aquilae
(1. Gr.)
19
4«;
+ 8
37
26. „
7 Cygni
(2. Gr.)
20
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1. August
ÂŁ Cygni
{3. Gr.)
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36
13 ..
(l Aquarii
(3. Gr.)
21
26
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0
23. „
t Aquarii
(3. Gr.)
22
1
- 0
47
31. „
T( Pegasi
(3. Gr )
22
38
+ 29
43
An veränderlichen Sternen sind zur Beobachtung geeignet und erreichen
zum Teil ihre gröfste Helligkeit:
T Andromedae (Helligk. 8.
Gr.)
(AR 0 * 17», D + 26» 24') Max. Juni 23.
U Cassiopejae
(
9.
. )
0
41
+ 47
40
Max. Juli 29.
U Cephei
(
7. —
9.
. )
0
54
+ 81
21
Algoltypus.
S Cassiopejae
(
8.
. )
1
13
+ 72
6
Max. Juni 1.
S Piscium
(
9.
- )
1
12
+ »
25
Max. Aug. 25.
R Piscium
(
8.
* )
1
26
+ 2
23
Max. Aug. 10.
R Arietis
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10
+ 24
37
Max. Juni 9.
3 Persei
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3
2
+ 40
35
Algol.
U Gamelop.
7.
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3
34
+ 62
20
Irregulär.
T Canum venat(
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9.
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12
25
+ 32
3
Max. Juli 12
Y Bootis
8.
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14
18
+ 20
15
Algoltypus.
S Bootis
8.
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14
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+ 51
15
Max. Juli 3.
V Bootis
-
7.
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+ 39
17
Max. Aug. 4.
h Librae
5. —
7.
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8
Algoltypus.
U Coronae
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8. -
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0
Algoltypus.
R Serpentis
i
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46
+ 15
25
Max. Aug. 18.
RU Horculis
(
7.
- )
16
6
+ 25
19
Max. Juni 13.
R Draconis
(
8.
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16
32
+ 66
58
Max. Juni 28.
U Ophiuchi
'
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6.-
7.
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12
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22
Algoltypus.
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383
Z Herculis (Helligk. 7. 8. Gr.) (AR. 17 »• 54 m, D -f 15 9 Algoltypus.
U Sagittae ( „ 7.-9. .) 19 15 -4- 19 2« Algoltypus.
V Aquarii ( . 8. . ) 20 42 + 2 5 Max. Juli 24.
T Aquarii ( 7. r ) 20 45 — 5 30 Max. Aug. 24.
Die Pleietei. Merkur, anfangs rückläufig, dann rochtläufig im Stier,
in den Zwillingen, im Krebs und im Löwen, kommt am 9. Juni und 20. Juni nahe
i Tauri, ist am 27. Juni 22° westlich der Sonne am Morgenhimmel wahrnehm-
bar und steht am 8. August nahe a Leonis. Venus, rechtläuflg in Krebs, Löwe
und Jungfrau, ist als Abendstern am 9. Juli in der gröbten Entfernung von der
Sonne und leuchtet am 13. August im gröfsten Glanz. Mars, rechtläuflg in
Jungfrau und Wage, ist am westlichen Himmel abends zu beobachton, wird
am 1. Juli 2 Uhr Berliner Zeit morgens vom Monde bedeckt Jupiter, bis
Mitte Juli rechtläuflg, dann rückläufig, im Wassermann, ist anfangs gegen
Morgen, zuletzt die ganze Nacht sichtbar. Saturn, rückläufig im Steinbock,
ebenso, und auch Uranus im SchĂĽtzen. Neptun, bei ja Geminorum, ist nicht
mehr wahrnehmbar.
Von Meteorschwärmen fallon in diese Zeit ein Schauer vom 26.-29. Juli,
besonders aus dem Schwan herkommend; ferner vom 9. — 13. August der sehr
reiche Laurentiusstrom, mit dem Hauptradianten bei 7 Persei. Ăśberhaupt ist
von Mitte Juli bis Mitte August eine an Sternschnuppen auffallend reiche Zeit
Sterasedeekiigei doreh den Mond (sichtbar fĂĽr Berlin):
Eintritt Austritt
9. Juli p Sagittarü (4. Gr.) 9» 14 ■> abends 10 »» 22» abends
19. „ 38 Arietis (5. ,) 2 48 früh 3 53 früh
11. August
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Erdnähe 26. Juni 24. Juli
21.
Aug
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Erdferne 13. Juni 10. Juli
6. August
Senie.
Steinzeit f. den
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mittl. Berl. Mittag.
Zeitgleichung.
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33
48.3
+
0
33.5
5
10
6
51
FL
Dr. Josef Maria Eder, Wien: Die Grundlage der Photographie mit
Geiatine-Emulsioneii. II. Auflage I. Heft des dritten Bandes aus dem
ausfĂĽhrlichen Handbuch der Photographie desselben Verfassers. Ver-
lag von Wilhelm Knapp, Hallo a. S.
Es wäre überflüssig, dem Ederschen Buch Empfehlungsworte zur Be-
gleitung mitzugeben. Wer sich fĂĽr die wissenschaftliche und technische
Grundlage der Photographie interessiert und darĂĽber ausgiebig unterrichtet
sein will, wird kaum ein besseres und vollständigeres Buch zur Hand nehmen
können. Der Inhalt des Heftes ist außerordentlich reichhaltig. Eder behandelt
zunächst dio Eigenschaften und Zusammensetzung der Silber- und Haloid-Ver-
bindungen und des Ammoniaks, forner die Entstehung von Bromsilber-, Jod-
silber- und Chlorsilber-Emulsionen. Dann wird sehr eingehend ĂĽber die
Eigenschaften und die Wahl der Gelatinosorten berichtet sowie natĂĽrlich auch
über die Mischungsverhältnisse bei der Darstellung von Gelatine-Emulsionen.
Weitere Kapitel bringen theoretische Erörterungen über die Eigenschaften
der Bromsilber-Gelatinc in ihrem Verhalten gegen Licht, Wärme, Druck und
Elektrizität und unter Mitwirkung von Entwicklersubstanzen, ferner über die
chemische Zersetzung des Bromsilbers, welche zur Gesamtschwärzung im Ent-
wickler fĂĽhrt, ĂĽber Schleierbildung u. a. m. Sehr interessant sowohl in
praktischer wie in wissenschaftlicher Beziehung sind die Auseinandersetzungen
des Verfassers über die Einwirkung verschiedener Lichtwellenlängen auf
verschiedene Emulsionen und ĂĽber den Einflufs von FarbstofflĂĽsungen, die
die sogenannte farbenempfindliche Platte herstellen. Ein System der Sensi-
tometrie und die Chemie der orgauischen Entwickleraubstanzen beschliefst
das Buch. B. D.
Verlas: n«rmmno Paetel in Berlin. - Druck: Wilhelm Gronau'! Buchdrucker«! In Barlin -8chöneberj.
Pnr die Bedaction Tenntwortlich : Dr P. Schwann in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Ăśheisettnnftrecht Torbehalten.
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Ăśber selbstverzeichnende Pyrometer.
Nach einem Vortrage im Verein mr Beförderung des Oewerbefleisses
am 6. October 1902
Ton Professor Dr. H. Wtddiog, Geheimem Bergrat in Berlin.
-v/fn den meisten technischen Betrieben werden hohe Wärmegrade
gebraucht, und vielfach hängt von der genauen Innehaltung be-
^ stimmter Wärmegrade der Erfolg ab. Mit Recht hat man sich
daher seit langen Zeiten bemüht, die Intensität der Wärme zu messen.
Man hat dazu sehr verschiedene Mittel versucht. Die Wärme als
solche läfst sich praktisch nicht wohl messen, wenigstens nicht auf
die Weise, dafs man die Wellenlänge der Wärmestrahlen feststellt,
und daher ist man stets dazu ĂĽbergegangen, allein an den Wirkungen
der Wärme deren Intensität zu beobachten.
Die älteste Methode, die auch heutigentags noch am meisten
gebräuchlich ist, besteht in der Beobachtung der Volumenänderung
der Körper durch die Wärme, sei es der Vermehrung oder der Ver-
minderung des Volumens. Schon in alten Zeiten hatte der Engländer
Wedgewood ein Pyrometer gebaut, bei welchem er die Volumen-
verminderung des Tones als Mafsstab der Wärme benutzte. Es be-
steht aus zwei unter einem spitzen Winkel auf einer Platte befestigten
Metalllinealen, auf denen sich eine erfahrungsmäfsige Teilung befindet
und zwischen welche Tonkegel, die in dem zu messenden Medium er-
hitzt waren, geschoben werden. Je weiter sie vordringen, desto höher
ist die Temperatur; denn der Ton zieht sich infolge des allmählichen
Verlustes seiner drei Molekeln Wasser bei der Erwärmung zusammen.
Dieses Pyrometer ist natĂĽrlich sehr unvollkommen, denn sobald
das Wasser fort ist, folgt der Ton der allgemeinen Regel der Aus-
dehnung durch die Wärme.
Himmel und Erde. IMt XV. U. 25
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386
Man hat danach die Ausdehnung von Metallen zum Marsstab
genommen, und da sich diese an nur einem Metall schwierig messen
läfst, benutzt man die Differenz der Ausdehnung von zwei Metallen.
Bald bilden beide Metalle zusammengelötet eine Spirale (vergl. Fig. 1),
bald sind ein Rohr und ein in dieses gesteckter Stab am unteren
Ende fest verbunden (vergl. Fig. 2). Da aber die Metalle die unan-
genehme Eigenschaft haben, wenn sie durch die Wärme ausgedehnt
Fig. J.
waren, nioht wieder auf ihre ursprüngliche Länge
zurĂĽckzukehren, so hat man sich lieber eines M
Metallrohres und eines hineingesteckten Stabes aus
Kohle in Form von Graphit bedient, welcher nur
sehr wenig sein Volumen ändert. Das Metallrohr
ist mit der Kapsel, der Graphitstab mit dem Zeiger-
werk verbunden. Der Zeiger gibt die Temperatur
auf der empirisoh eingeteilten Skala an. Solche
Pyrometer sind lange Zeit auf EisenhĂĽttenwerken
beinahe ausschliefslich in Gebrauch gewesen, um
Temperaturen des heifsen Windes und der Sohornsteingase zu messen.
Auch diese Pyrometer sind indessen unvollkommen. Man mufs sie
sehr häufig revidieren und nachstellen. Besser als die Ausdehnung fester
Körper ist die Ausdehnung von Flüssigkeiten zu benutzen. Unsere
Grundskala aller Wärmeanzeiger gründet sich ja auf die Ausdehnung
des Quecksilbers. Wir sprechen von Graden Celsius, und diese sind
Hundertstel der Ausdehnung des Quecksilbers zwischen dem Schmelz-
punkt des Eises und dem Siedepunkt des Wassers. Bei den Queck-
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Silberthermometern, die früher nur höchstens bis zum Siedepunkte
des Quecksilbers hinauf gebrauoht werden konnten, hat man daduroh
einen nicht unwesentlichen Fortschritt in der Brauchbarkeit gemacht,
date man ein geprefstes Gas, z. B. Stickstoff oder Kohlensäure, über
die Quecksilbersäule bringt Das in Fig. 3 abgebildete Pyrometer,
das von Herrn A. G. Sohultze in Berlin gebaut wird, enthält über
der Quecksilbersäule auf 20 Atmosphären geprefste Kohlensäure.
Dadurch wird es möglich, es bis auf 650 Grad zu gebrauchen. Dieses
Pyrometer besitzt aufserdem eine fĂĽr die Teohnik sehr wichtige
Eigenschaft, nämlioh die Möglichkeit des Fernbeobachtens. In der
Figur sieht man Übertragungsklemmen (A), welche durch Drähte
mit einem Elektrizitätsmesser verbunden sind. Ein Aufseher z. B.
kann, im Bureau sitzend, Schwankungen der Temperatur eines Ofens
beobachten, da mit dem Steigen und Fallen des Queoksilberspiegels
jedesmal der betreffende Kontakt in SchlĂĽte kommt. Mit geringerem
Erfolge hatte man ĂĽbrigens zu gleiohem Zweoke einen Kohlenfaden
in das Quecksilber eingeschlossen.
Wenn Quecksilber nicht mehr fĂĽr niedrige Temperaturen zu
gebrauchen ist, dann bedient man sich des Alkohols und anderer
FlĂĽssigkeiten, die schwerer erstarren als Quecksilber.
Fig. 3.
25*
388
Auch die Ausdehnung" der Gase hat man benutzt, um an ihrer
Volumenänderung die Temperaturen zu messen, und da die Gase in
weiten Grenzen die Eigenschaft teilen, sich bei je einem Grad Celsius
um V273 ihres Volumens auszudehnen, so haben wir hiermit das
genaueste und beste Verfahren erreicht Das Luftpyrometer ist das-
jenige Instrument, welches wir heutigentags noch allgemein benutzen,
um andere Wärmemersinstrumente zu kontrollieren oder ihre Skalen
einzuteilen. Freilioh grĂĽndet sich dessen Einteilung auch wieder auf
die Einteilung des Queoksilberthermometers. Wir wĂĽrden dieses
Luftpyrometer allein benutzen, wenn seine Anwendung nicht sehr
schwierig wäre, so dafs es sich nicht für die Praxis, sondern nur für
Beobachtungen im physikalischen Laboratorium eignet. Eine Art
der Benutzung von Gasen ist allerdings sehr vernachlässigt worden;
das ist die Benutzuug der Gase im Zustande der Dissoziation aus
festen und flüssigen Körpern. In dieser Richtung ist, soviel ich weifs,
bisher nur die aus dem Kalkstein bei der Erhitzung sich entwickelnde
Kohlensäure benutzt worden, ohne dafs das Verfahren praktisch
geworden wäre, weil es sehr ungenaue Ergebnisse liefert. Ich mufs
gestehen, dafe hier ein bedauernswerter Mangel dor Wissenschaft vor-
liegt. Die wissenschaftliche Grundlage unserer ganzen Chemie ist
eigentlich die Thermochemie, und diese ist das Stiefkind der Chemiker.
Selten beschäftigt sich ein Gelehrter damit eingehend, und wir kommen
auf diesem Gebiete sehr langsam vorwärts. Wir würden manchen
technischen Fortschritt erreichen können, wenn in der Theorie der
Thermochemie mehr gearbeitet und geleistet wĂĽrde.
Weiter ist als Grundlage der Wärraemessung die Veränderung
des Aggregatzustandes der Körper benutzt worden. Man hat
dabei zuerst die Schmelzbarkeit von Metallen und Metalllegierungen
verwertet Gewöhnlich werden diese Körper in Form von Würfelohen
in einem Löffel oder einer Kapsel in den heifsen Raum gebracht. Ein
Würfel findet sich geschmolzen, der mit dem nächst höheren Schmelz-
punkt nicht; die Temperatur liegt also zwischen den Schmelzwärme-
graden beider. Statt Metall und Metallegierungen hat man mitgrĂ–fserem
praktischen Nutzen Ton bestimmter Zusammensetzung und Mischung
benutzt. Darauf beruhen die mit grofsem Erfolge, namentlich in der
Keramik, angewendeten Segerschen Kogel, welche man in das Feuer
hineinstellt und an denen man beobachtet, welcher zunächst umbiegt
Diese Segersohen Kegel haben nur einen Nachteil: man mufs in den
Raum, dessen Wärme man messen will, hineinsehen können, und mufs
so lange beobachten, bis die Schmelzung des Kegels eintritt und sich
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seine Spitze umlegt. Bei sämtlichen, bisher angeführten Wärmemefs-
instrumenten, bis auf die eine Art des Quecksilberthermometers, ist
eine Fernablesung ausgeschlossen.
Ein weiterer Weg der Wärmeintensitätsmessung ist der, die
Wärmemenge zu Grunde zu legen, und darauf beruhen wiederum
einige in der Praxis viel benutzte Pyrometer. Da man nämlich die-
jenige Wärmemenge, welche nötig ist, 1 kg Wasser um 1° C. zu
erwärmen, eine Wärmeeinheit nennt, so kann man aus den Wärme-
einheiten auch die Temperatur finden. Das sogenannte Kalorimeter,
das W. Siemenssohe sowohl wie das Fische rsche, beruhen auf
Kij. 4.
diesem Grundsätze. Beide unterscheiden sich duroh das Metall,
welches erhitzt wird und welohes dann in eine bekannte Gewichtsmenge
Wasser geworfen wird. Kennt man die Temperatur des Wassers vor
und naoh dem Einwerfen, so läfst sich am Quecksilberthermometer
sogleich die Temperatur des Metallkörpers (Platin oder Kupfer), dessen
Gewioht und spezifische Wärme ebenfalls bekannt waren, ablesen.
Das Kalorimeter von W. Siemens wird vielfach angewendet,
namentlich, um die Wärmemessung von Gasen (Wind, Rauchgasen
u. s. w.) vorzunehmen. Man hat den Vorteil, dafs man nicht notwendig
bat in das Feuer hineinzusehen, aber man hat mannigfache Ungenauig-
keiten, z. B. durch die Überführung des Metallkörpers vom Ofen
zum Kalorimoter, in den Kauf nehmen mĂĽssen, und findet aufserdem
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390
nur immer eine einmalige Temperatur. Auch hier ist natĂĽrlich Fern-
ablesung ausgeschlossen.
Sodann stützt sich eine andere Methode der Wärmemessung auf
die Schnelligkeit der Wärmeleitung fester Körper. Hierauf beruht
z. B. ein Apparat, der von dem Schweden Wiborgh erfunden ist
und Thermophon genannt wird. Tonkäpselohen, in welchen eine
kleine Menge eines explosiven Körpers eingeschlossen ist, werden der
zu messenden Wärme ausgesetzt. Die Zeit bis zur Explosion, welche
von der Wärmeleitung abhängig ist, wird duroh eine Uhr festgestellt,
und nach der Zeit liest man die Temperatur aus einer Tabelle ab.
Die Benutzung des Thermophons in der Praxis ist sehr bequem, ent-
behrt aber der Genauigkeit bei Anwendung aufgeschmolzene Körper,
z. B. Schlacke.
Alle Apparate, die ich bisher erwähnt habe, waren praktisoh
immer noch nieht handlich genug. Man ging daher zu einer ganz
anderen Grundlage ĂĽber, und versuchte die Optik zu verwerten, um
die Wärme zu messen, und da haben wir drei interessante Apparate,
welche in letzter Zeit erfunden sind, zu verzeichnen.
Die Erfahrung lehrt, dafs, wenn man das Licht eines glĂĽhenden
Körpers duroh ein Glasprisma zerstreut, die Länge des erhaltenen
Lichtspektrums von der Höhe der Wärme abhängt Seine Länge
wächst mit der Temperatur. Man spricht ja auoh schon in der Praxis
von Rotglut, Gelbglut, Blauglut, entsprechend den Spektralfarben.
Wenn man sich daher ein Liohtspektrum bei irgend einer bestimmten
Temperatur erzeugt, die man mit anderen Instrumenten bequem messen
kann, so kann man nun durch Vergleich des Spektrums mit dem
Glutspektrum wissen, wie hooh die Temperatur z. B. in einer Flamme
ist, sobald man den Apparat darauf hinriohtet. In Fig. 4 ist ein solcher
Apparat abgebildet. Professor H e m p e 1 hat ihn erfunden, Fr. Schmidt
& Haenech in Berlin verfertigen ihn. Man richtet das in der
Figur reohts hinten gezeichnete Kollimatorrohr auf diejenige Stelle
im Innern eines Ofens, deren Temperatur man bestimmen will, und
beobachtet, bis zu welchem Teilstrich der Skale man das blaue Ende
des Spektrums sehen kann. Die Skale ist empirisch bestimmt und
gibt unmittelbar die Temperatur an. Diese Idee ist sehr genial, aber
es gehört ein ungemein gutes Auge dazu, um die Grenze des blauen
Feldes scharf zu erkennen, zumal wenn man vorher durch die Glut
des unmittelbar angeschauten Körpers geblendet ist Auch tritt recht
bald eine ErmĂĽdung des Auges ein. Das Instrument ist daher mehr
fĂĽr ein Laboratorium, als fĂĽr die Praxis geeignet.
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Demnächst ist ein optischer Wärmemefsapparat von Wann er zu
nennen. Auch Wann er benutzt zwar das Spektrum, aber nur eine
einzige Farbe, die rote, vergleicht OlĂĽhfarbe und Polarisationsfarbe
und stellt beide ein. Das Instrument wird von Dr. R. Hase in Han-
nover geliefert; die Abbildung (Fig. 5) zeigt es im Gebrauoh.*)
Der Wannersche Apparat bedeutet einen sehr erheblichen Fort-
schritt, er hat nur einen Nachteil. Er bezieht seine Messungen auf
eine Normallampe, und diese mufs in jedem einzelnen Falle erst ein-
gestellt werden; der Apparat erfordert also eine doppelte Einstellung,
und die Lichtintensität ist nicht gerade stark, so dafs auch hier grofse
Ăśbung erforderlich wird.
=5
Wir kommen zum dritten optischen Wärmemesser, dem von
Siemens & Halske. Auch hier bildet zwar ebenfalls eine elektrische
GlĂĽhlampe, wie im Wann ersehen Pyrometer, den Marsstab, um damit
die Helligkeit eines glühenden Körpers zu vergleichen, dessen Tempe-
ratur gemessen werden soll, aber hier wird die Helligkeit der Lampe
durch Einschalten von Widerständen geregelt. Das ist meiner Er-
fahrung nach nooh zuverlässiger und einfaoher als die vorher an-
gegebene Einrichtung. Der Apparat ist sohematisoh in Fig. 6 dar-
gestellt. Man liest die Temperaturen auf einem Amperemeter ab.
Die wissenschaftliche Grundlage ist von Holborn und Kurlbaum
gegeben worden und ist natĂĽrlich die gleiche wie fĂĽr das Wannersche
Pyrometer. Die Handlichkeit ist beim Siemens & Halske sehen
*) Genauere Beschreibung in der Chemiker-Zeitung 1901 No. 93.
392
Pyrometer geringer als beim Wannersohen, die Einstellung aber viel
leiohter und sicherer. Jedenfalls erscheint mir das Siemens und
Halskesche Pyrometer unter allen Pyrometern das fĂĽr die Praxis
brauchbarste. Jeder Arbeiter lernt es leicht handhaben.
Aber alle Instrumente, die wir bisher kennen gelernt haben,
einsohliefslich der optischen, bedingen, dafs man den glühenden Körper,
dessen Temperatur man messen will, sehen mute. Bei vielen Vor*
gangen der Technik ist das nicht möglich. Manchmal will man die
Temperatur eines ganz geschlossenen Ofens, manchmal die Tempe-
ratur eines mit Schlacke bedeckten Metallbades wissen; da hilft kein
optisches Pyrometer.
Wir kommen schliefslich zur Benutzung der Elektrizität für
Wärmemessungen. Schon der bekannte Wilhelm Siemens in Eng-
land hatte einen sogenannten Widerstandswärmemesser konstruiert,
weloher darauf beruhte, dafs der elektrische Widerstand in einer
Platinspirale gemessen wurde. Der Widerstand in einem Draht steigt
bekanntlich ungefähr mit der absoluten Temperatur. Die genauere
Formel hatte Siemens ausgerechnet Die Platinspirale wurde in den
Ofen gebracht und der Widerstand abgelesen; aber ein Ăśbelstand
war dabei: die Platinspirale läfst in ihrer Wirkung nach, oder viel-
mehr der Widerstand wächst mit jedem Gebrauche. Einmal konnte
man daher damit genau messen, das zweite Mal zeigte sich schon ein
Fehler. Das Instrument hat sich nicht Bahn gebrochen. Ich erinnere
an das Ohmsche Gesetz: E = J • W. Beim optischen Pyrometer liest
man J (Ampere), beim W. Siemensschen W (Ohm), im folgenden, wie
ich vorausschicke, E (Volt) ab.
Es war eine ungemein wichtige Erfindung des Franzosen Le
Chatelier, weloher auf den Gedanken kam, nicht den Widerstand in
einem Draht zu messen, sondern die elektromotorische Kraft (E) eines
Thermostroms, welcher erzeugt wird, wenn man zwei Metalle eng mit-
einander verbindet und sie erhitzt. Dieses Pyrometer ist wohl, wie
man sagen darf, gegenwärtig das zuverlässigste aller praktischen
Pyrometer, welche man kennt FĂĽr sehr hohe Temperaturen benutzt
man ein Element aus Platin und Platinrhodium, TĂĽr geringere ein
solches aus Kupfer und Konstantan (einer Legierung von Nickel,
Kupfer und Zink), die zusammengeschweifst den Thermostrom geben.
Hinsiohtlich der Bauart des Voltmeters haben Siemens und
Halske erhebliche Fortschritte gemacht In Fig. 7 ist die Anord-
nung der beweglichen Spule, des Weicheisenkerns und des Magneten
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393
dargestellt Fig. 8 gibt die Oesamtanordnung, Fig. 9 das Mefsinstru-
ment wieder.
Diese Pyrometerart hat den grofsen Vorzug, nioht nur Fern-
ablesungen zu gestatten, denn man kann das Voltmeter aufstellen, wo
man will, sondern man kann auch das Element in den unsiohtbaren
Raum oder in das Metall versenken, deren Temperaturen man
messen will.
Alle bisher beschriebenen Pyrometer haben einen Naohteil: man
kann nur im gegebenen Augenbliok die Temperatur messen. Nun
Fi*. 7.
kann es aber vorkommen, dafs z. B. auf EisenhĂĽttenwerken, wo
mit erhitztem Winde gearbeitet werden mufs, dessen Temperatur be-
ständig bekannt sein mufs. Ein Fehler des Arbeiters, der die Gas-
und Windstellung in den Cowper-Winderhitzern zu besorgen hat,
Jacht sich schwer am Hoohofengang. Zu spät bemerkt, läfst er sich
nicht wieder gut machen. Daher ist es von grofser Bedeutung, die
im Laufe eines längeren Zeitraumes vorgekommenen Schwankungen
genau festzulegen, d. h. selbstverzeiohnende Pyrometer zu schaffen.
Es ist der Endzweck meiner Darlegungen, auf die jetzt erreiohte
Herstellung auch eines solchen Pyrometers aufmerksam zu machen,
welche der Firma Siemens & Halske in einer vorzĂĽglichen Weise
gelungen ist. Schon vor mehreren Jahren hatte ein Engländer ein
Pyrometer gebaut, bei welchem die Stellung der Nadel auf der Tempe-
394
raturskala des Voltmeters dadurch festgelegt wurde, dafs ein auf der
Nadel befestigter Spiegel den Lichtstrahl einer elektrischen GlĂĽhlampe
in eine Dunkelkammer warf, innerhalb derer ein photographisch vor-
bereitetes Band sich mit bestimmter Geschwindigkeit bewegte. Bei
Dunkelheit wurde das Band hervorgeholt und behandelt; so hatte
man am nächsten Tage ein photographisches Bild — aber dann war
es gewöhnlich zu spät, um die Arbeiter zur Rechenschaft zu ziehen;
das Unglück war längst geschehen.
Sehr wichtig war es daher, dafs sich Siemens & Halske
darauf legten, ein selbstzeichnendes Pyrometer anzufertigen, welches
Fig. 8. Fig. 9.
gestattet, jeden Augenblick den Stand der Temperatur nicht nur fest-
zulegen, sondern auch ablesen zu können. Man sieht rechts in Fig. 10
das Voltmeter, dessen Nadel mit einem nach abwärts gerichteten kleinen
Stift versehen ist Eine bogenförmige Schiene, welche in neuerer Zeit
aus einem durchsiohtigen Stoffe hergestellt wird, wird von einem Uhr-
werk alle Minuten (oder alle 15 Sekunden) hinabgedrĂĽckt. Der Punkt,
den der Stift der Nadel macht, wird durch ein blaugefärbtes Band
auf das durch das Uhrwerk bewegte, eingeteilte Papier ĂĽbertragen.
In jeder bestimmten Zeiteinheit, also bei gewöhnlichen Messungen in
HĂĽttenwerken in einer Minute, bei genaueren Arbeiten alle 15 Se-
kunden, entsteht ein Punkt, welcher die Temperatur angibt, und so
hat man eine ständige, stets sichtbare Kontrolle.
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395
Wir sind gewissermafsen damit gegenwärtig an ein Instrument
gelangt, welches allen Anforderungen genĂĽgt. Es gibt die Tempe-
ratur in einem dem Auge nioht zugängliohen Räume an, überträgt
die Messung der Höhe der Temperatur auf beliebige Entfernungen
und verzeichnet sie daselbst in einer jeden Augenblick sichtbaren
Weise.
Wie aber in allen Ăśbertragungen der Wissenschaft auf die
Technik niemals das Vollkommenste erreicht wird, sondern vielmehr
immer wieder neue Aufgaben herantreten, so ist es auch hier. Das
zuletzt vorgefĂĽhrte Instrument ist nur so lauge brauchbar, als das
Thermoelement nicht schmilzt, also bis höchstens 1750° C. Ferner
kann das Element nur da eingefĂĽhrt werden, wo es nicht angegriffen
Vig. 10.
oder gar gelöst wird. Freilich umhüllt man es mit Porzellan, Niokel
u. dergl., aber das Porzellanrohr springt und wird aufgezehrt, sobald
man es in eine basische Schlacke, z. B. im Martin-Ofen bringt FĂĽr
den letzten Fall hatte ich Magnesia vorgeschlagen, aber daraus kann
man nur kurze und weite Rohre machen, die teuer und spröde sind.
Leider ist mir oft genug bei meinen Versuchen die HĂĽlle gesprungen
und ein solches Element in dem flĂĽssigen Eisen, in welches ich das
Rohr gesenkt hatte, aufgelöst worden; das kostete jedesmal 150 M.
Das optische Pyrometer hat gegenĂĽber dem elektrischen den
Vorteil, dafs die höchsten Temperaturen gemessen werden können,
aber man kann es im Eisenhüttenwesen nur in einzelnen Fällen an-
wenden, in vielen nicht, z. B. was sehr wichtig wäre, um die Tempe-
ratur des Flufseisens in der Oiefspfanne zu bestimmen. Man könnte
390
ja fragen : hat der EisenhĂĽttenmann so sehr notwendig, solche Tempe-
raturen auch in Räumen zu messen, in die er nicht hineinblicken kann?
Diese Frage mute mit Ja beantwortet werden. Wer die DĂĽsseldorfer
Ausstellung besucht hat, ist gewifs erstaunt gewesen ĂĽber die Vor-
zĂĽgliohkeit der aus Flufseisen hergestellten GĂĽsse, welche von einer
Reinheit und Dichtigkeit sind, dafs der Maschinenbau damit einen
wesentlichen Schriti vorwärts kommt, da sich jetzt eine Menge Teile
aus Flufseisen mit einer beinahe vierfachen Festigkeit statt aus Gufs-
eisen herstellen lassen, was gestattet, die Teile schwächer, die Maschinen
daher leichter zu bauen. Aber kommt man auf die Werke! Wer
bestimmt da die so wiohtige Temperatur des Flufseisens vor dem Gusse?
Der Giefsmeister und dessen geĂĽbtes Auge. Er sagt zu seinen
Arbeitern: jetzt fangt an zu giefsen und jetzt hört wieder auf, wenn
einmal das Eisen kalt genug ist und das andere Mai zu kalt wird. Das
ist praktische Erfahrung, aber keine Wissenschaft. Man darf sioh
nicht abhängig machen von der Tätigkeit des Einzelnen. In solchen
Fällen soll die Wissenschaft eintreten und Instrumente liefern, die
den Erfolg unabhängig von der Individualität des Einzelnen machen.
Hoffen wir, dafs auf diesem Wege noch weiter vorgegangen wird,
und ich denke, es wird mir vielleicht gelingen, in späterer Zeit auf
Grund von Versuchen, die ich gegenwärtig in Verbindung mit der
Firma Siemens und Halske maohe, mitteilen zu können, dafs auoh
diese Aufgabe ihrer Lösung entgegengeführt ist. Meine Versuche
grĂĽnden sich auf die von mir gemachte Entdeckung, dafs auch Erden
bei sehr hohen Temperaturen thermoelektrische Ströme geben, und
dafs Erdelemente bei praktisch erreichbaren Wärmegraden einesteils
unschmelzbar, andernteils unlöslich in basisohen Schlaoken sind.
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Zur Naturgeschichte des Ă„thers.*)
Von Eduard Sokal in Berlin-Charlottenburg.
)ie Zeit liegt nioht allzuweit hinter uns, wo zur Erklärung der
Licht- und Wärmeerscheinungen, der Elektrizität und des
Magnetismus sogenannte Imponderabilien (gewichtslose Stoffe)
herangezogen wurden. Es sollten dies Substanzen sein, die, sinnlich
unwahrnehmbar, den Gesetzen der Schwere nicht unterliegen. Sie
sollten uns Licht und Wärme spenden, sowie die elektromagnetischen
Phänomene bewirken. Von der gewöhnlichen Materie grundverschie-
den blieben sie auch untereinander fremd, man erkannte zwisohen
ihnen keinerlei Verwandtschaft oder Ăśbergang an. Es gab sogar
zwei elektrische Fluida — ein positives und ein negatives — und
ebenso zwei magnetisch wirksame Prinzipien, ein nördliches und ein
sĂĽdliches. Sie waren fĂĽr die Phantasie unsrer Altvordern gewisser-
mafsen das Symbol der führenden Naturkräfte; in Gestalt dieser un-
greifbaren, immateriellen Substanzen feierten ihre Wiedergeburt jene
antiken mythologischen Gottheiten, die ja auch nur ein Sinnbild der
wohltätigen oder verderblichen Naturgewalten waren. — Von dieser
ganzen Gesellschaft ist in der modernen Physik nur ein Agens ĂĽbrig
geblieben — der Äther. Nach Hesiod ist Äther der Sohn des
Chaos und der Kalligone, er wurde bereits in den Liedern des
Orpheus als „Weltseele", deren belebender Hauch alles Sein durch-
dringe, gefeiert Nach Aristoteles hat nur der Äther die Fähigkeit
der vollendeten ewigen und gleichförmigen Kreisbewegung; aus ihm
besteht ausschließlich die Sphäre der Fixsterne, während die anderen
Planeten bereits eine Beimengung irdischer Bestandteile aufweisen.
Für die moderne Wissenschaft war der Äther zunächst der Träger der
Liohterscheinungen. — Der Äther ist im Sinne der von Huyghens auf-
gestellten Undulationshypothese des Lichtes ein zusammenhängendes.
*) S. P. Thompson: .Faraday und die englische Schule der Elektriker",
Drude: .Physik des Äthers-, Grofse: .Der Äther und die Fernkräfte", Lodge:
.Neueste Anschauungen über Elektrizität-, 1900—1902.
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reibungsloses, mit Beharrungsvermögen ausgestattetes feines Medium,
welches den ganzen Raum erfĂĽllt, zwischen die MolekĂĽle aller Ma-
terie dringt, sich in diese einbettet und sie untereinander verbindet.
Seine Funktion besteht zunächst nur darin, die Lichtwellen zu über-
tragen; wir werden Bpäter sehen, wie er duroh die geniale Konzeption
von Faraday, Maxwell und Hertz zum Bewegungs- und Energie-
träger xar' ecoxsv wurde.
Um die transversalen Schwingungen des Lichtes vermitteln zu
können, mufs die Äthersubstanz, wie Grofse in seiner meisterhaften
Abhandlung ĂĽber die Geschichte der Ă„thertheorie ausfĂĽhrt, gewisse
Eigenschaften eines festen, d. h. starren Körpers besitzen- Die
Erscheinungen der Polarisation des Lichtes, welohe zur endgiltigen
Annahme der Transversalsohwingungen gefĂĽhrt haben, sind demge-
mäfs der Ausgangspunkt der modernen Untersuchungen über die
Konstitution des Ă„thers geworden. Starrheit bedingt den Widerstand
gegen zerrende oder scherende Spannung, d. h. gegen Veränderung der
Form. Flüssige Körper besitzen diesen Widerstand nioht und können da-
her Querschwingungen, d. h. Bewegungen senkrecht zur Richtung der
Kraft, nicht auf längere Strecken fortpflanzen. Die Wellen, welohe
ein in das Wasser geworfener Stein über die Wasserfläche zieht, sind
allerdings Querwellen, da ja die Wasserteilchen auf und ab hĂĽpfen,
während die Bewegung sich in konzentrischen Kreisen wagereoht fort-
pflanzt, sie erlöschen jedoch bei dem geringen Widerstande des
Wassers gegen Formveränderung bald. Die Lichtwellen pflanzen
sich, wie man bereits seit mehr als zwei Jahrhunderten weifs, mit
einer Geschwindigkeit von 300000 km oder 3X10 10 cm in der
Sekunde fort. In ungemessene Fernen vermittelt der Ă„ther diese
Bewegung und mufs daher einen gewissen Grad von Starrheit besitzen.
Man nennt diese Starrheit auch wohl Formelastizität und versteht
eben darunter die Fähigkeit, sich gegen zerrende Kräfte zu behaupten.
In der Technik spielt die Elastizität oder Starrheit des Stahls eine
wichtige Rolle. Der beste Stahl hat eine so bedeutende Starrheit, dafs
dagegen diejenige des Ă„thers verschwindend klein ist. Aber kein
Stahl könnte (aus einem gleich zu erwähnenden Grunde) Schwingun-
gen von der Schnelligkeit der Lichtschwingungen ĂĽbertragen. Glas,
das auch einen ziemlichen Grad von Starrheit besitzt, kann Schwin-
gungen mit einer Geschwindigkeit von einer halben Million Centi-
meter in der Sekunde ĂĽbertragen, aber der Ă„ther in solchem Glase,
welcher Lichtschwingungen ĂĽbermittelt, schwingt doch 40 000 Mal
schneller. Dieser grofse Unterschied wird bedingt durch die so sehr ver-
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schiedene Diohte der Stahl-, Glas- und Ă„thersubstanz. Geschwindigkeit,
Starrheit und Diohte stehen nämlich in der Beziehung, dafs das Quadrat
der ersteren stets dem Quotienten der beiden anderen gleioh ist
Man setzt bekanntlich die Diohte des Wassers gleioh 1 und ver-
gleicht damit diejenige der anderen Körper; die uns umgebende Luft
ist 773 Mal so dĂĽnn. Der Ă„ther dagegen besitzt nach den Berech-
nungen Lord Kelvins (Sir William Thomsons) eine derartig ge-
ringe Diohte, dafs der Dezimalbruch, welcher sie darstellt, erst 21 Nullen
hat, bevor die wirklichen Zahlen beginnen.
Also ein kontinuierlicher, starrer, fester Körper mufs der Äther
sein, damit er die von ihm geforderten Transversalsohwingungen zu
vollführen vermag. Die flüssigen und gasförmigen Körper können,
da sie einen Widerstand nur gegen Kompression äussern, lediglich
solohe Schwingungen vermitteln, die sich in derselben Richtung be-
wegen, wie die Kraft selbst Durch diese Schwingungen, welche man
Longitudinal wellen nennt wird unserm Ohre der Sohall mit einer Ge-
schwindigkeit von 330 m in der Sekunde durch die Luft vermittelt
In vielen flüssigen und festen Körpern verbreiten sich diese Schwin-
gungen trotz der gröfseren Dichte jener Stoffe bedeutend schneller,
weil eben der Widerstand gegen die Kompression, die Starrheit, so
bedeutend grösser ist als bei der Luft Ein Körper, weloher inkom-
pressibel ist d. h. unendlich grofsen Widerstand gegen Druck in der
Längsrichtung besitzt würde auch mit unendlicher Geschwindigkeit
Wellen von unendlioher Länge verbreiten, er würde mit anderen
Worten nicht geeignet sein zur Fortleitung von Längsschwingungen.
Beim Ă„ther selbst kennt man bislang mit Sicherheit nur Quersohwin-
gungen, da die Röntgenstrahlen, die ihr Erfinder selbst anfangs für
Längsschwingungen halten zu müssen glaubte, sich (wenigstens nach
den Angaben einiger Forscher) als aufserordentlich kurze, stofsartige
Querschwingungen haben messen lassen. Der Ă„ther mufs daher als
inkompressibel betrachtet werden, so peinlich fĂĽr unsern Intellekt der
Widerspruch auch ist, der darin liegt, dafs die Gestirne sich durch
ein solohes Medium ohne wesentliche Reibungsverzögerung bewegen.
Helmholtz hat allerdings, wie Grofse darlegt die Gleichungen so
entwickelt dafs man nach ihnen die Längsschwingungen beseitigen
kann, ohne den Äther für inkompressibel erklären zu müssen. Da-
mit ist gewifs ein wichtiges Bedenken gegen die Ă„thertheorie ge-
fallen, wenn auch die starre Festigkeit desselben manchem noch
widerspruchsvoll genug erscheinen mag. — Die Äthertheorie, die iti
England durch Huyghens geschaffen wurde, sollte in ihrem Vater-
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lande bald zu neuem, mäohtigem Fluge die Schwingen regen. Newton,
dem grofsen Erfinder der Gravitationstheorie, widerstrebte bereits
ebenso wie seinen bedeutenden Zeitgenossen der Begriff unvermittelter
Fernwirkung. Er betrachtet daher auch nicht das Vorhandensein
einer solchen fem wirkenden Gravitationskraft als wirklich, sondern
sagt vielmehr: die Himmelskörper bewegen sioh so, als wenn zwischen
ihnen eine Anziehung bestände, wie sie durch das Gesetz gefordert
wird. Auf eine nähere anschauliche Darstellung des Vorganges ver-
zichtet er, getreu seinem stolzen Motto: „Hypotheses non fingo".
Unter dem EinflĂĽsse der grofsen Tragweite der Newton sohen Ent-
deckung kamen die Astronomen bald dahin, dafs sie die Schwierig-
keiten der Annahme einer solchen Kraft nur mehr als ideelle oder
metaphysische betrachteten, auf die man bei Erklärung der Natur-
erscheinungen nicht weiter RĂĽcksicht zu nehmen brauche, und das
Gravitationsgesetz wurde nun sogar das Muster fĂĽr viele Versuche,
physikalische Theorien aufzustellen. Die Ausdruoksform des New-
tonsohen Gesetzes begĂĽnstigte in der Folgezeit solche Auffassungen,
welche eine Fernwirkung von einer Masse auf eine andere, räumlich
getrennte annehmen. So kam es, dafs man sich weiter nioht darĂĽber
wunderte, dafs ein Magnet auf eine räumlich getrennte Nadel oder
dafs ein geladener Konduktor der Elektrisiermaschine auf ein Holun-
dermarkkügelchen aus beträchtlicher Entfernung anziehend oder ab-
stofsend wirkte. Man half sich mit der Annahme polarer Gegensätze
und die Schwierigkeit war erledigt. In analoger Weise wurde die
Wirkung der Induktionsströme auf Fernkräfte zurückgeführt. Nur zu
schnell erstarrt eben der schöpferische Gedanke zum Dogma, und bald
sind Tausende von den Fesseln einer Gedankenkette umfangen, die
ein einzelner selbstherrlich geschmiedet hat. E6 gibt Tausende von
wissenschaftlichen „Arbeitern", welche die Naturerscheinungen nur
durch das Prisma vorgefaßter Anschauungen beobachten können, die
„vision directe des ohoses" ist bei ihnen verloren gegangen. Was
wunder, wenn die Spule, von welcher der Gedankenfaden seine Ver-
bindungen schlügt, sich stets mit derselben trostlosen Einförmigkeit
abrollt Es bedurfte erst des wilden, undisziplinierten Geistes von
Faraday, der gleichsam mit der Unbefangenheit des ,,ersten Menschen14
an die Beobachtung' der Natur herantrat, um abseits von den breit-
getretenen Gleisen den reichen Schatz ĂĽberraschender Entdeckungen
zu heben, der auf dem Gebiete der Elektrodynamik zu finden war.
Von Faraday datiert auch der neue, ĂĽberraschende Aufschwung der
Äthertheorie. —
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In treffender Weise charakterisiert GroTse die soharf aus-
geprägte, originelle geistige Individualität Faradays. Faraday war
naoh ihm unstreitig der gröfete Experimentator seiner Zeit, vielleicht
aller Zeiten, und da er den Erscheinungen völlig unbefangen, ohne
RĂĽcksioht auf die herrschenden Anschauungen entgegentrat und nioht,
wie es meist der Fall ist, von dem ausging, was er gehört, gelernt
und gelesen hatte, so erklärte er die meisten Beobachtungen anders,
als es bisher geschehen war. Er gehörte, wie Helmhol tz sagt, „zu
derjenigen Klasse von Physikern, welohe an die Existenz von Fern-
kräften, d. h. von solchen Kräften, die durch den Raum wirken, ohne
zugleich in diesem eine Wirkung hervorzubringen, instinktiv nicht
glauben wollen". Er war der unbedingte Anhänger einer reinen
„Tatsachen- Wissenschaft". Er hörte zwar sagen, dafs bei der Elek-
trisierung eines Körpers man etwas in ihn hineinbringe, aber er sah,
dafs die eintretenden Ă„nderungen nur auĂźerhalb sich bemerkbar
machten, durohaus nioht im Innern. Faraday wurde gelehrt, dafs
die Kräfte den Raum einfaoh übersprängen, aber er sah, dafs es von
gröfstem Einflufs auf die Kräfte war, mit welchem Stoff der angeblich
ĂĽbersprungene Raum erfĂĽllt wurde. Faraday las, dafs es Elektrizi-
täten sicher gebe, dafs man aber über ihre Kräfte sioh streite, und
doch sah er, wie diese Kräfte ihre Wirkungen greifbar entfalteten,
während er von den Elektrizitäten nichts wahrzunehmen vermochte.
So kehrte sioh in seiner Vorstellung die Sache um. Die elektrischen
und magnetischen Kräfte wurden ihm das Vorhandene, das Wirkliche,
das Greifbare; die Elektrizität, der Magnetismus wurden Dinge, über
deren Vorhandensein man streiten kann. Die „Kraftlinien", wie er
die selbständig gedaohten Kräfte nannte, standen vor seinem geistigen
Auge im Räume als Zwangszustände, als Wirbel, als Strömungen, als
was auch immer — das vermochte er nicht anzugeben — , aber da
standen sie, schoben und drängten die Körper hin und her und
breiteten sich aus, von Punkt zu Punkt einander die Erregung mit-
teilend. Er suchte bei den damals neu entdeckten magnetischen und
elektrischen Erscheinungen immer wieder nach Veränderungen in den
dazwischenliegenden Körpern, welohe die Wirkung übertrugen. Da
fand er nun zunächst, dafs die Ladungsmengen bei einem Konden-
sator, z. B. einer Leydener Flasche, wesentlich abhängig seien von
dem zwisohen den Belegungen befindlichen Stoff. Dieser mufs ja
ein Niohtleiter oder Isolator sein; es ist aber ein wesentlicher Unter-
schied, ob man Glas oder Hartgummi oder z. B. Luft nimmt. Er
schlofs daraus, dafs irgend welohe Veränderungen, etwa „Spannungen"
Himmel and Erde. 1906. XV. 9 26
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bei der Ladung der Belegungen in dem zwischen liegenden Medium,
dem „ Dielektrikum1* eintreten. Da war denn Farad ay bereits bei
dem Ă„ther angekommen, den die Physiker sohon in einem anderen
Gebiete, in der Optik, hatten zugrunde legen mĂĽssen. Inzwischen hatte
der rastlose Forscher eine neue Beziehung gefunden, welche der An-
nahme Vorschub leistete, dafs der unseren Sinnen verborgene Ă„ther-
stoff bei den Erscheinungen der Elektrizität und des Magnetismus
mitwirke, die elektromagnetische Drehung der Polarisationsebene des
Lichtes. Noch entscheidender wirkte auf Farad ay das Ergebnis der
Untersuchungen von Weber und Kohl raus oh, wonach das Ver-
hältnis des elektromagnetischen zum elektrostatischen Mafesystem, d. i.
die Geschwindigkeit, mit welcher die Elektrizität ihre Wirkungen
fortpflanzt, als genau der Geschwindigkeit des Liohtes gleich bestimmt
wurde. — Es müfste als einer der sonderbarsten Zufalle betrachtet
werden, wenn die beiden Zahlen keinen inneren Zusammenhang
hätten. Diese inneren Beziehungen fafste Farad ay bereits zusammen,
jedooh in einer seinen Zeitgenossen noch unverständlichen Weise.
Erst Clerk Maxwells, seines genialen Sohülers spätere Darstellung
und Fassung (1865) haben ein vollständiges Verständnis für dieselbe
herbeigeführt. —
Die ganze soheinbare Fernwirkung der Elektrizität wollte
Faraday demnaoh durch eine elektrische Spannung der zwisohen-
liegenden Medien erklären. Auf den naheliegenden Einwand, wie
denn im leeren Räume andere Zustände als vollkommene Ruhe mög-
lich seien, konnte er antworten: „Ist denn der Raum leer? Zwingt
uns nicht schon das Licht, ihn als erfüllt zu denken? Könnte nicht
der Äther, welcher die Wellen des Liohtes leitet, auch fähig sein,
Ă„nderungen aufzunehmen, welche wir als elektrische und magnetische
Kräfte bezeichnen? Wäre nicht sogar ein innerer Zusammenhang
zwischen diesen Änderungen und den Wellen denkbar? — Clerk
Maxwell nahm diese Hypothese seines Meisters auf, gab ihr mathe-
matisch strenge Fassung und damit inneren Halt Er prĂĽfte seine
Gleichungen daraufhin, ob sie eine folgerichtige und mit den Tat-
sachen völlig übereinstimmende Darstellung der bekannten Erschei-
nungen gaben. Das war der Fall, und man konnte sich die Spannung
in dem Medium so grofs denken, dafs die Fernwirkung vollständig
auf diese kontinuierlichen Veränderungen zurückgeführt wurde. Das
Buch von Maxwell verdient naoh dem Urteil erster Forscher neben
den „Prinzipien14 von Newton genannt zu werden, wenn auch vieles
nur im Rohzustande, mit IrrtĂĽmern und Dunkelheiten behaftet dar-
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geboten wurde. Man kann, wie Hertz eich ausdrückt, „diese wunder-
bare Theorie nicht studieren, ohne bisweilen die Empfindung zu
haben, als wohne den mathematischen Formeln ein selbständiges
Leben und eigener Verstand inne, als seien dieselben kluger als wir,
klüger sogar als ihr Erfinder, als gäben sie uns mehr heraus, als
seinerzeit in sie hineingelegt wurde." Jede elektrisohe Störung er-
zeugt nach Maxwells Theorie, auf die hier des näheren nioht ein-
gegangen werden kann, eine magnetische, deren Fortpflanzungs-
riohtung senkreobt zu derjenigen der elektrischen Welle ist, diese
wieder eine elektrische und so verbreitet sich die Störung nach allen
Seiten des Raumes in zwei zueinander senkrechten Richtungen. Je
nach der Frequenz und Wellenlänge dieser Störungen erhält man
Licht oder strahlende Wärme oder Elektrizität oder Magnetismus, die
demnaoh alle Zwangszustände desselben Mediums, des Äthers, wären.
So stĂĽtzt der optische Teil im Lichte dieser neuen Anschauung den
anderen und dieser wieder jenen, wie die Steine eines Gewölbes,
„und das Ganze schien über einen tiefen Abgrund des Unbekannten
hinweg das Bekannte zu verbinden". Dieser tiefe Abgrund des Un-
bekannten war der fehlende Nachweis der Vermutung, dafs die In-
duktionswirkungen der Elektrizität ebenfalls Zeit zu ihrer Ausdehnung
gebrauchen und in ebensolohen Wellen von bestimmter Lange be-
stehen wie das Licht Dieser Nachweis ist bekanntlich erst durch
Hertz' unsterbliche Versnobe gefĂĽhrt worden.
Inzwischen hat Lord Kelvin (William Thomson) die Ă„ther-
theorie von ihren inneren WidersprĂĽchen zu befreien gesuoht und
weiteren Verallgemeinerungen entgegen gefĂĽhrt Zur Ausbildung seiner
Theorie benutzte er in auĂźerordentlich genialer Weise die experi-
mentelle Tatsache, dafs die Elastizität eines festen Körpers hervor-
gerufen werden kann durch die Bewegung einer FlĂĽssigkeit und
dafs eine in Bewegung begriffene FlĂĽssigkeit dabei Starrheit besitzen
kann. Man denke sich einen vollkommen biegsamen Gummischlauch
voll Wasser; er ist dann schlaff und nachgiebig. Sobald aber das
Wasser in rasohe Strömung versetzt wird, wird der Schlauch sofort
steif, und es erfordert eine grofse Kraft, um eine Beule hineinzudrĂĽcken.
Die FlĂĽssigkeit hat durch ihre Bewegung die Starrheit eines festen
Körpers erhalten. Legt man eine biegsame Kette um eine Walze und
dreht die letztere schnell, so wird die Kette steif. Denkt man sich
mehrere solcher Ketten hintereinander, so erhält man das Bild eines
Wirbels. Diese FlĂĽssigkeitswirbel sind oft sehr dauerhaft, sei es, dafs
sie als Cyklonenwinde oder als die in den asiatisohen Gewässern von
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den Sohiffern gefĂĽrchteten Teifune auftreten. Bekannt sind die duroh
Tabakrauoh gebildeten Wirbel, deren Verlauf und Wesen man leioht
studieren kann. — Wie Helmholtz in einer bewunderungswürdigen
Abhandlung nachgewiesen hat, wĂĽrden wir in einer vollkommenen
FlĂĽssigkeit, also z. B. im Ă„ther, solohe Wirbel nicht hervorrufen
können, wenn sie aber bereits vorhanden wären, würden sie ewig und
unverändert bleiben. Die Ansicht Lord Kelvins ist nun die, dafe
die materiellen Atome solohe Wirbel im Ă„ther sind. Die Materie
wäre demnach ein Teil des Äthers, welcher sioh infolge seiner Wirbel-
bewegung vom Ă„ther differenziert, ohne in der Substanz von ihm
verschieden zu sein.
Der Zukunft mufs es vorbehalten bleiben zu entscheiden, ob
diese kühne Konzeption sich als fruchtbar erweisen wird. Wir hätten
dann, wenn wir von dem Rätsel der Gravitation absehen, „eine einzige
Substanz, ununterbrochen und allen Raum erfĂĽllend, die als Licht
Schwingungen vollführt, die in positive und negative Elektrizität sich
spalten kann, als Wirbel die Materie bildet und durch Kontinuität
jede Wirkung, deren die Materie fähig ist, weiter trägt".
Geologische Ausblicke und RĂĽckblicke.
Von Dr. 0. Rant«r in Berlin.
e^Wj|^er jemals eine Reise an die sohönen Ufer des Rheins gemacht
hat> der hat auch 8icher auf dem Drachenfels gestanden und
von da hinuntergeschaut in die Rheinebene und hinunter
auch auf die anderen, niederen Berge zu beiden Ufern des Stromes.
Alle diese Berge sind vulkanisohen Ursprunges. Gar zu lange her
ist es nooh nicht, dafs diese Vulkane in Tätigkeit gewesen sind. Zwar
meldet uns die Geschichte nichts davon, aber man hat unter den
vulkanischen Auswurfsgesteinen begraben nooh Ăśberreste frĂĽherer
menschlicher Tätigkeit gefunden, und weifs also genau, dafs die Vulkane
jedenfalls nicht zu lange Zeit vor dem, wovon uns die Geschiohte er-
zählt, nooh gespieen haben müssen.
Gerade gegenĂĽber dem Drachenfels sehen wir noch in einen
riohtigen Krater hinab, zwar nicht steil und tief nach innen abfallend,
sondern in Form einer flachen Mulde, die mit gut angebauten Feldern
bedeokt ist und weiter nichts Gefährliches zeigt, ausgenommen ihre
Form. Es ist der Roeder-Berg oder der alte Vulkan. Warum sollte
er nicht eines Tages wieder anfangen zu speien? Der Vesuv galt
seinerzeit auoh als ein erlosohener Vulkan, ehe er mit der Zerstörung
Herkulanums und Pompejis wieder einen neuen Zeitabschnitt seiner
Tätigkeit gleich auf die allergrofsartigste und sohreokliohste Weise er-
öffnete. So könnte auoh unser Vulkan sich eines Tages wieder auf-
tun und die ganze Umgegend mit einem Regen von Bimsstein und
Asohe ĂĽberschĂĽtten, wie es einst der Vesuv bei Pompeji gemaoht hat,
und wie es in grauer Vorzeit einst die Vulkane der Eifel bei Neuwied
getan haben. Da werden ja heute aus dem grofsen Lager vulkanischer
Asohe die bekannten leiohten, weifsen Sohwemmsteine gemacht, deren
Herstellung wohl jeder Vorüberfahrende sohon hat beobachten können.
Wenn nun der Roeder-Vulkan oder irgend ein anderer Vulkan
der Eifel sioh auftäte und ungeheure Massen vulkanischer Produkte
nusspeien würde, so wäre es nicht ausgeschlossen, dafs diese Massen
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gerade das Rhein tal sperren und auf eine gute Strecke hin nicht nur
unwegsam machen, sondern geradezu ausfüllen könnten. Das ist eine
Möglichkeit, die zwar sehr entfernt ist, die aber noch lange nicht in
das Gebiet des Abenteuerlichen gehört; denn auoh die Oberfläche der
Erde ist nichts Vollendetes, das ein für allemal unverändert bleibt,
vielmehr verwandelt sie auoh jetzt noch immer nach und nach ihr
Aussehen, und BChon in der kurzen Zeit, die die Geschichte gegenĂĽber
den vorhergehenden geologischen Zeiträumen umfafst, haben Verände-
rungen genug staltgefunden.
Wenn nun das Rheintal etwa bei Honnef gesperrt wĂĽrde, was
wĂĽrden die Folgen davon sein? Wir wollen annehmen, dafs die
Sohuttmasse, die das Tal anfüllte, eine solche Höhe hätte, dafs sie
100 Meter ĂĽber dem Meeresspiegel, also nur etwa 50 Meter ĂĽber den
dortigen Rheinspiegel sich erhöbe. Dann würde der Abflufs des
Rheinwassers und seiner sämtliohen oberhalb mündenden Nebenströme
gestaut werden, und das ganze Rheintal von dort ab aufwärts bis
etwa naoh Speyer und Heidelberg, dann das Maintal mit Frankfurt bis
naoh Hanau hinauf, ferner auoh ein gutes StĂĽok des Moseltales, sowie
aller anderen auf dieser Strecke einmündenden Seitentäler des Rheines
zunächst einmal unter Wasser gesetzt werden, und die vielen volk-
reichen Ortschaften und Städte, die ja gerade hier so dioht aneinander-
gereiht liegen, wĂĽrden vernichtet werden. Es wĂĽrde etwa ein Zustand
wieder eintreten, wie er jedenfalls in frĂĽheren Zeiten der Erdgeschichte
schon einmal bestanden hat, ehe sich der Rhein zwischen HunsrĂĽck
und Taunus, zwischen Eifel und Westerwald seinen Weg gebahnt
hatte, und als noch das Mainzer Becken ein grofser See war.
Andererseits aber wĂĽrde der Rhein unterhalb des Siebengebirges
zunächst fast austrooknen, und die Schiffahrt wie die Industrie des
ganzen unteren Rheingebietes würden — in des Wortes verwegenster
Bedeutung — aufs Trockene gesetzt werden. Selbst wenn die Flache
des wieder entstandenen Mainzer Sees nicht grofs genug ist, um auch
ohne Abflufs das zufliefsende Flufswasser durch blofse Verdunstung
bewältigen zu können, so wird doch immer nur ein verhältnismäfsig
kleiner Teil des Rheinwassers ĂĽber die neue Honnefer Bank weg-
fliefsen und in das alte Rheinbett gelangen können, das erst unter-
halb allmählich durch Zuflüsse, namentlich der Ruhr und der Lippe,
wieder etwas zu Wasser kommen wird.
Eine solche geologische Umwälzung würde die Vernichtung des
Rheinlandes in seiner jetzigen Bedeutung und damit einen ungeheuren
Sohaden fĂĽr ganz Deutschland im Gefolge haben. Aber abgesehen
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von dieser allerdings nur sehr entfernten Möglichkeit droht doch noch
von einer anderen Seite her dem Rheingebiet Gefahr. Diese andere
Gefahr ist näherliegend und keinesfalls nur eine Möglichkeit, sondern
durohaus eine Wirklichkeit; mit ihr haben die Bewohner der Nieder-
lande schon lange und heftig zu kämpfen gehabt, und viel Land ist
ihr schon cum Opfer gefallen.
Die KĂĽste des rheinischen MĂĽndungegebietes, ebenso wie die
ganze Südküste der Nord- und Ostsee, befindet sich in fortwährendem
Sinken. Schon sind grofse Strecken Landes in der See verschwunden,
und viel Land mehr wird unausbleiblich noch folgen mĂĽssen, wenn
freilich auch wieder diesem Land Verluste durch tatkräftige und vor-
sichtige Mafsnahmen in gewissem Sinne vorgebeugt werden und sogar
verlorenes Land wieder zurĂĽckgewonnen werden kann. Einstmals
waren die heutigen holländischen und friesisohen Inseln noch keine
Inseln, sondern hingen mit dem Lande zusammen. Der Zuider-See
war damals noch keine Meeresbucht, sondern ein grofser Binnen-See,
der allerdings mit dem Meere in Verbindung stand, aber nur ver-
mittelst schmaler AbflĂĽsse. Das ist so sehr lange noch gar nicht her,
vielmehr bestand dieser Zustand nooh zu den Zeiten, als die Römer
am Rhein erschienen, also vor noch nicht 2000 Jahren. Nach und
nach aber spĂĽlte die Sturmflut immer mehr Land fort und liefe nur
die DĂĽnenkette als Inselreihe noch ĂĽbrig. 1170, 1237, 1250, 1287, 1395,
1410 und noch viele andere Jahre sind uns als solche Zeitpunkte auf-
bewahrt, an denen gröfsere Strecken Landes verloren gegangen sind.
Jedoch allmählich lernten die Niederländer, sich gegen die Angriffe
des Meeres zur Wehr zu setzen und nioht nur das zu retten, was noch
vorhanden war, sondern auch manches wieder zu gewinnen, was schon
verloren gegangen war, indem sie an Stellen, wo die Strömung günstig
war und Neigung hatte, Schlamm abzusetzen, die KĂĽsten immer wieder
hinauszuschieben wursten, so dafs verschiedene der Inseln im MĂĽndungs-
gebiete der Maas auf diese Weise ihre heutige Gröfse erst erlangt haben.
Andererseits hat man auch Meeresarme durch Deiche abgetrennt
und durch Auspumpen trocken gelegt, wie z. B. die Zype (sprich
Seipe) in Nord-Holland oder vor nooh nicht so langer Zeit einen Teil
des Eies bei Amsterdam, wie auoh das Harlemer Meer. Der Name
ersteren Meerbusens bedarf übrigens einer Erklärung; er hiefs ur-
sprünglich het Y (sprich ei), nach seiner Gestalt; später schrieb man
mit veränderter Rechtschreibung in Holland nicht mehr Y, sondern IJ,
die Aussprache blieb aber die gleiche. Im Hochdeutschen wird man
wohl am besten die lautgemäfse Schreibung Ei wählen, zumal auch
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die frĂĽhere Gabelgestalt heute doch nicht mehr vorhanden ist Man
geht sogar mit dem Plane um, einen grofsen Teil des Zuider-Sees
einzudeichen und trocken zu legen, ein groĂźartiges Unternehmen, das
schon seiner Verwirklichung ziemlich nahe gerĂĽckt ist EigentĂĽm-
licherweise erstreckt sich dieser Plan hauptsäohlioh auf den Teil des
Zuider-Sees, der von Anfang an See war, nämlioh zwischen Enkhausen
und Kampen, während der nördlich davon gelegene, der erst später
durch Einbruch des Meeres entstanden ist, wahrscheinlich nioht mit
in die Trockenlegung einbezogen werden soll.
Leider ist man bei dem friesischen Küstengebiete — mit Aus-
nahme des Dollarts — nicht so mit der Landrettung bei der Hand ge-
wesen wie bei dem holländischen und seeländischen, so dafs dieses
auch heute noch fortwährend an Umfang verliert. Hoffentlich wird
aber auoh da bald etwas Durchgreifendes geschehen, damit man im
Gebiete des grofsen Deutschon Reiches nicht hinter dem zurĂĽckzustehen
braucht, was ein verhältnismäßig so kleiner Staat wie das Königreich
der Niederlande mit seinem Wasserbauwesen leistet. Auoh die Nord-
friesischen Inseln an der KĂĽste von Schleswig haben ja ursprĂĽnglich
mit dem Lande zusammengehangen, und zahlreiche Ortsohaften sind
hier naoh und nach im Meere verschwunden.
Zur Zeit nun, als die Niederlande noch einen bedeutend größeren
Umfang nach der Seeseite zu hatten als jetzt, hatte auch der Rhein
einen anderen Lauf, als es heute der Fall ist. Der Hauptstrom des
Rheines ging damals nicht wie jetzt naoh Rotterdam, so da Ts sich
heutzutage ein jeder wundert, wie man dazu kommt, die MĂĽndungen
des Rheines MaasmĂĽndungen zu nennen, sondern es war damals nur
ein von den Römern gegrabener Kanal, der zuerst die Verbindung der
Maas mit dem Rheine herstellte. Damals floĂź der Rhein in seinem
Hauptstrom auf einem Wege, der jetzt zwar auch immer nooh einen
Teil des Rheinwassers enthält, aber sehr verschieden benannt wird.
Zunächst war hier der Flufsarm sein Bett, der jetzt in Holland
Nioderrhein heifst; Arnheini und Wageningen liegen daran. Dann
folgte er dem jetzigen Krummen Rhein an Utrecht vorbei, damals
Trajektum ad Rhenum genannt, sohliefslioh dem alten Rhein nach
Leiden und Katwyk, wo sich demnach die HauptrheinmĂĽndung befand.
Später versandete diese letztere Strecke des alten Hauptrheinlaufes
immer mehr, und zeitweise war die ursprĂĽngliche RheinmĂĽndung bei
Katwyk sogar gänzlich geschlossen, so dafs damals die selbst heut-
zutage nooh in manchen Köpfen spukende Sage aufkam, dafs der
Rhein sich in Holland im Sande verlaufe. Heute steht die MĂĽndung
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des Rheines bei Katwyk wieder mit dem Meere in Verbindung1, aber
nur duroh Schleusentore, die nur bei tiefer Ebbe geöffnet werden,
und durah die wohl kaum mehr viel Rheinwasser ausfliefst. Der
nördliohe Rheinarm, die Yssel, mündet heute bei Kampen. Er flofe
damals duroh das Gebiet des heutigen Zuider-Sees nooh weiter, indem
er etwa zwischen dem Helder und der Insel Tessel mĂĽndete. Man
sagt und schreibt, wie hier bemerkt sein mag, besser Tessel als
Texel; ganz falsch ist die, wie ioh höre, in Berliner Schulen mitunter
gelehrte Aussprache Techel, als wenn das Wort etwa spanisch wäre.
Vielleicht war dieser Arm frĂĽher einmal der Hauptstrom. Der
sĂĽdliche Rheinarm, der Waal, hatte im wesentlichen seinen heutigen
Lauf, vereinigte sich aber erst kurz vor der MĂĽndung mit der Maas,
während diese Vereinigungsstelle jetzt bedeutend mehr aufwärts ge-
rückt ist So sind denn mit den Veränderungen des Rheinlaufs auch
die merkwürdigsten Verhältnisse in der Benennung der Rheinmündungen
entstanden, die ohne Kenntnis der geschichtlichen Vorgänge unmöglich
zu verstehen sind.
Wenn es nun auch der Kunst gelingt, das Gebiet des Landes
gegenĂĽber dem Meere in den Niederlanden nicht nur zu verteidigen,
sondern auch sogar auszudehnen, so ist das dennoch gewifs, dafs trotz-
dem eines Tages ein grofser Teil der Niederlande, und nach und nach
wohl einmal das ganze Land in dem Meere verschwinden wird. Wenn
einmal Kriege und unruhige Zeiten kommen, und es nioht mehr mög-
lich sein wird, fortdauernd auf die Erhaltung der Deiche dieselbe
Arbeit zu verwenden, die jetzt ununterbrochen aufgeboten werden
inufs, dann werden grofse DeichbrĂĽche unvermeidlich sein, und grofse
Unglücksfälle werden wieder eintreten, wie der vom Jahre 1421, als
in der Nacht zum 18. November die Deiche braohen und der Biesbosoh,
ein Gewirre von Wasserarmen und mit Binsen bewachsenen Inseln,
da entstand, wo frĂĽher 72 blĂĽhende Ortsohaften gewesen waren.
100000 Menschen kamen damals in den Fluten um. Das, woduroh
solohe Vorgänge mit der Zeit jedoch unvermeidlich werden, ist der
Umstand, dafs das Meer nicht nur Land wegspĂĽlt, und allerdings auch
zum Teil wieder anderswo ansetzt, sondern dafs die KĂĽste, als Ganzes
genommen, langsam gegen den Meeresspiegel sinkt, so dafs sie in den
letzten 2000 Jahren schon etwa um 2 Meter gesunken ist, also in jedem
Jahre etwa um 1 mm, wenig genug fĂĽr das einzelne Jahr, aber genug
fĂĽr den Lauf der Jahrtausende.
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Sicilianische Skizzen.
Von Dr. Alexander Kaupelt in Taormina.
VII. Weihnaohten in Sioilien.
^as dem Nordländer an dem religiösen Leben des Südens vor
allem auflallt, ist das gänzliche Zurücktreten der drei grofsen
Kirohenfeste hinter der Verehrung, welohe die Mutter Gottes
und die Heiligen geniefsen. So kennt man weder zu Weihnachten,
noch zu Ostern, nooh zu Pfingsten einen zweiten Feiertag. Alle diese
Feste, die mit der Vigilia, d. h. am Abend zuvor beginnen, sind eigent-
lich am Mittag unseres sogenannten ersten Feiertages bereits zu Ende.
Der Grund hegt im Ritus und Dogma der katholischen Kirche, die
hierin den seelischen BedĂĽrfnissen des Volkes entgegenkommt. Das
Ernste, Reingeistige spricht dessen lebhaftem, sinnliohem Naturell nicht
an. Die Madonna hingegen hat ihre besondere Legende, und dem-
gemäfs erscheint sie bald im fröhlichen Prachtkleid (zum Verkündi-
gungs- und Himmelfahrtsfest), bald wird sie — eine wahre Königin
der Nacht — im schwarzen, mit Silber gezierten Trauerstaat durch
die Strafsen geführt (zur Karfreitagsprozession). Von den unzähligen
Heiligen hat fast jeder seinen Beruf, der ihn dem kleinen Mann näher
bringt — Petrus war Fischer, Josef Zimmermann, Sankt Anna Wasch-
frau — , und viele haben ein sie vor anderen auszeichnendes Martyrium,
das dann gewöhnlich in ihren Statuen zum Ausdruok kommt: die
heilige Katharina wird mit dem Rad dargestellt, die heilige Luoia mit
dem Dolch im Hals, der heilige Sebastian am Pfahl mit den Pfeilen
im entblöfsten Körper, der heilige Laurentius mit dem Rost, auf dem
er gebraten wurde. Das alles ist konkret, leicht fafslich, ist etwas
fĂĽrs Auge, und nur durchs Auge geht fĂĽr den Romanen der Weg
zum Herzen. Was soll er mit den grofsen Mysterien: Weihnacht,
wo das Wort Fleisoh ward, Ostern, wo das Leben ĂĽber den Tod
siegte, und nun gar Pfingsten, wo sioh der heilige Geist auf die
Jünger ergofs? Freilich hat der Trieb nach Veräufserliohung des
Metaphysischen auch bei diesen Festen einzelne Bräuche gezeitigt
So wird zu Ostern, das als Ende der langen Fastenzeit nooh am
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meisten Bedeutung gewinnt, die Auferstehung duroh einen ge-
schmĂĽckten Sarkophag veranschaulicht, und selbst die AuĂźgiefsung
des heiligen Geistes findet ihre Darstellung, wenngleich in einer fĂĽr
unseren Qesohmaok recht sonderbaren Weise. Der Brauch, während
des „Gloria" in der Kirche selbst ein Feuerwerk abzubrennen — als
Sinnbild der feurigen Zungen — ist ja so ziemlich abgekommen,
dafür läfst man aber nooh vielfach Wachteln und Tauben aus den
Kirchenfenstern fliegen. Geradezu abscheulich jedooh ist die bis
heute in Mineo (Provinz Catania) geübte Sitte, eine Taube mit Bän-
dern und Flittergold zu schmĂĽcken, mit Spiritus zu begiefsen, diesen
anzubrennen und während des Hochamts das arme Tierchen gegen
die Decke fliegen zu lassen als Symbol des heiligen Geistes
Was nun speziell Weihnachten anlangt, so tritt hier nooh ein
weiteres hinzu, diesem Fest einen anderen Charakter als bei uns zu
geben, das ist die von der unseren so völlig verschiedene Natur.
Der traurige deutsohe Winter konzentriert alles auf das eigene
Heim, der liebe helle Lichterbaum ersetzt die nicht mehr wärmende
Sonne. Unter den Breiten von Sioilien aber dauert selbst der kĂĽrzeste
Tag noch über zwei Stunden länger als bei uns; jeder lebt auch
im Winter, soviel er kann, im Freien, und wenn gerade nicht der
Nordwind bläst oder der Schirokko für einen oder zwei Tage einen
seiner wolkenbruohähnlichen Regen bringt, so erfreut man sich hier
um die Zeit der Wintersonnenwende des köstlichsten Wetters. Es ist
sonnig und doch nioht heifs, während die etwa erst gegen sechs Uhr
hereinbrechende Nacht jene herrliohe Frische spendet, wonach man
in den schwülen Frühlinge* und Sommernächten vergebens lechzt
Freilich in dem hochgelegenen Innern läfet sich auch in Sicilien der
Winter hart an, geriet ioh selbst doch einmal nooh Mitte März bei
Leroara (Provinz Girgenti) in einen Schneesturm, der mich direkt zu
den Eisriesen naoh Jötunheim versetzte. Für Petralia, Castrogiovanni,
Troina und alle jene gottverlassenen Bergnester über 1000 m Seehöhe
gilt in vollem Umfang das Sprichwort:
Pri s&ntu Silivestri
La niri a Ii fineatri.
(Sankt Sylvester wirft Schnee an die Fenster.) Aber die gesegnete
KĂĽste! Wie wenig erinnert ihr Bild an Weihnachten! Von den aus-
giebigen Herbstregen genährt, prangt alles in frischem Grün. Die
Dattelpalmen lassen unter ihren gewaltigen Fächern die langen Frucht-
büschel herabhängen, Kakteen und Aloen zeigen bereits die neuen
Schöfslinge, Orangen und Zitronen schwellen im glänzenden Laub,
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Rhabarber und Bananen treiben, Geranien und Rosen blĂĽhen zu
Hunderten. Was soll da unser Wintertrost, unsere stille, tiefinnerliohe
Freude an dem einzigen GrĂĽn, das uns in Frost und Eis geblieben,
was soll da zwischen Orangen, Myrten und Palmen unser alter Tannen-
baum? Wie eine ernste, ärmlich gekleidete Waise würde er stehen
mitten unter fröhlichen, geputzten Kindern, die ihre Mutter — die
Sonne — noch haben ....
So kommt es, dafs die Innigkeit, womit bei uns das Christfest
begangen wird, dem Südländer geradezu unbegreiflich ist Auch dem
von der Kirche gänzlich losgelösten Germanen bedeutet Weihnachten
etwas Feierliches, etwas Heiliges, etwas, wobei er mit ganzer Seele ist,
etwas Weihevolles, das nie völlig aus seinem Innern herausgerissen
werden kann durch keine noch so abweichende Ăśberzeugung, durch
kein noch so herbes Schicksal. Diese süfsen Friedensklänge, der
Widerhall der tiefen und reinen Erinnerung seiner Kindertage tönen
selbst in dem rauhesten, härtesten Herzen noch im spätesten Alter nach.
Solch wundersames GefĂĽhl kennen die Romanen nicht Weih-
nachten ist ihnen ein Fest, wie unzählige andere Feste auch, wo man
seine Sorgen für kurze Zeit vergifet und sich's einmal wohl sein läfst
nicht mehr, nicht weniger. Und so bietet auch dem Sioilianer die
Weihnachtsfeier mancherlei Zerstreuung des Geistes, aber keine echte
Freude des Herzens.
Da ist es zunächst üblich, an den Sonntagen der Adventszeit bis
zum Neujahr zu spielen. Die Verwandten und Freunde kommen zu-
sammen und spielen bei Punsch und GlĂĽhwein Karten, fast nur Hasard-
spiele, oft zu sehr hohen Sätzen. So wird diese Zeit für die Ange-
hörigen leidenschaftlicher Spieler zu einer Periode beständiger Auf-
regung, und die Fälle sind nicht selten, dafs Familienväter, die beim
Beginn des Kirchenjahres sich einer achtbaren Stellung und eines
schätzenswerten Wohlstandes erfreuten, bereits am Abend vor Weih-
nachten vor dem Bettelstabe stehen. Die Kinder lassen Kreisel
schwirren, die sie mit dem Bindfaden aufziehen; das Treiben mit der
Peitsche sah ich nie. Sie fangen dann den surrenden Kreisel, lassen
ihn eine Weile auf der flaohen Hand spielen und werfen ihn wieder
zur Erde, wo er bis zu Ende tanzt, alles mit ausdrucksvollen, an-
mutigen Bewegungen. Beliebter noch ist die Fussetta (fossella =
kleiner Graben). An einer Mauer wird eine Vertiefung ausgehöhlt
und nun aus einer gewissen Entfernung eine bestimmte Anzahl Hasel-
nĂĽsse auf einmal geworfen. Gleich oder ungleich? heifst die Losung.
Fällt eine ungleiche Anzahl in die Grube, so gehört der Einsatz dem
413
Gegner, wenn nicht, so behält der erste seine Nüsse, und die Reihe
kommt an den anderen. Oder die Spieler suchen ihre NĂĽfschen ab-
wechselnd mit dem Finger in die Qrube zu sohnippen; wer die seini-
gen (natĂĽrlioh eine bestimmte gleiche Anzahl) zuerst in der Grube
hat, gewinnt die des anderen. Wer es sich nicht verdriefsen läfst,
die Leidenschaft der kleinen Leutchen bei solchem Treiben zu beob-
achten, wie sie keuohen, wie die Augen funkeln, wie sie katzenähn-
lich hin und wieder springen, der wundert sich nicht, wenn sie später,
grofs geworden, um dieselbe „fröhliche, selige Zeit" Haus und Hof
mit den Karten verspielen.
Mehr mit der kirchlichen Bedeutung des nahen Festes hängt der
Brauch der „novena" zusammen: an den neun Tagen vor Weihnachten
Flöte und Dudelsack vor den Hausaltären aufspielen zu lassen. Irgend
ein Madonnen- oder Heiligenbild oder dergleichen Statuen, woran es
in keinem Hause mangelt, werden auf die Kommode gestellt, mit
Orangenlaub umrahmt und neun Lichter davor angezündet, während
die Musikanten, die zu diesem Geschäft oft weit her, sogar aus Ca-
labrien herĂĽber kommen, zu Ehren der Mutter Gottes und des Jesus-
kindes einen Hymnus anstimmen, nioht selten von Kastagnetten und
Tamburin begleitet. Man abonniert im voraus auf diese musikalische
Huldigung; der Preis für sämtliche neun Tage ist sehr bescheiden
— nur eine Lira. Zum Zeichen des Abonnements wird ein Kreuz
mit Kohle an die HaustĂĽr gemacht. Obgleich die Melodien durch-
gängig etwas einförmig und dem Volkscharakter entsprechend ernst,
ja traurig sind, weckt es doch eine eigene Stimmung, wenn die lang-
gezogen en Hirtentöne bald aus der Nähe, bald von fern durchein-
anderschwirrend, in der klaren, milddurchsonnten Luft zu zittern
scheinen.
Nooh anziehender infolge ihrer naiven UrsprĂĽnglichkeit und
kernigen Derbheit sind die „ninaredde", die Weihnachtsballaden, die,
auf neun Tage verteilt, von Blinden gesungen und mit der Violine be-
gleitet werden. Ein rĂĽhrendes Bild, diese Blinden vor den TĂĽren
stehen und zugleioh singen und geigen zu sehen! Der Text behandelt
„U duluruau viaggiu", d.h. die schmerzliche Reise der Mutter Maria
und des „Patriarohenu Sankt Josef naoh Bethlehem, derselbe ist volks-
liedmäfsig und ganz dramatisch. So beginnt die Ballade des ersten
Tages in köstlichem Bänkelsängerton:
Oh chi noT« dulurusa
Jo vi portu, imaU spusa!
(Welche schlimme Neuigkeit
Bring ich Dir, geliebte« Weib !)
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414
So klagt Josef seiner Frau. „Ich hörte tuf dem Platz eben ein
Edikt verlesen. Nun mufs ich eine grofse Reise machen. Das wird
Geld kosten.
Gran caminu divu (debbo) fari,
B patiri alcuni spisi (speae).
Nach Bethlehem mute ich Hals ĂĽber Kopf, ioh UnglĂĽcksmensch.
Soll ioh nun allein gehn oder Dich mit mir nehmen? Wenn ioh Dich
verlasse, zerschneidet's mir das Herz. Aber kommst Du mit, wird die
Plage noch gröTser. Was soll ioh thun?"
Maria tröstet ihn (in der Gegenstrophe): „Mein Gemahl, gehen
wir nur mit starkem Herzen in Gottes Namen. Ioh ziehe mit, wohin
Du mioh fĂĽhrst Wenn unser Kaiser uns befiehlt zu reisen, mĂĽssen
wir gehorchen" u. a. w.
Unter den zahlreichen Weihnachtsliedern sind die religiösen
Wiegenlieder und die Hirtenlieder die ansprechendsten, letztere von
einem herzerquickenden Realismus.
Die Sitte, die Geburt des Heilands im kleinen, in Form einer
HĂĽtte mit bemalten Figuren darzustellen, findet sioh auch hier und da
bei uns. In Sioilien ist sie allgemein verbreitet und nimmt das Interesse
von Jung und Alt schon Woohen vorher gefangen.
Ein grofser Tisch oder wohl gar der Boden eines halben Zimmers
wird dem persepio, sicilianisch: pirsepiu, der „Krippe", eingeräumt
Aus Holz, Kork, Steinen, Moos, aus Pappe, Sand und Lehm wird
eine kleine Landschaft hergestellt, eine Hütte oder Grotte, Bäume,
eine Wiese mit Wegen, ein Bach (aus Silberpapier) mit einer BrĂĽcke
darĂĽber, Felsen im Hintergrunde, alles anmutig belebt In der Grotte
sieht man die Krippe, worin das Jesuskind (von Wachs) ruht, nur mit
ein wenig Heu bedeckt, zur Reohten und Linken den traditionellen
Ochsen und den Esel, beide mit frommem Gesichtsau sdruok und als
Zeichen ihrer andächtigen Verehrung auf den Knieen liegend. Maria
und Josef betrachten das Kind mit demütigen Gebärden. Vor der
Grotte schwebt ein Engel, und ein Hirt, der eben kommt, bedeokt mit
der Hand die Augen, geblendet von dem unerwarteten Licht Draufsen
aber tummeln sioh Jäger, Hirten, wohl auch Zigeunerinnen und Holz-
hacker, die Reisig auf der Sohulter herbeitragen. Hier wirft ein Bauer
eine Kuh, die sich verirren will, mit Steinen, dort melkt ein anderer
eine Ziege. Am Bache angelt ein Fisoher, unweit davon steht ein Hirt
auf einem Bein und zieht sich einen Dorn aus dem Fufs. Zwischen
weidenden Schafen kommen Landleute herbei und bringen Tauben,
Gemüse, Kuchen — die üblichen Wochenbettgeschenke.
415
Das ist alle« reizend, gibt dem ganzen Hause eine eigentüm-
liche, weihevolle Stimmung und bereitet schon beim Aussuohen und
Einkauf der Figuren, beim Aufbauen des ländlichen Schauplatzes
grofsee VergnĂĽgen, bis das Werk endlich fertig dasteht und den be-
suchenden Freunden nicht ohne Stolz gezeigt wird. Aber — ersetzt
es den geschmückten, lichterglänzenden Tannenbaum?
Da der Brauch, sich gegenseitig zu beschenken, nicht fĂĽr Weih-
nachten, sondern, wie im alten Rom, fĂĽr den Neujahrstag gilt, so be-
schränkt sich der Weihnachtsmarkt auf Ausstattungsgegenstände für
-die Krippe, auf SĂĽĂźigkeiten, FrĂĽchte und Jesuskinder aus Waohs,
Zucker oder Kuchenteig. Immerhin herrscht an den Abenden vor
dem Fest auf den Strassen ein lebhaftes Treiben. Es ist die Zeit der
getrockneten Feigen und Mandeln. Aus dem nahen Afrika kommen
die frischen Datteln, im eigenen Lande ist eben die cotognata (Quitten-
marmelade) und die mustarda (ital. vino cotto) fertig geworden, ein
mit verschiedenen GewĂĽrzen diok eingekoohter Most, Mandarinen und
Orangen werden täglich geerntet, die Hauptrolle aber spielen die Hasel-
nüsse. „Che beddi nuoiddi ohi haju! Che roba caveleralu (Was für
schöne Haselnüsse habe ich! Kavaliersmäfsigel) Sie sind in Casteddi
(Schlöfschen), nämlich zu vier aufgebaut. Vier bis fünf Sohlöfschen
kosten einen Soldo. Der erfahrene Käufer wiegt die Ware allerdings
erst in der Hand, sonst kann es ihm trotz jener Lobpreisungen des
Händlers passieren, dafs von zehn Nüssen neun taub sind. Was die
Ausstattung der Krippe anlangt, so ist alles zu kaufen, was zu einem
sicilianisohen Presepio gehört: vom schwebenden Engel und dem licht*
geblendeten Hirten — u spavintatu, „der Erschrockene" heifst er auf
dem Weihnachtsmarkt — , vom andächtigen Oohsen und Esel bis zur
BrĂĽcke ĂĽber den Bach und den Wolken aus farbigem Papier, die
ĂĽber der Scene schweben. Auch die bescheidensten BedĂĽrfnisse sind
hier leioht zu befriedigen; fĂĽr zwei Centesimi kann man sohon einen
ganz netten Jäger oder Bauer von der Länge eines Daumens haben.
Kein Wunder bei der regen Nachfrage. Sparen die Kinder doch
schon Woohen vorher am FrĂĽhstĂĽck und sogar am Mittagessen sich
die nötigen Soldi ab, um ihre „Krippe4* mit Mensohen und Vieh mög-
lichst ausgiebig bevölkern zu können.
Ă„hnlioh wie in Deutschland der Karpfen, in England der Trut-
hahn, so ist das traditionelle Gericht der Weihnachtstafel in Sicilien
der SĂĽfswasseraal, der im Anapo (bei Syrakus) oder im Lentiner See
(bei Catania) gefangen und durch die ganze Insel versandt wird.
Nach dem leckeren Mahl wird wieder Karten oder WĂĽrfel gespielt
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bis elf Uhr nachts, bis zum Beginn der Weihnachtsmesse, die in den
verschiedenen Kirchen bis zwei Uhr dauert Leider hat sich die in
vielen Kirchen frĂĽher ĂĽbliche dramatische Darstellung der Geburt
Christi durch lebende Bilder mit Hirten und Musikanten fast ganz
verloren.
Was sich jedoch erhalten hat und bei dem phantastischen Volks-
charakter erhalten wird, das ist der Aberglaube, der an die Weih-
nachtsnacht Wunderwirkungen aller Art knĂĽpft Polei (mentha pu-
legium Linne), sechs Monate vorher gepflückt fängt — aber nur auf
wenige Minuten und nur für ganz besonders Begnadete — wieder
zu blühen an. Ferner ist diese Nacht vor andern für Sohatzgräber
gĂĽnstig. In Modioa brauen die Weiber in der Weihnachtsnacht Zauber-
tränke, um die Liebe ihrer untreuen Männer zurückzugewinnen.
Ebenda gilt das Gebet um Erlösung der armen Seelen aus dem Fege-
feuer besonders wirksam zur Stunde der Weihnachtsmesse. Träumt
man in den nächsten aoht Tagen dann von dem Verstorbenen, so ist
er gerettet; wenn nicht mufs man zur nächsten Weihnacht sein Glück
aufs neue versuchen. Gewisse ZaubersprĂĽche z. B., um verlorene
Sachen wiederzufinden, um Wirbelwinde zu beschwören und anderes
Unheil abzuwenden, können nur in dieser Nacht gelernt werden.
Komisch endlich ist der Glaube in Milazzo, dafs man die Christnacht
mit besonderm Erfolg dazu benutzen könne, um den Kindern die
WĂĽrmer abzutreiben . . .
Der Christbaum fehlt Und dooh, das Fest welches der Welt
das erlösende Licht schenkte, will auch, und gerade in dem licht-
frohen SĂĽden, mit Glanz und Schein gefeiert sein. Dieser Drang
äufsert sich nun in der sicilianischen Volksseele in etwas merkwür-
diger Weise. Nach der allgemeinen Anschauung ist es zu Weih-
nachten erlaubt alles Holz, das man >findet<, zu nehmen und Freuden-
feuer davon zu maohen, zu Ehren des Bambino, des Christkindes.
Wenn sich die Knaben aber sonst begnügen, irgendwo Stroh, Späne
oder Splitter zu stibitzen und mit einem dem Vater oder älteren
Bruder entwendeten Streiohholz gleioh mitten auf der Strafse ein
Feuerohen davon anzuzĂĽnden, so artet diese Lust am hellen Schein,
die sich bei den Erwachsenen in der uns schier unbegreiflichen
Feuerwerksmanie kundtut bei den Kleinen um die Weihnachtszeit
oft recht bedenklich aus. Sie behaupten dann ein Recht selbst auf
die grofsen Waschtröge zu haben, die die armen Leute aus Mangel
an Raum gern vor ihren HaustĂĽren stehen lassen. Wo die Rangen
in einem offnen Gehöft irgend ein Holzgerät erspähen, das eine sorg-
417
lose Hausfrau vergossen hat, an diesem für alles Hölzerne verhängnis-
vollen Tage in die Stube hereinzunehmen, da betrachten sie'e als
vogelfrei, laden es auf und — sohneil davon, um es an einem abgele-
genen Fleok hinter einer Mauer oder in einem Hohlweg zu zerhaoken ,
und zu verbrennen. loh kam selbst einmal dazu, wie ein Junge von
etwa zwölf Jahren hierbei erwischt worden war. Ein Mann hatte
ihn mit einem grofsen Wasch trog auf der Sohulter zum Ort hinaus-
laufen sehen, fĂĽnf andere Jungen hinter ihm her. Der Mann hatte
ihn eingeholt; mit einem Waschtrog auf dem RĂĽoken kann man
nicht gerade Galopp rennen. Die fĂĽnf waren wie Spreu im Winde
davongesaust ; der arme SĂĽnder stand nun vor der EigentĂĽmerin
des Troges und sollte zur Polizei, die die Berechtigung soloher
Weihnachtsbräuche schwerlich anerkannt hätte. Noch sehe ich
ihn am ganzen Leibe zittern und mit Tränen im Auge stammeln:
Fu ppi u bammineddu (es war fĂĽrs Christkind). Seine eben noch so
grofse KĂĽhnheit und Heldenhaftigkeit war in eine solche Angst und
Erbärmlichkeit umgeschlagen, dafs die Eigentümerin des Wasohtrogs,
gerĂĽhrt von solchem Anblick, ihm verzieh und verspraoh, niohts an-
zuzeigen. Aber war dies wirklioh der Grund ihrer Milde? Vielleicht
dämpfte auch die Freude, das teuere Hausinventar — immerhin ein
Gegenstand von fünfzehn Lire — wiederzuhaben, ihre Rachsucht.
Wahrscheinlicher ist mir noch ein anderer Grund: es wäre geradezu
gegen die gute Sitte gewesen, die Sache gerichtlich zu verfolgen;
denn nach der Volksansohauung hat das Bammineddu an seinem Ge-
burtstag allerdings ein Recht auf jedes StĂĽck Holz, das ihm zu Ehren
>gefunden< und verbrannt wird. Und es ist nioht unmöglich, dafs
jene Frau, die im Rufe besonderer Frömmigkeit steht, sich später
sogar Gewissensbisse gemacht, vielleicht gar ihrem Priester reuevoll
gebeichtet hat, sie habe Holz, das eigentlich schon dem Christkind
gehörte, diesem wieder entrissen.
Mit diesen Gockeleien begnĂĽgt sich der Sioilianer, um dem ihm
innewohnenden Drang nach Licht genug zu tun, allenfalls werden
naoh der Weihnachtsmesse nachts um zwei Uhr, während die Stadt-
musik durch die Strafsen zieht, noch einige Schwärmer und Raketen
abgebrannt. Die deutschen Familien in Palermo, Catania u. s. w.
putzen entweder einen Orangenbaum oder eine Cypresse auf, auoh in
den besseren Hotels wird der Reisende oder Wintergast, der das Fest
an dieser fremden KĂĽste zuzubringen gezwungen ist, in irgend einer
Form den albero di natale vorfinden, und wäre auch nur ein grofses
Büschel Myrtenzweige an einem Stecken strauohähnlich zusammen-
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gebunden. FĂĽr die deutschen Kolonien in Taormina und Messina
aber sohmeiohele ich mir, die Tanne als Weibnachtsbaum in Auf-
nahme gebracht zu haben. Nachdem ioh — trotz alles Abredens
und Drohens mit Raub, Mord und Totschlag, die meiner angeblich
harrten — gewagt hatte, zwei Sommer im Innern Kalabriens zuzubringen,
wo ich ganz wider Erwarten noch stundenweite Tannenurwälder mit
dreihundertjährigen Exemplaren und einem Umfang von sechs Metern
ein beschauliches Dasein fĂĽhren sah, verlockte ioh meine Bekannten,
das von mir entdeckte Gebiet gleichfalls zu besuchen. Die Folge
war, dafs sie meinem Beispiele nachahmten und sich nunmehr auch
ihren Bedarf an Christbäumen alljährlich über die Meerenge herüber-
kommen lassen.
So ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dafs sich der herr-
liche Brauch auch bei den für alles Poetische empfänglichen Sioi-
lianern allmählich einbürgert. Sie, die die Tanne nioht kennen, wun-
dern sich zuerst ĂĽber den seltsamen Baum mit den Nadeln und
stellen eine Menge Fragen. Aber wenn dann auf seinen breiten
Zweigen die Kerzen brennen und alles glitzt und flimmert, geht ihr
geschwätziges Bewundern in stummes Staunen über.
So vielen ich unsern Baum in seinem Schmuck und Glanz zeigte,
alle waren voll Lobes und Neides. Die Tochter eines guten Be-
kannten, die uns das ĂĽbliche Weihnachtsgeschenk, hartes Honigbrot
mit Mandeln, NĂĽssen und anderen Herrlichkeiten gespiokt, ĂĽber-
brachte, stand zuerst wie hypnotisiert unter der TĂĽr. Ohne ein
Wort zu sagen, mit starren, weitaufgerissenen Augen, ging sie lang-
sam in einzelnen Absätzen immer näher; dann steokte sie vorsichtig
den Kopf zwischen den Goldnetzen und Silberfäden durch, um zu
sehen, was dahinter verborgen sei. Unsere kleine Magd Angiolina
aber, als sie am heiligen Abend zur Bescherung hereingerufen
wurde, faltete unwillkürlich die Hände und, ganz versunken in den
strahlenden Zauber, brach sie endlich aus : >Das ist ja gerade wie in
der Kirche.«
Welch schöneres Lob, als dieses Wort aus kindlichem Munde,
könnte dir gespendet werden, du alter, lieber deutscher Weihnachts-
baum!
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Schon wieder ein neuer Stern.
Die frĂĽher so seltene Erscheinung der neuen Sterne wird in den
letzten Jahren ein gar nioht seltenes Vorkommnis, wenngleich Er-
scheinungen, wie die der Nova Persei im Jahre 1901, deren sich die
Leser dieser Zeitschrift zweifellos noch lebhaft erinnern, immer so
markante und einzeln dastehende Phänomene bleiben werden, wie die
der Nova Tychonis im Jahre 1572. Beginnen wir mit 1892 mit der
ebenfalls bemerkenswerten Nova Aurigae, so haben wir 1893 die Nova
Normae, 1895 die Nova Carinae und Nova Centauri, 1898 die Nova
Sagittarii, 1899 die Nova Aquilae, 1901 die Nova Persei und jetzt
1903 die Nova Geminorum, also in 11 Jahren 8 neue Sterne. Wie
sehr die Vervollkommnung unserer Beobaohtungshilfsmittel diese
Häufung der neuen Sterne beeinflufst, die also nur eine soheinbare
ist, während in Wahrheit die neuen Sterne immer so häufig waren,
läfst sich gerade an der Entdeckungsgesohiohte des letzten neuen
Sterns so reoht zeigen, der ohne die photographische Platte uns sicher
unbekannt geblieben und ohne das Spektroskop nicht so rasch als neuer
Stern erkannt worden wäre. Am 16. März hatte Prof. Turner in Oxford
vermutlich im Zusammenhang mit der „ photographischen Himmels-
karte", von welcher dort die Zone 4-25° bis -4-31° bearbeitet wird
eine Platte aufnehmen lassen, auf weloher sich nach der Entwickelung,
am 25. März ein Stern 8. Oröfse zeigte, der in der Bonner Durch-
musterung fehlte, also zur Zeit von deren Anfertigung jedenfalls unter
9. Gröfse, wahrscheinlich sogar unter 9.5 Gröfse gewesen war. Eine
Beobachtung am Refraktor der Sternwarte in Kiel, wohin an die
astronomische Centraisteile alle astronomischen Entdeckungen tele-
graphisch gemeldet werden, bestätigte an dem angegebenen Orte, der
inzwischen genauer zu
6h37m48V97, -f 30° 2' 36". 9 (1900.0)
bestimmt worden ist, die Existenz eines Sternes 8. Gröfse. Hatte man
nun blofs einen veränderlichen Stern vor sich, dessen Licht zwischen
der 8. Gröfse und einer nooh unbekannten schwächeren auf- und ab-
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soh wankte und der zur Zeit, als die Durohmusterungszonen ĂĽber
seinen Ort gingen, zufällig unter deren Grenzgröfse 97s gewesen war,
oder war der Stern wirklich ein neuer Stern, also ein solcher, der
von unbekannt tiefer Helligkeit einmal katastrophenartig zu gröTserem
Glänze anschwillt, naoh dessen Erreichen aber sofort wieder an
Licht abnimmt, bis er auf einer Helligkeitsstufe Halt macht, die ge-
wöhnlich über seiner ursprünglichen Helligkeit liegt? Diese Frage
entschied eine Untersuchung des Spektrums des neuen Sternes durch
Prof. Hartmann in Potsdam vom 27. März in letzterem Sinne. Das
Spektrum zeigte die WasserstofTlinien Ha und HĂź hell, der gelbe Teil
des Spektrums war äufserst soh wach, im blauen aber fanden sich so
viele helle Linien, dafs man fast ein kontinuierliches Spektrum vor
sich zu haben glauben konnte. Die Natur letzterer Linien ist noch
nicht bestimmt. Indessen zeigte der Umstand, dafs nur oder vor-
wiegend Gase, namentlich Wasserstoff in dem Sternlicht leuchten, dafs
wir es entweder mit einer eigentlichen Nova oder dooh mit einem
veränderlichen Sterne vom Miratypus zu tun haben. Die Veränder-
lichen der letzteren Gattung wechseln ihr Licht durch viele Gröfsen-
klassen hindurch in langen unregelmäßigen Perioden und stehen ge-
wissermafsen zwischen den periodisch veränderlichen und neuen Sternen.
Inzwischen hat Prof. Pickering, der langjährige verdiente
Direktor der Harvard - Sternwarte, Ăś7 Platten dieser Himmelsgegend
aus der Zeit vom 3. März 1890 bis zum 1. März 1903 entwickeln und
nachsehen lassen und auf keiner eine Spur des Sternes gefunden,
obwohl die meisten derselben Sterne bis unter die 12. GröTse zeigten.
Damit ist der Charakter des Sternes als Nova ĂĽber jeden Zweifel er-
haben. Auf der Harvard-Sternwarte wird nämlich systematisch der
ganze dort sichtbare Himmelsteil unaufhörlich photographisoh auf-
genommen. Die Platten werden entwickelt und aufbewahrt, bis sich
ein Anlafs, 6ie zu benutzen, ergibt Diese ungeheure Material-
anhäufung hat schon viele wertvollen Aufschlüsse geliefert, indem sie
den Zustand einer Stelle des Himmels, wo ein interessantes Objekt
auftaucht, in die Vergangenheit zurĂĽokzuverfolgen gestattet. Pi oke-
rin g liefs natürlich zunächst die zuletzt erhaltenen Aufnahmen nach-
sehen und da fand er, dafs eine Platte vom 1. März den Stern noch
nicht zeigte, obwohl sie Sterne bis 11,9 m enthielt, und eine Platte
vom 2. März ebenfalls noch nicht, welohe allerdings nur Sterne bis
0. Gröfse enthielt; vom 3. — 5. März war es in Cambridge trübe, da-
gegen wurde am 6. März eine Platte aufgenommen, welche an der
Stelle der Nova einen Stern der fünften Gröfse aufwies,
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von da ab waren viele Platten vorhanden, welche den Stern zeigten,
und zwar in folgenden Gröfsen:
März
6.
15 h 28 m
M.E.Z.
5,08 m
*i
11.
16 „ 18 „
6,76 „
11
12.
15 „ 25 „
ii
7,06 „
•'
12.
16 „ 25 ,.
11
7,16 „
•1
13.
15., 52 „
11
7,14 „
â– '
14.
15, , 14 „
11
7,88 „
V
14.
17 „ 20 „
11
7,33 „
»»
15.
14 ., 44 „
7,27 „
11
15.
15 „ 53 „
7,51 „
Die Reihe dieser photographisch erhaltenen wesentlich abnehmen-
den Gröfeen beweist, dafs der Stern lange vor der Entdeckungs-
beobachtung Turners vom 16. März seine gröfste Heiligkeit gehabt
hat, das genaue Datum des gröfsten Liohtes lärst sich aber nicht fest-
stellen. Es raufe zwischen dem 2. und 6. März liegen. Von dem an-
steigenden Ast der Liohtkurve ist gar nichts bekannt, denn auoh eine
Aufnahme Prof. Wolfs in Heidelberg am 16. Februar, die Sterne bis
14. Gröfee enthält, zeigt, am Sternorte nichts. Am 16. März war der
Stern also photographisch 8. Gröfse. Vom 24. ab setzen die direkten
Gröfsenschätzungen ein und ergeben
März 24. Gröfse 7,7 beob. in Oxford
. 25.
••
8,0
••
-
Kiel
. 26.
M
8,4
i*
•<
Bamberg
«
8,1
••
ii
Utrecht
„ 29.
ii
8,55
i-
Berlin
„ 30.
11
8,50
••
Bonn
11
8,4
•>
•i
Dusseldorf
April 1.
'•
8,7
ii
Bamberg
Die direkten Schätzungen zeigen also eine weitere Lichtabnahme
des Sternes, der somit nur noch durch die spektroskopischen Eigen-
tümlichkeiten, die an ihm beobachtet werden können, und durch die
Frage, ob auch bei ihm, ähnlich wie bei der Nova Persei, Nebel ent-
deckt werden, Interesse bietet Inzwischen hat Prof. Hartmann am
29. März in dreistündiger Expositionszeit ein Spektogramm des Sternes
erhalten, welohes die Linien H^ und Hy stark verbreitert und um Be-
träge nach dem roten Ende verschoben zeigte, welohe dem Stern eine
Geschwindigkeit von 520 Kilometer von der Erde weg erteilen, das
im ĂĽbrigen aber sehr nahe dem Spektrum der Nova Persei gegen
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Ende März 1901 glich. Wenn der neue Stern sonach in der kurzen
Zeit seiner Maximalhelligkeit dem unbewaffneten Auge sichtbar war
und damals doch nicht aufgefunden wurde, so beweist dies nur, wie
wenig gute Kenner der schwächeren Sterne des Firmaments es gibt.
Wenn in eine so grofse und an Sternen 5. Gröfse so reiche Kon-
stellation, wie die Zwillinge, ein neuer Stern 5. Gröfse (vielleicht war
die Nova auch für einen Tag 4. Gröfse) tritt, so wird damit das Ge-
samtbild für den flüchtigen Betrachter überhaupt nicht geändert
Die Nova Geminorum pafst auch insofern in die bekannte Reihe
der neuen Sterne, als ihre galaktieche Breite sehr gering ist; sie steht
nahe am Nordrand der allerdings in den Zwillingen nur schwach
leuchtenden Milchstrafse. Rp.
*
Eine neue Entdeckung an Röntgenstrahlen. Der Kampf der
Meinungen um die Natur der Röntgenstrahlen ist letzthin durch die
aufsehenerregenden Arbeiten des französischen Physikers Blondlot
in ein neues Stadium getreten und wesentlich zu gunsten der Ă„ther-
hypothese entschieden worden. Der Wert der Blondlotschen Unter-
suchungen charakterisiert sich durch folgende Betrachtung. Die Ge-
schwindigkeit jeder Wellenbewegung ist von der Dichte und der
Elastizität des fortleitenden Mediums abhängig und läfst somit einen
RĂĽckschluĂź auf die Natur des Mediums selbst zu. Indem Blond lot
durch eine äufserst sinnreiche Vereuchsanordnung die Ausbreitungs-
gesohwindigkeit der Röntgenstrahlen zu derjenigen des Lichtes be-
stimmte, fĂĽhrte er daher zugleich einen vernichtenden Schlag gegen
die Emissionshypothese. Es dĂĽrfte heute kaum noch jemand in den
Röntgenstrahlen eine Ausbreitung bewegter winziger Masseteilchen
sehen. Weloher Art allerdings die Ă„therbewegung ist, ob sie einer
äufserst kurzwelligen Lichtbewegung gleicht oder stofsartigen Störun-
gen, mufs einstweilen dahingestellt bleiben; Tatsache ist jedenfalls, dafs
nach den neuesten Veröffentlichungen Blondlots in den Comptes
rendus die Analogie mit den Lichtstrahlen viel weiter geht, als man
bisher annahm. So ist es dem rastlosen Eifer des französischen Ge-
lehrten nunmehr gelungen, auch die Polarisation der Röntgenstrahlen
nachzuweisen. An den elektrischen Wellen, den Wärme- und Licht-
strahlen, kurz an allen Ă„therbewegungen bekannter Frequenz, konnte
eine Polarisation bisher mit leichter MĂĽhe nachgewiesen oder herbei-
geführt werden. Fällt z. B. ein Lichtstrahl in schräger Richtung durch
einen Satz klarer Glasplatten, so läfst er sich durch einen Spiegel
423
nioht mehr nach allen Seiten hin reflektieren. Es haftet ihm in Bezug-
auf das Maximum und das Minimum der Reflexionsfähigkeit vielmehr
eine gewisse Polarität an. Während der Glasplattensatz, an dessen
Stelle man auoh mit demselben Erfolg ein Nikolsches Prisma oder
mehrere andere Vorrichtungen verwenden kann, den Lichtstrahl pola-
risiert, fĂĽhrt der Spiegel die Analyse des Lichtes auf seine Polarisation
hin aus. Das ablehnende Verhalteu der Röntgenstrahlen gegen jeden
Polarisationsversuch braohto nun Blondlot auf die glĂĽckliche Ver-
mutung, es könnten am Ende die Röntgenstrahlen durch ihre eigen-
artige Entstehung in der Fokusröhre von Natur aus schon polarisiert
sein. Der Erfolg hat ihm recht gegeben. Die Röntgenstrahlen sind
in der Tat polarisiert und zwar so, dafs ihre gröfste Wirkung in der
Ebene erfolgt, welche durch den in der Röhre verlaufenden Kathoden-
strahl und den durch ihn erzeugten X-Strahl bestimmt ist Der Ana-
lysator ist auch hier, wie schon bei den Untersuchungen ĂĽber die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Röntgenstrahlen, eine kleineFunken-
strecke, deren Leuchtkraft bekanntlich durch den Strahlungseinflufs
erhöht wird. Durch Drehung der Funkenstrecke gegen die Röntgen-
röhre läfst sich die Polarität nachweisen. Blondlot ist mit seinen
Untersuchungen noch nicht am Ende. Er hat jetzt bereits gefunden,
dafs, ganz wie beim Licht, auoh eine Drehung der Polarisationsebene
durch Quarz und Zuoker erfolgt. Man ist begreiflicherweise aufs
höohste gespannt, ob auoh eine elektromagnetische Drehung der Ebene
stattfindet, wie sie Farad ay Beinerzeit fĂĽr das Licht nachwies. Alle
Anzeichen sprechen dafĂĽr. Dr. B. D.
RĂĽckabbildungen auf photographischen Platten.
Mit dem sonderbaren Namen „Rückabbildung" hat der bekannte
MĂĽnchener Physiker Prof. L. Graetz eine beachtenswerte Erschei-
nung an photographischen Platten belegt, die er in den Annalen der
Physik beschreibt. Es handelt sich um eine neue, durch Experimente
unterstĂĽtzte Deutung einer den Fachgelehrten schon bekannten Er-
scheinung, nämlich um die Einwirkung von Metallen und organisohen
Substanzen auf eine photographische Sohicht bei absoluter Dunkelheit.
Es liegt allerdings sehr nahe, diese Wirkung dem direkten Einflute
des an der Körperoberfläche sich bildenden Wasserstoffsuperoxyds
zuzusohreiben. Dieser Ansicht tritt Graetz jedooh mit Erfolg ent-
gegen, indem er nachweist, dafs ein starker, zwischen dem Metall und
der Platte hindurchgeblasener Luftstrom, der doch zweifellos jede
424
Spur von Dampf mit sich fortreifst, an der Erscheinung' nichts ändert.
Koch vor einigen Jahren wäre nun allerdings eine neue Erklärung des
Phänomens recht schwer gefallen. Heute erinnert man sich der radio-
aktiven Substanzen und ist schnell mit einer Deutung zur Hand. Graetz
steht denn auch nicht an, dem Wasserstoffsuperoxyd eine spezifische
Strahlung zuzusprechen, die, unbekĂĽmmert um das plumpe Verhalten
bewegter, wägbarer Massen, zur Einwirkung auf die Bromsilberschicht
gelangt Ob es sich dabei um eine veritable Ă„therstrahlung oder nur
um eine geradlinige Emanation unbekannter kleinster Teilchen han-
delt, läfst er dahingestellt Diese Hypothese einer neuen _Wasser-
stoffsuperoxyd-Strahlung'* oder, wie man bequemer nach chemischer
Schreibweise abkĂĽrzt, H202-Strahlung hat nun wirklich viel fĂĽr sich.
Zum wenigsten erklärt sie das Phänomen der Rückabbildung. Setzt
man nämlich eine photographische Platte den hypothetischen H3Or
Strahlen aus, indem man ihre Schicht in geringe Entfernung ĂĽber die
Flüssigkeit bringt, und legt auf die Qlasseite — wohlgemerkt also
auf die Rückseite der Platte — einen Metallgegenstand, so findet man
ihn nach der Entwickelung auf der Schicht abgebildet und zwar in
heller Umrifszeichnung auf dunklem Grunde. Wollte man der Ver-
dampfung allein die Wirkung zuschreiben, dann wäre eine Erklärung
unmöglich. Das Metall hält die Strahlen scheinbar auf, obwohl es
nicht auf ihrem Wege liegt Gegenstände, welche sich zwischen dem
Metall und der empfindlichen Schioht befinden, ändern daran nichts.
Man kann sich nur vorstellen — und dies Resultat ist allerdings
seltsam genug — , dafs sich dort, wo das Metall liegt, zwei Wirkungen,
nämlich die von der Münze ausgehende und diejenige der Wasser-
stoffsuperoxyd-Fläche, in irgend einer Weise entgegenarbeiten. Graetz
nimmt an, dafs die Wärmeausstrahlung des Metallkörpers von wesent-
lichem EinQufs sei. Sehr sorgfältige Untersuchungen haben in der
Tat gezeigt, dafs selbst Temperaturdifferenzen von nur VM 0 C. auf
der Platte als Helligkeitsunterschiede bemerklich werden. Ob die
Wissenschaft aus dieser neuen Art photographischer Temperutur-
messung bzgl. Temperaturvergleichung nennenswerten Nutzen ziehen
kann, mufs die Zukunft lehren. B. D.
*
Die Zukunft der Flugmaschinen.
In einer der jüngsten Nummern der „North American Review'-
schildert der berĂĽhmte brasilianische Aeronaut Santos-Du mont aus-
fĂĽhrlich das von ihm erbaute Luftschiff und die GrĂĽnde, die ihn ver-
425
anlafsten, diesem einen mit Hydrogen gefĂĽllten Ballon beizufĂĽgen
statt die sohwere Plugmasohine in Anwendung zu bringen, welohe
von den meisten Gelehrten als das Modell der Zukunft betrachtet wird.
Es handelte sioh bisher darum, ein Flugschiff zu erfinden, welohes
entweder auf Aerostation beruht, das heifst von einer Maschine ge-
trieben wird, die leichter ist als die Luft, oder auf Aviation, das heifst
eine, die gleioh einem Vogel duroh die LĂĽfte sohiefst San tos -
Dumont hält die letztere für das Endziel der Luftschiffahrt. Momentan
stellt er Versuche mit Maschinen an, welche beide Grundsätze ver-
binden. Er behauptet, dafs es ein Irrtum sei, zu glauben, sein mit
Gas gefĂĽlltes Luftschiff sei leichter als die Luft Es soll sogar um
einige Pfund sohwerer sein und kann sich mit HĂĽlfe des Hydrogens
allein gar nioht in die LĂĽfte erheben; die dazu erforderliche Kraft
wird vielmehr durch einen Propeller vermittelt Wenn dieser still-
steht sinkt die ganze Maschine langsam zu Boden. Dumont beruft
sioh auf die Natur, welche die Federn der Vögel hohl und möglichst
leiobt geschaffen hat. Seine Maschine ist so leicht als möglioh, straff
und voll Kraft aber dennoch schwerer als die Luft Die Schraube
lenkt das Luftsohiff nioht nur, sondern maoht es auch steigen.
Auf diese Weise bewegt sioh Santos-Dumonts Maschine gleioh
einem Vogel in vertikaler Riohtung, ohne Ballast oder Hydrogen los-
zuwerden, indem es einfach die Neigung seines röhrenförmigen
Wasserstoff-Aeroplans verändert. Darin unterscheidet sioh sein Luft-
sohiff wesentlich von den gewöhnlichen Luftballons. Er erklärt, seine
kĂĽnftigen Luftschiffe mit sohiefen Ebenen verseben zu wollen, deren
Oberfläche, im Verein mit der Hülle des Ballons, unter der treibenden
Tätigkeit der Schraube arbeiten wird an der Unterstützung des Ge-
wichts des Mechanismus. Das Luftschiff, welches er in London be-
nutzen will, wird schon solohe schiefen Ebenen haben. Auf diese
Art hofft er sich allmählich der Flugmasohine zu nähern, indem er die
Menge des Wasserstoffes zu vermindern gedenkt bis er ihn voll-
ständig entbehren kann. Das Luftsohiff wird dann im strengsten Sinne
des Wortes ein Aeroplan werden. San tos -Dumont hofft, dafs dem-
nächst drei solohe Schiffe fertig werden. Seiner Ansioht nach könnte
ein solches von der Länge des Dampfers „Deutschland" tausend Passa-
giere befördern und die Strecke von Newyork nach Hävre in zwei
Tagen zurücklegen, vorausgesetzt, dafs ein genügend mächtiger Motor
und eine ausreichende Menge Petroleum vorhanden seien. Er glaubt
dafs solche Reisen schon in wenigen Jahren werden gemacht werden
können. K.
4^6
Etwas ĂĽber Geister- und Gespensterglauben.
Was die Etymologie des Wortes „Gespenst- betrifft, so leitet man
es wohl am besten vom alten „gispensti" ab, was „Überredung" be-
deutet Und dieser Ausdruck ist nicht unpassend, denn gleichsam
durch Ăśberredung der Sehorgane, durch die ĂĽberreizte Phantasie
nimmt man Gespenster wahr, d. h. Dinge, die nicht existieren oder
doch nicht an Ort und Stelle vorhanden sind. Oft sind solche Emp-
findungen auoh begreiflich, z. B. auf Friedhöfen, die besonders in
mondhellen Nächten als vermeintliche Lieblingsresidenzen von Geistern
und Gespenstern gefĂĽrchtet sind. Da ist es kein Wunder, wenn Leute
mit ohnedies aufgeregten Köpfen in jedem Baum ein Gespenst sehen,
jeden Stein als Geist betrachten und Windstöfse für Seufzer und Ge-
ächze halten.
Die Frage, ob es wirklich Gespenster und dergleichen gebe oder
nicht, wurde frĂĽher gar ernsthaft bebandelt und bildete den Gegen-
stand zahlreicher gelehrter Streitschriften. Der Geister-, Gespenster-,
Aber- und Wunderglaube fand zu allen Zeiten und bei allen Völkern
zahlreiche Anhänger; auch heute ist damit noch lange nicht aufge-
räumt, und wenn auch die Aufklärung in den Städten viel allgemeiner
wird, so läfst das Landvolk in dieser Beziehung noch alles zu wünschen
ĂĽbrig.
Im Altertum macht der Polytheismus das Unwesen begreiflich;
heute haben die vielen „Heiligen" des Christentums den Löwenan-
teil an dem Blühen desselben. Damals erschien Cäsar dem Brutus,
flehte Patroklos' Geist den Achilles um Bestattung seines Leichnams
an. liefs sich Romulus nach seinem Tode zum Halbgott erklären, be-
schwor Saul den Schatten Samuels aus der Unterwelt herauf; — jetzt
hat man Visionen mit diesem oder jenem Heiligen, man führt Gespräche
mit der Mutter Gottes, und was dergleichen mehr ist Auch werden
häufig vom Himmel eigenhändig „schreckliche Fingerzeige" gegeben
durch Verwandlung von Ketzern in Schweine, durch Nordlichter,
Kometen, Überschwemmungen u. s. w. Solches Zeug wagen — salva
venia — , „Seelenhirten" ihren Schafen vorzupredigen!
Da das Wort „Geist14 vielerlei Bedeutungen hat, ist auf den
Unterschied zwischen „Geisterseherei" („Spiritismus^) und „Geister-
glaube" (,.Dämonologiek>) zu achten. Hier versteht man unter Geistern
quasi körperliche, wirkende, schaffende oder zerstörende Wesen, dort
die Seelen, Schatten oder Manen der Verstorbenen, die durch An-
wendung gewisser Mittel mit den Lebenden in zeitweiligen Verkehr
gebracht werden sollen.
427
In den Bereich des Spiritismus gehört der Umstand, dafs sich
Freunde oder Verwandte oft das Versprechen gegeben haben, nach
dem Tode einander zu erscheinen, um Kunde ĂĽber das Jenseits zu
geben. Unter Lorenzo di Medioi bestand in Florenz die gelehrte Ge-
sellschaft der „Piatoni ker". Zwei Mitglieder derselben, Marsilius
Ficieni und Mercato, verabredeten, dafs der zuerst Sterbende, wenn
es möglich sei, dem Überlebenden erscheinen und ihm mitteilen solle,
ob die Unsterblichkeit der Seele der Wirklichkeit entspreche oder
nicht Mercato starb, und kurz darauf glaubte der im Kreis seiner
Kollegen sitzende Marsilius dessen Geist am Fenster zu erblicken
und „Vera sunt illa" ausrufen zu hören. Ein ähnliches Verhältnis
finden wir in der hübsohen kleinen Erzählung „Die Harfe" von
Theodor Körner. — Der berühmte Spiritist Swedenborg war nicht,
wie sein ebenso berĂĽhmter Zeitgenosse Cagliostro, den wir als
König des Schwindel reiches bewundern müssen, ein Betrüger, sondern
ein Selbstbetrogener. Während einer Seefahrt machte er in der Kajüte
des Kapitäns vor allen Stühlen Verbeugungen. Auf die Frage des
Kapitäns antwortete er: „Sehen Sie denn nicht Peter den Grofsen,
Karl XII., Katharina II. u. s. w.?" Bei der Landung verlangte der
Kapitän das Reisegeld für jene fürstlichen Personen oder das Ge-
ständnis Swedenborgs, dafs er ein Narr sei. — Nicht nur höchst
lächerlich, sondern auch sehr schädlich waren die phantastischen
Schriften Jung-Stillings und Wötzels.
Im Sinne der Dämonologie unterscheidet man böse und gute,
unreine und reine Geister, Engel und Teufel.
Während die Heiden des Altertums nur Poltergeister (Larven)
und Raohegeister (Furien und Harpyen) hatten, wurden jene Unter-
schiede erst durch christliche Anschauungen greller. Die ehemaligen
Götter wurden auch teilweise zu Teufeln degradiert. So begegneu
wir Venus in der Tannhäusersage als Teufclin wieder; so liers der
Volksglaube Wotan und Odin als wilde Jäger in Begleitung des
wilden Heeres durch die Luft ziehen. Während die Engel im Himmel,
die guten Geister auf der Erde plaziert waren, versetzte man den
Teufel und die bösen Geister in die Hölle und unter die Erde. — Zu den
guten Geistern gehörton aufser den Engeln die Seelen guter Menschen,
die Elfen, die Ahnfrauen in den Burgen, die Heinzelmännchen in den
Bürgerhäusern und die Gnomen oder Kobolde in den Bergen.
Der ägyptische Teufel ist Typhon, das böse Prinzip, den man als
Urheber alles Ăśbels betrachtete und mit den scheufelichsten ZĂĽgen
darstellte. Der echte Teufel wurde von den Juden im babylpnisohen
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42*
Exil als „Satan- kennen gelernt, welche« Wort aas dem Griechischen
stammt und „Feind, Widersacher* bedeutet Der Satan ist ein Nach-
bild des persischen Ahriman.
Nach der ursprĂĽnglichen christlichen Anschauung sind die Teufel
entartete Engel, vom Himmel gefallen, Fürsten der Hölle, Feinde und
Verderber des Menschengeschlechtes. Die Kirchenvater schmĂĽckten
diesen Glauben mit allerlei Phantastereien aus, und bald war da*
„Besessensein-* erfunden und so an der Tagesordnung, dafs es eigene
Priester, .Exorzisten", gab, die der Austreibung der Anfechtungen ob-
lagen. — Mönche und Einsiedler hatten manchen harten S traut mit
dem Teufel auszufechten; Luthers heftige Kämpfe mit dem Gottseibei-
uns zeigen, gleich den Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts, dafs so-
gar unter den gebildeteren Ständen der Glaube an die Einwirkung
des Teufels verbreitet war. Einer meiner Freunde ist jĂĽngst durch
Zufall in den Besitz eines im Mönchslatein geschriebenen, zu Krakau
anno 1637 erschienenen BĂĽchleins gekommen, das sich .Thesaurus
magicus domesticus, sive approbatus niger libellus rMagischer Haus-
schatz oder erprobtes SchwarzkĂĽnstlerbĂĽchlein >* betitelt und eine
genaue Anleitung enthält, sich die diversen finsteren Geister zu
irdischen Zwecken dienstbar zu machen.
Allmählich legte der Teufel seine böse Gestalt ab. Schon im Mittel-
alter bei den geistlichen Schauspielen spielte er, mit Hörnern, Schwanz
und BockfĂĽfsen ausgestattet, die lustige Person, und endlieh verwan-
delte er sich 60gar in jenen Kavalier oder Weltmann oder Elegant,
wie man ihn im -Faust- und in Hauffs -Memoiren des Satans" findet.
Bis in die neueste Zeit schrieb man Dinze. die neu waren und
d*r grofsen Masse wunderbar vorkamen, besonders Erfindungen, einem
BĂĽndnis mit dem Leibhaftigen zu. Auch verschiedene Erscheinungen
schrieb man höllischen Zauberkünsten zu. Es bedurfte der Naturwissen-
schaft und des eifrigen Studiums derselben, um die Dinge zu erklären,
so wie es der Philosophie bedurfte, um den Selbsttäuschungen der
Geister, den BetrĂĽgereien der TeufelsĂĽberwinder und der Ansicht,
dafs der Teufel die sĂĽndhaften Regungen entzĂĽnde, beizukommen.
War doch selbst Kepler, wie sehr er auch seine der Hexerei anare-
klagte Mutter verteidigte, nicht ganz frei von dem Glauben an die
Möglichkeit des Vorhandenseins von Hexerei! Wenn sich so erleuchtete
Geister nicht aus dem magischen Bann des Aberglaubens zu befreien
vermögen, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn trotz aller Auf-
klärung der Geister- und Gespensterglaube noch heute, wie der Fall
-Rothe" bewiesen, in der grofsen Menge fest wurzelt. L. K-r.
42(.)
Neuartige Gewebe.
Edward Bellamy schildert in seinem wolbekannten Roman
„Gleichheit" die Zukunftstracht der Menschen. Man wird Kleider aus
farbenprächtigem, wetterfestem und sohmiegsamem Papier tragen, die
zugleich ungeheuer billig sein werden.
Allem Anscheine nach wird die Mensohheit gar nicht einmal so
lange auf Idcalkleiderstoffe zu warten brauchen, wie Bellamy glaubt,
denn kĂĽrzlich gemachte Versuche mit der Chinanessel und mit Palm-
blättern haben überraschende und vielversprechende Resultate ergeben,
die, wenn sie auch zu keiner Revolution in Kleider- und anderen
Textilstoffen fĂĽhren sollten, sich immerhin als sehr praktisch erweisen
dĂĽrften. Ein Herr Herbert Hoyle in Halifax (England) hat nach
vielfach angestellten Versuchen mit der Chinanessel ein Qewebe er-
funden, welohes genau wio Seide aussieht, auoh alle VorzĂĽge der-
selben aufweist, dabei aber sehr billig ist.
Mit der allen Erfindern eigenen Begeisterung hofft Hoyle, dafs
seine neue Erfindung in nicht zu ferner Zeit eine Umwälzung in der
Textilindustrie hervorrufen dĂĽrfte, da das Material zu dem neuen Qe-
webe sowohl in Vorder-Indien als auch in den Strait Settlements in
ungeheuren Mengen zu finden ist; es heifst sogar, dafs es unerschöpf-
lich sei. Zur Fabrikation wird das auf mechanische und chemische
Weise getrocknete Gras verwendet; das daraus erzeugte Gewebe soll
einen nicht nur seidenartigen, sondern auch bei noch so starker Be-
nutzung unverwüstlichen Glanz haben und außerordentlich kräftig und
wohlfeil sein. Es soll sioh kaum teurer stellen als gewöhnlicher
Baumwollstoff.
Kürzlich gemachte Versuohe mit Palmblättern haben ebenfalls
ganz überraschende Ergebnisse zur Folge gehabt. Man präpariert
die Blätter zuerst mit einer alkalischen Lösung, läfst sie dann tüchtig
durchkochen und gären. Sodann wird mittels einer Masohine die
Faser vom Mark getrennt; sie soll sehr kräftig und berufen sein,
kĂĽnftig in der Textilindustrie eine grofse Rolle zu spielen.
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Leo Königsberger: Hermann von Heimholt/. Braunschweig. Verlag
von Friedrich Vieweg & Sohn.
Die wiederholt angekĂĽndigte grofse Biographie Hermann von Helm-
hol tz' ist nunmehr in ihrem ersten und zweiten Bande erschienen. Der
dritte Band soll in KĂĽrze nachfolgen. Man hat das Werk mit Spannung
erwartet, und man darf heute wohl sagen, dafs die hohen Erwartungen noch
ühertroffen worden sind. Leo Königsberger, der bekannte Mathematiker,
«rweist sich in der Tat als der Mann, das Lebenswerk unseres bedeutendsten
deutschen Physikers der letzten Jahrzehnte zu schreiben. Wir behalten uns
eine ausfĂĽhrlichere Besprechung, insbesondere des zweiten Bandes, noch
vor. Wer den ersten Band oingohender studiort hat, wird sagen mĂĽssen,
dafs eine bessere Biographie in den letzten Jahren kaum geschrieben worden
ist. Die reichen Unterstützungen, welche Leo Königsberger seitens der
Familie des Verstorbenen und insbesondere auch seitens der preufsischen Unter-
richtaverwaltung fand, haben ihm erlaubt, seine Aufgabe mit grofser Vollstän-
digkeit zu lösen. Dafs es dem Fachgelehrten gelingen würde, knappe und
dabei doch umfassende Referate über die wissenschaftliche Tätigkeit Helm-
holtz' zu schreiben, war vorauszusehen. Dafs er aber auch die rein schrift-
stellerische Aufgabe glänzend gelöst hat, darf man mit ganz besonderer Freude
anerkennen. Die Sprache ist frisch und anschaulich, nirgends verfällt sie in
einen trockenen, dozierenden Ton. Jeder Gebildete wird daher das Buch mit
grofsem Nutzen zur Hand nehmen und lesen können. Zunächst finden wir
den jungen Helmholtz in seinem Elternhaus zu Potsdam, wo er seitens
de9 Vaters und einer liebevollen Mutter eine sorgfältige Erziehung genofs, die
schon frĂĽhzeitig in dem jungen Mann die Keime sittlicher Reife zur Entfaltung
brachte. Eine außergewöhnliche Begabung für die exakten Wissenschaften,
insbesondere fĂĽr die Physik und Mathematik, zeigte sich bei dem Knaben schon
recht früh. Die unzureichenden Vermögensverhältnisse des Vaters bestimmten
ihn jedoch, zunächst die medizinische Karriere einzuschlagen und als Eleve
an das medizinisch-chirurgische Friedrich-Wilhelms-Institut in Berlin zu gehen.
Helmholtz wurde Arzt. Wir sehen ihn später als Eskadron -Chirurgus bei
den Oardehusaren und als Militärarzt in Potsdam. Wo nur immer der strenge
militärische Dienst ihm Zeit liefs, arbeiteto Helmholtz mit Eifer, fast mit
Ăśbereifer au seiner physikalischen Ausbildung. Im Jahre 1847 bereits schrieb
der kaum 23 jährige an seiner berühmten Untersuchung über die Erhaltung
der Kraft. Eine Probevorlesung ĂĽber die Gesichtspunkte bei dem Unterrichte
in der Anatomie fĂĽr KĂĽnstler brachte ihm dann einen Ruf als Lehrer bei
der Kunstakademie ein. Im Jahre 1849 wurde er Professor der Physiologie
in Königsberg, wo er sich mit Olga von Velten verheiratete. Hier begann
jene glänzende Folge von Arbeiten, die Helmholtz sogleich in die vorderste
Reihe seiner Fachgenossen rücken liefs. In das Jahr 1850 fällt hier auch die
431
Erfindung des Augenspiegels. Später finden wir Helm hol tz in Bonn, wo er
seine berühmten Werke Uber die Kombinationstöne und über die physiologi-
schen Ursachen der musikalischen Harmonie vollendet Im Jahre 1859 starb
sein Vater und kurz darauf seine Frau. Die schweren Schicksalsschläge ver-
mochten jedoch die Arbeitskraft des grofsen Mannes nur kurze Zeit zu lähmen.
In Heidelberg, wohin er im Jahre 1858 berufen wurde, entstanden seine be-
kannten Untersuchungen ĂĽber die Klangfarbe der Vokale, ĂĽber die Kontrast-
erscheinungen im Auge und die zweite Lieferung seines Handbuches der
physiologischen Optik.
Dr. A. Miethe: Lehrbuch der praktischen Photographie. 2. Auflage.
Verlag von Wilhelm Knapp, Halle.
Oer Name des Verfassers bĂĽrgt fĂĽr die GĂĽte des Buches. Da dasselbe
in der Hauptsache für den Fachmann und zwar für den Porträtphotographen
geschrieben ist, möge an dieser Stelle ein kurzes Inhaltsverzeichnis genügen.
Der Leser wird zunächst in sehr gemeinverständlicher und sachgemäfser Weise
ĂĽber die photographischen Objektive, ĂĽber die Chemie des photographischen
Prozesses sowie ĂĽber die Einrichtung der photographischen Aufnahmeapparate
belehrt Darauf folgen Kapitel, die den Negativ- und Positivprozefs, die Re-
produktion und Vergröfserung, die orthochromatische Photographie sowie die
Aufnahmen bei kĂĽnstlichem Lichte behandoln. Ein sehr beachtenswerter Ab-
schnitt ĂĽber die photographische Ă„sthetik im Atelier und im Freien beschliefst
dos Buch. B. D.
G. Pizzighelli: Anleitung zur Photographie. Elfte Auflage. Verlag-
von Wilhelm Knapp, Halle.
Das Buch von Pizzighelli ist weit verbreitet und verdankt den Erfolg
seinen hervorragend praktischen Qualitäten und dem Umstände, dafs es nicht
nur für den Fachphotographen, sondern auch, und zwar wohl hauptsächlich,
fĂĽr den Amateur bestimmt ist Irgendwelche Kenntnisse werden nicht vor-
ausgesetzt, die Behandlung des Stoffes ist durchweg ganz elementar, die Diktion
klar und eindringlich. Der Leser findet fĂĽr alle Verfahren, die er gern be-
nutzt, ausfĂĽhrliche Anleitungen und erprobte Rezepte. Die in wesentlichen
Punkten vermehrte und verbesserte Auflage dĂĽrfte dem Buche wiederum neue
Freunde zufĂĽhren. B. D.
Dr. R. Neuhaufs: Lehrbuch der Projektion. Verlag von Wilhelm
Knapp, Halle.
Die Lichtbilderprojektion bildet heute einen so wichtigen Faktor im
Dienste des Unterrichts und der ernsteren, allgemeinen Belehrung, dafs man
sie nicht entfernen könnte, ohne einen fatalen Rückschritt zu machen und eine
empfindliche LĂĽcke zu hinterlassen. Deshalb ist auch ein umfassendes Lehr-
buch sehr am Platze, wenn es mit solcher Sachkenntnis und GrĂĽndlichkeit ge-
schrieben ist, wie das vorliegende. Der Verfasser ist Praktiker durch und
durch, und seine Anleitungen sind durchaus wertvoll und nicht am grĂĽnen
Tisch entstanden. Vieles, was er bringt w«r bisher noch nicht veröffentlicht
anderes mufste von allen Seiten her gesammelt werden. Aber Dr. Neuhau Ts
bat es verstanden, sein fast ĂĽbergrofses Material mit Geschick zu sichten und
zu ordnen. Sehr ausfĂĽhrlich werden die Boleuchtungssysteme besprochen, das
Verhältnis der Kondensatoren sur Lichtquelle und zum Objektiv, die Bild-
träger und Projektionsformate, ferner auch die Glasbilder selbst dm Auffang-
schirme u. 8. f. Sehr ausführlich und mit viel Sachverständnis ist auch der
farbigen Projektion nach den Verfahren von Lippmann, Ives, Seile, Jolly
432
und Wood sowie der Projektion opaker Gegenstände, der stereoskopischen
und mikroskopischen Projektion und auch der kinematographiachen Darstellung
gedacht Den Streit, ob bei gröberen Beleuchtungssystemen ein dreifacher
Kondensor dem zweifachen vorzuziehen sei, erledigt Dr. Neu häuf 8 durch die
Angabe, data ein dreiteiliger Kondensor etwa dreimal mehr Licht aufzunehmen
im stände sei, wie ein zweiteiliger. Das ergibt allerdings die Rechnung ohne
weitere«. Der Praktiker wird aber mit dieser Angabe, bei welcher er den
Mehrverlust an Reflexion und Absorption unberĂĽcksichtigt sieht, nicht ganz
zufrieden sein. Vielleicht bringt der Verfasser in der nächsten Auflage einen
photometrischeh Vergleich der erzielten Flächenhelligkeit bei beiden Systemen.
Mit grofser Schärfe wendet sich Dr. Neuhau Ts gegen die kindische
Verwendung des Projektionsapparates zu allerhand läppischen und wertlosen
Spielereien, wie zu Mondaufgängen, Änderungen landschaftlicher Stimmungen,
AlpenglĂĽhen u. s. f., kurz zu Effekten, die man sich allenfalls auf der BĂĽhne,
aber nicht in einem Projektionsbilde gefallen läfst Er hat recht: die schöne
und wertvolle Projektionskunst wird durch derartige Bestrebungen von ihrem
ehrenvollen Platze herabgerissen und zu einem niederen Dienst im In-
teresse gemeiner Schaulust erniedrigt. Gegen derartige AuswĂĽchse sowie
gegen viele irrige Meinungen und Vorurteile fĂĽhrt Dr. Neuhaufs eine bis*
weilen sehr deutliche und kriegerische Sprache. Aber niemand nimmt ihm
dies übel, denn er trägt seine Sache mit Witz vor und sein Buch besitzt vor
vielen anderen den grofsen Vorzug, dafs es niemals langweilt B. D.
VarUg: Hermann Paatel in Berlin. - Drncki Wühala Gronau'* Bnckdraekaml In Bartta>8ch6a*»aig.
F6r die Rfdtetioa Tarutwortlich : Dr. P. Sahwakn ia Barlin.
CafcarachUffter Nachdruck an* dan Inaalt Jtaaar Zaitaehrift aataraaft
Fig. I. Zeche Königin Elisabeth. Ansicht von Süden.
Fig. 2.
Zeche Königin Elisabeth. Halle für die Kohlenzüge, mit Vorrichtungen
fĂĽr den Sturz der Kohlen in die darunter haltenden GĂĽterzĂĽge.
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Die Gewinnung der Steinkohle
in einer Zeche des Ruhrkohlengebiets.
Von Ludwig Fenth in Berlin.
s war dem Verfasser auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen
möglich, in einer der gröfsten Zechen des Ruhrkohlengebiets
eine komplette Serie von photographischen Aufnahmen des berg-
baulichen Betriebs ĂĽber und unter der Erde herzustellen. Da die
dortigen Zechen durohweg in Anlage und Betrieb demselben Schema
entsprechen, so genügt die Vorführung einer einzelnen grösseren An-
lage zur Gewinnung eines typischen Bildes.
Die von mir besuchte Zeche „Königin Elisabeth" wird äufserlich
durch einen in der Nähe des Dorfes Kray bei Essen belegenen grüfseren
Gebäudekomplex repräsentiert, welcher auoh die wesentlichsten über
der Erde befindlichen Anlagen enthält: den Schacht „Joachim" nebst
allen Dependenzen, die Kokerei, das Direktionshaus u. b. w. In der
Mitte erhebt sich der Sohachtturm, ein massiges, rechteckiges, die ganze
Gebäudegruppe hooh überragendes Bauwerk, dessen steiles Dach von
einem Aussichtshäuschen gekrönt wird (Fig. 1, siehe Titelblatt). Es
lohnt eich, den mĂĽhsamen Aufstieg zu unternehmen, um dort oben den
interessanten, weitgedehnten Rundblick auf die in ihrem Wechsel von
Zeohen komplexen, Schutthalden, Getreidefeldern, Wäldern, Arbeiter-
dörfern und Industriestädten so charakteristisch belebte Landschaft zu
geniefsen. An diesen Schachtturm schliefsen sich an allen vier Seiten
niedrigere Anbauten an, von denen der östliohe die zur Plattform der
Schachtmündung führende Treppenanlage, der nördliche die über den
Geleisen der Eisenbahn befindliche grofse Halle fĂĽr die Entladung
der Kohlenwagen enthält, während sioh in dem westlichen Anbau
Fördermaschine und die Pumpenanlage, in dem südlichen u. a.
1908. XV. 10. 28
434
der Zugang zu der SchutthaldenbrĂĽcke befinden. Besteigt man die
genannte Plattform, so befindet man sioh in einem riesigen Innenraum,
dessen Mitte die hochau fragende Sohachtziramerung bildet. Holzgitter
in Mannshöhe umgeben den Schacht; der Bliok hinunter fahrt in
einen unermefslich scheinenden Abgrund. Sausend kommen die rie-
sigen Fahrstühle herauf; die Gitter öffnen sich, und Wagen auf Wagen
mit Kohlen gefĂĽllt wird herausgezogen. Es ist ein fortlaufendes
Kommen und Gehen, da der Schacht in zwei Abteilungen geteilt ist,
in denen die FahrstĂĽhle sich derart bewegen, dafs der eine das Gegen-
gewicht des andern bildet Die FahrstĂĽhle haben zwei bis drei Stock-
werke. Das obere ist fĂĽr den Transport der Bergleute bestimmt,
während in den unteren, niedrigeren Stockwerken die Kohlenwagen
eingeschoben werden, und zwar auf kleine Geleise, deren Fortsetzung
oben und unten an den SchachtmĂĽndungen sich befindet In dem oberen
Stockwerk hat eine ganze Arbeiterkolonne Platz; in den unteren durch-
weg je zwei der kleinen Kohlenwagen, die Eisenbahnloren mit schräg-
gestellten Wänden gleichen. Kommen geförderte Kohlen herauf, welche
keinen weiteren Prozeduren unterzogen zu werden brauchen, so fährt
Wagen auf Wagen auf den schmalspurigen Geleisen in die grotee
Halle ĂĽber dem Schienenstrang, welcher den Schacht mit den Fern-
geleisen der Eisenbahn verbindet (Fig. 2, siehe Titelblatt). Dort laufen
die Wagen in grofse, eiserne Radkästen (Kreisel wipper) ein, drehen
sich mit ihnen, und polternd fällt die Kohle direkt in die darunter
befindlichen GĂĽterzĂĽge. Die Aufnahme gibt davon eine gute Dar-
stellung; auch die Sohachtvergitterung im Hintergrunde sieht man.
Auf der anderen Seite des Schachtturms werden die Wagen mit
dem unverwendbaren Gesteinsschutt nach der riesigen Schutthalde
herĂĽbergefahren, und zwar auf einer den Zeohenbof ĂĽberschreitenden
BrĂĽcke, an deren Ende sich ein AufzugsgerĂĽst fĂĽr die Hebung der
Wagen auf die Höhe der Halde befindet
Mit geschwärzten Gesichtern und in nassen, schmutzigen Arbeits-
trachteu entsteigen die Bergleute dem Schacht in den Händen die
Sicherheitslampe und das „Gezähe", das charakteristische Handwerks-
zeug der Häuer; andere Gruppen wiederum rüsten sich zur Einfahrt.
Klingelsignale, Kommando- und Warnungsrufe durchschallen von allen
Seiten den mächtigen Innenraum. Schweigen dagegen herrscht in dem
unmittelbar daneben belegenen Raum der Fördermaschine. Eine riesen-
hafte Trommel, in Form eines radartigen, von den Aohsenendigungen
nach dem Rande konisch verlaufenden Gefäfses, wickelt die Drahtseile
auf, an welchen die Fahrstühle hängen. Ungefähr in der Mitte des
435 _
Raumes sitzt einsam der Maschinendirigent, von dessen Umsicht das
Leben so vieler Menschen abhängig ist Eine Tafel mit einem beweg-
liehen Brettchen läfst den jeweiligen Aufenthaltsort der Fahrstühle er-
kennen; eine geringe Ăśberschreitung der betreffenden Grenzlinien
wĂĽrde den Fahrstuhl am oberen Schachtrande zerschmettern oder
unten in den Sohachtsumpf hinabfallen lassen.
Daneben liegt der Raum mit der Waseerhaltungsmaschine; sie
besteht aus einer riesigen, durch zwei Etagen durchgehenden, in der
Fig. 3 Förderm&ichin«
Hohe des ersten Stockwerks mit einer herumlaufenden Galerie ver-
sehenen Pumpe, deren Dimensionen so gewählt sind, dafs sie dem
Grubenwasser das Gleichgewicht zu halten und diese kolossalen Wasser-
rnassen zu bewältigen vermag. Noch einige weitere Nebenräume
schliefen sich an, darunter die Leichenkammer, die leider ziemlich
häufig belegt zu sein pflegt.
Rings um dieses hohe Mittelgebäude gruppieren sich niedrigere
Baulichkeiten. Ein langgestrecktes, aus zwei rechtwinklig zusammen-
stofsenden Flügeln bestehendes einstöckiges Haus enthält in dem einen
FlĂĽgel die Betriebsverwaltung, ferner die sehr praktisch und bequem
eingerichteten Ankleide- und Baderäume für Bergleute, Beamte und Be-
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430
suoher, und endlich in dem andern, naoh dem Zeobenhof geöffneten
FlĂĽgel die stets im vollsten Betrieb befindliche grofsartig angelegte
Schmiede. Von hier aus gelangt man zwischen der Halde und dem
Sohaohtgebäude, unter der vorhin genannten Brücke hinduroh, nach
dem Kesselhaus, einem mäohttgen Gebäude mit einer Anzahl Ta^
und Nacht in Betrieb befindlicher Kessel. Daran störst die soge-
nannte Kokerei mit ihren zahllosen unmittelbar nebeneinander be-
findlichen Chamotteöfen und ihren sonstigen Baulichkeiten. Weiterhin
schliefst die Kohlenwäscherei nebst einigen Stapelplätzen, auf denen
die Materialien fĂĽr die unterirdische Streckenzimmerung u. s. w. lagern,
die Kette der rings um das Hauptscbaohtgebäude gruppierten tech-
nischen Anlagen. Eine erhebliche Strecke davon getrennt liegt nach
Westen die Direktorwohnung mit Zier- und GemĂĽsegarten, Stallung
u. s. w., während nach Süden die ausgedehnte Arbeiterkolonie sich
anschliefst. Hier kann man am Sonntag die jungen Bergleute mit
Gehrock, Zylinder, Zigarette und modernem Spazierstock flanieren
sehen — es fehlt nur das Monocle und der Grofsstadt-Dandy ist fertig.
Andere, denen das weniger liegt, sitzen vor den TĂĽren mit der Zieh-
harmonika, während ihre Frauen coram publico die in zahlreichen
Exemplaren vertretene „Bergmannskuh", die Ziege, melken. In den
Kneipen spielt das Billard eine grofse Rolle, und die an den schweren
Schläge] gewöhnte Hand sobeint auoh hier mit Gesohiok zu agieren.
Doch wenn am Montag in aller Frühe die „Schicht" beginnt, so
treten die Leute wieder an in ihrem kohlengeschwärzten Bergmanns-
kittel, mit ihrem Licht und ihrem Gezähe, und hinunter geht es in die
Finsternis des Schachtes. Sausend fährt die Sohachtzimmerung vor-
über, nafs, glitsohrig und modrig. Plötzlioh ertönt ein Glookensignal,
der Fahrstuhl hält, und man sieht in einen durch Holzgitter abge-
schlossenen erhellten Raum, in dem sich Leute bewegen. Die GittertĂĽr
wird aufgerissen, und wir treten in eine niedrige gewölbte Halle,
den sogenannten „Füllort" ein, der den Eingang einer Sohle des Berg-
werks bildet.
Voll Spannung setzen wir den Fufs auf den Boden dieser Unter-
welt. Das Gittertor schliefst sich hinter uns; der den FĂĽllort leitende
Vormann — der in steter Verbindung mit dem die Fördermaschine
dirigierenden Maschinisten steht und dessen Posten nioht ohne erheb-
liche Verantwortung ist — erstattet dem uns begleitenden Betriebs-
fübrer seine Meldung, während wir die von Nässe triefenden, unge-
putzten Steinwände und Backsteingewölbe der Halle betrachten und
die grofsen von der Deoke herabhängenden Tropfsteine bewundern.
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437
Gleich darauf wieder ein Klingelsignal; in der linken Abteilung kommt
der zweite Fahrstuhl angesaust, welcher das Gegengewioht zum
unsrigen hält. Das linke Gittertor wird zurückgeschoben und die
beiden unteren fĂĽr Kohlenwagen bestimmten Stockwerke des haltenden
Fahrstuhls werden sichtbar. Arbeiter ziehen die leeren Kohlenwagen
heraus; andere schieben dieselben auf den Geleisen weiter und in die
an den FĂĽllort storsende Strecke mittels Drehscheiben hinein. GefĂĽllte
Kohlenwagen werden herangefahren und auf die Geleise des leeren
Fig. 4. Zeche Königin Elisabeth. Ansicht von Weiten.
Fahrstuhls heraufgeschoben. Auf ein weiteres Signal senkt sich der
Fahrstuhl so weit, dafs das obere Stockwerk in gleicher Weise ent-
leert und gefĂĽllt werden kann. Noch ein Signal und der Mannschafts-
raum des Fahrstuhls kommt zum Vorschein; Bergleute, deren „Schicht1*
abgelaufen ist, betreten denselben; das Gitter wird geschlossen und
der Fahrstuhl steigt aufs neue empor. Wir aber treten, den FĂĽllort
verlassend, in die „Strecken" der Grube ein.
Um weiter auf die Einzelheiten einzugehen, ist eine kurze
schematische Darstellung der ganzen unterirdischen Anlage notwendig.
Die Kohle kommt nioht in starken, zusammenhängenden Komplexen
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438
sondern in sogenannten „Flözen* vor, d. h. in ausgedehnten mehr oder
weniger dĂĽnnen plattenartigen Schiebten, welche jede fĂĽr sich gewisser-
maĂźen den Extrakt einer besonderen Periode vorweltlicher Urwaldvege-
tation darstellen und nicht unmittelbar aufeinander aufliegen, sondern
durch andere Gesteinsschichten von meist erheblicher Starke getrennt
sind Im Ruhrkohlenrevier verlaufen die Flöze ziemlich parallel der
Oberflachenkonfiguration und machen daher die wellenartige Faltung
der sogenannten „Essener Mulde" miL Auf dem Grubenfelde der
Zeche „Königin Elisabeth" steigen die Flöze in ziemlich steilem Winkel
auf. Die beigefĂĽgte Schnittskizze (Fig. 5) gibt davon eine Vorstellung,
der beigegebene, in etwas gröfserem Mafsstabe gezeichnete schema-
Fijf. 5. Profil der Zmnar Mulde
tisohe Schnitt (Fig. 6) eines einzelnen Grubenfeldes diene ferner zum
besseren Verständnis der nachfolgenden Darstellungen.
Der im allgemeinen parallele Verlauf der Flöze wird vielfach
durch Verwerfungen gestört Die Stärke der einzelnen Flöze ist sehr
verschieden, sie variiert von Decimetern bis zu mehreren Metern.
Von der Stärke der Flöze sowohl, wie von der Qualität ihrer Kohle
hängt es ab, ob ein Flöz als abbauwürdig anzusehen ist. Die Me-
thoden des Abbaus sind verschieden. FrĂĽher kannte man nur den
Streckenbau, d. h. man trieb durch das ganze .Gebirge- horizontale
Strecken unter und nebeneinander, welche die verschiedenen Flöze an
einer Anzahl von Punkten schnitten (vergl. die Schnittskizze Fig. 5).
An diesen Schnittpunkten wurde so viel Kohle entnommen, als man ohne
allzugrofse Schwierigkeit und Gefahr von dort aus wegsprengen und
wegschlagen konnte, und man baute dann fortgesetzt immer weitere
tiefer und seitlich belegene neue Strecken. Das war ein ziemlich teures
und wenig praktisches System. Auf der Zeche .Königin Elisabeth -
439
wurde durch deren noch im Amte befindlichen Direktor der seit einer
Reihe von Jahren bereits in Oberschlesien angewandte Strebebau
eingeführt, der ungleioh zweck mäfsiger, billiger und ertragreicher ist.
Während früher eine grofse Anzahl von verschiedenen „8ohlen",
d. h. durch besondere Füllörter mit den Schächten in direkter Ver-
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440
bindung stehende, mit Geleisen, KohlenzĂĽgen, Pferden u. s. w. ausge-
rĂĽstete horizontale Strecken notwendig waren, genĂĽgen jetzt deren
einige wenige fĂĽr die Ausbeutung des ganzen Grubenfeldes. Die
Flöze werden nämlioh gewissermaßen im ganzen herausgeschlagen.
Man verlegt von einer Strecke aus Nebenstrecken in das Flöz selbst
hinein und beseitigt von diesen aus von unten her den ganzen Inhalt
des Flözes. Die Aufnahme (Fig. 7) gibt von einer solchen in dem Flöz
laufenden Nebenstrecke ein ganz klares Bild; man sieht von der durch
ein Doppelgeleise mit Drehsoheiben gekennzeichneten Hauptstrecke
aus in die Nebenstrecke hinein, die durch ihre der Flözneigung
entsprechenden schrägen Seitenwände charakterisiert ist, man bemerkt
die Geleise, welche sich von der Drehscheibe in diese Nebenstrecke
abzweigen, die darauf stehenden Kohlenwagen, die starke Decken-
zimraerung der Nebenstrecke mit ihrem SchimmelĂĽberzug. Der Berg-
mann nennt die Gesteinsschicht, auf welcher die Kohle aufliegt, das
„Liegende14, diejenige, welche auf der Kohle lastet, das „Hangende*4.
Interessant ist es, auf der Abbildung zu sehen, wie glatt das „Lie-
gende44 nach der Entfernung der frĂĽher an Stelle dieser Nebenstrecke
befindlichen Kohle erscheint. Durchweg liegt das Kohlenflöz ohne
irgend welche Hervorragungen vollständig eben zwischen die beiden
Gesteinsschichten eingeprefst
Von diesen Nebenstrecken aus wird die Kohle aus dem höher
liegenden Flöz successive entfernt. Die losgelöste Kohle rutscht auf
dem Liegenden nach unten herunter und bleibt auf der Deokenzimme-
rung der Nebenstrecke liegen. Durch Ă–ffnungen in dieser Decken-
zimmerung läfst man dann die Kohle in die direkt darunter befind-
lichen Kohlenwagen fallen. An die Stelle der herausgenommenen
Kohlen werden in kurzen Abständen reihenweise Holzpfosten eingesetzt,
sogenannte Streben, daher denn der Name „Strebebau44. Ein solches
von der Kohle entleertes, bis in die weitesten Fernen hin ĂĽbersehbares,
von unzähligen Streben erfülltes, steil aufsteigendes Flöz sieht ganz
eigentĂĽmlich aus (Fig. 8). Hier waren die photographischen Aufnahmen
reoht schwierig. Zu ihrer Herstellung war es nötig, auf der glatten,
glitschrigen Oberfläche des „Liegenden44 in diesen niedrigen, unge-
heuren, von Kohlenstaub erfüllten Hohlräumen mit dem Apparat und
den Kassetten u. s. w. in der Hand von Strebe zu Strebe emporzu klettern,
wobei in einem Falle wir nur mit genauer Not einem plötzlichen, um-
fangreichen Kohlensturz entgingen. Das Objektiv ging dabei verloren,
wurde indessen unversehrt in dem auf der Deckenzimmerung der dar-
unter befindlichen Nebenstrecke liegengebliebenen Kohlenhaufen wieder
441
vorgefunden. Die Aufnahmen wurden derartig angefertigt, dafs der
nooh anstehende Teil der Kohlenflöze mit sichtbar ist (Fig. 9).
Wo angängig, werden auch die abgebauten Flöze mit dem bei
Herstellung der Horizontalstrecken sich ergebenden Gesteinsschutt
ausgefĂĽllt, wodurch einerseits der Transport desselben auf die oberhalb
der Erde gelegenen Schutthalden erspart wird, andrerseits die infolge
Morschwerdens der Streben schliefslich unvermeidlichen Gesteinsein-
stürze und die damit verbundenen Senkungen der Erdoberfläche ver-
Fig. 7. Hauputrecke mit Eintritt in die unterhalb des Strebebaues befindliche,
im Fifa selbst laufende Nebenstrecke.
mieden werden. Die zahllosen SchadenersatzansprĂĽche der von solchen
Senkungen betroffenen Haus- und Bodenbesitzer bilden ein nie enden-
des, sehr kostspieliges Spezialleiden der Zechenverwaltungen.
Aus den innerhalb der Flöze liegenden Nebenstrecken werden
die gefĂĽllten Kohlenwagen durch jugendliche Arbeiter in die Haupt-
strecke hineingeschoben und dort zu kleinen KohlenzĂĽgen zusammen-
gesetzt, welohe dann durch Pferde zu den FĂĽllorten gezogen werden.
Von einer solchen Horizontalstrecke gibt die Aufnahme (Fig. 10) ein
klares Bild. Es sind durch das Gestein durchgesprengte grofse, endlose
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442
Tunnels, welohe dort, wo das Hangende nioht brĂĽchig ist, die natĂĽrliohe
Struktur der bei den Sprengungen herausgeschlagenen Qesteins Wölbung
zeigen, durchweg aber ausgezimmert oder ausgemauert sind. Man sieht
auf der Photographie den Übergang der gewölbten Strecke in einen
ausgezimmerten Streckenteil. Rechts an der Seite liegt das aus Holz
gezimmerte Sprengstoffmagazin, mit dem durch eine Zwischenwand ge-
trennten, durch Schilder gekennzeichneten gesonderten Eingang und
Ausgang, damit die Leute beim Betreten des Raumes mit den Spreng-
Fig. S. Innerei eines durch Strebebau abgebauten Kohlenflöze«. Im Hintergrund und
links noch anstehende Kohle.
Stoffen nicht kollidieren. Man sieht ferner die beiden Geleise, deren
jedes von den Kohlen- und GesteinszĂĽgen nur in einer Richtung be-
fahren wird; auf dem einen steht ein beladener Kohlenwagen.
Eine andere Aufnahme zeigt den Auslauf einer Strecke in den
oberen Teil eines abgebauten Flözes (vergl. Fig. 11). Im Hintergrund
ist noch der nicht abgebaute Teil nebst einer Strebe sichtbar, während
vorn die Fangvorrichtung deutlich erkennbar ist, auf welche der mit
Gesteinsschutt gefüllte Wagen aufläuft, um dort umgekippt und zum
Zwecke der AusfĂĽllung des abgebauten Teiles entleert zu werden.
Links an der Streckenwand hängt noch der Rock des bedienenden
Bergmanns.
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443
Von den Strecken aus findet an geeigneten Stellen auch nooh
in der alten Weise der Abbau der Kohlenflöze statt. Speziell bei
Flözen, deren geringe Stärke den Abbau auf dem Wege des Strebe-
baues ausschliefst oder auch sonst an den in unmittelbarer Nähe der
Strecken liegenden Teilen gröfserer Flöze sieht man nooh die Häuer
„vor Ort", d. h. an dem anstehenden Kohlenflöz arbeitend, Sohlägel
und Eisen in der Faust, daneben das übrige „Gezähe", das in die
Wand eingeschlagene Beil, den Spaten u. s. w., und über dem während
Fig. 9. Innerei eines durch Strebebau abgebauten Kohlenfloiei.
Recht* noch ausstehende Kohl*.
der Arbeit abgelegten Rock die vorschriftsmäfsig mit kaltem Kaffee
gefĂĽllte Feldflasche (Alkoholika sind streng verboten). Das ganze ist
von der an der Streokenzimmerung hängenden Sicherheitslampe
beleuohtet.
So scharf und gut auch das Handwerkszeug des Häuers und so
kräftig auch seine sohlaggewohnte Faust sein mögen, er würde doch
nur langsam weiter kommen, wenn er darauf allein angewiesen wäre.
Pulver und Dynamit spielen eine Hauptrolle, sowohl beim Durohbruch
der Strecken, wie bei der Auslösung der Kohle aus den Flözen.
Beinahe fortgesetzt hallt der Donner der Sprengungen durch die Strecken
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444
der Grube. NatĂĽrlich wird daduroh das GesteinagefĂĽge vielfach so er-
schĂĽttert, dafs auch die Auszimmerung nicht mehr als hinreichende
Sicherung erscheint und zur Ausmauerung der Strecke geschritten
werden mufs — ein nicht ungefährliches, nur unter sorgfältiger Ab-
stufung des brĂĽchigen Gesteins durchfĂĽhrbares StĂĽck Maurerarbeit,
fĂĽr welches sich die an die relativ sichere Arbeit ĂĽber der Erde ge-
wöhnten Kollegen der Zechenmaurer bestens bedanken würden. Aber
Ăśbung macht auch hier den Meister.
Fig. 10. Grobe Horizontalitrecke
Recht! Eingang and Aaigang tum Sprengatoffmagaiin.
An einzelnen Stellen werden grofse Hohlräume ausgesprengt für
Sprengstoffmagazine, für Füllörter, unterirdische Pferdeställe u. 8. w.
Letztere sind in durch Holzwände getrennte Stände geteilt, und
über jedem steht der Name des Pferdes; man liest „Hektoru, „Blefs",
„Stine" u. a. Im Stallgang läuft das Geleise, auf dem Wasser und
Futter herbefördert werden. Ein Stalljunge hat die Wartung. Die
Pferde leben und sterben in der Grube, befinden sich wohl, sind
munter und gut aufgelegt und fressen vorzĂĽglich. Sie besorgen den
ganzen durchgehenden Verkehr in den verschiedenen Sohlen; ihr
Transport in die Grube erfolgt im Mannschaftsraum der FahrstĂĽhle,
was allerdings eine ziemlich schwierige Saohe ist.
445
Die grofsen parallel laufenden oder sich kreuzenden Strecken,
von welchen allseitig die in den Kohlenflözen liegenden Nebenstrecken
fĂĽr den Betrieb des Strebebaues ausgehen, sind durch ein Netz
kleinerer niedrigerer Strecken verbunden, welche zwar mit Oleisen
versehen, aber fĂĽr Pferde nicht passierbar sind. Kleine Jungen schieben
hier die WagenzĂĽge und wissen denselben, wenn die Wagen leer sind,
einen solohen Anstofs zu geben, dafs sie nebst den aufgesprungenen
Begleitern mit einer für unachtsame Streckenpassanten gefährlichen
Fig. 11. Zugang in einem Im Strebabau befindlichen Kohlenflöz
mit Fangvorrichtung fĂĽr Wagen.
Geschwindigkeit dahersausen. Den Eingang einer solohen Nebenstrecke
und deren Verhältnis zur Hauptstrecke stellt sehr deutlich die Auf-
nahme des FĂĽllorts der L Sohle dar (Fig. 12). Manchmal teilt sich
auch eine grofse Strecke in mehrere kleine Strecken resp. zweigt
solche strahlenförmig nach mehreren Seiten ab.
Die Strecken, bezw. deren Verbindungen durch Nebenstreoken
und durch die weiter unten erwähnten „Bremsorte" sind häufig durch
sogenannte „Wettertüren" unterbrochen. Die Ventilation der Grube,
die sogenannte „Wetterführung", ist nämlich von der gröfsten Erheb-
lichkeit, und die Dimensionen der auf dem Erdboden stehenden mit
einem Drahtnetz zur Abhaltung der zahllosen hineingesaugten Gegen-
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44(>
stände versehenen Triohtermündung des riesigen Ventilators und der
zum „Wetterschachte4' führenden Ventilationsstrecke lassen erkennen,
in welchem Grade bei der Anlage fĂĽr die ZufĂĽhrung frisoher Luft und
die Entfernung der verdorbenen Grubenluft gesorgt ist Zur Regulierung
dieser WetterfĂĽhrung innerhalb der Grube, ferner zur Verweisung der-
selben auf bestimmte Strecken, endlich zur Abschliefsung wenig be-
fahrener und in Bezug auf die Zusammensetzung der Luft nicht zu-
verlässiger Grubenteile dienen die Wettertüren. Eine solche Tür ist
weiter unten auf der Aufnahme des Bremsorteinganges zur Dar-
stellung gebracht.
Man gelangt bei dem Durchwandern der Grube sohliefslich an
Stellen, wo die Strecken aufhören, weil sie bei ihrer Weiterführung
zu den Grubenfeldern der Nachbarzechen fĂĽhren wĂĽrden, oder weil
ihre Fortsetzung aus irgend welchen anderen GrĂĽnden aufgegeben
wurde. Die Aufnahme (Fig. 13) stellt eine solche liegen gebliebene
Strecke dar; allerlei GerĂĽmpel ist in diesen verlorenen Winkel hinein-
geworfen. An anderer Stelle folgt man einer fortgesetzt sich senkenden
Strecke; steil geht es abwärts, überall hört man das Rauschen der
von allen Seiten herabströmenden Grubenwasser. Ungeheure Schimmel-
pilzbildungen bedecken die Auszimmerung; die Holzpfosten sind in
weifse, flockige Massen eingehĂĽllt Schliefslich stehen wir an der tiefsten
Stelle der Grube, einem modrigen, schwarzen WassertĂĽmpel, dem so-
genannten Sumpfort, einer Art von Reservoir, das bei zeitweiligem
Versagen des Pumpworks die Grubenwasser ansammelt und damit
dem „Versaufen" der Zeche im Falle kürzerer Betriebsstörungen der
Pumpmaschine vorbeugt.
Die einzelnen Sohlen stehen ĂĽbrigens nicht durch die Schachte
und deren FĂĽllorte allein in Verbindung. Abgesehen davon, dafs
man, manchmal in den abgebauten Flözen auf dem festen Hosenboden
über das „Liegende11 herunterrutschend oder von Strebe zu Strebe
aufwärts kletternd, von einer Sohle zur anderen gelangen kann, be-
stehen auch sonst noch direkte Verbindungen zwischen den einzelnen
Sohlen. Es werden auch durch solche direkten Verbindungen Sohlen
an den Bergwerksbetrieb angeschlossen, deren Anlage durch Ver-
werfungen der Flöze oder dadurch erforderlich wird, dafs wegen der
grofsen Entfernung der betreffenden Betriebsstelle von einem der
Hchaohte oder wegen der geringeren Erheblichkeit ihres Betriebes
die Anlage eines besonderen SchachtfĂĽllortes nicht lohnend erscheint.
Derartige Kommunikationen werden hergestollt sowohl fĂĽr den Per-
sonenverkehr, wie fĂĽr den Transport von Kohlen und Gestein. Die
447
Verbindungen für Personen sind Leitergänge, wie die Aufnahme
(Fig. 14) einen solchen zeigt In diesen engen, gerade zum Durch-
kriechen ausreichenden, sohornsteinartigen, in abgebauten Flözen auf-
wärts laufenden Röhren, die rings umzimmert sind, steigen die Leitern
wie ein mittelst Schwellen auf dem Liegenden aufliegendes und in
der Art von Schienenstöfsen miteinander verbundenes Geleise empor.
Für den Transport von Kohle und Gestein sind „Bremsorteu an-
gelegt; es sind dies im abgebauten Flöz steil ansteigende, völlig aus-
Fig. 12. FĂĽllort dar inUa Sohle.
gezimmerte Strecken, in welchen sich auf einem auf dem Liegenden
aufgestellten Holzgestell ein Geleise befindet, auf dem sich, von einer
besonderen Maschine gezogen, ein schweres Gestell bewegt, in welches
die Kohlenwagen eingeschoben werden. Dieses Gestell fĂĽllt mit dem
aufgeschobenen Kohlenwagen die ganze Höhe und Breite des Breras-
ortes aus. Daher ist das Betreten des letzteren durch Personen wegen
der damit verbundenen Gefahr streng verboten; ĂĽberdies ist die Boden-
flache desselben auch an und fĂĽr sich wegen des darauf aufgebauten
Untergestells für die Schienen völlig ungangbar. Die Maschine für
die Hebung des Fahrgestelles befindet sioh im Ăźremsort selbst; es ist
eine elektrisch betriebene kleine Fördermaschine, deren wesentlichsten
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448
Bestandteil ein gröfses, das Drahtseil tragende Rad bildet. Auf einem
Brettersitz hockt der jugendliche Maschinenwärter, für den dieser, die
gewissenhafteste Aufmerksamkeit erfordernde Dienst eine gute Vor-
schule bildet. Eine unserer Aufnahmen zeigt den Auslauf einer grofsen
Strecke in einen solchen Bremsort, durch eine WettertĂĽr abgeschlossen
und mit einer Fangvorrichtung fĂĽr die' dorthin geschobenen Wagen
versehen. Man sieht deutlich die gegenĂĽberliegende Wand der
Bremsortauszimmerung und die schräge hölzerne Geleisunterlage mit
Fig. 13. Liegengebliebene Strecke.
den Schienen. Auf der rechten Seite ist eine Passage an dem Brems-
orteingang vorbei vorhanden, in der ein Reserve-Radgestell liegt
Der Hauptverkehr geht natürlich durch die Schacht-Füllörter.
Eine oben bereits genannte Aufnahme zeigt das grofse FĂĽllort der
ersten Sohle nebst den anstofsenden Haupt- und Nebenstrecken mit
Decken, welche aus eisernen Trägern mit darauf gelegten Brettzim-
merungen hergestellt sind, mit den die Betriebsvorschriften enthalten-
den grofsen Tafeln, den Geleisen und Drehscheiben, den darauf
stehenden mit Hölzern für die Schachtzimmerung beladenen Wagen
u. a. w. Es existieren ĂĽbrigens auch kleinere, lediglioh fĂĽr den
Kohlenverkehr bestimmte Füllörter.
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449
Damit ist die Bilderserie erschöpft Zur Ergänzung- unserer
Darstellung über den bergbaulichen Betrieb mögen nooh einige
weitere Angaben ĂĽber die Organisation des letzteren dienen. An der
Spitze der Zeche steht ein mit ziemlich dikuuorisoher Machtvollkom-
menheit ausgestatteter technischer Direktor, dem ein kaufmännischer
Direktor subordiniert ist Der technische Direktor wohnt auf der
Zeche in dem unmittelbar beim Schacht „Joachim" belegenen Direk-
Pig. 14. Loitergang
tionshause. Als Adjutant und Stellvertreter des Direktors fungiert
ein Oberingenieur. Den eigentlich bergbaulichen Betrieb leitet unter
dieser Oberbehörde ein Obersteiger mit dem Titel „Betriebsführer".
Unter diesem stehen die Steiger, deren jeder in einem bestimmten
Revier die Leitung hat. Das Maschinenpersonal mit seinen diversen
Ingenieuren u. s. w. untersteht direkt dem Oberingenieur. Die Kon-
trolle ist so wenig man auch äufserlich von ihr bemerkt eine äufserst
intensive. So sehr sich auch die eingefahrenen Bergleute in den
Himm«l und Erde. IMB XV. Kl -"'
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450
weiten Strecken des Grubenfeldes, in seinen zahllosen Flözen und
Arbeitsstellen verlieren mögen — man sieht bei den unterirdischen
Wanderungen tatsächlich nur relativ wenig Leute trotz der groben,
ca. 1500 Mann zählenden Belegschaft - , so genau weifs der ein-
zelne Steiger, der Stunde fĂĽr Stunde sein Revier durchwandert und
durchkriecht, mit der Tätigkeit jedes einzelnen Bescheid, so genau
achtet er auf die Innehaltung der strengen Vorschriften bezĂĽglioh der
ordnungsgemäfsen Benutzung der Latrinen — keine Wetterführung
Fig. 15. WettertĂĽr und Bremsorteingang
vermag gegen die bei Ăśbertretung dieser Vorschriften eintretende
Verpestung der Grubenräume anzukämpfen, und daher trifft einen
eventuellen Übeltäter dieser Art die schroffste Entrüstung seiner Mit-
arbeiter und Vorgesetzten — , so sorgfältig achtet der Steiger auf die
vorgeschriebenen Schliefsungen und Ă–ffnungen der WettertĂĽren und auf
die vorsichtige Handhabung des Bremsortbetriebes. Eine andere sehr
wichtige Gruppe der Zeohenbeamten bilden die sogenannten „Mark-
scheider", die Geometer der Grube, welche in unausgesetzter Tätigkeit
sind, einerseits um den Gang der Flöze und der verschiedenen Ge-
steinsarten kartographisch aufzunehmen und der Direktion damit das
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451
Material fĂĽr ihre Dispositionen tu verschaffen, andererseits um ein
Eindringen in fremde Grubenfelder durch fortlaufende Messungen zu
verhindern.
Einen weiteren Zweig der Zechenverwaltung umfatet die Organi-
sation und die Weiterbildung der Wohlfahrtseinrichtungen fĂĽr Arbeiter
und Beamte, die Verwaltung und der Ausbau der Arbeiterkolonien,
welche dem Bergmann ein billiges und gesundes Wohnen und den
Nebenbetrieb einer kleinen Landwirtschaft ermöglichen, die Einrich-
tung und Leitung der Konsumvereine u. s. w. So intensiv und erfolg-
reich auch das Bestreben der Direktion sich auf die Erzielung einer
möglichst hohen Förderung bei möglichst geringen Unkosten richtet
— eine Aufgabe, von deren gesohiokter Lösung der Ertrag der Zeche,
der Wert der Oewerksohaftsanteile (der sogenannten „Kuxe") und
damit die Bonität und das Gedeihen der ganzen Zeche abhängen —
so sehr wird doch den Anstrengungen, Schwierigkeiten, Gesundheits-
schädigungen und Gefahren des Bergmannsborufes sowohl durch die
tunliohste Sicherung des Betriebes wie auoh durch sonstige weitgehendste
FĂĽrsorge und UnterstĂĽtzung in grofsem Stile Rechnung getragen.
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Astronomische Chemie.
Von W. trallf nkaap in MĂĽnchen.
(Schlafe.)
le vom Setzer versehentlich unter den SchlĂĽte meines Aufsatzes
-Astronomische Chemie-4 im Dezemberheft dieser Zeitschrift ge-
setzten Worte „Fortsetzung folgt" haben von vielen Seiten die
Anfrage veranlagt, wann denn diese Fortsetzung erscheine. Eine
solche war nun von mir gar nicht beabsichtigt: der Aufsatz war
in sich abgeschlossen. Dem Wunsche des Herausgebers entsprechend
will ich indes noch einiges jenem ersten Aufsatz hinzufĂĽgen. Da aber,
wie schon erwähnt, positive Resultate nicht vorliegen und nicht vor-
liegen können, mufs ich mich darauf beschränken, an einigen Beispielen
zu zeigen, wie die astronomische Auffassung chemischer Vorgänge
unsere Anschauung und unser Verständnis derselben erweitern kann.
Eine Frage, die seit fast 40 Jahren die Chemie und zwar die
organische Chemie beschäftigt und die bis heute noch nicht gelöst ist,
ist die nach der Konstitution des Benzolkerns. Die Wichtigkeit der
Lösung dieser Frage wird erklärlich, wenn wir bedenken, dafs das
Benzol der Ausgangspunkt, die Basis jener zahllosen Verbindungen
ist, die wir als aromatische Kohlenwasserstoffe bezeichnen, u. a. auch
des Anilins und damit des jetzt so unendlich wichtig gewordenen Ge-
bietes der kĂĽnstlichen Farbstoffe. Benzol besteht, wie die Analyse
lehrt, aus 6 Atomen Kohlenstoff (O und 6 Atomen Wasserstoff (H).
Da Kohlenstoff vierwertig. Wasserstoff aber nur einwertig ist, so
wĂĽrden, wenn die 6 Atome Kohlenstoff und die 6 Atome Wasserstoff
sich nur einfach binden wĂĽrden, S freie Wertigkeiten ĂĽbrig bleiben.
WĂĽrden sich dieselben zu doppelten und dreifachen inneren Bindungen
zusammenschliefsen, so bekämen wir eine komplizierte und wenig
stabile Konstitution, die dem wirklichen einfachen Verhalten des
Benzols nicht entsprechen würde. Kekulö nahm darum an, dafs die
Konstitutionsformel des Benzols dargestellt werde durch 6 zu einem
Ring geschlossene Kohlenstoffatome, die sich untereinander mit ab-
wechselnd einer und zwei Wertigkeiten binden, während die übrig
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453
bleibenden 6 Wertigkeiten duroh je ein Wasserstoflatom gesättigt
werden. Diese Kekulösohe Formel, die in Figur 1 wiedergegeben
ist, ist nioht unbestritten geblieben. Claus, Ladenburg u.a. haben
andere Formeln aufgestellt, die in den Figuren 2, 3 und 4 wieder-
gegeben sind. In allen diesen Figuren stellen die mehr oder weniger
langen Verbindungsstriohe die sioh gegenseitig bindenden Wertig-
H
H - C
C -H
H-C
I
H
Fig. 1.
C -H
H — C
I
H— C
H
I
C
c
i
H
C — H
I
C-H
Fig. 2.
keiten vor. Ăśber die Richtigkeit und AUeingĂĽltigkeit der genannten
Formeln ist ein erbitterter Krieg gefĂĽhrt worden, der bis heute nooh
nioht beendet ist. Er wird auch nie beendet werden können, so lange
man sioh die Wertigkeit unter dem Symbol soloher von den einzelnen
Atomen ausgehenden Striche vorstellt, die unbedingt eines ähnliohen
von einem anderen Atom ausgehenden Striches zur Ergänzung be-
H-C
H-C
C-H
Fig. 3.
dürfen, und so lange man festhält, dafs jedem Atom unter allen Um-
ständen immer dieselbe Anzahl von Striohen zukommt Schon die
Tatsache, dafs wir verschiedene Elemente kennen, die eine wechselnde
Wertigkeit haben, und dafs deren beim Auffinden neuer Verbindungen
immer mehr werden, mufs zu der Ăśberzeugung fĂĽhren, dais die
Wertigkeit als solohe keine ganz unveränderliche Eigenschaft der be-
454
treffenden Elemente sein kann. Der Begriff Wertigkeit, angewendet
auf das isolierte Atom, ist ja an sieh ohne Sinn« er kommt erst zur
Geltung bei der Wechselwirkung mit einem anderen. Er kann also
nur eine Funktion entweder der Massen oder der gegenseitigen Stel-
lung solcher Atome sein. Wir haben ein genaues Analogon dazu in
der SohwerkrafU Gäbe es nur einen einzigen Körper im ganzen
Weltraum, so wurde es sinnlos sein, von einer Schwerkraft zu reden ;
sie kann erst zur Wirkung kommen, wenn noch ein anderer Körper
da ist, und hängt nur ab von den Massen und der Entfernung der
beiden Körper. In ähnlicher Weise werden wir auoh die Wertigkeit
nur als eine mehr oder weniger variable Funktion der gegen-
seitigen Stellung und der Massen der miteinander in Verbindung
tretenden Atome ansehen mĂĽssen. In meinem ersten Aufsatz hatte
ich als Beispiel das Aoetylen angefĂĽhrt und angedeutet, wie die Not-
wendigkeit unserer jetzigen Schreibweise, welohe, um die vier Wertig-
keitsstriche des Kohlenstoffatoms zu retten, drei innere Bindungen
annimmt, viel einfacher durch die astronomische Anschauung um-
gangen werden kann, die uns ohne weiteres deutlich macht, dals die
Entfernung«- und Bewegungsverhältnisse des Acetylenmoleküls ganz
andere sein mĂĽssen als in Systemen, wo die Kohlenstoffatome statt
von einem Wasserstoffatom von deren zwei oder drei umkreist wer-
den, wie z. B. in Ă„thylen und Ă„than. Wenn wir uns auf gleiohe
Weise auoh beim Benzol von den Wertigkeitsstriohen losmachen,
dann macht uns seine Konstitution, d. h. seine räumliohe Vorstellung
keine Schwierigkeit mehr. Wenn wir uns das BenzolmolekĂĽl als ein
frei im Raum schwebendes System von sechs um ein gemeinsames
Zentrum kreisenden Kohlenstoffatomen vorstellen, von denen jedes
von einem WasserstoffmolekĂĽl umkreist wird, bez. mit einem solchen
sich um den beiden gemeinsamen Schwerpunkt dreht, so können wir
wohl verstehen, dafs die Abstände und die Umlaufszeiten (also die
Bindungen und Eigenschaften) sowohl der Kohlenstoff- als auoh der
Wasserstoffatome ganz andere sein mĂĽssen, als wenn jedes der Kohlen-
stoffatome fĂĽr sich von den normalen vier WasserstoffmolekĂĽlen um-
kreist durch den Raum eilen wĂĽrde. Aber wir brauchen uns nioht
mehr den Kopf zu zerbrechen, wie diese Tatsache am geschicktesten
durch Wertigkeitsstriche ausgedrĂĽckt werden soll. Ja, wir dĂĽrfen
dies gar nioht einmal; denn die Formel, mag sie naoh irgend einem
deroben wiedergegebenen Schemata konstruiert sein, kann uns den Zustand
des BenzolmolekĂĽls immer nur fĂĽr einen Moment festlegen; der Zu-
stand dieses MolekĂĽls ist aber ein in Raum und Zeit stetig weobseln-
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45Ă–
der, der sich an starre Formeln gar niobt binden Läfet. Die eben
genannte Vorstellung von 6 im gleiohen Kreise um ein gemeinsames
Zentrum sieb drehenden Kohlenstoff- Wasserstoffpaaren ist ĂĽbrigens
nioht die einzig mögliche. Da das Benzol sich synthetisch aus drei
Molekülen Acetylen aufbauen läfst, kann man ebensogut annehmen,
dafs die drei Aoetylensysteme in der neuen Vereinigung ungestört
ihre frĂĽhere Bewegung beibehalten, dafs also das Benzol gedaoht
werden kann als ein System von drei Doppelstern paaren, die einen
gemeinsamen Sohwerpunkt umlaufen. Beide Vorstellungen lassen sioh
mit den Tatsachen vollkommen vereinen. Auch die Unterschiede, die
duroh die Einführungen von neuen Körpern in das System in Ortho-,
Meta- und ParaStellung bewirkt werden, wĂĽrden in dem astronomisch
gedachten System zutage treten; denn dafs eine Verschiedenheit des
Platzes, an dem neue Körper in ein solohes chemisches Planeten-
system eingefĂĽhrt werden, sioh in Verschiedenheiten der Bewegung
und der Entfernungen des ganzen Systems und damit nach aufsen in
Verschiedenheiten der Reaktionen äufsern mufs, ist einleuchtend. Wie
10h hier nochmals betonen will, kann es mir nioht darauf ankommen,
endgĂĽltige Vorstellungen fĂĽr solche Systeme festzulegen, sondern nur
zu betonen, dafs wir uns in die räumliche astronomische Anschauung
hineingewöhnen und uns von den starren Konstitutionsformeln be-
freien mĂĽssen. Oerade das Beispiel des Benzol lehrt, dafs sie fĂĽr die
wirkliche Kenntnis der Körper wertlos sind und viel zu sehr an der
Form haften, statt auf das Wesen einzugehen. Wenn auch die
Keku lösche Formel heute immer noch die meisten Anhänger hat, so
kann doch jeden Tag eine neue Verbindung gefunden werden, die sich
nioht mit ihr und vielleicht mit keiner der übrigen vereinigen läfst
Dann sind die ganzen 40 Jahre in nutzlosem Streit vergeudet worden.
In die astronomische Anschauung dagegen läfst sioh jede Verbindung
einfügen, ebensogut wie sioh in unser Sonnensystem die jährlich neu
entdeckten, oft zu Hunderten zählenden Planetoiden, Kometen und
Meteoriten mĂĽhelos einreihen lassen. Das System wird dadurch kein
anderes, nur einige Zahlenverhältnisse ändern sich etwas. Dies mufs
auch das Ziel fĂĽr die Chemie werden.
Oegen die oben gemachte Annahme, dafs die Wertigkeit nur eine
variable Funktion von Masse und Entfernung der Atome sei, könnte
nun mit Recht der Einwand gemaoht werden: Wie kommt es dann,
dafs wir nioht jedes Atom mit beliebig vielen anderen Atomen kom-
binieren können, dafs tatsächlich die meisten nur eine ganz bestimmte
Anzahl anderer sich angliedern, an sioh binden können? An sioh
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456
steht dem allerdings niohts im Wege, und es werden ja, wie bemerkt,
auoh Beispiele gefunden, wo die Wertigkeit eine verschiedene ist.
Ferner dĂĽrfen wir nicht vergessen, dafs das Bereich der Temperatur,
das wir bis jetzt bei unseren Untersuchungen angewendet haben, nur
ein verhältnismäfsig beschränktes ist, dafs die Chemie der ganz tiefen
und der ganz hohen Temperatur verhältnismäfsig noch wenig erforscht
ist, dafs sich aber bereits jetzt gerade bei den tiefen Temperaturen
manche Erscheinungen gezeigt haben, die unsere bisherigen chemi-
schen Erfahrungen in ihrer Allgemeingültigkeit recht eingeschränkt
haben. So kann auch vielleicht der Begriff der Wertigkeit durch
solche Untersuchungen modifiziert werden mĂĽssen. Ein Umstand indes
hilft uns besonders ĂĽber diesen Einwand hinweg, eine Ăśberlegung,
die erst in neuerer Zeit sich in der Chemie Bahn brioht, die, von der
O ibb sehen Phasenregel ausgehend, von einem erklärten Gegner der
Atomtheorie (Wald, in den Annalen der Naturphilosophie, Bd. 1
Heft 2) angestellt, doch gerade in dieser Atomtheorie und in den hier
vorgebrachten astronomisch - ohemischen Anschauungen eine unge-
zwungene Erklärung findet. Wir können uns sehr wohl vorstellen,
dafs z. B. ein Kohlenstoffatom 20 Wasserstoffatome an sich kettet,
indes wird, da die chemische Attraktion des einen Kohlenstoffatoms
den 20 Wasserstoffatomen gegenĂĽber nicht mehr ĂĽberwiegend herrscht,
der Verband eines solchen Systems kein allzufester werden, das
System wird seine Stabilität verlieren und beim geringsten Anstofs
so weit auseinanderfallen, als die Attraktionsfähigkeit des Kohlenstoff-
atoms zuläfst. Was nun Wald betont, ist, dafs alle unsere chemischen
Verbindungen ja immer nur Endprodukte einer vielleicht langen Reihe
von Vorgängen sind, von denen wir gar nichts wissen, die aber zweifel-
los stattfinden. Ă„hnlich den Entwickelungsstadien des organischen
Lebens, von dem wir auch nur die stabilsten Endprodukte in unseren
heutigen Pflanzen- und Tierarten sehen, während die nichtstabilen
bereits untergegangen und ausgestorben sind, berĂĽcksichtigen wir
auch bei chemischen Vorgängen in einseitigster Weise immer nur die
wenigen stabilen Endprodukte, während die zahllosen Übergangs-
stadien, die zwischen dem Anfang und dem Ende der Reaktion liegen,
unbeachtet beiseite gelassen werden. Es ist dies durchaus unberech-
tigt, denn ein chemischer Vorgang ist das eine wie das andere. Wenn
wir unsere heutigen Himmelskörper wieder wahllos durcheinander
wĂĽrfelten, so wĂĽrde sich auch nicht sofort der Zustand von Stabili-
tät, wie wir ihn heute scheinbar sehen, herausbilden ; es würden sich
nacheinander die verschiedensten Systeme entwickeln und wieder auf-
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lösen, bis endlich der Zustand gröfetmöglioher Stabilität sieh herge-
stellt hätte, bis die „Reaktion1* beendet wäre. Auoh unser heutiges
Sternen- oder Planetensystem braucht durchaus noch nicht das End-
ziel solcher Entwicklung darzustellen; auoh hier finden noch immer
ümlagerungen statt, die beweisen, dato die endgültige Stabilität noch
nioht erreicht ist. Ich erinnere nur an den Lexellsohen Kometen,
der bei Annäherung an den Jupiter eine totale Änderung seiner Bahn
erfuhr. Wenn nun auoh bei der geringen Masse eines solohen Kometen
du roh diese Bahnänderung nur eine Tür unsere Instrumente gar nioht
melsbare Änderung in den Bewegungsverhältnissen unseres Planeten-
systems eingetreten ist, geändert sind sie dennooh worden, für feinere
Instrumente wären die Änderungen mefsbar, für sie unser System tat-
säohlioh ein anderes geworden. Ähnliohe Vorgänge finden nun bei
allen ohemischen Prozessen fortwährend statt. Ehe sich z. B. aus
Kaliumaulfat und Chlorbarium die stabilsten Produkte Kaliumohlorid
und Bariumsulfat bilden, mögen hunderte von Zwisohenverbindungen
gebildet werden, die aber längst wieder zerfallen sind, ehe sie uns
zur Kenntnis gelangen wĂĽrden. FĂĽr die astronomische Auffassung
hat ein soloher Vorgang gar niohts Auffallendes: ehe die beiden mikro-
kosmiBohen Systeme sich gegenseitig wieder auf den Zustand gröfster
Stabilität eingestellt haben, müssen Kombinationen der allerverschie-
densten Art stattfinden, mĂĽssen kurzdauernde Vereinigungen zu anders-
artigen Systemen eintreten, die duroh Stellungsänderung sofort wieder
gelöst werden, bis endlich eine solche Gruppierung erfolgt, dafs alles
friedlich und ungestört seine Bahnen verfolgen kann. Alle diese
Zwisohensysteme sind aber ebenfalls ohemisohe Verbindungen, denn
der Begriff soloher ist unabhängig von der Zeitdauer ihres Bestehens.
Und fĂĽr alle solche Zwischenstufen werden wir den Begriff der Wertig-
keit, wie wir ihn bisher hatten, ganz aufgeben mĂĽssen. FĂĽr dieses
Übergangsstadium werden für jedes Atom tatsächlich alle Wertig-
keiten möglich sein und auoh in Wirksamkeit treten. Unsere starren
Konstitutionsformeln versagen dem gegenüber völlig; in die astro-
nomische Auffassung fĂĽgt es sich mĂĽhelos ein.
Diese unstabilen Verbindungen fĂĽhren uns auf ein Gebiet, das
auoh erst in neuerer Zeit eingehender bearbeitet worden ist und
manche unserer früheren Anschauungen von unveränderlich nach
starren Gesetzen und Formeln vor sich gehenden Erscheinungen
modifiziert haben. Es sind dies die Lösungs- und Dissooiations-
erscheinungen. Man hat die Lösung eines Salzes in Wasser u. s. w.
frĂĽher immer als einen rein physikalischen Vorgang aufgefafst. Nun
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hat ja die strenge Untorsoheidung zwiaohen rein physikalischen und
rein chemischen Vorgängen Oberhaupt einer mehr vermittelnden
weichen müssen; bei manchen Vorgängen können wir tatsächlich nicht
mehr sagen, wo die Physik aufhört und die Chemie anfängt Die
hier erörterte kosmisohe Auffassung läfst alle diese rein formellen
Unterschiede überhaupt ganz verschwinden. Dafs die Lösungserschei-
nungen nicht (im alten Sinn) rein physikalische Vorgänge sind, geht
schon daraus hervor, dafs in sehr vielen Fällen verschiedene Lösungs-
mittel eine Verschiedenheit der Eigenschaften der gelösten Substanz
bewirken z. B. der Farbe, der Krystallform, unter Umständen auch
der ohemischen Reaktion; dafs in den meisten Fällen bei der Lösung
Wärmeerscheinungen auftreten u. a. m. Alle diese Tatsachen beweisen,
dafs im MolekĂĽl Umlagerungen eintreten, die nur in einer Ginwirkung
des Lösungsmittels auf die gelöste Substanz ihren Ursprung haben
können. Ja, es müfste uns sogar überraschen, wenn dies nicht der
Fall wäre. Ebenso wie jedes Salz u. s. w. ein kleines Weltall von
minimalen Sonnensystemen ist, ist ja auch das Wasser oder jedes an-
dere Lösungsmittel ein solches; eine Annäherung oder Durchdringung
der beiden Systeme kann gar nicht ohne gegenseitige Beeinflussung
vor sich gehen. Umlaufszeiten, Entfernung, Bahnebeno u. s. w. werden
eine Ă„nderung erfĂĽhren mĂĽssen, die sich nach auTsen eben in den
erwähnten Änderungen der Farbe u. s. \v. äufsern. Wonn trotzdem in
sehr vielen Fällen solche Änderungen für unsere Sinne und Instru-
mente nicht wahrnehmbar sind, so liegt das z. T. an diesen, z. T. auch
darin, dafs die entstandenen Umlagerungen viel zu wenig stabil sind
und sofort wieder zurĂĽckgebildet werden. Gerade die Dissoziation*-
erscheinungen finden hierdurch ihre ungezwungene Veranschaulicbung.
Wenn z. B. bei der Autlösung von Kaliumhydrat (KOH) in Wasser
(H2 O) das erstere System, ein Doppelstern, gebildet aus einem Kalium-
atom und einem Sauerstoffatom, welches letztere von einem Wasser-
stofftrabanten umkreist wird, in BerĂĽhrung kommt mit dem zweiten
System, gebildet aus einer Sauerstoffsonne mit zwei Wasserstofftrabanten,
so ist gar kein (irund vorhanden, warum hierbei nicht das erste
Doppelsternsystem vorübergehend zerfällt, die Kaliumsonne sich vor-
ĂĽbergehend einem vorbeiwandelnden IL U - System angliedert, die
Sauerstoffsonne mit ihrem Wasserstoffmond einem anderen. Einen
längeren Bestand werden solche Angliederungen nicht haben, da im
nächsten Moment irgend zwei solcher veränderten Systeme bei der
Begegnung wieder ihre Bestandteile gegeneinander austauschen werden,
das ursprĂĽngliche K-UH-System also wieder hergestellt werden wird.
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459
Aber — und dies ergibt sich aus unserer kosmischen Anschauung
ganz von selber — diese Rüokbildung wird um so langsamer vor
sich gehen, je seltener solche Systeme miteinander in Kontakt kommen,
je weniger K-OH-Systeme in dem Weltall von H2 O-Systemen schwim-
men, d. h. je weniger konzentriert die KOH- Lösung ist Und in der
Tat wächst die Dissoziation mit steigender Verdünnung; je weniger
konzentriert die Lösung ist, umsomehr Ionen (so nennt man die auf
diese Art zerfallenen Bestandteile einer chemischen Verbindung) ent-
hält sie. In unserer Auffassung kann es uns auoh nicht überraschen,
dass das abgesonderte Kaliumatom oder die abgesonderte Hydroxyl-
gruppe (OH) nicht als solche in Erscheinung treten, dafs die beiden
also nicht als solohe sichtbar oder duroh Reagentien nachweisbar
werden; sie sind eben nicht frei in der Lösung vorhanden, sondern
vorübergehend mit den Molekularsystemen des Lösungsmittels ver-
bunden und wirken in dieser Verbindung nach aufsen ganz anders-
artig als in freiem Zustande. Nun können wir auoh verstehen, warum
die ohemischen Substanzen immer nur in Lösung oder in Gasform,
d. h. in leioht beweglichem Zustand aufeinander reagieren, gar nioht
oder nur selten in festem. Die Leichtbeweglichkeit erlaubt den ver-
schiedenen Systemen ja überhaupt erst die Annäherung, und das
Lösungsmittel vermittelt duroh seine vorübergehenden Verbindungen
mit den verschiedenen Systemen den Austausch derselben, es gibt
gewissermafsen in fortwährendem Wechsel die einzelnen Bestandteile
von Hand su Hand weiter. Dieser Umtausch findet auoh fortwährend
statt, so lange nioht ein Körper, etwa durch Ausfällen, überhaupt diesem
Wechselspiel entrückt ist Auch in den scheinbar unveränderlichsten
Lösungen, z. N. von Natriumoblorid und Kaliumsulfat geht er vor
sioh; auoh hier haben wir neben den genannten Substanzen fort-
während Natriumsulfat und Kaliumchlorid in Bildung begriffen; von
der gröfseren oder geringeren Stabilität des einen oder anderen
Systems wird es abhängen, welohes sioh dauernd unseren Reagentien
oder Instrumenten bemerkbar macht
Wie schon im vorigen Aufsatz erwähnt, war van't Hoff der
erste, der die Aufmerksamkeit der Wissenschaft nachhaltig auf eine
räumliohe Ansohauung des ohemischen Moleküls lenkte. Die beiden
Erscheinungen, die ihm dazu den Anstofs gaben, waren die Isomerie
und die optische Aktivität der Kohlenstoffverbindungen, die ein sog.
asymmetrisches Kohlenstoffatom besitzen. Die räumliche Anordnung,
die er den MolekĂĽlen solcher Verbindungen gab (die bekannten
Tetraeder), kann indes unmögliob der Wirklichkeit entsprechen, denn
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auch sie setzt eine starre Verbindung soloher MolekĂĽle voraus, die
der Natur nicht entspricht. Seine Tetraeder sind in der Tat nichts
anderes als räumliohe Konstitutionsformeln, die nur symbolisch eine
Umschreibung der Tatsachen ausdrĂĽcken; ein Bild der wirklichen
Konstitution geben auoh sie nicht Auch Van't Hoff macht sioh
von den Bindungsstrichen nicht frei, denn diese Bindungsstriohe bilden
ja die Kanten seiner Tetraeder. Und merkwürdig genug läfst er bei
zusammengesetzten Verbindungen diese Kanten, also die Bindungs-
kräfte, nioht in gleioher Riohtung, sondern unter einem Winkel gegen-
einander wirken, was in die Wirklichkeit ĂĽbertragen ohne Sinn ist.
Ich wĂĽrde mich viel zu sehr in Spekulationen einlassen mĂĽssen, denen
noch jede Erfahrungsbasis fehlt, wenn ioh auf Qrund der hier er-
örterten kosmisohen Anschauung eine genaue Erklärung jener beiden
Erscheinungen geben wollte. Nicht ganz unverständlich wird uns
aber die zweite Erscheinung bleiben, nämlioh die optische Aktivität
der asymmetrischen Kohlenstoff Verbindungen, d. h. die Tatsache, dafs
Verbindungen, die ein Kohlenstoffatom enthalten, welches vier unter
sich ungleichartige Atome oder Atomsysteme an sich gekettet enthält,
die Polarisationsebene des Liohtes drehen, wenn wir bedenken, dafs
die Stellung der ungleichartigen Gruppen zum Zentralkörper, dem
Kohlenstoffatom, mit Ausnahme weniger Augenblicke stets eine ein-
seitige, unsymmetrische sein mufs, während, wenn auoh nur zwei
dieser Gruppen gleich sind, die sich also stets in diametral entgegen-
gesetzten Punkten der gleichen Bahn um den Hauptkörper befinden,
sohon hierdurch eine gewisse stetig wiederkehrende Symmetrie be-
dingt wird. Der auftreffende polarisierte Liohtstrahl wird also im
zweiten Fall viel regelmäßigere symmetrischere Verhältnisse vor-
finden; Ă„nderungen seiner Schwingungsebene werden sich durch die
kompensierende Wirkung der beiden stets auf symmetrischen Punkten
ihrer Bahn befindlichen gleiohen Gruppen wieder ausgleiohen, was
bei den unsymmetrischen Verhältnissen des ersten Systems nicht der
Fall sein wird. loh wiederhole, dafs dies keine Erklärung des Vor-
ganges sein soll: ioh will nur andeuten, in welcher Weise man sioh einen
Zusammenhang der beiden Tatsachen von Asymmetrie des Kohlenstoffs
und Drehung der Polarisationsebene als möglich vorstellen kann.
Wenden wir uns von diesen mikrokosmischen Systemen wieder
einmal zu den makrokosmischen, z. B. zu unserem Sonnensystem, und
schlagen wir irgend eine Ephemeridentafel fĂĽr dasselbe auf. Was wir
dort zur Charakteristik der einzelnen Planeten, also der Atome unseres
Sonnenmoleküls, verzeiohnet finden, ist Masse, Oröfse, Entfernung,
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4H1
Umlaufszeit Was wir vermissen und was uns doch zur ge-
nauen Beschreibung eines solchen Atoms absolut nötig scheinen sollte,
ist der Stoff, aus dem ein solches Atom besteht Warum fehlt dessen
Angabe in den Tafeln? Weil uns das Spektroskop längst gelehrt,
dafs der Stoff, aus dem Sonne, Planeten und all die Millionen Sterne
des Weltalls bestehen, ĂĽberall der gleiche ist. Mufs uns dies nicht
ein deutlicher Hinweis sein, dafs auch in unseren kleinen MolekĂĽl-
systemen der Stoff der einzelnen Atome gar keine Rolle spielt, weil
er bei allen gleich ist? Ist es denn nötig, dafs das, was wir ein
Kaliumatom oder ein Sauerstoffatom oder ein Wasserstoffatom nennen,
immer verschiedenen Stoffes ist, mit anderen Worten ist es nötig, dafs
wir ĂĽberhaupt verschiedenstoffliche Elemente annehmen? Wenn
durch Masse, Gröfse, Geschwindigkeit u. s. w. die Eigenschaften der
himmlischen Atome völlig eindeutig bestimmt sind, warum sollten es
nicht auoh die der irdischen, der Elementaratome sein? Alle unsere
Reaktionen, durch welche wir diese Elemente kennzeichnen, gehen ja
auf Gewiohts-, Wärme«, Licht- u. s. w. Erscheinungen, also im Grunde
auf Massen und Bewegungen zurĂĽck. Wenn wir wissen, dafs die
Masse eines Sauerstoffatoms ca. 16 Mal gröfser als die des Wasser-
stoffatoms ist, und solche Bewegungen ausfĂĽhrt, wie sie den uns be-
kannten sinnlichen und instruraen teilen Wahrnehmungen entsprechen,
haben wir dann noch nötig, dem Sauerstoffatom auch eine andere
Stoffbesohaffenheit als z. B. dem des Wasserstoffes zuzuschreiben?
Die vollständige Analogie, die wir bisher zwischen himmlischen
Systemen und ohemischen gefunden haben, zwingt uns dazu, diese
Analogie auch auf die Gleiohheit des Stoffes auszudehnen, d. h. anzu-
nehmen, dafs alle Elemente aus dem gleiohen Stoff bestehen und dafs
ihre Verschiedenheiten nur in Unterschieden der Masse und der Be-
wegung ruhen. Man hat gegen diese Annahme angerĂĽhrt, dafs dann
die Atomgewichte der Elemente alle ganzzahlige Vielfache einer be-
stimmten Einheit sein mĂĽfsten. Dies ist nun nicht der Fall. Aber es
ist auoh gar nioht nötig. So wenig die Massen unserer Planeten oder
anderer Himmelskörper in einem ganzzahligen Verhältnis stehen, so
wenig brauohen es auoh die der Elementaratome. Man hat da das
Wort Atom falsch aufgefaĂźt. Es brauoht gar nicht etwas zu bedeuten,
was sioh absolut nioht weiter teilen läfst, sondern nur etwas, was
allein durch weitere Teilung keine Ă„nderung in seinen Eigenschaften
erfährt Vorstellen können wir uns wohl, dafs wir z. B. das Sauer-
stoffatom in mehrere Teile zerlegen können, aber wenn wir sonst an
diesen BruohstĂĽoken keine Ă„nderung in Umlaufszeit, Abstand u. s. w.
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462
bewirken, werden auoh die BruohstĂĽoke in ihrer Gesamtheit nur wie
ein Saueretoffatom zur Wirkung kommen. Wir können uns ja auoh
die Erde oder den Mond in 1000 StĂĽck zerbrochen vorstellen; im
Sonnensystem in seiner Wirkung nach aufeen wird dadurch keine
Ă„nderung hervorgebracht. Zu dem einen wie zu anderen fehlen uns
ja vorläufig noch die praktischen Mittel, und nur diesem Umstand ver-
dankt die Erhaltung der Erde wie die Beibehaltung des Begriffes
Element ihren Grund. Und so wie wir bei den Planeten und anderen
Himmelskörpern ihre Masse und Gröfee als etwas einmal Gegebenes
hinnehmen mĂĽssen, ohne zu fragen, warum die Erde oder der Mond
gerade so grofs geworden sind, wie sie einmal sind, mĂĽssen wir auoh
die Tatsache der Massenverteilung des einen Uretoffs in den Elementar-
atomen so hinnehmen, wie sie ist
Was ist nun der Nutzen, den wir aus dieser astronomischen Auf-
fassung chemischer Vorgänge ziehen können? Ein doppelter; einmal,
dafs wir dieselben Vorgänge, die wir in unmefsbaren Fernen, in den
Tiefen des Weltalls, die unsere stärksten Fernrohre kaum noch zu
durchdringen vermögen, sich abspielen sehen, absolut getreu in Vor-
gängen hier auf Erden, die auch unsere stärksten Mikroskope nicht
mehr aufzulösen vermögen, wiederfinden, dafs also das Band der Ein-
heit, das der Wissenschaft noch stets als guter FĂĽhrer gedient hat,
sich aus den unbegreiflich großartigen Vorgängen in Himmelsfernen
herniederschlingt bis zu den geheimnisvollsten Vorgängen im Inneren
unserer irdischen Substanzen. Indes dieser Gewißheit hätte es bei
dem überwältigenden Beweismaterial, das die neuere Forschung hier-
fĂĽr erbracht hat, kaum noch bedurft; der Hauptvorteil unserer An-
schauung liegt anderswo. Die astronomische Auffassung chemischer
Vorgänge befreit uns von der Enge und Starrheit, in die unsere sym-
bolischen Formeln uns gezwängt haben. Indem sie ihre Ansohauungs-
bilder sich von dem grofsartigen Leben holt, das sioh am Himmels-
gewölbe abspielt, öffnet sie auoh für das Verständnis der intimsten
Vorgänge in der Materie die Tore der Freiheit und läfst die Ströme
regsten Lebens und steten Wechsels, ohne das wir die Natur niemals
voll verstehen lernen, auoh in die verschlossensten Gebiete der Chemie
eintreten. Werden und Vergehen in der Natur läfst sioh nicht in
starre Formeln zwängen; sie versperren nur den Weg zum Begreifen
desselben. Nur wenn wir die Basis des ganzen Naturgescheheos,
ewigen Wechsel und lebendigste Bewegung, auoh zur Basis unserer
Anschauungen von ihm machen, können wir erwarten, seine Geheim-
nisse vor uns entschleiert zu sehen.
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Technische Rundschau.
Von Dr. 6. Rauter in Berlin.
Beton-Eisen-Bau.
er auf der Pariser Weltausstellung vom Jahre 1889 zur Sohau
gestellte riesige Turm in reiner Eisenbauweise, der unter dem
Namen Eiffelturm einen Weltruf erlangt hat, sowie ĂĽberhaupt
die ganze ungeheure Entwickelung des Eisenbaues in den vorher-
gehenden Jahren liefsen damals wohl den Schlufs auf ein nahe bevor-
stehendes Zeitalter der Arohitektur zu, in dem das Eisen als Stoff fĂĽr
die Herstellung von Bauten aller Art den ersten Rang einnehmen
wĂĽrde. Wenn auoh eine derartige Annahme insofern gerechtfertigt
war, als in der Tat die KĂĽhnheit und Leichtigkeit der Eisenbau-
konstruktion für weit gespannte Brüoken und ähnliche Bauwerke
immer mehr stiegen, so zeigte es sich dooh schon bei der näohsten
Pariser Weltausstellung vom Jahre 1900, dafs jene Erwartungen nioht
erfĂĽllt worden waren. Veranlafst durch die vielen und grofsen Nach-
teile, die reinen Eisen bau werken anhaften, hatte sich inzwischen lang-
sam ein Umschwung zu einer neuen Bauweise angebahnt, die das
Eisen zwar auch noch im weitesten Umfange benutzte, aber dennoch
nach aussen nioht mehr in die Erscheinung treten liefe.
Zwar entstand schon bald nach EinfĂĽhrung des Cementes in das
Bauwesen hier und da die Notwendigkeit, Cementbauten durch Ein-
lage von Eisendraht oder von eisernen Sohienen zu versteifen, aber
die ersten Versuche in dieser Richtung waren wenig systematisch und
blieben zunächst nur vereinzelt Das erste Beispiel in dieser Hinsicht
dĂĽrfte wohl die 1846 nach dem grofsen Brande in Hamburg unter
der Nicolaikirohe ausgefĂĽhrte, 8,46 m starke Fundamentplatte aus mit
Eisen armiertem Beton sein. Ganz anders gestaltete sich dagegen die
erste Anwendung von Beton und Eisen in Frankreich; hier konnte
man auf der Pariser Weltausstellung vom Jahre 1855 ein Boot sehen,
das nach dem System eines gewissen I. L. Lambot konstruiert war,
der das Hol« im Sohiffbau durch die Verwendung von Beton mit
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Eiseneinlagen ersetzen wollte. Das Schiff schwimmt nooh heutigen
Tages auf dem Teiche, wohin es von der genannten Weltausstellung
aus gebracht worden war, und dĂĽrfte wohl als der erste sicher be-
glaubigte Behälter aus Beton und Eisen gelten.
Auch im Jahre 1861 wurde wiederum, diesmal duroh eine Ver-
öffentlichung von F. Coignet, auf die Verbindung von Beton und
Eisen hingewiesen, aber erst im Jahre 1867 wurde die Urkunde aus-
gestellt, die wenigstens insoweit grundlegend geworden ist, als der
Name ihres Inhabers sich allgemein zur Bezeichnung von Bauten aus
Beton und Eisen eingebürgert hat Es war dies das französische
Patent 77 166 vom 16. Juli 1867, genommen von dem Gärtner Josef
Monier auf die Herstellung von KĂĽbeln jeder Art aus auf ein Eisen-
drahtnetz aufgetragenem Ceraent.
Durch die Bauweise aus Beton und Eisen werden die VorzĂĽge
des Steinbaues und diejenigen des Eisenbaues in bester Weise mit-
einander vereinigt. Während Stein eine grofse Widerstandsfähigkeit
gegen die EinflĂĽsse der Witterung besitzt und ferner eine sehr grofse
Belastung verträgt, dagegen seine Bruchfestigkeit nur sehr gering ist,
so ist Eisen bekanntlich dem Verderben sehr rasoh ausgesetzt, wenn
es nicht stets sorgfältig unter Anstrich gehalten wird. Dagegen sind
Druckfestigkeit und, was hier besonders wertvoll ist, die Bruchfestig-
keit des Eisens sehr grofs.
Es beruht nun die Verbindung des Eisens mit Beton im Bau-
wesen auf zwei Grundsätzen, nämlich erstens auf der vollständigen
UmhĂĽllung aller Eisenteile durch Beton, woduroh das Rosten des
Eisens verhindert wird, und zweitens auf einer derartigen Anordnung
von Eisen und Beton in dem Bauwerke, dafs das Eisen die Zug-
spannungen, der Beton die Druckspannungen aufzunehmen hat.
Dieses letztere Verhältnis sei in folgendem näher erläutert:
Wenn wir eine an beiden Enden frei aufliegende Platte haben,
wie sie etwa zur Ăśberdeckung eines Raumes benutzt werden soll,
und wir belasten sie nun mit einem Gewicht, so wird hierdurch eine
Durchbiegung der Platte stattfinden, deren Grofse einerseits von deren
Material abhängig ist, die andererseits aber mit zunehmendem Be-
lastungsgewicht wächst, bis sohliefslioh ein Bruch der Platte erfolgt.
Die Platte wird demnach während des Zustandes der Belastung
nicht mehr einen rechteckigen Querschnitt besitzen, sondern einen,
solchen von etwa der Gestalt eines RingstĂĽokes, indem sioh ihre
Unterseite auswölbt, ihre Oberseite einwölbt und die beiden zuerst
senkrecht gelegenen Endbegrenzungsflächen eine nach innen und
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oben zusammenlaufende Neigung annehmen. Hierbei findet in dem
Material der Platte Belber eine Veränderung in zweifacher Hinsicht
statt Zu unterst, wo die Platte sich ausbiegt, wird eine Dehnung, zu
oberst, wo sie sich einbiegt, eine Zusammenpressung auftreten. Bs
ist klar, dafs diese beiden, einerseits Zug-, andererseits Druckspan-
nungen ausgesetzten Plattenschichten durch eine Fläohe getrennt sein
mĂĽssen, in der keine derartigen Ă„nderungen vor sioh gehen, und die
man deshalb als die neutrale Zone bezeichnet Die Lage dieser
neutralen Zone ist je naoh der Natur des Baustoffes verschieden; sie
liegt für Platten aus Beton beträchtlich über der durch die Platte ge-
legten Mittelfläche.
Während nun die im oberen Teile der Platte herrschenden Druck-
spannungen von dem Beton selber unter gewöhnlichen Umständen
leicht ausgehalten werden, ist es nötig, die in ihren unteren Teilen
herrschenden Zugspannungen durch eine Eiseneinlage auszugleichen,
und zwar da, wo sie am gröfsten sind, nämlioh an der unteren Ober-
fläche der Platte. Aus praktischen Gründen wird man natürlich das
Eisen nicht an die Unterfläche selber, sondern um so viel in die
Platte hineinverlegen, dafs eine gute Verbindung beider Baustoffe und
eine allseitige Umhüllung des Eisens gewährleistet werden.
Bei einer derartigen Bauweise lassen sich beide Stoffe, Beton
und Eisen, aufs vollständigste ausnutzen, so dafs mit einer ganz be-
deutenden Ersparnis an Material und demzufolge auch an Kosten ge-
arbeitet werden kann. Unter diesen Umständen tritt der Betoneisenbau
sogar, was Billigkeit anbetrifft, in vorteilhaften Wettbewerb mit Holz-
bauten ein, selbst da, wo es sioh um Gebäude für nur vorübergehende
Benutzung handelt.
Als jene Bauweise noch neu war, wurde nun von allen Seiten
die BefĂĽrchtung laut, dafs das in dem Beton eingeschlossene Eisen
alsbald vom Roste ergriffen und demgemäfs die Festigkeit der Kon-
struktion in kurzer Zeit zerstört werden würde. Diese Befürchtungen
haben sich aber als gänzlich grundlos erwiesen, wie denn seilet
ganz in Wasser liegende Betoneisenkonstruktionen sich nach langen
Jahren in ihren Eisenteilen als gänzlioh rostfrei zeigten. Ja, es ist
sogar festgestellt worden, dafs zu solchen Konstruktionen benutztes
angerostetes Eisen naoh Verlauf einer längeren Zeit seinen Rost-
ĂĽberzug verloren hatte, indem dieser von der Betonmischung auf-
gesaugt worden war.
Von den Verwendungen des Betoneisenbaues haben wir in
erster Linie bereits solche genannt die in das Gebiet des Ingenieur-
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"baues fallen, und in der Tat feiert hier diese Bauweise bis jetzt ihre
gröfsten Triumphe. Hier sind es Brüoken für Straßenverkehr und
fĂĽr Eisenbahnen, die dafĂĽr die ansohauliohsten Beispiele bieten, und
die teilweise sogar mit ganz bedeutenden Spannweiten ausgefĂĽhrt
sind. So ist z. B. die Brücke über die Isar in Münohen zu erwähnen,
die zwei Bögen von je 37 m Spannweite besitzt und sich auch bei
dem Hochwasser von 1899 glänzend bewährt hat Eines der kühnsten
Beispiele ist auoh die hoch und weit gespannte BrĂĽcke ĂĽber die Ybbs
bei Zell, die 44 m Spannung besitzt
Auoh die Stadt Strafsburg hat eine grofse Reihe von hierher
gehörigen Beispielen aufzuweisen, so namentlich ein achtgeschossiges
Lagerhaus am Sporeninsel-Hafen, das in der kurzen Zeit von Mitte
Mai 1899 bis Ende September des nämliohen Jahres fertig gestellt
worden ist, und dessen untere Decken fĂĽr 2000 kg, dessen obere
Decken fĂĽr 1000 kg Belastung auf das Quadratmeter berechnet sind.
Derartige Gebäude gewähren vor ihrer endgültigen Fertigstellung einen
eigentĂĽmlichen Anblick, indem sie dann nur aus einer ungeheuren
Anzahl von Säulen bestehen, die in verschiedenen Stook werken über-
einander angeordnet sind und die Decken tragen. Von Aufsenmauern
ist noch nichts zu bemerken, da diese erst nachträglich vorgesetzt
werden und lediglich eine raumabschliefsende Aufgabe besitzen,
während sie aufser ihrer eigenen weiter keine Lasten zu tragen haben.
Es ergeben sich also hier Verhältnisse, die in gewissen Be-
ziehungen denjenigen des Holzbaues, oder vielmehr des Faohwerk-
baues ähnlich sind, wie denn auoh derartige unfertige Magazine auf
Abbildungen leicht den Eindruck von nooh nicht ausgemauerten Fach-
werkbauten machen.
Es ist dies gerade das Umgekehrte von den Verhältnissen im
eigentlichen Steinbau, namentlich im Gewölbebau, wo gerade die
Aufsenmauern die Hauptlasten und insbesondere den oft sehr beträcht-
lichen Schub der Gewölbe und der darauf ruhenden Vorräte oder
dergleichen aufzunehmen haben. Es leuchtet schon bei diesem Ver-
gleiche ohne weiteres ein, wieviel an Material gespart werden kann,
wenn die in Magazinen beliebiger Art aufgestapelten Lasten auf die
Konstruktion des Gebäudes lediglich senk reo ht von oben nach unten
gerichtete Druckwirkungen, dagegen keine Sohubspannungen aus-
üben können.
Unter diesen Umständen bürgern sich denn auch für Lager-
häuser, Fabriken u. s. w. Betoneisenkonstruktionen in immer weiterem
Maßstäbe ein. Ein Naohteil, wie auch andererseits wiederum ein
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Vorteil hierbei ist, dafs derartige Konstruktionen nur von darauf ein-
geübten, sorgfältig geleiteten und in der Ausfuhrung sehr gewissen-
haften Spezialfirmen ausgeführt werden können. Denn es erfordert
nioht nur die Berechnung des ganzen Baues grofse Erfahrung und
gute mathematische Schulung, sondern es mufs auoh bei der Auswahl
sowohl von Eisen und Stahl, wie auoh von den zur Betonmisohung
dienenden Stoffen die gröfste Sorgfalt verwendet werden. Von diesen
Stoffen kommt in erster Linie der Cement in Betracht, der nur aus
guten Fabriken bezogen werden darf, und bei dem man sich davon
ĂĽberzeugen mufs, dafs er den dafĂĽr festgesetzten PrĂĽfungsvorsohriften
auoh durchaus entspricht Ferner ist aber auoh der Auswahl von
Sand und Kies fĂĽr den Betonbau nioht geringe Sorgfalt zu widmen,
da diese Stoffe je nach ihrer Herkunft oft sehr verschiedene Eigen-
schaften zeigen, so dafs es oftmals nötig ist, erst einige Betonkörper
zu Untersuohungszwecken damit herzustellen und mit diesen Belastungs-
proben vorzunehmen, Versuohe, die wiederum nur dann einen Wert
haben, wenn sie mit der erforderlichen Sachkenntnis und Genauigkeit
ausgefĂĽhrt werden.
Ist dann soweit alles vorbereitet, so mufs wiederum die Arbeit
selbst, das Mischen wie das Einstampfen des Betons mit gröfster Auf-
merksamkeit überwacht werden, damit nicht etwa duroh Nachlässig-
keit oder Bequemlichkeit der Arbeiter später gar nioht mehr zu be-
merkende Fehler entstehen, die dann unter Umständen zu einem
Einstürze des Baues führen können. Ein warnendes Beispiel in dieser
Hinsioht ist der am 28. August 1901 erfolgte vollständige Einsturz
eines fünfstöckigen Neubaues in Basel, der einem Mangel an Sorg-
falt bei der AusfĂĽhrung des Baues zugeschrieben werden mufs. Die
Pläne hierzu waren zwar von einer berühmten Baufirma bezogen, je-
doch hatte diese den Fehler begangen, den Bau nioht selber auszu-
fuhren, sondern dies dem betreffenden Maurermeister vertrauensvoll
zu ĂĽberlassen, der dann das Haus wiederum ohne genĂĽgende Ăśber-
wachung seinerseits von seinen Leuten herstellen liefs. Da nun die
Konstruktion an und fĂĽr sich schon aus zu weit getriebenen Spar-
samkeitsrĂĽoksiohten aufs knappste bereohnet war und nur bei ganz
besonderer GĂĽte von AusfĂĽhrung und Material die verlangte Festig-
keit gehabt hätte, so war bei deren Mangel ein Einsturz unvermeidlich.
Was andererseits ein gut ausgefĂĽhrter Bau in Beton und Eisen
auszuhalten vermag, das zeigen nioht nur zahlreiche Belastungsproben,
wie auoh Sprengversuohe mit Ekrasit, die von der österreiohisohen
Militärverwaltung angestellt worden sind, sondern auoh besser noch
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als alle absiohtliohen Versuche ein UnglĂĽcksfall, der sioh am 10. Ok-
tober 1900 in einer Fabrik zu Frankfurt am Main zutrug. Eis handelte-
sioh hier um ein fiinfstöokiges Fabrikgebäude nebst aufgesetztem
hohen Daohe, in dessen fĂĽnftem Stockwerk sioh eine heftige Benzin-
explosion ereignete. Hierbei stĂĽrzte zwar das Dach nebst den beiden
oberen Stockwerken in sioh zusammen, ohne jedooh die Decke des
dritten Stookwerkes zu durchschlagen, so dafs trotz des furchtbaren
Stofses der Bau in seinen unteren Teilen unversehrt blieb. Aller-
dings liegen hier wiederum ganz besondere Verhältnisse vor, da die
Frankfurter Baupolizei in zu weit getriebener Strenge fĂĽr Bauten aus
Beton und Eisen eine reohnungsmärsige Sicherheit gleioh dem Eigen-
gewicht zuzĂĽglich der zehnfachen Nutzlast verlangt.
Was die Verbindung von Beton und Eisen an Leistungsfähig-
keit aufweisen kann, das zeigt ferner auoh der Umstand, dafs
man daraus sogar Rammpfähle hergestellt und mit bestem Erfolge^
verwendet hat Diese Pfähle besitzen aufser ihrer inneren Eisen-
einlage noch eine eiserne Spitze, um sioh leiohter einschlagen zu
lassen. So wurden beim Bau einer LandungsbrĂĽcke in Southampton
derartige Pfähle in Längen von 4 bis 5 m auf Vorrat hergestellt und
der Reihe naoh in den aus hartem Ton und Kies bestehenden Boden
eingerammt Bei einem Hausbau in Rotterdam wurden derartige
Pfähle sogar in Längen von 8 bis 12 m hergestellt, dann eingetrieben,
hierauf nach Bedürfnis weiter verlängert und noch weiter eingetrieben.
Auch das neue Geriohtsgebäude auf dem Wedding zu Berlin ist auf
Pfählen aus Beton und Eisen gegründet und zwar unter Verhältnissen,
wo eine Gründung auf Holzpfählen durchaus versagt hätte. Diese
Tatsachen haben dann auoh nicht verfehlt in Fachkreisen gröTstes
Aufsehen zu erregen, da es bisher kein Mensch für möglich gehalten
hätte, Betonpfeiler von etwa 35 cm im Quadrat und bis zu einer Länge
von über 12 m auf Vorrat herzustellen, dieselben wie Langhölzer zu
handhaben und ohne weiteres in die Erde einrammen zu können.
Handelt es sioh hier um Beton pfähle, so sind andererseits auoh
Platten aus Beton und Eisen fĂĽr viele Zwecke des Bauwesens heute
unentbehrlich geworden. Ăśberall, wo ein schlechter Baugrund ist
und wo es demnach nötig ist die Last eines Gebäudes auf die ganze
davon eingenommene Fläche gleichmäfsig zu verteilen, wendet man-
jetzt eine Unterlage aus Beton und Eisen an, auf der man dann die
einzelnen Mauern des Hauses hochfĂĽhrt.
Auoh noch ein wichtiger Umstand macht die Baukonstruktionen/
aus Beton und Eisen in vielen Beziehungen unschätzbar, nämlich die-
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ihnen innewohnende Feuereicherheit. Während bekanntlich Eisen
durohaus nioht zu den feuersicheren Baustoffen gerechnet werden
kann, da es sohon in nur mäfsig starkem Feuer weich wird und unter
der Last des Baues in sich zusammenstĂĽrzt, so wird es durch die
Umhüllung mit Beton, der ein bedeutend schlechterer Wärmeleiter
ist, vor dem ErglĂĽhen geschĂĽtzt und vermag so seine Festigkeit
selbst bei sehr starken Bränden vollständig zu behaupten.
Namentlich mit RĂĽcksicht auf Feuersicherheit ist es deshalb bei
der AusfĂĽhrung von Konstruktionen des Hoohbaues aus Beton und
Eisen besonders wichtig, auch tatsächlich alle Eisenteile von Beton
umhĂĽllt sein zu lassen. Es mĂĽssen deshalb nicht nur die zur Auf-
nahme der Zugspannungen von Decken u. s. w. dienenden Eisen-
stangen, sondern auoh alle eisernen Träger, Unterzüge, Säulen und
Querversteifungen vollständig den Angriffen des Feuers entzogen sein.
Wie nun bei einem Schadenfeuer plötzlich auftretende und be-
sonders starke Hitzegrade der Baukonstruktion gefährlich werden
können, so können derselben unter Umständen auoh nooh andere
Wirkungen der Wärme verhängnisvoll werden, nämlich solche, die
durch den Einflufs der gewöhnlichen Sonnenhitze entstehen. Jenen
gegenĂĽber mĂĽssen namentlich die Konstruktionen des Hochbaues
widerstandsfähig sein; diesen dagegen ist besonders bei dem Ent-
werfen von Ingenieurbauten Rechnung zu tragen, bei denen oft unge-
mein grofse Längen und Flächen von Beton und Eisen den Ausdeh-
nungen und Zusammenziehungen durch Wärme und Kälte ausgesetzt
sind. Hier ist es nötig, von Zeit zu Zeit Fugen im Mauerwerk oder an
passenden Stellen Gelenke anzubringen, um die Bewegungen des Bau-
werkes unschädlich zu maohen. Duroh solohe Fugen und Gelenke
wird dann dasselbe erzielt, wie es beim Eisenbahnbau duroh die Anord-
nung von Fugen zwischen den einzelnen Sohienen gesohieht; es wird
das Entstehen von Ausbiegungen und damit die Zerstörung des Bau-
werkes durch die langsam wirkenden, aber nichtsdestoweniger äufeerst
kräftigen Einflüsse des Temperaturweohsels verhindert
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Über Planetenatmosphären. So genau wir über die astrono-
mischen Eigenschaften der Planeten, ihre Bahnen, Gröfse, Masse, Ein-
wirkungen auf andere Planeten, unterrichtet sind, so wenig sicher
sind unsere Kenntnisse ĂĽber ihre physikalischen Eigenschaften. Wohl
nur bei Mars wissen wir Zuverlässiges über seine Oberfläche anzu-
geben; bei den andern verhindert die Dichtigkeit der Atmosphäre das
Hindurchdringen des forschenden Blickes, und gelegentliche und
wenig sichere Beobachtungen sind alles, was sich anführen läfst. Man
denkt hierbei z. B. an die Schwierigkeiten, die sich ergeben haben,
die Umdrehungszeiten von Venus und Merkur zu bestimmen, als 1889
und 1890 Schiaparelli die Behauptung aufstellte, dafs bei diesen
beiden Körpern die Umlaufszeit gleich der Umdrehungszeit Bei, sie
also der Sonne immer dieselbe Seite zuwenden. Noch heute herrscht
keine Einigkeit ĂĽber diese Sache. Es ist daher von einem gewissen
Interesse, zu sehen, dafs man auf rein theoretischem Wege unter Zu-
grundelegung gewisser statthafter Annahmen zur Erkenntnis von
Eigenschaften der LufthĂĽllen der Planeten gelangen kann, die einen
hohen Grad von Wahrsoheinliohkeit fĂĽr sich hat, und zum Teil auch
durch Beobachtungen nachgeprĂĽft werden kann. Dies Problem auf
Grund der allgemein gĂĽltigen Gesetze der allgemeinen Massenanzie-
hung, der Wärmestrahlung und der kinetischen Gastheorie zu lösen,
hat Rogovsky unternommen1), und ist dabei zu folgenden Resultaten
gelangt
Die Temperatur einer Atmosphäre setzt sich zusammen aus der
des Weltraumes, aus der Wärmestrahlung der Sonne und aus der
eigenen Wärmestrahlung des Planeten. Da nun der erste Faktor
ĂĽberall gleich ist, so kommen nur die beiden andern in Betracht, und
sie scheiden die Planeten in 2 Gruppen: 1. die inneren kleineren
Körper bis zum Mars, bei denen die Sonnenstrahlung beträchtlich
V) ABtrophys. Journal. 1901, November.
471
und die Eigenwärme gering ist, 2. die äufseren grofsen Planeten von
Jupiter bis Neptun, bei denen die Verhältnisse umgekehrt liegen.
Nun ist es dem Verfasser gelungen, eine Formel aufzustellen, die es
ermöglicht, die mittleren Temperaturen der Planeten, deren Massen
mau kennt, miteinander zu vergleichen. Naoh Pouillet wĂĽrde die
Temperatur an der Erdoberfläche — 89 °C. betragen, wenn die er-
wärmende Wirkung der Sonne wegfiele. Diese Zahl ist keineswegs
so überrasohend, wie es im ersten Augenblick scheinen möchte; hat
man doch in Verkhoiansk in Sibirien Kältegrade von — 70 0 C. beobach-
tet, und dabei kommt dooh in Betracht, dato sowohl die Erde eine ge-
wisse Wärme besitzt, als auoh dafs beständig warme Luftströme zir-
kulieren, die das weitere Fallen des Thermometers verhindern. Da
nun aber die Bestrahlung durch die Sonne eine Temperaturerhöhung
von 104° bewirkt, so findet sich die mittlere Temperatur an der Erd-
oberfläche zu + 16 0 C. Für den Mars führen diese Berechnungen zu
einer wesentlich tieferen Zahl, nämlich — 73 °C, und das pafst gut zu der
Beobachtung von Schiaparelli, dafs die bekannten Schneefelder
sich bisweilen von den Polen bis zum Ă„quator hin erstrecken. Noch
tiefer, nämlioh bei — 85 0 liegt dieser Punkt bei dem Monde; es ist
bekannt, dafs die direkten Messungen von Langley zu ähnlich tiefen
Werten geführt haben. Bei den äufseren Planeten, besonders bei
Jupiter und Saturn, liegt hingegen wegen ihrer Eigenwärme die
Oberflächentemperatur sehr hoch, Kogovsky gibt sie zu -f 2690°
und -f 827 0 an, und meint, dafs der jahrelang sichtbar gewesene
rote Fleck auf dem Jupiter ein Berg glĂĽhender Materie gewesen sei,
der durch die dichten Wölken hindurchgeschimmert habe.
Die kinetische Gastheorie leitet nun aus diesen besonderen Tem-
peraturverhältnissen auch besondere Zusammensetzungen der At-
mosphären ab. Sie lehrt, dafs in einem Oase die Moleküle sich mit
gröfster Geschwindigkeit hin und her bewegen, und dafs diese Ge-
schwindigkeiten bestimmt sind durch die Temperatur und die Eigenschaf-
ten des Gases, wie das Atomgewioht und der Druok durch die Anziehung
des Planeten. Es gibt demnach Tür jeden dieser Körper eine bestimmte
Grenze der molekularen Geschwindigkeiten, von der man sagen kann,
dafs, wenn ein Gas sie überschreitet, dann entweicht es allmählioh dem
Anziehungabereiohe des betreffenden Körpers und verschwindet im
Welträume. Auf diese Weise ist es erklärlich, dafs sich Wasserstoff
in unserer Luft nicht mehr vorfindet, ebenso, dafs das auf der Sonne
seit lange bekannte, auf der Erde erst kĂĽrzlich gefundene Helium
in der Luft nur spurweise vorkommt. Es strömt zwar immer von
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neuem aus heifsen Quellen und Vulkanen aus dem Erdinnern hervor,
entweicht aber, da die Erde es nicht zurĂĽckzuhalten vermag. Dies
trifft alle Oase, deren Dichtigkeit nicht wenigstens der doppelten des
Wasserstoffes gleichkommt Bei der oben erwähnten niedrigen Tem-
peratur des Mondes liegt jene Grenze so hoch, dafs Gase, wie Sauer-
stoff, Stickstoff, Wasserdampf und Kohlensäure, nicht mehr gehalten
werden können; die schwereren Gase können, wenn überhaupt, nur
in flĂĽssigem oder festem Zustande dort vorkommen, wodurch der
Mangel einer Atmosphäre erklärt ist Eine solche finden wir dagegen
sicher bei Mars, und zwar ist sie ähnlich der irdischen zusammengesetzt,
wenngleich weniger dicht. Die vorhin erwähnte Temperatur von
— 73 0 läfst Wasser allerdings nur als Eis auftreten, Kohlensäure als
Gas oder erstarrt, und man darf annehmen, dafs die Schneefelder
dieses Planeten aus Kohlensäureschnee bestehen, ein Produkt das
wir nur mit Hilfe von Kältemaschinen erzeugen können. Wasser-
dampf bildet vielleicht Wolken aus Eisnadeln, den Cirrus ähnlich,
deren Brechungsvermögen möglicherweise die Verdoppelung der Ka-
näle, also ein rein optisches Phänomen zuzuschreiben ist Nur Sauer-
stoff und Stickstoff bleiben gasförmig. Der Verfasser nimmt hier die
Gelegenheit wahr, die Frage nach der Möglichkeit organischen Lebens
zu beantworten, und kommt zu einer Bejahung, indem er die Existenz
von Organismen auf den Gletschern der Alpen und Grönlands zum
Vergleich herbeizieht In dem oben erwähnten Orte in Sibirien leben
Menschen bei einer Temperatur, die der des Mars gleichkommt; ferner
haben jene Lebewesen, von denen wir nicht annehmen mĂĽssen, dafs
sie den uns bekannten hinsichtlich ihrer chemischen Eigenschaften
gleich sind, doch hinreichend Zeit gehabt sich den Verhältnisen an-
zupassen, so dafs der Analogieschlufs nicht von der Hand zu weisen ist
Die Planeten der zweiten Gruppe sind mächtig genug, um auch
leichtere Gase festhalten zu können, als die Erde es vermag, sogar
noch leichtere als Wasserstoff, falls solche existieren. Infolge der
stärkeren Wirkung der Schwerkraft werden ihre Atmosphären dichter
und höher sein, als die irdische es ist Spektroskopische Beobach-
tungen haben gezeigt dafs diese Planeten dunkle Linien und Bänder
besitzen, die dem eignen Lichte des Körpers zugehören, so dafs die Zu-
sammensetzung jener Atmosphären sich von der der Erde wesentlich unter-
scheiden mufs. Während diese vier grofsen Körper nur wenig Wärme
von der Sonne empfangen, besitzen sie eine überall gleichmäßige
Temperatur, ohne merkbare tiigliohe und jährliche Änderungen, da
die mächtigen Lufthüllen einen dichten Abschlufs nach aufsen bilden
47a
den Sonne und Sterne kaum zu durchdringen vermögen, bis mit vor-
sehreitender Abkühlung die Zusammensetzung der Atmosphären sich
entsprechend geändert haben wird. R.
t
Von der Entwicklung des lenkbaren Luftschiffes in Amerika
entwirft der Fachreferent der Illustrierten Aeronautischen Mitteilungen
ein anschauliches Bild. Die Luftschiffahrt hat sieh in der Tat in
Amerika wesentlich anders entwickelt als bei uns. Selbst bis in die
neueste Zeit hinein diente sie der Schaulust der Menge. Es gibt, wie
der Berichterstatter schreibt, in Amerika keine Volksbelustigungsstätte,
die nioht aufser einem Tohuwabohu von Karussels, Läden, Hotels und
Buden aller Art, Rutschbahnen und Wasserfahrten, auch die ständige
Einrichtung zur FĂĽllung eines Ballons aufwiese. Diese Ballons sind
sonderbarerweise immer noch Montgolfieren. Sobald sie ĂĽber einem
Ofen erhitzt sind, läfst sich irgend ein Akrobat von ihnen in die
Luft tragen und stĂĽrzt mit Hilfe eines Fallschirmes aus etwa 400 ni
Höhe ab. Das ganze Experiment dauert nur wenige Minuten. Der
entlastete Baiion kehrt seine weite Mündung nach oben, stöTst seinen
rauohigen Inhalt heraus und fällt als ein schmutziger Lappen auf die
Erdoberfläche zurück. Eine wissenschaftliche Luftschiffahrt gibt es
in Amerika kaum, auch werden die Versuche einzelner nioht wie bei
uns durch wissenschaftliche Vereine und sportliche Klubs unterstĂĽtzt.
Männer, die in Amerika an das Problem der Lenkbarmachung
des Ballons herantreten, sind also aus der Sphäre der reinen Prak-
tiker hervorgegangen. Unter ihnen ragt heute besonders Leo Ste-
vens als geschickter, tĂĽchtiger und recht umsichtiger Konstrukteur
hervor. Man kann ihm durchaus nioht den Vorwurf des Leiohtsinns
maohen. Seine Konstruktionen sind zielbewuĂźt und wohl durchge-
fĂĽhrt Auch ist dieser Mann der Tat durch empirische Versuche all-
mählich auf dieselben Konstruktionsformen gekommen, die unsere
hervorragendsten Theoretiker, wie beispielsweise Maxim, vor ihm
gefunden haben. Dem Berichte zufolge hat er nunmehr ein Luft-
schiff konstruiert, das man als rationell bezeichnen darf, obgleioh
den amerikanischen Zeitungsnaohrichten zufolge der erste Versuch
damit unglĂĽoklioh ausfiel. In Wirklichkeit verhielt es sioh jedoch
folgendermafsen. Man hatte San tos Dumont eingeladen, fĂĽr den
Preis von 20 000 Dollars eine Auffahrt mit seinem Dirigeable zu
machen. Dumont reiste auch wirklioh nach Amerika, merkte
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jedoch sehr bald, dafs er nur das Opfer fĂĽr eine Art Zirkus-
vorstellung grofsen Stils in einem der fashionabelsten Badeorte in
der Nähe von New York werden sollte. Von einem wissenschaft-
lichen Versuch war gar keine Rede. Dumont reiste daher sofort
wieder ab und liefe seinen Ballon zurück. Dieser wurde später von
der ehrenwerten Unternehmung gegen einen ziemlich hohen Eintritts-
preis dem Publikum zur Sohau gestellt und, als die Ungeduld der
Masse nicht mehr zu zĂĽgeln war, mit einem ad hoo ernannten, ziem-
lich unbedeutenden Luftschiffer zu einem Fluge emporgeschickt. Man
hatte Leo Stevens eingeladen, sich mit seinem Ballon in Konkurrenz
zu stellen. Der Ballon des Amerikaners war 26 m lang und bestand
aus sehr leiohter japanischer Seide; sein Motor indizierte bei 47 kg
Gewicht etwa 8 HP. Die beiden Ballons stiegen last gleichzeitig.
Der ältere Dumontsohe Ballon erlag sogleich dem Einflufs des
Windes und wurde geradlinig eine Strecke weit fortgetrieben, um dann
infolge eines ungeschickten Manövers in der Krone eines Baumes
zu landen. Stevens bewegte sich zunächst mit einem Winkel von
etwa 45 Grad zur Windrichtung, fuhr zweimal rechts herum eine
volle Sohleife und kehrte mit demselben Winkel gegen die Wind-
richtung zurück, so dafs er nach kurzer Zeit wieder in die Nähe
seines Ballonhauses kam. Hier hätte er landen sollen. Der Ehrgeiz
veranlagte ihn jedoch, den Flug fast genau gegen den Wind bis zur
Ballonhalle von Santos Dumont fortzusetzen, wo er wiederum
einen Kreis fuhr, um dadurch die Lenkfähigkeit seines Fahrzeuges,
das schätzungsweise 22 km in der Stunde zurücklegte, zu be-
weisen. Der letzte Teil der Fahrt verlief dagegen unglĂĽcklich. Der
Motor wurde defekt, und der Ballon fiel der Gewalt des Windes an-
heim. Sein Anker verfing sich in den Hoohspannungsdrähten einer
elektrischen Zentrale, veranlafste dort einen Kurzschlufs und maohte
der Fahrt ein schnelles Ende. Von einem Mifserfolg des kĂĽhnen
Selfmademan kann jedenfalls keine Rede sein. Er hat denn auoh
trotz der gehässigen Zeitungsangriffe den Mut keineswegs verloren
und baut gegenwärtig einen weit grörseren Ballon von 26 HP. Mit
ihm wird er sich wahrscheinlich an dem grofsen Konkurrenzfahren
auf der Weltausstellung in St Louis erfolgreich beteiligen können.
B. D.
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Neue Nahrungsmittelforschuogen.
Jüngst veröffentlichten die bekannten amerikanischen Nahrungs-
mittelchemiker At water und Benedict einen amtlichen Bericht ĂĽber
ihre im Auftrag des „ Fünfziger- Ausschusses zur Erforschung der
Trinkfrage4* seit mehreren Jahren angestellten Versuche. Die unter
Ägide der „Nationalen Akademie der Wissenschaften" im Verlage
der Washingtoner Bundesdruckerei erschienene Denkschrift betitelt
sioh „Eine experimentelle Untersuchung des Nährwertes des Alkohols-
und behandelt die grĂĽndlichsten Forschungen, die auf diesem Spezial-
gebiet jemals unternommen worden sind. Selbstverständlich mufste
man, um zum Ziel zu gelangen, viele Nährstoffe in den Kreis der
Versuche ziehen, und so riohteten denn die genannten Professoren ihr
Augenmerk auf die Zusammenstellung einer Diät, welche, aus den
gewöhnlichsten Lebensmitteln (Fleisoh, Kartoffeln, Brot, Milch u. s. w.)
bestehend, den Bedürfnissen des menschlichen Körpers während der
Ruhe einerseits und während physischer Tätigkeit andererseits mög-
lichst genau entsprechen sollte. Die getroffenen Anordnungen ermög-
lichten es, alle dem Körper zugeführten Speisen und Getränke sowie
alle Abgänge aus dem Körper zu messen, zu analysieren und ihre
potentielle oder latente Energie zu bestimmen. Selbst die Luft wurde
vor dem Einatmen und nach dem Ausatmen analysiert. Die vom
Körper umgestaltete und teils als Hitze, teils als äufserliohe Muskel-
arbeit abgegebene Energie wurde ebenfalls gemessen. Das Ziehen
der Bilanz zwischen der Einnahme und der Abgabe von Stoff und
Energie gestattet, aufs genaueste festzustellen, in welchem Mafse der
Körper das Genossene ausnützt.
In einzelnen der Experimente ersetzte man einen gewissen Teil
des Zuokers, der Starke und des Fetts — also der wichtigsten Heiz-
stoffe des Körpers — durch eine Alkoholmenge, die annähernd die
gleiche Menge potentieller Energie enthielt Tatsächlich gelangten
pro Tag 2J/j Unzen reinen Alkohols zur Anwendung, d. h. etwa so
viel, als in einer Flasche guten Bordeaux- oder Rheinweins zu finden
ist In den Versuchen mit Männern ohne Muskelarbeit betrug der
dargereichte Alkohol ein FĂĽnftel, bei den ĂĽbrigen nur ein Siebentel
bis Achtel der gesamten Nahrungsenergie. Es stellte sioh folgendes
heraus:
1. Von dem Alkohol wurde ungemein [wenig duroh den Atem
oder sonstwie unkonsumiert abgegeben, vielmehr oxydierte der ganze
im Körper ebenso vollständig wie Brot, Fleisoh etc.
2. Die Oxydierung verwandelte die ganze potentielle Energie des
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Alkohols in Hitze oder Hitze und Muskelkraft, d. h. der Körper ge-
staltete die Energie des Alkohols ebenso um wie die des Zuckers,
der Stärke oder des Fettee.
3. Der Alkohol vermehrte die Abgabe von Wärme seitens des
Körpers nioht wesentlich.
4. Der Alkohol diente als Wärmequelle, d. h. er hielt den Körper
warm.
6. Bei den Männern mit physischer Tätigkeit wurde die Energie
des Alkohols ungefähr ebenso sparsam ausgenützt wie die der Fette
und Kohlehydrate, an deren Stelle er trat.
6. Der Körper behielt seinen Fettbestand bei der in erwähnter
Weise mit Alkohol versetzten Nahrung ebenso intakt wie bei der
gewöhnlichen Nahrung.
Die Experimente ergaben daher, dafs der Alkohol, wenn mit der
Nahrung gesunder Menschen vermengt, eine der beiden Hauptaufgaben
der Ernährung erfüllt: er dient dem Körper als Heizstoff. Da er
keinen Stickstoff enthält, kann er die zweite Hauptaufgabe, den Auf-
bau und Naohsohub von Gewebe, nioht erfĂĽllen. Der rein wissen-
schaftliche Bericht betont ausdrĂĽcklich, dafs die in Rede stehenden
Versuche nichts zu schaffen haben mit der Nützlichkeit oder Schäd-
lichkeit des Alkohols als eines Geoufsmittels, mit seinem Einflufs auf
die Nerven und mit seiner allgemeinen Wirkung auf die Gesundheit
Ferner stellt Atwater fest, dafs weder seine und Benedicts Forschungen,
noch auch die Ergebnisse aller sonstigen Beobachtungen den Schlufs
rechtfertigen, der Genufs des Alkohols sei allgemein zu empfehlen;
er sei als Medikament oft sehr nĂĽtzlioh, zuweilen auch fĂĽr sohwache
Greise, ..fĂĽr gesunde und junge Personen aber ist es am besten, wenn
sie ihn meiden". K.
Motorjachten. Der Weizen der trägen Segler, die es verdriefst,
an windstillen Tagen die Ruder zu fĂĽhren, beginnt zu blĂĽhen, denn
eine neue französische Erfindung wird ihnen die Sache recht bequem
machen. Die bislang üblichen Hilfsmasohinen bewähren sich bei
Jachten nicht, da der Propeller die Fahrgeschwindigkeit verringert,
das Steuern ersohwert und noch mehrere andere Nachteile aufweist.
Der neue „Universalp ropellerM hilft alledem ab. Er kann von
der Jacht getrennt, er kann weggelagert werden; er kann, an ein
kleines Dinghyboot befestigt, Personen vom Ufer abholen (namentlich
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Besucher der Jacht) oder, vor einen Nachen gespannt, zu sohneilen
Bergfahrten benutzt werden. Er hat l3/4 HP, und seine Verwendung
erfordert keinerlei bauliche Ă„nderungen an der Jacht; es ist blofs
nötig, dafs er an zwei schmale Latten, welohe die Vibration ableiten,
querĂĽber der Jacht gelasoht werde. Die Steuerung geschieht durch
die Sohraube. Diese Anordnung ermöglicht dein Boot wunderbare
Evolutionen, welche mit dem Ruder nicht gemacht werden können.
Der mit dem Propellerkasten verbundene Propeller kann einen Kreis
beschreiben, ohne daduroh die Drehbewegung der Schraube zu unter-
brechen oder die Fahrgeschwindigkeit zu verändern. Zum Umkehren
ist nur eine halbe Umdrehung des Kastens mittels des Steuerrades
erforderlich. Bringt man den Kasten duroh einen leisen Druok in
einen reohten Winkel zur Fahrtriohtung, so dreht sich das Boot um
sich selbst — auoh bei voller Fahrgeschwindigkeit Ein englischer
Fachmann schreibt: „Abgesehen von der vielseitigen Verwendungs-
fähigkeit, ist diese Kreisbewegung der interessanteste Punkt der
Erfindung, denn [sie macht es möglioh, dafs ein Boot bei vollster
Geschwindigkeit durch eine Umdrehung des Steuerrades binnen 1 — 2
Sekunden zum Stehen gebracht werden kann." — Der neue Motor
maoht die Ruder ganz ĂĽberflĂĽssig. Er hat sich in Frankreich bereits
vollkommen bewahrt und wird gerade jetzt in England eingefĂĽhrt
— tsoh — .
Alte und neue Fernrohrobjektive. Der „8iriusu gab vor
einiger Zeit zwei Aufsätze heraus, aus denen man den Fortschritt
in der Kunst Objektive herzustellen, ersehen kann. Der eine Aufsatz
behandelt das unseren Lesern bekannte neue Potsdamer Doppelfern-
rohr, das zwei Objektive von 80 cm und 50 cm Ă–ffnung bei 12 m
und 12,6 m Brennweite besitzt und zu dessen Aufstellung eine Kuppel
von 22 m Durchmesser und 18 m Höhe errichtet ist Als Gegenstück
dazu beschreibt der andere Aufsatz zwei Objektive von Huygens
und Campani, die vor etwa 230 Jahren hergestellt worden sind. Das
Huygenssohe war schon einmal in Leyden untersuoht worden. Der
bekannte Optiker Dr. Sohröder, der Besitzer des Campanischen,
gab dieses naoh Utrecht zur PrĂĽfung. Dabei zeigte sich, dafs das
Campanisohe (C) dem Huygensschen (H) etwas ĂĽberlegen ist Dr.
Sohröder urteilt dafe es auch heute kaum möglich sein dürfte, ein
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gleiches Objektiv herzustellen, das das C am panische überträfe. Das
Utrechter Objektiv (St.) ist von Stein heil, hat 260 nun Ă–ffnung und
3,19 m Brennweite, C. hat 42 mm Ă–ffnung und 3,171 m Brennweite,
H. 52 mm Ă–ffnung und 3,367 m Brennweite. St wurde auf 49 mm
abgeblendet, später alle drei auf 22 mm. Dabei ergab sieb, dafs mit
der kleinsten Blende St noch Gegenstände von 6,86" trennt, C. 6,0",
a 6,25"; mit der gröfseren Blende trennt 8t 3,0", das nicht geblendete
C. trennt 3,7", H. 3,8", das ungeblendete St trennt noch kleinere Ab-
stände als 2,0" (theoretisch 0,5"). Dafs C. dem H. überlegen ist rührt
wohl daher, dafs damals die berĂĽhmtesten GlashĂĽtten in Italien lagen, und
dafs Campani selbst schliff, während Huygens diese Arbeit Dienern
ĂĽberliefe.
Während bei diesen Mefsversuchen, wo schwarze Linien auf
weifsem Grunde beobachtet wurden, der Unterschied bei den alten
Objektiven und dem neuen St ein hei Ischen nioht erheblich ist, wird
er bei der Betrachtung von Sternen gröfser. Im C. ersoheint Prooyon
als hellgelber Kreis von 4^2" Durchmesser, dann folgt ein dunkler
Ring, darauf eine strahlende und flackernde Corona, mitunter noch
StĂĽcke von 3 bis 7 weiteren Beugungsringen. Dagegen ersoheint im
H. ein Stern erster Gröfse als gelber Punkt mit 5 grünen und blauen
Strahlen, die Teile von 5 bis 7 Beugungsringen zeigen, so dafs eine
Messung kaum möglich ist Sterne der Gröfse 9,2 sind im C. nioht
mehr zu sehen, wohl aber im H. Der Mond erschien im C. schärfer
als im H. Bei der Beobachtung von Doppelsternen ist wieder C.
ĂĽberlegen, H. nur dann, wenn der eine Stern unter die neunte Klasse
heruntergeht Das Resultat ist also eine ĂĽberraschende GĂĽte der alten
Linsen bei den messenden Versuchen und die zu erwartende Minder-
wertigkeit infolge dessen, dafs sie nicht achromatisch sind.
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Kraft und Stoff oder GrundzĂĽge der natĂĽrlichen Weltordnung. Nebst einer
darauf gebauten Sittenlehre. In allgemein verständlicher Darstellung
von Prof. Dr. Ludwig BĂĽchner. Wohlfeile Ausgabe. Mit Bildnis
und Biographie des Verfassers. Leipzig. Thomas. 1902. 2,50 M.
geb. 3 M.
Wenig BĂĽcher haben wohl in dem Mafse wie das vorliegende dazu bei-
getragen, die moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung zu verbreiten.
Heute sind fast 50 Jahre seit dem ersten Erscheinen dieses Buches verstrichen;
es wird nicht mehr mit derselben Begeisterung von dem einen gelesen, mit
derselben Erbitterung von dem anderen bekämpft, wie bei seinem Erscheinen.
8ein Inhalt und seine Anschauungsweise sind durch ungezählte andere Bücher
und Aufsätze verbreitet Aber doch gehört es noch zu den vielgelesenen;
liegt doch die grofse Ausgabe in 19 Auflagen vor, und diese wohlfeile auch
schon in der zweiten; ein Beweis dafĂĽr, dafs der Kreis derer, die die An-
schauung des Verfassers teilen und sie mit seinen Worten kennen lernen wollen,
stets wächst
Dr. J. Stark: Die Elektrizität in Gasen. Leipzig bei Johann Ambrosius
Barth.
Bisher besafs die wissenschaftliche Litteratur aufser dem Buche von
O. Lehmann kein zusammenfassendes Werk ĂĽber die elektrischen Gasent-
ladungen. Da das Lehmannsche Buch jedoch den Hauptnachdruck auf die
äufsere Form der Erscheinungen unter Benutzung vieler vortrefflicher, zum
Teil recht bunter Abbildungen legt, der Theorie aber nur wenige Zeilen
gönnt, so wird das Starksche Werk seinen Platz recht gut ausfüllen und von
vielen , mit Freude begrüfst werden. Auf dem „Entladungsgebiet" ist in den
letzten Jahren aufserordentlich gearbeitet worden, mit einem besonderen Hoch-
druck natürlich nach der Röntgenschen Entdeckung. Das Beobachtungsmaterial
ist gewaltig angewachsen, durchsetzt mit neuen Anschauungen und Theorien.
Die zusammenfassende Sichtung und Darstellung dieses Materials ist daher
sine lobenswerte Tat, fĂĽr die man dem Verfasser dankbar sein kann, mag man
nun mit seinen AusfĂĽhrungen im einzelnen einverstanden sein oder nicht.
DarĂĽber zu diskutieren, ist hier nicht der geeignete Ort. Auf das Ganze kommt
es an und das Ganze ist entschieden gut, klar und ĂĽbersichtlich. Nur anzu-
erkennen ist das Bestreben des Verfassers, seinen Stoff nach jenen Gesichts-
punkten zu ordnen, welche sich aus der neueren Korpuskulartheorie ergeben.
Ihre aufserordentliche Fruchtbarkeit bestreitet heute niemand mehr. Der Leser
hat also Gelegenheit sich an der Hand der Erscheinungen mit der Elektrouen-
und Jonenhypothese vertraut zu machen. Wir empfehlen daher das fleifsig
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geschriebene Buch insbesondere den Naturwissenschaftlern anderer Disziplinen,
da die erforderlichen mathematischen Kenntnisse sich nur auf die elementarsten
Sätze der Infinitesimalrechnung zu erstrecken brauchen. Doch auch der Phy-
siker, soweit er nicht selbst zu den „Entladungsmännern- gehört, wird das
August Kundt: Vorlesungen ĂĽber Experimentalphysik. Herausgegeben
von Karl Scheel, Braunschweig. Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn.
Der stattliche Band umfafst sämtliche Experimente! Vorlesungen, mit
denen August Kundt seine jungen Hörer in die Physik einzuführen pflegte.
Wer den hervorragenden Forscher noch gehört hat, wird sich mit lebhaftem
Interesse seiner vorzüglichen Darstellung und Redeweise erinnern. Nächst
Ty ndall und Mach hat es wohl kaum ein zweiter so gut wie August Kundt
verstanden, im besten Sinne populär zu sprechen. Man mufs es dem Heraus»
geber Dank wissen, dafs er es Uber sich gewonnen hat, die Vorlesungen
Kundts nicht im Sinne modernerer Anschauungen zu vervollständigen. Das
hätte dem einheitlichen Bilde sicherlich geschadet Zum Lobe des Buches
irgend etwas zu sagen, ist selbstverständlich überflüssig. Ehemalige Schüler
Kundts werden es gern zur Hand nehmen, um sich dankbar ihres vorzĂĽg-
lichen Lehrers zu erinnern. Die jĂĽngere Generation aber kann aus den Ex-
perimentalvorlesungen recht, recht viel lerneu. Ihr und auch allen Freunden
der angewandten Naturwissenschaft sei das Buch auf das wärmste empfohlen.
H. A. Lorentz: Sichtbare und unsichtbare Bewegungen. Vorträge,
unter Mitwirkung des Verfassers aus dem Holländischen übersetzt von
O. Siebert Mit 40 eingedruckten Abbildungen. Braunschweig.
Vieweg 1902. 123 S. geh. 3,00 M.
Auf Einladung des Vorstandes des Departements Leiden der Maatschappij
tot nut van't algemeen hat der Verfasser im Februar und März 1901 7 Vorträge
ĂĽber die Physik gehalten, deren deutsche Obersetzung hier vorliegt Von den
einfachsten mechanischen Erscheinungen, der geradlinigen und krummlinigen
Bewegung aus, führt der Vortragende seine Zuhörer und Leser bis zu den ver-
wickeltsten Verhältnissen der Elektrizität und Optik, bis zu den Elektronen
und dem Zeemanschen Phänomen. Das letzte Kapitel ist einer Betrachtung der
Physik vom Standpunkt des Satzes der Erhaltung der Erreger aus gewidmet
V«rl»(f: Fler-mana PaeUl in Berlin. — Druck: Wilhelm Qronaa's Bnchdrock#r»l In Berlin- Bcboneberg.
Por die Bedaction verantwortlich : Dr. P. Schwann ia Berlin.
UaaerechUftar Nachdruck an* den Inhalt dieser Zeiteehrin uter«agt.
ĂśberaMzongareeht vorbehalten.
Werk sicher mit Vorteil lesen.
Dr. 3. D.
B. D.
«
w.
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Der Amerika - Nebel im Schwan
iPhotogr. von M Wolf».
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Lichtwirkung und Lichtheilung.
Von Dr. med. Axmann in Erfurt.
e^Ajö/ienii ein heller Frühlingsmorgen uns in die Fenster scheint,
2jjp^' oder wenn wir im Lichte des Sommers unserem Wandel ob-
liegen, 80 haben wir alle die Empfindung, dafs Oedanken
und Handlungen um vieles leichter werden als im grämliohen No-
vembernebel und im fahlen Glanz der Dezembersonne. Oder treten
wir in einen hellerleuchteten Saal, so ist die belebende Wirkung auch
des kĂĽnstlichen Lichtes unverkennbar, besonders wenn wir vielleicht
unsicher eine dunkle Treppe ĂĽberwunden haben. Wollten wir nun
gar die berufenen Vertreter subjektiver Empfindungen, die Dichter,
reden lassen, so wĂĽrde sich von Homer und Sophokles bis Schiller
und Goethe und weiter ein Lobeshymnus auf das Licht, als Allbeleber
und Segenspender, erheben. Wir lassen uns aber bei diesem Oedanken-
gange durch die Kunde beeinflussen, dato wir von der Licht- und
Wärmequelle der Sonne abhängig sind, und verbinden zunächst den
Begriff der leuchtenden Wärme ohne weiteres mit dem der leuoh-
enden Sonne, indem wir vergessen, dafs die Natur des Lichtes
keine Einheit darstellt, wie auch die Lichtempfindlichkeit etwas
rein Subjektives ist
Alles, was das Auge wahrnimmt, jeder Gegenstand, der uns durch
Vermittelung des Sehnerven zum Bewufstsein kommt, repräsentiert
lediglioh eine Lichtempfindung. Durch die in der Netzhaut befind-
liche Stäbohen- und Zapfenschicht von Nervenelementen werden die
verschiedenen FarbeneindrĂĽcke gewissermaĂźen sortiert, und das Zu-
sammenwirken beider Augäpfel, in Verbindung mit einem auf Übung
beruhenden Vermögen der Hirnrinde, erzeugt das stereoskopisohe
Sehen, welches, mit der Farbenempfindung im Bunde, die richtige
8 i cht bare Vorstellung eines Körpers vermittelt.
Himmel und Knie. 1808. XV. IL 31
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Es gibt aber Menschen, welche vom Licht nicht die richtigen
Begriffe haben, die aus rein funktionellen, also subjektiven GrĂĽnden,
von organischen Erkrankungen durchaus abgesehen, andere Begriffe
von der Farbe als die grofse Mehrheit besitzen, manche der Farben
nicht wahrnehmen, andere miteinander verwechseln. Wenn solche
Anomalien der Gesichtsempfindung auch nur eine geringe Anzahl von
Mensohen treffen, so haben doch die landläufigen Benennungen der
Spektralfarben, Rot, Orange, Gelb, GrĂĽn, Blau, Indigo und
Violett, nicht fĂĽr alle Individuen Geltung. So tat Newton schon dem
Spektrum Gewalt an, da er Indigo als besondere Farbe benannte. Er
tat das aber lediglich aus persönlicher Neigung, weil er, analog der
akustischen Tonreihe, auoh eine siebenteilige Farbenskala haben wollte.
— Natürlich ist hier nicht die Rede von gewissen Übertreibungen
moderner KĂĽnstler, welche die Farben durchaus anders sehen wollen,
sei es der Originalität oder des Effektes wegen.
Dafs Licht und Schatten, also einfach schwarz und weifs, fĂĽr
das feiner geschulte Auge eine reiche Masse von Farbentönen bieten,
ist seit langem bekannt Goethe schildert ein solches Farbenspiel
sehr schön, als er auf der „Harzreise im Winter" einen Sonnenunter-
gang vom Brocken beobachtete:
„Waren den Tag über bei dem gelblichen Ton des Schnees schon
leise violette Schatten bemerkbar, so mufstc man sie nun fĂĽr hoohblau
ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von dem beleuchteten Teile
niederschien. Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergange
näherte und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäfsigter Strahl
die ganze mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe über-
zog, da verwandelte sich die Sohattenfarbe in ein GrĂĽn, das nach seiner
Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün
verglichen werden konnte. Die Erscheinung wird immer lebhafter,
man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich
in die zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden Farben ge-
kleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung
sich in eine graue Dämmerung und nach und nach in eine mond- und
sternhelle Nacht verlor." •) Hier haben wir also ein schönes Beispiel
der Kontrastwirkung entsprechender Komplementärfarben. In Wirk-
lichkeit mĂĽssen die Schatten schwarz sein, und ihre Farbenwirkung
ist subjektive Täuschung.
Man wird daher am besten tun, da man im gewöhnlichen Sprach-
*) Farbenlehre, § 75.
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gebrauoh nioht gut jede einzelne Strahlengattung naeh ihrer physi-
kalischen Lage im Spektrum, bekanntlich den Frauenhoferschen Linien
entsprechend, bezeichnen kann, fĂĽr allgemeinere Betrachtungen haupt-
sächlich zwei Arten der Lichtstrahlen zu unterscheiden: nach ihren
Haupteigenschaften der Wärmekraft und der ohemisohen Wir-
kung. Zwischen beiden liegt dann nooh im Spektrum eine fast neu-
trale Zone, in deren Orenzen sich die Wirkungen der beiderseitigen
anderen Gebiete teilweise ausgleichen. Soweit diese Strahlen sichtbar
sind, gehören die ersteren ihrer Farbenqualität naoh, — der Verständ-
lichkeit halber kommen wir nooh einmal auf den allgemeinen Sprach-
gebrauch zurüok, — der roten Gruppe des Spektrums, die letzteren
der violetten an. Zwischen beiden liegt GrĂĽn und Gelb. E9 ist aber
bekannt, dafs jenseits von Rot und Violett nooh Arten des Liohtes vor-
handen sind, die auf keinerlei Weise direkt auf unsere Sinne wirken.
Nur duroh Vermittelung anderer Faktoren erfahren wir davon: duroh
chemische Wirkungen, Fluoreszenz u. dgl. oder duroh Wärmemessungen
mittelst feiner Apparate. Trotz ihrer Unsiohtbarkeit können aber diese
ebenso sichere Wirkungen auslösen wie die siohtbaren. Es ist also
dringend nötig, bei Untersuchung von Einflüssen auf den eigenen
Organismus die Sinne zunäohst gänzlioh beiseite zu lassen und
Bich an streng erweisliche, experimentelle Tatsachen zu halten, zumal
bei einer Materie, welche, wie die vorliegende, sogar eine eingreifende,
praktische Nutzanwendung auf den menschlichen Organismus, die
Ausbildung zur Heilmethode, gestattet hat.
Bei der Untersuchung der einzelnen Strahlengattung wäre es
nun sehr bequem, wenn eine Umwandelung des Liohtes in seiner Ge-
samtheit in die betreuende Art möglich wäre. Da wir aber einen
Lichtstrahl nicht zwingen können, langsamer oder schneller zu schwin-
gen, als er es von Haus aus tut, so mĂĽssen wir die einzelnen Arten
absperren oder von einander trennen. Dies gesohieht am besten
durch gefärbte Gläser oder Prismen, freilioh nioht ohne Liohtverlust.
Es ist immer zu bedenken, dafs in der ursprĂĽnglichen Liohtquelle die
ausgesonderten Strahlen im verstärkten Mafse vorhanden sind und
dafs ihnen für sioh allein eine kräftigere Wirkung nioht zukommt.
Der sichtbare Einflufs der Sonnenstrahlen auf dio Haut ist all-
bekannt. Das gebräunte Gesicht, der Hals des Landmannes dient als
Beweis fĂĽr die Wirkung des Lichtes. Dem von einer Waldpartie
oder einer Erholungsreise Heimkehrenden pflegt man die Gesundheit
vom Gesicht abzulesen. Die Wirkung der Sommerfrisohe wird naoh
-der Frische, auch naoh dem dunkeln Farbenton der Wangen beur-
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teilt Manchem freilich, der einen möglichst sichtbaren und rechlichen
Gewinn seines Aufenthaltes an der See und im Gebirge mit heim-
bringen wollte und darob dem Lichte unvorsichtig begegnete, passierte
es auch, dafs er sich die Haut verbrannte, d. h. entzĂĽndete. Die
Sonne hatte ihm zu sehr auf das Fell gebrannt und daran war natĂĽr-
lich ihre Wärme sohuld. Es ist aber erwiesen, dafs diese Hautver-
änderungen und Erkrankungen lediglioh duroh die chemisohen
Strahlen entstehen, und ebenso auob, dafs das Licht ĂĽberhaupt nicht
in einem direkten hygienischen Einflufs auf den Menschen
steht, ein Vorurteil, welches seiner bequemen Logik und Praxis naoh
sehr begreiflich erscheint.
Für gewöhnlich glaubt ein jeder das gern, was er sieht. Wie
man sich aber gerade beim blofsen Sehen täuschen kann, wurde
schon früher hervorgehoben. — In den tropischen Ländern, wo alles
die Strahlen der Sonne flieht, um sich in dem Halbschatten geschĂĽtzter
Behausungen möglichst aufzuhalten, in der Polarnacht, wo der Mensch
gezwungen ist, monatelang des Liohtes zu entbehren, auch im mo-
dernen, namentlich grofsstädtischen Gesellschaftsleben der Winter-
saison, wo der ballfähige Teil der Familie sich freiwillig das Joch
auferlegt, den gröfsten Teil des Tages bei künstlicher Beleuohtung zu-
zubringen, blafst die Hautfarbe ab. Selbst die brĂĽnetten, blauschwarzen
Schönen der morgenländisohen Harems sollen sich duroh einen außer-
ordentlich blassen, zarten Teint, hervorgerufen duroh völligen Licht-
abschlufs der südlichen Sonne, auszeichnen. Selbstverständlich kann
eine ungesunde Lebensweise auch eine schlechte Blutbeschaffenheit und
Bleichsucht bewirken; man kann aber nicht sagen, dafs alle ange-
fĂĽhrten Kategorien von Menschen infolgedessen wirklich blutarm
wären. Da unsere weibliche Jugend im Sommer so ziemlich die
gleichen SĂĽnden gegen die Gesundheit begeht wie im Winter, wo sie
wenigstens übermäfsige gesellige Anstrengungen duroh Ausschlafen
wieder paralysiert, so pflegt manohes bleichsüchtige Mädohen auch
im Sommer nicht zu erstarken, trotz frisoherer Gesichtsfarbe. Die
Blutuntersuchung zeigt keine Vermehrung des Hämoglobins, keine Ver-
besserung gegen den Winter. Sie bleibt „blutarm", wenn sioh auch
die Wangen in der Sommersonne röten.
Das Umgekehrte ist nachweislich der Fall bei den Polarfahrern.
Bei diesen geradezu ausgesuchten Versuchsobjekten mit möglichst
rationeller Lebensweise zeigte es sich bei der Ăśberwinterung, soweit
es sioh um sonst Gesunde handelte, dafs sie wohl blafs wurden, aber
nicht anämisch. So fanden Gyllenkreutz und Blessing, Nan-
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sen 8 ärztlicher Begleiter, keine bedeutendere Abnahme des Hämo-
globingehaltes.
Auoh zeigten Experimente, in dem berĂĽhmten Fi nsen sehen In-
stitute in Kopenhagen ausgefĂĽhrt, dafs das Licht an sich absolut keinen
Einflute auf die Anzahl der roten Blutkörperohen oder die Hämoglobin-
menge hatte. Ein weiteres diesbezĂĽgliches Beobachtungsresultat aber
war eine Erweiterung der Blutgefässe der Haut und eine Verlang-
samung des Blutstromes. Diese Erweiterung, duroh elektrisches Bogen-
lioht hervorgerufen, dauerte 5—6 Monate an; die beleuchtete Haut
wurde rot, später pigmentiert. Auoh nach 6 Monaten zeigte sich noch
Neigung, leicht wieder zu erröten. Man könnte also duroh diese rein
äußerliche Einwirkung der chemischen Strahlen eine zartere Empfind-
samkeit fĂĽr manche Dinge kĂĽnstlich zur Schau tragen lernen. Und
zwar waren es niemals die Wärmestrahlen, welche diese Reizbarkeit
der Haargefälso hervorbrachten.
An eine Einwirkung auf den Stoffwechsel, einen Oxydationsvor-
gang im Blute duroh das Licht, ist aber auoh nicht zu denken, ins-
besondere nicht nach Analogie des Pflanzenreiches. Jedenfalls ist
dieselbe noch nicht erwiesen. Die von mancher Seite behauptete,
experimentell vermehrte Ausscheidung von Kohlensäure, als Anzeiohen
nämlich erhöhten Stoffwechsels, ist so gering, die Angaben hierüber
sind so schwankend und unsicher, dafs sich das Versuchsresultat ledig-
lioh auf die größere oder geringere Ruhe der Versuchstiere zurüok-
führenläfst Wurden dieselben, nämlioh Frösche, im Dunkeln gehalten,
so saĂźen sie natĂĽrlioh ruhiger unter den Anzeiohen eines geringeren
Stoffwechsels als im Hellen, wo sie zu springen anfingen und so
den Stoffumsatz vermehrten. Indessen soll ein Versuch von Quinoke
erwähnt werden, den er mit überlebenden, dem Organismus entnommenen
Gewebeteilen ausfĂĽhrte. Hierbei zeigte sioh eine deutliche, stark oxy-
dierende Lichtwirkung. Wie wir später sehen werden, haben diese
für den lebenden Körper aber keine Geltung. Auoh die sonst auf
allerlei Reize sehr empfindliche Nervonsub stanz reagiert auf direkte
LichteinflĂĽsse gar nicht, und so kann der Gesamtreiz des Lichtes auf
Körper und Seele hinsichtlich der Nervenbahnen nur ein von den
empfindenden Nervenenden zentripetal fortgeleiteter, indirekt trophi-
sohe oder Oxydationsvorgänge auslösender sein.
Damit soll allerdings die Reizung an sich nicht geleugnet werden.
Es soheint sogar, als ob dem Organismus die ohemischen Strahlen
auch fühlbar unangenehm wären. Goethe beobachtete, dafs rote und
gelbe Farben anregend, blaue und grĂĽne niederschlagend wirkten
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Bei Versuchen, welche wiederum Finsen anstellte, zeigte es 8ich,
dafs gewisse niedere Tiere der chemisch wirksamen Strahlengattung
möglichst zu entfliehen trachteten, um ihren Aufenthalt in dem roten
Gebiet zu nehmen. Nachdem schon Lubbook 1882 beobachtet hatte,
dafs Ameisen die dunkeln, ultravioletten Strahlen fliehen, haben Henri
Dufour und August Forel neuerdings das Experiment wiederholt.
Sie sind ganz besonders vorsichtig hinsichtlich der Klassifizierung der
Lichtstrahlen zu Werke gegangen und bedienten sich eines Rowland-
Ăźchen Gitters, um die Strahlengattungen zu sondern. Die verwendeten
ultravioletten Sonnenstrahlen umfafsten die Wellenlängen von
0,000397 mm bis 0,000310 mm und wirkten stark auf die Ameisen,
welche sich unter einer durchsichtigen Gelatineplatte befanden. Die
Ameisen trugen dann schleunigst ihre Puppen in die dunkeln Räume,
indem sie die dem Auge unsichtbaren ultravioletten Strahlen flohen.
Übrigens wurde beiläufig festgestellt, dafs die Röntgenstrahlen keinen
Einflufs haben.
Die anregende Wirkung der Lichtqualitäten scheint sich soirar
unangenehm steigern zu können. In einer Fabrik photographischer
Platten, wo bekanntlich nur bei rotem Licht gearbeitet werden kann,
sollen durch diese einseitige Beleuchtung die Arbeiter unruhig und
lärmend geworden sein. Man beruhigte sie durch die Kontrastfarbe
GrĂĽn. Doch dieser Fall ereignete sich in Lyon, im aufgeregten
Frankreich. Aus den vielen deutschen Plattenfabriken ist noch nie
etwas Derartiges verlautbart. Wer aber Amateurphotograph ist, wird
sich einer unangenehmen Empfindung, wenn er die Dunkelkammer
verläf8t, wohl nicht erwehren können. Besonders unbehaglich wirkt
kaltes violettes Licht auf die Stimmung, also, wie erwähnt, die ohemi-
schen Strahlenarten ein. Es ist bekannt, wie sehr die verschieden-
artigen Farbentöne eines Landschaftsbildes oder einer entsprechenden
Beleuchtung von TheaterbĂĽhnen die bezĂĽglichen Empfindungen beim
Beschauer auszulösen imstande sind. Doch ist auf diesem rein psyohi-
sohen Gebiete Vorsicht hinsichtlich der Lichtquellen nötig. Dieselben
mĂĽssen spektroskopisch geprĂĽft sein, wenn die Versuohsresultate An-
spruch auf Genauigkeit erheben wollen.
Wir haben oben Goethe zitiert. Er konnte ja seine Versuche,
mit welchen er die „Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe'4
studierte, nicht unter dem Regime der Spektralanalyse machen, und
darum haben seine Ansichten auch nur subjektiven, mithin dichterischen
Wert.*) Es sind aber diese Ă„uĂźerungen einer empfindsamen Seele von
•) Vergl. Farbenlehre VI. Abt., 758 ff.
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genügendem Interesse, um etwas näher darauf einzugehen. Goethe
unterscheidet: Farben von der Plusseite, Gelb, Orange, Gelbrot. Sie
stimmen regsam, lebhaft, strebend. Die gelbe Farbe fĂĽhrt in seiner
höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sieh, und besitzt eine
heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft Sie macht einen durchaus
warmen und behaglichen Eindruok. Dieser Eindruck steigert sich in
Orange und Gelbrot um ein Bedeutendes. Ăśbrigens ist Gelb auoh als
Farbe im Freien am weitesten sichtbar. — Die Farben der Minusseite
sind: Blau, Rotblau und Blaurot Sie stimmen zu einer unruhigen,
weichen und sehnenden Empfindung. Blau ist als Farbe eine Energie
und ein reizendes Nichts, gibt ein Gefühl von Kälte, indem es auoh
traurig stimmt. In der Steigerung Rotblau und Blaurot (Violett) maoht
diese Farbe unruhig, indem sie unerträglich reizt Reines Rot dagegen
ist ihm der Inbegriff von Ernst und WĂĽrde sowohl, als von Huld und
Anmut, während in Grün das Auge eine reale Befriedigung empfindet. —
Es sollen ja auch die antiken KĂĽnstler einen Saphir mit sich gefĂĽhrt
haben, um das Auge zeitweise darauf ausruhen zu lassen. Von ärzt-
lioher Seite (v. Jaksch in Prag) sind blaue Zylinder fĂĽr Naohtliohte
warm empfohlen mit der Motivierung, dafs sie schlafbringend wirken.
So viel ist Bioher, dafs die Farben einen erheblichen suggestiven
Einflufs besitzen und es jedenfalls fĂĽr den Farbensinn und das GemĂĽt
wohltuend ist wenn in unseren Wohnräumen eine Harmonie herrscht»
in der möglichst alle Farben zusammenklingen, wodurch einer Er-
mĂĽdung des Auges vorgebeugt wird.
Die Untersuchungen Röntgens haben gelehrt dafs es Strahlen-
gattungen gibt welche imstande sind, feste Körper je nach ihrer Dichtig-
keit zu durchdringen. Es fragt sich nun, wie ist es da mit den gewöhn-
lichen Lichtstrahlen? Die oberflächliche Wirkung haben wir ja erkannt
Wie verhält sioh weiter die Tiefenwirkung, ihr Einflufs auf das unter
der Haut liegende, körperliohe Gewebe? Da das Sonnenlioht sowie
die üblichen künstliohen Lichtquellen, keine Röntgenstrahlen enthalten,
so haben ihre schwingenden MolekĂĽle leider nioht das Anrecht, dafs
sioh der menschliche Körper ihnen gegenüber verhält wie ein Latten-
zaun, wo sie ungehindert hindurchschlüpfen können. So ungefähr
dürfte man sich das Verhältnis der kurzwelligen X-Strahlen zu einem
festen Gewebeteil vorstellen. Mithin kommt es lediglich zunächst auf
die Stärke des gewöhnlichen Lichtes an, wie tief es dringt.
Dafs das Licht in seiner Gesamtheit die Haut durchsetzen kann,
ist sioher. Godneff und Soluoha braohten Chlor- und Bromsilber-
präparate unter die Haut von Tieren. Bereits innerhalb 2 Minuten
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wurden die betreffenden Chemikalien verändert Wurden dieselben
aber tiefer in das Muskelfleisch eingebettet, so fand keine Reaktion
statt. Ă„hnlich erging es Finsen bei seinen Versuchen. Chlorsilber-
papier, hinter das menschliche Ohr gebracht, wurde durah das Ohr-
läppchen und Knorpelsubstanz durchleuchtende Sonnenlicht nicht
geschwärzt Wohl aber fand dieses statt, wenn man mittelst zweier
Glasplatten das Ohr zusammenpreĂźte und es so blutleer machte. Hier-
durch ergab sich zugleioh ein Fingerzeig für die Unmöglichkeit
weiterer Tiefenwirkung ohemisoher Strahlen. Das rote Blut setzte
ihnen ein unbedingtes Hindernis entgegen, indem es sie völlig ab-
sorbiert und nur die wärmewirkenden (roten) Strahlen passieren läfst
Man könnte fast auf deD Oedanken kommen: die den Körper ober-
flächlich umgebende rote Blutschicht macht aus ihm eine Art photo-
graphischer Dunkelkammer und schliefst, wie dort die gleichfarbige
Fensterscheibe, alle schädlichen Strahlen aus. Gehen wir noch einen
Schritt weiter, so erkennen wir in dem dunkeln Hautpigment der
schwarzen Menschenrassen eine weitere Schutzvorrichtung, die noch
ausserdem dafür da ist, auch allzuvielen Wärmestrahlen einen Damm
entgegenzustellen, indem diese, bei uns wohlgeeignet in die Tiefe
zu dringen, um dem inneren Körper nutzbringend Wärrae zuzuführen,
in der tropischen Sonne gemildert werden mĂĽssen. Wohlverstanden
können also für Einflüsse im Menschen nur die wärmewirkenden
Strahlen des Sonnenspektrums in Frage kommen. So berĂĽhrt es denn
eigentĂĽmlich, dafs gerade die FĂĽlle des Lichtes, der Begriff des Hellen
welcher am meisten in die Seele hineinleuchtet, uns direkt eher
schadet, als nützt; wie könnte auch sonst die Natur auf dem Wege
der Anpassung Sicherheitsmafsregeln getroffen haben? Je schwächer
das Licht desto heller die Farbe der Tiere bis zum Polarhasen und
Eisbären! Finsen machte bekanntlich den Versuch, dafs er einen
Teil seines Armes mit Tusche anstrich. Als er dann diesen ganz
der Sonne aussetzte, blieb die schwarze Hautstelle unverändert, wäh-
rend die benachbarten verbrannten. Diese Tatsachen kontrastieren
lebhaft mit der allgemeinen, hygienischen Bedeutung des Lichtes,
deren Rolle eine hervorragende ist.
Bei Epidemien der ungesundesten Stadtteile fiel es auf, dafs die
Häuser der Sonnenseite, obschon gleich ungeeignet den anderen, eine
bessere Morbidität und Mortalität aufwiesen. Ein Sprichwort sagt:
Wo die Sonne hinkommt, kommt der Doktor nioht hin! Naturgemäß
mit richtigem Instinkt rechnete man das dem segensreichen, hell-
strahlenden Himmelslicht zu gute. Nioht nur deckt das Licht manchen
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dunklen Schmutzwinkel, manchen Flecken auf und befördert hierdurch
die Reinlichkeit, sondern es geht auch den Krankheitskeimen selbst
zuleibe, indem es die Bakterienleiber mittelst der chemischen Strahlen
(AusfĂĽhrung von Reiniger, ĂĽebbert & Schall in Erlangen).
durchsetzt und zerstört, somit hier den gleichen, dem Gewebe schäd-
lichen Einflute äufsert, wie auf unsere Haut. Diese bakterizide Wir-
kung beruht also ausschliefslich auf den chemischen Strahlen. Bie
in Kopenhagen fand, dafs nur wenige andere Spektralfarben sich in
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ganz geringem Mafse hier beteiligen. Besonders besitzen aber die
äufsersten ultravioletten Strahlen, die nur durch Bergkristall, aber
nioht mehr durch Glas dringen können, eine zehnmal so starke Bak-
terien tötende Macht wie das ganze übrige Spektrum zusammenge-
nommen. Was die Schnelligkeit der Abtötung anlangt, so gibt
Dieudonne an, dafa Sonnenlicht Bakterien erst nach mehreren Stun-
den, im günstigsten Fall etwa naoh einer Stunde, eine gewöhnliche
Bogenlampe solche naoh 6 — 8 Stunden vernichten kann, während es
Finsen gelang, mittelst sehr starken, konzentrierten Bogenlichtes be-
reits in fünf Minuten Plattenkulturen abtöten zu können. Man hat nun
die einzelnen Bazillenarten näher untersuoht, und dabei unter anderem
gefunden, dafs z. B. der Influenzabazillus in kurzer Zeit zugrunde geht,
wenn er dem Licht ausgesetzt wird, desgleichen hat sich der Cholera-
und Tuberkelbazillus nicht allzu widerstandsfähig erwiesen. Das er-
klärt die verhältnismässig immer noch günstigen Resultate bei gröfseren
Epidemien dieser Krankheiten, deren Ansteckungsgefahr und Ver-
breitungsmöglichkeit doch eine eminente ist.
Wir handeln also grundverkehrt, wenn wir duroh moderne
Draperien und Portieren ängstlich jeden Sonnenstrahl aus unserem
Heim verbannen. Wir erhöhen hierduroh nur die Morbidität unserer
Wohnungen.
Halten wir diese Tatsache des krankheitsbekämpfenden Liohtein-
flusses auf die Menschheit im allgemeinen auoh fest, so ist doch
derselbe auf das einzelne Individuum nur ein oberflächlicher. Unter
der reflektorischen, universellen Einwirkung des Liohtes kann der
Organismus vielleicht Infektionen der Krankheitskeime gegenĂĽber er-
starken und widerstandsfähiger werden, niemals aber können, soweit
bis jetzt erwiesen, diese selbst in der Tiefe des Körpers zerstört und
ausgerottet werden. Denn, wie schon oben gezeigt wurde, werden die
bakteriziden-ohemischen Randstrahlen des Spektrums nur in die Haut,
und, wenn dieselbe blutleer gemacht ist, in die unmittelbar darunter
liegenden Qewebe eindringen. Weiter gehts nioht, sicher nioht in wirk-
samen Mengen; man müfste denn den Körper blutleer machen, was
gleichbedeutend mit seiner sonstigen Vernichtung wäre!
So ist denn die therapeutische Anwendung des Liohtes,
soweit man wirklich bei derselben von praktischen Erfolgen reden
kann, eine rein äufaerliohe, oberflächliche geblieben.
Sonnenbäder waren bereits im Altertume üblich. Im Mittelalter
kannte man ein Verfahren, Pockenkranke mit roten Decken einzuhĂĽllen
oder sie in Räumen mit roten Gardinen zu behandeln. Ähnliches
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geschieht jetzt noch in Rumänien, Tonkin, Japan, während man in
Rufsland die Sonnenbäder in schwarzen Stoffen zu nehmen pflegt.
Hierbei werden natĂĽrlioh alle chemischen Strahlen ausgeschlossen und
kommen nur die Wärmestrahlen in Betraoht Daher ist das mehr
eine ausschliefsende, negative Lichtbehandlung. Man hält die schäd-
lichen, chemischen Strahlengattungen von der besonders reizbaren
Haut soloher Kranken mit gutem Erfolg fern. Neuerdings, wo man
sich diese Methode natürlich nicht entgehen läfst, hat man gefunden,
dafs man selbstverständlich die gleichen Resultate erzielt, wenn man
die Kranken überhaupt in dunkle Räume bringt. Kehren wir aber
das Verfahren um und verwandeln den Prozefs ins Positive durch Aus-
nutzung der irritierenden Strahlen, so haben wir in deren gewebe-
schädigender, bakteriziden Macht ein kräftiges Heilmittel für gewisse
Hautkrankheiten, besonders infektiöser Natur.
Es ist wohl allgemein bekannt, dafs besonders die Hauttuberkulose
— Lupus, auch fressende Flechte genannt — , durch Einnisten von
Tuberkelbazillen in den erkrankten Partien besteht. Diese rufen dann
weitgehende Entzündungs- und Zerstörungserscheinungen hervor,
welche oft unaufhaltbar sind und namentlich im Gesicht der Befallenen
entsetzliche VerwĂĽstungen anrichten. Hier verrichtet das Lioht als Heil-
mittel zweierlei; einmal erregt es als eine Art Atzmittel eine reaktive
Entzündung und Abstofsung der kranken Teile und dann tötet oder
schwäoht es die auoh im tieferen Hautgewebe liegenden Bazillen, so
Rückfällen vorbeugend. Für die letztere Wirkung ist natürlich Bedin-
gung, dafs die behandelte Haut- und Gewebestelle blutleer sei Das
geschieht duroh AusĂĽbung von Druck darauf. Tiefer geht aber leider
der Einflufs der Strahlen nioht So ist es z. B. ein Unsinn, etwa
Lungentuberkulose oder tuberkulöse und andere Gelenkerkrankungen,
wie Gioht, Rheumatismus u. s. w. mit Licht heilen zu wollen. Selbst
bei der oberfläohliohen Tuberkulose, dem Lupus, können nicht alle
Fälle geheilt werden. Die Behandlung ist eine lange, sie erfordert
im Finsen-Institut in Kopenhagen, der klassischen Stätte für Licht-
therapie, durchschnittlich 3 bis 4 Monate und kostet mehrere hundert
Kronen. Natürlioh kommen auoh leichtere Fälle, welohe dankbarer
sind, vor.
Der elektrotechnische Kurpfuscher freilich, diese neueste Spezies
in unserem wissenschaftlich aufgeklärten Deutschland, verspricht dem
Publikum aus Geschäftsrüoksiohten alles Mögüohe, Heilung von allen
Krankheiten im Lichtbade, ohne zu bedenken, dafs seine Mittel ganz
fehlerhafte und auch schadenbringende sind.
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Da die Sonne in Bezug auf ihre PĂĽnktlichkeit als Kompagnon
in geschäftlichen Dingen nicht als sehr zuverlässig gelten kann, so sah
man vom eigentlichen Sonnenbad ab und Schlote dafĂĽr einen Kontrakt
mit dem nächsten Elektrizitätswerk. Jedenfalls ist es dem Laien ganz
gleiohgiltig, dafs elektrisches GlĂĽhlicht fast keine wirksamen Strahlen,
Bogenlicht erheblich weniger als Sonnenlicht enthält Man kann also
niemals von einem wirklichen Liohtbad im GlĂĽhlicht, ebensowenig
in den Strahlen einer gewöhnlichen Bogenlampe reden.
Die Lichtkraft der Sonne nimmt man nach Ed er auf 70000
Normalkerzen an; demgegenĂĽber ist die Helligkeit einer elektrischen
Bogenlampe von 500 bis 1000 Kerzen verschwindend. Eine GlĂĽh-
lampe hat meist sogar nur 15 bis 30 Kerzen. Will man darum das
Sonnenlicht, dessen Heilgren zen wir bereits festgelegt haben, kĂĽnstlich
zur Not ersetzen, so gehören dazu besonders konstruierte, ganz ge-
waltige Lampen von Hunderten von Amperes an Stromstärke, und
eine solche Einrichtung ist so teuer, dafs man sie nur in Universitäts-
und ähnlichen Instituten ermöglichen kann. Gerade weil das elektrische
Licht weniger chemische Strahlen wie die Sonne enthält, mufs es um
so stärker sein. Nimmt man, ebenfalls nach Eder, die Liohtstärke des
natürlichen Lichtes (Sonne) im „gelben" Teile des Spektrums auf 100
an, so haben die chemischen Strahlen beim Übergange zwischen „Blauu
und „Violett" beim elektrischen Licht eine Intensität von 700, beim
Sonnenlicht dagegen von 3000. Wie gewöhnlich bleiben also auch
hier die von uns beherrschten Naturkräfte nooh weit hinter der Natur
selbst zurĂĽok.
Ein künstliches Lichtbad wäre es also, wenn man in einem Raum
eine sonnenhelle elektrische Lampe entzünden könnte, in deren Strahlen
die Kurgäste unbekleidet umherwandeln würden. Derartige Versuche
sind gemacht worden mit kolossalen Stromstärken bis 800 Amperes.
Was das kostet, lärst sich leioht berechnen, und der Erfolg ist zweifel-
haft Aber es genĂĽgen nicht einmal die Strahlen der Sonne in
natĂĽrlichem Zustande, um eine wirklich rationelle Liohttherapie er-
zielen zu können. Abgesehen von der allgemeinen, nur reflektorischen
und mindestens unsicheren Einwirkung im sogenannten Sonnenbade,
wo Luft- und Wärmewirkung die gröfsere Rolle spielen, können wir,
wie bereits erwähnt, nur mit konzentriertem Sonnenlicht Hei-
lungen erkrankter Hautpartien anbahnen. Eine Glaslinse, mit einer die
Wärmestrahlen unschädlich machenden chemischen Lösung (ammoniaka-
lisches Kupfersulfat) gefĂĽllt, vereinigt die Strahlen nach Art des Brenn-
glases auf der Haut(Fig.2). Während man bei solchen Versuchen mit dem
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Brennglas, wie sie uns von Kindheit an geläufig sind, sich sonst ein Looh
in die Kleider oder Hände zu brennen pflegte, ist das hier ausgeschlossen,
ja, man kann duroh weitere geeignete KĂĽhlvorrichtungen erreichen,
dafs selbst Liohttemperaturen von 200° anstandslos ertragen werden.
Um nun elektrische Sonnen fĂĽr diese Zwecke brauchbar zu machen,
bedarf es ähnlicher Anordnungen, besonders mit Rücksicht auf die
gewaltige strahlende Wärme derselben. Da bekanntlich das Lioht
mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, so bringt man die Heilungs-
bedürftigen der Lichtquelle möglichst nahe, was ja bei der Sonne
gegenstandslos sein würde, um so auoh die Intensität zu erhöhen, und
wendet kombinierte Linsensysteme an. In-
teressant ist hierbei der Unterschied, den
man in der Wahl der brechenden Medien
machen mufs. Während die chemischen
Strahlen der Sonne ungehindert Glas durch-
setzen, mufs man hier Bergkristall ver-
wenden, da nur dieser die äufsersten,
rechten Randstrahlen des Kohlenlicht-Spek-
trums passieren läfst. Auch die Apparate
zur Absorbierung der starken Hitzeent-
wickelung mĂĽssen wirkungsvoller gestaltet
werden.
Mit HĂĽlfe dieser und nooh anderer,
spezieller Anordnungen werden dann, ins-
besondere in dem von Finsen begrĂĽndeten
Institute, kranke Hautstellen behandelt, in-
dem man die Spitze des konvergierenden
Strahlenkegels darauf dirigiert «glich f^\STSl^mmSSi
wird ein Stück von ungefähr 2 cm Durch- der Linie enthalt dl* warme ab-
cu j u u j u ai torbierande FlĂĽssigkeit.
messer eine Stunde behandelt Also immer- (AusfĂĽhrung von
Roiniger, Gebbert & Schall in
Erlangen.)
hin ein mĂĽhsames Verfahren!
Zuerst sieht man an der belichteten
Stelle gar nichts. Längere Zeit tritt dann hinterher allmählich
Schwellung, Rötung, Pigmentierung ein, ähnlich, wie z. B. beim
Gletscherbrand, wo auch die Entzündung von Gesicht und Händen
meist am näohsten Tag erst kommt. Nach unseren Betrachtungen
wäre es bei Gletscherwanderungen auch richtiger, statt blauer rote
Schleier zu tragen, vielleicht auch das Gesicht völlig zu sohwärzen.
Das eben ist das EigentĂĽmliche der verschiedenartigen Licht-
strahlen, dafs die photochemische Wirkung erst nach einiger Zeit auf-
494
tritt, während die Wärmewirkung eine augenblickliche ist Man kann
wohl sagen: ich habe gestern in der Sonne gestanden und heute
ein verbranntes Gesicht, aber nicht, ich habe heute eine verbrannte
Hand, weil ich glaube, gestern ein StĂĽck glĂĽhendes Elisen angefafst
zu haben! Das wird man sogleich gewahr! Und so ist demgemäfs
an den therapeutisch belichteten Stellen zunächst niohts zu sehen.
Erst nach einigen, oft 10 — 12 Stunden tritt die Reaktion ein.
Dieses eben beschriebene Verfahren ist leider so ziemlich das
einzige, was einen wirklichen Wert fĂĽr die Behandlung von Krank-
heiten hat. Alle anderen Formen haben mit dem Lioht ebensowenig
zu tun, wie mit der hierzu meist verwendeten Kraft, der Elektrizität.
Das gilt ganz besonders von den sogenannten elektrischen Lichtbädern,
wie sie vielfach angepriesen werden. NatĂĽrlich fĂĽr alle Krankheiten!
Wir finden da zunächst Olühliohtbäder. Eine gröfsere Anzahl
reihenweise in Kästen angeordneter elektrischer Glühlampen erzeugen
fĂĽr den darin sitzenden Patienten ein sehr reinliches Schwitzbad,
— weiter aber nichts. Da Glühlicht keine chemischen, wirksamen
Strahlen enthält, so hat diese Methode, ein Heifsluftbad zu erwärmen,
nur den Naohteil der Kostspieligkeit, und die Elektrizität dient nur
als teurer, eleganter Wärmeerzeuger. Das einzige, was man zu gunsten
der hierbei verwendeten, strahlenden Wärme anführen könnte, dafs
sie nämlich leiohter in die Tiefe dringt und somit ein Sohweifsaus-
bruch frĂĽher eintrete, hat die GlĂĽhlampe auch mit einem rotleuchten-
den Amerikanerofen gemein, von dem freilich niemand behaupten
kann, dafs er elektrisch ist. Das Gleiche gilt von den geradezu
naiven Bestrahlungen des Körpers mittelst gewöhnlicher Soheinwerfer,
die niemals ausreichend stark genug sind, um wirksam zu sein, wie
wir oben bewiesen haben. Wird nun auch noch ein farbiges Glas
vorgeschoben, so wird die Kraft der Strahlen noch mehr abgeschwächt,
indem der gröfste Teil andersfarbiger Strahlen unwirksam bleibt
Das wĂĽrde dann schon mehr eine Art Mondbad sein! Rumpf in Bonn
brachte eine hochempfindliche Bromsilberplatte in die Brust eines
Hammels, worauf er dann ein Bogenlioht von 40 Amperes auf dieselbe
einwirken liefs. Auch nach 6 Minuten zeigte sich keine Veränderung.
Der Gedanke, Lungenkrankheiten durch Bestrahlung zu beeinflussen,
ist also vollkommen verfehlt
Doch auch Frau Sonne, in natura ohne kĂĽnstliche Apparate
(s. o), versteht die Saohe nioht viel besser als ein einfaoher Schein-
werfer, zumal der menschliche Organismus noch obendrein ihr gegen-
über sein natürliches Sohutzge wand, nämlich Pigmentbildung,
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495
anzieht Man könnte darum goradezu sagen, dafs ein brünettes Indi-
viduum weniger Lichthunger habe als ein hellfarbiges, und, jo brauner
dasselbe im Sonnenbade gebrannt wird, desto weniger steht es unter
der nutzbringenden Einwirkung des Lichtes. Soviel ist jedenfalls
sicher, dafs in den gepriesenen, modernen Sonnenbädern, wo
die Menschheit wie in Edens Garten wandeln soll, wenn man ĂĽber-
haupt eine Heilwirkung zugestehen will, ganz andere Einflüsse tätig
sind als die Sonne. Mechanisohe und thermische Faktoren, Luft-
Bewegung, -Temperatur und -Feuchtigkeit sowie die Einatmung frisoher
Luft in gesunder Umgebung, wozu das Licht beiträgt, das sind Dinge,
die einem Gesunden sehr wohl bekommen, einem Kranken aber, be-
sonders bei Übertreibung, sohwer sohaden können. —
Die Quellen der Natur fliefsen manchmal unrein und selbst die
klaren können vergiften, darum wird der Mensch auoh hier, wie in
anderen Fällen, von der zweiten Hand besser bedient als von der
ersten und möge lieber ein auserlesenes, gut zubereitetes Heilmittel
aus jenen Quellen von der Wissenschaft empfangen, als an der un-
mittelbaren Natur sioh zu verderben!
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FrĂĽhlingstage am Mittelmeer.
Von Dr. Alexander RoHpHt-Taormina.
(Fortsetzung).
VIII. Fastnacht in Sicilien.
Doppu NaUli lu friddu e la fami,
E 1. mM«ru scp.ru .i ^ la cpiUU.
o j^iTTeihnachten ist kaum vorüber, so hört man an Wochentagen
^V?jÂŁjĂź| des Abends, Sonntags oft schon vom Mittag an bis in die tiefe
^MC/^ Xacht in den Häusern das Tamburin schlagen und die Kasta-
gnetten schnalzen. Tritt man näher und blickt durch die offene Tür.
so drehen sich da junge Burschen, Mädchen und Kinder auf den aus-
getretenen Steinböden im Tanze.
.Nach Weihnachten kommt die Kälte und der Hunger,
Und der Meister Schuster friXst unser Geld.-
Da ist es gut, sich Bewegung zu machen und so die traurigen Ge-
>.t zu vergessen. Aber um so mehr behält das Sprichwort recht :
tan auf diese Art die Glieder ausarbeitet, wird nicht nur der
Appetit stärker, sondern es geht auch über die Schuhe, die seibat an
der wärmeren Küste die armen Leute jetzt tragen müssen.
Allerdings kaum sechs Wochen. Und wenn die durch
langen, fast tropischen Sommer verweichlichten Sicilianer noch
anders als wir unter Nässe und Kälte leiden, zumal sie sich dagegen
nioht durch Ă–fen, sondern nur durch glĂĽhende Kohlenbecken zu
schützen vermögen, so halten Frost und Regensturm doch selten
länger als drei bis vier Tage an. dann blaut wieder der Himmel, die
Vögel singen wieder, und alles blüht unter dem belebenden Strahl
der Sonne desto frischer und glänzender. Man kann sagen, dafs, wie
hier der Winter etwa acht Wochen später einsetzt als in den deutschen
Breiten, dem entsprechend der FrĂĽhling nach Sicilien um zwei Mo-
nate eher kommt als zu uns. So spriefsen bereits im Februar in
den Gärten Rosen, Geranien, Lilien, draufsen an den noch wasser-
reichen Wüibächen Veilchen, an den Felsenhäng-en Narzissen, in den
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497
Feldern grofeblumige rote und blaue Anemonen. Allenthalben wird
Citronenerate gehalten, während Apfelsinen und Mandarinen bereite
abgenommen sind; nur ganz vereinzelt leuohten in höheren Lagen
noch die goldenen Kugeln aus dem dunkeln Laub. Den herrlichsten
Schmuck aber verleihen der Landschaft in dieser Zeit die tausende
blühender Mandelbäume, gleioh schön aus der Ferne, wenn sie sich
breiten, weifsen Schleiern ähnlich auf Tal und Hügel legen, wie in
der Nähe, wenn man von oben herab diese wunderzarten schneeigen
Gebilde gegen das hellgrĂĽne, junge Korn sieht oder, unter ihnen stehend,
den Gegensatz zu dem tĂĽrkisblauen Himmel auf Aug1 und Seele
wirken läfst.
So gibt die Natur dem fröhlichen Treiben der Menschen einen
fröhlichen Hintergrund, und es wird erklärlich, wie in dieser Zeit
auch im Sicilianer, dessen Grundcharakterton eine herbe, fast stolze
Melancholie ist, die naive Lebenslust erwacht.
Da wird gegessen und getrunken, gescherzt und getanzt Und
das Viviri a cchitanza (auf Pump leben) tritt in so manchem Haus-
halt als oberstes Gesetz an Stelle des sonst ĂĽblichen Sparens. Ja,
wie das Sprichwort vom Joviri grassu oder Lardolaru, dem fetten
oder „Speokdonnerstag" sagt:
U jornu r'o lardolaru
A mamma s'impigna' u figghiolu.
„Am letzten Donnerstag vor Fastnacht versetzt die Mutter das eigene
Kind."
Die drei letzten Donnerstage der Fastenzeit sind besonders aus-
gezeichnet. Der erste ist der Gevattern-Donnerstag. Es wäre sehr
gegen die gute Sitte, wenn man da nicht alle männliohen und weib-
lichen Gevattern der Familie zu Tische bäte. Der zweite gehört den
Verwandten, der dritte den Freunden. Der Hauptsohmaus aber ist am
Fastnachtsdienstag. Wer irgend kann, verbringt die Karnevalstage
mit den Seinigen, und es ist niohts so bezeichnend fĂĽr die hohe
Bedeutung dieses Festes, als dafs der Sioilianer das BedĂĽrfnis, mit
seinen Angehörigen zusammen zu sein, nioht wie wir zu Weihnaohten
fĂĽhlt, sondern zum Karneval:
Pasqua e Natali falli cu' vöi,
Carnalivari fallu cu Ii töi.
(Ostern und Weihnacht feiere mit wem Du willst, den Fasohing mit
den Deinigen.)
Ein jeder geht auf Urlaub, die Schulen schliefsen fĂĽr mehrere
Tage, oder wohl gar fĂĽr eine Woche. Selbst die armen Hirten, die
Bimmel und Erde. 1906. XV. 11. 32
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das ganze Jahr in den weiten, öden Kampagnen fern der Heimat die
Herden der grofsen Herren weiden, dĂĽrfen auf drei Tage ihre Familien
besuchen (Li tri ghiorna di lu picuraru).
Da wird dann den Tag ĂĽber gekocht und gebacken, und des
Abends setzt man sich „zum leoker bereiteten Mahle", das oft aus
zwanzig Gängen besteht, wobei allerdings die Vorgerichte, Angiovis,
Sardellen und Oliven in Öl, ebenso jedes als einzelne Gänge zählen,
wie das Dessert: Käse, Früohte, Fenchelwurzeln und Kuchen.
Nationalspeisen sind an diesem grörsten Festtag des Jahres vor
allen der Cannolu, Röhren aus Waffelteig mit süfser Füllung, schon
vor 200 Jahren so beliebt, dafs sie damals von einem Dichter mit
4
dem Scepter der Könige und dem Stabe Mosis verglichen wurden.
Ferner Maccarruna di zitu, Makkaroni mit Schweinsbratentunke, die,
wenn sie in der langen Speisefolge der Wohlhabenden nicht fehlen
dĂĽrfen, auch die Ă„rmsten sich gestatten, sind sie doch nach dem
Volksglauben das Lieblingsgericht der Engel im Himmel, endlich der
Sangunuzzu, eine Blutwurst, in die alles mögliche andere, Backwerk
und gekochte Rosinen, hineingemischt werden. Man sieht, das arme
Schwein trägt mit dem eigenen Leibe die Hauptunkosten der Fröh-
lichkeit beim Fastnachtssohmause und macht das sarkastische Sprich-
wort wahr: Ad ogni porcu veni lu sö carnalivari (für jedes Schwein
kommt einmal seine Fastnacht).
Trinksprüche werden ausgebracht. Die Männer vergessen ihre
Sorgen, die Frauen besprechen ihre häuslichen Angelegenheiten, die
jungen Burschen, herausgeputzt, geschniegelt und eine Nelke im
Knopfloch, zeigen sich von ihrer besten Seite. Die erwachsenen
Mädchen aber, die das ganze Jahr nur bei den Kirchgängen oder
etwa beim Wasserholen Gelegenheit haben, den Gegenstand ihrer
Neigung zu sehen und dann nur durch occhiate (Blicke) und Zeichen-
spräche sich mit ihm verständigen können, heute dürfen sie sioh dem
heimlich Geliebten nähern, ihm frei in die Augen sehen und offen mit
ihm plaudern. Ist er nicht auf den Kopf gefallen, so gibt er oft in
kunstvollen Sicilianen Rätsel auf; freilich oft zweideutiger Art. Aber
das erhöht nur die Stimmung und wird an solchem Tag nicht übel
genommen. Die Gesellschaftsspiele, die der Tafel gewöhnlich folgen,
gestatten wohl sogar ein unbeobachtetes BerĂĽhren der Arme oder
Füfse, ein nioht mirszuverstehendes Drücken der Hände. So gewinnen
diese Familienvereinigungen oft eine tiefe Bedeutung fĂĽr das ganze
Leben, wie sie denn auch Gelegenheit geben, wiohtige intime Fragen
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4VH1
zu erörtern, etwaige Mila Verständnisse aufzuklären, Streitigkeiten zu
schlichten. Es iat ein allgemeines Freuden- und Friedensfest.
Die Aufregung, die die FĂĽlle der GenĂĽsse hervorruft, der Taumel,
der in der letzten Woohe vor der Fastenzeit die ganze Bevölkerung
ergreift, äufsern sich bei dem so eigenartigen Charakter des Sioilianers
natĂĽrlioh auoh in ganz besonderen Formen.
Freilich, wenn man die Berichte der Chronisten ĂĽber den alten
Palermitaner Karneval durchblättert, dann berührt es wehmütig, wie
viele der ehemaligen Faschingsbräuche auch hier in dem so herrlich
praktischen und dafĂĽr, ach! so verzweifelt nĂĽchternen 19. Jahrhundert
begraben worden sind, um wohl nie wieder aufzuerstehen.
loh übergehe die ältere Zeit, wo die spanischen Vioekönige zu
Fastnacht Komödien aufführen und Turniere abhalten liefsen, deren
Sieger dann, auch wenn sie ihrem Gegner ein paar Rippen gebrochen
oder ein Auge ausgestochen hatten, im Triumph, von einer Menge ge-
' harni80hter Ritter und phantastisch aufgeputzter Wagen gefolgt, durch
die Strafsen zogen: einer jener Vicekönige, der Herzog von Ossura,
war so passioniert, dafs er (1616) durch ein feierliches Edikt bei Strafe
verbot, sich am Faschingsdienstag ohne Maske zu zeigen. Aber noch
die Grofsväter der heutigen Generation erinnern sich des sogenannten
Atto di castello, des Festungsspiels.
Im Jahr 1412 hatte der ehrgeizige Graf Cabrera von Modioa zu
Syrakus, hoffend, auf diese Weise Herrscher von ganz Sicilien zu werden,
um die Hand der verwitweten Königin Bianca von Navarra ange-
halten und einen bösen Korb bekommen. Nun verfolgte er sie bis
Palermo, wohin sie geflĂĽchtet war, und nahm die Stadt ein. Aber
— o weh! — die Königin war mit ihren Edeldamen eben entflohen,
und der Graf, der in ihren Palast1) eindrang, wufste in seiner Wut
und von dem ganzen Weh verschmähter Liebe gepackt, überdies von
seinen Kriegsstrapazen erschöpft, nichts Besseres zu tun, als sich in
das noch warme Bett der Königin zur Ruhe zu begeben mit den Worten:
„Das Rebhuhn ist entsoh lüpft, mir bleibt nur sein Nest" Ebenso
wenig gelang es ihm dann, die Burg Solanto, den Zufluchtsort der
Königin, einzunehmen.
Die Erinnerung an diese sonderbare mifsglĂĽokte Brautfahrt ist
durch die Jahrhunderte lebendig geblieben und fand ihren Ausdruck
in dem folgenden öffentlichen Faslnachtsscherz.
') Der noch heute stehende normannische Palazzo Chiaramonte, jetzt
JustizgebEudo.
32*
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500
die
»in ihre Spindel vom Gerüst herunter tanzen liefe. Ui
I&a VoJk umher und neckte die Obenstehenden, die sich mit
Tanz und Scherz die Zeh vertrieben. Gegen Abend kam dann
Trommelachall der Feind angerĂĽckt, Ritter, Spanier und Neger mit
einem furchtbar martialischen General (Maatro di campo) an der Spitze.
Vor dem Kastell hielt der Zug, der General liefe durch einen Herold
den König zur Obergabe der Festung auffordern, natürlich vergeblich.
Nun entstand ein entsetzlicher Tumult, Kampfgeschrei, Trompeten«
blasen, Trommeln, blinde SchĂĽsse von beiden Seiten. Dann wurde
eine Leiter gebracht, angelegt, und der General stieg zum Kastell
empor. Aber er vermochte nicht einzudringen, und nun kam der
HauptspaĂź der Vorstellung: der aufgeputzte, erst so siegesbewuĂźte
Herr glitt die hohe Leiter herunter ebenso, wie seinerzeit der stolze
Graf von Modica in Palermo und vor Solanto nichts ausgerichtet hatte.
Andere palermitanische Maskenspiele waren die Bettlerschlacht
(Guerra di Lazzari), wo zwei Scharen Lazzaroni in PapprĂĽstung nach
mancherlei Schwenkungen und anderen militärischen Exerzitien eine
aolenne Hauerei mit langen Gerten zum besten gaben; ferner der
Sklavenball (Ballo di schiavi), wo eine Schar von Leuten mit ge-
schwärzten Gesichtern und Händen in türkischer Tracht zu den Klängen
von Trommel, Flöte und Tamburin auf den Straßen Quadrille tanzten
und jeden VorĂĽbergehenden streichelten und umarmten, ohne darauf
KĂĽoksioht zu nehmen, dafs die Opfer solcher Liebkosungen ĂĽber und
Ăśber schwarz wurden. Endlioh ist noch das . Bettlerduelk (Duello di
Lazzari) zu orwähnen. Es bestand darin, dafs zwei als Spanier mas-
kiert» Leute der ärmeren Stände mit einer Anzahl als Frauen ver-
kleideter Genoasen durch die StraĂźen zogen. Ein Trommler, der sie
begleitete, sorgte dafür, dafs es nicht an Zuschauern fehlte. Plötzlich
blieb <lor Zug stehen, die beiden Spanier wurden eifersĂĽchtig aufein-
ander, überschütteten sich erst gegenseitig mit Schmähungen, dann
flogen dio Klingen aus den Scheiden. Kunstgerecht fochten sie auf
spanische Art miteinander. Aber da stĂĽrzten sich auch schon die
als Weiber Verkleidoten kreischend zwischen die Kämpfenden,
trennten sie und — als Zeichen, dafs die Farce zu Ende war —
wurde eingesammelt. Dies war auch bei den ĂĽbrigen kleinen Schau-
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Stellungen der Höhepunkt der Situation und der eigentliche Zweck.
Gern gab jeder nach Vermögen, worauf die ganze Bande befriedigt
abzog und in der nächsten Kneipe den Erlös verjubelte.
Was den sicilianisohen Karneval vor demjenigen anderer Länder
noch heute auszeichnet, ist die bedeutsame Rolle, die die Volkspoesie
bei den meisten seiner Veranstaltungen spielt. Jede kleine Stadt hat
einen oder mehrere Poeten aufzuweisen, die, meist ohne lesen und
schreiben zu können, hundertstrophige Legenden und Epen entweder
von andern (Mastri di puisia) lernen oder selbst erfinden und ein
allgemeines Volksfest wie den Fasching natĂĽrlioh willkommen heifsen,
um in Improvisationen aller Art ihr kleines Licht leuchten zu lassen,
wobei sie sich zugleioh mit ihrer Kunst einen guten Schmaus und
Trunk verdienen.
Von dieser Karnevalspoesie gibt der verdienstvolle Forscher
Salomone- Marino aus eigener Beobachtung folgendes interessante
Beispiel:
Drei lustige BrĂĽder in der Tracht des napolitanisohen Puloinells
(weifses, schlotterndes Gewand, weifse ZipfelmĂĽtze und sohwarze Larve)
ziehen, mit Laute, Tamburin und Kastagnetten bewaffnet, duroh die
Stralsen und singen vor den Häusern, zunächst vor dem Laden eines
Nudelhändlers:
„O Fürst meines Herzens!
Gerade bin ich gekommen,
Um Eure Makkaroni zu kosten!"
Der Händler gibt ihnen eine Handvoll, woraut sie sioh ver-
neigen und zu ihren Instrumenten den Dank singen: sie hätten ihn
ganz besonders ins Herz geschlossen, fĂĽhlten sioh als seine unter-
tänigsten 8klaven, und wenn er es verlangte, würden sie sich für
ihn ins Meer stĂĽrzen.
Sie kommen zu einer Osteria, wo sie die Schönheit der Wirtin
preisen. „O zarter Sohilfschöfsling, Hanfblüte !u reden sie die alte,
dioke Vettel an, „Du mit Deinen sanften Augen! Dir fehlen nur die
Flügel am Rüoken, so wärst Du eine Turteltaube". Dann aber werden
sie deutlicher: „Mit trockener Kehle ist sohlecht singen. Erlaubt, dafs
wir Euren Wein probieren Itt Es wird ihnen Wein verabreicht
„O meine Herrin, wie sQfs bist Du!
Mehr gib von diesem Wein,
Der meino Zunge labt!
Ein grolses Feuer hast Du
In meinem Herzen angefacht!"
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502
Auf diesen Lobgesang schenkt die Wirtin gerĂĽhrt gern noch
einmal ein. Nun geht es zum Fleischer. Erst soh lagen sie Tam-
burin und Laute und tanzen ihm etwas vor. Dann bitten sie um
eine Blutwurst. In ergötzlichen Reimen preisen sie ihn hierauf als
ihren edlen Wohltäter, Gönner und Gentleman, als den „König aller
Fleischer".
Auf ähnliche Weise erhalten die drei dann noch Brot vom
Bäcker, Salami und Käse vom Krämer, Feigen und Apfelsinen vom
Früchtehändler. Sie haben einen kleinen Jungen mit sich, der ihnen
in einem Korbe all die Herrlichkeiten, die sie sioh ersungen und er-
tanzt haben, nachträgt.
Die improvisierten Verse, besonders die Vergleiche weohseln
bei diesen Gesängen beständig. So verabschieden sie sich, da der
Korb voll ist, von dem letzten der gĂĽtigen Gesohenkgeber folgender-
mafsen:
Der Erste:
Es dunkelt der Abend,
Schon flattert die hafaliche Fledermaus,
Das HĂĽhnchen kriecht auf seine Stange.
Der Zweite (das Tamburin dazu schlagend):
Eins, zwei drei —
Die Jagd ist vorbei.
Der Jäger legt die Flinte fort
Und tut die Beute in den Topf.
Alle drei, indem sie musizierend davonspringen :
Aus ist der Spafs!
Voll unser Fafs!
Vom Hirten wird schon die Milch gebracht:*)
Ich bitf um Urlaub; denn jetzt ist's Nacht.
An stehenden Figuren ist im ĂĽbrigen kein Mangel. Da seheu
wir den Leitermann (Soalittaru), der mit einer kreuzweis genagelten,
verschiebbaren Leiter (ähnlich dem bekannten Knabenspielzeug, auf
dem Holzsoldaten hin und hergezogen werden) bis ins zweite Stook-
werk hinauf den Mädchen, die sioh am Fenster zeigen, allerhand
Früohte hinaufschiebt und je nach Laune diese abnehmen läfet oder
die Leiter, indem er die unteren Sprossen auseinanderzieht, zurĂĽck-
schnellt in dem Augenblick, wo die Holde oben nach dem darge-
botenen Gesohenk greift. Ferner den „Spanier", einen Hidalgo, der
galant aus einer Schachtel den Damen Bonbons anbietet, nicht ohne
zuvor als Huldigung einen kleinen Solotanz vor ihnen ausgefĂĽhrt zu
haben, worauf er sich mit einem tiefen Hofknix empĂĽehlt.
») Abends treiben die Hirten ihre Ziegen in die Stadt, wo sie vor den
Häusern der Kunden gemolken werden.
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503
Da ist der Doktor (u Dutturi), ein Gelehrter im Dreimaster,
Kragen bis ĂĽber die Ohren, Weste bis fast an die Knie und zwei
grofsen Ringen vor den Augen, die die Brille vorstellen. Kr fĂĽhrt
gewöhnlich mächtige Zangen oder andere schreckliche Instrumente
mit sich und erzählt dann von seinen Wunderkuren, natürlioh in
Versen, fuhrt wohl auch als Beweis seiner TĂĽchtigkeit gleich einige
Operationen auf der Strafse aus, indem er von seinen Begleitern dem
einen — scheinbar — das kranke Bein völlig lähmt, dem andern mit
dem bösen Zahn zugleich die halbe Kinnlade mit herauszieht Ein
echter Doktor Eisenbart
Besonders beliebte Masken sind an einzelnen Orten die „Bri-
ganten" in Catania und die „Magier" in Gratteri. Jene bedürfen in
dem klassischen Lande der Maffia und der Räuber keiner besonderen
Deutung, entfernter liegt die komische Beziehung dieser. Aber wenn
man sich erinnert dafs in Sioilien unter der Erde noch ungezählte
Mengen antiker Gold- und SilbermĂĽnzen liegen, wovon nur dann und
wann einmal ein Fund gelingt und wenn man dann die „Magier" mit
langen Bärten, alten Folianten, Mefsruten und Kompafs die Wege
messen und Kreise und Linien auf der Erde ziehen sieht so weifs
man: hier wird die edle Zunft der Schatzgräber verspottet.
Unser Prinz Karneval ist unbekannt dessen Stelle nimmt in ge-
wissem Sinne der Nannu, (eigentlich „Grofsvater") ein, der den
Fasching verkörpert Entweder wird er an einem weitsichtbaren Ort
auf einem Balkon oder einer Garteumauer als Puppe aufgestellt oder
er geht als lebendige Figur bei den Aufzügen mit — ein ärmlich ge-
kleideter, alter Mann in einer ZipfelmĂĽtze, wankt er gebĂĽckt an
seinem Stooke einher, dabei ächzend, spuckend und hustend zum
Erbarmen. Oder er reitet auf einem Esel, wo er sich noch kläglicher
ausnimmt
Der Karnevalsscherze sind selbstverständlich wie bei uns un-
zählige. Da werden einem ruhig dastehenden Bekannten hinterrücks
Wergstücke oder Tafeln mit einem Eselskopf und ähnlichen schönen
Bildern angehängt. In Modica nimmt man hierzu wohl auch einen
Lämmerschwanz oder eine tote Maus. Ein anderer Ulk, den nament-
lich die jungen Mädchen, oft zu drei und vier vereinigt lieben, ist
der, dafs man unvermutet auf der Schulter oder gar am Ohr des
andern getrocknete, aufgeblasene Hühnerkröpfo platzen läfst Das
arme Opfer, das plötzlich in unmittelbarer Nähe eine solche Salve zu
hören bekommt weifs sich kaum zu retten. Die Kröpfe werden das
ganze Jahr hindurch lediglich fĂĽr diesen Zweok von den GeflĂĽgel-
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r,04
baadlern gesammelt, in Salzwasser aufbewahrt und zu Fastnacht, das
StĂĽck fĂĽr zwei bis vier Centesimi, verkauft
Ein alter, noch heute üblicher Scherz ist das „Testament des
Esels". Ein als alter Esel Verkleideter, ganz zerschunden und abge-
zehrt, seufzt und keuoht einher und fällt schliefslioh hin, ohne sich
wieder erheben zu können. Die Leute fragen ihn besorgt, was er
habe. Er werde bald sterben, aber vorher wolle er sein Testament
machen. Ein Notar ist bald zur Hand, auch er eine stehende Cha-
raktermaske des Karnevals, ähnlioh dem „Dutturi". Mit seiner grofsen
Hornbrille, im abgeschabten, schwarzen Anzug und gekniokten Cy-
linder bildet er eine Satire auf das zahlreiche Proletariat der hunger-
leidenden Juristen. Ein Tisch wird gebracht, Tinte und Papier, und
der Notar schreibt die letzten VerfĂĽgungen des sterbenden Esels auf.
In giftigen Versen vermacht dieser u. a. seine Kehle den Pfaffen,
seine Hufe den Schustern und seine Zunge den lieben Nachbarn
(als Dank fĂĽr ihre vielen Verleumdungen).
Auoh der Nannu macht in wohlgesetzten Ottaverime sein Testament
Bezeichnender aber ist eine andere Zeremonie, die mit ihm vorge-
nommen wird. Er wird in feierlichem Zuge zu Grabe getragen und
verbrannt3) Dabei werden — an die antiken Nänien erinnernd —
Totengesänge angestimmt, z. B.
Beweinet ihn, beweinet ihn
Mit untröstlicher Klage:
Der liebe gute Karneval,
Unser Vater ist eingesargt!
Punkt zwölf Uhr, wenn die grofse Domglocke in Palermo durch ein
viertelstündiges Läuten den Beginn der Fastenzeit ankündigt müssen
sämtliche Masken abgenommen werden. Wer es unterläßt, dem
wächst sie nach dem allgemeinen Volksglauben am Gesicht fest
Aber das feierliche Gebot der Glocke, in sich zu gehen und Bufse
zu tun, wird nicht so ernst genommen. Das tolle Treiben währt
nooh bis in den frühen Morgen hinein, Auoh am näohsten Tage,
dem Aschermittwoch, ist es ĂĽberall Brauch, eine Art Katerbummel in
die Umgegend zu machen, und sich bei Freunden und Verwandten
oder in einer ländlichen Wirtschaft aufs neue zu vergnügen.
• •
Es sei mir gestattet nooh einige persönliche Beobachtungen
wiederzugeben ĂĽber den Karneval, wie er insbesondere in den kleinen
3) Letzteres ist nach PUre" oin nicht siciĂĽanischer, erst vom Festlande
kĂĽnstlich eingefĂĽhrter Brauch. Pitr<S Bibliotheca XIV, S. 98.
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505
Städten gefeiert wird. Mir seheint, als ob hier, wo jeder den an-
dern kennt, mehr lustige Späfee zutage kommen als in der Grofs-
stadt, wo sieh die Leute derselben Strafse, ja desselben Hauses ge-
wöhnlich fürs ganze Leben fremd bleiben. Das Tun und Treiben
der Kleinstadt erinnert an das einer grofsen Familie, wo jeder un-
mittelbar vor den Augen der ĂĽbrigen die Rolle abspielt, die ihm das
Schioksal zuerteilt hat. Dies GefĂĽhl spornt besonders in der tollen
Faschingszeit die Witzbolde des Städtchens, die Volkssänger und die-
jenigen, die ein paar Lire für närrische Aufzüge und Produktionen
ĂĽbrig haben, an, sich zu zeigen. Freilich in Castelvetrano (im SĂĽd-
westen der Insel), wo ioh, auf einem Ausflug zu den Tempeln von
Selinunt begriffen, meinen ersten sioi lianischen Karneval verlebte,
ging es still und ernst genug zu. Es ist eine arme Stadt, die Bevöl-
kerung nooh stark mit sarazenischen Elementen durchsetzt loh er-
innere mich kaum, hier und da einer Maske begegnet zu sein. Oder
— bemerkte ioh sie nur nioht, als ich an einem regnerischen Februar-
abend durch die engen Gassen strioh, ganz eingenommen von den
Gedanken an den Besuoh der gewaltigen Ruinenstadt, der mir fĂĽr
den nächsten Tag bevorstand? Da hörte ioh eine der reizenden, bald
lockenden, bald affektiert traurigen Tarantellen aus einem erleuchteten
Gang. Die hellen Töne der Flöten hüpften so keck und lebenslustig
zu dem behagliohen Brummen und Kratzen der Barsgeige. Ioh trat
ein, und naoh wenigen Schritten sah ich mich in einem mittelgrofsen
Saal mit Bänken an den Wänden, auf denen die älteren Leute und
Kinder safsen, während auf dem Steinboden in wunderlichen Sprüngen
eine Menge Masken durcheinander tobten. Allmählich konnte ioh doch
bemerken, dafs immer je zwei miteinander tanzten. Zwei junge
schön gewachsene Burschen vor mir zogen meinen schweifenden Blick
bald ganz und gar an, und mit VergnĂĽgen erkannte ich in manchen
ihrer Stellungen und Bewegungen Anklänge an den Fauntanz wieder,
den wir auf antiken Vasen und Reliefs bewundern. Den Oberkörper
etwas vorgebeugt, die beiden Arme an die Schultern herangezogen,
äugt der eine, der die Dame vorstellt, soharf lauernd, wie der andere
— der Kavalier — seine Sohritte wählt, und hebt und setzt danach
seine FĂĽfse, bald langsam vorsichtig, bald kĂĽhn in schnellem Wechsel.
Jetzt plump querbeinig ausgrätsohend, dann wieder zierlich tänzelnd,
jetzt stolz marschierend, dann wieder auf einem Beine sich wiegend
— so bewegt sich der Kavalier, wobei er auoh in Miene und Haltung
die mannigfaohste Abwechselung zur Sohau trägt Bald hat er die
Arme eingestemmt bald legt er sie — immer in harmonischen Linien
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wie ein alter Schauspieler — an den Kopf, jetzt knipst er dioht vor
seinem Qeeioht mit den Fingern, dann wieder klatscht er in die Hände,
bis sich sein Gegenüber — die kokette Spröde — endlich fangen läfst,
und nun beide, sich umfafst haltend, in tollem Wirbel um die eigenen
Achsen rasen. Nach einem letzten heftigsten Prestissimo-Furioso
brioht die Musik ab, die beiden lösen sich aus ihrer Umklammerung
und räumen einem anderen Paar das Feld.
Da in Castelvetrano nooh die arabische Einkerkerung der Frauen
Sitte ist, sah ich in der öffentlichen Tanzstube kein einziges weibliches
Wesen, und das machte auf die Dauer einen recht monotonen Eindruck.
An der heiteren OstkĂĽste jedoch, wo noch heute im Typus der
Bewohner wie in ihren Sitten und Gebräuchen griechischer Einflute
unverkennbar ist, tanzen auch Mädchen und junge Frauen mit, und
selbst die alten siebzigjährigen Weiber legen zuweilen das Tamburin,
das sie zum Reigen der anderen geschlagen, aus der Hand und be-
ginnen selbst, sich mitzudrehen.
Mischen wir uns für einige Stunden unter das fröhliche Völkchen,
das sich am Faschingsdienstag in den Strafsen Taorminas tummelt!
Was sitzt da neben dem Laden unseres Fleischers auf einem
Stuhl? Eine Frau? Nein, nur die lebensgrofse Nachahmung einer
Frau, ein Stock mit Bluse und Rock bekleidet. Das Wachsgesicht
bedeckt ein alter Hut mit Sohleier, die Waohshände halten eine Gänse-
feder und einen Kohlfächer. Eine lange dünne Hundekette hängt
ihr um den Hals und endigt in einem Garnwickel. Der lustige
Fleischer freut sich ĂĽber unser Interesse, kommt heraus aus seinem
Büdchen und erklärt uns die Bedeutung seiner Figur: es ist eine
Prinzessin. „Sehen Sie hier die Feder, sie will schreiben, dabei
fächelt sie sich Luft zu.4* — „Na ich dächte, bei der Kälte braucht
man keinen Fächer.** — „O ja, die Prinzessin ist jung und sehr
hitzig." — „Was soll denn der Garnwickel?- — „Das ist kein Garn-
wickel, das ist ihre Uhr und hier die lange goldene Uhrkette! Nicht
wahr, eine wirkliche, echte Prinzessin?!" —
Ein paar Schritte weiter drängt sich eine Menge Volks nm zwei
abenteuerlich herausgeputzte Gestalten mit Guitarre und Mandoline.
Ich erkenne in dem älteren den Volksdichter von Taormina, einen
Gärtner, wieder, der uns jeden Herbst eine Ladung Canna besorgt,
jenes hohe Sumpfrohr mit prächtigen groben Wedeln, das als natür-
liche Dekoration und wirksamer Fliegenschutz zugleich in die Ecken
der Zimmer gestellt wird.
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Das Volk macht ein wenig Platz, und nun singen der „Dichter"
und sein Gefährte zusammen zum Klang ihrer Instrumente eine jener
lustigen Arien in Dialogform, die in ganz Sioilien verbreitet sind.
Die Menge läfst laute Bravos hören, und von den Baikonen, wo
Herren und Damen dem komischen Aufzug zuschauen, klirren Soldi-
st ücke nieder, denn dafs er „aus reiner Güte" sänge, ist nicht so
wörtlioh zu nehmen! Als Dank improvisiert der Gärtner eine neue
Strophe.
Jetzt hat der Sänger meine Frau und mich bemerkt. Nach
kurzem Besinnen schlägt er — der ganze Kerl eine unbewufste
Travestie der altgrieohiBchen Rhapsoden mit der Leier — die Saiten
und stimmt einen halb ironisch, halb ernst gemeinten Lobgesang auf
uns beide an. Ich sei sein alter Kunde. Jeden Herbst bringe er
mir vom Flufs herauf ein schweres BĂĽndel Schilf. Freilich bezahle
ioh nur einen Soldo fĂĽr das StĂĽck, aber er wisse, die Kunst geht
betteln, ioh sei ein Poet wie er und so nehme er mirs nicht weiter
ĂĽbel. Dann wendet er sioh an meine Frau, die ganz bestĂĽrzt, so
plötzlich in die Öffentlichkeit der Strafse gezogen zu werden, vor
Scham die Augen niederschlägt Am liebsten wäre sie auf und davon
geflohen. Aber diese holde Verwirrung und die erwartungsvollen
Blioke, die die Menge bald auf uns, bald auf den Sänger richten, be-
geistert diesen noch mehr. In einer zweiten tadellosen Sioiliane
improvisiert er: „Und hier steht auch die junge Frau meines Kollegen,
ein Ausbund von Schönheit und Liebenswürdigkeit, der Spiegel der
Tugend und Sittsamkeit, eine FrĂĽhlingsrose14 (rosa d'aprile) und ich
weifs nicht, was er alles noch zu ihren Ehren vorgebracht hat.
Dann hält er mir mit der freundlichsten Miene seine Guitarre
hin, und ich lasse in das Schallloch — das ihm als Sammelbüchse
dient — das wohlverdiente Trinkgeld fallen.
Eigentlich froh, diese unerwartete Huldigung ĂĽberstanden zu
haben, lassen wir uns von den Klängen einer Drehorgel locken und
betreten in der nächsten Seitengasse eine der öffentlichen Tanzstuben.
Die Soene ist ungefähr wie damals in Castelvetrano, eine grofse voll-
ständig ausgeräumte Stube, blofs Bänke an den Wänden, auf denen
Kinder, alte und junge Weiber, teilweise mit ihren Säuglingen, sitzen
und dem Tanz zusohauen. Oft wird solch ein Säugling der nächsten
besten Frau Gevatterin ĂĽbergeben, und die junge, lebenslustige Mutter
tanzt selber mit In der Ecke wird unaufhörlich der Leierkasten ge-
dreht. Am Eingang stehen die Männer — ein fürchterliches Ge-
dränge der Kommenden und Gehenden ist hier; die Luft, obgleich
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Ă–08
Fenster und TĂĽren offen stehen, entsetzlioh. Da wir zu den Hono-
ratioren zählen, und man sich duroh unseren Besuch geehrt fühlt,
werden uns StĂĽhle gebracht, und so schauen wir denn ein wenig dem
Treiben zu.
Wir kennen fast alle jungen Mädohen: Da ist die braune Affia
mit stolzen, grofsen Augen und herbem Mund, die reine Räuberbraut,
die uns manchmal wilde Kräuter (minestra selvaggia) bringt, da ist
die kleine rundliohe Antoniedda, die neulioh beim Wollezupfen die
Vorsängerin der mitarbeitenden Mädohen war und endlich, nachdem
sie sioh die Kehle heiser geschrien, nicht ruhte, bis wir ein Tamburin
bringen und sie im Hof mit Affia zusammen eine Tarantella tanzen
liefsen, die direkt an Afrika erinnerte. Da ist die etwas bequeme
Aidda. Gott, wie ist die in die Breite gegangen, seit sie vor vier
Jahren bei uns versuchsweise in Dienst trat Es blieb bei einem
kurzen Versuoh. Denn die damals dreizehnjährige Kleine fühlte sich
zu einsam bei ihren häuslichen Verrichtungen, und als sie am zweiten
Tage sämtliche Teller, die sie aufwasohen sollte, aus der Küche in
unser Wohnzimmer brachte, „um Gesellschaft zu haben**, wie sie uns
erklärte, mufsten wir sie freundlichst wieder entlassen. Da sie aber
„Hausbesitzerin4' ist — ihr Häuschen ist schuldenfrei und mindestens
500 Lire wert — hat die Vielbeneidete bereits einen Bräutigam ge-
funden.
Angiolina, unsere jetzige Magd, hat natĂĽrlich zu dem allge-
meinen Festtag frei bekommen und begrĂĽfst uns in ihrer ehrlich
derben Weise, glückstrahlend im ganzen Gesicht — und da ist auch
ihre kleine zehnjährige Schwester Pippin a. Die braucht heute nicht
mit einem Teller voll HĂĽhnerlebern und einem Kranz von aneinander
gereihten Hühnerköpfen um den Hals duroh die Strafsen zu laufen
und zu rufen: „Wer kauft, wer kauft? Seht, was für schöne Köpfe
und Lebern ich habe, einen Soldo der HĂĽhnerkopf, zwei Soldi die
Lebern.14 Heute sitzt sie in einem sauberen Kleidohen, eine Schleife
im Haar, mit in der Reihe und wartet darauf, dafs einer ihrer Be-
kannten sie zum Tanze auffordert
Sie alle begrĂĽfsen uns mit Wort und Blick, nur eine ist da, die
scheu die Augen niederschlägt: Pancrazia, auch eine unserer früheren
Mägde. Da der Karneval die mittelbare Veranlassung war, weshalb
meine Frau erklärte, sie nicht mehr gebrauchen zu können, verdient
sie einen besonderen Paragraphen in meinem Kapitel
Jeden Sonntag und Montag im Januar des letzten Jahres war
Panorazia todmĂĽde bei der Arbeit, wir hielten sie fĂĽr krank und
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509
<?aben ihr Arzneien gegen ihr Magen- und Kopfweh. Dieser bedenk-
liche Zustand steigerte eich im Februar, immer sohlaffer wurden ihre
Bewegungen, ihre Arbeit immer unbefriedigender. Namentlich die
Freitage und in den drei letzten Tagen vor Fastnacht war sie zu gar
nichts mehr anstellig. Das Rätsel löste sich endlich, als wir sie am
Faschingsdienstag in einer der Tanzstuben der Nachbarschaft in ihrer
ganzen Herrlichkeit prangen sahen. In ihrem roten Weihnachtskleid
und dem ocangefarbenen seidenen Halstuch sah die schlanke Sara-
zenin wirklioh reizend aus. Aber, aber, was wir von einer ihrer
neidischen Rivalinnen dort erfuhren, entzĂĽckte uns weniger. Um mich
kurz zu fassen: Pancrazia war wegen ihrer bestechenden Garderobe
und ihres hĂĽbschen Gesichts von dem Inhaber der Tanzstube enga-
giert worden, die ganze Karnevalszeit hindurch in seinem Lokal zu
hĂĽpfen. Statt nach Hause zu geben und sich, wie das sonst ihre Ge-
wohnheit war, mit den HĂĽhnern schlafen zu legen, hatte sie an den
bestimmten Abenden Toilette gemacht und nicht weniger als sechs bis
sieben Stunden im Ballsaal schwer „gearbeitet". Als eine Art Lock-
vogel fĂĽr die jungen Burschen, die natĂĽrlioh lieber dahin gehen, wo
sie nette Mädohen nach ihrem Geschmack finden, als an Orte, wo nur
alte MĂĽtter und GrofsmĂĽtter auf Engagement warten. So mietet jeder,
der in diesen tollen Wochen in seinem Hause aufspielen läfst, drei
oder vier solcher Tanzmädohen, die dann die vertragsraäfsige Ver-
pflichtung haben, an allen Tagen, wo die Drehorgel geht, d. h. zuerst
an jedem Samstag und Sonntag, dann auch an den Donnerstagen,
endlich an den vier letzten Faschingstagen nur in seinem Lokal zu
tanzen und zwar von fĂĽnf Uhr abends bis Mitternacht Und der
Lohn dieser im Dienste Terpsichores geleisteten, keineswegs geringen
Fron? Er wird am Fastnachtsdienstag ausgehändigt in Gestalt von
einem Kilo Wurst und einem Paar neuer Schuhe, als Ersatz fĂĽr die
alten pflichtschuldigst abgetanzten!
Kein Wunder, dafs dieser andauernde strenge Nachtdienst Pan-
crazias Kräfte erschöpft hatte!
Dooh heute ist aller ehemalige Zwist und Unfriede vergessen.
Wir rufen die Mädchen, auch Pancrazia heran, und drücken jeder
ein paar Soldi in die Hand, sie sollen alle zusammen „Balletto" tanzen.
Das Balletto ist eine Art Quadrille. Aber das Tempo ist schneller,
die Figuren sind mannigfaltiger. Umschlingungen, Kettenbilden mit
Durchkriechen und Pirouetten abwechselnd, lassen zusammen mit dem
galoppähnlichen Rhythmus oft das alte Bakchanal wieder aufleben, zu-
mal wenn der Wein die GemĂĽter erhitzt hau Das Kommando wird
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510
vielfach französisch gegeben, was sich aus dem Munde eines Fischers
oder Schusters sonderbar genug ausnimmt.
Nun, unsere Jungfern bedĂĽrfen nicht erst irgend welcher kĂĽnst-
lichen Anreizung und führen — sogar die kleine Pippina — alle Be-
wegungen auoh ohne Kommando höchst korrekt aus mit ländlicher
Grazie. Dafs ein kleiner, etwa fünfjähriger Junge, barfufs, ungeladen
in ihrer Mitte am Tanze teilnimmt, stört sie durchaus nicht. Ist er
im Wege, so bekommt er einen sanften Stöfs. Aber das ist selten
nötig. Denn mit affenartiger Behendigkeit hüpft der Kleine nach dem
Takto der Musik zwischen ihnen herum, bald hier, bald da, und wenn
einer der sohweren Schuhe ihn zu treten droht, zappelt er immer
rechtzeitig zur Seite, wirbelt mit den FĂĽfschen in der Luit herum wie
der erste Hoftheater-Solotänzer, man sieht ihn überhaupt mehr in der
Luft als auf der Erde. Wie tief steckt das BedĂĽrfnis, im Tanz sich
auszuleben, in diesem Volke! Es ist sozusagen ein Teil ihrer Sprache,
eine Sprache, die sie nur selten sprechen dĂĽrfen, aufser zur Faschings-
zeit, höohstens noch zur Weinerte, dann aber allemal desto gründ-
licher. Ăśbrigens nimmt es nioht wunder, dafs dieser Tanz-Fanatismus
alle Klassen der Bevölkerung durchzieht, wenn man sieht, wie schon
Mädohen von vier Jahren das in keinem, auoh dem ärmsten Hause
nicht fehlende Tamburin zu sohlagen wissen und wie die MĂĽtter ihre
Kinder, die kaum stehon können, auf dem Schofse nach dem Klange
der Schellentrommel auf- und niederschwingen.
Naohdem die Mädohen die sechs langen Touren des Balletto
heruntergetanzt haben, tritt eine sogenannte Tubbiana, eine Masken-
gesellsohafl von acht Köpfen auf den Plan, begleitet von einem eigenen
kleinen Orchester, bestehend in einer Bafsgeige, einer Violine und
einer Quitarre. Die Drehorgel schweigt, der FĂĽhrer der Tubbiana,
ein spanischer Ritter mit langem blonden Zopf, zahlt fĂĽr alle eine
Tarantella, und alsbald wogen die acht abenteuerlichen Masken durch-
einander. Der Spanier tanzt dazwischen meiner Frau ein Solo vor,
dann bietet er uns galant aus einer Schachtel Bonbons an. An seiner
Figur und seineu gewandten SprĂĽngen erkennen wir bald den besten
Tarantel la-Tänzer von Taormina. den Kunsttischler und er nickt,
als wir ihm heimlich seinen Namen sagen.
Ebenso wie ich unter den einzelnen Gestalten der Tubbiana
mehrere der charakteristischen Masken erkenne, die Pitre4) beschreibt
{z. B. den Notar, den Baron und auch den gebrechlichen Greis, den
Naring, so erinnert mich die jetzt horeindrängende Gruppe an den
l'sxre: * c^tumi etc. BatJ I. S. Iv' ff.
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Ballo dei schiavi, den Alt-Palermitanischen Sklavenball. Vier Bursohen,
mit Fes, Turban, in weifsen BetttĂĽohern oder bunten Shawls und Kaf-
tanen, Gesicht und Hände geschwärzt, vollführen, von einem fünften
ähnlioh ausstaffierten, dem Häuptling, kommandiert, verschiedene
kriegerische Bewegungen. Der Häuptling, ein ganz armer Teufel,
KĂĽchenjunge in einem Hotel, hat gewifs seine letzten Soldi fĂĽr diesen
Spafs geopfert Mit grofser Würde gibt er seine Befehle, Höhtet die
langen Schilfrohre, die die vier als Lanzen in der Hand halten, und
läfst seine Schwarzen schwenken, ausfallen und niederhocken, die
ihrerseits dabei gräfslich mit den Zähnen fletsohen, die Augen furcht-
bar rollen und gurgelnde, unverständliche Laute ausstoßen, kurz, dem
schaulustigen Publikum all den Unsinn vormaohen, den unsere „ga-
rantiert echten u Wilden auf dem Jahrmarkt zum besten geben.
Menelik mit Gefolge — denn das stellen die fünf dar —
tanzen auch ihr Balletto, natĂĽrlich mit afrikanischen Nuancen. Wir
folgen ihnen, wie sie jetzt unter dem Beifall des gesamten Publikums
abziehen, auf die StrafSe.
Hier hat sich allmählich ein echtes Faschingstreiben entwickelt.
Eine Reihe Wagen, jeder mit mehreren Masken besetzt, fährt unter
lebhaften Zurufen des Volks durch die Stadt Da grĂĽfsen PuloinellB
heraus und solche mit grofsen Eselsköpfen. Ein ganzer Wagen ist
voller „Zwerge1*, d. h. junger, besonders kleiner Leute mit künstlichem
Buckel und komischen Riesenköpfen aus Papiermasohee, vor denen
man sich geradezu fürchten könnte, namentlich wenn sie sich plötzlich
umdrehen und so das anscheinend Starre Leben gewinnt. Ein kleiner
Kat ren begegnet uns, von einem sardinischen Eselchen, nioht grofser
als ein Bernhardiner Hund, gezogen. Davor tanzt ein junger Bursohe
als Herold in altgriechischem Gewand, einen Efeukranz ums Haupt,
ein laubumwundenes Rohr als Thyrsusstab in der Hand. In dem
Karren sitzen auf kleinen StĂĽhlchen zwei sioi lianische Kinder, ein
Knabe und ein Mädchen und ein englisohes Baby. Jene beiden unter-
halten sich lebhaft, die kleine Lady sitzt steif dazwischen. Sie ver-
steht sie nicht nicht einmal ihre Zeichensprache. Aber in ihrer seligen
Stimmung mag sie auch gar nioht sprechen. Sie antwortet nur mit
stummem Nicken auf die Worte des langen Engländers, des Be-
sitzers des Eselgespanns, der nebenhersohreitend den kleinen Aufzug
leitet und, den Kindern und sich selbst zur Freude, diesen hĂĽbschen
Spafs ausgedacht hat
Müde von all den Eindrücken und dem Lärm kehrten wir nach
Hause zurĂĽck, nur einmal noch aufgehalten von einer daherstĂĽrmenden
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Kindereobar. Sie folgte einer Maske, die — unglaublich aber wahr!
— die Prinzessin des Fleischers schnöde entfuhrt hatte und nun auf
dem RĂĽcken durch die Strafsen sohleifte.
Zu Hause beim Abendbrot tat es mir nun doch leid, dafs wir
diesmal nicht, wie letztes Jahr, in unserm Efszimmer einen kleinen
öffentlichen Ball veranstaltet hatten. Aber meine Frau war nooh jetzt
dagegen: „Erinnerst Du Dieb, wie sie unsern neuen Fufsboden5) da-
mals zertanzt haben mit ihren sohleifenden Sohritten, ihren Nagel-
sohuhen? Zwei Torten waren rundweg aufgegossen — na die hatt'
ich ja fĂĽr diesen Zweok gebacken. Aber anderthalb Bottiglioni fl)
Wein haben sie in vier Stunden ausgetrunken und fĂĽnf Schachteln
Cigaretten weggeraucht."
„Nun, vielleicht nächstes Jahr.*1
„Übrigens werden wir auch diesmal Maskenbesuch haben, wenn
ich nicht ganz irre — "
Da klopfte es draufeen am Hoftor.
„Cuij e?" (Wer da?)
„Jo.u (Ich.)
loh erkannte die Stimme unserer Angiolina und öffnete. Vier
Mädohen im Kostüm traten ein und lüpften ihre Masken. Es waren
Affia, Panorazia, Angiolina und und ihre Schwester Pippine.
Affla war als sioilianische Bäuerin verkleidet, Panorazia als
Calabresin, Angiolina als vornehme Dame und die kleine Pippina
als Mönch mit Kapuze. So standen sie vor uns, mit puterroten
Wangen, glĂĽhenden Augen und keuchend vor freudiger Erregung.
Angiolina bot uns galant aus einer alten Cigarettensohachtel ver-
zuckerte Erbsen an.
„Ei, wo habt ihr denn diesen wundervollen Staat her?"
Es waren alles blutarme Dinger, die sich glüoklich schätzten,
wenn sie einmal fĂĽr 16 Soldi (= 60 Pfennige) Tagelohn Steine tragen
oder Wolle zupfen durften.
„Affia und ichM, sagte Pancrazia, „haben die Kleider von einer
reichen englisohen Dame, die 'sie extra hat machen lassen, und der
wir eben darin Tarantella vorgetanzt haben".
„L'nd ich1', unterbrach sie die geschwätzige Angiolina, „ich war
bei meiner GroĂźmutter in Mola. Die ist neunzig Jahre. Die hat zwei
kostbare Kleider in ihrer Truhe, so schön! Ihr Brautkleid, das sie
>) Die Fufsboden bestehen im SĂĽden nicht aus Holzdielen, sondern gla-
sierten Tonziegeln.
«) 21 Liier.
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vor siebzig Jahren getragen hat, und ihr Sonntagekleid, davon wollt
ioh eins haben. Aber die Ahne wollte nioht. Das Kirchenkleid soll
nieht entweiht werden, sagt sie und in ihrem Brautkleid will sie sioh
einmal begraben lassen. Das taugte erst recht nioht fĂĽr solch kin-
dischen Tand, sagt sie. Da hat mir meine Tante, die Bäokersfrau, aus-
geholfen".
„Und Du, Pippins?4
Die Kleine funkelte mich mit ihren kecken Sohwarzaugen unter
der weifsen Kapuze lustig an: „Das hab ich und Angiolina aus einem
alten Bettuch zurechtgemacht*1. Darauf nahm sie auch schon den
Saum ihrer weiten Kutte mit den Fingern auf und begann sioh wie
ein Kreisel zu drehen und ihr Körperchen hin und her zu werfen.
Es bedurfte fĂĽr mich keiner weiteren Aufforderung. Wir fĂĽhrten
sie alle vier hinauf in mein Arbeitszimmer, wo das Klavier steht leb
schlug es auf und begann eine Tarantella zu spielen.
Wie auf Kommando hatten sich die vier zum Karree aufgestellt,
und beim ersten Ton tobten sie los; die kleine Pippins tanzte noch
wenigstens zehn Takte allein weiter, nachdem die Musik sohon ver-
stummt war.
Was war gröfser? Ihre Freude oder die wir hatten, das harm-
lose GlĂĽck dieser Naturkinder mit zu geniefsen?
Wie mögen sich die ernsten Bücher in meinem Schrank ge-
wundert haben und der geigende Eremit von Böcklin über dem
Klavier? Nein, mir schiens, als ob er eifriger als sonst mit seiner
Fiedel strioh, und ein freundliches Lächeln über seine Züge ging,
als schätze er sich glücklich, bei dem kleinen Fest mitzuhelfen . . .
Dann bekam jede zur Stärkung einen Sohluok Wein und ein
StĂĽck Kuchen, den die guten Dinger aber nicht verzehrten, sondern
sich einpacken Uelsen, um ihn zu Hause mit den Ihrigen zu teilen.
„Nächstes Jahr arrangieren wir doch wieder einen Ballo publioo?4*
„Ja, und wenn sie auch zwei Bottiglioni austrinken und wenn
es vierzig Ziegel kostet!" —
Himmel und Erde. 19(4 XV. 11
33
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Eine Eigenschaft der grofsen Nebel. Das Titelbild unserer
Nummer stellt den grofsen Amerika-Nebel dar, so genannt, weil er, wenn
man ihn — Norden oben, Süden unten — betrachtet, in seinen Umrissen
genau dem sĂĽdliohen Teil von Nordamerika mit der Halbinsel Florida,
mit Mexiko und dem Nordrand von SĂĽdamerika gleicht Die Abbil-
dung ist nach dem Titelbilde des ersten Bandes der Publikationen des
Astrophysikalischen Observatoriums Königstuhl (Heidelberg) angefertigt,
welches die Reproduktion einer von Wolf am 12. und 13. Juli 1901
zusammen 4h 54 m lang ausgedehnten Aufnahme bringt. Das Centrum
dieses meist ultraviolettes Lioht aussendenden Nebels liegt etwa in
20 h 56 m, 4- 44'/2 °- Die Platte offenbart nun schon beim ersten An-
blick die Eigentümlichkeit, dafs den Rändern des Nebels parallel eine
äufserst sternarme Zone von erheblicher Breite liegt und dafs die
wenigen dort doch auftretenden Sterne den helleren Gröfsenklassen
angehören, also voraussichtlich uns viel näher stehen als der Nebel,
so dafs in dessen Entfernung tatsächlich die Nebelränder eine fast
ganz sternleere Zone berĂĽhren. Im Nebel nehmen die Sterne dagegen
von den Rändern nach der Mitte systematisch zu und zwar gerade
die sohwachen und schwächsten Gröfsenklassen. Diese, wie gesagt,
in die Augen fallenden EigentĂĽmlichkeiten hat Prof. Wolf auch durch
Abzählung der Sterne in Quadraten von etwa 8 Minuten Seitenlänge
durch Herrn Kopff zahlenmäfsig feststellen lassen. Gibt man die
Sternzahlen in diesen Quadraten in graphischer Darstellung wieder,
so erhält man direkt durch die Quadrate mit weniger als 20 Sternen
die Umrisse des Nebels, so dafs man ihn danach zeichnen könnte.
Eine ähnliche Eigenschaft, von stornarmen Räumen — „Sternwüsten"
nennt sie Prof. Wolf — umgeben zu sein, zeigen aber mehrere der
grofsen Nebel, so z. B. der Orion-Nebel, ferner Messier 8 und die
südlich anschließende grofse Nebelmasse (18 h 0m, — 26.° 4), die Nebel
um 7 Scuti, um p Ophiuchi und nördlich von Antares, um 15 Mono-
cerotis, sĂĽdlich von 1 Cephei, bei 1) Ophiuchi, bei r{ Carinae u. a.
B15
Wieder andere Nebel, zu denen z. B. der Andromeda-Nebel, der
Spiral - Nebel im Triangulum (Messier 33), der Crab - Nebel im Stier
gehören, liegen mitten unter den Sternen, ohne deren Anordnung
xu beeinflussen, sind also keineswegs von einer sternleeren Zone um-
zogen. Man sieht also, daTs sioh die Nebel in zwei Kategorien
scheiden; zur ersten gehören die von Sternwüsten umgebenen, welobe
in einem ganz bestimmten Zusammenhang mit denselben stehen mĂĽssen
der nooh daduroh charakterisiert wird, dafs die Nebel nioht genau im
Mittelpunkt, sondern stets mehr nach dem einen Rande der Stern-
wüste hin liegen — der Andromeda-Nebel z. B. nach Nordosten. Diese
Nebel mĂĽssen in gleicher Entfernung mit den Sternleeren angenommen
werden, also auch mit den umstehenden Sternen, weil sonst kein
•Grund vorläge, warum diese nioht über die Sternleeren übergreifen
sollten. Der Andromeda-Nebel hingegen und die anderen seiner Kate-
gorie stehen in viel weiteren Entfernungen als die Fixsterne, die sich
nur auf sie projizieren.
Neun Sterne mit veränderlicher Geschwindigkeit im Visionsradius.
Sowohl auf der Liok-Sternwarte auf dem Mt. Hamilton, wie auf
<ler Yerkes-Sternwarte am Lake Geneva sind ausgedehnte Arbeiten im
Gange, um die Geschwindigkeiten der helleren Sterne im Visions-
radius festzustellen. Alle diese Beobachtungen werden jetzt auf
photographischem Wege erhalten. Ergeben mehrere Aufnahmen des-
selben Sterns nicht stets die gleiche Gröfse der Linienverschiebung,
so gehört der Stern zu den sogenannten spektroskopisohen Doppel-
sternen, da die veränderliche Geschwindigkeit, mit welcher der Stern
sioh nähert resp. entfernt, bisher stets so erklärt wird, dafs der sichtbare
Stern mit einem zweiten Stern, dessen Liohtmenge erheblioh geringer
ist, da sein Spektrum von dem des Hauptsterns ĂĽberstrahlt wird, sich
um den gemeinsamen Schwerpunkt schwingt und dafs die Bahnebene
nicht nahezu senkrecht zur Sehrichtung steht. Zu der Verhältnis-
mäfsig grofsen Zahl schon bekannter spektroskopischer Doppelsterne
werden nun von der Yerkes-Sternwarte ö, von der Liok-Sternwarte
3 neue Entdeckungen gemeldet, während ein Stern, r>* Orion is auf
beiden unabhängig aufgefunden ist. Die folgende Zusammenstellung
enthält zuerst den Namen, dann die Gröfse, dann den genäherten Ort
des Sterns, hierauf die Grenzen, innerhalb weloher die gefundenen
«Geschwindigkeiten liegen, endlich deren Differenz.
33»
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Name
Grofee
Genähert
RA. Deel.
1900
Spielraum der
bisher
beobachteten Ge-
ac h win digkeite n
Differenz
•i Andromedae . .
4
Oh
44 m
+ 40«
32'
— 76 km _J- 49 km
—
125""»
4
4
31
- 0
6
+ 6
4 16
10
4
4
31
- 3
33
4 3
4- 27
24
z* Orionis ....
4
4
46
4 5
26
- 2
.43
45
4
4
49
+ 2
17
- 34
4 73
107
3
5
32
4 21
5
4 2
4 34
32
9 Geminorum . .
6
7
37
4 29
7
4 9
4 74
65
3
8
3
- 24
1
4 42
4 50
8
Bei der Geschwindigkeit bedeutet das negative Zeichen An-
näherung, das positive Entfernung des Sterns. Die Gröfse der Diffe-
renz der bisher beobachteten Geschwindigkeiten kann eine ganz un-
gefähre Vorstellung von den Dimensionen der Bahn des Doppelsterns
geben. Starke Differenzen beweisen entweder eine sehr enge Bahn
oder sehr grofse Massen der beiden Sterne, kleine eine weite Bahn
oder kleine Körper. Die genäherte Dauer der Umlaufszeit läfst sich
aus den bisherigen Messungen nur bei 5 Ceti ermitteln, wo sie etwa
27 Tage betragen mufe, bei ir5 Orionis mufs der Umlauf sich in einer
Zeit vollziehen, die nicht viel von einem Tage abweicht, bei C Tauri
dauert die Periode scheinbar viele Monate.
Nicht in dieselbe Klasse wie die vorstehend erwähnten 8 Sterne
gehört 7j Virginis 4 Gr. (12 h 15-, — 0° 7'). Hier zeigen sich 2
ĂĽbereinandergelagerte Spektren, so dars die beiden Komponenten als
hell angesehen werden müssen, während bei den anderen 8 die eine
Komponente dunkel oder doch sehr schwach leuchtend ist. Und hier
zeigte schon die erste Spektralaufnahme die wahre Natur des Sterns, in-
dem die Linien des einen Spektrums nach dem Violett, die des anderen
naoh dem Rot verschoben waren, wie es sein mufs, da eine An-
näherung des einen Sterns in der Bahn gleichzeitig eine Entfernung
des anderen von uns bedingt. Hier schwanken die bislang beob-
achteten Geschwindigkeiten für den helleren Stern zwischen — 31,5
und -f 3,4 km, für don schwächeren zwischen 4- 42 und 4 63 km.
Von der Lick-Sternwarte wird weiter noch ein Stern mit unge-
wöhnlich grofser Bewegung im Visionsradius gemeldet, tp2 Orionis,
(5 h 31 m, 4- 9° 15'), der sich in jeder Sekunde um 96 km von der
Sonne entfernt.
t
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Ăśber Sichtbarmachung undGrOfsenbestimmung ultramikroskopischer
Teilchen, mit besonderer Anwendung auf Goldrubingliser.
VonH. Sieden topf und R. Zsigmondy (Ann. d. Phys. IV. Folge, Bd. 10. 1903).
Helm hol tz und Abbee haben theoretisch berechnet, data es
nioht möglich ist, mit dem Mikroskop noch Gegenstände zu erkennen,
deren Dimension unter 0,5 p (0,0005 mm) hinabgeht, weil die dann
auftretende Beugung des Lichtes eine ähnliche Abbildung, also ein
scharfes Erkennen unmöglich maoht. Verziohtet man nun auf diese
ähnliche Abbildung, so gelingt es, nooh weit kleinere Körper zu
studieren. Die Verfasser haben solche Untersuchungen an den Gold-
teilchen im Goldrubinglas ausgefĂĽhrt. Die Untersuohungsmethode ist
der Erscheinung nachgebildet, dato die vom Sonnenlioht beschienenen
Stäubohen in einem Zimmer von der Seite her beobachtet werden
können. So wurde Sonnenlioht in das an zwei senkrecht zu einander
stehenden Ebenen geschliffene GlasstĂĽck gesandt, und dann wurden
die von der Seite her beleuchteten Teilchen von oben her betrachtet.
Wenn auoh kein Teilohen mehr vom Mikroskop ähnlich abgebildet
war, so konnte man ihre Zahl doch feststellen, und da aus anderen
Untersuchungen die Masse des im Glase enthaltenen Goldes bekannt
war, so ergab sich unter der Annahme von würfelförmiger Gestalt
auch die Gröfse der Moleküle.
Eine Berechnung der Liohtmenge, die von einem Teilohen, das
duroh Sonnenlioht bestrahlt wird, in das Auge des Beobachters ge-
langt, führt zu dem Resultat, dafs man höchstens Fläohen, deren In-
halt 36 ({ip)2, also Quadrate, deren Seite 0,006 mm ist, auf diese Weise
wird erkennen können. Da nun die kleinsten, nooh beobachteten
Teilohen kleinere Dimensionen ergaben, so schliefsen die Verfasser,
dals die Moleküle hier nioht würfelförmig, sondern lamellenförmig
gestaltet sein mĂĽssen.
Die untersuchten Gläser hatten in 1 omm Glas ca. 7 . 10"6 bis
14 . 10-« cmm Gold, die Gröfse der Teilohen (Länge) betrug 791 up
bis 4 hja, also kommen dabei sehr gröfse Verschiedenheiten vor, die
z, T. davon herrĂĽhren, dafs mitunter mehrere MolekĂĽle einen Haufen
bilden.
f
Ober die Gleichheit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
X-Strahlen und des Lichtes in der Luft hat Blond lot in folgender
Weise Untersuchungen angestellt. (Comptes Rendus 185, 666, 1902.
Physikalische Zeitschrift IV No. 11 S. 310.) Von den Polen eines In-
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618
duktore führen kurze Drähte zu einem Hertzsohen Erreger und einer
Röntgenröhre, die parallel gesohaltet sind. Wenn der Induktor arbeitet,
so spricht zuerst die Röhre an, dann auch der Erreger; in demselben
Augenblick aber, in dem der Erregerfunken ĂĽbergeht, erlisoht die
Röhre. Wird nun neben die Funkenstreoke ein Hertzscher Resonator
gestellt, ein DrahtbĂĽgel, in dem die Hertzschen Wellen kleine FĂĽnk-
ohen erregen, so mülsten die Fünkchen kräftiger werden, wenn die
Funkenstreoke des Resonators von der Röntgenröhre bestrahlt würde;
in der Tat wird aber keine Verstärkung der Funken beobachtet. Die
Reihenfolge ist also folgende: Zuerst gibt die Potentialdifferenz des
Induktors Röntgenstrahlen, dann steigt sie so weit, dafs der Erreger
Funken gibt, dabei erlisoht die Röntgenstrahlung. Während nun im
Funken die Potentialdifferenz des Erregers auf Null sinkt, negativ
wird, wieder auf Null geht u. s. w. entsprechend der oscillatorisohen
Natur des Erregerfunkens, tritt etwas später eine Potentialdifferenz im
Resonator auf, die dort die sekundären Fünkchen liefert. Dafs die
Röntgenstrahlung erloschen ist, wenn der Resonator anspricht, zeigt
sich darin, dafs eine Bleiplatte zwischen beiden Apparaten auf die
Oröfse des Resonatorfunkens nicht einwirkt.
Werden nun aber die Zuführungsdrähte vom Erreger zur Röhre
verlängert, ohne dafs die Apparate selbst versoboben werden, so hört
die Erregung der Röntgenröhre so viel später auf, wie durch die
längeren Zuführungsdrähte bedingt wird. Dann ist aber auoh am
Resonator nooh Röntgenstrahlung vorbanden, wenn in ihm Potential-
differenz existiert, was man an dem kräftigeren Funken des Resonators
und der schwächenden Wirkung einer dazwischen geschobenen Blei-
platte erkennt Wenn man dann die Röntgenröhre weiter vom Reso-
nator entfernt, so bedeutet das ein späteres Erlöschen der Strahlen
an der Funkenstrecke des Resonators; die Strahlen treffen also noch
zu einer Zeit ein, wo die sekundäre Potentialdifferenz am Resonator
gröfser ist, die Röhre wirkt in gröfserem Abstände vom Resonator
kräftiger als in der Nähe. Das Experiment bestätigt diese Vermutung.
Geht man dabei über eine gewisse Länge der Zuführungsdrähte und
einen gewissen Abstand der Röhre vom Resonator hinaus, so ver-
schlechtert man die Einwirkung der Strahlen auf den Resonator, die
Fünkchen werden wieder schwächer. Bei den beschriebenen Ver-
suchen bejrug der Abstand 53 cm, bei dem das Maximum eintrat.
Um nun sohliefsllich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Röntgenstrahlen zu untersuchen, hat Blondlot naoh folgender Über-
legung experimentiert Die Geschwindigkeit, mit der die Elektrizität
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519
die Zuführungsdrähte durchläuft (die bekanntlich gleich der des Lichtes
und der Hertzschen Wellen ist, nämlich 3 . 10 10 om) nennt er u, die der
Röntgenstrahlen o'.
Werden nun jetzt die Zuführungsdrähte um a cm verlängert, so
erlischt die Strahlung am Resonator um -,-sec später; nähert man da-
gegen die Röhre dem Resonator um $ om, so erlischt sie um ? sec
früher. Ist - = -, so wird an der Einwirkung der Röhre auf den
u ĂĽ
Resonator, also z. Ăź. an dem Eintreten des Maximums der Wirkung
<X
der verglichenen beiden Geschwindigkeiten. FĂĽr -, - ergaben sioh
6 88 6 ^
.„„. alflo Werte, die mit hinreichender Genauigkeit
1'|J,0 loa 144
mit 1 übereinstimmen; im Mittel 0,97. — Statt die Zuführungsdrähte
zur Röhre um a cm zu verlängern, wurde naoh einer zweiten Methode
der Resonator durch eingeschobene Orahtstüoke um a om verlängert.
Da der Resonator von Hertzschen Wellen durchlaufen wird, so wird
hierbei das Eintreten des Fünkchens um sec verzögert. Man kann
dann die Röhre um b cm entfernen, so dafs die Strahlen um -T seo
später eintreffen, um jene Störung wieder aufzuheben, und hat
a o
- = Diese Methode ergab den Wert 0,93, einen Wert, der mit
dem zuerst gefundenen genau genug ĂĽbereinstimmt.
Nach der von Wieohert (Wied. Ann. 69, 1896) und Stokes
(Proc of the Cambridge phil. Soc. 9; 125, 1896) aufgestellten Hypothese
über die Röntgenstrahlen treffen die Elektronen der Kathodenstrahlen
auf die Antikathode, und jedes aufprallende Teilchen ruft transversale
Ă„therbewegungen hervor, die sich von spektraler Strahlung dadurch
unterscheiden, dafs sie nioht dauernde Schwingungen des Ă„thers,
sondern diskontinuierliche Impulse sind. — Die vorliegenden Unter-
suchungen von Blond lot bilden eine neue StĂĽtze fĂĽr diese
Hypothesen.
t
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520
Das Problem stereoskopischer Photographie kleiner Gegen-
stände ist von Monpillard in Paris eingehend behandelt worden.
Es ist in der Tat sehr reizvoll, Medaillen, Schmucksachen und anderes
in Naturgröße photographisch und stereoskopisch aufzunehmen. Dato
jedooh wirklich ein Problem vorliegt, erkennt man sofort durch die
Betrachtung der näheren Umstände bei der Aufnahme, die offen-
bar einerseits Objektive von sehr kurzer Brennweite, andererseits aber
wegen der sonst eintretenden perspektivischen Verzeichnungen eine
relativ grofse Entfernung des Apparates vom Aufnahmeobjekt verlangt.
FĂĽr mikrophotographische Aufnahmen ist die Aufgabe bereits mit Erfolg
gelöst. Dafs sie auch für die gewöhnliche Photographie mit Erfolg
behandelt werden kann, bat Monpillard gezeigt, und zwar mit einer
so einfachen Einrichtung! dafs jedem Besitzer eines photographischen
Apparates einmal die DurchfĂĽhrung einer Aufnahme nach seinem
System empfohlen werden kann. Es möge sich hierbei etwa um die
stereoskopisohe Abbildung einer MĂĽnze oder Brosche handeln. Nach-
dem der Apparat mit genĂĽgend langem Balgenauszug in passender
Entfernung vor dem Objekt aufgestellt worden ist, verfährt man weiter
folgendermaßen: Man verdeckt die vordere Objektivlinse zur Hälfte
mit einer schwarzen Pappblende, die am besten drehbar im Objektiv-
ring selbst befestigt ist Beide Aufnahmen werden von derselben
Stelle aus auf zwei Platten mit demselben Objektiv angefertigt, nur
dafs einmal die rechte, dann die linke Hälfte des Objektivs abgeblendet
wird. Bedingung ist, dafs die Blende sich möglichst nahe an der
Vorderlinse befindet. Wie weit das Objektiv sonst abzublenden ist,
entscheiden die Tiefen -Verhältnisse des aufzunehmenden Gegenstandes.
Die von der Platte gewonnenen Kopien werden in bekannter Weise
so montiert, dafs das von der linken Objektivhälfte gelieferte Bild
rechts, das von der rechten Hälfte erzeugte Bild links aufgeklebt wird.
Die Wirkung derartiger Bilder im Stereoskop ist sehr effektvoll.
B. D.
Eine photographische Aufnahme im Dunkeln. Wir wollen
nicht behaupten, dafs die im physikalischen Laboratorium der Urania
hergestellte und nebenstehend reproduzierte Aufnahme irgend eine
photographische Errungenschaft sei, viel weniger noch, daĂź sie einen
besonderen physikalischen Wert besäße. Sie ist eigentlich nicht viel
mehr als eine Kuriosität, die jedoch als Demonstrationsmittel von nicht
zu unterschätzendem Wert ist; zeigt sie doch deutlicher als alles
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521
andere, wie verschieden unser Auge einer gewöhnlichen photo-
graphischen Platte gegenĂĽber arbeitet. Hier stehen sich in der Tat
die Extreme gegenüber. Während das Auge von der zu porträtierenden
Person nicht das Geringste sah — sie befand sich nämlich im Dunkeln
— hat der photographische Apparat die Abbildung in wenigen Se-
kunden zustande gebracht. Unsere photographische Platte, wie wir
sie im Mandel beziehen, ist ja bekanntermaĂźen hochgradig farben-
blind. Sie ist eigentlich auch lichtblind ; denn alles das, was wir in
der Natur als besonders hell sehen, d. h. alles Rote, Gelbe oder GrĂĽne,
wird von ihr so gut wie gar nicht empfunden, dafĂĽr allerdings sieht
sie eine ganze Gruppe von Strahlen, die unserem Auge fremd sind.
Mit derartigen Strahlen wurde das Objekt beleuchtet. Als Lichtquelle
diente eine starke Bogenlampe, deren sichtbare Strahlen jedooh von
der aufzunehmenden Person durch eine sogenannte Wood sehe Platte
abgeblendet waren, die lediglich ultraviolette Strahlen hindurchliefs.
Der Name Ultraviolett deutet schon an, dafs diese Strahlen jenseits
des kurzwelligen Teils des Liohtspektrums zu suchen sind. Allerdings
liefe die Woodsohe Platte aufser den ultravioletten Strahlen auoh
noch ein wenig violettes Licht hindurch, aber in so geringem Mafse,
dafs es auf dem Gesicht des zu Porträtierenden auch dem ausgeruhten
Auge kaum noch erkenntlich war. Auf der Mattscheibe des photo-
graphischen Apparates herrschte völlige Finsternis. Was für das Auge
Dunkelheit war, erschien jedoch fĂĽr die photographische Platte als helles
R22
Lioht; denn die Exposition dauerte nicht länger als 46 Sekunden.
Vielleicht erhält diese Aufnahmemethode einmal in allen den Fällen
einen gewissen Wert, wo es darauf ankommt, die Pupille des Auges
bei voller Ă–ffnung zu photographieren. Wir haben zwei Aufnahmen
des menschlichen Auges beigefugt, von denen die obere bei hellem
Licht, die untere im Dunkeln durch ultraviolette Bestrahlung gewonnen
wurde. B. D.
Telephonie auf weite Entfernungen, System Pupin. Die Dämp-
fung der durch eine Telephonleitung übermittelten Töne der mensch-
lichen Sprache hängt, wie man sohon seit langem erkannt hat, von
einem Bruche ab, in welchem Kapazität (Fähigkeit, elektrische Ladung
aufzunehmen) und Widerstand im Zähler, Selbstinduktion („Trägheits-
widerstand" der elektrischen Masse) im Nenner stehen. Die Selbst-
induktion und der Widerstand werden, Gleichheit der ĂĽbrigen Ver-
hältnisse vorausgesetzt, vergröfsert, indem man den Draht dünner
raacht, die Kapazität dagegen wird verkleinert, da sie von der Ober-
fläche abhängt. Man versuchte zunächst, um eine deutliche Verstän-
digung zu erzielen, den Widerstand möglichst zu verringern, indem
man die Drähte möglichst dick machte. Dadurch vergröfserte man
die Kapazität und verkleinerte die Selbstinduktion, ein Umstand, der
in Freileitungen nicht sehr in Kabeln dagegen außerordentlich stört,
(das den Draht umgebende Isolationsmaterial wirkt vergrößernd auf
die Kapazität, d. h. die Kapazität eines Drahtes in Luft ist stets kleiner
als in irgend einem festen oder flĂĽssigen Isolator). Es gelang schliefs-
lich mit einer Freileitung (Leitung in Luft) von 5 mm Leitungsstärke
bis auf eine Entfernung von 1190 km, mit einem Kabel von 2 mm
Aderstärke nur bis 50 km eine deutliche Verständigung zu erzielen.
Den Freileitungsdraht noch dicker zu machen, war aus ökonomischen
Rücksichten ausgeschlossen. — Sil vanus Thompson und Heaviside
hatten den Gedanken ausgesprochen, dafs es möglich sein müsse, ohne
Veränderung des Widerstandes und der Kapazität durch Vergröfserung
der Selbstinduktion, die ja im Nenner des Bruches steht, der die Dämp-
fung ausdrückt, das gewünschte Resultat zu erzielen, d. h. die Dämp-
fung zu verkleinern. Jedoch war es nicht möglich gewesen, diese
Idee praktisch durchzufĂĽhren, weil man sich nicht klar darĂĽber war,
in welcher Weise die Selbstinduktion erhöht werden müfste. Dies
hat nun der amerikanische Mathematiker Pupin im Jahre 1901 zu-
erst theoretisch angegeben, und seine Berechnungen haben sich glän-
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523
send bewährt Er wies nämlich nach, dafs die Selbstinduktion durch
eingeschobene Spulen vergröfsert werden müsse, und zwar so, dafs
der Abstand dieser Spulen kleiner ist als die Halbwellenlänge der
kĂĽrzesten elektrischen Welle, die durch das Kabel hindurch fort-
gepflanzt werden «soll (dies hat den Zweck, die Ausbildung von
Knotenpunkten elektrischer Wellen zu verhindern, an denen eine die
Übertragung störende Reflexion stattfinden würde). Man kann nun
berechnen, innerhalb welcher Grenzen die Länge der durch telepho-
nisohe Ăśbertragung der menschlichen Stimmlaute erzeugten Wellen
in einem Draht veränderlich ist, also kann man jetzt auoh die Ab-
stände angeben, in denen die Spulen anzubringen sind. Ein auf diese
Weise mit Selbstinduktionsspulen ausgerĂĽstetes Kabel von 162,6 km
Länge ergab z. B. eine Lautstärke, die der eines 32,5 km langen
Kabels ohne Spule entsprach, also den fĂĽnffachen Effekt Duroh prak-
tische Vervollkommnung der Methode hofft man in kurzem eine Ver-
ständigung auf mehrere tausend Kilometer zu ermöglichen — vor-
läufig zu Lande, denn noch sind die technischen Schwierigkeiten bei
der Legung eines mit Spulen ausgerĂĽsteten Unterseekabels unĂĽber-
windlich. Dr. M. v. P.
Die Frage nach dem Ursprung der Petroleumlager ist ihrer
Lösung näher geführt worden durch eine Untersuchung, die G. Krämer
und A. Spilker ĂĽber Diatomeen angestellt haben. Bei Ludwigshof
in der Uckermark befindet sich ein Diatomeenlager von ca. 7 m Mäch-
tigkeit in einer Ausdehnung von 900 ha, ĂĽberdeckt von Torf, als
Boden eines abgelassenen Sees. Die Diatomeenerde ist graubraun,
krĂĽmelig, wasserhaltig und fĂĽhlt sich fettig an. Getrocknet wird sie
hornartig und wurde als Dung verwendet. Das Fett dieser, unter
dem Mikroskop nooh wohl erkennbaren Diatomeen erkannten die ge-
nannten Forscher als verwandt dem galizischen Erdwachs Ozokerit
Zieht man die getrocknete Diatomeenerde mit Benzol oder Toluol aus,
so erhält man eine dunkle, paraffin artige Substanz, die vom Erdwachs
kaum zu unterscheiden ist Wird dieses Diatomeenwachs unter Druck
destilliert so erhält man ebenso wie aus Erdwachs hierbei ein dem
Petroleum ähnliches Produkt; wobei freilich zwischen diesen Destil-
lationsprodukten unter sich und dem Rohpetroleum einige Unterschiede
bestehen.
Bisher war man der Meinung, dafs die Petroleumlager dadurch
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524
entstanden seien, dafs beim Absterben gröfserer Tiermengen im Meere
das Fett sioh erhalten habe und durch den Druck der darĂĽber ge-
lagerten Erdmassen und der Erdwärme in Petroleum übergeführt sei.
Dieser Annahme ist die aus der skizzierten Untersuchung sich er-
gebende Vermutung, dafs das Material zu den Petroleumlagern von
Diatomeen geliefert sei, unendlich ĂĽberlegen durch das Mafs der
gröfseren Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Bolchen Lagern
von Diatomeenwachs gegenĂĽber der Entstehung von Lagern tierischen
Fettes. A. 8.
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Ăśbersiebt der Himmelserscbeinungen fĂĽr
September - Oktober - November.
Mit dem Beginn der Herbstmonate werden die Nachte wieder länger, und
die Anzahl der klaren Abende ist verhältniHmäfBig am gröfsten. Sind zu An-
fang an hellen Sternen nur Wege und Atair am Himmel, so erscheinen getreu
Ende dieser Zeit auch die Wintersternbilder wieder. Bootes, Krone und
Schlange sind im September noch am Abendhimmel aufzufinden; mit ihnen ver-
schwinden dann Ophiuchus, Herkules, SchĂĽtze, Leyer und Adler nacheinander,
während Andromeda, Perseus, Walfisch, Stier, Orion und Zwillinge wieder für
die Nacht sichtbar werden. Im Zenith finden sich Cepheus. Cassiopeja, Per-
seus und Fuhrmann. Zur Orientierung dienen folgende, um Mitternacht nach
Berliner Zeit kulminierende Sterne:
1. September ^ Pegasi (3. Gr.) (AR. 22* 38», D. +29« 43')
6.
a Pegasi
(2. Gr.)
23
0
+ 14 41
22.
et Andromed (2. Gr.)
0
3
+ 28 33
1. Oktober
Ăź Ceti
(2. Gr.)
0
39
18 31
11.
tt Ceti
(8. Gr.)
1
19
8 41
19- ,
Ăź Arietie
(3. Gr.)
1
49
+ 20 20
28.
c* Ceti
(4. Gr.)
2
23.
+
8 2
5. November
a Ceti
(2. Gr.)
2
57
3 43
13.
t Eridani
(3. Gr.)
3
28
9 47
20.
^ Eridani
(3. Gr.)
3
54
13 47
29. .
i Tauri
(1. Gr.)
4
30
+ 16 19
An veränderlichen Steraen sind zur Beobachtung geeignet und erreichen
zum Teil ihre grob
Le Helligkeit:
S Ceti (Helligk. 8. Gr.) (AR
Oh 19«, D- 9» 52') Max. Sept. 14.
U Cephei (
. 7- - 9-
* /
0
54
+ 81
21
Algoltypus.
U Andromedae (
, 9.
m )
i
10
+ 40
12
Max. Sept. 9.
ĂĽ Persei (
9.
• )
1
53
+ 54
21
Max. Nor. 22.
R Ceti (
. 8.
â– )
2
21
0
37
Max. Sept30.
U Ceti (
7.
* )
2
29
- 13
34
Max. Sept. 2.
Y Persei |
9.
3
20
+ 43
50
Max. Okt. 15.
R Persei (
9.
n )
3
24
+ 35
20
Max. Sept. 11.
>. Tauri (
3. - 5.
» )
3
55
+ 12
13
Algoltypus.
V Tauri (
9.
M )
4
46
+ 17
22
Max. Nov. 28.
W Aurigae (
9.
5
20
36
49
Max. Okt. 24
W Gemin. (
7.
n I
6
29
+ 15
26
Kurze Per.
R Ursae maj. (
. 7.
i )
10
38
+ 69
17
Max. Okt 6.
T Ursae maj. (
8.
* }
12
32
+ 60
1
Max. Sept. 16.
S Ursae maj. (
8.
n )
12
40
+ 61
37
Max Sept. 25.
R Camelop. (
8.
m )
14
24
+ 81
16
Max. Okt. 29.
W Lyrae (
. 9.
« )
18
11
+ 36
37
Max Okt 30
R Cygni (
. 7.
" )
19
34
+ 19
58
Max. Sept30.
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526
RT Cygni
(Helligk. 7.
Gr.) (AR. 19 »> 41 ™, D
+ 48
32
Max. Okt. 23.
/ Cygni
(
r
6.
. )
19 47
+ 32
40
Max. Okt. 24.
T Delphioi
(
1
9.
- )
20 41
+ 16
2
Max. SopL 14,
Y Cygni
(
B
7. -
8- „ )
20 48
+ 34
17
Algoltypus.
8 Cephai
(
n
8.
- )
21 36
+ 78
11
Max. Not. 25.
V Pegasi
(
8.
» )
21 56
+ 5
39
Max. Not. 7.
R Cassiopejae
(
n
6.
- )
23 53
+ 50
51
Max. Okt 30.
W Ceti
(
i>
9.
. )
23 57
- 15
13
Max. Okt 12.
Die Planeten. Merkur, erat reohtläuflg, dann rückläufig in der Jung-
frau, und wieder rechtläufig in Wage und Skorpion, ist ale Abendstern am
7. September 27° Ton der Sonne entfernt wahrnehmbar; am 19. Oktober als
Morgenstern 18° Ton der Sonne und kommt am 23. November nahe an ß Scor-
pii. Venus, im September rückläufig im Löwen, wird Anfang Oktober wieder
reohtläuflg in der Jungfrau, wird im Oktober Morgenstern, strahlt am 24. Ok-
tober im gröfsten Glanz und hat am 28. November einen Abstand von der
Sonne von 47°. Mars, rechtläufig in Wage, Soorpion und Schütze, ist nur
abends kurze Zeit zu beobachten, kommt am 24. Oktober auf 1 9 an Uranus
heran. Jupitor, rückläufig im Wassermann, ist anfangs bis in die Morgen-
stunden, im November bis Mitternacht zu sehen. Saturn, erst rückläufig,
dann rechtläufig im Steinbock, ist in der ersten Zeit bis nach Mitternacht,
Endo November nur noch in den Abendstunden wahrnehmbar. Uranus, recht-
läufig im Sohützen, ist noch bis Ende Oktober am westlichen Himmel aufzu-
finden. Neptun, bei p Geminor um, geht im September um Mitternacht auf,
ist später die ganze Nacht sichtbar.
An Meteorschwärmen sind zur Beobachtung zu erwähnen ein Schwärm
aus der Gegend von »Orion, 3 Tauri und ßGominorum, der vom 19. — 25. Ok-
tober bisweilen sehr reichlich auftritt Ferner die Leoniden, 13.— 14. Novem-
ber, aus der Gegend von ^ und n Leonis. Um den 23. November treten Meteore
aus der Andromeda auf.
Sternbedeckungen durch den Mond (Bichtbar fĂĽr Berlin):
Eintritt
Austritt
6. Septbr.
» Aquarii
(4. Gr.)
4h
22 m frĂĽh
18. „
i Cancri
(4.
2™
46
3h
29 m
frĂĽh
29.
p' Sagittarii
(4.
H /
5
9 abends
6
27
abends
10. Oktober
Anonyma
(5.
■» /
7
6 -
7
47
-
10. „
a Tauri
(1.
1» '
9
10 .
10
6
13. „
68 Geminor.
(5.
y> )
10
32
11
24
1. Novbr.
Anonyma
(5.
it )
1
28 frĂĽh
2
28
frĂĽh
4- „
ÂŁ Arietis
(5.
T> )
7
42 abends
8
17
abends
6- .
a Tauri
(1.
n /
8
17 .
III Tauri,
(5.
». J
0
26 frĂĽh
0
52
frĂĽh
9.
?. Geminor.
(4.
** /
9
33 abends
10
24
abends
10.
68 Geminor.
(5.
» }
5
24 frĂĽh
6
13
frĂĽh
14. „
75 Leonis
(5.
r> I
4
34 .
5
24
r
Am 20. September findet eine fĂĽr Berlin nicht sichtbare Sonnenfinsternis
statt; dagegen isl die partielle Mondfinsternis am 6. Oktober teilweise sichtbar.
Sie beginnt mittags 2^ 34 und endet 5 h 48«. Es wird 0.87 des Monddurch-
messers verfinstert.
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527
â– viia.
Berlii
»er Zeit
Vollmond
am 7. Septbr.
Aufg.
6b
38
m abends
Unterg.
5h 41 n> frĂĽh
Letztes Viert.
, U. „
10
30
abends
n
M
28
III 4 EL o
Neumond
» 21. .
n
5
53
frĂĽh
H
6
7
abends
Erstes Viert
■28. „
M
1
36
mittags
H
10
27
abends
Vollmond
, 5. Oktober
5
29
abends
«
5
42
frĂĽh
Letztes Viert
, 13. „
10
28
abends
1
13
mittags
Neumond
â– 20. .
â–
6
3
frĂĽh
•
5
1
abends
Erstes Viert
â– 28.
1
26
mittags
â–
11
8
abends
Vollmond
„ 6. Novbr.
â–
4
47
abends
6
55
frĂĽh
Letztes Viert
. 12. „
Jt
11
59
abends
1
12
mittags
Neumond
. 19. „
1
7
19
frĂĽh
•
4
39
abends
Erstes Viert.
. 27. „
»1
0
48
mittags
•
Erdnähe 19. September
16. Oktober
10. November.
Erdferne
3. September
30. September 28. Oktober
25. November.
Sonne. Sternzeit f. den Sonnenaufg. Sonnen unterg
mittl. Berl. Mittag. Zeitgleichung. fĂĽr Berlin.
1. September
10 h
37"
44.9«
+
0<B
15.1 â–
5h
10m
6h
49 m
8.
U
5
20.7
2
1.7
5
21
6
33
15.
11
32
56.6
4
27.6
5
34
6
16
22. .
12
0
32.5
6
55.4
5
45
6
0
1. Oktober
12
36
1.4
9
58.7
6
1
5
38
8. .
13
3
37.3
12
7.7
6
13
5
22
15.
13
31
13 2
13
56.3
6
25
5
6
22. .
13
58
49.0
15
17.7
6
38
4
51
1. November
14
38
14.6
16
17.3
6
56
4
31
8.
15
5
50.4
16
13.5
7
9
4
18
15.
15
33
26.3
15
28.2
7
22
4
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22.
16
1
2.2
14
1.1
7
34
3
57
30.
16
32
34.6
11
34.5
7
47
3
49
R
Verzeichnis der der Redaktion zur Besprechung eingesandten Bacher.
Abhandlungen des Kgl. PreuĂźischen Meteorologischen Instituts. Bd. I No. 3.
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Weiss. Wien, Bd. XIV, 1900 und Bd. XVII, 1902.
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528
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warte zu Wien. Der neuen Folge 22. Jahrgang. Wien, Carl Geroida
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Astronomisches Lexikon. Auf Grundlage der neuesten Forschungen, be-
sonders der Ergebnisse der Spektralanalyse und Himmelsphotographie,
bearbeitet von August Krisch. Lieferung 11—20.
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see-Expedition von Carl Chun. II. Auflage. Lieferung 1 — 12. Jena,
Gust. Fischer.
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Farbendruck, 135 Abbildungen und einer Karte. III. vermehrte Auflage.
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unterricht entwickelt und mit Rechnungsergebnissen versehen. Sorau,
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schweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1903.
Bludau, A. Neue zeitgemäße Bearbeitung von Sohr-Berghaus' Handatlas
ĂĽber alle Teile der Erde Unter Mitwirkung von Otto Herkt. Neunte
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und 19 Textabbildungen. Leipzig, B G Teubner. 1903.
(Schlu fs folgt.)
Y.rl»g: H*nn»an PmUI Ii B*rl«. - Dreck: Wilhelm Groo*n'. Bvchdneketel In Berlin - 8cb0n«b«g.
Fttr die BedMtion venuitwortlicb s Dr P. Sehwahn in Berlin.
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Titelkupfer der „Machina Coelestis".
Johannes Hevelius.
Ein Lebensbild aus dem XVII. Jahrhundert
~ von Ludwig GĂĽnther-FĂĽrsten walde.
C<^AZ\/enn man Umschau hält in den Blättern der Geschichte, sei es
Mrg^ nun in denen der Welt, der Literatur, der Wissenschaft oder
welcher immer, so kann man sich des Gedankens nicht er-
wehren, dafs in ihnen zuweilen einzelne Figuren auftreten, gleichsam
Vorbilder, die so anlockend sind, dafs jeder nach ihnen streben
möchte, sie aber doch nie und nimmer erreichen kann.
Als eine solche „Figur" ist mir immer Johannes Hevelius
vorgekommen, ein Mann, der als Gelehrter, KĂĽnstler und Gewerbe-
treibender, zugleich ausgezeichnet mit den edelsten Charaktereigen-
schaften, im XVII. Jahrhundert in seiner Vaterstadt Danzig ein vorbild-
liches und befruchtendes Leben fĂĽhrte.
Es sohien mir eine dankbare Aufgabe, den Spuren dieses Mannes
nachzugehen, umsomehr als die Nachrichten ĂĽber sein Leben nur
spärlich fliefsen, die Arbeit also des Reizes des Neuen nicht entbehrt.
Was ich fand, ist wohl geeignet, uns Deutsche stolz auf unseren
Landsmann zu machen, und wert, einem grosseren Leserkreise vorge-
tragen zu werden.
Hevelius entstammt einer angesehenen und wohlhabenden
Brauerfamilie Danzigs, wo er am 26. Januar 1611 geboren wurde.
Seine Eltern, der Bierbrauer Abraham Höfelcko*) und dessen Ehe-
•) So findet man den Namen in Dokumenten des altatädtischen Gerichts
zu Danzig; daneben kommt aber auch die Schreibweise Hö wel ke, Hövellius
vor. Er selbst schrieb sich in dem 163!> errichteten Testament: Hans Höwelcke;
in einem Stammbuch aus dem Jahre 1631 unterzeichnete er sich: Johannes
Höffeli us Dantiscanus, in seinen Schriften aber, nach der Sitte der damaligen
Gelehrten, mit seinem lateinisierten Namen: Hevelius. In seiner Leichen-
Himmel und Eni«. 1908. XV. Ii 34
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530
frau, eine geborene Heck er, waren einfache, arbeitsame Leute, die
dem für damalige Verhältnisse ausgedehnten Brauereibetrieb auf
Pfaffenstadt, mit welchem auch eine Trinkstube und ein Stadtausschank
verbunden waren, mit emsigem Fleifee vorstanden. Inmitten dieser ge-
werblichen Tätigkeit und eines regen geschäftlichen Treibens und ge-
selligen Verkehrs wuchs der begabte, mit hellsehenden Augen in die
Welt blickende Knabe mit mehreren Schwestern auf. Seine Eltern, die
den höher strebenden Geist ihres Sohnes nicht durchschauten, schickten
ihn in die Elementarschule, damit er sich fĂĽr die Erlernung des
väterlichen Gewerbes und den Kaufmannsstand vorbereite. Doch nicht
lange begnügte er sich mit dieser Tätigkeit, die das Leben manches
anderen ausgefüllt hätte; er sehnte sich danach, seine Bildung zu
vervollständigen, und bezog mit Einwilligung seiner Eltern, die der
geheime Wunsch, ihren Liebling dermaleinst auf dem Ratsherrnstuhl
zu sehen, nachgiebiger machte, 1H27 das akademische G3'mnasium, an
dem besonders Peter CrĂĽger sein Lehrer wurde. CrĂĽger war 1580
in Königsberg geboren und lebte von 1(>07 an als Professor der Mathe-
matik und Poesie zu Danzig. Neben seiner Lehrtätigkeit beschäftigte
er sich besonders mit der Astronomie und der Mechanik; er war ein
begeisterter Anhänger der Lehre des Copernicus, des weisen Dom-
herrn von Frauenburg, der die Sonne in den Mittelpunkt der Welt
gesetzt und der Erde ihre Bahn um dieselbe angewiesen hatte, und
mit Eifer verkĂĽndigte er die Himmelsgesetze des groben Kepler, die
gerade damals die ganzo gelehrte Welt in Erstaunen setzten. Dabei
besafs er grofse Fortigkeit in allen mechanischen KĂĽnsten, konstruierte
Sonnen- und andere Uhren, Himmelsgloben, Annillarsphären u. s. w.
und war im Bau von Fernrohren bewandert, wozu er die Gläser
selbst schliff.
Dafs ein solcher Mann einen tiefen und nachhaltigen Eindruck
auf den für alles Schöne und Erhabene begeisterten Jüngling machen
mufste, war gewifs, und auch der Lehrer hatte seinen wiĂźbegierigen
SchĂĽler in sein Herz geschlossen und fĂĽhrte ihn in alle Mysterien
der damaligen Naturbegriffe ein. Oft safsen sie zusammen in der
mit allerhand wunderbaren Instrumenten, Sammlungen von Naturalien
und BĂĽchern vollgepfropften Klause CrĂĽgers in der Frauengasse zu
Danzig, und unser Johannes lauschte begeistert den Lehren seines
Freundes.
predigt wird neben diesem lateinischen auch der deutsche Name Hevelke
gebraucht, den auch die heute noch lebenden Nachkommen rĂĽhren. Die neuere
AbkĂĽrzung Hevel, die man in einigen astronomischen BĂĽchern findet, ist
ganz ohne Beleg.
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53 1
Wenn dann die Gestirne am Himmelszelt aufzogen und der
Mond voll und rund durch die stille Nacht dahinwandelte, sprach
CrĂĽger von den Geheimnissen des Weltalls und weckte in seinem
Johannes Hevelius.
SchĂĽler die lange unterdrĂĽckte Sehnsucht nach AufschlĂĽssen auf dum
damals noch so dunklen und verkannten Gebiete der Astronomie.
In der weltentrĂĽckten, kleinen Giebelstube hat Hevelius das Samen-
korn empfangen, das sich später zu so schöner Blüte entwickeln sollte.
532
Doch Einfalt und Unverstand seiner Sippschaft griffen auch in sein
Leben ein und zerstörten zunächst seine hochfliegenden Wünsche.
Seine Eltern suchten ihn von einer Wissenschaft, die man fĂĽr un-
fruchtbar und brotlos verschrie, zurĂĽckzuhalten und schickten ihn,
damit er das geschäftliche Leben und Treiben anderer Länder kennen
lerne, auf die Wanderschaft; Hevelius besuchte Holland, England,
Frankreich und Deutschland. In Holland studierte er auf Wunsch seiner
Eltern, die die Erlangung einer Ratsherrnstelle fĂĽr ihren Sohn nicht
aus den Augen liefsen, ein Jahr lang auf der Akademie zu Leyden
besonders Rechts- und Verwaltungsfäoher; daneben wird er aber seine
Lieblingswissenschaften nicht vernachlässigt haben. Das Kunstleben
in Holland zog ihn mächtig an, und hier wird er die Fertigkeit in der
Kunst des Kupferstechens und der Buchdruckerei erworben haben,
von der er bald, wie wir sehen werden, einen so genialen Oebrauoh
machte. In England und Frankreich befreundete er sich mit den
bedeutendsten Astronomen damaliger Zeit, u. a. mit Wallis, Boullion
und besonders mit Gassend i, jenem ausgezeichneten Gelehrten, der
trotz mancher Anfeindung die FĂĽhrung auf astronomischem Gebiete in
Frankreich hatte. Gassendi gelang gerade damals die Beobachtung
des von Kepler vorausbestimmten VorĂĽberganges des Planeten Merkur
vor der Sonnen Scheibe, eine astronomische Erscheinung, die nicht
verfehlte, die ganze Aufmerksamkeit des jungen Hevelius zu fesseln.
Auch mit den Entdeckungen eines Tycho Brahe, eines Kepler
und Galilei machte Gassendi ihn vertraut. Alles dieses brachte den
Wunsch in Hevelius zur Reife, den Unterricht Galileis zu ge-
niefsen, der nach dem Tode Tychos und Keplers als Stern erster
Gröfse am astronomischen Himmel glänzte und in Rom, wo er vor
dem Inquisitiqpsgericht die grofse Wahrheit von der Bewegung der
Erde verteidigte, eine grofse Schar von SchĂĽlern um sioh ver-
sammelt hatte.
Allein wieder griff das Schicksal rauh in sein Leben ein; wohl
infolge nach Hause gelangter Nachrichten ĂĽber ihn wurde Hevelius,
noch ehe er in Rom anlangte, heimberufen, und so kehrte er als ge-
horsamer Sohn nach vierjähriger Abwesenheit im Jahre 1634 nach
Danzig zurĂĽck.
In seiner Heimat gab er sich vorerst praktischen Tätigkeiten hin
und suchte sich in den Brauereibetrieb seines Vaters einzuleben,
was ihm vermöge der erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen so
gut gelang, dafs er schon im nächsten Jahre daran gehen konnte, sich
einen eigenen Hausstand zu grĂĽnden. Er verheiratete sich mit
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.133
Katharine, der Toohter des wohlhabenden Kaufherrn Johann Re-
beschke. Die Mittel, welche er durch diese Ehe erhielt, zusammen
mit dem reiohen Erbe, das ihm durch den bald darauf (wahrschein-
lich 1638) erfolgten Tod seiner Eltern zufiel, wozu auch die Brauerei
gehörte,*) setzten Hevelius nunmehr, wo auch die äufseren Hinder-
nisse, die ihm die Verwirklichung seiner Pläne erschwert hatten, fort-
fielen, in den Stand, sich den Wissenschaften frei und ohne Beschrän-
kung widmen zu können, angefeuert durch seinen alten Lehrer C rüg er,
der ihm nooh auf dem Totenbette das Versprechen abgenommen hatte,
der Astronomie seine beste Kraft zu weihen.
Er begann zunächst damit, einen für damalige Zeiten wertvollen
Schatz von astronomischen Instrumenten zu sammeln und selbst anzu-
fertigen, um mit diesen von dem Dachfenster seines Hauses aus den
gestirnten Himmel und den Mond zu beobachten. Dooh lange reichte
diese primitive Einrichtung fĂĽr seinen wissenschaftlichen Eifer nicht
aus. Auf seinen nebeneinander liegenden Häusern auf Pfaffenstadt
errichtete er eine Sternwarte, die nach dem Urteil von Zeitgenossen
der Oranienburg Tyoho Brahes auf der Sundinsel Hveen wenig nach-
gestanden haben soll. Sie enthielt eine treffliche Bibliothek, mehrere
Arbeitszimmer, eine Menge Instrumente und physikalische Apparate,
einen Himmelsglobus und einen ihm von der Stadt Danzig ĂĽber-
wiesenen, ursprünglich für seinen (163« verstorbenen) Lehrer Crüger
bestimmt gewesenen, grofsen Azimuthai-Quadranten; ferner eine Buch-
druckerei, Glasschleiferei, ein Laboratorium und endlich Werkstätten
fĂĽr Kupferdruck und Mechanik. Ausserdem stellte er draufsen vor dem
Hohen Tore unter freiem Himmel ein grofses 150 Fufs langes, selbst-
gefertigtes Fernrohr auf, mit dem er die Sonne und besonders den Mond
beobachtete. Nach den uns hinterlassenen Zeichnungen war dasselbe
ein offenes, in der Art des H ersehe Ischen gebautes Teleskop und an
einem starken Mastbaum befestigt, an welchem es an FlaschenzĂĽgen
aufgezogen und mittelst sinnreicher Vorrichtungen nach allen Himmels-
richtungen gedreht werden konnte. Das Objektiv dieses Fernrohrs
wird noch heute als ein Zeichen der Kunstfertigkeit des Hevelius im
Qlasschleifen von der .Naturforschenden Gesellschaft" in Danzig ge-
zeigt — Diese Sternwarte war eine Sehenswürdigkeit des damaligen
Danzig, man staunte sie an wie derzeit die Wunder der Uranienburg,
und brachte dem Schöpfer des Werkes Bewunderung und Anerkennung
*) Noch gegenwärtig wird in demselben Hause auf Pf Affenstadt, der am
altstäd tischen Rathatise vorbeiführenden Hauptstrasse Danzigs, von einem
Brauherrn Meyer dasselbe Gewerbe betrieben.
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dar. „Aufser vielen namhaften Gelehrten1', heifst es in einer Chronik,
„besuchten zwei Könige von Polen, alle Gesandten, die den Olivaer
Frieden abschlössen, und viele andere Grofsen diese Werkstatt der
KĂĽnste und Wissenschaften."
Hier nun in seiner selbstgeschaffenen Welt, seiner „Stellaburgunr,
wie er sie nannte, entfaltete Hevelius eine bewunderungswĂĽrdige
Tätigkeit. Wenn man die stattliche Reihe seiner Werke übersieht, so
mute man wirklich erstaunen ĂĽber die Summe der Arbeit, die der
einzelne Mann mit zäher Energie bewältigte. Nicht allein, dafs ei-
serne auf eingehenden Studien, Berechnungen und in einsamen
Nächten ausgeführten Beobachtungen beruhenden Werke konzipierte,
er druckte sie auch, nur von wechselnden Gehilfen unterstĂĽtzt, mit
eigener Hand auf der Presse, wie er auch die zahlreichen, zum Teil
prachtvoll kolorierten Kupferstiche, die er seinen Werken beigab,
selbst stach und druckte. Wir erfuhren darĂĽber von ihm selbst aus
einem Brief aus dem Jahre Hüll an einen Freund: „Üit; Figuren alle
miteinander", schreibt er, „welche in meiner Selenographia, Epistola
und Dissertatione de nativa Saturni facie vorhanden, sind gar nicht
geätzet, sondern habe sie alle mit meiner Hand geschnitten, gehet
zwar viel langsamer zu, ist auch viel mĂĽhsamer, aber man kann alles
viel reinlicher zu wege bringen. Auch alle Figuren, die in meine
Cometographiam und macbinam coelestem hinein sollen, deren ein
grofser numerus, gedenke ich wils Gott Selbsten zu schneiden, wozu
aber viel Zeit gehört."
Und diese ,,Figurentk sind nicht platte, schematische Darstellungen,
wie man sie in anderen gleichzeitigen Werken findet, sondern zeich-
nerisch und technisch kunstvoll durchgefĂĽhrte Meisterwerke. (Siehe
die Kupferstiche auf Titelblatt u. S. .r)35). Man raufs ein solches kolo-
riertes, besonders ein sogen. Geschenkexemplar, wie es sich u. a. in der
Familie Broen in Danzig von der „Machina Coelestis" erhalten hat, ge-
sehen haben, um die ganze Schönheit der Ausführung zu verstehen.
Über all diesen Arbeiten vernachlässigte He vel ius seine ge-
schäftliche Tätigkeit keineswegs. Er trat der Brauerzunft bei und
ĂĽbte seinen Beruf mit grofser Sachkenntnis aus. Bald war er im
Brauhaus, bei Bereitung des Bieres Anordnungen gebend, bald in
den Kellern und Lagerräumen, Malz und Hopfen prüfend und den
Versandt leitend; ĂĽberall sah er nach dem Rechten, und in der Trink-
stube war er seinen Gästen ein aufmerksamer Wirt, ein munterer
Gesellschafter, der fröhliche Reden und «-inen guten Trunk liebte.
Seinen Arbeitern war er ein treu sorgender Herr, und sein familiärer
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535
Ă–36
Verkehr mit seinen Leuten war sprichwörtlich geworden. Eine Anek-
dote von ihm hat sich bis auf den heutigen Tag im Volksmunde er-
halten: Wenn die Arbeiter ihre Löhnung erhalten hatten, dann ent-
fernten sie sich immer mit den Worten: ,,Herr Hevelke nu goane
wi!w Diese Redensart hatte sich ein kluger, in der Schreibstube ge-
haltener Papagei gemerkt, und so kreischte dieser dann auoh dieselben
Worte, als ihn eines Tages die Katze gepackt hatte. —
Aufser der Brauerei besafs er noch vor dem Olivaer Tor un-
weit der Stadt auf der sogenannten Ziegelscheune eine einträgliche
Stuterei, deren Betrieb ihn besonders mit der ländlichen Bevölkerung
in Berührung brachte. Diese weitverzweigte Tätigkeit hinderte ihn
nicht, auch die ihm von der Stadt ĂĽbertragenen Ă„mter auf seine
Schultern zu nehmen. 1641 wurde er als Schöffe und später als
Ratsherr der Altstadt gewählt; 37 Jahre, bis zu seinem Tode, hat er
dieses Amt in treuester PflichterfĂĽllung, gern und willig Rat und
Tat spendend, verwaltet; die alten Akten auf dem Rathause zu Danzig
erzählen von manchem Dienst, den der „Brauherr Höfelcke" seiner
Stadt geleistet hat. Auch als Mitglied der Königl. Societät der Wissen-
schaften in London wurde er aufgenommen, und unterhielt mit der-
selben, wie mit vielen anderen Gesellschaften, hohen Persönlichkeiten
und Gelehrten einen ausgedehnten Briefwechsel.
Nach 6 jähriger angestrengtester Arbeit gab er sein erstes Werk
heraus: „Selenographia", eine Beschreibung des Mondes mit zahl-
reichen Karten sowohl der ganzen sichtbaren Halbkugel als auch
einzelner Phasen. Wenn das Werk auch später, wo man mit so ver-
vollkommneteren Instrumenten arbeitete, von anderen ĂĽbertroffen ist, so
gilt es doch noch heute als eine wirkliche und volle Anerkennung
wĂĽrdige Leistung der Wissenschaft Er widmete dieses Werk, das
seinen Ruhm begrĂĽndete, der Stadt Danzig, die ihn dafĂĽr mit Ehren
überhäufte. Exemplare davon fanden nicht nur ihren Weg in die
Studierstuben der Gelehrten und in die Universitäten, sondern wurden
auoh von Königen und Fürsten begehrt. Ludwig XIV. setzte dem Ver-
fasser aus eigener Entschliofsung mit einem gnädigen Schreiben eine
ansehnliche Pension aus, die er auch bis zu seinem Tode genofs, und
selbst der Papst mufste gestehen, das Werk wäre unvergleichlich zu
nennen, wenn es nicht von einem Ketzer geschrieben wäre! Ein Lob-
gedicht, das ihm gewidmet war, nimmt auch Bezug auf seine Kunst-
fertigkeit: „Quae vidit, sculpsit: mente manuque valens!u —
Ks wĂĽrde den Rahmen eines Lebensbildes weit ĂĽberschreiten,
wollten wir auf die zahlreichen, zum Teil sich auf rein theoretischem
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537
Gebiete bewegenden astronomischen Werke unseres Hevelius näher
eingehen. Wir müssen uns hier darauf beschränken, zu bemerken,
dafs sie sich über fast alle Gegenstände der wissenschaftlichen Himmels-
forschung erstrecken und ein sehr reichhaltiges Material darbieten.
Die Saturnsgestalten, Venusphasen, Sonnenflecke, Kometen, die neuen
Sterne u. s. w., alles dieses und noch manches andere findet sioh in
Beobachtungen, Erklärungen und Berechnungen in seinen Werken
der staunenden Nachwelt aufbewahrt. AusfĂĽhrliche Zeichnungen suchen
über das Beobachtete näher aufzuklären. So beschreibt und zeichnet
er, um nur eins aus der grofsen Menge herauszugreifen, ein Phänomen
von Ringen und Nebensonnen, das eins der vollständigsten gewesen
sein murs, was man je gesehen, und wo gleichzeitig sieben Sonnen
in den Durchschnittspunkten der Ringe erscheinen. Auch neue Stern-
bilder hat er aufser den topographischen Bezeichnungen der Gebilde
auf der Mondoberfläche eingeführt; sein Fixsternkatalog ist einer
der vollständigsten, die wir besitzen und weit reichhaltiger als der
des berühmten dänischen Beobachters auf der Uranienburg Tycho
Brahe. Die Zeichnungen, die er uns von den in seiner Zeit er-
schienenen Kometen hinterlassen hat, füllen hunderte von Blättern.
Zur Auffindung interessanter Himmelsobjekte sparte er weder
MĂĽhe noch Kosten, und damit ihm nichts entging, hielt er eigene
Wächter, die, einander ablösend, den Nachthimmel auf alles Bemerkens-
werte oder Neue beobachten muteten, um ihn dann sofort zu wecken
und ĂĽber das Gesehene zu berichten.
Wenn ich bisher nioht auf das Familienleben dieses merkwĂĽrdigen
Mannes eingegangen bin, so habe ich der Not gehorohen mĂĽssen, nicht
dem eigenen Triebe. Die Nachrichten darĂĽber fliefsen, wenigstens fĂĽr
den ersten Absohnitt seines ehelichen Lebens, gar spärlich: wir erfahren
nur, dafs seine Ehe kinderlos blieb und dafs Katharine, sein „Ehe-
gesponst", am 10. März 1662 naoh einem „Gottgefälligen Leben" das
Zeitliche segnete, nachdem sie ihrem „Ratsherrn** 27 Jahre lang eine
„trew sorgende Hausfrawe" gewesen war. Im Jahre 1663 heiratete
Hevelius in zweiter Ehe die Tochter des Krämers Koopmann,
Margarethe, eine sowohl durch klaren Verstand als auch durch
tiefes GemĂĽt ausgezeichnete Frau. Nun erblĂĽhten ihm auch ganz
die ihm bis dahin versagten Freuden des Familienlebens, und vier
Kinder, ein Knabe und drei Mädchen, konnte er auf seinen Knien
sohaukeln und sioh an ihrem BlĂĽhen und Wachsen erquicken. Freilich,
Sorge und Kummer wird auch ihm nicht erspart geblieben sein. Die
Ăśberlieferung berichtet uns den Tod seines Sohnes in frĂĽhen Jahren.
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f>38
Seine Frau gab sioh mit Eifer den Pflichten der Erziehung ihrer
Kinder hin und stand wacker dem grofsen Hausstand in KĂĽche und
Keller vor, daneben befähigten sie ihre glänzenden Geistesgaben auch
dazu, sich an den wissenschaftlichen Arbeiten ihres Gemahls, denen
sie ein tiefes Verständnis und Interesse entgegenbrachte, zu beteiligen,
und treu und beharrlich hat sie an den Beobachtungen und Berech-
nungen mitgearbeitet Hevelius spricht mit Achtung und Liebe von
seiner ehelichen Gehilfin, „dafs sie mit grofaer Behendigkeit und Ge-
nauigkeit als keiner seiner ĂĽbrigen Gehilfen beobachtet habe"', und
bildete sie zum Dank dafür in einem seiner späteren Werke, einer
Beschreibung seiner astronomischen Instrumente, die er auf Wunsch
seiner Freunde unter dem Titel „Machina coelestis" mit vielen Illu-
strationen herausgab, als Beobachterin vor dem Fernrohr stehend ab.
Margarethe Hevelius ist heute vergessen, und doch ist sie
es wert, neben einer Caroline Hörschel und Sophie Brahe, den
schwesterlichen Gehilfinnen zweier unserer gröfsten Astronomen, mit
Auszeichnung genannt zu werden.
In der Vorrede zu dem eben erwähnten Buche spricht er sich
ĂĽber manches Intime aus; so verwahrt er sich dagegen, sich mit der
Astrologie befafst zu haben. Aufgeklärte, vorurteilsfreie Zeitgenossen
pflichten dem bei und erklären speziell das Gerede, er habe seinen
Tüchtern die Nativität gestellt, für eine Fabel. Er, der Gott täglich
in der Natur und in den Wundern des unendlichen Weltalls erkannte,
konnte keinen Kultus treiben mit abergläubischen und althergebrachten
Gebräuchen; nutzlose Spekulationen erschienen ihm als eine Ver-
sĂĽndigung an seiner erhabenen Wissenschaft!
So teilte Hevelius sein Leben zwischen steter Arbeit und fröh-
licher Erholung im Kreise seiner aufblĂĽhenden Familie und seiner ihn
verehrenden Freunde und MitbĂĽrger. Seinem GlĂĽcke schien nichts zu
fehlen, und mit vollem Herzen dankte er Gott fĂĽr die Gnade, die ihm
widerfahren.
Da traf ihn, als solle zu dem GlĂĽck ihm auch der Schmerz ver-
liehen werden, ein harter Schicksalsschlag. In der Mitternachtsstunde
des 26. September 1679 gingen in einer furchtbaren Feuersbrunst
seine Häuser und seine Sternwarte in Flammen auf — mit ihr alle
kostbaren Instrumente, Maschinen, die Bibliothek, viele Manuskripte und
Kupferplatten und die meisten Exemplare seiner kurz vorher im
Druck vollendeten Schriften. Wenig wurde gerettet, u. a. 15 Bände
Briefe von gelehrten Männern und gekrönten Häuptern an und über
Hevelius und die wertvollen Manuskripte des grofsen Astronomen
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539
Kepler, die Hevelius von dessen Sohn Ludwig um 1003 gekauft
hatte und seitdem wie eine Reliquie hĂĽtete.
Ăśber diese Katastrophe im Leben Hevelius' haben sich
mehrere Versionen erhalten: Kine Tradition in der He veik eschen
Familie erzählt, Hevelius habe sich zur Zeit des Ausbruchs des
Feuers aufserhalb der Stadt auf einem Ausfluge nach dem l/2 Meile
entfernten VergnĂĽgungsorte Jerchkenthal befunden. Von einem der
dortigen Berge aus wird er ein Feuer in der Stadt gewahr, und schon
weifs er durch genaue Ortsbestimmung, dafs sein eignes Haus auf
Pfaffenstadt brennt: schleunigst tritt er daher die RĂĽckfahrt an, um
zu erfahren, dafs seine Bestimmung leider nur zu genau gewesen ist.
GlaubwĂĽrdige Zeugen versichern, er habe am Abend vor der ver-
hängnisvollen Nacht nur mit sichtlicher Unruhe sich von seinem Hause
trennen können, als er sich nach seinem aufserhalb der Stadt gelege-
nen Gartenhaus begeben wollte, um dort die Nacht zu verbringen.
Wider seine Gewohnheit habe er die SchlĂĽssel zu seiner Studierstube
und zu seinen Werkstatten zurĂĽckgelassen und die Nacht schlaflos
mit Beten verbraoht, und, wie das Feuer aufgelodert, habe er sogleich
ausgerufen: „Das ist gewifs mein Haus, ach, ich unglücklicher
Mann!" —
Möge die Sache nun gewesen sein, wie immer, der gröfste Teil
seiner Lebensarbeit war dahin, und auch seinen Ruf wagten Mifsgunst
und Unverstand anzugreifen. Es entstand das Gerede, er habe selbst
den Brand verursacht, teils um seine Prophezeiungen vom Feuer, das
entstehen sollte, wahr zu machen, teils weil er ein gewisses Werk, das
er versprochen hatte, nicht zustande bringen konnte. Ja, zu einer so
traurigen Zeit, wo Unwissenheit und Aberglaube ihr Spiel triebeu,
wo Hexenprozesse an der Tagesordnung waren und auch in Danzig
die lebenden Fackeln zum Himmel schrieen, konnte es nicht wunder
nehmen, wenn man den Mann, der so viele geheime KĂĽnste verstand
und in die Sterne guckte, selbst fĂĽr einen Hexenmeister hielt und
ihm nachsagte, er habe das UnglĂĽck schon lange vorausgesehen und
es auf Tag und Stunde ausgerechnet; aber darĂĽber sei er mit dem
Teufel selber in Konflikt geraten, welcher dann zuletzt, um die
Mensohenkünste zu zerstören, den Höllenbrand auf des Ketzers eignes
Dach geschleudert habe! Die Wahrheit ist, dafs die Rachsucht eines
wegen Untreue von ihm entlassenen Dieners den verheerenden Brand
verursachte.
Einen Augenblick wohl konnte dieser unersetzliche Verlust
unseren Helden, der ĂĽberdies das Alter herankommen sah, nieder-
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drĂĽcken, dann aber siegte das Gott vertrauen; er betrauerte nicht mĂĽfsig
sein UnglĂĽck, sondern ging* mit einem Mut, der nur dem wahrhaft
weisen Manne eigen ist, daran, eine neue Sternwarte zu erbauen.
Dieselbe erhob sioh an derselben Stelle, wo die abgebrannte stand,
und wenn sie auch bedeutend kleiner war, so wurde Hevelius doch
durch die UnterstĂĽtzungen seiner Freunde und die Munificenz der
Könige Ludwig XIV. und Johann Sobieskis in den Stand gesetzt,
sie mit nicht minder guten Instrumenten und anderen Hilfsmitteln aus-
zurĂĽsten.*) Schon nach wenigen Monaten begann er seine Beobach-
tungen wieder, die er eifrig und mit Erfolg bis zu seinem Tode fortsetzte.
An seinem Geburtstage des Jahres 1687 starb er, tief betrauert
von seiner Familie und seinen Freunden, hoch geehrt von seinen
Mitbürgern, die ihm eine prunkvolle Begräbnisfeier veranstalteten. Er
wurde in der Katharinenkirche beigesetzt, wo ein einfacher Leichen-
stein seine Gebeine deckt
Man prägte einige Medaillen auf sein Andenken: eine schwedische
SchaumĂĽnze von Aroed Karlsteen zeigt auf dem Avers das Brustbild
Heveiii, auf dem Revers einen Adler, der, mit dem Blick nach der
Sonne, sich ĂĽber einer Landschaft erhebt; umher stehen die Worte:
In summis cernit acute, und im Abschnitt: Nat Ao. 1611, die 26. Jan.
mort ipso natali die 1687. Eine andere trägt aufser seinem Brust-
bilde die Inschrift: Joannes Hevelius Dantiscus, Consul Vet. Civit.,
delicium regum ao principum, astronomorum ipse princeps, in gloriam
atque admirationem seculi, patriae, orbis nat. etc. — Gewifs ein
ehrendes Zeugnis! Ein sehr schönes, von dem Danziger Maler
Daniel Sohulz nach dem Leben entworfenes Ölgemälde befindet sich
auf der Stadtbibliothek zu Danzig (und noch aufserdem in 2 Exem-
plaren). Eine getreue Nachbildung dieses Gemäldes ist unserm
Lebensbilde (S. 531) beigegeben; es stellt Hevelius in vorgerĂĽckten
Jahren, in den Schlafrock gehĂĽllt, sitzend in seiner Studierstube, dar
und mag um 1670 entstanden sein.
Aus seinem literarischen Nachlasse wurden 16U0 von seiner
Witwe noch zwei grössere Werke herausgegeben: ein neuer Fixstern-
katalog und ein sehr hĂĽbsch ausgefĂĽhrter, aus 54 Karten bestehender
Sternatlas, in welchem Hevelius ca. 70 neue Sternbilder — die noch
heute auf unseren Sternkarten figurieren — verzeichnete, unter ihnen
das von ihm aus Dankbarkeit fĂĽr grofsartige UnterstĂĽtzungen dem
•) Ein Ausbau auf jenem Hause auf Pfaffenstadt wird noch heule als der
Ort bezeichnet, von wo aus Hevelius seine Mond- und Stern beobachtungen
gemacht hat
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Könige Johann III. Sobieski gewidmete Sternbild „der Sobieski-
sche Schild."
Mit seinem ĂĽbrigen Nachlafs erging es, wie mit allem Irdischen.
So lange Margarete lebte, bewahrte sie mit rĂĽhrender Sorgfalt alles
von ihrem unvergefsliohen Manne stammende auf; nach ihrem Ab-
leben — sie starb 1706 oder 1707 — kam es in die Hände pietät-
loser Erben, zerstob in alle Winde, ging teils verloren, teils in fremde
Länder !
Es mute uns schmerzlioh berĂĽhren, wenn wir erfahren, dafs ein
Erbe aus einer Kupferplatte, auf welcher Hevelius eigenhändig seine
Mondkarte graviert hatte, ein Präsentierbrett anfertigen liefs und zum
Servieren von Kaffee und Thee verbrauchte, wobei er sich dieser
vandalischen Tat nooh öffentlich rühmte. Er hatte also nicht einmal
so viel Verstand, sich zu sagen, dafs es Verehrer des verdienten Mannes
gebe, die ihm mit Freuden den vielfachen Metallwert dafĂĽr gezahlt
hätten. Die vorhin schon erwähnten, aus dem Feuer geretteten, kost-
baren Manuskripte Keplers kamen an den Schwiegersohn, den Rats-
herrn der Altstadt, Ernst Lange. Wir können uns freuen, dafs er
sie nioht als Fidibusse verbrauchte, sondern die, wie er meinte, wert-
lose Makulatur fĂĽr ein Linsengericht an den Mathematiker Hansch
verkaufte. Dieser hatte die Absicht, sie zu veröffentlichen, erfüllte
seine Aufgabe aber nur mangelhaft, geriet schliefslich in Oeldnot und
entblödete sich nicht, sie für eine geringe Summe in Frankfurt a. M.
zu versetzen.
Gottes Hand ruhte aber siohtlich auf diesem Schatz, und viele
Jahre später hat er durch die mit echt Kepl erscher Gelehrsamkeit
und Fleifs durchgefĂĽhrte Arbeit des Herrn Dr. Chr. Frisch in
Stuttgart seine herrliche Auferstehung erfahren.
Eine kurze Genealogie möge dieses Lebensbild beschliefsen :
Johannes Hevelius, geb. 26. Jan. 1611, gest. 26. Jan. 1687 zu
Danzig.
Grofsvater: Michael Höfelcke, Brauherr in Danzig, näheres
unbekannt;
Vater: Abraham Höfelcke (Hevelke), Brauherr in Danzig,
weiteres unbekannt;
Mutter: geborene Hecker, weiteres unbekannt
Dio Eltern starben wahrscheinlich 1638.
Geschwister: e^waren Schwestern vorhanden, die aber in jĂĽngeren
Jahren starben;
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I. Ehe, 21. Mai 1035, mit Katharina Rebeschke, Tochter des
Kaufherrn Rebeschke in Danzig. Geburtsjahr unbekannt, gest,
10. März 1062;
Die Ehe blieb kinderlos;
II. Ehe, 4. Febr. 1663, mit Margarethe Koopmann. Tochter
des Krämers und Spezereihändlers Koopmann in Danzig. Geburts-
jahr unbekannt, gest. 1706 oder 1707:
Die Kinder dieser Ehe:
1. Sohn, geb. im Juli 1004, starb in jungen Jahren;
2. Katharine, Elisabeth, geb. Febr. 1000, verheiratet 24 Mai
!0(.)0 mit Ernst Lange, Ratsherr der Altstadt in Danzig, gest. 18. Juni
174ö, ohne Erben;
3. Juliana Renata, geb. August 16(58, verheiratet mit Dietrich
Matthias von Henriohson, Königl. Poln. Jägermeister der Insel
Nehriug. Sterbejahr unbekannt;
4. Flora Constantia, geb. Jan. 1072, verheiratet 8. Mai 10U4
mit Carl Adolph Ferber, nachmals Ratsverwaodten der Rechten
Stadt in Danzig, gest. 1. Mai 1734.
Von der 2. Tochter stammen die in Danzig lebenden Nach-
kommen unseres Heveiii, nämlich die Leonardis, Broens und
Elliots, von der 3. Tochter die von Bogges und die Bontz-
manns ab.
Die noch heute in Danzig lebenden Hevelkes können in
direkter Linie nicht von dem Astronomen herstammen, da dieser,
wio wir gesehen haben, keine männlichen Leibeserben hinterliefs;
auch nicht von einer direkten Seitenlinie, weil die Geschwister Heveiii
in jĂĽngeren Jahren starben, und er als einziges Kind seiner Eltern
aufwuchs. Ihr Stammbaum geht also von einer frĂĽheren Seitenlinio,
wahrscheinlich von der des Grofsvaters Michaol Höfel cko, aus.
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7T .
Aus dem Reiche des Eises und der Glut.
(Aus der Chronik der Forschung.)
Von Ednard Sokal in Charlottenburjr.
nter den zahllosen Umständen, welche das Bestehen und Ent-
stehen chemischer Körper regulieren, den Gang und die Folge
chemischer Reaktionen beeinflussen, steht wohl die Tempe-
ratur obenan. Das Studium der mannigfaltigen und oft höchst ver-
wickelten Beziehungen zwischen thermischer und chemischer Energie
war daher seit jeher ein Lieblingsgegenstand der wissenschaftlichen
Forschung und ein Tummelplatz der naturphilosophischen Spekulation
gewesen. Es bietet in der Tat aus mehr als einem Grunde ein ganz
besonderes Interesse dar. Es steht mit den abstraktesten und allge-
meinsten Problemen des menschlichen Geistes nicht minder, als, wie
wir weiter sehen werden, mit den aktuellsten Fragen der Tech-
nik und des praktischen Lebens in innigstem Zusammen-
hange. Es ragt bis zu den höchsten Gipfeln der Spekulation hinauf
und fufst andererseits auf Tatsachen, welche der alltäglichen Lebens-
erfahrung geläufig sind und zugute kommen.
Die Rolle der thermischen EinflĂĽsse in der Entwickelung und
dem Haushalte des Erdballs, die Einwirkung der Wärme auf chemische
Körper und Verbindungen sowie andererseits die Methoden der
Wärmeerzeugung mittelst chemischer Reaktionen, das dürften wohl
die drei Hauptpunkte sein, welche bei einer unbefangenen und nicht
streng wissenschaftlich kategorisierenden Betrachtung sich da zu-
nächst aufdrängen. Durch Temperaturunterschiede, welche hier etwa
den Druckdifferenzen bei mechanischen Systemen entsprechen, wird
der gewaltige Vorrat an Wärmeenergie ins Rollen gebracht. Die
Temperaturunterschiede trachten sich auszugleichen, und ähnlich wie
durch die verschiedene Höhe zweier Wassersäulen wird durch das
Gefälle der Temperaturdifferenz die Arbeitsleistung ermöglicht. In
zwei Grundprinzipien (den sogenannten ..Hauptsätzen" der Thermo-
dynamik, welche gegen die Mitte dieses Jahrhunderts entdeckt wurden)
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lassen sich die Gesetze dieser Verwandlung von Wärme in Arbeit
zusammenfassen. Der erste Hauptsatz ist: „Einer jeden Wärmemenge
entspricht ein bestimmtes Ă„quivalent mechanischer Arbeitsleistung".
(„Mechanisches Wärme-Äquivalent". Eine Calorie — 423 Kilogramm-
meter.) Der zweite lautet: „Wärme kann nur Arbeit leisten, so lange
und indem sie von einem wärmeren auf einen kälteren Körper über-
geht". Während die Bedeutung des ersteren ohne weiteres klar ist,
ist die Diskussion des zweiten Hauptsatzes hingegen noch immer an
der Tagesordnung. Er verleiht (wenigstens anscheinend) der Wärme
eine Sonderstellung unter allen anderen Energiearten. Es kann uns
ihm zufolge wohl gelingen, die gesamte Energie des Stofses oder der
Bewegung in Wärme zu verwandeln, aber die Rückverwandlung
ist bestimmten Beschränkungen unterworfen und nur bis zu einem
gewissen Qrade möglich. In den grofsen Wasserlagern des Erdbai I*
ist z. B. ein gewaltiger Vorrat an Wärmeenergie aufgespeichert, die
ihrer geringen Temperatur wegen nicht ins Werk tritt Demgemäfs
hat die Wärme die Tendenz, alle anderen Energieformen in sich zu
versohlingen. Durch Reibung, Druck, Leitungswiderstand u. s. w. geht
fortwährend Energie verschiedenster Art in Wärme über und, zum
Teile wenigstens, auf Nimmerwiedersehen verloren. Als Endresultat,
gewissermafsen als physikalische Utopie wäre demnach in unendlicher
Ferne ein Zustand zu gewärtigen, wo alle anderen Energieformen
sich in Wärme von niedriger Temperatur verwandelt haben.
Doch hier liegen Angeln und FufsschnĂĽre verborgen, und man
darf es sich nicht verhehlen, dafs diese Frage weit mehr physikalische
und erkenntnis-theoretische Schwierigkeiten in sich birgt, als auf den
ersten Blick sich erkennen liefse. Wie immer jedoch dem auch sein
möge, soviel steht fest, dafs theoretische und angewandte Physik uns
ĂĽbereinstimmend in frĂĽheren Epochen des Sonnensystems und des
Erdballs weit höhere Temperaturen als die gegenwärtig herrschenden
vermuten lassen. Die Entwickelungstheorie murs annehmen, dafs in
der dichten Urnebelmasse, welche die Vorvergangenheit unseres
Sonnensystems darstellt, die chemisohen Kräfte noch in undifferen-
ziertem, gleichsam in schlummerndem Zustande sich befanden.
Pfaundler war wohl der erste, der in einer wissenschaftlichen Ab-
handlung die geistreiche Wendung vom „Kampf ums Dasein der
Moleküle" gebrauchte und die Verbindungen nach einem „Prinzip der
grüfsten Stabilität und Anpassung an die Umgebung" entstehen liefs.
Wie in dem Kampfe ums Dasein der Organismen das Klima, die
Nahrung u. s. w., so stellen hier die umgebenden physikalisohen Ein-
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545
flüsse, die Wärme, das Lösltngsmittel eto. etc. das Milieu dar, welches
die Bildung einer bestimmten Verbindung begĂĽnstigt, das Entstehen
einer anderen verhindert. Die uralte Hypothese von der Existenz
einer Urmaterie nimmt den Pfaundler sehen Gedankengang auf und
fĂĽhrt ihn weiter. Sind nicht vielleicht unsere chemischen Atome im
Grunde höchst komplizierte Gebilde, durch epochenlange Differen-
zierungen der Urmaterie entstanden und unteilbar nur etwa in dem
Sinne, in dem es ein Organismus ist? Die experimentelle Forschung
greift hier ein und sucht der Hypothese einer „Genesis der Elemente44
neue StĂĽtzen zuzufĂĽhren. Der amerikanische Chemiker Hin rieh s zeigt
durch Messungen, welche sogar die berĂĽhmten Versuche von Stas
an Genauigkeit ĂĽbertreffen, dafs die Proutsohe Annahme, nach
welcher alle anderen Atomgewichte Multiple des Wasserstoffes sein
sollen, denn doch nicht widerlegt ist, und dafs die gefundenen Ab-
weichungen sich innerhalb der Fehlergrenzen bewegen. Und auch
Victor Meyer berichtete auf einer deutschen Naturforscher-Versamm-
lung in Lübeck von seinen glänzenden Experimenten über Änderung
der Eigenschaften mancher Elemente (der Halogene) durch hohe Hitze-
grade, Experimente, welche in der Beschränktheit unserer Technik
fĂĽr die Erzeugung hoher Temperaturen und in dem Mangel eines
genĂĽgend standfesten Ofenmaterials leider eine zu frĂĽh gezogene
Grenze finden.
In den wissenschaftlichen Kreisen von Paris erfreuen sich zwei
chemische Spezial- Laboratorien einer ganz besonderen Popularität. Es
sind dies das Hitze-Laboratorium von Moissan und das Kälte- Labo-
ratorium von Pictet, die beiden entgegengesetzten Pole der chemi-
schen Technik. In ihren Ausgangspunkten so verschieden, haben
sich ihre Forschungsmethoden doch mehr als einmal gekreuzt.
Während Moissan die beständigsten Verbindungen durch seinen
GlĂĽhofen zersetzt, also gewissermaĂźen die heftigsten Reaktionen um-
kehrt, ist es Pictet vor einigen Jahren gelungen, bei einer Tempe-
ratur von 120° Kochsalz und Schwefelsäure ohne jede Reaktion neben-
einander liegen zu lassen! Das Werkzeug, dessen sich Moissan bei
seinen Versuchen bedient, ist der sogenannte „elektrische Glühofen14,
dessen Temperaturen diejenigen des Knallgasgebläses übertreffen, der
aber leichter und gefahrloser gehandhabt werden kann. Eine statu
liehe Anzahl bedeutender Entdeckungen und interessanter Mitteilungen
ist uns von diesem glĂĽhenden Munde bereits verkĂĽndet worden.
Hier hat Moissan seine Versuohe ĂĽber kĂĽnstliche Fabrikation von
Diamanten angestellt. Er läfst eine Eisenmasse, in der Kohlen-
Hlmmel und Erd». 1908. XV. J2. 35
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r,4H
partikelohen eingelagert sind, in seinem Ofen schmelzen. Durch den
kolossalen Druck, welchen das erstarrende Eisen ausĂĽbt, wird wahr-
scheinlich das Ausbilden der winzigen Diamantkristalle bewirkt,
welche sich in dem Bleche später vorfinden.
Hier wurde das Caloiumcarbid dargestellt, welches als Ausgangs-
produkt fĂĽr Acetylengas eine waohsende Bedeutung gewinnt. Hier
ist endlich, wenn man den neuesten Mitteilungen trauen darf, die lange
vergebens angestrebte ĂśberfĂĽhrung des Kohlenstoffs in den gas-
förmigen Aggregatzustand gelungen.
Durch eine merkwĂĽrdige FĂĽgung ist es eine Entdeckung, die
dem Gebiete der Kältetechnik entspringt, welche vielleicht dazu be-
rufen ist, in der technischen Verbrennungschemie und in der Wärme-
erzeugung einen grofsen Fortschritt herbeizufĂĽhren. Auf einem der
letzten Kongresse deutscher Ingenieure hat Prof. Linde, Direktor
einer grofsen Kälte- und Eismaschinenfabrik, eine Mitteilung über
„Darstellung von reinem Sauerstoff aus flüssiger Luft" verlesen. Sein
Verfahren beruht darauf, dafs Luft unter einem Ăśberdruck von
75 Atmosphären durch einen Cylinder hindurchgeprefst wird, an dessen
Schlufs ein passend konstruiertes Ventil den Druck auf 25 Atmosphären
sich verringern läfst. Durch die plötzliche Ausdehnung tritt eine so
grofse Abkühlung ein, dafs ein Teil der Luft aus dem gasförmigen
in den flĂĽssigen Zustand ĂĽbergeht. Da nun der Stickstoff von den
beiden Bestandteilen der Luft der flĂĽchtigere ist, so besteht naoh
mehrmaliger Wiederholung des Prozesses die entstandene FlĂĽssigkeit
aus fast reinem Sauerstoff. Dies das Prinzip des Linde sehen Ver-
fahrens, das allerdings seine praktische Verwendbarkeit erst zu er-
proben haben wird.
Zu diesen beiden extremen Gruppen chemischer Reaktionen, auf
welche wir jetzt einen flĂĽchtigen Blick geworfen haben und die zu
ihrem Zustandekommen gewaltiger äufserer und physikalischer Ein-
flĂĽsse bedĂĽrfen, steht die in ihren Aufserungen unendlich mannig-
faltige und konzentrierte, ihrem Wesen nach höchstwahrscheinlich
ebenfalls chemische Energie des Lebens in einem sonderbaren Gegen-
satze. Sie operiert mit geringen Temperaturen und mäfsigen Tempe-
raturschwankungen, sie nimmt weder Schmelz- noch Druckprozesse
zu Hilfe und erzielt doch Wirkungen, die wir mit all unseren Hilfs-
mitteln zu erreichen in den meisten Fällen nicht imstande sind. Der
Prozefs der Alkoholgarung kann durch keinen anderen Reiz als
duroh den Einflufs des Hefepilzes ausgelöst werden. Wodurch be-
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wirkt das lebende Ei weife seine Oxydation bei einer Temperatur, bei
welcher es sich im Laboratorium träge und inaktiv verhält? Mit
welchen Mitteln regeneriert die Darmschleimhaut das Pepton zu Ei-
weifs? Auf diese Fragen mufs die Antwort, wenn auch nicht im
Sinne einer dumpfen Resignation, so doch zur Vermeidung einer jeden
Selbsttäuschung deutlioh lauten: Ignoramus.
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Kometensysteme.
Von Dr. Johannes Riem in Berlin.
ie Beobachtungen an dem bekannten Kometen Bielas haben
gelehrt, dafs sich ein Komet teilen kann, dafs seine Teile eine
Zeitlang nebeneinander ihre besonderen Bahnen beschreiben
können, und dafs durch den Teilungsvorgang die Bahnelemente des
Hauptkörpers nicht wesentlich geändert werden. Auch der Zusammen-
hang zwischen Kometen und Meteorschwärmen weist durchaus darauf
hin, dafs der Kopf eines Kometen eine Anhäufung loser Teilchen ist,
die sich leicht voneinander trennen können, sei es nun durch Kräfte,
die innerhalb jener Massen bei Annäherung an die Sonne entstehen,
sei es, daĂź die verschieden starke Anziehung der Sonne zur Zeit
des Periheldurchganges auf die ihr näheren oder ferneren Teile des
Schwarmes das Auseinanderziehen find schlieĂźlich sich Teilen des
Hauptkörpers bewirkt. Auch das mehrfach beobachtete Auftreten
mehrerer heller Stellen im Kometenkopf läfst auf die Wirkung der-
artiger Kräfte schliefsen. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, so
ist es leicht einzusehen, dafs ein ehemals sehr grofser Körper wäh-
rend eines Umlaufes in der Nähe der Sonne einen so großen Teil
von sich abgespaltet haben kann, dafs dieser als eigener Körper an-
dauern und als glänzender Komet in die Erscheinung treten kann.
Ja sogar die neubildende Kraft des Ausgangskörpers ist stark genug,
diesen Vorgang mehrere Male zu wiederholen, so dafs das End-
ergebnis folgendes ist: Es entsteht ein System von Kometen, deren
Bahnelemente gewisse Werte gemeinsam haben, vor allem den Perihel-
abstand. Die Schnittlinien der beiden Bahnebenen werden mit den
groĂźen Achsen nahe zusammenfallen, die Umlaufszeiten werden bis
zu einem gewissen Grade einander gleich sein.
Wir sind nun in der Lage, ein derartiges System nachweisen zu
können, das eine Anzahl solcher Glieder aufweist, ohne natürlich zu
behaupten, dafs wir schon alle Glieder kennen, da es immer einem ge-
wissen glĂĽcklichen Zufall ĂĽberlassen bleibt, ob wir ein Objekt ent-
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541»
decken, dessen Sichtbarkeit durch ungünstige Umstände erschwert wird.
Der Herausgeber der „ Astronomischen Nachrichten**, Prof. Kreutz
in Kiel, hat nämlich vor kurzem seine langjährigen Untersuchungen
ĂĽber das System der Kometen 18431, 18801 und 1882 II abge-
schlossen und uns dadurch die Kenntnis eines reichhaltigen Systems
verschafft, dessen Glieder nooh viel zahlreicher zu sein scheinen
als jene drei Körper. Diese sind vielmehr nur die bestbekannten
und am längsten beobachteten, da sie zu einer Zeit erschienen sind,
in der die Beobaohtungskunst die notwendige Höhe schon erreicht
hatte, um so genaue Bahnen berechnen und darauf allgemeine
Schlüsse und Vermutungen aufbauen zu können. Das wichtigste
gemeinsame Merkmal dieser drei Bahnen ist der auffallend kleine
Perihelabstand; die Körper laufen bei ihrem Umsohwung so nahe an
der Sonne vorbei, dafs sie durch deren äufsere Atmosphäre hindurch-
gehen. Wenn es nun auch merkwĂĽrdig ist, dafs sie hierbei keine
wesentlichen Störungen erleiden oder gar ihre Bahn völlig verändern,
wie es die dem Jupiter zu nahe kommenden Kometen zu tun pflegen,
so haben wir andererseits in dieser grofsen Annäherung den Grund
fĂĽr ihre au fserord entliche Lichtentwickelung. Der Komet vom Sep-
tember 1882 gehört zu den glänzendsten Erscheinungen aller Zeiten;
er war, wie der von 1843, auch bei Tage sichtbar; ja es gelang sogar
den Astronomen der Kapsternwarte, zu beobachten, wie er am hellen
Nachmittag vor der Sonnenscheibe verschwand. Mit der Schärfe einer
Sternbedeckung durch den Mond Hefa sich der Augenblick auffassen,
wo die letzte Spur des Kometen am wallenden Sonnenrand sichtbar war,
und dafs er während des ll/4 Stunde währenden Voriiberganges nicht
wahrnehmbar war, beweist, dafs seine Helligkeit der der Sonne gleich-
kam. Der Komet von 1843 war nach den vorhandenen Zeichnungon
dem von 1882 sogar äufserlich ähnlich, und wenn er auch nicht vor
der Sonne vorĂĽberging, so war er doch in einem Abstand von 2 Grad
von ihr am hellen Tage sichtbar. Es zeigte sich bald, dafs beide
Kometen in derselben Bahn hintereinander herlaufen; sie sind freilich
nicht identisch, da der Abstand beider 39 Jahre beträgt, während die Um-
laufszeit sich auf etwa 800 Jahre beläuft Nun erschien 1880 im Fe-
bruar ein nur auf der sĂĽdlichen Halbkugel beobachteter Komet, von
dem sich ebenfalls nachweisen läfst, dafe seine Bahn der des Kometen
von 1843 sehr ähnlich ist. Man ist demnach durchaus berechtigt,
anzunehmen, dafs der ursprĂĽngliche Komet sich bei einem oder zwei
Periheldurcbgangen gespalten hat, indem das erste Mal der Komet von
1882, und später der vou 1880 sich ablöste.
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Nachdem nun einmal der Nachweis erbracht war, dafs diese drei
Körper Glieder eines ehemaligen Ganzen sind, lag* die Vermutung nahe,
dafs es wohl noch mehr Teile geben könnte, da kein Grund einzu-
sehen ist, weshalb die trennenden Kräfte nur zweimal g-ewirkt haben
sollten; ebenso wie niohts darauf hinweist, dars die Planeten bildende
Kraft des Sonnenballes nur vom Neptun bis zum Merkur ausgereicht
habe, und nicht auch vorher und nachher nooh in Kraft gewesen sei.
Da das charakteristische Merkmal jener drei Glieder des Systems
ihre sehr grofse Annäherung an die Sonne ist, so zog Professor
Kreutz noch eine ganze Reihe von Kometen heran, die auch diese
Eigenschaft gezeigt haben, um zu versuchen, ob sich der eine oder
der andere als zugehörig erweisen würde. Nun nimmt die Anzahl der
Kometen bei Annäherung an die Sonne sehr stark ab; während
innerhalb der Erdbahn noch eine ganze Anzahl auftreten, findet man
innerhalb der Merkurbahn nur noch sehr wenige. Es war daher die
Auswahl der in Frage kommenden keine allzu grofse, und es ist um
so bemerkenswerter, dafs das mühevolle Suchen von Erfolg gekrönt
worden ist Nicht weniger als fĂĽnf Kometen sind es, von denen es
wahrscheinlich gemacht werden konnte, dafs sie dem System angehören,
das durch die drei gut bekannten Kometen 18431, 1880 I und 1882 II
bezeichnet wird. Und zwar sind es die Kometen von 1580, lß'»8,
1702a, 18871 und der Sonnenflnsterniskomet vom 16. Mai 1882.
Dieser wurde nämlich bei Gelegenheit der totalen Sonnenfinsternis
dieses Tages in den Koronastrahlen entdeckt und sein Ort festgelegt.
Wenn nun auch zu einer genäherten Bahnbestimmung- immer wenig-
stens drei Beobachtungen nötig sind, die man hier nicht erlangen
konnte, so war es doch möglich, zu zeigen, dafs der Komet in der-
selben Bahn wie derjenige von 1843 einhergegangen sein mufs. So
sind wir also im Besitzo der Kenntnis eines aus wenigstens acht
Gliedern bestehenden Systems von Kometen, die ehemals einen Körper
bildeten, der sich vor vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden teilte,
und dessen in mehr oder weniger stark veränderten Bahnen sich
selbständig bewegende Teile sich ihrerseits wieder spalteten, möglicher-
weise in noch bedeutend mehr Teile, als uns bekannt ist. Wie leicht
gerade bei diesen der Sonne so sehr nahe kommenden Körpern
einer bei ungĂĽnstiger Stellung der Erde uns entgehen kann, dafĂĽr ist
der erwähnte Sonnenfinsterniskomet der beste Beweis. Wahrschein-
lich hätte dessen Auffindung nie erfolgen können, wäre die Sonnen-
finsternis einige Tage eher oder später eingetreten.
Es ist nun nicht leicht, die Frage zu beantworten, was fĂĽr
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Kräfte diese mehrfachen Teilungen hervorgerufen haben können.
Doch kann man aus gewissen Erscheinungen, die an dem schönsten
und gröfsten Gliede des Systems, dem Kometen von 18*2, beobachtet
sind, wenigstens Andeutungen entnehmen, in welcher Richtung die Er-
klärung zu suchen ist. Genannter Komet neigte nämlich selber sehr
zu Neubildungen und Abspaltungen. Schmidt und Hartwig beob-
achteten einen wenige Tage sichtbaren Nebenkometen mit gröfserer Be-
wegungsgeschwindigkeit als der Hauptkörper; Barnard sah gleich
sechs solche Gebilde auf einmal; auch Brooks und de Oliveira be-
obachteten Ă„hnliches. Der eigentliche Kern des Kometen aber begann
bald, nachdem er an der Sonne vorĂĽbergegangen war, sich zu ver-
längern und dann in mehrere Knoten zu teilen. Da diese zum Teil
bedeutende Helligkeit besafsen und infolgedessen abwechselnd den
Beobachtern als Einstellpunkte bei ihren Messungen dienten, so sah
sich Kreutz genötigt, eingehende Untersuchungen darüber anzustellen,
welcher der Punkte als Schwerpunkt anzusehen sei, d. h. den Beob-
achtungen am besten genĂĽgte. Es zeigte sich, dafs keine genaue Ent-
scheidung zu treffen war. dafs vielmehr jedem der Punkte eine be-
sondere Bahn entsprach, die sich von den anderen vornehmlich in
einem Elemente, der Excentrizität, unterschied. Berechnet man die
lineare Geschwindigkeit in der Bahn, mit der der Komet im Moment
seiner Sonnennähe durch den Raum eilte, so findet man die Zahl
478 km in der Sekunde fĂĽr einen mittleren Punkt im Kopfe des Ko-
meten. Von dieser Geschwindigkeit, die der der Erde etwa um das
15 fache ĂĽberlegen ist, weicht diejenige der anderen Punkte rund um
0,ö bis 1,5 m ab, also um einen überaus kleinen Bruchteil, der aber
dennoch schon hinreichend ist, die Teilung des Kopfes zu erklären,
der jedenfalls später eine neue Trennung gefolgt ist. Es genügen
also schon verhältnismäfsig geringe Kräfte innerhalb des Kopfes, die
in der Tangente der Bewegungsrichtung wirkten, diesen beobachteten
Erfolg herbeizufĂĽhren. Zu bedauern ist, dafs die Versuche, den Ko-
meten im Herbst 18S3 noch einmal aufzufinden, erfolglos geblieben
sind; er mufs damals schon so lichtschwach gewesen sein, dafs er,
trotzdem sein Ort hinreichend genau berechnet werden konnte, auch
in den stärksten Instrumenten nicht mehr wahr-nehmbar war. Viel-
leicht hätten unsere heutigen, so hoch empfindlichen Trockenplatten
den wichtigen Dienst leisten können, uns darüber Aufklärung zu ver-
schaffen, ob auch in diesem Falle beim Periheldurchgang durch Tei-
lung des Hauptkörpers ein neues Glied des Kometensystems ent-
standen ist.' Jedenfalls aber werden uns die Nachforschungen der
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Ă–Ă–2
Zukunft Oewifsheit verschaffen, ob noch mehr Glieder dieses merk-
würdigen Systems vorhanden sind. Dasselbe völlig" kennen zu lernen,
erfordert nicht nur den Zeitraum etwa eines Jahrtausends, sondern
setzt auch den glücklichen Zufall voraus, dafs kein Glied während
seiner Sonnennähe unentdeokt bleibt und wieder in den Tiefen des
Weltalls verschwindet.
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Ein Betrug an der Wissenschaft.
Von L. Katselier in Budapest.
in Zufall spielt mir ein bereits vor mehreren Jahren erschienenes
Büchlein*) in die Hände, das von einem wissenschaftlichen
Schwindel berichtet, der mich als so eigen- und neuartig frappiert,
dafs ich mir nicht versagen kann, die Leser damit bekannt zu machen —
ĂĽbrigens auch schon deshalb, weil es sich dabei um eine viel um-
strittene Frage von hervorragender praktischer Bedeutung handelt:
um die Schutzimpfung gegen Blattern.
In den siebziger und achtziger Jahren frohlockten die Gegner
der Kuhpockenimpfung ganz besonders, und zwar ob der grofsartigen
statistischen Bekräftigung ihrer Anschauungen durch den angesehenen
Oberarzt der Ă–sterreichischen Staatseisenbahngesellschaft Dr.Leand e r
Keller. In bedeutenden ärztlichen Zeitschriften hatte nämlich dieser
Mann aus seinem Wirkungskreise wiederholt statistische Aufzeich-
nungen veröffentlicht (betreffend die Jahre 1872—74), welche, wenn
sie richtig waren, die Impfung als völlig wertlos, die Revaccinierung
sogar als geradezu sohädlich dartun mufsten. Ja — wenn! In Wirk-
lichkeit waren sie nicht nur objektiv falsch, sondern sogar willkĂĽr-
lich gefälscht. Das Verdienst, den Betrug Kellers aufgedeckt und
dessen Handgreiflichkeit unwiderleglich nachgewiesen zu haben, ge-
bĂĽhrt dem Verfasser der in Hede stehenden Schrift, dem weltberĂĽhmten
Statistiker Körösi. Hören wir! Es ist eine merkwürdige, interessante
Gesohiohte.
Die Impfgegner hatten stets behauptet, die ĂĽberall vorkommenden
impffreundlichen statistischen Berichte seien wertlos, weil die Säug-
linge und die Kinder bis zum 2. Lebensjahr nicht weggelassen wĂĽrden,
diese Altersklassen aber ohnehin die gröfste Sterblichkeit aufwiesen,
ihre Ungeimpftheit daher nicht mafsgebeud sei. Keller war nun —
wenigstens auf dem europäischen Festlande — der erste, der eine
*) Die Pockenstatistik der österreichischen Staatsbahngesellschaft. Von
Dr. Joseph Körösi, Braunschweig 1896, Vieweg & Sohn.
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554
Statistik lieferte, welohe scheinbar der, ĂĽbrigens ganz gerechten For-
derung entsprach, dafs die Altersklassen unterschieden werden mögen.
Auch sonst bildeten die Kell ersehen Berichte in statistischer Hinsicht
einen grofsen Fortschritt gegen die bis dahin ĂĽblich gewesene Art
der Pookenstatistik. Aus seinen Daten nun liefs sich entnehmen, dafs
unter den Blatternkranken des Personals der genannten grofsen Bahn-
gesellschaft 31.25% der Geimpften im Alter von 2 — 3 Jahren und
nur 18.89% der Ungeimpften starb; für die Altersstufen von 3—4,
4 — 5 und 5—10 Jahren waren die Ziffern: 21.98, 20, 18.84 Geimpfte und
blofs 16.83, 14.29, 8.90 Ungeimpfte. Noch schlimmer stand es mit den
Revaccinierten: hier stieg die Sterblichkeit im Alter von 4 — 5, 5—10
und 15— 20 Jahren sogar auf 40.20 und 28.57 %! Kein Wunder, dafs
der Jubel der Impfgegner gewaltig war.
Da ereignete es sich 1886, dafs Korösi, der sich für die ge-
samte Impfstatistik ganz besonders interessierte und ihr völlig parteilos
gegenüberstand, sich mit ihrer kritischen Prüfung zu beschäftigen
begann und daher eine grĂĽndliche Quellenforschung unternahm. Er
wandte sich selbstverständlich auch an Keller, erfuhr aber, dieser
sei inzwischen gestorben. Langwierige amtliche und private Erkun-
digungen mufsten KÖrösi auf die Vermutung bringen, dafs Kellers
Originalmaterial nicht mehr vorhanden sei. Allein unser Forscher
Hers sich nicht abschreoken, sondern setzte sich mit jenen acht von
den betreffenden Bahnärzten der Kell ersehen Zoit (Keller war schon
1875 in Pension gegangen), die damals — 1887 wars inzwischen ge-
worden — noch lebten, in Verbindung. Naturgemäfs erwartete der
Ahnungslose seitens der Bahnärzte eine vollkommene Bestätigung der
Kellerschen Zahlen; indessen wurde ihm zu seinem lebhaften Staunen
klar, dafs der einstige Oberarzt „die Originalangaben der Bahnärzte
in tendenziöser Richtung veränderte. Nur auf so unstatthafte Weise
gelangte er zu seinen impffeindlichen Ergebnissen, während die ihm
vorgelegten Originalberichte in Wirklichkeit eine glänzende Recht-
fertigung des Impfschutzes bedeuteten !u
Um mit seiner unangenehmen Entdeckung in der Ă–ffentlichkeit
auftreten zu können, suchte Körüsi nach schlagenden, kräftigen Be-
weisen. Als er nach unsäglicher Mühe solche erlangt und dann einen
einschlägigen Aufsatz in einer reichsdeutschen medizinischen Zeit-
schrift hatte erscheinen lassen, verhielten sich die Impfgegner längere
Zeit mäuschenstill. Körösi legte klar dar, dafs die Grundlagen, auf
denen Keller gearbeitet hatte, ohnehin schon völlig unverläfslich
waren, also von einem gewissenhaften Oberarzt nun und nimmer
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55Ă–
hätten benutzt werden dürfen, dafs er aber auob geradezu, nur um
die Nutzlosigkeit der Impfung zu „beweisen", „auf Schritt und Tritt
vor Entstellung der Wahrheit nioht zurückschreckte, u .... „die ihm
eingesandten Angaben gewaltsam entstellte." Während z. B. aus der
Bergwerksniederlassung Steierdorf der betreffenden Bahngesellschaft
der Arzt an Keller berichtet hatte, dafe von den geimpften Blattern-
kranken nur 4 %, von den ungeimpften aber 33 V3 % gestorben seien,
erscheint die letztere Ziffer bei Keller durch Fälschung der Ziffer
38 auf 68 als blors 20 %. Ganz ähnlich verfuhr der sonderbare
Heilige ĂĽberall. Der Washingtoner internationale KongreĂź, dem
Körösi ein Jahr später seine Untersuchungsergebnisse vorlegte, zollte
ihnen seine Anerkennung und erklärte Keller für einen Betrüger.
Trotzdem rührten die Impfgegner, denen Körösi Sonderabdrücke
seiner EnthĂĽllungen zugesohickt hatte, viele Jahre lang keinen Finger.
Erst 1891 und 1892 machten sie Angriffe auf den gewissenhaften
Statistiker, erklärten Keller für den einzigen glaubwürdigen Impf-
forscher und forderten, dafs die Bahngesellschaft, welche allein kom-
petent sei, sich in der Sache vernehmen lasse; nur amtlichen, nicht
aber privaten Untersuchungen wollten sie Glauben schenken. Jetzt
ruhte Körösi, ärgerlich gemacht, nicht eher, als bis das Präsidium
der Gesellschaft den betreffenden Beamten offiziell Auftrag gab, der
Angelegenheit nachzugehen. Und da geschah etwas Unerwartetes:
das verloren geglaubte Original-Aktenmaterial wurde in einem Winkel
des Archivs gefunden. Das Personal arbeitete es auf, und der Chefarzt
Dr. Stöhr begleitete die Ergebnisse mit einer Denkschrift. Es zeigte
sich, dars Kellers Zusammenstellungen überhaupt nicht amtlich —
d. h. weder von der Direktion angeordnet, noch zu ihrer Kenntnis
gelangt — waren, ja sogar vielen der Bahnärzte unbekannt blieben
und als blofse Privatarbeit in seinem Privatverlag erschienen. In den
Urschriften der Berichte waren die einzelnen Fälschungen deutlich
zu erkennen, so dafs die Mitteilungen jener acht Bahnärzte an Körösi
volle Bestätigung fanden. Einige der Ärzte gestanden übrigens so-
gar, angesichts der bekannten Impfgegnerschaft des Oberarztes' schon
von vornherein auf die Tatsachen einen leisen Druck ausgeĂĽbt zu
haben!! Keller war endgültig abgetan, und seine Anhänger konnten
sich nioht mehr auf die Autorität der Staatseisenbahngesellschaft be-
rufen. Wären sie der einstigen Aufforderung Körösis, sich mit den
Bahnärzten in Verbindung zu setzen, nachgekommen, so würden sie
längst Gewifsheit erlangt haben — aber sie hüteten sich, das zu !un,
und ĂĽberhaupt einen ernsten, korrekten Schritt zur Ehrenrettung ihres
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r,5G
unehrlichen Gesinnungsgenossen zu unternehmen; vielmehr be-
sohränkten sie sich darauf, Körösi zu verdächtigen, er greife einen
Verstorbenen an, sei selber unverläfslich u. s. w.
Über die Arbeitsmethode Kellers schreibt Körösi u. a.: „Die
Anzahl der Mittel, statistische Tatsachen in tendenziöser Weise zu
korrigieren, ist eine ziemlich grofse .... Da unser Mann in dieser
Beziehung nicht wählerisch war und ihm alle Wege pafsten, wenn sie
nur die Schutzkraft der Impfung herabsetzten, ist es nicht zu ver-
wundern, wenn seine Arbeit eine beinahe vollständige Mustersammlung
aller Mittel bietet" In Szegedin, wo von 4 erkrankten Geimpften
keiner starb, läfst Keller 1 sterben. In Kolin starb von 6 Geimpften
1 = 16.6%, Keller macht daraus 3 = 50%! In Köbölkut starb ein
Zehntel der erkrankten Geimpften, K. fälscht das auf ein Sechstel.
Er ging noch weiter, indem er nie erkrankte Geimpfte sterben, nie
erkrankte Ungeimpfte genesen liefs und dagegen verstorbene Ungeimpfte
kurzweg unterdrückte oder — noch einfacher und zweckmäfsiger — für
Geimpfte ausgab! In Szegedin, wo kein Ungeimpfter erkrankte, fĂĽgte
er den 4 erkrankten Geimpften eigenmächtig 2 Ungeimpfte hinzu und
liefs sie genesen. In Grufsbach starb 1 Ungeimpfter, K. machte aber
daraus einen Geimpften. In Raudnitz liefs er nur 2 von den 4 er-
krankten Geimpften gesunden, während in Wirklichkeit alle 4 davon-
kamen. Nooh viel ärger trieb diese Leuchte der Wissenschaft es mit
den mehrmals Geimpften (Revaccinierten); in Wien und Stadlau z. B.
läfst er — schon allzu plump — dreimal so viel Revaccinierte als
Ungeimpfte erkranken und von letzteren keinen einzigen, von ersteren
jedoch ein volles Drittel umkommen!! Wo der Bahnarzt den Impf-
zustand als unbekannt bezeichnet, trägt Keller willkürlich ein „re-
vaccinierf ins Protokoll ein und verurteilt stets einen Teil dieser
fingierten Wiedergeimpften zum Tode!
Schreiber dieses ist, offen gestanden, ein grundsätzlicher Impfgegner;
das verhindert ihn jedoch nicht, der Wahrheit die Ehre zu geben
und die gewissenlose IrrefĂĽhrung der wissenschaftlichen Welt in
einer so hochwichtigen Lebensfrage aufs schärfste zu verurteilen
und dem unparteüsohen Körösi zuzustimmen, wenn er sagt: „Welch
kläglich«' Farce! . . . Welche Stirn gehört dazu, trotz vollen Schuld-
bewufstseins als Prophet einer neuen Wahrheit aufzutreten und von
seinen Fälschungen . . . hochtrabend zu verkünden, „sein Material
sei höchst vollständig und sorgfältig gesammelt, mit der größten Un-
parteilichkeit zusammengestellt und aufs gewissenhafteste geordnet,
vollkommen korrekt und der Wahrheit entsprechend u!ĂĽ
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Die Nebelmassen, welche den neuen Stern im I'erseus um-
gaben und in welchen Bewegungen meist radialer Natur stattfanden,
sind auf der Licksternwarte spektroskopisch untersucht worden. Ge-
hörte schon die Entdeckung dieser überaus feinen Gebilde und die
Konstatierung von Bewegungen in ihnen zu den schwierigsten Auf-
gaben der astronomischen Dauerphotographie, so sind diese Leistungen
jetzt noch ĂĽbertroffen durch die Spektralaufnahrae eines Objekts, das
dem Auge direkt ĂĽberhaupt nie zu Gesicht gekommen ist. Denn die
Zwischenschaltung der Spektralprismen bedingte einen neuen Licht-
verlust, deshalb wurde ein Apparat mit nur einem Prisma eigens
TĂĽr die Aufgabe gebaut, der aber natĂĽrlich keine starke Dispersion
gab. Von den Lichtknoten in dem Nova-Nebel war der auf den
Yerkes-Aufnahmen mit D bezeichnete am hellsten, und auf diesen
wurde daher der Spalt eingestellt und die Platte im ganzen 34 Stunden
lang exponiert. Die Aufnahme verteilte sich auf 4 Nächte mit Exposi-
tionen von 7tyj bis 91 '2 Stunden, am 31. Oktober, L, 2. und 4. November
li>02. Es kam nach der Entwicklung ein Spektrum zum Vorschein,
das 3 mm lang sich von der Linie II ; bis >. 3li0 erstreckte und von
dem noch durch besondere Aufnahmen nachgewiesen wurde, dafs es
nicht etwa das Spektrum des matt erhellten Nachthimmelhintergrundes
oder von Dunstschleiern sei. 1 A der ganzen Helligkeit verteilen sich
in diesem Spektrum auf die Gegend zwischen Hji und H-, oberhall»
Hf wird das Spektrum sehr schwach und ist von >. 3*0 bis /.3tK) ganz
unterbrochen, noch weiter oben erscheinen 2 Linien, von denen die
eine Ho zu 6ein scheint, die andere hat >.370, doch sind beide au fser-
ordentlich schwach.
Es fragt sich nun, ob das Spektrum die Theorie unterstĂĽtzt, dafs
die langsam fortschreitenden Lichtknoten von der Nova ausgehende
Lichtwellen gewesen seien, eine Vermutung, die vielfach ausgesprochen
wurde; dann mĂĽfste das jetzt erhaltene Spektrum wenigstens teilweise
dem Nova-Spektrum gleichen, zu dem hinzu es nur die bekannten
Nebellinien enthalten dĂĽrfte. Diese Frage wagt Perrine nicht zu
55S
entscheiden. Zwar enthält das Spektrum aufser den Nebellinien noch
ein kontinuierliches Spektrum, das also reflektiertes Licht sein könnte,
doch gleicht letzteres weit eher dem Nova-Spektrum zur Zeit ihre«:
ersten Aufleuchtens als dem Aussehen desselben nach dem Eintritt
der grofsen Veränderung in ihm im Juli 1901. Man kann aber nicht
annehmen, oder es ist vielmehr ausgeschlossen, dafs erst Anfang
November 1902 Lichtwellen mit dem Umweg ĂĽber den Lichtknoten U
zu uns gelangt seien, die auf direktem Wege uns bereits vor dem
Juli 1901 erreicht hatten: denn selbst wenn man den Umweg gleich
dem doppelten Abstand des Lichtknotens D von der Nova annehmen
wollte, was eine obere Grenze ist, bekäme man doch für den Abstand
desselben von der Nova bei der bekannten Lichtgeschwindigkeit zu
erhebliche Dimensionen, um ĂĽberhaupt noch eine merkbare Erhellung
zu erhalten, auch könnte man dann die ersten Wahrnehmungen dieser
Kondensationen am 20. September 1901 nicht ebenfalls als von der
Nova ausgehendes reflektiertes Licht erklären, da dieses dann die
Nova zu einer Zeit verlassen haben mutete, wo sie noch gar nicht
aufgeleuchtet war. Ist somit die Frage, ob die Bewegungen der Licht-
knoten fortschreitende Lichtwellen oder wirklich materielle Massen-
transporte gewesen sind, auch durch die Aufnahme des Spektrums durch
Perrine nicht entschieden, 6o ist doch der Versuch dazu mittelst
einer 34 stĂĽndigen Exposition aller Achtung wert. Rp.
' t
Eine grofse Nebelgruppe unweit des Poles der Milchstrafse
beschreibt und untersucht Prof. Wolf in Heidelberg in seiner ersten
Publikation des astrophysikalischen Observatoriums auf dem König-
stuhl. Es ist bekannt, dafs die Verteilung der Nebelflecke im Gegen-
satz zu der der Fixsterne mit dem sphärischen Abstand ihres Ortes
von der Milchstrafse zunimmt, aber dennoch mufs es Verwunderung
erregen, in dem gröfstmöglichen sphärischen Abstand von der Milch-
strafse, nämlich am Nordpole derselben, einen so ungeheuren Reich-
tum an Nebelflecken zu finden, wie ihn Wolf photographisch fest-
gelegt hat. Um das Zentrum 12 h 4S « H.A. und 2s»» Deel, finden
sich auf dieser Platte von *' Breite und 5 " Höhe, also auf 30 Quadrat-
graden 152-i Nebelflecke, also ĂĽber 50 auf den Quadratgrad, ĂĽber 10
auf eine Fläche, wie sie der Vollmond bedeckt. Die allermeisten
dieser Objekte waren vorher unbekannt, denn der grofse Nebelkatalog
von Üreyer gibt an derselben Stelle nur 7!» Nebelflecke (und 3.
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55«»
welche sich am angegebenen Orte nicht wieder auffinden lieĂźen),
so daĂź zu jedem bekannten Nebel 1* neu hinzu entdeckt wurden. Ee
handelt sich eben um so feine Gebilde, dafs das Auge, wenn sie be-
wegt das Fernrohr passieren, nur von den hellsten einen Eindruck
empfängt, während die photographische Platte, auf welche das Licht
2'/2 Stunden ununterbrochen wirkte, sie getreu noch aufzeichnet.
Auf der angegebenen Fläche standen aber die Nebel nicht
gl eichmäfsig verteilt, sondern wurden immer dichter gegen ein Zentrum,
das sich bei graphischer Darstellung in 12 k 54 m RA. und 28" 40'
Deel, offenbarte. Hier finden sich auf einer Fläche von nur 1 / , r> Quadrat-
grad, also nur dem dritten Teil der Vollmondfläohe, 68 Nebel stehend.
Kennzeichnet sich dadurch sohon das Ganze als eine zusammen*
gehörige Gruppe, etwa wie die beiden allerdings auch dem unbe-
waffneten Auge auffälligen Magellhanischen Wolken unweit des
äquatorialen Südpoles, so wird die physische Zusammengehörigkeit
der Glieder dieser Gruppe nooh durch folgendes bewiesen. Eine
grofse Zahl dieser kleinen Nebelflecke waren von regelmäßiger Ge-
stalt und zwar „andromedaförmig", d. h. ähnlich dem bekannten
Andromeda-Nebel, welcher nahezu eine in einer Ebene liegende regel-
mäßige Spirale bildet, gegen welche wir nur schräg seitlich blicken,
ao dafs ihre äußere Umgrenzung für uns zur Ellipse wird. Solcher
kleinen Nebelellipsen fanden sich 334 oder 2S "/0 in der Gruppe. Mehr
als jeder vierte Nebel besafs diese interessante Gestaltung. Wolf be-
stimmte nun die Richtungen, in welohen die grofsen Achsen dieser
Ellipsen verliefen, und fand fiir die Positionswinkel derselben die
Werte
0 0— ir," in 32 Fällen
20 »- 35 o „ 40 „
40°— 55° „ .V.i „
60 »— 75« „ 65 „
80"— i»5« „ 42 „
100»— 115« ., 3S „
120 0-135» „ 36 ..
140«-155 0 „ 12 r
](>0»— 175» „ 10 „
Es ist also offensichtlich, wie die Mittellinien dieser Nebelellipsen
die Richtungen um 60« herum bevorzugen und ein wie kleiner Teil
hierzu senkrecht steht in 150° Positionswinkel. Damit verrät sich
aber nur eine weitere Beziehung zum Ganzen. Auf einer Karte,
welche die Dichtigkeitszunahme der Nebel nach dem Zentrum dar-
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5»;o
stellt, erkennt man deutlich, dafs die dichtesten Stellen eine längliche
Form für die ganze Gruppe ergeben und dafs die Längsachse der-
selben ebenfalls in 60 0 PositionsmiUe) verläuft Es ist also die
Richtung der Hauptebene, gegen welche das ganze System symmetrisch
liegt, in den Lagerungsformen der einzelnen Glieder derselben, den
Ebenen, in welchen diese Spiralnebel liegen oder welche diese EUipsoide
symmetrisch teilen, bevorzugt Das ganze merkwürdige „Nebelnest-
liegt dem Nordpol der Milchstrafse sehr nahe, nur 1 0 nördlich und
1 " östlich von demselben. Trotz der relativ unsicher bestimmten
Lage des Milchstrarsen poles scheint es aber doch nicht möglich, ihn
direkt in dem Zentrum des Xebelnestes anzunehmen, so dafs eine
strenge Beziehung zwischen diesem System höherer Ordnung und
unserer Milchstrafse sich wohl nicht aufstellen läfst Rp.
Die Gebilde des Mondes ähneln in hohem Grade der Oberfläche
einer dicken Substanz, die beim Kochen erstarrt ist Versuche mit
Gips ergeben in der Tat Formen, die mit den Kratern des Mondes
ĂĽberraschende Ăśbereinstimmung zeigen. Da die Hypothese ganz halt-
los ist dafs der Mond in flüssigem Zustande seine heutige Oberfläche
erhalten habe, so sind die Versuche, eine auf besserer Grundlage
beruhende Theorie der Mondgebilde aufzustellen, von hohem Inter-
esse. Ein Herr Burns verlegt die Entstehung der Krater in die Zeit,
wo der Mond eine starre Rinde über einem zähen Kern besafs, und
stellt Versuche mit Pech an, das ja bei gewöhnlicher Temperatur
ein fester Körper, aber doch gleichzeitig zähe genug ist, um sich
nach und nach der Form der jeweiligen Unterlage anzupassen, also
etwa ein Gefäfs auszufüllen, auf dem es liegt Denkt man sich nun,
dafs die schweren Bestandteile des Mondes immer mehr nach der
Mitle sanken, während die leichteren nach oben stiegen, so drückten
diese zuletzt gegen die feste Rinde. Diese gab an einigen Stellen
dem Drucke teilweise nach, bog sich nach oben und bildete so die
Gebirge; an anderen brach sie durch: dann strömte das Innere ent-
weder als Lava aus, oder es verflog gasförmig bei dem plötzlich nach-
lassenden Druck. Das gab dann Höhlungen, die heutigen Krater.
Demgemäfs wird nun folgender Versuch iremacht Ein Gefäfs mit
einem vergeh raubbaren Loch im Boden wird voll flĂĽssiges Pech ge-
gossen. Ist dieses erstarrt, so wird jenes Loch geöffnet, ein Hohlraum
hergestellt, mit Luft oder einer leichten FlĂĽssigkeit wie Alkohol, Benzin
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561
oder Ammoniak, gefüllt, und dann das Loch verschlossen. Läfst man
das i^anze nun an einem warmen Orte stehen, dann steigt der Inhalt
jenes Loches naoh einigen Tagen langsam nach oben; es bildet sich
eine Blase, diese platzt, die FlĂĽssigkeit (liefst als Lava ab, und es
bleibt ein Gebilde zurück, das dem Mondkrater sehr ähnlich sieht.
Diese Ähnlichkeit würde wohl noch gröfser sein, wenn nicht die Ober-
flächenspannung des Peches eine hemmende Wirkung ausübte, die bei
den grofsen Fläohen auf dem Monde nicht auftreten konnte. R
t
Neues vom Straufs.
Bei der grofsen Beliebtheit, deren sich die Straufsfedern in der
gesamten Damenwelt erfreuen, dĂĽrfte es wohl nicht uninteressant sein,
einige authentische Daten eines Fachmanns ĂĽber die Erzeugung der
Federn und die Zucht und Lebensweise der kostbaren Vögel zu er-
fahren — Daten, die teilweise auch manchen landläufigen Irrtum be-
richtigen.
In vielen Naturgeschichten und BilderbĂĽchern finden wir den
Straufs als ein WĂĽstentier bezeichnet, auf dessen KĂĽcken Neger ein-
hergaloppieren. Das ist ganz falsch. Der Straufs kann schon des-
halb kein Wüstenvogel sein, weil er zu seiner Ernährung ungeheuer
viel WT asser und GrĂĽnfutter braucht, Dinge, die es bekanntlich in der
WĂĽste fast gar nicht gibt. Ebensowenig ist er imstande, schwere
Lasten, wie einen Neger, längere Strecken zu tragen.
Ein Herr W. H. Bentley, der im Jahre 1883 zu San Digo
(Kalifornien) die erste Straufsenfarm anlegte und mit vielen Schwierig-
keiten zu kämpfen hatte, erzählte kürzlich in der „Arena- Einzel-
heiten ĂĽber das Leben und die Gewohnheiten des Straufses. Danach
ist zum Beispiel die Behauptung, dafs der Vogel Straufs, wenn er sich
in Gefahr glaubt, den Kopf tief in den Sand gräbt, nichts als eine
Fabel. Sie dĂĽrfte daher entstanden sein, dafs das Tier mit Vorliebe
im Sande wĂĽhlt, um nach Kieselsteinen zu suchen, die es in Massen
verschluckt. Das Brutgescbäft besorgen Männchen und Weibchen
zusammen. Von 8 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags sitzt der
Straurs auf den Eiern, die übrige Zeit die Straufsin. „Er- begnügt
sich mit dem Achtstundentag, „sie" mag dann geduldig die übrige
Zeit auf dem Neste sitzen. Nach sechs Wochen kriechen die Jungen
aus der harten Schale. Acht Monate spater erfolgt schon die erste
Rupfung, doch sind die Federn fast noch wertlos. Die Federn wachsen
Bimmel ond Krd». 180». XV. U ^6
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562
ziemlich langsam nach, so dafs man sie nur alle acht Monate rupfen,
das heifst ausschneiden kann. Sind die Federn so weit gewachsen,
dafs man die Ausschneidung vornehmen kann, wird dem Straufs
ein Tuch rasch ĂĽber den Kopf geworfen und er in die Ecke der Ab-
zäunung gedrängt, in der er sich befindet, wo ihm dann ohne Schwierig-
keit 330 Federn abgeschnitten werden. Die wertvollsten sind die 26
langen schwarzen oder grauen FlĂĽgelfedern.
Die Federn sortiert man sorgfältig. Viele haben nur geringen
oder gar keinen Wert. Die tadellosen werden der Länge naoh über-
einandergelegt, gewasohen und getrocknet, indem man von dem breiten
Ende gegen die Spitze zu so lange mit der Hand darüber fährt, bis
sie vollständig trocken sind. „Wenn die Damen ihre nafsgewordenen
Federn auf diese Weise behandeln wollten, könnten sie sehr viel
Geld ersparen, da die auf diese Art behandelten Straufsfedern nicht
umzubringen sind," bemerkt Herr Bentley.
Die Naturfedern worden folgendermafsen in Putzfedern umge-
staltet. Man wählt nur die tadellosen Stücke, die von ganz gleicher
Länge und Breite sein müssen. Die untere Seite der Feder, die dazu
bestimmt ist, die obere der Putzfeder zu bilden, wird bis dicht an das
Gerippe so lange mit einem Falzbein oder Glas gestrichen, bis sie
ganz glatt und flach ist; ähnlich wird mit drei bis fünf anderen ver-
fahren, die dann ĂĽbereinandergelegt und zusammengeheftet werden,
um eine schöne Putzfeder zu bilden, die nun mittels einer stumpfen
Klinge gekräuselt wird.
Wenn man bedenkt, dafs die Zucht dieser Riesenvögel nicht nur
kostspielig, sondern auch gefährlich ist, wird man begreifen, weshalb
die in den Handel kommenden schönen Federn so teuer sind. Die
Vögel bedürfen wachsamer Pflege und versohlingen eine Menge
Futter, das hauptsächlich aus Körnerfrüchten und frischem Grase be-
steht. Ist letzteres nicht zu haben, so nehmen sie auch mit einem
Häcksel von Heu und Luzerne vorlieb; Fleisch oder gekochte Speisen
aber verschmähen sie vollständig. Das Männchen wird leicht wild
und ist im Zorn imstande, den stärksten Mann zu töten, da es seine
langen Klauen mit furchtbarer Kraft gobraucht. Das Weibchen ist
zwar ganz zahm und ungefährlich, hat aber nicht so schöne Federn
wie das Männchen.
Es ist merkwĂĽrdig, dars dieser Vogel, dessen Federn so sehr
begehrt werden, zu den häßlichsten und plumpsten Geschöpfen der
gefiederten Welt gehört. Seine ungeheuer langen Beine sind voll-
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Ă–63
ständig nackt, ebenso sein gestreckter, fabelhaft dünner Hals; nur
seine Augen sind schön, sie haben einen sanften Ausdruck.
Unseren Vogelfreunden wird es wohl zur Beruhigung dienen,
erfahren zu haben, dafs die Straufsfedern nicht, wie die Flaumen un-
serer Gänse, bei lebendigem Leibe ausgerupft, sondern ganz schmerz-
los ausgeschnitten werden. Die Damen können also ohne allzugrofse
Gewissensbisse sich den Luxus gestatten, in Straufsfedern zu schwel-
gen, um so mehr, als sie infolge der gĂĽnstigen Ergebnisse der in den
letzten Jahren in Nordamerika eingefĂĽhrten Zuoht in Zukunft billiger
zu werden versprechen. B. K— r.
*
Ein mustergiltiger Spitalbau.
Da Ungarn trotz seiner riesigen Fortschritte in manchen Dingen
noch weit zurĂĽck ist, mufs es doppelt angenehm ĂĽberraschen, dafs
seine Hauptstadt wenigstens in einer Hinsicht entschlossen scheint,
an der Spitze der Kultur einherzuschreiten — auf dem so sehr wich-
tigen Gebiete des Krankenhauswesens. Während z. B. in dem grofsen
Wien mit seiner imponierenden medizinischen Vergangenheit durohaus
nicht mustergiltige Spitalszustände herrschen, erfreut sich Budapest
seit mehreren Jahren einer ganzen Reihe neuer, aufs modernste ein-
gerichteter und vorzüglich geleiteter Krankenhäuser der verschiedensten
Art. Dazu ist nun seit 1898 das „neue Johannisspital" im Stadtteil
Ofen getreten, welches naoh Aussage vieler, auch deutscher, Fach-
männer das gegenwärtig großartigste Musterkrankenhaus des euro-
päischen Festlandes sein soll.
Vor allem ist zu erwähnen, daß diese aus der Initiative ihres ebenso
angesehenen wie tĂĽchtigen Diroktors Prof. Dr. Andreas Ludwik
hervorgegangene Anstalt im Pavillonstil erbaut i6t, jenem leider noch
viel zu wenig verbreiteten Spitalbausystem, dessen klassisches Muster
das berĂĽhmte Londoner Thomashospital ist, ĂĽber welches so viel ge-
schrieben worden ist. Allein während das letztere nur sieben „Pa-
villons" hat, besteht das neue Ofner Krankenhaus, das nicht weniger
als 3 Millionen Kronen gekostet hat, aus vierzehn Einzelgebäuden:
Direktionshaus (mit Aufnahmecomptoir, Beamten Wohnungen, Ă„rzte-
kasino, Sitzungssälen, Telephonziramer , Eingangstor, Bücherei,
Apotheke etc), Kirche, Dampf küche, Morgue, Dampf Wäscherei, Pavillons
für Chirurgie, Gynäkologie, Augenheilkunde, Kinderkrankeiten, innere
Krankheiten (für diese allein sind zwei große zweistöckige Bauten
36 •
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I
564
vorhanden) etc. Der ganze Komplex bedeckt rund 60 000 Quadrat-
meter städtischen Bodens in entzückender Lage am Abhang des be-
kannten Schwabenberges; von Wäldern umgeben, hat er naturlich
reine Luft und steht abseits vom Häusermeer. Dabei ist er von zwei
oder drei Seiten gegen den Wind geschĂĽtzt und besitzt Gartenanlagen.
Die Gebäude sind durchweg in einfaohem, aber überaus gefälligem
Rohziegelstil gehalten und durch sehr grofse Zwischenräume von-
einander getrennt Auch im Innern hat die Stadtverwaltung eine herz-
erfreuende Raum Verschwendung getrieben. Die geräumigen Kranken-
säle, Bade-, Waschzimmer u. s. w. stehen mit Loggien in Verbindung,
die den Leidenden einen längeren Aufenthalt im Freien auch dann
ermöglichen, wenn ein Spaziergang im Garten nicht erlaubt werden
kann. Der unvergleichliche, von allen Seiten leicht zugängliche
Operationssaal ist mit seiner wahrscheinlich nirgends ĂĽbertroffenen mo-
dernsten Einrichtung ein wahrer Segen fĂĽr die internen wie die
Ambulanz -Patienten. FĂĽr manche Krankheitsarten ist ein zweiter,
kleinerer Operationssaal vorhanden.
Außerordentlich zweckmäfsig eingerichtet ist der von dem be-
rĂĽhmten Professor Wilhelm Goldzieher geleitete Augenpavillon.
Auch die übrigen Pavillons entsprechen in jeder Hinsicht den höchsten
Anforderungen, doch wĂĽrde es uns zu weit fĂĽhren, auf die Einzel-
heiten einzugehen. Wichtig sind auch die grofsartigen Heiz-, Be-
leuchtungs- und Lüftungsvorrichtungen. Eine der denkbar gröfsten
und besten Spezialanlagen sorgt fĂĽr die elektrische Beleuchtung der
Höfe duroh Bogen-, der inneren Räume duroh Glühlicht. Das
letztere kann in den Krankensälen auf Rotglühen geregelt werden,
so dafs ein wohltuendes Halbdunkel herrscht — eine in Spitälern
bislang wahrscheinlich einzig dastehende Bequemlichkeit. Die centrale
Dampf luftheizung fufst auf den neuesten Errungenschaften der Wissen-
schaft in bezug auf Hygiene und Handhabungsleichtigkeit.
Der auf einem eigenen Wege erreichbare Pavillon fĂĽr ansteckende
Kinderkrankheiten hat, was rĂĽhmend hervorgehoben werden mufs,
vier besondere Luftreinigungs-, bezw. Heizungskammem, wodurch
auch beim Ventilieren eine vollständige Absonderung der Krankheits-
stoffe erzielt wird.
Der eingefriedete und zweiseitig mit einem Trockengraben um-
gebene Komplex gehört zu den gröfsten Sehenswürdigkeiten Budapests.
— r.
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r>i>5
Interessante bauliche Prophezeiungen.
Edison hat bekanntlich schon viele hervorragende Erfindungen
gemacht Seine neueste aber dĂĽrfte berufen Bein, die bisherigen an
Bedeutung zu übertreffen, wenn man seinen eigenen Äußerungen —
woran kaum zu zweifeln ist, da er seine Leistungen stets sehr be-
scheiden beurteilt hat — Glauben schenken darf. Er behauptet
nämlich, einen neuartigen Portlandzement erfunden zu haben, welcher
'euereicher ist und viel billiger hergestellt werden kann als Ziegel
oder Stein. Er soll fĂĽr jedes Haus von der HĂĽtte bis zum Palast
geeignet sein und die gute Eigenschaft besitzen, um Eisen- oder
Stahlrahmen gegossen werden zu können. Naoh Edisons Angabe
ist der neue Baukonkret aus Sand, Zement und zerriebenem Stein
zusammengesetzt Jedes einzelne Stockwerk sowie das Daoh und die
Treppen werden buchstäblich gegossen werden, und das Giefsen wird
nioht einmal irgendwelche besondere Geschicklichkeit erfordern. Der
Bau eines Hauses wird nur wenige Tage dauern, und dem kĂĽnstlerischen
Geschmack bleibt ebensoviel Raum zur Entfaltung wie bei der gegen-
wärtigen Bauart. Der grofse Erfinder glaubt, dafs die Anwendung
seiner Zementmischung- die Erlangung sohöner Wohngelegenheiten
riesig verbilligen würde; wahrscheinlich könnte dann ein armer Mann
fĂĽr 10 Doli, monatlich schon einen kleinen Palast mieten.
Das Bessere ist des Guten Feind. Edisons Zukunftsbaumaterial
würde gewifs eine Umwälzung in der Architektur hervorrufen, aber
es hat, bevor es nooh praktisch erprobt werden konnte, bereits eine
gefährliche Konkurrenz erhalten in Henri vaux' „Steinglas'1. Der
Erfinder, ein berühmter französischer Glasfabrikant und Sachverständiger,
war der Erbauer des famosen Lichtpalastes der Pariser Weltausstellung
von 1900. Er prophezeit aufs bestimmteste, das Steinglas werde bald
der beliebteste Hausbauston' sein und die Ziegel, den Granit etc. ĂĽber-
flügeln. Tatsächlich hat es die schwersten Proben, denen man ein
Baumaterial ĂĽberhaupt unterwerfen kann, gut bestanden. Zu seiner
ZertrĂĽmmerung ist dreimal so viel Gewalt erforderlich wie zum Zer-
schlagen von Granit Es ist gegen Hitze und Kälte weit weniger
empfindlich als Stahl; seine Widerstandskraft ĂĽbertrifft die des Marmore
um das Zwanzigfache und sein Reibungsverlust ist weit geringer als
der des Porphyrs. Diese ausgezeichneten Eigenschaften machen das
Steinglas ungemein dauerhaft; andere VorzĂĽge sind: Reinlichkeit
Sohönheit leichte Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit und eine
aufserordentliohe Billigkeit welche von der Unerschöpfliohkeit der
zur Erzeugung dienenden Abfallstoffe herrĂĽhrt.
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56Ă–
In letzterer Hinsicht kommt vornehmlich in Betracht die Schlacke,
welche seit Generationen die Berg- und HĂĽtten gegenden verunstaltet;
aber auch sonst kann fast jedes dem Einflute des Feuers zugängliche
Material zu Steinglas verarbeitet werden. Nicht nur die Mauern und
das Fundament, sondern auch die Treppen, Kamine, Decken, Balustraden,
das Getäfel etc. können nach Henriveaux' Meinung aus Glas gemacht
werden. In Stil und Ausschmückung würde dem persönlichen Ge-
schmack der breiteste Spielraum bleiben. An UnverwĂĽstlichkeit und
an Leichtigkeit der Reinhaltung wären die Glasbauten unübertrefflich.
Man darf annehmen, dafs im 20. Jahrhundert das Glas ĂĽber-
haupt und das Steinglas insbesondere als Baumaterial eine erhebliche
Rolle spielen wird — aber auch als Strafsenpflasterungsstoff. In
Paris sind bereits mehrere Strafsen mit Steinglas gepflastert Begreif-
licherweise lassen sich dieselben leicht reinhalten, denn sie erzeugen
keinen Schmutz und der vorhandene haftet nicht an dem Pflaster.
Der einzige Nachteil, der größere Lärm, liefse sich durch die An-
wendung von Gummihufeisen und Gummiradreifen beseitigen. Wenn,
wie voraussichtlich, der Automobilismus sich immer mehr ausbreitet,
wird die Verdrängung der Pferde das Gummihufeisen sogar unnötig
machen. • * *
t
Ein trockener Salzsee.
Inmitten der Wüste von Colorado, etwas nördlich von der mexi-
kanischen Grenze, ca. 80 m unter dem Meeresspiegel, erstreckt sich
ein mehr als 400 ha umfassender trockener Salzsee. Seine Oberfläche
ist weifs wie Schnee, und wenn die Sonne darauf scheint, ist das
Funkeln und Glitzern fĂĽr ein menschliches Auge zu blendend. Der
See wird durch die zahllosen Salzquellen der anstofsenden Vorberge
gespeist, das Wasser verdampft in der schrecklichen Hitze sehr rasch
und hinterläfst einen fast reinen Salzniederschlag, der eine zehn bis
zwanzig Zoll dicke Kruste bildet
Um das Salz gewinnen zu können, wird die ungeheure Fläche
mit einem Salzpflug bearbeitet — ein massives, vierräderiges, durch
Dampf getriebenes und von zwei Männern geleitetes Ackergerät Die
schwere stählerne Pflugschar macht eine breite, aber nur oberfläch-
liche Furche, indem sie die Salzkruste in parallel laufende Raine auf
beidon Seiten aufwirft. Es werden täglich ungefähr siebenhundert
Tonnen gepflĂĽgt. Die Arbeiter wenden dann mit Hauen die Salz-
blöcke im Wasser hin und her, um sie von den Erdpartikelohen zu
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567
reinigen. Nachdem dies geschehen, stapeln sie das gewaschene Salz
zu kegelförmigen Wällen auf, die später nach Bedarf in die Mühle
gebracht werden. Das Wasser, in welchem die Kristalle gewaschen
werden, ist ohnehin schon so mit Salz gesättigt, dafs die Kristalle
durch das Waschen kaum einen Verlust an Salzgehalt erleiden; selbst
der 900 Fufs tiefe artesische Brunnen, den man zur Aushilfe fĂĽr die
Salzwäscherei angelegt hatte, ist stark alkalisch. Gegenwärtig werden
blofs ca. 400 Ar der ungeheuren Fläche bearbeitet, da sich fast un-
mittelbar, nachdem der Dampfpflug ĂĽber dieselbe gefahren, eine neue
Kruste bildet.
Etwas nördlich von dem Salzfeld liegt die kleine Niederlassung
Salton, wo sich die Trockenwerke und MahlmĂĽhlen befinden. Hier
werden die Salzblöcke zuerst mit einem Knacker zerkleinert und dann
in der MĂĽhle zu Pulver gemahlen, gesiebt und fĂĽr den Export in
Säcke gepackt. Das auf diese Weise gewonnene Salz ist das denkbar
feinste und beste; es werden jedoch auch grofse Mengen in unraffi-
niertem Zustand unter dem Namen „hide saltu in den Handel ge-
bracht.
Die in Salton beschäftigten Arbeiter sind Indianer und Japaner,
weil kein Weifser die ungeheure Hitze auf die Dauer auszuhalten
vermöchte. Mehrere Wochen hindurch zeigt das Thermometer durch-
schnittlich 140 0 Fahrenheit (== 48 0 R.), und die sich in dem blendend
weifsen Salzfeld abspiegelnde Sonne glĂĽht wie ein elektrischer Schmelz-
ofen. Selbst die abgehärteten, schmächtigen Japaner können nur eine
Arbeit verrichten — das Nähen der Säcke, in welchen das Salz ver-
packt wird; das PflĂĽgen und Mahlen wird ausschliefslich von Coa-
huila-Indianern besorgt Die mit Salzpartikelchen zersetzte Luft er-
zeugt einen fast unerträglichen Durst, den die Rothäute mit dem
warmen, salzigen, artesischen Brunnenwasser vergeblich zu löschen
trachten.
Unter gewissen atmosphärischen Verhältnissen erscheint über
dem Salzfeld eine Fata Morgana, die grofse blĂĽhende Felder und
prächtige Städte vorspiegelt. Auch das Mondlicht erzeugt oft auf der
glitzernden Salzfläche ganz seltsame, wunderbare Effekte. Eine merk-
wĂĽrdige Verwandlung erfuhr dieser trockene Salzsee, als im Jahre
1891 ein Austreten des Coloradoflusses die Salzfläche in einen wirk-
lichen See verwandelte, doch dauerte dies nur ganz kurze Zeit, da in
dieser Region die Verdampfung des Wassers rasch erfolgt. B. K.
*
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568
Schutzanzug gegen elektrische Hochspannung. Es ist bekannt,
dafs das Arbeiten in elektrischen Hochspannungsanlagen, Masehinen-
und Transformatorenstationen oft mit Lebensgefahr verbunden ist, und
die Unglücksfälle, die durch unvorsichtige Berührung von Drähten,
in denen Hoohspannung herrscht, täglioh entstehen, sind leider recht
zahlreich. Der Schutzanzug des Prof. Artemieff beseitigt alle diese
Gefahren. Er besteht aus einem ganz feinen, biegsamen Metallgewebe,
welches teilweise auf Leinwand gearbeitet ist, um ihm gröTsere Halt-
barkeit zu verleihen, und den ganzen Körper, auch Kopf, Hände
und Füfse bedeckt. (Die Beweglichkeit der Hände wird infolge der
grofsen Feinheit des Gewebes nicht behindert) Da der elektrische
Widerstand des Drahtgewebes einige hunderttausendmal kleiner ist,
als der des menschlichen Körpers, so wird ein durch unvorsichtiges
Berühren irgend welcher Hochspannungsdrähte entstehender Kurz-
schlufsstrom nicht durch den Körper, sondern durch das Gewebe fliefsen,
oder besser gesagt, der Teil des Stromes der durch den Körper fliefst,
kann vernachlässigt werden, da er vollkommen unschädlich ist Der
Anzug hält nun einen Strom von 200 Ampere dauernd, von 600 Amp.
einige Sekunden lang aus, ohne durch die entstehende Wärme zu
verbrennen (zum Vergleich: Ein Motor der elektrischen Bahn fĂĽhrt
durchschnittlich 70 Amp.), und auch bei größeren Stromstärken ist
die Wirkung eines Kurzschlusses nioht tödlich, sondern erzeugt nur
Brandwunden. Bei Entladungsströmen von Kabeln, die durch ihre
hohe Spannung (bis 200 000 Volt) verniohtend wirken, bewährt sich der
Anzug ebenfalls vortrefflich duroh die Eigenschaft schnell osoillierender
Ströme (die Entladungsströme eines Kabels sind solche), auf der Ober-
fläche eines Leiters zu bleiben. — Es sind also in Zukunft selbst in
den gefährlichsten Hoohspannungsanlagen Unglücksfalle kaum noch
denkbar. Die AnzĂĽge werden von der Firma Siemens & Halske
fabriziert. Dr. M. v. P.
f
Erdgas in Oberösterreich. Kürzlich brachten wir eine Nach-
richt ĂĽber eine bei Dortmund in den dortigen Steinkohlenlagern er-
bohrte Erdgasquelle. Wir sind heute in der Lage, ĂĽber ein weiteres
europäisches Erdgasvorkommen zu berichten, das sich zu Wels in
OberĂ–Bterreich befindet und ĂĽber das O. Stephani kĂĽrzlich in der
Zeitschrift für angewandte Chemie einen längeren Aufsatz veröffent-
licht hat.
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569
Das Erdgas ergab bei der chemischen Analyse folgende Zahlen:
Probe 12 3 4
Gehalt in Prozenten
Kohlensaure 1,2 0,17 0,7 0,6
Sauerstoff 1,9 0,62 1,05 1,4
Schwere Kohlenwasserstoffe . . 0,0 0,7 3,6 6,8
Wasserstoff 0,0 0,0 2,0 3,8
Kohlenoxyd 0,7 0,0 4,8 5,65
Methan 79,7 95,55 85,6 80,45
Stickstoff 16,5 2j96 2j25 M_
100,0 100,00 100,00 100,10
Das Gas ist somit hauptsächlich Methan, jedoch mit starken Bei-
mischungen, namentlich an Stickstoff. Es ist farblos und hat einen an
Acetylen und an schwefelhaltige organische Stoffe erinnernden Ge-
ruoh. Jedoch war Schwefelwasserstoff in ihm nicht nachzuweisen.
Die Oasausströmungen wurden an Ort und Stelle aus drei Bohr-
löchern in Gasometern gesammelt und zu Heizzweoken, wie zur Be-
leuchtung in ausgedehntem Mafse benutzt
Es ist in Aussicht genommen, aufser den bereits bestehenden
Bohrlöohern nooh neue niederzutreiben, um das Gas besser nutzbar
machen zu können und mit seiner Hilfe industrielle Anlagen zu be-
treiben. Auoh gibt man sich der Hoffnung hin, unter Umständen bei
diesen Bohrungen vielleicht Petroleum antreffen zu können. Letzteres
ist jedooh bis jetzt nur eine blofse Vermutung, da Petroleum mit dem
Gas nioht zutage getreten ist. Jedoch schleudert das Gas Wasser
und Sohlamm mit aus, in weloh ersterem gewisse Mengen an Jod und
Brom enthalten sind. Es ist nooh nicht festgestellt, wie grofs diese
Mengen im Durchschnitt wohl sein mögen; jedooh soheinen sie nioht
so bedeutend zu sein, als dafs sich darauf die industrielle Verwertung
auch dieser Stoffe grĂĽnden liefse. Vielleicht dĂĽrften sie aber anderer-
seits genügen, um das Wasser für Heilzwecke verwenden zu können.
Jedenfalls ist das beschriebene Vorkommen interessant genug,
um die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sioh zu lenken. G. R.
*
Stickstoffgewinnung aus der atmosphärischen Luft. Sehr in-
teressante Mitteilungen über Stickstoffgewinnung aus der atmosphä-
rischen Luft veröffentlicht soeben Prof. Täuber in der „Chemischen
Industrie". Bekanntlich ist die Nutzbarmachung des an sich kaum
verwertbaren, aber in Gestalt seiner Verbindungen sehr kostbaren
Stickstoffes aus der atmosphärischen Luft eine der wichtigsten Auf-
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570
gaben der modernen chemischen Technik, die bisher meist durch die
Einwirkung elektrischer Ströme auf Luft versucht worden ist, aber
ohne nennenswerten technischen Erfolg. Professor Tauber hat nun
Stickstoff auf ein Gemisch von Eisenpulver, Kohle und Soda bei
GlĂĽhhitze einwirken lassen und dabei eine weitgehende Umwandlung
des Stickstoffes in Cyanverbindungen erhalten, die als solche nament-
lich in der Goldindustrie bei der Auslaugung der Golderze einen
immer steigenden Verbrauch finden. Die technische AusfĂĽhrung des
Verfahrens scheiterte vorläufig noch an dem Umstände, dafs der zu
verwendende Stickstoff frei von Sauerstoff sein mute, so dafs zunächst
eine Beseitigung des in der atmosphärischen Luft enthaltenen Sauer-
stoffes aus dieser vorgenommen werden müfste. Prof. Täu b er ist indes
noch mit weiteren Versuchen beschäftigt, seine Erfindung auch für
die Technik nutzbar zu machen.
t
Zum Nachweise von Pferdefleisch hat E. Ruppin einen Bei-
trag geliefert (Zeitschrift fĂĽr Untersuchung der Nahrungs- und Go-
tt ufsmittel, 5. Jahrgang 8. Heft 1902).
Wenn man einem Tier der Spezies A (z. B. Kaninchen) Eiweifs-
körper eines Tieres der entfernter stehenden Spezies B. (z. B. Hühner)
durch Impfung einverleibt, so entstehen in dem Serum des Tieres
der Spezies A Stoffe, sogenannte Präcipitine, welche die eigentüm-
liche Eigenschaft haben, in den Sera von Tieren der Spezies B
(Hühner) oder einer verwandten Spezies (Tauben) Niederschläge zu
geben, nicht aber in den Sera anderer Tiere. Impft man z. B. ein
Kaninchen mit einem Auszug von Pferdefleisch, so erhält man ein
Serum, das mit Pferdefleischauszug einen Niederschlag erzeugt, da-
gegen mit Hinderfleisch- oder Schweinofleischserum nicht. (Die Re-
aktion ĂĽbertrifft an Feinheit alle den gleichen Zwecken dienenden
chemischen Reaktionen.) E. Ruppin gelang es auf diese Weise, in
Rinderhackfleisch noch 2 pCt. beigemischtes Pferdefleisch nachzu-
weisen, ebenso erhielt er bei untersuchten Proben von Mettwurst
positive Resultate. Auszüge von Brühwürstchen, welche 5—10 Min.
gekocht hatten, ergaben noch einen Niederschlag. Dagegen erzeugte
Knoblauchswiirst aus Schweinefleisch keine TrĂĽbung des Kaninchen-
serums. Dr. M. v. P.
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571
Die halbkreisförmigen Kanäle im Ohr haben, wie man weife,
mit dem Gehör nichts zu tun, wohl aber mit der Fähigkeit, zu stehen,
zu gehen eto. Nun hat ein Jäger (G. P. Laudenbach) beim Prä-
parieren dieses Organs bei einer Schnepfe (scolopar rusticola), die ge-
schickt und schnell fliegt, die gute Entwicklung des genannten Ohr-
gangs beachtet, bei der Gans dagegen, die er zur Gegenprobe wählte,
grofse Einfachheit gefunden. Weitere Untersuchungen an 25 anderen
Vogelarten bestätigen die erste Vermutung, dafs gute Ausbildung der
halbkreisförmigen Kanäle mit geschickten Bewegungen des betreffen-
den Vogels zusammentrifft. — Man darf wohl vermuten, dafs dieses
Gesetz auch für andere Tierklassen gilt, und es wäre vielleicht hier
die körperliche Grundlage für angeborene Geschicklichkeit oder Un-
geschicklichkeit zu suchen. Wir dürften bei graziösen Frauen, bei
Malern, Bildhauern etc. auf gute Ausbildung dieser Kanäle rechnen.
A. S.
Prof. Dr. J. M. Pernter. Meteorologische Optik. Mit zahlreichen Text-
figuren. Wien und Leipzig. BraumĂĽller 1902. I. Abschnitt. Seite 1 bis
53 und Titelbogen. 1,80 M (2 K.). II. Abschnitt. Seite .V> bis 212.
4,20 M. (5 K.|
Das Buch, dessen erste Hälfte vorliegt, ist aus Vorlesungen hervorge-
gangen, die der Verfasser im letzten Jahrzehnt gehalten hat. Da die Kompen-
dien der Physik und Meteorologie der meteorologischen Optik nur wenig
Platz widmen können, also jeder, der nicht Fachmann ist, sich beinahe aufser
stände sieht, die hier auftretenden Fragen ohne viel Suchen studieren zu
können, so darf das Werk des gröfston Beifalls sicher sein.
Die beiden ersten Abschnitte behandeln die scheinbare Gestalt des
Himmelsgewölbes, die damit zusammenhängenden Erscheinungen und die
Erscheinungen, die den gasförmigen Bestandteilen der Atmosphäre allein zu
verdanken sind. Aus dem Inhalt des ersten Abschnittes sei besonders erwähnt
das durch Gaufs gewonnene Resultat, dafs die VerkĂĽrzung des Himmels-
gewölbes im Zenit, und damit zusammenhängend dio Vergrößerung der Gegen-
stände am Horizont herrührt von der Richtung unseres Blickes zur Stirn hin
oder geradeaus, so dafs also für den liegenden oder im Knie hängenden Be-
obachter die Erscheinung sich ändert. Aus dem zweiten Abschnitt sei die
normale Strahlenbrechung in der Atmosphäre erwähnt, die die in der Nähe
des Horizontes befindlichen Erd- und Himmelsgebilde hebt, die Scintillation.
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572
die Luftspiegelungen und die Fata Morgana. Da bei allen zu besprechenden
Erscheinungen alte und neue Veröffentlichungen von Beobachtern z. T. sehr
ausführlich wiedergegeben sind, so findet auch der Laie, der zunächst erst ein
klares Bild z. B. von den Erscheinungen der Fata Morgana haben will, aus-
gezeichnete Belehrung. Denen, die möglichst auf den Grund zu gehen wünschen,
bietet der Verfasser neben eingehender Erklärung der Erscheinungen auch die
mathematischen Theorien.
Verzeichnis der der Redaktion znr Besprechung eingesandten BĂĽcher.
(SchlĂĽte.)
Breusings nautische Tafeln. Im Verein mit O. Fuhrt und Dr. H. Weldau neu
zusammengestellt und herausgegeben von C. Schilling. Nebst Tier mag-
netischen Karten, entworfen von Prof. O. v. Neumayer. III. Aufl. Leipzig,
Heinsius Nachf., 11>02.
Chemische Experimente. Handreichung fĂĽr Lehrer und Seminaristen zum
Schulgebrauch und zur Selbstbelehrung von Th. Peters, M. Salomon.
O. Meyer. Mit 32 Figuren. Halle a. S., Gebauer-Schwetschke, 1903.
Dannemann, Fr. Grundrifs einer Geschichte der Naturwissenschaften, zu-
gleich eine EinfĂĽhrung in das Studium der grundlegenden naturwissen-
schaftlichen Literatur. I. Bd.: Erläuterte Abschnitte aus den Werken
hervorragender Naturforscher alter Völker und Zeiten. II. Aufl. Mit
57 Abbildungen, zum gröfsten Teil in Wiedergabe nach Originalwerken
und einer Spektraltafel. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1902.
David, L. Ratgeber für Anfänger im Photographieren. 23. Aufl. Halle a. S.,
Wilh. Knapp, 1903.
Dennert, E. Vom Sterbelager des Darwinismus. Stuttgart, Max Kielmann.
Diercke. Atlas fĂĽr Berliner Schulen. Bearbeitet und herausgegeben unter
Mitwirkung des Lehrervereins.
Digby, C. J. E. William. Natural Law in Torrestrial Phenomena. A study
in the causation of earthquakes, volcanic eruptions, windstorms, tempe-
rature, rainfall with a record of evidence. London, Hutchinson & Co.,
1902.
ĂĽinklay, L. E. Rasche Reisen deutscher Segler. (Deutsche Seewarte.) Bei-
heft I zu den Annalen der Hydrographie und maritimen Meteorologie.
Heft V. 1902.
Ed er, J. M AusfĂĽhrliches Handbuch der Photographie, n. Aufl. Heft 9:
Die Grundlagen der Photographie mit Gelantine-Emulsionen. Mit 30 Ab-
bildungen. Heft 10: Die Praxis der Photographie mit Gelantine-Emul-
sionen. Mit 206 Abbildungen. Halle a. S., Wilh. Knapp, 1903.
Encyklopädie der Photographie: Heft 42: G. Mercator, Die Ferrotypie.
Heft 43: P. Saldier, Die Wasserspiegelbilder. Halle a. S., Wilh.
Knapp, 1903.
Exner, Fr., und Haschek, E. Wellenlängen-Tabellen für spektralanalytische
Untersuchungen auf Grund der ultravioletten Funkenspektren der Ele-
mente. I u. II. Teil. Leipzig, Fr. Deuticke, 1902.
Fortschritte der Physik im Jahre 1902. Dargestellt von der Deutschen Phy-
sikalischen Gesellschaft. Halbmonatliches Literaturverzeichnis, redigiert
von Karl Scheel und Rieh. Assmann. L Jahrgang Heft 10—24. II. Jahr-
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573
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— Resume moteorologique de l'annee 1901 pour Geneve et le Qrand Saint-Ber-
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Geisteshelden-Biographien. V. Bd.: S. Rüg«, Columbus. Mit drei Bild-
nissen und zwei Karten. Berlin, Ernst Hof mann 8t Co.
Orujic, Dj. Das Wesen der Anziehuug und Abstofsung. Berlin, H. Peters,
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GĂĽnther, 8. Astronomische Geographie. Mit 52 Abbildungen (Sammlung
Göschen). Leipzig, Oöschener Verlag
Grigull, Th. Fr. Ein transneptunischer Planet Mit einer Tafel. OsnabrĂĽck,
Meinders 8t Elstermann.
GĂĽfsfcld, P. GrundzĂĽge der astronomisch-geographischen Ortsbestimmung auf
Forschungsreisen und die Entwicklung der hierfĂĽr mafsgebenden mathe-
matisch-geographischen Begriffe. Mit 95 eingedruckten Abbildungen.
Braunechwcig, Friedr. Viewog & Sohn, 1903.
Handwörterbuch der Astronomie. Herausgegeben von Dr. W. Valentiner.
Mit Abbildungen. Liefemng 24—28. Breslau, Ed. Trewendt, 1901 und
Leipzig, Joh. A moros. Barth, 1902.
Haas. Katechismus der Versteinerungskunde, eine Ăśbersicht ĂĽber die wich-
tigeren Formen des Tier- und Pflanzenreiches der Vorwelt. Zweite,
gänzlich umgearbeitete und vermehrte Auflage mit 234 Abbildungen und
einer Tafel. Leipzig, J. J. Weber, 1902.
Hesse, R. Abstammungslehre und Darwinismus. Mit 31 Figuren im Text.
(Aus Natur und Geistorwelt.) Leipzig, B. G. Teubner, 1902.
Hiber. Gravitation als Folge einer tTm Wandlung der Bewegungsform des
Äthers im Innern der wägbaren Materie. München, Herrn. Lukaachik,
1903.
Hildebrandt, M. Einzeitcn der Erde, ihre Dauer und ihre Ursachen. Berlin,
L. A. Kuntze, 1901.
Hofmann, K. Die radioaktiven Stoffe nach dem gegenwärtigen Stande der
wissenschaftlichen Erkenntnis. Leipzig, Joe. Ambroe. Barth, 1903.
Hübner, O. Geographisch-statistische Tabellen aller Länder der Erde. Her-
ausgegeben von Prof. Fr. v, Juraschek. Ausgabe 1902.
JahrbĂĽcher der K. K. Zentral-Anstalt fĂĽr Meteorologie und Erdmagnetismus.
Offizielle Publikation. Jahrgang 1902. Neue Folge, 39. Bd. Wien, 1902.
J aekel, O. Ăśber verschiedene Wege phylogenetischer Entwicklung. Mit
28 Textfiguren (Sonderabdruck aus den Verhandlungen des V. Inter-
nationalen Zoologeu-Kongresses zu Berlin 1901). Jena, Guat. Fischer,
1902.
Kayser, E. Lehrbuch der Geologie. In zwei Teilen. II. Teil: Geologische
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Stuttgart, Ferd. Enke, 1902.
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Scheel. Mit dem Bildnis Kundts, 534 Abbildungen und einer farbigen
Spektraltafel. Braunschweig. Friedr. Vieweg & Sohn, 1903.
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Gaertners Verlag, 1902.
Digitized by Google
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Sitten, Gebräuche, Feste und Zeremonien aller lebenden Völker. Mit
etwa 650 Abbildungen nach dem Leben. Lieferung 4—35. Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt.
Landsberg, B. Streifzuge durch Wald und Flur. Eine Anleitung zur Be-
obachtung der heimischen Natur in Monatsbildern. FĂĽr Haus und
Schulo bearbeitet. Mit 84 Illustrationen nach Originalzeichnungen von
Frau II. Landsberg. Dritte Auflage. Leipzig, B. G. Teubner, 1902.
Leman, A. Über Schattenphänomene bei Finsternissen. Vortrag, gehalten
a. d. Treptow-Sternwarte. Mit drei Tafeln und zahlreichen Figuren im
Text. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, 1*J02.
Linke, Fr. Moderne Luftschiffahrt. Mit 37 Abbildungen auf 24 Tafeln. Berlin,
Alfred Schall, 1903.
Maohacek, F. Gletscherkunde. Mit 5 Abbildungen im Text und 11 Tafeln.
(Sammlung Göschen.) Leipzig, Göschensche Verlagsbuchhandlung, 1902.
Marshall, W. Gesellige Tiere. No. 1 : Allgemeines. Tiergesellschaften ohne
Arbeitsteilung. No. 2: Die Arbeitsteilung, ihr Wesen und Wirken.
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schulvorträge für Jedermann. Leipzig, Dr. Seele & Co., 1901.
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der exakten Wissenschaften, enthaltend Nachweisungen ĂĽber Lebensver-
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575
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Barth, 1902.
Definitive Resultate aus den Prager Polhöhen-Messungen von 1889 bis 1892
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L. Weinek. Mit 1 Abbildung im Texte und 2 Tafeln in Lithographie.
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Voegler, R Der Präparator und Konservator. Eine praktische Anleitung
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Mit 36 Abbildungen im Text. Magdeburg, Creutzscher Verlag.
Voller, A. Elektrische Wellentelegraphie (sogen, drahtlose Telegraphier
Hamburg, Loop. Voss, 1903.
Wagner, A. Vitalismus? Eine aus der modernen naturwissenschaftlichen
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Vogel & Kreienbrink, 1902.
Weiler, W. Lehrbuch der Physik fĂĽr den Schulunterricht und zur Selbst-
belehrung. IV. Bd.: Kalorik: Lehre von der Wärme mit 95 in den Text
eingedruckten, meist farbigen Abbildungen. V. Bd.: Optik: Lehre vom
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Efelingen, J. J. Schreiber.
Weinschenk, E. OrundzĂĽge der Gesteinskunde. I. Teil: Allgemeine Ge-
steinskunde a's Grundlage der Geologie. Mit 47 Textfiguren und 3 Tafeln.
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Friedr. Vieweg & Sohn, 1903.
Weltall und Menschheit, Naturwunder und Menschenwerke. Geschichte der
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von Hans Kraemer in Verbindung mit hervorragenden Fachmännern.
Lieferung 4 - 32.
v. Wettstein. Der Neo-Lamarckismus und seine Beziehungen zum Darwinis-
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Winckler, H. Die babylonische Kultur in ihren Beziehungen zur unsrigen.
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Zeitschrift fĂĽr wissenschaftliche Zoologie, begrĂĽndet von C. Th. Siebold und
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Engelmann, 1903.
Ziegler, J. H. Die Universelle Weltformel und ihre Bedeutung fĂĽr die wahre
Erkonntnis aller Dinge. Erster und zweiter Vortrag. ZĂĽrich, Alb. MĂĽller,
1902 u. 1903.
Vorltg: ntrmtna Pnetel in Berlin. - braek: Wilhelm Uro««-« Bochdmckerei in Berlin -8ch6ü. bei*.
FĂĽr die Bednctien Tematwortllch : Dr. P. Schwein in Berlin.
CnberechtiffW Nnchdrnck »«• dem Inhelt dieeer Zeite«hrin «ntert.fi.
Ubenetnngerecht Torbehalten.
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