Von Palestrina
zu Wagner
Arthur Seidl
J?arüartj (College Librnro
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CHARLES MMN! k. U.U.
(VF BOSTON,
Class ol 1830.
" Km H<M.ks relating i<> IV »litte* atul
Kine Ans."
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WAGNERIANA
Kritische Aesthetik
von
DR ARTHUR SEIDL
Dritter Band
[otto: „La grande et feconde critique
des beautes soit abandonnee
par la critique mesquine des
defauts!" ,
(Chateaubriand, umgekehrt.)
Verlag von Schuster & Loeffler
Berlin und Leipzig
1902
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DIE WAG N E R=
NACHFOLGE IM
MUSIK-DRAMA
Skizzen und Studien zur Kritik der „modernen Oper"
von
ARTHUR SEIDL
Und sie sprachen. Einer zu dem Andern :
„Was will das werden T*4
Apostelgesch. II»:*.
Verlag von Schuster & Loeffler
Berlin und Leipzig
1902
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Alle Rechte, besonders das
der Obersetzung, vorbehalten
Schuster & Loeffler
Dr. Arthur Seidl
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Dem Meister
Engelbert Humperdinck
zu eigen
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INHALTSVERZEICHNIS
8eite
VORWORT 9
Wagner-Nachfolge im klassischen Drama:
„Egmont"-Musik 15
Eine Dresdner „Faust"-Aufführung 21
Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus 29
Zwischen Schumann und Wa g n e r :
Felix Draeseke: „Herrat" 55
Karl Grammann: „Melusine** 63
Adolf Sandberger: „Ludwig der Springer" 69
Die „Wagner-Schule":
Cyrill Kistler: »Kunihild« 75
Hans Sommer; „Loreley" 85
Alexander Ritters Opern 100
Engelbert Humperdinck: „Hänsel und Gretel" ... 114
Wilhelm Kienzl: „Evangelimann" 130
Vorschau oder Rückblick? . . . . . . . . . . 139
Felix Weingartner: „Genesius" 148
Eugen d'Albert: „Kainu 164
Max Schillings 170
Experiment und Mode (Pseudo-Wagnerianer):
Der Fall Heinrich Zöllner . . . . . . , . , , , L72
Edmund Kretschmer: „Heinrich der Lowe** .... 188
Karl Grammann: „Ingrid" und „Irrlicht" 198
Karl Goldmark: „Heimchen am Herd" 207
Siegfried Berger: „Haschisch" 214
8
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Max Josef Beer: „Streik der Schmiede* 225
Ulixes redivivus (Affäre Bungert) 1. und 2 230
Max Zenger: „Eros und Psyche* 249
„Die fromme Heleneu 263
Richard Wagner und das Ausland:
Friedrich Smetana: „Die verkaufte Braut" 273
Emil Hartmann: »Runenzauber* 281
Auber in deutschem Gewände . . . . . . . . , 2S6
Charles Gounod: »Rom6o et Julia* 291
Zum Kapitel „Ballett" 298
Victor Erlanger: „Das Erbe" 302
Stagione dell' Opera Italiana:
1. Signora Prevosti 307
2. R. Leoncavallo: „La Boheme" 310
3. Alberto Gentiii: „Weihnachten* 322
Giuseppe Verdi in deutscher Beurteilung 324
Bayreuth und Draussen.
Die Pflege des Erbes:
1. Das zehnjährige Jubiläum der Festspiele und die
deutsche Presse 337
2. Die idealen Aufgaben des, ,Allg. R.Wagner -Vereins" 367
3. Ein „offenes" Schreiben 377
4. Betrachtungen zur 20jährigen Jubelfeier Bayreuths 383
5. „Wagner-Gesellschaft" — nicht„Wagner-Vereine"! 403
6. Ein Laien-Kommentar zum sogen. „Cosima-§" . 410
7. Zum 25jährigen Bestände der Bühnenfestspiele . 422
Falsche Erben:
1. Pollini * 438
2. Münchner Theaterzauber 446
Der Erbe:
1. Vom »Bärenhäuten" 466
2. Vom „herzoglichen Wildfang" (I— III) , t , , 477
Erlösungsopern (als Ausblick) 515
VORWORT
Es kann sich in nachfolgenden Blättern, mit denen
mein „WagnerianaM-Werk nunmehr zum Abschlüsse
kommen soll, natürlich nicht um eine „Geschichte der
modernen Oper" nach und seit Wagner handeln. Dazu
dürften die Namen Draeseke, Kistler, Kienzl, Wein-
gartner, d'Albert, Kretschmer, Goldmark, Bungert, Ad.
von Goldschmidt, Smetana, Leoncavallo doch nicht nur
mit einem einzigen ihrer Werke hier allein vertreten
sein, und würden überdies die sämtlichen Opern bezw.
Musikdramen von Hector Berlioz und Peter Cornelius,
Hermann Götz' .Bezähmte Widerspänstige", Hugo Wolfs
„Corregidor", Siegm. von Hauseggers „Zinnober", Hans
P fitzners „Armer Heinrich" und „Die Rose vom Liebes-
garten", sowie Anton Urspruchs „Unmöglichstes von
Allem" hier ganz empfindlich noch abgehen. Aber auch so
manches Andere gehörte dann wohl unbedingt mit dazu:
von Wald, von Baussnern, Ant. Beer, Frz. Curti, Joh.
Döbber, O. Fiebach, von Fielitz, Paul Geisler, Th. Gerlach,
V. Gluth, Alb. Gorter, Willem de Haan, V. Hausmann,
R. L. Hermann, Br. Heydrich, H. Hofmann, Frz. v.
Holstein, Frz. Hummel, K. von Kaskel, Karl Kleemann,
G. Kulenkampff, Jos. Langert, G. Lazarus, W. Lorenz,
Arnold Mendelssohn, Richard Metzdorff, M. Meyer-
Olbersleben, Felix Mottl, M. Moszkowsky, K. Reinecke,
Karl Reinthaler, Jos. Reiter, E. N. von Reznicek, Josef
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10
Vorwort.
Rheinberger, Ant. Rückauf, Phil. Rüfer, Xaver Scharwenka,
Gerhard Schjelderup, B. Scholz, Alfr. Sormann, P. Umlauft,
Ad. Wallnöfer, W. Weissheimer, Alex, von Zemlinsky
u. A.; die selige „Nessleriade" mit Reinhold Becker
e tutte quanti nicht zu vergessen; die unglückselige
„Mascagnitis" zudem mit einer ganzen Reihe windiger
Einakter; endlich von den Ausländern im Speziellen
— Italiener: Boi'to, Buongiorno, Franchetti, Giordano,
Mascheroni, Panizza, Puccini, Spinelli, Tasca, Wolf-
Ferrari; Franzosen: Bizet, Brüneau, Chabrier, Charpen-
tier, Debussy, D61ibes, Jacques-Dalcroze, Godard, Hille-
macher, Joncieres, Lazzari, Massenet, M es sager, Reyer,
Saint-Saens, Vincent d'Indy; Vlamen: P. Benoit, J.
Blockx, E. Britt, Edg. Tinel, Wambach; Slaven: Dvorak,
Fiebich, Jos. B. Foerster, Glinka, Kovarowic, Pade-
rewski, Rubinstein, Rimski-Korsakow, Smareglia, Tschai-
kowsky, Miroslav Weber, Weiss; andere Nationen: Aug.
Enna, Erkel, Edv. Grieg, Hallen, Per Haiström, Sidney
Jones, Mantilla, v. Mihalovich, Pedrell, Samara, Sullivan,
Zichy etc. etc.: — was alles an dieser Stelle schon
deshalb keine Aufnahme finden konnte, weil ich es mir
im Allgemeinen zum Grundsatz mache, über musik-
dramatische Werke nur dann abschliessend zu urteilen,
wenn ich ihre reale Bühnenwirkung persönlich zugleich
habe erproben können. Einige von den oben Genannten
wird man ja da und dort — in den allgemeinen Kapiteln
namentlich — wohl mit gestreift finden, so weit es nicht
auch schon durch einen Ausblick wie denjenigen über
„ Erlösungsopern a od. dgl. in's rechte Licht gerückt er-
scheint; Richard Strauss' „Guntram" zumal muss in
meiner Sonderstudie und Charakterskizze über ihn
(Prag 1895) und — wie Humperdinck, Schillings, Thuille
u. A. — vor Allem auch im zweiten meiner Vier Vor-
träge über den „ Modernen Geist in der deutschen Ton-
kunst* (Berlin, Verlagsgesellschaft „Harmonie") besonders
Vorwort.
11
aufgesucht werden, wo sein für die Weiterentwicklung
der Oper so bedeutsames Hauptwerk „Guntram" bereits
ausführlich genug besprochen worden ist. Über Peter
Gast wiederum gedenke ich an anderer Stelle noch zu
reden. Gleichwohl hoffe ich, dass so etwas wie Ge-
sichtspunkt des Typischen aus „der Erscheinungen Flucht"
sich ergeben und eine Art von zusammenhangsvoller,
prinzipieller Erörterung gerade des Charakteristischen
heraus leuchten — kurz, dass der geneigte Leser „Doku-
mente der Zeit" im Einzelfalle, selbst bei solch zwang-
loser Folge, noch erkennen und als solche auch em-
pfinden wird. Man darf mir vertrauen: es ist mehr
„Aufbau" darinnen als in manchem strengen „System"
und mehr zusammen fassendes Wesen, als man dem
Buche beim ersten flüchtigen Blick auf das Kunterbunt
seines „Inhaltsverzeichnisses" wohl ansehen wird. Und
so glaube ich denn immerhin, dass ich trotz R. Batka,
H. Bulthaupt, Ed. Hanslick, R. Heuberger, M. Kalbeck,
P. Marsop, O. Neitzel, E. O. Nodnagel, F. Pfohl, H. Rei-
mann und O. Schmid hier über die „moderne Oper"
doch noch Einiges zu sagen hatte; wobei überdies noch
besonders darauf zu achten wäre, dass der Untertitel
diesmal nicht mehr „erlebte" und nicht „angewandte",
sondern ausdrücklich „kritische Aesthetik" lautet und
das Chateaubriand-Motto hier sogar umgekehrt er-
scheint.
Die einzelnen Artikel sind — bis auf „Münchner
Theaterzauber* und „Vom Bärenhäuten", die noch
nirgends gedruckt wurden — an ganz verschiedenen
Orten bisher erschienen und waren ursprünglich heraus-
gekommen im „Musikal. Wochenblatt", „Kunstwart",
„Hann. Courier" und „Dresdner Anzeiger", in den
„Berliner Signalen", „Grenzboten" und „Münchner
Neueste Nachrichten", in der „Gesellschaft", „N. Zeit-
schrift für Musik", „Wiener Musikalischen Zeitung",
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12
Vorwort.
„Musikal. Rundschau0, „Neuen musikal. Rundschau",
„N. musikal. Presse", „Dresdner Rundschau", „Deutschen
Gesangskunst", „Wage", „Nordd. Allgemeinen Zeitung",
„Tägl. Rundschau", „Deutschen Zeitung" (Wien), „Neuen
Hamburger Zeitung", „Frankfurter Zeitung", endlich im
„Grazer Tageblatt", „Lotsen" und vornehmlich in der
Dresdner „Deutschen Wacht". Vieles hat freilich ganz
neue, zum Teil in Eins zusammen gezogene, Fassung
nun erhalten.
München, Frühjahr 1902.
Der Verfasser
Wagner-Nachfolge im klassischen Drama
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„Egmonta-Musik
(1895 96)
„Das deutsche Tempo ist der Gang des »Andante*;
mit diesem gelassenen Tempo erreicht der Deutsche
mit der Zeit alles, und vermag das fernst Liegende sich
kräftig anzueignen. Mit diesem Gange erreichte Goethe,
vom ,Götz' ausgehend, den ,Egmont', diesen Typus
deutschen Adels und wahrer Vornehmheit, dem gegen-
über der ihn überlistende spanische Grande wie ein
mit Gift eingeöltes Automat erscheint: zu dieser Ver-
wandlung des derben, dürftigen Götz in den anmutig
frei dahin wandelnden Niederländer bedurfte es nur der
Abstreifung der Bärenhaut, die uns zum Schutze gegen
die Rauheit des Klima's und der Zeit umgeworfen,
um dem kräftig schlanken Leibe, dessen Anlage zur
Schönheit selbst der für alles Südliche so enthusiastisch
eingenommene Winckelmann lebhaft erkannte, seine
innere Wärme zu bewahren. Der adelig ruhige Gang,
mit dem Egmont das Schafott beschritten, führte den
glücklichen Dichter durch das Wunderland der Myrthe
und des Lorbeers, von den in Marmorpalästen an zartesten
Seelenleiden dahinsiechenden Herzen zur Erkenntnis und
Verkündigung des erhabenen Mysteriums des Ewig-
Weiblichen, des unvergänglichen Gleichnisses, welches,
sollte einst die Religion von der Erde verschwunden sein,
das Wissen ihrer göttlichsten Schönheit uns ewig er-
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16
Wagneriana. Bd. III.
halten würde, so lange Goethe's ,Faust' nicht verloren
ging." — »Im Egmont suchte Goethe den drama-
tisierten bürgerlichen Roman durch Ausdehnung der
Umgebung bis zum Zusammenhange weit verzweigter
historischer Momente von innen heraus zu seiner
höchsten Höhe zu steigern. Um die im Verlaufe des
ganzen Stückes aus der historisch -staatlich bedingenden
Umgebung mit mühsamer Umständlichkeit losgelöste,
in der Kerkereinsamkeit und unmittelbar vor dem Tode
sich einigende rein menschliche Individualität dem
Gefühle darzustellen, musste er zum Wunder und zui
Musik greifen. Wie bezeichnend ist es, dass gerade
der idealisierende Schiller diesen ungemein bedeutungs-
vollen Zug von Goethe's höchster künstlerischer Wahr-
haftigkeit nicht verstehen konnte! Wie irrtümlich war
es aber auch von Beethoven, dass er nicht erst zu dieser
Wundererscheinung, sondern von vornherein, mitten in
die politisch-prosaische Exposition — zur Unzeit —
Musik setzte!" So zu lesen in Glasenapps „R. Wagner-
Enzyklopädie" I, S. 234 f., also auch bei R. Wagner selber.
Wir möchten sogar heute noch weiter gehen, als
schon unser Meister, und uns die Frage vorlegen, ob
die Beethoven' sehe Musik in ihrer freiheitsdurstigen,
lärmhaft kriegerischen, höchst realen Heftigkeit nicht
selbst diese letzte Szene, will sagen die süss erquickende
Traumstimmung des Helden und jene transzendentale
Verklärung seines weiblichen Ideales „Klärchen", in
unserem Drama noch zu stören im Stande sei. Sollte
es sich nicht lieber empfehlen, die Beethoven'sche Ton-
schöpfung in erster Linie als interessantes Beispiel
poetischer Programm-Musik nur mehr aufzufassen und
in ihrer, die Quintessenz des ganzen Drama's uns ent-
hüllenden Bedeutung, völlig unabhängig von diesem,
fortan im Konzertsaale für sich aufzuführen; die für
die Handlung einzig noch übrig bleibende Visionsmusik
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„Egmonf-Musik.
17
hingegen von einer bereits bewährten Kraft in angemessener
Weise für die Szene neu komponieren zu lassen? Dem
Hauptteil nach hätte diese sich vielleicht mehr dem
stillen Ausdrucke des Nachspieles bei Klärchens Tode
anzuschliessen und erst allmählich, sachte und stolz,
zu kurzem, leuchtendem Triumph und glaubensstarkem
Siegesbewusstsein anzusch willen, um alsbald wieder
in die anfängliche sanfte Traumumfangenheit zurück
zu leiten und still veratmend auszuklingen. Wir stellen
diesen Vorschlag angelegentlichst zu wohlwollender Er-
wägung; denn wahrlich, die Art, wie unsere landläufige
Regie die klassische Begleitmusik bei Klärchen in eine
heroische Pantomime mit teils höchst merkwürdigen,
teils sogar überaus stillosen Gebärden, und teils wieder
ganz unverständlichen Attributen umzusetzen pflegt, kann
unmöglich, zum Mindesten ebensowenig wie der
spektakulöse Bum-bum-Marsch bei dem ernsten, feier-
lichen Hinrichtungsgang, irgend Jemanden doch wirklich
ästhetisch befriedigen. Wie ein Beethoven darauf geriet,
gerade dieses Goethe'sche Werk (nur noch an den
„ Faust" dachte er später) durch seine Kunst zu ver-
herrlichen, erscheint ja nur zu wohl begreiflich: das
demokratische Blut regte sich eben hierbei ganz be-
sonders sympathetisch in dem geborenen Niederländer
.van Beethoven*. Aber das republikanische Freiheits-
ideal, seine unwiderstehliche Neigung zum revolutionär-
protestantischen Sturmsignal, der (damals ihn noch be-
herrschende) Geist seiner C-moll-Simphonie gleichsam,
mit dem stolzen Glanz und der jubelnden Erhebung
ihres Schlusssatzes: sie haben ihm bei der als op. 84
im Jahre 1810 entstandenen Musik doch einen leidigen
Streich gespielt, so dass er das Verhältnis „Durch Nacht
zum Licht!" beinahe schon umkehrte, da er es denn
kaum mehr erwarten konnte, mit seinem Enthusiasmus
iur die grosse Sache begeistert darein zu schmettern.
Seidl, Wtgneriina. Bd. III. 2
Digitized by LiOOQlc
18
Wagneriana. Bd. III.
Eines freilich verdanken wir der Beethoven'schen
„Egmont" -Musik, und darum wollen wir ihr auch unter allen
Umständen mit Nichten etwa undankbar begegnen: unsere
„Schauspiel-Musik" steht darin endlich einmal wieder
auf künstlerischer Höhe. Natürlich können nicht alle
Zwischenaktsmusiken von einem Beethoven oder dergl.
Meistern sein, auch fehlt ja zumeist wohl noch manches bis
zum mustergültigen Schliff und Bülow'schen Vortrag
z. B. der grossen „Egmont* -Ouvertüre; aber die Dresdner
„Egmont" -Aufführung z.B. mit der Beethoven'schen
Musik, die ich hier im Auge habe, war für Alle, die
sich mit dem Problem der „Zwischenaktsmusik"
etwas angelegentlicher befasst haben, ein gelindes Er-
eignis. Sollte doch eine Neuerung auf dem heiklen
Gebiete, im Sinne einer künstlerischen Verbesserung
des ganzen Genre's, zum ersten Male hierbei begutachtet
werden. Seit einiger Zeit war nämlich das herkömm-
liche, lediglich unterhaltliche Zwischenakts-Musizieren
der leichten Tanzrhythmen und musikalischen Senti-
mentalitäten in Wegfall gekommen, dafür aber die ernste
Wahrnehmung der vorhandenen Schauspiel-Musiken zu
klassischen Dramen oder mit der Tonkunst enge ver-
bundenen Bühnenspielen unter neuer, künstlerisch voll-
wertiger Leitung und im betreffenden Tagesdienste der zu
diesem Zwecke verstärkten Kapelle beabsichtigt. Der für ge-
wöhnlich überdeckte Orchesterraum war bei diesem Anlasse
gleichzeitig tiefer gelegt und durch Einbau unter die
Bühne hinein hinreichend erweitert, die dazu benötigte
Kapelle aus den Hofmusikern der letzten Pulte gebildet und
auf 35 — 40 (die ersten Geiger z. B. gleich von 4 auf
8) Mann verstärkt, als Leiter solcher Musiken überdies ein
namhafter Dirigent berufen worden. Wir stehen also endlich
einmal vor streng künstlerischen Absichten und durchaus
ästhetischen Grundsätzen im Sinne einer guten, echten
Wagner-Nachfolge, an die sich hocherfreulicher Weise
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„Egmont"-Musik.
19
alsdann auch ein strengerer kritischer Massstab getrost
anlegen lässt! Natürlich lässt sich mit dem in Rede
stehenden Körper noch lange keine Wirkung der „Egmont*-
Ouverture erzielen, wie sie unsere entzückten Ohren
den Abend vorher vielleicht im «Sinfonie- Konzert*
der reich- und vollbesetzten Hof kapeile selbst, unter eines
Schuch befeuernd-schwungvoller Führung mit idealer
Klangschöne, symphonisch -bedeutsamer Themenbreite
und warm -gesättigter Instrumental fülle erfahren hatten.
Aber der Hauch jenes Geistes weht nun eben doch
in diese Darbietung wirksam mit herüber, bleibt es ja
zuletzt auch ein Teil ganz derselben ausführenden
Körperschaft (die ihn erst den Abend vorher von einem
massgebenden Orchesterleiter in sich aufgenommen hat),
was ihn hier abermals an die Zuhörer vermittelt. Und
so viel Hess sich schon nach diesem ersten Debüt unter
den neuen Verhältnissen anerkennend feststellen: dass
der Gesamtklang ausserordentlich gewonnen hatte, die
Ausführung bei egalem Strich, reiner Intonation und
rhythmischer Präzision sehr aufmerksam und delikat —
kurz, die ganze Leistung eine überaus eindrucksvolle,
des grossen Ton-Meisters und -Dichters würdige geworden
war, so dass selbst den ganz unverbesserlichen Papageni
und Plaudertaschen im Zuschauerräume schliesslich die
Konversation vollständig verging. Namentlich die Ober-
leitungsmusik vom zweiten zum dritten Akte und vor
Allem das schwermütig- stimmungsreiche Tongemälde
auf Klärchens Tod bis zum sanft-musikalischen, bei
offener Szene überdies symbolisch verdeutlichten Aus-
löschen der Lebensflamme, aber auch die diskrete
Wiedergabe der die Traumvision und ihre (von der Regie
noch immer allzu schablonös behandelte, leider fast
nichts sagende) Pantomime begleitenden Klänge, ent-
sprachen durchaus jener schon von Lessing auf-
gestellten Forderung nach einer wohl motivierten, wirklich
2*
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20
Wagneriana. Bd. III
„idealen" Zwischenakts- und Schauspielmusik. Ohne mit
dem Ansprüche der höheren Orchesterleistung einer kom-
pletten Sinfonie-Besetzung aufzutreten, sprach sie
dennoch intensiv genug von der „Würde der Tonkunst11
im göttlichen Dienste des höheren, edleren Menschheits-
drama's. Das aber ist's zugleich, was wir im Interesse
der „moralischen Bildungsanstalt" immerdar gewärtigt
und da, wo es allenfalls nicht eintrat, desto ungestümer
auch stets verlangt haben. Wir freuen uns aufrichtig des
viel versprechenden, harmonischen Anfanges, der damit
gemacht ist, wie der schönen, fruchtbaren Zukunft, die
auf dem hierdurch vorgezeichneten Wege für eine vor-
nehme Schauspielmusik nunmehr vor uns liegt. Lässt sich
gleich sagen, dass die Auffassung des grossen Tondichters
für unser heutiges geläutertes Empfinden nahezu schon
etwas Befremdendes an sich hat: wonach sich der „Ton-
setzer bei Goethe viel leichter als z. B. bei Schiller'schen
Dichtungen weit über den Dichter zu erheben vermöge44
— eine dankbare Aufgabe, wert des Schweisses der
Edlen, bleibt es nun einmal, dem Kulte dieses Ideales
sich zu weihen, und eine durchgreifende „Reform" ist
jedenfalls auf der ganzen, hier in Betracht kommenden
Linie rückhaltlos allezeit mit Freuden zu begrüssen.
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Eine Dresdner „Faust'-Aufführung
(1896)
„Wie eine immer lebendig rieselnde Quellader zieht
sich das ,Faust'-Gedicht mit gestaltender Anregung
durch das ganze Künstlerleben des Dichters. Im höchsten
Alter erst vollendete Goethe seinen ,Faust'. War seinem
tiefen Weltblick (im I. Teile), was Cervantes als Don
Quixote und Sancho Pansa ersehen hatte, als Faust und
Mephistopheles aufgegangen, so fasst er (im IL), was je
ihn zerstreute, in ein Urbild aller Schönheit zusammen :
Helena selbst, das ganze, volle, antike Ideal, beschwört
er aus dem Schattenreiche herauf und vermählt es seinem
Faust. Heil dir, Goethe, der du die Helena dem Faust,
das griechische Ideal dem deutschen Geiste vermählen
konntest! Aber der Schatten ist nicht fest zu bannen;
er verflüchtigt sich zum davon schwebenden schönen
Gewölk, dem Faust in sinniger, doch schmerzloser
Wehmut nachblickt. Nur Gretchen konnte ihn erlösen:
aus der Welt der Seligen reicht die früh Geopferte,
unbeachtet in seinem tiefsten Innern ewig innig Fort-
lebende, ihm die Hand. Aus den grundlosen Tiefen
der sinnlich-übersinnlichen Sehnsucht schwang sich der
Dichter zum Schlüsse bis auf die heilig-mystische Berges-
höhe, von welcher er in die Glorie der Welterlösung
blickte: mit diesem Blicke, den kein Schwärmer je
inniger und weihevoller in jenes unnahbare Land werfen
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22
Wagneriana. Bd. III.
konnte, schied der Dichter von uns und hinterliess uns
im »Faust* sein Testament. Dürfen wir . . . dem tiefsten
Dichterwerke eine Deutung für uns zu geben versuchen,
so verstehen wir unter dem: ,AUes Vergängliche ist nur
ein Gleichnis* — den Geist der bildenden Kunst,
der Goethe so lange und vorzüglich nachstrebte, unter
dem: ,Das Ewig -Weibliche zieht uns hinan* aber den
Geist der Musik, der aus des Dichters tiefstem Be-
wusstsein sich emporschwang, nun über ihm schwebt
und ihn den Weg der Erlösung geleitet."
„Ein gleich unbegreifliches Kunstwerk, als die
Dramen Shakespeare's und die antiken Tragödien es sind,
liegt uns Deutschen im , Faust' noch als ungelöstes
Rätsel vor. Hätte Goethe ahnen können, in welche
Hände der deutsche Handel einmal fallen und aus welcher
absonderlichen Nationalität demnach einst unser Theater
sich rekrutieren sollte, er würde seinen ,Faust* nicht
einmal als Buch haben drucken lassen; denn jede, auch
nur die entfernteste Ähnlichkeit mit einem »Theaterstücke*
hätte ihn an seinem Wunderwerke von dessen Ver-
öffentlichung zurück schrecken müssen. Dafür ward denn
gerade an diesem , Faust* die Rache der theatralischen
Niederträchtigkeit vollzogen. — Es ist ersichtlich, dass
wir in diesem Werke die konsequenteste Ausbildung
des originalen deutschen Schauspieles besitzen;
vergleichen wir es mit den grössten Schöpfungen des
neueren Drama's aller Nationen, des Shakespeare'schen
mit eingeschlossen, so zeigt sich in ihm eine nur ihm
zugehörende Eigentümlichkeit, welche es jetzt aus dem
Grunde für theatralisch unausführbar gelten lässt, weil
das deutsche Theater selbst die Originalität
seiner Ausbildung schmählich aufgegeben hat.
Dieses Werk, welches, wie kein anderes, in dem
plastischen Geiste des deutschen Theaters wurzelt,
musste von dem Dichter wie in die leere Luft ge-
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Eine Dresdner „F»tist*-Aufführung.
23
schrieben werden: die einzigen Zeichen, mit denen er
das Vorbild, welches der Dichter der mimischen Ge-
nossenschaft zur Nachbildung im wirklich dargestellten
Drama vorhält, fixieren konnte, waren gereimte Vers-
zeilen, wie er sie zunächst der rohen Kunst unseres
alten Volksdichters, Hans Sachs, entnahm. Wenn wir
aus einem Zeugnisse ersehen wollen, zu welcher aller-
höchsten Idealität in dem schlichtesten deutschen Volks-
elemente der Keim lag, so bald es eben vom berufenen
treuen Geiste ausgebildet wurde, so haben wir nur auf
diesen Wunderbau zu achten, den Goethe auf jenem
sogenannten Knittelverse aufführte; er scheint diese
Grundlage vollendetster Popularität nie zu verlassen,
während er sich auf ihr bis in die höchste Kunst der
antiken Metrik schwingt, Glied um Glied mit Erfindungen
einer selbst von den Griechen ungekannten Freiheit
ausfüllend, vom Lächeln zum Schmerz, von der wildesten
Derbheit zur erhabensten Zartheit hinüber leitend. Und
diese Verse, deren Sprache die deutscheste Natürlichkeit
ist, können unsere durch eine undeutsche Rhetorik ver-
dorbenen Schauspieler nicht sprechen! Nur wenn die
schmählich aufgegebene Originalität der Aus-
bildung des deutschen Theaters noch nach-
geholt werden könnte, wenn wir ein Theater,
eine Bühne und Schauspieler hätten, welche
uns dieses deutscheste aller Dramen vollständig
richtig zur Darstellung brächten, würde auch
unsere ästhetische Kritik über dieses Werk in's
Reine kommen können; während jetzt den Koryphäen
dieser Kritik es noch erlaubt dünken darf, z. B. über den
zweiten Teil des ,Faust* parodistische schlechte Witze
zu reissen. Wir würden dann erkennen, dass kein
Theaterstück der Welt eine solche szenische Kraft und
Anschaulichkeit aufweist als gerade dieser (man möge
sich stellen, wie man wolle!) immer noch ebenso ver-
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24
Wagneriana. Bd. III.
ketzerte als unverstandene zweite Teil der Tragödie.*
(Richard Wagner: Ges. Sehr. Bd. IV, 29; IX, 149 f.;
X, 101; VIII, 49, 115; IX, 255 f.).
Leider kann beim „Goethe-Zyklus", der mit dem
II. »Faust* mehr endgültig als besonders glücklich ab-
solviert worden ist, das Fazit nicht „Ende gut, alles
gut!" lauten, so leid es uns thut, das sagen zu müssen.
Zwar: Wer, wenn er auP dem Theaterzettel „Faust, der
Tragödie zweiter Teil" mit fett gedruckten Lettern liest,
möchte nicht d i e Stadt glücklich preisen, die sich eine
solche Aufführung unter'm Jahre leisten kann, und nicht
jenes glorreiche Theater ohne Weiteres benedeien — wenn
man will auch beneiden, welches so viel Pietät und
Pflichtgefühl aufzubringen hat, die innere organische
Einheit des ganzen Gedichtes auch zur äusseren Dar-
stellung zu gestalten. Trotzdem, oder gerade deswegen,
haben aber diese „Faust" -Vorstellungen schwere und
bittere Enttäuschungen bereitet. Schon gewisse Äusser-
lichkeiten daran mussten Bedenken erregen. „Stella"
und „Iphigenie", zwei durch eine tiefe Kluft von ein-
ander geschiedene Werke, giebt man — zudem noch in
einer Woche, in der Eines das Andere ohnedies schon
jagte — an zwei unmittelbar auf einander folgenden
Abenden; zwischen die beiden Teile ein und desselben,
geistig insichzusammenhängenden, abgeschlossenen,
grossen „Faust" -Gedichtes legt man nicht nur 45 Stunden,
sondern auch noch einen ganzen Sonntag, der die
Scheidewand einer vollen Woche dazwischen aufrichtet!
Selbst die bequeme, verschiedenartige Besetzung sowohl
der Mephisto- als auch der Gretchen-Rolle an beiden
Abenden (einmal Holthaus — Salbach, dann wieder Wiene
— Pölitz), nur um die unterhaltungssüchtigen Neustädter
Abonnenten gleichzeitig mit etwas Anderem bedienen
zu können, zeigte zur Evidenz, wie wenig man, sogar
an zustandiger Stelle, bis zu einer einheitlich -har-
Eine Dresdner „Faustta-Aufführung. 25
monischen, geistigen Erfassung des „Faust" -Probleme»
als eines untrennbaren Ganzen auch heute noch
vorgedrungen war. Und vollends gar die Art, wie man
den grandiosen II. Teil hier zu Lande seinem Publikum
vorzusetzen für gut befand, muss den allerschär feten
Widerspruch ganz in Sonderheit heraus fordern. Man
brauchte ja, als Kenner, nur auf Anfangs- und Endzeit
nach der Theaterzettel-Angabe zu sehen, um schon vor
dem Beginne gleichsam alles zu wissen.
Jede Stadt hat die „Faus^-Aufführungen,
welche sie verdient. Nun, die hiesige Darstellung
als solche, im Altstädter Hause vor Allem, war ent-
zückend, und man darf wohl kecklich behaupten, dass
es an farbenreichem, wechselvollem und wohlthuendem
Glänze kaum irgend eine andere dieser überaus wirk-
samen Dresdner Inszenierung gleich thun wird. Aber
das Was, was da inszeniert und dargestellt ward, es
ist — im II. Teile jedenfalls — einfach zum Flucht-
ergreifen gewesen. Heiliger Goethe, was hat dieses „Opern-
Textbuch" aus dir gemacht! Ist das überhaupt noch
der Stolz unserer Nation, unser unvergleichlicher „Faust44?
— so durfte man sich, las man im Urtext eifrig nach,
dabei schon beinahe fragen. Es gehört doch die ganze
Skrupellosigkeit und Respektwidrigkeit des gewiegten
Theater-Routiniers vor unseren grossen Dichtergenien,
die ganze Streich -Virtuosität eines priv. kgl. Regisseurs
dazu, um einen Meister wie Goethe zu einer solchen
Schaustück- Abbreviatur in oft ganz widersinnigen kurzen
Brocken und einzelnen knappen Bissen zu verarbeiten,
wie das die Dr. Wollheim'sche „Bearbeitung" in der
Hofbühnen-Einrichtung von A. Mareks frischer Hand,
gewissenlos und vandalisch genug, verübt bat (denn ein
anderes Wort kann man dafür schon gar nicht mehr
gebrauchen). Ist denn das Goethe'sche Wort: „Gebt
ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken", als Per*
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Wagneriana. Bd. III.
siflage im Munde des Theaterdirektors, nicht mit be-
sonderem Bezug gerade auf seinen „Faust" gesprochen?
„Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen probiert ein
Jeder, was er mag" — sagt, leider nicht so ganz mit
Unrecht, der Theaterdirektor bekanntlich zum Dichter
selbst im „Vorspiel auf dem Theater". Auch gegen einen
„Faust" I, wie ihn die Dresdner Inszenierung fertig
brachte, als »Tragödie in sechs Akten", ohne Vorspiel
auf dem Theater, Prolog im Himmel, noch Walpurgis-
nacht, und m i t einer Musik, die allerdings Öfter darnach
ist, dass man sie lieber entbehren möchte, müsste eine
gewissenhafte Kritik unbedingt Stellung nehmen. Und
warum dann nicht lieber gleich das „Arrongement",
wie es der viel gewandte Praktikus und Leiter eines
„sogenannten" deutschen Theaters, L'Arronge, in
seiner Vermöbelung beider Teile ohne alle Helena zu
einem Theaterabende, dem germanischen Volke gelegent-
lich vorzuspie— geln sich herausnahm? Von einer
„klassischen Walpurgisnacht" hat man im II. Teile ja so
wie so schon nichts mehr gesehen (ebenso wenig wie vom
„Mummenschanz" bis zur Erfindung des Papiergeldes
hin, oder von Habebald, Eilebeute und Siebenmeilen-
stiefel), und kein Mensch aus dem Bühnenpublikum
weiss nun eigentlich, wo der gute, nette Homunkulus
mit seinem feinen Stimmchen wohl hingekommen sei:
man hat ihn sich ohne Zweifel „verduftend" zu denken 1
Dass auch ja nichts Christliches, Heiliges das Ohr der
blöden Menge mehr verletze, darauf ist überdies durch
mephistophelische Ausmerzung einer ganzen Reihe von
peinlichen Stellen und Aergernis erregenden Personen
sorgfältigst Bedacht genommen worden; und zu allem
Überfluss ergeben Kürzungen, ja selbst flotte Ab-
änderungen des Textes, die sich teils als Prüderien,
teils als Angstmeiereien, teils aber auch als brutale
Streich-Leichtfertigkeiten qualifizieren, oft die direktesten
Eine Dresdner „Faust"-Aufführung.
27
Widersinnigkeiten gegen die klaren Absichten des
Dichters — von denen einige (wie z. B. das Ausseracht-
lassen der Andeutung, dass die vier grauen Weiber wie
körperliche Verdichtungen des Feuerrauches aus dem
brennenden Hause, gleichsam als letzte sittliche Schuld
Faustens, hervor kommen und heran schleichen sollen)
allerdings der Regie noch ganz im Besonderen zur Last
fallen. Womöglich noch hanebüchener steht es um die bei
dieser Inszenierung zugleich beliebte Musik zum «Faust* I
(von Riccius), welche die neuere, H. Zöllner'sche Opern-
verballhornung noch als das reine Dorado erscheinen
lässt ; und nun zumal mit dem Schlussteile der sonst
mitunter nicht ganz unebenen (weil bescheideneren) H. H.
Pierson'schen, deren «Chorus mysticus" rund heraus-
gesagt: ein Skandal bleibt — kein Genuss, sondern ein
Verdruss, über dessen Hören einem das Sehen vergeht
um so mehr, je weniger gerade dieses Schlusstableau der
Himmels- Apotheose ohne Madonnen-Bild dem durch
Raffaels „Sixtina" künstlerisch geläuterten Dresdner
Geschmack, wie auch der übrigen Inszenierung, irgend
entsprechen kann.
Kurz, man darf also wohl sagen: Das deutsche
Volk hat, selbst durch die Hannoveraner, Leipziger,
Weimarer, Dresdner und Münchener Darbietungen des
zweiten Teiles, seinen „Faust14 überhaupt noch gar
nicht von der Bühne herab wirklich kennen
gelernt. Wäre es da nicht eine dankbare, gewichtige
und hochverdienstliche Aufgabe für Bayreuth, viel-
leicht unter Berufung eines der begabtesten und ver-
trauenswürdigsten unter den auserwählten Wagner-
Schülern zu einer taktvollen musikalischen Einkleidung
des Werkes: das Aufführungsproblem in pietätvoller und
geistreicher, streng künstlerischer, dabei aber doch wieder
technisch befriedigender Weise zu lösen — so etwa
nach dem Gelingen des diesjährigen „Nibelungenringes",
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Wagneriana. Bd. III.
einmal still zusammen mit dem „Parsifal" in einem
Jahre? Introite, et hic dii sunt\ — just an einer
solchen Nationalthat würde die Welt erstaunen müssen,
was alles sie bisher am „Faust" noch nicht gesehen,
welches der Geist ist, der in Bayreuth lebt, und welche
idealen, lebenskräftigen Wirkungen vom dortigen Grals-
Kulte ausströmen können. Nachdem schon einmal eine
„Parsifalu~Musik (der Gralsfeier mit der Taube) so
ekstatisch ausklingend, sowie der kongeniale Liszt'sche
„Chorus mysticus44 (in der „Fausta-Sinfonie) an unser
modern gewecktes Ohr geklungen, ist ja nicht nur die
Schumann'sche, sondern auch schon die weiche Lassen-
sehe „Faust-Musik* nicht mehr wie früher unserem
Gehöre erträglich. Hier muss unbedingt Wandel und
Abhülfe geschaffen werden!
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus
(1896)
I.
„Maria Stuart", die „königliche Heuchlerin", wie
sie der Dichter selbst einmal bezeichnet! Man braucht
sich aus dem besonderen Geiste Shakespeare'scher
Bühnenkunst heraus nur einmal auszumalen, wie diese
englisch - schottische Bürgerkriegs - Historie, mit dem
Hereinspielen Frankreichs, unter der Hand des grossen
Briten als Drama sich ausgenommen haben würde, um daran
allein schon zu erkennen, welch' tiefe Bereicherung das
germanische Kulturleben unseren grossen Dichterheroen
der Klassizitätsperiode auch nach einem Shakespeare
im Besonderen noch verdankt. Eine „Arabella Stuart"
von R. von Gottschall z. B. können wir uns ohne den
geringsten Schaden für die Weltgeschichte aus unserer
Literatur wohl hinweg denken, die „Maria Stuart" nicht
— und das ist eben das Interessante daran. Gleichzeitig
aber wird das an des vorigen Jahrhunderts Neige ent-
standene Drama bedeutsam auch noch besonders dadurch,
dass wir in ihm den verheissungsvollen Vorstoss aus
dem streng-klassischen Bereich in's romantische
Land bereits ganz deutlich wahrnehmen können. Präg-
nanter gefasst könnte man diese Geisteswendung in
dem eigentümlich katholisierenden Elemente wohl
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Wagneriana. Bd. HI.
verdichtet finden, das von jeher als ein beredtes Symptom
für das Vorhandensein romantischer Neigungen gegolten
hat — „romantisch" hier in dem weitesten Begriffe
genommen, wo das Spirituelle über das Materielle hin-
aus zu wachsen und die Phantasie den Boden der Realität
bis in's Mystische hinein weit zu überflügeln beginnt.
Aber auch schon in der, durch persönliche Gegenüber-
stellung der beiden gegnerischen Königinnen (im III. Akte)
geschaffenen, »moralisch unmöglichen" Situation witterte
Goethe, noch ohne sie recht zu kennen,dieses„ Romantische"
— vergleiche Briefwechsel (II; 3. und 4. Septbr. 1799);
nicht minder in der grösseren Freiheit und individuelleren
Mannigfaltigkeit der angewandten Silbenmasse gelangt
dieses revolutionierende MomentgrössererUngebundenheit
zu bemerkenswertem Ausdrucke: die starre Fessel einer
herkömmlichen Form wird behutsam gelöst, ein altes
Gefäss zur Aufnahme eines neuen Inhaltes leis und
sachte bereitet.
Auf alle Fälle jedoch bleibt zum Mindesten ein
dramaturgisches Wagnis, wie das einer Laienbeichte auf
der Bühne, Dank der würdig-ernsten, in's Tiefe des
religiösen Gemütes dringenden Einführung (auch nach
Fallenlassen der eigentlichen Kommunion, auf Goethe's
ängstlichen Rat hin) als mutige Neuerung gewiss im-
ponierend genug, um eine viel sagende Perspektive in
ganz neue Lande heute darin anerkennen zu dürfen.
Zwar meinte schon damals der Dichter der „Maria
Stuart", .man müsse das Publikum an alles gewöhnen"
— ein Grundsatz, der uns sicherlich zehnmal weiter
in unserem Kulturdasein gebracht hat als der Stand-
punkt unserer Familien -Journale und Abonnenten-
Theater, die stets mit einem: „Das Publikum, welches
wir dabei im Auge haben", zu Zeitknechten und Launen-
sklaven sich erniedrigten. Allein damals konnte doch
ein Goethe (Brief an Sch., unterem 12. Juni 1800) noch
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus.
31
Veto dagegen einlegen, indem er schreibt: »Der kühne
Gedanke, eine Kommunion aufs Theater zu bringen,
ist schon ruchbar geworden, und ich werde veranlasst,
Sie zu ersuchen, die Funktion zu umgehen. Ich darf
jetzt bekennen, dass es mir selbst dabei nicht wohl zu
Mute war; nun, da man schon im Voraus dagegen
protestiert, ist es in doppelter Betrachtung nicht rätlich."'
Das sagte freilich der Goethe, der damals seinen „Faust"-
Schluss (II. Teil), mit der Anbetung der Maria, noch
nicht geschrieben hatte; und was denn hier, in einer
»Maria Stuart«, zuletzt in harmlos-gemilderter Form nur
erst möglich war, sollte doch späterhin mit Nichten
dauernd unmöglich bleiben. Aber der Geist der
Musik musste erst als reinigende Spare und „idealer
Stil" über das deutsche Drama kommen, um die Bühne
(wie dies in den Zeiten des alten Griechenland der Fall>
zu einem religiösen Inhalte wiederum zu weihen; aus
ihm musste die Tragödie erst völlig neu „wieder-
geboren" werden, um die Kunst neuerdings der Religion
zu vermählen. Und so durften wir es also in unseren*
Tagen erleben, dass — woran Schiller noch scheitern
sollte — ein neuerer „Wagner" auf seinem Bayreuther
Grund und Boden, wohin er sein Publikum einlud, diesem
widerspänstigen Publikum getrost, weil mit Ernst und
im rechten Geiste, nunmehr zumuten konnte: die erhabene
Abendmahlsfeier als weihevolle Handlung auf der Bühne!
Sehen wir so zugleich unsere grossen germanischen
Geisteshelden und ethischen Volksbildner zuletzt auch
beim spezifisch-christlichen Ideal noch ankommen, so mag,
uns doch das übereinstimmend katholisierende Element
bei allen denen, deren Organ die Welt des ästhetischen»
Scheines, die hehre Kunst, bildet, immer wieder neu
daran gemahnen, dass die genialen Führer und Vorbilder
unserer Nation ganz im Allgemeinen, als überzeugte
Christen, doch stets jenseits aller Konfession, von.
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Wagneriana. Bd. III.
Römisch oder Evangelisch, gestanden haben. Schon weil
die im ästhetischen Sinn verwendbarere Religion ganz
zweifellos die katholische und nicht die mit so puri-
tanischen Neigungen behaftete protestantische Konfession
ist, durfte eine reinliche Scheidung hier nicht gut an-
gängig sein — eine Thatsache, deren wir deutschen
Christen in unseren beschränkten „Kulturkämpfen"
(wie man das Ding unrechtmässiger Weise so gerne
nennt) immerdar rechtschaffen eingedenk bleiben wollen!
II.
„ Romantische Tragödie mit Prolog in 5 Akten*
nennt der Dichter klar und deutlich seine Jungfrau von
Orlans" bereits. Romantische Tragödie — Prolog; dazu
die mystische Berufung der Magd unter dem heimat-
lichen Eichenbaum, ihr somnambules Hellsehen, die
nächtige Erscheinung von Talbots abgeschiedenem Geist,
ein donnernd dräuender deus ex machina im Himmel
und das wunderbare Kettenbrechen : wir fahren mit
vollen Segeln nunmehr im romantischen Fahrwasser.
Ja, wenn die „Maria Stuart* erst noch den Durchbruch
des katholischen Elementes bei Schiller bedeutete, hier
ist die katholisierende Richtung nun endgültig voll-
zogen; und nicht genug damit, atmen wir auch noch
Opernluft mit vollen Zügen in diesem merkwürdigem
Werke, bei dem wir uns ernstlich besinnen müssen, ob
wir es als rezitiertes Drama überhaupt noch gelten
lassen können. Welch' verhängnisvoller Irrtum überdies,
in einem Schlachtengetöse und Handgemenge auf der
Bühne das Wesen der dramatischen Handlung zu suchen!
Spukt hier, wie in der „Bastard* -Betonung und in den
englisch-französischen Kronkämpfen (ähnlich wie schon
in der „Maria Stuart") ganz augenfällig noch des grossen
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 33
Shakespeare Geist (es ist bekanntlich sehr belehrend,
das Schiller'sche Stück mit Shakespeare's Heinrich VI.
genau zu vergleichen), so ist es wiederum interessant,
zu verfolgen, wie bei dem visionären Zuge der Heldin
unmittelbar die spätere Romantik, zunächst und vor Allem
Heinrich von Kleist mit seinem „Käthchen von Heil-
bronn", beherzt eingesetzt, anderseits die Alternative:
Prophetin oder Weib? direkt zu Richard Wagners
denkwürdigem dramatischen Entwürfe der „Sarazenin*
hin geleitet hat. Auch beachte man doch einmal auf-
merksam, welch' organische Fortführung die mystische
Linie des Wunder-Eintrittes in höchster Not von dieser
heldenmütig erstrahlenden Jungfrau bis zum glänzenden
Schwanenritter „Lohengrin", der auch an irdischer Liebe
mit seiner Mission scheitert, gefunden, um endlich helden-
mütig die historische Eingliederung der ganzen Erscheinung
Wag,ner in den Zusammenhang der Litteratur-
geschichte auch vollauf begreifen zu lernen.
Es kann für uns heute kein Zweifel mehr sein,
dass die «Jungfrau von Orleans", als Drama betrachtet,
einen Rückschritt bei Schiller vorstellt — einen Rück-
schritt im Dramaturgischen, welcher für uns um so ver-
ständlicher wird, wenn wir den Dichter im „Briefwechsel
mit Goethe" über „pathologische Einflüsse" klagen hören,
deren er sich zu erwehren strebt; wenn wir vernehmen,
dass ihm persönlich die Natur des Stoffes „fern liege",
und weiterhin erfahren, dass er nach einer Äusserung
des Herzogs: das Stück könne nicht gespielt werden,
diesem darin Recht geben und zuerst auf eine theatralische
Darstellungganz verzichten will. Etwas durchaus Ähnliches,
Menschliches begegnete ihm bei dieser Arbeit, wie in
unseren Tagen Gerhart Hauptmann mit seinem
„Florian Geyer" es erfahren zu haben scheint, galt es
doch — nach einem eigenen Ausspruche Schillers über
seine Jungfrau" — diesmal das „Wagnis": „zu einem
Sei dt, Wagnerimna. Bd. III. 3
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Wagneriana. Bd. III
neuen Stoff die Form neu zu erfinden". Eben darum
werden aber dann auch diese scheinbaren »Rückschritte"
der dramatischen Technik bei unseren ganz Grossen
nur wieder zu bedeutsamen „Vorstössen" in neues
Gebiet, zu kühnen Entdeckungsfahrten in unbekanntes,
unerforschtes, erst noch an- und auszubauendes Jung-
Land hinein; und eben dies macht sie zugleich so sehr lehr-
reich für die ganze weitere dichterische Entwicklung. Dass
sich unser grosser Schiller dabei so weit vergriff, dass
er das sanfte Weib, dessen schönstes Vorrecht es doch
gerade ist, von der Politik frei und (im Gegensatz zum
geborenen .Philister" Mann) ganz nur Mensch sein zu
dürfen, zur wilden, eisengepanzerten, im Männerkampf
sich messenden Kriegsfurie werden liess — das wollen
wir ihm dabei immer noch gern zu Gute halten. Unser
moderner christlich-sozialer Geschmack ist ein solches
Weibes-Ideal freilich nicht, das die Hände des Sohnes
versöhnt in diejenigen des Vatermörders legt und gegen
den verhassten Landesfeind mit gezücktem Schwert unter
dem Zeichen der „Mutter" des Herrn losrennt, also
die Staats-Idee sehr unerquicklich mit sittlichen und
religiösen Motiven verquickt: haben wir uns doch lange
daran gewöhnt, im weiblichen Wesen die geborene
Trägerin und berufenste Hüterin des Friedens vielmehr
zu finden.
Weit eher schon dürften wir geneigt sein, dem
Dichter die edlere Deutung dieser, geschichtlich viel
angefochtenen, von einem Voltaire arg geschmähten und
in den Kot herab gezerrten, von einem Shakespeare rein
historisch zum Mindesten als „fragwürdige Gestalt" be-
handelten, Figur zum Verdienst anzurechnen. Welcher
Ansicht man hierin sich endgültig zuneigen soll, wird
ja wohl stets von dem besonderen parteipolitischen
Standpunkt abhängen, den man solchen Erscheinungen
gegenüber je nach Naturanlage und Geistesrichtung ein-
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 35
nehmen will. Ohne alle Frage ehrt es den germanischen
Geist, das Bild der Jungfrau im reinen Glauben an das
Wunder und die mystische Kraft der inneren Seelen-
Reinheit verklärt zu haben; allein das bleibt doch wahr-
scheinlich mehr ein beredter Spiegel idealen germanischen
Empfindens und des Deutschen eigener Geist, als was
man so „Geschichte" nennt; da die Sache auf gallischem
Boden ihren Ursprung hat und dort sich in spezifisch
fränkischer Verkörperung abgespielt hat, möchte doch wohl
die skeptischere, romanische Auffassung der geschicht-
lichen Treue auch näher kommen und vor der blindlings
idealisierenden Anschauung heute wieder einigermassen
den Vorzug verdienen. Blicken wir aber heute nach einer
gallischen Jungfrau von Orleans" im modernen Frankreich
aus, so werden unsere Augen vielleicht auf Zola's Roman
„Lourdes* als einem Gegenstücke neuzeitlicher Dichtung
haften bleiben, welcher katholisierenden Wendung der
Litteratur in Deutschland nach Goethe's „Faust": etwa
allgemein künstlerisch Wagners „Parsifal" und politisch
wie ethisch-sozial Bismarcks „Canossa-Gang" entspräche
— alles gar beziehungsvolle Betrachtungen, die uns bei
weiterem Verfolgen schliesslich auf die Thatsache hin-
leiten müssen, dass alle grossen Genien und bedeutenden
Nationalhelden in ihrer geistigen Entwicklung gelegentlich
zu Mystikern werden, wie uns ja auch die Episode
Talbot bei Schiller nur wieder darüber belehren mag,
dass ebenso unsere erwählten Geisteshelden und Kultur-
wecker mehr oder minder stark zum tieferen Ernst
einer im Grunde pessimistischen Lebensauffassung
zeitweilig immer wieder hingeneigt haben.
Höchst merkwürdig! Es ist, als wenn mit dieser Szene
des „schwarzen Ritters" die ganzen T o d e s schauer der
folgenden „Braut von Messina* schon vorgeschattet er-
schienen. Und in einer ungemein fesselnden Linie
gleitet unser Blick von Hamlets „Gespenst* über diese
3"
36
Wagneriana. Bd. III
dichterischen Symbolisierungen der Todesahnung, Egmonts
Klärchen-, Faustens Sorgen-Vision und H. v. Kleists
„Alraunen"-Erscheinung („Hermannsschlacht") hinweg
bis zu R. Wagners erhabener Todkündung der „Walküre*
an Siegmund und weiterhin zu Gerhart Hauptmanns
„Todesengel" („Hannele",), zum „jungen Tod" R.Vossens
<in „Blond Kathrein«), bis zu Maeterlinck, Wedekind
(„Erdgeist") und Hawel („Mutter Sorge") herauf. Welche
Fülle, Mannigfaltigkeit und Grösse in der Gestaltung
und Darstellung des Todes auf der Bühne! Und doch
ist ihnen ein Zug gemeinsam: sie alle nämlich — nicht
nur der Violin spielende „junge Tod" bei Voss, oder die
Wagner'sche „Wal-küre" — sind durchaus musi-
kalischen Wesens, tief- ernst erschaut. Eine andere,
gegensätzliche Art hierzu würde z. B. die heitere Todes-
androhung der drei Rheintöchter an Siegfried (in der
„Götterdämmerung") vorstellen: und das wäre so etwa
die Boecklin'sche Weise! — ganz „dionysisch": „Du
überfroher Held!" . . .
Was wurde uns übrigens, mit ganz wenigen rühm-
lichen Ausnahmen, nicht alles vorgesungen und vor-
gebrüllt an besagtem Abend! — noch ganz davon ab-
gesehen, dass man hinsichtlich der Inszenierung mitunter
die hübschesten Sinnlosigkeiten eines alt eingesessenen
Theater-Schlendrians mit in Kauf zu nehmen hatte.
Man mache sich doch nur endlich einmal mit dem
Gedanken und der Praxis vertraut, die zwanglos-rea-
listische Sprachbehandlung statt der pathetisch-rheto-
rischen Redeweise auf Schiller beherzt grundsätzlich
anzuwenden! Vergesse man nie und nimmermehr, dass
die richtige Diktion Schiller'scher Verse zur älteren Vor-
tragsart einer steifen und hohlen Deklamationsübung
sich verhält ganz einfach wie der Sprachgesang zum
absoluten Kunstgesang: hier ein von der Sprache
schliesslich ganz abgezogener, sich selbst genügender,
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 37
reiner Ohrenschmaus; dort eine aus der Sprache selbst
hervor blühende, der Wortwurzel entstammende und dem
eigensten Tonfall erhobener oder natürlicher Rede eng
sich anschmiegende, zudem ihrer Periodik nach immer
neu wieder entstehende Akzentuierung! Nicht gesungen
soll werden bis zur Unkenntlichkeit und Verstümmelung
des darunter liegenden Wortes, sondern vielmehr nur
dieses soll im Ausdruck ideal gesteigert sich ent-
äussern.
III.
Immer tiefer und ernster senkt sich die schwarze
Wolke eines philosophischen Pessimismus auf Schillers
poetisches Schaffen herein, und mit Dubocs „Bethätigung
einer Lebensidee" durch die Kunst dürfte es in der
„Braut von Messina* so ziemlich bereits Matthäi
am Letzten sein — gehet hin in alle Welt und prediget
allen Völkern: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht,
der Übel grösstes aber ist die Schuld !" Freilich aber
auch schon mit dem rezitierten Drama selber dürfte
es dabei sein Bewenden haben, genau wie eigentlich mit
der „Sinfonie- als solcher bei Beethovens „Neunter" ein
Abschluss erreicht war. Und das ist für eine geläuterte
Geschichtsbetrachtung keineswegs alles nur etwa blinder
Zufall gewesen! Immer von Neuem wieder muss hervor-
gehoben werden, wie die berühmte theoretische Vor-
erinnerung des Dichters „Über den Gebrauch des Chores
in der Tragödie" zu seiner „Braut von Messina", wie
dieses Chordrama selbst, und sodann Goethe's ganz und
gar in Musik eingetauchter „ Faust "-Schluss, dazu noch
eine ganze Reihe von gelegentlichen ästhetischen
Äusserungen unserer Klassiker, sowie Beethovens ge-
waltige Chor-Sinfonie, mit Richard Wagners Theorie
und Praxis des „Musikdrama's" zusammen, einer tiefer
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Wagneriana. Bd. III.
eindringenden, d. h. die Gebiete nicht nur getrennt für
sich behandelnden, Auffassung in engstem geistigem
Bunde stehen. Diese meine hartnäckige Betonung mag ja
Allen, die der Sache kein näheres Interesse entgegen-
bringen, wie ein spieen vorkommen; für jeden, der sich
mit ihr litterarisch einlässlicher befasst hat (und nur
Solche sollten hier mitreden dürfen), ist die geistige
Fortbildung der ästhetischen Grundidee eine durchaus
evidente. Erst jüngst wieder hat Chamberlain in seinem
vortrefflichen „Wagner- Buche" diese geheimnisvollen,
bedeutsamen Beziehungen übersichtlich geordnet dar-
gestellt, und wer sich — selbst nach einem sorg-
fältigeren Studium der eigentlichen Urquellen — noch
klarer darüber werden will, der nehme getrost das
Büchlein „Schauspiel und Bühne" von Lepsius und
Traube (München, Anfang der 80er Jahre) oder auch
das neuere „Schiller- Wagner" von Dr. Martin Berendt
(Berlin, 1901) einmal zur Hand, und er wird darin
alsbald heller zu sehen vermögen.
Nur musst du mich auch recht versteht! Man
hat wohl gemeint, dass weit mehr als der zukunftsreiche
Durchbruch zur Musik im „Braut von Messina" -Drama
ein vergangenheitsseliger, fataler Zug zur antiken
Tragödie hin im Vordergrund stehe. Letzteres selbst
zugegeben, bleibt ersteres in dem Seelenprozesse des
Dichters doch immer noch das primäre Element. Ganz
ebenso nämlich bilden ja auch Goethe's „Iphigenie" und
Glucks grosse Hauptopern — eben ihrer hervor-
stechenden Sucht nach der Antike wegen — wichtige
Etappen auf dem Wege zu Wagners, aus dem ger-
manischen Geiste und Wesen später neu geborenen
Musik-Drama hin; die erstgenannte dadurch, dass sie
das Moment der „inneren Handlung" und „Seelen-
bewegung" vorschauend und eine Schöpfung wie den
„Tristan" voraus verkündend, technisch ganz entschieden
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 39
hervorkehrt; die letzteren, indem sie schon in der Wahl
hellenischer Stoffe einem dunklen, instinktiven Drange
folgen nach jenem Ideal einer Kultur hin, wie es in
der harmonischen Vereinigung und innigsten Gemein-
samkeit von Volksseele und Kunstleben bei den alten
Griechen einmal vollendete Thatsache geworden war.
Inhaltlich brauchte das später nur auf deutsches
Wesen übertragen zu werden, und wir langen bei
Richard Wagners „im Vertrauen auf den deutschen
Geist" entworfenem monumentalen .Nibelungenringe"
und dem Bayreuther Festspielhügel an, wo es diese, von
Schiller angestrebte, künstlerische „Veredelung des Ver-
gnügens beim Zuschauer" und die „Idealisierung des
Theaters" gilt, wo wir uns „von der wirklichen Bühne
auf eine mögliche versetzt fühlen" und Schillers
„tragischer Chor" im verdeckten sinfonischen Orchester
vor der Bühne (nicht etwa im vokalen au f ihr!) seine ver-
blüffend lebensfähige Auferstehung feiert, die das schwierige
und für unsere Dichter noch schier unüberwindliche
Problem endlich einer Lösung entgegen führen durfte.
„Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper,
dass aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes
das Trauerspiel in einer edleren Gestalt sich loswickeln
sollte. In der Oper erlässt man wirklich jene servile
Naturnachahmung, und obgleich nur unter dem Namen
der Indulgenz, könnte sich auf diesem Wege das Ideale
auf das Theater stehlen." So Schiller an Goethe,
29. Dezember 1797. „Die Einführung des Chores wäre
der letzte, der entscheidende Schritt — und wenn der-
selbe auch nur dazu diente, dem Naturalismus in der
Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte
er uns eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um
sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein
abzuschliessen und sich ihren idealen Boden, ihre
poetische Freiheit zu bewahren. Die Tragödie der
40
Wagneriana. Bd. III
Griechen ist . . . aus dem Chor entsprungen . . .
In der neuen Tragödie wird dieser zu einem Kunstorgan,
er hilft die Poesie hervorbringen (dies ist das, was
Nietzsche 1872 schon so geistvoll als „Geburt — bezw.
Wiedergeburt — der Tragödie aus dem Geiste der Musik*
— Musik im weitesten Sinne genommen ! — zu bezeichnen
wusste, d. Ref.). . . Der Chor reinigt also das tragische
Gedicht . . . Der alte Chor, in das französische Trauer-
spiel eingeführt, würde es in seiner ganzen Dürftigkeit
darstellen und zu Nichte machen: eben derselbe würde
ohne Zweifel Shakespeare's Tragödie erst ihre wahre
Bedeutung geben." So Schiller in der berühmten «Ein-
leitung" zur „Braut von Messina4*. — Und nun Wagner,
„Ges. Schriften" VII, 172 und IX, 235—239: Die
Orchestra des antiken Theaters — als Mittelglied
zwischen dem Schau-Publikum und der Aktions-Bühne
zugleich Vermittlerin der Idealität des Spieles — „sie
ist der eigentliche Zauberherd, der gebärende Mutter-
schoss des idealen Drama's ... Zu dem von mir
gemeinten Drama wird das Orchester des Sinfonikers
in ein ähnliches Verhältnis treten, wie ungefähr es der
tragische Chor der Griechen zur dramatischen Handlung
einnahm. Das Element der Musik, aus welchem das
tragische Kunstwerk einzig geboren wurde, gewann bei
den Griechen seinen plastischen Leib in dem Chore
der Orchestra: dieser Chor ist durch die Wandlungen
der Kulturschicksale des neueren Europa zu dem
nur noch hörbaren Instrumentalorchester, der
originalsten, ja einzig wahrhaft neuen, unserem Geiste
gänzlich eigentümlichen Schöpfung auf dem Gebiete der
Kunst geworden. Somit heisst es richtig: hier das un-
ermesslich vermögende Orchester, dort der dramatische
Mime; hier der Mutterschoss des idealen Drama's, dort
seine von jeder Seite her tönend getragene Erscheinung."
Also nur um Gottes willen nicht den Chorbegriff hier
Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 41
mit Opern-Chören etwa oder gesungenen Chornummern
auf der Szene mehr verwechseln, wovon schon Schillers
kläglicher Ausruf abhalten müsste: „Wenn ich bei Ge-
legenheit der griechischen Tragödie von Chören anstatt
von einem Chore sprechen höre, so entsteht mir der
Verdacht, dass man nicht recht wisse, wovon man rede.44
Das Wesen der Sache liegt anderswo, ungleich tiefer —
wie wir soeben gesehcfh haben.
Kurz und bündig nunmehr gesprochen — und ich
bitte, dieses Glaubensbekenntnis recht genau zu be-
achten: Dem rezitierten Drama wird eine Mission,
eine wirklich organische Entwicklung und „moderne"
Fortbildung immer nur nach realistischer Seite hin
winken; sein idealistisches Erbe hat es an das „Kunst-
werk der Zukunft", zunächst an R. Wagners modernes
Musik-Drama, ein für alle Mal abgetreten. Denn,
fassen wir die Sache doch klar in's Auge: Vermögen
wir uns für den Stil einer „Braut von Messina" noch
eine Fortsetzung auszudenken? Wird nicht bei dieser
radikalen „Vertilgung des Stoffes durch die Form" über
lauter hohem, dramatischem „Stil" schliesslich gar kein
Handlungsinhalt mehr übrig bleiben und aus all' dem
symmetrisch entworfenen „System" zuletzt, statt der
ideal gesteigerten Natur, nur die Unnatur mehr heraus-
schauen? Bedeutet diese aparte Gestaltung nicht das
Ende des Drama's? Kein Zweifel, dass dieses „aus
dem innersten Zentrum heraus gebildete" Werk gleichsam
Schillers „Tristan"-Tragödie vorstellt, will vielmehr
sagen: in des Dichters Scharfen den weitesten und ent-
schiedensten Vorstoss in eine damals noch ungekannte,
hier nur erst vorgeschattete Zukunft bedeutet. Und
ohne Weiteres sehr wohl verstehen wir daher auch,
wie er an Goethe schreiben konnte, dass er noch „bei
keiner Arbeit so viel gelernt habe als bei dieser".
Ähnlich bewegte sich ja auch Wagner bei Konzeption
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42
Wagneriana. Bd. III.
des „Tristan" mit der vollsten Freiheit, Unbedenk-
lichkeit und Rücksichtslosigkeit gegen jedes theoretische
Bedenken, so dass er unter der Arbeit sein System
weit überflügelte („zaglose Gestaltung aus dem intimsten
Zentrum" heraus). Keine Frage ferner, dass die Sprache des
Drama's die schönste und wurzelecht-klangvollste ist,
die man bei Schiller überhaupt finden kann, so dass
sich zudem wohl begreift, warum Goethe zur Lehre
eines idealen dramatischen Stiles seine „Regeln für
Schauspieler" vornehmlich aus diesem Stücke schöpfen
konnte. Aber das blinde, dräuende Fatum tötete die
persönliche Verantwortung des individuell sich ver-
schuldenden Charakters, damit auch unser Mitgefühl an
seinem eigenen Geschicke; und der düstere philosophische
Pessimismus findet seine künstlerische Erlösung so recht
erst in dem Idealreiche der Tonkunst, welche den hörend-
fühlenden Menschen noch erhebt, wo der „Affekt" den
schauend-erschauernden Menschen zermalmen muss.
Ganz im Allgemeinen Hesse sich hier noch anmerken:
dass das Singen und Skandieren der Verse, hier, bei
der Natur dieser Form, durchaus einmal am Platze
gewesen wäre. Man bedenke nur, dass es sich bei
diesem Chore doch um dichterisch gewollte Reim-Lyrik,
also um den künstlerisch durchgebildeten, dynamisch
sorgfaltig abgeschatteten, strenge gemessenen Vortrag von
Rhythmen und Metren als solchen handelt! Die ver-
schiedensten Funktionen übernimmt ja bekanntlich der
Chor mit Führern bei dieser dramaturgisch merkwürdigen
Anlage: bald Blitzableiter gleichsam für ein angehäuftes
Obermass von Empfindungen, bald zwangloser, organischer
Obermittler, Verbindungsbrücke zu neuen Vorgängen;
hier lyrischer Ausklang des Geschehenen, dort wieder
Reflexion und Vorbereitung kommender Thaten; einmal
Spieler, ein ander Mal Erzähler und ein drittes Mal
nur lyrisches „ideales Publikum" der Geschehnisse —
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus.
43
vereint er in sich wohl eine der schwierigsten und
bedeutsamsten Aufgaben der Schauspielkunst, der ein
Einzelner allein kaum je vollauf genügen können dürfte.
Welche Wohlthat dann aber auch, einen klar denkenden,
intelligenten Darsteller in einem Drama, das schon
aus dem Chore hervor gegangen ist, aus diesem Chore
selber sich die Belehrung zur Verkörperung und sinnvollen
Ausdeutung seiner Aufgabe nun gewinnen zu sehen!
Noch niemals haben wir von der psychologischen Ent-
wicklung und inneren Wandlung des Don Cesar solch'
tief greifenden Bühnen-Eindruk erhalten. Offenbar hat
dieser Don Cesar in seiner Auffassung von den Schluss-
betrachtungen jenes „Chores" am Ende des 3. Aktes
seinen Ausgang genommen, und es war uns nun doppelt
wertvoll, in dieser seiner Interpretation zugleich eine
belangreiche, fast möchten wir sagen historische, Per-
spektive mit heraus gestellt zu sehen. Schon Richard
Wagner hat Schillers „Braut von Messina" mit Goethe's
„Iphigenie" in Beziehung gebracht. Der Dichter selbst
scheint ja auch diese, den geistigen Zusammenhang aus-
drücklich herstellende Brücke schlagen zu wollen,
indem er mit jenen Chorversen auf Orests unglückselige
That beziehungsvoll genug anspielt. Wie er aber —
ebenfalls nach Wagner — über Goethe durch ein weit
bestimmteres Verfahren in Nachahmung des griechischen
Ideales noch hinaus schritt, so auch besonders in diesem
eigentümlichen Momente. Hat er nämlich schon über
die lediglich antike Form hinaus dem Geiste der mo-
dernen Musik sich bis zur Handreichung nun genähert,
so bildet er hier noch die griechisch-heidnische An-
schauung der Erlösung von der Eumeniden-Rache durch
Orakelspruch eines Deus ex machina klar und deutlich
zum Schuldbegriff des christlichen Pessimismus um und
bis zur auslöschenden Sühne durch Selbstopfer der
eigenen Person ebenso wuchtig als tief-ernst weiter fort.
44
Wagneriana. Bd. III.
IV.
Es war der feinsinnige Aesthetiker Heinrich
von Stein — für Viele leider (trotz dem Erscheinen
seiner gediegenen Studien bei Reclam) noch immer nur
eine „unbekannte Grösse", der in seiner gehaltreichen
„Aesthetik der deutschen Klassiker" über den Schritt
des Dichters von der „ Braut von Messina" zum „Teil"
hin, und besonders über das letztere Drama, folgende
wertvolle Erläuterung zum Besten gab:
Mit der Einführung des Chores in der „Braut von
Messina" handelte es sich „um ein neues Mittel, das
Stoffliche des Gegenstandes künstlerisch zu beleben
. . . Nicht so ist es anzusehen, als sei hier eine neue
Wendung zur Nachahmung antiker Kunst eingetreten
und habe sich der Dichter aus diesem Grunde ent-
schieden, von jetzt ab nur mehr Tragödien mit einem
Chore zu schreiben. Dann nämlich wäre schwer er-
klärlich, warum bereits bei seinem nächsten Werke
Schiller den Chor nicht mehr anwandte, da doch die
, Braut von Messina1 einen sehr grossen Eindruck
gemacht hat. (Auch nicht etwa so roh ist der früher
von uns an jenem Drama festgestellte , Geist der
Musik4 aufzufassen, als ob dieser latent musikalische
Zug in dem ,opernhaften* Elemente der zahlreich ein-
gestreuten Gesänge, Lieder, Jagdhornrufe, Bühnen-
musiken, Requiem etc. im ,Tell* nunmehr eklatant
hervor gebrochen sei ! D. Ref.) . . . Der Chor in der ,Braut
von Messina* soll (vielmehr) der gleichen allgemeinen
Aufgabe dienen, wie das Lager im , Wallenstein*, wie
die Mirakel in der Jungfrau*, wie die Naturszenerie
im ,Tell*. Es soll den Stoff in die poetische Sphäre
erheben ... Im ,Tell* legte der Gegenstand es nahe,
die Naturvorgänge in die Handlung als unmittelbar sich
beteiligend hinein zu ziehen. Das denkbar einfachste
Mittel einer poetischen Belebung des Stoffes durfte hier
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 45
gewählt werden, nämlich dies: Die an sich selbst zum
Gefühle sprechenden, und insofern wahrhaft poetischen,
grossen Erscheinungen der äusseren Natur auf die
Bühne zu bringen: es war deshalb möglich und not-
wendig, weil hier der Gegenstand eine von den be-
sonderen Verhältnissen der gerade hier in das Auge
gefassten Berg- und Seelandschaft hervorgebrachte Be-
gebenheit ist. Wir müssen, wenn der Vorhang im
,Tell' sich hebt, ein wundervolles landschaftliches Bild
mit Augen vor uns sehen . . . Lieder erklingen, erst
vom See, dann von den Höhen . . . Die Landschaft soll
uns laut werden, sich uns kund geben, Auge und Ohr
sollen Zeit gewinnen, mit ihr vertraut zu werden. Der
Charakter dieses anfänglich vor uns entfalteten Bildes
ist tiefer Friede, vollste Schönheit und Lieblichkeit . . .
In diese Landschaft tritt der Mord — ein Ungewitter
ist herauf gezogen, ein Sturm erhebt sich . . . Dies ist
das Problem des Stückes: die ungeheuren Möglichkeiten
menschlichen Thuns stören den Frieden der Natur . . .
Ein furchtbares Ringen sollen wir erleben . . um das
Ernsteste wird gekämpft: dreimal im Verlaufe des
Stückes ist die entscheidende That ein Meuchelmord.
Wie die Tiefen des See's aufgewühlt sind und in
heulendem Tosen nun vor unseren Blicken wogen und
stürmen, so steht es im »Teil4 um das Verhältnis des
Menschen zur Natur. Werden wir das andere Ufer
erreichen? Ruhe und Frieden in erhöhter, gesicherter
Gestalt? Das ist die Frage, das ist das Problem. Das
ist auch in jener Eingangsszene, im eigentlichen Sinne
gesprochen, die erste Aufgabe, an der sich Teil bewährt.
Wir fühlen, dies ist der Mann, durch dessen Hülfe die
bange Fahrt bestanden und jenes grosse Ringen ent-
schieden werden wird . . . Gerade die Eigenart der
Naturerscheinung wird die Veranlassung zu Allem,
was von da an gelingt . . .
46
Wagneriana. Bd. III.
Das breite Fundament des ganzen Befreiungs- Werkes
ist die Zusammenkunft auf dem Rütli. Abermals steht
dieser Szene eine ausführliche Beschreibung des land-
schaftlichen Anblickes vor. Eine Mondnacht; See und
Gletscher leuchten im Mondenschimmer, sie allein — alles
Andere, die Felsabstürze, die Matten sind in Dunkel
gehüllt. Das ist mit Augen gesehen; es ist, wie wir
mit Bestimmtheit sagen können, ein unmittelbar grosser
Eindruck, den Goethe (auf seiner Reise 1797 am Vier-
waldstädter See) einmal gehabt haben muss und mit be-
sonderer Lebhaftigkeit Schiller mitgeteilt hat. (Und
dieser geistige Zusammenhang wird für unser Betrachten
noch augenfälliger und für unser Gefühl noch intensiver,
wenn — wie wir es vor Jahren in Leipzig erleben
durften — bei der Bühnendarstellung ganz die selbe
Dekoration, wie auch zum 1. Akt im II. Teile des
,Faust(-Drama's mit der grossen Betrachtung des Sonnen-
aufgangs, verwendet wird; wissen wir doch, dass in
dieser Faust-Episode jener grosse Natureindruck der
Schweizer Reise von Goethe selbst mit voller Absicht
bewusst nieder gelegt worden ist! D. Ref.) Wenn
Melchthal mit seinen Genossen redet, erblicken sie
plötzlich einen Mondregenbogen über dem See. ,Es
leben Viele, die das nicht gesehen' — also ein besonderes,
an das Wunderbare grenzendes Phänomen. Man könnte
einen Augenblick zweifeln, ob diese Häufung des
Details an Naturausblicken nicht wohl gar auf das Stoff-
liche ablenke, auf das blosse Schauspiel der schönen
Erscheinung der Natur. Aber diese Häufung bringt
vielmehr eine dichterische Absicht zum Ausdruck : wir
sollen deutlich empfinden, dass die Natur mitspricht,
dass sie mitschafft an dem Werke, dessen Entstehung
wir erleben. Der Sonnenaufgang am Schlüsse der Rütli-
Szene ist das grossartigste Moment in dieser Beteiligung
der äusseren Natur. In der Ausführung eines solchen
Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus. 47
Momentes entscheidet sich, was den ,Tell' betrifft, ob
eine Aufführung das Kunstwerk Schillers bietet,
oder nicht. Lassen wir nach dürftig hergestellter röt-
licher Beleuchtung den Vorhang fallen, so ist es kaum
ein Balleteffekt. Der Dichter aber schreibt vor,
dass die Szene sich erst völlig leeren müsse,
und dass sodann unsere ganze Aufmerksamkeit
von dem Schauspiel der über den Schneebergen
aufsteigenden Sonne angezogen und festgehalten
werde.
Das ist der Hintergrund, vor welchem das Drama
spielt, besser: der Boden, aus dem es erwächst (und der
Sc ho ss, aus dem es, wie die griechische Tragödie aus
dem Geiste der Musik und die ,Braut von Messina4 aus dem
Chore, geboren — dürfen wir nun sagen). Denn die mensch-
lichen Vorgänge des Drama's selbst sind an Breite, Fülle
und Wucht wie grosse Naturerscheinungen dargestellt.
Eine Gesamtheit, das schweizerische Volk, ist der Held
des Stückes. Dies erfahren wir vor Allem in jener
Szene, von deren Naturumgebung wir eben sprachen . . .
Auf natürlichen Gründen, auf einem gemeinsamen
(Mutter-)Boden soll das Werk beruhen. Die Geschichte
des Volkes als eines Ganzen sollen wir vernehmen; die
That dieses Volkes sollen wir erleben. Die Aufführung
bringt hierin den Gedanken des Dichters dann zum
Ausdruck, wenn der fünfte Akt als höchste Steigerung
des Stückes wirkt. (NB. Das Glockenläuten, die Feuer,
das Niederreissen Zwing-Uri's — all' dies muss auf den
Beschauer mit einem gewaltigen Eindrucke einstürmen:
wir müssen das Volk bei seiner That, in seinem Glücke
sehen. Teil selbst ist nur verstanden, wenn man die
Schwere, die Wucht seiner EntSchliessungen und seiner
That beachtet; eben diese, man möchte mit dem Goethe-
schen Lieblingsworte sagen, diese Breite der inneren
Vorgänge in der Seele Teils, ist das Volkstümliche in
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48
Wagneriana. Bd. III.
ihm, das, was ihn zum Repräsentanten der Volks-
gesamtheit macht . . . Das Volksgemüt hat durch seinen
Arm die That vollbracht. Teil war hier — nach Wagner
— gleichsam der Inbegriff Aller, welche die gemein-
same Not empfanden, denn nur diese höchste Not hat
sie ihm zuletzt eingegeben und abgerungen. D. Ref.) Die
Liebe des versammelten Volkes spricht ihn nun am
Schlüsse los. Hiermit sehen wir das Volksgemüt, die
Volksgemeinschaft zum Siege über Tücke und Willkür
gelangt, und in Einklang mit den ruhigen, gesunden
Gründen ihrer natürlichen Heimat zurück gebracht.
Dieser Sieg ist ein Ideal . . . Und den Gewinn, der für
alle Zeiten einer Dichtung wie ,Tell* zu entnehmen
ist, möchten wir als Vertrauen in das Ideal be-
zeichnen . . . Die Grösse und Weite eines solchen
Werkes flösst uns Sicherheit des Gefühles, Bestimmt-
heit unserer idealen Hoffnung ein . . ."
Damit aber ist für uns zugleich der „Geist der
Musik", als der „ Idealitätssphäre" des Drama's im weitesten
Sinne des Wortes, auch in diesem Schlusswerke Schillers
inhaltlich und formell nur wieder vollauf bestätigt.
Und doch — welch' gewaltiger, kaum zu glaubender
Schritt: von der „Braut von Messina", diesem aparten
Unikum in Schillers gesamtem Schaffen, zum „Wil-
helm Teil", seinem letzten, vielleicht reifsten und nach
dem „Wallenstein" sicher vollendetsten Drama hin! Das
Dramatisch-Lebensvolle und das Theatralisch-Wirksame,
grosszügige Leidenschaft und innig-gehaltvolle Rührung,
idealer Charakter und realistischer Stil vereinigen sich
hier in kraftvoll-nationaler Ausprägung, voll Weihe und
Schwung, zu einer so harmonischen Ineinsbildung, dass
sie allein schon, noch ohne den starken, stofflichen und
ethischen Reiz, die hohe Beliebtheit dieses Werkes bei
Jung und Alt, bei Hoch und Niedrig rechtfertigen
müsste. Ergäbe der Schluss in der Parrizida-Episode
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus.
49
nicht den unglückseligen Überschuss an dichterischer
„Tendenz", oder richtiger gesagt: gedanklicher Sentenz,
das formale Gewand sässe dem Körper wie angegossen,
ohne die geringste Falte !
Verwunderlich ist u n s dieser Weg von einer „ Braut*
zum „Teil" ja nicht weiter, denn wir haben gesehen,
wie die „Braut von Messina • eine Sackgasse der
dramatischen Dichtung bedeutete, aus welcher erst eine
spätere Zeit, indem sie der fest gerannten Idee mit Hülfe
der Tonkunst ihre wahre Erlösung und Vollendung zu
Teil werden Hess, wieder heraus zu führen vermochte:
das Märchen vom schlafenden „ Dornröschen" (Dichtung),
das durch den Kuss des „Königssohnes" (Tonkünstler)
zu idealem Leben erweckt und in ein Königreich der
Zukunft heim geführt wird ! Trotzdem bleibt der Schritt
immerhin noch merkwürdig genug, auch wenn wir dabei
im Auge behalten, dass darauf hin vielleicht noch ein
.Malteser"- oder ein „Demetrius"-Drama hätte folgen
sollen, und dass auch im „Teil" noch gar mancherlei
Überbleibsel von Chorabsichten, freien Rhythmen und
musikalisch-opernhaften Elementen vorhanden sind. Für
jedes der genannten beiden, ungeschriebenen Dramen
Hessen sich geistige und technische Anknüpfungspunkte
in voraus gehenden Schöpfungen Schillers gar manche
auffinden; um den „Teil" organisch einzugliedern, muss
man aber wohl oder übel bis zum Ausgangspunkt in
Schillers Entwicklung, seinem „Räuber" -Drama zurück
greifen. Zwar, das spezifisch revolutionäre Moment, es
hat — sei es in der Form der subjektiven Rebellion oder
der objektiven Auflehnung gegen eine fremde Regierung,
sei es als Widerkönigtum oder als Neigung zu Autonomie,
um nicht zu sagen zum Anarchismus — eigentlich
einzig nur wieder in der „Braut von Messina" gänzlich
gefehlt; in allen anderen Dramen durften wir ihm mehr
oder minder ausgeprägt immerdar begegnen. Allein es
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 4
50
Wagneriana. Bd. III.
ist ein gewisses Etwas, das allem voran gerade den
„Teil", das Ende in Schillers produktivem Tagewerk,
mit seinen „Räubern-, dem Anfange seiner dichterischen
Entfaltung, in enge geistige Verwandtschaft treten lässt
— eine Verwandtschaft, die uns wie verklärte Bestätigung
und Bekräftigung seines idealen Jugendwollens, aber i m
milden Lichte des versöhnenden Abendsonnen-
strahles nunmehr, aus seinem Leben grüsst.
Ein „E pur si muove" — in's Schillerische übersetzt:
„Der Mensch ist frei und wär' er in Ketten geboren!" —
entringt sich trotz allem und allem an gegenteiligen
Erfahrungen sowie von der realen Welt ihm bereiteten
Enttäuschungen auch an seinem Lebensabend als ein
edelstes Bekenntnis und geistiges Vermächtnis seiner
männlichen Brust. Aber die starke ästhetische Schule,
die der Dichter vom „Carlos" bis zur „Braut von
Messina" sich selbst auferlegt und seither freiwillig an
sich durchlaufen hat, sie ist nicht spurlos an seinem
Geiste vorüber-, etwas wie geläuterte Umbildung der
äusseren Revolution zur inneren Reformation ist
bei ihm vor sich gegangen. Jetzt durfte er das Jugend-
problem wieder aufnehmen und dabei erhoffen, dass ihm
gelingen würde, was man so nennt: die Leidenschaften
der eigenen Seele in persönlich uninteressierter Schau
und objektiver Vergegenständlichung klärend zu ideali-
sieren; jetzt — nachdem er zuletzt gar noch einen
Stoff durch die Form geradezu „getilgt" hatte — konnte
er es auch unternehmen: den ursprünglich über-
schäumenden Stoff durch Form und zur Form zu be-
zwingen! Dort, in den „Räubern", im gewaltigen Drange
einer schwer lastenden Gegenwart, wird die Fabel des
Stückes erst aus den Zeitumständen heraus mit starker
stofflicher Wirkung noch geschöpft; hier, im „Teil",
haben wir geschichtliche Verklärung und Erhebung der
Idee zur mythischen Personifikation. Was dort Auf-
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Betrachtungen zu einem Schiller-Zyklus.
51
bäumung des einzelnen, grossen und starken Ausnahme-
Individuums gegen den Staat, als den Unterdrücker
freien Geistes, gewesen, es erscheint hier zu Aufstand
einer grösseren Volksgemeinschaft wider deren fremde
Bedrücker gesteigert, also vom rein Persönlichen oder
Parteilichen in's Volkliche und Vaterländische sehr be-
merkenswert fortgebildet — wobei wir, selbst am Schlüsse
der Schiller'schen Lebenslauf bahn, die „ Propaganda der
That", das immer noch revolutionäre Prinzip des ver-
herrlichten politischen Meuchelmordes, noch gar nicht
einmal unterschätzen möchten. Dazwischen stehen nicht
nur die sämmtlichen übrigen Dramen des Dichters bis
zur viel berufenen „Braut von Messina", sondern auch
die grosse französische Revolution; am Ausgangspunkt
aber — ich sage nicht als Folge, indessen doch (beziehungs-
voll genug für eine historische Betrachtung) nach dem
„Teil": der Tiroler Aufstand mit Andreas Hofer an der
Spitze — eine Volks-Erhebung, die freilich in ihrem Helden
tragisch enden sollte! Auch in unserer Zeit beisst sich
ein Gerhart Hauptmann an diesem ethisch-ästhetischen
Problem: .Weber" — „Florian Geyer", Zeitdrama oder
historische Tragödie, die Zähne aus und man weiss
nicht, was noch werden mag. Die 50 Personen, die
der Spielzettel zum „Teil" auffuhrt, hat er auf über 60
vermehrt; gelänge es ihm, seinen „Florian Geyer", wie
Schiller seinen »Teil", aus dem ihn umgebenden „Rate"
der Genossen plastisch-kraftvoll heraus zu heben und —
wenn auch in ungleich realistischerer, „modemer"
Gestaltung des rezitierten Drama's — zu einem
gleichen, handelnden Helden der überzeugenden „That"
zu machen: fürwahr, er könnte der Mann unserer Zeit
werden . . .
Zwischen
Robert Schumann
und Richard Wagner
Herrat
Grosse Oper, Text und Musik von Felix Draeseke
(1894)
Der alte Professor Riedel in Leipzig, der Begründer
des nach ihm benannten grossen Chor-Vereines, hat mir
einmal eine hübsche Geschichte von einer Zusammen-
kunft Liszts mit Draeseke erzählt. »Nun, mein lieber
Draeseke, was machen Sie denn eigentlich ?" ging der Alt-
meister freundlich lächelnd auf den ehemaligen Jünger
zu. „Ich? — ich schwinge die Palme der Erfolg-
losigkeit!" soll dieser schlagfertig geantwortet haben.
WemVs nicht wahr ist, so ist's doch jedenfalls sehr gut
erfunden. Aber freilich, genau so lange und insoweit
schwingt auch Draeseke nur diese „Palme", als und
weil seine Werke nicht aufgeführt werden; so bald einmal
eines wie seine „Herrat", seine „Gudrun", seinw Bertrand
de Born", „Requiem", „Adventslied", seine „Penthesilea-
Ouvertüre", „Sinfonia tragica", sein „Klavierkonzert"
oder der Balladen-Zyklus „Olaf" auf dem Plan erscheint,
ist ihm auch der Erfolg noch niemals ausgeblieben. (Erst
beim umfangreicheren „Christus" neuerdings scheint er
nachzulassen.) Unter starkem, anhaltend lebhaftem Beifall
ging so auch vor einer zwar kleinen, aber für die
hohen Schönheiten des Werkes desto empfänglicheren
Draeseke-Gemeinde seine „Herrat" nach langer, langer
Pause wieder einmal in Szene. Jener Musikreferent des
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56
Wagneriana. Bd. III.
„Dresdner Journals", der kurz zuvor so dankenswert
auf diese und so manche andere Unterlassungssünde der
Dresdener Hofoper hingewiesen hatte, darf sich also —
und wir dürfen uns mit ihm — aufrichtig gratulieren,
dass seine Anregungen so bald schon Gehör gefunden
haben. Oder sollte in dieser wie so mancher anderen
Neueinstudierung der jüngsten Zeit an genannter Oper
etwa gar das Wehen eines „neuen Geistes- sich bereits
angekündigt haben?
In der That kenne ich wenige Werke von solch*
lauterem, ernst-vornehmem und edlem Streben, dürften
wir in Deutschland zur Zeit wenig Opern mit solch
hervorragenden Schönheiten aufzuweisen haben, die —
so selten aufgeführt werden. Es gehört Mut, Über-
zeugungskraft und ein stolzer, unbeugsamer Glaube an
das eigene Ideal dazu, nach einem Richard Wagner
noch so selbständige Wege zu wandeln, wie dies Felix
Draeseke in seiner „Herrat" thut; und so viel ist sicher,
hätte Wagner nicht gelebt, würde Draeseke als Opern-
komponist wohl eine ganz andere, weit imposantere
Stellung in unserer Gegenwart einzunehmen berufen
erscheinen. So aber steht diesem seinem Aufkommen der
grosse Reformator des musikalischen Drama's eigentlich
im Wege, wenngleich er selbst in manchen Stücken
dessen Pfaden zu folgen und der „ Wagner-Schule" an-
zugehören, oder doch von ihr direkt her zu kommen scheint.
Ich sage „scheint", denn für den tieferen Kenner ist es
meist nur etwas Äusserliches, worin sich Beide be-
rühren : wenn z. B. der Komponist — weil er zugleich
ein mit umfassender litterarischer Bildung Begabter ist
— sich seine Texte selber dichtet, die „Nummern" der
älteren Oper in „Szenen", das frühere „Rezitativ" in
„Deklamation" auflöst, die veraltete „ Riesengui tarre-
Begleitung* des Orchesters zu einer solchen mit „sin-
fonischem Charakter" erweitert und in gewissen Klängen
Herrat.
57
hier stellenweise dann allerdings an das berühmte Vor-
bild erinnert. Seine „grosse Oper", wie er sein Werk
ehrlich nennt, hat sich damit zwar der durch Wagner
angebahnten Reform keineswegs verschlossen, aber doch
auch noch nicht zum vollen „ Musikdrama u schlechthin
entwickelt; seine „ Deklamation • ist noch nicht ganz
„Sprachgesang", und vollends sein Orchestersatz, seine
Art zu instrumentieren, dabei noch so eigenständig ge-
blieben, seine ganze Diktion so wesentlich anders
wieder als die Wagner'sche geartet, dass man auf alles
Andere eher als auf eine Abhängigkeit von jenem, unser
Jahrhundert nun einmal überragenden Heros bei dem
jüngeren Meister (trotz früherer, notorischer Beziehungen
dieses zu jener Richtung) raten kann. Seine Entwicklung
liegt, genau genommen, mehr auf der Linie Schumann.
Er steht gerade mitten inne zwischen der 1850 zuerst
aufgeführten Schumann'schen „Genoveva" und den nach
ihr erschienenen Wagnerischen Musikdramen — vom
„Lohengrin" also bis zur „Götterdämmerung" (aus-
schliesslich „Parsifal"); er geht entschieden einige
Schritte weiter wie jener, aber doch noch nicht eben so
weit wie dieser. Zweifelsohne ist er in der Oper und für
die Bühne ungleich bedeutender, auch dramatischer, als
der durch und durch lyrisch veranlagte Schumann;
allein eine gewisse Dickflüssigkeit in seiner Orchestrierung,
hier und da ein Sich-Einspinnen und Nach-innen-Sinnen,
das sich gern tiefer Vergrübelnde also und eine gewisse
keusche, für die in skrupellos gegensätzlicher Drastik
sich ergehende Bühnenpraxis allzu keusche, Seite in
seinem Wesen gemahnen lebhaft an jenen und lassen
ihn immerhin als seinen Geistesgenossen erkennen.
So bleibt der Schöpfer von „Herrat«1 zwar überall
charakteristisch, erreicht aber nur selten jene schlagen-
den, frisch-fröhlich-freien, ja kecken Wirkungen, wie sie
das Drama so sehr braucht; hat er leider nicht allzu
58
Wagneriana. Bd. III.
viel von jener Plastizität an sich, wie sie bei Wagner
durch die leitmotivische Behandlung für die dramatische
Gestaltung so fruchtbar geworden ist, und ist er im
Ganzen daher wohl musikalischer, als gerade dramatisch,
begabt zu nennen.
Auch bis in's Textbuch hinein lässt sich solche
„ Selbständigkeit" unseres Komponisten, oder wenn man
will, diese Mittelstellung zwischen Schumann und Wagner
genau verfolgen. Er verzichtet auf das Streng-Mythische
als Stoffgrundlage für seine Oper, geht also nicht mit
dem späteren, sondern hält es vielmehr mit dem früheren
Wagner, indem er die Sage genau an dem Punkte nur
aufnimmt, wo sie schon historisch wird, aber auch
Geschichte sich mit Dichtung immerhin noch leicht
vermischt. Er sichert sich damit den grossen Vorteil,
typische, allgemein menschliche Gestalten zu gewinnen,
als welche musikalische Ausprägung gar wohl gestatten;
aber die historischen „Eierschalen* gleichsam hängen
ihnen eben doch auch an, ganz abgesehen noch davon,
dass die Personen — mit Ausnahme vielleicht von
Etzel und Hildebrand — ihm nicht individuell genug
geraten sind. Genau in dem selben Grade nun, in
welchem hier ein historisches Element das Sagenhafte
oder Allgemein-Menschliche noch überwiegt, hat sich
auch Draeseke von Wagner hierbei entfernt, in seiner
Oper .Gudrun" anderseits diesem wieder sich genähert.
Mag sein, dass auch einige andere Schwächen des Text-
buches die rechte Bühnenwirksamkeit des Werkes auf
die breiteren Massen in Etwas beeinträchtigen, so dass
dadurch doch auch der Mangel geräuschvollen Glanzes und
eines durchgreifenden äusseren Erfolges bei unserem
Werke einigermassen erklärt sein würde. Wenigstens
wollte es mir so scheinen, als ob die gewaltthätige und
blutrünstige Grausamkeit des die ganze Handlung be-
herrschenden Haupt- und Grundmotives (wenn Etzel
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Herrat.
59
nämlich bis fast zum Schlüsse hin eisern darauf besteht,
dass seine eigene Frau ihren Kopf verwirkt haben
solle — nebenbei bemerkt: das konnte nur ein Jung-
geselle so schreiben!) eine tiefere menschliche Anteil-
nahme an den auf der Bühne oben sich vollziehenden
Geschicken beim Hörer nicht recht aufkommen Hesse.
Manches — wie die Liebe Dietrichs zu Herrat — ist
dabei wohl schon zu fein-, manches wieder — wie die
Liebe Helke's zu Dietrich dem Reussen und überhaupt
die ganze Vorgeschichte — zu wenig motiviert, und
schon die Verbindung Helke's, dieser weiss-rassigen
zartschönen Frau, mit dem rauhbeinigen Scheusal von
Hunnenfürsten berührt an sich — ähnlich derjenigen
zwischen Desdemona und Othello — wie Feuer auf
Wasser, fremd und unvereinbar, so unerklärlich wie
unerquicklich. Selbst einige weniger glückliche Einzel-
heiten im Texte, wie z. B. die oftmals wiederholte selt-
same Wendung „bislang musst' ich das Elend bau'n"
(S. 42/43 — innerhalb zweier Seiten allein dreimal, vergl.
auch S. 20), oder das gänzlich aus dem Rahmen fallende:
»Das ist ja schier zum Lachen!0 u. a. — all das mag
der vollen Wirkung wohl mancherlei Eintrag thun; und
das ist gewiss nur sehr zu bedauern, denn diese Oper
verdient es wie wenige, aufgeführt, gehört und wenigstens
gekannt zu werden. Das herrliche Orchestervorspiel,
die wundervoll zarte Verwandlungsmusik im zweiten,
das bedeutende Ballett im dritten Akte als reine In-
strumentalnummern, der markige Einzug Etzels und
seiner Mannen, später die Charakteristik der Leiden
Dietrichs des Berners im ersten, Herrats wehmütige
Erwartung, die eigentümliche Kampfszene, hernach der
entzückend schöne Zwiegesang und zuletzt die gross-
artige Volkshuldigung im zweiten, endlich Herrats so
herrlich edle und milde Ansprache und die vorzüglich
angelegte Schlussszene im dritten Aufzuge bilden da nur
60
Wagneriana. Bd. III.
eine kleine Blumenlese aus der Partitur, welche allein
schon den Besuch der Oper lohnen würde. Namentlich das
„Ballett14 daraus verdient es, in seiner neuen, charakter-
vollen Tendenz als „dramatische Pantomime* besonders
rühmend hervorgehoben zu werden, in welcher Form
es sogar zu einem integrierenden Teile der Handlung
selber nun geworden ist. Schlechterdings unfasslich bleibt
es wahrlich, wie man es bisher gänzlich hat weglassen
können; denn — abgesehen davon, dass es dem dritten
Akte in der Ökonomie des Ganzen erst die rechte
Ausdehnung giebt: wenn etwas uns den finsteren Etzel
überhaupt noch menschlich näher rücken kann, so ist
es doch die Gebärde, mit der er die sanfteren Liebes-
weisen dieses Tanzes im Hinblick auf das schwere
Opfer, dass er sich selber zu bringen hat, unwillig und
doch wie resigniert von sich abwehrt, die kriegerischen
Tänze vor Allem wieder heischend. Also ein psycho-
logisches Motiv! Aber auch der Schluss, mit dem
plötzlichen Abreissen der Bewegung auf Befehl des
ungeduldigen Herrschers, ist gar eigenartig und zeigt,
wie gesagt, das Ballett von einer neuen, höchst inter-
essanten Seite: hier ist es allerdings, wo Draeseke
Wagners Spuren als ein überzeugter Anhänger folgt
— man vergleiche nur die dramatischen Pantomimen
im „Rienzi" und im „Tannhäuser*1!
Warum der Komponist einen so rauhen Stoff sich
zum Vorwurf für seine Oper genommen hat, einen
Stoff, der von Grund aus schon zartere Regungen nicht so
leicht aufkommen liess, das erklärt sich wohl unschwer
aus einem gewissen strengen, knorrig-trotzigen Grund-
wesen, das seiner Natur nun einmal eigentümlich zu
sein scheint. Es ist das ein männlich strotzendes Kraft-
gefühl in ihm, eine feste und innerlich solide Kern-
haftigkeit, die im Bewusstsein ihrer Stärke oft zu den
stärksten Härten in bezügl. kombinatorischen Leistungen
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Herrat.
61
fuhrt — eine gewisse herbe Sprödigkeit muss man da eben
auch einmal mit in den Kauf nehmen. Dafür aber, und das
ist die Hauptsache, ist und bleibt er auch durch und durch
Deutscher, seine Kunst eine solche von edelstem
arischen Geblüte — germanische Rasse in jedem Zug:
das soll ihm ganz gewiss bei derzeitiger Fremdländerei
nicht vergessen sein! Ich erinnere z. B. nur an die
wirksame, glanzvolle Schlussszene des zweiten Aufzuges,
wo das von den besten Helden des Volkes akklamierte
Herzogspaar, der Recke und die jungfräuliche Braut,
von den eigenen Mannen hoch auf den Schild erhoben
wird: Heiliger Armini — da strömt's einem wie neues Blut
durch die Adern; das konnte nur ein Echter in seiner
Phantasie also erschauen. Und hierbei komme ich zum
guten Ende noch auf einen anderen, für Draeseke's
Schaffen so recht bezeichnenden Punkt zu reden: allwo
wir nämlich eine geistige*) Verwandtschaft mit keinem
Geringeren als dem grossen Beethoven bei ihm sogar
aufzudecken haben. Wenn nämlich oben schon, mehr im
Sinne eines Tadels, betont werden musste, dass nur ein
Junggeselle das bewusste, herzlose Hauptmotiv zu
dramatisieren vermochte, und wenn man es hin und
wieder wohl als einen Mangel am Textbuche empfinden
mochte, dass darin gleichsam zu wenig geliebt werde,
so darf nun anderseits mit Nachdruck darauf hin
gewiesen und als ein besonderer Vorzug heraus gehoben
sein, dass bei Draeseke — gerade so, wie auch bei
Beethoven — wenn denn schon einmal dieses letztere
Gebiet berührt wird, alles sofort zu jenem höchsten
Ethos auch emporsteigt, jenes „hohe Lied0 der Liebe
und Treue vom Komponisten alsdann angestimmt wird,
welches das arische Erbteil unserer Nation schlechthin
•) Wohlgemerkt: „geistige** — die „leibliche41 liegt ja in
seiner zunehmenden Taubheit leider auch schon vor.
62
Wagneriana. Bd. III.
heissen mag und zuletzt dem Feuer eines begeistert
erglühenden, reinen Idealsinnes entstammt, von dem die
— Ehemänner unter den Komponisten (Wagner immer
ausgenommen) leider nur selten auch nur einen Schimmer
mehr haben. Und, statt dieses hohe germanische Ethos
nun auf unseren Buhnen angelegentlichst zu pflegen,
nimmt man lieber den ganzen ausländischen Kram der
französischen Ehebruchs-, italienischen Eifersüchte- und
undeutschen Frivolitäts-Opern gastlich bei sich auf, wobei
die deutschen Komponisten hübsch antichambrieren dürfen
und ein Draeseke sich von Aufführung zu Aufführung
(die alle heiligen Zeiten — wenn es gut geht — einmal
stattfindet) in Geduld stets fromm und wacker zu fassen
hat! Es spricht nur für Draeseke's »Charakter", wenn er
darüber noch nicht verbittert geworden ist; man darf
es ihm aber auch nicht verübeln, wenn er seinem
gerechten Unmut gelegentlich einmal durch ein scharfes
Wort über die „Ausländerei44 schon Luft gemacht hat.
Darum alles in Allem: Wir sind stolz darauf, ihn den
Unseren nennen zu dürfen.
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♦
Melusine
Romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Grammann
(1894)
Es ist immer eine gar löbliche Absicht von Seiten
einer Hoftheater-Intendanz, neuere Werke lebender
Komponisten an's Licht der Rampen hervor zu ziehen,
und sie darf sich das auch j a nicht verdriessen lassen,
selbst wenn solches Bestreben nicht stets von dem ge-
wünschten Erfolge begleitet sein sollte. Auch in dem
Falle Grammann mag sie der erneute Versuch nicht
gereuen (trotzdem dieser wohl durch die Wieder-
aufführung der „Melusine" nun endgültig als miss-
lungen aufgefasst werden muss); denn nur dann kann
und darf man mit vollem Fug von mangelnder Wirkung,
Unaufführbarkeit, Lebensunfahigkeit eines Bühnenwerkes
sprechen, wenn man es erst einmal in's Leben gefördert
und zum szenischen Leben auch wirklich aufgerufen hat.
Um es kurz zu sagen : Ich glaube, der Dichter hat
allzu tief in die Melusinen-Sage hinein geguckt, und so
ist ihm das Werk unter der Hand zur Melusine selber
geworden; ein zwischen Sein und Nichtsein schwebendes
Schemen ohne Seele, ein Wesen, das nicht sterben,
aber auch nicht warmblütig leben kann — • ein Zauber,
und vielleicht sogar ein schöner reizender Zauber, aber
eben doch nur ein Spuk, mit dem auf die Dauer nichts
Rechtes anzufangen ist. Die Personen haben alle kein
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64
\X agneritna. Bd. III.
Blut, das Ganze ist eigentlich nur ein romantischer
Liebestraum, mit viel Zauberhokuspokus versetzt, aber
noch lange kein brauchbares Textbuch. Und daran
vermag auch der Versuch, ihm durch den vermeintlichen
Vatermord bei der Eberjagd, die Rache dieses Mordes
an dem rechtmässigen durch den natürlichen Sohn des
Gefallenen, die Verschmähung Bertrams wie seiner
Liebe durch Melusine und den Aufruf Peters von
Amiens zum Kreuzzug — ein realistischeres Gepräge zu
verleihen, nichts weiter zu ändern, weil im Gegenteil
durch alle diese Dinge weit eher die Klarheit des dra-
matischen Vorganges gelitten hat und die Grundidee
nur verzettelt worden ist. Dies also wäre der erste
Einwand, der gewichtigste, grundwesentliche Mangel des
Werkes.
Die zweite Kardinalschwäche liegt gleich unmittelbar
daneben, auf dem Gebiete der Musik, da es der Kom-
ponist leider nicht vermocht hat, schon durch die
musikalische Charakteristik das Geisterreich scharf
genug von der Wirklichkeitswelt abzuheben. Ansätze
hierzu finden sich zwar in Menge, aber schon gleich
im ersten Akt hat er sich dieses Vorteiles — trotz
aufmarschierenden, obligaten Mannenchores mit Horn
und Liedertafelei — beinahe ganz begeben ; zu der un-
mittelbar einleuchtenden Klarheit vollends und wirk-
samen Plastik, mit welcher z. B. Weber im »Frei-
schütz11 und „Oberon", Lortzing namentlich in der
„Undine" und R. Wagner im „Lohengrin" beides aus
einander zu halten und wiederum kontrastreich darzu-
stellen verstanden haben, ist es bei ihm gar nirgends
gekommen. Im Grossen und Ganzen ist das alles
freilich nun wieder auf die besondere Natur der
Grammann'schen Muse selber zurück zu führen, von der
wir nachher noch ausführlicher zu sprechen haben
werden. Mag immerhin sein, dass auch der deutsche
Melusine.
65
Gehalt an dieser Wassersage (die ja von der Melusinen-
und Undinen- über die Loreley-Sage hinweg bis zur
Kunihild-Sage eine sehr interessante Fortbildung vom
Wasser- zum Bergmythus hin erfährt) in Lortzings
„Undine" ein für alle Mal mustergültigen musikalischen
Niederschlag gefunden hat — und auffallig genug bleibt
es jedenfalls, dass seither alle die Melusinen-, Loreley-
und sonstigen Nixenopern als Bühnenwerke sich nicht
dauernd haben halten können. Ebenso wenig kann aber
doch geleugnet werden, dass Grammann — rein musi-
kalisch betrachtet — den ursprünglich keltischen, schon
in den Namen „Lusignan" und „Melusine" gar merk-
würdig lutschigen, schlürfigen, glitschigen Stoff allzu stark
noch in Schwammigkeit eingetaucht hat. An und für
sich wäre das ja gewiss kein Fehler, insoweit es zur
Charakteristik des ganzen Vorwurfes dienen könnte; und
thatsächlich ist ja auch der Beginn der Ouvertüre in diesem
Sinne so flüssig geraten, wie man es sich kaum besser
wünschen möchte. Immerhin, Gramman hat, wie gesagt,
gleich seinem Lusignan, zu tief in Melusinens Wasser-
augen geschaut, und so hat er es ungeachtet einer
wahrhaft blühend-musikalischen Phantasie zuletzt nicht
verhindern können, dass ihm alles in eine mehr keltische
Weichlichkeit aufgegangen ist: leckere Tomatensauce,
keine deutsche Kraftbrühe!
Unwillkürlich gleiten die Blicke und Gedanken zurück
zu der (jüngsten) „Herrat'-Aufführung — ein schärferer
Gegensatz lässt sich ja kaum mehr denken, als der zwischen
einem Draeseke und einem Grammann innerhalb der
heiligen neu-deutschen Tonkunst am selben Orte: dort
strenge, zähe, sehnige Kraft und spitze, oft schneidende
Härte; hier überall schwächliche Glätte und ein unauf-
hörlich süsses Schwelgen in Tönen und Klängen; dort zu
wenig Liebe, hier viel zu viel von diesem rein lyrischem
Überschwang; dort das knirschend nordische Ideal einer
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 5
60
Wagneriana. Bd. III
herben, trotzigen Keuschheit, hier ein allzu warmer,
mehr südlicher Uberschwang, ein wahres Schlaraffenland
rein sinnlicher Klangwirkungen. Das vor Allem ist
kennzeichnend an der Grammann'schen Musik, ganz
ebenso wie schon ihre Bevorzugung gewisser weicher
Tonarten, die ganze Wahl der Instrumente, ihr Aus-
schweifen vorzugsweise in den weichen Septimen- und
Nonenaccorden — : was alles eine wahre Verweichlichung,
in solcher Ausdehnung einfach Nervenerschlaffung, not-
wendig mit sich führen muss und Grammann daher als Ver-
treter einer gesund und kernig germanischen Kunst-
richtung nicht erscheinen lässt. Dieser schier unauf-
hörliche Ohrenschmaus, dieses musikalische Phäakentum,
etwa nach Wien übertragen und dort mit dem ganzen
südlichen Klangreiz umgeben, der den Wienern nun einmal
zu Gebote steht, er müsste zur reinen Schlemmerei
werden ; schon hier in Dresden wirkte es beinahe so
wie — Austemschlürfen. Und selbst das Wagnerische,
das man so vielfach in Grammann finden wollte, es ist
schliesslich doch nur ein sehr zweifelswürdiges, sozusagen
an Gehirnerweichung leidendes Wagnertum — Richard
Wagner, seines markigen Rückgrates beraubt, ein Mollusk
nur mehr, noch dazu mit unzählig vielen Weber-,
Schumann- und vor Allem Mendelssohn-Bazillen behaftet.
Mag dieses Gleichnis vielleicht auch nicht sehr appetitlich
berühren, so ist es doch um nichts weniger zutreffend,
denn in der That mischen sich die genannten Stil-
gattungen bei Grammann zu einem höchst seltsamen, auf
die Dauer recht unleidlichen Konglomerate. Und was
der Sache noch obendrein eine ganz fatale Wendung
giebt, das ist die bedauerliche Geschmacks- und Stil-
verirrung, welche aus diesem (ausdrücklich nach dem
bekannten Moritz von Schwind'schen Bilder-Zyklus
gedachten und inszenierten) „ Märchenspiel * ein grosses
Primadonnen- und Heldentenor-Drama im heroischen
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Melusine.
67
Gewände macht — eine Travestie, welche glücklich
auch noch das Wenige, was an Wirkungen allenfalls noch
zu retten wäre, vollends gar zu vernichten droht.
Dass Karl Grammann ein hoch begabter Musiker
wäre, ausserordentlich viel und Tüchtiges auch im
imitatorischen, strengen Stile gelernt hat, den ganzen
technischen Apparat meisterhaft beherrscht und faszi-
nierend zu instrumentieren sowie auch glänzend die
Gesangsstimmen und Ensembles zu führen versteht,
das alles ist ja längst bekannt und bildet hier sogar die
stillschweigende Voraussetzung meines Urteils. So ist
gleich die brillante Ouvertüre mit ihrem klangfreudig-
quellenden Eingangsthema ein wahres Muster der Gattung
ein Meisterstück an bezaubernder Stimmungsmalerei —
der reine Nixensprudel; desgleichen ist der Schluss —
nicht der formellen Ausführung, wohl aber der Idee nach:
a capella-Frauenstimmen ohne alles Orchester — in seiner
relativen Neuheit und gewagten Eigenart zum Mindesten
frappant. Des Weiteren verdienen noch die ver-
schiedenen Duette im I., II. und III., das düstere
«Requiem* mit dem gewaltigen Eifersuchts- und Rache-
ausbruch Bertrams im IL, die hübsche Fischerszene
im III. Aufzuge und der schon erwähnte Kreuzritter-
Aufmarsch mit dem nachfolgenden, freilich sehr äusserlich
wirkenden Choral-Aufrufe des Eremiten (ebenda) als
teils beachtenswert schöne, teils lebendig packende, teils
wieder anmutig erfreuende Glanznummern des Werkes
hervor gehoben zu werden. Und dass alle die Nixen-
chöre, innerhalb oder ausserhalb ihres Elementes ge-
sungen, eine unausgesetzte Perlenschnur süsser Wonnen
bedeuten, braucht man bei diesem Komponisten ja wohl
nicht erst zu betonen. Dass die Instrumentation viel
zu lärmend ausgefallen ist und die Gesangsstimmen oft
ganz ungeschickt zudeckt, darf hingegen nicht ver-
schwiegen werden und ist, angesichts der vollendeten
5»
68 Wagneriana. Bd. III.
Beherrschung instrumentaler Mittel auf Seiten unseres
Musikdramatikers, schliesslich nur aus einer gewissen
Sucht nach überreicher Klangfülle und ausschweifend
volltönenden Klangkombinationen bei ihm abzuleiten. Auf
der anderen Seite aber lässt sich auch nicht leugnen,
dass seitens des Dirigenten viel zu wenig für Dämpfung
all der rauschenden, flutenden, tobenden, wütenden,
glänzend erstrahlenden und dann wieder in runden
Wellenzügen und weichen Wasserlinien dahin gleitenden
Orchesterwogen geschehen war . . . wie es neulich irgendwo
auswärts hiess: „Von der berühmten Dresdner Diskretion
in der Begleitung war wieder einmal nichts zu ver-
spüren.4*
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Ludwig der Springer
Text und Musik von Adolf Sandberger
(1895)
»Von der Intendanz des Herzoglich Koburg-
Gothaischen Hoftheaters sind für die neue Spielzeit
eine grosse Zahl von Neuheiten erworben worden, da-
runter auch die Oper »Ludwig der Springer* von
Dr. Adolf Sandberger (München)" — so stand un-
längst in einigen Blättern zu lesen. Das hat mich denn
mit aller Macht daran erinnert, dass diese Oper im Aus-
zuge längst auf meinem Klaviere liegt, und meine bis-
herige, strafliche Versäumnis ist mir dabei schwer auf
die Seele gefallen.
Also: Die liebenswürdige, „dem Andenken der
Mutter*' des Komponisten pietätvoll gewidmete, drei-
aktige Oper ist das dramatische Erstlingswerk Adolf
Sandbergers und muss uns darum nur desto be-
achtenswerter vorkommen. Sie hat in einer vom Kom-
ponisten selbst sehr geschickt gefertigten, gehaltvoll-
schönen und dramatisch glücklich gesteigerten Dichtung
jenen berühmten Sprung des thüringischen Pfalzgrafen
Ludwig (Frühjahr 1095) von der Feste Gibichenstein
in die Saale herab zum dramatischen Mittelpunkte, welcher
hier mit dem wohlmotivierten und später gut gelösten
psychologischen Konflikt einer von Jenem geliebten Frau
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Wagneriana. Bd. III.
sehr wirksam noch tiefer verknüpft erscheint, so dass der
poetische Wert und eine erfreuliche Bühnenwirkung
weit über das blosse Interesse an der sagenhaften
Historie hinaus ausser allem Zweifel stehen, je mehr es
eben im Grunde doch nur hinreissende, mächtig durch-
brechende Minne ist, was sich darin „befehdet" und ein
wirklich musikalisch-dramatisch gestaltetes „Herzeleid"
so lange bereitet. Es ist die malerische Romantik der
Schlösser und Burgerkerchen, der Burgfräulein, Pagen
und Falkenjagden — jene glanzvolle Zeit der Urfehden,
Pilgerzüge und Ritterabenteuer, des derben Faustrechts
wie des zarten Madonnenkults, der fahrenden Sänger
wie auch der Minnestreiter in Harfen- und in Schwert-Tur-
nieren, in welche uns der Dichterkomponist hier gar an-
schaulich einzuführen weiss. Gute, wenn auch formell
anspruchslose Verse, eine poetische, wenngleich von
Wagner stellenweise stark abhängige Diktion zeichnen
dabei sein Werk — das Produkt einer durchaus gereiften
Bildung, eines wohlgeläuterten Geschmackes und vor-
nehmen künstlerischen Strebens — von Anfang bis zu
Ende aus, während ihm in seinem musikalischen Teile vor
Allem ein edler melodischer Fluss, weiche Harmonik, stira-
mungsreiche Farbenpracht und natürliche Frische ge-
sunder Empfindung, alles in Allem : gediegen technische
Arbeit in gemässigt leitmotivischer Verwertung der
Hauptthemen, sehr erfolgreich zur Seite stehen.
In Sandberger, einem Würzburger Kinde, das
seine musikalische Ausbildung seinerzeit am Münchner
Konservatorium vollendet, später musikwissenschaftliche
Studien bei Spitta in Berlin betrieben hat und augen-
blicklich — bekannt namentlich durch seine Cornelius-,
sowie die eindringendere Lasso-Biographie — als Kon-
servator der musikalischen Abteilung an der KÖnigl.
Hof- und Staatsbibliothek und gleichzeitig wieder als
Dozent für Musikgeschichte an der Universität zu
Ludwig der Springer.
71
München wirkt — in ihm hat der berufene Tonkünstler
und der ernste Musikgelehrte einmal eine sehr glückliche
Verbindung eingegangen. Das zeigt sich z. B. schon an der
stilvoll-feinen Verwendung des Minneliedes von Wilh.
v. Poitiers (11.— 12. Jahrhundert) und eines geistlichen
Originalgesanges von Orlando di Lasso in diesem seinem
Opern -Werke — ganz zwanglos eingeführt und wohlbe-
gründet, just an der richtigen, plastisch wirksamsten Stelle.
Vielleicht ja hätte er — wie ein R. Wagner in seinen
„Meistersingern" aus der Bach-Händel'schen Ausdrucks-
weise — den Stil des Ganzen noch charakteristischer, als
es (namentlich mit dem erst genannten der beiden) schon
geschehen ist, aus diesem musikalischen Grundkerne
heraus nun gestalten können ; sicher aber ist, dass schon
ihre gewandte und prägnante Einführung eine bedeut-
same Eigenart seines Werkes begründet. Man wird ja wohl
auch bei ihm wieder sagen, dass der Komponist Wagnerischen
Spuren nachwandle, und wird sich namentlich gar sehr
tristanisch bei ihm angemutet fühlen. Dieser Auffassung
kann zwar nicht gänzlich Unrecht gegeben werden —
es fliesst entschieden „Tristan"-Blut, vor Allem in dem
„Herzeleid und Fehde" programmatisch überschriebenen
Vorspiel und dem zugvollen Zwiegesang aus dem 3. Akt,
welche gelegentlich einer Konzertaufführung zu München
bereits ihre Feuerprobe bestehen durften. Allein es ist
das grosse Weltschmerz-Sehnen — dem kleineren Rahmen
der Oper genau angepasst — in individueller, gleichsam
nur bescheidener Taschen- Ausgabe, das Thema „Wagner"
so zu sagen mehr noch in Schumann'scher Instrumen-
tierung, etwa in dem Verhältnis, in welchem Götter-
Mythos zu Lokal-Sage und Menschen-Drama steht. So
auch, was dort kantig und scharf, ein geschlossen „System
der Enharmonik und Chromatik" schon vorstellte, be-
rührt bei Sandberger noch weicher und rundlicher, mehr
im Charakter der so genannten alterierten Akkorde erst
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Wagneriana. Bd. III.
— ein geschmeidiger Eindruck, der auch durch die
starke Vorliebe für weiche Septakkorde wesentlich erhöht
wird. Ein von den Herren Percy Pitt und Wilhelm
Ammermann in elegantem und gefalligem Klaviersatze
gut spielbar hergestellter Klavierauszug (erschienen bei
Alfred Schmid Nachf. in München zum Preise von
16 Mk.) hat unsere Aufmerksamkeit ausser auf die
schon berührten Stücke u. A. auch auf das Kampfspiel im
1. Akt, Adelheids Gesang „Thörichtes Herz!" (S. 40),
den Trauermarsch an der Leichenbahre Pfalzgraf
Friedrichs, die Mondscheinlyrik im 2. Akt (namentlich
S. 78 f.) und den glanzvollen Schluss des Ganzen, mit
dem Aufruf zum Kreuzzug, als bemerkenswerte Nummern
der Partitur noch hin gelenkt, während dem Vermeiden
eines länger ausgeführten Vorspieles zum Ganzen, vor
dem 1. Aufzuge, besondere ästhetische Absicht des
Komponisten zu Grunde zu liegen scheint.
Dass gerade Koburg- Gotha die junge Oper zur
Uraufführung angenommen, erscheint verständlich allein
schon aus dem Umstände, dass der 3. Aufzug die
Stiftung der Klosterkirche von Reinhardsbrunn zum
Vorwurfe hat. Wir zweifeln aber nicht daran, dass das
durch und durch deutsche Werk nach Umfang, Stoff,
Idee und Ausführung — ähnlich wie Kistlers »Kunihild*
oder Pfitzners „Armer Heinrich" — namentlich an den
mittleren deutschen Bühnen, nicht vielleicht in den ge-
räumigen Häusern unserer grossen Hof- und Stadt-
Theater, entschieden sein Glück machen wird: was ja
Stuttgart (leider nicht auch Weimar) später noch er-
weisen sollte.
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„Wagner-Schule
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Cyrill Kistlers Oper „Kunihild"
(1887/8)
„ Gäste kamen und Gäste gingen" — so könnte es von
den mancherlei Opern wohl heissen, welche wir nach
Wagners Vorgange nun schon über deutsche Bühnen
haben ziehen und nach einem mehr oder weniger
ephemären Welt-Bretter- Dasein wie eine Sternschnuppe
wieder haben am Horizonte hinab sinken i. e. verloschen
sehen. Da drängt sich uns doch unwillkürlich die Frage
auf, warum man denn eine so charakteristische Schöp-
fung wie die in der Überschrift genannte, nach nur
dreimaliger Aufführung im Jahre 1884 auf der Hof-
bühne zu Sondershausen, wieder ad acta legen, bezw.
seither an anderen deutschen Operinstituten so gründ-
lich hat ignorieren können?
Was dieses Werk nämlich vor allen übrigen nach
Wagner auf dem Plan erschienenen Erzeugnissen ähn-
lichen Genre's so wesentlich zum Besseren auszeichnen
muss, ist seine interessante und (ich sage das trotz
Moritz Wirths gegenteiliger Ansicht) gute Dichtung;
ein Umstand, der allein schon der Befähigung Kistlers
zum „dramatischen4* Komponisten ein ungemein glän-
zendes Zeugnis ausstellen darf. (Vgl. über sie Bd. I dieses
Werkes, S. 82 — 84.) Wie erbärmlich und schal nehmen
sich doch gegen dieses „Kunihild"-Opernbuch die Text-
bücher eines Bunge-Nessler'schen »Otto der Schütz",
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Wagneriana. Bd. III.
eines M. E. Sachs'schen (NB. eines Wagnerianers I)
„Palestrina", oder gar eines Leythäuser'schen „Pom po-
saner" (lauter auf deutschen Bühnen bereits aufgeführten
Opern) aus! Wie unvergleichlich, ja unendlich hoch
steht unser Drama da über einem Hofmann-Rüfer'schen
„Merlin", über Reinecke's „Manfred" oder H. Hof-
manns „Annchen von Tharau", und selbst über dem
viel gepriesenen Lipiner-Goldmark'schen „Merlin" !
Ich erkläre also die Textdichtung „Kunihild" des
leider anonym gebliebenen Verfassers — einer in
Münchener Wagner- Kreisen gar wohl bekannten und
nur immer viel zu bescheidenen Persönlichkeit*) — un-
bedingt für einen der bedeutendsten, wo nicht für den
einstweilen besten Text der nach Wagners „Parsifal*
bis jetzt auf deutschem Markte erschienenen Opern-
dichtungen. Die Alliteration findet in ihm einmal durch-
aus sinngemässe, d. h. ebensowohl korrekte als zugleich
gelungene Anwendung; die Sprache selber ist eine
hoch poetische, ungemein schöne und durchaus wurzel-
echte ; die Diktion zwar knapp, aber überaus warm und
stellenweise von grossem Schwung. Vor allem aber
pulsiert ein frisches dramatisches Leben in ihren Adern,
und das ist doch schliesslich das Beste, was man von
einem Nach -Wagnerischen „Musikdrama" sagen kann und
was man von den Nach-Wagnerschen „Opern" leider
bislang in der Regel nicht sagen konnte. Wenigstens
vermag ich für mein Teil auch nicht die Ansicht der-
jenigen zu teilen, welche behaupten, dass der (durch das
Auftreten zweier Liebespaare in einem Akt unter ganz
analogen Verhältnissen gegebene) Parallelismus
•) Heute freilich weiss es die ganze musikalische Welt,
dass es kein Anderer als Ferdinand Graf Sporck, der be-
kannte Textdichter auch der „Ingwelde", „Abreise", des
„Münchhausen", „Pfeifertag" etc. ist
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Cyrill Kistlers Oper „Kunihild".
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hier etwa schädigend auf die Handlung einwirken müsse.
Dieser Parallelismus in der dramatischen Anlage ver-
mag das Dramatische ebenso wenig zu beeinträchtigen
wie jener andere, welcher mit der Wiederkehr und der
analogen Einführung des schon im 1. Akte dagewesenen
Brautrittes vorliegt; und beide wieder ebenso wenig
wie der im Wagnerischen „Parsifal" zwischen dem
Schluss des 1. und dem des dritten Aufzuges thatsächlich
bestehende — und zwar trotz Gustav Freitags weit und breit
gerühmter „Technik des Dramais41! Im Gegenteil, diese
Parallelismen in unserem „Kunihild "-Drama verraten, wie
sie das rein ästhetische Interesse an ihm wesentlich
fordern und das Ganze kompakter und geschlossener ge-
stalten, sozusagen abgerundeter erscheinen lassen, weit
eher die schaffenskundige Hand im planvollen drama-
tischen Aufbau. Dafür sind die beiden ähnlichen Szenen
des Werberittes etc. im l.und 3. Aufzuge vom Komponisten
wieder um so wirksamer eingeführt und sind sicherlich
in der realen Aufführung als szenischer Vorgang von
ausserordentlich packendem Eindrucke.
Finden wir nun schon beim Dichter, dass er auf
Wagner'schen Bahnen wandelt, dass sein Text schlechter-
dings nicht mehr Libretto genannt werden darf, sondern
den Standpunkt des „musikalischen Drama's" als solchen
klar und bewusst vertritt (wenn er selbst auch sein
Werk bescheiden genug noch „Oper" nennt), so müssen wir
desgleichen auch vom Komponisten anerkennen, dass
das, was er uns in seinem Werke zur Beurteilung vor-
legt, absolut nicht mehr als „Oper" gelten darf, wie es
denn durchaus keine „Finales" — so H. Dorn einmal
gemeint hat — oder „Nummern" mehr aufweist. Auch
die Musik ist ganz im Wagner'schen Geist und streng
nach Bayreuther Grundsätzen entworfen — das aber
sollte doch jetzt, in unseren Tagen, nachgerade als ihr
unbedingtes Lob aufgefasst werden dürfen! Denn was
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Wagneriana. Bd. III.
kann ein dramatischer Komponist wohl Richtigeres thun,
als sich auf diesen Standpunkt stellen? — wofern er
nur in solcher Sphäre „persönlich" genug bleibt und überall
sicher, kräftig und gesund als Eigener ausschreitet, wie
Tappert dies von Kistler selbst auch einmal bekundet hat
und wir ihm getrost bestätigen können. Den Chor z. B.
wendet er an wie Wagner. Wie so denn dies? — werden
da sichtlich erschrocken gar manche musikalische und
andere „Pfahlbauern4* mir entgegen rufen. Oder: Halt!
werden sie bei sich denken — er verwendet ihn wohl
gar nicht, eben wie dieser. Ich betone aber: der Chor
findet bei ihm ganz die selbe vernünftige Anwendung
wie bei Wagner. Und nicht etwa gegen das Wagnerische
Prinzip strikter Observanz, welchem — nach der An-
sicht so Vieler — der „Meister" selbst nur zu oft ein
Schnippchen geschlagen haben müsste ; sondern im vollen
Einklänge mit dessen Grundtheorie, als welche den Chor
auch im musikalischen Drama von Anfang an überall
da gestattet, wo er eben seine dramatische Berechtigung
hat: ein Gemeinplatz sicherlich für den kundigen und
überzeugten Wagnerianer, eine völlig neue, vielleicht „sen-
sationelle44 Weisheit für jedes Zeitungs-Feuilleton! Ganz
ebenso wie bei Wagner spielt ferner das Leitmotiv und
der durch dieses bedingte musikdramatische Stil die
erste Rolle auch in unserem Werke: alles ist in seinen
lebendigen, dramatischen Fluss mit aufgenommen und aus
der formell abgeschlossenen Opern-Arie oder Ensemble-
Nummer zur dramatischen Szene bezw. psychologischen
Handlung aufgelöst und erweitert. Kistler erweist sich be-
sonders hierin als ein echter und berufener Jünger des von
ihm so hoch verehrten Bayreuther Meisters. Denn, sind
seine Motive auch nicht alle gleichwertig geraten und sind
sie auch nicht sämtlich von so zweifellos sicherer, plastischer
Gestaltung wie die Wagnerischen Themen selbst, so sind
sie doch von grosser Prägnanz und namentlich durch ihre
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Cyrill Kistlers Oper „Kuntbild"
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Verwebungs-,Durchführungs-,Umkehrungs-,Verkürzungs-
und Verlängerungs-Fähigkeit etc., wie der geschehenen
Verarbeitung nach, echte Leitmotive, die dem Tonsetzer
als solchen zugleich alle Ehre machen. In Sonderheit
tritt dieser Vorzug gelungener Anwendung und einer
glücklichen Kombination bedeutsamer Motive hervor in
den drei Vorspielen und sonstigen Interludien, wie Kistler
denn hier ganz im Sinne Wagners schreibt und den
neueren, ich möchte sagen (dramatischen) Vorspiel-Stil
aus dem FF beherrscht. Die musikalische Einleitung
zum 1. Akt und damit zum ganzen Drama ist freilich
— ich will nicht sagen: überhaupt zu kurz ausgefallen,
sondern vielmehr — im Ganzen zu kurzatmig; aber sie
ist doch wieder- von genialem Wurfe ; vor Allem jedoch
ist in dem (übrigens in Konzerten viel gehörten) Vorspiel
zum III. Aufzuge jener spezifische Einleitungs-Charakter
ganz vorzüglich getroffen und lässt den Meister erkennen.
Einen weiteren Vorzug des „dramatischen- Kom-
ponisten Kistler bildet seine beinah durchweg ganz aus-
gezeichnete Deklamation. Es ist nicht nur das „Wie er
sich räuspert und wie er wohl spuckt-, was er da seinem
genialen Vorbilde „glücklich abgeguckt" hat, sondern
es ist tüchtiger Wagner'scher Geist in recht selbständiger
Form. Mögen ihm auch hier und dort noch kleine
Mängel, oder doch Nachlässigkeiten und Unebenheiten,
mit unter gelaufen sein — auf diesem Gebiete können
wohl alle Nach-Wagner'schen Kollegen vom „Musik-
drama" bei ihm nur lernen. Einen dritten Ruhmestitel
endlich möchten wir in seiner ebenso originellen wie
gewählten Harmonik erblicken. Zwar mag zunächst die
allzu ausgedehnte Verwertung des Terz-Quart-Sext-
Akkordes, namentlich in modulatorischer Hinsicht,
gerechter Weise auffallen; auch hätte Kistler mit dem
verminderten Sept-Akkord vielleicht etwas sparsamer
umgehen können (wobei ich ihm zugleich bemerken
80
Wagneriana. Bd. III
möchte, dass ein gebrochener und in seine Intervalle zer-
legter 7° Akkord nicht ohne Weiteres schon eine Gesangs-
melodie vorstellt) ; im Ganzen hat man aber Tappert doch
von ganzem Herzen beizustimmen, wenn er in seinem
Referat über die Sondershäusener Aufführung des
Werkes von unserem Komponisten schreibt : er befinde
sich .als Harmoniker immer auf Entdeckungsreisen".
Wirklich ist er denn just in dieser Hinsicht nicht der
Geringsten einer. Was zuletzt die Melodik als solche
betrifft, so ist diese hin und wieder etwas zu dürftig
ausgestattet; es kommen da manche Dinge vor, die
einem vornehmen, gediegenen Wagnerianer eigentlich
nicht mehr unterlaufen sollten, und namentlich gewisse
Sechzehntel-Passagenläufe gebärden sich doch allzu
konventionell und nichts sagend. Aber vermag das unser
Urteil und den günstigen Gesamteindruck etwa dauernd
zu trüben? Gewisslich nicht! Es sind eben die Sonnen-
flecken an der — schönen Sonne.
Auffallender Weise hat man übrigens gelegentlich
der ersten und bisher einzigen Bühnenaufführungen
des Werkes, im Jahre 1884 zu Sondershausen, fast ein-
stimmig über allzu grosse Länge des zweiten Aktes
geklagt. Mir persönlich will es freilich den Eindruck
machen, als ob hier eine Schuld mehr bei der Musik
als bei der Dichtung zu suchen wäre. Wenigstens darf
nicht wohl verhehlt werden, dass der lyrische Schwung
in den späteren Szenen zwischen Jutha und Sieghardt
weit höher aufschlägt als in denjenigen der Heldin des
Drama's mit ihrem Ritter und späteren Erlöser Kunibert,
welche dem Sinne des Drama's gemäss doch eigentlich
den Vorzug verdienen sollten, im Grunde genommen
aber (vgl. das gerade hier leider etwas leere und aus-
druckslose Thema, Kl. Ausz. S. 78) sich über ein
gewisses Durchschnittsniveau nicht erheben — so weit
wenigstens nicht das markante, wie ein düsteres Fatum
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Cyrill Kistlers Oper „Kunihild«.
81
über dem Ganzen schwebende, dabei den Hintergrund ab
und zu grell beleuchtende (auf einem Orgelpunkt in
Dreiklangsfolgen absteigende) Motiv der »wilden mächtigen
Burgmaid" herein spielt (wie Kistler sich denn auch von
dem etwas konventionellen Ges-dur-Thema S. 84 ff.
keine allzu zündende Wirkung versprechen darf). Wie
ganz anders dagegen der Auftritt Jutha's, ihre in Zeich-
nung, Kolorit, prägnanter Stimmung und charakteristischer
Situationsmalerei geradezu meisterhafte Märchen-Episode
iK\. A. S. 108 ff.), das stürmische Auftreten Sieghardts,
die von Hörnern getragene reizend-liebliche Erzählung
Sieghardts mit dem Motto etwa „Zu Zweien kam ich
zur Welt — ein Zwillingsbruder und ich IÄ — : wie das
stärker und stärker wogt, wie hier die Wellen höher
und hoher gehen und zu einem dramatischen Crescendo
unvergleichlicher Art anschwellen, bis das dräuende
Motiv der „wilden Maid0 (s. oben) auch hier wieder
störend eingreift und hier gar das ganze Glück zerstört,
Liebe jählings in Hass verwandelnd! Wer wird beim Studium
dieser 20 Seiten des Klavier-Auszuges ernstlich von
einem „Mangel an dramatischem Leben" sprechen, wer
wird von ihnen noch sagen wollen, dass sie arm an
musikalischer Handlung seien?
Der Beginn der 5. Szene im dritten Aufzug er-
innert allerdings (nicht in Melodie oder Rhythmus, wohl
aber im Stil und in der ganzen Anlage) allzu sehr an
den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin" ; hingegen lässt
die 4. Szene und vor Allem der Auftritt Siguns im
1. Aufzuge an origineller Kraft und dramatischer Wirk-
samkeit nichts zu wünschen übrig; und ebenso ist die
Seitens der beiden Mädchen vom Söller aus beobachtete
und besprochene Ankunft Kuniberts im letzten Akte
ein Kabinetstück von erwartungsvoller, zu einem Er-
eignis hin drängender Spannung geworden; nicht minder
aber auch die entsprechend korrespondierenden Szenen
Scidl, Wagneriana. Bd. III. 6
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Wagneriana. Bd. III.
zwischen Jutha und Kunihild vor dem Beginne des Braut-
rittes, wo es sich um Jutha's Geliebten handelt, (in denen
wir also wieder einem neuen „Parallelismus" begegnen)
etc. etc. Ich würde schliesslich doch kein Ende finden,
wollte ich alles Nennenswerte hier einzeln hervor heben:
haben wir es ja mit einer ganzen Kette von solchem
Nennenswerten lu thun. Die Chöre sind meist wirk-
sam gesetzt und weisen auf ein auch in diesem Genre
voll bewährtes Talent. Ungemein schön, wohlgelungen und
würdig im Geiste des Ganzen ist hier besonders der
harmonische, friedliche Abschluss des Werkes (von
S. 201 des Kl. Ausz. an) — eine weihevolle Apostrophe
der Kunihild an die Unterwelt, auf welche ihr ein Engel-
chor mit dem in wohllautende Dreiklangsreine auf-
gelösten Segensworte: „Erlöst! Erlöst!" antwortet, uns
damit zu allem Ende noch bekräftigend, wie tief in
unser Drama ein hohes Ethos eingreift, und wie ernst
namentlich das innerlich-psychologische Moment des
Entwicklungs- und Läuterungsprozesses an der Heldin
von Dichter und Komponist aufgefasst worden ist . . .
Cyrill Kistlers und seines wohlbekannt-unbe-
kannten Dichters Werk muss uns also schon deshalb
von Wert und Interesse sein, weil es eines der wenigen
beredten Dokumente für das Vorhandensein einer
„Wagner-Schule" genannt werden darf, einer Schule,
welche weniger aus Schuljungen sich rekrutiert, die in
knechtischer Abhängigkeit auf eine Nachahmung gewisser
formaler Mittel und auf ein sklavisches Wiederkäuen
bestimmter, einmal fest stehender und mundgerecht
gemachter Schemata sich beschränken, als sie vielmehr
eine Gefolgschaft von Jüngern und geistigen Anhängern
darstellt, welche ihren Beruf vornehmlich dadurch erfüllen,
dass sie die wesentlichen Ideen des Meisters in alle
Welt hinaus tragen und die geistigen Grundprinzipien
seiner Lehre auf anderen, verwandten oder fremden,
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Cyrill Kistlers Oper „Kunihild
83
Gebieten ihre zeitgemässen reifen Früchte tragen lassen.
Und ein solcher, würdiger Jünger der Bayreuther
Gefolgschaft ist eben Cyrill Kistler. Dass er vor Allem in
den Prinzipien des „Stiles0 vortrefflich Bescheid weiss
— eine Eigenart, die wir ihm besonders hoch anrechnen,
weil eine erhebliche Anzahl der zur Fahne Wagners
schwörenden Komponisten und selbst „Wagnerianer
strikter Observanz" sich gegen sie verfehlen, wie u. A.
der Münchener Komponist Prof. M. E. Sachs (dessen
Oper „Palestrina" eine wahre Stillosigkeit bedeutet und
den echten Wagnerianismus geradezu kompromittieren
könnte): das zeigt uns schon die erstaunliche Kongruenz
zwischen Inhalt (Stoff) und Form in seinem Werke,
zwischen der fremden Dichtung des Drama's wiederum und
seiner eigenen Musik. In diesem Sinne steckt ungemein
viel Stil in der „Kunihild", und das bedeutet ja eben
die „Schule44, die Wagner in der That „gemacht* hat,
was auch Andere darüber flunkern und faseln mögen.
Freilich holt der Komponist lange nicht so weit aus
wie der Meister in seinen grossen Musikdramen; die
Formen der „Kunihild" sind alle kleinere; es geht ein
bescheidener, eine Art von familiärem Zug durch das Ganze,
so dass sich unsere „Oper* zu R. Wagners „Musik-
dramen" etwa verhält wie „Sage" zu „Mythos". Aber
eben dadurch, dass er von vornherein nicht so weit
ausholt und grundsätzlich nicht so sehr in's Grosse
geht, wie ein Wagner, bekundet unser Komponist ein
feines Stilgefühl; denn dadurch erst wird seine
Musik eine der beschränkteren Sphäre der Kunihild-
Sage angemessene, und so ist ihre sinfonische wie
die dramatische Form zwar echt Wagnerisch geraten,
das Format unseres Drama' s aber (und das ist über-
aus wichtig in diesem Zusammenhange!) ein durchaus
originelles und eigenartiges dabei geblieben.
Was auch Paul Marsop gegen „neudeutsche Kapell -
6*
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84
Wagneriana. Bd. III
meister-Musik" einwenden und über die stehende Formel
ihrer Anerkennung in der Presse sagen möge, — bei
dem vielen Mittelgut, ja Minderwertigen, das man in
den letzten Jahren oft über die Bretter deutscher Opern-
Bühnen hat schreiten sehen, erschiene es fürwahr wie
- eine Schmach, liesse man dieses talentvolle und gediegene
Werk zeitgenössischer Produktion unbeachtet bei Seite
liegen.*)
*) Man hat es darauf hin in mehreren Städten, auch zu
München und zu Würzburg sogar als „Festspiel*, wiederholt
noch aufgeführt — leider aber haben diese Aufführungen mein
günstiges Urteil darüber nicht ganz bestätigen wollen.
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Loreley
Text von G. Gurski; Musik von Hans Sommer
(1892)
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn!
Loreley ! Bisher schien es fast, als ob die alte Sage
immer noch fortwirkte und namentlich an den Opern-
Komponisten immer wieder im ernsteten, gefährlichsten
Sinne des Wortes sich bewähren sollte. Immer aufs
Neue lockte sie schaffende Geister, Dichter, Musiker
und Bildner, durch ihren „wundersamen" Sang in ihre
Netze; immer und immer wieder gerieten diese Wage-
hälse dabei in den Strudel des Verderbens — Alle sind
sie bisher noch, über dem Lauschen gleichsam auf ihrer
Stimme „gewaltige Melodei", in der Flut untergegangen.
Um speziell hier von der Musik zu reden: Mendelssohn,
Bruch, Naumann und wie sie sonst heissen mögen —
welche dieser Opern hätte sich eines dauernden Bühnen-
erfolges zu erfreuen gehabt?
Angesichts solcher Voraussetzungen — darf man
wohl sagen — ist es nicht eben eine Schande, zu den
Komponisten der „Loreley" zu gehören; zeugt es doch
von ebenso viel Mut als edlem Selbstvertrauen, eine
dermalige Bearbeitung dieses Stoffes, der schon so Viele
vordem in's Unglück gestürzt, als beherzter „Wagner" -
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xagen. Um so mehr, wer wie Professor
Hans Sommer gleich in diesem Erstlingswerk auf dem
Gebiete des Musikdrama's mit einem so bedeutenden
Können hervor tritt, darf des Beifalles und der freundlichen
Aufmerksamkeit aller derer, die um den Ernst der Kunst
sich scharen, von vornherein gewiss sein. In der That
ist der früher in Braunschweig, seit mehreren Jahren
zu Weimar lebende Komponist ein Talent, das allseitige
Beachtung und jede nur denkliche Aufmunterung zu
seinem hohen und rein künstlerischen Streben gar wohl
verdient. Bleibt uns zwar das in Rede stehende Werk
wertvoll vielleicht mehr durch das, was es für die
Zukunft des Komponisten verspricht, wenn nämlich
dieser erst einmal einen ebenbürtigen Textdichter ge-
funden haben wird, als durch das, was es schon jetzt
erfüllt, so gebührt zweifelsohne doch der musikalischen
Reife und Ausgestaltung bereits unsere höchste, un-
geteilteste Anerkennung.
Also: Hans Sommers Erstlings-Oper „Loreley" ist
unter* m 3. Juni nunmehr auch zu Weimar erstmalig in
Szene gegangen. Für dieses Weimar war es sozusagen
Pflicht- und Ehrensache, sich des interessanten und für
die neuere Opernentwicklung immerhin bedeutsamen
Werkes ohne Rücksicht auf den äusseren Erfolg an-
zunehmen; denn einerseits lebt der Komponist, wie gesagt,
als liebenswürdiger Gesellschafter seit mehreren Jahren
in unserer Goethe-Schiller-Stadt beschaulichem Kreise;
anderseits hat es Weimar aus alter, edel-künstlerischer
Tradition gottlob doch noch nie nötig gehabt, bei einer
Novität zuerst nach der Kasse zu fragen. Um so er-
freulicher, wenn — wie hier — das mutige Vorgehen
ein schöner Erfolg und ein gutes Gelingen belohnen.
Um es gleich voraus zu schicken: Mit den schwersten
theoretischen Bedenken bin ich in die Aufführung ge-
gegangen, um schliesslich doch vorderThatsacheeinerwirk-
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Loreley.
87
liehen — wennschon in manchen Stücken mehr äusseren,
so doch immerhin eindrucksvollen und beachtenswerten
Buhnenwirkung zu stehen. Es liegt darin zum Mindesten
ein Problem, das eingehender studiert sein will, und
über das man nicht mit einem einfachen Kopfschütteln
lediglich hinweg gehen kann. — Schon im vorigen Jahre,
gelegentlich der Erstaufführung des Werkes zu Braun-
schweig, hat man ja zahlreiche ausführliche Besprechungen
des Werkes aus berufensten Federn allenthalben zu lesen
bekommen, welche ein abermaliges näheres Eingehen
auf diese Oper um so entbehrlicher erscheinen lassen
könnten, als ich mich in vielen Punkten gewiss einfach
auf sie berufen dürfte. Dennoch haben sich aus Anlass
der Weimarer Wiederholung immer noch eine solche
Menge neuer Gesichtspunkte ergeben, dass — wenn
auch nicht gerade eine „Revision" jenes ersten Urteiles
notwendig erscheint — immerhin eine abermalige, weitere
Ausführung und zuraTeil selbst neue Begründung nichtganz
unangebracht herauskommen möchte — ganz abgesehen
noch davon, dass ich mich in einem grundwesentlichen
Punkte, mit meiner Beurteilung des Schlusses nämlich, von
allen meinen Herren Kollegen der Feder, die bisher das
Wort hierzu ergriffen haben, ganz erheblich glaube unter-
scheiden zu müssen. Ich will es daher versuchen, zur
Einführung zunächst diese rein theoretischen, nach
Lektüre des Textbuches und aus dem Studium des
Klavierauszuges mir entstandenen, Zweifel näher zu kenn-
zeichnen und womöglich auch alsbald zu rechtfertigen.
Indem ich zunächst also dieser Aufgabe mit frischen
Kräften mich unterziehe und genauer auf das Werk als
Ganzes einzugehen suche, muss ich hier leider gleich
eines grundsätzlichen Bedenkens Erwähnung thun, das
sich in der Inkongruenz zwischen dem musi-
kalischen Gewände und dem dichterischen Stile
unmittelbar der Betrachtung aufdrängt. Das Zusammen-
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88
Wagneriana. Bd. III. .
gehen beider Faktoren, schon im — kleineren —
„Formate" der Grundanlage, haben da z. B. Alexander
Ritter und selbst Cyrill Kistler (welch* Letzterer freilich
allem Anscheine nach mit seinem Können überhaupt
nicht darüber hinaus kommen kann) weit glücklicher
getroffen, als dies — zu unserem Bedauern — selbst
Hans Sommer mit seinem „Dichter41 noch glücken sollte.
Und Ritter hat obendrein das „punctum salien*" daran,
den dichterischen Teil der musikdramatischen Ent-
wicklung, zum ersten Male richtig hervor gekehrt bezw.
einmal so recht aus dem Geiste seines Vorbildes heraus,
wie eigenartig er dabei schliesslich auch wieder verfuhr,
durchaus sach- und sinngemäss behandelt. Nicht darin zeigt
sich nämlich der Letztgenannte als der Schule Wagners
ganz besonders zugehörig, dass er seine Texte sich
selber dichtete — das haben Andere vor wie nach auch
schon gethan, und Sommer kann mit ebenso viel Fug
und Recht gegenüber dieser Praxis Wagners eine Stelle
aus dessen eigenen Schriften für sich in Anspruch
nehmen, wo der Meister ausdrücklich bemerkt (IV, 260):
dass die Personalunion von Dichter und Komponist
durchaus nicht etwa unbedingt erforderlich, im Gegenteil
womöglich besser zu vermeiden sei, da dann der miss-
lichen doppelten Konzeption des Werkes ausgewichen
werde und nur mehr eine einmalige kräftige Erwärmung
des Komponisten durch den Stoff stattzufinden habe.
In ganz gleicher Weise hat überdies der Fall Sporck-
Kistler seinerzeit (bei der Oper „Kunihild*) gezeigt,
dass eine solche Geistes-« Ehe" zwischen Beiden zum
Wenigsten nicht zu den absoluten Unmöglichkeiten zu ge-
hören braucht. Dies also kann unsere Bedenken gegen den
Text nicht ohne Weiteres begründen; wohl aber die eine
Thatsache thut es, dass an diesem Textbuche — der
Vermerk: „Gedruckt bei R. Wagner in Weimar« legt
uns solche Gedankenverbindung nur allzu nahe — zuletzt
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Loreley. 89
doch nicht der echte R. Wagner, sondern leider nur ein
Pseudo -Wagner dichterisch Pate gestanden hat.
Der Textverfasser, Hr. Gustav Gurski, hat sich —
wie bekannt — bei der Gestaltung seines Buches an
Wolfs beliebte „Lurlei"-Dichtung einigermassen angelehnt.
So sehr ich es nun begreife, dass man — nach all den
früheren, vergeblichen Versuchen, den Loreley-Stoff
zu dramatisieren — in jener epischen Vorlage das will-
kommene, sozusagen konkretere Gerippe zu einem sinn-
vollen dramatischen Aufbau begrüssen konnte, so ver-
hängnisvoll sollte doch diese Anknüpfung gerade für
unseren Operndichter werden. Namentlich in den
Einzelheiten der Dichtung tritt die missliche Nach-
wirkung solcher Anlehnung nur zu augenfällig zu Tage.
Zu den ganz allgemein, bei jeder einfachen Drama-
tisierung einer epischen Dichtung beobachteten Mängeln
— die sich notwendig einstellen müssen, weil hier die
breitere psychologische Motivierung, die das Ganze dort
oft erst verständlich macht, verloren geht — treten bei
Gurski noch besondere, ihm eigentümliche Missgriffe
mit hinzu. Der Verfasser des Textbuches zur Sommer-
schen «Loreley8 zeigt sich so stark beeinflusst und
abhängig von der gesamten Wolf'schen Vorlage, dass
er darüber stellenweise sogar ganz vergisst, dass seinen
Zuschauern dieses innere geistige Band, welches die
„Lurlei" Wolfs beherrscht und welches er von dort in
seiner Phantasie mitbringt, fehlen muss; so dass er
ihnen also geistige Sprünge und dramatische Unklarheiten
zumutet, welche eben nur die Wolf 'sehe Dichtung zu einer
entsprechend klaren Einheit wieder verbinden könnte.
Schon bei Erwin und Ludwig macht sich dies zum Teil
recht unangenehm bemerklich; die Rheintochter vollends
— altes Weib, Fee, Zauberin, Königin und Nixe zu-
gleich, Kupplerin, Mutter, Buhlerin und Intrigantin in
einer Person — erscheint mir gänzlich ungeniessbar
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Wagneriana. Bd. III.
und ist nicht zum Wenigsten wohl schuld daran, wenn
Manche behaupten wollten, dass sie diese Oper im
Ganzen nicht habe „erwärmen" können. Dazu kommt
aber noch eine wahrhaft unglückliche Hand in der
Gruppierung, der Anordnung und dem Aufbau der
dramatischen Gesamthandlung selbst. Selten ist mir
eine ungeschicktere Akteinteilung bei einer modernen
Oper vorgekommen, und ein wahres Glück ist es noch
zu nennen, dass diesmal zu Weimar, infolge zwingender,
rein technischer Erwägungen, die Verwandlung im
.2. Aufzuge zu einem vollen Aktschlüsse benutzt und
damit die Vorführung des Musikdrama's in vier (statt
in drei) Akten erst ermöglicht wurde. Ich sage : er-
möglicht. Denn, gingen wir dadurch auch der wert-
vollen Verwandlungsmusik des 2. Aktes leider ver-
lustig, so lässt sich dem Komponisten zur Einhaltung
eines gleichen Verfahrens, bei Aufführungen der Oper
auch für die Zukunft, doch nur dringend raten, weil
sonst die unglaublich rasche Sinnesverwandlung Ludwigs
noch unverständlicher und verletzender wirken dürfte,
als sie es ohnehin schon ist. Freilich weiss ich nur
zu gut, dass wir auch bei Wagner das Vorbild einer
solchen Sinneswandlung („Siegfried") in einem einzigen
Akte schon erlebt und ertragen haben, und Sommer mag
das vielleicht sogar als eine Art erstrebenswertes Ideal
vorgeschwebt sein. Aber nicht so ganz mit Recht, wie
es mich bedünken will. Denn dort tritt das „Wunder"
eines Zaubertrankes mit hinzu, die „Abbreviatur der
Wirklichkeit", deren der Mythus nicht entbehren
kann und deren Auftreten im mythischen Gewände
mit eben so viel Berechtigung erfolgt, als sie in unserem
Rahmen zugleich auch völlig unverständlich bleiben müsste.
Und eben das ist es wohl überhaupt, was wir Alle gegen
•das Ganze — wir mögen uns nun drehen und wenden,
wie wir wollen — theoretisch im letzten Grunde noch
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Lorcley.
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vorzubringen hätten; dass es musikalisch gleichsam mit
dem Anspruch des „Mythus« vor uns hin tritt, während
es doch dichterisch noch ganz und gar in der primitivsten
„Sage" stecken geblieben ist. Ein klaffend tiefer, innerer
Widerspruch liegt hier noch vor, der hauptsächlich auch
meine Eingangs erwähnten Zweifel begründet hat und
bei aller augenblicklich guten Bühnenwirkung doch die
eigentliche Lebensfähigkeit des Werkes für die spätere
Zukunft in Frage stellen möchte. — Um es an einem
Gleichnis aus der bildenden Kunst klar zu machen, was
ich damit meine: die Loreley-Sage verhält sich zum
Mythos etwa wie eine Moritz von Schwind'sche Poesie
zu der gewaltigen Philosophie eines Peter von Cornelius.
Die Inkongruenz, Konflikt und Defekt entsteht, wo der
romantisch-sinnige M. v. Schwind'sche Inhalt im grossen,
mythologischen Stile eines Peter v. Cornelius nun vor-
zutragen gesucht wird. Auf das musikalische Gebiet
selber übertragen und auf unser Thema im Besonderen
angewandt, liesse sich etwa der Name Lortzing oder auch
Weber demjenigen Wagners hier wohl gegenüber stellen:
Weber- Lortzing im Wagner'schen Formate und Gewände!
Die Sache scheint mir deshalb um so wichtiger, weil es
gerade in diesem Punkte für den überzeugten Wag-
nerianer, als den wir Hans Sommer nach allen seinen
bisherigen, musikalischen wie litterarischen, Äusserungen
mit Fug und Recht doch auffassen dürfen, grundsätzlich zum
Farbebekennen und zur eigentlichsten Bewährung kommen
muss. Ist es doch eine ganz merkwürdige Erfahrung, dass
fast alle die Nach -Wagner'schen Opernkomponisten,
welche in der musikalischen Form doch bis zum spätesten
Wagner der „Meistersinger«, des „Nibelungen-Ringes*
und der kompliziertesten „Tristan "-Harmonik bereits
vorgedrungen sind, gerade im dichterischen Teil, in der
dramatischen Grundlage das gestellte Problem einer
ebenbürtigen „Ehe« zwischen Dichter und Musiker zum
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92
Wagneriana. Bd. III.
gleichen „Zwecke des Drama's" immer noch nicht
genugsam beachten wollen. Im Grunde genommen
kommen sie darin selten über „Hans Helling44, „Undine"
und dergl. m. hinaus, setzen also da ein, wo Wagner schon
angelangt war, als er die „Feen*4*) oder (günstigsten
Falles) den „Fliegenden Holländer" geschrieben. . . .
Ich glaubte diese vom reinsten, aufrichtigsten Wohl-
wollen eingegebene Aussprache meiner anfanglichen,
auch durch die reale Bühnenaufführung nicht ganz zer-
streuten Bedenken dem Werke selbst wie insbesondere
meiner persönlichen Freundschaft für den Komponisten
schon darum schuldig zu sein, weil dessen hohes künst-
lerisches Streben, sein vornehm-kräftiges Wollen und
reifes, wertvolles Können, wie gesagt, gewiss die höchste
Anerkennung verdienen, und allseitigste Zustimmung sich
erringen müssen. Ein gediegenes Talent wie dasjenige
Sommers ist nicht nur des Beifalles der Besten seiner
Zeit würdig, es verdient auch jede erdenkliche Auf-
munterung und moralische Unterstützung auf seinem
dornenvollen Pfade. Überdies schickte ich auch noch
gerne diese Auseinandersetzungen mit Gurski hier vor-
aus, um desto grösseren Nachdruck nunmehr auf einen
Vorzug des Textes legen zu können, den die dramatische
Lösung der Sommer'schen Oper gerade vor allen
früheren musikdramatischen Bearbeitungen der Sage
unbedingt voraus hat, und bei dem sich das Lob —
wie ich nach der mir mitgeteilten Entstehungsgeschichte
des Textbuches zu meiner lebhaftesten Freude höre —
indirekt an den Komponisten selber richten darf.
Stellen wir dabei vor Allem fest, dass der Loreley-Stoff
*) Gerade daran müssen wir uns um so lebhafter erinnert
fühlen, als hier ja auch (wie eben dort in der „Loreley") eine
Erstarrung der Fee zum Felsgestein, beziehungsweise umgekehrt
deren Entzauberung und Erlösung durch die Kraft des Gesanges,
den dichterischen Vorwurf bildet.
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Loreley.
93
für musikdramatische Behandlung erst von dem Augen-
blick an brauchbar wird, da Lore die Treue, wenn auch
nur in einem ganz vereinzelten Fall, als in der Welt
wirklich ^vorhanden anerkennen muss und, statt in
„ewiger Rache" zu enden, aus Mitleid lieber sich selbst
zum Opfer bringt: — so ist es doch gewiss höchst
beachtenswert für uns, dass diese wichtige Wendung,
welche bei Sommer überhaupt zum ersten Mal auftritt,
nicht vom Textdichter selber herrührt, sondern ihre
Ausführung der besonderen Anregung eines „Wagneri-
aners", Hans von Wolzogens, verdankt. Inwieweit auch
mit der Einführung des Heine'schen sogenannten „Volks-
liedes* und der dazu gehörigen Silcher'schen „Volks-
weise" gerade von Wagnerianischer Seite ein glücklicher
Griff geschehen, wage ich im Augenblicke nicht zu ent-
scheiden; Vielen will es eher das pure Gegenteil eines
solchen dünken. Gleichwohl, der Komponist hat mit
keckem Wagemute zugegriffen, und es lässt sich immer-
hin sagen, dass hier die Anknüpfung an Silcher auch einer
populäreren Wirkung der Oper zum Mindesten nicht im
Wege zu stehen braucht. Aber selbst dem tiefer em-
pfindenden, feiner gebildeten Hörer sagt dieser Schluss
doch etwas; denn, indem er die Entstehung des „Volks-
liedes" aus tiefstem Leide schildert („Ich weiss nicht,
was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin") — wobei
der Fischer Erwin über den dramatischen Vorgang und
Zusammenhang hinaus völlig zur mythischen Person,
zum „Dichter" an sich geworden ist — , verknüpft sich
mit ihm, in seiner konkreten Ausgestaltung, zugleich
der tiefere Sinn, dass die schlimmen, Rache waltenden
Wirkungen Lore's vom Augenblick ihres Mitleidens
an aufhören, und dass von dem Augenblick ihrer
eigenen Erstarrung zum Felsen ihr unsterbliches Fort-
leben in der Sage wie im Liede (jetzt erst: Lore-Ley!)
beginnt. Wie ganz anders der Ausgang bei Wolf, dem
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Wagneriana. Bd. HI.
modernen Dichter der „Lurlei": wo denfl Lurlei, da sie
sich auch Erwin gegenüber durch ihren Schwur zwang-
voll gebunden sieht, nun für diesen einen Treuen, den
sie gleichfalls drangeben muss, unaufhörlich* unzählige
Opfer vom Rheine fordert und fortgesetzt herzlos in's
Verderben hinab schickt!
Ich weiss nicht, ob meine Leser seiner Zeit von der
heftigen litterarischen Fehde Kenntnis gewonnen haben,
in die Sommer wegen seines Textbuches zur „Loreley"
mit eben jenem „berühmten** Herrn Julius Wolf pein-
licher Weise geriet, weil dieser den Textdichter der Oper
eines Plagiates an seiner epischen Dichtung bezichtigte.
Nach meiner Meinung war es seiner Zeit sehr unrecht
von Hrn. Gurski, wenn er sich dem Komponisten gegen-
über so eigensinnig weigerte, den Namen Wolfs auf
sein Textbuch mit zu setzen. Die Anregung durch
Wolfs „ Lurlei " lag nun doch einmal vor, und dem Text-
dichter lässt sich, wie wir gesehen haben, überdies eine
starke Anlehnung, zum Teil in wesentlichen Punkten
und oft sogar unter wörtlichen Anklängen nachweisen,
die nicht immer mit der Lücke unserer Gesetze be-
züglich dramatischer Behandlung epischer Stoffe sich
rechtfertigen lässt und nicht auf die Freiheit des
Dramatikers in Benutzung epischer Vorlagen
einfach schon zurück geführt werden kann. Ebenso unklug
und reichlich taktlos erscheint aber Wolfs hartnäckiger
Protest gegen solches Verfahren; denn, hätte ihn schon
jener oben erwähnte Ausgang des Werkes bei Sommer
rechtschaffen stutzig machen können und auf einen ent-
schiedenen Unterschied im Sinne selbständiger Be-
arbeitung und persönlicher Erfassung des Stoffes auf-
merksam machen müssen, um so viel mehr hätte
er als denkender und gebildeter Litterat nicht über-
sehen sollen, dass er selber schon unendlich viel
Grundelemente, ja ganze Züge der älteren Undinen-,
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Loreley. 95
Melusinen-, Loreley-, Nock- und Steinernen Jungfrau-
Sagen in seine Dichtung mit verwoben hatte, deren sich
ja auch kein Dichter, der sich mit ähnlichem Vorwurfe
befasst, je wird erwehren können, weil sie bei diesem
Thema einfach in der Luft mit herum liegen. Ihretwegen
hätte man ihm ganz den selben Vorwurf seinerzeit ja
auch machen dürfen!
Ob nun allerdings die besprochene Schlusswirkung
bei Sommer zur Lebensfähigkeit der Oper beitragen
wird, vermag ich für den Augenblick nicht zu beurteilen
und darf auch billig der Zukunft zur Beantwortung
überlassen bleiben. Es mag genug sein, zu sagen: Wir
hoffen es! Nur das Eine möchte ich damit fest gestellt
haben, dass sie es nach meiner festen Oberzeugung
gewiss nicht ist, welche den Lebensfaden des Werkes
abzuschneiden droht (wie nämlich so sehr Viele
glaubten). Nur hat sie mich leider noch nicht mit den
anderen (bereits charakterisierten), recht zahlreichen und
augenfälligen Fehlern des Textes versöhnen können,
und sie wird es denn auch kaum im Stande sein, diese
je völlig vergessen zu machen.
War es also schon erfreulich, demjenigen Teile des
Textbuches, dem der Komponist innerlich und geistig am
nächsten stehen mag, die freudige Anerkennung seiner
fein-poetischen Wirkung, wie einer wahrhaft musikdrama-
tischen Tendenz, nicht mehr vorenthalten zu brauchen,
so lässt sich vollends von der rein musikalischen Seite
des ernsten Werkes nur mit der unverhohlensten und un-
geteiltesten Bewunderung hiernach sprechen. Von vorn-
herein musste es ja schon das regste Interesse erwecken,
die Sommer'sche Deklamation, in der er sich auf
lyrischem Gebiete bereits als Meister erwiesen, in ihrer
Verwertung nun auch für das Drama zu studieren; und
es ist in der That eine Freude, im Näheren zu ver-
folgen, wie dasjenige, was als sein Bestes und Eigenstes
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Wagneriana. Bd. III
dort zur reifen Frucht entwickelt worden, nunmehr hier
einmal so recht zum vollen Austrag gelangen darf. Sommer
deklamiert die ganze Oper hindurch nicht nur korrekt,
sondern auch eindringlich; nicht allein sinngemäss,
sondern sogar mustergültig. Es ist der selbständigste
und eigenartigste Stil im Sinne eines der deutschen
Wortwurzel entstammenden „Sprachgesanges*, dem ich
seit Wagner bisher begegnet bin, und nur das Herüber-
binden von Auftakt-Noten bei Einsätzen und Absätzen
droht ihm ein wenig zur Manier zu werden, wovor
man unseren Tonsetzer aus guten Gründen doch gerne
bewahrt sehen möchte. Aber selbst noch auf dem Ge-
biete der Instrumentation, der Ausgestaltung des ganzen
Orchesterpartes, der Chöre, Ensembles tritt uns Hans
Sommer mit einer wahrhaft verblüffenden Reife ent-
gegen, die man nicht genug rühmen kann. Es ist
geradezu erstaunlich, bedenkt man dabei, dass dieser
Lieder- und Gesangs-Komponist (seines Zeichens) seit
seiner Jugend gar nicht mehr instrumentiert hatte und
mit dieser Oper als einem Erstlingswerk auf diesem
Felde an die Öffentlichkeit nunmehr heraustritt. Seinen
musikalischen Akcenten sind grosse dramatische Kraft,
seiner Musik im Allgemeinen ein frisch pulsierendes
Leben und ausserordentliche Modulationsfähigkeit zu
eigen. Besondere Kunst entwickelt er auch in der Ge-
staltung von Stimmungsübergängen, ganz im Sinne
seines Vorbildes Wagner. Nur einige Leitmotive dürften
wohl noch ein wenig origineller, etwas weniger „vor-
bildlich4* geraten sein, und Eines fehlt seinem Stile viel-
leicht noch, zur vollen Grösse: die Steigerungsfähigkeit
bis zur höchsten plastischen Einfachheit — um nicht zu
sagen Einfalt hin, die Wagner immer da als grandios
wirksamen, letzten Trumpf auszuspielen gewusst hat, wo
der stärkste, äusserste Grad von Ekstase erreicht war. Noch
nie aber habe ich bei einem Nachfolger Wagners jenen
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Loreley.
97
grossen Bogen, jenes breite, weit ausholende und tief
veratmende Pathos des Bayreuther Meisters in dem*)
Grade zu beobachten geglaubt wie eben hier bei Sommer.
Und zeigt er sich von dieser Seite schon durchaus als
ein vollgültiger Beherrscher des neueren musikdramati-
schen Stiles bis in die Einzelheiten der Deklamation
hinein, so vollends bei allen rein lyrischen Episoden als
vollendeter Meister des Liedes, der er nun einmal ist
und bleibt Ruhepunkte, wie die mannigfachen Szenen
und Gesänge Lore's, der unvergleichliche Zwiegesang
im 2. Akte, dem die Breite des 6/4"Taktes -fför den
übrigens Sommer auch sonst eine grosse Vorliebe verrät)
ganz ausgezeichnet bekommt, — bilden wahre Perlen der
spezifisch Sommer'schen Lyrik. Weniger Gefallen konnte
ich an den Nixen-Chören im 2. Akte finden, denen es
ein wenig an dem äusseren, rein sinnlichen Klangreize
gebricht, an welchen wir mit und seit Wagner bei
solchen Anlässen einigermassen doch gewöhnt sind —
jedoch mag das im Grunde doch subjektive Empfindung
sein; mehr dagegen wieder an den Chören der Wasser-
geister etc. im 4. Akte, die viel Charakteristisches auf-
weisen. Mangel an Wechsel und Kontrastierung wird man
zum Allermindesten der Oper nicht nachsagen können ;
vom einfachen Lied und Tanz bis zu den verwickeltsten,
reichst bewegten Chören, Aufzügen, Volksszenen, Natur-
vorgängen hin ist nahezu alles in ihr enthalten. Ja, fast
möchte unverbesserlichen „Kritikern" ein wenig der
Verdacht aufsteigen, dass hier — wie Wagner einmal
sagt — nur wieder die »Absicht des Drama's lediglich
herbei gezogen sei, um der Wirksamkeit der Musik Anhalt
zu desto unumschränkterer Ausbreitung zu geben", wenn
wir nicht wüssten, wie ernst es dem Komponisten
Sommer in seinem Ringen gerade um die dramatischen
*) Seither wieder bei R. Strauss: Schluss des „Guntram"!
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 7
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Wagneriana. Bd. III.
Ehren ist. Endlich noch eine Frage: Warum wohl ist
an Stelle der (in den „Meistersingern" bereits verwen-
deten) Walzerform, im 1. Akte gelegentlich des Mailehens-
festes, nicht lieber diejenige der „Rheinländer Polka"
zur künstlerischen Verwertung gelangt? Wäre dies
nicht etwas Neues, und dabei doch auch im Wagner'-
sehen Geiste (mit Rücksicht auf die rheinische Text-
grundlage) sozusagen Sinn- und Stilvolleres gewesen?
Uber der Aufführung selbst waltete ein guter, ja
überaus günstiger Stern, so dass gewisse, in der Haupt-
probe noch allzu nahe liegende Befürchtungen wie mit
einem Schlage gleich von Anbeginn an zerstreut waren.
Sie war mit einem Worte prächtig und entbehrte auch
des äusseren Glanzes durchaus nicht, — was alles bei
dieser schwierigen Partitur gar viel besagen will, einer der
heikelsten jedenfalls, die seit Wagner überhaupt wieder
geschrieben worden sind. Vor Allem gebührt der vor-
züglichen, ebenso umsichtigen wie feinsinnigen Regie ein
uneingeschränktes Lob. Man muss wissen, unter welchen
äusseren Schwierigkeiten und 9 bösen" Widrigkeiten
eine so hübsche Ausstattung zu Stande kam, um dieses
Lob nicht etwa als eine leere Phrase zu empfinden!
Aber auch die Chöre und Ensembles waren alle wie aus
einem Gusse, und das Orchester vollends zeigte sich von
seiner leistungsfähigsten, tüchtigsten Seite, — nicht zu
vergessen der vielen obligaten Instrumentalstellen. Es
war nicht mehr als billig, dass am Schlüsse des Ganzen
auch Kapellmeister Richard S t r a u s s mit den Künstlern
vor der Rampe erschien, dessen entschiedenem, planvoll
durchgreifendem und lebendig befeuerndem Vorgehen
wir diese ganz vortreffliche Aufführung vornehmlich
danken, und der damit wieder einmal den sprechendsten
Beweis sowohl seiner Begabung, als auch seiner charakter-
vollen Energie geliefert hat. Der Erfolg war ein zweifel-
loser. Der Beifall Hess bereits nach dem 1. Akte nicht auf
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Loreley.
99
sich warten; namentlich aberschlug das herrliche Duett im
zweiten durch und riss die Zuhörerschaft zu freudigster
Begeisterung bei offener Szene hin, so dass der Kom-
ponist, der auch noch am Schlüsse des Abends mit den
Darstellern und dem Dirigenten wiederholt gerufen wurde,
schon beim Abschlüsse dieses Aktes vor der Rampe
erscheinen musste. Und eine gleich glänzende Aufnahme
wie bei der Premiere am 3. Juni fand die Oper übrigens
noch bei ihrer ersten Wiederholung. Das Merkmal jedes
echten Kunstwerkes scheint sich auch bei diesem Werke
einstellen zu wollen: Es gewinnt ganz entschieden
bei Öfterem Hören.
7»
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Alexander Ritters Opern
(1896)
Die „Einakter44 „Wem die Krone?11 und „Der
faule Hans* hätten zu Weimar recht »guten Erfolg"
gehabt, so lautete im Sommer 1890 die Meldung aus-
wärtiger Fachblätter. Das klang aber doch wirklieb
etwas zu sehr gehalten — denn stürmischen Beifall
fanden sie thatsächlich, noch selbst bei ihrer vierten
Wiederholung vom 17. Juni, welcher Aufführung selbst
beizuwohnen, mir vergönnt gewesen ist. Keinen Augen-
blick will ich es nun leugnen, dass ich nachstehend im
Wesentlichen ein altes, seinerzeit aus irgend einem
Grunde unveröffentlicht gebliebenes Manuskript aus-
grabe, das ich damals unmittelbar unter dem frischen
Eindrucke dieses realen Bühnenerlebnisses nieder-
geschrieben hatte. Nicht aus Bequemlichkeit aber ge-
schieht dies, sondern vielmehr aus der reiflichen Er-
wägung, dass gerade hier das unverfälschte, ungetrübte
Urteil eines Augen- und Ohrenzeugen der stilgerechten
szenischen Wirkung dieser Werke von besonderem
Werte sein muss, und dass die damals sofort auf dem
Papier fest gehaltenen persönlichen Eindrücke (die nach-
stehend nur in einigen wenigen Stücken durch Zusätze
aus der geläuterten historischen Überschau unserer Tage
zum Besseren ergänzt und vervollständigt werden sollen)
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Alexander Ritters Opern.
101
diesen Zweck verhältnismässig am besten, jedenfalls
weit wirksamer als alle rein theoretischen Ausführungen
über Textbuch und Klavierauszug, erfüllen können.
Es war in seiner Art ein Stück „Stilbildungsschule*
im edelsten Sinne, was sich da in jenen Mai- und Juni-
Wochen an der kleinen Weimarer Hofbühne — wie
schon so oft früher! — wieder einmal abspielte. Der
Komponist, als ergrauter väterlicher Freund des
Dirigenten („Onkel Ritter" wie wir ihn schliesslich Alle
nannten) die Proben und Darstellungen selbst über-
wachend und den gewollten Stil auf alle persönlich über-
tragend; der Dirigent — kein Anderer als Richard
Strauss — zunächst als der Lernende, aber auch als ge-
nialer Jünger der neuen produktiven „Wagner-Schule"
gar verständnisvoll Wachsende; alle übrigen Mitwirkenden
kongenial Empfindende und Erkennende; das Publikum
wiederum, als warm-begeistert Anteil nehmender, freudig
im neuen „Gefühlsverständnisse" mitschaffender Faktor,
aus dieser seltenen, echt künstlerischen Wechselwirkung
geistig zugleich erhoben und dem idealen Festspiel-
Elemente sympathievollen Widerhall beifällig entgegen
bringend! Und während Andere vielleicht darüber grämlich
die Nase rümpfen mochten, dass hier — wie sie kurz-
sichtig wähnten — die grossherzogliche Bühne zur blossen
„Versuchsstation" für allerlei „unfruchtbare Experimente"
herab gewürdigt wurde, ward hier eine verständnisinnige,
geistig überaus regsame Kunstgemeinde engerer Musik-
freunde versammelt, die gerade diese Freistätte edelster
Kunstbestrebung inmitten all' der Repertoire-gehetzten
deutschen Intendanz- und Industrie -Bühnen hoch zu
schätzen wusste und in diesen, den Schöpfer und sein
Werk so sehr auszeichnenden, idealen Vorgängen ein
verheissungsvoll - segensreiches Kunstleben froh be-
grüsste, eine in ihrem Rahmen bescheidene, aber zu-
gleich doch bedeutsame und nachhaltige Blüte gewähr-
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102
Wagneriana. Bd. III
leistet sehen durfte. Wahrlich, niemand, der mit Herz
und Sinn dabei war, konnte ihrer so bald vergessen!
In Alexander Ritter, zumal hinsichtlich seines Be-
rufes als musikalischer Dramatiker, sehen wir einen derganz
Wenigen, welche die Prinzipien der Bayreuther Schule
und des Wagner'schen Geistes mit vollem Verständnis
und innerlich echter (nicht nur Talmi-) Eigenart in sich
aufgenommen und hernach zielbewusst fortgebildet haben.
«Einer, der genau weiss, was er will" (wie er selbst
einmal über Heinrich Porges, den Münchner Pionier neu-
deutschen Musik-Fortschrittes, an die „Allg. Mus.-Ztg.tt
geschrieben), ein getreuer Jünger zugleich der meister-
lichen Geistesbewegung, welcher — der besonderen
Kräfte, aber auch der menschlichen Grenzen seiner
eigenen Begabung klar bewusst — niemals höher hinaus
wollte, als er selbst von seinem Schöpfer nun einmal
veranlagt und berufen war, eben darum aber auch,
zuerst von Allen und innerhalb der von Wagner
scharf gezogenen Grundlinien des Musikdrama's, an
diesem überragenden Grossen noch offen gelassene Mög-
lichkeiten entdeckt und auf seine Weise frei-schöpferisch
auch wahrgenommen hat: das war Alexander Ritter,
so steht er — ein Kapitel ganz für sich — in der
Musikgeschichte. Wo Andere noch zumeist mehr den
äusseren Instrumentationsapparat dem Bayreuther Genius
der erhabenen Mythen- und Mysteriengestaltung ab-
guckten und vermeinten, es müsse um jeden Preis nun
einmal in dem von ihm ausgegebenen „hohen Ton",
in seinem grossen, weit ausholenden Bühnenstile hübsch
brav weiter geschaffen werden, dabei aber mit Aus-
nahme allenfalls des veränderten Stoffes und Kolorites
hinsichtlich ihrer Texte entweder einen arg miss-
verständlichen Gallimathias, oder günstigen Falles nur
die sklavischeste Abhängigkeit vom Urbilde erst ver-
rieten: dawar Ritter (neben dem einseitig -dichterisch
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Alexander Ritters Opern.
103
veranlagten Grafen Sporck) der Einzige, der auch
dichterisch seinen Wagner tief aus dem innersten
Kerne heraus erfasst hatte, der die „Festspiele- auch
auf einem scheinbar ganz weit abliegenden, schliesslich
aber doch nur eben noch unbebauten, Felde mit scharfem
Blick erspähte und mit entschiedenster Freiheit des
künstlerischen Vermögens zu charaktervoller Gestaltung
sich selbst auserkor.
Ganz besonders ist es hier wieder das entsprechend
anspruchslosere, dem enger umschriebenen Inhalt an-
gepasste Format (wenn ich so sagen darf) und überhaupt
schon die ganz eigentümlich originelle Stoffwahl, welche
— als organische Ausflüsse einer durchaus unbeirrten
Selbstkritik — an diesem Dichterkomponisten und prakti-
schen Nachfolger Wagners schon von vornherein so sehr
wohlthuend uns berühren. Auch eine „Einakter "-Pro-
duktion, wenn man so will, als solche aber, im Gegen-
satze zur italienischen Mode -Invasion, zugleich ein
Kunst- und Kultur- „Ziel .aufs Innigste zu wünschen4*, !
Ich will damit noch nicht gesagt haben, dass diese Texte
nun schon ganz und gar vollendete Meisterwürfe be-
deuteten. Namentlich wird an demjenigen zu „Wem die
Krone?" dies und das wohl noch für ein „kritisches0
Fehlerankreidungs- Bedürfnis zu bemängeln sein, da er
rein formell vielleicht ein wenig zu sehr in's Gebiet
der erkältenden Allegorie schon abklingt, während der
„Faule Hans", von Hause und Natur aus sozusagen,
bereits mehr spezifisch -musikalische Substanz mit sich
führt und das Typische, ein blutwarm -symbolisch Ele-
ment, weit glücklicher noch trifft : wo die Idee ohne Rest
denn in die konkrete Anschauung auch aufgeht und
keine ferner liegende „Absicht" mehr irgend „verstimmen"
kann. Auf alle Fälle jedoch — selbst unter dem Ge-
sichtswinkel solch* gelegentlicher Ausstellungen —
weisen diese Textdichtungen weit über das bis dahin
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104
Wagneriana. Bd. III
Gewohnte hinaus und überragen, was echtes Wagne-
risches Erbblut — jenen „ganz besonderen Saft", und
nicht Bastardenflüssigkeit — in ihren Adern anlangt,
ihre Nachwagner'schen Durchschnittskollegen um Turmes-
höhe (die vorher entstandene „Kunihild "-Dichtung und
die späteren „Ingwelde", „Guntram", sowie das wieder
ganz abseits liegende, eine Wagnerische Spezialität für
sich bildende „Hänsel und Gretel*-Märchenspiel allen-
falls wohl ausgenommen). Just in der soliden Be-
schränkung zeigt sich hier der Meister!
Die denkbar einfachsten, volkstümlichsten Hand-
lungen sind da zu eindruckvollen, plastischen Zeit-
symbolen verdichtet. Die Mär' von dem „Faulen
Hans" (nach einer poetischen Erzählung Felix Dahns)
— sie versinnlicht, in dem Titelhelden verkörpert, die er-
staunlich gewaltige, so rühm- und erfolgreiche Erhebung
unseres, als ein träger Träumer Jahrzehnte lang verkannten
und als Schlafmütze so gern immer verspotteten, im
entscheidenden Moment dennoch urkräftig-schlagfertigen
„Deutschen Michels", da wo eben die ernste Gefahr dem
Lande dräuend sich wirklich einmal naht. „Wem die
Krone?" wiederum bildet das allegorische Monumental-
gedicht jenes verheissungsvollen „deutschen und sozialen
Kaisertums", wie es eben damals, zur Zeit der Entstehung
des Werkes, auf den angestammten Thron gelangt war,
in den mitleidsvollen Rufen eines jugendlichen, ideal-
gesinnten Monarchen an die Bedrängten nnd Hilfe-
bedürftigen seiner Unterthanen die besten Geister der
Nation innig beseelend und anhaltend beschäftigend.
Und das alles ist nicht etwa in toten, abgezogenen Be-
griffen nur entwickelt, sondern ganz frisch und lebendig,
mit konkreten Geschehnissen verflochten, in individuellen
Gestalten sinnlich einprägsam und zudem dramatisch
überaus wirkungsvoll veranschaulicht. Dabei ist auch die
Sprache urwüchsig deutsch behandelt, schlicht und innig,
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I
Alexander Ritters Opern. 105
naturwahr und seelenvoll, wie sich's eben trifft ; oft derb
in den köstlichen Reimen, dann wieder charakteristisch
in drastischen Wendungen, aber ohne jede idealistische
Verstiegenheit, in einem kernigen Ausdrucke gehalten.
Graf Härtung verstösst seinen Sohn Hans von
seinem Herzen, da dieser es niemals für der Mühe
wert hält, an den standesgemäss- ritterlichen Spielen
seiner sechs Brüder Teil zu nehmen und, dafür lieber,
alten Sagen unthätig nachsinnend oder die Natur be-
lauschend, seine Tage dahinträumt. Ja, als Hans auf
den Vorhalt seines Vaters hin ehrlich erwidert, dass er
nun einmal so geschaffen sei und nicht wider seine
Natur könne, lässt dieser ihn zornergrimmt gar wie
einen unfreien Knecht, dem Gespotte schwatzhafter
Mägde preisgegeben, im Schlosshofe mit Ketten an einen
Eichblock fest schmieden. Bald wendet sich indessen
Hansens, mit voller Seelenruhe getragenes Geschick.
Der rauhe Däne ist mit handfesten Riesen verheerend
in1s Land eingebrochen, und da die Vasallen diesem An-
stürme nicht Stand zu halten vermochten, hat sich die
junge, schöne Königin zu Hansens in Treue bewährtem
Vater als ihrem letzten Trost und Zufluchtsorte ge-
flüchtet. Als nun selbst hier die feindliche Macht, den
Widerstand aller Mannen besiegend, gewaltig andringt,
reisst sich der „faule Hans", der bis dahin kein Auge
von der in seiner Nähe stehenden edlen Königin ver-
wandt hat, plötzlich mit einem mächtigen Rucke selber
von seinen Fesseln los, stürzt sich mit Berserkerwut
auf die schon in die Burg seines Vaters einbrechenden
Riesen und verübt in diesem seinem Juror teutonicus
„Heldenthaten, wie keinem Andern sie geraten", bis
auch die früher schon gewichenen Kämpen wieder ge-
festigt vorrücken und der Feind unter Zurücklassung
wichtiger Gefangener als Geissein schmachvoll Fersen-
geld geben muss. Der Graf, gerührt, zieht jetzt seinen
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Wagneriana. Bd. III.
„lieben Hans" — nunmehr der „höchste Stolz des alten
Manns"! — beschämt wieder an sein väterliches Herz;
die Königin, beglückt, spricht ihm zu, was sie dem Er-
retter, da er ihr nur ein Knecht noch schien, bereits
zum Lohne verheissen: nämlich ihr halbes Reich; ja,
sie giebt sich ihm, da er sie selbst als Preis kecklich
fordert, im Herzen frohlockend und jubelnd sogar, per-
sönlich zu eigen. „Der Hans, der kann's!" Zum Schlüsse
wendet sich der Held „heiter und leutselig" zu dem ver-
wundet gefangenen Dänenkönig, der sich langsam zu
erholen beginnt:
Aus dieser Lehre zieh* Gewinn,
Halt* diesen Tag dir recht im Sinn,
Und lass es nimmer dich gelüsten,
Dich gegen deutsche Kraft zu brüsten!
Sie ist geduldig, still und träge,
Spät wird ihr Zorn und zögernd rege,
Hat sie sich aber aufgerafft
Doch still, du kennst jetzt diese Kraft,
So! Bindet ihm die Stricke los —
Und jetzt, wohlauf: Trompetenstoss!
Herbei, ihr Ritter und Vasallen,
Lasst uns in stolzem Zuge wallen,
Und bei des Sieges Jubeltönen,
Soll meine Königin mich krönen!
Allgemeiner Schlussruf: „Heil deutscher Art —
in Reine treu bewahrt!"
In „Wem die Krone?" bildet den Hauptinhalt die
Rückkehr dreier Söhne der greisen Königin Ute. Die
betagte Frau hat sie seinerzeit, jeden mit zehntausend
Kronen ausgestattet, in die Lande hinaus gesandt, da-
mit einer von ihnen, ihrem Herzen gleich nahe Stehenden
durch Ausweis der weisesten Verwendung dieses reichen
Goldschatzes sich als des zu erbenden Thrones würdig
vor allen seinen Brüdern bewähren und sich des edlen
Fürstenkindes, Richildens Liebe, um welche ein edler
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Alexander Ritters Opern.
107
Wettstreit unter ihnen entbrannt war, mit persönlichem
Werte verdienen solle. Den jüngsten, Heinrich mit
Namen, liebte auch die holde Maid. Allein während
Konrad für sein Geld im schätzereichen Orient sich
kostbaren Schmuck, prunkvolle Zier und höfischen Glanz
eingetauscht, Ludwig anderwärts im fremden Lande das
mitgenommene Vermögen in unbezwinglich kriegerische
Wehr zum Schutz der königlichen Macht gegen alle Not
und Gefahr von draussen umgesetzt hat, erweckt gerade
„Pechvogel" Heinz die allergeringsten Hoffnungen —
denn all das schöne Geld hat er verthan und nichts, rein
gar nichts dafür mit gebracht, so dass ihm die schöne
Richildis nicht wenig grollt und beinahe schon alle ihre
Liebe versagt. Aber alsbald, bei der feierlichen Rechen -
schaftsablegung der Drei vor allem Volk und ihrer weisen
königlichen Mutter, klärt sich's gar herrlich auf: Heinrich
hat sich derweil im heimischen Lande gründlich um-
gethan und, als Bürgersmann verkleidet im einfachen
Kittel, draussen entdeckt, dass der Thron von einem
Lügengespinnste umgeben ist, welches die Wahrheit über
das Volk und seine Schmerzen nicht mehr bis zu ihm
gelangen lässt. Zum ersten Male sah er die Menschen
in Elend und Qual, und da riefen tausend Stimmen in
ihm: „So hilf doch, rette doch hier! Du darfst das
nicht leiden, nicht dulden, dass Menschen darben ohne
Verschulden !" So that er denn einen Griff nach dem
andern in den Beutel, je mehr er bei dieser Inkognito-
Inspektion zugleich die Beamten des Reiches, die unter-
stützend doch hätten eingreifen sollen, pflichtvergessen
erfinden musste; schliesslich entliess er noch Knappen
und Knechte, verkaufte deren Rosse und Waffen, sogar
sein eigenes Pferd, um der argen Not zu steuern, und
mit seiner letzten Habe, dem Schwert in der Hand,
hat er manch' Bedrücktem auch noch sein gutes „Recht"
erstritten. Heute kommt er, nicht um des Reiches
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Wagneriana. Bd. III.
Erbe anzutreten, sondern der geliebten Mutter die Binde
vom Aug* zu nehmen:
„Nicht eitel Gluck und Wonne
Bescheint in Eurem Reich die Sonne,
Im Gegenteil — es ist ein Graus!
Sieht hier und da noch ganz abscheulich aus!
Und das muss durchaus anders werden,
Giebas auf dieser schlimmen Erden
Um und um
Noch eine Spur von Christentum!
Mit einem Hymnus auf der „ Menschenliebe heilig'
Gebot- schliesst er seinen prächtigen Abgesang. „Der
soll es sein!" ruft bereits stürmisch-bewegt das Volk,
und die alte Königin mit einem ergriffenen:
„Nun mag die Müde sterben geh'n,
Sie hat den neuen Tag geseh'n!"
setzt diesem würdigsten ihrer Söhne mit einer feier-
lichen Gebärde eigenhändig die Krone auf sein Haupt.
Selbst die Brüder, besiegt, huldigen ihm, und Richildis
flicht glückstrahlend einen Rosenkranz um des Geliebten
Kronenreif. In einem ganz einzigen, von ihrer Stimme
geführten Quintett mit Chor: „Rosen sind der Liebe
Zeichen41 klingt das Ganze überaus weihevoll und er-
hebend aus. . . .
Ich kann es wohl versichern: das wurde damals
als Sinnbild und Ausdruck der Zeit warmherzig ver-
standen und als gutes deutsches Festspiel nachhaltig
genug empfunden wie nur weniges, was als „offizielle"
Veranstaltung ä la „Willehalm* an irgend einem natio-
nalen Gedenktage mit „teutschem" Phrasenschwall eines
bombastisch hohlen Pathos und antikisierendem oder
byzantinischem Prologgeklingel auf Bestellung (samt
Anwartschaft auf Ordensdekorationen) neuerdings in
deutschen Landen leider fabriziert und — horribile
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Alexander Ritters Opern
109
didu! — auch noch sanktioniert zu werden pflegt.
Auch hier agierte die „deutsche Volksseele0 selbsten
leibhaftig und »tiefernst0 vor uns, ja fühlte sich sogar
im Innersten ihres Wesens belauscht und dichterisch
gar sinnig vollauf gewürdigt. Aber merkwürdig — bei
all' ihrem heiligen Eifer, namentlich im zweiten Stücke,
war sie doch ohne alle Leichenbittermiene auch wieder
so unendlich heiter in ihren freundlichen Zügen;
wenigstens habe ich das gesamte Theaterpublikum selten
so herzhaft-lustig gesehen, niemals so unbändig-fröhlich
und durchaus gesund durch alle Ränge des Hauses hin-
durch — ob hoch, ob niedrig — lachen hören in einer
neueren, Nach-Wagner'schen Oper, wie dazumal die
Weimarer Zuhörerschaft bei eben jener, von uns wieder-
holt besuchten Aufführung des „Faulen Hans0. Es war
die lautere Herzensfreude, nicht mehr nur ein fremdes,
oberflächliches „Amüsement0 zu nennen. Denn hier
war ganz zwanglos die Bühne wieder einmal zum natio-
nalen Feier- Tempel geweiht, das natürliche Unter-
baltungsbedürfhis des Volkes veredelt und geläutert, im
Anschauen seines besseren Wesens wie seiner reineren
Kräfte. Und das bleibt hierbei noch überdies das Be-
merkenswerte, dass der Humor, das gemütvoll Witzige
eigentlich Ritters vorzüglichste Gabe darstellte. Hier
entwickelt er eine urwüchsige Gestaltungskraft, eine
keck- realistische Gegenständlichkeit und dann wieder
treuherzige Gutmütigkeit, die um so angenehmer her-
vorstechen muss, je unverbrauchter sie, mit dem vollen
Reize des Persönlichen, sich giebt und je seltener wir
ihr in neuerer Zeit (den von Ritter unter dem Pseu-
donym „von W. Ehm0 noch verfassten Text zur „Theuer-
dank"-Oper L. Thuille's, III. Akt etwa ausgenommen
auf dem Gebiete des vornehmeren Opern -Genre's be-
gegnen dürfen. Ja, man könnte geradezu sagen, dass
sein eigentlichster Beruf in diesem Sinne gewesen sei,
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110
Wagneriana. Bd. III
so eine Art Lortzing der „Wagner-Schule* in meliorem
partem noch abzugeben, würde nicht doch die ver-
schieden geartete, besondere Stoffwelt von einer solchen
Analogie sofort auch wieder ablenken müssen.
Vollends wieder im musikalischen Teile wird
dieser Vergleich alsbald zum abscheulich hinkenden ; in
diesem Punkte liegt weit eher eine gewisse Geistes-
verwandtschaft vor mit der selbsteigen fein-organisierten,
nicht direkt Wagner'schen, aber auch nicht direkt
Berlioz'schen, und doch wieder von Beiden ganz er-
sichtlich beeinflussten, ja sogar wohl stellenweise mit der
letzteren noch mehr durchtränkten Schaffensweise eines
Peter Cornelius. Was eben diesen musikalischen Teil
unserer zwei Opern anlangt, so konnte ich mir lange
nicht über das Verhältnis beider Werke zu einander und
darüber klar werden, welchem von ihnen nun wirklich
— „die Krone" gebühre; denn sie waren beide damals
doch einigermassen neu und in ihrem Sonder-Melos
„nicht ganz leicht zu behalten". Immerhin scheint mir
„Wem die Krone" eigenartiger und selbständiger, „Der
faule Hans" wiederum musikalisch allgemeinverständ-
licher und leichter zugänglich zu sein — ein Eindruck,
der sich namentlich bei späterem nochmaligen Hören
der beiden Werke an derselben Stelle deutlich noch
befestigte und also denjenigen Kennern — im Gegensatz
zu den Fiasko's in Leipzig und Dresden — zuletzt
doch Recht gab, welche gleich zu Anfang ihres Er-
scheinens in „Wem die Krone" einen künstlerischen,
geistig- technischen Fortschritt des „Komponisten"
Ritter bemerkt zu haben vermeinten. (Die Weimarer
Intendanz freilich hatte in diesem Meinungsstreite,
praktisch schlichtend, in aller Stille ruhig dahin Stellung
genommen, dass sie „Wem die Krone", das spätere
Opus, einfach voran stellte; sie hat sich also eine
szenisch-dramatische Steigerung für den Abend gemein-
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Alexander Ritters Opern.
111
samer Vorführung von diesem wohl nicht erwartet,
welche sie sich sonst doch kaum hätte entgehen lassen.)
Ein gewisser Mehraufwand an musikalischem Geist und
rein technischer Mache dürfte ja bei Alledem für „Wem
die Krone" — im Verhältnis zu dem „Faulen Hans"
besehen — noch immer gerne zuzugeben sein (ich erinnere
z. B. nur an die aus dem „Mitleidsmotiv* gebildete
Fuge am Schlüsse des interessanten Vorspiels, das
— nebenbei bemerkt — bei öfterem Hören durchaus
gewinnt). Und eigentümlich ist hier auch noch in
Sonderheit die völlig originelle Behandlung (Neu -Ver-
wendung möchte ich es eigentlich schon nennen!) des
„Chores", der als Unisono -Erzähler der Handlungs-
vorgeschichte zwangslos -frei die erste Exposition zu
leisten hat, und hierdurch — wie sich leicht denken
lässt — einen völlig neuen Vortragsstil für sich be-
gründet, der manch' herben Kritikerangriff schon zu
erfahren hatte, aber in der Herausarbeitung seiner
künstlerischen Intentionen denn doch des „Schweisses
der Edlen" nicht so ganz unwert erscheint. Sollte ich
beide Werke in Einem zusammenfassend zu charak-
terisieren haben, mein Urteil vor Allem über beider
Instrumentalgewand und Ausdrucksweise auf eine präg-
nante, kurze Formel bringen müssen, so würde ich
wahrscheinlich sagen, dass sich „Wem die Krone" zum
„Faulen Hans" — cum grano salin gesprochen — so
etwa wie Berlioz zu Wagner verhalte: ein Verhältnis,
das wir ähnlich ja auch schon bei Cornelius, in dem
Unterschiede zwischen „Barbier von Bagdad" und
„Gunlöd", genauer beobachten können. Zum Mindesten
dürfte diese Parallele bei „Wem die Krone" mit Bezug
auf eine gewisse, leicht befremdende Sprödigkeit der
äusseren musikalischen Faktur zutreffen ; der rein sinn-
liche Klangreiz und die melodische Eingänglichkeit sind
im „Faulen Hans", der im Ganzen auch wohl wärmer
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112
Wagneriana. Bd. III.
auslädt, ungleich grösser. Stellen aber wie die lange,
Ausschlag gebende Erzählung Heinrichs, mit ihrer herr-
lichen Schlussapostrophe, auch Ludwigs markanter Vor-
trag von den Schlössern und Burgen mit ihrem charakter-
vollen Sprachakzente, nicht minder Richildens, ungeachtet
seines aparten Refrains doch traut und anheimelnd-
deutsch berührendes Klagelied auf den „Brautstand*,
oder aber der schöne, weiche, duftige Monolog Hansens
zur Nachtzeit unter der Linde, sowie der lebendig be-
wegte Mägdespott, rechtfertigen hier wie dort das günstige
Urteil: dass man es da mit zwei Schätzen der zeit-
genössischen Opernlitteratur zu thun hat, auf die das
schöne Wort Franz Liszts wieder einmal seine voll-
berechtigte Anwendung findet: „Ahnliches habe ich wohl
hin und wieder gehört; Besseres nie!" . . .
Die Weimarer Aufführungen, abermals mit einem
Richard Strauss als Dirigenten an der Spitze, so streb-
samen und hoch gebildeten Sängern wie Heinrich Zeller und
Hans Giessen als Vertretern der beiden männlichen Haupt-
rollen, Frau Stavenhagen als drollig-anmutiger Richildis,
sowie zudem noch ersten Hofopernsängerinnen in den
Nebenrollen des übermütigen Mägde -Ensemble's —
nun, es lässt sich denken, dass bei sothanem Zusammen-
wirken viel „Stil", Stil bester, vortrefflichster Art, heraus
gekommen ist. Namentlich dem erstgenannten techni-
schen Leiter des Ganzen gebührt noch heute wärmster
Dank und alle Anerkennung für diese Ruhmesthat in
erhöhtem Grade: ihm, der seine künstlerischen Genossen
von der ersten Probe an bis zum Schlüsse keinen Augen-
blick darüber im Zweifel Hess, dass es hier die ausser-
ordentliche Linie eines wahrhaftigen „Festspieles" ein-
zuhalten gelte und um die Einholung einer längst fälligen
Ehrenschuld gegenüber dem wahrlich nicht mehr jungen
Komponisten ernstlichst sich handle. „Wer wird Strauss
nun darin nachfolgen?- — so erhob sich damals un-
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Alexander Ritters Opern.
1 13
willkürlich auch die Frage. Nun, es folgte Leipzig und
schliesslich auch noch Dresden mit »Wem die Krone?"
Aber nur ganz mechanisch war man nachgefolgt —
nicht nur, dass man durch stillose Zusammenkoppelung
dieser Oper mit einem völlig heterogenen, Stimmung
raubenden fremden Wüste ihr den Weg zum Verständ-
nisse hoffnungslos versperrt hatte, es fehlte auch schon
bei ihrer Darstellung selbst ganz offenbar die „besondere"
Sphäre, Rahmen und Charakter eben jenes „ Festspiel *-
Momentes. Bei festlichen Gedenkanlässen und feier-
lichen Angelegenheiten unserer Nation zumal müssen
diese rein poetisch empfundenen, wahrhaftigen (nicht
Pseudo-) Kunstwerke, abwechselnd oder zusammen mit
Wagners „Meistersingern" und Kleists .Hermanns-
schlacht" oder dem .Prinzen von Homburg", fleissig
hervor geholt werden: dann werden wir uns wohl auch
endlich einmal abgewöhnen, einen so gewaltigen
Germanenrecken wie z. B. den Altreichskanzler und
Schmieder des Deutschen Reiches, statt mit Eiche, mit
Lorbeer nur immer zu umkränzen, und bei einer Kaiser
Wilhelms-Feier immer so gottverlassen undeutsch durch
eine Klio oder dergleichen Musengewimmel inmitten
griechischer Tempelhaine von einer unserem Wesen
ganz fremden „Germania" faseln, statt von „Sieg-
fried, dem Drachentöter" beredt handeln zu lassen.
Wahrlich, „was gut und ächt, wüsst'" in unseren Zeiten
schon bald „Keiner mehr, lebt's nicht in deutscher
Meister EhrM" Alexander Ritters „Wem die Krone?"
und „Fauler Hans" müssen erst einmal „deutsche Fest-
opern" werden — „dann bannt ihr gute Geister!"
Seidl, Wagneriint. Bd. III.
8
Hansel und Gretel
Dichtung von Adelheid Wette geb. Humperdinck; Musik von
Engelbert Humperdinck
(1894/7)
„Spät kommt ihr, doch ihr kommt!" Wenn irgendwo»
so muss dieses Wort hier zutreffen. Städte zweiter Güte
und dritter Grösse: wie Karlsruhe, Darmstadt, Wiesbaden,
Mannheim, Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Dessau,
Altenburg, Strassburg, Kiel und Braunschweig, haben
das Werk längst aufgeführt, ja, ausser dem in solchen
Dingen stets nachtrottenden Wien ist wohl überhaupt
keine grössere deutsche Hauptstadt mehr vorhanden,
in der das reizend muntere Märchenspiel zur Zeit noch
unbekannt geblieben wäre — jetzt endlich kommt auch
Dresden schon an die Reihe. (Mit Schillings* „Ing-
welde" wird es wohl wieder ganz ähnlich gehen!) Es
ist manchmal unter sothanen Erfahrungen unmöglich,
nicht an alte Dinge zu erinnern. So muss heute an-
gesichts der — wie vorauszusehen war — so erfolg-
reichen Erstaufführung von „Hansel und Gretel" am
K. sächsischen Hoftheater festgestellt werden, dass die
Dresdner , Deutsche Wacht • es war, welche nach der bedeut-
samen Weimarer Uraufführung des Werkes unter Richard
Strauss durch ihren dortigen Korrespondenten die erste
günstige und, was mehr heissen will, durchaus richtige
Meinung über das Werk verbreitet und somit, als eine der
Hansel und Gretel
115
allerersten unter den deutschen Zeitungen, die seitherige
Bewegung für dieses „Märchenspiel" in der öffentlichen
Meinung eingeleitet hat. Seitdem ist so viel schon über
das Aufsehen erregende Werk in Tagesblättern und Zeit-
schriften geredet bezw. geschrieben worden, „dsss uns
zu thun fast nichts mehr übrig bleibt". Man kann alles
nur immer wieder bestätigen und aufs Neue lediglich
bekräftigen, und jedenfalls haben wir heute, nach der
wirksamen Dresdner Bühnendarstellung, um die sich alle
Faktoren gleich sehr verdient gemacht haben, nicht das
Geringste von unserer früheren guten Meinung zurück-
zunehmen. Der Abend hatte überdies durch persönliche
Anwesenheit des Komponisten noch seine besondere
Weihe erhalten — wir zählten, nachdem schon der erste
Akt durch geschlagen und der zweite mehrmaligen leb-
haften Hervorruf der Darsteller, des Komponisten und
des Maschinenmeisters gezeitigt hatte, zum Schlüsse
nochmals nicht weniger als zehn Hervorrufe. . . .
R. Wagner beschreibt einmal gar launig die un-
vergleichlichen Wirkungen des Weber'schen „Frei-
schützen" auf das damalige Deutschland. Mutatis mu-
tandis wird sich das damals Gesagte später vielleicht
auch einmal auf das Humperdinck'sche Spiel anwenden
lassen. Man lese gefälligst nach: Bd. I der „Ges. Sehr."
S. 266 — ob sich das nicht wohl folgendermassen um-
schreiben Hesse: „Und in derThat, indem er das heimische
Volksmärchen verherrlichte, sicherte sich der Künstler
beispiellosen Erfolg. In der Bewunderung der Klänge
dieses reinen und tiefen Märchenspieles vereinigten sich
seine Landsleute vom Norden und vom Süden, von dem
Anhänger der unerbittlichen Dramen Ibsens bis zu den
Wiener Genussmenschen einer Strauss'schen , Fleder-
maus*. Es lallte der Universitätsprofessor: ,Ein Männlein
steht im Walde'; der Polizeidirektor wiederholte: ,Merkt
des Himmels Strafgericht: böse Werke dauern nicht!';
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116
Wagneriana. Bd. III.
während der Hoflakai mit heiserer Stimme ein ,Suse,
liebe Suse, was raschelt im Stroh?* sang; ich selbst entsinne
mich, als Kind auf einen recht diabolischen Ausdruck
in Gebärde und Stimme für den gehörig schauerlichen
Vortrag des ,Hocus pocus — malus locus* studiert zu
haben, und die kleine Welt spielte mit Vorliebe »Kuckuck,
Erbelschluck !' Ja, der preussische Grenadier marschierte
nach ,Knusper, knusper Knäuschen, wer knuspert mir
am Häuschen ?' . . . Von Vollmar rief Bebel im Reichs-
tage zu: »Brüderchen, komm' tanz' mit mir!* — wäh-
rend gleichzeitig der sozialdemokratische Anhang sein
.Hunger ist der beste Koch' dazu johlte und dabei wie
Vater Besenbinder — sich gerne betrank. An allen Strassen-
ecken hörte man mit einem Male den Ruf erschallen :
, Kauft Besen! Gute Fegerl' Die bösen Antisemiten,
die davon häufig Gebrauch machten, fegten damit denn
auch kräftig: »Griesgram hinaus!' — wobei sie ein nicht
misszuverstehendes: ,G riesiges, grämliches Galgen-
gesicht, packe Dich, trolle Dich, schäbiger Wicht!' im
Chore summten. Graf Caprivi empfahl sich alsbald
unter den Rhythmen des Besenrittes auf Nimmerwieder-
sehen durch den Schornstein ; Konservative und Zentrum
beteten derweil in streng-gläubiger Haltung, aber wirt-
schaftlicher Unthätigkeit : ,Wo die Not am höchsten
steigt, Gottes Hilf die Hand mir reicht!'; Eugen
Richter sang noch gähnend sein »Abends will ich
schlafen geh'n' — während einige Spottvögel Herrn
Rickert »hänselten' mit einem spöttischen : ,Seht mir
doch den Heinrich an, wie der tanzen lernen kann!' —
und das ganze deutsche Volk tanzte darauf, wie von
einem bösen Alp befreit» den lustigen Ringelreihen der
wieder entzauberten Kuchenkinder unter dem christ-
lichen »Abendsegen' mit »Glück und Gloria'. Kurz, die
verschiedensten Richtungen des politischen Lebens trafen
hier in einem gemeinsamen Brenn-Punkte zusammen:
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Hansel und Gretel.
117
von einem Ende Deutschlands zum andern wurde
, Hansel und Gretel' gehört, gesungen und getanzt. u —
In Wirklichkeit dürfte Humperdinck mit diesem
Glückswurf in einer ähnlichen Stellung etwa zur vorauf
gegangenen Wagner-Periode sich befinden, wie sie seiner
Zeit C. M. v. Weber mit seinem „Schuss in's Schwarze14
zur unmittelbar voraus gehenden grossen Klassiker
Epoche eingenommen hat; und in der That ist diese
Parallele (die wir damit noch keineswegs bis zu dem mehr
hinkenden, als besonders geschmackvollen Vergleiche:
„Preziosa" — „ Königskinder " durchführen möchten),
wenn anders man sie erst genauer sich ausdenkt, eine
geradezu verblüffende. Man vergegenwärtige sich doch nur
folgende Beziehungen: I. 1791 „ Zauberflöte " bis 1805
„ Fidelio" — grosse und geniale, echt deutsche Meisterwerke :
darauf 1813 politisch nationale Wiedergeburt des deut-
schen Volkes und Befreiung vom französischen Joche;
1815 — 1848 Reaktion — Italianismo, Rossini-Kult ; an der
Berliner „Hofoper" der vom Hofe mit seinen Opern
protegierte Spontini — hier schlägt der »Freischütz"
ein! II. 1855—68 „Tristan", „Meistersinger", „Nibe-
lungen" — erhaben nationale Genie-Schöpfungen ; darauf
1870/71 deutsche Erhebung und politischer Sieg auf
allen Linien ; seit 1875 Reaktion — Verismo, Mascagnitis;
an der Berliner „Hofoper" die „Leoncavallerie" mit
„Roland von Berlin" — hier schlägt „Hänsel und
Gretel" eint Beide Male spähen die Leute aus und
warten immer auf eine, der nationalen Wiedergeburt
entsprechende, deren Konsequenzen erst noch ziehende
„deutsche Kunst", während sie schon lange unter ihnen
selbst erstanden ist, in den erfrischenden Tönen des
deutschen Liedes wie einer verjüngten, unmittelbar er-
greifenden Volksmelodie! . . .
Aber auch rein musikalisch lässt sich immerhin
sehr wohl verstehen, warum das Werk ein so breites
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Wagneriana. Bd. III.
Publikum finden konnte. Dass die Kinder ihre Welt
der Phantasien und der Träume, des Frohsinnes und
Tanzspieles darin wieder finden und auch die Alten mit
den Kindern wieder jung werden, ist noch lange nicht
das Wesentliche daran. Das Geheimnis liegt in den
Grundelementen der musikalischen Faktur und der
thematischen Textur des Ganzen. Die kleinen, har-
monisch ganz einfachen und leicht eingänglichen, an
Kinder- und Volkslieder wiederholt deutlich anklingenden
Motive — das sichert die melodiöse Eindrucksfähigkeit
auf ein grosses Laienpublikum, denn darin liegt die
durch ihre klare Plastizität gemeinverständliche, zugleich
wahrhaft volkstümliche Wirkung dieser Musik; die be-
wundernswerte und ein tonkünstlerisch hoch entwickeltes
(an die Meisterschaft der „ Meistersinger ** mehr als einmal
gemahnendes) Vermögen klar bekundende polyphon-
orchestrale Verwebung eben dieses leichteren Motiv-
materiales — das ist es, was durch unerschöpflichen
Phantasiereichtum und eine immer wieder frische,
lebendige Gestaltung auch den Kenner stets von Neuem
interessieren muss und selbst ein verwöhnteres Urteil
dauernd zu befriedigen vermag. Man sagt fast immer
(es ist geradezu eine stehende Redensart in unseren
zeitgenössischen Opernreferaten des Durchschnitts-
Urteiles geworden): „Der Komponist wandelt natürlich
die Spuren Wagners, ohne doch seine Selbständigkeit auf-
zugeben und sich dabei in blinder Parteigängerschaft zu
verlieren.** Das ist in der Regel sehr fehl geschossen.
Gerade darin nämlich, dass einer zunächst ganz seine
Eigenart aufgiebt, will sagen: je tiefer und innerlicher
sich heute ein Opern-Komponist in das Wagnerische Ideal
versenkt, desto mehr wird er befähigt werden, einen
besonderen Weg zu finden; einen, den Wagner zwar in
seiner künstlerischen Gesamterscheinung für denjenigen,
der sich ernster mit ihm befasst und genauer zusieht,
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Hansel und Gretel.
119
gewiesen, aber doch Kraft seiner individuellen grossen
Eigenart noch nicht selber beschritten hat. Auf dem
Wege der Wiedergeburt des deutschen Urmythos, wie ihn
Wagner beschritten, liegt mit unfehlbarer, logisch und
psychologisch geradewegs zwingender Notwendigkeit als
natürlichste Folge auch die Wiedergeburt des deutschen
Märchens. Auf dieser Linie, nicht aber auf der des
»kommandierten0 Roland von Berlin (denn — um mit
Frau Wette hier zu reden — „was nutzt der Kommandör,
fehlt euch im Topf die Zubehör?") dürfte sich also
zugleich der wahrhaftige, sichere Fortschritt und die
organische Entwicklung des deutschen Musikdrama's
überhaupt bewegen. So fand Engelbert Humperdinck
eben seinen Weg, das seinem Wesen und seiner
Natur unmittelbar Gemässe, nur als treuer Schüler und
überzeugungssicherer Jünger des Bayreuther Meisters;
und so werden diese „Hänsel und Gretel" in der That —
neben Schillings „Ingwelde" oder Strauss' „Guntram" —
eines der sichersten und beredtesten Zeugnisse von dem
Vorhandensein einer kräftig treibenden, produktiv wirk-
samen „Wagner-Schule" bleiben: das besteht als der Kern-
punkt ihrer völlig neuen Erscheinung. Zum Wagner'schen
„Musikdrama" grossen Stiles nimmt das Humperdinck' -
sehe „Märchenspiel" als Ganzes daher auch sehr stilvoll
genau die selbe Stellung ein, wie etwa das Märchen
vom Dornröschen zum Brünnhilden-Mythos. Ich kann
wenigstens nicht finden, dass — wie man wohl gesagt
hat — die Musik im Gegensatz zu ihrem Stoffe sich allzu
anspruchsvoll, unangemessen in's Grossartige strebend,
gebärde. Nur bei dem den Hexenritt charakterisierenden
Vorspiele zum II. Akt wollte mir vorübergehend ein
allzu hoch trabender Anklang (wie an den „Walküren-
Ritt") den Eindruck des „Schiessens nach Spatzen mit
Kanonenkugeln" gelegentlich erwecken, wogegen mir
gerade die Trompeten- und Posaunenfüllungen der Engels«
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120
Wagneriana. Bd. III.
Pantomime, die ich gelegentlich ihrer rein musikalischen
ersten Wiedergabe (durch Siegfried Wagner 1893 zu
Leipzig) noch als inkongruent bezeichnen zu sollen glaubte,
jetzt, bei szenischer Ausführung, gerade als das ent-
sprechend Feierliche und Erhabene erschienen. Im
Gegenteil, weit eher durfte man seine helle, kindische
Freude haben an dem skrupellos frischen Zugreifen des
Komponisten und dem gesunden Vermeiden jeder „qual-
vollen Wahl" selbst bei den einfachsten, simpelsten
Motiven, die samt und sonders in diesem Werke ein
Landen bei der Natur nach der vielfach seelenkranken
„Tristan"-Harmonik unserer Wagner-Epigonen bedeuten.
Namentlich der häufige, beherzt-kräftige Auftakt aus der
Quarte nach oben charakterisiert den bejahenden Kinder-
frohsinn bei unserem Tonmeister in anschaulichster
Weise, und ebenso erfrischend wirkt es, seine Musik
(bei sonst durchaus korrekter deutscher Deklamation) ohne
viel Federlesens für ihren Stoff eben lustig wieder Wort-
wiederholungen anwenden und in „Duette" unbedenklich
einmünden zu sehen. Man vergleiche zudem das reizende
Tanzliedchen „Mit den Füsschen tapp, tapp, tapp" etc.
mit dem Mascagni'schen Fuhrknechtslied: „Meine Rösslein
eilen schnell" — sprachlich, dichterisch und musikalisch 1
— und man wird den Unterschied zwischen dieser und
jener Kunst hoffentlich sehr bald begreifen. Das,
dieses tanzend anmutige „Alles geht am Schnürchen",
war's ja eben just auch, was schon vordem an Smetana so
sehr entzückt und geradezu wie Erquickung berührt hatte.
Freilich, das lässt sich auch zugleich hier sagen:
Das Werk hätte heute noch nicht die Runde auf unseren
deutschen Bühnen gemacht, wenn nicht einige nähere
Freunde seines Schöpfers, die an seinen Stern fest
glaubten, sich seiner mit Erstaufführungen angenommen
hätten. So aHein nur kamen die einschlagenden Auf-
fuhrungen von Weimar, München und Karlsruhe zunächst
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Hänsel und Grete!.
121
zu Stande; ohne sie würde die Partitur wohl noch heute,
ungelesen oder mit höflich dankender Ablehnung zurück-
geschickt, im Staube der Vergessenheit schlummern.
Denn, Hand auf's Herz: Welcher von unseren modernen
Dirigenten und blasierten Intendanzräten getraute sich,
von sich selber zu beschwören, dass er die Partitur, ohne
jenen äusseren Erfolg als ermutigenden Vorgänger, auf-
merksam durchgesehen und sich ihrer nach den toten
Schriftzeichen allein wohl schon angenommen hätte?
„Er trete vor!" Das Wahrscheinlichere wird ganz gewiss
dies sein, dass er das Buch schon beim dritten oder
vierten „Trallerallala" oder „ Hopsasa" mit einem ent-
rüsteten „Elende Kinderei! Und so etwas wagt man
heutzutage einer Hofbühne einzusenden!" auf Nimmer-
wiederlesen zugeklappt hätte. Ein Heil! aber dem Lande
und dem Volke, bei dem derartige tiefe Kindereien
doch noch „heimisch" sind! Und darum möchten wir
unserseits an dieserStelle ausdrücklich nicht unterlassen,
Herrn Hofrat S c h u c h mit Bezug auf die Temponahme
dieses Werkes das bekannte, ernste und gewichtige
Wort zuzurufen: „Es sei denn, ihr werdet wie die
Kinder, so könnet ihr in's Himmelreich nicht ein-
gehen!" „Hänsel und Gretel" sind halt doch kein,
„FalstaPf" — noch mehr „Ausatmen", weniger „Hätz"
wird also entschieden angebracht sein. Also nicht etwa
eine „geschlagene" Viertelstunde früher nach Hause
kommen wollen, wenn ich höflichst bitten darf! So
etwas, wie ein „deutscher Abendsegen'*, muss nun einmal
Atem haben, und die Welt eines sinnigen Kindertraums
will sich eben hübsch ausleben.
Das erste und wichtigste Ergebnis des so eigen-
artigen Werkchens für den heutigen Stand unserer
Kultur ist vor Allem dies, dass der deutsche (Brüder
Grimm'sche) „Märchen- und Hausschatz" — entgegen
einer von Berlin aus versuchten öden„ Versittlichung" dieses
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Wagneriana. Bd. III.
köstlichen Volksgutes — damit gerade zur rechten Zeit
wieder zu seinen vollen Ehren gekommen ist. Viel-
leicht Hesse sich noch mancher Einzelschatz aus ihm heben,
gar manche Perle aus ihm noch fassen, wenn nur das
rechte Kinder -Gemüt auch sich seiner bemächtigte.
Allerdings ist es hier bei der Umformung in ein dra-
matisches Märchenspiel nicht ohne mancherlei, meist
auf den Unterschied des Dramatischen und Epischen
zurück zu führende, Abweichungen hergegangen, und
die, einen ziemlich breiten Raum einnehmende, Drama-
tisierung der Hexenszene scheint dadurch sogar — nach
der übereinstimmenden Empfindung aller bisherigen Be-
urteiler — zur Achillesferse des Werkes leider geworden
zu sein. Dass Dichter und Komponist im Gegensatze zum
Schrecklichen und Gruseligen im Märchen dieser Figur
hier einen burlesken Charakter aufgeprägt haben, findet
vielleicht seine Rechtfertigung in jenem Optimismus,
der durch alle Märchen, auch ihre handelnden Gestalten
in keinem Augenblick verlassend, geht: dass das Gute
zuletzt doch siegen, das Licht die Nacht durchdringen
und der gesunde Witz aus der Schlappe schon wieder
heraus helfen werde. Dass ferner auf das Besenreiten
besonderer Nachdruck gelegt wird, hat ersichtlich tiefere
poetische Bedeutung und ja wohl einen beabsichtigten
inneren Zusammenhang damit, dass es gerade Besen-
binders-Kinder sind, denen dergleichen begegnet. Aber
doch ist etwas Ungewohntes, zu Breites und behaglich
Ausmalendes, sozusagen Selbstgefälliges, in der dra-
matischen Ausführung zurück geblieben, das sich weder
der Erwachsene noch das Kind so ganz assimilieren
kann. Dafür aber hat das dramatische Spiel nun wieder
etwas Bedeutsames als idealen Mittelpunkt, das man im
Märchen selbst vergeblich suchen würde, das aber so
sehr doch wieder aus dem Geiste dieses Märchens
heraus innig empfunden und sinnvoll nachgedichtet ist.
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Hänse) und Gretel
123
dass man sich nur wundern muss, wie noch niemand
bisher auf dergleichen hat kommen können: ich meine
den ganz unvergleichlich herrlichen „Abendsegen" mit den
vierzehn Engeln. Der ganze Zauber deutscher, tiefinnerer
Gemütswelt kommt über uns, wenn wir die beiden
Kleinen die Worte sagen hören: „Sandmännlein war da!
Lass' uns den Abendsegen beten!" Gott sei Lob und
Dank, endlich — nach langer Irrfahrt und Wirrsal wieder
einmal ein Werk, in dem dasjenige, was wir mit Stolz
die Ideale christlich-deutscher Nation nennen dürfen,
zum Ausdruck und Bekenntnis kommt! Ein ganzes
Schock italienischer Verismo-Opern wiegt uns diese
Thatsache ja allein schon auf.
Uber die vortreffliche Aufführung im Besonderen
nur ganz Weniges. Szenisch Hesse sich wohl ausstellen,
dass das Lebkuchenhaus nicht gleich zu Anfang im 3. Bilde
schon von ferne sichtbar und dass es nicht lieber nach
echt Nürnberger Lebkuchen-Art dunkelbraun angestrichen
war, was wahrscheinlich einen glaubwürdigeren Eindruck
gemacht hätte. Auch bezüglich des Arrangements der
Himmelsleiter gingen die Meinungen der Kenner, welche
das Werk anderen Ortes schon gesehen hatten, arg aus-
einander. Die Einen wünschten (nach Weimarer
Muster) Lilien für sämtliche Engel und die Verwandlung
in eine völlig exotische Blumen-Umgebung; Andere
wieder, welche eben von Dessau kamen, wo Frau
Wagner unlängst bekanntlich höchsteigen die Inszenierung
geleitet hatte: altertümliche Musikinstrumente für die
Engelschar, wie sie Hans Thoma auf dem Titelblatte
des Klav.- Auszuges abgebildet hat, und eine Anordnung
mehr nach altniederländischen Meisterbildern. Ich habe
nun keine dieser beiden Darstellungen bisher gesehen,
könnte aber auch nicht eben sagen, dass mir — nachdem
ich nur erst einmal den entschiedenen Eindruck ge-
wonnen hatte, dass hier nicht „Ballett getanzt", sondern
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Wagneriana. Bd. III
„Pantomime aufgeführt" werde — etwas Bedeutsames
abgegangen wäre, oder irgend etwas an der Dresdner
Wiedergabe ernstlich mich gestört hätte. Im Gegenteil,
ich fand sogar, dass man auch da von Bayreuth ganz,
im Allgemeinen mittlerweile doch recht viel gelernt hat.
Ob aber für die Charakteristik der Hexen szenen nicht
doch die Dessauer Regie-Anweisungen Frau Wagners
von Nutzen wären und die Absicht der beiden Autoren
noch klarer heraus stellen könnten, obwohl sich gegen
sie manche kritische Stimme der Presswelt wieder so
heftig spreizt, als ob damit ein kapitales Verbrechen
begangen wäre — das ist doch noch gar sehr die Frage.
Allein nicht diese, sondern eine Frage an die Autoren
selber drängt sich mir hierbei ganz unwillkürlich
noch auf. In dem Grimmischen Märchen, das dem
Drama zu Grunde liegt, heisst es nämlich so lustig am
Ende: »Die Geschichte habe ich von einer kleinen Maus,
und wer sie fängt, darf sich eine grosse, grosse Pelz-
kappe daraus machen !a Warum wohl haben die Ver-
fasser dieses reizende Motivchen nicht ihrerseits noch
ausgebeutet und dem sinnigen Spiele nicht einen anderen,
in Sächsischer Manier derartig epilogisiererden, treu-
herzigen Abschluss gegeben? Das wäre fürwahr ein
drolliges Ende, in seiner Art ebenso urdeutsch em-
pfunden, durchaus nur im Stile des »Märchens* gehalten
und zumal seit dem Hans Sachs -Jubiläum, Holger
Drachmanns »Es war einmal u oder selbst dem „Bajazzos-
Ausgang sogar höchst „zeitgemäss" gewesen — mit
wenig Worten hätte es den ganzen Opernaufwand und
Theaterzauber zuletzt rasch wieder ausdrücklichst in
ein luftig Märchengespinst vor der lebendigen Kinder-
phantasie nun aufgelöst! —
Ich komme zum Schlüsse. Es war im Sommer 1890,
als ich mit Eng. Humperdinck zufällig in Weimar zu-
sammen traf und mit ihm der Erstaufführung des von
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Hinsel und Gretel. 125
ihm so reizvoll bearbeiteten „Ehernen Pferdes" von
Auber anwohnte, über welche ich an ein Wiener Fach-
blatt damals zu berichten hatte. Tags darauf fuhren
wir noch eine Strecke zusammen auf der Thüringer
Eisenbahn, und hier war es, wo er — mich mit Nach-
druck auf das Büchlein aufmerksam machend — den
bei Reclam eben erschienenen „Rückblick auf das Jahr
2000" aus der Tasche zog. Damals war er noch nicht
der viel gepriesene Schöpfer von „Hinsel und Gretel".
Aber heute: Humperdincks „Märchenspiel" und Bei-
lamy's „Zukunftsstaat" — sollte Meister Humperdinck
nicht doch das bessere Teil ergriffen haben?
Und wieder, nach mehreren Jahren, sah und hörte
ich das reizvolle, allerliebste „Märchenspiel". Freilich,
zu Anfang sass ich da in meinem Fauteuil mit der ent-
schiedensten Empfindung, dass die Vorführung des
Werkes, wie anderwärts, auch hier zu Lande, doch schon
ziemlich herunter gekommen sei; und ich konnte mich
des Eindruckes nicht ganz erwehren, dass die dramatische
Deutlichkeit, statt mit der Zeit besser zu werden, durch
das viele Abspielen der Oper zum Mindesten nicht
gewonnen habe. Aber schon gar bald war dieses Gefühl
doch wieder überwunden, und das Ganze übte seinen
alten, intensiven Zauber, just wie ehedem, wiederum
auf mich aus. Je tiefer wir mit den Kindern in den
Wald der Romantik und des Märchenspukes eindrangen,
desto stärker war die bekannte, heimlich - vertraute
Wirkung auf Phantasie und Gemüt auch an uns zu er-
proben. Und als dann vollends hinter der alten, häss-
lichen Waldhexe die schwere Ofenklappe zufiel, da
fühlten Manche wohl mit uns, dass hier sogar eine künst-
lerische Aufgabe — gelöst war, die wir im Hinblick
auf ihre scheinbar widerstrebende Unausführbarkeit als
eine Art von Ober- und Missgriff des Geschmackes —
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126
Wagneriana. Bd. III
gestehen wir es nur ganz offen! — Meister Humpes-
dinck im Grunde unseres Herzens von Anbeginn an
doch immer so einigermassen verübelt hatten. Und
das Zauberwort? Frl. Charlotte Huhn als „Waldhexe«!
Schon ihr erstes Auftreten (nach der Verwandlung
im 3. Akte) erregte durch das charakteristisch ver-
wegene Kostüm und die vorzügliche Maske die all-
gemeinste Sensation im Zuschauerraum — und je weiter
nun die Handlung Fortschritt, desto mächtiger wurde
man auch in den dämonischen Bannkreis dieser über-
ragend-individuellen Gestaltung mit hinein gezogen.
Das war selbst für die „Alten" stellenweise so recht
zum Gruseln — ganz und gar nicht mehr nur die
„Burleske'4, und es ging hier ganz ebenso, wie mit der
Mime -Verkörperung im Wagnerischen „Siegfried" es
von jeher gegangen: so lange das Hässliche vom Dar-
steller nicht beherzt bis zum äussersten Punkte verfolgt
und energisch als solches mit dem „Wagner" auch
gewagt wird, kann eine glaubwürdige Leistung, eine
kongeniale Wahrnehmung der Intentionen des Dichters
und Komponisten nicht gut erzielt werden. Die meisten
Vertreterinnen dieses scheinbar so undankbaren Faches
fassen die betreffende Partie entweder mehr unter
„Selbstverleugnung", allzu zimperlich an, oder gerade-
wegs läppisch nach der ausschliesslich komischen Seite
hin auf; oder aber, wenn sie schon mutig in's Hässliche
herein gehen, dann versäumen sie so leicht noch das
geniale — ich möchte fast sagen: dionysisch-diabolische
Element an jener so heiklen Rolle. Hielt nun freilich
mit solcher durchgreifenden Schärfe der mimischen
Charakteristik hier leider nicht völlig gleichen Schritt
auch der gesangliche Teil (der überhaupt im vorliegenden
Fall der Stimmlage erhebliche, schon mehr physische
als rein technische Schwierigkeiten zu bereiten schien),
so blieb das Ganze in seinem durchaus „persönlichen"-
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Hänsel und Gretel.
127
Impuls und der bewundernswürdig realistischen Aus-
feilung jener „unheimlichen" Figur in echt künstlerischem
Geiste doch so entschieden überzeugend, dass der
Schöpfer des Werkes selbst wohl sehr zufrieden zu
solcher verständnisvollen und hinreissenden Wiedergabe
seinen Beifall genickt hätte. Ja, der groteske, tolle
Besenritt hat wohl noch nie diese packende Stimmung
der Hexenmusik gehabt und wohl kaum schon anderswo
auf offener Szene solch' spontanen Applaus, wie diesmal,
davon getragen. „Dem Verdienste seine Kronen" —
zumal, wenn es sich, wie hier, auch noch selbstlos in
den Dienst kollegialen Gemeinsinnes gestellt hat und von
ihm die Goethe'sche Forderung als erfüllt gelten darf:
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!"*) Wer daran
bis heute noch gezweifelt haben sollte, dass sich die
Dresdner Hofbühne in der Künstlerin und Sängerin
Charlotte Huhn eine durch und durch vornehm denkende
Natur von hochherziger Gesinnung gewonnen hat, dem
mussten hierbei, oder vielmehr schon bei der ersten
Nachricht von ihrer bereitwilligen Übernahme der Rolle,,
diese Zweifel schwinden. Desto schnöder also, wenn
dieses lady-like Verhalten dem wahrlich nicht un-
verdienten „Hoftheatersingechor" trotzdem noch —
sieben leere Parquetreihen und eine Anzahl recht be-
denklich hohler Logen eingetragen hatte! Wie kann man
aber auch solche Benefizvorstellungen in die Sommers-,,
statt in die Weihnachtszeit verweisen?! . . .
„Dem Verdienste seine Kronen!" Auch Engelbert
Humperdinck kann der Lorbeerkranz für dieses
herrliche Meisterwerk an Melodieenfülle, gemütvoller
Herzlichkeit und harmonisch - ästhetischer Abrundung
*) „Zum Besten des Pensionsfonds für die Mitglieder des
Hof theater-S i ngechors* mit Frl. Charlotte Huhn zum
ersten Male als „Knusperhexe* ... so stand an jenem Abend
auf dem Theaterzettel zu lesen.
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Wagnerian*. Bd. III.
(ich erinnere nur daran, wie der grosse, unvergesslich
schöne „Abendsegen" das Ganze bedeutsam einleitet,
in der Mitte sich ausbreitet und zum Schlüsse wieder
bekräftigend ausklingt) nicht oft genug auf's anspruchs-
los-bescheidene Haupt gedrückt werden. Eben dieses
prachtige und ganz unvergleichliche Motiv (des „Abend-
segens") ist und bleibt eine geradezu köstliche Eingebung
— mag der Komponist sich sonst auch mitunter in seiner
musikalischen Ausdrucksform an andere Vorbilder an-
gelehnt haben. Und es ist immer wieder ein besonderer,
reicher „Segen" ganz für sich, dass dieses ideale,
klassische Werk in unserer Zeit geschrieben, unserem
deutschen Volke geschenkt wurde. Seien die Einwürfe
ob der stellenweise wohl etwas unkindlich-massigen
Polyphonie und der mitunter schon ganz hoch gehenden
Wogen der Chromatik mit ihrer, die Singstimme oft zu-
deckenden, modernen Instrumentation — seien sie auch
für da und dort berechtigt, sie sind doch alle nachgerade
schon trivial und abgethan; selbst wenn man sie un-
bedingt rückhaltlos teilen wollte, man könnte Humper-
dinck darob, angesichts solch' hoher Verdienste wie
z. B. des oben gemeinten, gewiss nicht ernstlich gram
mehr werden. Was sein Werk immerdar so unendlich
liebenswürdig und — ja, hier ist das Wort ganz an
seinem Platze! — so unsäglich deutsch im engsten,
trautesten Heimatssinne macht, es ist die ergreifende
Thatsache: dass es aus dem Hausgeiste der deutschen .
Familie — wie der „Abendsegen" aus spezifisch evan-
gelischer Religionsübung — organisch heraus gewachsen
ist, und dass endlich wieder einmal Einer den Mut
gehabt hat, diese kindliche Volksseele selber zum Reden,
germanisches Wesen unverfälscht zu reinem Erklingen,
Leid und Freud aus seinem eigenen trauten „Puppen-
heim" in poetischer Verklärung zu wahrem, teils kernig
heiterem, teils wahrhaft innigem Ausdrucke zu bringen.
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Hansel und Gretel.
129
Wahrlich, gegenüber diesem reizvollen „Märchenspiel"
von „Hansel und Gretel" bedeutet eine Ballettfarce wie
der neueste Heuberger-Leon'sche „Struwelpeter" genau
dieselbe undeutsche Karikatur, wie sich schon ehedem der
Goldmark'sche „Merlin" als missverstandenes Zerrbild
des Wagner'schen „Parsifal" unserem unbestechlichen
Empfinden dargestellt hatte. Wie hier dem „reinen
Thoren" und göttlichen Erlöser der „Teufelssohn" als
Zauberer gegenüber stand, so tritt dort, beim „Struwel-
peter*', absurder Höllenspuk und burlesker Satans-
spektakel dem idealen Engelreich und seiner hellen,
azurblauen Himmelssphäre (in „Hansel und Gretel")
albern genug entgegen. Und nun gar erst vom „Heimchen
am Herd" eines Goldmark nicht zu reden!
Auch das ist wohl noch als ein ganz einzigartiger
Vorzug an unserer Humperdinck-Wette'schen Schöpfung
zu rühmen, und es bedeutet sogar die bemerkenswerte
Wiedergewinnung einer Kultur-Einheit und Seelen-
harmonie menschlichen Grund wesens : Eltern wie Kinder,
alle unblasierten Altersstufen ohne Ausnahme, erfreuen
und erheben sich gleicher Weise und zu gleicher Zeit
an dem schönen Wunderwerke und strömen, im gleichen,
herzlichen Gefühle einer phantasievollen Anteilnahme,
froh in hellen Scharen heute zu ihm herbei. Ein echtes
„Singespiel", zwingt es durch (Rede) Gesang, Darstellung
undTanz — vom einfachen Volks-Tanzliede bis zur grossen,
ausgedehnten „Pantomime" — wie in den Urzeiten des
Menschenseins, da der Kulturträger noch kein in seiner
Totalität, will sagen in seinem organischen Naturkern,
gespaltenes Wesen war, diesen zu einer zwanglosen, von
Herzen einfältigen Einheit wieder zusammen. Solche
Dreiheit aber, von Fühlen, Denken und Handeln: sie
ergiebt erst den ganzen, vollen, wahren, gesunden und auch
— glücklichen Menschen. Das vor Allem wollten wir hier
gesagt haben.
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 9
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Der Evangelimann
„Musikalisches Schauspiel" in zwei Abteilungen und drei Auf-
zügen; Dichtung und Musik von Wilhelm Kienzl.
(1896)
„Selig sind, die Verfolgung leiden
Um der Gerechtigkeit willen,
Denn ihrer ist das Himmelreich!4*
— diese Verse, aus dem die „Mode" wieder „bindenden",
idealen Geiste der Musik heraus an die christliche
„Menschheit" gerichtet: könnten sie nicht eine gar ein-
dringliche, bedeutsame Mahnung sein in einer Zeit, da
es zur Anschauung massgebender Kreise, ja, zum guten
Tone sogar gehört, seinen Widersacher im Zweikampfe
gelegentlich nach einem Ehrenkodex niederzuschiessen,
welcher an grauer Mittelalterlichkeit den dunklen Hexen-
prozessen und alten Inquisitionstorturen nichts nach-
zugeben scheint? Wie man sich im Besonderen zu
einem solchen Rufe stellen wird, das wird zuletzt ja
immer auf den „persönlichen" Standpunkt eines jeden
Einzelnen und den subjektiven Glauben an die ehrliche
Meinung des Rufers ankommen müssen; ob man die
Mahnung hören oder als Stimme eines „Predigers in der
Wüste" fruchtlos verhallen lassen will, stets davon ab-
hängen, ob man die zweite Abteilung dieses merk-
würdigen „musikalischen Schauspiels" in solchem Sinne
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Der Evangelimann.
131
auffassen mag oder aber von vornherein der Ansicht
ist, dass heut zu Tage mit dem Christentum etwas zu
sehr spazieren gegangen und zu wenig innerlich mit
seiner gemütsbildenden, die Sitten reinigenden und den
Geist zum Ideal erziehenden Kraft sich befasst wird.
Ist doch schliesslich auch nicht zu verkennen, dass auf
dem Acker der Wagnerianischen Kulturbebauung nach-
gerade die Zahl der Komponisten Legion geworden ist,
die als „Erlösungs"-Dramatiker nicht nur das Erlösungs-
motiv, aus dem natürlichen Bedürfnisse nach Neuem, zu
den unmöglichsten Varianten schon zugespitzt haben,
sondern auch ihr dramaturgisches Vermögen zur ver-
söhnenden „Lösung" eines Handlungskonflikts häufig
mit dem . billigen Schusterfleck einer höchst zweifels-
würdigen „Erlösung4' recht äusserlich nur zu überkleben
wissen. Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit
Worten ein System bereiten, an Worte lässt sich trefflich
glauben, von einem Wort kein Jota rauben — und so
hat der noch wenig definierte Begriff „Seelendrama" in
neuerer Zeit eine nahezu unheimliche Ausdehnung schon
gewonnen; denn eben, wo Begriffe fehlen — da stellt
ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Gehen wir gerade und ehrlich gleich auf den eigent-
lichen Brennpunkt in unserer Frage los: Man empfangt
aus dem Werke in der That Wirkungen, denen man sich
bei vorurteilsloser und gewissenhafter Prüfung seiner
Gefühle nicht wird verschliessen können; aber es sträubt
sich doch wiederholt ein Etwas in uns, sie als solche,
genauer gesprochen: als ästhetische, für voll anzuer-
kennen. Kurz und deutlich gesprochen — die Formel
muss lauten: Ist die Neuheit sittlich ergreifend, oder
aber nur stofflich packend — rührend oder doch nur
rührselig? That w tlu question! Auf Rührung ist es
ja ganz ohne Zweifel zuletzt hier abgesehen; denn eine
tragisch-erhabene Katharsis liegt meilenfern von diesem,
gm
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132
Wagneriana. Bd. III.
nach der „Morithat" beliebter Strassen - Bänkelsänger
und nach dem Kriminalroman unserer volkskundigen
Kolportageschriftsteller gleich sehr schmeckenden Stoffe.
Dennoch möchte ich an die erste re Wirkung von
beiden aus meiner persönlichen Kenntnis der Natur
unseres Komponisten unbedingt wohl glauben und daher,
indem ich zugleich auf den süddeutschen, speziell öster-
reichischen, Kern in seiner Naturanlage zurück gehe,
entgegen den bereits recht laut gewordenen ab-
fälligen Stimmen aus Berlin, Wien, Hamburg, Leipzig
und Köln, wieder mehr zu seinen Gunsten liebend gerne
hier gesprochen haben. Fast als ein Axiom darf man es ja
aufstellen, dass sein „Evangelimann* (schon der
stark Wienerische Titel klingt für das nordische Ohr so
fremd wie nur irgend möglich!), je südlicher aufgeführt
in deutschen Landen, auch desto mehr Verständnis, ein
um so wärmeres Nachempfinden und nur um so herz-
licheren Enthusiasmus für seine Art finden werde. Und
selbst, wer zu der merkwürdig unmotivierten und zu-
sammenhangslosen Dramaturgie des Textbuches mit
seiner auseinander fallenden, unverknoteten und un-
gesteigerten Episodik, seinen Unwahrscheinlichkeiten
und Brutalitäten, seiner zum Teil sehr ungeschickten
Rollenführung, samt den quälerisch langen Aufklärungs-
monologen, vom streng kritischen Standpunkt aus un-
willig den Kopf schütteln sollte, wird doch wieder milder
darüber urteilen lernen, wenn er sich bei Zeiten daran
erinnert, dass diese lockere Bühnentechnik in losen
„Abteilungen" oder „Charakterbildern", selbst mit dem
unvermeidlichen „30 Jahre später", „1 Tag nachher41 etc.
— dieses oberflächlichere Post also, an Stelle eines tiefer
bohrenden, die Handlung mehr verschlingenden Propter
und dergl. mehr, ein ganz spezifisches Merkmal eben
der süddeutschen Dichtung und des Wiener Volksstückes
(vgl. Anzengruber !) bildet; ja, wohl auf den, der Reflexion
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Der Evangelimann.
133
und geistigen Arbeit nach zwar bequemeren, dem Gemüt
und Herzen nach aber auch ungleich blutwärmeren,
österreichischen Volkscharakter selber letzten Endes
organisch zurückzuführen sein dürfte.
Ich kenne den Komponisten nun schon seit nahezu
14 Jahren und glaube deshalb an dieser Stelle darauf
hinweisen zu sollen, dass er just in diesem Sinne ein
echtes Oesterreicher Kind, eine durch und durch naive,
frisch empfängliche und flott zugreifende, jedenfalls
hoch begabte, aber auch leicht übersprudelnde Natur ist,
deren liebenswürdige Seite stets die bona ßdes bei all
ihren Mitteln und Absichten bleibt, mag man auch öfter
wünschen können, dass er noch wählerischer dabei ver-
fahren möchte. Keine Frage, er ist Eklektiker vom
reinsten Wasser; aber er ist es der Anlage, nicht der
Gesinnung nach. Und wenn man auf anderer Seite so
gerne hämisch hervor hebt, dass er in den Partituren
Anderer vortrefflich zu lesen verstehe, so darf man
doch niemals ganz übersehen, dass alle diese Anklänge
und Anleihen bei ihm auch das „stets gefunden, nie
gesucht" nirgends verleugnen können — nach unserem
Dafürhalten immer noch ein ganz erklecklicher Unter-
schied! So hat er meines Erachtens auch nicht Sen-
sationen gewollt, noch niedrige Popularitätshascherei
absichtsvoll betrieben (wie ihm von verschiedenen Seiten
mit zähem Misswollen vorgeworfen wird), sondern ihn
selbst ist dieser Schauspiel- Vorwurf in der That im
eigenen, von Grund aus guten Herzen tief „rührend"
eines Tages angekommen. Ist er ja doch auch darin voll
gesunder Gutmütigkeit, dass er völlig skrupellos und
ohne Skepsis schafft, sich offenbar nicht genügend klar
machend, wo eben der Dichter — dieses, nach der
Erzählung von Meissner noch stark stofflich gebliebene,
Element künstlerisch umbildend — nunmehr erst
produktiv einzusetzen gehabt hätte. All die vielen Dinge,
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134
— —
Wagneriana. Bd. III.
wie Glockenläuten, Choralsingen, Kegelschieben, Mond-
schein, Feuersbrünste, Walzer, Drehorgel, Kinderreigen
und was dergleichen mehr noch in der Oper stecken
mag — er bietet es nicht als feilen „Effekt", aus
schnöder Gefallsucht und mit Rücksicht auf das liebe
Publikum, um „jedem etwas zu bringen", sondern aus
eigener, reiner, kindlicher Freude an diesen hübschen
Dingen, an denen er sich in seiner lauteren Herzens-
einfalt und munteren Schaffensfröhlichkeit selber bass
ergötzt, im Innersten lebendig davon überzeugt, dass
dieses „Xon mtdtum, *ed multa« ganz prächtig wirken
müsse, auch Anderen just denselben heiligen Ernst
einflössen, dieselbe hoch fliegende Begeisterung wecken
und das gleiche temperamentvolle Vergnügen, wie ihm
selber, bereiten werde.
Wilhelm Kienzl ist den Dresdnern (schon seit
seiner „Urvasi") längst kein Fremder mehr. Auch in
München hat einige Jahre darauf seine Oper „Heilmar
der Narr" gerechtes Aufsehen erregt, und es ist bei
dieser Gelegenheit namentlich seine auffallende Be-
fähigung zu humoristischen Volksszenen warm anerkannt
worden — wie er denn überhaupt seit Jahren als ein
viel versprechendes Talent und eine durchaus beachtens-
werte Sonder- Erscheinung innerhalb der Wagner- Be-
wegung in allen eingeweihten Kreisen galt. Aber einen,
solch offenkundiger Begabung entsprechenden, breiteren
Bühnenerfolg davon zu tragen, sollte ihm bis jetzt leider
noch nicht gelingen. Um so mehr darf man ihm diese
volle und durchgreifende Wirkung seines „Evangelimannes"
persönlich von ganzem Herzen gönnen, die doch wohl
keinem Zweifel mehr unterliegt, wenn wir erfahren, dass
Leipzig und Dresden in dieser Woche die 33. bezw. 34.
Bühne waren, welche das Werk heraus brachten. Höchstens
wird man gleichzeitig bedauern dürfen, dass er gerade
diesen Erfolg nicht in seiner Eigenschaft als Wagner-
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Der Evangelimann
—
135
Jünger, sondern, genau besehen, auf ganz anderen Wegen
eingeheimst hat. Freilich, er selbst beteuert es uns, dass
er sich niemals als einen besseren und überzeugteren
Wagnerianer gefühlt hätte, als da er dieses „musikalische
Schauspiel" geschrieben. Aber es scheint mir doch :
hier geht es ähnlich wie mit dem streng juristischen
Rechtsbegriff, der so Manchem, der subjektiv von der
Richtigkeit seiner Anschauung und Rechtlichkeit seiner
Handlungsweise völlig eingenommen sein mag, mittels
objektiven Rechtsverfahrens vom Öffentlich urteilenden
Schiedsrichter erst nachgewiesen und beigebracht werden
muss. Ein getreuer Schüler seines Bayreuther Meisters
war Kienzl allerdings, und hier unbedingt, in der korrekten
guten Deklamation — da merkt man den praktischen
„Dr. der Musik", den geistvollen Verfasser der in Wien
zur Promotion zugelassenen, grundlegenden Abhandlung
über „Die musikalische Deklamation" ganz beträchtlich,
und das ist gewiss ein bedeutsamer, nicht zu unter-
schätzender, ihn auch weit über die Kumpanei etwa der
Zöllner-Grammann-Goldmark hinaus hebender Vorzug an
seinem Werke, der ihn doch auch vor einer Verquickung
seines Namens mit der seligen „Nessleriade" (wie jüngst
geschehen) für alle Zeiten schützen sollte. Sodann blieb
er noch gut Wagnerisch in der sinfonischen Behandlung
des Orchesters, sowohl hinsichtlich der Gesangsbegleitung,
wie auch durch eine ganze Reihe recht bedeutungsvoll
eingreifender instrumentaler Zwischenspiele mit und ohne
Solo-Pantomime (nach dem Vorbilde etwa der Beck-
messer-Mimik in den „Meistersingern", 3. Akt am Anf.).
Und endlich hielt er sich in Wagner'schen Bahnen, wie
wir ihm ausdrücklich bestätigen dürfen, auch durch
sorgfältige Wahrung des Stiles, so weit er die tech-
nische Vertikale: die stäte, genaueste Überein-
stimmung zwischen der musikalischen Plastizität der
unten erklingenden Instrumentalphrase und dem szeni-
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136
Wagneriana. Bd. III.
sehen Bild oder der dramatischen Aktion oben auf der
Bühne — betrifft. Meines Bedünkens absolut Un-
wagnerisch aber (und zwar im Nerv verfehlt und im
Kerne hier das musikdramatisebe Problem als solches ver-
kennend) war die leidige, allzu aufdringlich doch an
Leoncavallo's „Heut schöpfet der Dichter kühn aus dem
wirklichen Leben schaurige Wahrheit" erinnernde und
für eine musikalische Einkleidung in ihrer engen Phi-
listrosität und Sagenlosigkeit geradezu monströs-aktuelle
Stoffwahl; ferner noch die an Stelle der erstrebten
„schaurigen Wahrheit" daraus nun wieder resultierende
schaudervolle Disharmonie im Format und Charakter,
welche zu einer Tischglocke und einer Kaffeekanne auf
dem Zimmer-Öfchen „Nibelungen"-Posaunen setzt und
ein „Tristan"-Orchester los lässt; sowie in Sonderheit
die horizontale Stillosigkeit, welche thatsächlich für
jedes gebildete Ohr objektiv greifbar, einen Mischmasch
aus Wagner (vom „Tannhäuser*' bis zum „Parsifal"),
Schumann, Marschner, Jensen, Beethoven, Mendelssohn,
Lortzing, Lanner, Zöllner, Goldmark — selbst Gounod
und italienischer Verismo sind nicht ganz ausgeschlossen!
— kunterbunt zusammen braut. Eine erstaunlich saftige
Instrumentation von ausgeprägtestem Klangsinne, farben-
satter, reich belebter Harmoniewechsel und eine un-
gemein warme (wenn auch nicht immer ganz vornehme)
Melodik sind dagegen wieder die anderen, nicht letzten
noch geringsten Vorzüge seiner blühenden, nie ver-
legenen und auch niemals versagenden Schreibweise.
W i e „dankbar" Kienzl zu schreiben und die Singstimmen
namentlich zu setzen versteht, das zeigte sich in wahr-
haft erstaunlicher Weise (wie schon an Miss Walker in
Wien)an derMagdalenaunsererheimischenAltistin Fräulein
Fröhlich, welche Dame aus einem im Verborgenen
blühenden Veilchen hier auf einmal zu glanzvollster Stimm*
entfaltung heraus trat und zu einer hoch ansehnlichen
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Der Evangelimann
137
Sangesgrösse vor unseren Ohren heran wuchs. Hielte
mit dieser Natürlichkeit des Ausdruckes und solcher
populären Frische bei Kienzl auch immer der Geschmack
gleichen Schritt, sein besseres Ich wäre dann vor einer
Fadaise wie dem ganz unglaublich banalen, später leider
noch breiteste motivische Bedeutung gewinnenden Liede
„O schöne Jugend tage" zuversichtlich bewahrt geblieben.
Vielleicht, wenn es ihm gelänge, das ernste, solide
Wagnertum mit der heiteren, leichteren Linie der Nicolai,
Lortzing und Marschner zur volkstümlich komischen
Oper nach ihrer edleren Seite, ohne alle sentimentale
Regung, glücklich zu vereinen — er wäre der rechte
Mann der Zeit für die Belebung unseres Musikdrama's.
Item: wir wollen noch Besseres von ihm erhoffen! . . .
Die von auffallend viel österreichischen Physiog-
nomieen bevölkerte Aufführung verlief — Dank vor
Allem der schauspielerischen Grösse der beiden Brüder
und Hauptdarsteller: Scheidemantel (Johannes) und
Anthes (Matthias) — überaus erfolgreich für den per-
sönlich anwesenden Komponisten. Generaldirektor
Schuch schwang mit regem Eifer und ersichtlich lands-
männischer Liebe für das Werk sein Szepter, das Or-
chester spielte mit vielem Schwung und hinreissendem
Klangzauber. Auch die Regie des Herrn 0 berhorst
war den Intentionen des Dichters im Allgemeinen auf-
merksamst nachgefolgt; nur bei dem Mondaufgang trieb
sie mit den astronomischen Gesetzen ein allzu haltlos
und verwegen Spiel. Schon nach der Kegelszene in
der 1., aber auch wieder nach dem Liede der Magda-
lena, den Kinderepisoden mit dem Evangelimann u. A. in
der 2. Abteilung, Hess sich der laute Beifall bei offener
Szene nicht mehr halten: nach jedem Aufzuge wurde
Kienzl mit den Darstellern ungezählte Male heraus-
gerufen. Kurz, der glückliche Dichterkomponist kann
sich mit uns zur Dresdner Aufführung wahrlich gratu-
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138 Wagneriana. Bd. III.
Heren, die sicher eine der allerbesten ist, die man im
weiten Deutschen Reich und auf den über 100 Bühnen,
die das Stück nun bereits angenommen haben, finden
kann — vor Allem, wenn man den Nachdruck auf seine
Bezeichnung „musikalisches Schauspiel" und den da-
durch gegebenen Sonder- „Stil" beherzt einmal legen
will.
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Vorschau — oder Rückblick?
Betrachtungen über drei Textbücher
(189596)
Die Dichtung zur neuesten, die bekannte Nock-
Sage zum Hintergrund nehmenden und ein altes, uraltes
Glocken-Motiv verarbeitenden Oper von Hans Sommer
ist mir soeben zu Händen gekommen. Kein Zweifel,
dass wir hier echten und rechten „Bayreuther Geist" vom
Besten darin wieder erkennen, bürgt doch schon der
Name des Dichters Hans von Wol zogen selbst für
solche unbedingte Voraussetzung. Aber doch möchten
wir glauben, als ob es jetzt im Grunde weniger auf
eine blosse Erhaltung und weltscheue, ernst -innige
Hegung jenes heiligen Grals-Geistes, als vielmehr auf
seine nach aussen drängende, die Welt als Sauerstoff
kraftig durchdringende, produktive Ein- und Fort-
führung nach den einzelnen Nebenzweigen hin, die darum
noch keine absterbenden zu sein brauchen, im Wesentlichen
ankomme. Nach dieser Richtung hin scheint aber der
Text — so, wie wir ihn ohne Musik hier erkennen —
unsere Hoffnungen allerdings nur in beschränktem Masse
erfüllen zu wollen. Vor Allem kann an ihm ehrlich
bedauert werden, dass sein Verfasser bezügl. einer klaren
Plastik oft selbst der kompliziertesten Verhältnisse und
dramaturgischen Beziehungen, in denen gerade der
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140
Wagneriana. Bd. III.
„ Meister* so gross war, noch zu wenig dem von Wagner
gegebenen Vorbilde gefolgt ist und hierdurch die vielen,
aus dem grundmusikalischen Stoffe selbst geschöpften,
reichen poetischen Schönheiten des Werkes durch ein
mystisches, gar sehr der gelehrten Anmerkungen am
Schlüsse erst noch bedürfendes (weil verworrenes und allzu
symbolisches) Wesen um ihre eigenste Bühnenwirkung
leider gebracht hat. An und für sich wäre freilich die
kleinere lyrische Form, im Hinblick sowohl auf die
besondere Begabung des Komponisten wie auch seines
Textdichters, als eine sehr glückliche Wahl zu begrüssen ;
in dieser etwas gesuchten und subtilen, schon durch
die zahlreichen gesperrten Drucke allzu „bedeutsam"
gemeinten Fassung, voller Neigung zu sublimen Geheim-
nissen, bedeutet sie im letzten Grunde aber doch nur
sozusagen jenes fatale „tote Geleise", den unfruchtbaren
Konservatismus und eine Vergangenheit der Wagner-
bewegung, welcher gegenüber nur der frischere linke Flügel,
aus dem Neuen heraus, wieder produktiv werden kann und
für ein lebensvolles Werden den fruchtbaren Boden be-
reitet, damit aber auch die „Zukunft" verbürgt. Wie wollten
wir doch, dass wir bei vorliegendem Musikdrama nicht
Recht behielten; indessen bleibt der Eindruck zuletzt
doch im Vordergrunde stehen: Sie erleben sie nicht,
diese Dichtungen und Werke — sie machen und be-
arbeiten sie nur, als nach ihrem Sinn geeignete
(musikdramatische) Stoffe, unsere Dichter nämlich und
ihre Komponisten 1 —
Auch ein anderes „Textbuch" liegt mir vor, eines
aus Felix Weingartners Feder, das sogar die
Allüren eines philosophischen Lebens -Bekenntnisses
annimmt und die Ambitionen einer grossen, umfassenden
„Weltdichtung" zugleich verfolgt. In seiner Broschüre
„Über das Dirigieren", mit welcher der Verfasser ganz
besonders sauren Wein in seinem Garten kürzlich
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Vorschau — oder Rückblick?
141
angebaut, hat Felix, der fleissige Arbeiter im Weinberge
seines Herrn und Meisters Richard Wagner, bekanntlich
das bitterböse Apercu von den „Tempo rubato"~D\r\-
genten gegen seine Zeitgenossen geschleudert. Wie nun,
wenn wir — ebenso lustig und boshaft — den Spiess
umkehren und zur fröhlichen Abwechslung einmal auch
behaupten wollten: von den Herren „Philosophie-
Dirigenten und -Komponisten", die ihren Bay-
reuther Meister missverständlicher Weise immer dahin
noch fiberbieten zu müssen vermeinen, dass sie nebenher
in profund theoretisierenden Broschüren-Exkursen sich
ergehen — von ihnen datiere das eigentliche Unheil in
unserer „modernen" Musikentwicklung her? Kein Zweifel,
das wäre, so allgemein ausgesprochen, von uns sehr
ungerecht verfahren; wir ständen aber dann zugleich
mitten in jener erwähnten anderen Schrift des Herrn
Kapellmeisters, einem ganz abstrusen Ding, das — gleich-
falls in Broschürenform (Kiel, bei Lipsius und Tischer)
— schon geraume Zeit vor obiger Dirigenten-Abhandlung
erschienen war und sich benamset (mit einem etwas gar
ungelenken Titel): „Die Lehre von der Wieder-
geburt und das musikalische Drama, nebst
dem Entwurf eines Mysteriums Die Erlösun gu.
Das dreiteilige „Erlösungs-Mysterium": „Kain" —
, Jesus von Nazareth" — „Ahasverus" (wobei Kain eine
Art indischer Wiedergeburt bis zur Erlösung Ahasvers
erlebt) — alle Achtung zunächst vor der Idee, dem hohen
Streben und dem ernsten Wollen, wenngleich es uns die
christliche Heilslehre noch zu sehr mit dem semitischen
Erbe zu verquicken scheint und, nachdem schon einmal
ein R. Wagner aus Gründen an dem Problem vorbei ge-
gangen ist: Christus persönlich zum theatralischen Mittel-
punkt eines Drama's zu machen, zum Mindesten als ein
sehr gewagtes Unterfangen uns vorkommen will. Auch
das Bedürfnis, sich durch Veröffentlichung des Entwurfes
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142
Wagneriana. Bd. III.
die Priorität des Stoffes etc. zu sichern, kann man recht
wohl begreifen, und belustigend wirkte auf den, welcher
den „Palestrina"- Komponisten Prof. M. E. Sachs in
München genauer kennt, ganz gewisslich der Eifer, mit
welchem der Genannte in einer öffentlichen Erklärung
dieses „Recht der Erstgeburt" für eine eigene sieben-
teilige (I) Dichtung gleichartigen Inhaltes: „Kains Schuld
und ihre Sühne" in Anspruch zu nehmen, so ängstlich
bedacht war. Aber wozu, so fragen wir, nur erst den
langwierigen, in Philosophie dilettierenden Unterbau?
Wozu dieses Repetitorium aus Schopenhauer und Wagner
zusammen, das sich mit Ausnahme ganz weniger eigener
Pointen und verschwindend geringer (übrigens auch
durchaus nicht immer richtiger) Korrekturen fremder An-
sichten in seiner oft geradezu ergreifenden Sicherheit, mit
welcher die dunkelsten prähistorischen Epochen hier auf-
gehellt und ganz apodiktisch als so und so vom Ver-
fasser entwickelt werden, wie eine lahme Rekapitulation
aus alten Kollegheften von seiner Zeit einmal gehörten
geschichts- und kunstphilosophischen Vorlesungen liest
— nur eben so ganz und gar nicht wie etwas Selbständiges,
und das für die künstlerische Wirkung, die musik-
dramatische Bedeutung des Erlösungsdrama's unter allen
Umständen ziemlich belanglos bleibt? Warum — wozu?
Hinter dieses esoterische Privat-Geheimnis Wein-
gartners sind wir wirklich bis zur Stunde noch nicht
gekommen! Und zudem liegt etwas so unendlich Flaches
über diesen gesamten Ausführungen, dass man sogar
auch die entsprechende Resonanz für solch' bescheidene
Philosophie- Versuche in einem ernsteren, tieferen Lebens-
hintergrunde beim Verfasser allenfalls wohl vergeblich
suchen würde. Auf S. 91 wild uns da z. B. als wahre
Sensation und als das reine Weltwunder, noch dazu mit
Sperrdruck, die Neuigkeit zu kund, dass „die Erscheinung
des (!) Jesus von Nazareth der Wendepunkt in der meta-
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Vorschau - oder Rückblick?
143
physischen Geschichte des Menschengeschlechtes sei".
Wir fragen aber: Welcher rechtschaffene Christenmensch,
Wagner- und Schopenhauerianer, hätte das nicht schon
langst weit besser gewusst, was ihm hier mit trocken-
systematischer Logik in langweilig-abstrakter Gelehrten-
Darlegung von unserem Dichter-Komponisten wie eine
allerneueste philosophische Entdeckung offenbart wird?
Dass damit überhaupt gar nichts Besonderes gesagt
ist, dass diese Ideen in der Luft liegen und auch ohne
unseres genialen Dirigenten minder geniale Denkarbeit
zu Stande kommen, weil sie eben von grösseren
Denkern schon seit geraumer, sehr geraumer Zeit als
höchste Weisheit aus dem dunklen Born des Lebens
geschöpft und aus tiefsten Gemütsschachten des
denkenden Geistes zu Tage gefördert worden sind,
das mag Herrn Weingartner — ausser allenfalls
H. St. Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts",
ja selbst Fr. Nietzsche's „Antichrist" — gerade jetzt
wieder die gross angelegte und auch in der Form
eigenartig-selbständige (wennschon nicht, wie ihr eigener
Verfasser meint, absolut neue) Menschheits-Tetralogie
„Der Kampf des Prometheus": 1. Tag Prometheus;
2. Maria; 3. Christus; 4. Kreuzigung — lebendig zur
Oberzeugung bringen, welche unter den soeben er-
schienenen „Allegorischen Dramen" von Christian
von Ehrenfels (Wien 1805, bei Karl Konegen) mit
Recht die „dominierende Stellung" einnimmt und schier
die Frage nahe legt, ob sich der Komponist Weingartner
mit dem nach einem kongenialen Vertoner ausspähenden
Dichter von Ehrenfels zu gemeinsamem Thun nicht am
Ende lieber künstlerisch vereinigen sollte. Die geistige
Priorität — das kann ich Weingartner auf Ehrenwort
versichern — steht bei dem Letztgenannten ausser
allem Zweifel; denn schon im Jahre 1880 habe ich
dieses vierteilige, tiefsinnig-gehaltvolle Chormysterium,
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144
Wagneriana. Bd. III.
dessen Manuskript mir damals auf dem Wege der
Vermittlung zufällig in die Hände kam, mit eigenen
Augen gelesen. Auch ungleich arischer will mir —
trotz hebräischer Reminiszenzen noch darinnen — diese
Dichtung schliesslich erscheinen Dank dem hellenischen
Blut, das in ihren Adern und den Adern ihrer grossen
Hauptgestalten ganz unverkennbar rollt. Aber freilich,
die semitische Lieblings-Figur Kain und so etwas wie
die Leit-Idee der „Wiedergeburt" müsste Weingartner
grossherzig dann preiszugeben vermögen, indessen
könnte dadurch vielleicht auch wieder dem Manne
M. E. Sachs endgültig geholfen werden.
Christian von Ehrenfels' „Prometheus0 -Drama hat
etwas von der mythisch weit schauenden, viel sagenden
und gehaltreich-bedeutsamen Art jener hoch ragenden
Menschheits-Dramen, Geistes- und Weltdichtungen aller
Litteraturen, aller Zeiten und aller Nationen in sich, an
deren Hand ich vor einigen Jahren (vgl. „Wagneriana"
Bd. II, S. 41 ff.) mein persönliches Ideal einer Gemüts-
kultur, einer künstlerisch-ästhetischen Geistesbildung
in Sonderheit für den angehenden Tonschöpfer und Ton-
poeten, entwickelt habe, und ich bin noch jetzt durchaus
davon durchdrungen: würden unsere Musiker an unseren
offiziellen Konservatorien und Musikakademien in diesem
tieferen Sinne geistig geweckt und musikalisch wirklich
„erzogen" werden, so würde auch der Dichter v. Ehren-
fels heute nicht so krampfhaft nach einem Tonsetzer
für seine ideelle Handlung erst zu suchen haben. (Er
scheint ihn neuerdings — 1900 — in Otto Taubmann,
dem Schöpfer der „Deutschen Messe" in Berlin, ge-
funden zu haben; aber auch E. Klose, Ph. Wolfrum,
Fr. Volbach, selbst Hans Pfitzner und M. Schillings
wären vielleicht die geeigneten Männer dazu — seine
Leute.) v. Ehrenfels verfolgt nämlich grundsätzlich diese
Idee neuer „allegorischer Dramen" (auch „Chor-Dramen"
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Vorschau oder Rückbück?
145
geheissen) und hat nicht nur ausser dem genannten Haupt-
und Mittelstuck eine ganze Reihe anderer, meist
kleinerer Dramendichtungen von ähnlicher Art in jenem
(ziemlich umfangreichen) Buche veröffentlicht, sondern
auch in einer besonderen Prosa-Abhandlung sich mit
eingehender theoretischer Begründung noch näher über
die von ihm angestrebte, vermeintlich ganz „neue Form"
ausgelassen, in der er dem Chore (der im Rücken des
Zuschauers, gleichsam als der „idealisierte Zuschauer" ge-
dacht, an der Handlung, unter Orgelbegleitung erzählend,
reflektierend, deutend, eingreifend Teil nimmt) eine
Stellung anweist, welche ebenso organisch auf den
antiken Chor der griechischen Tragödie, den katholischen
Kult, das mittelalterliche Mysterienspiel und die
Bach'sche „Passion" zurück weist, als sie auf der anderen
Seite zugleich wieder als eine natürliche historische
Fortbildung der Schiller'schen Chor-Idee und des
R. Wagnerischen Orchester-Gedankens sich zu erkennen
giebt. Nicht alles erscheint ja hier in praxi gleich gut
gelungen oder auch nur ausführbar wie jenes schon
zu Eingang erwähnte grosse, vierteilige „Prometheus"-
Gedicht; von den kürzeren Dramen dieses Bandes
möchten wir zur Befassung und Aneignung für
Komponisten eigentlich nur „Sängerweihe" und „Bruno"
ernstlich noch empfohlen haben. Und dabei möchten wir
uns sogar erlauben, diese Dichtungen (ungeachtet aller
angelegentlichen Einwände und Beweise des Herrn Ver-
fassers dagegen) statt als „allegorische" als „symbolische"
— wohlgemerkt, nicht symbolistische! — mit vollstem
Bewusstsein dennoch zu bezeichnen. Allein, wenn
Chr. v. Ehrenfels (von dessen selbst gedichtetem und
komponiertem Musikdrama der „Schönen Melusine"
ich übrigens schon Mitte der achtziger Jahre in einem
Wiener Fachblatte las) auch gar nichts Anderes als nur
diese eine Idee des gewaltigen Prometheus-Mythos, in
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 10
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146
Wagneriana. Bd. III.
dieser seiner ebenso eigenartigen wie beziehungsreichen
Synthese jenes uralten Titanenkampfes mit Christi
leidensvoller Erdenmission, der Welt mitzuteilen gehabt
hätte — zumal jetzt, da eben eines Nietzsche „Anti-
christ" die Augen der ganzen Welt auF dieses Problem
mächtig wieder hingelenkt hat: — das dickleibige Buch
wäre auch dann wahrlich nicht umsonst geschrieben
noch gedruckt gewesen.
Alle Diskussion über ihre praktisch-künstlerische
Ausführbarkeit geht jedoch völlig in's Blaue hinein, so
lange nicht die reale szenische Aufführung den Prüf-
stein und Massstab dazu abgeben kann, ebenso wie
die Beurteilung des Weingartner'schen Entwurfes sich
nicht nach seinen philosophischen Exkursionen zu
richten haben, sondern einzig und allein von der seiner-
zeitigen, dichterisch-musikalischen Ausgestaltung durch-
aus abhängig sich erweisen wird. Und wenn nun sie Alle
— Weingartner, v. Ehrenfels und doch wahrscheinlich
auch M. E. Sachs (es ist der reine Sport schon bald!)
— ein „eigenes, besonders eingerichtetes Bühnenhaus"
für ihre Projekte in Anspruch nehmen zu müssen
glauben, so hätten wir hier den unmassgeblichen Vor-
schlag zur Güte zu machen: „Lasst Rubinstein, der ja
ähnliche Anwandlungen hatte, immerhin hübsch ausser-
halb — der mag für seinen Opern-,Christus< meinet-
wegen einen Tempel Mosis ganz allein für sich und
seines Gleichen aufrichten : aber Ihr Alle thut Euch desto
verträglicher nun doch zusammen, denn Ihr habt dann
nicht nur weit gegründetere Aussicht, es wirklich zu einer
Aufführung auch zu bringen und Eure grösseren oder
kleineren »Mysterien* einmal von der Bühne herab
persönlich erschauen zu dürfen; das ganze Vorhaben
wird sich zuversichtlich so auch weit eher, künstlerisch
und materiell, belohnen! Je mehr, desto besser." Der
passende Aufführungsplatz, der natürliche Ort für diese
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Vorschau - oder Rückblick?
147
Art von dramatischen Darstellungen wäre ja ohnedies
bereits vorhanden: in dem Wormser Festspielhause,
das zu derartigen Versuchen wie geschaffen erscheint
und nur seinem edleren, ursprünglichen Zwecke, dem es
schmählich entfremdet worden, wieder zugeführt zu
werden brauchte. H i c Rhodus, h i c salta — und darum
also: „Frisch drauf, an's Werk und solchem allein ver-
nünftigen Ziele zu!"
Nur freilich, über Eines müsstet Ihr Euch zuvor
vollends klar geworden sein: Neue leuchtende Zu-
kunfts-Fixsterne werdet und seid Ihr darum allein noch
nicht, und als geniale Pfadfinder dürft Ihr Euch wohl
kaum schon fühlen; lediglich der rückschauende
Geist eines soliden und vornehmen „Epigonentums" hinab-
gegangener Meisterperiode lebt und wirkt in Euch — von
ihr bekamt Ihr, gleich Planeten, Euer Licht; Ihr baut
— oder am Ende gar : beutet ? — zuletzt doch nur aus,
variiert und vollendet, was eine genial die Zeiten über-
ragende Kultur-Erscheinung wie R. Wagner vorahnend
erschaut und an auszuwirkenden Anregungen da und
dort nebenher noch in seinem Werke hinterlassen, an-
gedeutet oder ausgestreut hat. Man wird Euch dereinst
— wie Ihr selbst schon heute von Nach-Wagner'schen
,,7emj>0-rufcito-Dirigenten" sprecht und man vielleicht
gar bald schon von „Philosophie-Kapellmeistern" wird
reden müssen — die „Festspiel- und Erlösungs-Kom-
ponisten" vom rechten Flügel der nach und nach ver-
sandenden „Wagner-Schule" voraussichtlich nennen.
Ein Richard Wagner wird hier zum (geistigen) S c h 1 u s s -
stein der Epoche. Ich aber lobe mir nun einmal den
radikalen linken Flügel jeder geistigen Bewegung und
rufe daher nun aufrüttelnd laut: „Es lebe die Zukunft
— dem Fortschritt eine Gasse!"
10*
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Genesius
Oper in 3 Aufzügen; Dichtung (nach H. Herrig) und Musik
von Felix Weingartner
(1899)
„Ich danke Ihnen sehr, meine Herren, für die Auf»
merksam keit, die Sie meinem Werke gewidmet haben,
und darf hieraus vielleicht entnehmen, dass ich doch
nicht so ganz talentlos sein muss, wie man mich in
Berlin seinerzeit verschrieen hat!" — Mit diesen Worten
etwa schloss der sein Werk an der Weimarer Hofbühne
selbst leitende Komponist, Hofkapellmeister Wein-
gartner, die Hauptprobe zum „Genesius-. . . . Wie,
hören wir recht? Darnach könnte also auch ein Max
Schillings am Ende „doch nicht so ganz talentlos" sein,
wie ihn Herr Weingartner selber zu Berlin jüngst gemacht
hat, als er dessen „Zwiegespräch" für kleines Orchester
schon nach der Hauptprobe zum Konzerte der kgl. Hof-
kapelle dort einfach vom Programm absetzte, nachdem
ein p. t. hohes Publikum sein ausdrückliches Missfallen
daran bekundet hatte! Sei's drum! Wir wollen jedenfalls
diese alte Streitaxt heute nicht wieder hervor holen,
gedenken wir doch unserseits dem Dichter-Komponisten
Weingartner in aller Form Gerechtigkeit wider-
fahren zu lassen, wie er sie als Künstler denn auch in
vollem Masse für sich in Anspruch nehmen darf.
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Genesius.
149
Weimar hat, seiner alten Tradition getreu, wieder
einmal eine Ehrenschuld eingelöst, die — noch un-
gerochen, jedoch beinahe schon verjährt — bis auf den
heurigen Tag (d. h. den 26. Februar) gar laut zum
Himmel schrie. Ich kann wirklich nicht umhin, den
werten Herren Kollegen an der Spree, mit denen ich
sonst ja nicht so übel stehe, eine recht grimmige Maske
diesmal vorzuhalten ob ihres sonderbaren Verhaltens
vom Jahre 1802 einem solchen, doch wahrlich nicht
belanglosen Werke gegenüber — dem beredten Zeug-
nisse einer reichen und entschiedenen Bühnen-Begabung.
Das „Recht auf Aufführung" steht bei einer solch wirk-
samen Schöpfung jedenfalls ganz ausser allem Zweifel, wo
doch „Bärenhäuter" im edlem „Wettestreit" einen „pas
des detus" durch die deutsche Presse tanzen und der eine
davon — wie man sagt: von nicht eben schlechten Eltern
— anmutig sogar schon über die ersten deutschen Opern-
bühnen jongliert! Als diese Neuheit noch „Neuheit* war,
d.h. da „Genesius" (vor nicht ganz 7 Jahren ca.) zu Berlin
an der Hofoper — deren Kapelle damals der Komponist
als Theater-Kapellmeister leitete — ihre Uraufführung er-
lebte, wurden in der Reichshauptstadt zahlreiche Kalauer
emsigst kolportiert, ungefähr im Stile des folgenden:
„Denken Sie sich doch nurl Gähnt mir da schon in der
zweiten Aufführung ein vollkommen leeres Haus ent-
gegen ..." So sollte der entrüstete Weingartner einem
seiner Berliner Bekannten erzählt, dieser aber, nicht
faul, in bekannter Schnodderigkeit ihm darauf erwidert
haben: „Da seien Sie doch froh, lieber Freund, dass es
wenigstens kein volles Haus gewesen ist!" Wir wieder-
holen dergleichen an dieser Stelle nicht, um nunmehr, da
wir das Werk kennen gelernt haben, auch unseren „Witz"
schnöde an ihm auszulassen; sondern vielmehr, um an
einem sehr drastischen, aber keineswegs etwa unplausiblen
Beispiele zu zeigen, welcher Kampfesmittel man sich
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150
Wagneriana. Bd. III
damals in der weder schönen noch besonders würdigen
Kampagne gegen die Oper bedient hatte, die den Dichter-
komponisten alsbald nach der zweiten Aufführung schon
zur völligen Zurückziehung des Werkes vom Spielplane
bekanntlich veranlasste. Man mag die Angelegenheit
denn auch drehen und wenden, wie man will, man mag
sachlich sehr Erhebliches gegen Drama und Musik von
Weingartner vorzubringen haben — und auch w i r
haben so manches daran auszusetzen: schon die spater
so erfolgreiche Mannheimer Vorführung des genannten
Musikdrama's hätte die Vorurteilslosen stutzig machen
können. Und mochte man selbst diese nur erst als
einen „Schwiegervater-Erfolg" gelten lassen (ist ja der
Vater der Gemahlin des Komponisten Verleger des
dortigen „General- Anzeiger") — die jetzige glänzende
Weimarer Rehabilitation hat endgültig eines Besseren
uns Alle vom Bau belehren müssen. Die Form der Berliner
Ablehnung, die ganze brüskierende Art der Zurück-
weisung einer Schöpfung ihres eigenen Hofkapellmeisters
Seitens der Berliner bleibt durch nichts zu rechtfertigen;
sie ist fast schon ein gelinder Skandal zu nennen und bildet
ein dunkles Blatt unserer reichshauptstädtischen Theater-
geschichte, wie so manches andere mehr, auf dem
dortigen, so kritischen Boden aus den letzten Jahren ! . . .
Das alles besagt aber nun, wie betont, noch lange
nicht, dass man dem Schaffen Weingartners völlig
kritiklos gegenüber zu stehen habe. Wir wollen darum
auch gleich die Probe auf's Exempel machen und hoffen,
dem Dichterkomponisten trotzdem mit allen gebührenden
Ehren gerecht werden zu dürfen.
Weingartners kompositorische Begabung, sein rein
musikalisches Können hat uns von jeher die grösste
Hochachtung abgerungen. Er besitzt, bei aller (oft
etwas zu eklatanten) Nach folger- Anlehnung an grössere
Vorgänger, doch selbständig für sich ein gutes melo-
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Genesius.
151
disches Vermögen, viel feinen Sinn für aparte Harmonik
und eine feine Instrumentationskunde, die nicht selten
Wirkungen von grossem Reiz hervor zu bringen weiss,
wie wir sie uns kaum erinnern, irgendwo vorher gehört
zu haben. Auch in diesem „Genesius" sind namentlich
die beiden ersten Akte, sowie ein Teil des dritten, reich
an mancherlei interessanten Episoden, frappanten Einzel-
heiten und z. B. auch hervorragend schönen Chorpartieen.
Wir denken da gleich an den ungemein stimmungs-
vollen Eingang des Ganzen mit dem anziehenden Bilde
der ernsten Religionsversammlung erster Christen;
weiterhin an Pelagia's Erzählung, dem eine so eigenartige
motivische Einkleidung im Orchester zu Grunde liegt;
sodann an die fesselnde Überleitungsmusik nach dem
Fallen des Zwischenvorhanges; die gewagten, schneidend
dissonierenden Trompetenfanfaren bei Ankündigung des
Caesars Diokletian; das bedeutsam erfrischende Auftreten
der Strassen Sängerin Claudia mit ihrem dramatisch so
hinreissenden, musikalisch schlechthin unvergesslichen
Leibliede; die packende, weil deklamatorisch überaus ein-
dringliche Aussprache zwischen Pelagia und dem Kaiser;
die farbenreich anmutigen, belebt wechselvollen und
ausserordentlich charakteristischen Szenen des Nymphen-,
Satyrn- und Grazien- „Schauspiels im Schauspiel", unter
welchem einige entzückende Frauenchöre erklingen, die
den Eindruck erwecken, als ob sie vom Komponisten
aus den schönen, tiefdunklen Augen seiner liebreizenden
jungen Gattin direkt abgelesen sein könnten; endlich
noch ausser dem (allerdings etwas konventionell Wagneri -
gierenden) Vorspiele zum dritten Akt, aus diesem selbst
wieder die düstere Liebesbeichte der Claudia. — Darum
aber werden doch gewisse gesuchte Melismen seiner
Gesangspartieen, selbst bei Öfterem Anhören, noch nicht
weniger nichtssagend -widerhaarig erscheinen; trotzdem
bleibt das Kapitel der allzu zahlreichen Anklänge und
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Wagneriana. Bd. III.
(wenn auch unbewussten) Entlehnungen doch als ein im
Grunde heikles bestehen, und wirkt leider überdies noch die
Charakteristik der Hauptpersonen weder besonders klar,
noch einheitlich genug — zumal durch die oft allzu
raschen, widerspruchsvollen Sinneswandlungen einzelner,
die Handlung tragender Figuren. Stellen wir aber dann
vollends noch die „hochnotpeinliche Gewissensfrage":
„Haben wir es bei unserem Werke mit einer Original -
Schöpfung an sich zu thun?" — ja, dann steht uns aller-
dings das Epigonentum an Weingartner grundsätzlich ausser
allem Zweifel. Schon die ganze leitmotivische Gestaltung
könnte etwas mehr Eigennote aufweisen. Indessen auch
sonst, ganz im Allgemeinen, ist der Komponist genau
genommen mehr eine Begabung mit hervorragendem
Können, welche die Goldprägung aus der Währung
anderer Machthaber in landläufig gangbare Scheidemünze
meisterlich umzusetzen versteht und darum vielleicht
auch dem grösseren Publikum als gewandter und wohl-
beschlagener Vermittler (man denke nur auch an seine viel-
seitige Thätigkeit als Komponist und Dichter, Dirigent,
Schriftsteller und kritischer Redner) ungleich näher als
so mancher geniale „Neutöner" zu stehen kommt. Unter
allen Umständen also scheint uns doch das Makler-Talent
im Komponisten Weingartner die produktive Phantasie
bei ihm ganz entschieden zu überwiegen. Und dass diese
Epimetheus- Physiognomie einer gewissen, weitläufigen
Durchschnittsbegabung in dem sonst so gern und freudig
anerkannten, ebenso reichen als reifen Talente auch hier,
beim „Genesius", immer wieder verräterisch hindurch
blickt, das zeigt uns vollends eine Trivialität, wie die-
jenige in den Versen auf S. 50 f. seines Textbuches:
„Gar not thut es in unsrer Zeit,
Was schön sich zeigt, zu preisen laut,
Da vieles Hässliche ich heut
Auf meiner Tagesfahrt erschaut4*,
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Genesius.
153
als welche fast schon wie ein Motto zu Weingartners
eigener Lebensanschauung für unser Ohr nun „resonieren*
will. Wie sagt doch auch Bungerts „Odysseus" un-
entwegt? —
„Das Schöne und Gute siegt!" . . .
Ein Vergleich mit seinen Zeitgenossen wird das
alles noch deutlicher erweisen; ja geradezu akut wird jene
»kritische Frage-, so bald wir Weingartner mit den
engeren „Kollegen im Wettbewerb um das moderne
Musikdrama" konfrontieren — wie es denn in der That
von grösstem Interesse sein müsste, die drei ominösen
G auf diesem mehr heiklen als heiligen Gebiete:
„Genesius", „Gernot* und „Guntram4* unter einander
einmal zu analysieren und in gemeinsamem Vergleiche
auf ihren besonderen Wert und Gehalt tiefgründiger zu
untersuchen. Auch die „Ingwelde" gehörte ja wohl mit
hierher — und allenfalls sogar noch der allerneueste
„Bärenhäuter" „d la rruxle WaynJrienne", dafern es nur
überhaupt erlaubt ist, zu vergleichen, was sich genau
genommen doch nicht mehr gut vergleichen lässt. Da
waltete denn also nicht der geringste Zweifel ob, dass der
„Genesius" zwar unbedingt die einzige von allen diesen
Erscheinungen der musikdramatischen „Wagner-Schule*
ist, die es zu einer derartigen, im theatralischen
Sinne packenden Bühnenwirksamkeit ge-
bracht hat — keiner von allen Nebenbuhlern erreicht,
geschweige denn übertrifft ihn nämlich an äusserer
Wirkung. Den romantisch- verschwommenen „Gemot"
d'Alberts, mit seinem im Grunde doch etwas un-
gereimten Mischmasch: einer Mollusk-Kombination aus
Wagner und Brahms, überragt „Genesius" noch ins-
besondere durch seinen kräftigeren, plastischen Knochen-
bau und mit seiner schlagfertigen Zugkraft, zum Mindesten
in der ersten grösseren Hälfte. Aber „Ingwelde" übertrifft
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Wagneriana. Bd. III.
ihn nach unserem Gefühl denn doch schon an blendender,
moderner Farbenmischung, so sehr auch sie noch als
ein idealer Nachklang lediglich der Wagnerischen Abend-
röte gelten darf. Und nun gar gegen den Strauss'schen
„Guntram" gehalten, muss der „Genesius" wohl oder
übel dann wohl zurück treten, je mehr jener nämlich in
frei erfundener Fabel als ein tiefinneres, ureigen-persön-
liches Erlebnis (mit dem Vorstosse zugleich einer
„modernen" Weltanschauung und deren angemessen
genialer Neutönung) sich zu erkennen giebt. Vor
Allem: „Welche Weltanschauung spricht sich aus?" —
das ist die gewichtige Frage, die hier überall wie ein
strenges „Wer da?" ertönt und alles heute aus diesem
Revier ernst und gewissenhaft auf Herz und Nieren prüft.
Da kann Weingartner Strauss und selbst Schillings-Sporck
gegenüber doch gar nicht mehr anders, als den Kürzeren
zu ziehen, so gern auf der anderen Seite immer wieder
zu bekennen bleibt, dass Strauss selber es noch nicht
zur völligen Emanzipation vom verbrauchten Ideale
der „Erlösungsoper" gebracht hat, vielmehr mit einem
Fusse gleichsam noch in der Schopenhauerei als solcher
stecken geblieben ist. War Dieser also, genau betrachtet,
auch für einen „Zwitter" verantwortlich geworden —
der Zwitter ward im „Genesius" wahrlich um nichts
geringer; im Gegenteil, er stellt sich um so peinlicher
am Schlüsse ein, als er zu Gunsten einer konventionellen
Reaktion und der reaktionären Konvenienz einer schalen
Theater-Christenei hier ausgefallen ist, die wir bereits
aus Meyerbeers „Hugenotten" und „Propheten" mehr
als zur Genüge kennen.
Als mir ein Weimarer Musiker beim gemeinsamen
Verlassen der Hauptprobe des „Genesius" kopfschüttelnd
äusserte: „Das ist mir aus dem Schlüsse vollkommen
klar geworden — mit dem Christentum ist auf der
Bühne heut nichts mehr zu machen!". ..als mir
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Genesius.
155
dieses Bekenntnis einer schönen, auch Opern kom-
ponierenden Seele zu Teil wurde, konnte ich zwar nicht
eben widersprechen, mich aber doch auch zugleich eines
stillen Lächelns nicht erwehren. Du lieber Himmel,
braucht das ja doch nicht gerade das Christentum,
sondern könnte es schliesslich auch jenes leere, her-
kömmlich dekorative Stück der längst abgegriffenen Begriffe
nur mehr sein, ohne dass der Kern damit irgendwie
schon berührt wäre — dieses „Christentum", mit welchem
auf den Brettern, welche die Welt und zuweilen auch
eine „Weltanschauung" bedeuten, heute schlechterdings
„nichts Rechtes mehr anzufangen" sein soll! Aber
nein, die Sache liegt noch tiefer, wenn wir am Verlaufe
der ganzen, zuversichtlich nicht unbedeutenden Handlung
in der That bemerken, wie ein eitel Textbuch-Christen-
tum der Coulissen-Schablone und der bengalischen Be-
leuchtung in unserer Oper sich breit macht, das zur
hellenisch -römischen Antike etwa so steht wie der
leichthin absprechende, weil zuverlässig nur darauf ein-
gepaukte, „grüne" Konfirmand zum so genannten „grauen
Heidentume",von dessen indischer und egyptischerKultur-
grösse, oder gar dionysisch-apollinischer Lebenstragweite
er ja noch keinerlei blasse Ahnung hat; oder aber zu den
finsteren, „falschgläubigen und irregeführten" Bruder-Kon-
fessionen und Ketzer-Sekten, die er eigentlich doch nur
vom Hörensagen kennt. Und nicht viel anders verhält es
sich hier zugleich wieder mit der Musik, so bald man sie
nach ihrem Charakter im Ganzen und nicht nach ihren
Einzelheiten, von denen wir schon lobend gesprochen,
einmal zu fassen sucht. Da ertönt z. B. zu einer
Blumenschmückung junger Römerinnen im 2. Akt eine
ungemein reizvolle, liebliche Weise von Frauenstimmen
— aber, aber: das passt ja zu Stil und Schnitt der
leicht geschürzten Gewänder an den schönen Sängerinnen,
vor Allem zu dem lebensechten, sprühend-charakteristi-
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Wagneriana. Bd. III.
sehen Kostüm der im Mittelpunkte der Handlung stehenden
„Strassen Sängerin" Claudia, genau so gut, wie etwa —
Mendelssohns „Antigone" -Chöre zum sophokleischen
Urbild und Originaldrama gepasst haben würden! Ich kann
versichern, dass ich ein recht eigentümliches Gefühl zu
überwinden hatte, als ich — der ich unter Tags im
„Nietzsche -Archiv" droben anhaltend mit der (be-
kanntlich ein tiefgründiges Weltbild entrollenden) »Geburt
der Tragödie- beschäftigt war — in der Generalprobe
wie in der Aufführung diese „antiken* Vorgänge da oben
auf der Bühne mit jener „umwertenden" Weltbetrachtung
in Vergleich zog, von welcher ich soeben erst aufgeblickt
hatte. Wie eine Spätlingsfrucht, welcher die Fatalität eines
viel zu spät kommenden Nachzüglers an der Stime ge-
schrieben steht, wollte mir alsdann erscheinen, was sich
hier vor meinen Augen ebenso disharmonisch abspielte,
als theatralisch überaus kontrastreich entwickelte. Und
ich muss gestehen, dass ich mir persönlich von Wein-
gartners künstlerischer Zukunft zuversichtlich auch weit
mehr versprechen würde, wenn er, statt: seiner „Er-
lösung" nach der sehr alten „Lehre von der Wieder-
geburt" eine doch immerhin fragwürdige „Priorität"
des Gedankens eifersüchtig zu wahren, lieber die ganz
neue Zarathustra-Idee der „Ewigen Wiederkunft des
Gleichen" in einem tiefsinnigen „Weltmysterium"
seinerseits verarbeiten und für eine moderne, wahrhaft
dionysisch-musikalische Ausgestaltung zu monumentaler
Form erst einmal bezwingen wollte. — Im Übrigen sage
ich das aber beileibe nicht, weil ich am Nietzsche-Archiv
neuerdings Mitarbeiter geworden bin und diese „offizielle"
Meinung nunmehr vor aller Welt vertreten zu müssen
glaube; sondern mit Verlaub, weil ich in meiner eigenen
geistigen Entwicklung vor geraumer Zeit schon bei der-
artigen Gesichtspunkten und ihren Konsequenzen ganz
naturgemäss angelangt war, eben darum hatte ich
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Genesius.
157
jenem „Nietzsche- Archiv" und seinen fördersamen philo-
sophischen Arbeiten meine Dienste begeistert auf Zeit
zur Verfügung gestellt.
Eben deshalb auch Hesse sich der Gedanke unter Be-
dauern hier wohl mit erörtern, ob dieses neue musikalische
„Erlösungs-Drama", infolge jener (Berliner) Verzögerung
seiner Wirkung um volle sieben Jahre, nunmehr nicht
schon etwas zu spät auf uns gekommen, d. h. um seine
beste, die eigentlich beabsichtigte Wirkung gar gebracht
worden sei. Wenigstens lässt sich nicht eben behaupten,
dass diesem „Wein" die unverschuldet lange Lagerung
besonders trefflich bekommen habe. Etwas Spätgeborenes
hängt dem Werke nun einmal ersichtlich an, posthume
Luft weht uns Modernen heute aus ihm leider entgegen.
Man darf halt doch nicht ganz vergessen, dass in den
Jahren zwischen seiner ersten und dieser Weimarer
Aufführung einerseits ein Schisma in der „Wagner-Frage"
eingetreten ist, diese Bewegung seither in einen kon-
servierenden rechten und einen sezessionistischen linken
Flügel sich vor aller Welt gespalten hat; wie anderer-
seits Friedrich Nietzsche's „Antichrist" mit seiner un-
ergründlich tiefen Psychologie des „Priesters" in der
breiteren Öffentlichkeit mittlerweile auch noch erscheinen
sollte. Das sind und bleiben Kultur-Thatsachen
unserer Tage, mit denen jeder schaffende Geist sich
auseinanderzusetzen hat, denen sich auch ein Dichter-
Komponist wie We ingart ner auf die Dauer kaum ganz
wird entziehen können. Wohlgemerkt und ausdrücklich
wiederholt: ich sage damit nicht, dass das Christentum
etwa abgewirtschaftet und damit schon aufgehört hätte,
zu existieren; es fällt meinem Geschmacke nicht im
Geringsten bei, die Bedeutung dieser hohen Weltreligion,
ihre Macht auf die Gemüter, selbst für die Zukunft
noch, frivol und dreist zu leugnen. Indessen, ein
scharf kritisiertes, zum Problem gewordenes
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158
Wagneriana. Bd. III.
Christentum sieht notwendiger Weise anders aus, als
ein herkömmlich-übernommenes der alten Kirchen-
Dogmati k und Historientradition; nach einem solchen
Marksteine müssen die in Frage gestellten Werte notwendig
neu geschaffen, erst wieder frisch eingeführt und tiefer
begründet werden, lässt sich eben nicht mehr mit der
abgegriffenen Münze jener „Parsifal "-Schablone — frei
nach „Tannhäuser" — als einem leeren Theater-Sche-
matismus vor aller Welt noch operieren, ohne die Lebens-
und Fortzeugungsfahigkeit der Idee zugleich ernstlich
auf's Spiel zu setzen. Von Alledem aber spürest du in
der Weingartner'schen „Genesius"-Oper „kaum einen
Hauch"; um diese Klippe ist das sonst so fesselnde,
nochmals sei es hervorgehoben: dramatisch überaus
wirksame und musikalisch vielfach höchst wertvolle
Werk nicht herum gekommen; es ist, als wenn ein
Geist wie Nietzsche gar nicht gelebt und niemals das
dionysische und apollinische Kulturbild hellenistischer
Antike vor unseren Augen entrollt hätte. Und fast
fürchte ich, der in diesem Sinn, inhaltlich wie formell,
musikalisch wie poetisch, gleich unmögliche dritte
Akt, er wird ganz unvermeidlich so der Nagel zum Sarge
dieses (in den ersten beiden Akten doch so schöne
Anläufe nehmenden) Werkes werden. Zweifellos bildet
es einen menschlich-sympathischen, im Übrigen gerade
der Hans Herrig'schen Vorlage gegenüber durchaus
selbständigen Zug der Weingartner'schen Textdichtung,
wenn die Christin Pelagia in dem Augenblicke, da der
Geliebte ihr angehören und freien Fusses mit ihr ent-
fliehen kann, zum Taumel der Lebensbejahung er-
wacht — nur schade, das diese natürliche Wandlung in
ihr hier viel zu spät erst kommt, und dass ihre
Opferung schliesslich mehr aus Anstand, lediglich mit
der sozialen Rücksicht auf das Los der übrigen Brüder
(an das sie Genesius eifrig ermahnt), denn aus reli-
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Genesius.
159
giösem Fanatismus heraus erfolgt. Ihr Seelenkampf im
ersten Akte war im Verhältnis zu dieser daseins-
freudigen Aufwallung jedenfalls ein viel zu kurzer und
allzu leicht überwundener; ihre Bussfertigkeit dort zu
rasch und wie von selbt verständlich. Sogar die präch-
tige Gestalt der Strassensängerin Claudia kippt im letzten
Momente zu einer, für ihren Charakter unglaublich in-
konsequenten Mitleids- und Entsagungsschwärmerei hier
um; kurz, wo dramatisches Leben und der Pulsschlag
des natürlichen Blutes herrschen sollte, werden wir
mit mystischer Heils-Spekulation abgespeist, und geistig
wie leiblich hungernd gehen wir darauf hin nach Hause,
je mehr beim Fortgange der Handlung in den beiden
ersten Akten doch der Appetit unter'm Essen uns kräftig
angekommen war.
„Die Strassensängerin Claudia . . . der Appetit
uns angekommen war"! Wie Hanslick seinerzeit vom
Wagnerischen „Parsifal" gewitzelt hat: es sei doch gar
zu artig, in welch verräterischer Weise der eigentliche,
echte Wagner des Venusberges aus dem 2. Akte des
„Parsifal" (mit den Blumenmädchen) wieder heraus gucke
— mit noch ungleich mehr Berechtigung Hesse sich
ganz gewiss vom „Genesius"-Drama nun sagen, dass
mit dem faszinierenden Auftreten dieser Strassen-
sängerin erst der „wahre Jakob" der Handlung beginne:
„la gaya scienza" der leichten Füsse und der lachenden
Lebensbejahung, die wahrhaft antike „Renaissance" des
Leibes im Gegensatze zu der christlich -mystischen
Gnadenwirkung einer Wiedergeburt aus dem Wasser
und Geist 1 „Dem Sturme gleichend, frei und fröhlich,
flieg' ich dahin — " so singt unsere junge Bacchantin,
und fast schon klingt es wie Nietzsche's „An den Mistral",
jene lustigen Wirbelwind-Verse aus den „Liedern des
Prinzen Vogelfrei". Wie bedauerlich, jammerschade, dass
eben diese hinreissend lebensvolle Gestalt, die einzige
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160
Wagneriana. Bd. III.
wirklich lebendige in unserem Drama, ganz zum
Schlüsse hin eben, wie beschrieben, so jammervoll
ihren eigentlichsten Charakter verleugnet und „wunder-
bar" genug in eine Resignations- Anwandlung verfällt!
Es wäre sonst auch gar zu unbegreiflich, dass Genesius
sich nicht für dieses Wesen weit lieber entschieden
hätte, um an ihm von der traurigen Schwindsucht zum
frischen Leben zu — .genesen". Etwas mehr vom „Gott
und der Bajadere" hätte hier wahrlich nicht schaden
können. — Aber auch eine Art Salome vor dem Suder-
mann'schen „Johannes" (ist dieser „Genesius" ja doch ein
Septennat schon altt) begrüssen wir in besagter Figur,
wie zuletzt auch in der ganzen Situations- und Kontrast-
schilderung. Und hier ist es zugleich, wo der Ab-
klang in's Meyerbeer'sche an unserer Oper zeitweilig
doch kaum mehr zu verkennen sein wird. Nicht, dass
Weingartner allzu leichtfertig etwa dem leeren, wohl-
feilen „Effekte" huldigte und rein technisch oder im musi-
kalischen Stil am Ende gar an jenen Faiseur lebhafter
erinnerte. Da sei der Himmel vor, dass wir ihm dies
vorwerfen! Aber bei dem historisierenden Hinter-
grunde der Seelenhandlung seines grossen musikalischen
Erlosungs-Drama's taucht unwillkürlich so etwas wie
das Gespenst der alten grossen H i stori en oper zu-
gleich mit auf, und es blieb daher nicht vollständig zu
vermeiden, dass in Situationen, starken Gegensätzen, mit
Aufmärschen, wie mit der Behandlung des Ensemble's
im Sinne einer „Emanzipation des Chores", eine Re-
miniscenz gleichsam an jene hie und da sich ganz leise
mit einstellt. Ein Spuk — weiter nichts; aber doch
beunruhigend und den Charakter der Einheit erheblich
trübend. Überdies ja ist noch gar mancherlei „der
Augen und der Sinne Lust" darin mit gegeben, was
das Werk prickelnd und zugkräftig macht — wiederum
bis zu dem, allerdings ganz unmöglichen 3. Akte hin,
Digitized by
Genesius.
161
wo mit der ecclesia militant dann freilich auch die
konventionelle Langeweile gründlich „triumphiert". —
Mit einem Worte: es weht uns zu viel ungesunde,
nach den gegebenen Voraussetzungen nicht mehr ganz
natürliche „Parsifal"-Imitation , eine mitunter ganz un-
leidlich hektisch anmutende „Erlösungs"-Stickluft ek-
statisch-mystischer Askese entgegen aus diesem 3. Auf-
zuge unseres (in den ersten beiden Akten stellenweise
doch geradezu rotwangig-gesunden) Musikdrama's.
Anlässlich der Berliner Premiere schrieb der un-
erschütterlich getreue AnwaltWeingartner'scher Muse Otto
Lessmann, in seiner „Allgemeinen Musik-Zeitung*4:
„Wer, wie er, ohne jede Rücksicht auf den Beifall der
Menge schafft, wird einer sachgemässen Kritik, auch
selbst, wenn sie ohne besonderes Wohlwollen geschrieben
wird, stets ein williges Ohr leihen" . . . Demnach darf
ich hoffen, der Dichterkomponist wird meine Aussprache
zu würdigen wissen, um so mehr, als ich noch dazu das
aufrichtigste und lebhafteste Wohlwollen seinem Schaffen
gegenüber deutlich bekundet zu haben glaube und jeden-
falls empfinde. Aber allerdings, das muss ich zugleich
offen gestehen: so recht warm von innen heraus hat
mich seine Musik nur ganz selten noch gemacht. Auch
dieser „Genesius" interessiert musikalisch ganz ausser-
ordentlich; er gewinnt durch wuchtige deklamatorische
Akzente, anziehende, lebendig bewegte Bühnenvorgänge
und packt sogar durch gelegentliche Verwechslung eines
rein Dramatischen mit dem spezifisch • theatralischen
Knalleffekt; aber er lässt „kühl bis an's Herz hinan"
trotz (oder vielleicht gerade wegen) der grossen
Flammen-Entwicklung seiner Christenverbrennung zum
sogenannt „guten Ende". Und dieser, etwas verdächtig
auch noch an das Ende der Halevy 'sehen , Jüdin" ge-
mahnende Feuertod-Abschluss des Ganzen — er wird
wahrlich dadurch um nichts eingänglicher oder auch
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 11
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102
Wagneriana. Bd. III
nur erträglicher für unsere Nerven, dass er mit seinem
unglaublich flinken Verbrennungsprozesse selber eine
gewisse „aktuelle" Analogie zum modernen „Krema-
torium" herstellt! . . .
Weingartner ist seit seinerjüngerschaft bei Franz Liszt
und der Premiere seiner Jugendoper „Sakuntala" (1884)
mit Weimar dauernd in sehr regen und auch guten
Beziehungen gestanden; mit lebhafter Anteilnahme hat
man hier von seiner sinfonischen Dichtung „Das Ge-
filde der Seligen", seiner klangvollen Instrumentation
zu Webers „Aufforderung zum Tanz", einer Reihe von
Liedern, sowie (erst jüngst) von seinem neuen „Streich-
quartett*' im Laufe der Jahre Kenntnis genommen. „Mala-
wika" allerdings (aufgeführt 1886 zu München), ferner das
Tongedicht auf „König Lear*', sowie seine erste Sinfonie
(G-dur) schienen hier bisher noch unbekannt geblieben zu
sein. Im Übrigen aber ist dieses kleine Weimar noch immer
und immer „mit Nichten die geringste unter den Kunst-
stätten in Deutschland". Und das ist denn nur gut so,
und wird hoffentlich noch recht lange auch also bleiben I
— Frau Burckard (als Pelagia), die Herren Zeller
(Genesius), Strathmann (Christen - Ältester) und
sogar Herr Gmür (Kaiser Diokletian) nahmen ihr
„Rollenkreuz" in demütig - selbstloser Hingabe an den
ihnen wohl oft recht unbegreiflichen Ratschluss des
Komponisten willig auf sich und trugen es mit aller
ihnen zu Gebote stehender christlicher Würde; während
Frl. Schoderin bacchantisch-lustvoller Grosszügigkeit
— jeder Zoll schönheitstrunkene Künstlerin ! — eine be-
rückende „Antichristin" dem entgegen stellte und die leib-
haftige „Umwertung der Werte" im Sinne des positiven
Lebensbildes mit den verlockendsten Farben, Tönen
und Tänzen faszinierend verkörperte. Selbst das sonst
wohl einmal »menschlich-allzumenschliche" Orchester
hatte sich unter dem gebietenden „Herren"-Szepter des
Digitized by Google
Genesius.
163
sein Werk persönlich vertretenden Komponisten an diesem
Abende zur vollendeten „Sklavenmoral" bekehrt: es war
ein Hirt und eine Herde, es herrschte ein Sinn und
eine Seele. Kurzum, es war halt wieder ein Ehrentag
für Ilm- Athen, und ohne Zweifel zugleich eine Art von
Ehrenrettung; ein Fest- — und kein „kritischer Tag
erster Ordnung". Bei allen kundigen Thebanern herrschte
obendrein das bekannte „Schütteln des Kopfes", wieso
Berlin sich anno dazumal nur derart vergessen konnte
etc. etc. — ich brauch* mich jetzt, nach allem Voraus-
gegangenen, ja wohl nicht weiter mehr darüber aus-
zulassen.
Ii»
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Kain
Textdichtung von Heinrich Bulthaupt; Musik von
Eugen d'Albert
(1900)
Eine Unvereinbarkeit zweier Weltanschauungen, im
Grunde genommen „Inkonsequenz*, ist mir an dem,
allenthalben und berechtigter Weise ein so gross Auf-
sehen erregenden, als das reife Werk bedeutenden
meisterlichen Könnens und ernsten künstlerischen
Schaffens sonst so überaus beachtenswerten d'Alb er t-
Bulthaupt'schen «Kain* sofort nach Anhören auf-
gefallen. Mein Haupt bedenken angesichts dieser
Schöpfung ist nämlich dieses: dass jener düster- welt-
schmerzliche Pessimismus ganz augenscheinlich nicht
als des Komponisten eigenste, persönliche »Welt-
anschauung* anzusehen ist, die er selbst er- und
durchlebt hätte; dass er diese philosophische Dich-
tung also nur auf dem Umwege der Reflexion und der
Nachempfindung in schön-geistiger, aber nicht eigentlich
mit innerer Anteilnahme in Musik gesetzt haben kann.
Mein zweiter Kardinaleinwand wiederum ein solcher
gegen den Textverfasser und „ Wagnerianer* (vergleiche
Kürschners „ Wagner-Jahrbuch* 1886) Prof. Dr. Heinrich
Bulthaupt, des Inhaltes: dass er — bei aller Fein-
sinnigkeit, mit welcher er dem Byron'schen Mysterien-
Digitized by
Kain.
165
vorwürfe dichterisch nachzugehen suchte, und bei allem
preisenswerten dramaturgischen Geschicke, mit dem er
hier die Hauptzüge, zum Teil in selbständiger, ver-
einfachender Umgestaltung, zur knappen Plastik eines
•Einakters" zusammen zu drängen wusste — bei alledem
doch den entscheidenden Schritt zu thun und das
alte Menschheitsdrama, durch beherzten Griff in's
moderne Bewusstsein hinein, völlig neu zu gestalten
und wahrhaft zeitgemäss zu wandeln, sich leider scheute.
Zwei Wege standen ihm nach meinem Gefühle
klar und deutlich offen. Entweder er griff schlicht
und stark lediglich zur einfachsten, rein menschlichen
Psychologie des primitivsten Urzustandes, ohne alle
modernen Anwandlungen, zurück. Dann handelte es
sich hier um eine Eifersuchts- Tragödie des in seiner
rauheren Art von Gott und Welt sich zurückgesetzt
wähnenden Bruders, der auf den andern, durch sein
Wesen schon alle Herzen gewinnenden „ Musterknaben"
seinen ganzen, jähzornigen Hass geworfen hat, je ohn-
mächtiger er selbst sich fühlt, es ihm jemals an Liebens-
würdigkeit gerade gleich thun zu können. Und damit
stände nur in guter Ubereinstimmung die, von Bult-
haupt (auf Grund eines R. Wagnerischen Ausspruches
zur Sache) versuchte, neuzeitliche Abänderung der Opfer-
Substanz der Beiden, und zwar im Sinne unseres heutigen
Vegetarismus — denn der Fleischesser ist von derberer
Muskulatur und heftigerer Art, wogegen der Pflanzen-
esser sanfter und von Herzen freundlicherer Natur zu
sein pflegt. ... Oder aber, er folgte kühn Byron'schen
Spuren. Alsdann aber war Romantik energisch zum
Heroismus, Schopenhauer beherzt auch gleich in
Nietzsche fortzubilden, der antichristlich-prometheische
Trotz Kains und sein brutaler Totschlag nur im Sinne
des „Herrenmenschen", als Bejahung und Rechtfertigung
des Lebens als solchen — jenseits von Gut und
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166
Wagneriana. Bd. III
Böse, sowie zu einer „diesseitigen" Ergreifung des selbst
geschmiedeten Schicksals ohne Götter über der Welt,
konsequenter Weise umzudeuten. D a nach musste Abel
gleichsam der erste „Christ** auf Erden sein, in demütiger
Selbstverleugnung und Opferfreudigkeit gegen den durch
Fehl seiner Eltern tief erzürnten Gott, in pessimistischer
Verneinung einer durch den Sündenfall vom Paradiese
zum Jammerthal umgeschaffenen Welt und in todes-
sehnsüchtiger Erlösungs-Bedürftigkeit sein eigen Leben
dem Überirdischen allein nur weihend — Kain aber gerade
zum optimistischen, selbstherrlich - freien Segner dieses
Lebens ohne allen „Gewissensbiss" werden, der — mit
dem Sehnsuchtsideale des zu züchtenden „Übermenschen**
in der Brust — ein v i tal e s Interesse daran findet, diesen
Preis der „jenseitigen** Tugenden, dieses im Beten ab-
sterbende, statt in Arbeit wachsende Geschlecht als
entwicklungshemmend rechtzeitig aus dem Wege zu
räumen. S o , mein' ich, wäre das Problem klar, modern,
packend und überzeugend zugleich, gestellt gewesen,
wobei es ohne alle aktuelle Aufdringlichkeit, im ele-
mentaren Sprachausdrucke ganz gut hätte hergehen
können.
Bulthaupt jedoch hat sich nun glücklich wieder
zwischen diese beiden Stühle setzen zu müssen ge-
glaubt, hat meines Erachtens dicht vorbei gegriffen, ist
zaudernd und unentschieden auf halbem Wege der
modernen „Umwertung** schon stehen geblieben und
hat damit auch den Komponisten nicht nur seiner
besten, entscheidendsten Wirkungen beraubt, sondern
ihn auch noch zwangvoll — nolens volen* — auf Schu-
mann'sche „Manfred** -Stimmungen zurück geschraubt:
wobei denn glücklich „Luzifer**, statt dramatisches Agens
zu werden, als rein -lyrische Vision im Magier- Dunkel
des Hintergrundes verbleibt. Abel singt im Gegenteile
jetzt eine wunderschöne Leibnitz'sche „Theodicee** zum
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Kain.
167
Preise des Schöpfers der besten der möglichen Welten, und
Kain endet hübsch „moralisch", getreu nach der Schrift,
als „gezeichneter" Sünder, in zerknirschter Reu', Busse und
weltflüchtiger Scheu, statt als pantheistischer Antichrist-
Ahasver unzerstörbaren Lebens, als Dionysos einer
„ewigen Wiederkehr des Gleichen", wie es doch sogar
schon dem, sonst gewiss nicht allzu modern gesinnten,
Weingartner (vgl. dessen „Lehre von der Wiedergeburt"
mit dem Mysterien-Entwurf), so weit es Kain wenigstens
betrifft, als Anregung entnommen werden konnte . . .
Kommt noch hinzu, dass d* Albert seinerseits, oft sehr
zum eigenen Nachteile, auch hier wieder seinen, in der
„Zukunft" dereinst verfochtenen, künstlerischen Prinzipien
treu geblieben ist, wonach er eine Mischung von Wagner
und Brahms in seinem Musikdramen-Stil anstreben
will — ohne es freilich zu mehr als einer Kombination
des unvermittelten Nebeneinander bringen zu können, da
sich Beides nun einmal ebenso wenig amalgamieren wie
Feuer und Wasser zusammen bringen lässt. So gelangt
er denn nicht selten in die missliche Lage, dort „fort-
z u musizieren" und eine begonnene Tonphrase, mehr
als absoluter Musiker, hübsch weiter zu spinnen, wo
— unter scharfer Abhebung und eventuell sogar schroffer
Unterbrechung — der charakteristische poetische Aus-
druck im Orchester, und schlagkräftige Handlung, oder
eben doch „drastische" Deklamation, auf der Bühne
belebend einsetzen müssten. Schenkt er hingegen Wagners
Lehren und Beispielen willig Gehör, dann erleben wir,
zumal in symphonischen Instrumental-Episoden, immer-
hin bedeutsame, zum Teil ganz grossartige und ergreifende
Höhenmomente, die zum Bemerkenswertesten und Besten
der neueren musik-dramatischen Litteratur überhaupt
gehören.
Trotzdem vermochte das Ganze doch nicht tiefere
Spuren beim Hörer zu hinterlassen. Je nun, den einen
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168 Wagneriana. Bd. III.
Hauptgrund für diesen Mangel an nachhaltiger Ein-
dringlichkeit glaube ich bereits geschildert zu haben. Und
überdies — wie man Bilder in Ausstellungen tot hängen
kann, so vermag man auch Bühnenwerke durch den ganzen
Apparat und die besonderen Umstände ihrer Servierung
tot zu schlagen. Es muss leider gesagt werden, dass die
Münchner Hofopern -Intendanz dieses Kainszeichen
dem d,Albert,schen Werke gegenüber sich zugezogen
hat. Mit einer solchen Neuheit zusammen ein so un-
sinnig langweiliges und unglaublich langweilendes Ballett
wie »Der Blumen Rache* von Rob. v. Hornstein zu geben,
ist eine unverzeihliche Todsünde, die gleich derjenigen
Kains oder des Judas nicht wohl gesühnt werden kann.
Wohlgemerkt : ich bin nicht etwa der Ansicht, dass ein
Ballett stets ein „Unterhalb der Kunst" nur vorstellen
müsse. Ein gutes, d. h. künstlerisch wertvolles Ballett mit
geistreicher Musik — ä la bonne heure; und was ein
solches, den ästhetischen Menschen wirklich befrie-
digendes Ballett sein kann, weiss ich nur zu gut von
der glänzenden Dresdner Hofoper her zu würdigen.
Jener „Todsünde" zur Seite trat zudem gar noch am
Premieren- Abende selbst, die viel besprochene, un-
verantwortliche Ungeschicklichkeit mit dem Theater-
vorhang, die den Beifall geradezu morden musste und
die beste Wirkung an entscheidender Stelle abkappte.
Aber auch im n Dekorationswesen4* zu dieser Urtragödie
der Menschheit sah es (im wörtlichen und übertragenen
Sinne) «windig" genug aus. Ich will nicht davon reden,
dass das Szenische mehr an die germanische Alpen-
welt denn an asiatisches Urland mit tropischer Vege-
tation erinnerte; aber es ist bei uns immer wieder die
alte, leidige Misere: unsere Hofoperndirigenten sind viel
zu wenig Operndirektoren, sie wirken nicht über die
Rampe hinaus, auch leitend und Ton angebend auf die
schauspielerische Darstellung ein, frei gebietend für den
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Kain
169
ganzen dramatischen Aktus. Da oben »regieren" immer
wieder nur die Herren von Possart und Lautenschläger
mit ihren dekorativen Effekten, komödiantischen Allüren
oder maschinellen Kuriositäten. Das bringt jenes alte,
ruhmvolle Institut nachgerade noch total in Verruf,
und das wird, furcht* ich, auch mit und unter Hermann
Zumpe, wie im neuen 9 Prinzregenten -Theater*, nicht
sehr viel anders werden.
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Max Schillings*)
(1901)
Auch das musikalische München wird zu-
sehends „moderner*4. Drei grosse, ganz ausserordent-
liche Konzerte in einer Saison: zuerst Gustav Mahler,
dann Richard Strauss, und jetzt wieder Max Schillings
— ich glaube, die Münchner Musikfreunde können sich
nun wirklich nicht mehr beklagen I Wenigstens war
das vor wenigen Jahren noch ganz anders hier zu Lande.
Wir aber können es Herrn Schillings recht wohl nach-
empfinden, wenn er als einer der annoch etwas Zurück-
gesetzten den Drang nach praktischer Selbstbethätigung
in sich verspürt, schon um einmal auch nach positiver
Seite hin lebendig zu ergänzen, was er das Jahr zuvor
in einer viel beachteten öffentlichen Polemik zur lokalen
Dirigentenfrage, ohne jede Rücksicht auf seine eigene
*) In diesem besonderen Falle mag es verstattet sein, von
meinem eigenen Grundsatze: nur in der realen Bühnenwirkung
geprüfte Opernkompositionen hier besprechen zu wollen, aus*
nahmsweise einmal abzuweichen, indem ich hier einen Konzert-
bericht mit einfüge. Merkwürdiger Weise sollte es mir nämlich
bis dato noch niemals vergönnt sein, irgend einer der Auf-
führungen Schillings'scher Werke (in Karlsruhe, Wiesbaden,
München, Berlin, Weimar, Schwerin, Leipzig, Magdeburg, Bremen,
Hamburg etc.) persönlich anwohnen zu können. Und eine mu-
sikalische Potenz wie diesen Meister in solchem Zusammenhange
gar nicht näher zu würdigen, wollte doch nicht gut angehen.
D. Verf.
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Max Schillings.
171
Person (denn es ist ihm bei unseren Machthabern zunächst
schlecht genug bekommen, die ihn seither vollends gar
ignoriert haben) mehr theoretisch anzuschneiden, den
Mut hatte. Sein auf eigene Faust nun unternommenes
Komponistenkonzert am Abende des 30. März — es war
nicht nur hervorragend im Programm, es war auch
glänzend im Resultate; ja, es erbrachte den klaren Beweis
eines bedeutenden, wahrlich nicht mehr zu übersehenden
Fortschrittes in seiner künstlerischen Eigen-
ständigkeit seit der Oper „Ingwelde", und der Kom-
ponist hatte den Triumph, allgemein die Frage auf-
geworfen zu sehen: nicht allein, warum jene „Ingwelde"
so bald schon wieder vom Spielplane der Münchner
Hofoper seinerzeit verschwunden war, sondern auch,
warum uns Werke wie der „Pfeifertag4* und die „Orestie",
oder auch der symphonische Prolog zu Sophokles'
„König Oedipus" u. a. dauernd Seitens unserer offiziellen
Musikinstitute und Konzertveranstaltungen wohl vor-
enthalten werden. Es giebt Pflichten, meine sehr ver-
ehrten Herren! — hier wie dort, in jedem Amt und
in jeder Sphäre. Und demnach: sunt certi denique
fines — d. h. endlich einmal müssen solche Versäum-
nisse auch ihre natürlichen „Reaktionen" finden.
Schillings ist unter den zeitgenössischen Musikanten
ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle. Wie sich
schon der äussere Habitus des Abends, bis in den
apart-geschmackvollen Druck des Vortragszettels hinein,
mit durchgebildeter Vornehmheit anliess, so auch
hatte jener Kulturfreund wohl unbedingt Recht, welcher
mir gegenüber den Eindruck des Konzertes beim Aus-
gange kurz dahin zu charakterisieren versuchte: dass
Max Schillings keine unvornehme Note je zu schreiben
vermöchte, und daher auch nicht ein einziger un-
anständiger Ton in diesem ganzen, reichen Konzerte zu
vernehmen gewesen wäre. Mochte nun aber in früheren
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172
Wagneritna. Bd. III.
Phasen seiner geistigen Entwicklung die Befürchtung
vielleicht noch nahe liegen, dass solche innere Vor-
nehmheit und solcher äussere Wohlschliff guter gesell-
schaftlicher Formen den Musiker Schillings der Gefahr
einer gewissen Glätte aussetzen könnte — hier, an-
gesichts dieser Vorführung vom neuesten Stande seines
gehaltvoll-ernsten Schaffens, mussten sich solche klein-
mütige Bedenken in ein Nichts alsbald auflösen. Schon
früh, bald nach seinem ersten Hervortreten (zu Karls-
ruhe) in die musikalische Öffentlichkeit, galt Schillings
als einer unserer ersten, gediegensten und sublimsten
Polyphoniker; ja, man schätzte seine feine, selbständige
Harmonik noch besonders und ganz ausnehmend, mass
ihr eigenartige, ungewohnt neue Reize vor vielen An-
deren schon sehr frühe bei. In Sonderheit war man sich
schon lange darüber klar, dass hier ein dekoratives
Talent allerobersten Ranges von ganz individueller Note,
mit glänzenden Gaben und einem wahrhaft blühenden
Farbenreichtum ä la „Secession", in den modern-musi-
kalischen Wettbewerb mit eingetreten war. Und das
Bemerkenswerte dabei war obendrein noch, dass diese
berauschende, tief gesättigte Farbenpracht niemals herb
und wild sich gab, Keinem je wehe that, so blendend
sie sich auch gar oft entfalten mochte; dass diese kühne
und komplizierte Polyphonie einer reich bewegten, unruh-
vollen Ton-See doch stets mit dem edelsten Wohlklange
gepaart auftrat und im Grunde keinerlei schmerzvolle
„Kakophonien" je aufkommen Hess. Allein ebenso wenig
durfte man sich damals auch der Sorge verschliessen,
dass all dieses Wohl laut -Wesen am Ende doch allzu sehr
in reiner Wollust schwelgen, in allzu molluskenhafte
Weichlichkeit sich verlieren möchte. Auch das aber ist
nunmehr überwunden und völlig anders heute geworden;
selbst diese — wir gestehen es offen: ernstliche Be-
sorgnis mit einem Male, und wohl für immer, für uns
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Max Schillings.
173
zerstreut worden. Dachte ich mir auch, noch zu Anfang
unseres Konzertes, beim Anblicke des wenige Reihen
vor mir sitzenden jugendlichen Siegmund von Haus-
egger, dass dieser doch ungleich mehr, und sicherlich
auch robustere Knochen in seinem — *. v. v. Musikleibe
habe: im weiteren Verlaufe des Abends, zumal bei den
kräftig-charaktervollen Klängen der überaus interessanten
Bruchstücke aus dem „P fei f er tage", mussten mir
derartige Betrachtungen nachgerade gründlich vergehen.
Schon in der „ I n g w e 1 d e", wo man ja noch durchaus im
Bereiche greifbarster Wagnerismen blieb, steckt ja so viel
Eigen-Sinn, persönlichstes Wesen und Sonder-Fluidum,
dass man auf Schritt und Tritt ganz unwillkürlich die er-
sichtliche Kopie gerne auch wieder vergisst. Neuerdings
aber hat sich der Komponist zu einer ganz selbständigen und
neuartigen Melodik gefunden, welche besonders durch Ver-
meidung gewisser Zwischentonstufen ein durchaus eigen-
tümliches Gepräge erhält. Und wie zu einer seiner selbst
bewussten Diktion, so erst recht hat er sich seither
noch zu einer weit freieren, eigenen Weltanschauung ganz
offenbar mit hindurch gerungen. Namentlich wieder im
„Pfeifertag** durfte diese durch ihren hohen künstleri-
schen Ernst nur angenehm berühren, welchen der Kom-
ponist gleich einem persönlichsten Glaubensbekenntnis
in die Spore k'sche Textdichtung selber hinein gelegt
und durch welchen er dieser eine höhere, sogar gewisse
Ungereimtheiten darin noch verklärende, Bedeutung ver-
liehen hat. In Herrn Kammersänger Emil Gerhäuser
und Fräulein Hertha Ritter fand der das Orchester
„eigenhändig** tadellos leitende Konzertgeber übrigens
verständnisvollste, zum Teil kongeniale Unterstützung,
in Hermann Behn überdies einen ebenso feinfühligen
wie poetischen Dolmetsch seiner tieferen Absichten . . .
Von jeher war der Rheinstrom als solcher nicht nur
die lebendige Vermittlung zwischen Ost und West, sondern
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174
Wagneriana. Bd. III.
sein Gebiet bildete auch das vornehmste Streitobjekt
zwischen deutscher und französischer Kultur; und noch
heute klingt es manchmal wie entfernte Reminiszenz
alter romanischer Neigungen (besonders stark bekannt-
lich in Mainz) auf diesem Boden mit und an. Auch im
Blutstropfen schon finden sich da zuweilen bestimmte
feine und interessante, für eine tiefer gehende Analyse
höchst reizvolle Mischungen. So kommen wir denn zu
dem Schlüsse, dass wir in Schillings vor Allem ein
Rheinland-Kind freudig zu begrüssen haben, in welchem
die dortige lebfrische Sinnenfreudigkeit mit keinem
Zuge sich verleugnet, aber zugleich mit einer leisen
Tradition jener vornehmen, durch und durch graziösen
Feinkultur des Westens sich erfreulich mischt, die gar
nicht anders als elegant sein und im Stilgefühle guter
Formen sich bewegen kann. Wird der frondierende
Kraft-Trick wohl immer dem Bajuvaren Rieh. Strauss als
besondere anhängen, so wird ein Schillings mit
seiner aristokratischen Kunst gewiss niemals zu ver-
letzen vermögen. Und so konstatieren auch wir gerne,
höchster Erwartungen voll, den ausgesprochen grossen
Erfolg jenes Abends mit all seinen nachhaltigen Ergeb-
nissen.
Mode und Experiment
(Pseudo - Wagnerianer)
Der „Fall* Heinrich Zöllner
(1889/95)
Es war ein ziemlich lautes Blätterrascheln, im
grossen deutschen Zeitungswalde jüngst, da die Wunder-
Mär verlautete: »Eine hohe Faust- Oper ist euch ge-
boren worden — ganz im Gegensatze zur schrecklichen
Gounod -Verballhornung deutsch und ernst in jedem
Zug« und dabei durchaus Wagnerisch!" Nun, am
20. Januar 1889 war für mich zu München die will-
kommene Gelegenheit geboten, dieses Weltwunder und
Natur-Ereignis gelegentlich einer Vorführung am dortigen
Hoftheater von Angesicht zu Angesichte kennen zu
lernen . . . und, merkwürdig, ich bin Pharisäer genug,
um darnach nun laut zu beten: »Herr Gott, ich danke
dir, dass ich nicht so bin wie dieser Zöllner!"
Besprechung einer deutschen Faustoper — an sich
schon ein gar heikel Ding und ein sauer Amt, fürwahr!
Und nun vollends erst, wenn (wie hier noch überdies)
aus der Faustoper — ein „Opernfaust" geworden.
Da lobe ich mir denn doch einen Gounod, der, vom
französischen Standpunkte aus besehen, wenigstens
noch ein eigenartiges Ganzes gegeben hat und
schliesslich ja auch gar nichts Anderes, denn ein
französisches „Grisetten-Drama" mit Musik, damit ge-
meint haben wollte, welches freilich der Deutsche einfältig
und gutmütig genug ist, sich als „ Ragout von fremdem
Sei dl, Vagneriana. Bd. III. 12
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178
Wagneriana. Bd. III
Schmauss", als den besseren und gefälligeren, weil
angeblich verständlicheren, „Faust* zeitlebens vorsetzen
zu lassen. Auch noch der Z enge r' sehen „Faustmusik"
stehe ich im Grunde meines bösen Herzens ungleich
sympathischer gegenüber, als welche zwar auch manch' un-
begreifliche Thorheiten begeht und zweifelsohne zahmer,
s. z. s. philiströser geartet sich zu erkennen giebt, dafür
aber auch solider, ernster und — gründlicher gearbeitet er-
scheint als dieser Heinrich Zöllner'sche Musikfaust, Motto:
„Heinrich, mir graut's vor dir !** Denn dieser letztere
tritt ja förmlich mit der Prätension vor uns hin, das
Faustproblem durch seine Musik gelöst zu haben und
den Deutschen endlich einmal ihren deutschen, allein-
echten und -berechtigten Faust zu geben (wenn anders
wir unserer gelobten Presse nur auch Glauben schenken
wollen); pochend zumal auf die akademische Bildung des
Deutschen, hält er das Aushängeschild des Tiefsinnig-
Philosophischen noch ganz besonders vor: und diese „Ab-
sicht" just ist's, welche stark an dem Werke „verstimmt"!
Ohne Frage haben gerade wir „Wagnerianer" alle Ur-
sache, einer solchen Oper gegenüber nur um so offener
Farbe zu bekennen — Pflichten freilich, welcher die
berufene oder unberufene Münchener Presse bisher
noch ganz unbegreiflich wenig sich erinnert zu haben
scheint. Erweckt es doch ganz den Anschein, als ob
der Komponist in kluger, sei es nun absichtsvoller oder
doch nur instinktiver Verwertung des „Modischen" im
Wagnerianismus, auf die Kritiklosen und Urteilsunfahigen
der Herren Wagnerianer als seinen Anhang spezialiter
spekuliert habe. Allerdings, er hat sich dabei auch
wieder gewaltig verrechnet, indem er nämlich voll-
kommen darauf vergass, wie gerade der echte Anhänger
des Bayreuther Ideales vor Allem d a für einzutreten hat,
dass „Stil" überall walte; dass uns unsere klassischen
deutschen Meisterwerke der Dicht- wie der Tonkunst
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Der »Fall" Heinrich Zöllner.
179
nicht beliebig verhunzt oder verschlimmbessert, wo
nicht gar „viviseziert" werden: — wonach denn auch
Zöllners „Faust" rundweg für eine solche „Ver-
stümmelung" der Goethe'schen Tragödie coram jntblico
zu erklären wäre.
Es thut mir allerdings herzhaft leid, bei solch' scharf
prononzierter Aussprache des von mir als wahr Erkannten
dem zweifellos guten Willen und unstreitig respektablen
Können des Komponisten nicht die gleich gebührende
Anerkennung zollen zu können, die diese beiden Eigen-
schaften sonst zweifellos verdient hätten. (Zöllner hat
die Partitur „dem Andenken seines geliebten Vaters"
gewidmet, man darf also wohl annehmen, dass er sein
Allerbestes damit zugleich gegeben hat!) Allein hier
handelt es sich um ein edelstes und höchstes Gut
unserer Nation an sich — da hilft nur ein kräftiges, ganz
entschiedenes Wort; der Komponist, indem er an ein
solches Nationalwerk die Hand anlegte, hat sich leider
selbst aller „mildernden Umstände" von vornherein schon
begeben. Und die schlimme „eklektische" Gesinnung
ist es, gegen die wir uns vor Allem hier einmal energisch
wenden müssen, wenn nicht alle Errungenschaften des
Bayreuther Meisters ernstlich in Frage gestellt werden
sollen. Zum Mindesten liegt eine gewaltige, mehr als
bedenkliche Verirrung bei Zöllner vor. Ich habe einmal
von diesem Komponisten sagen hören, er sei ein
„äusserst intelligenter Musiker". Nun, ich glaube es
wahrhaftig, er ist zu intelligent! Wenigstens kann ich
mich bei ihm des Eindruckes einer mehr raffinierten
Klugheit in der Wahl des unfehlbar Wirksamen nie recht
erwehren. Und wiederum scheint es ihm an der nötigen
Selbstkritik leider allenthalben zu gebrechen. Um so
unbegreiflicher denn, wenn er nicht zum Mindesten ein
paar gute Freunde gefunden, die ihn auf das Schlimmste,
was er an Empfindungen, Reminiszenzen, Entlehnungen
12*
180
Wagneriana. Bd. III.
obendrein sich geleistet, in aller Güte aufmerksam gemacht
und auf dessen Tilgung aus der Partitur vor deren Ver-
öffentlichung ernstlich gedrungen haben. Freilich, die
sind nun eben gar die Ärgsten — „Gott bewahre uns
vor unseren Freunden!"
Kein Zweifel, dass das „Faust"-Gedicht nach Musik
ordentlich „schreit". Goethe selbst (in den Gesprächen
mit Eckermann) erwähnt bekanntlich des seltsamen
Umstandes, dass das Gedicht als Drama beginne, um
(im II. Teil) als Oper aufzuhören. Es ist dies für uns
ganz ohne Zweifel ein nicht misszu verstehender Wink
und ästhetischer Fingerzeig dafür, dass das Ganze mit
Musik auszustatten sei; dass für den Musiker ein
„Faust-Problem" (und zwar auch n a c h der Lassen'schen
Musik, die ich persönlich immerhin sehr schätze) that-
sächlich noch besteht — mit einem Worte: dass die
wahre „Faust-Musik" erst noch geschrieben werden
soll! Nur frägt es sich eben, was man von dem
hieraus der Musik Bedürftigen mit einer solchen zu ver-
sehen hat, welche Grundsätze und ästhetischen Prinzipien
man dabei im Einzelnen wohl befolgen will. Aber gewiss
Hesse sich da doch immer noch von einem überzeugungs-
sicheren „Standpunkte" reden. Zugegeben somit, dass
Zöllner hierin das Richtige getroffen hätte (was wir
vorläufig noch völlig dahin gestellt sein lassen), so
wäre er damit allerdings schon auf halbem Wege in
der Lösung jenes Problemes vorgeschritten, und es
käme sonach nur mehr auf das Wie? dieser Ausführung
im Besonderen an. Nun hat er aber thatsächlich mit
den einzelnen Szenen des Drama's überaus willkürlich
ge wirtschaftet — ich nenne das einfach „Wirtschaft,
Ho ratio; Wirtschaft!" — , trotzdem er pars pro toto, den
lediglich in Musik gesetzten I. Teil, „Faust44 schlechthin
nennt. Also schon in diesem vitalen Punkte befindet
er sich auf einem argen Holzwege. Und wie bereits
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Der „Fall" Heinrich Zöllner.
181
hier — bei dem Was? des ganzen Problemes, so hat
er meines Erachtens erst recht mit seinem Wie?
klägliches Fiasko gemacht; mit Ausnahme nämlich des
allein einheitlicher und eigenartiger gestalteten, auch
formell abgerundeteren, sozusagen in sich gedrungeneren
IV. Aktes ist das Ganze nichts als ein heillos Sammel-
surium von (nicht einmal elegant angebrachten) Gemein-
plätzen aus Weber'schen, Schumann'schen, in Sonderheit
aber den Wagner'schen Haupt-Werken. Ein direkter
Anklang lässt sich natürlich, wie stets, nirgends bestimmt
nachweisen, und doch verhält sich's so: Gemeinplatz ist
nämlich Etiquette in der Umkehrung — der doppelte
Kontrapunkt des Schematischen, wie alles Formelwesens.
Jedermann hat wohl schon bei Liebhaber-Theatern
oder Dilettanten-Vorstellungen selbst einmal Gelegenheit
gehabt, sich an dem geschickt gemachten, aus bekannten
Opern-Melodien und beliebten „Nummern" mit sach-
kundiger Hand zusammen gestellten, häufig sogar recht
hübsch instrumentierten, im Übrigen aber meist einheit-
losen und zerfahrenen Opus eines Dilettanten zu er-
götzen, wenn z. B. für einen scherzhaften Operetten-Text
eigener Mache rasch eine gefällige, womöglich komisch
kontrastierende Musik zusammen geschweisst werden
sollte. Namentlich bei Karnevals-Unterhaltungen ist der-
gleichen ja ein recht gebräuchlicher Sport und gerne ge-
sehener, famoser „Ulk", zu dessen „Produktion" in der
Regel bemerkenswert viel Witz aufgewendet wird, welcher
nicht selten einer weit besseren Sache würdig wäre.
Ahnlich berührt mich (rein subjektiv) nun auch dieser
Zöllner'sche „Faust". Nur bleibt eben hier der fatale
Unterschied noch der: dass weder der Text, noch die
Musik dazu neu waren, und dass es zum Unglücke
diesmal nichts Geringeres wie — just den Goethe'schen
„Faust" betraf, an welchem sich ein musikeifriger Dirigent
des „Kölner Männerges.-Vereins" derart vergriffen hatte.
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182
Wagneriana. Bd. III.
Pure Thorheit, wo nicht gar Albernheit war's, dem
Komponisten sein beträchtliches technisches Können,
eine den Kundigen geradezu verblüffende Kenntnis der
„Mache" als solcher, absprechen zu wollen; seine Be-
gabung: wirksam, klangvoll, farbengesättigt (nennen wir
die schlechte Sache mit einem schlechten Worte:
„effektuos") zu schreiben, ist ganz erstaunlich, so sehr
wir auch hier und dort das Instrumentale weniger dick
aufgetragen, das Blech weniger materiell, weniger brutal
behandelt sehen möchten; ja, der Eingangschor („Sonnen-
hymnus" der Engel) ist so berauschend durch den Klang-
zauber, welcher über das Ganze ausgegossen, so wahrhaft
berückend seinem sinnlichen Reize nach gegeben, dass
man sich ihm unwillkürlich gefangen giebt und erst
später zur Reflexion wieder erwacht — wonach sich dann
allerdings der „moralische Katzenjammer" über solchen
trügerisch-schönen Ohrenschein um so kläglicher einzu-
stellen pflegt. Aber Zöllner bleibt, genau genommen, nur
ein überaus gewandtes, vielseitiges Talent — im Abgucken,
und es bestehen immerhin noch ganz wesentliche Unter-
schiede zwischen solchem „Abgucken" (wie einer „sich
räuspert und wie er spuckt") oder einem „Kopieren"
(das Äussere eines guten Kernes genau nachbilden),
sowie zwischen „Imitieren" (im Allgemeinen nachahmen,
nicht genau, mit eigener Selbständigkeit) und (das innere,
frisch quellende Leben) getreulich „Ablauschen" (um
es seinem Geiste, nicht dem Buchstaben nach, neu
aus sich heraus nun zu gestalten)! Kurz — hier muss
es leider heissen: „Gewogen, und zu leicht befunden!"
Dabei ist Zöllner kein Musiker als solcher, im
selbständigen, absoluten Sinne des Wortes; er bedarf
augenscheinlich stets des erläuternden Textes oder
irgend einer spezielleren poetischen Anregung als festen
Stützpunktes, um seine musikalische Phantasie daran erst
sich emporranken zu lassen. Ein Text wird ihm so
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Der „Fall" Heinrich Zöllner.
183
zur Krücke, um sich an dieser aufzurichten und unfrei zu
wandeln. Nirgends finden wir daher wirklich und aus-
geprägt Sinfonisches bei ihm, nie ein breit dahin
flutendes Melos im Beethoven'schen Geiste, gemäss dem
Wagner'schen Sinne oder auch nur nach Liszt'schem
Muster; überall lediglich unruhvolle Ansätze, nicht
einmal ein ausgeführtes „Vorspiel", keinerlei Interludien
im geläufigen Sinne dieses Begriffes, ja nicht einmal
die bei fallendem Zwischenvorhange doch so nahe
liegende und notwendige Zwischenakts- oder Überleitungs-
Musik. Endlich wäre als kritische Ausstellung noch
anzubringen, dass das Ganze nach seinem lokalen und
zeitlichen Kolorite so ungefähr doch wohl dem „Meister-
singer-Typus oder -Stil hätte entnommen bezw. nach-
gebildet werden müssen, statt dessen der Komponist
ein hochmodernes, tiefphilosophisches und glühend-
sinnliches Weltschmerz-Drama mit durchaus opernhaften
Allüren heraus holen zu müssen vermeinte . . .
Was die äussere Ausstattung des Werkes betrifft,
so ist immer wieder geradezu „fabelhaft", wie einzig
und grossartig dergleichen gerade in München
inszeniert zu werden pflegt. Ich sage nicht, dass nicht
z. B. in der Leipziger Ausführung die Schlussapotheose
des II. Teiles schon herrlich und prächtig genug
wäre ; allein die Münchener Inszenierung des „Prologes
im Himmel" kann kaum mehr übertroffen werden.
Lediglich einen unmassgeblich bescheidenen Vorschlag
mehr dramaturgischer Art möchte ich mir dabei
erlauben: Wäre nicht auf irgend eine Weise (etwa durch
Wandeldekoration?) mehr Leben und Schweben, mehr
Bewegung und Regung in die starren, toten Wolken-
schichten der ersten und letzten Szene noch zu bringen?
Eine stete Oszillation sollte hier jedenfalls herrschen!
Denn jeder Gebildete frage sich doch selbst: ob er
nicht — und zwar nicht allein unter dem Begriff einer
184
Wagneriana. Bd. III.
„ewigen Seligkeit", sondern auch bei der Lektüre des
Drama's, unter dem Eindrucke der grandiosen Stimmung
dieses Dantesken Himmelsgemäldes — sich eine Einheit
von Licht- und Schall -Wellen gedacht, eine harmonische
Doppelschwingung des Äthers bereits empfunden habe (wie
dies ja auch schon in dem Pythagoreischen Gedanken
einer „Sphärenharmonie" gelegen hat und von den Engeln
in ihrem erhabenen Gesänge unzweideutig genug noch
dazu ausgesprochen wird, wenn es hier heisst, dass die
„Sonne töne")? Was freilich die übrigen Akte noch
anlangt, so muss ich wohl oder übel bekennen, dass,
wer den ganzen „Faust" einmal erst auf der
Devrient,schen, dreifach gegliederten „Mysterienbühne"
<vide Leipzig oder Weimar) erschaut, nicht nur den
halben Faust allein für sich nicht mehr gut ver-
tragen, sondern auch jede andere Inszenierung, mit den
häufigen Verwandlungen bei offener Szene, schlecht
genug goutieren kann. Und wenn wir auch nicht gerade
behaupten wollen, dass mit jener Mysterienbühne alle
szenischen Schwierigkeiten ohne Weiteres schon gehoben
wären, wir müssen alsdann doch z. B. das unmittelbare
Übergehen der Szene zwischen Mephisto und den Frauen
in die andere zwischen Mephisto und Faust, bei offenem
Vorhange, wie so manches andere Derartige, als
direkt geschmacklos nunmehr wohl bezeichnen; d. h. wir
drehen eben vor Allem dem Komponisten einen Strick
daraus, dass er uns dergleichen Phantasiesprünge nicht
wenigstens durch seine Kunst, etwa durch ein
charakteristisch-überleitendes und ebenso vorbereitendes
Interludium (während dessen der grüne Vorhang getrost
hätte fallen können) lebendig vermittelt und von Neuem
begreiflich gemacht hat. — Selbst die einige Tage später,
bei der Aufführung des Goethe' sehen Drama's mit der
Max Z eng er* sehen Musik benützte bessere, weil zweck-
und sinngemässem, im Übrigen auch durchaus neue
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Der „Fall" Heinrich Zöllner.
185
Dekoration vermochte übrigens mit Nichten alle Wünsche
dieser Art vollauf schon zu befriedigen. Dessen-
ungeachtet durfte man von solch verschiedenartiger
szenisch-technischer Behandlung eines und des selben
Meisterwerkes doch überaus befremdet sein, zeigte eine
solche Massregel doch klar und deutlich genug, welch
verfehlten Standpunkt man, völlig achtlos, auch heut-
zutage noch, und dazu an einer bedeutenden Bühne,
jeder Oper gegenüber einnimmt, indem man derart
zwischen ihr und dem „eigentlichen" (!), rezitierten
Drama noch eine strenge Scheidewand zu Ungunsten
der ersteren errichtet. Und das lässt sich also ein
Komponist und „Wagnerianer** ruhig gefallen? Oder
sollen wir das am Ende gar als eine stillschweigende,
beredsame Kritik der Intendanz und Regie gegen
seinen Versuch auffassen: welch beide dadurch zuletzt
entschieden hätten, dass es sich hier eben nicht um
das Goethe'sche „Musikdrama" als solches, sondern nur
um eine schlechte, rechte „Oper wie andere mehr" zu
handeln habe? IHsctie, moniti!
Volle siebzehn Jahre später, im 25. Gedenkjahre
des Krieges von 1870/71, hatte ich — diesmal bei der
Aufführung des „Überfalles" zu Dresden — Anlass,
zum „Fall Zöllner*4 nochmals Stellung zu nehmen bezw.
bei dieser Gelegenheit gleich wahrzunehmen, ob wohl
das — zugegeben: herb-schroffe — Urteil von damals zu
Recht bestehen könne, oder nicht vielmehr doch nun
zu revidieren wäre. Mein Urteil hierbei nun lautete
— kurz und bündig — folgendermassen :
Das Textbuch, mit Benützung der Novelle „Die
Danaide" von Ernst von Wildenbruch vom Komponisten
selbst, freilich ohne allen dichterischen Geist, ver-
fertigt, behandelt eine freie Episode aus jener Zeit des
grossen Krieges, in welcher die deutschen Kämpfe
186
Wagneriana. Bd. III.
mit den Franktireurs eine besondere Rolle spielten.
Trotzdem aber kann es gar keinem Zweifel unter-
liegen, dass Zöllner, der als Sohn des bekannten
Männergesangs - Komponisten in ganz Sachsen einen
tüchtigen Stein im Brette hat, die augenblickliche
Jubiläumsbegeisterung lediglich geschickt ausgenützt, hat,
um seine beiden Werke: diesen „Überfall" und das zu
Leipzig am 1. September aufgeführte „Vor Sedan", wenn
überhaupt, so doch wenigstens bei solcher Gelegenheit,
glücklich an den Mann zu bringen; denn weit eher als
nationale Kriegsbegeisterung etwa, predigen sie jene
bekannte freisinnig -internationale Versöhnlichkeit, die
zu der augenblicklichen Stimmung des deutschen Volkes
ungefähr wie eine Faust aufs Auge passt. Der Zeitstoff,
den er sich zum Vorwurfe genommen, nimmt darum
auch in seiner Oper kaum eine andere, höhere
Bedeutung ein, als ungefähr das Sensationsinteresse
irgend einer aktuellen Begebenheit in unserem Zeitungs-
Romane dies thut, und was den ästhetisch empfindenden
Menschen von vornherein zur Verzweiflung bringen
kann, das ist die völlige Unvereinbarkeit dieses Novellen-
Milieu's mit dem musikdramatischen Stile vom hohen
Kothurn, als welche die Grundlagen der modernen Oper
überhaupt schon auf den Kopf stellen muss. Realistische
Voraussetzungen . . . und ein idealistischer Ausdruck für
diese! Man denke nur: schmutzige Stiefel und ab-
geriebene lederne Reiterhosen — mit Harfenbegleitung;
ein in der schwer gepanzerten Rüstung der Nibelungen-
musik mit breiten Posaunenchören mächtig einher
flutender Gefühlsstrom — und oben auf der Bühne
zwei, vom matten Scheine einer kleinwinzigen Petroleum-
lampe beschienene Konventionsmenschen, die sich per
„Sie" und „Madam" anreden; später Panorama-Malerei
mit dem „lebenden Bilde" von zur Schlacht ziehenden
Pickelhauben — und daneben eine weichmütig säuselnde
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Der „Fall" Heinrich Zöllner. 187
Musikbegleitung; endlich eine geradezu erfrieren machende,
echte Winterlandschaft mit fallendem Schnee — dazu aber
schwülste Tristan- Anklänge! Auch eine Sache wie der
militärische Zapfenstreich nimmt unter Zöllners Hand
eine merkwürdig spiessbürgerlich - nachtwächterhafte
Färbung an. Kurz, das Liebenswürdigste an Zöllners
Begabung wäre ohne Zweifel die begeisterungsfähige
Naivetät, mit der er, wie schon bei seinem Goethe'schen
„Faust", an einen Stoff sich heran gemacht, der über-
haupt gar kein Opernvorwurf ist; wie zugleich wieder
das eigentlich Bewundernswerte an ihm der un-
erschütterliche Glaube und der hingebende Eifer bleibt,
welcher ihn die unverfroren-skrupellose Eklektik aus
Wagner, Nessler, Rubinstein, Verdi, Mascagni und
Spinelli anscheinend gar nicht einmal empfinden lässt,
der er in wahrhaft erschreckender Weise auch hier sich
wieder verfallen zeigt. „Wohlauf Kameraden", „Morgen-
rot, Morgenrot", die „Marseillaise" und ein französisches
„Chanson" stehen obendrein mehr oder minder un-
vermittelt dicht neben einander — von organischem
„Stil" kann also schlechterdings hier keine Rede sein . . .
Die vom Dresdener Hoforchester unter Sc huchs eleganter
Führung mit schier unverdienter Klangschöne gespielte
Neuheit fand, wie alle Sensations-Romane, lebhaftesten
und willigsten Beifall, so dass der persönlich anwesende
Komponist nach den beiden Akten wiederholt für die
gute Aufnahme seines Werkes danken durfte. Uns
wird freilich Herr Anthes als „singender Frei-
williger" und der Opernsänger Schrauff als melo-
dramatisch (!) anrufender „Feldwachposten" ganz un-
vergesslich bleiben. Eines der besten Stücke sind
hingegen die belebten Franktireur-Chöre, mit denen die
Oper in flüssiger (wenngleich etwas wohlfeiler) Frische
recht charakteristisch-wild einzusetzen hat.
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Heinrich der Löwe
Grosse Oper in vier Akten von Edmund Kretscbmer
(1894)
Ich bin selbst nicht im Theater gewesen. Ich hatte
mich erinnert, dass schon Robert Schumann manchmal,
um ein objektives Urteil über eine Sache zu gewinnen,
zwei intime, aber höchst extreme Freunde — Eusebius
und Florestan mit Namen — für sich ausgeschickt
hat, und habe gestern zwei solche Freunde, auf deren
Urteil und innere Wahrhaftigkeit ich mich unbedingt
verlassen kann, statt meiner diese Oper besuchen lassen.
Der Eine von ihnen ist ein frommes, gutherziges und
sinniges Gemüt, das niemand gern etwas zu Leide thut
und kein Spiel jemals verderben kann — ganz wie jener
Schumann'sche Eusebius; der Andere freilich ist das
pure Gegenteil hiervon — wie weiland Florestan eine
radikale, heftig aufbrausende und aufrührerische Natur
mit einer von (leider oft beissender) Satire geschwellten
Ader. Derweilen nun diese Beiden sich das Werk für
mich anhörten, sass ich bei der Lampe Schein zu Hause
und studierte emsig Herrn Otto Schmids „Edmund
Kretschmer"-Buch, und so hoff ich, wird es mir schon
gelingen, aus der Beiden Berichten, Urteilen und An-
schauungen als unbeteiligter Dritter das rechte „Mittel"
auch heraus zu finden. Ich will also zuerst „den Einen" und
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Heinrich der Löwe.
189
dann „den Anderen" gehörig vernehmen, um am Schlüsse
womöglich meinen eigenen Senf noch mit drein zu geben
Der Eine: Solch' weltliche, lebensfrische, theater-
freudige und instrumentationskundige Kirchen-Organisten,
wie Meister Edmund Kretschmer einer ist, wird es wohl
selten geben! Was unseren heimischen „Wort- und
Tondichter" — und das ist er doch nun einmal für
uns Dresdner — vor Allem so unvergleichlich liebens-
würdig macht, das ist der schöne Glaube an seine
Kunst, der sich so sehr vorteilhaft unterscheidet von
jener bei unseren „Musikanten" neuerdings eingerissenen
„Glaubens"- und „Kurslosigkeit", mit der sie in den
Musik- und Theaterwogen umher treiben und in den
Tag und in die Welt hinein musizieren, nur damit eben
musiziert, „komponiert" und „oper"iert werde. Seine
Kunst ist eine durch und durch ehrliche, und in diesem
Sinne ist auch sein „Heinrich der Löwe" ein grund-
ehrliches, höchlich ernst-gemeintes und ebenso ernst zu
nehmendes Werk, das — wie es von der begeisterten
Schaffensfreudigkeit des Komponisten auf dem ihm ge-
läufigen Gebiete Zeugnis giebt — so besonders durch
seine mannigfachen Schönheiten, bei einer so glänzenden
Darstellung und prächtigen Ausstattung zumal, Inter-
esse erwecken darf und Achtung vor dem schönen Streben
seines Schöpfers einflössen muss. Der trotz seiner
64 Jahre noch so elastische Autor ist vor Allem
mit Leib und Seele Deutscher; in solchem Sinne ist
auch sein Werk ein erfreuliches, ebenso beredtes wie
tüchtiges Dokument dieser seiner treu -vaterländischen
Gesinnung geworden, gehört es zu denjenigen Werken,
welche — wenn sie vielleicht auch weniger für die
Zukunft der Kunst bedeuten sollten — doch der
Gegenwart immerhin etwas zu sagen haben, weil sie im
guten Sinne „patriotisch" sind. (Das war ja auch so sehr
ungerecht von R. Wagner, dieses Moment an W. Weiss-
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190
Wagneriana. Bd. III
heimers „Theodor Körner"-Oper vollständig zu verkennen
und diesen edlen, verdienten Mann so überaus schwer zu
kränken!) Unverwüstlich ist dem gewandten Setzer so
vieler vortrefflicher Chorlieder zudem aber auch der
Glaube an die Kraft des deutschen Liedes — das
„Sieg im Gesang", das er einmal gedichtet und kom-
poniert, ist sein Lebensmotto gleichsam geworden; in
diesem Sinne steht auch das „deutsche Lied" im Mittel-
punkte dieser seiner Oper, wird gerade die Lösung des
dramatischen Knotens darin mit geradezu schlagender
Beweiskraft durch den Gesang allein herbei geführt. Für
Deutschlands Grösse und deutsche Treu', für Frauen-
ehr' und Liedesmacht — das sieht man ihm an —
geht er nun einmal durch's Feuer; ein Abglanz solcher
begeisterten Wärme, ein Strahl jener felsenfesten Über-
zeugungen hat auch sein Werk belebt und innerlich
frohgemut gestaltet.
Manche mochten sich wohl darüber gewundert
haben, warum man zur würdigen Feier von des Autors
40 jährigem Amtsjubiläum nicht seine „Fol kunger",
die doch seinen Namen weit über Dresdens Mauern
hinaus getragen und in ganz Deutschland sattsam be-
kannt gemacht haben, zur Aufführung ausersehen hatte.
Allein, einmal sind ja diese „Folkunger" von Zeit zu
Zeit immer wieder bei uns aufgeführt worden — da wollte
man doch dem Jubilare durch Neueinstudierung einer
anderen Oper zu seinem Gedenktage gern auch einmal
eine besondere Freude anthun; und dann bin ich unserer
verehrlichen Opernleitung doch doppelt erkenntlich da-
für, dass sie gerade „Heinrich den Löwen" dazu aus-
erkor — denn erstens war das Werk, das die Aussöhnung
Kaiser Barbarossa's mit seinem Vasallen zum Inhalte
hat, gewiss ein eminent zeitgemässes „Spiel" eben jetzt
(da die hohe Politik dazu die äussere Begleitung abgiebt);
und zweitens bin ich Ketzer genug, diesen „Heinrich
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Heinrich der Löwe.
191
den Löwen" Kretschmers sogar auch für sein bestes
Bühnen -Werk zu halten, besser entschieden als seine
berühmten „Folkunger", an denen mich das MosenthaP-
sche Textbuch mit seiner äusserlichen, auf „Effekte" viel-
fach zugespitzten Mache doch immer so arg verstimmt
hatte. Man braucht hier nur z. B. auf Astocs, des
Sehers, Warnung hinzuweisen, auf das die erste Szene
des 1. Aktes beherrschende, frisch sprudelnde, hübsche
und eigenartige Frohsinnsmotiv, das kernige Volkslied
weiterhin zu Ehr* und Preis Heinrichs des Löwen, auf
die schöne Szene Clementinens sodann mit den Armen,
auf die von interessanten Momenten getragene Zwie-
sprache zwischen Konrad und Clementine, sowie auf
die wohlgetroffene Nachtstimmung an der Küste Ancona's
mit dem Liede Clementinens bei Beginn des 3. Auf-
zuges, oder die prächtigen Märsche und vor Allem die
sinnvoll-charakteristischen Tänze, zuletzt auch auf die
fein ausgearbeitete Altpartie der Irmgard, wie füglich auf
den Schluss des Ganzen — auf alle diese Dinge, um
jenes Urteil sofort näher zu begründen. Das Textbuch,
das allerdings vielleicht durch eine andere Bearbeitung
der Liedeswirkung vor dem Kaiser auf nur 3 Akte hätte
eingeschränkt werden können, ist im Allgemeinen gut
aufgebaut und fesselt als Dichtung ganz entschieden;
es ist nur nicht dramatisch so wirksam wie das an
effektvollen Schlagern sicherlich reichere „Folkunger"-
Drama. In seinem Verhältnis zu Wagner bedeutet
dieses mehr den Meyerbeer- und Tannhäuser-,
„Heinrich der Löwe" dagegen den Lohengrin- (wenn
auch noch ein klein wenig den Rienzi-)Stil. Der In-
strumentalsatz ist meist voll und weich gehalten, ohne
gerade der späteren Wagner'schen Polyphonie zu folgen;
die zahlreichen Posaunen- und Trompetenstellen darin
erscheinen von grosser Kraft, geben sich wenigstens
mit imponierendem Glänze. Kurz, das Werk hinterlässt
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192
Wagneriana. Bd. HI
schliesslich einen recht sympathischen Eindruck, der
sich sogar noch erhöhen darf, wenn man erst in Er-
wägung zieht, dass sein Schöpfer von den „Folkungern"
zu ihm — „fortgeschritten" ist.
Herrn Hofkapellmeister Hagens „ausgesprochenem"
Temperamente liegt diese Art Musik besonders gut;
von den Darstellern zeichneten sich die Damen Malten
und Fröhlich, die Herren Scheidemantel und
Perron vor Allem aus. Herr Gritzinger, als
Träger der Titelrolle, wurde freilich weit besser gewesen
sein, wenn er zu dem goldenen Metall seiner Stimme
und der Reckenhaftigkeit seiner Hünengestalt auch
noch eine geschmackvollere, schulgemässe Behandlung
seines Organes und wirklich heroische Körperbewegungen
mit gebracht hätte. Die Inszenierung Hess an Ernst und
Eifer kaum einen Wunsch offen; nur der moderne
Leuchtturm an der Küste von Ancona wollte sich nicht
so ganz natürlich dem historischen Bilde einfügen . . .
So weit mein „Einer**.
Der Andere: Nichts Unausstehlicheres als so ein
40 jähriges Jubiläum, das einem zwecklosen Jubilieren zu
allen Zeiten Thür und Thor sperrangelweit öffnet! Und
giebt es etwas Schrecklicheres als eine Lokalberühmt-
heit? Das erinnert mich immer wieder an des guten,
seligen Franz Lachners Oper (Gott hab* sie selig!)
„Katharina Cornaro". So lange der alte Herr noch
lebte und in Münchens Strassen spazieren ging, da
wurde sie von Zeit zu Zeit immer wieder einmal zu
seinen Ehren solenn dort aufgeführt. Kaum hatte er
aber die Augen geschlossen, war sie auf Nimmer-
wiedersehen auch bereits verduftet. „Von sanges-
brüderlicher Seite** ging die erste Anregung zu diesem
Jubiläum aus — diese Anregung erscheint doch jeden-
falls charakteristisch. Wenn die Einen Liedertafel-Opern,
die Anderen Wagner -Opern schreiben — Kretschmer
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Heinrich der Löwe.
193
hat das merkwürdige und gewiss interessante Kunst-
stück fertig gebracht, beide Stilarten in einem Werke
zu vereinen. Man hat in neuerer Zeit billige Volks-
vorstellungen und Schüleraufführungen eingerichtet.
Sollte jemand auf den dummen Einfall kommen, be-
sondere Liedertafel -Vorstellungen zu befürworten, —
wahrlich, so würde „Heinrich der Löwe" in aller erster
Linie hiefür in Betracht zu ziehen sein. Und, falls
einmal ein „Leitfaden" zu Edmund Kretschmers „Musik-
dramen" notwendig werden sollte — ich meinerseits
glaube diesen Ariadnefaden gefunden zu haben: „Höchste
Philistrosität" heisst die Formel, unter der allein wir
seine Werke verständnisvoll begreifen werden; das ist
der „Schlüssel", welcher das Zauberschloss zu ihnen
glücklich — zu sprengen vermag!
Duo si faciunt idem, non est ülem. Wenn ein Mann
wie Bismarck in gehobener Rede einmal donnert: „Wir
Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt !"
— oder ein Genie wie Richard Wagner seinen Hans
Sachs „von deutscher Kunst und Art" erhaben sprechen
lässt, „die in deutscher Meister Ehr* lebe" — nun, so
ist das Person gewordene Natur und hat einen gar
guten, tiefen Klang. Wenn das aber in Schützenfest-
stimmung pathetisch gepriesen oder von einem biederen
Liederkranz mit Emphase laut ausgerufen und ebenso
behauptet wird, da klingt's hohl und ist eitel Deutsch-
Duselei — sehr patriotisch gewiss, aber ganz ohne
alle Kunst! Freilich, es muss auch solche Käuze geben,
die den Wein nicht lauter und rein vertragen können
und ihn mit Wasser verdünnen müssen; sie sollen mir
nur aber nicht weis machen wollen, dass auch in
diesem „Gänse-Wein" noch die volle „Wahrheit" liege!
Ich hab' einmal ein Marionetten -Theater gesehen: die
Figuren, die sich da vor meinen Augen tummelten, die
bewegten ihre Füsse, Arme, Köpfe, ihren Ober- und
Seidl, WftgnerUna. Bd. IN. 13
194
Wagneriana. Bd. III.
Unterleib, ja sie redeten sogar ganz natürlich — es
waren aber eben doch nur „Marionetten"; derjenige,
der sie regierte und hinter den Koulissen über ihnen zu
uns redete, der glaubte auch steif und fest an seine
Gestalten — und das war noch sein Glück; aber ich,
ich konnte das nicht, mir fehlte dieser Glaube zu jener
Botschaft, denn ich verspürte viele „Effekte*4, jedoch
nichts „wirkte". Dabei verfährt unser Komponist ganz
frei nach — sozialistischen Grundsätzen. „Eigentum
ist Diebstahl", sagt Proudhon; er setzt diese Theorie
flugs in Praxis um und stiehlt Eigentum — Wagners
in Sonderheit, ohne doch dessen Lehre von der Hin-
fälligkeit der grossen „historischen" Oper sich gleich-
zeitig ernstlich zu Herzen zu nehmen. Kurz, dieser
„Leu" des Herrn Edmund Kretschmer könnte noch
zu einem schlechten „Leumund" des Namens Kretschmer
selber werden, und wenn das Volk in der Oper ein
paar Mal ganz naiv fragt: „Wer widersteht, wer wider-
strebt Heinrich dem Löwen?44 — so möcht' ich lieber
glauben, dass die ganze Frage falsch gestellt sei, und
für mein Teil am Liebsten darauf antworten: „Mir wider-
steht, mir widerstrebt Heinrich der Löwe!" — Uber
die Aufführung ist sehr wenig zu erwähnen. Herrn
Gritzinger habe ich zum ersten Male gehört und
muss ihm leider sagen: „Nicht gut gebrüllt, Löwe!"
Hätte vollends Kaiser Barbarossa also gesungen wie
Herr Decarli, so würde er wohl kaum den Anhang
gehabt haben, den ihm die Geschichte trotz all' seines
Ungemaches mit dem Papsttume doch zuweist. Ein
charakteristischerer Dirigent endlich wie Hofkapell-
meister Hagen konnte für dieses Werk gar nicht auf-
getrieben werden: die Vereinigung von Philistrosität
und Urdeutschtum (vgl. seinen Namen) gerade in seiner
Person blieb ja durchaus im «Stile«* dieses Werkes . . .
Dies also der Bericht meines „anderen" Gewährs-
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Heinrich der Löwe.
195
raannes, wozu ich nur noch bemerke, dass Keiner vom
Anderen etwas wusste und etwa auf seinen Partner
„reagierte", da ich Jedem den Auftrag besonders und
insgeheim gegeben hatte.
Schockschwerenot noch einmal, sind das nun aber
widersprechende und einander diametral entgegengesetzte
Ansichten! — so wird der Leser mit mir verzweifelt
ausrufen. Und doch, wenn wir recht zusehen: schliessen
sich diese beiden Urteile absolut aus? Wofern wir uns
nur recht klar vor Augen halten wollen, dass Florestan
in seinem derben Ungestüm zuletzt doch nur immer
die Sache, nie die Person, dabei im Auge gehabt,
einen zu hohen Massstab gleichsam angelegt und auch
diesen allzu ungehobelt zur Anwendung gebracht hat,
wird sich die Lösung dieses fatalen Konfliktes in der
rechten Mitte gewiss nicht allzu schwer ergeben. Eusebius
findet halt mit seiner zartsinnigen Natur liebenswürdig
und ehrlich, was Florestan von seinem Gesichtspunkt
aus in zornigen Harnisch bringt. Und was die Nach-
ahmung Wagners anlangt — ja, sind wir denn darin
heute so erheblich viel weiter (ganz im Allgemeinen),
dass uns diese Errungenschaft etwa ungerecht gegen-
über einer Erscheinung wie dieser machen dürfte?
Nein, Florestan, du bist ein schlechter Kritikus mit
deinen höchsten idealen Zielen! Du glaubst wohl gar
über diese „Wagner-Nachtreterei" bereits hinaus zu sein
und dünkst dich, Gott weiss was schon! Wirklich, der
Unterschied zwischen hier und dort ist kein gar zu
grosser: heute haben wir eben die Opern im Tristan-,
Meistersinger- und Götterdämmerungs-Stil; damals aber
haben wir in der Wagner-Nachahmung noch das Stadium
im Rienzi-, Tannhäuser- und Lohengrin- Genre gehabt
— voilä tout! Und es ist erst noch die grosse Frage,
was zuletzt glaubhafter berührt: jene Unangemessenheit
eines immensen, götterhaften Ausdruckes zu oft ganz
13*
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196
Wagneriana. Bd. III.
geringfügig, „menschlich-allzumenschlichen" Vorgängen,
oder dieser, wenn auch homophone, so doch plastischere
Stil des früheren Wagner, der wenigstens eine Kon-
gruenz von Form und Inhalt im Formate gewährleistet. Du
sprichst von Philisterhaftigkeit bei diesem Werke? Sieh
du nur zu, dass du mit all' deiner Genialitätssucht
am Ende nicht selbst noch zum Philister werdest, dass
du auf deine alten Tage noch über eine solche Frische
des Geistes und ein so jugendliches Herz verfügest,
wie es der Komponist »Heinrichs des Löwen" sich zu
erhalten offenbar verstanden hat! Auch Eusebius meint
ja gewiss nicht, dass hier etwas die Zeiten hoch Über-
ragendes, ewig Uberdauerndes, „Unsterbliches" geschaffen
sei, und Kretschmer selber wird sich wohl kaum diesem
Wahne einer n Persönlichkeit" hingeben — dazu ist er
ein viel zu einsichtsvoller Mann, ehrlicher und gescheiter
Musiker dazu. Doch je weniger eben diese Werke An-
spruch auf eine spätere Fortdauer haben, desto eher mag
die Zeit, für die sie geschrieben sind und für welche
sie passen, sich ihrem Genüsse hingeben und sich an
ihren Schönheiten erfreuen; desto begreiflicher erscheint
das dringende Bedürfnis ihres Schöpfers, zumal hier
am Orte seiner Wirksamkeit, sie doch wenigstens bei
Lebzeiten einmal entsprechend aufgeführt zu sehen.
Warum sollte man auch dem wackeren alten Herrn
mit dem freundlich strahlenden Gesicht, einer um
Dresden gewiss verdienten und noch heute sich be-
währenden Kraft, nach 40 jähriger Amtsthätigkeit eine
derartige Freude nicht von Herzen gönnen? Und er
freute sich ja inniglich dieses seines Ehrentages —
das merkte man ihm ersichtlich an, wenn man ihn so
im Zuschauerräume die Glückwünsche seiner Bekannten
entgegen nehmen sah; das zeigte auch die rührende
Gewissenhaftigkeit, mit der er anlässlich der mehr-
maligen Hervorrufe alle die schönen Blumenspenden,
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Heinrich der Löwe.
197
von dem geschmacklosen grossen Blumenstern in der
Mitte bis zum koketten Primadonnen-Blumenkörbchen
herab, mit auf die Bühne schleppte! . . .
Doch halt — was ist das? Ich erwache ja auf ein-
mal? Das hab' ich ja alles nun selber geschrieben, ich
war also in eigener Person auch im Theater! Zum
Kuckuck, leide ich denn an dem Paul Lindau'schen
„Doppelbewusstsein", bin ich am Ende gar, wie sein
verflixter „Anderer", Selbstdoppelgänger geworden? Doch
nein, leide bereits nicht mehr daran — denn wie
jener „Andere" habe ich ja soeben, indem ich die
Einheit des Bewusstseins wieder herstellte und mich
sowohl als den Einen wie als den Andern wieder er-
kannt, die Heilung persönlich schon vollzogen. Gott
sei Lob und Dank, für mich wie den Leser — ich
nenne mich wieder mit meinem ehrlichen Schrift-
steller- und Kritikernamen: wach und ganz gesund —
Arthur Seidl.
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Ingrid
Oper in zwei Akten von T. K ersten
Das Irrlicht
Oper in einem Akt mit teilweiser (1) Benutzung einer französischen
Idee von Kurt Geucke; beider Musik von Karl Grammann
(1894)
Die sonst für Eingeladene doch so geläufige Wen-
dung, dass „mit Vergnügen" der freundlichen Auf-
forderung Folge geleistet werde (nämlich zu berichten) —
eine solche Redensart würde angesichts der beiden obigen
Opern-Neuheiten sehr schlecht angebracht sein. Bleibt
es doch ein höchst zweifelhaftes Vergnügen, bei
solchen Erstaufführungen statt der „Kunst warten" zu
dürfen, auf die „Kunst warten" zu müssen.*) Etwas
Dilettantischeres als das von Dr. K ersten gefertigte
Textbuch zu dem erstgenannten Werke ist mir wirklich
schon lange nicht mehr vorgekommen. Es zeigt wieder
einmal so recht erschreckend, wie himmelweit sich
unsere „litterarische" Bildung mit der Zeit von der
„Kunst" und ihrem kräftig pulsierenden, frisch quellenden
Leben schon entfernt hat. Aber auch das andere Werk,
•) Anspielung auf die Zeitschrift, in welcher der Bericht
erschien.
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Ingrid und Irrlicht.
199
wenn es sich gleich mit logischem Zusammenhange
giebt und verhältnismässig wirksamer darstellt, es hat
von der Kunst doch sozusagen nur den Schein geborgt.
Herr Kurt Geucke, sein Verfasser, ist ohne alle
Frage ein grosses Genie, „er sagt es ja selbst" —
nämlich im „Freiberger Anzeiger"; aber am Ende doch
nur in seiner Eigenschaft als Zeitungs-Redakteur eben
jenes Anzeigers: seine Bedeutung als „genialer Text-
dichter4* ist mir bis jetzt leider noch nicht aufgegangen.
Im Gegenteil erweist sich bei einem genaueren Vergleich
seines „authentischen" Urtextes mit der für die Bühnen-
darstellung endgültigen „offiziellen" Ausgabe des Libretto's
(auch das wurde einem noch zugemutet!), dass der
Komponist den Dichter hier um einige, nicht ganz un-
wesentliche Punkte sogar noch verbessern konnte.
Dieser Komponist selbst nun hat bisher zu Dresden
immer in dem Gerüche gestanden, ein „Wagnerianer** zu
sein: ihm ist aber damit schweres Unrecht geschehen,
denn er hat jetzt ganz offenkundig bewiesen, dass er
es nicht ist und überhaupt gar niemals gewesen sein
konnte. Er konnte es schon nicht sein von wegen der über-
mässig schwammigen Weichlichkeit seiner Musik, die ihn
vor lauter Schlagsahnen -Süsse und Verschwommenheit
nirgends zu einer schlagkraftigen dramatischen Gestaltung
kommen lässt und jeder markigen Plastizität scheu aus
dem Wege geht. So viel auch eine gewisse Kritik
immer Nibelungenklänge bei ihm finden wollte — kräftig-
harte Septimen-, Nonen- und Undezimen-Akkorde scheint
es in seinem persönlichen Musiksystem überhaupt gar
nicht zu geben, und ich bin überzeugt, den „Rheingold !"-
Ruf der drei Rheintöchter hätte Grammann nur mit der
samt-weichen kleinen None zu erfinden fertig ge-
bracht, durch deren spätere Einführung (auf die ur-
sprünglich grosse hin) ein Wagner doch gerade die
musikalische Schattierung eines bedeutsamen szenischen
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200
Wagneriana. Bd. III.
Vorganges im dramatischen Sinne herbeizuführen ver-
mochte: wehmütige Trauer über das inzwischen ge-
raubte Gold, welche die drei sonst so naturfrischen
Mädchen nunmehr befallen hat! Überdies müsste sich
aber ein echter „Wagnerianer" auch über die Grundbegriffe
eines musikalischen Drama's doch etwas klarer sein, als
dies Grammann anscheinend von jeher gewesen und mit
hartnäckiger Ausdauer auch heute noch immer ist. Man
stelle sich nur vor: beide Opern stehen im Zeichen des
„modernsten Weltverkehrs und seiner Mittel"; sie spielen
in unseren heutigen Tagen, und man könnte sie beinahe
als Huldigungsgedichte an den Herrn Staatssekretär Dr.
Stephan schon auffassen. Telegraphenstangen werden da
angesungen, Telegramme in Musik gesetzt; darunter durch
glaubt man interessante Zeitungsinserate heraus zu hören,
und es dürfte somit eigentlich nur noch der „aktuell"
arbeitende „Reporter** — vertont — hier fehlen; in jeder
der beiden Opern treten auch zwei Personen im neu-
zeitlichen Touristenkostüm oder im Gesellschaftsanzug
auf, und in der „Ingrid** (2. Akt) singt sogar der
Chor, begleitet von den „Kanonenschüssen** des betr.
Schiffes, sehr geschmackvoll-poetisch sein alltägliches:
„Das Schiff nach Trondjem!**, nachdem Erhard kurz zuvor
„des Dampfers Ankunft** pünktlich angekündigt hat. Ja,
wem seit Schiller und Goethe, Beethoven und Wagner
die Bedeutung der Idealitäts Sphäre der Musik für
das Drama noch immer nicht aufgegangen ist — dem
Manne kann eben nicht mehr geholfen werden!
Welche Irrpfade in ästhetischer Hinsicht aber auch
das „Irrlicht** — nomen et omen — wieder beleuchtet,
das geht schon daraus hervor, dass sich Komponist und
Dichter in ihrer blinden Nachahmung der Italiener gar
nicht mehr die Frage vorgelegt haben, ob denn die
„modernen** Schlag auf Schlag-Einakter, die im Grunde
nur als letzte Akte eines vorausgebenden, einfach weg-
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Ingrid und Irrlicht.
201
gestrichenen, vielleicht sogar recht sinnvollen Drama's
gelten können, erstens: wirklich dramatisch sind und
nicht vielmehr nur dramatisch wirken, und zweitens:
dem musikalischen Grundwesen auch zu entsprechen
vermögen. Gerade die fein geäderte Entwicklung jener
vorauf gegangenen, hier gar nicht mehr zu Worte kom-
menden S e e 1 e n handlung, als des psychischen Pro-
zesses daran, mfisste doch das eigentlichste Thema des
musikalischen Teiles, die natürlichste Aufgabe des
dramatischen Komponisten sein, der mit blossen „Kata-
strophen" schlechterdings nichts mehr anfangen kann.
Wie lächerlich vollends, wenn ein Deutscher sich die
Löwenhaut der Mascagnitis umhängt und durch ein ge-
waltig Gebrüll von „Unheil — Rache — Mord!", durch
ein Augenrollen mit der dräuenden Miene von allerlei
Nordlicht-Effekten und Sturm-Episoden einem Publikum
zu imponieren sucht, das ja doch von vornherein schon
weiss (und an dem musikalischen Rufe erst recht deutlich
dann erkennt), dass jenem die Zahmheit nun einmal
unverkennbar an der Stirne geschrieben steht, bezw.
unausrottbar im Blute sitzt! Das freilich ist ebenso
gewiss, dass für Talente „minorum gentium", deren
Begabung zur Ausfüllung grosser Formen niemals ganz
ausgereicht hat, gerade diese grassierende Einakter-
Mode allerneuesten Datums mit der Zeit eine wahre
Eselsbrücke, zur Bethätigung ihres bisher natürlich nur
verkannten Genie's, geworden ist. Und so werden wir
uns denn auch zu fassen wissen, falls diese „Irrlichter*'
— so, wie die Zeiten heute nun schon einmal laufen —
als quasi nachträgliche „Preisträger" oder doch »mo-
ralische* (!) Sieger der unglückseligen Gothaer Kon-
kurrenz unsere deutschen Operntheater mehr und mehr
unsicher machen und fortan überschwemmen sollten . . .
Somit hätten wir denn glücklich noch den musizierten
„Kolportage-Roman" auf der Opern-Bühne, der uns aus
202
Wagneriana. Bd. III.
mancherlei Anzeichen ja schon längst zu drohen schien!
Der romantische „Melusinen"-Komponist hat plötzlich
hoch-moderne, „aktuellste" Anwandlungen bekommen;
mit seinem Kapitän Tournaud im „Irrlicht" singt er
heute: „Ich sinne Unheil — Rache — Mord!" Der
niemals echt gewesene „Wagnerianer" zeigt uns damit,
woran wir übrigens nie gezweifelt haben, dass er „auch
anders" kann. Seine Musik ist darüber freilich keines-
wegs kraftvoller geworden. Ja — kaum möchte man
es für möglich halten bei diesem seinem qualligen
musikalischen Wesen — , sogar eine Übertrumpfung
MascagnPs und Leoncavallo's ist ihm mit Hilfe seiner
beiden Textdichter noch gelungen. Wenn bei Mascagni
der Fuhrmann erst noch singt: „Meine Rösslein eilen
schnell, ihre Glöcklein klingen hell", in der „Ingrid"
eilt das Rösslein in natura schnell über die Bühne
und klingt ein veritables „Glöcklein" zwölf Mal hell in
die Musik hinein. (Welcher Uhrmacher übrigens dieses
aufdringliche Werk regiert haben muss, dessen Zeiger
schon beim Duett zwischen Helga und Godila nahezu
auf 12 Uhr standen, um dann auf einmal so richtig
weiter zu gehen?) Der urwüchsigere Dolch ferner wird
durch das „intimere" Gift ersetzt, der Zweikampf
zwischen zwei Nebenbuhlern durch einen jämmerlich
zufälligen Unglücksfall (jähes Zusammenbrechen eines
Brückengeländers !) entschieden ; und wenn bei Leon-
cavallo noch der Geliebte die untreue Liebste erstechen
muss — Grammann und seine Textdichter brauchen gar
nicht erst diesen Liebhaber mehr auf der Bühne; bei
ihnen bleibt er hübsch unsichtbar hinter der Szene, und
das Mädchen entleibt sich lieber gleich selber. Dass
Gift und Irrsinn überhaupt gänzlich unmusikalische Dinge
sind, das bedenkt man anscheinend gar nicht mehr.
Dass die Schande eines Weibes als Opernstoff allenfalls
noch aus dem brutalen italienischen Volksleben heraus
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Ingrid und Irrlicht.
203
begreiflich war, weil sie dort durch Eifersucht zur
That drängte, für eine deutsche Oper es aber auch
noch einige andere Dinge zu komponieren gäbe, das
geht schon über den geistigen Horizont dieser Herren
hinaus. Dazu, wie gesagt, vollkommenste Verwirrung
der Grundbegriffe eines musikalischen Drama's! Man
denke nur an Koffer, Plaid und Hutschachtel, um den
ganzen haarsträubenden Unsinn zu ermessen, der hier
ä la „Fra Diavolo" und „Fledermaus" als ernst zu
nehmendes Operngebilde an uns vorüber gezogen ist:
Herr Erl als deutscher Tourist, Decarli im Gesell-
schaftsanzuge und Frau Wittich im Reisekostüm — wer
lachte da nicht? „Ich bitte Sie nur, wo kommen wir
damit noch hin!" sagte mir beim Herausgehen ein be-
rühmter Pianist, der — weiss Gott — im Opern-
komponieren auch gerade kein Waisenknabe zu nennen.
Dass hier eine Steigerung des dramatisch - musi-
kalischen Ausdruckes im Gesänge nur mehr durch
drastisches Nichtsingen, d.h. durch den gesprochenen
Schrei und länger festgehaltene Brüll-Deklamation er-
reicht wird, versteht sich bei solchen ästhetischen
(oder richtiger eigentlich: unästhetischen) Grundlagen
der beiden Neuheiten am Rande. Dass aber dieser Herr
Grammann überhaupt nicht die geringste Ader zu dra-
matischer Gestaltung in sich hat, Hesse sich an zahl-
reichen Beispielen — von der gänzlich verfehlten Chor-
behandlung gar nicht erst zu reden — leicht nachweisen;
. wir wollen jedoch nur zwei auffällige Versäumnisse hier
heraus greifen, wie in seiner Musik die lebendige Natur
nicht zum Mitreden oder Mithandeln gebracht wird.
1. Der Ljora-Fluss tobt und reisst und schlägt seine
zischenden Wellenwirbel gegen die Felsen — in der
Musik ist nicht das Geringste davon zu verspüren;
2. die Uhr schlägt 12 Uhr, Volk tritt auf und es ent-
wickelt sich auf der Szene ein bewegtes, gar frisch belebtes
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204
Wagneriana. Bd. III.
Bühnenbild — die Musik scheint sich mittlerweile in
ahnungslos sinnigen, zarten Betrachtungen der nordischen
Naturschönheiten „still bei Seite44 zu ergehen etc. etc. —
mit Grammann'scher Grazie. Desto mehr muss natürlich
dann die unausgesetzte Inanspruchnahme dieser um-
gebenden Natur zu allerlei derben Effekten verletzen,
die in ihrem Aufeinanderplatzen von Peitschenknall und
Glockenton, Kuhläuten, Alphörnern, Kanonenschüssen,
zweimaligem Nordlicht, Sturmglocken, Stapellauf, Meer-
ungewitter, Schiffbruch und dgl. zuletzt geradezu kind-
liche Wirkungen thut. Wenn sich die Herren Opern-
komponisten doch nur endlich klar machen wollten,
dass sie sich mit diesem Überbieten an äusserlicher
Effekthascherei schliesslich immer mehr gegenseitig
unterbieten, und dass „Wirkung ohne Ursache" auf
künstlerischem Gebiete genau dasselbe bleibt, wie im
moralischen Leben schon das Unsittliche! Dass der
Komponist dazu wieder mit der Harfe, oft an den un-
passendsten Stellen, um sich wirft, als gälte es, einen
König Saul zu besänftigen, brauche ich gewiss nicht
erst zu erwähnen; dass er jedoch diesmal durch senti-
mentale Trompetensoli (welche den Textbuch- Vermerk:
„Tiefe Rührung" vollkommen entbehrlich machen) den
„Säckerhäts-Trompeter" noch überblasen hat, verdient zum
Mindesten hier angemerkt zu werden. Sicherlich bieten
beide Werke mancherlei melodischen Reiz — doch »was
nützt mich der Mantel, wenn er nicht gerollt ist?" Gewiss
ist Ingrids „Joho — joho!" eine recht wirkungsvolle
und charakteristische nordische Weise — aber, um sie
zu hören, brauche ich doch nicht erst in's Theater zu
gehen. Zudem möchte ich noch sehr bezweifeln, dass
dieser laute, breite Gesang in dem heroisch-wuchtigen
Vortrag durch eine Primadonna assoluta einzuschläfern
irgend geeignet sein wird. Kurz: — musikalische Reise-
eindrücke aus Norwegen und in Töne gesetzte Gefühle
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Ingrid und Irrlicht.
205
der Vaterschaft oder der unehelichen Kindschaft ergeben
noch lange kein lebensfähiges Musikdrama.
„Ingrid" wiederum, die längere von beiden Opern,
die denn auch auffallend kühl aufgenommen worden ist,
liesse sich am kürzesten wohl charakterisieren mit
„Eingebildete Schmerzen". Es ist schon recht, was
Kant einmal vom „interesselosen Schönen" gesagt; so
gänzlich „interesselos -schön" sollte ein dramatisches
Werk aber doch nicht aussehen. Zumal das Textbuch
ist gänzlich verunglückt von vornherein, sowohl drama-
turgisch, als auch besonders poetisch besehen. Und
wenn ihr mir am Ende auch hundert Mal versichert,
dass es wahrhaftig sei und ihr das alles „selbst so
erlebt" hättet, so sage ich euch zum 101. Male, dass
ihr euer Erlebnis, bis ihr nach Hause kamt, glücklich
so lange verdreht, verzerrt nnd mit euren städtischen
Gefühlen vermischt habt, dass etwas durch und durch
Unechtes daraus geworden ist. Was hätte sich nicht
alles aus dem hübschen Motiv des Volks-Nelkenspieles
machen lassen! Wenn schon „Ingrid" die Hauptperson
und Titelheldin des Ganzen sein sollte, warum nicht
bei Erhard einen Konflikt in seiner Neigung zwischen
Helga und Ingrid statuieren und das Nelkenspiel zu
Gunsten Ingrid 's entscheiden lassen? Oder aber: die
Oper muss gleich „Helga" heissen, dann aber auch mit
der fünften Szene des zweiten Aktes schliessen. So
jedoch ist alles wie ausgewechselt und verdreht darin,
„rechter Hand, linker Hand: alles vertauscht" — ich
will den Vers nicht noch weiter fortsetzen. Relativ ver-
standen, ist freilich „Irrlicht" immer noch weit besser,
ein musikalisch ungleich mehr abgerundetes, in sich
einheitlicheres, auch im dramatischen Sinne zusammen-
geraffteres Werk als „Ingrid" zu nennen. Es hat doch
wenigstens Physiognomie; auch das rhythmische Element
erscheint hier pikanter, das melodische ist flüssiger
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206
Wagneriana. Bd. III.
gediehen. Welch' schauerliche Deklamation trotzdem
der Komponist sich auch da zuweilen leistet, möge man
aus Grisards Mitteilung (unter Hinweis auf das ominöse
Schreiben) näher entnehmen, um ein für alle Mal sich
vollkommen darüber im Reinen zu sein, dass an
Grammann Hopfen und Malz zu einem musikalischen
„Dramatiker" verloren bleiben musste. Und so kann
Unsereiner denn über ihn nicht gut anders als mit
Gervaisens Worten enden:
„Das Mitleid will mir in die Augen quellen,
Mein armer Freund! Doch kann ich dich nicht lieben.**
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Das Heimchen am Herd
Oper in 3 Abteilungen. Frei nach Dickens' gleichnamiger Er-
zählung von A. M. Willner; Musik von Karl Goldmark
(1896/97)
Warum nicht gleich „Hausmärchen in drei Gezirpen",
wie doch Dickens selber seine Erzählung schon eingeteilt
hat? Das wäre doch wenigstens originell, einmal eine
durchaus neue Art der Werkbezeichnung oder Akt-
benennung auf dem Gebiete der modernen Oper, die
unbedingt Aufsehen hätte erregen müssen! Aber frei-
lich, das wäre ja wohl auch zu streng nach Dickens*
gleichnamiger Erzählung verfahren gewesen: auf das
„frei" aber hatten es die Herren Verfasser allem An-
scheine nach vor Allem angelegt; denn frei, sehr frei
sind sie mit ihrer englischen Vorlage umgegangen, und
wehe dem, der etwa von dem frischen Eindruck einer
erneuten Lektüre des allerliebst poetischen, wie musik-
durchtränkten Dickens'schen „Hausmärchens" her direkt
in's Theater kam! Zwar: „Ein Märchen war das
Ganze I" — so meinen auch die beiden Herren, Text-
dichter und Tonsetzer, durch das Sprachrohr des
Heimchens am Schlüsse ihres gemeinsamen Opus, „ein
Märchen von Menschenglück, von Treu* und junger
Liebe!" — wie der Elfenchor bekräftigt, mit dem das
effektvoll gestellte, von einem Blumenkranz umrahmte
„lebende Bild" am Ende noch ausklingt. Nichtsdestoweniger
208
Wagneriana. Bd. III.
sind sie hier doch in einer recht merkwürdigen Selbst-
täuschung befangen, denn leider war es eben kein solches,
was an uns da augenblendend vorüber zog. Wie Gold-
mark ehedem schon in dem „Merlin" des Textlieferanten
Sigfried Lipiner der tiefen, dichterisch-religiösen Mystik
des Wagner'schen „Parsifal" lediglich das rein äusser-
liche Moment magischen Zaubers gegenüber zu stellen
wusste, so hat er es auch hier in seinem neuesten
Werke, dem durch seinen breiten Erfolg lockenden
Humperdinck'schen „Märchenspiel" gegenüber, mit Hilfe
eines platten Textverfertigers nur wieder zu einer ganz
oberflächlichen Feerie zu bringen vermocht. Ja, man
darf sogar so weit gehen und hier sagen: Humperdinck
und Goldmark in einem Atem zu nennen (wie dies so
oft neuerdings geschehen), oder auch nur in Vergleich
bringen, heisst diesem entschieden viel zu viel Ehre
erweisen, jenem aber schon deshalb zu nahe treten,
weil man ihm damit nur wieder zeigt, dass man ihn —
so ganz und gar nicht verstanden hat.
Die feine, zarte Poesie dieses zierlichen Dickens'-
schen „Heimchens am Herd" nachzuempfinden, das den
Herd der braven Fuhrleute so heimlich macht: dazu
fehlt ja, Goldmark sowohl wie seinem Librettofabrikanten,
ganz augenscheinlich alles und jedes „Organ"; da ist's
nicht nur mit einem raffiniert in Vorschlägen zirpenden
Flötenmotiv, sordinierten Geigen in hohen Lagen, ein
paar Harfen -Passagen und ein bisschen Glockenspiel
gethan! Bei Dickens spinnt es die Erzählung von An-
fang bis zu Ende traulich in die Musik des summenden
Kessels ein; da steigt der ganze nächtliche Elfenspuk
wie ein Traum seines besseren Bewusstseins mit psycho-
logischer Notwendigkeit als guter Hausgeist im Innern
des biderben John, vor schwerem Unheil ihn bewahrend,
auf; da ist gerade das bereits vorhandene (nicht erst
ungarisch-pikant noch zu erwartende) Kind das lebendig
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Das Heimchen am Herd.
209
vermittelnde Bindeglied und Glücksunterpfand zwischen
beiden getreuen Ehegatten, und wird nicht das junge
Frauchen Dot zur bewusst-reizenden und die Liebe
ihres Mannes erst versuchenden, unausstehlich-albernen
Kokette. Nun wollen wir nur einfach darauf hinweisen,
dass die Psychologie in diesem Angelpunkte der ganzen
Handlung, dem bewussten zarten Geheimnis, das so
Vielen unmassen gefällt, schon deshalb vollständig in
die Brüche geht, weil das Weib in gesegneten Umständen
— man muss hierüber einmal ohne Feigenblatt reden! —
kaum je zur Aufreizung der Eifersucht bei ihrem Gatten
Veranlassung fühlen dürfte. Es ist und bleibt eben
raffinierter Zucker; das „Geheimnis wundersüss" wird
„süsslich", je weniger diese Delikatesse „zart" ist und
ein ordentlich-rechtschaffen Rückgrat hat. Kurz, diese
Willner-Goldmark'sche „Dot" ist schon das reine Antidot
zu jener Dickens'schen.
Dass dabei der 3. Akt mit seinen heiteren Episoden
und seinem wirksamen Wechselspiel auf Grund der
geschickten Arbeit des Librettisten dennoch guten Ein-
druck macht, das steht wieder auf einem anderen Blatte
und soll hier keineswegs unterschlagen werden. Aber
das ist auch eine Sache ganz für sich und hat mit dem
Geiste des Boz'schen Märchens im Grunde nicht das
Geringste mehr zu schaffen. Im Ganzen aber betrachtet,
stecken wir mit diesem, in lauter geschlossene Einzel-
nummern auseinander fallenden Textbuche bis über die
Ohren abermals in der alten, längst für überwunden
gehaltenen Opernmisere, wo das „Drama" zum blossen
Vorwande dient für ein recht ergiebiges, rücksichtslos
als Selbstzweck sich ergehendes Musizieren. Wenden
wir uns also, billig verstimmt vom textlichen Teile der
Neuheit, nunmehr seiner musikalischen Einkleidung zu,
um hier vielleicht die Vorzüge dieser bei der grossen
Masse so überaus erfolgreichen Oper zu entdecken.
Seidi, Wagneriana. Bd. III. 14
210
Wagneriana. Bd. III.
Aber auch da steht es leider nicht viel besser und
Folgt uns die Enttäuschung auf dem Fusse. Der grosse
Eklektiker vor dem Herrn, der Goldmark schliesslich
von jeher gewesen, ist er natürlich auch heute noch,
und damit könnte man sich ja abfinden, so lange dieser
musikalische Kosmopolitismus sich in gewählten Grenzen
hielte und durch weltläufige Bildungsglätte wenigstens
eine äussere Einheit „persönlicher" Note darum und daran
noch herzustellen versuchte. Was diesmal jedoch an dem
Musiker Goldmark ganz besonders befremdet, das ist
neben einer mehr als bedenklichen Sterilität in der Er-
findung, über welche nur eine unverwüstliche Orchester-
Gewandtheit hinweg täuschen kann, die durch ihren Mangel
an Selbstkritik nahezu erschreckende, ungeheuerliche
Wahllosigkeit seiner gleissnerischen und <i tont jrrix
effekthaschende Mache. Etwas im künstlerischen Sinne
Gesinnungsloseres, dabei durch seine schauerlichen Un-
motiviertheiten zugleich innerlich Un wahrhaftigeres ist
uns seit den Zeiten des seligen Meyerbeer wirklich
nicht mehr vorgekommen, und von Weitem schon tragt
diese Musik das Wahrzeichen jener unfruchtbaren, wohl-
feilen Rezeptmacherei an sich, die schliesslich den Stil
Händeis, Nicolais, Gounods und Wagners, Rezitativ
und Tanzlied, leichtfertig und verblüffend mit einander
verbindet und den feurigen Czärdas geschmacklos genug
dicht neben das ganz gelegentlich, per llazzia auf-
gegriffene deutsche Volkslied „Weisst Du wie viel Sterne
stehen" stellt, oder duftigen Elfengesang mit einem
„Kuckuck, Kuckuck! ruft's aus dem Wald" ganz un-
leidlich sinnwidrig verquickt. Alles nur, weil ge-
wisse populäre Lorbeeren eines gewissen Humperdinck
einen sicheren Goldmark, den gewiegten Abgucker und
Meister in mancherlei „Branchen", nicht mehr schlafen
Hessen, je grössere Ertragfähigkeit dieser neue, im
Gegensatze zu seinen früheren Opernwerken nun auch
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Das Heimchen am Herd.
211
auf kleineren Bühnen gut einzuführende Absatzartikel der
* Märchenoper" dermalen eben zu verheissen schien.
Man wird sich über solche durchsichtige Spekulation
nicht weiter zu echauffieren brauchen und kann über all'
dem getrost einstweilen zur Tagesordnung übergehen;
denn dieser neueste Wechselbalg des Unsinns wird zu-
versichtlich, so bald nur die Schaulust des Publikums
sich befriedigt und erschöpft haben wird, den sicheren
«Weg alles Fleisches* wieder wandeln. Einstweilen frei-
lich heisst es: „Unsinn, du siegst — und ich muss
unterliegen !" Doch ich gestehe, dass ich bisher vor
dem Komponisten der Opern „Merlin" und „Königin
von Saba", der Instrumentalsuite „Ländliche Hochzeit*4
und der „Sakuntala"-Ouverture, vor seinem Geist und
Können, denn doch wesentlich mehr Respekt gehabt habe.
Vermag man sich also erst einmal über diese und
andere missliche Dinge hinweg zu setzen, so wird man
im Einzelnen manch' Hübsches, für das Auge Reiz-
volles und dem Ohre Einschmeichelndes im Verlaufe
des Abends vorfinden. Wir meinen damit zwar nicht
die so unsäglich dürftig und schablonös von Violoncell,
Fagott oder englisch Horn in der Tenorlage begleiteten,
auch deklamatorisch sehr zweifelswürdigen Lieder des
Seemannes Eduard, auch nicht die zwar frischen, im
Grunde aber bei aller munteren Lebendigkeit doch
reichlich trivial gehandhabten Volkschöre, und schon
gar nicht das belanglose, stark nach Mascagni's Fuhr-
mann schmeckende Postillonlied Johns, oder das in
seiner Apostrophe an's Publikum koupletmässig fade
Puppenlied Tackletons; wohl aber denke ich dabei an
die wohllautend zierlichen Weisen des Heimchens, das
sanftschöne Liebeslied der May im altertümlichen
Madrigal -Tone, das schmucke Tanzlied der Dot, das
ebenso sanglich wie klangvoll geführte, breit angelegte
Quintett, sowie den mit sinnlichen Reizen des Obres
14*
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212
Wagneriana. Bd. III.
und des Auges verschwenderisch ausgestatteten Elfen-
zauber am Ausgange der II. „Abteilung*'. Freilich er-
scheint hier mitunter wieder die Süssigkeit des Klanges
zur Süsslichkeit gesteigert — das glühende Kolorit wird
zu einer üppig-schwülstigen Exotik. Ganz besonders aber
hat es mich überrascht, dass das Publikum den, eine
so bedeutungsvolle Stellung im Werke einnehmenden,
durch geschmeidig- zarte Melodik doch so anziehenden
Sang der Dot vom „Geheimnis wundersüss" nicht schon
gleich bei seinem erstmaligen Vorkommen in der I. Ab-
teilung, sondern erst als wiederkehrendes Motiv ent-
sprechend gewürdigt hat; er ist sicher eine der besten
und (relativ) echtesten Nummern der Partitur. Das
schon oben erwähnte Tanzlied hingegen: „Lichterglanz,
ach wie hold !" und das bald hernach folgende Quintett
wurden auf offener Szene beklatscht; das Orchester-
Vorspiel zur III. Abteilung, mit dem vom prächtigen
Dresdner Meisterorchester mit wahrhaft sprühendem
Elan genommenen Cz&rdas am Ende, musste nolens
volens wiederholt werden, so stürmisch war die „popu-
läre" Anerkennung dieser Leistung. Die Elbe fliesst
nämlich dicht — an Ungarn vorüber!
Unserer ausgezeichneten Elbflorenz- Aufführung muss
man im Übrigen das besondere Kompliment machen, dass
sie nicht nur die Lichtseiten des Werkes, sondern da-
mit erst recht seine grossen Schwächen sofort in's
rechte Licht rückte und nichts, was hier faul ist an diesem
Märchenzauber, irgend vertuschte. Genau seinem Werte
entsprach seine Aufnahme: erst gegen Ende der II. Ab-
teilung hin wurde das so zahlreich wie neugierig er-
schienene Publikum wärmer, erst nach Niedergang des
Schlussvorhanges konnte der anwesende Komponist noch
einige wenige Male gerufen werden. Das Tableau am
Schlüsse des II. Aufzuges blieb allerdings reichlich un-
verständlich — nach Art alter Bilder hätte dem Püppchen
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Das Heimchen am Herd.
213
auf der Postkutsche zur Erklärung für den Beschauer
eigentlich noch ein Zettel aus dem Munde heraus hängen
müssen mit der Aufschrift : „Ich bin der kleine Postillon". . .
Es hiess späterhin, Karl Goldmark hätte dem
Bungert'schen „Odysseus" „nachgeeifert" und er habe
neuerdings einen ganz frischen griechischen Stoff der
„homerischen Welt" auf seiner Opernpfanne. Er be-
nimmt sich demnach wie der Fuchs, der beim solennen
Salamander- Reiben der Burschen immer „nachklappt44!
Wahrlich, wer an dieser dreifachen Parallele: „Parsifal44
— „Merlin44, „Hänsel und Gretel44 — „Heimchen am
Herd44 und nun wieder „Odysseus Heimkehr44 — „Briseis44
noch immer nicht merkt, dass unser Komponist weniger
ein Finder als vielmehr ein Findiger ist, der muss vom
lieben Gott schon mit respektabler Blindheit geschlagen
sein. Ginge man freilich von der „Grazie des Pumpens41
aus, die wir an anderem Orte als einen wesentlichen
Bestandteil der Murger'schen Szenen „Zigeunerleben44
bezeichnet haben, so müsste Goldmark eigentlich der
erfindungsreichste „Boheme44- Komponist unserer Zeit
gerade sein. Dieses ist er nun zwar nicht. Aber was
nicht ist, kann nach den jüngsten Erfolgen der italieni-
schen „Boheme44 ja vielleicht noch werden! Über
Leoncavallo und Puccini werden die Akten vermutlich
bald geschlossen sein, über Goldmark sind sie es für
alle Verständigen schon lange. Denn — um (mit dem
Murger'schen Collin zu reden) „rasch noch sieben Feuille-
tonzeilen zu füllen44: Der Kalauer ist ja sehr wohlfeil,
dass Goldmark das Gold Wagners und Humperdincks in
Silbermünze umgesetzt und zu einzelnen Markstücken
geschlagen habe. Doch dieser Witz wird Ernst, wenn
wir das alte Sprüchwort in der Umkehrung einmal an-
wenden und sagen, dass das Reden bei ihm wohl Silber
war, das Gold aber ohne Zweifel Schweigen hier
gewesen wäre. Der Rest bleibt denn auch Schweigen.
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Haschisch
Oper in einem Aufzuge von Axel Del mar; Musik von
Siegfried Berger
(1897/8)
„Im glücklichen Arabien" kennt man zwar scheinbar
noch „die Rache nicht", dafür aber merkwürdigerweise
Richard Wagner im 17. Jahrhundert schon desto besser.
Wohlthätig ist des Begeisterungsfeuers Macht, wenn sie
der Mensch bezähmt, bewacht; doch — wehe, wenn sie los-
gelassen, als „freie Tochter der Natur4' nämlich! Ganz
verschiedene Sorten von „ Wagner-Nachfolge" giebt es be-
reits heute: intransigenten Radikalismus und esoterische
Wagner- Bewahranstalt, Geschäfts - Wagnerianismus und
Wagner- Philisterium, R. Wagner-Gigerl und Wagner-
Dilettanten, Wagner- Vereine zu 4, 10 und 20 Mark Jahres-
beitrag, und wiederum akademische „Wagner-Gesell-
schaften" mit mehr oder weniger geistreichen wissen-
schaftlichen Vorträgen; ferner den enragierten Wagner-
Enthusiasmus als „neudeutsche Kapellmeistermusik", als
wohlanständig gymnasiale Stabreimdichtung und als
Schoppen hauer'sche Erlösungsromantik oder gleich gar
als buddhistisch-mystische Wiedergeburts-Ekstatik; dann
aber auch einen Wagnerianismus des vornehmen tpleen,
als Turf und Sport sozusagen, als leichte Kavallerie —
wohl zu unterscheiden übrigens noch (so schwer es
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Haschisch.
215
vielleicht manchmal auch fallen mag) von der ominösen
„Leonkavallerie". Diese Spielart von Wagnerianismus,
die „Pferdezuchf'-Spezies innerhalb der bedeutsamen
„Wagnerkultur", ist gar nicht einmal so spärlich ver-
breitet, wie man wohl glauben sollte, und mit ihr haben
wir es in unserem Falle allem Anscheine nach „vor-
nehmlich" zu thun. Denn in der That werden wir
dieser, wohl mehr hoffähigen als gerade genussreichen
Novität ä la mode Berlinoise am ehesten noch gerecht
werden, wenn wir sie als aristokratisches Sportereignis
mit allen Anzeichen eines sensationellen Turferfolges
hier begrüssen. Am Totalisator wurde gleichsam mit
sinnloser Leidenschaft gewettet, beim Hazard in später
Nachtstunde ausgeknobelt, dass der arabische Hengst
reinster Rasse genannt „Haschisch" durch's Ziel gehen
werde; und richtig, er ist denn auch durch — gegangen.
Warum nur soll ein schneidiger Kavallerist nicht auch
zur Abwechselung einmal als sein Steckenpferd die Musik
reiten können?!
Herr Siegfried mit dem Vertrauen erweckenden
Namen B e r g e r gehört — wie uns die Kunde ward
— dem berühmten „Potsdam - Berliner Doppelkronen-
Wagnervereine" an, der in der oberen Zehntausend-
schicht' schon viel von sich reden gemacht hat, in allen
ernsteren Kunstkreisen aber von jeher einer ganz re-
spektswidrigen Heiterkeit begegnet ist. Die hohe und
höchste Aristokratie der sächsischen Residenz war bei der
Premiere des Werkes denn auch so ziemlich vollzählig
zu Gaste; ja, aus Berlin waren sogar besondere Send-
boten abgeordnet, will sagen: eigens für diesen Zweck
nach Dresden zugereist. Über Alledem schon musste
der dunkle Verdacht Nahrung gewinnen, dass hinter
dem schlichten Pseudonym etwas ganz Besonderes, so
etwas Getrüffeltes für Austernfreunde und Carte blanche-
Schlürfer, sich den Blicken der profanen Welt verberge.
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216
Wagneriana. Bd. III
Weht es uns doch wie Odeur der „Haute rotte" und
Parfüm der „Haute ßnance** in Rosen wasserduft und
Roulette -Atmosphäre aus dieser Operndichtung ent-
gegen. Ob sich nun freilich die in unverbesserlich
indiskreten Tageblättern weniger oder mehr unverblümt
ausgesprochene Vermutung über den Hintermann
wirklich auch bestätigt, oder nicht — wir haben keinen
Anlass, das Visier gewaltsam zu lüften, schon weil wir
allerdings von der Wagnerverehrung des dieser Oper
so offen Verdächtigten und bisher noch Unbescholtenen,
sowie von seinem geläuterten „Stilgefühle" bislang doch
immer noch etwas besser gedacht haben. Wir gedenken
also die Motive jener Pseudonymität zu ehren, obgleich
wir sie nicht kennen; möchten im Übrigen aber doch
nicht unterlassen, gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass
in deutschen Landen wohl noch der eroe oder der
andere Kavalier und Kavallerist, Junker oder Rittmeister
leben mag, der seinen künstlerischen Befähigungs-
nachweis für einen deutschen Intendantenposten auf
diesem, seit v. Perfall und Graf Hochberg nicht mehr
so ganz ungewöhnlichen Wege zu erbringen trachten
könnte — einer von ihnen wird es ja wohl jedenfalls
gewesen sein ! . . .
Gesamtwirkung also so etwa (und zwar mit
geziemender Verbeugung hier wieder gegenüber jenem
vielsagend gewählten Pseudonym, welches ursprünglich
sogar noch „Gold berger*' heissen sollte — „es wär' zu
schön gewesen"): Salonbergwerk! Da damit eigentlich
nun schon alle Kritik gegeben ist, könnten wir unsere
„notgedrungenen" Betrachtungen füglich wohl sofort
wieder zum Abschluss bringen. Gar Manchem soll der-
gleichen ja in der That weit eher als das tiefe Wühlen
in „der Erde Nabelnest" für seinen Privat-Geschmack
behagen, und Solche sollte man aus ihrer bescheiden-
selbstzufriedenen Genussfreudigkeit fürwahr nicht so
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Haschisch
217
grausam aufstören! Sie mögen in Gottes Namen balt
getrost schon hier zu lesen aufhören. Indessen bleibt
uns so allerhand hier doch zu sagen übrig — im Be-
sonderen wie auch im Allgemeinen.
Zur Sache selbst! — Said Omar, Bey von Tunis,
ist ein weiser Mann. An ihm könnte sich gar mancher
Mann manches Mal auch bei uns ein Beispiel nehmen.
Wenn er nämlich eine seiner Frauen gelegentlich untreu
erfindet, so duelliert er sich nicht erst mit dem Ehe-
brecher für ein pflichtvergessenes Individuum, das eines
derartigen Engagements wahrscheinlich gar nicht würdig
erscheint, sondern er fühlt sich selbst schuldig, ihr dazu
Gelegenheit gegeben zu haben, und trinkt im versöhn-
lichen, schiedlich-friedlichen Dreieck den vermeintlichen
„Haschisch"-Becher, der im Wahnrausche den Tod bringen
soll, einfach m i t. Ereilt aber die Nemesis in Gestalt
des geheimnisvollen Getränkes und damit auch der Tod
dann schön Zuleika — nun, so geht's schliesslich, was
man so sagt, in Einem hin; denn nach der Text-
andeutung gehört sie offenbar ohnedies schon zum
Stamme „jener Asra", welche bekanntlich „sterben,
wenn sie lieben". Man könnte zwar billig fragen, was
in den anderen beiden Bechern enthalten war, da der
Koran doch Wein zu trinken verbiete? Doch was sollen
diese und ähnliche Fragen die schwere Menge, da sie
nach der besonderen Verfassung des Textbuches mit seinen
schleierhaften Zusammenhängen und ganz unklaren Moti-
vierungen ja doch wohl keine streng logische Beant-
wortungvertragen! „Haschisch" aber muss wirklich ein ganz
furchtbares Getränke sein. Es übt nicht nur verheerende
Wirkungen von Raserei aus bei allen denen, welche
davon geniessen, es versetzt allem Anscheine nach auch
die Komponisten, welche sich mit diesem „Stoffe" un-
vorsichtigerweise begeistern, in einen so tiefen und gründ-
lichen Op — ium- (beinahe hätte ich gesagt „Opern"-)
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Wagneriana. Bd. III.
Rausch, dass sie sich selber gar nicht mehr wieder-
finden — wenn anders sie sich überhaupt jemals be-
sessen haben und nicht schon zum Voraus „ausser sich"
gewesen sind. Dann rasen sie in einer Instrumentation, die
mitunter eine geradezu welterschütternd drohende Haltung
annehmen kann, ohne dass wir freilich auch nur die ge-
ringste Gemütserschütterung, das mindeste, weltbewegende
Ereignis danach wahrzunehmen vermögen. Das wühlt,
stürmt, tobt und — s. v. v. „wurstelt" denn in beinahe
stäter Unrast toll genug auf und ab, und wenn man nicht
zufällig erführe, dass die Hand, die es geschrieben, sonst
statt der Notenfeder den Krummsäbel der „leichten
Kavallerie" zu führen pflegt, man möchte wahrlich
schon meinen, dass sie mit dem Pallasch der „schweren
Reiter4* umzugehen gewohnt, wo nicht gar der Waffen-
gattung der Artillerie schwersten Kalibers beizuzählen
sein müsse. Aber trotzdem — oder gerade deshalb? —
kommt es über all solcher krampfhaften Stimmungs-
macherei nirgends zu einer rechten Stimmung. Und daran
muss alsdann selbst eines Professor Jägers Riechtheorie
vom „Seelenduft" zu Schanden werden, denn da giebt
es keinen individuellen Geruch der „Seele" des Kom-
ponisten mehr aufzuspüren, der (wie Otto Julius Bier-
baum einmal von einer parfümierten Dame so lustig
sagt) nicht einmal den Mut seines eigenen Geruches
hatte: mit schwelgerischer Üppigkeit flimmert und glitzert
es in einem charakterlosen Flirt dahin, und alles er-
scheint zudem von schwül betäubenden Scherasmindüften
wie durchtränkt und geschwängert.
Doch Spass einmal bei Seite: Ein wahrhaft orien-
talisches Phlegma hat sich auf Handlung und Musik her-
niedergesenkt. Und das ist auch das einzig Charakteristische
an dem ganzen Gebilde; denn dass die äusserliche
Rahmabschöpfung der verschiedenen Wagner-Partituren
keine Charakteristik für den Muhammedanismus ab-
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Haschisch.
219
zugeben vermag, das würde wohl jedem Fellah al Isofort
einleuchten. Nur Herrn Siegfried Berger — nur
ihm allein scheint dieser verflucht gescheidte Gedanke
auf seiner heimischen „Ottomane" bei Mokka und
Tschibuk noch gar niemals angekommen zu sein. Bei
der Schlussballade, die abermals ohne jegliches Lokal-
kolorit auftritt, macht sich dieser kapitale Mangel am
allerbedenklichsten fühlbar. Aber auch bei den Muezzin-
Gebeten ist die Wirkung eine arg fatale. Der Komponist
hätte nur einen Blick in die Partitur von Davids „Wüste"
oder — hegte er höhere Absichten — in den Cornelius'-
sehen „Barbier** zn thun, äussersten Falles sogar nur
die simple „Illustrierte Musikgeschichte** von Naumann
<1. Bd.) nach National- Weisen ein wenig zu Rate zu
ziehen brauchen — es würden ihm sicher ganz andere
Lichter aufgegangen sein. Von einem geschickten
Kompilator muss man ja doch zum Mindesten eine
ferme Quellenkunde erwarten dürfen! Wirksame Kon-
trastierungen fehlen zwar dem musikalischen Gebilde
im Ganzen nicht; wenn jedoch Viele von einem „an-
sprechenden melodischen Vermögen** möglicherweise nun
werden sprechen wollen, so meinen wir dem entgegen
doch: der mit leichtem Sinn anempfindende, gewandt in
fremden Zungen redende und mit anvertrauten Pfunden
begeistert wuchernde Dilettant dachte auch in diesem
Punkte so weitherzig wie nur möglich „In meines
Vaters (Wagner) Hause sind viele Wohnungen**, und —
machte sich's alsbald darin so recht bequem und
heimisch. Eine Nummer wie der a capel/a-Satz des
Frauenchores am Schlüsse der 1. Szene könnte überdies
ganz gut von dem eifrigen Dirigenten irgend eines
kleinstädtischen Damengesang-Vereins komponiert sein.
Anderes wieder (wie z. B. der a capella- Anfang des
Schlussterzettes der 11. Szene) ist entweder so genial in
seiner Neuheit, dass wir augenblicklich offenbar noch zu
220
Wagneriana. Bd. III
einfältig sind, um es zu verstehen; oder wir haben richtig
perzipiert, dann aber war das, was unser Gehör auf-
genommen, nicht eben allzu schmeichelhaft für die
Satz-Geschicklichkeit des Herrn Komponisten.
Item: Der gesch. „Kompromist" zwischen Wagner
und Orientalismus komponiere doch lieber etwas weniger
und lese dafür etwas aufmerksamer im sehr beherzigens-
werten X. Bande der Ges. Schriften seines Meisters
über „Die Anwendung der Musik auf das Drama" und
„Das Operndichten und -Komponieren im Besonderen".
Oder noch besser — er schlage auf: Band HI, S. 308 ff.
und schaue, hoffentlich mit gelindem Schrecken, bei
dem, was Wagner da über Rossini mit Bezug auf Mozart
sagt, in sein eigenes, mit der Beziehung auf Wagner
selbst nur zu wohl getroffenes Konterfei: „Es war der
Welt noch deutlich unumwunden zu sagen, welchem
Verlangen und welchen Anforderungen an die Kunst
eigentlich die [seine!] Oper Ursprung und Dasein ver-
danke; dass dieses Verlangen keineswegs nach dem
wirklichen Drama, sondern nach einem — durch den
Apparat der Bühne nur gewürzten — keineswegs er-
greifenden und innerlich belebenden, sondern nur be-
rauschenden und oberflächlich ergötzenden Genüsse
ausging . . . War die Tonweise [ergänzen wir: Wagners!]
der entzückende Duft der Blume, der Wortvers aber
der Leib dieser Blume selbst mit all den zarten
Zeugungsorganen, so zog der Luxusmensch, der
einseitig nur mit seinen Geruchsnerven, nicht aber g e -
meinsinnig mit dem Auge zugleich geniessen wollte,
diesen Duft von der Blume ab und destillierte
künstlich den Parfüm, den er auf Fläsch-
chen zog, um nach Belieben ihn willkürlich bei sich
führen zu können und sein prachtvolles Geräte mit ihm
zu netzen, wie er Lust hatte. Um sich auch an dem
Anblicke der Blume selbst zu erfreuen, hätte er
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Haschisch.
221
notwendig näher hinzu gehen, aus seinem Palaste auf
die Waldwiese herab steigen, durch Äste, Zweige und
Blätter sich durch drängen müssen, wozu der Vornehme
und Behagliche aber kein Verlangen hatte. Mit diesem
wohlriechenden Substrate besprengte er nun
die öde Langeweile seines Lebens, die Hohlheit und
Nichtigkeit seiner Herzensempfindung*4 . . . und so weiter
ßis zum „Verfertiger künstlicher Blumen, die er
aus Samt und Seide formte, mit täuschenden Farben
bemalte, und deren trockenen Kelch er mit jenem
Parfümsubstrate besprengte, dass es aus ihm zu duften
begann, wie fast aus einer wirklichen Blume!" Oder
nun gar ebenda Seite 205 unten, bei: „So lange etc." . . .
Eine ernstliche „Wagner- Nachfolge" — darauf
kommt es mir vor Allem an und deswegen allein nur
bin ich hier so entschieden-scharf in's Gericht gegangen
— hat allen Anlass, solchen toi </wan*-Wagnerianis-
mus energisch abzulehnen und diese Abart von
„Wagnerianertum" unzweideutig von ihren Rockschössen
abzuschütteln. Das „Wollen Sie jetzt, so haben wir
eine Kunst!" des greisen Erblassers von Bayreuth, 1876
gesprochen auf dem Festspielhügel im Sinne eines be-
deutsamen germanischen „Original-Stiles", es scheint
für dergleichen Wagner-Sportsmen und unechte Gralshüter
ohnedies einfach in den Wind geredet. Darum aber galt
es bei dieser Gelegenheit gerade: Exempel zu statuieren;
heisst es just an einer derartigen „Harmlosigkeit** mit
Ernst und Würde einmal öffentlich und laut zu zeigen:
„was wert die Kunst und was sie gilt!" Um zu er-
kennen, wie hier das Wagnerische Melos gänzlich ver-
wahrlost-unorganisch zu planlos aufgelesenen Melismen
und Rosalien „verzettelt" erscheint, dass hier von Wagner
nur mehr die leere Floskel übrig bleibt und Thema
lediglich das Stammeln einer Sprach-Partikel mehr be-
deutet, dazu braucht man ja nur das ä la König Marke
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222
Wagneriana. Bd. III
(doch frag' mich nur nicht, wie!) tristanisierende Bass-
ki arinett-Solo da mit dem ernsten Urbilde dortjzu ver-
gleichen — und man wird „sich auskennen M.| " ~
Es giebt so manche reizvolle „Türkenopern" schon
in unserer Musik-Litteratur. Vielfach zeichnen sie sich
durch ihre grosse Harmlosigkeit vor anderen aus. Der
harmlosen harmloseste ist den Theater-Archiven jeden-
falls in der vorgenannten und hier ausführlicher be-
sprochenen „zur ewigen Ruhe" — R. J. P. — geschenkt
worden: sie bildet, was man so sagt, für sie eine „schöne
Bescherung", aber — wie wir zur Beruhigung zugleich
auch versichern dürfen — trotz derzeitiger Kretensi-
scher Wirren: gottlob ohne den geringsten hoch-
politischen Beigeschmack. Zwar demonstrierte ja, gleich
den europäischen Mächten auf der kampfumtosten Insel,
wie schon erwähnt, unsere hohe Aristokratie mit seltener
Einmütigkeit an diesem Abend, und das könnte am
Ende, wie dort, der verlorenen Türkensache gar noch
einen unverdient-moralischen Rückhalt verleihen. Wir
müssen indes dabei bleiben: das Ding ist ohne jeden
geschichtlichen Belang; und wenn dort das energische
gemeinsame Vorgehen der Mächte auf die entflammte
Volksbegeisterung vielleicht einigen Eindruck machen
kann — dieser Liebhaber-Exkurs wird bei der nationalen
Landeskunst zuversichtlich nur desto eindrucksloser sich
verlaufen. Lange, sehr lange sann ich darum auch nach
darüber, was wohl der letzte Grund zu dieser be-
triebsamen Erstaufführung bei unseren machthabenden
Faktoren gewesen sein mochte. Endlich hab ich's klipp
und klar noch heraus bekommen. Das Dresdner Ballett
nämlich ist jetzt so überaus glänzend entwickelt, dass
es zu einem ganz selbständigen und zu einem um so
beachtenswerteren Faktor des Repertoire's geworden ist,
als ja bekanntlich die Vorstellungen des Wochenplanes
(durch die Besetzung auch der früher theaterfreien
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Haschisch
223
Montage und Freitage) noch eine beträchtliche Ver-
mehrung erfahren haben. [Hier ein wohlangebrachtes
Intermezzo: Deutscher Schulaufsatz für Primaner und
solche, die es werden wollen, über „Das Ballett als
wirtschaftlicher Lückenbüsser* 1] Drei Balletts an einem
Abende sind für Frl. Grimaldi erwiesener Massen allzu
ermüdend; Frl. Gobini wiederum, ihre Kollegin vom
Solofache, erfreut sich Seitens der zuständigen Theater-
leitung einer mehr platonischen Liebe, und daneben
auch recht vieler, endlos langer Vertröstungen. Zu zwei
Balletts bot sich aber so schwer etwas irgend Passendes;
denn Mendelssohns selige „Loreley." hatte doch kürzlich
in diesem schnöden Flitterrahmen gar zu deplaziert
sich „angeschaut". Gut denn, gehen^wir also auf die
Entdeckungsreise nach einer hübschen „kongenialen"
Ballettoper ad hoc, die uns den so „teuren1* Abend
ebenso bequem als wohlfeil ausfüllen helfen würde!
Gedacht — gethan, lag doch ein solches Werk fix und
fertig schon im Manuskriptenschranke der Theaterkanzlei
vor, und konnte man doch hier zudem noch das Nützliche
mit dem Angenehmen so zartsinnig verbinden, indem
man — wahrscheinlich unter Nachlass aller Tantiemen-
Verpflichtungen — höfisch-diplomatische Verbindlichkeiten
auf eine feine und kourtoisievolle Art, frei nach Knigge
und Gotha, an den beglückten „Schöpfer" der Partitur
und damit noch an andere Adressen austauschen durfte.
Und siehe da — den ersten Abend wird die eigentliche
Tendenz durch Neueinstudierung des „Nürnberger
Pupperls", eines artigen Kinderspielzeuges von Adam
(mit sauberen Läufen und Trillern des munteren Wede-
k i n d e s und hinreissend elastischen Sprüngen eines
satanischen „Scheide m a n d 1 s" als besonders annehmlicher
Extra-Dreingabe) noch hübsch vorsichtig und geschickt
kachiert; schon zur ersten Wiederholung jedoch ver-
kündet die amtliche Bureau-Meldung rund und nett:
224 w"agneriana. Bd. III.
„Wegen eingetretener Hindernisse wird morgen zur
neuen Oper »Haschisch4 statt des ursprünglich an-
gesetzten .Bajazzo' [der übrigens auch sehr gut dazu
gestimmt hätte!] das Ballett ,Coppelia' wieder einmal
gegeben." Die neue ästhetische Errungenschaft der
„B a 1 1 e 1 1 o p e r", Mittel zum Zweck, Ursache ohne
Wirkung, ist damit zur vollendeten Thatsache erhoben.
Immerhin verkündete dann abermals einen Tag später der
Theaterzettel „wegen plötzlicher Heiserkeit der Frau
Wittich" den Ausfall der Oper „Haschisch" bezw. die
Aufführung des „Bajazzo" zusammen mit der „Coppelia";
aber das war ja entschieden noch die a 1 1 erglücklichste,
die überhaupt denkbar beste Lösung der „Frage".
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Der Streik der Schmiede
Text (nach Francois Coppee) von Victor Ldon; Musik von
Max Josef Beer
(1898)
Man kann nicht eben sagen, dass der Versuch, die
leidigen, mit Recht schon so unbeliebten „ Gesellschafts-
abende" der Hamburger Oper durch zwei Erst-
aufführungen äusserlich aufzubügeln, den Erben Pollini's
sonderlich geglückt wäre. Nach unserer, und wohl auch
der Ansicht aller derjenigen, welche die teuren Sitz-
plätze der etwa zehn hinteren Parketreihen gestern Abend
— nicht besetzt hatten, könnte diese vormärzliche
Errungenschaft des Hamburger Theatergeistes also ruhig
wieder einschlafen. — Es war eine Wahl, just zu einem
„Gesell schaftsabende", dass Gott erbarm'! Denn, dass
die hierbei gegebenen Opern in solchem Rahmen sich
besonders „gesellschaftsfähig" ausgenommen hätten,
das wird selbst ihr bester Freund nicht gut behaupten
können. Welch ein Gegensatz aber auch ! Man denke:
Auf der Bühne das soziale Problem der Zeit — »Streik
der Schmiede", graues Arbeiterelend und penetranter
Schnapsdunst; in den Rängen des Zuschauerraumes die
ausgeschnittenen glänzenden Balltoiletten vermögender
Damen und das nicht minder durchdringende Parfüm
einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Republikanismus
Setdl, Wagneriana. Bd. III. 15
226
Wagneriana. Bd. III.
sich bei dieser Gelegenheit zur Geburtsaristokratie
fürstlicher Hoffestlichkeiten — empor träumt. Droben
wiederum: „A basso porto". die wilden neapolitanischen
„Gamorra" -Szenen, aus der untersten, polizeifeindlichen
Volksschicht; drunten aber die korrekten Herren im
tadellosen „Lack und Frack und Klaque"! Kann es-
schärfere Lebenskontraste geben? Um so mehr hat
denn eine ästhetisch gerichtete Kritik ihr billiges
Befremden, oder — noch richtiger — ihr gründliches
Unbehagen auszusprechen über eine derartige, ebenso
geschmackswidrige wie stillose Zusammenstellung. Ceterum
censeo: societateni esse delendaml — bitte recht sehr, das nun
aber bei Leibe nicht im staatsfeindlichen, streikfreund-
lichen Sinne mir hier auslegen zu wollen, wie als ob
ich von den stofflichen Vorwürfen der Arbeiter-
revolution und des Gamorrabundes in unseren beiden
Opern zum Radikalismus etwa schon abgefärbt haben
könnte. Dazu liegt bei der spiessbürgerlichen Friedsamkeit
der musikalischen Einkleidung des erstgenannten Ein-
akters, wie bei meinem persönlichen Unwillen auch
gegen den prinzipiellen „Iudianismo1' — mit all' seinem
homophonen Orchester- Trompeten und Stimmgetrommel,
wie den direkt kunstfremden, die Stimmung mordenden
Affektausrufen gesprochener Rede dazwischen —
doch wohl nicht die geringste Veranlassung vor . . .
Doch, um auf den „Streik der Schmiede*4 selber zu
sprechen zu kommen, der auch hier wieder den in
Augsburg, Nürnberg, Köln und (geringer) kürzlich in
Königsberg bereits davon getragenen Erfolg in Form
„gefälligen Eindruckes" wieder bestätigt hat: wir wollen
ihm zu seiner bevorstehenden weiten Rundreise doch
wenigstens ein kleines „Signalement" mit auf den Weg
geben. Nun, es ist eben „der alte Sturm, die alte Müh !" —
Einakter-,, Verismo": Katastrophe, nicht Drama; Explosion,
nicht Handlung; Sensation und Aktualität, nicht Wirkung
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Der Streik der Schmiede.
227
noch Lebenswahrheit ; daher auch der Effekt zuletzt
mehr rührend als wirklich ergreifend oder gar tiefer
packend zu nennen ; zudem statt Deklamation ein planlos
dtclamty und statt sinnvollen Sprachgesangs ein un-
sinniges Parlando — noch deutlicher: der Komponist
leidet unter dem alten, unheilvollen Missverständnis
einer Verwechslung von Sprach- und Sprech-
gesang. Anders gefasst, rund und nett heraus gesagt:
„Verismus", aus dem Glutbereich der neapolitanischen
Sonne und des italienischen Himmels nach den Glüh-
öfen des belgischen Rauch-, Russ- und Kohlengebietes
nunmehr verlegt, neuer Branntwein in die alten Wein-
schläuche „\larca Italia" gefasst, und das südliche Volks-
und Bauernleben der „Camorra" auf die modern-soziale
Arbeiterbewegung übertragen ; das Ganze dann noch mit
einem leichten Firniss des unverwüstlichen spezifisch-
österreichischen Optimismus überstrichen — so ungefähr
giebt sich diese Revolutions-Neuheit für unser schlichtes
Gefühl zu erkennen. Es ist das durchaus Charakteristische
an ihr, dass sie sich in einem frommen und zahmen, so
recht deutsch-gemütlichen Musikgewande giebt, so zu
sagen mehr überdenalsmitdem Hammer philosophiert,
den doch das Victor Leon'sche Textbuch so sehr gerne
schwingt! Man braucht ja nur dem „Preisliede der
Arbeit" mit seinem herrlichen Liedertafel-Refrain ehrlich
auf den Grund {rectim: Bodensatz!) zu schauen, um sich
alsbald einzugestehen, dass das weniger nach re-
volutionärer Arbeiter-Marseillaise riecht als vielmehr auf-
fallend nach dem gemütlichsten Wiener „Heurigen" der
plattesten Philister-Moral oder strengen Polizei-Ordnung
schmeckt und jedenfalls nicht das geringste Aufreizende
mehr an sich hat. Wäre das Ganze also stofflich
schlankweg als „Schnaps- und Elend -Oper" zu be-
zeichnen, so wird für seine musikalische Ein-
kleidung wiederum die Verwässerung, die der praktische
15»
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228
Wagneriana. Bd. III.
Budiken-Wirt (bei dem die Arbeiterberatung über den
Streik stattfindet) zu Anfang der Handlung mit dem
frisch aufgelegten Branntweinfässchen vornimmt, zu
einer Art von bedeutsamem Symbol: verwässerte Fusel-
begeisterung! Interessant bleibt höchstens noch, an dem
Schmiedelied des alten Matthieu (Text S. 6 u. 7) die
„zeitgemässe" Veränderung zu beobachten, durch welche
die Höhlenschmiede der Nibelungenzwerge zum in-
dustriellen Hochofenwerk und die Wagnerischen Ambosse
zu einem Meyer-Bee^schen »Gang nach dem Eisen-
hammer" hier umgemodelt werden.
Ich komme darauf, weil Herr Beer sich Vorjahren
in einer Broschüre über „Eva Pogner" zum Wagner-
Credo bekannt hat und noch heute durch Einsendung
dieses Schriftchens als „Wagnerianer" sich gerne vorstellt.
Erübrigt somit, dem schmerzlichen Bedauern Ausdruck
zu geben, dass dem Wiener Komponisten Max josef
(übrigens nicht zu verwechseln mit dem Münchner:
Anton) Beer jene „Einsicht in das Wesen Wagnerischer
Dichtkunst", zu deren Verbreitung er dereinst den
„kleinen Beitrag** über „Ein deutsches Charakter-Frauen-
bild** schreiben zu müssen vermeinte, mittlerweile so
ganz und gar schon abhanden gekommen ist. Zwar treibt er
sein naives musikalisches A n lehnungsbedürfnis bis zur
offenkundigen E n t lehnung und die erlaubte Anleihe beim
Wagner-Geiste auch heute noch gelegentlich bis zum
unverhohlensten „Kommunismus**. Dabei hat er es
aber noch jetzt nicht einmal über die primitive Urzelle,
das starre „Reminiszenz-Motiv** hinaus, bis zum bild-
samen Leit-Thema des Bayreuther Tongewaltigen ge-
bracht. Was darüber ist, ist ohnedies alles Andere
eher denn Wagnerisches Wesen: ein verblüffendes An-
passungsvermögen, wiederum an Andere, das schon
mehr „Altruismus** genannt werden müsste; eine recht
gewandte und vielfach auch ganz wirksame, zumeist aber
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Der Streik der Schmiede. 229
doch harmlos-idyllische, dazu sentimentalisch-weichliche
Instrumentation — vor Allem aber ganz unerhört viel
Trivialität.
Noch schlimmer fast steht es mit dem „Dichter" dieses
„Musikdrama's". Von den „sozialen Anschauungen"
des Herrn Viktor Leon brauchen wir hier gewiss nicht
erst zu reden — dieser gewiegte Textfabrikant nach
dem Kolportagerezepte hat wohl überhaupt gar keine,
und höchstens Hesse sich aus dem Büchlein — nach
seiner Fr. Coppee'schen Vorlage — ein stark abgefärbter,
gut bürgerlicher „Akademiker-Sozialismus" entwickeln.
Zum Mindesten bleibt keine Spur von Zola's „Germinal"-
Stimmungen oder auch nur vom Ernste der Haupt-
mann'schen „Weber" (etwa in Opern form) hier zu ent-
decken, wie man nach dem Titel vielleicht hätte er-
warten können!
Es war Alles in Allem demnach auch zu Hamburg
nur der in diesem Falle doppelt verdächtige „freund-
liche" Erfolg zu konstatieren — nicht weniger, aber
auch nicht um ein Gran mehr; das Publikum, gegen
den Schluss durch die einigermassen raffiniert eingeleitete
Spannung mit dem Arbeiter-Zweikampfe — nicht auf
Ohren und Dolch, sondern auf Hämmer als die „gewohnte
Waffe" — immerhin wohl gepackt, im Grunde jedoch
mehr moralisch gerührt, als wirklich poetisch ergriffen.
Die Herren Demuth (Matthieu) und Brandenberger
(Colbert), sowie Frau Försterer- Lauterer (Christine)
wurden der Neuheit sehr charakteristische Vertreter;
letztere trieb sogar die Armseligkeits-Plastik des dar-
benden Arbeiterstandes bis zur grauen Verelendung
einer Duse, traf aber darin noch am ehesten den offenbar
gewollten „modernen" Milieu-Stil.
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Ulixes redivivus
(1897 98)
1. Dresden
Ich hätte auch sagen können: Was lehrt uns der
„Fall Bungert"? Denn ein solcher „Fall" —
eine Art von Affäre ist der unbestreitbare Dresdner
„Od y ss e us"-Erfolg in unserer neuzeitlichen Opern-
kunde bereits geworden, und die gesamte Theaterweit
fühlte sich nicht nur jäh alarmiert durch diese strahlende
Premiere vom 12. Dezember, die so vernehmlich laut
durch den deutschen Zeitungswald raschelte: sie fühlt
sich noch heute wie von einem Phänomen — 8tupemfo
gleichsam — in Atem gehalten, seit diese Neuheit unter
vorhaltender, lebhaftest interessierter Teilnahme des
ortsansässigen Publikums an derselben Stätte nun
bereits sechs ausverkaufte Wiederholungen erlebt hat,
ja sogar von auswärtigen Theaterleitern zum Zwecke der
Erwerbung auch für weitere Bühnen schon wiederholt
persönlich beaugenscheinigt worden ist. Das fordert
doch zum Nachdenken auf, das schreit ja ordentlich
nach einer Erklärung der inneren Gründe solchen Auf-
sehen erregenden Theaterereignisses — kurz, diesem
«Popanz" muss unter allen Umständen einmal näher
auf den Leib gerückt werden!
Timeo Danaos et dona ferentes: ich scheue alles
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Ulixes redivivus.
231
moderne Griechentum und misstraue ihm aus dem
Grunde meiner Seele, zumal wenn es mit solch'
freundlichen Gebärden des breitesten Erfolges mir nahet.
Wie aber schon zum Verständnisse so mancher Begeben-
heiten der Weltgeschichte mehr als „la recherche de
la paterntö" das „Cherc/tez la femme!-' zu gehören
scheint, so auch vor Allem scheint mir hier als kritische
Voruntersuchung ein „Cherchez la vüle!u zur Abwechslung
einmal durchaus am Platze. Lernt erst die lokalen
Voraussetzungen eines solchen Bühnenereignisses
kennen, studiert zuvor den besonderen Boden, die Um-
welt und die Atmosphäre genauer, in denen die Pflanze
dieser „Sensation" gedeihen konnte, und ihr werdet
ihre Natur alsbald gründlicher erfassen lernen! Da
bleibt es denn sicher keineswegs ohne Belang, dass
Dresden ganz die nämliche Stadt ist, von der aus,
vor Jahresfrist etwa, mit „Renaissance" die leidige
Seuche der platten Versschwänke ihren Ausgang ge-
nommen hat. Ein Jeder kennt sie, diese neueste soidüant-
„Kunstrichtung", welche kostümierten Mummenschanz
für Renaissance-Kultur und statt eines goldigen, sinnig
deutschenEvchens nur eine Talmi- vergoldete Eva's-Tochter
giebt, von der Kunst also nur den Schein, einen „faulen
Zauber" sich geborgt hat, so dass allerdings der Bildungs-
durchschnitt aller Goldschnitt -begeisterten Pensionats-
gänschen nun die „süssen" Reime eine Zeit lang für
„Poesie" nehmen, ja selbst einige Wortführer der Kritik,
trotzdem sie doch seinerzeit der italienischen Opern-
Veristik durch eilfertige Übersetzungen den Weg nach
Deutschland erst gebahnt hatten, justament zu Dresden im
sächsischen Lande jetzt auf einmal scheinheilig beteuern
konnten, sie hätten stets die „Fahne des Idealismus" „un-
entwegt" hoch gehalten und erblickten nun in diesem, von
der Sonne der Volksgunst endlich beschienenen Wieder-
erwachen des guten alten, wahrhaft klassischen
232 Wagneriana. Bd. III.
Geistes den schönsten Lohn für ihre so charaktervollen,
zielbewussten Thaten. Ja, wer kennte sie nicht, diese
neueste „Kunsf-Strömung! Wer aber kennt die Sach-
lage wohl intimer, um auch zu wissen, dass diese Blüte
in dem so eigen gearteten Boden speziell des Dresden-
Neustädter Abonnentengeschmackes gerade wurzelt und
direkt jener Jahre langen, systematischen Züchtung
eines mehr anspruchs- als harmlosen Unterhaltungs-
bedürfnisses entstammt, die das Dresdner Hofschauspiel
bis vor gar nicht so langer Zeit zu einem der flachsten,
albernstenVergnügungsinstitute d»r Welt gestempelt hatte?
Und weil wir hier schon die Katastrophen-Einakter
neu-italienischer Produktion kurz gestreift haben: auch
das darf ja nicht übersehen werden, dass just eben
dieses Dresden es war, durch dessen Hofoper die be-
rühmte unrühmliche Invasion jener, bis vor Kurzem noch
verheerend bei uns grassierenden Mascagnitis seiner-
zeit erfolgen sollte — mit innerer Notwendigkeit gerade-
zu erfolgen musste, weil ein durch Jahre langen, un-
vernünftig-übermässigen Wagnerkult (dem kein ent-
sprechender,gesunderRepertoire-Gegenhalt in klassischen,
romantischen und Spielopern gegeben war) einseitig über-
füttertes Theaterpublikum schliesslich, „des trockenen
Tons nun satt", mit aller Vehemenz nach etwas Neuem
förmlich auflechzte. Was liegt da also wohl näher, als
auch diesmal, beim Bungert'schen „Odysseus" — jetzt,
wo der Verismo bei uns glücklich abgewirtschaftet hat
und auch das heilsame Gegengift der gemütreichen
Humperdinck' sehen Märchenoper von diesem selben
wankelmütigen Publikum launisch bereits wieder bei
Seite geworfen wird — vorerst wenigstens, abermals auf
eine solche „Invasion" nur zu schliessen, eine zeit-
gemässe Geschmacksablösung und aus der Natur-
geschichte dieses Ortes psychologisch motivierte Mode-
strömung lediglich auch da wieder zu vermuten?
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LJIixes redivivus.
233
Es treten hierzu aber doch noch andere, nicht zu
unterschätzende Momente. Vor Allem die ausgezeichnete,
mit dem ganzen Glänze, welcher der genannten Hofoper
nun einmal zu Gebote steht, von der Regie blendend
inszenierte, von Generaldirektor S c h u c h zudem mit
allem orchestralen Schwünge liebevoll heraus gebrachte
Aufführung, bei der Scheidemantel, überaus wirksam
von Frau Wittich, den Herren Anthes und Wächter
unterstützt, in der Titelrolle so hervorragend, auch
deklamatorisch und darstellerisch, dominiert, dass man
sich fragen kann, ob anderwärts, beim etwaigen
Fehlen einer solch' imponierenden Vertretung, die gleich
günstige Aufnahme daran nicht allein schon scheitern
könnte. Wäre der Regie auch vielleicht kritisch ein-
zuwenden, dass sie im Vorspiel und I. Akte dekorativ
zu sehr nach Boecklin, statt stilgerechter Weise nach
Preller verfahren sei, so finden wir doch ein solch'
bewundernswertes Zusammenwirken der mannigfachsten
technischen, chorischen, solistischen und orchestralen
Faktoren und ein so glückliches Zusammenfliessen der
einzelnen Bestandteile eines ungemein komplizierten
Apparates zum harmonischen (reproduktiven) Bühnen-
Ganzen, dass schliesslich dadurch allein schon für eine
schaulustige, vielköpfige und verschieden organisierte
Menge jenes Rezept des Goethe'schen Theaterdirektors
sich erfüllt: dass, wer vieles bringt, manchem werde
etwas bringen. Und vergessen wir es doch ja nicht:
rein stofflich ist der bezügliche dramatische Vorwurf
einer allgemein menschlichen Anteilnahme und gemein-
verständlichen Wirkung von vornherein schon sicher,
zumal noch überdies der vom Komponisten selbst ver-
fasste Text mit anerkennenswertem Geschicke die epi-
schen Bilder der „hom erischen Welt" durch frei
ersonnene individuelle Züge noch interessanter zu ver-
knoten, lebendig zu kontrastieren und wirksam zu
234
Wagneriana. Bd. III.
steigern versucht. Zwar stossen wir ja nicht ganz
selten auf Stellen mit höchst anfechtbarer Diktion; auch
allzu ausgedehnte Längen (besonders im 3. Akte) sind,
selbst nach der resolut durch Schuch vorgenommenen
„Strychnin"-Operation, noch nicht völlig beseitigt, und
das viel angestaunte „selbständig-dichterische Vermögen"
scheint uns bei ihm wirklich mehr nur in einem prakti-
schen Blick für das Bühnen -Metier als solches, in
einer dramaturgischen Gewandtheit, nebst glücklicher
litterarischer Anempfind ung, zu bestehen. Aber von jeher
hat ja die Vox populox — um einmal mit dem derben
Kistler hier zu reden — weniger nach diesem (für ein
feineres Kunstempfinden immerhin massgebenden) „Wie"
gefragt, als nach dem „Was" begierig gesehen, und wenn
es sich um Odysseus und Penelope schon „handelt*',
oder nun gar von der „altbewährten Idealkraft schön-
heitsatmender Antike" suggerierend im Land die Rede geht,
dann muss doch alsbald auch die ganze Bildungsheuchelei
sich mobilisiert fühlen und aller so weit verbreitete
Pseudo-Idealismus unserer Tage unbesehen-grundsätzlich
stramm mit von der Partie sein ! Daher denn in erster
Linie jener anhaltende und ganz unzweifelhaft bomben-
sichere „Überraschungserfolg" der deutschen Opernbühne.
Und doch hat der „Lieder- Komponist" August
Bungert — nicht zuletzt mit seinem ganz merkwürdig
einheitlich geratenen, in hoheitsvoller Plastik zu harmoni-
scher Abrundung auffallend wohlgelungenen II. Aufzuge,
dem unstreitig erhebendsten Teile seiner „Tragödie" —
als „musikalischer Dramatiker" unser aller Erwartungen
auch ebenso unleugbar wieder erheblich übertroffen. Nicht
als ob er in der Orchestergestaltung einer von den
Grossen und Gewaltigen wäre. Ungeachtet seiner leit-
motivischen Anlage des Ganzen giebt er vielmehr an
Stelle von Wagners polyphonem Themengespinste (als
einem die Aktion beredt ausdeutenden und die Charaktere
Digitized by Google
Ulixes redivivus.
235
psychologisch erläuternden Seelengewebe) schliesslich
aus alter Gewohnheit lieber nur homophone Gesangs-
begleitungen, aus deren natürlicher „Not" seine Schild-
knappen zuversichtlich eine leicht zu durchschauende
„Tugend" nur eben konstruiert haben, als sie stolz
argumentierten: darin habe er ja gerade seine produktive
Eigenart Wagner gegenüber erwiesen, dass er die ein-
fach klare, naiv -elementare hellenische Welt aus der
frischen Jugendzeit der Menschheit nicht mit dem ver-
wickelten Orchestergewoge reich verzweigter, pessi-
mistisch-nordischer Gedankengrübelei verbrämt und aus-
gestattet habe. Wenn anders nun freilich dieser Einwurf
seine Richtigkeit hätte, so würde ein Humperdinck die-
selbe Orchestertechnik für seinen kindlichen Stoff doch
auch nicht mit solchem entschiedenen Erfolge haben
anwenden können! Dazu verfällt Bungert noch, an-
statt die Rede im Affekt zur Sprachmelodie ästhetisch
zu steigern, gerade bei seinen schönsten und dekla-
matorisch entscheidendsten Höhepunkten mit besonderer
Vorliebe aus dem echten Sp rac hgesang in einen ohn-
mächtig realistischen Sprech ton wieder zurück, der
denn so unwagnerisch wie nur irgend möglich uns be-
rührt. Wenn aber vollends im ersten Entzückungstaumel
des erfochtenen Sieges von den „Bungertianern"
ihr Abgott nicht nur in eine Linie mit dem Bayreuther
Meister gerückt, sondern von einem besonders hell
sehenden dieser sonderbaren Schwärmer damals nach
auswärts sogar berichtet wurde, jener übertreffe mit
seinem sechsteiligen Zyklus der „Homerischen Welt"
(von dem man doch soeben erst nur ein Bruchstück
kennen gelernt hatte) selbst das bisherige Non plu*
ultra, die „Nibelungen -Tetralogie" — nun, so wollen
wir doch hoffen, dass dieser Standpunkt nicht allent-
halben auch gleich acceptiert werden wird, wonach
Kunst künftighin mit der Elle und nach ihren Dimen-
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236
U agneriana. Bd. III.
sionen, beileibe nicht aber mehr nach ihrem spezifi-
schen Geistes gewichte zu messen wäre. Und nun
gar erst, wie geschehen, den „Odysseus"-Vertoner mit
dem „Zarathustra" - Philosophen in einem Atem zu
nennen: welch* eine Urteils- und Geschmacklosigkeit
sonder Gleichen! . . .
Sollte ich meine kritischen Beobachtungen und
meine persönlichen Eindrücke zusammenfassender Weise
auf eine knappe Formel zu bringen haben, so würde
ich sagen, dass das deutsche Musikdrama sich
allem Anscheine nach in Bungert nun seinen Wilden-
bruch gewonnen hat. Ein Lob und ein Tadel, wenn
man will! Dort wie hier eine die grosse Masse ge-
legentlich mit fort reissende Szenenführung; dort wie
hier eine liebenswürdige Begeisterung für edel ge-
hobenes, bei näherer Betrachtung jedoch oft phraseo-
logisches Pathos und ein stets reger Sinn für das, was
eine weitere Allgemeinheit zu hypnotisieren vermag;
dort wie hier das fruchtbare Zurückgreifen auf ältere
Instinkte. Dort wie hier indessen auch — trotz aller
weltgeschichtlich weit ausgreifenden Stoffwahl — ledig-
lich eine eng beschränkte und kleine (eigentlich über-
haupt keine rechte) „Weltanschauung**, sowie das roh-
stoffliche Interesse im entschiedensten Vordergrunde;
dazu auf beiden Seiten viel packendes äusseres Wesen,
allein nur wenig Innerlichkeit, und ein empfindlicher
Mangel an feinerer Seelenbegründung wie Charakter-
vertiefung (welch* letzterer Zug bei Bungert dem ober-
flächlich gehandhabten Orchester vornehmlich zur Last
fällt). Endlich — das Letzte fürwahr nicht das Be-
deutungsloseste: wie bei Wildenbruch ganz ersichtlich,
so auch bei Bungert zuversichtlich das Epigonentum
unproduktiver Scheinerben, und zwar eines bei ihnen
wie abgestanden nachklingenden klassischen Ideales —
dort Schillers, hier allenfalls R. Wagners.
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Ulixes redivivus.
237
Und nun weiss ich auch, warum ich bei der ge-
waltigen Stelle im 3. Akte, wo Odysseus, sein Bettler-
gewand plötzlich jäh abwerfend, in überragender Gestalt,
von Blitzen grell beleuchtet, im roten Königsmantel auf
der Thronerhöhung steht und sein mächtig dröhnendes:
»Der Bettler ging!
Es kam — Odysseus,
Ithaka's König!
unter die erschreckten, in ihrem unechten Wert endlich
erkannten Freier hinein wettert — warum ich da auf
einmal folgende, nur allzu frappante Vision hatte: Ich
sah Richard Wagner, keinen Geringeren, magisch
beleuchtet leibhaftig da oben vor mir stehen, als sei
er, der allein den geheimnisvollen Bogen (der musik-
dramatischen Form) zu spannen vermag, wiedergekehrt
und wollte hier, nachdem er zuvor schon einige seiner
Getreuen aufmunternd begrüsst, sein angestammtes Haus
von all' dem zudringlichen, dem eigenen Sohne gar
nachstellenden, eigennützigen Gesindel, den vielen an-
masslichen, auf seine Kosten lustig schmarotzenden
Freiern um Penelopeia, sein rechtmässig ihm angetrautes
Gemahl, gründlich einmal säubern, um den ihm zustehenden
Herrschersitz fortan mit allen Ehren nunmehr ein-
zunehmen und sein Erbe selbsteigen wieder anzutreten.
„Wähntet ihr,
Dass nimmer ich heimkehrt*
Vom Lande der Troer?
Ihr verprasstet mein Gut
Und buhltet frech
Um mein hohes Gemahl!"
d. h. meine hohe, heilige Kunst!
2. Hamburg
Wie bereits in der Überschrift angedeutet, hat
Bungerts „JVLusiktragödie" von des „Odysseus
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238
Wagneriana. Bd. III.
Heimkehr*4 alsbald auch am Hamburger „Stadttheater",
der zweiten der „armseligen" Opernbühnen, auf denen sie
sich bis zum „eigenen Festspielhaus" in Godesberg einst-
weilen noch „jämmerlich herumschlagen" muss, breitesten,
lärmenden Erfolg davon getragen. Vielleicht wird das
dereinst einmal anders und dreht sich der Spiess später
um, bis sie erst in besagtes rheinisches Bühnenfestspiel-
gebäude ihren feierlichen Einzug wird halten können.
Zu wünschen bliebe das ja immerhin mit einer gewissen
Inbrunst, dass bis dahin der „deutsche Michel" wenigstens
aufwache und beschämt endlich erkenne, als welch' ein
Biedermeier ungesundester Afterbildung er sich an-
gesichts dieses sentimentalen, durch und durch unnaiven
„Salongriechentums" unserer Familienblatt-Romantik in
seinem gar dunklen Drange wieder entpuppt hat. Denn
„Homerische Welt" und — das Land der „Kaffeesäcke":
welch' im Grunde doch ganz unvereinbare Gegensätze!
Und dennoch gab es einen „guten Klang"? Ja, wer
euch nicht kennte, ihr Elemente! Wie sagte doch schon
der alte Talbot? — gegen ein gewisses Etwas kämpfen
eben Götter selbst vergebens . . .
Ich mache kein Hehl daraus, dass ich jetzt, nach
abermaligem Anhören des Werkes und gewissenhafter
Nachprüfung seiner von Anbeginn fragwürdigen Eigen-
schaften, eher noch um mehrere Grade schlechter über das
Ganze habe denken lernen. Ich nannte Bungert nach der
von mir erlebten Dresdner Uraufführung — halb lobend,
halb bekrittelnd — den „Wildenbruch der Oper". Ich
bedaure, auch das heute nicht mehr aufrecht erhalten
zu können. August Bungert als „Dichterkomponist"
(unter dieser Personalunion, einem mindestens
vierteiligen „Zyklus" und einem „eigenen Festspielhause"
thut's ja heutzutage bald Keiner mehr!) scheint mir zum
„Musikdrama" nur noch die Stellung einzunehmen, wie
sich z. B. unser Familienblattwesen zur hehren deutschen
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Ulixes redivivus.
239
Nationallitteratur und zum klassischen Kulturromane
verhält: so etwa Natalie v. Eschstruth — nicht Wilden-
bruch !
Es gehört wohl der ganze Stumpfsinn unserer zer-
fahrenen modernen Pensionatsbildung dazu, über die
feudalen Stilblüten einer „Natalie von Eschstruth" einfach
hinweg zu lesen und aus dieser Art von Sprache nicht
das wahre Wesen der „Dichterin" alsbald zu wittern.
Ein Schullehrer musste erst kommen, mit einem mühsam
zusammengestellten Sündenregister aus ihren mehr ge-
stammelten als „gesammelten Werken" den Finger drauf
zu legen. Wann wird solch' ein Otto Emst für Bungen
erstehen und dem voreiligen „Verführer" in diese so
genannt „homerische Welt" hinein, Herrn Max Chop,
den einzig berechtigten sicheren „Führer" zur besseren
Erkenntnis gegenüber stellen — d. h. ihm gehörig heim-
leuchten? Denn auch das ist ein Zeichen der Zeit,
dass — wo Pygmäen zu „Kulturerregern" gestempelt
werden — mit einem Male auch Obskuranten der be-
treffenden Fachschreiberei, die kein Mensch bisher für
voll oder ernst genommen hat, plötzlich Oberwasser
gewinnen und sich zu Autoritäten berufen fühlen. Das
ist denn die grosse „Restaurations-Epoche" der Chope
und Schrattenhölzer, die sich da, nicht faul, mächtig zu
röhren beginnen, indem sie nun die für sie selbst daraus
erwachsende günstige Konjunktur klüglich ausnützen
und durch Demonstration in Gestalt von tiefsinnigen
musikästhetischen Analysen oder gespreizten „öffentlichen
Sendschreiben" zu „Eingeweihten" und berufenen „Au-
guren" dieser „neuen Kunst des Ideales" sich aufspielen.
Besonders amüsant ist hier die Art, wie der „Dutzfreund"
Josef Schrattenholz sich in diesem Getriebe breit
macht und seine Person bei dem Glückspilze Bungert
nun anbiedert. Er meint zwar, er bekenne sich voll und
ganz zu Rob. Schumann, der gesagt habe: „Beste Art,
240
Wagneriana. Bd. III
über Musik zu reden, die: zu schweigen!" — thut aber
leider recht ergiebig nurdas Gegenteil. Dieser „Offenbarer",
der noch das Gras wachsen hören wird und offenbar
Musik schon riecht, will auch das Geheimnis der
Bungert'schen Muse ergründet, das grosse X des
„Spezi fisch -Bungert'schen in dieser Musik" — wohl
mit X-Strahlen? — bereits entdeckt haben! Er sieht
es zwar naturlich kommen, dass man ihn alsbald fragen
wird, worin das denn nun eigentlich genauer bestehe;
allein der schlaue Mann hat sich gegen solch* plumpen
Angriff längst gar wohl verschanzt, indem er einfach
dekretierte: „So unmittelbar es dem Hörer sich auch
aufdrängt und einprägt — dem Nichthörer kann es nur
durch den lebendigen Ton, durch das Klang- und Stimm-
material suggeriert werden." Womit er denn sofort fein
heraus und über alle Berge ist, da er — falls einer
es trotzdem noch nicht „hört" — wie aus einer anderen
Stelle noch hervor geht, einfach „parteiblinde Unklugheit"
ohne Weiteres annehmen wird. Das Gescheidteste an
dem ganzen Geschreibe ist noch dies, dass es in der Zeit-
schrift „Gegenwart** erschienen ist. Denn in der That,
um blosse „Gegenwarts"-, nicht etwa um „Zukunfts-
musik** kann es sich ganz zweifelsohne beim „Falle
Bungert" allein nur handeln.
Übrigens scheint neuerdings auch die Dresdner Philo-
logenversammlung, der zu Ehren man diese „Götter,
Helden und — Bungert** vorführte, über solche ganz be-
sondere Sorte von Hellenismus gestutzt zu haben; denn
bald darnach las man im „Kunstwart** über jene Fest-
vorstellung: „Interessant war das allen Teilnehmern,
gab es doch dabei zu lernen. Beispielsweise: dass Athene
schon die Flöte und dass man zu ihrer Zeit schon
moderne Militärtrompeten blies; sowie, dass Penelope's
Freier mittelalterliche Hellebarden hatten. Ganz be-
sonders erfreulich aber war es den Versammelten,zu sehen,
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Ulixes redivivus.
241
•
wie dezent das frühe griechische Altertum schon ge-
wesen ist: schon zu Ilions Zeiten trugen die Apollo-
statuen, nach dieser Aufführung, Feigenblätter!" (Auch
die christliche Betform der Statisten, mit gefalteten
Händen, hätte der Verfasser erwähnen können.) . . . Doch,
das alles genügt noch nicht; es muss der Sache etwas
energischer an die Nieren gegangen werden. Vor Allem
möchte ich hier jeden mit feinerem oder auch nur ge-
sundem Sprachgefühle begabten Leser auffordern, sich
einmal das „Szenarium" ausschliesslich auf seine Par-
tizipial-Satzbildungen hin anzusehen. Da heisst es z. B.
S. 19: „Eumäos bleibt, auf den Stab gestützt, sinnend
ihnen nachsehend, dastehen"; S. 24: „mit hinreissender
Begeisterung vortretend"; S. 29: „Odysseus mit durch-
dringendem und erforschendem Blicke betrachtend";
S. 33: „Dann plötzlich sehr erregt ihn anschauend";
S. 43: „tief ergriffen Odysseus die Hände küssend";
S. 45: „Laertes schreitet, langsam in die Ferne starrend,
hellsehend (!), von Telemachos und Eumäos geleitet, den
Pfad hinunter. Während der Chor der Najaden stärker
ertönt, fasst Eumäos, Odysseus tief in's Auge schauend,
diesen (!) an der Hand**; S. 46: „Odysseus den Eumäos
an der Hand ergreifend, vortretend"; S. 48: „Nach der
rechten Seite hin ein Portal, durch welches, später ge-
öffnet, man (!) einen Blick in die anderen Räume des
Hauses hat"; S- 65: „stets (!) das Schwert in der Hand
haltend"; S. 70: „Penelopeia bleibt stets (!), wie ab-
wesend, starr dastehen, ohne den Blick, in die Ferne
gewandt, zu ändern»; S. 87: „begeisternd einfallend";
S. 88: „entschieden vortretend"; S. 97: „Furchtbarer
Blitz und Donnerschlag, lang verhallend. Die drei be-
trunkenen Mägde, Despoina mit Kornähren und rotem
Mohn Busen und Haar geschmückt, die andren mit
Weinlaub und Rosen phantastisch geschmückt, die Arme
über die Schultern in einander geflochten, treten im
Scidl, Wagneriana. Bd. III. 16
242
Wagneriana. Bd. III
Tanzschritt vor"; S. 100: „Despoina schritt während (!)
der letzten Worte, wie plötzlich ernüchtert, erwachend,
während (!) die Freier im Hintergrunde lachen, entsetz-
lich erregt vor. Dann auf Odysseus zeigend und ihn
wild erregt anstarrend . . . u. s. w. mit Grazie in infinitum
— tbatsachlich kaum eine Textseite ohne solche schauder-
bare Partizipbildungen!
Nun könnte man mir ja einwenden: „Szenarium"
ist noch nicht Dichtung — trotzdem wird sich das Sprach-
schöpferische des echten, berufenen Dichtergeistes doch
auch in diesem Teile seiner gestaltenden Phantasie un-
bedingt klar ausprägen müssen; weshalb ich denn auch,
rein poetisch, die Anmerkung in Odysseus' Monolog
(1. Akt, S. 21) besonders rührend finde: „Nebel bedeckt
und entstellt die Landschaft, die er als sein Vaterland
nicht wieder erkennt." (Es fehlt nur noch ein „Vgl.
Friedrich Schiller" in Parenthese!) Aber das Üble daran
ist, dass diese Partizipialkonstruktionen (wie sich ebenso
leicht nachweisen Hesse) auch in die „Dichtung" mit
über gegangen sind. Von gelegentlichen Textentgleisungen
wie S. 8: „Und hoffnungslos wird es, dass sie
sich ergiebt," oder S. 57: „Die Freunde von uns ver-
folgen ihn!" — auch S. 74: „Schreiten sie mir und dem
Sohne vorbei," und dem zweimaligen, ganz unaussteh-
lichen „mein Herze" will ich hier ganz absehen, ob-
wohl sie doch schliesslich auch einen Massstab dafür
abgeben, w e s Geistes Kind hier vor uns stehten mag. Ich
möchte nur bitten, durch den ganzen Text hindurch
einmal sorgfältig zu zählen, wie oft von S. 20 bis 97
der „Frühling" oder aber der Held des Drama's (ohne
die Bestimmung „heim-" oder „zurück-", also doch
wohl mit dem Besen!) „kehrt", und wie viel Mal irgend
eine Person „starr" da steht oder vor sich hinblickt.
Die Ziffer ist es wert, das Experiment zu machen!
Wir gehen überdies noch weiter und fragen: Handelt
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Ulixes redivivus.
243
es sich denn wirklich bei Bun^rt — «»n „Das Land
der Griechen mi> aeele suchen", und nicht vielmehr
nur um eine wohlfeile „Enoch-Arden "-Sentimentalität,
mit entsprechender Wirkung auf leicht erregbare Thränen-
drüsen? „Trompeter von Ithaka" hat ihn schon ein
bekannter Hamburger Kritiker kurz, aber schlagend ge-
nannt, und den Eindruck der ersten Aufführung dort-
selbst hätte man ganz gut umschreiben können mit den
eigenen Versen des Textbuches:
„Solch' selig Weinen
haf s nie gegeben . . .
Als das bei Odysseus
und Penelopeia,
seit Lieder (nlmlich diejenigen Bungerts) melden!"...
Mit Recht hat man gesagt, dass jedes wahre Kunst-
werk auch eine Weltanschauung widerspiegle, dass
Originalität und Grösse sich auch in der Auffassung
eines Stoffgebildes bekunden müsse. Fühlen wir nun
etwas von diesem philosophischen Hintergrunde des alten
Heldensanges in unserer gar so hoch einher trabenden
„Musiktragödie"? Hin und wieder möchte es wohl so
scheinen. Treten wir dann aber beherzt etwas näher,
so bemerken wir erst: Bungert hat gar keine „Weltan-
schauung" vom Griechentum; oder: er hat nur eine
philiströs - spiessbürgerliche, wie sie schon der alte
Rektor Voss seiner „Odyssee" entgegen brachte. Statt
einer „geistigen Wiedergeburt des Mythos" haben wir
wohl eine dramatisierte, im Grunde aber doch eben die
gute alte Vossische Übersetzung nur wieder erhalten.
Wer nun grausam denkt und grausame Handlungen ausübt,
Diesem wünschen Alle, so lang er lebet, nur Unglück,
Und noch selbst im Tode wird sein Gedächtnis verabscheut.
Aber wer edel denkt und edele Handlungen ausübt,
Dessen würdigen Ruhm verbreiten die Fremdlinge weit hin
Unter die Menschen auf Erden, und jeder segnet den Guten.
16"
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244
Wagneriana. Bd. III
So lesen wir Vci» *<*a w« 334 im neunzehnten Gesänge
der bekannten Vossischen Uberseuu»8. j«. das ist's:
ein jeder segnet „den Guten". So beteuert auch
Bungert-Odysseus mit Emphase „stets": „Das Gute
siegt!" . . . und der Schlusschor bestätigt's wiederum
mit Nachdruck: „Das Schöne und Gute siegt!" — er
hätte nur noch /'er aspera ad nstra oder „Durch Nacht
zum Licht!" solenn hier zu fugieren brauchen. Jeden-
falls also eine durch und durch wohlwollende, in sich
einfältige und ganz unkomplizierte Natur, dieser „Gute"
jenseits von Hässlich und Böse, beinahe schon
„Menelaus der Gute", wenn wir auf diese Bonhommie
nur auch recht hinhorchen wollen. Und in der That, wie
in den Chorgesängen manch' bedenklicher Lieder-
tafelton, aber sicher kein «griechischer Chor" anklingt,
so mutet es uns auch aus dieser „Dichtung" oft höchst
ungriechisch liedertafelmässig, statt wie Ethos und
Pathos der Antike: wie platte, biedere Bürgermoral eines
modernen Nachtwächtertumes gar bald an. Man besehe
sich den Schlussrefrain: „Es singen's die rauschenden
Wälder in Stürmen — Die Wogen, die auf dem Meere
sich türmen — im Sternenreigen es leuchtend geht (!),
dass echte Liebe und Treue besteht!41 — wo bleibt da
noch „das bisschen Griechentum"? Penelopeia's adlig-
untadliger Name wird von Hyperion im unverfälschtesten
Triolendeklame eines Leoncavallo angerufen. Und nun
denke man sich vollends der schmerzreichen Ideal-
gestalt eigene Worte bei Bunge rt: „Die treue Liebe
allein ist schön! Ohne sie mag die Welt in Trümmer
geh'n ! . . . Ich bin nicht das Weib, das der Stunde der
Lust — opfert das heil'ge Empfinden der Brust!" Dies als
innersten Wesenskern einer weltgeschichtlichen Gatten-
prüfung, wie der Penelope's, hier heraus gestellt! Nein,
es ist nicht einmal mehr das „Gewand der Helena",
was der Bildungsdünkel unseres „ledernen" Philistertums
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Ulixes redivivus.
245
hier eben noch am Zipfel erhascht, wenn es die Bungert'-
sche „Vertonung" mit eilfertiger Begeisterung beklatscht
und darin zudem noch eine über die Massen preisens-
werte Rettung unausrottbarer „künstlerischer Ideale"
für unsere „materiell" gesinnte Zeit begrüssen zu dürfen
glaubt. Ohnmächtig gegen den Unsinn, der da über
uns hereinbricht, vermögen wir uns dagegen nur mehr
zu wehren mit dem Ausrufe: „Sancta rimplicäas!" Viel-
leicht hilft das ein wenig.
Also, um es nochmals knapp, aber ganz deutlich,
auch quoad Komponisten, zu sagen: August Bunge rt
gehört zu den fraglos „guten Leuten", wenn auch
ziemlich „schlechten Musikanten". Er hat es mir zwar
gewaltig krumm genommen, dass ich in seinem Or-
chestersatze keine richtige Polyphonie entdecken wollte
und von „mehr homophoner Liederbegleitung" nach der
Dresdner Premiere allein nur sprechen konnte. Indessen,
er mag sich bei meinen Hamburger Herren Kollegen er-
kundigen, ob deren Ohren zu wesentlich anderen Re-
sultaten beim Hören gekommen sind. Und eigentlich
hat er ja auch ganz Recht; denn nicht einmal von
„Liederbegleitung" (im guten, modernen Sinne dieses
Begriffes) lässt sich sehr oft bei ihm mehr reden,
sondern blossen Figuren und instrumentierten Rhythmen
sozusagen begegnet man da nur allzu häufig. Nun hat
einmal Einer gesagt: Um einen Orchester-Komponisten
zu beurteilen, müsse man den Hornsatz seiner Par-
tituren näher ansehen. Du lieber Himmel! Wenn das
wahr ist, wird man bei Bungert nicht eben allzu weit
damit kommen, denn ganze Etudenpassagen lässt er das
Horn stellenweise anhaltend einherhüpfen, ohne doch
die geringste vernünftige Wirkung damit zu erzielen.
Und ebenso berührt nicht selten der gemischte Vokal-
satz bei ihm (man studiere einige Freierchöre im 3. Akt,
so weit sie nicht in der unverfälschtesten „klein-
246 Wagneriana. Bd. III.
städtischen Liedertafel weis'" überhaupt schon geschrieben
stehen) merkwürdig ungeschickt und zerfahren. Jeden-
falls steht so viel doch fest, für mich nach der Ham-
burger Aufführung erst recht über allen Zweifel er-
haben: dass hier das Orchester nicht webender Seelen-
grund für das auf der Bühne vor sich gehende Drama
der Herzen und Charaktere ist, aus dessen schaffendem
Urschosse dieses gleichsam geboren würde und hervor
ginge; sondern die (zudem auch nicht eben allzu be-
deutenden) Leitmotive schwimmen wie Fettaugen nur
auf einer ziemlich dünnen Suppe und leeren Brühe einher.
Man vergegenwärtige sich doch einmal: Wir haben in
„O dys seus' Heimkehr" das dritte der „Odysseen-
Dramen, das fünfte aber bereits des Gesamt-Zyklus
jener „homerischen Welt" vor uns! Wenn anders dieser
ganze „Ring" eine geschlossene Einheit der Motiven-
welt, wie es nach berühmten Mustern doch zu erwarten
stände, bilden soll — wie ungleich reicher, fülliger,
dichter müssten sich nicht alle diese Einzelfäden bis
hierher schon verknotet, die thematischen Triebfedern an
einander bereits umgebildet und verknotet haben. Eine
„jedenfalls schlechterdings unkomplizierte Natur*' nannte
ich Bungert schon oben, da ich erst die „Dichtung44
einmal etwas schärfer unter die Lupe nahm. Aber
auch für den Musiker Bungert darf das ohne Weiteres
nur wieder gelten.
Ist es nach Alledem nun wohl zu glauben, dass ein
Friedrich Nietzsche 1883, bei gemeinsamem Aufenthalte
an der Riviera, diesem „einfachen" Familienblatt-Musik-
dramatiker die unvorsichtigen, für den Verfasser einer
„Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
doppelt unüberlegten Verse in's Stammbuch sollte ge-
schrieben haben: „Wer viel (!) einst zu verkünden hat,
schweigt (!) viel in sich hinein. Wer einst als Blitz
zu zünden hat, muss lange Wolke sein" . . . ? Welche
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Ulixes redivivus. 247
bedauerliche Sinnesstörung müsste damalen doch Zara-
thustra's sonst so helles Sonnenauge getrübt haben, da
wir, wo er zukünftigen „Blitz" sich ersah, bisher doch
nur eine sehr wässerige Regenwolke erspähen konnten!
Oder aber — und das wäre allerdings der famoseste Witz
der Weltgeschichte — hätte am Ende gar der (von sich
nicht wenig eingenommene) Bunge rt jenes, von einem
Nietzsche lediglich zur Erinnerung an ihre beiderseitige
Begegnung, als Charakteristik seiner eigenen Person in
die „Morgenröte" Eingezeichnete, allzu voreilig auf sich
selber gleich bezogen? Für denjenigen, der Nietzsche's
Schriften genauer kennt, ist das sogar mehr als wahr-
scheinlich; Herr Ludwig Hartmann in Dresden sucht es
dagegen natürlich wieder für seinen Helden Bungert aus-
zumünzen! — Dass die ganze „Musik-Tragödie" musi-
kalisch dazu auch noch arg stillos sich giebt, das mag
billiger Weise hier übergangen sein. Aber das verdient
denn doch eine nochmalige, besondere Hervorhebung,
dass gerade in den dramatischen Höhepunkten, wo ein
Wagner die Tonkunst zur höchsten Steigerung des Aus-
druckes genial zusammen zu fassen pflegte, ein Bungert
in die eintönig gesprochene Rede anscheinend grund-
sätzlich verfällt, also eine Art von „umgekehrtem Musik-
Drama" statuiert, dessen aparte, neue Aesthetik uns der
„Führer** durch diese „homerische Welt**, Herr M. Chop,
wohl erst noch zu „entdecken** haben wird. Vollends, was
den Ausbau, die organisch-thematische Entwicklung breit
angelegter Final- Wirkungen anlangt (ich verweise auf
den jäh abreissenden Schluss des 1. Aktes und das
ganz abscheulich schustermässige Tuschblasen, jenes blech-
bepanzerte Schluss-Toastieren am Ausgange des Ganzen),
hat uns der moderne „Odysseus**-Komponist nur be-
wiesen, dass e r jedenfalls nicht „gleich dem hoch-
hinwandelnden Gotte" (R. Wagner nämlich) versteht, zu
„spannen den heiligen Bogen**. Und damit wollen denn
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248
M'agneriana. Bd. III.
auch wir es nunmehr „genug sein lassen des grausamen
Spiels"! Wahrlich: ein Andres ist es, Weltgeschichte
als Lebensaufgabe sich vorsetzen und dann aus-
arbeiten; ein Anderes wiederum, Weltgeschichte selbst
leben und dieses tiefere Erlebnis als neues Leben,
in produktiver Ausgestaltung als Ab- und Sinnbild, seiner
Zeit wie der Nachwelt mitteilen.
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Eros und Psyche
Textdichtung von Wilhelm Schriefer; Musik von Mix Zenger
(1001)
Ein Wunder — ein unbegreiflich hohes Wunder ist
geschehen: die Haupt- und Residenzstadt München hat
wieder einmal Gelegenheit, von einer Opern-Premiere
zu berichten! Das heisst, ich will hier meinen besonderen
Standpunkt gleich zu allem Anfang näher präzisieren.
Keineswegs bin ich für meine Person nämlich in der
Lage, mit in das Verdammungs-Urteil ohne Weiteres
einzustimmen, das über die bayerische Hofoper so ziemlich
allenthalben heute umgeht, so wenig ich — der geborene
Münchener und zudem Kenner der Wiener, Berliner,
Dresdener, Leipziger, Hamburger, Weimarer u. a.
Theaterverhältnisse — natürlich irgend verkennen kann,
wie unsere früher so ausgezeichnete Bühne neuerdings
arg zurück gegangen ist und mit ihren derzeitigen
Leistungen recht oft die schmerzlichsten Vergleiche
zwischen Einst und Jetzt „anregend" herauf beschwört.
Im Grunde ist es nur das unerhört schleppende Tempo
solcher Erstaufführungen mit seinen lähmenden, frei-
willigen oder unfreiwilligen Kunstpausen dazwischen,
was die sanfteste Kritik endlich heraus fordern muss.
Eines sollte man aber auch dabei nicht ganz immer
wieder übersehen, noch vergessen:
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Wagneriana. Bd. III
Die Münchener Oper als solche, die der Vernach-
lässigung ihrer Pflichten stets so laut angeklagt wird,
hat doch im Laufe des letzten Jahrzehntes so ziemlich
von jedem Genre der modernen Opern - Produktion
wenigsten eine Probe, von den einzelnen Vertretern
der musikdramatischen Komposition nach Wagner
irgend ein Muster und Beispiel ihrem Publikum treulich
vorgeführt, und ich wüsste nicht, an welch' anderem Orte
das auch nur annähernd in der Übersicht 'und mit dieser
Fülle des Mannigfaltigen geschehen wäre. Dass sich die
verehrliche Intendanz dabei zumeist vergriffen und das
Erfolglose, also zuletzt Uncharakteristische, gerade
erwischt hat — das steht wieder auf einem anderen
Blatte und gereicht den massgebenden Faktoren sicher-
lich nicht zu hervorragendem Ruhme. Aber — mit Aus-
nahme allenfalls von F. Draeseke, Hugo Wolf, Hans
Pfltzner, Jos. Reiter, Ant. Urspruch, Aug. Bungert und
einigen Vollblut-Italienern der „Mascagnitis", um die es
weiter auch nicht „schad' is'", wüsste ich kaum einen
bedeutsamen, wichtigen Namen zu nennen, der hier
andauernd gefehlt hätte. Sind doch Alex. Ritter, Wein-
gartner, Kistler, Kienzl, Schjelderup, Hans Sommer,
Tschaikowsky, Goldmark, Verdi, Berlioz, Chabrier,
Humperdinck, Thuille, v. Zemlinsky, Könne-
mann, Schillings, R. Strauss, S. v. Hausegger, Siegfr.
Wagner, Eugen dVAlbert, Heinr. Vogl, Victor Gluth
und nun Max Zenger, je mit mindestens einem
Werke, der Reihe nach an uns vorüber geschritten; ja,
war — in den gesperrt hier gedruckten Fällen —
München anderen Städten doch sogar voraus gegangen.
Gewiss schon eine recht ansehnliche Liste!
Nein, vielmehr die Gefahr liegt meines Erachtens
da ganz anderswo. Vor Allem: in einem überspannten
Lokalpatriotismus, der bekanntlich immer am un-
rechten Orte sich einzustellen liebt. Die lautesten und
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Eros und Psyche.
251
lärmendsten Erfolge waren meist spezifisch heimische
Angelegenheiten und in der Regel nachher die grau-
samsten Durchfälle: ein Werk wie „Guntram*4 aber
hatte sich mit lauer Aufnahme abzufinden und mit
einer Aufführung allein zu begnügen! (Und ganz
ähnlich wieder Schillings' „Ingwelde", v. Hauseggers
«Zinnober'' oder Sommers »St. Foix* u. a.) Sodann:
liegt sie in der vom Repertoir unserer Hofoper gleicher-
weise wie auch von „Wagner-Pianisten" noch genährten,
geradezu gräulichen Wagner- Verseuchung — um nicht
zu sagen: Wagner- Versimpelung unserer bajuwarischen
Metropole; denn es grenzt wirklich schon an künst-
lerischen Stumpfsinn und musikalische Verblödung, bis
zu welchem Grade hier zu Lande Wagner'sche Musik,
ganze Strassenzüge entlang, bei offenen Fenstern auf
Klavieren gepaukt wird und — die Vorstellungen seien
noch so schlecht vorbereitet oder sonstwie fragwürdiger
Natur — im Theater noch und immer wieder besucht
ist. Das allerdings, solche Oberfütterung ohne die aus-
gleichende natürliche Gegenkost, bildet eine schwere
Verschuldung Seitens unserer leitenden Kreise, die sich,
zumal an dem mit solch* hoch tönender Reklame an-
gekündigten neuen „Prinzregenten-Theater", noch ein-
mal bitter rächen wird und schon jetzt in dem absoluten
Unverständnis des Münchener „Wagner- Philisters" für
modernes Wesen ihre bedenklichen Schatten voraus-
wirft. Der Krebsschaden aber, warum hier der wahre
Stil und die echte Weihe der Wagnerischen Kunst in
den Aufführungen so ersichtlich abhanden kommt — er
besteht innerhalb unserer Theaterverwaltung vornehm-
lich noch darin, dass hier keiner unserer Kapellmeister
mit jener Vollmacht ausgestattet erscheint, die
seine Machtsphäre über die Rampe hinaus, zum
„direktoralen44 Eingreifen auch auf die Bühne hinauf,
erweiterte und seine „Persönlichkeit" als solche (wenn
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252
Wagneriana. Bd. III.
anders eine vorhanden ist) auch für den einheitlichen
Geist der Gesamt -Darstellung» für den organischen
Zusammenhang zwischen der Szene oben und der Musik
unten, verantwortlich machte. Opern-Direktor und
Ober-Regisseur wird halt immer wieder (und ich fürchte
sehr, es wird auch unter Hermann Zumpe nicht
anders sein) Herr von Possart bleiben, „Inszenator"
und apirituf regens immer noch .Meister Lauten-
schlägerM spielen : es herrscht also vor den Kulissen
sozusagen das eingeborene Komödiantentum der Effekt-
hascherei, i. e. Wirkung ohne zureichenden Grund, der
blendenden Kuriositätsmätzchen oder Kulissenreissereien
ohne rechten Sinn und inneren Zusammenhang, und
waltet hinter ihnen wiederum die „Feerie« des Theater-
zaubers und Kolophonium -Glanzes, mit dem ganzen
Raffinement eines leistungsfähigen Maschinenwesens,
und zwar in geradezu verwegener Weise. Damit aber
stehen wir inmitten der eigentlichen Fatalität des
Müncher Hofbühnen-Betriebes wie seiner Kunstoffen-
barungen und auch seines besonderen Opern-Stiles, für
welchen Wagner* s „Feen" leider förmlich »vor-
bildlich* geworden zu sein scheinen. Bereits im Jahre
1889 schrieb ich als kritischer Betrachter dieser Zu-
stände einmal nach auswärts: «Die Geschichte dieser
Bestrebungen ist nicht von gestern und heute, sie
datiert seit der Wiederaufnahme des ,Oberon* in's
Repertoir um die Mitte der 80 er Jahre, hat später in
dem Rattenfänger*, ,Trentajäger* (von Gluth) in
,Undine' u. A. gesteigerte Entwicklung erfahren und
nunmehr in den ,Feen* von Wagner sowie mit der
,Urvasi* von Kalidäsa (aus den Separatvorstellungen
des verstorbenen Königs) ihren augenblicklichen Gipfel-
punkt erreicht. Kein Zweifel! Wir haben in München
an Lautenschläger eine Kapazität allerersten Ranges;
wir können uns mit unseren Dekorations-Künsten und
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Eros und Psyche.
253
Maschinen-Kunststücken den Fremden gegenüber schon
sehen lassen. Jedoch diese schöne Medaille hat auch
ihre leidige Kehrseite: Lautenschläger droht
Alleinherrscher zu werden, und das wäre jedenfalls ein
bedenkliches Symptom für den Niedergang, für eine
unleidliche Hypertrophie der Bühnenkunst nach einer
Seite hin, wie seinerzeit die Alleinherrschaft des
Sängers eine gewesen ist — er würde schliesslich die
Gesetze diktieren und alles nach seinem Regime nur
„einrichten". Geht doch diese Sache neuerdings bereits
so weit, dass nach der „Wolfsschlucht" im „Freischütz",
welche allerdings das Grossartigste und Unglaublichste
bietet, was man sich in diesem Genre nur denken kann
(ein wahres „Ideal" von Wolfsschlucht!), nicht der
Sänger, noch der Dirigent, nein — der berühmte
Maschinenmeister allein vor den Rampen erscheint
und den Dank des Publikums, s. z. s. eiviliter, huldvollst
entgegen nimmt."
Man muss sich somit einmal vergegenwärtigen, dass
beim neueren Musik -Drama zwar wohl von einer
„Geburt der Tragödie aus dem Geiste derMusik",
niemals aber von einer solchen „aus dem Geiste der
dekorativen Technik" heraus, die Rede war, um die
ganze Umkehrung des idealen Grundverhältnisses an
jenem Königl. Opern-Institut mit vollem Schauer einmal
zu ermessen. Hier insonderheit liegt der Hund be-
graben; und da stünden wir denn auch zugleich in-
mitten des Thema's selber, das wir heute anzuschlagen
haben : Erweist sich Max Zengers, aus der ehe-
maligen Münchener „Preis - Konkurrenz" noch mit
hervor gegangene, neue Oper „Eros und Psyche"
als lebens- und eindrucksvoll genug, um auch ander-
weitig ankommen zu dürfen, oder aber ist sie nur eben
den obgeschilderten Münchener Verhältnissen „auf die
Bretter gemessen" und wird daher im Wesentlichen
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254 Wagneriana. Bd. III.
als eine willkommene Acquisition und „Attraktion44
lediglich für die dortigen allsommerlichen Fremden-
Vorstellungen aufzufassen bleiben? — um so reputier-
licher gerade hier sich alsdann ausnehmend, als sie ja,
ihrem ganzen Sujet nach, dem „Zuge der Zeit" so
„gefällig*' folgt! Deutlich gesprochen: Bedeutet sie
Glück oder — Gluck ? . . . tliat is tlie que*tion.
Prophezeien ist schwer; ablehnen noch schwerer,
wenn man es mit dem ernst meinenden, immerhin
liebenswürdigen Werke eines tüchtig strebenden, als
Meister der Tonsatzkunst allgemein wohl anerkannten
Komponisten zu thun hat, der überdies bislang sich für
einen ausgesprochenen „Pechvogel" zu halten, hin-
reichenden Grund hatte. Ich darf von mir schon sagen,
ich habe mich für Dr. Zenger wirklich aufrichtig gefreut,
dass er diese Aufführung seines Schmerzenskindes
(Opern sind gar niemals Freuden-Kinder für ihre Autoren !)
überhaupt noch hat erleben können. Denn, man denke
nur: der genannte Komponist ist bereits betagt, und
über vier Jahre hat man ihn mit dieser Aufführung
hingehalten, bezw. hat sich deren Uraufführung für ihn
immer wieder hinaus gezogen. Der erfreuliche, nicht
„jubelnde" (wie die Reklame angiebt) aber doch echte,
freundliche Erfolg hat nun immerhin gezeigt, dass man
dem anerkennenswerten Streben solche Genugthuung
schon viel früher hätte bereiten können — schien man
ja doch ein Fiasko zu befürchten, nachdem man in
schwacher Stunde die Zusicherung einer Aufführung
auch dieses, bei der bekannten Münchener „Preis-
konkurrenz" mit eingereichten, Werkes dereinst erteilt
hatte. Natürlich war die Wirkung zunächst eine rein lokale,
denn Meister Zenger — der vor Jahren schon einmal
mit einer Oper „Wie! and der Schmied" Aufsehen
erregt, dann seine sehr gute „Faust "-Musik ge-
schrieben, mit einem Oratorium „Kain" (nach Byron)
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Eros und Psyche.
255
auch auswärts mancherlei Beachtung gefunden und
sich noch anderweit, auf dem Gebiete der Chorlyrik
und Kammermusik, wiederholt ausgezeichnet bewährt
hatte — Zenger selbst bat ja in München, wo er seit
Jahren lebt und wirkt, zahlreiche Freunde und Anhänger
seiner gehaltvollen Muse. Aber vielleicht war sie doch
noch etwas mehr, diese gute Wirkung. Und jedenfalls
bin ich der unmassgeblichen Ansicht, dass man Leuten,
die nach ihrem ganzen Naturell von vornherein nur geringe
Aussicht haben, mit ihrem „Tagewerk" auf die fernere
Nachwelt zu kommen, die billige Lebensfreude, sich
aufgeführt zu sehen, doch nicht grausam missgönnen
sollte und daher auch einem Zenger, zum Mindesten
jenes „lokale Glück", nicht so lange hätte vorzuenthalten
brauchen. Ihrem ganzen Naturelle nach, sage ich. Denn
in der That könnte unser Komponist mit seinem König
von Paphos zweifellos die resignierte Weise gelegentlich
mit anstimmen: »In meines Schattens Halbgefühl!"
Es ist alles bei ihm durchaus edle und gediegene, so wohl-
anständige als respektable Musik; aber es bleibt doch
zuletzt beim Abklatsch und Nachklang unserer Musik seit
Gluck, zudem ein „Schatten" nur von Richard Wagner
(etwa bis zum „Lohengrin" hin, mit etwas „Parsifal"
noch durchsetzt); halb wieder Mozart und halb
romantische Oper (Marschner): nichts eigentlich Ganzes,
in sich Gefestetes und Bestimmtes. Die „Individualität"
Zenger war anscheinend leider nur dem Schriftsteller
ehedem zu eigen: da, als er noch an der „Allg. Ztg." das
kritische Richtschwert energisch schwang, hab' ich mich
oft königlich — oder soll ich sagen: diebisch? — über
ihn und seine kräftige „Weise" gefreut; denn da war
Eigenstil, urwüchsiger Ton und eine baju warische Kern-
Natur in der „Melodieführung44 vorhanden, wie sie für
München gerade so unbedingt notwendig erscheint, um
hier zugleich den entsprechend nachdrücklichen Eindruck
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256
Wagneriana. Bd. III.
zu machen. Und schade nur, dass diese originelle Sonder-
note bei ihm dort nicht dem eigentlichen Fortschritte
unserer Tonkunst zu Gute kaml . . .
Als diese Novität seinerzeit, bei der bekannten
Münchener Opern-Konkurrenz, die Herren Preisrichter
passierte, soll einer von ihnen gesagt haben, dass der
Komponist die letzten 50 Jahre Musikentwicklung und
Opernproduktion so ziemlich verschlafen habe. Das ist
nun allerdings wohl nicht ganz richtig; aber ein Körnchen
Wahrheit steckt schon darinnen. Es ist eben die alte
Geschichte vom Unterschiede zwischen „Neu" und
„Schön". Und so glaube ich denn, wir brauchen uns
bei unserem kritischen Urteil über Zenger nur auf die
richtige Perspektive seinem Schaffen gegenüber einzu-
stellen, um ihm auch in der rechten Weise alsbald voll-
auf gerecht zu werden. Man muss vom Apfelbaum halt
keine Paradeis-Äpfel verlangen und wird zugeben dürfen,
dass — wenn wir schon vom „Neuen" bei diesem nun
einmal unmodernen Tonsetzer füglich absehen wollen —
wir doch sehr viel Fesselndes und Interessantes, auch selbst
Charakteristisches in seiner Schöpfung vorfinden, an
gar manchen anziehenden „Schönheiten" dieser Oper
uns aufrichtig erfreuen können. Zengers Perioden-
bildung ist, wo er nicht gleich auf das (höchstens neu-
zeitlich orchestrierte und figurativ umspielte), ältere Sekko-
Rezitativ zurückgreift, mehr die absolut - musikalische,
der Bau seiner Melodie ein architektonisch-symmetrischer
mit Text -Wiederholungen, bei denen es ihm auch auf
verfehlte Deklamation gelegentlich nicht weiter ankommt.
Trotzdem weiss unser Komponist nach älteren Mustern
ganz vorzüglich für die Gesangsstimme zu schreiben,
Ensembles vortrefflich für das menschliche Organ,
vokal — nicht instrumental, zu gestalten; man darf
nur nicht gerade den Sprach -Gesang von ihm erwarten,
so viel gute deutsche Tradition sonst vielleicht auch
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Eros und Psyche.
257
wohl in diesem seinem sanglichen Stile noch anklingen
mag. Das moderne Leitthema ist kaum nur erst als
eindringliches „Erinnerungs-Motiv" für die dramatische
Handlung von ihm verwertet. Immerhin doch werden
anfängliche, unser Ohr etwas fatal berührende Anklänge
an das Liedertafel massige und an Oratorienhaftes schon
bald zu Gunsten charakteristischer Akzente, energischer
Färbungen und einer frischeren Belebung der Szene
wieder verlassen. Und, bleibt auch das Lyrische in
diesem „lyrischen Musikdrama" im Grossen und Ganzen
im Vordergrunde, so fehlt es trotzdem nicht an wirksam
packenden, dramatischen Höhepunkten und zum Teil
tiefer ergreifenden Stimmungen, die selbst in Gehör
und Herz eines modern gesinnten Hörers lebendig
einmal nachzuhalten vermögen.
Wilhelm Schrie fers, nach der bekannten Er-
zählung des Apulejus frei verfahrende, aber den eharme
von Klingers Randzeichnungen bei Weitem nicht er-
reichende Textdichtung bietet uns im Ganzen ein recht
appetitlich zubereitetes Hellenentum des schönen Augen-
scheines, das seine Stoff-Elemente aus Gluck und
Dante (Acheron), aus Grillparzer (Tempelfeier), Goethe
(Phorkyas - Helena) und Wagner (Lohengrin - Problem)
gleicherweise bezieht und mischt. Die Dramaturgie ist
dabei — ungeachtet aller Symbolik, oder vielleicht
wegen ihrer — oft herzlich ungeschickt, die Psychologie
mitunter etwas kindlich geraten, und die Sprache des
Gedichtes nur zu häufig im christlichen Ausdrucks-
gebiete stecken geblieben, in der Sphäre romantischer
Empfindung sich zumeist bewegend, ohne rechte Spur
noch Ahnung wahrhaft antiker, griechischer Kultur oder
. Weltanschauung. Aber man sieht und fühlt doch deutlich,
dass etwas Besseres, Höheres vom Verfasser hier
intendiert worden ist, und stellenweise kommt es darin
denn auch zu einer bedeutsameren, bald tiefen, bald
Sei dl, w-agneriana. Bd. III. 17
258
Wagneriana. Bd. III.
wieder höchst anmutigen Wirkung. Man muss sich,
als hoffentlich nicht ganz unvorbereiteter Zuschauer, nur
auch nicht allzu sklavisch von der in einigen Haupt-
punkten (z. B. in der Hervorhebung eines Unterschiedes
zwischen esoterischer und esoterischer Erscheinung des
„Eros") gründlich missglückten, konkreten (Münchener)
müe-en-scbie bezüglich seiner eigenen Phantasie in Fesseln
schlagen lassen und muss nur erst einmal, als frei und
selbständig denkender Mensch, durch all das Gestrüpp
der Machinationen, Verwandlungskünste, Luftschiffer-
experimente und Zwischenvorhänge heil sich hindurch
gearbeitet haben, um schliesslich doch auf den guten,
rein menschlichen und allgemein verständlichen Kern
der Aktion zu kommen, die, ungeachtet aller Gluck-
Reminiszenzen, zum tragischen Pathos eines Wagner
sich etwa verhält wie romantische Zauberoper zum
modernen Musikdrama, oder noch besser wiederum: wie
Märchen zum Mythos.
Wenigstens glaube ich, dass man von vornherein
Unrecht daran thut, wenn man das „Pandoren"-Motiv für
die grosse Hauptsache bei der „Eros und Psyche"-Sage
hält und die gelegentlichen „Semele"-Anklänge oder
„Melusinen"-Elemente bei diesem Stoffe nicht beherzt
zu Neben tönen macht. Jedenfalls doch dürften sie
uns den Grundzug nicht überwuchern: dass es sich
hierbei im Wesentlichen um die tiefgeheimen Vorgänge
einer keuschen Mädchenseele handelt, will sagen um das
heftige Sträuben der zart aufkeimenden und erblühenden
weiblichen „Psyche" gegen die Bezwingung und Über-
wältigung durch die männliche Liebe (Amor), um zuletzt
aber doch, nach langwierigen Prüfungen und schweren
Opfern, dem Zuge des Göttlichen zu folgen, dem Drange
und der Gewalt einer höheren, veredelten Liebe sich
willig hinzugeben. Im Christentume haben wir eine
Religion des Geistes — im Griechentume lag der Kult
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Eros und Psyche
259
des Leibes; dort muss der Leib zur Seele vergeistigt,
hier die (platonische) Seele zur schönen Sinnlichkeit
des Leibes entwickelt werden: voilä der umgekehrte
„Lohengrin", ein Lohengrin eben nach griechischer
Voraussetzung! Während die Eva's und Elsa's von ihrer
sinnlichen Begierde abgebracht werden mussten, von
irdischer Neugierde und Versuchung zum Ernste des
Übersinnlichen zu führen waren, muss eine „Psyche**
vielmehr zum Leiblichen erlöst, zur sinnlichen An-
schauung gerade erzogen werden. Aber — und nun be-
greifen wir auch sehr gut die selbständige dichterische Ein-
fuhrung der Gestalten des schönheitsdurstigen Künstlers
„Aristokles" wie des hässlichen Meerungeheuers„Phorkysu
(als Versucher und Nebenbuhler gegen Amor): dem
Gott und Ober menschen steht der Nur mensch wie
der Unter mensch und Dämon gegenüber — die rein-
menschliche und vollends gar die tierische muss durch
die göttliche Liebe erst überwunden und geläutert sein,
ehe sie von Psychens Herz und Gemüt dauernd Besitz
ergreifen darf und dieses in Ewigkeit nun auch beglücken
kann.*) Wie klar, wie fein, wie zart und tief zugleich
dieser letzte Kern unserer Dichtung, wenn wir nur all
das Göttergelichter ex machina einmal aus dem Wege
räumen und von dem toten Allegorieenwesen abstrahieren
wollen, wie es auch der Dichter noch weit mehr und
mutiger hätte thun sollen, um der sonst allzu nahe
liegenden Frage bei seinem Publikume zu entgehen:
„Was ist uns Hekuba?" Man erkennt: diese Hekuba
kann uns auch heutigen Tages noch sehr viel sein,
wenn wir sie nur mit den rechten Augen ansehen und
mit offenen Ohren anhören wollen! Freilich, diese
*) Selbst die Drohung: dass Eros =■= Th anatos sein könnte,
vertieft sich hier in der Anschauung, indem wir der antiken
Symbolik der aufrecht stehenden und der umgestürzten
Eros-Fackel nachgehen.
17*
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260
Wagneriana. Bd. III.
Hekuba eines Mode-Griechentums unserer Tage — sie
könnte uns sogar noch weit mehr sein, wenn wir sie
beherzt nur gleich — in's Bock 1 in' sehe fibersetzen
und unsere Phantasie selbstthätig im dionysischen
Fabelwesen sich ergehen lassen möchten . . .
„Antik" ist heute nun einmal Trumpf! August
B u n g e r t mit seiner „Odysseus-Tetralogie" machte hier
den Vorreiter (wenn wir nicht am Ende Bruch-
Bulthaupts, einer früheren Zeit noch angehörende,
griechische „Oratorien" als solche bereits auffassen
wollen); Goldmark mit der „Kriegsgefangenen" folgte;
neuerdings steht die „Orestie" — oder, wie man ge-
bildeter sagt: „Oresteia" — nach v.Wilamowitz-Möllendorf
oder Schienther, mit oder ohne Musik von Max
Schillings, im Vordergrunde des Interesses ; auch
von einer „Oresteia" des Russen S. Tanejew, einem
„Agamemnon-KIytemnästra"-Musikdrama des Pragers
Rud. Frhrn. Prochazka, sowie von einer „Klytemnästra",
dem rezitierten Drama eines gewissen Eberhard König,
hat man inzwischen wohl vernommen; eine weitere
„Orestie" von Felix Weingartner steht in Sicht —
und nun haben wir hier also sogar noch eine Oper „Eros
und Psyche" erlebt: was kann man wohl mehr ver-
langen? Preisfrage aber nur: Wie kann das Griechische,
also das „Klassische" — romantisch werden?
„Eros und Psyche" oder „Graf Zeppelin in Hellas", so
liesse sich fast schon sagen: denn horizontal wie vertikal,
gerade und der Quer, durchkreuzen darin Flugmaschinen
aller Art die Luft, und es darf uns dabei nicht ent-
gehen, dass die solcher Gestalt einher fahrenden „Götter
Griechenlands" naturlich nur „Götter ex machina" sein
können. Das Drama als Maschine, nicht aber als
lebendiger Organismus, steht denn nun auch in der
Schriefer'schen Dichtung leider stark im Vordergrunde.
So sehr der Textverfasser sich bemüht hat, mit seiner
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Eros und Psyche
261
Vorrede tiefere Symbolik in die Handlung des alten, so
zart poetischen Märchens zu legen : moderne, allgemein-
verständliche Psychologie ist daraus noch lange nicht
geworden und das Griechentum darin durchaus in
sentimental-abendländischer Anschauung stecken — ein
Hellenentum sozusagen für die „höhere Jungfrau", voll
Zuckerwasser-Süsse und so recht nach dem Herzen
unserer „Familienblätter4', noch geblieben. Allerdings, zu
schauen giebt's desto mehr in dieser glänzend inszenierten
Neuheit, und beinahe schon allzu viel. Nur ist auch dieses
äussere „Vorgehen" und Geschehen nicht immer schon
„Drama", und Wanderdekoration noch nicht ohne
Weiteres „Handlung" oder „Seelenwandlung" zu nennen.
Ich spreche da, lediglich nach dem Szenarium, von
„Wanderdekoration", obwohl die ideale Meerfahrt zum
Eilande des Eros hin, dicht vor dem Schlüsse des ersten
Aktes, in München merkwürdiger Weise zur Zwischen-
gardine verdammt und damit die wohlangelegte, rein thea-
tralische Steigerung dramaturgisch einfach unterbunden
war. Da lässt denn der „Maschinen-Meister" alle seine
Hexenkünste vor uns spielen — das Ganze wird unter seinen
Zauberer-Händen sogar geradezu zur „phänomenalen"
Dekorations-„Feerie"; man spart Kulissen nicht und
nicht Prospekte, nicht das grosse noch das kleine Licht
— bis zur strahlenden „Apotheose" mit dem ganzen, bunten
Theaterflitter in rosigster Bühnenlicht-Beleuchtung. Und
dennoch fehlt zu guter Letzt ein so gewichtiges Requisit
der „Ausstattung" wie dieses Wandeldiorama ! — Solchen
argen Zwiespalt eurer rein „technischen" Natur erkläret
mir doch 'mal gefälligst, Herr Graf Oerindurl
Gottlob übrigens, dass zu dieser strahlenden Augen-
weide doch auch der labende Ohrenschmaus da und dort,
wie gesagt, keineswegs gefehlt hat. Als bemerkenswerte
Momente des Abends von dieser Art traten nächst
der „Tempelfeier** gleich die erste Begegnung Psyche-
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262
Wagneriana. Bd. III.
Rautendeleins mit dem antiken Nickelmann, sodann die
ideale Wasserfahrt per Delphin (statt Schwan!) zum
zauberischen Eilande des Eros hin, wiederum die Szene
dortselbst im Nachtgemache, ferner die Vorgänge im
finsteren Acheron, sowie endlich des Aristokles „Hymnus
an die Schönheit** besonders hervor, und der Erfolg
war am Ende doch ein ausgesprochener, und unbestritten.
Nur eben unser altes Leidwesen: Lautenschläger
hatte wieder einmal über Fuchs (den Regisseur) und
Fuchs über Fischer (den Kapellmeister des Abends)
triumphiert. So wusste man wieder nicht recht: Hat
nun Zengers Musik oder aber haben Schriefers „dank-
bare** Szenarien den Sieg hier davon getragen?
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Die fromme Helene
Zum ersten (und wahrscheinlich auch letzten) Maie
Komische (?) Oper in drei Akten
(1898)
Ach ja, „die sittenlose Presse, thut sie nicht in früher Stund'
All' die sündlichen Exzesse schon den Bürgersleuten kund.**
»Sündenvolle Kreatur gefallen!" — schlug ein Kol-
lege von der kritischen Feder als Telegramm-Meldung über
die Hamburger Aufführung nach auswärts vor. „Helene,
die Fromme, gefiel durch0 — so meinte noch witziger
sein Nachbar. Und der Dritte telegraphierte schliess-
lich: „Gefallen? — Nein, gefallen!0 Die unglaub-
lichsten Gerüchte und ganz niederträchtige Bonmots
zirkulierten ja auch schon nach der Hauptprobe in den
Musikkreisen der Stadt, wonach der leitende Kapell-
meister (Carl G i 1 1 e) selber offen bekannt haben sollte,
dass er diese Musik, ihre Notensysteme und harmoni-
schen Gesetze, nicht mehr verstehen könne, und eine
der darstellerischen Kräfte sich sogar bitter beklagt haben
wollte: jene instrumentale Begleitung zum Gesänge
komme ihr immer vor, als ob das Orchester unten erst
einstimme. (Das waren die vielen, teils gezupften, teils
gestrichenen, mannigfach leeren Quinten!) Die Aufnahme
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264
Wagneriana. Bd. III.
— oder vielmehr kräftige Ablehnung entsprach ja nun
freilich all' jenen Gerüchten und schien diesen Bonmots
Recht zu geben: solche Einstimmigkeit des — Zischens
dürfte überhaupt noch nicht vorgekommen sein! Dann
aber trat eine unheimliche Grabesstille ein. Und »be-
sonders tief und voll Empörung fühlt man die pekuniäre
Störung" — so mag wohl mancher beim Nachhause-
gehen ingrimmig noch gedacht haben.
Ob nun aber alle jene Bosheiten wirkliche boti mots
waren, darf doch immer noch die Frage sein. Wir
unserseits empfanden diese schroffe Art einstimmig
verabschiedender Begrüssung als ungerecht, und finden
weit eher die Paradoxie des Eindruckes bezeichnend,
die sich in der perversen Formel „gefiel durch" (s. oben)
aussprach. „Die innere Stimme ruft und schreit", dass
das zum Mindesten eine harte Nuss zu knacken, selbst
für den abgebrühten „modernen* Kritiker sei. Und
warum? Weil, das zweifellos darin vorhandene Manko
mit Haaresschärfe zu bezeichnen, den hohlen Zahn
bestimmt heraus zu finden, ihn an der Wurzel fest zu
packen und durch unbedingt sicheren Ausriss einerseits
das umliegende Gebiss nicht zu lädieren, anderseits
die gesunden Partieen doch auch zu retten, ganz er-
hebliche Schwierigkeiten bereiten dürfte. — Es handelt
sich also, wie männiglich bekannt, um die herzbeweg-
• liehe „Geschichte von jenem Neffen, jener Nichte,
welche Franz und Lene hiessen — ein Jeder weiss, wie
sie es büssen". Oder etwa nicht ein Jeder? Ja, das
wäre freilich schon sehr schlimm, denn dann hätte in der
That eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnisse
des Scherzes gefehlt; das Organ wäre da wohl nicht
eingestellt gewesen auf den karikierenden Witz der
Sache und damit auch wieder nicht auf die ganze
Persiflage dieses parodierenden Spasses. Schon möglich,
dass diese, in solchem Falle allerdings gefährliche „Vor-
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Die fromme Helene.
265
aussetzungslosigkeit" bei manchem zutraf: dass wirklich
der Eine oder der Andere Buschens bereits in Jubi-
läumsauflage (100000) verbreitete, mehr freche als
„ fromme", Helene erst aus diesem hypermodernen Opern-
werke kennen lernen wollte. Traurig wäre das,
traun! Denn Wilhelm Busch, dem wir neben seinen
anderen Werken auch eine köstliche Illustrierung der
,Jobsiade* verdanken (wohl auch eine unbekannte
Nummer?), und der gelegentlich seines «Von mir über
mich" besagter Jubiläumsausgabe plaudernd den Aus-
spruch thut: «Die Begeisterung für Darwin und Schopen-
hauer hat etwas nachgelassen. Ihr Schlüssel scheint
mir wohl zu mancherlei Thüren zu passen in dem ver-
wunschenen Schlosse dieser Welt, nur nicht zur Aus-
gangsthür" — dieser seltene Mann und prächtig
kaustische Geist, er zählt uns in seiner Art, gleichwie
auch ein Oberländer, schlechtweg zu den „Klassikern*
unseres Volkes. Aber freilich, alles Traurige des sonst
so fröhlich gemeinten Premieren -Abends bliebe dann
in der That auch nur um so verständlicher. Busch,
dieser gewaltige, zwingende Humorist, bedeutet er in
seinen unvergleichlichen Höhepunkten des einfachsten
und prägnantesten, durch den Knittelreim doppelt ein-
prägt ichen Wort- Ausdruckes doch genau den Punkt, wo
der platteste Gemeinplatz ein Elementarereignis ge-
sündester Lebensweisheit zu werden beginnt, da der
Stumpfsinn sich in Scharfsinn verkehrt, der blühende
Unsinn zum allerernstesten Tiefsinne wird. Seine »fromme
Helene" als Opernsujet — du lieber Himmel, warum
auch nicht I Wenn wir doch schon die Burlesken und
Grotesken eines „Mikado", einer „Puppenfee", ja eines
„Struwwelpeter" und eines „Wetterhäuschens" willig
haben über uns ergehen lassen, wie sollte dies nicht
an der Strasse liegen, zumal ja heute auch die augen-
blickliche Modeströmung nach dem Restaurations-
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266
Wagneriana. Bd. III.
Geschmacke der Vatermörderzeit und des Biedermanns-
kostüms gerade zurück geht? Warum sollte man es
aus diesem Zusammenhange heraus nicht als ein
zeitgemässes, besonders tolles „Exempel" auf dem
Entwicklungswege von der Märchenkindlichkeit zur ab-
sichtlichen Puppenkinderei gelegentlich mit begrüssen
können?
So ähnlich dachte wohl die »Textdichterin" Fanny
Groeger in Wien, als sie das Libretto unter Benutzung
einer Menge anderer Figuren und Motive, auch aus Buschens
übrigen Werken — da einschaltend, dort umbildend,
hier wieder selber neu hinzu dichtend — nicht un-
geschickt zusammen- und dem (verkappten) Komponisten
zur Verfügung stellte. Wir vermissen bei sothaner
starker Benutzung des Originales höchstens nur den
Vermerk auf dem Theaterzettel: „Mit Erlaubnis
des Verfassers, nach dem gleichnamigen Gedichte
von Wilh. Busch". Ist es nun auch keineswegs völlig
befriedigend, dieses Textbuch, da zwar wohl eine drama-
turgische Verknotung der im Originale bei Busch gegen
das Ende zu etwas „verpuffenden" Episoden und Bilder
versucht, nicht aber die rechte, psychologische Moti-
vierung zugleich mit heraus gekommen ist; fallen auch
so manche Neu-Einfügungen darin, oder eigene, mindere
Transfigurationen, im Versbaue zumal, mitunter schon
arg aus dem Rahmen, und fehlt ihm in seinen nicht
weniger als drei Akten vor Allem Kürze als „des
Witzes Würze": es ist darum doch ein recht brauch-
barer, ergötzlicher Text geworden. Auch als tonkünst-
lerische Aufgabe und technischer Versuch birgt er
immerhin eine ganz praktikable Idee in sich, die wir
gar nicht einmal für so unfruchtbar halten möchten,
ob sie sich gleich auf einen engeren Kreis, so etwa die
intimeren Zirkel eines heiteren Studenten -Ulkes und
einer fidelen Exkneip-Stimmung, beschränken dürfte:
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Die fromme Helene.
267
wobei dann etwa die Vorführung der Frauenzimmer-Rollen
durch ein Mannsbild mit Fistel- oder Alt -Organ noch
den letzten Karikatur -Trick draufzusetzen vermöchte.
Denn wohlgemerkt: mit ein'gem Trank im Leibe sieht
man bald »Helenen* in jedem Weibe — ganz frei
nach Goethe gesprochen!
Diese moderne, im Gegensatze zum klassischen
Urbild ihrer antiken Namensschwester weniger .schöne"
als vielmehr arg hässliche „Helena" (im Übrigen aber
wohl ein gleich oder ähnlich „verderbtes Frauenzimmer"),
sie hat indessen im Komponisten — er sei nun, wer er
sei — leider keinen OfFenbach gefunden. Wahrschein-
lich nennt er sich zwar Adalbert von Goldschmidt; es
ist ihm diesmal jedoch passiert, dass er — wie schon
früher manchmal •) — vielfach nur „Blech geschmiedet"
hat. Teils dieserhalb — teils andrerseits. Er hat nun eben
einmal eine besondere „Gäa"- und eine „Helena"-Pro-
vinz gleichsam in seiner Seele. Die Hörer wenigstens
ihrerseits, sie fanden hierin keinen Reiz. Genie oder
Narr? — frag man sich zuweilen, wenn man nahe daran
war, sich genarrt zu fühlen. Buschiade auf die „Meister-
singer", oder aber „Meistersingerei der Buschiade"? —
so frag sich die Kritik. Sehr vermutlich keines von
beiden, sondern nur ein geistreich, aber planlos spinti-
sierender, dabei im Wesentlichen mit einem, auf Wagners
„Meistersinger" sich gründenden, Haushalt wirtschaf-
tender, höherer Dilettantismus, dem es nicht an bizarren
•) — wiewohl Leipzig nach den „Sieben Todsünden" und
„Helianthus" nicht übel Lust zu haben schien, ihn für d e n
„Wagner-Nachfolger" schlechthin auszugeben; später allerdings
reiste er sozusagen auf „musikalische Mlrchen", wobei er die
Brüder Grimm ganz eigentümlich melodramatisch (für
Klavier und Singstimme) bebandelt hatte — wie man sieht, ein
höchst vielseitig schillerndes Talent!
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Wagneriana. Bd. III.
Intentionsblitzen und allerlei interessanten Einfällen ge-
bricht, dem aber der rechte, durchgreifende Buffo-Sinn
zuletzt doch abgeht. So ist ihm denn begegnet, dass er
bei der krampfhaften Suche nach dem entsprechend „mo-
dernen" musikalischen Ausdrucke des Parodie-Elementes
in den Mitteln sich vergriff und mitunter schon in einen
soliden Ernst sich verbiss, welcher wiederum den Zweifel
offen lässt, ob er uns persifliert, oder aber vielmehr
wir diese seine Persiflage lieber derb travestieren
sollen. «Alles kann Publikus ertragen, ohne nur ein
Wort zu sagen; aber wenn er dies erfuhr, geht's ihm
wider die Natur I«
Diese offenbar gewollte „Schunkelei- der Em-
pfindungen, dazu ewige Modulation ohne greifbare
Tonali tät, Phraseologie ohne Sinn, Deklamation ohne
Sprachgefühl und Disharmonie ohne Auflösung: das
kann auch wirklich kein Mensch lange aushalten, der-
gleichen verschlägt einem ja ordentlich, was man so
sagt, die Ohren. Blieb also „niemand weit und breit
im vollen Besitz der Behaglichkeit". Und das war auch
schliesslich nach allen Regeln der Kunst wohl der
eigentliche Nagel zum Sarge — für ein solennes Begräbnis,
das trotz Alledem bedauerlich bleibt, wenn wir uns
„ausserdem und anderweitig" wieder billig vergegen-
wärtigen, wie frappant doch vielfach der altfränkische
Stil im Tone getroffen war, wie vorzüglich zumeist die
Plastizität in der Charakteristik des komischen Wesens
durch beredsame rhythmische Zeichnung oder bizarre
instrumentale Färbung heraus gearbeitet erschien. Das
kann doch wahrlich nicht völlig dabei ignoriert werden!
Dass das schneidend kecke, beinahe schrille Durch-
einanderwerfen von Stimmungen und Charakteren, auch
in dieser Musik, schliesslich an die musikalische „Max
und Moritz" -Travestie mit den unvereinbarsten Opern-
Motiven grenzte, sei dabei keineswegs verschwiegen;
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Die fromme Helene.
269
und dass eine Weiterfährung dieser Art von Gesangs-
Linie, ohne Ruhepunkt, in kapriziöser Unrast auf und
ab, bald sprechend — bald singend, für die Sänger eine
grosse Gefahr bildet, Wagner mit seinem «Beckmesser41
oder „Mime* da also eigentlich verheerende Wirkungen
gethan hätte, braucht nicht übersehen zu werden. Darum
„sprach Herr Lehrer Lämpel: ,Dies ist wieder ein
Exempel, dass Gesang in diesem Sinn führt zuletzt
zum Stimmruin'". Je nun: „Ein jeder Narr thut, was
er will — ich gehe jetzt und schweige still!" Sinte-
malen und alldieweilen »der Weise schweigt: er weiss,
warum". Oder wüsste er es am Ende doch nicht,
warum? Muss es hier wohl heissen: „Sucht davon
erst die Regeln auf!" . . . oder aber dürfen wir getrost
nunmehr sagen: „Eitel Ohrgeschinder, nichts weiter
dahinter"?
Der langen Rede kurzer Sinn: verunglückt ist die
Helenin! Die „Exkneipe" auf der O p e r n bühne wirkt
eben doch arg deplaziert. Studenten-Ulk soll man vor
feucht-fröhlicher Burschenrunde, nicht einem grösseren
Publikum in weitem Theaterraum und mit drei ganzen
Akten .verzapfen". Das blieb wohl der Hauptfehler
im Rechenexempel ! Und heute zumal, in den Tagen
der „Parodie"- und „Bunten"-Theater, überblicken wir
das auch alles schon weit besser: es war einfach das
übermütige „Uberhrett'l", welches sich damals viel zu
früh meldete und, um Einlass begehrend, an einer ganz
falschen Thüre noch anklopfte. — „Hoch ist hier Frau
Förster-Lauterer zu preisen, denn — die frechen
Sangesweisen drastisch-wirksam dargebracht — hat es
wieder gut gemacht!" Adalbert von Goldschmidt
aber, auf welchen Komponisten die Indizien, wie
gesagt, stark hinweisen, obwohl man mit Sokrates, dem
alten Greis, sagen muss in tiefen Sorgen: „Ach, wie
viel ist doch verborgen, was man immer noch nicht
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Wagneriana. Bd. III.
weiss" — Goldschmidt kann nun von sich selbst das
schöne Liedlein singen:
„Oh, der Tugend schöne Werke —
Gerne möch? ich sie erwischen;
Doch ich merke, ach, ich merke —
Immer kommt mir 'was dazwischen!"
Ja, ja — „das Gute, dieser Satz steht fest, ist
stets das Böse, das man lässtl" Das hätte auch er
besser beherzigen und vielleicht doch lieber von dem
„Bösen" seiner Komposition zum Besten des Guten
ablassen sollen.
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Wagner und das Ausland
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Die verkaufte Braut
Komische Oper in drei Akten von K. Sabina; Musik von
Friedrich Smetana
(1803)
Es war an einem Abende des März im Jahre 1887
— ich war den Nachmittag soeben in Prag angekommen
und schlenderte mit einem Bekannten gerade den langen
Graben hinunter; da entstand die nahe liegende Frage:
„Was thun heute Abend?* Mein Freund, der den Theater-
zettel vorher genau studiert hatte, wagte schüchtern
mit dem Vorschlage hervor zu treten, dass wir eigentlich
die tschechische Oper aufsuchen sollten, wo eben wieder
eine Aufführung der beliebten Nationaloper „Prodanä
nevestä" (d. i. „Verkaufte Braut") von Smetana statt-
finde, welche just anzutreffen, ich als einen besonderen
Glücksfall anzusehen hätte, denn Besseres, Liebens-
würdigeres, für Prag Charakteristischeres könne er
mir ja gar nicht bieten. „Du musst übrigens Smetana
aussprechen," fugte er erläuternd hinzu, „der Name
betont sich im Grunde nicht anders als unser deutsches
Schmetten, d. h. die Sahne an der Milch". Schüchtern
war sein Vorschlag gewesen, denn ich hatte ihm bei-
nahe den ganzen Weg über von nichts Anderem als
meinem lebhaften Drang und Wunsche gesprochen,
endlich einmal des viel gerühmten Angelo Neumann
Leistungen kennen zu lernen; ordentlich verblüfft war
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 18
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274 Wagneriana. Bd. III.
ich, denn ich kannte zwar Smetana aus der Musik-
geschichte sehr wohl, hatte aber nie etwas von der
guten Wirksamkeit dieser Oper vernommen — und dass
wir deutschen Landsleute den ersten Abend meines
Aufenthaltes in Prag gleich im fremden Nationaltheater
statt im eigenen zubringen sollten, wollte mir obendrein so
ganz und gar nicht in meinen Kopf hinein. Nach längerem
Hin und Her siegte aber endlich doch mein musi-
kalisches Interesse für den Komponisten, von dem ich
so viel schon gehört, und wir gingen also hin. Unvergess-
lich wird mir nun sein, wie mich der Freund in den
Wandelgängen des Theaters mit sanftem Rippenstosse
geradezu ängstlich darauf aufmerksam machte, nicht so laut
und ungeniert mein deutsches Idiom erkennen geben zu
wollen; sie hätten ganz schrecklich verfahrene Zustände
in Prag und ich machte mir ja nur schwer einen Be-
griff davon, wie unerquicklich hier an sich berechtigte
nationale Gegensätze nun schon sich zugespitzt hätten.
Neulich sei die Frau eines bekannten Führers der
deutschen Bestrebungen, nur um ihrer sie besuchenden
Mutter auch einmal das schöne und künstlerisch so
leistungsfähige tschechische Opernhaus zu zeigen, in
dieser böhmischen Oper gewesen, hier gesehen bezw. er-
kannt und am nächst folgenden Sitzungsabend, ich glaube,
des „Alpenvereins", ihr Gatte dieser „zweideutigen"
Haltung wegen mit einem offiziellen M isstraue nsvotum
bedacht worden. Ein Professor der Philosophie an der
deutschen Universität dortselbst habe es versäumt,
gleich in den ersten Wochen nach seiner Übersiedlung
hierher, das tschechische Landestheater sich anzusehen,
— jetzt, da er bereits bekannt sei, wage er es nicht
mehr, offen dorthin zu gehen u. s. w. . . .
Absichtlich habe ich diese Details meinem Be-
richte über die Dresdener Erstaufführung des prächtigen
Werkes voraus geschickt, denn voüä die einfache und
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Die verkaufte Braut.
275
höchst natürliche Erklärung dafür, dass das Werk erst jetzt
in Deutschland Beachtung findet. In der That ist dieses
lange Unbekanntbleiben ja gewiss ein ganz merkwürdiges
Phänomen. 250 Aufführungen in Prag, und noch nicht ein-
mal in Wien hatte man eine Ahnung davon — ja, zum
Donnerwetter noch einmal! liegt denn Böhmen ausser-
halb der Welt, etwa wie in Shakespeare^ „Winter-
märchen"? Der „nationale Gesichtspunkt" — na, das
Hesse sich allenfalls noch hören; aber wenn sie dann
nur nicht die Engländer und Franzosen und vor Allem das
italienische Ausland immer gleich in unseren deutschen
Landen mit herinnen hätten, so bald nur irgendwo eine
(noch dazu oft recht zweifelhafte) Premiere stattgefunden
hat! Und doch, so ganz unbegreiflich erscheint's ja auch
wieder nicht. Selbst wenn 20 Propheten unaufhörlich
dafür gepredigt hätten, es wäre zuversichtlich nicht früher
zu uns gekommen, da sich derartiges nun einmal nicht
anpredigen lässt. Wie mit dem Blütenstäube, den die
Biene nach einem anderen Ort verbringt, oder mit dem
Samenkorne, das ein Wandervogel mit genommen und in
fremder Gegend fallen gelassen hat, musste es hier
geschehen : in seiner reizvollen Original gestalt gerade,
im nationalen, böhmischen Gewände, musste es zuerst
von einer Wandertruppe nach auswärts importiert werden
und fremden Leuten sich darstellen (just so, wie ich's
selber an Ort und Stelle, in Prag damals, gesehen), ehe es
ganz verstanden und mit diesem Verständnisse lebendig
weiterhin aufgegriffen werden konnte. Es ist ein schöner
Erfolg der oft geschmähten Wiener „Musik- und Theater-
Ausstellung" des Jahres 1892 gewesen, diese Möglich-
keit vor Allem gezeitigt zu haben ; und wäre es selbst
der einzige, wirklich wertvolle Ertrag jener Ausstellung
gewesen (er ist es denn auch leider geblieben), — wir
wollen ihr darum doch nimmer gram sein, da sie denn
schon dieses Lebensvolle in unserem Kunstleben erzeugt
18*
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Wagneriana. Bd. III.
und derart erspriesslich gefordert hat! Dass aber dieser
Wert, dieses Verdienst zuletzt doch nur wieder im
Werke selber liegt, das beweist uns der Umstand, dass
einige Jahre zuvor der Versuch, den „Bauer als
Schelm4*, die Oper eines anderen in Wien lebenden
tschechischen Komponisten, in demselben Wien
einzubürgern, aus nationalpolitischen Gründen noch ein
schmähliches Fiasko erleben konnte.
Unsere Stellung zur Smetana-Frage, wenn
anders es überhaupt noch eine giebt, ist — kurz ge-
sprochen — die: dass uns dieser Komponist und sein Werk
wie Weniges in überzeugender Weise lehren kann, zu
welch* herrlicher, unvergleichlicher Blüte eine auf
ureigenem Boden erwachsene, in heimatlicher Erde
wurzelnde Pflanze zu gedeihen vermag. Trotzdem muss
er uns Deutschen doch auch darin noch besonders
interessant erscheinen, dass er überall da, wo er nicht
unbedingt national bleibt, das Beste der deutschen
Musik gerade in sich aufgenommen und verarbeitet
zeigt. Friedrich Smetana war ein an den besten klassi-
schen Meistern gebildetes, durchaus geschmackvoll sich
äusserndes, ungemein liebenswürdiges Talent; und, was
die Hauptsache bei diesem seinem Werke bleibt, er hatte
einen feinen, ausgeprägten Sinn für Humor und Komik.
Das Komische beruht immer auf einem Widerspruche,
zur rechten Komik gehören also stets zwei Dinge, und
Smetana erzeugt komische Wirkungen daher vornehm-
lich dadurch, dass er — bei schon vorhandenem
und schlechterdings verständlichem komischem Grund-
charakter der Handlung wie der handelnden Personen
— die Musik eine zu dem drolligen Text oft sehr wider-
spruchsvolle, ernste, schwere, gravitätische oder groteske
Haltung annehmen lässt, dem Prinzipe nach (wenn auch
nicht in der Ausführung) ganz so, wie es Wagner in
seinen „Meistersingern" gehalten hat. Ebenso oft frei-
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Die verkaufte Braut. 277
lieh erzielt er lustige Stimmung auch wieder durch An-
wendung leichter, gefälliger und heiter- beweglicher
Formen, etwa mehr nach Mozart'scher Art, und in der
That liegt seine Schöpfung ja auf der von Mozart her
durch Dittersdorf, Nicolai, Lortzing und selbst Goetz
eingehaltenen Linie der „komischen Oper". Wenn man
aber das Mozartische in seiner Komposition immer so
sehr hervor heben zu müssen vermeinte, so wäre dem-
gegenüber doch einmal darauf hin zu weisen, dass seine
Weise vielleicht mehr noch als die jenes Meisters
Beethoven'sche oder Cherubinische Züge in sich auf-
genommen hat. Ein wahrer Wohllaut von Melodieen
ergiesst sich über den Hörer aus, und nicht wenige
der (übrigens vollkommen in sich abgeschlossenen)
„Nummern", Soli oder Ensembles verdienten sogar in
die Schönheitsgalerie berühmter Glanznummern dauer-
gründige Aufnahme zu finden. Das Wagnerische Leitmotiv
wird man indes vergebens in der Oper suchen; hingegen
stossen wir wiederholt auf das einfache Mozart'sche
und Webei^sche „Erinnerungs - Motiv", das ja auch
Wagner bis zum „Lohengrin" hin noch ergiebig benutzt
hat. Die Instrumentation hält sich ungemein durch-
sichtig und klar-verständlich; auch der Ouvertüre wird
es nur zum Vorteile gereichen, wenn die Aufführung
auf diese hellere Durchsichtigkeit Bedacht haben und
statt auf Elan und Verve mehr auf den Charakter jener
munteren Geschwätzigkeit ihre Aufmerksamkeit hin-
lenken wollte, wie sie ja schon in Mozarts Ouvertüren
zum „Figaro" und zur „Zauberflöte" oder in Wagners
„Meistersinger" -Vorspiel (Durchführung!) ihre Vorbilder
hat. Die Prager jedenfalls haben das ganz einzig gegeben.
Gehen wir zum Textbuch über, so erkennen wir
als Hauptvorzug daran eine geschickt angelegte, frische
und wirksame Handlung, trefflich geschürzt und von
glücklicher, dramatischer Steigerung, wenn auch nicht
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Wagneriana. Bd. III.
ohne episodisches Beiwerk und allerlei Nebenbegeben-
heiten. Schon der dramatische Vorwurf an sich inter-
essiert lebhaft, wennschon er nicht aufwühlt wie eine
,;Cavalleria", „Marau oder „Rose von Pontevedra". Im
Übrigen finden wir alle die alten, längst gar wohl ver-
trauten und stets bewährten, um nicht zu sagen: ver-
brauchten, Requisiten wieder: Tanz und Volksspiel,
Jahrmarkt und Clown, Trinklied und Liebe, einen Bass-
Buffo und einen Peter Damian. Und doch berühren diese
Typen hier fast wie völlig neue Offenbarungen, so einfach
und natürlich teils, teils eigenartig und reizvoll er-
scheinen sie angewandt; denn der Volkstanz und das
Volksspiel wird hier zur mimischen Kunst des Ge-
bärdenausdruckes und zum wahren Volksgedichte. In
der Zirkusszene ferner wird dadurch ein ganz neuer,
erhöht komischer Effekt hervor gerufen, dass der Springer
mitten in die Musik hinein auf einmal — ausruft!
Einige köstliche „Plaudertaschen" -Parlandi Kezals, des
Heiratsvermittlers, und zwei noch nie dagewesene
„Stotter"- Arien Wenzels, des Dummen, sowie die
lebendige Buntfarbigkeit des böhmischen Kostüms und
die frische Waldwürzigkeit des nationalen Stoffes an sich
vervollständigen das unvergleichliche Amüsement —
kurz, hier haben wir den Leoncavallo'schen .Bajazzo"
und die Schönthan'schen „Zirkusleute" in Einem bei^
sammen, alles und noch einiges Andere dazu! Sogar
der umgekehrte „Pagliacci"-Prolog fehlt da nicht, man
vgl. nur die Verse auf S. 40:
„ Komödie wird
Gespielt allüberall, nicht im Theater nur,
Ja, manchmal besser noch und täuschender
Im Leben, aber nie so heiter, harmlos
Als wie bei uns!«
Es ist zu charakteristisch: gerade diese tiefsinnige
Rechtfertigung seines Spieles durch den Dichter selbst,
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Die verkaufte Braut
279
das A und O jedes Drama's, das schliesslich bis auf
das „Theater im Theater" im „Hamlet" zurück weist
und sich somit der wahrhaft „klassischen" Entwicklung
eingliedert — gerade diese Stelle wird als entbehrlich
und nebensächlich von der deutschen Übersetzung
(Max Kalbeck) bezeichnet und zur eventuellen Streichung
empfohlen. So machen sie's Alle! — Noch mehr hier
besonders hervor zu heben, würde für heute wohl zu weit
führen; nur so viel einstweilen, dass wir es — wie ja
auch schon angedeutet — mit einer schier unaufhör-
lichen Perlenschnur anmutiger Melodieen in dem Werke
zu thun haben, denen überdies durch mancherlei An-
wendung von Polka- Rhythmen und nationalen Tanz-
elementen ein ganz eigenartiger Reiz und charakteristische
Farbe verliehen worden ist. Kann es zudem etwas An-
sprechenderes, Zierlicheres und Artigeres geben als
das appetitliche Tanzliedchen (so recht „Duettino") im
3. Akt, wo sie dem dummen Wenzel das Tanzen bei-
bringen? Welcher noch so alte Brummbär möchte
nach dieser entzückenden, herz- und leb -frischen
Melodie, am Gängelbande einer solch' anmutigen
Hand nicht gerne auch zum Tanzbär werden? Tonika
— Dominante — Tonika; Tonika — Dominante — Tonika!
Zu allem Schlüsse hätte ich aber nun noch einen
Vorschlag, der mir gewissenhafter Erwägung unbedingt
wert zu sein dünkt. Ob nämlich nicht — bei den Auf-
führungen der lustigen Oper auf so mancher Bühne —
das Werk durch vollständige Drangabe der Rezitative
und einfache Umwandlung dieser, so weit möglich, in
gesprochenen Dialog entschieden gewinnen würde?
Man leihe diesem Antrag an den leitenden Stellen doch
ein geneigtes Ohr und mache zum Mindesten erst ein
paar Abende hindurch damit einen Versuch! . . .
„Nun, wie gefällt Ihnen das Ding?" — begrüsste
ich einen Kollegen beim Verlassen des (leider nicht
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Wagneriana. Bd. III.
Hof-) Theaters. „O, ganz ausgezeichnet !" meinte er;
„aber lieber wär* mir's noch, wenn die , Verkaufte Braut*
eine aus verkaufte würde." Damit hatte der Mann nun
freilich den Nagel auf den Kopf getroffen; denn das Werk
erregt zwar stets das gleiche, intensive Wohlgefallen,
indessen der Besuch noch immer, bedauerlicher Weise,
gar viel zu wünschen übrig lässt.
Runenzauber
Oper in einem Akt (zwei Abteilungen) von Emil Hartmann;
Text nach Henrik Hertz* Drama „Sven Dyring's HausM von
Julius Lehmann; aus dem Dänischen übersetzt von Emma
Klingenfeld
(1896)
Dieser „Runenzauber" ist nun ein ganz fauler
Zauber, auf welchen wir die übrigen deutschen Bühnen
dringend bitten möchten, nicht herein zu fallen. Diffieile
est, satiram non scribere! Erscheint es nach Anhören
doch schlechterdings unbegreiflich, wie für ein so durch
und durch stimmungsbares Werk so viel Stimmung zu
machen, in der Öffentlichkeit ernstlich versucht werden
konnte. Ja, der wahre Jammer ist es nachgerade schon,
wahrzunehmen, wie unendlich viel kostbare Zeit und
Kraft an leistungsfähigen deutschen Bühnen immer und
immer wieder mit derartigen Experimenten vergeudet
und zersplittert wird, während die grossen Meisterwerke
der Nation darüber brach liegen müssen. — Herr Emil
Hart mann hat ein ganzes Büchlein angenehmer
Kritiken über seine Kompositionen (in einem Nachtrage,
1896, auch noch über dieses sein neuestes Opernwerk),
fein säuberlich gedruckt, emsig zusammen getragen. Nun,
wir hegen durchaus nicht den verwegenen Ehrgeiz, in
diese illustre Versammlung des deutschen Kritiker-
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Wagneriana. Bd. III.
areopagcs mit aufgenommen zu werden, seitdem wir
gesehen haben, wie selbst Ferdinand Pfohl, der über
die Hamburger Premiere im Ganzen keineswegs allzu
günstig geschrieben, unter Verschweigung seines ne-
gativen Teiles hier einfach in bonam partem gedreht
werden konntet Um diese Gefahr lieber gar nicht erst
zu laufen, müssen wir hier also ganz unzweideutig
reden. Warum auch viele Worte machen — sieh, das
Schlechte liegt so nah! Dieses Schlechte aber, es ist
vor Allem ein wahrhaft erbarmungswürdiges Textbuch.
„Ich fühl's, diese Rune wird bestehen, muss auch
der Apfel untergehen!" So singt die unklare, als psycho-
logische Figur schon mehr als kindlich gezeichnete,
Ranhild in unserem Drama — eine Mischlingsnatur
zwischen Schlafwandlerin und Kanaille, die zum Ober-
flusse noch an einer Art von hinfallender Krankheit mit
gelegentlich tödlichem Ausgange, möglicher Weise erblich
belastet, zu leiden scheint, da sie sich denn am Schlüsse
durch den spottbilligen Dem ex macJrinOj der offenbar
auch ausserhalb der Geisterstunde im Hause herum
stöbernden „Weissen Dame", so bequem -epileptisch,
ohne Dolch, Pistole, Gift oder Strangulation, für die
Liebenden aus dem Wege räumen lässt. Wir meinen
freilich, gerade umgekehrt Hesse sich wohl eher be-
haupten: „Ich fühFs, dieser Apfel wird noch besteben,
sollte der Zauber längst schon vergehen." Dieser Apfel
ist nämlich das eigentlich Lustige an der ganzen, sonst
durchaus nicht übermässig kurzweiligen Geschichte,
obschon er weder die interessante, verbotene Frucht
der eigenwilligen Eva, noch auch der folgenschwere
Zank- und Streitpreis in der Hand des braven Paris ist,
sondern vielmehr ein überaus merkwürdiges Obst-
gewächs vorstellt und gänzlich unmotivierter Weise die
Stelle des alten „Liebest rank es" bis zur Albernheit hier
vertreten muss. Da obendrein noch der wackere Ritter
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Runenzauber.
283
Stig im Davonlaufen weit gewandter als im Zielen sich
erweist, fällt das ominöse Wurfgeschoss ziemlich weit
vom gemeinten Stamme, der Falschen in den Schoss —
und das Unglück (das trotz aller Gebete und Seg-
nungen am Schlüsse doch niemals in ein Glück ver-
wandelt werden kann) ist also fix und fertig.
»Es gehöre schon viel Naivetät dazu, in den
sauren Apfel dieser dramaturgischen Unmöglichkeiten
zu beissen und an diese primitiven Vorgänge selbst
nur rein-musikalisch ernsthaft zu glauben0 — so meinte
einer beim Verlassen der Oper. Wir sagten ihm :
«Noch weit weniger gehöre dazu, denn eine ehrliche
Naivetät ist solchen fadenscheinigen Problemen gegen-
über schon als herrliche Gottesgabe zu preisen; em-
pfände sie doch sofort unzweifelhaft-bestimmt, dass
hier das eigentliche Wunder, das durch die Sprache der
Musik allenfalls verklärt hätte werden können, vom
Anfang an schon koupiert, völlig unterbunden bleibt"
Dass doch noch immer nicht eingesehen werden will,
wie selbst bei einem Wagner das „Mythische" und „Ro-
mantische" als solches Psychologie geworden ist,
und dass zu einer guten, lebensfähigen Oper heutzutage
nun einmal gehört: erstens ein Drama, zweitens aber-
mals ein Drama und drittens erst recht ein Drama t
Was Wunder, wenn uns dieses geniale Bühnenwerk des
dänischen Meisters gewählter Melodik, noblen Tonsatzes,
fein gestimmter Instrumentation und wohllautgesättigter
<wenn auch meist allzu weichlicher) Formenschönheit
besten Falles nun wie ein „Dornröschen" erscheint,
das etwa 50 Jahre deutscher Musikentwicklung einfach
— verschlafen hat und noch dazu nicht einmal vom
Kusse des richtigen Prinzen erweckt worden ist. Ich
glaube, wenn Mendelssohn, der es bekanntlich niemals
zu einer ganzen Oper gebracht hat, heute noch leben
könnte und in unserer Zeit noch einmal auf dem heiklen
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Wagneriana. Bd. III.
musik-dramatischen Boden sich versucht haben würde:
so „mollig" hätte sein Werk vielleicht aussehen
mögen, und so geistverlassen-zerfahren in allem wirklich
Dramatischen noch dazu. (Ich sage das nur cum grano
sali«, unbeschadet der auch mir bewussten Anklänge an
die Weber- und Marschner-Richtung bei dem Nord-
länder, welcher eben die leidige Gade-Schule viel zu
wenig in sich verleugnen kann.) Auch einem Mendels-
sohn hätten's die Volkschöre und Volkstänze, das bieder-
meierliche Jägerlied und das sinnige Instrumental-
Intermezzo, die „schönen" Balladen und Romanzen,
Duette, a ca/>«l£a-Quartette, Ensembles und Finales —
kurz die wirksamen, symmetrischen „Nummern" wahr-
scheinlich vor Allem angethan, während Unsereinem in
einer „modernen" Oper diese geschlossenen Musikstücke
doch beinahe schon wie eingefangene, zu „Nummern"
degradierte Sträflinge, oder als Vögel im Bauer, im Gegen-
satze zu den selbständigen Naturwesen eines unab-
hängig freien, wahrhaft „dramatischen" Lebens, bald er-
scheinen möchten. Nur Eines wäre seinem natürlichen
Zartgefühl und Feingeschmacke wahrscheinlich nicht unter
gelaufen, was bei Hartmann dem Fasse noch vollends den
Boden ausschlagen muss: er hätte das Wunderbare viel-
leicht in's Überempfindsame verflüchtigt und wäre beim
Geisterhaften sicherlich ganz unplastisch mit seiner Ge-
staltung verblieben; er hätte aber vermutlich nicht da, wo
gerade das mystische Wesen beginnen soll, wie z. B.
bei dem nächtlichen Umgehen der Ahnfrau, durch die
brutale Realität eines rasselnden Beckenschlages aus
phantastischer Traumstimmung seine Zuhörer jäh auf-
geschreckt und sich damit die musikalische Wirkung
der magischen Idealsphäre noch vollends grausamst
verdorben. Also, wohin wir nur immer blicken, eine
wahrhaft rührende Unbeholfenheit in der dramatischen
Verdeutlichung der an sich gut gemeinten Lyrismen;
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Runenzauber.
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wie denn auch (vgl. „Köln. Ztg.") durch Rezensionen,
welche in Herrn Emil Hartmanns kritischer Anthologie
wohlweislich nicht Platz gefunden haben, treffend von
„bemerkenswerter Herzenseinfalt" des „als ernstes
Drama völlig verfehlten Sujets" bereits gesprochen worden
war. Und dabei wollen wir uns an dieser Stelle noch
gar nicht einmal auf nähere Erörterungen einlassen da-
rüber, dass das Grundverhältnis zwischen Stig und
Regisse trotz aller nachträglichen Aufklärungen so
dunkel und fragwürdig wie nur möglich bleibt; oder,
seit wann es wohl Mode geworden ist, dass zu nacht-
schlafender Zeit Männer aus guter Gesellschaft, und
zumal edle Ritter gar, in die Kemenate sittiger Jung-
frauen ohne weitere Entschuldigung einzudringen pflegen,
und wieso man es zu verstehen hat, wenn sich später
ausser Ranhild auch noch die ganze Familie völlig an-
gekleidet zu dieser, gewiss nicht mehr ganz gewöhn-
lichen Stunde hier nach und nach versammelt! „Was
soll das heissen?" — möchten auch wir mit Sven Dyring
füglich hier zu fragen uns erlauben . . .
Man hat gar nicht übel gesagt, dass sich diese
„Ballade für Soli, Chor und Orchester" zuletzt im
Konzertsaale nicht übel machen würde. Absichtlich
sprechen wir darum auch gar nicht weiter von der (stellen-
weise sehr guten und durch schöne Sanglichkeit besonders
ausgezeichneten) Musik. Ein Werk, das rein-musikalisch
schon seine volle Wirkung thut, hat unseres Erachtens
keinen Anspruch darauf, den gesamten Bühnenapparat
zu dramatischem Zwecke für sich in Bewegung zu setzen.
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Auber in deutschem Gewände
(1890)
Zufällig in Weimar anwesend, sollte ich gerade
Zeuge sein der ungemein fröhlichen Aufnahme, deren
sich ein überaus liebenswürdiges Opernwerk, nämlich
die alte Auber'sche „Märchenoper": „Das eherne
Pferd*, im neuen Gewände der deutschen Be-
arbeitung von Engelbert Humperdinck (damals noch
nicht der erfolggekrönte Komponist von „Hänsel und
Gretel"), beim dortigen Publikum zu erfreuen hatte.
Und zwar handelte es sich dabei um eine Aufnahme,
die es durchaus nur rechtfertigen würde, wenn das
hübsche, frische und heiter-gefällige Stück nunmehr
auch auf anderen Bühnen Deutschlands seinen flotten
Einzug hielte, nachdem es früher bereits die Karlsruher
Hofoper (unter Felix Mottl) in ihren Spielplan mutig
mit aufgenommen hatte.
Zwar mag am Libretto dieses fremden Werkes zu-
nächst vielleicht die grelle, etwas unvermittelte Mischung
— um nicht zu sagen: das schroffe Aufeinanderplatzen
von derbster Realistik und zaubrisch- duftigster Phan-
tastik einigermassen frappieren. Wir sind in der chinesi-
schen Litteratur und Poesie nicht dermassen bewandert,
wie wir es allenfalls in der einheimischen sind. Deren
Kenner versichern uns freilich, dass jener Dualismus
als ein fest stehender, immer wieder kehrender Zug
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Auber in deutschem Gewände. 287
durch die ganze chinesische Märchen- und Sagenwelt
sich hindurch ziehe. Für uns wird dergleichen nun aber
gleichsam zur Romantik der Romantik, eine „roman-
tische Romantik" oder „Romantik in der Potenz", wenn
ich so sagen darf. Und, ist an und für sich schon
nicht alle und jede Romantik ohne Weiteres auch ge-
niessbar, so noch weniger diese, keine von vornherein
und überall ganz glückliche Romantik. Ich will ver-
suchen, mich deutlicher auszudrücken. In gewissem
Sinne sind wir nun einmal gewohnt, alles Fremdländisch-
Fremdartige, in Sonderheit aber alles Orientalische,
Ausser -Europäische, Überseeische, Hindostanisch- Ex-
otische als „romantisch11 nicht nur aufzufassen, sondern
zumeist auch ebenso zu empfinden. Tritt uns also irgend
ein Sujet in chinesischem Gewand und Kolorit entgegen,,
so ist es für unser Gefühl bereits in die romantische
Farbe eingetaucht, auch wenn es innerhalb seiner
eigensten Sphäre dann noch realistisch bliebe, ja sich
„modern" geberdete. Unter dieser Voraussetzung wäre
z. B. der „Mikado" — wenn auch dem Stoff und In-
halte nach von aktuellem (englischem) Interesse — in
Rücksicht auf sein japanisches Kostüm doch wohl eine
Art romantischer Operette zu nennen, oder doch unter
den Begriff einer „romantischen Spieloper" zu fassen,
und dies bildet vielleicht nicht zum Geringsten das
eigentliche Geheimnis seiner unvergleichlichen Wirkung
wie seines augenblicklichen Erfolges. Kommt nun aber
zu dieser ersten romantischen Einkleidung auch noch
die tolle Romantik chinesischer Märchenpracht, samt
chinesischem Venus- und Tellusstern, allerlei chinesi-
schen Paradiesen und Sirenenhainen, chinesischer Mytho-
logie und Pagodenanbetung mit hinzu, ragt in diesen
poetischen Naturalismus die unmotivierte Phantastik
einer zwischen chinesischem Himmel und europäischer
Erde schwebenden Flugmaschine — „das eherne Pferd"
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288
Wagnerian». Bd. III
genannt — mit herein, so wird die erste Romantik
durch diese zweite Hyperromantik noch überboten, oder
richtiger: die zweite wird durch die erste nur allzu
leicht wieder zerstört und aufgehoben, zumal sie in
einer an die Offenbach'sche Götterpersiflage erinnernden
Komik sich selber unaufhörlich ironisiert.
Vielleicht — wir geben das zu — wäre der Übel-
stand nicht so sehr bemerklich, dürfte man von allem
Anfang an gleich an das leichtere Genre der „Operette"
oder doch den flotteren Zug der „komischen Oper"
sich halten; so aber werden wir durch den Untertitel
„Märchenoper" ohne Weiteres in eine Stimmung versetzt,
welche im weiteren Verlaufe gleichwohl alle Augenblicke
einmal durchkreuzt wird, bei der wir also fortwährend
zwischen jenen beiden Polen hin und her gerissen
werden. Von dieser Art etwa ist unser Sujet (das
eigentlich den ersten Keim zum Gilbert -Sullivan'schen
„Mikado" abgegeben haben könnte), und es ist wahrlich
kein geringes Verdienst Humperdincks, seines deutschen
Bearbeiters, dieses echt Scribe'sche Ragout durch bessere
Motivierung und einheitlichere Führung des Ganzen
auch seinem Tone nach, durch ausgleichende Zuthaten
wie zeitgemässere Witze für unser Verständnis und unser
Empfinden schmackhafter — sozusagen „gemütlicher" —
gemacht zu haben. (Des Un- oder Schlecht-Motivierten
bleibt ja auch so immer noch genug vorhanden.) Seine
Arbeit nun betrifft sowohl den textlichen als auch
den musikalischen Teil. War es dort neben der gewiss
nicht ganz leichten Übertragung in pointenreichen Reimen
die vernünftigere Gestaltung des Zusammenhanges, so
war es hier die Zuthat mancherlei kontrapunktischer
wie instrumentaler Kleinigkeiten, durch welche der Be-
arbeiter da und da noch neue Lichter aufzusetzen ver-
mochte und über das Werk im Einzelnen Licht und
Schatten, Ernst und Scherz noch besser zu verteilen
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Auber in deutschem Gewandf. 289
mit vielem Erfolge bemüht war. So hat das Ganze
denn entschieden Physiognomie und — was fast noch
mehr wert ist — charakteristische Färbung bekommen,
und das ist keineswegs das Geringste an unserem
schmucken Werke. Nur schien es uns, als ob durch solch
kontrapunktischen Eifer den leichtfüssigen Rhythmen
und kurzatmigen Melodieen Aubers stellenweise schon zu
schwere Gewichte angehängt worden seien. Wir Deutsche
pflegen nun einmal diese leicht beschwingte gallische
Muse gleich allzu ernsthaft zu nehmen — ein altes Erb-
teil unserer Natur, das uns manche Thorheit begehen,
manche »verlorene Liebesmüh" thun lässt und uns gar zu
oft an diese oder jene Sache mit einem sittlichen Pathos,
einer Tiefe des Gefühls heranzutreten verleitet, welche
ihr von Haus aus gar nicht einmal zukommt. Was
ab ovo auf den Unsinn angelegt ist, soll man nicht im
Charakter eines sinnigen Symboles immer wieder auf-
fassen wollen.
Immerhin vermögen wir auch nach dem ersten
Anhören noch nicht völlig klar zu beurteilen, inwieweit
an dieser Neben-Erscheinung etwa die Wiedergabe selbst
die Schuld getragen haben könnte, so dass jenem zeit-
weiligen Übelstande hier und da wohl noch durch etwas
belebtere, frischere Temponahme unschwer abzuhelfen
wäre. Indessen, auch die einzelnen Darsteller gaben
die harmlosen, flüchtigen Pointen im Dialoge zumeist
mit allzu schwerfälligem Akzent und in beinahe störend-
auf dringlicher Bedeutsamkeit zum Besten: ein Fehler,
der im Wiederholungsfalle absolut zu vermeiden sein
dürfte. Auch dass hinsichtlich des Szenischen wie der
Dekoration die Inszenierung an glaubwürdiger Feerie
noch einige kleine Wünsche offen Hess, sei bei leb-
hafter Anerkennung des vielen guten Willens und red-
lichen Bemühens für die würdige äussere Darstellung
des Werkes gleichzeitig nicht verschwiegen.
Scidl, Wagneriana. Bd. III. 19
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290
Wagneriana. Bd. III.
Am besten gefielen ohne allen Zweifel der II. und
III. Akt, von welch beiden wiederum der erstere die
höhere Wirkung zu erreichen schien, der sich mit seiner
chinesischen Katzenmusik gegen das Ende hin zu einigen
ganz einzig originellen Effekten steigert. Aber auch
der chinesische Sirenenhain und die famose, dabei
musikalisch wertvolle, Szene mit der Anbetung der drei
Pagoden -Götzen im III. Akte dürften bei nur einiger-
massen gelungener Wiedergabe ihre gute und erheiternde
Wirkung nirgends verfehlen. Ausserdem wären als be-
achtenswerte und unfehlbar anziehende Nummern noch
hervor zu heben: gleich zu Anfang des I. Aufzuges der
reizende Hochzeitschor mit den Pagoden-Glöckchen —
eine der besten Piecen unserer Oper und ein Motiv,
das später noch öfter wieder kehrt, ohne gerade „Leit-
thema" geworden zu sein; ferner die edle Arie des
Prinzen im I., das allerliebste Lied Peki's, das köstliche
Zank- und Schmeichelduett zwischen dem Mandarin und
seiner „Vierten", sowie das hübsche Terzett zwischen
Tsing-sing, Peki und Yanko im Finale des II. Aktes.
Den Musiker am meisten interessiert aber doch wohl
der III. Akt, an welchem sich Humperdincks bearbeitende
Hand am deutlichsten bewährt hat und welcher in dieser
Form (der Weimarer Aufführung) selbst in Karlsruhe
noch nicht voll zu Gehör gekommen war. Zumal das
munter-patschierliche „Sanft schläft der Mann die ganze
Nacht, wenn treu sein Weibchen ihn bewacht" wird
mir in Rhythmus und Tonfall ganz unvergesslich bleiben.
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Rom6o und Julia
von Charles Gounod
(1896)
ging neu einstudiert über die Bretter unserer Oper,
und da hätten wir denn nun also schon wieder einen
Franzosen mehr auf der Dresdner Kgl. Hofbühne! Mit
wachsender Sorge muss dieser geistige „Zug nach dem
Westen" uns erfüllen, der mit jenem glorreichen „Zuge
nach dem Westen" von 1870/71 doch so ganz und gar
nicht harmonieren will. Eine ganze Reihe neuerdings
sich häufender, in diesem Sinne leider bedeutungsvoller
Erscheinungen weisen auf scharf ausgeprägte, um nicht
zu sagen ausgesprochene, französische Neigungen hin,
deren Erklärung ja nicht allzu weit bei den Haaren
herbei geholt zu werden braucht, wenn man sich aus
Roeders Theaterbüchlein erinnert, dass Graf Seebach,
unser rühriger Intendant, seine Erziehung in Paris zu-
mal genossen hat. Die Sache wäre an sich selbst gewiss
auch nicht allzu auffällig, wenn darüber nur nicht fort-
gesetzt die wichtigsten deutschen Aufgaben (wie Gluck,
Mozart, Lortzing, Cornelius und Ritter; „Ingwelde",
„Kunihild", „Guntram", „Loreley", „Gudrun", „Bertrand
de Born", oder Hebbel-, Grillparzer- und Otto Ludwig-
Zyklen, moderne deutsche Dramen und dergl. mehr)
so unverantwortlich vernachlässigt liegen blieben. Nun
19*
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Wagneriana. Bd. III.
haben w i r ja nicht den mindesten Beruf dazu, über
unserem Hoftheater mit Argusaugen und schönen Moral-
predigten hochnotpeinlich etwa wachen zu sollen; frei
steht es dem Gastherrn, seinen Gästen, was ihm be-
liebt, zu bieten, dafern er gelegentlich auch das Odium
mutig auf sich nehmen will, dass diese ihm einmal —
ausbleiben. Wir haben ein Königl. Institut vor uns, und
an gewissen deutschen Hofen bliebe es in der That
sogar noch dahin gestellt, ob nicht ein Bühnenleiter
mit Verfolgung jener Richtung, die ihm gestellte Auf-
gabe nur ganz im Sinne seines Herrn erfasst zu haben,
sich schmeicheln dürfte. Allein „man" — das will sagen:
die öffentliche Meinung, Volk, Publikum und Presse,
hat sich nun doch einmal daran gewöhnt, ganz in
Sonderheit bei den durch Munifizenz der Fürsten so
reich bemittelten deutschen Hof bühnen die in erster
Linie berufenen, echten Pflegestätten unserer heimi-
schen geistigen Güter zu suchen, und wir für unser
Teil möchten demnach gerne meinen, dass ein Hoftheater
des siegreichen Helden von Beaumont, bezw. eben
dessen persönlich verantwortliche Leitung, wesentlich
andere Pflichten als die einer so auffälligen Bevorzugung
gallischer Kunst zu erfüllen habe. Dixi et salvavi animam
tneam Germanicam — auch eine zeitgemässe Jubiläums-
betrachtung zur 25 jährigen Friedensfeier, ausgesprochen
sine ira politica ac studio pubUco, lediglich im Interesse
einer gewissenhaften Kunstbetrachtung!
Dazu kommt aber nun noch ein anderes Moment
mit hinzu. Wenn eine solche Bühne nämlich eine kleine
„Nachtigall" ihr Eigen nennt — gut, so soll man deren
goldene Kehle' verwenden, wo sie hinpasst, und sich
ihrer frischen, wohlgeschulten Stimme erfreuen, wenn
es am Platze ist. Aber dass nun lediglich ihretwegen,
weil sie die blosse Kehlfertigkeit vertritt, dabei weder
den deutschen Gesangsausdruck noch wirklich dramati-
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Rom6o und Julia.
293
sches Spiel kennt, und weil man sich schon bei ihrem
Engagement über deren Verwendbarkeit für die neuere
Opernlitteratur kurzsichtiger Weise leider täuschte — dass
deshalb, sage ich, die leere Trällerei der alten italienischen
Koloratur- Opern wieder ausgegraben werden muss;
dass wir uns deswegen, weil eine angesehene Gesangs-
lehrerin der Stadt einem fremden Kunst- und Gesangs-
ideale Vertreter Jahr aus Jahr ein züchtet, mit Haut
und Haaren nun wieder der ausländischen Musik ver-
schreiben sollen: das geht uns denn doch über die Hut-
schnur. Wir werden, so lange wir Lungen haben, von
unserem ehrlichen deutschen Kunstzorn-Standpunkte
gegen dieses System („Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!")
Einspruch erheben, das aus der miserablen Not eine
scheinbar so glänzende Tugend macht und dadurch an der
Geschmacksrichtung einer ganzen Residenz direkt ver-
antwortlich wird. Können wir uns für die drei natio-
nalen Haupt-Opernstile: den italienischen, französischen
und deutschen, je eine vollkommen ausreichende, be-
sondere Besetzung und womöglich jedesmal ein ver-
schiedenes Publikum dazu leisten, dann mag man mit
der Ausländerei als solcher Experimente weiter machen;
bis dahin sind die deutschen Pflichten die allerersten,
die Aufgaben, den am meisten noch zurück gebliebenen
germanischen Originalstil nicht nur getreulich auszubauen,
sondern auch ihn mit fremdartigen Durchkreuzungen
in seiner gesunden Entwicklung nicht wieder zu stören
noch zu trüben, die vornehmsten und wichtigsten. Aber
freilich — und auch das muss hier offen bekannt sein:
dem Gesamtbesuche solcher Aufführungen wie nament-
lich dem I. Range nach zu urteilen, scheint unsere
Generaldirektion mit ihren Tendenzen allerdings auch
auf ein ziemlich breites Verständnis beim Dresdener
Publikum rechnen zu dürfen . . .
Diese grundsätzliche Gedankenreihe hier erst ein-
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Wagneriana. Bd. III.
mal voraus geschickt, lässt sich von Gounods ,Rom6o
und Julia "-Oper sogar manches Angenehme sagen.
Zwar, die ungezählten Hervorrufe nach den einzelnen
Akten und besonders am Schlüsse als Wertmesser für
die Dauerhaftigkeit des Erfolges anzusehen, werden wir
uns wohl hüten, und sie wird nicht allzu ernst nehmen,
wer aus ihnen die Klique- Revanche für den jüngsten
„Lucia "-Sieg des Fräulein Wedekind mit besserem Ge-
höre klar heraus gehört hat. Der Koloratur-Antagonismus
Wedekind-Telecky, der auch in der Neueinstudierung
von Opern ganz merkwürdige Blüten bei uns treibt,
tritt ja nur zu oft deutlich genug hervor, und der trost-
lose Stilmischmasch hat uns nun also glücklich schon
vier m Primadonnen u an unserer Oper beschert. Hat
man der einen ein Zuckerbrot (Lucia) gegeben, so muss
der anderen mindestens ein Tröster (Jutta) gereicht
werden, und wo das eine Mal Hofkapellmeister Hagen
am Pulte gesessen, präsidiert das andere Mal sicher dann
Generaldirektor Schuch der Vorstellung. Die Echtheit
des Erfolges also dieser Neueinstudierung wollen wir nicht
gar zu hoch nehmen. Trotzdem haben wir ein sehens-
und hörenswertes Werk vor uns, welches auf alle Fälle,
in voller, reicher Bühnenwirksamkeit kennen zu lernen,
jeden ernsten Musikfreund interessiert haben dürfte.
Ihr Urteil ist dieser Oper ja durch die Geschichte
schon gesprochen, welche die „ Margarethe " in's Vorder-
treffen gebracht und »Romeo und Julia" überall wieder
unerbittlich in den Hintergrund zurück gedrängt hat.
Das mag im Allgemeinen begreiflich erscheinen, denn
es fehlen diesem nicht unedlen Gebilde zu einer durch-
greifenderen Wirksamkeit einige der wesentlichsten Vor-
bedingungen musikdramatischer Kunst. Vor Allem die
schlagenden, kräftig-herben Kontraste — so sehr der allent-
halben bekannte und überall beliebte Liebesstoff einer
Eindrucks fähigkeit von vornherein auch entgegen kommt.
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Romeo und Julia.
295
Hanslick spielt bei Besprechung dieser Oper die
italienischen Komponisten desselben Stoffes als „weibisch-
weichlich0 gegen Gounod aus. Was müssen das also
erst für Opern gewesen sein, da für uns schon Gounod
heute durch seine allzu grosse Vorliebe für Weichheit
und süssliche sentimenti oft kaum mehr zu ertragen
ist! Wenn diese „Romeo0 -Oper heute für unser Em-
pfinden überhaupt noch möglich erscheint, so kommt
dies nur daher, dass in ihr aus Harmonie und Melodik
ein etwas modernerer Atem weht; dass sie alles, selbst
das Unscheinbare, immer noch in gewählter Diktion zu
sagen weiss, und dass ein ebenso reich begabter Musiker,
wie fein gebildeter Mensch und vornehmer Geist aus
dieser Partitur uns „anspricht0. Ebenso sicher und gewiss
aber ist auch, dass sich von Gluck bis zum „Guntram0
herauf nur die Opern ein lebendiges Bühnendasein er-
halten werden, welche es verstanden haben, die Musik
mindestens als konsequente Begleiterin, in einer Art
von plastischer Kongruenz mit der lebendig pulsierenden
Handlung, der spezielleren szenischen Aktion oder der
mimischen Geste droben auf der Bühne, in deutlich-
harmonische Übereinstimmung zu bringen; und unter
diesen wird sich Gounods „Romeo und Julia0 auf die
Dauer zuversichtlich nicht befinden, denn gerade hier
versagt sie in ganz bedenklichem Grade. Diese Musik hat
teils etwas Träumerisches, teils etwas Schmachtendes,
bald etwas Stockendes, bald wieder etwas Schleppendes,
meist aber ziemlich Unzulängliches, Unangemessenes an
sich. Sie kommt, zumal in den ersten Akten, nicht
vom Flecke; ja, es scheint, als ob sie etwas von dem
schleichenden Gifte, das Romeo erst im V. Akte trinkt,
schon von Anfang an in ihren Adern hätte; es spintisiert,
posiert und reflektiert, aber es liebt, glüht und sprüht
in ihr nicht! Keine Frage, das Werk enthält, vor Allem
in den vielen Zwiegesängen der beiden Liebenden, zahl-
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296
Wagneriana. Bd. III.
reiche von jenen so genannten »Schönheiten-, welche
sogar da und dort „poetische*4 heissen dürfen, und bei
denen sich so herrlich im Ohrenschmause schwelgen,
mit denen sich aber beim Drama zuletzt doch nichts
Rechtes anfangen lässt, da sie keinen besonders tiefen
Gehalt in uns je zurück lassen, auf alle Fälle mehr
künstlich gemachte, als gerade künstlerisch empfundene
Lyrik sind — wir müssten denn als Deutsche mit unserer
Natur diese Art von innerer Wärme missverstehen,
was man uns wahrlich auch nicht weiter übel nehmen
könnte.
Zu den unbedingten (wenn auch zumeist wieder mehr
lyrischen) Schönheiten gehören unstreitig die vier grossen
Duette, von denen namentlich dasjenige des II. Aktes
durch seine feine, auch thematische Abrundung von
hohem ästhetischem Reize ist, dazu noch in einer wieder-
holten Schlusskadenz deutlich verrät, wie sehr selbst
Mascagni mit seinen effektreichen Intermezzi Gounod'-
. sehen Einflüssen Gehör geschenkt hat; sodann die Ver-
mählungs- Episode, das Lied des Pagen und Julia's
Monolog (der Hochzeitszug in diesem Akte war hier
gestrichen); in Sonderheit aber rechnet dazu der inter-
essante, würdevolle „Prolog" zu Anfang des Ganzen, der
ebenso ernst gemeint ist, als er Stimmung gebend wirkt,
wenn es denn schon einmal den grossen, unvergleich-
lich tiefen Briten-Dichter gelten soll. (Charakteristisch
übrigens für die Geschichte der französischen Musik, da
ja schon Berlioz bei seiner „dramatischen Sinfonie"
gleichen Namens — dabei nur wieder folgend den In-
tentionen des Dichters — einen „Prolog" gebracht
hatte!) Von all' den lebensfähigen Repertoir- Opern,
welche sich schon „klassische" Dramen zum Vorwurfe
genommen haben und aus denen ein leider nur allzu
grosser Teil unseres gebildeten Publikums seine Kenntnis
dieser klassischen Meisterwerke allein zu schöpfen
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Romeo und Julia.
297
liebt (man denke an Rossini's „Teil" und „Othello",
Bellini's „Romeo und Julia", an Thomas' „Mignon" und
„Hamlet", Gounods „Margarethe", VerdPs „Don Carlos"
und „Jeanne d'Arc", Massenets „Werther" und Boito's
„Mefistofele") — von ihnen allen ist die eben neu ein-
studierte Oper jedenfalls noch keineswegs die un-
glücklichste Verballhornung, und nur mit der dramatisch-
humoristischen Kraft eines Verdi, mit welcher dieser
im „Othello" und „Falstaflf" Shakespeare'sche Grösse
zu vertonen im Stande war, wird sie sich von vorn-
herein nicht messen dürfen. Die auffälligste Änderung
der Herren Textdichter am Original ist die des Schlusses,
wo Julia noch vor Romeo's Hinscheiden erwacht und
Beider Stimmen sich noch einmal zum idealen Schwanen-
sange vereinigen; man bringt es aber doch nicht fertig,
ihr gram zu sein, da in der That weit eher ein tieferes
Verständnis gerade für die besondere Natur des musi-
kalischen, und zumal dieses dualistischen, Drama's
darin zu liegen scheint, wenn die letzte grosse Seelen-
harmonie auch noch zum Erklingen gebracht wird
Die germanische Erfüllung und Vertiefung dieser Idee
hat uns Deutschen Wagners „Tristan und Isolde" bereits
gebracht; nach dieser Oper entstanden und aufgeführt
(zu Paris und Wien erst 1867), bedeutet Gounods
„Romeo und Julia" freilich schier einen Anachronismus.
Hätte sie ausser der einzigen Duell -Szene als effekt-
volle, ein Theaterpublikum unmittelbar elektrisierende
Gegenbilder zu den zarten Partieen ebenso viele kräftige
und packende Züge — die Wirkung der Oper wäre eine
fraglose: das betont schon ein so warmer Bewunderer
des Werkes wie Eduard Hanslick.
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Zum Kapitel „Ballett"
(1896)
versprachen wir aus Anlass der Vorführung von
D & 1 i b e s* „C o p p e 1 i a" einige grundsätzliche Aus-
führungen bringen zu wollen, zumal wir den Erfolg der
Neuheit einstweilen als einigermassen zweifelhaft be-
zeichnen mussten. Eine geistreich instrumentierte, auch
in der Erfindung, künstlerisch, ungemein wertvolle Musik,
durch deren frisch-belebte, elastische Vermittlung sich
unser Hoforchester, mit keinem Geringeren als General-
musikdirektor Schuch selber an seiner Spitze, nicht
wenig auszeichnete; dazu eines der feinsten und inter-
essantesten Ballette der Neuzeit überhaupt, bei dem
sich unser neuer Ballettmeister, Herr Thieme, mit
seinen technischen Helfershelfern: Herrn Garderobe-
inspektor Metzger und Obermaschinenmeister Göldner,
sowie unsere anmutvolle Prima -Ballerina, Fräulein
G r i m a 1 d i , nebst dem übrigen Solo - Personal und
dem gesamten Ballettkorps mit nicht geringen Ehren
bedeckten — und doch das Ganze ohne bedeutenderen,
nachhaltigeren Eindruck: was mögen hier wohl die Ur-
sachen sein? Um es gleich vorweg zu nehmen: Wir
glauben, dass die Schuld da vornehmlich drei be-
sondere Faktoren trifft. Einmal die ganz unhaltbare
Zusammenstellung des Abends, welche die altfränkische
Harmlosigkeit: „Th. Körner-Schubert" mit der modern-
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Zum Kapitel »Ballett«.
299
espritvollen Pikanterie eines Delibes unmittelbar zu-
sammen warf und nicht bedachte, dass das Publikum
der Ausgrabungsfreunde notwendiger Weise ein ganz
anderes sein muss, als dasjenige zu sein pflegt, welches
den Reizen der pantomimischen Kunst ein verständnis-
volleres Interesse entgegen bringt. Sodann aber auch die
willkürliche Streichung des dritten Bildes, welche die
rechte Steigerung verhindert und den Zuschauer des
eigentlich glänzenden Abschlusses mit nahe liegendem,
buntem Divertissement-Schaugepränge beraubt; denn die
choreographischen Evolutionen der ersten Abteilung
finden kaum eine entsprechende Ausladung mehr und
jedenfalls nicht ihr ergänzendes Gegenbild gegen das
Ende der Handlung zu, die wie das „Hornberger
Schiessen* inmitten des Automaten- und Wachsfiguren-
kabinets unmotiviert genug ausläuft. Endlich drittens
die ganz unverantwortlich übermässige Verspätung in
der hiesigen Aufführung dieser angeblichen „Novität0,
welche nun genau 26 Jahre alt und — nicht zwar in der
immer wieder wirksamen, graziösen und pikanten Musik,
wohl aber im Sujet — seither längst von Anderem (z. B.
der „Puppenfee") überholt, will sagen: beim Publikum
ausgestochen worden ist. Und hier liegt der Ballett-
hund begraben — das ist der Punkt, wo wir dem
neuen, verantwortlichen Minister für höhere Tanzkunst
an unserer Hofbühne, von dessen bisher entfaltetem
Eifer wir auch für die Folge die allerhöchsten Er-
wartungen hegen, unsere Forderungen für die Zukunft
unseres überaus glänzend bestellten Königlichen Ballettes
klar und deutlich aussprechen zu sollen glauben, weil
wir jetzt auf dem besten Wege dazu scheinen, endlich
einmal auch diesem Teil unserer Hofbühne und seiner
gewissenhaften Bearbeitung in streng künstlerischem
Stile die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
Irgend wann und irgend wo einmal hatten wir Ge-
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300
Wagneriant. Bd. III.
legenheit genommen, angesichts des „Meissner Por-
zellans« auf den vollendeten ästhetischen Unfug des
Automatenwesens im Rahmen des Ballettes, als der
auserwählten Kunst eines Seelenausdruckesdurch
die Körpergebärde (im weitesten Sinne des
Wortes), energisch hinzuweisen, und schon damals
hatten wir den notwendigen Niedergang des ganzen
Genre's mit aller Entschiedenheit aus solchen Auspizien
prophezeit. Ich glaube, wir stehen heute dem Zeit-
punkte sehr nahe, da man das wieder allgemein em-
pfindet und einem einsichtsreichen, geschmackvollen
Reorganisator auf diesem Gebiete wie einer Erlösung
von drückendem Alp, erfreut über die der wahren Pro-
duktion damit wieder frei werdende neue Bahn, von
ganzem Herzen zujubeln wird. Wenn nun die geistigen
Urheber von „Coppelia", Ch. Nuitter und A. Saint-
L 6 o n , das automatische Homunkeltum dem beseelten
Lebewesen als komischen Gegensatz gegenüber stellen
und dieses in der Durchführung des Spieles als siegreich
gegen jenes ausspielen, so ist das mit seiner Schluss-
moral ganz ohne alle Frage noch eine sehr hübsche,
sinnige Idee — ein artiger, selbst der inneren Poesie
keineswegs entbehrender Einfall. Und ebenso, wenn
der talentbegabte Komponist die ganze mechanische
Ledernheit der taubstummen Bevölkerung des geheimnis-
vollen Mechaniker-Ateliers instrumental in einer an Deut-
lichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Laune so
hölzern, eckig und steifbeinig wie nur möglich illustriert,
so ist das sicherlich eine gar feine, drastische Charak-
teristik, welche in sich einen durchaus gesunden Kern
enthält und das ursprüngliche, natürliche Verhältnis
zwischen Seele und Stock, Mensch und Puppe
wenigstens noch mehr oder minder anschaulich heraus
stellt. Aber eben schon in dieser Antithese lag doch
der Ansatz zur „schiefen Ebene", und die wahrhaft
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Zum Kapitel „Ballett".
301
verheerenden Wirkungen haben wir ja seither an
unserem modernen Ballett erfahren müssen. Auf der
einen Seite die Massenentfaltung im Sinne blendender
Zirkus - Ausstattung mit möglichst viel Trikot — oder
richtiger: „des Fleisches und der Augen Lust"; auf der
anderen die völlige Degradierung der Pantomime, als
einer von Alters her hoch entwickelten, feinfühlig edlen
„Seelenkunst", zum lediglich virtuos ausdauernden,
sinnlos hüpfenden „Tanzgebein" — der „groteske" Rest:
die aufgesetzten Tiermasken der Ballett- Eleven des
Herrn Stägemann in Leipzig, was denn recht drollig
aussehen sollte, im Grunde aber nur sehr albern
wirken konnte, da es vollends auch noch das bischen
Gesichtsausdruck und Mienenspiel den Blicken des Be-
schauers entzog.
Nun hat uns aber Bayreuth in der gehaltreichen,
so klar gegliederten und der Musik im dramatischen
Ausdrucke genau angepassten, grossen 9 Tannhäuser
Pantomime (Venusberg der Pariser Bearbeitung) das
Muster von „Ballett, wie es sein soll" neuerdings ein-
drucksvollst aufgestellt. Und hier kam das alles im
Gesamtrahmen der Ballettkunst auch zu seinem vollen
Rechte und, wo es schon am Platze ist, zu aller Geltung:
man erkannte aber da, überrascht, mit einem Male, dass
das Ballett Fuss- und Tanzkunst nur insoweit ist, als
eben Fuss und Bein wichtige Glieder des zum mimischen
Ausdruck heran gezogenen, in seiner plastisch-schönen
Ausdrucksfähigkeit künstlerisch durchgebildeten und
auch in der lebendigen Verdeutlichung des musikalischen
Gehaltes jeder Regung leicht gehorchenden gesamten
Körpers sind. Ja, man fand sogar, dass sich das
Herkommen eines leichten, durchscheinenden Kostümes
bei unseren Ballettkünstlern, statt nur etwa dem blossen
Sinnenkitzel frivol-heidnischen Lusttaumels dienen zu
sollen, im letzten Grunde auf das echt künstlerische,
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302
Wagneriana. Bd. III.
tief ästhetische Bedürfnis zurück führen lässt, eine mög-
lichst klare, rein körperlich deutlichste Gebärdensprache
des durch die Kleiderkultur noch nicht ausdruckslos,
unfrei und unschön gewordenen natürlichen Menschen
zu gestalten.
Gerade nach dieser Seite hin, einer geschmeidig-
graziösen, geistbelebten Ausdrucksfähigkeit adelig-un-
tadeliger Leibes form, wo schliesslich der ganze
Körper in allen seinen Teilen zur beredten, die Musik
interpretierenden Total gebärde wird, besitzt Dresden
in Fräulein Grimaldi jetzt eine ausgezeichnete, ganz
hervorragende Künstlerin ihres Faches ; in diesem Sinne
war ebenso auch das wiederholte verscheuchte, köstlich
flatterhafte „Retire41 der in gemeinsamem Schreck wie
auf Kommando trippelnd rasch zurück weichenden Freun-
dinnen Coppelia's eine künstlerisch hoch anzuerkennende
Ensemble- Leistung absolutester Körperbeherrschung und
vollendeter Gebärdenschulung im freiesten Ausdrucks-
spiele — ganz abgesehen noch von den voraus gegangenen,
wild sprühenden Mazurka- und Czardastänzen, den
wechselreich anziehenden „Variationen über ein slavisches
Lied" und der elegisch-zarten, vom Konzertmeister
Petri mit einem ungemein süssen Violinsolo meister-
haft begleiteten „Ballade von der Ähre".
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Das Erbe
Lyrische Oper von Victor Erlanger
(1898)
»Wenn die Kuh aus dem Stall ist, machen die
Leute das Thor zu, und wenn erst ein Kind in den Brunnen
gefallen, dann wird dieser auch hübsch überdeckt !"
Daran mussten wir lebhaft denken, als gestern Abend
im Hamburger „ Stadttheater • der bedauernswerte
Scharfrichter, der — unter der Last seines schweren
Geschickes zusammenbrechend — leider versehentlicher
Weise um eine Minute zu früh Hand an sich gelegt
hatte, an einer Dolchwunde langsam verblutete, und
nun der durch königlichen Gnadenbefehl so plötzlich
befreite Schwiegersohn ihm das „Zu spät, der Kinder
Glück wird Mendo nicht mehr seh'n!" unter langsam
fallendem Vorhang nur mehr „nachrufen" konnte. Es
handelte sich dabei um die erste Aufführung einer im
„Coventgarden" zu London unter dem Namen „Inez
Mendo" bereits gegebenen, neuen „lyrischen Oper" nach
Decourcelle und Liorat von Friedrich von Erlanger,
die fetzt unter dem Taufnamen *DasM Erbe" ihre
deutsche Wiedergeburt erlebte. — Der Ärmste sollte
nämlich, da anno 1640 zu Montclar in Spanien das
Henkeramt in der Familie merkwürdiger Weise erblich
war, seinen leibhaftigen Schwiegersohn, einen Offizier
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304
Wagneriana. Bd. III.
der Armee, unter der eigenen, im Gefängnis ihm eben
angetrauten, Tochter Augen persönlich enthaupten, weil
— jener einen leichtfertigen Schürzenjäger im Duell
erschlagen! Nunmehr, nach diesem zuversichtlich
minder tragischen als vielmehr arg traurigen Ereignis —
dessen sind wir ganz fest überzeugt — wird das grau-
same Erbgesetz endlich einmal aufgehoben werden. Aber
kann denn der Barbarismus solcher unsinnigen Bräuche
nicht ein wenig früher schon eingesehen und zur rechten
Zeit beseitigt werden, ehe es damit glücklich zu spät
ist? Freilich würde damit ja eine ganze Handlung wie
die vorliegende, ebensowohl wie z. B. die unseres po-
pulären „Freischützen", ihre Voraussetzung der vier-
fachen Wurzel vom zureichenden Grunde verlieren.
Aber, wenn das immerhin schon bei der Weber'schen
Oper einen erheblichen, höchst bedauerlichen Verlust
für die Musikgeschichte bedeuten würde, in unserem
Falle möchte kaum etwas Wesentliches verloren, ein
allzu gross Unheil damit angestiftet sein. Denn, meint
auch bekanntlich der Franzose, dass jedes Genre erlaubt
sei, mit Ausnahme einzig nur des langweiligen, so
müssen wir leider doch bekennen, dass unser Textbuch
zwar nicht direkt als langweilig wird gelten dürfen,
für ein modernes Werk aber eine ganz unerlaubte
Menge von Ungereimtheiten enthält, die schliesslich
nur für die „rohen Instinkte der Masse" — ähnlich
denjenigen eines zugkräftigen Schauer-Romanes — ge-
niessbar und verdaulich bleiben können, ja, in mehr als
einer Hinsicht beängstigend genug an das alte „Schicksals-
drama* sogar erinnern. Ja! Wenn das Wesentliche am
Schiller'schen „Maria Stuart"-Drama lediglich im Sakra-
ment und im Hinrichtungsgange der Heldin zum Schafott
bestünde, dann Hesse sich allenfalls wohl bei „Inez
Mendo" von einer „Maria Stuart" in Musik sprechen.
So aber ist es da wohl mehr bei dem in Kolportage-
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Das Erbe.
305
kreisen mit Recht so beliebten „Scharfrichter von
Berlin" als Oper nur geblieben.
Doch, Spass bei Seite und zum Ernst der Sache
vorgedrungen! Das Sujet ist an sich, für eine gewisse
„breitere" Publikumswirkung, vielleicht gar nicht einmal
so ganz schlecht gewählt; immerhin krankt es von
Hause aus an einer Dramatisierung, die alles Andere
eher denn knapp genannt werden darf; wie es zugleich
wieder an einem faden dem ex machina in Papierrollen -
format laboriert und — an einem noch weit faderen,
weil arg sentimental angehauchten Henker. Man denke:
ein lyrischer Scharfrichter! So schwimmt das Drama
als solches förmlich wie ein Mollusk in einem wahren
Schlamme von Lyrismus einher, und man möchte zur
Abwechselung einmal fast ausrufen: Viel zu viel
Musik! Wenn nun auch der keineswegs unsympathische,
aber etwas zu sehr weltverbindlich nach allen Seiten
hin seine Komplimente machende Komponist („toujours
agreable jusqu'au moment tragique" — wie Taine einmal
sagt) eine starke Dosis von Sangesfreudigkeit, ein ent-
schieden ansprechendes melodisches Talent und ebenso
gewandtes als gefälliges Orchestrationsgeschick dazu mit-
bringt — das Ganze wirkt demnach doch allzu weichlich
und berührt dem Materiale nach überdies einigermassen
verbraucht, im Sinne der älteren französischen Schule
wie bezüglich so mancher herkömmlicher musikalischer
Redensarten. Sein naher Verwandter Camille von
Erlanger, der Parteigänger der Jung - Pariser „Ecole
Francaüe"' (so, ohne Cedille, nach Cesar Franck witzig be-
nannt!), würde bei gleichem melodischen Vermögen viel-
leicht eine reizvolle „Carmen" mit pikanten Kontrasten
daraus gemacht haben ; Friedrich von Erlanger giebt
Gounod, Thomas, Leoncavallo und Nessler in Einem
zusammen, also mancherlei Eklektizismus, noch mehr
Gemeinplatz und entschieden zu viel Mandelmilch.
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 20
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Wagneriana. Bd. III.
Jede Schärfe dramatischer Charakteristik geht dabei
natürlich „flöten". Trotzdem scheint er mir aber doch
etwas mehr als nur eben ein höherer Dilettant, als ein
kavalleristischer Sportsmann oder Börsenjobber in mudcis
zu sein, wennschon seine weltläufige Kunst die leicht
fliessende Faktur des begabten Luxusmenschen nirgends
wohl verleugnen kann. Was man so sagt: „Er hätte
es eigentlich gar nicht nötig." Wohl ihm, wenn er den
schönen Ehrgeiz hat, es mit seiner Befähigung gleich
einer Berufssache ernster zu nehmen ! — Der Vorstellung
war äusserlich ein grosser Glanz verliehen, so dass der
Komponist als glucklicher Lorbeerträger, im tadellosesten
Gesellschaftsanzuge nach letztem Pariser Schnitt,
mehrere Male vor der Rampe erscheinen und seine
etwas glatte Physiognomie der Menge wiederholt zeigen
konnte. In der Toilette: ein „Odi profanum volgtut, et
arceo"; in der Musik: das pure Gegenteil davon I O,
Einheit des Stils und des Geschmacks — wo nur bist
du zu finden?
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Stagione dell' Opera Italiana
(1896)
1. „La Traviata"
Primadonna: Signora Prevosti
Natürlich wird es Viele geben, welche es mit
Freuden begrüssen, dass das Prinzip, Gastspiele nur
aus Engagementsrücksichten zuzulassen, von der Dresdner
Generaldirektion allem Anscheine nach wieder auf-
gegeben wurde; wir unserseits aber haben allen Grund,
es lebhaft zu bedauern, dass diese Durchlöcherung des
Prinzips zu Gunsten solcher Internationalitäten und
der vormärzlichen Stillosigkeit italienischen Virtuosen-
gesanges mitten im Rahmen eines deutschen Ensemble's
leider geschehen ist. Wenn schon die Herrschaften in
Deutschland ihren Ruhm erneuern und ausbreiten wollen,
so mögen sie gefl. ihre Rollen auch deutsch studieren!
Principiis obsta — schon gegen die allerersten Versuche
nach den denkwürdigen Errungenschaften eines Wagner
muss hier energisch Front gemacht werden, sonst können
wir uns schon demnächst vor dem Überhandnehmen nicht
mehr retten und haben wir wiederum den alten, un-
künstlerischen Unfug auf allen unseren Bühnen. So viel
sich auch, von einem gewissen Standpunkt aus, gegen die
Gewinnung ausländischer Gesangsgrössen für die natio-
nalen Bayreuther Festspiele wohl sagen Hesse, das eine
20*
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Wagneriana. Bd. III.
Gute hat Bayreuth doch jedenfalls, dass es selbst seinen
fremdländischen Kräften deutschen Ernst beibringt,
sie dem dortigen künstlerischen Rahmen sich anzupassen
und einzugliedern lehrt, vor Allem aber: sie deutsch zu
singen zwingt. „Das fehlte gerade noch, dass die in
fremder Sprache Wagner sängen!0 — wie man etwa
dort sagen würde; das aber kennzeichnet sofort den
ganzen Standpunkt.
Sollte nun gar jemand der Meinung sein — und
sie hätte entschieden manches für sich: dass solche
fremde Kunstübung, wenn schon — denn schon, ihren
eigentlichen, wirksamsten Zauber im engeren nationalen
Rahmen und mit landsmännischer, den Stil und die
Kunstanschauung der Heimat des betreffenden Künstlers
verkörpernder, Umgebung erst voll enthülle: gut, so
gewöhne man sich endlich einmal auch daran, dieser
an sich ganz richtigen Idee zu folgen und gleich das
Gesamtgastspiel einer fremden Schauspieltruppe als
solcher, m i t dem betreffenden hervorragenden Gaste, an-
zuordnen. Ich persönlich hörte an dem in Rede stehenden
Abende jemanden begeistert ausrufen: „Die Duse in's
Musikalische übersetzt, das ist die Prevosti!" Allein
dieses Urteil hängt zum Mindesten doch so lange in
der Luft, als Franceschina Prevosti nicht, wie
jene, zugleich auch das für sie geeignete italienische
Ensemble mitbringen will — ganz abgesehen noch davon,
dass man doch schon der Gemma B e 1 1 i n c i o n i jenen
Titel der „Opern-Duse" gelegentlich beigelegt hat. Rossi
oder Salvini, die Sarah Bernhardt und Coquelin, Irving u. A.
ohne ihre nationale Umgebung, inmitten eines deutsch
redenden Bühnenspieles: das ist doch allemal ein Un-
ding — warum sollte es bei der Prevosti auf einmal
anders sein? Alle Welt rühmte nun die hervorragende
schauspielerische Kraft des Gastes. Uns aber besagt
das im Grunde nur — einmal: dass unsere deutschen
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Stagione delP Opera Italiana.
309
Sänger (worauf wir unermüdlich das ganze Jahr über
hin weisen) viel zu wenig Schauspieler und viel zu sehr
Dirigenten- Puppen oder Souffleur-Sklaven sind; dann aber
auch: dass die Sänger anderer Nationen ihre Kräfte nicht
wie die unseren an ein Repertoir-Marfam compositum zu
vergeuden gehalten sind, sondern, dass sie ihren natio-
nalen Originalstil rein und lauter anhaltend zu pflegen
und sich in den Geist einer Rolle vollauf zu vertiefen,
Gelegenheit erhalten. Um das einzusehen, bedürfen wir
aber nicht erst eines fremden Gastspieles wie dieses,
das ja doch nie die rechten Früchte trägt; das predigt
Unsereiner unaufhörlich schon seit Jahren — freilich,
ohne damit das geringste Gehör zu finden. Darin aller-
dings können unsere Bühnen- und namentlich die so-
genannten Wagner -Sänger immer wieder von solchen
Gästen lernen: dass man mehr, als heut zu Tage in
Deutschland, studieren muss, wenn man bestehen und
als echter Gesangskünstler von Gottes Gnaden nicht
nur Aufsehen erregen, sondern auch Genuss bereiten
will. Nicht unsere deutsche Gesangskunst an sich ist
schuld an dem Stimmverfall, etwa weil sie in Stimm-
bildung zur Zeit nichts mehr leiste; der materialistische,
dicke Bretter nicht mehr bohren wollende Leichtsinn
unserer Sänger und allenfalls noch die Skrupellosigkeit
der Herren Gesangslehrer, die nicht energischer auf
gründliche Durchbildung dringen, vielmehr möglichst
bald selbst auf Erfolge hinweisen wollen, ist hier Grund
und Ursache eines nachgerade unhaltbar gewordenen
Zustandes. —
Einige gute Deutsche in Parket und Parketlogen
konnten sich übrigens mit „Brava, bravissima!" wieder
einmal gar nicht genug thun.
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Wagneriina. Bd. III.
2. Die Boheme
Lyrische Komödie in vier Akten; Dichtung und Musik
von Ruggiero Leoncavallo
(1897)
Ein Anwachsen des „Italianismo" auf der deutseben
Opernbühne, das kein vernünftiger Mensch erwarten
konnte, ist seit vorigem Sommer wieder zu verzeichnen.
Seit dem Gastspiele der Stuttgarter Oper mit Mas-
cagni's „Ratcliff" in Leipzig, seit der Erstaufführung
des „Andre Chenier" von Giordano in Hamburg, der
Puccin i'schen „Boheme* und der Spinelli'schen
Oper „A batso porto" bald darauf in Berlin, hat sich
die Windfahne abermals gedreht, hat eine neue, leidige
Invasion bei uns begonnen, und wird demgemäss auf der
ganzen Linie wiederfrech zum Angriffe „Sturm!* geblasen.
Gegen gewisse Dinge ist eben kein Kraut gewachsen;
da kann es zuletzt nur heissen: „Ich halt' still, wie
Gott will*, der mit solcher Landplage und Sintflut als
gerechter Geissei für so manche arge Unterlassungs-
sünden oder schwache Stunden unserer berufenen Kunst-
wächter, die Welt des schönen Scheines offenbar schwer
heim zu suchen liebt. Verlaufen m u s s sich auch diese
Flut vom A bis zum Z ja unbedingt wieder; denn alle
„guten Geister" loben Gott den Herrn, selbst wenn er
das Obel gelegentlich auch als vorübergehende Prüfung
zu unserer moralischen Erprobung zulässt. . . .
Ein weiteres, bedeutsames Glied also in dieser Ent-
wicklungskette bildet für uns jene Leoneaval 1 o' sehe
„Bon eme"-Oper, welche unlängst mit grossem Lärm
„zum ersten Mal in Deutschland" über die Bretter der
Hamburger Opernbühne geschritten ist. Je nun, dieses
„zum ersten Mal in Deutschland" — es hätte wohl
noch einen ganz anderen Klang gegeben, wenn es einem
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Stagione dell' Opera Italiana, 31 1
von unseren deutschen, bisher erfolglosen „bohkmiens"
hätte gelten dürfen!
„A toi, ma bonne Berthe, qui as si couragexisemeiit
partage1 ma bohbne!" — so liest man am Kopfe der
Partitur, und damit sich ja kein missverständlicher
Rückschluss einschleichen mag, hat der Komponist aus-
drücklich auch noch „A Madame Berthe Leoncavatlo"
als Widmung vorgeschrieben. Dieser liebenswürdige
Familienzug nimmt zunächst ohne Zweifel für den
Autor und sein Werk lebhaft ein, und ich muss ge-
stehen, dass ich eigentlich mit einem günstigen Vor-
urteile zur Premiere mich eingefunden hatte. Denn,
hat der Mann sich in dem Stoffe nicht nur ein wirk-
sames Libretto ausersehen, sondern mit eigenem Herz-
blute und innerem Ausdrucksdrang einer gemütreichen
Innenwelt geschrieben, so hat er eben gegenüber so
manchen blossen Machern unter seinen italienischen
Genossen gewiss schon einen nicht zu unterschätzenden
Vorzug voraus. Allein — allein ! Dem Texte seiner „Bajazzi •
war ja auch schon solch eine Besonderheit vorgedruckt
— nämlich: »Zeit und Ort der wahren Begebenheit
ist bei Montalto in Galabrien, am 15. August 1865."
Wie? — sollte dieses besondere Moment des persön-
lich Erlebten, wirklich Geschehenen am Ende nur einen
geeigneten Drücker zur wohlfeilen Steigerung des Inter-
esses mit abgeben? ... so etwa wie einer zur Erhöhung
des Wertes seiner eben losgelassenen Anekdote noch extra
beteuert: „Bin selbst dabei gewesen!" Zumal, wenn
man am Komponisten in eigener Person nun die fatale
Rückbildung des Boheme-Problemes bis zu dem Punkte
wahrnimmt, wo der Künstler, der früher am Hunger-
tuche der Erfolglosigkeit nagte, nunmehr, nach dem
grossen Erfolge, auf seinen Namen allerlei Minder-
wertiges sündigen darf, ohne dass ihn dieser laute Er-
folg dabei irgend verliesse — zumal dann gewinnt dieser
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Wagneriana. Bd. III
schwarze Verdacht doch recht bedenklich an Boden.
Und zumal der Magstro selbst, der sich nach jedem
Akte so bereitwillig dem Hause zeigte, macht in seiner
wohlgenährten Behäbigkeit ja ganz und gar nicht mehr
den Eindruck, als ob er sich der Boheme seines eigenen
Lebens so recht lebhaft noch entsinnen könnte. Satt-
werden scheint demnach doch der Ruin der Kunst zu
sein. — Indessen, wir wollen die alte, sattsam bekannte
Leyer hier nicht wieder ableiern und lieber beherzt
einmal prüfen!
Liest Unsereiner H. Murgers, „Zigeunerleben- ge-
nannte, in der lebendigen und fein pointierten, ebenso
geist- wie humorvollen Schilderung des Litteraten- und
Künstlertreibens aus dem Pariser Quartier latin geradezu
klassisch zu nennende „Szenen", so wird er sich vor
Allem davor zu hüten haben, von seinem eigenen regen
Interesse für diesen Stoff auch auf ein solches bei der
weiteren Allgemeinheit des grösseren Publikums zu
schliessen. Allerdings bildet die Boheme eine notwendige
und allgemeine Durchgangsperiode für den werdenden
Menschen — das ist wahr, und die Musik, die Kraft
ihrer Eigenart im Grunde nur den Typus charakterisiert,
nicht aber den Individualfall detaillierter ausdrücken
kann, müsste bei diesem Vorwurf also eigentlich ge-
wonnen Spiel haben. Aber wohlgemerkt, es handelt
sich um eine gemeinhin gültige Übergangserscheinung im
Menschen nur, insoweit dieser Mensch zugleich Künstler
ist, und davor hätte die Musik doch wohl verlegen ein-
mal Halt machen sollen. Und hier kommen wir gleich
zum zweiten Punkt unserer sehr wenig erbaulichen
Betrachtung: der Beobachtung nämlich, dass nunmehr
anscheinend auch auf dem Operngebiete ganz dieselbe
Epidemie einzureissen beginnt, die schon die Schau-
spiel-Produktion unserer Tage für Viele so völlig un-
geniessbar macht, indem sie Litteratur- und Feuilleton-,.
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«
Stagione dell' Opera Italiana.
313
Litteraten- und Künstlerdramen zeitigt, aber keine
allgemein interessierenden Menschheits- und Volks-
dichtungen mehr schafft. Für Jeden, der die reizvollen,
in ihrer Art unvergleichlich feinen Murger'schen Szenen
9 Zigeunerleben * mit kunstgebildetem Auge ansieht, ist
es eine ausgemachte Sache, dass sie sich inhaltlich
und formell, dem Stoffe, Umfang, Charakter und Stile
nach, zu einem befriedigenden und ästhetisch ausgleich-
baren Opern -Sujet nicht eignen. Thut nichts — die
Sache wird gemacht I Denn dem Zeitkolorit kommt die
augenblickliche, mehr rückschauende Mode- Neigung
für ein „Restaurations"-Kostüm heute entgegen; ein
sapperment'scher „Rattenfänger" setzt — bald trippelnd
und parlierend, bald schwelgerisch ausladend und in
einem Thränenstrom von Lamentoso zuletzt sich badend —
möglichst viel akzentuierte, reichlich dick aufgetragene
„Melodie" dazu: so kommt der Erfolg, wie das B auf
das A, und das liebe Publikum als solches, für das
noch heute der Rummel der Wachtparade oder der
Kastratengesang so etwa die Grenzpole seines Privat-
geschmackes bilden, es hat wieder einmal „sein Recht"
bekommen.
Im Grunde aber steht eben doch sehr zu be-
fürchten, dass die grössere Allgemeinheit unserer Zu-
schauer und Zuhörer — so, wie p. t. Publikus nun schon
einmal beschaffen ist — im letzten Winkel ihres Herzens
weit eher mit der Philister- als mit der Künstler-
welt einem solchen Stoffe gegenüber sympathisieren
werde. Man wende mir da nicht etwa ein, dass Wagners
„Meistersinger" dieses Wort Lügen strafen; dass, was
ihnen recht, für die „Boheme" wohl billig sei, die
ohnedies nach der Murger'schen Vorlage als eine Art
in's Soziale und Moderne übersetzter „Meistersinger-
Stoff angesehen werden könnten: wobei denn der „an-
kreidende" Beckmesser zum Wirt, die bequeme Zunft
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Wagneriana. Bd. III.
zur friedliebenden und schlafmützigen Spiessbürger-
schaft, der aus der Singeschul hinauskrakehlte Ritter
zum „Exmittierten" wird, und die grosse Prügelei end-
lich zu einer solchen der „Davidsbündler" wider die
Philister sich gestaltet. Das hört sich alles für den ersten
Augenblick wohl ganz gut, ja sogar wie eine speziellere
Rechtfertigung Leoncavallo's an. Doch bleibt es alles
Scheinmanöver und eitel Trugschluss. Abgesehen von
dem bei Wagner in einer ungemein charakteristischen
Wort- und Formensprache ganz wunderbar gegebenen
Zeit- und Ort-„Milieu", ist es dort auch die traute
Heimlichkeit altdeutschen Kultur- und Städtelebens, die
herrliche Natur- und Liebespoesie, was alles — zu-
sammen mit dem tiefen Humor der allsympathischen,
die Gegensätze wieder versöhnenden Gestalt des
Meisters Hans Sachs — den persönlichen Einzelfall der
ästhetischen Welt zum Reinmenschlichen erhebt und
der Musik durchgängig jene Ideal Sphäre sichert, ohne
die sie in Ethos und Pathos nun einmal nicht gesund exi-
stieren kann. D a rin gerade lässt aber des Leoncavalleristen
etwas müder Theatergaul (imitando ü genere RonnanU!)
gar sehr zu wünschen. Das Milieu ist ihm nicht mit dem
entsprechenden Parfüm wiederzugeben gelungen, welches
allerdings beim Musiker auch eine feiner gestaltende
Hand voraussetzen würde, als sie Leoncavallo zur Ver-
fügung zu* stehen scheint — einzelne, leichtfüssige
Pi kante rieen des Rhythmus erschöpfen hier noch lange
nicht den Geist der Sache. Und da, wo der Komponist
fühlte, dass er diese Seite des Thema's noch durch ein
grosses Liebesdrama herausputzen und in höhere Re-
gionen versetzen müsse, ist die psychologische Motivierung
arg lückenhaft, die Charakteristik oft sehr unplastisch
geblieben und der ganze Stil — um eine Bemerkung des
Murger-Übersetzers hier zu paraphrasieren — aus einem
Plattdeutsch der Liebe umgekehrt zum Hochdeutsch
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Stagione dell' Opera Italiana.
315
derselben unnatürlich hinaufgeschraubt. Trotzdem kommt
es, ausser später im Sentimentalen und Larmoyanten,
zu keinem rechten Ausbau dieses „Liebesparadieses"
und zu keinem breiteren Ausladen seiner zartsinnigen
Gefühlsentwicklung; obendrein begreift man bei Leon-
cavallo auch gar nicht, warum der Maler Marcell,
jener grosse Sänger vor dem Herrn, bei der starken
Fülle seines Lyrismus, unter den „vier Musketieren"
aus dem Cafe Momus nicht weit eher zum Musiker
veranlagt gewesen sein soll!
Ich sagte in einer Vornotiz über diese Erst-
aufführung, dass der Text vom Komponisten aus dem
Originale selbständig recht geschickt zusammen gestellt
worden sei. Ich meinte damit natürlich nur die äussere,
schriftstellerische Mache, welche die Einzelzüge gewandt
einzufügen und glücklich unterzubringen gewusst hat, in
ihrer Ganzheit sich also immerhin als eine respektable
Privatleistung kund giebt. Da sind denn mitunter einige
ganz lebendige Episoden und drastische Partieen ent-
standen, so z. B. gleich in dem Nebeneinander von
Billardspiel und Liebesgeständnis, wo u. a. die lustige
Wendung sich ergiebt, dass Musette ihren Marcell fragt:
„Wie viel Minuten dauert die Lieb' wohl bei dem
Mann?0 . . . Schaunard aber, seine Points zählend,
hineinruft: ,45!" — u. dgl. Scherze mehr. Auch die
Ensembles sind zumeist wirksam, einige Glanznummern
recht effektvoll herausgearbeitet. Mit dem eigentlich
dichterischen Vermögen sieht es aber nichtsdesto-
weniger windig genug aus — das zeigte sich nament-
lich gegen den Schluss zu, wo die Gestaltung schmählich
zerrinnt, und zuletzt, wenngleich das Bewusstsein für
die poetische Notwendigkeit einer Abänderung des Spital-
elendes bei Murger zu Gunsten der Oper beim Kom-
ponisten vorherrscht, in eine leidige, für diesen Fall
ganz unausstehliche Verquickung von religiöser An-
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Wagneriana. Bd. III.
Wandlung und Traviaten-Elend ausklingt: eine Boheme,
»die Weihwasser statt Blut in den Adern hat*, um mit
Murger selbst wieder zu reden — also eine unmögliche
Boheme. Auch sonst, was eine delikatere Ausarbeitung
der feineren Note jenes Humors anlangt, den man als
»Grazie des Pumps" bezeichnen könnte und der ein
wesentliches Merkmal in Murgers „Zigeunerleben0 nun
einmal bildet (allerdings auch, als esprit und auf einem
differenzierten Verhältnis beruhend, einer Behandlung
durch Musik sich eigentlich schon wieder verschliesst):
auch d a ist der Vergröberungsprozess gegenüber der Unter-
lage kaum zu verkennen. Man brauchte nur manchmal
solche herausgehobene Stellen mit dem Original un-
mittelbar zusammen zu halten, um da und dort alsbald
deutlich wahrzunehmen, dass ein Wesentliches bei
diesem Übertragungsvorgang „futechikato" gegangen ist:
auf Flaschen abgezogen — beim Teufel ist der »Spiritus"!
Der Murger'sche Humor hat hier sozusagen dieselbe
Verwandlung an sich erfahren, wie der bewusste »Herr
Papa" bis zu dem Zeitpunkte, da ihn der leichtlebige
Student als den „ledernen" bezeichnen zu dürfen glaubt
und zum alten Philister-Krempel wirft. Dem Blütenstaub
ist der Duft ausgegangen, just so wie den Blumen Mu-
sette's, die nur so lange prangen, als sie von der Schönen
emsig begossen werden — weil sie denn ein Symbol ihrer
Liebe sein sollen und sie von dieser nicht gerne lassen
möchte. Leoneaval lo hat sich mit dem aufmerksamen
Begiessen dieser poetischen Murger'schen Blumen eben
nicht allzu viele Mühe gegeben, sein Verdeutscher
vollends den Blumentopf noch gar umgeworfen — über
Herrn „Ludwig Hartmann als Übersetzer" Hesse sich
wirklich nachgerade schon ein ganzes Buch schreiben.
Besonderen Genuss bereitet es übrigens immer
wieder auf's Neue, von dem rein stofflichen Inter-
esse auf die reizvolle Murger'sche Vorlage selber zurück-
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Stagione dell' Opera Italiana. 317
zugehen und ihre feingeistige Form mit vollen Zügen
zu schlürfen. Welcher Esprit, welch eminente Psycho-
logie, welch ein subtiler Spürsinn liegt vor uns, wenn
wir es zur Abwechslung versuchen, der üblichen Schul-
leier für höhere Töchter über Shakespeares, Goethes,
Schillers oder Wagners Frauengestalten Murgers Frauen-
gestalten kecklich einmal gegenüber zu stellen! „Ein Wirt,
der ein Franzos will sein, wird nie vor Damen also
schrei'n!" sagt Schaunard in unserer Oper wütend zu
Gaudenzio, dem Inhaber des Cafe Momus. Und in
der That, dem Franzosen muss die beste, artigste und
intimste Kenntnis weiblichen Charakters, das sensibelste
Organ in der Behandlung des Weibes, nach seinen un-
erschöpflichen Differenzierungen des Sexuellen, nach-
gerühmt werden. Er ist's, der das Sprüchwort „Chercliez
Ja femmel" erfunden; er, der für das prickelnd launische,
kapriziös paradoxe Wesen, Weib genannt, die ver-
schiedensten Formeln aufgestellt, den Typus der
Kamelien -Damen, Koketten und Kokotten, Grisetten
und Loretten, armen Löwinnen und Demi- Mondainen,
der Madames sam Gene und der Demie -Vierges , haar-
scharf erfasst, ihn prägnant analysiert und klassisch in
die Litteratur eingeführt hat. Murger, der Dichter des
„Zigeunerlebens" im Pariser Quartier latin, hat da nun
in seiner „Musette" noch eine ganz neue, nicht minder
gut beobachtete Nuance hinzu gefügt. Dieses „Musette"
ist nämlich weit weniger als Eigenname, denn vielmehr
als Gattungsbegriff zu verstehen. Es ist nicht die höhere
„Muse* des Dichters, aber auch nicht die niedere
„Grisette" des Studenten — ein Zwischending eben
zwischen Liebe und Kunst, eine Art von „Atnante*
unter dem Gesichtswinkel der Litteratur, oder von
„Chansonnette" mit der Perspektive einer zarten Liebe.
Niemals wird einem klarer, dass Sittlichkeit etwas auf
verschiedenen Menschheitsstufen ganz Verschiedenes
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Wagneriana. Bd. HI.
sein muss, jede Gesellschaftsklasse ihre eigene, be-
sondere Moral haben kann, als an dem Milieu, wie es
aus Murgers köstlichen Schilderungen hervor geht. Für
diese bohemiem bildet die eigentlichste Unsittlichkeit in
der Welt: das Geld. Während sie selbst die freie
Treue ihrer Mädchen erwarten, bestehen deren Ideale
vornehmlich darin, sich selbst nicht für den schnöden
Mammon zu verkaufen. Es ist ein sehr interessanter
Parallelismus in unserem Drama — die geradezu rührende
Entwicklung: wie das eine der Mädchen, Mimi, dessen
Koketterie der Versuchung nach Seide und Sammt zu-
erst schwach unterlegen, später, gegen das Ende zu,
nach Erfahrungen und Entbehrungen aller Art, durch
Leiden geläutert, zum besseren Selbst seiner ersten
und einzig wahren Liebe zurück kehrt, um in deren
Armen wenigstens zu sterben; die andere (Musette)
hingegen, die treu bleiben will und beim Herzens-
erwählten lange ausharrt, schliesslich, durch Kälte und
Hunger gezwungen, aus leidiger Notdurft den armen
Maler verlässt, während Euphemia von ihrem Musiker mit
Entrüstung davon gejagt und einfach „abgeschafft" wird,
nachdem von ihm wiederholt fremde Photographieen
und Liebesbriefe bei ihr vorgefunden wurden. Diese
Euphemia, die leider keine Euphrosyne ist, — diese
ungebildete Plätterin mit ihren (im Gegensatze zu einer
anderen Plätterin, der politisch -klugen Madame Sans-
Gfine) hochromantischen Anlagen: sie ist zwar das
naivste, aber jedenfalls auch das minderwertigste Glied
dieser „Gesellschaft", indem sie aus ihrem Herzen eine
Kaserne macht . . .
Bezüglich der Musik will ich gerne verständig sein
und zugeben, dass den Italiener von Natur eine beneidens-
werte Spontaneität und die noch unverdorbenste Naivetät
auszeichnet — eine Eigenschaft, die den Kritiker auch der
schmetternden Trompete eines Stimm-Protzen wieTamagno
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Stagione dell' Opera Italiana.
319
seinerzeit nicht ernstlich gram werden lassen konnte.
Diese kritiklose, gleichsam durchgehende Vorliebe für
das Schmetternde spricht sich in Anlage und Bau seiner
melodischen Ausladungen als Nationalerbe mit zwar nicht
minder herzerquickender, aber nicht immer gleich ohren-
erfreuender Offenheit aus; und mit eben dieser Naivetät
schreibt selbst der vornehme und berühmte Italiener
von Ruf dann nur zu oft einen banalen Satz mit schuster-
mässigen Akkorden hin, deren unbekümmerte Anwendung
in deutschen Landen einen mittelmässigen Harmonie-
studenten schon schamrot machen könnte. Anleihen bei
Mozart, Wagner, Chopin, Verdi, Bizet, dann wieder bei
Gounod, Rossini, Meyerbeer, Mascagni und Joh. Strauss
machen diese Melodik zwar scheinbar gewählter, aber
sicherlich nicht wählerischer. Höchstens, dass wir auch
hier — stilvoll — von einer v Grazie des Pumpens"
reden dürften! Wir wollen gewiss nicht in den Fehler
Schumanns verfallen, der an Wagner immer den Mangel der
choralmässig soliden Faktur beanstandete und z. B. an dem
wilden Ortrud-Motiv rügte, dass sich dazu keine Gegen-
stimme kontrapunktieren lasse; dabei aber leider gar nicht
sah, dass gerade diese Wagner'sche Art jenes Element
eines mit sich Fortreissenden, Drastischen an sich hatte,
das jenem zum Dramatiker sein Leben lang eben fehlte.
Wir werden auch in diesem neuen Werke Leoncavallo's
manches .Hinreissende" gar nicht erst leugnen. So viel
aber ist wohl allen Kundigen klar, dass dieses Hin-
reissende noch nicht die innerlich packende Gewalt des
dramatischen Ausdruckes selber ist. Und so wenig
wir dem „Modernen" die Anwendung des einfachen
Reminiszenz -Motives verargen werden — das steht
doch bombenfest, dass sich mit dem systematisch aus-
gebauten „Leitthema" ungleich anständiger in gelegent-
lichen Verlegenheitsfällen erlahmender Phantasie weiter
helfen lässt als mit der unsäglich traurigen Homo-
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Wagneriana. Bd. III.
phonie solcher dürftigen Schusterflecke. Zum Mindesten
kann für uns diese populär so eingängliche Melodiosität
produktiv, für die künstlerische Entwicklung Leoncavallo's,
kein Aufsteigen, sondern nur einen Niedergang bedeuten.
Weit besser als der damit bis zum Überdruss aus-
gepolsterte Schluss des Ganzen, ist der Anfang — bis
zum Ausgange der ersten Hälfte des Werkes, wo leicht-
füssige Rhythmen und pikantere Harmonieen eine das
Interesse momentan erregende, willkommene Würze
verleihen. Ebenso stehen wir keinen Augenblick an
zu konstatieren, dass sich hier in der Anlage wie im
Aufbau lustiger Gegenspiele wie komplizierter En-
sembles — immer unter dem Gesichtspunkte der nun
einmal beliebten homophonen Schreibweise des Kom-
ponisten — ein nicht zu unterschätzendes Geschick,
eine kundige Hand und ein ausgezeichneter Blick für
breitere Massenwirkungen verrät. Und wenn man nicht
gerade über die „Premiere" mit strengstem Gewissen
mehr zu urteilen hat, sich sozusagen etwas bequemer
gehen lassen darf, so seh' ich selbst nicht ein, warum
man sich an diesen ersten beiden Akten, ihren lebendigen
Kontrasten, den mancherlei geistvollen Pointen und
dankbaren Nummern nicht gelegentlich ganz gut auch
soll amüsieren können. Aber freilich, schon gegen den
Schluss des zweiten hin steht's mit der musikalischen
Erfindung ernstlich böse. Die grosse Zigeuner-Hymne
vollends bedeutet da eine gröbliche Entgleisung; denn
das ist nicht mehr übermütig geniale Dithyrambik, nicht
Burleske mehr, noch Groteskerie — das ist einfach
Faschingsauskehr bis zur Erschöpfung tonkünstlerischer
Phantasie, die wahrlich derb zerzaust aus der nach-
folgenden Prügelszene hervor geht und einen schlimmen
Katzenjammer — beim Zuhörer hinterlässt. Jenes
dionysisch-orgiastische Lebenselement der Boheme, das
gelegentlich sogar den höheren Blödsinn als eine ernste
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Stagione dell' Opera Italiana. 321
Sache hervor bringt, hat hier zu einer so operetten-
unter massigen Nummer geführt, dass der Spass auf-
hört und der Zuschauer Schaunards Umfallen symbolisch
als Signal auch für sich selbst auffassen muss — das
„Lumpengesindel 41 -Spektakelstück hat uns denn in derThat
umgeworfen! Wir kannten dereinst einen weisen Mann,
der sprach gerne von „komplizierten Ohren". Er meinte
damit diejenigen, welche die Eigenart haben, dichter
gewobene, dickflüssige Melodik gerade besser und feiner
hören zu können als dünne und durchsichtige; wohin-
gegen es in diesen seinen Organen, wie er behauptete,
bei fadenscheiniger Homophonie immer laut „klatsche".
Demnach muss ich vermutlich sehr komplizierte Ohren
haben, denn ich hörte es unter der Aufführung schier
unaufhörlich „klatschen" — und zwar nicht allein das
„hoch verehrliche Publikum" . . .
Schon wieder also hat die Hamburger Opernbühne
für ein fremdländisch Werk die Kastanien aus dem
Feuer geholt. Wir fürchten aber doch sehr, sie hat
sich einigermassen die Finger dabei verbrannt. Denn
so rauschend wohl der Erfolg der Neuheit sich äusser-
lich gestaltete, ernste Musiker dürften nach Alledem
kaum von den musikalischen Fortschritten Leon-
eaval lo's durch diesen Abend überzeugt worden sein.
Der Komponist, der ein „Leon" — selbst in den
„Bajazzi" — gewiss niemals gewesen und heute schon
als ein recht lahmes „Cavallo" sich darstellt, ist mittler-
weile mit seiner Melodik sogar ein wenig „auf den Hund"
gekommen; zum Mindesten bedeutet diese neuerliche
Attacke der „Leoncavallerie" keinen „Löwenritt". Das
eine Gute nur hat die Sache an sich: wenn der
Maestro so weiter wirtschaftet, werden wir mit dem
„Roland von Berlin14, der weniger der rasende sein,
als andere Leute wahrscheinlich rasend machen würde,
zweifellos dauernd verschont bleiben. Oder sollte die
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 21
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Wagneriana. Bd. III.
Art von homophoner Melodik, die er zur Zeit mit be-
sonderer Vorliebe pflegt, just als die „hoffähige- sich
heraus stellen? Aber selbst wenn ein mehr rasierter
als rasender „Roland von Berlin" künftig diesen müden
Theatergaul noch besteigen und mit ihm durch die
Wüste veristischer Deklamation auf Flügeln trompetenden
Gesanges dereinst einmal einher klappern sollte — ein
Pegasus wird aus solcher flügellahmen Rosinante nimmer-
mehr werden, und „schön" ist eben anders, dafern wir
es „deutsch und echt" fassen wollen. Punktum und
Streusand drauf — was in diesem Fall ungefähr heissen
mag: „Schwamm drüber** über diesen Schwammerling!
3. Alberto Gentiii: „Weihnachten".
<1900)
Es handelt sich hier nicht etwa um eine Mailänder oder
Turiner, sondern merkwürdigerweise um eine Münchner
„Premiere", deren ich hier kurz noch gedenken möchte:
„Weihnachten", einaktige Oper nach dem Schauspiel:
„On die de NaUü" des E. Richetti von Alberto Gentiii.
Dieser zur Abwechslung in der bayrischen Residenz
lebende und hier auch einer kgl. hoftheaterlichen Ur-
Aufführung gewürdigte genttluamo — kein Mensch
kennt ihn sonst — dürfte einer jener Salon- Wagnerianer
des glatten Parkettes sein, wie sie gerade hier zu Lande
zu Dutzenden gedeihen, gleich schockweise herumlaufen
und schon aus gutem Ton, nobler Passion und alter
Tradition gelegentlich recht geschickt zu instrumentieren
verstehen. Dramatische Ansätze sind ja auch wohl vor-
handen — im Orchester, nicht aber in der Gesangs-
melodie auf der Bühne droben, und so fehlt wieder-
holentlich recht merkbar eben das Fleisch zum Gerippe, trotz
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Stagione delP Opera Italiana.
323
allen guten Klangsinnes im Chor- oder Orchestersatze.
Obendrein steht unser maestro zu seinen Landsleuten:
Mascagni — Leoneaval lo — Puccini — Spinelli so etwa
wie „Violinen con sordinim zu offenen Trompetenstössen
und vollen, brausenden Posaunenklängen; alles ist in
eitel Sentimentalität bei ihm getaucht, trieft ordentlich
von Weichmütigkeit und Rührseligkeit in seiner, eher
stockenden als „unendlichen", Melodie: die gute alte,
echt italienische Kantilene scheint wirklich zu ihren
Vätern versammelt I So sind sie denn nicht mehr
ordentliche Italiener und wiederum keine vollen Deut-
schen, und uns armen Kritikmännern bleibt der zweifel-
hafte Genuss, mit diesem Hermaphroditismus — nicht
Fisch nicht Fleisch, nicht warm nicht kalt, nicht Für
noch Wider — uns je nach Anlage, so gut es eben gehen
will, abzufinden.
Ob diese nirgends anderswo bereits gegebene Oper
in der grossen Wagnerstadt übrigens wohl daran ge-
kommen wäre, wenn sie nicht starker Protektion eines
auch-komponierenden liebenswürdigen Prinzen sich zu
erfreuen gehabt hätte? Dass solche hohe Herren doch
endlich einsehen oder wenigstens empfinden möchten,
welch' schlimmen Dienst sie damit ihren Schützlingen
zumeist erweisen! Manchmal kann dergleichen zufälliger
Weise ja doch auch einmal etwas Gutes und künstlerisch
Wertvolles treffen; denn selbst Siegm. von Hauseggers
Oper „Zinnober" soll dereinst ja diesem Schicksale (dass
sich nämlich ein hoch geborener Dilettant für die Auf-
führung besonders verwandte) nicht entgangen sein.
Nur unwillig gehorcht aber dann der Intendant, knurrend
gleichsam, wie der Hund an der Kette, folgen Dirigent und
die dazu befohlene Künstlerschar dem „höheren Winke",
und nach zwei bis höchstens drei Abonnement- und
Anstands- Aufführungen wird das Werk alsbald wieder
ad acta gelegt, das sonst, wenn es sich nur hätte be-
21*
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324
Wagneriana. Bd. III
scheiden und seine Zeit trotzig erwarten wollen, viel-
leicht weit mehr Vorführungen im Ganzen gesehen und
erlebt haben würde. — Nun, bei unserer „Weihnachts-
oper" brauchen wir allerdings wohl keinerlei Besorgnisse
dieser Art weiter zu hegen. Genau so, wie gewisse
christlich-kindliche Weihnachts-Feuilletons dies zu thun
pflegen, welche den warmen, leuchtenden Schein der
Weihnachtskerzen so gerne zur „Scheinheiligkeit" miss-
brauchen, hinterliess auch diese überaus edle Christbaum-
geschichte in Musiknoten keinen irgendwie tieferen
Eindruck auf die musikdramatische Weltgeschichte.
Und als vernünftigen Ersatz für das übliche „Weihnachts-
märchen" der Kinder kann es, ungeachtet seiner leichten
Reminiszenzen (gelegentlich) an „Hänsel und Gretel",
nun schon ganz und gar nicht in Betracht kommen. Denn
jedenfalls ginge ihre Tendenz als „moralische Jugend-
erzählung" allein schon deshalb nicht gut für uns an, weil
ja eine Verführungs-Vorgeschichte im Mittelpunkte der
ganzen Handlung steht, und zwar eine solche an der
ältesten Tochter des Hauses, die natürlich just am
heiligen Abende (da die kurz vorher noch so heftig
fluchenden, unerbittlich-strenge zürnenden und hartnäckig
verstossenden Menschen aus thränenfeuchter Choral-
stimmung heraus Alle ohne Ausnahme mit einem Male
so brav, weichherzig und gut werden) vom eigenen
Vater auch endlich wieder in's Haus aufgenommen
wird. Verziehen und — vergessen: das ist des Sängers
Fluch ! . . .
Vielleicht hätte ich also lieber auch hier verzeihen
und — vergessen, d. h. an dieser Stelle völlig davon
schweigen sollen. Allein, der Fall war typisch: zu
charakteristisch für das ganze Thema „Richard Wagner
und das Ausland", und für unseren Münchner Herrn
Intendanten.
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Giuseppe Verdi in deutscher Beurteilung
(1901)
.Ein Vivat!" (Falstaff; III, 2.)
Wieder ein „Säkularmensch" dahin gegangen, einer
von denen» die des verflossenen Jahrhunderts Zierde
gewesen sind und des Lebens vollstes Mass in ihrer
Person erschöpft wie ausgekostet haben! Ist es etwa
gar auf Grund der politischen „Tripel- Allianz", unserer
so angenehmen, freundschaftlichen Beziehungen zum
italienischen Staate, dass heute auch wir Deutsche nicht
mehr anstehen, dem Heimgange dieses Ausländers,
dieses charakteristischen Repräsentanten seines zu
politischer Selbständigkeit erwachten, zum Anschlüsse an
Deutschland-Österreich reif gewordenen Landes, unsere
Trauer und Ehrfurcht zu bezeugen? Oder wie kam es
wohl, dass selbst Deutsche diesen Hingang nun als
schmerzlichen Verlust empfinden und dem jüngst Ver-
blichenen Lorbeer und Palme auch ihrerseits aufs frische
Grab legen? — Deutsche, die seiner Meisterpersönlichkeit
zwar sicherlich allseitig die aufrichtigste und tiefste Wert-
schätzung entgegen bringen, auch dem bedeutenden Ab-
schlüsse seiner künstlerischen Laufbahn den wärmsten
Dank widmen dürfen, aber seinem Tagewerke doch nicht
gerade ein nationales Verständnis zu bieten hatten, noch
vielleicht ihm innigere Liebe je zu weihen vermochten.
Ja, wie geschah dies nur? . . .
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326
Wagneriana. Bd. III.
„Und wälschen Dunst mit wälschcm Tand
Sie pflanzen uns in's deutsche Land!" —
Wenn Wagner seinen Hans Sachs in den „ Meister-
singern" so reden lässt, so ist nach Lage der damaligen
Verhältnisse ohne Weiteres anzunehmen, dass er mit
diesem Worte, ausser allenfalls noch Rossini's „Teil"
und Gounods „Margarethe", den ganzen Meyerbeer
und den Verdi (zum Mindesten bis 1865) gemeint habe.
Hiess es doch noch zu Anfang der siebziger Jahre bei
Wagner deutlich genug: „Hörten Goethe und Schiller,
wie sie zu ihrer Zeit durch Aufführungen der ,Iphi-
genia' und des ,Don Juan' zu ungemeinen Hoffnungen
angeregt wurden, jetzt solch eine «Propheten'- und
,Trovatore'-Aufführung unserer Tage, so würden sie
über den früheren Eindruck als einen jetzt schnell zu
berichtigenden Irrtum jedenfalls verwunderlich lachen
müssen.41 Und hatte es doch schon um ein Lustrum
früher bei ihm gelautet: „Der Erfolg der Zusammen-
fassung der geistigen Kräfte unserer Künstler auf einen
Styl und auf eine Aufgabe (bei den Bayreuther Fest-
spielen nämlich) ist allein schon nicht hoch genug an-
zuschlagen, wenn man erwägt, wie wenig Erfolg von
solchem Studium unter den gewöhnlichen Verhältnissen
zu erwarten wäre, wo z. B. derselbe Sänger, der Abends
zuvor in einer schlecht übersetzten Oper sang, Tags
darauf den Wotan oder Siegfried einüben soll. Mit
bitterem Groll vernahm Ludwig Schnorr während der
,Tristan'-Aufführungen in München die aus Dresden ihm
zukommenden drängenden Aufforderungen, an einem
bestimmten Tage zur Probe von Troubadour oder Huge-
notten zurück zu kehren."
Aber auch Hans von Bülow, der doch 1852
bereits (in einer Weimarer Besprechung des „Ernani")
„den Melodieenreichtum Verdi's" klaren Auges sieht
und ebenda „sein starkes theatralisches Talent" mit
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Giuseppe Verdi in deutscher Beurteilung. 327
warmen Worten anerkennt; der weiterhin (1858) „Bühnen-
gewandtheit und Verve" als die Punkte bezeichnet, in
„welchen nur ein engherziger deutscher Philister dem
unleugbaren Talente oder Temperamente Verdi's zu
nahe treten kann4* — und der endlich 20 Jahre später
den Meister „wie in seiner früheren Rohheit, so selbst
in seiner gegenwärtigen Verzwicktheit denn doch einen
anderen Kerl0 als Ambroise Thomas, den Komponisten
der „Hamlet"-Oper, nennt: auch dieser Bülow zieht
immer wieder Vergleiche zwischen Meyerbeer und
Verdi, spricht bei dem italienischen Opernschöpfer
vom „Attila der Kehlen", scheint selbst noch im
„Ai da" -Werke, nach der damaligen mächtigen Reklame
dafür, etwas wie Meyerbeer'schen „Propheten "-Taumel
zu wittern und ergeht sich 1874 über das Verdi'sche
„Manzoni-Requiem" mit kritischen Ausfällen, wie den
folgenden: „Das zweite Ereignis wird die morgen Vor-
mittags in der hierfür theatralisch hergerichteten Kirche
San Marco vom Autor, Senator Giuseppe Verdi, ausnahms-
weise selbst geleitete Monstre- Aufführung seines . . .
Requiems sein, mit welchem der allgewaltige Verderber
des italienischen Kunstgeschmackes — und Beherrscher
dieses von ihm verdorbenen — vermutlich den letzten,
seinem Ehrgeiz unbequemen Rest von Rossini's Un-
sterblichkeit hinweg zu räumen hofft . . . Seine neueste
Oper im Kirchengewande wird, nach dem ersten Schein-
kompliment an das Andenken des gefeierten Dichters
zunächst drei Abende hindurch in der Scala den Händen
des weltlichen Enthusiasmus überantwortet werden,
worauf dann unverzüglich in Begleitung der von ihm
eigens dressierten Solosänger die Wanderung nach Paris,
zur Krönung des Werkes in diesem ästhetischen Rom
der Italiener, angetreten werden soll. Verstohlene Ein-
blicke in die neueste Offenbarung des Komponisten
von Trovatore und Traviata haben uns nicht eben
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328 Wagneriana. Bd. III.
lüstern nach dem Genüsse dieses Jestiral1 gemacht, ob-
wohl wir dem Maestro das Zeugnis nicht versagen
können, dass er sirh's diesmal hat weidlich sauer werden
lassen. So ist u. A. di*» Schlussfuge, trotz vieler Schüler-
haftigkeiten, Abgeschmacktheiten und Hässlick weiten, eine
so fleissige Arbeit, dass manener deutsche Musiker eine
grosse Überraschung davon erleben wird. Im All-
gemeinen herrscht aber der Stil seiner neuesten
Periode, wie ihn Berlin und Wien durch die ATda
kennen gelernt haben, vor: jener Stil, über den ein
witziger Gesangslehrer an der Donau äusserte, dass
derselbe sich sehr zu seinem Nachteil verbessert habe" . . .
Wiederum von einem Meister wie Johannes
B r a h m s erfahren wir aus J. V. Widmann's gehaltvollen
„Erinnerungen«, dass in Italien „die Opernaufführungen
für ihn wenig Lockendes gehabt hätten, obschon er für
den Meister Verdi grosse persönliche Achtung hegte,
ihn als einen prächtigen Vollblutmusiker mit warmen
Worten pries und sich u. A. freute, dass Verdi in
seinen Lebensgewohnheiten . . . ihm selbst so ähnlich
sei" u. s. w. Und im 86. Neujahrsheft der „Musik-
gesellschaft in Zürich" wird von A. Steiner, als von
Dr. Fried r. Hegar mitgeteilt, folgende Anekdote berichtet:
„Als Bülow im Jahre 1874 sich mit Geringschätzung
über das Requiem von Verdi geäussert hatte, ging
Brahms in die Musikalienhandlung von Hug in Zürich,
Hess sich den Klavierauszug geben und las ihn durch.
Als er fertig war, sagte er: ,Bülow hat sich unsterblich
blamiert, so etwas kann nur ein Genie schreiben*." —
Hans von Bülow aber hat sich damit nicht unsterblich
blamiert. Er war damals — ezempla trahunt! — nur eben
in seinem Urteile noch nicht so weit gediehen und hatte
im Übrigen ausdrücklich ja die meisterliche Schluss-
fuge und die darin für deutsche Musiker zu erlebende
Überraschung bedeutsam hervor gehoben. Zudem er-
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Giuseppe Verdi in deutscher Beurteilung.
329
wähnt eine Vorbemerkung des Herausgebers seiner
Schriften an entsprechender Stelle (S. 307 ff.) noch be-
sonders, dass Bülows „Gerechtigkeitsgefühl nach dem
Erscheinen von Verdi's letzten Werken eine Zurück-
nahme des allzu verneinenden Urteils von ehedem ge-
fordert habe". Diese feierliche Zurücknahme erfolgte
denn auch in einem interessanten Briefe an Verdi
selbst, der mir zwar leider im Augenblicke nicht zu-
gänglich ist, der aber — so viel weiss ich davon —
weit anders gelautet, eine ganz andere Tonart alsdann
angeschlagen hat, wie noch Oktober 1877 jene Stelle
eines Musikbriefes seiner Feder aus Brüssel, worin er
schrieb: „Auch hat niemals meine Pietät für Shakespeare
mich gereizt, den Herren Verdi und Taubert z. B.
aus der Übertragung des ,Macbeth* auf Notenpapier ein
Verbrechen zu machen, wenn ich auch finden musste,
dass Nicolai in seinen »Lustigen Weibern von Windsor4
dem grossen Briten eine bessere Ehre erwiesen hat."
Sogar noch 1882 hatte es ironisch von Verdi'schen
„Zauberklängen« bei ihm geheissen. —
Mit vollster Absicht habe ich alle diese Anführungen
aus Wagner und Bülow, über Bülow und Brahms hier
gegeben. Sie bezeichnen klar die Grundlinie, den Typ
der Entwicklung des Urteiles über Verdi im musikalischen
Deutschland, bis zuletzt selbst auch der „fortgeschrittenste"
Wagner -Jünger, und zwar dieser noch weit eher als
der konservative Wagnerianer, bezwungen, dem idealen
Ausklange dieses reich gesegneten Lebens seine Reverenz
nicht mehr vorenthalten konnte. In der That, noch die
„Aida" hatte in uns Allen den starken Verdacht der
Effekthascherei erweckt, so sehr sie uns auch in ihrem
gehaltvoll-vornehmen Wesen, wie durch die Abgeklärtheit
ihrer geläuterten Formen lebhafter bereits interessierte.
Indes, das aufdringlich Dekorative einer mehr äusser-
lichen „Meiningerei« und die, von G. Ebers sich her
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330
Wagneriana. Bd. III.
datierende, ägyptisch-archaistische Strömung in unserer
so genannten deutschen „Bildung" — diese Moden waren
ihr bei unserem Theater-Schaupöbel damals wohl sehr
zu Hilfe gekommen. Beim „Requiem" vermissten wir
zwar stark den kirchlichen Ton, wurden aber doch mit
Hans von Bülow über so manches, bei und an Verdi
Unerwartete rechtschaffen stutzig; auf der Tonkünstler-
versammlung zu Sondershausen 1886, anlässlich der
Vorführung des wertvollen „Streichquartettes", steckten
wir gar schon ernsthaft die Köpfe zusammen. Mochte
nun vielleicht der Eine und der Andere von uns durch
irgend eine Wiener oder Dresdener Aufführung auch
einer älteren Oper Verdi's (z. B. unter dem geist-
sprühenden, temperamentvoll prickelnden Schuch) ge-
legentlich eine Ahnung davon bekommen haben, was es
mit dem „dramatischen Nerv" und „frischen Theaterblut*
bei diesem italienischen Opernklassiker der Neuzeit auf
sich habe, und dass man seiner arg geschmähten „trivialen
Melodik" nicht etwa mit unserem Geschmacke, nach
germanischem Empfinden, sondern eben mit südlicher Be-
seelung und leidenschaftlicher Belebung, in mehr roma-
nischer Darstellung zuletzt, beikommen müsse — trotzdem
gab man sich vorerst nur mit äusserster Reserve dem Ein-
drucke auch seines „Othello" hin, beinahe wider Willen
gewann man sich selbst noch diesem Werke gegen-
über die schuldige Hochachtung ab. Und hatte man's dann
endlich zu einer solchen in gebührendem Masse ge-
gebracht — nun, so begriff man noch immer schlechter-
dings gar nicht, was denn wohl das von so vielen Seiten
übereinstimmend betonte „Wagnerische" in dieser Neuheit
sein sollte, obwohl bei uns in Deutschland doch zugleich
erste Wagner-Sänger (wie z. B. Heinrich Vogl) die Titel-
rolle glänzend vertraten. Erst mit dem köstlichen „Falstaff"
waren alle Herzen dauernd, dann aber auch im Sturme
gewonnen — der Mensch Verdi, der überlegene
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Giuseppe Verdi in deutscher Beurteilung. 331
„Meister", der grosse Humorist des Lebens, der sich
vom .Patrioten" zum Kosmopoliten, vom revolutionären
Tyrtäus seines Volkes zum „guten Europäer" mittler-
weile entwickelt, er hatte es uns mit einem Male an-
gethanl Während denn viele andere Meister der Musik-
geschichte — der Himmel bewahre uns davor, auf das
allbekannte: „Jeune cocotte — vieiüe bigotte!* hierbei an-
spielen zu wollen — während sie, wie z. B. Hayd'n,
Mozart und Beethoven, Wagner, Liszt, Ritter, Brahms,
Bruckner u. A., mit tief-religiösen Schöpfungen, zum Teil
in hohem Greisenalter, vom Leben ernst Abschied
nahmen, schien dieser ewig junge, unverwüstlich frische,
ja „immergrüne" Verdi mit einem „Alles ist Spass auf
Erden! . . . Lauter Gefoppte!" . . . hoch betagt, an seines
Lebens Scheide, sich über dieses Leben selbst noch zu
belustigen, schien er in höchster Weisheit eines
biblischen Alters, völlig ungebrochen, sich über diese
Welt frei noch hinaus zu schwingen.
Auch er hat ja schliesslich seine eigenen „Vier
ernsten Gesänge" einer heiligen Betrachtung der Dinge
noch geschrieben. Aber wirklich, jener „Falstaff"-Schluss
damals — er war nicht mehr nur ein beliebiges
„Libretto", er war sogar auch mehr als nur die ge-
schickte Neu- und Wiederdichtung eines Standard voork
der Weltliteratur: das klang schon wie „Weltanschauung"
eines Höhen-Menschen — und wie „klang" es noch dazu
aus der unvergleichlichen Partitur dieses cJief-d'oeuvre
heraus, in sprudelnder Laune, der gesamten zivilisierten
Menschheit entgegen! Mit einem Blick übersah man
nun auf einmal — retrospektive — an diesem seltenen
Talent die ganze Vernunft seines Werdeganges. Jetzt
entdeckte man auch den gewissenhaften Ernst bei diesem
Dramatiker, dessen Ausdruck sich vom national auf-
lodernden Gefühle zu einem höheren Weltempfinden er-
weitert hatte, und der in anhaltender Selbstvervollkomm-
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332
Wagneriana. Bd. III.
nung aus einem Künstler des unfehlbaren Instinktes
zum Vollreifen Meister edelsten, sublimiertesten Kunst-
verstandes allmählich geworden war. „In holder Jugend-
zeit, wenn uns von mächt'gen Trieben zum sel'gen
ersten Lieben die Brust sich schwellet hoch und weit:
ein schönes Lied zu singen, mocht* Vielen da ge-
lingen — des Lebens Lenz, der sang für sie. Kam
Sommer, Herbst und Winterszeit, viel Not und Sorg*
im Leben, manch* ehlich Glück daneben, Volks wähl,
Geschäfte, Zwist und Streit; denen's dann noch will
gelingen, ein schönes Lied zu singen — seht, Meister
nennt man die."
In der That, das war ja eine Exemplifikation auf
jenes Wagnerwort selber aus den „ Meistersingern". Hier
war einem R. Wagner durch den „Wälschen" selbst
genug geschehen — nun konnte sich sogar auch der
„Wagnerianer" hübsch beruhigen! Und jetzt vollends
sah man zugleich — ja musste sogar mit Händen nach-
gerade greifen — die umfassende tiefe Bildung dieses
ausgezeichneten Geistes; erkannte man auf einmal seine,
in der Vorliebe sowohl für germanische Stoffwelten,
wie auch für französische und spanische Litteratur lange
schon vorschlagenden, „weltliterarischen" Neigungen.
Nunmehr nahm man bewundernd die klare Linie der
Entwicklung wahr, in welcher er vom Wortführer seines
Volkes in den Zeiten der Not und der Drangsal, konse-
quent über die beiden Pariser Weltausstellungen (1855
und 1867) hinweg, über Aufführungen zu Wien, Berlin,
London, St. Petersburg, Spanien, Kairo und Amerika
hinaus, zum Spruchsprecher einer ganzen „modernen"
Welt sich gebildet hatte. Ja, was sage ich? Noch weit
mehr! Dieses unsagbar heitere: „Doch besser, fürwahr,
lacht keiner, als wer am Ende lacht!" — es hat nicht
nur schon damals gegen den „Verismo" stürmenden
und drängenden Jung-Italiens", als Kunstideal, wacker
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Giuseppe Verdi in deutscher Beurteilung.
333
Stand gehalten, es hat sich sogar bis in die allerletzten
Tage hinein, den Mascagni'schen „MascJiere" gegenüber,
als Lebensmotto des Alten durchaus noch bewähren sollen.
Und warum? Weil dieses „heilige" Lachen den Ernst
eines ganzen Lebens zugleich mit in sich be-
greift, wo jenes die Lächerlichkeit des Daseins zur
„ maskierten" Grimasse eines grimmigen Ernstes gerade
verzerrt, oder aber die Daseinstragödie ohne alles be-
freiende Lachen in die Bajazzo-Fratze einer Schein-
komödie kleidet. Ein wilder Seelenschmerz, das „am
Leben leiden" ist vielleicht noch jener Beiden (Mascagni —
Leoncavallo) bestes Teil, wo Dieser in ruhiger Heiterkeit
eben „zuletzt am besten lacht". Denn: unter Krämpfen
und Krisen lachen und noch im Anblicke des Todes
tanzen — das hatte der Weise, Alte (mit „Einen Tag
König", „Rigoletto" und „Maskenball") bereits längst
und weit hinter, richtiger sogar noch: unter sich . . .
War Verdi nun ein Genie zu nennen? Wurde er
doch schliesslich „Wagnerianer"? Was geht das uns
an! Für uns ist und bleibt dieser wahrhaft denkwürdige
Eklektiker vielmehr immer von Neuem wieder eines
der liebenswürdigsten Probleme „übernationaler" Welt-
schau! „Für die Volks-Überlieferung endet Giuseppe
Verdi mit der ATda" ... so sagt Gino Monaldi etwas
wehmütig, in seinem interessanten (von L. Holthof in's
Deutsche übertragenen) Buche über ihn, welcher Publi-
kation an dieser Stelle auch noch die im Verlage der
„Harmonie" (Berlin) unlängst erschienene, allerneueste
(illustrierte) Verdi -Monographie von seinem Lands-
manne C. P e r i n e 1 1 o wohl an die Seite zu setzen, doch
leider nicht gleichwertig zu erachten ist. Das, was
Monaldi, und mit ihm also auch Perinello, da zu be-
klagen scheinen, mag im Ganzen ja gewiss richtig sein.
Doch abermals gesagt: Was kann es uns kümmern?
'Wie schon in früheren Zeiten der Toast auf Verdi mit
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Wagneriana. Bd. III.
dem Rufe für das Wohlergehen seines Vaterlandes in
Eins zusammen klang, so auch grüssen wir heute mit
aller Auszeichnung den grossen, originellen Toten und
entbieten gleichzeitig noch dem schönen, verbündeten
Lande unsere wärmsten Wünsche, indem wir Angesichts
des offenen Grabes nunmehr auch unsere deutschen
Stimmen vereinigen zu dem Spruche: „In seines Verdi
Unsterblichkeit mag Italien auf- und fortleben, mag es
sich im grossen Weltkonzerte seines Eigenlebens
freuen!"
Viva Verdi! Viva l'Italia!
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Bayreuth und Draussen
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Die Pflege des Erbes
1. Das zehnjährige Jubiläum der Festspiele
und die deutsche Presse
(1886)
Wenn ich hiervon der „Presse" schlechthin spreche,
so muss ich gleich zum Voraus bemerken, dass ich da-
mit nur diejenige Presse meine, welche als leitende, den
Ton angebende, einem grossen Publikum ihre Meinungen
und Urteile gleichsam aufnötigt und auf ganze Volks-
schichten, ja selbst auf die Kreise der Gebildetsten
— leider! muss man schon sagen — einen ausser-
ordentlichen geistigen Einfluss ausübt. Es muss mir
also hier vor Allem darauf ankommen, der politischen
„Presse** ein wenig auf den Zahn zu fühlen, die sich
ja in neuerer Zeit vielfach zur Gewohnheit gemacht hat,
auch in Kunstdingen partout ein entscheidend Wort
mitsprechen zu wollen; wobei denn nur zu oft die trost-
lose Erscheinung auftritt, dass die politische Färbung,
die Parteitendenz des Blattes, auch den ästhetischen und
litterarischen Teil unter dem Striche durchaus be-
herrscht*) und sich auch auf diesem Gebiete mit der
selben Arroganz und dem selben klubartigen Terroris-
•) Sehr stark tritt dies z. B. bei den Zeitschriften: „Die
Nation" und „Konservative Monatsschrift" hervor.
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 22
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338 Wagneriana. Bd. III.
mus breit macht, wie dies in allen politischen Fragen
nun einmal parlamentarischer Abusus geworden zu sein
scheint. Nächst dieser mag uns — aber nur in ent-
sprechend geringerem Masse — auch noch die rein
litterarische Presse, insoweit sie sich in „ Wochen-
schriften" etc. äussert und einem allgemeineren
Leserkreise zugänglich ist, ein wenig näher beschäftigen.
Doch mache ich in allen diesen Dingen nicht den ge-
ringsten Anspruch auf Vollständigkeit, wie ich denn
überhaupt nur das Typische, besonders Charak-
teristische hier heraus greifen will. Am Ende nun gar
auch sämtliche Musik- Zeitschriften und musikalische
Fachblätter im Nachfolgenden Revue passieren zu lassen,
darauf kann ich schon deshalb verzichten, weil sie
einmal einen weit beschränkteren Abonnentenkreis,
und dann an sich schon die Pflicht haben, die Bay-
reuther Festspiele zu berücksichtigen, also auch über
diese selbst Sonder-Berichte zu bringen. Denn, wenn der
Abonnent einer Musikzeitung nicht einmal den Vorteil
hätte, Direktes und Genaueres über Bayreuth zu hören
— wer sollte ihn denn haben?
Den Defiliermarsch jener politischen Presse aber,
in ihren Äusserungen über die Bühnen festspiele, ab-
zunehmen — das ist ein Unterfangen, welches immer
höchst gemischte Gefühle im Gefolge haben muss. Er-
kennen wir auch, wenn wir z. B. die „Times" oder die
„Neue Freie Presse" aus der Zeit der Judenbroschüre
Wagners zur Hand nehmen und mit dem Blatte von
heute vergleichen, dass wir gottlob um einen beträcht-
lichen Schritt weiter gekommen sind, ja, dass geradezu
ein Umschwung in den Anschauungen und Verhältnissen
gegen damals vorliegt (und das mag ja immerhin ein
gelinder Trost für uns sein) — so finden wir doch
auch heute noch, im Jahre des Heiles 1886, „Press-
bengelpolitik" (oder — wie der weil, bayer. Kriegs-
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Die Pflege des Erbes.
339
minister v. Maillinger in einer Kammerrede einmal
meinte: „Pressbanditentum") auch in künstlerischen
Fragen, neben warmer Anerkennung und Bewunderung
der Wagner' sehen Kunstrichtung; ausserordentlich Be-
trübendes neben herzlich Erfreuendem.
Am vorteilhaftesten nach dieser Hinsicht gehaben
sich im Allgemeinen die süddeutschen, speziell bayeri-
schen Blätter, wiewohl es selbst hier den Anschein hat,
als sei mit dem Regentenwechsel auch eine „loyale"
Kurswendung eingetreten (ein Symptom dafür ist mir
neuerdings der Artikel „München und die Regentschaft44
von A. v. Mensi in der „Nation"), die vielleicht im
letzten Grunde sogar einen Rückschlag auf die Ver-
hältnisse des Münchener Hof-Theaters herbei zu führen
vermöchte. Geradezu unglaublich — um dies wenigstens
hier zu streifen — ist aber, was seinerzeit, beim Tode
des edlen Schirmherrn Wagnerischer Kunst von einer
gewissen Münchener und überhaupt bayerischen Presse
— allen voran dem bekannten Sigl'schen „Vaterland" —
an Ausfällen gegen Wagner und sein Schaffen geleistet
werden konnte, wovon sich nur der einen richtigen
Begriff machen dürfte, der einmal einige solcher scham-
losen Winkel-Offenbarungen zur Hand gehabt hat. Es ist
ein sehr sprechendes Symptom für die damals unsere ge-
samte Presse, gleichviel welcher Färbung, verwirrende
Bewegung, dass selbst die bekannte „Allg. Zeitung" in
ihren Leitartikeln über den Tod des Königs von An-
klagen und unbegründeten Vorwürfen sich noch nicht
ganz frei halten zu dürfen vermeinte.
Dass übrigens eben dieses Blatt, welches früher,
namentlich während der Münchener Periode des Meisters,
an Gehässigkeit gegen den Günstling des Königs alles
Erdenkliche produzierte, in jüngerer Zeit seine Spalten
einer milderen Anschauung und gerechteren Beurteilung
geöffnet hat, das kann man aus der No. 230 vom
22»
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340
Wagneriana. Bd. III.
20. August laufenden Jahrganges ersehen,*) welche einen
Leitartikel über „Die Bedeutung Richard Wagners"
bringt, der sich den Festspielen gegenüber in durch-
aus sympathischem Sinne äussert (»Wir stehen nicht
an, die Wiederholung der Festspiele in Bayreuth mit
Freude zu begrüssen" — beginnt dieser Aufsatz!), zwar
den „Philosophen* Wagner etwas verkleinern und
ihm nur das Verdienst der „Bearbeitung", nicht auch das
der Um- und Neudichtung der alten Sagen lassen
möchte, auch dafür hält, dass man sich nicht weniger
bei Wagner, wie „sonst bei Opern" (!), „über manche
logische und psychologische Unmöglichkeiten hinweg
setzen müsse, und zudem einige UnVollständigkeiten in
der Kenntnis der französischen Wagner- Litteratur auf-
weist, allein im Grossen und Ganzen doch das be-
deutende Kunstereignis der Bayreuther Festspiele in
durchaus würdiger Weise kommentiert. Aber freilich,
es ist das nur ein der Redaktion eingesandter Artikel,
der also spricht; in der Redaktion selbst ist es wohl
auch heute noch mit der Wagner-Begeisterung nicht allzu
weit vorgeschritten. Hatte diese Redaktion doch noch
in der zweiten Beilage der No. 171 vom gleichen Jahr-
gange schreiben können: dass „die NichtSistierung der
Festspiele im Hinblick auf den Tod des hohen Pro-
*) Vor Kurzem hat die wissenschaftliche Beilage sogar
eine sehr günstige Besprechung des Kürschner'schen „Wagner-
Jahrbuches" gebracht, und zwar aus der Feder des Münchener
Privatdozenten Dr. Franz Muncker, eines Mitarbeiters am Jahr-
buche selbst und Herausgebers der „Rede Wagners": des ersten
Dozenten zugleich nach Prof. Ludwig Nohl (in Heidelberg), der „ex
cathedra" über R. Wagners Werke und Schriften ein Kolleg zu
lesen wagte. Später folgten v. Stein, Thode, Golther, v. Haus-
egger, Höfler, Prüfer, Wallaschek, von Ehrenfels, Sandberger U.A.,
während Prof. R. Falckenberg seinerseits mutig das Odium auf
sich nahm, Wagner in seiner „Geschichte der Philosophie" die
ihm zukommende Stellung anzuweisen. (Später auch Ueberweg-
Heinze.)
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Die Pflege des Erbes.
341
tektors des Unternehmens als auffallend erscheinen
müsse". Sehr treffend hat damals No. 27 der „Allg.
Musik -Zeitung" darauf hin gewiesen, dass ja auch das
Münchener Hoftheater seine Vorstellungen bereits wieder
aufgenommen habe, und der Verfasser dieser Zeilen an
anderer Stelle (im „Musikal. -Wochenblatt") auf die durch-
aus irrige Auffassung aufmerksam gemacht, welche in
dem Bayreuther Festspielhaus eine Art Jahrmarkts-
bude zu sehen scheine und sich darüber wundere, dass
man dem Protektor der Bayreuther Aufführungen —
eine würdige Toten- und Gedächtnisfeier widme!
Des Weiteren noch besann man sich in der Redaktion
der „Allg. Ztg." leider nicht, unter völliger Verzicht-
leistung auf persönliches Urteil und eigene Kritik
der Verhältnisse, alberne, nicht nur gänzlich unglaub-
würdige, sondern offenbar absichtlich gefälschte, „sensa-
tionelle* Bemerkungen eines Blattes wie des „Frank.
Courier": von dem „ernstlich beabsichtigten Verkaufe
des ,Parsifal4 nach Amerika" (!) unterm 31. Juli wört-
lich zum Abdrucke zu bringen — Bemerkungen, welche
schon dadurch ihre dunkle Herkunft verraten, dass sie
am Schlüsse gegen „die Rücksichtslosigkeit der Herren
Gross und Genossen der Presse gegenüber" los ziehen,
„welche sicherlich nicht fördernd auf die Erhaltung des
Bayreuther Unternehmens einwirken werde".
Um einige Grade besser steht es nun doch bei der
neuerdings wieder einen Aufschwung nehmenden „Südd.
Presse" •), den „Neuesten Nachrichten" (zu München)
und dem „Sammler" (litterarisches Beiblatt zur „Augs-
burger Abendzeitung"). Nicht nur stehen sie sämtlich
dem Wagnerischen Kunstwerk und vor Allem Bayreuth
freundlicher gegenüber, sie haben auch alle Original-
berichte gebracht. Das erste dieser Blätter hatte schon
•) Mittlerweile leider eingegangen!
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342
Wagneriana. Bd. III.
seit Jahren offen und ehrlich für Wagner Partei er-
griffen, das zweite hat in Oskar Merz zum ständigen Mit-
arbeiter einen warmen Anhänger und gesinnungstüchtigen
Adepten der Bayreuther Schule; das dritte aber, die Be-
richte aus der Feder Dr. Theodor G o e r i n g s , lese ich schon
seit Jahren jedesmal mit ausserordentlichem, grösstem
Interesse, ist doch der betr. Referent, wiewohl er selbst
der Verfasser des (freilich schon im Jahre 1880 er-
schienenen) „Messias von Bayreuth" und ein Verteidiger
von Kürzungen und Strichen der Wagnerischen Werke
bei Opern-Aufführungen derselben (welches faible
ihm vor einigen Jahren in München sogar eine heftige
Zeitungspolemik und längere litterarische Fehde ein-
getragen hat) ein glühender Verehrer des „Parsifal"
und ein begeisterter Anhänger der Bayreuther Idee,
dessen mit gewandter Feder geschriebene „Parsifal"-
Berichte schon im Jahre 1883 (vide „Südd. Presse")
eine ganz ungewöhnliche Wärme bekundeten. Vier
lange, eingehende Berichte hat er von Bayreuth aus
heuer an sein Blatt gesandt, von denen nur der erste
über die „mehr oder weniger vergnügliche Reise in's
gelobte Land" getrost hätte weg bleiben können, ohne ge-
rade vermisst zu werden.*) Ich verkenne nicht, dass G Oe-
ring hier und da noch zu sehr den Zeitungsplauderer
herauskehrt, dass in ihm gleichsam zwei Naturen zu
streiten scheinen und dass er den ernsten Wagnerianer
mit gewissen, plötzlich aus der Rolle fallenden, ironi-
sierenden, ich möchte fast sagen Heine'schen Zwischen-
bemerkungen, mitunter zu einer gelinden Verzweiflung
bringen kann: allein er ist ein Mann, der frei von Vor-
urteilen und fest gerannten Anschauungen offen bekennt,
*) Es bildet dieses humoristisch sein sollende, präludierende
Kapitel über die beschwerliche Reise nach Bayreuth und die
Ankunft daselbst, mit dem Motto: „Heiss war's", überhaupt
eine Grundschwäche aller unserer „Bayreuther Feuilletons".
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Die Pflege des Erbes
343
dass er lernen wolle, und kein Hehl daraus macht, wenn
sich seine Überzeugung auf Grund reicherer Erfahrungen
geklärt, wo nicht gar verändert hat; er will nicht immer
gleich mit dem Urteile fertig sein, und das giebt ihm
eine sehr glückliche Beweglichkeit des Geistes und die
Möglichkeit, ohne wetterwendisch zu sein, sich zu bilden
und sich in seinem Urteil auch einmal zu vervollkommnen.
Ich kann es mir nicht versagen, nachstehend einige
Proben aus seinen Bayreuther Berichten zum Besten zu
geben. Sollten diese Exzerpte wohl etwas zu lang aus-
fallen, so mag man eine Entschuldigung hiefür darin
finden, dass dieser Mann nicht nur für München eine
gewichtige Person ist, sondern als Verfasser des „Messias
von Bayreuth" eine grössere Bedeutung als Andere
einnimmt, so dass auch seine Bekehrung und Sinnes-
wendung seit 1880 gerechtes Interesse erwecken muss.
Es zeigt uns gleich den ganzen Mann, wenn wir, zu An-
fang des zweiten Berichtes, über den verstorbenen
Bayernkönig lesen:
„Er gehört zu den idealen Gestalten, die erst in
jenes Zeitalter passen, wie es in fernerer Zukunft im
Gedächtnisse der Völker aus den wirklichen Gescheh-
nissen sich ableitet und aus den Sagen sich verdichtet.
Er wird in der Sage leben, wenn der Schmutz des
Irdischen abgestreift ist. Aber auch die Kultur-
geschichte wird sein Bild noch bewahren, als das
eines Fürsten, der so ganz aus dem Rahmen des Ge-
wöhnlichen heraus fiel — und dessen Name mit den
zwei grössten Schöpfungen, welche unsere Nation in
diesem Jahrhundert vollbracht hat, untrennbar ver-
knüpft bleibt. Die eine ist verzeichnet in den Blättern
der politischen Geschichte: wenn sie des neuen Deut-
schen Reiches gedenkt, wird neben der Heldengestalt
des greisen Kaisers immer der junge König von
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344 Wagneriana. Bd. III.
Bayern genannt werden; — die andere dieser grossen
Schöpfungen — eine künstlerische That, die, als
Ganzes genommen, ihresgleichen nicht hat — sehen
wir hier in Bayreuth. Aber wenn der König dort
die Zeitströmung richtig verstand und einer Idee zum
Ausdrucke verhalf, welche von den Ereignissen selbst
vorbereitet war, und auf deren Verwirklichung alles
mit Notwendigkeit hin drängte — das Wort aussprach»
welches schon auf Aller Lippen schwebte und welches
die Menge bejubelte, — so hat er hier seinen hohen
Schutz einem Unternehmen geliehen, welches bei der
Mehrheit nur Widersprüchen begegnete und von der
Menge mit Spott und Hohn begeifert wurde. Wie
es in dem kulturhistorischen Porträt des grossen
Josef II. ein Flecken ist, dass er, im Gegensatze zu
seinem Volke, Mozarts Genie nicht gebührend zu
würdigen wusste, so wird es ein ewiger Ruhm für
Ludwig sein, dass er Richard Wagners Bedeutung zu
einer Zeit erkannte, als derselbe noch vielfach gänz-
lich unverstanden war. — — "
Dann heisst es u. a.:
„Wagners fast beispiellose Kraft des musikali-
schen Ausdruckes, seine eminente Fähigkeit, in dem
Zuhörer eine besondere Stimmung oder eine be-
stimmte Vorstellung zu wecken, tritt vielleicht in
keinem seiner Werke mächtiger zu Tage als im
,Parsifal* . . . Auch muss ich sagen, dass ich den
vielfach ausgesprochenen Vorwurf, im ,Parsifal* zeige
sich eine merkliche Ermattung der schöpferischen
Kraft, verbunden mit dem Bestreben, diesen Mangel
durch gesteigerte Verwendung äusserlicher Effekte zu
verdecken, durchaus ungerechtfertigt finde . . .
Im ,Parsifal' weiter nichts als ein Werk genialer
Theaterkunst, als eine geschickt gemachte Oper des
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*
Die Pflege des Erbes. 345
glänzendsten Opernkomponisteri unserer Zeit* zu er-
blicken, das hiesse Wagner mit Meyerbeer auf
eine Stufe stellen, während man im Gegenteil be-
rechtigt ist, dem ,Parsifal4 als Geisteswerk einen
Platz neben der ,Zauberflöte' und der
Matthäuspassion anzuweisen. Man könnte
ein Buch schreiben (!) über ,Richard Wagners
Schöpfungen in der bildenden Kunst4 . . . Befanden
wir uns bei ,Parsifal', den ja die Welt bisher aus-
schliesslich nur in Bayreuth gehört hat, im alt-
gewohnten Geleise, so bot die Aufführung von »Tristan
und Isolde1 ein ganz neues Schauspiel von über-
raschender Schönheit; sie bot das unumstössliche
Zeugnis für die Bedeutung, welche dem Bayreuther
Haus an sich und der ganzen Bayreuther Sphäre be-
züglich stilvoller Darstellung eines Kunstwerkes inne
wohnt . . . Mehr als die Vollkommenheit der ein-
zelnen Leistungen war es die unvergleichliche
Gesamtwirkung, welche diese «Tristan* -Auf-
führung hoch über die bestmöglichen
,Tristan(-Aufführungen unserer besten
Opernbühnen erhob... Man schwankte be-
ständig zwischen Überraschung und Ergriffenheit und
m an musste sich sagen : Dies ist der natur-
gemässeste Rahmen, in welchem allein
das Wagner' sehe Musikdrama zur vollen,
höchsten Wirkung gelangt; dies die Aus-
führung, welche als nacheife rnsw ürd iges
Vorbild für alle höheren dramatischen
Vorstellungen dienen mussl"
„Man hat von vielen Seiten den diesjährigen
Aufführungen zu Bayreuth mit Misstrauen entgegen
gesehen, und die Möglichkeit eines abermaligen Er-
folges wurde bei den nicht zu leugnenden Schwierig-
keiten ernstlich in Zweifel gezogen; ja, als vor
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346 Wagneriana. Bd. III.
wenigen Wochen die Nachricht auftauchte, dass man
in diesem Jahr in Anbetracht der Ereignisse von den
Festspielen gänzlich Abstand nehmen wolle, hörte
man die Meinung äussern, die bekannten Ereignisse
seien für die Leitung des Unternehmens nur ,ein
vom Himmel herab gefallener Rettungsanker* (!), der
sie der Verlegenheit eines gezwungenen Aufschubes
oder der Eventualität eines vernichtenden Misserfolges
überhöbe. Der wirkliche Gang der Dinge hat diese
pessimistischen Anschauungen Lügen gestraft: die
Beteiligung des Publikums ist stärker, als sie es seit
1876 gewesen ist; unter den Künstlern selbst herrscht
der glücklichste Geist — ein Enthusiasmus, eine
Hingabe an die grosse Sache, welche die beste Bürg-
schaft für ihre dauernde Lebensfähigkeit darzubieten
scheint . . . Nach dem, was ich in diesen Tagen in
Bayreuth gesehen und gehört, glaube ich der freudigen
Hoffnung Ausdruck geben zu dürfen, dass das Unter-
nehmen auch fürderhin gedeihe, und dass die Bay-
reuther Festspiele sich ein Gewohnheitsrecht
im deutschen Kunstleben erobern, als eine
hohe Schule edler, stilvoller Kunstpflege!*
In ganz ähnlich sympathischem Charakter, gleich
warm und anerkennend gehalten, bewegten sich die Bay-
reuther Festspiel -Berichte eines anderen angesehenen
süddeutschen Blattes, des zu Nürnberg erscheinenden
„Korrespondenten v. u. f. Deutschland".*) Es ist der
vortreffliche Feuilleton -Redakteur des Blattes selbst,
Dr. H. Pf eil schmidt, ein bewährter Wagnerianer und
Preund der Sache, welcher jene Berichte übernommen
hat. In No. 370 hatte schon ein sehr schwungvolles,
edles Gedicht aus seiner Feder die Feststimmung zum
•) Inzwischen leider auch von der Bildfläche verschwunden
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Die Pflege des Erbes. 347
10jährigen Jubiläum der Bayreuther Bühnenweihe höchst
stimmungsvoll und würdig eingeleitet — ein Gedicht, in
welchem mit viel Geschmack und tiefem poetischem
Sinn auf den verstorbenen hohen Protektor der Fest-
spiele als den leidenden Tristan und Amfortas hin-
gedeutet worden war. Die Nummern 374, 375 und 378
brachten dann ausführliche „Festspielbriefe". Auch hier
sei es gestattet, einiges Wenige heraus zu greifen, zum
Teil sogar im Wortlaut mit anzuführen. Nachdem der
erste Brief auch wieder, wie der Goeri ng'sche, sich
über die Leiden und Freuden der Fahrt ergangen hat,
berichtet er von der pflichttreuen Aufopferung und Hin-
gabe Frau Cosima Wagners, dem Festspielbesuche, der
Feststimmung u.s. w. Der zweite erfüllt zuerst die traurige
Pflicht, Scaria einen warm gefühlten Nachruf zu widmen,
und bespricht dann, beinahe durchaus lobend, die
„Parsifal" -Aufführung; der dritte ergeht sich mit weit aus-
holenden gehaltvollen Betrachtungen über „Tristan**.
U. a. heisst es da:
„Tristan zum ersten Mal in Bayreuth — das
war ein Kunstereignis" . . . „Um dies zu begreifen,
muss man das Werk eben hier gehört haben. Schon
einem äusserlichen Umstände, dem feierlichen Ein-
drucke des hiesigen Zuschauerraumes, in welchem selbst
der ausgelernte Theaterflegel Manieren lernt oder
doch wenigstens zur Schau trägt — dieses Raumes,
dessen tiefes Dunkel gleichsam die Brücke zur All-
tagswelt hinter uns abbricht und den erstaunten Blick
auf eine lichte Welt der Ideale ge Fesselt hält — schon
dem Umstand ist es zuzuschreiben, dass »Tristan*
in Bayreuth anderes, Tieferes zu bedeuten hat als
an den Theatern, die ihn bisher aufgenommen haben.**
„, Wollen Sie — und wir haben eine Kunst,*
war das geflügelte Wort des Meisters im Jahre 1876.
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Wagneriana. Bd. III.
Und mit Freuden dürfen wir heute bekennen: ,Wir
haben sie noch!* Der Idealsinn unserer Nation sorge
weiter dafür, dass sie uns und auch dem oberfränki-
schen Olympia erhalten bleibe ..."
Nicht ganz so erfreulich wird sich unsere Revue
gestalten, wenn wir von diesen Blättern weg unseren
Blick nun einmal zu zwei politisch-mächtigen, sozusagen
massgebenden, österreichischen und norddeutschen
Blättern hinwenden, welche, wenn man ihren Reklamen
glaubt, die „gelesensten" (!) Journale zu nennen sind:
ich meine die „N. Freie Presse" zu Wien und das
„ Berliner Tagblatt ". Beiden Blättern ist übrigens auch
dies Eigentümliche gemeinsam, dass ihre ständigen
Musikreferenten, dort Ed. Hanslick, hier H. Ehrlich,
zur Zeit, da es auf den „Parsifal" hin geht, mit einem
Male a ternpo, wie verabredet, verstummen, wahrschein-
lich weil sie Beide — wie Ehrlich dies an anderer
Stelle unverhohlen ausspricht — einer dramatischen
Wiedergabe des „Parsifal" absichtlich ausweichen,
während sie doch jede Konzertaufführung desselben
fleissig besuchen (!). Hanslick amüsiert sich, Londoner
Musikbriefe zu schreiben und hierin über „gottesfurchtige
Dirigenten" sich lustig zu machen; Ehrlich schreibt
wenigstens die offiziellen Nekrologe für Liszt und Grell
und empfiehlt einstweilen „Illusionen". — Warum diese
Zeitungen aber so wichtig sind, das erhellt schon daraus, '
dass sie es vorzüglich sind, welche die ersten, offiziellen
Drahtnachrichten über Bayreuth in's Publikum bugsieren.
Um vorerst noch in süddeutschem Revier zu verbeiben,
sei gleich die bekannte Wiener Zeitung aufs Korn ge-
nommen.
Schon die im Mai 1. J. von der „N. Fr. Presse"
gebrachte Notiz, welche gegen den Bayreuther Urlaub
der Wiener Künstler plaidierte, versprach eine recht
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Die Pflege des Erbes.
lebhafte und heitere Kampagne. Ganz ausgezeichnet
fein ist die hier ganz unversehens auftretende Wendung:
es sei das Werk von Bayreuth, bisher eine anerkannt (!)
grossartige und hoch bedeutsame Erscheinung, nunmehr
vor Verflachung u. dgl. zu bewahren (!). „ Zudem"
— heisst es dann gegen den Schluss hin —
„tragen die jetzigen Bayreuther Aufführungen durch-
aus nicht mehr den Charakter rein künstlerischer
Unternehmungen an sich; unter Wagner waren sie
ausserordentliche und lehrreiche Bühnenereignisse
(hört!), später galten sie als Akte der Pietät und Er-
innerung für das musikalisch -dramatische Genie des
toten Meisters (wie genau das die ,N. Fr. Pr.' nun
auf einmal alles weiss!); jetzt aber sind sie schon
zu regelmässigen Reprisen (!!) geworden, die nicht
ganz frei von einem geschäftlichen Charakter sind,
und eine derartige Unternehmung unter eigenen
Opfern zu unterstützen (es handelt sich hier um die
Weigerung der Wiener Intendanz, die dortigen Künstler
im August zu beurlauben), kann daher (!) weder von
Wien, noch von einer anderen Kunststadt gefordert
werden."
So also hetzt man gegen Bayreuth und sucht noch im
Mai, da die Festspiele immer näher heran rücken, diese
mit allen Mitteln zu hintertreiben. Es ist nur betrübend,
dass sich durch solche Notizen selbst eine so aus-
gezeichnete Musik-Redaktion, wie diejenige des „ Leipziger
Tagblattes", welche jene Nachricht der „N. Fr. Presse"
nachdruckte, für einen Augenblick so weit beeinflussen
Hess, unter diese noch die Anmerkung hinzu zu setzen:
»Möge doch Wagners ,Parsifal( auch anderen Bühnen über-
lassen werden! Warum soll Bayreuth allein den Vorteil
geniessen, ihn aufführen zu dürfen?" Ein frommer
Wunsch, wie wir wissen, und eine ganz zwecklose Frage.
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350
Wagneriana. Bd. III.
Es folgt in der „N. Fr. Presse" sodann unter* m
23. Juli ein, im Übrigen warm geschriebener, Nekrolog
auf »Scaria*, der aber doch in einigen Sätzen, die wir
wieder wörtlich hierher setzen wollen, eine recht merk-
würdige Ein 1 ä u t ung des Festspieles bildet und aller-
hand Interessantes für die Folge verspricht:
„Die Einen behaupten, fortgesetztes, anstrengendes
Studium der unsangbaren (sie!) und schwer fasslichen (!)
Basspartieen in den neuen Wagner -Opern (!) habe
bei ihm, der ohnedies mit Anstrengung memorierte
(der Leser bemerke: das wird nur ganz nebenbei er-
wähnt!), auf Körper und Geist den unheilvollsten
Einfluss geübt. (Natürlich!) Sein unstillbarer Ehr-
geiz habe ihm keine Schonung erlaubt, und er warf
sich mit voller Wucht auf die ebenso ehrenvolle, wie
gefährliche (hört!) Mission, ein grosser Wagner-
Sänger zu sein — eine zerstörende Künstlerarbeit (! !),
welcher schon so viele Stimmen zum Opfer fielen.
(Wenn man nur diese verkommenen Stimmen alle
erst einmal kennen lernen würde!) Die Anderen"
— (meinen nämlich, die Schweningerkur habe ihm
so arg zugesetzt, dass sich die Spuren davon in seiner
Geistesschwäche zeigten usw.)
In der That, ein vortreffliches Präludium zum Bay-
reuther Festspiel! Dazu noch eine unerhörte Dreistig-
keit, gerade in einem Nekrolog auf Scaria, den Be-
sitzer der sonorsten Bassstimme, den Künstler mit der
deutlichsten Textaussprache und einen der hervor-
ragendsten, glänzendsten Vertreter der Bayreuther Schule,
von einem Stimmruin deutscher Sänger durch Wagner
auch nur eine Silbe zu erwähnen. Und was für
schlampiges Deutsch diese Zeitungen schreiben! Der ge-
neigte Leser hat doch bemerkt, dass der saubere Verfasser
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Die Pflege des Erbes.
351
jenes Artikels plötzlich, mitten drin, aus der oratio
obUqxia in die oratio directa verfällt?
Mit dem 24. Juli beginnt nun aber der grosse
journalistische Haupt-Rummel. Hier lauten die kurzen,
telegraphischen Berichte:
„Das Spiel ging Anfangs etwas flau von Statten
(man meint eine Drahtnachricht von der Börse zu
lesen), erst (!) am Schluss brach lebhafter Beifall
aus.- (Über die erste Aufführung „Parsifal".) 26. Juli:
„Die Premiere (!!!) von Tristan und Isolde ist mit
grossem Beifall in Szene gegangen (!). Das En-
semble war erfreulich (ei, ei) trotz verhältnismässig
so kurzer Proben." „Die sehr lange (!) Oper (!!)
wurde ungekürzt gegeben." (Welche Neuigkeit bei
einem Berichte aus Bayreuth!)
Ich frage: muss das Publikum bei solchem ab-
gefeimten Theater -Jargon nicht den Eindruck erhalten,
dass es sich in Bayreuth lediglich um „effektvolle"
O pern Vorstellungen, ja am Ende gar um wichtige
Börsenspekulationen handle? Allem setzt nun aber
die Krone auf das zwischen diesen beiden Berichten
unter'm 25. Juli veröffentlichte Referat über die General-
versammlung zu Bayreuth. Hier hat ihre eigene Ge-
hässigkeit der „N. Fr. Presse" einen bösen Streich ge-
spielt, und man darf beinahe sagen: „Wer Andern eine
Grube gräbt, fällt selbst hinein!" Wenigstens wollen
wir doch nicht annehmen, dass hier absichtliche
Fälschung vorliege, um das Publikum entsprechend zu
bearbeiten. In diesem, offenbar telegraphischen, knapp
gehaltenen Referat wird nämlich davon gesprochen, dass
sich eine lange Debatte über die kostspielige Heraus-
gabe der „Bayr. Bl." entsponnen habe, welche 1 1524 Mk.
kosten und voraussichtlich ein Defizit von ca. 4000 Mk.
ergeben werden. Nun sind aber mit diesen, für die
352
Wagneriana. Bd. III.
Depesche in der Eile offenbar abgekürzten „Bayr. Bl." die
w Bayreuther F e s t b I ä 1 1 e r" , ei n vor 2 J ahren zum Festspiele
herausgegebenes Prachtunternehmen in besonders kunst-
voller Ausstattung, gemeint, welche allerdings ein solches
Defizit zu verzeichnen haben. Kaum vernimmt nun die
„N. Fr. Presse" das Wort: „Bayr. Bl.", so stürzt sie
sich auch schon wie eine Hyäne auf dieses unschuldige
Opferlamm los. Die wirklichen, von Hans v. Wolzogen
redigierten „Bayr. Bl.", das Organ der Partei, sind ihr
längst verhasst und natürlich ein rechter Dorn im Auge,
— ergo wird in Parenthese hinzu gesetzt und dem Publi-
kum mit autoritativer Würde mitgeteilt: „in der That
ein sehr überflüssiges Unternehmen". Am nächsten
Tage drucken sämtliche sogenannt „ besseren" deutschen
Blätter diese Notiz der „N. Fr. Presse" nach, und so
erfährt denn die unkundige Welt im Nu, dass die
„Bayr. Bl." nicht nur im Allgemeinen nichtsnutzig sind,
sondern im Besonderen auch noch ein Defizit von
4000 Mk. abwerfen. Sie ist doch heillos, nicht wahr,
diese Wagner-propaganda ßdei?
So die herrliche Taktik jener gegnerischen Presse,
die man nur in solchen unscheinbaren Notizen, in allen
ihren dunklen Winkelzügen einmal sorgfältig kennen
lernen mag, verfolgen und studieren muss, um — ganz
ausserordentlich von ihr zu profitieren.
Später geht es in dem grossen Wiener Blatte ein
wenig gelinder und freundlicher her, wenn ich auch
nicht mich bis zu der immensen Freude bekehren kann,
welche einige Bayreuthianer über den anlässlich der
grösseren Festberichte zu verzeichnenden, auffallenden
und zu bejubelnden Umschwung in den Gesinnungen
jenes Blattes äussern zu müssen glaubten. Ich werde
im weiteren Verlaufe dieser Erörterungen den Beweis
nicht schuldig bleiben, dass auch in diesen Enunziationen
des Verdächtigen und Zweifelhaften noch immer genug,
Digitized by
Die Pflege des Erbes.
353
ja reichlich genug enthalten war, will aber hier nur
noch in aller Kürze zwei kleinere Nachrichten unterem
27. Juli streifen. Sie sind beide vom „Spezi al - Kor-
respondenten* der „N. Fr. Presse* verabfasst und zeichnen
sich namentlich durch Wiener Lokalpatriotismus ganz er-
klecklich aus. Alles war (bei der zweiten Aufführung
des „Parsifal") gut und vortrefflich: natürlich! weil Frau
Materna dabei war, „welche alle früheren Leistungen
übertrifft". „Mit den Wiener Gästen ist gestern auch
die eigentliche Feststimmung in unsere (!) Wagner-Stadt
erst eingezogen". War ja wohl auch gar nicht anders zu
erwarten. Im Übrigen wird noch von der ersten „Par-
sifal "-Aufführung berichtet, dass der Beifall nach dem
ersten und zweiten Akte gänzlich gefehlt habe und also
der „Erfolg des Stückes" ein recht zweifelhafter gewesen
sei. Wer mit Bayreuther Traditionen vertraut ist, weiss
nur zu gut, was er von solchen Notizen zu halten hat.
Das Traurige daran ist nur — abgesehen davon, dass
es überhaupt ein Nonsens und Reporterunfug ist, den Er-
folg eines Werkes nach dem stärkeren oder schwächeren
Herausrufe der Darsteller zu taxieren, — dass das grössere
Publikum diese Traditionen leider noch nicht kennt, und
dass das jene windigen Reporterseelen — nur allzu gut
wissen. Im Übrigen will ich nicht verschweigen, dass
in dem selben Blatt auch der Satz zu lesen stand:
„Wenn der Besuch der Vorstellungen ein so guter bleibt
wie bei den drei ersten, wird sich ein bedeutender
Überschuss ergeben, der die Fortsetzung der Festspiele
im nächsten Jahre sichert." Das ist doch alles, was
man von unserer Österreicherin, auf die berüchtigte
Notiz vom Mai hin, erwarten konnte, wenn es nicht zu-
gleich auch — a' klein's bis'l charakterlos wärM Folgen
nun die schon erwähnten grossen Spezial- und Fest-
Artikel über das „Bayreuther Festspiel", unter' m 31. Juli,
18. und 24. August. Der erste bringt als Einleitung
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 23
Digitized by LiOOQlc
354 Wagneriana. Bd. III.
einen, zum Teil schon von diesem (in seinen Bayreuther
Berichten) parierten, recht abgeschmackten und groben
Ausfall gegen den Redakteur der „Allg. Musik-Zeitung*,
O. Lessmann, macht sich dann lustig über den Aus-
druck „Weihetempel- für „Festspielhaus" und konstruiert
ein witzig sein sollendes: „Weihetempelberg-. Der gesch.
Verfasser, der übrigens — wie er selber sagt — „eine
objektive Mittelstellung in Wagnerdingen einnimmt- (!)
— wirft die Frage auf: „was unsere Altmeister der
Tonkunst wohl zu leisten im Stande gewesen wären,
wenn ihnen solche hohe Gönner, solch' unbegrenzte
finanzielle Mittel zu Gebote gestanden hätten.- (Hört!!)
Der Mann scheint zu träumen, oder absichtlich auf
Täuschung der Menge auszugehen. Denn jedermann
weiss doch, wie sehr Wagner gerade finanziell zu kämpfen
hatte, und welche Schwierigkeiten eben in dieser Hin-
sicht das Bayreuther Unternehmen noch heute stets
zu überwinden hat: man denke an die Zeit vor 1876 und
das grosse Defizit unmittelbar nach diesem Jahre! etc.
Er behauptet: die Gäste seien oben in der Restauration
neben dem Theater „weder mit der Qualität noch mit
der Quantität der Gerichte zufrieden- (ob er nicht viel-
leicht von der „Bürger-Reuth" hat läuten hören?), be-
richtet von sentimentalen Frauen, welche beim „Parsifal-
in Thränen ausbrachen und dann „in der tiefen Dunkel-
heit manchmal fehl gegriffen und mit ihrem Taschentuch
schnell die Augen des Nachbars zu trocknen versucht
haben sollen-, witzelt über die Angermann-Kneipe u. s. f.
Dagegen ist er wenigstens vorurteilsfrei genug, zu er-
wähnen, dass ein Zuspätkommen „zum Glück- in Bay-
reuth strenge verpönt sei; er ist so gerecht, die rasche Ent-
leerung des Hauses besonders zu loben und zu kon-
statieren, dass „ein gesellschaftliches Leben im Bay-
reuther Theater nicht existiert-, denn „eifersüchtig (!!)
habe der Dichterkomponist alle Aufmerksamkeit auf
Digitized by Google
Die Pflege des Erbes.
355
sein Werk konzentrieren lassen" — nur ist im letzten
Satze der Ausdruck „eifersüchtig" wieder so recht
charakteristisch, und wenn irgendwo, so darf man wohl
hier das Faustische:
„Du gleichst dem Geist, den du begreifst !M
in Anwendung bringen.
Der zweite Bericht beginnt mit hämischen Er-
läuterungen: wie die Wagnerianer über den Erfolg der
Festspiele mit Schoppen hauereien „argumentieren". Es
folgen dann längere Auseinandersetzungen über den Tod
Liszts und die Begräbnisfrage, wobei man sich selbst-
gefällig zu einer autoritativen Reporter-Autorität auf-
zuspielen beliebt; Berichte über die Vorstellungen füllen
das Übrige aus. Unzweifelhaft der interessanteste Artikel
ist aber der dritte. Ergiebt eine Art resümierenden Rück-
blickes auf die bereits wieder abgeschlossenen Festspiele,
und ich hebe hier gerne hervor, dass er sehr anerkennens-
werter Weise ausdrücklich versichert, dass „Wohnungs-
prellereien zu Bayreuth nur vorkämen, wenn man sich
nicht an das Wohnungskomitee wende, sondern den
Wohnungshyänen am Bahnhof in die Hände falle".
„Die Verpflegung sei in Bayreuth billig und gut, aber
eine feine Küche finde man nicht"; denn „das Wort:
pikant fehlt im Bayreuther Kochbuch". (Der Verf. scheint
Paprika auf gut Ungarisch verlangt zu haben.) Von
besonders bemerkenswerten Sätzen seien aus allen drei
Berichten folgende im vollen Wortlaute wiedergegeben.
Man wird Verschiedenes anerkennen und be-
wundern müssen — «und doch wird man zu dem
Schlüsse kommen: Wagner war ein Musiktyrann (!)
und seine Musik wird niemals volkstümlich werden.
(Da haben wir's! Welches Unglück!! — Vgl. übrigens
Wagner ,Ges. Sehr.*; Bd. VII, S. 174.) Ein un-
befangener (!), parteiloser (!!) Zuhörer wird einzelne
23*
356
Wagneriana. Bd. III.
auf den Effekt (!!!) für Auge und Ohr wohlberechnete
Szenen meisterhaft arrangiert (sie!) finden und doch
zugleich aufrichtig bekennen, dass Parsifal und Tristan
textliche und musikalische Längen enthalten, die dem
gewöhnlichen Menschen (sie!) in ihrer end- und
zwecklosen Redseligkeit (!!) unerträglich erscheinen
m ü s s t e n (!), wenn es nicht in Bayreuth wie ander-
wärts Mode wäre, bei den neuen Wagner - O p e r n (!!)
sich lieber selbst ein bischen zu belügen, als etwa
aufrichtig gähnend die oft auftauchende Langeweile
zuzugestehen* . . . „An Parsifal -Tagen ist das Publi-
kum auch stets gewählter, als an Tristan-Tagen. Heute
z. B., sagte mir ein biederer Bayreuther, sei nur eine
,Feuerwehr -Vorstellung*. Für Parsifal ist die Nach-
frage bedeutend stärker ... im Tristan sieht es da-
gegen doch besser aus, wenn einige hundert
Plätze mit Feuerwehrleuten ausser Dienst (Hört! in
dem kleinen Bayreuth: einige hundert Feuerwehr-
männer und noch dazu ,a. D.'ü) besetzt sind, statt
leer zu bleiben; man kann es dem Einzelnen nicht
am Gesichte ablesen, ob er sein Billet bezahlt oder
verdient hat, und je voller das Haus, desto besser der
Gesamteindruck für die Uneingeweihten. (!! Es
ist doch in der That zum Tollwerden, dass unseren
Berichterstatter von der ,N. Fr. Presse* ein Zufall
gerade mit dem ,biederen Bayreuther* zusammen-
führen und zum Eingeweihten* machen musste!)
Auch die Mitglieder der beiden Gemeinde -Gremien
werden für ihren praktischen Lokal-Patriotismus mit
freien Eintrittskarten beehrt; mit kleinen Aufmerksam-
keiten erwirbt man sich bekanntlich Freunde! . . .
Aber Reklame muss überall sein, besonders in der
Festspielstadt Bayreuth. " (Hatte ich wohl oben Recht,
als ich sagte, dass auch diese Berichte des Wider-
lichen und Zweifelswürdigen gerade genug enthalten?)
Die Pflege des Erbes.
357
Der Schlussartikel bringt noch folgenden, immerhin
begrüssenswerten und interessanten Passus:
„Wer sie kommen und gehen sah, diese Völker-
rüge aus allen Gegenden der zivilisierten Welt, musste
sich sagen, dass sich gegenwärtig ein Stück Kultur-
geschichte in Bayreuth abspielt, wie es selbst die zu-
versichtlichsten Vertreter des Unternehmens (!) nicht
zu hoffen wagten. Seit dem 10 jährigen Bestand des
Theaters war niemals ein solch* mächtiger Zuzug von
Fremden, waren niemals die Fürstenhäuser so zahl-
reich vertreten" . . . „Wir verkennen nicht, dass die
Tonschöpfungen Wagners in dem ganz nach den In-
tentionen des Meisters erbauten Theater und mit dem
nach dessen Angaben eingerichteten dekorativen
Apparat wieder einen durchschlagenden Erfolg (!) er-
zielt haben; ob aber diese Kunstwerke je volkstüm-
lich werden können, dürfen wir wohl auch nach
dem heurigen Erfolge stark bezweifeln." (NB .'„Durch-
schlagender Erfolg" ist gut!)
Dies also die Ansicht der „N. Fr. Presse", bezw. ihres
geehrten Herrn Reporters, — denn ob Beide mit ein-
ander übereinstimmen ist ja noch immer sehr die Frage.
Wir schliessen damit unsere Betrachtungen über
dieses Journal, um sie nunmehr dem schon erwähnten
norddeutschen „Berliner Tagblatt" zuzuwenden. Gleichen
sich beide Zeitungen auch in manchen Punkten gegen-
seitig auf's Haar, so zeichnet sich doch die erstere,
das Wiener Blatt, von der letzteren, der Berliner, noch
immer dadurch aus, dass es wenigstens Spezial- Kor-
respondenzen bringt und dem Bayreuther Ereignis aus-
führlichere Berichte (u. zw. diese nicht nur unter
dem Striche) widmet. Dies hat sich nun unser „Berl.
Tagblatt" gleich ganz gespart. Es giebt sich nämlich
nicht einmal die Mühe, seinen Lesern ein grösseres
358
Wagneriana. Bd. III
Referat über Bayreuths Jubiläum zu bringen, es beschränkt
sich auf kurze Notizen, telegraphische Depeschen, kleine,
unscheinbare Sensationskunden etc. Man hat zwar —
von politischen Nachrichten und Börsenberichten gar
nicht zu reden — die Spalten voll vom Heidelberger
Fest, von Pariser Modenbriefen, Leitartikeln über den
Kongress deutscher Radfahrer und den Skat-Kongress,
natürlich lauter hochwichtigen Dingen! Ja, in einer
Nummer findet sich sogar die Freudennotiz: »Endlich
einmal eine Volks- Ausgabe von Heine's Werken!" u. s.w.
— der «abgestandene Artikel": „Bayreuth* aber sieht sich
in das kleinste, unscheinbarste Winkelchen des Blattes
verwiesen. Nichts ist ärger als dieses „in's Gebiet des
Alltäglichen, Unscheinbaren Verweisen" eines ohne
Zweifel hochragenden künstlerischen und natio-
nalen Ereignisses, dieses Nichtbeachten, als Mode-
sache Vorübergehen - lassen , darüber sensationell De-
peschieren, aber dann ruhig und schweigend seinen
Weg- laufen -lassen des Bayreuther Festspieles, wie es
heuer bei gar vielen Zeitungen, und nicht zuletzt eben
bei unserem „Berl.Tagbl.", so beliebt war. Wie gehässig
dabei dieses Blatt im Stillen dennoch dachte, das geht
aus einer Notiz vom 10. August No. 303 zur Evidenz
hervor, die wir der Deutlichkeit halber hier wieder
wörtlich anführen wollen. Sie lautet:
„Bei der vierten Vorstellung von Tristan und
Isolde war das Haus nur zur Hälfte be-
setzt, die Fürstenloge leer. Nach den Reklamen
der Wagnerianer musste man annehmen, dass bei
jeder Vorstellung Hunderte zurück gewiesen wurden.
Es gehören freilich auch starke Nerven dazu, diese
Oper (!!) unverkürzt anzuhören."
Ganz abgesehen davon, dass der Vordersatz: „das
Haus sei nur zur Hälfte besetzt gewesen", unzweifel-
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Die Pflege des Erbes.
359
haft stark übertrieben ist, sind die „Reklamen" der
Wagnerianer eine grobe Lüge. Die „Allg. Musik.-Ztg."
hat in der No. 34 aus statistischen Zahlen bereits
haarscharf nachgewiesen, dass die Nachrichten aus
Bayreuth durchaus ihre reelle Basis hatten, und ich
kann aus persönlicher Anschauung und Erfahrung nur
versichern, dass die ersten Vorstellungen bis zum
2. August (inkl.) alle beinahe bis auf den letzten Platz
besetzt waren; nur eine Vorstellung machte davon eine
Ausnahme, insofern sie in den oberen Sitzreihen stärkere
Lücken aufwies. Endlich spricht der faktische Überschuss
von 15000 Mk. (NB. über den alten, wieder ein-
gebrachten Stammfond von 180000 Mk.) doch mehr
als alles Andere für den Ertrag der Aufführungen auch
nach materieller Seite hin. Nun zeigt aber vollends
der perfide, hetzerische Nachsatz unserer Notiz von
den „starken Nerven" die Tendenz dieses Journalisten-
koups in ihrer ganzen Erbärmlichkeit viel zu klar und
deutlich, als dass darüber noch ein Wort weiter zu
verlieren wäre. —
Ich bin zu Ende mit meiner Ubersicht über politisch-
einflussreiche Blätter, so weit ich darüber etwas Näheres
habe in Erfahrung bringen können. Berliner Blätter
mögen wohl im Einzelnen noch Manches gebracht haben ;
doch entsinne ich mich nicht, dass ich ausser Hans
Herrrigs Aufsätzen im „Deutschen Tagblatt" von
einer grösseren und bedeutenderen Besprechung oder
Veröffentlichung in einem derselben gehört hätte.
Ausserdem veröffentlichten noch die „Riga'sche Zeitung",
die „Fr. Schlesische Presse", die „Neue Zeit" (Olmütz),
die „Tagespost" (Linz), das „Posener Tagblatt" (R. Musiol),
die „Westphälische Reform", ganz neuerdings auch noch
einmal die bereits von mir erwähnte „Süddeutsche Presse"
(210—214: „Mit aller Festigkeit muss jeder Ver-
such, den ,Parsifal( der einzig richtigen Pflege-
Digitized by Google
360 Wagneriana. Bd. III.
Stätte zu entziehen, zurück gewiesen werden">
u. A. ausfuhrliche Hinweise und Besprechungen; die
„Kölnische Zeitung41, ebenso wie die „Frankfurter
Zeitung* waren mir leider nicht zugänglich, und das
„Leipziger Tagblatt4*, welches auch ausführliche Berichte
von seinem Spezial - Berichterstatter gab, habe ich
nur Anfangs, in den ersten zwei Nummern, nachlesen
können: diese Berichte klangen begeistert; die späteren
sollen sich etwas „gemässigter" ausgesprochen haben.*)
Von der litterarischen Presse, Wochenschriften etc.
haben die bekannteren: „Über Land und Meer**,
„Gartenlaube41, „Daheim- etc., ebenso die „Grenz-
boten", „Nord und Süd", „Deutsche Rundschau",
„Deutsche Revue", die österreichische „Deutsche
Wochenschrift", bisher sich ausgeschwiegen — was
Herr Ehrlich den Lesern von „Über Land und Meer" aus
dem „Musikleben der Gegenwart" wohl erzählen wird,
wenn nicht dieses, erscheint mir schlechterdings un-
erfindlich! Die No. 4 der „Nation" (erschienen im
Oktober!) brachte einen — vermutlich ein Bayreuther
Nachspiel sein sollenden — Artikel über „Auswüchse
musikalischer Begeisterung", in welchem über Wagners
Philosophie und namentlich über den „Parsifal" die un-
glaublichsten Thesen aufgestellt werden. Das November-
heft der R. v. GottschalTschen Monatsschrift „Unsere
Zeit" spricht in einem plaudernden Vierteljahrsbericht über
*) Die Artikel: „Das Werk von Bayreuth, Tristan und
Parsifal" von Dr. Rudolf Geyer in den R. v. Schönerer'schen
„Unverfälschten Deutschen Worten" No. 17 und „Unsere Ab-
gewirtschafteten!" von Moritz Wirth in den Pernerstorfer'schen
„Deutschen Worten", Heft 10, sind so eigenartiger, besonderer
Natur, dass man sie lieber einmal im Zusammenhang an einem
anderen, passenderen Orte besprechen und — mitnehmen sollte.
Auch Cyrill Kistlers „Wagnersekten" in den „Aufsitzen über
Musikalische Tages fragen" No. 8, gehören eigentlich schon mit
in diese Rubrik.
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Die Pflege des Erbes.
361
das Musikleben von dem in Leipzig zu erbauenden Musik-
Zirkus, von der Oper „Ramiro", der Reinecke'schen
Oper „Auf hohen Befehl" und der v. Perfairschen
„Junker Heinz", und nachdem sie diese .musikalischen
Ereignisse" durchgegangen, sagt sie am Schlüsse: „Im
Übrigen ist von dramatisch-musikalischen Thaten nichts
besonders Bemerkenswertes zu berichten." (Siel) In der
„ Konversati ven Monatsschrift" wiederum (Oktoberheft,
S. 1028) sagt L. Meinard us bei seinen Berichten über
die „Musikfeste" des vergangenen Sommers: „Auch
die Festspiele zu Bayreuth . . . müssen den Musikfesten
des Sommers beigezählt werden, da im Winter das
Bühnenfestspielhaus bei der Wagnerstadt Bayreuth ge-
schlossen bleibt." (Wirklich ausserordentlich geistreich!
Ich mache dem Verfasser mein Kompliment.) Es folgen
nun die Ausfalle: Durch den Verlust Wagners, König
Ludwigs II. und Liszts sind der Partei „die drei vor-
nehmsten Häupter geraubt worden, um welche sie sich
fest zusammen zu scharen gewohnt war". „Frau Cosima
Wagner" hat der Pietät für ihren grossen, unsterblichen
Vater (bekanntlich hat Frau Wagner in der tiefen
Trauer um ihren Gatten schon 1883 sich ihres Haar-
schmuckes beraubt!) ihr Haupthaar zum Opfer gebracht,
dadurch ihre Ähnlichkeit mit demselben ausserordentlich
gefördert und zunächst (!) die Leitung der Bayreuther
Festspiele so energisch in die Hand genommen, dass
sie ihre Wohnung sogar von dem Hause Wahnfried
nach dem Theatergebäude verlegt hat. Blinder, gläubiger
Enthusiasmus, dieses Lebenselixir aller Neuerer und
Ideologen, steht der gegenwärtigen Leiterin und ihren
Parteigenossen als starker Kampf- und Bundesgenosse
zur Seite (der Leser hört doch: wie hier der Hund an
der Kette knurrt!) und verheisst ihren Bestrebungen
einstweilen (!!) noch fortdauernde Erfolge. Ob aber der
künstliche babylonische Thurm auf festen Fundamenten
362
Wagneriana. Bd. III
ruhe und die erreichte schwindelnde (das Bergsteigen
ist eben nicht jedem verträglich, Herr Meinardus!) Höhe
seines gigantischen Aufbaues behaupten könne — das
ist eine Frage, deren Beantwortung man der Zukunft
überlassen muss.u Recht so, ganz im Sinne aller
Hoch-Konservativen: keine Zukunft selber durch die
That herbei führen und zur Gegenwart machen; nein,
träge auf den Schultern der Vergangenheit ruhen, in
der Vergangenheit allein leben — nur, was die Ver-
gangenheit sanktioniert hat, besitzt seinen Wert. Als ob
diese nicht auch einmal Zukunft und Gegenwart ge-
wesen wäre! Da lobe ich mir doch die „Gesellschaft"
von Dr. M. G. Conrad, eine realistische Monatsschrift,
die — wenn sie auch hin und wieder einmal zu feurig
für die Gegenwart in die Schranken tritt, doch von
Anfang an (s. No. 1 des ersten Jahrg.) offen und ehr-
lich sich zu Wagner bekannt hat. Auch in der Nummer
vom 15. August dieses Jahrganges bringt sie unter der
Überschrift „Anmerkungen zur Zeitgeschichte* höchst
wertvolle, warm gehaltene Notizen über Bayreuth,
welche mit dem Worte Wagners schliessen: „dass, wo
der Staatsmann verzweifelt, der Politiker die Hand
sinken lässt, der Sozialist mit fruchtlosen Systemen
sich plagt, ja selbst der Philosoph nur deuten, nicht
aber voraus künden kann — der Künstler allein mit
klarem Auge Gestalten zu erschauen vermag, wie sie
4er Sehnsucht sich zeigen, die nach dem einzig Wahren
verlangt — dem Schönen!" Als Einleitung fanden wir
dort zudem folgende, in ihrer Kühnheit und Wahrheits-
liebe besonders wertvolle Sätze: „Alle Hochachtung vor
der Malerei und den Malern unseres Jahrhunderts, aber
die wahrhaft grossen, Welt stürzenden Offenbarungen des
modernen Menschheits-Geistes darf man bei diesen
Zauberern des schönen Scheins, der farbigen Täuschung
nicht suchen. Alle Revolutionen des Pinsels und der
Die Pflege des Erbes.
363
Palette, die Europa seit 50 Jahren erlebte, sind doch nur
geniale Scherze im Vergleiche zu den Umwälzungen,
die sich auf dem Gebiete der Poesie und Musik voll-
zogen haben. Eine Himmelsstürmerei wie das Gesamt-
kunstwerk des Dichter-Komponisten R.Wagner, steht ohne
Beispiel da . . ." Und damit der Leser nicht etwa
denke, das sei alles in ironischem Sinne ausgesprochen,
möge noch der Schlusssatz hier eine Stelle finden,
welcher lautet: »Für den »Ring*, »Tristan4, ,Parsifal«
suchen wir vergebens nach gleichwertigen, mitzeitigen
Schöpfungen auf anderen Kunstgebieten.0 — Auch über
Franz Liszt bringt der Artikel einen sehr hübschen und
sympathischen Passus, als eine Art von Nekrolog auf den
Genius des Meisters, und er schliesst mit der Gegenüber-
stellung: «Wie Goethe und Schiller das kleine Weimar
zu einem Ursitze geistigen Ruhmes für alle Zeiten ge-
stalteten, so wird durch das geniale Heldentum des
musikalischen Dioskurenpaares, Wagner und Liszt, die
Frankenstadt Bayreuth in die erste Reihe welthistorischer
Kultstätten ewiger Schönheit erhoben."
Und soll ich hier auch noch die für so viele andere
Blätter beschämende, für uns freilich nur um so er-
freulichere Thatsache registrieren, dass eine theo-
logische Wochenschrift, das «Deutsche Protestanten-
blatt" No. 36/37, in einem ungemein warm geschriebenen
Artikel über „Tristan" und „Parsifal" von Bayreuth
Notiz genommen hat, dessen Verfasser — Dr. Ad. Port ig,
Pastor in Bremen — den W. Golther'schen Satz:
»Glückselig ist der, dem die Ton weit des Tristan
nicht verschlossen bleibt", voll unterschreibt und vom
„Parsifal" einen „besseren Menschen" mitgenommen
haben will? (Nach dieser theologischen Wochenschrift
sind die Expektorationen eines anderen protestantischen
Theologen zu widerlegen; cf. „Brieger Zeitung" vom
9. Dezember: Bericht aus Gr.-Glogau über den Vortrag
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364
Wagneriana. Bd. III.
des Konsistorialrates Prof. Dr. Meuss über „Die Bay-
reuther Festspiele im Lichte der evangelischen Kirche".)
Endlich ist noch die «Gegenwart*1, bei welcher es
schon den Anschein haben wollte, als würde sie dies-
mal sich gänzlich in Schweigen hüllen, soeben, kurz
vor Thorschluss, noch mit auf dem Plan erschienen,
und ich bin daher in der angenehmen Lage, meinen
Bericht auch mit einem durchaus erfreulichen Ausblick
zum Abschlüsse bringen zu können. Wir haben es
wohl zunächst der Person des Verfassers selbst, eines
offenkundigen Anhängers der Sache und tüchtigen Mit-
arbeiters am Kürschner'schen Jahrbuche", zu danken,
dass dieser »Rückblick auf die Bayreuther Festspiele*
überhaupt noch erschienen ist, der ohne Zweifel die
Scharte wahrnahm, welche sich ergeben hätte, wenn
ein Blatt, wie die .Gegenwart", dieses 10 jährige
Jubiläum der Festspiele total ignoriert haben würde:
die Redaktion selbst hätte sich wahrscheinlich auch
ohne diesen Artikel ganz wohl gefühlt — jeder Zoll
ein «Zolling"! Und wir danken ihm diese Veröffent-
lichung in der That herzlich und aufrichtig, ist der
genannte Aufsatz doch so treffend, so anregend ge-
schrieben und fein empfunden, dass man ihn sich nicht
besser wünschen könnte. War es aber auch bei einem
Dr. Fritz Koegel — denn dieser ist der Verfasser —
anders zu erwarten? Dass er hin und wieder einmal den
kritischen, so sehr beliebten .objektiven" Mittelweg ein-
schlägt, dürfen wir ihm nicht verargen, wo er es doch
sonst so ernst mit der Sache nimmt. Auch erscheint
es bei ihm als einem Mitarbeiter am Jahrbuche" ja
einigermassen erklärlich, wenn er für Moritz Wirths
Marke-Theorie Partei ergreift. Des Weiteren muss ich,
so sehr ich mich freue, dass er vom .Tristan* erwähnt:
er habe in Bayreuth .erst seine Heimat gefunden",
doch direkt bestreiten, dass .die Bühnenbilder im
Die Pflege des Erbes.
365
Wesentlichen denen der Leipziger Aufführung ent-
sprechen". Alle diese Dinge aber, wie nebenbei auch der
Umstand, dass der Dirigent der „Tristan"- Aufführungen
nach diesem Bericht Mokl heissen müsste(eine Namens-
änderung, die natürlich dem Setzer in die Schuhe zu
schieben ist, aber auf einer sachkundigen Redaktion
bemerkt werden musste) — dürfen uns nicht ernstlich
stören, noch verstimmen, finden wir doch in unserem
Aufsatze erhebende, herrliche Stellen, wie die folgenden:
„So gross ist die Macht dieser Persönlichkeit
(Wagners), dass der dritte grosse Tote, der wenige
Wochen erst in Bayreuth ruht, dass Franz Liszt im
Lärm der fort gehenden Festspiele und des weiter
schreitenden Lebens fast vergessen auf dem Fried-
hofe schläft. Ich fürchte, dass von den heurigen
Festspielgästen viele das frische Grab auf dem
Friedhofe nicht gesehen haben; das Grab im Parke
von Wahnfried haben wohl Alle besucht" . . .
„Man weiss und sieht das nach jeder Aufführung
klarer, dass ,Parsifal* eine symbolische Welt-
dichtung von tiefstem ethischem Gehalte
ist . . . Wir freuen uns, dass der ,Parsifal(, das
einzige Werk Wagners, das ausschliesslich Bayreuth
angehört, bis auf Weiteres, hoffentlich noch recht
lange, den Bayreuther Festspielen verbleibt. Von
einer Verpflanzung des ,Parsifal* auf die andern
Bühnen können wir uns keinen Vorteil,
weder für die Popularisierung, noch für die
künstlerisch-reine Aufführung des Werkes
versprechen. Es würde ihm gehen, wie es dem
,Nibelungenring* ergangen ist, der durch unzu-
längliche Aufführungen auf allen möglichen kleinen
Bühnen wohl sehr bekannt, aber auch entstellt und
als Ganzes zerstückelt worden ist" . . .
366
Wagneriana. Bd. III.
„In dem von Wagner gewollten Sinne sind
die Bayreuther Vorstellungen doch Muster-
vorstellungen: sie stellen die Werke seiner letzten
Periode dar in Aufführungen, deren stilvolle Treue
verbürgt wird durch die in Bayreuth gepflegte
und fort gepflanzte künstlerische Ober-
lieferung, und deren möglichst künstlerische
Vollendung erzielt wird durch den hohen
Ernst und die peinliche Sorgfalt der Ein-
studierung und Leitung dieser Werke, der es
einzig darum zu thun ist, das Kunstwerk
durch die lebendigste Darstellung zum Ge-
fühlsverständnisse der Hörer zu bringen."
Nicht wahr, das lässt sich hören? — Genug, wir
freuen uns dieses schönen Abschlusses der Jubiläums-
Kampagne und ziehen nunmehr unser Fazit: Wir er-
kennen danach, wie Alle, Freunde und Gegner (wenn
auch diese mit geballter Faust und ingrimmig genug),
darin überein kommen, dass Bayreuth in diesem Jahre
ausserordentlich stark besucht war, und dass ein Uber-
schuss von 15000 Mk., trotz den durch die Neu-
einstudierung des „Tristan" beträchtlich ver-
mehrten Ausgaben, faktisch erzielt worden ist. Wir
sehen: wie sie uns Alle den materiellen und ideellen
„Erfolg" wohl oder übel anerkennen müssen; wie sie sich
erstaunt zeigen darüber, dass es „gegangen" ist, und wie
sie die Sicherung der Festspiele auch für die Zukunft mit
mehr oder minder süss-sauren Mienen zu proklamieren
sich gezwungen sehen. Da gehen wir denn im frohen
Bewusstsein unserer Kraft und der erhebenden Gewiss-
heit gegenüber allen künstlich gemachten „Illusionen"
für jetzt ruhig wieder zur Tagesordnung über, jeder
von uns an seine besonderen Arbeiten und jeweiligen
Berufsgeschäfte, und geben einstweilen nur ganz im
Die Pflege des Erbes.
367
Vorbeigehen bei allen Herren Gegnern der Sache unsere
Visitenkarte höflichst ab mit einem bedeutsamen: ü. A.
w. g.! — was wir heute zur Abwechslung einmal aus-
deuten wollen in die Worte:
„Um Anerkennung wird gebeten l"
2. Die idealen Aufgaben des „Allgemeinen
Richard Wagner -Vereins"
(1887)
„Erlöse, rette mich
aus schuldbefleckten Händen!**
Zunächst bin ich dem gesch. Leser die Erklärung
schuldig, dass ich mit meinem Eingangs - Motto nicht
etwa den Allgemeinen Richard Wagner -Verein als jenes
„aus schuldbefleckten Händen zu erlösende* Heiligtum
gemeint habe, sondern dass mit jenem der All-
gemeine Richard Wagner -Verein selbst apostrophiert
und unter jenem Heiligtum vielmehr die Wagner'sche
Kunst von mir verstanden worden ist — wir somit er
mahnt bleiben sollen: „das Heiltum heil uns zu bergen",
und sollten wir, es zu hüten, es zu wahren, auch Wunden
jeder Wehr daran gewinnen müssen. Mehr denn je
hat sich gerade heuer den Festspielbesuchern zu Bay-
reuth, und vor Allem den wahren und ernsten Freunden
der Sache, die Überzeugung aufgedrängt: nicht nur, dass
das Bayreuther Bühnenfestspiel als nationales Institut
dauernd zu erhalten ist,*) sondern auch, dass Wagners
Werke erst dort die ihrer würdige Stätte finden, erst
•) — ich erinnere hier nur an den Ausspruch des Prinzen
Wilhelm, welcher meinte: es wäre eine Schmach für die
ganze deutsche Nation, wenn die Festspiele nicht erhalten werden
könnten — und hiefür sofort 1000 Mk. zeichnete!
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368 Wagneriana. Bd. III.
dort zu echt künstlerischem, wahrhaft organischem Leben
auferstehen. Namentlich von „Parsifal", dem weihe-
vollsten Werke des Meisters, muss dies in hervor-
ragendem Sinne gelten. Aber auch von den anderen
Werken Wagners kann man sagen: so wünschenswert
es ist, dass sie dem deutschen Volke mehr und mehr
zugänglich, da und dort an bedeutenderen Opernbühnen
aufgeführt werden, und so anerkennenswert es ferner
bleibt, wenn überhaupt die leistungsfähigeren Theater
Bayreuth nacheifern — es gilt vor Allem doch, jene
insgesamt erst einmal auf Bayreuther Boden zu
verpflanzen und dort in musterhaften Aufführungen
der Welt und namentlich der Nation zu zeigen, was
Originalstil, was deutsche Kunst überhaupt ist.
Dazu aber gehört periodische Wiederkehr der Bayreuther
Festspiele, und zu dieser wieder gehört — Geld.
„Der Allgemeine Richard Wagner- Verein hat den Zweck:
die Bayreuther Bühnenfestspiele zu fördern und für
alle Zeiten erhalten zu helfen, und zunächst periodische,
mindestens in jedem dritten Jahre wiederkehrende Auf-
führungen der Werke Richard Wagners im Festspiel-
hause zu Bayreuth anzustreben0 — so lautet der $ 1 seiner
erst in diesem Sommer revidierten Vereinssatzungen.
Indem der Verein also für diese Idee wirkt, indem er
nach $ 21 dieser Statuten Geld, die materielle Basis
für eine Realisierung des Ideales, herbei schafft, erweist
sich sein Zweck trotz diesem höchst materiellen, peku-
niären Untergrunde doch als ein durchaus idealer,
denn es gilt ihm, „das Heiligtum" der Wagnerischen
Kunst aus den „schuldbefleckten Händen" der Mode
und des O p e r n - Schlendrians „zu erlösen und zu
retten" zum „Heiltum" des Stiles! Aber freilich, er
erreicht dieses Ziel nur, wenn möglichst Viele dem
Vereine beitreten, wenn man ihn unterstützt in seinen
Bestrebungen, nicht aber, wenn man immer schon zu-
Die Pflege des Erbes. 369
vor den Leuten von einem Eintritt in seinen Kreis
abrät, weil — ja weil er noch nichts geleistet habe.
Eine eigentümliche Logik! Nicht alles kann stets gleich
auf einmal erreicht werden und auch schon vorhanden
sein; man bedenke doch nur, dass wir ja erst eine
Vereinsthätigkeit von ca. 3 Jahren zu verzeichnen haben!
Muss es denn immer gleich mit der Schnellpresse gehen?
„Die Wagner -Vereine haben Nennenswertes bisher
nicht geschaffen", so haben wir in letzter Zeit von
-mehrfachen Seiten her hören müssen*), so sprach es
•erst jüngst klar und deutlich Dr. P. Marsops Broschüre
„Unsere Illusionen" aus. — Prüfen wir einmal ernst-
lich, welche Berechtigung etwa eine solche Behauptung
'für sich in Anspruch nehmen kann. Vor Allem: Was
verstehen wir unter jenem „Nennenswerten- in Hinsicht
.auf eine erspriessliche Thätigkeit des Allgemeinen
Richard Wagner-Vereins? Offenbar doch zunächst und in
•erster Linie eine nach Kräften bewerkstelligte Erfüllung
<der oben angeführten idealen Pflichten. Wir fragen
nun: Hat der Verein heuer (laut Ausweis der Zentral-
leitung vom 5. Juli d. Jahres) nicht bereits 1600 Frei-
karten zu den Festspielen angekauft?**) Hat er nicht
•) Sehr eigentümlich ist auch der Vorwurf, den W. Broesel
in einem Aufsatze „Zur Liszt- und Wagner-Frage" (vgl. Kastners
„Wiener Musikal. Zeitung" 1886, No. 18) den Wagner -Vereinen
-macht: „sie entbehrten jedes idealen Ertrages", weil — sie die
Korrektheit der Auffuhrungen Wagnerischer Werke nicht über-
dachten. Was soll denn der Wagner-Verein hierin thun?
Wohl Dramaturgen und Rezensenten anstellen und besolden?
Das fehlte gerade noch!
**) Es ist zu konstatieren, dass die hiefür eingezahlte
-Summe von 32000 Mk. äquivalent ist den Kosten, welche die
Neubeschaffung der „Tristan'-Dekorationen und -Kostüme ver-
ursachte, so dass dadurch allein jener Überschuss von
ca. 20000 Mk. über den alten, wieder eingebrachten Stamm-
fonds von 180000 Mk. bei der Abrechnung der heurigen Fest-
es p tele erzielt wurde.
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 24
Digitized by Google
370
Wagneriana. Bd. III.
zuletzt 3000 Mk. an den von Fr. Schön in Worms ganz
vortrefflich verwalteten Stipendienfonds abgeführt und
auch neuerdings im Vereinsstatut wieder 15°/0 der Jahres-
einnahmen für diesen bestimmt? Hat er sich nicht in
den letzten zwei Jahren um volle 1000 Mitglieder ver-
mehrt? Gegenwärtiger Stand 5669! Widmet er sich
nicht mit grösster Energie der Begründung einer
„Richard Wagner- Festspiel -Stiftung«, welcher er all-
jährlich 25°/0 seiner Bruttoeinnahmen überlassen will,
und welche die Aufgabe haben soll, »die Bühnenfest-
spiele in Bayreuth zu fördern wie dauernd im Geiste
Wagners zu erhalten* (vgl. $$ 22 und 23 der Satzungen)?
Und hat er endlich nicht von einigen Orten aus Extra-
züge nach Bayreuth veranstaltet, welche die Kosten des
Besuches um ein ganz Bedeutendes vermindert haben?
Auf alle diese Fragen antwortet uns der laufd. Jahrgang
der „Bayreuther Blätter" durchweg bejahend, und auch
die im „Wagner-Jahrbuch" veröffentlichte Chronik „Ein
Jahrzehnt des Vereinslebens" von Hans Paul v. Wolzogen
giebt reichlich und in durchaus befriedigender Weise
darüber Auskunft. Uberall sehen wir also die ideale
Tendenz des Vereins gewahrt: der Realität des
Ideals die materielle Basis zu schaffen.
»Je grösser der Kreis der Mitglieder dieses
Vereines wird, desto bedeutender kann auch
das Mass der Vergünstigungen werden,
welche die Leitung des Vereins in jeder
Weise anstrebt" — so heisst es darum auch sehr
richtig in dem jüngsten, vergangenen Sommer auf dem
Festspielhügel vielfach zur Verteilung gelangten und
im „Wagner-Jahrbuche" wieder abgedruckten, „Aufrufe
der Zentralleitung des Allgemeinen Richard Wagner-
Vereins".
Indes, wir gehen weiter und erinnern uns, dass es
im $ 1 der Statuten gleich am Anfange geheissen hat:
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Die Pflege des Erbes.
371
es sei die Absicht des Vereines, „die Festspiele zu
fördern". In welchem tieferen Sinne dieses „Fördern"
hier gemeint sei, ersehen wir aus dem $ 8, in welchem
die Zweigvereine u. a. zu litterarischer Agitation und
zu geistiger Verbreitung der Ideen des Meisters an-
gehalten werden. Auch von dieser Seite der idealen
Aufgabe haben wir aber nur Gutes zu berichten. Ich will
gar nicht davon sprechen, wie belehrend und fördernd
an sich schon der internationale Charakter des Ver-
eines sein muss; ich will hier nur die litterarische
Thätigkeit und Regsamkeit der Zentralleitung wie ein-
zelner Ortsvertretungen nachdrücklichst konstatieren.
Ein unschätzbares Verdienst des Vereines ist es, aus
eigenen Mitteln die Herausgabe der „Bayreuther
Blätter" zu leisten, die ich — entgegen der „Neuen
Freien Presse" (welche in ihnen bekanntlich ein „in der
That höchst unnützes Unternehmen" sieht) für ein ebenso
wertvolles, als wichtiges „Organ" halten muss. Denn
nicht nur das Kunstwerk von Bayreuth muss von der
Welt isoliert bleiben, um mit der ganzen Eindringlichkeit
und Kraft, die ihm zu Gebote stehen, zu dieser Welt
reden zu können, auch die „Bayreuther Blätter**, indem
ihnen der Allgemeine Richard Wagner -Verein diese Ab-
geschiedenheit wahrt, sichern dem Bayreuther Ideal,
den durch Wagner in die Welt gesetzten Kulturideen,
die ernste Lebensgrundlage. Die „Bayreuther Blätter** sind
notwendig und wesentlich für Bayreuth und eine echte
Wagner'sche Kunst; durch den Allgemeinen Richard
Wagner-Verein stehen und leben sie, hätten sie doch
im vergangenen Sommer auf der Generalversammlung
zu Bayreuth vielleicht fallen können — wenn eben der
Allgemeine Richard Wagner-Verein nicht gewesen wäre!
Wir haben also auch hier nur wieder eine treue Er-
füllung seines idealen Berufes auf Seiten unseres Ver-
eines zu verzeichnen. Von der Herausgabe der immer-
24»
372
Wagneriana. Bd. III.
hin wertvollen .Bayreuther Festblätter" zum Festspiele
vor zwei Jahren durch den Verein, will ich hier lieber
schweigen, da diese auf der letzten Generalversammlung
— wohl nicht ganz mit Unrecht — als Luxus- Unter-
nehmen mehrfache Angriffe erfahren hat. Dagegen be-
trat der Verein durch Herausgabe des „ Bayreuther
Taschenkalenders " für 1885, 1886 u.s.w. von durchaus
interessantem, belehrenden Inhalte, sowie durch Ver-
sendung von gediegenen Flugschriften etc. zu besonderen
Gedächtnistagen, mit Glück und Erfolg auch die Bahn
einer mehr populären litterarischen Agitation — ganz
zu geschweigen der äusserst eifrigen und erspriesslichen
Thätigkeit einiger weniger, besonders energischer Orts-
vertretungen, wie derjenigen zu Karlsbad, Riga, Troppau,
Wien, Graz u. a., welche keine passende Gelegenheit
vorüber gehen lassen, in der betr. Lokalpresse durch
Leitartikel, Abdrücke einzelner Anzeigen aus den »Bay-
reuther Blättern* auf diese, auf Bayreuth, Wagner und
die Wagner'sche Kunst ein weiteres Publikum anhaltend
aufmerksam zu machen. Dass es bisher noch nicht
überall so anzutreffen ist, liegt zum Teil an äusseren
lokalen Verhältnissen, zum Teil an den betreffenden
Persönlichkeiten, aber gewiss noch lange nicht am
Verein oder der Zentralleitung selber, die ihr Mög-
lichstes wahrlich thut und gethan hat, um zu wirken.
Ich bin übrigens hier nicht zum Lobredner der
Zentralleitung aufgestellt und verkenne natürlich durch-
aus nicht, dass in der That hier und da Fehler gemacht
wurden. Nur damit es nicht den Anschein habe, als
hätte ich hier absolut nur schön zu färben oder am
Ende gar — in Reklame zu machen, seien im Folgenden
einige solcher Mängel besonders erwähnt. Es ist vor-
gekommen, dass Ortsvertretungen Leuten, welche sich
um Stipendien bewarben, ausdrücklich davon abgeraten
haben, in den Verein einzutreten, und zwar mit dem
Die Pflege des Erbes.
373
Argument: wenn sie dem Vereine beiträten, würde man
glauben, sie könnten auch die Reise u. a. zahlen. Nun
wissen wir aber doch, dass man vor zwei Jahren auf
der Generalversammlung entschieden betont hat, dass
nur oder wenigstens thunlichst Mitglieder bei
der Bewerbung um Stipendien etc. berücksichtigt werden
sollten. Wie sollen wir uns nun das zusammen reimen?
Ferner ist es ohne Zweifel eine grosse Un-
gerechtigkeit, wenn — laut den Ausschreibungen
Münchener Blätter — auch für Nichtmitglieder
Reise (hin und zurück mit vierzehntägiger Gültigkeit)
und Billete für „Parsifal" und „Tristan4* gelegentlich
des Münchener Extrazuges zusammen nur 35 Mk.
kosteten, während langjährige Mitglieder, die solche
Gelegenheit nicht ausnützen konnten, nicht nur die
Reise ungleich teurer, sondern auch für die beiden
Vorstellungen allein schon 40 Mk. bezahlen
mussten. Auch an anderem Orte sollen in dieser
Hinsicht Ungehörigkeiten vorgekommen sein. Selbst, die
Generalversammlung des Vereines gleich am Tage nach
der ersten Vorstellung abzuhalten, muss ich persönlich
für durchaus verfehlt erachten. Endlich sei nicht ver-
schwiegen, dass der Vertrieb des „Bayreuther Taschen-
kalenders " ein ungenügender war, wie denn überhaupt
in administrativer und geschäftlicher Hinsicht an
kompetenter Stelle manches viel frischer und flotter
noch vor sich gehen dürfte.
Dass durch die Konzertvorträge und musikalischen
Soireen mit dilettantenhaften Produktionen aus Wagneri-
schen Werken (in einzelnen Zweigvereinen) auch nichts
gedient ist, und dass man bei diesen allein nicht stehen
bleiben dürfe, habe ich schon wiederholt ausdrücklich
zu bemerken Gelegenheit gefunden; es freut mich nur,
mittlerweile in C. M. v. Webers Briefen an seine
Gattin (S. 147) den interessanten Satz gefunden zu
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374
Wagneriana. Bd. III.
haben: „Der ist mein Feind, der etwas von meinen
Opern im Konzert geben will." Etwas Anderes ist es
dagegen mit der geistigen Verbreitung der Wagnerischen
Werke, ihres Inhaltes und ästhetischen Wertes, mit der
geistigen Fortpflanzung der Ideen des Bayreuther
Meisters. Ich muss gestehen, dass man es immerhin
bedauern kann, dass davon nicht m e h r in den Satzungen
des Vereines steht. Denn, wenn ich wohl auch das „die
Bayreuther Bühnenfestspiele zu fördern* des § 1 im
Hinblick auf $ 8 in diesem Sinne gedeutet habe, und
wenn der Verein — wie wir oben gehört haben —
auch nach dieser Richtung hin voll und ganz seinen
idealen Pflichten nachzukommen strebt: für den Verein
als solchen, als dessen Zweck und Tendenz, steht doch
im $ 1 ausser der periodischen Wiederkehr der Fest-
spiele nichts Derartiges verzeichnet. Man darf also
sagen : er thut faktisch mehr, als ihm seine
Statuten vorschreiben!
Glaube ich somit im Obigen Dr. Marsops Behauptung
zur Genüge widerlegt zu haben, so kann ich ihm auf
der anderen Seite bezüglich eines Passus seiner
Broschüre durchaus nur beistimmen. Es ist in letzter
Zeit mehr als einmal das Gerücht aufgetaucht, dass
sich der Verein, der doch nun einmal eine starke
äussere Stütze und zur Bekräftigung seiner Bestrebungen
einer offiziellen nationalen Anerkennung bedürfe, über
kurz oder lang einmal an den Reichstag um Akkredi-
tierung und Subventionierung der Bayreuther Festspiele
wenden würde. Ich weiss nur zu gut, dass man in
massgebenden Kreisen nicht im Geringsten, auch nur
mit einem Gedanken, daran denkt, möchte aber hier
doch wenigstens alle jene frommen Schwärmer über
ihren Irrtum aufklären, welche offenbar wieder einmal
„glaubten, was sie wünschten0. Sie haben nämlich
gewiss gar nicht dabei erwogen, dass sie sich mit diesem
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Die Pflege des Erbes
375
Projekte in absolutem Widerspruch mit ihrem Meister
selber befänden. Oder, wäre es etwa nicht die von
Jenem überall und stets so energisch bekämpfte Ver-
quickung der Kunst mit der Politik, die von
ihm durchaus verpönte Bevormundung der ersteren
durch die letztere, was wir, selbst im günstigsten
Falle, von solchem Vorgehen zu gewärtigen hätten?4)
Marsop behält also mit seiner Auffassung über diesen
Punkt (s. S. 37 f. seiner Broschüre) sicherlich voll-
kommen Recht, ja er trifft vollends den Nagel auf den
Kopf, wenn er (ebenda) sich dahin ausspricht: „dass auch
im vorliegenden Falle, in Sachen des und der Wagner-
Theater, uns der «parlamentarisch formulierte Wille
der Nation*, nur auf einem anderen Wege, ganz das-
selbe zu verstehen geben dürfte, was uns die Gesell-
schaft, die Presse und die anderen oben genannten
Faktoren bereits auf ihre Weise zu verstehen gegeben
haben" . . .
So steht der Verein denn fest auf eigenen Füssen,
auf sich selbst begründet und in sich gefestigt, da —
stark, ohne Protektion; aber er verhehlt sich auch
nicht, dass er vor Allem und in erster Linie nur die
ideale Pflicht, die bedeutsame Aufgabe hat, Bayreuth
zu erhalten, die Festspiele nach seinem Teil und seinen
Kräften mit dem im vergangenen Sommer zu Bayreuth
begründeten „Neuen Patronat" zu garantieren. Es
ist eine durchaus ideale Tendenz, die auch diesen
Idealismus in allen ihren Äusserungen deutlich zur
Schau tragen wird. Mehr in's Reale gehende Be-
strebungen, wie die des „ Wagner-Jahrbuches", der neu
entstandenen «Pionier- Korrespondenz" u. a. — welche
•) Ich weiss recht gut, dass Wagner selbst (Bd. X seiner
Ges. Sehr., S. 21 und 38) einmal für solches Petitionieren an
den Reichstag plaidiert hat; aber nimmt der Meister seine An-
sicht ebenda S. 145 f. nicht auch ausdrücklich wieder zurück?
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376 Wagneriana. Bd. III.
die Wagnerische Kultur auf den verschiedensten Gebieten
des praktischen Lebens in Gesundung überzuleiten
trachten und die Sonne des Wagnerischen Ideals im Prisma
des Realen zu vielfarbigem Lichte brechen wollen —
mögen unbehelligt, ja sogar willkommen geheissen,.
nebenher laufen. Wir nur müssen an jener rein idealen
Aufgabe des Wagner- Vereines und der „Bayreuther
Blätter" durchaus festhalten; der Allgemeine Richard
Wagner- Verein wie sein Organ, eben diese „Bayr. Blätter",
sind — wir wiederholen es nochmals — auf den Satz
gegründet und haben die erste Pflicht: das hohe Ideal,
den Gral, das Heiligtum — oder wie man's nennen
mag, lauter und rein zu wahren; es dem wechselnden
Alltagsleben, dem Geschmacke der Mode, den trügenden,
täuschenden Tagesgespenstern zu entziehen; es, wie die
Walküre, auf einen Berg zu bannen und mit dem
lodernden Feuer des Idealismus vor keckem Obermute
wie gegen fremde, unebenbürtige Eindringlinge zu
schützen; so aber dann auch, indem es dem Heiligtum
die ungetrübte, reine und lautere Leuchtkraft bewahrt,
realiter im Innern des empfänglichen Besuchers eine
reiche Gemütswelt zu entzünden, einen neuen Geist
zu wecken, eine starke, ideale Kultur aufgehen zu lassen,,
die gewiss je mehr Früchte auch für das reale Leben
tragen wird, je mehr Menschenkinder dieser „Wieder-
geburt" zu Bayreuth überhaupt teilhaftig werden
können. Man vergegenwärtige sich doch nur einmal*
wie lächerlich und erbärmlich unser hoch gelobtes Zeit-
alter in 100 Jahren einmal dastehen würde, wenn es
die Errungenschaften Wagners, und vor Allem seine Fest-
spiele, wirklich wieder aufgeben und einschlafen lassen
könnte! Alles, alle ästhetischen Prophezeiungen des
ganzen vorigen Jahrhunderts, die gesamte deutsche Kunst-
entwicklung weisen gerade auf diese Bayreuther
Nationalbühne hin: hier steht sie endlich, einmal, ve ge9ta<^
Die Pflege des Erbes.
faktisch errichtet, „aufgebaut so hoch da droben " in der
Welt — und man lässt sie nun einfach fallen. Doch nein I
Ich habe ja nur einen Augenblick geträumt; wir haben
ja nur hypothetisch „angenommen". Gottlob, noch steht
sie, noch ist alles in guter Ordnung, »noch haben wir
eine Kunst*, und der Allgemeine Richard Wagner-
Verein lebt und sorgt, dass es also bleibe. Lesen wir
in Wagners Ges. Sehr. Bd. X, S. 15 — 51, 139 ff.,
nehmen wir die „Bayr. Blätter" des vorigen Jahrganges
Stück I zur Hand, schlagen wir die Geschichte der
Bayreuther Festspiele von Karl Heckel und die Rede
des Meisters von Franz Muncker im „Wagner-Jahrbuche"
1886 auf — überall werden wir gewahren und die feste
Überzeugung gewinnen: Der „Allgemeine Richard Wagner-
Verein" und die „Bayr. Blätter", sie haben das Testament
Wagners angetreten und sie vertreten sein Erbe im
edelsten Sinne des Wortes. Darum auch:
„Ich denke, keiner von Euch es bereut,
Ruft er mit mir: — es lebe Bayreuth!"
Richard Wagner
bei der Hebefeier des Buhnen-
festspielhauses zu Bayreuth.
3. Ein „offenes14 Schreiben
(1888)
Wertester Herr Lessmann!
Sie haben in der letzten No. 33/34 Ihrer gesch.
Zeitschrift unter der Rubrik „Theater und Oper44 von
einem Artikel Ludwig Hartmanns ausführlicher Notiz
genommen, der sich in Betrachtungen über „Zauber-
flöte44 und „Parsifal44 ergeht. So geistvoll und belehrend
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378
Wagneriana. Bd. III
diese Ausführungen des ausgezeichneten Musik-
schriftstellers auch sind, in einem Punkte bedürfen
sie doch einer entschiedenen Berichtigung. Ich lese da:
„Ist der Ultra-Bayreuthismus anderer Ansicht — gegen
Wagner verstösst es nicht, glühender Mozart-
bewunderer zu sein" — und traue meinen Augen kaum.
An wen von den echten Anhängern und wahren Adepten
Wagners mag da Herr Hartmann nur gedacht haben?!
Schon einmal, als Dr. Th. Goering in seinem Buche
„Der Messias von Bayreuth" auf seine Mozartverehrung
sich 'was zu Gute that und die Sachlage in der Weise
darzustellen suchte, als ob eine solche bei den „Wag-
nerianern" neben der Schwärmerei für ihren Meister
nicht recht bestehen könne, habe ich es lebhaft als
«ine Schmach empfunden, dass dergleichen überhaupt
öffentlich ausgesprochen werden und ungerügt hingehen
konnte. Ich hielt indessen eine ernstliche Widerlegung
für unnötig, zumal die Anklage von einer, zum Wenigsten
in dieser Frage nicht ganz kompetenten Seite aus-
gegangen war. Wenn aber jetzt ein erprobter, warmer
Anhänger Wagners von der litterarischen Bedeutung
Ludwig Hartmanns, mit der Spitze gegen Bayreuth gerichtet,
den dreisten Satz in die Welt hinaus schickt: „Es wird
hohe Zeit, dass wir Wagnerianer der alten Observanz
es öffentlich aussprechen : dass Wagners Lehre von
glühender Verehrung für Joh. Seb. Bach, Gluck, Mozart
und Beethoven durchdrungen war, dass er stets
mündlich und schriftlich die strenge Kontinuität der
Kunstentwicklung anerkannt und sich lediglich als ein
Glied in der Kette der Entwicklungen betrachtet hat"
— so geht mir das doch ein wenig über den Spass. Denn
was lehren wohl die v. Wolzogen, v. Hausegger, v. Stein,
Glasenapp, Porges, Stade im Grunde Anderes, als solche
Haupt- und Grundlehre? Und — wenn es gestattet ist,
unter diesen ehrwürdigen Kämpen für die Sache
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Die Pflege des Erbes.
379
Wagners auch einen Wagnerianer »junger« Observanz
anzuführen — was Anderes predigt denn der Unter-
zeichnete allerwege ? Wenn aber Hartmann weiterhin noch
fortfährt: „Wagner ist nur durch den Tod verhindert
worden, ausser seinen Werken auch Gluck, Weber,
Mozart u. s. w. in Bayreuth ,stylgerecht4 aufzuführen.
Nach Einlösung seiner Verpflichtungen gegen die
Patronat- Vereine sollte diese erweiterte Thätigkeit
Bayreuths beginnen . . . Die Zauberflöte neben Parsifal
unter Wagner in Bayreuth! Man darf dem Gedanken
nicht nachhangen; es ist überaus traurig, dass er un-
erfüllt blieb. Auf dem Rückwärtswege vom Parsifal
zur Zauberflöte ist sein Geist von uns geschieden, und
wir vermissen ihn schwerer als jene, die bei Parsifal-
festspielen vergessen — was Wagner noch auf Erden
gewollt hat!b ... so muss ich schon fragen : Wer sind wohl
„jene**, die da „vergessen*1? Wer sagt ihm denn, dass
Bayreuth diese Pflichten je aus den Augen verloren
hat? Wer hat ihm eingeflüstert, dass Bayreuth nicht
auf jenem Rückwege vom Parsifal zur Zauberflöte be-
griffen sei, wenn es jetzt die früheren Schöpfungen
des Meisters in stylgemäss-würdiger Aufführung nach und
nach alle über die Bayreuther Bretter (welche bekanntlich
die „Intendanz-geleiteten" Hof- und Opernbühnen nicht
bedeuten) zu führen sucht, um so allmählich auch
noch bei den „Muster"- Vorstellungen klassischer Opern
anzulangen? Ich wenigstens glaube ihm aus bestimmtester
und sicherster Quelle versichern zu können, dass man
sich in Bayreuth an berufener Stelle, genau genommen,
mit gar keinem anderen Gedanken mehr als diesem ein-
zigen trägt I Hat Herr Ludwig Hartmann mit seinen
Ausstellungen nur andeuten wollen, dass Mozart im
Wagnerianischen Lager zwar im Sinne des Meisters
verehrt und bewundert, aber den Gegnern Wagners
gegenüber noch nicht genugsam betont, geschweige
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380 Wagneriana. Bd. III.
denn gehörig gepflegt wird, dann reiche ich ihm freudig
die Hand, denn auch ich — ein „Bayreuthianer" $an*
phrase — lebe dieser Ansicht. Wollte er aber damit
nur sagen, dass man den Spuren des Meisters nicht
pietätvoll genug nachfolge, dass man für eine Mozart-
Begeisterung neben dem Festspiel-Kulte kein Organ
mehr zu finden und keinen Platz mehr zu haben scheine,
— dann, so leid es mir thut, einer so ausgezeichneten
Feder widersprechen zu sollen — dann muss ich ein
entschiedenes Veto dagegen einlegen. Und dass er es in
diesem letzteren Sinne leider nur gemeint haben kann,
dass er sich neuerdings mit ziemlicher Akzentuation
gegen Bayreuth und die „führerlose Bayreuther Ge-
meinde" wendet, das zeigen auch seine unmittelbar
vor Eröffnung der diesjährigen Festspiele in der „Sächs.
Landeszeitung" publizierten Expektorationen über das
Bühnenfestspielhaus: von welchen hier ebenfalls zu
sprechen, auch wenn sie mit dem von Ihnen zum Abdrucke
gebrachten Artikel nicht in unmittelbarem Zusammenhange
stehen, Sie mir gütigst noch gestatten mögen. Die Semper*-
schen Entwürfe „für ein nach München bestimmtes
Festspielhaus" in der Münchener Kunstausstellung geben
ihm da nämlich Anlass zu schmerzlichen Vergleichen^
wie so ganz anders es geworden wäre mit dem präch-
tigen Bau in München, wo die Wagnerkunst, „unter dem
Meister und unter wirklich Berufenen entwickelt, dauernd
einen mächtigen allgemeinen Kunstfortschritt begründet
hätte, fern jener exklusiven Einseitigkeit Bayreuths,
in glücklichem Ebenmasse, genau wie es Wagner mit
Bayreuth gewollt, ausser Wagnerwerken auch die an-
deren Blüten der klassischen und romantischen Epochen
musterhaft verkörpernd". „Nur dass das Wagnertheater
just in Bayreuth steht und verweht, anstatt in München;
zu thronen, das in artibus doch unbedingt die Haupt-
stadt des Reiches deutscher Nation ist, das drängt sich.
Die Pflege des Erbes.
381
dem Beschauer vor Sempers Modell auf*: mit diesem
edlen Stossseufzer schliesst Herr Ludwig Hartmann — ein
zweiter Jandator temporis acti" — seine fromme Epistel.
Ich kann ihm da vor Allem den Vorwurf nicht ersparen,
dass er, wenn er schon beim Kapitel „Mozart" den „Nach-
betern" Wagners gegenüber die „Schriften" des Meisters
als Trumpf ausgespielt hatte, diesmal selber eben die
nämlichen, eigenhändigen Aufzeichnungen Wagners zu
wenig zu Rate gezogen hat. Oder spricht der Meister in
den Schriften seiner späteren Periode nicht immer und
immer wieder von der so notwendigen Isolierung seines
Kunstwerkes, von der weltabgeschiedenen Entfernung
und Versetzung des Festspieles aus dem tumultuarischen
Welt- und Grossstadt-Getriebe sogen. „Kunstmetropolen"
(in denen über lauter Kunstsammlungen d i e Sammlung
verloren geht) in einen deutschen „Winkel" hinein, in
den stillen, leidenschaftslosen Frieden eines abgelegenen,
weniger bekannten deutschen Städtchens von gesunden
und unverdorbenen Sitten. Es ist wahr: das Semper'sche
Projekt für München steht fest und ist als einmal be-
absichtigt nicht im Geringsten wegzuleugnen; Wagner
hat, getragen von der Gunst des königlichen Freundes,
geblendet vielleicht von dessen hochherzigem Kunstsinne,
die geniale und kühne Semper'sche Idee eines die jetzige
Prinzregenten-Anlage abschliessenden, architektonischen
Monumentalbaues für seine nationalen Feier- und Fest-
spiele mit Enthusiasmus aufgegriffen; und auch darüber
besteht wohl keinerlei Zweifel, dass die Bayreuther
„Backstein-Bude" leider weit hinter der Würde des
idealen, ursprünglich geplanten Bühnenfestspielhauses
zurück bleibt.9) Allein man lese erst einmal tiefer in
*) Ich hatte sogar schon einmal den ketzerisch-frivolen Wunsch,
das Festspielhaus möchte einmal im Winter, ohne Verlust von
Menschenleben, auf den Grund abbrennen ; wir wurden gewiss
durch allgemeinste Beteiligung von Seiten der Nation auf Grund
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382
Wagneriana Bd. III.
Wagners „Ges. Sehr, und Dichtungen", lese in Sonderheit
fleissiger in gewissen Aufsätzen des IX. und X. Bandes
derselben und prüfe zum Überflusse das Münchener
Kunstleben wie den innerstem Charakter der mon-
achischen „Bierokratie" auf seinen letzten Gehalt: so
wird man gewiss, weit entfernt, in dem Namen Bayreuth
und in seinem Bühnen-„Tempel" nur einen misslichen
Kompromiss mit der unvermeidlich-leidigen Realität zu
erblicken, in Bayreuth vielmehr eine besonders glück-
liche Fügung in dem Geschicke des Künstlers erkennen,
welche ihm erst die rechte und wahre Vollendung
seines ihm eingeborenen und längst mehr oder minder
hell vorleuchtenden Ideales ermöglichte. Nur einem
kurzsichtigen Blicke könnte auf die Dauer entgehen,
dass das „Kunstwerk der Zukunft", sollte es in der
Gegenwart Leben und Realität gewinnen, (wie weiland
Iphigenie, um zur Priesterin der Gottheit zu werden,
von Diana weg gehoben und an heiligen, geweihten Ort
entführt wurde) zuerst isoliert und an einen still-
umfriedeten Ort gestellt werden musste, um von dort her,
aus dem Geiste der „Sammlung" heraus, zu jener Welt der
„Zerstreuung" da draussen nur um so eindrucksvoller
alsdann zu reden. Und die Thatsache des unerhörten
Erfolges der „Meistersinger" auf der Bayreuther Bühne
von heute während der jüngst wieder zum Abschlüsse
gelangten Festspiele scheint mir hierin aufs Bestimm-
teste Recht zu geben. Zum zweiten Male ist das
Experiment geglückt und der Beweis geliefert, dass
ein Wagnerisches Werk nur erst einmal auf diese ge-
weihten Bretter gebracht, mit seinen Wurzeln auf Bay-
reuther Boden verpflanzt zu werden braucht, um sofort
solchen Unfalles erreichen, worauf wir sonst wohl noch Jahr-
zehnte warten können : einen würdigen und festen, allen Stürmen
trotzenden Bau des deutschen Bühnenfestspielhauses. Aber»
Gott straf mich — ich will nichts gesagt haben t
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Die Pflege des Erbes. 383
auch unglaubliche, nachhaltigste und tiefste Wirkungen
auszuüben, um erst hier sein eigentlichstes Leben
auszuleben, seine Geburt, oder wenigstens seine wahre
Aufertehung zu feiern. Nun, ich dächte, wir lernten endlich
einmal aus diesen unwiderleglichen, durchaus zwingenden
Ereignissen! Und vielleicht hat auch Herr Hartmann seit
diesen neuesten glorreichen Begebenheiten sein ihm ia
schwacher Stunde entschlüpftes Wort längst schon wieder
bereut. Denn warum sollte ein Gleiches später sich
nicht auch einmal mit einem klassischen oder roman-
tischen Meisterwerke noch zutragen können?
Verzeihen Sie, vereintester Herr Redakteur, diese
sine ira ac studio aufgezeichneten, wenn auch langen, Er-
örterungen, wie er sie im Interesse der Sache
und bei der Autorität, welcher sich Herr Ludwig Hart-
mann mit vollem Rechte in Theaterkreisen erfreut, für
notwendig hielt,
Ihrem
ganz ergebensten Mitarbeiter
Arthur Seidl.
4. Betrachtungen
zur zwanzigjährigen Jubelfeier Bayreuth»
(1896)
Wieder hatte der Bayreuther Kunst- und Kultur-
Tempel seine geheiligten Pforten zu einem Bühnen-
festspiele geöffnet; abermals riefen die Fanfaren das
wimmelnde Volk der Bayreuth-Wanderer in hellen
Scharen nach dem eigenartig-weihlichen, das „Geheim-
nis" Bayreuths wie seiner Wirkungen schon in sich
schliessenden Bau — zum bekannten fränkischen Hügel
hinan; auPs Neue wieder hat sich der „Bayreuther
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Wagneriana. Bd. III.
Gedanke*1 an einem Wagnerischen Meisterwerke be-
währen und vor aller Welt Augen deutlich offenbaren
dürfen. Der „Ring" wurde diesmal seinem Ur-Elemente
wiedergegeben; das grosse, mächtige Nibelungenwerk
war es, das heim in's Vaterhaus endlich wieder zurück
gebracht wurde, für das es ursprünglich doch gedacht,
ersonnen, „im Vertrauen auf den deutschen Geist* ent-
worfen und „zum Ruhme seines erhabenen Wohlthäters
< König Ludwigs II. von Bayern)" vollendet worden war.
„Der Irrniss und der Leiden Pfade* kam es, auf die
es Angelo Neu mann, der betriebsame Theatermann,
geschäftsklug die Defizit-Konstellation des ersten Fest-
spieles von 1876 ausbeutend, vor zwei Jahrzehnten
samt allem Requisitenzubehör mit sich geschleppt
hatte — ein dunkler Punkt in der Wagner-Geschichte,
der bei dem Schöpfer des Werkes das Vertrauen in
seine eigene Nation allerdings wohl stark mochte er-
schüttert haben. „Soll es sich denen jetzt entwunden
wähnen?" Darf das gewaltige Drama, wie Brunnhilde,
heute von sich sagen: „Alles ward mir nun frei "? Und
können wir, wie diese hehre Göttermaid ihrem Sieg-
vater Wotan nach Walhall hinauf, so dem genialen
Meister in sein „ Wahn fried" -Grab hinab die bang er-
sehnte Botschaft mit gutem Gewissen nunmehr senden:
„Ruhe, ruhe, Du Gott!" — ? . . .
Die viel berufenen „Zwanzig Jahre sind verflossen,
seit etc. etc.", mit denen acht von zehn Festspiel-Berichten
in diesem allerdings denkwürdigen Jubeljahre zu be-
ginnen pflegen, werden wir hier nicht noch einmal auf-
marschieren lassen. Auch die von der Tagespresse längst
mehr oder minder gründlich besorgte Einzelbesprechung
der darstellerischen, gesanglichen und szenischen Aus-
führungen des hehren, „vierdimensionalen" Wunderwerkes
deutschen Geistes können wir nicht als die Aufgabe
der ernsteren Zeitschrift- Litteratur ansehen. Wir haben
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Die Pflege des Erbes.
385
vielmehr hier Wichtigeres zu thun und glauben litterarisch
gebildeten Lesern aus Anlass eben dieses bedeutsamen
Jubiläums mit einem zeitgemässen Rückblick auf die
Ergebnisse im Ganzen, d. h. mit einem kurzen Ein-
gehen auf den Stand der Sache von heute und einem
klaren Ausblick auf das „Weisst du, wie das wird?"
für die Folge, einen ungleich grösseren Dienst zu er-
weisen. — Frau Wagner, in ihrem jüngsten Manifest an
den Berliner Wagner- Verein (das, nebenbei bemerkt,
in seiner merkwürdig geschraubten Ausdrucksweise einen
Grad von Unnatur erreicht, der sehr peinlich von dem
in Richard Wagners eigenen „Rückblicken" auf die
Festspiele 1876 und 1882 angeschlagenen Tone ab-
sticht) Frau Cosima Wagner also ist ausserordentlich
zufrieden mit ihren „Getreuen«; allein diese sind es
durchaus nicht im gleichen Grade auch mit dem Ver-
laufe der diesjährigen Festspiele. „Das Richard Wagner' -
sche Erbe und seine Erben* — so lautet für Viele von
uns heute schon das Thema, da denn keinem gesund
organisierten Menschen zur Stunde mehr zweifelhaft
sein kann, dass die grosse Schlacht nunmehr geschlagen,
derlärmende „d reissigjährige zukunftsmusikalische Krieg41
zu Gunsten Wagners und der „Zukunftsmusik" selber end-
gültig entschieden ist und das echte Bayreuther Ideal als
solches bereits glänzend über seine Gegner triumphiert
hat. Kommen wir „Wagnerianer" und überzeugten An-
hänger der Sache doch heuer fast schon in's Gedränge
mit unseren Ansichten, und, in die sehr eigentümliche
Lage sogar — während die offizielle, oder sagen wir:
eingeschworene Kritik mit wenigen Ausnahmen in Lobes-
hymnen über die diesjährigen Ergebnisse des Festspieles
sich ergeht, ja selbst früher grundsätzlich oppositionelle
Blätter diesmal begeisterte oder doch zum Mindesten
überraschend warme Töne anschlagen: solcher ver-
änderten Situation gegenüber mit einem Male nun
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 25
Digitized by Google
Wagneriana. Bd. III.
manch' erbebliche Differenz mit dem Bayreuth von
heute ehrlich aussprechen und in der Beurteilung des
Ganzen beherzt unseren eigenen Weg da und dort ein-
schlagen zu müssen.
Und warum alles dies? Einfach aus dem Grunde,
weil man sozusagen nicht ungestraft Jahr-
zehnte lang die Aufführungen unserer privi-
legierten Hof- und Stadt-Theater im Sinne
der R. Wagner'schen Schriften wie streng
im Bayreuther Geiste bekrittelt, und weil
wir, was uns Wagner und sein Bayreuth in
Jahrzehntelanger, ernster „Schule* frucht-
bringend gelehrt hat, vor der Öf fentli chkeit
ihm selbst gegenüber nicht plötzlich wieder
verlernt haben können. Denn der Einwand, den
schon der Meister in dem Schlussbericht über die
Bühnenfestspiele des Jahres 1876 (Ges. Schriften Bd. X,
S. 149) der damaligen öffentlichen Beurteilung der
Leistungen gegenüber erhebt: dass nämlich die einzelnen
Schwächen und Mängel der Aufführung niemand besser
kenne, als sie, die Ausführenden selber, da sie zugleich
auch wüssten, woher sie rührten — dieser Einwurf
kann kein Argument sein, lässt er sich doch schliesslich
ganz ebenso gut auch auf alles ernste, rechtschaffen-
selbstkritische Kunststreben überhaupt anwenden, da ja
gar nicht abzusehen ist, warum bei unserer öffentlichen
Kunstpflege bezw. der offiziellen Theaterwirtschaft
immer und allemal auch schlechter Wille im
Spiele sein und nicht da und dort, bei näherer Bekannt-
schaft mit den gegebenen Voraussetzungen, ein ähn-
licher Milderungsgrund gar oft zur Seite stehen soll.
Wohingegen es denn unter allen Umständen eine Ver-
pflichtung der dazu bestellten, gar niemals angemassten,
Kritik bleiben muss, über solche Voraussetzungen hin-
weg dem aufzuklärenden und zu belehrenden Publikum
Die Pflege des Erbes.
387
nach Kräften das Ideal menschlicher Vollkommenheit
unbestechlich, nach bestem Wissen und Gewissen, aufzu-
zeigen. Es ist eben immer wieder die alte, ewig neue
Geschichte vom Konstitutionalismus, dem notwendigen
Widerstreit zweier berechtigter Faktoren. Natürlich
müssen die Herren Regierenden am grünen Tisch ihre
Geschäfte in gewissem Sinne stets besser verstehen
und genauer beherrschen als jeder von aussen Urteilende
und zufällig einmal in die Karten herein Blickende.
Trotzdem aber werden sie immer von Neuem wieder
gegen alle Selbstherrlichkeitsgelüste und vor Allem
gegen jede büreaukratische Anwandlung die natürliche,
gesunde Korrektur vom kontrolierenden, den Beamtenstaat
doch erst „konstituierenden", souveränen Volkswillen aus
erfahren müssen. So bekundet auch der Künstler seinem
Publikum gegenüber mit einem trotzigen „Ich brauche
dich gar nicht!" — falls es seine Kreise einmal stört,
immer gern wieder seine geniale Selbstherrlichkeit und
ist bestrebt, sich seine autokratische Freiheit gegenüber
dieser «zusammen gewürfelten Masse" streng zu wahren,
um doch ebenso sehr nach dieser lebendigen, ergänzenden
Resonanz seines Schaffens, ohne welche dieses nichts
bleibt, als ein tönendes Erz und eine klingende Schelle,
immer auPs Neue wieder sehnlichst zu rufen.
Das wohl nicht ganz fern liegende Wort von der
»Rute im Hause Wahnfried", es hätte vielleicht um
des lieben Friedens willen innerhalb der engeren Wagner-
Gemeinde nicht zu fallen brauchen; aber es ist nun
einmal (von Ernst von Wolzogen, dem naturalistisch-
humoristischen Antipoden seines idealistisch-mystischen
Bruders, des vornehm gesinnten Bayreuther Wagner-
Apostels Hans von Wolzogen) öffentlich im „Berl. Lok.-
Anz." ausgesprochen worden. Da verlangt es also schon
unser Stolz und unser Selbstbewusstsein, dafern wir
noch Rückgrat im Leibe haben, zu beweisen, dass wir
25*
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388
Wagneriana. Bd. III.
vor den Zensuren, mit denen wir, ein Jeder von uns —
das wissen wir längst — gleichsam wie in einem ge-
sonderten Personalakte der Ministerial- Registratur, in
„Villa Wahnfried* geführt werden, nicht im Geringsten
zu bangen brauchen; der Kunstwelt gilt es jetzt zu
zeigen, dass wir nicht zu jedes Winks gewärtigen
»Kreaturen* und leibhaftig wandelnden „Waschzetteln44
der Festspielleitung, wie gewisse, unverbrüchlich knixende
Trabanten-Naturen, uns degradieren lassen!
War da z. B. vor Beginn des Festspieles ein gross'
Pochen auf die Thatsache, dass der absolute Ausverkauf
der ersten Zyklen in diesem Jahre „ohne alle Reklame
in den Zeitungen" etc. erzielt worden sei. Vermochte
aber doch der, welcher seine Pappenheimer kennt, ganz
genau dabei zu verfolgen, wie von Bayreuth her, und
zwar unter den Vorbereitungen zum Festspiele schon,
durch das Sprachrohr einiger Ergebener in den grossen
Hauptblättern die Stimmungsmacherei scheinbar ganz
harm- und absichtslos, im Grunde nicht minder wohl-
organisiert, förmlich planmässig, betrieben wurde —
weit weniger kostspielig und ungleich individueller
jedenfalls, sonst aber ebenso straff zentralisiert, wie
durch Annoncen und Reklamen! Ein offenes Geheimnis
ist es zudem, dass — wer auf die Bayreuther, oder
richtiger: Wahnfried-Parole, nun einmal sich verpflichtet,
das zweifelhafte Vergnügen damit übernommen hat,
alle heiligen Zeiten einmal seine Windfahne hübsch
anders drehen und einen neuen, oft gerade den entgegen-
gesetzten Kurs einschlagen zu müssen. Exempla trahunt
— nur nominasunt odiosa! Und wie hier oft die selben Leute,
deren Lehren wir „Jungen" begeistert gelauscht und zu-
gestimmt haben, als sie das von Wagner erschaute Ideal
des musikdramatischen Stiles in Einzelheiten, uns Allen
zu Nutz und Frommen, seinerzeit klar fixierten, heute
mit der oder jener besonderen, jenen alten Anschauungen
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Die Pflege des Erbes
389
oft widersprechenden Bühnen-Realität nun ebenso sich
zufrieden geben können: das ist für uns das eigentliche
Rätsel an der Sache und könnte wahrlich an ihr manch-
mal irre machen, hielten wir es im Gegensatze zu den
bequemen „Kurwenalen" in solchen Fällen nicht viel
lieber mit der herrlichen Maid „Brünnhilde", die Wotans
innersten Gedanken ein für alle Mal lebendig erfasst hat
und diesem instinktiv nun folgt, t r o t z Wotans striktem
Gegenbefehl, im entscheidenden Moment sogar einmal
direkt ungehorsam gegen des Vaters Gebote, sich selber,
ihrem besseren Ich getreu und ihrer „müssenden",
grossen Liebe. Nicht umsonst soll Richard Wagner diese
beiden Gestalten uns in seinem Kunstwerke geschenkt
haben. Eine gewisse produktive Pietätl o s i g k e i t —
das ist es, glaube ich, was uns heute vor Allem dringend
not thut; aus dem esoterischen Mysterienkult, der
„Geheimmittel-Sugestion", müssen wir erst wieder
heraus kommen! Um es kurz und bündig zu sagen und
es auf eine knappe Formel hierzu bringen: „Stil" ist
nicht Stilisierung; „Stil" braucht auch durchaus
nicht immer nur peinliche „Tradition" zu bleiben,
und jedenfalls besteht geistlebendige „Tradition"
nicht allein nur in buchstabengemässer, sklavisch-
impotenter „Korrektheit". Selbst auch gegen das leidige
„Erlösungs-Komponistentum" wie ein unerträgliches
„Philosophie-Kapell meisterwesen" in der Wagner-Nach-
folge hat man nachgerade energisch Front zu machen ;
denn dergleichen ergiebt doch noch lange keine „Wagner-
Schule" und nicht einmal eine „Wagner-Frage", sondern
bedeutet höchstens nur — um einmal kräftig mit
Nietzsche hier zu reden, dem wir sonst in Wagnerianis
nicht zu folgen gedenken — eine Wagnerianische
„Affenkomödie".
Mancherlei bleibt hierbei freilich noch zu unter-
scheiden. Vor Allem giebt es eine sichere Menschen-
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?>9Q
Wagneriana. Bd. III.
klasse von Journalisten, welche seit einem gewissen
Jahre „die Erben* blindlings als selbstsüchtige Inter-
essenten gegen „das Erbe* ausspielen und gegenüber
„Neu-Bayreuth" grundsätzlich laut krakehlen zu sollen
vermeinen. Existiert da z. B. in Dresden eine recht be-
kannte Zeitung, deren Feuilleton -Redakteur sich noch
heute gern „Wagnerianer* der „alten Observanz" zu
nennen liebt, und die sich doch nicht entblödete, nur
um ihr persönliches Mütchen recht behaglich zu kühlen,
eine bereits vor zwei Jahren von W. Tappert über-
nommene und wörtlich schon damals ganz ebenso bei
ihr eingerückte Notiz auch heuer wieder, gleichsam
wie vom neuesten Datum, in ihren Spalten aufzuwärmen:
„Grosse Plakate verkünden heuer (I) ein neues Unter-
nehmen, angeregt soll es Frau Cosima Wagner haben.
Man lese und staune: Grand Restaurant Royal Berlin.
Maisott Ier Lhrdre. Cw'sine franpai&e. Ein trockenes Diner
kostet dort sechs Mark, eine Poularde zwanzig. Das
Etablissement, geleitet von einem Berliner, Herrn Riefen-
stahl, ist angeblich meist überfüllt. — Du liebes, deutsches
Bayreuth, einst so still und harmlos, ,so friedsam treuer
Sitten*, was haben sie aus dir gemachtl" Auch der so-
eben erwähnte, prächtige Urteutone W. Tappert ist
seit Jahr und Tag ja in ein Fahrwasser geraten, wo er
sich — indem er Andre gegen angebliche „ Anrempeleien"
durch Bayreuther „Pressheiduken" in Schutz nimmt —
seinerseits erst recht wieder in schmähsüchtige Ver-
dächtigungen der Bayreuther Bestrebungen verliert und
in geschmacklos derben Anwürfen der Bayreuther Sache
als solcher bass gefallt, zu welcher er doch früher als
treuer Kämpe so wacker gestanden. Nur wird i h m
eine psychologisch tiefer gehende Betrachtung seiner
durch und durch „persönlichen" Erscheinung, unter auf-
richtigem Bedauern, dass es so weit gekommen ist,
doch immer noch zu Gute halten können, dass seine ur-
Die Pflege des Erbes.
391
wüchsige Kampfnatur in dem Moment, als der „30 jährige
musikalische Zukunftskrieg* beendet war und es daher in
alter Berserkerwut mit den Gegnern nichts mehr zu
raufen gab, urnotwendig sich ein anderes Streit-Objekt
im eigenen Lager aussuchen musste, und von einem
Herkules der Wagner-Bewegung in einen Don Quixote
des Wagnerianertums nun leider umschlug. Einen Unter-
schied begründet dies eben doch, und mehr Respekt
haben wir zuletzt immer noch vor diesem eigenständig-
wetterfesten Wüterich, der seine Löwen - Mähne sich
noch immer nicht hat beschneiden lassen, als etwa vor
den scheinheiligen, gegenüber deutlichen Wünschen und
andeutenden Befehlen des Hauses „Wahnfried" wie ein
Taschenmesser hübsch zusammen klappenden „Bayreuth-
willigen" I — Immerhin möchten wir mit jenen ä tout
prix negativen „Helden des Tages" beileibe nicht etwa
verwechselt werden. Diesen sonderbaren Käuzen ist
natürlich nichts mehr recht zu machen; denn sie
wissen z. B. sehr genau, dass im Jahre 1876 die ein-
fachen harmlosen Sitten der fränkischen Hohenzollern-
stadt in puncto Verpflegung noch stark in's Primitive
und Unzulängliche gingen, könnten also die zeitgemässe
Wendung zum Besseren hier weit eher als ein Ver-
dienst der leitenden Faktoren auffassen — ganz ab-
gesehen noch davon, dass für den, der die lokalen Ver-
hältnisse einigermassen näher kennt, will sagen: sie
nicht direkt übelwollend ignoriert, eine persönliche
Einflussnahme von Frau Cosima Wagner auf solche
Dinge so gut wie ausgeschlossen erscheinen müsste.
Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der in vielen
Kreisen förmlich sportmässig betriebenen, albernen
Hetze gegen die „Bayreuther Beutelschneiderei", wie
man sich mehr deutlich als geschmackvoll, bis in den
bayerischen Landtag hinein, auszudrücken beliebte. Den
solchen Geist ausstreuenden, dunklen Wühlern und reich-
392
Wagneritnt. Bd. III.
lieh bornierten „Hetzkaplanen", die dem Geiste gleichen,
den sie zu begreifen vermögen, war die Lehre ganz
gesund, die ihnen die „Münchener Neuest. Nachr." zu
teil werden Hessen, als sie der Welt mit der scharfen
Herausrückung des authentischen Ziffernmaterials über
das dortige „Geschäfts" -Gebahren ein für alle Mal ein
gewaltig Lichtlein aufsteckten. Jeder „Wagnerianer**
und gewohnheitsmässige Leser der periodischen Wagner-
Litteratur war ja ohnedies längst schon darüber klar
unterrichtet, dass es sich da nicht um einen materiellen
Vermögens -„Schnitt" des Hauses Wahnfried, sondern
einfach um die pietätvolle Verwaltung eines uneigen-
nützig angesammelten Festspielfundus mit wech-
selnden Unterbilanzen und Überschüssen, zu Gunsten
eben der pflichtgemässen, rein künstlerischen Durch-
führung des Wagnerischen Festspiel-Testamentes, unter
oft recht beträchtlichen Opfern sogar, handelte: wie
man denn überhaupt jederzeit gut daran thun wird, in
dubio von den durchaus lauteren Gesinnungen und das
denkbar Beste wollenden Bestrebungen der Wagneri-
schen Rechtsnachfolger in dieser Sache überzeugt zu
sein, bis nicht das Gegenteil einmal aktenmässig un-
bezwcifelbar erwiesen sein sollte.
Und für ebenso thöricht endlich darf auch der viel
gehörte, nachgerade schon zum Gemeinplatz gestempelte
Vorwurf gelten: „Die starke Überhandnähme des fremden
Elementes in Gestalt eines auswärtigen Modepublikums
(wie man mit besonderer Betonung zu sagen liebt) kann
unmöglich im Sinne des Schöpfers der Bayreuther Fest-
spiele sein!" — thöricht wenigstens insoweit, als er
abermals die Spitze gegen die Festspielleitung von heute
zu richten und gleichfalls „Villa Wahnfried" und niemand
Anderen für diesen leidigen Missstand verantwortlich zu
machen scheint. Du lieber Himmel! Ganz von selbst
versteht es sich ja, dass ein Vorherrschen der Ausländer
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Die Pflege des Erbes
393
zunächst nicht eben im Sinne des Meisters sein kann, der
seinen Landsleuten, nach der glorreichen Wiedererweckung
deutschen Geistes als solchen, nationale Festspiele zu
geistiger Erhebung und innerer Kulturweckung im idealen
Sinne, womöglich unentgeltlich, schaffen wollte.
Aber diese Ausstellung muss doch füglich an eine ganz
andere Adresse gerichtet werden. Denn warum kommen
denn unsere vermögenden Herren Deutschen einst-
weilen nicht eben so zeitig, wie die lieben Fremden,
in dichten Mengen herbei und veranlassen durch recht-
zeitige Bestellungen ihrerseits auch einmal diese,
mit langen Gesichtern unberücksichtigt abzuziehen?
Das alles scheint doch wahrlich weit mehr an uns
selber zu liegen, als irgend eines fremden Sünden-
bockes Schuld zu sein! Und zum Überflusse hat die
Sache auch noch ihre ganz gute Kehrseite. Denn,
sehen wir einen Zuschauerkreis aus ganz Europa, vor
Wagners überragendem Genius ehrfurchtsvoll huldigend,
zu Bayreuth sich versammeln und neben wie um uns
gleichzeitig Franzosen und Engländer, Amerikaner und
Italiener, Russen, Skandinavier, Bulgaren und Spanier
andächtig dem Festspiele lauschen, so dürfte doch der
Eindruck, dass es sich hier um einen Sieg deutschen
Geistes, ein germanisches Kulturwerk allerersten
Ranges handelt,gegenüber demjenigen einer Zurücksetzung
unseres nationalen Stolzes bei allen Einsichtigen recht
erheblich überwiegen. Lediglich in der Auswahl des
Künstlerpersonales wird nicht, wie vor zwei Jahren, eine
auffällige Bevorzugung der Ausländerei auf Kosten des
rein deutschen Original -Stiles übergreifen dürfen, soll
nicht ein sonst mit Achselzucken zu strafender, lächer-
licher Chauvinismus von einem berechtigten National-
bewusstsein einmal abgelöst werden, welches allerdings
dann der Bayreuther Idee sehr unbequem werden könnte,
da es in seinem kräftigen Unwillen das „Wagnerianische*4
394
Wagneriana. Bd. III.
Recht durchaus auf seiner Seite hätte. Übrigens war
im laufenden Jahre, bei Berufung der Sänger zur Durch-
führung des »Nibelungen -Ringes", erfreulicher Weise
kaum e i n solcher oder ähnlicher Vorwurf mehr zu er-
heben. Auch sassen z. B. in unmittelbarer Nähe meines
Platzes fünf Deutsche, zwei Slawen, drei Franzosen und
drei Engländer. Das mag so ungefähr das ganz richtige
Verhältnis der Nationalitätenverteilung beim heurigen
Festspiele gewesen sein. Ja, ich meine sogar, man
kann sich billig darüber freuen, wenn Wagner — wie
auch schon der Fall Abbe Marcel - Hebert in Paris ge-
zeigt — und zwar trotz der Gegenschrift des Jesuiten-
paters Th. Schmid (über „Das Kunstwerk der Zukunft
und seinen Meister*), seine geistig -künstlerischen
Wirkungen auf deutsche katholische Geistliche heute
bereits auszustrahlen begonnen hat, wie ich deren
(darunter eine Kapazität wie Dr. Franz Xaver Haberl)
einige Reihen über mir während der Aufführung zu
bemerken erwünschte Gelegenheit hatte.
Hingegen muss eine andere, etwas heikle Episode
an dieser Stelle wohl oder übel doch ihre Registrierung
finden. In einigen Festspielberichten des Herrn Houston.
St. Chamberlain war nämlich die Nachricht ent-
halten, dass Siegfried Wagner schon deshalb den
4. Nibelungen -Zyklus nicht schlecht geleitet haben
könne, weil eine Deputation des Orchesters darauf hin
zu ihm gekommen sei und ihn gebeten habe, auch noch
den 5. (letzten) Zyklus zu übernehmen. Ich konnte
dieser indirekten Beweisführung für Jung- Siegfrieds
Dirigentengrösse zwar keinen rechten Geschmack ab-
gewinnen, denn in Bayreuth hat es leider von jeher
sehr viele Schmeichler gegeben, und dergleichen besagt
also für mich noch so gut wie rein gar nichts; aber ich
zweifelte wenigstens nicht an der Thatsache der hier-
mit verbreiteten Meldung. Eine Briefkastennotiz in der
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Die Pflege des Erbes.
395
„AUgem. Mus.-Ztg." hatte mich aber später stutzig ge-
macht. Ich bin der Sache mittlerweile auf den Grund
gegangen und erfuhr aus absolut zuverlässiger Quelle,
dass das subjektive Wabnfried - Märchen von der
Orchesterdeputation der objektiven Wahrheit völlig
entbehre. Sollte eine kleine Gruppe von Orchester-
mitgltedern wirklich Herrn Siegfried Wagner in diesem
Sinne begrüsst haben, so ist das jedenfalls nicht von
der Korporation als solcher ausgegangen, noch irgend-
wie in offizieller Weise geschehen; ja, meine Quelle
hält es sogar für unmöglich, dass selbst einige Wenige
„eine solche Taktlosigkeit" begehen konnten. Wie leb-
haft im Gegenteil im „mystischen Abgrund" die Freude
war, Hans Richter beim fünften und letzten Zyklus
wieder an der Spitze des Bayreuther Orchesters zu be-
grüssen, das ging schon aus dem Umstände hervor, dass
das Orchester, als er am ersten Abende das Dirigenten-
pult bestieg, ihm eine stumme Huldigung durch all-
gemeines Tücherschwenken bereitete und nach den Akt-
schlüssen in anhaltenden Beifall für seinen eigenen
Dirigenten ausbrach. (Ähnlich berichtigt auch Felix
Weingartner in seinem „Bayreuth"- Artikel — „N. d.
Rundschau", Oktober — jene Chamberlain-Meldung.)
Wir haben oben übrigens auch von Frau Wagners
„genialem Bühneninstinkte" gesprochen und können in
der That mit Fug und Recht von uns versichern, wie
aufrichtig wir ihre überragende Persönlichkeit als un-
vergleichliche Leiterin der Aufführungen bewundern und
sie als unermüdlich thatkräftige, treue, stets opferbereite,
dazu intim -wissende Trägerin des Festspielgedankens
verehren; wie sehr wir ihre stillen Pflichterfüllungen
und aller Welt offenkundigen Grossthaten auf diesem
Felde immerdar zu würdigen wissen werden. Aber auch
sie ist — sie mag uns dieses naheliegende Wort ver-
zeihen — „ein Mensch wie alle", und Menschen sind,
396
Wagneriana. Bd. III
selbst wenn man sie »Meisterin* nennt, nun einmal
nicht unfehlbar. Das hat sie uns vor Allem bei der In-
szenierung von Humperdincks „Hänsel und Gretel" in
Dessau durch die unseres Erachtens mehr als nur
kuriose Einfügung — sagen wir: „Improvisation" —
des Dessauer Marsches in den Rahmen dieses Märchen-
spieles bewiesen, und da muss sie es sich schon ge-
fallen lassen, dass ihre Autorität seither in unseren
Augen mancherlei Einbusse erlitten hat, bezw. darf
sich nicht allzu sehr darüber verwundern, wenn heut-
zutage die Welt doch ein für alle Mal etwas skeptischer
— oder nennen wir's besser: kritischer, ihrem individuellen
Inszenierungsurteile gegenüber steht. Warum denn mit
dogmatisch- orthodoxer Nervosität jeden Widerspruch
immer gleich als unheilige, tempelschänderische An-
tastung einer eigentlich unnahbaren Majestät em-
pfinden und demgemäss von den Dick- und Dünn -Ja-
sagern dafür öffentlich schuhriegeln lassen — als ob
es keine pflichtmässige Aussprache auch vor dem
Throne in dieser Welt mehr gäbe? Gebet doch wieder
Gott, was Gottes, und dem Meister, was des Meisters
ist! Und wo bleibt der Männerstolz vor Königsthronen?
Just in diesem Jubiläumsjahre ist ihr z. B. nach
dem übereinstimmenden Urteil aller, selbst nahe stehender
Freunde (die „Pagoden44 natürlich ausgenommen), bei
der Inszenierung des „Nibelungenringes' etwas Mensch-
liches, Allzumenschliches passiert, das vielleicht nicht
hätte vorkommen müssen — wir meinen die leidige Kostü-
mierung der Götter und Helden nach Hans Thoma-
schen Entwürfen. Jeder einigermassen in die Verhält-
nisse Eingeweihte weiss, dass sie auf die freundschaft-
lichen Beziehungen, welche ihren Schwiegersohn, den
ausgezeichneten Kunstgelehrten Dr. Henry Thode in
Heidelberg, mit dem verehrungswürdigen Frankfurter
Charakterkopfe deutscher Malkunst verbinden, im Wesent-
Die Pflege des Erbes. 397
liehen zurück zu führen ist. Nun schätzt die urteilsfähige
Kunstwelt seit Langem Hans Thoma als einen kernigen
Maler von den denkbar tiefsten Qualitäten, und als
einen germanischen Meister von echtem Schrot und
Korn; ja, die reizvollen, poesieverklärten „Federspiele",
zu denen der ideale Freundschaftsbund zwischen „Heinz
und Hans" vor Jahren geführt hat, darf als ein edelstes,
ganz unvergleichlich deutsches „Hausbuch" gelten, das
man gerne jeder deutschen Familie in's Heim spenden
möchte. Aber diese selbe Kunstwelt weiss auch nur
zu gut, dass Thoma ein innerlicher Träumer, durch und
durch lyrischer Phantast, ohne alle drastische Neigung
oder exoterische Anlage, ist; und als im Winter ver-
gangenen Jahres sein merkwürdig zu denken gebender,
seltsam erschauter und ganz subjektiv erfasster „Wotan"
in den deutschen Kunstsälen die Runde machte, da
lautete das allgemein bestätigte klare Urteil : dass das
ein Bauer, aber noch lange kein Wotan sei. Diesen
tagesscheuen, stillen Künstler nun hat man mit sanfter
Gewalt aus seinem ernsten malerischen Sinnen heraus
gerissen und zum künstlerischen Berater in der Kostüm-
frage für das Bayreuther Elementar-Drama im Hause
Wahnfried erkoren; ja, nicht nur zum Kunstexperten
hat man ihn bestellt, man hat ihn auch zum intellek-
tuellen Urheber und geistigen Vater der diesjährigen
Figurinen zu dramatischem Zwecke selbst gemacht
in der Weise, dass man seine Entwürfe, die er wohl
mehr als Anregungen und Vorschläge sich gedacht
hatte, als Modelle und Muster direkt, so ziemlich ohne
alle Änderung, für die Herstellung übernahm. Er selber
soll gelegentlich kein Hehl daraus gemacht haben, wie
ehrlich er „erschrocken" gewesen sei, als er seine Grund-
gedanken so getreu reproduziert, so genau nachgebildet
auf der Bühne vorsieh gesehen habe. Dieses naive, ehrliche
Erschrecken aber, spricht es nicht deutlich für die
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398
U'agneriant. Bd. III*
mimosenhafte Grundstimmung, die nach innen gekehrte
Grundempfindung in der Seele des Malerpoeten Hans
Thoma ? Sagt es nicht schon alles und spricht für sich
beredt genug, welch ein Missgriff (zum grössten Teile)
mit seiner Berufung zur Ausstattung des gigantischen
Drama's begangen war, den wir Kenner Alle als Fehler
und eigentlich wunden Punkt der diesjährigen Auf-
führungen mehr oder minder scharf empfunden haben?
Man begründet diesen Missgriff als „ unverstandenen
Vorzug" in der Regel damit, dass man betont, wie die
eigenartige Dramenwelt Wagners eine radikale Abwendung
von der bestehenden Bühnengepflogenheit gebieterisch
verlangt habe; man werde sich an dieses völlig Neue
mit der Zeit schon gewöhnen und in die neue „moderne*
Farbe noch hinein sehen. Allein einen Dekorations-
meister erwählen, der bisher noch nicht direkt für die
bestehende Oper und ihre lahme theatralische Konvention
geschaffen — dagegen einen Staffeleimaler ausersehen,
der überhaupt von Grund aus nicht schlagkräftig denkt
und natura undramatisch konzipiert, ja nach seiner
ganzen Anlage kaum einen intimeren Berührungs-
punkt mit der R. Wagnerischen Phantasiegestaltung
zuletzt aufweist: das sind doch hoffentlich noch zwei
ganz verschiedene Dinge! . . .
Dass die seit einigen Jahren unter Oberaufsicht
von Frau Wagner und unter Leitung Julius K niese's
thätige Bayreuther Stilbildung s- und Ge-
sangvortrags-Schule im laufenden Jahre mit
Burgstaller (Siegfried), Breuer (Mime), schliesslich auch
den Damen Brema (Fricka), Gulbranson (Brünnhilde)
und Herrn Friedrichs (Albrich) den ersten grossen und
glänzenden Triumph gefeiert hat, ist ein allenthalben
warm anerkannter, keineswegs gering anzuschlagender
Thatbestand. Nur treibt uns ein gewisser dunkler,
zwangvoller Dämon auch hier wieder, die leidige Kas-
sö bv Google
Die Pflege des Erbes
399
sandra-Rolle auf uns zu nehmen und der allgemeinen
Begeisterung einen sanften Dämpfer dahin aufzusetzen,
dass wir diesem fraglosen Augenblickserfolge gegen-
über vorerst noch eine vorsichtig zuwartende Haltung
einnehmen zu sollen glauben. Aufmerksame Beobach-
tungen an Herrn Burgstaller, die stellenweise so etwas
wie Drill auf eine einzige Rolle hin als Eindruck er-
gaben, sowie dunkle Gerüchte von (nur durch zahllose
rohe Eier wieder gut zu machenden) wahren Stimm-
Verrenkungen bei Herrn Breuer auf Grund seiner
charakteristischen Mime-Singweise lassen gelinde Be-
denken in die Methode einstweilen aufkommen und bis
zu weiteren Ergebnissen sogar als um so eher gerecht-
fertigt erscheinen, als doch niemals gewissenlos dabei ver-
gessen werden darf, dass es sich hier nicht mehr um tote
Instrumente, sondern um lebende Körper, kostbares
Menschenmateriale handelt, das nicht wie jene im Ver-
sagungsfalle einfach wieder bei Seite geworfen werden
kann, vielmehr moralisch wie geistig für's Leben unglück-
lich gemacht wird, falls bei unzweckmässiger Behandlung
im Kerne einmal etwas verpfuscht worden wäre. Fast ge-
winnt es auch den Anschein, als ob stellenweise Sprach-
gesang mit S p r e c h gesang, »Musikdrama u mit „Melo-
drama" selbst an dieser autoritativen Stelle schon ver-
wechselt würde, und kein Mensch scheint sich heute
mehr darauf zu besinnen, dass, wenn schon bei der alt
bewährten italienischen Gesangslehrmethode reichlich
fünf Jahre der gründlichen Stimmdurchbildung vom an-
gehenden Sänger geopfert werden mussten, so erst recht
von dem neuen, erst noch auszubildenden deutschen
Gesangsstile, mit seinem germanischen Konsonanten-
Prinzip, dieses Lustrum als das unerlässliche Mindest-
mass der Schulung strenge zu fordern bleibt, wenn der
allenthalben um sich greifende „Stimmruin" nicht in
der That der „Wagnerschule" noch in die Schuhe ge-
Digitized by Google
400
Wagneriana. Bd. III.
schoben werden soll! Hier mag immer wieder die
hoch entwickelte, der Wagner'schen Sprachmelodie durch-
aus richtig beikommende, meisterliche Gesangskunst
eines Vogl, Gura, Betz, Skaria, Hey, wie einer Sucher,
Nordica und Lili Lehmann, als das massgebende Vorbild
gelten. Und wer die beiden Nibelungen-Jubilare, Herrn
Vogl und Frau Lehmann, heuer gehört und an ihrem
ungetrübten stimmlichen Können bewundernd sich er-
baut, dann dieses mit den Leistungen der Bayreuther
Jungen wieder und wieder verglichen hat, dem wird
sich unwillkürlich wohl auch der Gedanke aufgedrängt
und die Empfindung mitgeteilt haben : wir wollen doch
erst sehen, wie die für jetzt so wacker und viel ver-
sprechend sich bewährenden neuen Besen in weiteren
zwanzig Jahren dereinst einmal kehren werden ! Sehr
viel früher wird sich nämlich ein endgültiges Urteil über
die (gewiss schon jetzt Aufsehen erregenden) Bayreuther
Schulergebnisse auch wohl kaum fällen lassen.
Stark überhand nehmende Neigungen zur Stili-
sierung waren — nebenbei bemerkt — diesmal auf-
fällig genug zu bemerken, besonders peinvoll an der Stelle,
wo die Riesen mit ihren Keulen auf die Götter los gehen
wollen, aber durch Wotans Dazwischentreten mit dem Speer
in ihrem furor Unitomcn* unterbrochen werden. Man könnte
allenfalls einwenden, dass die hier eingehaltene steife
Gebärde eitel Zufall gewesen sei, und vielleicht hätten
wir noch eine zweite Vorstellung zur Kontrole ja mit
ansehen können. Allein die Nuance entsprach so sehr
anderen, gelegentlich beobachteten Episoden, die Keulen
waren so haarscharf und genau parallel, wie die Gewehr-
läufe beim Zugexerzieren einer Kompagnie, „aus-
gerichtet", dass die Unnatur eine vollständige schon
bei diesem einen Male wurde. Vor solcher unleidlichen
Unnatur akademischer Stilisierung wird sich aber die
Bayreuther Kunst vor Allem zu hüten haben. Hier
Die Pflege des Erbes
401
heisst es „Principüs obsta!* und muss ein ernst gesinntes
nMene tekel!« sorgenvoll-aufrichtiger Anteilnahme ertönen.
Ist es doch immerhin misslich genug, dass unsere ge-
samte offizielle Kunst- und Opernpflege noch immer
und immer so blutwenig von den zwanzigjährigen
Bayreuther Erfahrungen gelernt und von seinen Wir-
kungen angenommen hat ! Ein eigensinniges Verharren
und Festfahren des Thesphiskarrens auf dieser ver-
fehlten Bahn würde Bayreuth vollends um allen
seinen guten Einfluss bringen und der guten Sache
dauernd unendlichen, ja vielleicht irreparablen Schaden
zufügen können — was denn der Himmel gnädig ver-
hüten wolle!
Denn dass das Bayreuther Festspiel je einmal
wieder überflüssig und entbehrlich für unser deutsches
Kunstleben werden könnte, wird sonst niemand mehr
zu behaupten wagen, oder auch nur naiv genug sein,
heute noch zu glauben ; dass das gegenwärtige Bayreuth
erst einmal allgegenwärtig in unseren sämtlichen
Hof-, Stadt- und Provinzbühnen sich erweise, dahin hat
es schon deshalb seine guten Wege, weil es ja in der
Natur der Sache liegt, dass diese repertoirgehetzten
Kunst-Triebstätten, Mangels jeder besonnenen Isolierung,
immer wieder von Neuem in den alten Stil-Galimathias
und undeutschen Mischmasch-Opernschlendrian verfallen
müssen, fernab von jener voll-entsprechend übersicht-
lichen Vortrags- und sinnfällig-klar verdeutlichenden
Darstellungsweise, welche eben hier in Bayreuth end-
lich einen germanischen Originalstil an sich be-
gründet hat: als mindestens gleichwertiges Eigengewächs
deutscher Kunstanschauung, wie es — ein Sporn und
Stachel eben für den deutschen Künstler Wagner —
die Grosse historische Oper für Frankreich und die
Buffb-Oper für Italien schon ehedem geworden waren.
Si Bayreuth n'e.ristait pas, ü faudrat Pinventer, Hesse sich
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 26
402
Wagneriana. Bd. III
beinahe schon sagen. Man klammere sich nur nicht
immer an den völlig irre führenden Begriff: „Muster-
aufführungen". Wenn die Bayreuther Vorstellungen
gelegentlich zu solchen werden, so ist das doch erst die
natürliche Folge des besonderen Geistes ihrer Dar-
bietung und ideellen Aufnahme. „Festspielet" — das
ist dabei die wesentliche, weil den Geist aus dem ge-
wohnten Alltag sofort heraus hebende und vom Arbeits-
trott erlösende, die verkümmerte Seele wieder genuss-
fähig machende und den Sinn empfangsfreudig berei-
tende Hauptsache; „Stimmung" ist das grosse herrliche
Zauberwort, und „Sammlung" heisst das tiefe, schon
im weitsichtigen Charakter der dortigen Landschaft be-
gründete Geheimnis der unbestritten-nachhaltigen Bay-
reuther Wirkungen — einer Landschaft, die den von
den hohen, dunklen Häusern der Grossstadt eingeengten
Blick wieder frei und hell macht und so zu den grossen
Dimensionen eines „Nibelungen"-Zyklus mit seiner ge-
waltigen Naturpoesie idealiter hinführt. Und noch Eines
— nicht das Geringste noch Letzte: In Bayreuth
liest man keine Zeitungen. Man ist einfach
nicht dazu zu bringen, so sehr fühlt sich der Mensch
dort dem Zeitgetriebe einmal entwachsen und aus jenem
Bereiche, da zum „Papierraume die hölzerne Zeit wird",
hoch empor gehoben. Merkwürdig ! Und doch hätte eigent-
lich die „Presse", gerade anlässlich des „Nibelungen-
ringes", einmal dort in den Vordergrund des Interesses
rücken und in einem ihrer typischen Exemplare als
geweihtes Attribut gleichsam der Fricka, etwa wie die
Sichel dem Froh, eigentlich besonders beigegeben werden
müssen. Denn — wie sagt doch Wotan zur gestrengen
Gattin?
„Nichts lerntest Du,
Wollt' ich Dich lehren,
Was nie Du erkennen kannst,
Eh' nicht ertagte die That.
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Die Pflege des Erbes
403
Stets Gewohntes nur
Magst Du versteh'n:
Doch, was n i e sich traf — *
„das begreifst du mir nimmer", so möchten wir hier
den Satz wohl vollenden. MiUatis mutandis auf die
Presse angewendet, heisst das: „Thatsachen meldest,
Geschehenes und Vergangenes registrierst du nur immer
— für das Kommende, Neue, Zukunftsträchtige hast du
noch niemals vorschauenden Sinn gehabt!" Darf die
Zeitung da nicht als ein konkretes Sinnbild, zum Min-
desten für eine Seite in der Göttin Wesen, gelten, und
muss sie sonach nicht für jeden überzeugten „Wagne-
rianer" schliesslich sogar „ heilig" sein ?
„Das fehlte gerade noch!" — höre ich bereits
rufen, und das hat für mich denn nun auch eine ganz
ähnliche Wirkung wie etwa die gebieterische Stimme
am Telefon: „Schlussü"
5. Wagner-Gesellschaft — nicht
„Wagner - Vereine 1 1 !
Ein zeitgemässer Vorschlag zur Güte
(1898)
Mit jeder neuen Generalversammlung des „Allg.
Richard Wagner- Vereins" werden die statistischen Ergeb-
nisse seiner Leistungen immer kläglicher, weil der Rück-
gang seiner Mitgliederzahl wie seiner Bestrebungen
immer auffälliger wird. Immer mehr Raum gewinnt bei
verständigen Anhängern die Anschauung, dass die Zeit der
„Wagner- Vereine" im Grunde vorbei sein dürfte und diese
sogenannte papierene „Erhaltung der Bayreuther Bühnen-
festspiele", wie sie in den Satzungen so schön paradiert,
sich vollständig überlebt habe. Zeitpunkt und Gründe
26*
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Wagnertana. Bd. III.
für diesen Rückgang lassen sich nur allzu genau be-
stimmen. Seit einem gewissen Offenen Briefe von Frau
Cosima Wagner an Oberbürgermeister Dr. von Muncker
über die negativen Ergebnisse und die positiven Aufgaben
des Vereines (aus dem Jahre 1891) hätte man nämlich
charaktervoll Konsequenzen ziehen sollen, und
ganz genau entsinne ich mich noch, dass für meine
Anschauung eben dieser peinliche Brief damals der ent-
scheidende Anlass war, in eine Frontstellung dem Hause
Wahnfried und seiner Auffassung der Dinge gegen-
über zu geraten. Man hatte dazumal im Verein einfach
die Alternative, einzusehen, dass man: entweder den
kalten Wasserstrahl von oben nicht verdient hatte
und dann zum „gehorsamen Diener" der Familie
Wagner sich doch zu gut sein sollte — will sagen: dass
ein offizieller würdiger Protest gegenüber der Witwe
des Meisters sehr wohl am Platze war; oder aber, dass
jene, bei aller guten Form an Deutlichkeit schlechter-
dings nichts zu wünschen übrig lassende Aussprache
von zuständiger Stelle ihre volle Berechtigung hatte,
damit aber nun auch dem $ 1 der Statuten, welcher
ausschliesslich von der „Förderung und Erhaltung
der Bayreuther Festspiele in periodischer Wiederkehr*
spricht, jeder vernünftige Boden entzogen sei. Tertium
non datur. Man hat aber, trotzdem jener Brief die
Agitation im alten Sinne vollständig lahm legen
iÄusSjte, .^iese einzig richtige und zulässige Folgerung
damals nicht gezogen, vielmehr den bewussten, durch-
aus .verfehlen Paragraphen im Stande der Unschuld,
$aaz unverändert, sinnlos belassen und noch immerauf
ihm das ganze Gebäude aufzubauen versucht. Seit
jener Zeit ihrer unklaren Haltung in bewusster An-
gelegenheit sind die „Wagner-Vereine" alter Ordnung
ejne Art Unding, das man nicht deklinieren kann — nicht
ÖÄfifcaWSftu Fj^fn%kr- geworden. Und daher auch
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Die Pflege des Erbes.
405
jener auf den seitherigen Hauptversammlungen immer
stärker konstatierte, für die Sache zwar überaus be-
schämende, aber doch auch wieder so ganz natürliche
Rücklauf der ganzen Bewegung.
Mochte Frau Cosima Wagner damals mit ihrem herben
Urteil über die Missionserfüllung des „Wagner- Vereines"
materiell auch vollkommen im Rechte sein, durfte eine
gewisse Bitterkeit auf ihrer Seite Angesichts seiner
bisherigen, im Verhältnis zu den wirklichen An-
forderungen auch nur eines Festspieljahres in der
That recht verschwindenden, Leistungen immerhin nicht
ganz unbegreiflich erscheinen — Thatsache bleibt doch,
dass der „AI lg. Richard Wagner-Verein", wenn er bis
dahin seinen Zweck auch nicht erreicht hatte, diesen
Zweck doch grundsätzlich verfolgen konnte, die
Kraft und Möglichkeit dazu, der geistig-organisatorischen
Anlage nach, jedenfalls in sich barg. Gewissermassen
noch nicht potentiay wohl aber virtute war er be-
fähigt, die Festspiele zu betreiben und zu halten. Er
brauchte nur in deutschen Landen so viele Mitglieder
zu werben, bis seine Jahreseinnahme an Beiträgen eine
Höhe erreichte, dass 35°/0 davon (oder sagen wir: 50°/0)
die Summe garantierte, welche den unerlässlichen Aus-
gaben-Etat eben eines Festspieljahres leider nun einmal
ausmacht. Nicht nur hätten seine sämtlichen Mit-
glieder dann nach Wagners Ideal unentgeltlich den
Bayreuther Aufführungen beiwohnen können; da eine be-
trächtliche Anzahl wohl auch jedes Mal am persönlichen
Besuche verhindert gewesen wäre, würden deren Ein-
trittskarten den Stipendiaten ohne Weiteres anheim-
gefallen sein, und weil dieser „Ausgabeposten" wiederum
dem „Stipendienfonds" dann nicht mehr zur Last fiele,
hätte einer um so grösseren Anzahl noch, als bisher,
auch die Reise zu den Festspielen erleichtert bezw.
ganz bestritten werden können. Überdies — was wahr-
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406
Wagneriana. Bd. III.
lieh nicht zu unterschätzen bleibt! — Bayreuth hätte
sich gleichsam bei verschlossenen Thüren im Wesent-
lichen unter uns Deutschen, lediglich vor dem vom
Meister doch in's Auge gefassten „idealen Publikum", ab-
gespielt. Und ebenso darf ja kaum ganz vergessen
werden, dass Agitation und Propaganda dieser Wagner-
Vereine im Innern damals für die Wagnerische Kunst
schon eine nicht zu verachtende Basis des geistigen
Verständnisses Für die Festspiel-Idee im Lande ge-
schaffen hatten, welcher doch nicht so ohne Weiteres
unsanft der Stuhl vor die Thüre gesetzt zu werden
brauchte. Jedenfalls hätte wohl vermieden werden
sollen und auch können, dass hämische Gegner das
„Dank vom Hause Wahnfried " bei dieser Gelegenheit
in der Tagespresse umher schleifen durften.
Genug, es hat nicht sollen sein ; und wir begreifen
ja auch wieder einigermassen, dass eine Festspielleitung,
die praktisch vorgehen muss, sich nicht auf jene
idealen Möglichkeiten allein verlassen will, sondern mit
der strengen Notwendigkeit der realpolitischen Faktoren
zu rechnen hat, welche in ihren unerbittlichen For-
derungen ihrerseits nicht erst auf das Nachhinken der
guten, schönen Absichten von Schwärmern für den sicht-
baren Erfolg lässig zuwarten kann. Die Festspiele sind
und werden heute thatsächlich von der weitesten, leider
sehr gemischt-internationalen, „Öffentlichkeit0 gewähr-
leistet und erhalten. Seither sind die Hoffnungen auf ein
Erreichen jener „virtuellen" Ziele in absehbarer Zeit,
bei dem mittlerweile natürlich auch nicht ausgebliebenen
Rückschläge nach innen, vollends auf Null herab
gesunken — die „Wagner- Vereine" mit ihrem nach-
gerade völlig lächerlich gewordenen, mehr anspruchs-
vollen als hochsinnigen, $ 1 haben jede Existenz-
berechtigung in den Augen klar Denkender bereits ver-
loren. Der „Allg. Richard Wagner-Verein" könnte ja nun
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Die Pflege des Erbes.
407
freilich — unter ehrlichem Verzicht ein für alle Mal
auf den falschen Ehrgeiz, die pekuniäre Stütze Bayreuths
vorstellen zu wollen — sich in diesem seinem kon-
stituierenden Hauptparagraphen innerlich reformieren ; er
könnte als seine besonderen Tendenzen z. B. neuerdings
heraus stellen : a) den Besuch der Festspiele seinen Mit-
gliedern durch Ankauf von Freikarten zu erleichtern
und b) den Geist Wagners im eigenen Kreise, wie durch
Vorträge und Veranstaltungen nach aussen, lebendig zu
wirken, den Ausbau seiner Ideen zu pflegen und das
tiefere Erfassen der Wagnerischen Kunst im weiteren Sinne
einer deutschen Kulturbewegung esoterisch vorbereiten
zu helfen. Ich glaube aber wirklich und in der That,
dazu ist es nachgerade schon viel zu spät geworden —
es heisst überhaupt jetzt: „Biegen oder brechen!" Neue
charakteristische Ziele verlangen eben auch einen frischen
und prägnanten Ausdruck.
Etwas ganz Anderes, in diesem Sinne wirklich
Zeitgemässes, wäre nämlich heute die völlige Neu-
organisation einer grossen deutschen „ Wagner-
Gesell sch aft", mit regelmässiger, ihren Geist der
gesamten Presse moralisch aufzwingender, ansehnlicher
Jahresversammlung (der Ort wechselnd zwischen Bayreuth
und Eisenach), sowie mit speziellem Jahrbuch etc. — nach
dem Vorbilde etwa der bereits bestehenden „Goethe*-,
„Schiller"- oder „Shakespeare-Gesellschaften", und zwar
nur mehr zu rein geistigen Zwecken. In Ergänzung
also zur gottlob lebendigen Kunst der Musen, und zwar
mit mehr litterarischer, an das „Wagner-Museum"
und die Ausbeutung seiner Schätze u. a. sich anlehnender
Fortbildung der Wagner-Bewegung, gälte es hier gleich-
sam die Rettung des alten „Idealismus* an der Sache
in's längst angebrochene E p i g o n e n Zeitalter hinüber.
Dass es sich bei Richard Wagner um eine Kultur-
erscheinung im weitesten Sinne, um einen nationalen
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408
Wagneriana. Bd. III
Dichterheros der allgemein-menschlichen Bildung handelt,
diese Erkenntnis hat sich durch die Festspiele selbst
und ihre tief gehenden Wirkungen mehr und mehr ver-
breitet; sie war auch seiner Zeit durch die Bestrebungen
zum Ankaufe des „Wagner-Museums" nicht wenig ge-
fördert worden — kurz, sie ist längst in weitere Kreise
entschieden genug eingedrungen, um den Boden für
eine solche Neugründung heute reif erscheinen zu
lassen und den Vergleich mit den bereits bekannten
Dichter-Gesellschaften nicht erst weitläufig rechtfertigen
zu müssen. Das mehr konservative Element der geistigen
Nachlese, der historischen Erkenntnis, der
ästhetischen Erläuterung und des kulturwissen-
schaftlich fördernden, ethischen Ausbaues der
ganzen Lehre wird, wie bei allen solchen Ver-
einigungen der „Rückschau*1 auf einen Höhepunkt künst-
lerischer Blüte, hier unvermeidlich die vornehmste
Aufgabe werden müssen. Das unmittelbar praktische,
„aktuelle" Interesse der Proselytenmacherei tritt un-
willkürlich zurück hinter dem bewahrsamen und geruhig
ausdeutenden Geistes-Kult.
Dabei könnte die Frage vorläufig noch ganz offen
bleiben, ob die „Bayreuther Blätter**, die in dem „Wagner-
Verein** ihren Brotherrn verlieren würden, künftig in
das „Wagner-Jahrbuch** mit aufgehen sollten, oder aber
vielleicht von Villa Wahnfried, die nach dem Testamente
des Erblassers vermutlich ein angelegentlicheres Interesse
daran hat, solche Opfer der Sache zu bringen, fortan in
eigener Regie übernommen werden würden. Letzteres
bedeutete sicher die relativ beste Lösung der Frage —
und wäre es auch nur ein kleines Stück naturnotwendiger
„Nemesis", welche Bayreuth selbst jetzt die Nach-
wirkungen jenes vielfach hier angezogenen Schreibens
und der damit eingeschlagenen Taktik gegen den „Wagner-
Verein" am eigenen Leibe noch nachträglich verspüren
Hesse. Denn so viel ist sicher: Bei dem alten, ganz
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Die Pflege des Erbes.
409
unvermeidlichen Konflikt zwischen Esoterik und Exoterik
würden sich die „Blätter", so fürchten wir wenigstens
sehr, in ihrer Unweltläufigkeit wie Bleigewicht an das
„Wagner-Jahrbuch* hängen und einer im besseren Sinne
populären Ausbreitung dieses selbst, wie insbesondere
auch der „Gesellschaft0, doch wahrscheinlich nur wieder
hinderlich im Wege stehen. Etwas Grosses, ein erheb-
licher Fortschritt wäre aber auf alle Fälle schon er-
reicht, wenn jene „Gesellschaft* eben nur die spezifische
Mission der früheren „Akad. Wagner -Vereine" für das
allgemeinere Publikum der Gebildeten heute beherzt
antreten wollte — jener akademischen „ Wagner-
Vereine", die sich die wissenschaftliche Bearbeitung
der grossen Wagner-Frage und die ernste, kulturelle
wie philosophische Fruktifizierung der ganzen Bewegung
zur Bereicherung des Geistes wie des Gemütes, in dem
heran wachsenden Geschlechte vor Allem, zur dankbaren
Aufgabe gemacht hatten. Und dass es sich endlich bei
dieser „Gesellschaft" nicht mehr etwa um die alten Ver-
günstigungen für den Festspielbesuch, sondern höchstens
um solche für den Bezug des Jahrbuches" oder des Be-
suches der Jahresvorträge noch handeln könnte, das braucht
wohl nicht mehr eigens hervor gehoben zu werden . . .
Wie dem Schreiber dieser Zeilen zufällig bekannt
geworden, sind zwei Männer, treue Anhänger und
euergische Vertreter der Bayreuther Sache, schon seit
einiger Zeit im Stillen an dem edlen Werke einer
solchen Neugründung. Warum wohl ist es auf einmal
wieder so stille geworden mit ihren dankenswerten Vor-
bereitungen? Warum gehen sie nicht weiter vor?
„Heraus mit dem Flederwisch!"
Nachschrift: Heute würde sich Verfasser dieses wohl den
ausgezeichneten Anregungen Dr. Paul Marsops ohne Weiteres
anschliessen: vgl. die Artikelreihe „Der Kern der Wagner-Frage"
(Beil. zur „M. Allg. Ztg.-; 1902, No. 27—29). So Ändern sich die
Zeiten und wir uns mit ihnen.
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410
Wagneriana. Bd. III.
6. Ein Laien-Kommentar zum „Cosima-$"
(1901)
„Der Cosima-$, und kein Ende" — so überschrieb
ein Münchener Blatt unlängst einen seiner geharnischten
Artikel gegen Bayreuth, und wir greifen das an
dieser Stelle mit besonderem Nachdruck auf. Wenigstens
sind w i r fest entschlossen, nach Kräften alles zu thun,
um diese Sache künftig nicht wieder einschlafen oder
gar versumpfen zu lassen ! Was an u n s liegt, soll sie
also so bald kein Ende mehr finden, diese erfreulicher
Weise einmal in Fluss gebrachte öffentliche Debatte,
und wir werden fortab nun auch keine Ruhe mehr
geben, bis nicht die volle wünschenswerte Klarheit ge-
schaffen, die notwendige „Novelle" zum unglückseligen
neuen Urheberrechts-Gesetze noch mit durchgesetzt und
der „ P a r s i f a 1", dem letzten unantastbaren Willen seines
Schöpfers gemäss, für Bayreuth dauernd (nicht nur
bis 1913) gesichert erscheinen wird.
„Erlöse, rette mich aus scbuldbefleckten Händen!" —
So rief die Meisterklage furchtbar laut mir in die Seele . . .
Mit voller Absicht haben wir nämlich so lange mit einer
Abgabe unseres Urteils zugewartet, um die inzwischen
verlautbarten Stimmen besser sammeln, das ganze Für
und Wider etwas klarer schon übersehen zu können —
wie wir es eben für Pflicht und Aufgabe einer Revue*)
halten, im Gegensatze zu dem oft so vorschnell-flinken
Aburteilen unserer Tagespresse. Überdies steht die Er-
öffnung des diesjährigen Bayreuther Festspieles un-
mittelbar bevor und damit dessen 25jährige Jubel-
feier ja nun glücklich auch vor der Thüre — gewiss nur
•) Obige Ausführungen erschienen im II. Juli-Hefte der
vom Verf. herausgegebenen Münchner Halbmonatschrift „Ge-
sellschaft".
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Die Pflege des Erbes.
411
ein Grund mehr, aus diesem Anlass gerade einige Worte
Anteil nehmender, herzlicher Begriissung an dieser Stelle
mit zu sagen. Denn so viel wir jüngeren Wagnerianer
vom unabhängigen Flügel während der letzten Jahre in
Kunstund besonders in Weltanschauungs-Fragen dem
„Hause Wahnfried" wohl auch unseren sachlichen Wider-
spruch entgegen zu setzen hatten — in diesem einen
Punkte müssen wir der Familie Wagner als solcher bei
ihrem harten Strausse wider die Aussenwelt doch unbe-
dingt zur Seite stehen. Und vielleicht dürfen wir sogar
hoffen, dass gerade unser Wort in dieser Sache jetzt
doppelten Wert erhält und vermehrten Eindruck macht;
dass es einen um so besseren Klang noch hat, aus je
freieren Stücken es, ganz ohne allen äusseren Zwang,
hiermit abgegeben werden kann. Wenigstens glaube ich
zuversichtlich annehmen zu dürfen, dass man meine
Auffassung durchaus ehrlich finden wird und meiner
Versicherung weit eher Glauben schenken muss, wenn
ich selbst, der ich aus meiner gelegentlichen Front-
stellung gegen „Jung-Bayreuth" gar niemals ein Hehl
gemacht habe, heute doch zu dem lauten und ehrlichen
Bekenntnisse in meinem Gewissen mich verpflichtet
fühle: Die bekannte, von Frau Wagner in den „M.
Neuesten Nachrichten" publizierte, sehr eingehende und
aufschlussreiche Erklärung in Sachen „Parsifal" unter-
schreibe ich Satz für Satz und Wort für Wort, mit
vollstem Beifall, aus ganzem Herzen.
Und wirklich! Selten hat man der hoch begabten,
unsäglich verdienten Frau rückhaltloser seine reinsten
Sympathieen widmen können wie gerade in diesem
akuten Falle. „Ich hätte wohl gehofft, dass die erste
Erwähnung der Bühnen-Festspiele im deutschen
Reichstage von einem anderen Gesichtspunkt aus
und in anderer Form geschehen würde!" — zumal
dieses schwer anklagende Wort ihrer öffentlichen Aus-
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412
Wagneriana. Bd. III.
spräche können» wir ihr nur lebhaftest nachempfinden;
und das ist zugleich der point <Vh<mneur für uns Alle,
bei welchem man unbedingt die Sache auch des Namens
Wagner energischest wieder einmal vertreten muss.0) Hier
dreht es sich nicht mehr um Privatangelegenheiten,
sondern um ein öffentliches Testament, ein ideales
Vermächtnis Wagners an den würdigen Teil unserer
Nation, und um die rein geistige Seelen- und Herzens-
angst einer streng gewissenhaft denkenden Witwe und
Erbin, jene Willensbestimmung eines genialen Gatten
durch das neue Gesetz ihren Händen dereinst entwunden
zu sehen, es nicht mehr edel und lauter — nach dem
klaren Wunsche des ihr so teueren Verblichenen — vor
der Befleckung mit der Welt bewahren zu können. Nicht
mehr nur den Schutz von 50 Jahren — nein, desto
besser! ■ — eine wirkliche Ausnahmestellung überhaupt
des aussergewöhnlichen Werkes eines ausserordentlichen
Ausnahme-Menschen gilt es hier zu schaffen und dauernd
zu begründen. Denn dieses hohe Werk, aus ganz anderen
Bedingungen erwachsen, einem ganz anderen Schosse
als dem unserer bestehenden theatralischen Opern-
verhältnisse entstiegen, es hat inmitten dieser unserer
übrigen Bühnen m i s s Wirtschaft — lasst uns das ruhig
und bestimmt einmal aussprechen: nun ein für alle Mal
rein gar nichts weiter zu suchen. Allerdings, die „Münchner
Zeitung" argumentierte scheinbar ganz einleuchtend:
„Die grossen Opernbühnen der Gegenwart stehen heute
den stilistischen und sonstigen Forderungen für die Auf-
führungen speziell der späteren Werke Wagners denn
doch schon etwas anders gegenüber, als es zu jener
Zeit der Fall war, da Wagner die volle Verwirklichung
seiner Absichten nur auf einer eigenen Bühne für
•) Vergl. hierzu noch den Briefwechsel zwischen Bismarck
und R. Wagner; „Bayreuther Blätter** 1901, VII. Stück.
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Die Pflege des Erbes.
413
möglich halten konnte." Hier wird jedoch durchaus
verkannt, dass es sich gar nicht mehr um das Problem
der technischen Vervollkommnung, die rein »stili-
stische" Frage daran, nur handeln kann, sondern dass
es der besondere, ein völlig anders gearteter, welt-
fremder Geist überhaupt schon ist, was die Verpflanzung
einer Schöpfung wie des „Parsifal" an die anderen
Bühnen von vornherein völlig illusorisch macht, was
seine Preisgabe (nachdem das Missgeschick mit den
„Nibelungen" 1876 sich nun schon einmal erfüllt hatte)
zu einem nationalen Unglücke vollends machen müsste.
Des zum Beweise darf ich hier vielleicht auf Band I
meiner soeben erscheinenden „Wagneriana" verweisen.
Wenigstens möchte ich mich doch der Hoffnung hin-
geben, dass der Leser solchem zusammen fassenden
„Wagner-Credo", gerade bezüglich des „Parsifal", etwas
wie eine Ahnung jenes ernsteren Thatbestandes wohl ent-
nehmen werde. Ich selber teile ja heute durchaus nicht
mehr alle die darin nieder gelegten Anschauungen; allein
dem wird man sich danach kaum mehr entziehen
dürfen: dass dieser eigene, toto genere von der „Welt"
verschiedene Geist dort als besondere Weltanschauung,
als eigenartige Kultur im Ganzen wirklich vorhanden
ist; dass er nun einmal Bayreuths ganz aparte Ideal-
Sphäre bildet und diese Örtlichkeit zugleich auch durchaus
nötig hat, um mit solcher Eindringlichkeit, mit dieser
Ausdruckskraft, eben als Ideal, rein und lauter auf jene
fremd gesinnte Welt alsdann zu wirken.
Anderseits wieder sollte doch gerade ein Blatt wie die
„Münchner Post" über die künstlerisch faulen „Grund"-
Voraussetzungen eines „Prinzregenten-Theaterbaues"
füglich besser Bescheid wissen, als dass die Hoffnungs-
seligkeit noch gerechtfertigt erscheinen dürfte, wie sie sich
dort in den folgenden Ekstasen kürzlich erst noch Luft
gemacht hat: „Das Bayreuth Richard Wagners war'Mie
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414
Wagneriana. Bd. III.
äusserste und letzte praktische Bethätigung des vom
Meister geschaffenen Kunstwerkes und als dessen vor-
bildlich wirkende Manifestation ideell und historisch
berechtigt. Sein Wert lag im Charakter des Führenden
und Vorbildlichen. Nun wohl, dieses Ziel wäre erreicht:
Gefolge ist heute da, welches das in Bayreuth geschaute
Vorbildliche zu noch höherer Vollkommenheit (f)
zu fähren bestrebt ist . . . Das Erbe Bayreuths und des
Bayreuther Gedankens zu übernehmen, seine ursprünglich
so echte Tradition in sich lebendig werden zu lassen,
diese hohen Aufgaben fallen in erster Linie dem
Münchner Prinzregenten-Theater zu. Das Prinz-
regenten-Theater ist bekanntlich die erste öffentliche
deutsche Bühne, welche nach den optischen und
akustischen Reformen Richard Wagners erbaut ist. Es
ist einfach eine Versetzung des Bayreuther
Festspielhauses nach Bogenhausen. Wird nun
der Geist, der in das neue Haus zieht, der des alten
Wagner-Bayreuths sein — und die selbstsichere
Persönlichkeit Hermann Zumpe's scheint hiefür wohl zu
bürgen — , so ist hier die künstlerische Stätte geschaffen,
wo zum ersten Male in Deutschland dem Gedanken
einer Sezession von dem Cosima-Siegfried-Bayreuth mit
innerer Berechtigung energisch Ausdruck gegeben werden
kann.44 — Welch Zwiespalt der Natur und im eigenen
Lager! Hatte es doch, etwa um die selbe Zeit, an der
nämlichen Stelle, und zwar unter der Spitzmarke „Nur
Spekulation l* klar und unzweideutig gelautet : „Wer
da immer noch geglaubt hatte, das berühmte Konsortium
»vornehmer Herren4, das weit draussen bei Bogenhausen
mitten in das ausgeziegelte Brachland hinein einen
modernen Musentempel baute, sei lediglich von lauter
Begeisterung für die Kunst angespornt worden, was
,dankend anerkannt werden müsste', wird nun gründlich
eines Besseren belehrt. Und zwar durch den Geschäfts-
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Die Pflege des Erbes.
415
bericht dieser Terrain-Gesellschaft selbst. In diesem
Geschäftsberichte wird nämlich ausgeführt, dass bis jetzt
mit dem Verkaufe von Bauplätzen nichts zu machen war.
Von der bevorstehenden Eröffnung der Prinz-Regenten-
Brücke und der Eröffnung des Prinzregenten-Theaters
erwarte man sich aber eine Belebung der Bau-
thätigkeit im Osten und eine vorteilhafte
Verwertung der gesellschaftlichen Grund-
stücke." Und dass diese Auffassung der Sachlage
im „Grunde" auch nur die richtige ist, das bewiesen uns
gelegentlich sogar die „M. Neusten Nachrichten", als sie —
leider einzig und allein nur in ihrer diesjährigen Faschings-
nummer — Herrn von Posart durch ein solennes Mani-
fest über absolut nötige Theater- Neugründungen in
München parodierten, als welches gar vielsagend auf ein
frommes „Mit Gott!" wörtlich hinaus lief. Darin ver-
mögen uns also auch Protektions -Vereine mit glänzenden
und klangvollen Namen nicht weiter irre zu machen . . .
Im übrigen war es geradezu unerhört, wie man —
schon bei den Reichstagsverhandlungen — schlankweg
immer nur von dem „Cosima-$" des neues Urheberrechts-
gesetzes zu sprechen sich herausnahm. Die ganze Ignoranz
des deutschen Journalismus wie unseres reichsdeutschen
Parlamentariertums gehörte wohl dazu, vorzugeben oder
anzunehmen, dass lediglich „res Wagneriana agüur" in
diesen Fragen; dass um eine persönliche, rein interne
Familienangelegenheit des Hauses Wagner nur gespielt
werde bei der Forderung einer Ausdehnung der gesetz-
lichen Schutzfrist für das geistige Eigentum, von 30Jahren
fortan auf einen Zeitraum bis 50 Jahre nach dem Tode
des Urhebers. Wer beim internationalen Urheberrechts-
kongresse zu Dresden seinerzeit anwesend war, der
weiss es seit dem Jahre 1805 schon, dass dort diese
Forderung als „Ziel aufs Innigste zu wünschen" für
alle zivilisierten Nationen der Berner „Litteratur-
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416
Wagneriana. Bd. III
Konvention" bereits entschieden genug ausgesprochen
und eingehend begründet worden war. Man wird sich
also im „Volke der Denker und Dichter44 zuversichtlich
wieder einmal bloss gestellt haben, indem man sich hier,
entgegen den klaren Ergebnissen jenes interessanten
Kongresses von dazumal, noch jetzt gegen eine solche
Verbesserung sperren zu sollen glaubte. Denn, genau
genommen, sollte man doch noch viel weiter gehen
und müsste eigentlich nachgerade schon bei der An-
schauung längst angekommen sein, dass kein Mensch
eigentlich Veranlassung habe, sein wohl erworbenes Besitz-
tum der Allgemeinheit, statt seinen rechtmässigen Leibes-
erben, einfach zu verschenken, so lange das mit den
materiellen Gütern nicht ganz ebenso gehandhabt wird;
dass eine Unterscheidung zwischen „leiblichem44 und
„geistigem44 Eigentum in unserer Gesetzgebung, in Form
ganz verschiedener Behandlung der beiden Materien, eine
völlig unbillige Zumutung an die davon betroffenen
produktiven Geister und deren Nachkommen noch vor-
stellt, die alsbald beseitigt werden muss; dass es eine
Schmach ist und bleibt für das geistige Deutschland,
wenn Enkel oder indirekte Abkömmlinge Schillers,
Herders, Lortzings etc. etc. — bei einer „Schiller-
stiftung44 oder dergl. heute in unserem Lande betteln
gehen müssen.
Der frühere Intendant von Werther hat das alles in
einem „offenen Schreiben'4 an Frau Wagner bereits klar und
einleuchtend genug als Nonsens der Urheberrechtsfrage
betont, so dass wir uns dabei nicht lange erst aufzuhalten
brauchen. Und wenn gar Herr Ludwig Hartmann in
Dresden neuerdings die naive Meinung vertreten möchte:
dass eine aus dem Geisteswerk gezogene Rente für den
Schöpfer über den Zeitraum von 30 Jahren hinaus
schon deshalb ungerechtfertigt erscheine, weil auch das
grösste Talent nichts allein nur aus sich habe, sondern
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Die Pflege des Erbes.
417
«ein Können der Erziehung im weitesten Sinne, also
wieder den „Mitmenschen seiner Zeit," verdanke —
nun, so liegt hier der Trugschluss doch völlig auf der
Hand; so ziehe man doch auch mit dem materiellen
Eigentume dann die entsprechenden Konsequenzen, denn
kaum Einen dürfte es hier geben, der sein „Vermögen"
zuletzt und in gewissem Sinne nicht auch wieder den
„Mitmenschen seiner Zeit" — abgezogen hat! Was wir
heute hier sagen wollten, war einzig dies: dass es
uns — selbst beim Mangel einer tieferen Einsicht in
die Berechtigung solchen Standpunktes auf Seiten der
Majorität — wirklich gar nicht weiter darauf ankommen
sollte, für einen völlig extraordinären Fall beherzt
auch einmal eine „Extrawurst** von Gesetz zu bean-
tragen, für das Genie nicht die platte Norm, sondern die
uns selbst ehrende würdige Ausnahme auch gesetz-
lich zu verlangen. „Das Plebiszit als Korrektiv der
Wahlen**! Aus den 80er Jahren erinnere ich mich
deutlich, einen bezeichnenden Aufsatz dieser Überschrift
in den „Bayreuther Blättern** einmal vorgefunden zu
haben, aus dem mir zum ersten Male so etwas wie
Ahnung jener höheren Wahrheit aufdämmerte und
entgegen trat: dass nicht die „Majorität** der Nullen,
sondern vielmehr die Einer an sich einen Wert für
eine Nation, selbst in polüieis, einmal abgeben können.
Und mittlerweile sind wir durch eine Nietzsche noch
hindurch gegangen und wahrlich doch in diesen Dingen
nicht gerade prüder geworden. Also: „In der That,
ja! — Für den Ausnahme-Menschen gehört ohne Zweifel
auch ein Ausnahme-Gesetz!** ... so beantworten wir
den Entrüstungsruf unserer soulisant „deutschen Presse"
auf die Frage: „Wie? Soll denn etwa gar um eines
Menschen willen allein ein ganzes Gesetz gemacht
oder nach ihm selbst besonders umgemodelt werden?'*
Von den „materiellen Interessen" Bayreuths bei
Seidl, Wigneriana. Bd. III. 27
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Wagneriina. Bd. III.
dieser Gelegenheit wieder zu reden, kann wirklich nur
mehr einem beifallen, der das eben nicht besser versteht,
bedeutet aber eitel Wortschwall für alle diejenigen, die
nur einmal hier »hinter die Kulissen" geblickt haben und
wissen, was wir unter dem „Bayreuther Festspielfonds" im
Ernste zu verstehen, uns zu denken haben. Ein solcher
näher Eingeweihter könnte höchstens das Eine lebhaft be-
dauern, dass sich „Haus Wahnfried" in diesem Punkte
gerade der Öffentlichkeit gegenüber seit Jahren eine so
stolze Reserve auferlegt hat. An die Familie als solche
aber, als an den angeblich „verantwortlichen" Teil, das
Ansinnen stellen: die Preise der Plätze nicht mehr so
hoch zu nehmen, das hiesse den Festspiel-Verwaltungs-
rat einfach zur Misswirtschaft und finanziellen Un-
verwaltung verurteilen, über welche dann erst recht der
Zeitungs-Mob und Journalisten-Pöbel mit seinem losen
Maule herziehen würde. Denn, es ist nun einmal leider eine
nicht hinweg zu leugnende, nackte Thatsache: ein solches
Festspiel verschlingt Unsummen! Und das ist gewiss:
ebenso wie die selbe Meute, die sich heute eifernd und
hetzend über ein „Bayreuther Reservatrecht" aufhält,
später — wenn der „Parsifal" unvermeidlich dann an un-
würdiger Stelle auftreten müsste — Zeter und Mordio
über solch' „skandalöse Profanation" schreien würde,
ganz ebenso würden just die selben Leute, die heute
geschmackvolle Andeutungen von einer „Bayreuther
Beutelschneiderei" sich nicht entgehen lassen, alsdann,
wenn es dort finanziell einmal krachte, hämisch auf
den heillosen „Bankrott" der Sache hinweisen und —
was die Hauptsache ist — ihrerseits keinen Finger zur
Sanierung dieser Dinge mehr rühren. — „Bayreuther
Geschäftsgeist!" Es ist wirklich an der Zeit,
einmal völlig reinen Wein darüber einzuschänken,
was es damit im letzten Grunde für eine Bewandtnis
hat. Richard Wagner erklärte stolz und frei: „Ich ver-
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Die Pflege des Erbes.
419
achte die Presse!" Und die treuen Hüter seines Erbes
wie Vollstrecker seines geistigen Testamentes halten
eben auch in diesem wichtigen Punkte fest an der un-
verfälschten Tradition, indem sie — komme, wer da
immer wolle — grundsätzlich keinerlei Frei-
karten für die Festspiele an Referenten verabfolgen.
Eine illae lacrimael Darin allein schon liegt das eigent-
lichste, letzte Geheimnis so mancher jener heftigen, gegen
das Haus Wagner oder die Festspielleitung hartnäckig
inszenierten, grossen Presse-Fehden. Man darf also
den Spiess geradezu umkehren: Die „schnöde Gewinn-
sucht", die man Villa Wahnfried als innerste Ge-
sinnung imputiert, ist vielmehr wohl meist die innere
Triebfeder all der Schrei-Maschinen, die ein Ernst
von Possart z. B. im entscheidenden Momente seiner
„Festspiel"-Kampagne so fein und klug zum Schweigen
zu bringen verstand. Bayreuth aber hat gegebenen
Falles, im Bewusstsein seiner idealen Position, den
starken Mut, diese Presstreibereien gegen sich los- und
ruhig über sein Werk ergehen zu lassen — Respekt
darum vor diesem künstlerischen und moralischen
Bayreuth! . . .
Gewiss hat Wagner selbst sich sein „Deutsches
Olympia" wesentlich anders, beileibe nicht etwa als Stell-
dichein der zahlungsfähigen Herren Fremden gedacht.
Aber, wenn sich das als ein frommer Wunsch und als
ein schöner Wahn noch bei Wagners eigenen Lebzeiten
leider heraus stellte — wahrlich, so trägt weder der
Meister, noch seine Familie, noch der Verwaltungsrat,
sondern das viel besungene, weit gerühmte „deutsche Volk44
selber ganz allein daran die Schuld. Oder, wer
hinderte denn diese gutmütige, blöde Herde ehedem
daran, in gleich hellen Scharen herbei zu strömen —
wer? wenn nicht seinerzeit die privilegierten Leithammel,
nämlich eben wieder die selbe, jene »Festspiele" ihrem
27«
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420
Wagneriana. Bd. III.
Volke so gründlich vergraulende Presse, die es jetzt
am allernotwendigsten hat, das „Haltet den Dieb!* —
oder in unserem Falle: „Bayreuth ist Ausländerei, für
uns Alle unzugänglich und schlechterdings unerschwing-
lich geworden 1 " laut in die Menge hinein zu rufen.
Und wo waren denn bei uns bisher die Damen aus den
höchsten aristokratischen Kreisen, die zu einem Komitee
zusammen traten (wie uns dies aus Frankreich
soeben wieder gemeldet wird), um strebsamen jungen
Kunstlern die Reise nach Bayreuth zu ermöglichen?! —
Nur in Einem können wir Frau Cosima Wagner
beim allerbesten Willen nachträglich leider nicht bei-
treten, geschweige denn so recht von Herzen nun zu-
stimmen. In einer Nachschrift zu jener oben an-
geführten, gewichtigen „Erklärung" schrieb die verehrte
Dame nämlich bald darauf noch an die „M. Neuesten
Nachrichten": „Den Allgemeinen Wagner-Verein
betreffend, so habe ich diesem durch Baron v. Wol-
zogen mein Schreiben an die Herren Reichstags-
abgeordneten übermitteln lassen, da ich das als meine
Verpflichtung gegen den geschätzten Verein
hielt und ich mich auf seine tüchtige Gesinnung
verlasse, um mich in der Schutzfrage des Parsifal
nach Kräften zu unterstützen." Aber wie ist mir's
denn? Wie lautete doch gleich die Version seinerzeit
im Jahre 1891, welche sich in einer gewissen General-
versammlung bekanntlich zu einem so graziösen, viel
bemerkten Denkzettel der „Frau Meisterin* an die be-
treffenden Vereine verdichtete? Damals klang es —
und mit Recht — wie: „Der Mohr hat seine Schuldig-
keit nicht gethan!" Das zum Mindesten also wäre
uns doch völlig neu, dass Frau Wagner sich nun auf
einmal „auf seine tüchtige und bewährte Gesinnung
verlassen" zu können glaubt, ja von „Verpflichtung4'
ihrerseits gegenüber diesem Vereine und seinen leitenden
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Die Pflege des Erbes. 421
Männern sogar sprechen will. Wer sich eben, wie jener
Verein dazumal, seine natürliche Autorität widerspruchs-
los-lammfromm in solcher Weise untergraben Hess, der
hat heute keine mehr bei diesen Kämpfen in die Wag-
schale zu werfen — mag er gleich in rührender Selbst-
vergessenheit mit Petitionen an Reichskanzler und
Bundesrat wacker voran schreiten wollen. Nein, nein
— eine solch' überlebte Sache lässt sich dann nicht
auf einmal wieder galvanisieren; eine so abgestandene
und verbrauchte, skandalös rückläufige Organisation wie
jener „Allgemeine Deutsche Wagner -Verein", er gehe
nur ruhig vollends den wohlverdienten Weg alles
Fleisches, seiner definitiven, unaufhaltsamen Auflösung
möglichst rasch nun entgegen! Neue Aufgaben erfordern
auch neue Bildungen. Angesichts einer so „brennenden"
Frage wie der Bayreuther „Parsi fal" -Angelegenheit
erlaube ich mir vielmehr jetzt einen früheren Vor-
schlag (vergl. „Allgemeine Musik-Zeitung" 1898, No. 35)
auszugraben und einer weiteren Öffentlichkeit nun-
mehr erst recht nachdrücklich wieder zu unterbreiten:
„Wagner-Gesellschaft — nicht Wagner-Vereine!"
Dem derzeitigen konkreten Bedürfnisse entsprechend,
müsste diese, nach dem Vorbilde der Goethe- und
Shakespeare -Gesellschaften wie der Schiller -Stiftung
in's Leben zu rufende, völlig neue Organisation aller-
dings die „gesetzliche Erhaltung des Parsifal ausschliess-
lich für Bayreuth" zunächst einmal zum Hauptpunkte
ihres grossen Arbeitsprogrammes erheben, praktisch
mit Energie und aller Sachkunde nach dieser Seite
hin vorgehen und jene Bestrebungen wenigstens das
erste Jahrzehnt hindurch zum bevorzugten Hauptgegen-
stand ihrer durchgreifenden Wirksamkeit machen. Volle
12 Jahre hat es ja — nach dem neuen Gesetze —
damit immer noch Zeit, gottlob! In dieser Frist kann
viel geschehen; und bis dahin, mein* ich, sollte eine
422
Wagneriana. Bd. III.
neue grosse „Wagner-Gesellschaft" das vorgesteckte
Ziel doch auch erreichen können. Wer ist mit mir
der selben Meinung?
Zum 25jährigen Bestände der Bühnenfestspiele
(1901)
Das erste Festspiel von 1876 und das letzte vom
laufenden Jahre: beide schlössen mit einem erkleck-
lichen Defizit. Nur lag dies damals daran, dass zu
wenig Festspielgäste gekommen waren, während das
„Defizit" diesmal darin bestand, dass offenbar noch
zu wenig Vorstellungen gegeben wurden, so dass lange
nicht alle Besucher aufgenommen werden konnten und
sehr Viele ohne Karten wieder abziehen mussten. Das
bildet immerhin einen ganz erheblichen Unterschied.
Und dergleichen nennt man dann eben: „Jubiläum".
„Wie konntest du es begeh'n?" Ich wusste es
nicht. „Weisst du, wie das ward?** Das weiss ich
nicht. „Weisst du, wie das wird?" Das weiss ich
nicht. „Weisst du, was du sahst?" Ich weiss es
nicht. „Das weisst du alles nicht! — Die Namen
denn, die heuer dort sangen?" ... Ich las gar viele,
doch weiss ich ihrer keinen mehr. „Nun sag'! Nichts
weisst du, was man dich frägt: jetzt melde, was du
weisst! Denn etwas musst du doch wissen." Ich hatte
einen Meister: Richard Wagner er heisst! „Ein guter
Meister — doch lang' schon tot; wie regelte der wohl
des Spieles Gebot?" Zarathustra (als Kundry la socrüre)
dazwischen rufend: „Dein Meister ist tot — dich Thoren
hiess er mich grüssen!" Das lügst du!! (Ich will ihm
wütend an die Kehle.) „Verrückter Knabe! ... Er
sagte wahr; denn nie lügt Nietzsche, doch sah er viel."
Ich — — verschmachte! „Was also ist Bayreuth?**
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Die Pflege des Erbes.
423
Das sagt sich nicht ... Nur Ruhe will ich, ach, dem
Müden! — Schlafen! — Oh, dass mich keiner wecke! . . .
Nicht doch! — Was denn? — Ei, werd' ich dumm?
Hailoh! ich glaube wirklich, ich habe einen
schweren, so wüsten als wirren Traum da eben gehabt.
Also rasch, den Rest von Schlaf aus den Augen ge-
rieben — auf, zur Sache!
Nun denn: Ich habe ein Buch über den „Modernen
Geist in der Tonkunst" verbrochen, bekanntlich Nietzsche
herausgegeben und, Dank dem liebenswürdigen Entgegen-
kommen des Verlages Schuster & Loeffler in Berlin,
„Wagneriana * (I) veröffentlicht. Und zwar habe ich die
letzteren schon lange Zeit vor dem ersteren nieder-
geschrieben. Ich war am „Nietzsche- Archiv* zu Weimar
und war bei den Festspielen in Bayreuth. Und zwar bin
ich bei den letzteren auch nach meinem Aufenthalt am
ersteren wieder gewesen. Wie reimt sich das alles wohl
zusammen? „Doch ein sonderbarer Kauz, dieser Seidll u
— werden nun wohl Manche sagen. Und merkwürdig,
ich selber komme mir nachgerade sonderbar genug
dabei vor; denn ich kann offenbar nun und einmal
nicht lassen von der „Wagnerei" und vermag von diesem
„Zauberer" beim besten Willen nicht wieder los zu kommen.
Mit wahrer Spannung hab' ich die Fahrt, jetzt nach
einem vollen Lustrum der «Karenz«, dorthin wieder an-
getreten, mit Frohlocken und Begeisterung dem „Ring"
entgegen gesehen, mit klopfendem Herzen den neuen
„Fliegenden Holländer* erwartet und mit förmlicher
Atembeklemmung der Erregung und der Bängnis (schon
die ganze Zeit meines dortigen Aufenthaltes vorher)
ordentlich darauf gepasst, wie zumal der „Parsifal",
dieses früher so tief mir in's Herz gewachsene Mysterium,
jetzt auf dem Boden meiner neuen Erkenntnis, auf mich
wirken würde. Wie sagt doch Nietzsche? «Was mich
nicht umbringt, macht mich stärker." Es hat mich
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424
Wagneriana. Bd. III.
aber wieder umgeworfen — einfach nicht in mir um-
zubringen, dieser Wagner und dieses Werkt Bin ich
darum schon schwächer geworden und muss mich zum
femininen „Dekadenten" vor aller Welt also offen nun-
mehr bekennen? . . .
Es ist hier wohl nicht der Ort, diese höchst per-
sönlichen Konfessionen fortzusetzen und psychologische
Analysen für die Retorten exakter Wissenschaft oder
experimenteller Spezialforschung zu liefern. Ich will
es auch den Bayreuther „Gralshütern" im eigentlichsten
Sinne, deren Horizont noch niemals auch nur der ge-
ringste ketzerische Gedanke getrübt hat — all den „im
Glauben seligen" Trabanten, Automaten, Pagoden etc.
getrost überlassen, wieder einmal — zum so und so
vielten Male — den alten Gemeinplatz vom „Triumph
des Bayreuther Gedankens0, den „Offenbarungen" seines
Stiles und der hohen „Weihe" seiner Kunstpflege, zu treten.
Meine heurigen dortigen Festspielerfahrungen sind von
mancherlei, zum Teil auch recht herben, Enttäuschungen
keineswegs frei geblieben, und vielleicht darf auch auf
mich ein ganz klein wenig mit zutreffen, was jüngst
Leo Berg von einer gewissen Klasse ästhetisch ver-
anlagter Menschenkinder ausgesagt hat: „Der kleinste
Mangel, die kleinste Disharmonie verleidet ihnen eine
Sache; alles Fertige, Erreichte langweilt sie (wie jeden,
produktiven Geist), und alle Wiederholung ermüdet sie
(wie jeden, der selber reich ist)." Es handelt sich eben
nur um ein relatives Urteil in der Sache — bei
Unsereinem wenigstens, der frühere Erlebnisse,
höchste Massstäbe und Vergleichspunkte, bereits dort-
hin mitbringen darf. Nichts Menschliches, Allzu-
menschliches aber wissen auch wir uns fremd, — dank-
erfüllten Herzens hat daher auch meine Wenigkeit ihr
(wenigstens 20 jähriges) Jubiläum heuer festlich dort be-
gehen dürfen. Und gegenüber einer gerade diesmal wieder
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Die Pflege des Erbes.
425
ganz unverantwortlich vordringlichen Bayreuth-Hetze,
wie dem blindwütigen Gekläff einer geradezu widerlichen
Pressmeute scheint mir doch hinreichender Anlass ge-
geben, an dieser Stelle auch einmal darauf hinzuweisen,
dass selbst eine solch unabhängig-freie Anschauung der
Bayreuther Dinge, wie ich sie eben angedeutet und —
ich denke — selbst wiederholt bewiesen, zu wesentlich
anderer Auffassung als unsere sogenannte „öffentliche
Meinung" und „litterarische Kritik" über den dortigen
genius loci gelangt; dass sogar ihr es hoch an der Zeit
erscheint, ein lautes und deutliches: „Wagnerianer aller
Länder, vereinigt euch!" und „Gralshüter ihr, wahrt
eure heiligsten Güter!" in sympathischem Zurufe
dorthin erschallen zu lassen. Ganz in Sonderheit wird
es hier — schon um zu zeigen, welch anderer, grund-
verschiedener Geist da herrscht, und wie charakteristisch
sich ein Bayreuth vom Getriebe der übrigen „Welt"
da draussen abhebt — gut sein, einmal wie von un-
gefähr einzelne markante Typen dieses Bayreuther Unter-
schiedes auch klar heraus zu heben. Man mag diesem
Geiste treue Gefolgschaft leisten oder aber ihm auf
Grund individueller Lebensgesetze und neuer Zukunfts-
ideale als ritterlich-vornehmer Widersacher gelegentlich
trotzend entgegen stehen — aber verleumden soll und
darf man ihn wenigstens nicht ungestraft! Und wenn
irgendetwas, so ist doch ein derartiges J u b i 1 ä u m
wahrlich die geeignete Gelegenheit, solch' ernste Prüfung
anzustellen und mit einer gerechten Anerkennung
zu Gunsten der Sache als solcher auch nicht zu kargen.
Denn — frei heraus mit der Sprache! Was ist
es wohl: Person oder Sache, wenn man nirgends,
in keiner illustrierten Zeitschrift, keinem Schaufenster
und keinem Kunstladen, ein Konterfei von Frau
Wagner zu sehen, geschweige denn zu kaufen be-
kommt? (Das von Otto Greiners Meisterhand auf Stein
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426
Wagneriana. Bd. III.
gezeichnete für die spezielleren Kunstliebhaber einzig
ausgenommen.) Und wenn die Welt noch niemals, auch
anlasslich dieser Jubelfeier nicht, von irgend welcher
äusseren Dekoration dieser überragenden Frau gehört,
vielmehr gerade diesmal von ihrer ausdrücklichen, ent-
schiedenen Ablehnung solcher Firlefanzereien deut-
lich vernommen hat, als welche auf „Kinder der Welt"
sonst doch einen so grossen Eindruck zu machen pflegen?
— Sodann: Handelt es sich um „Geschäfte" oder
„Ideale", wenn die Familie Wagner weder Überschüsse
noch Tantiemen aus den Bayreuther Festspielaufführungen
in die eigene Tasche steckt (wie der geschmackvolle Aus-
druck lautet), sondern alles hübsch haushälterisch
immer zu einem Festspielfonds auch der mageren Jahre
fli essen lässt? Und wenn dementgegen die selbe Familie
Wagner für etwaige besondere Repräsentationskosten eines
Jahres ihrerseits sogar noch persönlich aufkommt? — Soll
es ferner als E i g e n n u t z oder als P i e t ä t gelten, wenn
Frau Wagner die deutsche Öffentlichkeit flehentlich be-
schwört, wenigstens den „Parsifal" durch ein Aus-
nahme-Gesetz 50 Jahre bis nach dem Tode des Urhebers
jener Bayreuther Bühne zu erhalten, indem sie dazu
in aller Form noch hoch und heilig erklärt, dass sich
diese Schutzfrist -Erweiterung ja nicht auf alle Werke
des Meisters zu erstrecken brauche und die Erben nach
1913 dann ja gerne auf alle Tantiemen verzichten
wollten — alles aus reiner Herzensangst und edelster
Pflichterfüllung eben, um das geistige Testament des
Schöpfers von Bayreuth auch treulich halten und wahren
zu können?! — Und wie sollen wir es wohl nennen:
blassen „Konkurrenz-Neid" oder aber doch „Idealismus",
wenn Angehörige des „Allg. Richard Wagner -Vereines"
heuer in besonderer Sammlung eine Jubiläums-
Spende von über 20000 Mk. zum Ankaufe von Frei-
karten für deutsche Unbemittelte neben dem laufenden
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Die Pflege des Erbes.
427
„Stipendien - Fonds" zusammen gebracht hatten? So
also und nicht anders hat man in Wagnerianer-Kreisen
still und bescheiden, aber nachhaltig und vornehm,
sein Bayreuther Jubiläum würdig begehen zu müssen
geglaubt, und es kann kein Zweifel darüber bestehen,
dass zuletzt doch nur einer, der zu dieser Stiftung etwa
beigetragen, sich das Recht zugleich erworben hätte,
seine Stimme im grossen Entrüstungssturme gegen so-
genannte „Bayreuther Zustände" mit gutem Gewissen
zu erheben. Aber merkwürdig, gerade von diesen,
hierzu allenfalls berufenen Leuten hat man keinen Ein-
zigen unter jenen Schreihälsen — mit ihrem albernen,
weil ganz missverständlichen: „Los von Bayreuth!" —
gefunden. — Und auch, wenn der Verwaltungsrat
der Bühnen festspiele die Eintrittskarten zum „Ring** seit
Jahren nur für alle vier Abende zusammen ausgiebt
— selbst auf die Gefahr hin, dies als wenig fairen
Geschäftskniff dann verschrieen zu sehen — , werden
wir Einsichtsvolleren dies als „Beutelschneiderei" ihm
auszulegen vermögen? Ganz abgesehen noch davon,
dass es einen ganz eigenartigen und seltenen Reiz für
sich hat, als gleichheitliches Kunstpublikum, mit immer
den gleichen Nachbarn, Vor- und Hintermännern, in
gemeinsamem Erleben während vierer Abende, zu aller-
edelstem Kunstgenüsse gleichsam einmal zusammen
zu wachsen, wir also alle Ursache haben, jenem als
Geniessende dafür gerade dankbar zu sein — ganz
abgesehen davon, muss es doch zum Mindesten i rgen d -
wo auf dieser Welt eine sichere Stätte geben, da man
durch äusseren Zwang ein Mal sich an- und fest-
gehalten sieht, die grandiose Tetralogie streng nach dem
Willen und der Absicht ihres Schöpfers auch als ein
ganzes Werk „festlich" zu empfahen.
Weiterhin: In der ganzen Welt hört man immer
von den Bayreuther „Muster- Aufführungen 44 fabeln. Der
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Wagneriana. Bd. III.
wahrhaftige „Bayreuther*' weiss das aber längst weit besser.
Er, der auch kaum je vorher nach dem Personen-
verzeichnisse, auf den Theaterzettel des Tages, sieht
(von welchem die Berichte unserer offiziellen Herren
Referenten desto voller strotzen), weil es ihm hier
grundsätzlich mehr auf das grosse Ganze als auf den
— wenn auch noch so hoch stehenden — virtuosen Ein-
zelnen ankommt: er seinerseits spricht in der Regel
lediglich von „Festspielen " ; denn e r kennt ihre natürlichen
Unvollkommenheiten und die leidigen Zufälle sehr genau,
an deren Ausgleich dort um so unablässiger stets weiter
gearbeitet wird. Er weiss ganz ebenso aber auch, dass sie
auf dem Boden der dortigen Praxis und Kultur ihn
aus allem Alltag, aller Routine und Schablone mit
Macht jederzeit heraus heben und in freiere Höhen zu
rein menschlicher Freude je und je empor tragen, da sie
denn durchaus veränderten Bedingungen hier entspriessen.
Es giebt in ganz Deutschland keine Bühne, welche die
Müsse von 10 Monaten besässe, um (einmonatliche)
Aufführungen einzig nur von 3 — 4 Werken vorbereiten
zu können ! — Und mit dem entgegen kommenden Auf-
schliessen der Bayreuther Pforten zu Gunsten der ebenso
zahlungsfähigen als fixen p. t. Herren Fremden, auf
Kosten unserer lieben guten Deutschen — wie steht
und verhält sich's wohl damit? „Bayreuth existiert ja
nur mehr für die Ausländer!" . . . Man lese die
feine Argumentation eines so vortrefflichen Kenners
der Verhältnisse, als Hans von Wolzogen, wie sie jüngst
unter der Überschrift „Fünfundzwanzig Jahre Bayreuth"
im „Türmer" zu finden war. Dieses kühne Wort näm-
lich geht „um unter den Deutschen, die uns so
lange im Stich gelassen hatten. Ja, sollte man
sie denn abweisen, wenn sie kamen (diese Auländer)?
Sollte man sie etwa noch durch Zurücksetzung bestrafen,
weil sie als Erste der Erkenntnis freien Ausdruck ge-
Die Pflege des Erbes.
429
geben, dass Bayreuth ein einzigartiges Merkmal deutscher
Art und Kunst sei? Wenn aber nun einmal jemand
im stolzen Bewusstsein seiner Geburt als Deutscher,
nachdem er sich reichlich spät zum Besuche von
Bayreuth entschlossen, gerade den Platz nicht mehr
erhalten kann, den er sich ausgedacht hat: den siebenten
Platz in der sechsten Reihe rechts, aber mit angenehmen
deutschen Nachbarn auf beiden Seiten und vorn und
hinten, dann klagt er laut und hell den Verwaltungsrat
an, es würden ihm zahllose Ausländer vorgezogen
— neuerdings meist ^Engländer', denn das klingt noch
niederträchtiger !" . . . Nachweisbar 80°/0 aller Eintritts-
karten wurden in diesem Jubeljahre an Deutschland
ausgegeben. Nur, seltsamer (und doch auch erfreulicher)
Weise, für den „Ring* gerade hatte sich das Verhältnis
zu Gunsten der Fremdländer wieder etwas verschoben.
Wozu also noch immer der Lärm ? „Was steht den
Herrn zu Diensten?"
Endlich darf vielleicht noch zur einleuchtenden
Schluss- und Gesamt-Charakteristik von „Bayreuther Art
und Kunst" hier sehr wohl dienen eine bezeichnende
Stelle aus dem Schreiben eines (leider bereits ver-
storbenen) ungemein feinfühligen und reich gebildeten
Kunstkenners, Conrad Fiedler mit Namen, das dieser
nach den Neu-Einstudierungen des „Tannhäuser" und
„Lohengrin" zu Bayreuth voll Ernst und Wärme an einen
skeptischen Freund gerichtet hatte und das ebenfalls
wieder, wie so manches andere Dokumentarische, in den
bewussten „Bayreuther Blättern" seine erste Veröffent-
lichung gefunden — von welchen es überhaupt, und erst
recht wieder aus Anlass dieses Jubiläums, das auch ihre
Jubelfeier bedeutet, heissen darf: sie sollten fleissiger ge-
lesen und weniger getadelt sein. Fiedler also schildert da,
aus den damaligen Erlebnissen heraus, seine Eindrücke
des aller übrigen Theaterwelt gegenüber so völlig ab-
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430
Wagneriana. Bd. III.
seitigen Bayreuther Wesens wie neuartigen Festspiel-
geistes — und zwar sehr anschaulich folgendennassen :
.Sie werden unzweifelhaft von der wundervollen
Inszenierung . . . und wahrscheinlich auch von der
nicht ganz genügenden Besetzung . . . reden hören.
Beides trifft zu und hat doch so gar nichts zu thun mit
dem, was an der hiesigen Aufführung . . . merkwürdig
ist. Es hat sich wieder einmal die alte Erfahrung be-
stätigt, dass das Publikum dem Neuen, das ihm geboten
wird, vollkommen ratlos gegenüber steht; und ob es von
der Kritik gut beraten wird, erscheint mir mindestens
zweifelhaft. Es kann mich ganz unglücklich machen,
wenn ich Worte wie Inszenierung und Regie auf
Bayreuth anwenden, wenn ich die Leute vom Ballett,
. . . von der Pracht der Dekorationen und der Echtheit
der Kostüme schwärmen höre." (Es giebt nur leider
zumeist keine anderen Worte dafür in der Fachsprache
— und daher diese allgemeine, heillose Verwirrung der
Begriffe in allem, was Bayreuth angeht! D. Ref.) „Es
ist nämlich ganz unmöglich, mit diesen Requisiten der
Theatersprache das zum Ausdrucke zu bringen, was die
dortige Aufführung thatsächlich über die Sphäre der
gewohnten theatralischen Vorführungen weit hinaus hebt.
Ich kann nicht anders sagen, als dass hier eine Art von
künstlerischer Gestaltung des Bühnen Vorganges vorliegt,
wie ich sie noch nicht erlebt habe. Wenn der gewohnte
Theaterbesucher" (Habitue! D. Ref.) „Vergleiche anstellt,
wenn er vieles besser findet als auf den stehenden
Bühnen, manches besser gesehen und gehört zu haben
meint, so beweist er damit, dass ihm dasjenige nicht
nahe getreten ist, wodurch das dort Geleistete als ganz
unvergleichlich mit allem erscheint, was auf unseren
Bühnen überhaupt möglich ist. Wem aber das offen-
bare Geheimnis1 der dortigen Vorführung aufgegangen
ist, der wird davon so sehr gefesselt sein, dass ihm
Die Pflege des Erbes.
431
alles Andere, wofür er in sonst Gesehenem und Ge-
hörtem einen Massstab der Vergleich ung besitzt, doch
nur als untergeordnet vorkommen muss. Dieses Ge-
heimnis der Gestaltung besteht, um es kurz zu sagen,
darin, dass das auf der Bühne sichtbar Geschehende
derartig mit der Musik verbunden ist, dass aus beiden
ein vollkommen einheitliches Ganzes entsteht" . . .
„Wenn man sich fragt, wie es möglich wird, in
Bayreuth etwas zu erreichen, was sonst kaum erstrebt
wird, so genügt es nicht, auf die besonderen hier
waltenden Verhältnisse, auf die ungewöhnliche
Begabung hinzuweisen, der sich hier alle ausführenden
Kräfte unterordnen. Diese Begabung steht selbst im
Dienste viel höherer Eigenschaften, die man im besten
Sinne des Wortes moralische nennen mag. Woran
scheitert gemeiniglich jedes Streben ? Warum sieht man
grosse Veranstaltungen zu kläglichen Resultaten führen?
Es sind im Grunde Jämmerlichkeiten, denen das Wichtige
zum Opfer fällt. Nicht die Sache ist es, um die es
sich handelt ; nur zu oft ist sie nur dazu da, dass Talent-
und Gesinnungslosigkeit und damit allerhand Eitelkeiten
und Interessen Spielraum gewinnen. Daraus folgt das
Nachgeben, das Kompromisse - Schliessen, das Sich-
begnügen mit dem Annähernden, dem Mittelmässigen.
In dieser Verstrickung geht jede Möglichkeit, zu einem
Guten zu gelangen, verloren; es entsteht jenes Schein-
wesen, das auf allen Gebieten herrscht, jenes schein-
bar Gute, welches recht eigentlich das Schlechte ist.
Hier nun ist der feste, unbeugsame Wille da, wirklich
und wahrhaftig Ernst zu machen. In den Dienst dieses
höchsten sachlichen Idealismus stellt sich die Begabung.
Alles fällt als nichtig ab, was sonst die Denk- und
Handlungsweise der Menschen zu bestimmen pflegt;
das Interesse der Sache ist das einzig Massgebende.
Indem an ihm mit einer nicht um eines Haares Breite
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Wagneriana. Bd. III.
nachgebenden Energie fest gehalten wird, indem es allem
entgegen gehalten wird, was von dem geraden Wege zum
Ziele ablenken könnte, wird es möglich, die Knecht-
schaft jenes Scheinwesens abzuschütteln und zu der
freien Wahrhaftigkeit durch zu dringen, in der nur die
echten Werte Geltung haben. — Mag nun auch das
Beispiel dieser Aufführungen so wenig eine unmittel-
bare Nachfolge haben wie frühere Aufführungen, un-
berechenbar ist doch die Wirkung, die von hier aus-
geht. Nicht in dem Interesse der Bühne, nicht in dem
Interesse der Kunst erschöpft sich die Wichtigkeit dessen,
was hier gethan wird. Welchem Thätigkeitskreise der
Einzelne angehören mag, zu welchen Zielen ihn sein
Streben treibt, er wird sich an dem, was er hier erlebt,
stärken und aufrichten können, wenn er nur den Geist
zu erkennen vermag, in dem hier gewirkt und geschaffen
wird." . . .
Gerne haben wir das an dieser Stelle wörtlich
zitiert, schon weil solche Grundlinien einer Bayreuther
„Umwelt" auch heute noch durchaus sich bewähren, das
will sagen : mutati» mutanti* sogar unmittelbar auf die
diesjährige Neu-Inszenierung (oder richtiger „Neu-Ge-
staltung ex fumlamento*) des «Fliegenden Holländer*
sich wieder übertragen Hessen. Wobei überdies noch
hervor zu heben wäre, dass diesmal Siegfried Wagner
mit der mise-en-ichne des Drama's sein sehr respektables
Gesellenstück geliefert hat. —
Es hat nach alledem, und eben auch darum, so-
zusagen keinen moralischen Zweck, hier die Geschichte
des Werdeganges dieser Bayreuther Festspiele mit allen
ihren Hindernissen und schweren Nöten breitspurig im
Einzelnen noch weiter beschreiben zu wollen. Das alles
haben Karl Heckel (Berlin, bei S. Fischer), Houston
St. Chamberlain (m Bayreuther Bl. u) und Hans von Wolzogen
(a. a. O.) weit besser und erschöpfender schon geschildert,
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Die Pflege des Erbes.
433
als ich es hier zu thun vermöchte. Man mag es getrost
nur auch nachlesen; denn man kann sehr viel daraus
lernen, wovon unsere „Presse" niemalen Auskunft giebt —
ja, worüber sie sich sogar grundsätzlich ausschweigt.
Und ebenso erübrigt es sich wohl, hier auf Wagners
eigene Angaben über den „Fliegenden Holländer" als
„Einakter", Musik und Drama (Bd. I, IV, V, VII, IX
der „Ges. Sehr."), und auf Liszts glänzende Ausführungen
dazu (Bd. III, 1 der „Ges. Sehr.*) besonders zurück
zu kommen, oder auch nur auf die „Holländer"-Mono-
graphieen von Dr. Fr. Stade, Edm. v. Hagen, W. Broesel,
Oskar Eichberg, Hans v. Wolzogen, Prof. Dr. W. Golther,
Heintz, Nohl, Schure, Pasqu6, John, Dr. v. d. Pfordten,
Wossidlo, Hartogensis etc. des Näheren noch erst ein-
zugehen. Aber so viel ist natürlich sicher, dass nur
derjenige, der das Alles kennt und sich innerlichst zu
eigen gemacht hat, wirklich und ernstlich hier mitreden
sollte. In der That war der gute, alte — um nicht zu
sagen: abgetakelte — „Holländer" für diesmal gleichsam
das „Ereignis der Saison": in seiner interessanten Zu-
sammenziehung zumal auf einen Akt just die richtige
„Nouveaute", um im Journalisten-Jargon einmal zu reden.
Aber er war doch nur das, nach aller intimeren Vor-
kenntnis der gegebenen Situation durchaus erwartete
und dortselbst ganz ohne Weiteres auch zu gewärtigende
„Ereignis", also schon mehr das Bayreuther Erlebnis,
das sich Keiner von uns schenken wollte, noch entgehen
lassen durfte: schon zu lebendiger Ergänzung und zeit-
gemässer Vervollständigung von unser Aller persönlicher
Anschauung des „Bayreuthes nach 25 Jahren".
Freilich war ja nun wieder voraus zu sehen, dass
man auf der ganzen Linie alsdann auch sagen würde:
damit habe nunmehr das letzte der Wagner'schen Werke
nach Bayreuth endlich „heim gefunden". Aber, mit
Verlaub 1 Das letzte Werk bliebe in diesem Sinne doch
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 28
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Wagneriana. Bd. III.
immer erst — der „Rienzi". Seine strahlend-blech-
gepanzerte Instrumentation einmal aus verdecktem
Orchester zu vernehmen, möchte vielleicht doch selbst
ernsten Bayreuthern, und gerade ihnen, eine Reihe
neuer Gesichtspunkte eröffnen können; und nicht ohne
guten Grund stand just in den w Bayreuther Blättern"
dereinst (aus Ed. Reuss' kundiger Feder) ein höchst
instruktiver Aufsatz über die allein korrekte Inszenierung
des Werkes wie namentlich der grossen Ballett-Pantomime
darin — Beweis genug, dass es auch hier sehr wohl
eine Bayreuther Tradition der Bühnendarstellung geben
mag, die es erst noch als Schatz zu heben und in neue
Werte umzusetzen gälte. Oder aber wäre jener „Rienzi"
für die Weihe des Bayreuther Hauses schliesslich doch
nicht edel genug? Nun, ich meine: den edlen, hoch-
sinnig-fortreissenden Zug im Wagner des „Rienzi" be-
streiten, hiesse ihn bei ihm überhaupt in Abrede stellen
und also füglich vollkommen aus seinem Schaffen elimi-
nieren wollen. Anderseits wieder wird man sich unter
Vorurteilslosen darüber klar sein dürfen, dass von so
mancher scri-disant „schlechten Musik" in jenem Erstlings-
werke des grossen Erfolges Stellen wie das „Wie, hör'
ich recht?" Dalands, oder die bekannten fatalen Cavatinen
Eriks, zumal wenn sie aus dem berühmten „mystischen
Abgrunde* des Bühnenfestspielhauses erklingen, auch
nicht mehr allzu weit dann entfernt sind. Einzig nur
der Umstand, dass es sich dort (beim „Rienzi") um
bühnengerechte, rein litterarische „Bearbeitung" einer
gegebenen Buch-Vorlage zu einer historischen Oper,
hier aber (im „Fliegenden Holländer") bereits um eine
selbständige Sagendichtung nach Erlebnis handelt —
somit in letzter Instanz wieder des Meisters eigener
Ausspruch, dass er hier zuerst den völlig neuen Boden
einer eigenen Dramendichtung auf mythischem Grunde
beschritten, stände jenem Unterfangen allenfalls entgegen.
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Die Pflege des Erbes.
435
Übrigens ist mir aufgefallen, dass man durchweg
nur immer davon lesen kann, wie Wagner die Vertiefung
des Motives mit der Erlösung des Holländers durch die
Treue eines Weibes — von Heinrich Heine's be-
kannter „Salon"-Erzählung bereits übernommen habe.
Das ist aber doch nur mm grano sali* richtig, und jener
Zug bei einem Heine ohne Zweifel durchaus als ironische
Schluss-Pointe aufzufassen. Wenn hier Heine sagt:
„Der unheimliche Holländer muss bis zum jüngsten
Tag auf dem Meere umherirren — es sei denn, dass
er durch die Treue eines Weibes erlöst werde", so geht
schon aus dem unmittelbar nachfolgenden: „Der Teufel,
dumm wie er ist, glaubt nicht an Weibertreue", sowie
aus der späteren, gellenden Lache auf die Worte: „Treu
bis in den Tod!" zur Evidenz hervor, dass das bei dem
Verfasser der „Memoiren des Hrn. v. Schnabelewopski"
lediglich den Sinn haben sollte: „Da mag er denn
lange nach fragen und kann wohl bis an's Ende der
Welt suchen gehen!" Also ein echt Heine'scher
Persiflage- Witz. Hier bedeutet somit die Wendung
bei Wagner doch ein Neues — den vollen germanischen
Ernst der Sache und die volle deutsche Vertiefung,
kurz den entscheidenden Schritt gleichsam von
Paris zurück nach der „Heimat". Und nun weiss ich
auch, warum es mir ein solch „Vergnügen eigner Art"
bereitet hat, unmittelbar vor Beginn der Bayreuther
„Holländer"-Vorstellung, unter der rasselnden Wagen-
auffahrt der Gäste mit all ihrem flirt und frou-frou, in
der Restauration auf dem Festspielhügel droben, die
„Pariser Amüsements" des Schriftstellers
R. Wagner (W. Freuden feuer) wieder zu lesen, wie sie
im „Bayreuther Taschenkalender*4 (1893) — nebenbei
bemerkt: auch so ein Möbel, das leider keine Seele
kennt! — nach der Lewald'schen „Europa" höchst
dankenswert seinerzeit neu heraus gegeben worden waren.
28*
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Wagneriana. Bd. III.
Der darin so fein beschriebene „Besuch bei Scribe"
eröffnet für die damalige Periode in Wagners Leben
und Schaffen, das Um und Auf seiner Probleme wie
die Psychologie seiner eigenen Entwicklung um jene
Zeit, wahrlich mehr Perspektiven als ein volles Dutzend
„Holländer-Kommentare . . .
Von der einzelnen, zufälligen Vorstellung zu sprechen
hat eigentlich wenig Sinn. Wir verzichten hier auch
lieber darauf, und höchstens liesse sich ganz allgemein
die Frage aufwerfen, warum man bei der Zusammen-
ziehung des Werkes in eine Handlung die Zwischen-
gardine, und nicht lieber Wassernebel und Wandel-
dekorationen, vorgezogen hat. War's wohl eine Finanz-
Frage? Hingegen bliebe vom „Nibelungenring"
(II. Zyklus dieses Festspieles — den ersten dirigierte
Hans Richter, er selbst viel gefeierter Jubilar des
Festspieles von 1876!) noch zu erwähnen, dass im
„Rheingold" zwar Frische in der Temponahme und
rhythmische Straffheit sehr angenehm berührten und
die Gesamtleistung am zweiten Abend, in der „Walküre",
sogar einen erfreulich hohen Grad künstlerischer
Vollendung erreichte, aber im weiteren Fortgange des
Spieles Jung-Siegfrieds und Jung- Wagners Dirigenten-
Kräfte sich den Aufgaben des gigantischen Werkes eben
doch noch nicht in dem Masse gewachsen zeigten, dass
die bekannten Höhepunkte der Partitur: wie Schmiedelied,
Brünnhildens Erwachen, Hagens Aufruf der Mannen,
Trauermarsch und Schlussszene, zur gewohnten vollen
und unverblassten Wirkung gelangt, in plastischer
Steigerung so recht ausgestaltet erschienen wären.
Kein vernünftiger Mensch wird es Siegfried Wagner
übel nehmen, wenn er, der mit der Inszenierung des
„Fliegenden Holländer" bereits ganz Erkleckliches ge-
leistet, in seinem Alter das Riesenwerk der „Nibelungen"
noch nicht mit voller Reife zu bewältigen vermag — das
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Die Pflege des Erbes.
437
sind eben zugleich Lebens- und Er fahrungs fragen. Wir
gönnen ihm von ganzem Herzen jede gründliche, und
zumal streng Bayreuthische „Schule" für die gesunde Ent-
wicklung seines ausgesprochen vorhandenen Direktions-
Talentes, glauben aber nicht, dass Bayreuth und ein
„Nibelungen"-Jubiläum der rechte Ort zu Experimenten
für Novizen jenes Amtes seien. Höchstens bei den
Proben könnte man sich dort ja wohl den Luxus
leisten, ihn sich seine Sporen auf diesem besonderen
Felde verdienen und ihm die durchaus wünschens-
werte Förderung in angemessenen Grenzen angedeihen
zu lassen. — Für die Dresdener Akquisition der Frau
Wittich (als Sieglinde und Kundry) würden wir unser-
seits gern eine solche des Frl. Huhn als Fricka und
Waltraute in Tausch genommen haben. Wahrlich, wir
pflegen sonst die Festspielleitung mit derlei weisen, un-
massgeblichen Ratschlägen zur schwierigen Besetzungs-
frage zu verschonen. Allein dieses hartnäckige und
systematische Übergehen einer genialen Darsteller-
Persönlichkeit wie Charlotte Huhn am dortigen Orte
reizt unseren Widerspruch, und dergl. thut uns immer
leid — für Bayreuth. Ganz unvergleichlich stimmungs-
voll gelingt und ein hinreissendes, wahrhaft ideales
Bühnenbild zeitigt nunmehr die Wasserszene auf dem
Grunde des Rheins — eine Meisterleistung zuletzt des
Maschinenmeisters Kranich, auch eines der ver-
dienten Getreuen von 1876.
Alles in Allem und trotz Alledem wieder: nicht
ein — vielmehr das „Dokument deutscher Kunst"
bedeutet uns noch immer, und bleibe noch für recht
lange, das Bayreuth Richard Wagners!
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Falsche Erben
L Pollini f
(1897)
«Gebet Acht.
Das ist der Eumeniden Macht!"
(Schiller. „Kraniche <L Ibykus**)
„Pollinopolis" liegt hinter uns — die „Aera
Pollini" hat durch den raschen Tod des Theater-
gewaltigen ein jähes Ende genommen und ist nunmehr
abgeschlossen. — Das ehrliche Bangen um den
rechten Ersatz in der Hamburger Lokalpresse, es hatte
aber nur einen Sinn, wenn wir annehmen, dass der
Hamburger instinktiv bei diesem Todesfall empfand, wie
sein im Grunde merkantiler Geist (genius loci!) eigent-
lich einen industriellen Bühnenleiter als das ihm
Adäquate und Kongeniale im Stillen voraus setzt, und
dass im Falle Pollini, geb. Baruch Pohl, eben ein also
gerichtetes Bedürfnis den entsprechenden Mann und
das geeignete, zugehörige „System" seiner Zeit gefunden
hatte. Sonst kann man ja nicht eben sagen, dass das von
dem »grossen Handelsmann des Nordens" inaugurierte,
grosskapitalistische Bühnen -Monopol der Kunst als
solcher von besonderem Vorteile gewesen sei. Was hier
die offiziellen Nekrologe offiziöser Trauerredner so
emphatisch „Opfer" nennen, die der Verstorbene dem
Glänze seiner Oper oft gebracht und gar niemals ge-
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Falsche Erben.
439
scheut habe, es war zuletzt doch nur immer eine plan-
volle Kapitalanlage.
Die offiziellen „Nekrologe"! — In der (leider wieder
eingegangenen) SchrempFschen Zeitschrift „ Die Wahrheit*1
stand einmal eine recht lehrreiche Betrachtung zu lesen.
Es handelte sich um das innere Erlebnis eines harm-
losen Menschenkindes, das zufällig dem Leichen-
begängnisse eines ihm Unbekannten angewohnt, alle
die würdevollen Trauerreden am offenen Grabe mit an-
gehört, hernach in den Lokalblättern die überaus
ehrenden Nachrufe alle durchgelesen, und all dieses
schmerzliche Gehaben im guten Glauben für bare
Münze genommen hatte, um hinterher erst durch einen
intimer Eingeweihten die schwarze Kehrseite dieser so
gleissenden Medaille und damit die ganze Verlogenheit
unseres öffentlichen Daseins tiefer und näher kennen
zu lernen. An diese Geschichte fühlte man sich ganz
unwillkürlich sehr lebhaft auch erinnert, wenn man die
Hamburger Abendblätter vom 27. November zur Hand
nahm. Diese lokalen Pollini-Nachrufe troffen ordentlich
von Ruhmestiteln, Ehrenämtern und Dekorationen des
zwar plötzlich, aber doch nach seinem Leiden nicht
mehr ganz unerwartet Abgeschiedenen; sie ertönten von
Lobespsalmen mit Triumphposaunen ob seiner hohen
Verdienste um das Hamburger Theaterleben und fanden
es offenbar ganz natürlich, dass die Erdenreste dieses
Mannes unter den erhabenen Klängen — der Siegfried-
Trauermusik aus der Wagnerischen „Götterdämmerung11
zu Grabe getragen wurden! Wir haben aber vor Zeiten
einmal die blutig ernst gemeinte Broschüre eines ge-
wissen (mittlerweile als unfreiwillig Verbannter in der
freien Schweiz gleichfalls verstorbenen) Pohle sorgfältig von
Anfang bis zu Ende durchgelesen: eine Broschüre, deren
ganze Widerlegung in ihrer ausgiebigsten Konfiskation
alsbald nach Erscheinen bezw. in der Verurteilung ihres
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440
Wagneriana. Bd. III.
Verfassers £weil er sich über einen Polizeirat eine un-
vorsichtige Äusserung hatte entschlüpfen lassen) bestand,
— und für uns war Bernhard Pollini wie sein höchst frag-
würdiges System, um nicht zu sagen : seine Theater-
misswirtschaft, von Stund' an ein für alle Mal gerichtet.
Oberaus bezeichnend für die landesübliche Leisetreterei
in dieser Frage und die offenkundige Beschönigung ist
aber nun auch die Thatsache, dass hierbei mit keiner
Silbe Erwähnung mehr geschieht jenes kurzen, doch echten
und wirklich künstlerischen Glanzpunktes in dieser
nahezu fünfundzwanzigjährigen Theaterregierung, welcher
sich unter dem Namen „Hans v. Bülow" zusammen fassen
lässt und noch heute in der Bülow-Büste des Theater-
foyers sein Denkmal hat. Dass überdies Pollini (später
ausgezeichnet bewährte) Kräfte in seinem Rahmen und
bei seiner Art des Betriebes künstlerisch gar nicht
einmal zu plazieren verstand, das lehrte doch auch
seiner Zeit der »Fall" Weingartner und Mahler, die bei
ihm frohnende Kapellmeisterdienste gethan haben. Ham-
burg hätte genau das selbe haben und geniessen können,
dessen sich jetzt z. B. Wien in so vollem Masse auf-
blühend an seiner Hofoper erfreut, wenn anders es
Herrn Pollini eben nur auch gefallen hätte. Statt dessen
wird nun der Verstorbene, mehr menschlich wohl-
wollend im Grunde denn geschichtlich nachweisbar,
als herkulischer Auskehrer eines Kunstaugiasstalles ge-
feiert!
Anderseits wieder dürfte der vornehme „Deutsche
Bühnenverein" ganz offen und unverhohlen jetzt wie
von einem Alpdrucke befreit aufatmen, blieb es doch
nachgerade ein beschämend Schauspiel, zu sehen, wie
rücksichtslos dieses sein vielgewandtes „Ehrenmitglied"
hervorragende Kräfte seinen eigenen Herren Kollegen
im Amte durch strahlende Versprechungen und völlig
übertriebene Gagen für seine besonderen Privatzwecke
Falsche Erben. 441
gar oft weg zu kapern verstand, ohne dass sich auch nur
einmal eine scharfe Stimme im engeren Rate selbst
gegen diesen Unfug der Abspenstigmacherei erhob und
den Theater-Pascha samt seinen Titeln und Ehrenzeichen
einfach aus diesem gentlemen-Kreise hinaus kom-
plimentierte. „Schon Viele hat er uns verdorben!" —
München weiss ja, wie Dresden auch, manch Liedlein
davon zu singen. Nur einmal freilich sollte doch auch
e r seinen Meister finden — und zwar an der resoluten
Frau Schumann - Heinck, die eines Tages An-
gesichts der Berliner Begeisterung für ihre Person den
günstigen Zeitpunkt für gegeben fand, um an ihren
Herrn und Peiniger Klingsor auch einmal mit der
„Schraube" in aller Freundschaft heran zu treten. Man
erzählt sich allerlei lustige Anekdoten von ihrem
raffiniert stipulierten, chikanösen Kontrakte mit ganz
exorbitanten Paragraphen ; u. A. auch folgende Episode,
von der es wohl heissen darf, dass — falls sie schon
dem Wortlaute nach nicht in jedem Zuge richtig sein
sollte — sie doch, das „Regime Pollini* zu charakterisieren,
auf alle Fälle sehr gut erfunden wäre: weshalb sie denn
auch hier als „Denkwürdigkeit" ihre Stelle finden möge.
Als nämlich, so berichtet man, Frau Schumann-Heinck
mit all ihren feinen und groben Klauseln bei ihrem
Theatergebieter angerückt kam, soll dieser, einen Blick
in das bewundernswert schlau aufgebaute Elaborat hinein-
werfend, nur einfach die Gegenfrage an seine erste
Altistin gerichtet haben : „Sagen Sie einmal, liebe
Frau, mit welchem Rechtsanwalt arbeiten Sie denn
eigentlich?" — worauf diese, schlagfertig und nicht
eben zungenfaul, wie man sie ja kennt, rasch versetzt
haben soll: „Mit gar keinem, Herr Hofrat; aber ich
bin nun sieben Jahre bei Ihnen, und da lernt man's!"
War übrigens doch ein überaus „genialer** Bühnenleiter,
dieser vielfach dekorierte „Hofrat" Pollini, wenn anders
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442
Wagneriana. Bd. III.
beim Theaterdirektor gewiegter industrieller Spürsinn
und geschäftlicher Blick, der sich mit groteskem An-
stand ganz gelegentlich auch „künstlerisch" gebärdet,
solche Genialität begründen darf! Ging man nämlich
den dunklen Spuren seines eigenartigen „Mysterien-
bühnen"-Systems, („vom Himmel durch die Welt
zur Hölle"), d. h. seiner überaus findigen Drei-
teilung des ihm unterstellten „Bühnen-Grossbetriebes":
in Hamburger und A 1 1 o n a e r „Stadt"-, sowie
„Thalia-Theater", einmal recht aufmerksam nach, so
konnte man nicht umhin, sein vielseitiges Geschick
zur Abwechslung auch aufrichtigst zu bewundern: wie
er da die verschiedenartigsten Interessen mit einem
soliden Anschein von Kunstwürde zu vereinigen und
so schliesslich ganz Hamburg seiner Kasse tributpflichtig
zu machen verstand. Soviel steht fest: dieses Theater-
monopol war vom Obel. Aufsaugung durch wachsenden
Grossbetrieb, Ringbildung und alles, was damit zu-
sammen hängt — was haben diese Merkmale einer un-
gesunden wirtschaftlichen Entwicklung in der hehren
Kunst zu suchen? Die wahre Muse lebt und gedeiht
in der persönlichen Individualisierung; das eigentliche
Element ihres Spieltriebes ist Dezentralisation. Zumal
im niederdeutschen Norden mit seiner ausgeprägten,
selbständigen Eigenart sollte man sich das gesagt sein
lassen!
Neben so manchen Missständen, die jedes der-
artige „Monopol" mit sich zu führen pflegt, traten aber
noch andere Merkwürdigkeiten, nicht zuletzt auf Grund
jener eigenartigen Triangel-Gliederung, recht charakte-
ristisch im Pollini'schen Theaterdienste zu Tage. Wie
nämlich seine Kapellmeister nicht Abende einheitlich,
sondern Opern im Mischmasch, oft zu Dritt in einer
Vorstellung neben einander, darum aber auch fast
jeden Abend zu dirigieren hatten, so brachte er
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Falsche Erben.
443
schliesslich auch eine ganz seltsame, nur in Hamburg
eingebürgerte Verteilung der Theater-Referate — nicht
etwa nach Kunstgattung und Genre, vielmehr nach
Bühnen-Rayons und Theater-Sprengeln — im Zwangs-
verfahren sozusagen, bei der ortsansässigen Presse zu
Wege, welch letztere überdies an den sogenannten
„Theater-Redaktionsplätzen" ein Ärgernis gefunden zu
haben schien und sich ihren Sitz in jedem einzelnen
Falle hier zu Lande selber bar bezahlte. Um so be-
fremdlicher nur, dass diese also „unabhängige" Presse,
mit ganz verschwindenden Ausnahmen, zu gewissen
„genialen" Transaktionen des skrupellosen Freibeuters
„jenseits von gut und böse" dann immer so beharrliches
Sttillschweigen beobachtete.
Was indessen diese „Herrennatur" mb specie comoediae
sich auch eingebrockt haben mochte im Laufe der Jahre und
der Zeiten — war eine vernichtende Anklage gegen seine
Theaterwirtschaft in Broschürenform wider ihn er-
schienen; hatte er mit Frau Klafsky (bezw. sie mit
ihm) Skandal gehabt, oder München durch rücksichts-
loses Wegschnappen seiner gefeierten Ternina gerade be-
sonders gereizt; war er mit einem Theaterreferenten
klagbar aneinander geraten, den er brüsk des Hauses
verwiesen, trotzdem dieser seinen Sitz rechtmässig er-
worben; oder aber wollte er Wien und seinem „Busen-
freunde" Mahl er die Ehre ein wenig beschneiden, mit
Smetana's „Dalibor" oder Tschai kowsky's „Eugen Onegin"
anderen Bühnen mutig voran gegangen zu sein: was es
auch sein mochte, immer fand er im „Berliner Börsen-
Courier" seinen unerschütterlich sattelfesten „Moniteur",
dessen offiziöse Lobrednerei und offizielle Liebedienerei
die moralische oder künstlerische Mohrenwäsche mit
ebenso heiligem Eifer als geradezu unbezahlbarem
Scharfsinn besorgte und, indem sie unter den glücklich
wieder geretteten „Ehrenmann" ihr „Qm. erat dem." als-
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444
Wagneriana« Bd. III.
dann immer setzte, viel zur Erheiterung der anregungs-
bedürftigen Zeitungs-Menschheit beigetragen hat. Dass
hier eine ganz bestimmte geheime Verbindung mit dem
Hamburger Theaterbureau vorlag, das sollte sich auch
beim jähen Hinscheiden noch erweisen, bei welcher
Gelegenheit besagter „Börs.-Cour." den Tod bereits am
27. November morgens, noch vor irgend einem
Hamburger Blatte, zu melden in die Lage kam. —
So hat denn nun also »Direktor Tod", gewaltiger
als alle Theatergewaltigen zusammen, auch hier sein
gewichtiges Machtwort gesprochen, und der täuschende
Scheintod der Bretter, welche sonst die Welt vor-
spiegelnd nur „bedeuten0, ist da wieder einmal ernste
Wahrheit geworden. Leider aber wird sich — nehmt
ihr alles nur in Allem — nicht eben behaupten lassen,
dass dieses Leben, so viel es mit dem Ideal und der
Schönheit auch zu thun haben mochte, als ein besonders
schönes und ideales verlaufen sei. »Wo viel Licht, da
ist auch viel Schatten** — so musste selbst der
„Hamb. Korresp." in seinem kurzen Gedenkartikel, leise
andeutend, schliesslich doch zugeben, und charakteristisch
für die künstlerische Tendenz des „Systemes Pollini"
ist ja auch eine den „Hamburger Nachrichten" zu ent-
nehmende, unbeabsichtigt scharf kontrastierende Gegen-
überstellung von Nekrolog und Referat über die
„Meistersinger"-Vorstellung seines letzten Lebens-
abends, welcher der Verblichene noch persönlich an-
gewohnt haben soll: beide aus zwei ganz verschiedenen
Federn. Während sich nämlich noch vor Kurzem die
Theaterdirektion auf ihre, durch die 1000. Wagner-
Aufführung angeblich statistisch bezeugte, „Kultur-
mission" ihres Regime's in puncto Wagner ordentlich etwas
zu Gute that (obwohl doch eine gewissenhafte Geschicht-
schreibung in diesem ganzen Zeiträume nur eine völlig
strichlose Vorstellung zu verzeichnen fand), tritt die Natur
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Falsche Erben.
445
eben dieser hohen „Kulturmission" jedenfalls in eine recht
eigentümliche Beleuchtung, wenn hier Ferdinand Pfohl,
ohne von dem mittlerweile eingetretenen Ableben noch
irgend welche Ahnung zu haben, in den schweren und
tiefen Seufzer ausbrechen muss: „Wo ist der Becher mit
Lethe, der uns das Wunde und Traurige dieser Auf-
führung vergessen macht? Die ,Meistersinger* wurden
uns gestern in einer Verwahrlosung geboten, gegen
die wir uns energisch zur Wehre setzen . . . Ein witziger
Mann meinte, die Vorstellung wäre recht gut gewesen,
wenn sie nur einer anderen Besetzung, eines anderen
Orchesters, eines anderen Chores, anderer Ausstattung
und anderen Theaters sich zu erfreuen gehabt hätte.
Nun, in der witzigen Übertreibung steckt leider viel
des Wahren. Das eigentlich Schlechte dieser Aufführung
verknüpfte sich indessen weniger mit Einzelheiten als
vielmehr mit dem Ganzen, über das der Theater-
schlendrian, der ärgste Feind des künstlerischen
Geistes, sein Szepter schwang." Liest man weiter
im Text, wie schaudervoll dieser Wagner- Abend aber
auch in seinen Einzelheiten noch verlaufen sein muss,
dann klingt es grausam und unbarmherzig Angesichts
der Trauernachricht, in unmittelbarster Konfrontierung
mit dem die Thaten des Theaterleiters rühmenden, dicht
davor stehenden „Nachrufe". Trotzdem ist es doch nur
wahrheitsgetreu und sachgemäss: dort rein-menschliche
Tageschronik, hier die unbestechliche Geschichte — eine
innerlich den Geist erschauern machende „Nemesis" zu-
gleich, dass dieser Abend gerade der Abschluss jenes
mehr merkantilen als ästhetischen Lebens sein sollte.
„Denn alle Schuld rächt sich auf Erden!" . . .
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446
Wagneriana. Bd. III.
2. Münchner Theater-Zauber*)
(1901)
..Prachtvoll prahlt
der prangende Bau!"
(R. Wagner, ..Rheingold'4.)
Eine Zeitschrift) die ihrem Namen wirklich Ehre
machen will, (»aus der Zeit — für die Zeit — gegen
die Zeit") darf nicht nur immer post festum reden;
sie muss auch einmal ante festum zu sprechen kommen.
Ja, sie darf sich sogar gelegentlich nicht scheuen, mit
höchst unbequemen, aber pflichtbewussten Betrachtungen
sich ad festum einzufinden. Wofür wäre sie sonst wohl
„ unabhängig "? Wofür hätte ihr verantwortlicher Heraus-
geber denn Nietzsche studiert und sich dabei ein für alle
Mal geschworen, dass bei ihm die „öffentliche Meinung*
nicht mehr nur den Ausdruck der „privaten Faulheiten "
vorstellen solle? — In solcher heiklen Lage also befinden
wir uns — leider! — heute, da wir die unmittelbar be-
vorstehende, jedenfalls sehr feierlich verlaufende Er-
öffnung des neuen „Kunst-Tempels" auf der Bogen-
hausener Höhe „unweit München" zu unserem leb-
haftesten Bedauern mit einem Missklang zu begrüssen
haben; da wir das schöne, erhebende bezw. sich über-
hebende „Spiel" dort oben vor Allem mit einem ernst-
lichen Ersuchen schon zu allem Anfang gleichsam „ver-
derben" müssen. Unsere hier anzubringende, dringende
Vorstellung nämlich geht dahin:
•) Nachfolgender Aufsatz lag als Begrüssungsartikel zur
Eröffnung des neuen Münchner „Prinzregenren-Theaters4* für
die „Gesellschaft44 schön bereit, als dieser Zeitschrift ganz uner-
warteter Weise die bekannte, meisterhafte Satire „Auf drehbarer
Bühne" von Josef Ruederer zur Veröffentlichung aus diesem
Anlass angeboten wurde. Natürlich konnte zu deren Gunsten
gern auf den Abdruck obigen Artikels an genannter Stelle damals
verzichtet werden. DerVerfasser.
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Falsche Erben
447
Man möge gefl. allerwege hübsch beim Namen
»Prinzregenten-Theater* bleiben und nicht auf
einmal nun von einem „Wagner-Theater" faseln
wollen — wozu wirklich, innerlich wie äusserlich,
keinerlei erfindliche Veranlassung noch Berechtigung
vorliegen kann. Wäre doch dieses (nämlich König Lud-
wig's II.) „Wagner-Theater", auf das man hiermit ana-
chronistisch „anspielt", nach dem genialen Semper'-
schenUr-Entwurfe,undnichtnach Heilmann und Litt-
mann'sehen Bauplänen, an die Stelle etwa der heutigen
Siegessäule ehedem zu stehen gekommen, und hätte
es darnach doch wohl überhaupt gar keine „Prinz-
regenten-Strasse" als Örtlichkeit für diesen Bau ge-
geben. — Und des Ferneren möge man nicht von einem
„Wagner-Festspiel-Patronats- Verein4*, sondern klar und
deutlich gleich von einem „Prinzregenten-Theater-
Protektions-Verein", zudem von „Gründer-Spekulation"
oder „Fremden-Attraktion", aber nicht von „heiliger
deutscher Kunst" oder „Bühnen-Festspielen" zuvor
schon sprechen, wenn anders wir, als Zeitgenossen
dieser Geschehnisse, solcher bedenklichen Geschichts-
trübung nicht energisch alsbald in's Wort fallen sollen!
Von ganzem Herzen soll es uns freuen, falls später
diesem durchaus fragwürdigen „Grunde" vielleicht doch
noch eine echte Kunst-Blüte entspriessen sollte, wie man
sie nach alP den sumpfigen Voraussetzungen jener
„Gründung", zur Zeit füglich, kaum erhoffen darf. Und
noch besser: Aufrichtigst würden gerade wir es, mit
Freude sogar begrüssen, wenn mit der Zeit — Dank
reichen Spenden zu diesem Zwecke — recht vielen
strebsamen Unbemittelten alsdann die unengeltliche
Teilnahme an jenen, hoffentlich auch recht reinen Kunst-
wirkungen ermöglicht würde (was alles ja keineswegs
auszuschliessen braucht, dass nach unserer unmass-
geblichen Meinung solche Stipendien in diesem Jubel-
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448
Wagneriant. Bd. III.
jähre unbedingt und vor Allem nach Bayreuth gehört
hätten). Wer auch wollte die bona ßde# — oder sagen
wir hier zutreffender: den liebenswürdigen Idealismus
und belebenden Optimismus — bei allen Denen ernstlich in
Zweifel ziehen, welche sich zum genannten Vereine mit
ihrem Namen und Beitrage, bis in die höchsten Regionen
hinauf, eingefunden haben?! Gar Niemanden natürlich
wird dergleichen auch nur im Entferntesten beifallen.
Aber erinnert muss und soll an dieser Stelle denn doch
werden an die Anfänge jener etwas krampfhaften Be-
wegung, wie sie sich in den ersten Ankündigungen seiner-
zeit kund gegeben, in ihren allerersten Aufrufen vor aller
Welt selber unzweideutig charakterisiert hatte. Damals
noch stand die „Anwartschaft auf einen Platz der Fest-
spiele, nach freier Wahl, bei Entrichtung eines Jahres-
beitrages von 20 Mk." durchaus im Vordergrunde der
„Interessen", und nur ganz nebenher ward mit einem
mehr indifferenten „Ausserdem" hier die „Entgegen-
nahme von Spenden" noch angehängt, „um einen Fonds
für den freien Eintritt der Minderbemittelten zu schaffen".
(Ganz ebenso lasen wir's jüngst auch noch in Lesmanns
„Allg. Musik-Ztg.", No. 28/29 wieder gegeben.) Erst
hinterher besann man sich noch eines Besseren, dachte
man an den so notwendigen „guten Eindruck" nach aussen,
und nun ward auf einmal auch „die ideale, schöne Auf-
gabe, Minderbemittelten den freien Zutritt zu beschaffen",
prononziert in erster Linie heraus gehoben „und auch,
die eigenen Mitglieder daran teilnehmen zu lassen,"
hübsch bescheidentlich erst an die zweite Stelle gerückt.
Halten wir uns also getrost vorläufig einmal an die
ursprüngliche, und wohl auch richtigere Fassung, so
ergiebt sich — da der Jahresbeitrag dem Preise eines
Platzes dort gleich kommt — ganz ohne Weiteres, dass
es zuvörderst auf die Patronisierung, nicht der Kunst
im Allgemeinen, sondern des „Prinzregenten- Theaters*
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Falsche Erben. 449
im Speziellen dabei abgesehen war; dass es im Wesent-
lichen auf eine Art von Garantierung seiner ganz un-
verhältnismässig teuren Aufführungen hinaus lief, und
das Ganze also am Ende doch nur ein schleunigst noch
inszeniertes, geschickt maskiertes Angstprodukt gilt
unserer, um jene Garantien ihres gewagten Unternehmens
bei den honen Preisen und der anhaltend skeptischen
Haltung eines grossen Teiles der Presse nachgerade doch
etwas besorgt gewordenen Hoftheater-Verwaltung. Und
in dieser unserer Auffassung der Sachlage können wir zu-
letzt auch nur bestärkt werden, wenn wir in dem neuen
Sprachrohr jener Bestrebungen, den „M. Neusten Nachr."
selbst, einen Satz vorfinden wie diesen: Alle die klang-
vollen Namen (der Unterzeichner nämlich des ersten
„Aufrufes") „bürgen dafür, dass die Elite der Bevölkerung
der Schöpfung des thatkräftigen und mutigen Hoftheater-
intendanten v. Possart ihre kräftige und un-
entbehrliche Teilnahme geben will*1... oder
aber wenn wir, noch weit deutlicher heraus gestellt, in
einem auswärtigen Fachblatte (der „Allg. Musik-Ztg.")
wörtlich zu lesen bekommen: „Herr von Possart,
der kgl. Hoftheater-Intendant, von dem der Plan zur
Begründung des Vereines ausgegangen zu sein scheint
— der Aufruf nennt ihn den »Weckrufe r des
hohen Unternehmens' — hat sich bereit erklärt,
allen Bestrebungen und Wünschen des Vereins fördernd
entgegen zu kommen". Konnte daher schon in einer ge-
wissen Lokal-Presse das schlimme Wort (das wir uns
übrigens nicht aneignen möchten) von den „Vorspann-
diensten, zu denen die Kgl. Zivilliste ausgenützt worden
sei," mit einigem Erfolge hartnäckig sich erhalten, so ver-
mögen uns wenigstens alle jene so bedeutsamen Vor-
gänge nicht im Geringsten mehr darin irre zu machen,
pflichtgemäss hier unsere ernstliche Befürchtung aus-
zusprechen: es möchten alle jene guten, klangvollen
Sei dl, Wagneriana. Bd. III. 29
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Wagneriana. Bd. III.
und so ausgezeichneten Namen zur Rolle von Stroh-
männern behufs Führung Ernst v. Possart'scher Geschäfte
lediglich ausersehen sein und von dem „genialen"
Regisseur hinter den Koulissen als Drahtpuppen zu
seinen dunklen Spielzwecken im letzten Grunde nur
wieder verwendet werden.
Das alte, gute „Rentm cotignoscere causa**' ist auch
da, wie zu manch' anderen Dingen, gar sehr viel nütze.
Und so wollen wir, die wir solche Anschauung vor
unserem Gewissen sehr wohl glauben verantworten zu
können, denn auch vor einer weiteren Öffentlichkeit
uns der Verpflichtung nicht entziehen, eine Art Beweis
für diese unsere Behauptung weiterhin noch anzutreten,
indem wir nunmehr auf Herrn von Possarts
authentische Ausführungen zur „Sache" selbst von
ehedem kritisch hier noch zurück greifen.
Der ingeniöse Kopf unseres Hoftheater-Intendanten,
der nicht rastet noch rostet, aber auch nicht ruht in
der Sorge, die „Kunst* dem Leben (heimischem wie
wie fremdem) „einzubilden", er konnte nämlich den
Ausbau, Vollendung und Eröffnung, seines glorreichen
Theaterpacht-Unternehmens seinerzeit gar nicht mehr
erwarten und musste daher — sehr unvorsichtiger
Weise — „tout München " lange vorher schon einen
„ bezaubernden " Blick hinter die Koulissen, welche
seine Welt bedeuten, in den Zukunfs - Guckkasten
seiner Entreprise hinein, thun lassen. Noch vor Aus-
gang des alten Jahres hielt Herr Ernst Ritter von
P o s s a r t einen wohlerwogenen öffentlichen Vor-
trag über „Das Prinzregenten-Theater, seine
Entstehungsgeschichte und Bestimmung4*, — in welchem
Vortrage er nach der feinen Lehre Talleyrands die
Aussprache vornehmlich als Vehikel, seine Gedanken
zu verbergen, benützte. Und andächtig, nur allzu
andächtig, lauschte damals eine, Dank dem ausgebreiteten.
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Falsche Erben.
451
Einladungs-System aus allen Kreisen der Stadt bunt
zusammen gewürfelte, um heute nicht zu sagen: stark
»gemischte0 Gesellschaft, dicht gedrängt, im grossen
Kaim-Saale den süssen — ach, so überaus bestrickenden
Weisen unseres vielgewandten „ Rattenfängers von Mün-
chen". Es bleibt ja zu guter Letzt immer wieder ein
lockend Schauspiel für die grosse Menge: einen alten, in
solchen Magier-Künsten wohl erfahrenen Theater-Mann
aufmerksam zu verfolgen, wenn er mit der überlegenen
Miene des „Wissenden4*, des tiefer in all' den Flitter und
Plunder Eingeweihten — ein zweiter „Zauberer** — in
jene Geheimnisse des Schnürbodens und der Versenkung
die Laienwelt einzuführen sucht. »Nur herein spaziert,
meine hohen Herrschaften!" . . . Etwas von dieser „Ur-
sensation" hing auch jenem Vortrage ganz natürlich an.
Verwegen aber erscheint solches Spiel, fatal die Sug-
gestion, wenn der Gewitzigte erst einmal dahinter
kommt, dass all' diese scheinbare Offenherzigkeit und
gutmütige Aufgeknöpftheit — wie als ob es da gar nichts
weiter mehr zu kachieren gäbe — nach dem alten
Motto: „Mundus vult decipi, ergo decipiatur!" doch nur
wieder zum Vorwande für dahinter erst recht ver-
steckte Geheimnisse dient, zum höchsten „artistischen"
Trick sozusagen wird eines virtuosen Prestidigitateurs,
dessen verblüffende Schein-Aufdeckungen all' solcher
(Bühnen-)Vorspiegclungen nach einem förmlichen »System
des Illusionismus" eben derart geschickt eingekleidet
heraus kommen, dass sich der Zuschauer über die eigent-
lichste Lebens-Realität darin und daran gerade wieder
in den ärgsten „Illusionen" nur wiegen kann und das „ab-
gründliche", allerletzte „Arkanum", statt „enthüllt",
förmlich hypnotisiert, nun vollends undurchdringlich ver-
schleiert findet. Das aber gelang bei dem in Rede
stehenden Falle so meisterlich, mit solch' erstaunlicher
Sicherheit in der „Vorspiegelung" irrealer Thatsachen,
29*
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Wagneriana. Bd. III
dass man unter all' dem „ Feuerzauber " beinahe sagen
konnte: es fehlte schliesslich nur noch der, mit Recht
so beliebte, „blaue Dunst* und der entsprechende
Kolophonium-Rauch dazu (aus der Werkstatt des anderen,
getreuen Helfershelfers und nicht weniger in solchen
pyrotechnischen Künsten erprobten Kompagnons unserer
weit und breit berühmten Fabrik „v. Posart & Laut-
an schläger"). Auf ein bischen „bengalisches Licht"
oder „Tam-tam" mehr oder weniger kann's ja beim
Theater ohnedies nicht mehr ankommen!
Für Bayreuth nun, seinerzeit — bei der Grund-
steinlegung des Bühnenfestspiel-Hauses, hatte es sehr
sinnig geheissen:
„Hier schliess' ich ein Geheimnis ein,
Da ruh' es viele hundert Jahr*;
So lange es verwahrt der Stein,
Macht es der Welt sich offenbar!«
Anders, ganz anders jedoch — so sehr man auch die
körperliche und geistige Verwandtschaft gerne „simulieren*
möchte — liegt die Sache bei dem Possart'schen Bau-
und Betriebs-Unternehmen und bei seinem gehalt — enen
Vortrage darüber. Nicht wie dort nämlich, beruht hier
zumal auf dem „Eingeschlossensein" in jenen Grund-
mauern das wahre Leben des bewussten „Arkanums". In
unserer Angelegenheit besteht vielmehr die allergrösste
Gefahr, dass bei glanzvoller Ubermauerung jener merk-
würdig mysteriösen, letzten Urgrundlagen des Baues,
wie durch allerlei freimaurerische Zauberformeln und
Hokuspokussprüche von „Kunst" und „Ideal" darüber, das
eigentlichste Bau-Mysterium eben jenes „Prinzregenten-
Theaters" sich obstinat verborgen halten möchte, um dann
später, etwa zur Unzeit, in seiner hässlich-natürlichen
Gestalt doch noch sich zu „offenbaren" und, als bis-
lang eingesperrtes „Teuferl im Kasten", durch störend-
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Falsche Erben
453
freches Herausspringen sich höchst unliebsam einmal
selber Luft zu machen.
So könnte man denn diesen wohl unvermeidlich
dereinst bevorstehenden Krach und Knall allergrausamster
Illusions Störung und schlechterdings unerquicklichster
Schwefeldampf-Entwicklung am Ende auch ganz
sich selbst überlassen, könnte also ruhig über diese
Dinge die fernere Zukunft mit unbestechlichen Wahr-
heiten ihr gewichtig Wörtlein sprechen lassen. Allein
es bietet immerhin besonderen, ganz eigenartigen Reiz,
schon heute, und zwar an der Leine eben jener
Possart'schen »Anführungen", warnend und prophezeiend
darzuthun, dass seine so fesselnden Argumentationen
für uns nun einmal keine „Fessel" bildeten; dass ihre
scheinbar bestechende Logik für unbestechliche Geister
keineswegs schon „zwingend" sein musste, und dass
man der starken, oratorisch so hinreissenden Über-
redungsgabe Jenes doch mit seiner gefesteten Überzeugung
nicht ohne Weiteres zu unterliegen noch zu verfallen
brauchte. Herr von Possart selber unterscheidet ja sehr
diskret schon in Kleidung, Haltung, Ton wie Geberde:
ob er als Künstler oder als Gelegenheits- R edner,
als Deklamator oder aber als Agitator, zu uns spricht,
und die Psychologie „des Schauspielers und der Masken"
(nach Nietzsche) bleibt es zwar so oder so — jedesmal
in tadellos elegantem Hof-Fracke! Jedoch im einen Falle
spricht er vollkommen frei, mit Glace-Handschuhen und
unter mimischer Begleitung des Vorzutragenden im
Gesichtsausdrucke, nach allerdings erstaunlichstem Ge-
dächtnis, eventl. sogar etwas längliche Goethe'sche Prosa;
im andern dagegen mit Kneifer auf der Nase, ohne alle Hand-
schuhe, an einem Pulte stehend und in wohlgesetztem
(freilich nicht minder raffiniert durchgebildetem) Tonfalle
von einem sorgfältigen Manuskripte herunter lesend. So
werden denn auch wir einen erheblichen Unterschied
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Wagneriana. Bd. III.
zwischen dem „Rezitator" Possart uud dem „Rhetor"
Possart hier sehr wohl noch heraus finden dürfen.
Hören wir also, was diese zweifellos blendende
Proteus-Natur für diesmal gleichsam in akademischer
Facon, mit der Gestalt und den Allüren eines Bühnen-
Gelehrten, uns so Neues zu künden hatte! Vielleicht
kommt am Ende gar noch ein arger „Pharisäer und
Schriftgelehrter" heraus? — Gar nicht erst wollen wir
uns mit den seinerzeit, im Verlaufe jenes Vortrages,
nach allen Seiten hin ausgeteilten „Reverenzen" und
wohlfeilen Komplimenten hier lange aufhalten — so
amüsant es schliesslich auch blieb, im Einzelnen auf-
merksamer nachzugehen, wer da alles einer kratzfüssigen
Verbeugung oder doch eines artigen „Fleissbillets" von
Seiten unseres Herrn Intendanten gewürdigt wurde.
Dieses Kapitel erübrigt sich füglich, nachdem doch
die gute That in der so auffällig starken Beteiligung
gerade der „Spitzen" an dem hohen „Protektions-
Vereine*4 ihren wohlverdienten Lohn schon längst ge-
funden und davon getragen hat. Gehen wir also lieber
gleich auf den sachlichen Kern jener, scheinbar so
plausiblen „Programm-"Darlegungen heute, da die Thore
sich realiter alsbald erschliessen sollen, ebenso beherzt
wie entschieden nunmehr einmal los und näher ein.
Da muss denn vor Allem mit vollendeter Skepsis
aufgenommen werden der Teil der Possart'schen Aus-
führungen, wonach der eigentliche Sündenbock für unsere
misslichen Theaterverhältnisse und — um ganz deutlich
zu reden: für den erheblichen Rückgang unserer
Münchner Hoftheater unter Possart'scber Bühnenleitung
— jetzt auf einmal ausschliesslich und allein
nur unsere leidige Lokal frage wäre: nämlich der
Doppel betrieb von Schauspiel und Oper zugleich
in unzulänglichen, gegenüber anderen Städten wie Berlin,
Dresden, Frankfurt a/M., Leipzig, Hamburg erheblich
Falsche Erben
455
beschränkten, Räumen. Herr von Possart verstieg sich
da z. B. zu dem geradezu ungeheuerlichen Satze: „Der
grösste Regisseur der Gegenwart, der kunstbegeisterte
Herzog Georg von Meiningen, der nur über ein einziges
Theater in seiner Residenz gebietet, erkannte mit
scharfem Blick das schwer zu Vereinende: den Doppel-
betrieb der Oper und der Tragödie in einem einzigen
Hause; und so schloss er denn kurz nach seinem
Regierungsantritt die Oper dort völlig aus, sich allein
auf das Schauspiel beschränkend, und zwar auf vier
Vorstellungen in der Woche, um die freien drei Abende
stets zu ausgiebigen Proben zu benützen. • Ich ver-
mute sehr, der Scharfblick des würdigen und verehrten
Herzogs von Meiningen bestand — im Gegensatze zu
Herrn von Possart — vornehmlich darin, die Grenzen
seiner eigenen Begabung klar von Anbeginn an zu er-
kennen und im Beschränkten Vollendetes dafür zu
leisten; denn sonst müsste ja, nach dieser Possarfschen
Voraussetzung wenigstens, der verstorbene Grossherzog
von Sachsen- Weimar der reine Waisenknabe in Theater-
dingen gewesen sein. Bildete er sich doch beinahe
50 Jahre seiner segensreichen Regierung steif und fest
bekanntlich ein, dass Beides zusammen, selbst in
einem recht kleinen, unzulänglichen Theaterbau und
sogar noch mit auswärtigen Nachmittags-
Extra-Vorstellungen für die umliegenden Ortschaften
im Weimarischen Lande, sowie bei volkstümlichen
Sonntag-Nachmittagsaufführungen des ganzen „Faust",
des ganzen „Wallenstein", von Hebbels „Nibelungen"
etc. etc., sehr wohl angehen müsse und sich schon ver-
einigen lasse — wenn man nur auch „künstlerisch"
ernstlich wolle. Frankfurt a/M. allerdings, mit
seiner neuerdings durchgeführten, vollen Trennung der
beiden Theatersphären, scheint den Possart'schen
Forderungen für den Augenblick Recht zu geben. Aber»
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Wagneriana. Bd. III.
einmal ist dort auch noch nicht aller Tage Abend, und
haben wir die Entwicklung der Dinge auf Grund der
neuen Verwaltungsverhältnisse dort wohl erst einmal
geduldig abzuwarten. Ausserdem durfte gerade Herr
von Possart wieder derjenige sein, der sich hier zu
Lande, bei uns, einer ähnlich wohlthätigen, absoluten
Trennung der Ressorts, auch in den beiderseitigen Inten-
danzen, im Ernst falle energisch widersetzen würde»
zumal ihm z. B. die Berufung eines eigenen, ganz
selbständig waltenden »Operndirektors- (wie wir ihn
uns in Zumpe vielleicht wünschen könnten) gerade
der Dorn im Auge wäre!
Ernst von Possart Hess uns seinerseits also einst-
weilen lieber in ein wahres „Paradies" der zukünftigen
Theaterverwaltung blicken. Der hinzu tretende Betrieb
des neuen „Prinzregenten-Theaters1* räume zuversicht-
lich mit allen diesen bisherigen Missständen auf einmal
gründlich auf und lasse fortan Proben (NB: Proben!!)
sowohl als Aufführungen bequemer disponieren, dem
grossen, figurenreichen Schauspiel mit starker Kompar-
serie ebenso wie der grossen, dekorativ anspruchsvollen
Oper weit besser neben einander künftig gerecht
werden. Nicht nur die berühmten „Fremdenvorstellungen"
des Sommers — nein, auch die geforderten Sonntag«
Nachmittags- Volksauf führungen von Werken unserer
dramatischen Klassiker, im Sinne des Titels „National"-
Theater, würden für die Folge mit ungleich mehr künst-
lerischer Müsse und technischer Umsicht vorbereitet bezw.
absolviert werden können. — Je nun, „die Botschaft
hör* ich wohl, doch fehlt annoch der Glaube"! Denn
in allererster Linie ist schon gegen die unschulds-
volle Kühnheit solcher Possart'schen Behauptung laut
und deutlich Einspruch zu erheben, als ob an dem
beobachteten Rückgang in der Frequenz der Sommer-
Aufführungen keinerlei künstlerische Wertminderung die
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Falsche Erben
457
Schuld getragen und die ganze Presse einhellig immer
die volle, künstlerische Höhe des Instituts nach wie vor
anerkannt, ja laut konstatiert hätte. Das also hat unsere
verehrliche Ortspresse jetzt davon, dass sie stets die
falschen „ lokalpatriotischen « Interessen bei solchen
Dingen vorwalten Hess, um erst zum 60. Geburtstage
des Intendanten (Mitte Mai) sich wieder einmal auf das
Rechte zu besinnen, mit den Worten: „Diese Ver-
Verhältnisse sind oft genug dargestellt worden, und
der Intendant weiss selber ganz genau, dass im
Hause am Max Josefsplatze nicht immer alles in bester
Ordnung gewesen ist." Die auswärtige Presse freilich, sie
hat schon früher klar genug und ohne Rücksichtnahme
hinreichend deutlich gesprochen! Dass unsere Wagner-
Oper zumal heute lang nicht mehr auf der früheren
Stufe der Berühmtheit und des guten Stiles steht, das
hat seinen Grund obendrein darin, dass sie bis zum
Nonsens hier abgespielt, abgeleiert, abgehaspelt, ab-
geklappert und abgeklopft worden ist, so dass man sie
schon bald überall (z. B. in dem kleinen Weimar) besser
als hier zu Lande zu hören bekam. M i r scheint im
Gegenteil, es steht ernstlich zu befürchten, dass es,
weit weniger als einen inneren Ausbau der Verwaltung
und eine künstlerische Aufbügelung der Leistungen,
lediglich eine neue „Attraktion" und Auffrischung für die,
München während der Reisesaison überschwemmenden,
Fremden zuzüge im Grossen-Ganzen nur wieder gelten
soll. Auf solchem Grundpfeiler aufgeführt — und diese
Gefahr liegt wahrlich nahe — , stände indes das Unter-
nehmen von vorneherein gleich auf der faulsten Basis,
die sich überhaupt nur denken lässt. Denn eine schärfere
Psychologie des ziffernmässig nachzuweisenden Rück-
ganges im Besuche der „Fremden Vorstellungen" unserer
Münchener Oper ist jedenfalls die, dass sich jede mit
dem Reiz der Mode-Neuheit ausgestattete „Sensation*
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Wagneriana. Bd. III.
nach einiger Zeit eben verbrauchen und erheblich nach
und nach doch auch abnützen muss. Und diese natur-
geschichtlich ganz unausbleibliche Erfahrung dürfte, so
bald die erste Zugkraft daran vorüber ist und so ziemlich
ein Jeder der gewohnten Jahres-Bummler und Gebirgs-
Passanten ihr seinen Tribut erst einmal gezollt haben wird,
nach obiger Voraussetzung also selbst dem so hochtönend
inszenierten „Prinzregenten -Theater a nach Jahren kaum
erspart bleiben, je höher der Eintrittspreis hierbei kal-
kuliert erscheint. Obendrein dächte ich doch, dass ein
Possart — zur Zeit wenigstens noch — zum Intendanten
unserer kgl. Hoftheater berufen wäre und seinen Ehrgeiz
nicht gerade darin zu suchen brauchte, als „Intendant
eines Münchener Vereins zur Förderung des Fremden-
verkehrs" zu fungieren oder gar nach dessen Ehren-
mitgliedschafts-Diplom zu streben.
Hören wir ihn jedoch getrost weiter. — An jedem
Sonn- und Feiertag im Jahre sollen dort die viel be-
rufenen „volkstümlichen" Nachmittagsvorstellungen der
Klassiker zu ermässigten Preisen — 40 bis 50 an der
Zahl — alsbald Statt finden, bis zum Spätsommer hin,
wonach die grosse Reihe der 20 „Fremdenvorstellungen4*
mit Wagnerischen Musikdramen, der grossen Aus-
stattungsoper und der erhabenen Tragödie, sich im selben
Räume immer abspielen werden: das sei der einzige
„ideale" Zweck des Pachtverhältnisses der Hoftheater
zum „Prinzregenten-Theater", wie seiner Benützung durch
die Kgl. Schatulle. Es folge aber daraus, dass die
Abonnements Verhältnisse hierdurch in keiner Weise
beeinträchtigt würden, dass sie auch fürderhin ganz die
alten, eben auf das bisherige Kgl. Hoftheater beschränkten,
blieben. Wir sagen „Bon!" hierzu und ignorieren einst-
weilen die gelegentlich in München aufgetauchte Meldung,
wonach umfänglicherbaulicher Veränderungen wegen jenes
Kgl. Hoftheater eine geraume Zeit werde geschlossen
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Falsche Erben
459
bleiben müssen. Wie aber, falls die dortige neue,
überaus praktische Einrichtung des amphitheatralischen
Aufbaues gleicher Sitzreihen so einleuchtend und an-
ziehend auf die Gemüter der gelegentlichen p. t. Theater-
besucher wirkte, dass nach und nach zugleich eine
organische Umbildung der öffentlichen Meinung, ein
entschiedener Umschlag auch in der Gesinnung alP dieser
Leute erfolgte — und so zwar, dass mit einem Male
kein Mensch mehr im alten Logenkasten der Gesell-
schafts-Ränge Kunst geniessen, sondern Alles nur mehr
im „Prinzregenten -Theater*' seinen ständigen Stamm-
Platz haben wollte, und dass demnach nun auch noch
das für so zuverlässig gehaltene Abonnement im alten
Hoftheater bedenklich, aber unaufhaltsam, stetig zurück
ginge?! Was dann, wenn die Majorität ihre Vor-
stellungen im neuen Theater zu „zivilen" Preisen
ganz energisch erst einmal heischte? Was dann? . . .
Wir kommen damit zu einem positiven Vorzuge
des ganzen Bauplanes, den wir gern und jederzeit recht-
schaffen als solchen anerkennen werden. Das neue Mün-
chener „Prinzregenten-Theater*' soll das erste in Deutsch-
land, ja in Europa sein, welches sich die vernünftigen
Wagner-Semper'schen Reformen in der Theater-Archi-
tektur zu Nutze, welches mit deren Grundsätzen mutvoll
einmal wirklich Ernst gemacht hat. Und es darf zugleich
unsere aufrichtige Genugthuung bilden, dass das keim-
kräftige Bayreuther Beispiel wenigstens im Jahre des
25jährigen Jubiläums sei ner Existenz auf Erden
gerade hier in München die erste Frucht tragen,
die nächste Nachahmung finden sollte. Was dieses
Bayreuther Bausystem aber zugleich für die ideale Er-
hebung, ästhetische Erziehung und nebenher noch für
die menschenmögliche Feuersicherheit des in jenen
Räumen später aufzunehmenden, heimischen wie fremden,
Theaterpublikums bedeutet, das mag man im IX. Bande
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400
Wagneriana. Bd. III.
der „Gesammelten Schriften" Richard Wagners (unter
dem Artikel „Bayreuth") geh", einmal genauer nachlesen!
Dennoch ist man hier zu Lande in einem holden Wahne
befangen und bewegt man sich bei den beteiligten
Kreisen in einem ganz trostlosen Circulus vüiosus, wenn
man etwa glaubt, dass damit allein schon eine
ideale „Konkurrenz gegenüber Bayreuth" (wie man's
hoch trabend zu nennen liebt) inauguriert sein sollte.
Und man sollte darum billiger Weise auch nicht immer
wieder „König Ludwigs II." verklärten Geist aus dem
dunklen Schattenreiche herauf beschwören, oder gar unter
stolzem Hinweis auf den Umstand, dass das Theater
sich „unweit der Stelle heute erhebe, für welche da-
mals schon königliche Huld das Semper'sche ,Wagner-
Theater' zu Münchens Gunsten geplant hatte", stereotyp
auf jenes frühere Bühnenprojekt der 60er Jahre exempli-
fizieren wollen! Tempi passati — über 30 Jahre ist
Isarwasser mittlerweile in's Land hinab geflossen, und
ndvxa Heute besteht das „Bühnenfestspielhaus"
und mit ihm das spezifische Wagner-Testament ferne von
München zu Bayreuth: also ist das unwiederbring-
lich für Bayerns Residenz nun einmal verloren. Denn
München hat sich diese Dinge damals ganz ebenso
leichtsinnig entgehen lassen, als damit höchst kurzsichtig
und gewissenlos ein für alle Male jene gedachten hohen
„Kultur" -Anrechte sich zugleich verscherzen müssen. Ein-
mal Geschehenes kann man nun und nimmer ungeschehen
machen ; 35 Jahre Kunstentwicklung lassen sich eben nicht
einfach ausstreichen oder bequem wieder zurück drehen.
Gewiss, jene im Obigen schon berührten, baulichen
Grundbedingungen, die ganzen Voraussetzungen der
technischen Anlage bedeuten immerhin einen grossen
Schritt näher zur Erreichung des erstrebten Ideales
in dieser gewichtigen Frage; sie bilden gleichsam die
conditiones sine qua non zu einer stilgemässen Wiedergabe
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Falsche Erben.
461
Wagnerischer Kunstwerke in dem Sinne, wie sie von
ihrem Schöpfer gedacht, entworfen und im „Vertrauen
auf den deutschen Geist0 dereinst ausgeführt wurden.
Aber mit ihnen, wie zugleich noch mit dem erfreulichen
5 Uhr-Beginne der Vorstellungen, ist auch erst (und nicht
mehr als) der Grund zum künstlerischen Ausbau nur
gegeben, nicht etwa dieser künstlerische Ausbau selber
schon fertig vollendet und vollzogen. Die wahren „ Lebens-
bedingungen0 der Wagner'schen Kunst, solcher echt
Wagnerischen Fest-Aufführungen, sind eben doch weit
andere als die von Fremden- Vorstellungen (zwischen
Pinakothek und Glyptothek, Kunstausstellungen und
Hofbräuhaus eingenommen!); so sehr andere, dass sie
sogar jede beabsichtigte „Konkurenz" mit Bayreuth von
vorneherein ausschliessen, woselbst einzig und allein
die zuträgliche Luft bisher weht, geweht hat, wehen wird
und wohl auch nur wehen kann, wenn wir recht zusehen
und die Natur des Milieu's hübsch im Auge behalten
wollen. Dort nämlich kommt zur lebendigen „Tradition"
des Stiles und zur würdigen Sammlung des Geistes im
abgelegenen, landschaftlich so ungemein wohlthuenden
fränkischen Städtchen, voll Einfalt der Sitten — ohne
jede weitere grosse Zerstreuung, auch noch die volle,
unabhängig-selbstherrliche Freiheit in der künstlerischen
Ausgestaltung, sowie der 10 Monate hindurch andauernde
„Ernst" einer streng-künstlerischen Vorbereitung in
unermüdlichen Proben für nur einige spezielle, aber
höchste Aufgaben im Jahre mit hinzu, wie sie an einem
Theater mit anderweitigen Repertoir-Verpfiichtungen,
ob mit oder ohne „Doppelbetrieb", nach der ganzen
Lage der Dinge niemals zu haben, noch je zu gewinnen
sein werden. In der That: München, unser „Isar- Athen",
müsste da erst wieder einmal zum deutschen „Winkel"
werden, und als Haupt- und Residenzstadt des bayrischen
Südens weniger grossstädtische Neigungen oder Nerven-
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462
Wagneriana. Bd. III.
Überreizungen mit sich führen — also der Januar wohl
einmal in den Sommer fallen, ehe dieses Ideal hier
wirklich eintreten und München in jeder Linie gleich
Bayreuth heraus kommen könnte: wovor uns noch
überdies der gnädige Himmel bewahren möge! Die
einfache Thatsache der 20 Mk.-Plätze und des „Auch-
Patronatvereines" thut es da halt doch noch nicht, das
Gernegrosstum zum Mindesten nicht allein!
Im Grunde nur eine lahme Bestätigung alles dessen,
was wir soeben des Näheren erörtert haben, bildet
es somit, wenn wir Herrn von Possart im Verlaufe
jenes seines Vortrages zu diesen Fragen u. A. mit
folgenden Sätzen Stellung nehmen hören: „Was das
Programm dieser 20 Sommeraufführungen Wagnerischer
Werke betrifft, so werden wir uns in den Jahren, in
welchen die Bayreuther Festspiele nicht Statt finden,
bezüglich unserer Auswahl der Werke keinerlei Be-
schränkungen auferlegen. Dagegen erscheint es in jeder
Beziehung gerechtfertigt, während einer Bayreuther
Saison bei den Münchener Sommeraufführungen nur
diejenigen Werke in Betracht zu ziehen, die nicht zu
gleicher Zeit auch dort gegeben werden. Denn der
geschäftliche Vorteil, den uns der Fremden-
verkehr in jenen Monaten gewährt, wird ein erhöhter
sein, wenn die Besucher Bayreuths an den Zwischen-
tagen und nach Schluss der dortigen Spielzeit nach
München kommen, um hier auch noch jene Wagneri-
schen Schöpfungen zu hören, die ihnen dort nicht ge-
boten worden sind." Und fast schon wie das bekannte
Ausflucht-Motiv des schlauen Fuchses von den „sauren
Trauben" klingt uns nun die süsse intendantliche Weise
an's Ohr, wenn wir unmittelbar darauf noch eine Be-
gründung wie diese vernehmen: „Überdies entspricht
es den freundlichen Beziehungen, die zwischen der
Verwaltung des Festspielhauses und der Kgl. Hoftheater-
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Falsche Erben.
463
Intendanz bestehen, eine direkte Konkurrenz (richtiger
wohl: „den irre führenden Eindruck einer solchen
Konkurrenz" nach aussen hin! — D. Ref.) durchaus
zu vermeiden, welche durch gleichzeitige Darbietungen
der selben Werke unliebsam erweckt werden könnte.
Das Prinzregenten-Theater ist nach dem Muster des
Bayreuther Festspielhauses gebaut und die Würde (!)
des neu geschaffenen Kunstinstitutes, das den Namen
unseres erhabenen Landesherrn, des Protektors von
Bayreuth, selber trägt, gebietet es auch, hier den
leisesten Verdacht eines Betriebes zu vermeiden, der
mit dem modernen Schlagworte des ,unlauteren Wett-
bewerbes* bezeichnet werden könnte."
Ganz recht — „Ihr sprecht fast schon wie ein
Franzos'" und jedenfalls damit „ein grosses Wort gelassen
aus": „unlauterer Wettbewerb"!*) Und darum muss
auch die Wendung, schon früher im ersten Drittel unseres
ungeheuer aufschlussreichen Vortrages, jetzt nur um so
seltsamer berühren, jene seither so berühmt gewordene
Wendung: „Ich fand ein vornehmes Konsortium all-
gemein geachteter Bürger, das sich bereit erklärte, dort
•) Wenn es denn also schon mehr auf „Ergänzung" denn
auf „Konkurrenz" im letzten Sinne angelegt sein soll — warum
dann hier nicht lieber gleich nur die gewissenhafte Pflege von
Aufgaben, die von Seiten Bayreuths über näheren, wichtigeren
Pflichten einstweilen noch vernachlässigt werden mussten: die
systematische Darstellung z. B. des historischen Entwicklungs-
ganges der Oper von Gluck bis aufWagner, die künst-
lerisch-stilgemässe, szenisch-musikalische Darbietung der gehalt-
vollen und bedeutsamen Hauptwerke von Gluck, Mozart und
Beethoven, Weber, Marschner, wie Spontini und Berlioz in
besonderen, grossen „Zyklen"? Damit (wie mit Faust I und II)
wäre allem bösen Scheine doch von vorneherein schon ent-
schieden genug aus dem Wege gegangen! Und giebt es nicht in
unserer modernen Tonkunst eine ganze Reihe von Schöpfungen,
die sich geradezu darauf angewiesen sehen, an einer besonderen
Festspielbühne anzukommen: Strauss, Schillings, Weingartner,
Ad. v. Goldschmidt, Chr. v. Ehrenfels-Taubmann, Ph. Wolfrum,
E. Klose, H. Pfltzner u. viele Andere?
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4(34
Wagneriana. Bd. III
oben auf der lsarhöhe, wo das neue Friedensdenkmal
die Stadt überragt, . . . ein allen Anforderungen ent-
sprechendes, massives und monumentales, Theater
binnen zwei Jahren zu erbauen und der Kgl. Hoftheater-
Intendanz pachtweise zu überlassen." Hier, bei dieser
pikanten Stelle können die einander begegnenden Auguren
sich eines feinen Lächelns wirklich nicht mehr gut er-
wehren — oder, um mit jenem Otto Erich zu reden,
dem ein allzu hartes Leben anscheinend zum göttlichen
Ulke schon geworden: „Alle Frösche hüpfen, und die Er-
habenen freuen sich". Jedes „Münchener Kind'l" ist
sich ja längst darüber klar, dass man hierorts Kunst fragen
vor Allem auf dem — Katasterbureau studieren
muss, und nachgerade pfeifen es doch schon die Spatzen
vom Dachstuhle herab, dass es korrekter Weise, gerade
umgekehrt, vielmehr hätte formuliert werden sollen: Das
bewusste, recht un vornehm hierbei kalkulierende „Kon-
sortium" fand den verständnisvollen, stillen Teilhaber
und ehrlichen Makler; es wollte da draussen ihm
zentnerschwer herum liegende Baugründe realisieren
bezw. diese ganze, bislang noch so öde Gegend durch
Preis-Treibungen zur „Prosperität" endlich einmal ent-
wickeln. Und es ging zu solchem Zwecke also einen
„sachverständigen" Kenner, den am Aufschwünge jenes
Stadtteiles als „Hausbesitzer* doch sicherlich nicht ganz
uninteressierten kgl. Hoftheater-Intendanten, mit seinen
„weit ausschauenden" Bauplänen zu passender Zeit ver-
traulichst an. Wie sich so ziemlich schon erwarten Hess:
keineswegs erfolglos, denn dieser nahm ihnen hierauf
die so schwer lastenden Bausteine vom Herzen. „Dienet
uns und hilft auch sich!" — dachten sie vielsagend bei
sich mit einem „Parsifal"-Zitate, in würdiger „Wagner-
Nachfolge", und hatten dabei auch ganz richtig „spekuliert".
Nachdem Ernst Ritter von Possart hierauf noch
wie ein leibhaftiger „Zirkusdirektor" mit einem: Es
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Falsche Erben.
465
wird unser eifriges Bestreben sein" oder „Wir haben
weder Mühen noch Kosten gescheut" etc. höchst pathetisch
seiner langen Rede kurzen Sinn resümiert hatte, ver-
kündete er zum guten Ende mit aller ihm zu Gebote
stehenden Emphase für den 20. August laufenden Jahres
die programmmässige, feierliche „Enthüllung" des hl.
Grales, des neuen, „Der deutschen Kunst" in so
hehrer Gesinnung dargebrachten Bühnenhauses: als einer
wahren „Zierde" zugleich jenes herrlichen (weil nunmehr
doch fruktifikableren) „neuen Stadtteiles, der unserem
erhabenen Landesherrn seine Entstehung verdankt" und
der — rUum teneatis, amici! — so viel früher durch manche
„kluge" Grundstücks-Besitzergreifungen in aller-„ideal-
ster" Weise bereits so erhebend „geweiht" worden war
Und diese — sagen wir: Conference (Wer lacht da? —
Ich glaube wahrhaftig, ich war es selbst!) lässt sich die
grosse „Wagnerstadt München" von einem Meister der
mise-enscene vormimen, ohne bei solcher Travestierung
der Schiller'schen Idealbühne als „moralischer Bildungs-
Anstalt" ihren sittlichen „Ernst" vollends einzubüssen?
Nein! Hier, an dieser unabhängigen Stelle, soll wenigstens
keinerlei Hehl daraus gemacht werden und darf dergleichen
nicht mehr verschwiegen, „retouchiert" oder gar — ver-
tuscht bleiben. „Im Deutschen lügt man, wenn man höf-
lich ist!" Und wenn schon die „Münchener Neuesten
Nachrichten" unlängst, ihren solennen Artikel zur Be-
gründung eines hohen „Protektions-Vereines" mit dem
klassischen Wagner-Motto über das Bayreuth von 1876
abzuschliessen, den beneidenswerten Mut hatten: „Ein
schöner Zauber macht hier Alle gut!" — wir fühlen
uns danach nun versucht, dies (in Übereinstimmung mit
allen obigen Feststellungen) heute einmal zu persiflieren
durch den kräftigen Schluss: „Ein schnöder Zauber machte
hier alles gut!"
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 30
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Der Erbe
L Vom „Bärenhäuten"
(1899J
So wäre denn dem „Bären" die „Haut" endlich
abgezogen! Stirbt der Petz, was gilt der Pelz?
Wer erinnerte sich nicht recht gut noch des edlen
„Wette-Streites", der um den „Bärenhäuter" als Oper
vor Monaten schon durch die gesamte deutsche Tages- und
Fachpresse gezerrt wurde? „Hie (Siegfried) Wagner!"
„Hie (Arnold) Mendelssohn!" — es war, wie wenn die
Seelen der beiden Alten noch einmal von den Toten
auferstanden wären; oder aber, als ob (wie auf dem
bekannten Kaulbach'schen Bilde von der „Hunnen-
schlacht") in ihren Geistern ein alter Antagonismus und
historischer Prinzipienkampf über die Gräber hinweg
noch fort tobte: Felix Mendelssohns bekannte Nervosität
bezüglich der Wahl eines Operntextes (die sein Antipode
Wagner gern als für seine „musikdramatische Impotenz"
charakteristisch bezeichnet hatte), sie schien in seinem
nachlebenden Namens- (wenn auch nicht: Stammes-)
Vetter Amol d, gegenüber dem mit ihm rivalisierenden
Sohne des Bayreuther Meisters, von Neuem wieder
aufzuleben. . . . Und nun hätte also Siegfried Wagner doch
den Vorsprung gewonnen und die Premiere noch vor
derjenigen seines Nebenbuhlers im „Bärenhäuten" durch-
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Der Erbe
467
gesetzt! Ob auch den Sieg davon getragen? Um das zu
entscheiden, müsste man wohl erst das Mendelssohn'sche
Werk näher kennen gelernt haben. Es muss schliesslich
doch ein Jeder seine eigene „Bärenhaut" zu Markte
tragen.
Was uns selbst betrifft, so sind wir persönlich zu-
nächst nicht mit von der Partie gewesen. Aber der neue,
rührige Musikverlag von Max Brockhaus in Leipzig hat
uns schon vor geraumer Zeit den höchst würdig aus-
gestatteten („Adolf von Gross in Liebe, Verehrung und
Dankbarkeit zugeeigneten") Klavierauszug zur Oper zu-
gesandt — er wünschte somit offenbar eine Besprechung
auch aus unserer kritischen Feder. „Dem Manne kann ge-
holfen werden!" — selbst Klavierauszüge mit Text geben
eine Art Bild, zur Nachkontrole immerhin der Bühnen-
wirkung. Und ob — was uns hier zunächst interessiert —
Siegfried ein „Wagnerianer" ist: das lässt sich jeden-
falls auch an der Hand eines solchen Notentextes sehr
wohl einmal fest stellen.*) An und für sich schlösse die
Verneinung dieser Frage freilich noch keineswegs aus,
dass sein Werk etwas taugen könne. Im Gegenteil,
Angesichts so mancher, nachgerade beängstigenden
„ Wagner- Nach folge" wäre kein allzu „pietätvolles"
(oder sagen wir präziser: sklavisches) Nachtreten in den
Fusstapfen seines berühmten Vaters dem Sohne des
Meisters weit eher schon zu wünschen; denn heut
zu Tage thut gerade Selbständigkeit und ein frisches,
fröhliches Ziel unserem Epigonentum auf der ganzen Linie
so sehr dringend not. Dennoch besteht in unserer Frage
so etwas wie ein fataler Zirkel, glaubt man von dem
•) Natürlich würde das Nachfolgende hier trotzdem nicht
mit aufgenommen worden sein, wenn Verfasser sich nicht
später, bei einem gelegentlichen Besuche der Leipziger Auf-
führung, eine Bestätigung dieser Ausfuhrungen aus der sze-
nischen Darstellung noch geholt hätte.
30*
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468
Wagneriana. Bd. III
Nachkommen eines R. Wagner und präsumptiven Thron-
folger aus dem Hause „Wahnfried**, d. h. eben von dem
künftigen Erben und Leiter der Bayreuther Festspiele,
doch auch wieder gewärtigen zu dürfen, dass er wenigstens
nicht in grundwesentlichen Punkten den allenthalben in
der Wagner- Gemeinde für massgebend erachteten
Hauptbedingungen eines Bayreuther Ideales stracks zu-
wider handle und, wo er sich schon nicht an die
orthodoxe Meinung oder die strikte Observanz kehren
will (die wir auch gar nicht einmal zu teilen vermöchten),
den Ehren-„Kanon" der reinen, unverfälschten Lehre
wenigstens nicht direkt brüskiere.
Ganz offen gestanden, gleich bei der Dichtung
müssen wir diese Frage so ernstlich als rückhaltlos auf-
werfen. Es ist nämlich ein blosses „Libretto", wie viele
andere mehr, was nach näherer Prüfung dieses Text-
buches übrig bleibt. Ein Libretto zwar mit szenischem
Aufbau und ohne Nummern-Schnürleib, aber bei
seiner Kombination von Simplizissimus und Grimm, in
seiner Mischung von Historien-Romantik und Märchen-
Phantastik, politischer Realitätshascherei und poetischem
Gemeinplatze weder recht Märchen, noch Mythus ge-
worden, bald Haupt- und Staatsaktion, bald Sagengebilde —
zum Mindesten keine Spur von irgend einem „persön-
lichen" Erleben oder individueller Selbstentäusserung
darinnen; es müsste denn sein, dass wir grals verlässig und
bayreuthwillig genug wären, schon in dem Ortsvermerke:
„Spielt in Bayreuther Landen*' etwas Derartiges, sym-
bolisch gleichsam, mit zu akzeptieren. Seinem Inhalt und
seiner äusseren Form nach weniger Grimm, als vielmehr
„grimmig" geraten, und wiederum mehr Grimmelshausen
als gerade „Grimms Hausmärchen", ist es — von allen
Seiten aufmerksam betrachtet — nichts Organisches,
Ganzes, und in diesem seinem Stil-Konglomerat zum Min-
desten schon gar nicht, wie vielfach geschehen, eine gute
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Der Erbe.
469
Volks- Oper zu nennen. Kein Zweifel, es geht viel, un-
heimlich viel vor bei diesem undefinierbaren Spiel: „In
drei Akten".*) Allein die grosse Hauptsache: Hat es auch
Sinn und Verstand, tieferen Wert und höhere Vernunft
mit seinem angeblichen „Humor", dieses Kunterbunt
„vom Himmel durch die Welt zur Hölle"? — das können
wir doch nicht so ohne Weiteres mit „gutem Gewissen
auf sanftem Wagnerianischen Ruhekissen" hier bejahen.
Rauchwolken mit Schwefeldampf aus grossen Feueröfen —
*) Nebenbei bemerkt: Es ist interessant, wie der leibliche
Erbe und persönliche Testamentsvollstrecker des Bayreuther
„Musikdramatikers" (ähnlich übrigens wie R. Strauss in seinem
„Guntram4*, auch M. Schillings bei der „Ingwelde**) einem Unter-
titel vorsichtig aus dem Wege geht, während wir den Werken
Anderer bereits nachfolgende ansehnliche Blütenlese von Neben-
bezeichnungen ihrer Werke entnehmen dürfen: „Oper4* (Ritter,
Kistler u. A.), „Komische -**, „Grosse -**, „Romantische -**
oder „Ballet - Oper4* (Verschiedene), „Vaterländische Oper44
(O. Neitzel, P. Geisler), „Volksoper** (Josef Weiss, v. Reznicek),
„Operndichtung** (Goldmark), „Heitere Oper** (Schillings),
„Lyrisches Drama** (Cornelius), „Musikdrama** (Br. Schräder),
„Märchenoper** (Auber), „Märchenspiel**(Humperdinck), „Heiteres44
oder „Lyrisches Bühnenspiel**, auch „Zauberspiel** (H. Sommer,
A. Roesel, Meyer-Olbersleben), „Singspiel** (Thuille), „Nordische
Legende4* und „Schelmenstück** (Sommer), „Deutsche Mär44
(Eugen Lindner), „Dramatisches Märchen* und „Humoristisch-
phantastische Handlung** (S. von Hausegger), „Tragikomödie**
(Kienzl), „Musikalische Tragödie** (Bungert, d'Albert), „Musi-
kalische Komödie4* (Ant. Beer-Walbrunn), „Musikalisches Schau-
spiel44 (Kienzl), „Musikalischer Roman** (Charpentier), „Drama4*
(Leoncavallo), „Lyrische Komödie** (Verdi, Leoncavallo), „Lyrische
Szenen** (Tschaikowsky), „Volksszenen** (Mascagni, Spinelli),
„Japanisches Capriccio** (Curti), „Japanische Theehausgeschichte**
(S. Jones), „Burleske** (Sullivan), „Tanzspiel** (Mottl), „Wort- und
Tondichtung für die Schaubühne** (Sachs), „Phantasie-Spiel**,
„Mysterium4* (Adalbert v. Goldschmidt, Weingartner, Wolfrum),
„Chordrama** (O. Taubmann), „Musikalisches Puppenspiel"
(„Wetterhäuschen**!), „Singgedicht** (E.vonWolzogen — R.Strausst
etc. etc. — wozu noch „Handlung** (bei Wagner) und „Operette4*
(bei Joh. Strauss, Millöcker, Heuberger etc. etc.) kämen.
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470
Wagneriana. Bd. III.
das kann zwar an „Rheingold" gelegentlich wohl erinnern;
doch wäre das immer erst ein „Erinnern", und zum
„Rheingold" selber hätte es dann lange noch seine guten
Wege: geschweige denn, dass es darauf etwa gar gross-
mütig schon verzichtete. Leider ist es aber ganz und
gar bei der Samiel- und Wolfsschlucht-Romantik seligen
Angedenkens noch stehen geblieben. Ja, wenn wir nur
recht zusehen: ist's im I. Akte nicht beinahe schon der
Luzifer-Spektakel aus dem albernen „Struwwelpeter"-
Ballett — also im Grunde genommen ein Kinderstuben-
und Puppentheater- Wagner, den wir da mit unvergleich-
licher Arglosigkeit, so recht kindisch, aufgetischt und ver-
setzt erhalten? Und nicht nur benimmt sich dieser Satanas
ganz ä la „Schlesischer Zecher**, so dass man (wie Moritz
Wirth seinerzeit bei der Sporck-Kistler'schen „Kunihild")
unwillkürlich sich fragen möchte: Wie nur kommt dieser
mächtige Herr der Finsternus und Fürst dieser Welt dazu,
sich selber so sehr im Lichte zu stehen, dass er —
wo er doch bereits in seinem Rechte ist, Vertrags -
gemäss ingrimmig zu strafen — erst noch eine Wette
jovialer Weise eingeht, die er nach berühmten Mustern
und hinlänglichen historischen Erfahrungen ja doch nur
verlieren muss, durch die er sich selbst um seinen
besten Bissen und seine wertvollste Beute bringen soll?
Nicht nur dies — sage ich — befremdet nicht wenig,
sondern jener gemütliche Operettenteufel (s. sein nichts
weniger als satanistisches Motiv!) ist stellenweise auch ein
sehr „gerührter** Teufel — und ein gar grossmütiger
noch dazu. (Vergl. S. 109 f. des Klavier- Auszuges.)
Also mit dem Höllenspuk nach den klassischen Walpurgis-
nachts-Vorbildern der „Höllenbreughel und Teniers",
welche die Szenarien ausdrücklich doch aufrollen wollen,
ist's für diesmal noch nichts gewesen — „c'est le ton,
>]ui fait la musique".
Überhaupt, diese Szenarien! Sie sind ebenso an-
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Der Erbe.
471
spruchsvoll als unbeholfen, bestimmen sie doch nicht
selten Dinge, die gar nicht in ihrem Bereiche liegen
können, die vielmehr im Texte selber, in der poetischen
Charakteristik, oder aber zum Mindesten im Orchester,
als dem Seelenausdrucke aller dramatischen Innen-
bewegung, zum Austrage zu kommen hätten. Und, um
auch das gleich hier mit einzubeziehen: wie „höllisch"
kurz, ganz unmöglich knapp, währt nicht die Nacht
im II. Akte — selbst für eine Sommernacht des kürzesten
Tages im Jahre ein wahres Unikum der Bühnenkunde!
Noch bei Weitem nicht annähernd so lange dauert sie
nämlich wie diejenigen im väterlichen „Lohengrin"
(II. und III. Aufzug), und diese waren doch immer
schon ein tüchtiger Stein des Anstosses für unsere
gewiegten „Dramaturgen" gewesen.
Gehen wir weiter im Text, so muss vor Allem
auch die durchaus uncharakteristische, weil schon in
der Form höchst unzulänglich geratene, ja mitunter
geradezu schülerhafte Wortsprache, wir dächten: zumal
in den intimeren Wagner- Kreisen selber, die aller-
peinlichsten Empfindungen wecken. Eine ganze Perlen-
schnur von direkt verunglückten Ausdrücken, Wendungen
und Redensarten Hesse sich hier anreihen, die wahr-
scheinlich etwas Sonderliches besagen und gleichsam
Lokalkolorit geben sollen, die aber dem guten Geschmacke
Jung-Wagners ein übel Zeugnis ausstellen und selbst der
weitest gehenden poetischen Lizenz sich entziehen dürften.
Wir wollen den Leser doch lieber verschonen mit den
Qualen, welche w i r beim Lesen im Einzelnen erduldet
haben, je näher wir persönlich allerdings dem Textdichter,
als einem Träger des Namens Wagner und Schüler
Heinrichs v. Stein, in Auffassung und Gesinnung zu
stehen vermeinten. Ja! Wenn Landsknechtpoesie gleich
ist Bänkelsang, und Beides wieder sein tertium compora-
tioni* findet in dem ärgerlichen Begriffe „Banalität": dann
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472
Wagneriana. Bd. III.
freilich ist alles hier wohl am Platze; dann haben wir
ein Werk von ungetrübtester Reinheit des „Stiles", durch-
aus harmonischer Einheit der Form und wahrhaft frap-
panter Ursprünglichkeit der Idee vor uns. Denn durch
diese ganze Oper finden wir die erstaunlichsten Bana-
litäten ausgebreitet — Banalitäten, welche höchstens nur
durch noch unglaublichere Trivialitäten der Melodik
wieder wett gemacht werden.
Ganz kläglich vollends wird das Ergebnis, zu
unserem lebhaftesten Bedauern, wenn wir von der
Diktion auf die „Aktion- alsbald übergehen, d. h. auf
die Handlung als solche zu sprechen kommen und hier
bei einer Unbefangenheit des Urteils und einer An-
spruchslosigkeit des Empfindens anlangen, Angesichts
deren man wirklich nicht mehr weiss, ob man das
künstlerische Ungeschick oder aber die rührende Kurz-
sichtigkeit („Weh1 Dir, dass Du ein Erbe bist!") mehr
bewundern soll. Ad cocem „Ungeschick": 1. die ganz
unwürdige und unglückliche, weil im Charakter total
vergriffene wie verzeichnete Figur des Bürgermeisters;
2. die Unglaubwürdigkeit des Thatbestandes, dass man
in einem Dorfe mit absehbarer Einwohnerzahl drei Jahre
nach dem Tode einer Einwohnerin von dieser Frau
schon nicht das Geringste mehr wissen, selbst ihr Grab
überhaupt gar nicht mehr auffinden soll; 3. die an-
geblich, nach gewissen Press-Stimmen, so harmonische,
nach unserem unmassgeblichen Dafürhalten jedoch höchst
disharmonische, zudem günstigsten Falles lediglich als
lose Aufpfropfung zu begutachtende „Plassenburg"-
Episode — ein „Viel Lärm um nichts" der bedenk-
lichsten Art; endlich 4. — tJie last not t/ie last — der
Mangel jeder vernünftigen Lösung, da die Hauptsache
an der Wette ja doch gar nicht ausgespielt und gewonnen,
vielmehr durch eine ganze Menge von Unbegreiflichkeiten
Seitens des „Monsieur Pferdefuss" gerade mehrfach noch
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Der Erbe.
473
verdorben wird. Quoad „Kurzsichtigkeit" aber: die be-
wundernswert harmlose Häufung von Reminiszenzen
in offenkundiger Anlehnung an die Musikdramen des
eigenen Vaters, und zwar bezüglich äusserer Situationen
sowohl als auch hinsichtlich der inneren Beziehungen.
Schon die Verschacherung des Mädels durch den geld-
gierigen Vater an den Unglücklichen, von schwerem
Fluche Heimgesuchten, ehe der Gegenstand des Handels
nur einmal persönlich gefragt wird: schon das erinnert in
drastischer Weise allzu stark an das „Fliegende Holländer"-
Motiv — um so auffälliger jedenfalls, als dem jüngeren
Nachkommen nicht die feine, seelische Motivierungs-
gabe des Vaters (vergl. „Ballade" der Senta!) hierbei
zur Seite steht. Und wie nun gar am Ende des selben
(II.) Aktes die alte, liebe — abgegriffene Erlösungs-
Romantik, epigonenhaft genug, nur wieder herein guckt:
das vollends ist gar zu niedlich und ergreifend mit
anzusehen. Da fürwahr ist es, wo wir denn glücklich
auf der Stufe etwa der „Feen" wieder uns angelangt sehen!
Von vorübergehenden kleinen Anlehnungen, wie
Siegfrieds Horn-Lockung, Siegfrieds Rheinfahrt, Erinne-
rung an die Mutter, Beckmesser- und David-Parlando,
„Walhall"-Klängen, „Fliegende Holländer"- und „Lohen-
grin"- Vorspiele, Rheintöchter- (alias: Nixen-) Beschwörung
u. dergl. mehr, wollen wir hier gar nicht erst reden.
Wir hoffen, Jung-Siegfried wird selber stolz genug sein,
diesen Beweis seines „Wagnerianismus" als solchen
pure abzulehnen! Was aber soll z. B. jener mysteriöse,
joviale „Fremde" im I. Akte, der sich als höchst selt-
samer Zwitter zwischen „hl. Petrus" und „Wotan"
alsbald einstellt und — nicht Mensch, nicht Gott, noch
Heiliger — in seiner etwas anrüchigen „Mission" als
eine absolut entgleiste Figur zuletzt sich aufdrängt? Hier
hat Wagner jun. jener sicher gestaltende „Bühnendämonis-
mus" eines Wagner sen. ganz gründlich im Stiche gelassen.
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474
Wagneriana. Bd. III.
je mehr er in diese freie (?) Schöpfung seiner Phantasie
(nach dem humoristischen Rätselspiele des „Wanderers"
in Mime's Schmiede) noch hinein geheimnissen zu sollen
wähnte. Man denke: Peter, der himmlische Schliesser,
jagt dem Teufel arme Seelen mit hinterlistigen Ränken
ab, indem er einen wackeren Sohn und braven Kriegs-
mann zum Würfel-Spiele verleitet und ihn, zum Ent-
gelt, dafür nun selber an den Rand der Hölle bringt!
Heisst das nicht wirklich den Teufel mit Beelzebub
austreiben? Und was müssen die Seelen dem Himmel
wohl wert sein, die bereits in der Hölle gebraten haben,
also offenbar nichtsnutzig auf dieser Erden gewesen sind!
Oder soll das nun wieder eine tiefsinnige Anspielung
auf die katholische Lehre vom „Fegefeuer" darstellen —
wobei dann freilich ganz unerklärt bliebe, warum diese
Kirchenlehre weder vom Kartenspiele noch von leicht-
sinnigen Wetten etwas wissen will? Ein fauler Zauber
also — und jedenfalls ein ganz sonderbarer, recht netter
Heiliger! Von den „getreuen Trabanten" werden uns
zwar mit philologischer Akribie und vielem Aufwand an
Gelehrsamkeit die einzelnen Quellen aus den Brüder
Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen", aus Grimmels-
hausens „Simplizissimus" und „Bayreuther Chroniken",
von Hans Sachs bis Wilhelm Hertz, emsig zusammen
getragen; und es wird dabei eifrigst in verschiedenen
Tonarten uns gerühmt, wie alle diese Anregungen hier
zu einem einheitlichen, erstaunlich organischen Gebilde
zusammen geflossen, um nicht zu sagen: von „Siegfried"
neu zusammen geschweisst worden seien. Aber das
ist eben nur die alte Kritiker-Schablone in der her-
kömmlichen Redeweise der Wagner-Schreiberei — sie
findet unseres Erachtens recht wenig reale Erfüllung in
diesem besonderen Falle. Unsere Augen sehen wenigstens
nur disjecta membra; unsere Ohren hören nichts weiter als
das unbeholfene (um nichts Schlimmeres hier zu sagen)
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Der Erbe.
475
Stammeln in der Sprache eines grossen Vaters. Höchstens
fänden wir noch so etwas wie Testaments-Antretung des
alten R. Wagner'schen Jugend-Planes zu der Oper: „Die
Bärenfamilie"!
Und nicht viel anders steht es nun auch mit dem
musikalischen Teile des Ganzen. Denn, wenn uns
sogar seine Bewunderer und Schildträger im Vertrauen
schon zugeben: „Das Musikalische bei Siegfried ist
freilich erst nur im Keimen" — nun, so kann man sich
allein schon darauf seinen entsprechenden Reim machen.
Das heisst, wir wollen gerecht sein: Der junge „Meister"
hat immerhin etwas Tüchtiges und Ordentliches unter der,
nur leider etwas kurz währenden, Führung seines Lehrers
Humperdinck gelernt (wir haben dabei im Auge
namentlich die hübschen Vorspiele zum I. und III. Akt,
die intrumentale Höllenfahrt im ersten und gewisse wirk-
same Höhepunkte, vor Allem aber die feinen Lyrismen
im zweiten Aufzuge) — man wird ihm Talent zum
Handwerk in der rein-musikalischen Faktur danach
gewiss nicht mehr blindlings abstreiten mögen. Aber
ich glaube doch, der Alte wusste, was er that, als er
bei Lebzeiten den Sohn — der Architekten-Laufbahn
zuzuführen beschloss: von den dramatischen Musik-
bethätigungen des voraussichtlich dereinstigen Bayreuther
Führers und künstlerischen Wahrers wie Walters des
Vermächtnisses auf dem Festspielhügel (wie es so schön,
stilistisch so überaus geschmackvoll, immer heisst)
dürfte man sich zum Wenigsten ganz anderer Dinge
versehen haben, darf man entschieden Höheres und
Wertvolleres so erwarten als verlangen Ich habe vor
Zeiten einmal einen Privatbrief Siegfried Wagners an
einen Leipziger Kritiker eingesehen, in dem er sich
über seine persönlichen Absichten beim Komponieren
des Näheren selber auslässt und ganz offen von sich be-
kennt, „inmitten all' der modernen Komponiererei um uns
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476
Wagneriana. Bd. III
herum* grundsätzlich der gesanglichen Linie wieder
nachgehen, das Banner der so sehr geschmähten
„Melodie" seinerseits wieder hoch halten bezw. frisch-
mutig entrollen zu wollen. Dieses Credo scheint mir nun
überaus charakteristisch für seinen Bekenner: es sieht
fast so aus wie ein neues Prinzip und wie ein stolzes
Programm, scheint beinahe ein starkes, selbstbewusstes
Desaveu des Bayreuther Testamentes seines eigenen
Ernährers zu sein; erweist sich aber, wenn man genauer
auf den Grund geht, doch nur als eine Art von höherem
„Hasenpanier", und stellt sich selbst ein „Armuts-
zeugnis" schlimmster Sorte aus, indem es aus der
üblen Not eine gleissende Tugend zu machen sucht.
Kurz: das ist „Sand in die Augen" — denn an ihren
Früchten sollt ihr sie erkennen ! Und manchmal
können die Früchte eben doch auch schlechte sein,
an denen die Wespen nagen.
Schliesslich aber hier noch die Kehrseite zur
Medaille, den notgedrungenen Epilog zu diesem Trauer-
spiel — oder, wenn man will, zu unserer Tragikomödie!
Stand da in einem Fachblatte, nach der ominösen
Bayreuther Geburtstags- und Weihnachtsaufführung
einiger Stücke aus der Oper durch ein Nürnberger
Orchester, dereinst wörtlich zu lesen : „Die Teilnehmer
an der Aufführung sprachen sich einhellig dahin aus,
dass die Musik glanzvoll instrumentiert und
durchweg originell sei." Je nun, die Leute, die
das geschrieben haben, müssen ja wissen, was sie
zuletzt verantworten können. Wahrscheinlich sind es
wieder ganz dieselben, die auch im Sommer 1896 eine
offizielle Abordnung des Festspiel - Orchesters an
Herrn Siegfried Wagner gelangen Hessen, mit der
dringenden Bitte, nach der glänzenden Bayreuther
Erstlings-Leistung als berufenster Dirigent der Fest-
spiele doch ja auch noch die Leitung des letzten
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Der Erbe.
477
„Nibelungen-Zyklus" wieder zu übernehmen ! Nachdem
diese guten Leute früher — zu den Zeiten Wagners,
Liszts, Hans von Bülows, Klindworths — doch stets be-
geisterte Verkünder des genialen Künstler-Martyriums
wider „Publikum und Popularität" gewesen waren, haben
sie sich auf einmal jetzt, seit dem „schönsten Tage" im
Leben der Tochter Liszts, der ehemaligen Gattin Bülows
und späteren Witwe Wagners, eines Besseren besonnen,
und über Nacht gleichsam sich zu ebenso enragierten
Erfolg-Anbetern wie aufdringlich beredten Anpreisern
der „Volksstimme" als der unfehlbaren „Gottesstimrae"
(im Münchner bezw. Leipziger „Erfolge" des „Bären-
häuters") hübsch elastisch aufgeschwungen. Ein jeder
Beherrscher verdient eben genau das Gefolge, welches
er um sich versammelt. Es lebe die „intellektuelle"
Wiedergeburt der „Armen im Geiste"!
2. Vom „herzoglichen Wildfang"
(1901)
I.
„Mein Renommee! Mein Renommee,
Das thät' mir web ! . . .
Aber das i»t gewiss, selbig' ist mein Stolz :
Sagen können that' ich schon 'was.
Aber sagen mögen thu* ich hak nicht!"
Mit diesen wahrhaft „klassischen" Worten (aus dem
„Herzog Wildfang") mich auch gegenüber dem
„Fall Siegfried Wagner" abzufinden, läge die
Versuchung ja gewiss sehr nahe. Ich will indessen doch
etwas mutiger sein als der alte „Zupfer", der sich dort
so drastisch äussert, und «will hier ehrlich Farbe be-
kennen. Denn, man mag mir nun sagen, was man
will; — aber dass die jüngste Uraufführung des „Herzogs
*
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Wagneriana. Bd. III.
Wildfang", am 23. März zu München in der Königl.
Hofoper, einen reinen Kunsteindruck habe aufkommen
lassen, wird weder die Freundes -Partei noch auch die
Gegnerschaft mit gutem Gewissen letzten Endes be-
haupten können. Ein schrecklicher Popanz jedenfalls
— solch' ein buntes, aufgeregtes Premieren -Publikum,
das da, geräuschvoll während der Zwischenpausen in
den Foyers auf- und abwandelnd, höchst vorlaut immer
schon nach dem ersten oder zweiten Akte ganz genau
weiss, wie ihm das Ganze gefallen hat, wo Unsereiner
immer noch mit Problemen trächtig geht und mit seinen
Eindrücken oft schwer genug zu ringen hat. Ein nieder-
trächtiger oder — je nachdem — auch widerwärtiger
Anblick, diese Urteilsfixigkeit (Motto: „Geschwindigkeit
ist keine Hexerei!") für einen feinfühligeren Kunst-
menschen und Kultur-Psychologen! Aber freilich, wer
wie Schreiber dieses nach dem ersten Dirigenten-
Debüt Jung-Wagners, 1894 zu Leipzig, noch ein auf-
richtig-unverhohlenes „Siegfried, freu' sich des Siegs!"
auf den Lippen hatte, der hat sich auch seit dem
„Bärenhäuter" -Treiben dergleichen längst schon ab-
gewöhnt; dem dürfte ein ähnlicher Begrüssungsruf erst
recht diesmal, anlässlich der Uraufführung seines zweiten
Opern-Werkes, im Halse stecken geblieben, wo
nicht gründlich vergangen sein, selbst wenn er vielleicht
klaren Sinnes, auf höherer Warte als den Zinnen der
Partei Umschau haltend, von vorneherein mit sich dar-
über einig gewesen sein sollte, dass dem Für wie dem
Wider hier gleich viel „Tendenziosität" zu Grunde
lag. Ein persönlich-gereiztes, fast schon „pathologisch"
anmutendes Hinschlachten war's ja zuletzt, nicht mehr
nur eine Meinungs- und Empfindungs- Schlacht, zu
nennen!
Zwar ist gegen d i e Version ganz entschieden Ver-
wahrung einzulegen, als ob sich zum Schlüsse gezeigt
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Der Erbe
479
hätte, dass die Opposition wohl vorbereitet gewesen.
Ganz abgesehen davon, dass der Nachweis einer solchen
„systematischen Vorbereitung" denn doch sehr schwer
fallen dürfte, wäre es ja zudem gar kein Wunder,
wenn sich auch einmal die Opposition wohl vorbereitete,
wo doch die Vorbereitung der Reklame und einer natür-
lichen Beifallsklaque, mit Zureisung und Anwesenheit
einer zu Gunsten schon voreingenommenen Bayreuther
Anhängerschar, in solchem Falle stets eine so ersicht-
liche ist. Die Hauptsache aber bleibt: es herrschte an
besagtem Abende — noch ganz ununtersucht, aus welchen
triftigen Gründen — eine Animosität gegen das Werk
wie seinen Autor im Hause vor; es war von Anbeginn
schon zu viel Explosionsstoff, in den Gemütern an-
gesammelt, vorhanden. Das aber nun ist zugleich das
Schlimmste, was einem gewissenhaften Aesthetiker von
feinerem Empfinden begegnen kann: sich sagen zu
müssen, dass in Folge äusserer Umstände wie innerer
Gründe überhaupt gar nicht die Basis zu einer richtigen
K u n s t - Stimmung und einem wahrhaft künstleri-
schen Eindrucke gegeben war, also auch kaum der
Massstab zu einem irgendwie endgültigen, abgeklärten
Urteile einstweilen gewonnen ist. Und lebhaft, aufs
Tiefste zu beklagen wäre es vollends, wenn sich ge-
wisse schlechte Allüren des Berliner Premieren-Publi-
kums auch auf eine „Kunststadt" wie München bereits
übertragen hätten. Mag man dabei die im Grunde
müssige, weil rein akademische und vom Temperament
immer wieder lebendig durchkreuzte, Frage selbst noch
durchaus unentschieden lassen: ob Zischen und Pfeifen,
oder aber ruhiges Stillesitzen, das entsprechende (negative)
Äquivalent gegenüber dem Ausbruche positiver Beifalls-
Ausserungen in Form lauten Klatschens abzugeben habe
— so viel ist doch sicher, dass tönende Ablehnung weit
stärkeren Applaus oft erst weckt; dass z. B. die an be-
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Wagneriana. Bd. III
wusstem Abend entschieden vorhandene, ganz unverkenn-
bare Anerkennungs-Fläue als die kritische Signatur der
Premieren -Wirkung weit deutlicher sich heraus gestellt
haben würde, wenn die Opposition sich lieber ganz auf's
Schweigen verlegt und nicht ihrerseits wieder den hart-
näckigen Meinungskampf am Schlüsse, aufreizend, erst
heraus gefordert hätte. Kommt zu Alledem noch das
bestimmteste Gefühl, dass über der Vorstellung ein ge-
wisser Unstern schwebte und dass die Darsteller —
auch abgerechnet die kleinen Zufälligkeiten und natür-
lichen Aufregungen einer solch' Aufsehen erregenden
Uraufführung — technisch noch keineswegs über der
Sache standen, noch nicht zu freier Gestaltung und
überlegenem Vortrage allüberall vorgedrungen waren:
fürwahr, so muss sich der gerechte Kritiker beinahe
zu völliger Ratlosigkeit verdammt finden hinsichtlich
dessen, was er von dem ganzen Spiel und einem solchen
Abend im Ernste denn eigentlich zu halten habe.
Wenn indessen „Haus Wahnfried" und der junge
Komponist selber sich mit der unschuldigsten Miene
von der Welt immer darüber verwundern wollen, wieso
es komme, dass gerade s i e von der Sensationslust also
stark beaufsichtigt werden, vom journalistischen Miss-
verständnisse sich verfolgt und von litterarischem Obel-
wollen in ihren persönlichen Äusserungen oder privaten
Handlungen sich missdeutet finden müssen, so über-
sieht man auf jener Seite leider vollkommen, dass ein
von dorther so gern verbreiteter, äusserer Nimbus, der
immer gern etwas „Aparts für sich*4 noch hat und
keineswegs sich ohne Prätensionen giebt, in der Rück-
wirkung auf die grössere Öffentlichkeit auch ein natür-
liches ressentiment mit sich zu führen pflegt, das sich
alsdann — nach alt gewohnter Weise unserer „grossen
Masse" — in ödem Klatsch und dreistem Angriff eben,
wie sie 's versteht, breit zu machen sucht. Wenn man
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Der Erbe.
481
z. B. in Bayreuth „Bärenhäuter- Blätter" herausgiebt
und dabei im vollen Brusttone der sittlichen Oberzeugung
noch behauptet, dass das nicht als „Faschings-Beilage"
oder „Aprilscherz-Ausgabe" der sonst tiefernsten „Bay-
reuther Blätter" gemeint gewesen sei; wenn „man" den
Verleger von Klavierauszug und Text des „Herzog Wild-
fang", Max Brockhaus in Leipzig — zugegeben: durch
frühere Erfahrungen gewitzigt — zu der offiziellen An-
kündigung veranlasst, dass Beides erst am Tage der ersten
Aufführung der neuen Oper ausgegeben werden solle,
dann aber doch wieder irgend ein Bayreuther Sprachrohr,
wie die Chiffre M. in den „M. Neuesten Nachrichten",
schon Wochen vorher über beider Inhalt öffentlich sich
auslassen kann; wenn man, ohne Wagner I. zu sein,
über jeder Verschiebung und unvermeidlichen Ver-
zögerung dieser Erstaufführung eines Werkes, von dem
es doch schier heissen darf: „Ganz frisch noch die Schrift
und die Tinte noch nass!" in seinem Komponisten-Stolze
schon gekränkt ist, tief verletzt im Innersten, gleich
wieder auf- und davon laufen will, wo andere Tüchtige
nach dem Münchener System leidiger Opernwirtschaft
oft auf Jahre hinaus sich vertröstet, wieder Andere
<NB! ich bin nicht dabei) sich trotz Verdienst und
Würdigkeit überhaupt gar nicht aufgeführt sehen; und
wenn man, zur Ermöglichung einer zweiten General-
probe des Werkes, „wegen ausserordentlicher szenischer
Schwierigkeiten" (von denen am Premieren-Abend selber
niemand im Zuschauerraum etwas wahrnehmen kann)
eine ganze Abonnement-Vorstellung im Spielplane sehr
plötzlich einfach ausfallen lässt: — ich sage, wenn alle
diese Voraussetzungen vorliegen, so hat man sich auf
jener Seite doch eigentlich des Rechtes begeben zu
einem naiven Erstaunen darüber, sich derart von der
weiteren Öffentlichkeit mit stärkerer Aufmerksamkeit
beachtet und von ihr in ihrer Weise auch kritisiert zu
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 31
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Wagneriana. Bd. III.
finden. Wir können dabei immer noch sehr viel, und
von Herzen zustimmend, für den vornehmen Sinn und
edlen Kunstgeist Bayreuths übrig haben, und doch jene
Indignation für sich reichlich unangebracht finden; ja,
vielleicht — retrospektive gleichsam — uns heute so-
gar die Frage einmal vorlegen: Wo hat seinerzeit wohl
schon beim Vater Wagner der reine, lautere Enthusias-
mus, der absolute Kunst-Altruismus an sich, aufgehört
und der ganz unvermeidliche Künstler-Egoismus bereits
begonnen, als welcher sich eben mit einem: „Wollen jetzt
Sie — so haben wir eine Kunst!" in seinem Werke mit
der Kunst selber reflexionslos-unbewusst identifizierte?
Hat Herr Siegfried Wagner die Uraufführung am hiesigen
Orte nur ungern zugelassen, so wäre es meines Er-
achtens des Namens und Charakters eines „Wagners"
würdiger gewesen, mit energischer Konsequenz recht-
zeitig zurück zu treten — im festen Vertrauen darauf,
dass der verstorbene Freund und bei Lebzeiten so that-
kräftige Wagnerianer (Levi), dem er sein Wort ehedem
gegeben: auch sein nächstes Opus am hiesigen Platze
wieder heraus bringen zu wollen, diese seine künstlerische
Zwangslage gewürdigt und sicherlich nicht als einen
Treubruch über's Grab hinaus ihm hätte auslegen
können. Wie sagt doch Siegfrieds „Herzog" sehr richtig?
„Jeder Bettler ist freier: der dreht seine Leier, wo er
g'rad mag!" — Und sah er sich schon beim ersten
Hervortreten vor die Rampe, am Aufführungs- Abende
selbst, einer unzweideutigen Missfallens- Äusserung gegen-
über — ich glaube, es hätte sich für den Träger des ge-
weihten Namens und den Spross eines Richard Wagner
weit besser geschickt, mit einem „Je irfen ficlie, canaüU!"
auf ein weiteres Hervorkommen überhaupt mannhaft zu
verzichten; es hätte dem Künstler weit eher die Sym-
pathien der wirklich Kunstsinnigen eintragen müssen,
wenn er mit der probaten, trefflichen Bode-Maxime:
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Der Erbe.
483
„Lex mihi ars!" den Platz geräumt und sich nicht per-
sönlich mehr in den skandalösen Tumult auch noch
lange eingelassen hätte. Sucht man aber gar vom Bay-
reuther „Kabinet" aus neuestens das Ammen -Märlein
zu verbreiten, dass Pfeifchen im Königl. Opernhause-
verteilt gewesen seien, um die Sache von vornherein zu
Falle zu bringen — fürwahr, so dünkt es hoch an der Zeit,
gegen solche Geschichtsumbiegung wie ein Mann laut
zu protestieren. Diese Unterstellung ist in der That
ungleich viel schlimmer schon als jene harmlose und all-
bekannte, rein subjektive Perspektive verletzter Künstler-
Eitelkeiten, die immer im negativen Urteile des Kritikers
auch gleich dessen persönliche Niedertracht wittert.
„Menschliches, All zu menschliches!" Bayreuth und das
Haus Wahnfried müssten, charaktervoll schon einmal
„auf der Menschheit Höhen" wandelnd, unbedingt auch
auf höherer Stufe der Erkenntnis alsdann stehen. Und,
sollte am Ende die Historie vom Pariser „Tannhäuser"-
Skandal 1861 auf ähnlichem Wege nur entstanden sein,
es wäre aller Anlass zweifellos gegeben, die ganze
Wagner- Geschichte recht gründlich doch einmal, mit
„freiem" Aug', zu revidieren! . . .
Mit obigen, notgedrungen „streng4' objektiven Ein-
gangs-Vorausschickungen hoffe ich den rechten Unterbau
bereitet, einen entsprechenden Resonanz-Boden mir ge-
schaffen zu haben, um nunmehr aus voller, ehrlicher
Überzeugung es aussprechen zu dürfen: Das zweite
grössere Werk Jung-Siegfrieds ist allem Anscheine nach
gründlich verunglückt und als Ganzes, schon wegen
seiner vielfach bleiernen Langeweile und der auf weite
Strecken hin sich äussernden, oft geradezu tötlichen
Monotonie, wahrscheinlich nicht im Geringsten zu halten.
Dennoch sind von einer sorgfältig abwägenden, vorurteils-
losen Betrachtung die ganz unzweifelhaft darin liegenden
ernsten Ziele und glücklichen Momente, die wahrhaft
3t«
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484 Wagneriana. Bd. III.
künstlerischen Absichten des jugendlichen Dichter-
Komponisten nicht wohl zu übersehen — den die Last
seines gewichtigen Namens übrigens nicht im Geringsten
zu drücken scheint, und der offenbar auf seine besondere
Weise „erwerben will, um zu besitzen, was er ererbt
von seinen Vätern". Äusserlich und selbst innerlich,
geistig sowohl als auch technisch, im Dichterischen wie
im Musikalischen, kann man — trotz Allem, was auch
dawider stehen mag — erfreulicher Weise von einem
entschiedenen Fortschritte gegenüber dem „Bären-
häuter" sprechen. Und, liess dieses Erstlingswerk da-
mals für Unbefangene noch kaum eine Hoffnung auf
Weiterentwicklung übrig — heute darf man sich viel-
leicht einer solchen Hoffnung bereits hingeben. Ge-
wisse Talente zumal — überhaupt ein bestimmtes
Können wird Wagner jun. fürder niemand mehr so
recht beherzt abzusprechen vermögen, während man
nach der Aufführung des „Bärenhäuter" ihn doch gerne
noch zur Architektur verweisen wollte und, was meine
Wenigkeit anlangt, dem Zeugnisse z. B. der verehrten
Frau Dr. Förster -Nietzsche: wie Siegfried in ihrem
Beisein schon als Kind seinem Vater selbstkomponierte
Balladen auf dem Klavier in lebendig -ausdrucksvollem
Vortrage zum Besten gegeben habe, ein skeptisches
„Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube!" nur entgegen zu setzen vermochte.
Natürlich bleibt auch nach vorstehendem Ergebnisse
reichlich genug noch insgesamt auszustellen. Nur ist es
zumeist und gerade nicht dasjenige, was die „Stimme
der öffentlichen Meinung" hier so leichthin-voreilig zu
bemängeln fand. Und so fehlt uns leider wohl wieder ein*
mal der rechte Rapport und ein geeigneter Konnex zwischen
unseren beiderseitigen Urteilen — was ja sehr zu be-
klagen bleibt, mich aber doch nicht abhalten kann, meiner
publizistischen Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen
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Der Erbe.
485
zu genügen. Denn, wenn man schlagfertig immer den
wohlfeilen Einwand bringt, wie Natur und Geschichte uns
zur Evidenz lehrten, dass sich Genie nicht forterben, zum
Mindesten vom Vater auf den Sohn nicht direkt über-
tragen könne, so ist damit doch noch lange nicht er-
wiesen, dass sich nicht wenigstens das Talent sehr
wohl fortzeugen dürfe. Und was noch das Erstere, die Fort-
führung der genialen Anlagen, betrifft, so zeigt uns doch
der hoch bedeutsame Fall Philipp Emanuel Bach aus der
Musikhistorie selber, dass an sich gar nichts voll-
kommen hier ausgeschlossen zu sein braucht ; dass viel-
mehr auch der Sohn eines Genie's einmal sehr wohl
und vor anderen Zeitgenossen berufen erscheinen kann,
aus einer, vom Vater Kraft seines überragenden Genius
für den Augenblick geschaffenen, Sackgasse wieder
lebensvoll heraus zu führen und durch selbsteigene Be-
schreitung eines abweichenden, von jenem ganz ver-
schiedenen Weges eine neue, fruchtbare Linie der
Weiterentwicklung innerhalb der selben Kunst zu be-
ginnen. (Nur freilich wird das halt niemals ein „Nach
unten", sondern stets ein „Nach oben" bedeuten, also
zumeist einen mehr aristokratischen Zug, aber keine
demokratische, plebejische Tendenz an sich tragen
müssen — welches inhaltsschwere Leitthema schon
hier und bei dieser Gelegenheit gleich kräftigen
Akkordes mit angeschlagen sein möge!)
Wenn man im Übrigen auch jetzt noch von Banalitäten
und Trivialitäten in Siegfried Wagners Melodik gesprochen
hat, so wäre hier neuerdings doch allerlei zu unterscheiden
und erwägen. Darf uns als sattelfesten Musikhistorikern
doch nachgerade bekannt sein, wie ein Karl Löwe in hoch-
mütigen Zunftkreisen Jahrzehnte lang nur als eine Art von
höherem Bänkelsänger galt und man in Lortzings Weisen
bis vor Kurzem noch bei der Fachgilde nicht viel mehr
als „leichte Ware" und „bessere Gassenhauer" sehen
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486
Wagneriana. Bd. III.
wollte. Wer weiss aber, ob nicht ein Zusatz dieser
leichter wiegenden Sorte von eingänglicher Melodik
gerade der guten (und dabei „volkstümlichen")
komischen Oper heute mehr von Nöten wäre? — ich
habe so meine eigenen Gedanken darüber. Haben wir
nicht auch die für trivial verrufene Melodik eines Verdi mit
der Zeit erst erkennen und in anderem Sinne würdigen
lernen, nachdem wir sie erst einmal im italienischen
Vortragsgeiste, mit südlichem Ausdrucksleben erfasst
hatten? Und ist Rod. Schumann nicht offenkundig im
Unrechte geblieben mit seinem, dem „Tannhäuser*4 gegen-
über ausgesprochenen, rein theoretischen Tadel : Wagner
wisse leider nicht den strengen, vierstimmig -soliden
Choralsatz gut zu handhaben? Drastik und Plastik
eines Musikdrama's haben eben wieder andere Ge-
setze als die gottesfürchtige Sinfonie-Komposition und
verlangen derbere Mittel als lyrische Träumereien oder
episches Fortspinnen!
Endlich hat man, und zwar übereinstimmend —
recht laut und vernehmlich, die Abhängigkeit des
„Libretto's" der neuen Oper von dem „Meistersinger44-
Vorbilde des Vaters kritisch gerügt und sich im Volks-
witze viel über den ebenso schwachen wie schlechten
Abklatsch dieses albernen „Liebes-, Wett- und Werbe-
Rennens44 der jüngsten „Meisterspringer", gegenüber
jenem klassischen „Liebes-, Wett- und Werbesingen44
der älteren „Meistersinger44, aufgehalten. Allein man
übersieht auch da, auf Grund solch' oberflächlicher
Aufmerksamkeit für die in die Augen springenden
äusseren Ähnlichkeiten, anscheinend völlig wieder die
mancherlei individuellen, inneren Abweichungen
von der Vorlage und hat zum Mindesten dabei noch
ganz vergessen, wie im alten Griechenland und in der
Renaissance-Zeit gerade in der verschiedenen Bearbeitung
ein und des selben Stoffes, in der besonderen Einkleidung
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Der Erbe
487
ganz des nämlichen dichterischen Vorwurfes, das Wesen
der künstlerischen Behandlungsart gesucht wurde
und eben den feineren Unterschieden dann das eigent-
lich künstlerische Interesse der Zuschauer anhaltend
zugewendet blieb — : eine artische Kultur und ästhetische
Tradition, die unserem Banausentum von heute leider
schon ganz fremd geworden zu sein scheint.
Das alles sind also absolut keine, oder doch für
mich nur äusserst fragwürdige Argumente gegen unsere
Neuheit — Argumente, die jedenfalls einer tieferen Be-
gründung zunächst noch entbehren müssen. Was i ch hin-
gegen dem Werke bis zum unverhohlensten Ärger und
heftigsten Verdruss über die auch hier wieder eingetretene
Enttäuschung vorzuwerfen habe, das sind in letzter
Instanz ganz andere, schwerer wiegende, weil grund-
wesentliche Dinge. So will mir — um mit Siegfried
Wagner selbst hier zu reden — vor Allem gründlich
„misshagen", dass er gerade das einzig unerlaubte
Genre : „genre ennuyeux", so gerne pflegt und so hart-
näckig just dieses nur immer anbauen will ; dass auch hier
d i e heikle Linie nur wieder ihre Fortbildung finden soll,
die uns — gestehen wir es uns heute doch willig ein! —
schon bei Wagner sen. (man denke an den karikierten
oder gespreizten oder krampfigen Humor eines Beck-
messer, einer Magdalena, eines Mime) nur allzu oft
peinlich genug berührt hatte, weil wir diesen uns niemals
recht zu assimilieren vermochten: jener „Schmerz,
der ward zum Witz!*1 — nach Wagner jun. (Textbuch
S. 75), welcher nun und nimmer doch zu einem gesunden
Humor frohsinniger Heiterkeiten werden kann. Sodann er-
regt mein besonderes Missfallen diesmal das allzu „Bunte
Theater" — wie ich es beinahe schon nennen möchte,
zum Mindesten eine stark hervor tretende Neigung zu
mannigfaltigem Wechsel in den Bildern und szenischen
Vorgängen, um nicht zu sagen: ein unruhvolles Hasten und
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Wagneriana. Bd. III.
Haschen nach allerlei theatralischen Effekten: eigentlich
also das Schlimmste, was man dem Sohne des Verfassers
von „Oper und Drama" vorhalten kann. Weiterhin noch
will mir nicht zusagen, dass seine Diktion bewusst und
mit voller Absicht das Hasenpanier des „mel-odiosen"
Rückschrittes ergreift („Es war einmal ein Hasew!) —
d. h. kein Jenseits der Moderne" in sich trägt, sondern
vielmehr ein bequemeres Diesseits, mit dem sehnsüchtig
verlangenden Blicke nach rückwärts, nur wieder zu be-
zeichnen scheint. Uberschaut man Friedrich Nietzsche's
arg rückläufige Musik- Auffassung aus dem letzten Jahrzehnt
seines geistigen Schaffens, so ergeben sich bei Siegfried
Wagner so viele Berührungspunkte, dass man diesen
darin fast schon als „Nietzscheaner" anreden könnte,
wären nicht eben wieder eine Menge anderer Dinge,
die dies gründlich verböten. Ferner muss ich noch das
frivole Launen -Spiel der Osterlind mit ihren zwei
Anbetern nach meiner individuellen Organisation als eine
verletzende Widerwärtigkeit empfinden, und leider auch
die nachmalige Glorifikation eines Herzogs, der im ersten
Akt übermütig-gewissenlos auf ein Menschenleben die
Flinte angelegt hat, mit Anderen für eine bemerkens-
werte, ganz bedenkliche Gefühlsverirrung des Textdichters
erklären. Man hätte vielleicht gewärtigen dürfen, dass
„Herzog Wildfang ohne Land", etwa wie Heinz in
Alexander Ritters „Wem die Krone", sich mittlerweile
im Lande beherzt umgesehen, auf Grund der hier ge-
wonnenen ernsten Erfahrungen, durch moralische Ent-
wicklung also, zum Herrscherberuf sich wohl vor-
bereitet und sich nun im dritten Akte mit innerer Reife
zu diesem, eben wieder verwaisten, Amt neu eingestellt
hätte. So aber begreift kein Mensch, wieso denn das
„Volk" eigentlich dazu komme, diesem notorischen
Rohling am Schlüsse des Drama's in einer „gottes-
gnädigen" Apotheose zuzujauchzen.
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Der Erbe.
489
Endlich habe ich noch eine Aussprache darüber
auf dem Herzen, was es mit dem uns so angelegentlich
gepriesenen Begriffe einer „Volksoper" bei Siegfried
Wagner für eine höchst eigentümliche Bewandtnis habe.
Die Druiden und Pagoden des Bayreuther Tempeldienstes
und seiner, für andere Sterbliche oft unverständlichen,
esoterischen Kulte widersprechen sich nämlich in geradezu
rührender Selbstverleugnung ihres Urteils und begeben
sich wieder ein Mal völlig einer eigenen Meinung, indem
sie jene Parole mit wahrhaft verblüffender Anpassungs-
fähigkeit ihres, einem höheren Willen laudalnliter stets gern
unterworfenen Intellektes flugs akzeptieren. Denn dieser
neumodische Begriff „Volk" ist ja nun ein ganz anderer,
grundsätzlich verschiedener von dem, den sie uns seit Jahr-
zehnten als den hohen „Inbegriff aller derer, die gemein-
sam eine höchste Not empfinden", in den „Bayreuther
Blättern" gerade serviert, als das „ideale Wagner-
Publikum" und den geläuterten Zuschauer des „Künst-
lers"- wie des „Kunstwerkes der Zukunft" unermüdlich
immer wieder erörtert haben. Oder aber heisst „Volks-
oper" am Ende gar mit einem Male nun „Musikdrama
für harmlose Gemüter", die nicht eine schlimme „Not-
lage" empfinden, sondern leichte Zerstreuung und an-
genehme Unterhaltung für sich suchen? Jedenfalls be-
deutet „Volk" hier nicht jenen Umweg der Natur,
um zu zwei bis drei ausserordentlichen Menschheits-
Exemplaren zu gelangen. Und fürwahr, wir befürchten
nun sehr: dieses „Volk" ist zuletzt doch nur der brave,
gute Bär und dummdreiste „Meister Petz", der durch
irgend einen losen Witzbold von Bärenführer mit dem
Kettenringe — an der Nase herum geführt wird und
sich eines schönen Tages von irgend einem „Bären-
häuter" auch noch das Fell über die Ohren gezogen
sieht. Vederemo — oder besser: Qui vivra, verrat —
Und dennoch ein Hoffnungsschimmer nach der
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490
Wagneriana. Bd. III.
Münchner Wiedergabe der Neuheit? Ja! Aber er führt sich
im Wesentlichen auf ganz andere Punkte zurück. Ich ver-
misse zwar schmerzlich innerhalb des Werkes selbst
die einheitliche Konzentration an Handlung und Personen;
ich sehe jedoch in dem Fortgange von der romantischen
„Märchenoper" (mit billigem „Erlösungs"-Zauber) zur
„komischen Oper" und „volkstümlichem Singspiel" eine
grössere Geschlossenheit des ästhetischen Willens, eine
strengere, tiefere Besinnung auf die eigenen technischen
Kräfte und die in ihnen liegenden, natürlichen künst-
lerischen Anlagen — wie auch Grenzen. Ich kann zwar
nach wie vor das so viel gerühmte, ausserordentlich
„szenische Talent" nicht wahrnehmen, denn es müsste
den Dichterkomponisten auch vor einer ganzen Reihe von
Missgriffen doch bewahrt haben. Ich bemerke indessen
des Öfteren eine frappante Fähigkeit zur Charakteristik in
dramatischer Klein plastik ; ich sehe, wie er in Bildern
und dekorativen Wirkungen etwas von neuem Farben-
gefühl mit auf seine Bühne bringt, gleichsam eine
moderne Stil -Auffassung der „Stimmung" mit einführt;
und ich finde zuweilen feine lyrische Züge von ganz
zarter und reizvollster Instrumentation (schon in der
Luis'l-Episode des „Bärenhäuter* mussten sie einem
offenen Ohre auffallen), welche — durchaus auf dezente
und intime Wirkung nur berechnet — in einem weniger
geräumigen und minder anspruchsvollen Bühnenhause
als dem der Münchner Hofoper, wo sie leicht deplaziert
erscheinen können, noch ganz anders wirken dürften.
Item: Der Misserfolg des neuen Werkes anlässlich
seiner Münchner Uraufführung war, ist und bleibt un-
bestreitbar; das Wachstum im künstlerischen Wollen
trotzdem nicht zu verkennen und als „Wechsel auf die
Zukunft" doch wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.
Gewiss werde ich nicht „des Mitleids Ofen mitschüren"
helfen — um in der bilderreichen Sprache und so
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Der Erbe.
491
blumigen Redeweise des jugendlichen Selbst-Dichters
hier zu bleiben; denn sicherlich ist Siegfried Wagner
in meinen Augen dadurch allein noch kein grösserer
Künstler geworden, dass einige jähe Heisssporne thöricht
genug waren, durch ihre lärmende Kundgebung ihm
bei den Seinen nun auch noch das brennende Stigma des
Märtyrertums aufzudrücken. Ebenso wenig allerdings
werden wir mit einem „Rache schwör' ich, aber ge-
hörig!" in jenen „Chor der Missgünstigen" hier mit
einstimmen, der aus weiss der Himmel was für welchen
dunklen Empfindungen heraus in ödestem Geschimpfe
schon keinen guten Fetzen mehr an dem Werke lassen
will! Aber so recht von Herzen an ihn zu glauben
vermag ich beim besten Willen auch jetzt noch nicht.
Und noch immer ist mir (nach berühmten Mustern!)
der „»Siegfried' von Wagner" weitaus lieber und auch
zuträglicher als dieser „Siegfried Wagner". . . .
Die Münchner Aufführung selbst: gemalt von Hof-
theatermaler Frahm, kostümiert von Jos. Flüggen,
dekoriert und beleuchtet von Maschinenmeister Lauten-
sch läger, geführt von den Damen Koboth (Oster-
lind) und Blank (Kuni), den Herren Sieglitz (Blank),
Dr. Walter (Herzog), Klopfer (Thomas Burkhart),
Feinhals (Reinhart), und weiterhin noch getragen von
den Herren Mang, Mikorey, Krausse, Schlosser u. A.;
dirigiert endlich von Herrn Hofkapellmeister Franz
Fischer — diese Aufführung hätte für bewussten Fall
schon etwas besser sein dürfen. Sie stand leider nicht
auf der Höhe. „Leiter der Gesamt -Aufführung: Herr
Intendant von Po s s a r t" . . ., so hiess es überdies wenige
Tage vor dem denkwürdigen Abend offiziell in den
Münchner Lokalblättern. Je nun — tempora mutantur,
ganz augenscheinlich, et nos mutamur in illisl Anno
1865 und 1868, bei „Tristan" und „Meistersingern", Hiess
es hier zu Lande doch: „Leiter der Gesamt- Aufführung*4,
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Wagneriami. Bd. III.
und zwar über alle Theaterschneider, Maschinen-
meister, Dirigenten, Oberregisseure und selbst hoch-
mögende Intendanten hinweg: der Dichterkomponist
selber — damals freilich Richard Wagner! Jene Auf-
führungen standen dafür auch durchaus „auf der Höhe".
II.
Herzog Siegfried = Wildfang Wagner? —
Ich denke, man wird meine Umstellung ohne Weiteres
verstehen, und hoffe auch, man wird Stabreim wie
Fragezeichen daran wohl zu würdigen wissen. Ist unser
Siegfried ein geborener „Wagner"? Ist er mit seinem
neuesten Werke zum „Herzog", d. i. Führer der Heer-
scharen aller modernen Opern-Komponisten, nunmehr
avanciert? Ist der Spross von R. Wagnerischem
Geblüt „Wildling** und „Wagehals" genug, um als viel
versprechender Wild fang des Hauses Wahnfried heutigen
Tages vor aller Welt gelten zu können und als Jung-
Meister Anwartschaften auf eine fernere Zukunft uns
eröffnen zu dürfen? Und wenn dem so ist: wäre er
dann ein „Wildfang4* im aktiven Draufgänger-Verstände,
oder im passiven Sinne einer verfolgten Unschuld? Um
ganz deutlich zu sein: Soll für ihn und seine Person
das ideale „Siegfried-Idyll" (die herrliche Komposition
des Vaters auf seine Geburt zu Triebschen bei Luzern
im Jahre 1869) noch Symbol sein — oder aber wird
Otto Greiner mit der bekannten Porträt-Aufnahme
seiner leiblichen Erscheinung auch im Geistigen nun-
mehr Recht behalten?
Als wir vor einigen Jahren diese ebenso scharf-
sichtige wie scharfsinnige Greiner'sche Radierung (des
bequem im Sessel sitzenden Siegfried en proß, mit
übergeschlagenem Bein und den aufgestülpten * Hosen)
zum ersten Male sahen, da war unser spontanes Gefühl:
Wagner sen. in Gigerl-Ausgabe — um nichts Schlimmeres
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Der Erbe.
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zu sagen. Nur wieder den „Chambe riain- Husaren" (um
ganz ausnahmsweise einmal mit dem losen Spötter
Hanslick hier zu reden) konnte es möglich sein, dieses
eher senil erscheinende Bild als das Prototyp blühendster
„Jugend" in der bekannten Zeitschrift dieses Namens
sogar noch zu feiern. — Als wir dann zu einer
Aufführung des „Bärenhäuter" von Weimar aus ge-
legentlich in Leipzig weilten, da hing an der Grimma'-
sehen Strasse eben eine sehr auffällig grosse Porträt-
Photographie des „Helden vom Tage" aus dem be-
kannten Atelier Höffert: reichlich gespreizt und gesucht
in Blick und Haltung, Schnitt wie Kleidung. Mein Gott,
wie so sehr verschieden nahm sich der lebendige Träger
dieses Namens hier aus gegenüber jenem entzückenden,
ja hinreissenden Bilde, das Richard Wagner uns durch
sein berühmtes, in der ersten Vaterfreude hinaus gejubeltes
Orchesterstück von dem Originale und Zukunfts-Helden
dereinstens wohl erhoffen und erträumen Hess! Hier
alles „Natur*4 — dort, auf besagtem Leipziger Konterfei,
ganz und gar nur die eitelste „Mode" ordentlich zur Schau
getragen. Und das nannte ein Houston St. Chamber-
lain in der Ulk-Beilage der „Bayreuther Blätter": genannt
„Bärenhäuter-Blätter" (1899, S. 14), damals auch noch
die naive „Unschuld der Gebärde" an Siegfried,
dem Häuter der Bären! Nun, wenn das schon „Un-
schuld" sein sollte, dann konnte sie jedenfalls nicht
aus der Fülle, sondern musste vielmehr aus einer
Leere des Seins stammen; wie auch sein angebliches
„Auf den Grund Schauen gleich beim ersten Blicke"
nicht das „Unergründliche" zu fixieren brauchte, sondern
das Seichte oder das Grundlose zuletzt treffen mochte,
und der Herren Wagnerianer damaliges „Adlerschweben
hoch über den Wolken" (nach dem Genüsse des „Bären-
häuter" nämlich) zum Mindesten nicht die Kreise des
„Adlers eines Zarathustra" gestört zu haben brauchte. „Im
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Wagneriana. Bd. III.
Sturm lauf werde dieses schöne Werk die Welt er-
obern, und indem es das thue, werde es zugleich Ver-
ständnis und Liebe für alles, was echt und deutsch
ist, erwecken" ... so schloss damals der genannte
Apostel des eben erst 30jährigen Opern-Heilandes sein
klangvoll Evangelium. Wie lautete das nur Alles so
ganz anders als ehedem noch bei Wagner sen.I Bei
ihm und seinen Propagandisten bildete es seiner Zeit
doch geradezu das Kriterium seiner Grösse wie Welt-
bedeutung, dass er nicht sofort durchzudringen ver-
mochte und bezüglich der Anerkennung erst einer
späteren Zukunft sich getrösten musste. „Kunstwerk der
Zukunft"! Rechter Hand — linker Hand: alles ver-
tauscht; Leute, ich merk' es wohl, ihr war't berauscht!
Und heute, nach der stark verunglückten, oder
doch entgleisten, Münchner Erstaufführung des „Herzog
Wildfang", die Ernüchterung? O nein — sofort wieder
das entgegen gesetzte Extrem! Flink spricht man von
dem „natürlichen und notwendigen Martyrium alles
Grossen" — weil nunmehr die nahe liegende gesunde
Reaktion, als eine Art Nemesis auf den leidigen Taumel
von anno dazumal, beim Publikum eingetreten ist; ja,
man giebt sogar die offizielle Losung von einer Neu-
Auflage des ehemaligen Pariser „Tannhäuser"-Skandales
(1861) unbedenklich genug aus, weil einige unreife
Jünglinge sich erkühnten, zum guten oder schlechten
Ende das Zischen eines Teiles des Publikums bis zum
schnöden Pfeif-Crescendo zu übertreiben — welches
Vergehen wider den primitivsten Knigge indes sicher
kein Mensch von guten Umgangsformen je irgend wird
billigen wollen. Schnell fertig war ja die Jugend von
jeher mit dem Wort, das für den ernsten und gewiegten
Kritiker nur schwer sich handhabt, wie des Messers
Scheide; und in all* der schwankenden Erscheinungen
Flucht und all' der wirren Unrast eines heftigen „Für
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Der Erbe
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und Wider" mag es daher gut sein, den „ruhenden
Pol" erst einmal aufzusuchen, von dem aus es sich
ungetrübt überschauen und geruhig alsdann, wirklich
ästhetisch, betrachten lässt.
Vor Allem waren wir auch bei Siegfried Wagner,
ähnlich wie weiland bei Johanna Ambrosius, der Bauern-
dichterin, zunächst der starken Versuchung ausgesetzt,
ein relatives Urteil der Überraschung und Ver-
wunderung zu fällen: nur eben darüber, dass wider
Erwarten auf diesem Boden, am selben Stamme, abermals
Knospen treiben und Früchte hervor spriessen sollten.
Die neo-vitalistische Frage der (physischen oder geistigen)
Züchtung des Übermenschen bietet ja noch genug
ungeklärte dunkle Punkte. Ist am eigenen Fleisch und
Blut eines überragenden Genius eine Steigerung darüber
hinaus noch möglich, oder sind die Säfte und Kräfte
für die betreffende Begabung nach und mit ihm vollauf
bereits erschöpft, so dass sich die Grossen, Genialen der
Menschheit, wie die Schopenhauer'schen Riesen, nur
einsam, über ein wimmelndes Geschlecht von Zwergen
hinweg, die Hand reichen und mit einander aus weitester
Ferne allein nur unterhalten können? Wenn mit der körper-
lich-geistigen Züchtung des Übermenschen (nach Nietzsche)
heute schon alles im Reinen wäre, so müsste uns die
Geschichte eigentlich wohl ganz andere Erfahrungen
zeitigen, als sie uns in den Söhnen grosser Genien für
gewöhnlich an die Hand gegeben worden sind.
Freilich, ich wiederhole es: im Falle Sebastian Bach,
und zwar bei dessen Sohne Phil. Emanuel, liegt für
die Musikgeschichte immerhin eine tief belehrende
Erscheinung vor, welche uns zeigt, dass auch der Spross
eines ganz Grossen einmal entschieden produktives Talent
haben und gelegentlich sogar eine eigene historische Be-
deutung in der Geschichte ganz der gleichen Kunst für
sich noch beanspruchen kann. Indessen wird doch
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496
Wagneriana. Bd. III.
gewiss niemand den „galanten" Philipp Emanuel schon
über oder neben den „tiefen" Sebastian zu stellen
sich vermessen. Und anderseits Hesse sich wiederum
die Frage gar wohl aufwerfen, ob biologisch überhaupt
die Möglichkeit bestehe, dass ein Genie den Blutstropfen
wenigstens des Talentes für das rein Handwerkliche
seiner spezifischen Kunstübung gar nicht vererben
könne, so dass es also — rein physiologisch — geradezu
höchst merkwürdig erschiene, wenn eine so hohe Dichter-
Musiker- Begabung wie diejenige Richard Wagners sich
nicht, zu mindest bis zu einem gewissen Grade der
technischen Fertigkeiten, auf den direkten Nachkommen
sollte fortgepflanzt haben.
In der That: „Musika und Worte, das Piano und
das Forte, und was sonst noch an Gezier, das Alles
stammt von mir!" — diese Verse seines Schneider-
meisters Zwick aus dem jüngsten Opus darf Siegfried
Wagner ohne Weiteres auch auf sich selbst anwenden.
Nun kann man freilich seine Komposition, was den rein
musikalischen Teil anlangt, jugendfrisch, stellenweise
auch wohl unmittelbar-zugreifend nennen, um schliess-
lich doch die Bezeichnung „ rotwangig* (die in der
«Frankfurter Zeitung" gefallen ist) bei ihr absolut
deplaziert zu finden. Im Gegenteil! Wie bei dem
düsteren Hagen möchte es manchmal von seinem Blute,
im Verhältnis wenigstens zu dem des berühmten Vaters,
beinahe schon heissen: „Nicht fliesst ihm's frisch und
sprudelnd wie jenem ; störrisch und kalt stockt's zuweilen
in ihm, nicht will's die Wange (und gleichsam auch
diejenige seiner Musik) ihm röten!" Und was vollends
gar die „Worte", d. i. das neue Textbuch des „Dichters"
Siegfried Wagner, betrifft, so muss man — noch ohne be-
sondere Hervorhebung stilistischer Monstra, von denen
einige (wie z. B. das erhebende Bild: „In uns giesst
es!" — Text S. 19) bereits der Symbolisten-Schule derer
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Der Erbe.
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um Alfred Mombert sich zu nähern scheinen — doch
schon sagen, dass sich der »Herzog Wildfang* als
komische Volksoper zu den .Meistersingern" des Er-
zeugers und Urahnes nur erst verhält: so etwa wie der
„Homunkulus* zum „ Faust"! Trotzdem wäre nicht
eben allein bei diesem Verhältnis und seinen Analogien
schon stehen zu bleiben; finden wir doch der verwandt-
schaftlichen Züge und Anlehnungen auch ausserdem
noch gar mancherlei: z. B. nach dem „Freischütz" (ver-
gleiche Text S. 31 — wir erwarteten hier ein „Schiess'
nicht, Max, ich bin die Taube!"), nach Gounods
„Margarete" (das Doppelgespräch der Vier im Schloss-
garten — Text S. 15 ff.), nach Lortzing („Waffen-
schmied") und Nessler (Rünr-Arie des zurück kehrenden
Reinhart!); vom „Kaufmann von Venedig" (zweiter Akt)
und von Anzengrubers „Viertem Gebot" (Text S. 53 f.) bis
herauf zum „Tristan" (das läppische Zaubertrank-Motiv
der Kuni, frei nach Brangäne — Text S. 86 und selbst
103!) etc. etc.
Allein, wer wird auch bei solchen reinen Äusserten-
keiten wohl stehen bleiben! Schlimm dagegen erscheint
in diesem Betrachte, dass der Charakter der Osterlind
(vergleiche S. 74: „Ich pflücke, riech' und lass' dann
welken!" — oder S. 81 : „Nun liebt sie glücklich Zwei!"),
und zwar ganz im Gegensatze zum „Lieb' Evchen" des
Vaters, so sehr wenig sympathisch im Grunde ge-
zeichnet erscheint; schlimmer, dass der schlimme Herzog
schlechterdings nichts den ganzen Abend thut, um die
durch den bewussten Schuss auf ein lebendes Menschen-
wesen bei uns gründlich verscherzten Sympathien sich
wieder zu erobern, aber trotzdem zum „guten Ende" mit
der Gloriole des Gottesgnadentums ausgezeichnet, als
„sozialer" Herzog auch noch von uns geglaubt werden
soll; am schlimmsten endlich, dass die Handlung des
Ganzen zugegebener Massen lange lebhaft interessiert,
Sei dl, Wagneritna. Bd. III. 32
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Wagneriana. Bd. III.
zum Teil sogar höchlichst fesselt, um schliesslich durch
einen ganz kläglichen, um nicht zu sagen: schmachvollen
Ausgang förmlich schroff abzufallen und direkt zu ver-
letzen. Merkwürdig auch wohl überdies noch, dass die
absichtsvollen Verse: „In Nürenberg einst durch
Gesang die Maid ein Ritter sich ersang" ohne jeden
entsprechenden musikalischen Anklang (ä la „Tristane-
Anspielung bei Hans Sachs in den „Meistersingern")
hier bleiben sollten. Warum? Auf eine „Meister-
singer-Reminiszenz mehr oder weniger wäre es doch
wahrlich nicht mehr angekommen!
Episodenwerk überwuchert jedenfalls allzu sehr den
guten Kern der Sache — es gebricht an der rechten
Konzentration und fehlt eigentlich ganz eine ent-
sprechende Einheit der Personen, so dass man zuletzt
nicht mehr weiss, wie man die Oper lieber betiteln soll:
„Blank" oder „Osterlind", oder allenfalls „Reinharts
Heimkehr" — , während gerade „Herzog Wildfang" als
der am wenigsten passende Name danach uns nun vor-
kommen muss. Anderseits herrschen, wie gesagt, die Lange-
weile und deklamatorische Monotonie im musikalischen
Part entschieden vor. Gleich die sogen. „Ouvertüre" ist
ein äusserst physiognomieloses Tonstück, beinahe ä la
Felix Mendelssohn in ihrer nichtssagend „geläufigen"
Mache, inhaltlich jedoch von keinerlei der Rede werten
Qualitäten. Ganz unglücklich ferner im Bau, in Anlage
und Ausführung giebt sich das „Doppelgespräch" (Stimm -
Quartett) im ersten Aufzuge; denn diese, für den weiteren
Verlauf so sehr wichtige Exposition kann bei solcher allzu
feinen Einkleidung ganz unmöglich mehr vom Publikum
erfasst und verstanden werden — kein Schatten jener
Verdfschen Meisterschaft, in der belebten Ensemble-
Konversation z. B. des „FalstaflP*, die noch im buntesten,
kompliziertesten Stimmengewirre die Pointen, auf die es
ankommt, klar und deutlich, mit komischem, ja drastischem
Digitized by Go
Der Erbe
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Erfolge heraus bringt! Hinwiederum aber wären als er-
freuliche Eindrücke und hoffnungsvolle Momente zu
Gunsten des Komponisten hier zu buchen : das vorzüg-
licheWerber- Ensemble, das charakteristisch-lustige „Hasen
und Igel"-Liedlein (ein wenig an Schuberts „Forelle" etc.
sich anlehnend), die reizvoll- zartsinnige Abend -Zwie-
sprache zwischen Vater und Tochter im Garten — zweiter
Akt (geschrieben über ein leicht-gefällig aufsteigendes,
recht duftiges Motiv: „Väterchen, das war nicht schön
von Dir!"); endlich der geradezu frappante Einfall mit
dem obstinaten Achtel-Klopfen im Basse, bei der spiess-
bürgerlich -geheimnisvollen Erzählung des Dohlendieb-
stahles nämlich im selbigen zweiten Aufzuge; sowie
allenfalls noch der bemerkenswert sprachmelodische Stil
und geschickte, darauf folgende Finale-Aufbau an der
Tragbahre des verwundeten Mädchens (im Ausgange des
I. Aufzuges). Wohingegen der dritte Akt ungeachtet alles
szenischen Aufwandes — oder erst recht wegen dieses —
ganz grausam wieder abfällt und nicht zuletzt an dem
bedauerlichen Fiasko durch seine ganze innere Leere,
mancherlei Effekthascherei und wahrhaft haarsträubende
Inoriginalität die Schuld trägt . . .
Und so ward denn der „Chor der Rache" ent-
fesselt: ausgelassen aus dem finsteren Orkus, zu einem
Wutgeheule der Vergeltung, alle die niedrigen Geister der
Zurückgesetzten, Missvergnügten; die Dämonen der Un-
gunst und des Neides, der Scheelsucht wie der hämischen
Schadenfreude! Und es erhub sich allda ein gross' Pfeifen
auf Hausschlüsseln, oder aber nach der „derben Fuhr-
manns- Weis'", von jedenfalls höchst flegelhaftem Ge-
bahren in kunstgeweihten Räumen. Obwohl nun doch der
(eigentlich ungerufene) Dichter-Komponist noch den
Herrn Hofkapellmeister (ich bitte den Setzer, nicht nach
dem Textbuch am Ende „Hof kuppelmeister" hier zu lesen
und mir harmlosem Staatsbürger ernste Verlegenheiten
32»
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Wagneriana. Bd. III.
dadurch zu bereiten!) vor den Vorhang zu sich herauf
berief — wohl ebenso sehr zur unzweideutigen An-
erkennung für die Leistungen der ganzen Truppe wie
als Schutzwall gegenüber den moralischen Wurf-
geschossen oder aber als Blitzableiter gegen die an-
gesammelten Zündstoffe im Hause: — umsonst! Um-
sonst auch, dass ein offenbar Unparteiischer in diesen
Sturm der Meinungen hinein mit Stentor-Stimme nach
„von Possart!" rief. Alles vergebens! Es raste das
Volk und wollte nun einmal sein Opfer haben; denn
alle Schuld — ich meine die vor zwei Jahren mit dem
lauten „Bärenhäuter"-Erfolg an der selbigen Stelle —
rächt sich eben schon auf Erden. Kurz, es war wohl
weniger Bayreuther „Osterlind" als eben (ungleich
zeitgemässer): Münchner „Salvatorleben".
Decken wir Aufgeklärteren getrost den Mantel des
„eisernen Vorhanges" über diese, in jedem Sinne
ruhmlose Affäre, und stellen wir hier „zur Steuer der
Wahrheit" nur eiligst noch fest, dass Wagner II. (wohl-,
gemerkt: nicht Richard II., denn das ist schon einmal
Strauss!) mit bedauerlicher Takt-Freiheit nach allen
drei Aufzügen es sich nicht nehmen Hess, huldvollst
wiederholt an der Rampe zu erscheinen, vor welche
er nichts weniger als „gerufen" wurde. — Der Vor-
hang fällt.
III.
So wäre denn die „Bärenhatz" glücklich zu Ende
— und der „Wild-Fang" könnte nunmehr beginnen ! Das
eigentliche Problem, das der „Wagner-Schule" über-
haupt mit diesen „Volksopern-Kompositionen" von des
Bayreuther Meisters eigenem Kinde und Erben auf-
gegeben ist, liegt indes ganz anderswo, als das grosse
Publikum für gewöhnlich annimmt und anscheinend
auch nur von Weitem ahnen will. Und es ist nicht
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Der Erbe. 501
etwa nur Verteidigung eines zum Voraus schon ver-
lorenen Postens, etwa aus verletztem Gerechtigkeits-
gefühle heraus, was uns nach dem Befunde diesmal, dem
herrschenden Strome entgegen, in aller Seelenruhe
sogar positive Werte aufstellen und ihm sogar stille,
ganz leise Zuversichten für die „Zukunft" da oder dort
immerhin entnehmen Hess, von denen noch beim „Bären-
häuter", auch nicht einmal entfernt, die Rede sein
konnte. Für den nämlich, der aus der rechten „Vogel-
schau", weitab vom Schusse der Partei-Treibjagden, den
künstlerischen Vorgängen auch hier zuzusehen versteht,
für ihn ruht des Pudels Kern in dieser ganzen cause
ct'lebre (oder chronique scatuhleuse — wie man's nehmen
will), steckt der casus belli, der uns zur Abwechslung einmal
herzhaft lachen machen darf — vor Allem in Folgendem:
„Haus Wahnfried" selber hat durch diesen Schritt
desKronprinzen, mit dessen individuellen Neigungen näm-
lich zum devTCQog 7t)xwg9 offenkundig vor aller Welt nun
zugegeben, dass es im Allgemeinen auf musikdramatischen
Gebiete so, wie bislang — öde und unfruchtbar genug —
in der sklavischen „Wagner-Nachfolge", nicht mehr gut
weiter gehen kann. Der „moderne* Vorwegnahme-
Mensch in seinem dunklen Drange war sich also des
rechten Weges zu guter Letzt doch wohl bewusst, wenn
er schon vorher einen „Schritt vom Wege" der strikten
Observanz (nach der Hutschnur), auf eigene Faust und
Verantwortung, gelegentlich abirrte. Er hatte es mit
Recht dabei keinen „Gewissensbiss", unter den be-
kümmerten oder gestrengen Ober- und Seelenhirten da
und dort einmal als „verlorenes Schäflein" der grossen
Wagnerianer-Herde, mit ihrem adäquaten Herden-Instinkt
und der zugehörigen Sklaven-Moral, zu gelten. (Ganz
en passant bemerkt : ich argwöhne, dass Nietzsche diesen
seinen Zentralbegriff von dort her geholt, aus der
psychologisch scharfsinnig studierten Naturgeschichte des
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■
502
Wagneriana. Bd. III.
„Wagnerianers, wie er sein soll", gerade geschöpft habe;
wie ja auch der „Wille zur Macht" ohne Wagners „Wotan"
kaum zu denken ist!) Die moderne Kraft des „realen"
Gedankens und die fortschrittliche Macht eines mehr
„naturalistisch" gerichteten Lebensgefühles, dem sich das
gern „monumentalisierende" Bayreuth von heute nase-
rümpfend oder doch beargwöhnend, wie hermetisch, stets
verschlossen gehalten hatte, wo es einer seiner hellsich-
tigeren Anhänger als das Notwendige schon einmal prophe-
zeite — ja, als unvermeidlich kommende Erscheinung im
gesunden Entwicklungsprozesse derZeit vorwegzunehmen,
auch ohne gütige Erlaubnis der „Zentralleitung vom hohen
Stuhle selber" so frei war: sie haben sich auch an ihm nun-
mehr eben doch als die treibenden Faktoren erwiesen, an
seinem eigenen Leibe jetzt bewährt — und zugleich
gerächt. Und wie das? Sehr einfach! Der „natürliche
Mensch" kann nun einmal nicht ewig auf Gräbern
sitzen; „man" will nicht unaufhörlich nur das schwer-
mütige Lied der Trauerweiden rauschen hören. Zumal
den seit einem gewissen weihevollen „Parsifal" in der
zuverlässigen Wagner - Gemeinde eingerissenen, un-
verbrüchlich-pathetischen Ernst und unverwüstlich-
feierlichen Stechschritt kann ja kein lebendig em-
pfindender Springinsfeld von ungebrochener Natur-
freude mehr aushalten und — selbst auch der Richard
Wagner der „Meistersinger" hätte diese entsetzlich er-
starrte Heiligkeits-Pose eines ekstatischen Grals-Mimus
auf die Dauer doch nicht ertragen. Das urgemütliche,
altbekannte und allbeliebte Volksmotiv vom „geprellten
Teufel" — es wurde daher mit Wonne aufgegriffen: hinc
Ulae deliciae nämlich beim noch nicht allzu talentreichen
„Bärenhäuter" von ehedem. Facit: es muss weiter gelebt
werden, und darum behält auch der Lebendige sozu-
sagen immer sein Recht. Wich aber schon bei Wagner sen.
dem „Ewig-Jungen" in Wonne sogar ein Gott, so
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Der Erbe.
503
bekehrt sich, hocherfreulicher Weise, nun auf einmal
und endlich selbst eine liebende Mutter — „schwach
auch sie, ein Mensch wie Alle" (und dieses „Ewig-
Weibliche im Menschlichen" macht uns die bedeutende
Frau weit eher sympathisch) — zu den Daseins-
Regungen des jungen Nachwuchses, so etwa nach
dem Motto: „Drum ist der Eitern erste Pflicht,
Gehorsam ihrem Kind!" (Vgl. Text S. 54) . . . statt
dass umgekehrt die jüngere Generation immer nur
hübsch brav und folgsam an die ehrwürdige Tradition
der älteren sich gefesselt, von deren „autoritativer"
Würde nur am Gängelbande sich geleitet sieht. Das ist,
letzter Instanz, das „Problem" im vorliegenden Falle —
hie RhoduSj hie saltal
Wenn nämlich wir Anderen früher oft „zeit-
gemässe" oder „unzeitgemässe" Bockssprünge auf eigene
Rechnung und Gefahr uns dreist erlaubten und vom
Wagner- Credo der konservativen Tabulatur hinweg als
wilde „Ketzer" gelegentlich „radikal" ausschlugen, in's
profane Leben herüber (ich erinnere hier an den „Fall
Richard Strauss", der im innersten Wesen einen solennen
Abfall von Bayreuth bedeutete): da wurden dort in der
„hl. Kongregation" der hohen Gralsritterschaft die Augen
gerollt und im intimsten „Sanktissimum" des Wagner-
Hauses, dessen Vorhang n i e mals zerriss, die Stirnen
düster gerunzelt. Jetzt auf einmal, da Wagner jun. selber
solche Seitensprünge von der Leine weg zaghaft wagt und
jenen anderen Pfad „grüner" Weide, aus der „grauen
Theorie" heraus, persönlich-unbekümmert tapfer be-
schreitet — ja Bauer, das ist nun ganz 'was Anderes! D a
plötzlich ist es auch schon, als „Ziel aufs Innigste zu
wünschen", offiziell sanktioniert; nun wird „Volksoper"
— wie es jetzt heisst — sogar Trumpf, und das Ganze
mit einem stattlichen Freibriefe wahn friedlichen Kabinets-
Insiegels zudem noch versehen. Und nunmehr stimmt
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504
Wagneriana. Bd. III.
nichts, aber auch gar nichts mehr so recht zusammen!
Ja, es ist sogar gut so, dass nichts mehr zusammen
gehen will, denn es ist damit, was man so nennt, „Leben
in die Bude" gekommen; es änderte sich eben die
Zeit, und neues Leben blüht nun aus alten Ruinen!
„Ihrer Majestät allergetreueste Opposition" nämlich rennt
jetzt, und zwar zum wachsenden Erstaunen der Dynastie
wie ihrer „loyalen" Anhängerschaft, anstatt etwa gar be-
geistert jenem Triebe nach Lebensbethätigung nun zu-
zujauchzen, sehr vehement vielmehr dagegen an: kennt
sie doch das Leben, die „moderne Seele", da sie sich
darin schon tüchtig umgethan, längst aus eigener Er-
fahrung ungleich besser; glaubt s i e doch, weil sie
sich bereits in der Welt getummelt und wacker mit dieser
„vitalen" Frage herum geschlagen, genau zu wissen, dass
diese Art und solcher Versuch eines Vorstosses nach
jungfräulichem Neulandboden gerade nicht das Zeugungs-
kräftige hervor treiben wird, nicht das Lebensfähige
wirkt, noch das wirklich Daseinsberechtigte zu organischem
Wachstume reift und zeitigt. „Im Treibhaus!" Sie hat
inzwischen ja längst einganz anderes, hoffnungsvoll-frucht-
treibendes Zukunftsideal neuzeitlichen Bewusstseins
wie realistischen Könnens und modernen Fortschreitens;
über Gräber hinweg, gewonnen, d. h. in sich entwickelt
und bis zum wahrhaftigen „Ausdrucke" dieses Inneren
mählich herauf geführt. Und, mit einem Male derart frei
geworden, weil ohne Weiteres „entbunden" nun durch
das eigene „Aus-der-Rolle-fallen" des grossen Bayreuther
Generalstabes, findet sie sich fortan ganz natürlich und
unwillkürlich auch ermutigt, dieses ihr mittlerweile
neu aufgegangene und thatkräftig bereits ausgebaute
Ideal — wenn es denn sein muss, selbst gegen jene
Testamentsvollstrecker eines meisterlichen Willens, oder
vollends gar gegen „Kindereien" — ebenso rückhaltlos wie
rücksichtslos nun zu vertreten. Der Stein aber ist damit
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Der Erbe.
505
unaufhaltsam in's Rollen gekommen — dies die
grosse Wohlthat des „Falles Siegfried Wagner" für uns
Alle: hinc illae lacrimae wiederum — die „wilden" Szenen
einer tumultuarisch demonstrierenden Kamarilla anläss-
lich der Premiere des „Herzog Wildfang" zu München I
Ein guter Bekannter, der seiner Zeit zur Erst-
aufführung des „Bärenhäuter" eigens nach München
gefahren war, lieferte mir damals auf einer Postkarte
ein knappes Stimmungsbild der dortigen Sachlage und
schrieb mit gelinder Entrüstung von dem blassen „Neide
einer Gegenklique erfolgsüchtiger Auch-Komponisten" An-
gesichts des „bezwingenden Eindruckes" wie jener „durch-
greifend-populären Wirkung". Ich glaube, dieser gute
Mann war zu wenig „Psycholog", und die Sache liegt
noch unendlich viel tiefer. Denn, mit Verlaub,
just dieses, seither dräuend herauf steigende ressentimait
von schadenfrohen, um i h r Teil und Ideal einstweilen
„Geprellten" muss i c h meinerseits, als streng un-
parteiischer Dritter, für das einzig Folgerichtige, Ge-
sunde, Menschlich -Wahre, ja sogar Sittlich-Berechtigte
halten, bei solch gewagtem Spiele Wagnerianischer
Auguren. Eben dieser düstere „Chor der Unterwelt"
mit seinen finsteren Unheilsschatten auf den Mienen
aller Zurückgesetzten und Missvergnügten, dessen
blutiges „Rache schwör' ich — aber gehörig!" (um mit
Siegfrieds eigenen Versen hier zu reden) seitdem zu
solch katastrophösem Crescendo anschwellen sollte: —
dieser Chorus musicus communis muss durch die jüngste
Münchner „Affäre" ganz unvermeidlich neuerdings erst
recht gründlich geweckt werden. Und sein unmittelbar be-
vorstehender oder schon konstatierter fff-Ausbruch wird
der „Familie Wagner**, welcher man sonst doch wahr-
lich das Zeugnis kluger Weltpolitik und fein-überlegener
Kunst-Taktik nicht vorenthalten kann, als ein un-
verzeihlicher Verstoss gegen seine eigenen, bisher
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506
Wagneriana. Bd. III.
vielleicht noch immer „Unbedingten" und „Getreuen",
mit der Zeit ganz zuversichtlich auch sehr teuer zu
stehen kommen — ja, er fängt (wie figura „Herzog
Wildfang" zeigt) schon heute an, ihr „höllisch" un-
bequem zu werden, wenngleich sie's, mit billigen Ver-
tröstungen auf die Märtyrer-Schicksale eines Richard
Wagner, zunächst nicht gerade Wort haben will ! Wo es
sich denn nicht mehr um eine Konfrontierung von
umfassendem Weltgenie mit beschränktem Lokal- oder
Zeittalente handelt, wenn der „Epigone" nicht, wie
früher, dem „Koloss Wagner" selber entgegen tritt, sondern
sich einfach nur mehr Neuling und Neuling, oder gar
nur: gewiegter, könnender „Neu -Töner" und nach-
empfindender, aber tastender Kunst-Novize, einander allein
gegenüber stehen, da kann es sich halt auch blos mehr
um die eine Frage drehen : Potenz oder Impotenz ?
Triebkeim oder Nachblüte? Und ob auf dieser natür-
lichen Basis alsdann Wagner II. gleichfalls Sieger im
„Opern-Wett- und Werbe -R e n n en" bleiben wird,
wie es Wagner I. im „M usikdramen-Wett- und
Werbe-Singen" gewesen, das steht zum Mindesten doch
sehr in Zweifel.
In der That: Ist der junge Wagner wohl ein
solcher „hürnen Seufried" (gehörnter Siegfried), d. h.
eben mit jener wetterfesten, harten Hornhaut angethan,
die ihre Helden „feit"? — die im gegebenen Falle das
geeignete Material dazu abzugeben vermöchte, um den
vernichtenden Attacken jenes inkommensurablen und
dabei noch arg lebensgefährlichen Lindwurm-Ungeheuers
Stand halten zu können, als welches sein leiblicher
Vater für die N a c h wagnerischen Musikdramatiker alle
ohne Ausnahme mehr oder minder doch sich aufrollen
muss? Ich fürchte sehr, bis zum bekannten Wotan-
Problem: dass der Junge, Freie, Naive, mit dem
selbsteigen geschmiedeten neuen Schwerte seiner
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Der Erbe.
507
so genannten „Volksoper" den bewährten „musikdrama-
tischen" Runen-Speer des heiligen Alten vom Bürger-
reuth-Berge, samt den darin eingegrabenen ewigen
Leitmotiven, kecklicher Weise etwa schon in tausend
Stücke zerspellt hätte — bis dahin hat's, zumal wenn
wir Jenes „Meistersinger" mit Dieses „Meisterspringern"
einmal in arg hinkenden Vergleich ziehen — wohl noch
seine recht guten Wege. Ein Anderes ist es, als
der berufene und auserwählte, „volkstümliche" Held
den quer über dem Wege liegenden Feuer-Drachen des
mythologischenWagner-Ethos und eines melodramatischen
Erlösungs - Pathos durch gehaltreiche Einfalt und un-
schuldige Natürlichkeit „ur- sprünglich" überspringen,
will sagen : diesen beherzt ü b e r w i n d e n ; ein weit Anderes
wieder, in bewusst - reflektierter „Volkstümlichkeit",
d. i. Popularitätssuche, vor dem heissen Schlund und
dem geifernden Glutrachen jenes Monstrums, ohne ihm
die starken Giftzähne im lachenden Leckermaule zuvor
auszuziehen, mit Avanciersignal auf dem Waldhorn
mutig — zurückweichen. Solch „rückläufige" Be-
wegung aber ist es, was sich in Siegfrieds, zum Pro-
gramm erhobener, sozusagen „melodischer Reaktion"
ganz zweifellos nun wieder ankündigt — einer Reaktion,
welche prinzipiell doch oft nicht viel Anderes als die
leerste „Restauration" zu Lortzing (was noch gar nicht
einmal so schlimm schiene) und — Rossini zurück, ja
noch unter dieses Niveau : zu dem seligen Nessler
hinab, vorstellt. Principiu obstal Dass sein, wie der
Pontius im „Credo" völlig unvermutet in unserer Oper
auftauchender Jugendgeliebter jener wetterwendischen
Osterlind — der famose Reinhart — im Grunde nur
einen „Trompeter von Szegedin" bedeutet, das haben
ich und Andere einem Siegfried, genannt „Wagner",
jedenfalls sehr übel „vermerkt". Freilich: „Liebe und
Trompetenblasen nützt zu vielen schönen Dingen."
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508
Wagneriana. Bd. III.
Und doch freut man sich zwischendurch wieder
an so Manchem, übersieht man keineswegs gewisse
künstlerische Absichten wie ästhetische Qualitäten, und
schöpft man da und dort, wenn man nur entsprechend
unbefangen bleibt, vorübergehend sogar, wie bemerkt,
allerlei Hoffnungen. So wollen wir z. B. durchaus
nicht übersehen haben, wie gerade aus der nahe liegenden
Analogie zwischen dem „Herzog Wildfang" und den
„Meistersingern" zuletzt doch fast so etwas wie Kritik
seines eigenen Vaters bei Siegfried resultiert: ein
ad absurdum -Führen gleichsam des älteren „Liebes-
Weit- und Werbe-Sanges" durch dieses jugendlich über-
mütigere „Liebes -Wett- und Werbe -Rennen" mit seinem
zunächst ganz unglücklichen Ausgange; ein Protest der
Jugend also gewissermassen, des Inhaltes etwa: dass
ein so leichtfertiges Wettspiel und ein so gewagter
Sportkampf um ein Menschenleben doch auch einmal
recht schief ausfallen kann, und dass solch' frivole Ver-
schacherung eines Mädchenglückes allerwege nichts
besagt Angesichts des Wesens und Wirkens der grossen
Allwalterin Liebe! Allein, das geht bei Siegfried an-
scheinend doch auch nicht allzu tief und schon gar nicht
etwa als „Protest" bis auf die Knochen oder das Lebens-
mark selber. Wir möchten also unserseits keinesfalls mehr
Wesens, als es wohl verdient, daraus gemacht haben.
Hingegen ist eine andere, wichtigere und zugleich ent-
schieden liebenswürdige Seite — so weit ich sehen
kann — ganz und gar noch nicht bemerkt worden bei
jenem wenig erquicklichen Geschrei, das sich um das in
Rede stehende Streitobjekt im Tageslärm der Presse als-
bald erhoben hatte. Hat man denn nicht im Geringsten
nebenher mit wahrgenommen, wie in Kolorit und
Charakter, in sprachlicher Ausdrucksform und Stimmung
eine Art „ Heimatkunst " — ob nun bewusst oder un-
bewusst, lassen wir dahin gestellt — glücklich nun auch
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Der Erbe.
509
auf dem Gebiete der deutschen Oper sich hier meldet (wie
sie später in R. Strauss' „Feuersnot" mit dem Münchener
Milieu noch bemerkenswerte Fortsetzung fand)? Mit
Namen wie Kuni, in Redewendungen und Anklängen, hier
und dort plötzlich auftauchend (vergleiche z. B. die eigen-
artige Episode mit dem alten „Zupfer"), ist ein Grund-
ton aus dem spezifisch fränkisch-thüringischen „Winkel"
{nebenbei allerdings auch von jener Langweiligkeit und
Fadaise, die dort gerade heimisch ist und selbst uns Bayern
noch die Franken gelegentlich als fremd empfinden
lässt) hier doch jedenfalls angeschlagen — deutlich genug
für den, der Ohren hat zu hören. Ja, es Hesse sich
am Ende selbst kühnlich behaupten: Siegfried Wagner
habe gerade bei den Stellen, die von der grossen
Menge zunächst noch als „unsympathisch", „unter-
mässig" begrüsst, als „Operettenhaft" abweisend genug
gerügt wurden, harmlos -reflexionslos vielleicht, den
realistischen Sokkus des Mundartlichen, Provinziellen
zum bisher so hohen Kothurn des idealistischen Musik-
dram a's seines Vaters neuerdings hinzu gefügt; er habe
möglicher Weise damit also für das nachgerade un-
ausstehlich hoch gesteigerte Pathos der Epigonen-Oper,
seinem eigenen Erzieher zuwider, eine ähnliche
„naturalistische" That vollbracht, wie sie seinerzeit
schon Gerhard Hauptmann, entgegen Goethe und Schiller,
für das Epigonentum im rezitierten Drama seiner
Tage bezweckte — und auch wohl alsdann bewerk-
stelligte, mit jener bekannten durchgehenden Anleihe
beim schlesischen Dialekte und jener grundsätzlichen
Einkleidung in die ausgefeilte Prosarede, welche zu-
nächst so viele Angriffe Seitens der Kunstwächter und
„Schönheits"-Pächter erst noch erfahren sollte. Sieg-
fried Wagner hätte sich demnach — auffällig genug — ,
obwohl der Spross eines geborenen Sachsen und einer
Halb-Französin, zudem als ein Ausländer zu Triebschen
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510
Wagneriana. Bd. III
bei Luzern im Schweizer Lande zufällig zur Welt ge-
kommen, mit seiner „Jugend" doch in Mittel- Deutsch-
land nach und nach naturalisiert, akklimatisiert und ein-
gebürgert. Siegfried also schliesslich doch ein „Wagner"
neuer Dinge in seinem Fache? Oder wäre auch das
wieder unecht, nur gemacht, gesucht und posiert an
ihm (wie gar Viele behaupten wollen)? „Des Rätsels
tiefgeheimen Grund — wer thut der Welt ihn endlich
kund?-
Auf der anderen Seite wieder darf es sicherlich —
ja, muss es unter allen Umständen bass verdriessen,
dass wir so wenig eigenes, selbständig-urwüchsiges und
vollwertiges Lebensgefühl bisher an ihm zu entdecken
vermögen: keinerlei Spur von dem, was wir „persön-
liche Beseelung" nennen möchten! Eine, wenn schon
frei erfundene, Fabeleinkleidung liegt ja nur wieder
in diesem „Textbuche" vor, aber mit Nichten eine ur-
eigene „Weltanschauung". Und dabei reist er doch als
weltmännischer „Globetrotter" von Berlin nach Rom und
von Paris nach Budapest! Was würde nicht Unsereiner
von solchen Wanderfahrten und Lehraufenthalten alles
mit „heim" bringen — ganze Kulturen und weite, grosse
Lebens -Perspektiven! S e i n Resultat aber? Es scheint
zuletzt lediglich dieses: dass er seinen Vater, Richard
den Grossen, in so reichlich alberner Weise fast nur kopiert,
und dass er zu diesem, gelegentlich odiosen Operetten-
Milieu (aus jener historischen Zeit der wilden
Parforce-Jagden und der herrischen Menschenversklavung
des 18. Jahrhunderts, da die Unterthanen nur wie ein
Stück Vieh behandelt wurden und der Bauer, dessen
Felder man mit diesem Treiben gewissenlos verwüstete,
im Vorbeihetzen eins mit der Peitsche noch abbekam)
— nur zu häufig eine womöglich noch läppischere
Musik zu machen beliebt. Der einzig annehmbare An-
klang an eine „Kultur des Südens" lässt sich da allen-
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Der Erbe.
511
falls noch aus den etwas unbeholfenen Versen heraus
lesen (Text S. 49):
„An meerumrauschte, prangende Ufer,
Wo heiter die Menschen, wo funkelnd der Wein:
Da lässt es sich, Mädchen, gar besser sein!"
Dürfen wir das — trotz des schlechten Deutsches —
vielleicht als erste Ansätze, als leise Regung bei Jung-
Siegfried zu einer mehr romanischen, voraussetzungs-
losen Weltauffassung „jenseits von Gut und Böse*'
deuten und den Sohn R. Wagners dereinst noch einmal
freudig im Nietzsche- Lager, als den enthusiastischen
Parteigänger etwa der „gaya scienza" einer heisseren
Zone, begrüssen? Oder sollen wir einen ureigenen
Ausdruck seiner augenblickliehen politischen Ge-
sinnung etwa darin suchen, dass er mit den energischen
Worten des „deutschen Michels" Christoph Kern (S. 2):
„Statt des Schachers über's Meer,
Unsre Burschen dort zu fallen,
Besser wlr*s, wir könnten — hör*!
Unsre Felder fromm bestellen,
Die von adeligen Pferden
Gar so gern zertrampelt werden!"
zu unserer neuzeitlichen „Weltmachtpolitik" in Ostasien,
und in dem „emphatischen" staatsmännischen Bescheide
des alten Fuchses, Blank mit Namen (S. 4):
„Für sich mögen Briten raufen!
Nimmer darf man Euch verkaufen!**
zum Buren- Engländer- Krieg in Südafrika Stellung zu
nehmen sucht? Ist es wirklich seine innerste, so un-
gefähr „artistische" Überzeugung, was er seinen „Herold"
im dritten Aufzug (Text S. 92) laut allem Volke ver-
künden lässt:
„Mummenschanz und Fastnachtsspiel
Ist des Lebens ganzes Ziel?-
Und begreift es wirklich seine ganze Ansicht vom
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512
Wagneriana. Bd. III.
Leben, seinen subjektiven „moralistischen" Standpunkt
durchaus in sich, wenn er mit Anzengruber das „vierte
Gebot" anarchisch-liberal dahin revidiert:
„Väterchen, Du musst stets artig sein!". . .
„Es ist des Vaters erste Pflicht:
Gehorsam seinem Kind!4»
(Vergl. Text S. 53 f.).
Höchstens noch Hesse sich, in sozial-ethischer
Beziehung endlich, eine Art geistiger Entwicklung bei
Jung- Siegfried feststellen, von einer „herrenmensch-
lichen", streng individualistischen Befürwortung der
Prügelstrafe im ersten Akte — vergl. dazu den Zorn-
ausbruch des Herzogs in den Worten (Text S. 25):
„Prügel sind, wo icb's traf,
Immer noch die beste Straf!
Diesem zwanzig, jenem zehn —
Gebessert sie nach Hause geb'n!" —
bis zur kniefällig -romantischen Anbetung und einer
stock -konservativen, reaktionären Verehrung altruisti-
schen „Königtums", wie es sich in der Schlussapostrophe
ausspricht mit den schön gebauten Versen des ver-
zückten „Volkes":
„Wie im Himmel wir dort oben
Unsern Herrgott dankbar loben,
Hier auf Erden mit frohen Weisen
Unsern Herzog lasst uns preisen!" —
bezw. ganz zuletzt noch zu wahrhaft rührender „Harmonie
der Weltschöpfung** sich verdichtet in dem „heiligen**
Versprechen eines also „frei** erwählten und „allseits
geliebten** Fürsten:
„Ruhend auf des Schmerzens Stein,
Geätzt mit wehmutsvoller Pein,
Erheb* sich neugefugt ein Bau,
Der auf zum Himmel ragend schau'!
Nicht düster drohe seine Mauer!
Sein Anblick wecke keinen Schauer!
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Der Erbe.
513
Mild und fest, in ernster Freude,
Steh' das lichtvollste Gebäude!
Zu neuem Leben im Herzen die Kraft
Neu werde nun, und froh geschafft! —
Die ihr mich umringet: Hört! Wohlan!
Als Euer Herr dien* ich fortan."
Nur freilich wäre solchen rückständigen VelleTtäten
mit Nachdruck heute doch entgegen zu halten, was
schon Friedrich Nietzsche („Jenseits v. G. u. B.",
Aph. 199) eindringlich genug unserer Zeit gepredigt hat:
„Denkt man sich den H e r d en - 1 n st i n k t einmal bis
zu seinen letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen
endlich geradezu die Befehlshaber und Unab-
hängigen; oder sie leiden innerlich am schlechten
Gewissen und haben nötig, sich selbst eine Täuschung
vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich, als ob
sie auch gehorchten. Dieser Zustand besteht heute
thatsächlich in Europa: ich nenne ihn die moralische
Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders
vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch,
dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Be-
fehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des
Rechtes, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von
der Herden-Denkweise her sich Herden-Maximen borgen,
zum Beispiel als erste Diener ihres Volks oder
als Werkzeuge des gemeinen Wohls."
Vielleicht würden wir es nicht „moralische
Heuchelei" mit dem Philosophen nennen, sondern
dafür lieber sagen: dass die Fürsten und Herrschenden
eben in moralischer Zwangslage sich heute befinden,
einer frommen Selbsttäuschung in unseren Tagen besten
Falles unterworfen bleiben. Allein wir sehen nach
Obigem schon klar genug: es besteht noch nicht die
geringste Gefahr bis jetzt für das „Bayreuther Erbe"
und das eingeschworene Wagnertum. Nein, nein, lieb9
Seidl, Wagneriana. Bd. III. 33
514
Wagneriana« Bd. III.
Vaterland magst ruhig sein! Siegfried, der Nachkomme
mit dem klangvollen Namen „Wagner", ist trotzdem ein
viel zu guter „Wagnerianer" — er wird noch lange
kein Zarathustra -Jünger werden. Wie schade I Die
«fröhliche Wissenschaft" für eine wahrhaft zeitgemässe,
feinkomische Oper wäre doch gerade dort — nicht
aber, meiner Ansicht nach, aus Dr. R. Batka's „fröhlicher
Tonkunst" einer etwas altvaterisch „Bunten Bühne" zu
holen.
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Erlösungsopern
Ein Ausblick
(1901)
„Sondern erlöse uns von dem Übel!"
Es ist nicht eine durchgeführte Abhandlung, was
ich zu diesem zeitgemässen Thema als Abschluss hier
noch geben will. Nur die schärfere Aufmerksamkeit, den
Blick „Gewitzigter" möchte ich im Nachfolgenden gerne
nunmehr hinlenken darauf, dass es vielleicht nicht nur
formale Fatalitäten, sondern inhaltliche, stoffliche Be-
denken gewesen sein könnten, was die „Wagner-Nach-
folge" zum Teil zu einer so schlimmen Wagner- Nach-
ahmung schon sich hat entwickeln lassen, so dass ein
Nietzsche Angesichts des musikalischen „Merlin" -Drama' s
seinerzeit von dem „Wagner- Affen" Goldmark mit einigem
Rechte bereits sprechen konnte. Nicht „Leitmotiv"
noch „Sprachgesang", nicht „sinfonisches Orchester"
und nicht die Eigendichtung des Textes durch den
Komponisten, bilden zuletzt die entscheidenden, charak-
teristischen Momente jener üblen Erscheinung, die man
mit dem Namen Wagner-Epigonentum bezeichnen kann.
Auch nicht die schon von Paul Marsop (in der „Neu-
deutschen Kapellmeistermusik") mit Recht als typisch
aufgegriffene Formel der Kritik Nach-Wagnerischer
Opern-Novitäten: „Der Komponist hat die ruhmvollen
Errungenschaften R. Wagners nicht ohne Geschick zu be-
nützen gewusst, ohne deswegen seine eigene Individualität
33*
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516
Wagneriana. Bd. III.
preiszugeben" — nicht sie ist das punctum saliens jener
verflachenden, arg zurück ebbenden Flutbewegung, die
sich vom Namen Richard Wagner in unserer „modernen
Oper* nun einmal her schreibt. Vielmehr, ich meine:
das Textliche, Stoff wie Sujet, ist der eigentliche Kern des
geistigen Verfalles, der Grund eines unfruchtbaren Tief-
standes der ganzen Bewegung, welcher sie naturgemäss
heute in zwei Lager (das der Konservativen und das der
Fortschrittlichen) trennen muss; und es will mir scheinen,
als ob sie beide eine allzu sklavische Abhängigkeit gegen-
über dem Vorbilde aufwiesen, die nicht länger mehr
einer psychologischen Analyse und ästhetischen Er-
örterung sich entziehen dürfe. (Wie denn schon einige
„Kunstwart" -Aufsätze von Gerhard Schjelderup,
der selbst mit „Sommermorgen tt oder „Der Liebe Macht"
darin seine eigenen Wege ging, etwas wie Ahnung dieses
Sachverhaltes in sich zu tragen schienen.) — Wir werden
nicht nur rein formal die „Oper" ausdrücklich dem
„Musikdrama" dabei gegenüber zu stellen haben; zwei
ganz verschiedene Welten werden sich uns von vorne-
herein aufthun, und mit ihnen die unsäglich tief greifenden
Unterschiede zweier heterogener Weltanschauungen
zugleich sich uns unverkennbar offenbaren . . .
„Erlösung" — dies war ja das grosse Haupt- und
Leibthema, das sich durch die Stoffwelten, will sagen:
die Dichtungen, eines R. Wagner hindurch zog; sie der
helle Leitstern, an dem sein Ideal sich immer wieder
neu aufrichtete. Und es ist ein weiter und langer, gar
bedeutsamer Weg, den der Schöpfer dieser Musik-
Dramen — von der „Erlösung des Helden durch das
Weib" über die „Erlösung des Ewig-Weiblichen durch
den Mann" (im „Lohengrin") hinweg — geistig zurück
legt, bis endlich in seinem Testamente, dem weihevollen
„Parsifal", zuletzt noch ein „Erlösung dem Erlöser!" als
höchster Wunsch erklingt und solches als idealer Ab-
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Erlösungsopern
517
schiedsgruss von dieser irdischen Welt dem Meister, in
Form eines Lorbeerkranzes der „Wagner- Vereine", sogar
auf sein eigen Grab gelegt ward. Ein solcher Daseins-
schmerz aber, mit der Sehnsucht über diese Welt hinaus,
mit dem Wunsche nach Selbstvernichtung und zum persön-
lichen Untergang, sowie der Verklärung des Leides durch
heldische Totenfeier — , er konnte doch nur erwachsen
auf dem Grunde einer durchaus tragischen Auffassung
des Lebens, des schweren Ernstes der Schopenhauer'-
schen Philosophie, als der Erkenntnis von der Nichtig-
keit dieser Welt des vorgestellten Scheines, wie ihrer
steten Überwindung durch die Kraft einer selbst-
mörderischen Verneinung des Lebenswillens. Der ek-
statische Zug zur Auflösung im Nichts, das müde, mürbe
Bedürfnis, krank und gebrochen, von sich selber los zu
kommen und, unfähig in dieser Welt sich zurecht zu
finden, ästhetisch-resigniert sich ein anderes, besseres
Dasein zu gestalten, sprach sich in diesem monumentali-
sierten Erlösunßs-Triebe und stilisierten Heilsdrange
ganz zuversichtlich aus.
War es nun wirklich einzig und allein der satanische
Hang zur „ironischen Antithese" (vgl. „Briefe"; Bd. I,
407), was einen Nietzsche ehedem dieser Kunstentwick-
lung in seinem „Fall Wagner" Bizets „Carmen"-Oper
kecklich gegenüber setzen Hess? Lag der in solcher
bewusst-unfreundlichen Handlung sich äussernde An-
tagonismus nicht doch vielleicht einigermassen tiefer, so
dass er als Credo eines neuen Lebensinhaltes zuletzt
heraus kommen, als Signal zugleich einer ideell von Grund
aus veränderten Situation berühren und als neue Welt-
anschauung im Ganzen und Besonderen begrüsst werden
dürfte ? — In der That, es lag etwas dem Ahnliches hier
zu Grunde, handelte es sich bei diesem scheinbar
nur hasserfüllten Akte doch um die innere Notwendigkeit
und inzwischen sicher heran gereifte Thatsache eines
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518 Wagneriana. Bd. III.
neuen, damals (1888) fast noch ganz unbekannten, philo-
sophischen Ideales. Nicht mehr das Genre des Zwei-
deutigen und der Zote, Frivolität oder Zynismus der
so genannten „leicht geschürzten Muse" stand vor uns,
es war einfach der ungewohnte und selbstherrliche,
aber freudig-heroische — ein „dionysischer" Pessi-
mismus der immoralistischen „gaya scienza", einer über-
strömenden Kraft gerade und uberfülle des Lebens,
was da in seinem Urteil über die „Carmen", als Exempli-
fikation seiner Lehre auf die Kunst seiner Tage, bei
Nietzsche sich meldete, was noch obendrein bei Hans
von Bülow später, gelegentlich einer Musteraufführung
des Werkes auf der Hamburger Bühne, mit einem
tragischen Akzente schattiert, lebendig-eindrucksvoll
vor die Augen treten sollte. „Jenseits von Gut und
Böse* stehend, vaterlandslos-zigeunerhaft, wildrassig im
Triebleben, sich selber Rechte nehmend und Gesetze
gebend, am herrischen Kraftmenschen, dem Stier-Sieger,
sich empor rankend und raubtierartig umher schweifend,
vogelfrei in der Welt herum flatternd, zudem unter süd-
licher Glut, einer mittelländischen lim-pidezza, „gekocht
im eigenen Safte" — sagt diese „Natur4*, selbst noch zu
ihrem dunkelsten Fatum, beherzt „Ja!", segnet und recht-
fertigt sie dieses ihr rosenumkränztes Leben, sogar bis
in den Tod hinein tanzend „auf leichtem Fusse", mit
einem jauchzenden „Trotz alledem — dennoch! Was
liegt an mir?" Hier wahrlich gab es nichts mehr zu
„erlösen", denn das war frei in sich, mitleidlos, ganz
nur Instinkt und Selbstbestimmung — ohne allen und
jeden „Gewissensbiss"!
Und das grosse, gesunde Leben schritt weiter. Es
stieg der stürmische „Verismo" unbändig-ungebärdigen
Jungitaliens mit seinem Einakter-Impressionismus herauf,
den Nietzsche, persönlichen Anteil nehmend, nicht mehr
sollte erleben dürfen. Allüberall eine überraschende,
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Erlösungsopern. 519
förmlich einschlagende Wirkung, wie als ob ein Wagner
gar niemals gewirkt hätte, und obwohl dieser Stil und
solche Art doch einem Bayreuther Ideale direkt in's
Gesicht schlagen mussten. Woher nun diese Wandlung?
Je nun, das Publikum — satt des trocknen Tones ewiger
Erlösungsinbrünste — jauchzte dem brutalen Naturlaute
selbst bis zu Mord und Totschlag, Dolch, Gift, Raubgier
und Liebesbrünsten offen zu, weil hier sich la bete humaine
in anarchisch-schöner Kraftentfaltung selbstherrlich-
nackt, ohne die europäisch-zivilisierte Moralverkleidung
nämlich, wieder einmal in frohlockender Stärke erging.
Es folgte des greisen Verdi „hl. Lachen" im „FalstafP *,
und man triumphierte m i t dem Alten, wie er da — ein
überlegener "Weltweiser, in wahrhaft göttlichem Lebens-
humor, wo Andere bei der Bigotterie anlangten — als
Letzter „am allerbesten" zu lachen wusste. Man besann
sich alsbald auch gerne wieder zurück auf Mozarts leichtes
ndramma gioc<m* einer mehr romanischen Kulturblüte
und Weltauffassung — auf jenes prickelnde, graziöse
Spiel vom dionysisch -überfrohen, Champagner- über-
schäumenden gleich sehr wie lebens-trunkenen, dabei
aber von Hause aus durch und durch aristokratisch
veranlagten Ritter „Don Juan". Und merkwürdig!
Obgleich Possart in der dramatischen Restitution und
dekorativen Restauration diesem gerade das weisse
Tugen d mäntelchen der älteren Schlussszene mit dem
Strafgericht, d. h. die „Moral der Geschieht vom
Bösewicht", jetzt wieder umhängte: man sah den vor-
nehmen, feinen, unersättlichen „Lebenskünstler* nun
doch wie plötzlich unter dem völlig veränderten Gesichts-
punkt eben jener hispanischen 9gaya scienza", welche über
4ie bornierte Welt der philiströsen Bedenklichkeit von
„Normalheim und Alltagsleben" frisch-flott-fröhlich-frei
immerdar geistes-gegenwärtig sich hinaus schwingt; man
konnte im Grunde nirgends mehr den „bestraften Wüst-
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Wagneriana. Bd. III.
ling" in ihm finden, wohl aber den „ unverwüstlichen
Wildling" eines aufrecht-stolzen Abenteurertums drauf«
gängerischer Konquistadorenart alsbald nur mehr an
ihm entdecken. Ihm war „alles zu Willen" — er selber
nahezu „ohne Furcht und Mitleid", aber auch ohne
Tadel! — Es kam hierauf noch der harmlos-muntere,
von Grund aus frischblütige Czeche Smetana mit seiner
anspruchslosen „Verkauften Braut" als eine neue, will-
kommene Nüance und besondere Note der Aufhellung
wie Aufklärung mit hinzu; der rede- und trinkselige
„Lortzing", höchstens nur bei der romantischen „Undine"
von des Erlösungsgedankens Blässe in seiner sonst so
übersprudelnden Laune etwas angekränkelt: auch dieser
Tote ward zu munterstem Leben wieder auferweckt, —
während wir vom Sullivan'schen „Mikado" (der aber
doch etwas Anderes als nur eine Mode-0 p e r e 1 1 e war)
oder von der Strauss'schen „Fledermaus" (die plötzlich
so Hoftheater-fähig wurde) im Übrigen hier erst noch
ganz absehen wollen. Kurz: es klang beinahe schon
wie eine „Erlösung von der Erlösung44, als Befreiung
von einem langen, lastenden Alpdrucke, was durch die
deutschen Lande und ihr nordisch-graues Nebelklima
nun plötzlich so sonnig gehen wollte.
Auch Richard Wagner hatte ja, zu glücklicher Stunde
einmal, das Leben statt mit dem bei ihm üblichen
„bösen", mit „gutem Blicke" angeschaut — in seinen
köstlichen „Meistersingern" bekanntlich; und Peter
Cornelius im fein-komischen „Barbier von Bagdad" vor-
dem, oder Hermann Götz in der drastischen „Zähmung
der Widerspänstigen" nachher, neuerdings auch noch
Sporck-Schillings mit dem tollen „Pfeifertag**, weniger
„ideal" Recnizek mit „Donna Diana" u. „Till**, Meyer-
Olbersleben mit dem „Haubenkrieg*, haben diesen
erfreulichen Grund-Akkord in unserem Opern-Spiel-
plane kräftiglich zu verstärken gesucht. Es waren
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Erlösungsopern. 521
überdies auch Hans Sommer, Eug. d' Albert, Wilhelm
Kienzl, Ludw. Thuille, S. v. Hausegger, Anton Urspruch,
W. von Baussnern u. A. mit entsprechenden, aber nur
mehr oder minder glücklichen Versuchen („St. Foix",
„Münchhausen", „Augustin", „Schloss der Herzen",
„Abreise", „Don Quixote", „Theuerdank", „Zinnober",
„Das Unmöglichste von Allem", „Herbort und Hilde"
etc.) noch zur Seite getreten. Allein, warum blieb das
zuletzt fast durchweg (wie auch jüngst noch die Mas-
cagni' sehen „Maschere") in einem mehr krampf-verzerrten
Gelächter der Grimasse so leicht stecken und verborgen?
Waren die Herren aus der grossen Schule der „Erlösungs"-
Nöte etwa zu ernst dazu geworden, um überhaupt noch
natürlich-herzhaft lachen zu können? Warum vollends
spannen die eigentlichen Adepten der „Wagner-Nach-
folge" (die Kistler, Sommer, Weingartner, d'Albert,
Pfitzner, Schillings, Humperdinck, Kienzl e tutte quanti)
immer und immer wieder das Erlösungs-Motiv sin-
fonisch als roten Faden weiter, ohne doch den Ariadne-
Faden daraus drehen zu können, welcher sie aus diesem
Minotaurus-( = Wagner-)Labyrinth zur freien Luft auch
eines musikalischen Plein-airismus als Komponisten
endlich heraus führen konnte?! Sollte es nicht ein
Manko der Weltanschauung gewesen sein, was sie
bislang dauernd am „Überwinden" verhinderte? Ein
cvrculus vüiosus gleichsam, in echt epigonenhaftem Fest-
sitzen auf dem romantischen Schopenhauer, dem pessi-
mistischen Mythos oder dem christlichen Märchen,
anstatt eines zeitbewussten Fortschreitens zum mo-
dernen Artisten- und AntiChristentum Nietzsche's,
welch* Letzterer dem durch und durch bejahenden, frei-
schöpferischen Künstler-Optimismus eines Theatralikers
und Musikdramatikers doch eigentlich ungleich näher
liegen müsste! Gewiss ist es nicht ohne Belang, dass
der »moderne" Richard Strauss innerhalb dieser «Wagner-
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Wagneriana. Ed. III.
Schule4* bisher so ziemlich der Einzige geblieben ist,
der schon in seinem musikdramatischen Erstlingswerke
„Guntram4' die entschiedene Regung zeigt, sich vom
Schopenhauer'schen Gängelbande frei zu machen, so
sehr er dort mit einem Fusse auch noch von jenem
dicken Wagnerischen „ErlÖsungs"-Schlamm im Vorwärts-
schreiten behindert erscheint (wie ich dies ausführlicher
in meinem Buche vom „Modernen Geist in der deutschen
Tonkunst", S. 72 ff., ja dargethan habe). Mit um so
grösserer Spannung durfte man daher seiner zweiten
Schöpfung innerhalb jener Welt der Bretter, welche für
diesmal eine ganze „Weltanschauung" schon bedeuten,
entgegen sehen — nämlich dem im Gegensatze zum
„Guntram" ganz unverhältnismässig viel leicht-sinnigeren
Opernwerke, welches sich „Feuersnot" betitelt und
einen durchaus burlesken Charakter aufzuweisen hat.
Allein, sind wir damit wirklich schon weiter gekommen?
Sind dadurch unsere Hoffnungen etwa schon erfüllt
worden? „Traurig wäre das, traun", wenn heute
komische Oper nur mehr Überbrett,l bedeuten sollte!
Auf jeden Fall verwechsele man nicht gallisch-würzigen
Humor ohne Weiteres mit galliger Satire — es würde
uns doch nur wieder auf die schiefe Ebene bringen und
ad absurdum führen! . . .
Wenn man nun aber Geza Zichy's ungemein packendes
Zirkus-Musikdrama „Meister Roland" als „tragische
Operette" gelegentlich bezeichnen zu sollen glaubte,
so hat man jedenfalls dabei vergessen: einmal, dass
schon der Leoncavallo'sche „Bajazzo" diese Bezeichnung
im Grunde verdient hätte; dann aber auch: dass Nietz-
sche' s grösster Fehler bei seiner Gegenüberstellung Bizets
und Wagners danach wohl der gewesen wäre, dass er
eine solche „tragische Operette" ernstlich mit dem
„tragischen Musikdrama" in Vergleich bringen wollte,
also gleichsam ohne rechtes tertium comparationi* über
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Erlösungsopern.
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seinen ehemaligen Helden und Heiligen Wagner ab-
urteilte. Da muss man sich denn doch lieber fragen:
Haben wir uns Angesichts jenes hohen Pathos der
heroischen Leiden- und Freudenschaften, des tragischen
Mythos und eines schwer-blütigen, dickflüssigen Melos
nicht überhaupt schon etwas zu sehr gewöhnt, von den
einfachen, rein menschlichen Gefühlen für den
Ausdruck der Tonkunst in unserem neuzeitlichen
Musikdrama abzusehen und alles der gleichen gering-
schätzig-unbesehen, ohne nähere Prüfung der psycho-
logischen wie ästhetischen Voraussetzungen, gleich in
das bequemere Schubfach der „Operette" einfach ab-
zuschieben? Schliesslich müsste ja dann alles, was
man in diesem Sinne nicht gut deklinieren kann, als
„Operette" alsbald angesehen, ja auch der Soccus über-
haupt dem Kothurne gegenüber für durchaus minder-
wertig, grundsätzlich ausgegeben werden, obwohl doch
aufgeklärte Geister, wie z. B. Schiller, einen gelungenen
Wurf in der Form der „Komödie" eigentlich für
schwieriger, wertvoller und ungleich bedeutsamer sogar
•als einen in der „Tragödie" seinerzeit erachten wollten!
Und: gilt es nicht, den „Geist der Schwere" nach-
gerade wieder zu überwinden? Wiederum, falls wir
Nietzsche darin etwa zu folgen vermöchten: soll und
wird am Ende gar P^ter Gast dieser „kommende Mann"
schon sein? . . .
Liebend gern wüsste ich wohl, welcherlei Em-
pfindungen in Wagner jun. seinerzeit rege geworden
sind, was sich gerade „Jung-Siegfried" alles dabei ge-
dacht hat, als er zu Paris vor einigen Jahren Charpentiers
dramatisierten musikalischen Hetärenroman „Louise" in
der dortigen „optra comique", wie man vernahm, bereits
kennen lernte! Zwei Welten, die beiden von mir im Obigen
kurz gekennzeichneten gegensätzlichen Weltanschauungen,
standen sich hier ofFenbar persönlich gegenüber in einer
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Wagneriana. Bd. III.
ganz gleichnamigen Heldin — steht ja doch auch im
Mittelpunkte des „Bärenhäuter"-Drama's ein „Luis'l"
als die aktive Hauptfigur des Ganzen! Hier also, im
leiblichen Erben unseres Bayreuther Meisters, das spe-
zifische Bayreuther Erbstück: das Weib als Erlöserin,
welche sich die „Rettungsmedaille" um den Mann ver-
dient; dort, im Vertreter einer romanischen Kunst-
und Kultur-Entwicklung, das realistische Lebens-Element
ruchlos-freizügiger „Boheme": ,,/a femme fatale*' — jen-
seits von aller Sittenpolizei ! Les extremes se touchent?
Lediglich auf diese knappen Fragestellungen kam
es mir diesmal an: Wer will, wer wird uns von
beiden Übeln demnächst befreien — unserer Kunst
diesen alten Wagner-Krampf hyperidealistischer „Er-
lösungen", und zwar ohne allzu naturalistische „Auf-
lösungen", glücklich alsbald lösen? „Eines nur will
ich noch: das Ende — das Ende!" Aber in etwas
anderem Sinn als Göttervater Wotan.
Herrose & Zic
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' OEC 0 6 2002
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