Skip to main content

Full text of "Wagneriana ... von dr. Arthur Seidl ..."

See other formats


Von  Palestrina 
zu  Wagner 


Arthur  Seidl 


J?arüartj  (College  Librnro 

ic  M  <;n  i  I  hi  >m   iiti    o  i<j  i  -  i  "i 

CHARLES  MMN!  k.  U.U. 

(VF  BOSTON, 

Class  ol  1830. 

"  Km  H<M.ks  relating  i<>  IV  »litte*  atul 
Kine  Ans." 


Digitized  by  Googl 


WAGNERIANA 

Kritische  Aesthetik 

von 

DR  ARTHUR  SEIDL 


Dritter  Band 


[otto:     „La  grande  et  feconde  critique 
des    beautes  soit  abandonnee 
par  la  critique  mesquine  des 
defauts!"  , 
(Chateaubriand,  umgekehrt.) 


Verlag  von  Schuster  &  Loeffler 
Berlin  und  Leipzig 
1902 


Digitized  by  Google 


DIE  WAG N E R= 
NACHFOLGE  IM 
MUSIK-DRAMA 


Skizzen  und  Studien  zur  Kritik  der  „modernen  Oper" 


von 


ARTHUR  SEIDL 


Und  sie  sprachen.  Einer  zu  dem  Andern : 
„Was  will  das  werden  T*4 

Apostelgesch.  II»:*. 


Verlag  von  Schuster  &  Loeffler 
Berlin  und  Leipzig 
1902 


Digitized 


Alle  Rechte,  besonders  das 
der  Obersetzung,  vorbehalten 

Schuster  &  Loeffler 
Dr.  Arthur  Seidl 


Digitized  by  G 


Dem  Meister 

Engelbert  Humperdinck 

zu  eigen 


Digitized  by  Google 


INHALTSVERZEICHNIS 

8eite 


VORWORT   9 

Wagner-Nachfolge  im  klassischen  Drama: 

„Egmont"-Musik   15 

Eine  Dresdner  „Faust"-Aufführung   21 

Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus   29 

Zwischen  Schumann  und  Wa g n e r : 

Felix  Draeseke:  „Herrat"   55 

Karl  Grammann:  „Melusine**   63 

Adolf  Sandberger:  „Ludwig  der  Springer"   69 

Die  „Wagner-Schule": 

Cyrill  Kistler:  »Kunihild«   75 

Hans  Sommer;  „Loreley"   85 

Alexander  Ritters  Opern   100 

Engelbert  Humperdinck:  „Hänsel  und  Gretel"  ...  114 

Wilhelm  Kienzl:  „Evangelimann"   130 

Vorschau  oder  Rückblick?  .  .  .  .    .  .  .  .  .  .  139 

Felix  Weingartner:  „Genesius"   148 

Eugen  d'Albert:  „Kainu   164 

Max  Schillings   170 

Experiment  und  Mode  (Pseudo-Wagnerianer): 

Der  Fall  Heinrich  Zöllner  .  .  .  .  .  .  ,  .  ,  ,  ,  L72 

Edmund  Kretschmer:  „Heinrich  der  Lowe**   ....  188 

Karl  Grammann:  „Ingrid"  und  „Irrlicht"   198 

Karl  Goldmark:  „Heimchen  am  Herd"   207 

Siegfried  Berger:  „Haschisch"   214 


8 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Max  Josef  Beer:  „Streik  der  Schmiede*   225 

Ulixes  redivivus  (Affäre  Bungert)  1.  und  2   230 

Max  Zenger:  „Eros  und  Psyche*   249 

„Die  fromme  Heleneu   263 

Richard  Wagner  und  das  Ausland: 

Friedrich  Smetana:  „Die  verkaufte  Braut"   273 

Emil  Hartmann:  »Runenzauber*   281 

Auber  in  deutschem  Gewände  .  .  .  .  .  .  .  .  ,  2S6 

Charles  Gounod:  »Rom6o  et  Julia*   291 

Zum  Kapitel  „Ballett"   298 

Victor  Erlanger:  „Das  Erbe"   302 

Stagione  dell'  Opera  Italiana: 

1.  Signora  Prevosti   307 

2.  R.  Leoncavallo:  „La  Boheme"   310 

3.  Alberto  Gentiii:  „Weihnachten*   322 

Giuseppe  Verdi  in  deutscher  Beurteilung   324 

Bayreuth  und  Draussen. 
Die  Pflege  des  Erbes: 

1.  Das  zehnjährige  Jubiläum  der  Festspiele  und  die 
deutsche  Presse   337 

2.  Die  idealen  Aufgaben  des,  ,Allg.  R.Wagner -Vereins"  367 

3.  Ein  „offenes"  Schreiben   377 

4.  Betrachtungen  zur  20jährigen  Jubelfeier  Bayreuths  383 

5.  „Wagner-Gesellschaft"  —  nicht„Wagner-Vereine"!  403 

6.  Ein  Laien-Kommentar  zum  sogen.  „Cosima-§"    .  410 

7.  Zum  25jährigen  Bestände  der  Bühnenfestspiele    .  422 
Falsche  Erben: 

1.  Pollini  *   438 

2.  Münchner  Theaterzauber   446 

Der  Erbe: 

1.  Vom  »Bärenhäuten"   466 

2.  Vom  „herzoglichen  Wildfang"  (I— III)    ,   t   ,  ,  477 
Erlösungsopern  (als  Ausblick)   515 


VORWORT 


Es  kann  sich  in  nachfolgenden  Blättern,  mit  denen 
mein    „WagnerianaM-Werk   nunmehr  zum  Abschlüsse 
kommen  soll,  natürlich  nicht  um  eine  „Geschichte  der 
modernen  Oper"  nach  und  seit  Wagner  handeln.  Dazu 
dürften  die  Namen  Draeseke,  Kistler,  Kienzl,  Wein- 
gartner,  d'Albert,  Kretschmer,  Goldmark,  Bungert,  Ad. 
von  Goldschmidt,  Smetana,  Leoncavallo  doch  nicht  nur 
mit  einem  einzigen  ihrer  Werke  hier  allein  vertreten 
sein,  und  würden  überdies  die  sämtlichen  Opern  bezw. 
Musikdramen  von  Hector  Berlioz  und  Peter  Cornelius, 
Hermann  Götz'  .Bezähmte  Widerspänstige",  Hugo  Wolfs 
„Corregidor",  Siegm.  von  Hauseggers  „Zinnober",  Hans 
P fitzners  „Armer  Heinrich"  und  „Die  Rose  vom  Liebes- 
garten", sowie  Anton  Urspruchs  „Unmöglichstes  von 
Allem"  hier  ganz  empfindlich  noch  abgehen.  Aber  auch  so 
manches  Andere  gehörte  dann  wohl  unbedingt  mit  dazu: 
von  Wald,  von  Baussnern,  Ant.  Beer,  Frz.  Curti,  Joh. 
Döbber,  O.  Fiebach,  von  Fielitz,  Paul  Geisler,  Th.  Gerlach, 
V.  Gluth,  Alb.  Gorter,  Willem  de  Haan,  V.  Hausmann, 
R.  L.  Hermann,  Br.  Heydrich,  H.  Hofmann,  Frz.  v. 
Holstein,  Frz.  Hummel,  K.  von  Kaskel,  Karl  Kleemann, 
G.  Kulenkampff,  Jos.  Langert,  G.  Lazarus,  W.  Lorenz, 
Arnold  Mendelssohn,  Richard  Metzdorff,  M.  Meyer- 
Olbersleben,  Felix  Mottl,  M.  Moszkowsky,  K.  Reinecke, 
Karl  Reinthaler,  Jos.  Reiter,  E.  N.  von  Reznicek,  Josef 


Digitized  by  Google 


10 


Vorwort. 


Rheinberger,  Ant. Rückauf, Phil.  Rüfer,  Xaver  Scharwenka, 
Gerhard  Schjelderup,  B.  Scholz,  Alfr.  Sormann,  P.  Umlauft, 
Ad.  Wallnöfer,  W.  Weissheimer,  Alex,  von  Zemlinsky 
u.  A.;  die  selige  „Nessleriade"  mit  Reinhold  Becker 
e  tutte  quanti  nicht  zu  vergessen;  die  unglückselige 
„Mascagnitis"  zudem  mit  einer  ganzen  Reihe  windiger 
Einakter;  endlich  von  den  Ausländern  im  Speziellen 
—  Italiener:  Boi'to,  Buongiorno,  Franchetti,  Giordano, 
Mascheroni,  Panizza,  Puccini,  Spinelli,  Tasca,  Wolf- 
Ferrari;  Franzosen:  Bizet,  Brüneau,  Chabrier,  Charpen- 
tier,  Debussy,  D61ibes,  Jacques-Dalcroze,  Godard,  Hille- 
macher, Joncieres,  Lazzari,  Massenet,  M  es  sager,  Reyer, 
Saint-Saens,  Vincent  d'Indy;  Vlamen:  P.  Benoit,  J. 
Blockx,  E.  Britt,  Edg.  Tinel,  Wambach;  Slaven:  Dvorak, 
Fiebich,  Jos.  B.  Foerster,  Glinka,  Kovarowic,  Pade- 
rewski,  Rubinstein,  Rimski-Korsakow,  Smareglia,  Tschai- 
kowsky,  Miroslav  Weber,  Weiss;  andere  Nationen:  Aug. 
Enna,  Erkel,  Edv.  Grieg,  Hallen,  Per  Haiström,  Sidney 
Jones,  Mantilla,  v.  Mihalovich,  Pedrell,  Samara,  Sullivan, 
Zichy  etc.  etc.:  —  was  alles  an  dieser  Stelle  schon 
deshalb  keine  Aufnahme  finden  konnte,  weil  ich  es  mir 
im  Allgemeinen  zum  Grundsatz  mache,  über  musik- 
dramatische Werke  nur  dann  abschliessend  zu  urteilen, 
wenn  ich  ihre  reale  Bühnenwirkung  persönlich  zugleich 
habe  erproben  können.  Einige  von  den  oben  Genannten 
wird  man  ja  da  und  dort  —  in  den  allgemeinen  Kapiteln 
namentlich  —  wohl  mit  gestreift  finden,  so  weit  es  nicht 
auch  schon  durch  einen  Ausblick  wie  denjenigen  über 
„ Erlösungsopern a  od.  dgl.  in's  rechte  Licht  gerückt  er- 
scheint; Richard  Strauss'  „Guntram"  zumal  muss  in 
meiner  Sonderstudie  und  Charakterskizze  über  ihn 
(Prag  1895)  und  —  wie  Humperdinck,  Schillings,  Thuille 
u.  A.  —  vor  Allem  auch  im  zweiten  meiner  Vier  Vor- 
träge über  den  „  Modernen  Geist  in  der  deutschen  Ton- 
kunst* (Berlin,  Verlagsgesellschaft  „Harmonie")  besonders 


Vorwort. 


11 


aufgesucht  werden,  wo  sein  für  die  Weiterentwicklung 
der  Oper  so  bedeutsames  Hauptwerk  „Guntram"  bereits 
ausführlich  genug  besprochen  worden  ist.  Über  Peter 
Gast  wiederum  gedenke  ich  an  anderer  Stelle  noch  zu 
reden.  Gleichwohl  hoffe  ich,  dass  so  etwas  wie  Ge- 
sichtspunkt des  Typischen  aus  „der  Erscheinungen  Flucht" 
sich  ergeben  und  eine  Art  von  zusammenhangsvoller, 
prinzipieller  Erörterung  gerade  des  Charakteristischen 
heraus  leuchten  —  kurz,  dass  der  geneigte  Leser  „Doku- 
mente der  Zeit"  im  Einzelfalle,  selbst  bei  solch  zwang- 
loser Folge,  noch  erkennen  und  als  solche  auch  em- 
pfinden wird.  Man  darf  mir  vertrauen:  es  ist  mehr 
„Aufbau"  darinnen  als  in  manchem  strengen  „System" 
und  mehr  zusammen  fassendes  Wesen,  als  man  dem 
Buche  beim  ersten  flüchtigen  Blick  auf  das  Kunterbunt 
seines  „Inhaltsverzeichnisses"  wohl  ansehen  wird.  Und 
so  glaube  ich  denn  immerhin,  dass  ich  trotz  R.  Batka, 
H.  Bulthaupt,  Ed.  Hanslick,  R.  Heuberger,  M.  Kalbeck, 
P.  Marsop,  O.  Neitzel,  E.  O.  Nodnagel,  F.  Pfohl,  H.  Rei- 
mann und  O.  Schmid  hier  über  die  „moderne  Oper" 
doch  noch  Einiges  zu  sagen  hatte;  wobei  überdies  noch 
besonders  darauf  zu  achten  wäre,  dass  der  Untertitel 
diesmal  nicht  mehr  „erlebte"  und  nicht  „angewandte", 
sondern  ausdrücklich  „kritische  Aesthetik"  lautet  und 
das  Chateaubriand-Motto  hier  sogar  umgekehrt  er- 
scheint. 

Die  einzelnen  Artikel  sind  —  bis  auf  „Münchner 
Theaterzauber*  und  „Vom  Bärenhäuten",  die  noch 
nirgends  gedruckt  wurden  —  an  ganz  verschiedenen 
Orten  bisher  erschienen  und  waren  ursprünglich  heraus- 
gekommen im  „Musikal.  Wochenblatt",  „Kunstwart", 
„Hann.  Courier"  und  „Dresdner  Anzeiger",  in  den 
„Berliner  Signalen",  „Grenzboten"  und  „Münchner 
Neueste  Nachrichten",  in  der  „Gesellschaft",  „N.  Zeit- 
schrift für  Musik",  „Wiener  Musikalischen  Zeitung", 


Digitized  by  Google 


12 


Vorwort. 


„Musikal.  Rundschau0,  „Neuen  musikal.  Rundschau", 
„N.  musikal.  Presse",  „Dresdner  Rundschau",  „Deutschen 
Gesangskunst",  „Wage",  „Nordd.  Allgemeinen  Zeitung", 
„Tägl.  Rundschau",  „Deutschen  Zeitung"  (Wien),  „Neuen 
Hamburger  Zeitung",  „Frankfurter  Zeitung",  endlich  im 
„Grazer  Tageblatt",  „Lotsen"  und  vornehmlich  in  der 
Dresdner  „Deutschen  Wacht".  Vieles  hat  freilich  ganz 
neue,  zum  Teil  in  Eins  zusammen  gezogene,  Fassung 
nun  erhalten. 

München,  Frühjahr  1902. 


Der  Verfasser 


Wagner-Nachfolge  im  klassischen  Drama 


Digitized  by  Google 


„Egmonta-Musik 

(1895  96) 

„Das  deutsche  Tempo  ist  der  Gang  des  »Andante*; 
mit  diesem  gelassenen  Tempo  erreicht  der  Deutsche 
mit  der  Zeit  alles,  und  vermag  das  fernst  Liegende  sich 
kräftig  anzueignen.  Mit  diesem  Gange  erreichte  Goethe, 
vom  ,Götz'  ausgehend,  den  ,Egmont',  diesen  Typus 
deutschen  Adels  und  wahrer  Vornehmheit,  dem  gegen- 
über der  ihn  überlistende  spanische  Grande  wie  ein 
mit  Gift  eingeöltes  Automat  erscheint:  zu  dieser  Ver- 
wandlung des  derben,  dürftigen  Götz  in  den  anmutig 
frei  dahin  wandelnden  Niederländer  bedurfte  es  nur  der 
Abstreifung  der  Bärenhaut,  die  uns  zum  Schutze  gegen 
die  Rauheit  des  Klima's  und  der  Zeit  umgeworfen, 
um  dem  kräftig  schlanken  Leibe,  dessen  Anlage  zur 
Schönheit  selbst  der  für  alles  Südliche  so  enthusiastisch 
eingenommene  Winckelmann  lebhaft  erkannte,  seine 
innere  Wärme  zu  bewahren.  Der  adelig  ruhige  Gang, 
mit  dem  Egmont  das  Schafott  beschritten,  führte  den 
glücklichen  Dichter  durch  das  Wunderland  der  Myrthe 
und  des  Lorbeers,  von  den  in  Marmorpalästen  an  zartesten 
Seelenleiden  dahinsiechenden  Herzen  zur  Erkenntnis  und 
Verkündigung  des  erhabenen  Mysteriums  des  Ewig- 
Weiblichen,  des  unvergänglichen  Gleichnisses,  welches, 
sollte  einst  die  Religion  von  der  Erde  verschwunden  sein, 
das  Wissen  ihrer  göttlichsten  Schönheit  uns  ewig  er- 


Digitized  by  Google 


16 


Wagneriana.    Bd.  III. 


halten  würde,  so  lange  Goethe's  ,Faust'  nicht  verloren 
ging."  —  »Im  Egmont  suchte  Goethe  den  drama- 
tisierten bürgerlichen  Roman  durch  Ausdehnung  der 
Umgebung  bis  zum  Zusammenhange  weit  verzweigter 
historischer  Momente  von  innen  heraus  zu  seiner 
höchsten  Höhe  zu  steigern.  Um  die  im  Verlaufe  des 
ganzen  Stückes  aus  der  historisch -staatlich  bedingenden 
Umgebung  mit  mühsamer  Umständlichkeit  losgelöste, 
in  der  Kerkereinsamkeit  und  unmittelbar  vor  dem  Tode 
sich  einigende  rein  menschliche  Individualität  dem 
Gefühle  darzustellen,  musste  er  zum  Wunder  und  zui 
Musik  greifen.  Wie  bezeichnend  ist  es,  dass  gerade 
der  idealisierende  Schiller  diesen  ungemein  bedeutungs- 
vollen Zug  von  Goethe's  höchster  künstlerischer  Wahr- 
haftigkeit nicht  verstehen  konnte!  Wie  irrtümlich  war 
es  aber  auch  von  Beethoven,  dass  er  nicht  erst  zu  dieser 
Wundererscheinung,  sondern  von  vornherein,  mitten  in 
die  politisch-prosaische  Exposition  —  zur  Unzeit  — 
Musik  setzte!"  So  zu  lesen  in  Glasenapps  „R.  Wagner- 
Enzyklopädie"  I,  S.  234  f.,  also  auch  bei  R.  Wagner  selber. 

Wir  möchten  sogar  heute  noch  weiter  gehen,  als 
schon  unser  Meister,  und  uns  die  Frage  vorlegen,  ob 
die  Beethoven' sehe  Musik  in  ihrer  freiheitsdurstigen, 
lärmhaft  kriegerischen,  höchst  realen  Heftigkeit  nicht 
selbst  diese  letzte  Szene,  will  sagen  die  süss  erquickende 
Traumstimmung  des  Helden  und  jene  transzendentale 
Verklärung  seines  weiblichen  Ideales  „Klärchen",  in 
unserem  Drama  noch  zu  stören  im  Stande  sei.  Sollte 
es  sich  nicht  lieber  empfehlen,  die  Beethoven'sche  Ton- 
schöpfung in  erster  Linie  als  interessantes  Beispiel 
poetischer  Programm-Musik  nur  mehr  aufzufassen  und 
in  ihrer,  die  Quintessenz  des  ganzen  Drama's  uns  ent- 
hüllenden Bedeutung,  völlig  unabhängig  von  diesem, 
fortan  im  Konzertsaale  für  sich  aufzuführen;  die  für 
die  Handlung  einzig  noch  übrig  bleibende  Visionsmusik 


Digitized  by  Google 


„Egmonf-Musik. 


17 


hingegen  von  einer  bereits  bewährten  Kraft  in  angemessener 
Weise  für  die  Szene  neu  komponieren  zu  lassen?  Dem 
Hauptteil  nach  hätte  diese  sich  vielleicht  mehr  dem 
stillen  Ausdrucke  des  Nachspieles  bei  Klärchens  Tode 
anzuschliessen  und  erst  allmählich,   sachte  und  stolz, 
zu  kurzem,  leuchtendem  Triumph  und  glaubensstarkem 
Siegesbewusstsein  anzusch willen,   um  alsbald  wieder 
in   die  anfängliche  sanfte  Traumumfangenheit  zurück 
zu  leiten  und  still  veratmend  auszuklingen.  Wir  stellen 
diesen  Vorschlag  angelegentlichst  zu  wohlwollender  Er- 
wägung; denn  wahrlich,  die  Art,  wie  unsere  landläufige 
Regie  die  klassische  Begleitmusik  bei  Klärchen  in  eine 
heroische  Pantomime  mit  teils  höchst  merkwürdigen, 
teils  sogar  überaus  stillosen  Gebärden,  und  teils  wieder 
ganz  unverständlichen  Attributen  umzusetzen  pflegt,  kann 
unmöglich,   zum   Mindesten    ebensowenig   wie  der 
spektakulöse  Bum-bum-Marsch  bei  dem  ernsten,  feier- 
lichen Hinrichtungsgang,  irgend  Jemanden  doch  wirklich 
ästhetisch  befriedigen.    Wie  ein  Beethoven  darauf  geriet, 
gerade  dieses  Goethe'sche  Werk  (nur  noch  an  den 
„  Faust"  dachte  er  später)  durch  seine  Kunst  zu  ver- 
herrlichen, erscheint  ja  nur  zu  wohl  begreiflich:  das 
demokratische  Blut  regte  sich  eben  hierbei  ganz  be- 
sonders sympathetisch  in  dem  geborenen  Niederländer 
.van  Beethoven*.    Aber  das  republikanische  Freiheits- 
ideal, seine  unwiderstehliche  Neigung  zum  revolutionär- 
protestantischen Sturmsignal,  der  (damals  ihn  noch  be- 
herrschende) Geist  seiner  C-moll-Simphonie  gleichsam, 
mit  dem  stolzen  Glanz  und  der  jubelnden  Erhebung 
ihres  Schlusssatzes:  sie  haben  ihm  bei  der  als  op.  84 
im  Jahre  1810  entstandenen  Musik  doch  einen  leidigen 
Streich  gespielt,  so  dass  er  das  Verhältnis  „Durch  Nacht 
zum  Licht!"  beinahe  schon  umkehrte,  da  er  es  denn 
kaum  mehr  erwarten  konnte,  mit  seinem  Enthusiasmus 
iur  die  grosse  Sache  begeistert  darein  zu  schmettern. 
Seidl,  Wtgneriina.    Bd.  III.  2 


Digitized  by  LiOOQlc 


18 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Eines  freilich  verdanken  wir  der  Beethoven'schen 
„Egmont" -Musik,  und  darum  wollen  wir  ihr  auch  unter  allen 
Umständen  mit  Nichten  etwa  undankbar  begegnen:  unsere 
„Schauspiel-Musik"  steht  darin  endlich  einmal  wieder 
auf  künstlerischer  Höhe.  Natürlich  können  nicht  alle 
Zwischenaktsmusiken  von  einem  Beethoven  oder  dergl. 
Meistern  sein,  auch  fehlt  ja  zumeist  wohl  noch  manches  bis 
zum  mustergültigen  Schliff  und  Bülow'schen  Vortrag 
z.  B.  der  grossen  „Egmont* -Ouvertüre;  aber  die  Dresdner 
„Egmont" -Aufführung  z.B.  mit  der  Beethoven'schen 
Musik,  die  ich  hier  im  Auge  habe,  war  für  Alle,  die 
sich  mit  dem  Problem  der  „Zwischenaktsmusik" 
etwas  angelegentlicher  befasst  haben,  ein  gelindes  Er- 
eignis. Sollte  doch  eine  Neuerung  auf  dem  heiklen 
Gebiete,  im  Sinne  einer  künstlerischen  Verbesserung 
des  ganzen  Genre's,  zum  ersten  Male  hierbei  begutachtet 
werden.  Seit  einiger  Zeit  war  nämlich  das  herkömm- 
liche, lediglich  unterhaltliche  Zwischenakts-Musizieren 
der  leichten  Tanzrhythmen  und  musikalischen  Senti- 
mentalitäten in  Wegfall  gekommen,  dafür  aber  die  ernste 
Wahrnehmung  der  vorhandenen  Schauspiel-Musiken  zu 
klassischen  Dramen  oder  mit  der  Tonkunst  enge  ver- 
bundenen Bühnenspielen  unter  neuer,  künstlerisch  voll- 
wertiger Leitung  und  im  betreffenden  Tagesdienste  der  zu 
diesem  Zwecke  verstärkten  Kapelle  beabsichtigt.  Der  für  ge- 
wöhnlich überdeckte  Orchesterraum  war  bei  diesem  Anlasse 
gleichzeitig  tiefer  gelegt  und  durch  Einbau  unter  die 
Bühne  hinein  hinreichend  erweitert,  die  dazu  benötigte 
Kapelle  aus  den  Hofmusikern  der  letzten  Pulte  gebildet  und 
auf  35 — 40  (die  ersten  Geiger  z.  B.  gleich  von  4  auf 
8)  Mann  verstärkt,  als  Leiter  solcher  Musiken  überdies  ein 
namhafter  Dirigent  berufen  worden.  Wir  stehen  also  endlich 
einmal  vor  streng  künstlerischen  Absichten  und  durchaus 
ästhetischen  Grundsätzen  im  Sinne  einer  guten,  echten 
Wagner-Nachfolge,  an  die  sich  hocherfreulicher  Weise 


Digitized  by  Google 


„Egmont"-Musik. 


19 


alsdann  auch  ein  strengerer  kritischer  Massstab  getrost 
anlegen  lässt!    Natürlich  lässt  sich  mit  dem  in  Rede 
stehenden  Körper  noch  lange  keine  Wirkung  der  „Egmont*- 
Ouverture  erzielen,  wie  sie  unsere  entzückten  Ohren 
den  Abend   vorher  vielleicht  im  «Sinfonie- Konzert* 
der  reich-  und  vollbesetzten  Hof  kapeile  selbst,  unter  eines 
Schuch  befeuernd-schwungvoller  Führung  mit  idealer 
Klangschöne,   symphonisch -bedeutsamer  Themenbreite 
und  warm -gesättigter  Instrumental  fülle  erfahren  hatten. 
Aber  der  Hauch  jenes  Geistes  weht  nun  eben  doch 
in  diese  Darbietung  wirksam  mit  herüber,  bleibt  es  ja 
zuletzt   auch  ein  Teil  ganz   derselben  ausführenden 
Körperschaft  (die  ihn  erst  den  Abend  vorher  von  einem 
massgebenden  Orchesterleiter  in  sich  aufgenommen  hat), 
was  ihn  hier  abermals  an  die  Zuhörer  vermittelt.  Und 
so  viel  Hess  sich  schon  nach  diesem  ersten  Debüt  unter 
den  neuen  Verhältnissen  anerkennend  feststellen:  dass 
der  Gesamtklang  ausserordentlich  gewonnen  hatte,  die 
Ausführung  bei  egalem  Strich,  reiner  Intonation  und 
rhythmischer  Präzision  sehr  aufmerksam  und  delikat  — 
kurz,  die  ganze  Leistung  eine  überaus  eindrucksvolle, 
des  grossen  Ton-Meisters  und  -Dichters  würdige  geworden 
war,  so  dass  selbst  den  ganz  unverbesserlichen  Papageni 
und  Plaudertaschen  im  Zuschauerräume  schliesslich  die 
Konversation  vollständig  verging.    Namentlich  die  Ober- 
leitungsmusik vom  zweiten  zum  dritten  Akte  und  vor 
Allem  das  schwermütig- stimmungsreiche  Tongemälde 
auf  Klärchens  Tod  bis  zum  sanft-musikalischen,  bei 
offener  Szene  überdies  symbolisch  verdeutlichten  Aus- 
löschen der  Lebensflamme,   aber  auch   die  diskrete 
Wiedergabe  der  die  Traumvision  und  ihre  (von  der  Regie 
noch   immer  allzu  schablonös  behandelte,  leider  fast 
nichts  sagende)  Pantomime  begleitenden  Klänge,  ent- 
sprachen   durchaus   jener   schon    von   Lessing  auf- 
gestellten Forderung  nach  einer  wohl  motivierten,  wirklich 

2* 


Digitized  by  Google 


20 


Wagneriana.    Bd.  III 


„idealen"  Zwischenakts-  und  Schauspielmusik.  Ohne  mit 
dem  Ansprüche  der  höheren  Orchesterleistung  einer  kom- 
pletten Sinfonie-Besetzung  aufzutreten,  sprach  sie 
dennoch  intensiv  genug  von  der  „Würde  der  Tonkunst11 
im  göttlichen  Dienste  des  höheren,  edleren  Menschheits- 
drama's.  Das  aber  ist's  zugleich,  was  wir  im  Interesse 
der  „moralischen  Bildungsanstalt"  immerdar  gewärtigt 
und  da,  wo  es  allenfalls  nicht  eintrat,  desto  ungestümer 
auch  stets  verlangt  haben.  Wir  freuen  uns  aufrichtig  des 
viel  versprechenden,  harmonischen  Anfanges,  der  damit 
gemacht  ist,  wie  der  schönen,  fruchtbaren  Zukunft,  die 
auf  dem  hierdurch  vorgezeichneten  Wege  für  eine  vor- 
nehme Schauspielmusik  nunmehr  vor  uns  liegt.  Lässt  sich 
gleich  sagen,  dass  die  Auffassung  des  grossen  Tondichters 
für  unser  heutiges  geläutertes  Empfinden  nahezu  schon 
etwas  Befremdendes  an  sich  hat:  wonach  sich  der  „Ton- 
setzer bei  Goethe  viel  leichter  als  z.  B.  bei  Schiller'schen 
Dichtungen  weit  über  den  Dichter  zu  erheben  vermöge44 
—  eine  dankbare  Aufgabe,  wert  des  Schweisses  der 
Edlen,  bleibt  es  nun  einmal,  dem  Kulte  dieses  Ideales 
sich  zu  weihen,  und  eine  durchgreifende  „Reform"  ist 
jedenfalls  auf  der  ganzen,  hier  in  Betracht  kommenden 
Linie  rückhaltlos  allezeit  mit  Freuden  zu  begrüssen. 


Digitized  by  Google 


Eine  Dresdner  „Faust'-Aufführung 


(1896) 

„Wie  eine  immer  lebendig  rieselnde  Quellader  zieht 
sich  das  ,Faust'-Gedicht  mit  gestaltender  Anregung 
durch  das  ganze  Künstlerleben  des  Dichters.  Im  höchsten 
Alter  erst  vollendete  Goethe  seinen  ,Faust'.  War  seinem 
tiefen  Weltblick  (im  I.  Teile),  was  Cervantes  als  Don 
Quixote  und  Sancho  Pansa  ersehen  hatte,  als  Faust  und 
Mephistopheles  aufgegangen,  so  fasst  er  (im  IL),  was  je 
ihn  zerstreute,  in  ein  Urbild  aller  Schönheit  zusammen : 
Helena  selbst,  das  ganze,  volle,  antike  Ideal,  beschwört 
er  aus  dem  Schattenreiche  herauf  und  vermählt  es  seinem 
Faust.  Heil  dir,  Goethe,  der  du  die  Helena  dem  Faust, 
das  griechische  Ideal  dem  deutschen  Geiste  vermählen 
konntest!  Aber  der  Schatten  ist  nicht  fest  zu  bannen; 
er  verflüchtigt  sich  zum  davon  schwebenden  schönen 
Gewölk,  dem  Faust  in  sinniger,  doch  schmerzloser 
Wehmut  nachblickt.  Nur  Gretchen  konnte  ihn  erlösen: 
aus  der  Welt  der  Seligen  reicht  die  früh  Geopferte, 
unbeachtet  in  seinem  tiefsten  Innern  ewig  innig  Fort- 
lebende, ihm  die  Hand.  Aus  den  grundlosen  Tiefen 
der  sinnlich-übersinnlichen  Sehnsucht  schwang  sich  der 
Dichter  zum  Schlüsse  bis  auf  die  heilig-mystische  Berges- 
höhe, von  welcher  er  in  die  Glorie  der  Welterlösung 
blickte:  mit  diesem  Blicke,  den  kein  Schwärmer  je 
inniger  und  weihevoller  in  jenes  unnahbare  Land  werfen 


Digitized  by  Google 


22 


Wagneriana.    Bd.  III. 


konnte,  schied  der  Dichter  von  uns  und  hinterliess  uns 
im  »Faust*  sein  Testament.  Dürfen  wir  . . .  dem  tiefsten 
Dichterwerke  eine  Deutung  für  uns  zu  geben  versuchen, 
so  verstehen  wir  unter  dem:  ,AUes  Vergängliche  ist  nur 
ein  Gleichnis*  —  den  Geist  der  bildenden  Kunst, 
der  Goethe  so  lange  und  vorzüglich  nachstrebte,  unter 
dem:  ,Das  Ewig -Weibliche  zieht  uns  hinan*  aber  den 
Geist  der  Musik,  der  aus  des  Dichters  tiefstem  Be- 
wusstsein  sich  emporschwang,  nun  über  ihm  schwebt 
und  ihn  den  Weg  der  Erlösung  geleitet." 

„Ein  gleich  unbegreifliches  Kunstwerk,  als  die 
Dramen  Shakespeare's  und  die  antiken  Tragödien  es  sind, 
liegt  uns  Deutschen  im  , Faust'  noch  als  ungelöstes 
Rätsel  vor.  Hätte  Goethe  ahnen  können,  in  welche 
Hände  der  deutsche  Handel  einmal  fallen  und  aus  welcher 
absonderlichen  Nationalität  demnach  einst  unser  Theater 
sich  rekrutieren  sollte,  er  würde  seinen  ,Faust*  nicht 
einmal  als  Buch  haben  drucken  lassen;  denn  jede,  auch 
nur  die  entfernteste  Ähnlichkeit  mit  einem  »Theaterstücke* 
hätte  ihn  an  seinem  Wunderwerke  von  dessen  Ver- 
öffentlichung zurück  schrecken  müssen.  Dafür  ward  denn 
gerade  an  diesem  , Faust*  die  Rache  der  theatralischen 
Niederträchtigkeit  vollzogen.  —  Es  ist  ersichtlich,  dass 
wir  in  diesem  Werke  die  konsequenteste  Ausbildung 
des  originalen  deutschen  Schauspieles  besitzen; 
vergleichen  wir  es  mit  den  grössten  Schöpfungen  des 
neueren  Drama's  aller  Nationen,  des  Shakespeare'schen 
mit  eingeschlossen,  so  zeigt  sich  in  ihm  eine  nur  ihm 
zugehörende  Eigentümlichkeit,  welche  es  jetzt  aus  dem 
Grunde  für  theatralisch  unausführbar  gelten  lässt,  weil 
das  deutsche  Theater  selbst  die  Originalität 
seiner  Ausbildung  schmählich  aufgegeben  hat. 
Dieses  Werk,  welches,  wie  kein  anderes,  in  dem 
plastischen  Geiste  des  deutschen  Theaters  wurzelt, 
musste  von  dem  Dichter  wie  in  die  leere  Luft  ge- 


Digitized  by  Google 


Eine  Dresdner  „F»tist*-Aufführung. 


23 


schrieben  werden:  die  einzigen  Zeichen,  mit  denen  er 
das  Vorbild,  welches  der  Dichter  der  mimischen  Ge- 
nossenschaft zur  Nachbildung  im  wirklich  dargestellten 
Drama  vorhält,  fixieren  konnte,  waren  gereimte  Vers- 
zeilen, wie  er  sie  zunächst  der  rohen  Kunst  unseres 
alten  Volksdichters,  Hans  Sachs,  entnahm.  Wenn  wir 
aus  einem  Zeugnisse  ersehen  wollen,  zu  welcher  aller- 
höchsten Idealität  in  dem  schlichtesten  deutschen  Volks- 
elemente der  Keim  lag,  so  bald  es  eben  vom  berufenen 
treuen  Geiste  ausgebildet  wurde,  so  haben  wir  nur  auf 
diesen  Wunderbau  zu  achten,  den  Goethe  auf  jenem 
sogenannten  Knittelverse  aufführte;  er  scheint  diese 
Grundlage  vollendetster  Popularität  nie  zu  verlassen, 
während  er  sich  auf  ihr  bis  in  die  höchste  Kunst  der 
antiken  Metrik  schwingt,  Glied  um  Glied  mit  Erfindungen 
einer  selbst  von  den  Griechen  ungekannten  Freiheit 
ausfüllend,  vom  Lächeln  zum  Schmerz,  von  der  wildesten 
Derbheit  zur  erhabensten  Zartheit  hinüber  leitend.  Und 
diese  Verse,  deren  Sprache  die  deutscheste  Natürlichkeit 
ist,  können  unsere  durch  eine  undeutsche  Rhetorik  ver- 
dorbenen Schauspieler  nicht  sprechen!  Nur  wenn  die 
schmählich  aufgegebene  Originalität  der  Aus- 
bildung des  deutschen  Theaters  noch  nach- 
geholt werden  könnte,  wenn  wir  ein  Theater, 
eine  Bühne  und  Schauspieler  hätten,  welche 
uns  dieses  deutscheste  aller  Dramen  vollständig 
richtig  zur  Darstellung  brächten,  würde  auch 
unsere  ästhetische  Kritik  über  dieses  Werk  in's 
Reine  kommen  können;  während  jetzt  den  Koryphäen 
dieser  Kritik  es  noch  erlaubt  dünken  darf,  z.  B.  über  den 
zweiten  Teil  des  ,Faust*  parodistische  schlechte  Witze 
zu  reissen.  Wir  würden  dann  erkennen,  dass  kein 
Theaterstück  der  Welt  eine  solche  szenische  Kraft  und 
Anschaulichkeit  aufweist  als  gerade  dieser  (man  möge 
sich  stellen,  wie  man  wolle!)  immer  noch  ebenso  ver- 


Digitized  by  Google 


24 


Wagneriana.    Bd.  III. 


ketzerte  als  unverstandene  zweite  Teil  der  Tragödie.* 
(Richard  Wagner:  Ges.  Sehr.  Bd.  IV,  29;  IX,  149  f.; 
X,  101;  VIII,  49,  115;  IX,  255  f.). 

Leider  kann  beim  „Goethe-Zyklus",  der  mit  dem 
II.  »Faust*  mehr  endgültig  als  besonders  glücklich  ab- 
solviert worden  ist,  das  Fazit  nicht  „Ende  gut,  alles 
gut!"  lauten,  so  leid  es  uns  thut,  das  sagen  zu  müssen. 
Zwar:  Wer,  wenn  er  auP  dem  Theaterzettel  „Faust,  der 
Tragödie  zweiter  Teil"  mit  fett  gedruckten  Lettern  liest, 
möchte  nicht  d  i  e  Stadt  glücklich  preisen,  die  sich  eine 
solche  Aufführung  unter'm  Jahre  leisten  kann,  und  nicht 
jenes  glorreiche  Theater  ohne  Weiteres  benedeien  —  wenn 
man  will  auch  beneiden,  welches  so  viel  Pietät  und 
Pflichtgefühl  aufzubringen  hat,  die  innere  organische 
Einheit  des  ganzen  Gedichtes  auch  zur  äusseren  Dar- 
stellung zu  gestalten.  Trotzdem,  oder  gerade  deswegen, 
haben  aber  diese  „Faust" -Vorstellungen  schwere  und 
bittere  Enttäuschungen  bereitet.  Schon  gewisse  Äusser- 
lichkeiten  daran  mussten  Bedenken  erregen.  „Stella" 
und  „Iphigenie",  zwei  durch  eine  tiefe  Kluft  von  ein- 
ander geschiedene  Werke,  giebt  man  —  zudem  noch  in 
einer  Woche,  in  der  Eines  das  Andere  ohnedies  schon 
jagte  —  an  zwei  unmittelbar  auf  einander  folgenden 
Abenden;  zwischen  die  beiden  Teile  ein  und  desselben, 
geistig  insichzusammenhängenden,  abgeschlossenen, 
grossen  „Faust" -Gedichtes  legt  man  nicht  nur  45  Stunden, 
sondern  auch  noch  einen  ganzen  Sonntag,  der  die 
Scheidewand  einer  vollen  Woche  dazwischen  aufrichtet! 
Selbst  die  bequeme,  verschiedenartige  Besetzung  sowohl 
der  Mephisto-  als  auch  der  Gretchen-Rolle  an  beiden 
Abenden  (einmal  Holthaus — Salbach,  dann  wieder  Wiene 
— Pölitz),  nur  um  die  unterhaltungssüchtigen  Neustädter 
Abonnenten  gleichzeitig  mit  etwas  Anderem  bedienen 
zu  können,  zeigte  zur  Evidenz,  wie  wenig  man,  sogar 
an  zustandiger  Stelle,  bis  zu  einer  einheitlich -har- 


Eine  Dresdner  „Faustta-Aufführung.  25 


monischen,  geistigen  Erfassung  des  „Faust" -Probleme» 
als  eines  untrennbaren  Ganzen  auch  heute  noch 
vorgedrungen  war.  Und  vollends  gar  die  Art,  wie  man 
den  grandiosen  II.  Teil  hier  zu  Lande  seinem  Publikum 
vorzusetzen  für  gut  befand,  muss  den  allerschär  feten 
Widerspruch  ganz  in  Sonderheit  heraus  fordern.  Man 
brauchte  ja,  als  Kenner,  nur  auf  Anfangs-  und  Endzeit 
nach  der  Theaterzettel-Angabe  zu  sehen,  um  schon  vor 
dem  Beginne  gleichsam  alles  zu  wissen. 

Jede  Stadt  hat  die  „Faus^-Aufführungen, 
welche  sie  verdient.  Nun,  die  hiesige  Darstellung 
als  solche,  im  Altstädter  Hause  vor  Allem,  war  ent- 
zückend, und  man  darf  wohl  kecklich  behaupten,  dass 
es  an  farbenreichem,  wechselvollem  und  wohlthuendem 
Glänze  kaum  irgend  eine  andere  dieser  überaus  wirk- 
samen Dresdner  Inszenierung  gleich  thun  wird.  Aber 
das  Was,  was  da  inszeniert  und  dargestellt  ward,  es 
ist  —  im  II.  Teile  jedenfalls  —  einfach  zum  Flucht- 
ergreifen  gewesen.  Heiliger  Goethe,  was  hat  dieses  „Opern- 
Textbuch"  aus  dir  gemacht!  Ist  das  überhaupt  noch 
der  Stolz  unserer  Nation,  unser  unvergleichlicher  „Faust44? 
—  so  durfte  man  sich,  las  man  im  Urtext  eifrig  nach, 
dabei  schon  beinahe  fragen.  Es  gehört  doch  die  ganze 
Skrupellosigkeit  und  Respektwidrigkeit  des  gewiegten 
Theater-Routiniers  vor  unseren  grossen  Dichtergenien, 
die  ganze  Streich -Virtuosität  eines  priv.  kgl.  Regisseurs 
dazu,  um  einen  Meister  wie  Goethe  zu  einer  solchen 
Schaustück- Abbreviatur  in  oft  ganz  widersinnigen  kurzen 
Brocken  und  einzelnen  knappen  Bissen  zu  verarbeiten, 
wie  das  die  Dr.  Wollheim'sche  „Bearbeitung"  in  der 
Hofbühnen-Einrichtung  von  A.  Mareks  frischer  Hand, 
gewissenlos  und  vandalisch  genug,  verübt  bat  (denn  ein 
anderes  Wort  kann  man  dafür  schon  gar  nicht  mehr 
gebrauchen).  Ist  denn  das  Goethe'sche  Wort:  „Gebt 
ihr  ein  Stück,  so  gebt  es  gleich  in  Stücken",  als  Per* 


Digitized  by  Google 


26 


Wagneriana.    Bd.  III. 


siflage  im  Munde  des  Theaterdirektors,  nicht  mit  be- 
sonderem Bezug  gerade  auf  seinen  „Faust"  gesprochen? 
„Ihr  wisst,  auf  unsern  deutschen  Bühnen  probiert  ein 
Jeder,  was  er  mag"  —  sagt,  leider  nicht  so  ganz  mit 
Unrecht,  der  Theaterdirektor  bekanntlich  zum  Dichter 
selbst  im  „Vorspiel  auf  dem  Theater".  Auch  gegen  einen 
„Faust"  I,  wie  ihn  die  Dresdner  Inszenierung  fertig 
brachte,  als  »Tragödie  in  sechs  Akten",  ohne  Vorspiel 
auf  dem  Theater,  Prolog  im  Himmel,  noch  Walpurgis- 
nacht, und  m  i  t  einer  Musik,  die  allerdings  Öfter  darnach 
ist,  dass  man  sie  lieber  entbehren  möchte,  müsste  eine 
gewissenhafte  Kritik  unbedingt  Stellung  nehmen.  Und 
warum  dann  nicht  lieber  gleich  das  „Arrongement", 
wie  es  der  viel  gewandte  Praktikus  und  Leiter  eines 
„sogenannten"  deutschen  Theaters,  L'Arronge,  in 
seiner  Vermöbelung  beider  Teile  ohne  alle  Helena  zu 
einem  Theaterabende,  dem  germanischen  Volke  gelegent- 
lich vorzuspie— geln  sich  herausnahm?  Von  einer 
„klassischen  Walpurgisnacht"  hat  man  im  II.  Teile  ja  so 
wie  so  schon  nichts  mehr  gesehen  (ebenso  wenig  wie  vom 
„Mummenschanz"  bis  zur  Erfindung  des  Papiergeldes 
hin,  oder  von  Habebald,  Eilebeute  und  Siebenmeilen- 
stiefel), und  kein  Mensch  aus  dem  Bühnenpublikum 
weiss  nun  eigentlich,  wo  der  gute,  nette  Homunkulus 
mit  seinem  feinen  Stimmchen  wohl  hingekommen  sei: 
man  hat  ihn  sich  ohne  Zweifel  „verduftend"  zu  denken  1 
Dass  auch  ja  nichts  Christliches,  Heiliges  das  Ohr  der 
blöden  Menge  mehr  verletze,  darauf  ist  überdies  durch 
mephistophelische  Ausmerzung  einer  ganzen  Reihe  von 
peinlichen  Stellen  und  Aergernis  erregenden  Personen 
sorgfältigst  Bedacht  genommen  worden;  und  zu  allem 
Überfluss  ergeben  Kürzungen,  ja  selbst  flotte  Ab- 
änderungen des  Textes,  die  sich  teils  als  Prüderien, 
teils  als  Angstmeiereien,  teils  aber  auch  als  brutale 
Streich-Leichtfertigkeiten  qualifizieren,  oft  die  direktesten 


Eine  Dresdner  „Faust"-Aufführung. 


27 


Widersinnigkeiten  gegen  die  klaren  Absichten  des 
Dichters  —  von  denen  einige  (wie  z.  B.  das  Ausseracht- 
lassen  der  Andeutung,  dass  die  vier  grauen  Weiber  wie 
körperliche  Verdichtungen  des  Feuerrauches  aus  dem 
brennenden  Hause,  gleichsam  als  letzte  sittliche  Schuld 
Faustens,  hervor  kommen  und  heran  schleichen  sollen) 
allerdings  der  Regie  noch  ganz  im  Besonderen  zur  Last 
fallen.  Womöglich  noch  hanebüchener  steht  es  um  die  bei 
dieser  Inszenierung  zugleich  beliebte  Musik  zum  «Faust*  I 
(von  Riccius),  welche  die  neuere,  H.  Zöllner'sche  Opern- 
verballhornung  noch  als  das  reine  Dorado  erscheinen 
lässt ;  und  nun  zumal  mit  dem  Schlussteile  der  sonst 
mitunter  nicht  ganz  unebenen  (weil  bescheideneren)  H.  H. 
Pierson'schen,  deren  «Chorus  mysticus"  rund  heraus- 
gesagt: ein  Skandal  bleibt  —  kein  Genuss,  sondern  ein 
Verdruss,  über  dessen  Hören  einem  das  Sehen  vergeht 
um  so  mehr,  je  weniger  gerade  dieses  Schlusstableau  der 
Himmels- Apotheose  ohne  Madonnen-Bild  dem  durch 
Raffaels  „Sixtina"  künstlerisch  geläuterten  Dresdner 
Geschmack,  wie  auch  der  übrigen  Inszenierung,  irgend 
entsprechen  kann. 

Kurz,  man  darf  also  wohl  sagen:  Das  deutsche 
Volk  hat,  selbst  durch  die  Hannoveraner,  Leipziger, 
Weimarer,  Dresdner  und  Münchener  Darbietungen  des 
zweiten  Teiles,  seinen  „Faust14  überhaupt  noch  gar 
nicht  von  der  Bühne  herab  wirklich  kennen 
gelernt.  Wäre  es  da  nicht  eine  dankbare,  gewichtige 
und  hochverdienstliche  Aufgabe  für  Bayreuth,  viel- 
leicht unter  Berufung  eines  der  begabtesten  und  ver- 
trauenswürdigsten unter  den  auserwählten  Wagner- 
Schülern  zu  einer  taktvollen  musikalischen  Einkleidung 
des  Werkes:  das  Aufführungsproblem  in  pietätvoller  und 
geistreicher,  streng  künstlerischer,  dabei  aber  doch  wieder 
technisch  befriedigender  Weise  zu  lösen  —  so  etwa 
nach  dem  Gelingen  des  diesjährigen  „Nibelungenringes", 


Digitized  by  Google 


28 


Wagneriana.    Bd.  III. 


einmal  still  zusammen  mit  dem  „Parsifal"  in  einem 
Jahre?  Introite,  et  hic  dii  sunt\  —  just  an  einer 
solchen  Nationalthat  würde  die  Welt  erstaunen  müssen, 
was  alles  sie  bisher  am  „Faust"  noch  nicht  gesehen, 
welches  der  Geist  ist,  der  in  Bayreuth  lebt,  und  welche 
idealen,  lebenskräftigen  Wirkungen  vom  dortigen  Grals- 
Kulte  ausströmen  können.  Nachdem  schon  einmal  eine 
„Parsifalu~Musik  (der  Gralsfeier  mit  der  Taube)  so 
ekstatisch  ausklingend,  sowie  der  kongeniale  Liszt'sche 
„Chorus  mysticus44  (in  der  „Fausta-Sinfonie)  an  unser 
modern  gewecktes  Ohr  geklungen,  ist  ja  nicht  nur  die 
Schumann'sche,  sondern  auch  schon  die  weiche  Lassen- 
sehe  „Faust-Musik*  nicht  mehr  wie  früher  unserem 
Gehöre  erträglich.  Hier  muss  unbedingt  Wandel  und 
Abhülfe  geschaffen  werden! 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus 

(1896) 
I. 

„Maria  Stuart",  die  „königliche  Heuchlerin",  wie 
sie  der  Dichter  selbst  einmal  bezeichnet!  Man  braucht 
sich  aus  dem  besonderen  Geiste  Shakespeare'scher 
Bühnenkunst  heraus  nur  einmal  auszumalen,  wie  diese 
englisch  -  schottische  Bürgerkriegs  -  Historie,  mit  dem 
Hereinspielen  Frankreichs,  unter  der  Hand  des  grossen 
Briten  als  Drama  sich  ausgenommen  haben  würde,  um  daran 
allein  schon  zu  erkennen,  welch'  tiefe  Bereicherung  das 
germanische  Kulturleben  unseren  grossen  Dichterheroen 
der  Klassizitätsperiode  auch  nach  einem  Shakespeare 
im  Besonderen  noch  verdankt.  Eine  „Arabella  Stuart" 
von  R.  von  Gottschall  z.  B.  können  wir  uns  ohne  den 
geringsten  Schaden  für  die  Weltgeschichte  aus  unserer 
Literatur  wohl  hinweg  denken,  die  „Maria  Stuart"  nicht 
—  und  das  ist  eben  das  Interessante  daran.  Gleichzeitig 
aber  wird  das  an  des  vorigen  Jahrhunderts  Neige  ent- 
standene Drama  bedeutsam  auch  noch  besonders  dadurch, 
dass  wir  in  ihm  den  verheissungsvollen  Vorstoss  aus 
dem  streng-klassischen  Bereich  in's  romantische 
Land  bereits  ganz  deutlich  wahrnehmen  können.  Präg- 
nanter gefasst  könnte  man  diese  Geisteswendung  in 
dem  eigentümlich  katholisierenden  Elemente  wohl 


Digitized  by  Google 


30 


Wagneriana.    Bd.  HI. 


verdichtet  finden,  das  von  jeher  als  ein  beredtes  Symptom 
für  das  Vorhandensein  romantischer  Neigungen  gegolten 
hat  —  „romantisch"  hier  in  dem  weitesten  Begriffe 
genommen,  wo  das  Spirituelle  über  das  Materielle  hin- 
aus zu  wachsen  und  die  Phantasie  den  Boden  der  Realität 
bis  in's  Mystische  hinein  weit  zu  überflügeln  beginnt. 
Aber  auch  schon  in  der,  durch  persönliche  Gegenüber- 
stellung der  beiden  gegnerischen  Königinnen  (im  III.  Akte) 
geschaffenen,  »moralisch  unmöglichen"  Situation  witterte 
Goethe,  noch  ohne  sie  recht  zu  kennen,dieses„  Romantische" 

—  vergleiche  Briefwechsel  (II;  3.  und  4.  Septbr.  1799); 
nicht  minder  in  der  grösseren  Freiheit  und  individuelleren 
Mannigfaltigkeit  der  angewandten  Silbenmasse  gelangt 
dieses  revolutionierende  MomentgrössererUngebundenheit 
zu  bemerkenswertem  Ausdrucke:  die  starre  Fessel  einer 
herkömmlichen  Form  wird  behutsam  gelöst,  ein  altes 
Gefäss  zur  Aufnahme  eines  neuen  Inhaltes  leis  und 
sachte  bereitet. 

Auf  alle  Fälle  jedoch  bleibt  zum  Mindesten  ein 
dramaturgisches  Wagnis,  wie  das  einer  Laienbeichte  auf 
der  Bühne,  Dank  der  würdig-ernsten,  in's  Tiefe  des 
religiösen  Gemütes  dringenden  Einführung  (auch  nach 
Fallenlassen  der  eigentlichen  Kommunion,  auf  Goethe's 
ängstlichen  Rat  hin)  als  mutige  Neuerung  gewiss  im- 
ponierend genug,  um  eine  viel  sagende  Perspektive  in 
ganz  neue  Lande  heute  darin  anerkennen  zu  dürfen. 
Zwar  meinte  schon  damals  der  Dichter  der  „Maria 
Stuart",  .man  müsse  das  Publikum  an  alles  gewöhnen" 

—  ein  Grundsatz,  der  uns  sicherlich  zehnmal  weiter 
in  unserem  Kulturdasein  gebracht  hat  als  der  Stand- 
punkt unserer  Familien -Journale  und  Abonnenten- 
Theater,  die  stets  mit  einem:  „Das  Publikum,  welches 
wir  dabei  im  Auge  haben",  zu  Zeitknechten  und  Launen- 
sklaven sich  erniedrigten.  Allein  damals  konnte  doch 
ein  Goethe  (Brief  an  Sch.,  unterem  12.  Juni  1800)  noch 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus. 


31 


Veto  dagegen  einlegen,  indem  er  schreibt:  »Der  kühne 
Gedanke,  eine  Kommunion  aufs  Theater  zu  bringen, 
ist  schon  ruchbar  geworden,  und  ich  werde  veranlasst, 
Sie  zu  ersuchen,  die  Funktion  zu  umgehen.  Ich  darf 
jetzt  bekennen,  dass  es  mir  selbst  dabei  nicht  wohl  zu 
Mute  war;  nun,  da  man  schon  im  Voraus  dagegen 
protestiert,  ist  es  in  doppelter  Betrachtung  nicht  rätlich."' 
Das  sagte  freilich  der  Goethe,  der  damals  seinen  „Faust"- 
Schluss  (II.  Teil),  mit  der  Anbetung  der  Maria,  noch 
nicht  geschrieben  hatte;  und  was  denn  hier,  in  einer 
»Maria  Stuart«,  zuletzt  in  harmlos-gemilderter  Form  nur 
erst  möglich  war,  sollte  doch  späterhin  mit  Nichten 
dauernd  unmöglich  bleiben.  Aber  der  Geist  der 
Musik  musste  erst  als  reinigende  Spare  und  „idealer 
Stil"  über  das  deutsche  Drama  kommen,  um  die  Bühne 
(wie  dies  in  den  Zeiten  des  alten  Griechenland  der  Fall> 
zu  einem  religiösen  Inhalte  wiederum  zu  weihen;  aus 
ihm  musste  die  Tragödie  erst  völlig  neu  „wieder- 
geboren" werden,  um  die  Kunst  neuerdings  der  Religion 
zu  vermählen.  Und  so  durften  wir  es  also  in  unseren* 
Tagen  erleben,  dass  —  woran  Schiller  noch  scheitern 
sollte  —  ein  neuerer  „Wagner"  auf  seinem  Bayreuther 
Grund  und  Boden,  wohin  er  sein  Publikum  einlud,  diesem 
widerspänstigen  Publikum  getrost,  weil  mit  Ernst  und 
im  rechten  Geiste,  nunmehr  zumuten  konnte:  die  erhabene 
Abendmahlsfeier  als  weihevolle  Handlung  auf  der  Bühne! 

Sehen  wir  so  zugleich  unsere  grossen  germanischen 
Geisteshelden  und  ethischen  Volksbildner  zuletzt  auch 
beim  spezifisch-christlichen  Ideal  noch  ankommen,  so  mag, 
uns  doch  das  übereinstimmend  katholisierende  Element 
bei  allen  denen,  deren  Organ  die  Welt  des  ästhetischen» 
Scheines,  die  hehre  Kunst,  bildet,  immer  wieder  neu 
daran  gemahnen,  dass  die  genialen  Führer  und  Vorbilder 
unserer  Nation  ganz  im  Allgemeinen,  als  überzeugte 
Christen,   doch  stets  jenseits  aller  Konfession,  von. 


Digitized  by  Google 


32 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Römisch  oder  Evangelisch,  gestanden  haben.  Schon  weil 
die  im  ästhetischen  Sinn  verwendbarere  Religion  ganz 
zweifellos  die  katholische  und  nicht  die  mit  so  puri- 
tanischen Neigungen  behaftete  protestantische  Konfession 
ist,  durfte  eine  reinliche  Scheidung  hier  nicht  gut  an- 
gängig sein  —  eine  Thatsache,  deren  wir  deutschen 
Christen  in  unseren  beschränkten  „Kulturkämpfen" 
(wie  man  das  Ding  unrechtmässiger  Weise  so  gerne 
nennt)  immerdar  rechtschaffen  eingedenk  bleiben  wollen! 


II. 

„ Romantische  Tragödie  mit  Prolog  in  5  Akten* 
nennt  der  Dichter  klar  und  deutlich  seine  Jungfrau  von 
Orlans"  bereits.  Romantische  Tragödie  —  Prolog;  dazu 
die  mystische  Berufung  der  Magd  unter  dem  heimat- 
lichen Eichenbaum,  ihr  somnambules  Hellsehen,  die 
nächtige  Erscheinung  von  Talbots  abgeschiedenem  Geist, 
ein  donnernd  dräuender  deus  ex  machina  im  Himmel 
und  das  wunderbare  Kettenbrechen :  wir  fahren  mit 
vollen  Segeln  nunmehr  im  romantischen  Fahrwasser. 
Ja,  wenn  die  „Maria  Stuart*  erst  noch  den  Durchbruch 
des  katholischen  Elementes  bei  Schiller  bedeutete,  hier 
ist  die  katholisierende  Richtung  nun  endgültig  voll- 
zogen; und  nicht  genug  damit,  atmen  wir  auch  noch 
Opernluft  mit  vollen  Zügen  in  diesem  merkwürdigem 
Werke,  bei  dem  wir  uns  ernstlich  besinnen  müssen,  ob 
wir  es  als  rezitiertes  Drama  überhaupt  noch  gelten 
lassen  können.  Welch'  verhängnisvoller  Irrtum  überdies, 
in  einem  Schlachtengetöse  und  Handgemenge  auf  der 
Bühne  das  Wesen  der  dramatischen  Handlung  zu  suchen! 
Spukt  hier,  wie  in  der  „Bastard* -Betonung  und  in  den 
englisch-französischen  Kronkämpfen  (ähnlich  wie  schon 
in  der  „Maria  Stuart")  ganz  augenfällig  noch  des  grossen 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  33 


Shakespeare  Geist  (es  ist  bekanntlich  sehr  belehrend, 
das  Schiller'sche  Stück  mit  Shakespeare's  Heinrich  VI. 
genau  zu  vergleichen),  so  ist  es  wiederum  interessant, 
zu  verfolgen,  wie  bei  dem  visionären  Zuge  der  Heldin 
unmittelbar  die  spätere  Romantik,  zunächst  und  vor  Allem 
Heinrich  von  Kleist  mit  seinem  „Käthchen  von  Heil- 
bronn", beherzt  eingesetzt,  anderseits  die  Alternative: 
Prophetin  oder  Weib?  direkt  zu  Richard  Wagners 
denkwürdigem  dramatischen  Entwürfe  der  „Sarazenin* 
hin  geleitet  hat.  Auch  beachte  man  doch  einmal  auf- 
merksam, welch'  organische  Fortführung  die  mystische 
Linie  des  Wunder-Eintrittes  in  höchster  Not  von  dieser 
heldenmütig  erstrahlenden  Jungfrau  bis  zum  glänzenden 
Schwanenritter  „Lohengrin",  der  auch  an  irdischer  Liebe 
mit  seiner  Mission  scheitert,  gefunden,  um  endlich  helden- 
mütig die  historische  Eingliederung  der  ganzen  Erscheinung 
Wag,ner  in  den  Zusammenhang  der  Litteratur- 
geschichte  auch  vollauf  begreifen  zu  lernen. 

Es  kann  für  uns  heute  kein  Zweifel  mehr  sein, 
dass  die  «Jungfrau  von  Orleans",  als  Drama  betrachtet, 
einen  Rückschritt  bei  Schiller  vorstellt  —  einen  Rück- 
schritt im  Dramaturgischen,  welcher  für  uns  um  so  ver- 
ständlicher wird,  wenn  wir  den  Dichter  im  „Briefwechsel 
mit  Goethe"  über  „pathologische  Einflüsse"  klagen  hören, 
deren  er  sich  zu  erwehren  strebt;  wenn  wir  vernehmen, 
dass  ihm  persönlich  die  Natur  des  Stoffes  „fern  liege", 
und  weiterhin  erfahren,  dass  er  nach  einer  Äusserung 
des  Herzogs:  das  Stück  könne  nicht  gespielt  werden, 
diesem  darin  Recht  geben  und  zuerst  auf  eine  theatralische 
Darstellungganz  verzichten  will.  Etwas  durchaus  Ähnliches, 
Menschliches  begegnete  ihm  bei  dieser  Arbeit,  wie  in 
unseren  Tagen  Gerhart  Hauptmann  mit  seinem 
„Florian  Geyer"  es  erfahren  zu  haben  scheint,  galt  es 
doch  —  nach  einem  eigenen  Ausspruche  Schillers  über 
seine  Jungfrau"  —  diesmal  das  „Wagnis":  „zu  einem 

Sei  dt,  Wagnerimna.    Bd.  III.  3 


Digitized  by  Google 


34 


Wagneriana.    Bd.  III 


neuen  Stoff  die  Form  neu  zu  erfinden".  Eben  darum 
werden  aber  dann  auch  diese  scheinbaren  »Rückschritte" 
der  dramatischen  Technik  bei  unseren  ganz  Grossen 
nur  wieder  zu  bedeutsamen  „Vorstössen"  in  neues 
Gebiet,  zu  kühnen  Entdeckungsfahrten  in  unbekanntes, 
unerforschtes,  erst  noch  an-  und  auszubauendes  Jung- 
Land  hinein;  und  eben  dies  macht  sie  zugleich  so  sehr  lehr- 
reich für  die  ganze  weitere  dichterische  Entwicklung.  Dass 
sich  unser  grosser  Schiller  dabei  so  weit  vergriff,  dass 
er  das  sanfte  Weib,  dessen  schönstes  Vorrecht  es  doch 
gerade  ist,  von  der  Politik  frei  und  (im  Gegensatz  zum 
geborenen  .Philister"  Mann)  ganz  nur  Mensch  sein  zu 
dürfen,  zur  wilden,  eisengepanzerten,  im  Männerkampf 
sich  messenden  Kriegsfurie  werden  liess  —  das  wollen 
wir  ihm  dabei  immer  noch  gern  zu  Gute  halten.  Unser 
moderner  christlich-sozialer  Geschmack  ist  ein  solches 
Weibes-Ideal  freilich  nicht,  das  die  Hände  des  Sohnes 
versöhnt  in  diejenigen  des  Vatermörders  legt  und  gegen 
den  verhassten  Landesfeind  mit  gezücktem  Schwert  unter 
dem  Zeichen  der  „Mutter"  des  Herrn  losrennt,  also 
die  Staats-Idee  sehr  unerquicklich  mit  sittlichen  und 
religiösen  Motiven  verquickt:  haben  wir  uns  doch  lange 
daran  gewöhnt,  im  weiblichen  Wesen  die  geborene 
Trägerin  und  berufenste  Hüterin  des  Friedens  vielmehr 
zu  finden. 

Weit  eher  schon  dürften  wir  geneigt  sein,  dem 
Dichter  die  edlere  Deutung  dieser,  geschichtlich  viel 
angefochtenen,  von  einem  Voltaire  arg  geschmähten  und 
in  den  Kot  herab  gezerrten,  von  einem  Shakespeare  rein 
historisch  zum  Mindesten  als  „fragwürdige  Gestalt"  be- 
handelten, Figur  zum  Verdienst  anzurechnen.  Welcher 
Ansicht  man  hierin  sich  endgültig  zuneigen  soll,  wird 
ja  wohl  stets  von  dem  besonderen  parteipolitischen 
Standpunkt  abhängen,  den  man  solchen  Erscheinungen 
gegenüber  je  nach  Naturanlage  und  Geistesrichtung  ein- 


Digitized  by  VjOOQIc 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  35 


nehmen  will.  Ohne  alle  Frage  ehrt  es  den  germanischen 
Geist,  das  Bild  der  Jungfrau  im  reinen  Glauben  an  das 
Wunder  und  die  mystische  Kraft  der  inneren  Seelen- 
Reinheit  verklärt  zu  haben;  allein  das  bleibt  doch  wahr- 
scheinlich mehr  ein  beredter  Spiegel  idealen  germanischen 
Empfindens  und  des  Deutschen  eigener  Geist,  als  was 
man  so  „Geschichte"  nennt;  da  die  Sache  auf  gallischem 
Boden  ihren  Ursprung  hat  und  dort  sich  in  spezifisch 
fränkischer  Verkörperung  abgespielt  hat,  möchte  doch  wohl 
die  skeptischere,  romanische  Auffassung  der  geschicht- 
lichen Treue  auch  näher  kommen  und  vor  der  blindlings 
idealisierenden  Anschauung  heute  wieder  einigermassen 
den  Vorzug  verdienen.  Blicken  wir  aber  heute  nach  einer 
gallischen  Jungfrau  von  Orleans"  im  modernen  Frankreich 
aus,  so  werden  unsere  Augen  vielleicht  auf  Zola's  Roman 
„Lourdes*  als  einem  Gegenstücke  neuzeitlicher  Dichtung 
haften  bleiben,  welcher  katholisierenden  Wendung  der 
Litteratur  in  Deutschland  nach  Goethe's  „Faust":  etwa 
allgemein  künstlerisch  Wagners  „Parsifal"  und  politisch 
wie  ethisch-sozial  Bismarcks  „Canossa-Gang"  entspräche 
—  alles  gar  beziehungsvolle  Betrachtungen,  die  uns  bei 
weiterem  Verfolgen  schliesslich  auf  die  Thatsache  hin- 
leiten müssen,  dass  alle  grossen  Genien  und  bedeutenden 
Nationalhelden  in  ihrer  geistigen  Entwicklung  gelegentlich 
zu  Mystikern  werden,  wie  uns  ja  auch  die  Episode 
Talbot  bei  Schiller  nur  wieder  darüber  belehren  mag, 
dass  ebenso  unsere  erwählten  Geisteshelden  und  Kultur- 
wecker mehr  oder  minder  stark  zum  tieferen  Ernst 
einer  im  Grunde  pessimistischen  Lebensauffassung 
zeitweilig  immer  wieder  hingeneigt  haben. 

Höchst  merkwürdig!  Es  ist,  als  wenn  mit  dieser  Szene 
des  „schwarzen  Ritters"  die  ganzen  T  o  d  e  s  schauer  der 
folgenden  „Braut  von  Messina*  schon  vorgeschattet  er- 
schienen. Und  in  einer  ungemein  fesselnden  Linie 
gleitet  unser  Blick  von  Hamlets  „Gespenst*  über  diese 

3" 


36 


Wagneriana.   Bd.  III 


dichterischen  Symbolisierungen  der  Todesahnung,  Egmonts 
Klärchen-,  Faustens  Sorgen-Vision  und  H.  v.  Kleists 
„Alraunen"-Erscheinung  („Hermannsschlacht")  hinweg 
bis  zu  R.  Wagners  erhabener  Todkündung  der  „Walküre* 
an  Siegmund  und  weiterhin  zu  Gerhart  Hauptmanns 
„Todesengel"  („Hannele",),  zum  „jungen Tod"  R.Vossens 
<in  „Blond  Kathrein«),  bis  zu  Maeterlinck,  Wedekind 
(„Erdgeist")  und  Hawel  („Mutter  Sorge")  herauf.  Welche 
Fülle,  Mannigfaltigkeit  und  Grösse  in  der  Gestaltung 
und  Darstellung  des  Todes  auf  der  Bühne!  Und  doch 
ist  ihnen  ein  Zug  gemeinsam:  sie  alle  nämlich  —  nicht 
nur  der  Violin  spielende  „junge  Tod"  bei  Voss,  oder  die 
Wagner'sche  „Wal-küre"  —  sind  durchaus  musi- 
kalischen Wesens,  tief- ernst  erschaut.  Eine  andere, 
gegensätzliche  Art  hierzu  würde  z.  B.  die  heitere  Todes- 
androhung der  drei  Rheintöchter  an  Siegfried  (in  der 
„Götterdämmerung")  vorstellen:  und  das  wäre  so  etwa 
die  Boecklin'sche  Weise!  —  ganz  „dionysisch":  „Du 
überfroher  Held!"  .  .  . 

Was  wurde  uns  übrigens,  mit  ganz  wenigen  rühm- 
lichen Ausnahmen,  nicht  alles  vorgesungen  und  vor- 
gebrüllt an  besagtem  Abend!  —  noch  ganz  davon  ab- 
gesehen, dass  man  hinsichtlich  der  Inszenierung  mitunter 
die  hübschesten  Sinnlosigkeiten  eines  alt  eingesessenen 
Theater-Schlendrians  mit  in  Kauf  zu  nehmen  hatte. 
Man  mache  sich  doch  nur  endlich  einmal  mit  dem 
Gedanken  und  der  Praxis  vertraut,  die  zwanglos-rea- 
listische Sprachbehandlung  statt  der  pathetisch-rheto- 
rischen Redeweise  auf  Schiller  beherzt  grundsätzlich 
anzuwenden!  Vergesse  man  nie  und  nimmermehr,  dass 
die  richtige  Diktion  Schiller'scher  Verse  zur  älteren  Vor- 
tragsart einer  steifen  und  hohlen  Deklamationsübung 
sich  verhält  ganz  einfach  wie  der  Sprachgesang  zum 
absoluten  Kunstgesang:  hier  ein  von  der  Sprache 
schliesslich  ganz  abgezogener,  sich  selbst  genügender, 


Digitized  by  LiOOQlc 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  37 


reiner  Ohrenschmaus;  dort  eine  aus  der  Sprache  selbst 
hervor  blühende,  der  Wortwurzel  entstammende  und  dem 
eigensten  Tonfall  erhobener  oder  natürlicher  Rede  eng 
sich  anschmiegende,  zudem  ihrer  Periodik  nach  immer 
neu  wieder  entstehende  Akzentuierung!  Nicht  gesungen 
soll  werden  bis  zur  Unkenntlichkeit  und  Verstümmelung 
des  darunter  liegenden  Wortes,  sondern  vielmehr  nur 
dieses  soll  im  Ausdruck  ideal  gesteigert  sich  ent- 
äussern. 

III. 

Immer  tiefer  und  ernster  senkt  sich  die  schwarze 
Wolke  eines  philosophischen  Pessimismus  auf  Schillers 
poetisches  Schaffen  herein,  und  mit  Dubocs  „Bethätigung 
einer  Lebensidee"  durch  die  Kunst  dürfte  es  in  der 
„Braut  von  Messina*  so  ziemlich  bereits  Matthäi 
am  Letzten  sein  —  gehet  hin  in  alle  Welt  und  prediget 
allen  Völkern:  „Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht, 
der  Übel  grösstes  aber  ist  die  Schuld !"  Freilich  aber 
auch  schon  mit  dem  rezitierten  Drama  selber  dürfte 
es  dabei  sein  Bewenden  haben,  genau  wie  eigentlich  mit 
der  „Sinfonie-  als  solcher  bei  Beethovens  „Neunter"  ein 
Abschluss  erreicht  war.  Und  das  ist  für  eine  geläuterte 
Geschichtsbetrachtung  keineswegs  alles  nur  etwa  blinder 
Zufall  gewesen!  Immer  von  Neuem  wieder  muss  hervor- 
gehoben werden,  wie  die  berühmte  theoretische  Vor- 
erinnerung des  Dichters  „Über  den  Gebrauch  des  Chores 
in  der  Tragödie"  zu  seiner  „Braut  von  Messina",  wie 
dieses  Chordrama  selbst,  und  sodann  Goethe's  ganz  und 
gar  in  Musik  eingetauchter  „  Faust "-Schluss,  dazu  noch 
eine  ganze  Reihe  von  gelegentlichen  ästhetischen 
Äusserungen  unserer  Klassiker,  sowie  Beethovens  ge- 
waltige Chor-Sinfonie,  mit  Richard  Wagners  Theorie 
und  Praxis  des  „Musikdrama's"  zusammen,  einer  tiefer 


Digitized  by  Google 


38 


Wagneriana.    Bd.  III. 


eindringenden,  d.  h.  die  Gebiete  nicht  nur  getrennt  für 
sich  behandelnden,  Auffassung  in  engstem  geistigem 
Bunde  stehen.  Diese  meine  hartnäckige  Betonung  mag  ja 
Allen,  die  der  Sache  kein  näheres  Interesse  entgegen- 
bringen, wie  ein  spieen  vorkommen;  für  jeden,  der  sich 
mit  ihr  litterarisch  einlässlicher  befasst  hat  (und  nur 
Solche  sollten  hier  mitreden  dürfen),  ist  die  geistige 
Fortbildung  der  ästhetischen  Grundidee  eine  durchaus 
evidente.  Erst  jüngst  wieder  hat  Chamberlain  in  seinem 
vortrefflichen  „Wagner- Buche"  diese  geheimnisvollen, 
bedeutsamen  Beziehungen  übersichtlich  geordnet  dar- 
gestellt, und  wer  sich  —  selbst  nach  einem  sorg- 
fältigeren Studium  der  eigentlichen  Urquellen  —  noch 
klarer  darüber  werden  will,  der  nehme  getrost  das 
Büchlein  „Schauspiel  und  Bühne"  von  Lepsius  und 
Traube  (München,  Anfang  der  80er  Jahre)  oder  auch 
das  neuere  „Schiller- Wagner"  von  Dr.  Martin  Berendt 
(Berlin,  1901)  einmal  zur  Hand,  und  er  wird  darin 
alsbald  heller  zu  sehen  vermögen. 

Nur  musst  du  mich  auch  recht  versteht!  Man 
hat  wohl  gemeint,  dass  weit  mehr  als  der  zukunftsreiche 
Durchbruch  zur  Musik  im  „Braut  von  Messina" -Drama 
ein  vergangenheitsseliger,  fataler  Zug  zur  antiken 
Tragödie  hin  im  Vordergrund  stehe.  Letzteres  selbst 
zugegeben,  bleibt  ersteres  in  dem  Seelenprozesse  des 
Dichters  doch  immer  noch  das  primäre  Element.  Ganz 
ebenso  nämlich  bilden  ja  auch  Goethe's  „Iphigenie"  und 
Glucks  grosse  Hauptopern  —  eben  ihrer  hervor- 
stechenden Sucht  nach  der  Antike  wegen  —  wichtige 
Etappen  auf  dem  Wege  zu  Wagners,  aus  dem  ger- 
manischen Geiste  und  Wesen  später  neu  geborenen 
Musik-Drama  hin;  die  erstgenannte  dadurch,  dass  sie 
das  Moment  der  „inneren  Handlung"  und  „Seelen- 
bewegung" vorschauend  und  eine  Schöpfung  wie  den 
„Tristan"  voraus  verkündend,  technisch  ganz  entschieden 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  39 


hervorkehrt;  die  letzteren,  indem  sie  schon  in  der  Wahl 
hellenischer  Stoffe  einem  dunklen,  instinktiven  Drange 
folgen  nach  jenem  Ideal  einer  Kultur  hin,  wie  es  in 
der  harmonischen  Vereinigung  und  innigsten  Gemein- 
samkeit von  Volksseele  und  Kunstleben  bei  den  alten 
Griechen  einmal  vollendete  Thatsache  geworden  war. 
Inhaltlich  brauchte  das  später  nur  auf  deutsches 
Wesen  übertragen  zu  werden,  und  wir  langen  bei 
Richard  Wagners  „im  Vertrauen  auf  den  deutschen 
Geist"  entworfenem  monumentalen  .Nibelungenringe" 
und  dem  Bayreuther  Festspielhügel  an,  wo  es  diese,  von 
Schiller  angestrebte,  künstlerische  „Veredelung  des  Ver- 
gnügens beim  Zuschauer"  und  die  „Idealisierung  des 
Theaters"  gilt,  wo  wir  uns  „von  der  wirklichen  Bühne 
auf  eine  mögliche  versetzt  fühlen"  und  Schillers 
„tragischer  Chor"  im  verdeckten  sinfonischen  Orchester 
vor  der  Bühne  (nicht  etwa  im  vokalen  au  f  ihr!)  seine  ver- 
blüffend lebensfähige  Auferstehung  feiert,  die  das  schwierige 
und  für  unsere  Dichter  noch  schier  unüberwindliche 
Problem  endlich  einer  Lösung  entgegen  führen  durfte. 

„Ich  hatte  immer  ein  gewisses  Vertrauen  zur  Oper, 
dass  aus  ihr  wie  aus  den  Chören  des  alten  Bacchusfestes 
das  Trauerspiel  in  einer  edleren  Gestalt  sich  loswickeln 
sollte.  In  der  Oper  erlässt  man  wirklich  jene  servile 
Naturnachahmung,  und  obgleich  nur  unter  dem  Namen 
der  Indulgenz,  könnte  sich  auf  diesem  Wege  das  Ideale 
auf  das  Theater  stehlen."  So  Schiller  an  Goethe, 
29.  Dezember  1797.  „Die  Einführung  des  Chores  wäre 
der  letzte,  der  entscheidende  Schritt  —  und  wenn  der- 
selbe auch  nur  dazu  diente,  dem  Naturalismus  in  der 
Kunst  offen  und  ehrlich  den  Krieg  zu  erklären,  so  sollte 
er  uns  eine  lebendige  Mauer  sein,  die  die  Tragödie  um 
sich  herum  zieht,  um  sich  von  der  wirklichen  Welt  rein 
abzuschliessen  und  sich  ihren  idealen  Boden,  ihre 
poetische  Freiheit  zu  bewahren.     Die   Tragödie  der 


40 


Wagneriana.    Bd.  III 


Griechen  ist  .  .  .  aus  dem  Chor  entsprungen  .  .  . 
In  der  neuen  Tragödie  wird  dieser  zu  einem  Kunstorgan, 
er  hilft  die  Poesie  hervorbringen  (dies  ist  das,  was 
Nietzsche  1872  schon  so  geistvoll  als  „Geburt  —  bezw. 
Wiedergeburt  —  der  Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik* 
—  Musik  im  weitesten  Sinne  genommen !  —  zu  bezeichnen 
wusste,  d.  Ref.). . .  Der  Chor  reinigt  also  das  tragische 
Gedicht  .  .  .  Der  alte  Chor,  in  das  französische  Trauer- 
spiel eingeführt,  würde  es  in  seiner  ganzen  Dürftigkeit 
darstellen  und  zu  Nichte  machen:  eben  derselbe  würde 
ohne  Zweifel  Shakespeare's  Tragödie  erst  ihre  wahre 
Bedeutung  geben."  So  Schiller  in  der  berühmten  «Ein- 
leitung" zur  „Braut  von  Messina4*.  —  Und  nun  Wagner, 
„Ges.  Schriften"  VII,  172  und  IX,  235—239:  Die 
Orchestra  des  antiken  Theaters  —  als  Mittelglied 
zwischen  dem  Schau-Publikum  und  der  Aktions-Bühne 
zugleich  Vermittlerin  der  Idealität  des  Spieles  —  „sie 
ist  der  eigentliche  Zauberherd,  der  gebärende  Mutter- 
schoss  des  idealen  Drama's  ...  Zu  dem  von  mir 
gemeinten  Drama  wird  das  Orchester  des  Sinfonikers 
in  ein  ähnliches  Verhältnis  treten,  wie  ungefähr  es  der 
tragische  Chor  der  Griechen  zur  dramatischen  Handlung 
einnahm.  Das  Element  der  Musik,  aus  welchem  das 
tragische  Kunstwerk  einzig  geboren  wurde,  gewann  bei 
den  Griechen  seinen  plastischen  Leib  in  dem  Chore 
der  Orchestra:  dieser  Chor  ist  durch  die  Wandlungen 
der  Kulturschicksale  des  neueren  Europa  zu  dem 
nur  noch  hörbaren  Instrumentalorchester,  der 
originalsten,  ja  einzig  wahrhaft  neuen,  unserem  Geiste 
gänzlich  eigentümlichen  Schöpfung  auf  dem  Gebiete  der 
Kunst  geworden.  Somit  heisst  es  richtig:  hier  das  un- 
ermesslich  vermögende  Orchester,  dort  der  dramatische 
Mime;  hier  der  Mutterschoss  des  idealen  Drama's,  dort 
seine  von  jeder  Seite  her  tönend  getragene  Erscheinung." 
Also  nur  um  Gottes  willen  nicht  den  Chorbegriff  hier 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  41 


mit  Opern-Chören  etwa  oder  gesungenen  Chornummern 
auf  der  Szene  mehr  verwechseln,  wovon  schon  Schillers 
kläglicher  Ausruf  abhalten  müsste:  „Wenn  ich  bei  Ge- 
legenheit der  griechischen  Tragödie  von  Chören  anstatt 
von  einem  Chore  sprechen  höre,  so  entsteht  mir  der 
Verdacht,  dass  man  nicht  recht  wisse,  wovon  man  rede.44 
Das  Wesen  der  Sache  liegt  anderswo,  ungleich  tiefer  — 
wie  wir  soeben  gesehcfh  haben. 

Kurz  und  bündig  nunmehr  gesprochen  —  und  ich 
bitte,  dieses  Glaubensbekenntnis  recht  genau  zu  be- 
achten: Dem  rezitierten  Drama  wird  eine  Mission, 
eine  wirklich  organische  Entwicklung  und  „moderne" 
Fortbildung  immer  nur  nach  realistischer  Seite  hin 
winken;  sein  idealistisches  Erbe  hat  es  an  das  „Kunst- 
werk der  Zukunft",  zunächst  an  R.  Wagners  modernes 
Musik-Drama,  ein  für  alle  Mal  abgetreten.  Denn, 
fassen  wir  die  Sache  doch  klar  in's  Auge:  Vermögen 
wir  uns  für  den  Stil  einer  „Braut  von  Messina"  noch 
eine  Fortsetzung  auszudenken?  Wird  nicht  bei  dieser 
radikalen  „Vertilgung  des  Stoffes  durch  die  Form"  über 
lauter  hohem,  dramatischem  „Stil"  schliesslich  gar  kein 
Handlungsinhalt  mehr  übrig  bleiben  und  aus  all'  dem 
symmetrisch  entworfenen  „System"  zuletzt,  statt  der 
ideal  gesteigerten  Natur,  nur  die  Unnatur  mehr  heraus- 
schauen? Bedeutet  diese  aparte  Gestaltung  nicht  das 
Ende  des  Drama's?  Kein  Zweifel,  dass  dieses  „aus 
dem  innersten  Zentrum  heraus  gebildete"  Werk  gleichsam 
Schillers  „Tristan"-Tragödie  vorstellt,  will  vielmehr 
sagen:  in  des  Dichters  Scharfen  den  weitesten  und  ent- 
schiedensten Vorstoss  in  eine  damals  noch  ungekannte, 
hier  nur  erst  vorgeschattete  Zukunft  bedeutet.  Und 
ohne  Weiteres  sehr  wohl  verstehen  wir  daher  auch, 
wie  er  an  Goethe  schreiben  konnte,  dass  er  noch  „bei 
keiner  Arbeit  so  viel  gelernt  habe  als  bei  dieser". 
Ähnlich  bewegte  sich  ja  auch  Wagner  bei  Konzeption 


Digitized  by  Google 


42 


Wagneriana.    Bd.  III. 


des  „Tristan"  mit  der  vollsten  Freiheit,  Unbedenk- 
lichkeit und  Rücksichtslosigkeit  gegen  jedes  theoretische 
Bedenken,  so  dass  er  unter  der  Arbeit  sein  System 
weit  überflügelte  („zaglose  Gestaltung  aus  dem  intimsten 
Zentrum"  heraus).  Keine  Frage  ferner,  dass  die  Sprache  des 
Drama's  die  schönste  und  wurzelecht-klangvollste  ist, 
die  man  bei  Schiller  überhaupt  finden  kann,  so  dass 
sich  zudem  wohl  begreift,  warum  Goethe  zur  Lehre 
eines  idealen  dramatischen  Stiles  seine  „Regeln  für 
Schauspieler"  vornehmlich  aus  diesem  Stücke  schöpfen 
konnte.  Aber  das  blinde,  dräuende  Fatum  tötete  die 
persönliche  Verantwortung  des  individuell  sich  ver- 
schuldenden Charakters,  damit  auch  unser  Mitgefühl  an 
seinem  eigenen  Geschicke;  und  der  düstere  philosophische 
Pessimismus  findet  seine  künstlerische  Erlösung  so  recht 
erst  in  dem  Idealreiche  der  Tonkunst,  welche  den  hörend- 
fühlenden  Menschen  noch  erhebt,  wo  der  „Affekt"  den 
schauend-erschauernden  Menschen  zermalmen  muss. 

Ganz  im  Allgemeinen  Hesse  sich  hier  noch  anmerken: 
dass  das  Singen  und  Skandieren  der  Verse,  hier,  bei 
der  Natur  dieser  Form,  durchaus  einmal  am  Platze 
gewesen  wäre.  Man  bedenke  nur,  dass  es  sich  bei 
diesem  Chore  doch  um  dichterisch  gewollte  Reim-Lyrik, 
also  um  den  künstlerisch  durchgebildeten,  dynamisch 
sorgfaltig  abgeschatteten,  strenge  gemessenen  Vortrag  von 
Rhythmen  und  Metren  als  solchen  handelt!  Die  ver- 
schiedensten Funktionen  übernimmt  ja  bekanntlich  der 
Chor  mit  Führern  bei  dieser  dramaturgisch  merkwürdigen 
Anlage:  bald  Blitzableiter  gleichsam  für  ein  angehäuftes 
Obermass  von  Empfindungen,  bald  zwangloser,  organischer 
Obermittler,  Verbindungsbrücke  zu  neuen  Vorgängen; 
hier  lyrischer  Ausklang  des  Geschehenen,  dort  wieder 
Reflexion  und  Vorbereitung  kommender  Thaten;  einmal 
Spieler,  ein  ander  Mal  Erzähler  und  ein  drittes  Mal 
nur  lyrisches  „ideales  Publikum"  der  Geschehnisse  — 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus. 


43 


vereint  er  in  sich  wohl  eine  der  schwierigsten  und 
bedeutsamsten  Aufgaben  der  Schauspielkunst,  der  ein 
Einzelner  allein  kaum  je  vollauf  genügen  können  dürfte. 
Welche  Wohlthat  dann  aber  auch,  einen  klar  denkenden, 
intelligenten  Darsteller  in  einem  Drama,  das  schon 
aus  dem  Chore  hervor  gegangen  ist,  aus  diesem  Chore 
selber  sich  die  Belehrung  zur  Verkörperung  und  sinnvollen 
Ausdeutung  seiner  Aufgabe  nun  gewinnen  zu  sehen! 
Noch  niemals  haben  wir  von  der  psychologischen  Ent- 
wicklung und  inneren  Wandlung  des  Don  Cesar  solch' 
tief  greifenden  Bühnen-Eindruk  erhalten.  Offenbar  hat 
dieser  Don  Cesar  in  seiner  Auffassung  von  den  Schluss- 
betrachtungen jenes  „Chores"  am  Ende  des  3.  Aktes 
seinen  Ausgang  genommen,  und  es  war  uns  nun  doppelt 
wertvoll,  in  dieser  seiner  Interpretation  zugleich  eine 
belangreiche,  fast  möchten  wir  sagen  historische,  Per- 
spektive mit  heraus  gestellt  zu  sehen.  Schon  Richard 
Wagner  hat  Schillers  „Braut  von  Messina"  mit  Goethe's 
„Iphigenie"  in  Beziehung  gebracht.  Der  Dichter  selbst 
scheint  ja  auch  diese,  den  geistigen  Zusammenhang  aus- 
drücklich herstellende  Brücke  schlagen  zu  wollen, 
indem  er  mit  jenen  Chorversen  auf  Orests  unglückselige 
That  beziehungsvoll  genug  anspielt.  Wie  er  aber  — 
ebenfalls  nach  Wagner  —  über  Goethe  durch  ein  weit 
bestimmteres  Verfahren  in  Nachahmung  des  griechischen 
Ideales  noch  hinaus  schritt,  so  auch  besonders  in  diesem 
eigentümlichen  Momente.  Hat  er  nämlich  schon  über 
die  lediglich  antike  Form  hinaus  dem  Geiste  der  mo- 
dernen Musik  sich  bis  zur  Handreichung  nun  genähert, 
so  bildet  er  hier  noch  die  griechisch-heidnische  An- 
schauung der  Erlösung  von  der  Eumeniden-Rache  durch 
Orakelspruch  eines  Deus  ex  machina  klar  und  deutlich 
zum  Schuldbegriff  des  christlichen  Pessimismus  um  und 
bis  zur  auslöschenden  Sühne  durch  Selbstopfer  der 
eigenen  Person  ebenso  wuchtig  als  tief-ernst  weiter  fort. 


44 


Wagneriana.    Bd.  III. 


IV. 

Es  war  der  feinsinnige  Aesthetiker  Heinrich 
von  Stein  —  für  Viele  leider  (trotz  dem  Erscheinen 
seiner  gediegenen  Studien  bei  Reclam)  noch  immer  nur 
eine  „unbekannte  Grösse",  der  in  seiner  gehaltreichen 
„Aesthetik  der  deutschen  Klassiker"  über  den  Schritt 
des  Dichters  von  der  „ Braut  von  Messina"  zum  „Teil" 
hin,  und  besonders  über  das  letztere  Drama,  folgende 
wertvolle  Erläuterung  zum  Besten  gab: 

Mit  der  Einführung  des  Chores  in  der  „Braut  von 
Messina"  handelte  es  sich  „um  ein  neues  Mittel,  das 
Stoffliche  des  Gegenstandes  künstlerisch  zu  beleben 
.  .  .  Nicht  so  ist  es  anzusehen,  als  sei  hier  eine  neue 
Wendung  zur  Nachahmung  antiker  Kunst  eingetreten 
und  habe  sich  der  Dichter  aus  diesem  Grunde  ent- 
schieden, von  jetzt  ab  nur  mehr  Tragödien  mit  einem 
Chore  zu  schreiben.  Dann  nämlich  wäre  schwer  er- 
klärlich, warum  bereits  bei  seinem  nächsten  Werke 
Schiller  den  Chor  nicht  mehr  anwandte,  da  doch  die 
, Braut  von  Messina1  einen  sehr  grossen  Eindruck 
gemacht  hat.  (Auch  nicht  etwa  so  roh  ist  der  früher 
von  uns  an  jenem  Drama  festgestellte  , Geist  der 
Musik4  aufzufassen,  als  ob  dieser  latent  musikalische 
Zug  in  dem  ,opernhaften*  Elemente  der  zahlreich  ein- 
gestreuten Gesänge,  Lieder,  Jagdhornrufe,  Bühnen- 
musiken, Requiem  etc.  im  ,Tell*  nunmehr  eklatant 
hervor  gebrochen  sei !  D.  Ref.) . . .  Der  Chor  in  der  ,Braut 
von  Messina*  soll  (vielmehr)  der  gleichen  allgemeinen 
Aufgabe  dienen,  wie  das  Lager  im  ,  Wallenstein*,  wie 
die  Mirakel  in  der  Jungfrau*,  wie  die  Naturszenerie 
im  ,Tell*.  Es  soll  den  Stoff  in  die  poetische  Sphäre 
erheben  ...  Im  ,Tell*  legte  der  Gegenstand  es  nahe, 
die  Naturvorgänge  in  die  Handlung  als  unmittelbar  sich 
beteiligend  hinein  zu  ziehen.  Das  denkbar  einfachste 
Mittel  einer  poetischen  Belebung  des  Stoffes  durfte  hier 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  45 


gewählt  werden,  nämlich  dies:  Die  an  sich  selbst  zum 
Gefühle  sprechenden,  und  insofern  wahrhaft  poetischen, 
grossen  Erscheinungen  der  äusseren  Natur  auf  die 
Bühne  zu  bringen:  es  war  deshalb  möglich  und  not- 
wendig, weil  hier  der  Gegenstand  eine  von  den  be- 
sonderen Verhältnissen  der  gerade  hier  in  das  Auge 
gefassten  Berg-  und  Seelandschaft  hervorgebrachte  Be- 
gebenheit ist.  Wir  müssen,  wenn  der  Vorhang  im 
,Tell'  sich  hebt,  ein  wundervolles  landschaftliches  Bild 
mit  Augen  vor  uns  sehen  .  .  .  Lieder  erklingen,  erst 
vom  See,  dann  von  den  Höhen  .  .  .  Die  Landschaft  soll 
uns  laut  werden,  sich  uns  kund  geben,  Auge  und  Ohr 
sollen  Zeit  gewinnen,  mit  ihr  vertraut  zu  werden.  Der 
Charakter  dieses  anfänglich  vor  uns  entfalteten  Bildes 
ist  tiefer  Friede,  vollste  Schönheit  und  Lieblichkeit  .  .  . 
In  diese  Landschaft  tritt  der  Mord  —  ein  Ungewitter 
ist  herauf  gezogen,  ein  Sturm  erhebt  sich  .  .  .  Dies  ist 
das  Problem  des  Stückes:  die  ungeheuren  Möglichkeiten 
menschlichen  Thuns  stören  den  Frieden  der  Natur  .  .  . 
Ein  furchtbares  Ringen  sollen  wir  erleben  .  .  um  das 
Ernsteste  wird  gekämpft:  dreimal  im  Verlaufe  des 
Stückes  ist  die  entscheidende  That  ein  Meuchelmord. 
Wie  die  Tiefen  des  See's  aufgewühlt  sind  und  in 
heulendem  Tosen  nun  vor  unseren  Blicken  wogen  und 
stürmen,  so  steht  es  im  »Teil4  um  das  Verhältnis  des 
Menschen  zur  Natur.  Werden  wir  das  andere  Ufer 
erreichen?  Ruhe  und  Frieden  in  erhöhter,  gesicherter 
Gestalt?  Das  ist  die  Frage,  das  ist  das  Problem.  Das 
ist  auch  in  jener  Eingangsszene,  im  eigentlichen  Sinne 
gesprochen,  die  erste  Aufgabe,  an  der  sich  Teil  bewährt. 
Wir  fühlen,  dies  ist  der  Mann,  durch  dessen  Hülfe  die 
bange  Fahrt  bestanden  und  jenes  grosse  Ringen  ent- 
schieden werden  wird  .  .  .  Gerade  die  Eigenart  der 
Naturerscheinung  wird  die  Veranlassung  zu  Allem, 
was  von  da  an  gelingt  .  .  . 


46 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Das  breite  Fundament  des  ganzen  Befreiungs- Werkes 
ist  die  Zusammenkunft  auf  dem  Rütli.  Abermals  steht 
dieser  Szene  eine  ausführliche  Beschreibung  des  land- 
schaftlichen Anblickes  vor.  Eine  Mondnacht;  See  und 
Gletscher  leuchten  im  Mondenschimmer,  sie  allein  — alles 
Andere,  die  Felsabstürze,  die  Matten  sind  in  Dunkel 
gehüllt.  Das  ist  mit  Augen  gesehen;  es  ist,  wie  wir 
mit  Bestimmtheit  sagen  können,  ein  unmittelbar  grosser 
Eindruck,  den  Goethe  (auf  seiner  Reise  1797  am  Vier- 
waldstädter See)  einmal  gehabt  haben  muss  und  mit  be- 
sonderer Lebhaftigkeit  Schiller  mitgeteilt  hat.  (Und 
dieser  geistige  Zusammenhang  wird  für  unser  Betrachten 
noch  augenfälliger  und  für  unser  Gefühl  noch  intensiver, 
wenn  —  wie  wir  es  vor  Jahren  in  Leipzig  erleben 
durften  —  bei  der  Bühnendarstellung  ganz  die  selbe 
Dekoration,  wie  auch  zum  1.  Akt  im  II.  Teile  des 
,Faust(-Drama's  mit  der  grossen  Betrachtung  des  Sonnen- 
aufgangs, verwendet  wird;  wissen  wir  doch,  dass  in 
dieser  Faust-Episode  jener  grosse  Natureindruck  der 
Schweizer  Reise  von  Goethe  selbst  mit  voller  Absicht 
bewusst  nieder  gelegt  worden  ist!  D.  Ref.)  Wenn 
Melchthal  mit  seinen  Genossen  redet,  erblicken  sie 
plötzlich  einen  Mondregenbogen  über  dem  See.  ,Es 
leben  Viele,  die  das  nicht  gesehen'  —  also  ein  besonderes, 
an  das  Wunderbare  grenzendes  Phänomen.  Man  könnte 
einen  Augenblick  zweifeln,  ob  diese  Häufung  des 
Details  an  Naturausblicken  nicht  wohl  gar  auf  das  Stoff- 
liche ablenke,  auf  das  blosse  Schauspiel  der  schönen 
Erscheinung  der  Natur.  Aber  diese  Häufung  bringt 
vielmehr  eine  dichterische  Absicht  zum  Ausdruck :  wir 
sollen  deutlich  empfinden,  dass  die  Natur  mitspricht, 
dass  sie  mitschafft  an  dem  Werke,  dessen  Entstehung 
wir  erleben.  Der  Sonnenaufgang  am  Schlüsse  der  Rütli- 
Szene  ist  das  grossartigste  Moment  in  dieser  Beteiligung 
der  äusseren  Natur.    In  der  Ausführung  eines  solchen 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus.  47 


Momentes  entscheidet  sich,  was  den  ,Tell'  betrifft,  ob 
eine  Aufführung  das  Kunstwerk  Schillers  bietet, 
oder  nicht.  Lassen  wir  nach  dürftig  hergestellter  röt- 
licher Beleuchtung  den  Vorhang  fallen,  so  ist  es  kaum 
ein  Balleteffekt.  Der  Dichter  aber  schreibt  vor, 
dass  die  Szene  sich  erst  völlig  leeren  müsse, 
und  dass  sodann  unsere  ganze  Aufmerksamkeit 
von  dem  Schauspiel  der  über  den  Schneebergen 
aufsteigenden  Sonne  angezogen  und  festgehalten 
werde. 

Das  ist  der  Hintergrund,  vor  welchem  das  Drama 
spielt,  besser:  der  Boden,  aus  dem  es  erwächst  (und  der 
Sc  ho  ss,  aus  dem  es,  wie  die  griechische  Tragödie  aus 
dem  Geiste  der  Musik  und  die  ,Braut  von  Messina4  aus  dem 
Chore,  geboren  —  dürfen  wir  nun  sagen).  Denn  die  mensch- 
lichen Vorgänge  des  Drama's  selbst  sind  an  Breite,  Fülle 
und  Wucht  wie  grosse  Naturerscheinungen  dargestellt. 
Eine  Gesamtheit,  das  schweizerische  Volk,  ist  der  Held 
des  Stückes.  Dies  erfahren  wir  vor  Allem  in  jener 
Szene,  von  deren  Naturumgebung  wir  eben  sprachen  .  .  . 
Auf  natürlichen  Gründen,  auf  einem  gemeinsamen 
(Mutter-)Boden  soll  das  Werk  beruhen.  Die  Geschichte 
des  Volkes  als  eines  Ganzen  sollen  wir  vernehmen;  die 
That  dieses  Volkes  sollen  wir  erleben.  Die  Aufführung 
bringt  hierin  den  Gedanken  des  Dichters  dann  zum 
Ausdruck,  wenn  der  fünfte  Akt  als  höchste  Steigerung 
des  Stückes  wirkt.  (NB.  Das  Glockenläuten,  die  Feuer, 
das  Niederreissen  Zwing-Uri's  —  all'  dies  muss  auf  den 
Beschauer  mit  einem  gewaltigen  Eindrucke  einstürmen: 
wir  müssen  das  Volk  bei  seiner  That,  in  seinem  Glücke 
sehen.  Teil  selbst  ist  nur  verstanden,  wenn  man  die 
Schwere,  die  Wucht  seiner  EntSchliessungen  und  seiner 
That  beachtet;  eben  diese,  man  möchte  mit  dem  Goethe- 
schen  Lieblingsworte  sagen,  diese  Breite  der  inneren 
Vorgänge  in  der  Seele  Teils,  ist  das  Volkstümliche  in 


Digitized  by  Google 


48 


Wagneriana.   Bd.  III. 


ihm,  das,  was  ihn  zum  Repräsentanten  der  Volks- 
gesamtheit macht  .  .  .  Das  Volksgemüt  hat  durch  seinen 
Arm  die  That  vollbracht.  Teil  war  hier  —  nach  Wagner 
—  gleichsam  der  Inbegriff  Aller,  welche  die  gemein- 
same Not  empfanden,  denn  nur  diese  höchste  Not  hat 
sie  ihm  zuletzt  eingegeben  und  abgerungen.  D.  Ref.)  Die 
Liebe  des  versammelten  Volkes  spricht  ihn  nun  am 
Schlüsse  los.  Hiermit  sehen  wir  das  Volksgemüt,  die 
Volksgemeinschaft  zum  Siege  über  Tücke  und  Willkür 
gelangt,  und  in  Einklang  mit  den  ruhigen,  gesunden 
Gründen  ihrer  natürlichen  Heimat  zurück  gebracht. 
Dieser  Sieg  ist  ein  Ideal  .  .  .  Und  den  Gewinn,  der  für 
alle  Zeiten  einer  Dichtung  wie  ,Tell*  zu  entnehmen 
ist,  möchten  wir  als  Vertrauen  in  das  Ideal  be- 
zeichnen .  .  .  Die  Grösse  und  Weite  eines  solchen 
Werkes  flösst  uns  Sicherheit  des  Gefühles,  Bestimmt- 
heit unserer  idealen  Hoffnung  ein  .  .  ." 

Damit  aber  ist  für  uns  zugleich  der  „Geist  der 
Musik",  als  der  „  Idealitätssphäre"  des  Drama's  im  weitesten 
Sinne  des  Wortes,  auch  in  diesem  Schlusswerke  Schillers 
inhaltlich  und  formell  nur  wieder  vollauf  bestätigt. 

Und  doch  —  welch'  gewaltiger,  kaum  zu  glaubender 
Schritt:  von  der  „Braut  von  Messina",  diesem  aparten 
Unikum  in  Schillers  gesamtem  Schaffen,  zum  „Wil- 
helm Teil",  seinem  letzten,  vielleicht  reifsten  und  nach 
dem  „Wallenstein"  sicher  vollendetsten  Drama  hin!  Das 
Dramatisch-Lebensvolle  und  das  Theatralisch-Wirksame, 
grosszügige  Leidenschaft  und  innig-gehaltvolle  Rührung, 
idealer  Charakter  und  realistischer  Stil  vereinigen  sich 
hier  in  kraftvoll-nationaler  Ausprägung,  voll  Weihe  und 
Schwung,  zu  einer  so  harmonischen  Ineinsbildung,  dass 
sie  allein  schon,  noch  ohne  den  starken,  stofflichen  und 
ethischen  Reiz,  die  hohe  Beliebtheit  dieses  Werkes  bei 
Jung  und  Alt,  bei  Hoch  und  Niedrig  rechtfertigen 
müsste.    Ergäbe  der  Schluss  in  der  Parrizida-Episode 


Digitized  by  Google 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus. 


49 


nicht  den  unglückseligen  Überschuss  an  dichterischer 
„Tendenz",  oder  richtiger  gesagt:  gedanklicher  Sentenz, 
das  formale  Gewand  sässe  dem  Körper  wie  angegossen, 
ohne  die  geringste  Falte ! 

Verwunderlich  ist  u  n  s  dieser  Weg  von  einer  „  Braut* 
zum  „Teil"  ja  nicht  weiter,  denn  wir  haben  gesehen, 
wie  die  „Braut  von  Messina •  eine  Sackgasse  der 
dramatischen  Dichtung  bedeutete,  aus  welcher  erst  eine 
spätere  Zeit,  indem  sie  der  fest  gerannten  Idee  mit  Hülfe 
der  Tonkunst  ihre  wahre  Erlösung  und  Vollendung  zu 
Teil  werden  Hess,  wieder  heraus  zu  führen  vermochte: 
das  Märchen  vom  schlafenden  „ Dornröschen"  (Dichtung), 
das  durch  den  Kuss  des  „Königssohnes"  (Tonkünstler) 
zu  idealem  Leben  erweckt  und  in  ein  Königreich  der 
Zukunft  heim  geführt  wird !  Trotzdem  bleibt  der  Schritt 
immerhin  noch  merkwürdig  genug,  auch  wenn  wir  dabei 
im  Auge  behalten,  dass  darauf  hin  vielleicht  noch  ein 
.Malteser"-  oder  ein  „Demetrius"-Drama  hätte  folgen 
sollen,  und  dass  auch  im  „Teil"  noch  gar  mancherlei 
Überbleibsel  von  Chorabsichten,  freien  Rhythmen  und 
musikalisch-opernhaften  Elementen  vorhanden  sind.  Für 
jedes  der  genannten  beiden,  ungeschriebenen  Dramen 
Hessen  sich  geistige  und  technische  Anknüpfungspunkte 
in  voraus  gehenden  Schöpfungen  Schillers  gar  manche 
auffinden;  um  den  „Teil"  organisch  einzugliedern,  muss 
man  aber  wohl  oder  übel  bis  zum  Ausgangspunkt  in 
Schillers  Entwicklung,  seinem  „Räuber" -Drama  zurück 
greifen.  Zwar,  das  spezifisch  revolutionäre  Moment,  es 
hat  —  sei  es  in  der  Form  der  subjektiven  Rebellion  oder 
der  objektiven  Auflehnung  gegen  eine  fremde  Regierung, 
sei  es  als  Widerkönigtum  oder  als  Neigung  zu  Autonomie, 
um  nicht  zu  sagen  zum  Anarchismus  —  eigentlich 
einzig  nur  wieder  in  der  „Braut  von  Messina"  gänzlich 
gefehlt;  in  allen  anderen  Dramen  durften  wir  ihm  mehr 
oder  minder  ausgeprägt  immerdar  begegnen.  Allein  es 
Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  4 


50 


Wagneriana.   Bd.  III. 


ist  ein  gewisses  Etwas,  das  allem  voran  gerade  den 
„Teil",  das  Ende  in  Schillers  produktivem  Tagewerk, 
mit  seinen  „Räubern-,  dem  Anfange  seiner  dichterischen 
Entfaltung,  in  enge  geistige  Verwandtschaft  treten  lässt 
—  eine  Verwandtschaft,  die  uns  wie  verklärte  Bestätigung 
und  Bekräftigung  seines  idealen  Jugendwollens,  aber  i  m 
milden  Lichte  des  versöhnenden  Abendsonnen- 
strahles nunmehr,  aus  seinem  Leben  grüsst. 

Ein  „E  pur  si  muove"  —  in's  Schillerische  übersetzt: 
„Der  Mensch  ist  frei  und  wär'  er  in  Ketten  geboren!"  — 
entringt  sich  trotz  allem  und  allem  an  gegenteiligen 
Erfahrungen  sowie  von  der  realen  Welt  ihm  bereiteten 
Enttäuschungen  auch  an  seinem  Lebensabend  als  ein 
edelstes  Bekenntnis  und  geistiges  Vermächtnis  seiner 
männlichen  Brust.  Aber  die  starke  ästhetische  Schule, 
die  der  Dichter  vom  „Carlos"  bis  zur  „Braut  von 
Messina"  sich  selbst  auferlegt  und  seither  freiwillig  an 
sich  durchlaufen  hat,  sie  ist  nicht  spurlos  an  seinem 
Geiste  vorüber-,  etwas  wie  geläuterte  Umbildung  der 
äusseren  Revolution  zur  inneren  Reformation  ist 
bei  ihm  vor  sich  gegangen.  Jetzt  durfte  er  das  Jugend- 
problem wieder  aufnehmen  und  dabei  erhoffen,  dass  ihm 
gelingen  würde,  was  man  so  nennt:  die  Leidenschaften 
der  eigenen  Seele  in  persönlich  uninteressierter  Schau 
und  objektiver  Vergegenständlichung  klärend  zu  ideali- 
sieren; jetzt  —  nachdem  er  zuletzt  gar  noch  einen 
Stoff  durch  die  Form  geradezu  „getilgt"  hatte  —  konnte 
er  es  auch  unternehmen:  den  ursprünglich  über- 
schäumenden Stoff  durch  Form  und  zur  Form  zu  be- 
zwingen! Dort,  in  den  „Räubern",  im  gewaltigen  Drange 
einer  schwer  lastenden  Gegenwart,  wird  die  Fabel  des 
Stückes  erst  aus  den  Zeitumständen  heraus  mit  starker 
stofflicher  Wirkung  noch  geschöpft;  hier,  im  „Teil", 
haben  wir  geschichtliche  Verklärung  und  Erhebung  der 
Idee  zur  mythischen  Personifikation.    Was  dort  Auf- 


Digitized  by 


Betrachtungen  zu  einem  Schiller-Zyklus. 


51 


bäumung  des  einzelnen,  grossen  und  starken  Ausnahme- 
Individuums  gegen  den  Staat,  als  den  Unterdrücker 
freien  Geistes,  gewesen,  es  erscheint  hier  zu  Aufstand 
einer  grösseren  Volksgemeinschaft  wider  deren  fremde 
Bedrücker  gesteigert,  also  vom  rein  Persönlichen  oder 
Parteilichen  in's  Volkliche  und  Vaterländische  sehr  be- 
merkenswert fortgebildet  —  wobei  wir,  selbst  am  Schlüsse 
der  Schiller'schen  Lebenslauf  bahn,  die  „  Propaganda  der 
That",  das  immer  noch  revolutionäre  Prinzip  des  ver- 
herrlichten politischen  Meuchelmordes,  noch  gar  nicht 
einmal  unterschätzen  möchten.  Dazwischen  stehen  nicht 
nur  die  sämmtlichen  übrigen  Dramen  des  Dichters  bis 
zur  viel  berufenen  „Braut  von  Messina",  sondern  auch 
die  grosse  französische  Revolution;  am  Ausgangspunkt 
aber  —  ich  sage  nicht  als  Folge,  indessen  doch  (beziehungs- 
voll genug  für  eine  historische  Betrachtung)  nach  dem 
„Teil":  der  Tiroler  Aufstand  mit  Andreas  Hofer  an  der 
Spitze  —  eine  Volks-Erhebung,  die  freilich  in  ihrem  Helden 
tragisch  enden  sollte!  Auch  in  unserer  Zeit  beisst  sich 
ein  Gerhart  Hauptmann  an  diesem  ethisch-ästhetischen 
Problem:  .Weber"  —  „Florian  Geyer",  Zeitdrama  oder 
historische  Tragödie,  die  Zähne  aus  und  man  weiss 
nicht,  was  noch  werden  mag.  Die  50  Personen,  die 
der  Spielzettel  zum  „Teil"  auffuhrt,  hat  er  auf  über  60 
vermehrt;  gelänge  es  ihm,  seinen  „Florian  Geyer",  wie 
Schiller  seinen  »Teil",  aus  dem  ihn  umgebenden  „Rate" 
der  Genossen  plastisch-kraftvoll  heraus  zu  heben  und  — 
wenn  auch  in  ungleich  realistischerer,  „modemer" 
Gestaltung  des  rezitierten  Drama's  —  zu  einem 
gleichen,  handelnden  Helden  der  überzeugenden  „That" 
zu  machen:  fürwahr,  er  könnte  der  Mann  unserer  Zeit 
werden  .  .  . 


Zwischen 
Robert  Schumann 
und  Richard  Wagner 


Herrat 

Grosse  Oper,  Text  und  Musik  von  Felix  Draeseke 

(1894) 

Der  alte  Professor  Riedel  in  Leipzig,  der  Begründer 
des  nach  ihm  benannten  grossen  Chor-Vereines,  hat  mir 
einmal  eine  hübsche  Geschichte  von  einer  Zusammen- 
kunft Liszts  mit  Draeseke  erzählt.  »Nun,  mein  lieber 
Draeseke,  was  machen  Sie  denn  eigentlich  ?"  ging  der  Alt- 
meister freundlich  lächelnd  auf  den  ehemaligen  Jünger 
zu.  „Ich?  —  ich  schwinge  die  Palme  der  Erfolg- 
losigkeit!" soll  dieser  schlagfertig  geantwortet  haben. 
WemVs  nicht  wahr  ist,  so  ist's  doch  jedenfalls  sehr  gut 
erfunden.  Aber  freilich,  genau  so  lange  und  insoweit 
schwingt  auch  Draeseke  nur  diese  „Palme",  als  und 
weil  seine  Werke  nicht  aufgeführt  werden;  so  bald  einmal 
eines  wie  seine  „Herrat",  seine  „Gudrun",  seinw  Bertrand 
de  Born",  „Requiem",  „Adventslied",  seine  „Penthesilea- 
Ouvertüre",  „Sinfonia  tragica",  sein  „Klavierkonzert" 
oder  der  Balladen-Zyklus  „Olaf"  auf  dem  Plan  erscheint, 
ist  ihm  auch  der  Erfolg  noch  niemals  ausgeblieben.  (Erst 
beim  umfangreicheren  „Christus"  neuerdings  scheint  er 
nachzulassen.)  Unter  starkem,  anhaltend  lebhaftem  Beifall 
ging  so  auch  vor  einer  zwar  kleinen,  aber  für  die 
hohen  Schönheiten  des  Werkes  desto  empfänglicheren 
Draeseke-Gemeinde  seine  „Herrat"  nach  langer,  langer 
Pause  wieder  einmal  in  Szene.  Jener  Musikreferent  des 


Digitized  by  Google 


56 


Wagneriana.  Bd.  III. 


„Dresdner  Journals",  der  kurz  zuvor  so  dankenswert 
auf  diese  und  so  manche  andere  Unterlassungssünde  der 
Dresdener  Hofoper  hingewiesen  hatte,  darf  sich  also  — 
und  wir  dürfen  uns  mit  ihm  —  aufrichtig  gratulieren, 
dass  seine  Anregungen  so  bald  schon  Gehör  gefunden 
haben.  Oder  sollte  in  dieser  wie  so  mancher  anderen 
Neueinstudierung  der  jüngsten  Zeit  an  genannter  Oper 
etwa  gar  das  Wehen  eines  „neuen  Geistes-  sich  bereits 
angekündigt  haben? 

In  der  That  kenne  ich  wenige  Werke  von  solch* 
lauterem,  ernst-vornehmem  und  edlem  Streben,  dürften 
wir  in  Deutschland  zur  Zeit  wenig  Opern  mit  solch 
hervorragenden  Schönheiten  aufzuweisen  haben,  die  — 
so  selten  aufgeführt  werden.  Es  gehört  Mut,  Über- 
zeugungskraft und  ein  stolzer,  unbeugsamer  Glaube  an 
das  eigene  Ideal  dazu,  nach  einem  Richard  Wagner 
noch  so  selbständige  Wege  zu  wandeln,  wie  dies  Felix 
Draeseke  in  seiner  „Herrat"  thut;  und  so  viel  ist  sicher, 
hätte  Wagner  nicht  gelebt,  würde  Draeseke  als  Opern- 
komponist wohl  eine  ganz  andere,  weit  imposantere 
Stellung  in  unserer  Gegenwart  einzunehmen  berufen 
erscheinen.  So  aber  steht  diesem  seinem  Aufkommen  der 
grosse  Reformator  des  musikalischen  Drama's  eigentlich 
im  Wege,  wenngleich  er  selbst  in  manchen  Stücken 
dessen  Pfaden  zu  folgen  und  der  „ Wagner-Schule"  an- 
zugehören, oder  doch  von  ihr  direkt  her  zu  kommen  scheint. 
Ich  sage  „scheint",  denn  für  den  tieferen  Kenner  ist  es 
meist  nur  etwas  Äusserliches,  worin  sich  Beide  be- 
rühren :  wenn  z.  B.  der  Komponist  —  weil  er  zugleich 
ein  mit  umfassender  litterarischer  Bildung  Begabter  ist 
—  sich  seine  Texte  selber  dichtet,  die  „Nummern"  der 
älteren  Oper  in  „Szenen",  das  frühere  „Rezitativ"  in 
„Deklamation"  auflöst,  die  veraltete  „  Riesengui  tarre- 
Begleitung*  des  Orchesters  zu  einer  solchen  mit  „sin- 
fonischem Charakter"  erweitert  und  in  gewissen  Klängen 


Herrat. 


57 


hier  stellenweise  dann  allerdings  an  das  berühmte  Vor- 
bild erinnert.  Seine  „grosse  Oper",  wie  er  sein  Werk 
ehrlich  nennt,  hat  sich  damit  zwar  der  durch  Wagner 
angebahnten  Reform  keineswegs  verschlossen,  aber  doch 
auch  noch  nicht  zum  vollen  „ Musikdrama u  schlechthin 
entwickelt;  seine  „ Deklamation •  ist  noch  nicht  ganz 
„Sprachgesang",  und  vollends  sein  Orchestersatz,  seine 
Art  zu  instrumentieren,  dabei  noch  so  eigenständig  ge- 
blieben, seine  ganze  Diktion  so  wesentlich  anders 
wieder  als  die  Wagner'sche  geartet,  dass  man  auf  alles 
Andere  eher  als  auf  eine  Abhängigkeit  von  jenem,  unser 
Jahrhundert  nun  einmal  überragenden  Heros  bei  dem 
jüngeren  Meister  (trotz  früherer,  notorischer  Beziehungen 
dieses  zu  jener  Richtung)  raten  kann.  Seine  Entwicklung 
liegt,  genau  genommen,  mehr  auf  der  Linie  Schumann. 
Er  steht  gerade  mitten  inne  zwischen  der  1850  zuerst 
aufgeführten  Schumann'schen  „Genoveva"  und  den  nach 
ihr  erschienenen  Wagnerischen  Musikdramen  —  vom 
„Lohengrin"  also  bis  zur  „Götterdämmerung"  (aus- 
schliesslich „Parsifal");  er  geht  entschieden  einige 
Schritte  weiter  wie  jener,  aber  doch  noch  nicht  eben  so 
weit  wie  dieser.  Zweifelsohne  ist  er  in  der  Oper  und  für 
die  Bühne  ungleich  bedeutender,  auch  dramatischer,  als 
der  durch  und  durch  lyrisch  veranlagte  Schumann; 
allein  eine  gewisse  Dickflüssigkeit  in  seiner  Orchestrierung, 
hier  und  da  ein  Sich-Einspinnen  und  Nach-innen-Sinnen, 
das  sich  gern  tiefer  Vergrübelnde  also  und  eine  gewisse 
keusche,  für  die  in  skrupellos  gegensätzlicher  Drastik 
sich  ergehende  Bühnenpraxis  allzu  keusche,  Seite  in 
seinem  Wesen  gemahnen  lebhaft  an  jenen  und  lassen 
ihn  immerhin  als  seinen  Geistesgenossen  erkennen. 
So  bleibt  der  Schöpfer  von  „Herrat«1  zwar  überall 
charakteristisch,  erreicht  aber  nur  selten  jene  schlagen- 
den, frisch-fröhlich-freien,  ja  kecken  Wirkungen,  wie  sie 
das  Drama  so  sehr  braucht;  hat  er  leider  nicht  allzu 


58 


Wagneriana.    Bd.  III. 


viel  von  jener  Plastizität  an  sich,  wie  sie  bei  Wagner 
durch  die  leitmotivische  Behandlung  für  die  dramatische 
Gestaltung  so  fruchtbar  geworden  ist,  und  ist  er  im 
Ganzen  daher  wohl  musikalischer,  als  gerade  dramatisch, 
begabt  zu  nennen. 

Auch  bis  in's  Textbuch  hinein  lässt  sich  solche 
„ Selbständigkeit"  unseres  Komponisten,  oder  wenn  man 
will,  diese  Mittelstellung  zwischen  Schumann  und  Wagner 
genau  verfolgen.  Er  verzichtet  auf  das  Streng-Mythische 
als  Stoffgrundlage  für  seine  Oper,  geht  also  nicht  mit 
dem  späteren,  sondern  hält  es  vielmehr  mit  dem  früheren 
Wagner,  indem  er  die  Sage  genau  an  dem  Punkte  nur 
aufnimmt,  wo  sie  schon  historisch  wird,  aber  auch 
Geschichte  sich  mit  Dichtung  immerhin  noch  leicht 
vermischt.  Er  sichert  sich  damit  den  grossen  Vorteil, 
typische,  allgemein  menschliche  Gestalten  zu  gewinnen, 
als  welche  musikalische  Ausprägung  gar  wohl  gestatten; 
aber  die  historischen  „Eierschalen*  gleichsam  hängen 
ihnen  eben  doch  auch  an,  ganz  abgesehen  noch  davon, 
dass  die  Personen  —  mit  Ausnahme  vielleicht  von 
Etzel  und  Hildebrand  —  ihm  nicht  individuell  genug 
geraten  sind.  Genau  in  dem  selben  Grade  nun,  in 
welchem  hier  ein  historisches  Element  das  Sagenhafte 
oder  Allgemein-Menschliche  noch  überwiegt,  hat  sich 
auch  Draeseke  von  Wagner  hierbei  entfernt,  in  seiner 
Oper  .Gudrun"  anderseits  diesem  wieder  sich  genähert. 
Mag  sein,  dass  auch  einige  andere  Schwächen  des  Text- 
buches die  rechte  Bühnenwirksamkeit  des  Werkes  auf 
die  breiteren  Massen  in  Etwas  beeinträchtigen,  so  dass 
dadurch  doch  auch  der  Mangel  geräuschvollen  Glanzes  und 
eines  durchgreifenden  äusseren  Erfolges  bei  unserem 
Werke  einigermassen  erklärt  sein  würde.  Wenigstens 
wollte  es  mir  so  scheinen,  als  ob  die  gewaltthätige  und 
blutrünstige  Grausamkeit  des  die  ganze  Handlung  be- 
herrschenden Haupt-  und  Grundmotives  (wenn  Etzel 


Digitized  by  Google 


Herrat. 


59 


nämlich  bis  fast  zum  Schlüsse  hin  eisern  darauf  besteht, 
dass  seine  eigene  Frau  ihren  Kopf  verwirkt  haben 
solle  —  nebenbei  bemerkt:  das  konnte  nur  ein  Jung- 
geselle so  schreiben!)  eine  tiefere  menschliche  Anteil- 
nahme an  den  auf  der  Bühne  oben  sich  vollziehenden 
Geschicken  beim  Hörer  nicht  recht  aufkommen  Hesse. 
Manches  —  wie  die  Liebe  Dietrichs  zu  Herrat  —  ist 
dabei  wohl  schon  zu  fein-,  manches  wieder  —  wie  die 
Liebe  Helke's  zu  Dietrich  dem  Reussen  und  überhaupt 
die  ganze  Vorgeschichte  —  zu  wenig  motiviert,  und 
schon  die  Verbindung  Helke's,  dieser  weiss-rassigen 
zartschönen  Frau,  mit  dem  rauhbeinigen  Scheusal  von 
Hunnenfürsten  berührt  an  sich  —  ähnlich  derjenigen 
zwischen  Desdemona  und  Othello  —  wie  Feuer  auf 
Wasser,  fremd  und  unvereinbar,  so  unerklärlich  wie 
unerquicklich.  Selbst  einige  weniger  glückliche  Einzel- 
heiten im  Texte,  wie  z.  B.  die  oftmals  wiederholte  selt- 
same Wendung  „bislang  musst'  ich  das  Elend  bau'n" 
(S.  42/43  —  innerhalb  zweier  Seiten  allein  dreimal,  vergl. 
auch  S.  20),  oder  das  gänzlich  aus  dem  Rahmen  fallende: 
»Das  ist  ja  schier  zum  Lachen!0  u.  a.  —  all  das  mag 
der  vollen  Wirkung  wohl  mancherlei  Eintrag  thun;  und 
das  ist  gewiss  nur  sehr  zu  bedauern,  denn  diese  Oper 
verdient  es  wie  wenige,  aufgeführt,  gehört  und  wenigstens 
gekannt  zu  werden.  Das  herrliche  Orchestervorspiel, 
die  wundervoll  zarte  Verwandlungsmusik  im  zweiten, 
das  bedeutende  Ballett  im  dritten  Akte  als  reine  In- 
strumentalnummern, der  markige  Einzug  Etzels  und 
seiner  Mannen,  später  die  Charakteristik  der  Leiden 
Dietrichs  des  Berners  im  ersten,  Herrats  wehmütige 
Erwartung,  die  eigentümliche  Kampfszene,  hernach  der 
entzückend  schöne  Zwiegesang  und  zuletzt  die  gross- 
artige Volkshuldigung  im  zweiten,  endlich  Herrats  so 
herrlich  edle  und  milde  Ansprache  und  die  vorzüglich 
angelegte  Schlussszene  im  dritten  Aufzuge  bilden  da  nur 


60 


Wagneriana.    Bd.  III. 


eine  kleine  Blumenlese  aus  der  Partitur,  welche  allein 
schon  den  Besuch  der  Oper  lohnen  würde.  Namentlich  das 
„Ballett14  daraus  verdient  es,  in  seiner  neuen,  charakter- 
vollen Tendenz  als  „dramatische  Pantomime*  besonders 
rühmend  hervorgehoben  zu  werden,  in  welcher  Form 
es  sogar  zu  einem  integrierenden  Teile  der  Handlung 
selber  nun  geworden  ist.  Schlechterdings  unfasslich  bleibt 
es  wahrlich,  wie  man  es  bisher  gänzlich  hat  weglassen 
können;  denn  —  abgesehen  davon,  dass  es  dem  dritten 
Akte  in  der  Ökonomie  des  Ganzen  erst  die  rechte 
Ausdehnung  giebt:  wenn  etwas  uns  den  finsteren  Etzel 
überhaupt  noch  menschlich  näher  rücken  kann,  so  ist 
es  doch  die  Gebärde,  mit  der  er  die  sanfteren  Liebes- 
weisen dieses  Tanzes  im  Hinblick  auf  das  schwere 
Opfer,  dass  er  sich  selber  zu  bringen  hat,  unwillig  und 
doch  wie  resigniert  von  sich  abwehrt,  die  kriegerischen 
Tänze  vor  Allem  wieder  heischend.  Also  ein  psycho- 
logisches  Motiv!  Aber  auch  der  Schluss,  mit  dem 
plötzlichen  Abreissen  der  Bewegung  auf  Befehl  des 
ungeduldigen  Herrschers,  ist  gar  eigenartig  und  zeigt, 
wie  gesagt,  das  Ballett  von  einer  neuen,  höchst  inter- 
essanten Seite:  hier  ist  es  allerdings,  wo  Draeseke 
Wagners  Spuren  als  ein  überzeugter  Anhänger  folgt 
—  man  vergleiche  nur  die  dramatischen  Pantomimen 
im  „Rienzi"  und  im  „Tannhäuser*1! 

Warum  der  Komponist  einen  so  rauhen  Stoff  sich 
zum  Vorwurf  für  seine  Oper  genommen  hat,  einen 
Stoff,  der  von  Grund  aus  schon  zartere  Regungen  nicht  so 
leicht  aufkommen  liess,  das  erklärt  sich  wohl  unschwer 
aus  einem  gewissen  strengen,  knorrig-trotzigen  Grund- 
wesen, das  seiner  Natur  nun  einmal  eigentümlich  zu 
sein  scheint.  Es  ist  das  ein  männlich  strotzendes  Kraft- 
gefühl in  ihm,  eine  feste  und  innerlich  solide  Kern- 
haftigkeit,  die  im  Bewusstsein  ihrer  Stärke  oft  zu  den 
stärksten  Härten  in  bezügl.  kombinatorischen  Leistungen 


Digitized  by  Google 


Herrat. 


61 


fuhrt  —  eine  gewisse  herbe  Sprödigkeit  muss  man  da  eben 
auch  einmal  mit  in  den  Kauf  nehmen.  Dafür  aber,  und  das 
ist  die  Hauptsache,  ist  und  bleibt  er  auch  durch  und  durch 
Deutscher,  seine  Kunst  eine  solche  von  edelstem 
arischen  Geblüte  —  germanische  Rasse  in  jedem  Zug: 
das  soll  ihm  ganz  gewiss  bei  derzeitiger  Fremdländerei 
nicht  vergessen  sein!  Ich  erinnere  z.  B.  nur  an  die 
wirksame,  glanzvolle  Schlussszene  des  zweiten  Aufzuges, 
wo  das  von  den  besten  Helden  des  Volkes  akklamierte 
Herzogspaar,  der  Recke  und  die  jungfräuliche  Braut, 
von  den  eigenen  Mannen  hoch  auf  den  Schild  erhoben 
wird:  Heiliger  Armini  —  da  strömt's  einem  wie  neues  Blut 
durch  die  Adern;  das  konnte  nur  ein  Echter  in  seiner 
Phantasie  also  erschauen.  Und  hierbei  komme  ich  zum 
guten  Ende  noch  auf  einen  anderen,  für  Draeseke's 
Schaffen  so  recht  bezeichnenden  Punkt  zu  reden:  allwo 
wir  nämlich  eine  geistige*)  Verwandtschaft  mit  keinem 
Geringeren  als  dem  grossen  Beethoven  bei  ihm  sogar 
aufzudecken  haben.  Wenn  nämlich  oben  schon,  mehr  im 
Sinne  eines  Tadels,  betont  werden  musste,  dass  nur  ein 
Junggeselle  das  bewusste,  herzlose  Hauptmotiv  zu 
dramatisieren  vermochte,  und  wenn  man  es  hin  und 
wieder  wohl  als  einen  Mangel  am  Textbuche  empfinden 
mochte,  dass  darin  gleichsam  zu  wenig  geliebt  werde, 
so  darf  nun  anderseits  mit  Nachdruck  darauf  hin 
gewiesen  und  als  ein  besonderer  Vorzug  heraus  gehoben 
sein,  dass  bei  Draeseke  —  gerade  so,  wie  auch  bei 
Beethoven  —  wenn  denn  schon  einmal  dieses  letztere 
Gebiet  berührt  wird,  alles  sofort  zu  jenem  höchsten 
Ethos  auch  emporsteigt,  jenes  „hohe  Lied0  der  Liebe 
und  Treue  vom  Komponisten  alsdann  angestimmt  wird, 
welches  das  arische  Erbteil  unserer  Nation  schlechthin 


•)  Wohlgemerkt:  „geistige**  —  die  „leibliche41  liegt  ja  in 
seiner  zunehmenden  Taubheit  leider  auch  schon  vor. 


62 


Wagneriana.    Bd.  III. 


heissen  mag  und  zuletzt  dem  Feuer  eines  begeistert 
erglühenden,  reinen  Idealsinnes  entstammt,  von  dem  die 
—  Ehemänner  unter  den  Komponisten  (Wagner  immer 
ausgenommen)  leider  nur  selten  auch  nur  einen  Schimmer 
mehr  haben.  Und,  statt  dieses  hohe  germanische  Ethos 
nun  auf  unseren  Buhnen  angelegentlichst  zu  pflegen, 
nimmt  man  lieber  den  ganzen  ausländischen  Kram  der 
französischen  Ehebruchs-,  italienischen  Eifersüchte-  und 
undeutschen  Frivolitäts-Opern  gastlich  bei  sich  auf,  wobei 
die  deutschen  Komponisten  hübsch  antichambrieren  dürfen 
und  ein  Draeseke  sich  von  Aufführung  zu  Aufführung 
(die  alle  heiligen  Zeiten  —  wenn  es  gut  geht  —  einmal 
stattfindet)  in  Geduld  stets  fromm  und  wacker  zu  fassen 
hat!  Es  spricht  nur  für  Draeseke's  »Charakter",  wenn  er 
darüber  noch  nicht  verbittert  geworden  ist;  man  darf 
es  ihm  aber  auch  nicht  verübeln,  wenn  er  seinem 
gerechten  Unmut  gelegentlich  einmal  durch  ein  scharfes 
Wort  über  die  „Ausländerei44  schon  Luft  gemacht  hat. 
Darum  alles  in  Allem:  Wir  sind  stolz  darauf,  ihn  den 
Unseren  nennen  zu  dürfen. 


Digitized  by  Google 


♦ 


Melusine 

Romantische  Oper  in  drei  Aufzügen  von  Carl  Grammann 

(1894) 

Es  ist  immer  eine  gar  löbliche  Absicht  von  Seiten 
einer  Hoftheater-Intendanz,  neuere  Werke  lebender 
Komponisten  an's  Licht  der  Rampen  hervor  zu  ziehen, 
und  sie  darf  sich  das  auch  j  a  nicht  verdriessen  lassen, 
selbst  wenn  solches  Bestreben  nicht  stets  von  dem  ge- 
wünschten Erfolge  begleitet  sein  sollte.  Auch  in  dem 
Falle  Grammann  mag  sie  der  erneute  Versuch  nicht 
gereuen  (trotzdem  dieser  wohl  durch  die  Wieder- 
aufführung der  „Melusine"  nun  endgültig  als  miss- 
lungen  aufgefasst  werden  muss);  denn  nur  dann  kann 
und  darf  man  mit  vollem  Fug  von  mangelnder  Wirkung, 
Unaufführbarkeit,  Lebensunfahigkeit  eines  Bühnenwerkes 
sprechen,  wenn  man  es  erst  einmal  in's  Leben  gefördert 
und  zum  szenischen  Leben  auch  wirklich  aufgerufen  hat. 

Um  es  kurz  zu  sagen :  Ich  glaube,  der  Dichter  hat 
allzu  tief  in  die  Melusinen-Sage  hinein  geguckt,  und  so 
ist  ihm  das  Werk  unter  der  Hand  zur  Melusine  selber 
geworden;  ein  zwischen  Sein  und  Nichtsein  schwebendes 
Schemen  ohne  Seele,  ein  Wesen,  das  nicht  sterben, 
aber  auch  nicht  warmblütig  leben  kann  — •  ein  Zauber, 
und  vielleicht  sogar  ein  schöner  reizender  Zauber,  aber 
eben  doch  nur  ein  Spuk,  mit  dem  auf  die  Dauer  nichts 
Rechtes  anzufangen  ist.    Die  Personen  haben  alle  kein 


Digitized  by  Google 


64 


\X  agneritna.    Bd.  III. 


Blut,  das  Ganze  ist  eigentlich  nur  ein  romantischer 
Liebestraum,  mit  viel  Zauberhokuspokus  versetzt,  aber 
noch  lange  kein  brauchbares  Textbuch.  Und  daran 
vermag  auch  der  Versuch,  ihm  durch  den  vermeintlichen 
Vatermord  bei  der  Eberjagd,  die  Rache  dieses  Mordes 
an  dem  rechtmässigen  durch  den  natürlichen  Sohn  des 
Gefallenen,  die  Verschmähung  Bertrams  wie  seiner 
Liebe  durch  Melusine  und  den  Aufruf  Peters  von 
Amiens  zum  Kreuzzug  —  ein  realistischeres  Gepräge  zu 
verleihen,  nichts  weiter  zu  ändern,  weil  im  Gegenteil 
durch  alle  diese  Dinge  weit  eher  die  Klarheit  des  dra- 
matischen Vorganges  gelitten  hat  und  die  Grundidee 
nur  verzettelt  worden  ist.  Dies  also  wäre  der  erste 
Einwand,  der  gewichtigste,  grundwesentliche  Mangel  des 
Werkes. 

Die  zweite  Kardinalschwäche  liegt  gleich  unmittelbar 
daneben,  auf  dem  Gebiete  der  Musik,  da  es  der  Kom- 
ponist leider  nicht  vermocht  hat,  schon  durch  die 
musikalische  Charakteristik  das  Geisterreich  scharf 
genug  von  der  Wirklichkeitswelt  abzuheben.  Ansätze 
hierzu  finden  sich  zwar  in  Menge,  aber  schon  gleich 
im  ersten  Akt  hat  er  sich  dieses  Vorteiles  —  trotz 
aufmarschierenden,  obligaten  Mannenchores  mit  Horn 
und  Liedertafelei  —  beinahe  ganz  begeben ;  zu  der  un- 
mittelbar einleuchtenden  Klarheit  vollends  und  wirk- 
samen Plastik,  mit  welcher  z.  B.  Weber  im  »Frei- 
schütz11 und  „Oberon",  Lortzing  namentlich  in  der 
„Undine"  und  R.  Wagner  im  „Lohengrin"  beides  aus 
einander  zu  halten  und  wiederum  kontrastreich  darzu- 
stellen verstanden  haben,  ist  es  bei  ihm  gar  nirgends 
gekommen.  Im  Grossen  und  Ganzen  ist  das  alles 
freilich  nun  wieder  auf  die  besondere  Natur  der 
Grammann'schen  Muse  selber  zurück  zu  führen,  von  der 
wir  nachher  noch  ausführlicher  zu  sprechen  haben 
werden.    Mag  immerhin  sein,  dass  auch  der  deutsche 


Melusine. 


65 


Gehalt  an  dieser  Wassersage  (die  ja  von  der  Melusinen- 
und  Undinen-  über  die  Loreley-Sage  hinweg  bis  zur 
Kunihild-Sage  eine  sehr  interessante  Fortbildung  vom 
Wasser-  zum  Bergmythus  hin  erfährt)  in  Lortzings 
„Undine"  ein  für  alle  Mal  mustergültigen  musikalischen 
Niederschlag  gefunden  hat  —  und  auffallig  genug  bleibt 
es  jedenfalls,  dass  seither  alle  die  Melusinen-,  Loreley- 
und  sonstigen  Nixenopern  als  Bühnenwerke  sich  nicht 
dauernd  haben  halten  können.  Ebenso  wenig  kann  aber 
doch  geleugnet  werden,  dass  Grammann  —  rein  musi- 
kalisch betrachtet  —  den  ursprünglich  keltischen,  schon 
in  den  Namen  „Lusignan"  und  „Melusine"  gar  merk- 
würdig lutschigen,  schlürfigen,  glitschigen  Stoff  allzu  stark 
noch  in  Schwammigkeit  eingetaucht  hat.  An  und  für 
sich  wäre  das  ja  gewiss  kein  Fehler,  insoweit  es  zur 
Charakteristik  des  ganzen  Vorwurfes  dienen  könnte;  und 
thatsächlich  ist  ja  auch  der  Beginn  der  Ouvertüre  in  diesem 
Sinne  so  flüssig  geraten,  wie  man  es  sich  kaum  besser 
wünschen  möchte.  Immerhin,  Gramman  hat,  wie  gesagt, 
gleich  seinem  Lusignan,  zu  tief  in  Melusinens  Wasser- 
augen geschaut,  und  so  hat  er  es  ungeachtet  einer 
wahrhaft  blühend-musikalischen  Phantasie  zuletzt  nicht 
verhindern  können,  dass  ihm  alles  in  eine  mehr  keltische 
Weichlichkeit  aufgegangen  ist:  leckere  Tomatensauce, 
keine  deutsche  Kraftbrühe! 

Unwillkürlich  gleiten  die  Blicke  und  Gedanken  zurück 
zu  der  (jüngsten)  „Herrat'-Aufführung  —  ein  schärferer 
Gegensatz  lässt  sich  ja  kaum  mehr  denken,  als  der  zwischen 
einem  Draeseke  und  einem  Grammann  innerhalb  der 
heiligen  neu-deutschen  Tonkunst  am  selben  Orte:  dort 
strenge,  zähe,  sehnige  Kraft  und  spitze,  oft  schneidende 
Härte;  hier  überall  schwächliche  Glätte  und  ein  unauf- 
hörlich süsses  Schwelgen  in  Tönen  und  Klängen;  dort  zu 
wenig  Liebe,  hier  viel  zu  viel  von  diesem  rein  lyrischem 
Überschwang;  dort  das  knirschend  nordische  Ideal  einer 

Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  5 


60 


Wagneriana.    Bd.  III 


herben,  trotzigen  Keuschheit,  hier  ein  allzu  warmer, 
mehr  südlicher  Uberschwang,  ein  wahres  Schlaraffenland 
rein  sinnlicher  Klangwirkungen.  Das  vor  Allem  ist 
kennzeichnend  an  der  Grammann'schen  Musik,  ganz 
ebenso  wie  schon  ihre  Bevorzugung  gewisser  weicher 
Tonarten,  die  ganze  Wahl  der  Instrumente,  ihr  Aus- 
schweifen vorzugsweise  in  den  weichen  Septimen-  und 
Nonenaccorden  — :  was  alles  eine  wahre  Verweichlichung, 
in  solcher  Ausdehnung  einfach  Nervenerschlaffung,  not- 
wendig mit  sich  führen  muss  und  Grammann  daher  als  Ver- 
treter einer  gesund  und  kernig  germanischen  Kunst- 
richtung nicht  erscheinen  lässt.  Dieser  schier  unauf- 
hörliche Ohrenschmaus,  dieses  musikalische  Phäakentum, 
etwa  nach  Wien  übertragen  und  dort  mit  dem  ganzen 
südlichen  Klangreiz  umgeben,  der  den  Wienern  nun  einmal 
zu  Gebote  steht,  er  müsste  zur  reinen  Schlemmerei 
werden ;  schon  hier  in  Dresden  wirkte  es  beinahe  so 
wie  —  Austemschlürfen.  Und  selbst  das  Wagnerische, 
das  man  so  vielfach  in  Grammann  finden  wollte,  es  ist 
schliesslich  doch  nur  ein  sehr  zweifelswürdiges,  sozusagen 
an  Gehirnerweichung  leidendes  Wagnertum  —  Richard 
Wagner,  seines  markigen  Rückgrates  beraubt,  ein  Mollusk 
nur  mehr,  noch  dazu  mit  unzählig  vielen  Weber-, 
Schumann-  und  vor  Allem  Mendelssohn-Bazillen  behaftet. 
Mag  dieses  Gleichnis  vielleicht  auch  nicht  sehr  appetitlich 
berühren,  so  ist  es  doch  um  nichts  weniger  zutreffend, 
denn  in  der  That  mischen  sich  die  genannten  Stil- 
gattungen bei  Grammann  zu  einem  höchst  seltsamen,  auf 
die  Dauer  recht  unleidlichen  Konglomerate.  Und  was 
der  Sache  noch  obendrein  eine  ganz  fatale  Wendung 
giebt,  das  ist  die  bedauerliche  Geschmacks-  und  Stil- 
verirrung, welche  aus  diesem  (ausdrücklich  nach  dem 
bekannten  Moritz  von  Schwind'schen  Bilder-Zyklus 
gedachten  und  inszenierten)  „  Märchenspiel  *  ein  grosses 
Primadonnen-  und  Heldentenor-Drama  im  heroischen 


Digitized  by  Google 


Melusine. 


67 


Gewände  macht  —  eine  Travestie,  welche  glücklich 
auch  noch  das  Wenige,  was  an  Wirkungen  allenfalls  noch 
zu  retten  wäre,  vollends  gar  zu  vernichten  droht. 

Dass  Karl  Grammann  ein  hoch  begabter  Musiker 
wäre,  ausserordentlich  viel  und  Tüchtiges  auch  im 
imitatorischen,  strengen  Stile  gelernt  hat,  den  ganzen 
technischen  Apparat  meisterhaft  beherrscht  und  faszi- 
nierend zu  instrumentieren  sowie  auch  glänzend  die 
Gesangsstimmen  und  Ensembles  zu  führen  versteht, 
das  alles  ist  ja  längst  bekannt  und  bildet  hier  sogar  die 
stillschweigende  Voraussetzung  meines  Urteils.  So  ist 
gleich  die  brillante  Ouvertüre  mit  ihrem  klangfreudig- 
quellenden  Eingangsthema  ein  wahres  Muster  der  Gattung 
ein  Meisterstück  an  bezaubernder  Stimmungsmalerei  — 
der  reine  Nixensprudel;  desgleichen  ist  der  Schluss  — 
nicht  der  formellen  Ausführung,  wohl  aber  der  Idee  nach: 
a  capella-Frauenstimmen  ohne  alles  Orchester  —  in  seiner 
relativen  Neuheit  und  gewagten  Eigenart  zum  Mindesten 
frappant.  Des  Weiteren  verdienen  noch  die  ver- 
schiedenen Duette  im  I.,  II.  und  III.,  das  düstere 
«Requiem*  mit  dem  gewaltigen  Eifersuchts-  und  Rache- 
ausbruch Bertrams  im  IL,  die  hübsche  Fischerszene 
im  III.  Aufzuge  und  der  schon  erwähnte  Kreuzritter- 
Aufmarsch  mit  dem  nachfolgenden,  freilich  sehr  äusserlich 
wirkenden  Choral-Aufrufe  des  Eremiten  (ebenda)  als 
teils  beachtenswert  schöne,  teils  lebendig  packende,  teils 
wieder  anmutig  erfreuende  Glanznummern  des  Werkes 
hervor  gehoben  zu  werden.  Und  dass  alle  die  Nixen- 
chöre, innerhalb  oder  ausserhalb  ihres  Elementes  ge- 
sungen, eine  unausgesetzte  Perlenschnur  süsser  Wonnen 
bedeuten,  braucht  man  bei  diesem  Komponisten  ja  wohl 
nicht  erst  zu  betonen.  Dass  die  Instrumentation  viel 
zu  lärmend  ausgefallen  ist  und  die  Gesangsstimmen  oft 
ganz  ungeschickt  zudeckt,  darf  hingegen  nicht  ver- 
schwiegen werden  und  ist,  angesichts  der  vollendeten 

5» 


68  Wagneriana.   Bd.  III. 


Beherrschung  instrumentaler  Mittel  auf  Seiten  unseres 
Musikdramatikers,  schliesslich  nur  aus  einer  gewissen 
Sucht  nach  überreicher  Klangfülle  und  ausschweifend 
volltönenden  Klangkombinationen  bei  ihm  abzuleiten.  Auf 
der  anderen  Seite  aber  lässt  sich  auch  nicht  leugnen, 
dass  seitens  des  Dirigenten  viel  zu  wenig  für  Dämpfung 
all  der  rauschenden,  flutenden,  tobenden,  wütenden, 
glänzend  erstrahlenden  und  dann  wieder  in  runden 
Wellenzügen  und  weichen  Wasserlinien  dahin  gleitenden 
Orchesterwogen  geschehen  war . . .  wie  es  neulich  irgendwo 
auswärts  hiess:  „Von  der  berühmten  Dresdner  Diskretion 
in  der  Begleitung  war  wieder  einmal  nichts  zu  ver- 
spüren.4* 


Digitized  by  Google 


Ludwig  der  Springer 

Text  und  Musik  von  Adolf  Sandberger 

(1895) 

»Von  der  Intendanz  des  Herzoglich  Koburg- 
Gothaischen  Hoftheaters  sind  für  die  neue  Spielzeit 
eine  grosse  Zahl  von  Neuheiten  erworben  worden,  da- 
runter auch  die  Oper  »Ludwig  der  Springer*  von 
Dr.  Adolf  Sandberger  (München)"  —  so  stand  un- 
längst in  einigen  Blättern  zu  lesen.  Das  hat  mich  denn 
mit  aller  Macht  daran  erinnert,  dass  diese  Oper  im  Aus- 
zuge längst  auf  meinem  Klaviere  liegt,  und  meine  bis- 
herige, strafliche  Versäumnis  ist  mir  dabei  schwer  auf 
die  Seele  gefallen. 

Also:  Die  liebenswürdige,  „dem  Andenken  der 
Mutter*'  des  Komponisten  pietätvoll  gewidmete,  drei- 
aktige  Oper  ist  das  dramatische  Erstlingswerk  Adolf 
Sandbergers  und  muss  uns  darum  nur  desto  be- 
achtenswerter vorkommen.  Sie  hat  in  einer  vom  Kom- 
ponisten selbst  sehr  geschickt  gefertigten,  gehaltvoll- 
schönen  und  dramatisch  glücklich  gesteigerten  Dichtung 
jenen  berühmten  Sprung  des  thüringischen  Pfalzgrafen 
Ludwig  (Frühjahr  1095)  von  der  Feste  Gibichenstein 
in  die  Saale  herab  zum  dramatischen  Mittelpunkte,  welcher 
hier  mit  dem  wohlmotivierten  und  später  gut  gelösten 
psychologischen  Konflikt  einer  von  Jenem  geliebten  Frau 


Digitized  by  LiOOQlc 


70 


Wagneriana.    Bd.  III. 


sehr  wirksam  noch  tiefer  verknüpft  erscheint,  so  dass  der 
poetische  Wert  und  eine  erfreuliche  Bühnenwirkung 
weit  über  das  blosse  Interesse  an  der  sagenhaften 
Historie  hinaus  ausser  allem  Zweifel  stehen,  je  mehr  es 
eben  im  Grunde  doch  nur  hinreissende,  mächtig  durch- 
brechende Minne  ist,  was  sich  darin  „befehdet"  und  ein 
wirklich  musikalisch-dramatisch  gestaltetes  „Herzeleid" 
so  lange  bereitet.  Es  ist  die  malerische  Romantik  der 
Schlösser  und  Burgerkerchen,  der  Burgfräulein,  Pagen 
und  Falkenjagden  —  jene  glanzvolle  Zeit  der  Urfehden, 
Pilgerzüge  und  Ritterabenteuer,  des  derben  Faustrechts 
wie  des  zarten  Madonnenkults,  der  fahrenden  Sänger 
wie  auch  der  Minnestreiter  in  Harfen-  und  in  Schwert-Tur- 
nieren, in  welche  uns  der  Dichterkomponist  hier  gar  an- 
schaulich einzuführen  weiss.  Gute,  wenn  auch  formell 
anspruchslose  Verse,  eine  poetische,  wenngleich  von 
Wagner  stellenweise  stark  abhängige  Diktion  zeichnen 
dabei  sein  Werk  —  das  Produkt  einer  durchaus  gereiften 
Bildung,  eines  wohlgeläuterten  Geschmackes  und  vor- 
nehmen künstlerischen  Strebens  —  von  Anfang  bis  zu 
Ende  aus,  während  ihm  in  seinem  musikalischen  Teile  vor 
Allem  ein  edler  melodischer  Fluss,  weiche  Harmonik,  stira- 
mungsreiche  Farbenpracht  und  natürliche  Frische  ge- 
sunder Empfindung,  alles  in  Allem :  gediegen  technische 
Arbeit  in  gemässigt  leitmotivischer  Verwertung  der 
Hauptthemen,  sehr  erfolgreich  zur  Seite  stehen. 

In  Sandberger,  einem  Würzburger  Kinde,  das 
seine  musikalische  Ausbildung  seinerzeit  am  Münchner 
Konservatorium  vollendet,  später  musikwissenschaftliche 
Studien  bei  Spitta  in  Berlin  betrieben  hat  und  augen- 
blicklich —  bekannt  namentlich  durch  seine  Cornelius-, 
sowie  die  eindringendere  Lasso-Biographie  —  als  Kon- 
servator der  musikalischen  Abteilung  an  der  KÖnigl. 
Hof-  und  Staatsbibliothek  und  gleichzeitig  wieder  als 
Dozent  für  Musikgeschichte  an  der  Universität  zu 


Ludwig  der  Springer. 


71 


München  wirkt  —  in  ihm  hat  der  berufene  Tonkünstler 
und  der  ernste  Musikgelehrte  einmal  eine  sehr  glückliche 
Verbindung  eingegangen.  Das  zeigt  sich  z.  B.  schon  an  der 
stilvoll-feinen  Verwendung  des  Minneliedes  von  Wilh. 
v.  Poitiers  (11.— 12.  Jahrhundert)  und  eines  geistlichen 
Originalgesanges  von  Orlando  di  Lasso  in  diesem  seinem 
Opern -Werke  —  ganz  zwanglos  eingeführt  und  wohlbe- 
gründet, just  an  der  richtigen,  plastisch  wirksamsten  Stelle. 
Vielleicht  ja  hätte  er  —  wie  ein  R.  Wagner  in  seinen 
„Meistersingern"  aus  der  Bach-Händel'schen  Ausdrucks- 
weise —  den  Stil  des  Ganzen  noch  charakteristischer,  als 
es  (namentlich  mit  dem  erst  genannten  der  beiden)  schon 
geschehen  ist,  aus  diesem  musikalischen  Grundkerne 
heraus  nun  gestalten  können ;  sicher  aber  ist,  dass  schon 
ihre  gewandte  und  prägnante  Einführung  eine  bedeut- 
same Eigenart  seines  Werkes  begründet.  Man  wird  ja  wohl 
auch  bei  ihm  wieder  sagen,  dass  der  Komponist  Wagnerischen 
Spuren  nachwandle,  und  wird  sich  namentlich  gar  sehr 
tristanisch  bei  ihm  angemutet  fühlen.  Dieser  Auffassung 
kann  zwar  nicht  gänzlich  Unrecht  gegeben  werden  — 
es  fliesst  entschieden  „Tristan"-Blut,  vor  Allem  in  dem 
„Herzeleid  und  Fehde"  programmatisch  überschriebenen 
Vorspiel  und  dem  zugvollen  Zwiegesang  aus  dem  3.  Akt, 
welche  gelegentlich  einer  Konzertaufführung  zu  München 
bereits  ihre  Feuerprobe  bestehen  durften.  Allein  es  ist 
das  grosse  Weltschmerz-Sehnen  —  dem  kleineren  Rahmen 
der  Oper  genau  angepasst  —  in  individueller,  gleichsam 
nur  bescheidener  Taschen- Ausgabe,  das  Thema  „Wagner" 
so  zu  sagen  mehr  noch  in  Schumann'scher  Instrumen- 
tierung, etwa  in  dem  Verhältnis,  in  welchem  Götter- 
Mythos  zu  Lokal-Sage  und  Menschen-Drama  steht.  So 
auch,  was  dort  kantig  und  scharf,  ein  geschlossen  „System 
der  Enharmonik  und  Chromatik"  schon  vorstellte,  be- 
rührt bei  Sandberger  noch  weicher  und  rundlicher,  mehr 
im  Charakter  der  so  genannten  alterierten  Akkorde  erst 


Digitized  by  Google 


72 


Wagneriana.    Bd.  III. 


—  ein  geschmeidiger  Eindruck,  der  auch  durch  die 
starke  Vorliebe  für  weiche  Septakkorde  wesentlich  erhöht 
wird.  Ein  von  den  Herren  Percy  Pitt  und  Wilhelm 
Ammermann  in  elegantem  und  gefalligem  Klaviersatze 
gut  spielbar  hergestellter  Klavierauszug  (erschienen  bei 
Alfred  Schmid  Nachf.  in  München  zum  Preise  von 
16  Mk.)  hat  unsere  Aufmerksamkeit  ausser  auf  die 
schon  berührten  Stücke  u.  A.  auch  auf  das  Kampfspiel  im 
1.  Akt,  Adelheids  Gesang  „Thörichtes  Herz!"  (S.  40), 
den  Trauermarsch  an  der  Leichenbahre  Pfalzgraf 
Friedrichs,  die  Mondscheinlyrik  im  2.  Akt  (namentlich 
S.  78  f.)  und  den  glanzvollen  Schluss  des  Ganzen,  mit 
dem  Aufruf  zum  Kreuzzug,  als  bemerkenswerte  Nummern 
der  Partitur  noch  hin  gelenkt,  während  dem  Vermeiden 
eines  länger  ausgeführten  Vorspieles  zum  Ganzen,  vor 
dem  1.  Aufzuge,  besondere  ästhetische  Absicht  des 
Komponisten  zu  Grunde  zu  liegen  scheint. 

Dass  gerade  Koburg- Gotha  die  junge  Oper  zur 
Uraufführung  angenommen,  erscheint  verständlich  allein 
schon  aus  dem  Umstände,  dass  der  3.  Aufzug  die 
Stiftung  der  Klosterkirche  von  Reinhardsbrunn  zum 
Vorwurfe  hat.  Wir  zweifeln  aber  nicht  daran,  dass  das 
durch  und  durch  deutsche  Werk  nach  Umfang,  Stoff, 
Idee  und  Ausführung  —  ähnlich  wie  Kistlers  »Kunihild* 
oder  Pfitzners  „Armer  Heinrich"  —  namentlich  an  den 
mittleren  deutschen  Bühnen,  nicht  vielleicht  in  den  ge- 
räumigen Häusern  unserer  grossen  Hof-  und  Stadt- 
Theater,  entschieden  sein  Glück  machen  wird:  was  ja 
Stuttgart  (leider  nicht  auch  Weimar)  später  noch  er- 
weisen sollte. 


Digitized  by  LjOOQIc 


„Wagner-Schule 


Digitized  by  Google 


Cyrill  Kistlers  Oper  „Kunihild" 


(1887/8) 

„ Gäste  kamen  und  Gäste  gingen"  —  so  könnte  es  von 
den  mancherlei  Opern  wohl  heissen,  welche  wir  nach 
Wagners  Vorgange  nun  schon  über  deutsche  Bühnen 
haben  ziehen  und  nach  einem  mehr  oder  weniger 
ephemären  Welt-Bretter- Dasein  wie  eine  Sternschnuppe 
wieder  haben  am  Horizonte  hinab  sinken  i.  e.  verloschen 
sehen.  Da  drängt  sich  uns  doch  unwillkürlich  die  Frage 
auf,  warum  man  denn  eine  so  charakteristische  Schöp- 
fung wie  die  in  der  Überschrift  genannte,  nach  nur 
dreimaliger  Aufführung  im  Jahre  1884  auf  der  Hof- 
bühne zu  Sondershausen,  wieder  ad  acta  legen,  bezw. 
seither  an  anderen  deutschen  Operinstituten  so  gründ- 
lich hat  ignorieren  können? 

Was  dieses  Werk  nämlich  vor  allen  übrigen  nach 
Wagner  auf  dem  Plan  erschienenen  Erzeugnissen  ähn- 
lichen Genre's  so  wesentlich  zum  Besseren  auszeichnen 
muss,  ist  seine  interessante  und  (ich  sage  das  trotz 
Moritz  Wirths  gegenteiliger  Ansicht)  gute  Dichtung; 
ein  Umstand,  der  allein  schon  der  Befähigung  Kistlers 
zum  „dramatischen4*  Komponisten  ein  ungemein  glän- 
zendes Zeugnis  ausstellen  darf.  (Vgl.  über  sie  Bd.  I  dieses 
Werkes,  S.  82 — 84.)  Wie  erbärmlich  und  schal  nehmen 
sich  doch  gegen  dieses  „Kunihild"-Opernbuch  die  Text- 
bücher eines  Bunge-Nessler'schen  »Otto  der  Schütz", 


Digitized  by  Google 


76 


Wagneriana.    Bd.  III. 


eines  M.  E.  Sachs'schen  (NB.  eines  Wagnerianers  I) 
„Palestrina",  oder  gar  eines  Leythäuser'schen  „Pom  po- 
saner" (lauter  auf  deutschen  Bühnen  bereits  aufgeführten 
Opern)  aus!  Wie  unvergleichlich,  ja  unendlich  hoch 
steht  unser  Drama  da  über  einem  Hofmann-Rüfer'schen 
„Merlin",  über  Reinecke's  „Manfred"  oder  H.  Hof- 
manns „Annchen  von  Tharau",  und  selbst  über  dem 
viel  gepriesenen  Lipiner-Goldmark'schen  „Merlin" ! 

Ich  erkläre  also  die  Textdichtung  „Kunihild"  des 
leider  anonym  gebliebenen  Verfassers  —  einer  in 
Münchener  Wagner- Kreisen  gar  wohl  bekannten  und 
nur  immer  viel  zu  bescheidenen  Persönlichkeit*)  —  un- 
bedingt für  einen  der  bedeutendsten,  wo  nicht  für  den 
einstweilen  besten  Text  der  nach  Wagners  „Parsifal* 
bis  jetzt  auf  deutschem  Markte  erschienenen  Opern- 
dichtungen. Die  Alliteration  findet  in  ihm  einmal  durch- 
aus sinngemässe,  d.  h.  ebensowohl  korrekte  als  zugleich 
gelungene  Anwendung;  die  Sprache  selber  ist  eine 
hoch  poetische,  ungemein  schöne  und  durchaus  wurzel- 
echte ;  die  Diktion  zwar  knapp,  aber  überaus  warm  und 
stellenweise  von  grossem  Schwung.  Vor  allem  aber 
pulsiert  ein  frisches  dramatisches  Leben  in  ihren  Adern, 
und  das  ist  doch  schliesslich  das  Beste,  was  man  von 
einem  Nach -Wagnerischen  „Musikdrama"  sagen  kann  und 
was  man  von  den  Nach-Wagnerschen  „Opern"  leider 
bislang  in  der  Regel  nicht  sagen  konnte.  Wenigstens 
vermag  ich  für  mein  Teil  auch  nicht  die  Ansicht  der- 
jenigen zu  teilen,  welche  behaupten,  dass  der  (durch  das 
Auftreten  zweier  Liebespaare  in  einem  Akt  unter  ganz 
analogen    Verhältnissen     gegebene)  Parallelismus 


•)  Heute  freilich  weiss  es  die  ganze  musikalische  Welt, 
dass  es  kein  Anderer  als  Ferdinand  Graf  Sporck,  der  be- 
kannte Textdichter  auch  der  „Ingwelde",  „Abreise",  des 
„Münchhausen",  „Pfeifertag"  etc.  ist 


Digitized  by  Google 


Cyrill  Kistlers  Oper  „Kunihild". 


77 


hier  etwa  schädigend  auf  die  Handlung  einwirken  müsse. 
Dieser  Parallelismus  in  der  dramatischen  Anlage  ver- 
mag das  Dramatische  ebenso  wenig  zu  beeinträchtigen 
wie  jener  andere,  welcher  mit  der  Wiederkehr  und  der 
analogen  Einführung  des  schon  im  1.  Akte  dagewesenen 
Brautrittes  vorliegt;  und  beide  wieder  ebenso  wenig 
wie  der  im  Wagnerischen  „Parsifal"  zwischen  dem 
Schluss  des  1.  und  dem  des  dritten  Aufzuges  thatsächlich 
bestehende  —  und  zwar  trotz  Gustav  Freitags  weit  und  breit 
gerühmter  „Technik  des  Dramais41!  Im  Gegenteil,  diese 
Parallelismen  in  unserem  „Kunihild "-Drama  verraten,  wie 
sie  das  rein  ästhetische  Interesse  an  ihm  wesentlich 
fordern  und  das  Ganze  kompakter  und  geschlossener  ge- 
stalten, sozusagen  abgerundeter  erscheinen  lassen,  weit 
eher  die  schaffenskundige  Hand  im  planvollen  drama- 
tischen Aufbau.  Dafür  sind  die  beiden  ähnlichen  Szenen 
des  Werberittes  etc.  im  l.und  3.  Aufzuge  vom  Komponisten 
wieder  um  so  wirksamer  eingeführt  und  sind  sicherlich 
in  der  realen  Aufführung  als  szenischer  Vorgang  von 
ausserordentlich  packendem  Eindrucke. 

Finden  wir  nun  schon  beim  Dichter,  dass  er  auf 
Wagner'schen  Bahnen  wandelt,  dass  sein  Text  schlechter- 
dings nicht  mehr  Libretto  genannt  werden  darf,  sondern 
den  Standpunkt  des  „musikalischen  Drama's"  als  solchen 
klar  und  bewusst  vertritt  (wenn  er  selbst  auch  sein 
Werk  bescheiden  genug  noch  „Oper"  nennt),  so  müssen  wir 
desgleichen  auch  vom  Komponisten  anerkennen,  dass 
das,  was  er  uns  in  seinem  Werke  zur  Beurteilung  vor- 
legt, absolut  nicht  mehr  als  „Oper"  gelten  darf,  wie  es 
denn  durchaus  keine  „Finales"  —  so  H.  Dorn  einmal 
gemeint  hat  —  oder  „Nummern"  mehr  aufweist.  Auch 
die  Musik  ist  ganz  im  Wagner'schen  Geist  und  streng 
nach  Bayreuther  Grundsätzen  entworfen  —  das  aber 
sollte  doch  jetzt,  in  unseren  Tagen,  nachgerade  als  ihr 
unbedingtes  Lob  aufgefasst  werden  dürfen!    Denn  was 


Digitized  by  Google 


78 


Wagneriana.    Bd.  III. 


kann  ein  dramatischer  Komponist  wohl  Richtigeres  thun, 
als  sich  auf  diesen  Standpunkt  stellen?  —  wofern  er 
nur  in  solcher  Sphäre  „persönlich"  genug  bleibt  und  überall 
sicher,  kräftig  und  gesund  als  Eigener  ausschreitet,  wie 
Tappert  dies  von  Kistler  selbst  auch  einmal  bekundet  hat 
und  wir  ihm  getrost  bestätigen  können.  Den  Chor  z.  B. 
wendet  er  an  wie  Wagner.  Wie  so  denn  dies?  —  werden 
da  sichtlich  erschrocken  gar  manche  musikalische  und 
andere  „Pfahlbauern4*  mir  entgegen  rufen.  Oder:  Halt! 
werden  sie  bei  sich  denken  —  er  verwendet  ihn  wohl 
gar  nicht,  eben  wie  dieser.  Ich  betone  aber:  der  Chor 
findet  bei  ihm  ganz  die  selbe  vernünftige  Anwendung 
wie  bei  Wagner.  Und  nicht  etwa  gegen  das  Wagnerische 
Prinzip  strikter  Observanz,  welchem  —  nach  der  An- 
sicht so  Vieler  —  der  „Meister"  selbst  nur  zu  oft  ein 
Schnippchen  geschlagen  haben  müsste ;  sondern  im  vollen 
Einklänge  mit  dessen  Grundtheorie,  als  welche  den  Chor 
auch  im  musikalischen  Drama  von  Anfang  an  überall 
da  gestattet,  wo  er  eben  seine  dramatische  Berechtigung 
hat:  ein  Gemeinplatz  sicherlich  für  den  kundigen  und 
überzeugten  Wagnerianer,  eine  völlig  neue,  vielleicht  „sen- 
sationelle44 Weisheit  für  jedes  Zeitungs-Feuilleton!  Ganz 
ebenso  wie  bei  Wagner  spielt  ferner  das  Leitmotiv  und 
der  durch  dieses  bedingte  musikdramatische  Stil  die 
erste  Rolle  auch  in  unserem  Werke:  alles  ist  in  seinen 
lebendigen,  dramatischen  Fluss  mit  aufgenommen  und  aus 
der  formell  abgeschlossenen  Opern-Arie  oder  Ensemble- 
Nummer  zur  dramatischen  Szene  bezw.  psychologischen 
Handlung  aufgelöst  und  erweitert.  Kistler  erweist  sich  be- 
sonders hierin  als  ein  echter  und  berufener  Jünger  des  von 
ihm  so  hoch  verehrten  Bayreuther  Meisters.  Denn,  sind 
seine  Motive  auch  nicht  alle  gleichwertig  geraten  und  sind 
sie  auch  nicht  sämtlich  von  so  zweifellos  sicherer,  plastischer 
Gestaltung  wie  die  Wagnerischen  Themen  selbst,  so  sind 
sie  doch  von  grosser  Prägnanz  und  namentlich  durch  ihre 


Digitized  by  Google 


Cyrill  Kistlers  Oper  „Kuntbild" 


79 


Verwebungs-,Durchführungs-,Umkehrungs-,Verkürzungs- 
und  Verlängerungs-Fähigkeit  etc.,  wie  der  geschehenen 
Verarbeitung  nach,  echte  Leitmotive,  die  dem  Tonsetzer 
als  solchen  zugleich  alle  Ehre  machen.  In  Sonderheit 
tritt  dieser  Vorzug  gelungener  Anwendung  und  einer 
glücklichen  Kombination  bedeutsamer  Motive  hervor  in 
den  drei  Vorspielen  und  sonstigen  Interludien,  wie  Kistler 
denn  hier  ganz  im  Sinne  Wagners  schreibt  und  den 
neueren,  ich  möchte  sagen  (dramatischen)  Vorspiel-Stil 
aus  dem  FF  beherrscht.  Die  musikalische  Einleitung 
zum  1.  Akt  und  damit  zum  ganzen  Drama  ist  freilich 
—  ich  will  nicht  sagen:  überhaupt  zu  kurz  ausgefallen, 
sondern  vielmehr  —  im  Ganzen  zu  kurzatmig;  aber  sie 
ist  doch  wieder-  von  genialem  Wurfe ;  vor  Allem  jedoch 
ist  in  dem  (übrigens  in  Konzerten  viel  gehörten)  Vorspiel 
zum  III.  Aufzuge  jener  spezifische  Einleitungs-Charakter 
ganz  vorzüglich  getroffen  und  lässt  den  Meister  erkennen. 

Einen  weiteren  Vorzug  des  „dramatischen-  Kom- 
ponisten Kistler  bildet  seine  beinah  durchweg  ganz  aus- 
gezeichnete Deklamation.  Es  ist  nicht  nur  das  „Wie  er 
sich  räuspert  und  wie  er  wohl  spuckt-,  was  er  da  seinem 
genialen  Vorbilde  „glücklich  abgeguckt"  hat,  sondern 
es  ist  tüchtiger  Wagner'scher  Geist  in  recht  selbständiger 
Form.  Mögen  ihm  auch  hier  und  dort  noch  kleine 
Mängel,  oder  doch  Nachlässigkeiten  und  Unebenheiten, 
mit  unter  gelaufen  sein  —  auf  diesem  Gebiete  können 
wohl  alle  Nach-Wagner'schen  Kollegen  vom  „Musik- 
drama" bei  ihm  nur  lernen.  Einen  dritten  Ruhmestitel 
endlich  möchten  wir  in  seiner  ebenso  originellen  wie 
gewählten  Harmonik  erblicken.  Zwar  mag  zunächst  die 
allzu  ausgedehnte  Verwertung  des  Terz-Quart-Sext- 
Akkordes,  namentlich  in  modulatorischer  Hinsicht, 
gerechter  Weise  auffallen;  auch  hätte  Kistler  mit  dem 
verminderten  Sept-Akkord  vielleicht  etwas  sparsamer 
umgehen   können  (wobei  ich  ihm  zugleich  bemerken 


80 


Wagneriana.    Bd.  III 


möchte,  dass  ein  gebrochener  und  in  seine  Intervalle  zer- 
legter 7°  Akkord  nicht  ohne  Weiteres  schon  eine  Gesangs- 
melodie vorstellt) ;  im  Ganzen  hat  man  aber  Tappert  doch 
von  ganzem  Herzen  beizustimmen,  wenn  er  in  seinem 
Referat  über  die  Sondershäusener  Aufführung  des 
Werkes  von  unserem  Komponisten  schreibt :  er  befinde 
sich  .als  Harmoniker  immer  auf  Entdeckungsreisen". 
Wirklich  ist  er  denn  just  in  dieser  Hinsicht  nicht  der 
Geringsten  einer.  Was  zuletzt  die  Melodik  als  solche 
betrifft,  so  ist  diese  hin  und  wieder  etwas  zu  dürftig 
ausgestattet;  es  kommen  da  manche  Dinge  vor,  die 
einem  vornehmen,  gediegenen  Wagnerianer  eigentlich 
nicht  mehr  unterlaufen  sollten,  und  namentlich  gewisse 
Sechzehntel-Passagenläufe  gebärden  sich  doch  allzu 
konventionell  und  nichts  sagend.  Aber  vermag  das  unser 
Urteil  und  den  günstigen  Gesamteindruck  etwa  dauernd 
zu  trüben?  Gewisslich  nicht!  Es  sind  eben  die  Sonnen- 
flecken an  der  —  schönen  Sonne. 

Auffallender  Weise  hat  man  übrigens  gelegentlich 
der  ersten  und  bisher  einzigen  Bühnenaufführungen 
des  Werkes,  im  Jahre  1884  zu  Sondershausen,  fast  ein- 
stimmig über  allzu  grosse  Länge  des  zweiten  Aktes 
geklagt.  Mir  persönlich  will  es  freilich  den  Eindruck 
machen,  als  ob  hier  eine  Schuld  mehr  bei  der  Musik 
als  bei  der  Dichtung  zu  suchen  wäre.  Wenigstens  darf 
nicht  wohl  verhehlt  werden,  dass  der  lyrische  Schwung 
in  den  späteren  Szenen  zwischen  Jutha  und  Sieghardt 
weit  höher  aufschlägt  als  in  denjenigen  der  Heldin  des 
Drama's  mit  ihrem  Ritter  und  späteren  Erlöser  Kunibert, 
welche  dem  Sinne  des  Drama's  gemäss  doch  eigentlich 
den  Vorzug  verdienen  sollten,  im  Grunde  genommen 
aber  (vgl.  das  gerade  hier  leider  etwas  leere  und  aus- 
druckslose Thema,  Kl.  Ausz.  S.  78)  sich  über  ein 
gewisses  Durchschnittsniveau  nicht  erheben  —  so  weit 
wenigstens  nicht  das  markante,  wie  ein  düsteres  Fatum 


Digitized  by  LiOOQlc 


Cyrill  Kistlers  Oper  „Kunihild«. 


81 


über  dem  Ganzen  schwebende,  dabei  den  Hintergrund  ab 
und  zu  grell  beleuchtende  (auf  einem  Orgelpunkt  in 
Dreiklangsfolgen  absteigende)  Motiv  der  »wilden  mächtigen 
Burgmaid"  herein  spielt  (wie  Kistler  sich  denn  auch  von 
dem  etwas  konventionellen  Ges-dur-Thema  S.  84  ff. 
keine  allzu  zündende  Wirkung  versprechen  darf).  Wie 
ganz  anders  dagegen  der  Auftritt  Jutha's,  ihre  in  Zeich- 
nung, Kolorit,  prägnanter  Stimmung  und  charakteristischer 
Situationsmalerei  geradezu  meisterhafte  Märchen-Episode 
iK\.  A.  S.  108  ff.),  das  stürmische  Auftreten  Sieghardts, 
die  von  Hörnern  getragene  reizend-liebliche  Erzählung 
Sieghardts  mit  dem  Motto  etwa  „Zu  Zweien  kam  ich 
zur  Welt  —  ein  Zwillingsbruder  und  ich  IÄ  — :  wie  das 
stärker  und  stärker  wogt,  wie  hier  die  Wellen  höher 
und  hoher  gehen  und  zu  einem  dramatischen  Crescendo 
unvergleichlicher  Art  anschwellen,  bis  das  dräuende 
Motiv  der  „wilden  Maid0  (s.  oben)  auch  hier  wieder 
störend  eingreift  und  hier  gar  das  ganze  Glück  zerstört, 
Liebe  jählings  in  Hass  verwandelnd!  Wer  wird  beim  Studium 
dieser  20  Seiten  des  Klavier-Auszuges  ernstlich  von 
einem  „Mangel  an  dramatischem  Leben"  sprechen,  wer 
wird  von  ihnen  noch  sagen  wollen,  dass  sie  arm  an 
musikalischer  Handlung  seien? 

Der  Beginn  der  5.  Szene  im  dritten  Aufzug  er- 
innert allerdings  (nicht  in  Melodie  oder  Rhythmus,  wohl 
aber  im  Stil  und  in  der  ganzen  Anlage)  allzu  sehr  an 
den  Hochzeitsmarsch  aus  „Lohengrin" ;  hingegen  lässt 
die  4.  Szene  und  vor  Allem  der  Auftritt  Siguns  im 
1.  Aufzuge  an  origineller  Kraft  und  dramatischer  Wirk- 
samkeit nichts  zu  wünschen  übrig;  und  ebenso  ist  die 
Seitens  der  beiden  Mädchen  vom  Söller  aus  beobachtete 
und  besprochene  Ankunft  Kuniberts  im  letzten  Akte 
ein  Kabinetstück  von  erwartungsvoller,  zu  einem  Er- 
eignis hin  drängender  Spannung  geworden;  nicht  minder 
aber  auch  die  entsprechend  korrespondierenden  Szenen 

Scidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  6 


Digitized  by  Google 


82 


Wagneriana.    Bd.  III. 


zwischen  Jutha  und  Kunihild  vor  dem  Beginne  des  Braut- 
rittes, wo  es  sich  um  Jutha's  Geliebten  handelt,  (in  denen 
wir  also  wieder  einem  neuen  „Parallelismus"  begegnen) 
etc.  etc.  Ich  würde  schliesslich  doch  kein  Ende  finden, 
wollte  ich  alles  Nennenswerte  hier  einzeln  hervor  heben: 
haben  wir  es  ja  mit  einer  ganzen  Kette  von  solchem 
Nennenswerten  lu  thun.  Die  Chöre  sind  meist  wirk- 
sam gesetzt  und  weisen  auf  ein  auch  in  diesem  Genre 
voll  bewährtes  Talent.  Ungemein  schön,  wohlgelungen  und 
würdig  im  Geiste  des  Ganzen  ist  hier  besonders  der 
harmonische,  friedliche  Abschluss  des  Werkes  (von 
S.  201  des  Kl.  Ausz.  an)  —  eine  weihevolle  Apostrophe 
der  Kunihild  an  die  Unterwelt,  auf  welche  ihr  ein  Engel- 
chor mit  dem  in  wohllautende  Dreiklangsreine  auf- 
gelösten Segensworte:  „Erlöst!  Erlöst!"  antwortet,  uns 
damit  zu  allem  Ende  noch  bekräftigend,  wie  tief  in 
unser  Drama  ein  hohes  Ethos  eingreift,  und  wie  ernst 
namentlich  das  innerlich-psychologische  Moment  des 
Entwicklungs-  und  Läuterungsprozesses  an  der  Heldin 
von  Dichter  und  Komponist  aufgefasst  worden  ist . . . 

Cyrill  Kistlers  und  seines  wohlbekannt-unbe- 
kannten Dichters  Werk  muss  uns  also  schon  deshalb 
von  Wert  und  Interesse  sein,  weil  es  eines  der  wenigen 
beredten  Dokumente  für  das  Vorhandensein  einer 
„Wagner-Schule"  genannt  werden  darf,  einer  Schule, 
welche  weniger  aus  Schuljungen  sich  rekrutiert,  die  in 
knechtischer  Abhängigkeit  auf  eine  Nachahmung  gewisser 
formaler  Mittel  und  auf  ein  sklavisches  Wiederkäuen 
bestimmter,  einmal  fest  stehender  und  mundgerecht 
gemachter  Schemata  sich  beschränken,  als  sie  vielmehr 
eine  Gefolgschaft  von  Jüngern  und  geistigen  Anhängern 
darstellt,  welche  ihren  Beruf  vornehmlich  dadurch  erfüllen, 
dass  sie  die  wesentlichen  Ideen  des  Meisters  in  alle 
Welt  hinaus  tragen  und  die  geistigen  Grundprinzipien 
seiner  Lehre  auf  anderen,  verwandten  oder  fremden, 


Digitized  by  Google 


Cyrill  Kistlers  Oper  „Kunihild 


83 


Gebieten  ihre  zeitgemässen  reifen  Früchte  tragen  lassen. 
Und  ein  solcher,  würdiger  Jünger  der  Bayreuther 
Gefolgschaft  ist  eben  Cyrill  Kistler.  Dass  er  vor  Allem  in 
den  Prinzipien  des  „Stiles0  vortrefflich  Bescheid  weiss 
—  eine  Eigenart,  die  wir  ihm  besonders  hoch  anrechnen, 
weil  eine  erhebliche  Anzahl  der  zur  Fahne  Wagners 
schwörenden  Komponisten  und  selbst  „Wagnerianer 
strikter  Observanz"  sich  gegen  sie  verfehlen,  wie  u.  A. 
der  Münchener  Komponist  Prof.  M.  E.  Sachs  (dessen 
Oper  „Palestrina"  eine  wahre  Stillosigkeit  bedeutet  und 
den  echten  Wagnerianismus  geradezu  kompromittieren 
könnte):  das  zeigt  uns  schon  die  erstaunliche  Kongruenz 
zwischen  Inhalt  (Stoff)  und  Form  in  seinem  Werke, 
zwischen  der  fremden  Dichtung  des  Drama's  wiederum  und 
seiner  eigenen  Musik.  In  diesem  Sinne  steckt  ungemein 
viel  Stil  in  der  „Kunihild",  und  das  bedeutet  ja  eben 
die  „Schule44,  die  Wagner  in  der  That  „gemacht*  hat, 
was  auch  Andere  darüber  flunkern  und  faseln  mögen. 
Freilich  holt  der  Komponist  lange  nicht  so  weit  aus 
wie  der  Meister  in  seinen  grossen  Musikdramen;  die 
Formen  der  „Kunihild"  sind  alle  kleinere;  es  geht  ein 
bescheidener,  eine  Art  von  familiärem  Zug  durch  das  Ganze, 
so  dass  sich  unsere  „Oper*  zu  R.  Wagners  „Musik- 
dramen" etwa  verhält  wie  „Sage"  zu  „Mythos".  Aber 
eben  dadurch,  dass  er  von  vornherein  nicht  so  weit 
ausholt  und  grundsätzlich  nicht  so  sehr  in's  Grosse 
geht,  wie  ein  Wagner,  bekundet  unser  Komponist  ein 
feines  Stilgefühl;  denn  dadurch  erst  wird  seine 
Musik  eine  der  beschränkteren  Sphäre  der  Kunihild- 
Sage  angemessene,  und  so  ist  ihre  sinfonische  wie 
die  dramatische  Form  zwar  echt  Wagnerisch  geraten, 
das  Format  unseres  Drama' s  aber  (und  das  ist  über- 
aus wichtig  in  diesem  Zusammenhange!)  ein  durchaus 
originelles  und  eigenartiges  dabei  geblieben. 

Was  auch  Paul  Marsop  gegen  „neudeutsche  Kapell  - 

6* 


Digitized  by  Google 


84 


Wagneriana.    Bd.  III 


meister-Musik"  einwenden  und  über  die  stehende  Formel 
ihrer  Anerkennung  in  der  Presse  sagen  möge,  —  bei 
dem  vielen  Mittelgut,  ja  Minderwertigen,  das  man  in 
den  letzten  Jahren  oft  über  die  Bretter  deutscher  Opern- 
Bühnen  hat  schreiten  sehen,  erschiene  es  fürwahr  wie 
-  eine  Schmach,  liesse  man  dieses  talentvolle  und  gediegene 
Werk  zeitgenössischer  Produktion  unbeachtet  bei  Seite 
liegen.*) 

*)  Man  hat  es  darauf  hin  in  mehreren  Städten,  auch  zu 
München  und  zu  Würzburg  sogar  als  „Festspiel*,  wiederholt 
noch  aufgeführt  —  leider  aber  haben  diese  Aufführungen  mein 
günstiges  Urteil  darüber  nicht  ganz  bestätigen  wollen. 


Digitized  by  Google 


Loreley 


Text  von  G.  Gurski;  Musik  von  Hans  Sommer 

(1892) 

Ich  glaube,  die  Wellen  verschlingen 
Am  Ende  Schiffer  und  Kahn! 

Loreley !  Bisher  schien  es  fast,  als  ob  die  alte  Sage 
immer  noch  fortwirkte  und  namentlich  an  den  Opern- 
Komponisten  immer  wieder  im  ernsteten,  gefährlichsten 
Sinne  des  Wortes  sich  bewähren  sollte.  Immer  aufs 
Neue  lockte  sie  schaffende  Geister,  Dichter,  Musiker 
und  Bildner,  durch  ihren  „wundersamen"  Sang  in  ihre 
Netze;  immer  und  immer  wieder  gerieten  diese  Wage- 
hälse dabei  in  den  Strudel  des  Verderbens  —  Alle  sind 
sie  bisher  noch,  über  dem  Lauschen  gleichsam  auf  ihrer 
Stimme  „gewaltige  Melodei",  in  der  Flut  untergegangen. 
Um  speziell  hier  von  der  Musik  zu  reden:  Mendelssohn, 
Bruch,  Naumann  und  wie  sie  sonst  heissen  mögen  — 
welche  dieser  Opern  hätte  sich  eines  dauernden  Bühnen- 
erfolges zu  erfreuen  gehabt? 

Angesichts  solcher  Voraussetzungen  —  darf  man 
wohl  sagen  —  ist  es  nicht  eben  eine  Schande,  zu  den 
Komponisten  der  „Loreley"  zu  gehören;  zeugt  es  doch 
von  ebenso  viel  Mut  als  edlem  Selbstvertrauen,  eine 
dermalige  Bearbeitung  dieses  Stoffes,  der  schon  so  Viele 
vordem  in's  Unglück  gestürzt,  als  beherzter  „Wagner"  - 


Digitized  by  Google 


xagen.  Um  so  mehr,  wer  wie  Professor 
Hans  Sommer  gleich  in  diesem  Erstlingswerk  auf  dem 
Gebiete  des  Musikdrama's  mit  einem  so  bedeutenden 
Können  hervor  tritt,  darf  des  Beifalles  und  der  freundlichen 
Aufmerksamkeit  aller  derer,  die  um  den  Ernst  der  Kunst 
sich  scharen,  von  vornherein  gewiss  sein.  In  der  That 
ist  der  früher  in  Braunschweig,  seit  mehreren  Jahren 
zu  Weimar  lebende  Komponist  ein  Talent,  das  allseitige 
Beachtung  und  jede  nur  denkliche  Aufmunterung  zu 
seinem  hohen  und  rein  künstlerischen  Streben  gar  wohl 
verdient.  Bleibt  uns  zwar  das  in  Rede  stehende  Werk 
wertvoll  vielleicht  mehr  durch  das,  was  es  für  die 
Zukunft  des  Komponisten  verspricht,  wenn  nämlich 
dieser  erst  einmal  einen  ebenbürtigen  Textdichter  ge- 
funden haben  wird,  als  durch  das,  was  es  schon  jetzt 
erfüllt,  so  gebührt  zweifelsohne  doch  der  musikalischen 
Reife  und  Ausgestaltung  bereits  unsere  höchste,  un- 
geteilteste Anerkennung. 

Also:  Hans  Sommers  Erstlings-Oper  „Loreley"  ist 
unter* m  3.  Juni  nunmehr  auch  zu  Weimar  erstmalig  in 
Szene  gegangen.  Für  dieses  Weimar  war  es  sozusagen 
Pflicht-  und  Ehrensache,  sich  des  interessanten  und  für 
die  neuere  Opernentwicklung  immerhin  bedeutsamen 
Werkes  ohne  Rücksicht  auf  den  äusseren  Erfolg  an- 
zunehmen; denn  einerseits  lebt  der  Komponist,  wie  gesagt, 
als  liebenswürdiger  Gesellschafter  seit  mehreren  Jahren 
in  unserer  Goethe-Schiller-Stadt  beschaulichem  Kreise; 
anderseits  hat  es  Weimar  aus  alter,  edel-künstlerischer 
Tradition  gottlob  doch  noch  nie  nötig  gehabt,  bei  einer 
Novität  zuerst  nach  der  Kasse  zu  fragen.  Um  so  er- 
freulicher, wenn  —  wie  hier  —  das  mutige  Vorgehen 
ein  schöner  Erfolg  und  ein  gutes  Gelingen  belohnen. 

Um  es  gleich  voraus  zu  schicken:  Mit  den  schwersten 
theoretischen  Bedenken  bin  ich  in  die  Aufführung  ge- 
gegangen, um  schliesslich  doch  vorderThatsacheeinerwirk- 


Digitized  by  Google 


Loreley. 


87 


liehen  —  wennschon  in  manchen  Stücken  mehr  äusseren, 
so  doch  immerhin  eindrucksvollen  und  beachtenswerten 
Buhnenwirkung  zu  stehen.  Es  liegt  darin  zum  Mindesten 
ein  Problem,  das  eingehender  studiert  sein  will,  und 
über  das  man  nicht  mit  einem  einfachen  Kopfschütteln 
lediglich  hinweg  gehen  kann.  —  Schon  im  vorigen  Jahre, 
gelegentlich  der  Erstaufführung  des  Werkes  zu  Braun- 
schweig, hat  man  ja  zahlreiche  ausführliche  Besprechungen 
des  Werkes  aus  berufensten  Federn  allenthalben  zu  lesen 
bekommen,  welche  ein  abermaliges  näheres  Eingehen 
auf  diese  Oper  um  so  entbehrlicher  erscheinen  lassen 
könnten,  als  ich  mich  in  vielen  Punkten  gewiss  einfach 
auf  sie  berufen  dürfte.  Dennoch  haben  sich  aus  Anlass 
der  Weimarer  Wiederholung  immer  noch  eine  solche 
Menge  neuer  Gesichtspunkte  ergeben,  dass  —  wenn 
auch  nicht  gerade  eine  „Revision"  jenes  ersten  Urteiles 
notwendig  erscheint  —  immerhin  eine  abermalige,  weitere 
Ausführung  und  zuraTeil  selbst  neue  Begründung  nichtganz 
unangebracht  herauskommen  möchte  —  ganz  abgesehen 
noch  davon,  dass  ich  mich  in  einem  grundwesentlichen 
Punkte,  mit  meiner  Beurteilung  des  Schlusses  nämlich,  von 
allen  meinen  Herren  Kollegen  der  Feder,  die  bisher  das 
Wort  hierzu  ergriffen  haben,  ganz  erheblich  glaube  unter- 
scheiden zu  müssen.  Ich  will  es  daher  versuchen,  zur 
Einführung  zunächst  diese  rein  theoretischen,  nach 
Lektüre  des  Textbuches  und  aus  dem  Studium  des 
Klavierauszuges  mir  entstandenen,  Zweifel  näher  zu  kenn- 
zeichnen und  womöglich  auch  alsbald  zu  rechtfertigen. 

Indem  ich  zunächst  also  dieser  Aufgabe  mit  frischen 
Kräften  mich  unterziehe  und  genauer  auf  das  Werk  als 
Ganzes  einzugehen  suche,  muss  ich  hier  leider  gleich 
eines  grundsätzlichen  Bedenkens  Erwähnung  thun,  das 
sich  in  der  Inkongruenz  zwischen  dem  musi- 
kalischen Gewände  und  dem  dichterischen  Stile 
unmittelbar  der  Betrachtung  aufdrängt.  Das  Zusammen- 


Digitized  by  Google 


88 


Wagneriana.    Bd.  III.  . 


gehen  beider  Faktoren,  schon  im  —  kleineren  — 
„Formate"  der  Grundanlage,  haben  da  z.  B.  Alexander 
Ritter  und  selbst  Cyrill  Kistler  (welch*  Letzterer  freilich 
allem  Anscheine  nach  mit  seinem  Können  überhaupt 
nicht  darüber  hinaus  kommen  kann)  weit  glücklicher 
getroffen,  als  dies  —  zu  unserem  Bedauern  —  selbst 
Hans  Sommer  mit  seinem  „Dichter41  noch  glücken  sollte. 
Und  Ritter  hat  obendrein  das  „punctum  salien*"  daran, 
den  dichterischen  Teil  der  musikdramatischen  Ent- 
wicklung, zum  ersten  Male  richtig  hervor  gekehrt  bezw. 
einmal  so  recht  aus  dem  Geiste  seines  Vorbildes  heraus, 
wie  eigenartig  er  dabei  schliesslich  auch  wieder  verfuhr, 
durchaus  sach-  und  sinngemäss  behandelt.  Nicht  darin  zeigt 
sich  nämlich  der  Letztgenannte  als  der  Schule  Wagners 
ganz  besonders  zugehörig,  dass  er  seine  Texte  sich 
selber  dichtete  —  das  haben  Andere  vor  wie  nach  auch 
schon  gethan,  und  Sommer  kann  mit  ebenso  viel  Fug 
und  Recht  gegenüber  dieser  Praxis  Wagners  eine  Stelle 
aus  dessen  eigenen  Schriften  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  wo  der  Meister  ausdrücklich  bemerkt  (IV,  260): 
dass  die  Personalunion  von  Dichter  und  Komponist 
durchaus  nicht  etwa  unbedingt  erforderlich,  im  Gegenteil 
womöglich  besser  zu  vermeiden  sei,  da  dann  der  miss- 
lichen doppelten  Konzeption  des  Werkes  ausgewichen 
werde  und  nur  mehr  eine  einmalige  kräftige  Erwärmung 
des  Komponisten  durch  den  Stoff  stattzufinden  habe. 
In  ganz  gleicher  Weise  hat  überdies  der  Fall  Sporck- 
Kistler  seinerzeit  (bei  der  Oper  „Kunihild*)  gezeigt, 
dass  eine  solche  Geistes-« Ehe"  zwischen  Beiden  zum 
Wenigsten  nicht  zu  den  absoluten  Unmöglichkeiten  zu  ge- 
hören braucht.  Dies  also  kann  unsere  Bedenken  gegen  den 
Text  nicht  ohne  Weiteres  begründen;  wohl  aber  die  eine 
Thatsache  thut  es,  dass  an  diesem  Textbuche  —  der 
Vermerk:  „Gedruckt  bei  R.  Wagner  in  Weimar«  legt 
uns  solche  Gedankenverbindung  nur  allzu  nahe  —  zuletzt 


Digitized  by  Google 


Loreley.  89 


doch  nicht  der  echte  R.  Wagner,  sondern  leider  nur  ein 
Pseudo -Wagner  dichterisch  Pate  gestanden  hat. 

Der  Textverfasser,  Hr.  Gustav  Gurski,  hat  sich  — 
wie  bekannt  —  bei  der  Gestaltung  seines  Buches  an 
Wolfs  beliebte  „Lurlei"-Dichtung  einigermassen  angelehnt. 
So  sehr  ich  es  nun  begreife,  dass  man  —  nach  all  den 
früheren,  vergeblichen  Versuchen,  den  Loreley-Stoff 
zu  dramatisieren  —  in  jener  epischen  Vorlage  das  will- 
kommene, sozusagen  konkretere  Gerippe  zu  einem  sinn- 
vollen dramatischen  Aufbau  begrüssen  konnte,  so  ver- 
hängnisvoll sollte  doch  diese  Anknüpfung  gerade  für 
unseren  Operndichter  werden.  Namentlich  in  den 
Einzelheiten  der  Dichtung  tritt  die  missliche  Nach- 
wirkung solcher  Anlehnung  nur  zu  augenfällig  zu  Tage. 
Zu  den  ganz  allgemein,  bei  jeder  einfachen  Drama- 
tisierung einer  epischen  Dichtung  beobachteten  Mängeln 

—  die  sich  notwendig  einstellen  müssen,  weil  hier  die 
breitere  psychologische  Motivierung,  die  das  Ganze  dort 
oft  erst  verständlich  macht,  verloren  geht  —  treten  bei 
Gurski  noch  besondere,  ihm  eigentümliche  Missgriffe 
mit  hinzu.  Der  Verfasser  des  Textbuches  zur  Sommer- 
schen  «Loreley8  zeigt  sich  so  stark  beeinflusst  und 
abhängig  von  der  gesamten  Wolf'schen  Vorlage,  dass 
er  darüber  stellenweise  sogar  ganz  vergisst,  dass  seinen 
Zuschauern  dieses  innere  geistige  Band,  welches  die 
„Lurlei"  Wolfs  beherrscht  und  welches  er  von  dort  in 
seiner  Phantasie  mitbringt,  fehlen  muss;  so  dass  er 
ihnen  also  geistige  Sprünge  und  dramatische  Unklarheiten 
zumutet,  welche  eben  nur  die  Wolf 'sehe  Dichtung  zu  einer 
entsprechend  klaren  Einheit  wieder  verbinden  könnte. 
Schon  bei  Erwin  und  Ludwig  macht  sich  dies  zum  Teil 
recht  unangenehm  bemerklich;  die  Rheintochter  vollends 

—  altes  Weib,  Fee,  Zauberin,  Königin  und  Nixe  zu- 
gleich, Kupplerin,  Mutter,  Buhlerin  und  Intrigantin  in 
einer  Person  —  erscheint  mir  gänzlich  ungeniessbar 


Digitized  by  Google 


90 


Wagneriana.   Bd.  III. 


und  ist  nicht  zum  Wenigsten  wohl  schuld  daran,  wenn 
Manche  behaupten  wollten,  dass  sie  diese  Oper  im 
Ganzen  nicht  habe  „erwärmen"  können.  Dazu  kommt 
aber  noch  eine  wahrhaft  unglückliche  Hand  in  der 
Gruppierung,  der  Anordnung  und  dem  Aufbau  der 
dramatischen  Gesamthandlung  selbst.  Selten  ist  mir 
eine  ungeschicktere  Akteinteilung  bei  einer  modernen 
Oper  vorgekommen,  und  ein  wahres  Glück  ist  es  noch 
zu  nennen,  dass  diesmal  zu  Weimar,  infolge  zwingender, 
rein  technischer  Erwägungen,  die  Verwandlung  im 
.2.  Aufzuge  zu  einem  vollen  Aktschlüsse  benutzt  und 
damit  die  Vorführung  des  Musikdrama's  in  vier  (statt 
in  drei)  Akten  erst  ermöglicht  wurde.  Ich  sage :  er- 
möglicht. Denn,  gingen  wir  dadurch  auch  der  wert- 
vollen Verwandlungsmusik  des  2.  Aktes  leider  ver- 
lustig, so  lässt  sich  dem  Komponisten  zur  Einhaltung 
eines  gleichen  Verfahrens,  bei  Aufführungen  der  Oper 
auch  für  die  Zukunft,  doch  nur  dringend  raten,  weil 
sonst  die  unglaublich  rasche  Sinnesverwandlung  Ludwigs 
noch  unverständlicher  und  verletzender  wirken  dürfte, 
als  sie  es  ohnehin  schon  ist.  Freilich  weiss  ich  nur 
zu  gut,  dass  wir  auch  bei  Wagner  das  Vorbild  einer 
solchen  Sinneswandlung  („Siegfried")  in  einem  einzigen 
Akte  schon  erlebt  und  ertragen  haben,  und  Sommer  mag 
das  vielleicht  sogar  als  eine  Art  erstrebenswertes  Ideal 
vorgeschwebt  sein.  Aber  nicht  so  ganz  mit  Recht,  wie 
es  mich  bedünken  will.  Denn  dort  tritt  das  „Wunder" 
eines  Zaubertrankes  mit  hinzu,  die  „Abbreviatur  der 
Wirklichkeit",  deren  der  Mythus  nicht  entbehren 
kann  und  deren  Auftreten  im  mythischen  Gewände 
mit  eben  so  viel  Berechtigung  erfolgt,  als  sie  in  unserem 
Rahmen  zugleich  auch  völlig  unverständlich  bleiben  müsste. 
Und  eben  das  ist  es  wohl  überhaupt,  was  wir  Alle  gegen 
•das  Ganze  —  wir  mögen  uns  nun  drehen  und  wenden, 
wie  wir  wollen  —  theoretisch  im  letzten  Grunde  noch 


Digitized  by 


Lorcley. 


91 


vorzubringen  hätten;  dass  es  musikalisch  gleichsam  mit 
dem  Anspruch  des  „Mythus«  vor  uns  hin  tritt,  während 
es  doch  dichterisch  noch  ganz  und  gar  in  der  primitivsten 
„Sage"  stecken  geblieben  ist.  Ein  klaffend  tiefer,  innerer 
Widerspruch  liegt  hier  noch  vor,  der  hauptsächlich  auch 
meine  Eingangs  erwähnten  Zweifel  begründet  hat  und 
bei  aller  augenblicklich  guten  Bühnenwirkung  doch  die 
eigentliche  Lebensfähigkeit  des  Werkes  für  die  spätere 
Zukunft  in  Frage  stellen  möchte.  —  Um  es  an  einem 
Gleichnis  aus  der  bildenden  Kunst  klar  zu  machen,  was 
ich  damit  meine:  die  Loreley-Sage  verhält  sich  zum 
Mythos  etwa  wie  eine  Moritz  von  Schwind'sche  Poesie 
zu  der  gewaltigen  Philosophie  eines  Peter  von  Cornelius. 
Die  Inkongruenz,  Konflikt  und  Defekt  entsteht,  wo  der 
romantisch-sinnige  M.  v.  Schwind'sche  Inhalt  im  grossen, 
mythologischen  Stile  eines  Peter  v.  Cornelius  nun  vor- 
zutragen gesucht  wird.  Auf  das  musikalische  Gebiet 
selber  übertragen  und  auf  unser  Thema  im  Besonderen 
angewandt,  liesse  sich  etwa  der  Name  Lortzing  oder  auch 
Weber  demjenigen  Wagners  hier  wohl  gegenüber  stellen: 
Weber- Lortzing  im  Wagner'schen  Formate  und  Gewände! 
Die  Sache  scheint  mir  deshalb  um  so  wichtiger,  weil  es 
gerade  in  diesem  Punkte  für  den  überzeugten  Wag- 
nerianer, als  den  wir  Hans  Sommer  nach  allen  seinen 
bisherigen,  musikalischen  wie  litterarischen,  Äusserungen 
mit  Fug  und  Recht  doch  auffassen  dürfen,  grundsätzlich  zum 
Farbebekennen  und  zur  eigentlichsten  Bewährung  kommen 
muss.  Ist  es  doch  eine  ganz  merkwürdige  Erfahrung,  dass 
fast  alle  die  Nach -Wagner'schen  Opernkomponisten, 
welche  in  der  musikalischen  Form  doch  bis  zum  spätesten 
Wagner  der  „Meistersinger«,  des  „Nibelungen-Ringes* 
und  der  kompliziertesten  „Tristan "-Harmonik  bereits 
vorgedrungen  sind,  gerade  im  dichterischen  Teil,  in  der 
dramatischen  Grundlage  das  gestellte  Problem  einer 
ebenbürtigen  „Ehe«  zwischen  Dichter  und  Musiker  zum 


Digitized  by  Google 


92 


Wagneriana.    Bd.  III. 


gleichen  „Zwecke  des  Drama's"  immer  noch  nicht 
genugsam  beachten  wollen.  Im  Grunde  genommen 
kommen  sie  darin  selten  über  „Hans  Helling44,  „Undine" 
und  dergl.  m.  hinaus,  setzen  also  da  ein,  wo  Wagner  schon 
angelangt  war,  als  er  die  „Feen*4*)  oder  (günstigsten 
Falles)  den  „Fliegenden  Holländer"  geschrieben.  .  .  . 

Ich  glaubte  diese  vom  reinsten,  aufrichtigsten  Wohl- 
wollen  eingegebene  Aussprache  meiner  anfanglichen, 
auch  durch  die  reale  Bühnenaufführung  nicht  ganz  zer- 
streuten Bedenken  dem  Werke  selbst  wie  insbesondere 
meiner  persönlichen  Freundschaft  für  den  Komponisten 
schon  darum  schuldig  zu  sein,  weil  dessen  hohes  künst- 
lerisches Streben,  sein  vornehm-kräftiges  Wollen  und 
reifes,  wertvolles  Können,  wie  gesagt,  gewiss  die  höchste 
Anerkennung  verdienen,  und  allseitigste  Zustimmung  sich 
erringen  müssen.  Ein  gediegenes  Talent  wie  dasjenige 
Sommers  ist  nicht  nur  des  Beifalles  der  Besten  seiner 
Zeit  würdig,  es  verdient  auch  jede  erdenkliche  Auf- 
munterung und  moralische  Unterstützung  auf  seinem 
dornenvollen  Pfade.  Überdies  schickte  ich  auch  noch 
gerne  diese  Auseinandersetzungen  mit  Gurski  hier  vor- 
aus, um  desto  grösseren  Nachdruck  nunmehr  auf  einen 
Vorzug  des  Textes  legen  zu  können,  den  die  dramatische 
Lösung  der  Sommer'schen  Oper  gerade  vor  allen 
früheren  musikdramatischen  Bearbeitungen  der  Sage 
unbedingt  voraus  hat,  und  bei  dem  sich  das  Lob  — 
wie  ich  nach  der  mir  mitgeteilten  Entstehungsgeschichte 
des  Textbuches  zu  meiner  lebhaftesten  Freude  höre  — 
indirekt  an  den  Komponisten  selber  richten  darf. 
Stellen  wir  dabei  vor  Allem  fest,  dass  der  Loreley-Stoff 

*)  Gerade  daran  müssen  wir  uns  um  so  lebhafter  erinnert 
fühlen,  als  hier  ja  auch  (wie  eben  dort  in  der  „Loreley")  eine 
Erstarrung  der  Fee  zum  Felsgestein,  beziehungsweise  umgekehrt 
deren  Entzauberung  und  Erlösung  durch  die  Kraft  des  Gesanges, 
den  dichterischen  Vorwurf  bildet. 


Digitized  by  Google 


Loreley. 


93 


für  musikdramatische  Behandlung  erst  von  dem  Augen- 
blick an  brauchbar  wird,  da  Lore  die  Treue,  wenn  auch 
nur  in  einem  ganz  vereinzelten  Fall,  als  in  der  Welt 
wirklich  ^vorhanden  anerkennen  muss  und,  statt  in 
„ewiger  Rache"  zu  enden,  aus  Mitleid  lieber  sich  selbst 
zum  Opfer  bringt:  —  so  ist  es  doch  gewiss  höchst 
beachtenswert  für  uns,  dass  diese  wichtige  Wendung, 
welche  bei  Sommer  überhaupt  zum  ersten  Mal  auftritt, 
nicht  vom  Textdichter  selber  herrührt,  sondern  ihre 
Ausführung  der  besonderen  Anregung  eines  „Wagneri- 
aners", Hans  von  Wolzogens,  verdankt.  Inwieweit  auch 
mit  der  Einführung  des  Heine'schen  sogenannten  „Volks- 
liedes* und  der  dazu  gehörigen  Silcher'schen  „Volks- 
weise" gerade  von  Wagnerianischer  Seite  ein  glücklicher 
Griff  geschehen,  wage  ich  im  Augenblicke  nicht  zu  ent- 
scheiden; Vielen  will  es  eher  das  pure  Gegenteil  eines 
solchen  dünken.  Gleichwohl,  der  Komponist  hat  mit 
keckem  Wagemute  zugegriffen,  und  es  lässt  sich  immer- 
hin sagen,  dass  hier  die  Anknüpfung  an  Silcher  auch  einer 
populäreren  Wirkung  der  Oper  zum  Mindesten  nicht  im 
Wege  zu  stehen  braucht.  Aber  selbst  dem  tiefer  em- 
pfindenden, feiner  gebildeten  Hörer  sagt  dieser  Schluss 
doch  etwas;  denn,  indem  er  die  Entstehung  des  „Volks- 
liedes" aus  tiefstem  Leide  schildert  („Ich  weiss  nicht, 
was  soll  es  bedeuten,  dass  ich  so  traurig  bin")  —  wobei 
der  Fischer  Erwin  über  den  dramatischen  Vorgang  und 
Zusammenhang  hinaus  völlig  zur  mythischen  Person, 
zum  „Dichter"  an  sich  geworden  ist  — ,  verknüpft  sich 
mit  ihm,  in  seiner  konkreten  Ausgestaltung,  zugleich 
der  tiefere  Sinn,  dass  die  schlimmen,  Rache  waltenden 
Wirkungen  Lore's  vom  Augenblick  ihres  Mitleidens 
an  aufhören,  und  dass  von  dem  Augenblick  ihrer 
eigenen  Erstarrung  zum  Felsen  ihr  unsterbliches  Fort- 
leben in  der  Sage  wie  im  Liede  (jetzt  erst:  Lore-Ley!) 
beginnt.    Wie  ganz  anders  der  Ausgang  bei  Wolf,  dem 


Digitized  by  Google 


94 


Wagneriana.    Bd.  HI. 


modernen  Dichter  der  „Lurlei":  wo  denfl  Lurlei,  da  sie 
sich  auch  Erwin  gegenüber  durch  ihren  Schwur  zwang- 
voll gebunden  sieht,  nun  für  diesen  einen  Treuen,  den 
sie  gleichfalls  drangeben  muss,  unaufhörlich*  unzählige 
Opfer  vom  Rheine  fordert  und  fortgesetzt  herzlos  in's 
Verderben  hinab  schickt! 

Ich  weiss  nicht,  ob  meine  Leser  seiner  Zeit  von  der 
heftigen  litterarischen  Fehde  Kenntnis  gewonnen  haben, 
in  die  Sommer  wegen  seines  Textbuches  zur  „Loreley" 
mit  eben  jenem  „berühmten**  Herrn  Julius  Wolf  pein- 
licher Weise  geriet,  weil  dieser  den  Textdichter  der  Oper 
eines  Plagiates  an  seiner  epischen  Dichtung  bezichtigte. 
Nach  meiner  Meinung  war  es  seiner  Zeit  sehr  unrecht 
von  Hrn.  Gurski,  wenn  er  sich  dem  Komponisten  gegen- 
über so  eigensinnig  weigerte,  den  Namen  Wolfs  auf 
sein  Textbuch  mit  zu  setzen.  Die  Anregung  durch 
Wolfs  „  Lurlei "  lag  nun  doch  einmal  vor,  und  dem  Text- 
dichter lässt  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  überdies  eine 
starke  Anlehnung,  zum  Teil  in  wesentlichen  Punkten 
und  oft  sogar  unter  wörtlichen  Anklängen  nachweisen, 
die  nicht  immer  mit  der  Lücke  unserer  Gesetze  be- 
züglich dramatischer  Behandlung  epischer  Stoffe  sich 
rechtfertigen  lässt  und  nicht  auf  die  Freiheit  des 
Dramatikers  in  Benutzung  epischer  Vorlagen 
einfach  schon  zurück  geführt  werden  kann.  Ebenso  unklug 
und  reichlich  taktlos  erscheint  aber  Wolfs  hartnäckiger 
Protest  gegen  solches  Verfahren;  denn,  hätte  ihn  schon 
jener  oben  erwähnte  Ausgang  des  Werkes  bei  Sommer 
rechtschaffen  stutzig  machen  können  und  auf  einen  ent- 
schiedenen Unterschied  im  Sinne  selbständiger  Be- 
arbeitung und  persönlicher  Erfassung  des  Stoffes  auf- 
merksam machen  müssen,  um  so  viel  mehr  hätte 
er  als  denkender  und  gebildeter  Litterat  nicht  über- 
sehen sollen,  dass  er  selber  schon  unendlich  viel 
Grundelemente,  ja  ganze  Züge  der  älteren  Undinen-, 


Digitized  by  Google 


Loreley.  95 


Melusinen-,  Loreley-,  Nock-  und  Steinernen  Jungfrau- 
Sagen  in  seine  Dichtung  mit  verwoben  hatte,  deren  sich 
ja  auch  kein  Dichter,  der  sich  mit  ähnlichem  Vorwurfe 
befasst,  je  wird  erwehren  können,  weil  sie  bei  diesem 
Thema  einfach  in  der  Luft  mit  herum  liegen.  Ihretwegen 
hätte  man  ihm  ganz  den  selben  Vorwurf  seinerzeit  ja 
auch  machen  dürfen! 

Ob  nun  allerdings  die  besprochene  Schlusswirkung 
bei  Sommer  zur  Lebensfähigkeit  der  Oper  beitragen 
wird,  vermag  ich  für  den  Augenblick  nicht  zu  beurteilen 
und  darf  auch  billig  der  Zukunft  zur  Beantwortung 
überlassen  bleiben.  Es  mag  genug  sein,  zu  sagen:  Wir 
hoffen  es!  Nur  das  Eine  möchte  ich  damit  fest  gestellt 
haben,  dass  sie  es  nach  meiner  festen  Oberzeugung 
gewiss  nicht  ist,  welche  den  Lebensfaden  des  Werkes 
abzuschneiden  droht  (wie  nämlich  so  sehr  Viele 
glaubten).  Nur  hat  sie  mich  leider  noch  nicht  mit  den 
anderen  (bereits  charakterisierten),  recht  zahlreichen  und 
augenfälligen  Fehlern  des  Textes  versöhnen  können, 
und  sie  wird  es  denn  auch  kaum  im  Stande  sein,  diese 
je  völlig  vergessen  zu  machen. 

War  es  also  schon  erfreulich,  demjenigen  Teile  des 
Textbuches,  dem  der  Komponist  innerlich  und  geistig  am 
nächsten  stehen  mag,  die  freudige  Anerkennung  seiner 
fein-poetischen  Wirkung,  wie  einer  wahrhaft  musikdrama- 
tischen Tendenz,  nicht  mehr  vorenthalten  zu  brauchen, 
so  lässt  sich  vollends  von  der  rein  musikalischen  Seite 
des  ernsten  Werkes  nur  mit  der  unverhohlensten  und  un- 
geteiltesten Bewunderung  hiernach  sprechen.  Von  vorn- 
herein musste  es  ja  schon  das  regste  Interesse  erwecken, 
die  Sommer'sche  Deklamation,  in  der  er  sich  auf 
lyrischem  Gebiete  bereits  als  Meister  erwiesen,  in  ihrer 
Verwertung  nun  auch  für  das  Drama  zu  studieren;  und 
es  ist  in  der  That  eine  Freude,  im  Näheren  zu  ver- 
folgen, wie  dasjenige,  was  als  sein  Bestes  und  Eigenstes 


Digitized  by  Google 


96 


Wagneriana.    Bd.  III 


dort  zur  reifen  Frucht  entwickelt  worden,  nunmehr  hier 
einmal  so  recht  zum  vollen  Austrag  gelangen  darf.  Sommer 
deklamiert  die  ganze  Oper  hindurch  nicht  nur  korrekt, 
sondern    auch   eindringlich;    nicht  allein  sinngemäss, 
sondern  sogar  mustergültig.    Es  ist  der  selbständigste 
und  eigenartigste  Stil  im  Sinne  eines  der  deutschen 
Wortwurzel  entstammenden  „Sprachgesanges*,  dem  ich 
seit  Wagner  bisher  begegnet  bin,  und  nur  das  Herüber- 
binden von  Auftakt-Noten  bei  Einsätzen  und  Absätzen 
droht  ihm  ein  wenig  zur  Manier  zu  werden,  wovor 
man  unseren  Tonsetzer  aus  guten  Gründen  doch  gerne 
bewahrt  sehen  möchte.    Aber  selbst  noch  auf  dem  Ge- 
biete der  Instrumentation,  der  Ausgestaltung  des  ganzen 
Orchesterpartes,  der  Chöre,  Ensembles  tritt  uns  Hans 
Sommer  mit  einer  wahrhaft  verblüffenden  Reife  ent- 
gegen,  die   man   nicht  genug  rühmen  kann.    Es  ist 
geradezu  erstaunlich,  bedenkt  man  dabei,  dass  dieser 
Lieder-  und  Gesangs-Komponist  (seines  Zeichens)  seit 
seiner  Jugend  gar  nicht  mehr  instrumentiert  hatte  und 
mit  dieser  Oper  als  einem  Erstlingswerk  auf  diesem 
Felde  an  die  Öffentlichkeit  nunmehr  heraustritt.  Seinen 
musikalischen  Akcenten  sind  grosse  dramatische  Kraft, 
seiner  Musik  im  Allgemeinen  ein  frisch  pulsierendes 
Leben  und  ausserordentliche  Modulationsfähigkeit  zu 
eigen.    Besondere  Kunst  entwickelt  er  auch  in  der  Ge- 
staltung von   Stimmungsübergängen,    ganz    im  Sinne 
seines  Vorbildes  Wagner.   Nur  einige  Leitmotive  dürften 
wohl  noch  ein  wenig  origineller,  etwas  weniger  „vor- 
bildlich4* geraten  sein,  und  Eines  fehlt  seinem  Stile  viel- 
leicht noch,  zur  vollen  Grösse:  die  Steigerungsfähigkeit 
bis  zur  höchsten  plastischen  Einfachheit  —  um  nicht  zu 
sagen  Einfalt  hin,  die  Wagner  immer  da  als  grandios 
wirksamen,  letzten  Trumpf  auszuspielen  gewusst  hat,  wo 
der  stärkste,  äusserste  Grad  von  Ekstase  erreicht  war.  Noch 
nie  aber  habe  ich  bei  einem  Nachfolger  Wagners  jenen 


Digitized  by  Google 


Loreley. 


97 


grossen  Bogen,  jenes  breite,  weit  ausholende  und  tief 
veratmende  Pathos  des  Bayreuther  Meisters  in  dem*) 
Grade  zu  beobachten  geglaubt  wie  eben  hier  bei  Sommer. 
Und  zeigt  er  sich  von  dieser  Seite  schon  durchaus  als 
ein  vollgültiger  Beherrscher  des  neueren  musikdramati- 
schen Stiles  bis  in  die  Einzelheiten  der  Deklamation 
hinein,  so  vollends  bei  allen  rein  lyrischen  Episoden  als 
vollendeter  Meister  des  Liedes,  der  er  nun  einmal  ist 
und  bleibt  Ruhepunkte,  wie  die  mannigfachen  Szenen 
und  Gesänge  Lore's,  der  unvergleichliche  Zwiegesang 
im  2.  Akte,  dem  die  Breite  des  6/4"Taktes  -fför  den 
übrigens  Sommer  auch  sonst  eine  grosse  Vorliebe  verrät) 
ganz  ausgezeichnet  bekommt,  —  bilden  wahre  Perlen  der 
spezifisch  Sommer'schen  Lyrik.  Weniger  Gefallen  konnte 
ich  an  den  Nixen-Chören  im  2.  Akte  finden,  denen  es 
ein  wenig  an  dem  äusseren,  rein  sinnlichen  Klangreize 
gebricht,  an  welchen  wir  mit  und  seit  Wagner  bei 
solchen  Anlässen  einigermassen  doch  gewöhnt  sind  — 
jedoch  mag  das  im  Grunde  doch  subjektive  Empfindung 
sein;  mehr  dagegen  wieder  an  den  Chören  der  Wasser- 
geister etc.  im  4.  Akte,  die  viel  Charakteristisches  auf- 
weisen. Mangel  an  Wechsel  und  Kontrastierung  wird  man 
zum  Allermindesten  der  Oper  nicht  nachsagen  können ; 
vom  einfachen  Lied  und  Tanz  bis  zu  den  verwickeltsten, 
reichst  bewegten  Chören,  Aufzügen,  Volksszenen,  Natur- 
vorgängen hin  ist  nahezu  alles  in  ihr  enthalten.  Ja,  fast 
möchte  unverbesserlichen  „Kritikern"  ein  wenig  der 
Verdacht  aufsteigen,  dass  hier  —  wie  Wagner  einmal 
sagt  —  nur  wieder  die  »Absicht  des  Drama's  lediglich 
herbei  gezogen  sei,  um  der  Wirksamkeit  der  Musik  Anhalt 
zu  desto  unumschränkterer  Ausbreitung  zu  geben",  wenn 
wir  nicht  wüssten,  wie  ernst  es  dem  Komponisten 
Sommer  in  seinem  Ringen  gerade  um  die  dramatischen 


*)  Seither  wieder  bei  R.  Strauss:  Schluss  des  „Guntram"! 
Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  7 


Digitized  by  Google 


98 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Ehren  ist.  Endlich  noch  eine  Frage:  Warum  wohl  ist 
an  Stelle  der  (in  den  „Meistersingern"  bereits  verwen- 
deten) Walzerform,  im  1.  Akte  gelegentlich  des  Mailehens- 
festes, nicht  lieber  diejenige  der  „Rheinländer  Polka" 
zur  künstlerischen  Verwertung  gelangt?  Wäre  dies 
nicht  etwas  Neues,  und  dabei  doch  auch  im  Wagner'- 
sehen  Geiste  (mit  Rücksicht  auf  die  rheinische  Text- 
grundlage) sozusagen  Sinn-  und  Stilvolleres  gewesen? 

Uber  der  Aufführung  selbst  waltete  ein  guter,  ja 
überaus  günstiger  Stern,  so  dass  gewisse,  in  der  Haupt- 
probe noch  allzu  nahe  liegende  Befürchtungen  wie  mit 
einem  Schlage  gleich  von  Anbeginn  an  zerstreut  waren. 
Sie  war  mit  einem  Worte  prächtig  und  entbehrte  auch 
des  äusseren  Glanzes  durchaus  nicht,  —  was  alles  bei 
dieser  schwierigen  Partitur  gar  viel  besagen  will,  einer  der 
heikelsten  jedenfalls,  die  seit  Wagner  überhaupt  wieder 
geschrieben  worden  sind.  Vor  Allem  gebührt  der  vor- 
züglichen, ebenso  umsichtigen  wie  feinsinnigen  Regie  ein 
uneingeschränktes  Lob.  Man  muss  wissen,  unter  welchen 
äusseren  Schwierigkeiten  und  9 bösen"  Widrigkeiten 
eine  so  hübsche  Ausstattung  zu  Stande  kam,  um  dieses 
Lob  nicht  etwa  als  eine  leere  Phrase  zu  empfinden! 
Aber  auch  die  Chöre  und  Ensembles  waren  alle  wie  aus 
einem  Gusse,  und  das  Orchester  vollends  zeigte  sich  von 
seiner  leistungsfähigsten,  tüchtigsten  Seite,  —  nicht  zu 
vergessen  der  vielen  obligaten  Instrumentalstellen.  Es 
war  nicht  mehr  als  billig,  dass  am  Schlüsse  des  Ganzen 
auch  Kapellmeister  Richard  S  t  r  a  u  s  s  mit  den  Künstlern 
vor  der  Rampe  erschien,  dessen  entschiedenem,  planvoll 
durchgreifendem  und  lebendig  befeuerndem  Vorgehen 
wir  diese  ganz  vortreffliche  Aufführung  vornehmlich 
danken,  und  der  damit  wieder  einmal  den  sprechendsten 
Beweis  sowohl  seiner  Begabung,  als  auch  seiner  charakter- 
vollen Energie  geliefert  hat.  Der  Erfolg  war  ein  zweifel- 
loser. Der  Beifall  Hess  bereits  nach  dem  1.  Akte  nicht  auf 


Digitized  by  Google 


Loreley. 


99 


sich  warten;  namentlich  aberschlug  das  herrliche  Duett  im 
zweiten  durch  und  riss  die  Zuhörerschaft  zu  freudigster 
Begeisterung  bei  offener  Szene  hin,  so  dass  der  Kom- 
ponist, der  auch  noch  am  Schlüsse  des  Abends  mit  den 
Darstellern  und  dem  Dirigenten  wiederholt  gerufen  wurde, 
schon  beim  Abschlüsse  dieses  Aktes  vor  der  Rampe 
erscheinen  musste.  Und  eine  gleich  glänzende  Aufnahme 
wie  bei  der  Premiere  am  3.  Juni  fand  die  Oper  übrigens 
noch  bei  ihrer  ersten  Wiederholung.  Das  Merkmal  jedes 
echten  Kunstwerkes  scheint  sich  auch  bei  diesem  Werke 
einstellen  zu  wollen:  Es  gewinnt  ganz  entschieden 
bei  Öfterem  Hören. 


7» 


Digitized  by  Google 


Alexander  Ritters  Opern 


(1896) 

Die  „Einakter44  „Wem  die  Krone?11  und  „Der 
faule  Hans*  hätten  zu  Weimar  recht  »guten  Erfolg" 
gehabt,  so  lautete  im  Sommer  1890  die  Meldung  aus- 
wärtiger Fachblätter.  Das  klang  aber  doch  wirklieb 
etwas  zu  sehr  gehalten  —  denn  stürmischen  Beifall 
fanden  sie  thatsächlich,  noch  selbst  bei  ihrer  vierten 
Wiederholung  vom  17.  Juni,  welcher  Aufführung  selbst 
beizuwohnen,  mir  vergönnt  gewesen  ist.  Keinen  Augen- 
blick will  ich  es  nun  leugnen,  dass  ich  nachstehend  im 
Wesentlichen  ein  altes,  seinerzeit  aus  irgend  einem 
Grunde  unveröffentlicht  gebliebenes  Manuskript  aus- 
grabe, das  ich  damals  unmittelbar  unter  dem  frischen 
Eindrucke  dieses  realen  Bühnenerlebnisses  nieder- 
geschrieben hatte.  Nicht  aus  Bequemlichkeit  aber  ge- 
schieht dies,  sondern  vielmehr  aus  der  reiflichen  Er- 
wägung, dass  gerade  hier  das  unverfälschte,  ungetrübte 
Urteil  eines  Augen-  und  Ohrenzeugen  der  stilgerechten 
szenischen  Wirkung  dieser  Werke  von  besonderem 
Werte  sein  muss,  und  dass  die  damals  sofort  auf  dem 
Papier  fest  gehaltenen  persönlichen  Eindrücke  (die  nach- 
stehend nur  in  einigen  wenigen  Stücken  durch  Zusätze 
aus  der  geläuterten  historischen  Überschau  unserer  Tage 
zum  Besseren  ergänzt  und  vervollständigt  werden  sollen) 


Digitized  by  Google 


Alexander  Ritters  Opern. 


101 


diesen  Zweck  verhältnismässig  am  besten,  jedenfalls 
weit  wirksamer  als  alle  rein  theoretischen  Ausführungen 
über  Textbuch  und  Klavierauszug,  erfüllen  können. 

Es  war  in  seiner  Art  ein  Stück  „Stilbildungsschule* 
im  edelsten  Sinne,  was  sich  da  in  jenen  Mai-  und  Juni- 
Wochen  an  der  kleinen  Weimarer  Hofbühne  —  wie 
schon  so  oft  früher!  —  wieder  einmal  abspielte.  Der 
Komponist,  als  ergrauter  väterlicher  Freund  des 
Dirigenten  („Onkel  Ritter"  wie  wir  ihn  schliesslich  Alle 
nannten)  die  Proben  und  Darstellungen  selbst  über- 
wachend und  den  gewollten  Stil  auf  alle  persönlich  über- 
tragend; der  Dirigent  —  kein  Anderer  als  Richard 
Strauss  —  zunächst  als  der  Lernende,  aber  auch  als  ge- 
nialer Jünger  der  neuen  produktiven  „Wagner-Schule" 
gar  verständnisvoll  Wachsende;  alle  übrigen  Mitwirkenden 
kongenial  Empfindende  und  Erkennende;  das  Publikum 
wiederum,  als  warm-begeistert  Anteil  nehmender,  freudig 
im  neuen  „Gefühlsverständnisse"  mitschaffender  Faktor, 
aus  dieser  seltenen,  echt  künstlerischen  Wechselwirkung 
geistig  zugleich  erhoben  und  dem  idealen  Festspiel- 
Elemente  sympathievollen  Widerhall  beifällig  entgegen 
bringend!  Und  während  Andere  vielleicht  darüber  grämlich 
die  Nase  rümpfen  mochten,  dass  hier  —  wie  sie  kurz- 
sichtig wähnten  —  die  grossherzogliche  Bühne  zur  blossen 
„Versuchsstation"  für  allerlei  „unfruchtbare  Experimente" 
herab  gewürdigt  wurde,  ward  hier  eine  verständnisinnige, 
geistig  überaus  regsame  Kunstgemeinde  engerer  Musik- 
freunde versammelt,  die  gerade  diese  Freistätte  edelster 
Kunstbestrebung  inmitten  all'  der  Repertoire-gehetzten 
deutschen  Intendanz-  und  Industrie -Bühnen  hoch  zu 
schätzen  wusste  und  in  diesen,  den  Schöpfer  und  sein 
Werk  so  sehr  auszeichnenden,  idealen  Vorgängen  ein 
verheissungsvoll  -  segensreiches  Kunstleben  froh  be- 
grüsste,  eine  in  ihrem  Rahmen  bescheidene,  aber  zu- 
gleich doch  bedeutsame  und  nachhaltige  Blüte  gewähr- 


Digitized  by  Google 


102 


Wagneriana.    Bd.  III 


leistet  sehen  durfte.  Wahrlich,  niemand,  der  mit  Herz 
und  Sinn  dabei  war,  konnte  ihrer  so  bald  vergessen! 

In  Alexander  Ritter,  zumal  hinsichtlich  seines  Be- 
rufes als  musikalischer  Dramatiker,  sehen  wir  einen  derganz 
Wenigen,  welche  die  Prinzipien  der  Bayreuther  Schule 
und  des  Wagner'schen  Geistes  mit  vollem  Verständnis 
und  innerlich  echter  (nicht  nur  Talmi-)  Eigenart  in  sich 
aufgenommen  und  hernach  zielbewusst  fortgebildet  haben. 
«Einer,  der  genau  weiss,  was  er  will"  (wie  er  selbst 
einmal  über  Heinrich  Porges,  den  Münchner  Pionier  neu- 
deutschen Musik-Fortschrittes,  an  die  „Allg.  Mus.-Ztg.tt 
geschrieben),  ein  getreuer  Jünger  zugleich  der  meister- 
lichen Geistesbewegung,  welcher  —  der  besonderen 
Kräfte,  aber  auch  der  menschlichen  Grenzen  seiner 
eigenen  Begabung  klar  bewusst  —  niemals  höher  hinaus 
wollte,  als  er  selbst  von  seinem  Schöpfer  nun  einmal 
veranlagt  und  berufen  war,  eben  darum  aber  auch, 
zuerst  von  Allen  und  innerhalb  der  von  Wagner 
scharf  gezogenen  Grundlinien  des  Musikdrama's,  an 
diesem  überragenden  Grossen  noch  offen  gelassene  Mög- 
lichkeiten entdeckt  und  auf  seine  Weise  frei-schöpferisch 
auch  wahrgenommen  hat:  das  war  Alexander  Ritter, 
so  steht  er  —  ein  Kapitel  ganz  für  sich  —  in  der 
Musikgeschichte.  Wo  Andere  noch  zumeist  mehr  den 
äusseren  Instrumentationsapparat  dem  Bayreuther  Genius 
der  erhabenen  Mythen-  und  Mysteriengestaltung  ab- 
guckten und  vermeinten,  es  müsse  um  jeden  Preis  nun 
einmal  in  dem  von  ihm  ausgegebenen  „hohen  Ton", 
in  seinem  grossen,  weit  ausholenden  Bühnenstile  hübsch 
brav  weiter  geschaffen  werden,  dabei  aber  mit  Aus- 
nahme allenfalls  des  veränderten  Stoffes  und  Kolorites 
hinsichtlich  ihrer  Texte  entweder  einen  arg  miss- 
verständlichen Gallimathias,  oder  günstigen  Falles  nur 
die  sklavischeste  Abhängigkeit  vom  Urbilde  erst  ver- 
rieten: dawar  Ritter  (neben  dem  einseitig -dichterisch 


Digitized  by  Google 


Alexander  Ritters  Opern. 


103 


veranlagten  Grafen  Sporck)  der  Einzige,  der  auch 
dichterisch  seinen  Wagner  tief  aus  dem  innersten 
Kerne  heraus  erfasst  hatte,  der  die  „Festspiele-  auch 
auf  einem  scheinbar  ganz  weit  abliegenden,  schliesslich 
aber  doch  nur  eben  noch  unbebauten,  Felde  mit  scharfem 
Blick  erspähte  und  mit  entschiedenster  Freiheit  des 
künstlerischen  Vermögens  zu  charaktervoller  Gestaltung 
sich  selbst  auserkor. 

Ganz  besonders  ist  es  hier  wieder  das  entsprechend 
anspruchslosere,  dem  enger  umschriebenen  Inhalt  an- 
gepasste  Format  (wenn  ich  so  sagen  darf)  und  überhaupt 
schon  die  ganz  eigentümlich  originelle  Stoffwahl,  welche 
—  als  organische  Ausflüsse  einer  durchaus  unbeirrten 
Selbstkritik  —  an  diesem  Dichterkomponisten  und  prakti- 
schen Nachfolger  Wagners  schon  von  vornherein  so  sehr 
wohlthuend  uns  berühren.  Auch  eine  „Einakter "-Pro- 
duktion, wenn  man  so  will,  als  solche  aber,  im  Gegen- 
satze zur  italienischen  Mode -Invasion,  zugleich  ein 
Kunst-  und  Kultur- „Ziel  .aufs  Innigste  zu  wünschen4*, ! 
Ich  will  damit  noch  nicht  gesagt  haben,  dass  diese  Texte 
nun  schon  ganz  und  gar  vollendete  Meisterwürfe  be- 
deuteten. Namentlich  wird  an  demjenigen  zu  „Wem  die 
Krone?"  dies  und  das  wohl  noch  für  ein  „kritisches0 
Fehlerankreidungs- Bedürfnis  zu  bemängeln  sein,  da  er 
rein  formell  vielleicht  ein  wenig  zu  sehr  in's  Gebiet 
der  erkältenden  Allegorie  schon  abklingt,  während  der 
„Faule  Hans",  von  Hause  und  Natur  aus  sozusagen, 
bereits  mehr  spezifisch -musikalische  Substanz  mit  sich 
führt  und  das  Typische,  ein  blutwarm -symbolisch  Ele- 
ment, weit  glücklicher  noch  trifft :  wo  die  Idee  ohne  Rest 
denn  in  die  konkrete  Anschauung  auch  aufgeht  und 
keine  ferner  liegende  „Absicht"  mehr  irgend  „verstimmen" 
kann.  Auf  alle  Fälle  jedoch  —  selbst  unter  dem  Ge- 
sichtswinkel solch*  gelegentlicher  Ausstellungen  — 
weisen  diese  Textdichtungen  weit  über  das  bis  dahin 


Digitized  by  Google 


104 


Wagneriana.    Bd.  III 


Gewohnte  hinaus  und  überragen,  was  echtes  Wagne- 
risches Erbblut  —  jenen  „ganz  besonderen  Saft",  und 
nicht  Bastardenflüssigkeit  —  in  ihren  Adern  anlangt, 
ihre  Nachwagner'schen  Durchschnittskollegen  um  Turmes- 
höhe (die  vorher  entstandene  „Kunihild  "-Dichtung  und 
die  späteren  „Ingwelde",  „Guntram",  sowie  das  wieder 
ganz  abseits  liegende,  eine  Wagnerische  Spezialität  für 
sich  bildende  „Hänsel  und  Gretel*-Märchenspiel  allen- 
falls wohl  ausgenommen).  Just  in  der  soliden  Be- 
schränkung zeigt  sich  hier  der  Meister! 

Die  denkbar  einfachsten,  volkstümlichsten  Hand- 
lungen sind  da  zu  eindruckvollen,  plastischen  Zeit- 
symbolen verdichtet.  Die  Mär'  von  dem  „Faulen 
Hans"  (nach  einer  poetischen  Erzählung  Felix  Dahns) 
—  sie  versinnlicht,  in  dem  Titelhelden  verkörpert,  die  er- 
staunlich gewaltige,  so  rühm-  und  erfolgreiche  Erhebung 
unseres,  als  ein  träger  Träumer  Jahrzehnte  lang  verkannten 
und  als  Schlafmütze  so  gern  immer  verspotteten,  im 
entscheidenden  Moment  dennoch  urkräftig-schlagfertigen 
„Deutschen  Michels",  da  wo  eben  die  ernste  Gefahr  dem 
Lande  dräuend  sich  wirklich  einmal  naht.  „Wem  die 
Krone?"  wiederum  bildet  das  allegorische  Monumental- 
gedicht jenes  verheissungsvollen  „deutschen  und  sozialen 
Kaisertums",  wie  es  eben  damals,  zur  Zeit  der  Entstehung 
des  Werkes,  auf  den  angestammten  Thron  gelangt  war, 
in  den  mitleidsvollen  Rufen  eines  jugendlichen,  ideal- 
gesinnten Monarchen  an  die  Bedrängten  nnd  Hilfe- 
bedürftigen seiner  Unterthanen  die  besten  Geister  der 
Nation  innig  beseelend  und  anhaltend  beschäftigend. 
Und  das  alles  ist  nicht  etwa  in  toten,  abgezogenen  Be- 
griffen nur  entwickelt,  sondern  ganz  frisch  und  lebendig, 
mit  konkreten  Geschehnissen  verflochten,  in  individuellen 
Gestalten  sinnlich  einprägsam  und  zudem  dramatisch 
überaus  wirkungsvoll  veranschaulicht.  Dabei  ist  auch  die 
Sprache  urwüchsig  deutsch  behandelt,  schlicht  und  innig, 


Digitized  by 


I 

Alexander  Ritters  Opern.  105 


naturwahr  und  seelenvoll,  wie  sich's  eben  trifft ;  oft  derb 
in  den  köstlichen  Reimen,  dann  wieder  charakteristisch 
in  drastischen  Wendungen,  aber  ohne  jede  idealistische 
Verstiegenheit,  in  einem  kernigen  Ausdrucke  gehalten. 

Graf  Härtung  verstösst  seinen  Sohn  Hans  von 
seinem  Herzen,  da  dieser  es  niemals  für  der  Mühe 
wert  hält,  an  den  standesgemäss- ritterlichen  Spielen 
seiner  sechs  Brüder  Teil  zu  nehmen  und,  dafür  lieber, 
alten  Sagen  unthätig  nachsinnend  oder  die  Natur  be- 
lauschend, seine  Tage  dahinträumt.   Ja,  als  Hans  auf 
den  Vorhalt  seines  Vaters  hin  ehrlich  erwidert,  dass  er 
nun  einmal  so  geschaffen  sei  und  nicht  wider  seine 
Natur  könne,  lässt  dieser  ihn  zornergrimmt  gar  wie 
einen  unfreien  Knecht,  dem  Gespotte  schwatzhafter 
Mägde  preisgegeben,  im  Schlosshofe  mit  Ketten  an  einen 
Eichblock  fest  schmieden.    Bald  wendet  sich  indessen 
Hansens,  mit  voller  Seelenruhe  getragenes  Geschick. 
Der  rauhe  Däne  ist  mit  handfesten  Riesen  verheerend 
in1s  Land  eingebrochen,  und  da  die  Vasallen  diesem  An- 
stürme nicht  Stand  zu  halten  vermochten,  hat  sich  die 
junge,  schöne  Königin  zu  Hansens  in  Treue  bewährtem 
Vater  als  ihrem  letzten  Trost  und  Zufluchtsorte  ge- 
flüchtet.   Als  nun  selbst  hier  die  feindliche  Macht,  den 
Widerstand  aller  Mannen  besiegend,  gewaltig  andringt, 
reisst  sich  der  „faule  Hans",  der  bis  dahin  kein  Auge 
von  der  in  seiner  Nähe  stehenden  edlen  Königin  ver- 
wandt hat,  plötzlich  mit  einem  mächtigen  Rucke  selber 
von  seinen  Fesseln  los,  stürzt  sich  mit  Berserkerwut 
auf  die  schon  in  die  Burg  seines  Vaters  einbrechenden 
Riesen  und  verübt  in  diesem  seinem  Juror  teutonicus 
„Heldenthaten,  wie  keinem  Andern  sie  geraten",  bis 
auch  die  früher  schon  gewichenen  Kämpen  wieder  ge- 
festigt vorrücken  und  der  Feind  unter  Zurücklassung 
wichtiger  Gefangener  als  Geissein  schmachvoll  Fersen- 
geld geben  muss.    Der  Graf,  gerührt,  zieht  jetzt  seinen 


Digitized  by  Google 


106 


Wagneriana.    Bd.  III. 


„lieben  Hans"  —  nunmehr  der  „höchste  Stolz  des  alten 
Manns"!  —  beschämt  wieder  an  sein  väterliches  Herz; 
die  Königin,  beglückt,  spricht  ihm  zu,  was  sie  dem  Er- 
retter, da  er  ihr  nur  ein  Knecht  noch  schien,  bereits 
zum  Lohne  verheissen:  nämlich  ihr  halbes  Reich;  ja, 
sie  giebt  sich  ihm,  da  er  sie  selbst  als  Preis  kecklich 
fordert,  im  Herzen  frohlockend  und  jubelnd  sogar,  per- 
sönlich zu  eigen.  „Der  Hans,  der  kann's!"  Zum  Schlüsse 
wendet  sich  der  Held  „heiter  und  leutselig"  zu  dem  ver- 
wundet gefangenen  Dänenkönig,  der  sich  langsam  zu 
erholen  beginnt: 

Aus  dieser  Lehre  zieh*  Gewinn, 
Halt*  diesen  Tag  dir  recht  im  Sinn, 
Und  lass  es  nimmer  dich  gelüsten, 
Dich  gegen  deutsche  Kraft  zu  brüsten! 
Sie  ist  geduldig,  still  und  träge, 
Spät  wird  ihr  Zorn  und  zögernd  rege, 
Hat  sie  sich  aber  aufgerafft  

Doch  still,  du  kennst  jetzt  diese  Kraft, 
So!    Bindet  ihm  die  Stricke  los  — 
Und  jetzt,  wohlauf:  Trompetenstoss! 
Herbei,  ihr  Ritter  und  Vasallen, 
Lasst  uns  in  stolzem  Zuge  wallen, 
Und  bei  des  Sieges  Jubeltönen, 
Soll  meine  Königin  mich  krönen! 

Allgemeiner  Schlussruf:  „Heil  deutscher  Art  — 
in  Reine  treu  bewahrt!" 

In  „Wem  die  Krone?"  bildet  den  Hauptinhalt  die 
Rückkehr  dreier  Söhne  der  greisen  Königin  Ute.  Die 
betagte  Frau  hat  sie  seinerzeit,  jeden  mit  zehntausend 
Kronen  ausgestattet,  in  die  Lande  hinaus  gesandt,  da- 
mit einer  von  ihnen,  ihrem  Herzen  gleich  nahe  Stehenden 
durch  Ausweis  der  weisesten  Verwendung  dieses  reichen 
Goldschatzes  sich  als  des  zu  erbenden  Thrones  würdig 
vor  allen  seinen  Brüdern  bewähren  und  sich  des  edlen 
Fürstenkindes,  Richildens  Liebe,  um  welche  ein  edler 


Digitized  by 


Alexander  Ritters  Opern. 


107 


Wettstreit  unter  ihnen  entbrannt  war,  mit  persönlichem 
Werte  verdienen  solle.  Den  jüngsten,  Heinrich  mit 
Namen,  liebte  auch  die  holde  Maid.  Allein  während 
Konrad  für  sein  Geld  im  schätzereichen  Orient  sich 
kostbaren  Schmuck,  prunkvolle  Zier  und  höfischen  Glanz 
eingetauscht,  Ludwig  anderwärts  im  fremden  Lande  das 
mitgenommene  Vermögen  in  unbezwinglich  kriegerische 
Wehr  zum  Schutz  der  königlichen  Macht  gegen  alle  Not 
und  Gefahr  von  draussen  umgesetzt  hat,  erweckt  gerade 
„Pechvogel"  Heinz  die  allergeringsten  Hoffnungen  — 
denn  all  das  schöne  Geld  hat  er  verthan  und  nichts,  rein 
gar  nichts  dafür  mit  gebracht,  so  dass  ihm  die  schöne 
Richildis  nicht  wenig  grollt  und  beinahe  schon  alle  ihre 
Liebe  versagt.  Aber  alsbald,  bei  der  feierlichen  Rechen - 
schaftsablegung  der  Drei  vor  allem  Volk  und  ihrer  weisen 
königlichen  Mutter,  klärt  sich's  gar  herrlich  auf:  Heinrich 
hat  sich  derweil  im  heimischen  Lande  gründlich  um- 
gethan  und,  als  Bürgersmann  verkleidet  im  einfachen 
Kittel,  draussen  entdeckt,  dass  der  Thron  von  einem 
Lügengespinnste  umgeben  ist,  welches  die  Wahrheit  über 
das  Volk  und  seine  Schmerzen  nicht  mehr  bis  zu  ihm 
gelangen  lässt.  Zum  ersten  Male  sah  er  die  Menschen 
in  Elend  und  Qual,  und  da  riefen  tausend  Stimmen  in 
ihm:  „So  hilf  doch,  rette  doch  hier!  Du  darfst  das 
nicht  leiden,  nicht  dulden,  dass  Menschen  darben  ohne 
Verschulden !"  So  that  er  denn  einen  Griff  nach  dem 
andern  in  den  Beutel,  je  mehr  er  bei  dieser  Inkognito- 
Inspektion  zugleich  die  Beamten  des  Reiches,  die  unter- 
stützend doch  hätten  eingreifen  sollen,  pflichtvergessen 
erfinden  musste;  schliesslich  entliess  er  noch  Knappen 
und  Knechte,  verkaufte  deren  Rosse  und  Waffen,  sogar 
sein  eigenes  Pferd,  um  der  argen  Not  zu  steuern,  und 
mit  seiner  letzten  Habe,  dem  Schwert  in  der  Hand, 
hat  er  manch'  Bedrücktem  auch  noch  sein  gutes  „Recht" 
erstritten.    Heute  kommt  er,  nicht  um  des  Reiches 


Digitized  by  Google 


108 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Erbe  anzutreten,  sondern  der  geliebten  Mutter  die  Binde 
vom  Aug*  zu  nehmen: 

„Nicht  eitel  Gluck  und  Wonne 

Bescheint  in  Eurem  Reich  die  Sonne, 

Im  Gegenteil  —  es  ist  ein  Graus! 

Sieht  hier  und  da  noch  ganz  abscheulich  aus! 

Und  das  muss  durchaus  anders  werden, 

Giebas  auf  dieser  schlimmen  Erden 

Um  und  um 

Noch  eine  Spur  von  Christentum! 

Mit  einem  Hymnus  auf  der  „ Menschenliebe  heilig' 
Gebot-  schliesst  er  seinen  prächtigen  Abgesang.  „Der 
soll  es  sein!"  ruft  bereits  stürmisch-bewegt  das  Volk, 
und  die  alte  Königin  mit  einem  ergriffenen: 

„Nun  mag  die  Müde  sterben  geh'n, 
Sie  hat  den  neuen  Tag  geseh'n!" 

setzt  diesem  würdigsten  ihrer  Söhne  mit  einer  feier- 
lichen Gebärde  eigenhändig  die  Krone  auf  sein  Haupt. 
Selbst  die  Brüder,  besiegt,  huldigen  ihm,  und  Richildis 
flicht  glückstrahlend  einen  Rosenkranz  um  des  Geliebten 
Kronenreif.  In  einem  ganz  einzigen,  von  ihrer  Stimme 
geführten  Quintett  mit  Chor:  „Rosen  sind  der  Liebe 
Zeichen41  klingt  das  Ganze  überaus  weihevoll  und  er- 
hebend aus.  .  .  . 

Ich  kann  es  wohl  versichern:  das  wurde  damals 
als  Sinnbild  und  Ausdruck  der  Zeit  warmherzig  ver- 
standen und  als  gutes  deutsches  Festspiel  nachhaltig 
genug  empfunden  wie  nur  weniges,  was  als  „offizielle" 
Veranstaltung  ä  la  „Willehalm*  an  irgend  einem  natio- 
nalen Gedenktage  mit  „teutschem"  Phrasenschwall  eines 
bombastisch  hohlen  Pathos  und  antikisierendem  oder 
byzantinischem  Prologgeklingel  auf  Bestellung  (samt 
Anwartschaft  auf  Ordensdekorationen)  neuerdings  in 
deutschen  Landen   leider  fabriziert  und  —  horribile 


Digitized  by  Google 


Alexander  Ritters  Opern 


109 


didu!  —  auch  noch  sanktioniert  zu  werden  pflegt. 
Auch  hier  agierte  die  „deutsche  Volksseele0  selbsten 
leibhaftig  und  »tiefernst0  vor  uns,  ja  fühlte  sich  sogar 
im  Innersten  ihres  Wesens  belauscht  und  dichterisch 
gar  sinnig  vollauf  gewürdigt.  Aber  merkwürdig  —  bei 
all'  ihrem  heiligen  Eifer,  namentlich  im  zweiten  Stücke, 
war  sie  doch  ohne  alle  Leichenbittermiene  auch  wieder 
so  unendlich  heiter  in  ihren  freundlichen  Zügen; 
wenigstens  habe  ich  das  gesamte  Theaterpublikum  selten 
so  herzhaft-lustig  gesehen,  niemals  so  unbändig-fröhlich 
und  durchaus  gesund  durch  alle  Ränge  des  Hauses  hin- 
durch —  ob  hoch,  ob  niedrig  —  lachen  hören  in  einer 
neueren,  Nach-Wagner'schen  Oper,  wie  dazumal  die 
Weimarer  Zuhörerschaft  bei  eben  jener,  von  uns  wieder- 
holt besuchten  Aufführung  des  „Faulen  Hans0.  Es  war 
die  lautere  Herzensfreude,  nicht  mehr  nur  ein  fremdes, 
oberflächliches  „Amüsement0  zu  nennen.  Denn  hier 
war  ganz  zwanglos  die  Bühne  wieder  einmal  zum  natio- 
nalen Feier- Tempel  geweiht,  das  natürliche  Unter- 
baltungsbedürfhis  des  Volkes  veredelt  und  geläutert,  im 
Anschauen  seines  besseren  Wesens  wie  seiner  reineren 
Kräfte.  Und  das  bleibt  hierbei  noch  überdies  das  Be- 
merkenswerte, dass  der  Humor,  das  gemütvoll  Witzige 
eigentlich  Ritters  vorzüglichste  Gabe  darstellte.  Hier 
entwickelt  er  eine  urwüchsige  Gestaltungskraft,  eine 
keck- realistische  Gegenständlichkeit  und  dann  wieder 
treuherzige  Gutmütigkeit,  die  um  so  angenehmer  her- 
vorstechen muss,  je  unverbrauchter  sie,  mit  dem  vollen 
Reize  des  Persönlichen,  sich  giebt  und  je  seltener  wir 
ihr  in  neuerer  Zeit  (den  von  Ritter  unter  dem  Pseu- 
donym „von  W.  Ehm0  noch  verfassten  Text  zur  „Theuer- 
dank"-Oper  L.  Thuille's,  III.  Akt  etwa  ausgenommen 
auf  dem  Gebiete  des  vornehmeren  Opern -Genre's  be- 
gegnen dürfen.  Ja,  man  könnte  geradezu  sagen,  dass 
sein  eigentlichster  Beruf  in  diesem  Sinne  gewesen  sei, 


Digitized  by  Google 


110 


Wagneriana.   Bd.  III 


so  eine  Art  Lortzing  der  „Wagner-Schule*  in  meliorem 
partem  noch  abzugeben,  würde  nicht  doch  die  ver- 
schieden geartete,  besondere  Stoffwelt  von  einer  solchen 
Analogie  sofort  auch  wieder  ablenken  müssen. 

Vollends  wieder  im  musikalischen  Teile  wird 
dieser  Vergleich  alsbald  zum  abscheulich  hinkenden ;  in 
diesem  Punkte  liegt  weit  eher  eine  gewisse  Geistes- 
verwandtschaft vor  mit  der  selbsteigen  fein-organisierten, 
nicht  direkt  Wagner'schen,  aber  auch  nicht  direkt 
Berlioz'schen,  und  doch  wieder  von  Beiden  ganz  er- 
sichtlich beeinflussten,  ja  sogar  wohl  stellenweise  mit  der 
letzteren  noch  mehr  durchtränkten  Schaffensweise  eines 
Peter  Cornelius.  Was  eben  diesen  musikalischen  Teil 
unserer  zwei  Opern  anlangt,  so  konnte  ich  mir  lange 
nicht  über  das  Verhältnis  beider  Werke  zu  einander  und 
darüber  klar  werden,  welchem  von  ihnen  nun  wirklich 
—  „die  Krone"  gebühre;  denn  sie  waren  beide  damals 
doch  einigermassen  neu  und  in  ihrem  Sonder-Melos 
„nicht  ganz  leicht  zu  behalten".  Immerhin  scheint  mir 
„Wem  die  Krone"  eigenartiger  und  selbständiger,  „Der 
faule  Hans"  wiederum  musikalisch  allgemeinverständ- 
licher und  leichter  zugänglich  zu  sein  —  ein  Eindruck, 
der  sich  namentlich  bei  späterem  nochmaligen  Hören 
der  beiden  Werke  an  derselben  Stelle  deutlich  noch 
befestigte  und  also  denjenigen  Kennern  —  im  Gegensatz 
zu  den  Fiasko's  in  Leipzig  und  Dresden  —  zuletzt 
doch  Recht  gab,  welche  gleich  zu  Anfang  ihres  Er- 
scheinens in  „Wem  die  Krone"  einen  künstlerischen, 
geistig- technischen  Fortschritt  des  „Komponisten" 
Ritter  bemerkt  zu  haben  vermeinten.  (Die  Weimarer 
Intendanz  freilich  hatte  in  diesem  Meinungsstreite, 
praktisch  schlichtend,  in  aller  Stille  ruhig  dahin  Stellung 
genommen,  dass  sie  „Wem  die  Krone",  das  spätere 
Opus,  einfach  voran  stellte;  sie  hat  sich  also  eine 
szenisch-dramatische  Steigerung  für  den  Abend  gemein- 


Digitized  by  Google 


Alexander  Ritters  Opern. 


111 


samer  Vorführung  von  diesem  wohl  nicht  erwartet, 
welche  sie  sich  sonst  doch  kaum  hätte  entgehen  lassen.) 
Ein  gewisser  Mehraufwand  an  musikalischem  Geist  und 
rein  technischer  Mache  dürfte  ja  bei  Alledem  für  „Wem 
die  Krone"  —  im  Verhältnis  zu  dem  „Faulen  Hans" 
besehen  —  noch  immer  gerne  zuzugeben  sein  (ich  erinnere 
z.  B.  nur  an  die  aus  dem  „Mitleidsmotiv*  gebildete 
Fuge  am  Schlüsse  des  interessanten  Vorspiels,  das 
—  nebenbei  bemerkt  —  bei  öfterem  Hören  durchaus 
gewinnt).  Und  eigentümlich  ist  hier  auch  noch  in 
Sonderheit  die  völlig  originelle  Behandlung  (Neu -Ver- 
wendung möchte  ich  es  eigentlich  schon  nennen!)  des 
„Chores",  der  als  Unisono -Erzähler  der  Handlungs- 
vorgeschichte zwangslos -frei  die  erste  Exposition  zu 
leisten  hat,  und  hierdurch  —  wie  sich  leicht  denken 
lässt  —  einen  völlig  neuen  Vortragsstil  für  sich  be- 
gründet, der  manch'  herben  Kritikerangriff  schon  zu 
erfahren  hatte,  aber  in  der  Herausarbeitung  seiner 
künstlerischen  Intentionen  denn  doch  des  „Schweisses 
der  Edlen"  nicht  so  ganz  unwert  erscheint.  Sollte  ich 
beide  Werke  in  Einem  zusammenfassend  zu  charak- 
terisieren haben,  mein  Urteil  vor  Allem  über  beider 
Instrumentalgewand  und  Ausdrucksweise  auf  eine  präg- 
nante, kurze  Formel  bringen  müssen,  so  würde  ich 
wahrscheinlich  sagen,  dass  sich  „Wem  die  Krone"  zum 
„Faulen  Hans"  —  cum  grano  salin  gesprochen  —  so 
etwa  wie  Berlioz  zu  Wagner  verhalte:  ein  Verhältnis, 
das  wir  ähnlich  ja  auch  schon  bei  Cornelius,  in  dem 
Unterschiede  zwischen  „Barbier  von  Bagdad"  und 
„Gunlöd",  genauer  beobachten  können.  Zum  Mindesten 
dürfte  diese  Parallele  bei  „Wem  die  Krone"  mit  Bezug 
auf  eine  gewisse,  leicht  befremdende  Sprödigkeit  der 
äusseren  musikalischen  Faktur  zutreffen ;  der  rein  sinn- 
liche Klangreiz  und  die  melodische  Eingänglichkeit  sind 
im  „Faulen  Hans",  der  im  Ganzen  auch  wohl  wärmer 


Digitized  by  Google 


112 


Wagneriana.    Bd.  III. 


auslädt,  ungleich  grösser.  Stellen  aber  wie  die  lange, 
Ausschlag  gebende  Erzählung  Heinrichs,  mit  ihrer  herr- 
lichen Schlussapostrophe,  auch  Ludwigs  markanter  Vor- 
trag von  den  Schlössern  und  Burgen  mit  ihrem  charakter- 
vollen Sprachakzente,  nicht  minder  Richildens,  ungeachtet 
seines  aparten  Refrains  doch  traut  und  anheimelnd- 
deutsch berührendes  Klagelied  auf  den  „Brautstand*, 
oder  aber  der  schöne,  weiche,  duftige  Monolog  Hansens 
zur  Nachtzeit  unter  der  Linde,  sowie  der  lebendig  be- 
wegte Mägdespott,  rechtfertigen  hier  wie  dort  das  günstige 
Urteil:  dass  man  es  da  mit  zwei  Schätzen  der  zeit- 
genössischen Opernlitteratur  zu  thun  hat,  auf  die  das 
schöne  Wort  Franz  Liszts  wieder  einmal  seine  voll- 
berechtigte Anwendung  findet:  „Ahnliches  habe  ich  wohl 
hin  und  wieder  gehört;  Besseres  nie!"  .  .  . 

Die  Weimarer  Aufführungen,  abermals  mit  einem 
Richard  Strauss  als  Dirigenten  an  der  Spitze,  so  streb- 
samen und  hoch  gebildeten  Sängern  wie  Heinrich  Zeller  und 
Hans  Giessen  als  Vertretern  der  beiden  männlichen  Haupt- 
rollen, Frau  Stavenhagen  als  drollig-anmutiger  Richildis, 
sowie  zudem  noch  ersten  Hofopernsängerinnen  in  den 
Nebenrollen  des  übermütigen  Mägde -Ensemble's  — 
nun,  es  lässt  sich  denken,  dass  bei  sothanem  Zusammen- 
wirken viel  „Stil",  Stil  bester,  vortrefflichster  Art,  heraus 
gekommen  ist.  Namentlich  dem  erstgenannten  techni- 
schen Leiter  des  Ganzen  gebührt  noch  heute  wärmster 
Dank  und  alle  Anerkennung  für  diese  Ruhmesthat  in 
erhöhtem  Grade:  ihm,  der  seine  künstlerischen  Genossen 
von  der  ersten  Probe  an  bis  zum  Schlüsse  keinen  Augen- 
blick darüber  im  Zweifel  Hess,  dass  es  hier  die  ausser- 
ordentliche Linie  eines  wahrhaftigen  „Festspieles"  ein- 
zuhalten gelte  und  um  die  Einholung  einer  längst  fälligen 
Ehrenschuld  gegenüber  dem  wahrlich  nicht  mehr  jungen 
Komponisten  ernstlichst  sich  handle.  „Wer  wird  Strauss 
nun  darin  nachfolgen?-  —  so  erhob  sich  damals  un- 


Digitized  by 


Alexander  Ritters  Opern. 


1 13 


willkürlich  auch  die  Frage.    Nun,  es  folgte  Leipzig  und 
schliesslich  auch  noch  Dresden  mit  »Wem  die  Krone?" 
Aber  nur  ganz  mechanisch  war  man  nachgefolgt  — 
nicht  nur,  dass  man  durch  stillose  Zusammenkoppelung 
dieser  Oper  mit  einem  völlig  heterogenen,  Stimmung 
raubenden  fremden  Wüste  ihr  den  Weg  zum  Verständ- 
nisse hoffnungslos  versperrt  hatte,  es  fehlte  auch  schon 
bei  ihrer  Darstellung  selbst  ganz  offenbar  die  „besondere" 
Sphäre,  Rahmen  und  Charakter  eben  jenes  „  Festspiel *- 
Momentes.  Bei  festlichen  Gedenkanlässen  und  feier- 
lichen Angelegenheiten  unserer  Nation  zumal  müssen 
diese  rein  poetisch  empfundenen,  wahrhaftigen  (nicht 
Pseudo-)  Kunstwerke,  abwechselnd  oder  zusammen  mit 
Wagners   „Meistersingern"    und    Kleists  .Hermanns- 
schlacht" oder  dem  .Prinzen  von  Homburg",  fleissig 
hervor  geholt  werden:  dann  werden  wir  uns  wohl  auch 
endlich    einmal    abgewöhnen,    einen    so  gewaltigen 
Germanenrecken  wie  z.  B.  den  Altreichskanzler  und 
Schmieder  des  Deutschen  Reiches,  statt  mit  Eiche,  mit 
Lorbeer  nur  immer  zu  umkränzen,  und  bei  einer  Kaiser 
Wilhelms-Feier  immer  so  gottverlassen  undeutsch  durch 
eine  Klio  oder  dergleichen  Musengewimmel  inmitten 
griechischer  Tempelhaine  von  einer  unserem  Wesen 
ganz  fremden  „Germania"  faseln,  statt  von  „Sieg- 
fried, dem  Drachentöter"  beredt  handeln  zu  lassen. 
Wahrlich,  „was  gut  und  ächt,  wüsst'"  in  unseren  Zeiten 
schon  bald  „Keiner  mehr,  lebt's  nicht  in  deutscher 
Meister  EhrM"  Alexander  Ritters  „Wem  die  Krone?" 
und  „Fauler  Hans"  müssen  erst  einmal  „deutsche  Fest- 
opern" werden  —  „dann  bannt  ihr  gute  Geister!" 


Seidl,  Wagneriint.    Bd.  III. 


8 


Hansel  und  Gretel 


Dichtung  von  Adelheid  Wette  geb.  Humperdinck;  Musik  von 

Engelbert  Humperdinck 

(1894/7) 

„Spät  kommt  ihr,  doch  ihr  kommt!"  Wenn  irgendwo» 
so  muss  dieses  Wort  hier  zutreffen.  Städte  zweiter  Güte 
und  dritter  Grösse:  wie  Karlsruhe,  Darmstadt,  Wiesbaden, 
Mannheim,  Regensburg,  Augsburg,  Nürnberg,  Dessau, 
Altenburg,  Strassburg,  Kiel  und  Braunschweig,  haben 
das  Werk  längst  aufgeführt,  ja,  ausser  dem  in  solchen 
Dingen  stets  nachtrottenden  Wien  ist  wohl  überhaupt 
keine  grössere  deutsche  Hauptstadt  mehr  vorhanden, 
in  der  das  reizend  muntere  Märchenspiel  zur  Zeit  noch 
unbekannt  geblieben  wäre  —  jetzt  endlich  kommt  auch 
Dresden  schon  an  die  Reihe.  (Mit  Schillings*  „Ing- 
welde"  wird  es  wohl  wieder  ganz  ähnlich  gehen!)  Es 
ist  manchmal  unter  sothanen  Erfahrungen  unmöglich, 
nicht  an  alte  Dinge  zu  erinnern.  So  muss  heute  an- 
gesichts der  —  wie  vorauszusehen  war  —  so  erfolg- 
reichen Erstaufführung  von  „Hansel  und  Gretel"  am 
K.  sächsischen  Hoftheater  festgestellt  werden,  dass  die 
Dresdner  ,  Deutsche  Wacht  •  es  war,  welche  nach  der  bedeut- 
samen Weimarer  Uraufführung  des  Werkes  unter  Richard 
Strauss  durch  ihren  dortigen  Korrespondenten  die  erste 
günstige  und,  was  mehr  heissen  will,  durchaus  richtige 
Meinung  über  das  Werk  verbreitet  und  somit,  als  eine  der 


Hansel  und  Gretel 


115 


allerersten  unter  den  deutschen  Zeitungen,  die  seitherige 
Bewegung  für  dieses  „Märchenspiel"  in  der  öffentlichen 
Meinung  eingeleitet  hat.  Seitdem  ist  so  viel  schon  über 
das  Aufsehen  erregende  Werk  in  Tagesblättern  und  Zeit- 
schriften geredet  bezw.  geschrieben  worden,  „dsss  uns 
zu  thun  fast  nichts  mehr  übrig  bleibt".  Man  kann  alles 
nur  immer  wieder  bestätigen  und  aufs  Neue  lediglich 
bekräftigen,  und  jedenfalls  haben  wir  heute,  nach  der 
wirksamen  Dresdner  Bühnendarstellung,  um  die  sich  alle 
Faktoren  gleich  sehr  verdient  gemacht  haben,  nicht  das 
Geringste  von  unserer  früheren  guten  Meinung  zurück- 
zunehmen. Der  Abend  hatte  überdies  durch  persönliche 
Anwesenheit  des  Komponisten  noch  seine  besondere 
Weihe  erhalten  —  wir  zählten,  nachdem  schon  der  erste 
Akt  durch  geschlagen  und  der  zweite  mehrmaligen  leb- 
haften Hervorruf  der  Darsteller,  des  Komponisten  und 
des  Maschinenmeisters  gezeitigt  hatte,  zum  Schlüsse 
nochmals  nicht  weniger  als  zehn  Hervorrufe.  .  .  . 

R.  Wagner  beschreibt  einmal  gar  launig  die  un- 
vergleichlichen Wirkungen  des  Weber'schen  „Frei- 
schützen" auf  das  damalige  Deutschland.  Mutatis  mu- 
tandis  wird  sich  das  damals  Gesagte  später  vielleicht 
auch  einmal  auf  das  Humperdinck'sche  Spiel  anwenden 
lassen.  Man  lese  gefälligst  nach:  Bd.  I  der  „Ges.  Sehr." 
S.  266  —  ob  sich  das  nicht  wohl  folgendermassen  um- 
schreiben Hesse:  „Und  in  derThat,  indem  er  das  heimische 
Volksmärchen  verherrlichte,  sicherte  sich  der  Künstler 
beispiellosen  Erfolg.  In  der  Bewunderung  der  Klänge 
dieses  reinen  und  tiefen  Märchenspieles  vereinigten  sich 
seine  Landsleute  vom  Norden  und  vom  Süden,  von  dem 
Anhänger  der  unerbittlichen  Dramen  Ibsens  bis  zu  den 
Wiener  Genussmenschen  einer  Strauss'schen  , Fleder- 
maus*. Es  lallte  der  Universitätsprofessor:  ,Ein  Männlein 
steht  im  Walde';  der  Polizeidirektor  wiederholte:  ,Merkt 
des  Himmels  Strafgericht:  böse  Werke  dauern  nicht!'; 


Digitized  by  Google 


116 


Wagneriana.    Bd.  III. 


während  der  Hoflakai  mit  heiserer  Stimme  ein  ,Suse, 
liebe  Suse,  was  raschelt  im  Stroh?*  sang;  ich  selbst  entsinne 
mich,  als  Kind  auf  einen  recht  diabolischen  Ausdruck 
in  Gebärde  und  Stimme  für  den  gehörig  schauerlichen 
Vortrag  des  ,Hocus  pocus  —  malus  locus*  studiert  zu 
haben,  und  die  kleine  Welt  spielte  mit  Vorliebe  »Kuckuck, 
Erbelschluck !'  Ja,  der  preussische  Grenadier  marschierte 
nach  ,Knusper,  knusper  Knäuschen,  wer  knuspert  mir 
am  Häuschen  ?'  .  . .  Von  Vollmar  rief  Bebel  im  Reichs- 
tage zu:  »Brüderchen,  komm'  tanz'  mit  mir!*  —  wäh- 
rend gleichzeitig  der  sozialdemokratische  Anhang  sein 
.Hunger  ist  der  beste  Koch'  dazu  johlte  und  dabei  wie 
Vater  Besenbinder — sich  gerne  betrank.  An  allen  Strassen- 
ecken  hörte  man  mit  einem  Male  den  Ruf  erschallen : 
, Kauft  Besen!  Gute  Fegerl'  Die  bösen  Antisemiten, 
die  davon  häufig  Gebrauch  machten,  fegten  damit  denn 
auch  kräftig:  »Griesgram  hinaus!'  —  wobei  sie  ein  nicht 
misszuverstehendes:  ,G  riesiges,  grämliches  Galgen- 
gesicht, packe  Dich,  trolle  Dich,  schäbiger  Wicht!'  im 
Chore  summten.  Graf  Caprivi  empfahl  sich  alsbald 
unter  den  Rhythmen  des  Besenrittes  auf  Nimmerwieder- 
sehen durch  den  Schornstein ;  Konservative  und  Zentrum 
beteten  derweil  in  streng-gläubiger  Haltung,  aber  wirt- 
schaftlicher Unthätigkeit :  ,Wo  die  Not  am  höchsten 
steigt,  Gottes  Hilf  die  Hand  mir  reicht!';  Eugen 
Richter  sang  noch  gähnend  sein  »Abends  will  ich 
schlafen  geh'n'  —  während  einige  Spottvögel  Herrn 
Rickert  »hänselten'  mit  einem  spöttischen :  ,Seht  mir 
doch  den  Heinrich  an,  wie  der  tanzen  lernen  kann!'  — 
und  das  ganze  deutsche  Volk  tanzte  darauf,  wie  von 
einem  bösen  Alp  befreit»  den  lustigen  Ringelreihen  der 
wieder  entzauberten  Kuchenkinder  unter  dem  christ- 
lichen »Abendsegen'  mit  »Glück  und  Gloria'.  Kurz,  die 
verschiedensten  Richtungen  des  politischen  Lebens  trafen 
hier  in  einem  gemeinsamen  Brenn-Punkte  zusammen: 


Digitized  by  Google 


Hansel  und  Gretel. 


117 


von  einem  Ende  Deutschlands  zum  andern  wurde 
,  Hansel  und  Gretel'  gehört,  gesungen  und  getanzt. u  — 

In  Wirklichkeit  dürfte  Humperdinck  mit  diesem 
Glückswurf  in  einer  ähnlichen  Stellung  etwa  zur  vorauf 
gegangenen  Wagner-Periode  sich  befinden,  wie  sie  seiner 
Zeit  C.  M.  v.  Weber  mit  seinem  „Schuss  in's  Schwarze14 
zur  unmittelbar  voraus  gehenden  grossen  Klassiker 
Epoche  eingenommen  hat;  und  in  der  That  ist  diese 
Parallele  (die  wir  damit  noch  keineswegs  bis  zu  dem  mehr 
hinkenden,  als  besonders  geschmackvollen  Vergleiche: 
„Preziosa"  —  „ Königskinder "  durchführen  möchten), 
wenn  anders  man  sie  erst  genauer  sich  ausdenkt,  eine 
geradezu  verblüffende.  Man  vergegenwärtige  sich  doch  nur 
folgende  Beziehungen:  I.  1791  „ Zauberflöte "  bis  1805 
„  Fidelio"  —  grosse  und  geniale,  echt  deutsche  Meisterwerke : 
darauf  1813  politisch  nationale  Wiedergeburt  des  deut- 
schen Volkes  und  Befreiung  vom  französischen  Joche; 
1815 — 1848  Reaktion  —  Italianismo,  Rossini-Kult ;  an  der 
Berliner  „Hofoper"  der  vom  Hofe  mit  seinen  Opern 
protegierte  Spontini  —  hier  schlägt  der  »Freischütz" 
ein!  II.  1855—68  „Tristan",  „Meistersinger",  „Nibe- 
lungen" —  erhaben  nationale  Genie-Schöpfungen ;  darauf 
1870/71  deutsche  Erhebung  und  politischer  Sieg  auf 
allen  Linien ;  seit  1875  Reaktion  —  Verismo,  Mascagnitis; 
an  der  Berliner  „Hofoper"  die  „Leoncavallerie"  mit 
„Roland  von  Berlin"  —  hier  schlägt  „Hänsel  und 
Gretel"  eint  Beide  Male  spähen  die  Leute  aus  und 
warten  immer  auf  eine,  der  nationalen  Wiedergeburt 
entsprechende,  deren  Konsequenzen  erst  noch  ziehende 
„deutsche  Kunst",  während  sie  schon  lange  unter  ihnen 
selbst  erstanden  ist,  in  den  erfrischenden  Tönen  des 
deutschen  Liedes  wie  einer  verjüngten,  unmittelbar  er- 
greifenden Volksmelodie!  .  .  . 

Aber  auch  rein  musikalisch  lässt  sich  immerhin 
sehr  wohl  verstehen,  warum  das  Werk  ein  so  breites 


Digitized  by  Google 


118 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Publikum  finden  konnte.  Dass  die  Kinder  ihre  Welt 
der  Phantasien  und  der  Träume,  des  Frohsinnes  und 
Tanzspieles  darin  wieder  finden  und  auch  die  Alten  mit 
den  Kindern  wieder  jung  werden,  ist  noch  lange  nicht 
das  Wesentliche  daran.  Das  Geheimnis  liegt  in  den 
Grundelementen  der  musikalischen  Faktur  und  der 
thematischen  Textur  des  Ganzen.  Die  kleinen,  har- 
monisch ganz  einfachen  und  leicht  eingänglichen,  an 
Kinder-  und  Volkslieder  wiederholt  deutlich  anklingenden 
Motive  —  das  sichert  die  melodiöse  Eindrucksfähigkeit 
auf  ein  grosses  Laienpublikum,  denn  darin  liegt  die 
durch  ihre  klare  Plastizität  gemeinverständliche,  zugleich 
wahrhaft  volkstümliche  Wirkung  dieser  Musik;  die  be- 
wundernswerte und  ein  tonkünstlerisch  hoch  entwickeltes 
(an  die  Meisterschaft  der  „  Meistersinger **  mehr  als  einmal 
gemahnendes)  Vermögen  klar  bekundende  polyphon- 
orchestrale Verwebung  eben  dieses  leichteren  Motiv- 
materiales  —  das  ist  es,  was  durch  unerschöpflichen 
Phantasiereichtum  und  eine  immer  wieder  frische, 
lebendige  Gestaltung  auch  den  Kenner  stets  von  Neuem 
interessieren  muss  und  selbst  ein  verwöhnteres  Urteil 
dauernd  zu  befriedigen  vermag.  Man  sagt  fast  immer 
(es  ist  geradezu  eine  stehende  Redensart  in  unseren 
zeitgenössischen  Opernreferaten  des  Durchschnitts- 
Urteiles  geworden):  „Der  Komponist  wandelt  natürlich 
die  Spuren  Wagners,  ohne  doch  seine  Selbständigkeit  auf- 
zugeben und  sich  dabei  in  blinder  Parteigängerschaft  zu 
verlieren.**  Das  ist  in  der  Regel  sehr  fehl  geschossen. 
Gerade  darin  nämlich,  dass  einer  zunächst  ganz  seine 
Eigenart  aufgiebt,  will  sagen:  je  tiefer  und  innerlicher 
sich  heute  ein  Opern-Komponist  in  das  Wagnerische  Ideal 
versenkt,  desto  mehr  wird  er  befähigt  werden,  einen 
besonderen  Weg  zu  finden;  einen,  den  Wagner  zwar  in 
seiner  künstlerischen  Gesamterscheinung  für  denjenigen, 
der  sich  ernster  mit  ihm  befasst  und  genauer  zusieht, 


Digitized  by  Google 


Hansel  und  Gretel. 


119 


gewiesen,  aber  doch  Kraft  seiner  individuellen  grossen 
Eigenart  noch  nicht  selber  beschritten  hat.  Auf  dem 
Wege  der  Wiedergeburt  des  deutschen  Urmythos,  wie  ihn 
Wagner  beschritten,  liegt  mit  unfehlbarer,  logisch  und 
psychologisch  geradewegs  zwingender  Notwendigkeit  als 
natürlichste  Folge  auch  die  Wiedergeburt  des  deutschen 
Märchens.  Auf  dieser  Linie,  nicht  aber  auf  der  des 
»kommandierten0  Roland  von  Berlin  (denn  —  um  mit 
Frau  Wette  hier  zu  reden  —  „was  nutzt  der  Kommandör, 
fehlt  euch  im  Topf  die  Zubehör?")  dürfte  sich  also 
zugleich  der  wahrhaftige,  sichere  Fortschritt  und  die 
organische  Entwicklung  des  deutschen  Musikdrama's 
überhaupt  bewegen.  So  fand  Engelbert  Humperdinck 
eben  seinen  Weg,  das  seinem  Wesen  und  seiner 
Natur  unmittelbar  Gemässe,  nur  als  treuer  Schüler  und 
überzeugungssicherer  Jünger  des  Bayreuther  Meisters; 
und  so  werden  diese  „Hänsel  und  Gretel"  in  der  That  — 
neben  Schillings  „Ingwelde"  oder  Strauss'  „Guntram"  — 
eines  der  sichersten  und  beredtesten  Zeugnisse  von  dem 
Vorhandensein  einer  kräftig  treibenden,  produktiv  wirk- 
samen „Wagner-Schule"  bleiben:  das  besteht  als  der  Kern- 
punkt ihrer  völlig  neuen  Erscheinung.  Zum  Wagner'schen 
„Musikdrama"  grossen  Stiles  nimmt  das  Humperdinck' - 
sehe  „Märchenspiel"  als  Ganzes  daher  auch  sehr  stilvoll 
genau  die  selbe  Stellung  ein,  wie  etwa  das  Märchen 
vom  Dornröschen  zum  Brünnhilden-Mythos.  Ich  kann 
wenigstens  nicht  finden,  dass  —  wie  man  wohl  gesagt 
hat  —  die  Musik  im  Gegensatz  zu  ihrem  Stoffe  sich  allzu 
anspruchsvoll,  unangemessen  in's  Grossartige  strebend, 
gebärde.  Nur  bei  dem  den  Hexenritt  charakterisierenden 
Vorspiele  zum  II.  Akt  wollte  mir  vorübergehend  ein 
allzu  hoch  trabender  Anklang  (wie  an  den  „Walküren- 
Ritt")  den  Eindruck  des  „Schiessens  nach  Spatzen  mit 
Kanonenkugeln"  gelegentlich  erwecken,  wogegen  mir 
gerade  die  Trompeten-  und  Posaunenfüllungen  der  Engels« 


Digitized  by  Google 


120 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Pantomime,  die  ich  gelegentlich  ihrer  rein  musikalischen 
ersten  Wiedergabe  (durch  Siegfried  Wagner  1893  zu 
Leipzig)  noch  als  inkongruent  bezeichnen  zu  sollen  glaubte, 
jetzt,  bei  szenischer  Ausführung,  gerade  als  das  ent- 
sprechend Feierliche  und  Erhabene  erschienen.  Im 
Gegenteil,  weit  eher  durfte  man  seine  helle,  kindische 
Freude  haben  an  dem  skrupellos  frischen  Zugreifen  des 
Komponisten  und  dem  gesunden  Vermeiden  jeder  „qual- 
vollen Wahl"  selbst  bei  den  einfachsten,  simpelsten 
Motiven,  die  samt  und  sonders  in  diesem  Werke  ein 
Landen  bei  der  Natur  nach  der  vielfach  seelenkranken 
„Tristan"-Harmonik  unserer  Wagner-Epigonen  bedeuten. 
Namentlich  der  häufige,  beherzt-kräftige  Auftakt  aus  der 
Quarte  nach  oben  charakterisiert  den  bejahenden  Kinder- 
frohsinn bei  unserem  Tonmeister  in  anschaulichster 
Weise,  und  ebenso  erfrischend  wirkt  es,  seine  Musik 
(bei  sonst  durchaus  korrekter  deutscher  Deklamation)  ohne 
viel  Federlesens  für  ihren  Stoff  eben  lustig  wieder  Wort- 
wiederholungen anwenden  und  in  „Duette"  unbedenklich 
einmünden  zu  sehen.  Man  vergleiche  zudem  das  reizende 
Tanzliedchen  „Mit  den  Füsschen  tapp,  tapp,  tapp"  etc. 
mit  dem  Mascagni'schen  Fuhrknechtslied:  „Meine  Rösslein 
eilen  schnell"  —  sprachlich,  dichterisch  und  musikalisch  1 
—  und  man  wird  den  Unterschied  zwischen  dieser  und 
jener  Kunst  hoffentlich  sehr  bald  begreifen.  Das, 
dieses  tanzend  anmutige  „Alles  geht  am  Schnürchen", 
war's  ja  eben  just  auch,  was  schon  vordem  an  Smetana  so 
sehr  entzückt  und  geradezu  wie  Erquickung  berührt  hatte. 

Freilich,  das  lässt  sich  auch  zugleich  hier  sagen: 
Das  Werk  hätte  heute  noch  nicht  die  Runde  auf  unseren 
deutschen  Bühnen  gemacht,  wenn  nicht  einige  nähere 
Freunde  seines  Schöpfers,  die  an  seinen  Stern  fest 
glaubten,  sich  seiner  mit  Erstaufführungen  angenommen 
hätten.  So  aHein  nur  kamen  die  einschlagenden  Auf- 
fuhrungen von  Weimar,  München  und  Karlsruhe  zunächst 


Digitized  by  Google 


Hänsel  und  Grete!. 


121 


zu  Stande;  ohne  sie  würde  die  Partitur  wohl  noch  heute, 
ungelesen  oder  mit  höflich  dankender  Ablehnung  zurück- 
geschickt, im  Staube  der  Vergessenheit  schlummern. 
Denn,  Hand  auf's  Herz:  Welcher  von  unseren  modernen 
Dirigenten  und  blasierten  Intendanzräten  getraute  sich, 
von  sich  selber  zu  beschwören,  dass  er  die  Partitur,  ohne 
jenen  äusseren  Erfolg  als  ermutigenden  Vorgänger,  auf- 
merksam durchgesehen  und  sich  ihrer  nach  den  toten 
Schriftzeichen  allein  wohl  schon  angenommen  hätte? 
„Er  trete  vor!"  Das  Wahrscheinlichere  wird  ganz  gewiss 
dies  sein,  dass  er  das  Buch  schon  beim  dritten  oder 
vierten  „Trallerallala"  oder  „ Hopsasa"  mit  einem  ent- 
rüsteten „Elende  Kinderei!  Und  so  etwas  wagt  man 
heutzutage  einer  Hofbühne  einzusenden!"  auf  Nimmer- 
wiederlesen  zugeklappt  hätte.  Ein  Heil!  aber  dem  Lande 
und  dem  Volke,  bei  dem  derartige  tiefe  Kindereien 
doch  noch  „heimisch"  sind!  Und  darum  möchten  wir 
unserseits  an  dieserStelle  ausdrücklich  nicht  unterlassen, 
Herrn  Hofrat  S  c  h  u  c  h  mit  Bezug  auf  die  Temponahme 
dieses  Werkes  das  bekannte,  ernste  und  gewichtige 
Wort  zuzurufen:  „Es  sei  denn,  ihr  werdet  wie  die 
Kinder,  so  könnet  ihr  in's  Himmelreich  nicht  ein- 
gehen!" „Hänsel  und  Gretel"  sind  halt  doch  kein, 
„FalstaPf"  —  noch  mehr  „Ausatmen",  weniger  „Hätz" 
wird  also  entschieden  angebracht  sein.  Also  nicht  etwa 
eine  „geschlagene"  Viertelstunde  früher  nach  Hause 
kommen  wollen,  wenn  ich  höflichst  bitten  darf!  So 
etwas,  wie  ein  „deutscher  Abendsegen'*,  muss  nun  einmal 
Atem  haben,  und  die  Welt  eines  sinnigen  Kindertraums 
will  sich  eben  hübsch  ausleben. 

Das  erste  und  wichtigste  Ergebnis  des  so  eigen- 
artigen Werkchens  für  den  heutigen  Stand  unserer 
Kultur  ist  vor  Allem  dies,  dass  der  deutsche  (Brüder 
Grimm'sche)  „Märchen-  und  Hausschatz"  —  entgegen 
einer  von  Berlin  aus  versuchten  öden„  Versittlichung"  dieses 


Digitized  by  Google 


122 


Wagneriana.    Bd.  III. 


köstlichen  Volksgutes  —  damit  gerade  zur  rechten  Zeit 
wieder  zu  seinen  vollen  Ehren  gekommen  ist.  Viel- 
leicht Hesse  sich  noch  mancher  Einzelschatz  aus  ihm  heben, 
gar  manche  Perle  aus  ihm  noch  fassen,  wenn  nur  das 
rechte  Kinder -Gemüt  auch  sich  seiner  bemächtigte. 
Allerdings  ist  es  hier  bei  der  Umformung  in  ein  dra- 
matisches Märchenspiel  nicht  ohne  mancherlei,  meist 
auf  den  Unterschied  des  Dramatischen  und  Epischen 
zurück  zu  führende,  Abweichungen  hergegangen,  und 
die,  einen  ziemlich  breiten  Raum  einnehmende,  Drama- 
tisierung der  Hexenszene  scheint  dadurch  sogar  —  nach 
der  übereinstimmenden  Empfindung  aller  bisherigen  Be- 
urteiler —  zur  Achillesferse  des  Werkes  leider  geworden 
zu  sein.  Dass  Dichter  und  Komponist  im  Gegensatze  zum 
Schrecklichen  und  Gruseligen  im  Märchen  dieser  Figur 
hier  einen  burlesken  Charakter  aufgeprägt  haben,  findet 
vielleicht  seine  Rechtfertigung  in  jenem  Optimismus, 
der  durch  alle  Märchen,  auch  ihre  handelnden  Gestalten 
in  keinem  Augenblick  verlassend,  geht:  dass  das  Gute 
zuletzt  doch  siegen,  das  Licht  die  Nacht  durchdringen 
und  der  gesunde  Witz  aus  der  Schlappe  schon  wieder 
heraus  helfen  werde.  Dass  ferner  auf  das  Besenreiten 
besonderer  Nachdruck  gelegt  wird,  hat  ersichtlich  tiefere 
poetische  Bedeutung  und  ja  wohl  einen  beabsichtigten 
inneren  Zusammenhang  damit,  dass  es  gerade  Besen- 
binders-Kinder  sind,  denen  dergleichen  begegnet.  Aber 
doch  ist  etwas  Ungewohntes,  zu  Breites  und  behaglich 
Ausmalendes,  sozusagen  Selbstgefälliges,  in  der  dra- 
matischen Ausführung  zurück  geblieben,  das  sich  weder 
der  Erwachsene  noch  das  Kind  so  ganz  assimilieren 
kann.  Dafür  aber  hat  das  dramatische  Spiel  nun  wieder 
etwas  Bedeutsames  als  idealen  Mittelpunkt,  das  man  im 
Märchen  selbst  vergeblich  suchen  würde,  das  aber  so 
sehr  doch  wieder  aus  dem  Geiste  dieses  Märchens 
heraus  innig  empfunden  und  sinnvoll  nachgedichtet  ist. 


Digitized  by 


Hänse)  und  Gretel 


123 


dass  man  sich  nur  wundern  muss,  wie  noch  niemand 
bisher  auf  dergleichen  hat  kommen  können:  ich  meine 
den  ganz  unvergleichlich  herrlichen  „Abendsegen"  mit  den 
vierzehn  Engeln.  Der  ganze  Zauber  deutscher,  tiefinnerer 
Gemütswelt  kommt  über  uns,  wenn  wir  die  beiden 
Kleinen  die  Worte  sagen  hören:  „Sandmännlein  war  da! 
Lass'  uns  den  Abendsegen  beten!"  Gott  sei  Lob  und 
Dank,  endlich  —  nach  langer  Irrfahrt  und  Wirrsal  wieder 
einmal  ein  Werk,  in  dem  dasjenige,  was  wir  mit  Stolz 
die  Ideale  christlich-deutscher  Nation  nennen  dürfen, 
zum  Ausdruck  und  Bekenntnis  kommt!  Ein  ganzes 
Schock  italienischer  Verismo-Opern  wiegt  uns  diese 
Thatsache  ja  allein  schon  auf. 

Uber  die  vortreffliche  Aufführung  im  Besonderen 
nur  ganz  Weniges.  Szenisch  Hesse  sich  wohl  ausstellen, 
dass  das  Lebkuchenhaus  nicht  gleich  zu  Anfang  im  3.  Bilde 
schon  von  ferne  sichtbar  und  dass  es  nicht  lieber  nach 
echt  Nürnberger  Lebkuchen-Art  dunkelbraun  angestrichen 
war,  was  wahrscheinlich  einen  glaubwürdigeren  Eindruck 
gemacht  hätte.  Auch  bezüglich  des  Arrangements  der 
Himmelsleiter  gingen  die  Meinungen  der  Kenner,  welche 
das  Werk  anderen  Ortes  schon  gesehen  hatten,  arg  aus- 
einander. Die  Einen  wünschten  (nach  Weimarer 
Muster)  Lilien  für  sämtliche  Engel  und  die  Verwandlung 
in  eine  völlig  exotische  Blumen-Umgebung;  Andere 
wieder,  welche  eben  von  Dessau  kamen,  wo  Frau 
Wagner  unlängst  bekanntlich  höchsteigen  die  Inszenierung 
geleitet  hatte:  altertümliche  Musikinstrumente  für  die 
Engelschar,  wie  sie  Hans  Thoma  auf  dem  Titelblatte 
des  Klav.- Auszuges  abgebildet  hat,  und  eine  Anordnung 
mehr  nach  altniederländischen  Meisterbildern.  Ich  habe 
nun  keine  dieser  beiden  Darstellungen  bisher  gesehen, 
könnte  aber  auch  nicht  eben  sagen,  dass  mir  —  nachdem 
ich  nur  erst  einmal  den  entschiedenen  Eindruck  ge- 
wonnen hatte,  dass  hier  nicht  „Ballett  getanzt",  sondern 


Digitized  by  Google 


124 


Wagneriana.    Bd.  III 


„Pantomime  aufgeführt"  werde  —  etwas  Bedeutsames 
abgegangen  wäre,  oder  irgend  etwas  an  der  Dresdner 
Wiedergabe  ernstlich  mich  gestört  hätte.  Im  Gegenteil, 
ich  fand  sogar,  dass  man  auch  da  von  Bayreuth  ganz, 
im  Allgemeinen  mittlerweile  doch  recht  viel  gelernt  hat. 
Ob  aber  für  die  Charakteristik  der  Hexen szenen  nicht 
doch  die  Dessauer  Regie-Anweisungen  Frau  Wagners 
von  Nutzen  wären  und  die  Absicht  der  beiden  Autoren 
noch  klarer  heraus  stellen  könnten,  obwohl  sich  gegen 
sie  manche  kritische  Stimme  der  Presswelt  wieder  so 
heftig  spreizt,  als  ob  damit  ein  kapitales  Verbrechen 
begangen  wäre  —  das  ist  doch  noch  gar  sehr  die  Frage. 
Allein  nicht  diese,  sondern  eine  Frage  an  die  Autoren 
selber  drängt  sich  mir  hierbei  ganz  unwillkürlich 
noch  auf.  In  dem  Grimmischen  Märchen,  das  dem 
Drama  zu  Grunde  liegt,  heisst  es  nämlich  so  lustig  am 
Ende:  »Die  Geschichte  habe  ich  von  einer  kleinen  Maus, 
und  wer  sie  fängt,  darf  sich  eine  grosse,  grosse  Pelz- 
kappe daraus  machen  !a  Warum  wohl  haben  die  Ver- 
fasser dieses  reizende  Motivchen  nicht  ihrerseits  noch 
ausgebeutet  und  dem  sinnigen  Spiele  nicht  einen  anderen, 
in  Sächsischer  Manier  derartig  epilogisiererden,  treu- 
herzigen Abschluss  gegeben?  Das  wäre  fürwahr  ein 
drolliges  Ende,  in  seiner  Art  ebenso  urdeutsch  em- 
pfunden, durchaus  nur  im  Stile  des  »Märchens*  gehalten 
und  zumal  seit  dem  Hans  Sachs -Jubiläum,  Holger 
Drachmanns  »Es  war  einmal u  oder  selbst  dem  „Bajazzos- 
Ausgang  sogar  höchst  „zeitgemäss"  gewesen  —  mit 
wenig  Worten  hätte  es  den  ganzen  Opernaufwand  und 
Theaterzauber  zuletzt  rasch  wieder  ausdrücklichst  in 
ein  luftig  Märchengespinst  vor  der  lebendigen  Kinder- 
phantasie nun  aufgelöst!  — 

Ich  komme  zum  Schlüsse.  Es  war  im  Sommer  1890, 
als  ich  mit  Eng.  Humperdinck  zufällig  in  Weimar  zu- 
sammen traf  und  mit  ihm  der  Erstaufführung  des  von 


Digitized  by  Google 


Hinsel  und  Gretel.  125 

ihm  so  reizvoll  bearbeiteten  „Ehernen  Pferdes"  von 
Auber  anwohnte,  über  welche  ich  an  ein  Wiener  Fach- 
blatt damals  zu  berichten  hatte.  Tags  darauf  fuhren 
wir  noch  eine  Strecke  zusammen  auf  der  Thüringer 
Eisenbahn,  und  hier  war  es,  wo  er  —  mich  mit  Nach- 
druck auf  das  Büchlein  aufmerksam  machend  —  den 
bei  Reclam  eben  erschienenen  „Rückblick  auf  das  Jahr 
2000"  aus  der  Tasche  zog.  Damals  war  er  noch  nicht 
der  viel  gepriesene  Schöpfer  von  „Hinsel  und  Gretel". 
Aber  heute:  Humperdincks  „Märchenspiel"  und  Bei- 
lamy's  „Zukunftsstaat"  —  sollte  Meister  Humperdinck 
nicht  doch  das  bessere  Teil  ergriffen  haben? 


Und  wieder,  nach  mehreren  Jahren,  sah  und  hörte 
ich  das  reizvolle,  allerliebste  „Märchenspiel".  Freilich, 
zu  Anfang  sass  ich  da  in  meinem  Fauteuil  mit  der  ent- 
schiedensten Empfindung,  dass  die  Vorführung  des 
Werkes,  wie  anderwärts,  auch  hier  zu  Lande,  doch  schon 
ziemlich  herunter  gekommen  sei;  und  ich  konnte  mich 
des  Eindruckes  nicht  ganz  erwehren,  dass  die  dramatische 
Deutlichkeit,  statt  mit  der  Zeit  besser  zu  werden,  durch 
das  viele  Abspielen  der  Oper  zum  Mindesten  nicht 
gewonnen  habe.  Aber  schon  gar  bald  war  dieses  Gefühl 
doch  wieder  überwunden,  und  das  Ganze  übte  seinen 
alten,  intensiven  Zauber,  just  wie  ehedem,  wiederum 
auf  mich  aus.  Je  tiefer  wir  mit  den  Kindern  in  den 
Wald  der  Romantik  und  des  Märchenspukes  eindrangen, 
desto  stärker  war  die  bekannte,  heimlich  -  vertraute 
Wirkung  auf  Phantasie  und  Gemüt  auch  an  uns  zu  er- 
proben. Und  als  dann  vollends  hinter  der  alten,  häss- 
lichen  Waldhexe  die  schwere  Ofenklappe  zufiel,  da 
fühlten  Manche  wohl  mit  uns,  dass  hier  sogar  eine  künst- 
lerische Aufgabe  —  gelöst  war,  die  wir  im  Hinblick 
auf  ihre  scheinbar  widerstrebende  Unausführbarkeit  als 
eine  Art  von  Ober-  und  Missgriff  des  Geschmackes  — 


Digitized  by  Google 


126 


Wagneriana.    Bd.  III 


gestehen  wir  es  nur  ganz  offen!  —  Meister  Humpes- 
dinck  im  Grunde  unseres  Herzens  von  Anbeginn  an 
doch  immer  so  einigermassen  verübelt  hatten.  Und 
das  Zauberwort?  Frl.  Charlotte  Huhn  als  „Waldhexe«! 

Schon  ihr  erstes  Auftreten  (nach  der  Verwandlung 
im  3.  Akte)  erregte  durch  das  charakteristisch  ver- 
wegene Kostüm  und  die  vorzügliche  Maske  die  all- 
gemeinste Sensation  im  Zuschauerraum  —  und  je  weiter 
nun  die  Handlung  Fortschritt,  desto  mächtiger  wurde 
man  auch  in  den  dämonischen  Bannkreis  dieser  über- 
ragend-individuellen Gestaltung  mit  hinein  gezogen. 
Das  war  selbst  für  die  „Alten"  stellenweise  so  recht 
zum  Gruseln  —  ganz  und  gar  nicht  mehr  nur  die 
„Burleske'4,  und  es  ging  hier  ganz  ebenso,  wie  mit  der 
Mime -Verkörperung  im  Wagnerischen  „Siegfried"  es 
von  jeher  gegangen:  so  lange  das  Hässliche  vom  Dar- 
steller nicht  beherzt  bis  zum  äussersten  Punkte  verfolgt 
und  energisch  als  solches  mit  dem  „Wagner"  auch 
gewagt  wird,  kann  eine  glaubwürdige  Leistung,  eine 
kongeniale  Wahrnehmung  der  Intentionen  des  Dichters 
und  Komponisten  nicht  gut  erzielt  werden.  Die  meisten 
Vertreterinnen  dieses  scheinbar  so  undankbaren  Faches 
fassen  die  betreffende  Partie  entweder  mehr  unter 
„Selbstverleugnung",  allzu  zimperlich  an,  oder  gerade- 
wegs läppisch  nach  der  ausschliesslich  komischen  Seite 
hin  auf;  oder  aber,  wenn  sie  schon  mutig  in's  Hässliche 
herein  gehen,  dann  versäumen  sie  so  leicht  noch  das 
geniale  —  ich  möchte  fast  sagen:  dionysisch-diabolische 
Element  an  jener  so  heiklen  Rolle.  Hielt  nun  freilich 
mit  solcher  durchgreifenden  Schärfe  der  mimischen 
Charakteristik  hier  leider  nicht  völlig  gleichen  Schritt 
auch  der  gesangliche  Teil  (der  überhaupt  im  vorliegenden 
Fall  der  Stimmlage  erhebliche,  schon  mehr  physische 
als  rein  technische  Schwierigkeiten  zu  bereiten  schien), 
so  blieb  das  Ganze  in  seinem  durchaus  „persönlichen"- 


Digitized  by  Google 


Hänsel  und  Gretel. 


127 


Impuls  und  der  bewundernswürdig  realistischen  Aus- 
feilung jener  „unheimlichen"  Figur  in  echt  künstlerischem 
Geiste  doch  so  entschieden  überzeugend,  dass  der 
Schöpfer  des  Werkes  selbst  wohl  sehr  zufrieden  zu 
solcher  verständnisvollen  und  hinreissenden  Wiedergabe 
seinen  Beifall  genickt  hätte.  Ja,  der  groteske,  tolle 
Besenritt  hat  wohl  noch  nie  diese  packende  Stimmung 
der  Hexenmusik  gehabt  und  wohl  kaum  schon  anderswo 
auf  offener  Szene  solch'  spontanen  Applaus,  wie  diesmal, 
davon  getragen.  „Dem  Verdienste  seine  Kronen"  — 
zumal,  wenn  es  sich,  wie  hier,  auch  noch  selbstlos  in 
den  Dienst  kollegialen  Gemeinsinnes  gestellt  hat  und  von 
ihm  die  Goethe'sche  Forderung  als  erfüllt  gelten  darf: 
„Edel  sei  der  Mensch,  hilfreich  und  gut!"*)  Wer  daran 
bis  heute  noch  gezweifelt  haben  sollte,  dass  sich  die 
Dresdner  Hofbühne  in  der  Künstlerin  und  Sängerin 
Charlotte  Huhn  eine  durch  und  durch  vornehm  denkende 
Natur  von  hochherziger  Gesinnung  gewonnen  hat,  dem 
mussten  hierbei,  oder  vielmehr  schon  bei  der  ersten 
Nachricht  von  ihrer  bereitwilligen  Übernahme  der  Rolle,, 
diese  Zweifel  schwinden.  Desto  schnöder  also,  wenn 
dieses  lady-like  Verhalten  dem  wahrlich  nicht  un- 
verdienten „Hoftheatersingechor"  trotzdem  noch  — 
sieben  leere  Parquetreihen  und  eine  Anzahl  recht  be- 
denklich hohler  Logen  eingetragen  hatte!  Wie  kann  man 
aber  auch  solche  Benefizvorstellungen  in  die  Sommers-,, 
statt  in  die  Weihnachtszeit  verweisen?!  .  .  . 

„Dem  Verdienste  seine  Kronen!"  Auch  Engelbert 
Humperdinck  kann  der  Lorbeerkranz  für  dieses 
herrliche  Meisterwerk  an  Melodieenfülle,  gemütvoller 
Herzlichkeit  und  harmonisch  -  ästhetischer  Abrundung 

*)  „Zum  Besten  des  Pensionsfonds  für  die  Mitglieder  des 
Hof theater-S i ngechors*  mit  Frl.  Charlotte  Huhn  zum 
ersten  Male  als  „Knusperhexe*  ...  so  stand  an  jenem  Abend 
auf  dem  Theaterzettel  zu  lesen. 


Digitized  by  Google 


128 


Wagnerian*.    Bd.  III. 


(ich  erinnere  nur  daran,  wie  der  grosse,  unvergesslich 
schöne  „Abendsegen"  das  Ganze  bedeutsam  einleitet, 
in  der  Mitte  sich  ausbreitet  und  zum  Schlüsse  wieder 
bekräftigend  ausklingt)  nicht  oft  genug  auf's  anspruchs- 
los-bescheidene Haupt  gedrückt  werden.  Eben  dieses 
prachtige  und  ganz  unvergleichliche  Motiv  (des  „Abend- 
segens") ist  und  bleibt  eine  geradezu  köstliche  Eingebung 
—  mag  der  Komponist  sich  sonst  auch  mitunter  in  seiner 
musikalischen  Ausdrucksform  an  andere  Vorbilder  an- 
gelehnt haben.  Und  es  ist  immer  wieder  ein  besonderer, 
reicher  „Segen"  ganz  für  sich,  dass  dieses  ideale, 
klassische  Werk  in  unserer  Zeit  geschrieben,  unserem 
deutschen  Volke  geschenkt  wurde.  Seien  die  Einwürfe 
ob  der  stellenweise  wohl  etwas  unkindlich-massigen 
Polyphonie  und  der  mitunter  schon  ganz  hoch  gehenden 
Wogen  der  Chromatik  mit  ihrer,  die  Singstimme  oft  zu- 
deckenden, modernen  Instrumentation  —  seien  sie  auch 
für  da  und  dort  berechtigt,  sie  sind  doch  alle  nachgerade 
schon  trivial  und  abgethan;  selbst  wenn  man  sie  un- 
bedingt rückhaltlos  teilen  wollte,  man  könnte  Humper- 
dinck  darob,  angesichts  solch'  hoher  Verdienste  wie 
z.  B.  des  oben  gemeinten,  gewiss  nicht  ernstlich  gram 
mehr  werden.  Was  sein  Werk  immerdar  so  unendlich 
liebenswürdig  und  —  ja,  hier  ist  das  Wort  ganz  an 
seinem  Platze!  —  so  unsäglich  deutsch  im  engsten, 
trautesten  Heimatssinne  macht,  es  ist  die  ergreifende 
Thatsache:  dass  es  aus  dem  Hausgeiste  der  deutschen  . 
Familie  —  wie  der  „Abendsegen"  aus  spezifisch  evan- 
gelischer Religionsübung  —  organisch  heraus  gewachsen 
ist,  und  dass  endlich  wieder  einmal  Einer  den  Mut 
gehabt  hat,  diese  kindliche  Volksseele  selber  zum  Reden, 
germanisches  Wesen  unverfälscht  zu  reinem  Erklingen, 
Leid  und  Freud  aus  seinem  eigenen  trauten  „Puppen- 
heim" in  poetischer  Verklärung  zu  wahrem,  teils  kernig 
heiterem,  teils  wahrhaft  innigem  Ausdrucke  zu  bringen. 


Digitized  by  Google 


Hansel  und  Gretel. 


129 


Wahrlich,  gegenüber  diesem  reizvollen  „Märchenspiel" 
von  „Hansel  und  Gretel"  bedeutet  eine  Ballettfarce  wie 
der  neueste  Heuberger-Leon'sche  „Struwelpeter"  genau 
dieselbe  undeutsche  Karikatur,  wie  sich  schon  ehedem  der 
Goldmark'sche  „Merlin"  als  missverstandenes  Zerrbild 
des  Wagner'schen  „Parsifal"  unserem  unbestechlichen 
Empfinden  dargestellt  hatte.  Wie  hier  dem  „reinen 
Thoren"  und  göttlichen  Erlöser  der  „Teufelssohn"  als 
Zauberer  gegenüber  stand,  so  tritt  dort,  beim  „Struwel- 
peter*', absurder  Höllenspuk  und  burlesker  Satans- 
spektakel dem  idealen  Engelreich  und  seiner  hellen, 
azurblauen  Himmelssphäre  (in  „Hansel  und  Gretel") 
albern  genug  entgegen.  Und  nun  gar  erst  vom  „Heimchen 
am  Herd"  eines  Goldmark  nicht  zu  reden! 

Auch  das  ist  wohl  noch  als  ein  ganz  einzigartiger 
Vorzug  an  unserer  Humperdinck-Wette'schen  Schöpfung 
zu  rühmen,  und  es  bedeutet  sogar  die  bemerkenswerte 
Wiedergewinnung  einer  Kultur-Einheit  und  Seelen- 
harmonie menschlichen  Grund wesens :  Eltern  wie  Kinder, 
alle  unblasierten  Altersstufen  ohne  Ausnahme,  erfreuen 
und  erheben  sich  gleicher  Weise  und  zu  gleicher  Zeit 
an  dem  schönen  Wunderwerke  und  strömen,  im  gleichen, 
herzlichen  Gefühle  einer  phantasievollen  Anteilnahme, 
froh  in  hellen  Scharen  heute  zu  ihm  herbei.  Ein  echtes 
„Singespiel",  zwingt  es  durch  (Rede)  Gesang,  Darstellung 
undTanz — vom  einfachen  Volks-Tanzliede  bis  zur  grossen, 
ausgedehnten  „Pantomime"  —  wie  in  den  Urzeiten  des 
Menschenseins,  da  der  Kulturträger  noch  kein  in  seiner 
Totalität,  will  sagen  in  seinem  organischen  Naturkern, 
gespaltenes  Wesen  war,  diesen  zu  einer  zwanglosen,  von 
Herzen  einfältigen  Einheit  wieder  zusammen.  Solche 
Dreiheit  aber,  von  Fühlen,  Denken  und  Handeln:  sie 
ergiebt  erst  den  ganzen,  vollen,  wahren,  gesunden  und  auch 
—  glücklichen  Menschen.  Das  vor  Allem  wollten  wir  hier 

gesagt  haben.   

Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  9 


Digitized  by  Google 


Der  Evangelimann 

„Musikalisches  Schauspiel"  in  zwei  Abteilungen  und  drei  Auf- 
zügen; Dichtung  und  Musik  von  Wilhelm  Kienzl. 

(1896) 

„Selig  sind,  die  Verfolgung  leiden 
Um  der  Gerechtigkeit  willen, 
Denn  ihrer  ist  das  Himmelreich!4* 

—  diese  Verse,  aus  dem  die  „Mode"  wieder  „bindenden", 
idealen  Geiste  der  Musik  heraus  an  die  christliche 
„Menschheit"  gerichtet:  könnten  sie  nicht  eine  gar  ein- 
dringliche, bedeutsame  Mahnung  sein  in  einer  Zeit,  da 
es  zur  Anschauung  massgebender  Kreise,  ja,  zum  guten 
Tone  sogar  gehört,  seinen  Widersacher  im  Zweikampfe 
gelegentlich  nach  einem  Ehrenkodex  niederzuschiessen, 
welcher  an  grauer  Mittelalterlichkeit  den  dunklen  Hexen- 
prozessen und  alten  Inquisitionstorturen  nichts  nach- 
zugeben scheint?  Wie  man  sich  im  Besonderen  zu 
einem  solchen  Rufe  stellen  wird,  das  wird  zuletzt  ja 
immer  auf  den  „persönlichen"  Standpunkt  eines  jeden 
Einzelnen  und  den  subjektiven  Glauben  an  die  ehrliche 
Meinung  des  Rufers  ankommen  müssen;  ob  man  die 
Mahnung  hören  oder  als  Stimme  eines  „Predigers  in  der 
Wüste"  fruchtlos  verhallen  lassen  will,  stets  davon  ab- 
hängen, ob  man  die  zweite  Abteilung  dieses  merk- 
würdigen „musikalischen  Schauspiels"  in  solchem  Sinne 


Digitized  by  Google 


Der  Evangelimann. 


131 


auffassen  mag  oder  aber  von  vornherein  der  Ansicht 
ist,  dass  heut  zu  Tage  mit  dem  Christentum  etwas  zu 
sehr  spazieren  gegangen  und  zu  wenig  innerlich  mit 
seiner  gemütsbildenden,  die  Sitten  reinigenden  und  den 
Geist  zum  Ideal  erziehenden  Kraft  sich  befasst  wird. 
Ist  doch  schliesslich  auch  nicht  zu  verkennen,  dass  auf 
dem  Acker  der  Wagnerianischen  Kulturbebauung  nach- 
gerade die  Zahl  der  Komponisten  Legion  geworden  ist, 
die  als  „Erlösungs"-Dramatiker  nicht  nur  das  Erlösungs- 
motiv, aus  dem  natürlichen  Bedürfnisse  nach  Neuem,  zu 
den  unmöglichsten  Varianten  schon  zugespitzt  haben, 
sondern  auch  ihr  dramaturgisches  Vermögen  zur  ver- 
söhnenden „Lösung"  eines  Handlungskonflikts  häufig 
mit  dem  .  billigen  Schusterfleck  einer  höchst  zweifels- 
würdigen „Erlösung4'  recht  äusserlich  nur  zu  überkleben 
wissen.  Mit  Worten  lässt  sich  trefflich  streiten,  mit 
Worten  ein  System  bereiten,  an  Worte  lässt  sich  trefflich 
glauben,  von  einem  Wort  kein  Jota  rauben  —  und  so 
hat  der  noch  wenig  definierte  Begriff  „Seelendrama"  in 
neuerer  Zeit  eine  nahezu  unheimliche  Ausdehnung  schon 
gewonnen;  denn  eben,  wo  Begriffe  fehlen  —  da  stellt 
ein  Wort  zur  rechten  Zeit  sich  ein. 

Gehen  wir  gerade  und  ehrlich  gleich  auf  den  eigent- 
lichen Brennpunkt  in  unserer  Frage  los:  Man  empfangt 
aus  dem  Werke  in  der  That  Wirkungen,  denen  man  sich 
bei  vorurteilsloser  und  gewissenhafter  Prüfung  seiner 
Gefühle  nicht  wird  verschliessen  können;  aber  es  sträubt 
sich  doch  wiederholt  ein  Etwas  in  uns,  sie  als  solche, 
genauer  gesprochen:  als  ästhetische,  für  voll  anzuer- 
kennen. Kurz  und  deutlich  gesprochen  —  die  Formel 
muss  lauten:  Ist  die  Neuheit  sittlich  ergreifend,  oder 
aber  nur  stofflich  packend  —  rührend  oder  doch  nur 
rührselig?  That  w  tlu  question!  Auf  Rührung  ist  es 
ja  ganz  ohne  Zweifel  zuletzt  hier  abgesehen;  denn  eine 
tragisch-erhabene  Katharsis  liegt  meilenfern  von  diesem, 

gm 


Digitized  by  Google 


132 


Wagneriana.    Bd.  III. 


nach  der  „Morithat"  beliebter  Strassen  -  Bänkelsänger 
und  nach  dem  Kriminalroman  unserer  volkskundigen 
Kolportageschriftsteller  gleich  sehr  schmeckenden  Stoffe. 
Dennoch  möchte  ich  an  die  erste re  Wirkung  von 
beiden  aus  meiner  persönlichen  Kenntnis  der  Natur 
unseres  Komponisten  unbedingt  wohl  glauben  und  daher, 
indem  ich  zugleich  auf  den  süddeutschen,  speziell  öster- 
reichischen, Kern  in  seiner  Naturanlage  zurück  gehe, 
entgegen  den  bereits  recht  laut  gewordenen  ab- 
fälligen Stimmen  aus  Berlin,  Wien,  Hamburg,  Leipzig 
und  Köln,  wieder  mehr  zu  seinen  Gunsten  liebend  gerne 
hier  gesprochen  haben.  Fast  als  ein  Axiom  darf  man  es  ja 
aufstellen,  dass  sein  „Evangelimann*  (schon  der 
stark  Wienerische  Titel  klingt  für  das  nordische  Ohr  so 
fremd  wie  nur  irgend  möglich!),  je  südlicher  aufgeführt 
in  deutschen  Landen,  auch  desto  mehr  Verständnis,  ein 
um  so  wärmeres  Nachempfinden  und  nur  um  so  herz- 
licheren Enthusiasmus  für  seine  Art  finden  werde.  Und 
selbst,  wer  zu  der  merkwürdig  unmotivierten  und  zu- 
sammenhangslosen Dramaturgie  des  Textbuches  mit 
seiner  auseinander  fallenden,  unverknoteten  und  un- 
gesteigerten Episodik,  seinen  Unwahrscheinlichkeiten 
und  Brutalitäten,  seiner  zum  Teil  sehr  ungeschickten 
Rollenführung,  samt  den  quälerisch  langen  Aufklärungs- 
monologen, vom  streng  kritischen  Standpunkt  aus  un- 
willig den  Kopf  schütteln  sollte,  wird  doch  wieder  milder 
darüber  urteilen  lernen,  wenn  er  sich  bei  Zeiten  daran 
erinnert,  dass  diese  lockere  Bühnentechnik  in  losen 
„Abteilungen"  oder  „Charakterbildern",  selbst  mit  dem 
unvermeidlichen  „30  Jahre  später",  „1  Tag  nachher41  etc. 
—  dieses  oberflächlichere  Post  also,  an  Stelle  eines  tiefer 
bohrenden,  die  Handlung  mehr  verschlingenden  Propter 
und  dergl.  mehr,  ein  ganz  spezifisches  Merkmal  eben 
der  süddeutschen  Dichtung  und  des  Wiener  Volksstückes 
(vgl.  Anzengruber !)  bildet;  ja,  wohl  auf  den,  der  Reflexion 


Google 


Der  Evangelimann. 


133 


und  geistigen  Arbeit  nach  zwar  bequemeren,  dem  Gemüt 
und  Herzen  nach  aber  auch  ungleich  blutwärmeren, 
österreichischen  Volkscharakter  selber  letzten  Endes 
organisch  zurückzuführen  sein  dürfte. 

Ich  kenne  den  Komponisten  nun  schon  seit  nahezu 
14  Jahren  und  glaube  deshalb  an  dieser  Stelle  darauf 
hinweisen  zu  sollen,  dass  er  just  in  diesem  Sinne  ein 
echtes  Oesterreicher  Kind,  eine  durch  und  durch  naive, 
frisch  empfängliche  und  flott  zugreifende,  jedenfalls 
hoch  begabte,  aber  auch  leicht  übersprudelnde  Natur  ist, 
deren  liebenswürdige  Seite  stets  die  bona  ßdes  bei  all 
ihren  Mitteln  und  Absichten  bleibt,  mag  man  auch  öfter 
wünschen  können,  dass  er  noch  wählerischer  dabei  ver- 
fahren möchte.  Keine  Frage,  er  ist  Eklektiker  vom 
reinsten  Wasser;  aber  er  ist  es  der  Anlage,  nicht  der 
Gesinnung  nach.  Und  wenn  man  auf  anderer  Seite  so 
gerne  hämisch  hervor  hebt,  dass  er  in  den  Partituren 
Anderer  vortrefflich  zu  lesen  verstehe,  so  darf  man 
doch  niemals  ganz  übersehen,  dass  alle  diese  Anklänge 
und  Anleihen  bei  ihm  auch  das  „stets  gefunden,  nie 
gesucht"  nirgends  verleugnen  können  —  nach  unserem 
Dafürhalten  immer  noch  ein  ganz  erklecklicher  Unter- 
schied! So  hat  er  meines  Erachtens  auch  nicht  Sen- 
sationen gewollt,  noch  niedrige  Popularitätshascherei 
absichtsvoll  betrieben  (wie  ihm  von  verschiedenen  Seiten 
mit  zähem  Misswollen  vorgeworfen  wird),  sondern  ihn 
selbst  ist  dieser  Schauspiel- Vorwurf  in  der  That  im 
eigenen,  von  Grund  aus  guten  Herzen  tief  „rührend" 
eines  Tages  angekommen.  Ist  er  ja  doch  auch  darin  voll 
gesunder  Gutmütigkeit,  dass  er  völlig  skrupellos  und 
ohne  Skepsis  schafft,  sich  offenbar  nicht  genügend  klar 
machend,  wo  eben  der  Dichter  —  dieses,  nach  der 
Erzählung  von  Meissner  noch  stark  stofflich  gebliebene, 
Element  künstlerisch  umbildend  —  nunmehr  erst 
produktiv  einzusetzen  gehabt  hätte.  All  die  vielen  Dinge, 


Digitized  by  Google 


134 
— — 


Wagneriana.    Bd.  III. 


wie  Glockenläuten,  Choralsingen,  Kegelschieben,  Mond- 
schein, Feuersbrünste,  Walzer,  Drehorgel,  Kinderreigen 
und  was  dergleichen  mehr  noch  in  der  Oper  stecken 
mag  —  er  bietet  es  nicht  als  feilen  „Effekt",  aus 
schnöder  Gefallsucht  und  mit  Rücksicht  auf  das  liebe 
Publikum,  um  „jedem  etwas  zu  bringen",  sondern  aus 
eigener,  reiner,  kindlicher  Freude  an  diesen  hübschen 
Dingen,  an  denen  er  sich  in  seiner  lauteren  Herzens- 
einfalt und  munteren  Schaffensfröhlichkeit  selber  bass 
ergötzt,  im  Innersten  lebendig  davon  überzeugt,  dass 
dieses  „Xon  mtdtum,  *ed  multa«  ganz  prächtig  wirken 
müsse,  auch  Anderen  just  denselben  heiligen  Ernst 
einflössen,  dieselbe  hoch  fliegende  Begeisterung  wecken 
und  das  gleiche  temperamentvolle  Vergnügen,  wie  ihm 
selber,  bereiten  werde. 

Wilhelm  Kienzl  ist  den  Dresdnern  (schon  seit 
seiner  „Urvasi")  längst  kein  Fremder  mehr.  Auch  in 
München  hat  einige  Jahre  darauf  seine  Oper  „Heilmar 
der  Narr"  gerechtes  Aufsehen  erregt,  und  es  ist  bei 
dieser  Gelegenheit  namentlich  seine  auffallende  Be- 
fähigung zu  humoristischen  Volksszenen  warm  anerkannt 
worden  —  wie  er  denn  überhaupt  seit  Jahren  als  ein 
viel  versprechendes  Talent  und  eine  durchaus  beachtens- 
werte Sonder- Erscheinung  innerhalb  der  Wagner- Be- 
wegung in  allen  eingeweihten  Kreisen  galt.  Aber  einen, 
solch  offenkundiger  Begabung  entsprechenden,  breiteren 
Bühnenerfolg  davon  zu  tragen,  sollte  ihm  bis  jetzt  leider 
noch  nicht  gelingen.  Um  so  mehr  darf  man  ihm  diese 
volle  und  durchgreifende  Wirkung  seines  „Evangelimannes" 
persönlich  von  ganzem  Herzen  gönnen,  die  doch  wohl 
keinem  Zweifel  mehr  unterliegt,  wenn  wir  erfahren,  dass 
Leipzig  und  Dresden  in  dieser  Woche  die  33.  bezw.  34. 
Bühne  waren,  welche  das  Werk  heraus  brachten.  Höchstens 
wird  man  gleichzeitig  bedauern  dürfen,  dass  er  gerade 
diesen  Erfolg  nicht  in  seiner  Eigenschaft  als  Wagner- 


Digitized  by 


Der  Evangelimann 


— 


135 


Jünger,  sondern,  genau  besehen,  auf  ganz  anderen  Wegen 
eingeheimst  hat.  Freilich,  er  selbst  beteuert  es  uns,  dass 
er  sich  niemals  als  einen  besseren  und  überzeugteren 
Wagnerianer  gefühlt  hätte,  als  da  er  dieses  „musikalische 
Schauspiel"  geschrieben.  Aber  es  scheint  mir  doch : 
hier  geht  es  ähnlich  wie  mit  dem  streng  juristischen 
Rechtsbegriff,  der  so  Manchem,  der  subjektiv  von  der 
Richtigkeit  seiner  Anschauung  und  Rechtlichkeit  seiner 
Handlungsweise  völlig  eingenommen  sein  mag,  mittels 
objektiven  Rechtsverfahrens  vom  Öffentlich  urteilenden 
Schiedsrichter  erst  nachgewiesen  und  beigebracht  werden 
muss.  Ein  getreuer  Schüler  seines  Bayreuther  Meisters 
war  Kienzl  allerdings,  und  hier  unbedingt,  in  der  korrekten 
guten  Deklamation  —  da  merkt  man  den  praktischen 
„Dr.  der  Musik",  den  geistvollen  Verfasser  der  in  Wien 
zur  Promotion  zugelassenen,  grundlegenden  Abhandlung 
über  „Die  musikalische  Deklamation"  ganz  beträchtlich, 
und  das  ist  gewiss  ein  bedeutsamer,  nicht  zu  unter- 
schätzender, ihn  auch  weit  über  die  Kumpanei  etwa  der 
Zöllner-Grammann-Goldmark  hinaus  hebender  Vorzug  an 
seinem  Werke,  der  ihn  doch  auch  vor  einer  Verquickung 
seines  Namens  mit  der  seligen  „Nessleriade"  (wie  jüngst 
geschehen)  für  alle  Zeiten  schützen  sollte.  Sodann  blieb 
er  noch  gut  Wagnerisch  in  der  sinfonischen  Behandlung 
des  Orchesters,  sowohl  hinsichtlich  der  Gesangsbegleitung, 
wie  auch  durch  eine  ganze  Reihe  recht  bedeutungsvoll 
eingreifender  instrumentaler  Zwischenspiele  mit  und  ohne 
Solo-Pantomime  (nach  dem  Vorbilde  etwa  der  Beck- 
messer-Mimik in  den  „Meistersingern",  3.  Akt  am  Anf.). 
Und  endlich  hielt  er  sich  in  Wagner'schen  Bahnen,  wie 
wir  ihm  ausdrücklich  bestätigen  dürfen,  auch  durch 
sorgfältige  Wahrung  des  Stiles,  so  weit  er  die  tech- 
nische Vertikale:  die  stäte,  genaueste  Überein- 
stimmung zwischen  der  musikalischen  Plastizität  der 
unten  erklingenden  Instrumentalphrase  und  dem  szeni- 


Digitized  by  Google 


136 


Wagneriana.    Bd.  III. 


sehen  Bild  oder  der  dramatischen  Aktion  oben  auf  der 
Bühne  —  betrifft.  Meines  Bedünkens  absolut  Un- 
wagnerisch aber  (und  zwar  im  Nerv  verfehlt  und  im 
Kerne  hier  das  musikdramatisebe  Problem  als  solches  ver- 
kennend) war  die  leidige,  allzu  aufdringlich  doch  an 
Leoncavallo's  „Heut  schöpfet  der  Dichter  kühn  aus  dem 
wirklichen  Leben  schaurige  Wahrheit"  erinnernde  und 
für  eine  musikalische  Einkleidung  in  ihrer  engen  Phi- 
listrosität  und  Sagenlosigkeit  geradezu  monströs-aktuelle 
Stoffwahl;  ferner  noch  die  an  Stelle  der  erstrebten 
„schaurigen  Wahrheit"  daraus  nun  wieder  resultierende 
schaudervolle  Disharmonie  im  Format  und  Charakter, 
welche  zu  einer  Tischglocke  und  einer  Kaffeekanne  auf 
dem  Zimmer-Öfchen  „Nibelungen"-Posaunen  setzt  und 
ein  „Tristan"-Orchester  los  lässt;  sowie  in  Sonderheit 
die  horizontale  Stillosigkeit,  welche  thatsächlich  für 
jedes  gebildete  Ohr  objektiv  greifbar,  einen  Mischmasch 
aus  Wagner  (vom  „Tannhäuser*'  bis  zum  „Parsifal"), 
Schumann,  Marschner,  Jensen,  Beethoven,  Mendelssohn, 
Lortzing,  Lanner,  Zöllner,  Goldmark  —  selbst  Gounod 
und  italienischer  Verismo  sind  nicht  ganz  ausgeschlossen! 
—  kunterbunt  zusammen  braut.  Eine  erstaunlich  saftige 
Instrumentation  von  ausgeprägtestem  Klangsinne,  farben- 
satter, reich  belebter  Harmoniewechsel  und  eine  un- 
gemein warme  (wenn  auch  nicht  immer  ganz  vornehme) 
Melodik  sind  dagegen  wieder  die  anderen,  nicht  letzten 
noch  geringsten  Vorzüge  seiner  blühenden,  nie  ver- 
legenen und  auch  niemals  versagenden  Schreibweise. 
W  i  e  „dankbar"  Kienzl  zu  schreiben  und  die  Singstimmen 
namentlich  zu  setzen  versteht,  das  zeigte  sich  in  wahr- 
haft erstaunlicher  Weise  (wie  schon  an  Miss  Walker  in 
Wien)an  derMagdalenaunsererheimischenAltistin  Fräulein 
Fröhlich,  welche  Dame  aus  einem  im  Verborgenen 
blühenden  Veilchen  hier  auf  einmal  zu  glanzvollster  Stimm* 
entfaltung  heraus  trat  und  zu  einer  hoch  ansehnlichen 


Digitized  by  Google 


Der  Evangelimann 


137 


Sangesgrösse  vor  unseren  Ohren  heran  wuchs.  Hielte 
mit  dieser  Natürlichkeit  des  Ausdruckes  und  solcher 
populären  Frische  bei  Kienzl  auch  immer  der  Geschmack 
gleichen  Schritt,  sein  besseres  Ich  wäre  dann  vor  einer 
Fadaise  wie  dem  ganz  unglaublich  banalen,  später  leider 
noch  breiteste  motivische  Bedeutung  gewinnenden  Liede 
„O  schöne  Jugend  tage"  zuversichtlich  bewahrt  geblieben. 
Vielleicht,  wenn  es  ihm  gelänge,  das  ernste,  solide 
Wagnertum  mit  der  heiteren,  leichteren  Linie  der  Nicolai, 
Lortzing  und  Marschner  zur  volkstümlich  komischen 
Oper  nach  ihrer  edleren  Seite,  ohne  alle  sentimentale 
Regung,  glücklich  zu  vereinen  —  er  wäre  der  rechte 
Mann  der  Zeit  für  die  Belebung  unseres  Musikdrama's. 
Item:  wir  wollen  noch  Besseres  von  ihm  erhoffen!  .  .  . 

Die  von  auffallend  viel  österreichischen  Physiog- 
nomieen  bevölkerte  Aufführung  verlief  —  Dank  vor 
Allem  der  schauspielerischen  Grösse  der  beiden  Brüder 
und  Hauptdarsteller:  Scheidemantel  (Johannes)  und 
Anthes  (Matthias)  —  überaus  erfolgreich  für  den  per- 
sönlich anwesenden  Komponisten.  Generaldirektor 
Schuch  schwang  mit  regem  Eifer  und  ersichtlich  lands- 
männischer Liebe  für  das  Werk  sein  Szepter,  das  Or- 
chester spielte  mit  vielem  Schwung  und  hinreissendem 
Klangzauber.  Auch  die  Regie  des  Herrn  0  berhorst 
war  den  Intentionen  des  Dichters  im  Allgemeinen  auf- 
merksamst nachgefolgt;  nur  bei  dem  Mondaufgang  trieb 
sie  mit  den  astronomischen  Gesetzen  ein  allzu  haltlos 
und  verwegen  Spiel.  Schon  nach  der  Kegelszene  in 
der  1.,  aber  auch  wieder  nach  dem  Liede  der  Magda- 
lena, den  Kinderepisoden  mit  dem  Evangelimann  u.  A.  in 
der  2.  Abteilung,  Hess  sich  der  laute  Beifall  bei  offener 
Szene  nicht  mehr  halten:  nach  jedem  Aufzuge  wurde 
Kienzl  mit  den  Darstellern  ungezählte  Male  heraus- 
gerufen. Kurz,  der  glückliche  Dichterkomponist  kann 
sich  mit  uns  zur  Dresdner  Aufführung  wahrlich  gratu- 


Digitized  by  Google 


138  Wagneriana.    Bd.  III. 


Heren,  die  sicher  eine  der  allerbesten  ist,  die  man  im 
weiten  Deutschen  Reich  und  auf  den  über  100  Bühnen, 
die  das  Stück  nun  bereits  angenommen  haben,  finden 
kann  —  vor  Allem,  wenn  man  den  Nachdruck  auf  seine 
Bezeichnung  „musikalisches  Schauspiel"  und  den  da- 
durch gegebenen  Sonder- „Stil"  beherzt  einmal  legen 
will. 


Digitized  by 


Vorschau  —  oder  Rückblick? 

Betrachtungen  über  drei  Textbücher 
(189596) 

Die  Dichtung  zur  neuesten,  die  bekannte  Nock- 
Sage  zum  Hintergrund  nehmenden  und  ein  altes,  uraltes 
Glocken-Motiv  verarbeitenden  Oper  von  Hans  Sommer 
ist  mir  soeben  zu  Händen  gekommen.  Kein  Zweifel, 
dass  wir  hier  echten  und  rechten  „Bayreuther  Geist"  vom 
Besten  darin  wieder  erkennen,  bürgt  doch  schon  der 
Name  des  Dichters  Hans  von  Wol zogen  selbst  für 
solche  unbedingte  Voraussetzung.  Aber  doch  möchten 
wir  glauben,  als  ob  es  jetzt  im  Grunde  weniger  auf 
eine  blosse  Erhaltung  und  weltscheue,  ernst -innige 
Hegung  jenes  heiligen  Grals-Geistes,  als  vielmehr  auf 
seine  nach  aussen  drängende,  die  Welt  als  Sauerstoff 
kraftig  durchdringende,  produktive  Ein-  und  Fort- 
führung nach  den  einzelnen  Nebenzweigen  hin,  die  darum 
noch  keine  absterbenden  zu  sein  brauchen,  im  Wesentlichen 
ankomme.  Nach  dieser  Richtung  hin  scheint  aber  der 
Text  —  so,  wie  wir  ihn  ohne  Musik  hier  erkennen  — 
unsere  Hoffnungen  allerdings  nur  in  beschränktem  Masse 
erfüllen  zu  wollen.  Vor  Allem  kann  an  ihm  ehrlich 
bedauert  werden,  dass  sein  Verfasser  bezügl.  einer  klaren 
Plastik  oft  selbst  der  kompliziertesten  Verhältnisse  und 
dramaturgischen   Beziehungen,    in  denen  gerade  der 


Digitized  by  Google 


140 


Wagneriana.    Bd.  III. 


„  Meister*  so  gross  war,  noch  zu  wenig  dem  von  Wagner 
gegebenen  Vorbilde  gefolgt  ist  und  hierdurch  die  vielen, 
aus  dem  grundmusikalischen  Stoffe  selbst  geschöpften, 
reichen  poetischen  Schönheiten  des  Werkes  durch  ein 
mystisches,  gar  sehr  der  gelehrten  Anmerkungen  am 
Schlüsse  erst  noch  bedürfendes  (weil  verworrenes  und  allzu 
symbolisches)  Wesen  um  ihre  eigenste  Bühnenwirkung 
leider  gebracht  hat.  An  und  für  sich  wäre  freilich  die 
kleinere  lyrische  Form,  im  Hinblick  sowohl  auf  die 
besondere  Begabung  des  Komponisten  wie  auch  seines 
Textdichters,  als  eine  sehr  glückliche  Wahl  zu  begrüssen ; 
in  dieser  etwas  gesuchten  und  subtilen,  schon  durch 
die  zahlreichen  gesperrten  Drucke  allzu  „bedeutsam" 
gemeinten  Fassung,  voller  Neigung  zu  sublimen  Geheim- 
nissen, bedeutet  sie  im  letzten  Grunde  aber  doch  nur 
sozusagen  jenes  fatale  „tote  Geleise",  den  unfruchtbaren 
Konservatismus  und  eine  Vergangenheit  der  Wagner- 
bewegung, welcher  gegenüber  nur  der  frischere  linke  Flügel, 
aus  dem  Neuen  heraus,  wieder  produktiv  werden  kann  und 
für  ein  lebensvolles  Werden  den  fruchtbaren  Boden  be- 
reitet, damit  aber  auch  die  „Zukunft"  verbürgt.  Wie  wollten 
wir  doch,  dass  wir  bei  vorliegendem  Musikdrama  nicht 
Recht  behielten;  indessen  bleibt  der  Eindruck  zuletzt 
doch  im  Vordergrunde  stehen:  Sie  erleben  sie  nicht, 
diese  Dichtungen  und  Werke  —  sie  machen  und  be- 
arbeiten sie  nur,  als  nach  ihrem  Sinn  geeignete 
(musikdramatische)  Stoffe,  unsere  Dichter  nämlich  und 
ihre  Komponisten  1  — 

Auch  ein  anderes  „Textbuch"  liegt  mir  vor,  eines 
aus  Felix  Weingartners  Feder,  das  sogar  die 
Allüren  eines  philosophischen  Lebens -Bekenntnisses 
annimmt  und  die  Ambitionen  einer  grossen,  umfassenden 
„Weltdichtung"  zugleich  verfolgt.  In  seiner  Broschüre 
„Über  das  Dirigieren",  mit  welcher  der  Verfasser  ganz 
besonders  sauren  Wein  in  seinem  Garten  kürzlich 


Digitized  by  Google 


Vorschau  —  oder  Rückblick? 


141 


angebaut,  hat  Felix,  der  fleissige  Arbeiter  im  Weinberge 
seines  Herrn  und  Meisters  Richard  Wagner,  bekanntlich 
das  bitterböse  Apercu  von  den  „Tempo  rubato"~D\r\- 
genten  gegen  seine  Zeitgenossen  geschleudert.  Wie  nun, 
wenn  wir  —  ebenso  lustig  und  boshaft  —  den  Spiess 
umkehren  und  zur  fröhlichen  Abwechslung  einmal  auch 
behaupten  wollten:  von  den  Herren  „Philosophie- 
Dirigenten  und  -Komponisten",  die  ihren  Bay- 
reuther Meister  missverständlicher  Weise  immer  dahin 
noch  fiberbieten  zu  müssen  vermeinen,  dass  sie  nebenher 
in  profund  theoretisierenden  Broschüren-Exkursen  sich 
ergehen  —  von  ihnen  datiere  das  eigentliche  Unheil  in 
unserer  „modernen"  Musikentwicklung  her?  Kein  Zweifel, 
das  wäre,  so  allgemein  ausgesprochen,  von  uns  sehr 
ungerecht  verfahren;  wir  ständen  aber  dann  zugleich 
mitten  in  jener  erwähnten  anderen  Schrift  des  Herrn 
Kapellmeisters,  einem  ganz  abstrusen  Ding,  das  —  gleich- 
falls in  Broschürenform  (Kiel,  bei  Lipsius  und  Tischer) 
—  schon  geraume  Zeit  vor  obiger  Dirigenten-Abhandlung 
erschienen  war  und  sich  benamset  (mit  einem  etwas  gar 
ungelenken  Titel):  „Die  Lehre  von  der  Wieder- 
geburt und  das  musikalische  Drama,  nebst 
dem  Entwurf  eines  Mysteriums  Die  Erlösun gu. 

Das  dreiteilige  „Erlösungs-Mysterium":  „Kain"  — 
, Jesus  von  Nazareth"  —  „Ahasverus"  (wobei  Kain  eine 
Art  indischer  Wiedergeburt  bis  zur  Erlösung  Ahasvers 
erlebt)  —  alle  Achtung  zunächst  vor  der  Idee,  dem  hohen 
Streben  und  dem  ernsten  Wollen,  wenngleich  es  uns  die 
christliche  Heilslehre  noch  zu  sehr  mit  dem  semitischen 
Erbe  zu  verquicken  scheint  und,  nachdem  schon  einmal 
ein  R.  Wagner  aus  Gründen  an  dem  Problem  vorbei  ge- 
gangen ist:  Christus  persönlich  zum  theatralischen  Mittel- 
punkt eines  Drama's  zu  machen,  zum  Mindesten  als  ein 
sehr  gewagtes  Unterfangen  uns  vorkommen  will.  Auch 
das  Bedürfnis,  sich  durch  Veröffentlichung  des  Entwurfes 


Digitized  by  Google 


142 


Wagneriana.    Bd.  III. 


die  Priorität  des  Stoffes  etc.  zu  sichern,  kann  man  recht 
wohl  begreifen,  und  belustigend  wirkte  auf  den,  welcher 
den  „Palestrina"- Komponisten  Prof.  M.  E.  Sachs  in 
München  genauer  kennt,  ganz  gewisslich  der  Eifer,  mit 
welchem  der  Genannte  in  einer  öffentlichen  Erklärung 
dieses  „Recht  der  Erstgeburt"  für  eine  eigene  sieben- 
teilige (I)  Dichtung  gleichartigen  Inhaltes:  „Kains  Schuld 
und  ihre  Sühne"  in  Anspruch  zu  nehmen,  so  ängstlich 
bedacht  war.  Aber  wozu,  so  fragen  wir,  nur  erst  den 
langwierigen,  in  Philosophie  dilettierenden  Unterbau? 
Wozu  dieses  Repetitorium  aus  Schopenhauer  und  Wagner 
zusammen,  das  sich  mit  Ausnahme  ganz  weniger  eigener 
Pointen  und  verschwindend  geringer  (übrigens  auch 
durchaus  nicht  immer  richtiger)  Korrekturen  fremder  An- 
sichten in  seiner  oft  geradezu  ergreifenden  Sicherheit,  mit 
welcher  die  dunkelsten  prähistorischen  Epochen  hier  auf- 
gehellt und  ganz  apodiktisch  als  so  und  so  vom  Ver- 
fasser entwickelt  werden,  wie  eine  lahme  Rekapitulation 
aus  alten  Kollegheften  von  seiner  Zeit  einmal  gehörten 
geschichts-  und  kunstphilosophischen  Vorlesungen  liest 
—  nur  eben  so  ganz  und  gar  nicht  wie  etwas  Selbständiges, 
und  das  für  die  künstlerische  Wirkung,  die  musik- 
dramatische Bedeutung  des  Erlösungsdrama's  unter  allen 
Umständen  ziemlich  belanglos  bleibt?  Warum  —  wozu? 
Hinter  dieses  esoterische  Privat-Geheimnis  Wein- 
gartners  sind  wir  wirklich  bis  zur  Stunde  noch  nicht 
gekommen!  Und  zudem  liegt  etwas  so  unendlich  Flaches 
über  diesen  gesamten  Ausführungen,  dass  man  sogar 
auch  die  entsprechende  Resonanz  für  solch'  bescheidene 
Philosophie- Versuche  in  einem  ernsteren,  tieferen  Lebens- 
hintergrunde beim  Verfasser  allenfalls  wohl  vergeblich 
suchen  würde.  Auf  S.  91  wild  uns  da  z.  B.  als  wahre 
Sensation  und  als  das  reine  Weltwunder,  noch  dazu  mit 
Sperrdruck,  die  Neuigkeit  zu  kund,  dass  „die  Erscheinung 
des  (!)  Jesus  von  Nazareth  der  Wendepunkt  in  der  meta- 


Digitized  by 


Vorschau  -  oder  Rückblick? 


143 


physischen  Geschichte  des  Menschengeschlechtes  sei". 
Wir  fragen  aber:  Welcher  rechtschaffene  Christenmensch, 
Wagner-  und  Schopenhauerianer,  hätte  das  nicht  schon 
langst  weit  besser  gewusst,  was  ihm  hier  mit  trocken- 
systematischer  Logik  in  langweilig-abstrakter  Gelehrten- 
Darlegung  von  unserem  Dichter-Komponisten  wie  eine 
allerneueste  philosophische  Entdeckung  offenbart  wird? 

Dass  damit  überhaupt  gar  nichts  Besonderes  gesagt 
ist,  dass  diese  Ideen  in  der  Luft  liegen  und  auch  ohne 
unseres  genialen  Dirigenten  minder  geniale  Denkarbeit 
zu  Stande  kommen,  weil  sie  eben  von  grösseren 
Denkern  schon  seit  geraumer,  sehr  geraumer  Zeit  als 
höchste  Weisheit  aus  dem  dunklen  Born  des  Lebens 
geschöpft  und  aus  tiefsten  Gemütsschachten  des 
denkenden  Geistes  zu  Tage  gefördert  worden  sind, 
das  mag  Herrn  Weingartner  —  ausser  allenfalls 
H.  St.  Chamberlains  „Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts", 
ja  selbst  Fr.  Nietzsche's  „Antichrist"  —  gerade  jetzt 
wieder  die  gross  angelegte  und  auch  in  der  Form 
eigenartig-selbständige  (wennschon  nicht,  wie  ihr  eigener 
Verfasser  meint,  absolut  neue)  Menschheits-Tetralogie 
„Der  Kampf  des  Prometheus":  1.  Tag  Prometheus; 
2.  Maria;  3.  Christus;  4.  Kreuzigung  —  lebendig  zur 
Oberzeugung  bringen,  welche  unter  den  soeben  er- 
schienenen „Allegorischen  Dramen"  von  Christian 
von  Ehrenfels  (Wien  1805,  bei  Karl  Konegen)  mit 
Recht  die  „dominierende  Stellung"  einnimmt  und  schier 
die  Frage  nahe  legt,  ob  sich  der  Komponist  Weingartner 
mit  dem  nach  einem  kongenialen  Vertoner  ausspähenden 
Dichter  von  Ehrenfels  zu  gemeinsamem  Thun  nicht  am 
Ende  lieber  künstlerisch  vereinigen  sollte.  Die  geistige 
Priorität  —  das  kann  ich  Weingartner  auf  Ehrenwort 
versichern  —  steht  bei  dem  Letztgenannten  ausser 
allem  Zweifel;  denn  schon  im  Jahre  1880  habe  ich 
dieses  vierteilige,  tiefsinnig-gehaltvolle  Chormysterium, 


Digitized  by  Google 


144 


Wagneriana.    Bd.  III. 


dessen  Manuskript  mir  damals  auf  dem  Wege  der 
Vermittlung  zufällig  in  die  Hände  kam,  mit  eigenen 
Augen  gelesen.  Auch  ungleich  arischer  will  mir  — 
trotz  hebräischer  Reminiszenzen  noch  darinnen  —  diese 
Dichtung  schliesslich  erscheinen  Dank  dem  hellenischen 
Blut,  das  in  ihren  Adern  und  den  Adern  ihrer  grossen 
Hauptgestalten  ganz  unverkennbar  rollt.  Aber  freilich, 
die  semitische  Lieblings-Figur  Kain  und  so  etwas  wie 
die  Leit-Idee  der  „Wiedergeburt"  müsste  Weingartner 
grossherzig  dann  preiszugeben  vermögen,  indessen 
könnte  dadurch  vielleicht  auch  wieder  dem  Manne 
M.  E.  Sachs  endgültig  geholfen  werden. 

Christian  von  Ehrenfels'  „Prometheus0 -Drama  hat 
etwas  von  der  mythisch  weit  schauenden,  viel  sagenden 
und  gehaltreich-bedeutsamen  Art  jener  hoch  ragenden 
Menschheits-Dramen,  Geistes-  und  Weltdichtungen  aller 
Litteraturen,  aller  Zeiten  und  aller  Nationen  in  sich,  an 
deren  Hand  ich  vor  einigen  Jahren  (vgl.  „Wagneriana" 
Bd.  II,  S.  41  ff.)  mein  persönliches  Ideal  einer  Gemüts- 
kultur, einer  künstlerisch-ästhetischen  Geistesbildung 
in  Sonderheit  für  den  angehenden  Tonschöpfer  und  Ton- 
poeten, entwickelt  habe,  und  ich  bin  noch  jetzt  durchaus 
davon  durchdrungen:  würden  unsere  Musiker  an  unseren 
offiziellen  Konservatorien  und  Musikakademien  in  diesem 
tieferen  Sinne  geistig  geweckt  und  musikalisch  wirklich 
„erzogen"  werden,  so  würde  auch  der  Dichter  v.  Ehren- 
fels heute  nicht  so  krampfhaft  nach  einem  Tonsetzer 
für  seine  ideelle  Handlung  erst  zu  suchen  haben.  (Er 
scheint  ihn  neuerdings  —  1900  —  in  Otto  Taubmann, 
dem  Schöpfer  der  „Deutschen  Messe"  in  Berlin,  ge- 
funden zu  haben;  aber  auch  E.  Klose,  Ph.  Wolfrum, 
Fr.  Volbach,  selbst  Hans  Pfitzner  und  M.  Schillings 
wären  vielleicht  die  geeigneten  Männer  dazu  —  seine 
Leute.)  v.  Ehrenfels  verfolgt  nämlich  grundsätzlich  diese 
Idee  neuer  „allegorischer  Dramen"  (auch  „Chor-Dramen" 


Digitized  by 


Vorschau       oder  Rückbück? 


145 


geheissen)  und  hat  nicht  nur  ausser  dem  genannten  Haupt- 
und  Mittelstuck  eine  ganze  Reihe  anderer,  meist 
kleinerer  Dramendichtungen  von  ähnlicher  Art  in  jenem 
(ziemlich  umfangreichen)  Buche  veröffentlicht,  sondern 
auch  in  einer  besonderen  Prosa-Abhandlung  sich  mit 
eingehender  theoretischer  Begründung  noch  näher  über 
die  von  ihm  angestrebte,  vermeintlich  ganz  „neue  Form" 
ausgelassen,  in  der  er  dem  Chore  (der  im  Rücken  des 
Zuschauers,  gleichsam  als  der  „idealisierte  Zuschauer"  ge- 
dacht, an  der  Handlung,  unter  Orgelbegleitung  erzählend, 
reflektierend,  deutend,  eingreifend  Teil  nimmt)  eine 
Stellung  anweist,  welche  ebenso  organisch  auf  den 
antiken  Chor  der  griechischen  Tragödie,  den  katholischen 
Kult,  das  mittelalterliche  Mysterienspiel  und  die 
Bach'sche  „Passion"  zurück  weist,  als  sie  auf  der  anderen 
Seite  zugleich  wieder  als  eine  natürliche  historische 
Fortbildung  der  Schiller'schen  Chor-Idee  und  des 
R.  Wagnerischen  Orchester-Gedankens  sich  zu  erkennen 
giebt.  Nicht  alles  erscheint  ja  hier  in  praxi  gleich  gut 
gelungen  oder  auch  nur  ausführbar  wie  jenes  schon 
zu  Eingang  erwähnte  grosse,  vierteilige  „Prometheus"- 
Gedicht;  von  den  kürzeren  Dramen  dieses  Bandes 
möchten  wir  zur  Befassung  und  Aneignung  für 
Komponisten  eigentlich  nur  „Sängerweihe"  und  „Bruno" 
ernstlich  noch  empfohlen  haben.  Und  dabei  möchten  wir 
uns  sogar  erlauben,  diese  Dichtungen  (ungeachtet  aller 
angelegentlichen  Einwände  und  Beweise  des  Herrn  Ver- 
fassers dagegen)  statt  als  „allegorische"  als  „symbolische" 
—  wohlgemerkt,  nicht  symbolistische!  —  mit  vollstem 
Bewusstsein  dennoch  zu  bezeichnen.  Allein,  wenn 
Chr.  v.  Ehrenfels  (von  dessen  selbst  gedichtetem  und 
komponiertem  Musikdrama  der  „Schönen  Melusine" 
ich  übrigens  schon  Mitte  der  achtziger  Jahre  in  einem 
Wiener  Fachblatte  las)  auch  gar  nichts  Anderes  als  nur 
diese  eine  Idee  des  gewaltigen  Prometheus-Mythos,  in 

Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  10 


Digitized  by  Google 


146 


Wagneriana.    Bd.  III. 


dieser  seiner  ebenso  eigenartigen  wie  beziehungsreichen 
Synthese  jenes  uralten  Titanenkampfes  mit  Christi 
leidensvoller  Erdenmission,  der  Welt  mitzuteilen  gehabt 
hätte  —  zumal  jetzt,  da  eben  eines  Nietzsche  „Anti- 
christ" die  Augen  der  ganzen  Welt  auF  dieses  Problem 
mächtig  wieder  hingelenkt  hat:  —  das  dickleibige  Buch 
wäre  auch  dann  wahrlich  nicht  umsonst  geschrieben 
noch  gedruckt  gewesen. 

Alle  Diskussion  über  ihre  praktisch-künstlerische 
Ausführbarkeit  geht  jedoch  völlig  in's  Blaue  hinein,  so 
lange  nicht  die  reale  szenische  Aufführung  den  Prüf- 
stein und  Massstab  dazu  abgeben  kann,  ebenso  wie 
die  Beurteilung  des  Weingartner'schen  Entwurfes  sich 
nicht  nach  seinen  philosophischen  Exkursionen  zu 
richten  haben,  sondern  einzig  und  allein  von  der  seiner- 
zeitigen, dichterisch-musikalischen  Ausgestaltung  durch- 
aus abhängig  sich  erweisen  wird.  Und  wenn  nun  sie  Alle 

—  Weingartner,  v.  Ehrenfels  und  doch  wahrscheinlich 
auch  M.  E.  Sachs  (es  ist  der  reine  Sport  schon  bald!) 

—  ein  „eigenes,  besonders  eingerichtetes  Bühnenhaus" 
für  ihre  Projekte  in  Anspruch  nehmen  zu  müssen 
glauben,  so  hätten  wir  hier  den  unmassgeblichen  Vor- 
schlag zur  Güte  zu  machen:  „Lasst  Rubinstein,  der  ja 
ähnliche  Anwandlungen  hatte,  immerhin  hübsch  ausser- 
halb —  der  mag  für  seinen  Opern-,Christus<  meinet- 
wegen einen  Tempel  Mosis  ganz  allein  für  sich  und 
seines  Gleichen  aufrichten :  aber  Ihr  Alle  thut  Euch  desto 
verträglicher  nun  doch  zusammen,  denn  Ihr  habt  dann 
nicht  nur  weit  gegründetere  Aussicht,  es  wirklich  zu  einer 
Aufführung  auch  zu  bringen  und  Eure  grösseren  oder 
kleineren  »Mysterien*  einmal  von  der  Bühne  herab 
persönlich  erschauen  zu  dürfen;  das  ganze  Vorhaben 
wird  sich  zuversichtlich  so  auch  weit  eher,  künstlerisch 
und  materiell,  belohnen!  Je  mehr,  desto  besser."  Der 
passende  Aufführungsplatz,  der  natürliche  Ort  für  diese 


Digitized  by  Google 


Vorschau  -  oder  Rückblick? 


147 


Art  von  dramatischen  Darstellungen  wäre  ja  ohnedies 
bereits  vorhanden:  in  dem  Wormser  Festspielhause, 
das  zu  derartigen  Versuchen  wie  geschaffen  erscheint 
und  nur  seinem  edleren,  ursprünglichen  Zwecke,  dem  es 
schmählich  entfremdet  worden,  wieder  zugeführt  zu 
werden  brauchte.  H  i  c  Rhodus,  h  i  c  salta  —  und  darum 
also:  „Frisch  drauf,  an's  Werk  und  solchem  allein  ver- 
nünftigen Ziele  zu!" 

Nur  freilich,  über  Eines  müsstet  Ihr  Euch  zuvor 
vollends  klar  geworden  sein:  Neue  leuchtende  Zu- 
kunfts-Fixsterne werdet  und  seid  Ihr  darum  allein  noch 
nicht,  und  als  geniale  Pfadfinder  dürft  Ihr  Euch  wohl 
kaum  schon  fühlen;  lediglich  der  rückschauende 
Geist  eines  soliden  und  vornehmen  „Epigonentums"  hinab- 
gegangener Meisterperiode  lebt  und  wirkt  in  Euch  —  von 
ihr  bekamt  Ihr,  gleich  Planeten,  Euer  Licht;  Ihr  baut 

—  oder  am  Ende  gar :  beutet  ?  —  zuletzt  doch  nur  aus, 
variiert  und  vollendet,  was  eine  genial  die  Zeiten  über- 
ragende Kultur-Erscheinung  wie  R.  Wagner  vorahnend 
erschaut  und  an  auszuwirkenden  Anregungen  da  und 
dort  nebenher  noch  in  seinem  Werke  hinterlassen,  an- 
gedeutet oder  ausgestreut  hat.  Man  wird  Euch  dereinst 

—  wie  Ihr  selbst  schon  heute  von  Nach-Wagner'schen 
,,7emj>0-rufcito-Dirigenten"  sprecht  und  man  vielleicht 
gar  bald  schon  von  „Philosophie-Kapellmeistern"  wird 
reden  müssen  —  die  „Festspiel-  und  Erlösungs-Kom- 
ponisten" vom  rechten  Flügel  der  nach  und  nach  ver- 
sandenden „Wagner-Schule"  voraussichtlich  nennen. 
Ein  Richard  Wagner  wird  hier  zum  (geistigen)  S  c  h  1  u  s  s  - 
stein  der  Epoche.  Ich  aber  lobe  mir  nun  einmal  den 
radikalen  linken  Flügel  jeder  geistigen  Bewegung  und 
rufe  daher  nun  aufrüttelnd  laut:  „Es  lebe  die  Zukunft 

—  dem  Fortschritt  eine  Gasse!" 


10* 


Digitized  by  Google 


Genesius 

Oper  in  3  Aufzügen;  Dichtung  (nach  H.  Herrig)  und  Musik 

von  Felix  Weingartner 

(1899) 

„Ich  danke  Ihnen  sehr,  meine  Herren,  für  die  Auf» 
merksam  keit,  die  Sie  meinem  Werke  gewidmet  haben, 
und  darf  hieraus  vielleicht  entnehmen,  dass  ich  doch 
nicht  so  ganz  talentlos  sein  muss,  wie  man  mich  in 
Berlin  seinerzeit  verschrieen  hat!"  —  Mit  diesen  Worten 
etwa  schloss  der  sein  Werk  an  der  Weimarer  Hofbühne 
selbst  leitende  Komponist,  Hofkapellmeister  Wein- 
gartner,  die  Hauptprobe  zum  „Genesius-.  .  .  .  Wie, 
hören  wir  recht?  Darnach  könnte  also  auch  ein  Max 
Schillings  am  Ende  „doch  nicht  so  ganz  talentlos"  sein, 
wie  ihn  Herr  Weingartner  selber  zu  Berlin  jüngst  gemacht 
hat,  als  er  dessen  „Zwiegespräch"  für  kleines  Orchester 
schon  nach  der  Hauptprobe  zum  Konzerte  der  kgl.  Hof- 
kapelle dort  einfach  vom  Programm  absetzte,  nachdem 
ein  p.  t.  hohes  Publikum  sein  ausdrückliches  Missfallen 
daran  bekundet  hatte!  Sei's  drum!  Wir  wollen  jedenfalls 
diese  alte  Streitaxt  heute  nicht  wieder  hervor  holen, 
gedenken  wir  doch  unserseits  dem  Dichter-Komponisten 
Weingartner  in  aller  Form  Gerechtigkeit  wider- 
fahren zu  lassen,  wie  er  sie  als  Künstler  denn  auch  in 
vollem  Masse  für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf. 


Digitized  by  Google 


Genesius. 


149 


Weimar  hat,  seiner  alten  Tradition  getreu,  wieder 
einmal  eine  Ehrenschuld  eingelöst,  die  —  noch  un- 
gerochen,  jedoch  beinahe  schon  verjährt  —  bis  auf  den 
heurigen  Tag  (d.  h.  den  26.  Februar)  gar  laut  zum 
Himmel  schrie.  Ich  kann  wirklich  nicht  umhin,  den 
werten  Herren  Kollegen  an  der  Spree,  mit  denen  ich 
sonst  ja  nicht  so  übel  stehe,  eine  recht  grimmige  Maske 
diesmal  vorzuhalten  ob  ihres  sonderbaren  Verhaltens 
vom  Jahre  1802  einem  solchen,  doch  wahrlich  nicht 
belanglosen  Werke  gegenüber  —  dem  beredten  Zeug- 
nisse einer  reichen  und  entschiedenen  Bühnen-Begabung. 
Das  „Recht  auf  Aufführung"  steht  bei  einer  solch  wirk- 
samen Schöpfung  jedenfalls  ganz  ausser  allem  Zweifel,  wo 
doch  „Bärenhäuter"  im  edlem  „Wettestreit"  einen  „pas 
des  detus"  durch  die  deutsche  Presse  tanzen  und  der  eine 
davon  —  wie  man  sagt:  von  nicht  eben  schlechten  Eltern 
—  anmutig  sogar  schon  über  die  ersten  deutschen  Opern- 
bühnen jongliert!  Als  diese  Neuheit  noch  „Neuheit*  war, 
d.h.  da  „Genesius"  (vor  nicht  ganz  7  Jahren  ca.) zu  Berlin 
an  der  Hofoper  —  deren  Kapelle  damals  der  Komponist 
als  Theater-Kapellmeister  leitete  —  ihre  Uraufführung  er- 
lebte, wurden  in  der  Reichshauptstadt  zahlreiche  Kalauer 
emsigst  kolportiert,  ungefähr  im  Stile  des  folgenden: 
„Denken  Sie  sich  doch  nurl  Gähnt  mir  da  schon  in  der 
zweiten  Aufführung  ein  vollkommen  leeres  Haus  ent- 
gegen ..."  So  sollte  der  entrüstete  Weingartner  einem 
seiner  Berliner  Bekannten  erzählt,  dieser  aber,  nicht 
faul,  in  bekannter  Schnodderigkeit  ihm  darauf  erwidert 
haben:  „Da  seien  Sie  doch  froh,  lieber  Freund,  dass  es 
wenigstens  kein  volles  Haus  gewesen  ist!"  Wir  wieder- 
holen dergleichen  an  dieser  Stelle  nicht,  um  nunmehr,  da 
wir  das  Werk  kennen  gelernt  haben,  auch  unseren  „Witz" 
schnöde  an  ihm  auszulassen;  sondern  vielmehr,  um  an 
einem  sehr  drastischen,  aber  keineswegs  etwa  unplausiblen 
Beispiele  zu  zeigen,  welcher  Kampfesmittel  man  sich 


Digitized  by  Google 


150 


Wagneriana.    Bd.  III 


damals  in  der  weder  schönen  noch  besonders  würdigen 
Kampagne  gegen  die  Oper  bedient  hatte,  die  den  Dichter- 
komponisten alsbald  nach  der  zweiten  Aufführung  schon 
zur  völligen  Zurückziehung  des  Werkes  vom  Spielplane 
bekanntlich  veranlasste.  Man  mag  die  Angelegenheit 
denn  auch  drehen  und  wenden,  wie  man  will,  man  mag 
sachlich  sehr  Erhebliches  gegen  Drama  und  Musik  von 
Weingartner  vorzubringen  haben  —  und  auch  w  i  r 
haben  so  manches  daran  auszusetzen:  schon  die  spater 
so  erfolgreiche  Mannheimer  Vorführung  des  genannten 
Musikdrama's  hätte  die  Vorurteilslosen  stutzig  machen 
können.  Und  mochte  man  selbst  diese  nur  erst  als 
einen  „Schwiegervater-Erfolg"  gelten  lassen  (ist  ja  der 
Vater  der  Gemahlin  des  Komponisten  Verleger  des 
dortigen  „General- Anzeiger")  —  die  jetzige  glänzende 
Weimarer  Rehabilitation  hat  endgültig  eines  Besseren 
uns  Alle  vom  Bau  belehren  müssen.  Die  Form  der  Berliner 
Ablehnung,  die  ganze  brüskierende  Art  der  Zurück- 
weisung einer  Schöpfung  ihres  eigenen  Hofkapellmeisters 
Seitens  der  Berliner  bleibt  durch  nichts  zu  rechtfertigen; 
sie  ist  fast  schon  ein  gelinder  Skandal  zu  nennen  und  bildet 
ein  dunkles  Blatt  unserer  reichshauptstädtischen  Theater- 
geschichte, wie  so  manches  andere  mehr,  auf  dem 
dortigen,  so  kritischen  Boden  aus  den  letzten  Jahren !  .  .  . 

Das  alles  besagt  aber  nun,  wie  betont,  noch  lange 
nicht,  dass  man  dem  Schaffen  Weingartners  völlig 
kritiklos  gegenüber  zu  stehen  habe.  Wir  wollen  darum 
auch  gleich  die  Probe  auf's  Exempel  machen  und  hoffen, 
dem  Dichterkomponisten  trotzdem  mit  allen  gebührenden 
Ehren  gerecht  werden  zu  dürfen. 

Weingartners  kompositorische  Begabung,  sein  rein 
musikalisches  Können  hat  uns  von  jeher  die  grösste 
Hochachtung  abgerungen.  Er  besitzt,  bei  aller  (oft 
etwas  zu  eklatanten)  Nach  folger- Anlehnung  an  grössere 
Vorgänger,  doch  selbständig  für  sich  ein  gutes  melo- 


Digitized  by  Google 


Genesius. 


151 


disches  Vermögen,  viel  feinen  Sinn  für  aparte  Harmonik 
und  eine  feine  Instrumentationskunde,  die  nicht  selten 
Wirkungen  von  grossem  Reiz  hervor  zu  bringen  weiss, 
wie  wir  sie  uns  kaum  erinnern,  irgendwo  vorher  gehört 
zu  haben.  Auch  in  diesem  „Genesius"  sind  namentlich 
die  beiden  ersten  Akte,  sowie  ein  Teil  des  dritten,  reich 
an  mancherlei  interessanten  Episoden,  frappanten  Einzel- 
heiten und  z.  B.  auch  hervorragend  schönen  Chorpartieen. 
Wir  denken  da  gleich  an  den  ungemein  stimmungs- 
vollen Eingang  des  Ganzen  mit  dem  anziehenden  Bilde 
der  ernsten  Religionsversammlung  erster  Christen; 
weiterhin  an  Pelagia's  Erzählung,  dem  eine  so  eigenartige 
motivische  Einkleidung  im  Orchester  zu  Grunde  liegt; 
sodann  an  die  fesselnde  Überleitungsmusik  nach  dem 
Fallen  des  Zwischenvorhanges;  die  gewagten,  schneidend 
dissonierenden  Trompetenfanfaren  bei  Ankündigung  des 
Caesars  Diokletian;  das  bedeutsam  erfrischende  Auftreten 
der  Strassen  Sängerin  Claudia  mit  ihrem  dramatisch  so 
hinreissenden,  musikalisch  schlechthin  unvergesslichen 
Leibliede;  die  packende,  weil  deklamatorisch  überaus  ein- 
dringliche Aussprache  zwischen  Pelagia  und  dem  Kaiser; 
die  farbenreich  anmutigen,  belebt  wechselvollen  und 
ausserordentlich  charakteristischen  Szenen  des  Nymphen-, 
Satyrn-  und  Grazien- „Schauspiels  im  Schauspiel",  unter 
welchem  einige  entzückende  Frauenchöre  erklingen,  die 
den  Eindruck  erwecken,  als  ob  sie  vom  Komponisten 
aus  den  schönen,  tiefdunklen  Augen  seiner  liebreizenden 
jungen  Gattin  direkt  abgelesen  sein  könnten;  endlich 
noch  ausser  dem  (allerdings  etwas  konventionell  Wagneri - 
gierenden)  Vorspiele  zum  dritten  Akt,  aus  diesem  selbst 
wieder  die  düstere  Liebesbeichte  der  Claudia.  —  Darum 
aber  werden  doch  gewisse  gesuchte  Melismen  seiner 
Gesangspartieen,  selbst  bei  Öfterem  Anhören,  noch  nicht 
weniger  nichtssagend -widerhaarig  erscheinen;  trotzdem 
bleibt  das  Kapitel  der  allzu  zahlreichen  Anklänge  und 


Digitized  by  Google 


152 


Wagneriana.    Bd.  III. 


(wenn  auch  unbewussten)  Entlehnungen  doch  als  ein  im 
Grunde  heikles  bestehen,  und  wirkt  leider  überdies  noch  die 
Charakteristik  der  Hauptpersonen  weder  besonders  klar, 
noch  einheitlich  genug  —  zumal  durch  die  oft  allzu 
raschen,  widerspruchsvollen  Sinneswandlungen  einzelner, 
die  Handlung  tragender  Figuren.  Stellen  wir  aber  dann 
vollends  noch  die  „hochnotpeinliche  Gewissensfrage": 
„Haben  wir  es  bei  unserem  Werke  mit  einer  Original  - 
Schöpfung  an  sich  zu  thun?"  —  ja,  dann  steht  uns  aller- 
dings das  Epigonentum  an  Weingartner  grundsätzlich  ausser 
allem  Zweifel.  Schon  die  ganze  leitmotivische  Gestaltung 
könnte  etwas  mehr  Eigennote  aufweisen.  Indessen  auch 
sonst,  ganz  im  Allgemeinen,  ist  der  Komponist  genau 
genommen  mehr  eine  Begabung  mit  hervorragendem 
Können,  welche  die  Goldprägung  aus  der  Währung 
anderer  Machthaber  in  landläufig  gangbare  Scheidemünze 
meisterlich  umzusetzen  versteht  und  darum  vielleicht 
auch  dem  grösseren  Publikum  als  gewandter  und  wohl- 
beschlagener  Vermittler  (man  denke  nur  auch  an  seine  viel- 
seitige Thätigkeit  als  Komponist  und  Dichter,  Dirigent, 
Schriftsteller  und  kritischer  Redner)  ungleich  näher  als 
so  mancher  geniale  „Neutöner"  zu  stehen  kommt.  Unter 
allen  Umständen  also  scheint  uns  doch  das  Makler-Talent 
im  Komponisten  Weingartner  die  produktive  Phantasie 
bei  ihm  ganz  entschieden  zu  überwiegen.  Und  dass  diese 
Epimetheus- Physiognomie  einer  gewissen,  weitläufigen 
Durchschnittsbegabung  in  dem  sonst  so  gern  und  freudig 
anerkannten,  ebenso  reichen  als  reifen  Talente  auch  hier, 
beim  „Genesius",  immer  wieder  verräterisch  hindurch 
blickt,  das  zeigt  uns  vollends  eine  Trivialität,  wie  die- 
jenige in  den  Versen  auf  S.  50 f.  seines  Textbuches: 

„Gar  not  thut  es  in  unsrer  Zeit, 
Was  schön  sich  zeigt,  zu  preisen  laut, 
Da  vieles  Hässliche  ich  heut 
Auf  meiner  Tagesfahrt  erschaut4*, 


Digitized  by 


Genesius. 


153 


als  welche  fast  schon  wie  ein  Motto  zu  Weingartners 
eigener  Lebensanschauung  für  unser  Ohr  nun  „resonieren* 
will.  Wie  sagt  doch  auch  Bungerts  „Odysseus"  un- 
entwegt? — 

„Das  Schöne  und  Gute  siegt!"  . . . 

Ein  Vergleich  mit  seinen  Zeitgenossen  wird  das 
alles  noch  deutlicher  erweisen;  ja  geradezu  akut  wird  jene 
»kritische  Frage-,  so  bald  wir  Weingartner  mit  den 
engeren  „Kollegen  im  Wettbewerb  um  das  moderne 
Musikdrama"  konfrontieren  —  wie  es  denn  in  der  That 
von  grösstem  Interesse  sein  müsste,  die  drei  ominösen 
G  auf  diesem  mehr  heiklen  als  heiligen  Gebiete: 
„Genesius",  „Gernot*  und  „Guntram4*  unter  einander 
einmal  zu  analysieren  und  in  gemeinsamem  Vergleiche 
auf  ihren  besonderen  Wert  und  Gehalt  tiefgründiger  zu 
untersuchen.  Auch  die  „Ingwelde"  gehörte  ja  wohl  mit 
hierher  —  und  allenfalls  sogar  noch  der  allerneueste 
„Bärenhäuter"  „d  la  rruxle  WaynJrienne",  dafern  es  nur 
überhaupt  erlaubt  ist,  zu  vergleichen,  was  sich  genau 
genommen  doch  nicht  mehr  gut  vergleichen  lässt.  Da 
waltete  denn  also  nicht  der  geringste  Zweifel  ob,  dass  der 
„Genesius"  zwar  unbedingt  die  einzige  von  allen  diesen 
Erscheinungen  der  musikdramatischen  „Wagner-Schule* 
ist,  die  es  zu  einer  derartigen,  im  theatralischen 
Sinne  packenden  Bühnenwirksamkeit  ge- 
bracht hat  —  keiner  von  allen  Nebenbuhlern  erreicht, 
geschweige  denn  übertrifft  ihn  nämlich  an  äusserer 
Wirkung.  Den  romantisch- verschwommenen  „Gemot" 
d'Alberts,  mit  seinem  im  Grunde  doch  etwas  un- 
gereimten Mischmasch:  einer  Mollusk-Kombination  aus 
Wagner  und  Brahms,  überragt  „Genesius"  noch  ins- 
besondere durch  seinen  kräftigeren,  plastischen  Knochen- 
bau und  mit  seiner  schlagfertigen  Zugkraft,  zum  Mindesten 
in  der  ersten  grösseren  Hälfte.  Aber  „Ingwelde"  übertrifft 


Digitized  by  Google 


154 


Wagneriana.    Bd.  III. 


ihn  nach  unserem  Gefühl  denn  doch  schon  an  blendender, 
moderner  Farbenmischung,  so  sehr  auch  sie  noch  als 
ein  idealer  Nachklang  lediglich  der  Wagnerischen  Abend- 
röte gelten  darf.  Und  nun  gar  gegen  den  Strauss'schen 
„Guntram"  gehalten,  muss  der  „Genesius"  wohl  oder 
übel  dann  wohl  zurück  treten,  je  mehr  jener  nämlich  in 
frei  erfundener  Fabel  als  ein  tiefinneres,  ureigen-persön- 
liches Erlebnis  (mit  dem  Vorstosse  zugleich  einer 
„modernen"  Weltanschauung  und  deren  angemessen 
genialer  Neutönung)  sich  zu  erkennen  giebt.  Vor 
Allem:  „Welche  Weltanschauung  spricht  sich  aus?"  — 
das  ist  die  gewichtige  Frage,  die  hier  überall  wie  ein 
strenges  „Wer  da?"  ertönt  und  alles  heute  aus  diesem 
Revier  ernst  und  gewissenhaft  auf  Herz  und  Nieren  prüft. 
Da  kann  Weingartner  Strauss  und  selbst Schillings-Sporck 
gegenüber  doch  gar  nicht  mehr  anders,  als  den  Kürzeren 
zu  ziehen,  so  gern  auf  der  anderen  Seite  immer  wieder 
zu  bekennen  bleibt,  dass  Strauss  selber  es  noch  nicht 
zur  völligen  Emanzipation  vom  verbrauchten  Ideale 
der  „Erlösungsoper"  gebracht  hat,  vielmehr  mit  einem 
Fusse  gleichsam  noch  in  der  Schopenhauerei  als  solcher 
stecken  geblieben  ist.  War  Dieser  also,  genau  betrachtet, 
auch  für  einen  „Zwitter"  verantwortlich  geworden  — 
der  Zwitter  ward  im  „Genesius"  wahrlich  um  nichts 
geringer;  im  Gegenteil,  er  stellt  sich  um  so  peinlicher 
am  Schlüsse  ein,  als  er  zu  Gunsten  einer  konventionellen 
Reaktion  und  der  reaktionären  Konvenienz  einer  schalen 
Theater-Christenei  hier  ausgefallen  ist,  die  wir  bereits 
aus  Meyerbeers  „Hugenotten"  und  „Propheten"  mehr 
als  zur  Genüge  kennen. 

Als  mir  ein  Weimarer  Musiker  beim  gemeinsamen 
Verlassen  der  Hauptprobe  des  „Genesius"  kopfschüttelnd 
äusserte:  „Das  ist  mir  aus  dem  Schlüsse  vollkommen 
klar  geworden  —  mit  dem  Christentum  ist  auf  der 
Bühne  heut  nichts  mehr  zu  machen!". ..als  mir 


Digitized  by  Google 


Genesius. 


155 


dieses  Bekenntnis  einer  schönen,  auch  Opern  kom- 
ponierenden Seele  zu  Teil  wurde,  konnte  ich  zwar  nicht 
eben  widersprechen,  mich  aber  doch  auch  zugleich  eines 
stillen  Lächelns  nicht  erwehren.  Du  lieber  Himmel, 
braucht  das  ja  doch  nicht  gerade  das  Christentum, 
sondern  könnte  es  schliesslich  auch  jenes  leere,  her- 
kömmlich dekorative  Stück  der  längst  abgegriffenen  Begriffe 
nur  mehr  sein,  ohne  dass  der  Kern  damit  irgendwie 
schon  berührt  wäre  —  dieses  „Christentum",  mit  welchem 
auf  den  Brettern,  welche  die  Welt  und  zuweilen  auch 
eine  „Weltanschauung"  bedeuten,  heute  schlechterdings 
„nichts  Rechtes  mehr  anzufangen"  sein  soll!  Aber 
nein,  die  Sache  liegt  noch  tiefer,  wenn  wir  am  Verlaufe 
der  ganzen,  zuversichtlich  nicht  unbedeutenden  Handlung 
in  der  That  bemerken,  wie  ein  eitel  Textbuch-Christen- 
tum der  Coulissen-Schablone  und  der  bengalischen  Be- 
leuchtung in  unserer  Oper  sich  breit  macht,  das  zur 
hellenisch -römischen  Antike  etwa  so  steht  wie  der 
leichthin  absprechende,  weil  zuverlässig  nur  darauf  ein- 
gepaukte, „grüne"  Konfirmand  zum  so  genannten  „grauen 
Heidentume",von  dessen  indischer  und  egyptischerKultur- 
grösse,  oder  gar  dionysisch-apollinischer  Lebenstragweite 
er  ja  noch  keinerlei  blasse  Ahnung  hat;  oder  aber  zu  den 
finsteren,  „falschgläubigen  und  irregeführten"  Bruder-Kon- 
fessionen und  Ketzer-Sekten,  die  er  eigentlich  doch  nur 
vom  Hörensagen  kennt.  Und  nicht  viel  anders  verhält  es 
sich  hier  zugleich  wieder  mit  der  Musik,  so  bald  man  sie 
nach  ihrem  Charakter  im  Ganzen  und  nicht  nach  ihren 
Einzelheiten,  von  denen  wir  schon  lobend  gesprochen, 
einmal  zu  fassen  sucht.  Da  ertönt  z.  B.  zu  einer 
Blumenschmückung  junger  Römerinnen  im  2.  Akt  eine 
ungemein  reizvolle,  liebliche  Weise  von  Frauenstimmen 
—  aber,  aber:  das  passt  ja  zu  Stil  und  Schnitt  der 
leicht  geschürzten  Gewänder  an  den  schönen  Sängerinnen, 
vor  Allem  zu  dem  lebensechten,  sprühend-charakteristi- 


Digitized  by  Google 


156 


Wagneriana.   Bd.  III. 


sehen  Kostüm  der  im  Mittelpunkte  der  Handlung  stehenden 
„Strassen Sängerin"  Claudia,  genau  so  gut,  wie  etwa  — 
Mendelssohns  „Antigone" -Chöre  zum  sophokleischen 
Urbild  und  Originaldrama  gepasst  haben  würden!  Ich  kann 
versichern,  dass  ich  ein  recht  eigentümliches  Gefühl  zu 
überwinden  hatte,  als  ich  —  der  ich  unter  Tags  im 
„Nietzsche -Archiv"  droben  anhaltend  mit  der  (be- 
kanntlich ein  tiefgründiges  Weltbild  entrollenden)  »Geburt 
der  Tragödie-  beschäftigt  war  —  in  der  Generalprobe 
wie  in  der  Aufführung  diese  „antiken*  Vorgänge  da  oben 
auf  der  Bühne  mit  jener  „umwertenden"  Weltbetrachtung 
in  Vergleich  zog,  von  welcher  ich  soeben  erst  aufgeblickt 
hatte.  Wie  eine  Spätlingsfrucht,  welcher  die  Fatalität  eines 
viel  zu  spät  kommenden  Nachzüglers  an  der  Stime  ge- 
schrieben steht,  wollte  mir  alsdann  erscheinen,  was  sich 
hier  vor  meinen  Augen  ebenso  disharmonisch  abspielte, 
als  theatralisch  überaus  kontrastreich  entwickelte.  Und 
ich  muss  gestehen,  dass  ich  mir  persönlich  von  Wein- 
gartners  künstlerischer  Zukunft  zuversichtlich  auch  weit 
mehr  versprechen  würde,  wenn  er,  statt:  seiner  „Er- 
lösung" nach  der  sehr  alten  „Lehre  von  der  Wieder- 
geburt" eine  doch  immerhin  fragwürdige  „Priorität" 
des  Gedankens  eifersüchtig  zu  wahren,  lieber  die  ganz 
neue  Zarathustra-Idee  der  „Ewigen  Wiederkunft  des 
Gleichen"  in  einem  tiefsinnigen  „Weltmysterium" 
seinerseits  verarbeiten  und  für  eine  moderne,  wahrhaft 
dionysisch-musikalische  Ausgestaltung  zu  monumentaler 
Form  erst  einmal  bezwingen  wollte.  —  Im  Übrigen  sage 
ich  das  aber  beileibe  nicht,  weil  ich  am  Nietzsche-Archiv 
neuerdings  Mitarbeiter  geworden  bin  und  diese  „offizielle" 
Meinung  nunmehr  vor  aller  Welt  vertreten  zu  müssen 
glaube;  sondern  mit  Verlaub,  weil  ich  in  meiner  eigenen 
geistigen  Entwicklung  vor  geraumer  Zeit  schon  bei  der- 
artigen Gesichtspunkten  und  ihren  Konsequenzen  ganz 
naturgemäss  angelangt  war,  eben  darum  hatte  ich 


Digitized  by 


Genesius. 


157 


jenem  „Nietzsche- Archiv"  und  seinen  fördersamen  philo- 
sophischen Arbeiten  meine  Dienste  begeistert  auf  Zeit 
zur  Verfügung  gestellt. 

Eben  deshalb  auch  Hesse  sich  der  Gedanke  unter  Be- 
dauern hier  wohl  mit  erörtern,  ob  dieses  neue  musikalische 
„Erlösungs-Drama",  infolge  jener  (Berliner)  Verzögerung 
seiner  Wirkung  um  volle  sieben  Jahre,  nunmehr  nicht 
schon  etwas  zu  spät  auf  uns  gekommen,  d.  h.  um  seine 
beste,  die  eigentlich  beabsichtigte  Wirkung  gar  gebracht 
worden  sei.  Wenigstens  lässt  sich  nicht  eben  behaupten, 
dass  diesem  „Wein"  die  unverschuldet  lange  Lagerung 
besonders  trefflich  bekommen  habe.  Etwas  Spätgeborenes 
hängt  dem  Werke  nun  einmal  ersichtlich  an,  posthume 
Luft  weht  uns  Modernen  heute  aus  ihm  leider  entgegen. 
Man  darf  halt  doch  nicht  ganz  vergessen,  dass  in  den 
Jahren  zwischen  seiner  ersten  und  dieser  Weimarer 
Aufführung  einerseits  ein  Schisma  in  der  „Wagner-Frage" 
eingetreten  ist,  diese  Bewegung  seither  in  einen  kon- 
servierenden rechten  und  einen  sezessionistischen  linken 
Flügel  sich  vor  aller  Welt  gespalten  hat;  wie  anderer- 
seits Friedrich  Nietzsche's  „Antichrist"  mit  seiner  un- 
ergründlich tiefen  Psychologie  des  „Priesters"  in  der 
breiteren  Öffentlichkeit  mittlerweile  auch  noch  erscheinen 
sollte.  Das  sind  und  bleiben  Kultur-Thatsachen 
unserer  Tage,  mit  denen  jeder  schaffende  Geist  sich 
auseinanderzusetzen  hat,  denen  sich  auch  ein  Dichter- 
Komponist  wie  We ingart ner  auf  die  Dauer  kaum  ganz 
wird  entziehen  können.  Wohlgemerkt  und  ausdrücklich 
wiederholt:  ich  sage  damit  nicht,  dass  das  Christentum 
etwa  abgewirtschaftet  und  damit  schon  aufgehört  hätte, 
zu  existieren;  es  fällt  meinem  Geschmacke  nicht  im 
Geringsten  bei,  die  Bedeutung  dieser  hohen  Weltreligion, 
ihre  Macht  auf  die  Gemüter,  selbst  für  die  Zukunft 
noch,  frivol  und  dreist  zu  leugnen.  Indessen,  ein 
scharf  kritisiertes,  zum   Problem  gewordenes 


Digitized  by  Google 


158 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Christentum  sieht  notwendiger  Weise  anders  aus,  als 
ein  herkömmlich-übernommenes  der  alten  Kirchen- 
Dogmati  k  und  Historientradition;  nach  einem  solchen 
Marksteine  müssen  die  in  Frage  gestellten  Werte  notwendig 
neu  geschaffen,  erst  wieder  frisch  eingeführt  und  tiefer 
begründet  werden,  lässt  sich  eben  nicht  mehr  mit  der 
abgegriffenen  Münze  jener  „Parsifal "-Schablone  —  frei 
nach  „Tannhäuser"  —  als  einem  leeren  Theater-Sche- 
matismus vor  aller  Welt  noch  operieren,  ohne  die  Lebens- 
und Fortzeugungsfahigkeit  der  Idee  zugleich  ernstlich 
auf's  Spiel  zu  setzen.  Von  Alledem  aber  spürest  du  in 
der  Weingartner'schen  „Genesius"-Oper  „kaum  einen 
Hauch";  um  diese  Klippe  ist  das  sonst  so  fesselnde, 
nochmals  sei  es  hervorgehoben:  dramatisch  überaus 
wirksame  und  musikalisch  vielfach  höchst  wertvolle 
Werk  nicht  herum  gekommen;  es  ist,  als  wenn  ein 
Geist  wie  Nietzsche  gar  nicht  gelebt  und  niemals  das 
dionysische  und  apollinische  Kulturbild  hellenistischer 
Antike  vor  unseren  Augen  entrollt  hätte.  Und  fast 
fürchte  ich,  der  in  diesem  Sinn,  inhaltlich  wie  formell, 
musikalisch  wie  poetisch,  gleich  unmögliche  dritte 
Akt,  er  wird  ganz  unvermeidlich  so  der  Nagel  zum  Sarge 
dieses  (in  den  ersten  beiden  Akten  doch  so  schöne 
Anläufe  nehmenden)  Werkes  werden.  Zweifellos  bildet 
es  einen  menschlich-sympathischen,  im  Übrigen  gerade 
der  Hans  Herrig'schen  Vorlage  gegenüber  durchaus 
selbständigen  Zug  der  Weingartner'schen  Textdichtung, 
wenn  die  Christin  Pelagia  in  dem  Augenblicke,  da  der 
Geliebte  ihr  angehören  und  freien  Fusses  mit  ihr  ent- 
fliehen kann,  zum  Taumel  der  Lebensbejahung  er- 
wacht —  nur  schade,  das  diese  natürliche  Wandlung  in 
ihr  hier  viel  zu  spät  erst  kommt,  und  dass  ihre 
Opferung  schliesslich  mehr  aus  Anstand,  lediglich  mit 
der  sozialen  Rücksicht  auf  das  Los  der  übrigen  Brüder 
(an  das  sie  Genesius  eifrig  ermahnt),  denn  aus  reli- 


Digitized  by  Google 


Genesius. 


159 


giösem  Fanatismus  heraus  erfolgt.  Ihr  Seelenkampf  im 
ersten  Akte  war  im  Verhältnis  zu  dieser  daseins- 
freudigen Aufwallung  jedenfalls  ein  viel  zu  kurzer  und 
allzu  leicht  überwundener;  ihre  Bussfertigkeit  dort  zu 
rasch  und  wie  von  selbt  verständlich.  Sogar  die  präch- 
tige Gestalt  der  Strassensängerin  Claudia  kippt  im  letzten 
Momente  zu  einer,  für  ihren  Charakter  unglaublich  in- 
konsequenten Mitleids-  und  Entsagungsschwärmerei  hier 
um;  kurz,  wo  dramatisches  Leben  und  der  Pulsschlag 
des  natürlichen  Blutes  herrschen  sollte,  werden  wir 
mit  mystischer  Heils-Spekulation  abgespeist,  und  geistig 
wie  leiblich  hungernd  gehen  wir  darauf  hin  nach  Hause, 
je  mehr  beim  Fortgange  der  Handlung  in  den  beiden 
ersten  Akten  doch  der  Appetit  unter'm  Essen  uns  kräftig 
angekommen  war. 

„Die  Strassensängerin  Claudia  .  .  .  der  Appetit 
uns  angekommen  war"!  Wie  Hanslick  seinerzeit  vom 
Wagnerischen  „Parsifal"  gewitzelt  hat:  es  sei  doch  gar 
zu  artig,  in  welch  verräterischer  Weise  der  eigentliche, 
echte  Wagner  des  Venusberges  aus  dem  2.  Akte  des 
„Parsifal"  (mit  den  Blumenmädchen)  wieder  heraus  gucke 
—  mit  noch  ungleich  mehr  Berechtigung  Hesse  sich 
ganz  gewiss  vom  „Genesius"-Drama  nun  sagen,  dass 
mit  dem  faszinierenden  Auftreten  dieser  Strassen- 
sängerin erst  der  „wahre  Jakob"  der  Handlung  beginne: 
„la  gaya  scienza"  der  leichten  Füsse  und  der  lachenden 
Lebensbejahung,  die  wahrhaft  antike  „Renaissance"  des 
Leibes  im  Gegensatze  zu  der  christlich -mystischen 
Gnadenwirkung  einer  Wiedergeburt  aus  dem  Wasser 
und  Geist  1  „Dem  Sturme  gleichend,  frei  und  fröhlich, 
flieg'  ich  dahin  — "  so  singt  unsere  junge  Bacchantin, 
und  fast  schon  klingt  es  wie  Nietzsche's  „An  den  Mistral", 
jene  lustigen  Wirbelwind-Verse  aus  den  „Liedern  des 
Prinzen  Vogelfrei".  Wie  bedauerlich,  jammerschade,  dass 
eben  diese  hinreissend  lebensvolle  Gestalt,  die  einzige 


Digitized  by  Google 


160 


Wagneriana.    Bd.  III. 


wirklich  lebendige  in  unserem  Drama,  ganz  zum 
Schlüsse  hin  eben,  wie  beschrieben,  so  jammervoll 
ihren  eigentlichsten  Charakter  verleugnet  und  „wunder- 
bar" genug  in  eine  Resignations- Anwandlung  verfällt! 
Es  wäre  sonst  auch  gar  zu  unbegreiflich,  dass  Genesius 
sich  nicht  für  dieses  Wesen  weit  lieber  entschieden 
hätte,  um  an  ihm  von  der  traurigen  Schwindsucht  zum 
frischen  Leben  zu  —  .genesen".  Etwas  mehr  vom  „Gott 
und  der  Bajadere"  hätte  hier  wahrlich  nicht  schaden 
können.  —  Aber  auch  eine  Art  Salome  vor  dem  Suder- 
mann'schen  „Johannes"  (ist  dieser  „Genesius"  ja  doch  ein 
Septennat  schon  altt)  begrüssen  wir  in  besagter  Figur, 
wie  zuletzt  auch  in  der  ganzen  Situations-  und  Kontrast- 
schilderung. Und  hier  ist  es  zugleich,  wo  der  Ab- 
klang in's  Meyerbeer'sche  an  unserer  Oper  zeitweilig 
doch  kaum  mehr  zu  verkennen  sein  wird.  Nicht,  dass 
Weingartner  allzu  leichtfertig  etwa  dem  leeren,  wohl- 
feilen „Effekte"  huldigte  und  rein  technisch  oder  im  musi- 
kalischen Stil  am  Ende  gar  an  jenen  Faiseur  lebhafter 
erinnerte.  Da  sei  der  Himmel  vor,  dass  wir  ihm  dies 
vorwerfen!  Aber  bei  dem  historisierenden  Hinter- 
grunde der  Seelenhandlung  seines  grossen  musikalischen 
Erlosungs-Drama's  taucht  unwillkürlich  so  etwas  wie 
das  Gespenst  der  alten  grossen  H  i  stori  en  oper  zu- 
gleich mit  auf,  und  es  blieb  daher  nicht  vollständig  zu 
vermeiden,  dass  in  Situationen,  starken  Gegensätzen,  mit 
Aufmärschen,  wie  mit  der  Behandlung  des  Ensemble's 
im  Sinne  einer  „Emanzipation  des  Chores",  eine  Re- 
miniscenz  gleichsam  an  jene  hie  und  da  sich  ganz  leise 
mit  einstellt.  Ein  Spuk  —  weiter  nichts;  aber  doch 
beunruhigend  und  den  Charakter  der  Einheit  erheblich 
trübend.  Überdies  ja  ist  noch  gar  mancherlei  „der 
Augen  und  der  Sinne  Lust"  darin  mit  gegeben,  was 
das  Werk  prickelnd  und  zugkräftig  macht  —  wiederum 
bis  zu  dem,  allerdings  ganz  unmöglichen  3.  Akte  hin, 


Digitized  by 


Genesius. 


161 


wo  mit  der  ecclesia  militant  dann  freilich  auch  die 
konventionelle  Langeweile  gründlich  „triumphiert".  — 
Mit  einem  Worte:  es  weht  uns  zu  viel  ungesunde, 
nach  den  gegebenen  Voraussetzungen  nicht  mehr  ganz 
natürliche  „Parsifal"-Imitation ,  eine  mitunter  ganz  un- 
leidlich hektisch  anmutende  „Erlösungs"-Stickluft  ek- 
statisch-mystischer Askese  entgegen  aus  diesem  3.  Auf- 
zuge unseres  (in  den  ersten  beiden  Akten  stellenweise 
doch  geradezu  rotwangig-gesunden)  Musikdrama's. 

Anlässlich  der  Berliner  Premiere  schrieb  der  un- 
erschütterlich getreue  AnwaltWeingartner'scher  Muse  Otto 
Lessmann,  in  seiner  „Allgemeinen  Musik-Zeitung*4: 
„Wer,  wie  er,  ohne  jede  Rücksicht  auf  den  Beifall  der 
Menge  schafft,  wird  einer  sachgemässen  Kritik,  auch 
selbst,  wenn  sie  ohne  besonderes  Wohlwollen  geschrieben 
wird,  stets  ein  williges  Ohr  leihen"  .  . .  Demnach  darf 
ich  hoffen,  der  Dichterkomponist  wird  meine  Aussprache 
zu  würdigen  wissen,  um  so  mehr,  als  ich  noch  dazu  das 
aufrichtigste  und  lebhafteste  Wohlwollen  seinem  Schaffen 
gegenüber  deutlich  bekundet  zu  haben  glaube  und  jeden- 
falls empfinde.  Aber  allerdings,  das  muss  ich  zugleich 
offen  gestehen:  so  recht  warm  von  innen  heraus  hat 
mich  seine  Musik  nur  ganz  selten  noch  gemacht.  Auch 
dieser  „Genesius"  interessiert  musikalisch  ganz  ausser- 
ordentlich; er  gewinnt  durch  wuchtige  deklamatorische 
Akzente,  anziehende,  lebendig  bewegte  Bühnenvorgänge 
und  packt  sogar  durch  gelegentliche  Verwechslung  eines 
rein  Dramatischen  mit  dem  spezifisch  •  theatralischen 
Knalleffekt;  aber  er  lässt  „kühl  bis  an's  Herz  hinan" 
trotz  (oder  vielleicht  gerade  wegen)  der  grossen 
Flammen-Entwicklung  seiner  Christenverbrennung  zum 
sogenannt  „guten  Ende".  Und  dieser,  etwas  verdächtig 
auch  noch  an  das  Ende  der  Halevy 'sehen  , Jüdin"  ge- 
mahnende Feuertod-Abschluss  des  Ganzen  —  er  wird 
wahrlich  dadurch  um  nichts  eingänglicher  oder  auch 

Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  11 


Digitized  by  Google 


102 


Wagneriana.    Bd.  III 


nur  erträglicher  für  unsere  Nerven,  dass  er  mit  seinem 
unglaublich  flinken  Verbrennungsprozesse  selber  eine 
gewisse  „aktuelle"  Analogie  zum  modernen  „Krema- 
torium" herstellt!  .  .  . 

Weingartner  ist  seit  seinerjüngerschaft  bei  Franz  Liszt 
und  der  Premiere  seiner  Jugendoper  „Sakuntala"  (1884) 
mit  Weimar  dauernd  in  sehr  regen  und  auch  guten 
Beziehungen  gestanden;  mit  lebhafter  Anteilnahme  hat 
man  hier  von  seiner  sinfonischen  Dichtung  „Das  Ge- 
filde der  Seligen",  seiner  klangvollen  Instrumentation 
zu  Webers  „Aufforderung  zum  Tanz",  einer  Reihe  von 
Liedern,  sowie  (erst  jüngst)  von  seinem  neuen  „Streich- 
quartett*' im  Laufe  der  Jahre  Kenntnis  genommen.  „Mala- 
wika"  allerdings  (aufgeführt  1886  zu  München),  ferner  das 
Tongedicht  auf  „König  Lear*',  sowie  seine  erste  Sinfonie 
(G-dur)  schienen  hier  bisher  noch  unbekannt  geblieben  zu 
sein.  Im  Übrigen  aber  ist  dieses  kleine  Weimar  noch  immer 
und  immer  „mit  Nichten  die  geringste  unter  den  Kunst- 
stätten in  Deutschland".  Und  das  ist  denn  nur  gut  so, 
und  wird  hoffentlich  noch  recht  lange  auch  also  bleiben  I 

—  Frau  Burckard  (als  Pelagia),  die  Herren  Zeller 
(Genesius),  Strathmann  (Christen  -  Ältester)  und 
sogar  Herr  Gmür  (Kaiser  Diokletian)  nahmen  ihr 
„Rollenkreuz"  in  demütig  -  selbstloser  Hingabe  an  den 
ihnen  wohl  oft  recht  unbegreiflichen  Ratschluss  des 
Komponisten  willig  auf  sich  und  trugen  es  mit  aller 
ihnen  zu  Gebote  stehender  christlicher  Würde;  während 
Frl.  Schoderin  bacchantisch-lustvoller  Grosszügigkeit 

—  jeder  Zoll  schönheitstrunkene  Künstlerin !  —  eine  be- 
rückende „Antichristin"  dem  entgegen  stellte  und  die  leib- 
haftige „Umwertung  der  Werte"  im  Sinne  des  positiven 
Lebensbildes  mit  den  verlockendsten  Farben,  Tönen 
und  Tänzen  faszinierend  verkörperte.  Selbst  das  sonst 
wohl  einmal  »menschlich-allzumenschliche"  Orchester 
hatte  sich  unter  dem  gebietenden  „Herren"-Szepter  des 


Digitized  by  Google 


Genesius. 


163 


sein  Werk  persönlich  vertretenden  Komponisten  an  diesem 
Abende  zur  vollendeten  „Sklavenmoral"  bekehrt:  es  war 
ein  Hirt  und  eine  Herde,  es  herrschte  ein  Sinn  und 
eine  Seele.  Kurzum,  es  war  halt  wieder  ein  Ehrentag 
für  Ilm- Athen,  und  ohne  Zweifel  zugleich  eine  Art  von 
Ehrenrettung;  ein  Fest-  —  und  kein  „kritischer  Tag 
erster  Ordnung".  Bei  allen  kundigen  Thebanern  herrschte 
obendrein  das  bekannte  „Schütteln  des  Kopfes",  wieso 
Berlin  sich  anno  dazumal  nur  derart  vergessen  konnte 
etc.  etc.  —  ich  brauch*  mich  jetzt,  nach  allem  Voraus- 
gegangenen, ja  wohl  nicht  weiter  mehr  darüber  aus- 
zulassen. 


Ii» 


Digitized  by  Google 


Kain 

Textdichtung  von  Heinrich  Bulthaupt;  Musik  von 

Eugen  d'Albert 

(1900) 

Eine  Unvereinbarkeit  zweier  Weltanschauungen,  im 
Grunde  genommen  „Inkonsequenz*,  ist  mir  an  dem, 
allenthalben  und  berechtigter  Weise  ein  so  gross  Auf- 
sehen erregenden,  als  das  reife  Werk  bedeutenden 
meisterlichen  Könnens  und  ernsten  künstlerischen 
Schaffens  sonst  so  überaus  beachtenswerten  d'Alb er t- 
Bulthaupt'schen  «Kain*  sofort  nach  Anhören  auf- 
gefallen. Mein  Haupt  bedenken  angesichts  dieser 
Schöpfung  ist  nämlich  dieses:  dass  jener  düster- welt- 
schmerzliche Pessimismus  ganz  augenscheinlich  nicht 
als  des  Komponisten  eigenste,  persönliche  »Welt- 
anschauung* anzusehen  ist,  die  er  selbst  er-  und 
durchlebt  hätte;  dass  er  diese  philosophische  Dich- 
tung also  nur  auf  dem  Umwege  der  Reflexion  und  der 
Nachempfindung  in  schön-geistiger,  aber  nicht  eigentlich 
mit  innerer  Anteilnahme  in  Musik  gesetzt  haben  kann. 
Mein  zweiter  Kardinaleinwand  wiederum  ein  solcher 
gegen  den  Textverfasser  und  „  Wagnerianer*  (vergleiche 
Kürschners  „ Wagner-Jahrbuch*  1886)  Prof.  Dr.  Heinrich 
Bulthaupt,  des  Inhaltes:  dass  er  —  bei  aller  Fein- 
sinnigkeit, mit  welcher  er  dem  Byron'schen  Mysterien- 


Digitized  by 


Kain. 


165 


vorwürfe  dichterisch  nachzugehen  suchte,  und  bei  allem 
preisenswerten  dramaturgischen  Geschicke,  mit  dem  er 
hier  die  Hauptzüge,  zum  Teil  in  selbständiger,  ver- 
einfachender Umgestaltung,  zur  knappen  Plastik  eines 
•Einakters"  zusammen  zu  drängen  wusste  —  bei  alledem 
doch  den  entscheidenden  Schritt  zu  thun  und  das 
alte  Menschheitsdrama,  durch  beherzten  Griff  in's 
moderne  Bewusstsein  hinein,  völlig  neu  zu  gestalten 
und  wahrhaft  zeitgemäss  zu  wandeln,  sich  leider  scheute. 

Zwei  Wege  standen  ihm  nach  meinem  Gefühle 
klar  und  deutlich  offen.  Entweder  er  griff  schlicht 
und  stark  lediglich  zur  einfachsten,  rein  menschlichen 
Psychologie  des  primitivsten  Urzustandes,  ohne  alle 
modernen  Anwandlungen,  zurück.  Dann  handelte  es 
sich  hier  um  eine  Eifersuchts- Tragödie  des  in  seiner 
rauheren  Art  von  Gott  und  Welt  sich  zurückgesetzt 
wähnenden  Bruders,  der  auf  den  andern,  durch  sein 
Wesen  schon  alle  Herzen  gewinnenden  „ Musterknaben" 
seinen  ganzen,  jähzornigen  Hass  geworfen  hat,  je  ohn- 
mächtiger er  selbst  sich  fühlt,  es  ihm  jemals  an  Liebens- 
würdigkeit gerade  gleich  thun  zu  können.  Und  damit 
stände  nur  in  guter  Ubereinstimmung  die,  von  Bult- 
haupt (auf  Grund  eines  R.  Wagnerischen  Ausspruches 
zur  Sache)  versuchte,  neuzeitliche  Abänderung  der  Opfer- 
Substanz  der  Beiden,  und  zwar  im  Sinne  unseres  heutigen 
Vegetarismus  —  denn  der  Fleischesser  ist  von  derberer 
Muskulatur  und  heftigerer  Art,  wogegen  der  Pflanzen- 
esser sanfter  und  von  Herzen  freundlicherer  Natur  zu 
sein  pflegt. ...  Oder  aber,  er  folgte  kühn  Byron'schen 
Spuren.  Alsdann  aber  war  Romantik  energisch  zum 
Heroismus,  Schopenhauer  beherzt  auch  gleich  in 
Nietzsche  fortzubilden,  der  antichristlich-prometheische 
Trotz  Kains  und  sein  brutaler  Totschlag  nur  im  Sinne 
des  „Herrenmenschen",  als  Bejahung  und  Rechtfertigung 
des  Lebens  als  solchen  —  jenseits  von  Gut  und 


Digitized  by  Google 


166 


Wagneriana.   Bd.  III 


Böse,  sowie  zu  einer  „diesseitigen"  Ergreifung  des  selbst 
geschmiedeten  Schicksals  ohne  Götter  über  der  Welt, 
konsequenter  Weise  umzudeuten.  D  a  nach  musste  Abel 
gleichsam  der  erste  „Christ**  auf  Erden  sein,  in  demütiger 
Selbstverleugnung  und  Opferfreudigkeit  gegen  den  durch 
Fehl  seiner  Eltern  tief  erzürnten  Gott,  in  pessimistischer 
Verneinung  einer  durch  den  Sündenfall  vom  Paradiese 
zum  Jammerthal  umgeschaffenen  Welt  und  in  todes- 
sehnsüchtiger Erlösungs-Bedürftigkeit  sein  eigen  Leben 
dem  Überirdischen  allein  nur  weihend  —  Kain  aber  gerade 
zum  optimistischen,  selbstherrlich  -  freien  Segner  dieses 
Lebens  ohne  allen  „Gewissensbiss"  werden,  der  —  mit 
dem  Sehnsuchtsideale  des  zu  züchtenden  „Übermenschen** 
in  der  Brust  —  ein  v i  tal  e  s  Interesse  daran  findet,  diesen 
Preis  der  „jenseitigen**  Tugenden,  dieses  im  Beten  ab- 
sterbende, statt  in  Arbeit  wachsende  Geschlecht  als 
entwicklungshemmend  rechtzeitig  aus  dem  Wege  zu 
räumen.  S  o ,  mein'  ich,  wäre  das  Problem  klar,  modern, 
packend  und  überzeugend  zugleich,  gestellt  gewesen, 
wobei  es  ohne  alle  aktuelle  Aufdringlichkeit,  im  ele- 
mentaren Sprachausdrucke  ganz  gut  hätte  hergehen 
können. 

Bulthaupt  jedoch  hat  sich  nun  glücklich  wieder 
zwischen  diese  beiden  Stühle  setzen  zu  müssen  ge- 
glaubt, hat  meines  Erachtens  dicht  vorbei  gegriffen,  ist 
zaudernd  und  unentschieden  auf  halbem  Wege  der 
modernen  „Umwertung**  schon  stehen  geblieben  und 
hat  damit  auch  den  Komponisten  nicht  nur  seiner 
besten,  entscheidendsten  Wirkungen  beraubt,  sondern 
ihn  auch  noch  zwangvoll  —  nolens  volen*  —  auf  Schu- 
mann'sche  „Manfred** -Stimmungen  zurück  geschraubt: 
wobei  denn  glücklich  „Luzifer**,  statt  dramatisches  Agens 
zu  werden,  als  rein -lyrische  Vision  im  Magier- Dunkel 
des  Hintergrundes  verbleibt.  Abel  singt  im  Gegenteile 
jetzt  eine  wunderschöne  Leibnitz'sche  „Theodicee**  zum 


Digitized  by  Google 


Kain. 


167 


Preise  des  Schöpfers  der  besten  der  möglichen  Welten,  und 
Kain  endet  hübsch  „moralisch",  getreu  nach  der  Schrift, 
als  „gezeichneter"  Sünder,  in  zerknirschter  Reu',  Busse  und 
weltflüchtiger  Scheu,  statt  als  pantheistischer  Antichrist- 
Ahasver  unzerstörbaren  Lebens,  als  Dionysos  einer 
„ewigen  Wiederkehr  des  Gleichen",  wie  es  doch  sogar 
schon  dem,  sonst  gewiss  nicht  allzu  modern  gesinnten, 
Weingartner  (vgl.  dessen  „Lehre  von  der  Wiedergeburt" 
mit  dem  Mysterien-Entwurf),  so  weit  es  Kain  wenigstens 
betrifft,  als  Anregung  entnommen  werden  konnte  .  .  . 

Kommt  noch  hinzu,  dass  d*  Albert  seinerseits,  oft  sehr 
zum  eigenen  Nachteile,  auch  hier  wieder  seinen,  in  der 
„Zukunft"  dereinst  verfochtenen,  künstlerischen  Prinzipien 
treu  geblieben  ist,  wonach  er  eine  Mischung  von  Wagner 
und  Brahms  in  seinem  Musikdramen-Stil  anstreben 
will  —  ohne  es  freilich  zu  mehr  als  einer  Kombination 
des  unvermittelten  Nebeneinander  bringen  zu  können,  da 
sich  Beides  nun  einmal  ebenso  wenig  amalgamieren  wie 
Feuer  und  Wasser  zusammen  bringen  lässt.  So  gelangt 
er  denn  nicht  selten  in  die  missliche  Lage,  dort  „fort- 
z u musizieren"  und  eine  begonnene  Tonphrase,  mehr 
als  absoluter  Musiker,  hübsch  weiter  zu  spinnen,  wo 
—  unter  scharfer  Abhebung  und  eventuell  sogar  schroffer 
Unterbrechung  —  der  charakteristische  poetische  Aus- 
druck im  Orchester,  und  schlagkräftige  Handlung,  oder 
eben  doch  „drastische"  Deklamation,  auf  der  Bühne 
belebend  einsetzen  müssten.  Schenkt  er  hingegen  Wagners 
Lehren  und  Beispielen  willig  Gehör,  dann  erleben  wir, 
zumal  in  symphonischen  Instrumental-Episoden,  immer- 
hin bedeutsame,  zum  Teil  ganz  grossartige  und  ergreifende 
Höhenmomente,  die  zum  Bemerkenswertesten  und  Besten 
der  neueren  musik-dramatischen  Litteratur  überhaupt 
gehören. 

Trotzdem  vermochte  das  Ganze  doch  nicht  tiefere 
Spuren  beim  Hörer  zu  hinterlassen.  Je  nun,  den  einen 


Digitized  by  Google 


168  Wagneriana.    Bd.  III. 


Hauptgrund  für  diesen  Mangel  an  nachhaltiger  Ein- 
dringlichkeit glaube  ich  bereits  geschildert  zu  haben.  Und 
überdies  —  wie  man  Bilder  in  Ausstellungen  tot  hängen 
kann,  so  vermag  man  auch  Bühnenwerke  durch  den  ganzen 
Apparat  und  die  besonderen  Umstände  ihrer  Servierung 
tot  zu  schlagen.  Es  muss  leider  gesagt  werden,  dass  die 
Münchner  Hofopern -Intendanz  dieses  Kainszeichen 
dem  d,Albert,schen  Werke  gegenüber  sich  zugezogen 
hat.  Mit  einer  solchen  Neuheit  zusammen  ein  so  un- 
sinnig langweiliges  und  unglaublich  langweilendes  Ballett 
wie  »Der  Blumen  Rache*  von  Rob.  v.  Hornstein  zu  geben, 
ist  eine  unverzeihliche  Todsünde,  die  gleich  derjenigen 
Kains  oder  des  Judas  nicht  wohl  gesühnt  werden  kann. 
Wohlgemerkt :  ich  bin  nicht  etwa  der  Ansicht,  dass  ein 
Ballett  stets  ein  „Unterhalb  der  Kunst"  nur  vorstellen 
müsse.  Ein  gutes,  d.  h.  künstlerisch  wertvolles  Ballett  mit 
geistreicher  Musik  —  ä  la  bonne  heure;  und  was  ein 
solches,  den  ästhetischen  Menschen  wirklich  befrie- 
digendes Ballett  sein  kann,  weiss  ich  nur  zu  gut  von 
der  glänzenden  Dresdner  Hofoper  her  zu  würdigen. 
Jener  „Todsünde"  zur  Seite  trat  zudem  gar  noch  am 
Premieren- Abende  selbst,  die  viel  besprochene,  un- 
verantwortliche Ungeschicklichkeit  mit  dem  Theater- 
vorhang, die  den  Beifall  geradezu  morden  musste  und 
die  beste  Wirkung  an  entscheidender  Stelle  abkappte. 
Aber  auch  im  n Dekorationswesen4*  zu  dieser  Urtragödie 
der  Menschheit  sah  es  (im  wörtlichen  und  übertragenen 
Sinne)  «windig"  genug  aus.  Ich  will  nicht  davon  reden, 
dass  das  Szenische  mehr  an  die  germanische  Alpen- 
welt denn  an  asiatisches  Urland  mit  tropischer  Vege- 
tation erinnerte;  aber  es  ist  bei  uns  immer  wieder  die 
alte,  leidige  Misere:  unsere  Hofoperndirigenten  sind  viel 
zu  wenig  Operndirektoren,  sie  wirken  nicht  über  die 
Rampe  hinaus,  auch  leitend  und  Ton  angebend  auf  die 
schauspielerische  Darstellung  ein,  frei  gebietend  für  den 


Digitized  by  Google 


Kain 


169 


ganzen  dramatischen  Aktus.  Da  oben  »regieren"  immer 
wieder  nur  die  Herren  von  Possart  und  Lautenschläger 
mit  ihren  dekorativen  Effekten,  komödiantischen  Allüren 
oder  maschinellen  Kuriositäten.  Das  bringt  jenes  alte, 
ruhmvolle  Institut  nachgerade  noch  total  in  Verruf, 
und  das  wird,  furcht*  ich,  auch  mit  und  unter  Hermann 
Zumpe,  wie  im  neuen  9  Prinzregenten  -Theater*,  nicht 
sehr  viel  anders  werden. 


Digitized  by  Google 


Max  Schillings*) 

(1901) 

Auch  das  musikalische  München  wird  zu- 
sehends „moderner*4.  Drei  grosse,  ganz  ausserordent- 
liche Konzerte  in  einer  Saison:  zuerst  Gustav  Mahler, 
dann  Richard  Strauss,  und  jetzt  wieder  Max  Schillings 
—  ich  glaube,  die  Münchner  Musikfreunde  können  sich 
nun  wirklich  nicht  mehr  beklagen  I  Wenigstens  war 
das  vor  wenigen  Jahren  noch  ganz  anders  hier  zu  Lande. 
Wir  aber  können  es  Herrn  Schillings  recht  wohl  nach- 
empfinden, wenn  er  als  einer  der  annoch  etwas  Zurück- 
gesetzten den  Drang  nach  praktischer  Selbstbethätigung 
in  sich  verspürt,  schon  um  einmal  auch  nach  positiver 
Seite  hin  lebendig  zu  ergänzen,  was  er  das  Jahr  zuvor 
in  einer  viel  beachteten  öffentlichen  Polemik  zur  lokalen 
Dirigentenfrage,  ohne  jede  Rücksicht  auf  seine  eigene 

*)  In  diesem  besonderen  Falle  mag  es  verstattet  sein,  von 
meinem  eigenen  Grundsatze:  nur  in  der  realen  Bühnenwirkung 
geprüfte  Opernkompositionen  hier  besprechen  zu  wollen,  aus* 
nahmsweise  einmal  abzuweichen,  indem  ich  hier  einen  Konzert- 
bericht mit  einfüge.  Merkwürdiger  Weise  sollte  es  mir  nämlich 
bis  dato  noch  niemals  vergönnt  sein,  irgend  einer  der  Auf- 
führungen Schillings'scher  Werke  (in  Karlsruhe,  Wiesbaden, 
München,  Berlin,  Weimar,  Schwerin,  Leipzig,  Magdeburg,  Bremen, 
Hamburg  etc.)  persönlich  anwohnen  zu  können.  Und  eine  mu- 
sikalische Potenz  wie  diesen  Meister  in  solchem  Zusammenhange 
gar  nicht  näher  zu  würdigen,  wollte  doch  nicht  gut  angehen. 

D.  Verf. 


Digitized  by  Google 


Max  Schillings. 


171 


Person  (denn  es  ist  ihm  bei  unseren  Machthabern  zunächst 
schlecht  genug  bekommen,  die  ihn  seither  vollends  gar 
ignoriert  haben)  mehr  theoretisch  anzuschneiden,  den 
Mut  hatte.  Sein  auf  eigene  Faust  nun  unternommenes 
Komponistenkonzert  am  Abende  des  30.  März  —  es  war 
nicht  nur  hervorragend  im  Programm,  es  war  auch 
glänzend  im  Resultate;  ja,  es  erbrachte  den  klaren  Beweis 
eines  bedeutenden,  wahrlich  nicht  mehr  zu  übersehenden 
Fortschrittes  in  seiner  künstlerischen  Eigen- 
ständigkeit seit  der  Oper  „Ingwelde",  und  der  Kom- 
ponist hatte  den  Triumph,  allgemein  die  Frage  auf- 
geworfen zu  sehen:  nicht  allein,  warum  jene  „Ingwelde" 
so  bald  schon  wieder  vom  Spielplane  der  Münchner 
Hofoper  seinerzeit  verschwunden  war,  sondern  auch, 
warum  uns  Werke  wie  der  „Pfeifertag4*  und  die  „Orestie", 
oder  auch  der  symphonische  Prolog  zu  Sophokles' 
„König  Oedipus"  u.  a.  dauernd  Seitens  unserer  offiziellen 
Musikinstitute  und  Konzertveranstaltungen  wohl  vor- 
enthalten werden.  Es  giebt  Pflichten,  meine  sehr  ver- 
ehrten Herren!  —  hier  wie  dort,  in  jedem  Amt  und 
in  jeder  Sphäre.  Und  demnach:  sunt  certi  denique 
fines  —  d.  h.  endlich  einmal  müssen  solche  Versäum- 
nisse auch  ihre  natürlichen  „Reaktionen"  finden. 

Schillings  ist  unter  den  zeitgenössischen  Musikanten 
ein  Aristokrat  vom  Scheitel  bis  zur  Sohle.  Wie  sich 
schon  der  äussere  Habitus  des  Abends,  bis  in  den 
apart-geschmackvollen  Druck  des  Vortragszettels  hinein, 
mit  durchgebildeter  Vornehmheit  anliess,  so  auch 
hatte  jener  Kulturfreund  wohl  unbedingt  Recht,  welcher 
mir  gegenüber  den  Eindruck  des  Konzertes  beim  Aus- 
gange kurz  dahin  zu  charakterisieren  versuchte:  dass 
Max  Schillings  keine  unvornehme  Note  je  zu  schreiben 
vermöchte,  und  daher  auch  nicht  ein  einziger  un- 
anständiger Ton  in  diesem  ganzen,  reichen  Konzerte  zu 
vernehmen  gewesen  wäre.  Mochte  nun  aber  in  früheren 


Digitized  by  Google 


172 


Wagneritna.   Bd.  III. 


Phasen  seiner  geistigen  Entwicklung  die  Befürchtung 
vielleicht  noch  nahe  liegen,  dass  solche  innere  Vor- 
nehmheit und  solcher  äussere  Wohlschliff  guter  gesell- 
schaftlicher Formen  den  Musiker  Schillings  der  Gefahr 
einer  gewissen  Glätte  aussetzen  könnte  —  hier,  an- 
gesichts dieser  Vorführung  vom  neuesten  Stande  seines 
gehaltvoll-ernsten  Schaffens,  mussten  sich  solche  klein- 
mütige Bedenken  in  ein  Nichts  alsbald  auflösen.  Schon 
früh,  bald  nach  seinem  ersten  Hervortreten  (zu  Karls- 
ruhe) in  die  musikalische  Öffentlichkeit,  galt  Schillings 
als  einer  unserer  ersten,  gediegensten  und  sublimsten 
Polyphoniker;  ja,  man  schätzte  seine  feine,  selbständige 
Harmonik  noch  besonders  und  ganz  ausnehmend,  mass 
ihr  eigenartige,  ungewohnt  neue  Reize  vor  vielen  An- 
deren schon  sehr  frühe  bei.  In  Sonderheit  war  man  sich 
schon  lange  darüber  klar,  dass  hier  ein  dekoratives 
Talent  allerobersten  Ranges  von  ganz  individueller  Note, 
mit  glänzenden  Gaben  und  einem  wahrhaft  blühenden 
Farbenreichtum  ä  la  „Secession",  in  den  modern-musi- 
kalischen Wettbewerb  mit  eingetreten  war.  Und  das 
Bemerkenswerte  dabei  war  obendrein  noch,  dass  diese 
berauschende,  tief  gesättigte  Farbenpracht  niemals  herb 
und  wild  sich  gab,  Keinem  je  wehe  that,  so  blendend 
sie  sich  auch  gar  oft  entfalten  mochte;  dass  diese  kühne 
und  komplizierte  Polyphonie  einer  reich  bewegten,  unruh- 
vollen Ton-See  doch  stets  mit  dem  edelsten  Wohlklange 
gepaart  auftrat  und  im  Grunde  keinerlei  schmerzvolle 
„Kakophonien"  je  aufkommen  Hess.  Allein  ebenso  wenig 
durfte  man  sich  damals  auch  der  Sorge  verschliessen, 
dass  all  dieses  Wohl  laut -Wesen  am  Ende  doch  allzu  sehr 
in  reiner  Wollust  schwelgen,  in  allzu  molluskenhafte 
Weichlichkeit  sich  verlieren  möchte.  Auch  das  aber  ist 
nunmehr  überwunden  und  völlig  anders  heute  geworden; 
selbst  diese  —  wir  gestehen  es  offen:  ernstliche  Be- 
sorgnis mit  einem  Male,  und  wohl  für  immer,  für  uns 


Digitized  by  Google 


Max  Schillings. 


173 


zerstreut  worden.  Dachte  ich  mir  auch,  noch  zu  Anfang 
unseres  Konzertes,  beim  Anblicke  des  wenige  Reihen 
vor  mir  sitzenden  jugendlichen  Siegmund  von  Haus- 
egger,  dass  dieser  doch  ungleich  mehr,  und  sicherlich 
auch  robustere  Knochen  in  seinem  —  *.  v.  v.  Musikleibe 
habe:  im  weiteren  Verlaufe  des  Abends,  zumal  bei  den 
kräftig-charaktervollen  Klängen  der  überaus  interessanten 
Bruchstücke  aus  dem  „P  fei  f  er  tage",  mussten  mir 
derartige  Betrachtungen  nachgerade  gründlich  vergehen. 
Schon  in  der  „  I  n  g w  e  1  d  e",  wo  man  ja  noch  durchaus  im 
Bereiche  greifbarster  Wagnerismen  blieb,  steckt  ja  so  viel 
Eigen-Sinn,  persönlichstes  Wesen  und  Sonder-Fluidum, 
dass  man  auf  Schritt  und  Tritt  ganz  unwillkürlich  die  er- 
sichtliche Kopie  gerne  auch  wieder  vergisst.  Neuerdings 
aber  hat  sich  der  Komponist  zu  einer  ganz  selbständigen  und 
neuartigen  Melodik  gefunden,  welche  besonders  durch  Ver- 
meidung gewisser  Zwischentonstufen  ein  durchaus  eigen- 
tümliches Gepräge  erhält.  Und  wie  zu  einer  seiner  selbst 
bewussten  Diktion,  so  erst  recht  hat  er  sich  seither 
noch  zu  einer  weit  freieren,  eigenen  Weltanschauung  ganz 
offenbar  mit  hindurch  gerungen.  Namentlich  wieder  im 
„Pfeifertag**  durfte  diese  durch  ihren  hohen  künstleri- 
schen Ernst  nur  angenehm  berühren,  welchen  der  Kom- 
ponist gleich  einem  persönlichsten  Glaubensbekenntnis 
in  die  Spore k'sche  Textdichtung  selber  hinein  gelegt 
und  durch  welchen  er  dieser  eine  höhere,  sogar  gewisse 
Ungereimtheiten  darin  noch  verklärende,  Bedeutung  ver- 
liehen hat.  In  Herrn  Kammersänger  Emil  Gerhäuser 
und  Fräulein  Hertha  Ritter  fand  der  das  Orchester 
„eigenhändig**  tadellos  leitende  Konzertgeber  übrigens 
verständnisvollste,  zum  Teil  kongeniale  Unterstützung, 
in  Hermann  Behn  überdies  einen  ebenso  feinfühligen 
wie  poetischen  Dolmetsch  seiner  tieferen  Absichten  . . . 

Von  jeher  war  der  Rheinstrom  als  solcher  nicht  nur 
die  lebendige  Vermittlung  zwischen  Ost  und  West,  sondern 


Digitized  by  Google 


174 


Wagneriana.    Bd.  III. 


sein  Gebiet  bildete  auch  das  vornehmste  Streitobjekt 
zwischen  deutscher  und  französischer  Kultur;  und  noch 
heute  klingt  es  manchmal  wie  entfernte  Reminiszenz 
alter  romanischer  Neigungen  (besonders  stark  bekannt- 
lich in  Mainz)  auf  diesem  Boden  mit  und  an.  Auch  im 
Blutstropfen  schon  finden  sich  da  zuweilen  bestimmte 
feine  und  interessante,  für  eine  tiefer  gehende  Analyse 
höchst  reizvolle  Mischungen.  So  kommen  wir  denn  zu 
dem  Schlüsse,  dass  wir  in  Schillings  vor  Allem  ein 
Rheinland-Kind  freudig  zu  begrüssen  haben,  in  welchem 
die  dortige  lebfrische  Sinnenfreudigkeit  mit  keinem 
Zuge  sich  verleugnet,  aber  zugleich  mit  einer  leisen 
Tradition  jener  vornehmen,  durch  und  durch  graziösen 
Feinkultur  des  Westens  sich  erfreulich  mischt,  die  gar 
nicht  anders  als  elegant  sein  und  im  Stilgefühle  guter 
Formen  sich  bewegen  kann.  Wird  der  frondierende 
Kraft-Trick  wohl  immer  dem  Bajuvaren  Rieh.  Strauss  als 
besondere  anhängen,  so  wird  ein  Schillings  mit 

seiner  aristokratischen  Kunst  gewiss  niemals  zu  ver- 
letzen vermögen.  Und  so  konstatieren  auch  wir  gerne, 
höchster  Erwartungen  voll,  den  ausgesprochen  grossen 
Erfolg  jenes  Abends  mit  all  seinen  nachhaltigen  Ergeb- 
nissen. 


Mode  und  Experiment 

(Pseudo  -  Wagnerianer) 


Der  „Fall*  Heinrich  Zöllner 

(1889/95) 

Es  war  ein  ziemlich  lautes  Blätterrascheln,  im 
grossen  deutschen  Zeitungswalde  jüngst,  da  die  Wunder- 
Mär  verlautete:  »Eine  hohe  Faust- Oper  ist  euch  ge- 
boren worden  —  ganz  im  Gegensatze  zur  schrecklichen 
Gounod -Verballhornung  deutsch  und  ernst  in  jedem 
Zug«  und  dabei  durchaus  Wagnerisch!"  Nun,  am 
20.  Januar  1889  war  für  mich  zu  München  die  will- 
kommene Gelegenheit  geboten,  dieses  Weltwunder  und 
Natur-Ereignis  gelegentlich  einer  Vorführung  am  dortigen 
Hoftheater  von  Angesicht  zu  Angesichte  kennen  zu 
lernen  .  .  .  und,  merkwürdig,  ich  bin  Pharisäer  genug, 
um  darnach  nun  laut  zu  beten:  »Herr  Gott,  ich  danke 
dir,  dass  ich  nicht  so  bin  wie  dieser  Zöllner!" 

Besprechung  einer  deutschen  Faustoper  —  an  sich 
schon  ein  gar  heikel  Ding  und  ein  sauer  Amt,  fürwahr! 
Und  nun  vollends  erst,  wenn  (wie  hier  noch  überdies) 
aus  der  Faustoper  —  ein  „Opernfaust"  geworden. 
Da  lobe  ich  mir  denn  doch  einen  Gounod,  der,  vom 
französischen  Standpunkte  aus  besehen,  wenigstens 
noch  ein  eigenartiges  Ganzes  gegeben  hat  und 
schliesslich  ja  auch  gar  nichts  Anderes,  denn  ein 
französisches  „Grisetten-Drama"  mit  Musik,  damit  ge- 
meint haben  wollte,  welches  freilich  der  Deutsche  einfältig 
und  gutmütig  genug  ist,  sich  als  „ Ragout  von  fremdem 
Sei  dl,  Vagneriana.    Bd.  III.  12 


Digitized  by  Google 


178 


Wagneriana.    Bd.  III 


Schmauss",  als  den  besseren  und  gefälligeren,  weil 
angeblich  verständlicheren,  „Faust*  zeitlebens  vorsetzen 
zu  lassen.  Auch  noch  der  Z enge r' sehen  „Faustmusik" 
stehe  ich  im  Grunde  meines  bösen  Herzens  ungleich 
sympathischer  gegenüber,  als  welche  zwar  auch  manch'  un- 
begreifliche Thorheiten  begeht  und  zweifelsohne  zahmer, 
s.  z.  s.  philiströser  geartet  sich  zu  erkennen  giebt,  dafür 
aber  auch  solider,  ernster  und  —  gründlicher  gearbeitet  er- 
scheint als  dieser  Heinrich  Zöllner'sche  Musikfaust,  Motto: 
„Heinrich,  mir  graut's  vor  dir  !**  Denn  dieser  letztere 
tritt  ja  förmlich  mit  der  Prätension  vor  uns  hin,  das 
Faustproblem  durch  seine  Musik  gelöst  zu  haben  und 
den  Deutschen  endlich  einmal  ihren  deutschen,  allein- 
echten  und  -berechtigten  Faust  zu  geben  (wenn  anders 
wir  unserer  gelobten  Presse  nur  auch  Glauben  schenken 
wollen);  pochend  zumal  auf  die  akademische  Bildung  des 
Deutschen,  hält  er  das  Aushängeschild  des  Tiefsinnig- 
Philosophischen  noch  ganz  besonders  vor:  und  diese  „Ab- 
sicht" just  ist's,  welche  stark  an  dem  Werke  „verstimmt"! 

Ohne  Frage  haben  gerade  wir  „Wagnerianer"  alle  Ur- 
sache, einer  solchen  Oper  gegenüber  nur  um  so  offener 
Farbe  zu  bekennen  —  Pflichten  freilich,  welcher  die 
berufene  oder  unberufene  Münchener  Presse  bisher 
noch  ganz  unbegreiflich  wenig  sich  erinnert  zu  haben 
scheint.  Erweckt  es  doch  ganz  den  Anschein,  als  ob 
der  Komponist  in  kluger,  sei  es  nun  absichtsvoller  oder 
doch  nur  instinktiver  Verwertung  des  „Modischen"  im 
Wagnerianismus,  auf  die  Kritiklosen  und  Urteilsunfahigen 
der  Herren  Wagnerianer  als  seinen  Anhang  spezialiter 
spekuliert  habe.  Allerdings,  er  hat  sich  dabei  auch 
wieder  gewaltig  verrechnet,  indem  er  nämlich  voll- 
kommen darauf  vergass,  wie  gerade  der  echte  Anhänger 
des  Bayreuther  Ideales  vor  Allem  d  a  für  einzutreten  hat, 
dass  „Stil"  überall  walte;  dass  uns  unsere  klassischen 
deutschen  Meisterwerke  der  Dicht-  wie  der  Tonkunst 


Digitized  by  Google 


Der  »Fall"  Heinrich  Zöllner. 


179 


nicht  beliebig  verhunzt  oder  verschlimmbessert,  wo 
nicht  gar  „viviseziert"  werden:  —  wonach  denn  auch 
Zöllners  „Faust"  rundweg  für  eine  solche  „Ver- 
stümmelung" der  Goethe'schen  Tragödie  coram  jntblico 
zu  erklären  wäre. 

Es  thut  mir  allerdings  herzhaft  leid,  bei  solch'  scharf 
prononzierter  Aussprache  des  von  mir  als  wahr  Erkannten 
dem  zweifellos  guten  Willen  und  unstreitig  respektablen 
Können  des  Komponisten  nicht  die  gleich  gebührende 
Anerkennung  zollen  zu  können,  die  diese  beiden  Eigen- 
schaften sonst  zweifellos  verdient  hätten.  (Zöllner  hat 
die  Partitur  „dem  Andenken  seines  geliebten  Vaters" 
gewidmet,  man  darf  also  wohl  annehmen,  dass  er  sein 
Allerbestes  damit  zugleich  gegeben  hat!)  Allein  hier 
handelt  es  sich  um  ein  edelstes  und  höchstes  Gut 
unserer  Nation  an  sich  —  da  hilft  nur  ein  kräftiges,  ganz 
entschiedenes  Wort;  der  Komponist,  indem  er  an  ein 
solches  Nationalwerk  die  Hand  anlegte,  hat  sich  leider 
selbst  aller  „mildernden  Umstände"  von  vornherein  schon 
begeben.  Und  die  schlimme  „eklektische"  Gesinnung 
ist  es,  gegen  die  wir  uns  vor  Allem  hier  einmal  energisch 
wenden  müssen,  wenn  nicht  alle  Errungenschaften  des 
Bayreuther  Meisters  ernstlich  in  Frage  gestellt  werden 
sollen.  Zum  Mindesten  liegt  eine  gewaltige,  mehr  als 
bedenkliche  Verirrung  bei  Zöllner  vor.  Ich  habe  einmal 
von  diesem  Komponisten  sagen  hören,  er  sei  ein 
„äusserst  intelligenter  Musiker".  Nun,  ich  glaube  es 
wahrhaftig,  er  ist  zu  intelligent!  Wenigstens  kann  ich 
mich  bei  ihm  des  Eindruckes  einer  mehr  raffinierten 
Klugheit  in  der  Wahl  des  unfehlbar  Wirksamen  nie  recht 
erwehren.  Und  wiederum  scheint  es  ihm  an  der  nötigen 
Selbstkritik  leider  allenthalben  zu  gebrechen.  Um  so 
unbegreiflicher  denn,  wenn  er  nicht  zum  Mindesten  ein 
paar  gute  Freunde  gefunden,  die  ihn  auf  das  Schlimmste, 
was  er  an  Empfindungen,  Reminiszenzen,  Entlehnungen 

12* 


180 


Wagneriana.    Bd.  III. 


obendrein  sich  geleistet,  in  aller  Güte  aufmerksam  gemacht 
und  auf  dessen  Tilgung  aus  der  Partitur  vor  deren  Ver- 
öffentlichung ernstlich  gedrungen  haben.  Freilich,  die 
sind  nun  eben  gar  die  Ärgsten  —  „Gott  bewahre  uns 
vor  unseren  Freunden!" 

Kein  Zweifel,  dass  das  „Faust"-Gedicht  nach  Musik 
ordentlich  „schreit".  Goethe  selbst  (in  den  Gesprächen 
mit  Eckermann)  erwähnt  bekanntlich  des  seltsamen 
Umstandes,  dass  das  Gedicht  als  Drama  beginne,  um 
(im  II.  Teil)  als  Oper  aufzuhören.  Es  ist  dies  für  uns 
ganz  ohne  Zweifel  ein  nicht  misszu verstehender  Wink 
und  ästhetischer  Fingerzeig  dafür,  dass  das  Ganze  mit 
Musik  auszustatten  sei;  dass  für  den  Musiker  ein 
„Faust-Problem"  (und  zwar  auch  n  a  c  h  der  Lassen'schen 
Musik,  die  ich  persönlich  immerhin  sehr  schätze)  that- 
sächlich  noch  besteht  —  mit  einem  Worte:  dass  die 
wahre  „Faust-Musik"  erst  noch  geschrieben  werden 
soll!  Nur  frägt  es  sich  eben,  was  man  von  dem 
hieraus  der  Musik  Bedürftigen  mit  einer  solchen  zu  ver- 
sehen hat,  welche  Grundsätze  und  ästhetischen  Prinzipien 
man  dabei  im  Einzelnen  wohl  befolgen  will.  Aber  gewiss 
Hesse  sich  da  doch  immer  noch  von  einem  überzeugungs- 
sicheren „Standpunkte"  reden.  Zugegeben  somit,  dass 
Zöllner  hierin  das  Richtige  getroffen  hätte  (was  wir 
vorläufig  noch  völlig  dahin  gestellt  sein  lassen),  so 
wäre  er  damit  allerdings  schon  auf  halbem  Wege  in 
der  Lösung  jenes  Problemes  vorgeschritten,  und  es 
käme  sonach  nur  mehr  auf  das  Wie?  dieser  Ausführung 
im  Besonderen  an.  Nun  hat  er  aber  thatsächlich  mit 
den  einzelnen  Szenen  des  Drama's  überaus  willkürlich 
ge wirtschaftet  —  ich  nenne  das  einfach  „Wirtschaft, 
Ho  ratio;  Wirtschaft!"  — ,  trotzdem  er  pars  pro  toto,  den 
lediglich  in  Musik  gesetzten  I.  Teil,  „Faust44  schlechthin 
nennt.  Also  schon  in  diesem  vitalen  Punkte  befindet 
er  sich  auf  einem  argen  Holzwege.    Und  wie  bereits 


Digitized  by  Google 


Der  „Fall"  Heinrich  Zöllner. 


181 


hier  —  bei  dem  Was?  des  ganzen  Problemes,  so  hat 
er  meines  Erachtens  erst  recht  mit  seinem  Wie? 
klägliches  Fiasko  gemacht;  mit  Ausnahme  nämlich  des 
allein  einheitlicher  und  eigenartiger  gestalteten,  auch 
formell  abgerundeteren,  sozusagen  in  sich  gedrungeneren 
IV.  Aktes  ist  das  Ganze  nichts  als  ein  heillos  Sammel- 
surium von  (nicht  einmal  elegant  angebrachten)  Gemein- 
plätzen aus  Weber'schen,  Schumann'schen,  in  Sonderheit 
aber  den  Wagner'schen  Haupt-Werken.  Ein  direkter 
Anklang  lässt  sich  natürlich,  wie  stets,  nirgends  bestimmt 
nachweisen,  und  doch  verhält  sich's  so:  Gemeinplatz  ist 
nämlich  Etiquette  in  der  Umkehrung  —  der  doppelte 
Kontrapunkt  des  Schematischen,  wie  alles  Formelwesens. 

Jedermann  hat  wohl  schon  bei  Liebhaber-Theatern 
oder  Dilettanten-Vorstellungen  selbst  einmal  Gelegenheit 
gehabt,  sich  an  dem  geschickt  gemachten,  aus  bekannten 
Opern-Melodien  und  beliebten  „Nummern"  mit  sach- 
kundiger Hand  zusammen  gestellten,  häufig  sogar  recht 
hübsch  instrumentierten,  im  Übrigen  aber  meist  einheit- 
losen und  zerfahrenen  Opus  eines  Dilettanten  zu  er- 
götzen, wenn  z.  B.  für  einen  scherzhaften  Operetten-Text 
eigener  Mache  rasch  eine  gefällige,  womöglich  komisch 
kontrastierende  Musik  zusammen  geschweisst  werden 
sollte.  Namentlich  bei  Karnevals-Unterhaltungen  ist  der- 
gleichen ja  ein  recht  gebräuchlicher  Sport  und  gerne  ge- 
sehener, famoser  „Ulk",  zu  dessen  „Produktion"  in  der 
Regel  bemerkenswert  viel  Witz  aufgewendet  wird,  welcher 
nicht  selten  einer  weit  besseren  Sache  würdig  wäre. 
Ahnlich  berührt  mich  (rein  subjektiv)  nun  auch  dieser 
Zöllner'sche  „Faust".  Nur  bleibt  eben  hier  der  fatale 
Unterschied  noch  der:  dass  weder  der  Text,  noch  die 
Musik  dazu  neu  waren,  und  dass  es  zum  Unglücke 
diesmal  nichts  Geringeres  wie  —  just  den  Goethe'schen 
„Faust"  betraf,  an  welchem  sich  ein  musikeifriger  Dirigent 
des  „Kölner  Männerges.-Vereins"  derart  vergriffen  hatte. 


Digitized  by  Google 


182 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Pure  Thorheit,  wo  nicht  gar  Albernheit  war's,  dem 
Komponisten  sein  beträchtliches  technisches  Können, 
eine  den  Kundigen  geradezu  verblüffende  Kenntnis  der 
„Mache"  als  solcher,  absprechen  zu  wollen;  seine  Be- 
gabung: wirksam,  klangvoll,  farbengesättigt  (nennen  wir 
die  schlechte  Sache  mit  einem  schlechten  Worte: 
„effektuos")  zu  schreiben,  ist  ganz  erstaunlich,  so  sehr 
wir  auch  hier  und  dort  das  Instrumentale  weniger  dick 
aufgetragen,  das  Blech  weniger  materiell,  weniger  brutal 
behandelt  sehen  möchten;  ja,  der  Eingangschor  („Sonnen- 
hymnus" der  Engel)  ist  so  berauschend  durch  den  Klang- 
zauber, welcher  über  das  Ganze  ausgegossen,  so  wahrhaft 
berückend  seinem  sinnlichen  Reize  nach  gegeben,  dass 
man  sich  ihm  unwillkürlich  gefangen  giebt  und  erst 
später  zur  Reflexion  wieder  erwacht  —  wonach  sich  dann 
allerdings  der  „moralische  Katzenjammer"  über  solchen 
trügerisch-schönen  Ohrenschein  um  so  kläglicher  einzu- 
stellen pflegt.  Aber  Zöllner  bleibt,  genau  genommen,  nur 
ein  überaus  gewandtes,  vielseitiges  Talent  —  im  Abgucken, 
und  es  bestehen  immerhin  noch  ganz  wesentliche  Unter- 
schiede zwischen  solchem  „Abgucken"  (wie  einer  „sich 
räuspert  und  wie  er  spuckt")  oder  einem  „Kopieren" 
(das  Äussere  eines  guten  Kernes  genau  nachbilden), 
sowie  zwischen  „Imitieren"  (im  Allgemeinen  nachahmen, 
nicht  genau,  mit  eigener  Selbständigkeit)  und  (das  innere, 
frisch  quellende  Leben)  getreulich  „Ablauschen"  (um 
es  seinem  Geiste,  nicht  dem  Buchstaben  nach,  neu 
aus  sich  heraus  nun  zu  gestalten)!  Kurz  —  hier  muss 
es  leider  heissen:  „Gewogen,  und  zu  leicht  befunden!" 

Dabei  ist  Zöllner  kein  Musiker  als  solcher,  im 
selbständigen,  absoluten  Sinne  des  Wortes;  er  bedarf 
augenscheinlich  stets  des  erläuternden  Textes  oder 
irgend  einer  spezielleren  poetischen  Anregung  als  festen 
Stützpunktes,  um  seine  musikalische  Phantasie  daran  erst 
sich  emporranken  zu  lassen.    Ein  Text  wird  ihm  so 


Digitized  by  Google 


Der  „Fall"  Heinrich  Zöllner. 


183 


zur  Krücke,  um  sich  an  dieser  aufzurichten  und  unfrei  zu 
wandeln.  Nirgends  finden  wir  daher  wirklich  und  aus- 
geprägt Sinfonisches  bei  ihm,  nie  ein  breit  dahin 
flutendes  Melos  im  Beethoven'schen  Geiste,  gemäss  dem 
Wagner'schen  Sinne  oder  auch  nur  nach  Liszt'schem 
Muster;  überall  lediglich  unruhvolle  Ansätze,  nicht 
einmal  ein  ausgeführtes  „Vorspiel",  keinerlei  Interludien 
im  geläufigen  Sinne  dieses  Begriffes,  ja  nicht  einmal 
die  bei  fallendem  Zwischenvorhange  doch  so  nahe 
liegende  und  notwendige  Zwischenakts-  oder  Überleitungs- 
Musik.  Endlich  wäre  als  kritische  Ausstellung  noch 
anzubringen,  dass  das  Ganze  nach  seinem  lokalen  und 
zeitlichen  Kolorite  so  ungefähr  doch  wohl  dem  „Meister- 
singer-Typus oder  -Stil  hätte  entnommen  bezw.  nach- 
gebildet werden  müssen,  statt  dessen  der  Komponist 
ein  hochmodernes,  tiefphilosophisches  und  glühend- 
sinnliches Weltschmerz-Drama  mit  durchaus  opernhaften 
Allüren  heraus  holen  zu  müssen  vermeinte  .  .  . 

Was  die  äussere  Ausstattung  des  Werkes  betrifft, 
so  ist  immer  wieder  geradezu  „fabelhaft",  wie  einzig 
und  grossartig  dergleichen  gerade  in  München 
inszeniert  zu  werden  pflegt.  Ich  sage  nicht,  dass  nicht 
z.  B.  in  der  Leipziger  Ausführung  die  Schlussapotheose 
des  II.  Teiles  schon  herrlich  und  prächtig  genug 
wäre ;  allein  die  Münchener  Inszenierung  des  „Prologes 
im  Himmel"  kann  kaum  mehr  übertroffen  werden. 
Lediglich  einen  unmassgeblich  bescheidenen  Vorschlag 
mehr  dramaturgischer  Art  möchte  ich  mir  dabei 
erlauben:  Wäre  nicht  auf  irgend  eine  Weise  (etwa  durch 
Wandeldekoration?)  mehr  Leben  und  Schweben,  mehr 
Bewegung  und  Regung  in  die  starren,  toten  Wolken- 
schichten der  ersten  und  letzten  Szene  noch  zu  bringen? 
Eine  stete  Oszillation  sollte  hier  jedenfalls  herrschen! 
Denn  jeder  Gebildete  frage  sich  doch  selbst:  ob  er 
nicht  —  und  zwar  nicht  allein  unter  dem  Begriff  einer 


184 


Wagneriana.    Bd.  III. 


„ewigen  Seligkeit",  sondern  auch  bei  der  Lektüre  des 
Drama's,  unter  dem  Eindrucke  der  grandiosen  Stimmung 
dieses  Dantesken  Himmelsgemäldes  —  sich  eine  Einheit 
von  Licht-  und  Schall -Wellen  gedacht,  eine  harmonische 
Doppelschwingung  des  Äthers  bereits  empfunden  habe  (wie 
dies  ja  auch  schon  in  dem  Pythagoreischen  Gedanken 
einer  „Sphärenharmonie"  gelegen  hat  und  von  den  Engeln 
in  ihrem  erhabenen  Gesänge  unzweideutig  genug  noch 
dazu  ausgesprochen  wird,  wenn  es  hier  heisst,  dass  die 
„Sonne  töne")?  Was  freilich  die  übrigen  Akte  noch 
anlangt,  so  muss  ich  wohl  oder  übel  bekennen,  dass, 
wer  den  ganzen  „Faust"  einmal  erst  auf  der 
Devrient,schen,  dreifach  gegliederten  „Mysterienbühne" 
<vide  Leipzig  oder  Weimar)  erschaut,  nicht  nur  den 
halben  Faust  allein  für  sich  nicht  mehr  gut  ver- 
tragen, sondern  auch  jede  andere  Inszenierung,  mit  den 
häufigen  Verwandlungen  bei  offener  Szene,  schlecht 
genug  goutieren  kann.  Und  wenn  wir  auch  nicht  gerade 
behaupten  wollen,  dass  mit  jener  Mysterienbühne  alle 
szenischen  Schwierigkeiten  ohne  Weiteres  schon  gehoben 
wären,  wir  müssen  alsdann  doch  z.  B.  das  unmittelbare 
Übergehen  der  Szene  zwischen  Mephisto  und  den  Frauen 
in  die  andere  zwischen  Mephisto  und  Faust,  bei  offenem 
Vorhange,  wie  so  manches  andere  Derartige,  als 
direkt  geschmacklos  nunmehr  wohl  bezeichnen;  d.  h.  wir 
drehen  eben  vor  Allem  dem  Komponisten  einen  Strick 
daraus,  dass  er  uns  dergleichen  Phantasiesprünge  nicht 
wenigstens  durch  seine  Kunst,  etwa  durch  ein 
charakteristisch-überleitendes  und  ebenso  vorbereitendes 
Interludium  (während  dessen  der  grüne  Vorhang  getrost 
hätte  fallen  können)  lebendig  vermittelt  und  von  Neuem 
begreiflich  gemacht  hat.  —  Selbst  die  einige  Tage  später, 
bei  der  Aufführung  des  Goethe' sehen  Drama's  mit  der 
Max  Z  eng  er*  sehen  Musik  benützte  bessere,  weil  zweck- 
und  sinngemässem,  im  Übrigen  auch  durchaus  neue 


Digitized  by  Google 


Der  „Fall"  Heinrich  Zöllner. 


185 


Dekoration  vermochte  übrigens  mit  Nichten  alle  Wünsche 
dieser  Art  vollauf  schon  zu  befriedigen.  Dessen- 
ungeachtet durfte  man  von  solch  verschiedenartiger 
szenisch-technischer  Behandlung  eines  und  des  selben 
Meisterwerkes  doch  überaus  befremdet  sein,  zeigte  eine 
solche  Massregel  doch  klar  und  deutlich  genug,  welch 
verfehlten  Standpunkt  man,  völlig  achtlos,  auch  heut- 
zutage noch,  und  dazu  an  einer  bedeutenden  Bühne, 
jeder  Oper  gegenüber  einnimmt,  indem  man  derart 
zwischen  ihr  und  dem  „eigentlichen"  (!),  rezitierten 
Drama  noch  eine  strenge  Scheidewand  zu  Ungunsten 
der  ersteren  errichtet.  Und  das  lässt  sich  also  ein 
Komponist  und  „Wagnerianer**  ruhig  gefallen?  Oder 
sollen  wir  das  am  Ende  gar  als  eine  stillschweigende, 
beredsame  Kritik  der  Intendanz  und  Regie  gegen 
seinen  Versuch  auffassen:  welch  beide  dadurch  zuletzt 
entschieden  hätten,  dass  es  sich  hier  eben  nicht  um 
das  Goethe'sche  „Musikdrama"  als  solches,  sondern  nur 
um  eine  schlechte,  rechte  „Oper  wie  andere  mehr"  zu 
handeln  habe?    IHsctie,  moniti! 


Volle  siebzehn  Jahre  später,  im  25.  Gedenkjahre 
des  Krieges  von  1870/71,  hatte  ich  —  diesmal  bei  der 
Aufführung  des  „Überfalles"  zu  Dresden  —  Anlass, 
zum  „Fall  Zöllner*4  nochmals  Stellung  zu  nehmen  bezw. 
bei  dieser  Gelegenheit  gleich  wahrzunehmen,  ob  wohl 
das  —  zugegeben:  herb-schroffe  —  Urteil  von  damals  zu 
Recht  bestehen  könne,  oder  nicht  vielmehr  doch  nun 
zu  revidieren  wäre.  Mein  Urteil  hierbei  nun  lautete 
—  kurz  und  bündig  —  folgendermassen : 

Das  Textbuch,  mit  Benützung  der  Novelle  „Die 
Danaide"  von  Ernst  von  Wildenbruch  vom  Komponisten 
selbst,  freilich  ohne  allen  dichterischen  Geist,  ver- 
fertigt, behandelt  eine  freie  Episode  aus  jener  Zeit  des 
grossen  Krieges,  in  welcher  die  deutschen  Kämpfe 


186 


Wagneriana.   Bd.  III. 


mit  den  Franktireurs  eine  besondere  Rolle  spielten. 
Trotzdem  aber  kann  es  gar  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  Zöllner,  der  als  Sohn  des  bekannten 
Männergesangs  -  Komponisten  in  ganz  Sachsen  einen 
tüchtigen  Stein  im  Brette  hat,  die  augenblickliche 
Jubiläumsbegeisterung  lediglich  geschickt  ausgenützt,  hat, 
um  seine  beiden  Werke:  diesen  „Überfall"  und  das  zu 
Leipzig  am  1.  September  aufgeführte  „Vor  Sedan",  wenn 
überhaupt,  so  doch  wenigstens  bei  solcher  Gelegenheit, 
glücklich  an  den  Mann  zu  bringen;  denn  weit  eher  als 
nationale  Kriegsbegeisterung  etwa,  predigen  sie  jene 
bekannte  freisinnig -internationale  Versöhnlichkeit,  die 
zu  der  augenblicklichen  Stimmung  des  deutschen  Volkes 
ungefähr  wie  eine  Faust  aufs  Auge  passt.  Der  Zeitstoff, 
den  er  sich  zum  Vorwurfe  genommen,  nimmt  darum 
auch  in  seiner  Oper  kaum  eine  andere,  höhere 
Bedeutung  ein,  als  ungefähr  das  Sensationsinteresse 
irgend  einer  aktuellen  Begebenheit  in  unserem  Zeitungs- 
Romane  dies  thut,  und  was  den  ästhetisch  empfindenden 
Menschen  von  vornherein  zur  Verzweiflung  bringen 
kann,  das  ist  die  völlige  Unvereinbarkeit  dieses  Novellen- 
Milieu's  mit  dem  musikdramatischen  Stile  vom  hohen 
Kothurn,  als  welche  die  Grundlagen  der  modernen  Oper 
überhaupt  schon  auf  den  Kopf  stellen  muss.  Realistische 
Voraussetzungen  .  .  .  und  ein  idealistischer  Ausdruck  für 
diese!  Man  denke  nur:  schmutzige  Stiefel  und  ab- 
geriebene lederne  Reiterhosen  —  mit  Harfenbegleitung; 
ein  in  der  schwer  gepanzerten  Rüstung  der  Nibelungen- 
musik mit  breiten  Posaunenchören  mächtig  einher 
flutender  Gefühlsstrom  —  und  oben  auf  der  Bühne 
zwei,  vom  matten  Scheine  einer  kleinwinzigen  Petroleum- 
lampe beschienene  Konventionsmenschen,  die  sich  per 
„Sie"  und  „Madam"  anreden;  später  Panorama-Malerei 
mit  dem  „lebenden  Bilde"  von  zur  Schlacht  ziehenden 
Pickelhauben  —  und  daneben  eine  weichmütig  säuselnde 


Digitized  by  Google 


Der  „Fall"  Heinrich  Zöllner.  187 


Musikbegleitung;  endlich  eine  geradezu  erfrieren  machende, 
echte  Winterlandschaft  mit  fallendem  Schnee  —  dazu  aber 
schwülste  Tristan- Anklänge!  Auch  eine  Sache  wie  der 
militärische  Zapfenstreich  nimmt  unter  Zöllners  Hand 
eine  merkwürdig  spiessbürgerlich  -  nachtwächterhafte 
Färbung  an.  Kurz,  das  Liebenswürdigste  an  Zöllners 
Begabung  wäre  ohne  Zweifel  die  begeisterungsfähige 
Naivetät,  mit  der  er,  wie  schon  bei  seinem  Goethe'schen 
„Faust",  an  einen  Stoff  sich  heran  gemacht,  der  über- 
haupt gar  kein  Opernvorwurf  ist;  wie  zugleich  wieder 
das  eigentlich  Bewundernswerte  an  ihm  der  un- 
erschütterliche Glaube  und  der  hingebende  Eifer  bleibt, 
welcher  ihn  die  unverfroren-skrupellose  Eklektik  aus 
Wagner,  Nessler,  Rubinstein,  Verdi,  Mascagni  und 
Spinelli  anscheinend  gar  nicht  einmal  empfinden  lässt, 
der  er  in  wahrhaft  erschreckender  Weise  auch  hier  sich 
wieder  verfallen  zeigt.  „Wohlauf  Kameraden",  „Morgen- 
rot, Morgenrot",  die  „Marseillaise"  und  ein  französisches 
„Chanson"  stehen  obendrein  mehr  oder  minder  un- 
vermittelt dicht  neben  einander  —  von  organischem 
„Stil"  kann  also  schlechterdings  hier  keine  Rede  sein  . . . 
Die  vom  Dresdener  Hoforchester  unter  Sc  huchs  eleganter 
Führung  mit  schier  unverdienter  Klangschöne  gespielte 
Neuheit  fand,  wie  alle  Sensations-Romane,  lebhaftesten 
und  willigsten  Beifall,  so  dass  der  persönlich  anwesende 
Komponist  nach  den  beiden  Akten  wiederholt  für  die 
gute  Aufnahme  seines  Werkes  danken  durfte.  Uns 
wird  freilich  Herr  Anthes  als  „singender  Frei- 
williger" und  der  Opernsänger  Schrauff  als  melo- 
dramatisch (!)  anrufender  „Feldwachposten"  ganz  un- 
vergesslich  bleiben.  Eines  der  besten  Stücke  sind 
hingegen  die  belebten  Franktireur-Chöre,  mit  denen  die 
Oper  in  flüssiger  (wenngleich  etwas  wohlfeiler)  Frische 
recht  charakteristisch-wild  einzusetzen  hat. 


Digitized  by  Google 


Heinrich  der  Löwe 


Grosse  Oper  in  vier  Akten  von  Edmund  Kretscbmer 

(1894) 

Ich  bin  selbst  nicht  im  Theater  gewesen.  Ich  hatte 
mich  erinnert,  dass  schon  Robert  Schumann  manchmal, 
um  ein  objektives  Urteil  über  eine  Sache  zu  gewinnen, 
zwei  intime,  aber  höchst  extreme  Freunde  —  Eusebius 
und  Florestan  mit  Namen  —  für  sich  ausgeschickt 
hat,  und  habe  gestern  zwei  solche  Freunde,  auf  deren 
Urteil  und  innere  Wahrhaftigkeit  ich  mich  unbedingt 
verlassen  kann,  statt  meiner  diese  Oper  besuchen  lassen. 
Der  Eine  von  ihnen  ist  ein  frommes,  gutherziges  und 
sinniges  Gemüt,  das  niemand  gern  etwas  zu  Leide  thut 
und  kein  Spiel  jemals  verderben  kann  —  ganz  wie  jener 
Schumann'sche  Eusebius;  der  Andere  freilich  ist  das 
pure  Gegenteil  hiervon  —  wie  weiland  Florestan  eine 
radikale,  heftig  aufbrausende  und  aufrührerische  Natur 
mit  einer  von  (leider  oft  beissender)  Satire  geschwellten 
Ader.  Derweilen  nun  diese  Beiden  sich  das  Werk  für 
mich  anhörten,  sass  ich  bei  der  Lampe  Schein  zu  Hause 
und  studierte  emsig  Herrn  Otto  Schmids  „Edmund 
Kretschmer"-Buch,  und  so  hoff  ich,  wird  es  mir  schon 
gelingen,  aus  der  Beiden  Berichten,  Urteilen  und  An- 
schauungen als  unbeteiligter  Dritter  das  rechte  „Mittel" 
auch  heraus  zu  finden.  Ich  will  also  zuerst  „den  Einen"  und 


Digitized  by  Google 


Heinrich  der  Löwe. 


189 


dann  „den  Anderen"  gehörig  vernehmen,  um  am  Schlüsse 
womöglich  meinen  eigenen  Senf  noch  mit  drein  zu  geben 
Der  Eine:  Solch'  weltliche,  lebensfrische,  theater- 
freudige und  instrumentationskundige  Kirchen-Organisten, 
wie  Meister  Edmund  Kretschmer  einer  ist,  wird  es  wohl 
selten  geben!  Was  unseren  heimischen  „Wort-  und 
Tondichter"  —  und  das  ist  er  doch  nun  einmal  für 
uns  Dresdner  —  vor  Allem  so  unvergleichlich  liebens- 
würdig macht,  das  ist  der  schöne  Glaube  an  seine 
Kunst,  der  sich  so  sehr  vorteilhaft  unterscheidet  von 
jener  bei  unseren  „Musikanten"  neuerdings  eingerissenen 
„Glaubens"-  und  „Kurslosigkeit",  mit  der  sie  in  den 
Musik-  und  Theaterwogen  umher  treiben  und  in  den 
Tag  und  in  die  Welt  hinein  musizieren,  nur  damit  eben 
musiziert,  „komponiert"  und  „oper"iert  werde.  Seine 
Kunst  ist  eine  durch  und  durch  ehrliche,  und  in  diesem 
Sinne  ist  auch  sein  „Heinrich  der  Löwe"  ein  grund- 
ehrliches, höchlich  ernst-gemeintes  und  ebenso  ernst  zu 
nehmendes  Werk,  das  —  wie  es  von  der  begeisterten 
Schaffensfreudigkeit  des  Komponisten  auf  dem  ihm  ge- 
läufigen Gebiete  Zeugnis  giebt  —  so  besonders  durch 
seine  mannigfachen  Schönheiten,  bei  einer  so  glänzenden 
Darstellung  und  prächtigen  Ausstattung  zumal,  Inter- 
esse erwecken  darf  und  Achtung  vor  dem  schönen  Streben 
seines  Schöpfers  einflössen  muss.  Der  trotz  seiner 
64  Jahre  noch  so  elastische  Autor  ist  vor  Allem 
mit  Leib  und  Seele  Deutscher;  in  solchem  Sinne  ist 
auch  sein  Werk  ein  erfreuliches,  ebenso  beredtes  wie 
tüchtiges  Dokument  dieser  seiner  treu -vaterländischen 
Gesinnung  geworden,  gehört  es  zu  denjenigen  Werken, 
welche  —  wenn  sie  vielleicht  auch  weniger  für  die 
Zukunft  der  Kunst  bedeuten  sollten  —  doch  der 
Gegenwart  immerhin  etwas  zu  sagen  haben,  weil  sie  im 
guten  Sinne  „patriotisch"  sind.  (Das  war  ja  auch  so  sehr 
ungerecht  von  R.  Wagner,  dieses  Moment  an  W.  Weiss- 


Digitized  by  Google 


190 


Wagneriana.   Bd.  III 


heimers  „Theodor  Körner"-Oper  vollständig  zu  verkennen 
und  diesen  edlen,  verdienten  Mann  so  überaus  schwer  zu 
kränken!)  Unverwüstlich  ist  dem  gewandten  Setzer  so 
vieler  vortrefflicher  Chorlieder  zudem  aber  auch  der 
Glaube  an  die  Kraft  des  deutschen  Liedes  —  das 
„Sieg  im  Gesang",  das  er  einmal  gedichtet  und  kom- 
poniert, ist  sein  Lebensmotto  gleichsam  geworden;  in 
diesem  Sinne  steht  auch  das  „deutsche  Lied"  im  Mittel- 
punkte dieser  seiner  Oper,  wird  gerade  die  Lösung  des 
dramatischen  Knotens  darin  mit  geradezu  schlagender 
Beweiskraft  durch  den  Gesang  allein  herbei  geführt.  Für 
Deutschlands  Grösse  und  deutsche  Treu',  für  Frauen- 
ehr'  und  Liedesmacht  —  das  sieht  man  ihm  an  — 
geht  er  nun  einmal  durch's  Feuer;  ein  Abglanz  solcher 
begeisterten  Wärme,  ein  Strahl  jener  felsenfesten  Über- 
zeugungen hat  auch  sein  Werk  belebt  und  innerlich 
frohgemut  gestaltet. 

Manche  mochten  sich  wohl  darüber  gewundert 
haben,  warum  man  zur  würdigen  Feier  von  des  Autors 
40  jährigem  Amtsjubiläum  nicht  seine  „Fol  kunger", 
die  doch  seinen  Namen  weit  über  Dresdens  Mauern 
hinaus  getragen  und  in  ganz  Deutschland  sattsam  be- 
kannt gemacht  haben,  zur  Aufführung  ausersehen  hatte. 
Allein,  einmal  sind  ja  diese  „Folkunger"  von  Zeit  zu 
Zeit  immer  wieder  bei  uns  aufgeführt  worden  —  da  wollte 
man  doch  dem  Jubilare  durch  Neueinstudierung  einer 
anderen  Oper  zu  seinem  Gedenktage  gern  auch  einmal 
eine  besondere  Freude  anthun;  und  dann  bin  ich  unserer 
verehrlichen  Opernleitung  doch  doppelt  erkenntlich  da- 
für, dass  sie  gerade  „Heinrich  den  Löwen"  dazu  aus- 
erkor —  denn  erstens  war  das  Werk,  das  die  Aussöhnung 
Kaiser  Barbarossa's  mit  seinem  Vasallen  zum  Inhalte 
hat,  gewiss  ein  eminent  zeitgemässes  „Spiel"  eben  jetzt 
(da  die  hohe  Politik  dazu  die  äussere  Begleitung  abgiebt); 
und  zweitens  bin  ich  Ketzer  genug,  diesen  „Heinrich 


Digitized  by  Google 


Heinrich  der  Löwe. 


191 


den  Löwen"  Kretschmers  sogar  auch  für  sein  bestes 
Bühnen -Werk  zu  halten,  besser  entschieden  als  seine 
berühmten  „Folkunger",  an  denen  mich  das  MosenthaP- 
sche  Textbuch  mit  seiner  äusserlichen,  auf  „Effekte"  viel- 
fach zugespitzten  Mache  doch  immer  so  arg  verstimmt 
hatte.  Man  braucht  hier  nur  z.  B.  auf  Astocs,  des 
Sehers,  Warnung  hinzuweisen,  auf  das  die  erste  Szene 
des  1.  Aktes  beherrschende,  frisch  sprudelnde,  hübsche 
und  eigenartige  Frohsinnsmotiv,  das  kernige  Volkslied 
weiterhin  zu  Ehr*  und  Preis  Heinrichs  des  Löwen,  auf 
die  schöne  Szene  Clementinens  sodann  mit  den  Armen, 
auf  die  von  interessanten  Momenten  getragene  Zwie- 
sprache zwischen  Konrad  und  Clementine,  sowie  auf 
die  wohlgetroffene  Nachtstimmung  an  der  Küste  Ancona's 
mit  dem  Liede  Clementinens  bei  Beginn  des  3.  Auf- 
zuges, oder  die  prächtigen  Märsche  und  vor  Allem  die 
sinnvoll-charakteristischen  Tänze,  zuletzt  auch  auf  die 
fein  ausgearbeitete  Altpartie  der  Irmgard,  wie  füglich  auf 
den  Schluss  des  Ganzen  —  auf  alle  diese  Dinge,  um 
jenes  Urteil  sofort  näher  zu  begründen.  Das  Textbuch, 
das  allerdings  vielleicht  durch  eine  andere  Bearbeitung 
der  Liedeswirkung  vor  dem  Kaiser  auf  nur  3  Akte  hätte 
eingeschränkt  werden  können,  ist  im  Allgemeinen  gut 
aufgebaut  und  fesselt  als  Dichtung  ganz  entschieden; 
es  ist  nur  nicht  dramatisch  so  wirksam  wie  das  an 
effektvollen  Schlagern  sicherlich  reichere  „Folkunger"- 
Drama.  In  seinem  Verhältnis  zu  Wagner  bedeutet 
dieses  mehr  den  Meyerbeer-  und  Tannhäuser-, 
„Heinrich  der  Löwe"  dagegen  den  Lohengrin-  (wenn 
auch  noch  ein  klein  wenig  den  Rienzi-)Stil.  Der  In- 
strumentalsatz ist  meist  voll  und  weich  gehalten,  ohne 
gerade  der  späteren  Wagner'schen  Polyphonie  zu  folgen; 
die  zahlreichen  Posaunen-  und  Trompetenstellen  darin 
erscheinen  von  grosser  Kraft,  geben  sich  wenigstens 
mit  imponierendem  Glänze.   Kurz,  das  Werk  hinterlässt 


Digitized  by  Google 


192 


Wagneriana.    Bd.  HI 


schliesslich  einen  recht  sympathischen  Eindruck,  der 
sich  sogar  noch  erhöhen  darf,  wenn  man  erst  in  Er- 
wägung zieht,  dass  sein  Schöpfer  von  den  „Folkungern" 
zu  ihm  —  „fortgeschritten"  ist. 

Herrn  Hofkapellmeister  Hagens  „ausgesprochenem" 
Temperamente  liegt  diese  Art  Musik  besonders  gut; 
von  den  Darstellern  zeichneten  sich  die  Damen  Malten 
und  Fröhlich,  die  Herren  Scheidemantel  und 
Perron  vor  Allem  aus.  Herr  Gritzinger,  als 
Träger  der  Titelrolle,  wurde  freilich  weit  besser  gewesen 
sein,  wenn  er  zu  dem  goldenen  Metall  seiner  Stimme 
und  der  Reckenhaftigkeit  seiner  Hünengestalt  auch 
noch  eine  geschmackvollere,  schulgemässe  Behandlung 
seines  Organes  und  wirklich  heroische  Körperbewegungen 
mit  gebracht  hätte.  Die  Inszenierung  Hess  an  Ernst  und 
Eifer  kaum  einen  Wunsch  offen;  nur  der  moderne 
Leuchtturm  an  der  Küste  von  Ancona  wollte  sich  nicht 
so  ganz  natürlich  dem  historischen  Bilde  einfügen  .  .  . 

So  weit  mein  „Einer**. 
Der  Andere:  Nichts  Unausstehlicheres  als  so  ein 
40  jähriges  Jubiläum,  das  einem  zwecklosen  Jubilieren  zu 
allen  Zeiten  Thür  und  Thor  sperrangelweit  öffnet!  Und 
giebt  es  etwas  Schrecklicheres  als  eine  Lokalberühmt- 
heit? Das  erinnert  mich  immer  wieder  an  des  guten, 
seligen  Franz  Lachners  Oper  (Gott  hab*  sie  selig!) 
„Katharina  Cornaro".  So  lange  der  alte  Herr  noch 
lebte  und  in  Münchens  Strassen  spazieren  ging,  da 
wurde  sie  von  Zeit  zu  Zeit  immer  wieder  einmal  zu 
seinen  Ehren  solenn  dort  aufgeführt.  Kaum  hatte  er 
aber  die  Augen  geschlossen,  war  sie  auf  Nimmer- 
wiedersehen auch  bereits  verduftet.  „Von  sanges- 
brüderlicher Seite**  ging  die  erste  Anregung  zu  diesem 
Jubiläum  aus  —  diese  Anregung  erscheint  doch  jeden- 
falls charakteristisch.  Wenn  die  Einen  Liedertafel-Opern, 
die  Anderen  Wagner -Opern  schreiben  —  Kretschmer 


Digitized  by  Google 


Heinrich  der  Löwe. 


193 


hat  das  merkwürdige  und  gewiss  interessante  Kunst- 
stück fertig  gebracht,  beide  Stilarten  in  einem  Werke 
zu  vereinen.  Man  hat  in  neuerer  Zeit  billige  Volks- 
vorstellungen und  Schüleraufführungen  eingerichtet. 
Sollte  jemand  auf  den  dummen  Einfall  kommen,  be- 
sondere Liedertafel -Vorstellungen  zu  befürworten,  — 
wahrlich,  so  würde  „Heinrich  der  Löwe"  in  aller  erster 
Linie  hiefür  in  Betracht  zu  ziehen  sein.  Und,  falls 
einmal  ein  „Leitfaden"  zu  Edmund  Kretschmers  „Musik- 
dramen" notwendig  werden  sollte  —  ich  meinerseits 
glaube  diesen  Ariadnefaden  gefunden  zu  haben:  „Höchste 
Philistrosität"  heisst  die  Formel,  unter  der  allein  wir 
seine  Werke  verständnisvoll  begreifen  werden;  das  ist 
der  „Schlüssel",  welcher  das  Zauberschloss  zu  ihnen 
glücklich  —  zu  sprengen  vermag! 

Duo  si  faciunt  idem,  non  est  ülem.  Wenn  ein  Mann 
wie  Bismarck  in  gehobener  Rede  einmal  donnert:  „Wir 
Deutsche  fürchten  Gott  und  sonst  nichts  auf  der  Welt !" 
—  oder  ein  Genie  wie  Richard  Wagner  seinen  Hans 
Sachs  „von  deutscher  Kunst  und  Art"  erhaben  sprechen 
lässt,  „die  in  deutscher  Meister  Ehr*  lebe"  —  nun,  so 
ist  das  Person  gewordene  Natur  und  hat  einen  gar 
guten,  tiefen  Klang.  Wenn  das  aber  in  Schützenfest- 
stimmung pathetisch  gepriesen  oder  von  einem  biederen 
Liederkranz  mit  Emphase  laut  ausgerufen  und  ebenso 
behauptet  wird,  da  klingt's  hohl  und  ist  eitel  Deutsch- 
Duselei  —  sehr  patriotisch  gewiss,  aber  ganz  ohne 
alle  Kunst!  Freilich,  es  muss  auch  solche  Käuze  geben, 
die  den  Wein  nicht  lauter  und  rein  vertragen  können 
und  ihn  mit  Wasser  verdünnen  müssen;  sie  sollen  mir 
nur  aber  nicht  weis  machen  wollen,  dass  auch  in 
diesem  „Gänse-Wein"  noch  die  volle  „Wahrheit"  liege! 
Ich  hab'  einmal  ein  Marionetten -Theater  gesehen:  die 
Figuren,  die  sich  da  vor  meinen  Augen  tummelten,  die 
bewegten  ihre  Füsse,  Arme,  Köpfe,  ihren  Ober-  und 

Seidl,  WftgnerUna.    Bd.  IN.  13 


194 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Unterleib,  ja  sie  redeten  sogar  ganz  natürlich  —  es 
waren  aber  eben  doch  nur  „Marionetten";  derjenige, 
der  sie  regierte  und  hinter  den  Koulissen  über  ihnen  zu 
uns  redete,  der  glaubte  auch  steif  und  fest  an  seine 
Gestalten  —  und  das  war  noch  sein  Glück;  aber  ich, 
ich  konnte  das  nicht,  mir  fehlte  dieser  Glaube  zu  jener 
Botschaft,  denn  ich  verspürte  viele  „Effekte*4,  jedoch 
nichts  „wirkte".  Dabei  verfährt  unser  Komponist  ganz 
frei  nach  —  sozialistischen  Grundsätzen.  „Eigentum 
ist  Diebstahl",  sagt  Proudhon;  er  setzt  diese  Theorie 
flugs  in  Praxis  um  und  stiehlt  Eigentum  —  Wagners 
in  Sonderheit,  ohne  doch  dessen  Lehre  von  der  Hin- 
fälligkeit der  grossen  „historischen"  Oper  sich  gleich- 
zeitig ernstlich  zu  Herzen  zu  nehmen.  Kurz,  dieser 
„Leu"  des  Herrn  Edmund  Kretschmer  könnte  noch 
zu  einem  schlechten  „Leumund"  des  Namens  Kretschmer 
selber  werden,  und  wenn  das  Volk  in  der  Oper  ein 
paar  Mal  ganz  naiv  fragt:  „Wer  widersteht,  wer  wider- 
strebt Heinrich  dem  Löwen?44  —  so  möcht'  ich  lieber 
glauben,  dass  die  ganze  Frage  falsch  gestellt  sei,  und 
für  mein  Teil  am  Liebsten  darauf  antworten:  „Mir  wider- 
steht,  mir  widerstrebt  Heinrich  der  Löwe!"  —  Uber 
die  Aufführung  ist  sehr  wenig  zu  erwähnen.  Herrn 
Gritzinger  habe  ich  zum  ersten  Male  gehört  und 
muss  ihm  leider  sagen:  „Nicht  gut  gebrüllt,  Löwe!" 
Hätte  vollends  Kaiser  Barbarossa  also  gesungen  wie 
Herr  Decarli,  so  würde  er  wohl  kaum  den  Anhang 
gehabt  haben,  den  ihm  die  Geschichte  trotz  all'  seines 
Ungemaches  mit  dem  Papsttume  doch  zuweist.  Ein 
charakteristischerer  Dirigent  endlich  wie  Hofkapell- 
meister Hagen  konnte  für  dieses  Werk  gar  nicht  auf- 
getrieben werden:  die  Vereinigung  von  Philistrosität 
und  Urdeutschtum  (vgl.  seinen  Namen)  gerade  in  seiner 
Person  blieb  ja  durchaus  im  «Stile«*  dieses  Werkes  .  .  . 
Dies  also  der  Bericht  meines  „anderen"  Gewährs- 


Digitized  by  Google 


Heinrich  der  Löwe. 


195 


raannes,  wozu  ich  nur  noch  bemerke,  dass  Keiner  vom 
Anderen  etwas  wusste  und  etwa  auf  seinen  Partner 
„reagierte",  da  ich  Jedem  den  Auftrag  besonders  und 
insgeheim  gegeben  hatte. 

Schockschwerenot  noch  einmal,  sind  das  nun  aber 
widersprechende  und  einander  diametral  entgegengesetzte 
Ansichten!  —  so  wird  der  Leser  mit  mir  verzweifelt 
ausrufen.  Und  doch,  wenn  wir  recht  zusehen:  schliessen 
sich  diese  beiden  Urteile  absolut  aus?  Wofern  wir  uns 
nur  recht  klar  vor  Augen  halten  wollen,  dass  Florestan 
in  seinem  derben  Ungestüm  zuletzt  doch  nur  immer 
die  Sache,  nie  die  Person,  dabei  im  Auge  gehabt, 
einen  zu  hohen  Massstab  gleichsam  angelegt  und  auch 
diesen  allzu  ungehobelt  zur  Anwendung  gebracht  hat, 
wird  sich  die  Lösung  dieses  fatalen  Konfliktes  in  der 
rechten  Mitte  gewiss  nicht  allzu  schwer  ergeben.  Eusebius 
findet  halt  mit  seiner  zartsinnigen  Natur  liebenswürdig 
und  ehrlich,  was  Florestan  von  seinem  Gesichtspunkt 
aus  in  zornigen  Harnisch  bringt.  Und  was  die  Nach- 
ahmung Wagners  anlangt  —  ja,  sind  wir  denn  darin 
heute  so  erheblich  viel  weiter  (ganz  im  Allgemeinen), 
dass  uns  diese  Errungenschaft  etwa  ungerecht  gegen- 
über einer  Erscheinung  wie  dieser  machen  dürfte? 
Nein,  Florestan,  du  bist  ein  schlechter  Kritikus  mit 
deinen  höchsten  idealen  Zielen!  Du  glaubst  wohl  gar 
über  diese  „Wagner-Nachtreterei"  bereits  hinaus  zu  sein 
und  dünkst  dich,  Gott  weiss  was  schon!  Wirklich,  der 
Unterschied  zwischen  hier  und  dort  ist  kein  gar  zu 
grosser:  heute  haben  wir  eben  die  Opern  im  Tristan-, 
Meistersinger-  und  Götterdämmerungs-Stil;  damals  aber 
haben  wir  in  der  Wagner-Nachahmung  noch  das  Stadium 
im  Rienzi-,  Tannhäuser-  und  Lohengrin- Genre  gehabt 
—  voilä  tout!  Und  es  ist  erst  noch  die  grosse  Frage, 
was  zuletzt  glaubhafter  berührt:  jene  Unangemessenheit 
eines  immensen,  götterhaften  Ausdruckes  zu  oft  ganz 

13* 


Digitized  by  Google 


196 


Wagneriana.    Bd.  III. 


geringfügig,  „menschlich-allzumenschlichen"  Vorgängen, 
oder  dieser,  wenn  auch  homophone,  so  doch  plastischere 
Stil  des  früheren  Wagner,  der  wenigstens  eine  Kon- 
gruenz von  Form  und  Inhalt  im  Formate  gewährleistet.  Du 
sprichst  von  Philisterhaftigkeit  bei  diesem  Werke?  Sieh 
du  nur  zu,  dass  du  mit  all'  deiner  Genialitätssucht 
am  Ende  nicht  selbst  noch  zum  Philister  werdest,  dass 
du  auf  deine  alten  Tage  noch  über  eine  solche  Frische 
des  Geistes  und  ein  so  jugendliches  Herz  verfügest, 
wie  es  der  Komponist  »Heinrichs  des  Löwen"  sich  zu 
erhalten  offenbar  verstanden  hat!  Auch  Eusebius  meint 
ja  gewiss  nicht,  dass  hier  etwas  die  Zeiten  hoch  Über- 
ragendes, ewig  Uberdauerndes,  „Unsterbliches"  geschaffen 
sei,  und  Kretschmer  selber  wird  sich  wohl  kaum  diesem 
Wahne  einer  n  Persönlichkeit"  hingeben  —  dazu  ist  er 
ein  viel  zu  einsichtsvoller  Mann,  ehrlicher  und  gescheiter 
Musiker  dazu.  Doch  je  weniger  eben  diese  Werke  An- 
spruch auf  eine  spätere  Fortdauer  haben,  desto  eher  mag 
die  Zeit,  für  die  sie  geschrieben  sind  und  für  welche 
sie  passen,  sich  ihrem  Genüsse  hingeben  und  sich  an 
ihren  Schönheiten  erfreuen;  desto  begreiflicher  erscheint 
das  dringende  Bedürfnis  ihres  Schöpfers,  zumal  hier 
am  Orte  seiner  Wirksamkeit,  sie  doch  wenigstens  bei 
Lebzeiten  einmal  entsprechend  aufgeführt  zu  sehen. 
Warum  sollte  man  auch  dem  wackeren  alten  Herrn 
mit  dem  freundlich  strahlenden  Gesicht,  einer  um 
Dresden  gewiss  verdienten  und  noch  heute  sich  be- 
währenden Kraft,  nach  40  jähriger  Amtsthätigkeit  eine 
derartige  Freude  nicht  von  Herzen  gönnen?  Und  er 
freute  sich  ja  inniglich  dieses  seines  Ehrentages  — 
das  merkte  man  ihm  ersichtlich  an,  wenn  man  ihn  so 
im  Zuschauerräume  die  Glückwünsche  seiner  Bekannten 
entgegen  nehmen  sah;  das  zeigte  auch  die  rührende 
Gewissenhaftigkeit,  mit  der  er  anlässlich  der  mehr- 
maligen Hervorrufe  alle  die  schönen  Blumenspenden, 


Digitized  by 


Heinrich  der  Löwe. 


197 


von  dem  geschmacklosen  grossen  Blumenstern  in  der 
Mitte  bis  zum  koketten  Primadonnen-Blumenkörbchen 
herab,  mit  auf  die  Bühne  schleppte!  .  .  . 

Doch  halt  —  was  ist  das?  Ich  erwache  ja  auf  ein- 
mal? Das  hab'  ich  ja  alles  nun  selber  geschrieben,  ich 
war  also  in  eigener  Person  auch  im  Theater!  Zum 
Kuckuck,  leide  ich  denn  an  dem  Paul  Lindau'schen 
„Doppelbewusstsein",  bin  ich  am  Ende  gar,  wie  sein 
verflixter  „Anderer",  Selbstdoppelgänger  geworden?  Doch 
nein,  leide  bereits  nicht  mehr  daran  —  denn  wie 
jener  „Andere"  habe  ich  ja  soeben,  indem  ich  die 
Einheit  des  Bewusstseins  wieder  herstellte  und  mich 
sowohl  als  den  Einen  wie  als  den  Andern  wieder  er- 
kannt, die  Heilung  persönlich  schon  vollzogen.  Gott 
sei  Lob  und  Dank,  für  mich  wie  den  Leser  —  ich 
nenne  mich  wieder  mit  meinem  ehrlichen  Schrift- 
steller- und  Kritikernamen:  wach  und  ganz  gesund  — 
Arthur  Seidl. 


Digitized  by  Google 


Ingrid 

Oper  in  zwei  Akten  von  T.  K ersten 

Das  Irrlicht 

Oper  in  einem  Akt  mit  teilweiser  (1)  Benutzung  einer  französischen 
Idee  von  Kurt  Geucke;  beider  Musik  von  Karl  Grammann 

(1894) 

Die  sonst  für  Eingeladene  doch  so  geläufige  Wen- 
dung, dass  „mit  Vergnügen"  der  freundlichen  Auf- 
forderung Folge  geleistet  werde  (nämlich  zu  berichten)  — 
eine  solche  Redensart  würde  angesichts  der  beiden  obigen 
Opern-Neuheiten  sehr  schlecht  angebracht  sein.  Bleibt 
es  doch  ein  höchst  zweifelhaftes  Vergnügen,  bei 
solchen  Erstaufführungen  statt  der  „Kunst  warten"  zu 
dürfen,  auf  die  „Kunst  warten"  zu  müssen.*)  Etwas 
Dilettantischeres  als  das  von  Dr.  K ersten  gefertigte 
Textbuch  zu  dem  erstgenannten  Werke  ist  mir  wirklich 
schon  lange  nicht  mehr  vorgekommen.  Es  zeigt  wieder 
einmal  so  recht  erschreckend,  wie  himmelweit  sich 
unsere  „litterarische"  Bildung  mit  der  Zeit  von  der 
„Kunst"  und  ihrem  kräftig  pulsierenden,  frisch  quellenden 
Leben  schon  entfernt  hat.   Aber  auch  das  andere  Werk, 


•)  Anspielung  auf  die  Zeitschrift,  in  welcher  der  Bericht 
erschien. 


Digitized  by  Google 


Ingrid  und  Irrlicht. 


199 


wenn  es  sich  gleich  mit  logischem  Zusammenhange 
giebt  und  verhältnismässig  wirksamer  darstellt,  es  hat 
von  der  Kunst  doch  sozusagen  nur  den  Schein  geborgt. 
Herr  Kurt  Geucke,  sein  Verfasser,  ist  ohne  alle 
Frage  ein  grosses  Genie,  „er  sagt  es  ja  selbst"  — 
nämlich  im  „Freiberger  Anzeiger";  aber  am  Ende  doch 
nur  in  seiner  Eigenschaft  als  Zeitungs-Redakteur  eben 
jenes  Anzeigers:  seine  Bedeutung  als  „genialer  Text- 
dichter4* ist  mir  bis  jetzt  leider  noch  nicht  aufgegangen. 
Im  Gegenteil  erweist  sich  bei  einem  genaueren  Vergleich 
seines  „authentischen"  Urtextes  mit  der  für  die  Bühnen- 
darstellung endgültigen  „offiziellen"  Ausgabe  des  Libretto's 
(auch  das  wurde  einem  noch  zugemutet!),  dass  der 
Komponist  den  Dichter  hier  um  einige,  nicht  ganz  un- 
wesentliche Punkte  sogar  noch  verbessern  konnte. 

Dieser  Komponist  selbst  nun  hat  bisher  zu  Dresden 
immer  in  dem  Gerüche  gestanden,  ein  „Wagnerianer**  zu 
sein:  ihm  ist  aber  damit  schweres  Unrecht  geschehen, 
denn  er  hat  jetzt  ganz  offenkundig  bewiesen,  dass  er 
es  nicht  ist  und  überhaupt  gar  niemals  gewesen  sein 
konnte.  Er  konnte  es  schon  nicht  sein  von  wegen  der  über- 
mässig schwammigen  Weichlichkeit  seiner  Musik,  die  ihn 
vor  lauter  Schlagsahnen -Süsse  und  Verschwommenheit 
nirgends  zu  einer  schlagkraftigen  dramatischen  Gestaltung 
kommen  lässt  und  jeder  markigen  Plastizität  scheu  aus 
dem  Wege  geht.  So  viel  auch  eine  gewisse  Kritik 
immer  Nibelungenklänge  bei  ihm  finden  wollte  —  kräftig- 
harte Septimen-,  Nonen-  und  Undezimen-Akkorde  scheint 
es  in  seinem  persönlichen  Musiksystem  überhaupt  gar 
nicht  zu  geben,  und  ich  bin  überzeugt,  den  „Rheingold !"- 
Ruf  der  drei  Rheintöchter  hätte  Grammann  nur  mit  der 
samt-weichen  kleinen  None  zu  erfinden  fertig  ge- 
bracht, durch  deren  spätere  Einführung  (auf  die  ur- 
sprünglich grosse  hin)  ein  Wagner  doch  gerade  die 
musikalische  Schattierung  eines  bedeutsamen  szenischen 


Digitized  by  Google 


200 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Vorganges  im  dramatischen  Sinne  herbeizuführen  ver- 
mochte: wehmütige  Trauer  über  das  inzwischen  ge- 
raubte Gold,  welche  die  drei  sonst  so  naturfrischen 
Mädchen  nunmehr  befallen  hat!  Überdies  müsste  sich 
aber  ein  echter  „Wagnerianer"  auch  über  die  Grundbegriffe 
eines  musikalischen  Drama's  doch  etwas  klarer  sein,  als 
dies  Grammann  anscheinend  von  jeher  gewesen  und  mit 
hartnäckiger  Ausdauer  auch  heute  noch  immer  ist.  Man 
stelle  sich  nur  vor:  beide  Opern  stehen  im  Zeichen  des 
„modernsten  Weltverkehrs  und  seiner  Mittel";  sie  spielen 
in  unseren  heutigen  Tagen,  und  man  könnte  sie  beinahe 
als  Huldigungsgedichte  an  den  Herrn  Staatssekretär  Dr. 
Stephan  schon  auffassen.  Telegraphenstangen  werden  da 
angesungen,  Telegramme  in  Musik  gesetzt;  darunter  durch 
glaubt  man  interessante  Zeitungsinserate  heraus  zu  hören, 
und  es  dürfte  somit  eigentlich  nur  noch  der  „aktuell" 
arbeitende  „Reporter**  —  vertont  —  hier  fehlen;  in  jeder 
der  beiden  Opern  treten  auch  zwei  Personen  im  neu- 
zeitlichen Touristenkostüm  oder  im  Gesellschaftsanzug 
auf,  und  in  der  „Ingrid**  (2.  Akt)  singt  sogar  der 
Chor,  begleitet  von  den  „Kanonenschüssen**  des  betr. 
Schiffes,  sehr  geschmackvoll-poetisch  sein  alltägliches: 
„Das  Schiff  nach  Trondjem!**,  nachdem  Erhard  kurz  zuvor 
„des  Dampfers  Ankunft**  pünktlich  angekündigt  hat.  Ja, 
wem  seit  Schiller  und  Goethe,  Beethoven  und  Wagner 
die  Bedeutung  der  Idealitäts  Sphäre  der  Musik  für 
das  Drama  noch  immer  nicht  aufgegangen  ist  —  dem 
Manne  kann  eben  nicht  mehr  geholfen  werden! 

Welche  Irrpfade  in  ästhetischer  Hinsicht  aber  auch 
das  „Irrlicht**  —  nomen  et  omen  —  wieder  beleuchtet, 
das  geht  schon  daraus  hervor,  dass  sich  Komponist  und 
Dichter  in  ihrer  blinden  Nachahmung  der  Italiener  gar 
nicht  mehr  die  Frage  vorgelegt  haben,  ob  denn  die 
„modernen**  Schlag  auf  Schlag-Einakter,  die  im  Grunde 
nur  als  letzte  Akte  eines  vorausgebenden,  einfach  weg- 


Digitized  by  Google 


Ingrid  und  Irrlicht. 


201 


gestrichenen,  vielleicht  sogar  recht  sinnvollen  Drama's 
gelten  können,  erstens:  wirklich  dramatisch  sind  und 
nicht  vielmehr  nur  dramatisch  wirken,  und  zweitens: 
dem  musikalischen  Grundwesen  auch  zu  entsprechen 
vermögen.  Gerade  die  fein  geäderte  Entwicklung  jener 
vorauf  gegangenen,  hier  gar  nicht  mehr  zu  Worte  kom- 
menden S  e  e  1  e  n  handlung,  als  des  psychischen  Pro- 
zesses daran,  mfisste  doch  das  eigentlichste  Thema  des 
musikalischen  Teiles,  die  natürlichste  Aufgabe  des 
dramatischen  Komponisten  sein,  der  mit  blossen  „Kata- 
strophen" schlechterdings  nichts  mehr  anfangen  kann. 
Wie  lächerlich  vollends,  wenn  ein  Deutscher  sich  die 
Löwenhaut  der  Mascagnitis  umhängt  und  durch  ein  ge- 
waltig Gebrüll  von  „Unheil  —  Rache  —  Mord!",  durch 
ein  Augenrollen  mit  der  dräuenden  Miene  von  allerlei 
Nordlicht-Effekten  und  Sturm-Episoden  einem  Publikum 
zu  imponieren  sucht,  das  ja  doch  von  vornherein  schon 
weiss  (und  an  dem  musikalischen  Rufe  erst  recht  deutlich 
dann  erkennt),  dass  jenem  die  Zahmheit  nun  einmal 
unverkennbar  an  der  Stirne  geschrieben  steht,  bezw. 
unausrottbar  im  Blute  sitzt!  Das  freilich  ist  ebenso 
gewiss,  dass  für  Talente  „minorum  gentium",  deren 
Begabung  zur  Ausfüllung  grosser  Formen  niemals  ganz 
ausgereicht  hat,  gerade  diese  grassierende  Einakter- 
Mode  allerneuesten  Datums  mit  der  Zeit  eine  wahre 
Eselsbrücke,  zur  Bethätigung  ihres  bisher  natürlich  nur 
verkannten  Genie's,  geworden  ist.  Und  so  werden  wir 
uns  denn  auch  zu  fassen  wissen,  falls  diese  „Irrlichter*' 
—  so,  wie  die  Zeiten  heute  nun  schon  einmal  laufen  — 
als  quasi  nachträgliche  „Preisträger"  oder  doch  »mo- 
ralische* (!)  Sieger  der  unglückseligen  Gothaer  Kon- 
kurrenz unsere  deutschen  Operntheater  mehr  und  mehr 
unsicher  machen  und  fortan  überschwemmen  sollten  . . . 

Somit  hätten  wir  denn  glücklich  noch  den  musizierten 
„Kolportage-Roman"  auf  der  Opern-Bühne,  der  uns  aus 


202 


Wagneriana.    Bd.  III. 


mancherlei  Anzeichen  ja  schon  längst  zu  drohen  schien! 
Der  romantische  „Melusinen"-Komponist  hat  plötzlich 
hoch-moderne,  „aktuellste"  Anwandlungen  bekommen; 
mit  seinem  Kapitän  Tournaud  im  „Irrlicht"  singt  er 
heute:  „Ich  sinne  Unheil  —  Rache  —  Mord!"  Der 
niemals  echt  gewesene  „Wagnerianer"  zeigt  uns  damit, 
woran  wir  übrigens  nie  gezweifelt  haben,  dass  er  „auch 
anders"  kann.  Seine  Musik  ist  darüber  freilich  keines- 
wegs kraftvoller  geworden.  Ja  —  kaum  möchte  man 
es  für  möglich  halten  bei  diesem  seinem  qualligen 
musikalischen  Wesen  — ,  sogar  eine  Übertrumpfung 
MascagnPs  und  Leoncavallo's  ist  ihm  mit  Hilfe  seiner 
beiden  Textdichter  noch  gelungen.  Wenn  bei  Mascagni 
der  Fuhrmann  erst  noch  singt:  „Meine  Rösslein  eilen 
schnell,  ihre  Glöcklein  klingen  hell",  in  der  „Ingrid" 
eilt  das  Rösslein  in  natura  schnell  über  die  Bühne 
und  klingt  ein  veritables  „Glöcklein"  zwölf  Mal  hell  in 
die  Musik  hinein.  (Welcher  Uhrmacher  übrigens  dieses 
aufdringliche  Werk  regiert  haben  muss,  dessen  Zeiger 
schon  beim  Duett  zwischen  Helga  und  Godila  nahezu 
auf  12  Uhr  standen,  um  dann  auf  einmal  so  richtig 
weiter  zu  gehen?)  Der  urwüchsigere  Dolch  ferner  wird 
durch  das  „intimere"  Gift  ersetzt,  der  Zweikampf 
zwischen  zwei  Nebenbuhlern  durch  einen  jämmerlich 
zufälligen  Unglücksfall  (jähes  Zusammenbrechen  eines 
Brückengeländers !)  entschieden ;  und  wenn  bei  Leon- 
cavallo  noch  der  Geliebte  die  untreue  Liebste  erstechen 
muss  —  Grammann  und  seine  Textdichter  brauchen  gar 
nicht  erst  diesen  Liebhaber  mehr  auf  der  Bühne;  bei 
ihnen  bleibt  er  hübsch  unsichtbar  hinter  der  Szene,  und 
das  Mädchen  entleibt  sich  lieber  gleich  selber.  Dass 
Gift  und  Irrsinn  überhaupt  gänzlich  unmusikalische  Dinge 
sind,  das  bedenkt  man  anscheinend  gar  nicht  mehr. 
Dass  die  Schande  eines  Weibes  als  Opernstoff  allenfalls 
noch  aus  dem  brutalen  italienischen  Volksleben  heraus 


Digitized  by  Google 


Ingrid  und  Irrlicht. 


203 


begreiflich  war,  weil  sie  dort  durch  Eifersucht  zur 
That  drängte,  für  eine  deutsche  Oper  es  aber  auch 
noch  einige  andere  Dinge  zu  komponieren  gäbe,  das 
geht  schon  über  den  geistigen  Horizont  dieser  Herren 
hinaus.  Dazu,  wie  gesagt,  vollkommenste  Verwirrung 
der  Grundbegriffe  eines  musikalischen  Drama's!  Man 
denke  nur  an  Koffer,  Plaid  und  Hutschachtel,  um  den 
ganzen  haarsträubenden  Unsinn  zu  ermessen,  der  hier 
ä  la  „Fra  Diavolo"  und  „Fledermaus"  als  ernst  zu 
nehmendes  Operngebilde  an  uns  vorüber  gezogen  ist: 
Herr  Erl  als  deutscher  Tourist,  Decarli  im  Gesell- 
schaftsanzuge und  Frau  Wittich  im  Reisekostüm  —  wer 
lachte  da  nicht?  „Ich  bitte  Sie  nur,  wo  kommen  wir 
damit  noch  hin!"  sagte  mir  beim  Herausgehen  ein  be- 
rühmter Pianist,  der  —  weiss  Gott  —  im  Opern- 
komponieren  auch  gerade  kein  Waisenknabe  zu  nennen. 

Dass  hier  eine  Steigerung  des  dramatisch  -  musi- 
kalischen Ausdruckes  im  Gesänge  nur  mehr  durch 
drastisches  Nichtsingen,  d.h.  durch  den  gesprochenen 
Schrei  und  länger  festgehaltene  Brüll-Deklamation  er- 
reicht wird,  versteht  sich  bei  solchen  ästhetischen 
(oder  richtiger  eigentlich:  unästhetischen)  Grundlagen 
der  beiden  Neuheiten  am  Rande.  Dass  aber  dieser  Herr 
Grammann  überhaupt  nicht  die  geringste  Ader  zu  dra- 
matischer Gestaltung  in  sich  hat,  Hesse  sich  an  zahl- 
reichen Beispielen  —  von  der  gänzlich  verfehlten  Chor- 
behandlung gar  nicht  erst  zu  reden  —  leicht  nachweisen; 
.  wir  wollen  jedoch  nur  zwei  auffällige  Versäumnisse  hier 
heraus  greifen,  wie  in  seiner  Musik  die  lebendige  Natur 
nicht  zum  Mitreden  oder  Mithandeln  gebracht  wird. 

1.  Der  Ljora-Fluss  tobt  und  reisst  und  schlägt  seine 
zischenden  Wellenwirbel  gegen  die  Felsen  —  in  der 
Musik  ist  nicht  das  Geringste  davon  zu  verspüren; 

2.  die  Uhr  schlägt  12  Uhr,  Volk  tritt  auf  und  es  ent- 
wickelt sich  auf  der  Szene  ein  bewegtes,  gar  frisch  belebtes 


Digitized  by  Google 


204 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Bühnenbild  —  die  Musik  scheint  sich  mittlerweile  in 
ahnungslos  sinnigen,  zarten  Betrachtungen  der  nordischen 
Naturschönheiten  „still  bei  Seite44  zu  ergehen  etc.  etc.  — 
mit  Grammann'scher  Grazie.  Desto  mehr  muss  natürlich 
dann  die  unausgesetzte  Inanspruchnahme  dieser  um- 
gebenden Natur  zu  allerlei  derben  Effekten  verletzen, 
die  in  ihrem  Aufeinanderplatzen  von  Peitschenknall  und 
Glockenton,  Kuhläuten,  Alphörnern,  Kanonenschüssen, 
zweimaligem  Nordlicht,  Sturmglocken,  Stapellauf,  Meer- 
ungewitter,  Schiffbruch  und  dgl.  zuletzt  geradezu  kind- 
liche Wirkungen  thut.  Wenn  sich  die  Herren  Opern- 
komponisten doch  nur  endlich  klar  machen  wollten, 
dass  sie  sich  mit  diesem  Überbieten  an  äusserlicher 
Effekthascherei  schliesslich  immer  mehr  gegenseitig 
unterbieten,  und  dass  „Wirkung  ohne  Ursache"  auf 
künstlerischem  Gebiete  genau  dasselbe  bleibt,  wie  im 
moralischen  Leben  schon  das  Unsittliche!  Dass  der 
Komponist  dazu  wieder  mit  der  Harfe,  oft  an  den  un- 
passendsten Stellen,  um  sich  wirft,  als  gälte  es,  einen 
König  Saul  zu  besänftigen,  brauche  ich  gewiss  nicht 
erst  zu  erwähnen;  dass  er  jedoch  diesmal  durch  senti- 
mentale Trompetensoli  (welche  den  Textbuch- Vermerk: 
„Tiefe  Rührung"  vollkommen  entbehrlich  machen)  den 
„Säckerhäts-Trompeter"  noch  überblasen  hat,  verdient  zum 
Mindesten  hier  angemerkt  zu  werden.  Sicherlich  bieten 
beide  Werke  mancherlei  melodischen  Reiz  —  doch  »was 
nützt  mich  der  Mantel,  wenn  er  nicht  gerollt  ist?"  Gewiss 
ist  Ingrids  „Joho  —  joho!"  eine  recht  wirkungsvolle 
und  charakteristische  nordische  Weise  —  aber,  um  sie 
zu  hören,  brauche  ich  doch  nicht  erst  in's  Theater  zu 
gehen.  Zudem  möchte  ich  noch  sehr  bezweifeln,  dass 
dieser  laute,  breite  Gesang  in  dem  heroisch-wuchtigen 
Vortrag  durch  eine  Primadonna  assoluta  einzuschläfern 
irgend  geeignet  sein  wird.  Kurz:  —  musikalische  Reise- 
eindrücke aus  Norwegen  und  in  Töne  gesetzte  Gefühle 


Digitized  by  Google 


Ingrid  und  Irrlicht. 


205 


der  Vaterschaft  oder  der  unehelichen  Kindschaft  ergeben 
noch  lange  kein  lebensfähiges  Musikdrama. 

„Ingrid"  wiederum,  die  längere  von  beiden  Opern, 
die  denn  auch  auffallend  kühl  aufgenommen  worden  ist, 
liesse  sich  am  kürzesten  wohl  charakterisieren  mit 
„Eingebildete  Schmerzen".  Es  ist  schon  recht,  was 
Kant  einmal  vom  „interesselosen  Schönen"  gesagt;  so 
gänzlich  „interesselos -schön"  sollte  ein  dramatisches 
Werk  aber  doch  nicht  aussehen.  Zumal  das  Textbuch 
ist  gänzlich  verunglückt  von  vornherein,  sowohl  drama- 
turgisch, als  auch  besonders  poetisch  besehen.  Und 
wenn  ihr  mir  am  Ende  auch  hundert  Mal  versichert, 
dass  es  wahrhaftig  sei  und  ihr  das  alles  „selbst  so 
erlebt"  hättet,  so  sage  ich  euch  zum  101.  Male,  dass 
ihr  euer  Erlebnis,  bis  ihr  nach  Hause  kamt,  glücklich 
so  lange  verdreht,  verzerrt  nnd  mit  euren  städtischen 
Gefühlen  vermischt  habt,  dass  etwas  durch  und  durch 
Unechtes  daraus  geworden  ist.  Was  hätte  sich  nicht 
alles  aus  dem  hübschen  Motiv  des  Volks-Nelkenspieles 
machen  lassen!  Wenn  schon  „Ingrid"  die  Hauptperson 
und  Titelheldin  des  Ganzen  sein  sollte,  warum  nicht 
bei  Erhard  einen  Konflikt  in  seiner  Neigung  zwischen 
Helga  und  Ingrid  statuieren  und  das  Nelkenspiel  zu 
Gunsten  Ingrid 's  entscheiden  lassen?  Oder  aber:  die 
Oper  muss  gleich  „Helga"  heissen,  dann  aber  auch  mit 
der  fünften  Szene  des  zweiten  Aktes  schliessen.  So 
jedoch  ist  alles  wie  ausgewechselt  und  verdreht  darin, 
„rechter  Hand,  linker  Hand:  alles  vertauscht"  —  ich 
will  den  Vers  nicht  noch  weiter  fortsetzen.  Relativ  ver- 
standen, ist  freilich  „Irrlicht"  immer  noch  weit  besser, 
ein  musikalisch  ungleich  mehr  abgerundetes,  in  sich 
einheitlicheres,  auch  im  dramatischen  Sinne  zusammen- 
geraffteres Werk  als  „Ingrid"  zu  nennen.  Es  hat  doch 
wenigstens  Physiognomie;  auch  das  rhythmische  Element 
erscheint  hier  pikanter,  das  melodische  ist  flüssiger 


Digitized  by  Google 


206 


Wagneriana.    Bd.  III. 


gediehen.  Welch'  schauerliche  Deklamation  trotzdem 
der  Komponist  sich  auch  da  zuweilen  leistet,  möge  man 
aus  Grisards  Mitteilung  (unter  Hinweis  auf  das  ominöse 
Schreiben)  näher  entnehmen,  um  ein  für  alle  Mal  sich 
vollkommen  darüber  im  Reinen  zu  sein,  dass  an 
Grammann  Hopfen  und  Malz  zu  einem  musikalischen 
„Dramatiker"  verloren  bleiben  musste.  Und  so  kann 
Unsereiner  denn  über  ihn  nicht  gut  anders  als  mit 
Gervaisens  Worten  enden: 

„Das  Mitleid  will  mir  in  die  Augen  quellen, 

Mein  armer  Freund!    Doch  kann  ich  dich  nicht  lieben.** 


Digitized  by  Google 


Das  Heimchen  am  Herd 


Oper  in  3  Abteilungen.   Frei  nach  Dickens'  gleichnamiger  Er- 
zählung von  A.  M.  Willner;  Musik  von  Karl  Goldmark 

(1896/97) 

Warum  nicht  gleich  „Hausmärchen  in  drei  Gezirpen", 
wie  doch  Dickens  selber  seine  Erzählung  schon  eingeteilt 
hat?  Das  wäre  doch  wenigstens  originell,  einmal  eine 
durchaus  neue  Art  der  Werkbezeichnung  oder  Akt- 
benennung auf  dem  Gebiete  der  modernen  Oper,  die 
unbedingt  Aufsehen  hätte  erregen  müssen!  Aber  frei- 
lich, das  wäre  ja  wohl  auch  zu  streng  nach  Dickens* 
gleichnamiger  Erzählung  verfahren  gewesen:  auf  das 
„frei"  aber  hatten  es  die  Herren  Verfasser  allem  An- 
scheine nach  vor  Allem  angelegt;  denn  frei,  sehr  frei 
sind  sie  mit  ihrer  englischen  Vorlage  umgegangen,  und 
wehe  dem,  der  etwa  von  dem  frischen  Eindruck  einer 
erneuten  Lektüre  des  allerliebst  poetischen,  wie  musik- 
durchtränkten Dickens'schen  „Hausmärchens"  her  direkt 
in's  Theater  kam!  Zwar:  „Ein  Märchen  war  das 
Ganze  I"  —  so  meinen  auch  die  beiden  Herren,  Text- 
dichter und  Tonsetzer,  durch  das  Sprachrohr  des 
Heimchens  am  Schlüsse  ihres  gemeinsamen  Opus,  „ein 
Märchen  von  Menschenglück,  von  Treu*  und  junger 
Liebe!"  —  wie  der  Elfenchor  bekräftigt,  mit  dem  das 
effektvoll  gestellte,  von  einem  Blumenkranz  umrahmte 
„lebende  Bild"  am  Ende  noch  ausklingt.  Nichtsdestoweniger 


208 


Wagneriana.    Bd.  III. 


sind  sie  hier  doch  in  einer  recht  merkwürdigen  Selbst- 
täuschung befangen,  denn  leider  war  es  eben  kein  solches, 
was  an  uns  da  augenblendend  vorüber  zog.  Wie  Gold- 
mark ehedem  schon  in  dem  „Merlin"  des  Textlieferanten 
Sigfried  Lipiner  der  tiefen,  dichterisch-religiösen  Mystik 
des  Wagner'schen  „Parsifal"  lediglich  das  rein  äusser- 
liche  Moment  magischen  Zaubers  gegenüber  zu  stellen 
wusste,  so  hat  er  es  auch  hier  in  seinem  neuesten 
Werke,  dem  durch  seinen  breiten  Erfolg  lockenden 
Humperdinck'schen  „Märchenspiel"  gegenüber,  mit  Hilfe 
eines  platten  Textverfertigers  nur  wieder  zu  einer  ganz 
oberflächlichen  Feerie  zu  bringen  vermocht.  Ja,  man 
darf  sogar  so  weit  gehen  und  hier  sagen:  Humperdinck 
und  Goldmark  in  einem  Atem  zu  nennen  (wie  dies  so 
oft  neuerdings  geschehen),  oder  auch  nur  in  Vergleich 
bringen,  heisst  diesem  entschieden  viel  zu  viel  Ehre 
erweisen,  jenem  aber  schon  deshalb  zu  nahe  treten, 
weil  man  ihm  damit  nur  wieder  zeigt,  dass  man  ihn  — 
so  ganz  und  gar  nicht  verstanden  hat. 

Die  feine,  zarte  Poesie  dieses  zierlichen  Dickens'- 
schen  „Heimchens  am  Herd"  nachzuempfinden,  das  den 
Herd  der  braven  Fuhrleute  so  heimlich  macht:  dazu 
fehlt  ja,  Goldmark  sowohl  wie  seinem  Librettofabrikanten, 
ganz  augenscheinlich  alles  und  jedes  „Organ";  da  ist's 
nicht  nur  mit  einem  raffiniert  in  Vorschlägen  zirpenden 
Flötenmotiv,  sordinierten  Geigen  in  hohen  Lagen,  ein 
paar  Harfen -Passagen  und  ein  bisschen  Glockenspiel 
gethan!  Bei  Dickens  spinnt  es  die  Erzählung  von  An- 
fang bis  zu  Ende  traulich  in  die  Musik  des  summenden 
Kessels  ein;  da  steigt  der  ganze  nächtliche  Elfenspuk 
wie  ein  Traum  seines  besseren  Bewusstseins  mit  psycho- 
logischer Notwendigkeit  als  guter  Hausgeist  im  Innern 
des  biderben  John,  vor  schwerem  Unheil  ihn  bewahrend, 
auf;  da  ist  gerade  das  bereits  vorhandene  (nicht  erst 
ungarisch-pikant  noch  zu  erwartende)  Kind  das  lebendig 


Digitized  by  Google 


Das  Heimchen  am  Herd. 


209 


vermittelnde  Bindeglied  und  Glücksunterpfand  zwischen 
beiden  getreuen  Ehegatten,  und  wird  nicht  das  junge 
Frauchen  Dot  zur  bewusst-reizenden  und  die  Liebe 
ihres  Mannes  erst  versuchenden,  unausstehlich-albernen 
Kokette.  Nun  wollen  wir  nur  einfach  darauf  hinweisen, 
dass  die  Psychologie  in  diesem  Angelpunkte  der  ganzen 
Handlung,  dem  bewussten  zarten  Geheimnis,  das  so 
Vielen  unmassen  gefällt,  schon  deshalb  vollständig  in 
die  Brüche  geht,  weil  das  Weib  in  gesegneten  Umständen 
—  man  muss  hierüber  einmal  ohne  Feigenblatt  reden!  — 
kaum  je  zur  Aufreizung  der  Eifersucht  bei  ihrem  Gatten 
Veranlassung  fühlen  dürfte.  Es  ist  und  bleibt  eben 
raffinierter  Zucker;  das  „Geheimnis  wundersüss"  wird 
„süsslich",  je  weniger  diese  Delikatesse  „zart"  ist  und 
ein  ordentlich-rechtschaffen  Rückgrat  hat.  Kurz,  diese 
Willner-Goldmark'sche  „Dot"  ist  schon  das  reine  Antidot 
zu  jener  Dickens'schen. 

Dass  dabei  der  3.  Akt  mit  seinen  heiteren  Episoden 
und  seinem  wirksamen  Wechselspiel  auf  Grund  der 
geschickten  Arbeit  des  Librettisten  dennoch  guten  Ein- 
druck macht,  das  steht  wieder  auf  einem  anderen  Blatte 
und  soll  hier  keineswegs  unterschlagen  werden.  Aber 
das  ist  auch  eine  Sache  ganz  für  sich  und  hat  mit  dem 
Geiste  des  Boz'schen  Märchens  im  Grunde  nicht  das 
Geringste  mehr  zu  schaffen.  Im  Ganzen  aber  betrachtet, 
stecken  wir  mit  diesem,  in  lauter  geschlossene  Einzel- 
nummern auseinander  fallenden  Textbuche  bis  über  die 
Ohren  abermals  in  der  alten,  längst  für  überwunden 
gehaltenen  Opernmisere,  wo  das  „Drama"  zum  blossen 
Vorwande  dient  für  ein  recht  ergiebiges,  rücksichtslos 
als  Selbstzweck  sich  ergehendes  Musizieren.  Wenden 
wir  uns  also,  billig  verstimmt  vom  textlichen  Teile  der 
Neuheit,  nunmehr  seiner  musikalischen  Einkleidung  zu, 
um  hier  vielleicht  die  Vorzüge  dieser  bei  der  grossen 
Masse  so  überaus  erfolgreichen  Oper  zu  entdecken. 

Seidi,  Wagneriana.    Bd.  III.  14 


210 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Aber  auch  da  steht  es  leider  nicht  viel  besser  und 
Folgt  uns  die  Enttäuschung  auf  dem  Fusse.  Der  grosse 
Eklektiker  vor  dem  Herrn,  der  Goldmark  schliesslich 
von  jeher  gewesen,  ist  er  natürlich  auch  heute  noch, 
und  damit  könnte  man  sich  ja  abfinden,  so  lange  dieser 
musikalische  Kosmopolitismus  sich  in  gewählten  Grenzen 
hielte  und  durch  weltläufige  Bildungsglätte  wenigstens 
eine  äussere  Einheit  „persönlicher"  Note  darum  und  daran 
noch  herzustellen  versuchte.  Was  diesmal  jedoch  an  dem 
Musiker  Goldmark  ganz  besonders  befremdet,  das  ist 
neben  einer  mehr  als  bedenklichen  Sterilität  in  der  Er- 
findung, über  welche  nur  eine  unverwüstliche  Orchester- 
Gewandtheit  hinweg  täuschen  kann,  die  durch  ihren  Mangel 
an  Selbstkritik  nahezu  erschreckende,  ungeheuerliche 
Wahllosigkeit  seiner  gleissnerischen  und  <i  tont  jrrix 
effekthaschende  Mache.  Etwas  im  künstlerischen  Sinne 
Gesinnungsloseres,  dabei  durch  seine  schauerlichen  Un- 
motiviertheiten  zugleich  innerlich  Un wahrhaftigeres  ist 
uns  seit  den  Zeiten  des  seligen  Meyerbeer  wirklich 
nicht  mehr  vorgekommen,  und  von  Weitem  schon  tragt 
diese  Musik  das  Wahrzeichen  jener  unfruchtbaren,  wohl- 
feilen Rezeptmacherei  an  sich,  die  schliesslich  den  Stil 
Händeis,  Nicolais,  Gounods  und  Wagners,  Rezitativ 
und  Tanzlied,  leichtfertig  und  verblüffend  mit  einander 
verbindet  und  den  feurigen  Czärdas  geschmacklos  genug 
dicht  neben  das  ganz  gelegentlich,  per  llazzia  auf- 
gegriffene deutsche  Volkslied  „Weisst  Du  wie  viel  Sterne 
stehen"  stellt,  oder  duftigen  Elfengesang  mit  einem 
„Kuckuck,  Kuckuck!  ruft's  aus  dem  Wald"  ganz  un- 
leidlich sinnwidrig  verquickt.  Alles  nur,  weil  ge- 
wisse populäre  Lorbeeren  eines  gewissen  Humperdinck 
einen  sicheren  Goldmark,  den  gewiegten  Abgucker  und 
Meister  in  mancherlei  „Branchen",  nicht  mehr  schlafen 
Hessen,  je  grössere  Ertragfähigkeit  dieser  neue,  im 
Gegensatze  zu  seinen  früheren  Opernwerken  nun  auch 


Digitized  by  Google 


Das  Heimchen  am  Herd. 


211 


auf  kleineren  Bühnen  gut  einzuführende  Absatzartikel  der 
*  Märchenoper"  dermalen  eben  zu  verheissen  schien. 
Man  wird  sich  über  solche  durchsichtige  Spekulation 
nicht  weiter  zu  echauffieren  brauchen  und  kann  über  all' 
dem  getrost  einstweilen  zur  Tagesordnung  übergehen; 
denn  dieser  neueste  Wechselbalg  des  Unsinns  wird  zu- 
versichtlich, so  bald  nur  die  Schaulust  des  Publikums 
sich  befriedigt  und  erschöpft  haben  wird,  den  sicheren 
«Weg  alles  Fleisches*  wieder  wandeln.  Einstweilen  frei- 
lich heisst  es:  „Unsinn,  du  siegst  —  und  ich  muss 
unterliegen !"  Doch  ich  gestehe,  dass  ich  bisher  vor 
dem  Komponisten  der  Opern  „Merlin"  und  „Königin 
von  Saba",  der  Instrumentalsuite  „Ländliche  Hochzeit*4 
und  der  „Sakuntala"-Ouverture,  vor  seinem  Geist  und 
Können,  denn  doch  wesentlich  mehr  Respekt  gehabt  habe. 

Vermag  man  sich  also  erst  einmal  über  diese  und 
andere  missliche  Dinge  hinweg  zu  setzen,  so  wird  man 
im  Einzelnen  manch'  Hübsches,  für  das  Auge  Reiz- 
volles und  dem  Ohre  Einschmeichelndes  im  Verlaufe 
des  Abends  vorfinden.  Wir  meinen  damit  zwar  nicht 
die  so  unsäglich  dürftig  und  schablonös  von  Violoncell, 
Fagott  oder  englisch  Horn  in  der  Tenorlage  begleiteten, 
auch  deklamatorisch  sehr  zweifelswürdigen  Lieder  des 
Seemannes  Eduard,  auch  nicht  die  zwar  frischen,  im 
Grunde  aber  bei  aller  munteren  Lebendigkeit  doch 
reichlich  trivial  gehandhabten  Volkschöre,  und  schon 
gar  nicht  das  belanglose,  stark  nach  Mascagni's  Fuhr- 
mann schmeckende  Postillonlied  Johns,  oder  das  in 
seiner  Apostrophe  an's  Publikum  koupletmässig  fade 
Puppenlied  Tackletons;  wohl  aber  denke  ich  dabei  an 
die  wohllautend  zierlichen  Weisen  des  Heimchens,  das 
sanftschöne  Liebeslied  der  May  im  altertümlichen 
Madrigal -Tone,  das  schmucke  Tanzlied  der  Dot,  das 
ebenso  sanglich  wie  klangvoll  geführte,  breit  angelegte 
Quintett,  sowie  den  mit  sinnlichen  Reizen  des  Obres 

14* 


Digitized  by  Google 


212 


Wagneriana.    Bd.  III. 


und  des  Auges  verschwenderisch  ausgestatteten  Elfen- 
zauber am  Ausgange  der  II.  „Abteilung*'.  Freilich  er- 
scheint hier  mitunter  wieder  die  Süssigkeit  des  Klanges 
zur  Süsslichkeit  gesteigert  —  das  glühende  Kolorit  wird 
zu  einer  üppig-schwülstigen  Exotik.  Ganz  besonders  aber 
hat  es  mich  überrascht,  dass  das  Publikum  den,  eine 
so  bedeutungsvolle  Stellung  im  Werke  einnehmenden, 
durch  geschmeidig- zarte  Melodik  doch  so  anziehenden 
Sang  der  Dot  vom  „Geheimnis  wundersüss"  nicht  schon 
gleich  bei  seinem  erstmaligen  Vorkommen  in  der  I.  Ab- 
teilung, sondern  erst  als  wiederkehrendes  Motiv  ent- 
sprechend gewürdigt  hat;  er  ist  sicher  eine  der  besten 
und  (relativ)  echtesten  Nummern  der  Partitur.  Das 
schon  oben  erwähnte  Tanzlied  hingegen:  „Lichterglanz, 
ach  wie  hold !"  und  das  bald  hernach  folgende  Quintett 
wurden  auf  offener  Szene  beklatscht;  das  Orchester- 
Vorspiel  zur  III.  Abteilung,  mit  dem  vom  prächtigen 
Dresdner  Meisterorchester  mit  wahrhaft  sprühendem 
Elan  genommenen  Cz&rdas  am  Ende,  musste  nolens 
volens  wiederholt  werden,  so  stürmisch  war  die  „popu- 
läre" Anerkennung  dieser  Leistung.  Die  Elbe  fliesst 
nämlich  dicht  —  an  Ungarn  vorüber! 

Unserer  ausgezeichneten  Elbflorenz- Aufführung  muss 
man  im  Übrigen  das  besondere  Kompliment  machen,  dass 
sie  nicht  nur  die  Lichtseiten  des  Werkes,  sondern  da- 
mit erst  recht  seine  grossen  Schwächen  sofort  in's 
rechte  Licht  rückte  und  nichts,  was  hier  faul  ist  an  diesem 
Märchenzauber,  irgend  vertuschte.  Genau  seinem  Werte 
entsprach  seine  Aufnahme:  erst  gegen  Ende  der  II.  Ab- 
teilung hin  wurde  das  so  zahlreich  wie  neugierig  er- 
schienene Publikum  wärmer,  erst  nach  Niedergang  des 
Schlussvorhanges  konnte  der  anwesende  Komponist  noch 
einige  wenige  Male  gerufen  werden.  Das  Tableau  am 
Schlüsse  des  II.  Aufzuges  blieb  allerdings  reichlich  un- 
verständlich —  nach  Art  alter  Bilder  hätte  dem  Püppchen 


Digitized  by  Google 


Das  Heimchen  am  Herd. 


213 


auf  der  Postkutsche  zur  Erklärung  für  den  Beschauer 
eigentlich  noch  ein  Zettel  aus  dem  Munde  heraus  hängen 
müssen  mit  der  Aufschrift :  „Ich  bin  der  kleine  Postillon". . . 

Es  hiess  späterhin,  Karl  Goldmark  hätte  dem 
Bungert'schen  „Odysseus"  „nachgeeifert"  und  er  habe 
neuerdings  einen  ganz  frischen  griechischen  Stoff  der 
„homerischen  Welt"  auf  seiner  Opernpfanne.  Er  be- 
nimmt sich  demnach  wie  der  Fuchs,  der  beim  solennen 
Salamander- Reiben  der  Burschen  immer  „nachklappt44! 
Wahrlich,  wer  an  dieser  dreifachen  Parallele:  „Parsifal44 
—  „Merlin44,  „Hänsel  und  Gretel44  —  „Heimchen  am 
Herd44  und  nun  wieder  „Odysseus  Heimkehr44  —  „Briseis44 
noch  immer  nicht  merkt,  dass  unser  Komponist  weniger 
ein  Finder  als  vielmehr  ein  Findiger  ist,  der  muss  vom 
lieben  Gott  schon  mit  respektabler  Blindheit  geschlagen 
sein.  Ginge  man  freilich  von  der  „Grazie  des  Pumpens41 
aus,  die  wir  an  anderem  Orte  als  einen  wesentlichen 
Bestandteil  der  Murger'schen  Szenen  „Zigeunerleben44 
bezeichnet  haben,  so  müsste  Goldmark  eigentlich  der 
erfindungsreichste  „Boheme44- Komponist  unserer  Zeit 
gerade  sein.  Dieses  ist  er  nun  zwar  nicht.  Aber  was 
nicht  ist,  kann  nach  den  jüngsten  Erfolgen  der  italieni- 
schen „Boheme44  ja  vielleicht  noch  werden!  Über 
Leoncavallo  und  Puccini  werden  die  Akten  vermutlich 
bald  geschlossen  sein,  über  Goldmark  sind  sie  es  für 
alle  Verständigen  schon  lange.  Denn  —  um  (mit  dem 
Murger'schen  Collin  zu  reden)  „rasch  noch  sieben  Feuille- 
tonzeilen zu  füllen44:  Der  Kalauer  ist  ja  sehr  wohlfeil, 
dass  Goldmark  das  Gold  Wagners  und  Humperdincks  in 
Silbermünze  umgesetzt  und  zu  einzelnen  Markstücken 
geschlagen  habe.  Doch  dieser  Witz  wird  Ernst,  wenn 
wir  das  alte  Sprüchwort  in  der  Umkehrung  einmal  an- 
wenden und  sagen,  dass  das  Reden  bei  ihm  wohl  Silber 
war,  das  Gold  aber  ohne  Zweifel  Schweigen  hier 
gewesen  wäre.    Der  Rest  bleibt  denn  auch  Schweigen. 


Digitized  by  Google 


Haschisch 


Oper  in  einem  Aufzuge  von  Axel  Del  mar;  Musik  von 

Siegfried  Berger 

(1897/8) 

„Im  glücklichen  Arabien"  kennt  man  zwar  scheinbar 
noch  „die  Rache  nicht",  dafür  aber  merkwürdigerweise 
Richard  Wagner  im  17.  Jahrhundert  schon  desto  besser. 
Wohlthätig  ist  des  Begeisterungsfeuers  Macht,  wenn  sie 
der  Mensch  bezähmt,  bewacht;  doch  —  wehe,  wenn  sie  los- 
gelassen, als  „freie  Tochter  der  Natur4'  nämlich!  Ganz 
verschiedene  Sorten  von  „  Wagner-Nachfolge"  giebt  es  be- 
reits heute:  intransigenten  Radikalismus  und  esoterische 
Wagner- Bewahranstalt,  Geschäfts  -  Wagnerianismus  und 
Wagner- Philisterium,  R.  Wagner-Gigerl  und  Wagner- 
Dilettanten,  Wagner- Vereine  zu  4,  10  und  20  Mark  Jahres- 
beitrag, und  wiederum  akademische  „Wagner-Gesell- 
schaften" mit  mehr  oder  weniger  geistreichen  wissen- 
schaftlichen Vorträgen;  ferner  den  enragierten  Wagner- 
Enthusiasmus  als  „neudeutsche  Kapellmeistermusik",  als 
wohlanständig  gymnasiale  Stabreimdichtung  und  als 
Schoppen hauer'sche  Erlösungsromantik  oder  gleich  gar 
als  buddhistisch-mystische  Wiedergeburts-Ekstatik;  dann 
aber  auch  einen  Wagnerianismus  des  vornehmen  tpleen, 
als  Turf  und  Sport  sozusagen,  als  leichte  Kavallerie  — 
wohl  zu  unterscheiden  übrigens  noch  (so  schwer  es 


Digitized  by  Google 


Haschisch. 


215 


vielleicht  manchmal  auch  fallen  mag)  von  der  ominösen 
„Leonkavallerie".  Diese  Spielart  von  Wagnerianismus, 
die  „Pferdezuchf'-Spezies  innerhalb  der  bedeutsamen 
„Wagnerkultur",  ist  gar  nicht  einmal  so  spärlich  ver- 
breitet, wie  man  wohl  glauben  sollte,  und  mit  ihr  haben 
wir  es  in  unserem  Falle  allem  Anscheine  nach  „vor- 
nehmlich" zu  thun.  Denn  in  der  That  werden  wir 
dieser,  wohl  mehr  hoffähigen  als  gerade  genussreichen 
Novität  ä  la  mode  Berlinoise  am  ehesten  noch  gerecht 
werden,  wenn  wir  sie  als  aristokratisches  Sportereignis 
mit  allen  Anzeichen  eines  sensationellen  Turferfolges 
hier  begrüssen.  Am  Totalisator  wurde  gleichsam  mit 
sinnloser  Leidenschaft  gewettet,  beim  Hazard  in  später 
Nachtstunde  ausgeknobelt,  dass  der  arabische  Hengst 
reinster  Rasse  genannt  „Haschisch"  durch's  Ziel  gehen 
werde;  und  richtig,  er  ist  denn  auch  durch  —  gegangen. 
Warum  nur  soll  ein  schneidiger  Kavallerist  nicht  auch 
zur  Abwechselung  einmal  als  sein  Steckenpferd  die  Musik 
reiten  können?! 

Herr  Siegfried  mit  dem  Vertrauen  erweckenden 
Namen  B  e  r  g  e  r  gehört  —  wie  uns  die  Kunde  ward 
—  dem  berühmten  „Potsdam  -  Berliner  Doppelkronen- 
Wagnervereine"  an,  der  in  der  oberen  Zehntausend- 
schicht' schon  viel  von  sich  reden  gemacht  hat,  in  allen 
ernsteren  Kunstkreisen  aber  von  jeher  einer  ganz  re- 
spektswidrigen Heiterkeit  begegnet  ist.  Die  hohe  und 
höchste  Aristokratie  der  sächsischen  Residenz  war  bei  der 
Premiere  des  Werkes  denn  auch  so  ziemlich  vollzählig 
zu  Gaste;  ja,  aus  Berlin  waren  sogar  besondere  Send- 
boten abgeordnet,  will  sagen:  eigens  für  diesen  Zweck 
nach  Dresden  zugereist.  Über  Alledem  schon  musste 
der  dunkle  Verdacht  Nahrung  gewinnen,  dass  hinter 
dem  schlichten  Pseudonym  etwas  ganz  Besonderes,  so 
etwas  Getrüffeltes  für  Austernfreunde  und  Carte  blanche- 
Schlürfer,  sich  den  Blicken  der  profanen  Welt  verberge. 


Digitized  by  Google 


216 


Wagneriana.   Bd.  III 


Weht  es  uns  doch  wie  Odeur  der  „Haute  rotte"  und 
Parfüm  der  „Haute  ßnance**  in  Rosen wasserduft  und 
Roulette -Atmosphäre  aus  dieser  Operndichtung  ent- 
gegen. Ob  sich  nun  freilich  die  in  unverbesserlich 
indiskreten  Tageblättern  weniger  oder  mehr  unverblümt 
ausgesprochene  Vermutung  über  den  Hintermann 
wirklich  auch  bestätigt,  oder  nicht  —  wir  haben  keinen 
Anlass,  das  Visier  gewaltsam  zu  lüften,  schon  weil  wir 
allerdings  von  der  Wagnerverehrung  des  dieser  Oper 
so  offen  Verdächtigten  und  bisher  noch  Unbescholtenen, 
sowie  von  seinem  geläuterten  „Stilgefühle"  bislang  doch 
immer  noch  etwas  besser  gedacht  haben.  Wir  gedenken 
also  die  Motive  jener  Pseudonymität  zu  ehren,  obgleich 
wir  sie  nicht  kennen;  möchten  im  Übrigen  aber  doch 
nicht  unterlassen,  gleichzeitig  darauf  hinzuweisen,  dass 
in  deutschen  Landen  wohl  noch  der  eroe  oder  der 
andere  Kavalier  und  Kavallerist,  Junker  oder  Rittmeister 
leben  mag,  der  seinen  künstlerischen  Befähigungs- 
nachweis für  einen  deutschen  Intendantenposten  auf 
diesem,  seit  v.  Perfall  und  Graf  Hochberg  nicht  mehr 
so  ganz  ungewöhnlichen  Wege  zu  erbringen  trachten 
könnte  —  einer  von  ihnen  wird  es  ja  wohl  jedenfalls 
gewesen  sein !  .  .  . 

Gesamtwirkung  also  so  etwa  (und  zwar  mit 
geziemender  Verbeugung  hier  wieder  gegenüber  jenem 
vielsagend  gewählten  Pseudonym,  welches  ursprünglich 
sogar  noch  „Gold berger*'  heissen  sollte  —  „es  wär'  zu 
schön  gewesen"):  Salonbergwerk!  Da  damit  eigentlich 
nun  schon  alle  Kritik  gegeben  ist,  könnten  wir  unsere 
„notgedrungenen"  Betrachtungen  füglich  wohl  sofort 
wieder  zum  Abschluss  bringen.  Gar  Manchem  soll  der- 
gleichen ja  in  der  That  weit  eher  als  das  tiefe  Wühlen 
in  „der  Erde  Nabelnest"  für  seinen  Privat-Geschmack 
behagen,  und  Solche  sollte  man  aus  ihrer  bescheiden- 
selbstzufriedenen Genussfreudigkeit  fürwahr  nicht  so 


Digitized  by  Google 


Haschisch 


217 


grausam  aufstören!  Sie  mögen  in  Gottes  Namen  balt 
getrost  schon  hier  zu  lesen  aufhören.  Indessen  bleibt 
uns  so  allerhand  hier  doch  zu  sagen  übrig  —  im  Be- 
sonderen wie  auch  im  Allgemeinen. 

Zur  Sache  selbst!  —  Said  Omar,  Bey  von  Tunis, 
ist  ein  weiser  Mann.  An  ihm  könnte  sich  gar  mancher 
Mann  manches  Mal  auch  bei  uns  ein  Beispiel  nehmen. 
Wenn  er  nämlich  eine  seiner  Frauen  gelegentlich  untreu 
erfindet,  so  duelliert  er  sich  nicht  erst  mit  dem  Ehe- 
brecher für  ein  pflichtvergessenes  Individuum,  das  eines 
derartigen  Engagements  wahrscheinlich  gar  nicht  würdig 
erscheint,  sondern  er  fühlt  sich  selbst  schuldig,  ihr  dazu 
Gelegenheit  gegeben  zu  haben,  und  trinkt  im  versöhn- 
lichen, schiedlich-friedlichen  Dreieck  den  vermeintlichen 
„Haschisch"-Becher,  der  im  Wahnrausche  den  Tod  bringen 
soll,  einfach  m  i  t.  Ereilt  aber  die  Nemesis  in  Gestalt 
des  geheimnisvollen  Getränkes  und  damit  auch  der  Tod 
dann  schön  Zuleika  —  nun,  so  geht's  schliesslich,  was 
man  so  sagt,  in  Einem  hin;  denn  nach  der  Text- 
andeutung gehört  sie  offenbar  ohnedies  schon  zum 
Stamme  „jener  Asra",  welche  bekanntlich  „sterben, 
wenn  sie  lieben".  Man  könnte  zwar  billig  fragen,  was 
in  den  anderen  beiden  Bechern  enthalten  war,  da  der 
Koran  doch  Wein  zu  trinken  verbiete?  Doch  was  sollen 
diese  und  ähnliche  Fragen  die  schwere  Menge,  da  sie 
nach  der  besonderen  Verfassung  des  Textbuches  mit  seinen 
schleierhaften  Zusammenhängen  und  ganz  unklaren  Moti- 
vierungen ja  doch  wohl  keine  streng  logische  Beant- 
wortungvertragen! „Haschisch"  aber  muss  wirklich  ein  ganz 
furchtbares  Getränke  sein.  Es  übt  nicht  nur  verheerende 
Wirkungen  von  Raserei  aus  bei  allen  denen,  welche 
davon  geniessen,  es  versetzt  allem  Anscheine  nach  auch 
die  Komponisten,  welche  sich  mit  diesem  „Stoffe"  un- 
vorsichtigerweise begeistern,  in  einen  so  tiefen  und  gründ- 
lichen Op — ium-  (beinahe  hätte  ich  gesagt  „Opern"-) 


Digitized  by  Google 


218 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Rausch,  dass  sie  sich  selber  gar  nicht  mehr  wieder- 
finden —  wenn  anders  sie  sich  überhaupt  jemals  be- 
sessen haben  und  nicht  schon  zum  Voraus  „ausser  sich" 
gewesen  sind.  Dann  rasen  sie  in  einer  Instrumentation,  die 
mitunter  eine  geradezu  welterschütternd  drohende  Haltung 
annehmen  kann,  ohne  dass  wir  freilich  auch  nur  die  ge- 
ringste Gemütserschütterung,  das  mindeste,  weltbewegende 
Ereignis  danach  wahrzunehmen  vermögen.  Das  wühlt, 
stürmt,  tobt  und  —  s.  v.  v.  „wurstelt"  denn  in  beinahe 
stäter  Unrast  toll  genug  auf  und  ab,  und  wenn  man  nicht 
zufällig  erführe,  dass  die  Hand,  die  es  geschrieben,  sonst 
statt  der  Notenfeder  den  Krummsäbel  der  „leichten 
Kavallerie"  zu  führen  pflegt,  man  möchte  wahrlich 
schon  meinen,  dass  sie  mit  dem  Pallasch  der  „schweren 
Reiter4*  umzugehen  gewohnt,  wo  nicht  gar  der  Waffen- 
gattung der  Artillerie  schwersten  Kalibers  beizuzählen 
sein  müsse.  Aber  trotzdem  —  oder  gerade  deshalb?  — 
kommt  es  über  all  solcher  krampfhaften  Stimmungs- 
macherei nirgends  zu  einer  rechten  Stimmung.  Und  daran 
muss  alsdann  selbst  eines  Professor  Jägers  Riechtheorie 
vom  „Seelenduft"  zu  Schanden  werden,  denn  da  giebt 
es  keinen  individuellen  Geruch  der  „Seele"  des  Kom- 
ponisten mehr  aufzuspüren,  der  (wie  Otto  Julius  Bier- 
baum einmal  von  einer  parfümierten  Dame  so  lustig 
sagt)  nicht  einmal  den  Mut  seines  eigenen  Geruches 
hatte:  mit  schwelgerischer  Üppigkeit  flimmert  und  glitzert 
es  in  einem  charakterlosen  Flirt  dahin,  und  alles  er- 
scheint zudem  von  schwül  betäubenden  Scherasmindüften 
wie  durchtränkt  und  geschwängert. 

Doch  Spass  einmal  bei  Seite:  Ein  wahrhaft  orien- 
talisches Phlegma  hat  sich  auf  Handlung  und  Musik  her- 
niedergesenkt. Und  das  ist  auch  das  einzig  Charakteristische 
an  dem  ganzen  Gebilde;  denn  dass  die  äusserliche 
Rahmabschöpfung  der  verschiedenen  Wagner-Partituren 
keine  Charakteristik  für  den  Muhammedanismus  ab- 


Digitized  by  Google 


Haschisch. 


219 


zugeben  vermag,  das  würde  wohl  jedem  Fellah  al Isofort 
einleuchten.  Nur  Herrn  Siegfried  Berger  —  nur 
ihm  allein  scheint  dieser  verflucht  gescheidte  Gedanke 
auf  seiner  heimischen  „Ottomane"  bei  Mokka  und 
Tschibuk  noch  gar  niemals  angekommen  zu  sein.  Bei 
der  Schlussballade,  die  abermals  ohne  jegliches  Lokal- 
kolorit auftritt,  macht  sich  dieser  kapitale  Mangel  am 
allerbedenklichsten  fühlbar.  Aber  auch  bei  den  Muezzin- 
Gebeten  ist  die  Wirkung  eine  arg  fatale.  Der  Komponist 
hätte  nur  einen  Blick  in  die  Partitur  von  Davids  „Wüste" 
oder  —  hegte  er  höhere  Absichten  —  in  den  Cornelius'- 
sehen  „Barbier**  zn  thun,  äussersten  Falles  sogar  nur 
die  simple  „Illustrierte  Musikgeschichte**  von  Naumann 
<1.  Bd.)  nach  National- Weisen  ein  wenig  zu  Rate  zu 
ziehen  brauchen  —  es  würden  ihm  sicher  ganz  andere 
Lichter  aufgegangen  sein.  Von  einem  geschickten 
Kompilator  muss  man  ja  doch  zum  Mindesten  eine 
ferme  Quellenkunde  erwarten  dürfen!  Wirksame  Kon- 
trastierungen fehlen  zwar  dem  musikalischen  Gebilde 
im  Ganzen  nicht;  wenn  jedoch  Viele  von  einem  „an- 
sprechenden melodischen  Vermögen**  möglicherweise  nun 
werden  sprechen  wollen,  so  meinen  wir  dem  entgegen 
doch:  der  mit  leichtem  Sinn  anempfindende,  gewandt  in 
fremden  Zungen  redende  und  mit  anvertrauten  Pfunden 
begeistert  wuchernde  Dilettant  dachte  auch  in  diesem 
Punkte  so  weitherzig  wie  nur  möglich  „In  meines 
Vaters  (Wagner)  Hause  sind  viele  Wohnungen**,  und  — 
machte  sich's  alsbald  darin  so  recht  bequem  und 
heimisch.  Eine  Nummer  wie  der  a  capel/a-Satz  des 
Frauenchores  am  Schlüsse  der  1.  Szene  könnte  überdies 
ganz  gut  von  dem  eifrigen  Dirigenten  irgend  eines 
kleinstädtischen  Damengesang-Vereins  komponiert  sein. 
Anderes  wieder  (wie  z.  B.  der  a  capella- Anfang  des 
Schlussterzettes  der  11.  Szene)  ist  entweder  so  genial  in 
seiner  Neuheit,  dass  wir  augenblicklich  offenbar  noch  zu 


220 


Wagneriana.    Bd.  III 


einfältig  sind,  um  es  zu  verstehen;  oder  wir  haben  richtig 
perzipiert,  dann  aber  war  das,  was  unser  Gehör  auf- 
genommen, nicht  eben  allzu  schmeichelhaft  für  die 
Satz-Geschicklichkeit  des  Herrn  Komponisten. 

Item:  Der  gesch.  „Kompromist"  zwischen  Wagner 
und  Orientalismus  komponiere  doch  lieber  etwas  weniger 
und  lese  dafür  etwas  aufmerksamer  im  sehr  beherzigens- 
werten X.  Bande  der  Ges.  Schriften  seines  Meisters 
über  „Die  Anwendung  der  Musik  auf  das  Drama"  und 
„Das  Operndichten  und  -Komponieren  im  Besonderen". 
Oder  noch  besser  —  er  schlage  auf:  Band  HI,  S.  308 ff. 
und  schaue,  hoffentlich  mit  gelindem  Schrecken,  bei 
dem,  was  Wagner  da  über  Rossini  mit  Bezug  auf  Mozart 
sagt,  in  sein  eigenes,  mit  der  Beziehung  auf  Wagner 
selbst  nur  zu  wohl  getroffenes  Konterfei:  „Es  war  der 
Welt  noch  deutlich  unumwunden  zu  sagen,  welchem 
Verlangen  und  welchen  Anforderungen  an  die  Kunst 
eigentlich  die  [seine!]  Oper  Ursprung  und  Dasein  ver- 
danke; dass  dieses  Verlangen  keineswegs  nach  dem 
wirklichen  Drama,  sondern  nach  einem  —  durch  den 
Apparat  der  Bühne  nur  gewürzten  —  keineswegs  er- 
greifenden und  innerlich  belebenden,  sondern  nur  be- 
rauschenden und  oberflächlich  ergötzenden  Genüsse 
ausging  .  .  .  War  die  Tonweise  [ergänzen  wir:  Wagners!] 
der  entzückende  Duft  der  Blume,  der  Wortvers  aber 
der  Leib  dieser  Blume  selbst  mit  all  den  zarten 
Zeugungsorganen,  so  zog  der  Luxusmensch,  der 
einseitig  nur  mit  seinen  Geruchsnerven,  nicht  aber  g  e  - 
meinsinnig  mit  dem  Auge  zugleich  geniessen  wollte, 
diesen  Duft  von  der  Blume  ab  und  destillierte 
künstlich  den  Parfüm,  den  er  auf  Fläsch- 
chen  zog,  um  nach  Belieben  ihn  willkürlich  bei  sich 
führen  zu  können  und  sein  prachtvolles  Geräte  mit  ihm 
zu  netzen,  wie  er  Lust  hatte.  Um  sich  auch  an  dem 
Anblicke  der  Blume  selbst  zu  erfreuen,  hätte  er 


Digitized  by  Google 


Haschisch. 


221 


notwendig  näher  hinzu  gehen,  aus  seinem  Palaste  auf 
die  Waldwiese  herab  steigen,  durch  Äste,  Zweige  und 
Blätter  sich  durch  drängen  müssen,  wozu  der  Vornehme 
und  Behagliche  aber  kein  Verlangen  hatte.  Mit  diesem 
wohlriechenden  Substrate  besprengte  er  nun 
die  öde  Langeweile  seines  Lebens,  die  Hohlheit  und 
Nichtigkeit  seiner  Herzensempfindung*4  .  .  .  und  so  weiter 
ßis  zum  „Verfertiger  künstlicher  Blumen,  die  er 
aus  Samt  und  Seide  formte,  mit  täuschenden  Farben 
bemalte,  und  deren  trockenen  Kelch  er  mit  jenem 
Parfümsubstrate  besprengte,  dass  es  aus  ihm  zu  duften 
begann,  wie  fast  aus  einer  wirklichen  Blume!"  Oder 
nun  gar  ebenda  Seite  205  unten,  bei:  „So  lange  etc."  .  .  . 

Eine  ernstliche  „Wagner- Nachfolge"  —  darauf 
kommt  es  mir  vor  Allem  an  und  deswegen  allein  nur 
bin  ich  hier  so  entschieden-scharf  in's  Gericht  gegangen 
—  hat  allen  Anlass,  solchen  toi  </wan*-Wagnerianis- 
mus  energisch  abzulehnen  und  diese  Abart  von 
„Wagnerianertum"  unzweideutig  von  ihren  Rockschössen 
abzuschütteln.  Das  „Wollen  Sie  jetzt,  so  haben  wir 
eine  Kunst!"  des  greisen  Erblassers  von  Bayreuth,  1876 
gesprochen  auf  dem  Festspielhügel  im  Sinne  eines  be- 
deutsamen germanischen  „Original-Stiles",  es  scheint 
für  dergleichen  Wagner-Sportsmen  und  unechte  Gralshüter 
ohnedies  einfach  in  den  Wind  geredet.  Darum  aber  galt 
es  bei  dieser  Gelegenheit  gerade:  Exempel  zu  statuieren; 
heisst  es  just  an  einer  derartigen  „Harmlosigkeit**  mit 
Ernst  und  Würde  einmal  öffentlich  und  laut  zu  zeigen: 
„was  wert  die  Kunst  und  was  sie  gilt!"  Um  zu  er- 
kennen, wie  hier  das  Wagnerische  Melos  gänzlich  ver- 
wahrlost-unorganisch zu  planlos  aufgelesenen  Melismen 
und  Rosalien  „verzettelt"  erscheint,  dass  hier  von  Wagner 
nur  mehr  die  leere  Floskel  übrig  bleibt  und  Thema 
lediglich  das  Stammeln  einer  Sprach-Partikel  mehr  be- 
deutet, dazu  braucht  man  ja  nur  das  ä  la  König  Marke 


Digitized  by  Google 


222 


Wagneriana.    Bd.  III 


(doch  frag'  mich  nur  nicht,  wie!)  tristanisierende  Bass- 
ki arinett-Solo  da  mit  dem  ernsten  Urbilde  dortjzu  ver- 
gleichen —  und  man  wird  „sich  auskennen  M.|    "  ~ 

Es  giebt  so  manche  reizvolle  „Türkenopern"  schon 
in  unserer  Musik-Litteratur.  Vielfach  zeichnen  sie  sich 
durch  ihre  grosse  Harmlosigkeit  vor  anderen  aus.  Der 
harmlosen  harmloseste  ist  den  Theater-Archiven  jeden- 
falls in  der  vorgenannten  und  hier  ausführlicher  be- 
sprochenen „zur  ewigen  Ruhe"  —  R.  J.  P.  —  geschenkt 
worden:  sie  bildet,  was  man  so  sagt,  für  sie  eine  „schöne 
Bescherung",  aber  —  wie  wir  zur  Beruhigung  zugleich 
auch  versichern  dürfen  —  trotz  derzeitiger  Kretensi- 
scher  Wirren:  gottlob  ohne  den  geringsten  hoch- 
politischen Beigeschmack.  Zwar  demonstrierte  ja,  gleich 
den  europäischen  Mächten  auf  der  kampfumtosten  Insel, 
wie  schon  erwähnt,  unsere  hohe  Aristokratie  mit  seltener 
Einmütigkeit  an  diesem  Abend,  und  das  könnte  am 
Ende,  wie  dort,  der  verlorenen  Türkensache  gar  noch 
einen  unverdient-moralischen  Rückhalt  verleihen.  Wir 
müssen  indes  dabei  bleiben:  das  Ding  ist  ohne  jeden 
geschichtlichen  Belang;  und  wenn  dort  das  energische 
gemeinsame  Vorgehen  der  Mächte  auf  die  entflammte 
Volksbegeisterung  vielleicht  einigen  Eindruck  machen 
kann  —  dieser  Liebhaber-Exkurs  wird  bei  der  nationalen 
Landeskunst  zuversichtlich  nur  desto  eindrucksloser  sich 
verlaufen.  Lange,  sehr  lange  sann  ich  darum  auch  nach 
darüber,  was  wohl  der  letzte  Grund  zu  dieser  be- 
triebsamen Erstaufführung  bei  unseren  machthabenden 
Faktoren  gewesen  sein  mochte.  Endlich  hab  ich's  klipp 
und  klar  noch  heraus  bekommen.  Das  Dresdner  Ballett 
nämlich  ist  jetzt  so  überaus  glänzend  entwickelt,  dass 
es  zu  einem  ganz  selbständigen  und  zu  einem  um  so 
beachtenswerteren  Faktor  des  Repertoire's  geworden  ist, 
als  ja  bekanntlich  die  Vorstellungen  des  Wochenplanes 
(durch   die  Besetzung  auch  der  früher  theaterfreien 


Digitized  by  Google 


Haschisch 


223 


Montage  und  Freitage)  noch  eine  beträchtliche  Ver- 
mehrung erfahren  haben.  [Hier  ein  wohlangebrachtes 
Intermezzo:  Deutscher  Schulaufsatz  für  Primaner  und 
solche,  die  es  werden  wollen,  über  „Das  Ballett  als 
wirtschaftlicher  Lückenbüsser*  1]  Drei  Balletts  an  einem 
Abende  sind  für  Frl.  Grimaldi  erwiesener  Massen  allzu 
ermüdend;  Frl.  Gobini  wiederum,  ihre  Kollegin  vom 
Solofache,  erfreut  sich  Seitens  der  zuständigen  Theater- 
leitung  einer  mehr  platonischen  Liebe,  und  daneben 
auch  recht  vieler,  endlos  langer  Vertröstungen.  Zu  zwei 
Balletts  bot  sich  aber  so  schwer  etwas  irgend  Passendes; 
denn  Mendelssohns  selige  „Loreley."  hatte  doch  kürzlich 
in  diesem  schnöden  Flitterrahmen  gar  zu  deplaziert 
sich  „angeschaut".  Gut  denn,  gehen^wir  also  auf  die 
Entdeckungsreise  nach  einer  hübschen  „kongenialen" 
Ballettoper  ad  hoc,  die  uns  den  so  „teuren1*  Abend 
ebenso  bequem  als  wohlfeil  ausfüllen  helfen  würde! 
Gedacht  —  gethan,  lag  doch  ein  solches  Werk  fix  und 
fertig  schon  im  Manuskriptenschranke  der  Theaterkanzlei 
vor,  und  konnte  man  doch  hier  zudem  noch  das  Nützliche 
mit  dem  Angenehmen  so  zartsinnig  verbinden,  indem 
man  —  wahrscheinlich  unter  Nachlass  aller  Tantiemen- 
Verpflichtungen  —  höfisch-diplomatische  Verbindlichkeiten 
auf  eine  feine  und  kourtoisievolle  Art,  frei  nach  Knigge 
und  Gotha,  an  den  beglückten  „Schöpfer"  der  Partitur 
und  damit  noch  an  andere  Adressen  austauschen  durfte. 
Und  siehe  da  —  den  ersten  Abend  wird  die  eigentliche 
Tendenz  durch  Neueinstudierung  des  „Nürnberger 
Pupperls",  eines  artigen  Kinderspielzeuges  von  Adam 
(mit  sauberen  Läufen  und  Trillern  des  munteren  Wede- 
k  i  n  d  e  s  und  hinreissend  elastischen  Sprüngen  eines 
satanischen  „Scheide  m  a  n  d  1  s"  als  besonders  annehmlicher 
Extra-Dreingabe)  noch  hübsch  vorsichtig  und  geschickt 
kachiert;  schon  zur  ersten  Wiederholung  jedoch  ver- 
kündet die  amtliche  Bureau-Meldung  rund  und  nett: 


224  w"agneriana.    Bd.  III. 


„Wegen  eingetretener  Hindernisse  wird  morgen  zur 
neuen  Oper  »Haschisch4  statt  des  ursprünglich  an- 
gesetzten .Bajazzo'  [der  übrigens  auch  sehr  gut  dazu 
gestimmt  hätte!]  das  Ballett  ,Coppelia'  wieder  einmal 
gegeben."  Die  neue  ästhetische  Errungenschaft  der 
„B  a  1 1  e  1 1  o  p  e  r",  Mittel  zum  Zweck,  Ursache  ohne 
Wirkung,  ist  damit  zur  vollendeten  Thatsache  erhoben. 
Immerhin  verkündete  dann  abermals  einen  Tag  später  der 
Theaterzettel  „wegen  plötzlicher  Heiserkeit  der  Frau 
Wittich"  den  Ausfall  der  Oper  „Haschisch"  bezw.  die 
Aufführung  des  „Bajazzo"  zusammen  mit  der  „Coppelia"; 
aber  das  war  ja  entschieden  noch  die  a  1 1  erglücklichste, 
die  überhaupt  denkbar  beste  Lösung  der  „Frage". 


Digitized  by  Google 


Der  Streik  der  Schmiede 


Text  (nach  Francois  Coppee)  von  Victor  Ldon;  Musik  von 

Max  Josef  Beer 

(1898) 

Man  kann  nicht  eben  sagen,  dass  der  Versuch,  die 
leidigen,  mit  Recht  schon  so  unbeliebten  „ Gesellschafts- 
abende" der  Hamburger  Oper  durch  zwei  Erst- 
aufführungen äusserlich  aufzubügeln,  den  Erben  Pollini's 
sonderlich  geglückt  wäre.  Nach  unserer,  und  wohl  auch 
der  Ansicht  aller  derjenigen,  welche  die  teuren  Sitz- 
plätze der  etwa  zehn  hinteren  Parketreihen  gestern  Abend 
—  nicht  besetzt  hatten,  könnte  diese  vormärzliche 
Errungenschaft  des  Hamburger  Theatergeistes  also  ruhig 
wieder  einschlafen.  —  Es  war  eine  Wahl,  just  zu  einem 
„Gesell schaftsabende",  dass  Gott  erbarm'!  Denn,  dass 
die  hierbei  gegebenen  Opern  in  solchem  Rahmen  sich 
besonders  „gesellschaftsfähig"  ausgenommen  hätten, 
das  wird  selbst  ihr  bester  Freund  nicht  gut  behaupten 
können.  Welch  ein  Gegensatz  aber  auch !  Man  denke: 
Auf  der  Bühne  das  soziale  Problem  der  Zeit  —  »Streik 
der  Schmiede",  graues  Arbeiterelend  und  penetranter 
Schnapsdunst;  in  den  Rängen  des  Zuschauerraumes  die 
ausgeschnittenen  glänzenden  Balltoiletten  vermögender 
Damen  und  das  nicht  minder  durchdringende  Parfüm 
einer  bürgerlichen  Gesellschaft,  deren  Republikanismus 

Setdl,  Wagneriana.    Bd.  III.  15 


226 


Wagneriana.    Bd.  III. 


sich  bei  dieser  Gelegenheit  zur  Geburtsaristokratie 
fürstlicher  Hoffestlichkeiten  —  empor  träumt.  Droben 
wiederum:  „A  basso  porto".  die  wilden  neapolitanischen 
„Gamorra" -Szenen,  aus  der  untersten,  polizeifeindlichen 
Volksschicht;  drunten  aber  die  korrekten  Herren  im 
tadellosen  „Lack  und  Frack  und  Klaque"!  Kann  es- 
schärfere  Lebenskontraste  geben?  Um  so  mehr  hat 
denn  eine  ästhetisch  gerichtete  Kritik  ihr  billiges 
Befremden,  oder  —  noch  richtiger  —  ihr  gründliches 
Unbehagen  auszusprechen  über  eine  derartige,  ebenso 
geschmackswidrige  wie  stillose  Zusammenstellung.  Ceterum 
censeo:  societateni  esse  delendaml  —  bitte  recht  sehr,  das  nun 
aber  bei  Leibe  nicht  im  staatsfeindlichen,  streikfreund- 
lichen Sinne  mir  hier  auslegen  zu  wollen,  wie  als  ob 
ich  von  den  stofflichen  Vorwürfen  der  Arbeiter- 
revolution und  des  Gamorrabundes  in  unseren  beiden 
Opern  zum  Radikalismus  etwa  schon  abgefärbt  haben 
könnte.  Dazu  liegt  bei  der  spiessbürgerlichen  Friedsamkeit 
der  musikalischen  Einkleidung  des  erstgenannten  Ein- 
akters, wie  bei  meinem  persönlichen  Unwillen  auch 
gegen  den  prinzipiellen  „Iudianismo1'  —  mit  all'  seinem 
homophonen  Orchester-  Trompeten  und  Stimmgetrommel, 
wie  den  direkt  kunstfremden,  die  Stimmung  mordenden 
Affektausrufen  gesprochener  Rede  dazwischen  — 
doch  wohl  nicht  die  geringste  Veranlassung  vor  .  .  . 

Doch,  um  auf  den  „Streik  der  Schmiede*4  selber  zu 
sprechen  zu  kommen,  der  auch  hier  wieder  den  in 
Augsburg,  Nürnberg,  Köln  und  (geringer)  kürzlich  in 
Königsberg  bereits  davon  getragenen  Erfolg  in  Form 
„gefälligen  Eindruckes"  wieder  bestätigt  hat:  wir  wollen 
ihm  zu  seiner  bevorstehenden  weiten  Rundreise  doch 
wenigstens  ein  kleines  „Signalement"  mit  auf  den  Weg 
geben.  Nun,  es  ist  eben  „der  alte  Sturm,  die  alte  Müh !"  — 
Einakter-,,  Verismo":  Katastrophe,  nicht  Drama;  Explosion, 
nicht  Handlung;  Sensation  und  Aktualität,  nicht  Wirkung 


Digitized  by  Google 


Der  Streik  der  Schmiede. 


227 


noch  Lebenswahrheit ;  daher  auch  der  Effekt  zuletzt 
mehr  rührend  als  wirklich  ergreifend  oder  gar  tiefer 
packend  zu  nennen ;  zudem  statt  Deklamation  ein  planlos 
dtclamty  und  statt  sinnvollen  Sprachgesangs  ein  un- 
sinniges Parlando  —  noch  deutlicher:  der  Komponist 
leidet  unter  dem  alten,  unheilvollen  Missverständnis 
einer  Verwechslung  von  Sprach-  und  Sprech- 
gesang.  Anders  gefasst,  rund  und  nett  heraus  gesagt: 
„Verismus",  aus  dem  Glutbereich  der  neapolitanischen 
Sonne  und  des  italienischen  Himmels  nach  den  Glüh- 
öfen des  belgischen  Rauch-,  Russ-  und  Kohlengebietes 
nunmehr  verlegt,  neuer  Branntwein  in  die  alten  Wein- 
schläuche „\larca  Italia"  gefasst,  und  das  südliche  Volks- 
und Bauernleben  der  „Camorra"  auf  die  modern-soziale 
Arbeiterbewegung  übertragen ;  das  Ganze  dann  noch  mit 
einem  leichten  Firniss  des  unverwüstlichen  spezifisch- 
österreichischen  Optimismus  überstrichen  —  so  ungefähr 
giebt  sich  diese  Revolutions-Neuheit  für  unser  schlichtes 
Gefühl  zu  erkennen.  Es  ist  das  durchaus  Charakteristische 
an  ihr,  dass  sie  sich  in  einem  frommen  und  zahmen,  so 
recht  deutsch-gemütlichen  Musikgewande  giebt,  so  zu 
sagen  mehr  überdenalsmitdem  Hammer  philosophiert, 
den  doch  das  Victor  Leon'sche  Textbuch  so  sehr  gerne 
schwingt!  Man  braucht  ja  nur  dem  „Preisliede  der 
Arbeit"  mit  seinem  herrlichen  Liedertafel-Refrain  ehrlich 
auf  den  Grund  {rectim:  Bodensatz!)  zu  schauen,  um  sich 
alsbald  einzugestehen,  dass  das  weniger  nach  re- 
volutionärer Arbeiter-Marseillaise  riecht  als  vielmehr  auf- 
fallend nach  dem  gemütlichsten  Wiener  „Heurigen"  der 
plattesten  Philister-Moral  oder  strengen  Polizei-Ordnung 
schmeckt  und  jedenfalls  nicht  das  geringste  Aufreizende 
mehr  an  sich  hat.  Wäre  das  Ganze  also  stofflich 
schlankweg  als  „Schnaps-  und  Elend -Oper"  zu  be- 
zeichnen, so  wird  für  seine  musikalische  Ein- 
kleidung wiederum  die  Verwässerung,  die  der  praktische 

15» 


Digitized  by  Google 


228 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Budiken-Wirt  (bei  dem  die  Arbeiterberatung  über  den 
Streik  stattfindet)  zu  Anfang  der  Handlung  mit  dem 
frisch  aufgelegten  Branntweinfässchen  vornimmt,  zu 
einer  Art  von  bedeutsamem  Symbol:  verwässerte  Fusel- 
begeisterung! Interessant  bleibt  höchstens  noch,  an  dem 
Schmiedelied  des  alten  Matthieu  (Text  S.  6  u.  7)  die 
„zeitgemässe"  Veränderung  zu  beobachten,  durch  welche 
die  Höhlenschmiede  der  Nibelungenzwerge  zum  in- 
dustriellen Hochofenwerk  und  die  Wagnerischen  Ambosse 
zu  einem  Meyer-Bee^schen  »Gang  nach  dem  Eisen- 
hammer" hier  umgemodelt  werden. 

Ich  komme  darauf,  weil  Herr  Beer  sich  Vorjahren 
in  einer  Broschüre  über  „Eva  Pogner"  zum  Wagner- 
Credo  bekannt  hat  und  noch  heute  durch  Einsendung 
dieses  Schriftchens  als  „Wagnerianer"  sich  gerne  vorstellt. 
Erübrigt  somit,  dem  schmerzlichen  Bedauern  Ausdruck 
zu  geben,  dass  dem  Wiener  Komponisten  Max  josef 
(übrigens  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Münchner: 
Anton)  Beer  jene  „Einsicht  in  das  Wesen  Wagnerischer 
Dichtkunst",  zu  deren  Verbreitung  er  dereinst  den 
„kleinen  Beitrag**  über  „Ein  deutsches  Charakter-Frauen- 
bild** schreiben  zu  müssen  vermeinte,  mittlerweile  so 
ganz  und  gar  schon  abhanden  gekommen  ist.  Zwar  treibt  er 
sein  naives  musikalisches  A  n  lehnungsbedürfnis  bis  zur 
offenkundigen  E  n  t  lehnung  und  die  erlaubte  Anleihe  beim 
Wagner-Geiste  auch  heute  noch  gelegentlich  bis  zum 
unverhohlensten  „Kommunismus**.  Dabei  hat  er  es 
aber  noch  jetzt  nicht  einmal  über  die  primitive  Urzelle, 
das  starre  „Reminiszenz-Motiv**  hinaus,  bis  zum  bild- 
samen Leit-Thema  des  Bayreuther  Tongewaltigen  ge- 
bracht. Was  darüber  ist,  ist  ohnedies  alles  Andere 
eher  denn  Wagnerisches  Wesen:  ein  verblüffendes  An- 
passungsvermögen, wiederum  an  Andere,  das  schon 
mehr  „Altruismus**  genannt  werden  müsste;  eine  recht 
gewandte  und  vielfach  auch  ganz  wirksame,  zumeist  aber 


Digitized  by  Google 


Der  Streik  der  Schmiede.  229 


doch  harmlos-idyllische,  dazu  sentimentalisch-weichliche 
Instrumentation  —  vor  Allem  aber  ganz  unerhört  viel 
Trivialität. 

Noch  schlimmer  fast  steht  es  mit  dem  „Dichter"  dieses 
„Musikdrama's".  Von  den  „sozialen  Anschauungen" 
des  Herrn  Viktor  Leon  brauchen  wir  hier  gewiss  nicht 
erst  zu  reden  —  dieser  gewiegte  Textfabrikant  nach 
dem  Kolportagerezepte  hat  wohl  überhaupt  gar  keine, 
und  höchstens  Hesse  sich  aus  dem  Büchlein  —  nach 
seiner  Fr.  Coppee'schen  Vorlage  —  ein  stark  abgefärbter, 
gut  bürgerlicher  „Akademiker-Sozialismus"  entwickeln. 
Zum  Mindesten  bleibt  keine  Spur  von  Zola's  „Germinal"- 
Stimmungen  oder  auch  nur  vom  Ernste  der  Haupt- 
mann'schen  „Weber"  (etwa  in  Opern  form)  hier  zu  ent- 
decken, wie  man  nach  dem  Titel  vielleicht  hätte  er- 
warten können! 

Es  war  Alles  in  Allem  demnach  auch  zu  Hamburg 
nur  der  in  diesem  Falle  doppelt  verdächtige  „freund- 
liche" Erfolg  zu  konstatieren  —  nicht  weniger,  aber 
auch  nicht  um  ein  Gran  mehr;  das  Publikum,  gegen 
den  Schluss  durch  die  einigermassen  raffiniert  eingeleitete 
Spannung  mit  dem  Arbeiter-Zweikampfe  —  nicht  auf 
Ohren  und  Dolch,  sondern  auf  Hämmer  als  die  „gewohnte 
Waffe"  —  immerhin  wohl  gepackt,  im  Grunde  jedoch 
mehr  moralisch  gerührt,  als  wirklich  poetisch  ergriffen. 
Die  Herren  Demuth  (Matthieu)  und  Brandenberger 
(Colbert),  sowie  Frau  Försterer- Lauterer  (Christine) 
wurden  der  Neuheit  sehr  charakteristische  Vertreter; 
letztere  trieb  sogar  die  Armseligkeits-Plastik  des  dar- 
benden Arbeiterstandes  bis  zur  grauen  Verelendung 
einer  Duse,  traf  aber  darin  noch  am  ehesten  den  offenbar 
gewollten  „modernen"  Milieu-Stil. 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus 


(1897  98) 
1.  Dresden 

Ich  hätte  auch  sagen  können:  Was  lehrt  uns  der 
„Fall  Bungert"?  Denn  ein  solcher  „Fall"  — 
eine  Art  von  Affäre  ist  der  unbestreitbare  Dresdner 
„Od  y  ss  e  us"-Erfolg  in  unserer  neuzeitlichen  Opern- 
kunde bereits  geworden,  und  die  gesamte  Theaterweit 
fühlte  sich  nicht  nur  jäh  alarmiert  durch  diese  strahlende 
Premiere  vom  12.  Dezember,  die  so  vernehmlich  laut 
durch  den  deutschen  Zeitungswald  raschelte:  sie  fühlt 
sich  noch  heute  wie  von  einem  Phänomen  —  8tupemfo 
gleichsam  —  in  Atem  gehalten,  seit  diese  Neuheit  unter 
vorhaltender,  lebhaftest  interessierter  Teilnahme  des 
ortsansässigen  Publikums  an  derselben  Stätte  nun 
bereits  sechs  ausverkaufte  Wiederholungen  erlebt  hat, 
ja  sogar  von  auswärtigen  Theaterleitern  zum  Zwecke  der 
Erwerbung  auch  für  weitere  Bühnen  schon  wiederholt 
persönlich  beaugenscheinigt  worden  ist.  Das  fordert 
doch  zum  Nachdenken  auf,  das  schreit  ja  ordentlich 
nach  einer  Erklärung  der  inneren  Gründe  solchen  Auf- 
sehen erregenden  Theaterereignisses  —  kurz,  diesem 
«Popanz"  muss  unter  allen  Umständen  einmal  näher 
auf  den  Leib  gerückt  werden! 

Timeo  Danaos  et  dona  ferentes:  ich   scheue  alles 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus. 


231 


moderne  Griechentum  und  misstraue  ihm  aus  dem 
Grunde  meiner  Seele,  zumal  wenn  es  mit  solch' 
freundlichen  Gebärden  des  breitesten  Erfolges  mir  nahet. 
Wie  aber  schon  zum  Verständnisse  so  mancher  Begeben- 
heiten der  Weltgeschichte  mehr  als  „la  recherche  de 
la  paterntö"  das  „Cherc/tez  la  femme!-'  zu  gehören 
scheint,  so  auch  vor  Allem  scheint  mir  hier  als  kritische 
Voruntersuchung  ein  „Cherchez  la  vüle!u  zur  Abwechslung 
einmal  durchaus  am  Platze.  Lernt  erst  die  lokalen 
Voraussetzungen  eines  solchen  Bühnenereignisses 
kennen,  studiert  zuvor  den  besonderen  Boden,  die  Um- 
welt und  die  Atmosphäre  genauer,  in  denen  die  Pflanze 
dieser  „Sensation"  gedeihen  konnte,  und  ihr  werdet 
ihre  Natur  alsbald  gründlicher  erfassen  lernen!  Da 
bleibt  es  denn  sicher  keineswegs  ohne  Belang,  dass 
Dresden  ganz  die  nämliche  Stadt  ist,  von  der  aus, 
vor  Jahresfrist  etwa,  mit  „Renaissance"  die  leidige 
Seuche  der  platten  Versschwänke  ihren  Ausgang  ge- 
nommen hat.  Ein  Jeder  kennt  sie,  diese  neueste  soidüant- 
„Kunstrichtung",  welche  kostümierten  Mummenschanz 
für  Renaissance-Kultur  und  statt  eines  goldigen,  sinnig 
deutschenEvchens  nur  eine  Talmi- vergoldete  Eva's-Tochter 
giebt,  von  der  Kunst  also  nur  den  Schein,  einen  „faulen 
Zauber"  sich  geborgt  hat,  so  dass  allerdings  der  Bildungs- 
durchschnitt aller  Goldschnitt -begeisterten  Pensionats- 
gänschen nun  die  „süssen"  Reime  eine  Zeit  lang  für 
„Poesie"  nehmen,  ja  selbst  einige  Wortführer  der  Kritik, 
trotzdem  sie  doch  seinerzeit  der  italienischen  Opern- 
Veristik  durch  eilfertige  Übersetzungen  den  Weg  nach 
Deutschland  erst  gebahnt  hatten,  justament  zu  Dresden  im 
sächsischen  Lande  jetzt  auf  einmal  scheinheilig  beteuern 
konnten,  sie  hätten  stets  die  „Fahne  des  Idealismus"  „un- 
entwegt" hoch  gehalten  und  erblickten  nun  in  diesem,  von 
der  Sonne  der  Volksgunst  endlich  beschienenen  Wieder- 
erwachen des  guten  alten,  wahrhaft  klassischen 


232  Wagneriana.    Bd.  III. 


Geistes  den  schönsten  Lohn  für  ihre  so  charaktervollen, 
zielbewussten  Thaten.  Ja,  wer  kennte  sie  nicht,  diese 
neueste  „Kunsf-Strömung!  Wer  aber  kennt  die  Sach- 
lage wohl  intimer,  um  auch  zu  wissen,  dass  diese  Blüte 
in  dem  so  eigen  gearteten  Boden  speziell  des  Dresden- 
Neustädter  Abonnentengeschmackes  gerade  wurzelt  und 
direkt  jener  Jahre  langen,  systematischen  Züchtung 
eines  mehr  anspruchs-  als  harmlosen  Unterhaltungs- 
bedürfnisses entstammt,  die  das  Dresdner  Hofschauspiel 
bis  vor  gar  nicht  so  langer  Zeit  zu  einem  der  flachsten, 
albernstenVergnügungsinstitute  d»r  Welt  gestempelt  hatte? 

Und  weil  wir  hier  schon  die  Katastrophen-Einakter 
neu-italienischer  Produktion  kurz  gestreift  haben:  auch 
das  darf  ja  nicht  übersehen  werden,  dass  just  eben 
dieses  Dresden  es  war,  durch  dessen  Hofoper  die  be- 
rühmte unrühmliche  Invasion  jener,  bis  vor  Kurzem  noch 
verheerend  bei  uns  grassierenden  Mascagnitis  seiner- 
zeit erfolgen  sollte  —  mit  innerer  Notwendigkeit  gerade- 
zu erfolgen  musste,  weil  ein  durch  Jahre  langen,  un- 
vernünftig-übermässigen  Wagnerkult  (dem  kein  ent- 
sprechender,gesunderRepertoire-Gegenhalt  in  klassischen, 
romantischen  und  Spielopern  gegeben  war)  einseitig  über- 
füttertes Theaterpublikum  schliesslich,  „des  trockenen 
Tons  nun  satt",  mit  aller  Vehemenz  nach  etwas  Neuem 
förmlich  auflechzte.  Was  liegt  da  also  wohl  näher,  als 
auch  diesmal,  beim  Bungert'schen  „Odysseus"  —  jetzt, 
wo  der  Verismo  bei  uns  glücklich  abgewirtschaftet  hat 
und  auch  das  heilsame  Gegengift  der  gemütreichen 
Humperdinck' sehen  Märchenoper  von  diesem  selben 
wankelmütigen  Publikum  launisch  bereits  wieder  bei 
Seite  geworfen  wird  —  vorerst  wenigstens,  abermals  auf 
eine  solche  „Invasion"  nur  zu  schliessen,  eine  zeit- 
gemässe  Geschmacksablösung  und  aus  der  Natur- 
geschichte dieses  Ortes  psychologisch  motivierte  Mode- 
strömung lediglich  auch  da  wieder  zu  vermuten? 


Digitized  by  Google 


LJIixes  redivivus. 


233 


Es  treten  hierzu  aber  doch  noch  andere,  nicht  zu 
unterschätzende  Momente.  Vor  Allem  die  ausgezeichnete, 
mit  dem  ganzen  Glänze,  welcher  der  genannten  Hofoper 
nun  einmal  zu  Gebote  steht,  von  der  Regie  blendend 
inszenierte,  von  Generaldirektor  S  c  h  u  c  h  zudem  mit 
allem  orchestralen  Schwünge  liebevoll  heraus  gebrachte 
Aufführung,  bei  der  Scheidemantel,  überaus  wirksam 
von  Frau  Wittich,  den  Herren  Anthes  und  Wächter 
unterstützt,  in  der  Titelrolle  so  hervorragend,  auch 
deklamatorisch  und  darstellerisch,  dominiert,  dass  man 
sich  fragen  kann,  ob  anderwärts,  beim  etwaigen 
Fehlen  einer  solch'  imponierenden  Vertretung,  die  gleich 
günstige  Aufnahme  daran  nicht  allein  schon  scheitern 
könnte.  Wäre  der  Regie  auch  vielleicht  kritisch  ein- 
zuwenden, dass  sie  im  Vorspiel  und  I.  Akte  dekorativ 
zu  sehr  nach  Boecklin,  statt  stilgerechter  Weise  nach 
Preller  verfahren  sei,  so  finden  wir  doch  ein  solch' 
bewundernswertes  Zusammenwirken  der  mannigfachsten 
technischen,  chorischen,  solistischen  und  orchestralen 
Faktoren  und  ein  so  glückliches  Zusammenfliessen  der 
einzelnen  Bestandteile  eines  ungemein  komplizierten 
Apparates  zum  harmonischen  (reproduktiven)  Bühnen- 
Ganzen,  dass  schliesslich  dadurch  allein  schon  für  eine 
schaulustige,  vielköpfige  und  verschieden  organisierte 
Menge  jenes  Rezept  des  Goethe'schen  Theaterdirektors 
sich  erfüllt:  dass,  wer  vieles  bringt,  manchem  werde 
etwas  bringen.  Und  vergessen  wir  es  doch  ja  nicht: 
rein  stofflich  ist  der  bezügliche  dramatische  Vorwurf 
einer  allgemein  menschlichen  Anteilnahme  und  gemein- 
verständlichen Wirkung  von  vornherein  schon  sicher, 
zumal  noch  überdies  der  vom  Komponisten  selbst  ver- 
fasste  Text  mit  anerkennenswertem  Geschicke  die  epi- 
schen Bilder  der  „hom  erischen  Welt"  durch  frei 
ersonnene  individuelle  Züge  noch  interessanter  zu  ver- 
knoten, lebendig  zu  kontrastieren  und   wirksam  zu 


234 


Wagneriana.   Bd.  III. 


steigern  versucht.  Zwar  stossen  wir  ja  nicht  ganz 
selten  auf  Stellen  mit  höchst  anfechtbarer  Diktion;  auch 
allzu  ausgedehnte  Längen  (besonders  im  3.  Akte)  sind, 
selbst  nach  der  resolut  durch  Schuch  vorgenommenen 
„Strychnin"-Operation,  noch  nicht  völlig  beseitigt,  und 
das  viel  angestaunte  „selbständig-dichterische  Vermögen" 
scheint  uns  bei  ihm  wirklich  mehr  nur  in  einem  prakti- 
schen Blick  für  das  Bühnen -Metier  als  solches,  in 
einer  dramaturgischen  Gewandtheit,  nebst  glücklicher 
litterarischer  Anempfind  ung,  zu  bestehen.  Aber  von  jeher 
hat  ja  die  Vox  populox  —  um  einmal  mit  dem  derben 
Kistler  hier  zu  reden  —  weniger  nach  diesem  (für  ein 
feineres  Kunstempfinden  immerhin  massgebenden)  „Wie" 
gefragt,  als  nach  dem  „Was"  begierig  gesehen,  und  wenn 
es  sich  um  Odysseus  und  Penelope  schon  „handelt*', 
oder  nun  gar  von  der  „altbewährten  Idealkraft  schön- 
heitsatmender  Antike"  suggerierend  im  Land  die  Rede  geht, 
dann  muss  doch  alsbald  auch  die  ganze  Bildungsheuchelei 
sich  mobilisiert  fühlen  und  aller  so  weit  verbreitete 
Pseudo-Idealismus  unserer  Tage  unbesehen-grundsätzlich 
stramm  mit  von  der  Partie  sein !  Daher  denn  in  erster 
Linie  jener  anhaltende  und  ganz  unzweifelhaft  bomben- 
sichere „Überraschungserfolg"  der  deutschen  Opernbühne. 

Und  doch  hat  der  „Lieder- Komponist"  August 
Bungert  —  nicht  zuletzt  mit  seinem  ganz  merkwürdig 
einheitlich  geratenen,  in  hoheitsvoller  Plastik  zu  harmoni- 
scher Abrundung  auffallend  wohlgelungenen  II.  Aufzuge, 
dem  unstreitig  erhebendsten  Teile  seiner  „Tragödie"  — 
als  „musikalischer  Dramatiker"  unser  aller  Erwartungen 
auch  ebenso  unleugbar  wieder  erheblich  übertroffen.  Nicht 
als  ob  er  in  der  Orchestergestaltung  einer  von  den 
Grossen  und  Gewaltigen  wäre.  Ungeachtet  seiner  leit- 
motivischen Anlage  des  Ganzen  giebt  er  vielmehr  an 
Stelle  von  Wagners  polyphonem  Themengespinste  (als 
einem  die  Aktion  beredt  ausdeutenden  und  die  Charaktere 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus. 


235 


psychologisch  erläuternden  Seelengewebe)  schliesslich 
aus  alter  Gewohnheit  lieber  nur  homophone  Gesangs- 
begleitungen, aus  deren  natürlicher  „Not"  seine  Schild- 
knappen zuversichtlich  eine  leicht  zu  durchschauende 
„Tugend"  nur  eben  konstruiert  haben,  als  sie  stolz 
argumentierten:  darin  habe  er  ja  gerade  seine  produktive 
Eigenart  Wagner  gegenüber  erwiesen,  dass  er  die  ein- 
fach klare,  naiv -elementare  hellenische  Welt  aus  der 
frischen  Jugendzeit  der  Menschheit  nicht  mit  dem  ver- 
wickelten Orchestergewoge  reich  verzweigter,  pessi- 
mistisch-nordischer Gedankengrübelei  verbrämt  und  aus- 
gestattet habe.  Wenn  anders  nun  freilich  dieser  Einwurf 
seine  Richtigkeit  hätte,  so  würde  ein  Humperdinck  die- 
selbe Orchestertechnik  für  seinen  kindlichen  Stoff  doch 
auch  nicht  mit  solchem  entschiedenen  Erfolge  haben 
anwenden  können!  Dazu  verfällt  Bungert  noch,  an- 
statt die  Rede  im  Affekt  zur  Sprachmelodie  ästhetisch 
zu  steigern,  gerade  bei  seinen  schönsten  und  dekla- 
matorisch entscheidendsten  Höhepunkten  mit  besonderer 
Vorliebe  aus  dem  echten  Sp  rac  hgesang  in  einen  ohn- 
mächtig realistischen  Sprech  ton  wieder  zurück,  der 
denn  so  unwagnerisch  wie  nur  irgend  möglich  uns  be- 
rührt. Wenn  aber  vollends  im  ersten  Entzückungstaumel 
des  erfochtenen  Sieges  von  den  „Bungertianern" 
ihr  Abgott  nicht  nur  in  eine  Linie  mit  dem  Bayreuther 
Meister  gerückt,  sondern  von  einem  besonders  hell 
sehenden  dieser  sonderbaren  Schwärmer  damals  nach 
auswärts  sogar  berichtet  wurde,  jener  übertreffe  mit 
seinem  sechsteiligen  Zyklus  der  „Homerischen  Welt" 
(von  dem  man  doch  soeben  erst  nur  ein  Bruchstück 
kennen  gelernt  hatte)  selbst  das  bisherige  Non  plu* 
ultra,  die  „Nibelungen -Tetralogie"  —  nun,  so  wollen 
wir  doch  hoffen,  dass  dieser  Standpunkt  nicht  allent- 
halben auch  gleich  acceptiert  werden  wird,  wonach 
Kunst  künftighin  mit  der  Elle  und  nach  ihren  Dimen- 


Digitized  by  Google 


236 


U  agneriana.    Bd.  III. 


sionen,  beileibe  nicht  aber  mehr  nach  ihrem  spezifi- 
schen Geistes  gewichte  zu  messen  wäre.  Und  nun 
gar  erst,  wie  geschehen,  den  „Odysseus"-Vertoner  mit 
dem  „Zarathustra"  -  Philosophen  in  einem  Atem  zu 
nennen:  welch*  eine  Urteils-  und  Geschmacklosigkeit 
sonder  Gleichen!  .  .  . 

Sollte  ich  meine  kritischen  Beobachtungen  und 
meine  persönlichen  Eindrücke  zusammenfassender  Weise 
auf  eine  knappe  Formel  zu  bringen  haben,  so  würde 
ich  sagen,  dass  das  deutsche  Musikdrama  sich 
allem  Anscheine  nach  in  Bungert  nun  seinen  Wilden- 
bruch gewonnen  hat.  Ein  Lob  und  ein  Tadel,  wenn 
man  will!  Dort  wie  hier  eine  die  grosse  Masse  ge- 
legentlich mit  fort  reissende  Szenenführung;  dort  wie 
hier  eine  liebenswürdige  Begeisterung  für  edel  ge- 
hobenes, bei  näherer  Betrachtung  jedoch  oft  phraseo- 
logisches Pathos  und  ein  stets  reger  Sinn  für  das,  was 
eine  weitere  Allgemeinheit  zu  hypnotisieren  vermag; 
dort  wie  hier  das  fruchtbare  Zurückgreifen  auf  ältere 
Instinkte.  Dort  wie  hier  indessen  auch  —  trotz  aller 
weltgeschichtlich  weit  ausgreifenden  Stoffwahl  —  ledig- 
lich eine  eng  beschränkte  und  kleine  (eigentlich  über- 
haupt keine  rechte)  „Weltanschauung**,  sowie  das  roh- 
stoffliche  Interesse  im  entschiedensten  Vordergrunde; 
dazu  auf  beiden  Seiten  viel  packendes  äusseres  Wesen, 
allein  nur  wenig  Innerlichkeit,  und  ein  empfindlicher 
Mangel  an  feinerer  Seelenbegründung  wie  Charakter- 
vertiefung (welch*  letzterer  Zug  bei  Bungert  dem  ober- 
flächlich gehandhabten  Orchester  vornehmlich  zur  Last 
fällt).  Endlich  —  das  Letzte  fürwahr  nicht  das  Be- 
deutungsloseste: wie  bei  Wildenbruch  ganz  ersichtlich, 
so  auch  bei  Bungert  zuversichtlich  das  Epigonentum 
unproduktiver  Scheinerben,  und  zwar  eines  bei  ihnen 
wie  abgestanden  nachklingenden  klassischen  Ideales  — 
dort  Schillers,  hier  allenfalls  R.  Wagners. 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus. 


237 


Und  nun  weiss  ich  auch,  warum  ich  bei  der  ge- 
waltigen Stelle  im  3.  Akte,  wo  Odysseus,  sein  Bettler- 
gewand plötzlich  jäh  abwerfend,  in  überragender  Gestalt, 
von  Blitzen  grell  beleuchtet,  im  roten  Königsmantel  auf 
der  Thronerhöhung  steht  und  sein  mächtig  dröhnendes: 

»Der  Bettler  ging! 
Es  kam  —  Odysseus, 
Ithaka's  König! 

unter  die  erschreckten,  in  ihrem  unechten  Wert  endlich 
erkannten  Freier  hinein  wettert  —  warum  ich  da  auf 
einmal  folgende,  nur  allzu  frappante  Vision  hatte:  Ich 
sah  Richard  Wagner,  keinen  Geringeren,  magisch 
beleuchtet  leibhaftig  da  oben  vor  mir  stehen,  als  sei 
er,  der  allein  den  geheimnisvollen  Bogen  (der  musik- 
dramatischen Form)  zu  spannen  vermag,  wiedergekehrt 
und  wollte  hier,  nachdem  er  zuvor  schon  einige  seiner 
Getreuen  aufmunternd  begrüsst,  sein  angestammtes  Haus 
von  all'  dem  zudringlichen,  dem  eigenen  Sohne  gar 
nachstellenden,  eigennützigen  Gesindel,  den  vielen  an- 
masslichen,  auf  seine  Kosten  lustig  schmarotzenden 
Freiern  um  Penelopeia,  sein  rechtmässig  ihm  angetrautes 
Gemahl, gründlich  einmal  säubern,  um  den  ihm  zustehenden 
Herrschersitz  fortan  mit  allen  Ehren  nunmehr  ein- 
zunehmen und  sein  Erbe  selbsteigen  wieder  anzutreten. 

„Wähntet  ihr, 

Dass  nimmer  ich  heimkehrt* 

Vom  Lande  der  Troer? 

Ihr  verprasstet  mein  Gut 

Und  buhltet  frech 

Um  mein  hohes  Gemahl!"  

d.  h.  meine  hohe,  heilige  Kunst! 

2.  Hamburg 

Wie  bereits  in  der  Überschrift  angedeutet,  hat 
Bungerts    „JVLusiktragödie"    von    des  „Odysseus 


Digitized  by  Google 


238 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Heimkehr*4  alsbald  auch  am  Hamburger  „Stadttheater", 
der  zweiten  der  „armseligen"  Opernbühnen,  auf  denen  sie 
sich  bis  zum  „eigenen  Festspielhaus"  in  Godesberg  einst- 
weilen noch  „jämmerlich  herumschlagen"  muss,  breitesten, 
lärmenden  Erfolg  davon  getragen.  Vielleicht  wird  das 
dereinst  einmal  anders  und  dreht  sich  der  Spiess  später 
um,  bis  sie  erst  in  besagtes  rheinisches  Bühnenfestspiel- 
gebäude  ihren  feierlichen  Einzug  wird  halten  können. 
Zu  wünschen  bliebe  das  ja  immerhin  mit  einer  gewissen 
Inbrunst,  dass  bis  dahin  der  „deutsche  Michel"  wenigstens 
aufwache  und  beschämt  endlich  erkenne,  als  welch'  ein 
Biedermeier  ungesundester  Afterbildung  er  sich  an- 
gesichts dieses  sentimentalen,  durch  und  durch  unnaiven 
„Salongriechentums"  unserer  Familienblatt-Romantik  in 
seinem  gar  dunklen  Drange  wieder  entpuppt  hat.  Denn 
„Homerische  Welt"  und  —  das  Land  der  „Kaffeesäcke": 
welch'  im  Grunde  doch  ganz  unvereinbare  Gegensätze! 
Und  dennoch  gab  es  einen  „guten  Klang"?  Ja,  wer 
euch  nicht  kennte,  ihr  Elemente!  Wie  sagte  doch  schon 
der  alte  Talbot?  —  gegen  ein  gewisses  Etwas  kämpfen 
eben  Götter  selbst  vergebens  .  .  . 

Ich  mache  kein  Hehl  daraus,  dass  ich  jetzt,  nach 
abermaligem  Anhören  des  Werkes  und  gewissenhafter 
Nachprüfung  seiner  von  Anbeginn  fragwürdigen  Eigen- 
schaften, eher  noch  um  mehrere  Grade  schlechter  über  das 
Ganze  habe  denken  lernen.  Ich  nannte  Bungert  nach  der 
von  mir  erlebten  Dresdner  Uraufführung  —  halb  lobend, 
halb  bekrittelnd  —  den  „Wildenbruch  der  Oper".  Ich 
bedaure,  auch  das  heute  nicht  mehr  aufrecht  erhalten 
zu  können.  August  Bungert  als  „Dichterkomponist" 
(unter  dieser  Personalunion,  einem  mindestens 
vierteiligen  „Zyklus"  und  einem  „eigenen Festspielhause" 
thut's  ja  heutzutage  bald  Keiner  mehr!)  scheint  mir  zum 
„Musikdrama"  nur  noch  die  Stellung  einzunehmen,  wie 
sich  z.  B.  unser  Familienblattwesen  zur  hehren  deutschen 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus. 


239 


Nationallitteratur  und  zum  klassischen  Kulturromane 
verhält:  so  etwa  Natalie  v.  Eschstruth  —  nicht  Wilden- 
bruch ! 

Es  gehört  wohl  der  ganze  Stumpfsinn  unserer  zer- 
fahrenen modernen  Pensionatsbildung  dazu,  über  die 
feudalen  Stilblüten  einer  „Natalie  von  Eschstruth"  einfach 
hinweg  zu  lesen  und  aus  dieser  Art  von  Sprache  nicht 
das  wahre  Wesen  der  „Dichterin"  alsbald  zu  wittern. 
Ein  Schullehrer  musste  erst  kommen,  mit  einem  mühsam 
zusammengestellten  Sündenregister  aus  ihren  mehr  ge- 
stammelten als  „gesammelten  Werken"  den  Finger  drauf 
zu  legen.  Wann  wird  solch'  ein  Otto  Emst  für  Bungen 
erstehen  und  dem  voreiligen  „Verführer"  in  diese  so 
genannt  „homerische  Welt"  hinein,  Herrn  Max  Chop, 
den  einzig  berechtigten  sicheren  „Führer"  zur  besseren 
Erkenntnis  gegenüber  stellen  —  d.  h.  ihm  gehörig  heim- 
leuchten? Denn  auch  das  ist  ein  Zeichen  der  Zeit, 
dass  —  wo  Pygmäen  zu  „Kulturerregern"  gestempelt 
werden  —  mit  einem  Male  auch  Obskuranten  der  be- 
treffenden Fachschreiberei,  die  kein  Mensch  bisher  für 
voll  oder  ernst  genommen  hat,  plötzlich  Oberwasser 
gewinnen  und  sich  zu  Autoritäten  berufen  fühlen.  Das 
ist  denn  die  grosse  „Restaurations-Epoche"  der  Chope 
und  Schrattenhölzer,  die  sich  da,  nicht  faul,  mächtig  zu 
röhren  beginnen,  indem  sie  nun  die  für  sie  selbst  daraus 
erwachsende  günstige  Konjunktur  klüglich  ausnützen 
und  durch  Demonstration  in  Gestalt  von  tiefsinnigen 
musikästhetischen  Analysen  oder  gespreizten  „öffentlichen 
Sendschreiben"  zu  „Eingeweihten"  und  berufenen  „Au- 
guren" dieser  „neuen  Kunst  des  Ideales"  sich  aufspielen. 
Besonders  amüsant  ist  hier  die  Art,  wie  der  „Dutzfreund" 
Josef  Schrattenholz  sich  in  diesem  Getriebe  breit 
macht  und  seine  Person  bei  dem  Glückspilze  Bungert 
nun  anbiedert.  Er  meint  zwar,  er  bekenne  sich  voll  und 
ganz  zu  Rob.  Schumann,  der  gesagt  habe:  „Beste  Art, 


240 


Wagneriana.    Bd.  III 


über  Musik  zu  reden,  die:  zu  schweigen!"  —  thut  aber 
leider  recht  ergiebig  nurdas  Gegenteil.  Dieser  „Offenbarer", 
der  noch  das  Gras  wachsen  hören  wird  und  offenbar 
Musik  schon  riecht,  will  auch  das  Geheimnis  der 
Bungert'schen  Muse  ergründet,  das  grosse  X  des 
„Spezi  fisch -Bungert'schen  in  dieser  Musik"  —  wohl 
mit  X-Strahlen?  —  bereits  entdeckt  haben!  Er  sieht 
es  zwar  naturlich  kommen,  dass  man  ihn  alsbald  fragen 
wird,  worin  das  denn  nun  eigentlich  genauer  bestehe; 
allein  der  schlaue  Mann  hat  sich  gegen  solch*  plumpen 
Angriff  längst  gar  wohl  verschanzt,  indem  er  einfach 
dekretierte:  „So  unmittelbar  es  dem  Hörer  sich  auch 
aufdrängt  und  einprägt  —  dem  Nichthörer  kann  es  nur 
durch  den  lebendigen  Ton,  durch  das  Klang-  und  Stimm- 
material suggeriert  werden."  Womit  er  denn  sofort  fein 
heraus  und  über  alle  Berge  ist,  da  er  —  falls  einer 
es  trotzdem  noch  nicht  „hört"  —  wie  aus  einer  anderen 
Stelle  noch  hervor  geht,  einfach  „parteiblinde  Unklugheit" 
ohne  Weiteres  annehmen  wird.  Das  Gescheidteste  an 
dem  ganzen  Geschreibe  ist  noch  dies,  dass  es  in  der  Zeit- 
schrift „Gegenwart**  erschienen  ist.  Denn  in  der  That, 
um  blosse  „Gegenwarts"-,  nicht  etwa  um  „Zukunfts- 
musik** kann  es  sich  ganz  zweifelsohne  beim  „Falle 
Bungert"  allein  nur  handeln. 

Übrigens  scheint  neuerdings  auch  die  Dresdner  Philo- 
logenversammlung, der  zu  Ehren  man  diese  „Götter, 
Helden  und  —  Bungert**  vorführte,  über  solche  ganz  be- 
sondere Sorte  von  Hellenismus  gestutzt  zu  haben;  denn 
bald  darnach  las  man  im  „Kunstwart**  über  jene  Fest- 
vorstellung: „Interessant  war  das  allen  Teilnehmern, 
gab  es  doch  dabei  zu  lernen.  Beispielsweise:  dass  Athene 
schon  die  Flöte  und  dass  man  zu  ihrer  Zeit  schon 
moderne  Militärtrompeten  blies;  sowie,  dass  Penelope's 
Freier  mittelalterliche  Hellebarden  hatten.  Ganz  be- 
sonders erfreulich  aber  war  es  den  Versammelten,zu  sehen, 


Digitized 


Ulixes  redivivus. 


241 


• 

wie  dezent  das  frühe  griechische  Altertum  schon  ge- 
wesen ist:  schon  zu  Ilions  Zeiten  trugen  die  Apollo- 
statuen, nach  dieser  Aufführung,  Feigenblätter!"  (Auch 
die  christliche  Betform  der  Statisten,  mit  gefalteten 
Händen,  hätte  der  Verfasser  erwähnen  können.) . . .  Doch, 
das  alles  genügt  noch  nicht;  es  muss  der  Sache  etwas 
energischer  an  die  Nieren  gegangen  werden.  Vor  Allem 
möchte  ich  hier  jeden  mit  feinerem  oder  auch  nur  ge- 
sundem Sprachgefühle  begabten  Leser  auffordern,  sich 
einmal  das  „Szenarium"  ausschliesslich  auf  seine  Par- 
tizipial-Satzbildungen  hin  anzusehen.  Da  heisst  es  z.  B. 
S.  19:  „Eumäos  bleibt,  auf  den  Stab  gestützt,  sinnend 
ihnen  nachsehend,  dastehen";  S.  24:  „mit  hinreissender 
Begeisterung  vortretend";  S.  29:  „Odysseus  mit  durch- 
dringendem und  erforschendem  Blicke  betrachtend"; 
S.  33:  „Dann  plötzlich  sehr  erregt  ihn  anschauend"; 
S.  43:  „tief  ergriffen  Odysseus  die  Hände  küssend"; 
S.  45:  „Laertes  schreitet,  langsam  in  die  Ferne  starrend, 
hellsehend  (!),  von  Telemachos  und  Eumäos  geleitet,  den 
Pfad  hinunter.  Während  der  Chor  der  Najaden  stärker 
ertönt,  fasst  Eumäos,  Odysseus  tief  in's  Auge  schauend, 
diesen  (!)  an  der  Hand**;  S.  46:  „Odysseus  den  Eumäos 
an  der  Hand  ergreifend,  vortretend";  S.  48:  „Nach  der 
rechten  Seite  hin  ein  Portal,  durch  welches,  später  ge- 
öffnet, man  (!)  einen  Blick  in  die  anderen  Räume  des 
Hauses  hat";  S-  65:  „stets  (!)  das  Schwert  in  der  Hand 
haltend";  S.  70:  „Penelopeia  bleibt  stets  (!),  wie  ab- 
wesend, starr  dastehen,  ohne  den  Blick,  in  die  Ferne 
gewandt,  zu  ändern»;  S.  87:  „begeisternd  einfallend"; 
S.  88:  „entschieden  vortretend";  S.  97:  „Furchtbarer 
Blitz  und  Donnerschlag,  lang  verhallend.  Die  drei  be- 
trunkenen Mägde,  Despoina  mit  Kornähren  und  rotem 
Mohn  Busen  und  Haar  geschmückt,  die  andren  mit 
Weinlaub  und  Rosen  phantastisch  geschmückt,  die  Arme 
über  die  Schultern  in  einander  geflochten,  treten  im 
Scidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  16 


242 


Wagneriana.   Bd.  III 


Tanzschritt  vor";  S.  100:  „Despoina  schritt  während  (!) 
der  letzten  Worte,  wie  plötzlich  ernüchtert,  erwachend, 
während  (!)  die  Freier  im  Hintergrunde  lachen,  entsetz- 
lich erregt  vor.  Dann  auf  Odysseus  zeigend  und  ihn 
wild  erregt  anstarrend  . . .  u.  s.  w.  mit  Grazie  in  infinitum 
—  tbatsachlich  kaum  eine  Textseite  ohne  solche  schauder- 
bare Partizipbildungen! 

Nun  könnte  man  mir  ja  einwenden:  „Szenarium" 
ist  noch  nicht  Dichtung  —  trotzdem  wird  sich  das  Sprach- 
schöpferische des  echten,  berufenen  Dichtergeistes  doch 
auch  in  diesem  Teile  seiner  gestaltenden  Phantasie  un- 
bedingt klar  ausprägen  müssen;  weshalb  ich  denn  auch, 
rein  poetisch,  die  Anmerkung  in  Odysseus'  Monolog 
(1.  Akt,  S.  21)  besonders  rührend  finde:  „Nebel  bedeckt 
und  entstellt  die  Landschaft,  die  er  als  sein  Vaterland 
nicht  wieder  erkennt."  (Es  fehlt  nur  noch  ein  „Vgl. 
Friedrich  Schiller"  in  Parenthese!)  Aber  das  Üble  daran 
ist,  dass  diese  Partizipialkonstruktionen  (wie  sich  ebenso 
leicht  nachweisen  Hesse)  auch  in  die  „Dichtung"  mit 
über  gegangen  sind.  Von  gelegentlichen  Textentgleisungen 
wie  S.  8:  „Und  hoffnungslos  wird  es,  dass  sie 
sich  ergiebt,"  oder  S.  57:  „Die  Freunde  von  uns  ver- 
folgen ihn!"  —  auch  S.  74:  „Schreiten  sie  mir  und  dem 
Sohne  vorbei,"  und  dem  zweimaligen,  ganz  unaussteh- 
lichen „mein  Herze"  will  ich  hier  ganz  absehen,  ob- 
wohl sie  doch  schliesslich  auch  einen  Massstab  dafür 
abgeben,  w  e  s  Geistes  Kind  hier  vor  uns  stehten  mag.  Ich 
möchte  nur  bitten,  durch  den  ganzen  Text  hindurch 
einmal  sorgfältig  zu  zählen,  wie  oft  von  S.  20  bis  97 
der  „Frühling"  oder  aber  der  Held  des  Drama's  (ohne 
die  Bestimmung  „heim-"  oder  „zurück-",  also  doch 
wohl  mit  dem  Besen!)  „kehrt",  und  wie  viel  Mal  irgend 
eine  Person  „starr"  da  steht  oder  vor  sich  hinblickt. 
Die  Ziffer  ist  es  wert,  das  Experiment  zu  machen! 

Wir  gehen  überdies  noch  weiter  und  fragen:  Handelt 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus. 


243 


es  sich  denn  wirklich  bei  Bun^rt  —  «»n  „Das  Land 
der  Griechen  mi>  aeele  suchen",  und  nicht  vielmehr 
nur  um  eine  wohlfeile  „Enoch-Arden "-Sentimentalität, 
mit  entsprechender  Wirkung  auf  leicht  erregbare  Thränen- 
drüsen?  „Trompeter  von  Ithaka"  hat  ihn  schon  ein 
bekannter  Hamburger  Kritiker  kurz,  aber  schlagend  ge- 
nannt, und  den  Eindruck  der  ersten  Aufführung  dort- 
selbst  hätte  man  ganz  gut  umschreiben  können  mit  den 
eigenen  Versen  des  Textbuches: 

„Solch'  selig  Weinen 
haf  s  nie  gegeben  . . . 
Als  das  bei  Odysseus 
und  Penelopeia, 

seit  Lieder  (nlmlich  diejenigen  Bungerts)  melden!"... 

Mit  Recht  hat  man  gesagt,  dass  jedes  wahre  Kunst- 
werk auch  eine  Weltanschauung  widerspiegle,  dass 
Originalität  und  Grösse  sich  auch  in  der  Auffassung 
eines  Stoffgebildes  bekunden  müsse.  Fühlen  wir  nun 
etwas  von  diesem  philosophischen  Hintergrunde  des  alten 
Heldensanges  in  unserer  gar  so  hoch  einher  trabenden 
„Musiktragödie"?  Hin  und  wieder  möchte  es  wohl  so 
scheinen.  Treten  wir  dann  aber  beherzt  etwas  näher, 
so  bemerken  wir  erst:  Bungert  hat  gar  keine  „Weltan- 
schauung" vom  Griechentum;  oder:  er  hat  nur  eine 
philiströs  -  spiessbürgerliche,  wie  sie  schon  der  alte 
Rektor  Voss  seiner  „Odyssee"  entgegen  brachte.  Statt 
einer  „geistigen  Wiedergeburt  des  Mythos"  haben  wir 
wohl  eine  dramatisierte,  im  Grunde  aber  doch  eben  die 
gute  alte  Vossische  Übersetzung  nur  wieder  erhalten. 

Wer  nun  grausam  denkt  und  grausame  Handlungen  ausübt, 
Diesem  wünschen  Alle,  so  lang  er  lebet,  nur  Unglück, 
Und  noch  selbst  im  Tode  wird  sein  Gedächtnis  verabscheut. 
Aber  wer  edel  denkt  und  edele  Handlungen  ausübt, 
Dessen  würdigen  Ruhm  verbreiten  die  Fremdlinge  weit  hin 
Unter  die  Menschen  auf  Erden,  und  jeder  segnet  den  Guten. 

16" 


Digitized  by  Google 


244 


Wagneriana.    Bd.  III 


So  lesen  wir  Vci»  *<*a  w«  334  im  neunzehnten  Gesänge 
der  bekannten  Vossischen  Uberseuu»8.  j«.  das  ist's: 
ein  jeder  segnet  „den  Guten".  So  beteuert  auch 
Bungert-Odysseus  mit  Emphase  „stets":  „Das  Gute 
siegt!"  .  .  .  und  der  Schlusschor  bestätigt's  wiederum 
mit  Nachdruck:  „Das  Schöne  und  Gute  siegt!"  —  er 
hätte  nur  noch  /'er  aspera  ad  nstra  oder  „Durch  Nacht 
zum  Licht!"  solenn  hier  zu  fugieren  brauchen.  Jeden- 
falls also  eine  durch  und  durch  wohlwollende,  in  sich 
einfältige  und  ganz  unkomplizierte  Natur,  dieser  „Gute" 
jenseits  von  Hässlich  und  Böse,  beinahe  schon 
„Menelaus  der  Gute",  wenn  wir  auf  diese  Bonhommie 
nur  auch  recht  hinhorchen  wollen.  Und  in  der  That,  wie 
in  den  Chorgesängen  manch'  bedenklicher  Lieder- 
tafelton, aber  sicher  kein  «griechischer  Chor"  anklingt, 
so  mutet  es  uns  auch  aus  dieser  „Dichtung"  oft  höchst 
ungriechisch  liedertafelmässig,  statt  wie  Ethos  und 
Pathos  der  Antike:  wie  platte,  biedere  Bürgermoral  eines 
modernen  Nachtwächtertumes  gar  bald  an.  Man  besehe 
sich  den  Schlussrefrain:  „Es  singen's  die  rauschenden 
Wälder  in  Stürmen  —  Die  Wogen,  die  auf  dem  Meere 
sich  türmen  —  im  Sternenreigen  es  leuchtend  geht  (!), 
dass  echte  Liebe  und  Treue  besteht!41  —  wo  bleibt  da 
noch  „das  bisschen  Griechentum"?  Penelopeia's  adlig- 
untadliger  Name  wird  von  Hyperion  im  unverfälschtesten 
Triolendeklame  eines  Leoncavallo  angerufen.  Und  nun 
denke  man  sich  vollends  der  schmerzreichen  Ideal- 
gestalt eigene  Worte  bei  Bunge rt:  „Die  treue  Liebe 
allein  ist  schön!  Ohne  sie  mag  die  Welt  in  Trümmer 
geh'n !  .  .  .  Ich  bin  nicht  das  Weib,  das  der  Stunde  der 
Lust  —  opfert  das  heil'ge  Empfinden  der  Brust!"  Dies  als 
innersten  Wesenskern  einer  weltgeschichtlichen  Gatten- 
prüfung, wie  der  Penelope's,  hier  heraus  gestellt!  Nein, 
es  ist  nicht  einmal  mehr  das  „Gewand  der  Helena", 
was  der  Bildungsdünkel  unseres  „ledernen"  Philistertums 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus. 


245 


hier  eben  noch  am  Zipfel  erhascht,  wenn  es  die  Bungert'- 
sche  „Vertonung"  mit  eilfertiger  Begeisterung  beklatscht 
und  darin  zudem  noch  eine  über  die  Massen  preisens- 
werte  Rettung  unausrottbarer  „künstlerischer  Ideale" 
für  unsere  „materiell"  gesinnte  Zeit  begrüssen  zu  dürfen 
glaubt.  Ohnmächtig  gegen  den  Unsinn,  der  da  über 
uns  hereinbricht,  vermögen  wir  uns  dagegen  nur  mehr 
zu  wehren  mit  dem  Ausrufe:  „Sancta  rimplicäas!"  Viel- 
leicht hilft  das  ein  wenig. 

Also,  um  es  nochmals  knapp,  aber  ganz  deutlich, 
auch  quoad  Komponisten,  zu  sagen:  August  Bunge rt 
gehört  zu  den  fraglos  „guten  Leuten",  wenn  auch 
ziemlich  „schlechten  Musikanten".  Er  hat  es  mir  zwar 
gewaltig  krumm  genommen,  dass  ich  in  seinem  Or- 
chestersatze keine  richtige  Polyphonie  entdecken  wollte 
und  von  „mehr  homophoner  Liederbegleitung"  nach  der 
Dresdner  Premiere  allein  nur  sprechen  konnte.  Indessen, 
er  mag  sich  bei  meinen  Hamburger  Herren  Kollegen  er- 
kundigen, ob  deren  Ohren  zu  wesentlich  anderen  Re- 
sultaten beim  Hören  gekommen  sind.  Und  eigentlich 
hat  er  ja  auch  ganz  Recht;  denn  nicht  einmal  von 
„Liederbegleitung"  (im  guten,  modernen  Sinne  dieses 
Begriffes)  lässt  sich  sehr  oft  bei  ihm  mehr  reden, 
sondern  blossen  Figuren  und  instrumentierten  Rhythmen 
sozusagen  begegnet  man  da  nur  allzu  häufig.  Nun  hat 
einmal  Einer  gesagt:  Um  einen  Orchester-Komponisten 
zu  beurteilen,  müsse  man  den  Hornsatz  seiner  Par- 
tituren näher  ansehen.  Du  lieber  Himmel!  Wenn  das 
wahr  ist,  wird  man  bei  Bungert  nicht  eben  allzu  weit 
damit  kommen,  denn  ganze  Etudenpassagen  lässt  er  das 
Horn  stellenweise  anhaltend  einherhüpfen,  ohne  doch 
die  geringste  vernünftige  Wirkung  damit  zu  erzielen. 
Und  ebenso  berührt  nicht  selten  der  gemischte  Vokal- 
satz bei  ihm  (man  studiere  einige  Freierchöre  im  3.  Akt, 
so   weit  sie  nicht  in  der  unverfälschtesten  „klein- 


246  Wagneriana.    Bd.  III. 


städtischen  Liedertafel  weis'"  überhaupt  schon  geschrieben 
stehen)  merkwürdig  ungeschickt  und  zerfahren.  Jeden- 
falls steht  so  viel  doch  fest,  für  mich  nach  der  Ham- 
burger Aufführung  erst  recht  über  allen  Zweifel  er- 
haben: dass  hier  das  Orchester  nicht  webender  Seelen- 
grund für  das  auf  der  Bühne  vor  sich  gehende  Drama 
der  Herzen  und  Charaktere  ist,  aus  dessen  schaffendem 
Urschosse  dieses  gleichsam  geboren  würde  und  hervor 
ginge;  sondern  die  (zudem  auch  nicht  eben  allzu  be- 
deutenden) Leitmotive  schwimmen  wie  Fettaugen  nur 
auf  einer  ziemlich  dünnen  Suppe  und  leeren  Brühe  einher. 
Man  vergegenwärtige  sich  doch  einmal:  Wir  haben  in 
„O dys seus'  Heimkehr"  das  dritte  der  „Odysseen- 
Dramen,  das  fünfte  aber  bereits  des  Gesamt-Zyklus 
jener  „homerischen  Welt"  vor  uns!  Wenn  anders  dieser 
ganze  „Ring"  eine  geschlossene  Einheit  der  Motiven- 
welt, wie  es  nach  berühmten  Mustern  doch  zu  erwarten 
stände,  bilden  soll  —  wie  ungleich  reicher,  fülliger, 
dichter  müssten  sich  nicht  alle  diese  Einzelfäden  bis 
hierher  schon  verknotet,  die  thematischen  Triebfedern  an 
einander  bereits  umgebildet  und  verknotet  haben.  Eine 
„jedenfalls  schlechterdings  unkomplizierte  Natur*'  nannte 
ich  Bungert  schon  oben,  da  ich  erst  die  „Dichtung44 
einmal  etwas  schärfer  unter  die  Lupe  nahm.  Aber 
auch  für  den  Musiker  Bungert  darf  das  ohne  Weiteres 
nur  wieder  gelten. 

Ist  es  nach  Alledem  nun  wohl  zu  glauben,  dass  ein 
Friedrich  Nietzsche  1883,  bei  gemeinsamem  Aufenthalte 
an  der  Riviera,  diesem  „einfachen"  Familienblatt-Musik- 
dramatiker die  unvorsichtigen,  für  den  Verfasser  einer 
„Geburt  der  Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik" 
doppelt  unüberlegten  Verse  in's  Stammbuch  sollte  ge- 
schrieben haben:  „Wer  viel  (!)  einst  zu  verkünden  hat, 
schweigt  (!)  viel  in  sich  hinein.  Wer  einst  als  Blitz 
zu  zünden  hat,  muss  lange  Wolke  sein"  .  . .  ?  Welche 


Digitized  by  Google 


Ulixes  redivivus.  247 


bedauerliche  Sinnesstörung  müsste  damalen  doch  Zara- 
thustra's  sonst  so  helles  Sonnenauge  getrübt  haben,  da 
wir,  wo  er  zukünftigen  „Blitz"  sich  ersah,  bisher  doch 
nur  eine  sehr  wässerige  Regenwolke  erspähen  konnten! 
Oder  aber  —  und  das  wäre  allerdings  der  famoseste  Witz 
der  Weltgeschichte  —  hätte  am  Ende  gar  der  (von  sich 
nicht  wenig  eingenommene)  Bunge rt  jenes,  von  einem 
Nietzsche  lediglich  zur  Erinnerung  an  ihre  beiderseitige 
Begegnung,  als  Charakteristik  seiner  eigenen  Person  in 
die  „Morgenröte"  Eingezeichnete,  allzu  voreilig  auf  sich 
selber  gleich  bezogen?  Für  denjenigen,  der  Nietzsche's 
Schriften  genauer  kennt,  ist  das  sogar  mehr  als  wahr- 
scheinlich; Herr  Ludwig  Hartmann  in  Dresden  sucht  es 
dagegen  natürlich  wieder  für  seinen  Helden  Bungert  aus- 
zumünzen! —  Dass  die  ganze  „Musik-Tragödie"  musi- 
kalisch dazu  auch  noch  arg  stillos  sich  giebt,  das  mag 
billiger  Weise  hier  übergangen  sein.  Aber  das  verdient 
denn  doch  eine  nochmalige,  besondere  Hervorhebung, 
dass  gerade  in  den  dramatischen  Höhepunkten,  wo  ein 
Wagner  die  Tonkunst  zur  höchsten  Steigerung  des  Aus- 
druckes genial  zusammen  zu  fassen  pflegte,  ein  Bungert 
in  die  eintönig  gesprochene  Rede  anscheinend  grund- 
sätzlich verfällt,  also  eine  Art  von  „umgekehrtem  Musik- 
Drama"  statuiert,  dessen  aparte,  neue  Aesthetik  uns  der 
„Führer**  durch  diese  „homerische  Welt**,  Herr  M.  Chop, 
wohl  erst  noch  zu  „entdecken**  haben  wird.  Vollends,  was 
den  Ausbau,  die  organisch-thematische  Entwicklung  breit 
angelegter  Final- Wirkungen  anlangt  (ich  verweise  auf 
den  jäh  abreissenden  Schluss  des  1.  Aktes  und  das 
ganz  abscheulich  schustermässige Tuschblasen,  jenes  blech- 
bepanzerte  Schluss-Toastieren  am  Ausgange  des  Ganzen), 
hat  uns  der  moderne  „Odysseus**-Komponist  nur  be- 
wiesen, dass  e  r  jedenfalls  nicht  „gleich  dem  hoch- 
hinwandelnden  Gotte"  (R.  Wagner  nämlich)  versteht,  zu 
„spannen  den  heiligen  Bogen**.   Und  damit  wollen  denn 


Digitized  by  Google 


248 


M'agneriana.    Bd.  III. 


auch  wir  es  nunmehr  „genug  sein  lassen  des  grausamen 
Spiels"!  Wahrlich:  ein  Andres  ist  es,  Weltgeschichte 
als  Lebensaufgabe  sich  vorsetzen  und  dann  aus- 
arbeiten; ein  Anderes  wiederum,  Weltgeschichte  selbst 
leben  und  dieses  tiefere  Erlebnis  als  neues  Leben, 
in  produktiver  Ausgestaltung  als  Ab-  und  Sinnbild,  seiner 
Zeit  wie  der  Nachwelt  mitteilen. 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche 

Textdichtung  von  Wilhelm  Schriefer;  Musik  von  Mix  Zenger 

(1001) 

Ein  Wunder  —  ein  unbegreiflich  hohes  Wunder  ist 
geschehen:  die  Haupt-  und  Residenzstadt  München  hat 
wieder  einmal  Gelegenheit,  von  einer  Opern-Premiere 
zu  berichten!  Das  heisst,  ich  will  hier  meinen  besonderen 
Standpunkt  gleich  zu  allem  Anfang  näher  präzisieren. 
Keineswegs  bin  ich  für  meine  Person  nämlich  in  der 
Lage,  mit  in  das  Verdammungs-Urteil  ohne  Weiteres 
einzustimmen,  das  über  die  bayerische  Hofoper  so  ziemlich 
allenthalben  heute  umgeht,  so  wenig  ich  —  der  geborene 
Münchener  und  zudem  Kenner  der  Wiener,  Berliner, 
Dresdener,  Leipziger,  Hamburger,  Weimarer  u.  a. 
Theaterverhältnisse  —  natürlich  irgend  verkennen  kann, 
wie  unsere  früher  so  ausgezeichnete  Bühne  neuerdings 
arg  zurück  gegangen  ist  und  mit  ihren  derzeitigen 
Leistungen  recht  oft  die  schmerzlichsten  Vergleiche 
zwischen  Einst  und  Jetzt  „anregend"  herauf  beschwört. 
Im  Grunde  ist  es  nur  das  unerhört  schleppende  Tempo 
solcher  Erstaufführungen  mit  seinen  lähmenden,  frei- 
willigen oder  unfreiwilligen  Kunstpausen  dazwischen, 
was  die  sanfteste  Kritik  endlich  heraus  fordern  muss. 
Eines  sollte  man  aber  auch  dabei  nicht  ganz  immer 
wieder  übersehen,  noch  vergessen: 


Digitized  by  Google 


250 


Wagneriana.    Bd.  III 


Die  Münchener  Oper  als  solche,  die  der  Vernach- 
lässigung ihrer  Pflichten  stets  so  laut  angeklagt  wird, 
hat  doch  im  Laufe  des  letzten  Jahrzehntes  so  ziemlich 
von  jedem  Genre  der  modernen  Opern  -  Produktion 
wenigsten  eine  Probe,  von  den  einzelnen  Vertretern 
der  musikdramatischen  Komposition  nach  Wagner 
irgend  ein  Muster  und  Beispiel  ihrem  Publikum  treulich 
vorgeführt,  und  ich  wüsste  nicht,  an  welch'  anderem  Orte 
das  auch  nur  annähernd  in  der  Übersicht 'und  mit  dieser 
Fülle  des  Mannigfaltigen  geschehen  wäre.  Dass  sich  die 
verehrliche  Intendanz  dabei  zumeist  vergriffen  und  das 
Erfolglose,  also  zuletzt  Uncharakteristische,  gerade 
erwischt  hat  —  das  steht  wieder  auf  einem  anderen 
Blatte  und  gereicht  den  massgebenden  Faktoren  sicher- 
lich nicht  zu  hervorragendem  Ruhme.  Aber  —  mit  Aus- 
nahme allenfalls  von  F.  Draeseke,  Hugo  Wolf,  Hans 
Pfltzner,  Jos.  Reiter,  Ant.  Urspruch,  Aug.  Bungert  und 
einigen  Vollblut-Italienern  der  „Mascagnitis",  um  die  es 
weiter  auch  nicht  „schad'  is'",  wüsste  ich  kaum  einen 
bedeutsamen,  wichtigen  Namen  zu  nennen,  der  hier 
andauernd  gefehlt  hätte.  Sind  doch  Alex.  Ritter,  Wein- 
gartner,  Kistler,  Kienzl,  Schjelderup,  Hans  Sommer, 
Tschaikowsky,  Goldmark,  Verdi,  Berlioz,  Chabrier, 
Humperdinck,  Thuille,  v.  Zemlinsky,  Könne- 
mann, Schillings,  R.  Strauss,  S.  v.  Hausegger,  Siegfr. 
Wagner,  Eugen  dVAlbert,  Heinr.  Vogl,  Victor  Gluth 
und  nun  Max  Zenger,  je  mit  mindestens  einem 
Werke,  der  Reihe  nach  an  uns  vorüber  geschritten;  ja, 
war  —  in  den  gesperrt  hier  gedruckten  Fällen  — 
München  anderen  Städten  doch  sogar  voraus  gegangen. 
Gewiss  schon  eine  recht  ansehnliche  Liste! 

Nein,  vielmehr  die  Gefahr  liegt  meines  Erachtens 
da  ganz  anderswo.  Vor  Allem:  in  einem  überspannten 
Lokalpatriotismus,  der  bekanntlich  immer  am  un- 
rechten Orte  sich  einzustellen  liebt.   Die  lautesten  und 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche. 


251 


lärmendsten  Erfolge  waren  meist  spezifisch  heimische 
Angelegenheiten  und  in  der  Regel  nachher  die  grau- 
samsten Durchfälle:  ein  Werk  wie  „Guntram*4  aber 
hatte  sich  mit  lauer  Aufnahme  abzufinden  und  mit 
einer  Aufführung  allein  zu  begnügen!  (Und  ganz 
ähnlich  wieder  Schillings'  „Ingwelde",  v.  Hauseggers 
«Zinnober''  oder  Sommers  »St.  Foix*  u.  a.)  Sodann: 
liegt  sie  in  der  vom  Repertoir  unserer  Hofoper  gleicher- 
weise wie  auch  von  „Wagner-Pianisten"  noch  genährten, 
geradezu  gräulichen  Wagner- Verseuchung  —  um  nicht 
zu  sagen:  Wagner- Versimpelung  unserer  bajuwarischen 
Metropole;  denn  es  grenzt  wirklich  schon  an  künst- 
lerischen Stumpfsinn  und  musikalische  Verblödung,  bis 
zu  welchem  Grade  hier  zu  Lande  Wagner'sche  Musik, 
ganze  Strassenzüge  entlang,  bei  offenen  Fenstern  auf 
Klavieren  gepaukt  wird  und  —  die  Vorstellungen  seien 
noch  so  schlecht  vorbereitet  oder  sonstwie  fragwürdiger 
Natur  —  im  Theater  noch  und  immer  wieder  besucht 
ist.  Das  allerdings,  solche  Oberfütterung  ohne  die  aus- 
gleichende natürliche  Gegenkost,  bildet  eine  schwere 
Verschuldung  Seitens  unserer  leitenden  Kreise,  die  sich, 
zumal  an  dem  mit  solch*  hoch  tönender  Reklame  an- 
gekündigten neuen  „Prinzregenten-Theater",  noch  ein- 
mal bitter  rächen  wird  und  schon  jetzt  in  dem  absoluten 
Unverständnis  des  Münchener  „Wagner- Philisters"  für 
modernes  Wesen  ihre  bedenklichen  Schatten  voraus- 
wirft. Der  Krebsschaden  aber,  warum  hier  der  wahre 
Stil  und  die  echte  Weihe  der  Wagnerischen  Kunst  in 
den  Aufführungen  so  ersichtlich  abhanden  kommt  —  er 
besteht  innerhalb  unserer  Theaterverwaltung  vornehm- 
lich noch  darin,  dass  hier  keiner  unserer  Kapellmeister 
mit  jener  Vollmacht  ausgestattet  erscheint,  die 
seine  Machtsphäre  über  die  Rampe  hinaus,  zum 
„direktoralen44  Eingreifen  auch  auf  die  Bühne  hinauf, 
erweiterte  und  seine  „Persönlichkeit"  als  solche  (wenn 


Digitized  by  Google 


252 


Wagneriana.    Bd.  III. 


anders  eine  vorhanden  ist)  auch  für  den  einheitlichen 
Geist  der  Gesamt -Darstellung»  für  den  organischen 
Zusammenhang  zwischen  der  Szene  oben  und  der  Musik 
unten,  verantwortlich  machte.  Opern-Direktor  und 
Ober-Regisseur  wird  halt  immer  wieder  (und  ich  fürchte 
sehr,  es  wird  auch  unter  Hermann  Zumpe  nicht 
anders  sein)  Herr  von  Possart  bleiben,  „Inszenator" 
und  apirituf  regens  immer  noch  .Meister  Lauten- 
schlägerM  spielen :  es  herrscht  also  vor  den  Kulissen 
sozusagen  das  eingeborene  Komödiantentum  der  Effekt- 
hascherei, i.  e.  Wirkung  ohne  zureichenden  Grund,  der 
blendenden  Kuriositätsmätzchen  oder  Kulissenreissereien 
ohne  rechten  Sinn  und  inneren  Zusammenhang,  und 
waltet  hinter  ihnen  wiederum  die  „Feerie«  des  Theater- 
zaubers und  Kolophonium -Glanzes,  mit  dem  ganzen 
Raffinement  eines  leistungsfähigen  Maschinenwesens, 
und  zwar  in  geradezu  verwegener  Weise.  Damit  aber 
stehen  wir  inmitten  der  eigentlichen  Fatalität  des 
Müncher  Hofbühnen-Betriebes  wie  seiner  Kunstoffen- 
barungen und  auch  seines  besonderen  Opern-Stiles,  für 
welchen  Wagner* s  „Feen"  leider  förmlich  »vor- 
bildlich* geworden  zu  sein  scheinen.  Bereits  im  Jahre 
1889  schrieb  ich  als  kritischer  Betrachter  dieser  Zu- 
stände einmal  nach  auswärts:  «Die  Geschichte  dieser 
Bestrebungen  ist  nicht  von  gestern  und  heute,  sie 
datiert  seit  der  Wiederaufnahme  des  ,Oberon*  in's 
Repertoir  um  die  Mitte  der  80  er  Jahre,  hat  später  in 
dem  Rattenfänger*,  ,Trentajäger*  (von  Gluth)  in 
,Undine'  u.  A.  gesteigerte  Entwicklung  erfahren  und 
nunmehr  in  den  ,Feen*  von  Wagner  sowie  mit  der 
,Urvasi*  von  Kalidäsa  (aus  den  Separatvorstellungen 
des  verstorbenen  Königs)  ihren  augenblicklichen  Gipfel- 
punkt erreicht.  Kein  Zweifel!  Wir  haben  in  München 
an  Lautenschläger  eine  Kapazität  allerersten  Ranges; 
wir  können  uns  mit  unseren  Dekorations-Künsten  und 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche. 


253 


Maschinen-Kunststücken  den  Fremden  gegenüber  schon 
sehen  lassen.  Jedoch  diese  schöne  Medaille  hat  auch 
ihre  leidige  Kehrseite:  Lautenschläger  droht 
Alleinherrscher  zu  werden,  und  das  wäre  jedenfalls  ein 
bedenkliches  Symptom  für  den  Niedergang,  für  eine 
unleidliche  Hypertrophie  der  Bühnenkunst  nach  einer 
Seite  hin,  wie  seinerzeit  die  Alleinherrschaft  des 
Sängers  eine  gewesen  ist  —  er  würde  schliesslich  die 
Gesetze  diktieren  und  alles  nach  seinem  Regime  nur 
„einrichten".  Geht  doch  diese  Sache  neuerdings  bereits 
so  weit,  dass  nach  der  „Wolfsschlucht"  im  „Freischütz", 
welche  allerdings  das  Grossartigste  und  Unglaublichste 
bietet,  was  man  sich  in  diesem  Genre  nur  denken  kann 
(ein  wahres  „Ideal"  von  Wolfsschlucht!),  nicht  der 
Sänger,  noch  der  Dirigent,  nein  —  der  berühmte 
Maschinenmeister  allein  vor  den  Rampen  erscheint 
und  den  Dank  des  Publikums,  s.  z.  s.  eiviliter,  huldvollst 
entgegen  nimmt." 

Man  muss  sich  somit  einmal  vergegenwärtigen,  dass 
beim  neueren  Musik -Drama  zwar  wohl  von  einer 
„Geburt  der  Tragödie  aus  dem  Geiste  derMusik", 
niemals  aber  von  einer  solchen  „aus  dem  Geiste  der 
dekorativen  Technik"  heraus,  die  Rede  war,  um  die 
ganze  Umkehrung  des  idealen  Grundverhältnisses  an 
jenem  Königl.  Opern-Institut  mit  vollem  Schauer  einmal 
zu  ermessen.  Hier  insonderheit  liegt  der  Hund  be- 
graben; und  da  stünden  wir  denn  auch  zugleich  in- 
mitten des  Thema's  selber,  das  wir  heute  anzuschlagen 
haben :  Erweist  sich  Max  Zengers,  aus  der  ehe- 
maligen Münchener  „Preis  -  Konkurrenz"  noch  mit 
hervor  gegangene,  neue  Oper  „Eros  und  Psyche" 
als  lebens-  und  eindrucksvoll  genug,  um  auch  ander- 
weitig ankommen  zu  dürfen,  oder  aber  ist  sie  nur  eben 
den  obgeschilderten  Münchener  Verhältnissen  „auf  die 
Bretter  gemessen"  und  wird  daher  im  Wesentlichen 


Digitized  by  Google 


254  Wagneriana.    Bd.  III. 


als  eine  willkommene  Acquisition  und  „Attraktion44 
lediglich  für  die  dortigen  allsommerlichen  Fremden- 
Vorstellungen  aufzufassen  bleiben?  —  um  so  reputier- 
licher  gerade  hier  sich  alsdann  ausnehmend,  als  sie  ja, 
ihrem  ganzen  Sujet  nach,  dem  „Zuge  der  Zeit"  so 
„gefällig*'  folgt!  Deutlich  gesprochen:  Bedeutet  sie 
Glück  oder  —  Gluck  ?  .  .  .  tliat  is  tlie  que*tion. 

Prophezeien  ist  schwer;  ablehnen  noch  schwerer, 
wenn  man  es  mit  dem  ernst  meinenden,  immerhin 
liebenswürdigen  Werke  eines  tüchtig  strebenden,  als 
Meister  der  Tonsatzkunst  allgemein  wohl  anerkannten 
Komponisten  zu  thun  hat,  der  überdies  bislang  sich  für 
einen  ausgesprochenen  „Pechvogel"  zu  halten,  hin- 
reichenden Grund  hatte.  Ich  darf  von  mir  schon  sagen, 
ich  habe  mich  für  Dr.  Zenger  wirklich  aufrichtig  gefreut, 
dass  er  diese  Aufführung  seines  Schmerzenskindes 
(Opern  sind  gar  niemals  Freuden-Kinder  für  ihre  Autoren !) 
überhaupt  noch  hat  erleben  können.  Denn,  man  denke 
nur:  der  genannte  Komponist  ist  bereits  betagt,  und 
über  vier  Jahre  hat  man  ihn  mit  dieser  Aufführung 
hingehalten,  bezw.  hat  sich  deren  Uraufführung  für  ihn 
immer  wieder  hinaus  gezogen.  Der  erfreuliche,  nicht 
„jubelnde"  (wie  die  Reklame  angiebt)  aber  doch  echte, 
freundliche  Erfolg  hat  nun  immerhin  gezeigt,  dass  man 
dem  anerkennenswerten  Streben  solche  Genugthuung 
schon  viel  früher  hätte  bereiten  können  —  schien  man 
ja  doch  ein  Fiasko  zu  befürchten,  nachdem  man  in 
schwacher  Stunde  die  Zusicherung  einer  Aufführung 
auch  dieses,  bei  der  bekannten  Münchener  „Preis- 
konkurrenz" mit  eingereichten,  Werkes  dereinst  erteilt 
hatte.  Natürlich  war  die  Wirkung  zunächst  eine  rein  lokale, 
denn  Meister  Zenger  —  der  vor  Jahren  schon  einmal 
mit  einer  Oper  „Wie! and  der  Schmied"  Aufsehen 
erregt,  dann  seine  sehr  gute  „Faust "-Musik  ge- 
schrieben, mit  einem  Oratorium  „Kain"  (nach  Byron) 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche. 


255 


auch  auswärts  mancherlei  Beachtung  gefunden  und 
sich  noch  anderweit,  auf  dem  Gebiete  der  Chorlyrik 
und  Kammermusik,  wiederholt  ausgezeichnet  bewährt 
hatte  —  Zenger  selbst  bat  ja  in  München,  wo  er  seit 
Jahren  lebt  und  wirkt,  zahlreiche  Freunde  und  Anhänger 
seiner  gehaltvollen  Muse.  Aber  vielleicht  war  sie  doch 
noch  etwas  mehr,  diese  gute  Wirkung.  Und  jedenfalls 
bin  ich  der  unmassgeblichen  Ansicht,  dass  man  Leuten, 
die  nach  ihrem  ganzen  Naturell  von  vornherein  nur  geringe 
Aussicht  haben,  mit  ihrem  „Tagewerk"  auf  die  fernere 
Nachwelt  zu  kommen,  die  billige  Lebensfreude,  sich 
aufgeführt  zu  sehen,  doch  nicht  grausam  missgönnen 
sollte  und  daher  auch  einem  Zenger,  zum  Mindesten 
jenes  „lokale  Glück",  nicht  so  lange  hätte  vorzuenthalten 
brauchen.  Ihrem  ganzen  Naturelle  nach,  sage  ich.  Denn 
in  der  That  könnte  unser  Komponist  mit  seinem  König 
von  Paphos  zweifellos  die  resignierte  Weise  gelegentlich 
mit  anstimmen:  »In  meines  Schattens  Halbgefühl!" 
Es  ist  alles  bei  ihm  durchaus  edle  und  gediegene,  so  wohl- 
anständige als  respektable  Musik;  aber  es  bleibt  doch 
zuletzt  beim  Abklatsch  und  Nachklang  unserer  Musik  seit 
Gluck,  zudem  ein  „Schatten"  nur  von  Richard  Wagner 
(etwa  bis  zum  „Lohengrin"  hin,  mit  etwas  „Parsifal" 
noch  durchsetzt);  halb  wieder  Mozart  und  halb 
romantische  Oper  (Marschner):  nichts  eigentlich  Ganzes, 
in  sich  Gefestetes  und  Bestimmtes.  Die  „Individualität" 
Zenger  war  anscheinend  leider  nur  dem  Schriftsteller 
ehedem  zu  eigen:  da,  als  er  noch  an  der  „Allg.  Ztg."  das 
kritische  Richtschwert  energisch  schwang,  hab'  ich  mich 
oft  königlich  —  oder  soll  ich  sagen:  diebisch?  —  über 
ihn  und  seine  kräftige  „Weise"  gefreut;  denn  da  war 
Eigenstil,  urwüchsiger  Ton  und  eine  baju warische  Kern- 
Natur  in  der  „Melodieführung44  vorhanden,  wie  sie  für 
München  gerade  so  unbedingt  notwendig  erscheint,  um 
hier  zugleich  den  entsprechend  nachdrücklichen  Eindruck 


Digitized  by  Google 


256 


Wagneriana.    Bd.  III. 


zu  machen.  Und  schade  nur,  dass  diese  originelle  Sonder- 
note bei  ihm  dort  nicht  dem  eigentlichen  Fortschritte 
unserer  Tonkunst  zu  Gute  kaml  .  . . 

Als  diese  Novität  seinerzeit,  bei  der  bekannten 
Münchener  Opern-Konkurrenz,  die  Herren  Preisrichter 
passierte,  soll  einer  von  ihnen  gesagt  haben,  dass  der 
Komponist  die  letzten  50  Jahre  Musikentwicklung  und 
Opernproduktion  so  ziemlich  verschlafen  habe.  Das  ist 
nun  allerdings  wohl  nicht  ganz  richtig;  aber  ein  Körnchen 
Wahrheit  steckt  schon  darinnen.  Es  ist  eben  die  alte 
Geschichte  vom  Unterschiede  zwischen  „Neu"  und 
„Schön".  Und  so  glaube  ich  denn,  wir  brauchen  uns 
bei  unserem  kritischen  Urteil  über  Zenger  nur  auf  die 
richtige  Perspektive  seinem  Schaffen  gegenüber  einzu- 
stellen, um  ihm  auch  in  der  rechten  Weise  alsbald  voll- 
auf gerecht  zu  werden.  Man  muss  vom  Apfelbaum  halt 
keine  Paradeis-Äpfel  verlangen  und  wird  zugeben  dürfen, 
dass  —  wenn  wir  schon  vom  „Neuen"  bei  diesem  nun 
einmal  unmodernen  Tonsetzer  füglich  absehen  wollen  — 
wir  doch  sehr  viel  Fesselndes  und  Interessantes,  auch  selbst 
Charakteristisches  in  seiner  Schöpfung  vorfinden,  an 
gar  manchen  anziehenden  „Schönheiten"  dieser  Oper 
uns  aufrichtig  erfreuen  können.  Zengers  Perioden- 
bildung ist,  wo  er  nicht  gleich  auf  das  (höchstens  neu- 
zeitlich orchestrierte  und  figurativ  umspielte),  ältere  Sekko- 
Rezitativ  zurückgreift,  mehr  die  absolut  -  musikalische, 
der  Bau  seiner  Melodie  ein  architektonisch-symmetrischer 
mit  Text -Wiederholungen,  bei  denen  es  ihm  auch  auf 
verfehlte  Deklamation  gelegentlich  nicht  weiter  ankommt. 
Trotzdem  weiss  unser  Komponist  nach  älteren  Mustern 
ganz  vorzüglich  für  die  Gesangsstimme  zu  schreiben, 
Ensembles  vortrefflich  für  das  menschliche  Organ, 
vokal  —  nicht  instrumental,  zu  gestalten;  man  darf 
nur  nicht  gerade  den  Sprach -Gesang  von  ihm  erwarten, 
so  viel  gute  deutsche  Tradition  sonst  vielleicht  auch 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche. 


257 


wohl  in  diesem  seinem  sanglichen  Stile  noch  anklingen 
mag.  Das  moderne  Leitthema  ist  kaum  nur  erst  als 
eindringliches  „Erinnerungs-Motiv"  für  die  dramatische 
Handlung  von  ihm  verwertet.  Immerhin  doch  werden 
anfängliche,  unser  Ohr  etwas  fatal  berührende  Anklänge 
an  das  Liedertafel  massige  und  an  Oratorienhaftes  schon 
bald  zu  Gunsten  charakteristischer  Akzente,  energischer 
Färbungen  und  einer  frischeren  Belebung  der  Szene 
wieder  verlassen.  Und,  bleibt  auch  das  Lyrische  in 
diesem  „lyrischen  Musikdrama"  im  Grossen  und  Ganzen 
im  Vordergrunde,  so  fehlt  es  trotzdem  nicht  an  wirksam 
packenden,  dramatischen  Höhepunkten  und  zum  Teil 
tiefer  ergreifenden  Stimmungen,  die  selbst  in  Gehör 
und  Herz  eines  modern  gesinnten  Hörers  lebendig 
einmal  nachzuhalten  vermögen. 

Wilhelm  Schrie  fers,  nach  der  bekannten  Er- 
zählung des  Apulejus  frei  verfahrende,  aber  den  eharme 
von  Klingers  Randzeichnungen  bei  Weitem  nicht  er- 
reichende Textdichtung  bietet  uns  im  Ganzen  ein  recht 
appetitlich  zubereitetes  Hellenentum  des  schönen  Augen- 
scheines, das  seine  Stoff-Elemente  aus  Gluck  und 
Dante  (Acheron),  aus  Grillparzer  (Tempelfeier),  Goethe 
(Phorkyas  -  Helena)  und  Wagner  (Lohengrin  -  Problem) 
gleicherweise  bezieht  und  mischt.  Die  Dramaturgie  ist 
dabei  —  ungeachtet  aller  Symbolik,  oder  vielleicht 
wegen  ihrer  —  oft  herzlich  ungeschickt,  die  Psychologie 
mitunter  etwas  kindlich  geraten,  und  die  Sprache  des 
Gedichtes  nur  zu  häufig  im  christlichen  Ausdrucks- 
gebiete stecken  geblieben,  in  der  Sphäre  romantischer 
Empfindung  sich  zumeist  bewegend,  ohne  rechte  Spur 
noch  Ahnung  wahrhaft  antiker,  griechischer  Kultur  oder 
.  Weltanschauung.  Aber  man  sieht  und  fühlt  doch  deutlich, 
dass  etwas  Besseres,  Höheres  vom  Verfasser  hier 
intendiert  worden  ist,  und  stellenweise  kommt  es  darin 
denn  auch  zu  einer  bedeutsameren,  bald  tiefen,  bald 
Sei  dl,  w-agneriana.    Bd.  III.  17 


258 


Wagneriana.    Bd.  III. 


wieder  höchst  anmutigen  Wirkung.  Man  muss  sich, 
als  hoffentlich  nicht  ganz  unvorbereiteter  Zuschauer,  nur 
auch  nicht  allzu  sklavisch  von  der  in  einigen  Haupt- 
punkten (z.  B.  in  der  Hervorhebung  eines  Unterschiedes 
zwischen  esoterischer  und  esoterischer  Erscheinung  des 
„Eros")  gründlich  missglückten,  konkreten  (Münchener) 
müe-en-scbie  bezüglich  seiner  eigenen  Phantasie  in  Fesseln 
schlagen  lassen  und  muss  nur  erst  einmal,  als  frei  und 
selbständig  denkender  Mensch,  durch  all  das  Gestrüpp 
der  Machinationen,  Verwandlungskünste,  Luftschiffer- 
experimente und  Zwischenvorhänge  heil  sich  hindurch 
gearbeitet  haben,  um  schliesslich  doch  auf  den  guten, 
rein  menschlichen  und  allgemein  verständlichen  Kern 
der  Aktion  zu  kommen,  die,  ungeachtet  aller  Gluck- 
Reminiszenzen,  zum  tragischen  Pathos  eines  Wagner 
sich  etwa  verhält  wie  romantische  Zauberoper  zum 
modernen  Musikdrama,  oder  noch  besser  wiederum:  wie 
Märchen  zum  Mythos. 

Wenigstens  glaube  ich,  dass  man  von  vornherein 
Unrecht  daran  thut,  wenn  man  das  „Pandoren"-Motiv  für 
die  grosse  Hauptsache  bei  der  „Eros  und  Psyche"-Sage 
hält  und  die  gelegentlichen  „Semele"-Anklänge  oder 
„Melusinen"-Elemente  bei  diesem  Stoffe  nicht  beherzt 
zu  Neben  tönen  macht.  Jedenfalls  doch  dürften  sie 
uns  den  Grundzug  nicht  überwuchern:  dass  es  sich 
hierbei  im  Wesentlichen  um  die  tiefgeheimen  Vorgänge 
einer  keuschen  Mädchenseele  handelt,  will  sagen  um  das 
heftige  Sträuben  der  zart  aufkeimenden  und  erblühenden 
weiblichen  „Psyche"  gegen  die  Bezwingung  und  Über- 
wältigung durch  die  männliche  Liebe  (Amor),  um  zuletzt 
aber  doch,  nach  langwierigen  Prüfungen  und  schweren 
Opfern,  dem  Zuge  des  Göttlichen  zu  folgen,  dem  Drange 
und  der  Gewalt  einer  höheren,  veredelten  Liebe  sich 
willig  hinzugeben.  Im  Christentume  haben  wir  eine 
Religion  des  Geistes  —  im  Griechentume  lag  der  Kult 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche 


259 


des  Leibes;  dort  muss  der  Leib  zur  Seele  vergeistigt, 
hier  die  (platonische)  Seele  zur  schönen  Sinnlichkeit 
des  Leibes  entwickelt  werden:  voilä  der  umgekehrte 
„Lohengrin",  ein  Lohengrin  eben  nach  griechischer 
Voraussetzung!  Während  die  Eva's  und  Elsa's  von  ihrer 
sinnlichen  Begierde  abgebracht  werden  mussten,  von 
irdischer  Neugierde  und  Versuchung  zum  Ernste  des 
Übersinnlichen  zu  führen  waren,  muss  eine  „Psyche** 
vielmehr  zum  Leiblichen  erlöst,  zur  sinnlichen  An- 
schauung gerade  erzogen  werden.  Aber  —  und  nun  be- 
greifen wir  auch  sehr  gut  die  selbständige  dichterische  Ein- 
fuhrung der  Gestalten  des  schönheitsdurstigen  Künstlers 
„Aristokles"  wie  des  hässlichen  Meerungeheuers„Phorkysu 
(als  Versucher  und  Nebenbuhler  gegen  Amor):  dem 
Gott  und  Ober  menschen  steht  der  Nur  mensch  wie 
der  Unter  mensch  und  Dämon  gegenüber  —  die  rein- 
menschliche  und  vollends  gar  die  tierische  muss  durch 
die  göttliche  Liebe  erst  überwunden  und  geläutert  sein, 
ehe  sie  von  Psychens  Herz  und  Gemüt  dauernd  Besitz 
ergreifen  darf  und  dieses  in  Ewigkeit  nun  auch  beglücken 
kann.*)  Wie  klar,  wie  fein,  wie  zart  und  tief  zugleich 
dieser  letzte  Kern  unserer  Dichtung,  wenn  wir  nur  all 
das  Göttergelichter  ex  machina  einmal  aus  dem  Wege 
räumen  und  von  dem  toten  Allegorieenwesen  abstrahieren 
wollen,  wie  es  auch  der  Dichter  noch  weit  mehr  und 
mutiger  hätte  thun  sollen,  um  der  sonst  allzu  nahe 
liegenden  Frage  bei  seinem  Publikume  zu  entgehen: 
„Was  ist  uns  Hekuba?"  Man  erkennt:  diese  Hekuba 
kann  uns  auch  heutigen  Tages  noch  sehr  viel  sein, 
wenn  wir  sie  nur  mit  den  rechten  Augen  ansehen  und 
mit  offenen  Ohren  anhören  wollen!    Freilich,  diese 

*)  Selbst  die  Drohung:  dass  Eros  =■=  Th anatos  sein  könnte, 
vertieft  sich  hier  in  der  Anschauung,  indem  wir  der  antiken 
Symbolik  der  aufrecht  stehenden  und  der  umgestürzten 
Eros-Fackel  nachgehen. 

17* 


Digitized  by  Google 


260 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Hekuba  eines  Mode-Griechentums  unserer  Tage  —  sie 
könnte  uns  sogar  noch  weit  mehr  sein,  wenn  wir  sie 
beherzt  nur  gleich  —  in's  Bock  1  in' sehe  fibersetzen 
und  unsere  Phantasie  selbstthätig  im  dionysischen 
Fabelwesen  sich  ergehen  lassen  möchten  .  .  . 

„Antik"  ist  heute  nun  einmal  Trumpf!  August 
B  u  n  g  e  r  t  mit  seiner  „Odysseus-Tetralogie"  machte  hier 
den  Vorreiter  (wenn  wir  nicht  am  Ende  Bruch- 
Bulthaupts,  einer  früheren  Zeit  noch  angehörende, 
griechische  „Oratorien"  als  solche  bereits  auffassen 
wollen);  Goldmark  mit  der  „Kriegsgefangenen"  folgte; 
neuerdings  steht  die  „Orestie"  —  oder,  wie  man  ge- 
bildeter sagt:  „Oresteia"  —  nach  v.Wilamowitz-Möllendorf 
oder  Schienther,  mit  oder  ohne  Musik  von  Max 
Schillings,  im  Vordergrunde  des  Interesses ;  auch 
von  einer  „Oresteia"  des  Russen  S.  Tanejew,  einem 
„Agamemnon-KIytemnästra"-Musikdrama  des  Pragers 
Rud.  Frhrn.  Prochazka,  sowie  von  einer  „Klytemnästra", 
dem  rezitierten  Drama  eines  gewissen  Eberhard  König, 
hat  man  inzwischen  wohl  vernommen;  eine  weitere 
„Orestie"  von  Felix  Weingartner  steht  in  Sicht  — 
und  nun  haben  wir  hier  also  sogar  noch  eine  Oper  „Eros 
und  Psyche"  erlebt:  was  kann  man  wohl  mehr  ver- 
langen? Preisfrage  aber  nur:  Wie  kann  das  Griechische, 
also  das  „Klassische"  —  romantisch  werden? 
„Eros  und  Psyche"  oder  „Graf  Zeppelin  in  Hellas",  so 
liesse  sich  fast  schon  sagen:  denn  horizontal  wie  vertikal, 
gerade  und  der  Quer,  durchkreuzen  darin  Flugmaschinen 
aller  Art  die  Luft,  und  es  darf  uns  dabei  nicht  ent- 
gehen, dass  die  solcher  Gestalt  einher  fahrenden  „Götter 
Griechenlands"  naturlich  nur  „Götter  ex  machina"  sein 
können.  Das  Drama  als  Maschine,  nicht  aber  als 
lebendiger  Organismus,  steht  denn  nun  auch  in  der 
Schriefer'schen  Dichtung  leider  stark  im  Vordergrunde. 
So  sehr  der  Textverfasser  sich  bemüht  hat,  mit  seiner 


Digitized  by  Google 


Eros  und  Psyche 


261 


Vorrede  tiefere  Symbolik  in  die  Handlung  des  alten,  so 
zart  poetischen  Märchens  zu  legen :  moderne,  allgemein- 
verständliche Psychologie  ist  daraus  noch  lange  nicht 
geworden  und  das  Griechentum  darin  durchaus  in 
sentimental-abendländischer  Anschauung  stecken  —  ein 
Hellenentum  sozusagen  für  die  „höhere  Jungfrau",  voll 
Zuckerwasser-Süsse  und  so  recht  nach  dem  Herzen 
unserer  „Familienblätter4',  noch  geblieben.  Allerdings,  zu 
schauen  giebt's  desto  mehr  in  dieser  glänzend  inszenierten 
Neuheit,  und  beinahe  schon  allzu  viel.  Nur  ist  auch  dieses 
äussere  „Vorgehen"  und  Geschehen  nicht  immer  schon 
„Drama",  und  Wanderdekoration  noch  nicht  ohne 
Weiteres  „Handlung"  oder  „Seelenwandlung"  zu  nennen. 
Ich  spreche  da,  lediglich  nach  dem  Szenarium,  von 
„Wanderdekoration",  obwohl  die  ideale  Meerfahrt  zum 
Eilande  des  Eros  hin,  dicht  vor  dem  Schlüsse  des  ersten 
Aktes,  in  München  merkwürdiger  Weise  zur  Zwischen- 
gardine verdammt  und  damit  die  wohlangelegte,  rein  thea- 
tralische Steigerung  dramaturgisch  einfach  unterbunden 
war.  Da  lässt  denn  der  „Maschinen-Meister"  alle  seine 
Hexenkünste  vor  uns  spielen  —  das  Ganze  wird  unter  seinen 
Zauberer-Händen  sogar  geradezu  zur  „phänomenalen" 
Dekorations-„Feerie";  man  spart  Kulissen  nicht  und 
nicht  Prospekte,  nicht  das  grosse  noch  das  kleine  Licht 
— bis  zur  strahlenden  „Apotheose"  mit  dem  ganzen,  bunten 
Theaterflitter  in  rosigster  Bühnenlicht-Beleuchtung.  Und 
dennoch  fehlt  zu  guter  Letzt  ein  so  gewichtiges  Requisit 
der  „Ausstattung"  wie  dieses  Wandeldiorama !  —  Solchen 
argen  Zwiespalt  eurer  rein  „technischen"  Natur  erkläret 
mir  doch  'mal  gefälligst,  Herr  Graf  Oerindurl 

Gottlob  übrigens,  dass  zu  dieser  strahlenden  Augen- 
weide doch  auch  der  labende  Ohrenschmaus  da  und  dort, 
wie  gesagt,  keineswegs  gefehlt  hat.  Als  bemerkenswerte 
Momente  des  Abends  von  dieser  Art  traten  nächst 
der  „Tempelfeier**  gleich  die  erste  Begegnung  Psyche- 


Digitized  by  Google 


262 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Rautendeleins  mit  dem  antiken  Nickelmann,  sodann  die 
ideale  Wasserfahrt  per  Delphin  (statt  Schwan!)  zum 
zauberischen  Eilande  des  Eros  hin,  wiederum  die  Szene 
dortselbst  im  Nachtgemache,  ferner  die  Vorgänge  im 
finsteren  Acheron,  sowie  endlich  des  Aristokles  „Hymnus 
an  die  Schönheit**  besonders  hervor,  und  der  Erfolg 
war  am  Ende  doch  ein  ausgesprochener,  und  unbestritten. 
Nur  eben  unser  altes  Leidwesen:  Lautenschläger 
hatte  wieder  einmal  über  Fuchs  (den  Regisseur)  und 
Fuchs  über  Fischer  (den  Kapellmeister  des  Abends) 
triumphiert.  So  wusste  man  wieder  nicht  recht:  Hat 
nun  Zengers  Musik  oder  aber  haben  Schriefers  „dank- 
bare** Szenarien  den  Sieg  hier  davon  getragen? 


Digitized  by  Google 


Die  fromme  Helene 


Zum  ersten  (und  wahrscheinlich  auch  letzten)  Maie 
Komische  (?)  Oper  in  drei  Akten 
(1898) 

Ach  ja,  „die  sittenlose  Presse,  thut  sie  nicht  in  früher  Stund' 
All'  die  sündlichen  Exzesse  schon  den  Bürgersleuten  kund.** 

»Sündenvolle  Kreatur  gefallen!"  —  schlug  ein  Kol- 
lege von  der  kritischen  Feder  als  Telegramm-Meldung  über 
die  Hamburger  Aufführung  nach  auswärts  vor.  „Helene, 
die  Fromme,  gefiel  durch0  —  so  meinte  noch  witziger 
sein  Nachbar.  Und  der  Dritte  telegraphierte  schliess- 
lich: „Gefallen?  —  Nein,  gefallen!0  Die  unglaub- 
lichsten Gerüchte  und  ganz  niederträchtige  Bonmots 
zirkulierten  ja  auch  schon  nach  der  Hauptprobe  in  den 
Musikkreisen  der  Stadt,  wonach  der  leitende  Kapell- 
meister (Carl  G  i  1 1  e)  selber  offen  bekannt  haben  sollte, 
dass  er  diese  Musik,  ihre  Notensysteme  und  harmoni- 
schen Gesetze,  nicht  mehr  verstehen  könne,  und  eine 
der  darstellerischen  Kräfte  sich  sogar  bitter  beklagt  haben 
wollte:  jene  instrumentale  Begleitung  zum  Gesänge 
komme  ihr  immer  vor,  als  ob  das  Orchester  unten  erst 
einstimme.  (Das  waren  die  vielen,  teils  gezupften,  teils 
gestrichenen,  mannigfach  leeren  Quinten!)  Die  Aufnahme 


Digitized  by  Google 


264 


Wagneriana.    Bd.  III. 


—  oder  vielmehr  kräftige  Ablehnung  entsprach  ja  nun 
freilich  all'  jenen  Gerüchten  und  schien  diesen  Bonmots 
Recht  zu  geben:  solche  Einstimmigkeit  des  —  Zischens 
dürfte  überhaupt  noch  nicht  vorgekommen  sein!  Dann 
aber  trat  eine  unheimliche  Grabesstille  ein.  Und  »be- 
sonders tief  und  voll  Empörung  fühlt  man  die  pekuniäre 
Störung"  —  so  mag  wohl  mancher  beim  Nachhause- 
gehen  ingrimmig  noch  gedacht  haben. 

Ob  nun  aber  alle  jene  Bosheiten  wirkliche  boti  mots 
waren,  darf  doch  immer  noch  die  Frage  sein.  Wir 
unserseits  empfanden  diese  schroffe  Art  einstimmig 
verabschiedender  Begrüssung  als  ungerecht,  und  finden 
weit  eher  die  Paradoxie  des  Eindruckes  bezeichnend, 
die  sich  in  der  perversen  Formel  „gefiel  durch"  (s.  oben) 
aussprach.  „Die  innere  Stimme  ruft  und  schreit",  dass 
das  zum  Mindesten  eine  harte  Nuss  zu  knacken,  selbst 
für  den  abgebrühten  „modernen*  Kritiker  sei.  Und 
warum?  Weil,  das  zweifellos  darin  vorhandene  Manko 
mit  Haaresschärfe  zu  bezeichnen,  den  hohlen  Zahn 
bestimmt  heraus  zu  finden,  ihn  an  der  Wurzel  fest  zu 
packen  und  durch  unbedingt  sicheren  Ausriss  einerseits 
das  umliegende  Gebiss  nicht  zu  lädieren,  anderseits 
die  gesunden  Partieen  doch  auch  zu  retten,  ganz  er- 
hebliche Schwierigkeiten  bereiten  dürfte.  —  Es  handelt 
sich  also,  wie  männiglich  bekannt,  um  die  herzbeweg- 
•  liehe  „Geschichte  von  jenem  Neffen,  jener  Nichte, 
welche  Franz  und  Lene  hiessen  —  ein  Jeder  weiss,  wie 
sie  es  büssen".  Oder  etwa  nicht  ein  Jeder?  Ja,  das 
wäre  freilich  schon  sehr  schlimm,  denn  dann  hätte  in  der 
That  eine  wesentliche  Voraussetzung  zum  Verständnisse 
des  Scherzes  gefehlt;  das  Organ  wäre  da  wohl  nicht 
eingestellt  gewesen  auf  den  karikierenden  Witz  der 
Sache  und  damit  auch  wieder  nicht  auf  die  ganze 
Persiflage  dieses  parodierenden  Spasses.  Schon  möglich, 
dass  diese,  in  solchem  Falle  allerdings  gefährliche  „Vor- 


Digitized  by  Google 


Die  fromme  Helene. 


265 


aussetzungslosigkeit"  bei  manchem  zutraf:  dass  wirklich 
der  Eine  oder  der  Andere  Buschens  bereits  in  Jubi- 
läumsauflage (100000)  verbreitete,  mehr  freche  als 
„ fromme",  Helene  erst  aus  diesem  hypermodernen  Opern- 
werke kennen  lernen  wollte.  Traurig  wäre  das, 
traun!  Denn  Wilhelm  Busch,  dem  wir  neben  seinen 
anderen  Werken  auch  eine  köstliche  Illustrierung  der 
,Jobsiade*  verdanken  (wohl  auch  eine  unbekannte 
Nummer?),  und  der  gelegentlich  seines  «Von  mir  über 
mich"  besagter  Jubiläumsausgabe  plaudernd  den  Aus- 
spruch thut:  «Die  Begeisterung  für  Darwin  und  Schopen- 
hauer hat  etwas  nachgelassen.  Ihr  Schlüssel  scheint 
mir  wohl  zu  mancherlei  Thüren  zu  passen  in  dem  ver- 
wunschenen Schlosse  dieser  Welt,  nur  nicht  zur  Aus- 
gangsthür" —  dieser  seltene  Mann  und  prächtig 
kaustische  Geist,  er  zählt  uns  in  seiner  Art,  gleichwie 
auch  ein  Oberländer,  schlechtweg  zu  den  „Klassikern* 
unseres  Volkes.  Aber  freilich,  alles  Traurige  des  sonst 
so  fröhlich  gemeinten  Premieren -Abends  bliebe  dann 
in  der  That  auch  nur  um  so  verständlicher.  Busch, 
dieser  gewaltige,  zwingende  Humorist,  bedeutet  er  in 
seinen  unvergleichlichen  Höhepunkten  des  einfachsten 
und  prägnantesten,  durch  den  Knittelreim  doppelt  ein- 
prägt ichen  Wort- Ausdruckes  doch  genau  den  Punkt,  wo 
der  platteste  Gemeinplatz  ein  Elementarereignis  ge- 
sündester Lebensweisheit  zu  werden  beginnt,  da  der 
Stumpfsinn  sich  in  Scharfsinn  verkehrt,  der  blühende 
Unsinn  zum  allerernstesten  Tiefsinne  wird.  Seine  »fromme 
Helene"  als  Opernsujet  —  du  lieber  Himmel,  warum 
auch  nicht  I  Wenn  wir  doch  schon  die  Burlesken  und 
Grotesken  eines  „Mikado",  einer  „Puppenfee",  ja  eines 
„Struwwelpeter"  und  eines  „Wetterhäuschens"  willig 
haben  über  uns  ergehen  lassen,  wie  sollte  dies  nicht 
an  der  Strasse  liegen,  zumal  ja  heute  auch  die  augen- 
blickliche  Modeströmung    nach    dem  Restaurations- 


Digitized  by  Google 


266 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Geschmacke  der  Vatermörderzeit  und  des  Biedermanns- 
kostüms gerade  zurück  geht?  Warum  sollte  man  es 
aus  diesem  Zusammenhange  heraus  nicht  als  ein 
zeitgemässes,  besonders  tolles  „Exempel"  auf  dem 
Entwicklungswege  von  der  Märchenkindlichkeit  zur  ab- 
sichtlichen Puppenkinderei  gelegentlich  mit  begrüssen 
können? 

So  ähnlich  dachte  wohl  die  »Textdichterin"  Fanny 
Groeger  in  Wien,  als  sie  das  Libretto  unter  Benutzung 
einer  Menge  anderer  Figuren  und  Motive,  auch  aus  Buschens 
übrigen  Werken  —  da  einschaltend,  dort  umbildend, 
hier  wieder  selber  neu  hinzu  dichtend  —  nicht  un- 
geschickt zusammen-  und  dem  (verkappten)  Komponisten 
zur  Verfügung  stellte.  Wir  vermissen  bei  sothaner 
starker  Benutzung  des  Originales  höchstens  nur  den 
Vermerk  auf  dem  Theaterzettel:  „Mit  Erlaubnis 
des  Verfassers,  nach  dem  gleichnamigen  Gedichte 
von  Wilh.  Busch".  Ist  es  nun  auch  keineswegs  völlig 
befriedigend,  dieses  Textbuch,  da  zwar  wohl  eine  drama- 
turgische Verknotung  der  im  Originale  bei  Busch  gegen 
das  Ende  zu  etwas  „verpuffenden"  Episoden  und  Bilder 
versucht,  nicht  aber  die  rechte,  psychologische  Moti- 
vierung zugleich  mit  heraus  gekommen  ist;  fallen  auch 
so  manche  Neu-Einfügungen  darin,  oder  eigene,  mindere 
Transfigurationen,  im  Versbaue  zumal,  mitunter  schon 
arg  aus  dem  Rahmen,  und  fehlt  ihm  in  seinen  nicht 
weniger  als  drei  Akten  vor  Allem  Kürze  als  „des 
Witzes  Würze":  es  ist  darum  doch  ein  recht  brauch- 
barer, ergötzlicher  Text  geworden.  Auch  als  tonkünst- 
lerische Aufgabe  und  technischer  Versuch  birgt  er 
immerhin  eine  ganz  praktikable  Idee  in  sich,  die  wir 
gar  nicht  einmal  für  so  unfruchtbar  halten  möchten, 
ob  sie  sich  gleich  auf  einen  engeren  Kreis,  so  etwa  die 
intimeren  Zirkel  eines  heiteren  Studenten -Ulkes  und 
einer  fidelen  Exkneip-Stimmung,  beschränken  dürfte: 


Digitized  by  Google 


Die  fromme  Helene. 


267 


wobei  dann  etwa  die  Vorführung  der  Frauenzimmer-Rollen 
durch  ein  Mannsbild  mit  Fistel-  oder  Alt -Organ  noch 
den  letzten  Karikatur -Trick  draufzusetzen  vermöchte. 
Denn  wohlgemerkt:  mit  ein'gem  Trank  im  Leibe  sieht 
man  bald  »Helenen*  in  jedem  Weibe  —  ganz  frei 
nach  Goethe  gesprochen! 

Diese  moderne,  im  Gegensatze  zum  klassischen 
Urbild  ihrer  antiken  Namensschwester  weniger  .schöne" 
als  vielmehr  arg  hässliche  „Helena"  (im  Übrigen  aber 
wohl  ein  gleich  oder  ähnlich  „verderbtes  Frauenzimmer"), 
sie  hat  indessen  im  Komponisten  —  er  sei  nun,  wer  er 
sei  —  leider  keinen  OfFenbach  gefunden.  Wahrschein- 
lich nennt  er  sich  zwar  Adalbert  von  Goldschmidt;  es 
ist  ihm  diesmal  jedoch  passiert,  dass  er  —  wie  schon 
früher  manchmal •)  —  vielfach  nur  „Blech  geschmiedet" 
hat.  Teils  dieserhalb  —  teils  andrerseits.  Er  hat  nun  eben 
einmal  eine  besondere  „Gäa"-  und  eine  „Helena"-Pro- 
vinz  gleichsam  in  seiner  Seele.  Die  Hörer  wenigstens 
ihrerseits,  sie  fanden  hierin  keinen  Reiz.  Genie  oder 
Narr?  —  frag  man  sich  zuweilen,  wenn  man  nahe  daran 
war,  sich  genarrt  zu  fühlen.  Buschiade  auf  die  „Meister- 
singer", oder  aber  „Meistersingerei  der  Buschiade"?  — 
so  frag  sich  die  Kritik.  Sehr  vermutlich  keines  von 
beiden,  sondern  nur  ein  geistreich,  aber  planlos  spinti- 
sierender, dabei  im  Wesentlichen  mit  einem,  auf  Wagners 
„Meistersinger"  sich  gründenden,  Haushalt  wirtschaf- 
tender, höherer  Dilettantismus,  dem  es  nicht  an  bizarren 


•)  —  wiewohl  Leipzig  nach  den  „Sieben  Todsünden"  und 
„Helianthus"  nicht  übel  Lust  zu  haben  schien,  ihn  für  d  e  n 
„Wagner-Nachfolger"  schlechthin  auszugeben;  später  allerdings 
reiste  er  sozusagen  auf  „musikalische  Mlrchen",  wobei  er  die 
Brüder  Grimm  ganz  eigentümlich  melodramatisch  (für 
Klavier  und  Singstimme)  bebandelt  hatte  —  wie  man  sieht,  ein 
höchst  vielseitig  schillerndes  Talent! 


Digitized  by  Google 


268 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Intentionsblitzen  und  allerlei  interessanten  Einfällen  ge- 
bricht, dem  aber  der  rechte,  durchgreifende  Buffo-Sinn 
zuletzt  doch  abgeht.  So  ist  ihm  denn  begegnet,  dass  er 
bei  der  krampfhaften  Suche  nach  dem  entsprechend  „mo- 
dernen" musikalischen  Ausdrucke  des  Parodie-Elementes 
in  den  Mitteln  sich  vergriff  und  mitunter  schon  in  einen 
soliden  Ernst  sich  verbiss,  welcher  wiederum  den  Zweifel 
offen  lässt,  ob  er  uns  persifliert,  oder  aber  vielmehr 
wir  diese  seine  Persiflage  lieber  derb  travestieren 
sollen.  «Alles  kann  Publikus  ertragen,  ohne  nur  ein 
Wort  zu  sagen;  aber  wenn  er  dies  erfuhr,  geht's  ihm 
wider  die  Natur  I« 

Diese  offenbar  gewollte  „Schunkelei-  der  Em- 
pfindungen, dazu  ewige  Modulation  ohne  greifbare 
Tonali  tät,  Phraseologie  ohne  Sinn,  Deklamation  ohne 
Sprachgefühl  und  Disharmonie  ohne  Auflösung:  das 
kann  auch  wirklich  kein  Mensch  lange  aushalten,  der- 
gleichen verschlägt  einem  ja  ordentlich,  was  man  so 
sagt,  die  Ohren.  Blieb  also  „niemand  weit  und  breit 
im  vollen  Besitz  der  Behaglichkeit".  Und  das  war  auch 
schliesslich  nach  allen  Regeln  der  Kunst  wohl  der 
eigentliche  Nagel  zum  Sarge  —  für  ein  solennes  Begräbnis, 
das  trotz  Alledem  bedauerlich  bleibt,  wenn  wir  uns 
„ausserdem  und  anderweitig"  wieder  billig  vergegen- 
wärtigen, wie  frappant  doch  vielfach  der  altfränkische 
Stil  im  Tone  getroffen  war,  wie  vorzüglich  zumeist  die 
Plastizität  in  der  Charakteristik  des  komischen  Wesens 
durch  beredsame  rhythmische  Zeichnung  oder  bizarre 
instrumentale  Färbung  heraus  gearbeitet  erschien.  Das 
kann  doch  wahrlich  nicht  völlig  dabei  ignoriert  werden! 
Dass  das  schneidend  kecke,  beinahe  schrille  Durch- 
einanderwerfen von  Stimmungen  und  Charakteren,  auch 
in  dieser  Musik,  schliesslich  an  die  musikalische  „Max 
und  Moritz" -Travestie  mit  den  unvereinbarsten  Opern- 
Motiven  grenzte,  sei  dabei  keineswegs  verschwiegen; 


Digitized  by  Google 


Die  fromme  Helene. 


269 


und  dass  eine  Weiterfährung  dieser  Art  von  Gesangs- 
Linie,  ohne  Ruhepunkt,  in  kapriziöser  Unrast  auf  und 
ab,  bald  sprechend  —  bald  singend,  für  die  Sänger  eine 
grosse  Gefahr  bildet,  Wagner  mit  seinem  «Beckmesser41 
oder  „Mime*  da  also  eigentlich  verheerende  Wirkungen 
gethan  hätte,  braucht  nicht  übersehen  zu  werden.  Darum 
„sprach  Herr  Lehrer  Lämpel:  ,Dies  ist  wieder  ein 
Exempel,  dass  Gesang  in  diesem  Sinn  führt  zuletzt 
zum  Stimmruin'".  Je  nun:  „Ein  jeder  Narr  thut,  was 
er  will  —  ich  gehe  jetzt  und  schweige  still!"  Sinte- 
malen und  alldieweilen  »der  Weise  schweigt:  er  weiss, 
warum".  Oder  wüsste  er  es  am  Ende  doch  nicht, 
warum?  Muss  es  hier  wohl  heissen:  „Sucht  davon 
erst  die  Regeln  auf!"  .  .  .  oder  aber  dürfen  wir  getrost 
nunmehr  sagen:  „Eitel  Ohrgeschinder,  nichts  weiter 
dahinter"? 

Der  langen  Rede  kurzer  Sinn:  verunglückt  ist  die 
Helenin!  Die  „Exkneipe"  auf  der  O p e r n bühne  wirkt 
eben  doch  arg  deplaziert.  Studenten-Ulk  soll  man  vor 
feucht-fröhlicher  Burschenrunde,  nicht  einem  grösseren 
Publikum  in  weitem  Theaterraum  und  mit  drei  ganzen 
Akten  .verzapfen".  Das  blieb  wohl  der  Hauptfehler 
im  Rechenexempel !  Und  heute  zumal,  in  den  Tagen 
der  „Parodie"-  und  „Bunten"-Theater,  überblicken  wir 
das  auch  alles  schon  weit  besser:  es  war  einfach  das 
übermütige  „Uberhrett'l",  welches  sich  damals  viel  zu 
früh  meldete  und,  um  Einlass  begehrend,  an  einer  ganz 
falschen  Thüre  noch  anklopfte.  —  „Hoch  ist  hier  Frau 
Förster-Lauterer  zu  preisen,  denn  —  die  frechen 
Sangesweisen  drastisch-wirksam  dargebracht  —  hat  es 
wieder  gut  gemacht!"  Adalbert  von  Goldschmidt 
aber,  auf  welchen  Komponisten  die  Indizien,  wie 
gesagt,  stark  hinweisen,  obwohl  man  mit  Sokrates,  dem 
alten  Greis,  sagen  muss  in  tiefen  Sorgen:  „Ach,  wie 
viel  ist  doch  verborgen,  was  man  immer  noch  nicht 


Digitized  by  Google 


270 


Wagneriana.    Bd.  III. 


weiss"  —  Goldschmidt  kann  nun  von  sich  selbst  das 
schöne  Liedlein  singen: 

„Oh,  der  Tugend  schöne  Werke  — 
Gerne  möch?  ich  sie  erwischen; 
Doch  ich  merke,  ach,  ich  merke  — 
Immer  kommt  mir  'was  dazwischen!" 

Ja,  ja  —  „das  Gute,  dieser  Satz  steht  fest,  ist 
stets  das  Böse,  das  man  lässtl"  Das  hätte  auch  er 
besser  beherzigen  und  vielleicht  doch  lieber  von  dem 
„Bösen"  seiner  Komposition  zum  Besten  des  Guten 
ablassen  sollen. 


Digitized  by  Google 


Wagner  und  das  Ausland 


Digitized  by  Google 


Die  verkaufte  Braut 


Komische  Oper  in  drei  Akten  von  K.  Sabina;  Musik  von 

Friedrich  Smetana 

(1803) 

Es  war  an  einem  Abende  des  März  im  Jahre  1887 
—  ich  war  den  Nachmittag  soeben  in  Prag  angekommen 
und  schlenderte  mit  einem  Bekannten  gerade  den  langen 
Graben  hinunter;  da  entstand  die  nahe  liegende  Frage: 
„Was  thun  heute  Abend?*  Mein  Freund,  der  den  Theater- 
zettel vorher  genau  studiert  hatte,  wagte  schüchtern 
mit  dem  Vorschlage  hervor  zu  treten,  dass  wir  eigentlich 
die  tschechische  Oper  aufsuchen  sollten,  wo  eben  wieder 
eine  Aufführung  der  beliebten  Nationaloper  „Prodanä 
nevestä"  (d.  i.  „Verkaufte  Braut")  von  Smetana  statt- 
finde, welche  just  anzutreffen,  ich  als  einen  besonderen 
Glücksfall  anzusehen  hätte,  denn  Besseres,  Liebens- 
würdigeres, für  Prag  Charakteristischeres  könne  er 
mir  ja  gar  nicht  bieten.  „Du  musst  übrigens  Smetana 
aussprechen,"  fugte  er  erläuternd  hinzu,  „der  Name 
betont  sich  im  Grunde  nicht  anders  als  unser  deutsches 
Schmetten,  d.  h.  die  Sahne  an  der  Milch".  Schüchtern 
war  sein  Vorschlag  gewesen,  denn  ich  hatte  ihm  bei- 
nahe den  ganzen  Weg  über  von  nichts  Anderem  als 
meinem  lebhaften  Drang  und  Wunsche  gesprochen, 
endlich  einmal  des  viel  gerühmten  Angelo  Neumann 
Leistungen  kennen  zu  lernen;  ordentlich  verblüfft  war 

Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  18 


Digitized  by  Google 


274  Wagneriana.    Bd.  III. 


ich,  denn  ich  kannte  zwar  Smetana  aus  der  Musik- 
geschichte sehr  wohl,  hatte  aber  nie  etwas  von  der 
guten  Wirksamkeit  dieser  Oper  vernommen  —  und  dass 
wir  deutschen  Landsleute  den  ersten  Abend  meines 
Aufenthaltes  in  Prag  gleich  im  fremden  Nationaltheater 
statt  im  eigenen  zubringen  sollten,  wollte  mir  obendrein  so 
ganz  und  gar  nicht  in  meinen  Kopf  hinein.  Nach  längerem 
Hin  und  Her  siegte  aber  endlich  doch  mein  musi- 
kalisches Interesse  für  den  Komponisten,  von  dem  ich 
so  viel  schon  gehört,  und  wir  gingen  also  hin.  Unvergess- 
lich  wird  mir  nun  sein,  wie  mich  der  Freund  in  den 
Wandelgängen  des  Theaters  mit  sanftem  Rippenstosse 
geradezu  ängstlich  darauf  aufmerksam  machte,  nicht  so  laut 
und  ungeniert  mein  deutsches  Idiom  erkennen  geben  zu 
wollen;  sie  hätten  ganz  schrecklich  verfahrene  Zustände 
in  Prag  und  ich  machte  mir  ja  nur  schwer  einen  Be- 
griff davon,  wie  unerquicklich  hier  an  sich  berechtigte 
nationale  Gegensätze  nun  schon  sich  zugespitzt  hätten. 
Neulich  sei  die  Frau  eines  bekannten  Führers  der 
deutschen  Bestrebungen,  nur  um  ihrer  sie  besuchenden 
Mutter  auch  einmal  das  schöne  und  künstlerisch  so 
leistungsfähige  tschechische  Opernhaus  zu  zeigen,  in 
dieser  böhmischen  Oper  gewesen,  hier  gesehen  bezw.  er- 
kannt und  am  nächst  folgenden  Sitzungsabend,  ich  glaube, 
des  „Alpenvereins",  ihr  Gatte  dieser  „zweideutigen" 
Haltung  wegen  mit  einem  offiziellen  M isstraue nsvotum 
bedacht  worden.  Ein  Professor  der  Philosophie  an  der 
deutschen  Universität  dortselbst  habe  es  versäumt, 
gleich  in  den  ersten  Wochen  nach  seiner  Übersiedlung 
hierher,  das  tschechische  Landestheater  sich  anzusehen, 
—  jetzt,  da  er  bereits  bekannt  sei,  wage  er  es  nicht 
mehr,  offen  dorthin  zu  gehen  u.  s.  w.  .  .  . 

Absichtlich  habe  ich  diese  Details  meinem  Be- 
richte über  die  Dresdener  Erstaufführung  des  prächtigen 
Werkes  voraus  geschickt,  denn  voüä  die  einfache  und 


Digitized  by  Google 


Die  verkaufte  Braut. 


275 


höchst  natürliche  Erklärung  dafür,  dass  das  Werk  erst  jetzt 
in  Deutschland  Beachtung  findet.  In  der  That  ist  dieses 
lange  Unbekanntbleiben  ja  gewiss  ein  ganz  merkwürdiges 
Phänomen.  250  Aufführungen  in  Prag,  und  noch  nicht  ein- 
mal in  Wien  hatte  man  eine  Ahnung  davon  —  ja,  zum 
Donnerwetter  noch  einmal!  liegt  denn  Böhmen  ausser- 
halb der  Welt,  etwa  wie  in  Shakespeare^  „Winter- 
märchen"? Der  „nationale  Gesichtspunkt"  —  na,  das 
Hesse  sich  allenfalls  noch  hören;  aber  wenn  sie  dann 
nur  nicht  die  Engländer  und  Franzosen  und  vor  Allem  das 
italienische  Ausland  immer  gleich  in  unseren  deutschen 
Landen  mit  herinnen  hätten,  so  bald  nur  irgendwo  eine 
(noch  dazu  oft  recht  zweifelhafte)  Premiere  stattgefunden 
hat!  Und  doch,  so  ganz  unbegreiflich  erscheint's  ja  auch 
wieder  nicht.  Selbst  wenn  20  Propheten  unaufhörlich 
dafür  gepredigt  hätten,  es  wäre  zuversichtlich  nicht  früher 
zu  uns  gekommen,  da  sich  derartiges  nun  einmal  nicht 
anpredigen  lässt.  Wie  mit  dem  Blütenstäube,  den  die 
Biene  nach  einem  anderen  Ort  verbringt,  oder  mit  dem 
Samenkorne,  das  ein  Wandervogel  mit  genommen  und  in 
fremder  Gegend  fallen  gelassen  hat,  musste  es  hier 
geschehen :  in  seiner  reizvollen  Original  gestalt  gerade, 
im  nationalen,  böhmischen  Gewände,  musste  es  zuerst 
von  einer  Wandertruppe  nach  auswärts  importiert  werden 
und  fremden  Leuten  sich  darstellen  (just  so,  wie  ich's 
selber  an  Ort  und  Stelle,  in  Prag  damals,  gesehen),  ehe  es 
ganz  verstanden  und  mit  diesem  Verständnisse  lebendig 
weiterhin  aufgegriffen  werden  konnte.  Es  ist  ein  schöner 
Erfolg  der  oft  geschmähten  Wiener  „Musik-  und  Theater- 
Ausstellung"  des  Jahres  1892  gewesen,  diese  Möglich- 
keit vor  Allem  gezeitigt  zu  haben ;  und  wäre  es  selbst 
der  einzige,  wirklich  wertvolle  Ertrag  jener  Ausstellung 
gewesen  (er  ist  es  denn  auch  leider  geblieben),  —  wir 
wollen  ihr  darum  doch  nimmer  gram  sein,  da  sie  denn 
schon  dieses  Lebensvolle  in  unserem  Kunstleben  erzeugt 

18* 


Digitized  by  Google 


276 


Wagneriana.    Bd.  III. 


und  derart  erspriesslich  gefordert  hat!  Dass  aber  dieser 
Wert,  dieses  Verdienst  zuletzt  doch  nur  wieder  im 
Werke  selber  liegt,  das  beweist  uns  der  Umstand,  dass 
einige  Jahre  zuvor  der  Versuch,  den  „Bauer  als 
Schelm4*,  die  Oper  eines  anderen  in  Wien  lebenden 
tschechischen  Komponisten,  in  demselben  Wien 
einzubürgern,  aus  nationalpolitischen  Gründen  noch  ein 
schmähliches  Fiasko  erleben  konnte. 

Unsere  Stellung  zur  Smetana-Frage,  wenn 
anders  es  überhaupt  noch  eine  giebt,  ist  —  kurz  ge- 
sprochen —  die:  dass  uns  dieser  Komponist  und  sein  Werk 
wie  Weniges  in  überzeugender  Weise  lehren  kann,  zu 
welch*  herrlicher,  unvergleichlicher  Blüte  eine  auf 
ureigenem  Boden  erwachsene,  in  heimatlicher  Erde 
wurzelnde  Pflanze  zu  gedeihen  vermag.  Trotzdem  muss 
er  uns  Deutschen  doch  auch  darin  noch  besonders 
interessant  erscheinen,  dass  er  überall  da,  wo  er  nicht 
unbedingt  national  bleibt,  das  Beste  der  deutschen 
Musik  gerade  in  sich  aufgenommen  und  verarbeitet 
zeigt.  Friedrich  Smetana  war  ein  an  den  besten  klassi- 
schen Meistern  gebildetes,  durchaus  geschmackvoll  sich 
äusserndes,  ungemein  liebenswürdiges  Talent;  und,  was 
die  Hauptsache  bei  diesem  seinem  Werke  bleibt,  er  hatte 
einen  feinen,  ausgeprägten  Sinn  für  Humor  und  Komik. 
Das  Komische  beruht  immer  auf  einem  Widerspruche, 
zur  rechten  Komik  gehören  also  stets  zwei  Dinge,  und 
Smetana  erzeugt  komische  Wirkungen  daher  vornehm- 
lich dadurch,  dass  er  —  bei  schon  vorhandenem 
und  schlechterdings  verständlichem  komischem  Grund- 
charakter der  Handlung  wie  der  handelnden  Personen 
—  die  Musik  eine  zu  dem  drolligen  Text  oft  sehr  wider- 
spruchsvolle, ernste,  schwere,  gravitätische  oder  groteske 
Haltung  annehmen  lässt,  dem  Prinzipe  nach  (wenn  auch 
nicht  in  der  Ausführung)  ganz  so,  wie  es  Wagner  in 
seinen  „Meistersingern"  gehalten  hat.    Ebenso  oft  frei- 


Digitized  by 


Die  verkaufte  Braut.  277 


lieh  erzielt  er  lustige  Stimmung  auch  wieder  durch  An- 
wendung leichter,  gefälliger  und  heiter- beweglicher 
Formen,  etwa  mehr  nach  Mozart'scher  Art,  und  in  der 
That  liegt  seine  Schöpfung  ja  auf  der  von  Mozart  her 
durch  Dittersdorf,  Nicolai,  Lortzing  und  selbst  Goetz 
eingehaltenen  Linie  der  „komischen  Oper".  Wenn  man 
aber  das  Mozartische  in  seiner  Komposition  immer  so 
sehr  hervor  heben  zu  müssen  vermeinte,  so  wäre  dem- 
gegenüber doch  einmal  darauf  hin  zu  weisen,  dass  seine 
Weise  vielleicht  mehr  noch  als  die  jenes  Meisters 
Beethoven'sche  oder  Cherubinische  Züge  in  sich  auf- 
genommen hat.  Ein  wahrer  Wohllaut  von  Melodieen 
ergiesst  sich  über  den  Hörer  aus,  und  nicht  wenige 
der  (übrigens  vollkommen  in  sich  abgeschlossenen) 
„Nummern",  Soli  oder  Ensembles  verdienten  sogar  in 
die  Schönheitsgalerie  berühmter  Glanznummern  dauer- 
gründige  Aufnahme  zu  finden.  Das  Wagnerische  Leitmotiv 
wird  man  indes  vergebens  in  der  Oper  suchen;  hingegen 
stossen  wir  wiederholt  auf  das  einfache  Mozart'sche 
und  Webei^sche  „Erinnerungs  -  Motiv",  das  ja  auch 
Wagner  bis  zum  „Lohengrin"  hin  noch  ergiebig  benutzt 
hat.  Die  Instrumentation  hält  sich  ungemein  durch- 
sichtig und  klar-verständlich;  auch  der  Ouvertüre  wird 
es  nur  zum  Vorteile  gereichen,  wenn  die  Aufführung 
auf  diese  hellere  Durchsichtigkeit  Bedacht  haben  und 
statt  auf  Elan  und  Verve  mehr  auf  den  Charakter  jener 
munteren  Geschwätzigkeit  ihre  Aufmerksamkeit  hin- 
lenken wollte,  wie  sie  ja  schon  in  Mozarts  Ouvertüren 
zum  „Figaro"  und  zur  „Zauberflöte"  oder  in  Wagners 
„Meistersinger" -Vorspiel  (Durchführung!)  ihre  Vorbilder 
hat.  Die  Prager  jedenfalls  haben  das  ganz  einzig  gegeben. 

Gehen  wir  zum  Textbuch  über,  so  erkennen  wir 
als  Hauptvorzug  daran  eine  geschickt  angelegte,  frische 
und  wirksame  Handlung,  trefflich  geschürzt  und  von 
glücklicher,  dramatischer  Steigerung,  wenn  auch  nicht 


Digitized  by  Google 


278 


Wagneriana.    Bd.  III. 


ohne  episodisches  Beiwerk  und  allerlei  Nebenbegeben- 
heiten. Schon  der  dramatische  Vorwurf  an  sich  inter- 
essiert lebhaft,  wennschon  er  nicht  aufwühlt  wie  eine 
,;Cavalleria",  „Marau  oder  „Rose  von  Pontevedra".  Im 
Übrigen  finden  wir  alle  die  alten,  längst  gar  wohl  ver- 
trauten und  stets  bewährten,  um  nicht  zu  sagen:  ver- 
brauchten, Requisiten  wieder:  Tanz  und  Volksspiel, 
Jahrmarkt  und  Clown,  Trinklied  und  Liebe,  einen  Bass- 
Buffo  und  einen  Peter  Damian.  Und  doch  berühren  diese 
Typen  hier  fast  wie  völlig  neue  Offenbarungen,  so  einfach 
und  natürlich  teils,  teils  eigenartig  und  reizvoll  er- 
scheinen sie  angewandt;  denn  der  Volkstanz  und  das 
Volksspiel  wird  hier  zur  mimischen  Kunst  des  Ge- 
bärdenausdruckes und  zum  wahren  Volksgedichte.  In 
der  Zirkusszene  ferner  wird  dadurch  ein  ganz  neuer, 
erhöht  komischer  Effekt  hervor  gerufen,  dass  der  Springer 
mitten  in  die  Musik  hinein  auf  einmal  —  ausruft! 
Einige  köstliche  „Plaudertaschen" -Parlandi  Kezals,  des 
Heiratsvermittlers,  und  zwei  noch  nie  dagewesene 
„Stotter"- Arien  Wenzels,  des  Dummen,  sowie  die 
lebendige  Buntfarbigkeit  des  böhmischen  Kostüms  und 
die  frische  Waldwürzigkeit  des  nationalen  Stoffes  an  sich 
vervollständigen  das  unvergleichliche  Amüsement  — 
kurz,  hier  haben  wir  den  Leoncavallo'schen  .Bajazzo" 
und  die  Schönthan'schen  „Zirkusleute"  in  Einem  bei^ 
sammen,  alles  und  noch  einiges  Andere  dazu!  Sogar 
der  umgekehrte  „Pagliacci"-Prolog  fehlt  da  nicht,  man 
vgl.  nur  die  Verse  auf  S.  40: 

„  Komödie  wird 

Gespielt  allüberall,  nicht  im  Theater  nur, 
Ja,  manchmal  besser  noch  und  täuschender 
Im  Leben,  aber  nie  so  heiter,  harmlos 
Als  wie  bei  uns!«  

Es  ist  zu  charakteristisch:  gerade  diese  tiefsinnige 
Rechtfertigung  seines  Spieles  durch  den  Dichter  selbst, 


Digitized  by  Google 


Die  verkaufte  Braut 


279 


das  A  und  O  jedes  Drama's,  das  schliesslich  bis  auf 
das  „Theater  im  Theater"  im  „Hamlet"  zurück  weist 
und  sich  somit  der  wahrhaft  „klassischen"  Entwicklung 
eingliedert  —  gerade  diese  Stelle  wird  als  entbehrlich 
und  nebensächlich  von  der  deutschen  Übersetzung 
(Max  Kalbeck)  bezeichnet  und  zur  eventuellen  Streichung 
empfohlen.  So  machen  sie's  Alle!  —  Noch  mehr  hier 
besonders  hervor  zu  heben,  würde  für  heute  wohl  zu  weit 
führen;  nur  so  viel  einstweilen,  dass  wir  es  —  wie  ja 
auch  schon  angedeutet  —  mit  einer  schier  unaufhör- 
lichen Perlenschnur  anmutiger  Melodieen  in  dem  Werke 
zu  thun  haben,  denen  überdies  durch  mancherlei  An- 
wendung von  Polka- Rhythmen  und  nationalen  Tanz- 
elementen ein  ganz  eigenartiger  Reiz  und  charakteristische 
Farbe  verliehen  worden  ist.  Kann  es  zudem  etwas  An- 
sprechenderes, Zierlicheres  und  Artigeres  geben  als 
das  appetitliche  Tanzliedchen  (so  recht  „Duettino")  im 
3.  Akt,  wo  sie  dem  dummen  Wenzel  das  Tanzen  bei- 
bringen? Welcher  noch  so  alte  Brummbär  möchte 
nach  dieser  entzückenden,  herz-  und  leb -frischen 
Melodie,  am  Gängelbande  einer  solch'  anmutigen 
Hand  nicht  gerne  auch  zum  Tanzbär  werden?  Tonika 
—  Dominante  —  Tonika;  Tonika  —  Dominante  —  Tonika! 

Zu  allem  Schlüsse  hätte  ich  aber  nun  noch  einen 
Vorschlag,  der  mir  gewissenhafter  Erwägung  unbedingt 
wert  zu  sein  dünkt.  Ob  nämlich  nicht  —  bei  den  Auf- 
führungen der  lustigen  Oper  auf  so  mancher  Bühne  — 
das  Werk  durch  vollständige  Drangabe  der  Rezitative 
und  einfache  Umwandlung  dieser,  so  weit  möglich,  in 
gesprochenen  Dialog  entschieden  gewinnen  würde? 
Man  leihe  diesem  Antrag  an  den  leitenden  Stellen  doch 
ein  geneigtes  Ohr  und  mache  zum  Mindesten  erst  ein 
paar  Abende  hindurch  damit  einen  Versuch! .  .  . 

„Nun,  wie  gefällt  Ihnen  das  Ding?"  —  begrüsste 
ich  einen  Kollegen  beim  Verlassen  des  (leider  nicht 


Digitized  by  Google 


280 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Hof-)  Theaters.  „O,  ganz  ausgezeichnet !"  meinte  er; 
„aber  lieber  wär*  mir's  noch,  wenn  die  , Verkaufte  Braut* 
eine  aus  verkaufte  würde."  Damit  hatte  der  Mann  nun 
freilich  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen;  denn  das  Werk 
erregt  zwar  stets  das  gleiche,  intensive  Wohlgefallen, 
indessen  der  Besuch  noch  immer,  bedauerlicher  Weise, 
gar  viel  zu  wünschen  übrig  lässt. 


Runenzauber 


Oper  in  einem  Akt  (zwei  Abteilungen)  von  Emil  Hartmann; 
Text  nach  Henrik  Hertz*  Drama  „Sven  Dyring's  HausM  von 
Julius  Lehmann;  aus  dem  Dänischen  übersetzt  von  Emma 

Klingenfeld 

(1896) 

Dieser  „Runenzauber"  ist  nun  ein  ganz  fauler 
Zauber,  auf  welchen  wir  die  übrigen  deutschen  Bühnen 
dringend  bitten  möchten,  nicht  herein  zu  fallen.  Diffieile 
est,  satiram  non  scribere!  Erscheint  es  nach  Anhören 
doch  schlechterdings  unbegreiflich,  wie  für  ein  so  durch 
und  durch  stimmungsbares  Werk  so  viel  Stimmung  zu 
machen,  in  der  Öffentlichkeit  ernstlich  versucht  werden 
konnte.  Ja,  der  wahre  Jammer  ist  es  nachgerade  schon, 
wahrzunehmen,  wie  unendlich  viel  kostbare  Zeit  und 
Kraft  an  leistungsfähigen  deutschen  Bühnen  immer  und 
immer  wieder  mit  derartigen  Experimenten  vergeudet 
und  zersplittert  wird,  während  die  grossen  Meisterwerke 
der  Nation  darüber  brach  liegen  müssen.  —  Herr  Emil 
Hart  mann  hat  ein  ganzes  Büchlein  angenehmer 
Kritiken  über  seine  Kompositionen  (in  einem  Nachtrage, 
1896,  auch  noch  über  dieses  sein  neuestes  Opernwerk), 
fein  säuberlich  gedruckt,  emsig  zusammen  getragen.  Nun, 
wir  hegen  durchaus  nicht  den  verwegenen  Ehrgeiz,  in 
diese  illustre  Versammlung  des  deutschen  Kritiker- 


Digitized  by  Google 


282 


Wagneriana.    Bd.  III. 


areopagcs  mit  aufgenommen  zu  werden,  seitdem  wir 
gesehen  haben,  wie  selbst  Ferdinand  Pfohl,  der  über 
die  Hamburger  Premiere  im  Ganzen  keineswegs  allzu 
günstig  geschrieben,  unter  Verschweigung  seines  ne- 
gativen Teiles  hier  einfach  in  bonam  partem  gedreht 
werden  konntet  Um  diese  Gefahr  lieber  gar  nicht  erst 
zu  laufen,  müssen  wir  hier  also  ganz  unzweideutig 
reden.  Warum  auch  viele  Worte  machen  —  sieh,  das 
Schlechte  liegt  so  nah!  Dieses  Schlechte  aber,  es  ist 
vor  Allem  ein  wahrhaft  erbarmungswürdiges  Textbuch. 

„Ich  fühl's,  diese  Rune  wird  bestehen,  muss  auch 
der  Apfel  untergehen!"  So  singt  die  unklare,  als  psycho- 
logische Figur  schon  mehr  als  kindlich  gezeichnete, 
Ranhild  in  unserem  Drama  —  eine  Mischlingsnatur 
zwischen  Schlafwandlerin  und  Kanaille,  die  zum  Ober- 
flusse noch  an  einer  Art  von  hinfallender  Krankheit  mit 
gelegentlich  tödlichem  Ausgange,  möglicher  Weise  erblich 
belastet,  zu  leiden  scheint,  da  sie  sich  denn  am  Schlüsse 
durch  den  spottbilligen  Dem  ex  macJrinOj  der  offenbar 
auch  ausserhalb  der  Geisterstunde  im  Hause  herum 
stöbernden  „Weissen  Dame",  so  bequem -epileptisch, 
ohne  Dolch,  Pistole,  Gift  oder  Strangulation,  für  die 
Liebenden  aus  dem  Wege  räumen  lässt.  Wir  meinen 
freilich,  gerade  umgekehrt  Hesse  sich  wohl  eher  be- 
haupten: „Ich  fühFs,  dieser  Apfel  wird  noch  besteben, 
sollte  der  Zauber  längst  schon  vergehen."  Dieser  Apfel 
ist  nämlich  das  eigentlich  Lustige  an  der  ganzen,  sonst 
durchaus  nicht  übermässig  kurzweiligen  Geschichte, 
obschon  er  weder  die  interessante,  verbotene  Frucht 
der  eigenwilligen  Eva,  noch  auch  der  folgenschwere 
Zank-  und  Streitpreis  in  der  Hand  des  braven  Paris  ist, 
sondern  vielmehr  ein  überaus  merkwürdiges  Obst- 
gewächs vorstellt  und  gänzlich  unmotivierter  Weise  die 
Stelle  des  alten  „Liebest  rank  es"  bis  zur  Albernheit  hier 
vertreten  muss.    Da  obendrein  noch  der  wackere  Ritter 


Digitized  by  Google 


Runenzauber. 


283 


Stig  im  Davonlaufen  weit  gewandter  als  im  Zielen  sich 
erweist,  fällt  das  ominöse  Wurfgeschoss  ziemlich  weit 
vom  gemeinten  Stamme,  der  Falschen  in  den  Schoss  — 
und  das  Unglück  (das  trotz  aller  Gebete  und  Seg- 
nungen am  Schlüsse  doch  niemals  in  ein  Glück  ver- 
wandelt werden  kann)  ist  also  fix  und  fertig. 

»Es  gehöre  schon  viel  Naivetät  dazu,  in  den 
sauren  Apfel  dieser  dramaturgischen  Unmöglichkeiten 
zu  beissen  und  an  diese  primitiven  Vorgänge  selbst 
nur  rein-musikalisch  ernsthaft  zu  glauben0  —  so  meinte 
einer  beim  Verlassen  der  Oper.  Wir  sagten  ihm : 
«Noch  weit  weniger  gehöre  dazu,  denn  eine  ehrliche 
Naivetät  ist  solchen  fadenscheinigen  Problemen  gegen- 
über schon  als  herrliche  Gottesgabe  zu  preisen;  em- 
pfände sie  doch  sofort  unzweifelhaft-bestimmt,  dass 
hier  das  eigentliche  Wunder,  das  durch  die  Sprache  der 
Musik  allenfalls  verklärt  hätte  werden  können,  vom 
Anfang  an  schon  koupiert,  völlig  unterbunden  bleibt" 
Dass  doch  noch  immer  nicht  eingesehen  werden  will, 
wie  selbst  bei  einem  Wagner  das  „Mythische"  und  „Ro- 
mantische" als  solches  Psychologie  geworden  ist, 
und  dass  zu  einer  guten,  lebensfähigen  Oper  heutzutage 
nun  einmal  gehört:  erstens  ein  Drama,  zweitens  aber- 
mals ein  Drama  und  drittens  erst  recht  ein  Drama t 
Was  Wunder,  wenn  uns  dieses  geniale  Bühnenwerk  des 
dänischen  Meisters  gewählter  Melodik,  noblen  Tonsatzes, 
fein  gestimmter  Instrumentation  und  wohllautgesättigter 
<wenn  auch  meist  allzu  weichlicher)  Formenschönheit 
besten  Falles  nun  wie  ein  „Dornröschen"  erscheint, 
das  etwa  50  Jahre  deutscher  Musikentwicklung  einfach 
—  verschlafen  hat  und  noch  dazu  nicht  einmal  vom 
Kusse  des  richtigen  Prinzen  erweckt  worden  ist.  Ich 
glaube,  wenn  Mendelssohn,  der  es  bekanntlich  niemals 
zu  einer  ganzen  Oper  gebracht  hat,  heute  noch  leben 
könnte  und  in  unserer  Zeit  noch  einmal  auf  dem  heiklen 


Digitized  by  Google 


284 


Wagneriana.    Bd.  III. 


musik-dramatischen  Boden  sich  versucht  haben  würde: 
so  „mollig"  hätte  sein  Werk  vielleicht  aussehen 
mögen,  und  so  geistverlassen-zerfahren  in  allem  wirklich 
Dramatischen  noch  dazu.  (Ich  sage  das  nur  cum  grano 
sali«,  unbeschadet  der  auch  mir  bewussten  Anklänge  an 
die  Weber-  und  Marschner-Richtung  bei  dem  Nord- 
länder, welcher  eben  die  leidige  Gade-Schule  viel  zu 
wenig  in  sich  verleugnen  kann.)  Auch  einem  Mendels- 
sohn hätten's  die  Volkschöre  und  Volkstänze,  das  bieder- 
meierliche Jägerlied  und  das  sinnige  Instrumental- 
Intermezzo,  die  „schönen"  Balladen  und  Romanzen, 
Duette,  a  ca/>«l£a-Quartette,  Ensembles  und  Finales  — 
kurz  die  wirksamen,  symmetrischen  „Nummern"  wahr- 
scheinlich vor  Allem  angethan,  während  Unsereinem  in 
einer  „modernen"  Oper  diese  geschlossenen  Musikstücke 
doch  beinahe  schon  wie  eingefangene,  zu  „Nummern" 
degradierte  Sträflinge,  oder  als  Vögel  im  Bauer,  im  Gegen- 
satze zu  den  selbständigen  Naturwesen  eines  unab- 
hängig freien,  wahrhaft  „dramatischen"  Lebens,  bald  er- 
scheinen möchten.  Nur  Eines  wäre  seinem  natürlichen 
Zartgefühl  und  Feingeschmacke  wahrscheinlich  nicht  unter 
gelaufen,  was  bei  Hartmann  dem  Fasse  noch  vollends  den 
Boden  ausschlagen  muss:  er  hätte  das  Wunderbare  viel- 
leicht in's  Überempfindsame  verflüchtigt  und  wäre  beim 
Geisterhaften  sicherlich  ganz  unplastisch  mit  seiner  Ge- 
staltung verblieben;  er  hätte  aber  vermutlich  nicht  da,  wo 
gerade  das  mystische  Wesen  beginnen  soll,  wie  z.  B. 
bei  dem  nächtlichen  Umgehen  der  Ahnfrau,  durch  die 
brutale  Realität  eines  rasselnden  Beckenschlages  aus 
phantastischer  Traumstimmung  seine  Zuhörer  jäh  auf- 
geschreckt und  sich  damit  die  musikalische  Wirkung 
der  magischen  Idealsphäre  noch  vollends  grausamst 
verdorben.  Also,  wohin  wir  nur  immer  blicken,  eine 
wahrhaft  rührende  Unbeholfenheit  in  der  dramatischen 
Verdeutlichung  der  an  sich  gut  gemeinten  Lyrismen; 


Digitized  by  Google 


Runenzauber. 


285 


wie  denn  auch  (vgl.  „Köln.  Ztg.")  durch  Rezensionen, 
welche  in  Herrn  Emil  Hartmanns  kritischer  Anthologie 
wohlweislich  nicht  Platz  gefunden  haben,  treffend  von 
„bemerkenswerter  Herzenseinfalt"  des  „als  ernstes 
Drama  völlig  verfehlten  Sujets"  bereits  gesprochen  worden 
war.  Und  dabei  wollen  wir  uns  an  dieser  Stelle  noch 
gar  nicht  einmal  auf  nähere  Erörterungen  einlassen  da- 
rüber, dass  das  Grundverhältnis  zwischen  Stig  und 
Regisse  trotz  aller  nachträglichen  Aufklärungen  so 
dunkel  und  fragwürdig  wie  nur  möglich  bleibt;  oder, 
seit  wann  es  wohl  Mode  geworden  ist,  dass  zu  nacht- 
schlafender Zeit  Männer  aus  guter  Gesellschaft,  und 
zumal  edle  Ritter  gar,  in  die  Kemenate  sittiger  Jung- 
frauen ohne  weitere  Entschuldigung  einzudringen  pflegen, 
und  wieso  man  es  zu  verstehen  hat,  wenn  sich  später 
ausser  Ranhild  auch  noch  die  ganze  Familie  völlig  an- 
gekleidet zu  dieser,  gewiss  nicht  mehr  ganz  gewöhn- 
lichen Stunde  hier  nach  und  nach  versammelt!  „Was 
soll  das  heissen?"  —  möchten  auch  wir  mit  Sven  Dyring 
füglich  hier  zu  fragen  uns  erlauben  .  .  . 

Man  hat  gar  nicht  übel  gesagt,  dass  sich  diese 
„Ballade  für  Soli,  Chor  und  Orchester"  zuletzt  im 
Konzertsaale  nicht  übel  machen  würde.  Absichtlich 
sprechen  wir  darum  auch  gar  nicht  weiter  von  der  (stellen- 
weise sehr  guten  und  durch  schöne  Sanglichkeit  besonders 
ausgezeichneten)  Musik.  Ein  Werk,  das  rein-musikalisch 
schon  seine  volle  Wirkung  thut,  hat  unseres  Erachtens 
keinen  Anspruch  darauf,  den  gesamten  Bühnenapparat 
zu  dramatischem  Zwecke  für  sich  in  Bewegung  zu  setzen. 


Digitized  by  Google 


Auber  in  deutschem  Gewände 


(1890) 

Zufällig  in  Weimar  anwesend,  sollte  ich  gerade 
Zeuge  sein  der  ungemein  fröhlichen  Aufnahme,  deren 
sich  ein  überaus  liebenswürdiges  Opernwerk,  nämlich 
die  alte  Auber'sche  „Märchenoper":  „Das  eherne 
Pferd*,  im  neuen  Gewände  der  deutschen  Be- 
arbeitung von  Engelbert  Humperdinck  (damals  noch 
nicht  der  erfolggekrönte  Komponist  von  „Hänsel  und 
Gretel"),  beim  dortigen  Publikum  zu  erfreuen  hatte. 
Und  zwar  handelte  es  sich  dabei  um  eine  Aufnahme, 
die  es  durchaus  nur  rechtfertigen  würde,  wenn  das 
hübsche,  frische  und  heiter-gefällige  Stück  nunmehr 
auch  auf  anderen  Bühnen  Deutschlands  seinen  flotten 
Einzug  hielte,  nachdem  es  früher  bereits  die  Karlsruher 
Hofoper  (unter  Felix  Mottl)  in  ihren  Spielplan  mutig 
mit  aufgenommen  hatte. 

Zwar  mag  am  Libretto  dieses  fremden  Werkes  zu- 
nächst vielleicht  die  grelle,  etwas  unvermittelte  Mischung 
—  um  nicht  zu  sagen:  das  schroffe  Aufeinanderplatzen 
von  derbster  Realistik  und  zaubrisch-  duftigster  Phan- 
tastik  einigermassen  frappieren.  Wir  sind  in  der  chinesi- 
schen Litteratur  und  Poesie  nicht  dermassen  bewandert, 
wie  wir  es  allenfalls  in  der  einheimischen  sind.  Deren 
Kenner  versichern  uns  freilich,  dass  jener  Dualismus 
als  ein  fest  stehender,  immer  wieder  kehrender  Zug 


Digitized  by  Google 


Auber  in  deutschem  Gewände.  287 


durch  die  ganze  chinesische  Märchen-  und  Sagenwelt 
sich  hindurch  ziehe.  Für  uns  wird  dergleichen  nun  aber 
gleichsam  zur  Romantik  der  Romantik,  eine  „roman- 
tische Romantik"  oder  „Romantik  in  der  Potenz",  wenn 
ich  so  sagen  darf.  Und,  ist  an  und  für  sich  schon 
nicht  alle  und  jede  Romantik  ohne  Weiteres  auch  ge- 
niessbar,  so  noch  weniger  diese,  keine  von  vornherein 
und  überall  ganz  glückliche  Romantik.  Ich  will  ver- 
suchen, mich  deutlicher  auszudrücken.  In  gewissem 
Sinne  sind  wir  nun  einmal  gewohnt,  alles  Fremdländisch- 
Fremdartige,  in  Sonderheit  aber  alles  Orientalische, 
Ausser -Europäische,  Überseeische,  Hindostanisch-  Ex- 
otische als  „romantisch11  nicht  nur  aufzufassen,  sondern 
zumeist  auch  ebenso  zu  empfinden.  Tritt  uns  also  irgend 
ein  Sujet  in  chinesischem  Gewand  und  Kolorit  entgegen,, 
so  ist  es  für  unser  Gefühl  bereits  in  die  romantische 
Farbe  eingetaucht,  auch  wenn  es  innerhalb  seiner 
eigensten  Sphäre  dann  noch  realistisch  bliebe,  ja  sich 
„modern"  geberdete.  Unter  dieser  Voraussetzung  wäre 
z.  B.  der  „Mikado"  —  wenn  auch  dem  Stoff  und  In- 
halte nach  von  aktuellem  (englischem)  Interesse  —  in 
Rücksicht  auf  sein  japanisches  Kostüm  doch  wohl  eine 
Art  romantischer  Operette  zu  nennen,  oder  doch  unter 
den  Begriff  einer  „romantischen  Spieloper"  zu  fassen, 
und  dies  bildet  vielleicht  nicht  zum  Geringsten  das 
eigentliche  Geheimnis  seiner  unvergleichlichen  Wirkung 
wie  seines  augenblicklichen  Erfolges.  Kommt  nun  aber 
zu  dieser  ersten  romantischen  Einkleidung  auch  noch 
die  tolle  Romantik  chinesischer  Märchenpracht,  samt 
chinesischem  Venus-  und  Tellusstern,  allerlei  chinesi- 
schen Paradiesen  und  Sirenenhainen,  chinesischer  Mytho- 
logie und  Pagodenanbetung  mit  hinzu,  ragt  in  diesen 
poetischen  Naturalismus  die  unmotivierte  Phantastik 
einer  zwischen  chinesischem  Himmel  und  europäischer 
Erde  schwebenden  Flugmaschine  —  „das  eherne  Pferd" 


Digitized  by  Google 


288 


Wagnerian».    Bd.  III 


genannt  —  mit  herein,  so  wird  die  erste  Romantik 
durch  diese  zweite  Hyperromantik  noch  überboten,  oder 
richtiger:  die  zweite  wird  durch  die  erste  nur  allzu 
leicht  wieder  zerstört  und  aufgehoben,  zumal  sie  in 
einer  an  die  Offenbach'sche  Götterpersiflage  erinnernden 
Komik  sich  selber  unaufhörlich  ironisiert. 

Vielleicht  —  wir  geben  das  zu  —  wäre  der  Übel- 
stand nicht  so  sehr  bemerklich,  dürfte  man  von  allem 
Anfang  an  gleich  an  das  leichtere  Genre  der  „Operette" 
oder  doch  den  flotteren  Zug  der  „komischen  Oper" 
sich  halten;  so  aber  werden  wir  durch  den  Untertitel 
„Märchenoper"  ohne  Weiteres  in  eine  Stimmung  versetzt, 
welche  im  weiteren  Verlaufe  gleichwohl  alle  Augenblicke 
einmal  durchkreuzt  wird,  bei  der  wir  also  fortwährend 
zwischen  jenen  beiden  Polen  hin  und  her  gerissen 
werden.  Von  dieser  Art  etwa  ist  unser  Sujet  (das 
eigentlich  den  ersten  Keim  zum  Gilbert -Sullivan'schen 
„Mikado"  abgegeben  haben  könnte),  und  es  ist  wahrlich 
kein  geringes  Verdienst  Humperdincks,  seines  deutschen 
Bearbeiters,  dieses  echt  Scribe'sche  Ragout  durch  bessere 
Motivierung  und  einheitlichere  Führung  des  Ganzen 
auch  seinem  Tone  nach,  durch  ausgleichende  Zuthaten 
wie  zeitgemässere  Witze  für  unser  Verständnis  und  unser 
Empfinden  schmackhafter  —  sozusagen  „gemütlicher"  — 
gemacht  zu  haben.  (Des  Un-  oder  Schlecht-Motivierten 
bleibt  ja  auch  so  immer  noch  genug  vorhanden.)  Seine 
Arbeit  nun  betrifft  sowohl  den  textlichen  als  auch 
den  musikalischen  Teil.  War  es  dort  neben  der  gewiss 
nicht  ganz  leichten  Übertragung  in  pointenreichen  Reimen 
die  vernünftigere  Gestaltung  des  Zusammenhanges,  so 
war  es  hier  die  Zuthat  mancherlei  kontrapunktischer 
wie  instrumentaler  Kleinigkeiten,  durch  welche  der  Be- 
arbeiter da  und  da  noch  neue  Lichter  aufzusetzen  ver- 
mochte und  über  das  Werk  im  Einzelnen  Licht  und 
Schatten,  Ernst  und  Scherz  noch  besser  zu  verteilen 


Digitized  by  Google 


Auber  in  deutschem  Gewandf.  289 


mit  vielem  Erfolge  bemüht  war.  So  hat  das  Ganze 
denn  entschieden  Physiognomie  und  —  was  fast  noch 
mehr  wert  ist  —  charakteristische  Färbung  bekommen, 
und  das  ist  keineswegs  das  Geringste  an  unserem 
schmucken  Werke.  Nur  schien  es  uns,  als  ob  durch  solch 
kontrapunktischen  Eifer  den  leichtfüssigen  Rhythmen 
und  kurzatmigen  Melodieen  Aubers  stellenweise  schon  zu 
schwere  Gewichte  angehängt  worden  seien.  Wir  Deutsche 
pflegen  nun  einmal  diese  leicht  beschwingte  gallische 
Muse  gleich  allzu  ernsthaft  zu  nehmen  —  ein  altes  Erb- 
teil unserer  Natur,  das  uns  manche  Thorheit  begehen, 
manche  »verlorene  Liebesmüh"  thun  lässt  und  uns  gar  zu 
oft  an  diese  oder  jene  Sache  mit  einem  sittlichen  Pathos, 
einer  Tiefe  des  Gefühls  heranzutreten  verleitet,  welche 
ihr  von  Haus  aus  gar  nicht  einmal  zukommt.  Was 
ab  ovo  auf  den  Unsinn  angelegt  ist,  soll  man  nicht  im 
Charakter  eines  sinnigen  Symboles  immer  wieder  auf- 
fassen wollen. 

Immerhin  vermögen  wir  auch  nach  dem  ersten 
Anhören  noch  nicht  völlig  klar  zu  beurteilen,  inwieweit 
an  dieser  Neben-Erscheinung  etwa  die  Wiedergabe  selbst 
die  Schuld  getragen  haben  könnte,  so  dass  jenem  zeit- 
weiligen Übelstande  hier  und  da  wohl  noch  durch  etwas 
belebtere,  frischere  Temponahme  unschwer  abzuhelfen 
wäre.  Indessen,  auch  die  einzelnen  Darsteller  gaben 
die  harmlosen,  flüchtigen  Pointen  im  Dialoge  zumeist 
mit  allzu  schwerfälligem  Akzent  und  in  beinahe  störend- 
auf dringlicher  Bedeutsamkeit  zum  Besten:  ein  Fehler, 
der  im  Wiederholungsfalle  absolut  zu  vermeiden  sein 
dürfte.  Auch  dass  hinsichtlich  des  Szenischen  wie  der 
Dekoration  die  Inszenierung  an  glaubwürdiger  Feerie 
noch  einige  kleine  Wünsche  offen  Hess,  sei  bei  leb- 
hafter Anerkennung  des  vielen  guten  Willens  und  red- 
lichen Bemühens  für  die  würdige  äussere  Darstellung 
des  Werkes  gleichzeitig  nicht  verschwiegen. 

Scidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  19 


Digitized  by  Google 


290 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Am  besten  gefielen  ohne  allen  Zweifel  der  II.  und 
III.  Akt,  von  welch  beiden  wiederum  der  erstere  die 
höhere  Wirkung  zu  erreichen  schien,  der  sich  mit  seiner 
chinesischen  Katzenmusik  gegen  das  Ende  hin  zu  einigen 
ganz  einzig  originellen  Effekten  steigert.  Aber  auch 
der  chinesische  Sirenenhain  und  die  famose,  dabei 
musikalisch  wertvolle,  Szene  mit  der  Anbetung  der  drei 
Pagoden -Götzen  im  III.  Akte  dürften  bei  nur  einiger- 
massen  gelungener  Wiedergabe  ihre  gute  und  erheiternde 
Wirkung  nirgends  verfehlen.  Ausserdem  wären  als  be- 
achtenswerte und  unfehlbar  anziehende  Nummern  noch 
hervor  zu  heben:  gleich  zu  Anfang  des  I.  Aufzuges  der 
reizende  Hochzeitschor  mit  den  Pagoden-Glöckchen  — 
eine  der  besten  Piecen  unserer  Oper  und  ein  Motiv, 
das  später  noch  öfter  wieder  kehrt,  ohne  gerade  „Leit- 
thema" geworden  zu  sein;  ferner  die  edle  Arie  des 
Prinzen  im  I.,  das  allerliebste  Lied  Peki's,  das  köstliche 
Zank-  und  Schmeichelduett  zwischen  dem  Mandarin  und 
seiner  „Vierten",  sowie  das  hübsche  Terzett  zwischen 
Tsing-sing,  Peki  und  Yanko  im  Finale  des  II.  Aktes. 
Den  Musiker  am  meisten  interessiert  aber  doch  wohl 
der  III.  Akt,  an  welchem  sich  Humperdincks  bearbeitende 
Hand  am  deutlichsten  bewährt  hat  und  welcher  in  dieser 
Form  (der  Weimarer  Aufführung)  selbst  in  Karlsruhe 
noch  nicht  voll  zu  Gehör  gekommen  war.  Zumal  das 
munter-patschierliche  „Sanft  schläft  der  Mann  die  ganze 
Nacht,  wenn  treu  sein  Weibchen  ihn  bewacht"  wird 
mir  in  Rhythmus  und  Tonfall  ganz  unvergesslich  bleiben. 


Digitized  by  Google 


Rom6o  und  Julia 

von  Charles  Gounod 
(1896) 

ging  neu  einstudiert  über  die  Bretter  unserer  Oper, 
und  da  hätten  wir  denn  nun  also  schon  wieder  einen 
Franzosen  mehr  auf  der  Dresdner  Kgl.  Hofbühne!  Mit 
wachsender  Sorge  muss  dieser  geistige  „Zug  nach  dem 
Westen"  uns  erfüllen,  der  mit  jenem  glorreichen  „Zuge 
nach  dem  Westen"  von  1870/71  doch  so  ganz  und  gar 
nicht  harmonieren  will.  Eine  ganze  Reihe  neuerdings 
sich  häufender,  in  diesem  Sinne  leider  bedeutungsvoller 
Erscheinungen  weisen  auf  scharf  ausgeprägte,  um  nicht 
zu  sagen  ausgesprochene,  französische  Neigungen  hin, 
deren  Erklärung  ja  nicht  allzu  weit  bei  den  Haaren 
herbei  geholt  zu  werden  braucht,  wenn  man  sich  aus 
Roeders  Theaterbüchlein  erinnert,  dass  Graf  Seebach, 
unser  rühriger  Intendant,  seine  Erziehung  in  Paris  zu- 
mal genossen  hat.  Die  Sache  wäre  an  sich  selbst  gewiss 
auch  nicht  allzu  auffällig,  wenn  darüber  nur  nicht  fort- 
gesetzt die  wichtigsten  deutschen  Aufgaben  (wie  Gluck, 
Mozart,  Lortzing,  Cornelius  und  Ritter;  „Ingwelde", 
„Kunihild",  „Guntram",  „Loreley",  „Gudrun",  „Bertrand 
de  Born",  oder  Hebbel-,  Grillparzer-  und  Otto  Ludwig- 
Zyklen,  moderne  deutsche  Dramen  und  dergl.  mehr) 
so  unverantwortlich  vernachlässigt  liegen  blieben.  Nun 

19* 


Digitized  by  Google 


202 


Wagneriana.    Bd.  III. 


haben  w  i  r  ja  nicht  den  mindesten  Beruf  dazu,  über 
unserem  Hoftheater  mit  Argusaugen  und  schönen  Moral- 
predigten hochnotpeinlich  etwa  wachen  zu  sollen;  frei 
steht  es  dem  Gastherrn,  seinen  Gästen,  was  ihm  be- 
liebt, zu  bieten,  dafern  er  gelegentlich  auch  das  Odium 
mutig  auf  sich  nehmen  will,  dass  diese  ihm  einmal  — 
ausbleiben.  Wir  haben  ein  Königl.  Institut  vor  uns,  und 
an  gewissen  deutschen  Hofen  bliebe  es  in  der  That 
sogar  noch  dahin  gestellt,  ob  nicht  ein  Bühnenleiter 
mit  Verfolgung  jener  Richtung,  die  ihm  gestellte  Auf- 
gabe nur  ganz  im  Sinne  seines  Herrn  erfasst  zu  haben, 
sich  schmeicheln  dürfte.  Allein  „man"  —  das  will  sagen: 
die  öffentliche  Meinung,  Volk,  Publikum  und  Presse, 
hat  sich  nun  doch  einmal  daran  gewöhnt,  ganz  in 
Sonderheit  bei  den  durch  Munifizenz  der  Fürsten  so 
reich  bemittelten  deutschen  Hof bühnen  die  in  erster 
Linie  berufenen,  echten  Pflegestätten  unserer  heimi- 
schen geistigen  Güter  zu  suchen,  und  wir  für  unser 
Teil  möchten  demnach  gerne  meinen,  dass  ein  Hoftheater 
des  siegreichen  Helden  von  Beaumont,  bezw.  eben 
dessen  persönlich  verantwortliche  Leitung,  wesentlich 
andere  Pflichten  als  die  einer  so  auffälligen  Bevorzugung 
gallischer  Kunst  zu  erfüllen  habe.  Dixi  et  salvavi  animam 
tneam  Germanicam  —  auch  eine  zeitgemässe  Jubiläums- 
betrachtung zur  25  jährigen  Friedensfeier,  ausgesprochen 
sine  ira  politica  ac  studio  pubUco,  lediglich  im  Interesse 
einer  gewissenhaften  Kunstbetrachtung! 

Dazu  kommt  aber  nun  noch  ein  anderes  Moment 
mit  hinzu.  Wenn  eine  solche  Bühne  nämlich  eine  kleine 
„Nachtigall"  ihr  Eigen  nennt  —  gut,  so  soll  man  deren 
goldene  Kehle'  verwenden,  wo  sie  hinpasst,  und  sich 
ihrer  frischen,  wohlgeschulten  Stimme  erfreuen,  wenn 
es  am  Platze  ist.  Aber  dass  nun  lediglich  ihretwegen, 
weil  sie  die  blosse  Kehlfertigkeit  vertritt,  dabei  weder 
den  deutschen  Gesangsausdruck  noch  wirklich  dramati- 


Digitized  by  Google 


Rom6o  und  Julia. 


293 


sches  Spiel  kennt,  und  weil  man  sich  schon  bei  ihrem 
Engagement  über  deren  Verwendbarkeit  für  die  neuere 
Opernlitteratur  kurzsichtiger  Weise  leider  täuschte  —  dass 
deshalb,  sage  ich,  die  leere  Trällerei  der  alten  italienischen 
Koloratur- Opern  wieder  ausgegraben  werden  muss; 
dass  wir  uns  deswegen,  weil  eine  angesehene  Gesangs- 
lehrerin der  Stadt  einem  fremden  Kunst-  und  Gesangs- 
ideale Vertreter  Jahr  aus  Jahr  ein  züchtet,  mit  Haut 
und  Haaren  nun  wieder  der  ausländischen  Musik  ver- 
schreiben sollen:  das  geht  uns  denn  doch  über  die  Hut- 
schnur. Wir  werden,  so  lange  wir  Lungen  haben,  von 
unserem  ehrlichen  deutschen  Kunstzorn-Standpunkte 
gegen  dieses  System  („Wirtschaft,  Horatio,  Wirtschaft!") 
Einspruch  erheben,  das  aus  der  miserablen  Not  eine 
scheinbar  so  glänzende  Tugend  macht  und  dadurch  an  der 
Geschmacksrichtung  einer  ganzen  Residenz  direkt  ver- 
antwortlich wird.  Können  wir  uns  für  die  drei  natio- 
nalen Haupt-Opernstile:  den  italienischen,  französischen 
und  deutschen,  je  eine  vollkommen  ausreichende,  be- 
sondere Besetzung  und  womöglich  jedesmal  ein  ver- 
schiedenes Publikum  dazu  leisten,  dann  mag  man  mit 
der  Ausländerei  als  solcher  Experimente  weiter  machen; 
bis  dahin  sind  die  deutschen  Pflichten  die  allerersten, 
die  Aufgaben,  den  am  meisten  noch  zurück  gebliebenen 
germanischen  Originalstil  nicht  nur  getreulich  auszubauen, 
sondern  auch  ihn  mit  fremdartigen  Durchkreuzungen 
in  seiner  gesunden  Entwicklung  nicht  wieder  zu  stören 
noch  zu  trüben,  die  vornehmsten  und  wichtigsten.  Aber 
freilich  —  und  auch  das  muss  hier  offen  bekannt  sein: 
dem  Gesamtbesuche  solcher  Aufführungen  wie  nament- 
lich dem  I.  Range  nach  zu  urteilen,  scheint  unsere 
Generaldirektion  mit  ihren  Tendenzen  allerdings  auch 
auf  ein  ziemlich  breites  Verständnis  beim  Dresdener 
Publikum  rechnen  zu  dürfen  .  .  . 

Diese  grundsätzliche  Gedankenreihe  hier  erst  ein- 


Digitized  by  Google 


294 


Wagneriana.    Bd.  III. 


mal  voraus  geschickt,  lässt  sich  von  Gounods  ,Rom6o 
und  Julia  "-Oper  sogar  manches  Angenehme  sagen. 
Zwar,  die  ungezählten  Hervorrufe  nach  den  einzelnen 
Akten  und  besonders  am  Schlüsse  als  Wertmesser  für 
die  Dauerhaftigkeit  des  Erfolges  anzusehen,  werden  wir 
uns  wohl  hüten,  und  sie  wird  nicht  allzu  ernst  nehmen, 
wer  aus  ihnen  die  Klique- Revanche  für  den  jüngsten 
„Lucia "-Sieg  des  Fräulein  Wedekind  mit  besserem  Ge- 
höre klar  heraus  gehört  hat.  Der  Koloratur-Antagonismus 
Wedekind-Telecky,  der  auch  in  der  Neueinstudierung 
von  Opern  ganz  merkwürdige  Blüten  bei  uns  treibt, 
tritt  ja  nur  zu  oft  deutlich  genug  hervor,  und  der  trost- 
lose Stilmischmasch  hat  uns  nun  also  glücklich  schon 
vier  m Primadonnen u  an  unserer  Oper  beschert.  Hat 
man  der  einen  ein  Zuckerbrot  (Lucia)  gegeben,  so  muss 
der  anderen  mindestens  ein  Tröster  (Jutta)  gereicht 
werden,  und  wo  das  eine  Mal  Hofkapellmeister  Hagen 
am  Pulte  gesessen,  präsidiert  das  andere  Mal  sicher  dann 
Generaldirektor  Schuch  der  Vorstellung.  Die  Echtheit 
des  Erfolges  also  dieser  Neueinstudierung  wollen  wir  nicht 
gar  zu  hoch  nehmen.  Trotzdem  haben  wir  ein  sehens- 
und  hörenswertes  Werk  vor  uns,  welches  auf  alle  Fälle, 
in  voller,  reicher  Bühnenwirksamkeit  kennen  zu  lernen, 
jeden  ernsten  Musikfreund  interessiert  haben  dürfte. 
Ihr  Urteil  ist  dieser  Oper  ja  durch  die  Geschichte 
schon  gesprochen,  welche  die  „  Margarethe  "  in's  Vorder- 
treffen  gebracht  und  »Romeo  und  Julia"  überall  wieder 
unerbittlich  in  den  Hintergrund  zurück  gedrängt  hat. 
Das  mag  im  Allgemeinen  begreiflich  erscheinen,  denn 
es  fehlen  diesem  nicht  unedlen  Gebilde  zu  einer  durch- 
greifenderen Wirksamkeit  einige  der  wesentlichsten  Vor- 
bedingungen musikdramatischer  Kunst.  Vor  Allem  die 
schlagenden,  kräftig-herben  Kontraste  —  so  sehr  der  allent- 
halben bekannte  und  überall  beliebte  Liebesstoff  einer 
Eindrucks fähigkeit  von  vornherein  auch  entgegen  kommt. 


Digitized  by  Google 


Romeo  und  Julia. 


295 


Hanslick  spielt  bei  Besprechung  dieser  Oper  die 
italienischen  Komponisten  desselben  Stoffes  als  „weibisch- 
weichlich0 gegen  Gounod  aus.  Was  müssen  das  also 
erst  für  Opern  gewesen  sein,  da  für  uns  schon  Gounod 
heute  durch  seine  allzu  grosse  Vorliebe  für  Weichheit 
und  süssliche  sentimenti  oft  kaum  mehr  zu  ertragen 
ist!  Wenn  diese  „Romeo0 -Oper  heute  für  unser  Em- 
pfinden überhaupt  noch  möglich  erscheint,  so  kommt 
dies  nur  daher,  dass  in  ihr  aus  Harmonie  und  Melodik 
ein  etwas  modernerer  Atem  weht;  dass  sie  alles,  selbst 
das  Unscheinbare,  immer  noch  in  gewählter  Diktion  zu 
sagen  weiss,  und  dass  ein  ebenso  reich  begabter  Musiker, 
wie  fein  gebildeter  Mensch  und  vornehmer  Geist  aus 
dieser  Partitur  uns  „anspricht0.  Ebenso  sicher  und  gewiss 
aber  ist  auch,  dass  sich  von  Gluck  bis  zum  „Guntram0 
herauf  nur  die  Opern  ein  lebendiges  Bühnendasein  er- 
halten werden,  welche  es  verstanden  haben,  die  Musik 
mindestens  als  konsequente  Begleiterin,  in  einer  Art 
von  plastischer  Kongruenz  mit  der  lebendig  pulsierenden 
Handlung,  der  spezielleren  szenischen  Aktion  oder  der 
mimischen  Geste  droben  auf  der  Bühne,  in  deutlich- 
harmonische Übereinstimmung  zu  bringen;  und  unter 
diesen  wird  sich  Gounods  „Romeo  und  Julia0  auf  die 
Dauer  zuversichtlich  nicht  befinden,  denn  gerade  hier 
versagt  sie  in  ganz  bedenklichem  Grade.  Diese  Musik  hat 
teils  etwas  Träumerisches,  teils  etwas  Schmachtendes, 
bald  etwas  Stockendes,  bald  wieder  etwas  Schleppendes, 
meist  aber  ziemlich  Unzulängliches,  Unangemessenes  an 
sich.  Sie  kommt,  zumal  in  den  ersten  Akten,  nicht 
vom  Flecke;  ja,  es  scheint,  als  ob  sie  etwas  von  dem 
schleichenden  Gifte,  das  Romeo  erst  im  V.  Akte  trinkt, 
schon  von  Anfang  an  in  ihren  Adern  hätte;  es  spintisiert, 
posiert  und  reflektiert,  aber  es  liebt,  glüht  und  sprüht 
in  ihr  nicht!  Keine  Frage,  das  Werk  enthält,  vor  Allem 
in  den  vielen  Zwiegesängen  der  beiden  Liebenden,  zahl- 


Digitized  by  Google 


296 


Wagneriana.    Bd.  III. 


reiche  von  jenen  so  genannten  »Schönheiten-,  welche 
sogar  da  und  dort  „poetische*4  heissen  dürfen,  und  bei 
denen  sich  so  herrlich  im  Ohrenschmause  schwelgen, 
mit  denen  sich  aber  beim  Drama  zuletzt  doch  nichts 
Rechtes  anfangen  lässt,  da  sie  keinen  besonders  tiefen 
Gehalt  in  uns  je  zurück  lassen,  auf  alle  Fälle  mehr 
künstlich  gemachte,  als  gerade  künstlerisch  empfundene 
Lyrik  sind  —  wir  müssten  denn  als  Deutsche  mit  unserer 
Natur  diese  Art  von  innerer  Wärme  missverstehen, 
was  man  uns  wahrlich  auch  nicht  weiter  übel  nehmen 
könnte. 

Zu  den  unbedingten  (wenn  auch  zumeist  wieder  mehr 
lyrischen)  Schönheiten  gehören  unstreitig  die  vier  grossen 
Duette,  von  denen  namentlich  dasjenige  des  II.  Aktes 
durch  seine  feine,  auch  thematische  Abrundung  von 
hohem  ästhetischem  Reize  ist,  dazu  noch  in  einer  wieder- 
holten Schlusskadenz  deutlich  verrät,  wie  sehr  selbst 
Mascagni  mit  seinen  effektreichen  Intermezzi  Gounod'- 
.  sehen  Einflüssen  Gehör  geschenkt  hat;  sodann  die  Ver- 
mählungs- Episode,  das  Lied  des  Pagen  und  Julia's 
Monolog  (der  Hochzeitszug  in  diesem  Akte  war  hier 
gestrichen);  in  Sonderheit  aber  rechnet  dazu  der  inter- 
essante, würdevolle  „Prolog"  zu  Anfang  des  Ganzen,  der 
ebenso  ernst  gemeint  ist,  als  er  Stimmung  gebend  wirkt, 
wenn  es  denn  schon  einmal  den  grossen,  unvergleich- 
lich tiefen  Briten-Dichter  gelten  soll.  (Charakteristisch 
übrigens  für  die  Geschichte  der  französischen  Musik,  da 
ja  schon  Berlioz  bei  seiner  „dramatischen  Sinfonie" 
gleichen  Namens  —  dabei  nur  wieder  folgend  den  In- 
tentionen des  Dichters  —  einen  „Prolog"  gebracht 
hatte!)  Von  all'  den  lebensfähigen  Repertoir- Opern, 
welche  sich  schon  „klassische"  Dramen  zum  Vorwurfe 
genommen  haben  und  aus  denen  ein  leider  nur  allzu 
grosser  Teil  unseres  gebildeten  Publikums  seine  Kenntnis 
dieser  klassischen  Meisterwerke  allein  zu  schöpfen 


Digitized  by  Google 


Romeo  und  Julia. 


297 


liebt  (man  denke  an  Rossini's  „Teil"  und  „Othello", 
Bellini's  „Romeo  und  Julia",  an  Thomas'  „Mignon"  und 
„Hamlet",  Gounods  „Margarethe",  VerdPs  „Don  Carlos" 
und  „Jeanne  d'Arc",  Massenets  „Werther"  und  Boito's 
„Mefistofele")  —  von  ihnen  allen  ist  die  eben  neu  ein- 
studierte Oper  jedenfalls  noch  keineswegs  die  un- 
glücklichste Verballhornung,  und  nur  mit  der  dramatisch- 
humoristischen  Kraft  eines  Verdi,  mit  welcher  dieser 
im  „Othello"  und  „Falstaflf"  Shakespeare'sche  Grösse 
zu  vertonen  im  Stande  war,  wird  sie  sich  von  vorn- 
herein nicht  messen  dürfen.  Die  auffälligste  Änderung 
der  Herren  Textdichter  am  Original  ist  die  des  Schlusses, 
wo  Julia  noch  vor  Romeo's  Hinscheiden  erwacht  und 
Beider  Stimmen  sich  noch  einmal  zum  idealen  Schwanen- 
sange  vereinigen;  man  bringt  es  aber  doch  nicht  fertig, 
ihr  gram  zu  sein,  da  in  der  That  weit  eher  ein  tieferes 
Verständnis  gerade  für  die  besondere  Natur  des  musi- 
kalischen, und  zumal  dieses  dualistischen,  Drama's 
darin  zu  liegen  scheint,  wenn  die  letzte  grosse  Seelen- 
harmonie auch  noch  zum  Erklingen  gebracht  wird 
Die  germanische  Erfüllung  und  Vertiefung  dieser  Idee 
hat  uns  Deutschen  Wagners  „Tristan  und  Isolde"  bereits 
gebracht;  nach  dieser  Oper  entstanden  und  aufgeführt 
(zu  Paris  und  Wien  erst  1867),  bedeutet  Gounods 
„Romeo  und  Julia"  freilich  schier  einen  Anachronismus. 
Hätte  sie  ausser  der  einzigen  Duell -Szene  als  effekt- 
volle, ein  Theaterpublikum  unmittelbar  elektrisierende 
Gegenbilder  zu  den  zarten  Partieen  ebenso  viele  kräftige 
und  packende  Züge  —  die  Wirkung  der  Oper  wäre  eine 
fraglose:  das  betont  schon  ein  so  warmer  Bewunderer 
des  Werkes  wie  Eduard  Hanslick. 


Digitized  by  Google 


Zum  Kapitel  „Ballett" 

(1896) 

versprachen  wir  aus  Anlass  der  Vorführung  von 
D  &  1  i  b  e  s*  „C  o  p  p  e  1  i  a"  einige  grundsätzliche  Aus- 
führungen bringen  zu  wollen,  zumal  wir  den  Erfolg  der 
Neuheit  einstweilen  als  einigermassen  zweifelhaft  be- 
zeichnen mussten.  Eine  geistreich  instrumentierte,  auch 
in  der  Erfindung,  künstlerisch,  ungemein  wertvolle  Musik, 
durch  deren  frisch-belebte,  elastische  Vermittlung  sich 
unser  Hoforchester,  mit  keinem  Geringeren  als  General- 
musikdirektor Schuch  selber  an  seiner  Spitze,  nicht 
wenig  auszeichnete;  dazu  eines  der  feinsten  und  inter- 
essantesten Ballette  der  Neuzeit  überhaupt,  bei  dem 
sich  unser  neuer  Ballettmeister,  Herr  Thieme,  mit 
seinen  technischen  Helfershelfern:  Herrn  Garderobe- 
inspektor Metzger  und  Obermaschinenmeister  Göldner, 
sowie  unsere  anmutvolle  Prima -Ballerina,  Fräulein 
G  r  i  m  a  1  d  i ,  nebst  dem  übrigen  Solo  -  Personal  und 
dem  gesamten  Ballettkorps  mit  nicht  geringen  Ehren 
bedeckten  —  und  doch  das  Ganze  ohne  bedeutenderen, 
nachhaltigeren  Eindruck:  was  mögen  hier  wohl  die  Ur- 
sachen sein?  Um  es  gleich  vorweg  zu  nehmen:  Wir 
glauben,  dass  die  Schuld  da  vornehmlich  drei  be- 
sondere Faktoren  trifft.  Einmal  die  ganz  unhaltbare 
Zusammenstellung  des  Abends,  welche  die  altfränkische 
Harmlosigkeit:  „Th.  Körner-Schubert"  mit  der  modern- 


Digitized  by  Google 


Zum  Kapitel  »Ballett«. 


299 


espritvollen  Pikanterie  eines  Delibes  unmittelbar  zu- 
sammen warf  und  nicht  bedachte,  dass  das  Publikum 
der  Ausgrabungsfreunde  notwendiger  Weise  ein  ganz 
anderes  sein  muss,  als  dasjenige  zu  sein  pflegt,  welches 
den  Reizen  der  pantomimischen  Kunst  ein  verständnis- 
volleres Interesse  entgegen  bringt.  Sodann  aber  auch  die 
willkürliche  Streichung  des  dritten  Bildes,  welche  die 
rechte  Steigerung  verhindert  und  den  Zuschauer  des 
eigentlich  glänzenden  Abschlusses  mit  nahe  liegendem, 
buntem  Divertissement-Schaugepränge  beraubt;  denn  die 
choreographischen  Evolutionen  der  ersten  Abteilung 
finden  kaum  eine  entsprechende  Ausladung  mehr  und 
jedenfalls  nicht  ihr  ergänzendes  Gegenbild  gegen  das 
Ende  der  Handlung  zu,  die  wie  das  „Hornberger 
Schiessen*  inmitten  des  Automaten-  und  Wachsfiguren- 
kabinets  unmotiviert  genug  ausläuft.  Endlich  drittens 
die  ganz  unverantwortlich  übermässige  Verspätung  in 
der  hiesigen  Aufführung  dieser  angeblichen  „Novität0, 
welche  nun  genau  26  Jahre  alt  und  —  nicht  zwar  in  der 
immer  wieder  wirksamen,  graziösen  und  pikanten  Musik, 
wohl  aber  im  Sujet  —  seither  längst  von  Anderem  (z.  B. 
der  „Puppenfee")  überholt,  will  sagen:  beim  Publikum 
ausgestochen  worden  ist.  Und  hier  liegt  der  Ballett- 
hund begraben  —  das  ist  der  Punkt,  wo  wir  dem 
neuen,  verantwortlichen  Minister  für  höhere  Tanzkunst 
an  unserer  Hofbühne,  von  dessen  bisher  entfaltetem 
Eifer  wir  auch  für  die  Folge  die  allerhöchsten  Er- 
wartungen hegen,  unsere  Forderungen  für  die  Zukunft 
unseres  überaus  glänzend  bestellten  Königlichen  Ballettes 
klar  und  deutlich  aussprechen  zu  sollen  glauben,  weil 
wir  jetzt  auf  dem  besten  Wege  dazu  scheinen,  endlich 
einmal  auch  diesem  Teil  unserer  Hofbühne  und  seiner 
gewissenhaften  Bearbeitung  in  streng  künstlerischem 
Stile  die  nötige  Aufmerksamkeit  zu  schenken. 

Irgend  wann  und  irgend  wo  einmal  hatten  wir  Ge- 


Digitized  by  Google 


300 


Wagneriant.    Bd.  III. 


legenheit  genommen,  angesichts  des  „Meissner  Por- 
zellans« auf  den  vollendeten  ästhetischen  Unfug  des 
Automatenwesens  im  Rahmen  des  Ballettes,  als  der 
auserwählten  Kunst  eines  Seelenausdruckesdurch 
die  Körpergebärde  (im  weitesten  Sinne  des 
Wortes),  energisch  hinzuweisen,  und  schon  damals 
hatten  wir  den  notwendigen  Niedergang  des  ganzen 
Genre's  mit  aller  Entschiedenheit  aus  solchen  Auspizien 
prophezeit.  Ich  glaube,  wir  stehen  heute  dem  Zeit- 
punkte sehr  nahe,  da  man  das  wieder  allgemein  em- 
pfindet und  einem  einsichtsreichen,  geschmackvollen 
Reorganisator  auf  diesem  Gebiete  wie  einer  Erlösung 
von  drückendem  Alp,  erfreut  über  die  der  wahren  Pro- 
duktion damit  wieder  frei  werdende  neue  Bahn,  von 
ganzem  Herzen  zujubeln  wird.  Wenn  nun  die  geistigen 
Urheber  von  „Coppelia",  Ch.  Nuitter  und  A.  Saint- 
L  6  o  n  ,  das  automatische  Homunkeltum  dem  beseelten 
Lebewesen  als  komischen  Gegensatz  gegenüber  stellen 
und  dieses  in  der  Durchführung  des  Spieles  als  siegreich 
gegen  jenes  ausspielen,  so  ist  das  mit  seiner  Schluss- 
moral ganz  ohne  alle  Frage  noch  eine  sehr  hübsche, 
sinnige  Idee  —  ein  artiger,  selbst  der  inneren  Poesie 
keineswegs  entbehrender  Einfall.  Und  ebenso,  wenn 
der  talentbegabte  Komponist  die  ganze  mechanische 
Ledernheit  der  taubstummen  Bevölkerung  des  geheimnis- 
vollen Mechaniker-Ateliers  instrumental  in  einer  an  Deut- 
lichkeit nichts  zu  wünschen  übrig  lassenden  Laune  so 
hölzern,  eckig  und  steifbeinig  wie  nur  möglich  illustriert, 
so  ist  das  sicherlich  eine  gar  feine,  drastische  Charak- 
teristik, welche  in  sich  einen  durchaus  gesunden  Kern 
enthält  und  das  ursprüngliche,  natürliche  Verhältnis 
zwischen  Seele  und  Stock,  Mensch  und  Puppe 
wenigstens  noch  mehr  oder  minder  anschaulich  heraus 
stellt.  Aber  eben  schon  in  dieser  Antithese  lag  doch 
der  Ansatz  zur  „schiefen  Ebene",  und  die  wahrhaft 


Digitized  by  Google 


Zum  Kapitel  „Ballett". 


301 


verheerenden  Wirkungen  haben  wir  ja  seither  an 
unserem  modernen  Ballett  erfahren  müssen.  Auf  der 
einen  Seite  die  Massenentfaltung  im  Sinne  blendender 
Zirkus  -  Ausstattung  mit  möglichst  viel  Trikot  —  oder 
richtiger:  „des  Fleisches  und  der  Augen  Lust";  auf  der 
anderen  die  völlige  Degradierung  der  Pantomime,  als 
einer  von  Alters  her  hoch  entwickelten,  feinfühlig  edlen 
„Seelenkunst",  zum  lediglich  virtuos  ausdauernden, 
sinnlos  hüpfenden  „Tanzgebein"  —  der  „groteske"  Rest: 
die  aufgesetzten  Tiermasken  der  Ballett- Eleven  des 
Herrn  Stägemann  in  Leipzig,  was  denn  recht  drollig 
aussehen  sollte,  im  Grunde  aber  nur  sehr  albern 
wirken  konnte,  da  es  vollends  auch  noch  das  bischen 
Gesichtsausdruck  und  Mienenspiel  den  Blicken  des  Be- 
schauers entzog. 

Nun  hat  uns  aber  Bayreuth  in  der  gehaltreichen, 
so  klar  gegliederten  und  der  Musik  im  dramatischen 
Ausdrucke  genau  angepassten,  grossen  9 Tannhäuser 
Pantomime  (Venusberg  der  Pariser  Bearbeitung)  das 
Muster  von  „Ballett,  wie  es  sein  soll"  neuerdings  ein- 
drucksvollst aufgestellt.  Und  hier  kam  das  alles  im 
Gesamtrahmen  der  Ballettkunst  auch  zu  seinem  vollen 
Rechte  und,  wo  es  schon  am  Platze  ist,  zu  aller  Geltung: 
man  erkannte  aber  da,  überrascht,  mit  einem  Male,  dass 
das  Ballett  Fuss-  und  Tanzkunst  nur  insoweit  ist,  als 
eben  Fuss  und  Bein  wichtige  Glieder  des  zum  mimischen 
Ausdruck  heran  gezogenen,  in  seiner  plastisch-schönen 
Ausdrucksfähigkeit  künstlerisch  durchgebildeten  und 
auch  in  der  lebendigen  Verdeutlichung  des  musikalischen 
Gehaltes  jeder  Regung  leicht  gehorchenden  gesamten 
Körpers  sind.  Ja,  man  fand  sogar,  dass  sich  das 
Herkommen  eines  leichten,  durchscheinenden  Kostümes 
bei  unseren  Ballettkünstlern,  statt  nur  etwa  dem  blossen 
Sinnenkitzel  frivol-heidnischen  Lusttaumels  dienen  zu 
sollen,  im  letzten  Grunde  auf  das  echt  künstlerische, 


Digitized  by  Google 


302 


Wagneriana.    Bd.  III. 


tief  ästhetische  Bedürfnis  zurück  führen  lässt,  eine  mög- 
lichst klare,  rein  körperlich  deutlichste  Gebärdensprache 
des  durch  die  Kleiderkultur  noch  nicht  ausdruckslos, 
unfrei  und  unschön  gewordenen  natürlichen  Menschen 
zu  gestalten. 

Gerade  nach  dieser  Seite  hin,  einer  geschmeidig- 
graziösen,  geistbelebten  Ausdrucksfähigkeit  adelig-un- 
tadeliger Leibes  form,  wo  schliesslich  der  ganze 
Körper  in  allen  seinen  Teilen  zur  beredten,  die  Musik 
interpretierenden  Total  gebärde  wird,  besitzt  Dresden 
in  Fräulein  Grimaldi  jetzt  eine  ausgezeichnete,  ganz 
hervorragende  Künstlerin  ihres  Faches ;  in  diesem  Sinne 
war  ebenso  auch  das  wiederholte  verscheuchte,  köstlich 
flatterhafte  „Retire41  der  in  gemeinsamem  Schreck  wie 
auf  Kommando  trippelnd  rasch  zurück  weichenden  Freun- 
dinnen Coppelia's  eine  künstlerisch  hoch  anzuerkennende 
Ensemble- Leistung  absolutester  Körperbeherrschung  und 
vollendeter  Gebärdenschulung  im  freiesten  Ausdrucks- 
spiele —  ganz  abgesehen  noch  von  den  voraus  gegangenen, 
wild  sprühenden  Mazurka-  und  Czardastänzen,  den 
wechselreich  anziehenden  „Variationen  über  ein  slavisches 
Lied"  und  der  elegisch-zarten,  vom  Konzertmeister 
Petri  mit  einem  ungemein  süssen  Violinsolo  meister- 
haft begleiteten  „Ballade  von  der  Ähre". 


Digitized  by  Google 


Das  Erbe 

Lyrische  Oper  von  Victor  Erlanger 
(1898) 

»Wenn  die  Kuh  aus  dem  Stall  ist,  machen  die 
Leute  das  Thor  zu,  und  wenn  erst  ein  Kind  in  den  Brunnen 
gefallen,  dann  wird  dieser  auch  hübsch  überdeckt !" 
Daran  mussten  wir  lebhaft  denken,  als  gestern  Abend 
im  Hamburger  „  Stadttheater •  der  bedauernswerte 
Scharfrichter,  der  —  unter  der  Last  seines  schweren 
Geschickes  zusammenbrechend  —  leider  versehentlicher 
Weise  um  eine  Minute  zu  früh  Hand  an  sich  gelegt 
hatte,  an  einer  Dolchwunde  langsam  verblutete,  und 
nun  der  durch  königlichen  Gnadenbefehl  so  plötzlich 
befreite  Schwiegersohn  ihm  das  „Zu  spät,  der  Kinder 
Glück  wird  Mendo  nicht  mehr  seh'n!"  unter  langsam 
fallendem  Vorhang  nur  mehr  „nachrufen"  konnte.  Es 
handelte  sich  dabei  um  die  erste  Aufführung  einer  im 
„Coventgarden"  zu  London  unter  dem  Namen  „Inez 
Mendo"  bereits  gegebenen,  neuen  „lyrischen  Oper"  nach 
Decourcelle  und  Liorat  von  Friedrich  von  Erlanger, 
die  fetzt  unter  dem  Taufnamen  *DasM  Erbe"  ihre 
deutsche  Wiedergeburt  erlebte.  —  Der  Ärmste  sollte 
nämlich,  da  anno  1640  zu  Montclar  in  Spanien  das 
Henkeramt  in  der  Familie  merkwürdiger  Weise  erblich 
war,  seinen  leibhaftigen  Schwiegersohn,  einen  Offizier 


Digitized  by  Google 


304 


Wagneriana.    Bd.  III. 


der  Armee,  unter  der  eigenen,  im  Gefängnis  ihm  eben 
angetrauten,  Tochter  Augen  persönlich  enthaupten,  weil 
—  jener  einen  leichtfertigen  Schürzenjäger  im  Duell 
erschlagen!  Nunmehr,  nach  diesem  zuversichtlich 
minder  tragischen  als  vielmehr  arg  traurigen  Ereignis  — 
dessen  sind  wir  ganz  fest  überzeugt  —  wird  das  grau- 
same Erbgesetz  endlich  einmal  aufgehoben  werden.  Aber 
kann  denn  der  Barbarismus  solcher  unsinnigen  Bräuche 
nicht  ein  wenig  früher  schon  eingesehen  und  zur  rechten 
Zeit  beseitigt  werden,  ehe  es  damit  glücklich  zu  spät 
ist?  Freilich  würde  damit  ja  eine  ganze  Handlung  wie 
die  vorliegende,  ebensowohl  wie  z.  B.  die  unseres  po- 
pulären „Freischützen",  ihre  Voraussetzung  der  vier- 
fachen Wurzel  vom  zureichenden  Grunde  verlieren. 
Aber,  wenn  das  immerhin  schon  bei  der  Weber'schen 
Oper  einen  erheblichen,  höchst  bedauerlichen  Verlust 
für  die  Musikgeschichte  bedeuten  würde,  in  unserem 
Falle  möchte  kaum  etwas  Wesentliches  verloren,  ein 
allzu  gross  Unheil  damit  angestiftet  sein.  Denn,  meint 
auch  bekanntlich  der  Franzose,  dass  jedes  Genre  erlaubt 
sei,  mit  Ausnahme  einzig  nur  des  langweiligen,  so 
müssen  wir  leider  doch  bekennen,  dass  unser  Textbuch 
zwar  nicht  direkt  als  langweilig  wird  gelten  dürfen, 
für  ein  modernes  Werk  aber  eine  ganz  unerlaubte 
Menge  von  Ungereimtheiten  enthält,  die  schliesslich 
nur  für  die  „rohen  Instinkte  der  Masse"  —  ähnlich 
denjenigen  eines  zugkräftigen  Schauer-Romanes  —  ge- 
niessbar  und  verdaulich  bleiben  können,  ja,  in  mehr  als 
einer  Hinsicht  beängstigend  genug  an  das  alte  „Schicksals- 
drama* sogar  erinnern.  Ja!  Wenn  das  Wesentliche  am 
Schiller'schen  „Maria  Stuart"-Drama  lediglich  im  Sakra- 
ment und  im  Hinrichtungsgange  der  Heldin  zum  Schafott 
bestünde,  dann  Hesse  sich  allenfalls  wohl  bei  „Inez 
Mendo"  von  einer  „Maria  Stuart"  in  Musik  sprechen. 
So  aber  ist  es  da  wohl  mehr  bei  dem  in  Kolportage- 


Digitized  by  Google 


Das  Erbe. 


305 


kreisen  mit  Recht  so  beliebten  „Scharfrichter  von 
Berlin"  als  Oper  nur  geblieben. 

Doch,  Spass  bei  Seite  und  zum  Ernst  der  Sache 
vorgedrungen!  Das  Sujet  ist  an  sich,  für  eine  gewisse 
„breitere"  Publikumswirkung,  vielleicht  gar  nicht  einmal 
so  ganz  schlecht  gewählt;  immerhin  krankt  es  von 
Hause  aus  an  einer  Dramatisierung,  die  alles  Andere 
eher  denn  knapp  genannt  werden  darf;  wie  es  zugleich 
wieder  an  einem  faden  dem  ex  machina  in  Papierrollen  - 
format  laboriert  und  —  an  einem  noch  weit  faderen, 
weil  arg  sentimental  angehauchten  Henker.  Man  denke: 
ein  lyrischer  Scharfrichter!  So  schwimmt  das  Drama 
als  solches  förmlich  wie  ein  Mollusk  in  einem  wahren 
Schlamme  von  Lyrismus  einher,  und  man  möchte  zur 
Abwechselung  einmal  fast  ausrufen:  Viel  zu  viel 
Musik!  Wenn  nun  auch  der  keineswegs  unsympathische, 
aber  etwas  zu  sehr  weltverbindlich  nach  allen  Seiten 
hin  seine  Komplimente  machende  Komponist  („toujours 
agreable  jusqu'au  moment  tragique"  —  wie  Taine  einmal 
sagt)  eine  starke  Dosis  von  Sangesfreudigkeit,  ein  ent- 
schieden ansprechendes  melodisches  Talent  und  ebenso 
gewandtes  als  gefälliges  Orchestrationsgeschick  dazu  mit- 
bringt —  das  Ganze  wirkt  demnach  doch  allzu  weichlich 
und  berührt  dem  Materiale  nach  überdies  einigermassen 
verbraucht,  im  Sinne  der  älteren  französischen  Schule 
wie  bezüglich  so  mancher  herkömmlicher  musikalischer 
Redensarten.  Sein  naher  Verwandter  Camille  von 
Erlanger,  der  Parteigänger  der  Jung  -  Pariser  „Ecole 
Francaüe"'  (so,  ohne  Cedille,  nach  Cesar  Franck  witzig  be- 
nannt!), würde  bei  gleichem  melodischen  Vermögen  viel- 
leicht eine  reizvolle  „Carmen"  mit  pikanten  Kontrasten 
daraus  gemacht  haben ;  Friedrich  von  Erlanger  giebt 
Gounod,  Thomas,  Leoncavallo  und  Nessler  in  Einem 
zusammen,  also  mancherlei  Eklektizismus,  noch  mehr 
Gemeinplatz  und  entschieden   zu   viel  Mandelmilch. 

Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  20 


Digitized  by  Google 


306 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Jede  Schärfe  dramatischer  Charakteristik  geht  dabei 
natürlich  „flöten".  Trotzdem  scheint  er  mir  aber  doch 
etwas  mehr  als  nur  eben  ein  höherer  Dilettant,  als  ein 
kavalleristischer  Sportsmann  oder  Börsenjobber  in  mudcis 
zu  sein,  wennschon  seine  weltläufige  Kunst  die  leicht 
fliessende  Faktur  des  begabten  Luxusmenschen  nirgends 
wohl  verleugnen  kann.  Was  man  so  sagt:  „Er  hätte 
es  eigentlich  gar  nicht  nötig."  Wohl  ihm,  wenn  er  den 
schönen  Ehrgeiz  hat,  es  mit  seiner  Befähigung  gleich 
einer  Berufssache  ernster  zu  nehmen !  —  Der  Vorstellung 
war  äusserlich  ein  grosser  Glanz  verliehen,  so  dass  der 
Komponist  als  glucklicher  Lorbeerträger,  im  tadellosesten 
Gesellschaftsanzuge  nach  letztem  Pariser  Schnitt, 
mehrere  Male  vor  der  Rampe  erscheinen  und  seine 
etwas  glatte  Physiognomie  der  Menge  wiederholt  zeigen 
konnte.  In  der  Toilette:  ein  „Odi  profanum  volgtut,  et 
arceo";  in  der  Musik:  das  pure  Gegenteil  davon I  O, 
Einheit  des  Stils  und  des  Geschmacks  —  wo  nur  bist 
du  zu  finden? 


Digitized  by  Google 


Stagione  dell'  Opera  Italiana 

(1896) 

1.  „La  Traviata" 
Primadonna:  Signora  Prevosti 

Natürlich  wird  es  Viele  geben,  welche  es  mit 
Freuden  begrüssen,  dass  das  Prinzip,  Gastspiele  nur 
aus  Engagementsrücksichten  zuzulassen,  von  der  Dresdner 
Generaldirektion  allem  Anscheine  nach  wieder  auf- 
gegeben wurde;  wir  unserseits  aber  haben  allen  Grund, 
es  lebhaft  zu  bedauern,  dass  diese  Durchlöcherung  des 
Prinzips  zu  Gunsten  solcher  Internationalitäten  und 
der  vormärzlichen  Stillosigkeit  italienischen  Virtuosen- 
gesanges mitten  im  Rahmen  eines  deutschen  Ensemble's 
leider  geschehen  ist.  Wenn  schon  die  Herrschaften  in 
Deutschland  ihren  Ruhm  erneuern  und  ausbreiten  wollen, 
so  mögen  sie  gefl.  ihre  Rollen  auch  deutsch  studieren! 
Principiis  obsta  —  schon  gegen  die  allerersten  Versuche 
nach  den  denkwürdigen  Errungenschaften  eines  Wagner 
muss  hier  energisch  Front  gemacht  werden,  sonst  können 
wir  uns  schon  demnächst  vor  dem  Überhandnehmen  nicht 
mehr  retten  und  haben  wir  wiederum  den  alten,  un- 
künstlerischen Unfug  auf  allen  unseren  Bühnen.  So  viel 
sich  auch,  von  einem  gewissen  Standpunkt  aus,  gegen  die 
Gewinnung  ausländischer  Gesangsgrössen  für  die  natio- 
nalen Bayreuther  Festspiele  wohl  sagen  Hesse,  das  eine 

20* 


Digitized  by  Google 


308 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Gute  hat  Bayreuth  doch  jedenfalls,  dass  es  selbst  seinen 
fremdländischen  Kräften  deutschen  Ernst  beibringt, 
sie  dem  dortigen  künstlerischen  Rahmen  sich  anzupassen 
und  einzugliedern  lehrt,  vor  Allem  aber:  sie  deutsch  zu 
singen  zwingt.  „Das  fehlte  gerade  noch,  dass  die  in 
fremder  Sprache  Wagner  sängen!0  —  wie  man  etwa 
dort  sagen  würde;  das  aber  kennzeichnet  sofort  den 
ganzen  Standpunkt. 

Sollte  nun  gar  jemand  der  Meinung  sein  —  und 
sie  hätte  entschieden  manches  für  sich:  dass  solche 
fremde  Kunstübung,  wenn  schon  —  denn  schon,  ihren 
eigentlichen,  wirksamsten  Zauber  im  engeren  nationalen 
Rahmen  und  mit  landsmännischer,  den  Stil  und  die 
Kunstanschauung  der  Heimat  des  betreffenden  Künstlers 
verkörpernder,  Umgebung  erst  voll  enthülle:  gut,  so 
gewöhne  man  sich  endlich  einmal  auch  daran,  dieser 
an  sich  ganz  richtigen  Idee  zu  folgen  und  gleich  das 
Gesamtgastspiel  einer  fremden  Schauspieltruppe  als 
solcher,  m  i  t  dem  betreffenden  hervorragenden  Gaste,  an- 
zuordnen. Ich  persönlich  hörte  an  dem  in  Rede  stehenden 
Abende  jemanden  begeistert  ausrufen:  „Die  Duse  in's 
Musikalische  übersetzt,  das  ist  die  Prevosti!"  Allein 
dieses  Urteil  hängt  zum  Mindesten  doch  so  lange  in 
der  Luft,  als  Franceschina  Prevosti  nicht,  wie 
jene,  zugleich  auch  das  für  sie  geeignete  italienische 
Ensemble  mitbringen  will  —  ganz  abgesehen  noch  davon, 
dass  man  doch  schon  der  Gemma  B  e  1 1  i  n  c  i  o  n  i  jenen 
Titel  der  „Opern-Duse"  gelegentlich  beigelegt  hat.  Rossi 
oder  Salvini,  die  Sarah  Bernhardt  und  Coquelin,  Irving  u.  A. 
ohne  ihre  nationale  Umgebung,  inmitten  eines  deutsch 
redenden  Bühnenspieles:  das  ist  doch  allemal  ein  Un- 
ding —  warum  sollte  es  bei  der  Prevosti  auf  einmal 
anders  sein?  Alle  Welt  rühmte  nun  die  hervorragende 
schauspielerische  Kraft  des  Gastes.  Uns  aber  besagt 
das  im  Grunde  nur  —  einmal:  dass  unsere  deutschen 


Digitized  by  Google 


Stagione  delP  Opera  Italiana. 


309 


Sänger  (worauf  wir  unermüdlich  das  ganze  Jahr  über 
hin  weisen)  viel  zu  wenig  Schauspieler  und  viel  zu  sehr 
Dirigenten- Puppen  oder  Souffleur-Sklaven  sind;  dann  aber 
auch:  dass  die  Sänger  anderer  Nationen  ihre  Kräfte  nicht 
wie  die  unseren  an  ein  Repertoir-Marfam  compositum  zu 
vergeuden  gehalten  sind,  sondern,  dass  sie  ihren  natio- 
nalen Originalstil  rein  und  lauter  anhaltend  zu  pflegen 
und  sich  in  den  Geist  einer  Rolle  vollauf  zu  vertiefen, 
Gelegenheit  erhalten.  Um  das  einzusehen,  bedürfen  wir 
aber  nicht  erst  eines  fremden  Gastspieles  wie  dieses, 
das  ja  doch  nie  die  rechten  Früchte  trägt;  das  predigt 
Unsereiner  unaufhörlich  schon  seit  Jahren  —  freilich, 
ohne  damit  das  geringste  Gehör  zu  finden.  Darin  aller- 
dings können  unsere  Bühnen-  und  namentlich  die  so- 
genannten Wagner -Sänger  immer  wieder  von  solchen 
Gästen  lernen:  dass  man  mehr,  als  heut  zu  Tage  in 
Deutschland,  studieren  muss,  wenn  man  bestehen  und 
als  echter  Gesangskünstler  von  Gottes  Gnaden  nicht 
nur  Aufsehen  erregen,  sondern  auch  Genuss  bereiten 
will.  Nicht  unsere  deutsche  Gesangskunst  an  sich  ist 
schuld  an  dem  Stimmverfall,  etwa  weil  sie  in  Stimm- 
bildung zur  Zeit  nichts  mehr  leiste;  der  materialistische, 
dicke  Bretter  nicht  mehr  bohren  wollende  Leichtsinn 
unserer  Sänger  und  allenfalls  noch  die  Skrupellosigkeit 
der  Herren  Gesangslehrer,  die  nicht  energischer  auf 
gründliche  Durchbildung  dringen,  vielmehr  möglichst 
bald  selbst  auf  Erfolge  hinweisen  wollen,  ist  hier  Grund 
und  Ursache  eines  nachgerade  unhaltbar  gewordenen 
Zustandes.  — 

Einige  gute  Deutsche  in  Parket  und  Parketlogen 
konnten  sich  übrigens  mit  „Brava,  bravissima!"  wieder 
einmal  gar  nicht  genug  thun. 


Digitized  by  Google 


310 


Wagneriina.    Bd.  III. 


2.  Die  Boheme 

Lyrische  Komödie  in  vier  Akten;  Dichtung  und  Musik 
von  Ruggiero  Leoncavallo 

(1897) 

Ein  Anwachsen  des  „Italianismo"  auf  der  deutseben 
Opernbühne,  das  kein  vernünftiger  Mensch  erwarten 
konnte,  ist  seit  vorigem  Sommer  wieder  zu  verzeichnen. 
Seit  dem  Gastspiele  der  Stuttgarter  Oper  mit  Mas- 
cagni's  „Ratcliff"  in  Leipzig,  seit  der  Erstaufführung 
des  „Andre  Chenier"  von  Giordano  in  Hamburg,  der 
Puccin i'schen  „Boheme*  und  der  Spinelli'schen 
Oper  „A  batso  porto"  bald  darauf  in  Berlin,  hat  sich 
die  Windfahne  abermals  gedreht,  hat  eine  neue,  leidige 
Invasion  bei  uns  begonnen,  und  wird  demgemäss  auf  der 
ganzen  Linie  wiederfrech  zum  Angriffe  „Sturm!*  geblasen. 
Gegen  gewisse  Dinge  ist  eben  kein  Kraut  gewachsen; 
da  kann  es  zuletzt  nur  heissen:  „Ich  halt'  still,  wie 
Gott  will*,  der  mit  solcher  Landplage  und  Sintflut  als 
gerechter  Geissei  für  so  manche  arge  Unterlassungs- 
sünden oder  schwache  Stunden  unserer  berufenen  Kunst- 
wächter, die  Welt  des  schönen  Scheines  offenbar  schwer 
heim  zu  suchen  liebt.  Verlaufen  m  u  s  s  sich  auch  diese 
Flut  vom  A  bis  zum  Z  ja  unbedingt  wieder;  denn  alle 
„guten  Geister"  loben  Gott  den  Herrn,  selbst  wenn  er 
das  Obel  gelegentlich  auch  als  vorübergehende  Prüfung 
zu  unserer  moralischen  Erprobung  zulässt.  .  .  . 

Ein  weiteres,  bedeutsames  Glied  also  in  dieser  Ent- 
wicklungskette bildet  für  uns  jene  Leoneaval  1  o'  sehe 
„Bon eme"-Oper,  welche  unlängst  mit  grossem  Lärm 
„zum  ersten  Mal  in  Deutschland"  über  die  Bretter  der 
Hamburger  Opernbühne  geschritten  ist.  Je  nun,  dieses 
„zum  ersten  Mal  in  Deutschland"  —  es  hätte  wohl 
noch  einen  ganz  anderen  Klang  gegeben,  wenn  es  einem 


Digitized  by  Google 


Stagione  dell'  Opera  Italiana,  31 1 


von  unseren  deutschen,  bisher  erfolglosen  „bohkmiens" 
hätte  gelten  dürfen! 

„A  toi,  ma  bonne  Berthe,  qui  as  si  couragexisemeiit 
partage1  ma  bohbne!"  —  so  liest  man  am  Kopfe  der 
Partitur,  und  damit  sich  ja  kein  missverständlicher 
Rückschluss  einschleichen  mag,  hat  der  Komponist  aus- 
drücklich auch  noch  „A  Madame  Berthe  Leoncavatlo" 
als  Widmung  vorgeschrieben.  Dieser  liebenswürdige 
Familienzug  nimmt  zunächst  ohne  Zweifel  für  den 
Autor  und  sein  Werk  lebhaft  ein,  und  ich  muss  ge- 
stehen, dass  ich  eigentlich  mit  einem  günstigen  Vor- 
urteile zur  Premiere  mich  eingefunden  hatte.  Denn, 
hat  der  Mann  sich  in  dem  Stoffe  nicht  nur  ein  wirk- 
sames Libretto  ausersehen,  sondern  mit  eigenem  Herz- 
blute und  innerem  Ausdrucksdrang  einer  gemütreichen 
Innenwelt  geschrieben,  so  hat  er  eben  gegenüber  so 
manchen  blossen  Machern  unter  seinen  italienischen 
Genossen  gewiss  schon  einen  nicht  zu  unterschätzenden 
Vorzug  voraus.  Allein  —  allein !  Dem  Texte  seiner  „Bajazzi  • 
war  ja  auch  schon  solch  eine  Besonderheit  vorgedruckt 
—  nämlich:  »Zeit  und  Ort  der  wahren  Begebenheit 
ist  bei  Montalto  in  Galabrien,  am  15.  August  1865." 
Wie?  —  sollte  dieses  besondere  Moment  des  persön- 
lich Erlebten,  wirklich  Geschehenen  am  Ende  nur  einen 
geeigneten  Drücker  zur  wohlfeilen  Steigerung  des  Inter- 
esses mit  abgeben?  ...  so  etwa  wie  einer  zur  Erhöhung 
des  Wertes  seiner  eben  losgelassenen  Anekdote  noch  extra 
beteuert:  „Bin  selbst  dabei  gewesen!"  Zumal,  wenn 
man  am  Komponisten  in  eigener  Person  nun  die  fatale 
Rückbildung  des  Boheme-Problemes  bis  zu  dem  Punkte 
wahrnimmt,  wo  der  Künstler,  der  früher  am  Hunger- 
tuche der  Erfolglosigkeit  nagte,  nunmehr,  nach  dem 
grossen  Erfolge,  auf  seinen  Namen  allerlei  Minder- 
wertiges sündigen  darf,  ohne  dass  ihn  dieser  laute  Er- 
folg dabei  irgend  verliesse  —  zumal  dann  gewinnt  dieser 


Digitized  by  Google 


312 


Wagneriana.    Bd.  III 


schwarze  Verdacht  doch  recht  bedenklich  an  Boden. 
Und  zumal  der  Magstro  selbst,  der  sich  nach  jedem 
Akte  so  bereitwillig  dem  Hause  zeigte,  macht  in  seiner 
wohlgenährten  Behäbigkeit  ja  ganz  und  gar  nicht  mehr 
den  Eindruck,  als  ob  er  sich  der  Boheme  seines  eigenen 
Lebens  so  recht  lebhaft  noch  entsinnen  könnte.  Satt- 
werden scheint  demnach  doch  der  Ruin  der  Kunst  zu 
sein.  —  Indessen,  wir  wollen  die  alte,  sattsam  bekannte 
Leyer  hier  nicht  wieder  ableiern  und  lieber  beherzt 
einmal  prüfen! 

Liest  Unsereiner  H.  Murgers,  „Zigeunerleben-  ge- 
nannte, in  der  lebendigen  und  fein  pointierten,  ebenso 
geist-  wie  humorvollen  Schilderung  des  Litteraten-  und 
Künstlertreibens  aus  dem  Pariser  Quartier  latin  geradezu 
klassisch  zu  nennende  „Szenen",  so  wird  er  sich  vor 
Allem  davor  zu  hüten  haben,  von  seinem  eigenen  regen 
Interesse  für  diesen  Stoff  auch  auf  ein  solches  bei  der 
weiteren  Allgemeinheit  des  grösseren  Publikums  zu 
schliessen.  Allerdings  bildet  die  Boheme  eine  notwendige 
und  allgemeine  Durchgangsperiode  für  den  werdenden 
Menschen  —  das  ist  wahr,  und  die  Musik,  die  Kraft 
ihrer  Eigenart  im  Grunde  nur  den  Typus  charakterisiert, 
nicht  aber  den  Individualfall  detaillierter  ausdrücken 
kann,  müsste  bei  diesem  Vorwurf  also  eigentlich  ge- 
wonnen Spiel  haben.  Aber  wohlgemerkt,  es  handelt 
sich  um  eine  gemeinhin  gültige  Übergangserscheinung  im 
Menschen  nur,  insoweit  dieser  Mensch  zugleich  Künstler 
ist,  und  davor  hätte  die  Musik  doch  wohl  verlegen  ein- 
mal Halt  machen  sollen.  Und  hier  kommen  wir  gleich 
zum  zweiten  Punkt  unserer  sehr  wenig  erbaulichen 
Betrachtung:  der  Beobachtung  nämlich,  dass  nunmehr 
anscheinend  auch  auf  dem  Operngebiete  ganz  dieselbe 
Epidemie  einzureissen  beginnt,  die  schon  die  Schau- 
spiel-Produktion unserer  Tage  für  Viele  so  völlig  un- 
geniessbar  macht,  indem  sie  Litteratur-  und  Feuilleton-,. 


Digitized  by  Google 


« 

Stagione  dell'  Opera  Italiana. 


313 


Litteraten-  und  Künstlerdramen  zeitigt,  aber  keine 
allgemein  interessierenden  Menschheits-  und  Volks- 
dichtungen mehr  schafft.  Für  Jeden,  der  die  reizvollen, 
in  ihrer  Art  unvergleichlich  feinen  Murger'schen  Szenen 
9  Zigeunerleben  *  mit  kunstgebildetem  Auge  ansieht,  ist 
es  eine  ausgemachte  Sache,  dass  sie  sich  inhaltlich 
und  formell,  dem  Stoffe,  Umfang,  Charakter  und  Stile 
nach,  zu  einem  befriedigenden  und  ästhetisch  ausgleich- 
baren Opern -Sujet  nicht  eignen.  Thut  nichts  —  die 
Sache  wird  gemacht  I  Denn  dem  Zeitkolorit  kommt  die 
augenblickliche,  mehr  rückschauende  Mode- Neigung 
für  ein  „Restaurations"-Kostüm  heute  entgegen;  ein 
sapperment'scher  „Rattenfänger"  setzt  —  bald  trippelnd 
und  parlierend,  bald  schwelgerisch  ausladend  und  in 
einem  Thränenstrom  von  Lamentoso  zuletzt  sich  badend  — 
möglichst  viel  akzentuierte,  reichlich  dick  aufgetragene 
„Melodie"  dazu:  so  kommt  der  Erfolg,  wie  das  B  auf 
das  A,  und  das  liebe  Publikum  als  solches,  für  das 
noch  heute  der  Rummel  der  Wachtparade  oder  der 
Kastratengesang  so  etwa  die  Grenzpole  seines  Privat- 
geschmackes bilden,  es  hat  wieder  einmal  „sein  Recht" 
bekommen. 

Im  Grunde  aber  steht  eben  doch  sehr  zu  be- 
fürchten, dass  die  grössere  Allgemeinheit  unserer  Zu- 
schauer und  Zuhörer  —  so,  wie  p.  t.  Publikus  nun  schon 
einmal  beschaffen  ist  —  im  letzten  Winkel  ihres  Herzens 
weit  eher  mit  der  Philister-  als  mit  der  Künstler- 
welt  einem  solchen  Stoffe  gegenüber  sympathisieren 
werde.  Man  wende  mir  da  nicht  etwa  ein,  dass  Wagners 
„Meistersinger"  dieses  Wort  Lügen  strafen;  dass,  was 
ihnen  recht,  für  die  „Boheme"  wohl  billig  sei,  die 
ohnedies  nach  der  Murger'schen  Vorlage  als  eine  Art 
in's  Soziale  und  Moderne  übersetzter  „Meistersinger- 
Stoff  angesehen  werden  könnten:  wobei  denn  der  „an- 
kreidende" Beckmesser  zum  Wirt,  die  bequeme  Zunft 


Digitized  by  Google 


314 


Wagneriana.    Bd.  III. 


zur  friedliebenden  und  schlafmützigen  Spiessbürger- 
schaft,  der  aus  der  Singeschul  hinauskrakehlte  Ritter 
zum  „Exmittierten"  wird,  und  die  grosse  Prügelei  end- 
lich zu  einer  solchen  der  „Davidsbündler"  wider  die 
Philister  sich  gestaltet.  Das  hört  sich  alles  für  den  ersten 
Augenblick  wohl  ganz  gut,  ja  sogar  wie  eine  speziellere 
Rechtfertigung  Leoncavallo's  an.  Doch  bleibt  es  alles 
Scheinmanöver  und  eitel  Trugschluss.  Abgesehen  von 
dem  bei  Wagner  in  einer  ungemein  charakteristischen 
Wort-  und  Formensprache  ganz  wunderbar  gegebenen 
Zeit-  und  Ort-„Milieu",  ist  es  dort  auch  die  traute 
Heimlichkeit  altdeutschen  Kultur-  und  Städtelebens,  die 
herrliche  Natur-  und  Liebespoesie,  was  alles  —  zu- 
sammen mit  dem  tiefen  Humor  der  allsympathischen, 
die  Gegensätze  wieder  versöhnenden  Gestalt  des 
Meisters  Hans  Sachs  —  den  persönlichen  Einzelfall  der 
ästhetischen  Welt  zum  Reinmenschlichen  erhebt  und 
der  Musik  durchgängig  jene  Ideal  Sphäre  sichert,  ohne 
die  sie  in  Ethos  und  Pathos  nun  einmal  nicht  gesund  exi- 
stieren kann.  D  a  rin  gerade  lässt  aber  des  Leoncavalleristen 
etwas  müder  Theatergaul  (imitando  ü  genere  RonnanU!) 
gar  sehr  zu  wünschen.  Das  Milieu  ist  ihm  nicht  mit  dem 
entsprechenden  Parfüm  wiederzugeben  gelungen,  welches 
allerdings  beim  Musiker  auch  eine  feiner  gestaltende 
Hand  voraussetzen  würde,  als  sie  Leoncavallo  zur  Ver- 
fügung zu*  stehen  scheint  —  einzelne,  leichtfüssige 
Pi kante rieen  des  Rhythmus  erschöpfen  hier  noch  lange 
nicht  den  Geist  der  Sache.  Und  da,  wo  der  Komponist 
fühlte,  dass  er  diese  Seite  des  Thema's  noch  durch  ein 
grosses  Liebesdrama  herausputzen  und  in  höhere  Re- 
gionen versetzen  müsse,  ist  die  psychologische  Motivierung 
arg  lückenhaft,  die  Charakteristik  oft  sehr  unplastisch 
geblieben  und  der  ganze  Stil  —  um  eine  Bemerkung  des 
Murger-Übersetzers  hier  zu  paraphrasieren  —  aus  einem 
Plattdeutsch  der  Liebe  umgekehrt  zum  Hochdeutsch 


Digitized  by  Google 


Stagione  dell'  Opera  Italiana. 


315 


derselben  unnatürlich  hinaufgeschraubt.  Trotzdem  kommt 
es,  ausser  später  im  Sentimentalen  und  Larmoyanten, 
zu  keinem  rechten  Ausbau  dieses  „Liebesparadieses" 
und  zu  keinem  breiteren  Ausladen  seiner  zartsinnigen 
Gefühlsentwicklung;  obendrein  begreift  man  bei  Leon- 
cavallo  auch  gar  nicht,  warum  der  Maler  Marcell, 
jener  grosse  Sänger  vor  dem  Herrn,  bei  der  starken 
Fülle  seines  Lyrismus,  unter  den  „vier  Musketieren" 
aus  dem  Cafe  Momus  nicht  weit  eher  zum  Musiker 
veranlagt  gewesen  sein  soll! 

Ich  sagte  in  einer  Vornotiz  über  diese  Erst- 
aufführung, dass  der  Text  vom  Komponisten  aus  dem 
Originale  selbständig  recht  geschickt  zusammen  gestellt 
worden  sei.  Ich  meinte  damit  natürlich  nur  die  äussere, 
schriftstellerische  Mache,  welche  die  Einzelzüge  gewandt 
einzufügen  und  glücklich  unterzubringen  gewusst  hat,  in 
ihrer  Ganzheit  sich  also  immerhin  als  eine  respektable 
Privatleistung  kund  giebt.  Da  sind  denn  mitunter  einige 
ganz  lebendige  Episoden  und  drastische  Partieen  ent- 
standen, so  z.  B.  gleich  in  dem  Nebeneinander  von 
Billardspiel  und  Liebesgeständnis,  wo  u.  a.  die  lustige 
Wendung  sich  ergiebt,  dass  Musette  ihren  Marcell  fragt: 
„Wie  viel  Minuten  dauert  die  Lieb'  wohl  bei  dem 
Mann?0 .  .  .  Schaunard  aber,  seine  Points  zählend, 
hineinruft:  ,45!"  —  u.  dgl.  Scherze  mehr.  Auch  die 
Ensembles  sind  zumeist  wirksam,  einige  Glanznummern 
recht  effektvoll  herausgearbeitet.  Mit  dem  eigentlich 
dichterischen  Vermögen  sieht  es  aber  nichtsdesto- 
weniger windig  genug  aus  —  das  zeigte  sich  nament- 
lich gegen  den  Schluss  zu,  wo  die  Gestaltung  schmählich 
zerrinnt,  und  zuletzt,  wenngleich  das  Bewusstsein  für 
die  poetische  Notwendigkeit  einer  Abänderung  des  Spital- 
elendes bei  Murger  zu  Gunsten  der  Oper  beim  Kom- 
ponisten vorherrscht,  in  eine  leidige,  für  diesen  Fall 
ganz  unausstehliche  Verquickung  von  religiöser  An- 


Digitized  by  Google 


316 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Wandlung  und  Traviaten-Elend  ausklingt:  eine  Boheme, 
»die  Weihwasser  statt  Blut  in  den  Adern  hat*,  um  mit 
Murger  selbst  wieder  zu  reden  —  also  eine  unmögliche 
Boheme.  Auch  sonst,  was  eine  delikatere  Ausarbeitung 
der  feineren  Note  jenes  Humors  anlangt,  den  man  als 
»Grazie  des  Pumps"  bezeichnen  könnte  und  der  ein 
wesentliches  Merkmal  in  Murgers  „Zigeunerleben0  nun 
einmal  bildet  (allerdings  auch,  als  esprit  und  auf  einem 
differenzierten  Verhältnis  beruhend,  einer  Behandlung 
durch  Musik  sich  eigentlich  schon  wieder  verschliesst): 
auch  d  a  ist  der  Vergröberungsprozess  gegenüber  der  Unter- 
lage kaum  zu  verkennen.  Man  brauchte  nur  manchmal 
solche  herausgehobene  Stellen  mit  dem  Original  un- 
mittelbar zusammen  zu  halten,  um  da  und  dort  alsbald 
deutlich  wahrzunehmen,  dass  ein  Wesentliches  bei 
diesem  Übertragungsvorgang  „futechikato"  gegangen  ist: 
auf  Flaschen  abgezogen  —  beim  Teufel  ist  der  »Spiritus"! 
Der  Murger'sche  Humor  hat  hier  sozusagen  dieselbe 
Verwandlung  an  sich  erfahren,  wie  der  bewusste  »Herr 
Papa"  bis  zu  dem  Zeitpunkte,  da  ihn  der  leichtlebige 
Student  als  den  „ledernen"  bezeichnen  zu  dürfen  glaubt 
und  zum  alten  Philister-Krempel  wirft.  Dem  Blütenstaub 
ist  der  Duft  ausgegangen,  just  so  wie  den  Blumen  Mu- 
sette's,  die  nur  so  lange  prangen,  als  sie  von  der  Schönen 
emsig  begossen  werden  —  weil  sie  denn  ein  Symbol  ihrer 
Liebe  sein  sollen  und  sie  von  dieser  nicht  gerne  lassen 
möchte.  Leoneaval lo  hat  sich  mit  dem  aufmerksamen 
Begiessen  dieser  poetischen  Murger'schen  Blumen  eben 
nicht  allzu  viele  Mühe  gegeben,  sein  Verdeutscher 
vollends  den  Blumentopf  noch  gar  umgeworfen  —  über 
Herrn  „Ludwig  Hartmann  als  Übersetzer"  Hesse  sich 
wirklich  nachgerade  schon  ein  ganzes  Buch  schreiben. 

Besonderen  Genuss  bereitet  es  übrigens  immer 
wieder  auf's  Neue,  von  dem  rein  stofflichen  Inter- 
esse auf  die  reizvolle  Murger'sche  Vorlage  selber  zurück- 


Digitized  by  Google 


Stagione  dell'  Opera  Italiana.  317 


zugehen  und  ihre  feingeistige  Form  mit  vollen  Zügen 
zu  schlürfen.  Welcher  Esprit,  welch  eminente  Psycho- 
logie, welch  ein  subtiler  Spürsinn  liegt  vor  uns,  wenn 
wir  es  zur  Abwechslung  versuchen,  der  üblichen  Schul- 
leier für  höhere  Töchter  über  Shakespeares,  Goethes, 
Schillers  oder  Wagners  Frauengestalten  Murgers  Frauen- 
gestalten kecklich  einmal  gegenüber  zu  stellen!  „Ein  Wirt, 
der  ein  Franzos  will  sein,  wird  nie  vor  Damen  also 
schrei'n!"  sagt  Schaunard  in  unserer  Oper  wütend  zu 
Gaudenzio,  dem  Inhaber  des  Cafe  Momus.  Und  in 
der  That,  dem  Franzosen  muss  die  beste,  artigste  und 
intimste  Kenntnis  weiblichen  Charakters,  das  sensibelste 
Organ  in  der  Behandlung  des  Weibes,  nach  seinen  un- 
erschöpflichen Differenzierungen  des  Sexuellen,  nach- 
gerühmt werden.  Er  ist's,  der  das  Sprüchwort  „Chercliez 
Ja  femmel"  erfunden;  er,  der  für  das  prickelnd  launische, 
kapriziös  paradoxe  Wesen,  Weib  genannt,  die  ver- 
schiedensten Formeln  aufgestellt,  den  Typus  der 
Kamelien -Damen,  Koketten  und  Kokotten,  Grisetten 
und  Loretten,  armen  Löwinnen  und  Demi-  Mondainen, 
der  Madames  sam  Gene  und  der  Demie  -Vierges ,  haar- 
scharf erfasst,  ihn  prägnant  analysiert  und  klassisch  in 
die  Litteratur  eingeführt  hat.  Murger,  der  Dichter  des 
„Zigeunerlebens"  im  Pariser  Quartier  latin,  hat  da  nun 
in  seiner  „Musette"  noch  eine  ganz  neue,  nicht  minder 
gut  beobachtete  Nuance  hinzu  gefügt.  Dieses  „Musette" 
ist  nämlich  weit  weniger  als  Eigenname,  denn  vielmehr 
als  Gattungsbegriff  zu  verstehen.  Es  ist  nicht  die  höhere 
„Muse*  des  Dichters,  aber  auch  nicht  die  niedere 
„Grisette"  des  Studenten  —  ein  Zwischending  eben 
zwischen  Liebe  und  Kunst,  eine  Art  von  „Atnante* 
unter  dem  Gesichtswinkel  der  Litteratur,  oder  von 
„Chansonnette"  mit  der  Perspektive  einer  zarten  Liebe. 
Niemals  wird  einem  klarer,  dass  Sittlichkeit  etwas  auf 
verschiedenen  Menschheitsstufen  ganz  Verschiedenes 


Digitized  by  Google 


318 


Wagneriana.   Bd.  HI. 


sein  muss,  jede  Gesellschaftsklasse  ihre  eigene,  be- 
sondere Moral  haben  kann,  als  an  dem  Milieu,  wie  es 
aus  Murgers  köstlichen  Schilderungen  hervor  geht.  Für 
diese  bohemiem  bildet  die  eigentlichste  Unsittlichkeit  in 
der  Welt:  das  Geld.  Während  sie  selbst  die  freie 
Treue  ihrer  Mädchen  erwarten,  bestehen  deren  Ideale 
vornehmlich  darin,  sich  selbst  nicht  für  den  schnöden 
Mammon  zu  verkaufen.  Es  ist  ein  sehr  interessanter 
Parallelismus  in  unserem  Drama  —  die  geradezu  rührende 
Entwicklung:  wie  das  eine  der  Mädchen,  Mimi,  dessen 
Koketterie  der  Versuchung  nach  Seide  und  Sammt  zu- 
erst schwach  unterlegen,  später,  gegen  das  Ende  zu, 
nach  Erfahrungen  und  Entbehrungen  aller  Art,  durch 
Leiden  geläutert,  zum  besseren  Selbst  seiner  ersten 
und  einzig  wahren  Liebe  zurück  kehrt,  um  in  deren 
Armen  wenigstens  zu  sterben;  die  andere  (Musette) 
hingegen,  die  treu  bleiben  will  und  beim  Herzens- 
erwählten lange  ausharrt,  schliesslich,  durch  Kälte  und 
Hunger  gezwungen,  aus  leidiger  Notdurft  den  armen 
Maler  verlässt,  während  Euphemia  von  ihrem  Musiker  mit 
Entrüstung  davon  gejagt  und  einfach  „abgeschafft"  wird, 
nachdem  von  ihm  wiederholt  fremde  Photographieen 
und  Liebesbriefe  bei  ihr  vorgefunden  wurden.  Diese 
Euphemia,  die  leider  keine  Euphrosyne  ist,  —  diese 
ungebildete  Plätterin  mit  ihren  (im  Gegensatze  zu  einer 
anderen  Plätterin,  der  politisch -klugen  Madame  Sans- 
Gfine)  hochromantischen  Anlagen:  sie  ist  zwar  das 
naivste,  aber  jedenfalls  auch  das  minderwertigste  Glied 
dieser  „Gesellschaft",  indem  sie  aus  ihrem  Herzen  eine 
Kaserne  macht .  .  . 

Bezüglich  der  Musik  will  ich  gerne  verständig  sein 
und  zugeben,  dass  den  Italiener  von  Natur  eine  beneidens- 
werte Spontaneität  und  die  noch  unverdorbenste  Naivetät 
auszeichnet  —  eine  Eigenschaft,  die  den  Kritiker  auch  der 
schmetternden  Trompete  eines  Stimm-Protzen  wieTamagno 


Digitized  by  Google 


Stagione  dell'  Opera  Italiana. 


319 


seinerzeit  nicht  ernstlich  gram  werden  lassen  konnte. 
Diese  kritiklose,  gleichsam  durchgehende  Vorliebe  für 
das  Schmetternde  spricht  sich  in  Anlage  und  Bau  seiner 
melodischen  Ausladungen  als  Nationalerbe  mit  zwar  nicht 
minder  herzerquickender,  aber  nicht  immer  gleich  ohren- 
erfreuender Offenheit  aus;  und  mit  eben  dieser  Naivetät 
schreibt  selbst  der  vornehme  und  berühmte  Italiener 
von  Ruf  dann  nur  zu  oft  einen  banalen  Satz  mit  schuster- 
mässigen  Akkorden  hin,  deren  unbekümmerte  Anwendung 
in  deutschen  Landen  einen  mittelmässigen  Harmonie- 
studenten schon  schamrot  machen  könnte.  Anleihen  bei 
Mozart,  Wagner,  Chopin,  Verdi,  Bizet,  dann  wieder  bei 
Gounod,  Rossini,  Meyerbeer,  Mascagni  und  Joh.  Strauss 
machen  diese  Melodik  zwar  scheinbar  gewählter,  aber 
sicherlich  nicht  wählerischer.  Höchstens,  dass  wir  auch 
hier  —  stilvoll  —  von  einer  v Grazie  des  Pumpens" 
reden  dürften!  Wir  wollen  gewiss  nicht  in  den  Fehler 
Schumanns  verfallen,  der  an  Wagner  immer  den  Mangel  der 
choralmässig  soliden  Faktur  beanstandete  und  z.  B.  an  dem 
wilden  Ortrud-Motiv  rügte,  dass  sich  dazu  keine  Gegen- 
stimme kontrapunktieren  lasse;  dabei  aber  leider  gar  nicht 
sah,  dass  gerade  diese  Wagner'sche  Art  jenes  Element 
eines  mit  sich  Fortreissenden,  Drastischen  an  sich  hatte, 
das  jenem  zum  Dramatiker  sein  Leben  lang  eben  fehlte. 
Wir  werden  auch  in  diesem  neuen  Werke  Leoncavallo's 
manches  .Hinreissende"  gar  nicht  erst  leugnen.  So  viel 
aber  ist  wohl  allen  Kundigen  klar,  dass  dieses  Hin- 
reissende noch  nicht  die  innerlich  packende  Gewalt  des 
dramatischen  Ausdruckes  selber  ist.  Und  so  wenig 
wir  dem  „Modernen"  die  Anwendung  des  einfachen 
Reminiszenz -Motives  verargen  werden  —  das  steht 
doch  bombenfest,  dass  sich  mit  dem  systematisch  aus- 
gebauten „Leitthema"  ungleich  anständiger  in  gelegent- 
lichen Verlegenheitsfällen  erlahmender  Phantasie  weiter 
helfen  lässt  als  mit  der  unsäglich  traurigen  Homo- 


Digitized  by  Google 


320 


Wagneriana.    Bd.  III. 


phonie  solcher  dürftigen  Schusterflecke.  Zum  Mindesten 
kann  für  uns  diese  populär  so  eingängliche  Melodiosität 
produktiv,  für  die  künstlerische  Entwicklung  Leoncavallo's, 
kein  Aufsteigen,  sondern  nur  einen  Niedergang  bedeuten. 
Weit  besser  als  der  damit  bis  zum  Überdruss  aus- 
gepolsterte Schluss  des  Ganzen,  ist  der  Anfang  —  bis 
zum  Ausgange  der  ersten  Hälfte  des  Werkes,  wo  leicht- 
füssige  Rhythmen  und  pikantere  Harmonieen  eine  das 
Interesse  momentan  erregende,  willkommene  Würze 
verleihen.  Ebenso  stehen  wir  keinen  Augenblick  an 
zu  konstatieren,  dass  sich  hier  in  der  Anlage  wie  im 
Aufbau  lustiger  Gegenspiele  wie  komplizierter  En- 
sembles —  immer  unter  dem  Gesichtspunkte  der  nun 
einmal  beliebten  homophonen  Schreibweise  des  Kom- 
ponisten —  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Geschick, 
eine  kundige  Hand  und  ein  ausgezeichneter  Blick  für 
breitere  Massenwirkungen  verrät.  Und  wenn  man  nicht 
gerade  über  die  „Premiere"  mit  strengstem  Gewissen 
mehr  zu  urteilen  hat,  sich  sozusagen  etwas  bequemer 
gehen  lassen  darf,  so  seh'  ich  selbst  nicht  ein,  warum 
man  sich  an  diesen  ersten  beiden  Akten,  ihren  lebendigen 
Kontrasten,  den  mancherlei  geistvollen  Pointen  und 
dankbaren  Nummern  nicht  gelegentlich  ganz  gut  auch 
soll  amüsieren  können.  Aber  freilich,  schon  gegen  den 
Schluss  des  zweiten  hin  steht's  mit  der  musikalischen 
Erfindung  ernstlich  böse.  Die  grosse  Zigeuner-Hymne 
vollends  bedeutet  da  eine  gröbliche  Entgleisung;  denn 
das  ist  nicht  mehr  übermütig  geniale  Dithyrambik,  nicht 
Burleske  mehr,  noch  Groteskerie  —  das  ist  einfach 
Faschingsauskehr  bis  zur  Erschöpfung  tonkünstlerischer 
Phantasie,  die  wahrlich  derb  zerzaust  aus  der  nach- 
folgenden Prügelszene  hervor  geht  und  einen  schlimmen 
Katzenjammer  —  beim  Zuhörer  hinterlässt.  Jenes 
dionysisch-orgiastische  Lebenselement  der  Boheme,  das 
gelegentlich  sogar  den  höheren  Blödsinn  als  eine  ernste 


Digitized  by  Google 


Stagione  dell'  Opera  Italiana.  321 


Sache  hervor  bringt,  hat  hier  zu  einer  so  operetten- 
unter massigen  Nummer  geführt,  dass  der  Spass  auf- 
hört und  der  Zuschauer  Schaunards  Umfallen  symbolisch 
als  Signal  auch  für  sich  selbst  auffassen  muss  —  das 
„Lumpengesindel 41 -Spektakelstück  hat  uns  denn  in  derThat 
umgeworfen!  Wir  kannten  dereinst  einen  weisen  Mann, 
der  sprach  gerne  von  „komplizierten  Ohren".  Er  meinte 
damit  diejenigen,  welche  die  Eigenart  haben,  dichter 
gewobene,  dickflüssige  Melodik  gerade  besser  und  feiner 
hören  zu  können  als  dünne  und  durchsichtige;  wohin- 
gegen es  in  diesen  seinen  Organen,  wie  er  behauptete, 
bei  fadenscheiniger  Homophonie  immer  laut  „klatsche". 
Demnach  muss  ich  vermutlich  sehr  komplizierte  Ohren 
haben,  denn  ich  hörte  es  unter  der  Aufführung  schier 
unaufhörlich  „klatschen"  —  und  zwar  nicht  allein  das 
„hoch verehrliche  Publikum"  .  .  . 

Schon  wieder  also  hat  die  Hamburger  Opernbühne 
für  ein  fremdländisch  Werk  die  Kastanien  aus  dem 
Feuer  geholt.  Wir  fürchten  aber  doch  sehr,  sie  hat 
sich  einigermassen  die  Finger  dabei  verbrannt.  Denn 
so  rauschend  wohl  der  Erfolg  der  Neuheit  sich  äusser- 
lich  gestaltete,  ernste  Musiker  dürften  nach  Alledem 
kaum  von  den  musikalischen  Fortschritten  Leon- 
eaval lo's  durch  diesen  Abend  überzeugt  worden  sein. 
Der  Komponist,  der  ein  „Leon"  —  selbst  in  den 
„Bajazzi"  —  gewiss  niemals  gewesen  und  heute  schon 
als  ein  recht  lahmes  „Cavallo"  sich  darstellt,  ist  mittler- 
weile mit  seiner  Melodik  sogar  ein  wenig  „auf  den  Hund" 
gekommen;  zum  Mindesten  bedeutet  diese  neuerliche 
Attacke  der  „Leoncavallerie"  keinen  „Löwenritt".  Das 
eine  Gute  nur  hat  die  Sache  an  sich:  wenn  der 
Maestro  so  weiter  wirtschaftet,  werden  wir  mit  dem 
„Roland  von  Berlin14,  der  weniger  der  rasende  sein, 
als  andere  Leute  wahrscheinlich  rasend  machen  würde, 
zweifellos  dauernd  verschont  bleiben.    Oder  sollte  die 

Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  21 


Digitized  by  Google 


322 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Art  von  homophoner  Melodik,  die  er  zur  Zeit  mit  be- 
sonderer Vorliebe  pflegt,  just  als  die  „hoffähige-  sich 
heraus  stellen?  Aber  selbst  wenn  ein  mehr  rasierter 
als  rasender  „Roland  von  Berlin"  künftig  diesen  müden 
Theatergaul  noch  besteigen  und  mit  ihm  durch  die 
Wüste  veristischer  Deklamation  auf  Flügeln  trompetenden 
Gesanges  dereinst  einmal  einher  klappern  sollte  —  ein 
Pegasus  wird  aus  solcher  flügellahmen  Rosinante  nimmer- 
mehr werden,  und  „schön"  ist  eben  anders,  dafern  wir 
es  „deutsch  und  echt"  fassen  wollen.  Punktum  und 
Streusand  drauf  —  was  in  diesem  Fall  ungefähr  heissen 
mag:  „Schwamm  drüber**  über  diesen  Schwammerling! 


3.  Alberto  Gentiii:  „Weihnachten". 

<1900) 

Es  handelt  sich  hier  nicht  etwa  um  eine  Mailänder  oder 
Turiner,  sondern  merkwürdigerweise  um  eine  Münchner 
„Premiere",  deren  ich  hier  kurz  noch  gedenken  möchte: 
„Weihnachten",  einaktige  Oper  nach  dem  Schauspiel: 
„On  die  de  NaUü"  des  E.  Richetti  von  Alberto  Gentiii. 
Dieser  zur  Abwechslung  in  der  bayrischen  Residenz 
lebende  und  hier  auch  einer  kgl.  hoftheaterlichen  Ur- 
Aufführung  gewürdigte  genttluamo  —  kein  Mensch 
kennt  ihn  sonst  —  dürfte  einer  jener  Salon- Wagnerianer 
des  glatten  Parkettes  sein,  wie  sie  gerade  hier  zu  Lande 
zu  Dutzenden  gedeihen,  gleich  schockweise  herumlaufen 
und  schon  aus  gutem  Ton,  nobler  Passion  und  alter 
Tradition  gelegentlich  recht  geschickt  zu  instrumentieren 
verstehen.  Dramatische  Ansätze  sind  ja  auch  wohl  vor- 
handen —  im  Orchester,  nicht  aber  in  der  Gesangs- 
melodie auf  der  Bühne  droben,  und  so  fehlt  wieder- 
holentlich  recht  merkbar  eben  das  Fleisch  zum  Gerippe,  trotz 


Digitized  by  Google 


Stagione  delP  Opera  Italiana. 


323 


allen  guten  Klangsinnes  im  Chor-  oder  Orchestersatze. 
Obendrein  steht  unser  maestro  zu  seinen  Landsleuten: 
Mascagni  —  Leoneaval lo  —  Puccini  —  Spinelli  so  etwa 
wie  „Violinen  con  sordinim  zu  offenen  Trompetenstössen 
und  vollen,  brausenden  Posaunenklängen;  alles  ist  in 
eitel  Sentimentalität  bei  ihm  getaucht,  trieft  ordentlich 
von  Weichmütigkeit  und  Rührseligkeit  in  seiner,  eher 
stockenden  als  „unendlichen",  Melodie:  die  gute  alte, 
echt  italienische  Kantilene  scheint  wirklich  zu  ihren 
Vätern  versammelt I  So  sind  sie  denn  nicht  mehr 
ordentliche  Italiener  und  wiederum  keine  vollen  Deut- 
schen, und  uns  armen  Kritikmännern  bleibt  der  zweifel- 
hafte Genuss,  mit  diesem  Hermaphroditismus  —  nicht 
Fisch  nicht  Fleisch,  nicht  warm  nicht  kalt,  nicht  Für 
noch  Wider  —  uns  je  nach  Anlage,  so  gut  es  eben  gehen 
will,  abzufinden. 

Ob  diese  nirgends  anderswo  bereits  gegebene  Oper 
in  der  grossen  Wagnerstadt  übrigens  wohl  daran  ge- 
kommen wäre,  wenn  sie  nicht  starker  Protektion  eines 
auch-komponierenden  liebenswürdigen  Prinzen  sich  zu 
erfreuen  gehabt  hätte?  Dass  solche  hohe  Herren  doch 
endlich  einsehen  oder  wenigstens  empfinden  möchten, 
welch'  schlimmen  Dienst  sie  damit  ihren  Schützlingen 
zumeist  erweisen!  Manchmal  kann  dergleichen  zufälliger 
Weise  ja  doch  auch  einmal  etwas  Gutes  und  künstlerisch 
Wertvolles  treffen;  denn  selbst  Siegm.  von  Hauseggers 
Oper  „Zinnober"  soll  dereinst  ja  diesem  Schicksale  (dass 
sich  nämlich  ein  hoch  geborener  Dilettant  für  die  Auf- 
führung besonders  verwandte)  nicht  entgangen  sein. 
Nur  unwillig  gehorcht  aber  dann  der  Intendant,  knurrend 
gleichsam,  wie  der  Hund  an  der  Kette,  folgen  Dirigent  und 
die  dazu  befohlene  Künstlerschar  dem  „höheren  Winke", 
und  nach  zwei  bis  höchstens  drei  Abonnement-  und 
Anstands- Aufführungen  wird  das  Werk  alsbald  wieder 
ad  acta  gelegt,  das  sonst,  wenn  es  sich  nur  hätte  be- 

21* 


Digitized  by  Google 


324 


Wagneriana.    Bd.  III 


scheiden  und  seine  Zeit  trotzig  erwarten  wollen,  viel- 
leicht weit  mehr  Vorführungen  im  Ganzen  gesehen  und 
erlebt  haben  würde.  —  Nun,  bei  unserer  „Weihnachts- 
oper" brauchen  wir  allerdings  wohl  keinerlei  Besorgnisse 
dieser  Art  weiter  zu  hegen.  Genau  so,  wie  gewisse 
christlich-kindliche  Weihnachts-Feuilletons  dies  zu  thun 
pflegen,  welche  den  warmen,  leuchtenden  Schein  der 
Weihnachtskerzen  so  gerne  zur  „Scheinheiligkeit"  miss- 
brauchen, hinterliess  auch  diese  überaus  edle  Christbaum- 
geschichte in  Musiknoten  keinen  irgendwie  tieferen 
Eindruck  auf  die  musikdramatische  Weltgeschichte. 
Und  als  vernünftigen  Ersatz  für  das  übliche  „Weihnachts- 
märchen" der  Kinder  kann  es,  ungeachtet  seiner  leichten 
Reminiszenzen  (gelegentlich)  an  „Hänsel  und  Gretel", 
nun  schon  ganz  und  gar  nicht  in  Betracht  kommen.  Denn 
jedenfalls  ginge  ihre  Tendenz  als  „moralische  Jugend- 
erzählung" allein  schon  deshalb  nicht  gut  für  uns  an,  weil 
ja  eine  Verführungs-Vorgeschichte  im  Mittelpunkte  der 
ganzen  Handlung  steht,  und  zwar  eine  solche  an  der 
ältesten  Tochter  des  Hauses,  die  natürlich  just  am 
heiligen  Abende  (da  die  kurz  vorher  noch  so  heftig 
fluchenden,  unerbittlich-strenge  zürnenden  und  hartnäckig 
verstossenden  Menschen  aus  thränenfeuchter  Choral- 
stimmung heraus  Alle  ohne  Ausnahme  mit  einem  Male 
so  brav,  weichherzig  und  gut  werden)  vom  eigenen 
Vater  auch  endlich  wieder  in's  Haus  aufgenommen 
wird.  Verziehen  und  —  vergessen:  das  ist  des  Sängers 
Fluch !  .  .  . 

Vielleicht  hätte  ich  also  lieber  auch  hier  verzeihen 
und  —  vergessen,  d.  h.  an  dieser  Stelle  völlig  davon 
schweigen  sollen.  Allein,  der  Fall  war  typisch:  zu 
charakteristisch  für  das  ganze  Thema  „Richard  Wagner 
und  das  Ausland",  und  für  unseren  Münchner  Herrn 
Intendanten. 


Digitized  by  Google 


Giuseppe  Verdi  in  deutscher  Beurteilung 

(1901) 

.Ein  Vivat!"  (Falstaff;  III, 2.) 

Wieder  ein  „Säkularmensch"  dahin  gegangen,  einer 
von  denen»  die  des  verflossenen  Jahrhunderts  Zierde 
gewesen  sind  und  des  Lebens  vollstes  Mass  in  ihrer 
Person  erschöpft  wie  ausgekostet  haben!  Ist  es  etwa 
gar  auf  Grund  der  politischen  „Tripel- Allianz",  unserer 
so  angenehmen,  freundschaftlichen  Beziehungen  zum 
italienischen  Staate,  dass  heute  auch  wir  Deutsche  nicht 
mehr  anstehen,  dem  Heimgange  dieses  Ausländers, 
dieses  charakteristischen  Repräsentanten  seines  zu 
politischer  Selbständigkeit  erwachten,  zum  Anschlüsse  an 
Deutschland-Österreich  reif  gewordenen  Landes,  unsere 
Trauer  und  Ehrfurcht  zu  bezeugen?  Oder  wie  kam  es 
wohl,  dass  selbst  Deutsche  diesen  Hingang  nun  als 
schmerzlichen  Verlust  empfinden  und  dem  jüngst  Ver- 
blichenen Lorbeer  und  Palme  auch  ihrerseits  aufs  frische 
Grab  legen?  —  Deutsche,  die  seiner  Meisterpersönlichkeit 
zwar  sicherlich  allseitig  die  aufrichtigste  und  tiefste  Wert- 
schätzung entgegen  bringen,  auch  dem  bedeutenden  Ab- 
schlüsse seiner  künstlerischen  Laufbahn  den  wärmsten 
Dank  widmen  dürfen,  aber  seinem  Tagewerke  doch  nicht 
gerade  ein  nationales  Verständnis  zu  bieten  hatten,  noch 
vielleicht  ihm  innigere  Liebe  je  zu  weihen  vermochten. 
Ja,  wie  geschah  dies  nur?  .  .  . 


Digitized  by  Google 


326 


Wagneriana.    Bd.  III. 


„Und  wälschen  Dunst  mit  wälschcm  Tand 
Sie  pflanzen  uns  in's  deutsche  Land!"  — 

Wenn  Wagner  seinen  Hans  Sachs  in  den  „ Meister- 
singern" so  reden  lässt,  so  ist  nach  Lage  der  damaligen 
Verhältnisse  ohne  Weiteres  anzunehmen,  dass  er  mit 
diesem  Worte,  ausser  allenfalls  noch  Rossini's  „Teil" 
und  Gounods  „Margarethe",  den  ganzen  Meyerbeer 
und  den  Verdi  (zum  Mindesten  bis  1865)  gemeint  habe. 
Hiess  es  doch  noch  zu  Anfang  der  siebziger  Jahre  bei 
Wagner  deutlich  genug:  „Hörten  Goethe  und  Schiller, 
wie  sie  zu  ihrer  Zeit  durch  Aufführungen  der  ,Iphi- 
genia'  und  des  ,Don  Juan'  zu  ungemeinen  Hoffnungen 
angeregt  wurden,  jetzt  solch  eine  «Propheten'-  und 
,Trovatore'-Aufführung  unserer  Tage,  so  würden  sie 
über  den  früheren  Eindruck  als  einen  jetzt  schnell  zu 
berichtigenden  Irrtum  jedenfalls  verwunderlich  lachen 
müssen.41  Und  hatte  es  doch  schon  um  ein  Lustrum 
früher  bei  ihm  gelautet:  „Der  Erfolg  der  Zusammen- 
fassung der  geistigen  Kräfte  unserer  Künstler  auf  einen 
Styl  und  auf  eine  Aufgabe  (bei  den  Bayreuther  Fest- 
spielen nämlich)  ist  allein  schon  nicht  hoch  genug  an- 
zuschlagen, wenn  man  erwägt,  wie  wenig  Erfolg  von 
solchem  Studium  unter  den  gewöhnlichen  Verhältnissen 
zu  erwarten  wäre,  wo  z.  B.  derselbe  Sänger,  der  Abends 
zuvor  in  einer  schlecht  übersetzten  Oper  sang,  Tags 
darauf  den  Wotan  oder  Siegfried  einüben  soll.  Mit 
bitterem  Groll  vernahm  Ludwig  Schnorr  während  der 
,Tristan'-Aufführungen  in  München  die  aus  Dresden  ihm 
zukommenden  drängenden  Aufforderungen,  an  einem 
bestimmten  Tage  zur  Probe  von  Troubadour  oder  Huge- 
notten zurück  zu  kehren." 

Aber  auch  Hans  von  Bülow,  der  doch  1852 
bereits  (in  einer  Weimarer  Besprechung  des  „Ernani") 
„den  Melodieenreichtum  Verdi's"  klaren  Auges  sieht 
und  ebenda  „sein  starkes  theatralisches  Talent"  mit 


Digitized  by  Google 


Giuseppe  Verdi  in  deutscher  Beurteilung.  327 


warmen  Worten  anerkennt;  der  weiterhin  (1858)  „Bühnen- 
gewandtheit und  Verve"  als  die  Punkte  bezeichnet,  in 
„welchen  nur  ein  engherziger  deutscher  Philister  dem 
unleugbaren  Talente  oder  Temperamente  Verdi's  zu 
nahe  treten  kann4*  —  und  der  endlich  20  Jahre  später 
den  Meister  „wie  in  seiner  früheren  Rohheit,  so  selbst 
in  seiner  gegenwärtigen  Verzwicktheit  denn  doch  einen 
anderen  Kerl0  als  Ambroise  Thomas,  den  Komponisten 
der  „Hamlet"-Oper,  nennt:  auch  dieser  Bülow  zieht 
immer  wieder  Vergleiche  zwischen  Meyerbeer  und 
Verdi,  spricht  bei  dem  italienischen  Opernschöpfer 
vom  „Attila  der  Kehlen",  scheint  selbst  noch  im 
„Ai  da" -Werke,  nach  der  damaligen  mächtigen  Reklame 
dafür,  etwas  wie  Meyerbeer'schen  „Propheten "-Taumel 
zu  wittern  und  ergeht  sich  1874  über  das  Verdi'sche 
„Manzoni-Requiem"  mit  kritischen  Ausfällen,  wie  den 
folgenden:  „Das  zweite  Ereignis  wird  die  morgen  Vor- 
mittags in  der  hierfür  theatralisch  hergerichteten  Kirche 
San  Marco  vom  Autor,  Senator  Giuseppe  Verdi,  ausnahms- 
weise selbst  geleitete  Monstre- Aufführung  seines  .  .  . 
Requiems  sein,  mit  welchem  der  allgewaltige  Verderber 
des  italienischen  Kunstgeschmackes  —  und  Beherrscher 
dieses  von  ihm  verdorbenen  —  vermutlich  den  letzten, 
seinem  Ehrgeiz  unbequemen  Rest  von  Rossini's  Un- 
sterblichkeit hinweg  zu  räumen  hofft .  .  .  Seine  neueste 
Oper  im  Kirchengewande  wird,  nach  dem  ersten  Schein- 
kompliment an  das  Andenken  des  gefeierten  Dichters 
zunächst  drei  Abende  hindurch  in  der  Scala  den  Händen 
des  weltlichen  Enthusiasmus  überantwortet  werden, 
worauf  dann  unverzüglich  in  Begleitung  der  von  ihm 
eigens  dressierten  Solosänger  die  Wanderung  nach  Paris, 
zur  Krönung  des  Werkes  in  diesem  ästhetischen  Rom 
der  Italiener,  angetreten  werden  soll.  Verstohlene  Ein- 
blicke in  die  neueste  Offenbarung  des  Komponisten 
von   Trovatore   und  Traviata  haben   uns  nicht  eben 


Digitized  by  Google 


328  Wagneriana.    Bd.  III. 


lüstern  nach  dem  Genüsse  dieses  Jestiral1  gemacht,  ob- 
wohl wir  dem  Maestro  das  Zeugnis  nicht  versagen 
können,  dass  er  sirh's  diesmal  hat  weidlich  sauer  werden 
lassen.  So  ist  u.  A.  di*»  Schlussfuge,  trotz  vieler  Schüler- 
haftigkeiten,  Abgeschmacktheiten  und  Hässlick weiten,  eine 
so  fleissige  Arbeit,  dass  manener  deutsche  Musiker  eine 
grosse  Überraschung  davon  erleben  wird.  Im  All- 
gemeinen herrscht  aber  der  Stil  seiner  neuesten 
Periode,  wie  ihn  Berlin  und  Wien  durch  die  ATda 
kennen  gelernt  haben,  vor:  jener  Stil,  über  den  ein 
witziger  Gesangslehrer  an  der  Donau  äusserte,  dass 
derselbe  sich  sehr  zu  seinem  Nachteil  verbessert  habe"  . . . 

Wiederum  von  einem  Meister  wie  Johannes 
B  r  a  h  m  s  erfahren  wir  aus  J.  V.  Widmann's  gehaltvollen 
„Erinnerungen«,  dass  in  Italien  „die  Opernaufführungen 
für  ihn  wenig  Lockendes  gehabt  hätten,  obschon  er  für 
den  Meister  Verdi  grosse  persönliche  Achtung  hegte, 
ihn  als  einen  prächtigen  Vollblutmusiker  mit  warmen 
Worten  pries  und  sich  u.  A.  freute,  dass  Verdi  in 
seinen  Lebensgewohnheiten  .  .  .  ihm  selbst  so  ähnlich 
sei"  u.  s.  w.  Und  im  86.  Neujahrsheft  der  „Musik- 
gesellschaft in  Zürich"  wird  von  A.  Steiner,  als  von 
Dr.  Fried r.  Hegar  mitgeteilt,  folgende  Anekdote  berichtet: 
„Als  Bülow  im  Jahre  1874  sich  mit  Geringschätzung 
über  das  Requiem  von  Verdi  geäussert  hatte,  ging 
Brahms  in  die  Musikalienhandlung  von  Hug  in  Zürich, 
Hess  sich  den  Klavierauszug  geben  und  las  ihn  durch. 
Als  er  fertig  war,  sagte  er:  ,Bülow  hat  sich  unsterblich 
blamiert,  so  etwas  kann  nur  ein  Genie  schreiben*."  — 
Hans  von  Bülow  aber  hat  sich  damit  nicht  unsterblich 
blamiert.  Er  war  damals  —  ezempla  trahunt!  —  nur  eben 
in  seinem  Urteile  noch  nicht  so  weit  gediehen  und  hatte 
im  Übrigen  ausdrücklich  ja  die  meisterliche  Schluss- 
fuge und  die  darin  für  deutsche  Musiker  zu  erlebende 
Überraschung  bedeutsam  hervor  gehoben.    Zudem  er- 


Digitized  by  Google 


Giuseppe  Verdi  in  deutscher  Beurteilung. 


329 


wähnt  eine  Vorbemerkung  des  Herausgebers  seiner 
Schriften  an  entsprechender  Stelle  (S.  307  ff.)  noch  be- 
sonders, dass  Bülows  „Gerechtigkeitsgefühl  nach  dem 
Erscheinen  von  Verdi's  letzten  Werken  eine  Zurück- 
nahme des  allzu  verneinenden  Urteils  von  ehedem  ge- 
fordert habe".  Diese  feierliche  Zurücknahme  erfolgte 
denn  auch  in  einem  interessanten  Briefe  an  Verdi 
selbst,  der  mir  zwar  leider  im  Augenblicke  nicht  zu- 
gänglich ist,  der  aber  —  so  viel  weiss  ich  davon  — 
weit  anders  gelautet,  eine  ganz  andere  Tonart  alsdann 
angeschlagen  hat,  wie  noch  Oktober  1877  jene  Stelle 
eines  Musikbriefes  seiner  Feder  aus  Brüssel,  worin  er 
schrieb:  „Auch  hat  niemals  meine  Pietät  für  Shakespeare 
mich  gereizt,  den  Herren  Verdi  und  Taubert  z.  B. 
aus  der  Übertragung  des  ,Macbeth*  auf  Notenpapier  ein 
Verbrechen  zu  machen,  wenn  ich  auch  finden  musste, 
dass  Nicolai  in  seinen  »Lustigen  Weibern  von  Windsor4 
dem  grossen  Briten  eine  bessere  Ehre  erwiesen  hat." 
Sogar  noch  1882  hatte  es  ironisch  von  Verdi'schen 
„Zauberklängen«  bei  ihm  geheissen.  — 

Mit  vollster  Absicht  habe  ich  alle  diese  Anführungen 
aus  Wagner  und  Bülow,  über  Bülow  und  Brahms  hier 
gegeben.  Sie  bezeichnen  klar  die  Grundlinie,  den  Typ 
der  Entwicklung  des  Urteiles  über  Verdi  im  musikalischen 
Deutschland, bis  zuletzt  selbst  auch  der  „fortgeschrittenste" 
Wagner -Jünger,  und  zwar  dieser  noch  weit  eher  als 
der  konservative  Wagnerianer,  bezwungen,  dem  idealen 
Ausklange  dieses  reich  gesegneten  Lebens  seine  Reverenz 
nicht  mehr  vorenthalten  konnte.  In  der  That,  noch  die 
„Aida"  hatte  in  uns  Allen  den  starken  Verdacht  der 
Effekthascherei  erweckt,  so  sehr  sie  uns  auch  in  ihrem 
gehaltvoll-vornehmen  Wesen,  wie  durch  die  Abgeklärtheit 
ihrer  geläuterten  Formen  lebhafter  bereits  interessierte. 
Indes,  das  aufdringlich  Dekorative  einer  mehr  äusser- 
lichen  „Meiningerei«  und  die,  von  G.  Ebers  sich  her 


Digitized  by  Google 


330 


Wagneriana.    Bd.  III. 


datierende,  ägyptisch-archaistische  Strömung  in  unserer 
so  genannten  deutschen  „Bildung"  —  diese  Moden  waren 
ihr  bei  unserem  Theater-Schaupöbel  damals  wohl  sehr 
zu  Hilfe  gekommen.  Beim  „Requiem"  vermissten  wir 
zwar  stark  den  kirchlichen  Ton,  wurden  aber  doch  mit 
Hans  von  Bülow  über  so  manches,  bei  und  an  Verdi 
Unerwartete  rechtschaffen  stutzig;  auf  der  Tonkünstler- 
versammlung zu  Sondershausen  1886,  anlässlich  der 
Vorführung  des  wertvollen  „Streichquartettes",  steckten 
wir  gar  schon  ernsthaft  die  Köpfe  zusammen.  Mochte 
nun  vielleicht  der  Eine  und  der  Andere  von  uns  durch 
irgend  eine  Wiener  oder  Dresdener  Aufführung  auch 
einer  älteren  Oper  Verdi's  (z.  B.  unter  dem  geist- 
sprühenden, temperamentvoll  prickelnden  Schuch)  ge- 
legentlich eine  Ahnung  davon  bekommen  haben,  was  es 
mit  dem  „dramatischen  Nerv"  und  „frischen  Theaterblut* 
bei  diesem  italienischen  Opernklassiker  der  Neuzeit  auf 
sich  habe,  und  dass  man  seiner  arg  geschmähten  „trivialen 
Melodik"  nicht  etwa  mit  unserem  Geschmacke,  nach 
germanischem  Empfinden,  sondern  eben  mit  südlicher  Be- 
seelung und  leidenschaftlicher  Belebung,  in  mehr  roma- 
nischer Darstellung  zuletzt,  beikommen  müsse  —  trotzdem 
gab  man  sich  vorerst  nur  mit  äusserster  Reserve  dem  Ein- 
drucke auch  seines  „Othello"  hin,  beinahe  wider  Willen 
gewann  man  sich  selbst  noch  diesem  Werke  gegen- 
über die  schuldige  Hochachtung  ab.  Und  hatte  man's  dann 
endlich  zu  einer  solchen  in  gebührendem  Masse  ge- 
gebracht —  nun,  so  begriff  man  noch  immer  schlechter- 
dings gar  nicht,  was  denn  wohl  das  von  so  vielen  Seiten 
übereinstimmend  betonte  „Wagnerische"  in  dieser  Neuheit 
sein  sollte,  obwohl  bei  uns  in  Deutschland  doch  zugleich 
erste  Wagner-Sänger  (wie  z.  B.  Heinrich  Vogl)  die  Titel- 
rolle glänzend  vertraten.  Erst  mit  dem  köstlichen  „Falstaff" 
waren  alle  Herzen  dauernd,  dann  aber  auch  im  Sturme 
gewonnen  —  der  Mensch  Verdi,  der  überlegene 


Digitized  by  Google 


Giuseppe  Verdi  in  deutscher  Beurteilung.  331 


„Meister",  der  grosse  Humorist  des  Lebens,  der  sich 
vom  .Patrioten"  zum  Kosmopoliten,  vom  revolutionären 
Tyrtäus  seines  Volkes  zum  „guten  Europäer"  mittler- 
weile entwickelt,  er  hatte  es  uns  mit  einem  Male  an- 
gethanl  Während  denn  viele  andere  Meister  der  Musik- 
geschichte —  der  Himmel  bewahre  uns  davor,  auf  das 
allbekannte:  „Jeune  cocotte  —  vieiüe  bigotte!*  hierbei  an- 
spielen zu  wollen  —  während  sie,  wie  z.  B.  Hayd'n, 
Mozart  und  Beethoven,  Wagner,  Liszt,  Ritter,  Brahms, 
Bruckner  u.  A.,  mit  tief-religiösen  Schöpfungen,  zum  Teil 
in  hohem  Greisenalter,  vom  Leben  ernst  Abschied 
nahmen,  schien  dieser  ewig  junge,  unverwüstlich  frische, 
ja  „immergrüne"  Verdi  mit  einem  „Alles  ist  Spass  auf 
Erden!  .  .  .  Lauter  Gefoppte!"  .  .  .  hoch  betagt,  an  seines 
Lebens  Scheide,  sich  über  dieses  Leben  selbst  noch  zu 
belustigen,  schien  er  in  höchster  Weisheit  eines 
biblischen  Alters,  völlig  ungebrochen,  sich  über  diese 
Welt  frei  noch  hinaus  zu  schwingen. 

Auch  er  hat  ja  schliesslich  seine  eigenen  „Vier 
ernsten  Gesänge"  einer  heiligen  Betrachtung  der  Dinge 
noch  geschrieben.  Aber  wirklich,  jener  „Falstaff"-Schluss 
damals  —  er  war  nicht  mehr  nur  ein  beliebiges 
„Libretto",  er  war  sogar  auch  mehr  als  nur  die  ge- 
schickte Neu-  und  Wiederdichtung  eines  Standard  voork 
der  Weltliteratur:  das  klang  schon  wie  „Weltanschauung" 
eines  Höhen-Menschen  —  und  wie  „klang"  es  noch  dazu 
aus  der  unvergleichlichen  Partitur  dieses  cJief-d'oeuvre 
heraus,  in  sprudelnder  Laune,  der  gesamten  zivilisierten 
Menschheit  entgegen!  Mit  einem  Blick  übersah  man 
nun  auf  einmal  —  retrospektive  —  an  diesem  seltenen 
Talent  die  ganze  Vernunft  seines  Werdeganges.  Jetzt 
entdeckte  man  auch  den  gewissenhaften  Ernst  bei  diesem 
Dramatiker,  dessen  Ausdruck  sich  vom  national  auf- 
lodernden Gefühle  zu  einem  höheren  Weltempfinden  er- 
weitert hatte,  und  der  in  anhaltender  Selbstvervollkomm- 


Digitized  by  Google 


332 


Wagneriana.    Bd.  III. 


nung  aus  einem  Künstler  des  unfehlbaren  Instinktes 
zum  Vollreifen  Meister  edelsten,  sublimiertesten  Kunst- 
verstandes allmählich  geworden  war.  „In  holder  Jugend- 
zeit, wenn  uns  von  mächt'gen  Trieben  zum  sel'gen 
ersten  Lieben  die  Brust  sich  schwellet  hoch  und  weit: 
ein  schönes  Lied  zu  singen,  mocht*  Vielen  da  ge- 
lingen —  des  Lebens  Lenz,  der  sang  für  sie.  Kam 
Sommer,  Herbst  und  Winterszeit,  viel  Not  und  Sorg* 
im  Leben,  manch*  ehlich  Glück  daneben,  Volks  wähl, 
Geschäfte,  Zwist  und  Streit;  denen's  dann  noch  will 
gelingen,  ein  schönes  Lied  zu  singen  —  seht,  Meister 
nennt  man  die." 

In  der  That,  das  war  ja  eine  Exemplifikation  auf 
jenes  Wagnerwort  selber  aus  den  „ Meistersingern".  Hier 
war  einem  R.  Wagner  durch  den  „Wälschen"  selbst 
genug  geschehen  —  nun  konnte  sich  sogar  auch  der 
„Wagnerianer"  hübsch  beruhigen!  Und  jetzt  vollends 
sah  man  zugleich  —  ja  musste  sogar  mit  Händen  nach- 
gerade greifen  —  die  umfassende  tiefe  Bildung  dieses 
ausgezeichneten  Geistes;  erkannte  man  auf  einmal  seine, 
in  der  Vorliebe  sowohl  für  germanische  Stoffwelten, 
wie  auch  für  französische  und  spanische  Litteratur  lange 
schon  vorschlagenden,  „weltliterarischen"  Neigungen. 
Nunmehr  nahm  man  bewundernd  die  klare  Linie  der 
Entwicklung  wahr,  in  welcher  er  vom  Wortführer  seines 
Volkes  in  den  Zeiten  der  Not  und  der  Drangsal,  konse- 
quent über  die  beiden  Pariser  Weltausstellungen  (1855 
und  1867)  hinweg,  über  Aufführungen  zu  Wien,  Berlin, 
London,  St.  Petersburg,  Spanien,  Kairo  und  Amerika 
hinaus,  zum  Spruchsprecher  einer  ganzen  „modernen" 
Welt  sich  gebildet  hatte.  Ja,  was  sage  ich?  Noch  weit 
mehr!  Dieses  unsagbar  heitere:  „Doch  besser,  fürwahr, 
lacht  keiner,  als  wer  am  Ende  lacht!"  —  es  hat  nicht 
nur  schon  damals  gegen  den  „Verismo"  stürmenden 
und  drängenden  Jung-Italiens",  als  Kunstideal,  wacker 


Digitized  by  Google 


Giuseppe  Verdi  in  deutscher  Beurteilung. 


333 


Stand  gehalten,  es  hat  sich  sogar  bis  in  die  allerletzten 
Tage  hinein,  den  Mascagni'schen  „MascJiere"  gegenüber, 
als  Lebensmotto  des  Alten  durchaus  noch  bewähren  sollen. 
Und  warum?  Weil  dieses  „heilige"  Lachen  den  Ernst 
eines  ganzen  Lebens  zugleich  mit  in  sich  be- 
greift, wo  jenes  die  Lächerlichkeit  des  Daseins  zur 
„ maskierten"  Grimasse  eines  grimmigen  Ernstes  gerade 
verzerrt,  oder  aber  die  Daseinstragödie  ohne  alles  be- 
freiende Lachen  in  die  Bajazzo-Fratze  einer  Schein- 
komödie kleidet.  Ein  wilder  Seelenschmerz,  das  „am 
Leben  leiden"  ist  vielleicht  noch  jener  Beiden  (Mascagni — 
Leoncavallo)  bestes  Teil,  wo  Dieser  in  ruhiger  Heiterkeit 
eben  „zuletzt  am  besten  lacht".  Denn:  unter  Krämpfen 
und  Krisen  lachen  und  noch  im  Anblicke  des  Todes 
tanzen  —  das  hatte  der  Weise,  Alte  (mit  „Einen  Tag 
König",  „Rigoletto"  und  „Maskenball")  bereits  längst 
und  weit  hinter,  richtiger  sogar  noch:  unter  sich  . . . 

War  Verdi  nun  ein  Genie  zu  nennen?  Wurde  er 
doch  schliesslich  „Wagnerianer"?  Was  geht  das  uns 
an!  Für  uns  ist  und  bleibt  dieser  wahrhaft  denkwürdige 
Eklektiker  vielmehr  immer  von  Neuem  wieder  eines 
der  liebenswürdigsten  Probleme  „übernationaler"  Welt- 
schau! „Für  die  Volks-Überlieferung  endet  Giuseppe 
Verdi  mit  der  ATda"  ...  so  sagt  Gino  Monaldi  etwas 
wehmütig,  in  seinem  interessanten  (von  L.  Holthof  in's 
Deutsche  übertragenen)  Buche  über  ihn,  welcher  Publi- 
kation an  dieser  Stelle  auch  noch  die  im  Verlage  der 
„Harmonie"  (Berlin)  unlängst  erschienene,  allerneueste 
(illustrierte)  Verdi -Monographie  von  seinem  Lands- 
manne  C.  P  e  r  i  n  e  1 1  o  wohl  an  die  Seite  zu  setzen,  doch 
leider  nicht  gleichwertig  zu  erachten  ist.  Das,  was 
Monaldi,  und  mit  ihm  also  auch  Perinello,  da  zu  be- 
klagen scheinen,  mag  im  Ganzen  ja  gewiss  richtig  sein. 
Doch  abermals  gesagt:  Was  kann  es  uns  kümmern? 
'Wie  schon  in  früheren  Zeiten  der  Toast  auf  Verdi  mit 


Digitized  by  Google 


Wagneriana.    Bd.  III. 


dem  Rufe  für  das  Wohlergehen  seines  Vaterlandes  in 
Eins  zusammen  klang,  so  auch  grüssen  wir  heute  mit 
aller  Auszeichnung  den  grossen,  originellen  Toten  und 
entbieten  gleichzeitig  noch  dem  schönen,  verbündeten 
Lande  unsere  wärmsten  Wünsche,  indem  wir  Angesichts 
des  offenen  Grabes  nunmehr  auch  unsere  deutschen 
Stimmen  vereinigen  zu  dem  Spruche:  „In  seines  Verdi 
Unsterblichkeit  mag  Italien  auf-  und  fortleben,  mag  es 
sich  im  grossen  Weltkonzerte  seines  Eigenlebens 
freuen!" 

Viva  Verdi!    Viva  l'Italia! 


Digitized  by  Google 


Bayreuth  und  Draussen 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


1.  Das  zehnjährige  Jubiläum  der  Festspiele 
und  die  deutsche  Presse 

(1886) 

Wenn  ich  hiervon  der  „Presse"  schlechthin  spreche, 
so  muss  ich  gleich  zum  Voraus  bemerken,  dass  ich  da- 
mit nur  diejenige  Presse  meine,  welche  als  leitende,  den 
Ton  angebende,  einem  grossen  Publikum  ihre  Meinungen 
und  Urteile  gleichsam  aufnötigt  und  auf  ganze  Volks- 
schichten, ja  selbst  auf  die  Kreise  der  Gebildetsten 
—  leider!  muss  man  schon  sagen  —  einen  ausser- 
ordentlichen geistigen  Einfluss  ausübt.  Es  muss  mir 
also  hier  vor  Allem  darauf  ankommen,  der  politischen 
„Presse**  ein  wenig  auf  den  Zahn  zu  fühlen,  die  sich 
ja  in  neuerer  Zeit  vielfach  zur  Gewohnheit  gemacht  hat, 
auch  in  Kunstdingen  partout  ein  entscheidend  Wort 
mitsprechen  zu  wollen;  wobei  denn  nur  zu  oft  die  trost- 
lose Erscheinung  auftritt,  dass  die  politische  Färbung, 
die  Parteitendenz  des  Blattes,  auch  den  ästhetischen  und 
litterarischen  Teil  unter  dem  Striche  durchaus  be- 
herrscht*) und  sich  auch  auf  diesem  Gebiete  mit  der 
selben  Arroganz  und  dem  selben  klubartigen  Terroris- 


•)  Sehr  stark  tritt  dies  z.  B.  bei  den  Zeitschriften:  „Die 
Nation"  und  „Konservative  Monatsschrift"  hervor. 

Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  22 


Digitized  by  Google 


338  Wagneriana.    Bd.  III. 


mus  breit  macht,  wie  dies  in  allen  politischen  Fragen 
nun  einmal  parlamentarischer  Abusus  geworden  zu  sein 
scheint.  Nächst  dieser  mag  uns  —  aber  nur  in  ent- 
sprechend geringerem  Masse  —  auch  noch  die  rein 
litterarische  Presse,  insoweit  sie  sich  in  „ Wochen- 
schriften" etc.  äussert  und  einem  allgemeineren 
Leserkreise  zugänglich  ist,  ein  wenig  näher  beschäftigen. 
Doch  mache  ich  in  allen  diesen  Dingen  nicht  den  ge- 
ringsten Anspruch  auf  Vollständigkeit,  wie  ich  denn 
überhaupt  nur  das  Typische,  besonders  Charak- 
teristische hier  heraus  greifen  will.  Am  Ende  nun  gar 
auch  sämtliche  Musik- Zeitschriften  und  musikalische 
Fachblätter  im  Nachfolgenden  Revue  passieren  zu  lassen, 
darauf  kann  ich  schon  deshalb  verzichten,  weil  sie 
einmal  einen  weit  beschränkteren  Abonnentenkreis, 
und  dann  an  sich  schon  die  Pflicht  haben,  die  Bay- 
reuther Festspiele  zu  berücksichtigen,  also  auch  über 
diese  selbst  Sonder-Berichte  zu  bringen.  Denn,  wenn  der 
Abonnent  einer  Musikzeitung  nicht  einmal  den  Vorteil 
hätte,  Direktes  und  Genaueres  über  Bayreuth  zu  hören 
—  wer  sollte  ihn  denn  haben? 

Den  Defiliermarsch  jener  politischen  Presse  aber, 
in  ihren  Äusserungen  über  die  Bühnen festspiele,  ab- 
zunehmen —  das  ist  ein  Unterfangen,  welches  immer 
höchst  gemischte  Gefühle  im  Gefolge  haben  muss.  Er- 
kennen wir  auch,  wenn  wir  z.  B.  die  „Times"  oder  die 
„Neue  Freie  Presse"  aus  der  Zeit  der  Judenbroschüre 
Wagners  zur  Hand  nehmen  und  mit  dem  Blatte  von 
heute  vergleichen,  dass  wir  gottlob  um  einen  beträcht- 
lichen Schritt  weiter  gekommen  sind,  ja,  dass  geradezu 
ein  Umschwung  in  den  Anschauungen  und  Verhältnissen 
gegen  damals  vorliegt  (und  das  mag  ja  immerhin  ein 
gelinder  Trost  für  uns  sein)  —  so  finden  wir  doch 
auch  heute  noch,  im  Jahre  des  Heiles  1886,  „Press- 
bengelpolitik" (oder  —  wie  der  weil,  bayer.  Kriegs- 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


339 


minister  v.  Maillinger  in  einer  Kammerrede  einmal 
meinte:  „Pressbanditentum")  auch  in  künstlerischen 
Fragen,  neben  warmer  Anerkennung  und  Bewunderung 
der  Wagner' sehen  Kunstrichtung;  ausserordentlich  Be- 
trübendes neben  herzlich  Erfreuendem. 

Am  vorteilhaftesten  nach  dieser  Hinsicht  gehaben 
sich  im  Allgemeinen  die  süddeutschen,  speziell  bayeri- 
schen Blätter,  wiewohl  es  selbst  hier  den  Anschein  hat, 
als  sei  mit  dem  Regentenwechsel  auch  eine  „loyale" 
Kurswendung  eingetreten  (ein  Symptom  dafür  ist  mir 
neuerdings  der  Artikel  „München  und  die  Regentschaft44 
von  A.  v.  Mensi  in  der  „Nation"),  die  vielleicht  im 
letzten  Grunde  sogar  einen  Rückschlag  auf  die  Ver- 
hältnisse des  Münchener  Hof-Theaters  herbei  zu  führen 
vermöchte.  Geradezu  unglaublich  —  um  dies  wenigstens 
hier  zu  streifen  —  ist  aber,  was  seinerzeit,  beim  Tode 
des  edlen  Schirmherrn  Wagnerischer  Kunst  von  einer 
gewissen  Münchener  und  überhaupt  bayerischen  Presse 
—  allen  voran  dem  bekannten  Sigl'schen  „Vaterland"  — 
an  Ausfällen  gegen  Wagner  und  sein  Schaffen  geleistet 
werden  konnte,  wovon  sich  nur  der  einen  richtigen 
Begriff  machen  dürfte,  der  einmal  einige  solcher  scham- 
losen Winkel-Offenbarungen  zur  Hand  gehabt  hat.  Es  ist 
ein  sehr  sprechendes  Symptom  für  die  damals  unsere  ge- 
samte Presse,  gleichviel  welcher  Färbung,  verwirrende 
Bewegung,  dass  selbst  die  bekannte  „Allg.  Zeitung"  in 
ihren  Leitartikeln  über  den  Tod  des  Königs  von  An- 
klagen und  unbegründeten  Vorwürfen  sich  noch  nicht 
ganz  frei  halten  zu  dürfen  vermeinte. 

Dass  übrigens  eben  dieses  Blatt,  welches  früher, 
namentlich  während  der  Münchener  Periode  des  Meisters, 
an  Gehässigkeit  gegen  den  Günstling  des  Königs  alles 
Erdenkliche  produzierte,  in  jüngerer  Zeit  seine  Spalten 
einer  milderen  Anschauung  und  gerechteren  Beurteilung 
geöffnet  hat,  das  kann  man  aus  der  No.  230  vom 

22» 


Digitized  by  Google 


340 


Wagneriana.    Bd.  III. 


20.  August  laufenden  Jahrganges  ersehen,*)  welche  einen 
Leitartikel  über  „Die  Bedeutung  Richard  Wagners" 
bringt,  der  sich  den  Festspielen  gegenüber  in  durch- 
aus sympathischem  Sinne  äussert  (»Wir  stehen  nicht 
an,  die  Wiederholung  der  Festspiele  in  Bayreuth  mit 
Freude  zu  begrüssen"  —  beginnt  dieser  Aufsatz!),  zwar 
den  „Philosophen*  Wagner  etwas  verkleinern  und 
ihm  nur  das  Verdienst  der  „Bearbeitung",  nicht  auch  das 
der  Um-  und  Neudichtung  der  alten  Sagen  lassen 
möchte,  auch  dafür  hält,  dass  man  sich  nicht  weniger 
bei  Wagner,  wie  „sonst  bei  Opern"  (!),  „über  manche 
logische  und  psychologische  Unmöglichkeiten  hinweg 
setzen  müsse,  und  zudem  einige  UnVollständigkeiten  in 
der  Kenntnis  der  französischen  Wagner- Litteratur  auf- 
weist, allein  im  Grossen  und  Ganzen  doch  das  be- 
deutende Kunstereignis  der  Bayreuther  Festspiele  in 
durchaus  würdiger  Weise  kommentiert.  Aber  freilich, 
es  ist  das  nur  ein  der  Redaktion  eingesandter  Artikel, 
der  also  spricht;  in  der  Redaktion  selbst  ist  es  wohl 
auch  heute  noch  mit  der  Wagner-Begeisterung  nicht  allzu 
weit  vorgeschritten.  Hatte  diese  Redaktion  doch  noch 
in  der  zweiten  Beilage  der  No.  171  vom  gleichen  Jahr- 
gange  schreiben  können:  dass  „die  NichtSistierung  der 
Festspiele  im  Hinblick  auf  den  Tod  des  hohen  Pro- 

*)  Vor  Kurzem  hat  die  wissenschaftliche  Beilage  sogar 
eine  sehr  günstige  Besprechung  des  Kürschner'schen  „Wagner- 
Jahrbuches"  gebracht,  und  zwar  aus  der  Feder  des  Münchener 
Privatdozenten  Dr.  Franz  Muncker,  eines  Mitarbeiters  am  Jahr- 
buche selbst  und  Herausgebers  der  „Rede  Wagners":  des  ersten 
Dozenten  zugleich  nach  Prof.  Ludwig  Nohl  (in  Heidelberg),  der  „ex 
cathedra"  über  R.  Wagners  Werke  und  Schriften  ein  Kolleg  zu 
lesen  wagte.  Später  folgten  v.  Stein,  Thode,  Golther,  v.  Haus- 
egger, Höfler,  Prüfer,  Wallaschek,  von  Ehrenfels,  Sandberger  U.A., 
während  Prof.  R.  Falckenberg  seinerseits  mutig  das  Odium  auf 
sich  nahm,  Wagner  in  seiner  „Geschichte  der  Philosophie"  die 
ihm  zukommende  Stellung  anzuweisen.  (Später  auch  Ueberweg- 
Heinze.) 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


341 


tektors  des  Unternehmens  als  auffallend  erscheinen 
müsse".  Sehr  treffend  hat  damals  No.  27  der  „Allg. 
Musik -Zeitung"  darauf  hin  gewiesen,  dass  ja  auch  das 
Münchener  Hoftheater  seine  Vorstellungen  bereits  wieder 
aufgenommen  habe,  und  der  Verfasser  dieser  Zeilen  an 
anderer  Stelle  (im  „Musikal. -Wochenblatt")  auf  die  durch- 
aus irrige  Auffassung  aufmerksam  gemacht,  welche  in 
dem  Bayreuther  Festspielhaus  eine  Art  Jahrmarkts- 
bude zu  sehen  scheine  und  sich  darüber  wundere,  dass 
man  dem  Protektor  der  Bayreuther  Aufführungen  — 
eine  würdige  Toten-  und  Gedächtnisfeier  widme! 
Des  Weiteren  noch  besann  man  sich  in  der  Redaktion 
der  „Allg.  Ztg."  leider  nicht,  unter  völliger  Verzicht- 
leistung auf  persönliches  Urteil  und  eigene  Kritik 
der  Verhältnisse,  alberne,  nicht  nur  gänzlich  unglaub- 
würdige, sondern  offenbar  absichtlich  gefälschte,  „sensa- 
tionelle* Bemerkungen  eines  Blattes  wie  des  „Frank. 
Courier":  von  dem  „ernstlich  beabsichtigten  Verkaufe 
des  ,Parsifal4  nach  Amerika"  (!)  unterm  31.  Juli  wört- 
lich zum  Abdrucke  zu  bringen  —  Bemerkungen,  welche 
schon  dadurch  ihre  dunkle  Herkunft  verraten,  dass  sie 
am  Schlüsse  gegen  „die  Rücksichtslosigkeit  der  Herren 
Gross  und  Genossen  der  Presse  gegenüber"  los  ziehen, 
„welche  sicherlich  nicht  fördernd  auf  die  Erhaltung  des 
Bayreuther  Unternehmens  einwirken  werde". 

Um  einige  Grade  besser  steht  es  nun  doch  bei  der 
neuerdings  wieder  einen  Aufschwung  nehmenden  „Südd. 
Presse"  •),  den  „Neuesten  Nachrichten"  (zu  München) 
und  dem  „Sammler"  (litterarisches  Beiblatt  zur  „Augs- 
burger Abendzeitung").  Nicht  nur  stehen  sie  sämtlich 
dem  Wagnerischen  Kunstwerk  und  vor  Allem  Bayreuth 
freundlicher  gegenüber,  sie  haben  auch  alle  Original- 
berichte  gebracht.    Das  erste  dieser  Blätter  hatte  schon 


•)  Mittlerweile  leider  eingegangen! 


Digitized  by  Google 


342 


Wagneriana.    Bd.  III. 


seit  Jahren  offen  und  ehrlich  für  Wagner  Partei  er- 
griffen, das  zweite  hat  in  Oskar  Merz  zum  ständigen  Mit- 
arbeiter einen  warmen  Anhänger  und  gesinnungstüchtigen 
Adepten  der  Bayreuther  Schule;  das  dritte  aber,  die  Be- 
richte aus  der  Feder  Dr.  Theodor  G  o  e  r  i  n  g  s ,  lese  ich  schon 
seit  Jahren  jedesmal  mit  ausserordentlichem,  grösstem 
Interesse,  ist  doch  der  betr.  Referent,  wiewohl  er  selbst 
der  Verfasser  des  (freilich  schon  im  Jahre  1880  er- 
schienenen) „Messias  von  Bayreuth"  und  ein  Verteidiger 
von  Kürzungen  und  Strichen  der  Wagnerischen  Werke 
bei  Opern-Aufführungen  derselben  (welches  faible 
ihm  vor  einigen  Jahren  in  München  sogar  eine  heftige 
Zeitungspolemik  und  längere  litterarische  Fehde  ein- 
getragen hat)  ein  glühender  Verehrer  des  „Parsifal" 
und  ein  begeisterter  Anhänger  der  Bayreuther  Idee, 
dessen  mit  gewandter  Feder  geschriebene  „Parsifal"- 
Berichte  schon  im  Jahre  1883  (vide  „Südd.  Presse") 
eine  ganz  ungewöhnliche  Wärme  bekundeten.  Vier 
lange,  eingehende  Berichte  hat  er  von  Bayreuth  aus 
heuer  an  sein  Blatt  gesandt,  von  denen  nur  der  erste 
über  die  „mehr  oder  weniger  vergnügliche  Reise  in's 
gelobte  Land"  getrost  hätte  weg  bleiben  können,  ohne  ge- 
rade vermisst  zu  werden.*)  Ich  verkenne  nicht,  dass  G Oe- 
ring hier  und  da  noch  zu  sehr  den  Zeitungsplauderer 
herauskehrt,  dass  in  ihm  gleichsam  zwei  Naturen  zu 
streiten  scheinen  und  dass  er  den  ernsten  Wagnerianer 
mit  gewissen,  plötzlich  aus  der  Rolle  fallenden,  ironi- 
sierenden, ich  möchte  fast  sagen  Heine'schen  Zwischen- 
bemerkungen, mitunter  zu  einer  gelinden  Verzweiflung 
bringen  kann:  allein  er  ist  ein  Mann,  der  frei  von  Vor- 
urteilen und  fest  gerannten  Anschauungen  offen  bekennt, 

*)  Es  bildet  dieses  humoristisch  sein  sollende,  präludierende 
Kapitel  über  die  beschwerliche  Reise  nach  Bayreuth  und  die 
Ankunft  daselbst,  mit  dem  Motto:  „Heiss  war's",  überhaupt 
eine  Grundschwäche  aller  unserer  „Bayreuther  Feuilletons". 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


343 


dass  er  lernen  wolle,  und  kein  Hehl  daraus  macht,  wenn 
sich  seine  Überzeugung  auf  Grund  reicherer  Erfahrungen 
geklärt,  wo  nicht  gar  verändert  hat;  er  will  nicht  immer 
gleich  mit  dem  Urteile  fertig  sein,  und  das  giebt  ihm 
eine  sehr  glückliche  Beweglichkeit  des  Geistes  und  die 
Möglichkeit,  ohne  wetterwendisch  zu  sein,  sich  zu  bilden 
und  sich  in  seinem  Urteil  auch  einmal  zu  vervollkommnen. 
Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  nachstehend  einige 
Proben  aus  seinen  Bayreuther  Berichten  zum  Besten  zu 
geben.  Sollten  diese  Exzerpte  wohl  etwas  zu  lang  aus- 
fallen, so  mag  man  eine  Entschuldigung  hiefür  darin 
finden,  dass  dieser  Mann  nicht  nur  für  München  eine 
gewichtige  Person  ist,  sondern  als  Verfasser  des  „Messias 
von  Bayreuth"  eine  grössere  Bedeutung  als  Andere 
einnimmt,  so  dass  auch  seine  Bekehrung  und  Sinnes- 
wendung seit  1880  gerechtes  Interesse  erwecken  muss. 
Es  zeigt  uns  gleich  den  ganzen  Mann,  wenn  wir,  zu  An- 
fang des  zweiten  Berichtes,  über  den  verstorbenen 
Bayernkönig  lesen: 

„Er  gehört  zu  den  idealen  Gestalten,  die  erst  in 
jenes  Zeitalter  passen,  wie  es  in  fernerer  Zukunft  im 
Gedächtnisse  der  Völker  aus  den  wirklichen  Gescheh- 
nissen sich  ableitet  und  aus  den  Sagen  sich  verdichtet. 
Er  wird  in  der  Sage  leben,  wenn  der  Schmutz  des 
Irdischen  abgestreift  ist.  Aber  auch  die  Kultur- 
geschichte wird  sein  Bild  noch  bewahren,  als  das 
eines  Fürsten,  der  so  ganz  aus  dem  Rahmen  des  Ge- 
wöhnlichen heraus  fiel  —  und  dessen  Name  mit  den 
zwei  grössten  Schöpfungen,  welche  unsere  Nation  in 
diesem  Jahrhundert  vollbracht  hat,  untrennbar  ver- 
knüpft bleibt.  Die  eine  ist  verzeichnet  in  den  Blättern 
der  politischen  Geschichte:  wenn  sie  des  neuen  Deut- 
schen Reiches  gedenkt,  wird  neben  der  Heldengestalt 
des  greisen  Kaisers  immer  der  junge  König  von 


Digitized  by  Google 


344  Wagneriana.    Bd.  III. 


Bayern  genannt  werden;  —  die  andere  dieser  grossen 
Schöpfungen  —  eine  künstlerische  That,  die,  als 
Ganzes  genommen,  ihresgleichen  nicht  hat  —  sehen 
wir  hier  in  Bayreuth.  Aber  wenn  der  König  dort 
die  Zeitströmung  richtig  verstand  und  einer  Idee  zum 
Ausdrucke  verhalf,  welche  von  den  Ereignissen  selbst 
vorbereitet  war,  und  auf  deren  Verwirklichung  alles 
mit  Notwendigkeit  hin  drängte  —  das  Wort  aussprach» 
welches  schon  auf  Aller  Lippen  schwebte  und  welches 
die  Menge  bejubelte,  —  so  hat  er  hier  seinen  hohen 
Schutz  einem  Unternehmen  geliehen,  welches  bei  der 
Mehrheit  nur  Widersprüchen  begegnete  und  von  der 
Menge  mit  Spott  und  Hohn  begeifert  wurde.  Wie 
es  in  dem  kulturhistorischen  Porträt  des  grossen 
Josef  II.  ein  Flecken  ist,  dass  er,  im  Gegensatze  zu 
seinem  Volke,  Mozarts  Genie  nicht  gebührend  zu 
würdigen  wusste,  so  wird  es  ein  ewiger  Ruhm  für 
Ludwig  sein,  dass  er  Richard  Wagners  Bedeutung  zu 
einer  Zeit  erkannte,  als  derselbe  noch  vielfach  gänz- 
lich unverstanden  war.  —  — " 

Dann  heisst  es  u.  a.: 

„Wagners  fast  beispiellose  Kraft  des  musikali- 
schen Ausdruckes,  seine  eminente  Fähigkeit,  in  dem 
Zuhörer  eine  besondere  Stimmung  oder  eine  be- 
stimmte Vorstellung  zu  wecken,  tritt  vielleicht  in 
keinem  seiner  Werke  mächtiger  zu  Tage  als  im 
,Parsifal*  .  .  .  Auch  muss  ich  sagen,  dass  ich  den 
vielfach  ausgesprochenen  Vorwurf,  im  ,Parsifal*  zeige 
sich  eine  merkliche  Ermattung  der  schöpferischen 
Kraft,  verbunden  mit  dem  Bestreben,  diesen  Mangel 
durch  gesteigerte  Verwendung  äusserlicher  Effekte  zu 
verdecken,  durchaus  ungerechtfertigt  finde  .  .  . 
Im  ,Parsifal'  weiter  nichts  als  ein  Werk  genialer 
Theaterkunst,  als  eine  geschickt  gemachte  Oper  des 


Digitized  by  Google 


* 


Die  Pflege  des  Erbes.  345 


glänzendsten  Opernkomponisteri  unserer  Zeit*  zu  er- 
blicken, das  hiesse  Wagner  mit  Meyerbeer  auf 
eine  Stufe  stellen,  während  man  im  Gegenteil  be- 
rechtigt ist,  dem  ,Parsifal4  als  Geisteswerk  einen 
Platz  neben  der  ,Zauberflöte'  und  der 
Matthäuspassion  anzuweisen.  Man  könnte 
ein  Buch  schreiben  (!)  über  ,Richard  Wagners 
Schöpfungen  in  der  bildenden  Kunst4  .  .  .  Befanden 
wir  uns  bei  ,Parsifal',  den  ja  die  Welt  bisher  aus- 
schliesslich nur  in  Bayreuth  gehört  hat,  im  alt- 
gewohnten Geleise,  so  bot  die  Aufführung  von  »Tristan 
und  Isolde1  ein  ganz  neues  Schauspiel  von  über- 
raschender Schönheit;  sie  bot  das  unumstössliche 
Zeugnis  für  die  Bedeutung,  welche  dem  Bayreuther 
Haus  an  sich  und  der  ganzen  Bayreuther  Sphäre  be- 
züglich stilvoller  Darstellung  eines  Kunstwerkes  inne 
wohnt .  .  .  Mehr  als  die  Vollkommenheit  der  ein- 
zelnen Leistungen  war  es  die  unvergleichliche 
Gesamtwirkung,  welche  diese  «Tristan* -Auf- 
führung hoch  über  die  bestmöglichen 
,Tristan(-Aufführungen  unserer  besten 
Opernbühnen  erhob...  Man  schwankte  be- 
ständig zwischen  Überraschung  und  Ergriffenheit  und 
m an  musste  sich  sagen :  Dies  ist  der  natur- 
gemässeste  Rahmen,  in  welchem  allein 
das  Wagner' sehe  Musikdrama  zur  vollen, 
höchsten  Wirkung  gelangt;  dies  die  Aus- 
führung, welche  als  nacheife  rnsw  ürd  iges 
Vorbild  für  alle  höheren  dramatischen 
Vorstellungen  dienen  mussl" 

„Man  hat  von  vielen  Seiten  den  diesjährigen 
Aufführungen  zu  Bayreuth  mit  Misstrauen  entgegen 
gesehen,  und  die  Möglichkeit  eines  abermaligen  Er- 
folges wurde  bei  den  nicht  zu  leugnenden  Schwierig- 
keiten ernstlich  in  Zweifel  gezogen;  ja,  als  vor 


Digitized  by  Google 


346  Wagneriana.   Bd.  III. 


wenigen  Wochen  die  Nachricht  auftauchte,  dass  man 
in  diesem  Jahr  in  Anbetracht  der  Ereignisse  von  den 
Festspielen  gänzlich  Abstand  nehmen  wolle,  hörte 
man  die  Meinung  äussern,  die  bekannten  Ereignisse 
seien  für  die  Leitung  des  Unternehmens  nur  ,ein 
vom  Himmel  herab  gefallener  Rettungsanker*  (!),  der 
sie  der  Verlegenheit  eines  gezwungenen  Aufschubes 
oder  der  Eventualität  eines  vernichtenden  Misserfolges 
überhöbe.  Der  wirkliche  Gang  der  Dinge  hat  diese 
pessimistischen  Anschauungen  Lügen  gestraft:  die 
Beteiligung  des  Publikums  ist  stärker,  als  sie  es  seit 
1876  gewesen  ist;  unter  den  Künstlern  selbst  herrscht 
der  glücklichste  Geist  —  ein  Enthusiasmus,  eine 
Hingabe  an  die  grosse  Sache,  welche  die  beste  Bürg- 
schaft für  ihre  dauernde  Lebensfähigkeit  darzubieten 
scheint  .  .  .  Nach  dem,  was  ich  in  diesen  Tagen  in 
Bayreuth  gesehen  und  gehört,  glaube  ich  der  freudigen 
Hoffnung  Ausdruck  geben  zu  dürfen,  dass  das  Unter- 
nehmen auch  fürderhin  gedeihe,  und  dass  die  Bay- 
reuther Festspiele  sich  ein  Gewohnheitsrecht 
im  deutschen  Kunstleben  erobern,  als  eine 
hohe  Schule  edler,  stilvoller  Kunstpflege!* 

In  ganz  ähnlich  sympathischem  Charakter,  gleich 
warm  und  anerkennend  gehalten,  bewegten  sich  die  Bay- 
reuther Festspiel -Berichte  eines  anderen  angesehenen 
süddeutschen  Blattes,  des  zu  Nürnberg  erscheinenden 
„Korrespondenten  v.  u.  f.  Deutschland".*)  Es  ist  der 
vortreffliche  Feuilleton -Redakteur  des  Blattes  selbst, 
Dr.  H.  Pf  eil  schmidt,  ein  bewährter  Wagnerianer  und 
Preund  der  Sache,  welcher  jene  Berichte  übernommen 
hat.  In  No.  370  hatte  schon  ein  sehr  schwungvolles, 
edles  Gedicht  aus  seiner  Feder  die  Feststimmung  zum 


•)  Inzwischen  leider  auch  von  der  Bildfläche  verschwunden 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes.  347 


10jährigen Jubiläum  der  Bayreuther  Bühnenweihe  höchst 
stimmungsvoll  und  würdig  eingeleitet  —  ein  Gedicht,  in 
welchem  mit  viel  Geschmack  und  tiefem  poetischem 
Sinn  auf  den  verstorbenen  hohen  Protektor  der  Fest- 
spiele als  den  leidenden  Tristan  und  Amfortas  hin- 
gedeutet worden  war.  Die  Nummern  374,  375  und  378 
brachten  dann  ausführliche  „Festspielbriefe".  Auch  hier 
sei  es  gestattet,  einiges  Wenige  heraus  zu  greifen,  zum 
Teil  sogar  im  Wortlaut  mit  anzuführen.  Nachdem  der 
erste  Brief  auch  wieder,  wie  der  Goeri  ng'sche,  sich 
über  die  Leiden  und  Freuden  der  Fahrt  ergangen  hat, 
berichtet  er  von  der  pflichttreuen  Aufopferung  und  Hin- 
gabe Frau  Cosima  Wagners,  dem  Festspielbesuche,  der 
Feststimmung  u.s.  w.  Der  zweite  erfüllt  zuerst  die  traurige 
Pflicht,  Scaria  einen  warm  gefühlten  Nachruf  zu  widmen, 
und  bespricht  dann,  beinahe  durchaus  lobend,  die 
„Parsifal" -Aufführung;  der  dritte  ergeht  sich  mit  weit  aus- 
holenden gehaltvollen  Betrachtungen  über  „Tristan**. 
U.  a.  heisst  es  da: 

„Tristan  zum  ersten  Mal  in  Bayreuth  —  das 
war  ein  Kunstereignis"  .  .  .  „Um  dies  zu  begreifen, 
muss  man  das  Werk  eben  hier  gehört  haben.  Schon 
einem  äusserlichen  Umstände,  dem  feierlichen  Ein- 
drucke des  hiesigen  Zuschauerraumes,  in  welchem  selbst 
der  ausgelernte  Theaterflegel  Manieren  lernt  oder 
doch  wenigstens  zur  Schau  trägt  —  dieses  Raumes, 
dessen  tiefes  Dunkel  gleichsam  die  Brücke  zur  All- 
tagswelt hinter  uns  abbricht  und  den  erstaunten  Blick 
auf  eine  lichte  Welt  der  Ideale  ge Fesselt  hält  —  schon 
dem  Umstand  ist  es  zuzuschreiben,  dass  »Tristan* 
in  Bayreuth  anderes,  Tieferes  zu  bedeuten  hat  als 
an  den  Theatern,  die  ihn  bisher  aufgenommen  haben.** 

„, Wollen  Sie  —  und  wir  haben  eine  Kunst,* 
war  das  geflügelte  Wort  des  Meisters  im  Jahre  1876. 


Digitized  by  Google 


348 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Und  mit  Freuden  dürfen  wir  heute  bekennen:  ,Wir 
haben  sie  noch!*  Der  Idealsinn  unserer  Nation  sorge 
weiter  dafür,  dass  sie  uns  und  auch  dem  oberfränki- 
schen Olympia  erhalten  bleibe  ..." 

Nicht  ganz  so  erfreulich  wird  sich  unsere  Revue 
gestalten,  wenn  wir  von  diesen  Blättern  weg  unseren 
Blick  nun  einmal  zu  zwei  politisch-mächtigen,  sozusagen 
massgebenden,  österreichischen  und  norddeutschen 
Blättern  hinwenden,  welche,  wenn  man  ihren  Reklamen 
glaubt,  die  „gelesensten"  (!)  Journale  zu  nennen  sind: 
ich  meine  die  „N.  Freie  Presse"  zu  Wien  und  das 
„  Berliner  Tagblatt ".  Beiden  Blättern  ist  übrigens  auch 
dies  Eigentümliche  gemeinsam,  dass  ihre  ständigen 
Musikreferenten,  dort  Ed.  Hanslick,  hier  H.  Ehrlich, 
zur  Zeit,  da  es  auf  den  „Parsifal"  hin  geht,  mit  einem 
Male  a  ternpo,  wie  verabredet,  verstummen,  wahrschein- 
lich weil  sie  Beide  —  wie  Ehrlich  dies  an  anderer 
Stelle  unverhohlen  ausspricht  —  einer  dramatischen 
Wiedergabe  des  „Parsifal"  absichtlich  ausweichen, 
während  sie  doch  jede  Konzertaufführung  desselben 
fleissig  besuchen  (!).  Hanslick  amüsiert  sich,  Londoner 
Musikbriefe  zu  schreiben  und  hierin  über  „gottesfurchtige 
Dirigenten"  sich  lustig  zu  machen;  Ehrlich  schreibt 
wenigstens  die  offiziellen  Nekrologe  für  Liszt  und  Grell 
und  empfiehlt  einstweilen  „Illusionen".  —  Warum  diese 
Zeitungen  aber  so  wichtig  sind,  das  erhellt  schon  daraus, ' 
dass  sie  es  vorzüglich  sind,  welche  die  ersten,  offiziellen 
Drahtnachrichten  über  Bayreuth  in's  Publikum  bugsieren. 
Um  vorerst  noch  in  süddeutschem  Revier  zu  verbeiben, 
sei  gleich  die  bekannte  Wiener  Zeitung  aufs  Korn  ge- 
nommen. 

Schon  die  im  Mai  1.  J.  von  der  „N.  Fr.  Presse" 
gebrachte  Notiz,  welche  gegen  den  Bayreuther  Urlaub 
der  Wiener  Künstler  plaidierte,  versprach  eine  recht 


Digitized  by  Go 


Die  Pflege  des  Erbes. 


lebhafte  und  heitere  Kampagne.  Ganz  ausgezeichnet 
fein  ist  die  hier  ganz  unversehens  auftretende  Wendung: 
es  sei  das  Werk  von  Bayreuth,  bisher  eine  anerkannt  (!) 
grossartige  und  hoch  bedeutsame  Erscheinung,  nunmehr 
vor  Verflachung  u.  dgl.  zu  bewahren  (!).  „ Zudem" 
—  heisst  es  dann  gegen  den  Schluss  hin  — 

„tragen  die  jetzigen  Bayreuther  Aufführungen  durch- 
aus nicht  mehr  den  Charakter  rein  künstlerischer 
Unternehmungen  an  sich;  unter  Wagner  waren  sie 
ausserordentliche  und  lehrreiche  Bühnenereignisse 
(hört!),  später  galten  sie  als  Akte  der  Pietät  und  Er- 
innerung für  das  musikalisch -dramatische  Genie  des 
toten  Meisters  (wie  genau  das  die  ,N.  Fr.  Pr.'  nun 
auf  einmal  alles  weiss!);  jetzt  aber  sind  sie  schon 
zu  regelmässigen  Reprisen  (!!)  geworden,  die  nicht 
ganz  frei  von  einem  geschäftlichen  Charakter  sind, 
und  eine  derartige  Unternehmung  unter  eigenen 
Opfern  zu  unterstützen  (es  handelt  sich  hier  um  die 
Weigerung  der  Wiener  Intendanz,  die  dortigen  Künstler 
im  August  zu  beurlauben),  kann  daher  (!)  weder  von 
Wien,  noch  von  einer  anderen  Kunststadt  gefordert 
werden." 

So  also  hetzt  man  gegen  Bayreuth  und  sucht  noch  im 
Mai,  da  die  Festspiele  immer  näher  heran  rücken,  diese 
mit  allen  Mitteln  zu  hintertreiben.  Es  ist  nur  betrübend, 
dass  sich  durch  solche  Notizen  selbst  eine  so  aus- 
gezeichnete Musik-Redaktion,  wie  diejenige  des  „  Leipziger 
Tagblattes",  welche  jene  Nachricht  der  „N.  Fr.  Presse" 
nachdruckte,  für  einen  Augenblick  so  weit  beeinflussen 
Hess,  unter  diese  noch  die  Anmerkung  hinzu  zu  setzen: 
»Möge  doch  Wagners  ,Parsifal(  auch  anderen  Bühnen  über- 
lassen werden!  Warum  soll  Bayreuth  allein  den  Vorteil 
geniessen,  ihn  aufführen  zu  dürfen?"  Ein  frommer 
Wunsch,  wie  wir  wissen,  und  eine  ganz  zwecklose  Frage. 


Digitized  by  Google 


350 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Es  folgt  in  der  „N.  Fr.  Presse"  sodann  unter*  m 
23.  Juli  ein,  im  Übrigen  warm  geschriebener,  Nekrolog 
auf  »Scaria*,  der  aber  doch  in  einigen  Sätzen,  die  wir 
wieder  wörtlich  hierher  setzen  wollen,  eine  recht  merk- 
würdige Ein  1  ä  u  t  ung  des  Festspieles  bildet  und  aller- 
hand Interessantes  für  die  Folge  verspricht: 

„Die  Einen  behaupten,  fortgesetztes,  anstrengendes 
Studium  der  unsangbaren  (sie!)  und  schwer  fasslichen  (!) 
Basspartieen  in  den  neuen  Wagner -Opern  (!)  habe 
bei  ihm,  der  ohnedies  mit  Anstrengung  memorierte 
(der  Leser  bemerke:  das  wird  nur  ganz  nebenbei  er- 
wähnt!), auf  Körper  und  Geist  den  unheilvollsten 
Einfluss  geübt.  (Natürlich!)  Sein  unstillbarer  Ehr- 
geiz habe  ihm  keine  Schonung  erlaubt,  und  er  warf 
sich  mit  voller  Wucht  auf  die  ebenso  ehrenvolle,  wie 
gefährliche  (hört!)  Mission,  ein  grosser  Wagner- 
Sänger  zu  sein  —  eine  zerstörende  Künstlerarbeit  (! !), 
welcher  schon  so  viele  Stimmen  zum  Opfer  fielen. 
(Wenn  man  nur  diese  verkommenen  Stimmen  alle 
erst  einmal  kennen  lernen  würde!)  Die  Anderen" 
—  (meinen  nämlich,  die  Schweningerkur  habe  ihm 
so  arg  zugesetzt,  dass  sich  die  Spuren  davon  in  seiner 
Geistesschwäche  zeigten  usw.) 

In  der  That,  ein  vortreffliches  Präludium  zum  Bay- 
reuther Festspiel!  Dazu  noch  eine  unerhörte  Dreistig- 
keit, gerade  in  einem  Nekrolog  auf  Scaria,  den  Be- 
sitzer der  sonorsten  Bassstimme,  den  Künstler  mit  der 
deutlichsten  Textaussprache  und  einen  der  hervor- 
ragendsten, glänzendsten  Vertreter  der  Bayreuther  Schule, 
von  einem  Stimmruin  deutscher  Sänger  durch  Wagner 
auch  nur  eine  Silbe  zu  erwähnen.  Und  was  für 
schlampiges  Deutsch  diese  Zeitungen  schreiben!  Der  ge- 
neigte Leser  hat  doch  bemerkt,  dass  der  saubere  Verfasser 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


351 


jenes  Artikels  plötzlich,  mitten  drin,  aus  der  oratio 
obUqxia  in  die  oratio  directa  verfällt? 

Mit  dem  24.  Juli  beginnt  nun  aber  der  grosse 
journalistische  Haupt-Rummel.  Hier  lauten  die  kurzen, 
telegraphischen  Berichte: 

„Das  Spiel  ging  Anfangs  etwas  flau  von  Statten 
(man  meint  eine  Drahtnachricht  von  der  Börse  zu 
lesen),  erst  (!)  am  Schluss  brach  lebhafter  Beifall 
aus.-  (Über  die  erste  Aufführung  „Parsifal".)  26.  Juli: 
„Die  Premiere  (!!!)  von  Tristan  und  Isolde  ist  mit 
grossem  Beifall  in  Szene  gegangen  (!).  Das  En- 
semble war  erfreulich  (ei,  ei)  trotz  verhältnismässig 
so  kurzer  Proben."  „Die  sehr  lange  (!)  Oper  (!!) 
wurde  ungekürzt  gegeben."  (Welche  Neuigkeit  bei 
einem  Berichte  aus  Bayreuth!) 

Ich  frage:  muss  das  Publikum  bei  solchem  ab- 
gefeimten Theater -Jargon  nicht  den  Eindruck  erhalten, 
dass  es  sich  in  Bayreuth  lediglich  um  „effektvolle" 
O  pern  Vorstellungen,  ja  am  Ende  gar  um  wichtige 
Börsenspekulationen  handle?  Allem  setzt  nun  aber 
die  Krone  auf  das  zwischen  diesen  beiden  Berichten 
unter'm  25.  Juli  veröffentlichte  Referat  über  die  General- 
versammlung zu  Bayreuth.  Hier  hat  ihre  eigene  Ge- 
hässigkeit der  „N.  Fr.  Presse"  einen  bösen  Streich  ge- 
spielt, und  man  darf  beinahe  sagen:  „Wer  Andern  eine 
Grube  gräbt,  fällt  selbst  hinein!"  Wenigstens  wollen 
wir  doch  nicht  annehmen,  dass  hier  absichtliche 
Fälschung  vorliege,  um  das  Publikum  entsprechend  zu 
bearbeiten.  In  diesem,  offenbar  telegraphischen,  knapp 
gehaltenen  Referat  wird  nämlich  davon  gesprochen,  dass 
sich  eine  lange  Debatte  über  die  kostspielige  Heraus- 
gabe der  „Bayr.  Bl."  entsponnen  habe,  welche  1 1524  Mk. 
kosten  und  voraussichtlich  ein  Defizit  von  ca.  4000  Mk. 
ergeben  werden.    Nun  sind  aber  mit  diesen,  für  die 


352 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Depesche  in  der  Eile  offenbar  abgekürzten  „Bayr.  Bl."  die 
w  Bayreuther  F  e  s  t  b  I  ä  1 1 e  r" ,  ei n  vor  2 J ahren  zum  Festspiele 
herausgegebenes  Prachtunternehmen  in  besonders  kunst- 
voller Ausstattung,  gemeint,  welche  allerdings  ein  solches 
Defizit  zu  verzeichnen  haben.  Kaum  vernimmt  nun  die 
„N.  Fr.  Presse"  das  Wort:  „Bayr.  Bl.",  so  stürzt  sie 
sich  auch  schon  wie  eine  Hyäne  auf  dieses  unschuldige 
Opferlamm  los.  Die  wirklichen,  von  Hans  v.  Wolzogen 
redigierten  „Bayr.  Bl.",  das  Organ  der  Partei,  sind  ihr 
längst  verhasst  und  natürlich  ein  rechter  Dorn  im  Auge, 
—  ergo  wird  in  Parenthese  hinzu  gesetzt  und  dem  Publi- 
kum mit  autoritativer  Würde  mitgeteilt:  „in  der  That 
ein  sehr  überflüssiges  Unternehmen".  Am  nächsten 
Tage  drucken  sämtliche  sogenannt  „ besseren"  deutschen 
Blätter  diese  Notiz  der  „N.  Fr.  Presse"  nach,  und  so 
erfährt  denn  die  unkundige  Welt  im  Nu,  dass  die 
„Bayr.  Bl."  nicht  nur  im  Allgemeinen  nichtsnutzig  sind, 
sondern  im  Besonderen  auch  noch  ein  Defizit  von 
4000  Mk.  abwerfen.  Sie  ist  doch  heillos,  nicht  wahr, 
diese  Wagner-propaganda  ßdei? 

So  die  herrliche  Taktik  jener  gegnerischen  Presse, 
die  man  nur  in  solchen  unscheinbaren  Notizen,  in  allen 
ihren  dunklen  Winkelzügen  einmal  sorgfältig  kennen 
lernen  mag,  verfolgen  und  studieren  muss,  um  —  ganz 
ausserordentlich  von  ihr  zu  profitieren. 

Später  geht  es  in  dem  grossen  Wiener  Blatte  ein 
wenig  gelinder  und  freundlicher  her,  wenn  ich  auch 
nicht  mich  bis  zu  der  immensen  Freude  bekehren  kann, 
welche  einige  Bayreuthianer  über  den  anlässlich  der 
grösseren  Festberichte  zu  verzeichnenden,  auffallenden 
und  zu  bejubelnden  Umschwung  in  den  Gesinnungen 
jenes  Blattes  äussern  zu  müssen  glaubten.  Ich  werde 
im  weiteren  Verlaufe  dieser  Erörterungen  den  Beweis 
nicht  schuldig  bleiben,  dass  auch  in  diesen  Enunziationen 
des  Verdächtigen  und  Zweifelhaften  noch  immer  genug, 


Digitized  by 


Die  Pflege  des  Erbes. 


353 


ja  reichlich  genug  enthalten  war,  will  aber  hier  nur 
noch  in  aller  Kürze  zwei  kleinere  Nachrichten  unterem 
27.  Juli  streifen.  Sie  sind  beide  vom  „Spezi  al  -  Kor- 
respondenten* der  „N.  Fr.  Presse*  verabfasst  und  zeichnen 
sich  namentlich  durch  Wiener  Lokalpatriotismus  ganz  er- 
klecklich aus.  Alles  war  (bei  der  zweiten  Aufführung 
des  „Parsifal")  gut  und  vortrefflich:  natürlich!  weil  Frau 
Materna  dabei  war,  „welche  alle  früheren  Leistungen 
übertrifft".  „Mit  den  Wiener  Gästen  ist  gestern  auch 
die  eigentliche  Feststimmung  in  unsere  (!)  Wagner-Stadt 
erst  eingezogen".  War  ja  wohl  auch  gar  nicht  anders  zu 
erwarten.  Im  Übrigen  wird  noch  von  der  ersten  „Par- 
sifal "-Aufführung  berichtet,  dass  der  Beifall  nach  dem 
ersten  und  zweiten  Akte  gänzlich  gefehlt  habe  und  also 
der  „Erfolg  des  Stückes"  ein  recht  zweifelhafter  gewesen 
sei.  Wer  mit  Bayreuther  Traditionen  vertraut  ist,  weiss 
nur  zu  gut,  was  er  von  solchen  Notizen  zu  halten  hat. 
Das  Traurige  daran  ist  nur  —  abgesehen  davon,  dass 
es  überhaupt  ein  Nonsens  und  Reporterunfug  ist,  den  Er- 
folg eines  Werkes  nach  dem  stärkeren  oder  schwächeren 
Herausrufe  der  Darsteller  zu  taxieren,  —  dass  das  grössere 
Publikum  diese  Traditionen  leider  noch  nicht  kennt,  und 
dass  das  jene  windigen  Reporterseelen  —  nur  allzu  gut 
wissen.  Im  Übrigen  will  ich  nicht  verschweigen,  dass 
in  dem  selben  Blatt  auch  der  Satz  zu  lesen  stand: 
„Wenn  der  Besuch  der  Vorstellungen  ein  so  guter  bleibt 
wie  bei  den  drei  ersten,  wird  sich  ein  bedeutender 
Überschuss  ergeben,  der  die  Fortsetzung  der  Festspiele 
im  nächsten  Jahre  sichert."  Das  ist  doch  alles,  was 
man  von  unserer  Österreicherin,  auf  die  berüchtigte 
Notiz  vom  Mai  hin,  erwarten  konnte,  wenn  es  nicht  zu- 
gleich auch  —  a'  klein's  bis'l  charakterlos  wärM  Folgen 
nun  die  schon  erwähnten  grossen  Spezial-  und  Fest- 
Artikel  über  das  „Bayreuther  Festspiel",  unter' m  31.  Juli, 
18.  und  24.  August.  Der  erste  bringt  als  Einleitung 
Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  23 


Digitized  by  LiOOQlc 


354  Wagneriana.    Bd.  III. 


einen,  zum  Teil  schon  von  diesem  (in  seinen  Bayreuther 
Berichten)  parierten,  recht  abgeschmackten  und  groben 
Ausfall  gegen  den  Redakteur  der  „Allg.  Musik-Zeitung*, 
O.  Lessmann,  macht  sich  dann  lustig  über  den  Aus- 
druck „Weihetempel-  für  „Festspielhaus"  und  konstruiert 
ein  witzig  sein  sollendes:  „Weihetempelberg-.  Der  gesch. 
Verfasser,  der  übrigens  —  wie  er  selber  sagt  —  „eine 
objektive  Mittelstellung  in  Wagnerdingen  einnimmt-  (!) 
—  wirft  die  Frage  auf:  „was  unsere  Altmeister  der 
Tonkunst  wohl  zu  leisten  im  Stande  gewesen  wären, 
wenn  ihnen  solche  hohe  Gönner,  solch'  unbegrenzte 
finanzielle  Mittel  zu  Gebote  gestanden  hätten.-  (Hört!!) 
Der  Mann  scheint  zu  träumen,  oder  absichtlich  auf 
Täuschung  der  Menge  auszugehen.  Denn  jedermann 
weiss  doch,  wie  sehr  Wagner  gerade  finanziell  zu  kämpfen 
hatte,  und  welche  Schwierigkeiten  eben  in  dieser  Hin- 
sicht das  Bayreuther  Unternehmen  noch  heute  stets 
zu  überwinden  hat:  man  denke  an  die  Zeit  vor  1876  und 
das  grosse  Defizit  unmittelbar  nach  diesem  Jahre!  etc. 
Er  behauptet:  die  Gäste  seien  oben  in  der  Restauration 
neben  dem  Theater  „weder  mit  der  Qualität  noch  mit 
der  Quantität  der  Gerichte  zufrieden-  (ob  er  nicht  viel- 
leicht von  der  „Bürger-Reuth"  hat  läuten  hören?),  be- 
richtet von  sentimentalen  Frauen,  welche  beim  „Parsifal- 
in  Thränen  ausbrachen  und  dann  „in  der  tiefen  Dunkel- 
heit manchmal  fehl  gegriffen  und  mit  ihrem  Taschentuch 
schnell  die  Augen  des  Nachbars  zu  trocknen  versucht 
haben  sollen-,  witzelt  über  die  Angermann-Kneipe  u.  s.  f. 
Dagegen  ist  er  wenigstens  vorurteilsfrei  genug,  zu  er- 
wähnen, dass  ein  Zuspätkommen  „zum  Glück-  in  Bay- 
reuth strenge  verpönt  sei;  er  ist  so  gerecht,  die  rasche  Ent- 
leerung des  Hauses  besonders  zu  loben  und  zu  kon- 
statieren, dass  „ein  gesellschaftliches  Leben  im  Bay- 
reuther Theater  nicht  existiert-,  denn  „eifersüchtig  (!!) 
habe  der  Dichterkomponist  alle  Aufmerksamkeit  auf 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


355 


sein  Werk  konzentrieren  lassen"  —  nur  ist  im  letzten 
Satze  der  Ausdruck  „eifersüchtig"  wieder  so  recht 
charakteristisch,  und  wenn  irgendwo,  so  darf  man  wohl 
hier  das  Faustische: 

„Du  gleichst  dem  Geist,  den  du  begreifst !M 

in  Anwendung  bringen. 

Der  zweite  Bericht  beginnt  mit  hämischen  Er- 
läuterungen: wie  die  Wagnerianer  über  den  Erfolg  der 
Festspiele  mit  Schoppen hauereien  „argumentieren".  Es 
folgen  dann  längere  Auseinandersetzungen  über  den  Tod 
Liszts  und  die  Begräbnisfrage,  wobei  man  sich  selbst- 
gefällig zu  einer  autoritativen  Reporter-Autorität  auf- 
zuspielen beliebt;  Berichte  über  die  Vorstellungen  füllen 
das  Übrige  aus.  Unzweifelhaft  der  interessanteste  Artikel 
ist  aber  der  dritte.  Ergiebt  eine  Art  resümierenden  Rück- 
blickes auf  die  bereits  wieder  abgeschlossenen  Festspiele, 
und  ich  hebe  hier  gerne  hervor,  dass  er  sehr  anerkennens- 
werter Weise  ausdrücklich  versichert,  dass  „Wohnungs- 
prellereien zu  Bayreuth  nur  vorkämen,  wenn  man  sich 
nicht  an  das  Wohnungskomitee  wende,  sondern  den 
Wohnungshyänen  am  Bahnhof  in  die  Hände  falle". 
„Die  Verpflegung  sei  in  Bayreuth  billig  und  gut,  aber 
eine  feine  Küche  finde  man  nicht";  denn  „das  Wort: 
pikant  fehlt  im  Bayreuther  Kochbuch".  (Der  Verf.  scheint 
Paprika  auf  gut  Ungarisch  verlangt  zu  haben.)  Von 
besonders  bemerkenswerten  Sätzen  seien  aus  allen  drei 
Berichten  folgende  im  vollen  Wortlaute  wiedergegeben. 

Man  wird  Verschiedenes  anerkennen  und  be- 
wundern müssen  —  «und  doch  wird  man  zu  dem 
Schlüsse  kommen:  Wagner  war  ein  Musiktyrann  (!) 
und  seine  Musik  wird  niemals  volkstümlich  werden. 
(Da  haben  wir's!  Welches  Unglück!!  —  Vgl.  übrigens 
Wagner  ,Ges.  Sehr.*;  Bd.  VII,  S.  174.)  Ein  un- 
befangener (!),  parteiloser  (!!)  Zuhörer  wird  einzelne 

23* 


356 


Wagneriana.   Bd.  III. 


auf  den  Effekt  (!!!)  für  Auge  und  Ohr  wohlberechnete 
Szenen  meisterhaft  arrangiert  (sie!)  finden  und  doch 
zugleich  aufrichtig  bekennen,  dass  Parsifal  und  Tristan 
textliche  und  musikalische  Längen  enthalten,  die  dem 
gewöhnlichen  Menschen  (sie!)  in  ihrer  end-  und 
zwecklosen  Redseligkeit  (!!)  unerträglich  erscheinen 
m  ü  s  s  t  e  n  (!),  wenn  es  nicht  in  Bayreuth  wie  ander- 
wärts Mode  wäre,  bei  den  neuen  Wagner  -  O  p  e  r  n  (!!) 
sich  lieber  selbst  ein  bischen  zu  belügen,  als  etwa 
aufrichtig  gähnend  die  oft  auftauchende  Langeweile 
zuzugestehen*  .  .  .  „An  Parsifal -Tagen  ist  das  Publi- 
kum auch  stets  gewählter,  als  an  Tristan-Tagen.  Heute 
z.  B.,  sagte  mir  ein  biederer  Bayreuther,  sei  nur  eine 
,Feuerwehr -Vorstellung*.  Für  Parsifal  ist  die  Nach- 
frage bedeutend  stärker  ...  im  Tristan  sieht  es  da- 
gegen doch  besser  aus,  wenn  einige  hundert 
Plätze  mit  Feuerwehrleuten  ausser  Dienst  (Hört!  in 
dem  kleinen  Bayreuth:  einige  hundert  Feuerwehr- 
männer und  noch  dazu  ,a.  D.'ü)  besetzt  sind,  statt 
leer  zu  bleiben;  man  kann  es  dem  Einzelnen  nicht 
am  Gesichte  ablesen,  ob  er  sein  Billet  bezahlt  oder 
verdient  hat,  und  je  voller  das  Haus,  desto  besser  der 
Gesamteindruck  für  die  Uneingeweihten.  (!!  Es 
ist  doch  in  der  That  zum  Tollwerden,  dass  unseren 
Berichterstatter  von  der  ,N.  Fr.  Presse*  ein  Zufall 
gerade  mit  dem  ,biederen  Bayreuther*  zusammen- 
führen und  zum  Eingeweihten*  machen  musste!) 
Auch  die  Mitglieder  der  beiden  Gemeinde -Gremien 
werden  für  ihren  praktischen  Lokal-Patriotismus  mit 
freien  Eintrittskarten  beehrt;  mit  kleinen  Aufmerksam- 
keiten erwirbt  man  sich  bekanntlich  Freunde!  .  .  . 
Aber  Reklame  muss  überall  sein,  besonders  in  der 
Festspielstadt  Bayreuth. "  (Hatte  ich  wohl  oben  Recht, 
als  ich  sagte,  dass  auch  diese  Berichte  des  Wider- 
lichen und  Zweifelswürdigen  gerade  genug  enthalten?) 


Die  Pflege  des  Erbes. 


357 


Der  Schlussartikel  bringt  noch  folgenden,  immerhin 
begrüssenswerten  und  interessanten  Passus: 

„Wer  sie  kommen  und  gehen  sah,  diese  Völker- 
rüge aus  allen  Gegenden  der  zivilisierten  Welt,  musste 
sich  sagen,  dass  sich  gegenwärtig  ein  Stück  Kultur- 
geschichte in  Bayreuth  abspielt,  wie  es  selbst  die  zu- 
versichtlichsten Vertreter  des  Unternehmens  (!)  nicht 
zu  hoffen  wagten.  Seit  dem  10  jährigen  Bestand  des 
Theaters  war  niemals  ein  solch*  mächtiger  Zuzug  von 
Fremden,  waren  niemals  die  Fürstenhäuser  so  zahl- 
reich vertreten"  .  .  .  „Wir  verkennen  nicht,  dass  die 
Tonschöpfungen  Wagners  in  dem  ganz  nach  den  In- 
tentionen des  Meisters  erbauten  Theater  und  mit  dem 
nach  dessen  Angaben  eingerichteten  dekorativen 
Apparat  wieder  einen  durchschlagenden  Erfolg  (!)  er- 
zielt haben;  ob  aber  diese  Kunstwerke  je  volkstüm- 
lich werden  können,  dürfen  wir  wohl  auch  nach 
dem  heurigen  Erfolge  stark  bezweifeln."  (NB .'„Durch- 
schlagender Erfolg"  ist  gut!) 

Dies  also  die  Ansicht  der  „N.  Fr.  Presse",  bezw.  ihres 
geehrten  Herrn  Reporters,  —  denn  ob  Beide  mit  ein- 
ander übereinstimmen  ist  ja  noch  immer  sehr  die  Frage. 

Wir  schliessen  damit  unsere  Betrachtungen  über 
dieses  Journal,  um  sie  nunmehr  dem  schon  erwähnten 
norddeutschen  „Berliner  Tagblatt"  zuzuwenden.  Gleichen 
sich  beide  Zeitungen  auch  in  manchen  Punkten  gegen- 
seitig auf's  Haar,  so  zeichnet  sich  doch  die  erstere, 
das  Wiener  Blatt,  von  der  letzteren,  der  Berliner,  noch 
immer  dadurch  aus,  dass  es  wenigstens  Spezial- Kor- 
respondenzen bringt  und  dem  Bayreuther  Ereignis  aus- 
führlichere Berichte  (u.  zw.  diese  nicht  nur  unter 
dem  Striche)  widmet.  Dies  hat  sich  nun  unser  „Berl. 
Tagblatt"  gleich  ganz  gespart.  Es  giebt  sich  nämlich 
nicht  einmal  die  Mühe,  seinen  Lesern  ein  grösseres 


358 


Wagneriana.   Bd.  III 


Referat  über  Bayreuths  Jubiläum  zu  bringen,  es  beschränkt 
sich  auf  kurze  Notizen,  telegraphische  Depeschen,  kleine, 
unscheinbare  Sensationskunden  etc.  Man  hat  zwar  — 
von  politischen  Nachrichten  und  Börsenberichten  gar 
nicht  zu  reden  —  die  Spalten  voll  vom  Heidelberger 
Fest,  von  Pariser  Modenbriefen,  Leitartikeln  über  den 
Kongress  deutscher  Radfahrer  und  den  Skat-Kongress, 
natürlich  lauter  hochwichtigen  Dingen!  Ja,  in  einer 
Nummer  findet  sich  sogar  die  Freudennotiz:  »Endlich 
einmal  eine  Volks- Ausgabe  von  Heine's  Werken!"  u.  s.w. 
—  der  «abgestandene  Artikel":  „Bayreuth*  aber  sieht  sich 
in  das  kleinste,  unscheinbarste  Winkelchen  des  Blattes 
verwiesen.  Nichts  ist  ärger  als  dieses  „in's  Gebiet  des 
Alltäglichen,  Unscheinbaren  Verweisen"  eines  ohne 
Zweifel  hochragenden  künstlerischen  und  natio- 
nalen Ereignisses,  dieses  Nichtbeachten,  als  Mode- 
sache Vorübergehen  -  lassen ,  darüber  sensationell  De- 
peschieren, aber  dann  ruhig  und  schweigend  seinen 
Weg- laufen -lassen  des  Bayreuther  Festspieles,  wie  es 
heuer  bei  gar  vielen  Zeitungen,  und  nicht  zuletzt  eben 
bei  unserem  „Berl.Tagbl.",  so  beliebt  war.  Wie  gehässig 
dabei  dieses  Blatt  im  Stillen  dennoch  dachte,  das  geht 
aus  einer  Notiz  vom  10.  August  No.  303  zur  Evidenz 
hervor,  die  wir  der  Deutlichkeit  halber  hier  wieder 
wörtlich  anführen  wollen.    Sie  lautet: 

„Bei  der  vierten  Vorstellung  von  Tristan  und 
Isolde  war  das  Haus  nur  zur  Hälfte  be- 
setzt, die  Fürstenloge  leer.  Nach  den  Reklamen 
der  Wagnerianer  musste  man  annehmen,  dass  bei 
jeder  Vorstellung  Hunderte  zurück  gewiesen  wurden. 
Es  gehören  freilich  auch  starke  Nerven  dazu,  diese 
Oper  (!!)  unverkürzt  anzuhören." 

Ganz  abgesehen  davon,  dass  der  Vordersatz:  „das 
Haus  sei  nur  zur  Hälfte  besetzt  gewesen",  unzweifel- 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


359 


haft  stark  übertrieben  ist,  sind  die  „Reklamen"  der 
Wagnerianer  eine  grobe  Lüge.  Die  „Allg.  Musik.-Ztg." 
hat  in  der  No.  34  aus  statistischen  Zahlen  bereits 
haarscharf  nachgewiesen,  dass  die  Nachrichten  aus 
Bayreuth  durchaus  ihre  reelle  Basis  hatten,  und  ich 
kann  aus  persönlicher  Anschauung  und  Erfahrung  nur 
versichern,  dass  die  ersten  Vorstellungen  bis  zum 
2.  August  (inkl.)  alle  beinahe  bis  auf  den  letzten  Platz 
besetzt  waren;  nur  eine  Vorstellung  machte  davon  eine 
Ausnahme,  insofern  sie  in  den  oberen  Sitzreihen  stärkere 
Lücken  aufwies.  Endlich  spricht  der  faktische  Überschuss 
von  15000  Mk.  (NB.  über  den  alten,  wieder  ein- 
gebrachten Stammfond  von  180000  Mk.)  doch  mehr 
als  alles  Andere  für  den  Ertrag  der  Aufführungen  auch 
nach  materieller  Seite  hin.  Nun  zeigt  aber  vollends 
der  perfide,  hetzerische  Nachsatz  unserer  Notiz  von 
den  „starken  Nerven"  die  Tendenz  dieses  Journalisten- 
koups  in  ihrer  ganzen  Erbärmlichkeit  viel  zu  klar  und 
deutlich,  als  dass  darüber  noch  ein  Wort  weiter  zu 
verlieren  wäre.  — 

Ich  bin  zu  Ende  mit  meiner  Ubersicht  über  politisch- 
einflussreiche  Blätter,  so  weit  ich  darüber  etwas  Näheres 
habe  in  Erfahrung  bringen  können.  Berliner  Blätter 
mögen  wohl  im  Einzelnen  noch  Manches  gebracht  haben ; 
doch  entsinne  ich  mich  nicht,  dass  ich  ausser  Hans 
Herrrigs  Aufsätzen  im  „Deutschen  Tagblatt"  von 
einer  grösseren  und  bedeutenderen  Besprechung  oder 
Veröffentlichung  in  einem  derselben  gehört  hätte. 
Ausserdem  veröffentlichten  noch  die  „Riga'sche  Zeitung", 
die  „Fr.  Schlesische  Presse",  die  „Neue  Zeit"  (Olmütz), 
die  „Tagespost"  (Linz),  das  „Posener  Tagblatt"  (R.  Musiol), 
die  „Westphälische  Reform",  ganz  neuerdings  auch  noch 
einmal  die  bereits  von  mir  erwähnte  „Süddeutsche  Presse" 
(210—214:  „Mit  aller  Festigkeit  muss  jeder  Ver- 
such, den  ,Parsifal(  der  einzig  richtigen  Pflege- 


Digitized  by  Google 


360  Wagneriana.   Bd.  III. 


Stätte  zu  entziehen,  zurück  gewiesen  werden"> 
u.  A.  ausfuhrliche  Hinweise  und  Besprechungen;  die 
„Kölnische  Zeitung41,  ebenso  wie  die  „Frankfurter 
Zeitung*  waren  mir  leider  nicht  zugänglich,  und  das 
„Leipziger  Tagblatt4*,  welches  auch  ausführliche  Berichte 
von  seinem  Spezial  -  Berichterstatter  gab,  habe  ich 
nur  Anfangs,  in  den  ersten  zwei  Nummern,  nachlesen 
können:  diese  Berichte  klangen  begeistert;  die  späteren 
sollen  sich  etwas  „gemässigter"  ausgesprochen  haben.*) 
Von  der  litterarischen  Presse,  Wochenschriften  etc. 
haben  die  bekannteren:  „Über  Land  und  Meer**, 
„Gartenlaube41,  „Daheim-  etc.,  ebenso  die  „Grenz- 
boten", „Nord  und  Süd",  „Deutsche  Rundschau", 
„Deutsche  Revue",  die  österreichische  „Deutsche 
Wochenschrift",  bisher  sich  ausgeschwiegen  —  was 
Herr  Ehrlich  den  Lesern  von  „Über  Land  und  Meer"  aus 
dem  „Musikleben  der  Gegenwart"  wohl  erzählen  wird, 
wenn  nicht  dieses,  erscheint  mir  schlechterdings  un- 
erfindlich! Die  No.  4  der  „Nation"  (erschienen  im 
Oktober!)  brachte  einen  —  vermutlich  ein  Bayreuther 
Nachspiel  sein  sollenden  —  Artikel  über  „Auswüchse 
musikalischer  Begeisterung",  in  welchem  über  Wagners 
Philosophie  und  namentlich  über  den  „Parsifal"  die  un- 
glaublichsten Thesen  aufgestellt  werden.  Das  November- 
heft der  R.  v.  GottschalTschen  Monatsschrift  „Unsere 
Zeit"  spricht  in  einem  plaudernden  Vierteljahrsbericht  über 

*)  Die  Artikel:  „Das  Werk  von  Bayreuth,  Tristan  und 
Parsifal"  von  Dr.  Rudolf  Geyer  in  den  R.  v.  Schönerer'schen 
„Unverfälschten  Deutschen  Worten"  No.  17  und  „Unsere  Ab- 
gewirtschafteten!" von  Moritz  Wirth  in  den  Pernerstorfer'schen 
„Deutschen  Worten",  Heft  10,  sind  so  eigenartiger,  besonderer 
Natur,  dass  man  sie  lieber  einmal  im  Zusammenhang  an  einem 
anderen,  passenderen  Orte  besprechen  und  —  mitnehmen  sollte. 
Auch  Cyrill  Kistlers  „Wagnersekten"  in  den  „Aufsitzen  über 
Musikalische  Tages  fragen"  No.  8,  gehören  eigentlich  schon  mit 
in  diese  Rubrik. 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


361 


das  Musikleben  von  dem  in  Leipzig  zu  erbauenden  Musik- 
Zirkus,  von  der  Oper  „Ramiro",  der  Reinecke'schen 
Oper  „Auf  hohen  Befehl"  und  der  v.  Perfairschen 
„Junker  Heinz",  und  nachdem  sie  diese  .musikalischen 
Ereignisse"  durchgegangen,  sagt  sie  am  Schlüsse:  „Im 
Übrigen  ist  von  dramatisch-musikalischen  Thaten  nichts 
besonders  Bemerkenswertes  zu  berichten."  (Siel)  In  der 
„ Konversati ven  Monatsschrift"  wiederum  (Oktoberheft, 
S.  1028)  sagt  L.  Meinard us  bei  seinen  Berichten  über 
die  „Musikfeste"  des  vergangenen  Sommers:  „Auch 
die  Festspiele  zu  Bayreuth  .  .  .  müssen  den  Musikfesten 
des  Sommers  beigezählt  werden,  da  im  Winter  das 
Bühnenfestspielhaus  bei  der  Wagnerstadt  Bayreuth  ge- 
schlossen bleibt."  (Wirklich  ausserordentlich  geistreich! 
Ich  mache  dem  Verfasser  mein  Kompliment.)  Es  folgen 
nun  die  Ausfalle:  Durch  den  Verlust  Wagners,  König 
Ludwigs  II.  und  Liszts  sind  der  Partei  „die  drei  vor- 
nehmsten Häupter  geraubt  worden,  um  welche  sie  sich 
fest  zusammen  zu  scharen  gewohnt  war".  „Frau  Cosima 
Wagner"  hat  der  Pietät  für  ihren  grossen,  unsterblichen 
Vater  (bekanntlich  hat  Frau  Wagner  in  der  tiefen 
Trauer  um  ihren  Gatten  schon  1883  sich  ihres  Haar- 
schmuckes beraubt!)  ihr  Haupthaar  zum  Opfer  gebracht, 
dadurch  ihre  Ähnlichkeit  mit  demselben  ausserordentlich 
gefördert  und  zunächst  (!)  die  Leitung  der  Bayreuther 
Festspiele  so  energisch  in  die  Hand  genommen,  dass 
sie  ihre  Wohnung  sogar  von  dem  Hause  Wahnfried 
nach  dem  Theatergebäude  verlegt  hat.  Blinder,  gläubiger 
Enthusiasmus,  dieses  Lebenselixir  aller  Neuerer  und 
Ideologen,  steht  der  gegenwärtigen  Leiterin  und  ihren 
Parteigenossen  als  starker  Kampf-  und  Bundesgenosse 
zur  Seite  (der  Leser  hört  doch:  wie  hier  der  Hund  an 
der  Kette  knurrt!)  und  verheisst  ihren  Bestrebungen 
einstweilen  (!!)  noch  fortdauernde  Erfolge.  Ob  aber  der 
künstliche  babylonische  Thurm  auf  festen  Fundamenten 


362 


Wagneriana.    Bd.  III 


ruhe  und  die  erreichte  schwindelnde  (das  Bergsteigen 
ist  eben  nicht  jedem  verträglich,  Herr  Meinardus!)  Höhe 
seines  gigantischen  Aufbaues  behaupten  könne  —  das 
ist  eine  Frage,  deren  Beantwortung  man  der  Zukunft 
überlassen  muss.u  Recht  so,  ganz  im  Sinne  aller 
Hoch-Konservativen:  keine  Zukunft  selber  durch  die 
That  herbei  führen  und  zur  Gegenwart  machen;  nein, 
träge  auf  den  Schultern  der  Vergangenheit  ruhen,  in 
der  Vergangenheit  allein  leben  —  nur,  was  die  Ver- 
gangenheit sanktioniert  hat,  besitzt  seinen  Wert.  Als  ob 
diese  nicht  auch  einmal  Zukunft  und  Gegenwart  ge- 
wesen wäre!  Da  lobe  ich  mir  doch  die  „Gesellschaft" 
von  Dr.  M.  G.  Conrad,  eine  realistische  Monatsschrift, 
die  —  wenn  sie  auch  hin  und  wieder  einmal  zu  feurig 
für  die  Gegenwart  in  die  Schranken  tritt,  doch  von 
Anfang  an  (s.  No.  1  des  ersten  Jahrg.)  offen  und  ehr- 
lich sich  zu  Wagner  bekannt  hat.  Auch  in  der  Nummer 
vom  15.  August  dieses  Jahrganges  bringt  sie  unter  der 
Überschrift  „Anmerkungen  zur  Zeitgeschichte*  höchst 
wertvolle,  warm  gehaltene  Notizen  über  Bayreuth, 
welche  mit  dem  Worte  Wagners  schliessen:  „dass,  wo 
der  Staatsmann  verzweifelt,  der  Politiker  die  Hand 
sinken  lässt,  der  Sozialist  mit  fruchtlosen  Systemen 
sich  plagt,  ja  selbst  der  Philosoph  nur  deuten,  nicht 
aber  voraus  künden  kann  —  der  Künstler  allein  mit 
klarem  Auge  Gestalten  zu  erschauen  vermag,  wie  sie 
4er  Sehnsucht  sich  zeigen,  die  nach  dem  einzig  Wahren 
verlangt  —  dem  Schönen!"  Als  Einleitung  fanden  wir 
dort  zudem  folgende,  in  ihrer  Kühnheit  und  Wahrheits- 
liebe besonders  wertvolle  Sätze:  „Alle  Hochachtung  vor 
der  Malerei  und  den  Malern  unseres  Jahrhunderts,  aber 
die  wahrhaft  grossen,  Welt  stürzenden  Offenbarungen  des 
modernen  Menschheits-Geistes  darf  man  bei  diesen 
Zauberern  des  schönen  Scheins,  der  farbigen  Täuschung 
nicht  suchen.    Alle  Revolutionen  des  Pinsels  und  der 


Die  Pflege  des  Erbes. 


363 


Palette,  die  Europa  seit  50  Jahren  erlebte,  sind  doch  nur 
geniale  Scherze  im  Vergleiche  zu  den  Umwälzungen, 
die  sich  auf  dem  Gebiete  der  Poesie  und  Musik  voll- 
zogen haben.  Eine  Himmelsstürmerei  wie  das  Gesamt- 
kunstwerk des  Dichter-Komponisten  R.Wagner,  steht  ohne 
Beispiel  da  .  .  ."  Und  damit  der  Leser  nicht  etwa 
denke,  das  sei  alles  in  ironischem  Sinne  ausgesprochen, 
möge  noch  der  Schlusssatz  hier  eine  Stelle  finden, 
welcher  lautet:  »Für  den  »Ring*,  »Tristan4,  ,Parsifal« 
suchen  wir  vergebens  nach  gleichwertigen,  mitzeitigen 
Schöpfungen  auf  anderen  Kunstgebieten.0  —  Auch  über 
Franz  Liszt  bringt  der  Artikel  einen  sehr  hübschen  und 
sympathischen  Passus,  als  eine  Art  von  Nekrolog  auf  den 
Genius  des  Meisters,  und  er  schliesst  mit  der  Gegenüber- 
stellung: «Wie  Goethe  und  Schiller  das  kleine  Weimar 
zu  einem  Ursitze  geistigen  Ruhmes  für  alle  Zeiten  ge- 
stalteten, so  wird  durch  das  geniale  Heldentum  des 
musikalischen  Dioskurenpaares,  Wagner  und  Liszt,  die 
Frankenstadt  Bayreuth  in  die  erste  Reihe  welthistorischer 
Kultstätten  ewiger  Schönheit  erhoben." 

Und  soll  ich  hier  auch  noch  die  für  so  viele  andere 
Blätter  beschämende,  für  uns  freilich  nur  um  so  er- 
freulichere Thatsache  registrieren,  dass  eine  theo- 
logische Wochenschrift,  das  «Deutsche  Protestanten- 
blatt" No.  36/37,  in  einem  ungemein  warm  geschriebenen 
Artikel  über  „Tristan"  und  „Parsifal"  von  Bayreuth 
Notiz  genommen  hat,  dessen  Verfasser  —  Dr.  Ad.  Port  ig, 
Pastor  in  Bremen  —  den  W.  Golther'schen  Satz: 
»Glückselig  ist  der,  dem  die  Ton  weit  des  Tristan 
nicht  verschlossen  bleibt",  voll  unterschreibt  und  vom 
„Parsifal"  einen  „besseren  Menschen"  mitgenommen 
haben  will?  (Nach  dieser  theologischen  Wochenschrift 
sind  die  Expektorationen  eines  anderen  protestantischen 
Theologen  zu  widerlegen;  cf.  „Brieger  Zeitung"  vom 
9.  Dezember:  Bericht  aus  Gr.-Glogau  über  den  Vortrag 


Digitized  by  Google 


364 


Wagneriana.   Bd.  III. 


des  Konsistorialrates  Prof.  Dr.  Meuss  über  „Die  Bay- 
reuther Festspiele  im  Lichte  der  evangelischen  Kirche".) 

Endlich  ist  noch  die  «Gegenwart*1,  bei  welcher  es 
schon  den  Anschein  haben  wollte,  als  würde  sie  dies- 
mal sich  gänzlich  in  Schweigen  hüllen,  soeben,  kurz 
vor  Thorschluss,  noch  mit  auf  dem  Plan  erschienen, 
und  ich  bin  daher  in  der  angenehmen  Lage,  meinen 
Bericht  auch  mit  einem  durchaus  erfreulichen  Ausblick 
zum  Abschlüsse  bringen  zu  können.  Wir  haben  es 
wohl  zunächst  der  Person  des  Verfassers  selbst,  eines 
offenkundigen  Anhängers  der  Sache  und  tüchtigen  Mit- 
arbeiters am  Kürschner'schen  Jahrbuche",  zu  danken, 
dass  dieser  »Rückblick  auf  die  Bayreuther  Festspiele* 
überhaupt  noch  erschienen  ist,  der  ohne  Zweifel  die 
Scharte  wahrnahm,  welche  sich  ergeben  hätte,  wenn 
ein  Blatt,  wie  die  .Gegenwart",  dieses  10  jährige 
Jubiläum  der  Festspiele  total  ignoriert  haben  würde: 
die  Redaktion  selbst  hätte  sich  wahrscheinlich  auch 
ohne  diesen  Artikel  ganz  wohl  gefühlt  —  jeder  Zoll 
ein  «Zolling"!  Und  wir  danken  ihm  diese  Veröffent- 
lichung in  der  That  herzlich  und  aufrichtig,  ist  der 
genannte  Aufsatz  doch  so  treffend,  so  anregend  ge- 
schrieben und  fein  empfunden,  dass  man  ihn  sich  nicht 
besser  wünschen  könnte.  War  es  aber  auch  bei  einem 
Dr.  Fritz  Koegel  —  denn  dieser  ist  der  Verfasser  — 
anders  zu  erwarten?  Dass  er  hin  und  wieder  einmal  den 
kritischen,  so  sehr  beliebten  .objektiven"  Mittelweg  ein- 
schlägt, dürfen  wir  ihm  nicht  verargen,  wo  er  es  doch 
sonst  so  ernst  mit  der  Sache  nimmt.  Auch  erscheint 
es  bei  ihm  als  einem  Mitarbeiter  am  Jahrbuche"  ja 
einigermassen  erklärlich,  wenn  er  für  Moritz  Wirths 
Marke-Theorie  Partei  ergreift.  Des  Weiteren  muss  ich, 
so  sehr  ich  mich  freue,  dass  er  vom  .Tristan*  erwähnt: 
er  habe  in  Bayreuth  .erst  seine  Heimat  gefunden", 
doch  direkt  bestreiten,    dass   .die   Bühnenbilder  im 


Die  Pflege  des  Erbes. 


365 


Wesentlichen  denen  der  Leipziger  Aufführung  ent- 
sprechen". Alle  diese  Dinge  aber,  wie  nebenbei  auch  der 
Umstand,  dass  der  Dirigent  der  „Tristan"- Aufführungen 
nach  diesem  Bericht  Mokl  heissen  müsste(eine  Namens- 
änderung, die  natürlich  dem  Setzer  in  die  Schuhe  zu 
schieben  ist,  aber  auf  einer  sachkundigen  Redaktion 
bemerkt  werden  musste)  —  dürfen  uns  nicht  ernstlich 
stören,  noch  verstimmen,  finden  wir  doch  in  unserem 
Aufsatze  erhebende,  herrliche  Stellen,  wie  die  folgenden: 

„So  gross  ist  die  Macht  dieser  Persönlichkeit 
(Wagners),  dass  der  dritte  grosse  Tote,  der  wenige 
Wochen  erst  in  Bayreuth  ruht,  dass  Franz  Liszt  im 
Lärm  der  fort  gehenden  Festspiele  und  des  weiter 
schreitenden  Lebens  fast  vergessen  auf  dem  Fried- 
hofe schläft.  Ich  fürchte,  dass  von  den  heurigen 
Festspielgästen  viele  das  frische  Grab  auf  dem 
Friedhofe  nicht  gesehen  haben;  das  Grab  im  Parke 
von  Wahnfried  haben  wohl  Alle  besucht"  .  .  . 

„Man  weiss  und  sieht  das  nach  jeder  Aufführung 
klarer,  dass  ,Parsifal*  eine  symbolische  Welt- 
dichtung von  tiefstem  ethischem  Gehalte 
ist  .  .  .  Wir  freuen  uns,  dass  der  ,Parsifal(,  das 
einzige  Werk  Wagners,  das  ausschliesslich  Bayreuth 
angehört,  bis  auf  Weiteres,  hoffentlich  noch  recht 
lange,  den  Bayreuther  Festspielen  verbleibt.  Von 
einer  Verpflanzung  des  ,Parsifal*  auf  die  andern 
Bühnen  können  wir  uns  keinen  Vorteil, 
weder  für  die  Popularisierung,  noch  für  die 
künstlerisch-reine  Aufführung  des  Werkes 
versprechen.  Es  würde  ihm  gehen,  wie  es  dem 
,Nibelungenring*  ergangen  ist,  der  durch  unzu- 
längliche Aufführungen  auf  allen  möglichen  kleinen 
Bühnen  wohl  sehr  bekannt,  aber  auch  entstellt  und 
als  Ganzes  zerstückelt  worden  ist"  .  .  . 


366 


Wagneriana.    Bd.  III. 


„In  dem  von  Wagner  gewollten  Sinne  sind 
die  Bayreuther  Vorstellungen  doch  Muster- 
vorstellungen: sie  stellen  die  Werke  seiner  letzten 
Periode  dar  in  Aufführungen,  deren  stilvolle  Treue 
verbürgt  wird  durch  die  in  Bayreuth  gepflegte 
und  fort  gepflanzte  künstlerische  Ober- 
lieferung, und  deren  möglichst  künstlerische 
Vollendung  erzielt  wird  durch  den  hohen 
Ernst  und  die  peinliche  Sorgfalt  der  Ein- 
studierung und  Leitung  dieser  Werke,  der  es 
einzig  darum  zu  thun  ist,  das  Kunstwerk 
durch  die  lebendigste  Darstellung  zum  Ge- 
fühlsverständnisse der  Hörer  zu  bringen." 

Nicht  wahr,  das  lässt  sich  hören?  —  Genug,  wir 
freuen  uns  dieses  schönen  Abschlusses  der  Jubiläums- 
Kampagne  und  ziehen  nunmehr  unser  Fazit:  Wir  er- 
kennen danach,  wie  Alle,  Freunde  und  Gegner  (wenn 
auch  diese  mit  geballter  Faust  und  ingrimmig  genug), 
darin  überein  kommen,  dass  Bayreuth  in  diesem  Jahre 
ausserordentlich  stark  besucht  war,  und  dass  ein  Uber- 
schuss  von  15000  Mk.,  trotz  den  durch  die  Neu- 
einstudierung des  „Tristan"  beträchtlich  ver- 
mehrten Ausgaben,  faktisch  erzielt  worden  ist.  Wir 
sehen:  wie  sie  uns  Alle  den  materiellen  und  ideellen 
„Erfolg"  wohl  oder  übel  anerkennen  müssen;  wie  sie  sich 
erstaunt  zeigen  darüber,  dass  es  „gegangen"  ist,  und  wie 
sie  die  Sicherung  der  Festspiele  auch  für  die  Zukunft  mit 
mehr  oder  minder  süss-sauren  Mienen  zu  proklamieren 
sich  gezwungen  sehen.  Da  gehen  wir  denn  im  frohen 
Bewusstsein  unserer  Kraft  und  der  erhebenden  Gewiss- 
heit gegenüber  allen  künstlich  gemachten  „Illusionen" 
für  jetzt  ruhig  wieder  zur  Tagesordnung  über,  jeder 
von  uns  an  seine  besonderen  Arbeiten  und  jeweiligen 
Berufsgeschäfte,  und  geben  einstweilen  nur  ganz  im 


Die  Pflege  des  Erbes. 


367 


Vorbeigehen  bei  allen  Herren  Gegnern  der  Sache  unsere 
Visitenkarte  höflichst  ab  mit  einem  bedeutsamen:  ü.  A. 
w.  g.!  —  was  wir  heute  zur  Abwechslung  einmal  aus- 
deuten wollen  in  die  Worte: 

„Um  Anerkennung  wird  gebeten  l" 


2.  Die  idealen  Aufgaben  des  „Allgemeinen 
Richard  Wagner -Vereins" 

(1887) 

„Erlöse,  rette  mich 

aus  schuldbefleckten  Händen!** 

Zunächst  bin  ich  dem  gesch.  Leser  die  Erklärung 
schuldig,  dass  ich  mit  meinem  Eingangs  -  Motto  nicht 
etwa  den  Allgemeinen  Richard  Wagner -Verein  als  jenes 
„aus  schuldbefleckten  Händen  zu  erlösende*  Heiligtum 
gemeint  habe,  sondern  dass  mit  jenem  der  All- 
gemeine Richard  Wagner -Verein  selbst  apostrophiert 
und  unter  jenem  Heiligtum  vielmehr  die  Wagner'sche 
Kunst  von  mir  verstanden  worden  ist  —  wir  somit  er 
mahnt  bleiben  sollen:  „das  Heiltum  heil  uns  zu  bergen", 
und  sollten  wir,  es  zu  hüten,  es  zu  wahren,  auch  Wunden 
jeder  Wehr  daran  gewinnen  müssen.  Mehr  denn  je 
hat  sich  gerade  heuer  den  Festspielbesuchern  zu  Bay- 
reuth, und  vor  Allem  den  wahren  und  ernsten  Freunden 
der  Sache,  die  Überzeugung  aufgedrängt:  nicht  nur,  dass 
das  Bayreuther  Bühnenfestspiel  als  nationales  Institut 
dauernd  zu  erhalten  ist,*)  sondern  auch,  dass  Wagners 
Werke  erst  dort  die  ihrer  würdige  Stätte  finden,  erst 


•)  —  ich  erinnere  hier  nur  an  den  Ausspruch  des  Prinzen 
Wilhelm,  welcher  meinte:  es  wäre  eine  Schmach  für  die 
ganze  deutsche  Nation,  wenn  die  Festspiele  nicht  erhalten  werden 
könnten  —  und  hiefür  sofort  1000  Mk.  zeichnete! 


Digitized  by  Google 


368  Wagneriana.   Bd.  III. 


dort  zu  echt  künstlerischem,  wahrhaft  organischem  Leben 
auferstehen.  Namentlich  von  „Parsifal",  dem  weihe- 
vollsten Werke  des  Meisters,  muss  dies  in  hervor- 
ragendem Sinne  gelten.  Aber  auch  von  den  anderen 
Werken  Wagners  kann  man  sagen:  so  wünschenswert 
es  ist,  dass  sie  dem  deutschen  Volke  mehr  und  mehr 
zugänglich,  da  und  dort  an  bedeutenderen  Opernbühnen 
aufgeführt  werden,  und  so  anerkennenswert  es  ferner 
bleibt,  wenn  überhaupt  die  leistungsfähigeren  Theater 
Bayreuth  nacheifern  —  es  gilt  vor  Allem  doch,  jene 
insgesamt  erst  einmal  auf  Bayreuther  Boden  zu 
verpflanzen  und  dort  in  musterhaften  Aufführungen 
der  Welt  und  namentlich  der  Nation  zu  zeigen,  was 
Originalstil,  was  deutsche  Kunst  überhaupt  ist. 
Dazu  aber  gehört  periodische  Wiederkehr  der  Bayreuther 
Festspiele,  und  zu  dieser  wieder  gehört  —  Geld. 
„Der  Allgemeine  Richard  Wagner- Verein  hat  den  Zweck: 
die  Bayreuther  Bühnenfestspiele  zu  fördern  und  für 
alle  Zeiten  erhalten  zu  helfen,  und  zunächst  periodische, 
mindestens  in  jedem  dritten  Jahre  wiederkehrende  Auf- 
führungen der  Werke  Richard  Wagners  im  Festspiel- 
hause zu  Bayreuth  anzustreben0  —  so  lautet  der  $  1  seiner 
erst  in  diesem  Sommer  revidierten  Vereinssatzungen. 
Indem  der  Verein  also  für  diese  Idee  wirkt,  indem  er 
nach  $  21  dieser  Statuten  Geld,  die  materielle  Basis 
für  eine  Realisierung  des  Ideales,  herbei  schafft,  erweist 
sich  sein  Zweck  trotz  diesem  höchst  materiellen,  peku- 
niären Untergrunde  doch  als  ein  durchaus  idealer, 
denn  es  gilt  ihm,  „das  Heiligtum"  der  Wagnerischen 
Kunst  aus  den  „schuldbefleckten  Händen"  der  Mode 
und  des  O  p  e  r  n  -  Schlendrians  „zu  erlösen  und  zu 
retten"  zum  „Heiltum"  des  Stiles!  Aber  freilich,  er 
erreicht  dieses  Ziel  nur,  wenn  möglichst  Viele  dem 
Vereine  beitreten,  wenn  man  ihn  unterstützt  in  seinen 
Bestrebungen,  nicht  aber,  wenn  man  immer  schon  zu- 


Die  Pflege  des  Erbes.  369 


vor  den  Leuten  von  einem  Eintritt  in  seinen  Kreis 
abrät,  weil  —  ja  weil  er  noch  nichts  geleistet  habe. 
Eine  eigentümliche  Logik!  Nicht  alles  kann  stets  gleich 
auf  einmal  erreicht  werden  und  auch  schon  vorhanden 
sein;  man  bedenke  doch  nur,  dass  wir  ja  erst  eine 
Vereinsthätigkeit  von  ca.  3 Jahren  zu  verzeichnen  haben! 
Muss  es  denn  immer  gleich  mit  der  Schnellpresse  gehen? 

„Die  Wagner -Vereine  haben  Nennenswertes  bisher 
nicht  geschaffen",  so  haben  wir  in  letzter  Zeit  von 
-mehrfachen  Seiten  her  hören  müssen*),  so  sprach  es 
•erst  jüngst  klar  und  deutlich  Dr.  P.  Marsops  Broschüre 
„Unsere  Illusionen"  aus.  —  Prüfen  wir  einmal  ernst- 
lich, welche  Berechtigung  etwa  eine  solche  Behauptung 
'für  sich  in  Anspruch  nehmen  kann.    Vor  Allem:  Was 
verstehen  wir  unter  jenem  „Nennenswerten-  in  Hinsicht 
.auf   eine  erspriessliche  Thätigkeit   des  Allgemeinen 
Richard  Wagner-Vereins?  Offenbar  doch  zunächst  und  in 
•erster  Linie  eine  nach  Kräften  bewerkstelligte  Erfüllung 
<der  oben  angeführten  idealen  Pflichten.    Wir  fragen 
nun:  Hat  der  Verein  heuer  (laut  Ausweis  der  Zentral- 
leitung vom  5.  Juli  d.  Jahres)  nicht  bereits  1600  Frei- 
karten zu  den  Festspielen  angekauft?**)  Hat  er  nicht 


•)  Sehr  eigentümlich  ist  auch  der  Vorwurf,  den  W.  Broesel 
in  einem  Aufsatze  „Zur  Liszt-  und  Wagner-Frage"  (vgl.  Kastners 
„Wiener  Musikal.  Zeitung"  1886,  No.  18)  den  Wagner -Vereinen 
-macht:  „sie  entbehrten  jedes  idealen  Ertrages",  weil  —  sie  die 
Korrektheit  der  Auffuhrungen  Wagnerischer  Werke  nicht  über- 
dachten. Was  soll  denn  der  Wagner-Verein  hierin  thun? 
Wohl  Dramaturgen  und  Rezensenten  anstellen  und  besolden? 
Das  fehlte  gerade  noch! 

**)  Es  ist  zu  konstatieren,  dass  die  hiefür  eingezahlte 
-Summe  von  32000  Mk.  äquivalent  ist  den  Kosten,  welche  die 
Neubeschaffung  der  „Tristan'-Dekorationen  und  -Kostüme  ver- 
ursachte, so  dass  dadurch  allein  jener  Überschuss  von 
ca.  20000  Mk.  über  den  alten,  wieder  eingebrachten  Stamm- 
fonds von  180000  Mk.  bei  der  Abrechnung  der  heurigen  Fest- 
es p  tele  erzielt  wurde. 

Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  24 


Digitized  by  Google 


370 


Wagneriana.    Bd.  III. 


zuletzt  3000  Mk.  an  den  von  Fr.  Schön  in  Worms  ganz 
vortrefflich  verwalteten  Stipendienfonds  abgeführt  und 
auch  neuerdings  im  Vereinsstatut  wieder  15°/0  der  Jahres- 
einnahmen für  diesen  bestimmt?  Hat  er  sich  nicht  in 
den  letzten  zwei  Jahren  um  volle  1000  Mitglieder  ver- 
mehrt? Gegenwärtiger  Stand  5669!  Widmet  er  sich 
nicht  mit  grösster  Energie  der  Begründung  einer 
„Richard  Wagner- Festspiel -Stiftung«,  welcher  er  all- 
jährlich 25°/0  seiner  Bruttoeinnahmen  überlassen  will, 
und  welche  die  Aufgabe  haben  soll,  »die  Bühnenfest- 
spiele in  Bayreuth  zu  fördern  wie  dauernd  im  Geiste 
Wagners  zu  erhalten*  (vgl.  $$  22  und  23  der  Satzungen)? 
Und  hat  er  endlich  nicht  von  einigen  Orten  aus  Extra- 
züge nach  Bayreuth  veranstaltet,  welche  die  Kosten  des 
Besuches  um  ein  ganz  Bedeutendes  vermindert  haben? 
Auf  alle  diese  Fragen  antwortet  uns  der  laufd.  Jahrgang 
der  „Bayreuther  Blätter"  durchweg  bejahend,  und  auch 
die  im  „Wagner-Jahrbuch"  veröffentlichte  Chronik  „Ein 
Jahrzehnt  des  Vereinslebens"  von  Hans  Paul  v.  Wolzogen 
giebt  reichlich  und  in  durchaus  befriedigender  Weise 
darüber  Auskunft.  Uberall  sehen  wir  also  die  ideale 
Tendenz  des  Vereins  gewahrt:  der  Realität  des 
Ideals  die  materielle  Basis  zu  schaffen. 
»Je  grösser  der  Kreis  der  Mitglieder  dieses 
Vereines  wird,  desto  bedeutender  kann  auch 
das  Mass  der  Vergünstigungen  werden, 
welche  die  Leitung  des  Vereins  in  jeder 
Weise  anstrebt"  —  so  heisst  es  darum  auch  sehr 
richtig  in  dem  jüngsten,  vergangenen  Sommer  auf  dem 
Festspielhügel  vielfach  zur  Verteilung  gelangten  und 
im  „Wagner-Jahrbuche"  wieder  abgedruckten,  „Aufrufe 
der  Zentralleitung  des  Allgemeinen  Richard  Wagner- 
Vereins". 

Indes,  wir  gehen  weiter  und  erinnern  uns,  dass  es 
im  $  1  der  Statuten  gleich  am  Anfange  geheissen  hat: 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


371 


es  sei  die  Absicht  des  Vereines,  „die  Festspiele  zu 
fördern".  In  welchem  tieferen  Sinne  dieses  „Fördern" 
hier  gemeint  sei,  ersehen  wir  aus  dem  $  8,  in  welchem 
die  Zweigvereine  u.  a.  zu  litterarischer  Agitation  und 
zu  geistiger  Verbreitung  der  Ideen  des  Meisters  an- 
gehalten werden.  Auch  von  dieser  Seite  der  idealen 
Aufgabe  haben  wir  aber  nur  Gutes  zu  berichten.  Ich  will 
gar  nicht  davon  sprechen,  wie  belehrend  und  fördernd 
an  sich  schon  der  internationale  Charakter  des  Ver- 
eines sein  muss;  ich  will  hier  nur  die  litterarische 
Thätigkeit  und  Regsamkeit  der  Zentralleitung  wie  ein- 
zelner Ortsvertretungen  nachdrücklichst  konstatieren. 
Ein  unschätzbares  Verdienst  des  Vereines  ist  es,  aus 
eigenen  Mitteln  die  Herausgabe  der  „Bayreuther 
Blätter"  zu  leisten,  die  ich  —  entgegen  der  „Neuen 
Freien  Presse"  (welche  in  ihnen  bekanntlich  ein  „in  der 
That  höchst  unnützes  Unternehmen"  sieht)  für  ein  ebenso 
wertvolles,  als  wichtiges  „Organ"  halten  muss.  Denn 
nicht  nur  das  Kunstwerk  von  Bayreuth  muss  von  der 
Welt  isoliert  bleiben,  um  mit  der  ganzen  Eindringlichkeit 
und  Kraft,  die  ihm  zu  Gebote  stehen,  zu  dieser  Welt 
reden  zu  können,  auch  die  „Bayreuther  Blätter**,  indem 
ihnen  der  Allgemeine  Richard  Wagner -Verein  diese  Ab- 
geschiedenheit wahrt,  sichern  dem  Bayreuther  Ideal, 
den  durch  Wagner  in  die  Welt  gesetzten  Kulturideen, 
die  ernste  Lebensgrundlage.  Die  „Bayreuther  Blätter**  sind 
notwendig  und  wesentlich  für  Bayreuth  und  eine  echte 
Wagner'sche  Kunst;  durch  den  Allgemeinen  Richard 
Wagner-Verein  stehen  und  leben  sie,  hätten  sie  doch 
im  vergangenen  Sommer  auf  der  Generalversammlung 
zu  Bayreuth  vielleicht  fallen  können  —  wenn  eben  der 
Allgemeine  Richard  Wagner-Verein  nicht  gewesen  wäre! 
Wir  haben  also  auch  hier  nur  wieder  eine  treue  Er- 
füllung seines  idealen  Berufes  auf  Seiten  unseres  Ver- 
eines zu  verzeichnen.  Von  der  Herausgabe  der  immer- 

24» 


372 


Wagneriana.    Bd.  III. 


hin  wertvollen  .Bayreuther  Festblätter"  zum  Festspiele 
vor  zwei  Jahren  durch  den  Verein,  will  ich  hier  lieber 
schweigen,  da  diese  auf  der  letzten  Generalversammlung 
—  wohl  nicht  ganz  mit  Unrecht  —  als  Luxus- Unter- 
nehmen mehrfache  Angriffe  erfahren  hat.  Dagegen  be- 
trat der  Verein  durch  Herausgabe  des  „ Bayreuther 
Taschenkalenders  "  für  1885,  1886  u.s.w.  von  durchaus 
interessantem,  belehrenden  Inhalte,  sowie  durch  Ver- 
sendung von  gediegenen  Flugschriften  etc.  zu  besonderen 
Gedächtnistagen,  mit  Glück  und  Erfolg  auch  die  Bahn 
einer  mehr  populären  litterarischen  Agitation  —  ganz 
zu  geschweigen  der  äusserst  eifrigen  und  erspriesslichen 
Thätigkeit  einiger  weniger,  besonders  energischer  Orts- 
vertretungen, wie  derjenigen  zu  Karlsbad,  Riga,  Troppau, 
Wien,  Graz  u.  a.,  welche  keine  passende  Gelegenheit 
vorüber  gehen  lassen,  in  der  betr.  Lokalpresse  durch 
Leitartikel,  Abdrücke  einzelner  Anzeigen  aus  den  »Bay- 
reuther Blättern*  auf  diese,  auf  Bayreuth,  Wagner  und 
die  Wagner'sche  Kunst  ein  weiteres  Publikum  anhaltend 
aufmerksam  zu  machen.  Dass  es  bisher  noch  nicht 
überall  so  anzutreffen  ist,  liegt  zum  Teil  an  äusseren 
lokalen  Verhältnissen,  zum  Teil  an  den  betreffenden 
Persönlichkeiten,  aber  gewiss  noch  lange  nicht  am 
Verein  oder  der  Zentralleitung  selber,  die  ihr  Mög- 
lichstes wahrlich  thut  und  gethan  hat,  um  zu  wirken. 

Ich  bin  übrigens  hier  nicht  zum  Lobredner  der 
Zentralleitung  aufgestellt  und  verkenne  natürlich  durch- 
aus nicht,  dass  in  der  That  hier  und  da  Fehler  gemacht 
wurden.  Nur  damit  es  nicht  den  Anschein  habe,  als 
hätte  ich  hier  absolut  nur  schön  zu  färben  oder  am 
Ende  gar  —  in  Reklame  zu  machen,  seien  im  Folgenden 
einige  solcher  Mängel  besonders  erwähnt.  Es  ist  vor- 
gekommen, dass  Ortsvertretungen  Leuten,  welche  sich 
um  Stipendien  bewarben,  ausdrücklich  davon  abgeraten 
haben,  in  den  Verein  einzutreten,  und  zwar  mit  dem 


Die  Pflege  des  Erbes. 


373 


Argument:  wenn  sie  dem  Vereine  beiträten,  würde  man 
glauben,  sie  könnten  auch  die  Reise  u.  a.  zahlen.  Nun 
wissen  wir  aber  doch,  dass  man  vor  zwei  Jahren  auf 
der  Generalversammlung  entschieden  betont  hat,  dass 
nur  oder  wenigstens  thunlichst  Mitglieder  bei 
der  Bewerbung  um  Stipendien  etc.  berücksichtigt  werden 
sollten.  Wie  sollen  wir  uns  nun  das  zusammen  reimen? 
Ferner  ist  es  ohne  Zweifel  eine  grosse  Un- 
gerechtigkeit, wenn  —  laut  den  Ausschreibungen 
Münchener  Blätter  —  auch  für  Nichtmitglieder 
Reise  (hin  und  zurück  mit  vierzehntägiger  Gültigkeit) 
und  Billete  für  „Parsifal"  und  „Tristan4*  gelegentlich 
des  Münchener  Extrazuges  zusammen  nur  35  Mk. 
kosteten,  während  langjährige  Mitglieder,  die  solche 
Gelegenheit  nicht  ausnützen  konnten,  nicht  nur  die 
Reise  ungleich  teurer,  sondern  auch  für  die  beiden 
Vorstellungen  allein  schon  40  Mk.  bezahlen 
mussten.  Auch  an  anderem  Orte  sollen  in  dieser 
Hinsicht  Ungehörigkeiten  vorgekommen  sein.  Selbst,  die 
Generalversammlung  des  Vereines  gleich  am  Tage  nach 
der  ersten  Vorstellung  abzuhalten,  muss  ich  persönlich 
für  durchaus  verfehlt  erachten.  Endlich  sei  nicht  ver- 
schwiegen, dass  der  Vertrieb  des  „Bayreuther  Taschen- 
kalenders "  ein  ungenügender  war,  wie  denn  überhaupt 
in  administrativer  und  geschäftlicher  Hinsicht  an 
kompetenter  Stelle  manches  viel  frischer  und  flotter 
noch  vor  sich  gehen  dürfte. 

Dass  durch  die  Konzertvorträge  und  musikalischen 
Soireen  mit  dilettantenhaften  Produktionen  aus  Wagneri- 
schen Werken  (in  einzelnen  Zweigvereinen)  auch  nichts 
gedient  ist,  und  dass  man  bei  diesen  allein  nicht  stehen 
bleiben  dürfe,  habe  ich  schon  wiederholt  ausdrücklich 
zu  bemerken  Gelegenheit  gefunden;  es  freut  mich  nur, 
mittlerweile  in  C.  M.  v.  Webers  Briefen  an  seine 
Gattin  (S.  147)  den  interessanten  Satz  gefunden  zu 


Digitized  by  Google 


374 


Wagneriana.    Bd.  III. 


haben:  „Der  ist  mein  Feind,  der  etwas  von  meinen 
Opern  im  Konzert  geben  will."  Etwas  Anderes  ist  es 
dagegen  mit  der  geistigen  Verbreitung  der  Wagnerischen 
Werke,  ihres  Inhaltes  und  ästhetischen  Wertes,  mit  der 
geistigen  Fortpflanzung  der  Ideen  des  Bayreuther 
Meisters.  Ich  muss  gestehen,  dass  man  es  immerhin 
bedauern  kann,  dass  davon  nicht  m  e  h  r  in  den  Satzungen 
des  Vereines  steht.  Denn,  wenn  ich  wohl  auch  das  „die 
Bayreuther  Bühnenfestspiele  zu  fördern*  des  §  1  im 
Hinblick  auf  $  8  in  diesem  Sinne  gedeutet  habe,  und 
wenn  der  Verein  —  wie  wir  oben  gehört  haben  — 
auch  nach  dieser  Richtung  hin  voll  und  ganz  seinen 
idealen  Pflichten  nachzukommen  strebt:  für  den  Verein 
als  solchen,  als  dessen  Zweck  und  Tendenz,  steht  doch 
im  $  1  ausser  der  periodischen  Wiederkehr  der  Fest- 
spiele nichts  Derartiges  verzeichnet.  Man  darf  also 
sagen :  er  thut  faktisch  mehr,  als  ihm  seine 
Statuten  vorschreiben! 

Glaube  ich  somit  im  Obigen  Dr.  Marsops  Behauptung 
zur  Genüge  widerlegt  zu  haben,  so  kann  ich  ihm  auf 
der  anderen  Seite  bezüglich  eines  Passus  seiner 
Broschüre  durchaus  nur  beistimmen.  Es  ist  in  letzter 
Zeit  mehr  als  einmal  das  Gerücht  aufgetaucht,  dass 
sich  der  Verein,  der  doch  nun  einmal  eine  starke 
äussere  Stütze  und  zur  Bekräftigung  seiner  Bestrebungen 
einer  offiziellen  nationalen  Anerkennung  bedürfe,  über 
kurz  oder  lang  einmal  an  den  Reichstag  um  Akkredi- 
tierung und  Subventionierung  der  Bayreuther  Festspiele 
wenden  würde.  Ich  weiss  nur  zu  gut,  dass  man  in 
massgebenden  Kreisen  nicht  im  Geringsten,  auch  nur 
mit  einem  Gedanken,  daran  denkt,  möchte  aber  hier 
doch  wenigstens  alle  jene  frommen  Schwärmer  über 
ihren  Irrtum  aufklären,  welche  offenbar  wieder  einmal 
„glaubten,  was  sie  wünschten0.  Sie  haben  nämlich 
gewiss  gar  nicht  dabei  erwogen,  dass  sie  sich  mit  diesem 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


375 


Projekte  in  absolutem  Widerspruch  mit  ihrem  Meister 
selber  befänden.  Oder,  wäre  es  etwa  nicht  die  von 
Jenem  überall  und  stets  so  energisch  bekämpfte  Ver- 
quickung der  Kunst  mit  der  Politik,  die  von 
ihm  durchaus  verpönte  Bevormundung  der  ersteren 
durch  die  letztere,  was  wir,  selbst  im  günstigsten 
Falle,  von  solchem  Vorgehen  zu  gewärtigen  hätten?4) 
Marsop  behält  also  mit  seiner  Auffassung  über  diesen 
Punkt  (s.  S.  37  f.  seiner  Broschüre)  sicherlich  voll- 
kommen Recht,  ja  er  trifft  vollends  den  Nagel  auf  den 
Kopf,  wenn  er  (ebenda)  sich  dahin  ausspricht:  „dass  auch 
im  vorliegenden  Falle,  in  Sachen  des  und  der  Wagner- 
Theater,  uns  der  «parlamentarisch  formulierte  Wille 
der  Nation*,  nur  auf  einem  anderen  Wege,  ganz  das- 
selbe zu  verstehen  geben  dürfte,  was  uns  die  Gesell- 
schaft, die  Presse  und  die  anderen  oben  genannten 
Faktoren  bereits  auf  ihre  Weise  zu  verstehen  gegeben 
haben"  .  .  . 

So  steht  der  Verein  denn  fest  auf  eigenen  Füssen, 
auf  sich  selbst  begründet  und  in  sich  gefestigt,  da  — 
stark,  ohne  Protektion;  aber  er  verhehlt  sich  auch 
nicht,  dass  er  vor  Allem  und  in  erster  Linie  nur  die 
ideale  Pflicht,  die  bedeutsame  Aufgabe  hat,  Bayreuth 
zu  erhalten,  die  Festspiele  nach  seinem  Teil  und  seinen 
Kräften  mit  dem  im  vergangenen  Sommer  zu  Bayreuth 
begründeten  „Neuen  Patronat"  zu  garantieren.  Es 
ist  eine  durchaus  ideale  Tendenz,  die  auch  diesen 
Idealismus  in  allen  ihren  Äusserungen  deutlich  zur 
Schau  tragen  wird.  Mehr  in's  Reale  gehende  Be- 
strebungen, wie  die  des  „ Wagner-Jahrbuches",  der  neu 
entstandenen  «Pionier- Korrespondenz"  u.  a.  —  welche 

•)  Ich  weiss  recht  gut,  dass  Wagner  selbst  (Bd.  X  seiner 
Ges.  Sehr.,  S.  21  und  38)  einmal  für  solches  Petitionieren  an 
den  Reichstag  plaidiert  hat;  aber  nimmt  der  Meister  seine  An- 
sicht ebenda  S.  145  f.  nicht  auch  ausdrücklich  wieder  zurück? 


Digitized  by  Google 


376  Wagneriana.    Bd.  III. 


die  Wagnerische  Kultur  auf  den  verschiedensten  Gebieten 
des  praktischen  Lebens  in  Gesundung  überzuleiten 
trachten  und  die  Sonne  des  Wagnerischen  Ideals  im  Prisma 
des  Realen  zu  vielfarbigem  Lichte  brechen  wollen  — 
mögen  unbehelligt,  ja  sogar  willkommen  geheissen,. 
nebenher  laufen.  Wir  nur  müssen  an  jener  rein  idealen 
Aufgabe  des  Wagner- Vereines  und  der  „Bayreuther 
Blätter"  durchaus  festhalten;  der  Allgemeine  Richard 
Wagner- Verein  wie  sein  Organ,  eben  diese  „Bayr.  Blätter", 
sind  —  wir  wiederholen  es  nochmals  —  auf  den  Satz 
gegründet  und  haben  die  erste  Pflicht:  das  hohe  Ideal, 
den  Gral,  das  Heiligtum  —  oder  wie  man's  nennen 
mag,  lauter  und  rein  zu  wahren;  es  dem  wechselnden 
Alltagsleben,  dem  Geschmacke  der  Mode,  den  trügenden, 
täuschenden  Tagesgespenstern  zu  entziehen;  es,  wie  die 
Walküre,  auf  einen  Berg  zu  bannen  und  mit  dem 
lodernden  Feuer  des  Idealismus  vor  keckem  Obermute 
wie  gegen  fremde,  unebenbürtige  Eindringlinge  zu 
schützen;  so  aber  dann  auch,  indem  es  dem  Heiligtum 
die  ungetrübte,  reine  und  lautere  Leuchtkraft  bewahrt, 
realiter  im  Innern  des  empfänglichen  Besuchers  eine 
reiche  Gemütswelt  zu  entzünden,  einen  neuen  Geist 
zu  wecken,  eine  starke,  ideale  Kultur  aufgehen  zu  lassen,, 
die  gewiss  je  mehr  Früchte  auch  für  das  reale  Leben 
tragen  wird,  je  mehr  Menschenkinder  dieser  „Wieder- 
geburt" zu  Bayreuth  überhaupt  teilhaftig  werden 
können.  Man  vergegenwärtige  sich  doch  nur  einmal* 
wie  lächerlich  und  erbärmlich  unser  hoch  gelobtes  Zeit- 
alter in  100  Jahren  einmal  dastehen  würde,  wenn  es 
die  Errungenschaften  Wagners,  und  vor  Allem  seine  Fest- 
spiele, wirklich  wieder  aufgeben  und  einschlafen  lassen 
könnte!  Alles,  alle  ästhetischen  Prophezeiungen  des 
ganzen  vorigen  Jahrhunderts,  die  gesamte  deutsche  Kunst- 
entwicklung weisen  gerade  auf  diese  Bayreuther 
Nationalbühne  hin:  hier  steht  sie  endlich,  einmal,  ve  ge9ta<^ 


Die  Pflege  des  Erbes. 


faktisch  errichtet,  „aufgebaut  so  hoch  da  droben "  in  der 
Welt  —  und  man  lässt  sie  nun  einfach  fallen.  Doch  nein  I 
Ich  habe  ja  nur  einen  Augenblick  geträumt;  wir  haben 
ja  nur  hypothetisch  „angenommen".  Gottlob,  noch  steht 
sie,  noch  ist  alles  in  guter  Ordnung,  »noch  haben  wir 
eine  Kunst*,  und  der  Allgemeine  Richard  Wagner- 
Verein  lebt  und  sorgt,  dass  es  also  bleibe.  Lesen  wir 
in  Wagners  Ges.  Sehr.  Bd.  X,  S.  15 — 51,  139  ff., 
nehmen  wir  die  „Bayr.  Blätter"  des  vorigen  Jahrganges 
Stück  I  zur  Hand,  schlagen  wir  die  Geschichte  der 
Bayreuther  Festspiele  von  Karl  Heckel  und  die  Rede 
des  Meisters  von  Franz  Muncker  im  „Wagner-Jahrbuche" 
1886  auf  —  überall  werden  wir  gewahren  und  die  feste 
Überzeugung  gewinnen:  Der  „Allgemeine  Richard  Wagner- 
Verein"  und  die  „Bayr.  Blätter",  sie  haben  das  Testament 
Wagners  angetreten  und  sie  vertreten  sein  Erbe  im 
edelsten  Sinne  des  Wortes.    Darum  auch: 

„Ich  denke,  keiner  von  Euch  es  bereut, 
Ruft  er  mit  mir:  —  es  lebe  Bayreuth!" 

Richard  Wagner 

bei  der  Hebefeier  des  Buhnen- 
festspielhauses zu  Bayreuth. 


3.  Ein  „offenes14  Schreiben 
(1888) 

Wertester  Herr  Lessmann! 

Sie  haben  in  der  letzten  No.  33/34  Ihrer  gesch. 
Zeitschrift  unter  der  Rubrik  „Theater  und  Oper44  von 
einem  Artikel  Ludwig  Hartmanns  ausführlicher  Notiz 
genommen,  der  sich  in  Betrachtungen  über  „Zauber- 
flöte44 und  „Parsifal44  ergeht.   So  geistvoll  und  belehrend 


Digitized  by  Google 


378 


Wagneriana.    Bd.  III 


diese  Ausführungen  des  ausgezeichneten  Musik- 
schriftstellers auch  sind,  in  einem  Punkte  bedürfen 
sie  doch  einer  entschiedenen  Berichtigung.  Ich  lese  da: 
„Ist  der  Ultra-Bayreuthismus  anderer  Ansicht  —  gegen 
Wagner  verstösst  es  nicht,  glühender  Mozart- 
bewunderer zu  sein"  —  und  traue  meinen  Augen  kaum. 
An  wen  von  den  echten  Anhängern  und  wahren  Adepten 
Wagners  mag  da  Herr  Hartmann  nur  gedacht  haben?! 
Schon  einmal,  als  Dr.  Th.  Goering  in  seinem  Buche 
„Der  Messias  von  Bayreuth"  auf  seine  Mozartverehrung 
sich  'was  zu  Gute  that  und  die  Sachlage  in  der  Weise 
darzustellen  suchte,  als  ob  eine  solche  bei  den  „Wag- 
nerianern" neben  der  Schwärmerei  für  ihren  Meister 
nicht  recht  bestehen  könne,  habe  ich  es  lebhaft  als 
«ine  Schmach  empfunden,  dass  dergleichen  überhaupt 
öffentlich  ausgesprochen  werden  und  ungerügt  hingehen 
konnte.  Ich  hielt  indessen  eine  ernstliche  Widerlegung 
für  unnötig,  zumal  die  Anklage  von  einer,  zum  Wenigsten 
in  dieser  Frage  nicht  ganz  kompetenten  Seite  aus- 
gegangen war.  Wenn  aber  jetzt  ein  erprobter,  warmer 
Anhänger  Wagners  von  der  litterarischen  Bedeutung 
Ludwig  Hartmanns,  mit  der  Spitze  gegen  Bayreuth  gerichtet, 
den  dreisten  Satz  in  die  Welt  hinaus  schickt:  „Es  wird 
hohe  Zeit,  dass  wir  Wagnerianer  der  alten  Observanz 
es  öffentlich  aussprechen :  dass  Wagners  Lehre  von 
glühender  Verehrung  für  Joh.  Seb.  Bach,  Gluck,  Mozart 
und  Beethoven  durchdrungen  war,  dass  er  stets 
mündlich  und  schriftlich  die  strenge  Kontinuität  der 
Kunstentwicklung  anerkannt  und  sich  lediglich  als  ein 
Glied  in  der  Kette  der  Entwicklungen  betrachtet  hat" 
—  so  geht  mir  das  doch  ein  wenig  über  den  Spass.  Denn 
was  lehren  wohl  die  v.  Wolzogen,  v.  Hausegger,  v.  Stein, 
Glasenapp,  Porges,  Stade  im  Grunde  Anderes,  als  solche 
Haupt-  und  Grundlehre?  Und  —  wenn  es  gestattet  ist, 
unter  diesen   ehrwürdigen    Kämpen    für    die  Sache 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


379 


Wagners  auch  einen  Wagnerianer  »junger«  Observanz 
anzuführen  —  was  Anderes  predigt  denn  der  Unter- 
zeichnete allerwege  ?  Wenn  aber  Hartmann  weiterhin  noch 
fortfährt:  „Wagner  ist  nur  durch  den  Tod  verhindert 
worden,  ausser  seinen  Werken  auch  Gluck,  Weber, 
Mozart  u.  s.  w.  in  Bayreuth  ,stylgerecht4  aufzuführen. 
Nach  Einlösung  seiner  Verpflichtungen  gegen  die 
Patronat-  Vereine  sollte  diese  erweiterte  Thätigkeit 
Bayreuths  beginnen  .  .  .  Die  Zauberflöte  neben  Parsifal 
unter  Wagner  in  Bayreuth!  Man  darf  dem  Gedanken 
nicht  nachhangen;  es  ist  überaus  traurig,  dass  er  un- 
erfüllt blieb.  Auf  dem  Rückwärtswege  vom  Parsifal 
zur  Zauberflöte  ist  sein  Geist  von  uns  geschieden,  und 
wir  vermissen  ihn  schwerer  als  jene,  die  bei  Parsifal- 
festspielen  vergessen  —  was  Wagner  noch  auf  Erden 
gewollt  hat!b  ...  so  muss  ich  schon  fragen :  Wer  sind  wohl 
„jene**,  die  da  „vergessen*1?  Wer  sagt  ihm  denn,  dass 
Bayreuth  diese  Pflichten  je  aus  den  Augen  verloren 
hat?  Wer  hat  ihm  eingeflüstert,  dass  Bayreuth  nicht 
auf  jenem  Rückwege  vom  Parsifal  zur  Zauberflöte  be- 
griffen sei,  wenn  es  jetzt  die  früheren  Schöpfungen 
des  Meisters  in  stylgemäss-würdiger  Aufführung  nach  und 
nach  alle  über  die  Bayreuther  Bretter  (welche  bekanntlich 
die  „Intendanz-geleiteten"  Hof-  und  Opernbühnen  nicht 
bedeuten)  zu  führen  sucht,  um  so  allmählich  auch 
noch  bei  den  „Muster"- Vorstellungen  klassischer  Opern 
anzulangen?  Ich  wenigstens  glaube  ihm  aus  bestimmtester 
und  sicherster  Quelle  versichern  zu  können,  dass  man 
sich  in  Bayreuth  an  berufener  Stelle,  genau  genommen, 
mit  gar  keinem  anderen  Gedanken  mehr  als  diesem  ein- 
zigen trägt I  Hat  Herr  Ludwig  Hartmann  mit  seinen 
Ausstellungen  nur  andeuten  wollen,  dass  Mozart  im 
Wagnerianischen  Lager  zwar  im  Sinne  des  Meisters 
verehrt  und  bewundert,  aber  den  Gegnern  Wagners 
gegenüber  noch  nicht  genugsam   betont,  geschweige 


Digitized  by  Google 


380  Wagneriana.    Bd.  III. 


denn  gehörig  gepflegt  wird,  dann  reiche  ich  ihm  freudig 
die  Hand,  denn  auch  ich  —  ein  „Bayreuthianer"  $an* 
phrase  —  lebe  dieser  Ansicht.  Wollte  er  aber  damit 
nur  sagen,  dass  man  den  Spuren  des  Meisters  nicht 
pietätvoll  genug  nachfolge,  dass  man  für  eine  Mozart- 
Begeisterung  neben  dem  Festspiel-Kulte  kein  Organ 
mehr  zu  finden  und  keinen  Platz  mehr  zu  haben  scheine, 
—  dann,  so  leid  es  mir  thut,  einer  so  ausgezeichneten 
Feder  widersprechen  zu  sollen  —  dann  muss  ich  ein 
entschiedenes  Veto  dagegen  einlegen.  Und  dass  er  es  in 
diesem  letzteren  Sinne  leider  nur  gemeint  haben  kann, 
dass  er  sich  neuerdings  mit  ziemlicher  Akzentuation 
gegen  Bayreuth  und  die  „führerlose  Bayreuther  Ge- 
meinde" wendet,  das  zeigen  auch  seine  unmittelbar 
vor  Eröffnung  der  diesjährigen  Festspiele  in  der  „Sächs. 
Landeszeitung"  publizierten  Expektorationen  über  das 
Bühnenfestspielhaus:  von  welchen  hier  ebenfalls  zu 
sprechen,  auch  wenn  sie  mit  dem  von  Ihnen  zum  Abdrucke 
gebrachten  Artikel  nicht  in  unmittelbarem  Zusammenhange 
stehen,  Sie  mir  gütigst  noch  gestatten  mögen.  Die  Semper*- 
schen  Entwürfe  „für  ein  nach  München  bestimmtes 
Festspielhaus"  in  der  Münchener  Kunstausstellung  geben 
ihm  da  nämlich  Anlass  zu  schmerzlichen  Vergleichen^ 
wie  so  ganz  anders  es  geworden  wäre  mit  dem  präch- 
tigen Bau  in  München,  wo  die  Wagnerkunst,  „unter  dem 
Meister  und  unter  wirklich  Berufenen  entwickelt,  dauernd 
einen  mächtigen  allgemeinen  Kunstfortschritt  begründet 
hätte,  fern  jener  exklusiven  Einseitigkeit  Bayreuths, 
in  glücklichem  Ebenmasse,  genau  wie  es  Wagner  mit 
Bayreuth  gewollt,  ausser  Wagnerwerken  auch  die  an- 
deren Blüten  der  klassischen  und  romantischen  Epochen 
musterhaft  verkörpernd".  „Nur  dass  das  Wagnertheater 
just  in  Bayreuth  steht  und  verweht,  anstatt  in  München; 
zu  thronen,  das  in  artibus  doch  unbedingt  die  Haupt- 
stadt des  Reiches  deutscher  Nation  ist,  das  drängt  sich. 


Die  Pflege  des  Erbes. 


381 


dem  Beschauer  vor  Sempers  Modell  auf*:  mit  diesem 
edlen  Stossseufzer  schliesst  Herr  Ludwig  Hartmann  —  ein 
zweiter  Jandator  temporis  acti"  —  seine  fromme  Epistel. 
Ich  kann  ihm  da  vor  Allem  den  Vorwurf  nicht  ersparen, 
dass  er,  wenn  er  schon  beim  Kapitel  „Mozart"  den  „Nach- 
betern" Wagners  gegenüber  die  „Schriften"  des  Meisters 
als  Trumpf  ausgespielt  hatte,  diesmal  selber  eben  die 
nämlichen,  eigenhändigen  Aufzeichnungen  Wagners  zu 
wenig  zu  Rate  gezogen  hat.  Oder  spricht  der  Meister  in 
den  Schriften  seiner  späteren  Periode  nicht  immer  und 
immer  wieder  von  der  so  notwendigen  Isolierung  seines 
Kunstwerkes,  von  der  weltabgeschiedenen  Entfernung 
und  Versetzung  des  Festspieles  aus  dem  tumultuarischen 
Welt-  und  Grossstadt-Getriebe  sogen.  „Kunstmetropolen" 
(in  denen  über  lauter  Kunstsammlungen  d  i  e  Sammlung 
verloren  geht)  in  einen  deutschen  „Winkel"  hinein,  in 
den  stillen,  leidenschaftslosen  Frieden  eines  abgelegenen, 
weniger  bekannten  deutschen  Städtchens  von  gesunden 
und  unverdorbenen  Sitten.  Es  ist  wahr:  das  Semper'sche 
Projekt  für  München  steht  fest  und  ist  als  einmal  be- 
absichtigt nicht  im  Geringsten  wegzuleugnen;  Wagner 
hat,  getragen  von  der  Gunst  des  königlichen  Freundes, 
geblendet  vielleicht  von  dessen  hochherzigem  Kunstsinne, 
die  geniale  und  kühne  Semper'sche  Idee  eines  die  jetzige 
Prinzregenten-Anlage  abschliessenden,  architektonischen 
Monumentalbaues  für  seine  nationalen  Feier-  und  Fest- 
spiele mit  Enthusiasmus  aufgegriffen;  und  auch  darüber 
besteht  wohl  keinerlei  Zweifel,  dass  die  Bayreuther 
„Backstein-Bude"  leider  weit  hinter  der  Würde  des 
idealen,  ursprünglich  geplanten  Bühnenfestspielhauses 
zurück  bleibt.9)    Allein  man  lese  erst  einmal  tiefer  in 

*)  Ich  hatte  sogar  schon  einmal  den  ketzerisch-frivolen  Wunsch, 
das  Festspielhaus  möchte  einmal  im  Winter,  ohne  Verlust  von 
Menschenleben,  auf  den  Grund  abbrennen ;  wir  wurden  gewiss 
durch  allgemeinste  Beteiligung  von  Seiten  der  Nation  auf  Grund 


Digitized  by  Google 


382 


Wagneriana     Bd.  III. 


Wagners  „Ges.  Sehr,  und  Dichtungen",  lese  in  Sonderheit 
fleissiger  in  gewissen  Aufsätzen  des  IX.  und  X.  Bandes 
derselben  und  prüfe  zum  Überflusse  das  Münchener 
Kunstleben  wie  den  innerstem  Charakter  der  mon- 
achischen  „Bierokratie"  auf  seinen  letzten  Gehalt:  so 
wird  man  gewiss,  weit  entfernt,  in  dem  Namen  Bayreuth 
und  in  seinem  Bühnen-„Tempel"  nur  einen  misslichen 
Kompromiss  mit  der  unvermeidlich-leidigen  Realität  zu 
erblicken,  in  Bayreuth  vielmehr  eine  besonders  glück- 
liche Fügung  in  dem  Geschicke  des  Künstlers  erkennen, 
welche  ihm  erst  die  rechte  und  wahre  Vollendung 
seines  ihm  eingeborenen  und  längst  mehr  oder  minder 
hell  vorleuchtenden  Ideales  ermöglichte.  Nur  einem 
kurzsichtigen  Blicke  könnte  auf  die  Dauer  entgehen, 
dass  das  „Kunstwerk  der  Zukunft",  sollte  es  in  der 
Gegenwart  Leben  und  Realität  gewinnen,  (wie  weiland 
Iphigenie,  um  zur  Priesterin  der  Gottheit  zu  werden, 
von  Diana  weg  gehoben  und  an  heiligen,  geweihten  Ort 
entführt  wurde)  zuerst  isoliert  und  an  einen  still- 
umfriedeten Ort  gestellt  werden  musste,  um  von  dort  her, 
aus  dem  Geiste  der  „Sammlung"  heraus,  zu  jener  Welt  der 
„Zerstreuung"  da  draussen  nur  um  so  eindrucksvoller 
alsdann  zu  reden.  Und  die  Thatsache  des  unerhörten 
Erfolges  der  „Meistersinger"  auf  der  Bayreuther  Bühne 
von  heute  während  der  jüngst  wieder  zum  Abschlüsse 
gelangten  Festspiele  scheint  mir  hierin  aufs  Bestimm- 
teste Recht  zu  geben.  Zum  zweiten  Male  ist  das 
Experiment  geglückt  und  der  Beweis  geliefert,  dass 
ein  Wagnerisches  Werk  nur  erst  einmal  auf  diese  ge- 
weihten Bretter  gebracht,  mit  seinen  Wurzeln  auf  Bay- 
reuther Boden  verpflanzt  zu  werden  braucht,  um  sofort 

solchen  Unfalles  erreichen,  worauf  wir  sonst  wohl  noch  Jahr- 
zehnte warten  können :  einen  würdigen  und  festen,  allen  Stürmen 
trotzenden  Bau  des  deutschen  Bühnenfestspielhauses.  Aber» 
Gott  straf  mich  —  ich  will  nichts  gesagt  haben  t 


d  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes.  383 


auch  unglaubliche,  nachhaltigste  und  tiefste  Wirkungen 
auszuüben,  um  erst  hier  sein  eigentlichstes  Leben 
auszuleben,  seine  Geburt,  oder  wenigstens  seine  wahre 
Aufertehung  zu  feiern.  Nun,  ich  dächte,  wir  lernten  endlich 
einmal  aus  diesen  unwiderleglichen,  durchaus  zwingenden 
Ereignissen!  Und  vielleicht  hat  auch  Herr  Hartmann  seit 
diesen  neuesten  glorreichen  Begebenheiten  sein  ihm  ia 
schwacher  Stunde  entschlüpftes  Wort  längst  schon  wieder 
bereut.  Denn  warum  sollte  ein  Gleiches  später  sich 
nicht  auch  einmal  mit  einem  klassischen  oder  roman- 
tischen Meisterwerke  noch  zutragen  können? 

Verzeihen  Sie,  vereintester  Herr  Redakteur,  diese 
sine  ira  ac  studio  aufgezeichneten,  wenn  auch  langen,  Er- 
örterungen, wie  er  sie  im  Interesse  der  Sache 
und  bei  der  Autorität,  welcher  sich  Herr  Ludwig  Hart- 
mann mit  vollem  Rechte  in  Theaterkreisen  erfreut,  für 
notwendig  hielt, 

Ihrem 

ganz  ergebensten  Mitarbeiter 
Arthur  Seidl. 


4.  Betrachtungen 
zur  zwanzigjährigen  Jubelfeier  Bayreuth» 

(1896) 

Wieder  hatte  der  Bayreuther  Kunst-  und  Kultur- 
Tempel  seine  geheiligten  Pforten  zu  einem  Bühnen- 
festspiele geöffnet;  abermals  riefen  die  Fanfaren  das 
wimmelnde  Volk  der  Bayreuth-Wanderer  in  hellen 
Scharen  nach  dem  eigenartig-weihlichen,  das  „Geheim- 
nis" Bayreuths  wie  seiner  Wirkungen  schon  in  sich 
schliessenden  Bau  —  zum  bekannten  fränkischen  Hügel 
hinan;  auPs  Neue  wieder  hat  sich  der  „Bayreuther 


Digitized  by  Google 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Gedanke*1  an  einem  Wagnerischen  Meisterwerke  be- 
währen und  vor  aller  Welt  Augen  deutlich  offenbaren 
dürfen.  Der  „Ring"  wurde  diesmal  seinem  Ur-Elemente 
wiedergegeben;  das  grosse,  mächtige  Nibelungenwerk 
war  es,  das  heim  in's  Vaterhaus  endlich  wieder  zurück 
gebracht  wurde,  für  das  es  ursprünglich  doch  gedacht, 
ersonnen,  „im  Vertrauen  auf  den  deutschen  Geist*  ent- 
worfen und  „zum  Ruhme  seines  erhabenen  Wohlthäters 
< König  Ludwigs  II.  von  Bayern)"  vollendet  worden  war. 
„Der  Irrniss  und  der  Leiden  Pfade*  kam  es,  auf  die 
es  Angelo  Neu  mann,  der  betriebsame  Theatermann, 
geschäftsklug  die  Defizit-Konstellation  des  ersten  Fest- 
spieles von  1876  ausbeutend,  vor  zwei  Jahrzehnten 
samt  allem  Requisitenzubehör  mit  sich  geschleppt 
hatte  —  ein  dunkler  Punkt  in  der  Wagner-Geschichte, 
der  bei  dem  Schöpfer  des  Werkes  das  Vertrauen  in 
seine  eigene  Nation  allerdings  wohl  stark  mochte  er- 
schüttert haben.  „Soll  es  sich  denen  jetzt  entwunden 
wähnen?"  Darf  das  gewaltige  Drama,  wie  Brunnhilde, 
heute  von  sich  sagen:  „Alles  ward  mir  nun  frei "?  Und 
können  wir,  wie  diese  hehre  Göttermaid  ihrem  Sieg- 
vater Wotan  nach  Walhall  hinauf,  so  dem  genialen 
Meister  in  sein  „ Wahn fried" -Grab  hinab  die  bang  er- 
sehnte Botschaft  mit  gutem  Gewissen  nunmehr  senden: 
„Ruhe,  ruhe,  Du  Gott!"  — ?  .  .  . 

Die  viel  berufenen  „Zwanzig  Jahre  sind  verflossen, 
seit  etc.  etc.",  mit  denen  acht  von  zehn  Festspiel-Berichten 
in  diesem  allerdings  denkwürdigen  Jubeljahre  zu  be- 
ginnen pflegen,  werden  wir  hier  nicht  noch  einmal  auf- 
marschieren lassen.  Auch  die  von  der  Tagespresse  längst 
mehr  oder  minder  gründlich  besorgte  Einzelbesprechung 
der  darstellerischen,  gesanglichen  und  szenischen  Aus- 
führungen des  hehren,  „vierdimensionalen"  Wunderwerkes 
deutschen  Geistes  können  wir  nicht  als  die  Aufgabe 
der  ernsteren  Zeitschrift- Litteratur  ansehen.   Wir  haben 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


385 


vielmehr  hier  Wichtigeres  zu  thun  und  glauben  litterarisch 
gebildeten  Lesern  aus  Anlass  eben  dieses  bedeutsamen 
Jubiläums  mit  einem  zeitgemässen  Rückblick  auf  die 
Ergebnisse  im  Ganzen,  d.  h.  mit  einem  kurzen  Ein- 
gehen auf  den  Stand  der  Sache  von  heute  und  einem 
klaren  Ausblick  auf  das  „Weisst  du,  wie  das  wird?" 
für  die  Folge,  einen  ungleich  grösseren  Dienst  zu  er- 
weisen. —  Frau  Wagner,  in  ihrem  jüngsten  Manifest  an 
den  Berliner  Wagner- Verein  (das,  nebenbei  bemerkt, 
in  seiner  merkwürdig  geschraubten  Ausdrucksweise  einen 
Grad  von  Unnatur  erreicht,  der  sehr  peinlich  von  dem 
in  Richard  Wagners  eigenen  „Rückblicken"  auf  die 
Festspiele  1876  und  1882  angeschlagenen  Tone  ab- 
sticht) Frau  Cosima  Wagner  also  ist  ausserordentlich 
zufrieden  mit  ihren  „Getreuen«;  allein  diese  sind  es 
durchaus  nicht  im  gleichen  Grade  auch  mit  dem  Ver- 
laufe der  diesjährigen  Festspiele.  „Das  Richard  Wagner' - 
sche  Erbe  und  seine  Erben*  —  so  lautet  für  Viele  von 
uns  heute  schon  das  Thema,  da  denn  keinem  gesund 
organisierten  Menschen  zur  Stunde  mehr  zweifelhaft 
sein  kann,  dass  die  grosse  Schlacht  nunmehr  geschlagen, 
derlärmende  „d  reissigjährige  zukunftsmusikalische  Krieg41 
zu  Gunsten  Wagners  und  der  „Zukunftsmusik"  selber  end- 
gültig entschieden  ist  und  das  echte  Bayreuther  Ideal  als 
solches  bereits  glänzend  über  seine  Gegner  triumphiert 
hat.  Kommen  wir  „Wagnerianer"  und  überzeugten  An- 
hänger der  Sache  doch  heuer  fast  schon  in's  Gedränge 
mit  unseren  Ansichten,  und,  in  die  sehr  eigentümliche 
Lage  sogar  —  während  die  offizielle,  oder  sagen  wir: 
eingeschworene  Kritik  mit  wenigen  Ausnahmen  in  Lobes- 
hymnen über  die  diesjährigen  Ergebnisse  des  Festspieles 
sich  ergeht,  ja  selbst  früher  grundsätzlich  oppositionelle 
Blätter  diesmal  begeisterte  oder  doch  zum  Mindesten 
überraschend  warme  Töne  anschlagen:  solcher  ver- 
änderten Situation  gegenüber  mit  einem  Male  nun 
Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  25 


Digitized  by  Google 


Wagneriana.   Bd.  III. 


manch'  erbebliche  Differenz  mit  dem  Bayreuth  von 
heute  ehrlich  aussprechen  und  in  der  Beurteilung  des 
Ganzen  beherzt  unseren  eigenen  Weg  da  und  dort  ein- 
schlagen zu  müssen. 

Und  warum  alles  dies?  Einfach  aus  dem  Grunde, 
weil  man  sozusagen  nicht  ungestraft  Jahr- 
zehnte lang  die  Aufführungen  unserer  privi- 
legierten Hof-  und  Stadt-Theater  im  Sinne 
der  R.  Wagner'schen  Schriften  wie  streng 
im  Bayreuther  Geiste  bekrittelt,  und  weil 
wir,  was  uns  Wagner  und  sein  Bayreuth  in 
Jahrzehntelanger,  ernster  „Schule*  frucht- 
bringend gelehrt  hat,  vor  der  Öf  fentli  chkeit 
ihm  selbst  gegenüber  nicht  plötzlich  wieder 
verlernt  haben  können.  Denn  der  Einwand,  den 
schon  der  Meister  in  dem  Schlussbericht  über  die 
Bühnenfestspiele  des  Jahres  1876  (Ges.  Schriften  Bd.  X, 
S.  149)  der  damaligen  öffentlichen  Beurteilung  der 
Leistungen  gegenüber  erhebt:  dass  nämlich  die  einzelnen 
Schwächen  und  Mängel  der  Aufführung  niemand  besser 
kenne,  als  sie,  die  Ausführenden  selber,  da  sie  zugleich 
auch  wüssten,  woher  sie  rührten  —  dieser  Einwurf 
kann  kein  Argument  sein,  lässt  er  sich  doch  schliesslich 
ganz  ebenso  gut  auch  auf  alles  ernste,  rechtschaffen- 
selbstkritische Kunststreben  überhaupt  anwenden,  da  ja 
gar  nicht  abzusehen  ist,  warum  bei  unserer  öffentlichen 
Kunstpflege  bezw.  der  offiziellen  Theaterwirtschaft 
immer  und  allemal  auch  schlechter  Wille  im 
Spiele  sein  und  nicht  da  und  dort,  bei  näherer  Bekannt- 
schaft mit  den  gegebenen  Voraussetzungen,  ein  ähn- 
licher Milderungsgrund  gar  oft  zur  Seite  stehen  soll. 
Wohingegen  es  denn  unter  allen  Umständen  eine  Ver- 
pflichtung der  dazu  bestellten,  gar  niemals  angemassten, 
Kritik  bleiben  muss,  über  solche  Voraussetzungen  hin- 
weg dem  aufzuklärenden  und  zu  belehrenden  Publikum 


Die  Pflege  des  Erbes. 


387 


nach  Kräften  das  Ideal  menschlicher  Vollkommenheit 
unbestechlich,  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen,  aufzu- 
zeigen. Es  ist  eben  immer  wieder  die  alte,  ewig  neue 
Geschichte  vom  Konstitutionalismus,  dem  notwendigen 
Widerstreit  zweier  berechtigter  Faktoren.  Natürlich 
müssen  die  Herren  Regierenden  am  grünen  Tisch  ihre 
Geschäfte  in  gewissem  Sinne  stets  besser  verstehen 
und  genauer  beherrschen  als  jeder  von  aussen  Urteilende 
und  zufällig  einmal  in  die  Karten  herein  Blickende. 
Trotzdem  aber  werden  sie  immer  von  Neuem  wieder 
gegen  alle  Selbstherrlichkeitsgelüste  und  vor  Allem 
gegen  jede  büreaukratische  Anwandlung  die  natürliche, 
gesunde  Korrektur  vom  kontrolierenden,  den  Beamtenstaat 
doch  erst  „konstituierenden",  souveränen  Volkswillen  aus 
erfahren  müssen.  So  bekundet  auch  der  Künstler  seinem 
Publikum  gegenüber  mit  einem  trotzigen  „Ich  brauche 
dich  gar  nicht!"  —  falls  es  seine  Kreise  einmal  stört, 
immer  gern  wieder  seine  geniale  Selbstherrlichkeit  und 
ist  bestrebt,  sich  seine  autokratische  Freiheit  gegenüber 
dieser  «zusammen  gewürfelten  Masse"  streng  zu  wahren, 
um  doch  ebenso  sehr  nach  dieser  lebendigen,  ergänzenden 
Resonanz  seines  Schaffens,  ohne  welche  dieses  nichts 
bleibt,  als  ein  tönendes  Erz  und  eine  klingende  Schelle, 
immer  auPs  Neue  wieder  sehnlichst  zu  rufen. 

Das  wohl  nicht  ganz  fern  liegende  Wort  von  der 
»Rute  im  Hause  Wahnfried",  es  hätte  vielleicht  um 
des  lieben  Friedens  willen  innerhalb  der  engeren  Wagner- 
Gemeinde  nicht  zu  fallen  brauchen;  aber  es  ist  nun 
einmal  (von  Ernst  von  Wolzogen,  dem  naturalistisch- 
humoristischen Antipoden  seines  idealistisch-mystischen 
Bruders,  des  vornehm  gesinnten  Bayreuther  Wagner- 
Apostels  Hans  von  Wolzogen)  öffentlich  im  „Berl.  Lok.- 
Anz."  ausgesprochen  worden.  Da  verlangt  es  also  schon 
unser  Stolz  und  unser  Selbstbewusstsein,  dafern  wir 
noch  Rückgrat  im  Leibe  haben,  zu  beweisen,  dass  wir 

25* 


Digitized  by  Google 


388 


Wagneriana.    Bd.  III. 


vor  den  Zensuren,  mit  denen  wir,  ein  Jeder  von  uns  — 
das  wissen  wir  längst  —  gleichsam  wie  in  einem  ge- 
sonderten Personalakte  der  Ministerial-  Registratur,  in 
„Villa  Wahnfried*  geführt  werden,  nicht  im  Geringsten 
zu  bangen  brauchen;  der  Kunstwelt  gilt  es  jetzt  zu 
zeigen,  dass  wir  nicht  zu  jedes  Winks  gewärtigen 
»Kreaturen*  und  leibhaftig  wandelnden  „Waschzetteln44 
der  Festspielleitung,  wie  gewisse,  unverbrüchlich  knixende 
Trabanten-Naturen,  uns  degradieren  lassen! 

War  da  z.  B.  vor  Beginn  des  Festspieles  ein  gross' 
Pochen  auf  die  Thatsache,  dass  der  absolute  Ausverkauf 
der  ersten  Zyklen  in  diesem  Jahre  „ohne  alle  Reklame 
in  den  Zeitungen"  etc.  erzielt  worden  sei.  Vermochte 
aber  doch  der,  welcher  seine  Pappenheimer  kennt,  ganz 
genau  dabei  zu  verfolgen,  wie  von  Bayreuth  her,  und 
zwar  unter  den  Vorbereitungen  zum  Festspiele  schon, 
durch  das  Sprachrohr  einiger  Ergebener  in  den  grossen 
Hauptblättern  die  Stimmungsmacherei  scheinbar  ganz 
harm-  und  absichtslos,  im  Grunde  nicht  minder  wohl- 
organisiert, förmlich  planmässig,  betrieben  wurde  — 
weit  weniger  kostspielig  und  ungleich  individueller 
jedenfalls,  sonst  aber  ebenso  straff  zentralisiert,  wie 
durch  Annoncen  und  Reklamen!  Ein  offenes  Geheimnis 
ist  es  zudem,  dass  —  wer  auf  die  Bayreuther,  oder 
richtiger:  Wahnfried-Parole,  nun  einmal  sich  verpflichtet, 
das  zweifelhafte  Vergnügen  damit  übernommen  hat, 
alle  heiligen  Zeiten  einmal  seine  Windfahne  hübsch 
anders  drehen  und  einen  neuen,  oft  gerade  den  entgegen- 
gesetzten Kurs  einschlagen  zu  müssen.  Exempla  trahunt 
—  nur  nominasunt  odiosa!  Und  wie  hier  oft  die  selben  Leute, 
deren  Lehren  wir  „Jungen"  begeistert  gelauscht  und  zu- 
gestimmt haben,  als  sie  das  von  Wagner  erschaute  Ideal 
des  musikdramatischen  Stiles  in  Einzelheiten,  uns  Allen 
zu  Nutz  und  Frommen,  seinerzeit  klar  fixierten,  heute 
mit  der  oder  jener  besonderen,  jenen  alten  Anschauungen 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


389 


oft  widersprechenden  Bühnen-Realität  nun  ebenso  sich 
zufrieden  geben  können:  das  ist  für  uns  das  eigentliche 
Rätsel  an  der  Sache  und  könnte  wahrlich  an  ihr  manch- 
mal irre  machen,  hielten  wir  es  im  Gegensatze  zu  den 
bequemen  „Kurwenalen"  in  solchen  Fällen  nicht  viel 
lieber  mit  der  herrlichen  Maid  „Brünnhilde",  die  Wotans 
innersten  Gedanken  ein  für  alle  Mal  lebendig  erfasst  hat 
und  diesem  instinktiv  nun  folgt,  t  r  o  t  z  Wotans  striktem 
Gegenbefehl,  im  entscheidenden  Moment  sogar  einmal 
direkt  ungehorsam  gegen  des  Vaters  Gebote,  sich  selber, 
ihrem  besseren  Ich  getreu  und  ihrer  „müssenden", 
grossen  Liebe.  Nicht  umsonst  soll  Richard  Wagner  diese 
beiden  Gestalten  uns  in  seinem  Kunstwerke  geschenkt 
haben.  Eine  gewisse  produktive  Pietätl o s i g k e i t  — 
das  ist  es,  glaube  ich,  was  uns  heute  vor  Allem  dringend 
not  thut;  aus  dem  esoterischen  Mysterienkult,  der 
„Geheimmittel-Sugestion",  müssen  wir  erst  wieder 
heraus  kommen!  Um  es  kurz  und  bündig  zu  sagen  und 
es  auf  eine  knappe  Formel  hierzu  bringen:  „Stil"  ist 
nicht  Stilisierung;  „Stil"  braucht  auch  durchaus 
nicht  immer  nur  peinliche  „Tradition"  zu  bleiben, 
und  jedenfalls  besteht  geistlebendige  „Tradition" 
nicht  allein  nur  in  buchstabengemässer,  sklavisch- 
impotenter „Korrektheit".  Selbst  auch  gegen  das  leidige 
„Erlösungs-Komponistentum"  wie  ein  unerträgliches 
„Philosophie-Kapell meisterwesen"  in  der  Wagner-Nach- 
folge hat  man  nachgerade  energisch  Front  zu  machen ; 
denn  dergleichen  ergiebt  doch  noch  lange  keine  „Wagner- 
Schule"  und  nicht  einmal  eine  „Wagner-Frage",  sondern 
bedeutet  höchstens  nur  —  um  einmal  kräftig  mit 
Nietzsche  hier  zu  reden,  dem  wir  sonst  in  Wagnerianis 
nicht  zu  folgen  gedenken  —  eine  Wagnerianische 
„Affenkomödie". 

Mancherlei  bleibt  hierbei  freilich  noch  zu  unter- 
scheiden.   Vor  Allem  giebt  es  eine  sichere  Menschen- 


Digitized  by  Google 


?>9Q 


Wagneriana.   Bd.  III. 


klasse  von  Journalisten,  welche  seit  einem  gewissen 
Jahre  „die  Erben*  blindlings  als  selbstsüchtige  Inter- 
essenten gegen  „das  Erbe*  ausspielen  und  gegenüber 
„Neu-Bayreuth"  grundsätzlich  laut  krakehlen  zu  sollen 
vermeinen.  Existiert  da  z.  B.  in  Dresden  eine  recht  be- 
kannte Zeitung,  deren  Feuilleton -Redakteur  sich  noch 
heute  gern  „Wagnerianer*  der  „alten  Observanz"  zu 
nennen  liebt,  und  die  sich  doch  nicht  entblödete,  nur 
um  ihr  persönliches  Mütchen  recht  behaglich  zu  kühlen, 
eine  bereits  vor  zwei  Jahren  von  W.  Tappert  über- 
nommene und  wörtlich  schon  damals  ganz  ebenso  bei 
ihr  eingerückte  Notiz  auch  heuer  wieder,  gleichsam 
wie  vom  neuesten  Datum,  in  ihren  Spalten  aufzuwärmen: 
„Grosse  Plakate  verkünden  heuer  (I)  ein  neues  Unter- 
nehmen, angeregt  soll  es  Frau  Cosima  Wagner  haben. 
Man  lese  und  staune:  Grand  Restaurant  Royal  Berlin. 
Maisott  Ier  Lhrdre.  Cw'sine  franpai&e.  Ein  trockenes  Diner 
kostet  dort  sechs  Mark,  eine  Poularde  zwanzig.  Das 
Etablissement,  geleitet  von  einem  Berliner,  Herrn  Riefen- 
stahl, ist  angeblich  meist  überfüllt.  —  Du  liebes,  deutsches 
Bayreuth,  einst  so  still  und  harmlos,  ,so  friedsam  treuer 
Sitten*,  was  haben  sie  aus  dir  gemachtl"  Auch  der  so- 
eben erwähnte,  prächtige  Urteutone  W.  Tappert  ist 
seit  Jahr  und  Tag  ja  in  ein  Fahrwasser  geraten,  wo  er 
sich  —  indem  er  Andre  gegen  angebliche  „  Anrempeleien" 
durch  Bayreuther  „Pressheiduken"  in  Schutz  nimmt  — 
seinerseits  erst  recht  wieder  in  schmähsüchtige  Ver- 
dächtigungen der  Bayreuther  Bestrebungen  verliert  und 
in  geschmacklos  derben  Anwürfen  der  Bayreuther  Sache 
als  solcher  bass  gefallt,  zu  welcher  er  doch  früher  als 
treuer  Kämpe  so  wacker  gestanden.  Nur  wird  i  h  m 
eine  psychologisch  tiefer  gehende  Betrachtung  seiner 
durch  und  durch  „persönlichen"  Erscheinung,  unter  auf- 
richtigem Bedauern,  dass  es  so  weit  gekommen  ist, 
doch  immer  noch  zu  Gute  halten  können,  dass  seine  ur- 


Die  Pflege  des  Erbes. 


391 


wüchsige  Kampfnatur  in  dem  Moment,  als  der  „30  jährige 
musikalische  Zukunftskrieg*  beendet  war  und  es  daher  in 
alter  Berserkerwut  mit  den  Gegnern  nichts  mehr  zu 
raufen  gab,  urnotwendig  sich  ein  anderes  Streit-Objekt 
im  eigenen  Lager  aussuchen  musste,  und  von  einem 
Herkules  der  Wagner-Bewegung  in  einen  Don  Quixote 
des  Wagnerianertums  nun  leider  umschlug.  Einen  Unter- 
schied begründet  dies  eben  doch,  und  mehr  Respekt 
haben  wir  zuletzt  immer  noch  vor  diesem  eigenständig- 
wetterfesten  Wüterich,  der  seine  Löwen  -  Mähne  sich 
noch  immer  nicht  hat  beschneiden  lassen,  als  etwa  vor 
den  scheinheiligen,  gegenüber  deutlichen  Wünschen  und 
andeutenden  Befehlen  des  Hauses  „Wahnfried"  wie  ein 
Taschenmesser  hübsch  zusammen  klappenden  „Bayreuth- 
willigen"  I  —  Immerhin  möchten  wir  mit  jenen  ä  tout 
prix  negativen  „Helden  des  Tages"  beileibe  nicht  etwa 
verwechselt  werden.  Diesen  sonderbaren  Käuzen  ist 
natürlich  nichts  mehr  recht  zu  machen;  denn  sie 
wissen  z.  B.  sehr  genau,  dass  im  Jahre  1876  die  ein- 
fachen harmlosen  Sitten  der  fränkischen  Hohenzollern- 
stadt  in  puncto  Verpflegung  noch  stark  in's  Primitive 
und  Unzulängliche  gingen,  könnten  also  die  zeitgemässe 
Wendung  zum  Besseren  hier  weit  eher  als  ein  Ver- 
dienst der  leitenden  Faktoren  auffassen  —  ganz  ab- 
gesehen noch  davon,  dass  für  den,  der  die  lokalen  Ver- 
hältnisse einigermassen  näher  kennt,  will  sagen:  sie 
nicht  direkt  übelwollend  ignoriert,  eine  persönliche 
Einflussnahme  von  Frau  Cosima  Wagner  auf  solche 
Dinge  so  gut  wie  ausgeschlossen  erscheinen  müsste. 

Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  auch  mit  der  in  vielen 
Kreisen  förmlich  sportmässig  betriebenen,  albernen 
Hetze  gegen  die  „Bayreuther  Beutelschneiderei",  wie 
man  sich  mehr  deutlich  als  geschmackvoll,  bis  in  den 
bayerischen  Landtag  hinein,  auszudrücken  beliebte.  Den 
solchen  Geist  ausstreuenden,  dunklen  Wühlern  und  reich- 


392 


Wagneritnt.   Bd.  III. 


lieh  bornierten  „Hetzkaplanen",  die  dem  Geiste  gleichen, 
den  sie  zu  begreifen  vermögen,  war  die  Lehre  ganz 
gesund,  die  ihnen  die  „Münchener  Neuest.  Nachr."  zu 
teil  werden  Hessen,  als  sie  der  Welt  mit  der  scharfen 
Herausrückung  des  authentischen  Ziffernmaterials  über 
das  dortige  „Geschäfts"  -Gebahren  ein  für  alle  Mal  ein 
gewaltig  Lichtlein  aufsteckten.  Jeder  „Wagnerianer** 
und  gewohnheitsmässige  Leser  der  periodischen  Wagner- 
Litteratur  war  ja  ohnedies  längst  schon  darüber  klar 
unterrichtet,  dass  es  sich  da  nicht  um  einen  materiellen 
Vermögens -„Schnitt"  des  Hauses  Wahnfried,  sondern 
einfach  um  die  pietätvolle  Verwaltung  eines  uneigen- 
nützig angesammelten  Festspielfundus  mit  wech- 
selnden Unterbilanzen  und  Überschüssen,  zu  Gunsten 
eben  der  pflichtgemässen,  rein  künstlerischen  Durch- 
führung des  Wagnerischen  Festspiel-Testamentes,  unter 
oft  recht  beträchtlichen  Opfern  sogar,  handelte:  wie 
man  denn  überhaupt  jederzeit  gut  daran  thun  wird,  in 
dubio  von  den  durchaus  lauteren  Gesinnungen  und  das 
denkbar  Beste  wollenden  Bestrebungen  der  Wagneri- 
schen Rechtsnachfolger  in  dieser  Sache  überzeugt  zu 
sein,  bis  nicht  das  Gegenteil  einmal  aktenmässig  un- 
bezwcifelbar  erwiesen  sein  sollte. 

Und  für  ebenso  thöricht  endlich  darf  auch  der  viel 
gehörte,  nachgerade  schon  zum  Gemeinplatz  gestempelte 
Vorwurf  gelten:  „Die  starke  Überhandnähme  des  fremden 
Elementes  in  Gestalt  eines  auswärtigen  Modepublikums 
(wie  man  mit  besonderer  Betonung  zu  sagen  liebt)  kann 
unmöglich  im  Sinne  des  Schöpfers  der  Bayreuther  Fest- 
spiele sein!"  —  thöricht  wenigstens  insoweit,  als  er 
abermals  die  Spitze  gegen  die  Festspielleitung  von  heute 
zu  richten  und  gleichfalls  „Villa  Wahnfried"  und  niemand 
Anderen  für  diesen  leidigen  Missstand  verantwortlich  zu 
machen  scheint.  Du  lieber  Himmel!  Ganz  von  selbst 
versteht  es  sich  ja,  dass  ein  Vorherrschen  der  Ausländer 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


393 


zunächst  nicht  eben  im  Sinne  des  Meisters  sein  kann,  der 
seinen  Landsleuten,  nach  der  glorreichen  Wiedererweckung 
deutschen  Geistes  als  solchen,  nationale  Festspiele  zu 
geistiger  Erhebung  und  innerer  Kulturweckung  im  idealen 
Sinne,  womöglich  unentgeltlich,  schaffen  wollte. 
Aber  diese  Ausstellung  muss  doch  füglich  an  eine  ganz 
andere  Adresse  gerichtet  werden.  Denn  warum  kommen 
denn  unsere  vermögenden  Herren  Deutschen  einst- 
weilen nicht  eben  so  zeitig,  wie  die  lieben  Fremden, 
in  dichten  Mengen  herbei  und  veranlassen  durch  recht- 
zeitige Bestellungen  ihrerseits  auch  einmal  diese, 
mit  langen  Gesichtern  unberücksichtigt  abzuziehen? 
Das  alles  scheint  doch  wahrlich  weit  mehr  an  uns 
selber  zu  liegen,  als  irgend  eines  fremden  Sünden- 
bockes Schuld  zu  sein!  Und  zum  Überflusse  hat  die 
Sache  auch  noch  ihre  ganz  gute  Kehrseite.  Denn, 
sehen  wir  einen  Zuschauerkreis  aus  ganz  Europa,  vor 
Wagners  überragendem  Genius  ehrfurchtsvoll  huldigend, 
zu  Bayreuth  sich  versammeln  und  neben  wie  um  uns 
gleichzeitig  Franzosen  und  Engländer,  Amerikaner  und 
Italiener,  Russen,  Skandinavier,  Bulgaren  und  Spanier 
andächtig  dem  Festspiele  lauschen,  so  dürfte  doch  der 
Eindruck,  dass  es  sich  hier  um  einen  Sieg  deutschen 
Geistes,  ein  germanisches  Kulturwerk  allerersten 
Ranges  handelt,gegenüber  demjenigen  einer  Zurücksetzung 
unseres  nationalen  Stolzes  bei  allen  Einsichtigen  recht 
erheblich  überwiegen.  Lediglich  in  der  Auswahl  des 
Künstlerpersonales  wird  nicht,  wie  vor  zwei  Jahren,  eine 
auffällige  Bevorzugung  der  Ausländerei  auf  Kosten  des 
rein  deutschen  Original -Stiles  übergreifen  dürfen,  soll 
nicht  ein  sonst  mit  Achselzucken  zu  strafender,  lächer- 
licher Chauvinismus  von  einem  berechtigten  National- 
bewusstsein  einmal  abgelöst  werden,  welches  allerdings 
dann  der  Bayreuther  Idee  sehr  unbequem  werden  könnte, 
da  es  in  seinem  kräftigen  Unwillen  das  „Wagnerianische*4 


394 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Recht  durchaus  auf  seiner  Seite  hätte.  Übrigens  war 
im  laufenden  Jahre,  bei  Berufung  der  Sänger  zur  Durch- 
führung des  »Nibelungen -Ringes",  erfreulicher  Weise 
kaum  e  i  n  solcher  oder  ähnlicher  Vorwurf  mehr  zu  er- 
heben. Auch  sassen  z.  B.  in  unmittelbarer  Nähe  meines 
Platzes  fünf  Deutsche,  zwei  Slawen,  drei  Franzosen  und 
drei  Engländer.  Das  mag  so  ungefähr  das  ganz  richtige 
Verhältnis  der  Nationalitätenverteilung  beim  heurigen 
Festspiele  gewesen  sein.  Ja,  ich  meine  sogar,  man 
kann  sich  billig  darüber  freuen,  wenn  Wagner  —  wie 
auch  schon  der  Fall  Abbe  Marcel  -  Hebert  in  Paris  ge- 
zeigt —  und  zwar  trotz  der  Gegenschrift  des  Jesuiten- 
paters Th.  Schmid  (über  „Das  Kunstwerk  der  Zukunft 
und  seinen  Meister*),  seine  geistig -künstlerischen 
Wirkungen  auf  deutsche  katholische  Geistliche  heute 
bereits  auszustrahlen  begonnen  hat,  wie  ich  deren 
(darunter  eine  Kapazität  wie  Dr.  Franz  Xaver  Haberl) 
einige  Reihen  über  mir  während  der  Aufführung  zu 
bemerken  erwünschte  Gelegenheit  hatte. 

Hingegen  muss  eine  andere,  etwas  heikle  Episode 
an  dieser  Stelle  wohl  oder  übel  doch  ihre  Registrierung 
finden.  In  einigen  Festspielberichten  des  Herrn  Houston. 
St.  Chamberlain  war  nämlich  die  Nachricht  ent- 
halten, dass  Siegfried  Wagner  schon  deshalb  den 
4.  Nibelungen -Zyklus  nicht  schlecht  geleitet  haben 
könne,  weil  eine  Deputation  des  Orchesters  darauf  hin 
zu  ihm  gekommen  sei  und  ihn  gebeten  habe,  auch  noch 
den  5.  (letzten)  Zyklus  zu  übernehmen.  Ich  konnte 
dieser  indirekten  Beweisführung  für  Jung- Siegfrieds 
Dirigentengrösse  zwar  keinen  rechten  Geschmack  ab- 
gewinnen, denn  in  Bayreuth  hat  es  leider  von  jeher 
sehr  viele  Schmeichler  gegeben,  und  dergleichen  besagt 
also  für  mich  noch  so  gut  wie  rein  gar  nichts;  aber  ich 
zweifelte  wenigstens  nicht  an  der  Thatsache  der  hier- 
mit verbreiteten  Meldung.    Eine  Briefkastennotiz  in  der 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


395 


„AUgem.  Mus.-Ztg."  hatte  mich  aber  später  stutzig  ge- 
macht. Ich  bin  der  Sache  mittlerweile  auf  den  Grund 
gegangen  und  erfuhr  aus  absolut  zuverlässiger  Quelle, 
dass  das  subjektive  Wabnfried  -  Märchen  von  der 
Orchesterdeputation  der  objektiven  Wahrheit  völlig 
entbehre.  Sollte  eine  kleine  Gruppe  von  Orchester- 
mitgltedern  wirklich  Herrn  Siegfried  Wagner  in  diesem 
Sinne  begrüsst  haben,  so  ist  das  jedenfalls  nicht  von 
der  Korporation  als  solcher  ausgegangen,  noch  irgend- 
wie in  offizieller  Weise  geschehen;  ja,  meine  Quelle 
hält  es  sogar  für  unmöglich,  dass  selbst  einige  Wenige 
„eine  solche  Taktlosigkeit"  begehen  konnten.  Wie  leb- 
haft im  Gegenteil  im  „mystischen  Abgrund"  die  Freude 
war,  Hans  Richter  beim  fünften  und  letzten  Zyklus 
wieder  an  der  Spitze  des  Bayreuther  Orchesters  zu  be- 
grüssen,  das  ging  schon  aus  dem  Umstände  hervor,  dass 
das  Orchester,  als  er  am  ersten  Abende  das  Dirigenten- 
pult bestieg,  ihm  eine  stumme  Huldigung  durch  all- 
gemeines Tücherschwenken  bereitete  und  nach  den  Akt- 
schlüssen in  anhaltenden  Beifall  für  seinen  eigenen 
Dirigenten  ausbrach.  (Ähnlich  berichtigt  auch  Felix 
Weingartner  in  seinem  „Bayreuth"- Artikel  —  „N.  d. 
Rundschau",  Oktober  —  jene  Chamberlain-Meldung.) 

Wir  haben  oben  übrigens  auch  von  Frau  Wagners 
„genialem  Bühneninstinkte"  gesprochen  und  können  in 
der  That  mit  Fug  und  Recht  von  uns  versichern,  wie 
aufrichtig  wir  ihre  überragende  Persönlichkeit  als  un- 
vergleichliche Leiterin  der  Aufführungen  bewundern  und 
sie  als  unermüdlich  thatkräftige,  treue,  stets  opferbereite, 
dazu  intim -wissende  Trägerin  des  Festspielgedankens 
verehren;  wie  sehr  wir  ihre  stillen  Pflichterfüllungen 
und  aller  Welt  offenkundigen  Grossthaten  auf  diesem 
Felde  immerdar  zu  würdigen  wissen  werden.  Aber  auch 
sie  ist  —  sie  mag  uns  dieses  naheliegende  Wort  ver- 
zeihen —  „ein  Mensch  wie  alle",  und  Menschen  sind, 


396 


Wagneriana.    Bd.  III 


selbst  wenn  man  sie  »Meisterin*  nennt,  nun  einmal 
nicht  unfehlbar.  Das  hat  sie  uns  vor  Allem  bei  der  In- 
szenierung von  Humperdincks  „Hänsel  und  Gretel"  in 
Dessau  durch  die  unseres  Erachtens  mehr  als  nur 
kuriose  Einfügung  —  sagen  wir:  „Improvisation"  — 
des  Dessauer  Marsches  in  den  Rahmen  dieses  Märchen- 
spieles bewiesen,  und  da  muss  sie  es  sich  schon  ge- 
fallen lassen,  dass  ihre  Autorität  seither  in  unseren 
Augen  mancherlei  Einbusse  erlitten  hat,  bezw.  darf 
sich  nicht  allzu  sehr  darüber  verwundern,  wenn  heut- 
zutage die  Welt  doch  ein  für  alle  Mal  etwas  skeptischer 
—  oder  nennen  wir's  besser:  kritischer, ihrem  individuellen 
Inszenierungsurteile  gegenüber  steht.  Warum  denn  mit 
dogmatisch- orthodoxer  Nervosität  jeden  Widerspruch 
immer  gleich  als  unheilige,  tempelschänderische  An- 
tastung einer  eigentlich  unnahbaren  Majestät  em- 
pfinden und  demgemäss  von  den  Dick-  und  Dünn -Ja- 
sagern dafür  öffentlich  schuhriegeln  lassen  —  als  ob 
es  keine  pflichtmässige  Aussprache  auch  vor  dem 
Throne  in  dieser  Welt  mehr  gäbe?  Gebet  doch  wieder 
Gott,  was  Gottes,  und  dem  Meister,  was  des  Meisters 
ist!  Und  wo  bleibt  der  Männerstolz  vor  Königsthronen? 

Just  in  diesem  Jubiläumsjahre  ist  ihr  z.  B.  nach 
dem  übereinstimmenden  Urteil  aller,  selbst  nahe  stehender 
Freunde  (die  „Pagoden44  natürlich  ausgenommen),  bei 
der  Inszenierung  des  „Nibelungenringes'  etwas  Mensch- 
liches, Allzumenschliches  passiert,  das  vielleicht  nicht 
hätte  vorkommen  müssen  —  wir  meinen  die  leidige  Kostü- 
mierung der  Götter  und  Helden  nach  Hans  Thoma- 
schen Entwürfen.  Jeder  einigermassen  in  die  Verhält- 
nisse Eingeweihte  weiss,  dass  sie  auf  die  freundschaft- 
lichen Beziehungen,  welche  ihren  Schwiegersohn,  den 
ausgezeichneten  Kunstgelehrten  Dr.  Henry  Thode  in 
Heidelberg,  mit  dem  verehrungswürdigen  Frankfurter 
Charakterkopfe  deutscher  Malkunst  verbinden,  im  Wesent- 


Die  Pflege  des  Erbes.  397 


liehen  zurück  zu  führen  ist.  Nun  schätzt  die  urteilsfähige 
Kunstwelt  seit  Langem  Hans  Thoma  als  einen  kernigen 
Maler  von  den  denkbar  tiefsten  Qualitäten,  und  als 
einen  germanischen  Meister  von  echtem  Schrot  und 
Korn;  ja,  die  reizvollen,  poesieverklärten  „Federspiele", 
zu  denen  der  ideale  Freundschaftsbund  zwischen  „Heinz 
und  Hans"  vor  Jahren  geführt  hat,  darf  als  ein  edelstes, 
ganz  unvergleichlich  deutsches  „Hausbuch"  gelten,  das 
man  gerne  jeder  deutschen  Familie  in's  Heim  spenden 
möchte.  Aber  diese  selbe  Kunstwelt  weiss  auch  nur 
zu  gut,  dass  Thoma  ein  innerlicher  Träumer,  durch  und 
durch  lyrischer  Phantast,  ohne  alle  drastische  Neigung 
oder  exoterische  Anlage,  ist;  und  als  im  Winter  ver- 
gangenen Jahres  sein  merkwürdig  zu  denken  gebender, 
seltsam  erschauter  und  ganz  subjektiv  erfasster  „Wotan" 
in  den  deutschen  Kunstsälen  die  Runde  machte,  da 
lautete  das  allgemein  bestätigte  klare  Urteil :  dass  das 
ein  Bauer,  aber  noch  lange  kein  Wotan  sei.  Diesen 
tagesscheuen,  stillen  Künstler  nun  hat  man  mit  sanfter 
Gewalt  aus  seinem  ernsten  malerischen  Sinnen  heraus 
gerissen  und  zum  künstlerischen  Berater  in  der  Kostüm- 
frage für  das  Bayreuther  Elementar-Drama  im  Hause 
Wahnfried  erkoren;  ja,  nicht  nur  zum  Kunstexperten 
hat  man  ihn  bestellt,  man  hat  ihn  auch  zum  intellek- 
tuellen Urheber  und  geistigen  Vater  der  diesjährigen 
Figurinen  zu  dramatischem  Zwecke  selbst  gemacht 
in  der  Weise,  dass  man  seine  Entwürfe,  die  er  wohl 
mehr  als  Anregungen  und  Vorschläge  sich  gedacht 
hatte,  als  Modelle  und  Muster  direkt,  so  ziemlich  ohne 
alle  Änderung,  für  die  Herstellung  übernahm.  Er  selber 
soll  gelegentlich  kein  Hehl  daraus  gemacht  haben,  wie 
ehrlich  er  „erschrocken"  gewesen  sei,  als  er  seine  Grund- 
gedanken so  getreu  reproduziert,  so  genau  nachgebildet 
auf  der  Bühne  vorsieh  gesehen  habe.  Dieses  naive,  ehrliche 
Erschrecken  aber,  spricht  es  nicht  deutlich  für  die 


Digitized  by  Google 


398 


U'agneriant.    Bd.  III* 


mimosenhafte  Grundstimmung,  die  nach  innen  gekehrte 
Grundempfindung  in  der  Seele  des  Malerpoeten  Hans 
Thoma  ?  Sagt  es  nicht  schon  alles  und  spricht  für  sich 
beredt  genug,  welch  ein  Missgriff  (zum  grössten  Teile) 
mit  seiner  Berufung  zur  Ausstattung  des  gigantischen 
Drama's  begangen  war,  den  wir  Kenner  Alle  als  Fehler 
und  eigentlich  wunden  Punkt  der  diesjährigen  Auf- 
führungen mehr  oder  minder  scharf  empfunden  haben? 
Man  begründet  diesen  Missgriff  als  „ unverstandenen 
Vorzug"  in  der  Regel  damit,  dass  man  betont,  wie  die 
eigenartige  Dramenwelt  Wagners  eine  radikale  Abwendung 
von  der  bestehenden  Bühnengepflogenheit  gebieterisch 
verlangt  habe;  man  werde  sich  an  dieses  völlig  Neue 
mit  der  Zeit  schon  gewöhnen  und  in  die  neue  „moderne* 
Farbe  noch  hinein  sehen.  Allein  einen  Dekorations- 
meister erwählen,  der  bisher  noch  nicht  direkt  für  die 
bestehende  Oper  und  ihre  lahme  theatralische  Konvention 
geschaffen  —  dagegen  einen  Staffeleimaler  ausersehen, 
der  überhaupt  von  Grund  aus  nicht  schlagkräftig  denkt 
und  natura  undramatisch  konzipiert,  ja  nach  seiner 
ganzen  Anlage  kaum  einen  intimeren  Berührungs- 
punkt mit  der  R.  Wagnerischen  Phantasiegestaltung 
zuletzt  aufweist:  das  sind  doch  hoffentlich  noch  zwei 
ganz  verschiedene  Dinge!  .  .  . 

Dass  die  seit  einigen  Jahren  unter  Oberaufsicht 
von  Frau  Wagner  und  unter  Leitung  Julius  K niese's 
thätige  Bayreuther  Stilbildung s-  und  Ge- 
sangvortrags-Schule  im  laufenden  Jahre  mit 
Burgstaller  (Siegfried),  Breuer  (Mime),  schliesslich  auch 
den  Damen  Brema  (Fricka),  Gulbranson  (Brünnhilde) 
und  Herrn  Friedrichs  (Albrich)  den  ersten  grossen  und 
glänzenden  Triumph  gefeiert  hat,  ist  ein  allenthalben 
warm  anerkannter,  keineswegs  gering  anzuschlagender 
Thatbestand.  Nur  treibt  uns  ein  gewisser  dunkler, 
zwangvoller  Dämon  auch  hier  wieder,  die  leidige  Kas- 


sö  bv  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


399 


sandra-Rolle  auf  uns  zu  nehmen  und  der  allgemeinen 
Begeisterung  einen  sanften  Dämpfer  dahin  aufzusetzen, 
dass  wir  diesem  fraglosen  Augenblickserfolge  gegen- 
über vorerst  noch  eine  vorsichtig  zuwartende  Haltung 
einnehmen  zu  sollen  glauben.  Aufmerksame  Beobach- 
tungen an  Herrn  Burgstaller,  die  stellenweise  so  etwas 
wie  Drill  auf  eine  einzige  Rolle  hin  als  Eindruck  er- 
gaben, sowie  dunkle  Gerüchte  von  (nur  durch  zahllose 
rohe  Eier  wieder  gut  zu  machenden)  wahren  Stimm- 
Verrenkungen  bei  Herrn  Breuer  auf  Grund  seiner 
charakteristischen  Mime-Singweise  lassen  gelinde  Be- 
denken in  die  Methode  einstweilen  aufkommen  und  bis 
zu  weiteren  Ergebnissen  sogar  als  um  so  eher  gerecht- 
fertigt erscheinen,  als  doch  niemals  gewissenlos  dabei  ver- 
gessen werden  darf,  dass  es  sich  hier  nicht  mehr  um  tote 
Instrumente,  sondern  um  lebende  Körper,  kostbares 
Menschenmateriale  handelt,  das  nicht  wie  jene  im  Ver- 
sagungsfalle  einfach  wieder  bei  Seite  geworfen  werden 
kann,  vielmehr  moralisch  wie  geistig  für's  Leben  unglück- 
lich gemacht  wird,  falls  bei  unzweckmässiger  Behandlung 
im  Kerne  einmal  etwas  verpfuscht  worden  wäre.  Fast  ge- 
winnt es  auch  den  Anschein,  als  ob  stellenweise  Sprach- 
gesang  mit  S  p  r  e  c  h  gesang,  »Musikdrama u  mit  „Melo- 
drama" selbst  an  dieser  autoritativen  Stelle  schon  ver- 
wechselt würde,  und  kein  Mensch  scheint  sich  heute 
mehr  darauf  zu  besinnen,  dass,  wenn  schon  bei  der  alt 
bewährten  italienischen  Gesangslehrmethode  reichlich 
fünf  Jahre  der  gründlichen  Stimmdurchbildung  vom  an- 
gehenden Sänger  geopfert  werden  mussten,  so  erst  recht 
von  dem  neuen,  erst  noch  auszubildenden  deutschen 
Gesangsstile,  mit  seinem  germanischen  Konsonanten- 
Prinzip,  dieses  Lustrum  als  das  unerlässliche  Mindest- 
mass der  Schulung  strenge  zu  fordern  bleibt,  wenn  der 
allenthalben  um  sich  greifende  „Stimmruin"  nicht  in 
der  That  der  „Wagnerschule"  noch  in  die  Schuhe  ge- 


Digitized  by  Google 


400 


Wagneriana.    Bd.  III. 


schoben  werden  soll!  Hier  mag  immer  wieder  die 
hoch  entwickelte,  der  Wagner'schen  Sprachmelodie  durch- 
aus richtig  beikommende,  meisterliche  Gesangskunst 
eines  Vogl,  Gura,  Betz,  Skaria,  Hey,  wie  einer  Sucher, 
Nordica  und  Lili  Lehmann,  als  das  massgebende  Vorbild 
gelten.  Und  wer  die  beiden  Nibelungen-Jubilare,  Herrn 
Vogl  und  Frau  Lehmann,  heuer  gehört  und  an  ihrem 
ungetrübten  stimmlichen  Können  bewundernd  sich  er- 
baut, dann  dieses  mit  den  Leistungen  der  Bayreuther 
Jungen  wieder  und  wieder  verglichen  hat,  dem  wird 
sich  unwillkürlich  wohl  auch  der  Gedanke  aufgedrängt 
und  die  Empfindung  mitgeteilt  haben :  wir  wollen  doch 
erst  sehen,  wie  die  für  jetzt  so  wacker  und  viel  ver- 
sprechend sich  bewährenden  neuen  Besen  in  weiteren 
zwanzig  Jahren  dereinst  einmal  kehren  werden !  Sehr 
viel  früher  wird  sich  nämlich  ein  endgültiges  Urteil  über 
die  (gewiss  schon  jetzt  Aufsehen  erregenden)  Bayreuther 
Schulergebnisse  auch  wohl  kaum  fällen  lassen. 

Stark  überhand  nehmende  Neigungen  zur  Stili- 
sierung waren  —  nebenbei  bemerkt  —  diesmal  auf- 
fällig genug  zu  bemerken,  besonders  peinvoll  an  der  Stelle, 
wo  die  Riesen  mit  ihren  Keulen  auf  die  Götter  los  gehen 
wollen,  aber  durch  Wotans  Dazwischentreten  mit  dem  Speer 
in  ihrem  furor  Unitomcn*  unterbrochen  werden.  Man  könnte 
allenfalls  einwenden,  dass  die  hier  eingehaltene  steife 
Gebärde  eitel  Zufall  gewesen  sei,  und  vielleicht  hätten 
wir  noch  eine  zweite  Vorstellung  zur  Kontrole  ja  mit 
ansehen  können.  Allein  die  Nuance  entsprach  so  sehr 
anderen,  gelegentlich  beobachteten  Episoden,  die  Keulen 
waren  so  haarscharf  und  genau  parallel,  wie  die  Gewehr- 
läufe beim  Zugexerzieren  einer  Kompagnie,  „aus- 
gerichtet", dass  die  Unnatur  eine  vollständige  schon 
bei  diesem  einen  Male  wurde.  Vor  solcher  unleidlichen 
Unnatur  akademischer  Stilisierung  wird  sich  aber  die 
Bayreuther  Kunst  vor  Allem  zu  hüten  haben.  Hier 


Die  Pflege  des  Erbes 


401 


heisst  es  „Principüs  obsta!*  und  muss  ein  ernst  gesinntes 
nMene  tekel!«  sorgenvoll-aufrichtiger  Anteilnahme  ertönen. 
Ist  es  doch  immerhin  misslich  genug,  dass  unsere  ge- 
samte offizielle  Kunst-  und  Opernpflege  noch  immer 
und  immer  so  blutwenig  von  den  zwanzigjährigen 
Bayreuther  Erfahrungen  gelernt  und  von  seinen  Wir- 
kungen angenommen  hat !  Ein  eigensinniges  Verharren 
und  Festfahren  des  Thesphiskarrens  auf  dieser  ver- 
fehlten Bahn  würde  Bayreuth  vollends  um  allen 
seinen  guten  Einfluss  bringen  und  der  guten  Sache 
dauernd  unendlichen,  ja  vielleicht  irreparablen  Schaden 
zufügen  können  —  was  denn  der  Himmel  gnädig  ver- 
hüten wolle! 

Denn  dass  das  Bayreuther  Festspiel  je  einmal 
wieder  überflüssig  und  entbehrlich  für  unser  deutsches 
Kunstleben  werden  könnte,  wird  sonst  niemand  mehr 
zu  behaupten  wagen,  oder  auch  nur  naiv  genug  sein, 
heute  noch  zu  glauben ;  dass  das  gegenwärtige  Bayreuth 
erst  einmal  allgegenwärtig  in  unseren  sämtlichen 
Hof-,  Stadt-  und  Provinzbühnen  sich  erweise,  dahin  hat 
es  schon  deshalb  seine  guten  Wege,  weil  es  ja  in  der 
Natur  der  Sache  liegt,  dass  diese  repertoirgehetzten 
Kunst-Triebstätten,  Mangels  jeder  besonnenen  Isolierung, 
immer  wieder  von  Neuem  in  den  alten  Stil-Galimathias 
und  undeutschen  Mischmasch-Opernschlendrian  verfallen 
müssen,  fernab  von  jener  voll-entsprechend  übersicht- 
lichen Vortrags-  und  sinnfällig-klar  verdeutlichenden 
Darstellungsweise,  welche  eben  hier  in  Bayreuth  end- 
lich einen  germanischen  Originalstil  an  sich  be- 
gründet hat:  als  mindestens  gleichwertiges  Eigengewächs 
deutscher  Kunstanschauung,  wie  es  —  ein  Sporn  und 
Stachel  eben  für  den  deutschen  Künstler  Wagner  — 
die  Grosse  historische  Oper  für  Frankreich  und  die 
Buffb-Oper  für  Italien  schon  ehedem  geworden  waren. 
Si  Bayreuth  n'e.ristait  pas,  ü  faudrat  Pinventer,  Hesse  sich 
Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  26 


402 


Wagneriana.   Bd.  III 


beinahe  schon  sagen.  Man  klammere  sich  nur  nicht 
immer  an  den  völlig  irre  führenden  Begriff:  „Muster- 
aufführungen". Wenn  die  Bayreuther  Vorstellungen 
gelegentlich  zu  solchen  werden,  so  ist  das  doch  erst  die 
natürliche  Folge  des  besonderen  Geistes  ihrer  Dar- 
bietung und  ideellen  Aufnahme.  „Festspielet"  —  das 
ist  dabei  die  wesentliche,  weil  den  Geist  aus  dem  ge- 
wohnten Alltag  sofort  heraus  hebende  und  vom  Arbeits- 
trott erlösende,  die  verkümmerte  Seele  wieder  genuss- 
fähig machende  und  den  Sinn  empfangsfreudig  berei- 
tende Hauptsache;  „Stimmung"  ist  das  grosse  herrliche 
Zauberwort,  und  „Sammlung"  heisst  das  tiefe,  schon 
im  weitsichtigen  Charakter  der  dortigen  Landschaft  be- 
gründete Geheimnis  der  unbestritten-nachhaltigen  Bay- 
reuther Wirkungen  —  einer  Landschaft,  die  den  von 
den  hohen,  dunklen  Häusern  der  Grossstadt  eingeengten 
Blick  wieder  frei  und  hell  macht  und  so  zu  den  grossen 
Dimensionen  eines  „Nibelungen"-Zyklus  mit  seiner  ge- 
waltigen Naturpoesie  idealiter  hinführt.  Und  noch  Eines 
—  nicht  das  Geringste  noch  Letzte:  In  Bayreuth 
liest  man  keine  Zeitungen.  Man  ist  einfach 
nicht  dazu  zu  bringen,  so  sehr  fühlt  sich  der  Mensch 
dort  dem  Zeitgetriebe  einmal  entwachsen  und  aus  jenem 
Bereiche,  da  zum  „Papierraume  die  hölzerne  Zeit  wird", 
hoch  empor  gehoben.  Merkwürdig !  Und  doch  hätte  eigent- 
lich die  „Presse",  gerade  anlässlich  des  „Nibelungen- 
ringes", einmal  dort  in  den  Vordergrund  des  Interesses 
rücken  und  in  einem  ihrer  typischen  Exemplare  als 
geweihtes  Attribut  gleichsam  der  Fricka,  etwa  wie  die 
Sichel  dem  Froh,  eigentlich  besonders  beigegeben  werden 
müssen.  Denn  —  wie  sagt  doch  Wotan  zur  gestrengen 
Gattin? 

„Nichts  lerntest  Du, 

Wollt'  ich  Dich  lehren, 

Was  nie  Du  erkennen  kannst, 

Eh'  nicht  ertagte  die  That. 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes 


403 


Stets  Gewohntes  nur 
Magst  Du  versteh'n: 
Doch,  was  n  i  e  sich  traf  — * 

„das  begreifst  du  mir  nimmer",  so  möchten  wir  hier 
den  Satz  wohl  vollenden.  MiUatis  mutandis  auf  die 
Presse  angewendet,  heisst  das:  „Thatsachen  meldest, 
Geschehenes  und  Vergangenes  registrierst  du  nur  immer 
—  für  das  Kommende,  Neue,  Zukunftsträchtige  hast  du 
noch  niemals  vorschauenden  Sinn  gehabt!"  Darf  die 
Zeitung  da  nicht  als  ein  konkretes  Sinnbild,  zum  Min- 
desten für  eine  Seite  in  der  Göttin  Wesen,  gelten,  und 
muss  sie  sonach  nicht  für  jeden  überzeugten  „Wagne- 
rianer" schliesslich  sogar  „ heilig"  sein  ? 

„Das  fehlte  gerade  noch!"  —  höre  ich  bereits 
rufen,  und  das  hat  für  mich  denn  nun  auch  eine  ganz 
ähnliche  Wirkung  wie  etwa  die  gebieterische  Stimme 
am  Telefon:  „Schlussü" 


5.  Wagner-Gesellschaft  —  nicht 
„Wagner  -  Vereine 1 1 ! 

Ein  zeitgemässer  Vorschlag  zur  Güte 
(1898) 

Mit  jeder  neuen  Generalversammlung  des  „Allg. 
Richard  Wagner- Vereins"  werden  die  statistischen  Ergeb- 
nisse seiner  Leistungen  immer  kläglicher,  weil  der  Rück- 
gang seiner  Mitgliederzahl  wie  seiner  Bestrebungen 
immer  auffälliger  wird.  Immer  mehr  Raum  gewinnt  bei 
verständigen  Anhängern  die  Anschauung,  dass  die  Zeit  der 
„Wagner- Vereine"  im  Grunde  vorbei  sein  dürfte  und  diese 
sogenannte  papierene  „Erhaltung  der  Bayreuther  Bühnen- 
festspiele", wie  sie  in  den  Satzungen  so  schön  paradiert, 
sich  vollständig  überlebt  habe.    Zeitpunkt  und  Gründe 

26* 


Digitized  by  Google 


404 


Wagnertana.    Bd.  III. 


für  diesen  Rückgang  lassen  sich  nur  allzu  genau  be- 
stimmen. Seit  einem  gewissen  Offenen  Briefe  von  Frau 
Cosima  Wagner  an  Oberbürgermeister  Dr.  von  Muncker 
über  die  negativen  Ergebnisse  und  die  positiven  Aufgaben 
des  Vereines  (aus  dem  Jahre  1891)  hätte  man  nämlich 
charaktervoll  Konsequenzen  ziehen  sollen,  und 
ganz  genau  entsinne  ich  mich  noch,  dass  für  meine 
Anschauung  eben  dieser  peinliche  Brief  damals  der  ent- 
scheidende Anlass  war,  in  eine  Frontstellung  dem  Hause 
Wahnfried  und  seiner  Auffassung  der  Dinge  gegen- 
über zu  geraten.  Man  hatte  dazumal  im  Verein  einfach 
die  Alternative,  einzusehen,  dass  man:  entweder  den 
kalten  Wasserstrahl  von  oben  nicht  verdient  hatte 
und  dann  zum  „gehorsamen  Diener"  der  Familie 
Wagner  sich  doch  zu  gut  sein  sollte  —  will  sagen:  dass 
ein  offizieller  würdiger  Protest  gegenüber  der  Witwe 
des  Meisters  sehr  wohl  am  Platze  war;  oder  aber,  dass 
jene,  bei  aller  guten  Form  an  Deutlichkeit  schlechter- 
dings nichts  zu  wünschen  übrig  lassende  Aussprache 
von  zuständiger  Stelle  ihre  volle  Berechtigung  hatte, 
damit  aber  nun  auch  dem  $  1  der  Statuten,  welcher 
ausschliesslich  von  der  „Förderung  und  Erhaltung 
der  Bayreuther  Festspiele  in  periodischer  Wiederkehr* 
spricht,  jeder  vernünftige  Boden  entzogen  sei.  Tertium 
non  datur.  Man  hat  aber,  trotzdem  jener  Brief  die 
Agitation  im  alten  Sinne  vollständig  lahm  legen 
iÄusSjte,  .^iese  einzig  richtige  und  zulässige  Folgerung 
damals  nicht  gezogen,  vielmehr  den  bewussten,  durch- 
aus .verfehlen  Paragraphen  im  Stande  der  Unschuld, 
$aaz  unverändert,  sinnlos  belassen  und  noch  immerauf 
ihm  das  ganze  Gebäude  aufzubauen  versucht.  Seit 
jener  Zeit  ihrer  unklaren  Haltung  in  bewusster  An- 
gelegenheit sind  die  „Wagner-Vereine"  alter  Ordnung 
ejne  Art  Unding,  das  man  nicht  deklinieren  kann  —  nicht 
ÖÄfifcaWSftu Fj^fn%kr-  geworden.    Und  daher  auch 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


405 


jener  auf  den  seitherigen  Hauptversammlungen  immer 
stärker  konstatierte,  für  die  Sache  zwar  überaus  be- 
schämende, aber  doch  auch  wieder  so  ganz  natürliche 
Rücklauf  der  ganzen  Bewegung. 

Mochte  Frau  Cosima  Wagner  damals  mit  ihrem  herben 
Urteil  über  die  Missionserfüllung  des  „Wagner- Vereines" 
materiell  auch  vollkommen  im  Rechte  sein,  durfte  eine 
gewisse  Bitterkeit  auf  ihrer  Seite  Angesichts  seiner 
bisherigen,  im  Verhältnis  zu  den  wirklichen  An- 
forderungen auch  nur  eines  Festspieljahres  in  der 
That  recht  verschwindenden,  Leistungen  immerhin  nicht 
ganz  unbegreiflich  erscheinen  —  Thatsache  bleibt  doch, 
dass  der  „AI  lg.  Richard  Wagner-Verein",  wenn  er  bis 
dahin  seinen  Zweck  auch  nicht  erreicht  hatte,  diesen 
Zweck  doch  grundsätzlich  verfolgen  konnte,  die 
Kraft  und  Möglichkeit  dazu,  der  geistig-organisatorischen 
Anlage  nach,  jedenfalls  in  sich  barg.  Gewissermassen 
noch  nicht  potentiay  wohl  aber  virtute  war  er  be- 
fähigt, die  Festspiele  zu  betreiben  und  zu  halten.  Er 
brauchte  nur  in  deutschen  Landen  so  viele  Mitglieder 
zu  werben,  bis  seine  Jahreseinnahme  an  Beiträgen  eine 
Höhe  erreichte,  dass  35°/0  davon  (oder  sagen  wir:  50°/0) 
die  Summe  garantierte,  welche  den  unerlässlichen  Aus- 
gaben-Etat eben  eines  Festspieljahres  leider  nun  einmal 
ausmacht.  Nicht  nur  hätten  seine  sämtlichen  Mit- 
glieder dann  nach  Wagners  Ideal  unentgeltlich  den 
Bayreuther  Aufführungen  beiwohnen  können;  da  eine  be- 
trächtliche Anzahl  wohl  auch  jedes  Mal  am  persönlichen 
Besuche  verhindert  gewesen  wäre,  würden  deren  Ein- 
trittskarten den  Stipendiaten  ohne  Weiteres  anheim- 
gefallen sein,  und  weil  dieser  „Ausgabeposten"  wiederum 
dem  „Stipendienfonds"  dann  nicht  mehr  zur  Last  fiele, 
hätte  einer  um  so  grösseren  Anzahl  noch,  als  bisher, 
auch  die  Reise  zu  den  Festspielen  erleichtert  bezw. 
ganz  bestritten  werden  können.   Überdies  —  was  wahr- 


Digitized  by  Google 


406 


Wagneriana.   Bd.  III. 


lieh  nicht  zu  unterschätzen  bleibt!  —  Bayreuth  hätte 
sich  gleichsam  bei  verschlossenen  Thüren  im  Wesent- 
lichen unter  uns  Deutschen,  lediglich  vor  dem  vom 
Meister  doch  in's  Auge  gefassten  „idealen  Publikum",  ab- 
gespielt. Und  ebenso  darf  ja  kaum  ganz  vergessen 
werden,  dass  Agitation  und  Propaganda  dieser  Wagner- 
Vereine  im  Innern  damals  für  die  Wagnerische  Kunst 
schon  eine  nicht  zu  verachtende  Basis  des  geistigen 
Verständnisses  Für  die  Festspiel-Idee  im  Lande  ge- 
schaffen hatten,  welcher  doch  nicht  so  ohne  Weiteres 
unsanft  der  Stuhl  vor  die  Thüre  gesetzt  zu  werden 
brauchte.  Jedenfalls  hätte  wohl  vermieden  werden 
sollen  und  auch  können,  dass  hämische  Gegner  das 
„Dank  vom  Hause  Wahnfried "  bei  dieser  Gelegenheit 
in  der  Tagespresse  umher  schleifen  durften. 

Genug,  es  hat  nicht  sollen  sein ;  und  wir  begreifen 
ja  auch  wieder  einigermassen,  dass  eine  Festspielleitung, 
die  praktisch  vorgehen  muss,  sich  nicht  auf  jene 
idealen  Möglichkeiten  allein  verlassen  will,  sondern  mit 
der  strengen  Notwendigkeit  der  realpolitischen  Faktoren 
zu  rechnen  hat,  welche  in  ihren  unerbittlichen  For- 
derungen ihrerseits  nicht  erst  auf  das  Nachhinken  der 
guten,  schönen  Absichten  von  Schwärmern  für  den  sicht- 
baren Erfolg  lässig  zuwarten  kann.  Die  Festspiele  sind 
und  werden  heute  thatsächlich  von  der  weitesten,  leider 
sehr  gemischt-internationalen,  „Öffentlichkeit0  gewähr- 
leistet und  erhalten.  Seither  sind  die  Hoffnungen  auf  ein 
Erreichen  jener  „virtuellen"  Ziele  in  absehbarer  Zeit, 
bei  dem  mittlerweile  natürlich  auch  nicht  ausgebliebenen 
Rückschläge  nach  innen,  vollends  auf  Null  herab 
gesunken  —  die  „Wagner- Vereine"  mit  ihrem  nach- 
gerade völlig  lächerlich  gewordenen,  mehr  anspruchs- 
vollen als  hochsinnigen,  $  1  haben  jede  Existenz- 
berechtigung in  den  Augen  klar  Denkender  bereits  ver- 
loren. Der  „Allg.  Richard  Wagner-Verein"  könnte  ja  nun 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


407 


freilich  —  unter  ehrlichem  Verzicht  ein  für  alle  Mal 
auf  den  falschen  Ehrgeiz,  die  pekuniäre  Stütze  Bayreuths 
vorstellen  zu  wollen  —  sich  in  diesem  seinem  kon- 
stituierenden Hauptparagraphen  innerlich  reformieren ;  er 
könnte  als  seine  besonderen  Tendenzen  z.  B.  neuerdings 
heraus  stellen :  a)  den  Besuch  der  Festspiele  seinen  Mit- 
gliedern  durch  Ankauf  von  Freikarten  zu  erleichtern 
und  b)  den  Geist  Wagners  im  eigenen  Kreise,  wie  durch 
Vorträge  und  Veranstaltungen  nach  aussen,  lebendig  zu 
wirken,  den  Ausbau  seiner  Ideen  zu  pflegen  und  das 
tiefere  Erfassen  der  Wagnerischen  Kunst  im  weiteren  Sinne 
einer  deutschen  Kulturbewegung  esoterisch  vorbereiten 
zu  helfen.  Ich  glaube  aber  wirklich  und  in  der  That, 
dazu  ist  es  nachgerade  schon  viel  zu  spät  geworden  — 
es  heisst  überhaupt  jetzt:  „Biegen  oder  brechen!"  Neue 
charakteristische  Ziele  verlangen  eben  auch  einen  frischen 
und  prägnanten  Ausdruck. 

Etwas  ganz  Anderes,  in  diesem  Sinne  wirklich 
Zeitgemässes,  wäre  nämlich  heute  die  völlige  Neu- 
organisation einer  grossen  deutschen  „  Wagner- 
Gesell  sch aft",  mit  regelmässiger,  ihren  Geist  der 
gesamten  Presse  moralisch  aufzwingender,  ansehnlicher 
Jahresversammlung  (der  Ort  wechselnd  zwischen  Bayreuth 
und  Eisenach),  sowie  mit  speziellem  Jahrbuch  etc.  —  nach 
dem  Vorbilde  etwa  der  bereits  bestehenden  „Goethe*-, 
„Schiller"-  oder  „Shakespeare-Gesellschaften",  und  zwar 
nur  mehr  zu  rein  geistigen  Zwecken.  In  Ergänzung 
also  zur  gottlob  lebendigen  Kunst  der  Musen,  und  zwar 
mit  mehr  litterarischer,  an  das  „Wagner-Museum" 
und  die  Ausbeutung  seiner  Schätze  u.  a.  sich  anlehnender 
Fortbildung  der  Wagner-Bewegung,  gälte  es  hier  gleich- 
sam die  Rettung  des  alten  „Idealismus*  an  der  Sache 
in's  längst  angebrochene  E  p  i  g  o  n  e  n  Zeitalter  hinüber. 
Dass  es  sich  bei  Richard  Wagner  um  eine  Kultur- 
erscheinung im  weitesten  Sinne,  um  einen  nationalen 


Digitized  by  Google 


408 


Wagneriana.    Bd.  III 


Dichterheros  der  allgemein-menschlichen  Bildung  handelt, 
diese  Erkenntnis  hat  sich  durch  die  Festspiele  selbst 
und  ihre  tief  gehenden  Wirkungen  mehr  und  mehr  ver- 
breitet; sie  war  auch  seiner  Zeit  durch  die  Bestrebungen 
zum  Ankaufe  des  „Wagner-Museums"  nicht  wenig  ge- 
fördert worden  —  kurz,  sie  ist  längst  in  weitere  Kreise 
entschieden  genug  eingedrungen,  um  den  Boden  für 
eine  solche  Neugründung  heute  reif  erscheinen  zu 
lassen  und  den  Vergleich  mit  den  bereits  bekannten 
Dichter-Gesellschaften  nicht  erst  weitläufig  rechtfertigen 
zu  müssen.  Das  mehr  konservative  Element  der  geistigen 
Nachlese,  der  historischen  Erkenntnis,  der 
ästhetischen  Erläuterung  und  des  kulturwissen- 
schaftlich fördernden,  ethischen  Ausbaues  der 
ganzen  Lehre  wird,  wie  bei  allen  solchen  Ver- 
einigungen der  „Rückschau*1  auf  einen  Höhepunkt  künst- 
lerischer Blüte,  hier  unvermeidlich  die  vornehmste 
Aufgabe  werden  müssen.  Das  unmittelbar  praktische, 
„aktuelle"  Interesse  der  Proselytenmacherei  tritt  un- 
willkürlich zurück  hinter  dem  bewahrsamen  und  geruhig 
ausdeutenden  Geistes-Kult. 

Dabei  könnte  die  Frage  vorläufig  noch  ganz  offen 
bleiben,  ob  die  „Bayreuther  Blätter**,  die  in  dem  „Wagner- 
Verein**  ihren  Brotherrn  verlieren  würden,  künftig  in 
das  „Wagner-Jahrbuch**  mit  aufgehen  sollten,  oder  aber 
vielleicht  von  Villa  Wahnfried,  die  nach  dem  Testamente 
des  Erblassers  vermutlich  ein  angelegentlicheres  Interesse 
daran  hat,  solche  Opfer  der  Sache  zu  bringen,  fortan  in 
eigener  Regie  übernommen  werden  würden.  Letzteres 
bedeutete  sicher  die  relativ  beste  Lösung  der  Frage  — 
und  wäre  es  auch  nur  ein  kleines  Stück  naturnotwendiger 
„Nemesis",  welche  Bayreuth  selbst  jetzt  die  Nach- 
wirkungen jenes  vielfach  hier  angezogenen  Schreibens 
und  der  damit  eingeschlagenen  Taktik  gegen  den  „Wagner- 
Verein"  am  eigenen  Leibe  noch  nachträglich  verspüren 
Hesse.    Denn  so  viel  ist  sicher:  Bei  dem  alten,  ganz 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


409 


unvermeidlichen  Konflikt  zwischen  Esoterik  und  Exoterik 
würden  sich  die  „Blätter",  so  fürchten  wir  wenigstens 
sehr,  in  ihrer  Unweltläufigkeit  wie  Bleigewicht  an  das 
„Wagner-Jahrbuch*  hängen  und  einer  im  besseren  Sinne 
populären  Ausbreitung  dieses  selbst,  wie  insbesondere 
auch  der  „Gesellschaft0,  doch  wahrscheinlich  nur  wieder 
hinderlich  im  Wege  stehen.  Etwas  Grosses,  ein  erheb- 
licher Fortschritt  wäre  aber  auf  alle  Fälle  schon  er- 
reicht, wenn  jene  „Gesellschaft*  eben  nur  die  spezifische 
Mission  der  früheren  „Akad.  Wagner -Vereine"  für  das 
allgemeinere  Publikum  der  Gebildeten  heute  beherzt 
antreten  wollte  —  jener  akademischen  „ Wagner- 
Vereine",  die  sich  die  wissenschaftliche  Bearbeitung 
der  grossen  Wagner-Frage  und  die  ernste,  kulturelle 
wie  philosophische  Fruktifizierung  der  ganzen  Bewegung 
zur  Bereicherung  des  Geistes  wie  des  Gemütes,  in  dem 
heran  wachsenden  Geschlechte  vor  Allem,  zur  dankbaren 
Aufgabe  gemacht  hatten.  Und  dass  es  sich  endlich  bei 
dieser  „Gesellschaft"  nicht  mehr  etwa  um  die  alten  Ver- 
günstigungen für  den  Festspielbesuch,  sondern  höchstens 
um  solche  für  den  Bezug  des  Jahrbuches"  oder  des  Be- 
suches der  Jahresvorträge  noch  handeln  könnte,  das  braucht 
wohl  nicht  mehr  eigens  hervor  gehoben  zu  werden  .  .  . 

Wie  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  zufällig  bekannt 
geworden,  sind  zwei  Männer,  treue  Anhänger  und 
euergische  Vertreter  der  Bayreuther  Sache,  schon  seit 
einiger  Zeit  im  Stillen  an  dem  edlen  Werke  einer 
solchen  Neugründung.  Warum  wohl  ist  es  auf  einmal 
wieder  so  stille  geworden  mit  ihren  dankenswerten  Vor- 
bereitungen? Warum  gehen  sie  nicht  weiter  vor? 
„Heraus  mit  dem  Flederwisch!" 

Nachschrift:  Heute  würde  sich  Verfasser  dieses  wohl  den 
ausgezeichneten  Anregungen  Dr.  Paul  Marsops  ohne  Weiteres 
anschliessen:  vgl.  die  Artikelreihe  „Der  Kern  der  Wagner-Frage" 
(Beil.  zur  „M.  Allg.  Ztg.-;  1902,  No.  27—29).  So  Ändern  sich  die 
Zeiten  und  wir  uns  mit  ihnen. 


Digitized  by  Google 


410 


Wagneriana.    Bd.  III. 


6.  Ein  Laien-Kommentar  zum  „Cosima-$" 

(1901) 

„Der  Cosima-$,  und  kein  Ende"  —  so  überschrieb 
ein  Münchener  Blatt  unlängst  einen  seiner  geharnischten 
Artikel  gegen  Bayreuth,  und  wir  greifen  das  an 
dieser  Stelle  mit  besonderem  Nachdruck  auf.  Wenigstens 
sind  w  i  r  fest  entschlossen,  nach  Kräften  alles  zu  thun, 
um  diese  Sache  künftig  nicht  wieder  einschlafen  oder 
gar  versumpfen  zu  lassen !  Was  an  u  n  s  liegt,  soll  sie 
also  so  bald  kein  Ende  mehr  finden,  diese  erfreulicher 
Weise  einmal  in  Fluss  gebrachte  öffentliche  Debatte, 
und  wir  werden  fortab  nun  auch  keine  Ruhe  mehr 
geben,  bis  nicht  die  volle  wünschenswerte  Klarheit  ge- 
schaffen, die  notwendige  „Novelle"  zum  unglückseligen 
neuen  Urheberrechts-Gesetze  noch  mit  durchgesetzt  und 
der  „  P  a  r  s  i  f  a  1",  dem  letzten  unantastbaren  Willen  seines 
Schöpfers  gemäss,  für  Bayreuth  dauernd  (nicht  nur 
bis  1913)  gesichert  erscheinen  wird. 

„Erlöse,  rette  mich  aus  scbuldbefleckten  Händen!"  — 

So  rief  die  Meisterklage  furchtbar  laut  mir  in  die  Seele  . . . 

Mit  voller  Absicht  haben  wir  nämlich  so  lange  mit  einer 
Abgabe  unseres  Urteils  zugewartet,  um  die  inzwischen 
verlautbarten  Stimmen  besser  sammeln,  das  ganze  Für 
und  Wider  etwas  klarer  schon  übersehen  zu  können  — 
wie  wir  es  eben  für  Pflicht  und  Aufgabe  einer  Revue*) 
halten,  im  Gegensatze  zu  dem  oft  so  vorschnell-flinken 
Aburteilen  unserer  Tagespresse.  Überdies  steht  die  Er- 
öffnung des  diesjährigen  Bayreuther  Festspieles  un- 
mittelbar bevor  und  damit  dessen  25jährige  Jubel- 
feier ja  nun  glücklich  auch  vor  der  Thüre  —  gewiss  nur 


•)  Obige  Ausführungen  erschienen  im  II.  Juli-Hefte  der 
vom  Verf.  herausgegebenen  Münchner  Halbmonatschrift  „Ge- 
sellschaft". 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


411 


ein  Grund  mehr,  aus  diesem  Anlass  gerade  einige  Worte 
Anteil  nehmender,  herzlicher  Begriissung  an  dieser  Stelle 
mit  zu  sagen.  Denn  so  viel  wir  jüngeren  Wagnerianer 
vom  unabhängigen  Flügel  während  der  letzten  Jahre  in 
Kunstund  besonders  in  Weltanschauungs-Fragen  dem 
„Hause  Wahnfried"  wohl  auch  unseren  sachlichen  Wider- 
spruch entgegen  zu  setzen  hatten  —  in  diesem  einen 
Punkte  müssen  wir  der  Familie  Wagner  als  solcher  bei 
ihrem  harten  Strausse  wider  die  Aussenwelt  doch  unbe- 
dingt zur  Seite  stehen.  Und  vielleicht  dürfen  wir  sogar 
hoffen,  dass  gerade  unser  Wort  in  dieser  Sache  jetzt 
doppelten  Wert  erhält  und  vermehrten  Eindruck  macht; 
dass  es  einen  um  so  besseren  Klang  noch  hat,  aus  je 
freieren  Stücken  es,  ganz  ohne  allen  äusseren  Zwang, 
hiermit  abgegeben  werden  kann.  Wenigstens  glaube  ich 
zuversichtlich  annehmen  zu  dürfen,  dass  man  meine 
Auffassung  durchaus  ehrlich  finden  wird  und  meiner 
Versicherung  weit  eher  Glauben  schenken  muss,  wenn 
ich  selbst,  der  ich  aus  meiner  gelegentlichen  Front- 
stellung gegen  „Jung-Bayreuth"  gar  niemals  ein  Hehl 
gemacht  habe,  heute  doch  zu  dem  lauten  und  ehrlichen 
Bekenntnisse  in  meinem  Gewissen  mich  verpflichtet 
fühle:  Die  bekannte,  von  Frau  Wagner  in  den  „M. 
Neuesten  Nachrichten"  publizierte,  sehr  eingehende  und 
aufschlussreiche  Erklärung  in  Sachen  „Parsifal"  unter- 
schreibe ich  Satz  für  Satz  und  Wort  für  Wort,  mit 
vollstem  Beifall,  aus  ganzem  Herzen. 

Und  wirklich!  Selten  hat  man  der  hoch  begabten, 
unsäglich  verdienten  Frau  rückhaltloser  seine  reinsten 
Sympathieen  widmen  können  wie  gerade  in  diesem 
akuten  Falle.  „Ich  hätte  wohl  gehofft,  dass  die  erste 
Erwähnung  der  Bühnen-Festspiele  im  deutschen 
Reichstage  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus 
und  in  anderer  Form  geschehen  würde!"  —  zumal 
dieses  schwer  anklagende  Wort  ihrer  öffentlichen  Aus- 


Digitized  by  Google 


412 


Wagneriana.    Bd.  III. 


spräche  können» wir  ihr  nur  lebhaftest  nachempfinden; 
und  das  ist  zugleich  der  point  <Vh<mneur  für  uns  Alle, 
bei  welchem  man  unbedingt  die  Sache  auch  des  Namens 
Wagner  energischest  wieder  einmal  vertreten  muss.0)  Hier 
dreht  es  sich  nicht  mehr  um  Privatangelegenheiten, 
sondern  um  ein  öffentliches  Testament,  ein  ideales 
Vermächtnis  Wagners  an  den  würdigen  Teil  unserer 
Nation,  und  um  die  rein  geistige  Seelen-  und  Herzens- 
angst einer  streng  gewissenhaft  denkenden  Witwe  und 
Erbin,  jene  Willensbestimmung  eines  genialen  Gatten 
durch  das  neue  Gesetz  ihren  Händen  dereinst  entwunden 
zu  sehen,  es  nicht  mehr  edel  und  lauter  —  nach  dem 
klaren  Wunsche  des  ihr  so  teueren  Verblichenen  —  vor 
der  Befleckung  mit  der  Welt  bewahren  zu  können.  Nicht 
mehr  nur  den  Schutz  von  50  Jahren  —  nein,  desto 
besser!  ■ —  eine  wirkliche  Ausnahmestellung  überhaupt 
des  aussergewöhnlichen  Werkes  eines  ausserordentlichen 
Ausnahme-Menschen  gilt  es  hier  zu  schaffen  und  dauernd 
zu  begründen.  Denn  dieses  hohe  Werk,  aus  ganz  anderen 
Bedingungen  erwachsen,  einem  ganz  anderen  Schosse 
als  dem  unserer  bestehenden  theatralischen  Opern- 
verhältnisse entstiegen,  es  hat  inmitten  dieser  unserer 
übrigen  Bühnen  m  i  s  s  Wirtschaft  —  lasst  uns  das  ruhig 
und  bestimmt  einmal  aussprechen:  nun  ein  für  alle  Mal 
rein  gar  nichts  weiter  zu  suchen.  Allerdings,  die  „Münchner 
Zeitung"  argumentierte  scheinbar  ganz  einleuchtend: 
„Die  grossen  Opernbühnen  der  Gegenwart  stehen  heute 
den  stilistischen  und  sonstigen  Forderungen  für  die  Auf- 
führungen speziell  der  späteren  Werke  Wagners  denn 
doch  schon  etwas  anders  gegenüber,  als  es  zu  jener 
Zeit  der  Fall  war,  da  Wagner  die  volle  Verwirklichung 
seiner  Absichten  nur  auf  einer  eigenen  Bühne  für 

•)  Vergl. hierzu  noch  den  Briefwechsel  zwischen  Bismarck 
und  R.  Wagner;  „Bayreuther  Blätter**  1901,  VII.  Stück. 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


413 


möglich  halten  konnte."  Hier  wird  jedoch  durchaus 
verkannt,  dass  es  sich  gar  nicht  mehr  um  das  Problem 
der  technischen  Vervollkommnung,  die  rein  »stili- 
stische" Frage  daran,  nur  handeln  kann,  sondern  dass 
es  der  besondere,  ein  völlig  anders  gearteter,  welt- 
fremder Geist  überhaupt  schon  ist,  was  die  Verpflanzung 
einer  Schöpfung  wie  des  „Parsifal"  an  die  anderen 
Bühnen  von  vornherein  völlig  illusorisch  macht,  was 
seine  Preisgabe  (nachdem  das  Missgeschick  mit  den 
„Nibelungen"  1876  sich  nun  schon  einmal  erfüllt  hatte) 
zu  einem  nationalen  Unglücke  vollends  machen  müsste. 
Des  zum  Beweise  darf  ich  hier  vielleicht  auf  Band  I 
meiner  soeben  erscheinenden  „Wagneriana"  verweisen. 
Wenigstens  möchte  ich  mich  doch  der  Hoffnung  hin- 
geben, dass  der  Leser  solchem  zusammen  fassenden 
„Wagner-Credo",  gerade  bezüglich  des  „Parsifal",  etwas 
wie  eine  Ahnung  jenes  ernsteren  Thatbestandes  wohl  ent- 
nehmen werde.  Ich  selber  teile  ja  heute  durchaus  nicht 
mehr  alle  die  darin  nieder  gelegten  Anschauungen;  allein 
dem  wird  man  sich  danach  kaum  mehr  entziehen 
dürfen:  dass  dieser  eigene,  toto  genere  von  der  „Welt" 
verschiedene  Geist  dort  als  besondere  Weltanschauung, 
als  eigenartige  Kultur  im  Ganzen  wirklich  vorhanden 
ist;  dass  er  nun  einmal  Bayreuths  ganz  aparte  Ideal- 
Sphäre  bildet  und  diese  Örtlichkeit  zugleich  auch  durchaus 
nötig  hat,  um  mit  solcher  Eindringlichkeit,  mit  dieser 
Ausdruckskraft,  eben  als  Ideal,  rein  und  lauter  auf  jene 
fremd  gesinnte  Welt  alsdann  zu  wirken. 

Anderseits  wieder  sollte  doch  gerade  ein  Blatt  wie  die 
„Münchner  Post"  über  die  künstlerisch  faulen  „Grund"- 
Voraussetzungen  eines  „Prinzregenten-Theaterbaues" 
füglich  besser  Bescheid  wissen,  als  dass  die  Hoffnungs- 
seligkeit noch  gerechtfertigt  erscheinen  dürfte,  wie  sie  sich 
dort  in  den  folgenden  Ekstasen  kürzlich  erst  noch  Luft 
gemacht  hat:  „Das  Bayreuth  Richard  Wagners  war'Mie 


Digitized  by  Google 


414 


Wagneriana.    Bd.  III. 


äusserste  und  letzte  praktische  Bethätigung  des  vom 
Meister  geschaffenen  Kunstwerkes  und  als  dessen  vor- 
bildlich wirkende  Manifestation  ideell  und  historisch 
berechtigt.  Sein  Wert  lag  im  Charakter  des  Führenden 
und  Vorbildlichen.  Nun  wohl,  dieses  Ziel  wäre  erreicht: 
Gefolge  ist  heute  da,  welches  das  in  Bayreuth  geschaute 
Vorbildliche  zu  noch  höherer  Vollkommenheit  (f) 
zu  fähren  bestrebt  ist  .  .  .  Das  Erbe  Bayreuths  und  des 
Bayreuther  Gedankens  zu  übernehmen,  seine  ursprünglich 
so  echte  Tradition  in  sich  lebendig  werden  zu  lassen, 
diese  hohen  Aufgaben  fallen  in  erster  Linie  dem 
Münchner  Prinzregenten-Theater  zu.  Das  Prinz- 
regenten-Theater ist  bekanntlich  die  erste  öffentliche 
deutsche  Bühne,  welche  nach  den  optischen  und 
akustischen  Reformen  Richard  Wagners  erbaut  ist.  Es 
ist  einfach  eine  Versetzung  des  Bayreuther 
Festspielhauses  nach  Bogenhausen.  Wird  nun 
der  Geist,  der  in  das  neue  Haus  zieht,  der  des  alten 
Wagner-Bayreuths  sein  —  und  die  selbstsichere 
Persönlichkeit  Hermann  Zumpe's  scheint  hiefür  wohl  zu 
bürgen  — ,  so  ist  hier  die  künstlerische  Stätte  geschaffen, 
wo  zum  ersten  Male  in  Deutschland  dem  Gedanken 
einer  Sezession  von  dem  Cosima-Siegfried-Bayreuth  mit 
innerer  Berechtigung  energisch  Ausdruck  gegeben  werden 
kann.44  —  Welch  Zwiespalt  der  Natur  und  im  eigenen 
Lager!  Hatte  es  doch,  etwa  um  die  selbe  Zeit,  an  der 
nämlichen  Stelle,  und  zwar  unter  der  Spitzmarke  „Nur 
Spekulation  l*  klar  und  unzweideutig  gelautet :  „Wer 
da  immer  noch  geglaubt  hatte,  das  berühmte  Konsortium 
»vornehmer  Herren4,  das  weit  draussen  bei  Bogenhausen 
mitten  in  das  ausgeziegelte  Brachland  hinein  einen 
modernen  Musentempel  baute,  sei  lediglich  von  lauter 
Begeisterung  für  die  Kunst  angespornt  worden,  was 
,dankend  anerkannt  werden  müsste',  wird  nun  gründlich 
eines  Besseren  belehrt.  Und  zwar  durch  den  Geschäfts- 


Digitized  by  LiOOQlc 


Die  Pflege  des  Erbes. 


415 


bericht  dieser  Terrain-Gesellschaft  selbst.  In  diesem 
Geschäftsberichte  wird  nämlich  ausgeführt,  dass  bis  jetzt 
mit  dem  Verkaufe  von  Bauplätzen  nichts  zu  machen  war. 
Von  der  bevorstehenden  Eröffnung  der  Prinz-Regenten- 
Brücke  und  der  Eröffnung  des  Prinzregenten-Theaters 
erwarte  man  sich  aber  eine  Belebung  der  Bau- 
thätigkeit  im  Osten  und  eine  vorteilhafte 
Verwertung  der  gesellschaftlichen  Grund- 
stücke." Und  dass  diese  Auffassung  der  Sachlage 
im  „Grunde"  auch  nur  die  richtige  ist,  das  bewiesen  uns 
gelegentlich  sogar  die  „M.  Neusten  Nachrichten",  als  sie  — 
leider  einzig  und  allein  nur  in  ihrer  diesjährigen  Faschings- 
nummer —  Herrn  von  Posart  durch  ein  solennes  Mani- 
fest über  absolut  nötige  Theater- Neugründungen  in 
München  parodierten,  als  welches  gar  vielsagend  auf  ein 
frommes  „Mit  Gott!"  wörtlich  hinaus  lief.  Darin  ver- 
mögen uns  also  auch  Protektions -Vereine  mit  glänzenden 
und  klangvollen  Namen  nicht  weiter  irre  zu  machen  . . . 

Im  übrigen  war  es  geradezu  unerhört,  wie  man  — 
schon  bei  den  Reichstagsverhandlungen  —  schlankweg 
immer  nur  von  dem  „Cosima-$"  des  neues  Urheberrechts- 
gesetzes zu  sprechen  sich  herausnahm.  Die  ganze  Ignoranz 
des  deutschen  Journalismus  wie  unseres  reichsdeutschen 
Parlamentariertums  gehörte  wohl  dazu,  vorzugeben  oder 
anzunehmen,  dass  lediglich  „res  Wagneriana  agüur"  in 
diesen  Fragen;  dass  um  eine  persönliche,  rein  interne 
Familienangelegenheit  des  Hauses  Wagner  nur  gespielt 
werde  bei  der  Forderung  einer  Ausdehnung  der  gesetz- 
lichen Schutzfrist  für  das  geistige  Eigentum,  von  30Jahren 
fortan  auf  einen  Zeitraum  bis  50  Jahre  nach  dem  Tode 
des  Urhebers.  Wer  beim  internationalen  Urheberrechts- 
kongresse zu  Dresden  seinerzeit  anwesend  war,  der 
weiss  es  seit  dem  Jahre  1805  schon,  dass  dort  diese 
Forderung  als  „Ziel  aufs  Innigste  zu  wünschen"  für 
alle   zivilisierten   Nationen    der  Berner  „Litteratur- 


Digitized  by  Google 


416 


Wagneriana.    Bd.  III 


Konvention"  bereits  entschieden  genug  ausgesprochen 
und  eingehend  begründet  worden  war.  Man  wird  sich 
also  im  „Volke  der  Denker  und  Dichter44  zuversichtlich 
wieder  einmal  bloss  gestellt  haben,  indem  man  sich  hier, 
entgegen  den  klaren  Ergebnissen  jenes  interessanten 
Kongresses  von  dazumal,  noch  jetzt  gegen  eine  solche 
Verbesserung  sperren  zu  sollen  glaubte.  Denn,  genau 
genommen,  sollte  man  doch  noch  viel  weiter  gehen 
und  müsste  eigentlich  nachgerade  schon  bei  der  An- 
schauung längst  angekommen  sein,  dass  kein  Mensch 
eigentlich  Veranlassung  habe,  sein  wohl  erworbenes  Besitz- 
tum der  Allgemeinheit,  statt  seinen  rechtmässigen  Leibes- 
erben, einfach  zu  verschenken,  so  lange  das  mit  den 
materiellen  Gütern  nicht  ganz  ebenso  gehandhabt  wird; 
dass  eine  Unterscheidung  zwischen  „leiblichem44  und 
„geistigem44  Eigentum  in  unserer  Gesetzgebung,  in  Form 
ganz  verschiedener  Behandlung  der  beiden  Materien,  eine 
völlig  unbillige  Zumutung  an  die  davon  betroffenen 
produktiven  Geister  und  deren  Nachkommen  noch  vor- 
stellt, die  alsbald  beseitigt  werden  muss;  dass  es  eine 
Schmach  ist  und  bleibt  für  das  geistige  Deutschland, 
wenn  Enkel  oder  indirekte  Abkömmlinge  Schillers, 
Herders,  Lortzings  etc.  etc.  —  bei  einer  „Schiller- 
stiftung44 oder  dergl.  heute  in  unserem  Lande  betteln 
gehen  müssen. 

Der  frühere  Intendant  von  Werther  hat  das  alles  in 
einem  „offenen  Schreiben'4  an  Frau  Wagner  bereits  klar  und 
einleuchtend  genug  als  Nonsens  der  Urheberrechtsfrage 
betont,  so  dass  wir  uns  dabei  nicht  lange  erst  aufzuhalten 
brauchen.  Und  wenn  gar  Herr  Ludwig  Hartmann  in 
Dresden  neuerdings  die  naive  Meinung  vertreten  möchte: 
dass  eine  aus  dem  Geisteswerk  gezogene  Rente  für  den 
Schöpfer  über  den  Zeitraum  von  30  Jahren  hinaus 
schon  deshalb  ungerechtfertigt  erscheine,  weil  auch  das 
grösste  Talent  nichts  allein  nur  aus  sich  habe,  sondern 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


417 


«ein  Können  der  Erziehung  im  weitesten  Sinne,  also 
wieder  den  „Mitmenschen  seiner  Zeit,"  verdanke  — 
nun,  so  liegt  hier  der  Trugschluss  doch  völlig  auf  der 
Hand;  so  ziehe  man  doch  auch  mit  dem  materiellen 
Eigentume  dann  die  entsprechenden  Konsequenzen,  denn 
kaum  Einen  dürfte  es  hier  geben,  der  sein  „Vermögen" 
zuletzt  und  in  gewissem  Sinne  nicht  auch  wieder  den 
„Mitmenschen  seiner  Zeit"  —  abgezogen  hat!  Was  wir 
heute  hier  sagen  wollten,  war  einzig  dies:  dass  es 
uns  —  selbst  beim  Mangel  einer  tieferen  Einsicht  in 
die  Berechtigung  solchen  Standpunktes  auf  Seiten  der 
Majorität  —  wirklich  gar  nicht  weiter  darauf  ankommen 
sollte,  für  einen  völlig  extraordinären  Fall  beherzt 
auch  einmal  eine  „Extrawurst**  von  Gesetz  zu  bean- 
tragen, für  das  Genie  nicht  die  platte  Norm,  sondern  die 
uns  selbst  ehrende  würdige  Ausnahme  auch  gesetz- 
lich zu  verlangen.  „Das  Plebiszit  als  Korrektiv  der 
Wahlen**!  Aus  den  80er  Jahren  erinnere  ich  mich 
deutlich,  einen  bezeichnenden  Aufsatz  dieser  Überschrift 
in  den  „Bayreuther  Blättern**  einmal  vorgefunden  zu 
haben,  aus  dem  mir  zum  ersten  Male  so  etwas  wie 
Ahnung  jener  höheren  Wahrheit  aufdämmerte  und 
entgegen  trat:  dass  nicht  die  „Majorität**  der  Nullen, 
sondern  vielmehr  die  Einer  an  sich  einen  Wert  für 
eine  Nation,  selbst  in  polüieis,  einmal  abgeben  können. 
Und  mittlerweile  sind  wir  durch  eine  Nietzsche  noch 
hindurch  gegangen  und  wahrlich  doch  in  diesen  Dingen 
nicht  gerade  prüder  geworden.  Also:  „In  der  That, 
ja!  —  Für  den  Ausnahme-Menschen  gehört  ohne  Zweifel 
auch  ein  Ausnahme-Gesetz!**  ...  so  beantworten  wir 
den  Entrüstungsruf  unserer  soulisant  „deutschen  Presse" 
auf  die  Frage:  „Wie?  Soll  denn  etwa  gar  um  eines 
Menschen  willen  allein  ein  ganzes  Gesetz  gemacht 
oder  nach  ihm  selbst  besonders  umgemodelt  werden?'* 
Von  den  „materiellen  Interessen"  Bayreuths  bei 
Seidl,  Wigneriana.    Bd.  III.  27 


Digitized  by  Google 


418 


Wagneriina.   Bd.  III. 


dieser  Gelegenheit  wieder  zu  reden,  kann  wirklich  nur 
mehr  einem  beifallen,  der  das  eben  nicht  besser  versteht, 
bedeutet  aber  eitel  Wortschwall  für  alle  diejenigen,  die 
nur  einmal  hier  »hinter  die  Kulissen"  geblickt  haben  und 
wissen,  was  wir  unter  dem  „Bayreuther  Festspielfonds"  im 
Ernste  zu  verstehen,  uns  zu  denken  haben.  Ein  solcher 
näher  Eingeweihter  könnte  höchstens  das  Eine  lebhaft  be- 
dauern, dass  sich  „Haus  Wahnfried"  in  diesem  Punkte 
gerade  der  Öffentlichkeit  gegenüber  seit  Jahren  eine  so 
stolze  Reserve  auferlegt  hat.  An  die  Familie  als  solche 
aber,  als  an  den  angeblich  „verantwortlichen"  Teil,  das 
Ansinnen  stellen:  die  Preise  der  Plätze  nicht  mehr  so 
hoch  zu  nehmen,  das  hiesse  den  Festspiel-Verwaltungs- 
rat  einfach  zur  Misswirtschaft  und  finanziellen  Un- 
verwaltung  verurteilen,  über  welche  dann  erst  recht  der 
Zeitungs-Mob  und  Journalisten-Pöbel  mit  seinem  losen 
Maule  herziehen  würde.  Denn,  es  ist  nun  einmal  leider  eine 
nicht  hinweg  zu  leugnende,  nackte  Thatsache:  ein  solches 
Festspiel  verschlingt  Unsummen!  Und  das  ist  gewiss: 
ebenso  wie  die  selbe  Meute,  die  sich  heute  eifernd  und 
hetzend  über  ein  „Bayreuther  Reservatrecht"  aufhält, 
später  —  wenn  der  „Parsifal"  unvermeidlich  dann  an  un- 
würdiger Stelle  auftreten  müsste  —  Zeter  und  Mordio 
über  solch'  „skandalöse  Profanation"  schreien  würde, 
ganz  ebenso  würden  just  die  selben  Leute,  die  heute 
geschmackvolle  Andeutungen  von  einer  „Bayreuther 
Beutelschneiderei"  sich  nicht  entgehen  lassen,  alsdann, 
wenn  es  dort  finanziell  einmal  krachte,  hämisch  auf 
den  heillosen  „Bankrott"  der  Sache  hinweisen  und  — 
was  die  Hauptsache  ist  —  ihrerseits  keinen  Finger  zur 
Sanierung  dieser  Dinge  mehr  rühren.  —  „Bayreuther 
Geschäftsgeist!"  Es  ist  wirklich  an  der  Zeit, 
einmal  völlig  reinen  Wein  darüber  einzuschänken, 
was  es  damit  im  letzten  Grunde  für  eine  Bewandtnis 
hat.   Richard  Wagner  erklärte  stolz  und  frei:  „Ich  ver- 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


419 


achte  die  Presse!"  Und  die  treuen  Hüter  seines  Erbes 
wie  Vollstrecker  seines  geistigen  Testamentes  halten 
eben  auch  in  diesem  wichtigen  Punkte  fest  an  der  un- 
verfälschten Tradition,  indem  sie  —  komme,  wer  da 
immer  wolle  —  grundsätzlich  keinerlei  Frei- 
karten für  die  Festspiele  an  Referenten  verabfolgen. 
Eine  illae  lacrimael  Darin  allein  schon  liegt  das  eigent- 
lichste, letzte  Geheimnis  so  mancher  jener  heftigen,  gegen 
das  Haus  Wagner  oder  die  Festspielleitung  hartnäckig 
inszenierten,  grossen  Presse-Fehden.  Man  darf  also 
den  Spiess  geradezu  umkehren:  Die  „schnöde  Gewinn- 
sucht", die  man  Villa  Wahnfried  als  innerste  Ge- 
sinnung imputiert,  ist  vielmehr  wohl  meist  die  innere 
Triebfeder  all  der  Schrei-Maschinen,  die  ein  Ernst 
von  Possart  z.  B.  im  entscheidenden  Momente  seiner 
„Festspiel"-Kampagne  so  fein  und  klug  zum  Schweigen 
zu  bringen  verstand.  Bayreuth  aber  hat  gegebenen 
Falles,  im  Bewusstsein  seiner  idealen  Position,  den 
starken  Mut,  diese  Presstreibereien  gegen  sich  los-  und 
ruhig  über  sein  Werk  ergehen  zu  lassen  —  Respekt 
darum  vor  diesem  künstlerischen  und  moralischen 
Bayreuth!  .  .  . 

Gewiss  hat  Wagner  selbst  sich  sein  „Deutsches 
Olympia"  wesentlich  anders,  beileibe  nicht  etwa  als  Stell- 
dichein der  zahlungsfähigen  Herren  Fremden  gedacht. 
Aber,  wenn  sich  das  als  ein  frommer  Wunsch  und  als 
ein  schöner  Wahn  noch  bei  Wagners  eigenen  Lebzeiten 
leider  heraus  stellte  —  wahrlich,  so  trägt  weder  der 
Meister,  noch  seine  Familie,  noch  der  Verwaltungsrat, 
sondern  das  viel  besungene,  weit  gerühmte  „deutsche  Volk44 
selber  ganz  allein  daran  die  Schuld.  Oder,  wer 
hinderte  denn  diese  gutmütige,  blöde  Herde  ehedem 
daran,  in  gleich  hellen  Scharen  herbei  zu  strömen  — 
wer?  wenn  nicht  seinerzeit  die  privilegierten  Leithammel, 
nämlich  eben  wieder  die  selbe,  jene  »Festspiele"  ihrem 

27« 


Digitized  by  Google 


420 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Volke  so  gründlich  vergraulende  Presse,  die  es  jetzt 
am  allernotwendigsten  hat,  das  „Haltet  den  Dieb!*  — 
oder  in  unserem  Falle:  „Bayreuth  ist  Ausländerei,  für 
uns  Alle  unzugänglich  und  schlechterdings  unerschwing- 
lich geworden  1 "  laut  in  die  Menge  hinein  zu  rufen. 
Und  wo  waren  denn  bei  uns  bisher  die  Damen  aus  den 
höchsten  aristokratischen  Kreisen,  die  zu  einem  Komitee 
zusammen  traten  (wie  uns  dies  aus  Frankreich 
soeben  wieder  gemeldet  wird),  um  strebsamen  jungen 
Kunstlern  die  Reise  nach  Bayreuth  zu  ermöglichen?!  — 
Nur  in  Einem  können  wir  Frau  Cosima  Wagner 
beim  allerbesten  Willen  nachträglich  leider  nicht  bei- 
treten, geschweige  denn  so  recht  von  Herzen  nun  zu- 
stimmen.   In  einer  Nachschrift  zu  jener  oben  an- 
geführten, gewichtigen  „Erklärung"  schrieb  die  verehrte 
Dame  nämlich  bald  darauf  noch  an  die  „M.  Neuesten 
Nachrichten":   „Den  Allgemeinen  Wagner-Verein 
betreffend,  so  habe  ich  diesem  durch  Baron  v.  Wol- 
zogen   mein   Schreiben    an  die   Herren  Reichstags- 
abgeordneten übermitteln  lassen,  da  ich  das  als  meine 
Verpflichtung   gegen    den   geschätzten  Verein 
hielt  und  ich  mich  auf  seine  tüchtige  Gesinnung 
verlasse,  um  mich  in  der  Schutzfrage  des  Parsifal 
nach  Kräften  zu  unterstützen."    Aber  wie  ist  mir's 
denn?    Wie  lautete  doch  gleich  die  Version  seinerzeit 
im  Jahre  1891,  welche  sich  in  einer  gewissen  General- 
versammlung bekanntlich  zu  einem  so  graziösen,  viel 
bemerkten  Denkzettel  der  „Frau  Meisterin*  an  die  be- 
treffenden Vereine  verdichtete?    Damals  klang  es  — 
und  mit  Recht  —  wie:  „Der  Mohr  hat  seine  Schuldig- 
keit nicht  gethan!"    Das  zum  Mindesten  also  wäre 
uns  doch  völlig  neu,  dass  Frau  Wagner  sich  nun  auf 
einmal  „auf  seine  tüchtige  und  bewährte  Gesinnung 
verlassen"  zu  können  glaubt,  ja  von  „Verpflichtung4' 
ihrerseits  gegenüber  diesem  Vereine  und  seinen  leitenden 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes.  421 


Männern  sogar  sprechen  will.  Wer  sich  eben,  wie  jener 
Verein  dazumal,  seine  natürliche  Autorität  widerspruchs- 
los-lammfromm in  solcher  Weise  untergraben  Hess,  der 
hat  heute  keine  mehr  bei  diesen  Kämpfen  in  die  Wag- 
schale zu  werfen  —  mag  er  gleich  in  rührender  Selbst- 
vergessenheit mit  Petitionen  an  Reichskanzler  und 
Bundesrat  wacker  voran  schreiten  wollen.  Nein,  nein 
—  eine  solch'  überlebte  Sache  lässt  sich  dann  nicht 
auf  einmal  wieder  galvanisieren;  eine  so  abgestandene 
und  verbrauchte,  skandalös  rückläufige  Organisation  wie 
jener  „Allgemeine  Deutsche  Wagner -Verein",  er  gehe 
nur  ruhig  vollends  den  wohlverdienten  Weg  alles 
Fleisches,  seiner  definitiven,  unaufhaltsamen  Auflösung 
möglichst  rasch  nun  entgegen!  Neue  Aufgaben  erfordern 
auch  neue  Bildungen.  Angesichts  einer  so  „brennenden" 
Frage  wie  der  Bayreuther  „Parsi  fal" -Angelegenheit 
erlaube  ich  mir  vielmehr  jetzt  einen  früheren  Vor- 
schlag (vergl.  „Allgemeine  Musik-Zeitung"  1898,  No.  35) 
auszugraben  und  einer  weiteren  Öffentlichkeit  nun- 
mehr erst  recht  nachdrücklich  wieder  zu  unterbreiten: 
„Wagner-Gesellschaft  —  nicht  Wagner-Vereine!" 
Dem  derzeitigen  konkreten  Bedürfnisse  entsprechend, 
müsste  diese,  nach  dem  Vorbilde  der  Goethe-  und 
Shakespeare -Gesellschaften  wie  der  Schiller -Stiftung 
in's  Leben  zu  rufende,  völlig  neue  Organisation  aller- 
dings die  „gesetzliche  Erhaltung  des  Parsifal  ausschliess- 
lich für  Bayreuth"  zunächst  einmal  zum  Hauptpunkte 
ihres  grossen  Arbeitsprogrammes  erheben,  praktisch 
mit  Energie  und  aller  Sachkunde  nach  dieser  Seite 
hin  vorgehen  und  jene  Bestrebungen  wenigstens  das 
erste  Jahrzehnt  hindurch  zum  bevorzugten  Hauptgegen- 
stand ihrer  durchgreifenden  Wirksamkeit  machen.  Volle 
12  Jahre  hat  es  ja  —  nach  dem  neuen  Gesetze  — 
damit  immer  noch  Zeit,  gottlob!  In  dieser  Frist  kann 
viel  geschehen;  und  bis  dahin,  mein*  ich,  sollte  eine 


422 


Wagneriana.    Bd.  III. 


neue  grosse  „Wagner-Gesellschaft"  das  vorgesteckte 
Ziel  doch  auch  erreichen  können.  Wer  ist  mit  mir 
der  selben  Meinung? 


Zum  25jährigen  Bestände  der  Bühnenfestspiele 

(1901) 

Das  erste  Festspiel  von  1876  und  das  letzte  vom 
laufenden  Jahre:  beide  schlössen  mit  einem  erkleck- 
lichen Defizit.  Nur  lag  dies  damals  daran,  dass  zu 
wenig  Festspielgäste  gekommen  waren,  während  das 
„Defizit"  diesmal  darin  bestand,  dass  offenbar  noch 
zu  wenig  Vorstellungen  gegeben  wurden,  so  dass  lange 
nicht  alle  Besucher  aufgenommen  werden  konnten  und 
sehr  Viele  ohne  Karten  wieder  abziehen  mussten.  Das 
bildet  immerhin  einen  ganz  erheblichen  Unterschied. 
Und  dergleichen  nennt  man  dann  eben:  „Jubiläum". 

„Wie  konntest  du  es  begeh'n?"  Ich  wusste  es 
nicht.  „Weisst  du,  wie  das  ward?**  Das  weiss  ich 
nicht.  „Weisst  du,  wie  das  wird?"  Das  weiss  ich 
nicht.  „Weisst  du,  was  du  sahst?"  Ich  weiss  es 
nicht.  „Das  weisst  du  alles  nicht!  —  Die  Namen 
denn,  die  heuer  dort  sangen?" ...  Ich  las  gar  viele, 
doch  weiss  ich  ihrer  keinen  mehr.  „Nun  sag'!  Nichts 
weisst  du,  was  man  dich  frägt:  jetzt  melde,  was  du 
weisst!  Denn  etwas  musst  du  doch  wissen."  Ich  hatte 
einen  Meister:  Richard  Wagner  er  heisst!  „Ein  guter 
Meister  —  doch  lang'  schon  tot;  wie  regelte  der  wohl 
des  Spieles  Gebot?"  Zarathustra  (als  Kundry  la  socrüre) 
dazwischen  rufend:  „Dein  Meister  ist  tot  —  dich  Thoren 
hiess  er  mich  grüssen!"  Das  lügst  du!!  (Ich  will  ihm 
wütend  an  die  Kehle.)  „Verrückter  Knabe!  ...  Er 
sagte  wahr;  denn  nie  lügt  Nietzsche,  doch  sah  er  viel." 
Ich  —  —  verschmachte!    „Was  also  ist  Bayreuth?** 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


423 


Das  sagt  sich  nicht ...  Nur  Ruhe  will  ich,  ach,  dem 
Müden!  —  Schlafen!  —  Oh,  dass  mich  keiner  wecke! . . . 
Nicht  doch!  —  Was  denn?  —  Ei,  werd'  ich  dumm? 

 Hailoh!  ich  glaube  wirklich,  ich   habe  einen 

schweren,  so  wüsten  als  wirren  Traum  da  eben  gehabt. 
Also  rasch,  den  Rest  von  Schlaf  aus  den  Augen  ge- 
rieben —  auf,  zur  Sache! 

Nun  denn:  Ich  habe  ein  Buch  über  den  „Modernen 
Geist  in  der  Tonkunst"  verbrochen,  bekanntlich  Nietzsche 
herausgegeben  und,  Dank  dem  liebenswürdigen  Entgegen- 
kommen des  Verlages  Schuster  &  Loeffler  in  Berlin, 
„Wagneriana *  (I)  veröffentlicht.  Und  zwar  habe  ich  die 
letzteren  schon  lange  Zeit  vor  dem  ersteren  nieder- 
geschrieben. Ich  war  am  „Nietzsche- Archiv*  zu  Weimar 
und  war  bei  den  Festspielen  in  Bayreuth.  Und  zwar  bin 
ich  bei  den  letzteren  auch  nach  meinem  Aufenthalt  am 
ersteren  wieder  gewesen.  Wie  reimt  sich  das  alles  wohl 
zusammen?  „Doch  ein  sonderbarer  Kauz,  dieser  Seidll u 
—  werden  nun  wohl  Manche  sagen.  Und  merkwürdig, 
ich  selber  komme  mir  nachgerade  sonderbar  genug 
dabei  vor;  denn  ich  kann  offenbar  nun  und  einmal 
nicht  lassen  von  der  „Wagnerei"  und  vermag  von  diesem 
„Zauberer"  beim  besten  Willen  nicht  wieder  los  zu  kommen. 
Mit  wahrer  Spannung  hab'  ich  die  Fahrt,  jetzt  nach 
einem  vollen  Lustrum  der  «Karenz«,  dorthin  wieder  an- 
getreten, mit  Frohlocken  und  Begeisterung  dem  „Ring" 
entgegen  gesehen,  mit  klopfendem  Herzen  den  neuen 
„Fliegenden  Holländer*  erwartet  und  mit  förmlicher 
Atembeklemmung  der  Erregung  und  der  Bängnis  (schon 
die  ganze  Zeit  meines  dortigen  Aufenthaltes  vorher) 
ordentlich  darauf  gepasst,  wie  zumal  der  „Parsifal", 
dieses  früher  so  tief  mir  in's  Herz  gewachsene  Mysterium, 
jetzt  auf  dem  Boden  meiner  neuen  Erkenntnis,  auf  mich 
wirken  würde.  Wie  sagt  doch  Nietzsche?  «Was  mich 
nicht  umbringt,  macht  mich  stärker."    Es  hat  mich 


Digitized  by  Google 


424 


Wagneriana.    Bd.  III. 


aber  wieder  umgeworfen  —  einfach  nicht  in  mir  um- 
zubringen, dieser  Wagner  und  dieses  Werkt  Bin  ich 
darum  schon  schwächer  geworden  und  muss  mich  zum 
femininen  „Dekadenten"  vor  aller  Welt  also  offen  nun- 
mehr bekennen?  .  .  . 

Es  ist  hier  wohl  nicht  der  Ort,  diese  höchst  per- 
sönlichen Konfessionen  fortzusetzen  und  psychologische 
Analysen  für  die  Retorten  exakter  Wissenschaft  oder 
experimenteller  Spezialforschung  zu  liefern.  Ich  will 
es  auch  den  Bayreuther  „Gralshütern"  im  eigentlichsten 
Sinne,  deren  Horizont  noch  niemals  auch  nur  der  ge- 
ringste ketzerische  Gedanke  getrübt  hat  —  all  den  „im 
Glauben  seligen"  Trabanten,  Automaten,  Pagoden  etc. 
getrost  überlassen,  wieder  einmal  —  zum  so  und  so 
vielten  Male  —  den  alten  Gemeinplatz  vom  „Triumph 
des  Bayreuther  Gedankens0,  den  „Offenbarungen"  seines 
Stiles  und  der  hohen  „Weihe"  seiner  Kunstpflege,  zu  treten. 
Meine  heurigen  dortigen  Festspielerfahrungen  sind  von 
mancherlei,  zum  Teil  auch  recht  herben,  Enttäuschungen 
keineswegs  frei  geblieben,  und  vielleicht  darf  auch  auf 
mich  ein  ganz  klein  wenig  mit  zutreffen,  was  jüngst 
Leo  Berg  von  einer  gewissen  Klasse  ästhetisch  ver- 
anlagter Menschenkinder  ausgesagt  hat:  „Der  kleinste 
Mangel,  die  kleinste  Disharmonie  verleidet  ihnen  eine 
Sache;  alles  Fertige,  Erreichte  langweilt  sie  (wie  jeden, 
produktiven  Geist),  und  alle  Wiederholung  ermüdet  sie 
(wie  jeden,  der  selber  reich  ist)."  Es  handelt  sich  eben 
nur  um  ein  relatives  Urteil  in  der  Sache  —  bei 
Unsereinem  wenigstens,  der  frühere  Erlebnisse, 
höchste  Massstäbe  und  Vergleichspunkte,  bereits  dort- 
hin mitbringen  darf.  Nichts  Menschliches,  Allzu- 
menschliches aber  wissen  auch  wir  uns  fremd,  —  dank- 
erfüllten Herzens  hat  daher  auch  meine  Wenigkeit  ihr 
(wenigstens  20 jähriges)  Jubiläum  heuer  festlich  dort  be- 
gehen dürfen.  Und  gegenüber  einer  gerade  diesmal  wieder 


d  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


425 


ganz  unverantwortlich  vordringlichen  Bayreuth-Hetze, 
wie  dem  blindwütigen  Gekläff  einer  geradezu  widerlichen 
Pressmeute  scheint  mir  doch  hinreichender  Anlass  ge- 
geben, an  dieser  Stelle  auch  einmal  darauf  hinzuweisen, 
dass  selbst  eine  solch  unabhängig-freie  Anschauung  der 
Bayreuther  Dinge,  wie  ich  sie  eben  angedeutet  und  — 
ich  denke  —  selbst  wiederholt  bewiesen,  zu  wesentlich 
anderer  Auffassung  als  unsere  sogenannte  „öffentliche 
Meinung"  und  „litterarische  Kritik"  über  den  dortigen 
genius  loci  gelangt;  dass  sogar  ihr  es  hoch  an  der  Zeit 
erscheint,  ein  lautes  und  deutliches:  „Wagnerianer  aller 
Länder,  vereinigt  euch!"  und  „Gralshüter  ihr,  wahrt 
eure  heiligsten  Güter!"  in  sympathischem  Zurufe 
dorthin  erschallen  zu  lassen.  Ganz  in  Sonderheit  wird 
es  hier  —  schon  um  zu  zeigen,  welch  anderer,  grund- 
verschiedener Geist  da  herrscht,  und  wie  charakteristisch 
sich  ein  Bayreuth  vom  Getriebe  der  übrigen  „Welt" 
da  draussen  abhebt  —  gut  sein,  einmal  wie  von  un- 
gefähr einzelne  markante  Typen  dieses  Bayreuther  Unter- 
schiedes auch  klar  heraus  zu  heben.  Man  mag  diesem 
Geiste  treue  Gefolgschaft  leisten  oder  aber  ihm  auf 
Grund  individueller  Lebensgesetze  und  neuer  Zukunfts- 
ideale als  ritterlich-vornehmer  Widersacher  gelegentlich 
trotzend  entgegen  stehen  —  aber  verleumden  soll  und 
darf  man  ihn  wenigstens  nicht  ungestraft!  Und  wenn 
irgendetwas,  so  ist  doch  ein  derartiges  J  u  b  i  1  ä  u  m 
wahrlich  die  geeignete  Gelegenheit,  solch'  ernste  Prüfung 
anzustellen  und  mit  einer  gerechten  Anerkennung 
zu  Gunsten  der  Sache  als  solcher  auch  nicht  zu  kargen. 

Denn  —  frei  heraus  mit  der  Sprache!  Was  ist 
es  wohl:  Person  oder  Sache,  wenn  man  nirgends, 
in  keiner  illustrierten  Zeitschrift,  keinem  Schaufenster 
und  keinem  Kunstladen,  ein  Konterfei  von  Frau 
Wagner  zu  sehen,  geschweige  denn  zu  kaufen  be- 
kommt? (Das  von  Otto  Greiners  Meisterhand  auf  Stein 


Digitized  by  Google 


426 


Wagneriana.   Bd.  III. 


gezeichnete  für  die  spezielleren  Kunstliebhaber  einzig 
ausgenommen.)  Und  wenn  die  Welt  noch  niemals,  auch 
anlasslich  dieser  Jubelfeier  nicht,  von  irgend  welcher 
äusseren  Dekoration  dieser  überragenden  Frau  gehört, 
vielmehr  gerade  diesmal  von  ihrer  ausdrücklichen,  ent- 
schiedenen Ablehnung  solcher  Firlefanzereien  deut- 
lich vernommen  hat,  als  welche  auf  „Kinder  der  Welt" 
sonst  doch  einen  so  grossen  Eindruck  zu  machen  pflegen? 
—  Sodann:  Handelt  es  sich  um  „Geschäfte"  oder 
„Ideale",  wenn  die  Familie  Wagner  weder  Überschüsse 
noch  Tantiemen  aus  den  Bayreuther  Festspielaufführungen 
in  die  eigene  Tasche  steckt  (wie  der  geschmackvolle  Aus- 
druck lautet),  sondern  alles  hübsch  haushälterisch 
immer  zu  einem  Festspielfonds  auch  der  mageren  Jahre 
fli essen  lässt?  Und  wenn  dementgegen  die  selbe  Familie 
Wagner  für  etwaige  besondere  Repräsentationskosten  eines 
Jahres  ihrerseits  sogar  noch  persönlich  aufkommt?  —  Soll 
es  ferner  als  E  i  g  e  n  n  u  t  z  oder  als  P  i  e  t  ä  t  gelten,  wenn 
Frau  Wagner  die  deutsche  Öffentlichkeit  flehentlich  be- 
schwört, wenigstens  den  „Parsifal"  durch  ein  Aus- 
nahme-Gesetz 50  Jahre  bis  nach  dem  Tode  des  Urhebers 
jener  Bayreuther  Bühne  zu  erhalten,  indem  sie  dazu 
in  aller  Form  noch  hoch  und  heilig  erklärt,  dass  sich 
diese  Schutzfrist -Erweiterung  ja  nicht  auf  alle  Werke 
des  Meisters  zu  erstrecken  brauche  und  die  Erben  nach 
1913  dann  ja  gerne  auf  alle  Tantiemen  verzichten 
wollten  —  alles  aus  reiner  Herzensangst  und  edelster 
Pflichterfüllung  eben,  um  das  geistige  Testament  des 
Schöpfers  von  Bayreuth  auch  treulich  halten  und  wahren 
zu  können?!  —  Und  wie  sollen  wir  es  wohl  nennen: 
blassen  „Konkurrenz-Neid"  oder  aber  doch  „Idealismus", 
wenn  Angehörige  des  „Allg.  Richard  Wagner -Vereines" 
heuer  in  besonderer  Sammlung  eine  Jubiläums- 
Spende  von  über  20000  Mk.  zum  Ankaufe  von  Frei- 
karten für  deutsche  Unbemittelte  neben  dem  laufenden 


Digitized  by 


Die  Pflege  des  Erbes. 


427 


„Stipendien -  Fonds"  zusammen  gebracht  hatten?  So 
also  und  nicht  anders  hat  man  in  Wagnerianer-Kreisen 
still  und  bescheiden,  aber  nachhaltig  und  vornehm, 
sein  Bayreuther  Jubiläum  würdig  begehen  zu  müssen 
geglaubt,  und  es  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen, 
dass  zuletzt  doch  nur  einer,  der  zu  dieser  Stiftung  etwa 
beigetragen,  sich  das  Recht  zugleich  erworben  hätte, 
seine  Stimme  im  grossen  Entrüstungssturme  gegen  so- 
genannte „Bayreuther  Zustände"  mit  gutem  Gewissen 
zu  erheben.  Aber  merkwürdig,  gerade  von  diesen, 
hierzu  allenfalls  berufenen  Leuten  hat  man  keinen  Ein- 
zigen unter  jenen  Schreihälsen  —  mit  ihrem  albernen, 
weil  ganz  missverständlichen:  „Los  von  Bayreuth!"  — 
gefunden.  —  Und  auch,  wenn  der  Verwaltungsrat 
der  Bühnen festspiele  die  Eintrittskarten  zum  „Ring**  seit 
Jahren  nur  für  alle  vier  Abende  zusammen  ausgiebt 
—  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dies  als  wenig  fairen 
Geschäftskniff  dann  verschrieen  zu  sehen  — ,  werden 
wir  Einsichtsvolleren  dies  als  „Beutelschneiderei"  ihm 
auszulegen  vermögen?  Ganz  abgesehen  noch  davon, 
dass  es  einen  ganz  eigenartigen  und  seltenen  Reiz  für 
sich  hat,  als  gleichheitliches  Kunstpublikum,  mit  immer 
den  gleichen  Nachbarn,  Vor-  und  Hintermännern,  in 
gemeinsamem  Erleben  während  vierer  Abende,  zu  aller- 
edelstem  Kunstgenüsse  gleichsam  einmal  zusammen 
zu  wachsen,  wir  also  alle  Ursache  haben,  jenem  als 
Geniessende  dafür  gerade  dankbar  zu  sein  —  ganz 
abgesehen  davon,  muss  es  doch  zum  Mindesten  i  rgen  d  - 
wo  auf  dieser  Welt  eine  sichere  Stätte  geben,  da  man 
durch  äusseren  Zwang  ein  Mal  sich  an-  und  fest- 
gehalten sieht,  die  grandiose  Tetralogie  streng  nach  dem 
Willen  und  der  Absicht  ihres  Schöpfers  auch  als  ein 
ganzes  Werk  „festlich"  zu  empfahen. 

Weiterhin:  In  der  ganzen  Welt  hört  man  immer 
von  den  Bayreuther  „Muster- Aufführungen 44  fabeln.  Der 


Digitized  by  Google 


428 


Wagneriana.    Bd.  III. 


wahrhaftige  „Bayreuther*' weiss  das  aber  längst  weit  besser. 
Er,  der  auch  kaum  je  vorher  nach  dem  Personen- 
verzeichnisse, auf  den  Theaterzettel  des  Tages,  sieht 
(von  welchem  die  Berichte  unserer  offiziellen  Herren 
Referenten  desto  voller  strotzen),  weil  es  ihm  hier 
grundsätzlich  mehr  auf  das  grosse  Ganze  als  auf  den 
—  wenn  auch  noch  so  hoch  stehenden  —  virtuosen  Ein- 
zelnen ankommt:  er  seinerseits  spricht  in  der  Regel 
lediglich  von  „Festspielen " ;  denn  e  r  kennt  ihre  natürlichen 
Unvollkommenheiten  und  die  leidigen  Zufälle  sehr  genau, 
an  deren  Ausgleich  dort  um  so  unablässiger  stets  weiter 
gearbeitet  wird.  Er  weiss  ganz  ebenso  aber  auch,  dass  sie 
auf  dem  Boden  der  dortigen  Praxis  und  Kultur  ihn 
aus  allem  Alltag,  aller  Routine  und  Schablone  mit 
Macht  jederzeit  heraus  heben  und  in  freiere  Höhen  zu 
rein  menschlicher  Freude  je  und  je  empor  tragen,  da  sie 
denn  durchaus  veränderten  Bedingungen  hier  entspriessen. 
Es  giebt  in  ganz  Deutschland  keine  Bühne,  welche  die 
Müsse  von  10  Monaten  besässe,  um  (einmonatliche) 
Aufführungen  einzig  nur  von  3 — 4  Werken  vorbereiten 
zu  können !  —  Und  mit  dem  entgegen  kommenden  Auf- 
schliessen  der  Bayreuther  Pforten  zu  Gunsten  der  ebenso 
zahlungsfähigen  als  fixen  p.  t.  Herren  Fremden,  auf 
Kosten  unserer  lieben  guten  Deutschen  —  wie  steht 
und  verhält  sich's  wohl  damit?  „Bayreuth  existiert  ja 
nur  mehr  für  die  Ausländer!"  .  .  .  Man  lese  die 
feine  Argumentation  eines  so  vortrefflichen  Kenners 
der  Verhältnisse,  als  Hans  von  Wolzogen,  wie  sie  jüngst 
unter  der  Überschrift  „Fünfundzwanzig  Jahre  Bayreuth" 
im  „Türmer"  zu  finden  war.  Dieses  kühne  Wort  näm- 
lich geht  „um  unter  den  Deutschen,  die  uns  so 
lange  im  Stich  gelassen  hatten.  Ja,  sollte  man 
sie  denn  abweisen,  wenn  sie  kamen  (diese  Auländer)? 
Sollte  man  sie  etwa  noch  durch  Zurücksetzung  bestrafen, 
weil  sie  als  Erste  der  Erkenntnis  freien  Ausdruck  ge- 


Die  Pflege  des  Erbes. 


429 


geben,  dass  Bayreuth  ein  einzigartiges  Merkmal  deutscher 
Art  und  Kunst  sei?  Wenn  aber  nun  einmal  jemand 
im  stolzen  Bewusstsein  seiner  Geburt  als  Deutscher, 
nachdem  er  sich  reichlich  spät  zum  Besuche  von 
Bayreuth  entschlossen,  gerade  den  Platz  nicht  mehr 
erhalten  kann,  den  er  sich  ausgedacht  hat:  den  siebenten 
Platz  in  der  sechsten  Reihe  rechts,  aber  mit  angenehmen 
deutschen  Nachbarn  auf  beiden  Seiten  und  vorn  und 
hinten,  dann  klagt  er  laut  und  hell  den  Verwaltungsrat 
an,  es  würden  ihm  zahllose  Ausländer  vorgezogen 
—  neuerdings  meist  ^Engländer',  denn  das  klingt  noch 
niederträchtiger !"  .  .  .  Nachweisbar  80°/0  aller  Eintritts- 
karten wurden  in  diesem  Jubeljahre  an  Deutschland 
ausgegeben.  Nur,  seltsamer  (und  doch  auch  erfreulicher) 
Weise,  für  den  „Ring*  gerade  hatte  sich  das  Verhältnis 
zu  Gunsten  der  Fremdländer  wieder  etwas  verschoben. 
Wozu  also  noch  immer  der  Lärm  ?  „Was  steht  den 
Herrn  zu  Diensten?" 

Endlich  darf  vielleicht  noch  zur  einleuchtenden 
Schluss-  und  Gesamt-Charakteristik  von  „Bayreuther  Art 
und  Kunst"  hier  sehr  wohl  dienen  eine  bezeichnende 
Stelle  aus  dem  Schreiben  eines  (leider  bereits  ver- 
storbenen) ungemein  feinfühligen  und  reich  gebildeten 
Kunstkenners,  Conrad  Fiedler  mit  Namen,  das  dieser 
nach  den  Neu-Einstudierungen  des  „Tannhäuser"  und 
„Lohengrin"  zu  Bayreuth  voll  Ernst  und  Wärme  an  einen 
skeptischen  Freund  gerichtet  hatte  und  das  ebenfalls 
wieder,  wie  so  manches  andere  Dokumentarische,  in  den 
bewussten  „Bayreuther  Blättern"  seine  erste  Veröffent- 
lichung gefunden  —  von  welchen  es  überhaupt,  und  erst 
recht  wieder  aus  Anlass  dieses  Jubiläums,  das  auch  ihre 
Jubelfeier  bedeutet,  heissen  darf:  sie  sollten  fleissiger  ge- 
lesen und  weniger  getadelt  sein.  Fiedler  also  schildert  da, 
aus  den  damaligen  Erlebnissen  heraus,  seine  Eindrücke 
des  aller  übrigen  Theaterwelt  gegenüber  so  völlig  ab- 


Digitized  by  Google 


430 


Wagneriana.    Bd.  III. 


seitigen  Bayreuther  Wesens  wie  neuartigen  Festspiel- 
geistes —  und  zwar  sehr  anschaulich  folgendennassen : 
.Sie  werden  unzweifelhaft  von  der  wundervollen 
Inszenierung  .  .  .  und  wahrscheinlich  auch  von  der 
nicht  ganz  genügenden  Besetzung  .  .  .  reden  hören. 
Beides  trifft  zu  und  hat  doch  so  gar  nichts  zu  thun  mit 
dem,  was  an  der  hiesigen  Aufführung  .  .  .  merkwürdig 
ist.  Es  hat  sich  wieder  einmal  die  alte  Erfahrung  be- 
stätigt, dass  das  Publikum  dem  Neuen,  das  ihm  geboten 
wird,  vollkommen  ratlos  gegenüber  steht;  und  ob  es  von 
der  Kritik  gut  beraten  wird,  erscheint  mir  mindestens 
zweifelhaft.  Es  kann  mich  ganz  unglücklich  machen, 
wenn  ich  Worte  wie  Inszenierung  und  Regie  auf 
Bayreuth  anwenden,  wenn  ich  die  Leute  vom  Ballett, 
.  .  .  von  der  Pracht  der  Dekorationen  und  der  Echtheit 
der  Kostüme  schwärmen  höre."  (Es  giebt  nur  leider 
zumeist  keine  anderen  Worte  dafür  in  der  Fachsprache 
—  und  daher  diese  allgemeine,  heillose  Verwirrung  der 
Begriffe  in  allem,  was  Bayreuth  angeht!  D.  Ref.)  „Es 
ist  nämlich  ganz  unmöglich,  mit  diesen  Requisiten  der 
Theatersprache  das  zum  Ausdrucke  zu  bringen,  was  die 
dortige  Aufführung  thatsächlich  über  die  Sphäre  der 
gewohnten  theatralischen  Vorführungen  weit  hinaus  hebt. 
Ich  kann  nicht  anders  sagen,  als  dass  hier  eine  Art  von 
künstlerischer  Gestaltung  des  Bühnen  Vorganges  vorliegt, 
wie  ich  sie  noch  nicht  erlebt  habe.  Wenn  der  gewohnte 
Theaterbesucher"  (Habitue!  D.  Ref.)  „Vergleiche  anstellt, 
wenn  er  vieles  besser  findet  als  auf  den  stehenden 
Bühnen,  manches  besser  gesehen  und  gehört  zu  haben 
meint,  so  beweist  er  damit,  dass  ihm  dasjenige  nicht 
nahe  getreten  ist,  wodurch  das  dort  Geleistete  als  ganz 
unvergleichlich  mit  allem  erscheint,  was  auf  unseren 
Bühnen  überhaupt  möglich  ist.  Wem  aber  das  offen- 
bare Geheimnis1  der  dortigen  Vorführung  aufgegangen 
ist,  der  wird  davon  so  sehr  gefesselt  sein,  dass  ihm 


Die  Pflege  des  Erbes. 


431 


alles  Andere,  wofür  er  in  sonst  Gesehenem  und  Ge- 
hörtem einen  Massstab  der  Vergleich ung  besitzt,  doch 
nur  als  untergeordnet  vorkommen  muss.  Dieses  Ge- 
heimnis der  Gestaltung  besteht,  um  es  kurz  zu  sagen, 
darin,  dass  das  auf  der  Bühne  sichtbar  Geschehende 
derartig  mit  der  Musik  verbunden  ist,  dass  aus  beiden 
ein  vollkommen  einheitliches  Ganzes  entsteht"  .  .  . 

„Wenn  man  sich  fragt,  wie  es  möglich  wird,  in 
Bayreuth  etwas  zu  erreichen,  was  sonst  kaum  erstrebt 
wird,  so  genügt  es  nicht,  auf  die  besonderen  hier 
waltenden  Verhältnisse,  auf  die  ungewöhnliche 
Begabung  hinzuweisen,  der  sich  hier  alle  ausführenden 
Kräfte  unterordnen.  Diese  Begabung  steht  selbst  im 
Dienste  viel  höherer  Eigenschaften,  die  man  im  besten 
Sinne  des  Wortes  moralische  nennen  mag.  Woran 
scheitert  gemeiniglich  jedes  Streben  ?  Warum  sieht  man 
grosse  Veranstaltungen  zu  kläglichen  Resultaten  führen? 
Es  sind  im  Grunde  Jämmerlichkeiten,  denen  das  Wichtige 
zum  Opfer  fällt.  Nicht  die  Sache  ist  es,  um  die  es 
sich  handelt ;  nur  zu  oft  ist  sie  nur  dazu  da,  dass  Talent- 
und  Gesinnungslosigkeit  und  damit  allerhand  Eitelkeiten 
und  Interessen  Spielraum  gewinnen.  Daraus  folgt  das 
Nachgeben,  das  Kompromisse  -  Schliessen,  das  Sich- 
begnügen mit  dem  Annähernden,  dem  Mittelmässigen. 
In  dieser  Verstrickung  geht  jede  Möglichkeit,  zu  einem 
Guten  zu  gelangen,  verloren;  es  entsteht  jenes  Schein- 
wesen, das  auf  allen  Gebieten  herrscht,  jenes  schein- 
bar Gute,  welches  recht  eigentlich  das  Schlechte  ist. 
Hier  nun  ist  der  feste,  unbeugsame  Wille  da,  wirklich 
und  wahrhaftig  Ernst  zu  machen.  In  den  Dienst  dieses 
höchsten  sachlichen  Idealismus  stellt  sich  die  Begabung. 
Alles  fällt  als  nichtig  ab,  was  sonst  die  Denk-  und 
Handlungsweise  der  Menschen  zu  bestimmen  pflegt; 
das  Interesse  der  Sache  ist  das  einzig  Massgebende. 
Indem  an  ihm  mit  einer  nicht  um  eines  Haares  Breite 


Digitized  by  Google 


432 


Wagneriana.   Bd.  III. 


nachgebenden  Energie  fest  gehalten  wird,  indem  es  allem 
entgegen  gehalten  wird,  was  von  dem  geraden  Wege  zum 
Ziele  ablenken  könnte,  wird  es  möglich,  die  Knecht- 
schaft jenes  Scheinwesens  abzuschütteln  und  zu  der 
freien  Wahrhaftigkeit  durch  zu  dringen,  in  der  nur  die 
echten  Werte  Geltung  haben.  —  Mag  nun  auch  das 
Beispiel  dieser  Aufführungen  so  wenig  eine  unmittel- 
bare Nachfolge  haben  wie  frühere  Aufführungen,  un- 
berechenbar ist  doch  die  Wirkung,  die  von  hier  aus- 
geht. Nicht  in  dem  Interesse  der  Bühne,  nicht  in  dem 
Interesse  der  Kunst  erschöpft  sich  die  Wichtigkeit  dessen, 
was  hier  gethan  wird.  Welchem  Thätigkeitskreise  der 
Einzelne  angehören  mag,  zu  welchen  Zielen  ihn  sein 
Streben  treibt,  er  wird  sich  an  dem,  was  er  hier  erlebt, 
stärken  und  aufrichten  können,  wenn  er  nur  den  Geist 
zu  erkennen  vermag,  in  dem  hier  gewirkt  und  geschaffen 
wird."  .  .  . 

Gerne  haben  wir  das  an  dieser  Stelle  wörtlich 
zitiert,  schon  weil  solche  Grundlinien  einer  Bayreuther 
„Umwelt"  auch  heute  noch  durchaus  sich  bewähren,  das 
will  sagen :  mutati»  mutanti*  sogar  unmittelbar  auf  die 
diesjährige  Neu-Inszenierung  (oder  richtiger  „Neu-Ge- 
staltung  ex fumlamento*)  des  «Fliegenden  Holländer* 
sich  wieder  übertragen  Hessen.  Wobei  überdies  noch 
hervor  zu  heben  wäre,  dass  diesmal  Siegfried  Wagner 
mit  der  mise-en-ichne  des  Drama's  sein  sehr  respektables 
Gesellenstück  geliefert  hat.  — 

Es  hat  nach  alledem,  und  eben  auch  darum,  so- 
zusagen keinen  moralischen  Zweck,  hier  die  Geschichte 
des  Werdeganges  dieser  Bayreuther  Festspiele  mit  allen 
ihren  Hindernissen  und  schweren  Nöten  breitspurig  im 
Einzelnen  noch  weiter  beschreiben  zu  wollen.  Das  alles 
haben  Karl  Heckel  (Berlin,  bei  S.  Fischer),  Houston 
St.  Chamberlain  (m  Bayreuther  Bl. u)  und  Hans  von  Wolzogen 
(a.  a.  O.)  weit  besser  und  erschöpfender  schon  geschildert, 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


433 


als  ich  es  hier  zu  thun  vermöchte.  Man  mag  es  getrost 
nur  auch  nachlesen;  denn  man  kann  sehr  viel  daraus 
lernen,  wovon  unsere  „Presse"  niemalen  Auskunft  giebt  — 
ja,  worüber  sie  sich  sogar  grundsätzlich  ausschweigt. 
Und  ebenso  erübrigt  es  sich  wohl,  hier  auf  Wagners 
eigene  Angaben  über  den  „Fliegenden  Holländer"  als 
„Einakter",  Musik  und  Drama  (Bd.  I,  IV,  V,  VII,  IX 
der  „Ges.  Sehr."),  und  auf  Liszts  glänzende  Ausführungen 
dazu  (Bd.  III,  1  der  „Ges.  Sehr.*)  besonders  zurück 
zu  kommen,  oder  auch  nur  auf  die  „Holländer"-Mono- 
graphieen  von  Dr.  Fr.  Stade,  Edm.  v.  Hagen,  W.  Broesel, 
Oskar  Eichberg,  Hans  v.  Wolzogen,  Prof.  Dr.  W.  Golther, 
Heintz,  Nohl,  Schure,  Pasqu6,  John,  Dr.  v.  d.  Pfordten, 
Wossidlo,  Hartogensis  etc.  des  Näheren  noch  erst  ein- 
zugehen. Aber  so  viel  ist  natürlich  sicher,  dass  nur 
derjenige,  der  das  Alles  kennt  und  sich  innerlichst  zu 
eigen  gemacht  hat,  wirklich  und  ernstlich  hier  mitreden 
sollte.  In  der  That  war  der  gute,  alte  —  um  nicht  zu 
sagen:  abgetakelte  —  „Holländer"  für  diesmal  gleichsam 
das  „Ereignis  der  Saison":  in  seiner  interessanten  Zu- 
sammenziehung zumal  auf  einen  Akt  just  die  richtige 
„Nouveaute",  um  im  Journalisten-Jargon  einmal  zu  reden. 
Aber  er  war  doch  nur  das,  nach  aller  intimeren  Vor- 
kenntnis der  gegebenen  Situation  durchaus  erwartete 
und  dortselbst  ganz  ohne  Weiteres  auch  zu  gewärtigende 
„Ereignis",  also  schon  mehr  das  Bayreuther  Erlebnis, 
das  sich  Keiner  von  uns  schenken  wollte,  noch  entgehen 
lassen  durfte:  schon  zu  lebendiger  Ergänzung  und  zeit- 
gemässer  Vervollständigung  von  unser  Aller  persönlicher 
Anschauung  des  „Bayreuthes  nach  25  Jahren". 

Freilich  war  ja  nun  wieder  voraus  zu  sehen,  dass 
man  auf  der  ganzen  Linie  alsdann  auch  sagen  würde: 
damit  habe  nunmehr  das  letzte  der  Wagner'schen  Werke 
nach  Bayreuth  endlich  „heim  gefunden".  Aber,  mit 
Verlaub  1  Das  letzte  Werk  bliebe  in  diesem  Sinne  doch 
Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  28 


Digitized  by  Google 


434 


Wagneriana.   Bd.  III. 


immer  erst  —  der  „Rienzi".  Seine  strahlend-blech- 
gepanzerte Instrumentation  einmal  aus  verdecktem 
Orchester  zu  vernehmen,  möchte  vielleicht  doch  selbst 
ernsten  Bayreuthern,  und  gerade  ihnen,  eine  Reihe 
neuer  Gesichtspunkte  eröffnen  können;  und  nicht  ohne 
guten  Grund  stand  just  in  den  w Bayreuther  Blättern" 
dereinst  (aus  Ed.  Reuss'  kundiger  Feder)  ein  höchst 
instruktiver  Aufsatz  über  die  allein  korrekte  Inszenierung 
des  Werkes  wie  namentlich  der  grossen  Ballett-Pantomime 
darin  —  Beweis  genug,  dass  es  auch  hier  sehr  wohl 
eine  Bayreuther  Tradition  der  Bühnendarstellung  geben 
mag,  die  es  erst  noch  als  Schatz  zu  heben  und  in  neue 
Werte  umzusetzen  gälte.  Oder  aber  wäre  jener  „Rienzi" 
für  die  Weihe  des  Bayreuther  Hauses  schliesslich  doch 
nicht  edel  genug?  Nun,  ich  meine:  den  edlen,  hoch- 
sinnig-fortreissenden  Zug  im  Wagner  des  „Rienzi"  be- 
streiten, hiesse  ihn  bei  ihm  überhaupt  in  Abrede  stellen 
und  also  füglich  vollkommen  aus  seinem  Schaffen  elimi- 
nieren wollen.  Anderseits  wieder  wird  man  sich  unter 
Vorurteilslosen  darüber  klar  sein  dürfen,  dass  von  so 
mancher  scri-disant  „schlechten  Musik"  in  jenem  Erstlings- 
werke des  grossen  Erfolges  Stellen  wie  das  „Wie,  hör' 
ich  recht?"  Dalands,  oder  die  bekannten  fatalen  Cavatinen 
Eriks,  zumal  wenn  sie  aus  dem  berühmten  „mystischen 
Abgrunde*  des  Bühnenfestspielhauses  erklingen,  auch 
nicht  mehr  allzu  weit  dann  entfernt  sind.  Einzig  nur 
der  Umstand,  dass  es  sich  dort  (beim  „Rienzi")  um 
bühnengerechte,  rein  litterarische  „Bearbeitung"  einer 
gegebenen  Buch-Vorlage  zu  einer  historischen  Oper, 
hier  aber  (im  „Fliegenden  Holländer")  bereits  um  eine 
selbständige  Sagendichtung  nach  Erlebnis  handelt  — 
somit  in  letzter  Instanz  wieder  des  Meisters  eigener 
Ausspruch,  dass  er  hier  zuerst  den  völlig  neuen  Boden 
einer  eigenen  Dramendichtung  auf  mythischem  Grunde 
beschritten,  stände  jenem  Unterfangen  allenfalls  entgegen. 


Digitized  by  Google 


Die  Pflege  des  Erbes. 


435 


Übrigens  ist  mir  aufgefallen,  dass  man  durchweg 
nur  immer  davon  lesen  kann,  wie  Wagner  die  Vertiefung 
des  Motives  mit  der  Erlösung  des  Holländers  durch  die 
Treue  eines  Weibes  —  von  Heinrich  Heine's  be- 
kannter „Salon"-Erzählung  bereits  übernommen  habe. 
Das  ist  aber  doch  nur  mm  grano  sali*  richtig,  und  jener 
Zug  bei  einem  Heine  ohne  Zweifel  durchaus  als  ironische 
Schluss-Pointe  aufzufassen.  Wenn  hier  Heine  sagt: 
„Der  unheimliche  Holländer  muss  bis  zum  jüngsten 
Tag  auf  dem  Meere  umherirren  —  es  sei  denn,  dass 
er  durch  die  Treue  eines  Weibes  erlöst  werde",  so  geht 
schon  aus  dem  unmittelbar  nachfolgenden:  „Der  Teufel, 
dumm  wie  er  ist,  glaubt  nicht  an  Weibertreue",  sowie 
aus  der  späteren,  gellenden  Lache  auf  die  Worte:  „Treu 
bis  in  den  Tod!"  zur  Evidenz  hervor,  dass  das  bei  dem 
Verfasser  der  „Memoiren  des  Hrn.  v.  Schnabelewopski" 
lediglich  den  Sinn  haben  sollte:  „Da  mag  er  denn 
lange  nach  fragen  und  kann  wohl  bis  an's  Ende  der 
Welt  suchen  gehen!"  Also  ein  echt  Heine'scher 
Persiflage- Witz.  Hier  bedeutet  somit  die  Wendung 
bei  Wagner  doch  ein  Neues  —  den  vollen  germanischen 
Ernst  der  Sache  und  die  volle  deutsche  Vertiefung, 
kurz  den  entscheidenden  Schritt  gleichsam  von 
Paris  zurück  nach  der  „Heimat".  Und  nun  weiss  ich 
auch,  warum  es  mir  ein  solch  „Vergnügen  eigner  Art" 
bereitet  hat,  unmittelbar  vor  Beginn  der  Bayreuther 
„Holländer"-Vorstellung,  unter  der  rasselnden  Wagen- 
auffahrt der  Gäste  mit  all  ihrem  flirt  und  frou-frou,  in 
der  Restauration  auf  dem  Festspielhügel  droben,  die 
„Pariser  Amüsements"  des  Schriftstellers 
R.  Wagner  (W.  Freuden feuer)  wieder  zu  lesen,  wie  sie 
im  „Bayreuther  Taschenkalender*4  (1893)  —  nebenbei 
bemerkt:  auch  so  ein  Möbel,  das  leider  keine  Seele 
kennt!  —  nach  der  Lewald'schen  „Europa"  höchst 
dankenswert  seinerzeit  neu  heraus  gegeben  worden  waren. 

28* 


Digitized  by  Google 


436 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Der  darin  so  fein  beschriebene  „Besuch  bei  Scribe" 
eröffnet  für  die  damalige  Periode  in  Wagners  Leben 
und  Schaffen,  das  Um  und  Auf  seiner  Probleme  wie 
die  Psychologie  seiner  eigenen  Entwicklung  um  jene 
Zeit,  wahrlich  mehr  Perspektiven  als  ein  volles  Dutzend 
„Holländer-Kommentare . . . 

Von  der  einzelnen,  zufälligen  Vorstellung  zu  sprechen 
hat  eigentlich  wenig  Sinn.  Wir  verzichten  hier  auch 
lieber  darauf,  und  höchstens  liesse  sich  ganz  allgemein 
die  Frage  aufwerfen,  warum  man  bei  der  Zusammen- 
ziehung des  Werkes  in  eine  Handlung  die  Zwischen- 
gardine, und  nicht  lieber  Wassernebel  und  Wandel- 
dekorationen, vorgezogen  hat.  War's  wohl  eine  Finanz- 
Frage?  Hingegen  bliebe  vom  „Nibelungenring" 
(II.  Zyklus  dieses  Festspieles  —  den  ersten  dirigierte 
Hans  Richter,  er  selbst  viel  gefeierter  Jubilar  des 
Festspieles  von  1876!)  noch  zu  erwähnen,  dass  im 
„Rheingold"  zwar  Frische  in  der  Temponahme  und 
rhythmische  Straffheit  sehr  angenehm  berührten  und 
die  Gesamtleistung  am  zweiten  Abend,  in  der  „Walküre", 
sogar  einen  erfreulich  hohen  Grad  künstlerischer 
Vollendung  erreichte,  aber  im  weiteren  Fortgange  des 
Spieles  Jung-Siegfrieds  und  Jung- Wagners  Dirigenten- 
Kräfte  sich  den  Aufgaben  des  gigantischen  Werkes  eben 
doch  noch  nicht  in  dem  Masse  gewachsen  zeigten,  dass 
die  bekannten  Höhepunkte  der  Partitur:  wie  Schmiedelied, 
Brünnhildens  Erwachen,  Hagens  Aufruf  der  Mannen, 
Trauermarsch  und  Schlussszene,  zur  gewohnten  vollen 
und  unverblassten  Wirkung  gelangt,  in  plastischer 
Steigerung  so  recht  ausgestaltet  erschienen  wären. 
Kein  vernünftiger  Mensch  wird  es  Siegfried  Wagner 
übel  nehmen,  wenn  er,  der  mit  der  Inszenierung  des 
„Fliegenden  Holländer"  bereits  ganz  Erkleckliches  ge- 
leistet, in  seinem  Alter  das  Riesenwerk  der  „Nibelungen" 
noch  nicht  mit  voller  Reife  zu  bewältigen  vermag  —  das 


Digitized  by  Gc 


Die  Pflege  des  Erbes. 


437 


sind  eben  zugleich  Lebens-  und  Er fahrungs fragen.  Wir 
gönnen  ihm  von  ganzem  Herzen  jede  gründliche,  und 
zumal  streng  Bayreuthische  „Schule"  für  die  gesunde  Ent- 
wicklung seines  ausgesprochen  vorhandenen  Direktions- 
Talentes,  glauben  aber  nicht,  dass  Bayreuth  und  ein 
„Nibelungen"-Jubiläum  der  rechte  Ort  zu  Experimenten 
für  Novizen  jenes  Amtes  seien.  Höchstens  bei  den 
Proben  könnte  man  sich  dort  ja  wohl  den  Luxus 
leisten,  ihn  sich  seine  Sporen  auf  diesem  besonderen 
Felde  verdienen  und  ihm  die  durchaus  wünschens- 
werte Förderung  in  angemessenen  Grenzen  angedeihen 
zu  lassen.  —  Für  die  Dresdener  Akquisition  der  Frau 
Wittich  (als  Sieglinde  und  Kundry)  würden  wir  unser- 
seits gern  eine  solche  des  Frl.  Huhn  als  Fricka  und 
Waltraute  in  Tausch  genommen  haben.  Wahrlich,  wir 
pflegen  sonst  die  Festspielleitung  mit  derlei  weisen,  un- 
massgeblichen Ratschlägen  zur  schwierigen  Besetzungs- 
frage zu  verschonen.  Allein  dieses  hartnäckige  und 
systematische  Übergehen  einer  genialen  Darsteller- 
Persönlichkeit  wie  Charlotte  Huhn  am  dortigen  Orte 
reizt  unseren  Widerspruch,  und  dergl.  thut  uns  immer 
leid  —  für  Bayreuth.  Ganz  unvergleichlich  stimmungs- 
voll gelingt  und  ein  hinreissendes,  wahrhaft  ideales 
Bühnenbild  zeitigt  nunmehr  die  Wasserszene  auf  dem 
Grunde  des  Rheins  —  eine  Meisterleistung  zuletzt  des 
Maschinenmeisters  Kranich,  auch  eines  der  ver- 
dienten Getreuen  von  1876. 

Alles  in  Allem  und  trotz  Alledem  wieder:  nicht 
ein  —  vielmehr  das  „Dokument  deutscher  Kunst" 
bedeutet  uns  noch  immer,  und  bleibe  noch  für  recht 
lange,  das  Bayreuth  Richard  Wagners! 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben 


L  Pollini  f 

(1897) 

«Gebet  Acht. 

Das  ist  der  Eumeniden  Macht!" 

(Schiller.  „Kraniche  <L  Ibykus**) 

„Pollinopolis"  liegt  hinter  uns  —  die  „Aera 
Pollini"  hat  durch  den  raschen  Tod  des  Theater- 
gewaltigen ein  jähes  Ende  genommen  und  ist  nunmehr 
abgeschlossen.  —  Das  ehrliche  Bangen  um  den 
rechten  Ersatz  in  der  Hamburger  Lokalpresse,  es  hatte 
aber  nur  einen  Sinn,  wenn  wir  annehmen,  dass  der 
Hamburger  instinktiv  bei  diesem  Todesfall  empfand,  wie 
sein  im  Grunde  merkantiler  Geist  (genius  loci!)  eigent- 
lich einen  industriellen  Bühnenleiter  als  das  ihm 
Adäquate  und  Kongeniale  im  Stillen  voraus  setzt,  und 
dass  im  Falle  Pollini,  geb.  Baruch  Pohl,  eben  ein  also 
gerichtetes  Bedürfnis  den  entsprechenden  Mann  und 
das  geeignete,  zugehörige  „System"  seiner  Zeit  gefunden 
hatte.  Sonst  kann  man  ja  nicht  eben  sagen,  dass  das  von 
dem  »grossen  Handelsmann  des  Nordens"  inaugurierte, 
grosskapitalistische  Bühnen -Monopol  der  Kunst  als 
solcher  von  besonderem  Vorteile  gewesen  sei.  Was  hier 
die  offiziellen  Nekrologe  offiziöser  Trauerredner  so 
emphatisch  „Opfer"  nennen,  die  der  Verstorbene  dem 
Glänze  seiner  Oper  oft  gebracht  und  gar  niemals  ge- 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben. 


439 


scheut  habe,  es  war  zuletzt  doch  nur  immer  eine  plan- 
volle Kapitalanlage. 

Die  offiziellen  „Nekrologe"!  —  In  der  (leider  wieder 
eingegangenen)  SchrempFschen  Zeitschrift  „ Die  Wahrheit*1 
stand  einmal  eine  recht  lehrreiche  Betrachtung  zu  lesen. 
Es  handelte  sich  um  das  innere  Erlebnis  eines  harm- 
losen Menschenkindes,  das  zufällig  dem  Leichen- 
begängnisse eines  ihm  Unbekannten  angewohnt,  alle 
die  würdevollen  Trauerreden  am  offenen  Grabe  mit  an- 
gehört, hernach  in  den  Lokalblättern  die  überaus 
ehrenden  Nachrufe  alle  durchgelesen,  und  all  dieses 
schmerzliche  Gehaben  im  guten  Glauben  für  bare 
Münze  genommen  hatte,  um  hinterher  erst  durch  einen 
intimer  Eingeweihten  die  schwarze  Kehrseite  dieser  so 
gleissenden  Medaille  und  damit  die  ganze  Verlogenheit 
unseres  öffentlichen  Daseins  tiefer  und  näher  kennen 
zu  lernen.  An  diese  Geschichte  fühlte  man  sich  ganz 
unwillkürlich  sehr  lebhaft  auch  erinnert,  wenn  man  die 
Hamburger  Abendblätter  vom  27.  November  zur  Hand 
nahm.  Diese  lokalen  Pollini-Nachrufe  troffen  ordentlich 
von  Ruhmestiteln,  Ehrenämtern  und  Dekorationen  des 
zwar  plötzlich,  aber  doch  nach  seinem  Leiden  nicht 
mehr  ganz  unerwartet  Abgeschiedenen;  sie  ertönten  von 
Lobespsalmen  mit  Triumphposaunen  ob  seiner  hohen 
Verdienste  um  das  Hamburger  Theaterleben  und  fanden 
es  offenbar  ganz  natürlich,  dass  die  Erdenreste  dieses 
Mannes  unter  den  erhabenen  Klängen  —  der  Siegfried- 
Trauermusik  aus  der  Wagnerischen  „Götterdämmerung11 
zu  Grabe  getragen  wurden!  Wir  haben  aber  vor  Zeiten 
einmal  die  blutig  ernst  gemeinte  Broschüre  eines  ge- 
wissen (mittlerweile  als  unfreiwillig  Verbannter  in  der 
freien  Schweiz  gleichfalls  verstorbenen)  Pohle  sorgfältig  von 
Anfang  bis  zu  Ende  durchgelesen:  eine  Broschüre,  deren 
ganze  Widerlegung  in  ihrer  ausgiebigsten  Konfiskation 
alsbald  nach  Erscheinen  bezw.  in  der  Verurteilung  ihres 


Digitized  by  Google 


440 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Verfassers  £weil  er  sich  über  einen  Polizeirat  eine  un- 
vorsichtige Äusserung  hatte  entschlüpfen  lassen)  bestand, 
—  und  für  uns  war  Bernhard  Pollini  wie  sein  höchst  frag- 
würdiges System,  um  nicht  zu  sagen :  seine  Theater- 
misswirtschaft, von  Stund'  an  ein  für  alle  Mal  gerichtet. 
Oberaus  bezeichnend  für  die  landesübliche  Leisetreterei 
in  dieser  Frage  und  die  offenkundige  Beschönigung  ist 
aber  nun  auch  die  Thatsache,  dass  hierbei  mit  keiner 
Silbe  Erwähnung  mehr  geschieht  jenes  kurzen,  doch  echten 
und  wirklich  künstlerischen  Glanzpunktes  in  dieser 
nahezu  fünfundzwanzigjährigen  Theaterregierung,  welcher 
sich  unter  dem  Namen  „Hans  v.  Bülow"  zusammen  fassen 
lässt  und  noch  heute  in  der  Bülow-Büste  des  Theater- 
foyers sein  Denkmal  hat.  Dass  überdies  Pollini  (später 
ausgezeichnet  bewährte)  Kräfte  in  seinem  Rahmen  und 
bei  seiner  Art  des  Betriebes  künstlerisch  gar  nicht 
einmal  zu  plazieren  verstand,  das  lehrte  doch  auch 
seiner  Zeit  der  »Fall"  Weingartner  und  Mahler,  die  bei 
ihm  frohnende  Kapellmeisterdienste  gethan  haben.  Ham- 
burg hätte  genau  das  selbe  haben  und  geniessen  können, 
dessen  sich  jetzt  z.  B.  Wien  in  so  vollem  Masse  auf- 
blühend an  seiner  Hofoper  erfreut,  wenn  anders  es 
Herrn  Pollini  eben  nur  auch  gefallen  hätte.  Statt  dessen 
wird  nun  der  Verstorbene,  mehr  menschlich  wohl- 
wollend im  Grunde  denn  geschichtlich  nachweisbar, 
als  herkulischer  Auskehrer  eines  Kunstaugiasstalles  ge- 
feiert! 

Anderseits  wieder  dürfte  der  vornehme  „Deutsche 
Bühnenverein"  ganz  offen  und  unverhohlen  jetzt  wie 
von  einem  Alpdrucke  befreit  aufatmen,  blieb  es  doch 
nachgerade  ein  beschämend  Schauspiel,  zu  sehen,  wie 
rücksichtslos  dieses  sein  vielgewandtes  „Ehrenmitglied" 
hervorragende  Kräfte  seinen  eigenen  Herren  Kollegen 
im  Amte  durch  strahlende  Versprechungen  und  völlig 
übertriebene  Gagen  für  seine  besonderen  Privatzwecke 


Falsche  Erben.  441 


gar  oft  weg  zu  kapern  verstand,  ohne  dass  sich  auch  nur 
einmal  eine  scharfe  Stimme  im  engeren  Rate  selbst 
gegen  diesen  Unfug  der  Abspenstigmacherei  erhob  und 
den  Theater-Pascha  samt  seinen  Titeln  und  Ehrenzeichen 
einfach  aus  diesem  gentlemen-Kreise  hinaus  kom- 
plimentierte. „Schon  Viele  hat  er  uns  verdorben!"  — 
München  weiss  ja,  wie  Dresden  auch,  manch  Liedlein 
davon  zu  singen.  Nur  einmal  freilich  sollte  doch  auch 
e  r  seinen  Meister  finden  —  und  zwar  an  der  resoluten 
Frau  Schumann  -  Heinck,  die  eines  Tages  An- 
gesichts der  Berliner  Begeisterung  für  ihre  Person  den 
günstigen  Zeitpunkt  für  gegeben  fand,  um  an  ihren 
Herrn  und  Peiniger  Klingsor  auch  einmal  mit  der 
„Schraube"  in  aller  Freundschaft  heran  zu  treten.  Man 
erzählt  sich  allerlei  lustige  Anekdoten  von  ihrem 
raffiniert  stipulierten,  chikanösen  Kontrakte  mit  ganz 
exorbitanten  Paragraphen ;  u.  A.  auch  folgende  Episode, 
von  der  es  wohl  heissen  darf,  dass  —  falls  sie  schon 
dem  Wortlaute  nach  nicht  in  jedem  Zuge  richtig  sein 
sollte  —  sie  doch,  das  „Regime  Pollini*  zu  charakterisieren, 
auf  alle  Fälle  sehr  gut  erfunden  wäre:  weshalb  sie  denn 
auch  hier  als  „Denkwürdigkeit"  ihre  Stelle  finden  möge. 
Als  nämlich,  so  berichtet  man,  Frau  Schumann-Heinck 
mit  all  ihren  feinen  und  groben  Klauseln  bei  ihrem 
Theatergebieter  angerückt  kam,  soll  dieser,  einen  Blick 
in  das  bewundernswert  schlau  aufgebaute  Elaborat  hinein- 
werfend, nur  einfach  die  Gegenfrage  an  seine  erste 
Altistin  gerichtet  haben :  „Sagen  Sie  einmal,  liebe 
Frau,  mit  welchem  Rechtsanwalt  arbeiten  Sie  denn 
eigentlich?"  —  worauf  diese,  schlagfertig  und  nicht 
eben  zungenfaul,  wie  man  sie  ja  kennt,  rasch  versetzt 
haben  soll:  „Mit  gar  keinem,  Herr  Hofrat;  aber  ich 
bin  nun  sieben  Jahre  bei  Ihnen,  und  da  lernt  man's!" 

War  übrigens  doch  ein  überaus  „genialer**  Bühnenleiter, 
dieser  vielfach  dekorierte  „Hofrat"  Pollini,  wenn  anders 


Digitized  by  Google 


442 


Wagneriana.    Bd.  III. 


beim  Theaterdirektor  gewiegter  industrieller  Spürsinn 
und  geschäftlicher  Blick,  der  sich  mit  groteskem  An- 
stand ganz  gelegentlich  auch  „künstlerisch"  gebärdet, 
solche  Genialität  begründen  darf!  Ging  man  nämlich 
den  dunklen  Spuren  seines  eigenartigen  „Mysterien- 
bühnen"-Systems,  („vom  Himmel  durch  die  Welt 
zur  Hölle"),  d.  h.  seiner  überaus  findigen  Drei- 
teilung des  ihm  unterstellten  „Bühnen-Grossbetriebes": 
in  Hamburger  und  A  1 1 o n a e r  „Stadt"-,  sowie 
„Thalia-Theater",  einmal  recht  aufmerksam  nach,  so 
konnte  man  nicht  umhin,  sein  vielseitiges  Geschick 
zur  Abwechslung  auch  aufrichtigst  zu  bewundern:  wie 
er  da  die  verschiedenartigsten  Interessen  mit  einem 
soliden  Anschein  von  Kunstwürde  zu  vereinigen  und 
so  schliesslich  ganz  Hamburg  seiner  Kasse  tributpflichtig 
zu  machen  verstand.  Soviel  steht  fest:  dieses  Theater- 
monopol war  vom  Obel.  Aufsaugung  durch  wachsenden 
Grossbetrieb,  Ringbildung  und  alles,  was  damit  zu- 
sammen hängt  —  was  haben  diese  Merkmale  einer  un- 
gesunden wirtschaftlichen  Entwicklung  in  der  hehren 
Kunst  zu  suchen?  Die  wahre  Muse  lebt  und  gedeiht 
in  der  persönlichen  Individualisierung;  das  eigentliche 
Element  ihres  Spieltriebes  ist  Dezentralisation.  Zumal 
im  niederdeutschen  Norden  mit  seiner  ausgeprägten, 
selbständigen  Eigenart  sollte  man  sich  das  gesagt  sein 
lassen! 

Neben  so  manchen  Missständen,  die  jedes  der- 
artige „Monopol"  mit  sich  zu  führen  pflegt,  traten  aber 
noch  andere  Merkwürdigkeiten,  nicht  zuletzt  auf  Grund 
jener  eigenartigen  Triangel-Gliederung,  recht  charakte- 
ristisch im  Pollini'schen  Theaterdienste  zu  Tage.  Wie 
nämlich  seine  Kapellmeister  nicht  Abende  einheitlich, 
sondern  Opern  im  Mischmasch,  oft  zu  Dritt  in  einer 
Vorstellung  neben  einander,  darum  aber  auch  fast 
jeden   Abend  zu  dirigieren  hatten,    so    brachte  er 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben. 


443 


schliesslich  auch  eine  ganz  seltsame,  nur  in  Hamburg 
eingebürgerte  Verteilung  der  Theater-Referate  —  nicht 
etwa  nach  Kunstgattung  und  Genre,  vielmehr  nach 
Bühnen-Rayons  und  Theater-Sprengeln  —  im  Zwangs- 
verfahren sozusagen,  bei  der  ortsansässigen  Presse  zu 
Wege,  welch  letztere  überdies  an  den  sogenannten 
„Theater-Redaktionsplätzen"  ein  Ärgernis  gefunden  zu 
haben  schien  und  sich  ihren  Sitz  in  jedem  einzelnen 
Falle  hier  zu  Lande  selber  bar  bezahlte.  Um  so  be- 
fremdlicher nur,  dass  diese  also  „unabhängige"  Presse, 
mit  ganz  verschwindenden  Ausnahmen,  zu  gewissen 
„genialen"  Transaktionen  des  skrupellosen  Freibeuters 
„jenseits  von  gut  und  böse"  dann  immer  so  beharrliches 
Sttillschweigen  beobachtete. 

Was  indessen  diese  „Herrennatur"  mb  specie comoediae 
sich  auch  eingebrockt  haben  mochte  im  Laufe  der  Jahre  und 
der  Zeiten  —  war  eine  vernichtende  Anklage  gegen  seine 
Theaterwirtschaft  in  Broschürenform  wider  ihn  er- 
schienen; hatte  er  mit  Frau  Klafsky  (bezw.  sie  mit 
ihm)  Skandal  gehabt,  oder  München  durch  rücksichts- 
loses Wegschnappen  seiner  gefeierten  Ternina  gerade  be- 
sonders gereizt;  war  er  mit  einem  Theaterreferenten 
klagbar  aneinander  geraten,  den  er  brüsk  des  Hauses 
verwiesen,  trotzdem  dieser  seinen  Sitz  rechtmässig  er- 
worben; oder  aber  wollte  er  Wien  und  seinem  „Busen- 
freunde" Mahl  er  die  Ehre  ein  wenig  beschneiden,  mit 
Smetana's  „Dalibor"  oder  Tschai kowsky's  „Eugen  Onegin" 
anderen  Bühnen  mutig  voran  gegangen  zu  sein:  was  es 
auch  sein  mochte,  immer  fand  er  im  „Berliner  Börsen- 
Courier"  seinen  unerschütterlich  sattelfesten  „Moniteur", 
dessen  offiziöse  Lobrednerei  und  offizielle  Liebedienerei 
die  moralische  oder  künstlerische  Mohrenwäsche  mit 
ebenso  heiligem  Eifer  als  geradezu  unbezahlbarem 
Scharfsinn  besorgte  und,  indem  sie  unter  den  glücklich 
wieder  geretteten  „Ehrenmann"  ihr  „Qm.  erat  dem."  als- 


Digitized  by  Google 


444 


Wagneriana«    Bd.  III. 


dann  immer  setzte,  viel  zur  Erheiterung  der  anregungs- 
bedürftigen Zeitungs-Menschheit  beigetragen  hat.  Dass 
hier  eine  ganz  bestimmte  geheime  Verbindung  mit  dem 
Hamburger  Theaterbureau  vorlag,  das  sollte  sich  auch 
beim  jähen  Hinscheiden  noch  erweisen,  bei  welcher 
Gelegenheit  besagter  „Börs.-Cour."  den  Tod  bereits  am 
27.  November  morgens,  noch  vor  irgend  einem 
Hamburger  Blatte,  zu  melden  in  die  Lage  kam.  — 
So  hat  denn  nun  also  »Direktor  Tod",  gewaltiger 
als  alle  Theatergewaltigen  zusammen,  auch  hier  sein 
gewichtiges  Machtwort  gesprochen,  und  der  täuschende 
Scheintod  der  Bretter,  welche  sonst  die  Welt  vor- 
spiegelnd nur  „bedeuten0,  ist  da  wieder  einmal  ernste 
Wahrheit  geworden.  Leider  aber  wird  sich  —  nehmt 
ihr  alles  nur  in  Allem  —  nicht  eben  behaupten  lassen, 
dass  dieses  Leben,  so  viel  es  mit  dem  Ideal  und  der 
Schönheit  auch  zu  thun  haben  mochte,  als  ein  besonders 
schönes  und  ideales  verlaufen  sei.  »Wo  viel  Licht,  da 
ist  auch  viel  Schatten**  —  so  musste  selbst  der 
„Hamb.  Korresp."  in  seinem  kurzen  Gedenkartikel,  leise 
andeutend,  schliesslich  doch  zugeben,  und  charakteristisch 
für  die  künstlerische  Tendenz  des  „Systemes  Pollini" 
ist  ja  auch  eine  den  „Hamburger  Nachrichten"  zu  ent- 
nehmende, unbeabsichtigt  scharf  kontrastierende  Gegen- 
überstellung von  Nekrolog  und  Referat  über  die 
„Meistersinger"-Vorstellung  seines  letzten  Lebens- 
abends, welcher  der  Verblichene  noch  persönlich  an- 
gewohnt haben  soll:  beide  aus  zwei  ganz  verschiedenen 
Federn.  Während  sich  nämlich  noch  vor  Kurzem  die 
Theaterdirektion  auf  ihre,  durch  die  1000.  Wagner- 
Aufführung  angeblich  statistisch  bezeugte,  „Kultur- 
mission" ihres  Regime's  in  puncto  Wagner  ordentlich  etwas 
zu  Gute  that  (obwohl  doch  eine  gewissenhafte  Geschicht- 
schreibung in  diesem  ganzen  Zeiträume  nur  eine  völlig 
strichlose  Vorstellung  zu  verzeichnen  fand),  tritt  die  Natur 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben. 


445 


eben  dieser  hohen  „Kulturmission"  jedenfalls  in  eine  recht 
eigentümliche  Beleuchtung,  wenn  hier  Ferdinand  Pfohl, 
ohne  von  dem  mittlerweile  eingetretenen  Ableben  noch 
irgend  welche  Ahnung  zu  haben,  in  den  schweren  und 
tiefen  Seufzer  ausbrechen  muss:  „Wo  ist  der  Becher  mit 
Lethe,  der  uns  das  Wunde  und  Traurige  dieser  Auf- 
führung vergessen  macht?  Die  ,Meistersinger*  wurden 
uns  gestern  in  einer  Verwahrlosung  geboten,  gegen 
die  wir  uns  energisch  zur  Wehre  setzen  .  .  .  Ein  witziger 
Mann  meinte,  die  Vorstellung  wäre  recht  gut  gewesen, 
wenn  sie  nur  einer  anderen  Besetzung,  eines  anderen 
Orchesters,  eines  anderen  Chores,  anderer  Ausstattung 
und  anderen  Theaters  sich  zu  erfreuen  gehabt  hätte. 
Nun,  in  der  witzigen  Übertreibung  steckt  leider  viel 
des  Wahren.  Das  eigentlich  Schlechte  dieser  Aufführung 
verknüpfte  sich  indessen  weniger  mit  Einzelheiten  als 
vielmehr  mit  dem  Ganzen,  über  das  der  Theater- 
schlendrian, der  ärgste  Feind  des  künstlerischen 
Geistes,  sein  Szepter  schwang."  Liest  man  weiter 
im  Text,  wie  schaudervoll  dieser  Wagner- Abend  aber 
auch  in  seinen  Einzelheiten  noch  verlaufen  sein  muss, 
dann  klingt  es  grausam  und  unbarmherzig  Angesichts 
der  Trauernachricht,  in  unmittelbarster  Konfrontierung 
mit  dem  die  Thaten  des  Theaterleiters  rühmenden,  dicht 
davor  stehenden  „Nachrufe".  Trotzdem  ist  es  doch  nur 
wahrheitsgetreu  und  sachgemäss:  dort  rein-menschliche 
Tageschronik,  hier  die  unbestechliche  Geschichte  —  eine 
innerlich  den  Geist  erschauern  machende  „Nemesis"  zu- 
gleich, dass  dieser  Abend  gerade  der  Abschluss  jenes 
mehr  merkantilen  als  ästhetischen  Lebens  sein  sollte. 
„Denn  alle  Schuld  rächt  sich  auf  Erden!"  .  .  . 


Digitized  by  Google 


446 


Wagneriana.    Bd.  III. 


2.  Münchner  Theater-Zauber*) 

(1901) 

..Prachtvoll  prahlt 
der  prangende  Bau!" 

(R.  Wagner,  ..Rheingold'4.) 

Eine  Zeitschrift)  die  ihrem  Namen  wirklich  Ehre 
machen  will,  (»aus  der  Zeit  —  für  die  Zeit  —  gegen 
die  Zeit")  darf  nicht  nur  immer  post  festum  reden; 
sie  muss  auch  einmal  ante  festum  zu  sprechen  kommen. 
Ja,  sie  darf  sich  sogar  gelegentlich  nicht  scheuen,  mit 
höchst  unbequemen,  aber  pflichtbewussten  Betrachtungen 
sich  ad  festum  einzufinden.  Wofür  wäre  sie  sonst  wohl 
„ unabhängig "?  Wofür  hätte  ihr  verantwortlicher  Heraus- 
geber denn  Nietzsche  studiert  und  sich  dabei  ein  für  alle 
Mal  geschworen,  dass  bei  ihm  die  „öffentliche  Meinung* 
nicht  mehr  nur  den  Ausdruck  der  „privaten  Faulheiten  " 
vorstellen  solle?  —  In  solcher  heiklen  Lage  also  befinden 
wir  uns  —  leider!  —  heute,  da  wir  die  unmittelbar  be- 
vorstehende, jedenfalls  sehr  feierlich  verlaufende  Er- 
öffnung des  neuen  „Kunst-Tempels"  auf  der  Bogen- 
hausener Höhe  „unweit  München"  zu  unserem  leb- 
haftesten Bedauern  mit  einem  Missklang  zu  begrüssen 
haben;  da  wir  das  schöne,  erhebende  bezw.  sich  über- 
hebende „Spiel"  dort  oben  vor  Allem  mit  einem  ernst- 
lichen Ersuchen  schon  zu  allem  Anfang  gleichsam  „ver- 
derben" müssen.  Unsere  hier  anzubringende,  dringende 
Vorstellung  nämlich  geht  dahin: 


•)  Nachfolgender  Aufsatz  lag  als  Begrüssungsartikel  zur 
Eröffnung  des  neuen  Münchner  „Prinzregenren-Theaters4*  für 
die  „Gesellschaft44  schön  bereit,  als  dieser  Zeitschrift  ganz  uner- 
warteter Weise  die  bekannte,  meisterhafte  Satire  „Auf  drehbarer 
Bühne"  von  Josef  Ruederer  zur  Veröffentlichung  aus  diesem 
Anlass  angeboten  wurde.  Natürlich  konnte  zu  deren  Gunsten 
gern  auf  den  Abdruck  obigen  Artikels  an  genannter  Stelle  damals 
verzichtet  werden.  DerVerfasser. 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben 


447 


Man  möge  gefl.  allerwege  hübsch  beim  Namen 
»Prinzregenten-Theater*  bleiben  und  nicht  auf 
einmal  nun  von  einem  „Wagner-Theater"  faseln 
wollen  —  wozu  wirklich,  innerlich  wie  äusserlich, 
keinerlei  erfindliche  Veranlassung  noch  Berechtigung 
vorliegen  kann.  Wäre  doch  dieses  (nämlich  König  Lud- 
wig's  II.)  „Wagner-Theater",  auf  das  man  hiermit  ana- 
chronistisch „anspielt",  nach  dem  genialen  Semper'- 
schenUr-Entwurfe,undnichtnach  Heilmann  und  Litt- 
mann'sehen  Bauplänen,  an  die  Stelle  etwa  der  heutigen 
Siegessäule  ehedem  zu  stehen  gekommen,  und  hätte 
es  darnach  doch  wohl  überhaupt  gar  keine  „Prinz- 
regenten-Strasse"  als  Örtlichkeit  für  diesen  Bau  ge- 
geben. —  Und  des  Ferneren  möge  man  nicht  von  einem 
„Wagner-Festspiel-Patronats- Verein4*,  sondern  klar  und 
deutlich  gleich  von  einem  „Prinzregenten-Theater- 
Protektions-Verein",  zudem  von  „Gründer-Spekulation" 
oder  „Fremden-Attraktion",  aber  nicht  von  „heiliger 
deutscher  Kunst"  oder  „Bühnen-Festspielen"  zuvor 
schon  sprechen,  wenn  anders  wir,  als  Zeitgenossen 
dieser  Geschehnisse,  solcher  bedenklichen  Geschichts- 
trübung nicht  energisch  alsbald  in's  Wort  fallen  sollen! 

Von  ganzem  Herzen  soll  es  uns  freuen,  falls  später 
diesem  durchaus  fragwürdigen  „Grunde"  vielleicht  doch 
noch  eine  echte  Kunst-Blüte  entspriessen  sollte,  wie  man 
sie  nach  alP  den  sumpfigen  Voraussetzungen  jener 
„Gründung",  zur  Zeit  füglich,  kaum  erhoffen  darf.  Und 
noch  besser:  Aufrichtigst  würden  gerade  wir  es,  mit 
Freude  sogar  begrüssen,  wenn  mit  der  Zeit  —  Dank 
reichen  Spenden  zu  diesem  Zwecke  —  recht  vielen 
strebsamen  Unbemittelten  alsdann  die  unengeltliche 
Teilnahme  an  jenen,  hoffentlich  auch  recht  reinen  Kunst- 
wirkungen ermöglicht  würde  (was  alles  ja  keineswegs 
auszuschliessen  braucht,  dass  nach  unserer  unmass- 
geblichen Meinung  solche  Stipendien  in  diesem  Jubel- 


Digitized  by  Google 


448 


Wagneriant.    Bd.  III. 


jähre  unbedingt  und  vor  Allem  nach  Bayreuth  gehört 
hätten).    Wer  auch  wollte  die  bona  ßde#  —  oder  sagen 
wir  hier  zutreffender:  den  liebenswürdigen  Idealismus 
und  belebenden  Optimismus —  bei  allen  Denen  ernstlich  in 
Zweifel  ziehen,  welche  sich  zum  genannten  Vereine  mit 
ihrem  Namen  und  Beitrage,  bis  in  die  höchsten  Regionen 
hinauf,  eingefunden  haben?!    Gar  Niemanden  natürlich 
wird  dergleichen  auch  nur  im  Entferntesten  beifallen. 
Aber  erinnert  muss  und  soll  an  dieser  Stelle  denn  doch 
werden  an  die  Anfänge  jener  etwas  krampfhaften  Be- 
wegung, wie  sie  sich  in  den  ersten  Ankündigungen  seiner- 
zeit kund  gegeben,  in  ihren  allerersten  Aufrufen  vor  aller 
Welt  selber  unzweideutig  charakterisiert  hatte.  Damals 
noch  stand  die  „Anwartschaft  auf  einen  Platz  der  Fest- 
spiele, nach  freier  Wahl,  bei  Entrichtung  eines  Jahres- 
beitrages von  20  Mk."  durchaus  im  Vordergrunde  der 
„Interessen",  und  nur  ganz  nebenher  ward  mit  einem 
mehr  indifferenten  „Ausserdem"  hier  die  „Entgegen- 
nahme von  Spenden"  noch  angehängt,  „um  einen  Fonds 
für  den  freien  Eintritt  der  Minderbemittelten  zu  schaffen". 
(Ganz  ebenso  lasen  wir's  jüngst  auch  noch  in  Lesmanns 
„Allg.  Musik-Ztg.",  No.  28/29  wieder  gegeben.)  Erst 
hinterher  besann  man  sich  noch  eines  Besseren,  dachte 
man  an  den  so  notwendigen  „guten  Eindruck"  nach  aussen, 
und  nun  ward  auf  einmal  auch  „die  ideale,  schöne  Auf- 
gabe, Minderbemittelten  den  freien  Zutritt  zu  beschaffen", 
prononziert  in  erster  Linie  heraus  gehoben  „und  auch, 
die  eigenen  Mitglieder  daran  teilnehmen  zu  lassen," 
hübsch  bescheidentlich  erst  an  die  zweite  Stelle  gerückt. 

Halten  wir  uns  also  getrost  vorläufig  einmal  an  die 
ursprüngliche,  und  wohl  auch  richtigere  Fassung,  so 
ergiebt  sich  —  da  der  Jahresbeitrag  dem  Preise  eines 
Platzes  dort  gleich  kommt  —  ganz  ohne  Weiteres,  dass 
es  zuvörderst  auf  die  Patronisierung,  nicht  der  Kunst 
im  Allgemeinen,  sondern  des  „Prinzregenten- Theaters* 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben.  449 


im  Speziellen  dabei  abgesehen  war;  dass  es  im  Wesent- 
lichen auf  eine  Art  von  Garantierung  seiner  ganz  un- 
verhältnismässig teuren  Aufführungen  hinaus  lief,  und 
das  Ganze  also  am  Ende  doch  nur  ein  schleunigst  noch 
inszeniertes,  geschickt  maskiertes  Angstprodukt  gilt 
unserer,  um  jene  Garantien  ihres  gewagten  Unternehmens 
bei  den  honen  Preisen  und  der  anhaltend  skeptischen 
Haltung  eines  grossen  Teiles  der  Presse  nachgerade  doch 
etwas  besorgt  gewordenen  Hoftheater-Verwaltung.  Und 
in  dieser  unserer  Auffassung  der  Sachlage  können  wir  zu- 
letzt auch  nur  bestärkt  werden,  wenn  wir  in  dem  neuen 
Sprachrohr  jener  Bestrebungen,  den  „M.  Neusten  Nachr." 
selbst,  einen  Satz  vorfinden  wie  diesen:  Alle  die  klang- 
vollen Namen  (der  Unterzeichner  nämlich  des  ersten 
„Aufrufes")  „bürgen  dafür,  dass  die  Elite  der  Bevölkerung 
der  Schöpfung  des  thatkräftigen  und  mutigen  Hoftheater- 
intendanten v.  Possart  ihre  kräftige  und  un- 
entbehrliche Teilnahme  geben  will*1...  oder 
aber  wenn  wir,  noch  weit  deutlicher  heraus  gestellt,  in 
einem  auswärtigen  Fachblatte  (der  „Allg.  Musik-Ztg.") 
wörtlich  zu  lesen  bekommen:  „Herr  von  Possart, 
der  kgl.  Hoftheater-Intendant,  von  dem  der  Plan  zur 
Begründung  des  Vereines  ausgegangen  zu  sein  scheint 
—  der  Aufruf  nennt  ihn  den  »Weckrufe r  des 
hohen  Unternehmens'  —  hat  sich  bereit  erklärt, 
allen  Bestrebungen  und  Wünschen  des  Vereins  fördernd 
entgegen  zu  kommen".  Konnte  daher  schon  in  einer  ge- 
wissen Lokal-Presse  das  schlimme  Wort  (das  wir  uns 
übrigens  nicht  aneignen  möchten)  von  den  „Vorspann- 
diensten, zu  denen  die  Kgl.  Zivilliste  ausgenützt  worden 
sei,"  mit  einigem  Erfolge  hartnäckig  sich  erhalten,  so  ver- 
mögen uns  wenigstens  alle  jene  so  bedeutsamen  Vor- 
gänge nicht  im  Geringsten  mehr  darin  irre  zu  machen, 
pflichtgemäss  hier  unsere  ernstliche  Befürchtung  aus- 
zusprechen: es  möchten  alle  jene  guten,  klangvollen 

Sei  dl,  Wagneriana.    Bd.  III.  29 


Digitized  by  Google 


450 


Wagneriana.    Bd.  III. 


und  so  ausgezeichneten  Namen  zur  Rolle  von  Stroh- 
männern behufs  Führung  Ernst  v.  Possart'scher  Geschäfte 
lediglich  ausersehen  sein  und  von  dem  „genialen" 
Regisseur  hinter  den  Koulissen  als  Drahtpuppen  zu 
seinen  dunklen  Spielzwecken  im  letzten  Grunde  nur 
wieder  verwendet  werden. 

Das  alte,  gute  „Rentm  cotignoscere  causa**'  ist  auch 
da,  wie  zu  manch'  anderen  Dingen,  gar  sehr  viel  nütze. 
Und  so  wollen  wir,  die  wir  solche  Anschauung  vor 
unserem  Gewissen  sehr  wohl  glauben  verantworten  zu 
können,  denn  auch  vor  einer  weiteren  Öffentlichkeit 
uns  der  Verpflichtung  nicht  entziehen,  eine  Art  Beweis 
für  diese  unsere  Behauptung  weiterhin  noch  anzutreten, 
indem  wir  nunmehr  auf  Herrn  von  Possarts 
authentische  Ausführungen  zur  „Sache"  selbst  von 
ehedem  kritisch  hier  noch  zurück  greifen. 

Der  ingeniöse  Kopf  unseres  Hoftheater-Intendanten, 
der  nicht  rastet  noch  rostet,  aber  auch  nicht  ruht  in 
der  Sorge,  die  „Kunst*  dem  Leben  (heimischem  wie 
wie  fremdem)  „einzubilden",  er  konnte  nämlich  den 
Ausbau,  Vollendung  und  Eröffnung,  seines  glorreichen 
Theaterpacht-Unternehmens  seinerzeit  gar  nicht  mehr 
erwarten  und  musste  daher  —  sehr  unvorsichtiger 
Weise  —  „tout  München "  lange  vorher  schon  einen 
„ bezaubernden "  Blick  hinter  die  Koulissen,  welche 
seine  Welt  bedeuten,  in  den  Zukunfs  -  Guckkasten 
seiner  Entreprise  hinein,  thun  lassen.  Noch  vor  Aus- 
gang des  alten  Jahres  hielt  Herr  Ernst  Ritter  von 
P o s s a r t  einen  wohlerwogenen  öffentlichen  Vor- 
trag über  „Das  Prinzregenten-Theater,  seine 
Entstehungsgeschichte  und  Bestimmung4*,  —  in  welchem 
Vortrage  er  nach  der  feinen  Lehre  Talleyrands  die 
Aussprache  vornehmlich  als  Vehikel,  seine  Gedanken 
zu  verbergen,  benützte.  Und  andächtig,  nur  allzu 
andächtig,  lauschte  damals  eine,  Dank  dem  ausgebreiteten. 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben. 


451 


Einladungs-System  aus  allen  Kreisen  der  Stadt  bunt 
zusammen  gewürfelte,  um  heute  nicht  zu  sagen:  stark 
»gemischte0  Gesellschaft,  dicht  gedrängt,  im  grossen 
Kaim-Saale  den  süssen  —  ach,  so  überaus  bestrickenden 
Weisen  unseres  vielgewandten  „ Rattenfängers  von  Mün- 
chen".   Es  bleibt  ja  zu  guter  Letzt  immer  wieder  ein 
lockend  Schauspiel  für  die  grosse  Menge:  einen  alten,  in 
solchen  Magier-Künsten  wohl  erfahrenen  Theater-Mann 
aufmerksam  zu  verfolgen,  wenn  er  mit  der  überlegenen 
Miene  des  „Wissenden4*,  des  tiefer  in  all'  den  Flitter  und 
Plunder  Eingeweihten  —  ein  zweiter  „Zauberer**  —  in 
jene  Geheimnisse  des  Schnürbodens  und  der  Versenkung 
die  Laienwelt  einzuführen  sucht.   »Nur  herein  spaziert, 
meine  hohen  Herrschaften!"  .  .  .  Etwas  von  dieser  „Ur- 
sensation"  hing  auch  jenem  Vortrage  ganz  natürlich  an. 
Verwegen  aber  erscheint  solches  Spiel,  fatal  die  Sug- 
gestion,  wenn  der  Gewitzigte  erst  einmal  dahinter 
kommt,  dass  all'  diese  scheinbare  Offenherzigkeit  und 
gutmütige  Aufgeknöpftheit  —  wie  als  ob  es  da  gar  nichts 
weiter  mehr  zu  kachieren  gäbe  —  nach  dem  alten 
Motto:   „Mundus  vult  decipi,  ergo  decipiatur!"  doch  nur 
wieder  zum  Vorwande  für  dahinter  erst  recht  ver- 
steckte Geheimnisse  dient,  zum  höchsten  „artistischen" 
Trick  sozusagen  wird  eines  virtuosen  Prestidigitateurs, 
dessen  verblüffende  Schein-Aufdeckungen  all'  solcher 
(Bühnen-)Vorspiegclungen  nach  einem  förmlichen  »System 
des  Illusionismus"  eben  derart  geschickt  eingekleidet 
heraus  kommen,  dass  sich  der  Zuschauer  über  die  eigent- 
lichste Lebens-Realität  darin  und  daran  gerade  wieder 
in  den  ärgsten  „Illusionen"  nur  wiegen  kann  und  das  „ab- 
gründliche", allerletzte  „Arkanum",  statt  „enthüllt", 
förmlich  hypnotisiert,  nun  vollends  undurchdringlich  ver- 
schleiert findet.    Das  aber  gelang  bei  dem  in  Rede 
stehenden  Falle  so  meisterlich,  mit  solch'  erstaunlicher 
Sicherheit  in  der  „Vorspiegelung"  irrealer  Thatsachen, 

29* 


Digitized  by  Google 


452 


Wagneriana.   Bd.  III 


dass  man  unter  all'  dem  „  Feuerzauber "  beinahe  sagen 
konnte:  es  fehlte  schliesslich  nur  noch  der,  mit  Recht 
so  beliebte,  „blaue  Dunst*  und  der  entsprechende 
Kolophonium-Rauch  dazu  (aus  der  Werkstatt  des  anderen, 
getreuen  Helfershelfers  und  nicht  weniger  in  solchen 
pyrotechnischen  Künsten  erprobten  Kompagnons  unserer 
weit  und  breit  berühmten  Fabrik  „v.  Posart  &  Laut- 
an  schläger").  Auf  ein  bischen  „bengalisches  Licht" 
oder  „Tam-tam"  mehr  oder  weniger  kann's  ja  beim 
Theater  ohnedies  nicht  mehr  ankommen! 

Für  Bayreuth  nun,  seinerzeit  —  bei  der  Grund- 
steinlegung des  Bühnenfestspiel-Hauses,  hatte  es  sehr 
sinnig  geheissen: 

„Hier  schliess'  ich  ein  Geheimnis  ein, 
Da  ruh'  es  viele  hundert  Jahr*; 
So  lange  es  verwahrt  der  Stein, 
Macht  es  der  Welt  sich  offenbar!« 

Anders,  ganz  anders  jedoch  —  so  sehr  man  auch  die 
körperliche  und  geistige  Verwandtschaft  gerne  „simulieren* 
möchte  —  liegt  die  Sache  bei  dem  Possart'schen  Bau- 
und  Betriebs-Unternehmen  und  bei  seinem  gehalt  —  enen 
Vortrage  darüber.  Nicht  wie  dort  nämlich,  beruht  hier 
zumal  auf  dem  „Eingeschlossensein"  in  jenen  Grund- 
mauern das  wahre  Leben  des  bewussten  „Arkanums".  In 
unserer  Angelegenheit  besteht  vielmehr  die  allergrösste 
Gefahr,  dass  bei  glanzvoller  Ubermauerung  jener  merk- 
würdig mysteriösen,  letzten  Urgrundlagen  des  Baues, 
wie  durch  allerlei  freimaurerische  Zauberformeln  und 
Hokuspokussprüche  von  „Kunst"  und  „Ideal"  darüber,  das 
eigentlichste  Bau-Mysterium  eben  jenes  „Prinzregenten- 
Theaters"  sich  obstinat  verborgen  halten  möchte,  um  dann 
später,  etwa  zur  Unzeit,  in  seiner  hässlich-natürlichen 
Gestalt  doch  noch  sich  zu  „offenbaren"  und,  als  bis- 
lang eingesperrtes  „Teuferl  im  Kasten",  durch  störend- 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben 


453 


freches  Herausspringen  sich  höchst  unliebsam  einmal 
selber  Luft  zu  machen. 

So  könnte  man  denn  diesen  wohl  unvermeidlich 
dereinst  bevorstehenden  Krach  und  Knall  allergrausamster 
Illusions  Störung  und  schlechterdings  unerquicklichster 
Schwefeldampf-Entwicklung  am  Ende  auch  ganz 
sich  selbst  überlassen,  könnte  also  ruhig  über  diese 
Dinge  die  fernere  Zukunft  mit  unbestechlichen  Wahr- 
heiten ihr  gewichtig  Wörtlein  sprechen  lassen.  Allein 
es  bietet  immerhin  besonderen,  ganz  eigenartigen  Reiz, 
schon  heute,  und  zwar  an  der  Leine  eben  jener 
Possart'schen  »Anführungen",  warnend  und  prophezeiend 
darzuthun,  dass  seine  so  fesselnden  Argumentationen 
für  uns  nun  einmal  keine  „Fessel"  bildeten;  dass  ihre 
scheinbar  bestechende  Logik  für  unbestechliche  Geister 
keineswegs  schon  „zwingend"  sein  musste,  und  dass 
man  der  starken,  oratorisch  so  hinreissenden  Über- 
redungsgabe Jenes  doch  mit  seiner  gefesteten  Überzeugung 
nicht  ohne  Weiteres  zu  unterliegen  noch  zu  verfallen 
brauchte.  Herr  von  Possart  selber  unterscheidet  ja  sehr 
diskret  schon  in  Kleidung,  Haltung,  Ton  wie  Geberde: 
ob  er  als  Künstler  oder  als  Gelegenheits- R edner, 
als  Deklamator  oder  aber  als  Agitator,  zu  uns  spricht, 
und  die  Psychologie  „des  Schauspielers  und  der  Masken" 
(nach  Nietzsche)  bleibt  es  zwar  so  oder  so  —  jedesmal 
in  tadellos  elegantem  Hof-Fracke!  Jedoch  im  einen  Falle 
spricht  er  vollkommen  frei,  mit  Glace-Handschuhen  und 
unter  mimischer  Begleitung  des  Vorzutragenden  im 
Gesichtsausdrucke,  nach  allerdings  erstaunlichstem  Ge- 
dächtnis, eventl.  sogar  etwas  längliche  Goethe'sche  Prosa; 
im  andern  dagegen  mit  Kneifer  auf  der  Nase,  ohne  alle  Hand- 
schuhe, an  einem  Pulte  stehend  und  in  wohlgesetztem 
(freilich  nicht  minder  raffiniert  durchgebildetem)  Tonfalle 
von  einem  sorgfältigen  Manuskripte  herunter  lesend.  So 
werden  denn  auch  wir  einen  erheblichen  Unterschied 


Digitized  by  Google 


454 


Wagneriana.    Bd.  III. 


zwischen  dem  „Rezitator"  Possart  uud  dem  „Rhetor" 
Possart  hier  sehr  wohl  noch  heraus  finden  dürfen. 

Hören  wir  also,  was  diese  zweifellos  blendende 
Proteus-Natur  für  diesmal  gleichsam  in  akademischer 
Facon,  mit  der  Gestalt  und  den  Allüren  eines  Bühnen- 
Gelehrten,  uns  so  Neues  zu  künden  hatte!  Vielleicht 
kommt  am  Ende  gar  noch  ein  arger  „Pharisäer  und 
Schriftgelehrter"  heraus?  —  Gar  nicht  erst  wollen  wir 
uns  mit  den  seinerzeit,  im  Verlaufe  jenes  Vortrages, 
nach  allen  Seiten  hin  ausgeteilten  „Reverenzen"  und 
wohlfeilen  Komplimenten  hier  lange  aufhalten  —  so 
amüsant  es  schliesslich  auch  blieb,  im  Einzelnen  auf- 
merksamer nachzugehen,  wer  da  alles  einer  kratzfüssigen 
Verbeugung  oder  doch  eines  artigen  „Fleissbillets"  von 
Seiten  unseres  Herrn  Intendanten  gewürdigt  wurde. 
Dieses  Kapitel  erübrigt  sich  füglich,  nachdem  doch 
die  gute  That  in  der  so  auffällig  starken  Beteiligung 
gerade  der  „Spitzen"  an  dem  hohen  „Protektions- 
Vereine*4  ihren  wohlverdienten  Lohn  schon  längst  ge- 
funden und  davon  getragen  hat.  Gehen  wir  also  lieber 
gleich  auf  den  sachlichen  Kern  jener,  scheinbar  so 
plausiblen  „Programm-"Darlegungen  heute,  da  die  Thore 
sich  realiter  alsbald  erschliessen  sollen,  ebenso  beherzt 
wie  entschieden  nunmehr  einmal  los  und  näher  ein. 

Da  muss  denn  vor  Allem  mit  vollendeter  Skepsis 
aufgenommen  werden  der  Teil  der  Possart'schen  Aus- 
führungen, wonach  der  eigentliche  Sündenbock  für  unsere 
misslichen  Theaterverhältnisse  und  —  um  ganz  deutlich 
zu  reden:  für  den  erheblichen  Rückgang  unserer 
Münchner  Hoftheater  unter  Possart'scber  Bühnenleitung 
—  jetzt  auf  einmal  ausschliesslich  und  allein 
nur  unsere  leidige  Lokal  frage  wäre:  nämlich  der 
Doppel  betrieb  von  Schauspiel  und  Oper  zugleich 
in  unzulänglichen,  gegenüber  anderen  Städten  wie  Berlin, 
Dresden,  Frankfurt  a/M.,  Leipzig,  Hamburg  erheblich 


Falsche  Erben 


455 


beschränkten,  Räumen.  Herr  von  Possart  verstieg  sich 
da  z.  B.  zu  dem  geradezu  ungeheuerlichen  Satze:  „Der 
grösste  Regisseur  der  Gegenwart,  der  kunstbegeisterte 
Herzog  Georg  von  Meiningen,  der  nur  über  ein  einziges 
Theater  in  seiner  Residenz  gebietet,  erkannte  mit 
scharfem  Blick  das  schwer  zu  Vereinende:  den  Doppel- 
betrieb der  Oper  und  der  Tragödie  in  einem  einzigen 
Hause;  und  so  schloss  er  denn  kurz  nach  seinem 
Regierungsantritt  die  Oper  dort  völlig  aus,  sich  allein 
auf  das  Schauspiel  beschränkend,  und  zwar  auf  vier 
Vorstellungen  in  der  Woche,  um  die  freien  drei  Abende 
stets  zu  ausgiebigen  Proben  zu  benützen. •  Ich  ver- 
mute sehr,  der  Scharfblick  des  würdigen  und  verehrten 
Herzogs  von  Meiningen  bestand  —  im  Gegensatze  zu 
Herrn  von  Possart  —  vornehmlich  darin,  die  Grenzen 
seiner  eigenen  Begabung  klar  von  Anbeginn  an  zu  er- 
kennen und  im  Beschränkten  Vollendetes  dafür  zu 
leisten;  denn  sonst  müsste  ja,  nach  dieser  Possarfschen 
Voraussetzung  wenigstens,  der  verstorbene  Grossherzog 
von  Sachsen- Weimar  der  reine  Waisenknabe  in  Theater- 
dingen gewesen  sein.  Bildete  er  sich  doch  beinahe 
50  Jahre  seiner  segensreichen  Regierung  steif  und  fest 
bekanntlich  ein,  dass  Beides  zusammen,  selbst  in 
einem  recht  kleinen,  unzulänglichen  Theaterbau  und 
sogar  noch  mit  auswärtigen  Nachmittags- 
Extra-Vorstellungen  für  die  umliegenden  Ortschaften 
im  Weimarischen  Lande,  sowie  bei  volkstümlichen 
Sonntag-Nachmittagsaufführungen  des  ganzen  „Faust", 
des  ganzen  „Wallenstein",  von  Hebbels  „Nibelungen" 
etc.  etc.,  sehr  wohl  angehen  müsse  und  sich  schon  ver- 
einigen lasse  —  wenn  man  nur  auch  „künstlerisch" 
ernstlich  wolle.  Frankfurt  a/M.  allerdings,  mit 
seiner  neuerdings  durchgeführten,  vollen  Trennung  der 
beiden  Theatersphären,  scheint  den  Possart'schen 
Forderungen  für  den  Augenblick  Recht  zu  geben.  Aber» 


Digitized  by  Google 


456 


Wagneriana.    Bd.  III. 


einmal  ist  dort  auch  noch  nicht  aller  Tage  Abend,  und 
haben  wir  die  Entwicklung  der  Dinge  auf  Grund  der 
neuen  Verwaltungsverhältnisse  dort  wohl  erst  einmal 
geduldig  abzuwarten.  Ausserdem  durfte  gerade  Herr 
von  Possart  wieder  derjenige  sein,  der  sich  hier  zu 
Lande,  bei  uns,  einer  ähnlich  wohlthätigen,  absoluten 
Trennung  der  Ressorts,  auch  in  den  beiderseitigen  Inten- 
danzen, im  Ernst  falle  energisch  widersetzen  würde» 
zumal  ihm  z.  B.  die  Berufung  eines  eigenen,  ganz 
selbständig  waltenden  »Operndirektors-  (wie  wir  ihn 
uns  in  Zumpe  vielleicht  wünschen  könnten)  gerade 
der  Dorn  im  Auge  wäre! 

Ernst  von  Possart  Hess  uns  seinerseits  also  einst- 
weilen lieber  in  ein  wahres  „Paradies"  der  zukünftigen 
Theaterverwaltung  blicken.  Der  hinzu  tretende  Betrieb 
des  neuen  „Prinzregenten-Theaters1*  räume  zuversicht- 
lich mit  allen  diesen  bisherigen  Missständen  auf  einmal 
gründlich  auf  und  lasse  fortan  Proben  (NB:  Proben!!) 
sowohl  als  Aufführungen  bequemer  disponieren,  dem 
grossen,  figurenreichen  Schauspiel  mit  starker  Kompar- 
serie ebenso  wie  der  grossen,  dekorativ  anspruchsvollen 
Oper  weit  besser  neben  einander  künftig  gerecht 
werden.  Nicht  nur  die  berühmten  „Fremdenvorstellungen" 
des  Sommers  —  nein,  auch  die  geforderten  Sonntag« 
Nachmittags- Volksauf führungen  von  Werken  unserer 
dramatischen  Klassiker,  im  Sinne  des  Titels  „National"- 
Theater,  würden  für  die  Folge  mit  ungleich  mehr  künst- 
lerischer Müsse  und  technischer  Umsicht  vorbereitet  bezw. 
absolviert  werden  können.  —  Je  nun,  „die  Botschaft 
hör*  ich  wohl,  doch  fehlt  annoch  der  Glaube"!  Denn 
in  allererster  Linie  ist  schon  gegen  die  unschulds- 
volle Kühnheit  solcher  Possart'schen  Behauptung  laut 
und  deutlich  Einspruch  zu  erheben,  als  ob  an  dem 
beobachteten  Rückgang  in  der  Frequenz  der  Sommer- 
Aufführungen  keinerlei  künstlerische  Wertminderung  die 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben 


457 


Schuld  getragen  und  die  ganze  Presse  einhellig  immer 
die  volle,  künstlerische  Höhe  des  Instituts  nach  wie  vor 
anerkannt,  ja  laut  konstatiert  hätte.  Das  also  hat  unsere 
verehrliche  Ortspresse  jetzt  davon,  dass  sie  stets  die 
falschen  „ lokalpatriotischen «  Interessen  bei  solchen 
Dingen  vorwalten  Hess,  um  erst  zum  60.  Geburtstage 
des  Intendanten  (Mitte  Mai)  sich  wieder  einmal  auf  das 
Rechte  zu  besinnen,  mit  den  Worten:  „Diese  Ver- 
Verhältnisse sind  oft  genug  dargestellt  worden,  und 
der  Intendant  weiss  selber  ganz  genau,  dass  im 
Hause  am  Max  Josefsplatze  nicht  immer  alles  in  bester 
Ordnung  gewesen  ist."  Die  auswärtige  Presse  freilich,  sie 
hat  schon  früher  klar  genug  und  ohne  Rücksichtnahme 
hinreichend  deutlich  gesprochen!  Dass  unsere  Wagner- 
Oper  zumal  heute  lang  nicht  mehr  auf  der  früheren 
Stufe  der  Berühmtheit  und  des  guten  Stiles  steht,  das 
hat  seinen  Grund  obendrein  darin,  dass  sie  bis  zum 
Nonsens  hier  abgespielt,  abgeleiert,  abgehaspelt,  ab- 
geklappert und  abgeklopft  worden  ist,  so  dass  man  sie 
schon  bald  überall  (z.  B.  in  dem  kleinen  Weimar)  besser 
als  hier  zu  Lande  zu  hören  bekam.  M  i  r  scheint  im 
Gegenteil,  es  steht  ernstlich  zu  befürchten,  dass  es, 
weit  weniger  als  einen  inneren  Ausbau  der  Verwaltung 
und  eine  künstlerische  Aufbügelung der  Leistungen, 
lediglich  eine  neue  „Attraktion"  und  Auffrischung  für  die, 
München  während  der  Reisesaison  überschwemmenden, 
Fremden zuzüge  im  Grossen-Ganzen  nur  wieder  gelten 
soll.  Auf  solchem  Grundpfeiler  aufgeführt  —  und  diese 
Gefahr  liegt  wahrlich  nahe  — ,  stände  indes  das  Unter- 
nehmen von  vorneherein  gleich  auf  der  faulsten  Basis, 
die  sich  überhaupt  nur  denken  lässt.  Denn  eine  schärfere 
Psychologie  des  ziffernmässig  nachzuweisenden  Rück- 
ganges im  Besuche  der  „Fremden Vorstellungen"  unserer 
Münchener  Oper  ist  jedenfalls  die,  dass  sich  jede  mit 
dem  Reiz  der  Mode-Neuheit  ausgestattete  „Sensation* 


Digitized  by  Google 


458 


Wagneriana.    Bd.  III. 


nach  einiger  Zeit  eben  verbrauchen  und  erheblich  nach 
und  nach  doch  auch  abnützen  muss.  Und  diese  natur- 
geschichtlich ganz  unausbleibliche  Erfahrung  dürfte,  so 
bald  die  erste  Zugkraft  daran  vorüber  ist  und  so  ziemlich 
ein  Jeder  der  gewohnten  Jahres-Bummler  und  Gebirgs- 
Passanten  ihr  seinen  Tribut  erst  einmal  gezollt  haben  wird, 
nach  obiger  Voraussetzung  also  selbst  dem  so  hochtönend 
inszenierten  „Prinzregenten -Theater a  nach  Jahren  kaum 
erspart  bleiben,  je  höher  der  Eintrittspreis  hierbei  kal- 
kuliert erscheint.  Obendrein  dächte  ich  doch,  dass  ein 
Possart  —  zur  Zeit  wenigstens  noch  —  zum  Intendanten 
unserer  kgl.  Hoftheater  berufen  wäre  und  seinen  Ehrgeiz 
nicht  gerade  darin  zu  suchen  brauchte,  als  „Intendant 
eines  Münchener  Vereins  zur  Förderung  des  Fremden- 
verkehrs" zu  fungieren  oder  gar  nach  dessen  Ehren- 
mitgliedschafts-Diplom  zu  streben. 

Hören  wir  ihn  jedoch  getrost  weiter.  —  An  jedem 
Sonn-  und  Feiertag  im  Jahre  sollen  dort  die  viel  be- 
rufenen „volkstümlichen"  Nachmittagsvorstellungen  der 
Klassiker  zu  ermässigten  Preisen  —  40  bis  50  an  der 
Zahl  —  alsbald  Statt  finden,  bis  zum  Spätsommer  hin, 
wonach  die  grosse  Reihe  der  20  „Fremdenvorstellungen4* 
mit  Wagnerischen  Musikdramen,  der  grossen  Aus- 
stattungsoper und  der  erhabenen  Tragödie,  sich  im  selben 
Räume  immer  abspielen  werden:  das  sei  der  einzige 
„ideale"  Zweck  des  Pachtverhältnisses  der  Hoftheater 
zum  „Prinzregenten-Theater",  wie  seiner  Benützung  durch 
die  Kgl.  Schatulle.  Es  folge  aber  daraus,  dass  die 
Abonnements  Verhältnisse  hierdurch  in  keiner  Weise 
beeinträchtigt  würden,  dass  sie  auch  fürderhin  ganz  die 
alten,  eben  auf  das  bisherige  Kgl.  Hoftheater  beschränkten, 
blieben.  Wir  sagen  „Bon!"  hierzu  und  ignorieren  einst- 
weilen die  gelegentlich  in  München  aufgetauchte  Meldung, 
wonach  umfänglicherbaulicher  Veränderungen  wegen  jenes 
Kgl.  Hoftheater  eine  geraume  Zeit  werde  geschlossen 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben 


459 


bleiben  müssen.  Wie  aber,  falls  die  dortige  neue, 
überaus  praktische  Einrichtung  des  amphitheatralischen 
Aufbaues  gleicher  Sitzreihen  so  einleuchtend  und  an- 
ziehend auf  die  Gemüter  der  gelegentlichen  p.  t.  Theater- 
besucher wirkte,  dass  nach  und  nach  zugleich  eine 
organische  Umbildung  der  öffentlichen  Meinung,  ein 
entschiedener  Umschlag  auch  in  der  Gesinnung  alP  dieser 
Leute  erfolgte  —  und  so  zwar,  dass  mit  einem  Male 
kein  Mensch  mehr  im  alten  Logenkasten  der  Gesell- 
schafts-Ränge Kunst  geniessen,  sondern  Alles  nur  mehr 
im  „Prinzregenten -Theater*'  seinen  ständigen  Stamm- 
Platz  haben  wollte,  und  dass  demnach  nun  auch  noch 
das  für  so  zuverlässig  gehaltene  Abonnement  im  alten 
Hoftheater  bedenklich,  aber  unaufhaltsam,  stetig  zurück 
ginge?!  Was  dann,  wenn  die  Majorität  ihre  Vor- 
stellungen im  neuen  Theater  zu  „zivilen"  Preisen 
ganz  energisch  erst  einmal  heischte?  Was  dann?  .  .  . 

Wir  kommen  damit  zu  einem  positiven  Vorzuge 
des  ganzen  Bauplanes,  den  wir  gern  und  jederzeit  recht- 
schaffen als  solchen  anerkennen  werden.  Das  neue  Mün- 
chener „Prinzregenten-Theater*'  soll  das  erste  in  Deutsch- 
land, ja  in  Europa  sein,  welches  sich  die  vernünftigen 
Wagner-Semper'schen  Reformen  in  der  Theater-Archi- 
tektur zu  Nutze,  welches  mit  deren  Grundsätzen  mutvoll 
einmal  wirklich  Ernst  gemacht  hat.  Und  es  darf  zugleich 
unsere  aufrichtige  Genugthuung  bilden,  dass  das  keim- 
kräftige Bayreuther  Beispiel  wenigstens  im  Jahre  des 
25jährigen  Jubiläums  sei ner  Existenz  auf  Erden 
gerade  hier  in  München  die  erste  Frucht  tragen, 
die  nächste  Nachahmung  finden  sollte.  Was  dieses 
Bayreuther  Bausystem  aber  zugleich  für  die  ideale  Er- 
hebung, ästhetische  Erziehung  und  nebenher  noch  für 
die  menschenmögliche  Feuersicherheit  des  in  jenen 
Räumen  später  aufzunehmenden,  heimischen  wie  fremden, 
Theaterpublikums  bedeutet,  das  mag  man  im  IX.  Bande 


Digitized  by  Google 


400 


Wagneriana.    Bd.  III. 


der  „Gesammelten  Schriften"  Richard  Wagners  (unter 
dem  Artikel  „Bayreuth")  geh",  einmal  genauer  nachlesen! 
Dennoch  ist  man  hier  zu  Lande  in  einem  holden  Wahne 
befangen  und  bewegt  man  sich  bei  den  beteiligten 
Kreisen  in  einem  ganz  trostlosen  Circulus  vüiosus,  wenn 
man  etwa  glaubt,  dass  damit  allein  schon  eine 
ideale  „Konkurrenz  gegenüber  Bayreuth"  (wie  man's 
hoch  trabend  zu  nennen  liebt)  inauguriert  sein  sollte. 
Und  man  sollte  darum  billiger  Weise  auch  nicht  immer 
wieder  „König  Ludwigs  II."  verklärten  Geist  aus  dem 
dunklen  Schattenreiche  herauf  beschwören,  oder  gar  unter 
stolzem  Hinweis  auf  den  Umstand,  dass  das  Theater 
sich  „unweit  der  Stelle  heute  erhebe,  für  welche  da- 
mals schon  königliche  Huld  das  Semper'sche  ,Wagner- 
Theater'  zu  Münchens  Gunsten  geplant  hatte",  stereotyp 
auf  jenes  frühere  Bühnenprojekt  der  60er  Jahre  exempli- 
fizieren wollen!  Tempi  passati  —  über  30  Jahre  ist 
Isarwasser  mittlerweile  in's  Land  hinab  geflossen,  und 
ndvxa  Heute  besteht  das  „Bühnenfestspielhaus" 
und  mit  ihm  das  spezifische  Wagner-Testament  ferne  von 
München  zu  Bayreuth:  also  ist  das  unwiederbring- 
lich für  Bayerns  Residenz  nun  einmal  verloren.  Denn 
München  hat  sich  diese  Dinge  damals  ganz  ebenso 
leichtsinnig  entgehen  lassen,  als  damit  höchst  kurzsichtig 
und  gewissenlos  ein  für  alle  Male  jene  gedachten  hohen 
„Kultur" -Anrechte  sich  zugleich  verscherzen  müssen.  Ein- 
mal Geschehenes  kann  man  nun  und  nimmer  ungeschehen 
machen ;  35 Jahre  Kunstentwicklung  lassen  sich  eben  nicht 
einfach  ausstreichen  oder  bequem  wieder  zurück  drehen. 

Gewiss,  jene  im  Obigen  schon  berührten,  baulichen 
Grundbedingungen,  die  ganzen  Voraussetzungen  der 
technischen  Anlage  bedeuten  immerhin  einen  grossen 
Schritt  näher  zur  Erreichung  des  erstrebten  Ideales 
in  dieser  gewichtigen  Frage;  sie  bilden  gleichsam  die 
conditiones  sine  qua  non  zu  einer  stilgemässen  Wiedergabe 


Digitized  by  G 


Falsche  Erben. 


461 


Wagnerischer  Kunstwerke  in  dem  Sinne,  wie  sie  von 
ihrem  Schöpfer  gedacht,  entworfen  und  im  „Vertrauen 
auf  den  deutschen  Geist0  dereinst  ausgeführt  wurden. 
Aber  mit  ihnen,  wie  zugleich  noch  mit  dem  erfreulichen 
5  Uhr-Beginne  der  Vorstellungen,  ist  auch  erst  (und  nicht 
mehr  als)  der  Grund  zum  künstlerischen  Ausbau  nur 
gegeben,  nicht  etwa  dieser  künstlerische  Ausbau  selber 
schon  fertig  vollendet  und  vollzogen.  Die  wahren  „  Lebens- 
bedingungen0 der  Wagner'schen  Kunst,  solcher  echt 
Wagnerischen  Fest-Aufführungen,  sind  eben  doch  weit 
andere  als  die  von  Fremden- Vorstellungen  (zwischen 
Pinakothek  und  Glyptothek,  Kunstausstellungen  und 
Hofbräuhaus  eingenommen!);  so  sehr  andere,  dass  sie 
sogar  jede  beabsichtigte  „Konkurenz"  mit  Bayreuth  von 
vorneherein  ausschliessen,  woselbst  einzig  und  allein 
die  zuträgliche  Luft  bisher  weht,  geweht  hat,  wehen  wird 
und  wohl  auch  nur  wehen  kann,  wenn  wir  recht  zusehen 
und  die  Natur  des  Milieu's  hübsch  im  Auge  behalten 
wollen.  Dort  nämlich  kommt  zur  lebendigen  „Tradition" 
des  Stiles  und  zur  würdigen  Sammlung  des  Geistes  im 
abgelegenen,  landschaftlich  so  ungemein  wohlthuenden 
fränkischen  Städtchen,  voll  Einfalt  der  Sitten  —  ohne 
jede  weitere  grosse  Zerstreuung,  auch  noch  die  volle, 
unabhängig-selbstherrliche  Freiheit  in  der  künstlerischen 
Ausgestaltung,  sowie  der  10  Monate  hindurch  andauernde 
„Ernst"  einer  streng-künstlerischen  Vorbereitung  in 
unermüdlichen  Proben  für  nur  einige  spezielle,  aber 
höchste  Aufgaben  im  Jahre  mit  hinzu,  wie  sie  an  einem 
Theater  mit  anderweitigen  Repertoir-Verpfiichtungen, 
ob  mit  oder  ohne  „Doppelbetrieb",  nach  der  ganzen 
Lage  der  Dinge  niemals  zu  haben,  noch  je  zu  gewinnen 
sein  werden.  In  der  That:  München,  unser  „Isar- Athen", 
müsste  da  erst  wieder  einmal  zum  deutschen  „Winkel" 
werden,  und  als  Haupt-  und  Residenzstadt  des  bayrischen 
Südens  weniger  grossstädtische  Neigungen  oder  Nerven- 


Digitized  by  Google 


462 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Überreizungen  mit  sich  führen  —  also  der  Januar  wohl 
einmal  in  den  Sommer  fallen,  ehe  dieses  Ideal  hier 
wirklich  eintreten  und  München  in  jeder  Linie  gleich 
Bayreuth  heraus  kommen  könnte:  wovor  uns  noch 
überdies  der  gnädige  Himmel  bewahren  möge!  Die 
einfache  Thatsache  der  20  Mk.-Plätze  und  des  „Auch- 
Patronatvereines"  thut  es  da  halt  doch  noch  nicht,  das 
Gernegrosstum  zum  Mindesten  nicht  allein! 

Im  Grunde  nur  eine  lahme  Bestätigung  alles  dessen, 
was  wir  soeben  des  Näheren  erörtert  haben,  bildet 
es  somit,  wenn  wir  Herrn  von  Possart  im  Verlaufe 
jenes  seines  Vortrages  zu  diesen  Fragen  u.  A.  mit 
folgenden  Sätzen  Stellung  nehmen  hören:  „Was  das 
Programm  dieser  20  Sommeraufführungen  Wagnerischer 
Werke  betrifft,  so  werden  wir  uns  in  den  Jahren,  in 
welchen  die  Bayreuther  Festspiele  nicht  Statt  finden, 
bezüglich  unserer  Auswahl  der  Werke  keinerlei  Be- 
schränkungen auferlegen.  Dagegen  erscheint  es  in  jeder 
Beziehung  gerechtfertigt,  während  einer  Bayreuther 
Saison  bei  den  Münchener  Sommeraufführungen  nur 
diejenigen  Werke  in  Betracht  zu  ziehen,  die  nicht  zu 
gleicher  Zeit  auch  dort  gegeben  werden.  Denn  der 
geschäftliche  Vorteil,  den  uns  der  Fremden- 
verkehr in  jenen  Monaten  gewährt,  wird  ein  erhöhter 
sein,  wenn  die  Besucher  Bayreuths  an  den  Zwischen- 
tagen und  nach  Schluss  der  dortigen  Spielzeit  nach 
München  kommen,  um  hier  auch  noch  jene  Wagneri- 
schen Schöpfungen  zu  hören,  die  ihnen  dort  nicht  ge- 
boten worden  sind."  Und  fast  schon  wie  das  bekannte 
Ausflucht-Motiv  des  schlauen  Fuchses  von  den  „sauren 
Trauben"  klingt  uns  nun  die  süsse  intendantliche  Weise 
an's  Ohr,  wenn  wir  unmittelbar  darauf  noch  eine  Be- 
gründung wie  diese  vernehmen:  „Überdies  entspricht 
es  den  freundlichen  Beziehungen,  die  zwischen  der 
Verwaltung  des  Festspielhauses  und  der  Kgl.  Hoftheater- 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben. 


463 


Intendanz  bestehen,  eine  direkte  Konkurrenz  (richtiger 
wohl:  „den  irre  führenden  Eindruck  einer  solchen 
Konkurrenz"  nach  aussen  hin!  —  D.  Ref.)  durchaus 
zu  vermeiden,  welche  durch  gleichzeitige  Darbietungen 
der  selben  Werke  unliebsam  erweckt  werden  könnte. 
Das  Prinzregenten-Theater  ist  nach  dem  Muster  des 
Bayreuther  Festspielhauses  gebaut  und  die  Würde  (!) 
des  neu  geschaffenen  Kunstinstitutes,  das  den  Namen 
unseres  erhabenen  Landesherrn,  des  Protektors  von 
Bayreuth,  selber  trägt,  gebietet  es  auch,  hier  den 
leisesten  Verdacht  eines  Betriebes  zu  vermeiden,  der 
mit  dem  modernen  Schlagworte  des  ,unlauteren  Wett- 
bewerbes* bezeichnet  werden  könnte." 

Ganz  recht  —  „Ihr  sprecht  fast  schon  wie  ein 
Franzos'"  und  jedenfalls  damit  „ein  grosses  Wort  gelassen 
aus":  „unlauterer  Wettbewerb"!*)  Und  darum  muss 
auch  die  Wendung,  schon  früher  im  ersten  Drittel  unseres 
ungeheuer  aufschlussreichen  Vortrages,  jetzt  nur  um  so 
seltsamer  berühren,  jene  seither  so  berühmt  gewordene 
Wendung:  „Ich  fand  ein  vornehmes  Konsortium  all- 
gemein geachteter  Bürger,  das  sich  bereit  erklärte,  dort 

•)  Wenn  es  denn  also  schon  mehr  auf  „Ergänzung"  denn 
auf  „Konkurrenz"  im  letzten  Sinne  angelegt  sein  soll  —  warum 
dann  hier  nicht  lieber  gleich  nur  die  gewissenhafte  Pflege  von 
Aufgaben,  die  von  Seiten  Bayreuths  über  näheren,  wichtigeren 
Pflichten  einstweilen  noch  vernachlässigt  werden  mussten:  die 
systematische  Darstellung  z.  B.  des  historischen  Entwicklungs- 
ganges der  Oper  von  Gluck  bis  aufWagner,  die  künst- 
lerisch-stilgemässe,  szenisch-musikalische  Darbietung  der  gehalt- 
vollen und  bedeutsamen  Hauptwerke  von  Gluck,  Mozart  und 
Beethoven,  Weber,  Marschner,  wie  Spontini  und  Berlioz  in 
besonderen,  grossen  „Zyklen"?  Damit  (wie  mit  Faust  I  und  II) 
wäre  allem  bösen  Scheine  doch  von  vorneherein  schon  ent- 
schieden genug  aus  dem  Wege  gegangen!  Und  giebt  es  nicht  in 
unserer  modernen  Tonkunst  eine  ganze  Reihe  von  Schöpfungen, 
die  sich  geradezu  darauf  angewiesen  sehen,  an  einer  besonderen 
Festspielbühne  anzukommen:  Strauss,  Schillings,  Weingartner, 
Ad.  v.  Goldschmidt,  Chr.  v.  Ehrenfels-Taubmann,  Ph.  Wolfrum, 
E.  Klose,  H.  Pfltzner  u.  viele  Andere? 


Digitized  by  Google 


4(34 


Wagneriana.    Bd.  III 


oben  auf  der  lsarhöhe,  wo  das  neue  Friedensdenkmal 
die  Stadt  überragt,  .  . .  ein  allen  Anforderungen  ent- 
sprechendes, massives  und  monumentales,  Theater 
binnen  zwei  Jahren  zu  erbauen  und  der  Kgl.  Hoftheater- 
Intendanz  pachtweise  zu  überlassen."  Hier,  bei  dieser 
pikanten  Stelle  können  die  einander  begegnenden  Auguren 
sich  eines  feinen  Lächelns  wirklich  nicht  mehr  gut  er- 
wehren —  oder,  um  mit  jenem  Otto  Erich  zu  reden, 
dem  ein  allzu  hartes  Leben  anscheinend  zum  göttlichen 
Ulke  schon  geworden:  „Alle  Frösche  hüpfen,  und  die  Er- 
habenen freuen  sich".  Jedes  „Münchener  Kind'l"  ist 
sich  ja  längst  darüber  klar,  dass  man  hierorts  Kunst  fragen 
vor  Allem  auf  dem  —  Katasterbureau  studieren 
muss,  und  nachgerade  pfeifen  es  doch  schon  die  Spatzen 
vom  Dachstuhle  herab,  dass  es  korrekter  Weise,  gerade 
umgekehrt,  vielmehr  hätte  formuliert  werden  sollen:  Das 
bewusste,  recht  un vornehm  hierbei  kalkulierende  „Kon- 
sortium" fand  den  verständnisvollen,  stillen  Teilhaber 
und  ehrlichen  Makler;  es  wollte  da  draussen  ihm 
zentnerschwer  herum  liegende  Baugründe  realisieren 
bezw.  diese  ganze,  bislang  noch  so  öde  Gegend  durch 
Preis-Treibungen  zur  „Prosperität"  endlich  einmal  ent- 
wickeln. Und  es  ging  zu  solchem  Zwecke  also  einen 
„sachverständigen"  Kenner,  den  am  Aufschwünge  jenes 
Stadtteiles  als  „Hausbesitzer*  doch  sicherlich  nicht  ganz 
uninteressierten  kgl.  Hoftheater-Intendanten,  mit  seinen 
„weit  ausschauenden"  Bauplänen  zu  passender  Zeit  ver- 
traulichst an.  Wie  sich  so  ziemlich  schon  erwarten  Hess: 
keineswegs  erfolglos,  denn  dieser  nahm  ihnen  hierauf 
die  so  schwer  lastenden  Bausteine  vom  Herzen.  „Dienet 
uns  und  hilft  auch  sich!"  —  dachten  sie  vielsagend  bei 
sich  mit  einem  „Parsifal"-Zitate,  in  würdiger  „Wagner- 
Nachfolge",  und  hatten  dabei  auch  ganz  richtig  „spekuliert". 

Nachdem  Ernst  Ritter  von  Possart  hierauf  noch 
wie  ein  leibhaftiger  „Zirkusdirektor"  mit  einem:  Es 


Digitized  by  Google 


Falsche  Erben. 


465 


wird  unser  eifriges  Bestreben  sein"  oder  „Wir  haben 
weder  Mühen  noch  Kosten  gescheut"  etc.  höchst  pathetisch 
seiner  langen  Rede  kurzen  Sinn  resümiert  hatte,  ver- 
kündete er  zum  guten  Ende  mit  aller  ihm  zu  Gebote 
stehenden  Emphase  für  den  20.  August  laufenden  Jahres 
die  programmmässige,  feierliche  „Enthüllung"  des  hl. 
Grales,  des  neuen,  „Der  deutschen  Kunst"  in  so 
hehrer  Gesinnung  dargebrachten  Bühnenhauses:  als  einer 
wahren  „Zierde"  zugleich  jenes  herrlichen  (weil  nunmehr 
doch  fruktifikableren)  „neuen  Stadtteiles,  der  unserem 
erhabenen  Landesherrn  seine  Entstehung  verdankt"  und 
der  —  rUum  teneatis,  amici!  —  so  viel  früher  durch  manche 
„kluge"  Grundstücks-Besitzergreifungen  in  aller-„ideal- 

ster"  Weise  bereits  so  erhebend  „geweiht"  worden  war  

Und  diese  —  sagen  wir:  Conference  (Wer  lacht  da?  — 
Ich  glaube  wahrhaftig,  ich  war  es  selbst!)  lässt  sich  die 
grosse  „Wagnerstadt  München"  von  einem  Meister  der 
mise-enscene  vormimen,  ohne  bei  solcher  Travestierung 
der  Schiller'schen  Idealbühne  als  „moralischer  Bildungs- 
Anstalt"  ihren  sittlichen  „Ernst"  vollends  einzubüssen? 
Nein!  Hier,  an  dieser  unabhängigen  Stelle,  soll  wenigstens 
keinerlei  Hehl  daraus  gemacht  werden  und  darf  dergleichen 
nicht  mehr  verschwiegen,  „retouchiert"  oder  gar  —  ver- 
tuscht bleiben.  „Im  Deutschen  lügt  man,  wenn  man  höf- 
lich ist!"  Und  wenn  schon  die  „Münchener  Neuesten 
Nachrichten"  unlängst,  ihren  solennen  Artikel  zur  Be- 
gründung eines  hohen  „Protektions-Vereines"  mit  dem 
klassischen  Wagner-Motto  über  das  Bayreuth  von  1876 
abzuschliessen,  den  beneidenswerten  Mut  hatten:  „Ein 
schöner  Zauber  macht  hier  Alle  gut!"  —  wir  fühlen 
uns  danach  nun  versucht,  dies  (in  Übereinstimmung  mit 
allen  obigen  Feststellungen)  heute  einmal  zu  persiflieren 
durch  den  kräftigen  Schluss:  „Ein  schnöder  Zauber  machte 
hier  alles  gut!" 


Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  30 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe 


L  Vom  „Bärenhäuten" 

(1899J 

So  wäre  denn  dem  „Bären"  die  „Haut"  endlich 
abgezogen!    Stirbt  der  Petz,  was  gilt  der  Pelz? 

Wer  erinnerte  sich  nicht  recht  gut  noch  des  edlen 
„Wette-Streites",  der  um  den  „Bärenhäuter"  als  Oper 
vor  Monaten  schon  durch  die  gesamte  deutsche  Tages-  und 
Fachpresse  gezerrt  wurde?  „Hie  (Siegfried)  Wagner!" 
„Hie  (Arnold)  Mendelssohn!"  —  es  war,  wie  wenn  die 
Seelen  der  beiden  Alten  noch  einmal  von  den  Toten 
auferstanden  wären;  oder  aber,  als  ob  (wie  auf  dem 
bekannten  Kaulbach'schen  Bilde  von  der  „Hunnen- 
schlacht") in  ihren  Geistern  ein  alter  Antagonismus  und 
historischer  Prinzipienkampf  über  die  Gräber  hinweg 
noch  fort  tobte:  Felix  Mendelssohns  bekannte  Nervosität 
bezüglich  der  Wahl  eines  Operntextes  (die  sein  Antipode 
Wagner  gern  als  für  seine  „musikdramatische  Impotenz" 
charakteristisch  bezeichnet  hatte),  sie  schien  in  seinem 
nachlebenden  Namens-  (wenn  auch  nicht:  Stammes-) 
Vetter  Amol  d,  gegenüber  dem  mit  ihm  rivalisierenden 
Sohne  des  Bayreuther  Meisters,  von  Neuem  wieder 
aufzuleben. . . .  Und  nun  hätte  also  Siegfried  Wagner  doch 
den  Vorsprung  gewonnen  und  die  Premiere  noch  vor 
derjenigen  seines  Nebenbuhlers  im  „Bärenhäuten"  durch- 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe 


467 


gesetzt!  Ob  auch  den  Sieg  davon  getragen?  Um  das  zu 
entscheiden,  müsste  man  wohl  erst  das  Mendelssohn'sche 
Werk  näher  kennen  gelernt  haben.  Es  muss  schliesslich 
doch  ein  Jeder  seine  eigene  „Bärenhaut"  zu  Markte 
tragen. 

Was  uns  selbst  betrifft,  so  sind  wir  persönlich  zu- 
nächst nicht  mit  von  der  Partie  gewesen.  Aber  der  neue, 
rührige  Musikverlag  von  Max  Brockhaus  in  Leipzig  hat 
uns  schon  vor  geraumer  Zeit  den  höchst  würdig  aus- 
gestatteten („Adolf  von  Gross  in  Liebe,  Verehrung  und 
Dankbarkeit  zugeeigneten")  Klavierauszug  zur  Oper  zu- 
gesandt —  er  wünschte  somit  offenbar  eine  Besprechung 
auch  aus  unserer  kritischen  Feder.  „Dem  Manne  kann  ge- 
holfen werden!"  —  selbst  Klavierauszüge  mit  Text  geben 
eine  Art  Bild,  zur  Nachkontrole  immerhin  der  Bühnen- 
wirkung. Und  ob  —  was  uns  hier  zunächst  interessiert  — 
Siegfried  ein  „Wagnerianer"  ist:  das  lässt  sich  jeden- 
falls auch  an  der  Hand  eines  solchen  Notentextes  sehr 
wohl  einmal  fest  stellen.*)  An  und  für  sich  schlösse  die 
Verneinung  dieser  Frage  freilich  noch  keineswegs  aus, 
dass  sein  Werk  etwas  taugen  könne.  Im  Gegenteil, 
Angesichts  so  mancher,  nachgerade  beängstigenden 
„  Wagner-  Nach  folge"  wäre  kein  allzu  „pietätvolles" 
(oder  sagen  wir  präziser:  sklavisches)  Nachtreten  in  den 
Fusstapfen  seines  berühmten  Vaters  dem  Sohne  des 
Meisters  weit  eher  schon  zu  wünschen;  denn  heut 
zu  Tage  thut  gerade  Selbständigkeit  und  ein  frisches, 
fröhliches  Ziel  unserem  Epigonentum  auf  der  ganzen  Linie 
so  sehr  dringend  not.  Dennoch  besteht  in  unserer  Frage 
so  etwas  wie  ein  fataler  Zirkel,  glaubt  man  von  dem 


•)  Natürlich  würde  das  Nachfolgende  hier  trotzdem  nicht 
mit  aufgenommen  worden  sein,  wenn  Verfasser  sich  nicht 
später,  bei  einem  gelegentlichen  Besuche  der  Leipziger  Auf- 
führung, eine  Bestätigung  dieser  Ausfuhrungen  aus  der  sze- 
nischen Darstellung  noch  geholt  hätte. 

30* 


Digitized  by  Google 


468 


Wagneriana.    Bd.  III 


Nachkommen  eines  R.  Wagner  und  präsumptiven  Thron- 
folger aus  dem  Hause  „Wahnfried**,  d.  h.  eben  von  dem 
künftigen  Erben  und  Leiter  der  Bayreuther  Festspiele, 
doch  auch  wieder  gewärtigen  zu  dürfen,  dass  er  wenigstens 
nicht  in  grundwesentlichen  Punkten  den  allenthalben  in 
der  Wagner- Gemeinde  für  massgebend  erachteten 
Hauptbedingungen  eines  Bayreuther  Ideales  stracks  zu- 
wider handle  und,  wo  er  sich  schon  nicht  an  die 
orthodoxe  Meinung  oder  die  strikte  Observanz  kehren 
will  (die  wir  auch  gar  nicht  einmal  zu  teilen  vermöchten), 
den  Ehren-„Kanon"  der  reinen,  unverfälschten  Lehre 
wenigstens  nicht  direkt  brüskiere. 

Ganz  offen  gestanden,  gleich  bei  der  Dichtung 
müssen  wir  diese  Frage  so  ernstlich  als  rückhaltlos  auf- 
werfen. Es  ist  nämlich  ein  blosses  „Libretto",  wie  viele 
andere  mehr,  was  nach  näherer  Prüfung  dieses  Text- 
buches übrig  bleibt.  Ein  Libretto  zwar  mit  szenischem 
Aufbau  und  ohne  Nummern-Schnürleib,  aber  bei 
seiner  Kombination  von  Simplizissimus  und  Grimm,  in 
seiner  Mischung  von  Historien-Romantik  und  Märchen- 
Phantastik,  politischer  Realitätshascherei  und  poetischem 
Gemeinplatze  weder  recht  Märchen,  noch  Mythus  ge- 
worden, bald  Haupt-  und  Staatsaktion,  bald  Sagengebilde  — 
zum  Mindesten  keine  Spur  von  irgend  einem  „persön- 
lichen" Erleben  oder  individueller  Selbstentäusserung 
darinnen;  es  müsste  denn  sein,  dass  wir  grals verlässig  und 
bayreuthwillig  genug  wären,  schon  in  dem  Ortsvermerke: 
„Spielt  in  Bayreuther  Landen*'  etwas  Derartiges,  sym- 
bolisch gleichsam,  mit  zu  akzeptieren.  Seinem  Inhalt  und 
seiner  äusseren  Form  nach  weniger  Grimm,  als  vielmehr 
„grimmig"  geraten,  und  wiederum  mehr  Grimmelshausen 
als  gerade  „Grimms  Hausmärchen",  ist  es  —  von  allen 
Seiten  aufmerksam  betrachtet  —  nichts  Organisches, 
Ganzes,  und  in  diesem  seinem  Stil-Konglomerat  zum  Min- 
desten schon  gar  nicht,  wie  vielfach  geschehen,  eine  gute 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


469 


Volks- Oper  zu  nennen.  Kein  Zweifel,  es  geht  viel,  un- 
heimlich viel  vor  bei  diesem  undefinierbaren  Spiel:  „In 
drei  Akten".*)  Allein  die  grosse  Hauptsache:  Hat  es  auch 
Sinn  und  Verstand,  tieferen  Wert  und  höhere  Vernunft 
mit  seinem  angeblichen  „Humor",  dieses  Kunterbunt 
„vom  Himmel  durch  die  Welt  zur  Hölle"?  —  das  können 
wir  doch  nicht  so  ohne  Weiteres  mit  „gutem  Gewissen 
auf  sanftem  Wagnerianischen  Ruhekissen"  hier  bejahen. 
Rauchwolken  mit  Schwefeldampf  aus  grossen  Feueröfen  — 


*)  Nebenbei  bemerkt:  Es  ist  interessant,  wie  der  leibliche 
Erbe  und  persönliche  Testamentsvollstrecker  des  Bayreuther 
„Musikdramatikers"  (ähnlich  übrigens  wie  R.  Strauss  in  seinem 
„Guntram4*,  auch  M.  Schillings  bei  der  „Ingwelde**)  einem  Unter- 
titel vorsichtig  aus  dem  Wege  geht,  während  wir  den  Werken 
Anderer  bereits  nachfolgende  ansehnliche  Blütenlese  von  Neben- 
bezeichnungen ihrer  Werke  entnehmen  dürfen:  „Oper4*  (Ritter, 
Kistler  u.  A.),  „Komische  -**,  „Grosse  -**,  „Romantische  -** 
oder  „Ballet  -  Oper4*  (Verschiedene),  „Vaterländische  Oper44 
(O.  Neitzel,  P.  Geisler),  „Volksoper**  (Josef  Weiss,  v.  Reznicek), 
„Operndichtung**  (Goldmark),  „Heitere  Oper**  (Schillings), 
„Lyrisches  Drama**  (Cornelius),  „Musikdrama**  (Br.  Schräder), 
„Märchenoper**  (Auber),  „Märchenspiel**(Humperdinck),  „Heiteres44 
oder  „Lyrisches  Bühnenspiel**,  auch  „Zauberspiel**  (H.  Sommer, 
A.  Roesel,  Meyer-Olbersleben),  „Singspiel**  (Thuille),  „Nordische 
Legende4*  und  „Schelmenstück**  (Sommer),  „Deutsche  Mär44 
(Eugen  Lindner),  „Dramatisches  Märchen*  und  „Humoristisch- 
phantastische Handlung**  (S.  von  Hausegger),  „Tragikomödie** 
(Kienzl),  „Musikalische  Tragödie**  (Bungert,  d'Albert),  „Musi- 
kalische Komödie4*  (Ant.  Beer-Walbrunn),  „Musikalisches  Schau- 
spiel44 (Kienzl),  „Musikalischer  Roman**  (Charpentier),  „Drama4* 
(Leoncavallo),  „Lyrische  Komödie**  (Verdi,  Leoncavallo),  „Lyrische 
Szenen**  (Tschaikowsky),  „Volksszenen**  (Mascagni,  Spinelli), 
„Japanisches  Capriccio**  (Curti),  „Japanische  Theehausgeschichte** 
(S.  Jones),  „Burleske**  (Sullivan),  „Tanzspiel**  (Mottl),  „Wort-  und 
Tondichtung  für  die  Schaubühne**  (Sachs),  „Phantasie-Spiel**, 
„Mysterium4*  (Adalbert  v.  Goldschmidt,  Weingartner,  Wolfrum), 
„Chordrama**  (O.  Taubmann),  „Musikalisches  Puppenspiel" 
(„Wetterhäuschen**!),  „Singgedicht**  (E.vonWolzogen  —  R.Strausst 
etc.  etc.  —  wozu  noch  „Handlung**  (bei  Wagner)  und  „Operette4* 
(bei  Joh.  Strauss,  Millöcker,  Heuberger  etc.  etc.)  kämen. 


Digitized  by  Google 


470 


Wagneriana.    Bd.  III. 


das  kann  zwar  an  „Rheingold"  gelegentlich  wohl  erinnern; 
doch  wäre  das  immer  erst  ein  „Erinnern",  und  zum 
„Rheingold"  selber  hätte  es  dann  lange  noch  seine  guten 
Wege:  geschweige  denn,  dass  es  darauf  etwa  gar  gross- 
mütig  schon  verzichtete.  Leider  ist  es  aber  ganz  und 
gar  bei  der  Samiel-  und  Wolfsschlucht-Romantik  seligen 
Angedenkens  noch  stehen  geblieben.  Ja,  wenn  wir  nur 
recht  zusehen:  ist's  im  I.  Akte  nicht  beinahe  schon  der 
Luzifer-Spektakel  aus  dem  albernen  „Struwwelpeter"- 
Ballett  —  also  im  Grunde  genommen  ein  Kinderstuben- 
und  Puppentheater- Wagner,  den  wir  da  mit  unvergleich- 
licher Arglosigkeit,  so  recht  kindisch,  aufgetischt  und  ver- 
setzt erhalten?  Und  nicht  nur  benimmt  sich  dieser  Satanas 
ganz  ä  la  „Schlesischer  Zecher**,  so  dass  man  (wie  Moritz 
Wirth  seinerzeit  bei  der  Sporck-Kistler'schen  „Kunihild") 
unwillkürlich  sich  fragen  möchte:  Wie  nur  kommt  dieser 
mächtige  Herr  der  Finsternus  und  Fürst  dieser  Welt  dazu, 
sich  selber  so  sehr  im  Lichte  zu  stehen,  dass  er  — 
wo  er  doch  bereits  in  seinem  Rechte  ist,  Vertrags - 
gemäss  ingrimmig  zu  strafen  —  erst  noch  eine  Wette 
jovialer  Weise  eingeht,  die  er  nach  berühmten  Mustern 
und  hinlänglichen  historischen  Erfahrungen  ja  doch  nur 
verlieren  muss,  durch  die  er  sich  selbst  um  seinen 
besten  Bissen  und  seine  wertvollste  Beute  bringen  soll? 
Nicht  nur  dies  —  sage  ich  —  befremdet  nicht  wenig, 
sondern  jener  gemütliche  Operettenteufel  (s.  sein  nichts 
weniger  als  satanistisches  Motiv!)  ist  stellenweise  auch  ein 
sehr  „gerührter**  Teufel  —  und  ein  gar  grossmütiger 
noch  dazu.  (Vergl.  S.  109  f.  des  Klavier- Auszuges.) 
Also  mit  dem  Höllenspuk  nach  den  klassischen  Walpurgis- 
nachts-Vorbildern der  „Höllenbreughel  und  Teniers", 
welche  die  Szenarien  ausdrücklich  doch  aufrollen  wollen, 
ist's  für  diesmal  noch  nichts  gewesen  —  „c'est  le  ton, 
>]ui  fait  la  musique". 

Überhaupt,  diese  Szenarien!    Sie  sind  ebenso  an- 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


471 


spruchsvoll  als  unbeholfen,  bestimmen  sie  doch  nicht 
selten  Dinge,  die  gar  nicht  in  ihrem  Bereiche  liegen 
können,  die  vielmehr  im  Texte  selber,  in  der  poetischen 
Charakteristik,  oder  aber  zum  Mindesten  im  Orchester, 
als  dem  Seelenausdrucke  aller  dramatischen  Innen- 
bewegung, zum  Austrage  zu  kommen  hätten.  Und,  um 
auch  das  gleich  hier  mit  einzubeziehen:  wie  „höllisch" 
kurz,  ganz  unmöglich  knapp,  währt  nicht  die  Nacht 
im  II.  Akte  —  selbst  für  eine  Sommernacht  des  kürzesten 
Tages  im  Jahre  ein  wahres  Unikum  der  Bühnenkunde! 
Noch  bei  Weitem  nicht  annähernd  so  lange  dauert  sie 
nämlich  wie  diejenigen  im  väterlichen  „Lohengrin" 
(II.  und  III.  Aufzug),  und  diese  waren  doch  immer 
schon  ein  tüchtiger  Stein  des  Anstosses  für  unsere 
gewiegten  „Dramaturgen"  gewesen. 

Gehen  wir  weiter  im  Text,  so  muss  vor  Allem 
auch  die  durchaus  uncharakteristische,  weil  schon  in 
der  Form  höchst  unzulänglich  geratene,  ja  mitunter 
geradezu  schülerhafte  Wortsprache,  wir  dächten:  zumal 
in  den  intimeren  Wagner- Kreisen  selber,  die  aller- 
peinlichsten  Empfindungen  wecken.  Eine  ganze  Perlen- 
schnur von  direkt  verunglückten  Ausdrücken,  Wendungen 
und  Redensarten  Hesse  sich  hier  anreihen,  die  wahr- 
scheinlich etwas  Sonderliches  besagen  und  gleichsam 
Lokalkolorit  geben  sollen,  die  aber  dem  guten  Geschmacke 
Jung-Wagners  ein  übel  Zeugnis  ausstellen  und  selbst  der 
weitest  gehenden  poetischen  Lizenz  sich  entziehen  dürften. 
Wir  wollen  den  Leser  doch  lieber  verschonen  mit  den 
Qualen,  welche  w  i  r  beim  Lesen  im  Einzelnen  erduldet 
haben,  je  näher  wir  persönlich  allerdings  dem  Textdichter, 
als  einem  Träger  des  Namens  Wagner  und  Schüler 
Heinrichs  v.  Stein,  in  Auffassung  und  Gesinnung  zu 
stehen  vermeinten.  Ja!  Wenn  Landsknechtpoesie  gleich 
ist  Bänkelsang,  und  Beides  wieder  sein  tertium  compora- 
tioni*  findet  in  dem  ärgerlichen  Begriffe  „Banalität":  dann 


Digitized  by  Google 


472 


Wagneriana.    Bd.  III. 


freilich  ist  alles  hier  wohl  am  Platze;  dann  haben  wir 
ein  Werk  von  ungetrübtester  Reinheit  des  „Stiles",  durch- 
aus harmonischer  Einheit  der  Form  und  wahrhaft  frap- 
panter Ursprünglichkeit  der  Idee  vor  uns.  Denn  durch 
diese  ganze  Oper  finden  wir  die  erstaunlichsten  Bana- 
litäten ausgebreitet  —  Banalitäten,  welche  höchstens  nur 
durch  noch  unglaublichere  Trivialitäten  der  Melodik 
wieder  wett  gemacht  werden. 

Ganz  kläglich  vollends  wird  das  Ergebnis,  zu 
unserem  lebhaftesten  Bedauern,  wenn  wir  von  der 
Diktion  auf  die  „Aktion-  alsbald  übergehen,  d.  h.  auf 
die  Handlung  als  solche  zu  sprechen  kommen  und  hier 
bei  einer  Unbefangenheit  des  Urteils  und  einer  An- 
spruchslosigkeit des  Empfindens  anlangen,  Angesichts 
deren  man  wirklich  nicht  mehr  weiss,  ob  man  das 
künstlerische  Ungeschick  oder  aber  die  rührende  Kurz- 
sichtigkeit („Weh1  Dir,  dass  Du  ein  Erbe  bist!")  mehr 
bewundern  soll.  Ad  cocem  „Ungeschick":  1.  die  ganz 
unwürdige  und  unglückliche,  weil  im  Charakter  total 
vergriffene  wie  verzeichnete  Figur  des  Bürgermeisters; 
2.  die  Unglaubwürdigkeit  des  Thatbestandes,  dass  man 
in  einem  Dorfe  mit  absehbarer  Einwohnerzahl  drei  Jahre 
nach  dem  Tode  einer  Einwohnerin  von  dieser  Frau 
schon  nicht  das  Geringste  mehr  wissen,  selbst  ihr  Grab 
überhaupt  gar  nicht  mehr  auffinden  soll;  3.  die  an- 
geblich, nach  gewissen  Press-Stimmen,  so  harmonische, 
nach  unserem  unmassgeblichen  Dafürhalten  jedoch  höchst 
disharmonische,  zudem  günstigsten  Falles  lediglich  als 
lose  Aufpfropfung  zu  begutachtende  „Plassenburg"- 
Episode  —  ein  „Viel  Lärm  um  nichts"  der  bedenk- 
lichsten Art;  endlich  4.  —  tJie  last  not  t/ie  last  —  der 
Mangel  jeder  vernünftigen  Lösung,  da  die  Hauptsache 
an  der  Wette  ja  doch  gar  nicht  ausgespielt  und  gewonnen, 
vielmehr  durch  eine  ganze  Menge  von  Unbegreiflichkeiten 
Seitens  des  „Monsieur  Pferdefuss"  gerade  mehrfach  noch 


Digitized  by 


Der  Erbe. 


473 


verdorben  wird.  Quoad  „Kurzsichtigkeit"  aber:  die  be- 
wundernswert harmlose  Häufung  von  Reminiszenzen 
in  offenkundiger  Anlehnung  an  die  Musikdramen  des 
eigenen  Vaters,  und  zwar  bezüglich  äusserer  Situationen 
sowohl  als  auch  hinsichtlich  der  inneren  Beziehungen. 
Schon  die  Verschacherung  des  Mädels  durch  den  geld- 
gierigen Vater  an  den  Unglücklichen,  von  schwerem 
Fluche  Heimgesuchten,  ehe  der  Gegenstand  des  Handels 
nur  einmal  persönlich  gefragt  wird:  schon  das  erinnert  in 
drastischer  Weise  allzu  stark  an  das  „Fliegende  Holländer"- 
Motiv  —  um  so  auffälliger  jedenfalls,  als  dem  jüngeren 
Nachkommen  nicht  die  feine,  seelische  Motivierungs- 
gabe des  Vaters  (vergl.  „Ballade"  der  Senta!)  hierbei 
zur  Seite  steht.  Und  wie  nun  gar  am  Ende  des  selben 
(II.)  Aktes  die  alte,  liebe  —  abgegriffene  Erlösungs- 
Romantik,  epigonenhaft  genug,  nur  wieder  herein  guckt: 
das  vollends  ist  gar  zu  niedlich  und  ergreifend  mit 
anzusehen.  Da  fürwahr  ist  es,  wo  wir  denn  glücklich 
auf  der  Stufe  etwa  der  „Feen"  wieder  uns  angelangt  sehen! 

Von  vorübergehenden  kleinen  Anlehnungen,  wie 
Siegfrieds  Horn-Lockung,  Siegfrieds  Rheinfahrt,  Erinne- 
rung an  die  Mutter,  Beckmesser-  und  David-Parlando, 
„Walhall"-Klängen,  „Fliegende  Holländer"-  und  „Lohen- 
grin"- Vorspiele,  Rheintöchter-  (alias:  Nixen-)  Beschwörung 
u.  dergl.  mehr,  wollen  wir  hier  gar  nicht  erst  reden. 
Wir  hoffen,  Jung-Siegfried  wird  selber  stolz  genug  sein, 
diesen  Beweis  seines  „Wagnerianismus"  als  solchen 
pure  abzulehnen!  Was  aber  soll  z.  B.  jener  mysteriöse, 
joviale  „Fremde"  im  I.  Akte,  der  sich  als  höchst  selt- 
samer Zwitter  zwischen  „hl.  Petrus"  und  „Wotan" 
alsbald  einstellt  und  —  nicht  Mensch,  nicht  Gott,  noch 
Heiliger  —  in  seiner  etwas  anrüchigen  „Mission"  als 
eine  absolut  entgleiste  Figur  zuletzt  sich  aufdrängt?  Hier 
hat  Wagner  jun.  jener  sicher  gestaltende  „Bühnendämonis- 
mus"  eines  Wagner  sen.  ganz  gründlich  im  Stiche  gelassen. 


Digitized  by  Google 


474 


Wagneriana.    Bd.  III. 


je  mehr  er  in  diese  freie  (?)  Schöpfung  seiner  Phantasie 
(nach  dem  humoristischen  Rätselspiele  des  „Wanderers" 
in  Mime's  Schmiede)  noch  hinein  geheimnissen  zu  sollen 
wähnte.  Man  denke:  Peter,  der  himmlische  Schliesser, 
jagt  dem  Teufel  arme  Seelen  mit  hinterlistigen  Ränken 
ab,  indem  er  einen  wackeren  Sohn  und  braven  Kriegs- 
mann zum  Würfel-Spiele  verleitet  und  ihn,  zum  Ent- 
gelt, dafür  nun  selber  an  den  Rand  der  Hölle  bringt! 
Heisst  das  nicht  wirklich  den  Teufel  mit  Beelzebub 
austreiben?  Und  was  müssen  die  Seelen  dem  Himmel 
wohl  wert  sein,  die  bereits  in  der  Hölle  gebraten  haben, 
also  offenbar  nichtsnutzig  auf  dieser  Erden  gewesen  sind! 
Oder  soll  das  nun  wieder  eine  tiefsinnige  Anspielung 
auf  die  katholische  Lehre  vom  „Fegefeuer"  darstellen  — 
wobei  dann  freilich  ganz  unerklärt  bliebe,  warum  diese 
Kirchenlehre  weder  vom  Kartenspiele  noch  von  leicht- 
sinnigen Wetten  etwas  wissen  will?  Ein  fauler  Zauber 
also  —  und  jedenfalls  ein  ganz  sonderbarer,  recht  netter 
Heiliger!  Von  den  „getreuen  Trabanten"  werden  uns 
zwar  mit  philologischer  Akribie  und  vielem  Aufwand  an 
Gelehrsamkeit  die  einzelnen  Quellen  aus  den  Brüder 
Grimm'schen  „Kinder-  und  Hausmärchen",  aus  Grimmels- 
hausens „Simplizissimus"  und  „Bayreuther  Chroniken", 
von  Hans  Sachs  bis  Wilhelm  Hertz,  emsig  zusammen 
getragen;  und  es  wird  dabei  eifrigst  in  verschiedenen 
Tonarten  uns  gerühmt,  wie  alle  diese  Anregungen  hier 
zu  einem  einheitlichen,  erstaunlich  organischen  Gebilde 
zusammen  geflossen,  um  nicht  zu  sagen:  von  „Siegfried" 
neu  zusammen  geschweisst  worden  seien.  Aber  das 
ist  eben  nur  die  alte  Kritiker-Schablone  in  der  her- 
kömmlichen Redeweise  der  Wagner-Schreiberei  —  sie 
findet  unseres  Erachtens  recht  wenig  reale  Erfüllung  in 
diesem  besonderen  Falle.  Unsere  Augen  sehen  wenigstens 
nur  disjecta  membra;  unsere  Ohren  hören  nichts  weiter  als 
das  unbeholfene  (um  nichts  Schlimmeres  hier  zu  sagen) 


Digitized  by  Googl 


Der  Erbe. 


475 


Stammeln  in  der  Sprache  eines  grossen  Vaters.  Höchstens 
fänden  wir  noch  so  etwas  wie  Testaments-Antretung  des 
alten  R.  Wagner'schen  Jugend-Planes  zu  der  Oper:  „Die 
Bärenfamilie"! 

Und  nicht  viel  anders  steht  es  nun  auch  mit  dem 
musikalischen  Teile  des  Ganzen.  Denn,  wenn  uns 
sogar  seine  Bewunderer  und  Schildträger  im  Vertrauen 
schon  zugeben:  „Das  Musikalische  bei  Siegfried  ist 
freilich  erst  nur  im  Keimen"  —  nun,  so  kann  man  sich 
allein  schon  darauf  seinen  entsprechenden  Reim  machen. 
Das  heisst,  wir  wollen  gerecht  sein:  Der  junge  „Meister" 
hat  immerhin  etwas  Tüchtiges  und  Ordentliches  unter  der, 
nur  leider  etwas  kurz  währenden,  Führung  seines  Lehrers 
Humperdinck  gelernt  (wir  haben  dabei  im  Auge 
namentlich  die  hübschen  Vorspiele  zum  I.  und  III.  Akt, 
die  intrumentale  Höllenfahrt  im  ersten  und  gewisse  wirk- 
same Höhepunkte,  vor  Allem  aber  die  feinen  Lyrismen 
im  zweiten  Aufzuge)  —  man  wird  ihm  Talent  zum 
Handwerk  in  der  rein-musikalischen  Faktur  danach 
gewiss  nicht  mehr  blindlings  abstreiten  mögen.  Aber 
ich  glaube  doch,  der  Alte  wusste,  was  er  that,  als  er 
bei  Lebzeiten  den  Sohn  —  der  Architekten-Laufbahn 
zuzuführen  beschloss:  von  den  dramatischen  Musik- 
bethätigungen  des  voraussichtlich  dereinstigen  Bayreuther 
Führers  und  künstlerischen  Wahrers  wie  Walters  des 
Vermächtnisses  auf  dem  Festspielhügel  (wie  es  so  schön, 
stilistisch  so  überaus  geschmackvoll,  immer  heisst) 
dürfte  man  sich  zum  Wenigsten  ganz  anderer  Dinge 
versehen  haben,  darf  man  entschieden  Höheres  und 

Wertvolleres  so  erwarten  als  verlangen  Ich  habe  vor 

Zeiten  einmal  einen  Privatbrief  Siegfried  Wagners  an 
einen  Leipziger  Kritiker  eingesehen,  in  dem  er  sich 
über  seine  persönlichen  Absichten  beim  Komponieren 
des  Näheren  selber  auslässt  und  ganz  offen  von  sich  be- 
kennt, „inmitten  all'  der  modernen  Komponiererei  um  uns 


Digitized  by  Google 


476 


Wagneriana.    Bd.  III 


herum*  grundsätzlich  der  gesanglichen  Linie  wieder 
nachgehen,  das  Banner  der  so  sehr  geschmähten 
„Melodie"  seinerseits  wieder  hoch  halten  bezw.  frisch- 
mutig  entrollen  zu  wollen.  Dieses  Credo  scheint  mir  nun 
überaus  charakteristisch  für  seinen  Bekenner:  es  sieht 
fast  so  aus  wie  ein  neues  Prinzip  und  wie  ein  stolzes 
Programm,  scheint  beinahe  ein  starkes,  selbstbewusstes 
Desaveu  des  Bayreuther  Testamentes  seines  eigenen 
Ernährers  zu  sein;  erweist  sich  aber,  wenn  man  genauer 
auf  den  Grund  geht,  doch  nur  als  eine  Art  von  höherem 
„Hasenpanier",  und  stellt  sich  selbst  ein  „Armuts- 
zeugnis" schlimmster  Sorte  aus,  indem  es  aus  der 
üblen  Not  eine  gleissende  Tugend  zu  machen  sucht. 
Kurz:  das  ist  „Sand  in  die  Augen"  —  denn  an  ihren 
Früchten  sollt  ihr  sie  erkennen !  Und  manchmal 
können  die  Früchte  eben  doch  auch  schlechte  sein, 
an  denen  die  Wespen  nagen. 

Schliesslich  aber  hier  noch  die  Kehrseite  zur 
Medaille,  den  notgedrungenen  Epilog  zu  diesem  Trauer- 
spiel —  oder,  wenn  man  will,  zu  unserer  Tragikomödie! 
Stand  da  in  einem  Fachblatte,  nach  der  ominösen 
Bayreuther  Geburtstags-  und  Weihnachtsaufführung 
einiger  Stücke  aus  der  Oper  durch  ein  Nürnberger 
Orchester,  dereinst  wörtlich  zu  lesen :  „Die  Teilnehmer 
an  der  Aufführung  sprachen  sich  einhellig  dahin  aus, 
dass  die  Musik  glanzvoll  instrumentiert  und 
durchweg  originell  sei."  Je  nun,  die  Leute,  die 
das  geschrieben  haben,  müssen  ja  wissen,  was  sie 
zuletzt  verantworten  können.  Wahrscheinlich  sind  es 
wieder  ganz  dieselben,  die  auch  im  Sommer  1896  eine 
offizielle  Abordnung  des  Festspiel  -  Orchesters  an 
Herrn  Siegfried  Wagner  gelangen  Hessen,  mit  der 
dringenden  Bitte,  nach  der  glänzenden  Bayreuther 
Erstlings-Leistung  als  berufenster  Dirigent  der  Fest- 
spiele doch   ja  auch   noch   die  Leitung  des  letzten 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


477 


„Nibelungen-Zyklus"  wieder  zu  übernehmen  !  Nachdem 
diese  guten  Leute  früher  —  zu  den  Zeiten  Wagners, 
Liszts,  Hans  von  Bülows,  Klindworths  —  doch  stets  be- 
geisterte Verkünder  des  genialen  Künstler-Martyriums 
wider  „Publikum  und  Popularität"  gewesen  waren,  haben 
sie  sich  auf  einmal  jetzt,  seit  dem  „schönsten  Tage"  im 
Leben  der  Tochter  Liszts,  der  ehemaligen  Gattin  Bülows 
und  späteren  Witwe  Wagners,  eines  Besseren  besonnen, 
und  über  Nacht  gleichsam  sich  zu  ebenso  enragierten 
Erfolg-Anbetern  wie  aufdringlich  beredten  Anpreisern 
der  „Volksstimme"  als  der  unfehlbaren  „Gottesstimrae" 
(im  Münchner  bezw.  Leipziger  „Erfolge"  des  „Bären- 
häuters") hübsch  elastisch  aufgeschwungen.  Ein  jeder 
Beherrscher  verdient  eben  genau  das  Gefolge,  welches 
er  um  sich  versammelt.  Es  lebe  die  „intellektuelle" 
Wiedergeburt  der  „Armen  im  Geiste"! 


2.  Vom  „herzoglichen  Wildfang" 

(1901) 
I. 

„Mein  Renommee!   Mein  Renommee, 
Das  thät'  mir  web !  .  .  . 
Aber  das  i»t  gewiss,  selbig'  ist  mein  Stolz : 
Sagen  können  that'  ich  schon  'was. 
Aber  sagen  mögen  thu*  ich  hak  nicht!" 

Mit  diesen  wahrhaft  „klassischen"  Worten  (aus  dem 
„Herzog  Wildfang")  mich  auch  gegenüber  dem 
„Fall  Siegfried  Wagner"  abzufinden,  läge  die 
Versuchung  ja  gewiss  sehr  nahe.  Ich  will  indessen  doch 
etwas  mutiger  sein  als  der  alte  „Zupfer",  der  sich  dort 
so  drastisch  äussert,  und  «will  hier  ehrlich  Farbe  be- 
kennen. Denn,  man  mag  mir  nun  sagen,  was  man 
will;  —  aber  dass  die  jüngste  Uraufführung  des  „Herzogs 


* 


Digitized  by  Google 


478 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Wildfang",  am  23.  März  zu  München  in  der  Königl. 
Hofoper,  einen  reinen  Kunsteindruck  habe  aufkommen 
lassen,  wird  weder  die  Freundes -Partei  noch  auch  die 
Gegnerschaft  mit  gutem  Gewissen  letzten  Endes  be- 
haupten können.  Ein  schrecklicher  Popanz  jedenfalls 
—  solch'  ein  buntes,  aufgeregtes  Premieren -Publikum, 
das  da,  geräuschvoll  während  der  Zwischenpausen  in 
den  Foyers  auf-  und  abwandelnd,  höchst  vorlaut  immer 
schon  nach  dem  ersten  oder  zweiten  Akte  ganz  genau 
weiss,  wie  ihm  das  Ganze  gefallen  hat,  wo  Unsereiner 
immer  noch  mit  Problemen  trächtig  geht  und  mit  seinen 
Eindrücken  oft  schwer  genug  zu  ringen  hat.  Ein  nieder- 
trächtiger oder  —  je  nachdem  —  auch  widerwärtiger 
Anblick,  diese  Urteilsfixigkeit  (Motto:  „Geschwindigkeit 
ist  keine  Hexerei!")  für  einen  feinfühligeren  Kunst- 
menschen und  Kultur-Psychologen!  Aber  freilich,  wer 
wie  Schreiber  dieses  nach  dem  ersten  Dirigenten- 
Debüt  Jung-Wagners,  1894  zu  Leipzig,  noch  ein  auf- 
richtig-unverhohlenes „Siegfried,  freu'  sich  des  Siegs!" 
auf  den  Lippen  hatte,  der  hat  sich  auch  seit  dem 
„Bärenhäuter" -Treiben  dergleichen  längst  schon  ab- 
gewöhnt; dem  dürfte  ein  ähnlicher  Begrüssungsruf  erst 
recht  diesmal,  anlässlich  der  Uraufführung  seines  zweiten 
Opern-Werkes,  im  Halse  stecken  geblieben,  wo 
nicht  gründlich  vergangen  sein,  selbst  wenn  er  vielleicht 
klaren  Sinnes,  auf  höherer  Warte  als  den  Zinnen  der 
Partei  Umschau  haltend,  von  vorneherein  mit  sich  dar- 
über einig  gewesen  sein  sollte,  dass  dem  Für  wie  dem 
Wider  hier  gleich  viel  „Tendenziosität"  zu  Grunde 
lag.  Ein  persönlich-gereiztes,  fast  schon  „pathologisch" 
anmutendes  Hinschlachten  war's  ja  zuletzt,  nicht  mehr 
nur  eine  Meinungs-  und  Empfindungs-  Schlacht,  zu 
nennen! 

Zwar  ist  gegen  d  i  e  Version  ganz  entschieden  Ver- 
wahrung einzulegen,  als  ob  sich  zum  Schlüsse  gezeigt 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe 


479 


hätte,  dass  die  Opposition  wohl  vorbereitet  gewesen. 
Ganz  abgesehen  davon,  dass  der  Nachweis  einer  solchen 
„systematischen  Vorbereitung"  denn  doch  sehr  schwer 
fallen  dürfte,  wäre  es  ja  zudem  gar  kein  Wunder, 
wenn  sich  auch  einmal  die  Opposition  wohl  vorbereitete, 
wo  doch  die  Vorbereitung  der  Reklame  und  einer  natür- 
lichen Beifallsklaque,  mit  Zureisung  und  Anwesenheit 
einer  zu  Gunsten  schon  voreingenommenen  Bayreuther 
Anhängerschar,  in  solchem  Falle  stets  eine  so  ersicht- 
liche ist.  Die  Hauptsache  aber  bleibt:  es  herrschte  an 
besagtem  Abende  —  noch  ganz  ununtersucht,  aus  welchen 
triftigen  Gründen  —  eine  Animosität  gegen  das  Werk 
wie  seinen  Autor  im  Hause  vor;  es  war  von  Anbeginn 
schon  zu  viel  Explosionsstoff,  in  den  Gemütern  an- 
gesammelt, vorhanden.  Das  aber  nun  ist  zugleich  das 
Schlimmste,  was  einem  gewissenhaften  Aesthetiker  von 
feinerem  Empfinden  begegnen  kann:  sich  sagen  zu 
müssen,  dass  in  Folge  äusserer  Umstände  wie  innerer 
Gründe  überhaupt  gar  nicht  die  Basis  zu  einer  richtigen 
K  u  n  s  t  -  Stimmung  und  einem  wahrhaft  künstleri- 
schen Eindrucke  gegeben  war,  also  auch  kaum  der 
Massstab  zu  einem  irgendwie  endgültigen,  abgeklärten 
Urteile  einstweilen  gewonnen  ist.  Und  lebhaft,  aufs 
Tiefste  zu  beklagen  wäre  es  vollends,  wenn  sich  ge- 
wisse schlechte  Allüren  des  Berliner  Premieren-Publi- 
kums auch  auf  eine  „Kunststadt"  wie  München  bereits 
übertragen  hätten.  Mag  man  dabei  die  im  Grunde 
müssige,  weil  rein  akademische  und  vom  Temperament 
immer  wieder  lebendig  durchkreuzte,  Frage  selbst  noch 
durchaus  unentschieden  lassen:  ob  Zischen  und  Pfeifen, 
oder  aber  ruhiges  Stillesitzen,  das  entsprechende  (negative) 
Äquivalent  gegenüber  dem  Ausbruche  positiver  Beifalls- 
Ausserungen  in  Form  lauten  Klatschens  abzugeben  habe 
—  so  viel  ist  doch  sicher,  dass  tönende  Ablehnung  weit 
stärkeren  Applaus  oft  erst  weckt;  dass  z.  B.  die  an  be- 


Digitized  by  Google 


480 


Wagneriana.    Bd.  III 


wusstem  Abend  entschieden  vorhandene,  ganz  unverkenn- 
bare Anerkennungs-Fläue  als  die  kritische  Signatur  der 
Premieren -Wirkung  weit  deutlicher  sich  heraus  gestellt 
haben  würde,  wenn  die  Opposition  sich  lieber  ganz  auf's 
Schweigen  verlegt  und  nicht  ihrerseits  wieder  den  hart- 
näckigen Meinungskampf  am  Schlüsse,  aufreizend,  erst 
heraus  gefordert  hätte.  Kommt  zu  Alledem  noch  das 
bestimmteste  Gefühl,  dass  über  der  Vorstellung  ein  ge- 
wisser Unstern  schwebte  und  dass  die  Darsteller  — 
auch  abgerechnet  die  kleinen  Zufälligkeiten  und  natür- 
lichen Aufregungen  einer  solch'  Aufsehen  erregenden 
Uraufführung  —  technisch  noch  keineswegs  über  der 
Sache  standen,  noch  nicht  zu  freier  Gestaltung  und 
überlegenem  Vortrage  allüberall  vorgedrungen  waren: 
fürwahr,  so  muss  sich  der  gerechte  Kritiker  beinahe 
zu  völliger  Ratlosigkeit  verdammt  finden  hinsichtlich 
dessen,  was  er  von  dem  ganzen  Spiel  und  einem  solchen 
Abend  im  Ernste  denn  eigentlich  zu  halten  habe. 

Wenn  indessen  „Haus  Wahnfried"  und  der  junge 
Komponist  selber  sich  mit  der  unschuldigsten  Miene 
von  der  Welt  immer  darüber  verwundern  wollen,  wieso 
es  komme,  dass  gerade  s  i  e  von  der  Sensationslust  also 
stark  beaufsichtigt  werden,  vom  journalistischen  Miss- 
verständnisse sich  verfolgt  und  von  litterarischem  Obel- 
wollen in  ihren  persönlichen  Äusserungen  oder  privaten 
Handlungen  sich  missdeutet  finden  müssen,  so  über- 
sieht man  auf  jener  Seite  leider  vollkommen,  dass  ein 
von  dorther  so  gern  verbreiteter,  äusserer  Nimbus,  der 
immer  gern  etwas  „Aparts  für  sich*4  noch  hat  und 
keineswegs  sich  ohne  Prätensionen  giebt,  in  der  Rück- 
wirkung auf  die  grössere  Öffentlichkeit  auch  ein  natür- 
liches ressentiment  mit  sich  zu  führen  pflegt,  das  sich 
alsdann  —  nach  alt  gewohnter  Weise  unserer  „grossen 
Masse"  —  in  ödem  Klatsch  und  dreistem  Angriff  eben, 
wie  sie 's  versteht,  breit  zu  machen  sucht.  Wenn  man 


Digitized  by 


Der  Erbe. 


481 


z.  B.  in  Bayreuth  „Bärenhäuter- Blätter"  herausgiebt 
und  dabei  im  vollen  Brusttone  der  sittlichen  Oberzeugung 
noch  behauptet,  dass  das  nicht  als  „Faschings-Beilage" 
oder  „Aprilscherz-Ausgabe"  der  sonst  tiefernsten  „Bay- 
reuther Blätter"  gemeint  gewesen  sei;  wenn  „man"  den 
Verleger  von  Klavierauszug  und  Text  des  „Herzog  Wild- 
fang", Max  Brockhaus  in  Leipzig  —  zugegeben:  durch 
frühere  Erfahrungen  gewitzigt  —  zu  der  offiziellen  An- 
kündigung veranlasst,  dass  Beides  erst  am  Tage  der  ersten 
Aufführung  der  neuen  Oper  ausgegeben  werden  solle, 
dann  aber  doch  wieder  irgend  ein  Bayreuther  Sprachrohr, 
wie  die  Chiffre  M.  in  den  „M.  Neuesten  Nachrichten", 
schon  Wochen  vorher  über  beider  Inhalt  öffentlich  sich 
auslassen  kann;  wenn  man,  ohne  Wagner  I.  zu  sein, 
über  jeder  Verschiebung  und  unvermeidlichen  Ver- 
zögerung dieser  Erstaufführung  eines  Werkes,  von  dem 
es  doch  schier  heissen  darf:  „Ganz  frisch  noch  die  Schrift 
und  die  Tinte  noch  nass!"  in  seinem  Komponisten-Stolze 
schon  gekränkt  ist,  tief  verletzt  im  Innersten,  gleich 
wieder  auf-  und  davon  laufen  will,  wo  andere  Tüchtige 
nach  dem  Münchener  System  leidiger  Opernwirtschaft 
oft  auf  Jahre  hinaus  sich  vertröstet,  wieder  Andere 
<NB!  ich  bin  nicht  dabei)  sich  trotz  Verdienst  und 
Würdigkeit  überhaupt  gar  nicht  aufgeführt  sehen;  und 
wenn  man,  zur  Ermöglichung  einer  zweiten  General- 
probe des  Werkes,  „wegen  ausserordentlicher  szenischer 
Schwierigkeiten"  (von  denen  am  Premieren-Abend  selber 
niemand  im  Zuschauerraum  etwas  wahrnehmen  kann) 
eine  ganze  Abonnement-Vorstellung  im  Spielplane  sehr 
plötzlich  einfach  ausfallen  lässt:  —  ich  sage,  wenn  alle 
diese  Voraussetzungen  vorliegen,  so  hat  man  sich  auf 
jener  Seite  doch  eigentlich  des  Rechtes  begeben  zu 
einem  naiven  Erstaunen  darüber,  sich  derart  von  der 
weiteren  Öffentlichkeit  mit  stärkerer  Aufmerksamkeit 
beachtet  und  von  ihr  in  ihrer  Weise  auch  kritisiert  zu 
Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  31 


Digitized  by  Google 


482 


Wagneriana.    Bd.  III. 


finden.  Wir  können  dabei  immer  noch  sehr  viel,  und 
von  Herzen  zustimmend,  für  den  vornehmen  Sinn  und 
edlen  Kunstgeist  Bayreuths  übrig  haben,  und  doch  jene 
Indignation  für  sich  reichlich  unangebracht  finden;  ja, 
vielleicht  —  retrospektive  gleichsam  —  uns  heute  so- 
gar die  Frage  einmal  vorlegen:  Wo  hat  seinerzeit  wohl 
schon  beim  Vater  Wagner  der  reine,  lautere  Enthusias- 
mus, der  absolute  Kunst-Altruismus  an  sich,  aufgehört 
und  der  ganz  unvermeidliche  Künstler-Egoismus  bereits 
begonnen,  als  welcher  sich  eben  mit  einem:  „Wollen  jetzt 
Sie  —  so  haben  wir  eine  Kunst!"  in  seinem  Werke  mit 
der  Kunst  selber  reflexionslos-unbewusst  identifizierte? 
Hat  Herr  Siegfried  Wagner  die  Uraufführung  am  hiesigen 
Orte  nur  ungern  zugelassen,  so  wäre  es  meines  Er- 
achtens des  Namens  und  Charakters  eines  „Wagners" 
würdiger  gewesen,  mit  energischer  Konsequenz  recht- 
zeitig zurück  zu  treten  —  im  festen  Vertrauen  darauf, 
dass  der  verstorbene  Freund  und  bei  Lebzeiten  so  that- 
kräftige  Wagnerianer  (Levi),  dem  er  sein  Wort  ehedem 
gegeben:  auch  sein  nächstes  Opus  am  hiesigen  Platze 
wieder  heraus  bringen  zu  wollen,  diese  seine  künstlerische 
Zwangslage  gewürdigt  und  sicherlich  nicht  als  einen 
Treubruch  über's  Grab  hinaus  ihm  hätte  auslegen 
können.  Wie  sagt  doch  Siegfrieds  „Herzog"  sehr  richtig? 
„Jeder  Bettler  ist  freier:  der  dreht  seine  Leier,  wo  er 
g'rad  mag!"  —  Und  sah  er  sich  schon  beim  ersten 
Hervortreten  vor  die  Rampe,  am  Aufführungs- Abende 
selbst,  einer  unzweideutigen  Missfallens- Äusserung  gegen- 
über —  ich  glaube,  es  hätte  sich  für  den  Träger  des  ge- 
weihten Namens  und  den  Spross  eines  Richard  Wagner 
weit  besser  geschickt,  mit  einem  „Je  irfen  ficlie,  canaüU!" 
auf  ein  weiteres  Hervorkommen  überhaupt  mannhaft  zu 
verzichten;  es  hätte  dem  Künstler  weit  eher  die  Sym- 
pathien der  wirklich  Kunstsinnigen  eintragen  müssen, 
wenn  er  mit  der  probaten,  trefflichen  Bode-Maxime: 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


483 


„Lex  mihi  ars!"  den  Platz  geräumt  und  sich  nicht  per- 
sönlich mehr  in  den  skandalösen  Tumult  auch  noch 
lange  eingelassen  hätte.  Sucht  man  aber  gar  vom  Bay- 
reuther „Kabinet"  aus  neuestens  das  Ammen -Märlein 
zu  verbreiten,  dass  Pfeifchen  im  Königl.  Opernhause- 
verteilt  gewesen  seien,  um  die  Sache  von  vornherein  zu 
Falle  zu  bringen  —  fürwahr,  so  dünkt  es  hoch  an  der  Zeit, 
gegen  solche  Geschichtsumbiegung  wie  ein  Mann  laut 
zu  protestieren.  Diese  Unterstellung  ist  in  der  That 
ungleich  viel  schlimmer  schon  als  jene  harmlose  und  all- 
bekannte, rein  subjektive  Perspektive  verletzter  Künstler- 
Eitelkeiten,  die  immer  im  negativen  Urteile  des  Kritikers 
auch  gleich  dessen  persönliche  Niedertracht  wittert. 
„Menschliches,  All  zu  menschliches!"  Bayreuth  und  das 
Haus  Wahnfried  müssten,  charaktervoll  schon  einmal 
„auf  der  Menschheit  Höhen"  wandelnd,  unbedingt  auch 
auf  höherer  Stufe  der  Erkenntnis  alsdann  stehen.  Und, 
sollte  am  Ende  die  Historie  vom  Pariser  „Tannhäuser"- 
Skandal  1861  auf  ähnlichem  Wege  nur  entstanden  sein, 
es  wäre  aller  Anlass  zweifellos  gegeben,  die  ganze 
Wagner- Geschichte  recht  gründlich  doch  einmal,  mit 
„freiem"  Aug',  zu  revidieren!  .  .  . 

Mit  obigen,  notgedrungen  „streng4'  objektiven  Ein- 
gangs-Vorausschickungen  hoffe  ich  den  rechten  Unterbau 
bereitet,  einen  entsprechenden  Resonanz-Boden  mir  ge- 
schaffen zu  haben,  um  nunmehr  aus  voller,  ehrlicher 
Überzeugung  es  aussprechen  zu  dürfen:  Das  zweite 
grössere  Werk  Jung-Siegfrieds  ist  allem  Anscheine  nach 
gründlich  verunglückt  und  als  Ganzes,  schon  wegen 
seiner  vielfach  bleiernen  Langeweile  und  der  auf  weite 
Strecken  hin  sich  äussernden,  oft  geradezu  tötlichen 
Monotonie,  wahrscheinlich  nicht  im  Geringsten  zu  halten. 
Dennoch  sind  von  einer  sorgfältig  abwägenden,  vorurteils- 
losen Betrachtung  die  ganz  unzweifelhaft  darin  liegenden 
ernsten  Ziele  und  glücklichen  Momente,  die  wahrhaft 

3t« 


Digitized  by  Google 


484  Wagneriana.    Bd.  III. 


künstlerischen  Absichten  des  jugendlichen  Dichter- 
Komponisten  nicht  wohl  zu  übersehen  —  den  die  Last 
seines  gewichtigen  Namens  übrigens  nicht  im  Geringsten 
zu  drücken  scheint,  und  der  offenbar  auf  seine  besondere 
Weise  „erwerben  will,  um  zu  besitzen,  was  er  ererbt 
von  seinen  Vätern".  Äusserlich  und  selbst  innerlich, 
geistig  sowohl  als  auch  technisch,  im  Dichterischen  wie 
im  Musikalischen,  kann  man  —  trotz  Allem,  was  auch 
dawider  stehen  mag  —  erfreulicher  Weise  von  einem 
entschiedenen  Fortschritte  gegenüber  dem  „Bären- 
häuter" sprechen.  Und,  liess  dieses  Erstlingswerk  da- 
mals für  Unbefangene  noch  kaum  eine  Hoffnung  auf 
Weiterentwicklung  übrig  —  heute  darf  man  sich  viel- 
leicht einer  solchen  Hoffnung  bereits  hingeben.  Ge- 
wisse Talente  zumal  —  überhaupt  ein  bestimmtes 
Können  wird  Wagner  jun.  fürder  niemand  mehr  so 
recht  beherzt  abzusprechen  vermögen,  während  man 
nach  der  Aufführung  des  „Bärenhäuter"  ihn  doch  gerne 
noch  zur  Architektur  verweisen  wollte  und,  was  meine 
Wenigkeit  anlangt,  dem  Zeugnisse  z.  B.  der  verehrten 
Frau  Dr.  Förster -Nietzsche:  wie  Siegfried  in  ihrem 
Beisein  schon  als  Kind  seinem  Vater  selbstkomponierte 
Balladen  auf  dem  Klavier  in  lebendig -ausdrucksvollem 
Vortrage  zum  Besten  gegeben  habe,  ein  skeptisches 
„Die  Botschaft  hör'  ich  wohl,  allein  mir  fehlt  der 
Glaube!"  nur  entgegen  zu  setzen  vermochte. 

Natürlich  bleibt  auch  nach  vorstehendem  Ergebnisse 
reichlich  genug  noch  insgesamt  auszustellen.  Nur  ist  es 
zumeist  und  gerade  nicht  dasjenige,  was  die  „Stimme 
der  öffentlichen  Meinung"  hier  so  leichthin-voreilig  zu 
bemängeln  fand.  Und  so  fehlt  uns  leider  wohl  wieder  ein* 
mal  der  rechte  Rapport  und  ein  geeigneter  Konnex  zwischen 
unseren  beiderseitigen  Urteilen  —  was  ja  sehr  zu  be- 
klagen bleibt,  mich  aber  doch  nicht  abhalten  kann,  meiner 
publizistischen  Pflicht  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


485 


zu  genügen.  Denn,  wenn  man  schlagfertig  immer  den 
wohlfeilen  Einwand  bringt,  wie  Natur  und  Geschichte  uns 
zur  Evidenz  lehrten,  dass  sich  Genie  nicht  forterben,  zum 
Mindesten  vom  Vater  auf  den  Sohn  nicht  direkt  über- 
tragen könne,  so  ist  damit  doch  noch  lange  nicht  er- 
wiesen, dass  sich  nicht  wenigstens  das  Talent  sehr 
wohl  fortzeugen  dürfe.  Und  was  noch  das  Erstere,  die  Fort- 
führung der  genialen  Anlagen,  betrifft,  so  zeigt  uns  doch 
der  hoch  bedeutsame  Fall  Philipp  Emanuel  Bach  aus  der 
Musikhistorie  selber,  dass  an  sich  gar  nichts  voll- 
kommen hier  ausgeschlossen  zu  sein  braucht ;  dass  viel- 
mehr auch  der  Sohn  eines  Genie's  einmal  sehr  wohl 
und  vor  anderen  Zeitgenossen  berufen  erscheinen  kann, 
aus  einer,  vom  Vater  Kraft  seines  überragenden  Genius 
für  den  Augenblick  geschaffenen,  Sackgasse  wieder 
lebensvoll  heraus  zu  führen  und  durch  selbsteigene  Be- 
schreitung eines  abweichenden,  von  jenem  ganz  ver- 
schiedenen Weges  eine  neue,  fruchtbare  Linie  der 
Weiterentwicklung  innerhalb  der  selben  Kunst  zu  be- 
ginnen. (Nur  freilich  wird  das  halt  niemals  ein  „Nach 
unten",  sondern  stets  ein  „Nach  oben"  bedeuten,  also 
zumeist  einen  mehr  aristokratischen  Zug,  aber  keine 
demokratische,  plebejische  Tendenz  an  sich  tragen 
müssen  —  welches  inhaltsschwere  Leitthema  schon 
hier  und  bei  dieser  Gelegenheit  gleich  kräftigen 
Akkordes  mit  angeschlagen  sein  möge!) 

Wenn  man  im  Übrigen  auch  jetzt  noch  von  Banalitäten 
und  Trivialitäten  in  Siegfried  Wagners  Melodik  gesprochen 
hat,  so  wäre  hier  neuerdings  doch  allerlei  zu  unterscheiden 
und  erwägen.  Darf  uns  als  sattelfesten  Musikhistorikern 
doch  nachgerade  bekannt  sein,  wie  ein  Karl  Löwe  in  hoch- 
mütigen Zunftkreisen  Jahrzehnte  lang  nur  als  eine  Art  von 
höherem  Bänkelsänger  galt  und  man  in  Lortzings  Weisen 
bis  vor  Kurzem  noch  bei  der  Fachgilde  nicht  viel  mehr 
als  „leichte  Ware"  und  „bessere  Gassenhauer"  sehen 


Digitized  by  Google 


486 


Wagneriana.    Bd.  III. 


wollte.  Wer  weiss  aber,  ob  nicht  ein  Zusatz  dieser 
leichter  wiegenden  Sorte  von  eingänglicher  Melodik 
gerade  der  guten  (und  dabei  „volkstümlichen") 
komischen  Oper  heute  mehr  von  Nöten  wäre?  —  ich 
habe  so  meine  eigenen  Gedanken  darüber.  Haben  wir 
nicht  auch  die  für  trivial  verrufene  Melodik  eines  Verdi  mit 
der  Zeit  erst  erkennen  und  in  anderem  Sinne  würdigen 
lernen,  nachdem  wir  sie  erst  einmal  im  italienischen 
Vortragsgeiste,  mit  südlichem  Ausdrucksleben  erfasst 
hatten?  Und  ist  Rod.  Schumann  nicht  offenkundig  im 
Unrechte  geblieben  mit  seinem,  dem  „Tannhäuser*4  gegen- 
über ausgesprochenen,  rein  theoretischen  Tadel :  Wagner 
wisse  leider  nicht  den  strengen,  vierstimmig -soliden 
Choralsatz  gut  zu  handhaben?  Drastik  und  Plastik 
eines  Musikdrama's  haben  eben  wieder  andere  Ge- 
setze als  die  gottesfürchtige  Sinfonie-Komposition  und 
verlangen  derbere  Mittel  als  lyrische  Träumereien  oder 
episches  Fortspinnen! 

Endlich  hat  man,  und  zwar  übereinstimmend  — 
recht  laut  und  vernehmlich,  die  Abhängigkeit  des 
„Libretto's"  der  neuen  Oper  von  dem  „Meistersinger44- 
Vorbilde  des  Vaters  kritisch  gerügt  und  sich  im  Volks- 
witze viel  über  den  ebenso  schwachen  wie  schlechten 
Abklatsch  dieses  albernen  „Liebes-,  Wett-  und  Werbe- 
Rennens44  der  jüngsten  „Meisterspringer",  gegenüber 
jenem  klassischen  „Liebes-,  Wett-  und  Werbesingen44 
der  älteren  „Meistersinger44,  aufgehalten.  Allein  man 
übersieht  auch  da,  auf  Grund  solch'  oberflächlicher 
Aufmerksamkeit  für  die  in  die  Augen  springenden 
äusseren  Ähnlichkeiten,  anscheinend  völlig  wieder  die 
mancherlei  individuellen,  inneren  Abweichungen 
von  der  Vorlage  und  hat  zum  Mindesten  dabei  noch 
ganz  vergessen,  wie  im  alten  Griechenland  und  in  der 
Renaissance-Zeit  gerade  in  der  verschiedenen  Bearbeitung 
ein  und  des  selben  Stoffes,  in  der  besonderen  Einkleidung 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe 


487 


ganz  des  nämlichen  dichterischen  Vorwurfes,  das  Wesen 
der  künstlerischen  Behandlungsart  gesucht  wurde 
und  eben  den  feineren  Unterschieden  dann  das  eigent- 
lich künstlerische  Interesse  der  Zuschauer  anhaltend 
zugewendet  blieb  — :  eine  artische  Kultur  und  ästhetische 
Tradition,  die  unserem  Banausentum  von  heute  leider 
schon  ganz  fremd  geworden  zu  sein  scheint. 

Das  alles  sind  also  absolut  keine,  oder  doch  für 
mich  nur  äusserst  fragwürdige  Argumente  gegen  unsere 
Neuheit  —  Argumente,  die  jedenfalls  einer  tieferen  Be- 
gründung zunächst  noch  entbehren  müssen.  Was  i  ch  hin- 
gegen dem  Werke  bis  zum  unverhohlensten  Ärger  und 
heftigsten  Verdruss  über  die  auch  hier  wieder  eingetretene 
Enttäuschung  vorzuwerfen  habe,  das  sind  in  letzter 
Instanz  ganz  andere,  schwerer  wiegende,  weil  grund- 
wesentliche Dinge.  So  will  mir  —  um  mit  Siegfried 
Wagner  selbst  hier  zu  reden  —  vor  Allem  gründlich 
„misshagen",  dass  er  gerade  das  einzig  unerlaubte 
Genre :  „genre  ennuyeux",  so  gerne  pflegt  und  so  hart- 
näckig just  dieses  nur  immer  anbauen  will ;  dass  auch  hier 
d  i  e  heikle  Linie  nur  wieder  ihre  Fortbildung  finden  soll, 
die  uns  —  gestehen  wir  es  uns  heute  doch  willig  ein!  — 
schon  bei  Wagner  sen.  (man  denke  an  den  karikierten 
oder  gespreizten  oder  krampfigen  Humor  eines  Beck- 
messer, einer  Magdalena,  eines  Mime)  nur  allzu  oft 
peinlich  genug  berührt  hatte,  weil  wir  diesen  uns  niemals 
recht  zu  assimilieren  vermochten:  jener  „Schmerz, 
der  ward  zum  Witz!*1  —  nach  Wagner  jun.  (Textbuch 
S.  75),  welcher  nun  und  nimmer  doch  zu  einem  gesunden 
Humor  frohsinniger  Heiterkeiten  werden  kann.  Sodann  er- 
regt mein  besonderes  Missfallen  diesmal  das  allzu  „Bunte 
Theater"  —  wie  ich  es  beinahe  schon  nennen  möchte, 
zum  Mindesten  eine  stark  hervor  tretende  Neigung  zu 
mannigfaltigem  Wechsel  in  den  Bildern  und  szenischen 
Vorgängen,  um  nicht  zu  sagen:  ein  unruhvolles  Hasten  und 


Digitized  by  Google 


488 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Haschen  nach  allerlei  theatralischen  Effekten:  eigentlich 
also  das  Schlimmste,  was  man  dem  Sohne  des  Verfassers 
von  „Oper  und  Drama"  vorhalten  kann.  Weiterhin  noch 
will  mir  nicht  zusagen,  dass  seine  Diktion  bewusst  und 
mit  voller  Absicht  das  Hasenpanier  des  „mel-odiosen" 
Rückschrittes  ergreift  („Es  war  einmal  ein  Hasew!)  — 
d.  h.  kein  Jenseits  der  Moderne"  in  sich  trägt,  sondern 
vielmehr  ein  bequemeres  Diesseits,  mit  dem  sehnsüchtig 
verlangenden  Blicke  nach  rückwärts,  nur  wieder  zu  be- 
zeichnen scheint.  Uberschaut  man  Friedrich  Nietzsche's 
arg  rückläufige  Musik- Auffassung  aus  dem  letzten  Jahrzehnt 
seines  geistigen  Schaffens,  so  ergeben  sich  bei  Siegfried 
Wagner  so  viele  Berührungspunkte,  dass  man  diesen 
darin  fast  schon  als  „Nietzscheaner"  anreden  könnte, 
wären  nicht  eben  wieder  eine  Menge  anderer  Dinge, 
die  dies  gründlich  verböten.  Ferner  muss  ich  noch  das 
frivole  Launen -Spiel  der  Osterlind  mit  ihren  zwei 
Anbetern  nach  meiner  individuellen  Organisation  als  eine 
verletzende  Widerwärtigkeit  empfinden,  und  leider  auch 
die  nachmalige  Glorifikation  eines  Herzogs,  der  im  ersten 
Akt  übermütig-gewissenlos  auf  ein  Menschenleben  die 
Flinte  angelegt  hat,  mit  Anderen  für  eine  bemerkens- 
werte, ganz  bedenkliche  Gefühlsverirrung  des  Textdichters 
erklären.  Man  hätte  vielleicht  gewärtigen  dürfen,  dass 
„Herzog  Wildfang  ohne  Land",  etwa  wie  Heinz  in 
Alexander  Ritters  „Wem  die  Krone",  sich  mittlerweile 
im  Lande  beherzt  umgesehen,  auf  Grund  der  hier  ge- 
wonnenen ernsten  Erfahrungen,  durch  moralische  Ent- 
wicklung also,  zum  Herrscherberuf  sich  wohl  vor- 
bereitet und  sich  nun  im  dritten  Akte  mit  innerer  Reife 
zu  diesem,  eben  wieder  verwaisten,  Amt  neu  eingestellt 
hätte.  So  aber  begreift  kein  Mensch,  wieso  denn  das 
„Volk"  eigentlich  dazu  komme,  diesem  notorischen 
Rohling  am  Schlüsse  des  Drama's  in  einer  „gottes- 
gnädigen" Apotheose  zuzujauchzen. 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


489 


Endlich  habe  ich  noch  eine  Aussprache  darüber 
auf  dem  Herzen,  was  es  mit  dem  uns  so  angelegentlich 
gepriesenen  Begriffe  einer  „Volksoper"  bei  Siegfried 
Wagner  für  eine  höchst  eigentümliche  Bewandtnis  habe. 
Die  Druiden  und  Pagoden  des  Bayreuther  Tempeldienstes 
und  seiner,  für  andere  Sterbliche  oft  unverständlichen, 
esoterischen  Kulte  widersprechen  sich  nämlich  in  geradezu 
rührender  Selbstverleugnung  ihres  Urteils  und  begeben 
sich  wieder  ein  Mal  völlig  einer  eigenen  Meinung,  indem 
sie  jene  Parole  mit  wahrhaft  verblüffender  Anpassungs- 
fähigkeit ihres,  einem  höheren  Willen  laudalnliter  stets  gern 
unterworfenen  Intellektes  flugs  akzeptieren.  Denn  dieser 
neumodische  Begriff  „Volk"  ist  ja  nun  ein  ganz  anderer, 
grundsätzlich  verschiedener  von  dem,  den  sie  uns  seit  Jahr- 
zehnten als  den  hohen  „Inbegriff  aller  derer,  die  gemein- 
sam eine  höchste  Not  empfinden",  in  den  „Bayreuther 
Blättern"  gerade  serviert,  als  das  „ideale  Wagner- 
Publikum"  und  den  geläuterten  Zuschauer  des  „Künst- 
lers"- wie  des  „Kunstwerkes  der  Zukunft"  unermüdlich 
immer  wieder  erörtert  haben.  Oder  aber  heisst  „Volks- 
oper" am  Ende  gar  mit  einem  Male  nun  „Musikdrama 
für  harmlose  Gemüter",  die  nicht  eine  schlimme  „Not- 
lage" empfinden,  sondern  leichte  Zerstreuung  und  an- 
genehme Unterhaltung  für  sich  suchen?  Jedenfalls  be- 
deutet „Volk"  hier  nicht  jenen  Umweg  der  Natur, 
um  zu  zwei  bis  drei  ausserordentlichen  Menschheits- 
Exemplaren  zu  gelangen.  Und  fürwahr,  wir  befürchten 
nun  sehr:  dieses  „Volk"  ist  zuletzt  doch  nur  der  brave, 
gute  Bär  und  dummdreiste  „Meister  Petz",  der  durch 
irgend  einen  losen  Witzbold  von  Bärenführer  mit  dem 
Kettenringe  —  an  der  Nase  herum  geführt  wird  und 
sich  eines  schönen  Tages  von  irgend  einem  „Bären- 
häuter" auch  noch  das  Fell  über  die  Ohren  gezogen 
sieht.   Vederemo  —  oder  besser:  Qui  vivra,  verrat  — 

Und  dennoch  ein  Hoffnungsschimmer  nach  der 


Digitized  by  Google 


490 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Münchner  Wiedergabe  der  Neuheit?  Ja!  Aber  er  führt  sich 
im  Wesentlichen  auf  ganz  andere  Punkte  zurück.  Ich  ver- 
misse zwar  schmerzlich  innerhalb  des  Werkes  selbst 
die  einheitliche  Konzentration  an  Handlung  und  Personen; 
ich  sehe  jedoch  in  dem  Fortgange  von  der  romantischen 
„Märchenoper"  (mit  billigem  „Erlösungs"-Zauber)  zur 
„komischen  Oper"  und  „volkstümlichem  Singspiel"  eine 
grössere  Geschlossenheit  des  ästhetischen  Willens,  eine 
strengere,  tiefere  Besinnung  auf  die  eigenen  technischen 
Kräfte  und  die  in  ihnen  liegenden,  natürlichen  künst- 
lerischen Anlagen  —  wie  auch  Grenzen.  Ich  kann  zwar 
nach  wie  vor  das  so  viel  gerühmte,  ausserordentlich 
„szenische  Talent"  nicht  wahrnehmen,  denn  es  müsste 
den  Dichterkomponisten  auch  vor  einer  ganzen  Reihe  von 
Missgriffen  doch  bewahrt  haben.  Ich  bemerke  indessen 
des  Öfteren  eine  frappante  Fähigkeit  zur  Charakteristik  in 
dramatischer  Klein  plastik ;  ich  sehe,  wie  er  in  Bildern 
und  dekorativen  Wirkungen  etwas  von  neuem  Farben- 
gefühl mit  auf  seine  Bühne  bringt,  gleichsam  eine 
moderne  Stil -Auffassung  der  „Stimmung"  mit  einführt; 
und  ich  finde  zuweilen  feine  lyrische  Züge  von  ganz 
zarter  und  reizvollster  Instrumentation  (schon  in  der 
Luis'l-Episode  des  „Bärenhäuter*  mussten  sie  einem 
offenen  Ohre  auffallen),  welche  —  durchaus  auf  dezente 
und  intime  Wirkung  nur  berechnet  —  in  einem  weniger 
geräumigen  und  minder  anspruchsvollen  Bühnenhause 
als  dem  der  Münchner  Hofoper,  wo  sie  leicht  deplaziert 
erscheinen  können,  noch  ganz  anders  wirken  dürften. 

Item:  Der  Misserfolg  des  neuen  Werkes  anlässlich 
seiner  Münchner  Uraufführung  war,  ist  und  bleibt  un- 
bestreitbar; das  Wachstum  im  künstlerischen  Wollen 
trotzdem  nicht  zu  verkennen  und  als  „Wechsel  auf  die 
Zukunft"  doch  wohl  nicht  ganz  von  der  Hand  zu  weisen. 
Gewiss  werde  ich  nicht  „des  Mitleids  Ofen  mitschüren" 
helfen  —  um  in  der  bilderreichen  Sprache  und  so 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


491 


blumigen  Redeweise  des  jugendlichen  Selbst-Dichters 
hier  zu  bleiben;  denn  sicherlich  ist  Siegfried  Wagner 
in  meinen  Augen  dadurch  allein  noch  kein  grösserer 
Künstler  geworden,  dass  einige  jähe  Heisssporne  thöricht 
genug  waren,  durch  ihre  lärmende  Kundgebung  ihm 
bei  den  Seinen  nun  auch  noch  das  brennende  Stigma  des 
Märtyrertums  aufzudrücken.  Ebenso  wenig  allerdings 
werden  wir  mit  einem  „Rache  schwör'  ich,  aber  ge- 
hörig!" in  jenen  „Chor  der  Missgünstigen"  hier  mit 
einstimmen,  der  aus  weiss  der  Himmel  was  für  welchen 
dunklen  Empfindungen  heraus  in  ödestem  Geschimpfe 
schon  keinen  guten  Fetzen  mehr  an  dem  Werke  lassen 
will!  Aber  so  recht  von  Herzen  an  ihn  zu  glauben 
vermag  ich  beim  besten  Willen  auch  jetzt  noch  nicht. 
Und  noch  immer  ist  mir  (nach  berühmten  Mustern!) 
der  „»Siegfried'  von  Wagner"  weitaus  lieber  und  auch 
zuträglicher  als  dieser  „Siegfried  Wagner".  .  .  . 

Die  Münchner  Aufführung  selbst:  gemalt  von  Hof- 
theatermaler Frahm,  kostümiert  von  Jos.  Flüggen, 
dekoriert  und  beleuchtet  von  Maschinenmeister  Lauten- 
sch läger,  geführt  von  den  Damen  Koboth  (Oster- 
lind)  und  Blank  (Kuni),  den  Herren  Sieglitz  (Blank), 
Dr.  Walter  (Herzog),  Klopfer  (Thomas  Burkhart), 
Feinhals  (Reinhart),  und  weiterhin  noch  getragen  von 
den  Herren  Mang,  Mikorey,  Krausse,  Schlosser  u.  A.; 
dirigiert  endlich  von  Herrn  Hofkapellmeister  Franz 
Fischer  —  diese  Aufführung  hätte  für  bewussten  Fall 
schon  etwas  besser  sein  dürfen.  Sie  stand  leider  nicht 
auf  der  Höhe.  „Leiter  der  Gesamt -Aufführung:  Herr 
Intendant  von  Po  s  s  a  r  t"  . . .,  so  hiess  es  überdies  wenige 
Tage  vor  dem  denkwürdigen  Abend  offiziell  in  den 
Münchner  Lokalblättern.  Je  nun  —  tempora  mutantur, 
ganz  augenscheinlich,  et  nos  mutamur  in  illisl  Anno 
1865  und  1868,  bei  „Tristan"  und  „Meistersingern",  Hiess 
es  hier  zu  Lande  doch:  „Leiter  der  Gesamt- Aufführung*4, 


Digitized  by  Google 


492 


Wagneriami.    Bd.  III. 


und  zwar  über  alle  Theaterschneider,  Maschinen- 
meister, Dirigenten,  Oberregisseure  und  selbst  hoch- 
mögende Intendanten  hinweg:  der  Dichterkomponist 
selber  —  damals  freilich  Richard  Wagner!  Jene  Auf- 
führungen standen  dafür  auch  durchaus  „auf  der  Höhe". 

II. 

Herzog  Siegfried  =  Wildfang  Wagner?  — 
Ich  denke,  man  wird  meine  Umstellung  ohne  Weiteres 
verstehen,  und  hoffe  auch,  man  wird  Stabreim  wie 
Fragezeichen  daran  wohl  zu  würdigen  wissen.  Ist  unser 
Siegfried  ein  geborener  „Wagner"?  Ist  er  mit  seinem 
neuesten  Werke  zum  „Herzog",  d.  i.  Führer  der  Heer- 
scharen aller  modernen  Opern-Komponisten,  nunmehr 
avanciert?  Ist  der  Spross  von  R.  Wagnerischem 
Geblüt  „Wildling**  und  „Wagehals"  genug,  um  als  viel 
versprechender  Wild  fang  des  Hauses  Wahnfried  heutigen 
Tages  vor  aller  Welt  gelten  zu  können  und  als  Jung- 
Meister  Anwartschaften  auf  eine  fernere  Zukunft  uns 
eröffnen  zu  dürfen?  Und  wenn  dem  so  ist:  wäre  er 
dann  ein  „Wildfang4*  im  aktiven  Draufgänger-Verstände, 
oder  im  passiven  Sinne  einer  verfolgten  Unschuld?  Um 
ganz  deutlich  zu  sein:  Soll  für  ihn  und  seine  Person 
das  ideale  „Siegfried-Idyll"  (die  herrliche  Komposition 
des  Vaters  auf  seine  Geburt  zu  Triebschen  bei  Luzern 
im  Jahre  1869)  noch  Symbol  sein  —  oder  aber  wird 
Otto  Greiner  mit  der  bekannten  Porträt-Aufnahme 
seiner  leiblichen  Erscheinung  auch  im  Geistigen  nun- 
mehr Recht  behalten? 

Als  wir  vor  einigen  Jahren  diese  ebenso  scharf- 
sichtige wie  scharfsinnige  Greiner'sche  Radierung  (des 
bequem  im  Sessel  sitzenden  Siegfried  en  proß,  mit 
übergeschlagenem  Bein  und  den  aufgestülpten  *  Hosen) 
zum  ersten  Male  sahen,  da  war  unser  spontanes  Gefühl: 
Wagner  sen.  in  Gigerl-Ausgabe  —  um  nichts  Schlimmeres 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


493 


zu  sagen.  Nur  wieder  den  „Chambe riain- Husaren"  (um 
ganz  ausnahmsweise  einmal  mit  dem  losen  Spötter 
Hanslick  hier  zu  reden)  konnte  es  möglich  sein,  dieses 
eher  senil  erscheinende  Bild  als  das  Prototyp  blühendster 
„Jugend"  in  der  bekannten  Zeitschrift  dieses  Namens 
sogar  noch  zu  feiern.  —  Als  wir  dann  zu  einer 
Aufführung  des  „Bärenhäuter"  von  Weimar  aus  ge- 
legentlich in  Leipzig  weilten,  da  hing  an  der  Grimma'- 
sehen  Strasse  eben  eine  sehr  auffällig  grosse  Porträt- 
Photographie  des  „Helden  vom  Tage"  aus  dem  be- 
kannten Atelier  Höffert:  reichlich  gespreizt  und  gesucht 
in  Blick  und  Haltung,  Schnitt  wie  Kleidung.  Mein  Gott, 
wie  so  sehr  verschieden  nahm  sich  der  lebendige  Träger 
dieses  Namens  hier  aus  gegenüber  jenem  entzückenden, 
ja  hinreissenden  Bilde,  das  Richard  Wagner  uns  durch 
sein  berühmtes,  in  der  ersten  Vaterfreude  hinaus  gejubeltes 
Orchesterstück  von  dem  Originale  und  Zukunfts-Helden 
dereinstens  wohl  erhoffen  und  erträumen  Hess!  Hier 
alles  „Natur*4  —  dort,  auf  besagtem  Leipziger  Konterfei, 
ganz  und  gar  nur  die  eitelste  „Mode"  ordentlich  zur  Schau 
getragen.  Und  das  nannte  ein  Houston  St.  Chamber- 
lain  in  der  Ulk-Beilage  der  „Bayreuther  Blätter":  genannt 
„Bärenhäuter-Blätter"  (1899,  S.  14),  damals  auch  noch 
die  naive  „Unschuld  der  Gebärde"  an  Siegfried, 
dem  Häuter  der  Bären!  Nun,  wenn  das  schon  „Un- 
schuld" sein  sollte,  dann  konnte  sie  jedenfalls  nicht 
aus  der  Fülle,  sondern  musste  vielmehr  aus  einer 
Leere  des  Seins  stammen;  wie  auch  sein  angebliches 
„Auf  den  Grund  Schauen  gleich  beim  ersten  Blicke" 
nicht  das  „Unergründliche"  zu  fixieren  brauchte,  sondern 
das  Seichte  oder  das  Grundlose  zuletzt  treffen  mochte, 
und  der  Herren  Wagnerianer  damaliges  „Adlerschweben 
hoch  über  den  Wolken"  (nach  dem  Genüsse  des  „Bären- 
häuter" nämlich)  zum  Mindesten  nicht  die  Kreise  des 
„Adlers  eines  Zarathustra"  gestört  zu  haben  brauchte.  „Im 


Digitized  by  Google 


494 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Sturm  lauf  werde  dieses  schöne  Werk  die  Welt  er- 
obern, und  indem  es  das  thue,  werde  es  zugleich  Ver- 
ständnis und  Liebe  für  alles,  was  echt  und  deutsch 
ist,  erwecken"  ...  so  schloss  damals  der  genannte 
Apostel  des  eben  erst  30jährigen  Opern-Heilandes  sein 
klangvoll  Evangelium.  Wie  lautete  das  nur  Alles  so 
ganz  anders  als  ehedem  noch  bei  Wagner  sen.I  Bei 
ihm  und  seinen  Propagandisten  bildete  es  seiner  Zeit 
doch  geradezu  das  Kriterium  seiner  Grösse  wie  Welt- 
bedeutung, dass  er  nicht  sofort  durchzudringen  ver- 
mochte und  bezüglich  der  Anerkennung  erst  einer 
späteren  Zukunft  sich  getrösten  musste.  „Kunstwerk  der 
Zukunft"!  Rechter  Hand  —  linker  Hand:  alles  ver- 
tauscht; Leute,  ich  merk'  es  wohl,  ihr  war't  berauscht! 

Und  heute,  nach  der  stark  verunglückten,  oder 
doch  entgleisten,  Münchner  Erstaufführung  des  „Herzog 
Wildfang",  die  Ernüchterung?  O  nein  —  sofort  wieder 
das  entgegen  gesetzte  Extrem!  Flink  spricht  man  von 
dem  „natürlichen  und  notwendigen  Martyrium  alles 
Grossen"  —  weil  nunmehr  die  nahe  liegende  gesunde 
Reaktion,  als  eine  Art  Nemesis  auf  den  leidigen  Taumel 
von  anno  dazumal,  beim  Publikum  eingetreten  ist;  ja, 
man  giebt  sogar  die  offizielle  Losung  von  einer  Neu- 
Auflage  des  ehemaligen  Pariser  „Tannhäuser"-Skandales 
(1861)  unbedenklich  genug  aus,  weil  einige  unreife 
Jünglinge  sich  erkühnten,  zum  guten  oder  schlechten 
Ende  das  Zischen  eines  Teiles  des  Publikums  bis  zum 
schnöden  Pfeif-Crescendo  zu  übertreiben  —  welches 
Vergehen  wider  den  primitivsten  Knigge  indes  sicher 
kein  Mensch  von  guten  Umgangsformen  je  irgend  wird 
billigen  wollen.  Schnell  fertig  war  ja  die  Jugend  von 
jeher  mit  dem  Wort,  das  für  den  ernsten  und  gewiegten 
Kritiker  nur  schwer  sich  handhabt,  wie  des  Messers 
Scheide;  und  in  all*  der  schwankenden  Erscheinungen 
Flucht  und  all'  der  wirren  Unrast  eines  heftigen  „Für 


*    Digitized  by  Google 


Der  Erbe 


495 


und  Wider"  mag  es  daher  gut  sein,  den  „ruhenden 
Pol"  erst  einmal  aufzusuchen,  von  dem  aus  es  sich 
ungetrübt  überschauen  und  geruhig  alsdann,  wirklich 
ästhetisch,  betrachten  lässt. 

Vor  Allem  waren  wir  auch  bei  Siegfried  Wagner, 
ähnlich  wie  weiland  bei  Johanna  Ambrosius,  der  Bauern- 
dichterin, zunächst  der  starken  Versuchung  ausgesetzt, 
ein  relatives  Urteil  der  Überraschung  und  Ver- 
wunderung zu  fällen:  nur  eben  darüber,  dass  wider 
Erwarten  auf  diesem  Boden,  am  selben  Stamme,  abermals 
Knospen  treiben  und  Früchte  hervor  spriessen  sollten. 
Die  neo-vitalistische  Frage  der  (physischen  oder  geistigen) 
Züchtung  des  Übermenschen  bietet  ja  noch  genug 
ungeklärte  dunkle  Punkte.  Ist  am  eigenen  Fleisch  und 
Blut  eines  überragenden  Genius  eine  Steigerung  darüber 
hinaus  noch  möglich,  oder  sind  die  Säfte  und  Kräfte 
für  die  betreffende  Begabung  nach  und  mit  ihm  vollauf 
bereits  erschöpft,  so  dass  sich  die  Grossen,  Genialen  der 
Menschheit,  wie  die  Schopenhauer'schen  Riesen,  nur 
einsam,  über  ein  wimmelndes  Geschlecht  von  Zwergen 
hinweg,  die  Hand  reichen  und  mit  einander  aus  weitester 
Ferne  allein  nur  unterhalten  können?  Wenn  mit  der  körper- 
lich-geistigen Züchtung  des  Übermenschen  (nach  Nietzsche) 
heute  schon  alles  im  Reinen  wäre,  so  müsste  uns  die 
Geschichte  eigentlich  wohl  ganz  andere  Erfahrungen 
zeitigen,  als  sie  uns  in  den  Söhnen  grosser  Genien  für 
gewöhnlich  an  die  Hand  gegeben  worden  sind. 
Freilich,  ich  wiederhole  es:  im  Falle  Sebastian  Bach, 
und  zwar  bei  dessen  Sohne  Phil.  Emanuel,  liegt  für 
die  Musikgeschichte  immerhin  eine  tief  belehrende 
Erscheinung  vor,  welche  uns  zeigt,  dass  auch  der  Spross 
eines  ganz  Grossen  einmal  entschieden  produktives  Talent 
haben  und  gelegentlich  sogar  eine  eigene  historische  Be- 
deutung in  der  Geschichte  ganz  der  gleichen  Kunst  für 
sich  noch  beanspruchen  kann.     Indessen   wird  doch 


Digitized  by  Google 


496 


Wagneriana.   Bd.  III. 


gewiss  niemand  den  „galanten"  Philipp  Emanuel  schon 
über  oder  neben  den  „tiefen"  Sebastian  zu  stellen 
sich  vermessen.  Und  anderseits  Hesse  sich  wiederum 
die  Frage  gar  wohl  aufwerfen,  ob  biologisch  überhaupt 
die  Möglichkeit  bestehe,  dass  ein  Genie  den  Blutstropfen 
wenigstens  des  Talentes  für  das  rein  Handwerkliche 
seiner  spezifischen  Kunstübung  gar  nicht  vererben 
könne,  so  dass  es  also  —  rein  physiologisch  —  geradezu 
höchst  merkwürdig  erschiene,  wenn  eine  so  hohe  Dichter- 
Musiker- Begabung  wie  diejenige  Richard  Wagners  sich 
nicht,  zu  mindest  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der 
technischen  Fertigkeiten,  auf  den  direkten  Nachkommen 
sollte  fortgepflanzt  haben. 

In  der  That:  „Musika  und  Worte,  das  Piano  und 
das  Forte,  und  was  sonst  noch  an  Gezier,  das  Alles 
stammt  von  mir!"  —  diese  Verse  seines  Schneider- 
meisters Zwick  aus  dem  jüngsten  Opus  darf  Siegfried 
Wagner  ohne  Weiteres  auch  auf  sich  selbst  anwenden. 
Nun  kann  man  freilich  seine  Komposition,  was  den  rein 
musikalischen  Teil  anlangt,  jugendfrisch,  stellenweise 
auch  wohl  unmittelbar-zugreifend  nennen,  um  schliess- 
lich doch  die  Bezeichnung  „ rotwangig*  (die  in  der 
«Frankfurter  Zeitung"  gefallen  ist)  bei  ihr  absolut 
deplaziert  zu  finden.  Im  Gegenteil!  Wie  bei  dem 
düsteren  Hagen  möchte  es  manchmal  von  seinem  Blute, 
im  Verhältnis  wenigstens  zu  dem  des  berühmten  Vaters, 
beinahe  schon  heissen:  „Nicht  fliesst  ihm's  frisch  und 
sprudelnd  wie  jenem ;  störrisch  und  kalt  stockt's  zuweilen 
in  ihm,  nicht  will's  die  Wange  (und  gleichsam  auch 
diejenige  seiner  Musik)  ihm  röten!"  Und  was  vollends 
gar  die  „Worte",  d.  i.  das  neue  Textbuch  des  „Dichters" 
Siegfried  Wagner,  betrifft,  so  muss  man  —  noch  ohne  be- 
sondere Hervorhebung  stilistischer  Monstra,  von  denen 
einige  (wie  z.  B.  das  erhebende  Bild:  „In  uns  giesst 
es!"  —  Text  S.  19)  bereits  der  Symbolisten-Schule  derer 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


497 


um  Alfred  Mombert  sich  zu  nähern  scheinen  —  doch 
schon  sagen,  dass  sich  der  »Herzog  Wildfang*  als 
komische  Volksoper  zu  den  .Meistersingern"  des  Er- 
zeugers und  Urahnes  nur  erst  verhält:  so  etwa  wie  der 
„Homunkulus*  zum  „ Faust"!  Trotzdem  wäre  nicht 
eben  allein  bei  diesem  Verhältnis  und  seinen  Analogien 
schon  stehen  zu  bleiben;  finden  wir  doch  der  verwandt- 
schaftlichen Züge  und  Anlehnungen  auch  ausserdem 
noch  gar  mancherlei:  z.  B.  nach  dem  „Freischütz"  (ver- 
gleiche Text  S.  31  —  wir  erwarteten  hier  ein  „Schiess' 
nicht,  Max,  ich  bin  die  Taube!"),  nach  Gounods 
„Margarete"  (das  Doppelgespräch  der  Vier  im  Schloss- 
garten —  Text  S.  15  ff.),  nach  Lortzing  („Waffen- 
schmied") und  Nessler  (Rünr-Arie  des  zurück  kehrenden 
Reinhart!);  vom  „Kaufmann  von  Venedig"  (zweiter  Akt) 
und  von  Anzengrubers  „Viertem  Gebot"  (Text  S.  53  f.)  bis 
herauf  zum  „Tristan"  (das  läppische  Zaubertrank-Motiv 
der  Kuni,  frei  nach  Brangäne  —  Text  S.  86  und  selbst 
103!)  etc.  etc. 

Allein,  wer  wird  auch  bei  solchen  reinen  Äusserten- 
keiten  wohl  stehen  bleiben!  Schlimm  dagegen  erscheint 
in  diesem  Betrachte,  dass  der  Charakter  der  Osterlind 
(vergleiche  S.  74:  „Ich  pflücke,  riech'  und  lass'  dann 
welken!"  —  oder  S.  81 :  „Nun  liebt  sie  glücklich  Zwei!"), 
und  zwar  ganz  im  Gegensatze  zum  „Lieb'  Evchen"  des 
Vaters,  so  sehr  wenig  sympathisch  im  Grunde  ge- 
zeichnet erscheint;  schlimmer,  dass  der  schlimme  Herzog 
schlechterdings  nichts  den  ganzen  Abend  thut,  um  die 
durch  den  bewussten  Schuss  auf  ein  lebendes  Menschen- 
wesen bei  uns  gründlich  verscherzten  Sympathien  sich 
wieder  zu  erobern,  aber  trotzdem  zum  „guten  Ende"  mit 
der  Gloriole  des  Gottesgnadentums  ausgezeichnet,  als 
„sozialer"  Herzog  auch  noch  von  uns  geglaubt  werden 
soll;  am  schlimmsten  endlich,  dass  die  Handlung  des 
Ganzen  zugegebener  Massen  lange  lebhaft  interessiert, 

Sei  dl,  Wagneritna.    Bd.  III.  32 


Digitized  by  Google 


498 


Wagneriana.    Bd.  III. 


zum  Teil  sogar  höchlichst  fesselt,  um  schliesslich  durch 
einen  ganz  kläglichen,  um  nicht  zu  sagen:  schmachvollen 
Ausgang  förmlich  schroff  abzufallen  und  direkt  zu  ver- 
letzen. Merkwürdig  auch  wohl  überdies  noch,  dass  die 
absichtsvollen  Verse:  „In  Nürenberg  einst  durch 
Gesang  die  Maid  ein  Ritter  sich  ersang"  ohne  jeden 
entsprechenden  musikalischen  Anklang (ä  la „Tristane- 
Anspielung  bei  Hans  Sachs  in  den  „Meistersingern") 
hier  bleiben  sollten.  Warum?  Auf  eine  „Meister- 
singer-Reminiszenz mehr  oder  weniger  wäre  es  doch 
wahrlich  nicht  mehr  angekommen! 

Episodenwerk  überwuchert  jedenfalls  allzu  sehr  den 
guten  Kern  der  Sache  —  es  gebricht  an  der  rechten 
Konzentration  und  fehlt  eigentlich  ganz  eine  ent- 
sprechende Einheit  der  Personen,  so  dass  man  zuletzt 
nicht  mehr  weiss,  wie  man  die  Oper  lieber  betiteln  soll: 
„Blank"  oder  „Osterlind",  oder  allenfalls  „Reinharts 
Heimkehr"  — ,  während  gerade  „Herzog  Wildfang"  als 
der  am  wenigsten  passende  Name  danach  uns  nun  vor- 
kommen muss.  Anderseits  herrschen,  wie  gesagt,  die  Lange- 
weile und  deklamatorische  Monotonie  im  musikalischen 
Part  entschieden  vor.  Gleich  die  sogen.  „Ouvertüre"  ist 
ein  äusserst  physiognomieloses  Tonstück,  beinahe  ä  la 
Felix  Mendelssohn  in  ihrer  nichtssagend  „geläufigen" 
Mache,  inhaltlich  jedoch  von  keinerlei  der  Rede  werten 
Qualitäten.  Ganz  unglücklich  ferner  im  Bau,  in  Anlage 
und  Ausführung  giebt  sich  das  „Doppelgespräch"  (Stimm - 
Quartett)  im  ersten  Aufzuge;  denn  diese,  für  den  weiteren 
Verlauf  so  sehr  wichtige  Exposition  kann  bei  solcher  allzu 
feinen  Einkleidung  ganz  unmöglich  mehr  vom  Publikum 
erfasst  und  verstanden  werden  —  kein  Schatten  jener 
Verdfschen  Meisterschaft,  in  der  belebten  Ensemble- 
Konversation  z.  B.  des  „FalstaflP*,  die  noch  im  buntesten, 
kompliziertesten  Stimmengewirre  die  Pointen,  auf  die  es 
ankommt,  klar  und  deutlich,  mit  komischem,  ja  drastischem 


Digitized  by  Go 


Der  Erbe 


499 


Erfolge  heraus  bringt!  Hinwiederum  aber  wären  als  er- 
freuliche Eindrücke  und  hoffnungsvolle  Momente  zu 
Gunsten  des  Komponisten  hier  zu  buchen :  das  vorzüg- 
licheWerber- Ensemble,  das  charakteristisch-lustige  „Hasen 
und  Igel"-Liedlein  (ein  wenig  an  Schuberts  „Forelle"  etc. 
sich  anlehnend),  die  reizvoll- zartsinnige  Abend -Zwie- 
sprache zwischen  Vater  und  Tochter  im  Garten  —  zweiter 
Akt  (geschrieben  über  ein  leicht-gefällig  aufsteigendes, 
recht  duftiges  Motiv:  „Väterchen,  das  war  nicht  schön 
von  Dir!");  endlich  der  geradezu  frappante  Einfall  mit 
dem  obstinaten  Achtel-Klopfen  im  Basse,  bei  der  spiess- 
bürgerlich -geheimnisvollen  Erzählung  des  Dohlendieb- 
stahles nämlich  im  selbigen  zweiten  Aufzuge;  sowie 
allenfalls  noch  der  bemerkenswert  sprachmelodische  Stil 
und  geschickte,  darauf  folgende  Finale-Aufbau  an  der 
Tragbahre  des  verwundeten  Mädchens  (im  Ausgange  des 
I.  Aufzuges).  Wohingegen  der  dritte  Akt  ungeachtet  alles 
szenischen  Aufwandes  —  oder  erst  recht  wegen  dieses  — 
ganz  grausam  wieder  abfällt  und  nicht  zuletzt  an  dem 
bedauerlichen  Fiasko  durch  seine  ganze  innere  Leere, 
mancherlei  Effekthascherei  und  wahrhaft  haarsträubende 
Inoriginalität  die  Schuld  trägt  .  .  . 

Und  so  ward  denn  der  „Chor  der  Rache"  ent- 
fesselt: ausgelassen  aus  dem  finsteren  Orkus,  zu  einem 
Wutgeheule  der  Vergeltung,  alle  die  niedrigen  Geister  der 
Zurückgesetzten,  Missvergnügten;  die  Dämonen  der  Un- 
gunst und  des  Neides,  der  Scheelsucht  wie  der  hämischen 
Schadenfreude!  Und  es  erhub  sich  allda  ein  gross'  Pfeifen 
auf  Hausschlüsseln,  oder  aber  nach  der  „derben  Fuhr- 
manns- Weis'",  von  jedenfalls  höchst  flegelhaftem  Ge- 
bahren  in  kunstgeweihten  Räumen.  Obwohl  nun  doch  der 
(eigentlich  ungerufene)  Dichter-Komponist  noch  den 
Herrn  Hofkapellmeister  (ich  bitte  den  Setzer,  nicht  nach 
dem  Textbuch  am  Ende  „Hof  kuppelmeister"  hier  zu  lesen 
und  mir  harmlosem  Staatsbürger  ernste  Verlegenheiten 

32» 


Digitized  by  Google 


500 


Wagneriana.    Bd.  III. 


dadurch  zu  bereiten!)  vor  den  Vorhang  zu  sich  herauf 
berief  —  wohl  ebenso  sehr  zur  unzweideutigen  An- 
erkennung für  die  Leistungen  der  ganzen  Truppe  wie 
als  Schutzwall  gegenüber  den  moralischen  Wurf- 
geschossen oder  aber  als  Blitzableiter  gegen  die  an- 
gesammelten Zündstoffe  im  Hause:  —  umsonst!  Um- 
sonst auch,  dass  ein  offenbar  Unparteiischer  in  diesen 
Sturm  der  Meinungen  hinein  mit  Stentor-Stimme  nach 
„von  Possart!"  rief.  Alles  vergebens!  Es  raste  das 
Volk  und  wollte  nun  einmal  sein  Opfer  haben;  denn 
alle  Schuld  —  ich  meine  die  vor  zwei  Jahren  mit  dem 
lauten  „Bärenhäuter"-Erfolg  an  der  selbigen  Stelle  — 
rächt  sich  eben  schon  auf  Erden.  Kurz,  es  war  wohl 
weniger  Bayreuther  „Osterlind"  als  eben  (ungleich 
zeitgemässer):  Münchner  „Salvatorleben". 

Decken  wir  Aufgeklärteren  getrost  den  Mantel  des 
„eisernen  Vorhanges"  über  diese,  in  jedem  Sinne 
ruhmlose  Affäre,  und  stellen  wir  hier  „zur  Steuer  der 
Wahrheit"  nur  eiligst  noch  fest,  dass  Wagner  II.  (wohl-, 
gemerkt:  nicht  Richard  II.,  denn  das  ist  schon  einmal 
Strauss!)  mit  bedauerlicher  Takt-Freiheit  nach  allen 
drei  Aufzügen  es  sich  nicht  nehmen  Hess,  huldvollst 
wiederholt  an  der  Rampe  zu  erscheinen,  vor  welche 
er  nichts  weniger  als  „gerufen"  wurde.  —  Der  Vor- 
hang fällt. 

III. 

So  wäre  denn  die  „Bärenhatz"  glücklich  zu  Ende 
—  und  der  „Wild-Fang"  könnte  nunmehr  beginnen !  Das 
eigentliche  Problem,  das  der  „Wagner-Schule"  über- 
haupt mit  diesen  „Volksopern-Kompositionen"  von  des 
Bayreuther  Meisters  eigenem  Kinde  und  Erben  auf- 
gegeben ist,  liegt  indes  ganz  anderswo,  als  das  grosse 
Publikum  für  gewöhnlich  annimmt  und  anscheinend 
auch  nur  von  Weitem  ahnen  will.    Und  es  ist  nicht 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe.  501 


etwa  nur  Verteidigung  eines  zum  Voraus  schon  ver- 
lorenen Postens,  etwa  aus  verletztem  Gerechtigkeits- 
gefühle heraus,  was  uns  nach  dem  Befunde  diesmal,  dem 
herrschenden  Strome  entgegen,  in  aller  Seelenruhe 
sogar  positive  Werte  aufstellen  und  ihm  sogar  stille, 
ganz  leise  Zuversichten  für  die  „Zukunft"  da  oder  dort 
immerhin  entnehmen  Hess,  von  denen  noch  beim  „Bären- 
häuter", auch  nicht  einmal  entfernt,  die  Rede  sein 
konnte.  Für  den  nämlich,  der  aus  der  rechten  „Vogel- 
schau", weitab  vom  Schusse  der  Partei-Treibjagden,  den 
künstlerischen  Vorgängen  auch  hier  zuzusehen  versteht, 
für  ihn  ruht  des  Pudels  Kern  in  dieser  ganzen  cause 
ct'lebre  (oder  chronique  scatuhleuse  —  wie  man's  nehmen 
will),  steckt  der  casus  belli,  der  uns  zur  Abwechslung  einmal 
herzhaft  lachen  machen  darf  —  vor  Allem  in  Folgendem: 
„Haus  Wahnfried"  selber  hat  durch  diesen  Schritt 
desKronprinzen,  mit  dessen  individuellen  Neigungen  näm- 
lich zum  devTCQog  7t)xwg9  offenkundig  vor  aller  Welt  nun 
zugegeben,  dass  es  im  Allgemeinen  auf  musikdramatischen 
Gebiete  so,  wie  bislang  —  öde  und  unfruchtbar  genug  — 
in  der  sklavischen  „Wagner-Nachfolge",  nicht  mehr  gut 
weiter  gehen  kann.  Der  „moderne*  Vorwegnahme- 
Mensch  in  seinem  dunklen  Drange  war  sich  also  des 
rechten  Weges  zu  guter  Letzt  doch  wohl  bewusst,  wenn 
er  schon  vorher  einen  „Schritt  vom  Wege"  der  strikten 
Observanz  (nach  der  Hutschnur),  auf  eigene  Faust  und 
Verantwortung,  gelegentlich  abirrte.  Er  hatte  es  mit 
Recht  dabei  keinen  „Gewissensbiss",  unter  den  be- 
kümmerten oder  gestrengen  Ober-  und  Seelenhirten  da 
und  dort  einmal  als  „verlorenes  Schäflein"  der  grossen 
Wagnerianer-Herde,  mit  ihrem  adäquaten  Herden-Instinkt 
und  der  zugehörigen  Sklaven-Moral,  zu  gelten.  (Ganz 
en  passant  bemerkt :  ich  argwöhne,  dass  Nietzsche  diesen 
seinen  Zentralbegriff  von  dort  her  geholt,  aus  der 
psychologisch  scharfsinnig  studierten  Naturgeschichte  des 


Digitized  by  Google 


■ 

502 


Wagneriana.    Bd.  III. 


„Wagnerianers,  wie  er  sein  soll",  gerade  geschöpft  habe; 
wie  ja  auch  der  „Wille  zur  Macht"  ohne  Wagners  „Wotan" 
kaum  zu  denken  ist!)  Die  moderne  Kraft  des  „realen" 
Gedankens  und  die  fortschrittliche  Macht  eines  mehr 
„naturalistisch"  gerichteten  Lebensgefühles,  dem  sich  das 
gern  „monumentalisierende"  Bayreuth  von  heute  nase- 
rümpfend oder  doch  beargwöhnend,  wie  hermetisch,  stets 
verschlossen  gehalten  hatte,  wo  es  einer  seiner  hellsich- 
tigeren Anhänger  als  das  Notwendige  schon  einmal  prophe- 
zeite —  ja,  als  unvermeidlich  kommende  Erscheinung  im 
gesunden  Entwicklungsprozesse  derZeit vorwegzunehmen, 
auch  ohne  gütige  Erlaubnis  der  „Zentralleitung  vom  hohen 
Stuhle  selber"  so  frei  war:  sie  haben  sich  auch  an  ihm  nun- 
mehr eben  doch  als  die  treibenden  Faktoren  erwiesen,  an 
seinem  eigenen  Leibe  jetzt  bewährt  —  und  zugleich 
gerächt.  Und  wie  das?  Sehr  einfach!  Der  „natürliche 
Mensch"  kann  nun  einmal  nicht  ewig  auf  Gräbern 
sitzen;  „man"  will  nicht  unaufhörlich  nur  das  schwer- 
mütige Lied  der  Trauerweiden  rauschen  hören.  Zumal 
den  seit  einem  gewissen  weihevollen  „Parsifal"  in  der 
zuverlässigen  Wagner  -  Gemeinde  eingerissenen,  un- 
verbrüchlich-pathetischen Ernst  und  unverwüstlich- 
feierlichen Stechschritt  kann  ja  kein  lebendig  em- 
pfindender Springinsfeld  von  ungebrochener  Natur- 
freude mehr  aushalten  und  —  selbst  auch  der  Richard 
Wagner  der  „Meistersinger"  hätte  diese  entsetzlich  er- 
starrte Heiligkeits-Pose  eines  ekstatischen  Grals-Mimus 
auf  die  Dauer  doch  nicht  ertragen.  Das  urgemütliche, 
altbekannte  und  allbeliebte  Volksmotiv  vom  „geprellten 
Teufel"  —  es  wurde  daher  mit  Wonne  aufgegriffen:  hinc 
Ulae  deliciae  nämlich  beim  noch  nicht  allzu  talentreichen 
„Bärenhäuter"  von  ehedem.  Facit:  es  muss  weiter  gelebt 
werden,  und  darum  behält  auch  der  Lebendige  sozu- 
sagen immer  sein  Recht.  Wich  aber  schon  bei  Wagner  sen. 
dem  „Ewig-Jungen"  in  Wonne  sogar  ein  Gott,  so 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


503 


bekehrt  sich,  hocherfreulicher  Weise,  nun  auf  einmal 
und  endlich  selbst  eine  liebende  Mutter  —  „schwach 
auch  sie,  ein  Mensch  wie  Alle"  (und  dieses  „Ewig- 
Weibliche  im  Menschlichen"  macht  uns  die  bedeutende 
Frau  weit  eher  sympathisch)  —  zu  den  Daseins- 
Regungen  des  jungen  Nachwuchses,  so  etwa  nach 
dem  Motto:  „Drum  ist  der  Eitern  erste  Pflicht, 
Gehorsam  ihrem  Kind!"  (Vgl.  Text  S.  54)  .  .  .  statt 
dass  umgekehrt  die  jüngere  Generation  immer  nur 
hübsch  brav  und  folgsam  an  die  ehrwürdige  Tradition 
der  älteren  sich  gefesselt,  von  deren  „autoritativer" 
Würde  nur  am  Gängelbande  sich  geleitet  sieht.  Das  ist, 
letzter  Instanz,  das  „Problem"  im  vorliegenden  Falle  — 
hie  RhoduSj  hie  saltal 

Wenn  nämlich  wir  Anderen  früher  oft  „zeit- 
gemässe"  oder  „unzeitgemässe"  Bockssprünge  auf  eigene 
Rechnung  und  Gefahr  uns  dreist  erlaubten  und  vom 
Wagner- Credo  der  konservativen  Tabulatur  hinweg  als 
wilde  „Ketzer"  gelegentlich  „radikal"  ausschlugen,  in's 
profane  Leben  herüber  (ich  erinnere  hier  an  den  „Fall 
Richard  Strauss",  der  im  innersten  Wesen  einen  solennen 
Abfall  von  Bayreuth  bedeutete):  da  wurden  dort  in  der 
„hl.  Kongregation"  der  hohen  Gralsritterschaft  die  Augen 
gerollt  und  im  intimsten  „Sanktissimum"  des  Wagner- 
Hauses,  dessen  Vorhang  n  i  e  mals  zerriss,  die  Stirnen 
düster  gerunzelt.  Jetzt  auf  einmal,  da  Wagner  jun.  selber 
solche  Seitensprünge  von  der  Leine  weg  zaghaft  wagt  und 
jenen  anderen  Pfad  „grüner"  Weide,  aus  der  „grauen 
Theorie"  heraus,  persönlich-unbekümmert  tapfer  be- 
schreitet —  ja  Bauer,  das  ist  nun  ganz  'was  Anderes!  D  a 
plötzlich  ist  es  auch  schon,  als  „Ziel  aufs  Innigste  zu 
wünschen",  offiziell  sanktioniert;  nun  wird  „Volksoper" 
—  wie  es  jetzt  heisst  —  sogar  Trumpf,  und  das  Ganze 
mit  einem  stattlichen  Freibriefe  wahn friedlichen  Kabinets- 
Insiegels  zudem  noch  versehen.   Und  nunmehr  stimmt 


Digitized  by  Google 


504 


Wagneriana.   Bd.  III. 


nichts,  aber  auch  gar  nichts  mehr  so  recht  zusammen! 
Ja,  es  ist  sogar  gut  so,  dass  nichts  mehr  zusammen 
gehen  will,  denn  es  ist  damit,  was  man  so  nennt,  „Leben 
in  die  Bude"  gekommen;  es  änderte  sich  eben  die 
Zeit,  und  neues  Leben  blüht  nun  aus  alten  Ruinen! 
„Ihrer  Majestät  allergetreueste  Opposition"  nämlich  rennt 
jetzt,  und  zwar  zum  wachsenden  Erstaunen  der  Dynastie 
wie  ihrer  „loyalen"  Anhängerschaft,  anstatt  etwa  gar  be- 
geistert jenem  Triebe  nach  Lebensbethätigung  nun  zu- 
zujauchzen, sehr  vehement  vielmehr  dagegen  an:  kennt 
sie  doch  das  Leben,  die  „moderne  Seele",  da  sie  sich 
darin  schon  tüchtig  umgethan,  längst  aus  eigener  Er- 
fahrung ungleich  besser;  glaubt  s  i  e  doch,  weil  sie 
sich  bereits  in  der  Welt  getummelt  und  wacker  mit  dieser 
„vitalen"  Frage  herum  geschlagen,  genau  zu  wissen,  dass 
diese  Art  und  solcher  Versuch  eines  Vorstosses  nach 
jungfräulichem  Neulandboden  gerade  nicht  das  Zeugungs- 
kräftige hervor  treiben  wird,  nicht  das  Lebensfähige 
wirkt,  noch  das  wirklich  Daseinsberechtigte  zu  organischem 
Wachstume  reift  und  zeitigt.  „Im  Treibhaus!"  Sie  hat 
inzwischen  ja  längst  einganz  anderes,  hoffnungsvoll-frucht- 
treibendes  Zukunftsideal  neuzeitlichen  Bewusstseins 
wie  realistischen  Könnens  und  modernen  Fortschreitens; 
über  Gräber  hinweg,  gewonnen,  d.  h.  in  sich  entwickelt 
und  bis  zum  wahrhaftigen  „Ausdrucke"  dieses  Inneren 
mählich  herauf  geführt.  Und,  mit  einem  Male  derart  frei 
geworden,  weil  ohne  Weiteres  „entbunden"  nun  durch 
das  eigene  „Aus-der-Rolle-fallen"  des  grossen  Bayreuther 
Generalstabes,  findet  sie  sich  fortan  ganz  natürlich  und 
unwillkürlich  auch  ermutigt,  dieses  ihr  mittlerweile 
neu  aufgegangene  und  thatkräftig  bereits  ausgebaute 
Ideal  —  wenn  es  denn  sein  muss,  selbst  gegen  jene 
Testamentsvollstrecker  eines  meisterlichen  Willens,  oder 
vollends  gar  gegen  „Kindereien"  —  ebenso  rückhaltlos  wie 
rücksichtslos  nun  zu  vertreten.   Der  Stein  aber  ist  damit 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


505 


unaufhaltsam  in's  Rollen  gekommen  —  dies  die 
grosse  Wohlthat  des  „Falles  Siegfried  Wagner"  für  uns 
Alle:  hinc  illae  lacrimae  wiederum  —  die  „wilden"  Szenen 
einer  tumultuarisch  demonstrierenden  Kamarilla  anläss- 
lich der  Premiere  des  „Herzog  Wildfang"  zu  München  I 
Ein  guter  Bekannter,  der  seiner  Zeit  zur  Erst- 
aufführung des  „Bärenhäuter"  eigens  nach  München 
gefahren  war,  lieferte  mir  damals  auf  einer  Postkarte 
ein  knappes  Stimmungsbild  der  dortigen  Sachlage  und 
schrieb  mit  gelinder  Entrüstung  von  dem  blassen  „Neide 
einer  Gegenklique  erfolgsüchtiger  Auch-Komponisten"  An- 
gesichts des  „bezwingenden  Eindruckes"  wie  jener  „durch- 
greifend-populären Wirkung".  Ich  glaube,  dieser  gute 
Mann  war  zu  wenig  „Psycholog",  und  die  Sache  liegt 
noch  unendlich  viel  tiefer.  Denn,  mit  Verlaub, 
just  dieses,  seither  dräuend  herauf  steigende  ressentimait 
von  schadenfrohen,  um  i  h  r  Teil  und  Ideal  einstweilen 
„Geprellten"  muss  i  c  h  meinerseits,  als  streng  un- 
parteiischer Dritter,  für  das  einzig  Folgerichtige,  Ge- 
sunde, Menschlich -Wahre,  ja  sogar  Sittlich-Berechtigte 
halten,  bei  solch  gewagtem  Spiele  Wagnerianischer 
Auguren.  Eben  dieser  düstere  „Chor  der  Unterwelt" 
mit  seinen  finsteren  Unheilsschatten  auf  den  Mienen 
aller  Zurückgesetzten  und  Missvergnügten,  dessen 
blutiges  „Rache  schwör'  ich  —  aber  gehörig!"  (um  mit 
Siegfrieds  eigenen  Versen  hier  zu  reden)  seitdem  zu 
solch  katastrophösem  Crescendo  anschwellen  sollte:  — 
dieser  Chorus  musicus  communis  muss  durch  die  jüngste 
Münchner  „Affäre"  ganz  unvermeidlich  neuerdings  erst 
recht  gründlich  geweckt  werden.  Und  sein  unmittelbar  be- 
vorstehender oder  schon  konstatierter  fff-Ausbruch  wird 
der  „Familie  Wagner**,  welcher  man  sonst  doch  wahr- 
lich das  Zeugnis  kluger  Weltpolitik  und  fein-überlegener 
Kunst-Taktik  nicht  vorenthalten  kann,  als  ein  un- 
verzeihlicher Verstoss    gegen   seine  eigenen,  bisher 


Digitized  by  Google 


506 


Wagneriana.    Bd.  III. 


vielleicht  noch  immer  „Unbedingten"  und  „Getreuen", 
mit  der  Zeit  ganz  zuversichtlich  auch  sehr  teuer  zu 
stehen  kommen  —  ja,  er  fängt  (wie  figura  „Herzog 
Wildfang"  zeigt)  schon  heute  an,  ihr  „höllisch"  un- 
bequem zu  werden,  wenngleich  sie's,  mit  billigen  Ver- 
tröstungen auf  die  Märtyrer-Schicksale  eines  Richard 
Wagner,  zunächst  nicht  gerade  Wort  haben  will !  Wo  es 
sich  denn  nicht  mehr  um  eine  Konfrontierung  von 
umfassendem  Weltgenie  mit  beschränktem  Lokal-  oder 
Zeittalente  handelt,  wenn  der  „Epigone"  nicht,  wie 
früher,  dem  „Koloss  Wagner"  selber  entgegen  tritt,  sondern 
sich  einfach  nur  mehr  Neuling  und  Neuling,  oder  gar 
nur:  gewiegter,  könnender  „Neu -Töner"  und  nach- 
empfindender, aber  tastender  Kunst-Novize,  einander  allein 
gegenüber  stehen,  da  kann  es  sich  halt  auch  blos  mehr 
um  die  eine  Frage  drehen :  Potenz  oder  Impotenz  ? 
Triebkeim  oder  Nachblüte?  Und  ob  auf  dieser  natür- 
lichen Basis  alsdann  Wagner  II.  gleichfalls  Sieger  im 
„Opern-Wett-  und  Werbe -R e  n  n en"  bleiben  wird, 
wie  es  Wagner  I.  im  „M  usikdramen-Wett-  und 
Werbe-Singen"  gewesen,  das  steht  zum  Mindesten  doch 
sehr  in  Zweifel. 

In  der  That:  Ist  der  junge  Wagner  wohl  ein 
solcher  „hürnen  Seufried"  (gehörnter  Siegfried),  d.  h. 
eben  mit  jener  wetterfesten,  harten  Hornhaut  angethan, 
die  ihre  Helden  „feit"?  —  die  im  gegebenen  Falle  das 
geeignete  Material  dazu  abzugeben  vermöchte,  um  den 
vernichtenden  Attacken  jenes  inkommensurablen  und 
dabei  noch  arg  lebensgefährlichen  Lindwurm-Ungeheuers 
Stand  halten  zu  können,  als  welches  sein  leiblicher 
Vater  für  die  N  a  c h  wagnerischen  Musikdramatiker  alle 
ohne  Ausnahme  mehr  oder  minder  doch  sich  aufrollen 
muss?  Ich  fürchte  sehr,  bis  zum  bekannten  Wotan- 
Problem:  dass  der  Junge,  Freie,  Naive,  mit  dem 
selbsteigen    geschmiedeten    neuen    Schwerte  seiner 


Digitized  by 


Der  Erbe. 


507 


so  genannten  „Volksoper"  den  bewährten  „musikdrama- 
tischen" Runen-Speer  des  heiligen  Alten  vom  Bürger- 
reuth-Berge, samt  den  darin  eingegrabenen  ewigen 
Leitmotiven,  kecklicher  Weise  etwa  schon  in  tausend 
Stücke  zerspellt  hätte  —  bis  dahin  hat's,  zumal  wenn 
wir  Jenes  „Meistersinger"  mit  Dieses  „Meisterspringern" 
einmal  in  arg  hinkenden  Vergleich  ziehen  —  wohl  noch 
seine  recht  guten  Wege.  Ein  Anderes  ist  es,  als 
der  berufene  und  auserwählte,  „volkstümliche"  Held 
den  quer  über  dem  Wege  liegenden  Feuer-Drachen  des 
mythologischenWagner-Ethos  und  eines  melodramatischen 
Erlösungs  -  Pathos  durch  gehaltreiche  Einfalt  und  un- 
schuldige Natürlichkeit  „ur- sprünglich"  überspringen, 
will  sagen :  diesen  beherzt  ü  b  e  r  w  i  n  d  e  n ;  ein  weit  Anderes 
wieder,  in  bewusst  - reflektierter  „Volkstümlichkeit", 
d.  i.  Popularitätssuche,  vor  dem  heissen  Schlund  und 
dem  geifernden  Glutrachen  jenes  Monstrums,  ohne  ihm 
die  starken  Giftzähne  im  lachenden  Leckermaule  zuvor 
auszuziehen,  mit  Avanciersignal  auf  dem  Waldhorn 
mutig  —  zurückweichen.  Solch  „rückläufige"  Be- 
wegung aber  ist  es,  was  sich  in  Siegfrieds,  zum  Pro- 
gramm erhobener,  sozusagen  „melodischer  Reaktion" 
ganz  zweifellos  nun  wieder  ankündigt  —  einer  Reaktion, 
welche  prinzipiell  doch  oft  nicht  viel  Anderes  als  die 
leerste  „Restauration"  zu  Lortzing  (was  noch  gar  nicht 
einmal  so  schlimm  schiene)  und  —  Rossini  zurück,  ja 
noch  unter  dieses  Niveau :  zu  dem  seligen  Nessler 
hinab,  vorstellt.  Principiu  obstal  Dass  sein,  wie  der 
Pontius  im  „Credo"  völlig  unvermutet  in  unserer  Oper 
auftauchender  Jugendgeliebter  jener  wetterwendischen 
Osterlind  —  der  famose  Reinhart  —  im  Grunde  nur 
einen  „Trompeter  von  Szegedin"  bedeutet,  das  haben 
ich  und  Andere  einem  Siegfried,  genannt  „Wagner", 
jedenfalls  sehr  übel  „vermerkt".  Freilich:  „Liebe  und 
Trompetenblasen  nützt  zu  vielen  schönen  Dingen." 


Digitized  by  Google 


508 


Wagneriana.    Bd.  III. 


Und  doch  freut  man  sich  zwischendurch  wieder 
an  so  Manchem,  übersieht  man  keineswegs  gewisse 
künstlerische  Absichten  wie  ästhetische  Qualitäten,  und 
schöpft  man  da  und  dort,  wenn  man  nur  entsprechend 
unbefangen  bleibt,  vorübergehend  sogar,  wie  bemerkt, 
allerlei  Hoffnungen.  So  wollen  wir  z.  B.  durchaus 
nicht  übersehen  haben,  wie  gerade  aus  der  nahe  liegenden 
Analogie  zwischen  dem  „Herzog  Wildfang"  und  den 
„Meistersingern"  zuletzt  doch  fast  so  etwas  wie  Kritik 
seines  eigenen  Vaters  bei  Siegfried  resultiert:  ein 
ad  absurdum -Führen  gleichsam  des  älteren  „Liebes- 
Weit-  und  Werbe-Sanges"  durch  dieses  jugendlich  über- 
mütigere „Liebes -Wett-  und  Werbe -Rennen"  mit  seinem 
zunächst  ganz  unglücklichen  Ausgange;  ein  Protest  der 
Jugend  also  gewissermassen,  des  Inhaltes  etwa:  dass 
ein  so  leichtfertiges  Wettspiel  und  ein  so  gewagter 
Sportkampf  um  ein  Menschenleben  doch  auch  einmal 
recht  schief  ausfallen  kann,  und  dass  solch'  frivole  Ver- 
schacherung eines  Mädchenglückes  allerwege  nichts 
besagt  Angesichts  des  Wesens  und  Wirkens  der  grossen 
Allwalterin  Liebe!  Allein,  das  geht  bei  Siegfried  an- 
scheinend doch  auch  nicht  allzu  tief  und  schon  gar  nicht 
etwa  als  „Protest"  bis  auf  die  Knochen  oder  das  Lebens- 
mark selber.  Wir  möchten  also  unserseits  keinesfalls  mehr 
Wesens,  als  es  wohl  verdient,  daraus  gemacht  haben. 
Hingegen  ist  eine  andere,  wichtigere  und  zugleich  ent- 
schieden liebenswürdige  Seite  —  so  weit  ich  sehen 
kann  —  ganz  und  gar  noch  nicht  bemerkt  worden  bei 
jenem  wenig  erquicklichen  Geschrei,  das  sich  um  das  in 
Rede  stehende  Streitobjekt  im  Tageslärm  der  Presse  als- 
bald erhoben  hatte.  Hat  man  denn  nicht  im  Geringsten 
nebenher  mit  wahrgenommen,  wie  in  Kolorit  und 
Charakter,  in  sprachlicher  Ausdrucksform  und  Stimmung 
eine  Art  „  Heimatkunst "  —  ob  nun  bewusst  oder  un- 
bewusst,  lassen  wir  dahin  gestellt  —  glücklich  nun  auch 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


509 


auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Oper  sich  hier  meldet  (wie 
sie  später  in  R.  Strauss'  „Feuersnot"  mit  dem  Münchener 
Milieu  noch  bemerkenswerte  Fortsetzung  fand)?  Mit 
Namen  wie  Kuni,  in  Redewendungen  und  Anklängen,  hier 
und  dort  plötzlich  auftauchend  (vergleiche  z.  B.  die  eigen- 
artige Episode  mit  dem  alten  „Zupfer"),  ist  ein  Grund- 
ton aus  dem  spezifisch  fränkisch-thüringischen  „Winkel" 
{nebenbei  allerdings  auch  von  jener  Langweiligkeit  und 
Fadaise,  die  dort  gerade  heimisch  ist  und  selbst  uns  Bayern 
noch  die  Franken  gelegentlich  als  fremd  empfinden 
lässt)  hier  doch  jedenfalls  angeschlagen  —  deutlich  genug 
für  den,  der  Ohren  hat  zu  hören.  Ja,  es  Hesse  sich 
am  Ende  selbst  kühnlich  behaupten:  Siegfried  Wagner 
habe  gerade  bei  den  Stellen,  die  von  der  grossen 
Menge  zunächst  noch  als  „unsympathisch",  „unter- 
mässig"  begrüsst,  als  „Operettenhaft"  abweisend  genug 
gerügt  wurden,  harmlos -reflexionslos  vielleicht,  den 
realistischen  Sokkus  des  Mundartlichen,  Provinziellen 
zum  bisher  so  hohen  Kothurn  des  idealistischen  Musik- 
dram a's  seines  Vaters  neuerdings  hinzu  gefügt;  er  habe 
möglicher  Weise  damit  also  für  das  nachgerade  un- 
ausstehlich hoch  gesteigerte  Pathos  der  Epigonen-Oper, 
seinem  eigenen  Erzieher  zuwider,  eine  ähnliche 
„naturalistische"  That  vollbracht,  wie  sie  seinerzeit 
schon  Gerhard  Hauptmann,  entgegen  Goethe  und  Schiller, 
für  das  Epigonentum  im  rezitierten  Drama  seiner 
Tage  bezweckte  —  und  auch  wohl  alsdann  bewerk- 
stelligte, mit  jener  bekannten  durchgehenden  Anleihe 
beim  schlesischen  Dialekte  und  jener  grundsätzlichen 
Einkleidung  in  die  ausgefeilte  Prosarede,  welche  zu- 
nächst so  viele  Angriffe  Seitens  der  Kunstwächter  und 
„Schönheits"-Pächter  erst  noch  erfahren  sollte.  Sieg- 
fried Wagner  hätte  sich  demnach  —  auffällig  genug  — , 
obwohl  der  Spross  eines  geborenen  Sachsen  und  einer 
Halb-Französin,  zudem  als  ein  Ausländer  zu  Triebschen 


Digitized  by  Google 


510 


Wagneriana.    Bd.  III 


bei  Luzern  im  Schweizer  Lande  zufällig  zur  Welt  ge- 
kommen, mit  seiner  „Jugend"  doch  in  Mittel- Deutsch- 
land nach  und  nach  naturalisiert,  akklimatisiert  und  ein- 
gebürgert. Siegfried  also  schliesslich  doch  ein  „Wagner" 
neuer  Dinge  in  seinem  Fache?  Oder  wäre  auch  das 
wieder  unecht,  nur  gemacht,  gesucht  und  posiert  an 
ihm  (wie  gar  Viele  behaupten  wollen)?  „Des  Rätsels 
tiefgeheimen  Grund  —  wer  thut  der  Welt  ihn  endlich 
kund?- 

Auf  der  anderen  Seite  wieder  darf  es  sicherlich  — 
ja,  muss  es  unter  allen  Umständen  bass  verdriessen, 
dass  wir  so  wenig  eigenes,  selbständig-urwüchsiges  und 
vollwertiges  Lebensgefühl  bisher  an  ihm  zu  entdecken 
vermögen:  keinerlei  Spur  von  dem,  was  wir  „persön- 
liche Beseelung"  nennen  möchten!  Eine,  wenn  schon 
frei  erfundene,  Fabeleinkleidung  liegt  ja  nur  wieder 
in  diesem  „Textbuche"  vor,  aber  mit  Nichten  eine  ur- 
eigene „Weltanschauung".  Und  dabei  reist  er  doch  als 
weltmännischer  „Globetrotter"  von  Berlin  nach  Rom  und 
von  Paris  nach  Budapest!  Was  würde  nicht  Unsereiner 
von  solchen  Wanderfahrten  und  Lehraufenthalten  alles 
mit  „heim"  bringen  —  ganze  Kulturen  und  weite,  grosse 
Lebens -Perspektiven!  S  e  i  n  Resultat  aber?  Es  scheint 
zuletzt  lediglich  dieses:  dass  er  seinen  Vater,  Richard 
den  Grossen,  in  so  reichlich  alberner  Weise  fast  nur  kopiert, 
und  dass  er  zu  diesem,  gelegentlich  odiosen  Operetten- 
Milieu  (aus  jener  historischen  Zeit  der  wilden 
Parforce-Jagden  und  der  herrischen  Menschenversklavung 
des  18.  Jahrhunderts,  da  die  Unterthanen  nur  wie  ein 
Stück  Vieh  behandelt  wurden  und  der  Bauer,  dessen 
Felder  man  mit  diesem  Treiben  gewissenlos  verwüstete, 
im  Vorbeihetzen  eins  mit  der  Peitsche  noch  abbekam) 
—  nur  zu  häufig  eine  womöglich  noch  läppischere 
Musik  zu  machen  beliebt.  Der  einzig  annehmbare  An- 
klang an  eine  „Kultur  des  Südens"  lässt  sich  da  allen- 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


511 


falls  noch  aus  den  etwas  unbeholfenen  Versen  heraus 

lesen  (Text  S.  49): 

„An  meerumrauschte,  prangende  Ufer, 

Wo  heiter  die  Menschen,  wo  funkelnd  der  Wein: 

Da  lässt  es  sich,  Mädchen,  gar  besser  sein!" 

Dürfen  wir  das  —  trotz  des  schlechten  Deutsches  — 
vielleicht  als  erste  Ansätze,  als  leise  Regung  bei  Jung- 
Siegfried  zu  einer  mehr  romanischen,  voraussetzungs- 
losen Weltauffassung  „jenseits  von  Gut  und  Böse*' 
deuten  und  den  Sohn  R.  Wagners  dereinst  noch  einmal 
freudig  im  Nietzsche- Lager,  als  den  enthusiastischen 
Parteigänger  etwa  der  „gaya  scienza"  einer  heisseren 
Zone,  begrüssen?  Oder  sollen  wir  einen  ureigenen 
Ausdruck  seiner  augenblickliehen  politischen  Ge- 
sinnung etwa  darin  suchen,  dass  er  mit  den  energischen 
Worten  des  „deutschen  Michels"  Christoph  Kern  (S.  2): 

„Statt  des  Schachers  über's  Meer, 
Unsre  Burschen  dort  zu  fallen, 
Besser  wlr*s,  wir  könnten  —  hör*! 
Unsre  Felder  fromm  bestellen, 
Die  von  adeligen  Pferden 
Gar  so  gern  zertrampelt  werden!" 

zu  unserer  neuzeitlichen  „Weltmachtpolitik"  in  Ostasien, 

und  in  dem  „emphatischen"  staatsmännischen  Bescheide 

des  alten  Fuchses,  Blank  mit  Namen  (S.  4): 

„Für  sich  mögen  Briten  raufen! 
Nimmer  darf  man  Euch  verkaufen!** 

zum  Buren- Engländer- Krieg  in  Südafrika  Stellung  zu 
nehmen  sucht?  Ist  es  wirklich  seine  innerste,  so  un- 
gefähr „artistische"  Überzeugung,  was  er  seinen  „Herold" 
im  dritten  Aufzug  (Text  S.  92)  laut  allem  Volke  ver- 
künden lässt: 

„Mummenschanz  und  Fastnachtsspiel 
Ist  des  Lebens  ganzes  Ziel?- 

Und  begreift  es  wirklich  seine  ganze  Ansicht  vom 


Digitized  by  Google 


512 


Wagneriana.   Bd.  III. 


Leben,  seinen  subjektiven  „moralistischen"  Standpunkt 
durchaus  in  sich,  wenn  er  mit  Anzengruber  das  „vierte 
Gebot"  anarchisch-liberal  dahin  revidiert: 

„Väterchen,  Du  musst  stets  artig  sein!". .  . 
„Es  ist  des  Vaters  erste  Pflicht: 
Gehorsam  seinem  Kind!4» 

(Vergl.  Text  S.  53  f.). 

Höchstens  noch  Hesse  sich,  in  sozial-ethischer 
Beziehung  endlich,  eine  Art  geistiger  Entwicklung  bei 
Jung- Siegfried  feststellen,  von  einer  „herrenmensch- 
lichen", streng  individualistischen  Befürwortung  der 
Prügelstrafe  im  ersten  Akte  —  vergl.  dazu  den  Zorn- 
ausbruch des  Herzogs  in  den  Worten  (Text  S.  25): 

„Prügel  sind,  wo  icb's  traf, 
Immer  noch  die  beste  Straf! 
Diesem  zwanzig,  jenem  zehn  — 
Gebessert  sie  nach  Hause  geb'n!"  — 

bis  zur  kniefällig -romantischen  Anbetung  und  einer 
stock -konservativen,  reaktionären  Verehrung  altruisti- 
schen „Königtums",  wie  es  sich  in  der  Schlussapostrophe 
ausspricht  mit  den  schön  gebauten  Versen  des  ver- 
zückten „Volkes": 

„Wie  im  Himmel  wir  dort  oben 
Unsern  Herrgott  dankbar  loben, 
Hier  auf  Erden  mit  frohen  Weisen 
Unsern  Herzog  lasst  uns  preisen!"  — 

bezw.  ganz  zuletzt  noch  zu  wahrhaft  rührender  „Harmonie 
der  Weltschöpfung**  sich  verdichtet  in  dem  „heiligen** 
Versprechen  eines  also  „frei**  erwählten  und  „allseits 
geliebten**  Fürsten: 

„Ruhend  auf  des  Schmerzens  Stein, 
Geätzt  mit  wehmutsvoller  Pein, 
Erheb*  sich  neugefugt  ein  Bau, 
Der  auf  zum  Himmel  ragend  schau'! 
Nicht  düster  drohe  seine  Mauer! 
Sein  Anblick  wecke  keinen  Schauer! 


Digitized  by  Google 


Der  Erbe. 


513 


Mild  und  fest,  in  ernster  Freude, 
Steh'  das  lichtvollste  Gebäude! 
Zu  neuem  Leben  im  Herzen  die  Kraft 
Neu  werde  nun,  und  froh  geschafft!  — 
Die  ihr  mich  umringet:  Hört!  Wohlan! 
Als  Euer  Herr  dien*  ich  fortan." 

Nur  freilich  wäre  solchen  rückständigen  VelleTtäten 
mit  Nachdruck  heute  doch  entgegen  zu  halten,  was 
schon  Friedrich  Nietzsche  („Jenseits  v.  G.  u.  B.", 
Aph.  199)  eindringlich  genug  unserer  Zeit  gepredigt  hat: 
„Denkt  man  sich  den  H e r d en - 1 n st i n k t  einmal  bis 
zu  seinen  letzten  Ausschweifungen  schreitend,  so  fehlen 
endlich  geradezu  die  Befehlshaber  und  Unab- 
hängigen; oder  sie  leiden  innerlich  am  schlechten 
Gewissen  und  haben  nötig,  sich  selbst  eine  Täuschung 
vorzumachen,  um  befehlen  zu  können:  nämlich,  als  ob 
sie  auch  gehorchten.  Dieser  Zustand  besteht  heute 
thatsächlich  in  Europa:  ich  nenne  ihn  die  moralische 
Heuchelei  der  Befehlenden.  Sie  wissen  sich  nicht  anders 
vor  ihrem  schlechten  Gewissen  zu  schützen  als  dadurch, 
dass  sie  sich  als  Ausführer  älterer  oder  höherer  Be- 
fehle gebärden  (der  Vorfahren,  der  Verfassung,  des 
Rechtes,  der  Gesetze  oder  gar  Gottes)  oder  selbst  von 
der  Herden-Denkweise  her  sich  Herden-Maximen  borgen, 
zum  Beispiel  als  erste  Diener  ihres  Volks  oder 
als  Werkzeuge  des  gemeinen  Wohls." 

Vielleicht  würden  wir  es  nicht  „moralische 
Heuchelei"  mit  dem  Philosophen  nennen,  sondern 
dafür  lieber  sagen:  dass  die  Fürsten  und  Herrschenden 
eben  in  moralischer  Zwangslage  sich  heute  befinden, 
einer  frommen  Selbsttäuschung  in  unseren  Tagen  besten 
Falles  unterworfen  bleiben.  Allein  wir  sehen  nach 
Obigem  schon  klar  genug:  es  besteht  noch  nicht  die 
geringste  Gefahr  bis  jetzt  für  das  „Bayreuther  Erbe" 
und  das  eingeschworene  Wagnertum.   Nein,  nein,  lieb9 

Seidl,  Wagneriana.    Bd.  III.  33 


514 


Wagneriana«   Bd.  III. 


Vaterland  magst  ruhig  sein!  Siegfried,  der  Nachkomme 
mit  dem  klangvollen  Namen  „Wagner",  ist  trotzdem  ein 
viel  zu  guter  „Wagnerianer"  —  er  wird  noch  lange 
kein  Zarathustra -Jünger  werden.  Wie  schade  I  Die 
«fröhliche  Wissenschaft"  für  eine  wahrhaft  zeitgemässe, 
feinkomische  Oper  wäre  doch  gerade  dort  —  nicht 
aber,  meiner  Ansicht  nach,  aus  Dr.  R.  Batka's  „fröhlicher 
Tonkunst"  einer  etwas  altvaterisch  „Bunten  Bühne"  zu 
holen. 


Digitized  by  Google 


Erlösungsopern 

Ein  Ausblick 
(1901) 

„Sondern  erlöse  uns  von  dem  Übel!" 

Es  ist  nicht  eine  durchgeführte  Abhandlung,  was 
ich  zu  diesem  zeitgemässen  Thema  als  Abschluss  hier 
noch  geben  will.  Nur  die  schärfere  Aufmerksamkeit,  den 
Blick  „Gewitzigter"  möchte  ich  im  Nachfolgenden  gerne 
nunmehr  hinlenken  darauf,  dass  es  vielleicht  nicht  nur 
formale  Fatalitäten,  sondern  inhaltliche,  stoffliche  Be- 
denken gewesen  sein  könnten,  was  die  „Wagner-Nach- 
folge" zum  Teil  zu  einer  so  schlimmen  Wagner- Nach- 
ahmung schon  sich  hat  entwickeln  lassen,  so  dass  ein 
Nietzsche  Angesichts  des  musikalischen  „Merlin" -Drama' s 
seinerzeit  von  dem  „Wagner- Affen"  Goldmark  mit  einigem 
Rechte  bereits  sprechen  konnte.  Nicht  „Leitmotiv" 
noch  „Sprachgesang",  nicht  „sinfonisches  Orchester" 
und  nicht  die  Eigendichtung  des  Textes  durch  den 
Komponisten,  bilden  zuletzt  die  entscheidenden,  charak- 
teristischen Momente  jener  üblen  Erscheinung,  die  man 
mit  dem  Namen  Wagner-Epigonentum  bezeichnen  kann. 
Auch  nicht  die  schon  von  Paul  Marsop  (in  der  „Neu- 
deutschen Kapellmeistermusik")  mit  Recht  als  typisch 
aufgegriffene  Formel  der  Kritik  Nach-Wagnerischer 
Opern-Novitäten:  „Der  Komponist  hat  die  ruhmvollen 
Errungenschaften  R.  Wagners  nicht  ohne  Geschick  zu  be- 
nützen gewusst,  ohne  deswegen  seine  eigene  Individualität 

33* 


Digitized  by  Google 


516 


Wagneriana.    Bd.  III. 


preiszugeben"  —  nicht  sie  ist  das  punctum  saliens  jener 
verflachenden,  arg  zurück  ebbenden  Flutbewegung,  die 
sich  vom  Namen  Richard  Wagner  in  unserer  „modernen 
Oper*  nun  einmal  her  schreibt.  Vielmehr,  ich  meine: 
das  Textliche,  Stoff  wie  Sujet,  ist  der  eigentliche  Kern  des 
geistigen  Verfalles,  der  Grund  eines  unfruchtbaren  Tief- 
standes der  ganzen  Bewegung,  welcher  sie  naturgemäss 
heute  in  zwei  Lager  (das  der  Konservativen  und  das  der 
Fortschrittlichen)  trennen  muss;  und  es  will  mir  scheinen, 
als  ob  sie  beide  eine  allzu  sklavische  Abhängigkeit  gegen- 
über dem  Vorbilde  aufwiesen,  die  nicht  länger  mehr 
einer  psychologischen  Analyse  und  ästhetischen  Er- 
örterung sich  entziehen  dürfe.  (Wie  denn  schon  einige 
„Kunstwart" -Aufsätze  von  Gerhard  Schjelderup, 
der  selbst  mit  „Sommermorgen tt  oder  „Der  Liebe  Macht" 
darin  seine  eigenen  Wege  ging,  etwas  wie  Ahnung  dieses 
Sachverhaltes  in  sich  zu  tragen  schienen.)  —  Wir  werden 
nicht  nur  rein  formal  die  „Oper"  ausdrücklich  dem 
„Musikdrama"  dabei  gegenüber  zu  stellen  haben;  zwei 
ganz  verschiedene  Welten  werden  sich  uns  von  vorne- 
herein aufthun,  und  mit  ihnen  die  unsäglich  tief  greifenden 
Unterschiede  zweier  heterogener  Weltanschauungen 
zugleich  sich  uns  unverkennbar  offenbaren  .  .  . 

„Erlösung"  —  dies  war  ja  das  grosse  Haupt-  und 
Leibthema,  das  sich  durch  die  Stoffwelten,  will  sagen: 
die  Dichtungen,  eines  R.  Wagner  hindurch  zog;  sie  der 
helle  Leitstern,  an  dem  sein  Ideal  sich  immer  wieder 
neu  aufrichtete.  Und  es  ist  ein  weiter  und  langer,  gar 
bedeutsamer  Weg,  den  der  Schöpfer  dieser  Musik- 
Dramen  —  von  der  „Erlösung  des  Helden  durch  das 
Weib"  über  die  „Erlösung  des  Ewig-Weiblichen  durch 
den  Mann"  (im  „Lohengrin")  hinweg  —  geistig  zurück 
legt,  bis  endlich  in  seinem  Testamente,  dem  weihevollen 
„Parsifal",  zuletzt  noch  ein  „Erlösung  dem  Erlöser!"  als 
höchster  Wunsch  erklingt  und  solches  als  idealer  Ab- 


Digitized  by  Google 


Erlösungsopern 


517 


schiedsgruss  von  dieser  irdischen  Welt  dem  Meister,  in 
Form  eines  Lorbeerkranzes  der  „Wagner- Vereine",  sogar 
auf  sein  eigen  Grab  gelegt  ward.  Ein  solcher  Daseins- 
schmerz  aber,  mit  der  Sehnsucht  über  diese  Welt  hinaus, 
mit  dem  Wunsche  nach  Selbstvernichtung  und  zum  persön- 
lichen Untergang,  sowie  der  Verklärung  des  Leides  durch 
heldische  Totenfeier  — ,  er  konnte  doch  nur  erwachsen 
auf  dem  Grunde  einer  durchaus  tragischen  Auffassung 
des  Lebens,  des  schweren  Ernstes  der  Schopenhauer'- 
schen  Philosophie,  als  der  Erkenntnis  von  der  Nichtig- 
keit dieser  Welt  des  vorgestellten  Scheines,  wie  ihrer 
steten  Überwindung  durch  die  Kraft  einer  selbst- 
mörderischen Verneinung  des  Lebenswillens.  Der  ek- 
statische Zug  zur  Auflösung  im  Nichts,  das  müde,  mürbe 
Bedürfnis,  krank  und  gebrochen,  von  sich  selber  los  zu 
kommen  und,  unfähig  in  dieser  Welt  sich  zurecht  zu 
finden,  ästhetisch-resigniert  sich  ein  anderes,  besseres 
Dasein  zu  gestalten,  sprach  sich  in  diesem  monumentali- 
sierten  Erlösunßs-Triebe  und  stilisierten  Heilsdrange 
ganz  zuversichtlich  aus. 

War  es  nun  wirklich  einzig  und  allein  der  satanische 
Hang  zur  „ironischen  Antithese"  (vgl.  „Briefe";  Bd.  I, 
407),  was  einen  Nietzsche  ehedem  dieser  Kunstentwick- 
lung in  seinem  „Fall  Wagner"  Bizets  „Carmen"-Oper 
kecklich  gegenüber  setzen  Hess?  Lag  der  in  solcher 
bewusst-unfreundlichen  Handlung  sich  äussernde  An- 
tagonismus nicht  doch  vielleicht  einigermassen  tiefer,  so 
dass  er  als  Credo  eines  neuen  Lebensinhaltes  zuletzt 
heraus  kommen,  als  Signal  zugleich  einer  ideell  von  Grund 
aus  veränderten  Situation  berühren  und  als  neue  Welt- 
anschauung im  Ganzen  und  Besonderen  begrüsst  werden 
dürfte  ?  —  In  der  That,  es  lag  etwas  dem  Ahnliches  hier 
zu  Grunde,  handelte  es  sich  bei  diesem  scheinbar 
nur  hasserfüllten  Akte  doch  um  die  innere  Notwendigkeit 
und  inzwischen  sicher  heran  gereifte  Thatsache  eines 


Digitized  by  Google 


518  Wagneriana.    Bd.  III. 


neuen,  damals  (1888)  fast  noch  ganz  unbekannten,  philo- 
sophischen Ideales.  Nicht  mehr  das  Genre  des  Zwei- 
deutigen und  der  Zote,  Frivolität  oder  Zynismus  der 
so  genannten  „leicht  geschürzten  Muse"  stand  vor  uns, 
es  war  einfach  der  ungewohnte  und  selbstherrliche, 
aber  freudig-heroische  —  ein  „dionysischer"  Pessi- 
mismus der  immoralistischen  „gaya  scienza",  einer  über- 
strömenden Kraft  gerade  und  uberfülle  des  Lebens, 
was  da  in  seinem  Urteil  über  die  „Carmen",  als  Exempli- 
fikation seiner  Lehre  auf  die  Kunst  seiner  Tage,  bei 
Nietzsche  sich  meldete,  was  noch  obendrein  bei  Hans 
von  Bülow  später,  gelegentlich  einer  Musteraufführung 
des  Werkes  auf  der  Hamburger  Bühne,  mit  einem 
tragischen  Akzente  schattiert,  lebendig-eindrucksvoll 
vor  die  Augen  treten  sollte.  „Jenseits  von  Gut  und 
Böse*  stehend,  vaterlandslos-zigeunerhaft,  wildrassig  im 
Triebleben,  sich  selber  Rechte  nehmend  und  Gesetze 
gebend,  am  herrischen  Kraftmenschen,  dem  Stier-Sieger, 
sich  empor  rankend  und  raubtierartig  umher  schweifend, 
vogelfrei  in  der  Welt  herum  flatternd,  zudem  unter  süd- 
licher Glut,  einer  mittelländischen  lim-pidezza,  „gekocht 
im  eigenen  Safte"  —  sagt  diese  „Natur4*,  selbst  noch  zu 
ihrem  dunkelsten  Fatum,  beherzt  „Ja!",  segnet  und  recht- 
fertigt sie  dieses  ihr  rosenumkränztes  Leben,  sogar  bis 
in  den  Tod  hinein  tanzend  „auf  leichtem  Fusse",  mit 
einem  jauchzenden  „Trotz  alledem  —  dennoch!  Was 
liegt  an  mir?"  Hier  wahrlich  gab  es  nichts  mehr  zu 
„erlösen",  denn  das  war  frei  in  sich,  mitleidlos,  ganz 
nur  Instinkt  und  Selbstbestimmung  —  ohne  allen  und 
jeden  „Gewissensbiss"! 

Und  das  grosse,  gesunde  Leben  schritt  weiter.  Es 
stieg  der  stürmische  „Verismo"  unbändig-ungebärdigen 
Jungitaliens  mit  seinem  Einakter-Impressionismus  herauf, 
den  Nietzsche,  persönlichen  Anteil  nehmend,  nicht  mehr 
sollte  erleben  dürfen.    Allüberall  eine  überraschende, 


Digitized  by  Google 


Erlösungsopern.  519 


förmlich  einschlagende  Wirkung,  wie  als  ob  ein  Wagner 
gar  niemals  gewirkt  hätte,  und  obwohl  dieser  Stil  und 
solche  Art  doch  einem  Bayreuther  Ideale  direkt  in's 
Gesicht  schlagen  mussten.  Woher  nun  diese  Wandlung? 
Je  nun,  das  Publikum  —  satt  des  trocknen  Tones  ewiger 
Erlösungsinbrünste  —  jauchzte  dem  brutalen  Naturlaute 
selbst  bis  zu  Mord  und  Totschlag,  Dolch,  Gift,  Raubgier 
und  Liebesbrünsten  offen  zu,  weil  hier  sich  la  bete  humaine 
in  anarchisch-schöner  Kraftentfaltung  selbstherrlich- 
nackt, ohne  die  europäisch-zivilisierte  Moralverkleidung 
nämlich,  wieder  einmal  in  frohlockender  Stärke  erging. 
Es  folgte  des  greisen  Verdi  „hl.  Lachen"  im  „FalstafP  *, 
und  man  triumphierte  m  i  t  dem  Alten,  wie  er  da  —  ein 
überlegener  "Weltweiser,  in  wahrhaft  göttlichem  Lebens- 
humor, wo  Andere  bei  der  Bigotterie  anlangten  —  als 
Letzter  „am  allerbesten"  zu  lachen  wusste.  Man  besann 
sich  alsbald  auch  gerne  wieder  zurück  auf  Mozarts  leichtes 
ndramma  gioc<m*  einer  mehr  romanischen  Kulturblüte 
und  Weltauffassung  —  auf  jenes  prickelnde,  graziöse 
Spiel  vom  dionysisch -überfrohen,  Champagner- über- 
schäumenden gleich  sehr  wie  lebens-trunkenen,  dabei 
aber  von  Hause  aus  durch  und  durch  aristokratisch 
veranlagten  Ritter  „Don  Juan".  Und  merkwürdig! 
Obgleich  Possart  in  der  dramatischen  Restitution  und 
dekorativen  Restauration  diesem  gerade  das  weisse 
Tugen  d  mäntelchen  der  älteren  Schlussszene  mit  dem 
Strafgericht,  d.  h.  die  „Moral  der  Geschieht  vom 
Bösewicht",  jetzt  wieder  umhängte:  man  sah  den  vor- 
nehmen, feinen,  unersättlichen  „Lebenskünstler*  nun 
doch  wie  plötzlich  unter  dem  völlig  veränderten  Gesichts- 
punkt eben  jener  hispanischen  9gaya  scienza",  welche  über 
4ie  bornierte  Welt  der  philiströsen  Bedenklichkeit  von 
„Normalheim  und  Alltagsleben"  frisch-flott-fröhlich-frei 
immerdar  geistes-gegenwärtig  sich  hinaus  schwingt;  man 
konnte  im  Grunde  nirgends  mehr  den  „bestraften  Wüst- 


Digitized  by  Google 


520 


Wagneriana.    Bd.  III. 


ling"  in  ihm  finden,  wohl  aber  den  „ unverwüstlichen 
Wildling"  eines  aufrecht-stolzen  Abenteurertums  drauf« 
gängerischer  Konquistadorenart  alsbald  nur  mehr  an 
ihm  entdecken.  Ihm  war  „alles  zu  Willen"  —  er  selber 
nahezu  „ohne  Furcht  und  Mitleid",  aber  auch  ohne 
Tadel!  —  Es  kam  hierauf  noch  der  harmlos-muntere, 
von  Grund  aus  frischblütige  Czeche  Smetana  mit  seiner 
anspruchslosen  „Verkauften  Braut"  als  eine  neue,  will- 
kommene Nüance  und  besondere  Note  der  Aufhellung 
wie  Aufklärung  mit  hinzu;  der  rede-  und  trinkselige 
„Lortzing",  höchstens  nur  bei  der  romantischen  „Undine" 
von  des  Erlösungsgedankens  Blässe  in  seiner  sonst  so 
übersprudelnden  Laune  etwas  angekränkelt:  auch  dieser 
Tote  ward  zu  munterstem  Leben  wieder  auferweckt,  — 
während  wir  vom  Sullivan'schen  „Mikado"  (der  aber 
doch  etwas  Anderes  als  nur  eine  Mode-0  p  e  r  e  1 1  e  war) 
oder  von  der  Strauss'schen  „Fledermaus"  (die  plötzlich 
so  Hoftheater-fähig  wurde)  im  Übrigen  hier  erst  noch 
ganz  absehen  wollen.  Kurz:  es  klang  beinahe  schon 
wie  eine  „Erlösung  von  der  Erlösung44,  als  Befreiung 
von  einem  langen,  lastenden  Alpdrucke,  was  durch  die 
deutschen  Lande  und  ihr  nordisch-graues  Nebelklima 
nun  plötzlich  so  sonnig  gehen  wollte. 

Auch  Richard  Wagner  hatte  ja,  zu  glücklicher  Stunde 
einmal,  das  Leben  statt  mit  dem  bei  ihm  üblichen 
„bösen",  mit  „gutem  Blicke"  angeschaut  —  in  seinen 
köstlichen  „Meistersingern"  bekanntlich;  und  Peter 
Cornelius  im  fein-komischen  „Barbier  von  Bagdad"  vor- 
dem, oder  Hermann  Götz  in  der  drastischen  „Zähmung 
der  Widerspänstigen"  nachher,  neuerdings  auch  noch 
Sporck-Schillings  mit  dem  tollen  „Pfeifertag**,  weniger 
„ideal"  Recnizek  mit  „Donna  Diana"  u.  „Till**,  Meyer- 
Olbersleben  mit  dem  „Haubenkrieg*,  haben  diesen 
erfreulichen  Grund-Akkord  in  unserem  Opern-Spiel- 
plane kräftiglich  zu  verstärken  gesucht.     Es  waren 


Digitized  by  Google 


Erlösungsopern.  521 


überdies  auch  Hans  Sommer,  Eug.  d' Albert,  Wilhelm 
Kienzl,  Ludw.  Thuille,  S.  v.  Hausegger,  Anton  Urspruch, 
W.  von  Baussnern  u.  A.  mit  entsprechenden,  aber  nur 
mehr  oder  minder  glücklichen  Versuchen  („St.  Foix", 
„Münchhausen",  „Augustin",  „Schloss  der  Herzen", 
„Abreise",  „Don  Quixote",  „Theuerdank",  „Zinnober", 
„Das  Unmöglichste  von  Allem",  „Herbort  und  Hilde" 
etc.)  noch  zur  Seite  getreten.  Allein,  warum  blieb  das 
zuletzt  fast  durchweg  (wie  auch  jüngst  noch  die  Mas- 
cagni' sehen  „Maschere")  in  einem  mehr  krampf-verzerrten 
Gelächter  der  Grimasse  so  leicht  stecken  und  verborgen? 
Waren  die  Herren  aus  der  grossen  Schule  der  „Erlösungs"- 
Nöte  etwa  zu  ernst  dazu  geworden,  um  überhaupt  noch 
natürlich-herzhaft  lachen  zu  können?  Warum  vollends 
spannen  die  eigentlichen  Adepten  der  „Wagner-Nach- 
folge" (die  Kistler,  Sommer,  Weingartner,  d'Albert, 
Pfitzner,  Schillings,  Humperdinck,  Kienzl  e  tutte  quanti) 
immer  und  immer  wieder  das  Erlösungs-Motiv  sin- 
fonisch als  roten  Faden  weiter,  ohne  doch  den  Ariadne- 
Faden  daraus  drehen  zu  können,  welcher  sie  aus  diesem 
Minotaurus-(  =  Wagner-)Labyrinth  zur  freien  Luft  auch 
eines  musikalischen  Plein-airismus  als  Komponisten 
endlich  heraus  führen  konnte?!  Sollte  es  nicht  ein 
Manko  der  Weltanschauung  gewesen  sein,  was  sie 
bislang  dauernd  am  „Überwinden"  verhinderte?  Ein 
cvrculus  vüiosus  gleichsam,  in  echt  epigonenhaftem  Fest- 
sitzen auf  dem  romantischen  Schopenhauer,  dem  pessi- 
mistischen Mythos  oder  dem  christlichen  Märchen, 
anstatt  eines  zeitbewussten  Fortschreitens  zum  mo- 
dernen Artisten-  und  AntiChristentum  Nietzsche's, 
welch*  Letzterer  dem  durch  und  durch  bejahenden,  frei- 
schöpferischen Künstler-Optimismus  eines  Theatralikers 
und  Musikdramatikers  doch  eigentlich  ungleich  näher 
liegen  müsste!  Gewiss  ist  es  nicht  ohne  Belang,  dass 
der  »moderne"  Richard  Strauss  innerhalb  dieser  «Wagner- 


Digitized  by  Google 


522 


Wagneriana.    Ed.  III. 


Schule4*  bisher  so  ziemlich  der  Einzige  geblieben  ist, 
der  schon  in  seinem  musikdramatischen  Erstlingswerke 
„Guntram4'  die  entschiedene  Regung  zeigt,  sich  vom 
Schopenhauer'schen  Gängelbande  frei  zu  machen,  so 
sehr  er  dort  mit  einem  Fusse  auch  noch  von  jenem 
dicken  Wagnerischen  „ErlÖsungs"-Schlamm  im  Vorwärts- 
schreiten behindert  erscheint  (wie  ich  dies  ausführlicher 
in  meinem  Buche  vom  „Modernen  Geist  in  der  deutschen 
Tonkunst",  S.  72  ff.,  ja  dargethan  habe).  Mit  um  so 
grösserer  Spannung  durfte  man  daher  seiner  zweiten 
Schöpfung  innerhalb  jener  Welt  der  Bretter,  welche  für 
diesmal  eine  ganze  „Weltanschauung"  schon  bedeuten, 
entgegen  sehen  —  nämlich  dem  im  Gegensatze  zum 
„Guntram"  ganz  unverhältnismässig  viel  leicht-sinnigeren 
Opernwerke,  welches  sich  „Feuersnot"  betitelt  und 
einen  durchaus  burlesken  Charakter  aufzuweisen  hat. 
Allein,  sind  wir  damit  wirklich  schon  weiter  gekommen? 
Sind  dadurch  unsere  Hoffnungen  etwa  schon  erfüllt 
worden?  „Traurig  wäre  das,  traun",  wenn  heute 
komische  Oper  nur  mehr  Überbrett,l  bedeuten  sollte! 
Auf  jeden  Fall  verwechsele  man  nicht  gallisch-würzigen 
Humor  ohne  Weiteres  mit  galliger  Satire  —  es  würde 
uns  doch  nur  wieder  auf  die  schiefe  Ebene  bringen  und 
ad  absurdum  führen!  .  .  . 

Wenn  man  nun  aber  Geza  Zichy's  ungemein  packendes 
Zirkus-Musikdrama  „Meister  Roland"  als  „tragische 
Operette"  gelegentlich  bezeichnen  zu  sollen  glaubte, 
so  hat  man  jedenfalls  dabei  vergessen:  einmal,  dass 
schon  der  Leoncavallo'sche  „Bajazzo"  diese  Bezeichnung 
im  Grunde  verdient  hätte;  dann  aber  auch:  dass  Nietz- 
sche' s  grösster  Fehler  bei  seiner  Gegenüberstellung  Bizets 
und  Wagners  danach  wohl  der  gewesen  wäre,  dass  er 
eine  solche  „tragische  Operette"  ernstlich  mit  dem 
„tragischen  Musikdrama"  in  Vergleich  bringen  wollte, 
also  gleichsam  ohne  rechtes  tertium  comparationi*  über 


Digitized  by  Google 


Erlösungsopern. 


523 


seinen  ehemaligen  Helden  und  Heiligen  Wagner  ab- 
urteilte. Da  muss  man  sich  denn  doch  lieber  fragen: 
Haben  wir  uns  Angesichts  jenes  hohen  Pathos  der 
heroischen  Leiden-  und  Freudenschaften,  des  tragischen 
Mythos  und  eines  schwer-blütigen,  dickflüssigen  Melos 
nicht  überhaupt  schon  etwas  zu  sehr  gewöhnt,  von  den 
einfachen,  rein  menschlichen  Gefühlen  für  den 
Ausdruck  der  Tonkunst  in  unserem  neuzeitlichen 
Musikdrama  abzusehen  und  alles  der  gleichen  gering- 
schätzig-unbesehen,  ohne  nähere  Prüfung  der  psycho- 
logischen wie  ästhetischen  Voraussetzungen,  gleich  in 
das  bequemere  Schubfach  der  „Operette"  einfach  ab- 
zuschieben? Schliesslich  müsste  ja  dann  alles,  was 
man  in  diesem  Sinne  nicht  gut  deklinieren  kann,  als 
„Operette"  alsbald  angesehen,  ja  auch  der  Soccus  über- 
haupt dem  Kothurne  gegenüber  für  durchaus  minder- 
wertig, grundsätzlich  ausgegeben  werden,  obwohl  doch 
aufgeklärte  Geister,  wie  z.  B.  Schiller,  einen  gelungenen 
Wurf  in  der  Form  der  „Komödie"  eigentlich  für 
schwieriger,  wertvoller  und  ungleich  bedeutsamer  sogar 
•als  einen  in  der  „Tragödie"  seinerzeit  erachten  wollten! 
Und:  gilt  es  nicht,  den  „Geist  der  Schwere"  nach- 
gerade wieder  zu  überwinden?  Wiederum,  falls  wir 
Nietzsche  darin  etwa  zu  folgen  vermöchten:  soll  und 
wird  am  Ende  gar  P^ter  Gast  dieser  „kommende  Mann" 
schon  sein?  .  .  . 

Liebend  gern  wüsste  ich  wohl,  welcherlei  Em- 
pfindungen in  Wagner  jun.  seinerzeit  rege  geworden 
sind,  was  sich  gerade  „Jung-Siegfried"  alles  dabei  ge- 
dacht hat,  als  er  zu  Paris  vor  einigen  Jahren  Charpentiers 
dramatisierten  musikalischen  Hetärenroman  „Louise"  in 
der  dortigen  „optra  comique",  wie  man  vernahm,  bereits 
kennen  lernte!  Zwei  Welten,  die  beiden  von  mir  im  Obigen 
kurz  gekennzeichneten  gegensätzlichen  Weltanschauungen, 
standen  sich  hier  ofFenbar  persönlich  gegenüber  in  einer 


Digitized  by  Google 


524 


Wagneriana.   Bd.  III. 


ganz  gleichnamigen  Heldin  —  steht  ja  doch  auch  im 
Mittelpunkte  des  „Bärenhäuter"-Drama's  ein  „Luis'l" 
als  die  aktive  Hauptfigur  des  Ganzen!  Hier  also,  im 
leiblichen  Erben  unseres  Bayreuther  Meisters,  das  spe- 
zifische Bayreuther  Erbstück:  das  Weib  als  Erlöserin, 
welche  sich  die  „Rettungsmedaille"  um  den  Mann  ver- 
dient; dort,  im  Vertreter  einer  romanischen  Kunst- 
und  Kultur-Entwicklung,  das  realistische  Lebens-Element 
ruchlos-freizügiger  „Boheme":  ,,/a  femme  fatale*'  —  jen- 
seits von  aller  Sittenpolizei !  Les  extremes  se  touchent?  

Lediglich  auf  diese  knappen  Fragestellungen  kam 
es  mir  diesmal  an:  Wer  will,  wer  wird  uns  von 
beiden  Übeln  demnächst  befreien  —  unserer  Kunst 
diesen  alten  Wagner-Krampf  hyperidealistischer  „Er- 
lösungen", und  zwar  ohne  allzu  naturalistische  „Auf- 
lösungen", glücklich  alsbald  lösen?  „Eines  nur  will 
ich  noch:  das  Ende  —  das  Ende!"  Aber  in  etwas 
anderem  Sinn  als  Göttervater  Wotan. 


Herrose  &  Zic 


Digitized  by  Google 


■ 


Digitized  by  Google 


i 

'    OEC  0  6  2002 

,'5W  1  0  MW"