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Full text of "Das haus Erath; roman .."

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Das haus Erath 



Otto Stoessl 



3^-3 




Blau Memorial Collection 



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DAS 

1AUS ERATH 




ROMAN VON 

OTTO STOE SSL 

BÜCHERLESE-VERLAG-LEIPZIG 



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Das Haus Erath 



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DAS 

HAUS ERATH 

ROMAN 

VON 

OTTO STOESSL 

•i. 



BOCHERLESE.VERLAG LEIPZIG 



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Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten 
Für Amerika Copyright by Büdierlese* Verlag, Leipzig 1920 



Druck von Grimme *£) Trömd in Leipzig 



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Erstes Buch 
i. 

Das Erathsche Haus glich einem Baum in der Sommerzeit, 
der vielumschwärmt in der bewegten Luft rauscht In den 
niedrigen großen Werkstatten surrten die Webstühle und 
schlugen in regelmäßigem Atemzuge, um die bunten gemusterten 
Seidenbänder auszustoßen, deren Erfindung der nun schon lange 
verstorbenen Frau des Fabrikherrn August Erath zugeschrieben 
wurde. Dieses Haus war heute bewegter und wieder ruhiger als 
sonst; denn feierten zwar die Stühle, so waren alle Räume von 
Leuten durchschwärmt, die Privatwohnung, die Werkstatt, selbst 
das bis an die Decke mit goldrot schimmernden Kirschholz- 
schränken und -laden bestellte Geschäftszimmer, wo die Vor- 
räte an farbigen Seiden aufbewahrt waren. Hier bekamen die 
Spulerinnen sonst die glänzend bunten Haufen zugewogen und 
trugen die nachmals an eigenen Gestellen auf dünnen Spulen auf- 
gewickelten wie Fahnenjunker die Fahnen zurück. Von derStiege 
in dieses Herz des Hauses, von dort in alle anderen Zimmer 
bis in Hof und Garten ging eine muntere Bewegung von Leuten 
und Lauten, von Schwatzen, Lachen, Bewundern, Sichfreuen und 
Glückwünschen hin und wieder, und alles war in dieses Gesumme 
miteinbezogen, was im Hause lebte, selbst der Tuchscherer, der 
im Erdgeschosse wie ein Maulwurf hauste. 
Antonie, die älteste Tochter des verwitweten Herrn Erath, fei- 
erte heute Hochzeit. Man wunderte sich insgemein über die 
mäßige Partie, die sie machte, und erkannte doch wieder gerade 
daran die Bescheidenheit und Klugheit des Vaters, der in sei- 
nem Anspruch auch hier Maß hielt und wahrscheinlich die Tüch- 
tigkeit und den guten Leumund des Eidams gewählt und auch die 
Tochter so hatte wählen und gewählt werden lassen ; denn daß 
ihr allein keine Entscheidung zustand und daß die sanfte Antonie 
niemals gegen den Willen des Vaters entschieden hätte, wußte 
jedermann. 

Die Arbeiterinnen, die müßig und eifrig durcheinanderschwirrten 
und zusammentraten, die Spulerinnen und Weberinnen wußten 
vom Bräutigam, von Herrn Amersin aus Lichtenau nur, daß er 



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der Leiter einer Leinenweberei im oberösterreichischen Mühl- 
viertel und ein Kind armer Leute sei wie Herr Erath selbst. 
Er werde kaum in das Geschäft des, Schwiegervaters eintreten ; 
denn gleich nach der Hochzeit sollten die Vermählten nach 
Oberösterreich reisen, der ganze Hausrat war schon wohl ver- 
staut vorausbefördert Hatten doch alle Personen des „dienen- 
den Standes tf hier im Hause bei der Verpackung und Zurich- 
tung der Wagen geholfen, die schon vor etlichen Tagen unter 
Peitschenschallen und schweren Huftritten von rüstigen Pinz- 
gauerpferden davon befördert worden waren. Vor dem Hanse 
fuhren jetzt die leichten Fiaker klirrend an, die Kutscher mit 
Kosen im Knopfloch. Die sogenannten Familien- und Haus- 
freunde versammelten sich, die Männer in schwarzen Fräcken 
und weißen Halsbinden, die Frauen in seidenen Kleidern und 
Kapotthüten zur Gratulation in der Wohnung. Sie wurden von 
Herrn Erath empfangen und taten freundschaftlich wissend und 
vertraut, die Männer, als handle es sich um eine selbstverständ- 
liche, wenn auch feierliche Geschäftssache, die Damen herzlich 
gefühlvoll. Die älteren unter ihnen seufzten und gedachten, mit 
Wehmut zum Bilde der verstorbenen schönen Sabine Erath auf- 
blickend, der großen Freude, die der Seligen heute zuteil ge- 
worden wäre, wenn sie sie hätte erleben dürfen : die liebe An- 
tonie, ihre älteste Tochter einem so tüchtigen Manne angetraut 
zu sehen. Untereinander fragten sie freilich : Wer ist denn die- 
ser Amersin, und woher hat sich ihn Erath verschrieben? Diese 
Eraths mußten ja immer irgend etwas Besonderes haben und 
vorstellen und etwas anderes als alle anderen. Frau Haßl aber, 
die wie ein Stückfaß von einer Gruppe zur anderen rollte, be- 
ruhigte oder beunruhigte die Fragenden mit der Behauptung, 
Herr Amersin sei ihr Geschäftsfreund seit Jahren, vermittle ihre 
Leinenkäufe in Oberösterreich und sei auf ihre höchsteigene 
Anregung im Erathschen Hause erschienen. Daß er sich hier 
wohl gefühlt und an Toni Gefallen gefunden habe, sei zwar ihr 
— Frau Haßls — Werk und Verdienst, aber bei Tonis Vor- 
zügen wieder durchaus selbstverständlich. Auf ähnliche Weise 
pflegen weltkundige Theologen ja auch sonst gerne die Wunder 
der Zeit auf natürliche Vorgänge zurückzuführen. 
Sabine Erath, die da lebensgroß in der Mitte der Längswand 
des großen, nicht sehr hellen, niederen Speisezimmers im gol- 
denen breiten Rahmen hing und auf die Nußholzkredenz, auf den 

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ovalen Tisch und die steiflehnigen zwölf Sessel mit Rohrgeflecht, 
auf die Petroleumhängelampe mit dem rosa Seidenpapier- 
schirm und auf den aus bunten Flicken zusammengenähten 
Teppich herabsah, tat dies mit der eigentümlich gleichgültigen 
strengen und sachlichen Miene, die ihr eigen war, seitdem sie 
da oben hing. So hatte sie der Maler wohl zu Lebzeiten gesehen : 
schön, ja üppig mit den blanken abfallenden Schultern in dem 
weißen Seidenkleide und mit dem gescheitelten schwarzen Haar. 
Da das Bild auf dem üblichen „Wiener Grund" gemalt war, 
glänzte das Haar besonders frisch und leuchtete die Farbe der 
Haut, perlmutterschimmernd an den Schultern, eindringlicher, 
als wahrscheinlich im wirklichen Leben. Nur die graugrünen 
Augen blickten starr, ohne Freude, aber auch ohne Geheimnis, 
gleichgültig, aber voll Entschiedenheit über die Beschauer ins 
Leere, als gäbe es keine Leidenschaft, der eine schöne Frau 
sich überlassen dürfe, sondern nur eine selbstverständliche an- 
erkannte Reihenfolge vorgeschriebenerEmpfindungen und Hand- 
langen. Oder wußte sich doch eine tiefverhaltene Leidenschaft 
und ein in dieser stolzen Brust engverschlossenes Gefühl hinter 
der würdig gleichmäßigen Haltung so zu verbergen ? Auch die 
Gebärden und Gesichtszüge der Menschen einer Zeit haben 
ihre Mode, auch das scheinbar Höchstpersönliche unterliegt 
gewissen Gesetzen des zeitlich üblichen und anerkannten, gar 
bei begrenzten bürgerlichen Lebensverhältnissen. Auch wenn 
die Selige da oben diesen Tag erlebt und in diesem Speise- 
zimmer, dem höheren Alter gemäß, in schwarzer Tracht statt 
in dieser weißen Jugendseide, ein Battisttaschentuch in der 
Hand und ein Bukett an der Brust, heute leibhaftig die Glück- 
wünsche und Küsse der gleichaltrigen Mütter entgegengenom- 
men, den Freunden des Gemahls die Fingerspitzen gereicht, 
die Gefährtinnen der Töchter in ihren weißen Satin- und Tar- 
latankleidchen begrüßt hätte, vielleicht wäre sie um eins heite- 
rer und und umgänglicher erschienen, mit einer gebührenden 
Träne, mit standesgemäßem Seufzer ins Ungewisse gefühlvoller, 
aber zu irgend einem Überschwung wäre es bei ihrer gewohnten 
Fassung kaum gekommen. Nicht einmal der Braut und Toch- 
ter gegenüber wäre eine äußerste Vertraulichkeit, eine leiden- 
schaftliche Gleichstellung des weiblichen Schicksals erlaubt er- 
schienen, sondern gewiß nur die Fassung der stolzen Mutter, 
die sichere Haltung der Vorgesetzten und die Strenge der 

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Schicklichkeit, die selbst hier die Grenzen für sich, aber auch 
für das Kind eingehalten hätte, innerhalb deren jeder eben sich 
selbst helfen nnd sehen muß, wie er weiter tut und leidet, was 
zu tun und zu leiden ist 

Aber das bleibt immerhin Vermutung, wer weiß, was ein leben- 
diger starker Mensch, gar eine schöne Frau und Mutter in sol- 
cher lebensvollster Stunde getan und gelassen hätte, und wer 
wüfs aus einem mäßigen Porträt eines zeremoniösen Malers 
der Fügerschule in einem halbdunkeln Speisezimmer mit Mull- 
vorhängen und Nußholzmöbeln so sicher entnehmen? Auch 
August Erath, der Witwer und Brautvater, stand heute in vollem 
Leben ähnlich da und hielt sich ähnlich: streng, freundlich, 
aber ohne Vertraulichkeit, lächelnd, doch ohne Empfindelei, 
gemessen und würdig, hochgewachsen, mit grauem kurzemVoll- 
bart um die rosigen Wangen. Seine Haut hatte etwas Birken- 
rindenzartes, aber auch Sprüngiges. Sein blondes, schon ins 
Weiße und Fahle schimmernde Haar war noch dicht und seine 
blauen Augen blickten kühl und fern, ohne daß man glauben 
durfte, sie fänden oder suchten in der Weite irgend etwas in- 
ständiger als in der Nähe. Er war sogar heute einsilbig und 
in seiner Nähe versank bei den meisten Leuten der Vorsatz 
umständlicheren Gespräches. Über das unbedingt Gebotene 
kam es nicht hinaus. So standen die Geschäftsfreunde, zugleich 
langjährige Gefährten seiner Fußwanderungen um ihn und war- 
teten auf die Töchter und auf den Aufbruch zur Kirche. Er 
fertigte die Glückwünsche der Damen ab, die einst noch seine 
Frau gekannt hatten. Der alte Christian Frantzl, Inhaber des 
angesehensten Neubauer Seidenhauses, ein Mann von bewähr- 
tem Reichtum und schon von altersher im Besitz und Ruhm, 
ein dicker behaglicher Mann mit weißer geblümter Weste, Gold- 
kette und einem feisten, zugleich würdigen und komischen, 
glattrasierten Gesicht war mit seinem ältesten Sohne erschienen 
— eine große Ehre — und überschüttete den schlanken, auf- 
rechten Erath mit einem Schwall von Witzen, Glückwünschen, 
Anspielungen, in welche der Sohn einfiel, ein magerer, rot- 
nasiger Mensch, der mit einer fliegenden Krawatte, glattem, in 
die Schultern fallendem Haar und zausigem blondem Barte, in 
seinem etwas schlotterigen Frack einem fahrenden Musikanten 
gleichsah und einen sozusagen ungezwungenen Ton in die 
Zeremonie des Tages brachte. Daß August Erath sie mit der 

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gleichen einsilbigen, lächelnden, nur ihrer Bedeutung entspre- 
chendtieferen and dankdurchdrungeneren Verbeugung empfing, 
anhörte und ihnen schon längst entrückt schien, als sie noch 
immer in ihren lustigen Bücklingen und Scherzreden fortfuhren, 
hinderte sie nicht in der sozusagen virtuosen Ausführung ihrer 
gesellschaftlichen Gebärden- und Redekunst Vater und Sohn 
Frantzl durften schon so unbekümmert loslegen ; wo sie waren, 
stand es gut, und wem sie Glück wünschten, dem konnten sie 
dazu — wenigstens in geschäftlicher Beziehung — auch ver- 
helfen. 

Eraths Miene nahm etwas Strenges an, als sein junger Neffe, 
Wilhelm Alter, den Zylinder in der Hand, linkisch gratulierte 
und ihm die Hand küßte. Man erkannte die Verwandtschaft 
der beiden auf den ersten Blick, nur war Wilhelm achtzehn- 
jährig und biegsam, der alte Erath steifbeinig und nicht nur 
von Selbstzucht mit Willen, sondern auch wegen seiner Jahre 
halsstarrig. Der fast noch knabenhafte Mensch errötete voll 
erster Jugendglut und hatte braune, empfindsame Augen, die 
leicht unter Wasser kamen, einen zuckenden, schmallippigen 
Mund und die mühsam zusammengehaltenen Kleider der Ar- 
mut Erath war dereinst aus Schwaben eingewandert, hatte 
hier sein Glück begründet und dann manchen aus der Freund- 
und Verwandtschaft nach Wien gezogen, darunter auch diesen 
Schwestersohn, der sich nun auch als Kaufmann versuchen 
sollte, aber im Geschäfte Eraths nicht sehr gut tat Eigentlich 
verlangte es ihn nach Höherem, er wollte Lehrer werden. Dazu 
hätte er freilich für ein paar Jahre die Unterstützung des On- 
kels gebraucht Doch verweigerte sie Erath. Er hielt nicht viel 
vom Lehrberuf, es sei dafür auch zu spät, er wolle dem Neffen 
auf jede Weise helfen, aber nur zu einer ordentlichen kommer- 
ziellen Laufbahn. Die beiden mochten erst kürzlich wieder 
eine Auseinandersetzung über diesen Gegenstand gehabt haben, 
denn Wilhelm sah gedrückt und demütig, der Oheim streng 
drein, indem sie einander begrüßten. Aber das beachtete kei- 
ner, denn Christian Frantzl lachte mit seinem Baß dazwischen, 
sein Sohn Heinrich schlenkerte herum und Frau Haßl, Sabine 
Eraths liebste Freundin, wie sie gefühlvoll und kurzatmig be- 
teuerte, knixte und keuchte, seufzte, weinte und lachte, Glück 
und Segen wünschend und nach tausend Dingen fragend, da- 
zwischen, wie eine Pute kollernd, so daß Wilhelm sich rasch 

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an ein Spiegeltischchen in einem Fensterpfeiler geschoben sah, 
wo er still sinnend sich selbst überlassen blieb, von niemand 
gesucht oder bemerkt, als höchstens vom Auge des Erzählers, 
der gern etwa auch solche abseitige Nebenfiguren in den stillen 
Winkeln seiner Geschichte betrachtet. 

Eine Deputation von Arbeiterinnen in Festkleidern überreichte, 
der altvaterisch zutraulichen Zeitsitte gemäß, gar ein Hochzeits- 
geschenk : einen breiten Goldrahmen mit Glassturz zur Aufbe- 
wahrung des Myrtenkranzes und wurde gleich freundlich fern 
bedankt und entlassen. 

Ein anderer aber ging vertraulich und überströmend, eifrig und 
beflissen händeschüttelnd, sich verbeugend und in Lachen und 
Reden je und je ausbrechend, von einem Gaste zum anderen, 
als verheirate er seine eigene Tochter, das war der bucklige 
Adam Hirt, mit einem gescheiten stoppelbärtigen beweglichen 
und gerührten alten Affengesicht. Er stak als ein gewandtes 
Klappergerüstchen in überlangen faltigen Kleidern und fühlte 
sich wunderbar genug als Herr und als Knecht hier, aber in 
beiden Eigenschaften gleich zufrieden. Adam Hirt war August 
Eraths Jugendgenosse und mit ihm am gleichen Tage und neben- 
hertrabend in Wien eingewandert Das gleiche Bündel mit 
weniger als sieben Sachen drückte die Schulter des geraden 
wie des krummen Gesellen, und sie hatten einander gelobt, 
wer es zuerst in der fremden Stadt zu etwas Rechtem bringen 
werde, der wolle den anderen bei sich aufnehmen und dieser 
minder Glückliche werde willig bei dem Reicheren Dienst tun. 
Nun war August als der rüstigere und stattlichere von Anbeginn 
im Vorsprung vor dem armseligen, wenn auch anschlägigen und 
heiteren Männchen. Den Vorsprung behielt er denn auch und 
kam bald auf seinen grünen Zweig. So zog er den Adam Hirt 
in sein Geschäft, und der war, obgleich vor der Welt nur eben 
Hausknecht und Faktotum, doch der alte Bruder der Lebens- 
wanderung und nächste Vertraute geblieben. Er wurde auf 
seinen eigenen Wunsch, der jede Erhöhung ablehnte, zu allem 
verwendet, was es an gelegentlicher Hausarbeit gab; denn mit 
der Weberei verschonte man den schwächlichen Mann und auf 
Bücher und Schreibwerk ließ er sich nicht gerne ein. Also 
spaltete er Holz, heizte die Öfen, kehrte die Werkstätten und 
ließ auf ihren Fußböden aus einem Trichter allmorgendlich 
schöue Spiralen, Ringe und andere Figuren erstehen, bürstete die 

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Kleider der ganzen Familie, patzte so viele Paare große und 
kleine Schuht, als aaf dem Gange in Reihen auf ihn warteten, ' 
führte die Kleinen in die Schule, nicht ohne jedem zum Ab- v^"" 
schied einen rotwangigen Apfel aus der Rocktasche zu verehren y 0 * ^ 
und sich dafür einen Kuß auf die jungen Wangen des Betrof- 
fenen zu erlauben, einen Kuß, den man mit Geduld, Achtung 
und Grauen erlitt, denn der zahnlose Mund war nicht eben 
verlockend, und die Stoppeln kratzten die zarten Wangen, aber 
wer hätte sich diesem alten Adam mit Unwillen, gar mit Ekel 
entzogen? Er bestellte den Garten, der sich, langgestreckt und 
hochgelegen, hinter dem Hause mit blähenden Sträuchern, 
einem alten Apfel- und einem Nußbaume bis zu einem glas- 
wandigen Häuschen an niedriger Abschlußmauer hinzog. Die- 
ses Gartenhäuschen war erst kürzlich mit Hilfe des selbigen 
Adam für August Erath, den Jüngeren, den einzigen Sohn des 
Chefs erbaut worden. Der junge Mann studierte an der Tech- 
nik und hauste allein oder mit gelegentlichen Bundesbrüdern 
in diesem heizbaren, mit Rappieren, Gesichtsmasken, Fäust- 
lingen, Studentenphotographien behängten Sälchen. Am Flügel 
wurde gespielt und gesungen und bei Punsch oder Wein mit 
Zustimmung des alten Herrn ein gemäßigtes Räuberleben ge- 
führt, w ie es der Vorstellung einer bürgerlichen Phantasie vom 
Sturme der Jugend eben entsprach. Der Adam Hirt war in 
alle streng vertraulichen Angelegenheiten des Erathschen Hauses 
selbstverständlich eingeweiht, und keine wichtige Entscheidung 
wurde ohne ihn getroffen. August Erath trat in solchem Fall 
zu seinem buckligen, kleinen, grinsenden und beweglichen Hof- 
narren Adam Hirt, wo er ihn fand, auf der Stiege beim Stiefel- f % „ 
putzen oder im Garten zur Beratung, wo sie nebeneinander 
gingen, so daß ihre Schatten über Kies und Rasen durchein- 
ander glitten, der hohe, dünne, gerade, magere und der ver- 
wachsene. Erst nach einem solchen Gespräch wurde etwas 
Bedeutsames getan oder gelassen. Auf seinen täglichen Spazier- 
gängen aber blieb Erath in standesgemäßer Gesellschaft oder 
ganz allein, da kam der alte Adam Hirt nicht mit, denn es wäre 
beiden nicht schicklich erschienen. 

Adam Hirt wand sich rasch durch das Gewirr hindurch, dem 
künftigen Erathschen Schwiegersohne entgegen, der eben ein- 
trat, und obgleich nur klein gewachsen, auch unter vielen Men- 
sehen sonst durch eine in Schritt, Haltung und Gebärde aus- 

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gedrückte Sicherheit und Fassung aufgefallen wäre. Er erschien 
seiner selbst, der Welt und der Menschen gewiß, als ob er auch 
in schwierigen Lagen berufen und bereit sei, Ordnung zu ma- 
chen und Ungemäßes auf gleich zu bringen. Breitschultrig hatte 
er, obgleich kaum über dreißig, schon eine gewisse Fülle an- 
gesetzt, das Haar begann hinter die Stirne zurückzutreten, die 
mit ihrer Glätte und Wölbung bedeutend war. Er trug einen 
kurzen Vollbart um das braune runde Gesicht und stellte sich 
den Anwesenden mit aufrichtiger Munterkeit vor, lachte zu 
Christian Frantzls Geschichten, führte dabei Adam Hirt am 
Arm, ließ sich von Frau Haßl anjauchzen, tauschte mit seinem 
Schwiegervater einen einverstandenen Blick und Händedruck 
und meinte: „Je nun, wir könnten anfangen. Toni ist natürlich 
noch nicht fertig." Erath zuckte die Achseln: Immer die alte 
Geschichte. Frauenzimmer kämen stets um eine Stunde zu 
spät, als sei es so Rechtens. 

Christian Frantzl sagte: „Sie sind auch später als wir auf die 
Welt gekommen, wenn ich mich recht erinnere. Erscheinen 
sie aber endlich, so haben sie viel zu sagen, nicht wahr, Frau 
Nachbarin?" womit er sich an die Haßl wandte. 
„Ich will nach den Kindern sehen!" sagte Adam Hirt und brach 
in die Nebenzimmer ein, er durfte es sich gestatten, die Mäd- 
chen statt in die Schule einmal zur Hochzeit abzuholen. 
Da kamen aber die vier Töchter des Hauses Erath schon bei 
der Türe herausgeschritten, so daß Adam Hirt wie ein buck- 
liger Zwerg die Schnalle hielt und sich unwillkürlich vor der 
hochzeitlichen Herrlichkeit verneigte. 

Als erste die Braut, Antonie, verwirrt und rosig unter dem 
Schleier und im Seidenkleid, mit braunem Haar und einem 
runden, frommen Kindergesicht, dessen freundliche braune 
Augen rasch unter den Anwesenden den Bräutigam suchten, 
fanden und dann beruhigt alle übrigen begrüßten, hinter ihr 
und einen halben Kopf größer, darum schlanker, stattlicher, 
aber auch strenger die zweite Tochter, Elisabeth, eine voll- 
endete Dame, auf die Heinrich Frantzl schlenkernd und die- 
nernd zukam. Sie aber sah ihn mit einem zweifelnden Lächeln 
an. Sie trug das blonde reiche Haar wie eine Krone, und ihre 
Züge waren, obgleich jung und kindlich, doch schärfer ausge- 
prägt, als Antoniens, sie hatte des Vaters birkenrindenzarte 
Haut, blühende Wangen und blaue, kühlblickende Augen. 

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Die dritte, Charlotte, war von den Schwestern die kleinste, 
schwarzhaarig mit scharfen Zügen, grünen dunkeln Augen und 
einem ausdrucksvollen, großen Munde. Sie ging neben der 
jüngsten, Agnes, einem eben den Kinderschuhen entwachsenen 
mageren, fünfzehn- oder sechzehnjährigen Mädchen. Charlotte 
schien jemand zu suchen, wahrend sie die Anwesenden begrüßte 
und begrüßt wurde. 

Amersin, der dies bemerkte, trat lächelnd auf sie zu: „Ei, Fräu- 
lein Schwägerin, noch ohne Kavalier, da muß und darf vielleicht 
gar ich dich führen.** 

„Wir gehen schon allein unseres Weges, nicht wahr, Agnes?" 
Die Jüngste nickte überzeugt und hing sich in den Arm der 
Älteren, als ob sie mit ihr ernstlich als weibliches Paar weiter- 
ziehen wollte. Charlotte flüsterte ihr zu: „Er ist und bleibt 
doch ein Bauer.** 

Da kamen endlich die vermißten Kavaliere mit Stiefelknarren 
und als Hauptpersonen: August, der einzige Sohn des Hauses, 
und seine Bundesbrüder, ein ansehnlicher Fuchsmajor darunter 
mit gewichsten Stulpenstiefeln, einem breiten Fuchsbarett auf 
dem Kopfe, den Schläger mit rundem Korb an der Seite, ein 
kluges, schrammiges Gesicht: Herr Amberg schob sich gleich 
zu den Schwestern vor, bemächtigte sich mit einer kurzen Ver- 
beugung und selbstverständlich wie in alter Kameradschaft des 
Armes von Charlotte, die wohl ihn erwartet haben mochte. So 
stand Agnes nun allein da, wie sie sich verschworen hatte. Als 
Wilhelm sie von seiner Fensternische her so verlassen sah, gab 
er sich einen Ruck und trat auf sie zu, verbeugte sich tief und 
bot ihr den Arm. Aber Agnes sah ihn lächelnd und abweisend 
an, daß er sogleich zurückwich, indes sie hinter den Schwestern 
allein ging, bis sie sich in ihren Bruder August einhängte. So 
ordnete sich der Zug und schritt über die Stiege hinab zu den 
Fiakern, an einem Spalier von wartenden Straßengaffern vorbei, 
von der vorwitzigen Volksstimme beurteilt, bewundert und selbst 
im Spotte geachtet Adam Hirt machte den Ausrufer und ver- 
teilte die Gäste auf die Wagen. 

Antonie suchte mit ihren Augen den Bräutigam, der Frau Haßl 
als die beglückte Urheberin seines Glückes und gewissermaßen 
als Vertreterin der verewigten Brautmutter zu führen hatte. Er 
nickte Antonie zu, da lächelte sie und stieg an des Vaters Seite 
in den Wagen. 

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In der kellerartigen Sakristei der Schottenfelder Kirche, die 
durch ein Gitterfenster auf alte, starke, begrünte Ahorne in 
einem Hofe und auf Amseln in den Ästen und Spatzen auf dem 
Erdboden sah, kniete endlich Antonie neben Amersin, und ihr 
Ja auf die Frage des Priesters klang laut, entschlossen und 
freudig durch den Raum. Charlotte schüttelte den Kopf, als 
wundere sie sich, wie ein Mädchen, eine Erath, so froh zu sol- 
chem Verluste der Freiheit und zur Ehe mit einem solchen 
Bauern ja sagen möge. 

Elisabeth, die neben dem jungen Frantzl stand, schaute zu 
Boden und schien unbewegt, Agnes weinte still und dachte: 
„ Wildfremd I u Die Neuvermählten fuhren zur Bahn. 

2. 

Die drei ledigen Schwestern Erath hatten mit ihren Freundinnen, 
lauter gleichaltrigen und gleichgestimmten Neubauer Bürger- 
töchtern, einen Bund geschlossen. Sie waren übereingekommen, 
ledig zu bleiben, um selbständig und unabhängig das Leben zu 
genießen, die Anregungen der Bildung, die Werke der schönen 
Künste, insbesondere der Musik, aber auch der Poesie auf- 
zunehmen, ein gelegentliches Vergnügen durchaus nicht zu ver- 
meiden und so fort Sie wollten allerhand lernen, soweit es 
mit den angenehmen Gewohnheiten des Daseins vereinbar war 
und bereiteten sich für die Lehramtsprüfung in der französischen 
Sprache vor, denn das galt damals als der höchste mögliche 
Grad standesgemäßer weiblicher Unabhängigkeit. Mit den 
Freunden des Bruders im Gartenhäuschen wurde ein kamerad- 
schaftlicher munterer Verkehr von gleich zu gleich gepflogen, 
man schwärmte für Felix Dahn und verschlang die „so wissen- 
schaftlich interessanten tf ägyptischen Romane von Ebers, im 
Glasschrank des Mädchenzimmers häuften sich steifleinenge- 
bundene, mit gepreßten Lettern und Goldschnitt geschmückte 
Literaturerzeugnisse der Zeit, die in Kaffeeversammlungen eifrig 
besprochen, sogar gelegentlich gemeinsam gelesen wurden. 
Wenn im „Kunstverein" in den Tuchlauben ein Sensationsbild 
ausgestellt war, erschienen die drei Schwestern Erath Arm in 
Arm und betrachteten Munkacsys „Christus vor Pilatus" oder 
andere Kolossalgemälde. Und auch darin waren sie einig, daß 
keine von der Ehe etwas wissen, am wenigsten einen Bauern 
wie diesen Amersin heiraten wollte, trotzdem sie im Grunde 

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mit ihm in beBter Freundschaft standen und einen ausdauernden 
Briefverkehr mit Lichtenau pflegten, Amersin schien das Haupt 
der dortigen lebenskünstlerischen Bestrebungen. Mit seiner 
jungen Frau an der Spitze aller geselligen Unternehmungen, 
richtete er Liebhaberaufführungen ein, spielte den Ferdinand 
in „Kabale und Liebe**, den er auch auf seiner einstigen Wander- 
burschenzeit bei einer vorübergehenden schauspielerischen 
Tätigkeit in Scheunen und Dorfgasthäusern „hingelegt** hatte, 
veranstaltete Schlittenfahrten oder Gesangsfeste und berichtete 
hierüber voll Stolz nach Wien, wie er wieder von den Schwestern, 
den Schwägerinnen in ihren städtischen Angelegenheiten als 
der weltkundigste Vertrauensmann zu Rate gezogen wurde, da 
sie ja daheim niemand hatten, den sie befragen konnten. Der 
Vater Erath war zu fern, der Bruder August zu jung und zu sehr 
in seinen studentischen Dingen befangen. Hingegen verstand 
Andreas jeden Spaß und Emst, und man brauchte sich nicht 
zn schämen, wenn man ihm etwas sagte, war und blieb er doch 
der „Bauer 4 *, den man aus Patrizierhochmut sozusagen grund- 
sätzlich schätzte, aber zugleich immer von oben herab. Dabei 
bedauerte man Toni, die in drei Jahren zwei Kleine bekommen 
und in einem verlassenen Weltwinkel eine Wirtschaft mit 
Waschen, Kochen, Windeltrocknen und Kinderkrankheiten, 
mit Sorgen um Milch und Darmkatarrhe und Provinzklatsch zu 
führen hatte. Anderseits versetzte man sich freilich im Geiste 
voll Sehnsucht und Vergnügen in die munteren Abenteuer dieses 
ländlichen Nestes, wenn man sich in der Abgeschiedenheit und 
Sparsamkeit des Wiener Lebens uneingestanden , aber heftig 
langweilte. 

Und welche schöne Sommer verdankten sie gerade diesem 
Bauern und der Ehe ihrer geliebten Toni mit dem zugleich ver- 
trauten und geringgeschätzten Amersin! Wie der Mai kam, 
reisten sie zu ihnen ins Mühlviertel und zogen, dem hohen Adel 
vergleichbar, der nach der „Saison** seinen ländlichen Groß- 
grundbesitz aufsucht, mit den schönsten Sommerkleidern, mit 
bebänderten und beblümten Hüten, mit äußerst „dezenten** 
Badekostümen, mit einigen Paketen interessanter Bücher, mit 
mannigfachen Seidenspulen, Stramin und Klöppelgarnituren zur 
eifrigen Handarbeit und mit den tausenderlei goldenen Nixchen 
in den silbernen Büchschen ihrer Einbildungen, Hoffnungen, 
Eitelkeiten und heißen oder gekühlten Mütchen gegen städtische 

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Bewunderer und ländliche Schwärmer in die hohe, stille und 
gleichmäßig freundliche Landschaft ein. Im Direktorhanse 
Herrn Amersins wurden sie einquartiert. Und zwar war ihnen 
eine helle Dachstube eingeräumt, von der sie einen angenehmen 
weiten Blick über die Lindenwipfel des nahen Gartens zu deu 
mäßigen, ineinander übergehenden Höhen mit den großen 
Hopfenpflanzungen oder den dichten Wäldern oder den scharf 
umzeichneten Feldern hatten, indessen das rasche Flüßchen 
unten, die Mühl, hier gutmütig „Michl" genannt, stetig unter 
ihrem Buschwerk geduckt, raunte und plauderte und alle Welt 
in ihr unverlangtes, ländlich-treuherziges Vertrauen zog. Man 
sah das rasche Wässerchen aus der Höhe gar nicht als solches 
laufen, sich winden, eilen, verweilen, beugen und wieder über 
die vielen Wehren springen, sondern bescheiden wie es war, 
trieb es sein Wesen in tiefverstecktem eingefurchten Bett unter 
Erlen, im Gehölz und blinkte nur jezuweilen an einer flacheren 
offenen Stelle silbern heiter auf, oder wies eine kleine Strecke 
glänzender Krümmung wie einen freundlichen Blick seiner sonst 
emsig unsichtbaren Allgegenwart 

Von dieser Sommerresidenz gingen die drei Schwestern, je nach 
Wetter und Tageszeit, immer aber als Beispiele großstädtischer 
Vornehmheit und erlesenen Geschmacks zugleich bescheiden 
und anmutig angetan, auf unterhaltenden Zeitvertreib aus, von 
Luft und Sonne und von jener Mädchenmunterkeit berauscht, 
die keinen Grund braucht, sich zu freuen, als eben den an- 
genehmen Zustand zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren 
und das heitere Bewußtsein hübscher Gesichter. Mit Bade- 
mänteln und Handtüchern und voll Gelächter stürmte man in 
das Flußbad, wo es gleichwie an der Nordsee und in den vor- 
nehmsten Orten noch erlaubt gemeinschaftlich herging, aber 
zugleich voll strenger Sittsamkeit Im lauen Wasser plätscher- 
ten die Schwestern wie freundliche Nymphen des Flüßchens 
unter den einheimischen Damen und Kindern des Bezirksrichters, 
der Fabrikbeamten und in ihrer selbst hier beispielhaften Hal- 
tung von den bewundernden Tritonen: Hof- und Gerichts- 
advokat, Bezirkshauptmann, Landestierarzt angestaunt und an- 
gescherzt Und welche geistvoll mühsame Spiele in den Gärten 
am Nachmittag, wenn Frauen und Herren, auf gegenseitigen 
zutreffenden Spott bedacht, „ Sekretär" spielten und auf einen ' 
Zettel abwechselnd Verse dichteten, die sich zugleich auf das 

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letzte sichtbare Wort reimen und einen anzüglichen Sinn ergeben 
sollten! Wie anstrengend, aber ehrenvoll, auch hier an Geist 
und Weltkenntnis, an allgemeiner und besonderer Bildung her- 
vorzuleuchten I Charlotte war hierin unter den Frauen, Amersin 
unter den Herren unbestrittener Meister. Aber sie gaben sich 
auch alle Mühe um die Dichtkunst und jedes zog sich von dem 
Kaffeetisch in einen anderen Gartenwinkel zurück, um den 
richtigen Reim, der zugleich Pfeil war, und das richtige spitz 
treffende Wort zu „ dichten u . Welche ländlichen Tänzchen 
unter anspruchslosen Bewunderern, deren etwaigen ernsten Ab- 
sichten man sich im Herbst durch die Flucht in die Großstadt 
entziehen konnte, so daß man sich bei ihren Huldigungen gar 
nichts vergab, sondern genießen durfte, was sogar ein gegen 
die Ehe verschworenes weibliches Herz angenehm wärmt und 
erfreut! Welche Obsternten und Mostfeste und Mondschein- 
spaziergänge durch das hoch gelegene Tal und welche poetisch 
gestimmten Wanderungen in den durch Adalbert Stifters An- 
denken geheiligten Böhmerwald bis zu jenem noch jetzt ebenso 
wie seit hunderten Jahren stillen Bergsee unter Urwaldfichten 
und Adlerflügen! Wie freundlich von dem gutmütigen Schwager 
Amersin, wenn er auf solchen Wanderungen vor einem allzu- 
steilen Pfad oder Bachübergang jede seiner hübschen Schwäge- 
rinnen auf seinen kräftigen Armen als drei kostbare Bündel 
nacheinander hinübertrug und dann behutsam an der sicheren 
Stelle absetzte. Nur nicht heiraten, solange man diese schöne 
Welt so frei und überlegen genießen konnte, ohne Fessel und 
Anhang, und seien es die besten Kinder und der heiterste „Bauer" 
von Gemahl! Wenigstens sagten sie dies alles gehorsam Char- 
lotte nach, deren Führerschaft sie sich ohne Bedenken unter- 
warfen, denn sie war der starke Geist im Hause. Auch der alte 
Erath und der Bruder August widersprachen ihr nicht gern. 
Der Bruder August war ohnehin fügsam und bestimmbar und 
verlangte gar nichts, als in seinem Gartenhäuschen die üblichen, 
wohlgerüsteten Kollationen zu bekommen und vor seinen Freun- 
den den gesicherten Gastgeber spielen zu können. Der Vater 
Erath pflegte tagtäglich um drei Uhr die Feder hinzulegen, seinen 
schwarzen Anzug mit einem Lodengewand zu vertauschen, einen 
Haselstock hinter der Ecke hervorzuholen und einen Spazier- 
gang in den Wienerwald anzutreten, etwa nach Dornbach, über 
die Rohrerhütte, Sofienalpe und Hütteldorf nach dem Neubau 

Stotssl, Das Haus Erath 2 17 



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zurück. Abends nachtmahlte er in einem Stammwirtshaas mit 
etlichen langjährigen Gasthofgenossen. Einmal im Monat er- 
schien er auch auf dem Vortragsabend mit anschließender ge- 
selliger Unterhaltung bei den „Naß waldern tf , dem ältesten der 
damals allmählich in Flor kommenden Touristenvereine und 
brachte dazu seine Töchter mit. Gelegentlich tanzte er sogar 
bei besonderer Laune, und wenn ihm eine der jüngeren Frauen 
gefiel, zur wohlgewürdigten Huldigung noch eine Polka oder 
einen Ländler, und sah gelassen zu, wie seine Töchter umworben 
wurden. Insbesondere die zweite, Elisabeth, war als Tänzerin 
so bewundert wie gesucht, denn sie bewegte sich bei der rasche- 
sten Musik, die dann noch immer etwas Schwungvoll-Behag- 
liches und Gehaltenes beibehielt, herrlich gemessen, hoheits- 
voll, und obgleich dem Gang der Töne folgend, doch stets in 
einem sicher gewahrten Abstände von ihrem Partner, den sie 
mehr zu führen schien, als sie geführt wurde. Drei inständige 
Bewunderer folgten ihr auf Schritt und Tritt, ohne daß sie einen 
irgend vor dem anderen begünstigen wollte, alle drei Fabri- 
kantensöhne aus reichen Familien. Voran der schlenkernde, 
komische Frantzl, dessen Bewunderung und rührend drollige 
Versuche, auf sie mit Scherzen oder Ernst zu wirken, Elisabeth 
ärgerlich mißachtete, weil immer eine unfreiwillige Heiterkeit 
um den Junker wehte und knatterte. Ihre abweisende Haltung 
hätte einen anderen zur Verzweiflung gebracht, er aber ließ 
sich in seiner demütig selbstgewissen Werbung auch dadurch 
nicht stören, daß sie gar oft Furcht zeigte, seine Lächerlichkeit 
könne auch sie lächerlich machen. So hielt sie sich hoch- 
mütiger als sie eigentlich war, denn manchmal gilt Beklommen- 
heit nnd Unsicherheit gar als Hochmut und Stolz. 
Der zweite Anbeter war ein sogenannter „ernster junger Mann", 
dessen Würdigkeit und Ehrbarkeit zwar von keinem Menschen 
ausgelacht, aber gerade darum auch von keinem Mädchen wirk- 
lich ernst genommen werden konnte. Er hatte „keinen Sinn". 
Darin waren alle Mädchen mit Elisabeth eines Sinnes. Und 
der dritte war ein bekanntes „leichtes Tuch u , berühmt durch 
allerhand Seitensprünge mit Volkssängerinnen und anderen 
Damen, von denen feine Mädchen nur vom Hörensagen wissen 
sollen. Er behandelte die feinen jungen Damen grundsätzlich 
nicht anders als die munteren, seitensprüngigen, nur daß er 
sie im allgemeinen langweiliger, weil aussichtsloser, fand. Die 

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Triumphe, die er, hübsch, leichtsinnig and schwangvoll, bei 
ihnen erringen konnte, „führten zu nichts" und waren wieder 
nichts wert, wenn sie zu etwas führten, denn auch das kam vor 
und er machte kein Hehl daraus, vielleicht erdichtete er auch 
mehr solcher Erfolge, als er wirklich errungen hatte. Und so 
war er wieder mit seinesgleichen darin einig, daß die jungen 
Damen „keinen Sinn" hätten. Man sagte ihm nach, er trachte 
nach einer reichen Braut, um sein Leben nach seinem Ge- 
schmack desto freier weiterführen zu können, denn obwohl 
leichtsinnig, war er doch gescheit genug, sein väterliches Ver- 
mögen und seine bürgerliche Stellung durch seine Seitensprünge 
nicht ernstlich in Gefahr bringen zu wollen. 
Auch dieser Fritz Florian bewarb sich um Elisabets Gunst so, 
als sei er von ihrem ernsten Wesen mit einem Male bewegt 
und erschüttert, „ein anderer Mensch", und dies mußte doch 
auf ein empfindsames Mädchen Eindruck machen, daß sie allein 
von so vielen jungen Damen für einen so welterfahrenen Herrn 
„einen Sinn" haben konnte. 

Elisabeth erwehrte sich seiner daher um so trotziger mit ihrer 
natürlichen Kühle und Zurückhaltung wie ein Vogel der Schlan- 
genblicke. 

Gleich drei vornehmen Damen in der verkleideten Bauernwelt 
dieser „Naß walder" pflegten Charlotte, Elisabeth und Agnes, 
jede mit ihren Lieblingsblumen geschmückt, zu erscheinen, 
Charlotte mit großen Margueriten, Elisabeth mit Kränzen von 
Moosröschen über Schultern und Brust und Agnes mit Mai- 
glöckchen. Sie waren aufgefordert worden, in dem „Festspiel", 
das zu irgend einem bedeutenden Vereinsanlaß einstudiert 
wurde, als schönste Statistinnen mitzutun. Sie hatten aber ab- 
gelehnt wegen der nicht nach ihrem Wunsche ausgewählten 
Gesellschaft der übrigen Damen und auch wegen der wortlosen 
Rolle, die mehr ihrer Schönheit als ihrem Geist angesonnen 
worden war. So durften die drei, jede von ihren besonderen 
Kavalieren umgeben, die Szene kritisch betrachten: einen le- 
bendig aufgestellten Tannenwald, in dessen Mitte die Büste des 
Kaisers Franz Josef stand, vor welcher biedere Bauern, in Wahr- 
heit lauter brave Bürger, nun als Naßwalder angetan, Wiesen-, 
Berg- und Ackerherrlichkeit spielten, unter Juchzern, Händeauf- 
dielederhosenpaschen und ernsten Chören versammelt Dann 
hielt ihr Pfarrer, sonst ein ehrbarer Meerschaumpfeifenfabrikant» 

2 * IQ 



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die Festrede, die des Kaisers gute Eigenschaften würdigte und 
alle Dinge anführte, welche unter seiner Regierung zustande 
gekommen waren. Man hatte sich eben von 1866 und vom 
Verluste Veneziens erholt, begann wieder Geschäfte zu machen 
und sich des Lebens zu freuen und brauchte die dynastischen 
Vorzüge nicht über den verschmerzten Fehlern zu vergessen. 
Eine Militärkapelle „exekutierte Piecen u , der kaufmännische 
Gesangverein trug Liedertafelchöre voll Schwung und Pracht 
vor und erhielt zum Schluß ein schwarzrotgoldnes Banner zum 
Geschenk, endlich sang der große mächtige Scaria mit einem 
Baß, der aus den Tiefen des Urwaldes zu brausen schien, den 
„ Wanderer u von Schubert: 

„Ich wandre still, bin wenig froh 
Und immer fragt mein Seufzer wo? tt 
In den kleinen verschworenen Mädchenherzen begann es mit- 
zufragen und mitzumahnen, ohne daß etwa .Herr Florian eine 
Antwort zu geben oder zu bekommen gewußt hätte. 
Agnes aber, die Jüngste, überließ sich mit unverkümmerter 
Backlischfreude ihren ersten Triumphen. Ein achtzehnjähriger 
Jurist im ersten Semester schwärmte sie an, versuchte sie für 
Wissenschaft und Politik zu interessieren, während er sie zum 
Kotillon führte, er hätte sie ebensogut über Jagd und Fischerei 
unterhalten mögen, oder noch besser, gar nichts reden, wenn 
man nur tanzen durfte. Der kluge Hermann Ley aber glaubte 
sie wunder wie mitempfindend, indes sie hinter allem Gespräch 
doch nur die „Geschichten aus dem Wienerwald u hörte, die zu 
seiner sozialen Frage Musik machten. Er war zu schüchtern, 
an ihrem Tische Platz zu nehmen, sie wollte ihn nicht einladen, 
denn ihr Bruder hatte sich über den „Streber" schon mehr- 
mals lustig gemacht, der von Paukerei und Studentenliedern 
nichts wissen wollte. So zog sich der junge Ley denn trotzig 
mit ein paar andern unverbesserlichen Anhängern an einen 
Junggesellentisch zurück und erging sich zwischen den Tänzen 
in allgemeinen Erörterungen, während sich der Vetter Wilhelm, 
als Verwandter, doch in die Nähe der Seinigen finden, Agnes* 
Tücher halten, ihr den Kellnerherbeirufen, einen Umhang bringen 
und dergleichen vertraulichen Dienste leisten durfte. Dafür holte 
sie ihn sogar bei der Damenwahl ab und tanzte mit ihm eben 
so eifrig, geduldig und genußreich, wie mit jedem andern. 
Charlotte aber fühlte sich über alles solches Treiben erhaben, 

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wenn sie es auch mitmachte. Es schien ihr, als spielten Er- 
wachsene Kinderspiele. Sie wollte frei sein und bleiben. Die 
Schwestern seufzten Ja! dazu und gelobten Ja! und auch die 
Freundinnen wiederholten ihre Freiheitsbeteuerungen, nament- 
lich sooft eine von einer Enttäuschung in Liebes- und Heirats- 
sachen betroffen worden war, bleibt doch die Enttäuschung je 
und je die Ursache aller Selbstverleugnung. 
Es kam aber so, daß eine der Verschworenen nach der zweiten 
auseinandergegangenen Verlobung eine dritte schloß und dabei 
blieb und sich zur wirklichen Hochzeit vorbereitete. 
Lachend erschien sie bei der wöchentlichen Jause und sagte : 
„Du, Lotti, mit dem Ledigbleiben ist's doch nichts. Alte Jungfer 
ist ein saurer Beruf, und wenn ich einmal verheiratet bin, will 
ich schon frei sein." Gleich sprach sie auch von der Ausstattung 
von Kleidern, Mänteln, Spitzen, von Möbeln, altdeutsch oder 
Rokoko, und von der künftigen Wohnung und auch von „ihm", 
als von dem notwendigsten Einrichtungsgegenstand. 
Und eine andere Schöne tat das gleiche und war, vordem streng 
und herb, nun mit einem Male mild und sanft 
Da hatte Charlotte gut Nase rümpfen und sich lustig machen ! 
Ringsherum verlobte man sich und heiratete, unter den Mit- 
verschworenen begann eine wilde Flacht in die Liebe und Ehe. 
Man glaubt gar nicht, welches Unheil solche Heiratssachen unter 
selbstgerechten Jungfern anrichten. Gerade, wenn man sich 
eines unvermuteten und vielleicht ungeschickt angelegten Wer- 
bungsüberfalles erwehrt hat, unterliegt man um so sicherer dem 
nächsten Anlaß, und dem späteren Angriff fällt die liebens- 
würdige Beute in die Arme, als hätte er das Verdienst, während 
er nur eben glücklich und zufällig die schlechte Gelegenheit 
verpaßte, denn nicht immer versäumt einer die Stunde, der um 
Tage zu spät kommt. Das geschah der nächst ehereifen unter 
den Erathschen Töchtern, Elisabeth. 

Eines schönen Tages bekam sie nämlich von ihrem Schwager 
Amersin einen Brief, der unter Nachrichten über die Kinder 
und die Lichtenauer Verhältnisse, über Kleider und Kränzchen, 
Geschäftliches und Persönliches nebenher, doch so, daß man 
dabei gleich die Hauptsache erriet, den Besuch eines gewissen 
Gerichtsadjunkten in Wien ankündigte. 

Elisabeth hatte sich im Sommer zu Lichtenau die Huldigungen 
dieses Herrn recht arglos und heiter zu Gemüte geführt, un- 

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verkümmert und auterhaltend, aber ganz unverbindlich, so daß 
sie sich beim schärfsten Gewissen und bei der genauesten Er- 
forschung aller ihrerRegungen keines leisesten Gefühlchens ent- 
sinnen konnte, das ihm auch nur den kleinen Finger gereicht 
hätte zu einer Hoffnung auf ihre ganze werte kleine vornehme 
Hand. Und der wollte nun mit einem Male bei Eraths seinen 
Besuch machen! Man wußte sogleich, was das bedeuten sollte. 
Elisabeth war durch diese Nachricht tief erschüttert und ge- 
ärgert, wenn sie sich immerhin auch geschmeichelt fühlen durfte, 
daß sie noch aus solcher Entfernung einen Verehrer hierherzu- 
ziehen vermochte. Gab es denn wirklich keine unverbindlich 
sorglose Unterhaltung mehr zwischen Herren und Damen, lauerte 
denn überall die Leidenschaft? Was mußte ihr Vater von dieser 
Lichtenauer Geselligkeit, was von ihr denken, wenn mir nichts, 
dir nichts einer kam und auf Grund unvergessener Erinnerungen 
wie auf Grund eines lieblichen Pfandrechtes — er war Gerichts- 
beamter — nach dem Besitz ihres Herzens und ihrer Hand und 
insbesondre vermutlich auch ihres Vermögens strebte 1 Charlotte 
bestärkte sie in der Empörung über diese Anmaßung der Provinz. 
Sollte noch eine Erathsche Tochter sich in einen solchen Welt- 
winkel verspielen? Und gar an einen armseligen Adjunkten! Wel- 
che Anmaßung ! Sie unterrichtete den Vater Erath sogleich von 
solcher Frechheit und von vornherein so spöttisch und ablehnend, 
daß er wissen konnte, sie sei ganz und gar nicht gebunden, 
nichts weniger als ein Faustpfand. 

Als an dem vorbezeichneten Tage der Herr Adjunkt mit einem 
schönen Strauße erschien, wurde er in den kirschholzenen Ar- 
beitsraum, statt in das Mädchenzimmer der begehrten Elisabeth 
und vor den Vater, statt vor seine leibhaftige Lichtenauer Er- 
innerung geführt, während die Schwestern, zwei kindliche Teu- 
felinnen, mit Herzklopfen hinter der Türe lauerten. 
Herr Erath, der auch nichts besonders Arges vermutet haben 
würde, wenn seine Tochter sich bejahender verhalten hätte, emp- 
fing den Besucher mit überraschter Freundlichkeit Da dieser 
aber mit dem strengen und dabei ein wenig verlegen-schüch- 
ternen Vater nichts zu reden wußte, ließ er sich zu jener Torheit 
verleiten, der ein anderer dann die Braut verdankte; er warb 
nämlich kurz und bündig und vor dem unrichtigen Forum — 
er war als Gerichtsbeamter weltunkundig — beim Vater um die 
Hand Elisabeths. Diese aber zog eben darum hinter der Türe 

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ihre Hände zurück and entrüstete sich über den Mangel an Offen- 
heit. Erath dankte verbindlich für das ausgesprochene Vertrauen 
und für die erwiesene Ehre, gab indessen zu bedenken, daß seine 
Tochter Elisabeth noch zu jung sei, sich für eine Ehe zu ent- 
schließen, deren Lasten bei dem wenig aussichtsvollen Stande 
des Herrn Freiwerbers denn doch für ihre verwöhnte Jugend allzu 
bedenklich sein möchten. Darauf richtete sich der Herr Gerichts- 
adjunkt empor, er glaube doch in dieser Sache das letzte Wort 
noch nicht gesprochen und wolle Gelegenheit finden, in zweiter 
Instanz an das Herz des Fräuleins selber appellieren zu können, 
denn er möge eine Unwiderruflichkeit dieses Neins um so weni- 
ger annehmen, als seine Erinnerung an Lichtenau eine sanftere 
Gesinnung habe erhoffen lassen, Herr Erath nickte: „Ja, ja, ge- 
wiß, gewiß." Darauf empfahl sich der Herr Adjunkt — das 
nahmen ihm Elisabeth und Charlotte wiederum besonders übel 
— gar nicht weiter gebrochen oder erschüttert, ja er besaß so- 
gar noch die Frechheit, unten auf der Straße sich nach den Fen- 
stern umzuschauen, wo die Schwestern hinter den Vorhängen 
hinausblickten, und ehrerbietig, aber lächelnd den Hut zuziehen. 
So waren die Männer ! Der war imstande, noch wiederzukommen 
und ein zweitesmal eine Probe anzustellen! Elisabeth hatte 
Angst davor, und gerade dieser glücklich abgeschlagene Sturm 
erregte in ihr die Ahnung der unvermeidlichen Wiederkehr ähn- 
licher Angriffe, das Bedürfnis nach Schutz und zu unterliegen, 
denn dann würde sie Ruhe und Frieden haben und endlich dort 
sein, wo sie eben sein mußte. 

So sagte sie eines Abends ganz unvermutet, während sie ihr 
schönes Haar kämmte und seinen goldenen Überfluß mit den 
beiden Händen mühsam in die Höhe halten mußte, zur Schwe- 
ster: „Lotti, ich werde doch heiraten." Davon war die Füh- 
rerin der Ehefeinde tief erschüttert 
„Wen denn, um Gottes willen?" 

„Einen von den dreien. Ich muß mich ja doch entscheiden. So 
geht es nicht weiter." 

Charlotte sah zwar nicht ein, warum es „so" nicht weiter 
gehen könne, denn gerade „so" schien es ihr ganz in der 
Ordnung. 

„Ja, wen denn, Elisabeth, du mußt doch wissen, wen du eigent- 
lich willst." 

„Wenn ich das wüßte, hätt* ich mich ja schon entschieden." 

*3 



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„Mir scheint, du willst deinen Zukünftigen bei der Lotterie 
ziehen.** 

„Das wäre nicht das Dümmste! Dem Vater scheint einer wie 
der andere recht, ja sagen muß ich einmal, ich kann doch nicht 
immer warten, wir sind zum Heiraten da. Weißt du, wer zuerst 
ins Haus kommen wird, um meine Hand anzuhalten, den werde 
ich nehmen. 4 * 

„Sind deine drei denn überhaupt schon so weit?" 
Elisabeth nickte lächelnd. 

„O du holde Unschuld," zischte Charlotte. Warum aber gerade 
diese drei und nicht der abgewiesene erste oder vierte, der 
Adjunkt aus Lichtenau? „Ach der! tt seufzte Elisabeth und 
steckte das Haar im Nacken zurecht, wobei eine runde goldene 
Locke aus dem Kamm flüchtete und sich wie ein lebendiger 
Trotz gegen alle schön gescheitelte Ordnungim Genick kräuselte, 
„Ach der!" Wie bald war eine Hoffnung, ein Traum, ein Wider- 
stand erledigt, so zwischen Anfang und Ende der Frisur. „Ach 
der." Es hätte nur ein wenig anders zugehen müssen, einen 
Tag früher oder später, bei anderem Wetter, einem bißchen 
mehr Zureden und Freiheit, in Lichtenau oder in Wien, und sie 
hätte statt „Ach der! u „Ja der!" gesagt So steht es um die flüch- 
tigen Regenbogen zwischen Sonne und Tränen einer Mädchen- 
schaft! 

Elisabeth erhob sich nach beendeter Frisur, zuckte die Achseln 
und ging davon. 

Agnes umarmte die ältere Schwester: „Wir bleiben zusammen.** 
„Ja, so lange, bis du den Ley heiraten kannst" 
„Den Ley, niemals. Keinen! Ich werde nie heiraten." 
„Das sagt jede, solange es nicht ernst wird. Du wirst schon 
auch einen in der Lotterie ziehen." 
„Nein, Lotti, ich werde gewiß nicht heiraten." 
„Warum denn gerade du nicht?" 
„Ich werde nicht so lange leben." 
„Äff! was sind das wieder für Einbildungen?" 
„Laß gut sein, wir bleiben beisammen." Agnes umschlang 
Charlotte, und als sie schlafen gingen, blieb die Ältere am 
Bette der Jüngeren sitzen, sie wiederholten ihr ernsthaftes Ge- 
lübde, sich nicht zu trennen, ledig, frei und unbekümmert als 
unabhängige Geschöpfe und küßten einander wie mit einem 
Schwüre. 

*4 



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Der erste aber, der am Sonntag, zeitiger, als für einen solchen 
Besuch schicklich, mit schlotterigem schwarzem Rock and unter 
verlegenen Witzen and Bücklingen vorsprach, am Elisabeths 
Hand zu bitten, war Heinrich Frantzl und wurde angenommen. 
Als er anerkannter Bräutigam war und Elisabeth ihm ihr Bild, 
eine kleine, ovale Photographie geschenkt hatte, ließ er von 
sich zwei Aufnahmen machen: die eine zeigte ihn aufrecht, in 
seinem Freiwerbergewand mit den lichten Beinkleidern, der ge- 
blümten Weste, dem pfiffig -schmerzlichen Gesichtsausdruck, 
den seine Komikerwehmut nun einmal hatte, und in seiner gan- 
zen wissentlichen beweglichen Ausgerenktheit, wie er stand, als 
ginge er und ging, als stünde er. 

Die zweite aber stellte seine Rückseite dar, deren Ausdruck 
man nicht beherrschen kann und bot somit gewissermaßen ein 
rührendes Selbstbekenntnis. Er wollte mit diesem wunderlichen 
Geschenk schon etwas Ernstliches sagen und gestehen; aber 
mit einem halben Witz, denn allen seinen Spaßen lag eine 
schmerzliche Ahnung seiner Schwäche, eines unzureichenden 
Wesens und damit eine Aufrichtigkeit wider Willen zugrunde, 
die wiederum mit all seiner Schlenkrigkeit versöhnen konnte, 
freilich nur den, der auf den Grund einer armen menschlichen 
Seele blicken kann. Elisabeth wunderte sich über das Geschenk 
und lächelte kühl verzeihend. 
Charlotte aber flüsterte Agnes zu: „Wurstel." 

3- 

Die Familie Erath saß am Sonntag um den Tisch des Speise- 
zimmers, die Schüsseln waren abgetragen, nur die Weingläser 
standen noch halb gefüllt da und vor dem Platze des Hausherrn 
eine kleine Schale schwarzen Kaffees. Er hatte seine lange 
Pfeife angezündet und rauchte still vor sich hin, die beiden 
Schwestern, Charlotte und Agnes, beschäftigten sich, die eine 
mit dem Wirtschaftsbuche, die andere mit einer Klöppelarbeit, 
nnd der Sohn, August, sog, in seinen Stuhl zurückgelehnt, wie 
im Halbschlafe, an einer guten Zigarre. Nur am Sonntag konnten 
Familienangelegenheiten und persönliche Pläne, alles, was über 
das Erfordernis des Augenblicks hinausging, mit Herrn Erath 
besprochen werden. Er war kein geselliger Mensch — schweig- 
sam auch unter seinen vertrauten Zechgenossen — den Kin- 
dern gegenüber vollends unnahbar. Nicht aus Hochmut, eher 

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aas Schwäche, denn er kannte eigentlich seine Kinder nicht 
Sie waren ihm unbegreifliche erwachsene Menschen, die nun 
einmal ihren eigenen Weg wandeln maßten und mochten, wenn 
es dabei nur in Ordnung und unbedingt anstandig herging. 
Dieses fremde Verhältnis hatte sich auf die natürlichste Weise 
entwickelt. Nach dem Tode seiner Frau standen die Kinder 
im ersten Schalalter. Als Geschäftsmann hatte er weder Zeit 
noch Wissen genug, sich um ihre Erziehung zu kümmern. Er 
mußte ihre Erhaltung sichern, die Bildung kaufte er ihnen dort, 
wo sie eben nach seiner und der Welt Meinung am besten zu 
holen war: in einem damals angesehenen Stadtpensionat, wo 
sie unter dürftiger Nahrung zu vornehmen Eßgewohnheiten und 
aller Übung des gesellschaftlich Schicklichen erzogen, mehr 
notwendige und überflüssige Bildungselemente, als Milch und 
Fleisch und Kinderfrohsinn bekamen, um Sonntags von Adam 
Hirt abgeholt, einmal daheim ordentlich und großartig zu spei- 
sen. Von dem Nachgenuß dieser Mahlzeit zehrten sie blaß, 
hungrig und wohlerzogen die anderen sechs Tage, und so war 
der Sonntag von je die einzige Gelegenheit, mit dem Vater 
vertraulich beisammen zu sein. Sie wuchsen heran, die Jahre 
vergingen schnell, mit einem Male war der Sohn ein Burschen- 
schafter, die Töchter junge Damen und alle als mündige, dazu 
als gebildete „moderne 4 * Menschen dem Vater ferner als je. 
August Erath der Ältere machte sich nicht viel Gedanken über 
dieses Verhältnis, und wenn er sie sich auch machte, so be- 
ruhigte er sich darüber, als über etwas Selbstverständliches, 
daß diese Kinder gar keine Kinder waren, indessen er seit dem 
Tode seiner Frau immer derselbe blieb, als ob sich die Zeit 
an ihm vorbeibewegte, während er immer das gleiche Leben 
im kirschholzenen Arbeitszimmer verbrachte, den Spulerinnen 
die farbigen Seiden austeilte und von den Weberinnen die ge- 
webten Bänder in Empfang nahm, mit den Spinnerinnen ab- 
rechnete, den Käufern die Ware zumaß, nachmittags im Winter 
wie im Sommer, im Herbst wie im Frühjahr mit dem Hasel- 
stock über Schnee oder grünes Land ging, abends unter Men- 
schen, doch ebenso allein, sein Nachtmahl verzehrte, sein Bier 
und seinen Wein trank und spät das Lager aufsuchte, um ein- 
sam zu schlafen. Rings um ihn summte das Leben der anderen 
und wirkte wie das Sausen und Brausen im Laub eines Bau- 
mes, indes er, dem unbewegten Stamme gleich, stand und blieb 

2t 



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und Ring am Ring ansetzte, jeder Ring eine Runzel und Falte 
in den Augenwinkeln und im Nacken und an der Stirne. Die 
anderen alle lebten, er aber war. Übersichtig, bedurfte er einer 
gewissen Entfernung aller Dinge, um sie deutlich wahrzuneh- 
men und zu ordnen, so schob er unwillkürlich oder willentlich 
alle Menschen, seine Nächsten zuerst, aus der Reichweite in 
seine Blickweite. Nur was ihm fern stand, konnte er beurteilen, 
so mußte ihm selbst das Nahe fremd werden, damit er es er- 
kannte. 

Er hatte die Pfeife weggelegt, seine Hornbrille aufgesetzt und las 
einen langen Brief. Charlotte erkannte von weitem die leser- 
lichen, dabei aber schwungvollen und entschlossenen Schrift- 
züge ihres Schwagers Amersin und flüsterte Agnes etwas zu. 
Als August Erath, der Vater, den langen Brief ausgelesen hatte, 
nahm er vorsichtig die Brille ab, tat sie ins Futteral, lehnte sich 
in den Stuhl zurü ck , tat einen Schluck Kaffee, setzte seine 
ausgegangene Pfeife mit einem Schwefelholz wieder in Brand. 
Welche entsetzliche Verlängerung des Wartens bei diesen 
Schwefelhölzern, von denen er nicht lassen mochte, trotzdem 
es schon „UtanSvafel och Fosfor" gab! Wie langsam brannte 
dieser süßlich beißende, blaue Schwefel ab, bis endlich das 
Holz in Feuer stand! Wie langsam setzte er es dann an die 
Pfeife und sog — wie tief — den ersten Zug des Knasters 
ein, über dessen groben Bauerngeruch die Schwestern immer 
die feinen Nasen rümpften! 

Endlich war die Pfeife in Gang. Jetzt erst blickte der alte Herr 

auf und sagte, wie von ungefähr: 

„Der Amersin wird nach Wien kommen. a 

„Was will er denn hier?" fragte Charlotte. 

„Auch die Toni mit den Kindern wird kommen, die ganze 

Familie.« 

Agnes ließ das Klöppelkissen sinken, Charlotte stand auf, 
August, der Sohn, schien aus dem Halbschlaf aufzuwachen. 
„Alle kommen." 

„Ja, warum denn? Eine Reise im Sommer mit den kleinen 
Kindern? Jetzt ist's doch in Lichtenau am schönsten. Wir 
haben uns schon gefreut, über den Sommer dorthin aufs Land 
zu ziehen wie sonst." 

„Sie werden hier bei uns wohnen. Unseren Mietern vom Erd- 
geschoß werde ich kündigen, damit Antonie dann vom Herbst 

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an eine ordentliche Wohnung hat und die Kinder gleich in die 

Schule schicken kann." 

„Übersiedeln sie denn alle nach Wien? u 

„Ja. Der Amersin hat seine Stellung gekündigt. u < 

„Gekündigt? Oder ist ihm aufgesagt?" 

„Er hat gekündigt. " 

„Er war doch dort wie der Herr im Geschäft, wenigstens hat 
er immer so getan wie der König von Lichtenau I u sagte Char- 
lotte. 

„Seitdem die junge Frau dort den Offizier geheiratet hat, war 
es nicht mehr auszuhalten, schreibt er, der ehemalige Ober- 
leutnant mischt sich in alles, nimmt alle Dinge in die Hand, 
aber leider verkehrt, will alles besser verstehen und verdirbt 
alles. Er läßt sich auch nichts sagen. Sie haben Auseinander- 
setzungen gehabt, Amersin hat der jungen Frau gegenüber mit 
seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten und da sie dem 
eigenen Mann doch schwer unrecht geben kann, hat eben der 
Direktor kündigen müssen." 

„Oder ihm ist aufgesagt worden. Takt hat er freilich nie ge- 
habt" 

Erath rauchte still, auch sein Sohn versank wieder in den be- 
trachtenden Genuß seiner Zigarre. 
Charlotte ging auf und nieder und redete. 
„Weil er sich auch nichts sagen läßt und alles besser wissen 
muß als andere, weil er als Diener Herr sein, als Angestellter 
seinen Chef meistern will! Warum soll der Offizier in seinem 
eigenen Betrieb stumm bleiben, bloß weil der Herr Amersin 
kein Dreinreden verträgt? Wer Weib und Kinder hat, muß sich 
seinen Herrn gefallen lassen. Solange er seinen Gehalt be- 
kommt, soll er ruhig sein und gehorchen, dazu ist er bestellt. 
Jetzt fällt er dir brotlos ins Haus. Was wird denn aus den 
armen Kindern und mit der Toni? Sie soll sich scheiden 
lassen." 

„Aber, aber," seufzte Agnes bekümmert. 
Erath lächelte: „Weil Amersin seinen Posten aufgegeben hat?" 
„Wenn ein Mann seine Frau und seine Kinder nicht mehr er- 
halten kann, und wenn die Frau zum Vater zurück muß, soll 
der Mann eben allein sehen, wie er fertig wird, aber nicht Frau 
und Kinder mit sich ins Ungewisse und ins Elend ziehen oder 
gar von der Frau zehren." 

28 



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„Die Toni hat doch nicht einen Posten geheiratet, sondern 
einen Mann.* 4 

Charlotte schüttelte ärgerlich den Kopf: „Wenn der Amersin 
ohne Posten ist, ist der Amersin der Niemand." 
„Na, na, wenn jedermann immer so viel wäre wie der Niemand 
mit seinem guten Schädel auch ohne Stelle, wäre der Jedermann 
ein ganz anstandiger Jemand und überall am Platze. tf 
„Was wirst du also tun, Vater ? M 

„Ich brauche längst eine selbständige Hilfe, ich werde Amersin 
als Gesellschafter ins Geschäft nehmen und die Familie wird 
hier wohnen, du wirst den Raum schaffen. Die Mieter ziehen 
aus. Das werde ich tun. 44 

„Du wirst deine alte Firma diesem Bauern anvertrauen, dein 
Vermögen, das Erathsche Haus diesem Menschen ausliefern?" 
„Diesem Menschen! 44 wiederholte Erath langsam und lächelnd. 
„Ich brauche Hilfe und habe keine andere. Es ist doch besser, 
ich nehme meinen Schwiegersohn zu mir als einen Wildfrem- 
den. 44 

„Das Erathsche Haus unter dem Befehl von diesem, diesem 
Menschen? 44 

Erath antwortete: „Diesem Menschen habe ich deine Schwe- 
ster anvertraut, so kann ich ihm wohl auch mein Geschäft an- 
vertrauen. 44 

„Traurig genug, daß du ihm Toni gegeben hast, daraus folgt 
doch noch nicht, daß du ihm auch uns alle ausliefern mußt, 
unser Haus und Gut, dem Bauern, der von allem Anfang an 
darauf ausgegangen ist 44 

„Euer Vater war auch nichts anderes als ein solcher Bauer 
und gut genug, euch dieses Haus zu schaffen und so viel, daß 
ihr jetzt eure gebildeten Einbildungen ausbilden könnt Toni 
denkt anders als ihr. 44 

„Darum wird sie auch an Plage und Sorge zugrunde gehen. 44 
„Ich nehme sie doch auf, damit ihr nichts geschieht 44 
„Toni ist uns immer lieb, nimm sie und die Kinder, aber den 
Amersin laß, wohin er mag, nur nicht zu uns. 44 
„Aber, aber, 44 begütigte Agnes. 

„Unser Haus ist unser Haus, unsere Firma ist unser, nicht für 
Schwiegersöhne und Hergelaufene. Amersin soll betteln gehen, 
wenn er keinen Posten findet Die Toni gehört zu uns. Aber 
er soll bleiben, von wo er gekommen ist 44 

■ 



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„Genug. Da richtest einstweilen das Zimmer, bis die Wohnung 
frei wird. Ich gehe jetzt u 

Damit erhob sich Erath, holte seinen Stock, setzte den Loden- 
hut auf den Kopf und ging. — Er legte dem leidenschaftlichen 
Ausbruch Charlottens gegen Amersin wohl keine besondere 
Bedeutung bei, wie er alles, was ihm unverständlich oder un- 
gemäß war, in eine Entfernung schob, von der es sich als ge- 
ringfügig betrachten ließ. Im Alter wird so vieles, schier alles 
in solcher Entfernung nebensächlich, sogar das eigene Leben. 
— Charlotte glühte vor Erregung, Agnes versuchte sie zu be- 
gütigen, August rauchte dazu und stimmte Charlotte als der 
Stärkeren zu, wie immer, denn es war am bequemsten. Weil 
er stets ihre Meinung teilte, konnte er alles von ihr haben, und 
sie half ihm sogar mit dem Wirtschaftsgeld aus, wenn sein 
Monatszuschuß nicht reichte. 

Charlotte schlug alle Türen zu. Das Haus bebte unter dem 
Knallen und Schallen. 

Am Abend weinte Charlotte Tränen vor Zorn und Haß. 
„Was hat dir denn der Amersin getan? Weil einer einen 
Posten verliert, ist er doch noch kein Verbrecher, 1 * sagte 
Agnes. 

„Ich kann und kann ihn nicht leiden. Und wenn ich ihn vor 
meinen Füßen zugrunde gehen sähe, ich würde ihm keinen 
Tropfen Wasser geben, wenn er verdurstete." 
„Aber, aber.** 

„Wir gehören uns, er ist ein Fremder, ein Einschleicher, der 
unsere Schwester genommen hat, um sich unseres Hauses zu 
bemächtigen. Er wird uns unser Vermögen, unseren Namen, 
alles wird er uns wegnehmen. Er oder ich. Er oder wir. Das 
sollst du nur sehen!** 

Agnes schlief längst ihren tiefen jungen Schlaf und hörte nichts 
mehr von den bösen Reden Charlottens. Der junge August 
Erath aber hatte in seinem Gartenhans eine Bowle angerichtet 
und sang und zechte unbekümmert mit seinen Bundesbrüdern. 
In gutem Vertrauen erzählte er ihnen das Neueste, daß sein 
Schwager, der „Bauernlackel**, ins Haus kommen sollte. Die 
Zechbrüder machten Witze darüber, hielten sich aber nicht 
lange mit solchen nebensächlichen Sorgen auf, sondern sangen, 
spielten Klavier und tranken, und ihr Lärm drang doppelt laut 
durch die schwüle Stille der hellen Mainacht 

30 



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Einer von ihnen, der stattlichste und weltgewandteste, Amberg 
der Fuchsmajor, der als Jurist auch was auf seine Kenntnisse 
hielt, meinte, so komme es oft, wenn der Herr eines Hauses 
alt werde. Da gäbe es nichts als eine gesunde Vormundschaft 
Die Kinder müßten denn beizeiten mitreden und sich um ihren 
Teil wehren. 

Der junge Gaber, ein harmloses Bürschchen, trank einen letzten 
Schluck, wandte sich zum Fortgehen und sagte in aller Freund- 
lichkeit, man müsse doch wohl einem so stattlichen Mann die 
Freiheit seiner Entschlüsse zugestehen, er habe den alten Herrn 
Erath nun einmal ins Herz geschlossen, diesen schönen Greis. 
„Schöner Greis! 4 * jubelten die anderen und stießen mit den 
Gläsern an, August schwieg verlegen dazu, Gaber aber ging 
rasch aus dem Gartenhäuschen, ohne besonderen Abschied zu 
nehmen, er hatte heute noch eine dringende Verabredung. 
Als er über den Kiesweg unter den blühendeS Büschen in die 
Mitte des Gartens kam, sah er eine weiße Gestalt vor sich, die 
den gleichen Weg nach dem Hause nahm, Charlotte. Mehr im 
Übermut nach den rasch hinuntergegossenen Bechern, als aus 
Überlegung, gar Neigung und in der burschikosen Vertraulich- 
keit, zu der er sich etwa berechtigt glaubte, wollte er mit dem 
einsamen Mädchen, das ihren Verdruß in der Stille des nächt- 
lichen Gartens überlegte, einen harmlosen Scherz machen. Sie 
merkte nicht, daß jemand und wer hinter ihr war. Er umfaßte 
sie, legte seine Hände auf ihre Augen und küßte sie rasch auf 
ihre heißen Lippen. 

Charlotte vermutete einen Augenblick lang einen anderen, oder 
war von dem Überfall so benommen, daß sie eine Sekunde 
lang in seinen Armen still hielt und sich küssen ließ. Dann 
aber tat sie einen leisen Schrei, stieß ihn zurück, entfloh, und 
Gaber ging lächelnd ohne Arg davon. 

Längst hatten die Zechbrüder alle das Gartenhäuschen ver- 
lassen, und August Erath wollte eben zu Bett gehen, als Char- 
lotte eintrat, blutübergossen, mit funkelnden Blicken. 
„August, ich muß dir was sagen. 4 * 

«Jetzt, um zwei Uhr? Hat's nicht bis morgen Zeit? Ich bin 
müde. 44 

„Nein, ich bin beleidigt worden. Das hat wohl keine Zeit 4 * 
„Na, laß hören, wer hat dich denn gekränkt? 4 * Er setzte sich 
auf seinen Schaukelstuhl und gähnte. 

3 1 



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Charlotte berichtete ihm die Überraschung im Garten und die 
unerwartete Umarmung. 

Als sie geendigt hatte, schwieg August und zeigte sich nicht 
weiter aufgeregt, so daß Charlotte plötzlich das peinliche Ge- 
fühl hatte, etwas für sie äußerst Wichtiges sei für den Bruder 
im Grunde nebensächlich. Derlei macnt den Boden unter den 
Füßen schwanken, denn unsere moralischen Empfindungen 
gelten uns nur als richtig, solange sie von den Nächsten geteilt 
und anerkannt werden. 

„Nun, was sagst du? 4 * zischte Charlotte endlich und sah August 
entschlossen an. 

„Mein Gott. Was ist da weiter dabei? Er hat es wohl nicht 
schlecht gemeint. War's denn unangenehm? Er ist doch ein 
ganz netter Bursch." 

„Unangenehm? Nett? Sonst weißt du nichts? Es war doch 
ein frecher, schamloser Überfall!" 

„Aber Lotti, so was kommt eben vor. Wenn man wegen jedes 
Kusses so viel Wesens machen wollte, müßte man das Küssen 
überhaupt abschaffen. u 

„Unter gebildeten Menschen gewiß. Wir sind doch keine 
Tiere. 44 

„Zugegeben, denn die küssen nicht." 
„Du kannst darüber noch Witze raachen? 4 * 
„Nun, was soll ich denn sonst tun, er kann den Kuß nicht zurück- 
nehmen und du auch nicht. Am besten, wir wissen nichts da- 
von, dann ist einfach nichts geschehen. 44 
„Das ist alles, was du weißt, wenn deine Schwester beleidigt 
worden ist? Hast du nicht die Pflicht, mich zu beschützen? 
Oder soll ich das Opfer dieses Frechlings werden, ohne daß du 
ihn zurechtweisest? 4 * 

August sah verlegen vor sich hin. Opfer? Frechling? Die Sache 
wurde peinlich. Wenn Charlotte sie nicht leicht nehmen wollte 
wie er, mußte er sie vom Ehrenstandpunkte doch wohl selbst 
auch schwer nehmen, oder mußte er nicht? Man konnte derlei 
ruhig ansehen oder aufgeregt, aber immer nur gemeinsam. 
Wenn seine Schwester ihre Ehre angegriffen sah, durfte er al9 
Bruder nicht kühl bleiben. Er ward wie immer von der Macht 
ihres Willens bezwungen, ihre Art zu denken und die Dinge zu 
betrachten überkam ihn, ihr Wille drang wie ein fremdes Feuer 
durch seine trägen Glieder langsam bis in seinen langsamen 

3* 



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unbeteiligten Verstand. Er dachte: „was geht mich das eigent- 
lich an? Warum soll sie denn nicht geküßt werden? Wenn sie 
ihn weggestoßen hat, ist doch eigentlich alles in Ordnung. Was 
habe ich damit zu schaffen?" Da sie aber den ritterlichen Ge- 
danken hegte, daß der Bruder die Sache der Schwester zu ver- 
treten habe und da er auf diese Auffassung eingeschworen war, 
ohne die alle diese Studentenbräuche, Waffen, Mensuren und 
deutsche Jünglingsgebärden keinen Sinn gehabt hätten, wurde 
er in seinem natürlichen Phlegma irre. Hätte Charlotte den 
hannlosen Kuß und die unbedachte Umarmung so leicht ge- 
nommen,. wie sie sie abgeschüttelt hatte, so wäre alles in Ord- 
nung gewesen. Aber es sollte eben nicht in Ordnung sein. 
„Daß du doch alles gleich tragisch spielen mußt Du machst 
ans einer Kleinigkeit einen Riesensumms." 
So ging es ihm immer. Er wollte Ruhe haben, Charlotte wollte 
herrschen, und damit er Ruhe bekam, mußte er erst eine ganze 
tobende Wirrnis von Handlungen, Reden, Gesinnungen, Laufe- 
reien und Scherereien um sich herum schaffen, durchwaten und 
durchhauen, bis es endlich aufs alte hinaus und zurück kam. 
Es wäre doch viel besser gewesen, gleich von Anfang an lieber 
ruhig zu bleiben. Aber das war ihm nicht vergönnt. Er mußte 
ihr folgen, wie sie da vor ihm stand und ihn mit den scharfen 
Blicken maß und abwog. Wehe, wenn sie ihn zu leicht befand ! 
Davor, nur vor ihrer Verachtung hatte er solche Angst, daß er 
Mut bekam, eine Verwirrung zu stiften, vor der er sich eigent- 
lich sehr ängstigte. 

„Was soll ich denn also mit dem Unglücksmenschen anfangen?" 
„Du mußt dich mit ihm schlagen." 

„Aber unter welchem Vorwand? Ich kann doch keinem Men- 
schen erzählen, daß er dich hier im Garten geküßt hat Was 
würden denn die Leute glauben oder vermuten?" 
„So suche dir eben einen Vorwand." 

August sah mit seiner herausgeforderten Erfindungsgabe sehr 
fragwürdig drein. 

„Hat er nicht irgend etwas anderes Schimpfliches oder Be- 
leidigendes gesagt oder getan, bevor er wegging? Hast du nichts 
gehört? Was habt ihr denn gesprochen?" 
August wiederholte langsam die Geschehnisse der durstigen 
lustigen Nacht, und daß Gaber noch im Fortgehen recht herz- 
lich sein Wohlgefallen an ihrem Vater als an einem „schönen 

Stoessl, Das Haus Erath 3 33 



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Greise tf aasgedrückt habe, worauf alle vergnügt die Becher an- 
gestoßen und getranken hätten. 

„Schöner Greis!" „Das läßt du von deinem Vater sagen?** 
August blickte Charlotte verständnislos an. „Schöner Greis" 
war doch noch ehrenvoller als ein Kuß! Aber sie zwang ihn, 
endlich diese Beteuerung des Wohlgefallens als gerechten Vor- 
wand eines ritterlichen Einschreitens nicht nur auszugeben, 
sondern anzuerkennen. 

Und da junge Leute gewöhnt sind, für ihre Rauflust Vorwände 
zu suchen, hinter denen man auch* tiefergehende Dinge ver- 
bergen kann, fragten Augusts Sekundanten nicht weiter, sondern 
hielten die von ihnen selbst bejubelte Titulatur „schöner Greis" 
für eine ausreichende Beleidigung, um den Erfinder dieses 
Wortes zu fordern und ritterlich zur Verantwortung zu ziehen. 
August schlug sich mit Gaber, der seinerseits den eigentlichen 
Grund der Forderung kannte und deshalb auch den „schönen 
Greis" als Beleidigung gelten lassen mußte. Es gab ein paar 
flache Hiebe, eine scharfe tiefe Quart über Gabers braves 
Jungengesicht, und fortan eine stumme Feindschaft zweier harm- 
loser Leutchen, die aneinander ohne Gruß vorbeigingen, wäh- 
rend sie mit denselben jungen Männern weiter verkehrten, so 
daß jeder Mühe hatte, den oft genannten Namen des anderen 
zu überhören. 

Im Gartenhäuschen hing ein Gruppenbild von Augusts Bundes- 
brüdern. In der Mitte stand heiter und ohne Schuld der junge 
Gaber. 

Charlotte brachte auf dem Glase über diesem verhaßten Ge- 
sichte einen dicken Tintenklecks an, damit der ruchlose Mensch 
aus dem Hause und ihrer Gemeinschaft fürderhin ausgelöscht sei. 

In der Wohnung der Frau Amersin tobte noch das volle Durch- 
einander des Umzuges, auf Leitern standen Tapezierer und 
klebten Tapeten, Kleistertöpfe und Wassereimer gab es neben 
Mistschaufeln und Besen. Offene Schränke, auf allen Tischen 
und Stühlen Wäschestücke, Kleider und Geschirr; Bilderrahmen 
lehnten an einer Wiege, in der Wiege schrie die Jüngste, Emilie, 
zwischen den Möbeln spielte der Bub, Franz, Ball oder Eisen- 
bahn und benutzte die Mutter als gelegentliche Station oder 
als Zielscheibe, von ihr sauste er wieder zu den Leitern und 

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versachte hinaufzuklettern, stieg ab und warf einen Kleister- 
topf um oder stieß sich an einer Kante, heulte, wurde besänf- 
tigt oder gebeutelt und fing still von neuem an, eine Magd 
kehrte die Wände, eine Waschfrau scheuerte die Böden, alles 
wand sich durch die vielfachen Hindernisse. Frau Amersin mit 
einem bunten Kopftuche um das fromme, müde Kindergesicht 
rief hier einen Befehl, dort gab sie eine Auskunft, suchte nach 
einem verlorenen Hammer und einer geflüchteten Schraube, 
steckte einen Gegenstand zu sich, um einen anderen rettungs- 
los zn verlegen, dann war einem Boten etwas auszurichten, einem 
Handwerker eine Rechnung zu bezahlen, wenn man nur immer 
das nötige Kleingeld bei der Hand gehabt hätte, wo lag denn 
die Geldbörse? Wenn nur nicht jemand darüber gekommen 
war and längst alles gestohlen hatte, dazwischen mußte sie sich 
über die Wiege beugen, damit die kleine Emilie nicht so fürch- 
terlich schrie. Es fehlte dem Engelchen nämlich gar nichts, es 
wollte nur, daß sich die Mutter um es bekümmerte, Franz hatte 
derweile an der „Madonna im Grünen", dem schönen Stahlstich, 
der über Antoniens Bette hängen sollte, durch einen sicheren 
Warf das Glas zertrümmert, so daß sie rasch seine Ohren zum 
Beuteln suchte, indessen er unter dem Tisch wegschlüpfen 
konnte, weil es draußen klingelte und Antonie öffnen mußte. 
Es war aber noch recht früh am Tage, die Älteste, Thea, sollte 
ihr Frühstück bekommen, denn sie mußte in die Schule geführt 
werden. Gott sei Dank, daß Antonie wenigstens dazu einen 
Menschen hatte, auf den sie sich verlassen konnte, den Adam 
Hirt So sollte nun schon ihr Kind von dem kleinen Mann in 
die Schule geführt werden, wie sie selbst vor so vielen Jahren ! 
Ob Andreas überhaupt seinen Kaffee und seine Semmel be- 
kommen hatte, er saß jedenfalls schon längst im Geschäfte. 
Um den Mann konnte sie sich leider heute gar nicht kümmern. 
Ach v wenn sie es mit der Ordnung nur nicht gar so schwer ge- 
habt hätte ! Dieser Fluch des Vollkommenheitswahnes, unter 
dem sie litt! Weil alles immer bis ins letzte tadellos sein sollte, 
mußte sie überhaupt alles in seine Urbestandteile auflösen, ehe 
sie es wieder neu gereinigt und verbessert zusammenstellte, um 
wieder und wieder schmerzlich zu erkennen, wie viel dann erst 
an der Vollkommenheit fehlte. War aber alles so recht von 
Grund aus zerworfen und zerwühlt, so tat ihr dieser Jammer 
von Unordnung so weh und machte sie so herzensmüde, daß 

,* 35 



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sie sich am liebsten selbst wie einen verdorbenen Gegenstand 
hingeworfen und zu heulen begonnen hätte, bis jemand ge- 
kommen wäre, sie aufzuheben, zu trösten und ihr zu helfen. 
Sonst heiter und ohne viel Fragen nach dem Versagten, auch 
ohne besonderen Wunsch, mit dem taglichen Genügen einver- 
standen, war sie in solchen Stunden tief unglücklich und in das 
eigene Wesen ganz verloren, wie in einen Abgrund voll Flick- 
sachen, Möbelbestandteilen, Geschirr, Hausgerät, unbestellten 
Aufträgen, verwirrten Rechnungen und sonstigen bürgerlichen 
Höllenjammers. Da stand diese kleine Thea, schulfertig, aber 
nicht gewaschen und unfrisiert, aß einen Apfel und wischte sich 
zuweilen unbefangen die Hände an dem neuen blauen Matrosen- 
kleid ab, das sie zu Ehren der Schule bekommen hatte. Und 
kochen mußte Antonie heute auch noch, Gott weiß, woher sie 
Fleisch und Knochen und Gemüse und Mehl und Gewürz und 
Zwiebel dazu nehmen würde, vom Geschirr ganz abgesehen, 
das überhaupt noch gar nicht ausgepackt war. „Thea, wirst du 
dich waschen und kämmen, du großes Ding, und daß du den 
Apfel wegwirfst I Schämst du dich gar nicht? Du weißt, der 
Vater will nicht, daß ihr zwischen den Mahlzeiten und gar in 
aller Frühe Obst esset. Den Apfel hast du gewiß beim Adam 
ausgebettelt. Sieh den abscheulichen Fleck auf deinem schönen 
Kleide. Wenn du so unachtsam bist, mußt du das Kleid immer 
mit diesem Fleck tragen, so lange bis nichts mehr davon übrig 
ist, als dieser Fleck. ** 
„Macht nichts, Mama." 

Emilie schrie, draußen ging die Glocke, die Geldbörse war noch 
immer nicht gefunden, Adam Hirt kam endlich und lachte schon 
an der Türe, wie lange hatte es hier im Hause keine so ver- 
gnügte Kinder- und Hausfrauenunordnung gegeben. 
„Ich hole die kleineThea. Wir gehen miteinander in die Schule.** 
Thea schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie wollte nicht mit dem da 
gehen, sie wollte überhaupt nicht gehen. Es gefiel ihr in der Un- 
ordnung, wie die Vögel am liebsten und lautesten zu zwitschern 
anfangen, wenn die Menschen recht durcheinander schreien. 
Antonie redete ihr gut zu und streichelte Adam Hirt, damit 
Thea zu ihm Zutrauen fasse, Adam Hirt grinste sein frömmstes 
Grinsen, versprach Thea einen neuen Apfel und Frau Antonie 
nahm ihrer Altesten tausend feierliche erzwungene, darum un- 
gültige Gegenversprechungen ab, sich wohl zu verhalten, auf- 

Ab 



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merksam zu sein, sich noch vorher zu waschen und das Kleid 
rein zu bürsten, in der Schule nichts anzustellen und nachher auf 
der Gasse mit Herrn Adam wieder nach Hause zu gehen, der 
bestimmt auf sie warten wurde. Endlich war Thea mit Adams 
Hilfe so weit und machte sich mit ihrem buckligen Huter auf 
den ersten Schulweg. 

Indessen kamen die Schwestern Charlotte und Agnes in ihren 
schönen Kleidern und blickten auf dieses Bild der Zerstörung. 
Daß sie nicht mithalfen, hatte seinen Grund in der peinlich 
genauen Abgrenzung der Pflichten, die im Erathschen Hause 
von je üblich war. Auch mit freiwilliger Hilfe zögerte man, weil 
sie als Eingriff in Recht und Pflicht des Nächsten hätte auf- 
gefaßt werden können, wie man denn überaus empfindlich und 
beinahe diplomatisch miteinander umging. War Hilfe ernstlich 
not, so leistete man sie wie ein wahres Opfer aus dem gleichen 
Pflichtgefühl und Rechtsgedanken, nicht aus dem vollen un- 
überlegten Herzen. Antonie lachte denn, als die beiden schönen 
Damen erschienen und die Unordnung fachlich besahen, und 
sie waren alle drei eine kurze Weile wieder übermütig wie in 
früherer Zeit, bis Antonie sich auf das ungekochte Mittagessen, 
das unauffindbare Geldbörschen und alle die unausgepackten 
Gegenstände besann. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt, genau 
so wie Thea und wie sie selbst als Kind, inmitten der Unordnung 
ein Buch vornehmen, in einer Ecke sich niederlassen könnte 
und an das Elend nicht mehr denken müßte. Sie seufzte 
lachend, Agnes und Charlotte lachten seufzend, so ging es im 
Ehestande. 

Inzwischen spazierte Thea an Adam Hirts Hand zur Schule. 
Man brauchte nur den Scharen kleiner Leute zu folgen, die aus 
allen Nebengassen durch die Schottenfeldgasse strömten. Kna- 
ben für sich, Mädchen beisammen, nach Jahrgängen getrennt, 
wie die Menschen immer gleich zu gleich streben und die fremde 
nächste Klasse mit Apfelresten bewerfen oder mit Steinen oder 
mit stummer Verachtung, je nachdem. 

Was es da alles zu sehen gab ! Welche Zopf bänder und Lineale 
und Frühstückskörbe und welche neuen Gesichter! Und so viele 
Menschen , wie in Lichtenau das ganze Jahr nicht. Wenn der 
dumme alte Adam sie nur nicht immer so fest an der Hand gehalten 
hätte. Sie hätte gleich zu den kleinen Mädchen laufen mögen. 
Da waren sie schon vor der Schule. Sie hörte gar nicht mehr 

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auf Adam Hirts Ermahnungen, daß sie ihn nach dem Schluß- 
läuten hier an dieser Stelle pünktlich erwarten müsse, ja, sie 
war so geschickt und hurtig, daß sie zwar den versprochenen 
Apfel nahm, aber ausbeugend davongeschlüpft und dem schul- 
digen Kuß entgangen, stolz, als wäre sie ganz ohne Begleitung 
gekommen, durchs Schultor wanderte. 

Sonst ging der Tag an Thea ohne tieferen Eindruck vorüber, 
denn die Menschen, die Knaben, die Mädchen und die vielen 
Straßen der Stadt waren ihr wichtiger, als das einfache weiße 
Zimmer mit den rasch überblickten Bänken, Schultafeln, Land- 
karten, Gasarmen, dem alten Lehrer und der Ast-Nest-Fibel. 
Das eine wußte sie, nach Hause würlde sie allein gehen und auf 
Adam Hirt nicht warten. Alle Kinder gingen allein, es wäre 
eine Schande, sich wieder von dem alten Adam führen zu lassen, 
bucklig war er auch noch. 

Da stand er schon unten und schaute. Der mochte lange schauen. 
Sie wußte es mit gewiegter Schlauheit anzustellen, daß sie zu- 
erst im Hausflur wartete, dann neben und hinter einer Erwachse- 
nen hinausschlich, bis sie um die Ecke gekommen war, ohne 
daß Adam sie bemerkt hatte. Der passte vielmehr geduldig, 
sah nach ihr aus, ging endlich besorgt ins Schulhaus und suchte 
sie im Klassenzimmer, fragte den Schuldiener, etliche Lehr- 
kräfte und erfuhr bloß, die Kleine müsse schon weggegangen 
sein. Adam Hirt ward an seinen alten Augen irr, er mußte sie 
übersehen haben, das kleine Teufelsmädel, vielleicht war sie 
den bekannten Weg allein zurückgegangen. So ging auch er 
den bekannten Weg allein zurück. Aber keine Thea war zu 
Hause. Frau Amersin stand auf der Leiter und stäubte gerade 
die Rosette an der Zimmerdecke ab, als Adam Hirt den Kopf 
hereinsteckte, um die verlorengegangene Thea zu suchen. Man 
wollte Boten aussenden. Adam Hirt würde sie natürlich suchen, 
aber vielleicht konnte man noch auf anderen Wegen andere 
Leute ausschicken. Vielleicht sollte sie selbst? Nun, Tante 
Charlotte erklärte sich ebenfalls bereit, zu suchen. Stiehlt man 
in Wien nicht kleine Kinder aus besseren Häusern, um sie zum 
Betteln zu verwenden? Und wenn sie sich verirrt hatte oder 
überfahren wurde? Ach, hätte die Suppe draußen nicht zum 
Überlaufen gekocht! Das Geschirr war noch immer nicht aus- 
gepackt — hätte die kleine Emilie nicht wieder geschrien, weil 
Franz ihr den Ballen ins Gesicht geworfen hatte — , wäre das 

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Mittagessen nicht schon so dringend gewesen und die fremden 
Arbeiter in der Wohnung bei lauter offenen Schränken» Antonie 
hatte sich der Angst überlassen und wäre gewiß davongelaufen, 
die kleine Thea zu suchen. Aber so glich eine Besorgnis die 
andere aus, wog ein Ungemach das andre auf und hielt dieses 
hausfraulich mütterliche Schwebedasein im Gleichgewichte, so 
daß Antonie mit gedämpftem Jammer gefaßt das Unvermeidliche 
abwartete und mit einer leisen aber untrüglichen Gewißheit, es 
würde sich alles schon wieder in Wohlgefallen auflösen. 
Indessen hatte Thea einen Kameraden entdeckt und rasch Be- 
kanntschaft geschlossen. Er war so fein zerlumpt und so erfreu- 
lich schmutzig, barfuß und mutig. Wie er in alle Lachen und 
Pfützen stieg, daß das Wasser ihr, die neben ihm ging« bis ans 
Gesicht spritzte, wars nicht großartig? Nun begann es auch 
noch zu regnen und troff nur so vom Himmel. Aus den Dach- 
rinnen flössen ganze Bäche. Da spürte sie, daß sie eigentlich 
Durst hatte und teilte es ihm mit Nichts einfacher als das. 
Hätte man nur immer so viel zu essen, wie zu trinken! Er 
legte sich unter eine Dachtraufe und ließ sich das Wasser in 
den Mund laufen. So mußte mans in der Welt machen. Sie 
tat es ihm gleich nach. Das schmeckte gut Leider war sie 
nun bis auf die Haut naß und fror. Auch kannte sie sich in 
der Gegend nicht mehr aus. Alle Gassen sahen einander gleich, 
aber waren andere, als heute früh. Wo war sie hingeraten? 
Wenn nur der alte ekelhafte Adam Hirt dagewesen wäre! Sie 
begann leise ans Weinen zu denken. Der Bub aber zeigte 
keine besondere Teilnahme weiter. Vielmehr besah er sie mit 
Geringschätzung und fragte bloß, was sie denn in der Hand 
trüge. Ach, das war ein Futterkorb mit einer schön hergerich- 
teten Schinkensemmel, die sie in der Zehnuhrpause hätte essen 
sollen. Da sie keinen Hunger gehabt hatte, trug sie das Früh- 
stück jetzt noch mit „Gib her, u sagte er, und sie ließ es sich 
ohne Widerrede nehmen. Er biß sogleich hinein und rannte 
davon. Mit seiner Teilnahme für sie war es aus. Sie stand auf 
der Gasse und überlegte, ob sie ihm weiter nachlaufen sollte, 
war er doch der einzige Mensch, an den sie sich im Augenblicke 
halten konnte« Eigentlich wäre sie jetzt auch hungrig gewesen. 
Wenigstens glaubte sie es, da sie das Futterkörbchen leer in 
der Hand hielt Da kam aber richtig der ekelhafte Adam Hirt 
mit vielen Bücklingen und zusammengeschlagenen Händen und 

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Gelachter und bekümmerten Augen, packte sie, wie sie war, und 
trug sie als ein Bündel zu Hause. Sie war nämlich gar nicht so 
weit von der Schule weg, wie es ihr und allen vorkam, und länger 
als eine Stunde war sie auch nicht auf Abenteuer fort gewesen, 
aber gerade lang genug, um große Angst zu haben und hervor- 
zurufen und so der Mutter eine jener vielen Wunden beizu- 
bringen, von denen ein mütterliches Herz tagtäglich verletzt 
wird, um desto stärkeren und liebevolleren Widerstand zu lei- 
sten gegen neue Wunden. Antonie lachte bei all ihrem Verdruß 
über das erste Abenteuer der kleinen Thea, und daß es sich 
mit einem männlichen Verführer zugetragen hatte, gab ihr und 
den Schwestern einen heiteren Unterhaltungsstoff inmitten der 
Plage und Unordnung. 

Da erschien aber auch noch die Schwester Elisabeth, um An- 
tonie und die Ihrigen in der Heimat zu begrüßen, mit ihren 
beiden Kindern, die gerade je um ein Jahr jünger waren, als 
Thea und Franz. Elisabeth war zum Spazierengehen angezogen, 
in einem dunkelblauen Tuchkleide, einen Sammethut auf dem 
schönen blonden Haupte. Das Haar quoll an den Schläfen in 
vollen Wellen unter dem Hut hervor und glänzte zart Die 
schlanke Gestalt war stolz und ebenmäßig, als hätte sie gleich 
in eine Königinnenkarosse steigen sollen. So neigte sie auch 
hier grüßend den kühl lächelnden Kopf und war ein wenig ver- 
wirrt, als Antonie sie sah und ihr, über Eimer und Möbelstücke, 
Besen und Pakete stolpernd, lachend und weinend, staubig und 
nachlässig angetan, um den Hals fiel. 

Bei dieser Begegnung standen Elisabeths Kinder ratlos neben 
der schönen Mutter, ebenso großartig wie diese, aber nur wegen 
der guten anerzogenen Haitang und ihrer gehorsamen Gemüts- 
beschaffenheit so vornehm anzusehen, nicht etwa weil an ihre 
Kleidung mehr aufgewendet worden wäre, als für solche kleine 
Leute passend erschien. Die fünfjährige Corona — ein Eben- 
bildchen Elisabeths — hatte offenes blondes Haar, das ihr in 
einem hellen, ährengelben Strome bis zu den Füßen floß, auf 
schlanken Beinen, in silbergrauen Strümpfen und mit grauen Lei- 
nenschuhen stand sie lichtgekleidet da und musterte mit küh- 
lem, sanftem Blick die ganze unordentliche Welt hier. 
An der anderen Seite der Frau Elisabeth hielt sich der vierjährige 
Albrecht an ihren Rock und sah mit ruhigen beobachtenden 
braunen Augen um sich. 

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Elisabeth hing lange am Halse der Schwester und, erst noch 
kühl and. gefaßt, wie sie es von jeher gewohnt war, wurde sie 
unter der Umarmung der alteren, weicheren, zärtlicheren Antonie 
gleichsam beseelt and erwärmt, es stieg ihr ein heißer Blutstrom 
von Zagehörigkeit and schwesterlichem Gefühl in die Wangen 
und trieb ihr Tränen in die Augen. Am Halse der Schwester 
webend, hatte sie keinen Halt mehr, sondern ward ganz er- 
schüttert, daß sie schluchzte und bebte, bis sich ihr unvermuteter 
und unvorhergesehener Kummer den beiden Kleinen an ihrer 
Seite mitteilte, wie zwei Ästen vom Stamme her, so daß gleich 
die schlanke Corona leise zu weinen und Albrecht seinen jünge- 
ren vier Jahren gemäß, zu heulen begann, Grund genug, daß 
Thea, die ohnehin schon ein schweres Erlebnis hinter sich and die 
mütterliche Ermahnung noch in allen Gliedern hatte, einstimmte, 
Franz nicht zurückblieb und die jüngste Emilie in der Wiege 
auch ihrerseits Grund genug fand, am lautesten einzugreifen. 
Dieses vielstimmige Familienweinen mitten unter dem Lärm, 
Geschiebe und Getue der Arbeiter und vor den beiden ledigen 
Schwestern, die mitleidig, aber doch sozusagen unbeteiligt da- 
standen, brachte die beiden Frauen, die damit begonnen hatten, 
auch wieder zum Aufhören. 

Antonie war die erste, die sich faßte, ihre Haube zurechtschob, 
mit dem Ärmel über das nasse Gesicht wischte und zu lächeln 
anfing, so daß über die runden Kinderwangen und in den blan- 
ken braunen Augen ein heiteres Wetter leise zu erglänzen be- 
gann noch unter dem raschen Abziehen des Kummers, wie ein 
Sonnenregen. Da lächelte auch Elisabeth wieder, aber um eins 
mühseliger und strenger. Antonie ließ Elisabeth los, beugte sich 
zu den verschüchterten Geschwisterkindern, begrüßte die beiden 
und hieß sie ihre Namen sagen und was sie sonst etwa noch 
zu reden wüßten. Dann zog sie Thea herbei und den entsetz- 
lich schmutzigen Franz, verglich die Ungebärdigkeit und Un- 
gepflegtheit der ihrigen mit der sauberen Haltung und Bravheit 
Coronas und Albrechts. Die Kinder sollten sich nun anfreun- 
den. Franz versuchte mit Albrecht in ein Handgemenge zu 
kommen, was ihm beinahe gelungen wäre, wenn der besonnene 
fremde Kleine sich nicht zuguterletzt entschlossen an Elisabeths 
Rock gehalten hätte. Thea stand neben Corona und betrach- 
tete die fürstliche kleine Cousine aus einem unwillkürlichen 
Achtangsabstande mit Blicken voll Bewunderung wie ein höhe- 

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res Wesen, weil sie selbst nicht so aussehen und sein konnte ! 
Die Großen aber redeten zueinander und [mit den Kindern, 
über sich selbst und über die Kinder, über alle die verflossene 
und gegenwärtige Zeit und maßen einander mit ähnlichen Blicken, 
mit Wünschen und Kummer und mit unausgesprochenen Ah- 
nungen und Gedanken. 

Obgleich Charlotte nichts sagte und — beiden Schwestern 
freundlich gesinnt — auch in ihrer Miene keine Anspielung 
zeigte, glaubte Agnes doch, einen gewissen Triumph ihrer Frei- 
heit zu spüren. 

Antonie wandte sich nach den beiden Ledigen: „ Wartet nur. 
Euch wird es auch nicht anders gehen! 4 * 

5. 

Langsam hatte die Familie Amersin sich in der Stadt einge- 
richtet und den vordem auf die weite Landschaft eingestellten 
Blick auf die enge Nähe beschränkt. Herrn Amersins kern- 
gesunde bäuerliche Lebenssicherheit machte ihn besorgt um 
die städtische Zartheit der Seinigen, namentlich Antoniens, die 
im Winter ein viertes Kind geboren hatte, das blutlos, blaß und 
leicht wie eine Feder zum Wegblasen in der Wiege lag. 
Den ganzen Tag lang gab es für Antonie keinen ruhigen Augen- 
blick. Das Haus war in Ordnung zu halten, die offenen kleinen 
Manier zu füttern und zu beschwichtigen, die Wäsche zu flicken, 
die Möbel instand zu halten, zu waschen gab es und zu nähen, 
zu pflegen und zu betreuen, zu wiegen und zu lenken, in Schlaf 
zu singen und zu ermahnen, zu kochen und zu denken. Antonie 
hätte sich manchmal am Tage gern hingelegt und von nichts 
gewußt, als von ein bißchen Schlaf und Ruhe, aber dazu fand 
sich keine Zeit, so oft Amersin sie auch darum bat, sich zu 
schonen. Sie dankte ihm lächelnd, er meinte es freilich gut, 
aber er hatte leicht reden, wenn nun soviel Arbeit für sie da 
war, die getan werden mußte. 

Herr Amersin hatte wahrlich als Junge gegessen, was eßbar 
war und war froh gewesen, wenn es was zwischen die Zähne 
gab. Eben darum sollten die Kinder dieser zarten Mutter be- 
sonders sorgfältig aufgefüttert werden. Herr Amersin hatte seine 
eigenen Begriffe von Nahrhaftigkeit und Zuträglichkeit Butter- 
brot, das alle Kinder zu jeder Zeit am liebsten verlangen, durf- 
ten sie nicht bekommen, das war zu „schwer", wie er sagte, 

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Obst, die verheißungsvollen Äpfel und Birnen und die anderen 
Früchte des Kinderparadieses durften sie nur nach Tisch und 
knapp zugemessen bekommen, ein Glas Rotwein aber mußten 
sie täglich als Arznei trinken, wegen des Eisengehalts und der 
angeblich blutbildenden Kraft Bei dieser sorgfältig törichten 
Auswahl gediehen die Kinder nicht gut, sahen blaß aus und 
waren oft krank. Dann rief man den Hausarzt, den Doktor 
Urfeldt, einen alten Herrn, der schon die Erathschen Kinder 
behandelt hatte und darum als medizinisches Erbstück galt, 
wenn man gleich von seiner besonderen Wissenschaft wenig 
hielt Der weißlockige Doktor besah sich die Kleinen, befühlte 
ihre mageren, knochigen Körper, schüttelte den Kopf und sagte: 
„schlecht genährt", riet allerhand derbe Kost und verschrieb 
keine Arznei, sondern natürlichen Appetit und Essen und Trin- 
ken nach Lust und Verlangen und ohne ängstliche Auswahl. 
War er weggegangen, so zuckte Amersin die Achseln: seine 
Kinder schlecht genährt, bei seiner Vorsicht! Der Doktor war 
ein Esel! 

Aber diese ängstlich behüteten Zimmerpflanzen hatten gleich- 
wohl eine Teufelswildheit und Bauerngrobschlächtigkeit in sich, 
die innere Kräfte anzeigte und austoben ließ, von denen das 
Außere gar nichts verriet Der älteste Bube Franz, Amersins 
Stolz und Liebling, war ein Ausbund von blindem Kindereifer, 
Herr Amersin mußte eines hartnäckigen Katarrhs halber in- 
halieren, das Dienstmädchen stellte einen Topf mit siedendem 
Wasser hin. Franz, der eben auf dem Tische rutschte, schlug 
mit tausend Freuden auf den Topf, daß das Wasser in einer 
Säule herausstieg und ihm die Brust versengte, so daß er die 
Wunden sein Leben lang am Leibe behielt 
Ein andermal saßen Thea, Franz und die kleine Emilie abends 
in der Dämmerung auf dem Sofa im Speisezimmer und berieten, 
wie sie der Mutter, die gerade in der Küche Wäsche bügelte, 
eine Freude machen könnten. Da stieg Franz auf das Sofa, 
sprang durch die Glastüre, die zur Küche führte, und zerschnitt 
sich das Ohr. Der Doktor mußte es ihm noch am Abend ver- 
nähen. Es gab keinen Tag ohne solche kleine Leiden, große 
Schmerzen, Ängste und Verdrösse. Franz war wirklich nicht zu 
ertragen. Wußte Antonie gar nicht mehr, wie sie ihn zügeln 
sollte, dann schrieb sie einen Zettel an ihren Mann, redete dem 
Knaben freundlich zu, er solle dem Vater diesen Brief bringen 



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und ihn schön von der Matter grüßen. Franz nahm täglich be- 
friedigt diesen Uriasbrief entgegen und freute sich gleichwohl, 
zum Vater zu kommen, trotzdem er eigentlich schon hätte wissen 
sollen, was diese Sendung bedeutete. 

Auf dem Zettel stand: „Lieber Andreas. Ich halte es mit dem 
Buben nicht mehr aus. Bitte nimm ihn zu dir. Antonie" oder 
so ähnlich. 

Damit stieg Franz ins Magazin hinab, wo Herr Amersin vor 
seinen großen Geschäftsbüchern saß und den Sohn nicht allzu 
überrascht empfing. Das Stehpult mit seinen mächtigen Folian- 
ten war an einer Seitenwand so aufgestellt, daß Herr Amersin, 
wenn er davor trat, oder sich auf den drehbaren Hocker davor 
niederließ, mit dem Blicke den Hof und Garten und seine dort 
spielenden Kinder überblicken konnte. So war dieses helle 
Magazin mit dem gehobelten Bretterboden und dem Fenster 
auf das Grün und die Bäume, sowie auf das Leben draußen, 
auf Kinder und Spatzen und Amseln gewissermaßen gesellig 
gelegen und teilnehmend, im Gegensatze zum abgeschlossenen 
kirchholzenen Arbeitsallerheiligsten Herrn Eraths, dessen Gas- 
se nfenster dicht und weiß verhängt war. Es gab einen Stiegen- 
sessel mit einem Geländer im Magazin, über dessen oberster 
Treppe Franz die fällige Strafe bekam, um sich dann auf die 
unterste niederzulassen und seine Schularbeiten hier, in Gegen- 
wart und unter Aufsicht des Vaters zu beendigen. Da Herr 
Erath Schlag drei Uhr mit Lodenhütel und Haselstock aufbrach, 
hatte Amersin bis spät am Abend im Geschäfte zu arbeiten und 
alles auszuführen, was leicht anzuordnen und zu befehlen, aber 
umständlich ins Werk zu setzen war. 

Kam er dann endlich zwischen acht und neun in seine Wohnung 
zum Nachtmahl, selbst müde und bekümmert, so war Antonie 
von der überstandenen Mühe des Tages vollends überwältigt 
und konnte nur noch alle ihre Sorgen vorseufzen und die Misse- 
taten der Kinder anklagen, die freilich längst beschwichtigt nnd 
arglos in ihren weißen Bettchen lagen und ruhig den kummer- 
losen Schlaf ihrer gerechten Zeit schliefen, indes Vater und 
Matter sich um jedes von- ihnen wachend weitersorgten. 
Am Sonntag wurden die drei älteren, die schon gehen und 
sprechen konnten, gewaschen und gestriegelt, der Bub in einen 
grünen Sammetanzug, die Mädchen in weiße, schön gefältelte 
Kleidchen gesteckt Die Schuhe waren von Adam Hirt beson- 

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ders glanzvoll gewichst Die kleinen Frauenzimmer bekamen 
weiße Filzhütchen mit weißen Seidenbändern. So sollten sie 

unter Führung des Vaters in die Kirche gehen. Antonie blieb 

zu Hause, da sie zu kochen hatte. 

Bevor man aber aufbrach, mußten die Kinder noch zum Groß- 
vater, sich anmelden und guten Morgen wünschen, denn der 
empfing ihren förmlichen Besuch nur Sonntags in der Frühe, 
wie er sich denn, je mehr die Familie anwuchs, unwillkürlich 
mehr noch zurückzog und unnahbarer verhielt. Wie eine Ma- 
jestät vernahm er von allen Neuerungen nur den letzten ge- 
dämpften Nachklang in seinem kirschholzenen Audienzzimmer 
und was man ihm etwa sorgfältig abgemessen in vorsichtiger 
Auswahl vorlegte, wobei Charlotte als bevollmächtigter Minister 
Bericht erstattete. Mit ihr wurden immer auch die Verhand- 
lungen geführt, was man dem Vater sagen müßte und wie sie 
es vorbringen sollte. Nur selten erwartete oder verlangte man 
von ihm einen unmittelbaren Bescheid, denn unter dem Vor- 
wande, ihn mit unangenehmen Angelegenheiten zu verschonen, 
wollte man auch sich selbst Auseinandersetzungen mit dem 
alten Herrn ersparen, die man fürchtete, weil irgend ein Macht- 
spruch am Ende doch etwas Unerwünschtes ohne Ausweg vor- 
geschrieben hätte. So bekam er denn auch die Enkelkinder 
nur am Sonntag in feierlicher, schönster Zurüstung zu seheft, 
als sei die Welt immer so wohlanständig und sorgfältig zur 
Freude des größeren, mächtigeren und leider noch zurückge- 
zogeneren Großvaters, des lieben Herrgotts zugerichtet, damit 
er, der ihre stürmischen Wochentage verhängt, sich nun bloß 
zu schmeicheln brauche, es sei alles gut 
Herr Erath saß aufrecht in seinem Rohrstuhle am Schreibtisch 
und empfing den Besuch seiner Enkel, die von Amersin nur 
bis zur Türe geführt, nun bescheiden pochten und auf des Groß- 
vaters „herein 44 paarweise vor ihn traten. 
Er sah jedem freundlich und doch weit wie aus den Wolken 
des Greisenalters ins Gesicht und fragte : „Warst du auch immer 
brav, hast du ordentlich gelernt und deinen Eltern Freude ge- 
macht? 44 

Darauf antworteten alle immer „Ja 44 , denn ein „Nein 44 oder 
eine unsichere Auskunft lag nicht im Plane dieser Vorstellung. 
Dann nickte der Großvater befriedigt, „sah, daß es gut war 44 , 
öffnete die Schublade zur Rechten, wo er in einer großen Schach- 

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tel süßes Weingebäck aufbewahrt hielt, das er selbst zu seinem 
Abendtrunk zu genießen pflegte, sogenannte „Korsikaner", 
dünne, braune, knusperige dreieckige Täfelchen eines Mandel- 
gebäcks. Davon reichte er jedem Kinde drei Stück« 
Aus der Schreibtischlade zur Linken aber bot er jedem je ein 
kupfernes Vierkreuzerstück, damit sich jedes etwas kaufen möge, 
was sonst zu begehren übrig stünde. 

Mit dieser Wegzehrung für diesenTag und für eine ganze Woche 
waren sie entlassen, bekamen einen Kuß auf die Stirne, der 
Großvater winkte ihnen mit der Hand freundlich zu, sie gingen. 
Amersin führte sie vor die Kirche, schärfte ihnen noch Wohl- 
verhalten ein und sie mußten das Hochamt hören, indes der 
Vater einen Spaziergang unternahm, bis er sie wieder abholen 
kam. 

Warum er nicht mitging und selbst an dem Gottesdienste teil- 
nahm, wußten die Kinder nicht, wenn eines gelegentlich fragte, 
bekam es keine genaue Antwort und sie beschieden sich bald 
mit der Tatsache und Einrichtung, daß der Vater ihren Sonn- 
tagsmorgen so für nötig und in der Ordnung hielt und seine 
Begleitung nur bis zum Eingange. 

Darin war wiederum Amersin seinerseits einem Herrscher gleich, 
der für das „Volk" gewisse Einrichtungen für notwendig hält, 
deren er für seine eigene Person entraten zu können glaubt. 
Die kleine Frantzlsche Familie stand im Hause Erath und 
Amersin in besonderem Ansehen, als bedeute sie etwas Aus- 
erwähltes Höheres. Trug schon der Name der angesehenen 
Frantzlschen Firma und ihr bekannter Reichtum, ihre allge- 
meine Geltung im Bezirke dazu bei, die Familie des ältesten 
Sohnes auszuzeichnen, so tat Elisabeths Sinn und Haltung das 
übrige. Ihre beiden Kinder hatten eine natürliche Besonnen- 
heit und Sicherheit des Auftretens, die von Antonie Amersin 
bewundert und von ihren unruhigen, lebhaften, streitenden und 
lärmenden Kindern verdrießlich beneidet wurden. 
Corona stand und ging zierlich wie eine kleine Königin, Albrecht 
ernst und feierlich wie ein wehmütiger Edeljunker. Ihre Kleider 
waren sorgfältig angemessen und aus feinem Stoff, aber auch 
geschont und ohne Flecken, denn die Kinder verdarben nichts 
und wenn sie ihre schönen Spielsachen zeigten, waren es lauter 
wertvolle, teure Dinge, sorgfältig gehalten, immer in gutem 
Gange, so daß Thea und Franz nachher Antonie mit allerlei 

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Wünschen und Hinweisen im Ohre lagen, das und dies möchten 
sie doch auch haben, wie Corona und Albrecht, und warum 
bekäme Thea kein schottisches Kleid wie Corona, oder Franz 
keine Eisenbahn wie Albrecht. 

Dann redete Antonie ihnen gütig zu: „Das kommt, weil ihr vier 
seid, Corona und Albrecht aber nur zwei. So verteilt sich alles 
Geld, das Tante Elisabeth für ihre Wirtschaft braucht, auf zwei 
Kinder, meines aber muß für euch vier reichen und ich habe 
Sorge genug, wie ich euch ordentlich halte und kleide, da reicht 
es dann zu überflüssigen Dingen freilich nicht und ihr dürft 
euch derlei auch nicht wünschen, denn alles, was ihr braucht, 
habt und bekommt ihr. 4 * 

„Aber ich möchte so gern 44 , drängte Thea schmeichelnd. 
„Ohl Ich möchte auch manches, mein Kind, 44 seufzte Antonie, 
wie zu einer erwachsenen Herzensfreundin: „vieles möchte ich 
und kann es nicht haben, zum Beispiel möchte ich, daß du dein 
Kleid so rein hieltest, daß es den ganzen Tag sauber bleibt und 
nicht schon um zehn Uhr gewechselt werden muß. Dann möchte 
ich weniger waschen und flicken müssen und du könntest es 
gut so einrichten, daß mir der Wunsch erfüllt würde, brauchtest 
dich nur weniger schmutzig zu machen und weniger zu zerreißen. 
Und vieles andere möcht' ich. Da es aber nicht sein kann, muß 
ich mich bescheiden, und das ist ganz recht, denn jeder Mensch 
muß sich bescheiden, keiner hat alles was er will. 44 

6. 

Frau Elisabeth Frantzl ging unruhig in ihrem Schlafzimmer um- 
her und blickte zuweilen ärgerlich durch die offene Tür auf 
das helle Speisezimmer, wo sie den Tisch hatte decken und 
einen sorgfältig zugerichteten kalten Imbiß auftragen lassen, 
denn sie wollte heute — es war um die Novembermitte — eine 
Abendunterhaltung besuchen und wartete bloß, daß ihr Mann 
sie abzuholen kam. Sie hatte immer Angst, wenn es eine solche 
Abredung gab, denn ihr Mann war nicht der Mann, sich darum 
zu kümmern. Nie konnte sie, die von ihres Vaters Hause her 
gewöhnt war, alles auf die Minute genau einzurichten und be- 
reit zu finden, in ihrer eigenen Wirtschaft auf irgend etwas 
Sicheres rechnen. Zu Mittag brannten ihr die Speisen an, wenn 
sie auf Heinrich wartete, oder sie mußte die Mahlzeit auftragen 
lassen und allein mit den Kindern essen, denn statt um zwölf 

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erschien er um drei. Hatte sie eine Besorgung oder einen 
Abendweg vor, so konnte sie von Heinrich nie die Angabe einer 
Stande erreichen, an die sie sich hätte halten können. Schon 
die Forde rang, daß er sich so binden sollte, erregte seinen Un- 
willen und führte zu Auseinandersetzungen, die er mit Vorliebe 
und Behagen ausbreitete, während sie am liebsten in Weinen 
ausgebrochen und davongelaufen wäre. Ihr war dann immer, 
als liefen ihr Mücken summend und zehrend durch den Kopf 
und über die Haut, indes sie Heinrichs zerdehnte Rede hören 
mußte, die immer von neuem einsetzte, immer neue Gründe 
herbeibrachte und doch nur Willkür und Obel vermehrte, wenn 
es überhaupt noch Recht und Unrecht gab, wo so grundver- 
schiedene Menschen aneinandergerieten, die nach entgegen- 
gesetzten Seiten zogen und doch zusammengespannt waren. 
Dabei glaubte sie immer, sie müsse es als Pflicht ertragen, aber 
zugleich doch eine Änderung erwirken, denn es sei ja nicht 
möglich, daß ein Leben und Ehestand wegen solcher jämmer- 
lichen Einzelheiten verwirrt werde. Weil sie aber nicht nach- 
ließ, zu fordern, was er nicht leisten konnte, und er nicht nach- 
ließ, als das gute Recht seiner Freiheit zu tun, woran sie sich 
nicht gewöhnen mochte, gab jeder neue Tag ein neues Beispiel 
der Unmöglichkeit eines ruhigen Ausgleiches. 
So wartete sie jetzt auf ihn, denn sie wollte auf den Ball fahren. 
Schon war ihr Anzug vollendet, sie hatte vor dem Spiegel ge- 
funden, daß sie ganz gut aussah. Das Kleid, zwar bescheiden 
und zu Hause gearbeitet, denn sie erlaubte sich keinen über- 
mäßigen Aufwand, ein silbergraues, eng angeschlossenes, nur 
am Halse in einem schmalen spitzenbesetzten Ausschnitte leise 
geöffnetes Seidenkleid mit einem engen Falbelrocke, aus dessen 
gefältelten Streifen gelbliche Spitzen hervorsahen, stand vor- 
nehm zu ihrer strengen Haltung, die alles kostbar und großartig 
machte, was sie trug. Sieben Schnüre Perlen lagen um ihren 
Hals, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte — achtundzwanzig 
waren auf die vier Töchter verteilt worden, so daß jede sieben 
Schnüre Perlen wie eine glänzende Wochenreihe bekam, — das 
Haar hatte sie selbst geflochten und zu einer Krone um den 
Kopf gelegt. Die Ärmel des Kleides reichten bis zu den Ell- 
bogen und ließen ihre Unterarme frei. Sie wartete noch, die 
schwedischen Handschuhe hinaufzuziehen, und ging auf und ab 
und zürnte und sammelte allen Groll in der Stille ihres Wartens 

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und Alleinseins. Die Kinder hatte sie zu Bett gebracht, Corona 
und Albrecht hatten noch viel gefragt, ihr Abendkleid angestaunt 
und gebeten, warten zu dürfen, bis sie fertig war. So hatten sie 
sie noch bewundert, wie sie schlank und hell, schimmernd wie 
eine Stahlklinge dastand, streng und freundlich blickend, Rosen 
auf den schmalen Wangen, denn noch lief ihr ein frohes Feuer 
durch die Glieder, wenn sie an einen Abend mit Tanz und 
Musik und vielen Leuten dachte, war sie doch noch jung genug 
und wußte sich schön. Wie würde dieser unverschämte Florian 
sie anstaunen. Sie errötete bei dem Gedanken bis tief in den 
Nacken unter der Seide und unter den kühlen Perlen und freute 
sich dennoch leise, daß man sie so anschauen mußte, denn es 
war ihr gutes Recht, solche Blicke zu bekommen, wenn sie auch 
tun wollte, als bemerke sie sie nicht, und wenn sie auch die 
Menschen selbst verwarf, die so schauten. Nicht auf die Manner 
kam es an, die einen so anstarrten, sondern auf die Blicke 
selbst, die von überallher drangen und die einzige Schönheit - 
fanden und dadurch erst zu Werte brachten. 
Doch Heinrich kam nicht Sie ging auf und ab und hörte die 
Viertelstunden draußen von der Kirche her durch das Schnee- 
wetter läuten, das den Schall deutlicher trägt, sie sah im Speise- 
zimmer nach und stellte den Teekessel zurecht, um wenigstens 
dann keinen Augenblick zu versäumen, wenn ihr Mann eintraf. 
Es hungerte sie, und gerne hätte sie von den kalten Speisen 
genommen, aber es schien ihr nicht gut, die Ordnung zu stören, 
ihr Mann sollte sehen, daß sie um seinetwillen gewartet hatte, 
daß er schuld daran war, wenn sie hier hungern mußte, dann 
zu spät auf die Unterhaltung kam und das Opfer seiner Laune 
würde. Aber er wollte sich gar nicht beeilen, das zu sehen. Es 
wurde neun Uhr und halb zehn, ohne daß er erschien. 
Sie hätte sich gern niedergesetzt, aber sie wollte ihr Kleid nicht 
zerknittern. Sie überzeugte sich, daß die Kinder in ihrem Zim- 
mer schliefen, sie sah jedes in seinem Bettchen liegen und ru- 
hig atmen, mit holden Zügen, mit den geschlossenen Lidern, 
deren lange Wimpern leise bebten, mit den feuchten lose ru- 
henden Lippen, die noch ein wenig gespitzt waren, wie von 
der Zeit her, da sie von ihrer Brust getrunken hatten und ge- 
sättigt einzuschlummern pflegten. Das war nun schon ein paar 
Jahre her, aber auch jetzt sahen die beiden Geschwister noch 
so aus, als warteten sie, an ihrem Busen zu trinken, denn Kin- 

StoeisI, Da» Hau* Erath 4 49 



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der erscheinen viel jünger im Schlaf. Jetzt wußten sie schon 
leider zu viel von Recht und Unrecht und von der Uneinigkeit 
der Eltern. Schon pflegte Corona bittend vom Vater zur Mutter 
zu laufen und, Angst und Schmerz im Blick, zwischen ihnen 
beiden zu vermitteln, wie nur Kinder vermitteln können, die 
Boten des Friedens, die noch ohne Recht und Unrecht leben. 
Es war zehn Uhr vorüber, als Heinrich, eine Melodie summend, 
arglos eintrat, noch im Werktagsgewand und eine Zigarette 
rauchend. 

„Jetzt kommst du, nach zehn?" 
„Ja freilich, warum denn nicht? Was gibt's denn? u 
„Hast du vergessen, daß wir auf den Ball wollten?" 
„Nun, nicht gerade vergessen, aber auch nicht immer daran 
gedacht Ich habe so viel zu tun, darum habe ich nicht gerade 
immer an den Ball gedacht, das gebe ich zu." 
„Aber ich habe hier auf dich gewartet, ich habe das Nacht- 
mahl zugerichtet, die Kinder zu Bett gebracht, ich habe mich 
fertig angezogen und Stunden gewartet Ich hatte doch ge- 
glaubt, du würdest das eine Mal zurecht kommen, wenn ich 
nach so langer Zeit einmal eine Unterhaltung besuchen will." 
„Es tut mir leid, daß du gewartet hast, aber schließlich, ist's 
denn ein Unglück, wenn man einmal zu spät kommt oder gar 
nicht hingeht? Wir können ja ein andermal auf den Ball gehen, 
Bälle gibt's genug. Ich muß gestehen, ich habe eigentlich gar 
keine Lust" 

„Und daß ich mich seit Monaten auf diesen Abend gefreut 
habe, gilt dir nichts, daß ich mich in gutem Glauben fertig ge- 
macht habe und seit Stunden so auf dich warte, ist dir gleich. 
Es wäre doch so leicht gewesen, darauf zu achten! Nur ein 
bißchen Rücksicht!" 

„Rücksicht! Rücksicht! Ich könnte ebensogut verlangen, daß 
du auf mich Rücksicht nähmest, ich habe mich den ganzen Tag 
im Geschäfte geplagt, ich bin müde von Schreiberei und Ver- 
druß, wenn du unter Christian Frantzl dienen müßtest, hättest 
du auch nicht immer Lust, auf einen Ball zu gehen. Da hab' 
ich abend 8 bei Hellmann einen kurzen Besuch gemacht, wir 
haben zusammen musiziert, so läßt sich freilich ein Ball ver- 
gessen." 

„Vorher hättest du daran denken müssen." 
„Vorher mußte ich erst an alles andere denken. u 

SO 



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„Und was denkst du nun? Was soll ich jetzt tun? 44 
Heinrich sah sie erstaunt und gutmütig an, wobei er ihre feine 
Pracht und unwillige Schönheit nicht einmal zu bemerken schien. 
„Nun, jetzt laß uns essen. Nachher zieh' ich mich in Gottes- 
namen an, und wir fahren hin. tf 

„Dann wird es zwölf, bis wir in den Sophiensaal kommen, und 
der Ball ist aus. 44 

„Der dauert doch noch lange genug. 14 

„Es ist ja zu spät," ihre Stimme klang ganz trüb, denn sie hätte 
am liebsten weinen mögen, wenn sie sich nicht geschämt hätte, 
ihrem Mann zu zeigen, wie sehr sie verdrossen war. 
„Weißt du was, Lisi? Fahr' doch allein hin. 44 
„Ist das dein Ernst, daß eine verheiratete Frau allein, ohne 
ihren Mann auf einem Ball erscheinen soll, oder machst du 
dich über mich lustig? 44 

„Na, lustig gerade nicht, Gott bewahre, aber traurig möchte ich 
mich über dich auch nicht machen. 44 

„Daß du mir mit deiner Fahrigkeit und Unverläßlichkeit jede 
Freude verdirbst, daß du mich traurig machst, gilt dir gleich. 
Du weißt es nicht einmal, du glaubst, ein solches Leben ist 
gar in der Ordnung. 44 

„Ich meine, du solltest dich eben daran gewöhnen, wer sagt 
denn, daß ein Mensch durchaus wie eine Uhr leben muß. 44 
„Ich kann nicht zuchtlos leben. Ich will meinen Kindern ein 
gutes Beispiel geben, sonst müßten sie einmal über ihre Eltern 
schlecht denken. 44 

„Gut gegeben, du willst sagen, sie könnten sich über ihren 
Vater allerhand Unzuständiges denken? Wenn meine Kinder 
einmal eine Verspätung wichtiger nehmen, als ihre Achtung vor 
dem Vater, so ist mir an ihrer Wohlmeinung nicht viel gelegen. 
Überhaupt, einstweilen habe ich meine Sorgen mit ihnen, später 
mögen sie ihre Sorgen mit mir haben. 44 

„Sie werden aber dann auch ihre Pflicht am Tage nicht genau 
nehmen. 44 

„Oho! Bin ich bei Tage nicht in meinem Geschäft und plage 
ich mich nicht für euch alle, mehr als genug? Da sollte ich am 
Abend nicht frei sein dürfen, nach meinem Belieben? 44 
„Warum hast du denn geheiratet, wenn du keine Ordnung ver- 
tragen willst. Du siehst gar nicht, wie gering du mich und 
deine Kinder einschätzest, wenn du uns so behandelst 44 

4* 51 



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„Gering einschätzen! Fällt mir nicht ein, im Gegenteil, du bist 
gewiß eine ausgezeichnete Dame, aus gutem Haus und hoch- 
schätzbar als Mutter und Gattin, aber das hat doch damit nichts 
zu tun, daß ich zu spät nach Hause komme. u 
„Laß das, Heinrich. Sprich nicht weiter. Ich vertrage das 
nicht länger.** 

„Das ist es ja, daß du einen Mann, der anders ist als du, nicht 
ertragen kannst Darüber beklage ich mich ja, du schätzest 
mich gering, du zeigst mir das bei jeder Gelegenheit, und das 
müssen die Kinder sehen. 44 

„Jetzt hast also du dich noch zu beklagen 1 Ich dachte, mir 
sei ein Unrecht geschehen* 44 

„Was bedeutet diese Lappalie von Abendunterhaltung gegen 
alles andere sonst zwischen uns beiden. 44 
„Du hast recht. Nichts ist von Bedeutung zwischen uns und 
alles. Ich weiß und sehe das längst Wir taugen nicht zusam- 
men. Ich will zu meinen Schwestern zurück. Noch heute. 44 
„Statt auf den Ball zu den Schwestern? Bitte, warum sollst du 
dir nicht dieses Vergnügen machen? Die Kinder schlafen? 44 
„Längst schlafen sie. Also laß mich gehen. u 
„Bitte sehr, aber du wirst schon erlauben, daß ich dich be- 
gleite. 44 

„Warum denn? Wenn ich allein auf den Ball gehen könnte 
nach deiner Meinung, warum nicht allein nach Haus? 44 
„Eine anständige Frau geht von ihrem Mann und ihren Kin- 
dern nicht mutterseelenallein bei Nacht weg 1 44 
Elisabeth zuckte die Achseln und zog ihren Pelz über das silber- 
graue Seidenkleid, den ihr Heinrich ehrerbietig hielt, sie nahm 
ihren Spitzenumhang über das blonde Haar und ging in den 
Ballschuhen, wie sie war, während Heinrich rasch in seinen 
Mantel führ, seinen Hut auf den Strubelkopf drückte und seine 
Frau durch die nachtschlafenden Straßen voller Schnee be- 
gleitete. Er versuchte zwar immer von neuem die Dinge aus- 
einanderzusetzen, brachte sie aber nur um so schlimmer in 
Verwirrung, wurde doppelt gereizt und darum töricht, da Elisa- 
beth gar nichts antwortete, sondern den Pelz eng um sich 
schließend, schier vor ihm davonlief, bis sie ganz außer Atem 
vor dem alten stillen Hause in der Schottenfeldgasse stand und 
schellte. 

Adam Hirt öffnete in einem grauen Wolljanker und mit Filz- 

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schuhen, eine Laterne in der Hand. Er leuchtete die beiden 
an nnd erkannte sie gar nicht Elisabeth sagte: „Ich bin's, 
Elisabeth.« 

Da lachte Adam Hirt verlegen und erfreut, ließ sie ein und 
wollte auch Heinrich nach ihr einlassen, der aber spaßte: „Nein, 
nein, ich danke, sehr geschätzter Adam und Urvater, Hirt und 
Hausbesorger und Freund. Ich gehe wieder nach Hause, ich 
habe nur meine Frau Gemahlin begleitet.« Damit bot er ihr 
die Hand, die sie mit den Fingerspitzen berührte. Er aber hielt 
seinerseits die Fingerspitzen fest und führte sie mit einer ganz 
höfischen Verbeugung an die Lippen, ehe er ging. 
Nun stand Elisabeth beschämt im finsteren Flur, Adam Hirt 
leuchtete ihr mit einem zuckenden Lächeln, das weinerlich 
schien, die Stiege hinauf und wartete, solange sie an der Tür 
ihrer Schwestern pochte, bis ihr Charlotte im Nachtgewande 
endlich öffnete. Als sie die schöne Frau in der Festkleidung, 
im Pelz und Spitzenumhang mit allen den Zeichen von Ver- 
legenheit, Aufregung, Ärger und Demut vor sich sah, ahnte sie 
gleich, daß es irgend etwas Unangenehmes gegeben haben 
mußte. Sie flüsterte ihr zu: „Leg* nur ab, Elisabeth, mach' dir's 
bequem, aber still, damit wir den Vater nicht aufwecken, ich 
will im Ofen nachlegen, es wird sonst zu kalt. Dann koch' ich 
uns einen Tee, und wir setzen uns zusammen und schwatzen 
ein bißchen.« Damit nahm sie Elisabeth den Mantel und das 
Tuch ab, sah gleich das schöne silbergraue Kleid, und daß es 
noch ganz faltenlos, von Tanz und Abendgedränge unberührt 
war. Elisabeth setzte sich in dem freundlichen Zimmer, das 
sie als Mädchen mit Charlotte gemeinsam bewohnt hatte, auf 
den Stuhl am Fenster neben der Nähmaschine nieder, indes 
Charlotte auf einem Schnellkocher die Teekanne zustellte. 
„Magst du etwas essen?« 

Elisabeth verneinte bekümmert, als sei jeder Gedanke an Essen 
und Trinken ganz unpassend. 

„Ach was, du wirst schon Hunger haben. Ich hole gleich ein 
bißchen kaltes Fleisch und Butter und Brot« Damit war sie 
bereits draußen, kam bald wieder und deckte den Tisch. Im 
Ofen brannte das Feuer hell und knatternd und erleuchtete die 
dunkle Stube mit rotem unbestimmten Schein. Sie wollten 
keine Lampe anzünden. 

Allmählich begann Elisabeth aufzutauen, ihr wurde warm, sie 

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errötete tief und hätte gern geweint, aber vor Charlotte konnte 
sie nicht weinen, denn sie schämte sich vor ihr. So berichtete 
sie nur, sachlich und mit einer Ruhe, vor der sie selbst Angst 
empfand, den Streich, den sie gespielt hatte, der ihr gespielt 
worden war. Charlotte aber hörte ihr zu, als sei alles selbst- 
verständlich, notwendig, längst vorhergesehen und gar nicht an- 
ders möglich. Eben diese großmütige Billigung machte Elisa- 
beth erst recht bekümmert Sie hätte gewünscht, daß ihr Char- 
lotte gesagt hätte: „Du bist ein Kind und bist wie ein Kind 
davon gelaufen. Läuft denn eine Frau ihrem Mann und ihren 
Kindern so mir nichts dir nichts davon ? tf 
Sie hätte es auch gern gehört, wenn Charlotte ihren Mann ver- 
teidigt hätte, denn sie wußte ganz gut, daß er eben nicht anders 
sein und handeln konnte. Schließlich hätte er ebensogut auch 
sie anklagen können. Er tat ja nichts anderes, als daß er eben 
nachlässig und fahrig und weitwendig und unbekümmerten Her- 
zens war, indessen sie in ihrer Stetten Ordnung wie in einem 
Panzer saß. Sie war nicht ihm, sich selbst war sie davongelau- 
fen. Aber nun fand sie sich endlich in ihrer alten Stube, so 
trank sie von dem duftenden Tee und aß eine Schnitte Fleisch 
und ließ sich ein dünnes Brot dick mit Butter aufstreichen. 
Charlotte machte ihr auf dem Sofa ein Lager zurecht, half 
ihr dann beim Auskleiden, löste sie aus der starren Seide, ent- 
schnürte ihr Mieder. Sie selbst tat die Perlen vom Halse und 
seufzte erleichtert, als sie so wie ein kleines freies Mädchen in 
der warmen Stube, in der wohligen Dämmerung des Ofenfeuers 
dastand. Sie kam sich so jung und dumm vor wie ein Kind ; 
war sie nicht mehr ein Kind? War sie denn nie eines gewesen? 
Nie hatte sie Dummheiten gemacht, immer war alles in Pflicht 
und Ordnung hergegangen. Mußte sie nicht einmal auf und 
davon laufen? Aber wie komisch, daß sie gerade der Ehe da- 
vonlief, weil ihr Mann das Kind war, das sie nie sein konnte. 
Er war ohne Zwang und unbekümmert Deshalb lief sie davon ? 
Er war und blieb — wie sagte doch Charlotte: „ein Wurstel". 
Als sie sich an dieses Wort erinnerte, verdroß es sie, daß sie 
so dachte, und sie zürnte, daß jemand ihren Mann nicht ernst 
nahm, gar daß sie selbst ihn nicht ernst nahm. So mußte sie 
seine und ihre eigene Sache vor sich selbst führen. Zu viel 
Gerechtigkeit für ihr Gefühl, zu viel Überlegung für ihren Ver- 
drußl 

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Sie seufzte wieder, indem sie sich auf das Sofa setzte und die 
grauen Seidenstrümpfe abzog, sie hätte so gern geweint. Sie 
streckte ihre nackten Arme hoch empor und glich so einer an- 
mutigen, traurigen Beterin. Sie hatte Mitleid mit sich und wie- 
der Ärger, als wäre sie zugleich ein törichtes Kind und dessen 
Mutter. Das war's, die Schwestern Erath hatten immer Kinder 
und Erwachsene in einem sein müssen. Sie hätte eine Mutter 
gebraucht Früher, bevor sie dem Mann ja sagte. Und jetzt 
erst recht hätte sie eine Mutter gebraucht, die sie angehört und 
mit einem Blick, mit einem Nicken oder Seufzer entschieden 
hätte, daß ihr Davonlaufen ein Unsinn war, und mit diesem be- 
sorgten Blicke wäre alles wieder gut gewesen ! O, eine Mutter 
hätte anders gedacht als Charlotte oder anders geschwiegen 1 
Am nächsten Morgen saß Elisabeth in einem von Charlottens 
purpurroten Schlafröcken beim Frühstück und begrüßte den 
Vater Erath, der sie erstaunt hier sah. 

Die Schwestern erzählten ihm eifrig, Elisabeth habe einmal 
wieder bei ihnen schlafen wollen und möge noch einige Zeit 
bei ihnen bleiben, wie ehedem. 

Erath schaute seine Tochter an wie aus der Ferne, so daß sie 
das Haupt vor ihm senkte und eifrig in der Kaffeetasse rührte. 
Er aber nickte bloß: „Ja, ja, das ist schön, mein Kind, bleib 1 
nur, so lange du willst Wie geht's deinem Mann, was machen 
die Kinder? Alles wohlauf? Natürlich, sonst wärst du ja nicht 
hier! Nun, auf Wiedersehn, ich muß ins Geschäft Laß dir's 
gut gehen." Damit erhob er sich und reichte ihr die Hand, 
die sie küßte, während er sich über ihre Stirne beugte und mit 
den Lippen ihr Haar berührte. Sie lächelte bekümmert, er 
hörte doch von allem nur, was ihm genehm war. 
Nach dem Frühstück ging Elisabeth zu Antonie Amersin hin- 
über, indes Charlotte zusammenräumte, Agnes aber sich ans 
Klavier setzte und aus Czernys „Schule der Fingerfertigkeit" 
zu spielen begann. Drüben bei den Amersins war Lärm und 
Geschrei genug. Antonie stand vor einer Wanne und badete 
die Kinder. Franz schrie und stieß und lachte und strampelte, 
indes Thea im Hemdlein seelenvergnügt im lauen Wasser 
schwamm und seinem Toben geschickt auswich. Die kleine 
Emilie war schon fertig und zerrte am Rock der Mutter. Das 
Jüngste zirpte weinend dazwischen. 

Als Elisabeth dazutrat, sah sich Antonie ohne Erstaunen um 

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I 



und nickte der Schwester freundlich zu, die ruhig stehen blieb 
und wartete, bis die Kinder endlich aus dem Bade gehoben» 
angezogen und abgefüttert wurden. Es war Sonntag. 
Der Schwager begrüßte Elisabeth herzlich, ohne sich über ihre 
Anwesenheit und ungewohnte Morgenkleidung viele Gedanken 
zu machen. Endlich war er mit seinen drei Kindern abgefertigt, 
Antonie hatte das kleinste vierte in der Wiege beruhigt und 
räumte nun die Stube auf, indes Elisabeth dastand oder neben 
ihr herging und mithalf, mit einem Flederwisch und Staubtuch 
hantierte. Sie dachte an ihre eigenen beiden Kleinen, die jetzt 
sicher nach ihr riefen. Gut, daß sie sich auf ihre Magd ver- 
lassen konnte, die Wetti, Coronas Amme, kannte schon den 
Hausbrauch und tat alles, was zu tun war, auch allein. In die- 
ser Beziehung konnte sie sich schon verlassen. Aber wenn 
Corona nach ihr verlangte und wenn Albrecht weinte, er be- 
trübte sich so, wenn er allein blieb ! War sie daheim, so konnte 
er stundenlang zu ihren Füßen spielen und brauchte sie gar 
nicht, aber sie mußte eben da sein, damit er sie anschauen und 
gelegentlich in seine Selbstgespräche einbeziehen konnte. Jetzt 
würde er sicherlich weinen und fragen und Wetti keine Ant- 
wort für ihn wissen. Heinrich konnte sich mit den Kindern 
schon gar nicht helfen. Der spielte gewiß Klavier, und Albrecht 
wagte dann nicht einmal zu weinen. 

Antonie fragte nicht, warum Elisabeth hier übernachtet hatte. 
Sie ahnte es wohl, und Elisabeth war dankbar, daß Antonie ihre 
Anwesenheit selbstverständlich nahm. 

Endlich sagte diese gleichsam aus einem langen, stummen Zwie- 
gespräch heraus: „Wir brauchen unsere Sorgen, nicht wahr, 
Lisi? Zur Freude haben wir keine Zeit, und, wenn ich auf- 
richtig sein soll, unsere Sorgen sind unsere Freude ! 
Elisabeth antwortete lächelnd: „Antonie, du siehst alles Trübe 
hell, denn du bist selbst hell." 

Antonie schüttelte heftig bejahend den Kopf, denn sie schüttelte 
gleichzeitig das Staubtuch vor dem Fenster, dann sagte sie: 
„Wie könnten wir unter lauter Sorgen überhaupt Glück spüren, 
wenn wir nicht in allem doch etwas Süßes wie durch einen bitte- 
ren Kern hindurch schmeckten. Was uns lieb ist, kommt uns 
hart an, und was wir schwer ertragen, würden wir schwerer noch 
verlieren." 

„Hast du dir das Leben immer so vorgestellt, Antonie?** 
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„Ach ein bißchen leichter schon, aber wenn man älter wird, 
wird man auch starker und tragt es geschickter, denn man kann 
nichts abschütteln und muß sich nicht selbst noch etwas Über- 
flüssiges, gar Einbildungen und Torheiten aufladen." 
„Müßte man nur nicht immer so viel Geduld haben für alle 
andern." 

„Wir müssen nur mit ganzem Herzen wollen, was wir müssen, 
nicht fordern, sondern geben. Je mehr ich gebe, desto mehr 
habe ich, und wir sind die Starkeren, wir, die Schwachen. Unsere 
Pflichten machen uns stark. Ohne sie wären wir verloren. u 
Bei diesen Worten stemmte sie sich gegen den Schrank und 
schob ihn mit aller Kraft zur Seite, um dem Staub dahinter 
beizukommen. Elisabeth stand unbeschäftigt dabei und freute 
sich beinahe, als der kleinste Bub in der Wiege mächtig zu 
schreien anfing und sie nach dem Herd in der Küche gehen 
durfte, seine Milch zu wärmen. Antonie dankte ihr, daß sie 
das kleine Wesen herausnahm, im warmen Zimmer trocken 
legte, dann wieder in reine Windeln einschlug, an sich zog und 
ihm die Milch reichte. Lächelnd sah Elisabeth, wie das Kind 
gierig, aber sorgfältig, daß ihm kein Tropfen entging, den Sauger 
einzog und trank, unablässig, nur mit den kürzesten Schluck- 
und Atempausen, bis das Fläschchen geleert war. Dann ließ 
es mit einem Seufzer befriedigt und gelabt den Kopf auf das 
Kissen zurücksinken und gurrte leise. 

Da legte sie es behutsam in die Wiege zurück, schon schlief 
es. Sie aber erhob sich rasch. 

„Ich will nach Hause, nach meinen Kindern schauen. Leb' wohl, 
Antonie und auf Wiedersehn. u 

Antonie umarmte sie herzlich. Elisabeth ging nach der Woh- 
nung der Schwestern zurück, um sich anzukleiden. 
Sie fand die beiden in einer wunderlichen Beschäftigung. Char- 
lotte und Agnes lagen nämlich in schönen Kleidern mit engen 
Taillen aus blaugrünem ungemusterten Tuch, die an den Hüften 
kunstvoll in zart und bunt karrierten schottischen Stoff zum Falbel- 
rocke übergingen, auf dem Sofa und wälzten sich ernsthaft hin 
and her, als übten sie einen närrischen Brauch. 
„Was treibt ihr denn in den schönen neuen Toiletten, die hab* 
ich ja noch gar nicht gesehen? Damit kugelt ihr euch auf den 
Banken herum?" 

»Eben hat sie die Schneiderin gebracht, schade, daß du nicht 

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bei der Anprobe warst, da hättest uns sagen können, wo es 
etwa noch fehlt. a 

„Aber warum wälzt ihr euch damit herum?" 
„Weil ein Kleid, das wirklich elegant sein soll, nicht so ärger- 
lich funkelnagelneu aussehen darf, daß jeder Mensch gleich 
weiß, man hat es just vom Schneider bekommen. Das ist un- 
vornehm. 44 

„So?" fragte Elisabeth ungläubig erstaunt 
„Das Unscheinbare allein ist schicklich und wirklich vornehm.** 
„Hast du das nicht gewußt, Elisabeth? 4 * fragte Agnes, die auf 
den Brauch sehr stolz schien, den ihr Charlotte weiß Gott wo- 
her aufgeredet hatte. George Bryan Brummeis vermutlich längst 
schon abgekommenes Verfahren mochte auf irgend eine Weise 
bis zu den Neubauer Jungfern Erath gedrungen sein. 
Elisabeth mußte wider Willen lachen: „Manches Schickliche 
braucht man eben nur zu wissen, aber nicht gleich zu üben. 
Ich denke, eure Kleider würden sich auch ohnedies bald genug 
abnützen und auf natürliche Weise dann etwas länger halten 
als nach solcher lebendigen Walkerei.** Indes zog sie wieder 
ihr Seidenkleid an, tat den Pelz um und ging nach Hause. 
Sie bekümmerte sich um Corona und Albrecht, um das Mittag- 
essen. Als ihr Mann nach Hause kam, wechselte sie auch einen 
stummen Gruß mit ihm, dann ordnete sie das Nötige für den 
nächsten Tag, den Kindern sagte sie, daß sie abends wieder 
zum Großvater gehen müsse. x 

Auf Coronas und Albrechts weinerliche Fragen, warum sie denn 
nicht daheim schlafen wollte, antwortete sie verlegen, es sei 
bald Weihnachten, und sie müsse beim Großvater das Fest vor- 
bereiten helfen, denn das Christkind werde dorthin kommen. 
Da gebe es natürlich viel herzurichten, das könnten sie sich 
wohl denken. 

Corona und Albrecht lächelten befriedigt und gingen ohne Angst 
zu Bett. 

Dann packte Elisabeth sorgfältiger als gestern Nachtkleider 
und Wäsche in eine Handtasche und machte sich bereit, den 
gleichen Weg zu tun, denn sie konnte doch nicht gut wieder zu 
Hause bleiben, als sei gestern gar nichts gewesen und als habe 
am Ende sie eine ärgere Dummheit angestellt als ihr Gemahl. 
Heinrich war zu Hause und klimperte auf dem Klavier, er war- 
tete auf sie — jetzt war er pünktlich, wo sie ihn am wenigsten 

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gebraucht hätte — half ihr wiederum schweigend und galant 
in den Mantel und begleitete sie wie gestern. 
Auf der Straße bot er ihr sogar den Arm, sie konnte sich doch 
nicht weigern, so führte er sie bis zur Schottenfeldgasse, machte 
eine tiefe stumme Verbeugung, als sie vor dem Tore stehen 
blieben, bot ihr die Hand, sie reichte ihm mit abgewandtem 
Kopfe die Fingerspitzen, die er faßte und höfisch an seine Lippen 
fährte. Adam Hirt öffnete ihnen wieder und lächelte mit seinem 
schmerzlichen Grinsen. Heute wartete er nicht mehr, daß 
Heinrich mitginge. Elisabeth stieg rasch die Treppe zu den 
Schwestern hinauf, ihr Mann aber machte kehrt und pfiff eine 
Melodie vor sich hin, indem er den Kopf zwischen den aufge- 
stellten Kragen einzog. Es sah wie ein Achselzucken aus. 

7- 

Charlotte und Agnes setzten immer ihren Stolz drein, das Weih- 
nachtsfest prächtig zu rüsten und an diesem einen Tage die 
bedeutende Gemeinschaft des großen Hauses klangvoll aus- 
zuspielen. In den beiden Küchen — bei den Schwestern Erath 
und bei Antonie — wurde gebraten und gebacken, zehnerlei 
kleine Bäckerei nach neuen Rezepten, darunter allerhand spaßige 
Figuren, die man mit Blechmodeln aus dem Teige schnitt und 
hellbraun gebacken mit buntem Zuckerfluß begoß, so daß die 
steifen Hähne blaue, weiße, gelbe Streifen als Federn und rote 
als Kämme bekamen, der Hanswurst Wams und Mütze, das 
Wickelkind ein gemustertes Steckkissen. Als Augen, Lippen, 
Nasen setzte man Mandeln und Rosinen ein, auf Herzen saßen 
Nüsse wie des Gemütes süßer Kern und Kreise weißer Zucker- 
perlen rundherum wie dessen gefrorene Tränen, große Torten 
erhielten köstliche Füllungen und wurden, kaum fertig, den 
Blieben entzogen. In allen Laden und Schränken häuften sich 
Geschenke für die Erwachsenen und Kleinen. Man mochte den 
Kindern noch so oft verbieten, herumzukundschaften, Thea sah 
doch jetzt ein Buch in rotes Seidenpapier eingeschlagen, jetzt 
ein neues Paket, dessen Inhalt schwer zu bestimmen schien, 
und täglich anderes, Geheimnisvolles, das vorher noch nicht 
vorhanden gewesen war. Wenn Herr Amersin abends vom Ge- 
schäfte nach Hause kam, belagerten ihn die Kinder mit Weih- 
nachtswünschen und Fragen. Er und seine Frau mußten doch 
gesprächsweise herausbringen, was die Kleinen begehrten, um 

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wieder allzu weitgehende Wünsche aufs richtige Maß herab- 
zusetzen, unvernünftige auf das Nützliche und Zweckmäßige zu 
begrenzen. 

Herr Amersin ließ sich von Thea und Franz, die auf seinen 
Knien saßen, berichten, was sie wohl erwarteten. 
Wichtige Tage rauschten und bruzzelten in Backwolken und 
Fettgeschmore mit Nuß- und Schokoladendüften, mit Schaum- 
schlagen und wohlklingendem Teigabtreiben in grünen Weit- 
lingen und röteten Frau Amersins Kinderwangen. 
Nicht anders berieten und wünschten die Schwestern. Wen 
sollte man einladen? Es gingen so viele junge Leute ein und 
aus, eingestandene oder heimliche Bewerber und Bewunderer, 
Freunde des Bruders, des Vaters. Amberg mußte selbstver- 
ständlich kommen, der Fuchsmajor und Wilhelm Alter, Eraths 
Neffe, aber was war's mit Ley? Sollte man ihn einladen? Agnes 
errötete: „Ach, den nicht." Elisabeth, die jetzt jeden Abend 
kam und wieder in ihrem gemeinsamen Mädchenzimmer schlief 
und sich allmählich an diese unverheiratete Behaglichkeit ge- 
wöhnt zu haben schien, so daß sie Neckereien als vorgebliches 
Fräulein willig ertrug und als überlegene Ehefrau ihrerseits aus- 
teilte, meinte: „Warum willst du den Ley eigentlich nicht ein- 
laden, Agnes? Er ist doch dein allergetreuester Anbeter schon 
seit Jahren!" 

„Er ist mir zu gescheit, Elisabeth, wenn ich ihn einlade, bildet 

er sich zu viel ein." 

„Was könnte er sich denn einbilden?" 

„Ach, nichts, gar nichts," beteuerte Agnes errötend und warf 
den Kopf hinauf: „Eben darum!" 

Charlotte nickte: „Sie hat schon recht und weiß wohl, daß diese 
wilden Finken die allerfrechsten sind." Den Ausdruck „Fink" 
hatte sie vom Bruder August, der alle Verachtung des Innungs- 
menschen gegen die freien Studenten hegte, die sich in der 
Wissenschaft umtaten und lernten, um zu lernen, nicht um in 
Kostümen herumzuziehen, Gelage zu feiern, Gesänge bei Bier 
und Tabak zu brüllen und mit stumpfen oder gar mit scharfen 
Säbeln aufeinander loszuschlagen. 

Agnes hatte vor Leys scharfem Verstand und kritischen Augen 
Angst, darum wollte sie ihn fernhalten, obgleich sie doch seine 
Anhänglichkeit sehr vermißt hätte, wenn er eines Tages müde 
geworden wäre, sie zu erweisen. 

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Von den Schwestern die zarteste, wie aus Elfenbein gedrechselt, 
in allen Bewegungen zugleich rasch und gemessen, schien sie 
mit jedem Schritt oder jeder Gebärde gleichsam ein Ziel zu 
treffen. So war ihre Flinkheit anmutig bestimmt Allein und 
unbeobachtet aber konnte sie, die vor Leuten straff und stolz 
war, sich müde und abgespannt hinlehnen, die graugoldenen 
Angen schließen und stundenlang wach träumen, als müsse sie 
viel versäumte Ruhe nachholen, die sie mit all der zierlichen 
Spannung aufgebraucht hatte. Sie nähte an ihrem Tischchen 
bunte Perlen zwischen ein bunt gesticktes Muster zu einem 
Käppchen für Erath. Wie hübsch war sie anzuschauen mit dem 
über die Arbeit gebeugten runden kleinen Kopfe, auf dem die 
Last eines ins Rötliche schimmernden braunen vollen Haares 
in losem Knoten gefaßt ruhte, hinten von einem breiten, ge- 
schweiften Schild krotkamm gehalten. Elisabeth, die diese feinen, 
doch scharfen Züge, die schmale, längliche, schön gespannte 
und geschwungene Nase mit den zarten, zuckenden Flügeln, 
die geschlossenen Lippen, die regelmäßig auf- und niedergehen- 
den langen Wimpern, dazu die vielen zutreffenden Bewegungen 
der zierlichen schlanken weißen Finger heute zum ersten Male 
wie eine Fremde beobachtete und als Frau den eigentümlichen 
Zauber dieses strengen und behutsamen Mädchentums spürte, 
begriff jetzt wohl, warum Agnes so umworben war und warum 
sie sich eben deshalb an der Schwelle verzögerte. 
„Kann denn ein Mann zu gescheit sein?" fragte sie. 
„Wir brauchen keinen, der uns durchschaut, tt erklärte Charlotte. 
„Ja, wie sollte uns aber dann einer verstehen?" 
War in diesen törichten Herzen denn so viel Gefährliches ver- 
borgen? Elisabeth dachte, es müsse doch wohl jedes Herz den 
Blick zu furchten haben, der es ergründet. Aber braucht und 
sucht es nicht gerade diesen Blick ! Es fürchtet, sich zu schämen, 
und möchte doch nichts anderes. 

Charlotte war von derberer Art, die wußte genau, was sie wollte, 
sie kannte keine Zweifel an sich selbst, keine Bedenken, keine 
Gewissensängste, und wenn auch sie verschwiegene Wünsche 
hatte, so betrafen sie nichts, als Macht über fremde viele Men- 
schen. Wäre Charlotte als Mann zur Welt gekommen, dachte 
Elisabeth, sie hätte so recht Karriere machen müssen, mit 
Orden und Titeln. 

Charlotte fragte mit einem munteren Seitenblick auf Elisabeth : 

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„Was meinst du zu Florian, deinem leichtherzigen Verehrer 
von dazumal ? M 

„Ach, der, u flüsterte Elisabeth betroffen, aber belustigt. 
Florian war noch immer auf der Jagd nach einer reichen Braut 
und dazwischen auf der Jagd nach näherer Beute, die „einen 
Sinn hatte", und war noch immer auf jedem Fest, heute unter 
seinesgleichen auf Familienabenden, in Kegelklubs, bei den 
n Naß waldern" und bei den jungen Damen aus guten Häusern 
mit beglaubigten Mitgiften und morgen auf Maskenbällen und 
in Tingeltangels bei den munteren, seitensprüngigen Mamsellen, 
Tänzerinnen, Sängerinnen, die „einen Sinn hatten". Elisabeth 
sah ihn gelegentlich, hübsch und nachlässig elegant mit weißen 
Gamaschen in seinem kurzen falben Überrocke, mit gelben 
Handschuhen, den steifen runden Hut mit der flachen Krampe 
schief in die Stirne gedrückt, eine Nelke im Knopfloch, spazieren 
gehen und schauen und suchen. Wenn er sie erblickte, schwang 
er noch immer entzückt den Hut wie vormals und sandte ihr 
einen sicheren, fragenden Blick der Huldigung und Bewunderung, 
den sie gemessen erwiderte. Er aber schritt mit leichtem Gang 
weiter, so daß seine weißen Gamaschen wie Täubchen aufzu- 
flattern schienen. War sie zufällig Arm in Arm mit ihrem Mann 
— sie ging selten mit Heinrich aus — , dann sprach er sie wohl 
auch an und redete höflich-nichtssagend mit scheuen, kecken 
Blicken. War der Florian noch immer auf dem Plan, hatte sie 
für ihn denn einen Sinn? 

Sie lachte: „Ist denn der Florian nicht auf dich übergegangen, 
Agnes?" 

„Vielleicht stehe ich auch auf seinem Kalender." 
„Nun, laden wir ihn ein," beschloß Charlotte." — 
Das Speisezimmer, als erstes vom Gange aus, wurde ausgeräumt 
und zum Empfang hergerichtet, während im Zimmer Charlottens 
der Baum selbst in der Mitte aufgestellt wurde, eine dunkle, 
dichtbewachsene, regelmäßig gebaute Tanne, die bis an die 
Decke reichte und in dem niederen Räume doppelt mächtig 
erschien. Seit sie hereingeschafft war, blieb die ganze Erath- 
sche Wohnung verschlossen, und keines von den Kindern, die 
sonst hier ans und ein gingen, sollte auch nur an einer Türe 
stehen bleiben, Grund genug, daß jeder der Großen, der hinaus- 
ging oder herein wollte, immer ein Kleines an der Schwelle 
fand, das auf den Zehenspitzen durchs Schlüsselloch zu lugen 



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versachte oder an der Klinke zn drücken, ob sich die Türe 
nicht etwa doch öffne, denn es kam vor, daß man vergessen 
hatte, sie zn versperren. 

Rund um die Tanne wurden etwa ein Dutzend kleine Tischchen 
aufgestellt Längs der vier leeren Wände aber Sofas und Lehn- 
stühle, so daß die Gäste den Baum und das helle Bild wie die 
Zuschauer eines festlichen Stückes betrachten konnten. 
Im dritten Zimmer, wo Agnes hauste, stand der Flügel und waren 
alle Schachteln aufgestapelt, die man ordnen und nachmals auf 
den Gabentischchen verteilen wollte. 

In dieses planvolle Durcheinander trugen die Eraths und Amer- 
sins, die Schwestern und die Männer und die vielen Freunde 
der Familien wie die Schwalben ins Nest täglich neue Dinge 
zu. Auch Heinrich kam abends, wenn er Elisabeth herbegleitete. 
Es war schon fast zur Gewohnheit geworden, daß sie wieder 
hier zu Hanse lebte, und niemand fragte weiter danach. So 
schlüpfte auch er, nachlässig schlenkernd, als sei dies selbst- 
verständlich und von keiner Seite zu bemängeln, als ein un- 
gebetener Gast ins Haus seines Schwiegervaters hinein, um 
abends vor Schlafenszeit sic^ wieder beim Tore hinauszudrücken. 
Täglich brachte er mit buntem Seidenband oder mit goldenen 
Schnüren schön verschlossene Schachteln mit, lächelte dazu 
geheimnisvoll-schüchtern und händigte sie Agnes aus, indem 
er ihr mit einem Seitenblick auf seine Frau, aber mit weithin 
auffallender Gebärdensprache erklärte: „für den Albrecht" oder 
„für Corona" oder „für die Kinder", womit er Amersins Kinder 
meinte. Elisabeth sah ihn ruhig an und begrüßte ihn nicht an- 
ders, als ihn die anderen begrüßten. Er sprach an solchen 
Abenden sehr viel, damit es nicht scheinen sollte, als habe er 
Grund, sich still zu verhalten, machte allerhand Witze und lachte 
sehr laut darüber. Erath behandelte ihn ruhig-freundlich und 
tat ebenso selbstverständlich, daß sich Heinrich oft fragte, ob 
es denn wirklich gar so natürlich sei, daß seine Frau hier schlief, 
anstatt in ihrer Wohnung. Man versammelte sich erst nach dem 
Nachtmahl, denn in dieser Vorbereitungszeit aß man bei Amersins. 
So fiel es nicht weiter auf, daß Heinrich auch immer spät kam. 
Aber es wurmte ihn immerhin, daß man ihm nicht einmal ein 
Glas Wein anbot Die Zigarre brannte er sich schon vorher an, 
damit er etwas zu rauchen hatte. Mit Amersin verstand er sich 
ganz gut, wenn sie auch nicht allzuviel Gemeinsames hatten. 

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Amersin dachte und sprach als Bauernsohn ohne Umschweife, 
während Heinrich Frantzl als verwöhnter Sohn eines reichen 
Hauses allerhand Kunst- und Bildungsinteressen unsicher mit 
dem täglichen Leben und seinen Pflichten, mit dem „Anstän- 
digen" und „ Schicklichen " verquickte, so daß sich ein wunder- 
liches, halb ängstliches, halb ausgelassenes Gehaben heraus- 
stellte, das man nur schwer richtig und wohlwollend beurteilen 
konnte, wenn man nicht die tieferen, sozusagen dämmernden, 
dem komischen Menschen selbst bloß unklar vorschwebenden 
Prospekte seines inneren Lebens, sondern nur den spaßigen 
Vordergrund seines Auftretens wahrnahm. So schien er immer 
wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden gezogen, aber ge- 
rade am unrichtigen Arm oder Bein. 

»Nun, was ist denn mit euch beiden? 4 * fragte ihn Amersin eines 
Abends geradezu, als Heinrich sich von seiner Frau Gemahlin 
mit einer besonders zeremoniösen Verbeugung verabschiedet 
hatte . und im Hausflur seine Galoschen über die Schuhe zwingen 
wollte. 

„Ich bringe sie nicht auf gleich," sagte Frantzl. 
„Wen den?" fragte Amersin. 

„Du glaubst vielleicht die Galoschen, die werde ich aber gleich 
auf gleich gebracht haben, ich meine sie — nämlich die meine," 
und deutete verschmitzt mit dem Kopfe zur Tür hin, hinter der 
die Schwestern um den Tannenbaum beschäftigt waren. 
„Kann's denn so schwer sein, daß ihr zwei auf gleich kommt? 
Die Elisabeth ist doch eine recht umgängliche Person, scheint 
mir, wenigstens ich spreche mich mit ihr ganz gut" 
„Umgänglich sagst du? Ich aber sage dir, umständlich 1 Alle 
Frauen sind umständlich und unumgänglich, leider unumgäng- 
lich, sonst würden wir mit ihnen nicht umgehen, aber sie sind 
nicht zu umgehen, das heißt, man kommt nicht um sie herum 
und nicht gegen sie auf, bis man von ihnen abkommt" „Das 
wäre nicht übel, wenn man seiner Frau nicht Meister würde," 
versicherte Amersin gutmütig selbstbewußt. „Man ist als ihr 
Meister vom Himmel gefallen," seufzte Frantzl. „Lange war man 
nicht im Himmel Nicht im siebenten, geschweige denn im 
ersten. Die Ehen werden zwar im Himmel geschlossen, heißt's, 
aber auf der Erde werden sie verbracht" 
„Warum seid ihr denn auseinander?" 

„Weil wir nicht zusammengekommen sind. Ich habe mich ver- 
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spätet. Das heißt, zum Auseinandergehen bin ich gerade recht 
gekommen. Auf die Minute ! Aber wäre ich auch damals pünkt- 
lich dagewesen, als sie auf den Ball wollte, so wäre ich schon 
einen anderen Tag zurechtgekommen, daß sie mir davonge- 
gangen wäre, denn sie hat immer nur auf das Davongehen ge- 
wartet, nicht auf mich. Übrigens gut, daß sie es einmal hinter 
sich hat, das Davongehen, jetzt weiß sie wenigstens, daß es auch 
nicht sehr weit führt, und verspricht sich für einen anderen An- 
laß nicht mehr gar so viel davon. Schließlich, was ist auch damit 
gesagt, wenn man statt einer Antwort das Weite sucht und rich- 
tig bis in die Schottenfeldgasse kommt. Was ist damit bewiesen ? 
Daß keiner aus seiner Haut fahren kann, wie gern er auch 
möchte, oder etwa, daß sie recht hat, weil sie davonläuft? frage 
ich. Hab' ich recht, so bleib' ich doch da, damit ich es be- 
halten kann, hab' ich unrecht, so laufe ich ihm ja doch nicht 
davon, denn mein Unrecht läuft mit mir und holt mich leider 
überall ein. Also ! tf Damit schaute er triumphierend auf Amer- 
sin, als käme es darauf an, daß er dem Schwager die Sache 
bewiese, nicht seiner Frau. Gleich aber setzte er bedenklich 
fort: „Oder glaubst du, daß sie dabei bleibt?" 
„Wobei?" 

„Na hier, in der Wohnung bei den Jungfern da, die noch Scheu- 
klappen haben und keinen Kutscher, dem sie durchgehen." 
„So frag* sie doch einmal. Sprecht euch endlich aus. Sie wartet 
wohl nur darauf." 

„Sie wartet? Warum soll ich denn anfangen, glaubst du, so 
etwas fängt sich an wie bei der Äpfelfrau? Hat sie mit dem 
Davongehen angefangen, so muß sie auch mit dem »Kehre 
zurück, alles vergeben* anfangen. Ich bin ja dageblieben, wie 
soll ich da anfangen? Ich bin bei mir geblieben, sie ist außer 
sich gekommen oder auf und davon gegangen, nun muß doch 
sie wieder zu sich oder zu mir kommen, das ist doch klar! Da 
hört sich alles auf, bevor so etwas anfängt Sie muß eben endlich 
einen Ton spielen auf der Ahasaite, auf der Gehsaite kennt sie 
sich aus. Die klingt mir in den Ohren, aber sie ist verstimmt" 
„Von dir, mein Lieber. Schließlich müssen wir Männer unsere 
Frau stimmen. Ist's denn so schwer, Schwager?" 
«Furchtbar schwer. Sie sind verstimmt, mach', was du willst, 
wenn sie unsere Geige abgeben sollen und nicht wir die ihrige. 
Du weißt, mir ist nicht so darum. Schließlich gibt's Geigen 

Stoesil, Das Hau« Erath 5 65 



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genug, wenn man Violine spielen kann und, zum Teufel, ich 
könnte mich auch aufs Klavier beschränken. Es ist mir aber 
der Kinder wegen ärgerlich, was sollen sich die denken, sind 
doch schon ganz gescheite Waserln, sie können mir recht von 
Herzen leid tun, und dann möcht' ich mich über die Lisi so 
ärgern, wenn ich an die Kinder denke, daß mir erst recht jedes 
Wort zu schade wäre. Was heißt denn das, von den Kindern 
wegrennen? Was bedeutet denn das? Ist denn das erlaubt 
und eine v Art? Vom Mann will ich ja schweigen, obschon es 
auch eine Manier ist. Oder gehört das^ vielleicht zur guten Er- 
ziehung, und ist es vielleicht eine Art und Weise, daß man sich 
jeden Tag vom Hause fortbegleiten läßt. Es ist eine Unart und 
Unweise, muß ich sagen. Statt daß man am Abend hübsch ins 
Bett geht, spaziert man von der Wärme weg in die Schotten- 
feldgasse. Ich wundere mich noch über mich, woher ich die 
Geduld nehme, sie täglich daher zu begleiten, damit niemand 
anderer sich über mich wundert und damit die Leute nichts zu 
reden haben, denn das Reden ist ein Fressen für die Leute, 
als verlangten sie kein besseres Stück für den Mund als eine 
üble Nachrede für ihr Mundstück." 

„Die Leute könnten sagen und meinen, was sie wollten, wenn 
nur ihr zwei wüßtet, warum und wozu?** 

„Du sprichst ein großes Wort gelassen aus, Schwager Amersin, 
warum müssen gerade wir zwei wissen, warum und wozu, es 
weiß es doch niemand, und gerade wir zwei sollten's wissen ? w 
„Frag' sie nur, sie wartet sicher darauf." 
„Nur Geduld, wer viel fragt, geht viel irr. Keine Frage ist auch 
eine Antwort Zu dem Fragen, worauf man eine unrichtige Ant- 
wort erhält oder gar eine Ohrfeige, eine moralische natürlich, 
ist es nie zu spät. Dazu komme ich noch immer zurecht Da- 
vongegangen ist sie ja schon, warum soll ich mich jetzt beeilen? 
Was soll ich da eigentlich noch fragen, es ist mir ja bereits 
bekannt Ich will sie einmal darauf warten lassen, wie sie mich 
warten läßt Wir sind nun einmal, scheint's, darauf eingerichtet, 
daß eins das andere verpaßt Wir müssen viel Zeit haben, 
wenn wir unsere Ehe aufs Zuspätkommen und Verpassen ein- 
richten. " 

„je länger sie sich hier eingewöhnt, um so schwerer findet sie 
zurück. Für sie ist die Situation ja auch nicht gerade ange- 
nehm." 

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„Bitte sehr. Vielleicht für mich? Hat's ihr wer geschafft? 
Warum hat sie mich krumm genommen? Nimmt sie mich 
krumm, so darf sie sich nicht wundern, wenn sie schief wächst. 
Aber wenn du meinst, daß sie schief bleiben könnte, es wäre 
doch schade 1 Ich werde mir's überlegen. Ich werde mich 
niederlegen und alles zurecht legen. Ich hätte bei mir zu 
Hause ohnehin jetzt Ruhe genug für einen richtigen Unruhe- 
stand. Und Platz auch noch, für zweil Leb* wohl, Schwager. u 
„Leb' wohl." Amersin schüttelte den Kopf über den Wunder- 
lichen, der hastig schlenkernd über die Stiege hinabstolperte. 

8. 

Die Kinder — die Amersinschen, aber auch die Frantzlschen, 
die heute hier das Fest feierten — standen unten in der Amer- 
sinschen Wohnung, um die Ausgangstür gedrängt wie Schäflein, 
die auf den Auslaß warten, und sprangen und tanzten, lachten 
und fragten durcheinander und belagerten die Klinke. So oft 
jemand aus und ein ging, erhofften sie auch ihren Augenblick. 
Aber oben ließ sich noch nichts vernehmen. Gegenüber frei- 
lich war die Tür des Magazins offen, wo die große Tafel ge- 
deckt wurde, denn die Privatwohnungen reichten nicht für die 
erwarteten Gäste aus, weshalb Charlotte den Geschäftsraum 
als Speisesaal verwenden wollte und jetzt ausstatten ließ. Im 
Kachelofen brannte ein gemütliches Feuer, Wacholderbeeren, 
die leise auf den Platten schmorten, verbreiteten ihren würzigen 
Geruch über den Flur, denn die Türe zum Gang mußte für alle 
Dienstleute offen bleiben, für Frau Antonie, Charlotte, Agnes, 
die mit Lasten von Tellern und Schüsseln, Bestecken, Obst- 
schalen, mit Platten voll Aufschnitt und Käse, mit schön ver- 
zierten Aufsätzen voll Blumen und Südfrüchten, mit Weingläsern 
und Kelchen, mit Bierkrügen und Flaschen aus der Amersin- 
schen und Erathschen Küche hierher kamen, abstellten, ord- 
neten und die Tafel instandsetzten. Diese herrliche und breite 
Eßveranstaltung interessierte die Kinder indessen weniger. 
Oben ließen sich nun schon Stimmen hören, Begrüßungen, 
Gespräche, denn die Gäste rückten an. Man hörte das Stampfen 
der Schuhe, die an den Vorlegern den Schnee abstreiften, man 
hörte das Wehen und Flattern der Kleider. Eine kalte Luft- 
welle warf je und je von draußen einen Stoß Winterabenddun- 
kel in die warme Helligkeit des durchheizten Hauses, man 

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hörte die tiefen Stimmen der Männer und die hellen, hohen, 
vollen der Damen, Christian Frantzls gaumige umständliche, 
schallende, lachende Stimme, die sich schüttelte, während er 
jedenfalls auch den ganzen breiten, geräumigen Körper in Pelz 
und Galoschen schüttelte, indes er den verheirateten jungen 
Freundinnen des Erathschen Hauses, die mit ihren Männern 
eingeladen waren und den begrüßenden Schwestern selbst seine 
Komplimente machte. Man hörte die jungen Damen lachen, 
deren Stimmen wie Tauben empor flatterten und deren Schritte 
auf den Fliesen leicht und lockend schleiften. Die Kinder war- 
teten, ob nicht irgend etwas geredet wurde, das über ihre Wün- 
sche Aufklärung gäbe und über die zu erwartenden Geschenke. 
Doch verstanden sie die Sprache nicht, die sie hörten, wenn 
sie auch ein und das andere Wort auffingen. Die letzte Arbeit 
in einem Christbaumzimmer dauert am längsten, immer fehlt 
noch etwas und immer kommt noch etwas hinzu. Charlotte 
steht auf einer Leiter und langt aus einer weiten Schürze 
allerhand Gehänge für alle Stufen der regelmäßig gegliederten 
Tanne. Antonie verwaltet das Backwerk, die in bunte Seiden- 
papiere verpackten Konfektstücke und Bonbons und verteilt 
sie möglichst tief unten, damit die Kinder sie bequem erlangen 
können. Agnes aber besorgt das eigentliche Wunderbare : den 
Fadenbehang mit den goldenen und silbernen Schimmern und 
die bunten Papiersträuße und Ketten und den glitzernden Asbest- 
schnee, alles, was den Baum erst zum Allerweltbaum macht, 
zum Süd- und Nordbaum, zum Gaben und wünschebaum. Der 
Allerweltbaum trägt aber auch noch vielerlei Figuren: lebzel- 
tene Reiter, bunte Pappen, große Honigkuchenherzen mit ein- 
tätowierten Figuren, Bonbons mit Sinnsprüchen, die noch vor 
dem Genuß dem Lesenden einen schönen Gedanken wie ihre 
eigentliche Seele entgegenstrecken, zu höchst aber, dem Him- 
mel, der Zimmerdecke am nächsten den lächelnden großflüge- 
ligen Engel. In der Tiefe unter dem breitesten Ast steht die 
kleine Krippe mit Öchslein und Kuh, Schaf und Esel, mit Mut- 
ter Maria und Nährvater Joseph, mit den knienden herbeige- 
eilten Hirten, mit den drei Königen aus dem Morgenland, mit 
Edelsteinen, Kronen und Ziergaben, mit dem Stern über dem 
Stall und mit dem strahlenden kleinen, alle Welt um sich ver- 
sammelnden Kinde in der Futterkrippe, das diesen Traum 
einer Einigung aller Menschen und einer Liebesherrlichkeit 
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über Zeit und Raum für eine Stunde vergegenwärtigt, hold wie 
Märchen, Sternennacht und Augenaufschlag der Geliebten. Das 
Märchen heißt: Friede auf Erden allen, die guten Willens sind. 
Guten Willens sind aber alle nur im Traum und Spiel und im 
Augenblick zwischen Anzünden und Verlöschen der Lichter an 
einem heiligen Abend. 

Schon versammelten sich alle Gäste im Empfangsraum, die 
schmückenden Schwestern wurden auch jede Weile abgerufen, 
jemand zu begrüßen und ein Paket für einen Gabentisch dan- 
kend in Empfang zu nehmen. Man hält sie mit Komplimenten 
auf, die Großen drängen sich um die hohe Flügeltüre wie die 
Kinder oben. Inzwischen weiß Vater Amersin, daß seine kleinen 
Leute ungeduldig den Augenblick der Eröffnung dieses Wunder- 
theaters der Weihnacht und inständiger verlangen als die gro- 
ßen. Darum macht er bei jedem Weg in das Christbaumzim- 
mer und von ihm, denn viel ist aus der Wohnung hinaufzutragen 
und von oben wieder hinabzubringen, einen bedeutsamen be- 
ruhigenden Aufenthalt bei den kleinen zusammengedrängten 
Schäfchen an der Türschwelle. 
„Ist das Christkind denn noch nicht da?" 
„Noch nicht, noch nicht, es wird schon kommen." 
Und nach einer Viertelstunde: 
„Noch immer nicht? 4 * 

„Noch immer nicht. Aber es wird bald läuten, wenn es da ist 
Macht keinen Lärm, sonst überhört ihr die Glocke. Wer nicht 
still bleibt und horcht, der kommt zu spät" 
Und nach einer neuen Viertelstunde: 
„Sind schon alle Leute da und immer noch nicht? 
„Mir scheint, es ist schon einmal durchgeflogen, ich habe seine 
Flügel rauschen gehört und bin an seinen Mantel gestreift und, 
seht, dieser Flitter Gold ist mir an den Fingern geblieben." 
Die Kinder staunten den goldenen Flitter an. 
Und nach einer dritten längsten Viertelstunde endlich ein 
schrilles Glockenzeichen, ihnen wurde aufgeschlossen, die klei- 
nen Schafe drängten hinaus, eines dicht am anderen, als ein 
Rudel und das stand an der Schwelle im dunkeln Empfangs- 
raum vor der traumhaften, dämmernden, übermächtigen Hellig- 
keit und Schattigkeit 

Stand aber nicht länger als einen staunenden Augenblick lang, 
sondern eilte, den eigenen kleinen Gabentisch sogleich an dem 

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Hauptgescheiik erkennend oder von Antonie und Elisabeth an 
der Hand geführt, der wunderbaren Wirklichkeit entgegen. 
Die Erwachsenen aber blieben gern im purpurnen Zwielicht 
des Empfangsraumes. Eine Spieldose tönte zierlich, langsam 
und mit silbernen Akkorden das „Stille Nacht, heilige Nacht tt 
in den Wachsgeruch der vielen hundert Kerzen und der Wa- 
cholderbeeren hinein, der große Baum hauchte seinen Harzge- 
ruch und Nadelduft gewaltig aus. Die Schatten seiner Zweige 
stiegen an den Wänden auf, so daß in der warmen, schweben- 
den Dämmerung aus dem Zimmer der weite Wald selber zu 
werden schien, in dessen Raum Winter und Sommer, Nord und 
Süd unter dem Stern eines Gedankens zusammenkommen. 
Das niedere Zimmer dehnte sich empor, die großen Leute 
dünkten sich kleiner als sonst und standen verlegen beisammen 
vor ihrem eigenen Werk. Antonie und ihr Mann fanden sich 
mit Tun und Zeigen, Leiten und Deuten und Sagen und Finden, 
mit Anschauen der Kinder und Geschenke, mit Staunen und 
Mitbewundern in der eigentümlich beklemmenden unwirklichen, 
in Dämmerung zergehenden Helligkeit zurecht, Elisabeth tat 
ein gleiches, Frantzl stand verlegen neben ihr und bemühte 
sich um Corona und Albrecht und machte ihnen alle Dinge 
lebendig, indem er mit den Puppen Possen spielte, Albrechts 
Gewehr knallend abschoß und gegen sich selber zielte, um 
schwer getroffen „Weh, wehl tt zu schreien und verwundet hin- 
zufallen. Gleich aber sprang er empor, ergriff zwei bunte 
Gummibälle, fing sie abwechselnd mit beiden Händen auf und 
warf sie wieder in die Luft, dazwischen setzte er ein Karussell 
in Gang, spielte auf einer Mundharmonika, schlug nebenher 
einen Wirbel auf der Trommel, fand, wer weiß wo, einen Bam- 
busstab und focht mit dem Ritter Franz gegen dessen mächtiges 
Schwert, hob die kleine Emilie hoch, ließ sie auf seine Schul- 
tern steigen, um den Baum von oben anzuschauen, wobei er 
den Damen Komplimente zuwarf und die Freunde seine Viel- 
seitigkeit bewundern machte. Je mehr er aber sprach und je 
schneller er sich um sich selbst und um alle herum bewegte, 
um so träger fühlte er sich und unbehaglicher. Corona, die 
irgendwie den Zusammenhang ängstlich empfinden mochte, 
verzog einen Augenblick wie vor einem falschen Ton ihr er- 
glühendes Gesicht, um sich dann abzuwenden und ganz allein 
in die Betrachtung ihrer Puppen mit den vielen Wäsche- und 

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Kleidungsstücken, Betten nnd Schränken, Küche and Schlaf- 
zimmer zu versenken. Charlotte nnd Agnes gingen hin nnd 
wieder nnd reichten jedem Gaste seine Gabe, lachten wohl und 
tauschten lustige Worte aas, die Mägde staunten in einer Ecke 
und bekamen ihre Gabenteller und Geldstücke. Die ledigen 
Männer, die jungen, die auf Freiersfüßen nach dem Sterne aus- 
zogen und mehr nach den Jungfern als nach dem Glanz der 
frommen Kinderkrippe sahen, nahmen allerhand Juxgeschenke 
entgegen, mit denen die Schwestern Erath sie zugleich ver- 
spotteten und vertrösteten, etwa indem Agnes dem Wilhelm 
Alter, der seiner vergeblichen Lehramtssehnsucht gemahnt 
werden sollte, mit einem Knix eine große Schachtel verehrte, 
in der sich mit vielem Papier umhüllt, endlich ein winziges 
Bambusstäbchen und eine Schultafel darbot, während Charlotte 
dem Juristen Amberg einen mächtigen, schweinsledernen Foli- 
anten keuchend entgegentrug, der sich wie ein Corpus juris 
gebärdete, bei näherer Betrachtung aber als kunstvolle Papp- 
schachtel erwies mit der Aufschrift in großen gotischen Lettern: 
Doctoris Qualms Werke. Eröffnet zeigte sich der wohlriechende 
Inhalt von zweihundert Zigarren aller Gattungen. Herrn Florian 
aber wurde von Elisabeth, die als verheiratete von den ledigen 
Schwestern zu dieser kühneren Unternehmung überredet wor- 
den war, ein Perlenbeutel eingehändigt, der ein ideales Frauen- 
zimmer mit allem Anschein von Reichtum und Pracht eingewirkt 
zeigte. Der Beutel enthielt eine Menge goldener und silberner 
Spielmarken und außerdem ein Lebkuchenherz, schlicht, braun 
gebacken und mit einem schön geschriebenen Zettel in der 
Mitte. 

Auf dem Zettel aber standen diese bedeutsamen, von Charlotte 
mehr zweckmäßig als kunstvoll gereimten Verse: 

„Hier hast Du Deines Sinns begehrte Gegenstände. 
Du findest keine Frau so schön wie hier gestickt, 
An der Gestalt und Geld vereinigt Dich erquickt 
Ist auch die Münze Schein, wie alles Irdische eitel, 
Du hältst zu guter Letzt doch einen echten Beutel, 
Und mit dem Herzen, Freund, beende sich Dein Suchen, 
Ist's nur aus Teig gemacht, bleibt's doch ein Honigkuchen." 
Herr Florian sah vom Perlenbeutel auf die errötend lachende 
Elisabeth, die sich sogleich nach ihren Schwestern umwandte, 
von Elisabeth wieder auf das Lebkuchenherz, das er mit einer 

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betroffenen Verbeugung an seine Brust druckte. Bei dieser Ge- 
bärdensprache beobachtete ihn Heinrich Frantzl mit einem ner- 
vösen Augenzwinkern und schlug ihn auf die Schulter: „Ha, 
Freund, so was hast du zum Fressen gern, und dennoch ist 
nichts schwerer verdaulich als ein Herz, eins aus Lebkuchen 
natürlich, von dem andern weiß ich nichts, denn ich wenigstens 
habe noch keine Menschenherzen verspeist, du vielleicht ? tt 
Thea stand vor ihrem Puppentheater, in dem Anblick der Dorn- 
röschenszenerie versunken. Konnte das sein, war es möglich? 
Sie hatte doch eben früher genau zwölf Püppchen gezählt, zwei 
Bäuerinnen, zwei Stubenmädchen, zwei alte Weiber, zwei kleine 
Kinder, zwei erwachsene Damen mitFederhütenund zweiBallert- 
mädchen mitReifröcken und rotenMiederchen. Jetzt aber fehlen 
gerade die Ballettmädchen. Richtig lagen die auf Coronas Tisch- 
chen unschuldig neben einem großen Buche. Vielleicht war 
das ein Irrtum von Tante Elisabeth. Jedenfalls hatte Thea zwölf 
Puppen zuerst bei sich gesehen und gezählt, und die zwei waren 
ihr zu Unrecht entzogen und Corona zugebracht worden. Corona 
war gerade mit der Betrachtung eines Reiters auf dem Baume 
beschäftigt, als Thea heranschlich und ihr rechtmäßiges Eigen- 
tum, die beiden Ballettmädchen, wieder an sich brachte. Sie 
legte sie befriedigt in schöner Ordnung neben die Damen und 
widmete sich der Bewunderung einer von Onkel Frantzl abge- 
brannten bengalischen Kerze. Indessen vermißte Corona wieder 
die beiden Ballettmädchen, auf die sie das bessere Anrecht zu 
haben vermeinte, entdeckte sie gleich auf Theas Gabentisch- 
chen, schlich zierlich auf ihren Zehenspitzen unbemerkt hin und 
holte sich die beiden treulosen Jungfern zurück. 
Indessen die Großen mit Lachen, Geschenkesuchen und -geben 
und mit dem Lesen aller Verse und Devisen zu tun hatten, 
wiederholte sich dieser zarte Raub und Gegenraub in aller Stille 
etliche Male, ohne daß die Kleinen etwa gestritten oder mit- 
einander über ihr wirkliches oder vermeintliches Recht auch 
nur ein Wort gewechselt hätten. Ebensowenig fragten sie auch 
ihre Mütter oder Tanten, sondern versuchten immer und in 
aller Sanftmut ihre bestrittenen Balletteusen in Sicherheit zu 
bringen. 

Von den Großen wurden Gedenkbücher ausgetauscht, in Plüsch 
gebundene mit Messingschnallen, schon standen mehr oder 
minder bekannte Dichtersprüche darin, und es fand sich, daß 

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Schwester Antonie in Agnes' Stammbach die gleichen Verse ge- 
schrieben hatte wie diese in Elisabeths. Was eigentlich bloß 
in der beschränkten Zahl verfügbarer Zitate begründet war, galt 
nun gleich als wunderliche Fügung des Schicksals, als geheim- 
nisvoll unverbrüchliche Gemeinschaft von Gefühl und Gedanken, 
recht als die gottgewollte Erathsche Seelenverwandtschaft 
In Agnes* Stammbuch fand sich übrigens als Überraschung eine 
Eintragung Hermann Leys, ein Gedicht, das niemand kannte, 
er mußte es also selbst gedichtet haben. Wie war es da hinein- 
geraten, wer hatte ihm das Buch in die Hände gespielt? Agnes 
las und las die schönen Verse, die mit sauberer Schrift einge- 
tragen waren, und staunte über die Freiheit der Gedanken wie 
über den Schwung der Worte, die sich selbstverständlich weit 
über alles erhoben, was sie bei irgend einem Anlasse zusammen- 
reimen konnte. Auch Charlotte wäre dazu unfähig gewesen. 
Agnes bewunderte den Geist und auch die Freundlichkeit Leys, 
der heute ihrer gedacht hatte, trotzdem er nicht eingeladen war, 
aber irgendwie empfand sie diese geistige und ungerufene Gegen- 
wart doch wie eine peinliche Mahnung und Forderung. 
Wer hatte ihm das Stammbuch gegeben? Als sie es unent- 
schlossen weglegte, stand ihr Schwager Amersin hinter ihr und 
lächelte sie verschmitzt an. Er war es gewiß, abermals der ge- 
fällige Freund für einen unsichtbaren Freier? 
Amersiü sagte: „Nun, kleine Schwägerin, der Ley macht sich 
selbst und dir einen eigenen Vers. Reim' dich, oder ich fresse 
dich!« 

„Nichts da, ich reime mich nicht,** und war schon mit der an- 
mutigsten Wendung davon. 

Amersin schüttelte den Kopf und dachte: — Geduld! — 
August Erath der ältere ging von einer Gruppe zur anderen, 
besah die Geschenke, machte seine bedächtigen Bemerkun- 
gen dazu und wurde von Charlotte in eine Zimmerecke im 
Hintergrunde geführt, wo seiner eine Hauptüberraschung war- 
tete. 

Er hatte nämlich für den ersten Weihnachtsfeiertag einen mäch- 
tigen Indian gekauft und in die Küche eingeliefert, und siehe 
da, der lehnte jetzt in einem Fauteuil, als Naßwalderin gekleidet, 
Agnes und Charlotte hatten ihn gleich so ausstaffiert und im 
letzten Augenblick noch das Kostüm genäht, einen grauen Rock, 
eine Samtjacke mit glänzenden Knöpfen, weiße Schürze, rotes 

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Kopftuch mit Edelweiß, Perlen um den Hals. So saß die Dame 
Naßwalderin-Trnthahn auf einem papierenen Tischtuche würdig 
zurückgelehnt, vor ihr brannte eine rote Wachskerze, und im 
Schnabel hielt sie einen Zettel mit dem allbekannten „Naß- 
walderwahlspruch" : „Waldesgrün und Heiterkeit, euch sei unser 
Lied geweiht. " 

Bruder August, der Studio, fand eine „volle Wichs" auf seinem 
Tische zugerichtet, neben Stifters „Hochwald", neben einem 
Dutzend schöner Taschentücher, einer silbernen Tabatiere 
und ebenfalls einem Gedenkbuche. Die „volle Wichs" war 
ihm von Charlotte gespendet, denn die großen Stulpenstiefel, 
der glänzende Pallasch, Barett und Fausthandschuhe kosteten 
einen erklecklichen Betrag, den er allein nicht aufgebracht 
hätte. 

Alle bewunderten dieses Geschenk und ließen sich gleich die 
bedrohlichen Terzen, Quarten und Quinten vorzeigen, die man 
schlagen konnte. August wies dies alles höchst fachmännisch, 
während Heinrich Frantzl dazu die Gesichter und Gebärden 
der äußersten Besorgnis spielen ließ. 

Dazwischen schwatzten und lachten die jungen Frauen und 
Mädchen, lärmten die Kinder, die Kerzen brannten und dufte- 
ten, die Schatten an den Wänden nickten und neigten sich. Die 
Kinder kreischten, weinten und wurden besänftigt 
Heinrich Franzi spielte „Stille Nacht, heilige Nacht", die Ehe- 
paare faßten einander wortlos bei den Händen, die Mädchen 
standen beisammen, die jungen Männer in einer besonderen 
Gruppe, August Erath der ältere ganz vorn mit silberweißem 
Haar und Bart und von den Kerzen voll bestrahlt wie ein röt- 
licher Fels, groß, ruhig, das neue perlengestickte Käppchen in 
der Hand und einen eigentümlichen abweisenden Ausdruck in 
den Zügen. Agnes ging als erste zu ihm, küßte ihm die Hand, 
er streichelte ihren Scheitel, Antonie griff er unter das Kinn 
und nickte ihr zu, Charlotte desgleichen, endlich führte Elisabeth 
Corona und Albrecht zu ihm, er blickte sie an, als dächte er 
an etwas anderes und fragte: „Wo ist dein Mann?" Ehe sie 
aber antwortete, sagte er, jedes der Kinder leicht in die Wange 
kneifend: „In diesem Zimmer lag ich." 
„Warum denn? Was meinst du, Vater?" 
„Ich meine die Weihnachten sechzig." 
„Du lagst hier?" 

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„Am Typhus lag ich, die Frau aber dort drin, im Christbaum- 
zimmer, auch am Typhus. Sie haben sie dann tot hier durch 
und an mir vorbeigetragen." 

„Schrecklich!" seufzte Elisabeth auf, die diese entsetzlichen 
näheren Umstände des mütterlichen Hinganges zum ersten Male 
vom Vater hörte. 

„Und du warst bei Besinnung?" fragte sie. 
„Freilich. Nie war ich mehr bei Besinnung als damals im 
Fieber. Seitdem kann manches an mir vorübergehen, ohne daß 
ich dazu etwas sagen will oder was Besonderes dabei finde. 
Die Agnes war damals fünf Jahre alt, nicht mehr, und hat für 
ihr Leben gern gezeichnet und mit Wasserfarben gemalt Ein 
paar Tage vorher, als wir zwei — die Mutter und ich — noch 
ganz gesund waren, hat das Kind lauter Leichenzüge gemalt 
Ganz deutlich waren sie zu erkennen, schwarze Wagen, schwarze 
Pferde, schwarze Straße, schwarze Fahnen darüber. Nun, nun, 
es ist gut, daß man so etwas nur einmal erleben kann. Das 
Kind hat es sicher nicht verstanden, warum es immer Leichen- 
züge malen mußte. Schade, daß ich dann krank wurde, ich 
hätte mir die Blätter gern aufgehoben: Ein Andenken vom Tode." 
Damit lachte er, lachte herzlich und wiederholt, schüttelte den 
Kopf, legte dann die Hände auf den Rücken und trat so ins 
Dunkel zurück. 

Elisabeth ging mit ihren beiden Kleinen in die Amersinsche 
Wohnung hinunter, wo Antonie auch bereits die ihrigen mit 
allen Eßherrlichkeiten fütterte, dann kleidete sie sie in ihre 
warmen Wintersachen, denn sie sollten heimgehen, schlafen, 
Adam Hirt wollte sie geleiten. Da erschien ihr Mann auf einen 
Augenblick im Kinderzimmer und sagte: „Ich bringe sie selbst 
nach Hause. Ich bin ja in einer halben Stunde wieder da." 
Elisabeth war es zufrieden, Adam Hirt wurde ja jetzt tausend- 
mal anderweitig gebraucht So nahm der Vater seine beiden 
Kinder, Elisabeths Kinder an der Hand mit drolligen Gebärden 
and den Weinenden gütlich zuredend, denn sie wollten noch 
lange nicht fortgehen, drehten und wendeten sich in ihren Ver- 
mnmmungen, endlich bekam er sie zusammen und zum Weg- 
gehen. 

Elisabeth trat mit ihnen in den langen Flur und begleitete sie 
bis zur Haustür, tröstete die Kleinen mit Zurufen und Abschieds- 
worten, indessen trug Heinrich ihre liebsten Geschenke auf 

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beiden Armen, hatte Pakete über der Schulter hängen wie ein 
gebückter Weihnachtsmann und sagte zu seiner Frau: „Geh' 
fort, daß du dich nicht erkältest in deinem leichten Kleid. Der 
Schnee und Sturm draußen braucht gerade so was für eine 
Lungenentzündung. Ich bringe die beiden schon nach Hause 
und zu Bett wie sonst. u Damit schlug er die Türe auf, der 
Wind trieb eine Wolke Staubschnees hinein, daß sie vor der 
Kälte und Feuchtigkeit schauernd zurückfuhr und nasse Augen 
bekam. Sie hätte gleich weinen mögen, weil sie Vaters wunder- 
lich entrückte Erzählung vom Tode ihrer Mutter noch im Kopfe 
hatte und ihren Mann nun im Sturm verschwinden sah, als ob 
sie ihn hinausgestoßen hätte. An die beiden Kleinen dachte 
sie gar nicht, die waren gut vermummt und hatten von ihr auch 
zärtlich Abschied genommen, denen konnte nichts geschehen, 
nur um ihren Mann war sie besorgt, der da in die Nacht fort- 
ging. Beinahe hätte sie ihn zurückhalten mögen. Es war doch 
wohl nur eine ärgerliche Schwäche. Nun würde er die Kinder 
mit Wetti niederlegen „wie sonst". Er hatte dies ohne Absicht 
und ohne Anspielung gesagt, so selbstverständlich war es ihm 
schon geworden, daß sie abends von seiner, von ihrer Wohnung 
fortging und hierher kam, daß sie die Kinder allein ließ. Wenn 
ihm oder den Kleinen daheim etwas zustieß, würde sie es gar 
nicht einmal gleich wissen. An ihr würde man nichts und nie- 
mand vorübertragen, denn sie war ja gar nicht bei Nacht zu 
Hause. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, wandte sich zurück 
und stieg die Treppe hinauf, um wieder in die wohlige Wärme 
und Dämmerung der Wohnung zu kommen. Auf der Stiege be- 
gegnete ihr Florian mit strahlendem Blick in seinem festlichen 
schwarzen Anzug, eine weiße Rose im Knopfloch. 
„Hier habe ich Ihren Perlenbeutel in der Hand und Ihr süßes, 
großes Herz, 4 * lachte er und zeigte seine weißen, leuchtenden 
Zähne. 

Ihr erschienen sie wie das Gebiß eines Raubtieres, das gleich 
in dieses Herz hineinbeißen würde. 
„Mein Herz?** fragte sie abwesend. 

„Ihr Herz, Ihr süßes Herz, Sie haben es mir geschenkt Dank, 
nochmals Dank." 

Damit streckte er ihr seine ,beiden Hände hin, sie schlug ganz 
gedankenlos ein und gab ihm ihre Rechte, die er so leiden- 
schaftlich an sich riß, daß sie auf der Stiege — sie ging und 

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stand gerade an der schmalen Schneckenseite der Treppe — 
ins Wanken geriet und seitwärts an ihn fiel Ihr war taumelig 
und benommen zumute, war es ein Anfall von Ohnmacht, von 
Müdigkeit, war sie vor grundloser Bekümmerung so schwach 
und wehrlos, sie fühlte sich umfaßt und von diesem Mund mitten 
auf den ihrigen geküßt, so stark und schnell, daß sie diese wilden 
weißen Zähne auf ihren Lippen spürte und, in diesem Augen- 
blick aus dem Taumel gerissen, sich zusammennehmen und 
ausbeugen wollte, als er sie auch schon, irgend etwas flüsternd, 
losließ, denn von oben drang durch die geöffnete Tür eine 
starke Welle von Gelächter und Stimmen, die ihn von ihr riß. 
Mit einem Satze stürmte er hinab, sie aber tateste sich blut- 
übergossen und bestürzt, an das Geländer der Treppe geklam- 
mert, hinauf, bis sie von der vertrauten purpurnen Helligkeit 
wieder sanft umfaßt und beruhigt, alle Versammelten in unver- 
änderter Heiterkeit sah wie vordem. Zwischen ihrem Verschwin- 
den aus diesem Raum und ihrer Wiederkehr, seit sie ihre 

4 

Kleinen eingehüllt und ans Haustor begleitet, bis jetzt, wo sie 
nach einem Hangen über einem Abgrund sich hierher geflüch- 
tet hatte, schien ihr ein Jahr, nein, ein Leben zu liegen. Sie war 
auch gestürzt. Ja, sie hatte nur nichts davon gewußt. Beim 
Sturz aber drängt sich alle gelebte Vergangenheit ungeheuer 
zusammengepreßt in diese wenigen Sekunden vor der letzten. 
Dann hat man in einem Nu mehr erfahren als in einem ganzen 
übrigen Dasein. Jahre der Trennung von Mann und Kindern 
lagen hinter ihr, seit sie Heinrich vor zwei Minuten unten ver- 
lassen, was war mit ihr geschehen, seit sie damals ihrer ehe- 
lichen Wohnung Knall und Fall den Rücken gekehrt hatte? 
Warum wohnte sie hier, wo sie ja doch längst nicht mehr zu 
Hause war und nicht mehr hingehörte, wo sie schutzlos fallen 
konnte, ohne daß sie jemand aufhob. Niemand war für sie da! 
In ihrem Elternhause niemand ! Ihr Mann, ihr natürlicher Helfer, 
war weg,, freilich ließ seine Verteidigung manches zu wünschen 
übrig, aber er wäre doch wenigstens da gewesen. So aber fiel 
sie einfach diesem schlanken lauernden Raubtier an die Seite, 
und er hätte sie weggetragen, wenn nicht die Welle Lachen und 
Lichtes ihn verscheucht hätte. Jahre liegen in einem Heben 
und Senken der Wimpern, und zwischen einer Tat und ihrer 
Reue steht ein längeres Leben als oft zwischen früher Kindheit 
und spätem Tod, gestorben wird oft im Leben und oft gestürzt, 

77 



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und viel, wieviel überlebt I Als kurz danach Florian wieder ein- 
trat, sie mit seinem Blicke lachend und triumphierend suchte, 
fühlte sie sich in allen Gliedern gezerrt und gezogen und im 
Gehirn einen verzweifelten, zornigen Widerstand gegen diese 
Schwere, sie spürte ihr heißes Erröten und wandte sich ab, 
bückte sich und hob gedankenlos einen Goldflitter auf, den sie 
wieder hoch an die Tanne hing. 

Die Lichter waren niedergebrannt, knisternd schwelten die 
Wachskerzenstümpfchen, die eigentümliche gedämpfte Spannung 
war gelöst Man zog endlich paarweise über die Treppe hinab 
zum Nachtmahl. Elisabeth sah niemand, mit dem sie gehen 
konnte, fürchtete, daß Florian ihr seinen Arm bieten würde, 
den sie ohne Grund doch nicht hätte zurückweisen können. 
Da stand ihr Vater in einer Ecke, stumm und groß, sie schob 
ihren Arm unter den seinigen, und würdig gingen sie die Treppe 
hinab, die jetzt eng und gewöhnlich war, kein Abgrund und 
Sturz mehr. Die Kühle des Vorhauses erfrischte Elisabeth. Sie 
setzte sich zur Rechten des Vaters an die Spitze der langen 
Tafel, und Löffel und Bestecke, Teller, Schüsseln, Flaschen be- 
gannen zu klirren und ihren Lärm unter die Reden und das 
Gelächter der Gäste zu mengen. Zwei sechsarmige Leuchter 
brannten mit hohen Kerzen und streuten ihre zwölf Strahlen 
warmen gelben Lichtes aus. Adam Hirt füllte die Gläser. Bier 
stand braun mit weißen Schaumborten in den Pokalen und wurde 
rasch getrunken für den ersten Durst und zum ersten Hunger, 
dann aber kam der Tokaier, der honiggelbe, schwerflüssige 
Wein, der auf der Zunge wohlig hinabschleicht und das Herz 
sonnig macht Über den Versammelten schwebte der leise 
Taumel derGasterei undFreiheit, der jedes solche Fest vor dem 
Höhepunkte beseelt und blühen macht, unbemerkt trat Hein- 
rich Frantzl ein, suchte mit den Blicken seine Frau, sah sie ganz 
oben beim Schwiegervater und fand sich ein Platzchen unten 
an der Tafel. 

Amersin erhob sich, Antonie schaute stolz auf ihn, denn sie 
kannte und bewunderte seine natürliche Redekunst. Er setzte 
langsam, überlegt, aber sicher Wort an Wort, so daß keines das 
andere verdrängte und ein Gedanke einfach und deutlich sich 
an den nächsten schloß, einleuchtend, aber doch nicht einfältig, 
sondern voll scherzhafter Bedeutung mit lauter sicheren An- 
spielungen, die der Beteiligte zwar spürte, aber stets ohne Be- 

78 



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leidigling, nur wie ein angenehmes Prickeln. Er fand manche 
feine Wendungen ins Höhere, ohne Phrase, mit einem sicheren 
Schwang. Das maßte man ihm lassen, er verstand es, sich aus- 
zudrucken, ans ihm wäre ein ordentlicher Advokat geworden, 
wenn er hätte studieren dürfen, oder ein ansehnlicher Politiker. 
Elisabeth hörte ihm freilich nur mit halbem Ohr zu, aber Char- 
lotte war dafür um so lebhafter interessiert, während Amberg 
zu ihrer Rechten flüsterte: „Reden werden auch geschwungen? 
Das wird ja immer großartiger." 

»Nehmen Sie sich zusammen und antworten Sie, tt meinte Char- 
lotte. 

„Was könnte ich denn sagen? Gehöre ich denn zum Hause? 1 * 
„Gehört er denn dazu?" zischte Charlotte, zornig, daß Amersin 
sich anmaß, im Namen des Hauses hier zu reden, während ihr 
Vater, das eigentliche Oberhaupt, ruhig und aufrecht, aber 
stamm dasaß, lächelte und genau zuhörte, als wolle er sich kein 
Wort entgehen lassen. Ihr Vater hatte alles hier geschaffen, 
dieses Haus, seine Familie, seine wohlgeratenen, vornehmen 
Töchter, seinen großen Namen, Eraths Ansehen und Geltung, 
diesen Tisch selbst und diese vielen Gänge der guten Mahlzeit, 
schwieg aber und ließ den behaglichen, gesunden Eindringling 
reden, als gehörte dem diese ganze Welt, als hätte er die Firma 
zu verkörpern und im Namen dieses Hauses aufzutreten. Wie 
stand er breit und sicher da, so daß ihn jeder sah, keiner über- 
hören konnte, wie sammelte er alle heitere Aufmerksamkeit 
auf sich, und seine Worte! Er wartete nach jeder Salve des 
richtig eintreffenden Gelächters mit sorgsamer Berechnung, bis 
die Zustimmung verklungen war, um von neuem einzusetzen, 
immer stärkere Spannung und Anregung, immer mächtigeren 
Beifall hervorzurufen, der zum Schluß alle von den Stühlen hob 
und sich um ihn drängen ließ. Die Gläser stießen mit hellem, 
reinen Klingen an auf das Wohl der Familie Amersin, der heu- 
tigen Generation und der bereitstehenden, dermalen in den 
Bettlein schlafenden nächsten, auf das Wohl des besten Vaters 
und der nicht minder geratenen Töchter, auf das Wohl der 
Schönsten, also aller vier, denn welche hätte sich mit Grund 
allein gemeint fühlen dürfen, und auf das Wohl der Schwieger- 
söhne, der Redner nahm sich hierbei keineswegs aus, die vor- 
züglich gewählt und wählend das Richtige, die Richtige zu raten 
verstanden hätten und so weit es an ihnen läge, auch künftig 

79 



< 

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noch raten würden, denn namentlich auf das Wohl der künftigen 
Schwiegersöhne erhebe er sein Glas, sei vielleicht einer da, er 
möge sich melden, denn man sehe es einem nicht ohne wei- 
teres an, ob er ein Eidam sei, dann könne man alles Nötige 
mit ihm vereinbaren und die Gläser anklingen lassen. 
„Oho!" rief Charlotte. 
„Anal" entgegnete Amersin. 
„Hihil" kicherte Heinrich aus seiner Tafelecke. 
Da jeder der unverheirateten Gäste von dieser Ansprache zu- 
gleich getroffen oder verschont und geehrt war, gab es die 
angeregteste Dankbarkeit Die jungen Ehepaare, die ehemaligen 
Mitverschworenen der ledigen Schwestern, lachten siegesgewiß, 
auch für diese Ehefeindinnen würde die Stunde kommen, darauf 
stießen sie mit Amersin an. 

Auch auf das Wohl der Kinder, der gegenwärtigen und der 
kommenden, der erwarteten, wie der noch nicht vorauszusehen- 
den wurde getrunken, auf das Wohlsein der befreundeten Firmen, 
Christian Frantzl schüttelte sich mächtig im Gefühl seiner Be- 
deutung als Firma und Freund, auf das Gedeihen der Wande- 
rangen Herrn August Eraths seniors und der Paukereien Herrn 
August Eraths juniors, der mit krebsrotem Gesichte dasaß, immer 
bereit, eine Beleidigung irgendwoher aus der Luft aufzufangen, 
auf sich zu beziehen und etwa blutig zu rächen. Aber er trank 
gleichwohl mit Genugtuung und Würde, wenn auch Amersin 
das eigentliche gewiß nicht verstand, worauf es ankam. 
„Die Ritter sahen mutig drein und in den Schoß die Schönen." 
„Nun, Agnes, was meinst du zu dieser Zukunft?" fragte Wilhelm 
Alter seine Tischgefährtin. 

„Sehr fatal bemerkte Schlich, aber nicht für mich," zitierte sie 
lachend. 

„Nichts verschwören, bitte, nichts verschwören. Ihr glaubt am 
Ende, ihr seid es euerm Charakter schuldig, euer voreiliges 
Gelübde gar noch zu halten. Ist's nicht schlimm genug, daß ihr 
so etwas gelobtet? Halten wollt ihr es auch noch? 44 
„Was weißt du, ob es schlimm ist oder gut. Recht ist, was mir 
gefällt. Damit gut." 

„Also trinken wir auf die Freiheit Prosit, Blume," sagte er und 
meinte Blume, meinte junge, rosa Rose, meinte vornehme sei- 
dene Prinzessin Agnes, meinte Frühling und unsagbare Anmut, 
die neben ihm den Kopf mit dem rötlich schimmernden Haar 



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gedankenvoll senkte and mit dem zierlichen Zeigefinger unsicht- 
bare Zeichen auf das Tischtuch schrieb, Namenszüge, fremde 
Namen, welche Namen? Männernamen? Oder bloß den ihrigen 
als Unterschrift unter das Gelübde ihrer Einsamkeit? 44 
„Was hast du jetzt hier geschrieben?" fragte er. 
„Nichts. Nichts," antwortete Agnes errötend, denn es war ihr 
selbst lästig, daß sie mit ihrem Zeigefinger die Worte des Ge- 
dichts niedergeschrieben hatte, das von Ley in ihr Stamm- 
buch eingeschmuggelt worden war. Verwirrt strich sie mit zor- 
nigem Finger die unsichtbaren Verse aus dem glatten Tisch- 
tuch aus. 

Wilhelm Alter sah diese rätselhaften, vertrauten zarten Gesichts- 
züge, dieses sanfte Rund der Wangen, die leise Einbuchtung 
der Schlafen, das rosige Ohr, die langen ruhigen Wimpern, die 
rein und kühn gezeichnete feine Nase, die eigentümlich strenge 
Bestimmtheit dieser Züge, die vielleicht einmal scharf wirken 
würde, jetzt aber überaus rührend schien, als so frühe Ent- 
schiedenheit, er beobachtete den versunkenen Blick der grau- 
goldigen Augen. So nahe beisammen waren sie Jahre und 
Länder weit weg. Es war wohl kühn von ihm, in die Nähe dieses 
verwandten Herzens zu verlangen, denn er war arm und abhän- 
gig, sie aber reich und frei, aber doch war es wieder selbst- 
verständlich, denn in ihm floß verwandtes Blut, das sie besser 
ahnen und darum rechtmäßiger verlangen durfte, als irgend ein 
anderes. Sie aber sah ihn nicht einmal an und am allerwenig- 
sten hätte sie den Verwandten da als verliebten Freier anerkannt, 
der anderen Mädchen mit seinen sanften, doch männlich kräf- 
tigen Zügen, mit den gutmütig zutraulichen braunen Augen 
wahrscheinlich sehr wohl gefallen mochte. 
Nach dem Essen teilte sich die Gesellschaft, die Verheirateten 
und die Älteren blieben an der Tafel sitzen, die Jungen gingen 
in die Erathsche Wohnung zurück, ließen sich in die Fauteuils 
sinken oder in die angenehmen Sofas in den lauschigen Ecken. 
Überall wurde Wein getrunken und gelacht, anzügliches bemerkt 
und gegenbemerkt, auch Florian war hier und schien Elisabeth 
zu suchen, die sich ihm aber entzog. 

Heinrich Frantzl saß am Flügel und phantasierte, das alte Weih- 
nachtslied ging durch allerhand Modulationen in Wagnersche 
Motive über und plötzlich unter einem kuriosen Schmunzeln in 
eine Tanzmusik. Das Walzer- und Trinkfinale der „Fledermaus" 

Stoessl, Das Haus Erath 6 ^1 



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vereinigte alle Jugend hier. Champagnerpfropfen knallten, der 
Wein floß überquellend in die Kelche und alles stieß an: 

„Das ist einmal so Sitte 
Chacun ä son goüt." 

Er sah beim Spielen seine Frau Elisabeth still eintreten, allein, 
niemand kümmerte sich um sie und sie schien auch niemand 
zu suchen, ließ sich tiefer im Stuhl nieder, faltete müde die 
Hände in den Schoß und neigte den Kopf. Sie saß ihm gegen- 
über in der Zimmerecke. Florian bemerkte sie und trat zu ihr, 
da erhob sie sich rasch, ging mit einer fast ungestümen Wen- 
dung zum Flügel und stellte sich neben ihren Mann, der spielte 
und immer eifriger, immer versunkener mit immer neuen rau- 
schenden und lebhaften Stimmen die Operettenweisheit figurierte 

„Das ist einmal so Sitte 
Chacun a son goüt" 

Florian tat, als sei alles ohne Absicht so geschehen und wandte 
sich einer anderen schönen jungen Frau zu. Frantzl beugte den 
Kopf über die Tasten und schüttelte seine Mähne und tat, als 
gebe es nichts auf der Welt, als diese schwarzweißen Klavier- 
felder, aber dabei entging ihm keineswegs, daß seine Frau eine 
Träne im Auge hatte. „Schon gut, schon gut," dachte er „warum 
. soll ich allein es schlecht haben?" 

„Das ist einmal so Sitte 
Chacun ä son goüt" 
Amberg war in die Winternacht hinausgeeilt, durch den be- 
schneiten Garten. Unterm Sternenhimmel glänzte unsicher ein 
Kerzenlicht im Gartenhäuschen. Er öffnete die Tür, das Licht 
erlosch, zwei Arme legten sich um seinen Hals und Charlotte 
küßte ihn mit einem wilden Jauchzen. 

„Warum stiehlst du uns einen solchen Augenblick?" fragte Am- 
berg, „warum schämst du dich meiner, warum können wir nicht 
vor aller Welt miteinander gehen und uns verloben, wie alle 
Welt, was soll diese Minutenherrlichkeit, Charlotte, du weißt 
doch, ich will dich haben, aber ganz, nicht so auf einen Raub!" 
„Still, kleiner Student! Küß mich! Das ist ganz gut!" 
„Nein. Jetzt erst recht nicht, bis du mir sagst, was du von mir 
willst, was aus uns werden soll, denn ich will dich haben, ver- 
stehst du, nicht bloß deinen verliebten Mund, sondern dich!" 
„Mich willst du haben, du Vorwitz und willst mich nicht einmal 

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küssen? Komm, küsse mich, kurz, aber gut, alles andere geht 
dich nichts an." 

„Warum willst du mich nicht heiraten? Närrchen?" 
„Will ich denn nicht? Hab* ich vielleicht schon abgesagt?" 
„Hast du vielleicht zugesagt?" Mir ist nichts bekanntl" 
„Nein, zugesagt habe ich freilich nicht Dazu ist's noch Zeit. 
Einstweilen bist du noch ein Prüfling und nicht einmal Doktor, 
ich aber bin eine alte Person. Das gibt kein brauchbares Ehe- 
paar." 

„So schämst du dich meiner?" 

„Nun ja, ich könnte mich freilich mit einem kleinen Studenten 
nicht gut sehen lassen. Das mußt du wohl einsehen. Also gib 
schön deinen Mund her, küssen kannst du wie ein Alter!" 
„Hast du's schon mit einem Alten probiert, Jungfer?" 
„Pfui. Jetzt wiederholst du die Prüfung zur Strafe." 
„So. Kenne sich einer bei dir aus. Du Teufel" 
„Glaub's selber. So und jetzt ist es genug! Fertig! Ich muß 
zurück, man vermißt uns sonst" Damit entschlüpfte sie ihm 
und eilte rasch, die Röcke hochraffend, über den verschneiten 
Weg ins Haus zurück, Amberg ihr nach, hatte sie eben erreicht, 
preßte seinen Kopf in ihren Nacken und küßte sie da im Flug 
und Flur als Amersin aus der Tür des Magazins trat Er schien 
nichts zu bemerken, sondern ging an den beiden vorüber, die 
verwirrt zur Tafel zurückkehrten. 

9- 

Adam Hirt jätete Unkraut im Garten, er reinigte den Saum des 
Rasens und harkte gleich auch den schmalen Weg zurecht, da- 
zwischen befestigte er ein paar Rosen mit Bast an ihre Stäbe. 
Er verstand es, vielerlei Dinge unter einem zu betreiben, aus 
dem schmallippigen, zahnlosen Munde zog er die langen Bast- 
streifen hervor, wenn er gerade für einen Augenblick eine Hand 
und einen Blick für die schöne „Madame Testout" frei hatte, 
die schon in Knospen stand, in der vorgebundenen blauen 
Schürze sammelte er das ausgejätete Unkraut, denn er wollte 
durchaus keine Unordnung im Garten dulden, aus der Rock- 
tasche lugte eine Baumschere, die er auch anwandte, wenn er 
dazu kam, vor ihm lag die Spitzhaue und ein Holzrechen, er 
führte den Spaten und mit der Linken vermochte er gelegent- 
lich noch ein hochrot und blau gemustertes Sacktuch hervor- 

6* 83 



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zuholen, um sich den Schweiß zu trocknen, denn die Sonne be- 
schien gnädig diesen gerechten kleinen Knecht und brannte 
auf die violetten oder silbernen, goldenen und roten Glaskugeln 
an den Rosenstäbchen, so daß es in dem kleinen grünen Gar- 
tengeviert ein Gleißen und Funkeln gab wie von Diamanten 
und Edelsteinen in einem Märchenpark. 

Der bucklige, friedlich bemühte kleine Gärtner paßte gar nicht 
übel in diese Frühlingsmärchenhaftigkeit, die freilich überall 
wahr wird, wo blauer Himmel und steilere Sonne auch nur ein 
paar Büsche und ein paar Quadratmeter Raum und Rasen vor- 
finden, die sie durchleuchten, erwecken, beseligen können. So- 
gar Bienen fehlten nicht mit Summen und Suchen, nach denen 
man doch inmitten der Stadt vergeblich gesucht und gesummt 
hätte. Von den hüpfenden Spatzen, die jezuweilen Brösel aus 
einer dritten Tasche bekamen und von den schwarzen Amseln, 
den frechen Stadtvögeln, die sich am liebsten gerade vor Adam 
Hirts Füßen aufhielten, ist gar nicht erst zu reden, denn sie 
brauchen nicht einmal Sonne und blauen Himmel, um sich 
wohlzufühlen, aber diese gelbschnäbelige Amsel, fast so groß 
wie ein junger Rabe, konnte am Abend, wenn es rot über den 
Dächern und zu ahnen stand, daß die Sonne fortging, auf dem 
niedrigsten Ast des Nußbaumes zu singen anfangen, mitten in 
ihrem Lied, das zärtlich und spöttisch, wehmütig und übermütig 
zugleich klang, wie kein Menschenlied jemals zu sinnen und 
klagen, zu spotten und sich schmerzlich zu brüsten weiß, mitten 
drin konnte sie auf den nächst höheren Ast springen, ohne daß 
der Ton abriß; sie spann ihn vielmehr wie einen Purpurfaden, 
der je dünner, desto glühender wurde, auf einem dritten, höhe- 
ren Ast fort, bis sie in der verglühenden Dämmerung ganz oben 
auf dem Wipfel und auf der letzten zartesten Astspitze wippte 
und ihre Töne wiegte, als wollte sie ihr freches und zum Zer- 
springen trauriges Herz der Sonne nachwerfen, dort über die 
Dächer hin. Dabei klang aber ein leiser Spott mit, denn der 
Racker wußte ja doch, daß er sein freches Herz behielt und 
morgen wieder ebenso hell und voll singen und klagen würde, 
so lange bis er Gott sei Dank die für Menschenaugen viel un- 
ansehnlichere graue, stumme Person, die unten mit einem Re- 
genwurm beschäftigt war, richtig mit seinem Netz von Gesang 
und Spott und Klage und Übermut endgültig überworfen haben 
würde. Hat jemals eine Amsel erfolglos gesungen? Auch das 

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war das Märchen in diesem Menschengarten, daß er sogar ein 
solches Lied enthielt und einen Nußbaum, der zuerst seine Spitze 
für den Abgesang und dann eine versteckte Astgabel für das 
Nest hergab, um das es sich bei all der Begeisterung im Grunde 
handelte. 

In dieses Bildchen von Stadthausgartenmai paßte auch das 
Eilen weißer Kinder, Ballwerfen, Jauchzen und „ Fangerlspielen u 
gar nicht übel, denn auch Kindergeschrei ist grün und frisch, 
wie Löwenzahn und Gänseblume, wenn auch aus zäherem 
Stoffe, und ist's auch so was wie Unkraut, wer will es ausjäten? 
Selbst die weißen Leinentücher und Kissen, die sich an den 
offenen Fenstern des Hofes sonnten, stimmten zum Ganzen. 
Konnte überhaupt etwas stören an solchem seidenblauen Maien- 
tag im kleinsten Garten mit sonnendurchspieltem Baumschlag 
des schütterbewachsenen Nußbaumes, mit einem hölzernen 
Gartenhäuschen, an dessen Eingangstüre bunte Glasscheiben 
eingesetzt waren und an dessen hölzerner Sternspitze ein kunst- 
voll gewebtes Spinnennetz den selbigen Sonnenstrahl auffing 
and durchließ. 

Adam Hirt reinigte den Kiesweg so genau, als wenn er ein 
Zimmer geputzt hätte. Man wäre auf dem weißen perlensaube- 
ren Boden ebensogut gesessen oder gelegen, als gegangen. 
Selbst das Knirschen der Schuhe auf dem Kies klang erwar- 
tungsvoll. 

Ein langer Schatten wuchs über den Weg und knirschte fest 
und hielt jetzt hinter dem vorgebeugten Adam Hirt, so daß er, 
ohne den Kommenden gehört zu haben, einhielt, sich aufrich- 
tete, auf den Spaten stützte und freundlich gespannt zu August 
Erath emporsah, der in seinem schwarzen Rock schlank, gerade 
und ernst, wie immer vor ihm stand. 

Adam Hirt wußte, daß Erath ihm etwas zu sagen hatte, wenn 
er so zu ihm trat, während er arbeitete. Sie kannten schon 
lang genug ihre Gewohnheiten und Bräuche. Darum zog Adam 
aus einer vierten, aus der Brusttasche, eine kurze Porzellan- 
pfeife, wischte seine Hand an der Schürze, versicherte sich, daß 
der Kopf des Rauchgerätes noch halbvoll war, stopfte mit dem 
Daumen nach, holte aus der fünften, aus der Hosentasche, ein 
Schwefelholz, rieb es an der rauhen Hose, wartete geduldig, bis 
es richtig brannte und entzündete die Pfeife, als Erath anfing: 
„Jetzt schickt mir der Wilhelm seit sechs Monaten jeden Sonn- 

85 



tag einen Boten mit einem Brief; er muß seine Leute ausbe- 
zahlen und hat kein Geld, ich soll ihm das Nötige um Gottes- 
willen schicken. M 

Adam Hirt nickte still vor sich hin, die Sache war ihm bekannt 
„Das letzte Mal hab' ich ihm sagen lassen, es wäre endlich ge- 
nug, er habe noch nichts zurückgezahlt Ich erwarte ihn heute 
mit seinen Büchern. " 

„Er wird heute kommen," sagte Adam und blinzelte zur Sonne 
hinauf. 

„ Jawohl," sagte Erath und blickte zu Boden. 

„Und was wird dann sein?" fragte Adam. 

„Dann? Nichts mehr wird dann sein, Wilhelm ist alt genug, 

ich habe ihn selbständig gemacht, ich hab' ihm das Geschäftel 

gegründet, ich hab* ihn hineingesetzt, er sollte sich weiterhelfen. 

Aber wenn er es eben nicht und nicht versteht, muß er ein 

Ende machen." 

„Das heißt, du willst ein Ende machen und er soll es müssen." 
„Er möchte und verstünde freilich etwas anderes, das weißt du 
wohl, Erath." 

„Jedes möchte und verstünde noch ganz und gern viel anderes 
als was er muß. Aber Leben und Arbeit sind kein Spaß. Wir 
sind ins Wasser geworfen und müssen schwimmen." 
„Ja, wenn man uns ins Wasser geworfen hat, freilich, aber man 
könnte einem als Schwimmeister auch eine Stange reichen. 
Wilhelm ist kein Geschäftsmann." 

„Leider ist er keiner, so muß er denn beizeiten fremdes Brot 
suchen. Ich kann ihm nicht mehr helfen." 
„Er hätte studieren wollen. Dazu hättest du ihm helfen sollen. 
Hätte auch weniger gekostet" 

„Ich kann nur unterstützen, was ich billige. Ich habe ihn zu 
einem ordentlichen Kaufmann machen wollen. Warum habe 
ich es zu was rechtem gebracht? Wenn er wirklich einen so 
guten Kopf hat, muß er ihn auch im Geschäfte anwenden. Das 
ist doch wirklich keine Hexerei. Aber er hat eben keinen guten 
Kopf und er hat ein träges Herz, Adam." 
„Nur, was wir mögen, wird uns leicht, was wir nicht mögen, 
aber müssen, wird uns schwer. Unser eigener Abscheu wirft 
uns lauter Prügel vor die Füße." 

„Jawohl, wir machen uns selbst unser Unglück. Aber dann ist 
es eben zu spät" 

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„Es ist nie zu spät, Erath, für die Hilfe nicht und für den Willen 
nicht." 

„Er ist zu allem zu alt 4 * 
„Mit dreißig Jahren?" 

„Mit dreißig Jahren wieder ganz unten stehen, ist zu schlimm. 
Er kommt nicht mehr hinauf. 4 * 
„Was willst du tun? 4 * 
„Nichts! 4 * 

„Das ist freilich wenig. 4 * 

Erath schwieg. Daß Adam so zähe antwortete und ihm den 
eigenen Entschluß durch Billigung so gar nicht vorwegnahm, 
machte ihm das Gespräch sauer, aber er suchte ja solche 
Unterredungen nicht, um sich selbst zu hören, sondern des 
Rates wegen. Nicht etwa um ihn zu befolgen und weil der 
große August Erath den kleinen Adam Hirt für klüger oder er- 
fahrener gehalten hätte als sich. Er hielt sich vielmehr durch- 
aas für gescheiter, schon weil er aufrecht und nicht verwachsen 
war, und weil er Erfolg und Ansehen in der Welt errungen 
hatte, denn wäre Adam gescheiter gewesen als er, so stünde 
jetzt Erath mit dem Spaten da und Adam im schwarzen Rocke. 
Aber gleichwohl brauchte Erath diese zwecklose Gegenstimme, 
wie jeder Mann sein Gewissen braucht. 

Hinwiederum wußte Adam ebenso genau, daß Erath auch ohne 
und gegen seine Einwände das tat, was ihm gut dünkte, aber 
darum hielt er erst recht mit seiner Meinung nicht zurück. Was 
den Erfolg betraf, so hatte Adam seine besonderen Gedanken 
darüber, aber allerdings keine Aussicht, diese Beurteilung in 
der Welt durchzusetzen, der nur als gerecht gilt, was gelungen 
ist War er mit seinem Buckel vielleicht so schön geraten, 
daß er jemand von seiner Meinung überzeugen konnte? Und 
doch weiß vielleicht ein Krummer am besten, was gerade ist 
Endlich sagte Erath vor sich hin: „Ich kann nichts mehr für 
ihn tun. Ich habe ihm ein ganz nettes Vermögen vorgeschossen 
und er hat es eingeschustert Das muß genug sein. Kann ich 
denn meine Kinder verkürzen? Und meine Enkel? 44 
„Haben sie es etwa schon spüren müssen, daß du dem Alter 
etwas hast zukommen lassen? 4 * 

„Nun spüren noch nicht Das wäre doch allzu arg. Aber kann 

ich es so weit kommen lassen, bis wir es spüren? 4 * 

„Da willst du von Hilfe reden? Solange dich deine Hilfe nicht 

8? 



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schmerzt, solange sie dich nicht brennt, ist überhaupt noch 
nichts geholfen. Gut sein fängt erst an, wo es wehe tut" 
„Das Gutsein täte nicht mir weh, sondern meinen Kinderi, 
wenn ich Unschuldige verkürze." 

„Nun, auch deine Kinder sind mit Alter verwandt, es würde 
ihnen wohl nicht schaden, wenn sie ihm auch etwas zuliebe 
täten." 

„Meine Kinder? Wie kämen denn die Mädchen dazu?" 
„Vielleicht die Agnes. Du könntest den Wilhelm darüber fra- 
gen. Ich weiß freilich nichts davon." 

„Das fehlte mir gerade. Da gäbe ich noch lieber doppelt so 
viel weg, ehe ich den Wilhelm über Agnes fragte. Für ihn ist 
die Agnes nicht bestimmt. Das bitt* ich mir aus." 
„Aber er war leider für sie bestimmt." 

„Um so besser hätte er auf sein Geschäft achten müssen, statt 
dessen ist er hinuntergeschwommen wie ein Stück Holz." 
„War er faul? War er leichtsinnig? Hat er spekuliert?" 
„Nein, zu all dem ist er zu anständig." 

„Selbst zum Fortkommen ist er zu anständig. Darum ist ihm 
auch nicht zu helfen ! Was?" 

Erath nickte: „Er muß eben zusperren, sehen, wo er anders 
unterkommt und langsam seine Schulden abzahlen. Ich will 
meinetwegen warten, bis er alle anderen Gläubiger befriedigt 
hat Aber ich kann ihn nicht weiter halten. Er ist alt genug, 
für sich aufzukommen. Und damit Schluß." 
„Schluß mit Jubel. Langmut mit Rückzahlung. Gut, daß du 
mit deinen Kindern noch nicht soweit bist, wie deine selige 
Schwester mit deinem Schwestersohn." 
„Solang ich lebe, kann ich ihnen helfen." 
„Und später." 

„Ich lasse ihnen so viel, daß sie sich auch später halten kön- 
nen. Darum darf ich ihnen aber von Wilhelm nicht noch mehr 
entziehen lassen." 

„Wenn man alles berechnet, muß alles stimmen. Wenn aber 

einmal was nicht stimmt, nützt kein Rechnen." 

„Ich bin nicht reich genug, für weitere nutzlose Aufwendungen. 

Es ist zu spät, Adam." 

„Es ist nie zu spät, Erath." 

„Jeder hat recht, wie er sagt, und jeder hat unrecht" 
„Du hast leicht großmütig sein." 

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Adam lachte: „Freilich, ich habe leicht großmütig sein. Wenn ich 
gut bin, tat es mir nicht weh, denn ich habe nur meine Hände 
und Füße dazu. Du aber hast Geld und sollst es ausgeben und 
just einmal zum Fenster hinauswerfen, das tut mehr weh. Ich 
werde nur müde, du aber könntest ärmer werden. Glaubst du, 
daß ärmer werden mehr weh tun könnte, als müde werden?" 
„Bin ich vielleicht nicht müde? 4 * 

„Weil du alt bist, Erath, nur weil du alt bist, nicht von lauter 
Opfern." 

„Müde ist müde. Das kannst du mir glauben." 

„Glaub's schon I Glaub's schon!" und stach scharf und gerade 

mit dem Spaten in den Rasenrand. 

Erath kehrte in seine kirschholzene Wirklichkeit zurück, wo 
ihn, Schlag zwölf, Wilhelm Alter aufsuchte. 
Der war zu diesem schweren Gang schwarz und feierlich an- 
gekleidet, mit Zylinder und Stehkragen, wie zu einem Prozeß, 
wo man seinem Richter zuliebe alle äußere Nettigkeit pflegt, 
obschon es einem recht nach Unordentlichkeit und Stehen- 
und Liegenlassen zumute ist 

Als er von der Kandlgasse, wo er sein kleines Geschäft hatte, 
einen Seidenhandel, der die fertigen Waren der großen Fabri- 
kanten an einzelne Abnehmer in kleineren Partien weitergeben 
sollte, die wenigen Minuten bis hierher ging, schien ihm der 
Weg so endlos schwer, wie aus dem Glück ins Unglück. Warum 
hatte er dieses unselige Geschäft aufgemacht, wozu er doch 
nicht taugte und trotzdem er es genau wußte? Er hatte geglaubt, 
Agnes zuliebe werde er sogar ein Geschäft betreiben und zu 
Wohlstand kommen können, denn wenn es ihm glücke, werde 
er die Braut gewinnen. Wer hatte ihn geheißen, eine solche 
Frau zu begehren, die von seiner Liebe nichts wissen wollte, 
weniger noch, als er vom Handel. Da war man dreißig Jahre 
alt geworden, zuerst mit Sehnsucht nach Büchern und Wissen- 
schaft Gott weiß, warum er unsern Leidenschaften so wenig 
freie Zeit gibt, denn sonst hätten alle Pflichten wahrscheinlich 
zu früh Feierabend. Die zweite Hälfte seiner dreißig Jahre hatte 
er wieder mit Sehnsucht nach dieser Agnes zugebracht und ge- 
glaubt, er müsse und werde sie herbeiziehen. Sie war ja freund- 
lich mit ihm, wie mit einem Vetter, war sie nicht freundlich mit 
allen wie die liebe Sonne? Aber sie hatte gewiß nicht einen 
besonderen Gedanken für ihn. So hatten seine Gefühle all die 

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Zeit schlechte Geschäfte gemacht: viel ausgegeben, wenig ein- 
genommen. Darum hatte er borgen und borgen müssen and 
stand nun eben dort, wo er angefangen hatte. Schließlich hört 
jeder Mensch dort auf, wo er anfangen mußte. 
Die Auseinandersetzung mit August Erath dauerte nicht sehr 
lange. Aus Adams Büchern, deren sauberen Auszug er mit- 
gebracht hatte, ging schwarz auf weiß hervor, daß er viel schul- 
dig war. Der Onkel sagte: „das mußt du natürlich alles be- 
zahlen." Freilich, das mußte er. Aber wie? Nun, er mußte 
es eben abarbeiten. Er brachte den Wunsch, Herr Erath möchte 
ihm noch einmal helfen, nicht über die Lippen, denn er wünschte 
ihn gar nicht so arg; was er wirklich wünschte, war ihm ohne- 
hin längst versagt: Bücher und blonde Kinder auf dem Lande 
in einem Schulmeisterhause, mit einem Garten davor und weite 
Berge, schwäbische oder oberösterreichische Berge im Rund 
und weiße Wolken darüber im Sommer mit Schwalbenflug und 
einem rauschenden Bache. Oder Agnes. Nichts anderes, als 
Agnes. Agnes statt aller Bücher und aller Schulmeistere^ Agnes 
als Berg und Tal, als Wolke und Sonnenspiel, als singender 
Bach und als blinkender Sternenhimmel und als alle Wissen- 
schaft, und müßte er nicht sieben Jahre, sondern siebenmalsieben 
Jahre um sie dienen, Ketten mit schwarzen Geschäftsbüchern 
an den Beinen. 

Da diese Wünsche aber nichts galten, lohnte sich kein anderer, 
als die Schuld dieser argen Zeche, bei der einer durstig und 
hungrig vom Tische aufgestanden war, abzutragen und einen 
Namen zu retten, an dem nichts gut war, als die Verwandtschaft, 
die darauf hielt 

Erath blieb das Neinsagen erspart Aber gleichwohl war die 
Unterredung peinlich genug, denn Wilhelm Alter mied seither 
das Haus des Onkels. Er trat als Gehilfe in die Firma eines 
alten reichen Neubauer Seidenfabrikanten ein und zahlte monat- 
lich seine Schulden von seinem Gehalt ab und lebte so dürftig 
und kümmerlich, als hätte er den Büchern und seiner Neigung 
gelebt So viel war den anderen sein guter Name wert Und 
hatte niemand, der ihn seiner selbst getröstet hätte : keine Frau, 
kein Kind, kein eigenes, kein fremdes, keine Heimat, keine Ferne 
oder Nähe, nicht Berg, noch Himmel, nur Arbeit und Armselig- 
keit, die unseligste Armut, die Menschen über Menschen ver- 
hängen können und deren Gott Zeuge war. 

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■ 

■ 



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IO. 

Es war überhaupt Agnes Los, daß ihre Jugend und Anmut viel 
Liebe erweckte, ohne daß sie es auch nur bemerkte, denn sie 
lebte und blühte so für sich hin, als sei Schönheit nur für sich 
selbst auf der Welt Sie war nicht geweckt und wußte nichts 
von sich, nichts vom Schicksal und Sinn des weiblichen Lebens. 
Als ihr aber dieser Sinn aufging, war es zu spät und bereitete 
ihr den größten Schmerz. Die gemeinen Leiden der Frauen- 
schaft, richtig betrachtet auch ihre Freuden, wollte sie in einem 
spröden Freiheitsbewußtsein vermeiden, das ihr auch von Char- 
lotte eingeredet war und worin beide Schwestern einander in 
großen Reden feierlich bestärkten. Agnes war liebenswürdig 
selbstsüchtig wie ein Kind und wußte daher noch gar nicht, 
daß nur, wer sich drangeben kann, erst die Krone des Lebens 
gewinnen darf. Sie glaubte, in hübschen Kleidern, bei guten 
Büchern, in zierlicher Gesellschaft, bei Tanz und Musik, im 
Theater und auf dem Lande sei alles Leben in der schönsten 
Ordnung beschlossen, wenn man das nötige Geld für das zeit- 
gemäße Kleid und den feinen Hut für die Jahreszeit bekam, 
wenn man hübsche Sträuße band und sinnige Stammbuchdevisen 
austauschte, wenn einem überall angenehmes gesagt wurde, 
wenn man heiter und gesund war und wenn auch die Nächsten 
keine allzuschweren Übel erlitten, so daß man nicht allzuheftig 
mitzuleiden brauchte. 

So leben ja die jungen Bürgermädchen allzumal in der Gesell- 
schaft, und je schöner sie sind, desto länger können sie so bei 
sich selbst verweilen und, zart erstellt, mit einem gewissen furcht- 
samen Instinkt dafür sorgen, daß das Gleichgewicht eines so 
unverbindlichen Zustandes ja nicht gestört werde. So wird aber 
ein Wesen ausgeschliffen wie venezianisches Glas, so dünn und 
durchsichtig, klar und farbig, strahlend wie ein Kelch, aber auch 
so gebrechlich, daß es davor schaudert, zu denken, in den Kelch 
müsse glutfarbener Wein kommen und ein anderer voller Kelch 
daran stoßen, damit es einen hellen Klang gebe. 
Vor nichts darf ein Mensch im Grunde mehr Angst haben, als 
vor sich selbst, aber zu nichts soll er darum auch mehr Mut 
finden, als zu sich selbst 

Mit ihrem bürgerlichen Mädchenleben ging es wie mit einer 
der vielen mühsamen Handarbeiten, die sie zu allen möglichen 

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Anlässen anfertigte : Ein solches Deckchen war für nichts, kein 
Fuß konnte darauf treten, keine Kälte sich daran wärmen, viel- 
mehr kam es bestenfalls auf eine Tischplatte oder auf eine 
andere Decke und beschützte einen Schutz. Ein Frauenzimmer 
ist aber wie ein stärkeres Gewebe dazu gemacht, einen Leib 
mit ihrem Leibe zu decken und zu wärmen, Leben auf Leben zu 
pressen und Leben zu tragen. 

Herr Ley machte ihr viele Sorgen. Um ihretwillen, nicht um 
seinetwillen. Denn Herr Ley warb geduldig um sie, er durfte 
nur beileibe kein deutliches Wort darüber reden, eine harte 
Frage hätte ja dieses angenehme Verhältnis stören und auf- 
heben können, das zwischen ihnen schwebte wie ein Klang, 
der aus irgend einer Ferne kommt, als hätte ihn kein Mund 
geblasen, keine Hand gestrichen, sondern ein Lüftchen übers 
Tal gesungen und geschwungen. Herr Ley war aber ein zu 
dringlicher und feuriger Mensch, als daß er ewig in diesem luf- 
tigen Schwebezustande hätte aushalten können. Das machte 
ihr Sorge, wenn sie ihm auch jedesmal auf das geschickteste 
auszuweichen verstand, so oft er ihr nähertreten wollte, aber 
doch immer so, daß sie nicht weiter auseinanderkamen, als 
früher, denn an seiner Freundschaft war ihr sehr viel gelegen. 
So ging es nun schon seit mehr als einem Jahr: 
Suchen und sich finden lassen, aber um sich unter einem wieder 
zu verstecken, verlangen und verneinen, aber dabei vertrösten ! 
Es gab lauter gemeinsame höchste Interessen, wobei aber jedes 
etwas anderes meint und versteht; der Ley einen Inhalt, die 
Agnes eine Form, der Mann den Geist, die Frau den Ton, er 
einen Sinn, sie ein Gefühl, beide aber ahnen, daß gerade dies 
Mißverständnis ein Einverständnis ausmacht und daß die Ver- 
schiedenheiten ineinanderpassen, wie die Schrauben in die 
Mutter. 

Man spricht von unerfahrenen Kindern und weiß gar nicht, wie 
sicher und wohlbewußt die kleinen Racker umherspringen, aber 
von unerfahrenen Jungfern und Junkern spricht man nicht und 
hat keine Ahnung, wie wenig sie um sich selbst und eins um 
das andere Bescheid wissen in ihrem Nachtwandel. 
Irgendwann ruft das Schicksal von draußen — langmütig schaut 
es diesem zierlich tödlichen Spiel zu — , aber einmal ruft es 
doch, und dann gibt es einen Schrei. 

Amersin, der für Ley wie für Agnes eine aufrichtige Freundschaft 
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empfand und an all diesen Verwirrungen des Gefühls unbe- 
teiligt, sich so recht zum Vertrauten eignete, hatte mit Agnes 
einmal an dem runden Tisch unter der Petroleumlampe nach 
dem Abendessen, als die Kinder zu Bett gebracht waren, ein 
Gespräch : 

„Nun, Schwägerin, Agnes, ehrengeachtete Jungfer, wertgeschätz- 
tes Fräulein, wie lange zierst du dich noch, bist du nicht schon 
achtzehn Jahre unverheiratet, bist du denn nicht eigentlich nur 
deshalb Fräulein, damit du einmal gnädige Frau wirst? Ich 
glaube, ich könnte dir zu diesem Stande verhelfen. tf 
„Du bist doch schon verheiratet, Schwager,* 4 fuhr Charlotte da- 
zwischen. 

„Ja ich, ich bin leider Gott sei Dank bereits versorgt und auf- 
gehoben und wäre ich nicht ein so hoch ehrbarer Mensch, ich 
stünde nicht ein für eure Unbescholtenheit, besonders auf dich, 
Charlotte, hätte ich es abgesehen, dir wollte ich den Herrn 
zeigen, du übertriebenes, dreimalgebeiztes Ehehindernis, du 
listiges Vorurteil, du Schlange ohne Paradiesapfel, du Ver- 
führerin zu nichts und für nichts. Warte nur, du wirst zu spät 
zu dir kommen." 

„Ich, du Grobian, du Bauer, du-du-du Mannsbild, glaubst du, 
was Antonie kann, könnt* ich nicht auch, wenn ich nur wollte. 4 * 
„Na kriege nur einmal vier Kinder in sechs Jahren nebst einem 
Gemahl von rechtswegen 1 Dann darfst du mitreden. Aber du 
mußt beizeiten dazu schauen, sonst bleibt dir nichts übrig, als 
daß du es als Gouvernante probierst, oder als Pfarrerköchin. " 
„Vier Kinder in sechs Jahren und noch ein Gemahl, wie du 
dazu, das sollte gerade mich verlocken? Ich denke, dein Bei- 
spiel müßte uns Ledige warnen. u 

„Ja, so redet jede Füchsin von den Trauben. Spring* erst und 
koste davon, bevor du sie sauer findest Aber rede mir Agnes 
nicht noch ab. u 

„Nun, Andreas, was weißt du für eine Auskunft? Aber ohne 
vier Kinder zunächst, das bitt' ich mir aus! w lachte Agnes. 
«Das magst du dir dann nach Belieben einteilen. Soweit darf 
ich mich leider nicht einmengen." 

Antonie, die gerade ein Wämschen flickte, sagte leise da- 
zwischen: „das Rudel Geraunz und Schlimmsein ist ja doch 
die Hauptsache". 

Charlotte zürnte: „Bis man dazu kommt, ist man schwach und 

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krank und wird's bestimmt, wenn das Rudel einmal da ist. Das 
zehrt und säuft und praßt mit einer Mutter Leib und Blut und 
verschwendet's wie die Räuber." 

Antonie tröstete: „Ja, woher sollen die Kinder es denn nehmen? 
Und wem sollten wir uns denn geben? 4 * 

Amersin lächelte: „Nun für den Mann bleibt nicht immer genug 
übrig dabei, das ist wahr, und unter diesem Gesichtspunkte teilen 
die Mütter ungerecht." Antonie fuhr ihm mit ihrer kleinen 
weichen Hand über den Mund. 

Charlotte drauf: „Schweig' Mannsbild. Ihr nehmt euch das 
Beste vorweg und dann wollt ihr euch noch beklagen, daß euch 
nicht genug übrig bleibt 4 * 

Agnes lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, kreuzte die Arme über 
der Brust und sagte: „Nun hab' ich noch immer nicht gehört, 
was du für oder wider mich weißt und im Plane hast, Schwager. 44 
Araersin entgegnete: „Ich bitte sehr, beruhige erst diese Char- 
lotte, die mich immer unterbricht, ohne daß sie gefragt wird. 
Was aber den Plan betrifft, so geht er einfach so: Wie lange 
noch, spricht Zeus? Wann wirst du dich entschließen? Wie 
lange wirst du den armen Jungen noch hinziehen? 44 
„Den armen Jungen? Hinziehen? Wen denn, wenn ich fragen 
darf? 44 

Antonie lachte: „Hat Agnes denn etwa mehrere am Bändel? 
Sollte sie bloß auf einen einzigen anstehen? 4 * 
„Um so besser für Agnes, um so schlimmer für die anderen, ich 
meine den Ley. Wann wirst du mit ihm übereinkommen, Ver- 
führerin?* 4 

„Ich bin längst mit ihm übereingekommen. Ich bin ihm gut 
gesinnt, ich finde ihn gescheit, überlegen, zu überlegen für mich. 4 * 
„Ei, jetzt ist zu gescheit auch schon ein Fehler. 4 * 
„Ja, mein Lieber, denn wenn der Herr zu gescheit ist, ist die 
Dame zu dumm und das paßt mir nicht. So dumm bin ich nicht.** 
„Daß du so redest, ist die Dummheit, 44 ereiferte sich Antonie, 
„wir sind doch nicht dazu da, um die Gescheiteren zu sein, 
sondern um lieb zu haben. 4 * 

„Kurz und gut, ich hab' ihn aufrichtig gern, ich schätze ihn als 
Menschen,* als Charakter, als was ihr nur wollt, aber just nicht so, 
wie ihr meint, ich spüre nichts davon, das müßt ihr mir glauben, 
laßt mich damit in Frieden, ich liebe ihn nicht, ganz und gar 
nicht Aber eben darum wollen wir gute Freunde bleiben. 4 * 

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„Das gibt's nicht, das ist eine überspannte Aasrede and Ein- 
bildung, da Kindskopf. Was weißt da von Freundschaft? Zwischen 
einem Mann und einer Frau, mit dreiundzwanzig und mit acht- 
zehn Jahren!- zürnte Amersin. 

„Mit dem Herzen geht's wie mit den Zähnen oder den Augen 
oder dem Magen, wenn man es einmal spürt, dann tut es weh, 
darum darf man aber nicht glauben, man hätte keins, solange 
man es nicht fühlt, " mahnte Antonie. 

Charlotte kam auf Amersins Freundschaftsbegriff zurück. „Uns 
ist es sehr ernst mit der Freundschaft. Wir könnten ebenso- 
gut behaupten, es gäbe keine Liebe, nur Freundschaft. Denn 
was man sich als Liebe einredet, dauert doch nur so lange, als 
es Freundschaft bleibt Geht's darüber, so wird's Schmerz oder 
Reue oder Ehe und beides." 

„Was weißt du von Schmerz uud Reue," sagte Antonie, zog dabei 
das Wollwämschen auseinander und hielt es gegen das Licht. 
„Freundschaft, wie du sie meinst, Agnes, zwischen jungen Leu- 
ten, an die kannst du doch selbst nicht glauben, irgendwo brennt's 
immer. Menschen sind keine Bücher und nicht zum Schönreden 
auf der Welt, sondern zum Leben. Freundschaft, Vertrauen, 
Spazierengehen, meinetwegen, das ist ein Anfang, aber doch 
kein Zweck und Ende, ein Mittel, zugegeben, ganz unterhaltlich 
und vielleicht moralisch, vielleicht auch nicht, je nachdem, was 
draus wird. 4 * 

„Nichts wird daraus, als was es eben längst schon ist: Freund- 
schaft, mein Lieber. Was soll aus dem Vollkommensten noch 
werden? Es wäre schade darum, wenn es noch was anderes 
würde." 

„Wo kämen denn die Kinder her, wenn alle nur Freundschaft 
halten wollten?" 

„Die anderen mögen es treiben, wie sie wollen. Ich halte es 
auf meine Weise und der Ley mag sich getrösten." 
„Dir wäre es am wenigsten recht, wenn er sich getrösten würde, 
meine Liebe." 

„Ich wäre die Letzte, ihn zu hindern. 4 * 

»Wenn er sich eine andere sucht, dann könnte freilich für dich 
eine richtige Freundschaft übrig bleiben. Fragt sich nur, ob sie 
sich für dich noch lohnen möchte." 

„Hat er dich etwa beauftragt, mit mir zu reden und mir die 
Drohung an die Brust zu setzen?** 

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„Beauftragt ? Nein, das will ich nicht gerade behaupten, aber 
ich habe immerhin den Eindruck, daß er sich seine Freund- 
schaft für dich anders vorstellt, als du." 

„Nun, dann sag es ihm nur recht gut und deutlich, daß ich für 
diese andere Vorstellung ergebenst danke. Ich spiele in dieser 
Vorstellung nicht mit Ich achte ihn hoch, aber heiraten kann 
ich ihn nicht. Weil ich nicht so für ihn fühle. Und ohne das 
wäre es ein Verbrechen." 

„Verbrechen!" wiederholte Antonie komisch entsetzt und hob 
die Schultern hoch : „Das beste Gefühl kommt erst dann, wenn 
man es versteht" 

„So will ich es lieber gar nicht kennen," sagte Agnes, erhob sich 
und ging zur Türe hinaus. 

„Du hast sie verletzt," klagte Charlotte. „Welche eigentümliche 
Lust, uns zu reizen und aus dem Häuschen zu bringen!" 
„Ich möchte sie doch nur in aller Unschuld versorgen und sie 
ist darüber verzweifelt" 

„Versorge du nur dich, hast du mit dir nicht Sorgen genug?" 
Antonie begütigte: „Er meint es ja gut und hat Euch gewiß nicht 
kränken wollen." 

Nach einiger Zeit erhielt die Familie Erath und Amersin je eine 
schöngedruckte Karte, mit der Herr candidatus juris Hermann 
Ley zu seiner Promotion im Festsaale der Universität ergebenst 
Einladung machte. 

Für die Schwestern Erath war diese Festlichkeit in der erst kürz- 
lich eröffneten neuen Universität ein vielversprechendes und 
ehrbares Märchen, sie sollten zum ersten Male sehen, wie Kan- 
didaten zu Doktoren geschlagen wurden, denn in ihrer Familie 
galt ein Doktor noch immer schon an sich als ein höherer 
Mensch. Gleich der Pedell mit dem breiten goldenen Band und 
dem hohen Stab beimTor und mit dem wallenden schlohweißen 
Bart, war von der Weihe seines Amtes durchdrungen, wenn er 
auch bloß die obligaten Trinkgelder bezog. Die hohe Aula er- 
füllte die Mädchen mit Ehrfurcht, sie blickten an den Säulen 
und den mannigfaltigen marmornen Ehrentafeln empor, von 
denen die Zierden der Wissenschaft abzulesen waren, wenn 
man auch sonst weiter ihre Namen nicht kannte, man glaubte 
es den goldenen Lettern aufs Wort, daß sie lauter echten Ruhm 
verkündigten. Dazwischen schwammen ernst und abgemessen 
die von einem Ende zum anderen spazierenden Herren Studen- 

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ten mit and ohne bunte Mützen, aber alle nnter den Blicken 
des fremden Publikums von der eigenen Bedeutung d urchdrungen, 
stumm, wie die Fische, wenigstens wurden alle einzelnen Ge- 
spräche von dem hohen Raum verschlungen zu einem einzigen 
Brausen, das so klang wie bewegtes Wasser in einer Höhle. 
Ober die rechte, wie über die linke Freitreppe zog ein unab- 
lässiges dunkles Band von Menschen auf und nieder, gleich 
wimmelnden Fischen über Stromschnellen und in das die An- 
kommenden sogleich einbezogen und mithin als Einzelpersonen 
aufgelöst wurden. So standen die Schwestern mit einem Male 
im Festsaal. Plötzlich sahen sie Amberg vor sich, dessen Narben 
und Schmisse in der Freude der Begegnung aufglühten. Er lachte 
über das ganze Gesicht und bemächtigte sich ohne weiteres 
Charlottens. 

Als Fuchsmajor mußte er heute einem Bundesbruder die Ehre 
geben, welcher nach langen Mühen und wiederholten Prüfungen 
in den Stand der anerkannten Gelehrsamkeit versetzt und schwarz 
auf weiß mit der Erlaubnis versehen werden sollte, getrost zu 
vergessen, was er ohnehin nicht wußte, noch merken konnte. 
Amberg wollte sie an einen guten Platz führen, wo sie alles 
richtig überblicken konnte. Da sah sich Agnes unbegreiflich 
genug plötzlich allein und fühlte sich schon ein wenig ängstlich, 
so daß sie erleichtert aufblickte, als Ley durch das Gewühl zu 
ihr durchbrach. Obschon kurzsichtig, hatte er, wie jeder Ver- 
liebte, für die Betreffende immer einen Falkenblick und stieß 
auch so, um alle dazwischen wimmelnden Leute unbekümmert, 
geradewegs auf die zierliche Agnes, die mit ihrem pelzbesäum- 
ten blauen Barettchen, von welchem eine Reiherfeder kühn in 
die Lüfte wippte und mit ihrem schottischen Mantel, mit ihrer 
zarten Figur wirklich einer guten Beute, einem bunten Vogel 
für einen Falken glich. Sie hatte rote Wangen von der Kälte 
draußen und von der Wärme hier und wohl auch von der Auf- 
regung. Blaue Mütze, kupferfarbenes Haar darunter, Reiher- 
feder, schottisches Kleid, Bachstelzengang, schimmernde Zähne, 
rote Wangen und weiße Haut und ein leises Gelächter, halb 
Angst, halb Freude und diese graugoldenen dunkeln, jetzt blitzen- 
den, jetzt von den Wimpern schwer verhangenen Augen, machte 
das alles nicht einen Vogel aus, für einen Falken? Ley faßte 
ihre Hand. 

„Schön, daß Sie kommen. Sie sind außer meiner Quartierfrau 

Stoessl, Das Hau» Erath j 97 



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die einzige, die ich sozusagen als Angehörige, Sie verzeihen 
schon, hier finde. Sonst habe ich mich nur von einigen Bekann- 
ten angratulieren lassen. u 
„Viel Glück zu diesem Tage, Herr Doktor." 
„Das brauch* ich auch. Sie glauben gar nicht, wie viel Glück 
ich vertragen kann. Ich bin noch sehr nüchtern. Ich habe 
noch kein Glück gehabt, nur gerade Futter, um zu leben, und 
Leben, um zu futtern." 

„Und von allem Wissen und Lernen reden Sie nicht? Wie 
glücklich Sie waren, bloß weil Sie Student sein durften! Ich 
kann mir nichts Höheres und Besseres denken." 
„Ach, lauter Zwecklernen und Zweckwissen! Auch das Studium, 
wie alles andere sonst, ist nur ein Glück, Fräulein Agnes, wenn 
es als ein Spiel gilt, nicht wenn's ums Brot geht. Wer sich von 
Gedanken nicht verführen lassen darf, soll besser in Ehren 
dumm bleiben." 

„Und doch haben Sie so vielerlei getrieben, sich überall um- 
getan und zu allen Zeiten gefunden, was Sie interessiert hat" 
„Ja, wie ein Dieb, der stiehlt, was er nicht rechtens erwerben 
kann." 

„Sie reden so, als hätten Sie Not und Kummer und nichts als 
üble Zeit gehabt" 

„Das hab' ich auch, freilich bekam ich so viel, daß ich von 
einem Tag zum andern nicht zu sorgen brauchte. Hätte ich 
aber auch das bißchen nicht gehabt und wäre ein freier Hunger- 
leider gewesen, der nach keinem Termin zu fragen braucht und 
keinem genauen Onkel Rechenschaft für jede Stunde schuldet, 
so wären diese Jahre frei und munter gewesen. Aber so! Nun, 
wenigstens habe ich Sie gekannt, Fräulein Agnes, das bedeutet 
schon was, aber ich bin im Grunde doch in Ehren dumm ge- 
blieben." 

„Schade, daß Sie sich nicht nach besseren Dingen umtun konn- 
ten. Wie stünde mein armseliger Hausverstand und meine 
läppische Institutsbildung für Ihre Mühe?** 
„Sie unterschätzen sich. Schade." 

Ley zuckte die Achseln, nahm seinen Zwicker ab und sah ohne 
Glas müde, scharf und seltsam gealtert auf Agnes. 
„Es kommt auf die Gedanken an, nicht wovon sie ausgehen, 
sondern wohin sie fliegen, Fräulein." 

„Der will in Ehren dumm geblieben sein!" dachte Agnes und 
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fliegt mir immer noch zu hoch und war auf ihrer Hut, nichts 
Törichtes zu sagen. Darum schwieg sie mit verlegenem Lächeln 
und Ley glaubte, sie hätte gerade jetzt da9 Allerbeste gedacht, 
nur leider nicht für ihn. 

Ley stand in der Tat allein auf der Welt, wenn man von dem 
alten Onkel absieht, einem Provinznotar, der den früh verwaisten 
Knaben hatte studieren lassen, nicht allzu freigebig, aber doch 
mit genau so viel Zuschuß, daß der Bursch keine Sorgen zu 
haben brauchte, wenn er seine Zeit wahrnahm ; durchfallen oder 
Seitensprünge machen, hätte er freilich nicht dürfen. Der Onkel 
war nicht hier. Für einen einsamen Jungen ohne Aufsicht und 
ohne Schutz und wie es schien, auch ohne viele Freude, war 
Ley wohl brav geraten, dachte Agnes und sagte es ihm auch, 
um ihm etwas Verbindliches zu sagen. 

„Brav oder dumm. Schauen Sie sich den Semmelblonden, Schön- 
gescheitelten dort mit dem famosen Frack an, der seine Prü- 
fungen nur bestanden hat, weil sein Vater Professor und sein 
Onkel Minister ist, und der ebendarum ohne Arbeit schon jetzt 
den Hofrat in der Tasche hat und übermorgen den Staat re- 
gieren wird. Die Protektionskinder werden auf den Staat, sogar 
auf die Wissenschaft losgelassen mit diesem großen Tage und 
bekommen den Freibrief auf Beute. Indes für unsereinen eben 
erst die Wissenschaft anfinge, muß man von ihr Abschied neh- 
men. Gerade heute." 
„Warum denn?" 

„Mein Onkel wartet schon, daß ich in sein Notariat eintrete. 
Draußen auf dem Lande hört die Wissenschaft von selbst auf. 
Stempel- und Gebührenkunde und daß man einen Kaufvertrag 
aufsetzen kann, wenn der Endletzberger dem Eschgmainer zwei 
Joch Acker überläßt, dazu sind die Rigorosen für unsereinen 
bestellt." 

„Das wäre doch schade." 

„Schade? Warum? Die Welt verliert im Grunde an einem Ge- 
lehrten nicht viel, darum bezahlt sie die Wissenschaft und Kunst 
so miserabel, denn sie glaubt, daß es ein Vergnügen ist, welches 
sich eben als Spaß und Luxus lohnt Gut genug, daß sich einer 
damit abgeben darf und von grober Arbeit verschont ist, wäh- 
rend der Endletzberger sein Korn baut und der Eschgmainer 
buttert Bestenfalls ist die Gelehrsamkeit dazu da, daß sie ein- 
ander nicht in den Haaren liegen, weil der Notar gefehlt hat" 

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Er zwinkerte nervös und seine Oberlippe zackte anter dem 
Schnurrbartchen. Er sah in seinem Fracke ganz schlank und 
gefällig aus. Agnes freute sich über das Fest, obgleich er es 
nicht sonderlich anerkennen mochte. 

„Viel zu viel Lärm und Mühe für dieses Stück Papier, das meine 
Rechtswissenschaft auf die Welt losläßt Geht es Ihnen nicht 
so beim Kochen, stundenlang rührt man und bäckt und brät 
und macht aus einem ganzen Haufen von Bestandteilen ein 
kleines Ding, das in fünf Minuten aufgegessen ist. So sind diese 
Prüfungen, keine Wissenschaft, lauter gute Bestandteile für eine 
Speise, die schließlich in fünf Minuten überstanden ist Aber 
Verzeihung, ich muß mich versammeln." 
Damit verbeugte er sich und stieß zu dem Häuflein Schicksals- 
genossen, das sich in der Reihenfolge der Anfangsbuchstaben 
jedes Namens vor dem Podium aufstellte und von einem Fuß 
auf den anderen trat 

Agnes besah sich die jungen Leute und erwog, von dem Ge- 
danken Leys angeregt, was aus jedem dieser jungen Doktoren 
wohl noch werden konnte, woher jeder gekommen war, wohin 
jeder gehen mochte. Sie glaubte es bereits dem obligaten Frack 
ansehen zu können, ob er aus dem Leihhaus bezogen oder von 
einem älteren Kandidaten entlehnt, oder von einem Schneider 
eigens für diese Schultern zur echtgeschnitten worden war. Auch 
an den Schuhen glaubte sie zu erkennen, wer darin auftrat. 
Denn gerade bei solchen Anlässen machen Kleider ihre Leute 
und Leute ihre Kleider. An den glänzenden Lackschuhen sah 
man, daß ein Kandidat sie trug, der höfische Laufereien ge- 
wöhnt, wie ein elegantes Zuchtpferd aus gutem Stall sicherlich 
immer das Rennen gewinnen würde. Andererseits gab es Bauern - 
treter mit verläßlichen doppelten dicken Sohlen. Die würden 
schon durch dick und dünn waten. Arg vertretene, einseitige, 
schiefe, waren nach vielem Stundengeben endlich hierherge- 
langt Dazu die Leute : verkniffene, schlaue, dreiste Gesichter, 
die wußten, wo auch in der Wissenschaft der Bartel den Most 
holt und wo man die Welt an ihrer Nase ziehen kann. Kleine Pro- 
vinzhändlersöhne und Hausierersprossen und ähnliche Stamm- 
halter von Landschurken und Wucherern, die auch ohne Onkel 
und Tanten sich dorthin schleichen und aufschwingen würden, 
wo irgend ein Geldsack steht, und wenn sie dessen engen Hals 
einmal in der Hand würgten, den ganzen Staat vom Standpunkte 

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des Gebens beherrschen könnten. Andere versorgte lind ver- 
borgte Gesichter grinsten neben froh vergrämten und verbargen 
sich vor höfisch heiteren glatten Stirnen. Schon jetzt waren 
die Söhne aus den guten Häusern umringt von Trabanten, von 
Bewunderern und von strahlenden Anhängern, wie sollte es bei 
so guten Beziehungen an Freunden fehlen! Mütter und Väter 
saßen andächtig da und schmorten in der Weihe der Stunde. 
Man konnte noch besser, als an den jungen Leuten, an diesen 
Eltern beurteilen, woher die frisch geaichte Wissenschaft eigent- 
lich stammte und wohin sie fährte. Viel Stolz, Eitelkeit, Würden 
und Titel wurden zugeworfen, aufgefangen und zurückgegeben 
durch die heiße Luft, Komplimente schwangen sich über die 
Sitzreihen und scherzhaft ehrerbietige Ausrufe, alles schaute ver- 
gnügt und freundlich und herzensgut drein, hier wenigstens und 
im Augenblicke nahm keiner dem anderen das Brot weg. Wenn 
es einmal ein Fest gibt, sind alle Menschen gut, dachte Agnes. 
Der Pedell ordnete die fünfundzwanzig Kandidaten noch ein- 
mal, ehe er sich in Positur warf, um die durch die Seitentüre 
eintretenden akademischen Machthaber zu empfangen, bei deren 
Erscheinen die anwesenden Burschenschafter die Mützen ab- 
nahmen, die Schläger klirrend kreuzten und senkten und einen 
rechten Hofstaat der Wissenschaft darstellten. 
Der Rektor hielt seine Ansprache, er sah gewöhnlich aus trotz 
Talar und Ehrenkette. Warum hatte sich Agnes unter einem 
' Rektor so etwas wie einen weltlichen Papst vorgestellt, mit einem 
Gesichte voll Weisheit? Der hier war ein Wissenschafts- und 
Lehrbeamter, mit gutgestutztem grauen Vollbart, mit goldenen 
Brillen und untersetzter Figur, der flüssig sprach und so, daß 
man die Rede ebensogut stundenlang weiter absurren lassen 
konnte, gleich den Papierbändern eines Morsetelegraphen, wie 
man sie auch nach jedem beliebigen Satze abschneiden konnte. 
Sogar wenn eine solche Schere mitten in einen Satz gefahren 
wäre, hätte kein Gedanke zu Schaden kommen müssen. Viel- 
mehr hätte der geistesgegenwärtige Mann — wo nicht viel Geist 
ist, wartet er wenigstens, bis man ihn braucht — geschwind 
noch das fehlende Zeitwort nachgesurrt und die Rede wäre abge- 
schlossen gewesen. Kurz und gut oder länger und besser, je 
nachdem. Ein akademischer Redner war auf keinen Fall zu 
Fall zu bringen, was das Reden betraf. Er redete den jungen 
Juristen ins künftige Richter-, Advokaten- undBeamtengewissen, 

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von Pflichterfüllung und ernster Auffassung ihres Berufes. Sie 
sollten sich bei allem Erwerbsleben stets auch vor Augen halten, 
daß sie dabei eine Wissenschaft verträten und gewissermaßen 
den Adel des Gedankens wahren müßten, der ein Leben ohne 
Tadel fordere, aber auch mit einem Glänze überstrahle, der 
für Mühe und manchen Verzicht entschädige. Er hatte leicht 
reden, der auf Grund vielfältiger Familienzugehörigkeiten und 
einer wissenschaftlichen Arbeit, die, wie es hieß, von seinem 
Schwiegervater, einem zugleich findigen und spekulativen ge- 
lehrten Geschäftemacher verfertigt worden war, als ganz junger 
Mann schon an die Wiener Universität berufen, seit manchem 
Jahre fette Bezüge einstrich, armen Prüflingen die Hölle heiß 
machte, beziehungsreichen, darum hoffnungsvollen den Weg 
der guten Vorsätze ebnete, Hofrat, Herrenhausmitglied und 
nun gar Magnifikus war, um Ideale zu pflegen, die es bei ihm 
freilich leicht hatten, weil er sie alle erreicht, nein, übertroffen 
hatte. Aber er wandte sich auch an diejenigen, die nicht ins 
praktische Leben eintraten, sondern bei der Wissenschaft selbst 
verblieben und warnte sie vor ungemessenem Ehrgeiz und vor 
den unstillbaren Wünschen nach Ansehen und Ruhm. Besser 
sei es, treu und redlich ein enges, aber genau beherrschtes 
Wissensgebiet zu pflegen und zu mehren, als ins Uferlose zu 
streben und den Boden der geltenden, irdischen Rechte, der 
Tatsachen zu verlassen. Die Sonnennähe schmölze die wäch- 
sernen Flügel so vieler, die ins Unendliche auszogen und ins 
Unendliche versanken. 

Jeder Narr lobt seine Kappe. Die Mütze seiner braven schwieger- 
väterlichen Arbeit saß ihm warm auf dem Kopfe, darum be- 
merkte er gar nicht, daß heute ein Tag war, wo selbst ärmere, 
geschweige denn helle* und hohe Seelen den Doktorhut, gerade 
• da sie ihn empfingen, voll Jubel zum Himmel hinaufwerfen und 
mit bloßem Haupt, mit einem Blick voll Sonne einen Weg be- 
ginnen wollten, der nur Sinn haben konnte, wenn er über Ab- 
gründe und Steile ins Endlose, aber immer hinaufging. Sein 
Hochmut aber kam vor keinen Fall und hatte vom Staate seine 
Ehrenkette und von wegen des Schwiegerpapas seinen Stand 
und Namen bekommen, um die Jugend vor allem zu warnen, 
was den eigentlichen Sinn der Wissenschaft ausmachte und um 
sie so recht auf das armselige Wirkliche mit den Nasen auf 
den Sand zu stoßen. 

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Der Rector magnificus stieg, von Beifalls- und Prositrufen be- 
grüßt, würdevoll, doch zu kurz geraten, von der Rednerbühne 
hinab, nachdem er dem Promotor mit verbindlicher Gebärde 
das Wort übergeben hatte, um die feierliche Formel zu ver- 
lesen. 

Der Dekan nahm über den Stab des Pedells das Gelübde ab, 
einer der Kandidaten nach dem anderen mit dem lächerlich 
latinisierten Vor- und Zunamen angerufen, murmelte sein „spon- 
deo a und war so mit der Wissenschaft verheiratet 
Schließlich sagte einer noch die üblichen lateinischen Dankes- 
worte und dann fiel der Chor des akademischen Gesangvereins 
in sein altes Studentengebet ein, das Agnes längst vom Bruder 
her auswendig wußte und verstand. Das „gaudeamus igitur" 
schien ihr gescheiter, als alles, was bisher von geheiligten Bräu- 
chen mit ehrbarem Zopf, von großenReden und kleinen Männern 
weihevoll verübt worden war: eine Mahnung zur Freude war es 
und ein Spott über die Philister. Nur freilich verstand niemand, 
daß dieser Spott und der wehmütige zweite Teil nach jedem 
jubelnden ersten Vers der Zeit galt, in welche die jungen Leute 
durch das Tor dieses Gesanges eintraten, um zu sein, was sie 
verpönten: „osores" und „post jucundam juventutem** den 
armseligen Weg der Molesta senectus zu beginnen. 
Wenn sie aber waren und wurden, was die gutgenährte Magni- 
fizenz von ihnen im Namen des Staates forderte, dann waren 
sie, was der dunkle Jubel dieses Liedes erst in eine ferne Zu- 
kunft schieben mochte, schon jetzt und allezeit: „Erde." 
„Nos habebit humus, a Agnes schauerte es immer dabei, es 
war kein Lied für nachdenkliche Leute, wenngleich es ein 
nachdenkliches Lied war. 

„Nun, hat Ihnen die Komödie gefallen? 14 fragte Ley, der gleich 
nach seinem Gelöbnis durch alle aufbrechenden, schwatzen- 
den, rückenden, beglückwünschenden und Glückwünsche ein- 
sammelnden Leute wieder zu ihr stieß, deren blaues Barett mit 
der Reiherfeder sein weithin sichtbares Ziel war. 
Agnes nickte bejahend: „So viel festliche und frohe Menschen 
wegen einer wichtigen Sache heiter versammelt, sind doch gut 
anzusehen." 

„Wie man den Menschen denn selbst nicht scharf 
Und nur en gros betrachten darf," 
zitierte Ley den heiligen Goethe. 



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„Nun und?" sagte er nach einer Pause, blieb stehen und ließ 
den schwarzen Zug der brausenden Fische über die breite Treppe 
vorbeiziehen, während Agnes sich nach Charlotte umsah. 
„Und? Was?" gab sie mit einem verlegenen Lächeln zurück. 
„Ich dachte, wir hätten das Fest noch besonders feiern können, 
im Stephanskeller bei einem Glas^Riesling, was meinen Sie? w 
„Aber, aber," wehrte Agnes ab. 

„Ach, ich bin wohl schon von der außerordentlichen Freude 
trunken, meinen Sie, und habe es nicht erst nötig, mir den Mut 
anzutrinken, den ich brauche." 

„Wozu brauchen Sie denn gar so viel Mut, Herr Doktor?" 
„Na, für den Eschgmainer und Endletzberger." 
„Dazu hat es wohl noch Zeit?" 

„Nein, mein liebes Fräulein, zum Zahnreißen muß man sich 
rasch entschließen. Entweder Sie kommen mit mir in den 
Stephanskeller, dann hat alles noch schöne Zeit, gute Zeit, Wiener 
Zeit, oder ich fahre mit dem nächsten Schnellzug weg zum Esch- 
gmainer und Endletzberger." 

„Wo ist denn Charlotte?" Agnes blickte unentschlossen um sich. 
„Lassen Sie sie doch, wo sie sein will, sie ist in besseren Hän- 
den und sieht sich gewiß nicht nach Ihnen um. Kommen Sie, 
liebes Fräulein." 

Er schien ihr sehr dringlich, wie er bat und irgend eine innere 
Stimme drängte sie, zu folgen, aber gerade deshalb warf sie 
den Kopf zurück und ließ sich nicht rufen. Wenn man jeder 
solchen inneren Stimme folgen würde, wohin käme manl 
„Was denken Sie, ich werde daheim erwartet" 
„So lassen Sie das Haus Erath warten. Aber wir können nicht 
so lange warten." 

„Das heißt: Sie können nicht warten, Herr Doktor." 
„Nein, ich warte lange genug auf — er sah sie an und wollte 
sagen: auf Sie — senkte aber den Blick und sagte: auf mich 
und fuhr, fast zitternd fort, indem er ihre Augen aus dem Schutz 
der geschlossenen Wimpern durch seinen Blick hervorlocken 
wollte: „Kommen Sie, wir wollen meinen Doktor begießen, 
meine Würde ertränken. So kommen Sie doch," er drängte wie 
ein Knabe, so daß sie sich verpflichtet fühlte, für sich und ihn 
zu überlegen. 

„Es geht nicht an, das müssen Sie doch selbst einsehen, 4 * 
sagte sie. 

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„Nun, dann muß ich zurückstehen. Aber einsehen werde ich 
den Unsinn nie, das verspreche ich Ihnen« Leben Sie wohl." 
„Fahren Sie denn wirklich heute weg? Das ist doch nur eine 
gefährliche Drohung, Herr Doktor." 
„Entweder — oder." 

„Also — oder," lachte sie und bot ihm die Hand. 
Er schlug ein und drückte ihr die Rechte im Handschuh, daß sie 
alle Knochen spürte und beinahe aufgeschrien hätte. Aber schon 
stürzte er die Treppe hinab, war von dem Gewühl verschlungen 
und sie sah ihn nicht mehr, obschon sie doch noch ganz gut 
wenigstens ein Stück Weges hätte mit ihm gehen können. 
„Auch gut," dachte sie und schloß die Lippen und stieg lang- 
sam in die brausende Aula hinab. Die Reiherfeder schwankte 
unter der Menge der schwarzen Hüte, als sollte der bunte Vogel 
vom Strome verschlungen werden. 

Ii. 

„Geh zur Rainer-Gustl, sie hat mir sagen lassen, sie braucht 
meinen Rat. Ich lasse sie schön grüßen. Du könntest sie auch 
schon beraten, denn dir sei der Mund noch warm vom neuesten 
juristischen Schmaus. Sie wird dich übrigens interessieren, hat 
auch einmal in der Stadt großen Lärm gemacht und war zu 
meiner Zeit berühmt. Vielleicht bekommst du was zu hören." 
Damit entließ der Onkel den jungen Mann aus seinem schmalen 
und kahlen Arbeitszimmer, indem er einige Aktenstücke weg- 
schiebend mit einem halb gutmütigen, halb spöttischen Seiten- 
blick und Lächeln des glattrasierten, mageren und infolge der 
Zahnarmut etwas kniffigen Gesichts mit grauen eindringenden 
Augen seinen Neffen streifte, dessen schwermütige verschlossene 
Bitterkeit er umsoweniger bemängeln wollte, als er als alter 
Hagestolz und Aktenwurm auch sein eigenes Recht auf unge- 
störte Verdrießlichkeit bewahren mochte. Täglich maßen sich 
die beiden von neuem in aller Stille so, denn hielt Hermann 
seinen Onkel für einen zähen Pedanten, der ihn, obgleich be- 
gütert, aus einer gewissen Altersgrausamkeit in diese Landstadt 
und in das öde Notariat einsperren wollte, so hielt der alte 
Mann wiederum den Neffen, schon weil er wußte, wie er selbst 
zu seiner Zeit gewesen war, für einen geborenen „Stürmer und 
Dränger", der sich ohne solche wohlangewandte Strenge jeden- 
falls vor der Zeit die Hörner ablaufen würde. Darum war es 

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besser, der Hermann hielt ihn heute für einen argen Tyrannen, 
als morgen oder übermorgen für einen alten Esel, der ihm das 
Beste nachgeworfen hatte, statt es ihm ordentlich aufzuheben 
und zu einem Zeitpunkte zu übermachen, wo er es richtig zu 
nützen verstand, wobei das „Beste** nicht bloß das leidige Geld 
war, sondern die sogenannte Sophrosyne oder Kalokagathia, 
auf die der alte Notarius als treuer Humanist immer im Herzen 
zurückkam, als auf ein Ergebnis jener Bildung, für die man sich 
schon ein bißchen schinden und schurigeln lassen durfte, da 
man sie nach dem griechischen Sprichworte nur so auch wirk- 
lich bekommen konnte. So dachte der Alte, der abends ein paar 
Gläser Wein trank und nach bescheidenem, leicht gekochtem 
Essen seinen Plato las oder ein Kapitel Montaigne unter lang- 
samen Schlückchen schlürfte, wovon er aber nicht weiter redete, 
denn weder der hiesige Pfarrer noch der Landarzt, weder der 
geschäftseifrige Advokat noch der Magister der Einhornapotheke, 
geschweige denn die großen Bauern oder die Herren Gewerke 
der Gießereien und Stahlhütten kannten diese fremden Heiligen, 
es sei denn höchstens den Plato dem Namen nach, von einer 
sogenannten Liebe, zu deren Grundsätzen sich ein alter Jung- 
geselle nicht wohl bekennen konnte, ohne lacherlich zu werden. 
Wovon das Herz voll ist, davon geht nur der junge Mund über, 
der alte aber wird davon erst recht stilL Er, der Notar Gotthold 
Alexander Schugt, hielt übrigens auch dafür, daß die Stadt wirk- 
lich ein arges Unwesen, das Land aber gesund und auch für 
den Geist zuträglicher sei, weshalb er sich schon erlauben zu 
dürfen glaubte, den Neffen hier festzuhalten, ohne darüber nähere 
Erklärungen abzugeben. Entweder sah der Junge beizeiten, daß 
der Alte recht hatte trotz allem, dann blieb er und wuchs sich 
hier ein, oder er sah es nicht, dann war er dank der bisherigen 
wohlgegängelten Lebensführung imstande, eines Tages getrost 
— da sei übrigens Gott vor — durchzubrennen und das Weite 
zu suchen. Ihm bei solchem Entschluß sein bescheidenes Ver- 
mögen nachzuwerfen, hatte Schugt noch immer Zeit. 
Bei diesem wechselseitigen Beobachten und vorsichtigen Ab- 
messen der beiderseitigen Tiefen und Untiefen ging es aber 
durchaus würdig zu, Hermann lernte in der kurzen Zeit vom 
Winter bis zum Sommer, seit er hier war, den alten Mann, den 
er vordem nur mit ängstlichem Gefühl als schrulligen Macht- 
haber angesehen hatte, bloß dadurch freundlicher einschätzen, 
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daß er ihn eben in maßvoller Rüstigkeit und ruhiger Sicherheit 
seines Amtes walten sah. Und daß der hohe Sechziger aller- 
band jüngere Menschlichkeit mit Leidenschaften and Schwächen 
ru würdigen verstand, auch keineswegs auf jedes Geschäft um 
jeden Preis losging, sondern neben seinem Amt als Urkunds- 
person als unvordringlicher Schiedsrichter und Vertrauter ge- 
sucht war, der von allen Leuten gern angerufen wurde, bevor 
sie sich in einen Streit einließen, und der eben durch seinen 
Spruch so manche kostspielige Ausfertigung überflüssig machte, 
die ein anderer künstlich herbeigeführt haben würde, zeigte 
dem Neffen den Oheim in reinerem Licht, als er in der Stadt 
beim Unwillen, sich aus solcher Entfernung gegängelt zu fühlen, 
vermutet hätte. Er sagte sich sogar im stillen, der alte Mann 
möchte vielleicht seinerzeit irgend einen Stoß bekommen haben, 
der einen anderen etwa völlig zerrüttet hätte, während er ihn 
bloß abgestimmt und zu einer gerechten Veranschlagung des 
Menschlichen gebracht hatte. Unter solchen Stößen kommen 
mindere Geister zu einer unterschiedslosen und unwürdigen 
Verneinung und Verzweiflung, höhere freilich zu jenem Schliff, 
der ranh und matt scheint, aber im rechten Scheine rein leuch- 
tet in der Art von Bildung, die das obige Sprichwort der Grie- 
chen meint, wenn es behauptet, ohne geschunden worden zu 
sein, werde man nicht gebildet Der Alte seinerseits sah den 
„Jungen" auch nicht ohne Wohlgefallen an, wie man in ver- 
wandten Zügen dies und jenes wahrzunehmen glaubt, ohne daß 
man viel zu fragen braucht Hätte Gotthold Alezander Schugt 
einen leiblichen Sohn besessen, so hätte der ganz gut aussehen 
können, wie dieser Schwestersohn und sich sogar so benehmen 
dürfen, mit diesem ehrbaren inneren Widerstand und grimmig 
verhaltenen Eigenwillen, mit diesen rechtmäßigen, aber be- 
Bonnen und zuchtvoll unterdrückten Träumen und mit dieser 
gewissen Servitut von jungen Leiden, die einem Geist auf dieser 
Welt nun einmal rechtens zu tragen auferlegt war. Man trug 
sie ja, aber daß man darüber noch ein besonders erfreutes Ge- 
1 sieht zeigen müsse, konnte niemand billig verlangen. 

In der Kanzlei fand sich wöchentlich so manche Briefschaft 
für Ley ein, aus welcher der Junge sowohl Kraft und Wider- 
stand, als Bitterkeit, in keinem Fall aber bisher den Trank des 
Vergessens geschöpft zu haben schien. 

h der Tat hatte Hermann nach einem kurzen, abgerissenen 

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Abschied von Wien doch wieder von sich und seinem neuen 
Aufenthalt freundschaftlich demütig gemeldet, und wieder ging 
der gemessene heitere Briefwechsel mit Agnes Erath und ihrem 
ganzen Hanse seinen Weg hin und her, so daß ihre Gestalt 
schöner und ferner als je, verlockend und immer rätselhafter, 
aber auch immer zier- und seelenvoller vor den Sinnen des 
Jünglings stand, der sich diesen Traum weder erklären, noch 
zerstören konnte und in der verzehrenden Wonne der Wehmut 
weiter brannte, wie eine Opferkerze vor einem Altar. 
Gerade heute hatte er wieder einen solchen Brief bekommen 
mit diesen eigentümlichen, raschen, zarten, gleichsam flüchten- 
den Schriftzügen, in denen sich ein scheues, lieblich versonnenes 
Gemüt freundlich aussprach, aber gleich wieder gemessen zu- 
rückhielt. Stets antwortete sie auf seine mit aller Diplomatie 
einer männlichen Überredung sorgfältig gestellten und schein- 
bar scherzhaft hingeworfenen Anspielungen, die man wieder als 
Scherze zurückgeben konnte, wenn man sie nicht ernsthaft auf- 
zunehmen willens war, mit jenem unbegreiflichen, das eigene 
wie das Gemüt des Empfängers tief erschütternden Widerstande, 
der ihn gerade immer von neuem festhielt und zu neuen Ver- 
suchen zwang, ihn doch noch zu überwinden. Nur zu dem einen 
Entschlüsse vermochte ihn dieser Widerstand nicht, noch ein- 
mal, ein drittes Mal und geradezu — ohne Vermittluog Amersins 
und ohne Verlockung einer festlichen Gelegenheit — , Agnes 
zu frageu, um sie zu werben und es auf ein Ja oder Nein abzu- 
stellen, das ihm noch mehr zu nehmen drohte, als es etwa zu 
geben versprach. 

In solchem, gewissermaßen unveränderlichen Wetterzustande 
des Gemütes machte er sich zurecht, die Klientin des Onkels 
aufzusuchen, deren Geschichte als der einer Berühmtheit des 
bescheidenen Landwinkels ihm übrigens längst berichtet worden 
war, so wie man einen Ankömmling auf ein interessantes Altar- 
bild in einer Kirche, auf einen Aussichtsberg, einen alten Turm 
und sonstiges durch seinen verwahrlosten Zustand bemerkens- 
wertes Gemäuer oder auf ein Wirtshaus aufmerksam macht, 
wo es einen besonderen Wein oder eine besondere Wirtin gibt, 
je nachdem man den zu Belehrenden für ein armes geistiges 
Gemüt oder für ein augenzwinkerndes Weltkind hält DieRainer- 
Gustl war nun sowohl für die eine als für die andere Betrach- 
tung eine sehens- und denkwürdige Erscheinung, denn sie war 

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eine besondere Wirtin in einem besonders reizvollen Talwinkel 
der Landschaft nnd außerdem eine berühmte ehemalige Sängerin, 
deren Name Ley sogleich einfiel, als man den nicht ungewöhn- 
lich klingenden der Rainer-Gustl durch nähere Erläuterungen 
in rechte Erinnerung brachte, denn hatte er die einstige große 
Künstlerin nicht mehr selbst gehört und auf der Bühne gesehen, 
so kannte er doch noch sehr wohl ihren Namen, dem in Wien 
einmal ein Gottesdienst der Anbetung aufgerichtet gewesen war. 
So wanderte er denn über eine weiße Landstraße in der warmen 
Junisonne unter silberwolkigem, blau durchleuchtendem Himmel 
nnd am Rande eines Buchenwaldes, der ebenso wie gelegent- 
liche Nußbäume und weitästige Ahorne am Wege oder in den 
Garten sauberer Höfe, Einkehrgasthäuser, Sägemühlen oder 
Sommersitze, genug Schatten warf, daß man bei der Hitze des 
Wanderns mitten am Tage gelegentlich angenehm erfrischt, die 
allgemeine Lieblichkeit und reiche Anmut der Gegend uner- 
müdet würdigen konnte. 

Ein Flüßchen zog bald in der Tiefe, bald neben der Straße, je 
nachdem sie sich hob oder senkte, rauschend und munter in 
seinem Buschwerk geduckt oder offen durch die grünen Wiesen 
in launigen Krümmen, bald schwarz an tiefen Schattenstellen, 
bald wie ein Spiegel blitzend, bald gelb wie Zirbelholz, wenn 
es leicht über große lichte Kiesel hinfloß. Die Landschaft ge- 
stattete den klarsten Blick über alles, was auf ihrer heimischen 
Erde zugleich mit Maß und Fülle von den Kräften der Natur, 
des Bodens und Himmels und der menschlichen Arbeit heraus- 
gestellt war und öffnete auch die Augen dessen, der diesen Hori- 
zont wandernd vortrug, als große heitere Szenerie der Bühne 
einer ländlichen Welt. Mäßige dunkel bewaldete Höhen reihten 
sich rechts und links aneinander und ließen hinter ihrem un- 
unterbrochenen, nur da und dort in Seitentäler geöffnetem Zuge 
ändere, höhere Berge ahnen, die an einem überschauenden 
Punkte d enn auch mit einzelnen, warm glühenden Felspartien 
nnd unbewachsenen Vorsprüngen aus der sonst herrschenden 
dnnkeln Waldbedeckung hervortraten. 

Den ganzen weiten Vordergrund erfüllte die heitere Abwechslung 
der ländlichen Betriebe. Am Bache standen Sägemühlen mitober- 
schlächtigen moosbewachsenen hölzernen Leitungen, die vor 
silbernen, gläsern überglittenen Wehren das allzu rasche Wasser 
sacht auf mächtige Schaufelräder fließen machten, von denen es 

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in Schwall und Glans tausendfach gebrochen und zusammengefaßt 
niederstürzte, um in neuer Bewegung sich zumFlüßchen und zum 
nächsten Werke zurückzufinden. Hochgeschichtete Stöße von 
Stammholz lagen am Ufer und an anderen Stellen die gelben 
leuchtenden Bretter unter einem Duft von Sägespänen und ge- 
lockten Abfällen, der die ganze Seele der Wälder aushauchte. 
Dann kamen wieder weiße Bauernhöfe inmitten vielfältig blühen- 
der bunter Gärten mit Hühnern und schreienden Gänse- und 
Entenhaufen, die grundlos bekümmert oder aufgeregt in Lachen 
wateten oder in drolligen Flatter- und Flugversuchen taumelten. 
Blühende Wiesen seufzten in der Trunkenheit ihrer sommer- 
lichen Fülle vor dem zweiten Schnitt, grün im ganzen, aber hier 
gelb und golden, da purpurn überhaucht von Löwenzahn und 
Dotterblume oder vom Klee. An die Wiesen grenzten wieder 
scharf gezeichnete Felder mit dem fahlen blonden Schimmer 
dichten Getreides, das noch hoch in leichten Ähren stand, von 
weitem aber leuchtete wie das Haar deutscher Kinder. Noch 
höher oben, auf Hutweiden und ausgedehnten Blößen, sah man 
kleine weiße oder braune, langsam sich bewegende Flecken: 
grasende Rinder, und hörte von weitem, gelegentlich durch die 
Luft herbeigetragen, den wohlklingenden, wehmütig beständigen 
Schall ihrer Glocken. Unter weitwipfeligen runden Linden niste- 
ten Landsitze der reichen Gewerke, die hier kleine, aber ein- 
trägliche Fabriken betrieben und ihren Wohlstand gleich an Ort 
und Stelle zu verzehren verstanden. Unweit stiegen auch die 
hohen Schlote ihrer Eisenhütten empor, deren Rauch indes nicht 
qualmig und lästig wurde, sondern sich blau und leicht in ein 
sorgloses Kräuseln auflöste, kaum stärker, als der Pfeifenrauch 
der Fuhrleute, die neben rüstig anziehenden, gutgenährten brau- 
nen Pferden vor den mit Holz dichtbepackten Wagen hergingen. 
Kam ein Brunnen mit großem Steintrog an einer rund erweiterten 
Ausweichstelle, so blieben die Rosse, die sich ihre Rasten selbst 
bestimmten, unvermeidlich stehen, tauchten ihre Manier in das 
klare kühle Wasser, taten ihren Schluck, hoben dann ihre 
schweren Hälse befriedigt empor, schoben die Lippen hinauf, 
daß die bräunlichen mächtigen Gebisse sichtbar wurden und 
wieherten laut und erleichtert, ehe sie sich unter dem Zuruf der 
Kutscher geduldig wieder ins klirrende Zeug legten und mit ge- 
waltigem Ruck ihre Last weiter führten. 
Wenige Fußgänger begegneten dem wandernden Hennann, denn 

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es war ein Arbeitstag, der sich nicht auf der Straße, sondern im 
inneren Bereiche des Tales abspielte, aber gleichwohl die ganze 
Gegend mit sichtbarer Vielfältigkeit belebte. 
Man brauchte nur seine Sinne richtig wahrzunehmen, um über- 
all die Menschen zu spüren, wo sie am leidlichsten sind: bei 
ihrer Arbeit, wenn sie sich nicht weiter geltend machen. Man 
hörte gelegentlich das Dengeln einer Sichel, die da und dort 
in den Armen der Knechte blitzte, welche mit regelmäßigen Be- 
wegungen mähten, Frauen in blauen Röcken und bunten Kopf- 
tüchern hinter sich, welche die sinkenden Schwaden zusammen- 
rechten, während schon die braunen Mandeln an anderen Stellen 
bis zu dem freien Rest des mittleren Holzpflockes aufgehäuft 
waren. Auch ein leerer Leiterwagen lehnte etwa auf einer be- 
reits geschorenen Stelle und wartete, indessen ein Paar breit- 
gehörnter Ochsen noch dem kürzesten Grase etwas abzugewinnen 
suchte. Über das durchsonnte Rund des Himmels flogen je- 
zuweilen langsame Krähen, schwebte in kühnen, vorgezeichneten 
Kreisen ein Falke, oder stieg aus dem umbuschten Bachufer 
ein aufgescheuchter Schwann Hühner. Über allem aber, un- 
sichtbar und immer höher, immer wunderbarer, wie eine Ah- 
nung des jenseitigen Überirdischen im Sommerglücke, hielten 
die Lerchen stand, derenStimmen sich noch weiter aufschwangen 
als ihr Flug und gleichsam den Ruf über ihre Kraft empor- 
schleuderten, so daß er in den weitenLüften zu Silber und Strahl 
zu werden und so zu glänzen schien, wie die Sonne selbst, nach 
der er zielte, indes er die Wesen, aus denen er drang, bis zur 
Unsichtbarkeit verzehrte und aus kleinen mütterlichen, werben- 
den, jubelnden, liebenden Erdengeschöpfchen zu himmelweiten 
singenden Dingen, zu einem letzten Ton von Sonne und Firma- 
ment, zum Saitenklang des Gewölbes oben auflöste. 
An den Drähten der Telegraphenstangen saßen wie aufgereihte 
Knöpfe die häuslichen Schwalben, zwitscherten irdisch vergnügt 
und stießen gelegentlich mit einem plötzlichen Entschlüsse so 
scharf und niedrig ab, daß man sich unter dem seichten Bogen 
ihres Schwunges fast bücken mochte, wenn man ihre weißen 
Bäuche nah über sich flitzen sah. 

Und Spatzen hüpften neben Meisen auf dem Wege am Ufer, 
Tauben in der Nähe der Häuser, graue, weiße, kropfige, sich 
brüstende, gurrende Tauben, Tauben des Friedens und der 
bald gesättigten Eintracht. 

in 



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£s brauchte aber nur je und je ein Schmetterling, einer mit 
gelben Flügeln, oder ein pfauenschillernder, oder ein schwarzer 
mit blassem Rand langsam taumelnd vorüberzuschweben, so 
hatte man wieder die alte Bescherung von Wehmut und Sehn- 
sucht, welche unter dem nützlichen Treiben der Tage nur leise 
schlummernd auf den ersten Schmetterling wartet, dem es so 
verstattet ist, zu irren und zu schwanken im unbegreiflichen 
Überfluß des Gefühls. 

Langsam verengte sich das Tal, gegen Norden durch einen höher 
aufragenden Berg schier abgesperrt, der Bach hatte sich tiefer 
und tiefer, fast zu einer Schlucht eingewühlt, in den härteren 
Fels verbissen und gurgelte im Eifer dieses unablässigen Ringens. 
Die Sonne stand zuhöchst; wenn Hermann an den kleinen Hütten 
vorüberkam, konnte er das fromme Murmeln des Vaterunsers 
hören, bevor das Klirren der Schüsseln und Löffel begann. 
Um eins endlich langte er bei der Straßenkrümmung an, wo 
sich die Wege von und nach drei Tälern begegneten, vor dem 
Hofe der Rainer-Gustl, der seit langen Zeiten, immer erneuert 
und aufgefrischt, verschönert, gepflegt und wieder in seinem 
stillen guten Gange belassen, hier stehen mußte, wo er allent- 
halben die Kommenden und Gehenden auffing. 
Ursprünglich war der weiße Hof mit den grünen Fensterläden, 
dem grauen Schindeldach mit dem Dachreiter darauf, der eine 
Uhr trug, mit der kleinen Freitreppe und dem rundbogigen 
Bohlentor jedenfalls und offenkundig ein vielbesuchtes Einkehr- 
wirtshaus gewesen, das in seinen kühlen Zimmern oder draußen 
in seinem schattigen Baumgarten reichliches Essen und Bier 
und Wein jedem austeilte, der nur mochte, beim Gassenschank 
den Fuhrleuten, in den geräumigen Wirtsstuben und im Garten 
den Herrschaften. 

Leichte Wagen waren damals mit schlanken Rossen, schwere 
mit schweren vorgefahren, Jäger und Holzhacker bekamen das 
Ihrige so gut wie Ausflügler und die reichen Gäste der Um- 
gegend. 

Jetzt schien dieser Speis- und Trankbetrieb eingeschränkt 
und die Quartierwirtschaft vollends aufgelassen, denn die Rainer- 
Gustl bewohnte das ganze weitläufige Haus mit ihrer Tochter 
und mit vielem Gesinde und gab keinen Unterstand mehr. Man 
konnte zwar bei ihr essen, denn wenn für so viele Leute ge- 
kocht wurde, blieb auch für einen fremden Gast immer genug 

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übrig, sogar für etliche. Aber es gab keine willkürliche Auswahl 
and Speisenkarte, sondern jeder mußte sich damit begnügen, 
was eben da war. Und auch die Ausflugler, die von hier den 
steilen Fußweg nach einem bedeutenden Aussichtsberg und 
weiter nach einem berühmten Wallfahrtsorte einzuschlagen hat- 
ten, konnten kein Zimmer, sondern nur eine Raststunde und 
kurze Erquickung erhalten. Denn die neue Inhaberin betrieb die 
alte Gaststatte schon seit mehreren Jahren gewissermaßen bloß 
als überkommene Verpflichtung, nicht als planvolles Geschäft, 
vielmehr wollte sie im Hofe und mit allen seinen Ställen, Ackern, 
Obst-, Bienen-, Gemüse- und Blumengärten nach einer lauten, 
lost- und schmerzenreichen Vergangenheit einer gemächlichen 
tatigen Gegenwart leben. 

Hermann sah in der kühlen Dämmerung der Gaststube eine 
lange Tafel mit blauem, grobgemustertem, sauberem Leinen- 
tnche gedeckt, an deren Spitze eine, noch in höheren Jahren an- 
sehnliche Frau mit scharfen, dabei etwas derben und um Augen 
und Mund gewissermaßen ausgearbeiteten Zügen saß, zu ihrer 
Rechten, kleiner, zarter, ein junges Mädchen, beide mit blanken 
Tellern, während alle anderen Leute, Männer und Mägde aus 
tönernen braunen Schüsseln mit Holzbestecken aßen. 
Als der Fremde eintrat, ging das wortlose Klappern und Kauen 
der Mahlzeit unter dem Gesinde ruhig fort, das sich des Lebens 
Hauptsache nicht leicht stören läßt. Die Frau aber ebenso wie 
die Tochter schauten dem Eintretenden entgegen, der beschei- 
den, den Hut in der Hand, an der Türe stehen blieb. 
Da erhob sich die Wirtin und ging ihm entgegen, sie hielt ihn 
beim ersten Anblick wohl für einen Ausflügler, wie deren manche 
im Sommer zur Mittagszeit hier hungrig einkehrten: „Was ist 
dem Herrn gefällig? 4 * sagte sie, nicht unfreundlich, aber kurz 
angebunden. 

»Ich komme mit einer Empfehlung des Herrn Doktors Schugt, 
ich bin der Neffe des Notars und auch Jurist, darum meint mein 
Onkel, ich möchte Ihnen wohl ebensogut mit meinem Rate 
dienen wie er, wenn es sich nicht um eine ganz geheime An- 
gelegenheit handelt Wie er sagt, ist mir der Mund noch warm 
vom letzten juristischen Schmaus, ich habe nämlich erst vor 
einem halben Jahre promoviert — so würde ich hoffentlich ver- 
stehen, um was es sich handelt 4 * 

»Sie sind Schugts Neffe, es freut mich, Sie zu sehen, kommen 

Stoessl, Das Hau« Eratb g M3 



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Sie rasch, vom Jas mag Ihnen der Mund wohl warm sein, aber 
Ihr Magen kaum. Sie sind ja seit der Frühe unterwegs und 
müssen jetzt den richtigen pünktlichen Hunger haben, gut, daß 
Sie gerade zum Essen eingetroffen sind. Hier stelle ich Ihnen 
gleich meine Tochter vor, Sie müssen schon entschuldigen, sie 
heißt nämlich Adalgisa. Wie ich noch jung war, hab' ich das 
Romantische gehabt: italienisch mit Spontini, Donizetti und 
Meyerbeer gemischt Jetzt wäre mein Geschmack freilich anders, 
aber dafür bekomme ich jetzt auch keine Kinder mehr zu tau- 
fen. Wenn die Kleine einmal so weit ist, werde ich sie hoffent- 
lich zu verhindern wissen, daß sie an ihre Kinder Ritterburgen- 
namen austeilt" 

„Ich suche mir schon selbst etwas Schöneres aus, Mutter, du 
kannst darüber ganz beruhigt sein." 

„Vorderhand hat die Angelegenheit übrigens noch Zeit, du 
müßtest dir zunächst erst einen anständigen Herrennamen 
auswählen." 

„Wie sollte irgendeiner zu dieser romantischen Adalgisa pas- 
sen?" Die Frau schob Hermann einen festen Bauernstuhl an den 
Tisch zu ihrer Linken, die Tochter brachte ein schönes Silberbe- 
steck, legte eine weiße Serviette über das blaue Tuch, eine andere 
zusammengefaltet daneben, setzte schimmernde Porzellanteller 
vor ihn. „ Gut, daß ich gerade gestern gewurstet habe, so kann ich 
Ihnen wenigstens mit etwas ländlich Köstlichem aufwarten, wenn 
ich meine Ware loben darf und zu Ehren der Mahd habe ich 
sogar Bier angeschlagen. Davon sollen Sie auch bekommen. 
Dann werden Sie mir sagen, ob Ihr Mund wirklich warm ist" 
Damit ging sie in die nebenan gelegene Schankstube, ihre Toch- 
ter folgte ihr und beide kamen, nachdem man von draußen erwar- 
tungsvoll das Sprudeln und Schäumen aus dem Faß gehört hatte, 
mit einer Tracht verschiedener schaukelnder Krügel zurück, 
die sie gewandt wie langerprobte Kellnerinnen mit beiden Ar- 
men und von der Spitze der Tafel abwärts nach rechts und 
links schwenkend, vor jedem der Esser niederstellten, so daß 
nach dem beendigten Gericht ein mächtiger, einstimmiger 
Schluck von etwa zwanzig Kehlen getan wurde und fast gleich- 
zeitig kurz nachher ebenso viele geleerte Krügel fest auf den 
Tisch gesetzt wurden. 

Auch die Frau und das Mädchen tranken, dann gingen sie und 
kamen noch einmal mit der gleichen Tracht zurück. 

IM 



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„Jetzt ist es aber genug;» meine Lieben, sonst werdet ihr mir 
zu müde", sagte sie. 

Noch kam eine Schüssel branner mit Zucker bestreuter Krapfen, 
hoch angehäuft auf den Tisch, die im Handumdrehen verteilt 
and auch schon aufgegessen waren, indessen Hermann und seine 
beiden Wirtinnen den Speisen langsam zusprachen und dazu das 
helle frische Bier tranken. Als das Gesinde fertig war, nickte 
die Frau mit dem Kopfe, darauf scharrten vierzig Beine von 
Menschen, achtzig von Stühlen mit einem Scharren, ein einziges 
Murmeln: „Vergelt's Gott u fuhr wie ein frommer Seufzer: 
„ Schade, daß es schon aus ist" durch das Zimmer und die länd- 
liche Gesellschaft verließ die Stube. 

Nun lehnte sich die Frau leicht in ihren Stuhl zurück und be- 
trachtete den verlegen über seinen Teller gebeugten jungen 
Mann, ebenso wie ihn auch das Mädchen mit großen, neugie- 
rigen Blicken ohne Scheu teilnehmend und freundlich anschaute. 
Die Frau hatte einen Ausdruck von Wohlwollen, das Mädchen 
von leisem Mitleid, denn ein junger Stadtmensch, der so viel 
hat studieren und sich mit Büchern in schlecht gelüfteten Stuben 
abgeben müssen — von allen sonstigen Unzukömmlichkeiten 
abgesehen — »erscheint unbefangenen ländlichen Wesen immer 
zugleich rätselhaft, wunderbar, aber auch leise mitleidswürdig. 
Nicht anders empfand sich Hermann selbst den beiden Frauen 
gegenüber. Die ältere mit ihrer merkwürdigen Mischung von 
gastfreier vornehmer Dame und derber Landwirtin, die jüngere, 
in einem schwarzen silberknöpfigen Sammetspenser mit blüh- 
weißem, am Halse offenem, bis zu den schmalen Schultern freiem 
Hemd, zwar bäurisch angetan, aber mit zarten Zügen und zu« 
traulichen braunen Rehaugen, einem adeligen Fräulein in länd- 
licher Vermummung gleichend, befremdeten ihn ebenso, wie 
sie ihn aufmunterten, weil ein Hauch von Freiheit und Frische 
von ihnen ausging und den Widerspruch reizend machte, den 
sie ohne Absicht darstellten. An der Art, wie die ältere Frau 
das Gespräch lenkte und den jungen Mann durch Unbefangen- 
heit und gute Laune angenehm zu stimmen verstand, ohne die 
ansichtbare stete Linie weiblichergleichgewichtiger Würde selbst 
bei einer gewissen derben Zutraulichkeit jemals zu verletzen 
oder überschreiten zu lassen, hätte Hermann auch ohne Näheres 
ra wissen, erkannt, daß seine Wirtin einmal in einer freieren Welt 
gelebt hatte, während ihre Tochter, wohl hier im Lande und 

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allein erwachsen, das Feinere und Zartere irgendwie selbstver- 
ständlich überkommen haben mochte, während sie in aller 
ländlichen Frische unbekümmert gedieh. 
Die Ältere brachte eine Kanne schwarzen Kaffees zum Nach- 
tisch, stellte drei grüne Römer und in einer bauchigen Flasche 
einen dunkelgelben Wein auf den Tisch und begann nun von 
dem Geschäfte zu reden, das Hermann herberufen hatte. 
Sie wollte ein an ihren Garten angrenzendes Stück Weideland, 
für das der schlaue bäuerliche Besitzer einen übermäßigen Preis 
verlangte, gegen ein an sich hochwertiges, weil gut gepflegtes, 
aber für sie nicht leicht zu bewirtschaftendes entlegenes Stück 
Feld eintauschen, dabei gleich einige wichtige Bauten und Be- 
wässerungen ausführen und durch den Notar so wohl dem Bauern 
zum billigen Tausch zureden lassen, als auch einen Rat be- 
kommen, wie sie die Verträge und grund bücherlichen Schrei- 
bereien am besten abschließen müsse, denn der Staat und 
seine Gesetzgebung wissen es immer so einzurichten, daß jede 
Eigentumsveränderung und die geringfügigste Angelegenheit, 
zu welcher die Hilfe der Behörden erfordert ist, allen Betei- 
ligten zur natürlichen Qual geraten. Niemand kann aus seinem 
bloßen Hausverstande und in gütlicher Einigung mit dem an- 
dern Vertragsteil das an sich Einfache bewirken, sondern sieht 
sich einem Netze von verschiedenen Zuständigkeiten gegenüber, 
das ihn und sein argloses Rechtsgeschäft zu würgen droht, in- 
dem er das Geflecht selbst über seinen Kopf werfen muß. Selbst- 
verständliches ist verboten, Unleidliches zur Pflicht gemacht, was 
keinen angeht, muß demütig erbeten oder durch allerhand 
Schliche hintenherum erwirkt werden, Bezirkshauptmannschaft 
und Grundbuch,Vormundschaftsbehörde und Bürgermeisteramt, 
Notar , und Richter, Advokat und jeder der beiden besorgten 
und betroffenen Grundeigentümer, ja womöglich noch allerhand 
Anrainer und unbeteiligte Zwischenpersonen, alle sind in Mit- 
leidenschaft gezogen, aus einem Rechtsgeschäft wachsen hun- 
dert Drachenköpfe von anderen mit Giftzähnen hervor, die je- 
dem Mitbetroffenen am Ende nicht nur das einzelne Geschäft, 
sondern den Staat als dessen Schützer und vorgeblichen För- 
derer, in Wahrheit als das unendliche Hindernis verleiden. 
Der aufrichtige Hausverstand jedes Staatsbürgers, der mit allem 
Grund mißtrauische des Bauern zumal, kommt immer, wenn 
sich ihm die unverlangte, doch unvermeidliche Mitwirkung des 

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4 



Staates bei seinen bescheidenen Angelegenheiten aufdrängt, zu 
der artigen Frage, ob dieser Staat denn irgend etwas von allem 
pünktlich und bescheiden leiste, wozu er bestellt, wofür er ge- 
dacht und bezahlt — mit Steuer, Mut, Leben und Gehorsam 
schwer bezahlt — und jedem als Last auferlegt sei. 
Und dieser selbige Hausverstand kommt dann auch nicht sel- 
ten zu der mißlichen Antwort, daß eigentlich kein Staat, auch 
der beste nicht, wenn es denn einen „besten" überhaupt gibt, 
das wert sei, was er koste. Es hält einem jungen Juristen schwer, 
einem praktischen Frauenverstande begreiflich zu machen, was 
der Rechtskundige eben nur aus dem Buchstaben der Vor- 
schriften begründen kann. 

Schließlich hatte Hermann den beiden Frauenzimmern die ganze 
umständliche Behörden- und Gerichtswanderung begreiflich ge- 
macht, die sie bei ihrem einfachen Vorhaben einzuschlagen 
hatten, und Frau Augusta Rainer, Anstifterin und Opfer ihrer 
Grundtauschsache, seufzte endlich mit einem komischen Seuf- 
zer tief auf, als erwachte sie aus einem entsetzlichen Traum, 
als Hermann fertig war. 

Das junge Mädchen aber sah ihn mit großem Erstaunen an, 
wie etwa ein Insulaner einen Europäer mustert, der die fried- 
liche Einfalt des Eilands zum ersten Male mitRegenschirm, Tro- 
penhelm, Feldstecher, Büchse, Botanisiertrommel, Notizbuch 
und photographischer Kamera voll Hochmut und Herablassung 
betritt Staunend, verwundert fragt der Mensch, der nichts hat, 
als seinen Schurz: „Gibt es so etwas? Wie großartig, aber wie 
zwecklos, daß es so etwas gibt! 44 

„Nun haben Sie uns freilich davon einen schwachen Begriff vermit- 
telt, mit welchen Fußangeln Ihr Boden des Gesetzes besteckt ist. 
Da scheint es mir nun recht und dringend, daß wir Ihnen un- 
sererseits zeigen, was es bei uns für hübsche, unschuldige, gute 
und angenehme Dinge gibt, von denen ein Herz ohne Gefahr 
und Wissenschaft sich angenehm erfüllen lassen darf. Freilich 
soll man davon nicht leben und Unterhalt, geschweige denn 
Nutzen suchen müssen, denn die Natur wird gleich immer grau- 
sam, wenn man ihre Freigebigkeit in Anspruch nimmt, und 
zehrt den auf, der sich ihr hingibt, aber schließlich, welche 
Tätigkeit erschöpfte den Menschen nicht gründlich, der sie 
ernst nimmt In solcher Aufopferung besteht ja das Leben, das 
seiner selbst würdig ist Immer noch besser, man opfert es der 

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gesunden Natur, als den Akten und Prozessen. Ich muß aller 
Plage, die mich hernimmt, solange das Wachsen dauert, vom 
ersten Anbruch des Vorfrühlings bis zum späten Winter, der die 
ländlichen Werke auf ein Weilchen einschläfert, oft genug flu- 
chen, aber dabei muß ich doch lächeln, so oft ich auf die blü- 
henden Dinge sehe, die ich betreibe. Und indem ich seufze, 
muß ich mir sagen: wenn es ein menschliches Glück und eines 
gibt, um das man in jedem Augenblicke weiß und wissen kann, 
denn nur das ist Glück, das man spürt: ein Leben im Hof und 
Garten ist Glück. 

Hermann bejahte eifrig und ergänzte dieses Lob des ländlichen 
Lebens mit folgenden Worten: 

„Sie haben dieses gerechte und wahre Glück auf die Liebha- 
berei und freiwillige Betätigung eingeschränkt, gnädige Frau, 
ich mochte es aber auch auf die pflichtmäßige Mühsal des 
Bauern ausdehnen, der nicht um des feinsten Naturgenusses 
willen, sondern wegen des nackten Daseins in der Natur, mit 
ihr, für und gegen sie arbeitet Alle, die in und mit der Natur 
schaffen, und neben ihnen nur noch die Künstler, haben den 
höchsten Beruf, welche aus der Natur ein neues Geistiges er- 
zeugen oder aus dem Geist eine neue Natur erschaffen. 
Kurz, zwei wahrhaft fruchtbare und darum geheiligte Stande gibt 
es auf der Welt, die den Menschen menschlich würdig machen: 
den Bauern, der dem Leib der Menschen seine Freude und 
Fruchtbarkeit gibt durch das Brot — das Wort im weitesten 
Sinne genommen — ** 

„Es dürfen schon Äpfel und Hühner, Honig und Wein und ein 
fettes Geselchtes dabei sein,** unterbrach ihn Gisa. 
„Den Bauern meine ich, der das natürliche Gut des Menschen 
verwaltet, und den Künstler, der die himmlische Seele verwaltet 
und dem Geist des Menschen seine Freude und seinen Gott 
und Grund gibt Diese Zwei leben ein wahres Leben aus erster 
Hand und haben einen Beruf, das heißt, sie sind berufen. Alle 
anderen bleiben Bettler, die von der Milde des Bauern ab- 
hängen und von der Milde des armen Künstlers, den sie frei- 
lich am liebsten verhungern lassen und steinigen möchten und 
heuchlerisch verleugnen. Diese zwei Stände sind die gewaltigen 
Nährväter des menschlichen Lebens, alle anderen aber dürftige 
Beschäftigungen, nichts weiter.** 

Frau Rainer lächelte bei diesem feurigen Lob des Landmannes 
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ttnd Künstlers und sagte: „Der Bauer wird freilich von den 
Menschen höher geachtet und kann wohl auch seinen Ertrag 
beanspruchen, mit der Kunst aber hat es eine eigene Bewandt- 
nis. Daß jeder das tägliche Brot braucht, weiß jeder, darum 
gibt es keinen verkannten Bauernstand und auch im allgemeinen 
gottlob keinen verhungerten Bauersmann, aber daß jeder eine 
tagliche und ewige Seele braucht und gar einen heiligen Geist, 
davon spricht kein Vater unser, denn das Vaterunser ist von 
einem heiligen, selbstlosen Schöpfergeist gedichtet, der es nicht 
auf sich selbst, sondern nur auf die tägliche Not und Einfalt 
gemünzt haben wollte. Viele Tausende Menschen sind ohne 
Geist und Seele dick und fett und mächtig geworden, darum 
lassen sie auch den Künstler getrost verhungern , denn er ist 
ihnen im Grunde unbequem. Er verlangt zu viel, für ihn gibt 
es keine Geheimnisse, er ist der strafende Mitwisser aller Sün- 
den und der Verkünder aller Schuld und Buße und jener Not, 
die beten lehrt, also der bittersten, die es für menschliche Ge- 
meinheit eben gibt Daß dieser Racker dabei noch sein Ver- 
gnügen und seinen Spaß haben darf, ärgert die seelenlosen 
Brotesser so sehr, daß sie ihm eben darum den Brotkorb gern 
höher hängen. Wenn er danach im Leben recht demütig sprin- 
gen und schnappen muß, wird seine Kunst gewissermaßen aus- 
drucksvoll und empfindungsreicb wie gut abgelegenes Fleisch, 
und dem geschätzten Publikum bietet sich ein doppelter Genuß, 
es sieht einen armen Teufel um den Brotkorb zappeln und ge- 
rade dabei kommen aus seinem Gehirn noch die schönsten 
Kompositionen oder Gedichte und Gemälde, denn nichts feuert 
den Geist so wild an, wie die Not und der Zwang. So ist die 
Welt eingerichtet Nun kommen Sie und sehen unseren Besitz 
an, auf dem es keine so grausame Wirtschaft gibt, denn ich 
habe mich zum Bauernstande geschlagen. Die Launen der 
Natur sind allgemein, darum minder gehässig als die der Men- 
schen, und ich habe die Kunst, wenigstens was mich betrifft, 
so gut wie abgeschafft Meine Tochter soll Sie herumführen, 
lieber Herr Doktor, indessen muß ich mich auf den Feldern 
bei meinen Leuten umschauen, denn heute ist noch zu mähen, 
dann will ich auch für ein Nachtmahl sorgen, und wir treffen 
uns wieder hier, bevor es dunkelt" 

Damit reichte sie ihm die Hand und ging groß und bedeuten- 
den Ganges, nachdem sie vom Wandhaken einen breiten Stroh- 

HQ 



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hut genommen nnd eine blaue Schürze umgebunden hatte. Vor 
der Türe rief sie nach dem Hunde. Ein zottiger, brauner, weiß- 
gefleckter Bernhardiner kam ihr langsam und schwerfällig ent* 
gegen, und man sah die beiden, den Hund dicht an den weit- 
faltigen Rocken der Frau, in den Wiesenweg einbiegen, und 
wie sie hinter der nächsten grünen Bodenwelle verschwanden. 
Auch die beiden jungen Leute brachen auf und gingen über 
den dumpfen, überschattigen Gasthausgarten, der durch eine 
mannshohe Mauer von den eigentlichen Anlagen getrennt war, 
in die breiten und langgestreckten Gemüse- und Obstpflan- 
zungen. 

Neben seiner Begleiterin, und von ihr auf diese und jene ge- 
fällige oder wichtige Einzelheit, auf eine allgemein nicht genug 
gewürdigte Gemüsegattung oder besonders schön geratene 
Pflanze oder auf eine die Natur gütlich fördernde Pflegeein- 
richtung aufmerksam gemacht, würdigte Hermann die über- 
sichtliche und mit vielen Beeten, Rabatten, regelmäßigen Wegen 
und geeigneten Bewässerungsanstalten eingeteilte Anlage. Mist- 
beete, kleine Glashäuser, am Rande, an das Hauptgebäude an- 
stoßend die geräumigen Ställe, der lustige drahtumzäunte Ge- 
flügelhof, alles stand in lebendigem Betriebe, und das Mädchen 
griff im Vorbeigehen überall freundlich, doch eben als Herrin 
ein, indem sie hier aus ihrer Tasche den Tauben, die sie gleich 
umflatterten, eine Handvoll Körner zuwarf, dort einer alten 
Frau, die Unkraut jätete, Anweisung gab, aus dem nächsten 
Küchenbeet ein paar Wurzeln und Kräuter zog, sie schüttelnd 
von der schwarzen Erde befreite und das Bündel sogleich einer 
Magd für die Küche mitgab. An der Mauer, wo ein regelmäßiges 
Obstspalier geschützt an sauberen Latten hinlief, band sie lose 
Zweige im Vorübergehen fest oder knickte überschüssige weg. 
Alles Nötige trug sie bei sich oder fand, wenn sie es brauchte, 
gleich das erforderte Werkzeug, dann tat sie alles mit ein paar 
Griffen, ohne ihre Rede zu unterbrechen, die immer eine Kürze 
und Bestimmtheit behielt, welche dem Geplauder junger Mäd- 
chen sonst fehlt, aber dabei durch das, was sie sagte, gerade 
in der Gedrängtheit einen Blick in ein reiches und selbständiges 
Denken tun ließ, wie es ganz wohl durch das einsame Heran- 
wachsen bei so würdiger Tätigkeit gefördert werden mochte. 
Der Gemüsegarten war durch eine Futtermauer und ein hohes 
Eisengitter vom Obstgarten [geschieden, der nicht mehr eben 

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verlief, sondern, weil der Hof im Talschluß und hart am Berge 
lag, schon über eine sanfte Graslehne hinanstieg. Auch hier 
erschien die nützliche Fülle durch die größte Mannigfaltigkeit 
belebt Während in der Mitte, im Wiesengrunde, die Hoch- 
stämme in regelmäßigen Abständen und im Verbände gesetzt, 
je nach der Reifefolge für alle Sommer- und Herbstzeiten durch 
die guten, auf diesem Boden und in dieser immerhin schon 
rauheren Lage gedeihenden Gattungen sorgten, lief an den 
Rändern des Weges überall das genau geschnittene Zwergobst 
mit schön entwickelten Stockwerken an gespannten Drähten 
und gab der Anlage eine gewisse strenge Heckenordnung, ähn- 
lich wie die gestutzten Laubwände französischer Ziergärten. 
Auch Reihen von Beerensträuchern gab es, an sonnigen und 
abseitigen Stellen aber die verwirrende Wildnis von Hasel- 
stauden, Himbeeren, Brombeeren, Rosen, Kornelkirschen, als 
hätte man dafür sorgen wollen, den besten Garten wenigstens 
gelegentlich in den Ursprung der Natur zurückfinden zu lassen. 
Gisa wies Hermann auch die zahlreichen Bienenstöcke, die auf 
dem Rasen verteilt und mit gutem Bedacht gerade im Obst- 
garten aufgestellt waren, um die Fruchtbarkeit durch ihren 
Fleiß und Genuß zu fördern. Sie bemerkte dabei, daß diese 
zierlichen arbeitsamen Wesen im Grunde die beiden Berufs- 
stände, denen Hermann allein höchste menschheitliche Bedeu- 
tung zusprach, eigentlich vereinigten: den Landmann und den 
Künstler. 

Sie nahm dabei aus einem Stocke eine Wabe heraus, um sich 
zu überzeugen, wie es mit der Brut stand, und zeigte Hermann, 
der sie nicht unbesorgt so ohne jeden Schutz mit diesen reiz- 
baren Leben hantieren sah, das unbekümmerte Gewimmel über 
den braunen, von glänzendem Honig, von dunkelm Blütenstaub 
und Wachs erfüllten Zellen. 

„Diese Wabe im Rähmchen, Sie können sie getrost und fest 
anfassen, die Bienen haben zu tun und sind jetzt nicht gefähr- 
lich, diese Wabe, die schon ganz voll ist, zum zweiten Male voll, 
denn wir haben die Armen schon einmal ihres Ertrages beraubt 
und den ersten Honig ausgeschleudert, wiegt drei Kilogramm 
und bedeutet für die kleine Welt da eine große Stadt, zu der 
wir Menschen eine Bodenfläche von etlichen Morgen mit Be- 
zirksgericht, Notar, Advokat, Schulen, Kirchen, Bürgermeister 
und Tratsch und Klatsch brauchten. Wissen Sie auch, wie viele 

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tätige and arbeitende und wie viele künftige Wesen in diesen 
Zellen und über ihnen wirken? Achttausend Zellen gibt es in 
jedem Rahmen. Also haben ebenso viele Bienen hier Wohnung 
und Raum zur Arbeit, und ebenso viele künftige Erben werden 
hier gestiftet und aufgezogen, wenn es auch freilich nicht zu- 
gelassen wird, daß es zu solchen Mengen kommt, denn mehr 
als fünfundzwanzigtausend Bienen soll ein ebenmäßiges Volk 
mit allen seinen Waben nicht zählen." 
„Hören Sie das Summen?" fragte sie. 
Es klang wie ferner, tiefer, würdiger Glockenton. 
„Ich muß immer glauben, wenn ich diese eigentümlich regel- 
mäßig zusammenklingende Harmonie von Arbeit, von Flügel- 
schlag und Bewegung höre, aber auch sehe, daß sich darin 
ebenso wie in dem erhabenen Dom der vielen Zellen eine ge- 
heimnisvolle, genau abgemessene und in jedem einzelnen Tiere 
mitwaltende Berechnung von Zeit, Leistung, Ton und Wirkung 
geltend macht, daß diese kleinen Wesen auch mit ihrem Sum- 
men und Kriechen, mit ihren Reihen und Gewimmel und ihrer 
regelmäßigen Arbeitsteilung nicht das Geringste dem Zufall 
überlassen, sondern eine irgendwie bestimmte, aufs peinlichste 
geordnete Komposition ausführen, von der uns nur gerade die 
Zellen so genau sinnfällig werden. Uns Menschen fehlt freilich 
der Name für diese vielfältige Arbeit, für dieses bewegte Kunst- 
werk, welches über dem steten Rahmen, in dem unsterblichen 
— für die Bienen unsterblichen — Bau spielt und waltet 44 
„Was Sie da sagen, Fräulein, weckt einen geheimnisvollen An- 
klang von jener höheren Ordnung, die wir Menschen als stetig 
wirkende Gerechtigkeit auch in unserem Gewimmel und Ge- 
treibe, wie überhaupt in der ganzen Natur vermuten wollen, 
denn sonst möchten wir die Willkür und Grausamkeit im ein- 
zelnen nicht ertragen. Wer sein Werk so knapp und haargenau, 
so über allem Zufall, so vorherbestimmt und großartig und in 
die Zukunft, in eine Bienenewigkeit hineinbaut, dem ist immer- 
hin auch zuzutrauen, daß er alles, was er sonst tut, mit gleicher 
Harmonie und Regelmäßigkeit versieht und gar wohl um alles 
weiß, was er macht Das ergibt zum Schlüsse sicherlich ein 
künstlerisches Ganzes, worin wir Musik und Wohllaut hören, 
weil uns die kleine Ordnung eben durch diese Musik faßlich 
wird. Aber solche Harmonie setzt sich aus kleinsten unbekann- 
ten Einzelheiten, aus Flügelschlägen, wandernden und scharren- 

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den Füßen, Bangenden und beißenden Mundwerkzengen, regel- 
mäßig arbeitenden Organen, aus Blütenduft- und -Staub, aus 
Honig, Wachsklümpchen und Gesumm zusammen, aus lauter 
Unregelmäßigkeiten. u 

„Noch eins habe ich mir ausgedacht, wenn ich es auch nur 
beiläufig ausdrücken kann, tf fuhr Gisa fort, denn die angeregte 
Aufmerksamkeit ihres Gastes machte sie zutraulich, „ich habe 
einmal gelesen, daß der Mensch nichts anderes erfinden und 
vorstellen kann, als was er mit seinen Sinnen wahrzunehmen 
vermag, wie auch seine kunstreichen Maschinen eigentlich nichts 
anderes als vereinfachte und noch immer nicht zulängliche 
Nachbilder seiner eigenen Körperwerkzeuge ausmachen. So 
wiederholt jedes Menschenerzeugnis irgend etwas in der Natur 
Gegebenes, freilich mit anderen Mitteln." 
„Im Mittel liegt aber das wunderbare Geheimnis, M erwiderte 
Hermann. „Der Mensch ergreift immer dasjenige Mittel, das 
dem Sinne entspricht, auf den es wirken will, dadurch wieder- 
holt sein Werk die Natur immer in einem anderen Kreise. 
Bloße Nachahmung an sich bleibt immer ärmlich, es handelt 
sich vielmehr um eine geheimnisvolle Wiederholung selbst. 
Die Natur, der Vorgang wird in ganz anderem Mittel noch ein- 
mal erzeugt, und dadurch ergibt sich der Eindruck wunderbarer 
aufleuchtender Gleichheit, den jede Schöpfung macht, eine 
Wiedergeburt geschieht, nicht eine Nachahmung, und jedes voll- 
kommene Werk ist wiederum eine Erschaffung der Weit" 
„Das meine ich eben mit dem Werk der Bienen. In der Natur 
ist das einfachste und kleinste, wie das größte lebendige Wesen, 
Tier und Pflanze aus Zellen zusammengesetzt und angestückt 
Nun sehen Sie, das Kunstwerk der Wabe besteht aus nichts 
anderem als aus Zellen und wiederholt so, bewußter und deut- 
licher, als was wir Menschen irgend machen können, die innerste, 
einfache, doch unsichtbare Grundform der Natur. Das nenne 
ich Kunst! Meine Bienen enträtseln und wiederholen das Ge- 
heimnis der Natur selbst bis auf ihre eigene Zusammensetzung." 
Hermann drückte Gisa über diese zugleich schlichte und tref- 
fende Anschauung seine Anerkennung aus. Sie errötete und 
lachte: „So geht's uns armen Mädchen. Die Männer halten 
ans für so bescheiden eingerichtet, daß sie uns eigentlich nicht 
den geringsten Gedanken zumuten und staunen, wenn wir ein- 
mal etwas sagen, was sich auch ein Mann gedacht haben könnte. 

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Eigentlich liegt eine Anmaßung in Ihrem. Kompliment, mein 
Herr.** 

„Nicht mehr, als in jedem Kompliment; denn ist es nicht an- 
maßend, etwas Schönes loben zu wollen, aber doch auch immer 
bescheiden ? Wenn wir bei der Frau Anmut bewundern, müßten 
wir immer uns auch vor Augen halten, wieviel Geist schon 
aufgewendet ist, um etwas so Angenehmes wie ein junges Mäd- 
chen zu stiften.** 

„Es gibt eben keine Anmut ohne Geist, denn sie drückt ihn ja 
aus. 4 * 

„Wir Menschen überschätzen im allgemeinen unsere Einsicht, 
als sei das Nachdenken mehr als das Vorschaffen. Wieviel 
Geist gehört freilich dazu, um schön zu sein, nur freilich un- 
bewußter Geist der Zellen, der Organe, Geist der guten Be- 
wegungen, Geist der Nahrung und der Lebensführung, Geist 
der Muskeln und der Glieder, Geist der Zusammensetzung und 
Haltung. Aber ist dies alles zuletzt nicht eben Seele? Und 
wenn wir ein vollkommen schönes, aber dummes Frauenzimmer 
sehen — es gibt solche — so vergessen wir, wieviel stummer 
Geist schon von der Person zeitlebens aufgewendet worden 
sein muß, um so edle Züge zustande zu bringen und ein solches 
Gleichmaß von Haar und Haupt, Schultern und Beinen, Wuchs 
und Bewegung, es bleibt vollends ein Wunder, wenn noch Geist 
im Überschuß wach, bereitwillig und freigebig aus der Anmut 
zu sprechen beginnt. 4 * 

„Gut, daß Sie wenigstens wissen, mein Herr, daß wir, wie wir 
sind und aussehen, uns schließlich uns selbst verdanken. Darum 
möchte ich übrigens auch meine schönen, aber dummen Mit- 
schwestern, was den Geist betrifft, rechtfertigen. Es muß nicht 
immer Verstand sein, der in ihrer Schönheit liegt, aber es ist 
ganz unmöglich, daß etwas durchaus Gelungenes, eben ein 
schönes Weib, völlig dumm und geistlos sei. Es hat seinen be- 
sonderen Geist, nur kennen wir ihn nicht gleich, er ist in dem 
geheimnisvollen Zusammenklang der äußeren Schönheit, der 
Glieder, der Augen, des Mundes, der Zähne und so fort aufge- 
wendet, aber er lebt auch im Innern, nur drückt er sich nicht 
immer in passenden Reden und Einfällen aus. Aber glauben 
Sie mir, ein schönes Gesicht ist gleichwohl voll Geist auch ohne 
Wort, der schöne Mensch hat vielleicht Güte als Geist, herz- 
ergreifenden Anblick als Geist, gemessene Gebärde als Geist« 

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Inneren Geist im Überfluß und mehr davon als der Mann, der 
eine Schönheit dumm findet tf 

„Und da wundern Sie sich noch, Fräulein, daß wir Männer uns 
wundern, wenn Anmut außer dem Geist der Züge und Gebär- 
den gar noch den Mund auftut und gescheit zu sprechen an- 
fängt« 

Gisa lachte: „Nun habe ich den Freibrief für alle weibliche 
Dummheit und kann mich nach Herzenslust gehen lassen, denn 
wenn ich nur sonst gefalle, habe ich Geist genug bewiesen, zu 
sein, wie ich bin, und damit basta. Sie sollen kein gescheites 
Wort mehr von mir hören. 4 * 

„Das wäre wieder zu wenig Geist für die Anmut, denn auch 
das bezeichnet alle Schönheit, daß sie sich nicht rückhalten 
und aufsparen darf. Sie mögen freilich immer noch weniger 
sagen, als Sie wissen, aber was Sie sagen und geben, muß immer 
von ihrem Geiste sein. Und sollten Sie gar nicht mehr den 
Mund auftun, so hätten Sie schon genug gesagt. Doch wäre es 
schade. 4 * 

„So will ich denn schwatzen, was mir einfällt, und mich darauf 
verlassen, daß Sie es immer gut und freundlich auslegen. Täten 
die Männer das immer bei den dummen Schönheiten, so fän- 
den sie sie wohl auch gescheit, und sähen sie immer den guten 
Geist bei den häßlichen Frauen, so fänden sie sie wohl auch 
trotz allem hübsch, und die halbe Menschheit ließe sich leichter 
ertragen. Denn von der anderen Hälfte, von den Männern will 
ich gar nicht sprechen, die von vornherein das Vorrecht bean- 
spruchen, ob schön oder häßlich, immer willig genommen zu 
werden, wie sie sind.** 

Hermann gab zurück: „Sie möchten gleich meine Ehrerbietung 
vor Ihnen für Ihr ganzes Geschlecht beanspruchen. Nun, ich 
bekenne, daß ich noch gar keine Frau vollkommen häßlich und 
abscheulich gefunden habe. In irgend einem Zuge, und sei's 
im verstecktesten und geringsten, hatte sie doch irgend etwas 
Schönes, einen kleinsten Teil und Abglanz der möglichen Ge- 
samtherrlichkeit ihres Geschlechtes.** 

„Das glaube ich auch längst,** sagte das Mädchen und stieg 
dabei die Stufen einer Steintreppe hinauf, die vom Obstgarten 
zum höchsten, steilen, unmittelbar in den Wald selbst über- 
gehenden Stauden- und Baumgarten führte. 
Die Steinstiege war in eine moosüberwachsene alte, tiefe Stein- 

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mauer gebaut, auf deren Höhe an Eisenstäben weiße, gelbe 
und rote Rankrosen eine dichte blühende Hecke bildeten. Die 
alte Eisenpforte, die Gisa Öffnete, war von einem Bogen groß- 
blühender Klematis purpurn überwölbt und glich, von dem 
jungen Mädchen gehalten, völlig dem Eingang ins Märchen. 
„Ich glaube es nicht nur von uns Frauen, sondern von allen 
Menschen. Denn so wie es in jeder Tiergattung eigentlich keine 
häßlichen gibt, sondern nur mehr oder minder vollkommene 
Geschöpfe derselben Gattung, so müßte man eben lernen, auch 
das Menschliche im Menschen, das Gemeinsame, Notwendige 
und eben dadurch Schöne, Gemäße und Gerechte zu erkennen 
und zu würdigen, anstatt immer auf das Besondere, Seltene zu 
sehen und gerade das zu fordern, alles andere aber abzulehnen." 
„Nur müßte man dazu eben nicht leider ein Mensch sein, der 
liebt und haßt, wählt und verwirft. So wie der Mensch gar wohl 
etliche Tiere in seinem Leib und Geist enthalten, sogar ihnen 
gleichsehen und ihre Eigenschaften entwickeln und gut oder 
böse sein kann, nach Wahl und Schicksal sieht er auch aus 
dieser Verwandtschaft oder Feindschaft wieder den anderen 
Menschen an und findet ihn schön oder häßlich, lehnt ihn ab 
oder sucht ihn." 

„ Ja, die Tiergesichter der Menschen I Es gibt welche, die Wie- 
derkäuern gleichsehen, Schafen, Ziegen, Ochsen, andere, die es 
mit den Affen halten oder mit den Nagetieren. u 
„Und die beweglichsten und geistigsten gleichen irgendwie den 
Vögeln." 

„Nun haben wir schon in diesem Garten den ganzen Bereich 
der Tiere und Menschen durchgegangen, aber den Menschen 
mit den Pflanzen zusammenzubringen haben wir noch nicht 
versucht" 

Sie zeigte Hermann die eigentümlichen, scheinbar absichts- 
losen und ungezwungenen, aber mit bedeutender Überlegung 
zusammengestellten Gruppen edler Nadelhölzer und blühender 
Stauden und Sträucher, deren Farben zur bestimmten Zeit zu 
erklingen und sich miteinander zu einem Ganzen als Masse 
wie im einzelnen sinnbewegenden Bilde zu verweben hatten. 
Hohe Rittersporne leuchteten; hinter schwarzen Kiefern, die 
sich vom blauen Himmel wie ruhende Adler mit breiten Flügeln 
abhoben, ergoß der Goldregen seine gelben Trauben in der 
Sonnenfülle, weiße Margueriten wiederholten das Sonnenbild 

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des glühenden BaUs inmitten der weißen Strahlen nnten auf 
der Erde. Unter Felsstücken kauerten in leuchtenden Kissen 
niedrige Alpenkräuter, auf geraden Stengeln prunkten die viel- 
farbenen Aurikeln. Ruhig stand eine lange Reihe hoher, weißer, 
weithin duftender Domlilien wie Altarkerzen, und sie ergossen 
den Weihrauchduft ihrer Kelche in die reine Luft. 
„Wem glich dies alles?** 

Hermann antwortete nicht. Er betrachtete das junge Mädchen 
mit dem beweglichen Gesicht, mit dem ausdrucksvollen ener- 
gischen Gange, ihre braunen Augen, deren munterer, einfalls- 
reicher Geist drückten ein Wesen aus, das regsam und tätig, 
das Gute und Schöne aus sich selbst, wie aus der Welt zu för- 
dern wußte, der große Mund mit den schmalen Lippen, hinter 
denen gesunde, große, leuchtende weiße Zähne glänzten, das 
schmale Rund der Wangen, die nach oben durch abstehende 
Backenknochen ein wenig das Gleichmaß verloren, die gesunde 
Farbe, die stark beschwingte Natur, die sich leicht und gern 
über die Niederung erhob und kräftig genug war, andere durch 
den eigenen Schwung hinanzureißen, dieses ganze mehr an- 
mutige als schöne, durch seine Bewegung, nicht durch seine 
Ruhe, durch das Tun, nicht durch das Lassen anregende Wesen 
glich eben jenen scharfäugigen Vögeln, wie er früher gesagt 
hatte. 

Aber Frauen können gar wohl, andere Frauen in ihrer sinnen- 
den Ruhe und stillen Entfaltung den einsam blühenden, in sich 
verharrenden Blumen gleichen. Er sah Agnes vor sich, wie sie 
mit der ihr eigentümlichen sanften Neigung des runden, viel 
regelmäßigeren Hauptes unter dem schweren braunen, ins Röt- 
liche schimmernden Haar ein Ding betrachtete und schwieg, 
wie sie wortlos lächelte, oder wenn er sich zu irgend einer 
leidenschaftlichen Rede hinreißen ließ, nur ein klangvoll er- 
stauntes, abwehrendes, scheues „Aber, aber** sagte. Er wollte 
nichts über die Nähe von Blume und Frau sagen, als hätte er 
damit ein Geheimnis verraten und den stillen Standort einer 
solchen einsam blühenden Pflanze. 

Gisa, die augenblicklich seine Entfernung wahrnahm, errötete 
schweigend. Über der kunstvollen Anordnung des reichen, so- 
wohl gepflegten, als dem Übermaß des Wachstums klug üb er- 
lassenen Gartens wurden in der Weite die blauen Berghöhen, 
die mannigfaltige Landschaft des Tales sichtbar, so daß die 

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drei Stufen dieser ganzen Anlage vom niedrigen Wuchs des be- 
schränkten Nützlichen zar überquellenden Fruchtbarkeit, dann 
zur durchgeistigten Schönheit der hochwachsenden Fülle empor- 
geleitet, gleichwohl standig einen größeren Kreis der Umwelt 
vor sich hatten und jeden Blick auch ins Weite verwiesen. 
Nicht den Pflanzen waren diese beiden starken, eigenartigen 
Frauen vergleichbar, keiner höchstwachsenden und keiner ran- 
kenden, keiner ruhig blühenden und keiner betörenden, wohl 
aber ihrem ganzen Garten selbst, der aus dem Gegebenen das 
schönste Mögliche zu schaffen wußte und darüber hinaus auf 
eine nicht alltagliche und großartige Weise ins Allgemeine, Be- 
deutsame reichte und hinwies, wie diese drei Stufen der Anlage 
auf die bewegte weite Landschaft hinausklangen. Damit fand 
Hermann denn einen freundlichen Gedanken, der ihm wieder 
recht aus dem Herzen kam und die Stille getrost unterbrechen 
durfte, um seiner jungen Führerin dargereicht zu werden. 
Schon standen alle Farben des Tales dichter, satter vor dem 
immer leuchtenderen Goldgrund der abendlichen Sonne, als 
das Paar, nach den mannigfachen Gesprächen des Nachmittags 
schweigend und gleichsam wie die Welt selbst tiefer atmend 
vor den Hof trat, um auf dem Kiesplatze, auf der weißen Bank 
vor dem Tor ausruhend die Frau zu erwarten, die nun auch 
von ihren Wegen und Arbeiten zurückkommen mußte. In der 
Tat hatte die Rainer-Gustl längst ihre Mahd beobachtet, in der 
Küche das Nötige angeordnet, überwacht, sogar selbst zuge- 
griffen- und kam, nicht von draußen her, wie ihre Tochter ver- 
mutete, sondern aus dem Innern des Hauses, begrüßte die jun- 
gen Leutchen und lud sie zum Nachtmahl ein. 
Hermann, der an seine drei Wegstunden nach Hause dachte, 
wollte zuerst ablehnen, doch ließ sie das nicht gelten, sondern 
sagte, für ihn sei schon die Gaststube bereit, er habe sich we- 
gen seines braven Rates eine ordentliche Ruhe verdient und 
komme auch am morgigen Tage noch zur gewohnten Amtsar- 
beit zurecht, wenn er zeitig frühstücke und aufbreche, wofür sie 
schon sorgen wolle, denn hier wachte alles mit den Hähnen auf. 
In der Gaststube fand Hermann einige Besucher vor, die zum 
ständigen Lebenskreise der Wirtin zu gehören schienen: den 
Lehrer des nahen Dorfes, ferner einen alten weißhaarigen, einem 
Gelehrten gleichenden Mann im langen schwarzen Rock mit 
hohen Röhrenstiefeln, und den Förster der gräflichen Domänen. 

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Der alte Weißhaarige begrüßte Gisa freundlich wie eine Toch- 
ter und erkundigte sich nach Bienen und Garten. Bald stellte 
ihn das Madchen, er selbst sich als einen ausgedienten Gym- 
nasialprofessor vor, der von den Eltern eine Wirtschaft in die- 
sem stillen Winkel ererbt hatte und nun betrieb, von Frau Rai- 
ner aber mit dem in dieser ländlichen Einsamkeit sonst schwer 
zu beschaffenden höheren Unterrichte ihrer Tochter befaßt 
worden war, dem er sich um so lieber gewidmet hatte, als es 
ihm, einem kinderlosen, unverheirateten Manne, gar als altem 
Lehrer am Ende seines Lebens erst vergönnt war, anstatt vieler 
ungleicher und in der Stadt im Grunde gleichgültig zusammen- 
geworfener Schulkinder, ein einziges Geschöpf von Anfang an 
zu beobachten und nach seinem Sinne zu bilden, indem er es 
auf das Ganze der Bildung, nicht auf die Besonderheit und 
Kenntnis von Prüfungsfächern, also auf den unteilbaren Men- 
schen absah. „So konnte mir unsere bebe Kleine da zugleich 
Schülerin und Muse der Bildung selbst werden, denn in der 
Welt hält man den Unterricht gern für eine allgemeingültige 
AUerweltssache, die eben allen wenigstens in einem gewissen 
staatlich geaichten Ausmaß zugewendet wird, als sei er nicht 
wie jede bewußte Einwirkung auf Menschen auch ein Stück 
Schaffen und Kunst, jeder Kunst aber wird sonst wenigstens 
die Auswahl des Stoffes vergönnt, an den sie ihre Mühe wen- 
den will. Ich habe so viele gleichgültige Buben zu den Prü- 
fungen geführt und ins Leben losgelassen, daß ich den Wert 
der Bildung recht fragwürdig empfinde, denn bei den schwachen, 
armen Durchschnittskindern nimmt sie meist den lieblichen 
Hauch und die Unschuld, meinetwegen auch die Roheit der 
Natur weg, ohne an ihre Stelle mehr zu setzen, als eine Allge- 
meinheit, ein Allerweltsflickwerk von Gedächtnisbrocken und 
überkommenen Anschauungen, welches den einzelnen ganz 
und gar unfähig macht, im besonderen Falle die Ursprünglich- 
keit des Erkennens, die unmittelbare Einsicht und darum auch 
die Frische und Macht des Entschlusses und der Haltung zu 
finden, die jeder Ungebildete, jeder vernünftige Bauer zum Bei- 
spiel überraschend und überlegen genug bewährt** 
„Und doch brauchen wir dieses Mindestmaß von Bildung u , ent- 
gegnete der Lehrer mit einem Anflug von Hochmut, der gerade 
den ländlichen Vertretern der Bildung in der niederen Sphäre 
so oft eignet, „nicht nur für das einfachste tägliche Leben, 

Stoetsl, Da« Haus Erath 9 1 29 



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sondern gerade, weil sie die gemeinen und rohen Menschen 
abschleift und erträglich macht, ihre sogenannte Natur wäre 
sonst eine beständige Gefahr für alle Besseren. u 
„ Gerade die Roheit und alles Unedle wird durch die Bildung 
nur eben mit Lüge und Heuchelei verkleidet, keineswegs an 
sich gemildert oder geändert, wie denn niemals Erziehung aus 
einem Menschen etwas anderes machen kann, als was er von 
Anbeginn an war und bleibt Aber es geht mit allen Werten 
der Zeit so, daß man sie eben nehmen und weitergeben muß, 
wie das Geld, ohne das man auch nicht auskommen kann, wie 
sehr man es geringachte, weil die heutige Wirtschaftsform es 
braucht und einzig anerkennt, nur möchte man solche aufge- 
zwungene Werte darum nicht noch überschätzen. Gewiß könnte 
man, wenn man schon die sogenannte allgemeine Bildung an- 
zweifelt, sogar die Buchdruckerkunst und alle ihre Folgen einen 
wahren Fluch, nicht einen Segen der Menschheit nennen, denn 
durch sie ist die Verbreitung alles Meinungs- und Gesinnungs- 
schwindels ungeheuer erleichtert, die des Wahren und Guten 
aber gerade durch den Wust des Widerwärtigen gehindert wor- 
den. Während früher nur das Edelste bewahrt und überliefert 
werden konnte, steht jetzt jeder Dummheit die Pforte der Un- 
sterblichkeit offen, aber wer wollte und könnte ein eben allgemein 
gebrauchtes Werkzeug, eine Alienveitsmaschine aus der Welt 
schaffen und den Gang der Zeit aus eigenem zurückschrauben ? w 
Der Alte nickte dabei seiner Schülerin zu: „Gut, daß wir hier 
in einem abgeschiedenen Tale leben, wo wir von Natur und 
Willen auf die Einsamkeit verwiesen, durch die Lage der Dinge 
selbst in Zeit und Anschauungen, in den Mitteln und Zwecken 
des Lebens zurückgestellt, in langsamem Gange hinter dem 
allgemeinen, großartigen Fortschritt zurückbleiben dürfen, ohne 
das Neueste mitmachen und unsere alten Beine zum besin- 
nungslosen Mitlaufen zwingen zu müssen. Gut auch, daß es 
immer und überall auf der Welt solche Winkel gibt und geben 
wird, die den alten, ruhigen Stand behaupten. Deus nobis haec 
otia fecit, tf sagte er lächelnd zu Hermann. 
Mittlerweile hatte die Wirtin den Tisch bestellt und sich im 
Gespräch mit dem Förster über allerhand Wirtschaftsfragen 
zum Essen niedergelassen. Der Lehrer, Hermann, der Alte und 
das junge Mädchen folgten. Das Gesinde hatte schon früher 
sein Nachtmahl bekommen. 

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Die kleine Tafelrunde tat nnter rahigem Gespräch der guten 
Mahlzeit Ehre an, die Wirtin hatte einen leichten Landwein in 
die Glaser gefüllt, dem alle gern, jeder nach seinem besonderen 
Maße zusprachen. 

Nach Schluß der Mahlzeit zwinkerte der Alte Hermann lächelnd 
zu, der dieses geheime Zeichen nicht verstand, worauf der Alte 
auch Gisa mit gleicher Gebärde zu fragen und aufzumuntern 
schien, die endlich zur Mutter gewendet, sagte: „Möchtest du 
uns nicht etwas singen?" 

Die Frau antwortete: „Man soll die alten Zeiten, wenn man 
sie als die besseren im Gedächtnis in Ehren halten will, nicht 
zum Reden herausfordern. Man hört sich nur Leid damit und 
vielleicht tut es auch den alten Zeiten mehr weh, als wohl, 
wenn sie zu singen anfangen, aber da wir Alten hier als lauter 
alte Zeit beisammen sind und selbst die Jugend hier von der 
neuen Welt fern in unserem Winkel festgehalten wird, will ich 
mich nicht zieren. Wer den richtigen Vergleich ziehen kann 
zwischen Einst und Jetzt, Sollen und Müssen, Können und Be- 
deuten, der wird wohl auch Gnade für Recht ergehen lassen, 
denn ich trete ja nicht vor der großen Welt auf, sondern mache 
meinen Gästen ein bescheidenes Abendvergnügen, wenn es 
eines sein soll und kann. Nun, Herr Lach," wandte sie sich 
an den Lehrer, „wollen Sie so freundlich sein, mich zu be- 
gleiten ? " 

Der Angerufene erhob sich dienstfertig und trat an den im 
Hintergrunde mit einem grünen Filztuche verhangenen Flügel, 
den Hermann in der Dämmerung bisher gar nicht bemerkt 
hatte. 

Gisa, die unterdessen aus der Wirtsstube geschlüpft war, kam 
jetzt mit zwei silbernen vierarmigen Leuchtern wieder, ver- 
löschte die dürftige Petroleumlampe über dem Tische, nach- 
dem sie die Kerzen entzündet hatte und trug in der plötzlich 
'durch den Zauber dieser warmen, schwebenden Dämmerung 
erhöhten, weil vergeistigten Helligkeit mit zartem Gang auf den 
Zehenspitzen die Leuchter zum Flügel. Der alte Professor, der 
Förster, Hermann und Gisa nahmen in einem weiten Rund um 
das Klavier Platz. Die Gaststube lag nun mit allem dürftigen 
Zubehör ihrer ländlichen Ausstattung, mit Tischen, Stühlen, 
Rehkrückeln und Hirschgeweihen an den Wänden, mit den 
Schanktischen in Dunkel versunken, während die silbernen 

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I 



Leuchter mit ihrem hellen warmen Schein nnd dem bläulichen 
Duftkreise darüber der Ecke hier eine feierliche Bedeutung 
gaben, als sei ein Stück großer, ferner, wunderbarer Welt, ein 
Konzertsaal, gar eine Bühne hinter einem aufgezogenen Vorhang 
eröffnet. Sowohl die Gestalt des jungen Mädchens, das diese 
beiden Leuchter wie eine edle, schier beflügelte Botin durch 
den dunkeln Raum getragen hatte, als jetzt die der älteren Frau, 
welche unter Notenblättern wählend stand und deren Züge 
durch den warmen Glanz des Lichtes und durch die eigentüm- 
liche Spannung etwas groß Zusammengefaßtes bekamen, schie- 
nen Hermann wie beim ersten Anblick nur jetzt noch vielsagen- 
der einen Sinn und eine Würde auszudrücken, die anderen 
Menschen einer anderen Art und Sitte vertraut und zugehörig 
war. Es fiel ihm nur das eine abgegriffene, durch die Über- 
raschung und Wahrheit des Anblickes selbst in seiner Bedeu- 
tung bestätigte Wort ein: „Die Welt der Kunst u 
Nach einigen Akkorden des Flügels, welche markig und wie 
aus einem urkräftigen Körper dringend, ein edles Instrument 
verrieten, begann die Sängerin, die groß und ruhig dastand und 
deren Züge mit einemmal ebenmäßig, fast schön wurden, eine 
fremde italienische Arie zu singen, von der Art, mit welcher 
die Sänger gern beginnen, um ihre Kehle zu befreien und zu 
lösen und gewissermaßen mit dem Auf und Nieder der Töne 
auszugurgeln. Aber wie rasch beherrschte diese Stimme, ein 
aus tiefer Brust quellender dunkler Sopran, wie ein glühender 
Sommertag unter tiefen Urwaldschatten, die Kaskaden von Tö- 
nen und schwebte über ihnen, wie ein Geist über den Wassern, 
wie flötete alle diese Lieblichkeit und Buntheit aus dem Munde 
der Frau, die singend, diese kostbaren Triller, Läufe und Scherz- 
chen, dieses kleine Spielwerk irgend eines alten Italieners mit 
ihrer bewegten, lächelnden, wieder schwermütigen, alle Gedan- 
ken und Regungen still ausdrückenden Miene, einem gewalti- 
gen, von einem großen Schöpfer aus Erz gebildeten Dämon, 
einem Boten glich! Einem Boten der Leidenschaft und der 
Kunst, denn ihre Gestalt schien von der vorwärts drängenden, 
gebieterischen Musik bewegt, sie stand vorgebeugt, als würde 
sie im nächsten Augenblick mächtig dahinschreiten, darauf durch 
die größere Steigerung der Leidenschaft, wie ihrer anschwel- 
lenden, das ganze Wesen über sich hinaushebenden Stimme 
gar vom Erdboden gehoben, durch den dämmernden Raum in 

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ein Jenseits getragen werden, woher diese Stimme kam, wovon 
sie Zeugnis gab und nach dem sie als nach dem einzigen Ur- 
sprung hinstrebte. 

An dem Gesichte konnte man unter allem Fluten und Rauschen 
des vom Pianoforte mächtig begleiteten, angetriebenen und ge- 
steigerten Gesanges erkennen, wie es, einer niederen, derberen 
Welt nach Bau und Umriß angehörend, durch den Inhalt und 
höheren Geist der Stimme verändert und umgebildet wurde, 
so daß die Züge Adel und Ahnung einer Welt und Seele be- 
kamen, deren Ruf in diesen Körper verbannt war, wie je und 
je Himmliches, Jenseitiges ins irdische Gefäß. 
Als diese Arie aus war, schwiegen alle beklommen und be- 
glückt 

Die Sängerin aber, wider Willen zuerst, nun in ihr eigenes, 
wahres Element versetzt und mit erwachender Leidenschaft, 
diese aufrührerisch herrliche Flut zu bezwingen, fuhr unaufge- 
fordert zu singen fort: erst Opernarien der verschiedensten 
Herkunft und Stimmung, vorwiegend leidenschaftlich düstere, 
die wie Rufe der Bezauberung und Schwermut die Gebunden- 
heit der Kreatur durch die ausbrechende Fülle der Äußerung 
zugleich schmerzlich auszusagen und gewaltig zu erlösen schie- 
nen, dann Lieder, die mannigfache Zustände des Gemütes im 
engsten Gehalt lieblich oder großartig erschlossen, wie Schu- 
berts ungeheure „Gruppe aus dem Tartaros" oder als Gegen- 
spiel die heiter und wieder wehmütig, immer aber leicht und 
ziervoll hinwandelnden Müllerlieder, aus denen der Geist dieser 
nächsten Landschaft und ihres mitströmenden Wassers be- 
ziehungsvoll schalkhaft zu singen schien. Bei diesen leichteren, 
kindlicheren Gesängen bekamen Stimme und Gesichtsausdruck 
der Sängerin etwas freundlich Junges, irdisch Munteres, als sei 
sie um viele Jahre in eine glückliche, nie gelebte, doch immer 
im Geiste gehegte Art rückversetzt, selbst die liebliche Mülle- 
rin, die einen Wanderburschen begeistert, neckt und zu aller- 
hand Bekenntnissen nötigt. Wie rauschte der Bach, wie schwoll 
das bewegte Wasser, wie lachte und weinte das ewig junge, 
menschliche Herz in dieser dunkelhellen Stimme, wie neigte 
und bewegte sich diese hohe, schwere Gestalt in dem schwar- 
zen, halb bäuerischen, halb städtischen Kleide und wie kind- 
lich leuchtete der Blick dieser allwissenden Augen, an deren 
Winkeln schon manche Runzel stand, wie schienen diese 

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lächelnden Lippen noch Freude und Huld und Wehmut und 
Stolz von achtzehn Jahren zu verheißen! 
Zum Schlüsse sang sie, wohl um alle früher ins Ungeheure ent- 
fesselte Leidenschaft zu besänftigen und in ihrer Brust mählich 
zu bergen und einzuschließen, die sapphische Ode von Brahms, 
und ihre Seele versank langsam in der Schwermut dieses un- 
vergleichlich anmutig getragenen Liedes wie eine glühende 
Sonne im Meere. So war edler Schmerz zuletzt in die gebän- 
digte Fassang eines griechischen Rhythmus, wie die Gestalt 
einer großen Göttin in das feingeschnittene Rund einer Kamee 
gepreßt, Unsterblichkeit in Wort und Ton weniger zier- und 
sinnvoller Zeilen, eine große Seele in ein kleines Lied, eine 
ganze Welt von Empfindung in eine Ode. 
Und wieder schien, was jede wahrhafte Kunstäußerung unver- 
brüchlich enthält und mitteilt, auch in diesem Abgesang ver- 
wirklicht und von der Sängerin selbst gleichsam dargestellt: 
ihre eigene Menschlichkeit, welche die größte Fülle des Er- 
lebens wirklicher, möglicher oder durchempfundener Geschicke, 
eine ungeheure Spannweite des Daseins umfaßte, enthüllte und 
nun, am Abend, noch einmal, wunderbarer als je, aufglühend, 
in dieser ländlichen Einfalt wie in den höchsten, wenigen Zeilen 
und Takten eines Liedes untertauchte. 

Als sie schwieg und das Ende ihres Singens damit bezeichnete, 
daß sie die Noten zusammenlegte und sachte den Deckel des 
Flügels zuschloß, war es draußen bereits ganz dunkel, nur die 
Sterne der Juninacht blickten durch das Fenster, und man hörte 
auf einmal das rauschende Wasser des Flüßchens wieder spre- 
chen und wandern und etwa ein leises Sausen der Baumwipfel 
unter gelegentlichem Hauch des Windes. — 

12. 

Hermann unterlag einer eigentümlichen Bezauberung, so oft er 
des Hofes dieser beiden Frauen und ihrer „anderen Welt 4 * 
dachte und so oft er sich Reden und Gebärden des jungen 
Mädchens vergegenwärtigte und wie sie ihn durch diese ihre 
Welt geleitet hatte: unbefangen und heiter, aber fremd. Wie 
ein zehrender Durst zog es ihn aus seiner Einsamkeit nach 
dieser Frische, er konnte der Einladung nicht widerstehen, mit 
der ihn Frau Rainer damals entlassen hatte, er möchte wieder- 
kommen, wann und so oft er nur Zeit und Lust hätte. 

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Auch der Onkel, dem er von dem Besuche ausführlich berichtet 
hatte, munterte ihn dazu auf, denn er hielt diese erfreuliche 
Unterbrechung des landstadtischen Alltagslebens für wichtig und 
heilsam genug bei einem aus der Großstadt verbannten jungen 
Menschen und freute sich, wahrzunehmen, wie die unverhoffte 
Begegnung den Neffen im tiefsten belebt hatte. 
So besuchte Hermann denn wiederholt diesen Hof, der ihm 
zwar vertraut, aber darum nie gewöhnlicher wurde, vielmehr 
immer eine fremde Welt blieb, die ihn zutraulich empfing, ohne 
daß er sich bei ihr als ebenbürtig fühlen konnte. 
Agnes fernes Bild war in ihm nicht verblaßt, aber es bekam 
fragwürdige Züge, wie er sie an sich selbst fürchtete, bedauerte, 
haßte. Er hielt die Gestalten von Agnes und Gisa im Geiste 
nebeneinander. Wie oft betrachtete er diese beiden, in seine 
Vorstellung unauslöschlich gemalten Bilder, die er so deutlich 
unterscheiden konnte, als rührten sie von zwei verschiedenen 
Malern her. 

Agnes glich einer jener berühmten Altwiener Miniaturen, mit 
spitzem Pinsel, zarten Farben und dabei scharfen Umrissen auf 
Elfenbein gemalt, klein und fein im Kleinen : ein Wesen, das im 
Engsten stand und lebte, voll Angst, irgend ins Weitere, Größere, 
in Freiheit, Leidenschaft und Gefahr hinausgerissen zu wer- 
den, ein Schatz, der sich selbst behütet, eine reine, fromme 
Seele, die für ihr Heil zittert. Konnte sie es je fassen, gar da- 
nach handeln, daß eine Güte sich selbst versuchen, daß Leib 
und Seele mit dem Leben wie mit dem Bösen handgemein 
werden müssen, um sich zu bewähren, daß ein Herz erst reich 
ist, wenn es sich verschenkt, selbst wenn es sich hinwirft, daß 
ein Weib sich im Opfer erst gewinnt O welches Maß, welche 
Zucht, welche Sorgfalt in dieser Haltung, in diesem scheuen 
Lauschen, in diesen besonnenen, zierlich-gemessenen Gebär- 
den! War Agnes nicht wie ihr ganzes Haus, wie dieses ganze 
Bürgertum, dem er selbst angehörte, eine gut versperrte Spar- 
büchse, die ihre Groschen ängstlich zusammenhielt und vor 
nichts mehr zitterte, als sich auszugeben? War dieses immer 
so gerühmte Festhalten im Charakter" nicht eine vergeistig- 
tere Form der Selbstsucht? In den Schutz der Schwäche ge- 
dockt, konnte sie nie außer und über sich kommen und gerade 
darum nie zu sich selbst Dennoch ging von diesem Wider- 
streben und bürgerlichen Stolz, von diesem Beharren im Eng- 

*35 



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sten und im dürftigsten Znstande einer geflissentlichen Gefühls- 
strenge ihr eigentümlicher Zauber aus, so daß man Ehrfurcht 
und wehmütige Enttäuschung zugleich empfinden konnte, die ja 
so häufig verschwistert sind. Man mußte Ehrfurcht haben vor 
einem Selbstgenügen, das ein so strenges Maß an die eigene 
Kraft, an den eigenen Geist, wohl auch an die eigene Schönheit 
legte, daß es ihr verwehrte, ins offene Leben sowohl gewäh- 
rend als fordernd einzutreten, wenn auch mehr aus Furcht als 
aus wahrer Bescheidenheit Denn diese Bescheidenheit war 
stiller Hochmut, etwa den Ansprüchen der Freiheit nicht zu 
genügen. Darum lobte sie ihre Knechtschaft 
So schalt Enttäuschung gleich das mitfühlende Verständnis. Aber 
war dieses scheue, keusche Bürgermädchen nicht auch das Bild 
ihres Standes selbst, der sich in aller Not der Zeiten immer nur 
allein seiner Haut erwehren kann, von allen Mächtigeren be- 
droht, das einzige ewige, zugängliche Steuerobjekt, das einzige 
bitter gehorsame Steuersubjekt, auf seine eigene Kraft ver- 
wiesen? Erwirbt eine Generation Geld und Namen, Bildung 
und Behagen, was Wunder, daß ihre ganze Erziehungsmaxime, 
ihr einziger Lebensgrundsatz, ihr eingeprügelter Charakter dar- 
auf beruht: „Erwehre dich, behaupte dich, halte dich zurück, 
verschwende nichts, sei vorsichtig, gib dich nicht preis." 
Aber wie schön, wie betörend schön war diese Kraft der 
Schwäche, diese Haltung und milde Selbstsucht eines jungen 
Mädchens, wie rief sie allen Gegensatz auf, wie zog sie das 
Schicksal anl Sie hatte doch auch einen Schatz von Güte, von 
Klarheit, von bestimmter Anschauung über Recht und Unrecht, 
über Würde und Unwürde; wenn sie etwas sagte und beurteilte, 
war alles geheimnisvoll richtig und unverbrüchlich gesagt, wie 
auf einer Gold wage des Gefühls gewogen. Eine Bürgerin, eine 
Kaufmannstochter, die ihr Wesen, ihre Empfindung, ihr Urteil 
mit dem Lot maß, aber wem sie gab, dem war gerecht gegeben, 
und wenn sie gab, fühlte sich ein Herz mit wenigem reich be- 
schenkt. Sie machte aus Kleinigkeiten Hohes. Ein Blick, ein 
Lächeln, ein freundliches Wort galten so viel, der Gedanke an 
eine Umarmung dieser schlanken Arme, an einen Kuß dieser 
niegeküßten Lippen vollends war unselig unendlich wie die Be- 
gierde, im Augenblick der Erfüllung zu sterben. Aber man 
starb eben nicht, man mußte verzichten und leben, man hatte 
keinen Schlüssel zum steten Uhrwerk dieses holden Herzens, 



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und keine Gewalt konnte es eröffnen, ohne es zu zerbrechen. 
Oh, daß man zu gut war, dieser Güte schlecht zn ton, zu schwach, 
diese Schwäche zu besiegen, zu jung für diese Jugend, zu töricht 
für diese Weisheit! Da hing eine Miniatur und konnte nicht 
zur Lebensgröße erlöst werden, eine Gestalt war in ein winziges 
Bild verzaubert und nie mehr konnte sie aus dem kleinen Rah- 
men in die wirkliche Welt hinaustreten. Es war ein gemaltes 
Schicksal, das kein gelebtes werden durfte, ein sanftes Herz- 
leid, das gleichwohl sehr wehe tat, vielleicht am wehesten sich 
selbst« 

Hinwiederum hing das andere Bildnis kühn gemalt, in einem 
eigentümlichen Zwielicht mit großem Umriß und wenigen, aber 
tief leuchtenden Farben da und schien jetzt und jetzt aus seinem 
Rahmen zu treten und ins Leben zurückzukehren, von wo es 
gekommen war. 

Eine Gestalt, die jung und geschmeidig, doch schier ins derbe 
neigte, zu früher Fülle vor lauter Kraft, aber gleichwohl mit 
einem Erbteil von Feinheit im Gesicht, in dem gewisse, fast 
gemeine, längst überwundene Züge der Mutter durch einen 
edieren Willen, durch eine bedeutende Bewußtheit erhoben 
waren und nun bei so viel Gesundheit und Willen entschlossen 
leuchteten. Augen voll Geist, die alles Gefühl so selbstver- 
ständlich ausdrückten, daß der Betrachter zweifeln mochte, ob 
überhaupt noch Empfindung war, was so verständige Klarheit 
schien, ein großer Mund mit vollen Lippen und blanken Zähnen, 
weiß und wild, gemacht, in die runde Frucht des Lebens hinein- 
zubeißen und müßte es sein, einen Feind, einen Menschen in 
den Hals zu beißen, wenn es zum Kampfe käme, aber der Mund, 
der so lachte, brauchte nicht zu besorgen, daß er je so beißen 
müßte, denn dies ganze Wesen war wahrhaft und geschützt, 
weil es Mut, Aufrichtigkeit und geraden Wandel hatte, so daß 
es nicht leicht einen Bösen fürchten mochte, es sei denn sich 
selbst Wohl aber konnten diese Kraft und Gesundheit leiden 
machen und mitleidlos werden. 

War Gisa schön? Im üblichen Betracht: nein, aber mehr als 
8chön: anmutig, ja groß, so wie ein Gedanke den groben Stoff, 
ein Wille den Körper, der Geist eine Gebärde, die enthaltene 
Welt ein Werk erhaben schön macht 

Die Welt, in der Gisa — obgleich einsam und ihrer Gemein- 
schaft ganz unbewußt — lebte, seine, ihre „andere Welt" 

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kannte keine Wahrheit an sich, keine Ordnung um ihrer selbst 
willen, keine vorgeschriebene Sitte, sondern nur ein Gesetz, das 
durch den einzelnen Menschen zugleich aufgestellt und gerecht- 
fertigt war. Jeder durfte nach solchem eigenen Gesetze handeln, 
aber wehe, wenn er davor nicht auch bestand. Wert und Un- 
wert seines Tuns erwies sich an ihm selbst, nicht an der Hand- 
lung. 

Das Bürgertum maß den Menschen an seinen Taten, seinen 
Wert an der Wirkung, diese Frauen auf dem Hofe maßen aber 
die Taten an dem Menschen, die Wirkungen an dem Werte, 
der sie hervorgebracht, also maßen sie richtig, weil im Nach- 
hinein, zu spät freilich für Vorsicht und Rücksicht, aber so 
furchtbar gerecht, wie das erfüllte Schicksal, das auch nur nach 
dem Manne richtet, nicht nach der Tat. 

Darum mußte dieses Mädchen, das etwas urtümlich Wildes 
und in ihrer klugen natürlichen Anmut etwas großartig Geflü- 
geltes gleich einem Adler hatte, der plötzlich gewaltig aufsteigt 
und ebenso mächtig niederstößt, eher noch zum Schicksal eines 
anderen werden, als selbst eines besitzen. Diese Menschen der 
„anderen Welt 4 *, wie Hermann die beiden Frauen des Hofes 
nannte, konnten nicht unterliegen, selbst wenn sie unglücklich 
waren, weil sie in einer hohen Klarheit des Bewußtseins gingen 
und sich als Stoff der eigenen Gestaltung, als ihr eigenes Werk 
durchschauten. Und darin waren sie wohl arm. Sie konnten 
nichts verlieren, denn indem sie jedesmal alles gaben, fanden 
sie immer alles wieder, sie gingen nicht im Geliebten, auch 
nicht im Leben auf, sondern sie lösten vielmehr das Leben und 
das Salz der Liebe in ihrem Wesen auf, so daß es sie ganz 
durchdrang. So waren sie von Leben und Liebe gesättigt, wie 
die Haut nach einem Bad im Meere von Luft und Salzwasser, 
sie atmeten Fülle, Zuversicht, Leidenschaft aus. Sie zogen 
Leben und Seelen anderer als Opfernahrung wie Götter den 
Rauch der Spenden ein, und daß sie die Opfer mit zustimmen- 
dem Lächeln annahmen, schien Gnade und Gegengabe genug. 
Sie schenkten sich nicht selbst, sondern nur, was der zu fassen 
wußte, der ihnen opferte. Der aber mußte immer sich selbst 
opfern. Sie waren mehr als jeder, der sie liebte, sie herrsch- 
ten, machten Schicksale aus und gingen höheren Wesen gleich 
sogar über dem eigenen Schicksal heiter oder traurig, aber 
immer überlegenen Willens hin. Das eigene und fremde Da- 

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sein lag tief anter ihren scharfen Blicken. Vor ihnen konnte 
Hermann wohl Angst empfinden wie Agnes vor ihm. Wer ge- 
nügte diesem Anspruch, wer wollte von solchem Blick gemessen, 
von solchem Sinn gewogen sein? 

So maß nnd betrachtete Hermann die beiden verschiedenen 
Bilder der beiden Frauenwesen, die er in seinem Herzen trug, 
ohne daß die beiden miteinander selbst um ihn gekämpft hätten. 
Es schien ihm, jede sähe ihm still und nach ihrer Art besorgt 
oder gleichmütig zu, wie er selbst mit sich darum kämpfte, für 
welche er sich entscheiden wolle, die doch beide am Ende von 
ihm gar nichts wissen mochten. An beiden hing er indessen 
mit seinen Gedanken, an der einen als an dem lieblichsten 
Bilde der Welte, der er selbst angehörte und von der er sich 
nur in seinen Gedanken, nicht aber im Leben, in den An- 
schauungen und Gewohnheiten entfernen konnte, an der ande- 
ren aber hing er als an der erhabenen Stimme, die einen Men- 
schen über sein Wesen emporruft 

So oft er an Gisa dachte, fiel ihm das große Bibelwort ein, vor 
dem er jedesmal glücklich erschrak: „Seine Freudigkeit ist wie 
eines Einhorns." 

Das Glück, das Agnes geben konnte, war Sammlung und Ge- 
nügen, was Gisa mitteilte, war „Freudigkeit im Aufbruch". 
Denn die Menschen sind es, die Stille oder Bewegung in sich 
tragen und bringen, wo immer sie leben. 
Er schalt sich wegen dieser inneren Kämpfe, die ihn von einem 
Ufer seines Wesens zum entgegengesetzten, von einer Sehn- 
sucht zur anderen warfen, die ihn so töricht machten, jedes 
dieser grundverschiedenen Bilder mit dem anderen zu verglei- 
chen, Agnes mit Gisa, die Handinngen der einen mit denen der 
anderen, n 

An einem Septembertage, der die Farben mit silbrigem Schein 
der Landschaft entrückte, war Hermann wieder zu einem Be- 
suche auf den Hof gekommen. Als er niemand in der Gast- 
stube fand, ließ er sich das nicht weiter anfechten, denn die 
Frau hatte vermutlich draußen auf den Feldern zu tun, Gisa 
aber vermutete er im Garten. 

So ging er an den zum großen Teil schon abgeernteten und 
umgestochenen, verödeten Gemüsebeeten vorbei, über die Stein- 
stufen durch die Gittertür in den Obstgarten, der in der Fülle 
seiner Früchte stand und im Schein des zerstreuten Lichtes 

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mit der durchleuchtenden Frische seines Laubes und der goldig 
beschwerten .Zweige wunderbarer erschien als je: die höchste 
Freudigkeit der irdischen Vollendung im Abgesang und Auf- 
bruch. Bäume hatten drei und vier Stützen, um unter den 
Lasten nicht zusammenzubrechen. 

Hermann sah sich nach Gisa um und bemerkte sie zuerst gar 
nicht, bis er von ihrem Lachen überrascht wurde, das aus der 
Höhe eines Baumes kam, auf dessen oberster Astgabel sie 
stand und die reifen Zwetschken pflückte. 
„Gut, daß Sie kommen, nehmen Sie den Korb und fangen Sie 
auf, es ist schade, wenn man die vollen Pflaumen herunter- 
schüttelt, sie platzen auf und viele gehen auf dem Boden unterm 
Laub verloren. Ich pflücke sie lieber." 

Eine eigentümliche Verwirrung ergriff Hermann, wie er das 
Mädchen im kühnsten Gleichgewicht und von der Munterkeit 
ihrer Arbeit berauscht hoch oben sah, als müsse er für sie 
Schwindel fühlen, die unbeirrbar stand oder sich auf einem 
starken Ast niederkauerte, um sich zum anderen hinüberzu- 
beugen, wobei sie das schönste Bein sehen und dem jungen 
Mann unten ihre unheimlich herrliche Nähe wie den Hauch 
ihres Körpers selbst mitteilte, aber dabei ahnungslos, unbe- 
kümmert wie die Früchte des Baumes selbst, die darauf war- 
teten, gepflückt, voll kernigen Wohlgeschmackes zwischen den 
Zähnen zu vergehen. „Sie dürfen auch essen, so viel Sie mö- 
gen," rief sie und warf ihm eine Hand voll hinab, selbst welche 
zerbeißend. Er hatte gar nicht Zeit, viel zu überlegen und zu 
schauen, denn sie beschäftigte ihn mit all dem Zuwerfen und 
Hinunterschütteln, so daß er ihre Erscheinung oben in den 
Zweigen, bald in sich gebückt, bald weit hingestreckt, bald ge- 
dreht und gebogen, jetzt langend, jetzt zielend, die vielfältige 
Verwirrung, die von ihrer Gestalt, von dem silberknöpf igen 
Samtleibchen und dem blühweißen Hemde, von dem bräun- 
lichen Nacken und Halse, den lachenden Zügen, den blanken 
Augen und den leuchtenden Zähnen ausging, die Verwir- 
rung, die um das ganze von Zweigen halbverdeckte und halb- 
verratene Frauenwesen im Grünen schwebte, wie das Silber- 
licht dieses hellen Tages über dem Baumgarten, immer nur 
wie im Fluge und Raube wahrnahm und selig beklommen ein- 
atmete, glücklich und begierig, denn in einem reifen, plötzlich 
sichtbar gewordenen Wunsche verspricht sich so viel Genügen 

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und Gerechtigkeit, wie in einer Frucht, die sich unversehens 
aus dem Laube neigt. 

So winken in einem angstbaren Leben, das in seine eigenen 
Zustande wie in eine Tiefe schwindlig hinabzuschauen pflegt, 
die Früchte, bisher unbemerkt unter dem Wandel der Tage, 
plötzlich von oben herableuchtend, erscheinen groß und reif 
und neigen sich gnädig zur zitternden Hand hinab. 
Indem man aber seiner selbst vergißt und zu ihnen zum ersten 
Male hinaufschaut, wird man dessen inne, mehr durch ein woh- 
liges Gefühl des ganzen Menschen, als durch besondere Über- 
legung, daß in dieser Höhe des Irdischen der sichere Angrund 
unserer Füße und Hände ist, sich zu retten. So teilte sich dem 
glücklich Beschäftigten und Verwirrten ein unsagbar angenehmes 
leichtes Gefühl mit, das von dem lachenden, unbesorgten Mäd- 
chen oben, von den unzähligen Früchten im Laub, von dem 
vollen Korb, von den niederfallenden und aufgefangenen Zwetsch- 
ken, von dem ganzen über- und überbehangenen Garten, von 
dem leisen Glanz des Tages ausging, von ihm selbst aber er- 
widert und zurückgegeben, der Stunde einen Hauch und Zau- 
ber der auf sich beruhenden, zeitlosen Vollendung einer in 
einem Augenblick gesammelten Ewigkeit, das Lächeln eines 
seligen Mundes vor dem Kusse mitteilte und die hohe Gewiß- 
heit der glücklichsten Entscheidung. 

Nach vielem Zwetschkenpflücken und zwei vollen Körben, nach 
Zuwerfen, Auffangen, von Obenherlangen und Lachen und von 
Untenhinaufschauen und Taumeln, bis der Baum von Früchten 
ganz befreit war, und Gisa, von Ast zu Ast vorsichtig, als über 
schwanke und gebrechliche Stufen hinabstieg, bis sie abspringen 
mußte, war es nur selbstverständlich und in der Ordnung, daß 
sie, von Hermann aufgefangen, in seinen Armen lag und daß 
sich beide im gleichen Augenblicke küßten, so daß es schwer 
zu entscheiden gewesen wäre, welche Lippen begonnen hatten, 
welcher Mund von den beiden die Frucht war und welcher 
pflückte. Denn in solcher Ernte erntet allzumal nicht bloß der 
Mensch die Frucht, vielmehr ebensowohl die Frucht den Men- 
schen. 

Gleichzeitig stellte aber Hermann in der scheuen Verwirrung 
dieses ewigen Augenblicks seine gute Last ab, als diese selbst 
besonnen auf die Füße zu Boden sprang, beide ließen die Arme 
sinken, erröteten, atmeten schwer und schwiegen so lange, wie 

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eine Pflaume braucht, am von ihrem Ast auf den Boden zu 
fallen. Dann lächelten beide, und da Gisa nun auf der festen 
Erde stand und kleiner war, als der große Junge vor ihr, erhob 
sie, diesmal ganz bestimmt zuerst, die Arme und holte sich ihre 
Frucht von den Lippen des Mannes. In der Folge ließ sich 
dann wieder schwer unterscheiden, wer empfing und gab, wer 
zurückgab und nahm und alles Oberlegen und Zählen und Be- 
denken versank im klarsten Taumel, in der Fülle des Genusses 
und in der Gerechtigkeit einer Stunde, die sich von ihrem Ast 
ernten ließ und selbst ihre Pflücker erntete. 
Darüber schwankte auch ein anderes zartes Bild, immer weiter 
und ferner, das nun wohl nie mehr aus seinem Rahmen treten 
und Mensch und gepflückte Frucht und geraubte Herrlichkeit 
des Augenblicks werden konnte, schwankte wie ein letzter Ge- 
danke, wie eine vergebliche Mahnung und Erinnerung und ging 
unter. Aber nicht ohne noch einmal scheu und zierlich weh- 
mütig und gewissenhaft aus der Ferne zu grüßen, als eine lei- 
seste Stimme und als ein blasses Leuchten. 
Als die Liebenden von ihren Herzen und von dem Stande ihrer 
Gefühle vor diesem Tage sprachen, mußte nämlich Hermann 
von Agnes reden, obgleich er leider so wenig zu bekennen 
hatte, daß er sich beinahe schämte. Denn so gerecht und an- 
gemessen sich das Herz eines jungen Mädchens am liebsten 
als ein allerweißestes und ganz und gar unbeschriebenes Blatt 
für den Geliebten darstellt, der darauf die erste und hoffentlich 
einzige Geschichte zu schreiben hat, so wunderlich einfältig 
sieht — wenigstens für das bekennende Mannsbild selbst — 
ein Jünglingsgewissen aus, das noch gar nichts auf dem Ge- 
wissen hat als eine vergebliche Werbung. 
Mit Spannung sah Hermann auf Gisas Antlitz das Schauspiel 
ihrer ruhigen Empfindung und Lebenssicherheit, als sie diese 
kurze Geschichte einer halb gestandenen und nur halb erwi- 
derten Neigung vernahm. Und es war ihm, als sähe er in ihren 
klaren dunkeln, freudigen Augen nicht nur sein eigenes Spie- 
gelbild, denn was er sagte, war von Mund zu Mund und aufs 
dichteste Aug in Aug erzählt, gehaucht, geküßt und — geschwie- 
gen, sondern als sähe er auch das Bild des fernen, scheuen 
und stolzen Mädchens aus diesem Spiegel mit verzichtender 
Freudigkeit grüßen, endlich in dem aufquellenden Wasser der 
Augen ertrinken und vergehen. 

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Gisa fahr mit der Hand über die Augen, schwieg still und sagte 
erst nach einer Weile: „Die Arme." Dann seufzte sie anter 
einem Lächeln aaf: „ Welche das Glück hat, die führt den 
Mann heim. tf 

Arm in Arm begegneten sie der Matter, die gerade mit einem 
vollen Eimer Milch vorsichtig aas dem Stall in die Küche ging 
und sogleich überblickte, was sich zwischen den beiden Jungen 
ereignet hatte. Sie lachte still vor sich hin und sagte: „Nun, 
laßt es Euch gut sein. So hat die Welt wieder einmal ange- 
fangen. u Damit stellte sie den Eimer hin, wischte sich die 
Hände an der Schürze ab, umschlang dann die Tochter, drückte 
mit der Rechten Hermanns Hand und sagte: „ Werden Sie aber 
auch mit diesem Wildling etwas anzufangen wissen, Mann des 
Gesetzes und der Ordnung? Weißt du denn, Gisa, was alles 
erlaubt und was alles verboten ist? Nun wollen wir uns aber 
einen guten Tag machen und einen Verlobungsschmaus an- 
richten, soweit unser Keller und unsere Küche nur langen." 
Als sie abends wiederum im bläulichen Duftschimmer der 
Wachskerzen an dem weißgedeckten Tische und bei den Rö- 
mern mit gelbem Terlanerwein saßen, lehnte sich die Frau 
Rainer in ihren Stuhl zurück und sprach zu den beiden Kindern: 
„Da wären wir nun am Ende und Anfang, wo mein Faden und 
mein buntgemustertes Dasein ausgewebt ist, während sich das 
Eure daraus von Neuem und Altem anspinnt. Wie gut übri- 
gens, daß du, Kleine, nichts an die Kunst abzugeben und zu 
opfern hast, sondern alles für das Leben und für deinen Mann 
übrig behältst, denn, wie hoch Sie auch, lieber Doktor Hermann, 
den Künstler stellen, so wissen Sie doch gar nicht, wie arm er 
selbst eigentlich bleibt, der alles hergibt und nichts behält, als 
die harten Schalen alier süßen Früchte. Gut, daß du, Gisa, 
dich nicht täglich auszuhöhlen und darzubieten brauchst, um 
den Menschen einen Spaß und eine vermutlich vergebliche 
Stunde des Genusses zu gewähren. u 

„Es hat mich schon längst gewundert," sagte Hermann, „daß 
die Tochter einer solchen Mutter so ganz ohne die Gabe der 
Musik und ohne Trieb zur Ausübung irgend einer Kunst durch 
die Welt geht" 

„Ihr wächst alle Kunst sozusagen nach innen ins Herz und in 
den Geist, lieber Freund, und verwandelt sich in lebendiges 
Leben. Sie selbst, der ganze Mensch, das ganze junge Frauen- 

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zimmer ist darum eben völlig das, was sonst erst durch die 
Kunst qualvoll angestrebt wird. So kann sie — hoffentlich — 
glücklich werden und glücklich machen, ohne die Qual der 
Sehnsucht und Enttäuschung, ohne den ewigen Verzicht auf 
Erfüllung, durch sich selbst — nicht durch einen Schein. Denn 
die Seligkeit, die ein Künstler durch seine Leistung mitteilt, ist 
nicht nur ihm selbst, sondern auch den Menschen, denen er 
sie gibt, bloß eine tiefe furchtbare Sinnestäuschung, entsetzlich 
herrliche Fata morgana. Man dürstet in der Wüste und sieht 
eine wunderbare Oase mit Datteln und steinernen Brunnen. 
Aber es ist nichts als geträumtes Wasser und gewünschtes 
Wunder." 

„Doch wüßte ich nichts Edleres, als in der Sehnsucht seinen 

Durst zu stillen, denn das bedeutet alle Kunst" 

„Nun, dann heiraten Sie doch besser ein schönes Bild, als 

meine leibhaftige Tochter,** lachte Frau Rainer. 

„Warte nur, Gesetzverdreher, ich werde dir den Eimer nach 

Wunsch höher hängen ! a 

„Laßt es Euch im einfachen Wirklichen froh ergehen. Was 
ich von mir auf dieses Kind vererbt haben möchte, das ist die 
Art zu leben und zu sein, die der Künstler findet und mitteilt, 
der Sinn, aus dem alle Kunst wissend frei wird und auch andere 
befreit Ich bilde mir ein, es könnte Menschen und eine Er- 
ziehung geben, die ein Leben möglich machten, das so natür- 
lich Kunst wäre und ausdrückte, daß es der Kunst selbst nicht 
mehr bedürfte. So wie ich mir auch denke, daß man am besten 
ohne Wein trunken sein könne.** 
„Vor Glück,** sagte Hermann; 
„oder vor Leid,** antwortete Frau Rainer. 
„Da es aber unter Verlobten üblich ist,** fuhr sie fort, „daß 
man sich das beiderseitige Soll und Haben, Vermögen, Her- 
kunft, Eigenschaften und so weiter, so aufrichtig wie möglich 
vorrechnet, wollen wir es denn auch tun. Von Ihnen ist uns 
längst bekannt, was Sie sind und können. Sie haben uns nichts 
Neues aufzuzählen, höchstens zu zeigen, was Sie etwa in Zukunft 
Verschwiegenes oder Verheimlichtes noch hervorholen könnten. 
Da Sie aber dieses junge Geschöpf hier von einer immerhin 
wunderlichen Mutter und aus nicht ganz gewöhnlichen Verhält- 
nissen nehmen wollen, die Reichsgräfin Adalgisa Hartenbach 
zu Grasegg und Hohenbühl, denn so heißt sie von Rechts und 

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Vaters wegen, so sollen Sie sie doch genan besehen nnd wissen, 
wen Sie mitbekommen. tf 

„Gelt', da schaust du?" lachte Gisa, „für was so Vornehmes 
hättest du mich nicht gehalten. Aber ich lasse mich schon zu 
dir herab von meinem Zwetschkenbaum. u 
„Ja, wenn es ans Bekennen geht, kommt manches zu Tag, und 
besser, man sagt es gleich, als man muß später mit der Farbe 
heraus, wenn das Leben einen Menschen längst wie ein schlecht 
gefärbtes Tuch ausgewaschen und verschlissen hat Also hören 
Sie, was ich Ihnen jetzt von mir, von uns zu erzählen habe. 
Ich, die Mutter, Reichsgräfin Hartenbach zu Grasegg undHohen- 
bühl, besser, oder wie Ihr Juristen sagt, vulgo, soll wohl heißen 
insgemein, die Rainer Gustl, bin nicht aus einer schönen Stamm- 
burg, aus irgend einem Raubritterschloß Grasegg oder Hohen- 
bühl, sondern aus einem wirklich und wahrhaftig erbärmlichen 
Winkel von Wien hervorgekommen, aus einem jämmerlichen, 
muffigen Vorstadthause, wo meine Ahnen, will sagen, meine 
Herren Eltern, denn unsereine zählt nicht bis zu den Großeltern, 
Hausbesorger waren, rohe, arme, bettelhafte Leute unter noch 
ärmeren, die dort zur Miete und Aftermiete wohnten. Ich habe 
nur gerade die Volksschule besucht und zwar einen ganz an- 
stelligen Kopf zum Lernen gehabt, aber leider keine Zeit dazu, 
denn ich mußte für die Mutter Zeitungen austragen, Botengänge 
tun, einkaufen oder daheim die jüngeren Kinder warten und 
Essen wärmen, denn wir waren unser acht Wo mein edles Ge- 
schlecht heute lebt, ob es noch lebt und wie, weiß ich nicht, 
denn es gibt kein adeliges Taschenbuch für diese hausmeiste- 
rischen Familien. Ich habe in der Schule viele Anstände gehabt, 
weil ich immer zu spät kam oder auch gar nicht, und mein Ab- 
gangszeugnis war nicht berühmt Wenn man Schreiben und 
Lesen nicht später sozusagen von selbst erlernen würde, könnte 
ich es noch heute nicht Nur singen konnte ich und sang da- 
heim in dem Kellerloch von Wohnung, auf der Straße bei mei- 
nen Wegen, beim Stiegenkehren, Gängewaschen, beim Kinder- 
hüten und Kochen, in der Früh und bei Nacht Ich sang, wie 
ein anderer denkt, nicht einmal immer Lieder, sondern irgend- 
welche Töne, hoch und tief, in weiß Gott welchem Zusammen- 
hang. Ich muß wohl eine Riesenstimme gehabt haben, die 
nicht umzubringen war, wenn ich sie mir damals, gerade in der 
Entwicklung, nicht zuschanden geschrieen habe, wo man von 

Stoessl, Du Hau* Erath IO 14$ 



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Rechts wegen am allerbesten den Mund halten soll. Ich war 
auch sonst gesund und viel derber und herber, als ich vermut- 
lich jetzt noch ausschaue, und gesprochen habe ich so, wie mir 
ein schmutziger Schnabel in Lerchenfeld gewachsen war, ge- 
schimpft wie eine öbstlerin, gestrolcht bin ich wie ein Strizzi 
mit Strizzis, nur gerade gestohlen habe ich nicht. Aber auch 
das wohl nur aus Zufall, imstande wäre ich es schon gewesen, 
und gebraucht hätte ich es auch. 

Und ein Zufall war es, daß ein Gesangsstimmenhausiercr eines 
Tages meine Stimme hörte, einer von den vielen sogenannten 
Professoren, die in Wien herumlaufen und dem lieben Herrgott 
den Tag, stimmlosen Trotteln das Geld aus der Tasche ziehen, 
indem sie sich ihren Erzieherberuf und den Trotteln künftige 
Riesengagen und einen Ruhm über zwei Welten einreden. Sind 
die armen Opfer so lange gestimmt und ausgebildet worden, bis 
ihnen kein lucketer Kreuzer mehr aus dem Börsel zu ziehen, 
ist, so werden die armen Stimmviecher an die Oper nach Sankt 
Pölten oder Proßnitz entlassen, und dann fängt der Kunstjam- 
mer an. Aber gerade diese Hauptschwindler, die vom Schwin- 
del besser leben, als jemals die Anständigkeit von der Arbeit, 
brauchen wenigstens einmal in ein paar Jahren eine wirkliche, 
wahrhaftige Stimme, die für sie Reklame brüllt und trillert, die 
über eine ganze Stadt ihren Lehrernamen ausruft und neue 
Gimpel anlockt Daß diese abgefeimten Gauner sich von den 
armen Mädchen noch ganz anders als mit den Sparkreuzern 
bezahlt machen, versteht sich von selbst 
Ein solcher Gesangsmeister und Stimmwucherer „entdeckte" 
auch mich. Er hatte sich dabei ganz großartig: „Du mußt dich 
zuerst einmal sauber waschen, Kleine, u dabei mußte der Zwerg 
zu mir kleinen Riesin schief hinaufsehen, durch zwei Brillen- 
gläser noch dazu, „Deine Haare, schöne schwarze Haare, mir 
scheint, mußt du sogar mit Petroleum waschen, man kann nicht 
wissen, sie kommen mir verdächtig vor, und dann lass' ich dir 
Kleider machen, Wäsche bekommst du auch, ich besorge sie 
aus dem Versatzamt 41 Wie sollte ich das alles aufbringen, Zeit 
zum Baden, zum Frisieren und Geld für Kleider, für Wäsche 
aus dem Versatzamt und so weiter? Nichts leichter als das. 
Dieses Anfangskapital würde er mir vorschießen. Gott würde 
es ihm schon einmal lohnen, so wahr er dastehe, nun, Gott 
hat es ihm gelohnt Und wie sollten meine Eltern ohne meine 

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Hilfe aaskommen und ohne meinen Verdienst? „Auch das ma- 
chen wir, da wirst Kostgeld zahlen. Ich strecke es vor. Ich 
habe nun einmal ein so weiches Herz, ich kann keine gute 
Stimme hören, ohne für sie meinen letzten Gulden herzugeben, 
Gott ist mein Zeuge. Nun, Gott war sein Zeuge und vorsichts- 
halber noch ein Notar, der es unbedenklich schwarz auf weiß 
| niederlegte, daß Fräulein Rainer so und so viel in Barem von 
Herrn Professor Jacques Urmetzer bezogen, so und so viele 
Singstunden zu einen Preise von so und so viel — zu einem 
recht fürstlichen Preise — zu bekommen habe, dazu noch 
weitere Unterstützung von so und so viel im Monat, welche 
Gesamtsumme ich unmittelbar nach meinem ersten Engagement 
monatlich von meinem Sold abzuzahlen haben würde. Von 
dem verbleibenden Reste meines Einkommens hätte ich dann 
fünf Jahre lang fünfundzwanzig, weitere zehn Jahre lang zehn 
vom Hundert an ihn abzuführen." 

»Nun, hat der Herr Professor diese Lebensrente genossen ?" 
fragte Hermann. 

«Das will ich meinen. Vielleicht lebt er noch heute davon, 
wenn er nicht schon gestorben ist.** 

»Sie waren aber damals doch minderjährig, so brauchten Sie 
den Wuchervertrag nachher nicht anzuerkennen. u 
n Wohlgesprochen, Mann des Gesetzes, aber so gescheit war 
das „Schackerl" auch, so nannte man diesen Menschenfreund 
und Stimmenjäger oder diesen Menschenjäger und Stimmen- 
freund. Er ließ den Vertrag zur Sicherheit auch von meinem 
Vater, als von meinem natürlichen Vormund, unterschreiben, und 
ons allen war so taumelig zumute von dem vielen augenblick- 
lichen Geld und Vorteil und von der so großmütig vorausbe- 
zahlten Zukunft, daß wir selbstverständlich aus den freiesten 
Stücken dabei waren. Fragt sich sogar, ob man nicht auch 
bei besserem Verstände in gleicher Lage noch einmal das 
gleiche täte, wäre das Schackerl nur nicht ein so widerwärtiger 
Kerl gewesen, man hätte ihm sogar für den Wucher dankbar 
sein können, aber dazu muß eben der Wohltäter auch entspre- 
chend menschenmöglich sein. Deshalb ist ja die Dankbarkeit 
so selten, weil die Wohltäter zumeist so schäbig sind, übrigens 
auch die Empfänger, will ich zugeben. Kurz und gut, das 
Schackerl hat mich ausgebildet, das beste daran war eigentlich, 
daß er mich ungestört hat singen lassen, wie meine Stimme 

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gewachsen war, das tat er nämlich aus Grandsatz nnd Kot- 
wendigkeit bei allen seinen Schülern, denn von der Bildung 
einer Stimme, geschweige denn von Musik hat er so wenig ver- 
standen wie ein Wolf oder Schakal. Er hat nur den Ton 
einer Brust, eines Kehlkopfs und der Stimmbänder wittern 
können wie der Wolf oder Schakal das Blut seiner Opfer. No- 
ten habe ich lesen und mit dem Orchester auskommen lernen, 
und die paar notwendigen Gebärden, das unerläßliche Augen- 
verdrehen und Stehen und Gehen hat er mir auch beigebracht 
Nach drei Jahren, mit kaum zwanzig war ich in der Oper und 
stolz auf meine Kunst 

Was hab' ich damals von der Kunst verstanden und mit ihr 
angestellt? Mich gehen lassen, im Singen wie im Leben! Bei 
dem anfangs mageren Einkommen, auf das der Schackerl pünkt- 
lich seine Hand legte, kam ich gleich auch halshoch in Schul- 
den, denn aufzuhauen und großzutun, dazu war ich ausgebildet 
und eingebildet genug und hielt mich für das höchste Leben 
nicht nur berechtigt, sondern als Künstlerin sogar dazu ver- 
pflichtet Fahren und reiten, Juwelen, Blumen, kostbare Kleider 
tragen und mit allerhand Leuten zechen, die sich auf einen an- 
gehenden Ruhm setzen wie Fliegen auf ein Stück Zucker, sich 
den Tag lustig machen und die Nacht kurz, das hielt ich alles 
für den Beweis meiner Kunst Sie glauben, ich hätte viel ler- 
nen, üben und mich gelegentlich einsperren oder schonen 
müssen? Im zweiten Treffen, wo ich damals noch stand, sang 
man ohnedies nur die Rollen, die man längst einstudiert hatte, 
das sogenannte „stehende Repertoire, a und trat ein- oder zwei- 
mal wöchentlich auf. Die ganze Zwischenzeit blieb für das 
Leben übrig. Das Leben war die Kunst, die Kunst war das 
Leben, ich, ich wüstete mit beiden als die wilde Vorstadthaus- 
meisterische und ahnte nichts von beidem, sondern tobte meine 
Natur aus, indem ich sang, aber auch indem ich lebte. Schak- 
kerl, mein Wucherer, saß mir freilich im Nacken, denn er fürch- 
tete für meine Stimme und meine Zukunft War die Stimme 
vor der Zeit hin, wo blieb seine Rente ? Auch wie ich sang, ge- 
fiel ihm nicht, wenn er mir auch nicht genau erklären konnte, 
warum. „Du hast keine Seele, keinen Schmelz, kein Herz, 
meine Liebe. Du singst wie eine Kuh," sagte er. Das beleidigte 
freilich meinen Künstlerstolz. Wie eitel Sänger und Schauspieler 
auch sind, einen gerechten Tadel verschlucken sie wie eine 

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bittere Pille, als müßten sie das Unmögliche möglich machen. 
Aber der Schackerl konnte mich nichts mehr lehren, am wenig- 
sten den Schmelz. Wenn er einem eine Stelle gefühlvoll vor- 
machte, mußte man sich vor Lachen biegen, oder vor Ekel. In 
mir selbst hatte ich schon Gefühl, Leidenschaft genug wie ein 
wieherndes Tier, wie eine ungebändigte Stute, nicht wie eine 
fromme Kuh. Das kam aber alles nur eben roh und unförmlich 
heraus als ein ungeordnetes, verzehrendes Feuer, als ein melo- 
discher Lärm, als eine singende Katastrophe, mit einem Wort 
als Natur und Element, nicht als Kunst, denn sie ist immer 
mehr und immer weniger als Natur, ist Gleichmaß und tiefes 
Wissen um jedes Gefühl, ist beherrschte Leidenschaft, ist über- 
bautes und gelenktes Element, verflucht und gesegnet in Einem. 
Ich sang die Kompositionen, die eben diese gewissermaßen ge- 
bildete und erhaben bewußt gewordene Natur selbst sind oder 
sein sollen, nicht anders, als wie ich vordem auf der Gasse 
Töne zusammenhanglos hinausgeschrieen hatte. Ich sang nicht 
Zusammenhänge, sondern Rufe. Daß ich dabei nicht lediglich 
schrie, wie ich hausmeisterische oder schnaubende Bestie ei- 
gentlich hätte schreien müssen, war eben nur der Stimme zu 
danken, die irgendwie als Sinn, als Geheimnis und gerade 
Flamme aus mir herausschlug, und die nicht nur ich selbst, 
sondern alle Leute schon für Kunst an sich hielten. 
Kunst aber ist Geist, nicht Material, ist Mitteilung, nicht Laut, 
ist Sprache, nicht Schrei. Diesen Geist, oder was der Schackfcrl 
unter dem „Schmelz" verstand, wollte ich durch das Leben er- 
setzen oder erzwingen. So viel Leben und Leidenschaft mußte 
doch endlich Kunst ergeben! Während ich aber so wüstete, 
war mir wieder die Kunst höchst gleichgültig, und ich habe ei- 
gentlich immer nur unter ihrem Vorwande meiner unbändigen 
Natur nachgegeben, denn ihr Zwang war meine Ausrede, wie 
sie ja immer die Selbsttäuschung und den Betrug aller Pfuscher 
ausmacht, die ihre Selbstverständlichkeit hätscheln, anstatt das 
Unmögliche zu erreichen, denn nur das ist Kunst. Aber meine 
Riesenstimme, die bei allem Treiben nicht nachgab und weg- 
schmolz, sondern standhielt, ja immer reiner und voller wurde 
wie eine durch den Brand eines ganzen Wesens verstärkte Flam- 
me, trug mich in wenigen Jahren an die erste Stelle hinauf und 
meinen Namen durch die Welt, den Hausmeisternamen Rainer 

GustL 

149 



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Immer sang ich angeheuer, aber auch wie ein Ungeheuer, und 
mehr als die sieben Gebärden meiner Schule verstand ich 
nicht zu machen, in welcher Tracht ich auch steckte, als Ro- 
kokodame oder als französische Prinzessin, als Zigeunerin, 
Bäuerin oder Griechin, neckisch oder wild, heiter oder düster, 
jeder kennt ja diese sieben Gebärden des Opernsängers. u 
Damit machte sie gleich auch zur Belustigung des Paares mit 
den entsprechenden Mienen die gemeinten sieben Bewegungen. 
„So dumm war ich freilich längst nicht mehr, daß ich nicht ge- 
wußt hätte, wie einfältig diese sogenannte Kunst eigentlich war. 
Steckt eine Natur so recht in ihrer Zwangsjacke, so möchte der 
Mensch schon aus seiner Haut fahren, die sich immer und ewig 
dorthin schleppen muß, wo es nichts mehr zu holen gibt So weit 
war ich schon, daß ich wußte, was ich alles nicht wußte, aber 
das half mir leider gar nicht, auch nur ein bißchen mehr zu 
können, als ich konnte, denn schließlich kann man in der Kunst 
nicht um ein Quentchen mehr, als man — ist. 
Je mehr ich verdiente, desto mehr Schulden machte ich und 
warf mein erspieltes Geld ohne Freude und ohne wahren Ge- 
nuß und fast wie ein gerechtes Opfer zum Fenster hinaus. 
Als Kammersängerin und in der Hofoper machte ich tagtäglich 
die Bekanntschaft vornehmer Leute, die meine Gesellschaft 
suchten, denn sie glauben in den Künstlern immer etwas Be- 
sonderes zu finden. Sie wissen doch von der Kunst nur das, 
w«s sie von den Künstlern sehen, und meinen denn auch, die 
Kunst selbst in der Hand zu haben, wenn sie den Künstler an 
der Falte fassen. Meiner Eitelkeit war damit freilich geschmei- 
chelt Auch war es üblich und gehörte sozusagen zum eigent- 
lichen Erfolg einer ersten Sängerin, daß sie einen Grafen fand, 
der ihren Namen wegnahm und einen höchsten dafür hergab, so 
tauschen beide ihre Armut aus. Meiner damaligen Dummheit er- 
schien es freilich großartig, in der sogenannten allervornehmsten 
Gesellschaft, wenn auch mit gewissen Seitenblicken einer vor- 
urteilslosen Nachsicht aufgenommen zu werden und eine Rolle 
zu spielen, die ich ebensowenig spielen konnte wie meine an- 
deren. Aber schließlich kommt man auch im Leben mit sieben 
Gebärden fort Nun war unter den vielen alten und jungen, 
reichen und armen Adeligen, die mir huldigten, einer, der mich 
reizte, sowohl wegen seines alten Namens, als auch, weil er sich, 
merkwürdig genug, nicht um meine Person, sondern nur um 

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meinen Gesang za kämmern schien, der ihn wohl durch den 
Klang, durch gewisse sinnliche und jenseitige Schwebungen der 
Stimme und durch eine geheimnisvolle Beziehung zu seinem 
eigenen innersten Wesen bezauberte. Denn wenn irgend etwas 
an einer nicht einmal hübschen Frau, der Gang, ein Zug um 
den Mund, die Art zu blicken, die Linie der Schulter, einen un- 
erklärlichen Reiz ausübt, um wieviel mehr darf man glauben, 
daß durch eine Stimme eine vollkommene, magische, geister- 
hafte Bezauberung ausgeübt werden kann. Eben dieses Etwas 
in meiner Stimme fühlte der Graf Hattenbach wie eine herr- 
liche unentrinnbare Qual, während ich selbst, mein Körper, mein 
Wesen und Benehmen sonst ihm fast gleichgültig waren oder 
es bald wurden. So wenigstens erkläre ich mir heute sein Ver- 
halten zu mir, das wehrlos und gebunden meiner Stimme folgte, 
ohne mir selbst gegenüber aus einer demütigen Ruhe und er- 
gebenen Gelassenheit herauszutreten. Vielleicht liebte der ver- 
zärtelte und durch ein altes Geschlecht etwa von langen Ahnen 
her ausgeschärlte und ausgesündigte Mensch in dieser Stimme 
das, was sie eigentlich bedeuten sollte, wenn sie es auch ver- 
fehlte: die Kunst, die sie versprach, zu der sie verpflichtet war. 
So hing er dieser Stimme an und folgte ihr stumm, gefesselt, 
wohin sie ihn rief, wie der Nachtwandler dem Monde über alle 
Abgründe folgt, denn ich gab mir keine Mühe, mich vor ihm 
zu verstellen und etwa besser zu machen. Er konnte, wie jeder- 
mann, wissen, daß ich der Würde dieser Stimme unwürdig war. 
Und so zwang ich ihn durch diese Stimme, weil ich seinen 
Namen, aber weil ich auch ihn selbst haben wollte, der sich 
dessen innerlich und äußerlich sträubte. Was viele im Flug und 
von der Gunst einer Stunde ohne Opfer erreichten und wieder 
ließen, ohne daß mir oder ihnen dabei ein Leid geschah, das 
wollte ich ihm als Schicksal und Verhängnis in einer Ehe als 
Höchstes geben, denn war meine erdgeborene, dröhnende 
Bestie von Stimme Herrin über ihn, so war seine rettungslos 
vornehme, schutzlos verhaltene Art, die nur meinen Gesang 
faßte, über mich selbst aber wie ein bedeutungsloses Instru- 
ment hinwegsah, Herr über mich. Ihn wollte ich gewinnen, 
seinen Namen, aber auch den Mann durch mich, durch das 
Weib, durch meinen unbändigen Körper, durch meine Leiden- 
schaft, durch alles, was ich außer dieser verfluchten Stimme be- 
saß. War ich denn nicht wild und reich auch ohne diese Stimme? 

I5i 



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So habe ich ihn denn geheiratet, denn ich darf wohl nicht recht 
sagen, daß der Gleichgültige, Bezwungene mich geheiratet hat 
Oh diese zwei Jahre voll Qual! 

Wie habe ich um ihn geworben, als ich ihn besaß, und wie bat 
er mich beleidigt, zurückgewiesen, verhöhnt, nicht durch Worte, 
bloß durch seine sich erwehrende, zurückweichende Vornehm- 
heit, als sei jede Berührung mit mir eine Erniedrigung. Wie 
hat mich in seinen Armen nach ihm verlangt, und wie fern lag 
er bei mir. Ich habe diese Stimme verflucht, die ihn angezogen 
hatte und nun nicht festhalten, vielmehr nicht verwandeln 
konnte, diese Stimme, die ihn zwar aus sich selbst reißen und 
über meinen Abgrund von Gemeinheit, denn so mußte er mich 
ansehen, hatte führen, aber seine innere Kälte nicht schmelzen 
und dazu zwingen können, sich mir selbst zu geben. 
Jetzt lernte ich, daß eine Frau vor allem in ihrem Geschlechte 
Künstlerin sein kann und muß, wenn Bewußtsein, Leidenschaft, 
wahnsinniges Verlangen nach dem Unerreichbaren sie antrei- 
ben. So ward ich in diesen Jahren, was ich ah Sängerin vor- 
dem nicht sein konnte, als Weib: Künstlerin. Künstlerin, mich 
selbst tausendfältig zu verwandeln, zu steigern und das eine ge- 
gebene Wesen, das armselige Um und Auf eines weiblichen 
Körpers und Zieles in immer neuen Verwandlungen zu bieten 
und zu versagen, ganz zu geben und, aus tausend Hüllen ent- 
hüllt, neu zu verbergen und zu verheißen, um den Mann aus 
sich hervorzulocken, liebend zu quälen und von sich, für mich 
zu erlösen, zu erlegen. Aber was mich so verfeinerte, daß ich 
aus dieser Leidenschaft seine zuchtvolle, matte Vornehmheit 
verstand und durch meinen Willen mich selber so bildete, daß 
ich ihm nahekommen durfte, was mich so schliff und quälte, 
machte mich ihm wahrscheinlich gerade erst recht zum Ekel. 
War ich wohl niemals eigentlich schön gewesen mit meinem 
rammsna8igen Gesicht und meinem groben Pferdehaar, mit 
dem großen fressenden und singenden Mund, so, glaube ich, 
wußte ich damals doch schön zu scheinen, denn das ist die 
Kunst des Weibes, zumal auf der Bühne, aber auch sonst In- 
dessen muß der Blick willig sein, Schönheit dort zu sehen, wo 
der Schein sie schafft Aber dies alles vermochte nichts über 
ihn, ich stieß ihn ab, und dabei wurde ihm sogar meine Stimme 
gewöhnlich. Ich merkte es, ohne daß er es aussprach, denn er 
war dazu zu lässig oder vornehm oder zu dumm, auch gab er 



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sich über seinen selbstverständlichen Nachtwandel von Dasein 
kaum Rechenschaft. Daß er mich geheiratet hatte, bedeutete 
für ihn nicht mehr als der Anzug, den er anlegte. Was er von 
mir begehrt hatte, war diese tierische Stimme, die aas mir ge- 
wiehert hatte wie der Ruf der Kreatur, zu der zurückzufinden 
seine Not diesen überfeinerten Menschen trieb, wie mich die 
meinige dazu trieb, zu ihm hinaufzuklimmen und aus meiner 
angeborenen Gemeinheit hinauszuwachsen. So verlor er sich 
in ein stilles Trinken, Spielen und besinnungsloses Hinleben, 
er saß mit Pferdeknechten, Roßtäuschern, mit verluderten Hoch- 
staplern in anrüchigen Kaffeehäusern, vor sich hinstierend, und 
ich — begann Musik zu hören. 

Ich fing an zu singen, meine Stimme fing an, aus einer ent- 
setzlichen Herzensangst und Einsamkeit zu fließen und aus 
einer unsäglich verwüsteten, verödeten und entwürdigten Brust 
zu schlagen und dabei aus einem Wissen zu reden, vor dem 
mir graute und das ich für eine Stunde unschuldiger, weil 
dummer Gemeinheit von eh hingegeben hätte. Meine Stimme 
begann geschmeidig zu werden wie mein Körper, der in dieser 
Qual abmagerte, sie konnte nun plötzlich leise klingen, wie ent- 
rückte Flöte und silberne Figuren überlaufen, wie rieselnde 
klare Tropfen oder wieder wie eine angeschlagene Glocke in 
ingrimmiger Seelennot erdröhnen. Auf einmal wußte ich, was 
ich sang, verstand es in allen Beziehungen, die ja nicht gesagt 
sind oder gesagt werden können, sondern .eben durch die Töne 
gebunden und angeschlagen sind, denn Kunst ist nichts anderes 
als verfluchtes, unentrinnbares Wissen um alle Zusammenhänge. 
Man weiß um seinen eigenen lebendigen Tod und um die Er- 
bärmlichkeit, daß man zu diesem Sterben selbst Musik macht! 
Das eigene Leid wollte sich genießen, der Wunsch, der einen 
einzigen Menschen nicht zu sich zu zwingen verstand und sich 
nur an sich selbst stillen durfte, besaß Tausende von weitem, 
indem er sie in der heißen Luft des vollen Saales mit den 
Tönen umarmte. Sogar die Schönheit war von dieser Kunst 
erzwungen, denn in diesen Tagen war ich schön, so wahr ich 
daran zugrunde ging und ausbrannte, ich war schön. Ich konnte 
schön erscheinen, so war ich es! Ich besaß nicht meinen 
Schmerz und Wahnsinn allein, alle Qual und alle Freude der 
Kreatur besaß ich und war ihr armseliges Instrument, an dessen 
Klang und Spiel sie ihre Wirklichkeit in Schein und Schimmer 

J53 



verwandelt sah. Aber das Instrument! Wer fragte nach dem 
Menschen, der in dieser Kunst verging, der sie haßte, verab- 
scheute, denn die Kunst macht den Menschen groß, aber auch 
erbärmlich klein! So wahr es groß ist, mit irgend welchen 
Mitteln allen Sinn und Klang bis aufs letzte auszudrücken, so 
niedrig ist eine Bestimmung, die daraus ein Spiel macht und 
das Bedürfnis dieser Schamlosigkeit hat Die Schamlosigkeit 
der selbstverständlichen Natur, die ihren Trieb auslebt, ist 
schön, ja erhaben. Ich habe einmal eine Geschichte von einem 
Philosophen gelesen, der ein nacktes Liebespaar eng umschlun- 
gen auf den Stufen des Tempels schlafend fand. Zart lächelnd 
bedeckte er die beiden mit seinem Mantel, damit sie nicht 
frören. So hat selbst die gemeine, elende, dreiste, unwillkür- 
liche Natur, je aufrichtiger sie bleibt, etwas Heiliges ; aber die 
Kunst, die aus dieser Natur ein Spiel macht, ihre Geheimnisse 
ausstellt, besingt, davon profitiert und dem Leben nachlauert, 
um es für eine Gebärde, für einen wahren Ton, für eine neue 
Gestalt auszunützen und für die Silberlinge eines schalen Bei- 
falls, sei es der Wissenden, sei es der elenden Unwissenden, zu 
verraten, diese Kunst ist zugleich groß und verflucht klein. Sie 
frißt den Menschen auf, sie verfeinert und schleift ihn so lange 
aus, bis er eben nicht mehr Mensch ist, sondern Spiegel und 
beseeltes Saitenspiel, geschwätziges Gedächtnis, lüsterne Über- 
legung, berechnender Wucher mit dem Gefühl. Da ich die 
Kunst hatte, verachtete ich sie und mich wie nie vordem. Als 
ich mich Mutter fühlte, war eines Tages mein Mann ver- 
schwunden ohne eine Zeile, ohne das geringste Zeichen des 
Abschiedes, er blieb bis heute verschollen. Ich hätte mich 
können von ihm scheiden lassen, aber davor schämte ich mich 
zu sehr, auch wollte ich dem Kinde seinen Namen bewahren, 
wenn es ihn vielleicht einmal besser sollte brauchen als ich, 
die ihn fortan freilich nie mehr führte, sondern den hausmeiste- 
rischen und Künstlernamen der Rainer Gustl behielt Bei der 
Bühne litt es mich nicht mehr lange. Ich sparte mir so viel zu- 
sammen, daß ich dieses Anwesen kaufen und erhalten, die 
Tochter anständig erziehen und nun als ein besseres Kunst- 
und Naturprodukt an den Mann bringen kann, der sie hoffent- 
lich nicht im Nachtwandel, sondern bei hellichtem Tage und 
soweit frei will und findet, als eben unter den Menschen irgend 
etwas frei vor sich geht, denn unter fremden Mächten steht 

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alles, was wir wollen * müssen und tan. Die Kunst aber, die 
dämm weiß, kann ich, seitdem ich um sie weiß, nur mit einem 
leisen Grauen genießen wie einen eisigen, süßen Tod, aber ich 

möchte sie nicht mehr ausüben und über mich herrschen 

lassen, so wahr mir jetzt mein Leben lieb ist M 

13- 

Agnes saß bei Antonien, mit einer Handarbeit beschäftigt Sie 
war seit Hermanns Fortgang in Unruhe oder mindestens, seit 
seine sonst ausführlichen Vertrauens- und hoffnungsvollen und 
immer von einer leisen Huldigung bewegten Briefe seltener, 
kühler geworden und sich immer weiter von ihr entfernt hatten, 
am endlich ganz aufzuhören. Mit dem Fortgange des Freundes 
schien ihr ein notwendiges Element des eigenen Wesens ent- 
zogen, das sie zu ihrer Gesundheit und ihrem Gleichmut ebenso 
brauchte wie Nahrung oder Schlaf. Irgend etwas Drohendes 
oder Störendes versetzte sie in Angst und Unruhe, machte ihr 
das gewohnte, sonst selbstverständliche Leben zuwider und 
störte sie zu einer suchenden Unzufriedenheit auf, die gleich- 
wohl kein Ziel wußte. Auf ihrer häuslichen Stille lastete ein 
Druck, von dem sie sich durch keinen Entschluß befreien 
konnte. Sie spürte ein Dehnen und Ziehen im ganzen Körper 
wie auch in ihren Gedanken, dessen sie sich schämte, und 
worauf sie wieder achtete als auf ein Zeichen, denn seit der 
Freund entfernt und verstummt war, schien es ihr, als sei sie 
die seinige gewesen, ohne daß sie ihn besessen, ein Zustand, 
welcher einem späteren irgendwie geheimnisvoll verwandt sein 
mußte : sie fühlte sich — Weib. Oft genug war sie nahe daran 
gewesen, Hermann zu schreiben, so nahe, daß sie ihr Brief- 
papier hervorsuchte und bereits ihre Feder prüfte. Dann aber 
unterlag sie ihrem alten Widerstand, der Scham, sich selbst so 
verändert zu zeigen und zu bekennen, dem Stolz, der bisher 
ihre Kraft gewesen war, und der Eitelkeit, vor sich selbst und 
vor ihm frei zu erscheinen, was sie längst nicht mehr war. Dann 
erhob sie sich mit allem Aufgebot des Entschlusses, kleidete 
sich zum Ausgehen an und machte stundenlange Besorgungen 
in der Stadt, zwecklose Spaziergänge, am liebsten in den öden, 
traurigen Vorstadtvierteln, wo sie an zerlumpten Kindern, zu- 
dringlichen Bettlern vorüberstreifte und vor der Drohung des 
Neides auf Augenblicke ihre Angst vergessen konnte, bloß 

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indem sie ihren Rock zusammenraffen nnd einer frechen Zu- 
mutung oder einem dreisten Anruf entgehen mußte. 
Amersin kam vom Geschäfte heim. Antonie nahm an ihm, 
dessen Züge sie so genau kannte, eine verlegen lächelnde Un- 
gewißheit wahr. 

„Was hat's denn gegeben, Andreas?" 

„Nun, nichts Besonderes, wenigstens was uns betrifft, doch habe 
ich einen interessanten Brief bekommen. Jemand hat sich ver- 
lobt Ratet einmal, wer? tf 

Antonie nannte verschiedene Namen, auch den des viel um- 
werbenden Florian, Agnes schwieg, errötete, von einer furcht- 
baren Ahnung ergriffen, und flüsterte endlich: „So sage doch 
endlich, wer! tf 

„Unser Freund Ley. Es ist eine merkwürdige Nachricht Willst 
du den Brief lesen?" Damit reichte er ihn der Schwägerin. 
Antonie schaute besorgt auf die Schwester, die zögernd die 
Hand nach dem Schreiben ausstreckte und es dann, tief bis in 
die Haarwurzeln und in den Nacken erglühend und wieder er- 
blassend, las. Sie hielt das Papier noch unverwandt vor die 
Augen, als sie es längst schon fertig gelesen haben mußte. 
Aber sie vermochte wohl nicht mehr zu lesen, denn es schwamm 
ihr vor den Blicken, nur wußte sie kaum um ihre Tränen. 
Endlich fragte Antonie leise: „Darf ich?" und langte nach dem 
Schreiben. Da erschrak Agnes, blickte verstört auf und über- 
ließ der Schwester den Brief, während sie die Augen schloß, 
um nicht gesehen zu werden. 

Amersin trat ins Dunkel des Zimmers, aus dem Lichtkreise der 
Lampe, und lehnte sich an den Kachelofen. 
Antonie las still: „Lieber Amersin! Dir und unseren immer 
noch teueren Wiener Freunden, deren Gefühl für mich freilich 
dem meinen für sie nicht gleichkommen mag, teile ich eine 
Wendung mit, die mein Leben aus seiner ungewissen Pein von 
Jahren, mir selbst überraschend, mit einem Male glücklich in 
eine verheißungsvolle Gegenwart, vor eine ahnungsreiche Zu- 
kunft stellt Ich bin freilich meiner selbst so unsicher gemacht 
worden, daß ich nicht einmal weiß, ob ich würdig bin, geliebt 
zu werden, wie ich geliebt werde, und zu lieben, wie ich lieben 
muß, soll ich so viel unverhoffte, unverdiente und unbedenk- 
liche Hingabe gerecht erwidern. Denn wie tief ein Mensch 
dem andern verschuldet bleibt, der den Entschluß fassen kann, 

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ihn aus vollem Herzen zu lieben, das erkenne ich erst jetzt, da 
ein kühnes, freies Geschöpf mich gewählt, sich zn mir bekannt 
hat. Zum ersten Male wage ich an meinen eigenen Wert zu 
glauben, weil ein edles Frauenwesen ihn bejaht, denn ich hatte 
an mir zweifeln und verzweifeln müssen, der ich mich immer 
zurückgewiesen sah. Nicht ohne Entsetzen habe ich erkannt, 
wieviel kostbare Zeit der Jugend und des aufrichtigsten Ge- 
fühles ich verschwendet und versäumt habe. Mir ist, als sei 
ich Jahre des menschlichen Frühlings hindurch in einer Höhle 
voll Kälte und Dunkel umhergeirrt, jenem einzigen trügerischen 
Lichtstrahle nach, der von weitem schimmerte. Und siehe da, 
wie durch einen Wink des Himmels spaltete sich der Fels, 
aber nicht dort, wo das tauschende ferne Licht glänzte, sondern 
in meiner Nähe, neben mir, eröffnete mit einem Schlage das 
weite blühende Land, und ich stehe inmitten der Herrlichkeit 
mit blöden Augen und weiß nicht einmal, ob und was ich sehe, 
ob ich alles auch als wirklich fassen darf. 
Im köstlichen Besitz einer Liebe, auf die ich weder je zu hoffen, 
noch Anspruch machen zu dürfen geglaubt, möchte ich die 
Freundschaft nicht verlieren, die mir einst als einziger Ersatz 
des höheren Gefühls geboten und zu ihrer Zeit doch etwas 
Großes war, denn sie machte mir Menschen wert und vielleicht 
auch mich ihnen. Daß sie weder mich, noch ein anderes teu- 
res Wesen erlösen konnte, sei jetzt nicht mehr berührt, wo mich 
ein Obermaß des Gefühls besser macht, als ich je sein zu kön- 
nen geglaubt habe. Jetzt darf ich, geliebt und liebend, auch 
Freundschaft annehmen und geben und für gerecht und mög- 
lich halten. So sei sie denn, anders als bisher, angeboten, be- 
wahrt und erbeten. Grüße mir alle Wiener Freunde, alle. Ich 
denke ihrer voll Herzlichkeit und möchte, daß sie so auch 
meiner gedächten. Mehr kann ich heute nicht sagen, denn in 
allem Glück ist mir doch weh zumute, wie einem Menschen, 
der eine Heimat voller Enttäuschung immer noch schwer ver- 
läßt Behaltet in guter Erinnerung Euren treulosen und getreuen 
Hermann. u 

Antonie legte den Brief, als sie ihn zu Ende gelesen hatte, still 
auf den Tisch und griff mit der Hand an ihr Herz. Sie nahm 
dann die Arbeit, die ihr auf den Schoß geglitten war, ein Kin- 
derjäckchen, woran sie ausbesserte, auf, erhob sich, ging lang- 
sam und etwag schwerfällig, denn nach den vielen Schwanger- 

157 



echaften und Gebarten war ihr Gang ein wenig trag geworden 
und geblieben, um den Tisch herum, an der gegenüber sitzen- 
den Agnes vorüber, sie wollte das Jäckchen in die Kommode 
tun, wo sie die Flicksachen aufbewahrte. Sie streifte an Agnes, 
legte für einen Augenblick ihre freie Linke auf das volle Haar 
der Schwester, das im Scheine der Lampe leuchtete, und ging 
zur Kommode weiter. 

Unter dieser leisen Berührung aber erzitterte das Mädchen, 
als sei durch diesen ersten, letzten sachtesten Anstoß eine un- 
geheure, überhängende Last gestürzt worden, und aus ihrer 
Kehle brach, so entsetzlich, weU noch nie vernommen, ein tiefer 
jammerlaut, gedämpft, aber die schwerste Erschütterung des 
ganzen Wesens verratend, hervor. 

Nach diesem verhaltenen, stöhnenden Ausbruch, der die Stille 
des warmen, wohlig erleuchteten Zimmers doppelt empfindlich 
machte, sank Agnes, die bisher aufrecht gesessen war, zusam- 
men, ihr Kopf fiel auf den Tisch vornüber und blieb mit dem 
Gesicht in die Decke gewühlt Mit langsamen Stößen erst, 
dann immer schneller, drang ein volles Schluchzen, eine Flut 
von Tränen, ein jahrelang angesammelter, nun gelöster Schmerz 
aus dem zarten Körper hervor, sie weinte laut, unaufhaltsam, 
als nehme sie, wie ein dürstendes, ausgetrocknetes Land den 
Regensturm selbst des Elends mit Begierde auf. So weinte sie 
lange, erst wild, dann gleichmäßig sanft und still, bis sie endlich 
wieder das Haupt erheben, verwirrt um sich blicken konnte 
und sagte: „ Warum hat er mir das getan?** 
„Dir? tt fragte Amersin aus seiner Ecke, „Dir? Er hat es doch 
wohl sich getan. M 

„Nein, mir, denn auf mich ist es abgesehen. Er hat es nur ge- 
tan, weil er mich treffen wollte. Seht ihr denn das nicht? Es 
ist ein Schlag, der mir gegolten hat Er hat auf mich gezielt. 
Oh, er hat so lange gewartet, bis er mich richtig treffen konnte I 
Ich wollte ihm nichts Böses, ich konnte nicht anders, ich habe 
es nicht besser gewußt, ich habe ihn nicht verstanden und mich 
auch nicht Aber er hat es mit Überlegung und mit vollem 
Bewußtsein getan, er hat gut gezielt und gut getroffen. u 
Antonie sagte: „Du glaubst wirklich, er hat dich aus Ent- 
täuschung verraten?* 
Agnes nickte. 

Amersin sprach aus seiner Ecke: „Warum mutest du ihm diese 
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Absicht zu, wenn da selbst ihm ohne Absicht Schmerz zuge- 
fügt hast? 44 

„Warum hat er mich nicht vor mir gerettet? Warum hat er 
nicht Geduld mit mir gehabt? Ich wäre gekommen! Warum 
hat er mich nicht gerufen? Ich war nur gebunden. Warum hat 
er mich nicht frei gemacht? Ich wäre gekommen! Er hätte 
es wissen und spüren müssen. Auch wenn ich es nicht zeigen 
konnte.** 

„Du hast ihm doch immer das Gegenteil gesagt und gezeigt 
Du hast von ihm nichts wissen wollen und ihm Freundschaft 
für Liebe geboten. Habe ich es dir nicht immer gesagt, daß 
es zwischen euch .beiden keine Freundschaft geben kann? 4 * 
„Hätte ich es übel mit ihm gemeint, so hätte ich ihm doch 
nicht meine Freundschaft geboten. Ich habe ja nicht gewußt, 
daß ich ihn liebe.** 
„Und er hat es dir eben geglaubt** 

„Er hätte es besser wissen müssen, weil er doch alles besser 

weiß als ich. Er ist ja so viel mehr als ich, so viel klüger, so 

viel freier. Warum hat er das nicht gewußt? Warum hat er 

mir denn geglaubt?** 

„Weil er an dich geglaubt hat, Agnes.** 

„Der Widerstand in mir war stärker als ich.** 

„Und er hat deinem Widerstand geglaubt** 

„Weil er zu schwach war, zu ungeduldig und zu stolz.** 

„Zu bescheiden, liebe Agnes.** 

„Er mußte stärker sein als ich. Er sollte Geduld mit mir ha- 
ben. Ist es denn so viel verlangt, daß ein Mensch mit dem 
anderen Geduld habe?** 
„Freilich, es ist wohl der höchste Anspruch.** 
„Aber der gerechteste,** sagte Antonie. 

„Ich hätte es doch einmal verstanden, und es wäre nicht zu 
spat gewesen, es wäre nie zu spät gewesen zwischen uns. Ich 
hätte es gewußt, wie ich es jetzt weiß, glücklich gewußt, wie ich 
es jetzt unglücklich weiß.** 

„Du warst zu stark oder zu schwach, ja zu sagen, wie er dich 
gefragt hat, und er war nicht stark genug, dein Nein zu er- 
tragen, und nicht frech genug, so zu tun, als wäre es ein Ja ge- 
wesen. Er hat ja ja, nein nein verstanden. Darüber darfst du 
dich nicht beklagen.** 

„Warum hat er kein Mitleid mit mir, ich war ihm doch gut? 

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Und er hat mich geliebt Aber ohne Mitleid, wenn das Liebe 
heißen darf.« 

„Die Wunde kann mit dem Messer kein Mitleid haben. 14 
„Ich würde für ihn sterben können, er hat für mich nicht ein- 
mal znm Leben Geduld gehabt" 
„Du forderst alles und hast alles versagt 44 
„Er sollte nur Güte und Geduld haben. Er hat mich nicht 
geliebt Ich aber liebe ihn jetzt Und weiß es. u 
„Jetzt ist es aber zu spät" 

„Nein, es kann nicht zu spät sein. Es kann nicht sein, daß es 
für mich zum Leben zu spät ist, bevor ich gelebt habe. Wenn 
ich endlich rufen kann, sollte ich nicht gehört werden? Ich will 
ihn ja rufen!" 

Amersin zuckte die Achseln und schwieg. 

Agnes stand mit einem schnellen Entschluß auf, ging in die 

Ecke, trat vor den Schwager und sah ihn an: 

„Sag' ihm, daß ich bereue. 44 

„Ich? Ihm? 44 

„Du bist doch sein Freund. Dir glaubt er. Es ist gewiß noch 
Zeit 44 

„Warum willst du es ihm nicht selbst sagen? 44 
„Das kann ich nicht Ich kann mich ihm doch nicht an den 
Hals werfen. Du aber kannst mit ihm sprechen, du darfst es. 
Vielleicht war der Brief nichts anderes als ein letzter Versuch. 
Vielleicht wartet er nur darauf, daß wir sprechen, noch einmal 
sprechen, vielleicht rettest du uns beide, auch ihn, nicht nur 
mich, wenn du redest 44 

„Das ist zu schwer für mich, zu solchen Feinheiten tauge ich 
nicht Wie sollte ich es denn nur anstellen. 44 
„Du mußt ohnedies auf seinen Brief antworten, 44 meinte An- 
tonie. „Du brauchst doch nur leise zu berühren, ob denn 
dies alles ernst ist, ob er sich mit seinem Plane nicht selbst 
täuscht, um sich und anderen weh zu tun, 44 sagte Agnes. 
„Soll ich ihn denn von einer Braut abwendig machen, die ihn 
gewählt hat? 44 

„Nein, nein, das will ich nicht, bei Gott nicht, wenn er sie liebt 
Ich kann es nur nicht glauben, daß er sie Hebt, wenn er mich 
geliebt hat Er darf sie nicht verraten, wenn er sie liebt, aber 
du darfst, du mußt ihn retten, wenn sie unwürdig ist, oder 
wenn er nur sich selbst vorgibt, sie zu lieben. 44 

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„Wie Boll ich darüber urteilen ? a 

„ Verlasse mich jetzt nicht. Hilf mir, ich habe das alles ja nicht 
verstanden, jetzt weiß ich es. Ich schäme mich genug, daß ich 
so rede, aber manches kann man noch abwenden, wenn man 
aufrichtig spricht. Hätte ich es nur gekonnt! Hätte ich ihn 
um Aufschub gebeten. Alles wäre gut gewesen. Tue du es 
jetzt. Vielleicht dankt auch er es dir einmal Richte es, wie 
du willst Ich mag gar nicht wissen, wie. Ich darf es auch 
nicht wissen. Aber tu'sl Muß es sein, hebt er sie, ist sie seiner 
wert, so soll es tfein, und ich will mich bescheiden. Aber das 
darf ich doch verlangen, daß mein Unglück mich nur notwendig 
trifft und unvermeidlich, nicht, weil ich mich versäumt habe. 
Und er soll nicht im Übermut und aus Rache uns beide strafen. M 
Amersin schwieg. Agnes, die ihre Rechte bittend auf seine 
Schulter gelegt hatte, üeß sie, als er nicht antwortete, langsam 
herabsinken und wandte sich von ihm ab. 
Antonie trat dafür zu ihrem Mann und sah ihn unter Tränen 
lächelnd an: „Ich glaube, du könntest ihm immerhin schreiben, 
Andreas.* 4 

Da seufzte Amersin: „Ihr Frauenzimmer macht doch die selt- 
samsten Umwege um uns Mannsbilder herum. Und da wir 
immer geradeaus gehen, verfehlen wir euch viel leichter, als 
daß wir euch treffen. So will ich es versuchen, wie ich es eben 
verstehe, aber es ist eine harte Arbeit, da ich nicht gewohnt 
bin, mich in fremdes Geheimnis zu drängen. Keinem andern 
als dir hätte ich derlei zuliebe getan. u 

Agnes nahm mit einem demütigen Lächeln, das beide Gatten 
tief rührte, stumm Abschied und ging. 

Amersin brachte mit vieler Beschwerde folgenden Brief an Her- 
mann zustande: 

„Mein Heber Freund Leyl Mitfolgend sende ich Dir das neu- 
este, eben eingetroffene Preis blatt des Leinenhauses, dessen 
Leiter ich ehedem war, falls Deine geehrte Braut in diesen Ar- 
tikeln noch Bedarf hätte. Ich habe sicherlich keinen Grund, 
der Firma ein Geschäft zuzuführen, mit der ich heute nichts 
mehr zu schaffen habe, doch glaube ich, Du würdest gut be- 
dient werden, wenn Du darauf reflektieren solltest, man wagt 
sonst immer viel mit dem Einkauf von Leinenwaren. Deine 
anerwartete Verlobungsanzeige hat allgemein überrascht und 
in manchem Kreise Aufsehen hervorgerufen. 

Stoesil, Das Haus Erath > II l6l 



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Da hast es verstanden, dadurch Licht in eine Sache zu bringen, 
die Dir und allen dunkel war, und was uns ein unendliches Rät- 
sel schien, ist plötzlich klar geworden. Aber was klar ist, er- 
scheint eben darum nicht immer recht, und was nicht recht ist, 
soll auch kein Verhängnis werden. Dadurch, daß man über 
empfindliche Dinge endlich getrost sprechen darf, kann man 
manches heilen; ich will unter allen Umständen, daß Du Dich 
nicht etwa auch nur einen Augenblick erniedrigt wähnst und 
vielleicht über eine vermeintliche Unbill grämst, die Dir eigent- 
lich gar nicht widerfahren ist, denn als Jurist weißt Du, daß es 
bei allen Handlungen auf die Absicht ankommt Dir gegenüber 
hat bei keinem unter allen Freunden eine böse Absicht bestan- 
den, sondern nur gute. Lebe wohl, mein bester Freund, empfiehl 
mich und uns alle Deiner hochgeehrten Braut Sei herzlich ge- 
grüßt Ich werde nie aufhören zu sein Dein aufrichtiger Amer- 
sin. u — 

Als Antwort auf diesen, notgedrungen dunkeln Brief kam ein 
verbindlicher und freundschaftlicher, aus dem eine Gelegenheit 
undErlaubnis der Aussprache gelesen werden durfte, und Amer- 
sin trat denn auf Wunsch seiner Frau und Schwägerin die miß- 
liche Reise zu Hermann an. 

Er sah mit Staunen, aber nicht ohne eigentümliche bewundernde 
Beklommenheit die freien Zustände, die heitere Unbekümmert- 
heit der Menschen und Verhältnisse, denen sich Hermann wohlig 
aufatmend und beglückt, aber doch immer noch unsicher und 
befremdet überließ. 

Auch Amersin wußte in seinem bürgerlichen Verstände mit 
Frau Rainer und ihrer Tochter anfangs nichts Rechtes zu be- 
ginnen, nur berührten ihn ihre zutrauliche Heiterkeit und ihr 
freundschaftliches Entgegenkommen angenehm. Es war ihm frei- 
lich neu und wunderlich, daß Frauen solche Freiheit der Emp- 
findung besaßen und ohne Zögern auch Fremden gegenüber 
äußerten, daß sie in jedem Augenblicke mit ihrem ganzen Selbst 
frisch und gerade eintraten. Aber er sah wohl ein, daß, wer 
einmal zu solchen neuen, zuversichtlichen Menschen geraten 
war, in die Ängstlichkeit der früheren Zustände kaum mehr zu- 
rückfinden, geschweige denn zurückgebracht werden konnte. 
Hermann schien ihm verändert, gereift, älter, Vieles wissend, 
glücklicher als je, weil aufrichtig, wenn auch bescheiden wie 
je, denn es fehlte ihm an Selbstvertrauen der neueren, höheren 

1 62 



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Welt gegenüber, wie es ihm auch der alten bürgerlich ver- 
schlossenen und spröden Zuneigung gegenüber gefehlt hatte. 
Doch gab es kein Zurück mehr bei allem Bedauern. 
Die Gespräche, die Amersin mit Hermann führte, wagten nicht 
an die schmerzliche Teilung einer männlichen Liebe zu rühren. 
Doch konnte man einen Zustand wohl ahnen und mußte ihn 
achten, der gleichsam zweigesichtig und wie mit entzweigespal- 
tenen Herzhälften nach der Gegenwart und Zukunft hierhin, 
nach der unselig schönen Vergangenheit dorthin sann. Das 
Glück der Gegenwart war wehmütig beschattet von dem Ge- 
danken an einst, und der Schmerz des Verlorenen wunderbar 
übersonnt von dem Reiz der neuen Leidenschaft, doch gehör- 
ten diese beiden Herzhälften untrennbar eben dem ganzen 
Manne an und machten sein Wesen aus. Aber es war unmög- 
lich, auch nur daran zu denken, daß diese Entscheidung noch 
einmal umgekehrt und vertauscht werden könnte. In aller De- 
mut hatte sich ein männliches Schicksal in einer Dämmerung 
des Gefühls vollzogen, indem es die beiden Zustände und Emp- 
findungen versöhnt in sich vereinigte, wie denn der mensch- 
liche Geist viel schärfere Gegensätze der Gedanken und Lei- 
denschaften auszutragen, zu verschweigen und zu vereinigen 
gewöhnt ist. 

So gab es für Agnes nichts mehr zu hoffen als die verzichtende, 
„ seelenvolle Qual" der Freundschaft, wie sie sie nannte, die ihr 
statt der Liebe blieb und die Hermann selbst inniger und rei- 
ner und tiefer wahren mochte als je, um so glücklicher in die- 
sem Gefühl befestigt, als die beiden Frauen, Mutter undTochter, 
den Zwiespalt seines Empfindens erkannten, aber mit einer 
Zartheit zu würdigen wußten, die ganz der Freiheit ihres We- 
sens entsprach. Nicht nur, daß Gisa ihm aus seiner un verwun- 
denen Liebe zu Agnes keinen Vorwurf machte, sie bestärkte 
ihn in der Treue seines Gefühls. Da sie seinen Wunsch, seine 
Leidenschaft beherrschte und seiner Gegenwart sicher war, 
schien es ihr gerecht, Agnes die Freundschaft des geliebten 
Mannes ungetrübt ohne Neid zu überlassen, selbst wenn in die- 
ser Freundschaft noch eine leise Spur der einstigen Liebe 
glomm. Und wie sie aufrichtig, freimütig und herzlich von Ag- 
nes sprach, als sei sie selbst in die Freundschaft einbezogen, 
die ihn mit dem Wiener Kreise verband, machte Amersin 
staunen, der auch Frau Rainers scharfe, muntere und gerechte 

ii* 163 



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Beurteilung der Verhältnisse bewundern mußte, denen sie doch 
fern stand. 

Er konnte nicht umhin, der Wirtin diese Anerkennung lebhaft 
auszusprechen, die ihr Wohlgefallen an der Huldigung des 
klugen Mannes deutlich zeigte, die sie nicht nur ihrem Ver- 
stände, sondern doch auch ein wenig noch ihrer unverlierbaren, 
weil innerlich jung gebliebenen Anmut verdanken zu dürfen 
glaubte. 

„Ja sehen Sie, lieber Herr Amersin, wenn Sie Schauspieler oder 
Sanger auf dem Theater bewundern, staunen Sie wohl, wie 
einer eine fremde Rolle so darstellt, als sei er selbst gemeint 
und spiele sich selbst. Je größer ein wahrer Künstler ist, desto 
verschiedenere Figuren stellt er so ungeheuerlich wahr und 
lebendig vor euch hin, als seien sie alle er selbst. Und das ist 
es auch, was den Künstler ausmacht, den Schauspieler und 
wohl auch jeden andern, daß er tausenderlei Menschen in sich 
enthält und daß er jedesmal so denken und sprechen kann, wie 
gerade der aus den Tausenden, den er darstellen muß. Wir 
sind nicht nur allwissend, wir sind sogar aliseiend. Darum ha- 
ben wir es freilich schwerer als ihr, die ihr immer nur ein ein- 
ziger bestimmter Mensch bleiben könnt und müsset, unser ei- 
gentliches, dauerndes Wesen aus all der Verwirrung sicherzu- 
stellen. Euch aber machen wir das Vergnügen damit. u 
Bei diesen Worten lachte sie gar pfiffig und sah Amersin von 
der Seite an, der jetzt nicht wußte, woran er mit ihr war, und ob 
nicht am Ende sogar all das Verständnis und Mitgefühl, Freund- 
schaft und Geduld ebensogut gespielt, als wahrhaft empfunden 
sein konnten. Denn daß in einem menschlichen Sinn der Zwang 
zweier widersprechender Gedanken und Gefühle vereinigt leben 
und bestehen konnte, mußte er wohl glauben und anerkennen. 
Daß aber ein höherer Sinn eines Künstlers aus freier Wahl 
nicht bloß zweierlei, sondern vielerlei, ja sogar beliebige Gedan- 
ken, Gefühle, Leidenschaften umfassen und je nach Lust oder 
Zwang völlig durchleben und sich ihnen mit Willen überlassen 
konnte, so daß der Künstler in der Tat alles Menschliche ver- 
stand, weil es ihn besaß und ausmachte, daß in ihm also der 
Schein Wirklichkeit war, die Wirklichkeit wieder aus ihm Schein 
wurde und durch seinen Körper und Geist wie durch ein leich- 
tes, durchlässiges Mittel belebt und neu gestaltet hervortrat, 
dem allen war auf keinen Fall zu trauen. 

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Heimgekehrt berichtete er den Seinigen, was er gesehen und 
wie weit er es verstanden hatte. Indes Charlotte den treulosen 
Freund und die beiden fremden Frauen schlechthin als Feinde 
ihrer Familie ansah, weil sie der Schwester Böses angetan hat- 
ten, als ob dieses Schlimme durchaus mit Absicht zugefügt sein 
mußte, begriff Antonie gar wohl die Notwendigkeit aller Ereig- 
nisse, wenn sie sie auch bedauerte. Charlotte nannte Gisa und 
ihre Mutter nur „Schlangen" und sprach nicht anders von ihnen, 
als von planvollen Intrigantinnen, die ganz gut gewußt hätten, 
worauf sie es anlegen wollten, und die eine sehr genaue Ab« 
sieht gegen die stolze Familie Erath im Schilde gehabt und im 
geeigneten Augenblick ausgeführt hätten. Dabei klang frei- 
lich eine wohl unbewußte Genugtuung darüber durch, daß Ag- 
nes so für ihren unseligen Versuch gestraft worden sei, sich 
Charlottens einzig berechtigter Herrschaft zu entziehen. 
Anders und zum Erstaunen aller mit ganzer Kraft und Fassung 
beurteilte Agnes den Freund, die beiden fremden Frauen und 
die fernen Verhältnisse, die sie aus Amersins lebhaften Schil- 
derungen mit der inständigen Phantasie der Sehnsucht erkannte. 
Demütig sah sie sich im Schatten ihrer engen Zustände als die 
unzulängliche, mit Grund verlassene, Gisa aber als die Kühnere, 
Freiere, Bessere und wohl auch Schönere, mit gutem Grund 
Vorgezogene. Sie übertrug aUe Liebe, die sie jetzt besser als 
je für Hermann empfand, auf dessen Erwählte, sie malte deren 
Gestalt, Züge und Wesen mit allen Farben leidenschaftlicher 
Bewunderung aus, und alles bestärkte sie in der schmerzlichen 
Einsicht, daß Hermanns Wahl gerecht gewesen sei. Wenn je 
ein sanftes Herz, auf verzichtende Freundschaft verwiesen, die- 
ses duldende Gefühl dienend zu verdienen wußte, so war es Ag- 
nes, deren Leid und Enttäuschung sie nur tiefer, seelenvoller 
und gütiger machte, gleich dem Opal, der aus unzähligen 
Sprüngen sein Feuer bekommt. Nichts offenbart den Wert 
eines Menschen getreuer, als wie er sich nach einer Enttäu- 
schung zeigt. Nur der ungemeine und untrübbare Mensch bleibt 
dann gerecht und gut, wo der gewöhnliche dem andern alle 
Schuld zuschiebt und an der Welt lieber, als an sich verzweifelt. 
Agnes sah nur eigene Schuld und eigenes Verhängnis und pries 
die Unbekümmertheit und Entschlossenheit Gisas als hohen 
Vorzug eines besseren und darum glücklicheren Wesens. So 
brachte sie, verschmäht, der bevorzugten Nebenbuhlerin c':r.c 

jö5 



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aufrichtige, überschwengliche Freundschaft entgegen, gleich 
wie Gisa die ihrige aus dem Oberfluß ihres Glückes der Un- 
glücklichen geboten hatte. 

Am Hochzeitstage Hermanns traf, eben zum Brautschmuck und 
Kirchgange zurecht, eine Schachtel ein, mit einem sorgfältig 
in feuchtem Moose frisch gehaltenen schönen Strauß von Blu- 
men ohne irgend eine Zeile. Aber Gisa, die die Sendung eröff- 
nete, erkannte mit klopfendem Herzen, von wem sie stammte, 
lächelte mit stolzer Wehmnt und nahm den Strauß an ihre Brust, 
als sie vor den Altar trat. 

In Wien zitterte Agnes um das Schicksal ihrer Blumen und 
ward erst demütig froh, als sie aus dem Dankbriefe der Ver- 
mählten ersah, daß sie zurechtgekommen, freundlich aufge- 
nommen worden waren und die Braut hatten begleiten und 
schmücken dürfen. 

14. 

Dieses Schicksal der jüngsten Tochter des Hauses Erath leitete 
gleich einem mahnenden Boten eine Reihe anderer übler Er- 
eignisse ein, welche die Verbindung der räumlich und herzlich 
so eng aneinandergeschlossenen Familienmitglieder allmählich 
lockerten und endlich völlig lösten. 

Im selben Winter erkrankte Frau Antonie mitten unter ihren 
freundlichen Haus- und Kindersorgen. 

Ein unsicherer Körperzustand begann mit Erkältung, Husten, 
Nachtschweißen, ward fiebrig, endlich so matt, daß sie am lieb- 
sten im Bett geblieben wäre. Der alte Arzt untersuchte sie, 
schüttelte bedenklich den Kopf und befahl, sie müsse sogleich 
nach dem Süden gebracht werden. 

Amersin nahm ihn beiseite und fragte, was seiner Frau eigent- 
lich fehle. Der Doktor Urfeldt sah ihn streng an, wie die Ärzte 
in ihrer Verlegenheit, wenn sie gar nicht mehr helfen können, 
oft schauen, als ob sie die Leute strafen möchten, die ihnen 
so vergebliche und schwere Aufgaben stellen: „Tuberkulose, 
lieber Herr Amersin, und leider auf beiden Lungenflügeln aus- 
gebreitet, zwei umfängliche Herde." 

Amersin senkte beschämt den Kopf und schwieg, als ob er 
seine Schuld einbekennen wollte, und kehrte ins Krankenzim- 
mer zurück. Charlotte, die den Doktor hinausbegleitete und 
seine Auskunft gehört hatte, sagte an der Tür:- „Vier Kinder, 
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eins gleich nach dem andern, für eine so schwache Frau ist's 
doch zu hart" 

„Ja, vier Kinder sind schon in den paar Jahren eine Leistung, 
liebes Fräulein, aber dazu wären die Damen doch eigentlich 
auf der Welt, wenn sie heiraten. Das Übel steckte eben von 
früher in der armen kleinen Frau, schlechte Ernährung in der 
Jugend, Erbteil der Mutter wahrscheinlich, Stadtluft, alles zu- 
sammen." Damit entzog er sich weiteren Fragen durch eiligen 
Abschied. 

Charlotte sagte zu Amersin: „Antonie tuberkulös! Was sagst 
du dazu?" 

Amersin zuckte die Achseln. 

„Der Doktor ist ein Esel! Antonie tuberkulös! Unsere Familie, 
unser Blut ist rein. Wie sollte so etwas bei uns vorkommen ! tf 
^Ich bin ganz gesund," sagte Amersin, „von mir hat sie's nicht." 
„Aber von den vielen Kindern, Schwager. Sie war eben gar 
nicht geschont Nichts als Kindbetten, Sorgen um die Kleinen, 
Anstrengung und Mühe, jahraus und jahrein, das macht eben 
krank." 

„Ja, wenn man lebt, ist man am Leben schuld, was immer ge- 
schieht. Aber was soll man anders tun als leben?" sagte Amer- 
sin bekümmert. 

Charlotte riß die Herrschaft über Antonie und ihr Haus an 
sich. Agnes mochte die Kinder und die Wirtschaft in Wien, 
so gut es ging, behüten, sie selbst rüstete zur Reise. Rasch 
wurden die Koffer gepackt, und nach zwei Tagen war alles be- 
reit Antonie sollte mit Charlotte nach Gries fahren, in die 
warme hohe Luft des Bozener Tals, Amersin wagte keinen Wi- 
derstand. Daß er selbst hätte mitfahren, seine Frau begleiten 
und pflegen können, fiel ihm als Geschäftsmann gar nicht ein, 
auch taugte seine gesunde, unbekümmerte Natur für geduldige 
Krankenpflege so wenig, daß er nicht einmal den Ernst des 
Übels recht begriff. Antonie hatte ihn freilich mit demütiger 
Angst gebeten, er möchte sie hier lassen, bei ihm, bei den Kin- 
dern. Wie sollte sie fern von allen gesund werden, wenn man 
ihr entzog, was ihr teuer war, und wofür sie lebte. Amersin 
hatte mit aller Strenge diesen kindischen Wunsch abgewiesen. 
Sie sollte und mußte reisen, so sei es denn lieber gleich, als 
zu spät Antonie war zu schwach, zu widersprechen, ein Husten- 
anfall setzte sie gleich ins Unrecht, auch Charlotte duldete 

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keinen Aufschub. So sollten Amersin und seine vier kleinen 
Schnldzeugen allein bleiben. Charlotte machte den Abschied 
kurz. Die Kinder durften nur vom Fenster her winken, Amer- 
sin trug seine Frau, ein kleines Bündel Pelz, Tücher und zarten 
Körper darin, aus der Wohnung in den bereitstehenden Lan- 
dauer. Antonie hatte ihre dünnen Arme wie ein hilfesuchendes 
Kind um seinen Hals gelegt, und als er sie in den Wagen auf 
ihren Platz niedersetzte, glaubfe sie gar nicht, die Arme von 
ihm lösen zu können und wäre am liebsten an seinem Halse 
hängengeblieben. Sie hätte es ihm auch gerne gesagt, hätte 
noch anderes gesagt, vor allem zum letztenmal den Wunsch, 
nicht fortgeschickt zu werden. Aber der Wille aller anderen 
war hier stärker als der ihrige, so seufzte sie bitterlich, ließ 
sich auf den Sitz niedersinken und sah den Mann an, der ihren 
Blick unsicher zurückgab. 

Der alte Erath kam zum Abschied vor das Haus. 

Antonie nickte ihm zu: „Leb* wohl, Vater. 1 * 

„Leb' wohl, Toni, tu alles, was die Ärzte anraten, und sieh, daß 

du bald wiederkommst, rege dich nicht auf, es wird schon 

alles gut** 

Antonie lächelte gedrückt und demütig in ihrer Schwäche, sie 
durfte dem Vater wohl nicht zeigen, wie schlecht es mit ihr 
stand. 

Wiederum hätte sie dem Manne gern etwas gesagt, nur ange- 
deutet, aber da waren zu viel Leute. Der alte Adam Hirt trug 
die Koffer herbei und half dem Kutscher, sie auf dem Bock 
und im Wageninnern zu verstauen, und lächelte ihr bekümmert 
Aufmunterung zu mit vielen Bücklingen, Armwinken und Ge- 
sichterschneiden. Der verstand sie wohl. Aber Andreas Araersin 
hätte sie hören müssen, ihm hätte sie noch eins und alles sagen 
wollen! Doch gerade dazu ließ Charlotte es nicht kommen. 
Nur keine unnütze Aufregung, nur keine Erörterungen und Ab- 
schiedsschmerzen ! Amersin half bei allem Einpacken, und im 
letzten Augenblick kam noch Frantzl mit fliegendem Rock her- 
beigestürzt, einen großen Blütenstrauß in den Händen als Ab- 
schiedsgTuß Elisabeths, denn Charlotte hatte auch verboten, 
daß Elisabeth selbst komme, damit die Aufregung der Kranken 
nicht gesteigert werde. Ihrem Befehle fügte sich ja alles. Frantzl 
aber durfte als wider Willen komische Erscheinung zur Auf- 
heiterung auch der schwersten Augenblicke dienen und galt als 
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unschädlich. So machte er denn seine vielen Bücklinge, Kom- 
plimente, Ansprachen und Erklärungen nach allen Seiten: „Also 
da wäret ihr und seid, wie ich sehe, schon gleich nicht mehr 
da, und wir, die wir bleiben, wo wir sind, haben das Nachsehen 
und Lebewohlsagen und Taschentuchwinken, liebe Schwägerin. 
Fahre wohl und vergiß uns nicht. Du weißt schon, daß dich 
Klisabeth schön, schöner, am schönsten grüßen läßt, und was 
sie dir alles wünscht, kann sie gar nicht durch eine Blume 
sagen, dazu braucht sie einen ganzen Strauß, und läßt sich ent- 
schuldigen, daß er noch immer nicht ausreicht Du darfst ihn 
auch getrost im Wagen vergessen oder beim Zugfenster hinaus- 
werfen, wenn er dir lästig wird. Darum darf auch ein Strauß 
uberall mitgehen, während man Menschen nicht überall mit- 
gehen läßt, schon weil man sie nicht jederzeit hinauswerfen 
kann. Mithin also, folglich — nun — ich lasse den Blumen das 
Wort." Damit überreichte er den Strauß und schlenkerte dann 
umher, um seine beschäftigungslosen Arme und Beine ange- 
messen teilnehmend zu betätigen. 

Antonie nickte ihm dankend zu, beugte sich über den Strauß 
und steckte den Kopf in die stark duftenden Blüten und hätte 
so gern geweint, wenn sie sich nicht vor Charlotte gefürchtet 
hätte. Nur ein Wort noch mit Andreas reden I Aber die all- 
gegenwärtige Charlotte wich nicht von ihnen. Vom Fenster 
her winkten die Kinder. Da dachte Antonie wieder nur an die 
und winkte den armen Kleinen zu, die sonst nichts von allem 
verstanden, als daß die Mutter in einem großen Wagen fahren 
durfte. 

„Halte dich nur! Halte dich gut! Laß dir nichts abgehen, 
Toni," sagte Amersin. Und Toni in ihren Tüchern und Decken 
nickte mühsam lächelnd, als sei alles schön und gut, wenn sie 
sich gehorsam zeigte, sie nickte „ja, ja" und hätte so gerne zu 
ihm noch etwas gesagt, nicht viel, nur ein Wort, denn bei sol- 
chem Abschied meint man, mit einem Wort alles sagen zu 
können, worauf es ankommt. Und gerade dieses einzige Not- 
wendige kann und darf man nicht sagen und muß sich darauf 
verlassen, daß es als das Selbstverständliche gewußt wird. Aber 
alles andere, Wichtige, das sich nicht von selbst verstand? Da 
war die Wäsche der Kinder, und ob man alles finden würde. 
Sie hatte ein schlechtes Gewissen hinsichtlich der Ordnung. 
Es lag nicht alles dort, wo es von rechtswegen liegen sollte und 

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gesucht werden würde. Und Emilie sollte ihren Lebertran 
pünktlich bekommen, hingegen müßte man für Theas französi- 
schen Unterricht sorgen. Wer würde den Kindern die Früh- 
stücksbrote herrichten? Das Einschreibebuch für die Köchin 
war ein paar Tage lang nicht abgerechnet worden. Überhaupt 
die Rechnungen! Oh, daß sie weg mußte! Noch nie war sie 
eigentlich ganz bei ihrem Manne gewesen. Dazu hatten sie 
beide zu viel Arbeit, immer Arbeit Aber man hat sie doch 
nur, um beisammen zu bleiben! Wie wunderlich verkehrt war 
das alles! Und jetzt riß man sie von allem los, wofür, womit 
sie leben wollte, damit sie später einmal dableiben könne. 
Später einmal! Was lag daran, auf den gegenwärtigen Augen- 
blick kam es an! Wer hatte mit ihm Mitleid? Wer dachte an 
den Augenblick? Gleich würde er vorüber sein und damit alles, 
wofür sie lebte; wenn der Wagen da zu fahren begann, war 
alles aus, und sie hatte alles verloren. Es war zu viel, man 
konnte nur schweigen und hoffen, es würde ohnedies gewußt. 
So hauchte sie nur: „Leb* wohl, Andreas, 41 und gab ihm noch 
ihre kleine, abgemagerte, weiße Hand aus dem offenen Wagen- 
fenster. Und er drückte zugleich zart und entschieden diese 
Hand. Er hätte sie gerne geküßt, aber das war bei ihnen vor 
Leuten nicht üblich. Man machte von Gefühlen kein Aufhebens. 
Beim Abschiede, bei solchem Abschied hätte er freilich immer- 
hin gern etwas gesagt oder gehört, aber als der Wagen mit 
einem Ruck anzog, schien es ihm auch so recht, als nur der 
magere Arm noch aus dem Fenster winkte und dieser Wink 
ebensogut ihm, wie dem Adam Hirt, den Kindern am Fenster 
der Wohnung, wie dem an der Türe lehnenden Vater Erath 
galt, denn Antonie gehörte allen diesen ebensogut wie ihm, und 
das war wohl in der Ordnung, wenn auch nicht immer ange- 
nehm. Kopfschüttelnd und immerzu mit seinem blauen Ta- 
schentuche winkend, von einem Bein aufs andere tretend, nahm 
Frantzl den Schwager mit Beschlag, faßte ihn unter dem Arm 
und ging mit ihm ins Magazin. 

Adam Hirt schaute dem Wagen lange nach. Ehe er sich zurück- 
wandte und ins Haus treten wollte, redete ihn der alte Erath an : 
„In unserer Zeit war Gesundheit und Krankheit einfacher. Wir 
haben nicht soviel Geschichten gemacht und Badereisen und 
Kuren, was Adam? Und sind doch über sechzig worden dabei. 44 
„Ja, ja, krank werden geht leichter ohne Arzt und Kur. Aber 
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man bildet sich immer ein, es hilft, wenn man dem lieben Herr- 
gott mit Medizinen zuredet, ob er's nicht doch am Ende anders 
gemeint hat, als es aussieht. Aber es sieht nicht gut aas, Erath. tf 
„Glaubst du? Mit Antonie? Ach was, Husten und Erkältung. 
Wenn es kein Typhus ist, was kann weiter dabei sein? In un- 
serer Familie gibt es keine Krankheiten. Das weißt du doch. u 
„In keiner Familie gibt es Krankheiten, bis eben eines damit 
anfängt. tt 

„Nun ja, deshalb fährt sie in Gottesnamen ins Bad und sieht 
beizeiten dazu. Mehr kann man nicht tun. 44 
„Nein, mehr kannst du nicht tun. u 

Erath ging aufrecht in sein kirschholzenes Arbeitszimmer und 
berechnete den ansehnlichen Betrag, den er für die Ausrüstung 
der beiden Reisenden, für den Kuraufenthalt und alle sonstigen 
Auslagen hatte auswerfen müssen. Die Besorgnis der anderen 
begriff er nicht, wie er als Gesunder sogar die Möglichkeit, ge- 
schweige denn den Ernst einer Krankheit jüngerer Leute gar 
nicht anerkennen mochte. Es schien ihm immer eine gewisse, 
unliebsame Störung der gerechten ruhigen Verhältnisse seines 
Hauses. Darum vermied er es auch, mit Amersin darüber zu 
sprechen. 

Wenu man ihm schrieb, wollte man ihm auch keine Sorgen 
machen, ihn mit unliebsamen Nachrichten verschonen, so be- 
kam er immer nur freundliche, hoffnungsfrohe Briefe mit be- 
geisterten Schilderungen des Rosengartens und der glühen- 
den Alpen und wurde in seiner ruhigen, gelassenen Auffassung 
des Lebens so lange bestärkt, bis das Unvermeidliche eben da 
war. 

Ober den Zustand der teueren Kranken berichtete Charlotte 
dem Schwager recht ausführlich und aufrichtig, immer mit dem 
leisen Vorwurf, daß eigentlich er, die Ehe und die vier Kinder 
das Leiden verschuldet und über die gesunde Familie Erath 
gebracht hätten. Antonie selbst konnte oder durfte nicht schrei- 
ben. Von ihr lag höchstens ein gepreßtes Blümchen bei, das 
man ihr dort auf der Kurpromenade gegeben hatte, ein Veil- 
chen, ein Vergißmeinnicht, ein Zweiglein stark riechenden Thy- 
mians oder eine Nachschrift zu Charlottens Brief, die auf An- 
toniens Verlangen und Ansage beigefügt worden war, irgend eine 
Wirtschaftssache betreffend, wo man einen gewissen Gegen- 
stand suchen sollte, und was man mit einem anderen anzufangen 

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habe, oder etwas über die Pflege der Kinder und dergleichen. 
Aber gerade aus diesen unscheinbaren Zeilen sprach die ganze 
stille, vorsorgliche Frau, deren Liebe man erst so recht emp- 
fand, als sie sie nur unzulänglich, aus solcher Ferne und krank, 
durch eine fremde Hand in kümmerlichen Nachschriften äußern 
konnte, eine Liebe, die man nicht nach Gebühr, sondern selbst- 
verständlich genommen hatte, als sie noch neben einem her- 
ging. So selbstverständlich war ihre Gegenwart bei den Ihri- 
gen, bei Amersin zumal, daß er unter einem im innersten Her- 
zen wnßte, sie sei verloren, und doch den Ernst des Verlustes 
gar nicht auszudenken vermochte, denn er sah sie immer bei 
sich, bei den Kindern. 

Er wäre freilich am liebsten nach Gries gefahren, um bei ihr 
zu sein, denn er glaubte wohl, daß sie ihn gern gesehen hätte. 
Aber Charlotte erlaubte es nicht, und ein gewisses Schamgefühl 
hinderte ihn, ihr zum Trotz dennoch zu kommen. 
Er glaubte sich am Ende selbst schuldig. Er war in diese Fa- 
milie eingedrungen und stand nun, obschon selbst Begründer 
eines neuen Hauses, einsam und wehrlos seiner Schwägerschaft 
gegenüber. Da er arm und niedrigeren Standes zu der Rei- 
cheren und Höheren gekommen war, blieb etwas von der un- 
willkürlichen Unterordnung immer zurück, die er anerkannte. 
Sein sonst kräftiges Selbstgefühl konnte gerade hierin nicht 
Mut fassen zu Widerstand und Abwehr, denn er liebte ja seine 
Frau, liebte ihre Familie, liebte diesen ganzen strengen, ver- 
haltenen, bescheiden anspruchsvollen Stolz als das Höhere, 
wonach er strebte, dem er sich durch diese Ehe verbunden 
hatte, dessen er sich würdig erzeigen mußte. 
So gehorchte er — obgleich widerstrebend — Charlottens Be- 
fehlen und hielt sie für zweckmäßig und gerecht, eben weil sie sein 
natürliches Gefühl verletzten, so wie etwa der Ungebildete glaubt, 
die Bildung der anderen rede eine bessere Sprache als er. 
Antonie verlangte täglich nach ihrem Mann, seufzte, weinte und 
klagte nach ihm und wurde von Charlotte beruhigt, Andreas 
würde kommen, wenn es ihr so weit besser ginge, daß sie ihn 
ohne Aufregung sehen dürfe. Dann faßte sich Antonie demütig, 
um sich diese Zukunft nicht zu verscherzen, und ertrug ihr altes 
Schicksal, daß man dem Augenblick alles versagte, um einer 
Zeit willen, die nicht kam, daß man so lange sparte und geizte, 
bis man den Schatz nicht mehr genießen konnte, der zudem 

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nicht einmal jemand anderem zugute kam. Sie ertrug dies alles, 
das sie in der Hellsichtigkeit dieser letzten Tage so durch- 
schaute, wie sie das Licht durch ihre dünnen, blassen, schmalen 
Hände scheinen sah, ertrug es unter dem stärkeren Willen der 
Schwester, dem sie sich immer unterworfen hatte, nicht weil 
sie Charlotten für klüger oder gerechter hielt, aber weil ihr 
jeder Kampf zwecklos erschien. Sie dachte kaum an den Tod, 
sondern hoffte und hielt die eigentümliche Erleichterung, die 
nach jedem der immer häufigeren Anfälle ihren ganzen Körper 
gleichsam erhob, als schwebe er nur mehr, für eine Art neuer, 
höherer Gesundheit. Auch deshalb mochte sie nicht eifern, 
Charlottens Bedenken und Reden nicht widerlegen. 
Wenn Charlotte mit dem zärtlichsten Tone irgend etwas ge- 
boten hatte, was ihr widerstrebte, drehte sich Antonie ohne 
Widerspruch im Bette um, zur Wand hin, solange sie das noch 
ohne Hilfe konnte, und tat, als schliefe sie. Sie dachte viel nach 
in diesen Tagen, indem sie von ihrem Fenster auf den fernen, 
rotglühenden Rosengarten sah, über jedes ihrer Kinder, über 
deren vermutliche Lebenswege und Entwicklung, über Andreas, 
über ihre Liebe, die — sie erkannte es jetzt — bisher viel- 
leicht mehr dem Vater ihrer Kinder, nicht genug ihrem Manne 
gegolten hatte, sie hatte ihn geliebt, weil sie durch ihn das 
Leben empfangen hatte, das ihr gemäß war. Wenn Charlotte 
von den Plagen und Mühen sprach, die Antonien durch die 
Ehe, durch Amersin auferlegt worden waren, schien dies der 
Kranken wunderlich genug, denn diese Mühen waren doch der 
Sinn und Zweck des Daseins, waren die Gegenwart selbst, mit 
der man nicht sparen durfte, wenn man sie besitzen wollte. 
Nur hatte sie über der täglichen Arbeit den eigentlichen Ge- 
nuß der Stunde vergessen, sie hatte nicht daran gedacht, nicht 
genug daran gedacht, daß dies alles immer Liebe war, immer 
Erfüllung und Gegenwart, sie hatte es stets nur als einen Weg 
angesehen, auf dem man ständig vorwärts ging. Es hätte frei- 
lich ein Aufenthalt sein sollen, anders und besser als diese 
merkwürdige Krankheit, die einen so leicht machte und dabei 
doch in die Gegenwart wie in einen Schacht versenkte, so daß 
das schöne Licht oben immer ferner, immer dünner, immer un- 
wirklicher erschien, das schöne, selbstverständliche, glückliche 
Licht des gewöhnlichenTages, des wunderbaren, gelebten, durch- 
wanderten, aber nicht festzuhaltenden, vorübergehenden Tages. 

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Als aber ihre letzten Stunden kamen, da wurde sie reizbar, ent- 
schlossen und kämpfte um ihren Willen mit der stärkere n 
Schwester, da stritt sie um ihren Wunsch und um die letzte 
Gegenwart vor dem Ende. 

Sie verlangte nach ihrem Manne. Als Charlotte sie mit Aus- 
flüchten vertrösten wollte, richtete sie sich mit letzter Kraft auf 
und bedeutete nur mit Gebärden, denn sie konnte kaum mehr 
sprechen, daß sie nicht mehr warten könne, Andreas müsse 
kommen. Dann sank sie nach einem Blutsturz bewußtlos zu- 
sammen. Charlotte brauchte die Aufklärung des Arztes nicht, 
um zu wissen, daß das Leben der Schwester nur mehr nach 
Stunden, höchstens nach Tagen zähle, so telegraphierte sie 
nach Wien, der Schwager solle kommen. Sie zeigte Antonien 
das Telegramm, um sie zu beruhigen, und die Kranke war 
gleich gefaßt und sanft wie immer, ja sie schien alle Kraft zu- 
sammenzunehmen, um den verhofften Anblick zu verdienen. 
Bald aber ward das Fieber, die letzte Erregung und Steigerung 
des erschütterten, zusammenbrechenden Körpers stärker als 
die Besinnung, in der Nacht phantasierte Antonie. Charlotte 
bemühte sich, zu verstehen, was dies zarteste Wesen in diesem 
Kampfe unsichtbarer, mühevoll und zusammenhanglos ver- 
lautender Gedanken sagen mochte. Gewiß waren es äußerste 
Geheimnisse, Ahnungen, Bekenntnisse, aber keinem gesunden 
Zeugen verständlich, keinem irdischen Verstände faßbar, es 
war die Zwiesprache eines hinübergezogenen Wesens demütig 
freundlich mit den einstigen Dingen und Wünschen des ver- 
lassenen Lebens, zornig keuchend dem fremden, seltsamen, un- 
begreiflichen Kommenden entgegen, vor dem ein bebendes, 
zähneklapperndes Grauen knirschte, denn Erlösung und Auf- 
lösung sind lauter Angst. 

Dann gab es nur mehr Fieber, Hitze, Glut, Schwäche, abge- 
rissenes Seufzen, besinnungsloses Erwachen, neues Hindäm- 
mern, schwer arbeitenden Atem, keine Gebärde der Antwort 
auf besorgte Frage, keinen Wunsch, keine Erfüllung, endlich 
ein seufzendes Sichhinstrecken und entfesseltes Ruhen mit 
sauften Zügen des Schlummers. Und als Amersin am Morgen 
eintraf, trat er vor eine schöne, stille Tote, die mit rosigen 
Wangen, mit geschlossenen Augen zu schlafen schien und sei- 
ner jungen Frau in der ersten Zeit der Ehe ähnlich sah, wo 
sie noch so mädchenhaft erschienen war. — 

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15- 

Das Amersinsche Haas und die verwaisten Kinder kamen nach 
Antoniens Tode unter ein strenges Regiment, denn die beiden 
Schwestern, Agnes und Charlotte, teilten sich jetzt darein, und 
zwar so, daß Agnes den Unterricht der älteren Kinder, insbe- 
sondere im Französischen, ubernahm, Charlotte den Haushalt 
und die Erziehung im allgemeinen. 

Amersin, von jeher weder gewöhnt, noch bei seiner geschäft- 
lichen Inanspruchnahme in der Lage, sich um seinen Hausstand 
nahe zu kümmern, überließ den beiden Schwestern dankbar 
diese Sorge. 

Eine Mutter, gar eine sanfte, glückliche wie Antonie, hat keinen 
anderen Erziehungs- und Wirtschaftsgrundsatz als Liebe. Eine 
willensstarke, herrische Natur aber wie Charlotte, wandte den 
Kindern dieses „Bauern" gegenüber, die ihr in ihrem Familien- 
stolze und altem Vorurteil ohnehin immer als Kinder einer 
Mißheirat ihrer armen Schwester und dämm sozusagen minde- 
ren Ranges galten, unnachsichtige Grundsätze an, die sie aus 
einem sogenannten Gerechtigkeitsgefühl ableitete. War früher, 
wenn auch nicht unbescheiden und verschwenderisch, so doch 
Teichlich und lecker gekocht worden, so daß jedes der Kinder 
seine Lieblingsspeisen und auch unter der Zeit, sei es zur Be- 
lohnung für gutes Verhalten, sei es zur Versöhnung nach einer 
die Mutter mehr als das schuldige Kind selbst treffenden Be- 
strafung, den und jenen Leckerbissen bereit fand, ein Stück 
Torte oder ein Tellerlein Gelee oder eingemachte Früchte oder 
ein Backwerk und zu Mittag immer etwas, das nicht bloß not- 
wendig sättigte, sondern auch angenehm, so sah Charlotte von 
nun an genau darauf, daß das Amersinsche Haus „nach seinen 
Verhältnissen" lebte, wobei sie diese Verhältnisse nach ihren 
besonderen Anschauungen, nicht nach dem tatsächlichen Stande 
bemaß, denn Amersin hatte als Gesellschafter der Firma sein 
festes, reichliches Einkommen und hätte seinen Kindern jetzt 
getrost dasselbe gönnen und bieten dürfen wie zu Lebzeiten 
seiner Frau. Charlotten schien es aber diesen „Verhältnissen* 4 
oder vielmehr dem Stande und der Herkunft des Schwagers 
nicht angemessen, wenn die Wirtschaft so weitherzig und un- 
bekümmert weiterging. Jetzt war alles streng zugeteilt, abge- 
wogen und ausgemessen. Es gab jeden Tag nur Suppe und 

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Sadfleisch mit Gemüse, keinen Braten nnd nur jeden zweiten 
Tag Mehlspeise, aber auch da nicht oft süße, sondern lieber 
„ausgiebige u derbe, kurz, die rechte, wohlfeile Hausmannskost, 
die den zarten Kindern nicht eben ansteht: viel Sauerkraut und 
weiße Rüben und viel Kartoffeln; zum Kaffee nur mehr trockene 
Semmeln und keine hochaufgegangenen Kuchen mit Rosinen 
und Mandeln. Bei Lebzeiten Antoniens hatte in den Truhen 
und Kasten ein gründliches Durcheinander geherrscht, worüber 
sie oft und oft hatte seufzen müssen. Alle vierzehn Tage hatte 
sie schweren Herzens Schränke und Laden ausleeren und sich 
unter Berge von Kleidern, Wäsche, Strümpfen, Mänteln, An- 
zügen, Hemden, Hosen, Flicken, Bändern und Borten vergraben 
müssen wie ein Maulwurf, um sie wieder allmählich abzutragen, 
das Brauchbare und Unzerissene nach der Wäsche für jedes 
Kind in Stöße zusammenzustellen, das Schadhafte beiseitezu- 
legen zum Flicken und Anpassen, das ganz Verdorbene zu Staub- 
tüchern und allerlei sonstigem NebengebrÄuche abzutun, end- 
lich alles an seinem Platze zu bergen und erleichtert aufzuatmen, 
wenu sie die Türen der Schränke schließen, sich furchtsam 
umsehen durfte, ob nicht irgendwo noch ein unbedachtes Bün- 
del übriggeblieben sei, und feststellen, daß wieder alles halb- 
wegs in Ordnung war. Am nächsten Tage gab es freilich gleich 
das lustigste Kunterbunt, weil jedes der Kinder, ohne viel zu 
fragen, aus seinem Fach oder Schranke herausnehmen konnte, 
wessen es bedurfte, was ihm gerade nötig schien. Alle durften 
Wäsche wechseln, Taschentücher brauchen nach Belieben, und 
nur der eigentliche Feststaat lag unter Verschluß und beson- 
derer Aufsicht 

Jetzt wurde alles den „Verhältnissen" gemäß eingeteilt: ein 
Hemd, zwei Taschentücher, eine Hose, ein Paar Strümpfe für 
die Woche, nicht mehr, waren erlaubt und wurden am be- 
stimmten Tage ausgegeben. War vorher irgend etwas schad- 
haft geworden oder durch einen kindlichen Unglücksfall ver- 
dorben, so mußte es eben schamvoll und kläglich bis zum 
nächsten „frischen Wäschetage tt ausgetragen werden, sefs auch 
naß oder schmutzig oder zerrissen, aus „erzieherischen Grün- 
den", damit in Hinkunft besser darauf gesehen und alle „teuren 
Sachen" richtig geschont würden. Derlei Berechnung aus er- 
wachsener Vernunft stimmt aber ganz und gar nicht mit dem 
Herzen und Verstände von Kindern überein, denen im Grunde 

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än ihrem äußeren Wandel und Aussehen sehr wenig gelegen 
ist Können sie nicht alles ordentlich und nach Wunsch haben, 
was der Augenblick und das Bedürfnis eines angenehmen 
Körperzustandes fordern, so gewöhnen sie sich gewissermaßen 
auch an die Unordnung, scheinen ihnen doch Reinlichkeit und 
unzerrissene Kleider, Strümpfe, Wäsche ohnedies Vorurteile 
der Erwachsenen, kann man doch durchlöcherte und be- 
schmutzte Sachen viel bequemer und unbekümmerter tragen. 
Statt das weniger Erlaubte besser zu schonen, behandeln sie 
es bald um so gleichgültiger und lassen die gute Sonne warm 
durch die Löcher auf die Haut scheinen. Dürfen Wäsche und 
Anzug schmutzig werden und bleiben, so gilt für den Körper 
am Ende auch der eine „ reine Wäschetag u , um das leidige 
Säuberungsgeschäft obenhin und mehr nach der Vorschrift als 
von Herzen zu bewirken. Darum bleibt die mütterliche Duld- 
samkeit selbst inmitten der Kinderunordnung immer noch der 
klügere Erziehungsgrundsatz als die planmäßige Strenge, die 
von den Kindern eine Selbstzucht vorweg verlangt. Dann mögen 
wohl die Kasten und Zimmer äußerlich in schöner Ordnung 
sein, Wäsche, Kleider, Spielsachen wohlabgezählt in der rich- 
tigen Reihenfolge am Platze liegen, daß kein Stück verloren- 
geht, aber was nützt es, wenn die Dinge, die zum Gebrauche 
und zur Annehmlichkeit des Lebens dienen sollen, fernab im 
Schranke versammelt sind, während die Menschen, die sie 
brauchen, dafür tadelhaft, mit einem Loch im Ellenbogen und 
einem anderen im Strumpfe einhergehen. So können die 
strengsten Grundsätze zwar ein Zimmer instand setzen, aber ein 
Kind verlottern, während die Nachgiebigkeit und scheinbar 
planlose Weichherzigkeit einer Mutter doch im Grunde die 
weise Vernunft des lieben Gottes nachahmt, der auf den Zweck 
und das Eigentliche sieht, indem er die Mittel getrost ver- 
schwendet und gütig erneut Denn in der Natur — auch der 
Menschen — stellt sich eine Verschwendung der Mittel gar oft als 
die weiseste Sparsamkeit für den Zweck heraus, der schönste 
Umweg führt gelegentlich rascher und besser zum Ziel als der 
geradeste Weg. 

Alle die neuen Grundsätze sollten auch nach Charlottens Ab- 
sicht von den Kindern selbst verwirklicht werden. Nun waren 
diese aber klein und noch törichten Alters, außer Thea und 
etwa dem wilden Franz. Thea als die Älteste sollte mit elf 



Stovisl, Dm Haus Eratb 



177 



Jahren über die Jüngeren wachen und zusehen, daß sie in allem 
gehorchten und richtig lebten. Dabei hatte sie aber keine Macht 
über sie, nicht einmal über sich selbst, denn unrichtig, das heißt 
nach Lust zu leben, war auch ihr noch gemäß. Hatte sie den 
Kleinen irgend etwas Unangenehmes befohlen, so begann ein 
Geheul, das durch alle Wände dröhnte und die Großen jedes- 
mal in Angst und Schrecken versetzte, dann berichtete Thea 
den Streitfall, bekam aber nicht etwa recht, sondern wurde 
gescholten, weil sie nicht besser verstanden hatte, mit den 
Kleinen umzugehen. Hatte eines etwas zerbrochen, beschmutzt 
oder sich wehgetan, so wurde Thea gescholten, weil sie es nicht 
ordentlich bewacht hatte. Franz fuhr unter die Geschwister wie 
ein Strafgericht Gottes, so daß Thea mit der angstvollen Klein- 
sten vor ihm flüchtete, wenn es ihr nicht gelang, ihn irgendwie 
zu überlisten und dadurch klein zu kriegen. 
Bei aller Über- und Unterordnung ging es also im Hause erst 
recht drunter und drüber, und in den Kindern mußte sich, 
namentlich in der Ältesten, Thea, die schon wußte, was es 
galt, eine Selbstgerechtigkeit ausbilden, welche sogar die kalte 
Ordnung Charlottens verspottete und mit den Großen in Wider- 
spruch geriet So hatte sie einmal mit der kleinen Emilie irgend 
etwas versehen, irgend etwas recht Geringfügiges, und das auch 
nur, weil das Kind ihr nicht gehorcht hatte. Charlotte stellte 
Thea darüber zur Rede, die erklärte das Mißgeschick und ver- 
sicherte, vielleicht härter als gebührlich, ihre Unschuld. Darauf 
bekam sie neue Vorwürfe, die sie kecker erwiderte im Gefühl 
ihres Rechtes. Zur Strafe sollte sie nichts zu essen bekommen, 
ehe sie die Tante nicht um Verzeihung gebeten hätte. Das 
würde sie gewiß nicht tun, denn sie hätte nichts begangen, wo- 
für sie um Verzeihung bitten müßte. Gut denn, so müsse sie 
hungern. Gut denn, so wolle sie hungern. Sie hatte seit der 
Schule, seit dem Gabelfrühstück nichts gegessen. Man saß zu 
Mittag bei Tische, es war jetzt so eingerichtet, daß die Tanten 
mit den Kindern aßen, während Amersin und die beiden Her- 
ren Erath jeder für sich angerichtet bekam. Deshalb wußte 
Amersin selbst gar nicht viel von diesen kleinen Zwischenfällen. 
Aus den gleichen erzieherischen Grundsätzen hatte Charlotte 
veranlaßt, daß gerade heute lauter Lieblingsspeisen Theas zu 
Tische kamen, die aber saß still und mit geschlossenem Munde 
dabei, hatte Hunger, und es leckerte ihr nach den guten Din- 

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gen, sie hätte aber eher die eigene Zange zerbissen, als die 
Bitte um Entschuldigung vorgebracht. 

Agnes, die versöhnliche und milde, die in die Erziehung Char- 
lottens nur nicht dreinsprach, wie sie sich ja auch sonst der 
Herrschaft der Älteren fügte, redete Thea freundlich zu: „So 
sprich doch das eine Wortl tf 

Das Kind schüttelte bloß schweigend den Kopf, die kleinen Ge- 
schwister stießen einander lachend an und genossen das Ver- 
gnügen dieses Wettstreites im Rechthaben. Charlotte knüpfte 
allerhand aufmunternde Lehren und verblümte Aufforderungen 
an Agnes, denn im Grunde war es ihr ja auch nicht recht, daß 
Thea über Gebühr sollte hungern müssen, weil sie fürchtete, 
die Kleine möchte krank werden und sie daran Schuld bekom- 
men, aber sie wollte sich nichts vergeben. So geht es nämlich 
den Grundsätzen, daß sie vor noch härteren Grundsätzen erst 
recht eine Vermittlung brauchen. Aber Thea baute Charlotten 
keine goldenen Brücken, sondern hungerte still und mit einer 
gewissen Schadenfreude und richtete ihren Magen nach ihrem 
Willen ein. Und siegte über Charlotte, denn sie hungerte auch 
am Nachmittage, als man ihr den schönsten Milchkaffee und 
sogar ein verlockendes Stück mürbes Gebäck vorstellte, so daß 
ihr der nahe Wohlgeruch um das Naschen strich und das 
schöne „mürbe Paunzerl tt zum Greifen nahe kam, denn die 
Grundsätze wollten den n Eigensinn u bestechen und verführen. 
Agnes redete der kleinen Verstockten freundlich zu, selbst 
Charlottens Strenge zog schon milde Saiten auf, nur damit die 
„Autorität** nicht leide. Man kam der kleinen Sünderin auf 
halbem Wege entgegen, sie hätte nur das Wort „Verzeihung" 
gnädig von den Lippen der Tante sozusagen mit einem gerühr- 
ten Küßchen abzunehmen gebraucht, die es ihr schon so lange 
vorredete und darauf wartete, um alles, ja mehr noch zu bie- 
ten, als Thea bei der größten Bravheit und Schuldlosigkeit sonst 
je hätte, erreichen können. Die Fügsamkeit wäre belohnt ge- 
wesen, und das Schiimmsein hätte wegen des nachmaligen Hun- 
gerns sogar reichliche Zinsen getragen. Aber Thea lehnte in 
ihrer eigenen Gerechtigkeit solche Vermittlungen ab, sie wollte 
nichts anrühren, was ihr nicht gebührte, keine Schuld abbitten, 
die sie nicht begangen hatte. Die anderen Kinder sahen ge- 
spannt auf den Kampf zwischen Großen und ihresgleichen und 
hatten ihre Lustbarkeit dabei. Thea ließ den Kaffee, bis er 

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nicht mehr verlocken konnte, kalt werden und das „Pannzerl** 
unberührt. Sie schüttelte wort- und tränenlos den Kopf zu allem 
Zureden und ging nach der Jause hungrig zu ihrer Schularbeit. 
Am Abend hätte sie getrost weiter gehungert, aber da schickte 
Charlotte Agnes als Vermittlerin, die mit Thea unter vier Au- 
gen wie mit einer Erwachsenen verhandelte und bat, sie möchte 
doch um des lieben Friedens und um der anderen unvernünf- 
tigen Kleinen willen sich ohne viel besondere Bitten mit der 
Tante aussöhnen. So durfte Charlotte einen nicht gerade groß- 
artigen Frieden schließen. 

Beim Nachtmahl war alles ohne Zeremonie geordnet, von Un- 
recht und Bitten war nicht weiter die Rede, fhea bekam alle 
versäumten Eßherrlichkeiten nachgeliefert und das Gefühl des 
siegreichen Rechtes noch drauf. 

Gleichwohl stand sie zu den Tanten in einem näheren Verhältnis 
als die anderen, jüngeren Kinder, denn irgendwie war sie den 
beiden durch ihr Alter und ihre frühe Selbständigkeit, der Mut- 
ter beraubt, gewissermaßen weiblich näher. Und die zarte, trau- 
rige Anmut von Tante Agnes, sowie die geistvolle Lebendigkeit 
Charlottens machten auf das Kind als die einzigen nahen An- 
regungen stärkerer Natur bedeutenden Eindruck. Agnes be- 
faßte sich viel mit Thea, las ihr Gedichte und Märchen vor, 
sprach manches mit ihr, was Thea kaum verstehen konnte, aber 
um so lebhafter ahnte und empfand, namentlich wußte. Agnes 
das Andenken der Mutter wachzuhalten, indem sie von der Ver- 
storbenen immer wieder erzählte, wohl auch um sich selbst das 
liebe Bild zu vergegenwärtigen und vor dem Verblassen zu 
schützen, denn Agnes besaß ja jetzt nichts mehr als ihre Fa- 
milie. Diese Zugehörigkeit und alle ihre bürgerlichen Gewohn- 
heiten überhaupt wurden strenge eingehalten, kein äußerliches 
Zeichen versäumt, das dem Gefühl Halt gab. So trugen die 
Schwestern sechsMonate lang schwarze Kleider und lange schwe- 
bende Trauerschleier, und auch die Amersinschen Kinder gingen 
in Schwarz und trugen schwarze Schürzen, im zweiten Halbjahr 
graue. In diesem zweiten Halbjahre bekam Thea eine hart- 
näckige Augenentzündung und sollte über Anraten des alten 
Arztes, der zwar immer nach dem einstimmigen Urteil der Fa- 
milie „Unsinn** sagte, aber doch wohl irgendwie recht behielt 
und darum immer von neuem befragt wurde, eine Jodtrinkkur 
in Hall in Oberösterreich machen. 

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Agnes wollte mit Thea hinfahren und diese Zeit dazu benutzen, 
um über Einladung Gisas und Hermanns die Freunde in dem 
fernen Landhofe aufzusuchen und über diesen Umweg mit ihrem 
kleinen Schützling dann nach Hall zu reisen. 
Bei dem engen Leben der Familie war eine solche Reise schon 
an sich etwas Ungewöhnliches und ein mit tausend Vorbereitungen 
und Vorsichten auszuführendes Unternehmen, der Umweg über 
den Hof der Frau Rainer, der Besuch im Hause der glück- 
licheren Nebenbuhlerin, des treulosen Freundes etwas vollends 
Unerhörtes, schier Unmögliches. Charlotte entsetzte sich über 
Agnes* Absicht, und auch Amersin konnte sie nicht verstehen. 
Für ihn war mit der schweren Enttäuschung, mit dem notwen- 
digen Verzichte der Schwägerin ein Verhältnis natürlich abge- 
schlossen, dem seine Erfüllung versagt bleiben mußte. Man 
sollte darum das Vergangene auf sich beruhen lassen, nicht 
stören und aufreizen, das alte Gefühl mählich absterben, ver- 
sinken lassen und mit gefaßtem Gemüt in Ehren begraben, 
nicht es immer wieder hervorziehen, betrachten, um und um- 
wenden und sich dabei ein Leid sehen. Auch alle „Freund- 
schaft", von der zwischen den Beteiligten so gerne die Rede 
war, sollte man nicht auf die Probe stellen und standig betäti- 
gen, sondern in der Entfernung so lange auskühlen lassen, bis 
die Jahre und dazwischen tretende neue Verhältnisse sie etwa 
unschädlich machten, so daß man sich ihr als einer gefahrlosen, 
ausgebrannten Erinnerung widmen und mit Vorsicht nähern 
konnte. Aber mit ungeheilten Wunden geht man nicht zum 
Kampf, meinte er, und man langt nicht ins Feuer, denn es 
brennt Anders als einen Kampf konnte er sich eine solche 
Begegnung in dem Hause der Nebenbuhlerin nicht vorstellen, 
und anders als ein freilich gewürziges Feuer auch diese Freund- 
schaft nicht. 

Agnes wies jedoch alle Gegenreden ruhig ab und ließ sich ihr 
Vorhaben nicht bestreiten, vielmehr setzte sie der Schwester 
Charlotte ihre weiblichen Gegengründe zutraulich insgeheim 
auseinander, während sie den Schwager mit einer kränkenden 
Härte zurechtwies, denn sie dankte ihm seine damalige Hilfe 
ebensowenig wie sein abmahnendes Wohlwollen jetzt. Sie 
fühlte, daß er sie nicht verstehen konnte, und maß ihm in der 
Ungerechtigkeit ihrer Enttäuschung irgendwie auch ein Ver- 
schulden bei, daß alles so gekommen war. Amersin schwieg 

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denn und schickte sein ältestes Kind mit seiner jungen Schwä- 
gerin auf die Reise. 

Hermann übte in der Landstadt das Notariat nach seinem 
Oheim aus, der auch schon gestorben war, wohnte aber auf 
dem Hofe seiner Schwiegermutter, von wo er täglich ins Amt 
fuhr. Gisas erstes Kind hieß zu Ehren der Freundin Agnes, und 
diese sollte es eben jetzt sehen, würdigen und den Bund durch 
ihren Besuch gleichsam segnend bestätigen. 
Agnes und Thea wurden wohl aufgenommen, bewirtet und statt- 
lich beherbergt auf dem schönen Hofe, Gisa und ihre Mutter 
sowie Hermann bemühten sich um die lieben Gäste mit aller 
Herzlichkeit, Agnes sah mit der Wonne des Leidens die freund- 
lichen, offen daliegenden Verhältnisse dieses Lebens, sie hatte 
freilich kaum Gelegenheit, mit Hermann zu sprechen, denn 
immer war die ganze Gesellschaft und das Gesinde vereinigt, 
auch wäre ihr eine Auseinandersetzung mit dem Freunde in- 
mitten dieser Umgebung und ohne Wissen seiner Frau unstatt- 
haft erschienen, wenngleich ihr Blick oft den Mann suchte, wenn 
er es nicht merkte. In seinen Zügen glaubte sie eine gewisse 
Spannung, gelegentlich sogar einen früher nicht wahrnehmbare q, 
wohl auch nicht vorhanden gewesenen Ausdruck von Härte und 
Widerstreit mit sich selbst zu erkennen, verleugnete diesen Ein- 
druck aber sogleich als eine böse Einbildung. Hinwiederum 
suchten auch seine Augen gelegentlich und verstohlen die zarte, 
jungfräuliche Gestalt, das schmale, blasse Gesicht mit dem eigen- 
tümlichen Ausdrucke früher Vollendung und abgeschlossenen 
Lebens, mit seinem versonnenen Lächeln voll Verzicht, das ihn 
schmerzlich an seine schuldlos begangene Schuld mahnte, denn 
er hatte es versäumt, diesen Mund freudiger zu machen. Seine 
Augen folgten unwillkürlich der sanften abfallenden Linie die- 
ser Schultern. Wenn Agnes, die oft mit gesenkten Wimpern 
still dasaß und, seinen unwillkürlichen Blick ahnend, mit Mühe 
den ihrigen aufhob, sah er betroffen weg. Wie fseudig, lebhaft 
und laut indessen saß und stand, ging und kam Gisa, er dachte 
an ihr Lachen, an ihre weißen Zähne, an all ihre Frische und 
Fülle. 

Gisa hatte ihr Kind an der Brust und ließ es unbekümmert 
undVolz an ihrem weißen Busen trinken, indes sie es dankbar 
anblickte. Das kleine Wesen lag in ihren Arm geschmiegt, 
wohlig versunken an ihrer Wärme, bis es J sich gesättigt mit 

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einem leisen behaglichen Pnrren abwandte, das feuchte Münd- 
chen halb offen und die schwarzen Augen, Frau Rainers und 
Gisas große, freie Augen, zum blauen Himmel gerichtet Die 
junge Mutter wollte rasch vom Hause Windeln holen, um es 
hier in der Sonne, auf der Gartenbank umzulegen, denn das 
Kleine sollte ebenso im Freien und im Lichte gedeihen wie 
sie selbst, inmitten von Bienen, Obst und Stauden. Unwillkür- 
lich schaute Gisa um sich, wem sie derweile das kleine Bündel 
am besten übergäbe. Und so legte sie es Agnes in den Arm. 
Diese faßte es angstvoll wie den zerbrechlichsten Gegenstand 
an und bemühte sich, es kunstgerecht zu halten wie die Mut- 
ter, die rasch ins Haus davonging. Sie sah mit einem besorg- 
ten und unwillkürlich beglückten mütterlichen Ausdruck auf 
das Kind, vermochte es aber, unerfahren wie sie war, doch 
wohl nicht richtig zu halten, oder es fühlte eben die Fremde, 
kurz, das kleine Wesen verzog schmerzlich den Mund und be- 
gann leise zu weinen, bis Gisa zurückkam, lachend und über- 
legen der betretenen Freundin die unangemessene Last abnahm 
und damit ganz ohne besondere Behutsamkeit, kräftig, eben 
so sicher umging, daß die Kleine gleich wieder beruhigt und 
sanft einschlummerte. So verglich Hermann unwillkürlich die 
Bilder der beiden und zürnte sich selbst, daß er es wieder und 
wieder mußte, diesmal vor den lebendigen Wesen. 
Dazwischen stand seine junge Frau mit heiteren, roten Wangen, 
mit dem großen lachenden Munde, voll in ihrer körperlichen 
Fröhlichkeit, das Kind in den Armen als den Triumph .und 
Zeugen ihres Sieges, ging neben dem zarten, vornehmen Gaste 
kräftig ungezwungen in ihren bäuerlichen Kleidern, üppigen, in 
den Hüften sich wiegenden Ganges durch die Wirtschaft, winkte 
ihm dabei arglos zu und ruhte sicher in ihrer Gegenwart unter 
den laubenden Bäumen und gackernden Hühnern und summen- 
den Bienen, eins mit allem, was sie liebte. Nicht anders auch 
die Rainer Gusti, die Agnes überlegen freundlich unter ihre 
Fittige nahm, Thea aber lief frei und lustig wie noch nie mit 
drein. So vergingen zwei Tage und zwei Nächte unter dem 
fremden Dache. Die Nächte rauschten wunderlich in dem wan- 
dernden Wasser und den bewegten Bäumen im Winde draußen. 
Agnes konnte nicht schlafen. Eine große, fremde Welt ging voll 
Bewegung um sie her und schien sie wie eine zarte, gefesselte 
Beute lachend von allen Seiten zu betrachten, um- und umzu- 

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wenden, zu wägen und gar zu leicht zu befinden, denn vor der 
Frau Rainer und vorGisa mußte sich bald einer zu gering fühlen. 
Welch ein selbstverständliches Wohlsein in dieser Welt, welch 
gutes Gewissen und behagliches Gleichgewicht! Jeder konnte 
sich selbst schon manches getrost erlauben und auch dem lie- 
ben Nächsten gestatten, ohne daß darum gleich alles ins Wan- 
ken kam, was auf den sicheren Säulen leiblicher Gesundheit 
und der Natur selbst ruhte, aber auch auf der strahlenden Säule 
eines starken Geistes. Der konnte nicht enttäuscht werden, 
weil er alles kannte. Er war den Frauen hier eigen, nicht er- 
worben oder anerzogen, eigen wie ihre mächtigen, zur Arbeit 
wie zum Kampf, zur Liebe wie zur Mutterschaft gleich bereit- 
willigen Leiber, er machte ihre Stimmen so klar und hallend, 
ihre Heiterkeit so strahlend wie den blauen Sommerhimmel, 
ohne Spott, aber auch — - Agnes gestand es sich — ohne Güte, 
denn die Freundlichkeit dieser Frauenzimmer war Güte aus 
Wissen, aus Macht, aus Überlegenheit, Güte aus Kraft und 
Freiheit, nicht Güte aus Liebe oder Demut und Frömmigkeit. 
Doch war solche Güte aus Geist und Willen nicht mehr und 
würdiger als alle eigentliche wahllose Güte aus Schmerz und 
Schwäche? Wenn man diese Güte gewissermaßen heidnischer 
Frauen, diese heitere, gewaltige Freundlichkeit unbekümmer- 
ter Götterwesen spürte, war sie stark wie die Luft hoher Berge, 
regte alle Kraft des eigenen Gemütes auf und war so voll Wild- 
heit wie das Schlechte, Böse, Verderbliche, das gleicherweise 
in den Brüsten dieser Göttinnen hauste wie die Stürme im 
Schlauch des Windgottes und nur gefaßt und tief bezwungen 
war. Wehe der Welt, die es erweckte und zum Ausbruch zwang, 
denn diese neue Güte kam aus dem Willen und dem hohen 
Verstände, nicht aus der unabänderlichen Notwendigkeit einer 
unbewußten Natur, die selbst gütig bleiben muß unterm Schwert, 
am Kreuz und gegenüber dem Bösen und Gemeinen. So mußte 
Agnes die hohe Freundlichkeit der beiden Frauen zwar Güte 
nennen, aber als mehr und weniger als Güte ansehen. 
Agnes hatte kein Wort für diese Größe des Gemüts, die sie 
ahnte und mehr als überlegenen Geist, denn als gleichatmen- 
des Herz empfand, obgleich auch diese Freundlichkeit ebenso 
aus der vollen Natur und selbstverständlich handelte wie jene 
andere, demütige notwendige Güte, die Agnes meinte. Es war 
eine neue Eigenschaft neuer Menschen, die über ihre Begriffe 

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?ing, wie ja auch die hohen Gestalten der beiden Franen das 
Maß von Agnes überschritten. An Hermann dachte sie in diesen 
Nächten mit einem leisen Mitgefühl, vor dem ihr graute. War- 
um neidete sie ihm sein Glück bei Gisa nicht? Warum zwei- 
felte sie daran? Irgendwie schien er ihr in dieser Welt fremd 
wie sie selbst, trotzdem er hier lebte und ganz in ihr aufge- 
gangen war. Es fielen ihr die alten Märchen ein von den Göt- 
tinnen, die Sterbliche zu Gatten gewählt hatten und, selbst nicht 
alternd, den Gemahl allmählich in Greisentum und Schwäche 
versinken sehen mußten, weil ihm die ewige Jugend versagt 
und er ihnen darum nicht gewachsen war. Dann schämte sie . 
sich dieser Gedanken und vertrieb sie, um sich wieder der 
eigentümlichen suchenden Blicke Hermanns zu entsinnen. Sie 
spürte diese Blicke noch jetzt in der Nacht und Dunkelheit wie 
Stiche in ihr Herz. Nein, ihr eigenes Gefühl, es war doch rahig. 
sie stand vor diesem großen fremden Leben wie vor einem 
vollkommenen Bilde, an den dargestellten Menschen hatte sie 
keinen Anteil mehr. Woran hatte sie überhaupt noch Anteil? 
Und wenn sie die höhere geistige Güte dieser Frauen hier be- 
dachte und bedenklich fühlte, wie arm war sie, die überhaupt 
nicht gütig sein konnte, die keinen Menschen hatte, für den sie 
sich hätte opfern mögen, keine Liebe, weder zu Mann noch 
Weib, weder zu Tier noch zu Pflanze, geschweige denn zu sich 
selbst, und gar keine Demut der Unterwerfung. Sie lag einsam 
und kühl, buchstäblich kühl bis ans Herz, aber mit heißem, 
fieberndem Kopfe in der rauschenden Einsamkeit dieser Nächte. 
Neben ihr atmete in die flaumigen Federbetten versunken die 
schlafende Thea sanft und gleichmäßig. Agnes versuchte, sich 
einzureden, daß sie für dieses Kind wie eine Mutter sorge, und 
dachte voll Bitterkeit, wie Gisas Kind in ihren ungeschickten 
Armen geweint hatte. In diesen beiden Tagen und Nächten 
erst glaubte sie alles verloren zu haben. 
Dann fuhr sie mit ihrem Schützling nach Hall. 

16. 

Zum ersten Male war die kleine Thea in der Fremde, von der 
Mutter für immer, aber auch vom Vater fern, mit dem sie ein 
ihr selbst noch unbewußtes stetiges Gefühl verband, wenn er 
ihr auch scheinbar nicht so nahe war wie ehedem die Mutter 
und die Tante. Aber das eine spürte sie doch, daß er sich 

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wenigstens im Herzen um sie kümmerte, das bezeugten seine 
Fragen, wenn er abends nach Hause kam, hier und da ein 
Blick, seine Strenge oder ein Scherzwort, denn er war eigent- 
lich ein heiterer, gütiger Mann. Und nun fehlte ihr das alles, 
die tagliche Ordnung in Wien bot doch ihre Abwechslung und 
gelegentliche Freiheit, denn sie ging in die Schule, kam unter 
Kinder, fand ihre Geschwister um sich, wenn sie auch mit ihnen 
nicht viel anfangen konnte, sie las, sie hatte den Garten an 
ihrem Hause, die Straßen der Stadt, hier aber war die lang- 
weilige ländliche Öde des kurmäßigen Nichtstuns, von einer 
Mahlzeit zur andern schleppte sich die sommerliche Langeweile 
hin, deren Vorteile für Seele und Körper das lebhafte Kind 
wohl noch nicht würdigte, 

Tante Agnes machte mit ihr lange Spaziergänge durch die 
schönen Wälder des Ortes, und sie mußte sorgfältig angezogen 
in ihrem grauen Halbtrauerkleidchen mit schottischen Strümp- 
fen und einem schwarzen Strohhütchen auf dem Kopfe lang- 
sam, das braune Haar offen bis zu den Hüften fallend, in guter 
Haltung, die ihr immer wieder eingeschärft wurde, neben der 
Tante gehen. Fortlaufen und Springen war nicht erlaubt, sie 
hätte sich erhitzen und dann erkälten können, auch schienen 
übermäßige Bewegung und Fröhlichkeit nicht zu dieser Trauer- 
zeit passend, und was das schlimmste war, es gab bei diesen 
Spaziergängen einen Himbeerschlag nach dem andern voller 
Beeren, die dem Vorübergehenden schier ins Gesicht schlugen, 
aber sie durfte keine pflücken, denn während der Trinkkur war 
ihr der Genuß von rohem Obst untersagt 
So drückten Zeit und Verbote schwer auf dieses kleine Herz, 
und wenn Thea in dem kahlen weißen Hotelzimmerchen in 
ihrem übergroßen Bette lag, begann sie Abend für Abend un- 
willkürlich zu weinen und zu schluchzen. Sie wußte, daß sie 
Tante Agnes damit aufwecken konnte, trotzdem gab sie sich 
gar keine Mühe, ihre Klage zu unterdrücken, vielmehr wollte 
sie eigentlich die große Tante just damit stören, denn sie be- 
gehrte nach Trost, daß man sich um sie kümmere, daß irgend 
jemand ihr nahe sei, wie einst die Mutter, zu der sie abends 
ins Bett gegangen war, um bei ihr zu plaudern und vor dem 
Einschlafen noch etwas Liebe nach der vielen Liebe aller Tage 
draufzubekommen. Sie wußte, auch Tante Agnes habe sie Heb, 
aber so anders, als sie es meinte und wollte. Es hätte ihr frei- 

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Kch wohlgetan, wenn Agnes sie auf die Knie genommen und 
geherzt und ausgefragt und beschwichtigt hätte, sehr wohl, wenn 
sie an ihrer Brust hätte einschlafen dürfen, aber vielleicht hätte 
es ihr auch genügt, mit der schönen feinen Tante nur noch 
sprechen zu dürfen, diese sanfte ruhige Stimme zu hören und 
unter gleichmäßigen, tröstenden Worten in den gleichmäßigen 
tröstenden Schlummer zu versinken. Aber Tante Agnes lag 
still und streng in dem Bette gegenüber und schlief. Oder tat 
sie nur so? Erwachsene liegen doch länger wach als Kinder. 
Sie mußte das Weinen Theas und diese schluchzende, ratlose 
Klage doch vernehmen, die jeden Abend anfing, sowie das 
Licht gelöscht war, und unbekümmert stöhnend, dann lang- 
sam sich beruhigend erst später in das tiefe Atmen des Ver- 
gessens überging. Aber sie gab wohl vor, Thea nicht zu hören, 
sei es aus einer rechten Verlegenheit, weil sie nicht wußte, 
womit sie das arme Kind trösten konnte, sei es aus einer Ver- 
wandtschaft des Leidens, die selbstsüchtig die eigenen Gründe 
und Quellen der Tränen verschloß, die wissender, leidenschaft- 
licher und ratloser geflossen und laut geworden wären, wenn 
sie sich dem Kinde zu erkennen gegeben hätte. Alle Scham 
und Strenge hielten sie zurück, und so brachte sie es über sich, 
mit offenen Augen vor diesem nächsten Kummer dazuliegen 
und ruhig zu atmen als wie im gerechten, unwissenden Schlafe, 
und selbst den Seufzer zu unterdrücken, der ihren Schmerz zu 
dem des Kindes hätte hinübertragen können in das wohlbe- 
kannte, gemeine Weh des wachenden, wissenden Lebens. 
An einem Morgen saß sie mit Thea im Kurhause beim Früh- 
stück, als ihr der Kellner eine Karte überreichte auf der mit 
wohlbekannten Schriftzügen geschrieben stand : Doktor Klee. 
Agnes errötete tief und sagte, rasch gefaßt, sie lasse bitten. 
Thea las die Karte, da trat auch schon der Angekündigte hin- 
zu: Hermann, im Reisegewand, und begrüßte die beiden, als 
sei sein Erscheinen und unter diesem Namen selbstverständ- 
lich. Agnes erhob sich : „Komm, Thea, wir gehen mit Onkel 
Doktor spazieren. Du darfst vorausgehen, aber laufe nicht, 
sondern bleibe schön ruhig und erhitze dich nicht, kleiner 
Wildfang.« 

Das ließ sich Thea nicht zweimal sagen, sondern sprang wie 
erlöst davon, nachdem sie dem Gaste nur flüchtig die Hand 
gegeben« 

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Dies eine Mal befreit, fühlte sie sieb gleich froh. Vorsichts- 
halber sah sie sich freilich zuweilen nach Tante Agnes um. 
Die ging langsam, ins Gespräch vertieft, neben dem sogenannten 
Doktor Klee und kümmerte sich nicht weiter um Thea. Wenn 
diese ihre erfreuliche Freiheit also bestätigt und für eine Weile 
erstreckt sah, lief sie um so rascher mit hohen Sprüngen weiter, 
der Wald begann gleich zu sprechen, es gab allenthalben wun- 
derliche Pilze, Spechte klopften die Bäume ab, Sonnenstrahlen 
flitzten munter über graue Stämme, Kröten hüpften träge wie 
unversehene Erdgeister neben ihrem Fuß, dann kam der Him- 
beerschlag. 

Sie blickte wieder zurück. Tante Agnes saß neben dem Doktor 
auf einer Bank und sprach so eifrig mit ihm, daß sie wohl nicht 
darauf achtete, ob Thea einmal Himbeeren äße. So aß Thea 
denn volle zwei Stunden lang Himbeeren in der vollen Sonne, 
glühend, den lästigen Strohhut abgeworfen, das graue Kleid, 
die feinen Strümpfe von Dornen zerrissen, von Kletten besteckt, 
vom Kauern zerdrückt, von Erde beschmutzt, aß und aß Him- 
beeren, süße, berauschende, gar nicht sättigende Himbeeren, 
die ihr, wie viele sie auch pflückte, immer neu unter die feuch- 
ten, klebrigen Finger und in die Lippen wuchsen. 
Tante Agnes aber saß neben ihrem Gaste und sprach zwei 
lange Stunden lang unter der gleichen Sonne, und las Worte 
von den fremden Lippen oder Blicke aus den fremden Augen, 
und genoß die reizende Bitterkeit dieser ihrer Lese: fremde 
Freundschaft, wie Thea die verbotenen Himbeeren. 
Endlich rief sie das Kind, selbst glühend von Sommerhitze und 
Erregung, aber heiteren Angesichts, und schien gar nicht zu 
bemerken, wie zerrissen und wild die kleine Schutzbefohlene 
aussah, und daß sie so unmenschlich viel verbotene Frucht ge- 
nossen hatte. 

Noch am selben Tage reiste der vorgebliche Doktor Klee wie- 
der ab. 

An diesem Abend weinte Thea nicht, sondern fiel halb ausge- 
zogen, ungewaschen und ohne daß Agnes auf dem Zähneputzen 
bestand, sogleich in ihren satten, gerechten Kinderschlaf, und 
Agnes, welche die ganze Nacht wach lag, hätte ihren Tränen 
freien Lauf lassen können und nicht wie eine Gebundene 
auf dem Rücken liegen müssen, damit keine einzige Bewe- 
gung ihres Körpers die ihres Herzens verrate, das ihr bis zum 
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Halse hinauf schlug, so daß sie fürchtete, das Kind müsse es 
hören. 

Nach vierzehn Tagen war Theas Kur vollendet, und sie kehrte 
noch im August mit Agnes nach Wien zurück, gebräunt, um 
ein gutes Stück gewachsen und verstandiger geworden, wie alle 
Großen versicherten, wenn auch ihre jüngeren Geschwister 
davon nichts zu bemerken schienen, die sie nach wie vor miß- 
achteten und umtobten. 

Um diese Zeit wohnte Frau Elisabeth Frantzl mit Corona und 
Albrecht in einem der nahen Sommerfrischorte an der West- 
bahn, wohin ihr Mann jeden Abend nach Geschäftsschluß hin- 
ausfahren und wo er wenigstens den Sonntag zubringen konnte. 
Sie hatten ein kleines Häuschen gemietet, das hart am Walde 
lag. Sie konnte von der Türe unter die einsamen Fichten tre- 
ten, deren Atem ihnen ins offene Fenster wehte. Die beiden 
Kinder entwickelten sich erfreulich anzuschauen, aber mit frü- 
hem Ernst, denn die beständigen Mißhelligkeiten der Eltern, 
die sie früh wahrnahmen und verstanden, zwischen denen sie 
bekümmert vermittelten und umhergehen mußten, als sei so 
alles recht und selbstverständlich, machten die beiden guten 
und verträglichen Kleinen allzufrüh verschlossen und ängstlich, 
war es doch nicht anders, als wenn Corona und Albrecht stünd- 
lich nach dem Wetter auslugen müßten, das über dem Ehe- 
himmel der Eltern stand, ohne doch das Gewitter verhindern 
zu können, das etwa aufzog, wenn der Vater irgendetwas tat 
oder sagte, was die Mutter schlecht aufnahm, oder wenn diese 
gereizt und mißvergnügt sich von ihm abwandte. 
Coronas sanfte, eigentlich heitere Natur war von der Liebe zu 
den Eltern so ganz gefesselt, daß sie auch mit diesen unauf- 
hörlichen Zwistigkeiten, die zwar immer rasch vergingen, aber 
ebenso schnell auch wieder ausbrachen, durchaus befaßt blieb 
und gleichsam nur in den Zwischenzeiten sich selbst gehörte. 
Dann konnte sie vergnügt bescheiden zwitschern, singen und 
springen wie eine Meise. Hingegen hatte Albrecht etwas 
Schwerblütiges, Versonnenes, dabei Zartes und Demütiges, das 
selbst die notwendige Gemeinschaft des Hauses still und ent- 
schieden beiseite zu setzen und in seiner eigenen Welt zu leben 
schien, von der die anderen wenig wußten, weil er auch gar 
nicht das Bedürfnis der Mitteilung hatte. Er saß, jetzt neun- 
jährig, am liebsten über einem sauberen Blatte Papier und 

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zeichnete, die Umrisse and Flächen gelegentlich mit Wasser- 
farben ausfüllend. In der Stadtwohnung wies man ihn immer 
mit dem vielen Papier und den Stiften, mit den Farben, Pin- 
seln und Näpfchen ans den sauberen Zimmern, denn Elisabeth 
haßte jede Unordnung. So war er bald gewöhnt, sich eine Ecke 
in dem nicht sehr lichten Vorzimmer herzurichten, wo er Blatt 
um Blatt mit Figuren bedeckte und dies und jenes gelungene 
Bildchen zu einem Namens- oder Geburtstage der Mutter, des 
Vaters fertigstellte, das zwar gern begrüßt und gelobt wurde, 
wovon man aber nicht weiter Aufhebens machte, als von einem 
Knabenspielwerk. 

Hier auf dem Lande konnte er sich im Walde nach Belieben 
ausbreiten und still vergnügen. 

Elisabeth war schon am Morgen mit den beiden Kindern drau- 
ßen und saß an einem grob gezimmerten Tischchen auf einer 
Bank mit einer Handarbeit beschäftigt, Corona strickte an einem 
endlosen Schulstrumpfe, man sah von diesem Platze über ein 
freundliches, von kleinen Landhäusern, als von lichten Flecken 
übersätes grünes Tai. Unten zog gelegentlich mit fernem Brau- 
sen und Pfeifen ein Eisenbahnzug wie eine schnelle Raupe vor- 
über, während seine Rauchwolke schwarz aufstieg, um sich bald 
in das wohlige blaue Nichts aufzulösen. Elisabeth genoß so 
recht die belebte Stille der Stunde, sie las einen Brief des Va- 
ters, der heuer, wie manches Jahr eine kleine Ferienreise nach 
Schwaben unternommen hatte, um ländliche Sommertage bei 
seinen Verwandten in der Heimat zu verbringen, wohin es ihn 
trotz aller Wiener Bürgerschaft und städtischen Eingelebtheit 
immer wieder zog. Er schrieb von den Feldern und wie es mit 
der voraussichtlichen Ernte stand. Das Obst war gut geraten 
und beschwerte die vollen Bäume, so daß man jeden fünffach 
stützen mußte. Es gab gute Aale dort, die seine Nichte in 
Speichingen aus dem Kalter nahm, wann immer man Lust hatte, 
und sogleich am Feuer briet Von den eigenen und von den 
Angelegenheiten seiner Kinder schrieb er nichts, denn er wollte 
sich draußen wohl von allem Gewohnten erholen und an dem 
Altvermißten ergötzen. Vermutlich unterhielten ihn sogar die 
Sorgen seiner Bauernanverwandten draußen, während er die 
eigenen in der Stadt, geschweige denn die der Kinder bis zum 
Überdruß kannte und nicht weiter berühren mochte« Wozu 
auch von Sachen reden, die ohnehin jeder wußte? 
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Elisabeth, die Schiller liebte und immer wieder las — es war 
die Zeit noch, wo jeder Deutsche nach einem schönen Worte 
bei diesem Dichter in die Kirche ging — , besann sich gleich 
dem Bibelfesten, dem je und je ein kerniges oder rätselvolles, 
tief dunkles oder sonnenüberglänztes Sturm- oder Friedenswort 
der heiligen Schrift einfällt, unwillkürlich auf folgende Verse: 

„Auf einer Insel in des Äthers Höhn 

Hab' ich gelebt in diesen letzten Tagen, 

Sie hat sich auf die Erd' herabgelassen, 

Und diese Brücke, die zum alten Leben 

Zurück mich bringt, trennt mich von meinem Himmel. u 

Gerade die eigentümliche hohe, von unstillbarer Sehnsucht bis 
zum Überfließen gefüllte, dennoch gehaltene Schwermut des 
bürgerlichsten deutschen Dichters, der inmitten tragischer Ge- 
stalten und Schicksale immer das sanfte, zärtliche, menschlich 
Einfache begehrt und gleichsam den blühenden Wiesenweg 
sucht, der vom Abgrunde in eine Stille wegführt, wo das Er- 
habene sich selbst vergessen und sein notwendiges Verhängnis 
von Freiheit und Untergang hinausschieben möchte, als könnte 
der Sturz unaufhörlicher Gewalten einen ewigen Augenblick 
hinzögern, diese tief begreifliche, doch bürgerliche Angst vor 
dem heraufbeschworenen Ungemeinen schien Elisabeth so ganz 
aus dem eigenen Herzen gesprochen, als wüßte dieser göttliche 
Mensch ihre ungesagte Not, ihr ungelebtes Leben, und als läse 
sie aus seinen Szenen, was sie selbst hätte darstellen und sein 
mögen, wäre sie nicht arm und abhängig und so einsam und 
gering gewesen, wie sie eben sein mußte. 
Aus diesen Gedanken erweckte sie plötzlich die Stimme 
Albrechts, der von seinem Zeichenblatte, den Pinsel in der 
Hand, aufsah und wie auf eine von der Luft eingeflüsterte 
Kunde antwortend, mit klarer, sachlicher Stimme sagte: 
„Mutter, Tante Agnes ist gestorben. 4 * 

Entsetzt verwies ihm Elisabeth solche ungeheuerliche Worte und 
unterdrückte ihre Angst über die merkwürdige Gewißheit des 
Knaben, der, gleich verstummt, ernsthaft weiterzumalen fortfuhr. 
Am Abend kam ihr Mann blaß und verstört zur Tür herein. 
Er brauchte nichts erst zu sagen. „Sie schrie auf: „Agnes l u 
Da bestätigte er die Nachricht. Sie war nur zwei Tage lang 
krank gewesen, Charlotte hatte sie gepflegt und nicht einmal 

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2eit gehabt, jemand zu benachrichtigen, geschweige denn selbst 
zu glauben, daß es so rasch aus sein könne. 
Agnes lag in ihrem Mädchenzimmer, aufgebahrt, in der Mitte 
des Raumes, aus dem man alle Möbel weggenommen hatte bis 
auf ein paar Stühle an den Wänden. Sie lag unter Blumen und 
Kränzen, die Fenster waren geschlossen, die Rouleaux herab- 
gelassen, zu Häupten des Bettes brannten die Kerzen in den 
Leuchtern, der Wachsgeruch schwelte mit den starken Düften 
der Kirchenlilien und vielen roten und weißen Rosen zusammen, 
deren schwere Fülle vom Boden bis zu dem weißen Lager ge- 
häuft war, auf dem die junge Tote lag wie das Dornröschen 
— so schien es Thea. > 

Agnes lag in einem weißen Seidenkleid da, die weißen Hände 
über der Brust gefaltet, ein kleines Goldkreuz, das sie bei Leb- 
zeiten immer getragen hatte, an einem dünnen Kettchen um 
den Hals, mit rosigen Wangen, die Lider mit den schweren, 
dichten Wimpern gesenkt wie im Schlafe, um den Mund einen 
eigentümlichen, nicht gelösten Zug, als verlangte ihn zu trinken, 
die Lippen, rot und leuchtend, waren halb geöffnet, man sah 
die weißen Zähne hervorschimmern. Das volle braune, kupfrig 
leuchtende Haar war aufgelöst, umgab die klare Stirn und 
breitete sich gleich einem seidigen Flor unter dem runden 
Kopfe und über das weiße Kissen und über ihre Schultern aus. 
So lag sie da nach einer unsagbaren Qual zweier Krankheits- 
tage. Sie hatte unstillbaren Durst gehabt, der Arzt jeden Trunk 
verboten und Charlotte nicht gewagt, ihr Wasser zu geben. Mit 
Morphium hatte man sie über den Schmerz ins Hindämmern 
zu bringen gesucht, bis sie dem rätselhaften Ansturm des un- 
bekannten Leidens am Vormittage des dritten Tages erlegen 
war, zur Stunde, als Albrecht ihren Tod verkündet hatte. 
In der Ecke des Zimmers saß ein stummer Mann, das Haupt 
in den beiden Händen tief herabgeneigt, und überdachte dieses 
ungelebte Leben, das hier entseelt und märchenhaft vor ihm 
lag, und das er versäumt, wie es ihn versäumt, das er erweckt 
und nicht erfüllt, das ihm bestimmt war und das er nicht er- 
reicht hatte, indes er ein Fremdling war in jenem glückhaften 
Lande, das seine Flucht gesegnet und „ihm große und feine 
Stätte gegeben hatte, die er nicht gebauet, und Häuser, alles 
Guts voll, die er nicht gefüllet, und ausgehauene Brunnen, die 
er nicht ausgehauen, und Weinberge und Ölberge, die er nicht 
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gepflegt, daß er esse und satt werde 44 . Dieses jungfräuliche 
Land aber hatte er gesehen, geahnt und verlassen. Eine tiefe 
Scheu hielt ihn ab, auch nur die Hand der Toten zu berühren, 
selbst sie so lange und zum letzten Male anzusehen, denn es 
war ihm, als könnte und müßte sie noch einmal die schweren 
Lider erheben und ihn fragend, vorwurfsvoll ansehen, und als 
verlangten diese halb offenen Lippen nach einem Trünke, den 
niemand mehr bieten konnte. 

Charlotte kam je und je in das Zimmer und schluchzte tief, wenn 
sie vor der Toten niederkniete, ein kurzes Gebet verrichtete 
und sich rasch wieder erhob, weil alle Sorgen dieser Tage auf 
ihr allein ruhten, denn niemand war im Hause, der ihr helfen 
konnte. Der gebeugte Fremde aber saß unverwandt in seiner 
Ecke, das Haupt in den Händen. 

Manche Bekannte des Hauses kamen, betrachteten mit flüstern- 
der Teilnahme die wunderschöne Tote, legten Blumen zu den 
Blumen, Worte zu den Worten, sahen den Fremden und gingen 
wieder. 

Unter ihnen ein hoher, bleicher Mensch mit sanften braunen 
Augen voll Tränen, der blieb vor dem Lager stehen, die Hände 
ineinandergeschlungen und betrachtete Agnes so lange, so in- 
ständig, wie er sie zu Lebzeiten nie hatte ansehen können. Er 
war seit Jahren schon nicht mehr ins Haus gekommen, seit 
seinem geschäftlichen Untergange damals, sei es, daß er sich 
selbst ferngehalten hatte, sei es auf ein, wenn auch unausge- 
sprochenes Verbot seines Onkels. 

Der Sitzende sah unwillkürlich auf und entdeckte die entfernte 
Familienähnlichkeit des Mannes mit Agnes, die ähnlich geformte, 
kühne, schmale Nase, den Zug der Lippen. 
Der Stehende bemerkte den in der Ecke Gebeugten, beide 
maßen einander still, doch nicht gleichgültig oder feindlich, 
denn dieses schöne, nun ganz entrückte Wesen auf seinem 
weißen Lager über den vielen Blumen verband sie. 
Endlich grüßte der Stehende den Gebeugten, und dieser dankte 
mit einem kurzen Neigen des Hauptes, und Wilhelm Alter über- 
ließ die teure Tote dem Fremden. 

Man bestattete Agnes in einer Familiengruft auf dem Mödlinger 
Friedhofe, die August Erath schon vor einem Jahre aus Anlaß 
des Todes der Antonie Amersin hatte erbauen lassen. 



Sfoessl, Das Haus Erath {3 193 



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Zweites Buch 



i. 

Im Gartenhäuschen saß der gewesene Fuchsmajor und ver- 
spätete Doktor Amberg vor dem Flügel, das „Meistersinger- 
vorspiel 4 * auf dem Pulte aufgeschlagen. Charlotte, die ihm 
verzückt zugehört hatte — das höchste Musikverständnis ergibt 
sich immer aus der Verliebtheit — , trat hinter ihn, umfaßte 
ihn, zog seinen Strubelkopf hintenüber an sich und küßte ihn 
auf die Stirne, die Augen, den Mund, recht mannigfaltig und 
genau. Amberg ließ es sich mit einem behaglichen Murren 
ohne besondere Leidenschaft gefallen, da sagte sie: „Nun, 
Liebster, ich bin toll und du bist vernünftig, vordem war es 
umgekehrt." Amberg lächelte. Wie liebte sie diese Teufelei 
an seinem Munde, überhaupt dies sinnfällige, mannigfache Spiel 
von Zügen, die wie auf dem offenen Schauplatz der mensch- 
lichen Leidenschaften und Gedanken über dieses gescheite 
Gesicht hingingen, einander bestätigten oder widersprachen 
und kamen und flüchteten. Nie waren diese grauen Augen 
gleichgültig, immer voll Geist, ob sie nun in gelegentlichen 
spöttischen Blicken aufblitzten, sich nachdenklich vor der Welt 
gleichsam sehend verschlossen, oder ob sie beim Sprechen in 
munterem Feuer von Einfällen glänzten. Sie gestand sich gern 
ein, daß sie gerade Ambergs Fehler als eben so viele Vorzüge 
liebte, seine Bosheit, die mit Spott über die Menschen kam 
und alle Schwächen ausfindig machte, seinen durchdringenden 
Verstand, der unklare Gefühle bei sich wie bei anderen aus- 
trieb, sogar seine unleugbare Selbstsucht — denn die konnte 
sie zu allererst merken und spüren — , die alles und jedes so- 
gleich abschätzte, ob und wie er es für den eigenen Nutzen 
und Gebrauch verwenden könne. Kam seiner Bedeutung solche 
Selbstsucht nicht zu, war sie nicht gerecht? 
„Nun, du sagst nichts dazu, daß ich toll bin? Das war nicht 
immer so, mein Lieber, und wird auch nicht immer so sein. 
Aber dann will ich rnhig bleiben und dich toll sehen.** 
„Warten wir's ab, zahme Katze, 4 * sagte Amberg und zog, sich 

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mit einem Schwung wieder zurechtrückend, Charlotte mit, so 
daß sie neben ihn zu stehen kam. 

„Wie denkst du vom Heiraten? Ich meine, wir könnten einmal 
darüber reden, wenigstens zur Unterhaltung. 14 Sie lächelte un- 
sicher, weil es ihr einige Mühe verursachte, selbst vom Heiraten 
anzufangen, denn es stand von Rechts wegen ihm zu, davon zu 
sprechen. Er aber hatte schon lange nichts davon gesagt, 
nicht einmal die entfernteste Anspielung, die man auch nur 
mit sanfter Gewalt hätte deuten können, als denke er daran. 
„Je nun, kommt Zeit, kommt Rat," man hatte doch immer ein 
Sprichwort, um eine Sache zu umgehen. 

„Nein, mein Lieher, kommt Zeit, geht Rat." Man wurde ver- 
teufelt geistreich, wenn man ihn überreden wollte. 
„Keine Angst Wir werden uns schon Rat wissen." 
„Du meinst, ich bliebe dir schon auf alle Fälle?" Sie runzelte 
dabei die Stirn und sah ihn scharf an, sie zeigte ihm die Krallen 
ihrer Blicke. 

„Ich will nichts gesagt haben, aber wenn es dir bisher nicht 
geeilt hat, braucht es auch mich nicht zu brennen. Haben wir 
es nicht ohnedies ganz hübsch?" 

„Und alle Heimlichkeit, die dich bisher so gestört hat? Die 
Leute?" 

„Ach was, die Leute I Wir sind doch nicht mehr so jung, daß 
wir uns vor ihnen fürchten müßten. Wenn man sich einmal 
darauf eingerichtet hat, die Leute finden sich schon mit unseren 
Gewohnheiten ab. Du hast mich nach deinem Wunsch gezogen; 
jetzt paßt mir unsere Lage durchaus. Weshalb sollten wir uns 
eigentlich noch binden? Schließlich ist die Ehe doch nur eine 
Unbequemlichkeit. Für uns ist sie nicht notwendig, weshalb 
sollten wir sie uns auferlegen?" 

„Wir könnten doch ungestörter leben, einander ganz und ruhig 
haben, nicht immer so in Raub und Angst." Sie schaute ihn 
wieder zärtlich und verliebt an. 

„Ach, dieses Ungefähr, im Raub und auf der Lauer, finde ich 
eigentlich ganz hübsch. Die Gelegenheit, die Diebe und Liebe 
macht, kommt mir doch gelegen ! Erlaubte Ordnung macht aus 
uns natürlichen Räubern ärgerliche und bequeme Gewohnheits- 
tiere. Wir wollen unsere scharfen Augen und hungrig weißen 
Zahne behalten und uns erlauben, was wir erjagen. Haben wir 
uns ans Stehlen gewöhnen müssen, so soll uns das Stehlen 

13* "9S 



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besser freuen, als was wir uns ehrbar beim Pfaffen oder sonst- 
wo kaufen können." 

„Vor Tische las man's anders," zitierte Charlotte mit einem 
verdächtigen Zucken um die Lippen und dachte an Nestroys 
unglücklichen Sergeanten, der sich von seinem Gefangenen auf 
die Szene ziehen läßt: „Herr Scheneral, ich hab* einen Gefan- 
genen gemacht, aber er läßt mich nicht los. u In dieser Lage 
befand sie sich. 

Amberg lachte, dann zog eine Wolke über sein Gesicht, dessen 
Schrammen zu erglühen begannen, die Augen blitzten Charlotte 
mit jenem unheimlich kühnen Spott an, den sie wie einen süßen 
Schmerz fürchtete und zugleich begehrte. Sie sah ihn voll an 
und zwang ihn so, zu sprechen: „Ich will dir nur aufrichtig ge- 
stehen, ich scheue vor der Ehe, ich bin jung und habe Ehrgeiz, 
ich will vorwärts kommen, dazu brauche ich entweder volle 
Freiheit, um alle Beziehungen aufzusuchen und zu gewinnen, 
ohne die nun einmal auch der Fähigste nicht zur Macht gelangt, 
oder großen Reichtum, denn der eröffnet und enthält alle Be- 
ziehungen. In mittelmäßigen bürgerlichen Verhältnissen würde 
ich mittelmäßig und klein bleiben, und das wäre schade. Ich 
brauche Freiheit" 

„Für andere Frauen?" fragte Charlotte und dabei zackte es 
wieder verdächtig um ihren Mund, was Amberg billig ergötzte, 
der dem Schauspiel ihrer Mienen folgte wie sie den seinigen. 
„Auch für die anderen Frauen brauche ich meine Freiheit, wenn 
du willst, aber nicht um der Frauen willen — wenigstens vor- 
läufig nicht — , sondern weil auch sie die Werkzeuge des 
Mannes sind, die lebendigen und hübsch gedrehten Schlüssel 
zu allen Kisten und Kasten der Macht." 
„Also Reichtum oder Freiheit brauchst du?" 
„Reichtum, denn der enthält und verbürgt ohnedies alle Frei- 
heit« 

„Nun, du Streber, ich bin doch nicht gerade arm?" 

„Du, Katze, arm? Nein, arm bist du nicht, aber doch auch 

nicht reich, nicht so reich, wie ich es brauche." 

„Ich glaube, du unterschätzest uns. Wir leben freilich sehr 

bescheiden, aber du könntest in dieser Beziehung beruhigt sein, 

Idealist« 

„Ich sehe nicht ein, warum ein Verstand, der nach Macht be- 
gehrt, um mit ihr Bedeutendes anzufangen, nicht ebenso ideal 

196 



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wäre wie ein Schwärmer, der alles Schöne nur vor den Auslage- 
fenstern anstarrt Was aber den Reichtum betrifft, so beruhige 
ich mich nicht leicht Wenn ich keine sechsstelligen Zahlen 
zu meiner Verfügung weiß, bin ich nicht gesonnen, mich zu er- 
geben. tf 

„Da ist doch unser großes Geschäft," sagte sie nachdenklich, 
und ihre Stimme klang demütig. 

„Je größer der Umsatz, desto unbeweglicher steckt alles Geld 

darin," antwortete Amberg. 

.,Mein Vater hat Vermögen genug außerhalb." 

„Das Geschäft und das Haus und Vermögen aber teilen sich 

doch auf drei Geschwister und noch auf die vier Kinder Anto- 

niens. Hast du schon einmal ausgerechnet, daß ein Viertel 

eines großen Vermögens nur mehr ein kleines ausmacht?" 

„Nein, denn ich habe immer geglaubt, ich könnte mit meinem 

Teile ganz anständig auskommen." 

„Du schon bei deiner Knickerei und für dich allein. Aber für 
eine Heirat, Liebe? Für mich? Ich brauche immer mehr, als 
ich haben könnte." 

„So machst du wirklich das Geld zur Bedingung für uns?" Jetzt 
wurde sie wieder pathetisch, wie immer, wenn der Verstand 
und die Wirklichkeit nicht ausreichten, um einen Herzens- 
wunsch zu rechtfertigen. 

„Nein, du weißt, ich habe dich gern und behalte dich gern 
wie bisher, Charlotte, nur zuschwören mag ich mich nicht und 
nicht binden. Einer anderen hätte ich es kaum so ohne Um- 
schweife gesagt, aber du bist gescheit genug, zu erkennen, daß 
ich recht habe. Gelt, Katze?" Damit packte er sie um die 
Taille und hob sie mit einem Schwünge auf seine Knie, sie 
widerstrebte erst, ließ sich aber, als er sie küßte, die Liebko- 
sung doch gefallen und lächelte bittersüß, indem in ihren grün- 
lichen Augen sowohl die Genäschigkeit der Leidenschaft als 
deren böser Trieb aufleuchtete. 

Sie ließ sich lange küssen, aber sie konnte dabei immerhin 
ruhig überlegen, das war der Fortschritt in ihrer alten Verliebt- 
heit, daß sie dabei längst schon scharfsichtig und nicht mehr 
blind war wie im Anfang. Sie tat zwar, als wüßte und wollte 
sie nichts mehr und sei ganz mit dem Augenblick beschäftigt 
und zufrieden, dann'machte sie sich aber mit einem Male von 
ihm los und stemmte ihre Arme gegen seine Schultern. 

"97 



„Wenn ich aber dieses Geschäft und Haus und Vermögen al- 
lein in meine Hand bekäme, was sagtest du dann?" 
„Das ist eine müßige Frage, weil es doch nicht sein wird." 
„Aber wenn? 44 

„Nun, das müßte ich mir dann erst überlegen," lenkte er ab 
und suchte sie wieder an sich zu ziehen. Sie bog ihm aus : „Du 
versprichsVgar nichts und schwörst gar nichts!" 
„Weil ich nicht eines Tages auch nur durch ein Wort gebun- 
den sein will." 

„Vor zwei Jahren hättest du jedes Wort geschworen." 
„Um so besser, daß ich es nicht brauchte." 
„Du Schurke," lachte sie gezwungen. 

„Meinetwegen. Möchtest du mich, wenn ich dumm wäre?" T ' 
„Nun, du müßtest nicht gerade dumm, aber du könntest immer- 
hin etwas edler sein." 

Charlotte wollte sich ihren Wunsch nicht so leicht ausreden 
lassen: „Da du aber einmal kein Schwärmer bist, sondern ein 
Streber — " 

„Beides kommt unter Umständen auf eins heraus." 
„Wenn ich alles allein bekäme!" 

„Das ist nicht leicht möglich, solange deine Geschwister und 
Geschwisterkinder leben. Dein Vater könnte sie nur — " 
„Enterben" ergänzte Charlotte ruhig. Arnberg: ging auf ihre 
Äußerung sachlich ein, indem er sich ernsthaft zurechtrich- 
tete. 

„Nun, enterben wohl nicht, aber auf den Pflichtteil setzen, dann 
fiele dir noch von jedem Erben dreiviertel dessen zu, was er 
sonst bekäme, wenn das Vermögen nach dem Gesetz ohne be- 
sonderes Testament aufgeteilt würde." 
Charlotte lachte: „Das gäbe mehr, als du glaubst." 
„Aber es ist auch schwerer, als du glaubst," sagte Amberg, 
„denn dein Vater hat wohl gar keinen Grund, seine anderen 
Kinder zu enterben, vielmehr hat er sich noch deinen Schwa- 
ger ins Geschäft gesetzt, der es doch früher oder später ganz 
in die Hand bekommen wird." 

„Nein, nie." Sie warf den Kopf zurück, so daß sich ihre Büste 
in der anschließenden Seidenbluse spannte, als ränge sie mit 
diesem verhaßten Gegner. 

„Wie willst du das hindern? Solange Amersin in der Firma 
und der Einzige ist, der von euch allen das Geschäft versteht, 

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bleibt er der Herr eures Vermögens, und ihr alle seid eigent- 
lich auf seinen guten Willen angewiesen. tt 
„Das hab' ich ja immer gefürchtet? Aber er oder ich! Solange 
ich hier bin, wird er nicht der Herr. Was ist's eigentlich mit 
dem Pflichtteil!" 

Darauf folgte eine längere juristische Unterhaltung über Fragen 
und Folgen des Erbrechtes, auf die Amberg aus voller Sach- 
kenntnis und mit einer gewissen Lust an dem Gegenstande 
selbst einging, von dem Gedanken unheimlich angezogen, durch 
das bloße Wissen und Unterweisen einen anderen Menschen 
so zu führen, daß er mit allem Recht ein Unrecht verüben 
konnte. Denn das ist die teuflische Kraft des „Rechtes**, daß 
es gerade dem Unrecht noch den Vorsprung eines guten Ge- 
wissens verschaffen kann. 

Charlotte führte nach Agnes' Tode das Hauswesen der Amer- 
sinschen Kinder und ihre Erziehung vorerst allein. Amersin 
selbst nahm an seinem Hause jetzt unwillkürlich mehr Anteil 
als früher. 

Charlotte glaubte einigen Grund zu haben, diese Annäherung 
des Schwagers auf ihre Person zu beziehen, denn sie bemerkte 
eine gewisse Zärtlichkeit Amersins, wenn er mit ihr sprach, ihr 
half oder zusah, spürte mit dem Scharfsinn der Erfahrung auch 
seine körperliche Zuneigung, die ihr verhaßt war. Er suchte 
ihre Nähe, er suchte ihre Hände, er schlug ihr kameradschaft- 
lich ungezwungen auf die Schulter, er lachte ihr unbeholfen 
verlegen und bedeutend zu, wenn er etwas sagte, was nur sie 
verstehen sollte. Sie wich ihm einmal deutlich und mit einem 
Laute mißbilligender Zurückweisung aus. 
Amersin glaubte sie nur verletzt, weil er sie durch solche Be- 
rührung überrascht hätte, nicht von seiner guten Absicht selbst, 
denn die konnte ihr doch nicht unangenehm sein. Ob er die 
Schwester seiner Frau wegen der bei aller Verschiedenheit 
doch ausgeprägten Familienähnlichkeit wirklich liebte oder in 
seinen kräftigen Jahren nur eben begehrte, oder ob er seinen 
Kindern die nächste mütterliche Verwandte als zweite Mutter 
sichern wollte, war ihm selbst wohl kaum klar bewußt, vielmehr 
wirkten vermutlich alle diese Beweggründe zusammen, und wenn 
Charlotte ihm am meisten verübelte, daß er nach ihrem Gelde 
und damit nach dem Besitz der Firma und des ganzen Erath- 
schen Hauses trachte, so mochte vielleicht auch diese Berech- 

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tning bei Amersins Werbung mitgespielt haben, die sie bei Am- 
bergs unverhohlenem Geständnis als durchaus gerecht gebilligt 
hatte, beim Schwager aber aufs tiefste verachtete. Vs-.. 
Amersin hielt um Charlotte an. Sie wies ihn mit einer Kälte 
zurück, die sein schlichter Verstand gar nicht begreifen konnte, 
mit einem stolzen, königlichen Zurückwerfen des Hauptes, was 
für einen unbefangenen Beobachter bei ihrer kleinen, schon 
ein wenig untersetzten Figur etwas unfreiwillig Komisches ge- 
habt hätte. Aber Amersin bemerkte die leise Zweideutigkeit 
der Situation gar nicht, daß er wie ein verliebter Junge um eine 
immerhin reife und erfahrene Person wie um ein stolzes Fräulein 
warb, das sie in diesem Augenblick denn auch wirklich war, in- 
dem sie es spielte und sein wollte, denn jedes umworbene Frauen- 
zimmer bekommt sogleich eine unsichtbare Krone aufs Haupt. 
Ihre Entrüstung über ihn war echt, wenn ihr Charlotte auch 
andere Beweggründe unterschob als den einzigen triftigen, daß 
sie schon an einen anderen vergeben war. Daß dieser Bauer 
mit derben Händen nach ihr, nach der Höhe des Erathschen 
Stammes griff, bloß weil er auf den ersten grünen Zweig ge- 
langt und ihm die erste Tochter in diese Hände gefallen war, 
daß er solchen Anspruch selbstverständlich und nach einem 
kurzen Trauerjahre nach dem Tode seiner Frau stellte, die er 
zeitlebens dankbar als unvergeßlich und unersetzlich in kum- 
mervoller Einsamkeit und Witwerschaft hätte beweinen müssen, 
schien ihr unerträglich und unverzeihlich. 
Alle diese Mißbilligung lag in ihrem glatten, unumstößlichen 
Nein, das sie so verächtlich sagte, daß es gar keine Erörterung 
und nähere Frage mehr zuließ. 

Damit verstand es sich für sie auch von selbst, daß sie von 
diesem Tage Amersins Wohnung und Wirtschaft mied, sich in 
das Hauswesen ihres Vaters ganz zurückzog, die Kinder ihrem 
Schicksal und Belieben überließ und sich dem Schwager gegen- 
über als die Fremde und Feindin zeigte und benahm, die sie 
immer gewesen war. 

Amersin half sich, so gut er konnte, mit Dienstboten und Geld- 
aufwand, Thea bekam noch mehr unmögliche Verantwortung 
über die Geschwister, und alles ging bei einer gewissen unver- 
meidlichen Unordnung, Gleichgültigkeit und Verwahrlosung der 
Wirtschaft eben so halbwegs und kümmerlich weiter, wie es in 
einem mutterlosen Hause eben zu gehen pflegt. 

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Thea hing aber an Charlotte und suchte sie nach wie vor auf. 
Die Amersinsche Familie war aus dem Erdgeschoß noch bei 
Antoniens Lebzeiten ins zweite Stockwerk ubersiedelt, weil die 
unteren Räume angeblich feucht und der Gesundheit der Kin- 
der abträglich waren. So ging Thea an jedem Abend hinab zu 
Charlotten, um sich mit ihr zu unterhalten und den anregenden 
Gesprächen der Erwachsenen zuzuhören. 
Bei Tag hatte sie freilich, mit den eigenen Arbeiten, mit den 
Geschwistern beschäftigt, keine Zeit, aber abends, wenn die 
Lampen angezündet wurden, zog es sie unwiderstehlich hinab 
in Charlottens behagliches, wohnlich geschmücktes, von Hebe- 
vollen Erinnerungen an Agnes, an Antonie, an eine frohe Ge- 
selligkeit früherer Jahre des Erathschen Glückes erfülltes und 
belebtes Zimmer. Wenn Thea in Charlottens Stube eintrat, 
war sie von Mädchensinn und angestammter weiblicher Frei- 
heit umfangen, sie glaubte die vier jungen Tanten, alle als ihres- 
gleichen — auch Elisabeth fehlte nicht unter ihnen — , lachend 
und eines Herzens, in den geschwisterlich ähnlichen Kleidern, 
mit den verwandten Zügen, Bewegungen und sogar mit der 
klangvollen Erathschen Familienstimme zu vernehmen und 
sich selbst in ihren Kreis einbezogen und geborgen. Denn 
ihrem eigenen, armen, lauten und schmucklosen Heim mochte 
sie um jeden Preis entfliehen. Amersin hielt sie nicht zurück. 
Wenn er abends aus dem Geschäfte nach Hause kam, setzte er 
sich an die Lampe, die jüngeren Kinder waren mit Lärm, Spiel, 
Raufen oder mit Schulaufgaben und Lesen beschäftigt, er fragte 
Thea, was es tagsüber Neues gegeben hatte, dann wußte er 
weiter nichts zu fragen und zu sprechen. Er faltete seine Zei- 
tungen auseinander und rauchte seine Zigarre und war in die- 
sem dicken Qualm geborgen. Daß er es dabei gern gesehen 
hätte, wenn seine Älteste, die vernünftige und Hebe Thea bei 
ihm gebHeben wäre, sich um ihn gekümmert und etwa selbst 
etwas vorgebracht und angeregt hätte, sah diese Älteste, Ver- 
nünftige und Liebe mit ihren zwölf Jahren und ihrer Sehnsur ht 
nach Gesellschaft und weiblicher Anregung gar nicht, sondern 
and seine rauchige Einsamkeit öde und armselig und suchte 
den ersten besten Vorwand, um zu flüchten. Er nickte dann 
bloß still mit dem Kopfe, reichte ihr wohl auch die Hand, und 
sie durfte gehen, ohne daß er nur ein einziges Mal widersprach. 
Sie bemerkte wohl seine Traurigkeit, und wie geduldig er sich 



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qualmend gleich wieder den armseligen Zeitungen überließ, 
aber sie machte sich keine Gedanken darüber. 
Auch Charlotte sah Thea nicht ungern, suchte sie doch jeden 
anzuziehen und festzuhalten, um so mehr dieses Kind, das sie 
dem verhaßten Vater auf die beste Art aus der Hand und dem 
Herzen spielen konnte. 

Gar kein Schamgefühl oder Bedenken hielt Charlotte zurück, 
vor der Nichte offen gegen Amersin zu sprechen, denn sie 
glaubte sich Thea, als des Kindes ihrer Schwester Antonie, als 
einer eigentlichen Erath sicher. 

Thea verstand ihre Absicht nicht im mindesten, sie fühlte sich 
nur unbedenklich froh und wohl in dem feinen Mädchenzimmer 
und bei der zierlich spitzigen Unterhaltung der großen Tante, 
bei der sie sogar wie eine Erwachsene mitreden durfte. 
Darum überbrachte sie auch arglos und kindlich heiter alles 
Üble, was unten geredet wurde, dem Vater, wenn sie zu ihm 
zurückkam, und Charlotte konnte sicher sein, daß Amersin alles 
wortwörtlich ausgerichtet wurde, was sie ihm Verletzendes 
und Arges zugedacht hatte und durch Vermittlung seines eigenen 
Kindes um so peinlicher versetzen mochte. 
So sagte sie einmal zu Thea, sie solle doch ihrem Vater aus- 
richten, er sei ein Parvenü. 

Thea, die dieses schöne Wort noch nie gehört hatte, wieder- 
holte es oben getreulich: „Vater, Tante Charlotte hat gesagt, 
du bist ein Parvenü." 

Amersin blickte von der Zeitung auf, sah seine arglose Älteste 
an, überlegte einen Augenblick und gab ihr dann recht behag- 
lich lächelnd eine geeignete Gegenanspielung auf Herrn Doktor 
Amberg zur Rückmeldung auf, der gerade seine Gerichtspraxis 
ableistete und von dem er wußte, daß er bei Eraths nachtmah- 
len werde: „Sage der Tante, ein Parvenü ist immer noch mehr 
als ein Praktikant." 

Als Thea wiederum vor Amberg die Bestellung pünktlich aus- 
richtete, war Charlotte begreiflich erbittert und sann auf Rache, 
so entwickelte sich eine gegenseitige zornige Unterhaltung zwi- 
schen entfernten und aufgehetzten Gegnern über ein Stockwerk 
hinüber und durch die Vermittlung eines arglosen Kindes, das 
als der natürliche schuldlose Bote der Liebe aber auch des 
Hasses entsandt und verwendet werden kann. 
In dieser Rachsucht und in ihrem Kriege gegen Amersin, den 
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sie aus dem väterlichen Hause und Geschäfte drängen wollte, 
war Charlotte so kleinlich und erfinderisch , wie nur Frauen 
sein können, die sich von je um die geringsten Dinge der Wirt- 
schaft kümmern müssen und denen daher auch beim größten 
Haß gerade diese Kleinigkeiten zuerst einfallen. 
So hatte Charlotte zur Zeit ihrer Hausvormundschaft bei den 
Waisen eine alte Nähmaschine zu den Amersins schaffen und 
50 lange benutzen lassen, als es die ausgefahrene noch zuließ. 
\mersin hatte schließlich auf die Wiederherstellung Geld ver- 
wendet, und die geduldige Nähmaschine werkelte wieder, wenn 
man sie vorsichtig benutzte. Charlotte bestand darauf, daß sie 
zurückgegeben werden müsse. Thea überbrachte ihrem Vater 
wiederholt diese Forderung, die er zuerst nicht beachtete und 
ils nebensächlich auch vergaß, dann für ungerechtfertigt hielt, 
weil er die Maschine auf eigene Kosten hatte instand setzen 
lassen, aber Thea ermahnte ihn so oft und so lange, bis er 
„das alte Graffelwerk" zurückschickte, denn Thea wollte den 
Vater in ihren eigenen Augen und vor denen der Tante ge- 
recht sehen. 

Ferner gab es an dem Amersinschen Tisch einen Sessel, der 
weiß Gott wie aus der Erathschen Wohnung in die feindliche ge- 
raten war, vermutlich in einer besseren Zeit, wo man den beider- 
seitigen Besitz noch nicht gar so genau abschätzte und belauerte. 
Es war kein großartiges Möbel, weder besonders bequem noch 
schön, vielmehr ein ausgesessener, alter Rohrstuhl von kümmer- 
licher Gestalt, mitgenommenem Holz, nicht einmal mehr fest 
auf den Beinen und nur dadurch geweiht und ausgezeichnet, 
daß er eben aus der Erathschen Habe stammte. Was Char- 
lotte daran schätzte, wäre nicht leicht zu begreifen gewesen, 
denn er paßte gar nicht zu ihren anderen, besseren Stühlen, 
er war nicht einmal „von der Garnitur", sondern fiel ganz aus 
der anerkannten bürgerlichen Uniform ihrer Einrichtung, oder, 
wenn man das unangebrachte Wort brauchen will, er hatte nicht 
einmal den „Stil" der Erathschen Möbel, er war ein Köter von 
Sessel, ein armseliger Ausgestoßener ohne Rasse, ohne Schwung. 
Charlotte versteifte sich aber auf diesen Sessel, und Thea be- 
kam es jeden Abend — besonders wenn Amberg da war, der 
jetzt dem Erathschen Tische häufig beigezogen wurde — wie- 
derholt zu hören, daß Amersin einen Sessel widerrechtlich be- 
halte und den eigentlichen Inhabern entziehe. 

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Eines Abends« als im Gartenhäuschen vor vielen Gästen — 
Augusts Bundesbrüdern — und dem alten Erath Musik ge- 
macht wurde, Charlotte hatte dort das Nachtmahl auftragen 
lassen und Thea freute sich schon, zur munteren Gesellschaft 
kommen zu dürfen, lächelte Amersin bei seinem Qualm und 
hinter der Zeitung hervor recht vergnügt und unschuldig und 
sagte: „Du gehst wohl zu Charlotte ins Gartenhaus, Thea, da 
könntest du ihren alten Sessel bei dieser Gelegenheit endlich 
zurückbringen, sieh nur zu, daß ihm auf dem Wege nichts pas- 
siert" 

So schleppte sich Thea mit dem vielberufenen Stuhle ins Gar- 
tenhäuschen vor den festlich gedeckten Tisch, an dem auf 
besseren, schöneren Stühlen der alte Erath, der junge August 
Erath, Amberg, der Mittelpunkt der Geselligkeit und vier oder 
fünf andere Gäste vor glänzenden Tellern und Gläsern saßen. 
Das kleine Mädchen trat mit dem durchsessenen Rohrstuhl 
wie ein Bote der Armut vor diese Prasser. 
Der alte Erath fragte sie erstaunt: „Was schleppst du uns 
denn daher?" 

Amberg schüttelte verwundert den Kopf. 
Thea richtete aus : der Vater lasse den so oft begehrten Sessel 
zurückbringen mit schönem Dank und bester Empfehlung. 
Amberg besah sich erstaunt das vielberufene Möbelstück und 
drehte es als einen willkommenen Unterhaltungsgegenstand nach 
allen Seiten zur großen Belustigung der Anwesenden. „Inter- 
essant, sehr interessant! Zweifellos ein Stück von historischer 
Bedeutung. Irgend ein berühmter Ahnherr der Eraths hat ihn 
eingesessen, denn sonst wäre die Pietät des Fräuleins nicht 
recht verständlich. Man merkt es eben einem solchen Sessel 
nicht immer gleich an, was für Erinnerungen an jedem Rohr- 
faden und Stuhlbein hängen. Dieser Sessel hat sozusagen einen 
inneren Stil, keinen äußeren, er leuchtet von Seele, vergeht be- 
reits vor lauter Gemüt und hinkt von alter Geschichte. Sozu- 
sagen ein moralisches Vermögensobjekt I u Dabei blinzelte er 
Charlotte zu. Die schüttelte verlegen den Kopf, murmelte nur 
etwas wie: „Was recht ist, ist recht" und sah, daß sie den häß- 
lichen Zeugen ihrer Streitsucht rasch beiseite schaffte. 
Auch der gute alte Erathsche Hausgarten mit den violetten, 
goldenen und silbernen Glaskugeln an den Rosenstöcken sollte 
dem Hause Amersin entzogen werden, weil Charlotte jetzt ihr 
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Hab und Gut um jeden Preis vermehren wollte. Der Herr 
Amersin hatte den Garten nie sehr geschätzt, denn er hielt ihn 
für feucht und ungesund, aber solange er im Erdgeschoß ge- 
wohnt hatte, waren die Kinder immer gern hinausgelaufen, und 
wenn auch klein und von den Nachbarhäusern und Höfen 
immer enger umstellt, war er doch ein Stück Kinderparadies 
und Jugendherrlichkeit, das gerade wegen seiner Seltenheit 
in der Stadt besonders schätzbar erscheint. Als die Familie 
aber in den zweiten Stock übersiedelte, war Thea der Weg in 
den Garten und zurück in die Wohnung gar zu weit und be- 
schwerlich, denn sie las jetzt in großen Folianten steif gebun- 
dener, alter illustrierter Zeitungen die spannenden Romane. 
Diese Jahrgänge wurden auch dazu benutzt, die kleinen Kinder 
auf den Stühlen höher zu setzen, aber wenn die Bände nicht 
gerade als Unterlage dienten, las Thea fleißig und gespannt in 
diesen getreuen alten Lesemöbeln, denn so vielseitig ist die 
Verwendbarkeit der Literatur, besonders der in großem Format 
gehaltenen, wenn sie der Buchbinder verewigt Mit diesen 
Folianten aber mochte sie sich nicht hinunterschleppen, so 
blieb sie lieber oben, und die kleinen Geschwister verfielen 
auch nicht mehr auf den Garten. 

Der vereinsamte denn bis auf das muntere und geheimnisvolle 
Gartenhäuschen August Eraths des Jüngeren, das an manchem 
Abend in heller Beleuchtung erglänzte, von Musik und Gesang 
und Becherklang erscholl. August Erath der Jüngere hatte 
seine Studien an der Technik ohne besondere Ergebnisse recht 
geduldig verlängert und nur zwei Prüfungen zuwege gebracht, 
während er vor der dritten wie ein Pferd vor einer Hürde 
scheute. Schließlich ging es doch nicht immer an, bloß den 
singenden, fechtenden und zechenden Bundesbruder zu spielen, 
indes alle Jugendgenossen nach und nach in Beruf und Arbeit 
kamen, so betätigte er sich als Hilfsingenieur bei einer Bau- 
firma und war viel außer Hause in der Provinz bei Bahn- und 
Wegebauten im Lande. Darum wurde aber das Gartenhäus- 
chen doch immer, auch wenn er fern blieb, in gutem Stand 
und wohnlich gehalten, und nicht nur Amberg, sondern 'auch 
die anderen Kameraden, die mit Charlotte freundschaftlich um- 
gingen, kamen oft her. Auch Erath ließ sich herbei, und so 
wurde wenigstens im Frühjahr und Sommer gern dort gesessen, 
gezecht, gesungen, Klavier gespielt und — wie wir zugeschaut 

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haben — auch gelegentlich geküßt und Verschwörung gemacht 
Hinter den weißen Mullvorhängen bewegten sich in den Som- 
mernächten die Schatten der Versammelten am Tisch oder um 
den Flügel, und wenn durch die geschlossenen Glaswände ein 
Lied gedämpft herausdrang, waren Häuschen und Gäste ganz 
anmutig gespenstisch bewegt als schwebender Hintergrund des 
Gartens, der still in seiner unbeweglichen Dämmerung dalag. 
Noch unheimlicher aber erschien dieses Häuschen, wenn hinter 
den Mullvorhängen keine volle Helligkeit leuchtete, sondern 
eben nur ein unsicheres Kerzenflämmchen flackerte und ge- 
legentlich kühne, schwanke, taumelige Schatten an den Glas- 
wänden vorbeifuhren, ineinandertauchten und sich wieder ent- 
fernten, um mit dem erloschenen Licht zu vergehen wie die 
Welt hinter dem Schlaf geschlossener Augen. 
Der alte £rath hing an dem Garten, wie das Alter an jeder 
eingewohnten Kleinigkeit hängt, und es mochte ihn wohl ge- 
kränkt haben, daß Amersin dieses grüne, buschige Geviert nicht 
zu schätzen wußte, vielmehr feucht und ungesund schalt, und 
daß seine Enkel gar nicht mehr hinkamen. So wußte es Char- 
lotte durchzusetzen, daß er den Garten vermietete. 
Dies geschah anläßlich der Verkleinerung des Fabrikbetriebes, 
die Charlotte auch gegen Amersin bei ihrem Vater zu erwirken 
verstanden hatte. Amersin drang nämlich unaufhörlich in den 
Alten, er möge neue Maschinen anschaffen, um mit größerem 
Umsätze modernere Ware zu erzeugen, wenn man den immer 
erschwerten Wettbewerb aushalten wolle. Erath widersetzte sich 
aber aus Bequemlichkeit und Eigensinn des Alters, wohl auch 
auf Charlottens Betreiben, die nicht noch mehr gutes, sicheres, 
bewegliches Vermögen in das unbewegliche Geschäft, in Amer- 
sins Geschäft versinken lassen mochte. So wurde der Betrieb 
verkleinert und jener Teil des zweiten Stockes, der bisher zur 
Fabrik gehört hatte, einem Goldarbeiter überlassen, dessen 
Kinder nun auch den Garten gegen eine anständige Miete 
sollten benutzen dürfen. 

Als der alte Erath an einem Nachmittage das Gartenhäuschen 
aufsuchen wollte, wo er junge Gäste erwartete, trat ihm Adam 
Hirt in den Weg, der sich nach Feierabend hier immer mit 
Spaten und Rechen, Sichel und Gießkanne aufhielt, um den 
Weg und die Beete zu säubern. 
„Du, Erath!« 

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„Was denn, Adam?" 

„Ich habe gehört, da willst den Garten vermieten ?" 
„Da hast du richtig gehört Ich habe ihn vermietet" 
„An fremde Leute." 

„Freilich, an meine Leute brauchte ich ihn ja nicht zu ver- 
mieten, sie wollen ohnehin nichts mehr vom Garten wissen." 
„Das glaubst du wohl selbst nicht Morgen wird es den Kin- 
dern leid tun, wenn sie nicht mehr hinunterkommen dürfen, 
und wenn die Fremden da spielen. Wer hat dir denn das ein- 
geredet?" 

„Laß es gut sein, Adam, abgemacht ist's und nichts mehr zu 
ändern." 

„Doch, Erath, doch! Du weißt, ich habe, seit wir hier sind, 
den Garten gepflegt und instand gehalten, für dich und deine 
Frau zuerst, dann für deine Kinder und zuletzt für deine Enkel. 
Das habe ich gern getan, und der Garten war gewiß immer 
nett, das mußt du zugeben. Aber für fremde Leute will ich ihn 
nicht mehr pflegen. Das ist wohl auch nicht notwendig. Ab- 
gemacht ist abgemacht Du mußt wissen, was du tust und 
warum, ich kann mir auch denken, wer dir das eingesagt hat, 
aber ich tue meine Hand davon." 

Erath nickte ärgerlich : „Ja, ja, ist auch gut Ich habe dich ja 
nicht darum gebeten, daß du den Garten für die Fremden 
pflegen sollst, Adam. Wir sind schon zu alt für Liebhabereien. 
Es ist Zeit, daß wir ruhig werden und unsere Sachen sammeln." 
„Ja, sammeln," murrte Adam und hatte ein bedauerndes Lä- 
cheln um seinen zahnlosen Mund, „sammeln und wegnehmen, 
statt sammeln und geben. Du solltest achthaben, Erath, daß 
bei der Sammlung niemand zu kurz kommt" 
„Ei was, zu kurz, jeder bekommt das Seine, und jeder, was er 
braucht" Damit ging Erath in das Gartenhäuschen, und damit 
war der Garten den Fremden übergeben, verwahrloste von 
Stund an unbetreut und verwilderte, so daß er bald recht un- 
heimlich überwuchert und wirklich dumpf, feucht und ungemüt- 
lich wurde, bis ihn die Maurer ganz aus der Welt schafften, als 
das alte Erathsche Haus niedergerissen und auf dem großen 
Baugrunde ein zinstragendes Ungetüm aufgerichtet werden 
sollte. Doch das war viel später. 

Thea meldete auf Charlottens Befehl ihrem Vater das neueste 
Verbot Es war ihr selbst nicht geheuer dabei zumute, denn 

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wenn sie auch in der letzten Zeit den Garten gemieden und 
verachtet hatte, gehörte er doch zu ihrem Hause und Leben 
hier und war£ein Stück ihres Daseins selbst und ein Stück ihres 
Anrechtes auf die Erathsche Gemeinschaft der Familie und 
Herkunft. 

Amersin schüttelte den Kopf. „So, so, ihr dürft also nicht mehr 
in den Garten gehen, laßt mir die Tante Charlotte sagen. Nun, 
du kannst ihr ausrichten: sie müsse nicht glauben, daß man 
darum nicht ins Gartenhäuschen sieht. Im Gegenteil, vor den 
Fremden wird sie die Vorhänge noch dichter verschließen 
müssen. Ich weiß längst, was sie dort vorhat, auch ohne daß 
ich in den Garten komme. Das kannst du ihr sagen." Thea 
überbrachte auch diese Botschaft sogar im Gartenhäuschen 
selbst und vor dem Großvater, der glücklicherweise derlei An- 
spielungen und Gegenanspielungen zu überhören schien, wäh- 
rend Amberg und Charlotte dabei verlegene Blicke tauschten. 
Amberg begann etwas vor sich hinzusingen und auf dem Flügel 
zu spielen, Charlotte biß sich auf die Lippen und sagte bloß: 
„Schon gut, schon gut, ich danke für seinen Rat." 
Trotz diesen wachsenden und täglich zugespitzten Mißhellig- 
keiten, denen Amersin nur um des leidigen Friedens und seiner 
Kinder willen standhielt, achtete er darauf, daß nach außen das 
Verhältnis zum Erathschen Hause, namentlich zu seinem 
Schwiegervater, ungeändert blieb. 

Im Geschäfte sprach er mit dem alten Herrn nur wenig. Als 
er aber Charlottens beständige Wühlerei bemerkte und wie sie 
ihm mit der eifervollen Geduld, die nur Frauen mit so feind- 
lich kleinlichem Nachdruck zuwege bringen, den Boden unter 
den Füßen abzugraben suchte, hielt er es für recht, den alten 
Mann einmal über seine Absichten zur Rede zu stellen. Erath 
tat sehr erstaunt, als ihn Amersin fragte, was er denn vorhabe. 
Erath zog die starken, weißen Brauen in die Höhe und über- 
legte sichtlich, was da wieder gemeint sei, und womit man es 
wohl wieder auf seine Ruhe abgesehen haben möge. Dann 
antwortete er, ärgerlich ein paar Blätter Papiers durcheinander- 
wühlend, die er gerade vor sich liegen hatte: „ Nichts, nichts 
habe ich vor. Was soll ich denn vorhaben? Laßt mich doch 
mit euern Streitigkeiten in Frieden." 

Amersin zählte ihm auf, was seit einiger Zeit planmäßig ange- 
legt werde, um ihm das Geschäft zu verleiden, seine Kinder 
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aber zu schädigen. Offenbar strebte Charlotte, alles zu Geld 
zu machen und aus dem Betriebe zu ziehen, daran müsse das 
Geschäft allmählich, aber sicher als an Nahrungsmangel ein- 
gehen, während das bewegliche Gut sich unnütz vermehre. Un- 
nütz, weil es sich im Geschäfte, wenn es arbeitete, besser ver- 
zinse, freilich für alle. Vorteilhaft sei solches Geldziehen und 
Sammeln nur, wenn ein einzelner das Ganze still an sich und 
außer Beobachtung bringen wolle, wie es den Anschein habe. 
Kurz, was gedenke Herr Erath mit seinem Geschäft und Erbe 
zu beginnen, und was sollten seine Enkel von ihm erwarten. 
Herr Erath klopfte mißmutig auf den Tisch und stand auf, in- 
dem er die Angelegenheit, die auf seinen Tod Bezug hatte, also 
unangemessen vorgebracht war, ebenso unwillig mit einer Hand- 
bewegung von links nach rechts wegschob, wie die Papiere auf 
seinem Pult und sich aufgerichtet noch ganz stattlich und kräftig 
zeigte, so daß derlei Dinge ihn nicht betreffen durften. „Gar 
nichts gedenke ich. Jeder erwarte das Seine, jeder seinen 
Pflichtteil." Ja, diesen Ausdruck gebrauchte er, vor dem Herr 
Araersin erschrak: „Wissen Sie denn auch, Vater, was das 
heißt: Pflichtteil, und wollen Sie Ihre Kinder, ihre Enkel wirk- 
lich auf den Pflichtteil setzen. Das bedeutet nicht: Jedem das 
Seine, sondern jedem ein Viertel des Seinen, das kann Ihnen 
jeder Jurist bestätigen. Das sollen Sie wissen." 
Erath schüttelte nur den weißen, starren Kopf, und seine blauen 
Augen blitzten sehr lebendig aus dem rotwangigen Gesichte, 
er antwortete gar nichts, ging auf die Frage nicht mehr weiter 
ein, sondern vertiefte sich in eine Musterreihe geblümter Bän- 
der und ließ seinen Schwiegersohn abziehen, der sonst doch 
ein ganz mutiger und entschlossener Mensch war, aber vor dem 
Alten da nicht einmal auf dem wichtigsten Gespräche bestehen 
konnte. 

Seitdem unterhielten sich die zwei noch weniger als sonst mit- 
einander. 

Irgend etwas Drohendes lag in der Luft, so wie jetzt war der 
Zustand der Dinge nicht mehr haltbar, und wenn Amersin auch 
seinen Kindern zuliebe und um nicht als älterer Mensch neuer- 
ich von vorn anfangen zu müssen, die Widrigkeiten ertrug, ja 
sich selbst sogar einzureden versuchte, sie bestünden nur in 
seiner Einbildung oder würden ebenso wieder aufhören, wie sie 
gekommen waren, so spürte er gleichwohl die Feindschaft, die 

locssl, Da* Hau« Erath 1^ 20y 



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ihn umgab und mit welcher Charlotte alle gegen ihn einzuneh- 
men wußte, die ihn kannten. Seine Schwägerin Frantzl, die 
kühle, vornehme, sonst sozusagen unparteiische, weil gleich- 
gültige Elisabeth, wich ihm aus, wenn er ihr begegnete, und es 
schien ihm, als hole sie sich in häufigeren Besuchen als sonst 
von Charlotte Verhaltungsmaßregeln und ständige Nachrich- 
ten über ihn und sein Haus. Sie bekümmerte sich um seine 
Kinder wie um Antoniens Kinder und brachte sie mit Corona 
und Albrecht zusammen, schien aber gar nicht zu bemerken, 
daß auch er auf der Welt war. Das ging so weit, daß sein 
Schwager Frantzl ihm gegenüber eine geheimnisvolle Miene 
voll überlegenen Mitleids aufsetzte und auf die Frage, was dies 
alles denn bedeute, mit verlegenen Wortspielen und dunkeln 
Redensarten schlenkerte und sich so allmählich aus seiner 
Nähe zu trudeln wußte, wie ein Kreisel, der sich nur verwundert 
auf- und davondrehen kann, mögüchst weit weg von der Peitsche. 
Endlich kam die Lösung: der alte Erath bot Amersin das ganze 
Geschäft zum Kauf an, das heißt, Amersin hätte es mit dem 
Vermögen, mit der Mitgift Antoniens übernehmen und betrei- 
ben, vom Ertrag und Reingewinn aber in einer vorgeschriebenen 
Frist, den Rest — einen riesigen Kaufpreisrest — bezahlen sol- 
len. So hatte es Charlotte fein ausgesonnen und dem Alten ein- 
geredet, der auf dieseWeise den ganzen drückenden Betrieb, der 
eine jüngere Kraft erforderte, los geworden wäre und seine lang 
gewünschte Ruhe gefunden hätte. Der Kaufpreis war aber so 
hoch gestellt, das heißt, Inventar, Maschinen, Warenvorrat und 
Kundenkreis so übertrieben geschätzt, daß es gar nicht mög- 
lich gewesen wäre, vom bisherigen Ertrage die Familie zu er- 
halten und noch die Schuld abzuzahlen, geschweige denn die 
notwendigen Neuanschaffungen zu machen und das Ganze mit 
Zuschüssen von Geld wieder zu beleben und aufzufrischen. 
Charlotte hatte es sich so berechnet, entweder nahm Amersin 
verblendet das Angebot an und wirtschaftete den Kaufpreis 
heraus, dann hatte sie das väterliche, im Geschäfte steckende 
Vermögen in kurzer Zeit frei und verdoppelt zurück. Oder er 
wußte bald nicht mehr weiter und mußte das Geschäft auf- 
geben, dann fiel es an sie, das heißt an den Vater mit allen 
neuen Einrichtungen und durchaus verbessert zurück, so daß sie 
es dann nur um so vorteilhafter neuerdings losschlagen konnte. 
Das dritte, wahrscheinlichste aber war, daß er so gut rechnete 

210 



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wie sie und sich auf den Handel überhaupt gar nicht einließ. 
Nun, dann mußte er wohl oder übel austreten und ihr das 
Ganze freigeben, denn seines Bleibens war nicht mehr in der 
Firma, so weit hatte sie es schon zu bringen verstanden und es 
fehlte nicht mehr viel, bis sie alles auf die Spitze getrieben 
haben würde. 

Daß der alte Erath sich zu dieser Spekulation hergab, war ein- 
mal in seiner Schwäche begründet, die den sanften Drohungen 
und dem standigen Zureden Charlottens nicht mehr Widerstand 
leisten konnte, zum anderen aber in seiner Selbstüberschätzung 
für sein Werk, für seine Firma. 

Jedenfalls hatte Charlotte richtig gerechnet Amersin war zwar 
klug genug, auf das Angebot nicht einzugehen, aber eben darum 
mußte er aus dem Hause und ihr das Feld räumen. Er rech- 
nete sich auf den Kreuzer aus, was ihn das Geschäft kosten 
dürfte, damit er es selbst unter vollster Anspannung des Kredits 
in die Höhe bringen und den Kaufpreis abzahlen könne. Da- 
nach bemaß er diesen Kaufpreis und kam etwa auf die Hälfte 
des Geforderten. 

Diese bot er, und zwar in einer genauen, sorgfältig aufgestellten 
und postenweise begründeten Berechnung, die er dem alten 
Erath auf den Tisch des kirschholzenen Allerheiligsten legte, 
mit dem Bemerken, er sei gewärtig und bereit, die Sache, seine 
Ziffernansätze und alles Nähere mündlich zu erörtern, wenn es 
dem Vater beliebe. 

Der Alte nickte nur dazu, schob das Papier gleichgültig beiseite, 
so recht im Stil seiner alten, würdigen Geschäftszeit Er mur- 
melte etwas wie „schon gut, wir werden sehen" und wandte 
sich der Prüfung eines Bandmusters zu, das er weit von sich 
und mit eingekniffenem linken Auge gegen das Licht hielt, bis 
der Schwiegersohn endlich fortging. Als Amersin draußen war, 
ließ Erath die bunte Seide langsam sinken und saß still da, als 
ob er schliefe. 

Amersin hörte dann eine Woche lang nichts weiter von der 
Sache. Am Sonntag morgen gingen seine Kinder unter Theas 
Führung wie gewöhnlich ins kirschholzene Arbeitszimmer, wo 
der Großvater sich nach dem Frühstück aufzuhalten pflegte, 
rauchte und seine Gaben austeilte, aus der rechten Lade je ein 
Vierkreuzerstück — Thea lachte schon im Herzen über diese 
hinter dem heutigen Geldwert für größere Kinder und Wünsche 

14* 211 



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zurückgebliebene Freigebigkeit — , aus der linken die bewußten 
„Korsikaner", sie nahm und aß sie nur aus schuldigem Respekt, 
anderes Backwerk schmeckte ihr besser. Tante Charlotte stand 
hinter ihm, auch der Onkel August war heute zugegen und ging 
schweigend und rauchend auf und ab. Der alte Erath ließ sich 
von jedem der Enkel die Hand küssen, sah jedem ins Gesicht, 
fragte jedes nach der Schule und ob es auch brav gewesen sei, 
verabfolgte jedem das Vierkreuzerstück und die „Korsikaner", 
Thea, der Ältesten, zuletzt Die wollte nun gerade mit der 
Tante sprechen wie sonst, irgend etwas fragen, kurz sich hier 
aufhalten wie zu Hause, als Charlotte sie anzischte: „Sage dei- 
nem Vater, er ist ein Schwindler." 

Thea verstand diese Botschaft nicht recht und hielt sie erst für 
einen Scherz, darum antwortete sie nicht gleich, sondern blieb 
und sah Charlotte ängstlich verständnislos an. Dieses stille Ver- 
halten reizte die leidenschaftliche Person um so lebhafter auf, so 
daß sie alle Haltung und Besinnung verlor und mit Blicken un- 
beherrschten Hasses und ausbrechender Bosheit die Kinder 
anschrie: „Euer Vater ist ein Schwindler, geht, geht, so geht 
doch, geht uns aus den Augen und gleich, geht auf der Stelle, 
packt euch, geht, wohin ihr gehört" 

Die Jüngeren, die auch diesen Ausbruch nicht anders als einen 
gelegentlichen Zornanfall beurteilten, dem Strafe und Schläge 
vorangingen, die man gelegentlich auch bekommen konnte, 
ohne zu wissen, warum, irgend eine Schuld hatte man ja immer, 
wandten sich gehorsam und ruhig zur Tür, der Älteste, Franz, 
voran, die anderen fügsam hinterdrein, aber Thea zitterte am 
ganzen Leib, denn sie verstand die Schwere der Beleidigung, 
die mit dem Vater auch den Kindern und vor allem ihr selbst, 
ihrer Anhänglichkeit an den Großvater, an Charlotte, an die 
Familie angetan war. Mit Tränen in den Augen sah sie hilfe- 
suchend um sich, zuerst auf den Onkel August, der rauchend 
und schweigend auf und abging und ihren Blicken auswich. Er 
sagte gar nichts, sondern wandte sich ab. Dann schweiften ihre 
Blicke ratlos über das Zimmer, bis zum Großvater, der sie doch 
eben erst beschenkt hatte, verzweifelnd rief sie ihn an: „Groß- 
vater, muß ich denn wirklich gehen?" 

Der Alte, der solche Szenen am wenigsten leiden mochte und 
schon höchlichen Überdruß spürte, wenn Charlotte aHein damit 
anfing, gar noch wenn ein zweiter dazukam, machte eine müde 

212 



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Handbewegung, die die ganze unliebsame Sache als unwesentlich 
und kindisch abtun sollte und sagte gleichgültig: „Geh* nur, geh*. u 
Da erkannte Thea, daß sie hier ganz und gar verlassen war un d 
stolperte ohne ein Wort weiter, erstaunt, kaum fähig zu gehe n, 
zur Türe hinaus, schleppte sich über die Stiege, den anderen 
unbedenklich voranstapfenden Jüngeren nach. Oben im ersten 
Stock stand der Vater, sonntäglich angezogen, bereit, wie immer, 
die Kinder bis zum Kirchentor zu führen, mit Zylinder und 
Spazierstock und freundlich blickend. 

Als sie ihn da droben wartend fand, sank sie auf die oberste 
Stufe nieder und sah ihn unter Tränen an. 
„Was gibt's denn, was hast du denn, Thea?" 
Die Jüngeren drängten sich ungeduldig um ihn, eines hatte 
seinen Stock, ein anderes seine Linke gefaßt, so daß er sie ab- 
schütteln mußte, da stammelte Thea: „Die Tante hat gesagt, 
du bist ein Schwindler." 

„So, das hat sie gesagt, nun, da wollen wir sie gleich belehren," 
antwortete Herr Amersin, „kommt nur ihr alle mit, damit sie 
es vor euch Kindern wiederholt, die böse Person und vor euch 
Antwort bekommt." Damit nahm er seine vier und schob sie vor 
sich über die Stiege hinab, während Thea zitternd vorausging, bis 
sie allesamt wieder in dem Kirschholzenen standen. Amersin 
trat Charlotte in den Weg — alle anderen bemerkte er gar nicht 
und fragte: „Was hast du dem Kind gesagt? Was bin ich?" 
„ Ein Schwindler bist du," wiederholte Charlotte trotzig. 
„ So?" fragte Amersin, während ihm das Blut in die Wangen 
schoß und die Augen verdunkelte und hatte schon mit der 
Rechten ausgeholt und gleich Charlotte ins Gesicht geschlagen, 
die sich mit einem leisen Schrei abwandte. 
Darauf machte Amersin kehrt — die anderen saßen starr — 
„So jetzt haben wir hier nichts mehr zu suchen und können in 
die Kirche gehen," sagte er mit einem gezwungenen Lächeln 
und lenkte scheinbar gleichmütig seine Herde mit seinem 
Stocke zur Türe hinaus. 



2 

Die Familie Amersin wohnte jetzt im Halbstocke eines hohen 
Vorstadthauses, unweit des großväterlichen, in dunkel tapezier- 
ten, unfreundlichen Stuben, die nur dadurch genug Licht be- 
kamen, daß Amersin allen überflüssigen Schmuck, alle „Srnub- 

213 



■ 



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länger" und „Lichtdiebe" wie er sie nannte, beseitigen ließ: 
Vorhänge, Teppiche, Bilder und Decken. So war alles kahl, 
auf das Notwendige beschränkt und dieselben Möbel, die bei 
Lebzeiten Antoniens, sauber gehalten, glatt und mit freundlicher 
brauner Nußholzfarbe in Zimmern mit weißen Vorhängen, von 
allerhand Blumen, Photographien und harmlosen Ziergegen- 
ständen belebt, unter vertrauten Bildern, vor hellen Wänden 
den heiteren Hintergrund eines gemütlichen Lebens ausgemacht 
hatten, sahen jetzt arm und strenge drein, denn die Gegenstände 
drücken immer den Gemüts- und Vermögenszustand ihres Nutz- 
nießers aus. Auch der Parkettboden wurde „der Einfachheit 
halber" nicht mehr eingelassen, gewichst, gebohnt und gebür- 
stet, sondern nur einmal in der Woche gewaschen, so daß ein 
zwar reinliches, aber widerwärtiges Grau vom Boden bis zur 
Decke die ganze Wohnung in ein eintöniges Bettlerhemd klei- 
dete und auch das Kindergeschrei, den Zank, das Lernen und 
Schlafen, das Essen aus groben, schwer zerbrechlichen Tellern 
und irdenen Schüsseln statt aus dem aufgesparten feinen Por- 
zellan und mit ordinären Hornbestecken statt mit den silbernen, 
grau und unwirsch machte. Hier wuchs nun Thea auf. Ihr 
ältester Bruder, Franz, schlug seine freien Stunden als „Räuber" 
oder „Indianer" mit Gassenbuben auf der „Schmelz" tot, es 
gab sogar Messerstechereien unter den Jungen, und er wurde 
dabei — roh wie er war — noch feige und heimtückisch, die 
anderen Kinder lebten hier unwissend und selbstverständlich 
hin, wie sie in ihrem Alter eben überall gelebt hätten, nur das 
älteste Mädchen behielt, auf diesen Kerker angewiesen, die 
schönere Vergangenheit im Sinne, die sie nie mehr vergessen 
konnte, und es bildete sich ein stiller Zug des Leides, aber auch 
der Freiheit in ihr, der ihrem Gesicht eine frühe, reife, innere 
Sammlung und eine Spannung des Widerspruchs gab. Zuweilen 
ging sie in einer wehmütigen Traumbefangenheit am Abend um 
den Häuserblock, wo die Erathsche Heimat, das alte gelbe 
Haus und der Garten lagen und wollte sich nur in dieser Nähe 
wissen und finden. Trotzdem ihr Vater vom Großvater selbst 
ohne eigentlichen Streit, nur persönlich entfremdet geschieden 
war und für seine Kinder den Familienzusammenhang wahren 
wollte, kam es doch nicht mehr zu den gewohnten Sonntags- 
begrüßungen im kirschholzenen Arbeitszimmer, auch nicht mehr 
zu gemeinsamen Spaziergängen über Land. 

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Thea war jetzt in den Jahren, wo die Mädchen immerfort über 
sich nachdenken und mangels eines äußeren Lebens das innere 
erforschen wie ein unermeßliches Land. Aber bei der Leere 
ihres Daseins kam sie immer bald an den Rand ihrer Über- 
legungen, Wünsche und Hoffnungen, mußte wieder kehrtma- 
chen und ging gewissermaßen im Kreise um sich herum. Sie 
wanderte stundenlang um den Häuserblock, wo Großvaters 
Haus lag, wie eine Seele um ihren einstigen leiblichen Aufent- 
halt Dabei sah sie zu Boden und dachte ihre Fragegedanken, 
als sie plötzlich eine hohe Gestalt unmittelbar vor sich spürte, 
es war der Großvater mit grünem Lodenhut und Stock im Jäger- 
anzug. Er kam wohl von einem seiner Spaziergänge. Auch er 
war überrascht wie sie, beide so erstaunt, daß sie einander erst 
einen Augenblick lang ansahen, ehe sie einander erkannten. 
„Küß' die Hand, Großpapa, 4 * sagte Thea endlich. 
„Grüß Gott, Thea, bist du's?** sagte Erath. Dann gab es eine 
Pause. 

„Nun, und was machen die anderen, Kleinen?" 
„Danke, es geht wie immer." 

„Seid ihr brav, lernt ihr fleißig, seid ihr alle recht gesund?* 4 
„Danke, wir sind alle gesund.** 

„Wie wohnt ihr denn? Habt ihr alles, was ihr braucht? Esset 
ihr ordentlich, wer achtet auf euch? u 
„Ich, Großvater I** 

„Du, Thea, nun da hast du wohl eine ordentliche Aufgabe, und 
wer achtet auf dich?** 
„Ich, Großvater.** 

„Nun, du bist freilich schon ein großes Mädchen und warst 
immer artig.** 

Es gab wieder eine Pause. Endlich faßte sich Thea und 
fragte: 

„Und wie geht es dir immer, Großpapa? Wir haben dich schon 
solange nicht gesehen.** 

„Danke, Thea, danke, immer gleich, immer gleich. Wenn's 
anders ginge, könnte es nur schlechter gehn in meiner Zeit. 
Es geht noch nicht anders.** 

Er war sehr viel größer als Thea und hatte zu ihr hinabgesehen, 
da war er ihr alter lieber Großpapa. Jetzt richtete er sich un- 
willkürlich wieder auf und schaute vor sich hin, und Thea, die 
ja klein war, fand seinen Blick nicht mehr, sondern der Groß- 

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vater versank hinter seinem ins Ferne gewandten, kühlen 
Schauen der wasserblauen Augen, und nur ein alter Mann stand 
da, hoch wie ein Berg, mit Stock und Stiefeln und grauem 
Lodenanzug, ein Fremder. „Nun, ich muß nach Hause, und 
du bist wohl auch auf dem Weg," sagte er. „Leb* wohl, Thea, 
laß es dir gut gehn, sei schön brav wie immer, und pass* nur 
gut auf deine Geschwister auf. Ich lasse sie schön grüßen. 
Bleibt alle gesund, leb* wohl, Thea." 

„Leb* wohl, Großpapa." Er reichte ihr die Hand und sah da- 
bei freundlich auf sie herab, so daß sie wieder den verwandten 
nahen Glanz seiner Augen sah. Sie küßte seine Hand, und er 
faßte ihr noch unter das Kinn, wie an den Sonntagen im Kirsch- 
holzenen, dann ging er, aufrecht, mit ein wenig steifen Schritten 
davon, zu denen sein Stock regelmäßig auf den Boden pochte. 
Sie hätte ganz gut ein Stück mit ihm gehen können, aber das 
fiel beiden nicht ein. Sie wanderten in entgegengesetzter Rich- 
tung. Thea stand still, nicht länger als einen schweren Atem- 
zug, blickte ihm nach, bekam die Augen voll Wasser, senkte 
sie rasch zu Boden und eilte dann fort. 

Der Vater suchte in seiner Wohnung nur eben Abendruhe und 
Schlaf, keinen Aufenthalt und keine Bequemlichkeit weiter. 
Er hatte einen Seidenhandel begonnen, bei dem ihm seine 
Kenntnis* der Ware und des Betriebes und seine Beziehungen 
zu alten Neubauer Firmen behilflich waren, so daß er diesen 
zweiten Wechsel seiner Stellung in höheren Jahren ohne wirt- 
schaftliche Gefährdung überstand und Charlotten zu Trotze 
nicht zugrunde ging. 

Seitdem er aber von der lebhaften Familie abgeschnitten und 
ausgeschlossen war, blieb ein wesentlicher Teil seiner selbst, 
seine Laune, sein Trieb nach Bildung und geistiger Betätigung 
unbeschäftigt. Er hatte zu Hause niemand, mit dem er sich 
aussprechen, der ihm gemäße Teilnahme entgegenbringen 
konnte, obgleich er den Kindern, den beiden ältesten nament- 
lich, mit großer Liebe zugetan war, wie sie ihm. Doch hatte 
er mit seiner eigenen kräftigen Natur zu viel zu schaffen. 
Da Amersin trotz oder gerade wegen seines lebhaften Ver- 
standesan Büchern kein Gefallen finden konnte, begann er 
seine Bekanntschaften im Bezirk mit anderen ähnlich ver- 
einsamten, aber desto geselligeren Männern zu pflegen und in 
Gasthäusern und bequemen Trinkstuben zu vertiefen, indem 

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man gemeinschaftlich bis auf die Neige des Abends und der 
Becher sah. 

Nicht, daß Herr Amersin seine Genossen etwa überschätzt hätte, 
dazu war der Raum hinter seiner hochgewölbten, kahlen Stirn 
zu weitläufig, aber seine Einsamkeit, 'die frühe Witwerschaft 
und das ganze heimische Ungenügen ließen ihm eben eine 
solche mäßige Anwendung einer sonst ungenießbaren Muße 
ratsam erscheinen, und er sagte sich, irgendwie lerne ein offener 
Kopf selbst von den Vernagelten und ein gescheiter Mensch 
selbst von den Dummen. 

Damals war in Wien nach dem unglücklichen „großen Krach u 
des Jahres 1873 die bürgerliche und städtische Politik mit 
Wahlen, Zeitungen, Reden und öffentlichem Getue, mit lauter 
beweglichen und von jedem Winde bewegten sogenannten 
Größen in Schwung gekommen und damit auch die allgemeine 
Einbildung von dem Werte des Allheilmittels Stimmrecht für 
ine von innen her verpfuschte Gemeinschaft Nach der 
schwungvollen, in Torheit, Dürftigkeit und Enttäuschung zurück- 
gesunkenen achtundvierziger Revolution und nach Königgrätz, 
hatten die Machthaber den glücklichen Einfall, so zu tun, als 
wollten sie sich von den Ohnmächtigen, von den Bürgern, von 
Stimmen und Wahlen lenken lassen und nur das ausführen, 
was diese erleuchteten Redner und Vertreter mit ihrer Mehr- 
heit genehmigten. Sahen die bürgerlichen Stimmgläubigen 
doch über dieser kaiserlich erlaubten Volkssouveränität den 
Heiligenschein schweben, den sie den guten alten Kirchen- 
heiligen von den Köpfen wegleugneten. Die Beschlüsse dieser 
Volkssouveränität fielen immer zugunsten der Macht aus, indem 
sie nur das zu verstehen beliebte, was ihr genehm war. Das 
Stimmrecht war immer eine zwar papierne, aber doch schüt- 
zende allerbeste Mauer der Mächtigen , die dahinter noch das 
Händeinunschuldwaschen hatten und sich duldsam und ge- 
recht fühlen durften. In dem geschickt angezettelten und ver- 
ewigten Kampf der einzelnen Kleinen fand die Macht der 
Großen ihren schnarchenden Frieden. 

Dazu kommt noch, daß am lautesten schreit, wer am wenigsten 
zu sagen hat. So entsteht eben die berühmte öffentliche Mei- 
nung als ein Gemisch von Leidenschaft, Augenblickslaune und 
beiläufiger Kenntnis an Stelle wahrhafter Einsicht Reden sollten 
als Taten wirken, Versammlungen als Ereignisse, geschickte 

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Agitatoren und beliebte Schauspieler als Helden, Zeitungsartikel 
als Offenbarungen und dieses ganze dünne, kümmerliche Ge- 
webe von Dun st und Lärm sollte den Vorhang vor dem be- 
quemen, wohleingerichteten Saale bilden, wo die alte, fette 
Macht behaglich schnaufen konnte. Das fadenscheinige, aber 
dauerhafte Geheimnis dieser Macht war, daß sie seit der napo- 
leonischen Zeit, seit dem Wiener Kongreß, eben keine Ge- 
schichte mehr hatte, weil sie längst keinen Gedanken mehr 
besaß, daß seit diesem letzten Sprung der großen Menschen- 
raubtiere nur Wiederkäuer übriggeblieben waren, die mit vollem 
Bauch und dunstigem Gehirn verdauten, während die Stadt 
Wien, die sogenannte historische Stadt mit einer sogenannten 
„historischen Sendung", mit hinterlistig gepflegten und wieder 
sinnreich mißhandelten oder zerstörten Altertümern, Erinne- 
rungen und Gewohnheiten ebenso wie dieses ganze aus Räube- 
reien, Mitgiften und Erbschleichereien, alles in allem aus „glor- 
reichen Erinnerungen" zusammengeflickte und zustande ge- 
brachte Österreich ein Gemeinwesen ohne Geschichte geworden 
war. Der Beruf dieser Stadt erschöpfte sich, kurz gesagt, darin, 
zwischen Osten und Westen da zu liegen. Stadt und Staat selbst 
hatten keinen Gedanken und machten sich auch keinen weiter, 
sie begnügten sich damit, Schauplatz zu sein, ohne daß sie wie 
ein interessanter Schauplatz sonst, selbst an den Handlungen 
mitgedichtet hätten, die sich begaben. Sogar zum Gegenstande 
von Gedanken waren sie zu armselig geworden. Eine Stadt des 
Privatlebens und ein Staat des Familiengezänkes! 
In dieser Stadt ohne Geschichte, in diesem Staat ohne Ereig- 
nisse und ohne Taten mußten die Tradition und die Vergangen- 
heit immer wieder sich selbst bis zum Überdruß spielen, damit 
die Komparserie, das sogenannte „ Volk", seiner selbst getröstet 
wurde, weil es einmal, irgendwann hier gar so schön und vor- 
nehm gewesen war. Und siehe da, der einfältige Kniff wirkte 
noch immer! Ob es in einem gehirnweichen Couplet, oder in 
stolzer wissenschaftlicher Aufmachung oder mit der seichten 
Geschwätzigkeit der öffentlichen Dampfplauderer in den Jour- 
nalen immer wieder vorgekaut wurde, die „Stadt" glaubte daran 
und nährte sich von diesem Luftgebäck. 
Das gleiche Couplet ließ man von den sogenannten „Staats- 
männern" auch dem ganzen Staate vorleiern. Man hatte es leicht, 
von den „historischen Gemeinsamkeiten", von der jahrhunderte- 

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alten Erinnerung und von dergleichen Tatsachen zu reden, die 
nicht mehr bewiesen, als eben den Schein und einen Zusammen- 
hang, der doch darum nicht etwa gut und gerecht wurde, weil 
er schon einige Jahrhunderte alt war. Als ob damit nicht eben- 
sogut das Gegenteil bewiesen werden konnte, übrigens ebenso 
töricht bewiesen wurde ! Man brauchte selbst nicht gescheit zu 
sein, um von der Dummheit der andern zu leben. 
Es war das zweifelhafte Glück dieses Staates, dieser Stadt, daß 
seit mehr als eiuem halben Jahrhundert die Geschichte achtlos 
und ärgerlich von ihrer Schwelle, verächtlich vor diesem untaug- 
lichen Stoff umgekehrt war. In dieser Kulisse und abgebrauch- 
ten Traditionsdekoration mochte die Geschichte nichts verüben 
und das Gerumpel war ihr zu unbequem, um ihr schmerzhaftes 
Wochenbett da zu halten. Sie begnügte sich damit, an Oster- 
reich stirnrunzelnd, mit geschlossenen Augen und indem sie die 
Nase zuhielt, vorüberzugehen. 

Welches bezeichnende Schicksal: es gab seit mehr als einem 
Jahrhundert keine Männer in diesem Land, keine übermensch- 
lichen Geister, keine Genies, wenn man von den wortlosen hei- 
ligen Schwärmern der Töne absieht, die hier in Schmerz, Sehn- 
sucht und Entbehrung verkommend, ihre Schwanengesänge 
sangen, gut genug, daß eine Gegenwart sie verachtete, die Zu- 
kunft daraus eine schändliche Operette zog. Auch das gehörte 
zu den Mittelchen der Mächtigen hier, daß sie den jeden Wort- 
mist aufhebenden Massen im Lande die Giftpillen der Einbil- 
dung ihrer herrlichen, echt österreichischenBegabung einzugeben 
verstanden. Wie reich dieser unglaubliche Staat an Talenten, 
wie unerschöpflich diese modrige Rumpelkammer an Schätzen 
sei: Damit war jede wohlfeile und ödeAUerweltsgeschicklichkeit 
gemeint. Die wahrhaften, wenn auch nicht weltzugehörigen 
Geister des Landes in den letzten hundert Jahren, es gab deren 
immerhin welche, wenn auch wenige, hatte man zeit ihres Lebens 
weder verstanden, noch geliebt. Sie waren ja die eigentlichen 
Feinde. Durch Nichtachtung raubte man ihren ohnehin scheuen, 
aber edlen Stimmen den Widerhall und machte sie in der Enge 
ihrer Einsamkeit ersticken. Aber an den Gräbern dieser Großen 
kann die Eitelkeit der lebenden Kleinen das Maul gar nicht voll 
genug nehmen und fühlt sich selbst erhaben, wenn sie den im 
Leben Verschmähten und in der Heimat Verbannten ihre Be- 
wunderung nachkläfft Sie macht den späten Ruhm zum gleichen 

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Schimpf, wie die einstige Verkenn ung. Eine Stadt und ein Staat, 
die in ihrem Hause unter alten Trümmern wertloser Einrich- 
tungen, ohne Geist, ohne Gedanken ihren Schatz vertan, ihr Ge- 
schäft versäumt und verwirrt hatten, ließen sich nun von lauter 
Leuten etwas vorschwatzen, die,ihrerseits ebenfalls verwirtschaf- 
tete Naturen, sich auf die Maulfertigkeit verlegten und in Reden, 
Versammlungen und öffentlichen Körperschaften als die treff- 
lichen Ordnungsmacher auftraten, dieweil sie nicht einmal in 
ihrem Privatleben halbwegs anständig zurechtkommen konnten. 
Die Partei ist nur das Zufallswerkzeug und -mittel, womit ein 
einzelner persönliche Macht und persönlichen Einfluß an sich 
reißen, der Dietrich, womit er irgend eine Kasse aufsperren 
will, an der er sich gütlich tun möchte. Aber wenn es der Zu- 
fall gewollt hätte, wäre das alles ebensogut auch bei der anderen 
Partei geschehen. Die Gedanken und Grundbekenntnisse sind 
gleichgültig. Das Mittel ist alles, der Zweck verschwindet wie 
der Rauch aus dem Schornstein. 

Aus Spaßbedürfnis und zur Abendunterhaltung ging einmal die 
Tischgesellschaft des Herrn Amersin, er selbst in ihrer Mitte, 
in eine solche Versammlung. Das heißt, die Herren gerieten 
hinein und wußten selbst nicht wie, noch warum, denn man hatte 
eigentlich in einem großen Bierhause ein paar Gläser trinken 
wollen und an der Türe einen Menschenhaufen, darunter ein 
paar befrackte „Ordner" gefunden, die nach Teilnehmern aus- 
schauten, „Gesinnungsgenossen" an etwaigerzuverlässigerMiene 
erkannten, „Gegner" abzuschieben und fernzuhalten suchten. 
Da man nun einmal schon den Weg hierher gemacht hatte und 
nicht umkehren wollte, drängte man sich mit den übrigen hinein 
und war im Saale, durch die unablässig zerwühlte Masse der 
Besucher auf einmal voneinander getrennt, inmitten fremder 
„Wähler" eingepfercht, sah sich an irgend einen Platz geschoben, 
auf einen Stuhl niedergedrückt und plötzlich als mitwirkenden 
Teil einer öffentlichen Versammlung. 

Herr Amersin fand wenigstens ein Krügel Bier von einemKellner 
vor sich hingestellt, sah munter um sich und wartete auf die 
kommenden Ereignisse. 

Ein Präsident, ein würdevoll aussehender bärtiger Glasermeister 
oder dergleichen, der seinen roten Bart liebkoste, denn er ver- 
dankte ihm die Ehre des Tages, erteilte einem Kandidaten das 
Wort. Jubel empfing den offenbar wohlbekannten Mann, der 
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sich begeistert, gerührt, zufrieden wie ein beliebter Schauspieler 
nach allen Seiten verbeugte. Er war nicht besonders gut ange- 
zogen, denn ein anstandiger Rock hat vor dem Volk seit jeher 
etwas Verdachtiges, doch wußte er sein nachlässiges Jackett 
mit einer gewissen Anmut zu tragen und sein Äußeres so zu 
frisieren, daß er zugleich als schöner Mann und als gemeiner 
Mann, als Abgott und als Gleicher, kurz als wahrer Vertreter 
seiner Gesinnungsgenossen zwar durchaus ansehnlich, aber auch 
gottlob gemeinverständlich erschien. Jeder durfte sich einbilden, 
so könne er auch auftreten und sprechen, wenn er nur wolle, 
denn das macht den Auserwählten des Volkes ja aus, daß er 
niemals etwas anderes sagen kann oder mag, als was jeder 
andere ebensogut sagen würde. 

So sprach er auch, und wenn er sprach und lachte, sprang ein 
ungeheures Gebiß mit weiten Fresserkinnladen hervor und ver- 
zog sein Gesicht, das bei geschlossenem Munde mit gewichstem 
Schnurrbart, genau gescheiteltem, ölig-glattem, schwarzem Haar 
und einer Allerweltsnase, mit kleinen, stechenden, grauen Augen 
und einem goldgeränderten Zwicker, harmlos gefällig erschien, 
zur unleidlichen Fratze einer Allerweltsschurkerei. Er sprach, 
solange er nicht in Feuer geriet, in jenem gemachten Wiener 
Dialekt, der irgendwie vor sich selber scheut und ins Hoch- 
deutsch zurücksucht, kam aber die Rede in rascheren Schwung, 
so sprang mit den ungeheuren braunen Zähnen aus den Fresser- 
kinnladen die urwüchsige Roheit einer ins ganz Gemeine ver- 
sunkenen, verdorbenen Mundart hervor und wälzte sich mit Be- 
hagen im Schmutz, wobei immer ein wieherndes Lachen die 
eigene Schande begleitete und um das Gelächter aller anderen 
Mitschuldigen warb. Er sprach gemeinverständlich und mit den 
Witzen, Redensarten, Zitaten und sogenannten Kühnheiten, die 
jedermann innehatte und mit Freuden als den eigenen Bildungs- 
und Meinungsvorrat wiedererkannte. Es handelte sich übrigens 
am städtische Angelegenheiten, gewisse Tatsachen, die der 
herrschenden Partei zwar mit der sicheren Wirkung jeder ge- 
schickt gedrehten Verleumdung zu unterstellen, aber deshalb 
nicht zu beweisen waren, weil man nie genaue Einsicht in die 
Einzelheiten haben konnte. Darum erfand sich der Redner die 
nötigen Einzelheiten nach Bedarf und gruppierte sie geschickt 
zu einem Strauße von Gemeinheiten. So eiferte der Mann da 
droben, glaubte selbst bei seinen „zündenden Worten", was er 

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eben ausgesonnen and willkürlich ausgedeutet hatte, geriet mit 
wieherndem Lachen des^Hohns aus dem gespielten in einen 
wirklichen Zorn, deun er war doch der Oppositionsmann, der 
allen Grund hatte, sich über die herrschenden, an den Futter- 
stellen gedrängten Leute zu ärgern, die ihm den Platz versaßen, 
wurde dazwischen gelegentlich sogar wirklich witzig, denn wer 
hungrig ist, neigt zu boshaften Einfällen, die anstachelnden Zu- 
rufe aus der Menge, die ihn wie einen Kampfhahn „aufhußten" 
und den Spaß steigern wollten, befeuerten ihn zu immer neuen 
Anwürfen. Er übertraf sich selbst. Als er fertig war, ging ein 
Toben und Brüllen an wie um einen erfolgreichen Komödianten. 
Der Redner stürzte einen Schluck Wasser hinab, schüttelte un- 
zählige Hände, die sich ihm entgegenstreckten, wechselte mit dem 
verlegenen Polizeikommissär, der etliche Gesetzverletzungen 
angemerkt hatte, höhnische Blicke und Worte und wartete mit 
roten Wangen und verkniffenem Munde — denn er handhabte 
ihn wie eine Maschine, die sich nur behaglich fühlt, solange 
sie klappert — ob irgend ein anderer etwa sprechen wolle. 
Nun machen in jeder Versammlung die Gegner erst die not- 
wendige Würze aus. Aber diese Gegner sind ja auch immer 
die Feinde, denen man am liebsten an die Gurgel fahren 
möchte. Darum läßt man sie zwar ein und duldet, daß einer 
oder der andere spricht, solange er gleichsam nur als uneigent- 
licher Gegner auftritt, der im Grunde dasselbe meint und will, 
wie alle anderen. Aber wehe, wenn er „persönlich" wird. 
Dann sind gewisse handfeste Bursche, Fleisch hauergehilfen 
oder dergleichen gut gezahlte Leute aufgenommen und werfen 
den Gegner hinaus. 

Herrn Amersin verdroß die faustdicke Zusammenstellung und 
betrügerische Aufmachung erfundener oder mißdeuteter Tat- 
sachen, auch der selbstgefällige, schöne Bursche oben, der mit 
seiner dicken Goldkette spielte und nach Gegnern suchte, ver- 
droß ihn. Kurz, Amersin wußte nicht wie, er erhob sich auf 
einmal und bat ums Wort« Die Nachbarn wurden auf ihn auf- 
merksam und riefen „hört, hört u , er hätte sich jetzt am liebsten 
gleich wieder niedergesetzt und seinen Ärger mit einem Schluck 
Bier heruntergespült, aber es war zu spät Man hatte ihn ge- 
sehen. Der Präsident fragte ihn ordnungshalber um seinen 
Namen und er mußte sich nennen. So ward ihm liebenswürdig 
das Wort erteilt, man konnte ja in ihm ganz wohl einen ge- 

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schätzten neuen Freund vermuten. Da er über die Köpfe der 
vielen Menschen nicht hinwegsehen konnte, aber auch durch 
die Haufen sich nicht erst den Weg auf die Tribüne bahnen 
wollte, stieg er auf seinen Sessel. So stand er nun, klein, vier- 
schrötig, mit allem Behagen seiner unverwüstlichen guten Laune 
und des Augenblicks, der ihm einen unverhofften Spaß ver- 
sprach. Er wußte ja seine überraschten Zechgenossen irgend- 
wo im Saale. Die rechte Hand frei, die linke in der Hosen- 
tasche mit den Schlüsseln klimpernd, blickte er über eine Menge 
fremder Leute und begann mit seinem gutmütigen pfiffigen 
Lächeln. 

Langsam, jedes Wort deutlich und genau aussprechend und 
zu einfachen Sätzen aneinanderreihend, schien er beim Reden 
die Gedanken selbst zu entwickeln und sich klarzumachen, 
die er dem „hochgeschätzten Herrn Vorredner" entgegenhalten 
wollte. Es kam ihm nämlich nur darauf an, das widerwärtige, 
beiläufige, absichtlich verwirrte Zeug von Ansinnen und An- 
dichten ins Reine zu bringen, die angegriffenen Personen waren 
ihm gleichgültig. Er begann denn jede einzelne Tatsache, die 
der Redner in einen schiefen Zusammenhang gebracht hatte, 
in einen geraden zu rücken und Ordnung zu machen. Es war 
ihm selbst angenehm, das Kommen der Gedanken und Zu- 
strömen der richtigen Worte zu beobachten, während er sprach, 
und wie ihm auf jeden Witz des Vorredners der schlagende 
Gegenwitz einfiel. Ein paar Zuhörer lachten, er sah sich nach 
ihnen um, sie nickten ihm zu, er klapperte munter mit den 
Schlüsseln in seiner linken Hosentasche und warf den Leuten 
gleich wieder einen Spaß und Einfall hin. Aber die große 
Mehrzahl der anderen begann schon zu murren, drohende Rufe 
flogen ihm zu, der Präsident, dessen roter Bart unruhig zu 
flackern anfing, mahnte zur Sache und drohte mit Wortent- 
ziehung, der schöne Kandidat auf der Tribüne sah höhnisch 
und gereizt darein. Das feuerte Herrn Amersin zu neuen Ein- 
und Ausfällen an, wobei er aber, um seiner Erregung das rich- 
tige Gegengewicht zu geben, unwillkürlich immer langsamer, 
deutlicher und schärfer redete, aber nicht mehr lange sprechen 
und sich sprechen hören durfte, denn auf einmal und gerade, 
als sein Witz bedrohlich folgerichtige Schlüsse zog, schrieen 
viele „Hinaus mit ihm", er spürte, wie er mitsamt seinem Sessel 
aufgehoben wurde, mitten unter einem guten Einfall, über den 

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alle lachten, und plötzlich auf der sicheren Erde stand. Ein 
Ordner mit einer Blume im Knopfloch und einem Abzeichen 
auf dem bedenklich muskulösen Arme bedeutete ihm drohend, 
daß er ihm hinausfolgen möge. 

„Noch nicht, geehrter Herr, ich habe noch mein Bier nicht aus- 
getrunken und ich bin auch sonst noch nicht fertig," beteuerte 
Amersin. 

„Hinaus mit ihm", „Schluß**, „Abzug", schrien die vielen, 
„Reden lassen", „Hört", „Redefreiheit", andere, Fäuste droh- 
ten, rote Gesichter stierten ihn an, da tauchte neben ihm plötz- 
lich ein Riese von einem Menschen auf mit funkelnden schwar- 
zen Augen und einem langen, mächtigen, schwarzen Barte, legte 
beide Arme auf Herrn Amersins wie auf eines Knaben Schul- 
ter, und sagte, den Bärenschädel nach den Bedrängern wen- 
dend: „Daß mir niemand den Kleinen da anrührt", und brach 
sich, Amersin vorausschiebend, durch die unwillkürlich zurück- 
weichenden Gegner wie durch eine Menschengasse mit einem 
gutmütigen Lächeln den Weg ins Freie. 

So begann die politische Laufbahn des Herrn Amersin wie so 
manche andere mit einem Hinauswurf, und so begann sein Be- 
streben, in die öffentlichen Angelegenheiten der Stadt Wien 
jene Ordnung zu bringen, die er in seinem Haaswesen leider 
nicht herstellen konnte, wenn er auch alle „Lichtdiebe" und 
„Staubfänger" beseitigt hatte. 

Bei Gelegenheit war ein „Sitz" frei und Amersin gewählt, er 
wußte nicht wie, noch warum und kümmerte sich um die ernst- 
haften Stadtgeschäfte. Daß man eine öffentliche Sache zu sei- 
nem privaten Vorteil wenden kann, fiel ihm freilich nicht ein, 
denn er suchte nur den Vorteil der Sache und darin war er 
eben — der einfältige Bauer. Die feinen Advokaten verstanden 
es besser. Aber er hatte beim Nachsehen erst recht seinen 
Spaß. So schützte sein Bauernverstand seine Unschuld, wenn- 
gleich in den politischen Dingen die Unschuld lange nicht den 
Wert hat, wie in der Liebe. 

3- 

Über die Mariahilferstraße zieht durch die reichste und be- 
wegteste Vorstadt an den vollen Läden und Auslagen vorbei 
der Strom der Menschen. Die Stadt selbst wird ihnen zur 
Natur und das mit überraschenden Zufällen anstürzende, dann 

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eintönig fortbrausende öffentliche Leben, das sich zwischen 
den hohen steinernen Schluchten der Häuser hinwälzt, ein un- 
heimlich lockendes Schauspiel, nicht anders als dem einsamen 
Anwohner des Meeres die Küste mit Flut und Ebbe. 
Wer täglich über die Mariahilf erstraße ging, kannte bei aller 
Mannigfaltigkeit ihre ständigen Erscheinungen, die hübschesten 
am Nachmittag, wenn mit der Muße die stadtische Freiheit, 
die ehrbare Lüsternheit des Spazierengehens und Schlenderns 
begann, wenn die jungen Offiziere lachende Mädchengesichter 
unter Schleiern und Hüten suchten, wenn die jungen Studenten, 
die Mittelschüler in den oberen Jahrgängen mit der blassen, 
unreinen Haut und mit dem ersten Flaum an der Lippe und 
die Altersgenossinnen daherkamen, die kleinen Fräulein mit 
den Samtmützen, Spitzenkragen, mit Bändern um den Hals und 
Musikrollen oder Schultaschen in der Hand. 
Die großen, schönen Frauen rauschten vorüber in faltigen, 
tieffarbigen Mänteln und Pelzkragen, dünne Schleier verraten 
die perlmutterfarbene Haut, das feuchtblitzende Auge, den 
Mund, die Lippen, die Zähne, ein leiser Hauch von Menschen- 
geruch, mit künstlichem Blumenduft betörend gemischt, schwebt 
je und je in heißer Welle vorüber, macht diese Gestalten er- 
glühen und enthüllt sie, die Menschenfrauen der großen Städte, 
als Nixen mit gierigen Mündern. Es gibt allerhand Kämpfe 
von Blicken, allerhand Werbung und Ausflucht, nichts offen- 
barer und schamloser als diese verkleidete Maskengeselligkeit 
der Straße I Verworrene Stimmen, Klappern der Fahrzeuge, 
Läuten der Glocken, Schallen der Hufe, Tuten von Hörnern, 
Schreien der Verkäufer, die unaufhörlichen Menschentritte, 
rufende Kinder, Schläge der Uhren, Rollen der Läden, krei- 
schendes Eisen, knirschendes Holz, ächzendes Gedränge stößt 
in einen einzigen auf- und niedergehenden Lärm zusammen. 
Nichts reicher als diese mannigfaltige Üppigkeit der Straße, 
die den Schlendernden die Bilder allen Überflusses der Erde 
vor die müßigen, begehrlichen Blicke stellt 1 Haufen von Eß- 
waren, braunrote Schinken, weißer Speck, gelber Käse, Kränze 
von Würsten, gold schuppige Räucherfische, alles aus allen 
Zonen, Tiere und Früchte aller Gegenden in den Delikatessen- 
läden aufgetürmt, schimmernde Juwelen aus allen Eingeweiden 
der Erde geholt und zurechtgeschliffen erglänzen in voller Be- 
leuchtung, damit sich diese schlanken Hälse und blitzenden 

Stoessl, Das Haus Erath 1 5 22$ 



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Augen danach wenden, toll werden nnd wieder toll machen, 
Finten schimmernder Stoffe wallen von den Gestellen hinab, 
Federn aller bunten Vögel winken aus durchsichtigen Vitrinen, 
und an allem wandeln Männer und Weiber vorüber, um deren 
Aufmerksamkeit diese vielfältigen Waren und Gelegenheiten 
flüstern, betteln, mit tausend Versprechungen buhlen. Jeder 
einzelne steckt in unzählbaren feinen, unsichtbaren Abhängig- 
keiten, indessen er sein schmales Endchen Freiheit nach dem 
schmalen Endchen Freiheit des anderen auswirft 
Der junge Ludwig Mainone, der an jedem Nachmittag über die 
Mariahilf erstraße ging, suchte und sah jedesmal die zwei Ge- 
stalten, die hier Arm in Arm an der Kirchenseite von der 
„Linie a etwa bis zum „Ringe" und wie still und einsam sie auch 
wanderten, jedem aufmerksamen Betrachter auffallen mußten. 
Sein Weg schien Ludwig erst vollendet, wenn er diese beiden 
gesehen und gegrüßt hatte. 

Er war schon in den Jahren, wo auch ein junger Bursch eitel 
wird, dümmer eitel, weil unbegründeter, als ein hübscher Back- 
fisch gleichen Alters, und er gefiel sich leider gar nicht, trotz- 
dem er nett angezogen war. Aber er wuchs seinen anständig 
geschnittenen Rock und die Hosen aus pfeffer- und salzfarbenem 
rauhen Stoffe zu rasch aus, und mehr als einen Anzug im Jahre 
konnte er nicht bekommen. Wenn er in die Scheiben der 
Läden sah, mißfiel ihm auch das Gesicht, sein ganzer Kopf 
aufs ärgerlichste, der aus dem mageren, kleinen Körper ebenso 
übermäßig ausgewachsen schien wie die Gestalt aus den Klei- 
dern. Unförmlich starrte der Schädel in einem lockigen Wald 
von braunem Haar, als lebte jeder Teil dieses Gesichts auf 
eigene Faust und störte die anderen Züge. Einsam standen 
die unwilligen, scheuen braunen Augen, unbändig eine große 
Nase in schmalen blassen Wangen, ein zu kleiner Mund war 
fest geschlossen. Nein, er gefiel sich gar nicht und verlor sich 
deshalb gern aus dem Gesicht bei einem fremden guten An- 
blick. Und dieser war ihm tröstlich: Frau Elisabeth Frantzl, 
die mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Corona an jedem Nach- 
mittag von der Mariahilferlinie etwa über die rechte Uferseite 
dieses Straßenstromes bis hinab zum Ringe oder noch tiefer 
bis in die innere Stadt spazierenging nnd Besorgungen machte, 
um abends den gleichen Weg stromaufwärts im Licht der La- 
ternen und im Gedränge der Heimkehrenden zurückzulegen. 

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Die beiden schritten Arm in Arm wie zwei Schwestern. Elisa- 
beth sah noch jung aas trotz ihrer mütterlichen Jahre, und trotz- 
dem sie sich meist dunkel trug in anschließenden, einfachen 
Kleidern, mit einem bescheidenen, schwarzen Hütchen auf dem 
blonden, wie es schien ein wenig ermatteten und nachgedun- 
kelten, wenn auch noch vollen Haar. Aber sie war schlank und 
beweglich geblieben und schritt rasch und leicht, aufrechten 
Hauptes am Arme ihrer Tochter. 

Corona ging freundlich, heiter, ebenso aufrecht, mit lebhaftem 
und unbefangenem Blick und zärtlich plaudernd, den Kopf ein 
wenig zur Mutter herabgeneigt, neben ihr, und in dem gleichen 
Schritt und Tritt der beiden schien eine harmonische, schöne 
Musik zu erklingen und zu schweben und für den jungen Ludwig 
Mainone, so oft er die beiden von weitem schon erkannte, den 
ganzen unbestimmten Lärm der Straße mit einem ruhigen Wohl- 
laut zu übertönen. Corona ging in farbigen Kleidern, einfach, 
doch stets durch irgend eine liebliche, gefallsame Kleinigkeit 
ausgezeichnet, wie sie eine zärtliche Mutter einer bewunderten 
Tochter zudenkt. Das Schönste aber war ihr volles, weiches, 
von zartem Rot überhauchtes, weißes Kindergesicht in leisem 
Pfirsichflaum, mit dem unschuldig sinnlichen, unbestimmt 
lächelnden Munde, mit den offenen blauen Augen, mit der 
geraden, scharf gezeichneten, aber an der Stirne weich und 
leicht angesetzten Nase, an deren Sattel es wie eine liebliche 
Mahnung an das Gewöhnliche sogar ein paar ganz gerechte 
Sommersprossen gab, und über der niedrigen, geraden Stirn 
das goldblonde reichste Haar, das unter jedem Hut hervorquoll 
und seine seidenen glänzenden Locken bis an die Wangen 
drängte. Sie trug darum auch nur zaghafte Andeutungen von 
Hüten, Mützchen oder Häubchen oder wie man diese Falter- 
chen von Kopfbedeckungen nennen wollte, denn Corona hatte 
wahrlich eine Krone von goldenem Haar. 
Hatte Ludwig vor den beiden ehrerbietig seinen Hut gezogen 
und ihren freundlichen Dank, ein lächelndes Zunicken, ge- 
schenkt bekommen, so war sein Spaziergang eigentlich beendet 
und hatte seinen Zweck erfüllt. Er konnte einigermaßen ge- 
tröstet und halbwegs vergnügt in sein Haus zurückkehren. 
Corona Frantzl war nämlich seine Jugendgespielin, und er duzte 
sich mit ihr. Das war heute noch eine sichere, unumstößliche 
Tatsache, wenn er auch über kurz oder lang dieses Du ver- 

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Heren würde , denn ein Mädchen mit sechzehn Jahren ist ein 
Fräulein und geht morgen schon auf jeden Ball, aber ein Bursch 
mit sechzehn Jahren, mag er sich an Verstand und Gefühl weit 
erwachsener vorkommen, bleibt doch eben leider nur ein Schul- 
junge und noch dazu mit einem bangen Gewissen hinsichtlich 
der Mathematik und mancher anderer Gegenstände. 
Seine Jugendgespielin aber war sie und liebenswürdig genug, 
die Tatsache vorläufig anzuerkennen, wenn er sich gleich dar- 
über keiner Täuschung hingab, daß es mit dieser Erinnerung 
nicht sehr weit her war. 

Ludwig hatte nämlich mit seinen Eltern als sechsjähriger Bub 
den Sommer draußen in einem der Wienerwaldorte zugebracht, 
in demselben Hause wie die Familie Frantzl, und wenn seine 
Mutter eine Torte gebacken hatte, war Corona an der Schwelle 
seiner Wohnung neben ihm gesessen, und er und sie hatten 
den Weitling und jedes einen Kochlöffel bekommen und den 
Rest des rohen süßen Teiges aus der Schüssel oder vom Ein- 
gesottenen, das über dem Herde in großen Mengen eingemacht 
worden, den abgesiehenen Schaum aus kleinen Tellern aus- 
kosten dürfen. Ludwigs Mutter, die im Gespräch gern eine 
sehr gewandte Phantasie spielen ließ und ungemein poetische 
Erinnerungen und Stimmungsbilder ins gemeinere Leben ein- 
zuflechten verstand, erzählte auch mit genauer Ausmalung — 
denn sie war eitel genug, ihren Buben mit einem so schönen 
Geschöpf in einen von der Vorsehung gefügten Zusammenhang 
zu bringen — , daß die beiden Kinder einander damals auch 
oft und gern in lauter Zärtlichkeit umarmt hatten, wobei Ludwig, 
ungeschickt genug, nicht ermangelt haben sollte, Corona in 
seinem liebenden Ungestüm in die Brennesseln zu werfen. 
Aber Ludwig konnte sich an diese Tatsachen leider gar nicht 
mehr erinnern. Wie sollte Corona an solche fragwürdige Ver- 
gangenheiten denken? Ludwig dachte vielmehr bloß an die 
einzige Tatsache dieser fernen Sommertage, daß sein Vater, 
der Arzt war und unter der Woche nur spät abends hinaus- 
kommen konnte, den ganzen Sonntag draußen verbrachte und 
ihn frühmorgens, in einem gelblichen Nankinganzug, einen 
großen gelben Strohhut auf dem Kopf, mit heiterem, erwartungs- 
vollem Gesicht aufzuwecken pflegte. Ludwig erinnerte sich auch, 
wie rasch er immer aus dem Schlaf und dem Bette gesprungen 
war, sich wusch, den heißen Morgenkaffee hinuntertrank und 
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dann an der Hand des Vaters auf die Schmetterlingsjagd 
auszog. 

In allen anderen Erinnerungen spielte Corona leider nicht mit. 
Später gab es nur gelegentliche Besuche und Kinderjausen 
mit vielen anderen kleinen Gästen, wobei Coronas Vater drollige 
Schattenspiele vorführte, nachdem man eine köstliche Eiscreme 
aus vielerlei Früchten genossen hatte. Aber so holde Vertrau- 
lichkeiten und sagenhafte Umarmungen in Nesseln waren ge- 
wiß nicht mehr vorgefallen. 

Wenn Ludwig sein sehr bereitwilliges Herz befragte, so konnte 
er übrigens durchaus nicht sagen oder glauben, daß es etwa 
für Corona besonders schlug. Nein, er wagte es gar nicht, sie 
zu lieben, aber die Schönheit, das menschliche Wunder in ihr 
betete er gläubig an, das ihm so selten entgegengetreten war 
und das er so oft und überall so angstvoll suchte als den eigent- 
lichen Glauben, der das Leben rechtfertigt Er dachte immer 
an sie, und es gefiel ihm sehr wohl, daß seine Mutter, die mit 
Frau Frantzl einen ständigen freundlichen Besuchsverkehr 
unterhielt, auf den Einfall kam, mit einer ähnlich gestimmten 
Familie, dem Hause Hebenstreit, allerhand junge Leute und 
Mädchen zu geselligen Abenden mit Spielen und Tanz einzu- 
laden. Trotzdem hielt er diesen angeblich der Kinder halber 
ausgeheckten Einfall für eine der Großtuereien, die seine Mutter 
jezuweilen aufstecken mußte, denn Ludwig kannte leider nur 
zu genau die freilich möglichst kunstvoll verborgen gehaltenen 
mißlichen Vermögensumstände seiner Eltern. Sein Vater, der 
Sohn eines armen mährischen Dorfschullehrers, hatte unter 
Entbehrungen und Not studiert, war in Wien Arzt geworden, 
denn er besaß die Mittel nicht, sich der stillen Naturforschung 
zu widmen, wonach seine eigentliche sinnige Begabung ver- 
langte. In Wien hatte er auch bei irgend einer Gelegenheit 
seine Frau kennengelernt, eine gebürtige Russin, die von 
ihren Eltern auf Reisen ausgeführt worden war, vermutlich weil 
sie daheim allerhand unangenehme frühe Verwirrungen bei 
sich selbst und bei anderen Leuten angerichtet hatte. Sie war 
noch heute schön — wenigstens nach der Meinung der anderen 
— , und mußte es damals um so mehr gewesen sein, reif, üppig, 
mit einem kleinen, aber beweglich verlockenden Körper, mit 
einem Gesicht, das durch die slawisch hervorstehenden Backen- 
knochen etwas grausam Reizeudes bekam, mit roten Wangen, 

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deren Blut unter einer schier durchsichtigen, gläsern sprüngigen 
Haut in einem dichten rosigen Netz von unzähligen Aderchen 
ausgebreitet war, mit feuchten, gründunkeln Augen, weißen, 
gesunden Zähnen und mit einer abenteuerlichen Lebhaftigkeit 
und scheinbar geistreichen Gewandtheit Sie sprach deutsch 
ebensogut wie französisch mit einem ganz entfernten fremden 
Anklang, der, was sie sagte, immer besonders hervorhob, aber 
auch unheimisch und dadurch unheimlich machte. Das Auf- 
treten der Eltern und des Mädchens ließ großen Reichtum ver- 
muten, so gab sich denn Ludwigs Vater dem Reiz dieser über- 
raschenden Begegnung — er hatte vordem in Armut und Fleiß 
zu solchen Abenteuern wahrlich keine Zeit gehabt — mit gutem 
Gewissen hin. Und wie es so geht, wenn ein kindlicher, sorg- 
loser Mensch einmal berechnend sein zu dürfen glaubt: er ge- 
dachte nicht nur eine schöne und geliebte, sondern auch eine 
reiche Frau zu bekommen, die ihm ein sorgloses, freies Leben 
sichern würde. So heiratete er denn gleich. 
Aber statt der erhofften großen Mitgift händigten ihm die Eltern 
seiner Braut vor ihrer Abreise in den fernen russischen Osten 
— Gott mit ihnen und auf Nimmerwiedersehen — ein paar 
bescheidene Wertpapiere ein, nach welcher Zahlung sie sich 
unter gerührten Segenswünschen empfahlen. Bei den unge- 
messenen Ansprüchen der jungen Frau, die, an den sprichwört- 
lichen wohlfeilen russischen Überfluß und an das sorglose, 
üppige, gesellige Leben gewöhnt, ein gleiches hier fortsetzen 
wollte, gingen diese wenigen Wertpapiere sehr bald in Kleider 
und Vergnügungen und sohin in Rauch auf, und Doktor Mainon es 
ärztliche Praxis, die bei seiner Bescheidenheit wohl ausgereicht 
hätte, seine Familie mit besonnener Lebensführung vor Sorge 
und Not zu schützen, genügte lange nicht, die weitwendige 
Beweglichkeit der jungen Frau gebührlich zu erhalten, die in 
der großen Wohnung, mit vielem gesellschaftlichem Verkehr, 
mit ihrem Bedürfnis zu glänzen, eine Rolle zu spielen, auf 
Menschen zu wirken, im raschen Fahrwasser des Leichtsinns 
getrost weitertrieb und den Mann notwendig mit sich riß, der 
ihr verfallen war. Als er eines Tages und dies sehr bald wußte, 
das sogenannte Vermögen seiner Frau sei aufgezehrt, und von 
ihr verlangte, sie möge sich nun einschränken und vom Vor- 
handenen bescheiden leben, um ihr Kind, den einzigen Knaben, 
ordentlich zu erziehen, fing die erste jener Szenen an, die 

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Ludwig bis zum Überdruase kannte. Sie weinte, schluchzte und 
stieß dabei schreiende Anklagen über ihr verpfuschtes Dasein 
aus, gegen den armseligen Mann, der seiner Frau nicht einmal 
das Notwendigste zu bieten imstande sei. Ein anderer wurde 
das Geld stehlen und sich das Blut aus den Nägeln hervor- 
arbeiten, seine Frau zu ehren. Sie schaue sich nur mit Staunen 
und Ekel die anderen Weiber rundherum an, diese Gänse und 
niedrigen Kreaturen, aber je armseliger, um so herrlicherlebten 
sie. Man trug diese Puten auf Händen, man betete sie an, sie, 
die ihr an Schönheit, an Geist, an Herkunft nicht vergleichbar 
waren, die ihr nicht das Wasser reichen konnten, ließen in den 
ersten „Salons" arbeiten und strotzten in sündhaften Toiletten; 
zum Schweinehüten gerade gut genug, wohnten sie in Möbeln 
von Schloßcharakter. Sie hielt mit ihrem Schicksal gereizte 
Zwiesprache, und mit gerauften Haaren, Selbstmorddrohungen, 
verzerrter Miene enthüllte sich in theatralischen Ausbrüchen 
eine unwandelbare Zuchtlosigkeit, die schon dem Knaben Haß 
gegen die Mutter einflößte. Vor diesem Haß empfand er wieder 
selbst ein lähmendes Grauen wie ein Verfluchter. Wenn ein 
solcher Anfall, den der Vater mit Ruhe und Geduld über sich 
ergehen ließ, abgebraust war, wurde die Frau wieder zärtlich, 
weinte, bat um Verzeihung, wobei sie ebenso theatralisch mit 
Schluchzen und Flehen und edelm Verzicht spielte. Schließlich 
setzte sie sich an den Schreibtisch, um von daheim eine Sen- 
dung Geldes zu erbitten. Die kam denn auch, weil ihre Leute 
sich doch irgendwie verpflichtet fühlten, die verduftete Mitgift 
in bescheidenen Teilbeträgen wenigstens verschmerzen zu 
machen und sich die Befreiung von diesem feurigen töchter- 
lichen Übel ein leidliches Opfer kosten zu lassen. Und der 
Doktor Mainone ließ es geschehen, denn anders konnte er die 
Lebensweise seiner Frau und das kostspielige Hauswesen nicht 
aufrecht halten. Warum er sich nicht beizeiten aus dieser un- 
gemäßen Ehe losmachte, die ihn früh genug erdrückte, nach- 
dem sie ihn entwürdigt hatte, war dem Knaben freilich unklar, 
der an dem geduldigen, stillen Vater mit zärtlicher Liebe hing. 
Später verstand er auch diese qualvolle Unlöslichkeit, und daß 
er selbst sein gut Teil Schuld daran hatte, ohne es freilich zu 
wollen und zu wissen. 

Kam eine Sendung Geldes, so ging eine kurze Weile alles wie- 
der flott und heiter vonstatten, bis zum nächsten Mangel und 

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zu einer neuen weiblichen Unerläßlichkeit, der die gleiche alte 
Szene mit den gleichen Worten, Gedanken, Gebärden diente 
und der unvermeidliche, großartig abgerungene Brief als das 
entsetzlichste Opfer folgte, das Frau Mainone ihrem unwürdigen 
Mann und ihrem Kinde bringen mußte, und worin sie sich als 
tragische Heldin und Mutter fühlte. Im Laufe der Zeit arteten 
diese Ereignisse noch durch das Hinzutreten sogenannter Krank- 
heiten aus, die einerseits für die Bedürfnisse und Wünsche der 
Frau nach Reisen, Abenteuern, Genüssen erhöhte, zwingende 
Gründe liefern, andererseits den Mann vor ihr selbst noch bit- 
terer ins Unrecht setzen sollten, der sie an solchem notwendig- 
sten Mangel leiden ließ. Sie warf sich steif und starr auf den 
Boden, freilich nur, wenn irgend ein unerwünschter Zeuge ihres 
Zustandes anwesend war, und konnte eine Stunde lang wie ein 
Stück Holz daliegen. 

Diese ganze böse Nichtigkeit war aber stark genug, das Edlere 
in ihrer Umgebung völlig niederzuzwingen und allmählich gemein 
zu machen. Ludwig haßte diese Mutter! Er durchschaute alle 
ihre Einbildungen, ihren Selbstbetrug und ihre unverschämt fort- 
gesetzten Täuschungen anderer I Er ersah keinen einzigen Zug 
an ihr, der irgend etwas Versöhnliches gehabt hätte. Sie er- 
schien ihm wie ein böses, schamloses, reißendes Tier, das andere 
anfällt und sich an den Qualen weidet, die es angerichtet, und 
wie sollte eines ihrer Opfer, geschweige denn ihr Kind, an diesem 
Wesen Tröstliches finden! 

Freilich liebte ihn diese Mutter auf ihre Art und verwöhnte ihn 
mit übermäßigen Zärtlichkeiten, durch die sie ihn zu bestechen 
suchte, bald aber jagte sie ihn mit rohen Launen wie mit Fuß- 
tritten weg 4ind reizte ihn bis zum Äußersten. 
Er haßte sie, weil sie, die eigene Mutter, ihm den Glauben an 
die Mutter, damit an den Menschen überhaupt, die eigentliche, 
hoffnungsvolle Unschuld der Kinder: das Vertrauen selbst um- 
gebracht hatte, und weil sie in seinen Augen auch den Vater 
herabsetzte und verdarb, der dies alles ertrug, der dieses Geld 
erbetteln ließ und davon zehrte, der vielleicht nur soviel Geduld 
aufbot, weil er zum Leben einer mühseligen Arbeit zu schwach 
war, weil er selbst auf dieses fürchterliche Behagen nicht mehr 
verzichten konnte. 

Und er haßte sie, weil ihn ihre Gefallsucht anwiderte. Er ver- 
stand nur allzu früh diese Blicke ihrer feuchten, glänzenden, 

232 



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buhlerischen Augen, die überall um Gefallen warben, die überall 
ähnliche Blicke suchten und erweckten, in jedem beliebigen 
Manne, dem sie gegenübersaß, der sie reizen mochte. Schon 
als ganz kleiner Junge brannte er vor zorniger, mühsam unter- 
drückter Aufregung, die Gespräche durch offene Feindseligkeit 
abzuschneiden, die sie mit wildfremden Männern anknüpfte. 
Und später verstand er erst Näheres, Entsetzlicheres und nahm ^ 
es wahr! 

Es gab eine Szene in einer Nacht der weiten Wohnung unter 
den Möbeln, die in der Aufregung hin und hergeschoben wur- 
den, während eine Kerze stechend in die Augen des schlaflos 
lauschenden Knaben brannte. Der Vater sagte der Mutter alles 
ins Gesicht hinein und den Namen dafür. Nach diesem Wort, 
das aufklatschte wie eine Ohrfeige und von einem schluchzenden 
Wutschrei derFrau erwidert wurde, verstummten beide in einem 
Entsetzen, das keinen Ausweg mehr fand. Und ihre Tränen dann 
nach einem großmütigen theatralischen Selbstmordanerbieten, 
ihre falsche Demut und Unterwerfung, das ekelhafte Verzeihen 
und Begraben der Erinnerung in einem allzu wachen Gedächtnis, 
so daß das Scheintote ewig lebendig im Innern tobte und bei 
nächster Gelegenheit hervorbrach ! Mochte der Vater verzeihen 1 
Mochten dieMenschen von der Freiheit schwatzen und alle Ver- 
hältnisse nach dieser angeblich gerechten Freiheit des einzelnen 
beurteilen! Aber die Kinder haben anzuklagen und Recht zu 
sprechen, denn mit ihnen wird gespielt in dieser Freiheit, uüd 
es geht um ihre Seele! Wie konnte Ludwig jemals wieder gut 
werden, der das sehen mußte, und wie die Mutter sich bald um 
so trotziger in ihrem Hochmut aufwarf, ihre hetzerischen Vor- 
würfe um so schamloser erneute, als sei alle Schuld bei dem 
Vater, dem sie um so dreistere, hartnäckigere Beschimpfungen 
ins Gesicht schrie, den sie um so heimtückischer schmähte, je 
wehrloser er sich mit seiner Verzeihung allen Rechtes begeben 
hatte und ganz ermüdet bloß hinnehmen mußte, wovon er 
sich nicht mehr befreien konnte. Sie lag wie ein Alp auf zwei 
Herzen. Ludwig war jetzt in den Übergangsjahren, wo man in 
jedem Nerv des Körpers, in der Haut selbst, in allen Organen 
alles Körperliche des anderen Geschlechtes fühlt. So versetzte 
ihn diese Frau, seine Mutter, in ein leibliches Unbehagen, wenn 
sie ihm nahe kam, wenn er ihre Liebkosungen erwidern mußte, 
denn in den ruhigen Zwischenzeiten der Familie war er das 

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wehrlose Opfer ihrer übertriebenen Zärtlichkeit, die ihn ärger 
brannte als Mißhandlung. 

Aber er war trotz allem eben jung and freute sich, daß es Abende 
mit jungen Mädchen und Tanz und Spielen geben sollte. 
In der Schule führte er ein Halb- und Traumleben, recht als 
ein uneigentlicherMensch, den ein zweites zwingendes Ich über 
dem anderen, scheinbaren täglichen bestimmt, und er war durch 
seine frühe Einsicht unter den unschuldigen, derben und ge- 
wöhnlichen Altersgenossen gewissermaßen gezeichnet Worin 
er ihnen allen überlegen war, das konnten die Dümmeren, die 
Glücklicheren nicht verstehen. Hingegen waren sie stärker als 
er im Gebrauch ihrer leiblichen zufriedenen Kraft und in der 
Selbstverständlichkeit, mit der sie lebten, balgten, ihre Laster 
pflegten und das Gute und Schlimme ihrer Natur unbesorgt aus- 
tollen ließen. So stand er ihnen gegenüber, sowohl ein scham- 
haftes, ängstliches Kind, als ein überlegener, kühler und an- 
maßender Mensch, aber zu schwach, ihren Fäusten und Schreien 
zu begegnen. Täglich brachen sie in seinem Bezirk ein, ver- 
wüsteten seine Gedanken, verspotteten den Hochmut, der ihren 
Umgang ablehnte, und zwangen ihn in die unwürdige Knecht- 
schaft seines Schülerdaseins zurück. Er war ungleichmäßig und 
launenhaft begabt, beherrschte alles, was nicht lernbar ist, und 
war dabei armselig untauglich, das schulgemäße Wissen zu er- 
werben und auf Verlangen anzuwenden. Seine Unfähigkeit, in 
dieser groben, ungeschlachten, lustigen, dreisten Gemeinschaft 
mittelmäßiger Burschen mitzuleben und fortzukommen, be- 
schämte Ludwig aufs tiefste. Unter seiner mathematischen Gott- 
verlassenheit zum Beispiel konnte er wie ein Verurteilter leiden 
und sich für einen lebensunwürdigen Schwachkopf halten. Die 
Lehrer taten wenig dazu, ihn aus dieser kümmerlichen Zweifel- 
existenz zu befreien, besaßen sie selbst doch wie die Jungen, 
die sie lehrten, die zarteren Empfindungen nicht, den zarteren 
Menschen, gar die verschwiegenen Leiden des Knaben zu ahnen. 
Vielmehr waren sie meist selbst ähnlich ungeschlachte, alt ge- 
wordene Bengel mit dürftigen Kleidern und überlegenen Mienen, 
die ihre große Macht über eine Klasse zu Ausschreitungen eines 
wiehernden Selbstgefühls ausnützten, belferten, dreißigBurschen 
in Angst hielten, schlechte Noten wie Schwerter über dreißig 
Häuptern hängen ließen, sich an der Qual weideten und den 
überraschten Übeltäter an das Kreuz einer endlosen Stunde mit 

*34 



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Witzen annagelten, zu denen die gehetzte Schadenfreude der 
übrigen im Chorus mitbrüllte. 

So war Ludwig zwischen Schulelend und häuslichem geteilt, hier 
wie dort in sein eigenes schamvoll unschuldig-schuldbewußtes 
Wesen zurückgescheucht in die peinvolle Selbstbezweiflung, die 
einen Knaben zwar zeitig vollendet, aber ihm damit auch die 
Jugend wegnimmt, ehe er sie durchwachsen hat, er fühlt sich 
reif vor jeder Blüte. 

Und doch stand über all dieser Qual und Trauer, über all die- 
sem Ungenügen der Sternenhimmel einer Bewußtheit, die mit 
feierlichem Ernst dies alles als ein schicksalhaftes, absichtsvolles 
Leidenmüssen erkannte, das noch nicht gesagt, noch nicht er- 
gründet werden konnte, aber irgendwie als eine gemäße Einheit 
sich irgendwann in einer furchtbaren Gerechtigkeit erweisen 
würde. 

Ludwig machte Verse und war in diesen kindlichen Betätigungen 
seiner Sehnsucht nach Befreiung am Ende doch glücklich wie 
ein Kind mit seinen Spielen. Es fiel ihm gar nicht ein, sich für 
einen Dichter zu halten, nur am Geiste selbst, das wußte er, 
besaß er seinen Anteil Diesen durch so viel Leid erworbenen 
konnte ihm niemand rauben. 

In Ludwigs Klassenzimmer stand zuhinterst eine Reihe ganz 
neuer, lichtgelber, glänzend gefirnißter Schulbänke, während die 
vorderen aus dunkelbraunem, tintenübergossenem, vieldurch- 
furchtem, mattem Holz waren. An einem Nachmittage verbrachte 
Ludwig eine freie Stunde in diesem Klassenzimmer. Er war 
wohl mit Absicht zu früh gekommen, wartete hier in der Stille 
des warmen Raumes und sah auf den schneebedeckten Garten 
hinab. Das Gymnasium befand sich in einem alten, ehemals 
fürstlichen Palais, woran noch die breite Treppe, ein üppiges 
buntes Deckengemälde im Festsaal mit lose gewandeten alle- 
gorischen Frauengestalten und nackten, gelbrosigen Putten und 
die hohen, von Pilastern eingerahmten Fenster des ersten Stock- 
werkes erinnerten und eben der jetzt öffentliche Garten dort 
unten, mit seinen paar zerfressenen Sandsteinfiguren und Brun- 
nen und alten, in großem Rund oder reihenweise gesetzten 
Kastanienbäumen, unter denen Kinder spielten und Dienst- 
mädchen mit Soldaten schöntaten. 

Müßig und gedankenvoll töricht setzte sich Ludwig an eine dieser 
neuen, unberührt strahlenden Schulbänke und begann mit sei- 

*35 



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nem scharfen Federmesser, aber recht ungeschickt, denn seine 
Finger waren zu derlei Leistungen nicht geeignet, aus prickeln- 
der Freude über die bevorstehenden geselligen Abende, in das 
frische lichte, weiche Holz einzuschneiden. Unversehens er- 
wuchs genau in der Mitte des Pultes ein schönes rundes, mäch- 
tiges C, und damit Coronas Name auch durch das entsprechende 
Symbol ausgezeichnet sei, kam nun eine Krone mit vielen Zacken 
darüber*, und Ludwig unterließ nicht, jede Zacke mit einem 
Kügelchen mühevoll abzuschließen. Er war mit dieser Arbeit 
fertig, ehe die lärmenden Kollegen einbrachen, wandte sich, als 
er sie draußen auf dem Gange poltern hörte, ans Fenster und 
hatte längst das angerichtete Unheil vergessen, als die Schand- 
tat entdeckt und zum Gegenstand einer peinlichen Untersuchung 
gemacht wurde. Der Direktor selbst leitete — der Wichtigkeit 
des Frevels entsprechend — diese Untersuchung, ein sonst 
eitler, selbstgefälliger, aber dabei nicht unguter Mensch, der 
auf angenehme und elegante Formen hielt und mit wehenden 
weißen Locken in ordentlichen Anzügen und glänzend gewichsten 
Schuhen, schlank und hochgewachsen, einem weltgewandten 
Abb6 der alten Zeit glich und Ludwig wohlwollte, weil er noch 
dessen Vater unterrichtet hatte, weshalb er den beiden Mainones 
eine herablassende und schützende Freundschaft bewahrte. Es 
war nun freilich recht ärgerlich spannend, wie diese Unter- 
suchung immer näher an die Wahrheit heranfühlte, wie durch 
Zeugenaussagen festgestellt wurde, wann die neue Bank zuletzt 
noch tadellos und unberührt gewesen war und wann man sie 
zu erstenmal so geschändet wahrgenommen hatte. Auch wußte 
man genau, wann und wie lange das Zimmer leer gestanden 
war. Es blieb nicht mehr viel Raum zwischen Ludwigs ein- 
bekannter Anwesenheit während der freien Stunde und der ent- 
deckten schmählichen Tat. Aber sei es, daß der Direktor Lud- 
wigs glühende Wangen bemerkte, oder daß ihn diese erste 
sichtliche zweifellose Huldigung für ein Mädchen rührte, oder 
daß er den Sohn seines einstigen Schülers, also gewissermaßen 
einen geistigen Enkel, schonen wollte, kurz, er brach die Unter- 
suchung rasch ab und sagte nur, ein andermal würde er eine 
so zuschanden gemachte Schulbank den Eltern des Holz- 
schnitzers zur gefälligen Bezahlung und privaten Weiterverwen- 
dung ins Haus schicken, denn sie koste einen Haufen Geldes, 
und dann würde der Betreffende derlei Frevel wohl unterlassen. 

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Schlimmer aber wurde Ludwig für ein Gedicht mitgenommen, 
das Coronas goldenes Haar in einer horazischen Ode besang. 
Er hatte es in ein Notizbuch sauber abgeschrieben, das er arg- 
los in einer Tasche seines pfeffer- und salzfarbenen Rockes 
verwahrte, ohne weiter etwas Arges zu gewärtigen, denn er be- 
trieb seine Poesie als eine selbstverständliche stille Übung, von 
der er keinem etwas sagte und voraussetzte, daß auch niemand 
von ihr Kenntnis haben möchte. Wenn es sich freilich um 
ernstliche Teilnahme gehandelt hätte, wäre keiner der robusten 
Schlingel fähig oder willens gewesen, sich um Ludwigs Verse 
auch nur einen gähnenden Augenblick lang zu kümmern, da 
es aber einen Spott galt auf ein als „anmaßend", „blasiert" 
und „hochmütig" verachtetes Bürschchen, ward er gerade in 
seinem horazischen Tun belauscht. 

Einer der gescheitesten und findigsten großen Jungen dachte 
sich dies aus, einer, der mit nüchternem gutem Verstände das 
Schulleben leicht bewältigte, ohne durch besonderes Gewissen 
oder irgend eine zartere Lebensschuld gedrückt zu sein. Der 
Fischl Karl stammte aus einem anständigen wohlhabenden 
jüdischen Fabrikantenhause, und schon seine Eltern waren für 
ihren scharfen, rücksichtslosen gutgelaunten Witz berühmt, 
der freilich nichts verstand und wußte, was jenseits der nach 
dem Nächsten greifenden Folgerichtigkeit lag. So konnte sich 
der Sohn über alles Pathos der großen Dichter aufs schmäh- 
lichste lustig machen und mit dem sogenannten guten Men- 
schenverstände alle tragischen Konflikte als ebenso viele irr- 
sinnige Unnötigkeiten abtun und verulken. Über alles, was er 
so in die Ebene seiner zwecklos begabten Alltäglichkeit herab- 
gezogen hatte, brach sein findiges Maulwerk dann in ein höh- 
nisch heulendes Gelächter aus, das für Ludwig Mainones ge- 
quältes Ohr immer unheimlich klang wie eines Wolfes auf 
Raub. Fischls häßliches Gesicht mit dem befriedigten Aus- 
druck eines selbstbewußten und verstandesrichtigen Siegers 
glich dann selbst irgendwie einem satten Wolfsgesicht, sein 
großer Mund mit den vorstehenden Zähnen geiferte im Lachen. 
Der Mensch, der auf seine Weise ebenso früh reif war wie 
Ludwig, blieb freilich später auf dieser Stufe stehen, denn was 
soll aus einem kalten, seiner selbst gewissen, begrenzten Ver- 
stände noch weiter werden als eben was er ist und bleibt? Er 
wurde nachmals ein verbissener Sozialdemokrat, trachtete aufs 

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inständigste die ganze Welt auf die niedrige Ebene der Gleich- 
heit zu bringen, wie er sie verstand, und hielt dies sogar noch 
für eine höchst sittliche Handlang, wenn er mit seinem Ver- 
stände die ganze Menschheit sich selbst und untereinander 
gleichsetzte und dadurch gewissermaßen anerkannte. Das ist 
denn freilich auch das höchste Maß von Gerechtigkeit oder 
Güte, deren ein kahler, hochmütiger, frühreifer Verstand über- 
haupt fähig ist, welcher weder wachsen noch einen Mann über 
sich selbst hinaus erheben kann. Immerhin sollten sich die- 
jenigen, die ein solcher Verstand hochmütig anerkennt und 
herablassend als Brüder, als gleiche neben sich laßt, eigentlich 
auch über die Gleichheit Gedanken machen, welche mehr ent- 
würdigt als befreit und wider die Wahrheit der Natur die Lüge 
eines Verstandes ausspielt, an der sich das wahrere Gefühl 
gar bald als an der steinharten Grausamkeit und Kalte blutig 
stoßen muß. Denn nach dieser Gleichheit kann nichts mehr 
kommen, wie auch aus ihr nichts mehr werden könnte als aus 
einem satten, ohne Leistung und ohne Bedeutung vorwegge- 
nommenen Endziel. 

Kurz der Fischl Karl hatte allen Grund, auch dem Ludwig 
Mainone als einem seiner ewigen Gegenspieler grundlos einen 
herabziehenden Schaden zuzufügen und den Ungleichen durch 
einen Possen gleich und gemein zu machen, belauschte also 
dieses besagte Notizbuch, stahl es dem Arglosen in einem ge- 
schickten Oberfall — er war ja auch kräftiger als der Mainone 
— aus der Tasche, schwang es hoch in der Luft, wehrte den 
entsetzt Nachstürzenden, der es ihm entreißen wollte, ab, ver- 
zog sich hinter dreißig anderen Schulgenossen, die auf den 
Spaß erpicht und vorbereitet waren, und las hinter ihrer Mauer 
mit seiner höhnenden schreienden Stimme, indem ihm der 
Geifer aus dem Munde troff, das Gedicht auf Coronas goldenes 
Haar vor. Und die Jungen wieherten dazu, indessen Ludwig 
vergeblich an ihrer lebendigen Mauer emporsprang, um dem 
Kerl oben das Notizbuch zu entreißen. 

So schämte er sich seiner selbst und maß seinen Versen mehr 
Schuld bei als dem heulenden Wolf, der, mit eigentümlich ge- 
bücktem Gang und langhängenden Armen sein Opfer aus den 
graugrünen Augen höhnisch anblickend, davontrottete. 
Ludwig ging mit hochmütig geschlossenen, zuckenden Lippen, 
abgewandten Gesichtes stumm nach Hause an einer Mauer von 

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höhnenden Jungen vorüber nnd spürte, das Geschau und Ge- 
zische] von dreißig heulenden Räubern stechend in seinem 
Rücken, das Feuer ungeweinter blutiger Tränen in seinen Augen 
und das Fieber einer unvergeßbaren moralischen Qual in seinen 
Wangen. 

4- 

Die Vorbereitungen zu dem ersten dieser Tanzabende, die ab- 
wechselnd bei verschiedenen befreundeten Familien stattfinden 
sollten, boten der Frau Doktor Mainone Gelegenheit zu beweg- 
licher, erhitzender Tätigkeit und Geschäftigkeit, deren sie be- 
durfte, um sich zu fühlen. Tage vorher kehrte sie, mit einem 
weißen Turban auf dem Kopfe und mit Besen und Flederwisch 
die Dienstmädchen befehligend, in der Wohnung das Unterste 
zu oberst, aus dem Empfangs- und Ordinationszimmer, einem 
saalartigen Räume, wurden Tische und Schränke entfernt, die 
Fauteuils kamen an die Wand, während die weite Mitte unter 
dem Kronleuchter zum Tanzen frei blieb. Das Pianoforte stand 
in der Ecke. Aus dem Büfett des Speisezimmers wurden Lasten 
von Tellern und Schüsseln in die Küche, von dort wieder zu- 
rück auf die weitausgezogene Tafel getragen und in etwa vier- 
zig Gedecken aufgestellt, obenan für die Erwachsenen, für die 
Eltern und Ehrengäste, unten für die jugendlichen Helden des 
Abends. Von den Nachbarn entlehnte Frau Mainone Stühle, 
Eßbestecke, Gläser, denn ihr Vorrat reichte gar nicht für so 
viele Gäste. Das mußte alles unter Klappern, Klirren, Scheuern 
und Schleifen gezählt und überwacht werden, und in der dampfen- 
den Küche gab es ebensoviel Arbeit wie Lärm. Dort wurde 
dreierlei Fleisch gebraten und in zahllose dünne Scheiben auf- 
geschnitten, Schinken und Wurst dazu, Butter durch eine „Rose** 
in allerhand zierliche Formen gepreßt und mit verschiedenen 
Käsen zu verlockenden Türmen aufgebaut, Petersilie, Schnitt- 
lauch, Mixed-Pickles, Sardinen, Senf, grüner Paprika kamen als 
bunte Garnierungen malerisch auf die Fleischschüsseln und im 
Triumph eine Herrlichkeit nach der andern auf die Tafel. 
Eigens gebackene, kleine weiße Semmeln und Salzstangen 
lagen paarweis vor jedem Gedeck. Und dann die Süßigkeiten 
in den Aufsätzen: Krapfen und „Busserln** und Torten und 
mandelgespickte schokoladene „Rehrücken 4 *, zitternde „Cre- 
mes 4 * in Schwarz und Weiß und Äpfel, Orangen, Feigen und 

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I 

l 

große Krachman dein wegen der geschätzten Vielliebchen. Wäh- 
rend Fran Mainone in Küchendampf und unter Kommando- 
rufen wie ein Kapitän, mit geröteten Wangen diese Schlacht 
befehligte, brannte das tagliche Mittagessen an und wurde in 
einem Winkel hastig gegessen, um möglichst wenig Zeit und 
Laune für das eigentliche große Werk wegzunehmen. Dieses 
Fest zehrte sicherlich das halbe oder ganze Monatsgeld seiner 
Mutter in schmorendem Fett und backenden Süßigkeiten auf, 
noch bevor es ausgekostet war, und verursachte im weiteren 
Verlauf der Geschichte unweigerlich eine große Szene mit einem 
Anfall von Lebensüberdruß, Vorwürfen, sogar höchstwahr- 
scheinlich mit einer viertelstündigen Leblosigkeit, mit einem 
sogenannten Herzkrampf und dann mit einem heroischen Auf- 
gebot der letzten Kraft und des äußersten Entschlusses am 
Schreibtisch zu einem schwungvollen Briefe an die russischen 
Verwandten über das nagende Hungertuch des Mainoneschen 
Hauses. Das alles aber war vergessen, als am Abend die Tafel 
mit dem glänzenden Damast gedeckt stand, von dem sich die 
großen alten Wedgewoodtelier — Frau Mainone hatte sie aus 
irgend einer sonst unergiebigen Familienerbschaft geborgen — 
mit den plumpen, verschwommenen dunkelblauen Blumen üppig 
abhoben. Geschliffene Gläser, silberne Schüsseln, Porzellan- 
schalen leuchteten, und die Platten voller bunter Speisen war- 
teten höchst feierlich auf die baldige Zerstörung. 
Mitten im anstoßenden Saale hing der Kronleuchter mit vier- 
zig Kerzen, deren warme Lichter durch die geschliffenen Glas- 
prismenketten gebrochen, durch den hohen Wandspiegel ver- 
vielfacht schienen. In den Ecken, an den Tischchen füllten 
Stehlampen unter seidenen orangefarbenen Schirmen die stil- 
leren Winkel mit mattem Schein. Frau Doktor Mainone war 
gerüstet, sie trug ein grünes, am Halse eben genugsam ausge- 
schnittenes Seidenkleid, einen Amethystschmuck an der Brust, 
ihre Augen glänzten befriedigt und erwartungsvoll, und ihre 
Wangen mit den vielen roten Aderchen unter der dünnen Haut 
leuchteten fiebrig, sie lächelte ihren Jungen zärtlich an, dem 
zuliebe dies alles angelegt war, und der, bedenklich gespannt, 
in seinem ersten Smokinganzug dastand, während der Vater, 
auf Krankenbesuch auswärts, wohl erst ankam, wenn die Ge- 
schichte so recht im Gange war. 

Endlich das erste Klingeln der Hausglocke, gleich darauf ein 
240 



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zweites and drittes und das gedämpfte Reden, Scherzen, Gehen, 
Mantelablegen der Ankommenden im Flur. 
Die geehrtesten Gaste erschienen zuerst, mit denen sich Frau 
Doktor Mainone brüstete, deren Freundschaft sie innig genoß 
und vor der Welt gleichsam zelebrierte, denn Hebenstreit war 
ein leibhaftiger General mit roten Hosenstreifen und goldenem 
dreigesternten Kragen, ein lächelnder, liebenswürdiger, ver- 
bindlicher hoher Offizier und Herr, mit vielen Orden an der 
Brust, aber trotzdem und eben deswegen von gewinnender 
Freundlichkeit. Da stand unscheinbar, doch bescheiden vor- 
nehm seine Frau und, ach, ihr Sohn Raimund nicht zu ver- 
gessen, dem zuliebe ja diese Abende auch eingerichtet werden 
sollten. Das war das Unglück im Glück dieses sonst so ehren- 
den Verkehrs. Er schob sich nämlich, ein ungeheuer ausge- 
streckter und maßlos weitergewachsener Alraun, mager, grob- 
knochig, mit Armen , die ihm bis über die Knie reichten, und 
mit langen Beinen, unbeholfen schlenkernd, seitlich vor, seinen 
Fischmund mit herabgezogener Unterlippe und wenigen ver- 
dorbenen, braunen spitzigen Zähnen verlegen aufsperrend, wo- 
bei ein hohles Lachen wie die Stimme eine Bauchredners her- 
vorkam. Das mühselig greinende Gesicht mit den weit hervor- 
tretenden wasserblauen Augen und der fliehenden engen Stirn 
drehte sich auf einem langen, aber steifen Hals schwerfällig 
den Begrüßenden entgegen und behielt auch seine Richtung, 
wenn er sich von rechtswegen schon längst nach einer anderen 
Seite hätte wenden müssen. Der General Hebenstreit benahm 
sich etwa so, wie getreue Untertanen einen leutseligen Macht- 
haber denken, mit einer natürlichen Herzlichkeit, die gewiß 
seiner freundlichen Natur, nicht bloß einer angelernten Übung 
entsprach, er verbeugte sich vor jedem Anwesenden, sogar vor 
dem jungen Mainone, indem er dessen Rechte mit seinen bei- 
den Händen faßte, schüttelte und lachend etwas Angenehmes 
sagte oder sogar etwas Gleichgültiges so betonte, als sei es 
etwas äußerst Bedeutsames. Seine Frau, in schwarzer Seide 
mit einer goldenen altmodischen Schmucksonne an der Brust, 
lächelte dazu mit einem wehmütigen Ausdruck, indem der 
Mund auch bei der heiteren Miene mit alten ausgeprägten Fal- 
ten leise nach abwärts gezogen blieb, aber auch sie verleugnete 
die Gewandtheit vielfachen Verkehrs mit Leuten aller Art kei- 
nen Augenblick, wenn auch ihr Lachen, wie ihre Stimme über- 

Stoessl, Bas Haus Erath j£ 24I 



haupt leise gebrochen klang, als dringe durch ihre Rede ein 
eigentlicher, unbekannter» lang lebender stiller Schmerz. 
Mitten unter dieser Begrüßung drang gleich der Strom der 
übrigen Gäste herein, staute sich bei der Doktorin und dem 
Hebenstreitschen Paar und verteilte sich dann über den ganzen 
Raum mit Schwatzen, Lachen, Stuhlrücken und rauschenden 
Rocken. Mütter und Fräuleins in dunkeln Kleidern und hellen 
Fähnchen rückten an ; die Fräulein mit schwarzen Locken und 
schwarzen Augen und mit blonden Haaren und blauen Augen 
warfen jede noch einen Blick auf den hohen Wandspiegel, den 
sie unwillkürlich aufsuchten, und zupften dort an der Frisur 
oder schoben Kragen und Krausen in Ordnung oder steckten 
sich noch in aller File eine Kleinigkeit zurecht, bevor sie voll- 
endet dastanden oder sich gefällig niederließen, die Mütter mit 
vorgeschobenen Faltenröcken, die Fräulein mit freien Füßen, 
deren blanke Schühlein in goldfarbigem Lack oder weißem 
Atlas glänzten und ungeduldig wippten wie Tauben vor dem 
Abflug. Ein paar Väter standen in einer Gruppe beisammen 
und umringten gleich den General als natürliches Oberhaupt, 
wobei der Hof rat Amlacher geschmeichelt meckerte, der mit 
zwei Töchtern da war, mit einer großen schlanken, die irgend 
etwas Schlaues, Abgefeimtes im Gesicht hatte, einen Zug von 
artiger weiblicher Schurkerei, der ihr übrigens, da sie noch 
jung war, gut und drollig anließ, und mit einer kleinen, lustigen, 
harmlosen, deren Tollkirschenaugen, roter Mund und Backfisch- 
figur Ludwig Mainone sogleich zur Begeisterung hinrissen. 
Ebenso hübsch, nur strenger gefaßt, aber weltkundiger saß, für 
sein Herz eine gefährlichere Rivalin, die kleine, hold gedrech- 
selte Elisabeth May auf einem Schemel, eine vaterlose Waise, 
von einer gewissen Frau Martin bemuttert und eingeführt, 
welche ihrerseits sowohl eine plumpe vierschrötige und ver- 
legen langweilige Tochter, die beste Freundin der kleinen Eli- 
sabeth, als einen Sohn mitgebracht hatte, der sich, ebenso 
eckig gewachsen, gesucht elegant gekleidet, mit gespielter 
Sicherheit bewegte als ein eben ausgeschlüpftes Weltmännlein 
und schon überlegen tat, was ihm durch das Bewußtsein reich- 
lichen Taschengeldes erleichtert wurde, denn das ist der erste 
Anstoß jeden gesellschaftlichen Schwunges. Studenten und 
junge Amtsherren, Einjährig-Freiwillige und Gymnasiasten traten 
auf ungeduldigen Füßen herum und warteten auf ihre Gelegen- 
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heiten and endlich Corona Frantzl mit ihrer Cousine Thea* 
Corona, hoch und voll und unschuldig strahlend, überall, wo sie 
war, die Erste und Schönste, aber noch einsam, als wagte sich 
niemand so leicht in ihre glänzende Nähe. Ihre Cousine Thea 
war neben ihr unscheinbar in einem glatten,} dunkelblauen 
Kleide, mit glattem, dunkelbraunem Haar um den runden Kopf, 
dessen Züge zugleich kindlich und mild, sorglich und ernst, 
frühen Kummer, aber auch eine gerechte Jugend verrieten, 
welche derlei Last ebenso leicht trägt wie abwirft zu ihrer Zeit. 
Und wenn man die beiden näher ansah, bemerkte man auch 
bei aller Verschiedenheit der hohen, üppig jungen, strahlenden 
Corona und der zarten, viel kleiner gewachsenen und gleichsam 
stiller in sich verharrenden dunkelhaarigen Cousine eine klare 
Familienähnlichkeit: dieselbe schmale, scharf gezogene Linie 
der Nase, darüber die sanft gewölbte, schmale Stirne, denselben 
ganz leicht nach abwärts geschwungenen Bogen der geschlos- 
senen Lippen und das gleiche, deutlich hervorgehobene und 
energisch geformte Kinn, welches den noch unerfahrenen Zügen 
die Festigkeit eines planvollen Baues gab, als wüßte ihr Gesicht 
schon längst, was ihr Geist und Geschick einmal wollen und 
leiden müßte. 

Ludwig war unbefangen genug, sich hier nicht etwa als Haus- 
herrn und zu irgend einer Führung verpflichtet zu fühlen, son- 
dern als begierigen Gast, der mit der erwarteten Freude rech- 
nete, als müßte sie sich jetzt und jetzt wie ein Pfauenrad ent- 
falten. Aber es war wohl so, daß fast jedes von den jungen 
Leutchen irgend eine Last mittrug, die ihre erwünschte Frei- 
heit beschwerte oder gar benahm. Das machte sie befangen. 
Frau Doktor Mainone forderte mit Händeklatschen und all- 
umfassender Gebärde ihrer Arme zu Gesellschaftsspielen auf, 
und die Jungen folgten begeistert, die Alten pflichtgemäß. Mit 
großem Gelächter und lauten Witzen wurde „Katz und Maus tt 
oder „ Ringlaufen 4 * gespielt oder der „Dritte abgeschlagen tt 
oder „stille Musik" gemacht, gar beim Pfand erauslösen im 
Gänsemarsch mit Hallo und Lustbarkeit durch alle, auch die 
dunkeln Wohnräume gezogen. Ludwig tat mit und strengte sich 
wie die anderen zu kindlicher Mühe an, ärgerte sich aber im 
stillen, daß er sich nicht freuen konnte, wie sich die anderen 
zu freuen schienen. Er beobachtete, wie die Regine Amlacher, 
die Hofratstochter mit den kecken Zügen, sich immer wieder 



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neben einen hübschen jungen Barschen anzuschlängeln wußte, 
während sie ihrem erklärten Liebhaber, einem Studenten mit 
Schmissen im Gesicht und mit einem gelangweilt-kühnen Aus- 
druck, auswich und eine höhnische Miene zeigte. Sie wollte ihn 
wohl eifersüchtig machen. Aber gehörte es auch zu dieser 
löblichen Absicht, daß sie immer, auch wenn es das Spiel nicht 
gerade erforderte, die Hand dieses blonden Jungen suchte und 
drückte? Ludwig sah es, wie sie verschmitzt lächelnd die Zungen- 
spitze lecker vorschiebend ordentlich zugriff und die umwor- 
bene Hand preßte, als wollte sie ihr wehe tun. Dabei tat sie 
höchlich interessiert, leidenschaftlich am Spiel beteiligt und sah 
ganz unschuldig herausfordernd um sich, während ihre Hand, 
eine langfingrige, magere, rechte Diebeshand, auf Raub aus- 
ging. Als Ludwig einmal neben sie kam, fing er diese Hand 
und ließ sie nicht los, sie wandte sich um, erkannte, daß es 
seine, nicht des Blonden Hand war, und warf ihm einen halb 
ärgerlichen, halb vergnügten Blick zu, indem sie mit den kecken 
Augen zwinkerte. Ihre Schwester Lotte lachte noch unbefangen, 
aber schon standesbewußt genug, nicht aus voller Brust, wie 
ihr ums Herz war, sondern sie gurrte wie eine Taube und wandte 
sich jedesmal, bevor sie sich zu einer Bewegung entschloß, 
hilfesuchend nach ihrer älteren Schwester, die immer noch 
Zeit fand, auch ihr zuzunicken. Ludwig dachte: ob die Kleine 
wohl auch bereits weiß, daß die Große nach Händen auf Raub 
ausgeht, und ob sie sich auch schon einen und den anderen 
ausgesucht hat, den sie stiehlt. Übrigens, es mußte ganz hübsch 
sein, so gestohlen zu werden. 

Die Regine ist wohl nicht gesonnen, ihr Diebshandwerk der 
Kleinen anzuvertrauen, vielmehr nascht sie ihre gestohlenen 
Süßigkeiten seelenruhig allein. Soll man noch Lust haben, die 
Jüngere in das Geheimnis einzuweihen, wenn man sieht, wie die 
Ältere es anwendet? Wer möchte eine so armselige Sache 
stehlen, wie mich und mein leeres Herz! Je weniger man be- 
gehrt wird, desto mehr begehrt man, und wir hängen uns selbst 
die Trauben so hoch, nach denen wir springen, um sie zu 
sauer zu finden, weil wir sie nicht erreichen l 
Corona ließ alles Spielen um sich geschehen und tat mit, so, 
als ob alles durch ihre strahlende Schönheit hindurchginge wie 
durch den Schein der Sonne, und indem sie das Spiel ruhig 
lächelnd förderte, wurde sie immer nur womöglich besser, lieb- 

244 



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licher und anmutiger, denn während die anderen etwa unschön 
aufkreischten oder mit einer hastigen störenden Bewegung vor- 
eilig waren oder hinterdrein fuhren, blieb sie gemessen, gleich- 
gültig, voll Geduld, unberührbar, als stunde sie über allen, ohne 
doch irgend stolz zu sein, wenn sie auch etwa so erschien. 
Elisabeth May hatte einen kleinen Hofstaat um sich versammelt 
und beherrschte ihn jezuweilen durch einen Zuruf ihrer merk- 
würdig klaren Altstimme, die Ludwig überraschte, so oft er sie 
hörte, denn von diesem Silberglöckchen hätte man einen hellen 
Klang erwartet, nicht dies dunkle Saitenspiel. Aber irgendwie 
mußte auch ihre tiefe Stimme wohl gerecht verlauten, denn so 
jung die Elisabeth May war, man wußte, sie hatte sich schon 
in aller Pünktlichkeit für einen Studenten entschlossen, der 
verabredetermaßen von dieser Gesellschaft hier ferngehalten 
wurde, weil er für lungenkrank galt und daher Elisabeth nicht 
bekommen durfte. Eben darum bildete sie sich gerade ihn ein, 
aber wie fest auch dieser Grundton klang, eine Geige will sich 
doch auf allen Saiten versuchen lassen, darum zeigte und hatte 
das beherzte Persönchen bei seinem Eigensinn weiter keinen 
tieferen Kummer oder beherrschte ihn wenigstens auf das ent- 
schiedenste und machte andere begierig auf alle die Eigen- 
schaften einer so hübschen und gesammelten Ansehnlichkeit, 
die selbst auch keineswegs gesonnen war, auf allerhand Er- 
oberungen zu verzichten und den Schwärmereien der anderen 
zu entsagen. Just, weil man sie vergeben wußte, bewarb man 
sich um sie, und just, weil sie einem fernen jungen armen 
Teufel anhing, ließ sie sich die Huldigungen um so geschmei- 
chelter gefallen, als ihren gerechten Anteil an den Gaben der 
ungerechten Welt Ja, ihre kecke und wieder gefaßte Miene 
verriet einen leise entschlossenen Trotz, mit dem sie sich der 
Verlockung darbot und wieder entzog, als stünde es bei ihr, 
sich den Menschen genau wie mit einer Goldwage zuzumessen 
und flugs ein Quentchen zuviel zurückzunehmen, wenn es ihr 
beliebte. So sammelte sie, eine wohlerzogene Haushälterin 
ihrer eigenen Gefühlswirtschaft, habsüchtig, entzückte Herzen 
und tat sie in die Sparbüchse wie einen Zehrpfennig für spätere 
Tage. 

Ludwig hatte auch für sie ein leises Faible, ein zartes „pen- 
chant", wie seineMutter sagte, die für besonders feine Regungen 
gern ein französisches Wort brauchte. Er freute sich, daß er 

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bei Elisabeth Anwert zu rinden schien, denn sie unterhielt sich 
arglos mit ihm, und ihre tiefe Stimme lachte oft, als wüßte er die 
rechte Saite anzuschlagen, aber er konnte, närrisch genug, die 
Eifersucht auf den Fernen, Fremden, wohlbekannten eigentlichen 
Günstling nicht unterdrücken. Er wußte, sie hatte sich für den 
anderen entschieden. Er wollte sie dazu zwingen, es einzuge- 
stehen. Was erwartete er denn? Daß sie etwa wegen seines 
Gesprächs den andern verraten und aufgeben würde, seinet- 
halben, des Ludwig Mainone wegen? Ja, wer war er denn? 
Wollte er denn alle, weil niemand ihn wollte; vermaß er sich 
denn einer jeden? Freilich, das tat er, auf die Gefahr hin, daß 
ihn jede in seine „gesetzlichen Schranken u verwies, als einen 
armseligen Gymnasiasten. Vielleicht tat er so, um wegen aller 
schönen Unerreichbaren Schmerz zu leiden. Denn diese ver- 
liebten Schmerzen erschienen ihm irgendwie gut So fragte er: 
„Was würde ein gewisser Jemand sagen, wenn er Sie so zu- 
frieden umworben sähe, Fräulein Elise?" 
„Niemand hat mir was zu sagen, kein gewisser Jemand und kein 
anderer Jemand, ich brauche keinem Rechenschaft abzulegen, 
vielmehr soll sich der und jener freuen, wenn ich ihm etwas 
sage oder wenn ich ihn anhöre, wie ich mich hier und heute 
freuen will und nicht ärgern, angenehm sein und nicht betrüben, 
froh, nicht kummervoll sein, denn dazu sind wir doch hier, mein 
Herr Ludwig, oder nicht?** Dabei stampfte sie leise mit dem 
Fuße, warf den Kopf zurück und blitzte Ludwig mit dem blauen, 
schattigen Blick ihrer raschen Augen an, so daß er betroffen 
schwieg, sie verschloß wieder ihre Augen, indem sie die Lider 
mit den langen goldenen Wimpern niederschlug, und damit hatte 
sie ihr Gefühlstrühlein sorgsam und schnappend zugeschlagen. 
Ludwig wandte sich beschämt ab. Hier waren wohl alle, sah 
er, soweit sie nicht wirkliche Lämmer und unmündige Kinder 
waren, wie die kleine Lotte Amlacher, schon irgendwie vergeben, 
vertan und bedrückt und suchten einen Ausweg. Sie wollten in 
die weite Welt, und man trieb sie in die enge zurück, da hüpften 
sie, weil sie nicht gehen, nicht eilen durften, und spielten Spiel, 
weil sie nicht Ernst machen konnten. Thea stand abseits und sah 
mit gesenkten Armen, die Hände übereinandergelegt, zu. 
„Warum spielen Sie nicht mit, Fräulein?** 
„Ich muß diese Spiele so viel und so oft spielen, daß ich gern 
einmal zusehe, anstatt mitzutun.** 

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„ Lassen Sie mich mit Ihnen zuschauen. Wo spielen Sie denn 

so oft bis zum Überdruß?" 

„Wir müssen es in der Lehrerbildungsanstalt. " 

„Spielen lernen?" 

„Damit wir mit den Kindern in der Schule beim Elementar- 
unterricht und beim Turnen einmal spielen können." 
„Wie wunderlich, daß man Spielen lernen muß!" 
„Sie meinen wohl, das müsse man können und die Kinder wüßten 
besser, was sich dabei gehört, als die Großen?" 
»Ja.« 

„Ich glaube, wir müssen das lernen, nicht, um es den Kindern 
zu zeigen, sondern weil man vom Lehrer verlangt, daß er ver- 
stehe, was die Kinder verstehen und wollen. Wir sollen Kind- 
heit lernen, darum spielen wir." 

Die Hausfrau lud zu Tische ein, Ludwig bot Thea seinen Arm. 
Indem er sie führte, kamen sie vor den Wandspiegel, blieben 
unwillkürlich stehen und sahen sich als Paar, genau gleich groß. 
Da lächelten sie im Weitergehen. 

An der Tafel saßen sie Elisabeth gegenüber, die wohl auf Lud- 
wigs Nachbarschaft gerechnet haben mochte, denn sie rief zu 
ihm und Thea hinüber: „Nun, Herr Ludwig, Herr Jemand, Herr 
Niemand. Herr Dieser oder Jener, was würden Sie sagen, wenn 
ich Ihnen so mir nichts dir nichts davongegangen wäre wie Sie 
mir? Sie haben sich, scheint mir, bald und gut getröstet!" 
„Wollen Sie mich denn ganz untröstlich! Muß man denn gleich 
zum Tode verurteilt sein, wenn man Ihre schöne Majestät be- 
leidigt hat" 
„Nein, zum Leben." 

„So habe ich denn von Ihrer Gnade im voraus Gebrauch ge- 
macht und lebe." 

Thea sah ernst hinüber, denn sie verstand diesen Wortstreit 

nicht, dann blickte sie nieder, legte sich Speisen auf ihren Teller 

und fing herzhaft zu essen an. Das gefiel Ludwig, weil sie nicht 

weiter zierlich tat, sondern eben zierlich war, indem sie Hunger 

hatte und es sich schmecken ließ. 

Sie setzten das begonnene Gespräch fort. 

„So müssen wir denn wohl immer und überall, solange wir leben, 

etwas spielen, was wir nicht mehr sind oder noch nicht sind." 

„Ja, als Kinder spielen wir Erwachsene, als Erwachsene spielen 

wir Kinder." 

*47 



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„Was wir besser wissen and können, sollen wir oder dürfen wir 
nicht zur Zeit brauchen und betreiben, aber dafür quält man 
uns mit lauter Dingen, die uns lästig sind." 
„Das kommt wohl von der Pflicht unserer Arbeit, die ja leider 
auch nicht immer ein Vergnügen ist." 

„Und doch wäre das Geheimnis aller richtigen Arbeit und jedes 
wahren Berufes, daß sie ein Spiel blieben. tf 
„Nein! Ich leide genug darunter, daß man uns durchaus zwingt, 
den Unterricht in lauter Spiel und verlogene Kindlichkeit aufzu- 
lösen. Arbeit ist doch Ernst, Pflicht istErnst, und Kinder sind die 
ernstesten Menschen auf der Welt, vielleicht die einzigen, denen 
alles Ernst ist Wir Erwachsenen aber wollen tun, als müßten wir 
aus Herzensgrund hüpfen und ,bäh, bäh« schreien oder ein Ver- 
gnügen haben, wenn wir irgend etwas Leidiges verrichten, das 
eben getan werden muß." 

„Die Kinder sollten also ernst sein wie die Großen?" 
„Sie sind es. Sie sollen Kinder sein. Ernst wie Kinderl So wie 
sie sind, jeder wie er ist, nur soll jeder darum wissen." 
„Jeder Mensch sollte um sich wissen, freilich." 
„Dann weiß er auch um den andern und braucht es nicht müh- 
selig zu lernen." 

„Und warum wollen wir uns dann so eifrig unterhalten und 

zerstreuen? Nicht, um uns zu vergessen und von den andern 

zu erfahren?" 

„Ja warum?" Sie lächelte. 

„Tanzen Sie vielleicht nicht gern?** 

„O ja, sogar für mein Leben gern." Sie dachte einen Augen- 
blick nach, dann sagte sie: „Wenn ich um mich weiß, darf ich 
mich wohl auch gern einmal vergessen." 
Ludwig schien dieses zuverlässige, selbständige Mädchen in 
getroster Einsamkeit wie in einem fernen Tale in hoher, reiner 
Luft zu verweilen, wo immer sie war. Thea war unscheinbar, 
das heißt, sie fiel niemand weiter auf und blieb unerkannt und 
fremd unter den vielen Leuten, aber sie saß neben ihm, er durfte 
mit ihr sprechen, als kennte er sie schon lange, und durfte ihre 
klare, selbständige Einsicht teilen, die reine Morgenluft ihres 
unbefangenen Verstandes. Auch das junge Mädchen fühlte sich 
wohl neben dem verwirrten Burschen, vor dem Corona sie ge- 
warnt hatte. „Gib acht, der Ludwig ist zu gescheit, man muß 
Angst vor ihm haben. Was der alles fragt und weiß und redet 

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id. denkt, das kann man gar nicht alles denken ! Mir ist er viel 
gescheit Und das ist auch gar nicht bescheiden, wenn man 
>ch so jung ist wie er. tf Nun, Thea fand Ludwig gar nicht so 
hrecklich, sondern ganz wohlbekannt, man konnte ihm getrost 
les sagen, was man dachte, und brauchte nicht zu fürchten, 
aß man nicht verstanden oder gar verspottet werde. Er machte 
enigstens keine dummen Witze. 

.udwig fragte denn weiter: „Was nützt es mir, wenn ich um 
lieh weiß? Es gibt doch so viele andere, unter denen ich leben 
auß, vielleicht lauter Feinde. Man möchte sie gut stimmen oder 
lie wenigen Freunde suchen, man möchte sie arglos machen, 
mn, so tut man unschuldig wie ein kleines Kind und fängt zu 
lüpfen und zu lallen an, oder zu tanzen. Es liegt viel Demut in 
Linseren Zerstreuungen und eigentlich lauter Angst und Bitte 
um Schonung." 

„Man müßte freilich unschuldig genug sein, sich selbst eben 

hinzunehmen, auch mit den unvermeidlichen Dummheiten. Die 

Kinder legen sich ja auch nicht immer Fragen vor, ob ihr Hüpfen 

oder Spielen oder Schreien gerecht ist und am Platze, und was 

die andern dazu sagen. 4 * 

„Wüßte man nur, was just gerecht ist." 

„Wie es einem ums Herz ist, so ist es wohl gerecht 4 * 

„Aber möchten Sie das auch immer gleich verraten?* 4 

„Ich möchte mich darum am liebsten abseits halten.** 

„Dann müßten Sie unsere ganze Gesellschaft eigentlich herzlich 

überflüssig finden.** 

„Nein, denn ohne Gesellschaft könnte ich wiederum nicht 
tanzen. Vielleicht findet sich doch einer und der andere für uns 
unter den vielen. Man muß ihn nur nicht gar zu absichtlich 
suchen. Er findet sich schon, jeder Mensch findet seinen 
Reim. 4 * Damit errötete sie ein wenig, als mißfiele ihr diese Be- 
merkung. 

„Nun, ungereimt müssen wir uns gleichwohl unseren Vers mit- 
einander machen.** 

„So haben wir alle erst einen Sinn, wenn wir uns aufeinander 
beziehen, eines allein macht keinen Vers aus. Und wir wären 
Worte ohne Zusammenhang, aus denen erst unsere Verbindung 
einen Satz machte!** 

„Nur daß wir eben unsern Satz bilden, wie wir die andern neh- 
men und von den andern genommen werden." 

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„Das eine müssen wir, das andere steht nicht bei uns. So sieht 
unsere Freiheit aus." 

Regine Amlacher lachte laut auf, es klang, ala ob sie in ein 
kaltes Wasser stiege. Die hat sich gewiß im Augenblick heftig 
auf ihren Nachbar gereimt, dachte Ludwig. 
Ein lebhaftes Summen schwirrte durch den hellen, warmen Raum, 
die vielen Stimmen verbanden sich zu einem ununterbrochenen 
hellen Geräusch, das an einen lebhaft bewegten Baum erinnerte. 
Hier und dort brach ein Gelächter aas, dazwischen scholl hell 
das Gläserklirren, das Klingen von Metall auf Porzellan, das 
steigende Feuer der jugendlichen Erregung beschleunigte den 
lauten Atem des Ganzen und machte die Menschen heiß und 
ungeduldig, daß sie mit den Füßen scharrten, daß ihre Finger 
mit den Löffelchen spielten und an die Teller schlugen. Die 
alten Herrschaften oben an der Spitze der Tafel unterhielten 
sich, schien es, auf ihre Weise ganz gut und geduldiger. Frau 
Doktor Mainone saß im Kreuzfeuer der Witze des Generals 
Hebenstreit, der seinen Teil gelassen und mit getragener Höf- 
lichkeit vorbrachte, während der Hof rat Amlacher übersprudelte 
und allemal vor Lachen und Spannung aufprustete, indem er 
seine unsichere goldene Brille zurechtschob. Hingegen saß der 
Doktor Mainone, der unbemerkt eingetreten war, bei der Gene- 
ralin. Die Herren oben hatten schon ihre Zigarren angesteckt, 
bei der Jugend unten gab der erwachsene, frühe Gentleman 
Martin das Zeichen, indem er seine silberne Zigarettendose zog 
und ausbot. Regine Amlacher bediente sich gleich, lehnte sich 
in ihrem Stuhle zurück, kreuzte die Beine übereinander, ent- 
zündete die Zigarette und zog den Rauch begierig ein, den sie 
durch die lüsternen Nasenlöcher, erfahren wie ein Alter, aus- 
atmete. Corona saß aufrecht und still da, Elisabeth May ange- 
regt und lustig, man hörte ihre feine, tiefe Stimme. Lotte Amlacher 
sah man rot wie einen Apfel, die anderen Mädchen kicherten, 
das Geschwätz ging allgemein, ungeduldig und ziellos hinüber 
und herüber, um plötzlich zu verstummen, die Generalin Heben- 
streit hatte sich unbemerkt erhoben und begann im Nebenzimmer 
mit pochendem, hartem, taktfestem Anschlag eine Polonäse zu 
spielen. Da scharrten alle ungeduldigen Beine, und die ganze 
Gesellschaft der Jugend erhob sich wie auf Kommando, die 
Stühle wurden lärmend zurückgerückt, man nahm sich nicht ein- 
mal Zeit, einander anzusehen und den A^rm zu bieten, sondern 

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alles drängte wie eine Herde haufenweise in den Saal zurück, 
zum Tanzen — zum Lammerhüpfen. 

Dazu waren sie ja eingeladen und versammelt, darauf verstanden 
sie sich, das wollten sie, dazu waren sie so hübsch angezogen, 
dazu lächelten sie, das war ihnen versprochen, das galt ihnen. 
Die Generalin hatte eine Hornbrille aufgesetzt und alte, oft ge- 
brauchte, vergilbte Notenblätter auf dem Pulte vor sich, zu 
diesen Noten hatte sie wohl ihrerzeit selbst getanzt Jetzt spielte 
sie den anderen auf, sie zog ihren Mund schmerzlich herab bei 
der Anstrengung des Lesens und Hämmerns. Regine Amlacher 
wirbelte mit ihrem blonden Fang, sie war größer als er und ließ 
schmachtend den Kopf ein wenig hintenüber hängen, so daß sie 
beim Tanzen ringsherum schauen konnte, und spähte vergnügt 
nach Beute, indem ihr breiter Mund naschhaft, halb geöffnet, 
gierig atmete. Die hatte das volle Verständnis für ihr Vergnügen, 
die wußte, warum sie tanzte! Hinwiederum bewegte sich die 
kleine Elisabeth May nett und genau, wie ein Püppchen mit 
einem gesammelten Ausdruck von unterhaltender Spannung als 
in einer angenehmen Gewissensangelegenheit, während Lotte 
Amlacher aus einem Arm in den andern, von einer Ecke des 
Saales in die andere flog, gleich einem Spielball. 
Corona aber tanzte in der Mitte des Saales unter dem Kron- 
leuchter, hoch und heiter, aber dabei wohl abgemessen, mit 
einem jungen Offizier. Sie tanzte in einem steten, eng umschrie- 
benen Kreise, den sie nicht verließ, den Hals, den Oberkörper, 
die schöne Brust in der gelben Seide leicht vorgeneigt. Im 
Vorübergehen hörte Ludwig den durch Besitz und Einbildung 
weisen Martin naserümpfend sagen: „Schön ist sie, gewiß, aber 
dumm ! u Das bezog sich wohl auf Corona, konnte sich nur auf 
sie beziehen, denn die anderen waren nicht so schön, daß man 
sie so unverschämt herausgreifen mochte. Er hatte selbst 
etwas Ähnliches gedacht, als er Corona siegreich schön und 
still in der Mitte vor allen anderen tanzen sah, nur hatte er es 
anders gemeint: die ungetrübte, schuldlose Lieblichkeit eines 
Daseins ohne Arg und Wissen, Corona war so dumm, wie jede 
heilige unangefochtene Herrlichkeit eines in sich beruhenden 
Geschöpfes, dumm wie ein Falter über einer Blume, bevor ein 
Wind weht, oder wie ein Tropfen Tau über einer Blüte, bevor 
er fallen, oder wie ein Schwan, der erhobenen Halses über das 
schwarze Wasser zieht, bevor er in der Todesqual singen muß. 

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Wenn Corona sprach, lächelte oder schwieg, ergriff ihn ihre 
selig arglose Unschuld, ihre sogenannte Dummheit, tiefer als 
irgend sonst etwas. Der Offizier sprach eindringlich auf sie 
ein, er mußte ihr etwas Vertracktes, Umständliches erzählt ha- 
ben, sie tanzte gemessen und hörte dabei ruhig atmend zu, 
ohne aus dem Takt zu kommen. Sie verstand ihn wohl nicht, 
denn er wiederholte, was er zu sagen Hatte, und lachte dazu 
sehr laut, als sollte ihr seine ausbrechende Heiterkeit zur Er- 
klärung verhelfen. Da hörte Ludwig, wie sie lächelnd und er- 
rötend sagte: „Aber, aber!", als verstünde eine Blume die Welt 
nicht, wo solche Geschichten erzählt werden. Es war wohl 
nicht leicht, diesen scheuen Verstand, dieses einsame Gefühl 
von Corona Frantzl zu erraten. Aber es mußte wunderbar sein, 
sie endlich doch zu bewegen, daß etwa ein Gedanke langsam 
in Coronas blauem Auge erwachte und sich mit errötendem 
Lächeln über ihr schönes stilles Gesicht verbreitete. Ludwig fiel, 
als er Corona tanzen sah, das tiefsinnige alte deutsche Märchen 
von den Seejungfrauen ein, die in der Mondnacht ihre Flügel- 
kleider abwerfen und tanzen. Der Kühne, der sie belauscht 
und ihr Flügelhemd zurückbehält, hat sie errungen. Wer um 
ihr Geheimnis weiß, dem muß sie sich ergeben, und sei es ein 
frecher Knabe und Räuber. Vielleicht war Coronas unschul- 
dige Torheit ihr einziger Schutz vor dem bösen Übermut der 
Welt, ihr Flügelkleid, mit dem sie über der Erde schweben und 
ruhevoll verweilen konnte, überirdisch gerade durch ihre soge- 
nannte Dummheit Würde sie einmal klüger und wissender, 
dann hätte sie wohl die Flügel verloren und Ruhe und Schön- 
heit mit ihnen. Darum gelang es keinem hier, Coronas Blick 
und Verständnis zu reizen, denn so oft jemand eindringlich mit 
ihr sprach, nahm sie einen bekümmerten, sorgenvollen Aus- 
druck an, runzelte ein wenig ihre Stirne und ballte verlegen 
ungeduldig ihr Batisttüchlein in der Faust zusammen. So kam 
es wohl, daß sie häufiger als die anderen, obwohl im Tanz um- 
worben, in einer Pause an die Wand trat und sich fächelnd von 
der ermüdenden Unterhaltung ausruhte. Es war, als ob sie den 
Geist zu fürchten hätte wie das Alter oder den Zweifel. Schön- 
heit gleich der ihrigen war über allem Verstände, die höchste 
Weisheit herrlich ausgebildeter Organe, tiefer und unergründ- 
licher und ungleich bedeutungsvoller als aller Menschengeist: 
das gedankenreichste Gelingen der Schöpfung selbst. 

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Zwischen allen Pausen wand und schlenkerte sich, ob auch neben 
irgend einer unglücklich mitgeschleiften Dame, die er wie eine 
Beute über Stock und Stein mitriß, immer rettungslos allein der 
Raimund Hebenstreit vorbei und hindurch, mit seinen weit her- 
vorquellenden Augen undurchdringlich vor sich hinstarrend und 
zur Musik ohne Takt und Gefühl mit seinen harten Beinen trap- 
pend, das Fischmaul mit den spärlichen, spitzen, braunen Zahnen 
traurig offen, die Unterlippe herabgezogen oder herabgefallen. 
Jezuweilen lief ein Zucken über sein gelbes Gesicht, aber auch 
wenn er wiehernd auflachte, was ohne Veranlassung und nicht als 
Antwort auf irgend einen Witz oder Zufall, sondern unvermittelt 
ausbrach, war es wie ein Nervenanfall oder eine Erschütterung, 
die ihn durchfuhr. Dabei tanzte er unermüdlich mit allen Mäd- 
chen und forderte ihre Geduld und Tapferkeit heraus, denn keine 
konnte seine Einladung ablehnen. Hatte er eine Tänzerin er- 
wischt, so hielt er sie fest, aber steif so weit wie möglich von sich 
und ließ sie, so gut sie konnte, unabhängig neben sich tanzen, 
während er seine widerspenstigen eigenen Bewegungen machte. 
Dabei hielt er seinen runden Schädel nach oben, zur Decke ge- 
wandt, als sähe er seine Tänzerin gar nicht, die, meist ohnehin 
um zwei Köpfe kleiner als er, wie eine Rose an einem überlangen 
Stützpfahle schmachtete. In seinem schwarzen Bratenrocke und 
seiner Hagerkeit klapperte er einen peinlichen Totentanz. Aber 
auch im Gespräche verursachte er einen eigentümlich drolligen 
Schrecken, eine peinliche Heiterkeit, denn er war nicht auf 
ganz gewöhnliche Art blöde oder lächerlich , sondern unheim- 
lich verschroben, er brachte Selbstverständliches täppisch be- 
deutungsvoll hervor und mit einer verletzenden, dummen Auf- 
richtigkeit, hinter der irgend ein geheimer Sinn zu lauern schien, 
den er freilich selbst gleich wieder vergessen hatte. 
Er mochte es besonders auf Corona abgesehen haben, die ihn 
wie alle und jedes mit freundlicher Geduld ertrug. Er hatte 
sie eine endlose Schnellpolka hindurch mit seinem erbarmungs- 
losen Griff gehalten, und es war ihr erst ganz zum Schlüsse ge- 
lungen, sich ihm zu entwinden. Sie stand nun glühend an der 
Wand, mit ernstem Gesicht, dichte Perlen auf der Stirn und 
auf der Oberlippe. Sie hatte ihr Batisttüchlein in der Linken 
und ballte es zusammen, während sie sich mit der Rechten mit 
einem kleinen schwarzen Spitzenfächer Kühlung zuwehte. Er 
ging ihr nach und stellte sich vor ihr auf. 

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„Warum schwitzen wir eigentlich beim Tanzen?" 
Sie schwieg und sah ihn ratlos an» 
„Warum haben Sie feuchte Hände» Fräulein ?** 
Corona ballte das Tüchlein fester in ihren beiden Fäusten und 
erglühte noch mehr. Was wußte er von ihrem unglücklichen 
Geheimnis, daß sie so leicht feuchte Hände bekam, der graus- 
liche Mensch 1 

„Das macht nicht bloß die Hitze und die Bewegung, sondern 
die Angst. a 

Er schwieg eine Weile und schaute zur Decke hinauf, dann er- 
klärte er sich. „Wir könnten nämlich mitten in der Musik über- 
einanderfallen, das ganze Haus, der Leuchter da und die Wände 
und die ganze Welt dazu. Es geht alles drunter und drüber. 
Man tanzt so lange, bis man ganz schwindlig wird, damit alle 
Wände zusammenfallen. Das ist die Absicht davon. Sie nicken 
ja, oder nicken Sie nein? Sie haben nicht bloß von der Hitze 
die feuchten Hände, das weiß ich, denn feuchte Hände haben 
Sie, mir aber ist kalt, wollen Sie meine Hände anfassen? So 
kalt läuft es mir auch über den Rücken. Haha! Haha! Wie 
ein Frosch. Darum setze ich mich am liebsten ins Warrae. 
Die anderen können mir gar nicht heiß genug sein." Elisabeth 
May, die zufällig herbeigekommen war, um auch eine Tanz- 
pause zu machen, hörte ihn und wollte, rechtschaffen unge- 
duldig, sein beängstigendes Faseln abtun; so fuhr sie ihn mit 
einem zürnenden Ton ihrer tiefen Stimme gebieterisch an: 
„Was schwätzen Sie denn für dummes Zeug. Ob Sie heiß sind 
oder kalt, interessiert uns gar nicht. Setzen Sie sich wohin Sie 
wollen, im Lande wo der Pfeffer wächst, muß es für Sie warm 
genug sein.** 

Raimund Hebenstreit, der seinen Hals und seine Blicke fest auf 
Corona gerichtet hatte, wandte sich mit einer qualvoll lang- 
samen Bewegung von ihr ab und nach der kleinen kecken Eli- 
sabeth: 

„Jetzt möchten Sie mir wohl noch deutlicher sagen: rutschen 
Sie mir den Buckel herunter, Raimund Hebenstreit, und es 
wäre mir ein wahres Vergnügen, wenn Sie nicht zu wohlerzogen 
wären, Fräulein Elisabeth, dies wirklich auszusprechen. Und 
noch größer wäre mir das Vergnügen, es auch zu tun, kalt 
wie ich bin, über ihren schönen heißen Rücken, aber es ist 
leider mein Unglück, daß Sie zu klein dazu sind und ich viel 

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zu lang. Umgekehrt ginge es schon, aber das werden Sie wie- 
der leider nicht tun. Hahal Haha!" 

Elisabeth hörte nur den Beginn dieser Rede an, hing sich gleich 
in Coronas Arm und zog sie mit ärgerlichem Lachen eilends 
davon, während Raimund unbekümmert fortsetzte, und als er 
niemand mehr vor sich sah, zur Zimmerdecke empor sprach, 
dann in unverständliches Murmeln geriet und äußerst zufrieden 
schien, als er fertig war und vor sich hinlächelte. 
Frau Doktor Mainone wirbelte im Tanz durch den Saal, und so 
oft Ludwig seine Mutter mit den jungen Männern tanzen und 
lachen sah, gab es ihm einen Stich, daß er sich abwandte. Er 
suchte seinen Vater. Er freute sich, wenn er ihn sah. Der 
Doktor forderte anstandshalber als Gastherr jedes der jungen 
Mädchen einmal zum Tanz auf, nun faßte er gerade Thea be- 
hutsam und streckte mit der Linken ihre Hand weit aus, so 
daß er um sich und sie einen schützenden Kreis beschrieb, in 
dessen Mitte er sich in zierlicher Haltung, in seinem schwarzen 
Jackett mit den flatternden Schößen, aus deren Tasche das 
Endchen seines weißen Schnupftuches hervorblitzte, fast immer 
auf demselben Flecke gemessen und feierlich bewegte mit 
seinem ausdrucksvollen schwarzen Lockenkopf, mit der leuch- 
tenden hohen Stirn und den unregelmäßigen, aber geistig ge- 
faßten, freundlichen Zügen, die, wenn sie nur eine Stunde sor- 
genlos waren, einen rührend kindlichen, heiteren Ausdruck 
annahmen. 

Ludwig empfand bei diesem Anblick seines Vaters ein verschlos- 
senes heißes Gefühl von Zärtlichkeit und Angst: „wie lange 
werde ich dich noch haben, mein liebster Vater und Kamerad ? u 
Als dann beim Aufbruch alle die Mütter und Fräulein sich in 
ihre Mäntel, Tücher, Mützen und Hauben vermummten, so daß 
die heiteren Gesichter wie durch dunkle Wolken hervorblickten, 
ehe sie verschwanden, und als das Abschiednehmen mit letzten 
Verabredungen, Scherzen und Wünschen anging, lernte Ludwig 
von seinem Vater noch eine hübsche Sitte, die ihn besonders 
nachahmenswert dünkte, wenn man zugleich ehrbar unterneh- 
mend und geschickt genug war, sie zu befolgen. Der Doktor 
Mainone empfahl sich nämlich von der Generalin Hebenstreit, 
für die er eine besondere Verehrung hegte, indem er den Hand- 
schuh sorgfältig von ihrer kleinen Hand zurückschob, bevor er 
seinen respektvollen Handkuß auf diese geduldige Rechte 

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drückte, denn er wollte, wie er sagte, nicht dem Leder, sondern 
einer gnädigen Hand die Ehrerbietung leisten. 
In dieser Zeit hatte Albrecht Frantzl, Coronas Bruder, der die 
Realschule besuchte und nach wie vor in dem mäßig hellen 
Vorzimmer mit innigem Fleiß seine Malerei betrieb, ein ent- 
scheidendes Gespräch mit seinem Vater. 
Und zwar aus Anlaß derVollendung eines Geburtstagsgeschenkes, 
das er ihm verehrt hatte, eines mäßig großen, goldgerahmten 
Ölbildes. Es war sein erster Versuch in der Ölmalerei, indem 
er vor der Natur gewonnene Skizzen aus zuversichtlichem Ge- 
dächtnis in eine Komposition zusammendrängte : ein alter blü- 
hender Apfelbaum stand auf einem Wiesenhange, der im Hin- 
tergrunde durch Büsche begrenzt war, so daß nur am oberen 
Teile der Tafel ein leicht und goldig bewölkter Himmel er- 
schien und als zarte blasse Luft zwischen den krausen Blüten- 
massen und dem leichten Baumschlag. 

Heinrich Frantzl besah sich das Gemälde mit seiner drolligen 
beweglichen Geschäftigkeit, er drehte es in seinen Händen 
nach rechts und links, brachte es sich nah, als wolle er die 
frische Farbe beriechen und das Ganze nach dem Firnis beur- 
teilen, wobei er das eine Auge einkniff, dann hielt er es wieder 
weit und immer weiter von sich ab und streckte dabei seinen 
rechten Fuß aus, als müsse er mit dem Bilde zum Kampf auf- 
brechen und es als Schild benutzen. Es zuckte in seinem Ge- 
sichte, das von Hitze und innerer Bewegung rot überlief, denn 
/ die Angelegenheit ging ihm nahe, der Beweis der Begabung 
seines Sohnes und die Huldigung durch das Geschenk taten 
ihm wohl. Albrecht stand still und bescheiden dabei und hätte 
am liebsten das Ganze wieder zurückgenommen, das ihm, sowie 
er es aus der Hand gab, matt und verpfuscht schien. 
Endlich stellte Heinrich Frantzl unter unablässigem Kopfschüt- 
teln das Gemälde sorgfältig nieder, das heißt, er lehnte es auf 
dem Tisch an die Wand, damit er die Hände frei bekam, die 
er dringend brauchte, um seinen Worten und Gedanken durch 
Gebärden Nachdruck zu geben und sich selbst damit zu über- 
zeugen. Elisabeth hatte das Bild entstehen gesehen, auch Co- 
rona war längst eingeweiht, und beide hatten nach der Besche- 
rung das Zimmer verlassen. 

So waren denn Vater und Sohn allein, der Vater mit seinem 
zausigen, fahlen Bart und Haar schon beträchtlich gealtert und 

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bei seiner unablässigen Beweglichkeit mehr als notwendig ge- 
bückt, der Sohn hoch aufgeschossen und schon um einen halben 
Kopf größer, mit kindlich offenen Zügen, in denen sich die all- 
gemeine leichte Traurigkeit dieser Zeit der ungewissen Entwick- 
lung mit der besonderen des künstlerischen Willens zu einer 
bescheidenen, doch klaren Wehmut vereinigte. 
Der Vater begann: „Nun, ich danke dir sehr schön. Du hast 
mir da eine große Freude gemacht, das muß ich sagen. Ich 
habe mir gar keinen solchen Sohn und meinem Sohn gar keine 
solche Hand und meines Sohnes Hand gar keine solche Tafel 
zugetraut. Also siehst du wirklich mehr als ich und kannst es 
gar mit allen Farben ausdrücken. Bon! Ich werde das Bild in 
meinem Zimmer aufhängen. Oder soll ich es ins Geschäft 
nehmen? Es wird sich überall gut machen. Ein Ölbild wirkt 
nämlich immer bedeutend, und diesem da sieht man doch gleich 
an, daß es von meinem Sohne ist. Woher sollte ich es denn 
sonst nehmen? Unsereiner kauft doch nicht leicht ein Gemälde, 
obzwar es sich schon gehören würde, aber die Zeiten sind 
nicht danach. Ja, also darauf wollte ich eigentlich kommen. 
Denn du hast doch dieses Bild sicherlich fertiggemacht und 
einrahmen lassen und zum Geburtstage geschenkt, weil du mir 
damit durch die Blume, durch einen ganzen blühenden Apfel- 
baum hast sagen wollen, daß du ein Maler werden möchtest. 
Verzeih', daß du einer bist! Ist's so? u 
Albrecht nickte. 

„Nun ja. Da hätten wir also die Bescherung/ fuhr Heinrich 
aufgeregt fort und schneuzte sich umständlich in sein blaues 
Schnupftuch. r Und du möchtest dich nunmehr, vorausgesetzt, 
daß du deine Realschulmatura bald glücklich überstehst, das 
dürfen wir ja hoffen, denn du bist immer ein braver Schüler 
gewesen und hast deinen werten Eltern keine Schwierigkeiten - 
bereitet — wir haben ohnedies Schwierigkeiten genug — , also 
du möchtest dich nach der Matura ganz und ohne Umschweife 
der Malerei zuwenden, auf die Akademie gehen und so fort bis 
an dein seliges Ende. Hab' ich recht geraten?* 4 
Albrecht antwortete nichts und errötete bloß. 
Heinrich fuhr fort: „Siehst du, mein lieber Albrecht Das Haar 
habe ich mir lang wachsen lassen und bin auch kein Musiker 
geworden. Und du hast es dir auch schon beträchtlich wachsen 
lassen und brauchst darum noch kein Maler zu werden. Das 

- 

Sto«stl, Das Hm» Erath iy 257 



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heißt, erschrick nicht, da bist ja schon ein Maler, darum brauchst 
du es nicht zu werden, aber ich meine, du mußt dich nicht ganz 
darauf einrichten. Ich kenne den Weg von der Musik her. Er 
ist für uns zu weit, denn keiner von uns ist sozusagen zum 
erstenmal und unabhängig auf der Welt. Glaube nur das nicht 
Sondern wir sind jeder ein Familienwesen und tragen weiß Gott 
wie viele Frantzls und Eraths in uns mit Das macht einen 
schweren Rücken, ein ängstliches Gewissen und einen unsicheren 
Stand. Wir sind nicht leicht genug für so weite Wege. Wir 
haben unsere ganze Bürgerschaft mitzuschleppen. tt 
Albrecht schwieg. 

„Du meinst, das sollte und müßte man abschütteln 1 Ich glaube, 
du denkst dir dabei sogar etwas Despektierliches. Erstens kann 
man sein eigenes Wesen nicht abschütteln. Es hat es schon 
mancher wollen und hat's aufgegeben und ist bescheiden unter 
seine Bürgerschaft untergekrochen, mein Lieber. Aber zweitens, 
es ist auch keine Schande, die man abzuschütteln braucht I Es 
ist schon etwas! Ein Name, ein Stand, eine Sicherheit, auch 
wenn man dabei zugrunde geht, ich meine ja nicht die besseren 
oder schlechteren Geschäfte, sondern die Tatsache einer bür- 
gerlichen Existenz. Es klingt wunderlich: diese gebundene 
Stellung macht frei, die Freiheit aber bindet Es gibt keinen 
höheren Zwang als die Freiheit Siehe, du bist ein Künstler, 
ich setze den Fall, ich wünsche es von Herzen. Aber essen 
und trinken mußt du doch und dich anstandig anziehen. Bei 
den allerbescheidensten Bedürfnissen mußt du auch immerhin 
auf dich halten, das will die Familie, die du mit dir tragen mußt 
Du kannst nicht schmutzig oder in Lumpen gehen oder von 
einem Käspapier essen oder Hundsfutter zu Mittag kaufen, was 
die Maler in München tun, wie ich mir habe sagen lassen. Du 
brauchst einen Tisch und ein sauberes Tuch darauf und nach 
einem Bilde Zeit, Farbe, Lust für ein neues 1 Nicht? Nun, da- 
mit du alles schaffen kannst, brauchst du Geld. Das Geld willst 
du dir mit deinen Bildern erwerben? Pfuil Du willst deinen 
Traum zu Geld machen? Armerl Wer bezahlt denn heute 
Träume? Für wen malst du dann, wem gibst du deine Sachen 
hin? Das sei gleichgültig, wenn man sie nur anbringt, meinst 
du? Aber man bringt sie nicht an. Wenn sie gefallen, meinst 
du? Auch dieses Wenn ist eben ein Wenn. Und ich sage das 
Aber: es könnte sein, daß deine Bilder dir gefallen, dann müssen 



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sie den anderen nicht behagen, dann möchtest da wahrschein- 
lich gar nicht, daß sie den anderen behagen. Wer soll dann 
recht haben? Etwa die Kritik, die dir eben die notwendige 
Reklame machen soll? Ja, diesen Zeitungsjungen möchtest du 
dich anvertrauen, die ein bedrucktes Papier für eine Welt aus- 
geben und die Welt für ein bedrucktes Papier, die eine Maus 
zu einem Elefanten machen und aus einem Löwen einen Esel, 
denen man erst umständlich zeigen muß, was oben und was 
unten ist, und die einen gemalten Mond mit einem Eidamer- 
käse verwechseln? Verwechseln wollen, wenn es was einbringt, 
verwechseln müssen, weil sie nicht umhin können. Für dieses 
Gelichter könntest du ein Bild ausklecksen, zusammensudeln, 
und sie würden daraus die Idee der Weltgeschichte heraus- 
lesen wie eine alte Pfündnerin die Zukunft aus dem Kaffeesatz. 
Hättest du aber ein ewiges Gericht gemalt, wie der selige Herr 
Michelangelo, so würden sie es zu einer Kleckserei und Eier- 
speise verhudeln, denn sie können nichts sehen, als was ihnen 
irgendwer vorredet, und nichts verstehen, als was sie sich ein- 
reden wollen. Was wirst du tun, wenn es eines Tages Mode 
wird, ein Bild grundsätzlich verkehrt aufzuhängen oder anzu- 
schauen, beziehungsweise gleich verkehrt zu malen, alle Dinge 
mit den Köpfen zur Erde und den Füßen in die Luft oder ganz 
ohne Kopf und Fuß, oder wenn man überhaupt nur ein Aha 
malt? Du aber bist ein ehrlicher Mensch, und deine mitge- 
' schleppte werte Familie fordert, daß du gewissenhaft nachzählst, 
ob eine Hand auch fünf Finger und eine menschliche Figur 
auch zwei Beine hat, die du malst, und daß du jedes Stück, das 
der liebe Herrgott in die Welt gestellt hat, getreulich wieder- 
gibst und nichts wegschwindelst, denn auch ein Künstler ist ein 
ehrbarer Mensch, vermutlich sogar der anständigste auf der 
Welt 

Nein, ich möchte meine Bilder nicht verkaufen I Ich möchte 
den Menschen damit nicht nachlaufen, Seide zu Markt tragen 
ä la bonheurl Aber eine Seele, ein richtiges Kunstwerk, mich 
selbst, Gott bewahre 1 Nur nicht von der Kunst leben müssen, 
wenn man für sie leben will! Ja, wenn ich reich genug wäre, 
daß du tun könntest, wie du willst; aber ich muß es dir schon 
gestehen, es sieht bei uns nicht sehr glänzend aus. Unsere 
Branche verdorrt Wir schwimmen langsam nach abwärts. Das 
Geschäft geht schlecht Ich werde dich nicht lange erhalten 

17* *59 



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können. Du wirst für dich selbst sorgen und aufkommen müssen. 
Und da solltest du nichts als Bilder fabrizieren? Geh' in ein 
Amt und sieh', daß du deine Bürgerschaft bewahrst Es ist etwas 
Gutes um einen anstandigen Namen, der sich nicht gemein 
macht Ich kann mir nicht helfen, je höher ich die Kunst stelle, 
desto unerträglicher erscheint mir das Geschmeiß, das um sie 
herumlungert und sich um die paar Bettelmünzen rauft, die 
irgendwer aus einem Fenster herauswirft Wenn du ein mäßig 
bezahltes Amt suchst, bleibst du, was sich gehört, ein freier 
Künstler. Du hast deine freie Zeit, die ist dein, und deine 
Kunst ist für dich. Wir sind nun einmal Bürger, das heißt, wir 
suchen Schutz vor uns selbst, vor unseren verdammten Anlagen 
in unseren Pflichten. Wir können nicht anders, wir müssen. 
Folgst du mir nicht, so gehst du in der Freiheit unter, du er- 
trinkst, mein Lieber. Folgst du mir, so . . . Du meinst, wenn 
du mir folgst, möchtest du dich lieber aufhängen. Das ist 
leichter gesagt als getan, Albrecht Da sei nur unbesorgt! Hat 
man es einmal mit dem bürgerlichen Leben gehalten, so mag 
man die reine Wäsche und die reinen Hände und den reinen 
Verstand und das saubere Gewissen nicht mehr entbehren. 
Lauter Luxus freilich, aber eben auch Kultur, wenn das Wort 
jetzt schon Mode ist Es heißt wohl Pflege, Liebe oder so. Und 
darin liegt auch alle Kunst 

Wenn du, wenn unsereiner ein Künstler sein will, so muß er 
ein Bürger sein, und die meisten wahren Künstler sind es 
schließlich auch gewesen. Irgendwie haben sie diese Pflicht 
und Bürde getragen. Wir werden gerade durch unsere Hinder- 
nisse, was wir werden können. In der bloßen freien Luft ge- 
deihen nur die Hans-Dämpfe. Das ist meine Meinung. Geh* 
zuerst nach Brot, damit du dann nach Kunst gehen kannst, 
nicht umgekehrt Fange mit dem Magen an, damit du nicht 
mit dem Hunger aufhören mußt. Wenn einer von Herzen beten 
will, muß er doch nicht gleich ein Pf äff werden, und wer den 
lieben Herrgott kennt, braucht nicht Theologie zu studieren. 
Sei ein Künstler, mein lieber Sohn, dann brauchst du keiner 
zu werden. 

Also geh' schön an die Technik, mache deine Prüfungen und 
male dir, was dich freut, nebenbei. Sieh, daß du irgend einen 
bürgerlichen Beruf ergreifst und halte die Freiheit fest, die dir 
dabei übrigbleibt Wer die Zeit gut anwendet, hat immer noch 

260 



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viel davon übrig. Ich wollte, ich hätte sie, ich wollte, ich könnte 
sie anwenden wie dn, ich wollte, ich müßte nicht so denken, 
wie ich spreche, und könnte dir sagen, was dn viel lieber hören 
möchtest Aber was nützt es : Wir sind Bürger, mein Sohn, eine 
bescheidene, alte Familie mit allen unseren verfluchten Not- 
wendigkeiten, wir verstehen nicht anders zu leben, als wir müssen. 
Du könntest es nicht, du könntest nicht auf Borg und vom Ver- 
satzamte leben und im Winter deine Sommerkleider, im Sommer 
deinen warmen Mantel im Leihhaus aufbewahren und jedem 
Hergelaufenen deine Bilder anpreisen und im Kaffeehaus mit 
deinen schönen Farben hausieren. Wir dürfen uns mit der 
Kunst nicht verheiraten. Wir nicht Dazu sind wir nicht stark 
genug. Oder zu stark, zu anstandig. Wissen wir denn, wie wir 
sind? Aber wie wir müssen, wissen wir leider. Wir spüren unsern 
Buckel auch ohne Schläge. Wenn uns nicht das Geld frei macht, 
kann es nur die Pflicht Auch dabei gibt es Freiheit Das kommt 
dir spanisch vor? Unsere Gedanken machen uns frei, nicht die 
Wirklichkeit Übrigens ist das alles nicht wörtlich zu verstehen. 
Jeder hat seine eigene Wahrheit Aber du bist ja doch unser 
richtiger Sohn und ein gut geratenes Familienstück, also ist es 
wohl auch deine Wahrheit. Nicht gerade übermäßig erfreulich, 
wie ich ganz gut weiß, aber eben deine, unsere Wahrheit. Folge 
mir, so wirst du in aller Wohlanständigkeit unzufrieden sein, 
folgst du mir nicht, so wirst du in übler Lage erst recht unzu- 
frieden sein. 

Jetzt nehme ich den zufriedenen Apfelbaum mit und zeige ihn 
meinen Leuten im Geschäft Oder vorher spiele ich noch ein 
bißchen Klavier. Mir ist es nämlich vor Zeiten mit der Musik 
ebenso gegangen wie dir mit der Malerei. Aber es ist dabei 
nichts Rechtes herausgekommen. Gut, daß ich mich nicht mit 
der Musik verheiratet habe. 4 * 

Damit schlenkerte er rasch, den Kopf abgewandt, an den Flü- 
gel und begann wild und kräftig zu phantasieren. 
Albrecht hörte mit halbem Ohr auf die eigentümlich verhaltene 
Melodie, die von den starken, beherrschenden Bässen immer 
wieder bedingt und getrennt wurde, und sah, wie der Vater mit 
all seiner Beweglichkeit sich über die Tasten beugte, als wolle 
er den Tönen liebevoll nachgehen, oder als wolle er seine Auf- 
regung im Spiele verbergen. 

Albrecht sah dann wieder auf seinen Apfelbaum und fand ihn 

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steif, hart, unzulänglich, die Komposition dürftig, die Farbe 
gewöhnlich, das Ganze flau. „ Bürgerlich, tf hörte er eine Stimme, 
und ein bitterer Zug trat auf seine Lippen, ein Vorgeschmack 
von Freiheit und von Knechtschaft, von Gehorsam und von Auf- 
lehnung, von jenem argen Tränklein Schicksal. 

5. 

Ludwig Mainone war vom Gymnasium freigesprochen und an 
die Universität entlassen worden, wo er sich als Jurist einschrieb, 
weil man bei diesem Studium alles sein und werden konnte. 
Einstweilen, in seinem langen, vollen ersten Universitätsjahre 
hatte er genug zu tun, indem er nichts Bestimmtes trieb, son- 
dern alles kennenzulernen suchte, was es in der ganzen Stadt 
gab, deren Fülle ihm unermeßlich schien, bevor er darauf kam, 
daß sie doch seicht genug war. 

Die Universität übte schon durch ihre weiten, hallenden Räume 
und Gänge mit den Büsten ihrer Berühmtheiten, mit den mar- 
mornen Ehrentafeln und den unablässig zuströmenden jungen 
Leuten einen aufregenden Zauber aus. Er machte Bekannt- 
schaften ähnlich „frischgefangen er" Altersgenossen und tat er- 
wachsen wie sie, die, eineGardenia im Knopfloch und Zigaretten 
im Munde, mit Abenteuern und ziemlich nüchternen Genüssen 
erster Männlichkeit prahlten, sie hatten Modegedanken und 
beschäftigten sich mit Krawatten und Westen ebenso eindring- 
lich wie mit den sogenannten „Fragen**, die gerade an der 
Tagesordnung waren, nicht viel anders als junge Frauenzimmer. 
Man schlenderte in die Bibliothek und ließ sich für eine kurze 
Weile in diesem braunen, summenden Räume bei einem Buche 
nieder, um bald darauf wieder Prickeln in den Beinen und im 
Gehirn zu verspüren, man verlangte Bewegung, trat in einen 
Hörsaal und wartete auf eine geschwinde wissenschaftliche 
Überraschung zuEhren so begierigerBesucher, die freilich meist 
ausblieb, denn der Professor beeilte sich nicht, dieser Zaungaste 
halber seinen solide instand gehaltenen und auf ein ganzes Jahr 
verteilten geistigen Vorrat sogleich auf einmal auszuschütten. 
Darum verduftete man mehr oder minder taktvoll auf den Zehen- 
spitzen und versuchte sich in einem nahen Lokal beim Billard- 
spiel. Oberall gab es Lärm und Bewegung genug, die Stadt, die 
Universität, Kaffeehäuser und Bierwirtschaften, Gärten und 

262 



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Straßen, alles schien ein belebtes Durchhaus nach irgend einem 
Ziele, das man nicht kannte. Man war zum Schauen bestellt, 
man hatte seinen Platz in diesem Theatrum mundi mit vielen 
argen Bildungsjahren bezahlt und verlangte nun, daß für einen 
auch recht interessant gespielt werde. Man kam zwar mitten 
in den Lauf des Stückes, aber man schmeichelte sich gleich- 
wohl, es habe erst mit den Ankömmlingen begonnen und warte 
mit seiner Entscheidung auf die jungen Gründlinge im Parterre. 
Es handelte sich wieder einmal um die ewige Umwälzung der 
Dinge, von der in jeder Generation gesprochen wird, und man 
wußte noch gar nicht, wie glücklich man zu sein hatte, daß sich 
diese Umwälzungen vorläufig nur still in Gehirnen und Büchern 
und Reden ereigneten, nicht in der rohen, nackten Wirklichkeit 
Man frisierte vorerst ihren Medusenkopf. Die Masse der Be- 
sitzlosen war durch die Technik, die alle Weiten der Erde zu- 
sammenführte, einander so nahegerückt, daß sie der Bedeutung 
ihrer aufgespeicherten leiblichen auch als entscheidender „ mo- 
ralischer" Kräfte drohend innegeworden war. Neben dieser 
Vereinigung spielte sich eine ebenso gefährliche Trennung ab, 
indem die Nationalitäten dieses künstlich zusammengehaltenen 
Staates der trostlos verflachenden Zivilisation, der notwendig 
grausamen, einheitlichen Beherrschung entgegenarbeiteten, um 
ihre angeborene Sonderung, das Bewußtsein ihrer selbst und ihres 
Wertes mit ihrer Sprache und Landschaft durchzusetzen. 
Wien lag satt, vergnügt und schaulustig wie eine alte Spinne da, 
mit der grauen Hofburg in der Mitte, und lauerte darauf, die 
Fliegen zu fangen, die in das Netz kommen mußten, denn es 
gab kein noch so entlegenes Dorf, das nicht durch die Verwal- 
tung, das Gericht, durch seine Vertretung, durch den Verkehr, 
durch die Zeitung irgendwie an einem dünnen, aber zähen Faden 
mit diesem sicheren, weitmaschigen Netze zusammenhing. 
Die geistige Begleitung der Kämpfe, die hier in Wien gespielt 
wurde, die sogenannte „moderne a Bewegung, in deren Strom 
Ludwig gleich einbezogen war, machte, was den österreichischen 
Anteil betraf, einen recht fragwürdigen Eindruck von Literatur- 
und Kaffeehausrevolution, halb von alexandrinischem Trödler- 
tum, durch das alte, unheimliche Herkommen einer höfischen 
Stadt mit herrschender Adelsgesellschaft und altansässigem 
Reichtum bevorrätigt, halb von atem- und überlegungslosem 
Mitlaufen mit jedem fremden Wettspiel Nicht zuletzt bestand 

263 



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auf dem Grund alles Treibens doch bei allem Radikalismus 
eine lakaienhafte stille Anbetung alles Höfischen und Adeligen, 
wodurch die sogenannte „moderne Bewegung" eine recht ko- 
mödiantische Unwahrheit, einen widerwärtigen Zug von frei- 
willigem Schranzentum bekam, damit sie beileibe nicht ernst, 
gar gefährlich genommen wurde von denen, die man schließlich 
doch nicht vor den Kopf stoßen mochte, weil sie Macht und 
Stellung vergaben. Denn jeder Österreicher schwärmt im Her- 
zen von einem sicheren Gehalt und einer schönen Pension, und 
je bewegter er seine Gegenwart aufspielte, desto einfältiger 
erschien sie nachmals als seine Vergangenheit bei dem lamm- 
frommen und schafsmäßigen Traum von Zukunft im Schatten 
irgend einer schwarzgelben Hundehütte. 
Die ganze Stadt glich mit ihrer Gesellschaft, ihren Erscheinungen 
einem kleinen Flecken Landes, wo ein unverständiger Mensch 
alles durcheinander gesät und wachsen gelassen hat, was sonst 
seinen besonderen Raum verlangt, nichts ist stark genug, voll- 
kommen durchzudringen, alles wuchert geil und dürftig durch- 
einander. 

Ludwig nahm freilich das dichte Getriebe noch völlig ernst und 
sich selbst natürlich als Mittelpunkt, nach der Weise seines 
Alters, worin ihn der Kreis junger Literaten bestärkte, der vor 
sich selbst eben auch nur bestand, indem er den Schein ernst, 
das eigene Spiel für eine wichtige Sache nahm und jeden An- 
kömmling mit großem Hallo und einem begeisterten Tusch emp- 
fing, solange man von ihm für die gemeinsame Unterhaltung 
oder für einen lustigen, augenzwinkernden Beiseite-Spaß und 
Spott etwas erhoffen konnte. Bei jedem Neuen tat man, als habe 
man bisher nur auf ihn gewartet Diese Vorstellung ging im alten 
„Cafe" Griensteidl", man nannte es nachmals „Caf6 Größen- 
wahn u , vor sich, an der Ecke des Michaelerplatzes und der 
Herrengasse, in vier oderfünf niedrigen, mit angerauchten weißen 
Tapeten ausgeschlagenen, gewölbten Zimmern, wo sich alle 
„führenden" Männer aller Berufe und Parteien, besonders die 
Literaten und Politiker, versammelten, so daß sie selbst ihre 
Täuschung wohl glauben konnten, hier werde alles ausgeheckt 
und verschworen, was nachmals im ganzen Lande als Losungs- 
wort gelten sollte. Ludwig sah freilich nur den Vordergrund, 
lebhafte geistige Gesichter, in der Wärme und Debatte gerötete 
Wangen, blitzende Augen, heitere Streitigkeiten um wichtigste 
264 



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Fragen. Noch erkannte er nicht, daß der Inhalt dieser Bewe- 
gung aus Büchern, aus der Fremde bezogen wurde, daß diese 
Leute hier, wie die ganze Stadt, wie der ganze sogenannte öster- 
reichische Staat, von den Ideen draußen lebten und zehrten, an 
einem fremden Vermögen schmarotzten. Sie machten hier die 
Gedanken und Worte der Welt draußen, besonders Frankreichs, 
mit einem geschickten, funkelnden und flunkernden Stil zurecht, 
wie Modistinnen einen alten Hut so lange drehen und wenden 
und umwickeln, bis er neu aussieht, ihr Geist bestand aus Zi- 
taten, deren Herkunft verborgen gehalten wurde, und wer in 
dieses Geheimnis eingeweiht und halbwegs belesen war, ant- 
wortete ebenso großartig. Was Ludwig am tiefsten berührte, 
war die Mannigfaltigkeit, Vertretbarkeit und Veränderlichkeit 
dieser sogenannten neuen Ideen. In ihrem werten Rahmen hatte 
nämlich so gut wie alles Platz, wenn es nur im richtigen Rot- 
welsch vorgetragen wurde, wie in einem wüsten Traume, wo 
eine Gestalt seelenruhig mitten durch eine andere hindurchgeht, 
sich vor der nächsten in Rauch auflöst, um unversehens sanft 
und dringlich wieder hinter dem Ofen aufzutauchen. 
Am Vormittag an der Universität und in den Gassen ihrer Um- 
gebung mit lehrreichem Nichtstun voll beschäftigt, zog Ludwig 
nach dem Essen in diesem ersten Winter seiner Freiheit mit 
den Schlittschuhen weit hinaus nach Hernais auf einen Vor- 
stadteislaufplatz, wo Thea hinzukommen pflegte. Man schnallte 
sich die Schuhe in einer hölzernen Bude mitten im Gedränge 
des gemischten Publikums, auf Holzbänken an, die nassen Klei- 
der dampften in der Hitze des kleinen eisernen Ofens. Die 
Gäste stammten aus den verschiedensten Stadtgegenden, ur- 
wüchsige Hernalser Spießer, Ladenjünglinge und kleine Bürge- 
rinnen, Gymnasiasten und Studenten, Kadetten und drohende 
Strizzis, Burschen in modischen Sportanzügen neben armen 
Teufeln, die ohne warmen Rock in karrierten Beinkleidern und 
leichtem Wams liefen, rotwangige frische Fräuleins mit Pelz- 
boas und pelzbesäumten Jacken und ausgepichte, sorgfältig 
hergerichtete Damen mit enganschließenden Schneiderkleidern 
streifen einander im Vorbeigehen, in einer Ecke wurde Wein 
getrunken und rasch noch geraucht, oder ein Stück Wurst ge- 
gessen, in der anderen fielen Schimpfworte und flogen Dro- 
hungen mit Tätlichkeiten nur so hin und her, dazwischen schlug 
allzumal die Tür mit einem Ächzen und Knallen zu, so oft einer 

265 



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ins Freie ging, und eine kalte Welle fahr eisig in den Dunst 
und Rauch. Durch das Gedränge schob man sich dann mit 
den Schlittschuhen an den Füßen ängstlich vor, bis man sich 
auf dem Platze leidlich in Sicherheit wußte, wo unter den hohen 
weißen Bogenlampen auf der blauen Eisfläche das bewegte 
Getümmel unter dem Klang einer asthmatischen Drehorgel alle 
Einzelnen vergessen machte, vielmehr in einen sanften Rausch 
und Taumel von schwebender, geselliger Eintracht auflöste und 
verschmolz. Man glitt paarweise oder in ganzen Reihen wie- 
gend weiter und aneinander vorbei, ein hochaufgerichteter und 
wieder pfeilschnell niedergeduckter Mann in einer Astrachan- 
mütze schwenkte in einem ungeheuren Bogen ein und entzog 
sich wieder im gleichen Atemzug und Schwung dem aufgesuch- 
ten Gedränge, einer wie in stillem Jauchzen entgegenstrebenden, 
emporschnellenden weißen Partnerin entgegen, solche Paare 
wanden mehrere kühne Bogen wie lauter Kränze um die lang- 
sam hingleitende Masse der übrigen. Eine unablässige Be- 
wegung und sausende hochgestimmte Eile entzündete mit der 
scharfen Winterkälte und der Lust der angespannten Glieder 
in jedem ein Fieber munterer und traumhafter fcrregung, das 
eine rauschende Musik entfalteter körperlicher Freiheit genoß. 
Diese pulsende Bewegung gab den Menschen bei beflügelter, 
zeitloser Eile den Zauber eines schwebenden dauernden Auf- 
enthaltes im Augenblicke. 

Bevor Thea kam, kreiste Ludwig mißmutig im Gedränge, nahe 
beim Ufer des Platzes, von den Anlaufenden beiseitegeschoben 
und gestoßen, er wich nachlässig aus, den Blick immer auf den 
Eingang gerichtet. Da schob sich endlich die wohlbekannte, 
zierliche, dunkelgekleidete Gestalt auf den Schlittschuhen sicher, 
wenn auch langsam stelzend, vorwärts, er hätte Thea unter Tau- 
senden sogleich erkannt — war das Liebe, wenn man eine 
einzige so herausfand? — wie sie sogar mit dem Stahl an den 
Füßen ihren eigentümlichen Gang behielt, indem sie den ganzen 
Körper nach dem rechten Schritte nach rechts, mit dem näch- 
sten rasch nach links wandte. Wie fiel sie ihm auf, die so un- 
scheinbar schwarz einherkam, das schwarze Pelzmützchen ein 
bißchen schief auf dem runden Kopfe und über dem runden, 
vollen, leicht geröteten Gesicht, so daß unter dem Rand der 
Mütze eine Lockern die Stirne wehte, vom treibenden Schnee 
weiß bestäubt Er erriet, ohne ihn noch zu sehen, den schma- 
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len, leicht nach abwärts geschwungenen Bogen ihres geschlos- 
senen Mundes. Da bemerkte sie ihn, da lächelte sie, da waren 
er und sie die einzigen hier. Sie schlüpfte herzu, und schon 
glitten sie davon. 

Thea kam so oft hierher, als es ihre Arbeiten und Pflichten er- 
laubten, und kehrte sich nicht daran, daß Ludwig sie hier er- 
wartete, ja daß er, wie sie ganz gut wußte, nur ihretwegen her- 
kam. Vielmehr tat es ihr wohl, daß er bestimmt und immer 
da war, wenn sie kam, und ihr gleich den Arm bot und ent- 
gegenstreckte, wenn sie die ersten Schritte noch über die ver- 
eisten Bretter auf die Bahn ging, und daß sie gleich mit ihm in 
das allgemeine sanft betäubende Wiegen und Schweben ver- 
sank. Sie sprachen, was sie sonst gesprochen hätten, aber es 
war hier gleichgültiger oder vielbedeutender als sonstwo. Theas 
Gesicht schien Ludwig in dieser Winterkälte unter dem wehen- 
den Schnee rosiger, ihre Augen kühner. Ihr Mund lachte, ihre 
kräftigen Zähne schimmerten, und sie war es, die Ludwig im 
Laufen antrieb, denn er hatte vor lauter Geselligkeit ihrethalben 
die Kunstfähigkeit versehen und vertan. 

Wenn er abends von den Fußknöcheln aufwärts die ungewohnte 
Müdigkeit aller Muskeln und Gelenke, die wohlige Wärme der 
genossenen Bewegung im ganzen Körper, den langsam ver- 
glühenden Rausch und Klang der inneren Musik im Leib und 
in der Seele, Arm in Arm mit Thea durch die dunkeln Vor- 
stadtgassen nach Hause schob, glaubte Ludwig, ihr Herz müsse 
wie das seine ungeduldig pochen und rufen. Rief es nach ihr, 
rief sie nach ihm? Wenn sie unter den Lichtkreis einer La- 
terne kamen, warf er einen Blick nach ihr und sah die ruhige, 
klare Linie ihres kindlichen, doch weiblich reifen Profils, das 
Mützchen schräg über ihrer Stirn, die krause Locke schneebe- 
stäubt über der Schläfe, sie sah ihn klar und still an und sprach 
unbefangen weiter, kühl und klar wie dieser ausgesternte Win- 
terabend. 

Endlich waren sie vor ihrem Hause und standen noch einen 
Augenblick vor dem Hausflur. Er gab ihr die Hand, sie gab 
ihm die ihrige, sie sahen einander an. 
„Gute Nacht, Ludwig. 44 

„Gute Nacht, Fräulein Thea. Auf Wiedersehen." Es war 
ihm, als dauerten diese Worte länger, 'als sie gesprochen 
wurden. 

267 



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6. 

Im Hebenstreitschen Hause waren die Abendgesellschaften an- 
ders als bei Mainones. Der General bewohnte in einem Neu- 
bau der Alservorstadt eine große Wohnung, die zwar aus vielen, 
aber aus lauter kleinen Zimmern bestand und bis auf zwei seit- 
ab gelegene Räume um so leichter für die Geselligkeit vorbe- 
reitet, das heißt geleert werden konnte, als sie auch sonst mit 
Möbeln nicht gerade überfüllt war. Als Militär, der sich min- 
destens die ersten zwei Dritteile seiner Dienstzeit eigentlich 
unterwegs befunden hatte, indem er die Garnisonen beständig 
wechseln mußte, besaß er von je nur den notwendigsten, ein- 
fachsten Hausrat, lauter geschmacklose, aber auch dürftige 
Sachen. Übrigens schien seine Frau ebensowenig wie er auf 
die Anmut des Quartiers zu halten, sie war aus armer Familie, 
und es hieß, die beiden hätten in ihrer Jugend die hohe Offi- 
zierskaution nicht einmal von Verwandten oder Freunden leih- 
weise aufbringen können, die den schlecht bezahlten Berufs- 
helden das Ausharren in der taglichen Teuerung und Not und 
eine standesgemäße Haltung verbürgen sollte. Das Offiziers- 
korps war ja in seinen Privilegien und streng bewahrten Sitten 
beim Volksheer mit seinen jährlich wechselnden ungeheuren 
Menschenmassen der moralische Eckpfeiler der habsburgischen 
Machtwirtschaft, die unter dem Dache der allgemeinen Wehr- 
pflicht ruhte, als ob es sich nirgends bequemer schlafen ließe 
als in einem Pulvermagazin. Hebenstreit hatte damals als blut- 
junger Leutnant ein Gnadengesuch um Befreiung von der Kau- 
tion einbringen müssen. Der Kaiser, der sich diese Gesuche 
selbst vorbehielt, war gerade in dieser Frage streng; herzlos 
und heimtückisch, boshaft und im Grunde menschenfeindlich 
wie alle Habsburger, die ihre Leute von je ohne Rücksicht 
und Dank auspreßten, wollte er bei dieser Sicherung seines 
nächsten Dienststandes keine Ausnahmen machen, schätzte er 
doch in einem wohlhabenden Offizierskorps, das von den ab- 
sichtlich niedrig bemessenen Gagen nicht durchaas abhing — 
diese materielle Unabhängigkeit machte die Offiziere angeb- 
lich rücksichtslos schneidig — das beste Gegengewicht gegen 
die demokratische Gefahr des Volksheeres. Also es hieß, die 
Braut des Herrn Leutnants habe selbst in voller weiblicher 
Gala ihrer achtzehn Jahre Audienz nehmen und vor dem Mon- 
268 



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archen mit einem Fußfall den Erlaß der Kaution erbitten 
müssen, was ihr freilich leichter gelungen sei als den schrift- 
lichen Gesuchen. Nun, wie immer, die beiden heirateten ohne 
Vermögen, ohne irgend eine Ausstattung mit den paar Klei- 
dern und Wäschestücken, die sie auf dem Leibe hatten, und 
lebten auch bei ihren jetzigen guten Bezügen in armseligen 
Möbeln und abgenützten Gegenstanden, aber dafür beweglich 
und nervös gesellig, als hätten sie ohne stetes Ab- und Zu- 
strömen von Menschen, ohne daß sie selbst andere Gesellschaft 
aufsuchten und immer neue Leute kennenlernten, keinen Frie- 
den. Sowohl der Herr als die Frau des Hauses waren wegen 
ihrer sogenannten Güte berühmt, daß man sie nämlich jeder- 
zeit, auch ohne ihnen besonders nahezustehen, auf bloße Emp- 
fehlung anderer Bekannten hin, um Hilfe, um „Protektion" an- 
gehen konnte. 

Das Hebenstreitsche Paar übte nun seinen Einfluß gern und 
gefällig aus, wodurch der General allgemeine Beliebtheit und 
einen großen Anhang erwarb ; so ging in dem kahlen und arm- 
seligen Hause der lebhafteste Verkehr von früh bis abends 
mit immer neuen Besuchen, Bittenden und Gebetenen aus und 
ein. Die unheimelige Wohnung, wo keine anderen Bilder hingen 
als Gruppenphotographien von Offizieren eines Regiments, 
darunter immer der Hausherr in allen Rangstufen seiner vielen 
Dienstjahre, oder bunte kalligraphische Dankadressen und Hul- 
digungszeugnisse von Bürgermeistern und Stadtvertretungen, 
deren Garnisonen er angehört hatte, lag nur dann dunkel und 
stumm da, wenn ihre Herrschaft auf ähnliche Wege zu anderen 
Machthabern, auf Vergnügen und Geselligkeit ausgegangen war. 
Derart vereinigte sich in den licht ausgeschlagenen leeren Zim- 
mern, wo die mit geblümtem Creton bezogenen kleinen Sitz- 
möbel, Lehnstühle und Taburets oder gar nur dürftige Rohr- 
sessel an dichten braunen Holztischen und spießige Fächer- 
palmen an den Fensternischen standen, eine andere Gesellschaft 
als beim Doktor Mainone. „Ärarisch" war etwa die Bezeich- 
nung, für die jungen Teilnehmer wenigstens. Viele Offiziers- 
töchter, Frauen und Kinder von Obersten, die unter Hebenstreit 
gedient hatten oder jetzt noch dienten, angehende Truppen- 
offiziere als die Altesten, junge Leutnants, Kadetten in der 
Mehrzahl aber durchaus von den sogenanten „bürgerlichen" 
Waffen: Infanterie und Artillerie, kein einziger Kavallerist, denn 

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das Offizierkorps dieser dekorativen und überverehrten Waffe 
war fast durchaus hochadelig und verschloß sich auch den 
avancierten „Troupiers", der bürgerlichen Generalität, mit 
durchaus anerkanntem Hochmut Die Offiziere waren die haupt- 
sächlichen Tänzer. Dann gab es noch ein paar hohe Beamte 
mit ihrem Anhang, wenig „ Geist ** und „ geistige** Leute. 
Alles in allem ging es hier minder „bürgerlich", aber desto 
mehr „staatlich 4 * zu, das heißt, man unterhielt sich nach Rang- 
klassen getrennt über die ewigen Standesangelegenheiten, nur die 
Jugend war zwanglos gemischt, die Alten, die Väter und Mütter, 
blieben absichtlich oder unwillkürlich in die zugehörigen Grup- 
pen geordnet. Nebenbei gab es auch einen leicht-provinzle- 
rischen und einen anderen, ebenfalls nur im stillen wie eine 
unterdrückte ferne Orgelstimme mitspielenden klerikalen Zug, 
den eine verwandte Familie, allerdings mit fade durchdringen- 
dem Weihrauchodem und frommem Augenaufschlag beitrug, 
die eines reichen Advokaten, namens Gödl, der durch seine 
Ehe mit der Tochter eines Lichtensteinschen Güterverwalters, 
einer entfernten Cousine der Generalin, Beziehungen mit dem 
Großgrundbesitz und gute Empfehlungen für die alten adeligen 
Häuser erworben und dank diesen Verbindungen ohne viel 
Mühe oder Talent eine reiche Klientel gewonnen hatte. Der 
Doktor Gödl, groß und breitschultrig, vierschrötig, mit einem 
vollbärtigen, viereckigen Gesicht, hatte irgend etwas Rustikales 
in seiner Gestalt und in seinem Wesen, das er vermutlich seiner 
Stellung als Anwalt von Großagrariern schuldig war, so daß man 
sich ihn, auch wenn er wie heute seinen Salonrock und die 
schwarze Krawatte um den niederen weißen Stehkragen trug, 
immer unwillkürlich in Röhrenstiefeln und Joppe, mit einer aus 
der Brusttasche lugenden Porzellanpfeife vorstellte, doch nie recht 
auf dem Parkett im Gleichgewichte. Er pflegte dieses Naturbur- 
schentum aber auch sorgfältig, ohne wirklich viel mit der Natur 
zu tun zu haben, und verdankte ihm seine Erfolge bei den 
Frauen, denen er, scheinbar mit Grobheit und gleichgültiger 
Behandlung, in Wirklichkeit sehr geschickt und listig entgegen- 
kam, was auch wegen seiner Gattin dringend notwendig war, 
die ihn äußerst eifersüchtig bewachte, und wenn sie auch jeden 
Tag dazu allen Grund hatte, doch vermöge ihrer Kurzsichtig- 
keit und Dummheit diesem Grund nie recht auf den Grund, 
sondern immer nur an dessen verdächtige Nähe kam, aber mit 

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Zorn und Eifer, Szenen nnd Vorwürfen als Warnungsheulwerk 
vorzeitig laut wurde, so daß er sich stets in Sicherheit bringen, 
auch allfällige Zeugnisse seiner Triumphe und Seitensprünge 
beiseite schaffen und das gerechteste Alibi bereitstellen konnte. 
Diese Familie Gödl genoß im Hebenstreitschen Hause hohes 
Ansehen, eben wegen ihrer Beziehungen zu allen höchsten 
Heiligen des Himmels und zum reichen Hochadel auf Erden, 
so bildete denn die ins Unbegrenzte erweiterte Mutter Gödl 
in einem kapuzinerbraunen, fleckigen Kleide — sie hielt nicht 
viel auf irdische Schönheit, und vor lauter Seelenreinheit ver- 
nachlässigte sie ein wenig die körperliche — den Mittelpunkt 
einer andächtigen Gruppe. Sie trug ein großes, goldenes Kreuz 
am uferlosen Busen, neben ihr saß ihre älteste Tochter, Assunta, 
mit gottergebenem Ausdruck und einem kleineren Goldkreuz 
über ihrer flachen Vorderseite, die Hände auf dem Schoß ge- 
faltet, sie kannte Latein und Griechisch und verstand den Text 
der Messe, aber das half ihr doch zu keinem Tänzer, und an 
der anderen Seite saß die zweite, Annunziata, mit einem Zwil- 
lingskreuzlein, ebenso gebildet und ebenso schön an Seele wie 
häßlich an Figur, und die drei, ein Gegenstück zur Laokoon- 
gruppe, beobachteten mit schmerzlicher Demut die wohlgefällige 
überhebliche Sünde der anderen, glücklicher geratenen Schwe- 
stern ihres Geschlechtes. 

Wie doch ihr Gatte und Vater mit der Doktorin Mainone schön 
tat! So laut lachte er niemals zu Hause, so inständig packte 
er nie daheim eine Stuhllehne beim Sprechen, und diese Dok- 
torin funkelte ihn, der gottlose Freigeist selbst, aus ihren frechen 
Augen so seelenvergnügt an, wie nur der Hochmut vor dem 
Falle und doch schon in höherem Alter funkeln kann. Die 
Gödl lächelte verbindlich und nickte der Mainone sogar zu, als 
wollte sie sie aufmuntern und ihr gute Unterhaltung wünschen. 
Franz Karl Maria, ihr eigener Sohn, der doch vom Geiste war, 
schlich, freilich unsicher und ängstlich, wie ein Kater um die 
heiße Milch, um Elisabeth May herum und schien nur nicht zu 
wissen, wie er es anfangen sollte, mit ihr ins Gespräch zu kom- 
men. Er wäre imstande gewesen, nach dem Apfel dieser Eva 
sogar zu springen, wenn sie ihn hochgehalten hätte. Aber sie 
tat es nicht, diese Person 1 Noch peinlicher schien den dreien, 
den von dreimal sieben Schwertern der Eifersucht, des Grames 
und der Weltangst durchbohrten Herzen das Nebenzimmer, wo 

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sich eine ganze Gesellschaft in ärgster Freiheit mit Gelachter 
und Geschwätz, mit Flüstern und kühnen Witzen unterhielt, 
lauter ausgepichte, doch noch ganz junge Leute. Sie sagten ja 
nichts, die Mutter und ihre beiden Töchter, sie sahen sich nur ver- 
stohlen um, ob irgendwer dieses Treiben betrachtete wie sie, 
und dann lächelten sie bloß gütig und schmerzlich, ohne etwas 
zu sprechen, mit seelenvollen Blicken, die Hände im Schöße 
gefaltet und mit langen, mageren, braunen Hälsen. 
Ihre Heiligkeit zog einen weiten schützenden Kreis um sie, den 
niemand zu durchbrechen wagte, trotzdem sie alle männlichen 
jungen Leute keineswegs böse und abweisend anschauten, son- 
dern freundlich und mit wahrer christlicher Liebe, ja, wie ein 
Unbefangener geglaubt hätte, sogar noch verliebter. 
Die im Nebenzimmer freilich 1 Wiederum diese verfluchte 
Regina Amlacher mit dem Spitzbubengesicht, mit dem breiten 
verschmitzten Munde und den frechen Augen 1 Heute saß sie 
in einem blutroten Kleide da, dessen Ausschnitt, mit einem 
schmalen schwarzen Samtbande eingesäumt, ihren Nacken und 
Hals scharf herausschnitt und das unregelmäßige Gesicht um 
so wilder emporhob. Regina saß neben ihrem anerkannten 
Verehrer, sie schien sich mit ihm zu begnügen, der Blonde, 
mit dem sie ihn bei Mainones eifersüchtig gemacht hatte, war 
nicht da. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und 
rauchte eine Zigarette um die andere und wußte ihre Fuß- 
spitzen in den goldfarbenen Tanzschuhen so geschickt zu be- 
wegen, daß sie ihrem Nebenmann zur Linken, eben den alten 
Studenten mit den Schmissen im Gesicht, bei Gelegenheit an 
das Schienbein rührte oder den zur Rechten, einen schlanken, 
schönen Offizier, einen vielbegehrten Baron Wasserporten, 
scheinbar unversehens mit einem Wippen traf, welches ver- 
wirrend ihr Bein in dem durchbrochenen schwarzen Strumpfe 
zeigte, worauf dann ein Blick der Entschuldigung und des Feuers 
hinüber- und herübersprang. Ferner saß noch der frühe Ehren- 
mann Martin auf einem niedrigen Hocker, so daß er, klein und 
sich noch womöglich zusammenduckend, beinahe zu Füßen der 
Damen wie ein Hofzwerg angebracht war, und, noch ein wenig 
steif in einem Rohrstuhl ein junger bartloser Kadett, der beinahe 
weiße Haare und ganz lichtblaue Augen, eine rosige Wangenfarbe 
und einen reizenden Kindermund hatte, man mochte ihn am 
liebsten wie einen Knaben behandeln und abküssen, so nett 
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sah' er aas» wußte aber von diesen Eigenschaften schon allen 
erdenklichen Nutzen zu ziehen, und gerade dies machte ihn, 
deri ( Ladislaus Gottin, zum erklärten Pagen dieser viel kühneren 
jungen Frauenzimmer hier. Denn außer der Regina Amlacher 
gab es noch zwei kecke Schönheiten hier, zwei Schwestern, 
Klara und Anna von Lenk, zwei Oberstentöchter, deren Mutter 
sich grundsätzlich immer zwei Zimmer weit von den Fräuleins 
aufhielt, weil sie nur so die beiden Augen zudrücken konnte 
zu den Taten, Gebärden, Redensarten und Meinungen der 
beiden Heldinnen, die das Leben im Laufschritt erstürmten, 
wie eine Kompagnie einen Hügel „nimmt". 
Klara, dunkelblond und braunäugig, hatte ein regelmäßiges Ge- 
sicht, dem gerade dieses Ebenmaß hinderlich war, so unbeküm- 
mert draufgängerisch zu erscheinen, wie sie sein wollte. So 
kamen alle ihre gewagten Worte, ihr Achselzucken, ihr Lachen 
allzu grob und geradezu heraus und ließen ihr mehr willentlich 
als natürlich und selbstverständlich. Sie war so wie vielleicht ihr 
Vater, ein Haudegen aus Standeszwang und Grundsatz, nicht 
aus innerstem Gemüt, und wäre vielleicht froh gewesen, eine 
stille brave Hausfrau und Mutter werden zu dürfen. Hingegen 
zeigte sich ihre Schwester Anna als ein wahrer Teufel, denn sie 
war eigentlich auf das liebenswürdigste gezeichnet durch ein 
hübsches Naturwunder und ließ sich gerne besehen und von 
jedem, der es wollte, tief in ihre schönen Augen gucken, denn 
diese Augen waren das bewußte Merkwürdige, nämlich ver- 
schiedenfarbig, das eine dunkelblau, das andere dunkelgold- 
braun. Sonst gut und richtig in das feine Gesicht mit der ein 
wenig grauen falben Haut eingesetzt — sie legte wohl Puder 
auf — , gaben diese verschiedenen, widerspruchsvollen Augen- 
sterne der Miene etwas Fraghaftes, Tolles und Irrendes, indem 
das blaue und das braune einander, ihr selbst und den Men- 
schen lauter Possen zu spielen schienen, wie denn die ganze 
Frauensperson, kleiner als ihre Schwester und etwas voller, 
aber auch liebenswürdiger beweglich, minder laut und sanfter, 
aber auch entschlossener und sicherer, freundlicher und etwas 
gefühlsfähiger, doch noch launischer und durchaus unberechen- 
bar, als ein drolliger Anreiz und Lockungsversuch der Schöp- 
fung wirkte und sich diese gefällige Sendung denn auch ge- 
fallen ließ. 

Ludwig Mainone und Franz Karl Maria Gödl waren in dieses 

Stoessl, Das Haus Erath !8 273 



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Zimmer geraten, beide nicht eben die Rechten für alle diese 
vielbewanderte höhere Jugendbildung und standen nun ^als 
stumme Propheten rechts und links von der vergnügten Gruppe, 
die einander mit Scherzen und Spottreden bewarf und immer 
dreister wurde, je besser der Witz getroffen hatte. 
Kegina Amlacher fing einen stillen Blick Ludwigs auf, der sie 
beobachtete. »Herr Ludwig, das ist nichts für Sie, hier sind 
wir Erwachsenen, gehen Sie hinaus zur Jugend, belehren Sie 
meine kleine Schwester Lotte, haben Sie sie einmal bezaubert, 
so dürfen Sie sie doch heute nicht verlassen, Sie Don Juan, sie 
wird gewiß schön brav sein und Ihnen Freude machen, aber 
bringen Sie ihr nichts Arges bei. Machen Sie den Kindern den 
Hof, hier bleiben die Erwachsenen. Zuzug ist fernzuhalten, 
wie die Arbeiter sagen. 44 

„ Bleiben Sie nur, 4 * lachte Gottin und zeigte seine blanken 
Zähne. „Sie meinen es schon nicht so ernst, diese reifen er- 
wachsenen Damen, im Gegenteil, sie brauchen uns ja, um ihre 
Erfahrungen zu probieren. 44 

„Lassen Sie mich nur dableiben, es gibt keine Kinder mehr, 
ich bin gewiß nicht unschuldiger als Sie. 44 Ludwig errötete 
dabei. 

„So jung und schon so verdorben wollen Sie sein?" lachte 
Regina und zeigte ihre Zungenspitze. 

„So bleiben Sie denn und lernen Lebensweisheit, Sie brauchen 
sie bestimmt; denn wie ich Sie kenne, Mainone, wissen Sie nicht, 
wohin Sie sich wenden sollen vor lauter Liebe und Schwärmerei, 
Anbetung und Besorgnis, und möchten eigentlich ein Orakel 
haben: ,Lieb' ich, lieb' ich nicht, vom Herzen, mit Schmerzen, 
ein wenig oder gar nicht*, und wen lieb ich denn oder gar 
keine? Wenn wir Frauen schon, wie Sie geruht haben zu be- 
merken, lieber Wasserporten, gleich den Birnen auf unserem 
Aste hängen und warten, daß uns eins pflückt, so suchen wir 
uns den Betreffenden doch sehr genau aus, und weh* der Hand, 
die nach uns faßt und die wir nicht wollen. Wir Birnen suchen 
den Mund, der uns anbeißt. Wir bestimmen unseren Fall ins 
grüne Gras oder in euern Schoß oder in eure Hand und zu , 
euerm Mund. Wir holen uns den, der uns pflücken soll, so arg 
wir da gefesselt in unserem Laub an unserem Aste sitzen, so 
frei sind wir alle, unter euch allen uns den einzigen zu wählen, 
dem wir uns zuwerfen wollen oder sanft in die Hand fallen oder 

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just in den Mund wachsen, wenn es uns beliebt** Ihr Verehrer 
nebenan wurde rot, daß seine Schrammen aufleuchteten, er 
biß sich ärgerlich die Lippen, aber er sagte nicht ein Wort. 
Regina hatte ihn eben mit dem wippenden rechten Goldschuh 
gestreift Aber es war nur wie ein verirrter Blitz. Schon saß 
, sie wieder in vollem Gleichgewichte und schaute triumphierend 
rundherum. 

„Ist es wahr? 44 fragte Martin die kommandierende Klara. 
Klara zuckte die Achseln: »Bin ich ein Obstbaum?** 
Wasserporten lächelte still vor sich hin. 

Anna sah ihn an, beinahe wie eine reife Birne den Mund, von 
dem sie gepflückt sein will, und schlug ihre zwiefarbenen Augen, 
die unfehlbaren, auf: „Was lächeln Sie so unverschämt, Wasser- 
porten, Sie denken sich jetzt bestimmt etwas ganz Schänd- 
liches.« 

„Nun, wenn Sie durchaus wollen, ich kenne ein noch abgefeim- 
teres Wunder von euch Birnen. 1 * 
„Hörtl Hörtl u rief Gottin. 

„Ihr versteht es sogar, in aller Unschuld nachzuwachsen, wenn 
ihr euch habt pflücken lassen, und wiederum so schön und 
saftig und unberührt zu schimmern wie die erste Freude und 
auf diese Art eine zweite Hand und einen zweiten Mund zu 
suchen und einen dritten und vierten und so weiter, so oft es 
euch gefällt** 

„Und solange eine Hand da ist, die uns pflückt, und ein Mund, 
der uns anbeißt,** bejahte Regina. 

„Auf diese Art wärt ihr die Don Juans und eigentlich wir die 
verfolgten Unschuldigen,** sagte Gottin. 
„Nicht gerade verfolgt, aber versucht** 

„Wahl wird gewählt, Freiheit wird bestimmt, Bestimmung wird 
gesucht, Suche hat längst gefunden, Frucht wächst für den, der 
sie pflückt, Rose will gebrochen sein, Wunden tun wohl, man 
erntet die Siege seiner Niederlagen, und die Schlange beißt 
sich in den Schwanz,** sagte Ludwig schnell eine ganze Litanei 
auf, froh, einen Einfall gleich an diese überlegene Gesellschaft 
zu bringen. 

„ O wie schön unverständlich, ** sagte das Naturwunder und dachte : 
— fader Mensch 1 

„Er macht Gedichte, wißt ihr das nicht?** beteuerte Regina 
und himmelte zur Zimmerdecke. 

,8* *75 



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Sie lehnte sich in ihren Rohrsessel weit zurück, so daß wieder 
einmal ihre beiden Beine auf einen Augenblick erschienen, und 
lachte bei sich, als wollte sie bedeuten: Unsere Gedichte sind 
Fußspitzen, die sich reimen und dergleichen, kein Vers ist so 
gut. Dann sprang sie plötzlich auf und zog den finster blicken- 
den Wendt am Arm in das Zimmer, wo getanzt wurde. 
„Martin, haben Sie den versprochenen Wein gegrapst?" fragte 
Anna Lenk. 

Martin nickte beglückt und zog unter dem Hocker eine Flasche 
hervor. Anna goß sich ein Glas voll. Der Wein, ein „Hof- 
Tokaier**, den der General aus der „Burg** vom befreundeten 
Obersthofmeisteramt sehr wohlfeil bezog, sollte erst bei Tische 
und mit Maß getrunken werden. Martin hatte auf Annas Be- 
fehl irgendwie eine Flasche aus der Küche gemaust — sie hielt 
das grobe Wasserglas ans Licht, es funkelte golden. 
Wasserporten beobachtete sie lächelnd. Sie schaute ihn ein 
bißchen ängstlich an, denn sie schämte sich ihrer Schwäche, 
daß sie für ihr Leben gern trank und es gar nicht erwarten 
konnte, einen Schluck Wein vor der Zeit zu tun. Auch sah sie 
sich um, ob niemand draußen es bemerkte. „Stelle dich vor 
mich, Klara,** bat sie. Klara trat vor sie. Franz Karl Maria sah 
ratlos zu und fühlte sich überflüssiger als je, aber er nahm sich 
vor, niemand etwas von diesem Entsetzlichen zu erzählen. Er 
begriff freilich, daß Kneipen und Tingel taogels auch ihre Reize 
haben konnten, sogar für sittlich erzogene Persönlichkeiten. 
Anna trank das Wasserglas mit einem Zuge aus, dann erglühte 
ihr Gesicht und war so jung, sie konnte ebenso plötzlich ver- 
fallen und müde und alt dreinschauen. „So, dank* schön, lieber 
Martin, vergelt's Gott! Sie haben Erbarmen mit mir, dafür dür- 
fen Sie mit mir tanzen. Aber halt, herstellt! Merkt man mir's 
an, daß ich Wein getrunken habe? Das wäre mir doch unan- 
genehm. Was?** Sie trat vor Wasserporten, stellte sich auf die 
Zehenspitzen, hielt so gleichsam schwebend ihr Gesicht ganz 
nahe an das seine und hauchte ihn an. Er wurde plötzlich ernst, 
denn ihre zweifarbigen Augen glänzten feucht, er atmete ihren 
Atem ein und sah ihren Mund, nach Wein duftend, vor sich, 
rot, halb offen, mit den kleinen weißen, spitzen Zähnen, und 
wie ihre Gestalt ihm zum Küssen greiflich vorschwebte. Da 
tanzte im Nebenzimmer eine Erscheinung, die er noch nie ge- 
sehen hatte: Corona Frantzl. 

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Anna bemerkte, wie er sogleich wegsah, erblickte im selben 
Augenblick das schöne Mädchen und schüttelte verdrießlich 
den Kopf und drehte sich von Wasserporten rasch weg, der 
Corona unverwandt anstarrte. „Kommen Sie, Martin, wir tanzen." 
Sie flog, doppelt erregt und berauscht, und hatte etwas hinreißend 
Stürmisches in ihrem Tanz und in dem kühnen, schier verzwei- 
felten Ausdruck ihres schmalen, rosig überhauchten Gesichtes, 
um das ein rotbraunes Haar wehte, dessen Frisur von der tollen Be- 
wegung gelöst, Strähnen und Locken an der Stirn, an den Schläfen 
bis zur Wange, am Genick aufflattern ließ, die wie lauter flam- 
mende kleine Schlangen zuckten und leuchteten, indessen sie 
immer rascher um Corona Frantzl tanzend einen beschwören- 
den Kreis zog, als wollte sie sie nicht daraus hervorlassen. 
Corona sah sie wohl gar nicht, sie tanzte ruhig wie immer, den 
Oberkörper, die holde Brust, den Hals, das blühende, runde 
Gesicht mit der Haut wie Pfirsichflaum, das blonde Haupt mit 
der schweren blonden Haarkrone ganz leicht vorgeneigt und 
mit der Linken den Rock raffend. 

Frau Gödl und die beiden Marienkinder saßen und verstanden 
diese Welt nicht mehr, wo es solche Hexen gab, die solchen 
Hexen anheimfielen. Denn kein Zweifel, diese Kühle, Ruhige 
war ein doppelt schlaues, verführerisches Geschöpf, und die 
zweite Tolle gab sich ja gar keine Mühe mehr, es zu verbergen, 
daß sie vom Teufel besessen war, denn das war sie, oder An- 
nunziata und Assunta hätten Augen gehabt und den Teufel nicht 
gesehen, der doch nur ein unschuldiger Spitz in einem Wasser- 
glas mit Tokaier war. Sie reckten die dürren braunen Hälse 
nach den beiden tanzenden Paaren aus, neben denen alle an- 
deren wesenlos versanken. Wasserporten stand an den Tür- 
pfosten gelehnt und sah wie bezaubert auf Corona. Nun, waren 
nicht alle des Teufels? 

Wasserporten ließ sich von Raimund Hebenstreit, als dem Haus- 
herrn, Corona vorstellen. Raimund hielt ihn dabei mit ausge- 
strecktem Arme und trat steif wie eine Holzfigur mit seinem 
Gefangenen vor Corona hin und präsentierte den schönen, 
stattlichen Offizier mit vielen unverständlichen Worten, auf die 
Corona nicht weiter achtete. Sie nickte Wasserporten bloß 
freundlich zu und trat mit ihm zum Tanze an. Hochgewachsen 
und wie alle Offiziere ein guter Tänzer, ergriff und führte er sie 
kundiger, angenehmer als' die anderen Herren sonst. Er war 

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um einen Kopf höher als Corona und konnte beim Tanzen auf 
sie hinabsehen, auf ihr flirrendes Sonnenhaar und auf ihren 
gelblichweißen Nacken, er wußte sehr wohl, daß er selbst, 
schwarz und schlank und mit seinen guten Bewegungen, zu ihr 
ein rechtes Gegenstück abgab. Er genoß die Tour mit ihr und 
sprach fast gar nichts, denn er hielt den Tanz für eine Art 
heiliger Handlung, die durch nichts gestört werden soll, und 
Corona freute sich, daß sie nicht von unnützen Fragen belästigt 
wurde. So wiegten sie sich lang und langsam in einem „ schie- 
berischen" Zweischritt. Corona stimmte stets die ungestüme 
Eile uDgeschickterTänzer zu ihrem eigenen gemessenenTempo 
herab — hier ging er von selbst wunderbar auf das ihre ein — 
immer in der Mitte des Saales unter dem Gaslüster und im 
vollen Lichte, während Anna Lenk und die Amlacher um sie 
herumschwenkten und, selbst nicht ganz sicher, am Arm von 
ungeschickten Herren sogar gelegentlich an das ruhige Paar 
anstießen. Corona verabschiedete Wasserporten endlich mit 
einem leichten Kopfnicken und trat, wie sie pflegte, in die 
Zimmerecke, das Batisttüchlein in der feuchten Hand. Rai- 
mund Hebenstreit benutzte die Gelegenheit, um sie zu be- 
lästigen. Schade, daß Thea hier nicht eingeladen war, Corona 
hätte an ihr einen Schutz gehabt, bloß an ihrer Nähe, sie ver- 
standen sich so gut miteinander, und wenn Corona irgend einen 
Fehler beging — sie stellte in aller Unschuld immer etwas an 
— so hätte Thea auf dem Heimweg darüber gelacht und sie 
getröstet Aber diese Frau Doktor Mainone, unter deren Schutz 
sie hier war, küßte und bewunderte sie immer gar so über- 
schwenglich und stellte sie, die „Vizemama" die „Vizetochter**, 
wie sie sagte, immer gleichsam aus wie ihren Besitz und ihr 
Privilegium, aber es fiel ihr weiter gar nicht ein, sich sonst um 
sie zu kümmern. Corona ging zu diesen Unterhaltungen immer 
mit einer gewissen leisen Angst. 

Sie stand mit gesenktem Kopf und ließ Raimunds Gerede über 
sich ergehen. Drüben sah das Gödlsche Dreigespann auf sie. 
Aus dem Nebenzimmer schaute Anna Lenk sie an und erkannte 
in ihr die erste gefährliche Nebenbuhlerin seit langer Zeit, denn 
Anna Lenk beherrschte sonst alle Gesellschaften durch ihre 
Tollkühnheit, die den Männern das Schwierigste auferlegte, 
frech und ausgelassen sich vorzuwagen, aber doch mit keiner 
Gebärde, mit keinem Wort handgreiflich zu werden und sich 

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nichts Unwiderrufliches zu gestatten, denn das war die Art von 
geselliger Umgangskunst, die diesen „ärarischen** Jungfern 
natürlich und selbstverständlich galt wie ein Angriff und Gegen- 
angriff auf dem Manöverplatz, schneidig bis aufs Blut, jedoch eine 
„Friedensübung", der vom diensthabenden Verstände immer 
im rechten Augenblick abgeblasen wurde. Es durfte beileibe 
kein scharfer Schuß fallen. Und wer sich etwas Unerlaubtes 
erlaubte, den konnte ein Blick dieser zwiefarbenen Augen wie 
einPeitschenhieb schlagen. Sie brauchte nicht einmal ein rechtes 
Wort zu sagen. Derlei kam übrigens seltener vor, als ihre Kühn- 
heit hätte vermuten lassen, denn sie befand sich ja fast aus- 
schließlich in den Kreisen ihrer Gesellschaft, welche diese Art 
derUnterhaltung junger Männer und Mädchen ausgebildet hatte 
und keine andere sonst kannte oder anerkannte, darum auch 
den Takt solcher Geselligkeit einhielt, wie es ja innerhalb jeder 
Schicht gewisse gute Manieren als ungeschriebene Gesetze gibt, 
unter dem höchsten Adel, unter den Bürgern, unter den Offi- 
zieren, aber auch unter den Raubmördern oder Dieben. 
Wasserporten war in das Nebenzimmer, in das Asyl der „Freien" 
zurückgetreten. Anna saß mit ihrer Schwester, den Hofzwerg 
Martin auf seinem Stühlchen zu ihrer beider Füßen, mit der 
hochatmenden Regina Amlacher wieder um den Tisch und sah 
Wasserporten mit ihren ungeduldigen, durstigen, zwiefarbenen 
Augen an, höhnisch oder herausfordernd, oder demütig und 
bittend, wußte sie denn, wie vielerlei diese Blicke ihm zu sagen 
hatten, die alle aus einem benebelten kleinenWeiberkopfe und 
einem trunkenen Herzen kamen und etwa aus einem Wasser- 
glas voU Tokaier auf nüchternen Magen. 
Wasserporten sah sie ruhig an und so, daß sein Blick durch 
sie hindurch und über sie hinwegging. 

Regina aber schnitt mit ihren Worten diese Blicke ab und fing 
sie ein: „Nun, nun, es ist ein Wunder aufgezogen und ist auch 
nur aus Fleisch und Bein wie wir, aber blond und ohne Gnade. 
Sie sagt nicht viel und läßt sich alles sagen. Es geht ihr zu 
einem Ohr hinein, zum andern hinaus, denn zwischen dem 
einen und dem andern Ohr ist's leer." Niemand antwortete ihr. 
Ludwig hatte sie gehört und hätte wohl gern etwas sagen und 
antworten mögen, aber das wagte er nicht. Sie redeten über 
Corona wie über'ihresgleichen, bloß weil sie bei ihnen war und 
ihnen die Ehre ihrer Gegenwart erwies. 

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Bei Tische ging es laut und lärmend zu, es war in zwei Zim- 
mern gedeckt, die „Großen" saßen in dem einen, die Jugend, 
ganz unter sich und darum ohne Zwang, im anderen. Es gab 
nur einen, aber einen ausgiebigen Fleischgang, ein Roastbeef mit 
kalter und warmer Garnierung, dazu Bier, dann Bäckerei und 
Obst und dazu den Tokaier. Nicht zuviel davon, aber doch 
genug, daß, wer dazu neigte und rasch trank, ganz wohl einen 
Spitz bekam. Mit rotem Kopfe und unaufhörlichen Grimassen 
winkte die Regina Amlacher nach allen Seiten, die kleine Lotte 
sah lächelnd in ihren Schoß und getraute sich gar nicht, etwas 
zu sagen, geschweige denn von diesem gelben Teufelswein zu 
trinken. Elisabeth Mays schönes tiefes Saitenspiel von Altstimme 
klang gerade wohllautend genug, sie hatte maßvoll rote Wangen 
und ein hübsch temperiertes Lächeln, und Ludwig saß zufrie- 
den an ihrer Seite, nicht ohne nach Lotte hinüberzuschauen, 
Corona neben Wasserporten, in ruhiger, sicherer Haltung. Ihnen 
gegenüber die Anna Lenk mit dem Hofzwerg Martin. Sie trank 
rasch und schmeckte dabei mit Zunge und Gaumen wie ein 
geübter Zecher. Sie sah blühend aus und schoß, mitten im 
Gespräche mit ihrem Tischherrn Martin, so oft es nur anging, 
einen Blick ihrer widerstreitenden Augen, war er blau und hei- 
ter, oder braun und herausfordernd? auf ihr Gegenüber. Wasser- 
porten fing diesen Blick jedesmal auf und gab ihn ruhig, un- 
beteiligt zurück, auch Corona spürte ihn immer, wußte aber 
nicht, was er bedeute, und beantwortete ihn mit einem fremden, 
gleichgültigen, aber freundlichen Gegenblick. Endlich war der 
Übermut, ein allgemeiner leichter Spitz unter duftendem Ziga- 
rettenrauch und körperlicher Ungeduld der jungen Leute, sich 
wieder zu rühren und zu tanzen, so weit, daß unversehens der 
weißblonde Gottin auf Regina Amlacher, die ihm bei irgend 
einer schnippischen Antwort die Zunge gezeigt hatte, seine 
Serviette warf. Die anderen ließen sich dieses Zeichen nicht 
zweimal geben, sondern ergriffen ebenfalls ihre Servietten, 
lasen Tannenzweiglein auf, die über die ganze Tafel angeordnet 
waren, und in Ermangelung anderer Wurfgeschosse nahmen sie 
sogar Malagatrauben, Nüsse oder Mandeln aus den Dessert- 
schalen und fingen ein regelrechtes Gefecht an, immer Damen 
auf Herren und Herren auf Damen zielend. Corona beteiligte 
sich nicht daran, sondern saß mit fremd erstaunten Blicken da. 
Franz Karl Maria Gödl, der weit von ihr, am andern Ende des 

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Tisches neben Martins vierschrötiger Schwester sich gar nicht 
wohlfühlte und sich der Schönsten auf irgend eine Weise be- 
merkbar machen wollte, schleuderte seine Serviette auf Corona. 
Dies war der einzige Wurf, der ihr galt, und sie wohl auch ge- 
troffen hätte, denn der fromme Schlingel hatte ganz gut gezielt, 
sie aber bog leicht und gemessen den Kopf zurück, und die 
Serviette fiel zu Boden. 

Anna bewarf mit zehn Würfen nacheinander, mit Servietten, 
die sie ihren Nachbarn wegnahm, mit Mandeln und Hasel- 
nüssen, mit Bonbons in Papierhüllen den Baron Wasserporten, 
der alle diese Geschosse entweder mit den Händen auffing 
oder lächelnd über sich ergehen ließ. 

Im Höhepunkte des Gefechts begann der „Donauwalzer". „Ver- 
gatterung!" schrie Gottin, und alles brach zugleich zum Tanzen 
auf. Assunta und Annunziata blieben sitzen und holten noch 
einiges Dessert nach. 

Vom Tische der Erwachsenen kam die Mutter Gödl und über- 
blickte das Schlachtfeld: die zerstörte Tafel mit den vielerlei 
Wurfgeschossen. Sie schaute entsetzt fragend ihre Töchter an, 
und diese schauten mit empörter Genugtuung stumm zurück. 
Ludwig blieb an der Tür stehen. Gottin, seinen Waffenrock zu- 
rechtrückend, trat neben ihn, da sprach ihn Ludwig lächelnd an : 
„Nun, jetzt waren wir ausgelassen, das heißt aufeinander los- 
gelassen." Gottin lachte über das ganze Gesicht wie ein Schul- 
junge und antwortete: „Nun, bringt man denn Damen und 
Herren in diese Salonkäfige nicht zusammen wie Männlein und 
Weiblein nach Gottes Willen in die Arche Noah? a 
„Die Gesellschaft trennt doch eigentlich die Menschen," sagte 
Ludwig. 

„Aber dabei macht die Gesellschaft gerade die notwendige 
Gelegenheit, damit die Männlein ihre Mannheit und damit 
die Fräulein ihre Fräuleinschaft loswerden, denn darauf kommt 
es an. u 

„Darauf kommt es an?" 

„Worauf denn? Wenn die Paare tanzen, so ist das ihr springen- 
der Punkt" 

„Und das Gespräch? Die Unterhaltung?" 
„Ei was, damit man ein Fräulein eben überzeugt, daß sie mit 
einem getrost ihre Fräuleinschaft durchbringen kann. Leider 
Gott sei Dank sind wir keine Wilden mehr, [die jihre Damen 

28i 



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mir nichts dir nichts auf den Rücken nehmen und in den näch- 
sten Busch tragen." 

„Aber das ist doch alles ganz unmöglich, Herr Leutnant." 
„Sie meinen, es geht also bloß ums Heiraten? Ich wenigstens 
bin auf dem Ohr taub. Was ich brauche, das hast du und was 
ich geben kann, macht dir Vergnügen. Das verstehen alle." 
„Ist das Ihr Ernst?" 

„ Ja, möchte ich denn sonst überhaupt ein Wort verlieren ? Das 
heißt doch der Tanz und nichts anderes! Eine hübsche äqui- 
voke Bewegung, ein pas de deux, um mit Gebärden auszu- 
drücken, was man meint, und die hübscheste Sprache, die man 
für beide Geschlechter erfinden konnte, damit sie nicht unnütz 
Worte machen müssen." 
„Und jedes Mädchen verstünde das so?" 

„Jede!" Gottin schlug Mainone kräftig auf die Schulter und 
trat in vorschriftsmäßiger Haltung zu den Tanzenden ins Zimmer. 
Ludwig sah ihn vor Corona eine respektvolle Verbeugung ma- 
chen und gemessen den Tanz beginnen. 

Beim „Sir Roger", einem Matrosentanz, der damals gerade be- 
liebt und wegen seiner Ausgelassenheit wie alle diese auslän- 
dischen Tänze anfangs auf den öffentlichen Bällen gar nicht 
erlaubt war, flogen die Mädchen wirbelnd von einem Arm in 
den andern und kreisten wild an der Seite ihrer Tänzer über 
die niedergebückten, händeklatschenden übrigen Paare hin, 
um ihrerseits sich ebenso zu bücken und die nächsten vorbei- 
rasen zu lassen. Dabei lösten sich die Haare aus den Frisuren 
und flogen in die Stirnen und Schläfen, die Schleifen flatterten, 
Corona spürte, daß ihr einer der Tänzer mit einem ungeschick- 
ten Tritt an ihrem Rocke eine Falbel abgerissen hatte. Sie 
trat unbemerkt zur Seite. Sie hatte vorsorglich in einem kleinen 
Taschennecessaire Zwirn und Nadel bei sich und suchte ein 
leeres Zimmer auf, um den Schaden zu flicken. 
Sie fand sich in dem stillen abseitigen Schlafraum der Woh- 
nung, als in dem letzten der Zimmerflucht. Ungestört richtete 
sie ihre Toilette und war eben fertig, als Wasserporten eintrat 
und mit einem halblauten Ausruf erschrak, da er sie bemerkte. 
„Sie hier, gnädiges Fräulein?" 

„Und Sie?" gab Corona zurück, erklärte sich aber gleich, sie 
habe in aller Eile einen Schaden an ihrem Kleide genäht' 
Lachend gestand Wasserporten, er sei aus ähnlichem Grunde 

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hierhergekommen, ihm sei Dämlich der oberste Knopf seines 

Waffenrockes abgesprungen, und er habe gehofft, hier eines 

der Dienstmädchen zu finden und zu bitten, ihm den Knopf 

anzunähen, damit er sich wieder zeigen könne. 

Gutmütig sagte Corona: „So geben Sie mir den Knopf, ich 

will ihn Ihnen gleich annähe n. tf 

„Wissen Sie auch, was Sie tun?" 

„Was tue ich denn Besonderes ? tf antwortete Corona arglos 
und hatte schon die Nadel eingefädelt, nahm den Goldknopf, 
Wasserporten setzte sich auf die Chaiselongue, und Corona 
nähte ihm langsam und sorgfältig den Knopf an, umwindelte, 
als sie fertig war, noch ein paarmal die Öse, probierte, ob er 
fest saß, dann bückte sie sich in einer schlechten Angewohn- 
heit, um den Faden abzubeißen. Dabei kam ihr Haupt mit 
dem Übermaß seines goldenen Haares so nahe an Wasser- 
portens Gesicht, daß ihn der Duft dieser Fülle, der heiße Wohl- 
geruch des jungfräulichen Körpers, der über ihn gebeugt war, 
betäubte, verwirrte. Er ergriff sie. Sie spürte sich plötzlich 
von seinen Armen umfaßt, seine Lippen auf ihrem Nacken, 
ihrem Halse. 

Mit einem entsetzten leisen Aufschrei, den sie, rasch gefaßt, 
sogleich unterdrückte, stieß sie ihn von sich, richtete sich auf, 
st and blutübergossen und am ganzen Leibe zitternd vor ihm. 
Auch er erhob sich sogleich und sah sie verlegen mit einem 
ängstlichen Lächeln an. 

„Was haben Sie getan!" Sie hatte noch nie etwas Ähnliches 
erlebt oder nur geahnt Darum konnte sie auch nichts Hef- 
tigeres sagen, obgleich ihr das Herz bis zum Halse schlug. 
„Tausendmal Verzeihung, gnädiges Fräulein. Aber wissen Sie 
denn, was Sie getan haben? Hier in einem abgelegenen Zimmer 
mit mir allein, mit einem fremden Mann, in einer solchen Lage ! u 
„Ich habe Ihnen einen kleinen Dienst erweisen wollen und 
dafür . . . tf Sie konnte den Satz nicht aussprechen. Sie kämpfte 
mit den Tränen und verbiß das Weinen, indem sie ihr Taschen- 
tüchlein zusammenpreßte. 

„Ich weiß nicht, ob irgend ein anderer es anders gekonnt hätte 
an meiner Stelle. Verzeihen Sie mir. Aber ich kann mich 
nicht anders entschuldigen, als daß ich Sie liebe." 
Dabei sah er sie aufrichtig und bewegt an. Sie senkte ihren 
Blick, wandte sich gleich von ihm ab und floh.' 

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An der Türe draußen stand die breite braune Frau Doktor 
Gödl. Corona bemerkte sie gar nicht, sondern stand, der Ge- 
fahr entronnen, in diesem auch noch Halbdunkeln Zimmer, die 
Hand an die Brust gedrückt, als müßte man deren Schlag hören, 
wenn sie sie nicht hielt 

Plötzlich tauchte, ungeheuer groß wie ein Gespenst, Raimund 
Hebenstreit vor ihr auf. 

„Was machen Sie denn hier? Da gehören Sie gewiß nicht her, 
Fräulein Corona, kommen Sie, tf faßte ihren willenlosen Arm 
und zog sie in die Helligkeit und in den Lärm der vollen Räume, 
während die braune Gestalt stehenblieb und den Kopf schüt- 
telte und wartete, bis Wasserporten auch herauskam. Dann 
wußte die Doktorin Gödl ihre Wissenschaft mit einer genialen 
Witterung auf drahtlosem Wege ihren Töchtern und wohl auch 
noch anderen sinnesverwandten Seelen mitzuteilen. 
Wasserporten, der das Begangene irgendwie gutzumachen und 
Corona abzubitten hoffte, sah sich unversehens vom General 
Hebenstreit aufgehalten und in ein Gespräch verwickelt Er 
mußte in gehorsamster Spannung „habt acht u stehen und Heben- 
streits leutselige Laune mit den richtigen Stichworten erwidern. 
Er stand wie auf Nadeln. Er sah Corona allein vorbeigehen und 
still in eine Zimmerecke treten. Dann kam eine Damenwahl 
mit Kotillon als Kehraus. Er wurde von Anna Lenk abgeholt 
und sah sich gleich in den mannigfaltigen Wirbel des Spiel- 
tanzes gerissen, ohne mit Corona zusammenkommen zu können. 
Wie mit einer geheimen Absicht führte der kleine Martin den 
Kotillon und die Paare durch alle Verschlingungen und Ver- 
wicklungen aneinander vorbei, löste und verband sie wieder, 
aber immer so, daß Wasserporten und Corona weit voneinander 
blieben, Corona mußte mit Raimund diesen endlosen, qual- 
vollen Kotillon tanzen wie mit einem klappernden Gerippe, sie 
mußte seinen eigentümlichen, glotzenden, fragenden Blick er- 
tragen, sie mußte zwanzig Hände fassen, heiße, fest zugreifende 
Männerhände, kleine lose Frauenhände, die sie flüchtig berühr- 
ten und wieder ließen, sie mußte wie durch ein Fegefeuer von 
taumelnden Gestalten — denn es brannte vor ihren Augen — 
an jungen Leuten, an älteren vorüber, immer zu diesem hageren 
Schatten von Raimund zurück, der sie mit hartem Griff zurück- 
nahm, um sie wieder zu neuen Gruppen, an den alten, lachen- 
den, grinsenden,* höhnenden Gesichtern vorbei zu neuen Ver- 
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schlingungen und Figuren mit anderen Nachbarn zu entlassen. 
Sie bekam Orden zum Verteilen, sie ging wie im Traume von 
einem ihrer Tänzer zum anderen und heftete diese Orden an. 
Die Tänzer verteilten wieder kleine Blumensträußlein. Ihr war, 
als blickte sie jeder und jede neugierig, höhnisch, verachtungs- 
voll an, sie vermied es, den Leuten ins Gesicht zu sehen. 
Vom Tanz erlöst, war sie von neuem gepeinigt, als sich nach 
dem endlosen Kotillon die Gesellschaft zum Fortgeben an- 
schickte. Alles defilierte vor den Eltern der jungen Leute, um 
Abschied zu nehmen, vor den Gödls, vor der Mutter Martin, 
vor der Oberstin Lenk, vor dem lüstern meckernden Amlacher, 
endlich vor dem Hebenstreitschen Paare. Es schien Corona, 
als sähe sie jeder mit eigentümlichen Blicken an, besonders 
diese breite, braune Mama Gödl, nur die Frau Doktor Mainone 
breitete beide Arme entzückt aus und umarmte sie: „Nun bleibst 
du aber noch eine gute Weile still, damit du nicht erhitzt in 
die Kälte hinauskommst, meine süße kleine Corona, meine 
anvertraute Tochter. Ich bin ja als Vizemama für £ich verant- 
wortlich, liebes Kind." Dies sagte sie, indem sie sich, Billigung 
und Bewunderung für sich und ihren schönen Schützling fordernd, 
zur Generalin Hebenstreit wandte. Die nickte kurz, lächelte 
nebensächlich höflich und schien Corona nicht weiter zu be- 
achten. Sie nahm ihren Handkuß ohne besondere freundliche 
Bemerkung entgegen. Andere drängten sich vor. Die Herren 
reichten den Damen die Mäntel und halfen ihnen im Vorzimmer, 
sich richtig zu vermummen. Corona wußte sich eilig und un- 
bemerkt hinauszuflüchten und wollte allein in ihren Mantel 
schlüpfen. Da stand aber schon wieder dieses Gespenst, der 
Raimund, hielt ihr mit einer ritterlich entsetzlichen Miene den 
Mantel entgegen und zwang sie, sich von ihm helfen zu lassen. 
Sie stand vor dem Spiegel und bemühte sich, zitternd ihre weiße 
Theaterhaube auf dem verwirrten Haar festzustecken und sah 
im Glase Wasserportens Gesicht mit verlegenem Lächeln das 
ihrige suchen, so daß sie selbst vor dem Spiegel ihre Augen 
niederschlagen mußte, um die seinigen zu vermeiden. 
Endlich konnte sie glücklich an Frau Doktor Mainones Seite 
über die Stiege hinabgehen. Im Freien hing sie sich an ihren 
Arm — Grund genug für die Vizemama, sich stolz zu fühlen, 
daß „die Schönste im ganzen Land", wie sie sagte, ihr anver- 
traut war. — Wasserporten versuchte neben sie zu kommen, 

28 S 



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t 



Corona fühlte und fürchtete seinen Schritt hinter sich, da rief 
ihn die Anna Lenk. Während dieser Pause, die den Baron bei 
den Töchtern des Obersten zurückhielt, eilte Corona mit ihrer 
Vizemama und Ludwig voran. Ein Einspänner fuhr vorbei, die 
Doktorin rief ihn an und schob Corona hinein, da war sie end- 
lich in dem kleinen Fuhrwerkskasten gefangen und befreit. 

Noch vor diesen Winterunterhaltungen hatte an einem schönen 
Septembertage August Erath der Ältere seinen achtzigsten Ge- 
burtstag gefeiert. Charlotte hatte ihn in den letzten Jahren nicht 
nur den Amersins, sondern auch Elisabeth und ihren Kindern 
unmerklich, aber stetig entfremdet und ferngehalten. Sie konnte 
dies, weil in allen Familien mit dem Heranwachsen der Kinder 
und der Sorgen jeder mehr mit sich und den Seinen zu tun 
fand und sich bei aller Liebe zum alten Herrn und Oberhaupte 
auch ohne häufige Besuche leichter mit dessen steter, sicherer 
Gesundheit beruhigte. Empfing er doch an jedem Sonntage in 

seinem kirschholzenen Arbeitszimmer die Enkel seit dem 

Zwist mit Amersin freilich nur mehr die Frantzlschen Kinder — , 
aufrecht in seinem Lehnstuhl sitzend und mit freundlich fernem 
Blick, und reichte ihnen aus der einen Lade das Vierkreuzer- 
stück, nachmals, als die neue Währung kam, zehn Heller, aus 
der anderen die „Korsikaner". Hinterher lächelten sie freilich 
und machten ihre respektvollen Witze darüber. Aber wenn sie 
vor ihm waren und seine ständige Frage, ob sie schön brav ge- 
wesen seien und in der Schule ordentlich lernten, gehorsamst 
bejahten, war es ihnen doch so angenehm feierlich zumute wie 
in der Kirche, die auch allzumal gleich alt und vertraut ist. 
Bei dieser Gelegenheit kam meist wohl auch Elisabeth, und er 
berührte flüchtig ihre Stirne, nachdem sie ihm die Hand geküßt 
hatte. Elisabeth wußte eigentlich kaum, warum sie schon seit 
etwa zwei Jahren nicht mehr wie sonst, wenn es ihr nach Trost 
und Aussprache, nach einem Rat oder einem bißchen Familien- 
gelächter ums Herz war, in ihr altes Mädchenzimmer zu Char- 
lotte schlüpfte und längst nicht mehr die ausführlichen und 
vertraulichen Dämmerungsgespräche führte wie ehemals. Un- 
merklich, aber langsam waren auch diese zwei überlebenden 
Schwestern voneinander weggewachsen. Auch Charlotte hatte 
ihren großen Kummer erleben müssen, als Amberg, ihr lang- 

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jähriger kluger Freund, den sie und mehr noch die Ihrigen als 
ihren sicheren Bräutigam ansahen — es war nun auch schon 
lange her — , eines Tages von Wien fortgegangen war, ohne 
Charlotte mitzunehmen. Er hatte in der Provinz eine ansehn- 
liche politische Stellung erreicht, zu der er eine angebüch sehr 
schöne, junge und reiche Person heiratete. Ob und wie er sich 
darüber und über seinen plötzlichen Abschied mit Charlotten 
auseinandersetzte, blieb in der Familie unbekannt und aus all- 
gemeinem Stolz, aus Rücksicht und Verdruß auch unbesprochen. 
Charlotte wurde härter und zorniger als früher und bekam 
scharfe Züge. Der jüngere August Erath, bei seinen Bahn- und 
Straßenbauten viel über Land, war der einzige, der Charlotten 
immer brauchte und mit dem sie ihre Sorgen teilte. 
Im alten Hause Frantzl stand auch nicht alles wie es sollte. 
Wieder einmal war ein arger „Seidenkrach u im Zuge. Jüngere, 
schlauere uod wohl auch gewandtere, wenn schon nicht eben ge- 
wissenhaftere Emporkömmlinge hatten mit fremdem, zusammen- 
gebrachtem größerem Kapital mächtige Unternehmungen ge- 
gründet, irgendwie ihren Rohmaterialbezug wohl auf Kosten der 
Beschaffenheit verbilligt, ihre Erzeugung erweitert und gemach 
die alte, solide, aber schwerfällige Konkurrenz, wo es nur an- 
ging, verdrängt Sie standen in Verschwörung und Bündnis mit 
den gerade damals aufschießenden Warenhäusern und versperr- 
ten allgemach den scheu gewordenen, unsicheren Wettbewer- 
bern, den alten Firmen, den Markt 

Auf die modernen Kunststücke der Konkurrenz verstand sich 
denn freilich das Frantzlsche Haus nicht Mit dem Tode des 
alten Christian Frantzl war ja auch die unbestrittene großartige 
Würde der alten Firma dahin. Die Söhne, mehr allgemein als 
geschäftlich begabt, waren tüchtigere Sachverständige als Kauf- 
leute. Sie kannten sich bei ihren Maschinen und bei der rich- 
tigen Erzeugung ihrer Ware aus. Spekulieren oder auch nur 
die neuen Methoden von Kapital- und Kreditbeschaffung, von 
Bankverbindung und Kundenfang betreiben, war ihnen fremd. 
Sie lächelten zwar darüber, aber mit jedem Jahre bitterer und 
trotziger, denn die Sprache ihrer Geschäftsbücher verstanden 
sie doch, und daß es nicht nur merklich, sondern schleunig mit 
ihnen abwärts ging. Sie glitten unaufhaltsam hinab, und wenn 
die Brüder — Heinrich war der älteste unter ihnen — in ihrem 
tiefgelegenen, dunkeln Kontor einmal in einer ruhigen Stunde 

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zusammenkamen, es geschah ohnedies selten, denn sie teilten 
sich in die vielfachen Obliegenheiten des Geschäftes in Wien, 
der Fabriken in der Provinz, wenn sie also einmal ihre Scheu 
überwanden und alles Schwere besprachen, konnten sie immer 
nur den Kopf schütteln und einander bekümmert ansehen: „Ich 
habe keine Schuld!" Trank oder spielte einer von ihnen? Ging 
einer auf den Turf und wettete oder unterhielt etwa kostspielige 
Frauenzimmer? Oder lebten sie über ihre Verhältnisse? Je nun, 
sie brauchten ja für ihre Familien ziemlich viel Geld bei der 
Teuerung und bei den gerechten Anforderungen, die Kinder, 
Frauen, Gesellschaft an einen Herrn des Frantzlschen Hauses 
stellen durften. Sie nahmen es immer aus der Kasse, aus den 
laufenden Einnahmen, und es fehlte dann oft genug imBetriebe. 
Aber war das irgend ein unerlaubter Aufwand? Sie brauchten 
kaum mehr, als ein leitender Angestellter eines gleichartigen 
Geschäftes sonst Gehalt bekommen hätte, sie erzogen ihre Kin- 
der gut, aber nicht unbescheiden, sie leisteten sich ihre Lieb- 
habereien, kleine ehrbare Passionen, Musik, Theaterbesuch, ein- 
mal im Jahre ein Reischen, den Ihrigen einen Sommeraufent- 
halt auf dem Lande, wahrlich nichts Großartiges. Und dochl 
Sie waren ehrlich, fleißig, genau, aufmerksam ! Und trotzdem I 
Daß sie nicht findig, nicht gewandt, nicht schlau, vielleicht auch 
nicht gewissenlos und gierig genug waren, um sich in der neuen, 
fremden Zeit zu behaupten, wußten sie wohl gar nicht, konnten 
es aber auch weder eingestehen noch bessern. Sie sahen sich 
immer härter abgetrieben durch den Strom der Zeit, und ihre 
Kraft nahm mit den Jahren natürlich ab. Nun waren sie vor 
dem Zusammenbruch, und es handelte sich nur darum, wie man 
ihn von einem halben Jahre auf das nächste hinausschob. 
Der alte Erath hätte vielleicht beispringen können, denn sein 
Geschäft, obzwar immer mehr verengt und verringert, erhielt 
sich ganz gut. Vielleicht kam dies von Chlarlottens schlauer 
Feigheit und Abneigung, in das alte Wesen mehr Kapital zu 
stecken, als ohnehin schon darin war und unbedingt darin bleiben 
mußte, wahrscheinlich aber daher, daß sich der alte Erath mit 
seinem oft verspotteten Eigensinn durchaus auf die Erzeugung 
immer derselben bunten und geblümten Bänder, der flatternden 
Wimpel seines Hauses, beschränkte, die seine Frau einst an- 
geblich erfunden haben sollte. Sie wurden nur von den Bauern 
draußen, aber von allen, von deutschen und slawischen, in Tirol 
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I 



wie in Kroatien, in Galizien und in Siebenbürgen begehrt und 
gekauft und vorläufig immer noch bei ihm bezogen. Der Kon- 
kurrenz mochte gerade dieser unscheinbare grüne Zweig der 
Erzeugung zu gering vorkommen, sie fand sich nicht angeregt, 
diesen eigensinnigen, alten, übrigens kleinen Betrieb unterzu- 
kriegen, sie hatte vorläufig mit den Städten genug zu tun und 
wollte den Bedarf der großen Mode befriedigen, den Massen- 
markt an sich reißen. Dabei war ihr gerade das Haus Frantzl 
im Wege, daher unterminierte sie es. So blieb Erath in gutem 
Frieden links liegen und wußte eigentlich gar nichts von der 
Gefahr, die das älteste Neubauer Haus bedrohte. Aber Erath 
war keiner, dem man sich so leicht anvertrauen konnte, dazu 
waren die Frantzlschen Söhne auch zu stolz, denn selbst in ihrer 
Krise war ihr Haus mehr als der kleine Erathsche Betrieb. Erath 
war wohl härter als ihr Gewissen, oder er erschien so hart aus 
dem alten Holz geschnitzt mit seiner sprüngigen, weißen, birken- 
rindenzarten, gesund geröteten Haut und mit seiner aufrechten 
Haltung. Sie hatten auch wenig vertraulichen Umgang, gar keine 
Gelegenheit zu gewissermaßen zufälligen Aussprachen mit ihm. 
Aber eigens zu ihm zu kommen in das Kirschholzene und vor 
ihn zu treten, der aufrecht in seinem Stuhle saß, wie es von 
den alten deutschen Richtern im Sachsenspiegel hieß, gleich 
einem steinernen Löwen, vor ihn, der mit seinen hellen, kühnen 
Augen fremd und freundlich durch jeden Gast hindurchsah, 
ohne daß man bestimmt wußte, was er dachte und beschloß, 
nein, das konnte Heinrich nicht Die anderen Brüder waren ja 
dazu noch weniger berufen. Oh, es gibt einen bittern Rangstreit, 
wenn mehrere etwas Bitteres auszulöffeln haben, wer zuerst den 
Mund auftun und hinunterschlucken soll. 
Auch das war ein Grund, warum man mit dem Erathschen 
Hause immer mehr außer Fühlung kam. 
So bedurfte es erst eines besonderen Anlasses, um die ganze 
Familie, wie überhaupt ften großen alten Anhang des Erathschen 
Hauses wieder einmal zusammenzubringen. Und das war eben 
der achtzigste Geburtstag. Wenn Charlotte den Vater auch 
mit Willen von Elisabeth und den Ihrigen, geschweige denn 
von den fast schon vergessenen Amersinschen Kindern abhielt, 
sie hatte zu viel von dem alten bürgerlichen Familienstolz und 
Repräsentationsbedürfnis, als daß sie diesen Tag ohne Feier- 
lichkeit hätte vorübergehen lassen mögen. Zudem kannten ja 

Stoessl, Du Haus Erath ig 289 



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die Freunde des Vaters, seine Wandergenossen das nahe Datum / 
Er selbst nahm noch tagtäglich um dieselbe frühe Nachmittag- 
stunde seinen Haselstock und trat in der Lodenjoppe, das 
Jägerhütel ein bißchen schief auf dem dichtbewachsenen, kurz- 
geschorenen weißen Schädel und die kühlen blauen Augen 
scharf in die Ferne gerichtet, seinen Wienerwaldspaziergang 
an, nur daß er abends daheim, nicht mehr oder nur selten 
wenigstens im Gasthaus aß. 

Die Gesellschaft versammelte sich draußen in der „Rohrer- 
hütte u , wo er auf seinen täglichen Spaziergängen am liebsten 
einzukehren pflegte, in einem glasgedeckten Gartensälchen, 
das an diesem Tage für fremde Gäste abgeschlossen und zu 
Ehren des Geburtstagskindes mit Tannenreisig und bunten Pa- 
pierblumen, mit Lampions und einem großartigen Transparent 
verziert war. An der Tafel saßen alle Freunde, sogar ein paar 
halbwegs gleichaltrige, freilich minder rüstig als er, aber auch 
die Angestellten des Hauses, die nahen Freunde des Sohnes, 
der Familie überhaupt, die jungen Frauen von eh, jetzt Mamas, 
sogar Großmamas, die Kinder von eh, jetzt meist schon ver- 
heiratet und gar selbst schon Väter und Mütter. 
Amersin hatte nur durch Zufall erfahren, daß dieses Fest be- 
vorstand. We.der er noch seine Kinder waren dazu eingeladen 
worden. 

„Ei, das wäre nicht übel, wenn ihr dem achtzigsten Geburtstage 
eures Großvaters fernbleiben solltet Zieht euch hübsch an, 
nehmt eure sauberen Sonntagskleider, jedes bringt ihm Blumen 
mit Wenn du meinst, Thea, kannst du mit den Kleinsten auch 
ein Gedichterl oder so etwas einstudieren, und ich setze euch 
in einen Wagen, da werdet ihr hinausfahren." 
So geschah es, sie fuhren allesamt, Thea schon eine liebliche 
vollkommene ernsthafte Lehramtskandidatin und Dame, ihr 
Bruder Franz, in dem Alter, wo seinesgleichen einen perfekten 
Gentlemen vorzustellen eifert, ein grobschlächtiger Bauers- 
mann, der eifrig an etlichen Schnurrbarthaaren zupfte, die sich 
leider nicht weiter hervorziehen lassen mochten, die beiden 
Jüngsten noch halbgebraten und halbgekocht, zwischen zwölf 
und vierzehn. 

Es war eine große Überraschung, als Thea in ihrem lichten 
Sommerkleide mit dem gelben breiten Strohhut und dem bun- 
ten Sonnenschirm zierlich aus dem Wagen sprang, Franz in 

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seinem ersten Bratenrocke, den ersten Zylinder auf dem Kopfe 
und mit seinem verwegenen Gesichtsausdrucke an ihrer Linken 
die Stufen zum Gartenhause hinanstieg, die beiden Jüngsten 
aber, in ihrer Art gleichfalls möglichst vorteilhaft sich gehor- 
samst hinterherbewegten und von oben, von allen Gästen längst 
beobachtet und geprüft waren, ehe sie bescheiden eintraten, 
ihren allgemeinen Knix und Gruß zuerst, dann ihren besonderen, 
feierlichen vor dem Großvater ausführten. Thea zeigte ihre 
natürliche herzliche Freundlichkeit, wie sie zuerst seine Hand 
küßte, dann aber dem Sitzenden mit Lachen einen Kuß auf 
den Mund drückte, als geschehe dies täglich und sei nichts 
zwischen ihnen vorgegangen als höchstens ein Tag. 
Erath lachte denn auch wohlzufrieden und ließ sich diese Über- 
raschung gefallen. Es schmeichelte ihm nicht nur, es beruhigte 
ihn auch, daß diese Kinder, die „armen Waserln tt so sauber 
gehalten und gut geraten vor allen Gästen bestehen konnten, 
und es schien ihm sehr recht, daß sie da waren. Er hatte 
nichts gegen sie, und wenn diese Entfremdung nun einmal be- 
stand, so ließ er sie eben nur bestehen, weil er gegen Char- 
lottens strengen Oberbefehl nichts veranlassen, keine Auf- 
regungen und Kämpfe heraufbeschwören wollte. Nur Ruhel 
Nicht die erste Bürgerpflicht, aber das erste Bürgerrecht, be- 
sonders wenn man alt war! Aber so angenehme Überraschungen 
waren ihm lieb, wie er ja im Stillen gerade an diesem räube- 
rischen Bauernmenschen Franz mehr hing als an allen andern 
Enkeln. Als er diesen großen, starken, keck und überlegen 
dreinschauenden Jungen neben sich sitzen sah, freute er sich 
über ihn doch eigentlich mehr als über alle andern Nächsten. 
Es war ihm ordentlich leiblich warm in der Nähe dieses ver- 
wandten Blutes. Albrecht Frantzl, der ihm ein sauberes gold- 
gerahmtes Landschäftchen verehrt hatte, war ihm viel zu zart 
und still, Corona zu großartig schön, Thea zu gebildet, um 
ihm eine besonders innige Nähe mitzuteilen. Er ließ Franz 
denn auch den ganzen Abend nicht mehr von seiner Seite, 
während Thea sich bald zu Corona und Albrecht fand, und 
er lachte sogar laut und vergnügt — was viel bemerkt wurde 
— als Franz das Angebot einer starken Zigarre, das ihm Hein- 
rich Frantzl spaßeshalber machte, ohne weiteres annahm, die 
dickste und beste mit dem sichersten Griff aus dem Lederetui 
hervorzog und sie wie ein Alter in Brand setzte, kräftig anzog 

19* 291 



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und furchtlos qualmte, denn das verstand er längst und vertrug 
es ohne Anzeichen von Schwäche. Selbst ein Laster gefällt 
uns an einem geliebten Kinde als Zeichen, wie weit es ein so 
junges Wesen schon gebracht hat — sogar bis zu unserer er- 
wachsenen Dummheit. Charlotte beschränkte sich darauf, Theas 
heiteren, wenn auch raschen Gruß kurz zu erwidern, das Mädchen 
hatte in natürlicher weiblicher Politik so freundlich genickt, als 
sei auch mit der Tante gar nichts Besonderes vorgefallen, ja sie 
freute sich im Grunde wieder, mit ihr zusammenzutreffen, denn 
immer fühlte sie stark ihre Zugehörigkeit zu dieser mütterlichen 
Familie, und wenn sie auch in dem Zwiste damals mit der kind- 
lichen Gerechtigkeit ihrer Liebe zum Vater an dessen Seite 
getreten war, empfand sie sich jetzt frei wieder bei den Ihrigen 
und hielt das Vergangene arglos für vergessen. So groß war 
die Macht, welche Charlottens starke Natur auf die Menschen, 
besonders auf ihre Blutsverwandten ausübte. Charlotte beob- 
achtete die Amersinschen Kinder scharf und strenge. Ihr ent- 
ging die Zärtlichkeit nicht, mit der sich der Großvater gegen 
den Enkel Franz betrug, aber auch die Derbheit nicht, die der 
junge Mensch schier geflissentlich zeigte, es erregte ihren Ver- 
druß, ja förmlichen Abscheu, wie er dasaß, er schnitt wie ein 
Bauer alle Bissen auf dem Teller im Vorrat zurecht; damit es 
schneller ging, löffelte er dann gleich alles unter einem zu- 
sammen. Ein stiller sicherer Haß, wie man ihn so tief gleich 
der Liebe wiederum nur gegen Blutsverwandte empfinden kann, 
machte sie dem Buben gegenüber scharfäugig. Thea ähnelte 
wohl in den freundlichen runden Zügen des weichen Gesichts, 
in ihrer unbefangenen gütigen Fröhlichkeit der Schwester An- 
tonie. Wenn Charlotte auch dieser Nichte gegenüber unver- 
söhnlich war, die ihr die bewußte Ohrfeige von ihrem ver- 
haßten Schwager verschafft hatte, mußte sie diese bessere Fa- 
milienähnlichkeit doch anerkennen. Franz aber war der ganze 
Amersin, der Bauer, der „Lackl", nein, der Proletarier, der in 
willentliche geistige Armut und Dürftigkeit zurückverlangende 
Urmensch und rohe Gesell, er verriet in aller Einfalt und in 
allem Trotz, was sie in ihrer Familie am inständigsten haßte 
und fürchtete, wovor sie sich schämte, was sie selbst in der 
Erinnerung auslöschen mochte I Sie konnte sich übrigens auch 
mit Elisabeths Kindern, freilich aus entgegengesetzten Gründen, 
ebensowenig verstehen. Bei aller Freundlichkeit und dem be- 

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scheidensten Benehmen blieben sie gemessen verhalten und 
fremd, Charlotte legte die natürliche Befangenheit dieser zarten 
Menschen als Hochmut aus. Das Mißtrauen findet überall 
seinen Angrund. 

Das Fest verging mit Trinksprüchen und allerhand sinnigen 
Reden voller Anspielungen und beziehungsreichen Wendungen. 
Als es im besten Schwünge war, trat schüchtern ein hoher Mann 
mit einem langen vollen, schon früh ergrauten, ein bißchen 
verwilderten Barte ein, blieb in seinem braunen Lodenmantel, 
den breiten, schwarzen Hut in der Hand, an der Tür stehen 
wie ein Fremder, der vielleicht um ein Almosen bitten will, 
aber noch nicht oft gebettelt hat und sich schämt Thea er- 
blickte und erkannte ihn zuerst und lief ihm gleich zu wie einst 
als Kind, denn sie hatte gerade den „ Alter-Onkel 4 * immer in 
ihr Herz geschlossen. Er sah jetzt ruhig, wie aus einer weiten 
Tiefe, aus seinen braunen, guten Augen, freundlich, trotz allem 
nicht bitter. Ein Hauch von kummervoller Einsamkeit hielt von 
ihm fern, ein unerbetener Schutz. Auch er wurde willkommen 
geheißen. Er war, obgleich immer in Wien, im selben Bezirk, 
in der nächsten Nähe wohnhaft und beschäftigt, doch schon 
für alle Verwandten, geschweige denn für die Bekannten des 
Erathschen Kreises, ein fremder Mann, ein „Zugereister", wie 
Heinrich Frantzl erläuternd bemerkte. 

Erath grüßte ihn lächelnd, als liege auch zwischen ihnen nichts 
mehr, nicht einmal ein großer Verzicht und eine unvergeßliche 
Entsagung. 

Heinrich Frantzl bewegte sich gewandt und spaßhaft wie je 
von Tisch zu Tisch, er brauchte seine Sorgen nicht zu ver- 
bergen, er konnte sie abschütteln, wann er wollte. Mit dem 
Augenblicke spielte er wie ein Kätzchen mit einem hinge- 
worfenen Wollknäuel. Mit jedem Gaste hatte er seinen beson- 
deren Spaß. 

„Hoho, mein alter Alter, mein alter Junge, mein junger Alter, 
bist auch einmal da, wieder einmal, noch einmal, ich habe 
schon nach dir gesungen: bist untreu Wilhelm oder tot und 
bin ums Morgenrot oft aus dem Kaffeehaus, nicht aus bittern 
Träumen gefahren: Prosit Seitenlinie Erath, du darfst dich schon 
noch sehen lassen, schaust wie ein wetterfester Junggesell aus, 
halb Wotan mit Schlapphut und vermutlichem Antialkohol- 
organ, halb fliegender Holländer, aber ohne reiche Schiff s- 

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ladung ! tf Dabei zwinkerte er mit deD Augen, schüttelte den 
Kopf, lachte und machte mit dem ganzen Körper Grimassen. 
August Erath der Jüngere schüttelte Altern gefühlvoll die Hand, 
als verzeihe er ihm alles, auch Charlotte sprach ein paar Worte 
mit ihm, und so saß er denn bei einer Familie, die ihm seiner- 
zeit zwar alles vorenthalten hatte, was er zum Leben brauchte, 
aber doch jetzt die einzige Erinnerung zu bieten hatte, in deren 
kühlem mattem Glanz und Schatten er ruhte, wie sie alle hier 
saßen, mit dem Blick auf die herbstlich gefärbten Wiesen, 
Bäume und auf die dunkeln Anhöhen, die in der blassen reinen 
Abendluft eine neben der andern still dalagen wie lauter Hügel 
über lieben Toten. Die übrigen Gäste lärmten und lachten 
bald und tranken und sprachen durcheinander und hatten ihn 
längst vergessen, auch Erath und die Seinen kümmerten sich 
nicht weiter um ihn und bemerkten gar nicht, wie er sie alle 
zuweilen eindringlich ansah, als suchte er etwas in ihren Mienen. 
Waren es jene längst erloschenen, aber unvergessenen holden 
Züge, die er nun irgendwie, sei's mit einer flüchtigen Anspie- 
lung und einer entfernten Ähnlichkeit wieder zu finden hoffte? 
Wollte er aus Einzelheiten, aus dem Blick eines Auges, aus der 
Linie eines Lippenbogens, aus der Art, wie sich eine schwere 
Wimper hob und senkte, oder aus der Wölbung einer Stirn, 
aus dem sanften Umriß einer Wange, aus einem fliehenden 
Profil, aus allem, was er diesem und jenem Gesichte der Erath- 
schen Leute verstohlen entnahm, ein teueres Bild mühselig zu- 
sammensetzen, das er in seinem Innern doch besser, reiner, 
vollständiger, freilich nur in einer kummervollen, fernen Vor- 
stellung als entrücktes Ganzes wahrte? 

Charlotte schien ihm stark und hart gealtert, in ihrem Blick 
brannte ein peinliches Feuer, er mochte nichts mit ihr zu schaffen 
haben. August blieb ihm gleichgültig, wie je. Der alte Erath 
freilich hatte die scharf ausgeprägten Züge des Greises, aber 
in seinen rosigen Wangen und der zarten Haut, in dem kühlen, 
sicheren Blick lag irgendwie ein Hauch und Abglanz auch der 
fernen hingeschiedenen Seele. Alter erkannte Agnes deutlicher 
in dem alten Manne wieder. Auch in Frau Elisabeths stummer 
Haltung, die ihm gegenübersaß, konnte er eine flüchtige Ähn- 
lichkeit mit Agnes, mit ihrer Fassung und Abweisung wieder- 
erkennen, sie wäre heute freilich noch jünger und schöner ge- 
wesen. Ei, sogar Adam Hirt dienerte sich von einem zum 

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andern, noch kleiner, noch verwachsener und stoppelbärtiger 
als je, denn an den erwachsenen Wangen der jungen Damen 
hier durfte er die seinigen nicht mehr selbstverständlich reiben, 
wie damals beim Schulweg oder sonst bei jeder passenden 
Gelegenheit Darum brauchte er sich auch nicht mehr so genau 
zu rasieren. Er war übrigens längst nicht mehr im Erathschen 
Hause, sondern verzehrte seine geringen Ersparnisse in irgend 
einem dumpfen Mietzimmer, nebenbei immer noch mit Boten- 
gängen und kleinen Vertrauenssachen etwas hinzuverdienend, 
weil man wahrlich keinen andern damit beehren konnte. Für 
die jüngsten Amersins zog er sogar Äpfel aus seiner Rocktasche 
und hielt sich immer wieder vor Albrechts Land schäftchen auf, 
das in einer Ecke lehnte, er kehrte auch im Laufe des Festes 
oft genug vor das Bild zurück, besah es mit eingekniffenen 
Augen, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, indem er bald 
ganz nahe trat, bald mit geneigtem Kopfe rückwärts, und fragte 
den mageren Knaben, dessen Stimme jetzt freilich schon ganz 
ungewohnt männlich klang, viel aus nach dem Gegenstand und 
nach der Malerei im allgemeinen. Das Bild zeigte einen Tal- 
winkel südlich von Weidlingau, am Wege zur „Baunzen": matt- 
grüne Wiesen, von waldigen Höhen der Thiergartenberge ab- 
geschlossen, unter einem blauen, silberwolkigen Sommerhimmel, 
das Ganze überhaucht von diesem eigentümlich schwärmerisch- 
lächelnden Landschaftsglück, das auf der ganzen Welt wenig- 
stens einem Wiener Menschenkinde wohl nur der Wienerwald 
entgegenhalten und das nur ein Kind dieser Gegend überhaupt 
und vielleicht nur als Kind so recht inständig sehen und malen 
konnte. „Nun, bist du auch zufrieden mit dir, lieber Albrecht ? M 
fragte Adam, „du kannst es schon sein, mit deinen Jahren hast 
du es weit gebracht, scheint mir. tt 

„Na, na, Adam, so so, la, la, ist doch alles flau und lau, ich 
möchte ganz andere Sachen malen, ganz andere. Weißt du, 
nichts so Enges. Man stößt sich ja die Stirn an dem nahen 
Horizont Die Welt ist wie mit Brettern vernagelt Weite Ebenen, 
das weite Meer, den uferlosen Himmel, das möchte ich malen, u 
dazu machte Albrecht eine Schwimmbewegung seiner beiden 
mageren Arme und spreizte deren dünne Finger, als wolle er 
die begehrte Unendlichkeit überall einlassen. 
„Nun, warum denn nicht, nur los! Wer verbietet es dir denn?" 
„Ja, man müßte es nur eben auch können, lieber Adam. tf 

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„War* nicht übel, war' nicht übel," antwortete der Alte ärger- 
lich, als könnte Albrecht selbstverständlich überhaupt alles, was 
er nur wollte. 

Daß Albrecht sich selbst bezweifelte, schien dem alten Hirt so 
anfaßlich und ungerecht, daß er, lange unwillig nickend, sich 
kopfschüttelnd von dem Jüngling entfernte und zu Corona vor- 
beugte, über ihre Schulter guckte und, schelmisch nach dem 
Bilde nickend, ihr bedeutete, was denn sie dazu meine. 
Corona sah ihn voll an und lächelte glücklich. Da war Adam 
denn beruhigt und lachte: „Na ja, das glaub' ich auch! Mit 
siebzehn Jahren ! Bitte ! tt 

„Notabene," zog Heinrich Frantzl, der zufällig hinter Adam Hirt 
getreten war, sein Gesicht in strenge Falten: „notabene ohne 
Unterricht, alles von Natur, von alleene, hast du übrigens sein 
Maturitätszeugnis gesehen? Nein? Wirklich nicht? Aber das 
ist doch! Warum kommst du, Adam, alter Adam, alter Sünder, 
geschätzter Gönner unseres Hauses, warum kommst du nicht 
und siehst dir derlei an Ort und Stelle an? Matura mit Aus- 
zeichnung! Und Maler dazu! Aber, du verstehst, man kann nicht 
von lauter Bonbons satt werden. Man muß einen grünen Zweig 
nicht nur malen, sondern auch darauf kommen. Nun, hoffen wir, 
daß er so vernünftig bleibt tt Damit schwenkte er wieder ab. 
Nachdem allseits befriedigenden Verlauf dieses letzten Familien- 
festes der Eraths nahm Charlotte wahr, wie ihr alter Vater plötz- 
lich verfiel. Er schlief ein, wenn er sich einmal niedersetzte, er 
gab verkehrte Antworten auf ihre Fragen, er fragte selbst wieder- 
holt, was sie ihm oft schon beantwortet hatte, und immer so, als 
ob sie ihm das Gegenteil gesagt hätte, er aß und trank nur mehr 
wenig und mit Unlust, er saß in seinem kirschholzenen Arbeits- 
zimmer teilnahmslos und gab keine Aufträge mehr für den Be- 
trieb, dafür beschäftigte er sich in seinen traumhaften Gedanken 
und Halbschlummerzuständen viel mit der Vergangenheit. Er 
unterhielt sich mit den Dahingeschiedenen — als wären sie bei 
ihm — über allerhand eingebildete oder lange zurückliegende 
Einzelheiten des einstigen Familienlebens, mit seiner früh ver- 
storbenen Frau Sabine, mit Antonie über Theas Kräuterbäder, 
die man dem Kind im ersten Lebensjahre hatte bereiten müssen, 
oder über ein Tapetenmuster ihrer Wohnung, das längst einem 
anderen und einem dritten Platz gemacht hatte, wie die Woh- 
nung selbst jetzt schon seit Jahren von fremden Leuten besetzt 

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war. Er sprach mit Agnes und lächelte dabei. Er glaubte sich 
auf Wald Spaziergängen mit Amersins ältestem Buben Franz, den 
er ja sehr oft mitgenommen hatte. Ebenso häufig unterhielt er 
sich mit Elisabeth, aber als mit der ganz jung verheirateten 
Tochter von ehedem. 

Aus diesen Anzeichen entnahm Charlotte, daß er vor der Auf- 
lösung stand. 

Sie wollte ihn zu einer letzten bindenden Anordnung über sein 
Vermögen bringen, und zwar in ihrem Sinne. Sie wollte das 
Erathsche Haus und Gut und Erbe den einzigen erhalten, die 
noch wahre und wirkliche Eraths waren: sich und ihrem Bruder 
August. Es ist schwer zu sagen, ob und wieweit sie sich des 
Vergehens bewußt war, das sie gegen Elisabeth und deren Fa- 
milie, gegen die mutterlosen Amersinschen Kinder, gegen ihre 
Geschwisterkinder, gegen die Kinder der doch von ihr sehr ge- 
liebten Antonie verübte. Sie wäre aber nicht die starke und 
entschlossene Person gewesen, die das ganze Haus Erath seit 
Jahren beherrscht und gelenkt hatte, wenn sie für ihr Vorhaben 
nicht auch den Vorwand einer Art guten Gewissens gefunden 
hätte. Ihr galten beide Schwestern, jede in anderer Weise, aus 
der Art geschlagen, seit sie geheiratet und die angestammte 
Familie gegen eine fremde vertauscht hatten. Irgendwie muß 
wohl in manchen Menschen noch stark und von Natur jenes 
Bewußtsein als Quelle eines tiefen, allgemeinen, wenn auch 
längst aufgegebenen, weil abgelebten Rechtsgefühles rege sein, 
das für die Römer nur die väterliche Familie als erbberechtigt 
anerkannte, während die Frauen, die in ein anderes Haus über- 
gegangen waren, von ihrem elterlichen als ausgeschieden und 
ausgeschlossen galten. Dieser Wunsch Charlottens war seiner- 
zeit vor manchem Jahre durch den Juristen Amberg geweckt und 
deutlich gemacht worden, und wenn ihr der Zweck ihres Han- 
delns eigentlich längst genommen war, so ersetzt einem zweck- 
losen Leben eben das Mittel den Zweck. 
In diesem Erathschen Vermögen lag für Charlotte der ganze 
letzte Sinn ihres Lebens. Nur so konnte sie die Anerkennung 
ihrer Person vor aller Welt erwirken, wenn sie als die einzige 
berechtigte und wahre Erbin des Hauses Erath dastand, wenn 
durch den Spruch ihres eigenen Vaters erklärt war, nur ihr und 
ihrem Bruder, als den einzigen treugebliebenen Eraths, gebühre 
das Erbe, den anderen ungetreuen und abseitigen Gliedern bloß y 

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der unumgängliche Rest Das Gesetz sollte ihr verschaffen, was 
ihr das Schicksal vorenthielt: die Herrschaft über eine eigene 
Familie, die volle Geltung als Weib, als Gründerin oder Wah- 
rerin eines Hauses, das ihr Wesen, das Erathsche Geschlecht 
rein und unverkümmert zeigte. Daß sie dieses Gesetz nur durch 
eine dreiste Verletzung und Beugung zu einer so unnatürlichen 
Folge bringen konnte, focht sie nicht weiter an. 
Jedem Verbrechen liegt eben irgendwie eine angeborene Schuld 
des Gehirns, ein Mangel des Denkens zugrunde, welches sich 
nicht in das Rechtsgefühl des Nächsten, geschweige denn einer 
Gesamtheit versetzen kann, gegen das es verstößt 
Sie betreute in diesen Tagen den Vater mit besonderer Be- 
flissenheit, sie sorgte dafür, daß er seine Lieblingsspeisen be- 
kam, sie hielt mit dem besten alten Rheinwein nicht zurück, 
von welchem seit je ein bescheidener Vorrat im Hause gehalten 
wurde, und überbrachte ihm am Vormittag ins Kirschholzene 
auf einem silbernen Tablett höchst eigenhändig — angenehm 
und hausfraulich angetan und mit zärtlichem Lächeln — einen 
grünen Römer Weines zu einem guten Bissen gebratenen Huhns 
oder saftigen Schinkens, ebenso schenkte sie ihm zu Mittag und 
Abend davon ein, was er sich, an ihre sonst strengere Vormund- 
schaft gewöhnt, ganz gern gefallen ließ. Bei diesen Gelegenheiten 
kam sie wiederholt und offener, als sonst bei dem Achtungs- 
abstand, den auch sie dem alten Herrn gegenüber einzuhalten 
pflegte, üblich, auf das Testament zu sprechen. Zwischen dem 
Vater und den Kindern wechselte die Art der Anrede, je nach 
dem Anlaß. Bei gewöhnlichen Unterhaltungen sagten die Kinder 
du zu ihm und Vater, wenn es etwas besonders Ernsthaftes und 
Bedeutendes galt, fielen sie ohne eigentliche Weisung wohl in 
die feierliche Gewohnheit ihrer Jugend zurück und sagten ihm 
dann „Sie". 

So fing sie jetzt mit ehrerbietiger Schmeichelei an: „Nun, Vater, 
wir haben ja schon mehrmals davon gesprochen, aber es immer 
wieder verschoben, jetzt sollte es doch wohl der Sicherheit und 
Ordnung wegen endlich geschehen, daß Sie Ihren letzten Willen 
schreiben, denn sonst könnte es kommen, daß irgend einmal 
alles in Verwirrung gerät, daß niemand weiß, was ihm gehört und 
gebührt daß jeder um seinen Pflichtteil gebracht ist gar, daß sich 
unberufene Fremde, das Gericht oder wer weiß sonst noch ein- 
mengen, die in unserem Hause wirklich nichts zu suchen haben." 

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„Wen geht denn mein Haas und mein Geschäft und mein Geld 
an, wer darf sich da einmischen? Ich habe allein darüber zu 
bestimmen,** murmelte Erath beleidigt. 

Charlotte hatte nicht ohne Absicht das Wort „Pflichtteil** so 
gebraucht, als bedeute es nichts anderes, als wasjedem rechtens 
gebühre, nicht was es dem Gesetze nach heißt; das unbedingt 
zu Wahrende, wenn einzelne der nächsten Erben bevorzugt, die 
anderen aber durch die Willkür des Erblassers verkürzt werden 
sollten. 

Erath wollte, wie alle am Leben leidenschaftlich hängenden 
Menschen, an seinen Tod nicht erinnert werden, sie konnte ihn 
nur bei seiner eigenwilligen Herrschsucht packen und bei sei- 
nem Stolz, der die Verfügung über das Seinige verlangte. Das 
Lebensgefühl herrscht sogar von Todeswegen. 
„Das sag* ich auch, Vater, wer sollte in unsere Dinge dreinreden 
dürfen, wenn Sie nicht mehr da sind und entscheiden können. 
Es wird ja noch lange nicht sein, der liebe Gott wird Ihnen 
noch viele Jahre schenken und uns Kinder verschonen, aber 
wenn Sie nicht ausdrücklich verfügen, kann der Staat weiß der 
Himmel was einziehen und alle Bücher prüfen lassen. Die Steuer- 
behörde schnüffelt so schon in alles drein, wenn sie wo was 
wittert. Bei einem verfügungslosen Nachlaß greift sie zu und 
steckt womöglich alles ein.** 

Der alte Mann überlegte: „Ich werde schon sehen, bis ich nur 
dazukomme.** 

Sie zog ab, nachmittags jedoch, als Erath durch sein Schläfchen 
gestärkt war und seine Pfeife rauchte, brachte sie ihm an den 
Tisch des Wohnzimmers das Schreibzeug, Tinte, Feder und 
sauberes, geradezu verlockendes Kanzleipapier und küßte seine 
Hand; „Jetzt laß ich aber dem Vaterl keine Ausrede mehr, 
es ist wirklich Zeit, und der Vater darf mir nicht früher aus dem 
Zimmer gehen, als bis er mir das Testament hier selbst abge- 
schrieben und unterschrieben hat** 
„Ja, was denn,** fragte Erath neugierig. 

„Weiß denn der Vater nicht, daß man das Testament am ein- 
fachsten und gültigsten so machen muß, daß man es eigenhändig 
niederschreibt und unterzeichnet?** 
„Freilich! Freilich!** 

„Und damit der Vater doch keine besondere Mühe damit hat, 
habe ich selbst alles so aufgeschrieben, wie es notwendig ist** 

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„Weißt du denn, was ich will?" 

„Ich glaube, Vaterl wird ja jedem seinen Pflichtteil geben wollen, 

daß keines zu kurz kommt, wie es im Gesetz steht** 

„Na ja, so laß es da liegen. Ich werde es schon lesen und 

sehen.** 

„Nein, nein, icli darf Vaterl nicht mehr so hillziehen lassen, der 
Vaterl darf mir nicht mehr aus dem Zimmer hier — ich habe 
es mir zugeschworen — , bis er das dumme Schriftstück da 
abgeschrieben hat. In zwei Stunden ist der Vater fertig, dann 
gibt's einen guten Kaffee und einen Guglhupf dazu nach der 
Arbeit. Nicht wahr, Vaterl, Sie tun mir jetzt aber auch die Liebe 
und schreiben gleich? Sie dürfen es nicht mehr hinausschieben 
um unser aller willen, wegen des Hauses und der Firma." 
„Nun ja, nun ja,** sagte Erath und setzte sich, von Charlottens 
stärkerem Willen bezwungen, selbst schon gefaßt und damit 
zufrieden, daß er schließlich nur eine Abschrift zu leisten hatte, 
seufzend vor das Papier nieder, um besinnlich die Feder ein- 
zutauchen und mit seinen schweren Schriftzügen langsam anzu- 
fangen, die steifbeinig über den weißen Bogen hinwanderten. 
Charlotte hatte das Zimmer auf den Zehenspitzen verlassen. 
Jezuweilen blickte sie durch die Glastüre und sah mit Genug- 
tuung den alten Mann über seine Aufgabe gebeugt Er las zu- 
erst aufmerksam, was er abschrieb. Manchmal zweifelte und 
seufzte er. Dann aber war die Vorschrift und das Gefühl, durch 
sie aller eigenen Schwierigkeit überhoben zu sein, starker als 
der ermattete und juristisch ohnehin nie geschulte Hausverstand, 
der jetzt durch das nahe Ende in eine wehrlose Dämmerung 
versetzt war, aus welcher er weder geweckt werden noch sich 
selbst wecken mochte. 

Er hatte nur einen Bogen Konzept zu bewältigen, aber da er 
sonst selten und wenig schrieb, auch in seinen rüstigeren Tagen 
alle diese Arbeiten im Geschäft, wenn's irgend anging, den 
anderen überlassen hatte, fiel ihm die große Aufgabe sauer 
genug. 

Charlotte sah ihn durch die Glastür mit beiden Armen über 
den Tisch gesunken, die Feder auf die Decke gefallen. Er war 
wohl wieder eingeschlafen. Sie ging, die Türe laut öffnend, mit 
starken Schritten hinein und weckte den Eingeschlummerten 
auf. Er erhob mühselig seinen Kopf und lächelte halb schlaf- 
trunken und, von den paar gestohlenen Augenblicken der Ruhe 

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beglückt, halb ängstlich wie ein Schuljunge, der bei einer Ver- 
säumnis betreten wird. 

Charlotte hatte kein Mitleid mit ihm. Er sah sie hilflos lächelnd 
und ängstlich an, dann gehorsam auf seine Abschrift nieder, die 
dadurch, daß er über sie schlafend hingesunken, zerknittert, 
von der entfaUetrÖu Feder sogar mit ein paar Klecksen besudelt 
war. Charlotte sagte nichts, sie nahm nur das Kanzleipapier, 
glättete es sorgfältig zurecht, schob es wieder vor ihn, gab ihm 
die Feder in die Hand. 
„Der Vater sind ja ohnehin bald fertig." 
„Aber, ich weiß nicht, ich verstehe nicht alles. Es kommt mir 
• so merkwürdig vor. Wenn ohnehin jedes das erhält, was es 
soll, brauche ich doch nicht so viel zu schreiben." 
„Der Vater soll nur abschreiben, was da aufgesetzt ist Ich 
habe mich genau erkundigt, warum es so heißen muß und nicht 
anders." 

Erath seufzte halb entlastet, halb bekümmert, mehr über die 
schwere Aufgabe als über ihren schweren Inhalt betrübt, und 
begann neuerdings zu schreiben, wobei seine Zeichen immer 
steifer und zittriger wurden, er selbst schrieb zuletzt nur mehr 
mechanisch ab, er kümmerte sich um den Sinn nicht mehr. 
Nur fertig werden I Als er endlich zu den Worten gelangt war 
„urkund dessen meine eigenhändige Unterschrift" und seinen 
Namenszug nach dem vorgeschriebenen Datum hingesetzt hatte, 
fiel er bewußtlos seitlich über den Stuhl hin. 
Charlotte hörte den Sturz im Nebenzimmer und eilte herbei, 
vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß das Schrift- 
stück fertig war, faltete es eilig, aber sorgfältig zusammen, nahm 
es ebenso wie ihre Vorlage an sich, dann erst wandte sie sich 
dem Greis zu, der röchelnd und in sich zusammengesunken zu 
Füßen des Tisches kauernd lag. 

Sie bemühte sich um ihn, er schien sie nicht zu verstehen und 
weder zu wachen noch zu schlafen, sondern in einem furcht- 
baren Zwischenzustande zu stöhnen. Ihn hatte wohl der Schlag 
gerührt. Da er sehr schwer war und sie ihn nicht allein heben 
konnte, begann sie rasch noch das Tintenzeug und aUe Spuren 
der Schreibarbeit wegzutun, ehe sie weinend fortlief, um Hilfe 
zu holen. Zuerst bekam sie ihren Bruder August, der feierlich, 
umständlich, entsetzt und gefaßt, würdig und schlotterig in 
einem, ins Zimmer trat und mehr zwecklos hin- und herstoi- 

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perte, als hilfreich zugriff. Dann eine Magd, die, aus der Küche 
vom lärmenden Geschirrwaschen geholt, keine Ahnung vom 
Vorhergegangenen haben konnte, endlich Leute aus dem Ge- 
schäft. Mit ihrer Hilfe hob und trug man den unablässig Stöh- 
nenden in sein Schlafzimmer, entkleidete ihn und brachte ihn 
zu Bett 

Charlotte pflegte ihn selbst und ließ nicht zu, daß ein Fremder 
ihr dabei half, sie sah es nicht einmal gern, daß ihr Bruder 
August im Zimmer ausharrte: „Ich gehöre hierher," sagte er 
mit gepreßter Fassung. Sie schloß die Fenster und ließ die 
Rouleaux herab. Sie fragte den Vater zärtlich besorgt, was 
ihm fehle, ob es ihm schon besser gehe, und bekam nur Stöh- 
nen zur Antwort. Der Arzt stellte einen Schlaganfall fest, in 
diesem Alter jedenfalls mehr als bedenklich, er verordnete Eis- 
umschläge, ein Herzmittel, Senfteig um die Füße. Charlotte 
fragte, ob der Vater wohl noch zur Besinnung kommen würde. 
Das sei immerhin möglich. Bei Nacht schien auch der alte 
Mann plötzlich zu erwachen, er versuchte, sich aufzurichten, 
er rang mit einem plötzlich erregten Willen, mit der Schwierig- 
keit, ihn in Worten auszusprechen, er kämpfte um Atem. An 
seiner Ohnmacht merkten Charlotte und August erst, daß er 
gelähmt war. Endlich schien ein ungeheurer Wille die Zunge 
für einen stammelnden Zuraf zu lösen: „ Lisi, Lisi, aussprechen ! u 
verstand man und so deutlich, daß August dem hilflos nach 
Folge verlangenden Blick des alten Mannes gehorchen und so- 
gleich gehen wollte, um die Schwester Frantzl zu holen. Er 
sah Charlotte ratlos an. Diese nickte „nein 44 und bedeutete 
ihm bloß, daß man den Kranken bei diesem Zustande doch 
nicht weiter aufregen dürfe. 

Da es spät in der Nacht und empfindlich kalt war, glaubte Au- 
gust, doch wohl bis zum Morgen warten zu können, ehe er 
Elisabeth mit der Schreckensnachricht überraschte. Es war 
auch wohl nicht mehr dringlich, denn gleich nach diesem letz- 
ten deutlichen Ausruf brach der Kranke wieder in Röcheln 
aus und fiel zusammen, Angstschweiß trat auf sein Gesicht, 
dessen Züge sich plötzlich furchtbar veränderten, indem die 
Augen, weit geöffnet, die Stirn runzlig zurückziehen ließen, der 
Mund stand offen und atmete zugleich mit seinem bewußtlosen 
heulenden Seufzen, die Backen fielen ein. Beim ersten Mor- 
gengrauen wurde August Erath der Ältere stiller und streckte 
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allmählich eines seiner Glieder nach dem andern langsam aus, 
wie seine Tochter das verdrückte Kanzleipapier mählich ge- 
glättet und wieder zu Ansehen gebracht hatte. Zum Schlüsse 
lag er mit milde gewordenen Zügen entschlafen und befreit da. 
Als August am Morgen Elisabeth holte und hereinführte, fand 
sie das Bild eines schönen, gefaßten, gerecht gleichgültigen 
Verblichenen auf dem wohlgeordneten weißen Lager im dunkeln 
Zimmer. August hatte ihr noch auf dem Wege erzählt, wie die 
letzten Worte des alten Herrn ihr gegolten hatten: „Lisi! Lisi ! 
Aussprechen." Elisabeth weinte. Gerade weil der alte Mann 
zeitlebens einen so sichtlichen, wenn auch vielleicht nicht un- 
bedingt gewollten Abstand von seinen Kindern eingehalten 
hatte, so daß sie ihm weniger Vertrauen verdanken, als scho- 
nende Ehrfurcht erweisen mußten, ging sein Verlust der Frau 
Frantzl besonders nahe. 

Sie empfand ihre Leiden vor seinem Alter und in ihrer Demut 
als gering, wie ein Kind, dessen Kümmernisse von den Erwach- 
senen mit Recht nicht für voll genommen werden. Nun aber 
war der Vater tot, und sie hatte niemand mehr, der ihr half, 
riet oder sie zärtlich tröstete, denn das können so recht doch 
nur Eltern oder Geschwister. Elisabeth faßte sich schwer vor 
diesem Toten, dessen gemilderte regelmäßige Schönheit auch 
jetzt noch und gerade jetzt wieder jenen Zug von unwillkürlicher 
Abweisung trug, der seinen Kindern vor ihm Ehrfurcht und eine 
leise zärtliche Angst eingeflößt hatte. 

Nach der Einsegnung der Leiche fuhr die ganze Familie in 
Wagen nach Mödling, wo der Tote in dem Erbbegräbnis bei- 
gesetzt werden sollte. In der Kirche waren noch einmal alle 
Freunde versammelt gewesen. Der alte Adam Hirt hatte in 
seinem schwarzen weiten Rocke bucklig, gebeugt und weiner- 
lich von einem zum andern die Honneurs gemacht und sich 
trösten lassen. Er hatte mehr verloren als einen leiblichen 
Bruder. Die befreundeten Frauen und Herren hatten viele 
Kränze gebracht und umringten die Leidtragenden: Charlotte, 
August und die Frantzlsche Familie mit ihren Beileidsbezeu- 
gungen, dazu spielte die Orgel, sangen helle Chorstimmen. In 
einer Ecke der Kirche saßen allein und wenig bemerkt die 
Amersinschen Kinder, und auch ihr Vater war hier, denn — 
Charlotte mochte sagen und tun, was sie wollte — auch er ge- 
hörte zum Hause und ließ den Seinigen nichts davon entziehen, 

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am wenigsten des Großvaters Hingang. In einer anderen Ecke 
stand Wilhelm Alter allein. 

Bei der Rückkehr, die mit der Eisenbahn stattfand, war der Zug 
so voll, daß sie alle stehen mußten. Charlotte schlief stehend 
ein. Sie hatte die ganze Woche lang nicht geschlafen. Thea er- 
innerte sich nachmals deutlich, welchen grauenvollen Eindruck 
ihr die willenlos im Schlafe entfesselten Züge dieses leidenschaft- 
lichen Gesichtes machten, die häßlich und schlaff erschienen, 
unsäglich traurig, als klage eine Seele aus der Tiefe um die 
Schuld ihres Willens. Charlotte stand mit geschlossenen Augen, 
der offene Mund atmete schwer, das Gesicht war fahl, grünlich 
gelb. Das war ihre starke, geistvolle Tante! 
Nunmehr war das Testament eröffnet worden, das Charlotte 
und Augast zu Universalerben bestimmte, die übrigen gesetz- 
lichen Erben aber: Elisabeth und die Amersinschen Kinder, auf 
den Pflichtteil setzte. 

Elisabeth war tief bestürzt, mehr noch über das Unrecht, das 
ihr angetan war, als über den Verlust eines Erbes, das ihre und 
ihrer Kinder Lage gerade jetzt erleichtert hätte. Sie empfand 
noch einmal und wie für ihr ganzes künftiges Leben die Tren- 
nung von ihrem entfremdeten Vater, von ihrer unversehens als 
Feindin erwiesenen Schwester. Amersin hatte nichts anderes 
erwartet Er sprach zu Thea, mit der er alles zu erörtern pflegte, 
was er nur irgend mitteilen konnte, soweit seine Zurückhaltung 
aus sich herausgehen zu dürfen oder zu müssen glaubte: »Da 
siehst du, was die große Familientrauer mit allem Krepp und 
mit den längsten Schleiern wert ist Was dahinter steht Man 
weint und spielt die Untröstliche und hat die Gelegenheit be- 
nutzt, um die Oberlebenden, die Kinder der »unvergeßlichen 
Schwester* um ihr bißchen Geld zu betrügen, und man hat in 
aller Liebe diesem alten Mann Gewalt angetan, damit man ihn 
zu solchem Unrecht bringt, denn dein Großvater hat das aus 
eigenem gewiß nicht wollen. Daß du mir einmal, wenn ich ge- 
storben bin, keine Schleier trägst 1 Ich will auch keine Kränze 
haben! Merke das! Geht an meinem Tag oder wann ihr zu 
meinem Grabe kommen wollt, im Walde spazieren und pflückt 
ein paar wilde Blumen. Ihr müßt euch für einen Toten schon 
ein bißchen Mühe geben, anstatt die Pietät um ein paar Gulden 
fertig beim Schneider und Blumenhändler zu beziehen." Seit- 
her besuchte er mit den Kindern die Gruft seiner verstorbenen 

304 



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Antonie und des alten Erath immer nach einem Spaziergang 
in den Waldungen von Mödling, wo sie buntes letztes Herbst- 
laub, letzte Blumen zu einem Kranze sammelten, den sie hin- 
brachten. In einer stillschweigenden Vereinbarung vermied es 
die Familie, einander dort zu begegnen. Nur die Familie Frantzl 
hielt am Allerseelentage fest, Amersin kam einen Sonntag vor- 
her, die beiden Geschwister Erath nachher, wenn sie sicher 
: waren, niemand vor den Särgen ihrer Toten anzutreffen. 

Amersin wollte sich diesem Raube an seinen Kindern nicht 
t wehrlos fügen. Er focht das Testament an, nicht nur, weil es 
i allem Anscheine nach von einem weder seines rechten Willens 
fähigen, noch bewußten Manne bei getrübtem Verstände und 
e unter einem unentrinnbaren Zwange errichtet war, sondern auch 
:- weil es offensichtlich das vorhandene Vermögen unrichtig auf- 
;i zählte und einen namhaften Teil verschwieg, der von Charlotte 
jedenfalls beiseite geschafft war. Von Natur aus streitbar und 
j findig, trotz einem Advokaten, glaubte er seinen Kindern den 
{ äußersten Kampf um ihr Gut schuldig zu sein, und er kämpfte 
! ihn mit allen Finten und Schlichen aus, die selbst Charlottens 
• gerissenen Anwalt je und je aus der Fassung brachten. Er er- 
zwang die Einsicht in die Bücher des Erathschen Hauses, sie 
waren merkwürdig geführt, es fehlte eine wichtige Seite, auf 
welcher etwaige Vermögensteile eingetragen gewesen sein moch- 
ten, auf anderen Blättern fanden sich Radierungen, Striche und 
Spuren willkürlicher, später vorgenommener Änderungen. Die 
Mängel dieser Bücher hätten immerhin einen Beweis gegen Char- 
lottens Angaben über das nachgelassene Vermögen machen 
können, wenn es die Bücher einer protokollierten Firma ge- 
wesen wären, die nach dem Handelsgesetze unbedingten Be- 
weis machen und bei Mängeln gegen den Buchführenden zeugen. 
Aber, woher hatte Charlotte diesen Wink bekommen I Ein Jahr 
vor Eraths Tode war sein Geschäft aus dem Handelsregister 
gelöscht worden und also keine protokollierte Firma mehr. Char- 
lotte begründete das mit dem immer schwächeren Geschäfts- 
gange, den der alte Herr, einem großen kaufmännischen Be- 
triebe nicht mehr gewachsen, herbeigeführt hatte, um das Ganze 
allmählich einschlafen lassen zu können. 

Das Testament selbst wies Spuren des erzwungenen Inhalts auf 
und ließ deutlich erkennen, wie der Schreibende nicht verstan- 
den haben mochte, was er geschrieben hatte, denn es gab 

Stoes.l, Dm Hau« Erath 2Q 3O5 



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Fehler, aas denen man ersah, er habe etwas unrichtig kopiert, 
von der verfallenden, steifen und wieder undeutlichen Schrift 
ganz abgesehen- Amersin focht um jeden Posten Geldes, um 
jedes Los, dessen er sich entsann, um jedes Wertpapier, das 
zu seiner Zeit vorhanden gewesen war und dessen Gattung und 
Preis er mit seinem scharfen Gedächtnis gemerkt hatte. 
Der Richter erkannte dennoch das Testament als gültig an, 
den Nachweis als nicht erbracht, daß es bei gestörter Vernunft 
oder unwissend abgefaßt worden sei. Das Datum war einen 
Monat vor dem Todestage angegeben. Das Dienstmädchen, 
die Angestellten, die den vom Schlage Getroffenen aufgehoben 
hatten, konnten Amersins Vermutung nicht bestätigen, Erath sei 
unmittelbar nach der großen Mühe der Abschreibarbeiten nie- 
dergebrochen. Nur über die Einzelheiten der Vermögensan- 
gaben ließ der Richter einen Beweis zu, der bei den wider- 
sprechenden Behauptungen beider Parteien schließlich nur 
durch einen sogenannten Reinigungseid Charlottens geführt 
werden konnte, mit welchem sie nach feierlicher Formel vor 
Gott dem Allmächtigen einen reinen Eid schwur, daß alle ihre 
Angaben genau der Wahrheit entsprächen, daß sie nichts ver- 
schwiegen, nichts beschönigt, nichts verändert habe. 
„Sie soll nur schwören, M lächelte Amersin, „wenigstens dieses 
Vergnügen soll sie haben, vor den Kindern, die sie um ihr 
Erbe gebracht hat, ihren reinen Eid falsch zu schwören." 
In dem schmutzigen, nach feuchten Kleidern, nach Schimmel 
und staubigem Papier riechenden kleinen Amtszimmer, auf 
braunen Holzbänken saß zum anberaumten Termin hüben die 
Familie Frantzl, Elisabeth tief verschleiert neben ihrem Manne, 
der zwinkerte und nervös lächelte — Corona und Albrecht 
waren ferngeblieben — , aber Amersin, breit, beinahe behaglich, 
war da, neben seinen vier Kindern, mit Thea an der Spitze, die 
eben die Zeugen von Charlottens Eid sein sollten. Drüben saß 
August Erath der Jüngere, der beharrlich in die Luft, und Char- 
lotte, die schwarz verhüllt zu Boden blickte oder gespannt ihrem 
Anwalt zusah, der in seiner Mappe kramte und etwas von „über- 
flüssiger peinlicher Szene" murmelte. 

Der Richter, der nichts zu tun hatte, als diesen Eid abzunehmen, 
ließ es an genauer Sorgfalt für diese heilige Handlung zu un- 
heiliger Sache und an gemeinem Orte nicht fehlen, der Diener 
zündete umständlich die Kerzen vor dem Kruzifix an, die dieses 

306 



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stinkende Amtsloch für fünf Minuten zn einer Art Kirche ma- 
chen wollten. Der Richter warf strafende Blicke um sich, ob- 
gleich sich niemand gerührt hatte, es sei denn, daß sich Frantzl 
auf etwas umständliche und absichtsvolle Weise räusperte, dann 
begann er von dem leider geforderten Eide zu sprechen, wobei 
er wieder Amersin streng ansah, der ihm diese unnütze Mühe 
auferlegt, endlich von der Wichtigkeit und Treue der zu be- 
währenden Aussage, bei der nicht ein Wort zu viel oder zu 
wenig gesagt sein dürfte, noch könne die Beklagte abändern, 
was sie etwa nach strengster Prüfung abändern müsse, schwöre 
sie aber und wiederhole seine Worte, so habe sie einen Eid 
abgelegt, dessen Heiligkeit und Strenge er ihr hiermit auf das 
eindringlichste vorstelle, an diesem Eide dürfe nicht das Leiseste 
gerüttelt und gedeutet werden, denn er werde vor Gott und 
den Menschen, vor nahen Anverwandten geschworen, die sich 
von ihrem eigenen Vater oder Großvater verkürzt glaubten. Er 
rufe das Gewissen der Beklagten an, denn wenn nicht vor dem 
irdischen Richter mit Jahren des Kerkers, werde der Meineid 
dereinst vor Gott straffällig. Damit sah er streng auf Charlotte 
und bemerkte nebenbei auch den unwilligen Blick Augusts, der 
ihm zum Vorwurf zu machen schien, daß er eine Dame so an- 
haltend belästige. 

Endlich hob Charlotte die Hand zum Schwur. Schien es nur 
Thea so, die den Vorgang mit der Romantik eines jungen Mäd- 
chens beobachtete und deutete, oder war es wirklich so, daß 
Charlotte die Hand nur schwer in die Höhe brachte, als er- 
höbe sie einen Stein. Aber sie sprach die Schwurformel, wenn 
auch leise, doch deutlich nach bis zum letzten Worte, „so wahr 
mir Gott helfe". Und schien es so, oder war es wirklich so, 
daß sie dann die Hand nicht gleich senken konnte, als sei sie 
im Schwur versteinert Sie wußte wohl nicht, daß sie schon 
fertig und in Sicherheit war. Erst als der Diener, der solche 
Szenen jeden Tag mitmachte, rasch die Kerzen auslöschte, 
weil von draußen schon neue Parteien zu neuen Streitsachen 
lärmend eindrangen, senkte Charlotte ganz langsam den rechten 
Arm und faßte ihren Bruder unter, der sie aus dem Zimmer 
brachte. Elisabeth weinte. Heinrich Frantzl aber zwinkerte: 
„Ich bitt* euch, was kommt es ihr auf einen Eid mehr oder 
weniger an? Aber du, Amersin, ich habe dir was mitgebracht 4 * 
Damit zog er, verschmitzt lächelnd, eine gedruckte Karte her- 

20* 307 



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vor, die er eigens für alle guten Freunde, wie er sagte, hatte 
anfertigen lassen. Darauf stand „Charlottens Worte und Taten", 
und unter diesem Titel war immer in witziger, wenn auch hand- 
greiflicher Manier, was sie gesagt hatte oder etwa gesagt haben 
konnte, in Gegensatz zu ihren Handlungen gestellt 
Zwei Beispiele genügen: „Das Erben muß endlich aufhören," 
sagte Charlotte, „da ließ sie sich zur Universalerbin einsetzen", 
und das andere mit deutlicher Anspielung auf die Untreue des 
Herrn Amberg: „An Amberg werdet ihr euch gewöhnen müssen,'* 
sagte Charlotte, „da nahm er sich eine Ungewohnte". 
Aber mit diesen Scherzen war das verscherzte Erbe nicht mehr 
zurückgebracht 

8. 

Thea Amersin saß in ihrem dunkeltapezierten kleinen Zimmer, 
das sie mit ihrer jüngeren Schwester teilte, allein bei einer 
rußenden Petroleumlampe und bereitete sich für den nächsten 
Schultag vor. Die traurige Umgebung — kein Bild hing im 
kahlen Raum, es gab keine „Staubfänger" von Vorhängen, 
keine Blumen — enthob das Mädchen der Verpflichtung, hier 
zu Hause ein übriges an Nettigkeit und Haltung aufzubieten, 
hatte sie doch nicht nur zu studieren, sondern vorher noch mit 
der Magd die Wirtschaft zu beraten und manches selbst zu 
schaffen. Wenn sie endlich müde und mit schmerzendem Kopf 
— sie litt seit ihrer Kindheit häufig daran — wie heute, am 
Abend, als die Kinder im Speisezimmer beim Vater saßen und 
sie in Ruhe, ließen, zum Lernen kam, machte sie es sich bequem 
und fand dabei ihre natürliche Heiterkeit wieder, denn eigent- 
lich empfand sie an ihrem schwierigen und sorgenvollen Da- 
sein nur selten das Traurige, vielmehr überwog ihre fraglose, 
innere Frische und ein wenn auch grundloses Lächeln alle 
frühe Erfahrung der Welt. Auch konnte sie sich mit der dur- 
stigen Leidenschaft der Jugend den Genüssen hingeben, die 
sie ihrer engbemessenen Zeit immer wieder abrang, indem 
sie mit Ludwig Mainone spazierenging, Museen, Vorlesungen, 
Theaters besuchte, es fiel ihr gar nicht ein, daß irgendwer 
darin etwas Unrechtes sehen könnte, dachte sie selbst doch an 
nichts weiter als an alles Schöne, das sie mit der Kraft des 
jungen Blickes und Herzens leidenschaftlich umfaßte. Ihren 
gleichaltrigen Führer durch diese Herrlichkeiten, den jungen 

308 



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Ludwig Mainone, betrachtete sie als einen zuverlässigen guten 
Freund, den sie als solchen sogleich empfunden hatte, wie sie 
mit ihm bekannt worden war, denn irgend etwas machte sie, 
die sonst vor fremden Menschen Scheu trug, zutraulich gegen ihn. 
Gelegentlich ängstigte sie sich freilich, wenn sie bemerkte — 
es konnte ihr nicht entgehen — , daß er sie anders ansah als 
ein stiller Freund, und wenn sie auch in ihrer unberührten Ein- 
falt, durch das Schicksal bei ihren jüngeren Geschwistern all- 
zufrüh mütterlich gemacht, jeden Gedanken an Liebe bei sich 
und auch bei ihm zurückwies, kam er ihr doch nahe als die 
Versuchung des Lebens, des Gedankens und des Gefühls und 
machte die Freundschaft zur Gefahr. Aber gerade diese Ge- 
fahr verlockte, mit ihrem Feuer zu spielen. Wann hätte Jugend 
sie gefürchtet und wäre dem Schicksal ausgewichen? Daß man 
ihm nachgeht, ist ja eben das Schicksal, und daß man es ver- 
langt und ihm nicht ausweicht Sie spürte den Blick von Lud- 
wigs fragenden, bittenden braunen Augen, mehr noch wenn sie 
ihm fern war, als wenn sie neben ihm ging. Liebte sie ihn 
denn? Sie lächelte zu dieser argwöhnischen Zumutung, er ge- 
fiel ihr nicht, in ihren Augen war er häßlich, seine laute, ge- 
legentlich umschlagende Stimme störte sie, aber seine Pläne, 
sein Ungestüm, seine leidenschaftlichen Einfälle, sein vielseiti- 
ges Wissen, die Anregung, die er feurig mitteilte und aus der 
Mitteilung wieder schöpfte, ohne besondere Antwort zu brau- 
chen, die weite geistige Welt, in der er" sich bewegte, die er 
mit jedem Wort eröffnete, nach der sie" [sich immer gesehnt 
hatte, schon als sie deshalb Charlottens Umgang Untertan ge- 
wesen war, zogen sie unwillkürlich an. So folgte sie ihm und 
bezwang wieder ihn. Die beiden entgegengesetzten und ver- 
wandten Jugenden suchten einander. Jahrelang allein, nach 
Anregung begierig, für Geistiges empfänglich, reinen, aber sehn- 
suchtsvollen Herzens überließ sich Thea arglos diesem Um- 
gang. Daß Ludwig dabei verliebt war, bemerkte sie zwar, aber 
sie ließ es eben hingehen, da es nicht anders sein mochte und 
sie ihn doch darum nicht wiederzulieben brauchte. Es war 
ihm wohl auch nicht so gar ernst damit, tröstete sie sich, denn 
er liebte sicherlich bei Gelegenheit auch andere, schönere und 
noch mehr als sie, denn daß sie allein und ausschließlich den 
Gegenstand eines Traumes und Verlangens bilden konnte, war 
ihr noch nie beigekommen. Diese Geringschätzung ihrer eige- 

309 



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nen Person machte sie ja dem Mainone gegenüber so unbe- 
fangen sicher. 

Sie wußte freilich, daß sie ganz wohlgeraten und leidlich hübsch 
sei, aber so eitel war sie nicht, zu glauben, irgendwem beson- 
ders auffallen zu können und ein anderes Herz zu reizen. Die 
Schönheit ihrer Cousine Corona stand ihr immer so herrlich 
vor Augen — sie hatte die selbstlose Schwärmerei aller geisti- 
gen Naturen für die Schönheit — , daß sie die eigene, zudem 
in Dürftigkeit und grauen Eintagsverhältnissen verhüllte Anmut 
noch geringer achtete. Von jeher mit mütterlicher Verant- 
wortung belastet, fühlte sie sich diesem gleichaltrigen Knaben 
Mainone um viele Jahre überlegen, darum war seine stille, 
nachdrückliche und mahnende Werbung so eindringlich, aber 
auch so unmöglich. Sie liebte ihn nicht, denn er gefiel ihr 
nicht. Aber sie hatte ihn gern. Sie nannte diese Empfindung 
Freundschaft, sie wußte keinen anderen Namen dafür. Seine 
zutrauliche Nähe, die Aufrichtigkeit, mit der er sie an allen 
seinen Gedanken teilnehmen ließ, schmeichelten ihr, sie hätte 
ihn um alles nicht mehr verlieren und vermissen mögen und 
vertraute ihm. Mit der unschuldigen Gewandtheit der Frauen, 
die in ihrem Verhältnis zu den Männern doch wohl als aus- 
gelernte Meisterinnen vom Himmel fallen, wußte sie ihn zu- 
gleich an ihrer Seite und wieder so weit entfernt zu halten, daß 
sein Feuer sie nicht berührte. 

Wenn aber einmal ein Gedanke und die Frage eigener Liebe 
sich bei ihr rührte — was denkt man nicht alles? — , so wies 
sie derlei ruhig zurück, denn jeder muß sich vor der eigenen 
Versuchung schützen, nicht vor der fremden. Jeder malt seinen 
eigenen Teufel an die Wand und hat ihn im Leibe, und keiner 
darf sich auf die fremde Versuchung berufen. 
So wanderten sie au manchen Nachmittagen im Herbste durch 
die stillen alten Gassen, durch die rätselhaften Durchhäuser 
der inneren Stadt mit den belebten Höfen, mit den überraschen- 
den Ausblicken, sie konnten vor einem breit ausladenden Ba- 
rockportal stehenbleiben und die ins Grenzenlose ausschwei- 
fende Linie der Gesimse anstaunen oder im buntlaubigen 
Schönbrunner Park die schöne Flucht der Alleen, sie gingen 
im winterlichen Schnee vom Eislaufplatze durch die Vorstadt- 
straßen heim, von den fallenden Flocken in einen wehenden 
Mantel von Einsamkeit gehüllt, sie -trafen einander in Univer- 

3IO N 



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sitatsvorlesungen, im Museum traten sie vor die glühenden Bil- 
der der großen Meister, auf denen die ewige Versuchung der 
verführerischen Welt mit aller unschiddigen Herrlichkeit leuch- 
tete, und wußten gar nicht, daß diese Versuchung zu ihnen 
redete, für sie bestimmt war. Sie standen treuliclToben auf 
der vierten Galerie des Burgtheaters, im „Olymp"; der bart- 
lose alte Kellner, der ebensogut siebenzig wie vierzig Jahre alt 
sein konnte und sein „Gefrornes, Limonade, frisch* Wasser 
gefällig 4 * ausrief und sich dabei beflissen um die hübschen 
jungen Mädchen seines Reviers bekümmerte wie ein faunischer 
Hausgott um seine Nymphen, gehörte gleich dem ganzen gold- 
und rotstrotzenden festlich höfischen Hause mit der üppigen 
Verschwendung von Marmor, Bildern, Stuck, mit den feierlichen 
Foyers und Treppenaufgängen zum tief erschauernden Genuß 
des Theaters wie das klassische Stück selbst, das irgendwie 
von der ewigen und einzigen Angelegenheit handelte, die zwi- 
schen achtzehn und achtzig Jahren Männer und Weiber angeht. 
Wenn Grillparzers Hero die Lampe auf den Boden ihrer Mäd- 
chenzelle stellte, bevor sie die weißen Arme erhob, um den 
Geliebten küssend zu empfangen, „die Lampe soll's nicht sehen", 
waren sie beide, war alle Sehnsucht und Frage, alle Gewißheit 
und jegliches Schicksal der Menschheit in ihnen beiden be- 
schlossen und getroffen. Sie schauerten beide vor diesem 
Glück und wußten -es gar nicht, daß sie beide gemeint waren 
und daß der Schein der Lampe sah, was sie selbst nicht sahen. 
Auch im Wiener Frühling, in den blühenden Tagen der hellen 
Landschaft, wenn sie draußen in Salmannsdorf wanderten oder 
über das mäßig hügelige Gelände von Sievering und Grinzing 
unter dem seidenblauen Himmel, unter dem silbernen Netz der 
unablässigen Lerchenrufe von der Höhe, wandelten sie unbe- 
rührbar unter einer Glasglocke dieser zarten Gemeinschaft, die 
sie voneinander abhielt und einander zuneigte, wie zwei Figuren 
in einem von Gott gewollten und gefügten zierlichen Tanz ein- 
ander suchen und ausbeugen. 

Kamen sie dann spät am Abend heim und verweilten abschied- 
nehmend einen Augenblick vor dem Tore in der öden Gasse, 
vor dem unheimlich finsteren Hause, dessen dunkler Flur sich 
wie eine Höhle öffnete, um Thea aufzunehmen, die in den Augen, 
im Sinne noch alle Farben des reichen, bewegten, vergangenen 
Tages hatte, neben sich den stürmischen Knaben, vor sich die 

311 



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dumpfe nächste Wirklichkeit, da wurde Thea oft genug von 
einem unsagbaren Gefühl der Angst gepackt, er möchte sie jetzt 
verlassen und mit ihm alles versinken, was es Schönes, Bedeu- 
tendes, Unendliches gab, als hinge die ganze Welt an ihm und 
könne nur von seiner Hand gegeben werden, mehr noch, sie 
empfand mit dieser Angst einen lahmenden Augenblick von 
Liebe, die sie an ihn zog und hinzureißen suchte, ihr wie ein 
Schauer des Todes über den Rücken fuhr, denn solche Sehn- 
sucht ist sterbensnah, so daß sie die hilflose Lust und Qual 
verspürte, den häßlichen, ungeschickten, geduldigen, den armen 
Burschen da zu umarmen und festzuhalten. Sie faßte sich aber 
immer gleich, drückte rasch und kräftig seine Hand, wandte 
sich eilig ab und glitt in das Dunkel. 

Gut, daß Ludwig von diesen entsetzlichen Augenblicken nichts 
ahnte! So wenig, daß er in seiner Eifersucht von einem jener 
vergifteten Pfeile verwundet wurde, die seine Mutter immer 
bereit hatte, wenn sie irgend eine böse Absicht erreichen und 
eine ihr unwillkommene Regung eines andern treffen und ver- 
letzen wollte. Sie beobachtete die wachsende Zuneigung und 
Annäherung der beiden Kinder schon lange mit dem Argwohn 
ihrer scharfsichtigen, bösen, graugrünen Augen. Daß ihr Sohn, 
anstatt später einmal eine reiche Partie zu suchen, sich jetzt 
schon an dieses arme Mädchen hing, das ihn fangen wollte — 
denn eine andere als eine von Anbeginn böse Absicht konnte 
ihre arge und hintersinnige Natur einer solchen natürlichen 
Gemeinschaft zweier Kinder gar nicht zutrauen — , erregte ihre 
üble Einbildungskraft, spiegelte ihr alle Schrecken einer Zu- 
kunft vor, wo sie um einer Geliebten willen den Sohn drangeben 
mußte und die letzte Aussicht verlor, auch ihn ihrer eigenen 
Selbstsucht, ihrer Bequemlichkeit, ihrer Begierde nach mühe- 
loser Ausnützung der Nächsten dauernd dienstbar zu erhalten. 
Wenn sie ihrem Manne derlei Befürchtungen erzählte und ihn 
zu einem ernsten Wort mit Ludwig aufzureizen suchte* bekam 
sie nur das fremde, unberührbare Lächeln des ruhigen Dok- 
tors zur Antwort und etwa, daß man Kinder Kinder sein lassen 
müsse, denn sie seien ja nicht als Vermögensstücke zusammen- 
gebracht worden, sondern zur Unterhaltung. Was wolle sie nun 
dagegen aufbieten, daß sie sich wirklich unterhielten und von 
der Gelegenheit ihrer achtzehn Jahre den selbstverständlichen 
Gebrauch machten. Da beschloß Frau Mainone sich selbst zu 

312 



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helfen. Sie spann ihren Sohn in ein höchst vertrauliches Ge- 
spräch ein, sie konnte ja so mütterlich und zärtlich tun, daß er 
immer wieder glaubte, sie rede aus wirklicher Liebe, und immer 
wieder vergaß, daß sie kein Wort ohne tieferen selbstsüchtigen 
Zweck sagte und ihn wie jeden Menschen gleich einer bösen 
Spinne in das kunstvolle Netz ihrer Absichten zu locken ver- 
stand. Sie rühmte Theas Vorzüge, ihre Anmut, ihren gebil- 
deten Verstand, ihre gute Begabung, vor allem ihren Charakter, 
wie sie die eigenen Geschwister mütterlich betreue, dem Vater 
den schwierigen Haushalt führe und was dergleichen Lobsprüche 
noch mehr waren« Als dann Ludwig arglos und geschmeichelt, 
seine Neigung so gewürdigt und als wohlbegründet anerkannt 
sah, ging er ihr ins Netz und sagte leuchtenden Blickes: „Nicht 
wahr? Sie ist doch mehr als alle andern. Man braucht sie ja 
nur anzusehen. 4 * Da schoß die Mainone den giftigen Pfeil ab, 
der ihn mit Mißtrauen erfüllen, vielleicht dem Mädchen ab- 
wendig machen konnte: „Darum wird sie gewiß auch bald 
heiraten." 

„Meinst du, Mutter? 44 fragte Ludwig enttäuscht und verriet sich 
zum andern Male. 

„Gewiß, sie hat sicherlich schon den Rechten gefunden und 
wird es sich nicht lange überlegen, denn es muß ihr doch lieber 
sein, für ein eigenes Haus zu sorgen und versorgt zu werden, 
als noch lange, viele Jahre zu warten und daheim bei den 
Geschwistern zu verblühen. Wer weiß, wie bald wir erfahren, 
daß sie verlobt ist, und wann sie Hochzeit hält 4 * 
War es wahr und möglich? Wußte seine Mutter mehr als er 
vonThea? Konnte Thea mehrmals in der Woche mit ihm gehen, 
ganze Nachmittage mit ihm verbringen, und hatte einen anderen, 
war einem anderen versprochen? Vielleicht war dieser Rival 
fern von Wien und ihrer sicher, denn sie behandelte Ludwig 
doch nur als einen unschädlichen angenehmen Gesellschafter 
und Freund? Wies sie ihn darum immer so sicher zurück, be- 
herrschte sie ihn darum so selbstverständlich? 
Er sagte enttäuscht „Glaubst du, Mutter? 4 * und wandte sich be- 
troffen von der Listigen ab, die ihren Pfeil sitzen sah. 
Thea saß heute, ein nasses Tuch wie einen weißen Turban um 
ihren schmerzenden Kopf gewunden, in einem grauen bequemen 
Schlafrocke an ihrem Tisch und studierte. Sie hatte ganz ver- 
gessen, daß heute ihr Geburtstag war. Ihre Geschwister dach- 

3*3 



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ten nie daran, und der Vater hatte den Tag auch vergessen. 
Sie feierten gar keine Feste mehr in ihrer stillen, schwierigen 
Familie. Sie wußte auch nicht, daß sie irgendeinmal unlängst 
dem Ludwig Mainone, wahrscheinlich im Scherze, ihren Ge- 
burtstag verraten hatte. 

Da brachte ihr die Magd, eben als Thea ihre Aufgaben für 
morgen lernen wollte und es sich arglos bequem gemacht hatte, 
sie war heute nicht mit Ludwig zusammengekommen, einen 
Brief. 

Darin stand nun alles, was der Mensch für sich wünschte, als 
Glückwunsch für sie zu diesem ihrem Geburtstage. Was er so 
oft, in all der Wanderschaft und Gesprächigkeit dieser Jahre 
mit den Augen oder mit seinen komischen Anspielungen ge- 
fragt hatte, allerdings immer geflissentlich überhört oder miß- 
verstanden, fragte er nun schwarz auf weiß. Es war nicht mehr 
zu vermeiden, da „war das Malheur fertig", sagte sie im stillen 
und blutübergossen, schämte sich, bebte vor Aufregung und 
lächelte doch. Der Brief, dieses Blatt Papier durchriß eine 
Wolkenwand, wie die Sonne mit einem Strahl einen Abgrund 
zeigt, aber auch — sich selbst. In einem Augenblick empfand 
Thea eine Unendlichkeit von Qual, Zweifel und Zuversicht, 
Glück und Furcht Das war das Schicksal in förmlicher Ge- 
stalt, es fragte. Und sie antwortete, ohne zu wissen warum, 
aus der einzigen Notwendigkeit, diesen einzigen Gefährten 
ihrer Jugend jetzt nicht zu verstoßen. Sie dachte weder über 
Zukunft, Enttäuschung, Verrat, Untreue, Geduld weiter nach, 
ein tiefes sicheres Bewußtsein durchdrang sie mit einer eigenen 
glücklichen Beklemmung: ich bin nicht allein. Jetzt wußte sie 
erst, wie verlassen sie all die Jahre der Jugend gewesen war. 
Es war nur gerecht, daß sie wiedergab, der so gegeben wurde. 
Nichts mehr war zu vertagen oder zu versäumen. Sie kauerte 
kniend auf ihrem Rohrstuhl, den heißen Kopf auf die beiden 
Fäuste gestützt. Liebte sie denn? Mainone gefiel ihr doch gar 
nicht, er war ja häßlich, er konnte so laut werden, wenn ihn 
der Eifer ergriff, dann überschrie er sich, seine Stimme schlag 
über, er hatte auch eine unreine Haut, er sah aus wie ein Wil- 
der, was war das auch für eine Art, einem Mädchen just am 
Geburtstage das Messer an die Brust zu setzen? Wann aber 
sollte der arme Kerl denn sagen, was er auf dem Herzen hatte, 
als bei dieser Gelegenheit? Sie lächelte wohlzufrieden und 

3M 



- 



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ärgerte sich wieder darüber, daß sie bei so fürchterlichem An- 
laß noch ihren Spaß haben konnte. Nein, verliebt war sie nicht 
in ihn. Aber da er ihr seine Freundschaft kündigte, mußte sie 
ihn doch lieben. Blieb ihr denn etwas anderes übrig, wenn sie 
ihn nicht wegstoßen wollte? Und das konnte sie doch nicht, 
das mußte man doch einsehen. Da sie niemand hatte, dem 
sie sich anvertrauen konnte, sah sie es denn selbst ein, auf 
eigene Verantwortung. Sie liebte ihn also in Gottesnamen. 
Sie entschloß sich. Sie riß aus der Tischlade ein Blatt Papier 
hervor und schrieb, auf dem Sessel kniend, hastig diese Ant- 
wort: „Es ist nicht recht, daß ich Ihnen auf Ihren letzten Brief 
antworte, aber ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür. Ich 
wäre Ihnen also wirklich etwas? Ich kann's nicht fassen. Nein, 
vergessen Sie, was ich in der Aufregung niederschreibe. Ihre 
Thea." 

Sie sprang in ihrem unordentlichen Hauskleide , den Turban 
auf dem Kopfe, in den leichten Pantöffelchen in den Schnee 
hinaus, auf die Gasse, um selbst den Brief aufzugeben und 
steckte ihn in den Postkasten. Sie griff dabei mit ihrer unge- 
schickten zitternden Hand — war es denn so heiß an diesem 
kalten Schneeabend — so tief in die eiserne Spalte, daß die 
beweglichen Klappen ihre Finger festhielten. Sie konnte sich 
nur mit Gewalt aus dieser Falle befreien und bekam eine 
Schramme an den Knöcheln. 

Als sie sich aber niederlegte — hatte sie die Schulaufgaben 
richtig versäumt Sie mußte morgen, wie sie es längst gewohnt 
war, wenn sie, statt daheim zu sitzen und zu lernen, mit diesem 
entsetzlichen Mainone spazierengegangen war, auf dem Schal- 
weg beim Laufen lernen, sie konnte sich niemals ihr bißchen 
Zeit einteilen, sie würde das nie verstehen. Sie legte sich heiß 
und fiebernd ins Bett und zog die Federdecke über die Ohren 
und fror und glühte, und von allen Gedanken und Gefühlen 
bestürmt, befreite sie sich alsbald durch den gerechten Schlaf 
ihrer Jugend. — 

9- 

Der Baron Wasserporten suchte seit dem unglückseligen Abend 
bei Hebenstreit eine Gelegenheit, Corona seine Erklärung zu 
machen, sich vor ihr zu rechtfertigen, ihre Verzeihung zu er- 
bitten. Er ärgerte sich selbst über seine Zumutung, zu bereuen, 

315 



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er war bisher nicht gewöhnt, sich über irgend eine Kühnheit gegen 
eine Frau Skrupel zu machen, denn sie wollen ja von einem Of- 
fizier diese Kühnheiten und setzen sie voraus, ein Schüler oder 
ein Narr, wer sie anders behandelt! Derlei hieß eben „ Er- 
oberungen u machen, und wer sich dabei ängstlich benahm, war 
eben lächerlich. Nun kam man eines Tages an ein solches 
kindliches Herz, klar und spröd wie Glas, und das nicht einmal 
verstand, was man meinte, sondern klirrte. Ach was, es war 
nicht Glas, sondern auch nur Fleisch und Blut und brach nicht 
gleich! Aber immerhin sprach man zu solcher Unschuld eine 
fremde Sprache und machte sich diesmal durch die Frechheit 
lächerlich. Das war's, und so zurückgewiesen, machte man sich 
selbst zum Narren oder zum Feigling, der eine Wehrlose an- 
griff. War's nicht, als schlüge man mit dem Säbel auf ein Mar- 
morbild! Man zog ihn schartig zurück. Was nützte das dumme 
Eisen? Zum Teufel, konnte er nicht bleiben, wie und wo er 
war und das Geschehene geschehen sein lassen, Corona mochte 
von ihm denken, was sie wollte! Aber er konnte es selbst nicht 
ertragen. Es wurmte ihn. Seine Eitelkeit vertrug es nicht, daß 
er sich abscheulich gemacht hatte, seine Ehre, nicht nur die 
ihrige war verletzt, solange sie ihn verachtete, denn neun Zehntel 
der sogenannten Ehre sind Eitelkeit Diese gekränkte Eitel- 
keit tat darum nicht minder weh als die eigentliche verletzte Ehre. 
Er mußte sich Corona immer wieder vorstellen, wie er sie, die 
über ihn gebeugt war, umfaßt und den Duft ihrer ganzen Wun- 
derbarkeit geatmet hatte, der ihn nun bezauberte, den er in 
allen Gliedern spürte, der ihn hilflos und erst recht begehrlich 
machte. Er hatte solche Abenteuer genug gehabt, aber sie' 
waren alle selbstverständlich ausgegangen. Jetzt auf einmal, 
alt und erfahren genug, bekam er es mit den Skrupeln? Kein 
Tag, wo er sich nicht ärgerlich dieses Dummejungengewissen 
verwies, aber nicht zugleich doch nagende Beklemmung, Scham, 
Arger empfand. Er lag zu Hause, in seiner dürftig eingerichteten 
Garconwohnung auf seinem Kavalett und rauchte eine Zigarette 
nach der andern, indem er auf die gegenüberliegende Wand 
starrte, wo ein paar Säbel mit damaszierten Klingen, etliche 
bosnische Handschars mit tauschiertem Stahl und eingelegten 
Heften, alte Pistolen und ein paar brauchbare moderne Revolver 
in einer recht geschmacklosen Anordnung über einem alten ver- 
schossenen, mattfarbigen Perserteppich hingen, dessen bunte 

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Muster müde wie ein verwirrter Traum ineinanderflössen. Indem 
er so lag, dachte er immer wieder an den lächerlich flüchtigen 
Hauch von Zeit, wo er im Zauber eines Augenblicks, der Gegen- 
wart entrückt, gleichsam überirdisch erhoben war, bis seine 
ungeschickte Gebärde nach diesem schwebenden Ungefähr griff 
und damit selbst ihre eigene Sonne verfinsterte, die Wirklichkeit, 
den Traum, ihn selbst ins Gemeine hinabstürzte. Er mußte sich 
immer wieder Coronas tödliche Angst vorstellen, wie sie in sei- 
nen Armen nur einen entsetzlichen Atemzug lang gestöhnt, ihre 
Hände gegen ihn gepreßt und sich so von ihm losgemacht hatte. 
Er sah ihren Blick. Der Blick war mehr als menschlich 1 So 
hatte sie ihn angesehen, mehr als menschlich, denn was uns 
alle mehr und weniger sein läßt als Menschen: Kreatur, Ge- 
schöpf Gottes, das blickt in einer solchen Spanne Zeit zwischen 
einem Heben und Senken der Lider aus einem brechenden 
Auge. Eine Welt ist untergegangen, eine andere ist erwacht, 
ein beglänztes Tal war da, und eine finstere Höhle des Grauens 
wird sein zwischen einem und dem nächsten Nu. Sie hatte ihn 
nicht einmal zornig anblitzen oder mit Worten zurechtweisen 
können. Sie floh nur und zitterte und schaute blaß und rot und 
hatte nicht einmal Zeit, zu weinen. Dann eilte sie schon aus 
dem Zimmer, und er konnte kein einziges Wort mehr mit ihr 
reden. Was war besser, einmal vor einer Frau lächerlich oder 
für immer vor sich selbst? Verflucht 1 Was wollte sie von ihm? 
Warum ließ sie ihn nicht in Ruhe ? War denn der Vorfall nicht 
überhaupt eine ganz gewöhnliche alltägliche Sache, die jedem 
hundertmal zustoßen konnte, würde er in einem ähnlichen Falle 
mit einer anderen darum seither auf einmal anders handeln? 
Gibt es ein Mädchen, das nicht weiß, wozu seine Schönheiten 
da sind, was sie sagen und meinen und was ein Mann darauf 
antworten muß? Tauschen solche Gelegenheiten etwa Verse 
aus oder Seufzer? 

Und doch hatte sie das alles nun einmal nicht verstanden 1 
Ihre Sprachlosigkeit war ja das Entsetzliche 1 Daß sie erst 
nachmals verstand, was sie gesagt hatte, ohne es sagen zu wollen I 
Und jetzt, da sie es wußte, konnte er mit ihr nicht reden. Er 
mußte sie wiederfinden, er mußte sie trösten, beruhigen, sich 
rechtfertigen, entschuldigen. Kann man sich übrigens entschul- 
digen: ist man nicht, wie man ist, war sie nicht, wie sie war? 
Kann eine Wolke sich entschuldigen, die eine Sonne verfinstert, 

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ein Mann, der ein Mädchen betrübt, weil er Mann und weil sie 
Weib ist? 

Aber er könnte sie wenigstens wieder unbefangen machen, ihr 
ihre schöne Arglosigkeit wiedergeben I 

Er sprang auf, zog seinen Waffenrock an, schnallte den Säbel 
um, trat fest auf und ging in die Gegend, wo sie wohnte, denn 
er hatte herausgebracht, daß und wann sie ausging. Er spazierte 
auf der Mariahilf erstraße und wartete, bis sie kam. Sie wanderte 
Arm in Arm mit ihrer Mutter, nie ging sie allein. Täglich hoffte 
er, sie würde einmal allein gehen und er sie ansprechen können, 
aber das ereignete sich nie. Immer gingen die beiden wie 
Schwestern Arm in Arm, von weitem schon zu erkennen, leicht, 
ruhig, unbefangen, er sah Corona mit der Mutter plaudern wie 
ein zärtliches Kind. Dann grüßte er ehrerbietig, das heißt, wenn 
sie ihn anschauten, sie bemerkten ihn aber meist gar nicht oder 
taten wenigstens so, dann konnte er nicht einmal seinen Gruß 
anbringen und ging sporenklirrend, ein armseliger Held, unver- 
richteter Dinge davon. Wenn sie aber doch aufsehen und ihn 
bemerken mußten, dankten sie fremd, und Corona sah ihn un- 
bekannt an, als wüßte sie nicht, wer er sei, als hätte er sie nicht 
in seinen Armen gehalten und — einen kurzen Augenblick lang 
— geküßt, eingeatmet und verführt, denn so war es gewiß, er 
hatte sie besessen, wenn sie ihm auch entgangen war. Irgend- 
wie waren sie beide für einander bestimmt Sie mußte ihn ebenso 
verlangen, wie er sie, es konnte nicht anders sein, wenn es eine 
Sprache des erfüllten Augenblicks gibt und wenn ein Mensch 
um den andern weiß. Warum senkte sie den Blick, warum ver- 
mied sie, ihn anzuschauen, warum bog sie den Kopf zur Seite, 
wenn er kam ? Es war entschieden zwischen ihnen, sie gehörte 
ihm, wenn sie sich auch ein Leben lang von ihm fernhielt und 
hundert Gassen weit wegblieb, und wenn er sie nie mehr sah, 
und wenn sie ein anderer bekam. Sie mochte sich in die Mutter 
einhängen, so eng sie wollte 1 Da, auf der Mariahilferstraße, vor 
tausend unwissenden Zeugen, umarmte er sie wieder, war sie 
wieder bei ihm und konnte ihm nicht entfliehen! War er när- 
risch oder hatte er recht? Er hätte jede andere, gerade in Be- 
gleitung einer Mama, höflich ansprechen, ein Stück Weges be- 
gleiten, säbelklirrend alle Liebenswürdigkeit aufbieten, Witze 
erzählen, eine Begegnung beim nächsten Ball verabreden und 
ein paar Tänze vormerken lassen können. Warum ging er an 

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Corona vorüber und wagte nicht, was er sonst selbstverständlich 
gefunden hätte? Hatte diese tolle Bezauberung, die ihn zum 
Narren machte, kein Ende, was wurde aus ihm, wenn ihn^eine 
solche Kinderei äffte und zum Knaben machte? 
Er schrieb Corona einen Brief und bat sie um eine Unterredung, 
um ihr gnädiges Gehör. Er erhielt keine Antwort. Und als er 
ihr nachmals auf der Mariahilf erstraße zu begegnen suchte, kam 
sie nicht mehr. Er hatte sie wohl von ihrem taglichen Wege 
vertrieben. Er lauerte jetzt vor ihrem Hause. Er sah zu ihrem 
Fenster hinauf, er stand stundenlang vor der Auslage einer Wirk- 
warenhandlung gegenüber ihrer Wohnung und wartete, ob er 
nicht einen Schimmer oder Schatten von ihr bemerkte. Bei Tage 
schämte er sich, so lange auf und ab zu gehen. Abends aber, wenn 
die Laternen angezündet wurden, patrouillierte er wie ein Wacht- 
posten. Er sah oben Licht, sogar einmal einen Schatten an den 
Fenstern, dann wurden die Rouleaux zugezogen, und es war aus. 
Corona hatte ihrer Mutter alles getreulich erzählt, sie hatte ihr 
auch den Brief gegeben. Mutter und Tochter hatten lange über 
die peinliche Angelegenheit gesprochen, beide unerfahren, ge- 
quält, was bedeutete dies alles ? Frau Elisabeth fragte Corona, 
ob ihr der Offizier etwa gefallen habe. Das junge Mädchen er- 
rötete und lachte unbefangen, sie habe vordem an ihn so wenig 
gedacht wie an irgend einen anderen. Sie habe freilich gut 
mit ihm getanzt. Aber seit der häßlichen Begegnung denke sie 
allerdings an ihn, weil er ihr das angetan habe. Nicht, daß er 
ihr mißfalle, denn er sei doch ein ansehnlicher, hübscher Mensch, 
aber es sei ihr so eigentümlich zumute, als habe sie ihm nichts 
zu verzeihen und könne gleichwohl nicht einen Augenblick den 
Überfall vergessen, an dem sie doch keine Schuld trage, als 
höchstens, daß er da war, und daß sie da war, und daß sie etwas 
Freundliches getan habe, das er so häßlich vergolten. Es sei 
ihr zumute, als könne sie gar nicht mehr unbefangen unter 
Leute gehen und müsse immer an den Vorfall denken und be- 
dauern, daß er sich gerade zwischen ihnen beiden. zugetragen 
habe. Es scheine ihr, sie hätte einen anderen vielleicht ohne 
weiteres verachten oder vergessen und sich selbst und ihre 
Dummheit auslachen können. Aber ihn nicht Nur wußte sie 
nicht, warum. Elisabeth schwieg und sah besorgt drein, runzelte 
die Stirn und schien nachdenklich. Sie wollten jede Begegnung 
vermeiden und über die Sache Gras wachsen lassen. Es würde 

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sich schon alles geben. Aber das Gras konnte nicht wachsen, 
denn immer traten harte Füße auf den wunden Flecken Erde, 
wo eine Jugend und scheue Unschuld ihr Kindergrab bekommen 
hatten. Eines Abends läutete es bei Frantzl, und ein Dienstmann 
brachte einen verschlossenen Brief, er solle ihn dem Fräulein 
Corona abgeben und auf Antwort warten. Kopfschüttelnd hielt 
Corona das Papier wie eine gefährliche Höllenmaschine zwischen 
den Fingerspitzen und reichte es ängstlich der Mutter. Sie fürch- 
tete wieder einen ärgerlichen Versuch Wasserportens, zu ihr zu 
dringen, aber diesmal war es eine Visitkarte Kaimund Heben- 
streits mit der Bitte, ihm in Fräulein Coronas eigenem Interesse 
ein kurzes Gespräch zu bewilligen, er warte unten. Man schickte 
den Dienstmann hinab, der Herr möchte doch in die Wohnung 
kommen, man lasse ihn bitten. Nach einer Weile brachte der 
Dienstmann abermals einen Brief, Raimund könne unmöglich 
der liebenswürdigen Einladung Folge geben, ebenfalls aus Rück- 
sicht für Fräulein Corona, er müsse vielmehr dringend bitten, 
sie möchte nicht verschmähen, ihn zu ihrem eigenen Besten 
einer kurzen Zusammenkunft zu würdigen. 
Elisabeth sah ihre Tochter fragend an, Corona gab ihr ratlos 
den Blick zurück. Sie hatte vor diesem fürchterlichen Menschen 
Angst, man wußte ja nie, war er ein Narr oder bei Trost und 
stiftete nur, ohne es zu wollen, Unruhe und Verwirrung. „Du 
kannst ihn doch nicht wegschicken, wer weiß, was er Wichtiges 
zu sagen hat Vielleicht handelt es sich gerade um uns?" 
„Soll ich also gehn? u 

„Ja, ich stehe hier am Fenster und schaue hinunter. Du gehst 
nicht weiter, als ich dich sehen kann, mein Kind. Und sag' ihm 
nichts, höre ihn nur an." 

Corona warf einen dichten Schleier um und trat, so verhüllt, 
mit einem ängstlich grüßenden Kopfnicken vor Raimund Heben- 
streit Der zeigte groß und dürr ein ernstlich feierliches Gesicht, 
seine gestielten wasserblauen Augen wanderten auf ihr herum 
und maßen sie von oben bis unten. „Wundern Sie sich nicht, 
daß ich Sie überfalle. Sie haben Feinde." 
„Ich habe niemand Böses getan!" 

„Eben darum. Übrigens, Sie sind auf der Welt, also haben Sie 
Feinde. Haben Sie es denn nicht bei uns gemerkt, am letzten 
Abend? Da ist irgend etwas nicht in der Ordnung gewesen." 
Corona schwieg. „Sie brauchen mir gar nichts zu sagen, Fräu- 

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lein. Sie haben gewiß nichts Böses getan. Sie sind nur gewesen, 
wie Sie sind. Das ist genug, wenn andere anders sind. Haben 
Sie wirklich nichts gemerkt? Alle Wände haben doch Augen, 
alle Wände haben doch Mäuler, alle Menschen haben Zungen, 
die stechen, und Köpfe, die lauern, und Münder, die Seelen 
fressen. Es ist sehr übel, wenn man auf der Welt ist." Er 
knackte die Fingerknöchel zusammen und schien ihr Geräusch 
zu belauschen. 
Corona schwieg. 

„Ich komme nicht, um Ihnen das zu sagen; was Sie von der 
Welt glauben, ist Ihre Sache. Sie können meinetwegen den- 
ken, es geht Sie nichts an. Aber wenn es schwarz auf weiß ge- 
schrieben steht, wenn die Wände zusammenkriechen und einen 
erdrücken wollen, der zwischen ihnen steht und weiter nichts 
tun kann, als da sein, wird es für ihn unangenehm. Haha! 
Lesen Sie keine Zeitungen? Keinen Inseratenteil? Nicht? Ei, 
das ist schade, es ist eine interessante Lektüre. Sie sollten un- 
bedingt diese kleinen Anzeigen lesen, denn da wird man ange- 
zeigt. Jeder Abonnent kann um vier oder sechs Kreuzer bei 
der Gerichtsverhandlung mitreden, die einen andern vom Leben 
zum Tod bringt, und der Betroffene weiß gar nichts davon, 
heißt, wenn er den Inseratenteil nicht liest Das kommt Ihnen 
wunderlich vor, es ist aber so. Fürchterlich närrisch und noch 
viel schrecklicher, als etwa ich zum Beispiel Setzen wir den 
Fall: Sie haben einen Todfeind. Sie brauchen ihn gar nicht 
zu kennen, oder sie halten ihn für einen arglosen, dummen Kerl, 
oder Sie wissen gar nicht, daß er es auf Sie abgesehen hat 
Wie Sie vorhin zu bemerken geruht haben, Sie hätten ja kei- 
nem Menschen etwas Böses getan. Als ob das nicht gerade 
der beste Grund wäre, Ihnen etwas Böses zu tun, denn das 
grundlose Böse, das man stiften kann, so recht vom Herzen, 
das schmeckt am besten. Komisch, nicht wahr, aber so ist es. 
Hi hil Wollen Sie wetten, wollen Sie es einmal versuchen? 
Oder nein, ich erschrecke Sie, Sie brauchen nichts Böses an* 
zustellen, gewiß nicht, die Frau Mama kann oben am Fenster 
ganz unbesorgt sein. Hören Sie nur! Dieser N. N. oder P. T. 
oder X. X. spaziert also in ein Inseratenbureau und gibt „fünf 
Zeilen Petit" auf, an der Kassa, gegen bar, das kostet eine Krone 
oder zwei, was weiß ich. So ein Anschlag ist heutzutage billig. 
Sie schauen mich an wie einen ganzen Narren. Warten Siel 

Stoessl, Das Haus Erath 21 3 21 



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Ich erkläre es Ihnen gleich, Sie verstehen nicht einmal die Zei- 
tung, das kommt, weil Sie den Inseratenteil nicht lesen* Bil- 
dungslücke, gnädiges Fräulein 1 Wozu lernen wir denn lesen? 
Um Inserate zu verstehen. Wozu lernen wir denn schreiben? Um 
Inserate aufzugeben! Hihi! Vor ein paar hundert Jahren hat 
es Bravos gegeben, wissen Sie, was das Wort bedeutet? Ach ja, 
das haben Sie schon in der Geschichte gelernt Ein Bravo war 
ein Kerl, der zu allem fähig und bereit war und einen Dolch 
gehabt hat. Den Bravo konnte man mit seiner Waffe und seiner 
ganzen Mordbereitschaft ohne Scham und Gewissen, für hun- 
dert Dukaten oder weniger, je nachdem gerade die Nachfrage 
stand, es gibt einen Kurs für den Mord wie für eine Aktie, 
man konnte ihn also kaufen, um einen Feind umzubringen, in 
einer dunkeln Gasse kaltzumachen, eiskalt, so kalt wie meine 
Hände. Ja, also was wollte ich sagen? Ich verwickle mich in 
mir selber, kurz und gut, ein Bravo war auf diese Art selbst bei 
niedrigem Kurs noch teuer genug, und ein Mord immerhin ein 
kostspieliges Vergnügen, die heutige Zeit macht es billiger und 
ohne Blut noch dazu, wir sind human, hil hi! hi! hi! Komisch, 
nicht wahr? Es fließt nur Druckerschwärze, kostet bloß eine 
Krone und bringt einen Feind auch um, moralisch versteht 
sich, aber das tut nicht weniger weh. Im Gegenteil. Die Moral 
tut am meisten weh. Das gewöhnliche Messer ins Herz ist ein 
schneller Spaß dagegen. Die Moral schmerzt ein Leben lang, 
wenn sie einen Stich bekommt Diese Bravos waren gemüt- 
liche Mörder gegen unsere humanen Inseratenbureaus. Sie 
wissen nichts davon, gut, solange ich meine Moral nicht kenne, 
tut sie nicht weh. Das Unglück ist nur, daß jeder Beliebige 
meine Moral anrühren darf, dann spüre ich sie gleich bis in die 
Knochen, bis ins Herz und habe das Gift im Leibe und bringe 
es nicht mehr aus meinem Blut Das ist eine Art von An- 
steckung. Die Ärzte haben sich damit noch nicht abgegeben. 
Weil der Bazillus davon gar nicht erst gesucht zu werden braucht 
Die Ärzte finden ja nur, was es gar nicht gibt, das, was jeder 
weiß und kennt, suchen sie nicht weiter. Aber gerade das 
Selbstverständliche ist die schlimmste Krankheit Unsere mo- 
ralischen Wehwehs sind ärger als ein Fieber oder eine kleine 
Influenza oder ein bißchen Lungenentzündung oder sonst eine 
körperliche Sache. Na, schön. Also ein Kerl gibt ein Inserat 
auf, oder er geht in ein Auskunftsbureau und verlangt eine ganz 

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diskrete Information über Sie, zu Heiratszwecken, oder ob er 
Ihnen fünfhundert Gulden anvertrauen kann, oder was Ihre 
Herrn Eltern eigentlich für Leute sind, und eine Gesellschaft, 
die Sie gar nicht kennt, der Sie nichts angehen, kundschaftet 
prompt Ihre Zustände aus, erforscht Sie wie ein Stück Ware 
oder wie eine Kuh auf dem Markt und beschreibt Sie, schwarz 
auf weiß und hat Ihre Ehre aufgezeichnet wie eine Erdkunde 
oder einen Viehbefund und ein Warenattest. Und damit sind 
Sie fertig. Gemordet! Bloß daß Sie kein Geheimnis mehr 
haben, macht Sie ja tot, bloß daß ein Inserat Sie öffentlich an- 
gehen, zu irgend einer Sache überreden, Ihnen ein Kompliment 
machen, Ihnen ein Rendezvous antragen darf, ohne daß Sie 
etwas davon wissen, macht Sie ja zum Opfer jedes Beliebigen, 
es liefert Sie aus, Sie sind in jedem Munde, der von Ihnen 
schwatzen will, Ihre Ehre liegt in einem Stück Papier nackt 
und schmutzig im Kot, daß keiner sie mehr aufheben mag. 
Ob Sie zu dem Rendezvous kommen, ob Sie die hübsche Zu- 
mutung auch nur ahnen, ob Sie Ihre Möbel verkaufen wollen, 
ob Sie Staatsgeheimnisse auf diesen gedruckten Antrag hin 
ausplaudern möchten gegen hohe Bezahlung, ob Sie irgend 
etwas von dem zu tun gedenken könnten, was Ihnen zugemutet 
wird, selbst wenn Sie so weit kämen, derlei Inserate zu lesen 
und auf sich zu beziehen, ist einerlei. Sie denken gar nicht 
daran, zu Markt zu gehen, Sie haben niemand etwas getan, 
nicht wahr? Sie wollen gar nicht heiraten, es ist also gar kein 
Anlaß, Ihre Mitgift auszuforschen oder die Familie Ihrer Herrn 
Eltern nachzuprüfen. Macht nichts 1 Ist gar nicht eigens not- 
wendig. Es braucht nur dem Herrn N. N. oder der Dame X. X. 
oder P. T. einzufallen, sich's eine Krone Inseratengebühr oder 
Auskunfteivorschuß kosten zu lassen, um Ihre Moral anzurühren, 
bloß aus Spaß und zur Unterhaltung, um zu fühlen, ob sie so 
seidenweich und flaumzart ist, wie sie ausschaut Denn Ihre 
Moral schaut so aus wie Ihr Gesicht. Vielleicht braucht wer 
Näheres über diese Moral, um aus dem Nichts einen hübschen, 
spannenden Roman zu machen und zu sehen, wie sich die An- 
gelegenheit entwickelt, jedermann hat es in der Hand, Sie 
hinzustellen, als ob, Sie zu behandeln, als wie, Ihnen zuzurufen : 
Aha! Und vielleicht bin ich, sind Sie schon hundertmal auf 
diese wohlfeile Art verraten und ausgeboten worden, an allen 
Straßenecken, in allen Tabaktrafiken verhandelt Vielleicht 

2I * 3*3 



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sind Sie schon lange tot, weiß ich, wer es sich und wie oft eine 
Krone hat kosten lassen, um Sie umzubringen, ohne daß Sie 
es auch nur wissen. Und wenn Sie es erfahren, ist es zu spät 
Die Leute wissen es längst Sie schauen Sie gar nicht mehr so 
an wie einen unschuldig lebenden Menschen, sondern von oben 
herab oder durch und durch, oder von der Seite wie einen 
Toten, den man nicht mit dem Fuße stößt oder den man nur 
eben mit dem Fuße stößt Sie können sich das gar nicht er- 
klären, Sie wissen ja gar nicht, daß Sie bereits tot sind. Sie 
sind's aber längst und gründlich. Und alles um eine Krone, 
eine Krone fünfzig, zur Unterhaltung eines N. N. oder P. T. 
oder X. X. Sie selbst können sich Ihrerseits auch den Spaß 
machen. Jedes Inseratenbureau ist bereit Die Zeitungen leben 
davon. Sie haben keine Ahnung? Sie schauen mich an wie 
einen Narren? Nun, ich gebe ja zu, ich bin nicht ganz so ge- 
scheit wie die anderen Leute, die wärmere Hände haben, aber 
ich weiß immerhin manches, und Sie tun mir leid, Fräulein 
Corona. Sie sind gut Was haben Sie auf der Welt zu suchen? 
Wollen Sie tot herumgehen und sich daran gewöhnen? Nun, 
ich habe Ihnen einen solchen Schwarz-auf-Weiß-Mord mitge- 
bracht Lesen Sie ihn. Denken Sie nach, wer Ihnen das ge- 
tan hat Wer an Ihrem Tod in Druckerschwärze ein Interesse 
hat Sie werden schon darauf kommen. Vielleicht können Sie 
sich schützen? Man soll es doch wissen, wenn man einen Dolch 
zwischen die Rippen bekommt Besser, Sie erfahren recht- 
zeitig wie und wo, als Sie merken es zu spät, daß Sie irgendwie 
totgemacht sind. Die Leute haben eine so arge Manier, einen 
zu behandeln und fühlen zu lassen, daß er tot ist Sie gehen 
selbst etwa längst als verfaulte Leichen herum, was die Moral 
betrifft, und haben sie selbst umgebracht, ohne daß erst ein 
anderer ein Inserat aufzugeben brauchte, aber just darum sticht 
ihnen ein unschuldiges Stück Leben, ein recht moralisches 
Ungefähr am ärgsten ins Auge. Sie können nur lauter Leichen 
um sich sehen und vertragen, und wenn sie sich schon selbst 
verachten müssen, möchten sie jeden andern auch verachten 
dürfen. Es soll nur Tote im Leben geben. Die Lebenden 
sollen Unrecht behalten und draufgehen. So ist es. Das habe 
ich Ihnen sagen wollen, es braucht's niemand weiter zu wissen. 
Man bekommt statt eines Dolches ein Stück Zeitungspapier 
zwischen die Rippen, und man spürt es moralisch. Die Moral 

3*4 



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hat uns nämlich noch zu allem übrigen gefehlt. Wir verschar- 
fen unsere Todesarten, je unblutiger und schmerzloser wir sie 
raachen, um so öfter können wir sie erleiden. Darauf kommt 
es an, auf ein recht dauerhaftes Sterben. Da capo in infinitum. 
Nun, nichts für ungut Ich küß die Hand. 4 * Damit wandte er 
sich schwerfällig um, machte eine Verbeugung, drückte Corona 
ein Zeitungsblatt in die Hand, zog mit einer weiten Bewegung 
den Hut und stelzte davon. 

Corona, welche die ganze Zeit geschwiegen hatte, nicht nur 
weil sie den Rat ihrer Mutter befolgen wollte, sondern weil sie 
von seinem verwirrten Gerede betäubt und ängstlich war, hätte 
jetzt doch fragen mögen, was er denn meine und warum er ihr 
das alles gesagt habe. Aber er wartete ihre Überlegung nicht ab, 
sondern ging so plötzlich, wie er gekommen. War er ein guter 
oder ein böser Narr, jedenfalls tat es weh, wenn er mit einem 
redete, und Corona spürte einen Schmerz, eine schwere Ahnung 
von Kummer, die er ihr verursacht hatte, indem er ihr wohlwollte. 
Sie war ganz beklommen und schlug das Blatt um, auf dessen 
letzter Seite sie eine rot bezeichnete und eingeränderte Anzeige 
fand. Sie wollte sie gleich hier unter der Laterne lesen. Da 
fühlte sie sich plötzlich beobachtet, blickte unwillkürlich auf, 
sah ein bekanntes lächelndes Gesicht, einen dunkeln Kopf mit 
dunkeln Augen und weißen Zähnen, der sich vor ihr grüßend 
neigte. Wasserporten stand hinter ihr. Er sprach etwas, sie 
hörte aber gar nicht, was er sagte, sondern rannte rasch davon, 
ins Haus, über die Stiege hinauf, öffnete atemlos wie auf der 
Flucht die Tür, schlug sie hinter sich zu, stürzte ins Zimmer, 
fiel gerettet, nein getroffen auf einen Stuhl und fing hoffnungs- 
los zu schluchzen an, den Kopf in beide Arme vergraben, über 
den ganzen Körper zitternd. 

Ihre Mutter stand hinter ihr, gleich fassungslos, und legte nur, 
mit stillen Tränen in den Augen, ihre Hand auf das kindliche 
blonde Haupt 

„Unvergeßlicher Augenblick I Unschuldige Königin, aus An- 
betung gekränkt, aus Bewunderung beleidigt, wolle vergeben 
und dem unglücklichen Schuldigen Gelegenheit vergönnen, 
Verzeihung zu erbitten. Nur einmal ein Wiedersehen. Unter 
A. B. im Auskunftsbureau des Blattes." 

Die beiden Frauen lasen bestürzt diese Zeilen. Raimund He- 
benstreit mochte recht haben. Dies konnte auf den unglück- 

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liehen Vorfall in seinem Hause anspielen, freilich ebensogut 
auf einen unbekannten anderen zweier anderer beliebiger Men- 
schen. War Corona denn die einzige, die gekränkt werden 
konnte? Sie suchten das Datum der Zeitung. Es war schon 
ein älteres Blatt, vor ein paar Tagen erschienen. Das bot keinen 
Anhaltspunkt weiter. Merkwürdig nur, daß Wasserporten gerade 
aufgetaucht war, als Corona die Zeitungsnummer in die Hand 
bekam und las. Hatte er sich des Narren bedient, um sie dar- 
auf aufmerksam zu machen? Waren die beiden einverstanden? 
Dazu schien Raimund zu aufrichtig, Wasserporten doch nicht 
wohl fähig, denn es wäre gar zu unwürdig gewesen. Immerhin 
konnte er, da Corona auf keine Weise seine Bitten erfüllte, ihm 
Gelegenheit zur Aussprache zu geben, eine solche Anzeige ver- 
sucht haben. Raimund Hebenstreit kam etwa zufällig darauf 
und bezog mit dem Scharfsinn seiner Narrheit das Inserat auf 
diesen Vorfall, den er wohl ahnte. So besorgte er vielleicht, 
ohne es zu wollen, die Geschäfte Wasserportens und half ihm, 
indem er Corona aufmerksam machte. Hatte Corona oder viel- 
leicht Wasserporten jemand andren, der ihnen einen Possen 
spielen wollte? Wen konnte es freuen, eine solche Sache an- 
zufangen, besonders wenn er gar nicht wußte, ob das Inserat 
gelesen werde und derjenigen auch wirklich vor Augen kam, 
die es eben sehen und lesen und auf sich beziehen maßte, da- 
mit die Absicht gelang, sie zu verwirren und zu betrüben. Aber 
darauf konnte der unbekannte Anstifter schon rechnen. Der, 
dem eine solche Anspielung galt, wurde immer irgendwie dar- 
auf aufmerksam gemacht Irgend ein guter Freund zeigte schon 
mit Fingern auf die Stelle, und der Anstifter saß in seinem 
Winkel, im Hintergrunde, und wartete auf das weitere. 
Corona lächelte, nein, es konnte sich doch nicht auf sie be- 
ziehen, wer hätte so viel List und Bosheit aufgeboten, um sie 
zu kränken, wenn nicht Wasserporten, aber in guter Absicht, 
die Zeilen hatte einrücken lassen? Wer wußte denn sonst von 
ihr? Sie lebten doch so still und von allen Menschen fern. 
Elisabeth fragte: „Und Raimund Hebenstreit selbst?" 
„Der sollte mich dann noch besuchen, um mich darauf auf- 
merksam zu machen und so teilnehmend zu tun?" 
„ Gerade dann. Wie du ihn mir schilderst, ist er ja ein bös- 
artiger Narr. Er kann sogar aus irgend einer guten Absicht 
etwas so Schlimmes ausgesonnen und angestellt haben. u 

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„Du meinst, er erfinde sich derlei, um etwas anzustellen und 
weiterzuverf olgen ? 

„Er könnte damals irgendwie doch nur ungenau beobachtet 
haben, was vorgefallen ist und jetzt auf die Spur kommen wollen. 
Es läßt ihm vielleicht keine Ruhe, daß nichts geschehen soll. 
Wie steht er denn mit Wasserporten? 1 * 

„Ich habe keine Ahnung. Doch wohl wie mit den anderen 
Gästen seines Hauses. Sie bemerken ihn ja nicht sehr. Jeder 
läßt ihn möglichst weit links liegen. Es ist ja auch kein Ver- 
gnügen, mit ihm zu reden, gar mit ihm zu tanzen. tt 
Die beiden Frauen trugen schwer an diesem armseligen pein- 
lichen kleinen Ereignis. 

Sie hatten sich vordem wahrlich am allerwenigsten um den 
Inseratenteil der Zeitung gekümmert Daß diese kleinen An- 
zeigen auch zu anderem dienen sollten als alte Sachen aus- 
zubieten oder zu fordern oder Stellen zu suchen oder auszu- 
schreiben, war ihnen vordem ganz unbekannt gewesen. 
Seither stürzte sich aber besonders Elisabeth, irgendwie ent- 
zündlich und empfänglich für das eigentümlich Rätselhafte dieser 
angedeuteten Schicksale, dieser abenteuerlichen Begegnungen, 
anspielenden Briefe, zwischen den Zeilen zu lesenden Bekennt- 
nisse, glühenden Versprechungen, abstoßenden Zumutungen, 
zuckenden Abschiede, nachflehenden Hoffnungen, schon in aller 
Morgenfrühe auf das Blatt, um zu suchen, ob sie nicht aus einer 
neuen Anzeige etwa einen neuen Anhaltspunkt herauslas. Es war, 
als ob sie wirklich aus dem Hinterhalt eine Wunde empfangen 
hätte, die sie nun selbst stündlich spürte, und in der sie wühlte, um 
sie zu spüren. Sie kam nicht mehr zur Ruhe. In der Tat verging 
kaum eine Woche, wo nicht irgend ein solches Inserat mehr oder 
minder passend auf Corona, auf ihre Gewohnheiten, auf ihren 
unschuldigen Abendweg, auf jene Gesellschaft im Hebenstreit- 
schen Hause, auf Wasserportens Versuch, sich zu rechtfertigen 
und das Mädchen wiederzusehen, auf Raimunds Warnungen, 
auf diese und jene Einzelheit bezogen werden konnte. Freilich 
mochte es ebensogut ganz fremde Ereignisse meinen und auf 
andere Menschen anspielen, aber Elisabeth sah in jedem Augen- 
blick ihr Kind in seiner Ehre bedroht, seine Unschuld durch 
schlüpfrige Anspielungen und Zumutungen gekränkt. Sie stand 
vor einem furchtbaren unheimlichen Rätsel, das ihr taglich 
höher über den Kopf wuchs, je mehr sie danach fragte, je mehr 

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arge Züge sie dazu beitrug und sammelte. Corona, die ihr in 
allem gehorchte und von der Mutter, ihrem einzigen vertrauten 
Umgange, der einzigen Freundin und Gefährtin so abhängig 
war wie von einem stärkeren Willen, dem sie sich liebend fügte, 
begann nun ebenso nachzueprübeln, zu forschen, zu suchen und 
zu fragen wie Elisabeth. Sie konnten stundenlang über solche 
unscheinbare Anzeigen sprechen, jedes Wort davon um- und um- 
drehen und seine Zusammenhänge unwissend untersuchen, wie 
sie dem Täter auf die Spur kämen, wer Corona dies Üble meinen 
möchte, wie man neue Zumutungen vermeiden, Anspielungen 
ausweichen, künftige Bosheiten zuschanden machen könne. 
Elisabeth vermochte nicht mehr, wie es einzig richtig gewesen 
wäre, die Sache auf sich beruhen und einschlafen zu lassen, sie 
suchte in ihrer Aufregung alle Menschen und Gelegenheiten 
auf, wo sie einen Anhaltspunkt für ihre Vermutungen zu finden 
hoffte. Zuerst die Doktor Mainone. Sie teilte ihr freilich 
nicht den eigentlichen Vorfall mit, der dem ganzen weiteren 
Verlauf zugrunde lag. In echt weiblicher Scheu glaubte sie, 
die bloße Tatsache möchte genügen, daß ein Offizier im Heben- 
streitschen Hause sich ihrer Tochter unziemlich genähert und 
nachmals auch auswärts vergeblich gesucht habe, ihr zu be- 
gegnen. Darauf seien diese Anzeigen aufgetaucht, die zuerst 
bloß von ihm und für ihn zu sprechen, bald aber wie zum Hohn 
von allen möglichen Seiten herzurühren geschienen hätten. 
Die Doktor Mainone hörte die Erzählung mit leidenschaft- 
licher Teilnahme, ganz Feuer und Flamme an. Das war etwas 
für sie ( Das stachelte ihren Sinn für alles Böse an und zugleich 
ihre großartige moralische Entrüstung gegen alle gedachten 
Bösen außerhalb. Sie glühte vor Aufregung und Begeisterung. 
Ihrer geliebtesten Corona konnte so etwas geschehen! Wer 
konnte einem so unschuldigen Geschöpf etwas so Arges zu- 
denken? Schließlich sank aber, je mehr sich alle Spuren ver- 
wirrten, ihre Lust an der Sache, ihre Fiebertemperatur auf das 
normale Maß herab, und Frau Elisabeth fand sich genau so klug 
wie zuvor und konnte ihren Unwillen kaum unterdrücken, als 
ihr die Mainone am Ende gar die Sache selbst auszureden ver- 
suchte, sie solle sie sich mindestens nicht zu Herzen nehmen, 
aber Frau Mainone wolle fernerhin auf der Hut sein, ihr ent- 
gehe derlei nicht so leicht, sie würde schon noch darauf kom- 
men und so weiter. 

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„Mein süßes Herz, meine einzige Corona, meine Sonne, meine 
Wonne, mein Glück auf Erden, wie wir daheim sagen," — da- 
mit umarmte sie Corona — , „wer könnte dich kränken, wer 
möchte dir etwas Böses zufügen, du Schatz voll Güte, du Perle 
von Unschuld, du blonder Zauber des lieben Gottes I Das bildest 
du dir doch nur ein in deinem bescheidenen Angstherzchen, du 
bist dir wohl selbst zu schön, Wonne meines Herzens, so daß du 
dich mit irgend etwas Argem kränken mußt, damit dich die 
Welt nicht fremd ansieht. Nein, meine Liebste, Schönste, wer 
sollte dir etwas antun mögen, Herzchen, du Augentrost, du 
Stern auf Erden, du mein Blumenangesicht und Hoffnungsstrahl. 
Nichts kann dir geschehen, sei getrost und lache darüber." 
Was aber die Generalin Hebenstreit betraf, so war sie die 
klügste, feinste Dame, die man sich denken konnte, gerecht wie 
eine Gold wage und liebevoll gegen alle, die sie gut befunden 
hatte. Wie konnte man ihrer Gastfreundschaft und heiteren 
Lauterkeit des Gemütes, der Bildung ihres Herzens etwas Böses 
zumuten! Sie ahnte gewiß nichts davon. Hätte denn sie, die 
Doktor Mainone, wenn es auch nur entfernt anders gewesen 
wäre, ihren einzigen Schatz, ihr allergeliebtestes Krönchen, die 
Zuversicht ihrer Seele, in das Hebenstreitsche Haus gebracht? 
Dafür trüge doch sie selbst alle Verantwortung. Nein, dem 
Hebenstreitschen Hause durfte man nichts Arges zutrauen, das 
waren untadelige Menschen, weitherzige Naturen ohne List und 
ohne Makel. 

Frau Elisabeth und Corona zogen sich so klug wie zuvor aus 
dieser stürmischen Flut von Begeisterung, unverbindlicher Liebe 
und zweckloser Teilnahme zurück. 

Die beiden Frauen kamen so, von unsichtbaren Feinden, von 
der eigenen Unrast gehetzt, reinen Gewissens, doch wie Schul- 
dige, arglos, aber wie Übeltäterinnen endlich dazu, irgend eine 
Lösung herbeizuführen, durch irgend eine Aussprache sich zu 
befreien und den Frieden wiederzugewinnen. 
Die Mutter selbst faßte den wunderlichen Gedanken, Corona 
möchte sich mit Wasserporten einmal aussprechen, ihn auf 
Ehre und Gewissen fragen, was er meine, ob und warum er sie 
verfolge und es auf sie abgesehen habe. 
Der törichteste, schier unglaubliche Einfall, gegen Coronas 
Scham und innerstes Widerstreben und doch eben darum 
eigentümlich verlockend, entsprach doch wieder ihrer Offen- 

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heit und ihrem geraden Wesen. Darum fand ihn auch Corona 
schließlich natürlich, selbstverständlich, als hätte sie langst 
dieses Einfachste tun müssen, einem Menschen, der darum 
bat, sich erklären zu dürfen, eben diese Gelegenheit zu ge- 
ben. Ein Gespräch mit ihm mußte allem ein Ende machen. So 
antwortete sie ihm denn nach mehr als einem Monat auf seinen 
Brief und gestand ihm mit Wissen und Willen ihrer Mutter eine 
Unterredung zu. Sie bestellte ihn — auch die Wahl von Ort 
und Zeit entsprang ihrer beider Unerfahrenheit — an einem 
Vormittage in den Schönbrunner Park, ins Parterre vor dem 
Schloß, weil man am Vormittage dort wohl am wenigsten Be- 
kannte treffen mochte, und selbst wenn man wider Erwarten 
gesehen wurde, bei einem Spaziergange gerade dort von unge- 
fähr einander begegnet sein konnte. 

Wasserporten war aufs äußerste überrascht und erfreut, als er 
mit dem Brief die Erlaubnis erhielt, die er gar nicht mehr er- 
hoffte, sie brachte alles Feuer in ihm wieder zum Aufflammen ; 
so hatte er doch auf seine Weise recht gehabt und behalten ! 
Nun galt es nur, mit aller Vorsicht zu handeln, das zarte Mäd- 
chen nicht zu erschrecken, sie zugleich kühn und mit Rücksicht, 
entschlossen, aber fein zu nehmen, sie desto sicherer und für 
immer zu gewinnen. Alle Zweifel an sich selbst, an seinem Tun 
und Denken, an seiner Art zu leben, die Frauen zu behandeln, 
waren verschwunden, er hatte recht, er war vor sich selbst 
wiederhergestellt, seine Ehre frei und stolz wie je, er brauchte 
sich nicht mehr vor sich zu schämen. Er hatte sich seit damals 
von der Gesellschaft zurückgezogen und still verhalten, als hätte 
er Schulden, nun erschien er, doppelt munter, strahlend vor 
Jugend und Heiterkeit unter den Kameraden und, am Abend 
vor der Zusammenkunft zechte er fünf andere unter den Tisch. 
So bereitete sich Wasserporten auf das Zwiegespräch vor, das 
Corona schlaflose Wochen verursacht hatte. Sie sah blaß, über- 
nächtig und kummervoll aus, als sie sich anzog, um den harm- 
losen Spaziergang anzutreten, wo sie dem Mann zufällig begeg- 
nen wollte, der ihr die Ruhe aus ihrem Herzen gebrochen hatte. 
Es war eine ganz gewöhnliche, ganz einzige Situation, die man 
nur in den hergebrachtesten Romanphrasen erzählen kann. Es 
geht nämlich im Leben öfter als man glaubt, genau wie in den 
hergebrachten Romanen zu, denn seine Erfindung ist einfältig, 
wenn es sich um einfältige Helden handelt, und nur die Einzel- 

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heiten und die Ergebnisse gehen dann freilich abenteuerlich 
genug aus, wenn es sich auch nur um geringe Herzen, um ent- 
tauschte Hoffnungen, um nie gefundene Befreiungen, mit einem 
Wort, um ganz armselige Schicksale handelt, die nur selbst von 
sich soviel Aufhebens machen. Diese kleinen Ereignisse be- 
treffen nämlich immer ein Menschenleben und das nimmt sich 
bei aller Bescheidenheit immerhin gern wichtiger, als es eigent- 
lich berechtigt wäre, den anderen kleineren oder größeren 
Menschenleben gegenüber. 

Corona kleidete sich sorgfältig an, Elisabeth half ihr dabei, als 
ob sie ein Opferlamm für den Altar herrichtete. Ihrer beider 
Hände zitterten, sie waren rot im Gesicht und vermieden, von 
der Sache selbst zu redeD, die sie beide erfüllte. Corona nahm 
ein schwarzes Kleid mit schwärzer Jacke, sie hatte die Trauer 
um den Großvater noch nicht abgelegt, so stand ihr und diesem 
Anlaß die unscheinbare Tracht doppelt recht an, ihr blondes 
Haar verschwand völlig unter dem schwarzen Hut, ihr blasses 
Gesicht unter dem dichten Schleier. Man sah nicht einmal, wie 
herrlich sich ihre weiße, rosige Haut von dem Schwarz abhob, 
denn der Schleier verdeckte sie. Corona verhüllte ihre Schön- 
heit mit Willen und wie von ihr gequält, als von einer schmerz- 
lichen Schuld — so versteckt verletzte Scham ihren Vorzug in 
eine Nonnenvermummung — . Sie kleidete sich langsam an, 
Stück um Stück, als wollte sie die Begegnung, die sie selbst 
herbeigeführt hatte, nun verzögern, gar vermeiden. Endlich war 
sie fertig. Sie zog langsam die schwarzen Handschuhe an, und 
so nahm sie von der Mutter Abschied, die ihr noch auf den 
Treppenflur folgte, ihr schweigend, zärtlich nachblickte und sich 
über das Geländer beugte, um sie zu sehen, solange sie noch, 
Schritt für Schritt, die engen Handschuhe zuknöpfend, hinab- 

Vorfrühling in Schönbrunn! Corona trat durch das Gittertor 
bei den Obelisken und ging an den behelmten Gendarmen vor- 
bei durch den weiten Vorhof, das zugleich niedrige und groß- 
artige gelbe Schloß vor sich. Die Türen, die sie in die weiße 
Durchgangshalle mit dem sauberen Stöckelpflaster einließen, 
diese Halle selbst drückten auf sie, das Haus, obgleich Palast 
und fürstlich, wirkte eng und klein und schien über dem Ein- 
gehenden eine ungeheure Last aufzubauen, man eilte, auf der 
anderen Seite endlich ins Freie zu kommen. Der Blick war 

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dann ins Weite entlassen, er sah auf das matte, graue Parterre 
von Rasen, wo wohlgeordnete, noch unbesetzte umgestochene 
und sorgfältig gehäufte Erdhügel die genau abgezirkelten Figuren 
bildeten, welche später mit den freudigen Blumenmustern be- 
setzt werden sollten. Rechts und links, aber weit genug, um 
die Größe des freien Raumes nicht zu hemmen und ihn nur 
wie einen eigentlichen Natursaal unter der Decke des bewegten 
Himmels abzuschließen, zogen sich die schwarzen, noch unbe- 
laubten Wände der beschnittenen Buchen hin, der Blick reichte 
bis zu jenem mäßigen Hügel, der von der Gloriette gekrönt 
war. Ihre hohen, offenen Tore mit dem Gesims, mit den Waffen- 
trophäen ließen durch die mächtigen Bogen den Himmel grau 
und schimmernd hindurchleuchten und das Auge gleichsam in 
das Jenseits der unendlichen Lüfte und Wolken eingehen, wäh- 
rend die springenden weißen Pferde, die reißenden Fiußgötter 
in ihrem Taumel den Beschauer lachend zu verwirren suchten, 
als wollten sie die jauchzende Nähe der Gegenwart dem auf- 
wärts und jenseits schweifenden Sinn machtvoll entgegenwerfen. 
Das gleiche Widerspiel von Weite und Nähe druckten die bewegten 
Sandsteingruppen aus, welche, längs der lebendigen Mauer der 
gestutzten Bäume in kurzen Zwischenräumen angebracht, lauter 
mythologische Figuren zeigten in der leidenschaftlichen Be- 
wegung, als wollten sie sich ihrem schweren Stein entringen, 
Nymphen von Faunen emporgehoben, Göttinnen sich der Um- 
armung von Göttern erwehrend und eben im Kampfe trium- 
phierend, lauter Gleichnisse streitender Leidenschaft Man um- 
armte mit einem grenzenlosen Erstaunen das unbegrenzte ge- 
meinsame Leben aller, das eigene, das fremde, das einstige, 
das gegenwärtige, das eilende und verweilende, das flüchtige 
und unwiederbringliche, das im körperlichen Gedränge den 
Augenblick, den es von sich stößt, festhält, wenn man diese 
eingeschränkte Fläche mit dem kühnen Abschluß des durch- 
sichtigen Ruhmestempels oben überschaute. 
Der feuchte Kiesboden sank noch bei Coronas leichten Schritten 
ein und schien die Zögernde festzuhalten, auch der Ostwind, 
der mächtig in ihre Kleider, in ihren Schleier griff und sie zur 
Seite bog, verlangsamte ihren Weg. Sie wollte nicht Umschau 
halten, sie wollte sich ja bloß treffen lassen, doch erwartete sie 
ihn, sie kämpfte mit dem Wind, sie zog ihren Rock an sich, sie 
strebte durch den Widerstand des feuchten Bodens, des wehen- 

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den Sturmes, der kühn in den Bäumen rauschte, vorwärts gegen 
den großen Brunnen hin, den sie als eigentliches Ziel im Auge 
zu behalten suchte, bis Wasserporten plötzlich überraschend 
und unmittelbar vor ihr stand, aufrecht, die Hacken zusammen- 
schlagend, den Kopf mit seinem eigentümlichen dunkeln Lä- 
cheln leicht neigend, die ganze Gestalt leise erklirrend. Sie 
neigte ebenso leicht, rasch den Kopf, aber sie erhob ihn nicht 
mehr, sondern hielt ihn gebeugt, solange sie mit ihm sprach. 
Er suchte ihren Blick durch den dichten schwarzen Schleier und 
durch die geschlossenen Lider hindurch. 
„Dank, daß Sie mir vergönnt haben, was ich so lange ver- 
geblich verlangt habe. Daß Sie diesen Augenblick so endlos 
haben aufschieben können 1 Haben Sie denn nicht wie ich 
Aufklärung gewünscht, mich anzuhören, mir zu verzeihen? Ha- 
ben Sie denn nicht verlangen müssen, in aller Ihrer Güte, daß 
ich frei werde, ich war ja seitdem wie angebunden, gnädiges 
Fraulein." 

Corona hielt das Haupt gesenkt und schwieg. 

„Sie haben mich verurteilt, denn ich habe Sie damals gewiß 

schwer gekränkt und beleidigt Das weiß ich sehr wohl. Aber 

haben Sie mir durch ihren Abscheu nicht schon genug angetan? 

Noch kein Mensch hat mich verachten dürfen." 

Corona ging langsam, wie ohne Bewußtsein vorwärts, er blieb 

an ihrer Seite. 

„Sie waren gerecht, Sie haben sich diese einzige Sühne nehmen 
dürfen , mich zu verstoßen. Es blieb Ihnen ja auch nichts an- 
deres übrig, ich weiß es, denn Sie waren wehrlos, und ich habe 
Sie beleidigt 

Er wartete auf ein Zeichen, auf eine Gebärde. Corona hielt 
aber den Kopf gesenkt wie bisher und ging langsam weiter. 
„Aber glaubeo Sie, damit hört die Geschichte auf, damit kann 
sie aufhören? Glauben Sie, daß überhaupt zwischen zwei Men- 
schen, die, ich gebe es zu, durch eine solche Brutalität zusam- 
mengestoßen sind, jemals aufhören kann, was zwischen ihnen 
begonnen hat Bevor uns das geschehen ist, uns, sage ich, denn 
was ich getan habe, ist auch mir geschehen, hat man denn eine 
Wahl, wenn man sinnlos wird, bevor uns das geschehen ist, 
bevor sich das zwischen uns zugetragen hat, bevor wir so zu- 
sammengehetzt waren, konnten wir uns suchen oder meiden. 
Aber nachher!" 

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Corona erhob unwillkürlich den Kopf. Wasserporten spürte diese 
ihre Bewegung im Nu und witterte das herrliche Opfer. 
„Nachdem es geschehen ist, haben wir beide Macht überein- 
ander, wir gehören zusammen, wir haben ein Erlebnis mitein- 
ander, das nicht mehr aufzuheben, nur zu verzeihen und glück- 
lich zu machen ist, nachdem es unglücklich war. Denn diese 
Freiheit haben wir, das Verhängnis gut oder schlimm zu nehmen. 
Wenn Sie geschwiegen und mich ferngehalten und Ihre Erinne- 
rung an mich eingegraben hätten, wäre das Verhängnis für uns 
beide elend geworden. Ich hätte es nie vergessen, das weiß 
ich, und Sie? Sie brauchen mir nicht zu antworten. Wenn Sie 
es vergessen hätten, Sie hätten an seinen Folgen nicht weniger 
gelitten, denn Sie haben mein Zeichen in ihren Gedanken. Was 
immer und mit wem immer Sie nachmals etwas erleben konn- 
ten, war mit mir erlebt, von mir bestimmt. Sie konnten meiner 
Gegenwart, aber Sie konnten nicht mir entgehen.** 
Sie standen vor dem Nymphenbrunnen, es blieb ihnen nur 
übrig, entweder umzukehren oder sich seitwärts zu wenden. 
Wasserporten lenkte unwillkürlich gegen den linken, östlichen, 
einsamen Teil des Parkes, sie schlugen den Weg in die Allee 
ein, von dem offenen Parterre weg. 

„Sie fragen, ob es also in dem furchtbaren Belieben eines 
Mannes, eines rohen, eines unüberlegten, ich gebe es zu, eines 
gemeinen Menschen liegen kann, einen anderen reinen, makel- 
losen, edeln, wunderbaren, ein Mädchen wie Sie in dem schuld- 
losesten Augenblick eines entsetzlichen Irrtums, für ein ganzes 
Leben lang zu bestimmen? Ich frage mich ja selbst, wie das 
möglich ist, was doch so wahr und sicher bleibt, wie daß wir 
beide hier beisammen sind und nebeneinandergehen. Es ist 
nicht anders: ein Augenblick, der zwei Menschen so zusammen- 
gebracht hat, macht ein ganzes unentrinnbares Leben aus. 
Haben Sie eine Wahl, was Sie denken und was Sie zu denken 
vermeiden wollen? Können Sie Ihren Erinnerungen ausweichen, 
können Sie ein Wort vergessen, das Sie früher nie gewußt und 
einmal endlich verstehen gelernt haben? Das ist aber erst ein 
bloßes Wort. Und Sie sollten einen Menschen, ein Erlebnis, 
etwas, was mit Ihnen geschehen ist, woran Ihre ganze Seele 
und Ihr ganzer Körper beteiligt waren, vergessen, auslöschen 
können? Nein, Fräulein Corona, was man erlebt, kann man 
nicht begraben. Es wühlt sich wieder herauf. Je tiefer man es 

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zugedeckt, um so tiefer wächst es hervor. Je mehr Sie mich 
vergessen wollen, um so mehr bin ich in Ihnen, bis Sie sietf 
und mich freigeben und unser beider Grab öffnen, daß wir 
Licht bekommen und Luft atmen, glücklich leben dürfen wie 
heute und hier. Solange ich lebe, sind wir beide miteinander 
gefangen. Sie können mir, ich kann Ihnen nicht entgehen. 
Sie sagen nichts, Sie antworten mir nicht, Sie schweigen und 
wissen doch, daß ich recht habe. Sie haben viel um mich leiden 
müssen, darum habe ich Abbitte tun wollen. Je langer Sie mir 
die Gelegenheit dazu verweigert haben, desto bitterlicher haben 
Sie gelitten. Seien Sie wieder Sie selbst, vergessen Sie nicht, 
was ich Ihnen zugefügt habe, denn das können und dürfen Sie 
nicht, aber verzeihen Sie es. Erklären Sie es mit dieser wunder- 
lichsten Gelegenheit, mit diesem tückischen Augenblick, er- 
klären Sie es doch mit Ihrer Schönheit, Fräulein Corona, die 
jeden Gedanken, auch den kecksten, jedes Verlangen, auch das 
gemeinste, begreiflich macht, allerdings nicht entschuldigt. Nein, 
entschuldigen kann ich mich nicht, denn Ihre Art, Ihr Gesicht, 
Ihr Blick hätte meinen Sinn rein machen, hätte meine Hände 
binden, hätte mich würdig machen müssen, nicht toll, wie ich 
mich benommen habe. Ich gebe es zu, ich war ein Verbrecher, 
ich habe mir selbst in die Seele geschlagen, ja, ja, aber auf 
meine Art habe ich Sie eben geliebt und habe Ihnen gehuldigt. 
Auf meine Art, auf eine ruchlose, tückische Art, aber doch ge- 
huldigt Ich habe Sie angebetet wie ein Kind eine glänzende 
Sache, nach der es greifen muß oder wie ein Wilder, der sie 
besitzen muß, weil sie ihm ins Auge sticht. Aber, ob Sie mir 
verzeihen wollen oder nicht, Sie können sich nicht mehr zurück- 
nehmen. Wir sind beide nicht mehr, die wir waren. Aber wir 
können fortan doch miteinander reden. Möchten Sie nicht ein 
Wort zu mir sagen, daß ich Sie hören kann? Ich habe ja so 
lange nach dem Klang Ihrer Stimme verlangt Den Klang kann 
man ja nicht greifen. Kann man einen Klang einer Stimme 
verletzen? Ich möchte nichts als ihn hören, wie lange habe ich 
ihn mir vorgestellt, Fräulein Corona! Sprechen Sie, Fräulein 
Corona! Ein einziges Wort.** 

Sie standen vor der „Ruine** des künstlich erbauten und zugleich 
zerstörten Triumphbogens, mit den vielen bewußt umhergestreu- 
ten Trümmerblöcken, Säulenstümpfen und Bauresten, zwischen 
denen im Sommer Farne und Gras und Sträucher wucherten. 

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Corona sagte jetzt: „Nun aber verfolgen Sie mich nicht mehr, 
Herr Baron, lassen Sie mich jetzt in Frieden. Ich habe genug 
mitgemacht u 

„Nein, ich lasse Sie nicht, ich verfolge Sie erst recht, aber im 
Guten, nicht mehr im Bösen, Gehören wir zusammen, so wollen 
wir zusammenbleiben. Ich will Ihren Zwang nun auch teilen, 
Corona. Ich weiß nicht, wie ihre Verhältnisse sind, ich kenne 
Ihre Eltern nicht, ich bin von Herzen und Bernf Soldat, aber 
wenn Sie arm sind, will ich auf meinen Beruf verzichten, ich 
kann vielleicht in ein Amt eintreten, vielleicht können mir Ihre 
Leute oder andere zu einem Geschäft verhelfen, ich werde es 
lernen, ich werde mich drein schicken. Schwer wohl, aber es 
muß sich finden, wenn wir die Kaution nicht zusammenbringen. 
Sie sollen mir nicht mehr entgehen." 
Corona ging schneller, er hatte Mühe, ihr zu folgen. 
„Ich muß jetzt fort," flüsterte sie, hochatmend und bedrängt. 
„Darf ich Sie nicht begleiten?" 
„Nein, nein. Ich gehe allein. u 

„Aber haben Sie mich verstanden, was ich Ihnen gesagt 
habe?** 

Corona nickte schweigend. 

„Haben Sie mir verziehen? Denken Sie an das, was ich Sie 

gebeten habe?** 

Sie hielt den Kopf gesenkt. 

„Sie werden mir Antwort geben, Sie sagen mir nicht nein, Sie 
denken wieder gut von mir?** 

Corona eilte, vom Wind gejagt, die beiden Arme beschäftigt, 
den aufwirbelnden Rock zu halten und den Hut an den Kopf 
zu drücken, unter welchem das blonde Haar vom Winde her- 
vorgerissen wurde. 

„So geben Sie mir wenigstens die Hand zum Zeichen, daß Sie 
mir verziehen haben, und daß Sie mir Antwort geben werden, 
wenn es Ihnen recht und wenn es Ihnen gefällig ist, ja?** 
Corona stand einen Augenblick still, sie wandte sich zum Gehen, 
sie konnte kein Wort hervorbringen. Sie spürte vom ungestümen 
Wind und von ihrer Qual Wasser in ihren Augen, der Mann 
vor ihr, der Weg, die Gegenwart, alles verschwamm vor ihren 
Blicken, sie fürchtete zu taumeln, sie schämte sich, sie kämpfte 
um ihre Haltung, um sich selbst und dies alles in einer Sekunde, 
die er auf Antwort wartete, bis sie ihm ihre Hand im schwarzen 

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Handschah entgegenstreckte. Er stürzte sich mit seiner Rechten 
über diese kleine wehrlose Hand, und eine Sekunde lang wollte 
er sie an dieser Hand wiederum zu sich reißen wie damals, 
aber ebenso schnell besann er sich. Er wollte die Hand an 
seine Lippen heben, da machte sie sie ihm schwer, entzog sie 
ihm schnell und eilte fort, von dem mächtigen Windstoße schier 
davongetragen, der mit ungeheurem Sausen in die schwarzen, 
vielästigen, starren Kronen der Bäume griff. Wasserporten 
wollte ihr nachgehen, aber er faßte sich, lächelte bloß und be- 
obachtete sie mit seinen scharfen Augen, wie sie leichten 
Schrittes, den Rock gerafft, daß ihre kleinen Füße sichtbar 
waren, stärker vorgeneigt als sonst, weil im Kampfe mit dem 
Gegenwind, mit der freien Rechten je und je an den Hut und 
Schleier fassend, eilend, doch in der Flucht verzögert und ge- 
hemmt, davonging, seine wunderbare Beute. 

10. 

Ludwig und Thea gingen an einem Nachmittag dieses gleichen 
Vorfrühlings im Prater spazieren, beim Heustadelwasser, auf 
einem schmalen Weg am Saume des schilfigen Sumpf rand es, 
unter den hohen Erlen und Pappeln, zwischen denen die durch- 
schimmernde feuchte, silbergraue Luft« von schwerfälligen, 
schreienden Krähen durchzogen, eine zarte einsame Weite er- 
öffnete, als läge die Stadt mit den Menschenmasssen und dem 
Lärm nicht so nahe. 

Ludwigs Vater war krank, der eigentümlich andauernde Zustand 
drohte Schlimmes an. In qualvoller Lichtscheu lag der Lei- 
dende stundenlang im abgedunkelten Zimmer oder stellte sich 
mit dem Gesicht zur Wand in die Ofenecke. Er vermied es, 
über sein Leiden zu sprechen, seine eigenen Ahnungen zu be- 
rühren, gerade dieses Schweigen bedrückte ihn aber um so 
mehr. Ludwig sagte: „Ich weiß, daß er an diesem Leiden 
sterben muß. Und er weiß es auch. Nach einem glücklosen, 
unfreundlichen Leben wird er ein langes, langsames Sterben 
haben, und ich muß zuschauen. Aber was mich am tiefsten 
dabei quält, das bin ich selbst" 
„Warum?" 

„Weil ich den Schmerz und Kummer nicht einfach als Schmerz und 
Kummer fühle, wie man ehrlich und anstandig leiden soll, wenn 
einem der einzige Freund, der liebste Mensch unter den Augen 

Stocssl, Das Haut Erath 22 337 



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zugrunde geht, sondern weil ich meinen nnd seinen Zustand da- 
bei immer wie einen Stoff betrachte und vergleiche. Mir dient 
das wirkliche Leben als Gegenstand für ein Werk, als Plan, 
worin ich und er und du und unsere Umgebung lauter Spieler 
und Gegenspieler abgeben, statt daß ich schweige und Tranen 
habe, kommen mir Worte und Szenen und StimmuDgen und all 
dieses lächerliche Um und Auf ins Gehirn, ich verachte mich 
selbst, weil ich aus meinen Gefühlen ein Gewerbe mache. Und 
doch kann ich nicht anders. Ich komponiere den Tod, als sei 
das Sterben meines Vaters ein passender Gegenstand, das so- 
genannte große Erlebnis. Literaturl Ist es nicht eine Schmach, 
von dieser Gabe besessen zu sein, das Furchtbarste, das man 
weiß und sieht, mit einer Art von herzloser Sachlichkeit in sich 
aufzunehmen, um es zu bilden und schön vorzustellen. Der 
Ärmste, der einfältig lebt, kommt mir reicher und besser, das 
heißt menschlicher vor, als dieser verfluchte Trieb. Wem nütze 
ich damit, wem sollen alle diese besonderen Worte, die mir auf 
Kosten meines Gefühls zur Verfügung stehen. Heißt man das 
vielleicht mit seinem Blute schreiben? Mit seinem Blute ver- 
schreibt man sich nur dem Teufel. Das hat das Volk sehr gut 
gewußt Wen gehen diese Worte an? Braucht die Welt, braucht 
irgend einer diese Reste von kalt gewordener Leidenschaft, 
diese ersparten Brocken von ausgenützten Empfindungen, diese 
Selbstbeobachtung und Ausschrotung? Kann ich nur einen 
Menschen damit trösten oder bessern, gar erfreuen, kann ich 
damit irgend ein gemeines Wort oder eine böse Handlung ver- 
güten oder ein armes, stummes Leiden auf der Welt abwenden? 
Das schlimmste Tun beschämt noch immer das beste Reden, 
denn es kommt und geht von Mensch zu Mensch. Diese kunst- 
voll bedachten, ausgesuchten, ausgeschämten Worte sind aber 
Berechnung, Überlegung und Eitelkeit, darum müßte man sie 
getrost verbrennen, damit sie niemand weiter betrügen. M 
„Wenn du aber so mußt, Ludwig, dann darfst du dich darüber 
doch nicht weiter betrüben, denn es wäre nicht anders, als 
ärgerte sich eine Pflanze, daß sie Blätter, gar daß sie eine Blüte 
treiben muß, oder als verachte sich ein Fisch, weil er schwimmt 
Ich glaube, das hat auch mit den anderen Mensch.en, mit der 
Hilfe für sie und mit der Erleichterung der Leiden, mit der 
Sühne des Unrechts wenig zu tun. Vielleicht ist gerade dieses 
Verpflichtungsgefühl deine eigentliche Einbildung und Lüge. 

33» 



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Der eine hat das Wort oder den Ton oder die Farbe, and auch 
diese Gabe ist eine Last, nicht nur eine Freude, eben sein 
Schicksal, ein anderer ist dazu da, freundlich und den Men- 
schen angenehm zu sein, und ein dritter wieder bös und ge- 
hässig, der muß dichten oder malen oder singen, der andere 
lieben und geliebt werden und kaufen und verkaufen, einer ist 
Herrscher, ein anderer Bauer, ein dritter Diener, ein vierter 
tätig und besorgt, ein fünfter wiederum tut gar nichts als Spa- 
zierengehen oder irgendwo liegen und in die Luft schauen, und 
gibt sein Herz zum Spiel her. Der eine ist verliebt und macht 
verliebt, der andere haßt und macht die anderen hassen, der 
sieht die Welt böse und schafft Böses, der sieht sie gut und 
lockt das Gute überall aus dem tiefsten Versteck hervor, der 
eine lebt leicht vom Leichtsinn, der andere schwer von der 
Schwermut, und alle zusammen, jeder wie er muß, machen die 
Welt aus mit allen den Tieren und den Pflanzen und den Stei- 
nen und mit Wasser und Luft Du kannst nicht anders sein 
und leben als du mußt, aber du bist noch nicht so weit, es zu 
wissen und auch so zu wollen. Darin ist der starke Mensch 
schwächer als das schwächere Tier oder als die unwissende 
Pflanze, daß er seinen Trieb verachtet und meint, anders wollen 
zu müssen, als er eben wilL u 

„Das heißt doch menschliche Freiheit, Thea, und macht ein 
Schicksal: Wissen und Gewissen." 

„Ich glaube, jeder muß seine Freiheit aus seiner Notwendigkeit 
schaffen, nicht gegen seine Notwendigkeit Nur das macht den 
Menschen wahrhaft und einig mit sich selbst, daß er weiß, was 
er ist und muß, dann kann er wohl kein Unrecht damit tun und 
braucht sich selbst nicht zu bezweifeln. 

Wer aber mit sich einig wird, und sei's auch im Widerspruche 
mit der ganzen Welt, der ist gerecht und erfüllt auch schon 
seine Aufgabe. Sogar der Böse und Gemeine wie eben die Er- 
scheinungen der Natur, die ja auch nicht viel nach ihrer Wir- 
kung auf die Menschen fragt und am tiefsten wirkt, indem sie 
sich bloß zeigt, wie sie ist, wenn sie fürchterlich und erbarmungs- 
los scheint, am großartigsten. Könntest du einmal die Men- 
schen ihre Natur sehen machen. Du brauchst dich nicht zu 
schämen, wenn du dabei vor deinem eigenen Spiegel stehst, 
denn du mußt schließlich die ganze Natur in dich und aus dir 
holen. Das macht dein Schicksal und dein Wissen und Ge- 

22* 339 



wissen. Brauchst du dich darum mit Vorwürfen zu quälen, weiJ 
du diese Lasten schleppen mußt, während ein anderer Steine 
tragen oder Ziegel schupfen oder Erde graben muß? Vielleicht 
trägt ein zarteres Hirn schwerer als ein geplagter Leib, der 
körperliche Arbeit tut Unser Gerechtigkeitsgefühl darf das 
Leiden der anderen gewiß nicht vergessen, aber es braucht 
darum das eigene nicht zu verachten. Es läge mehr Würde in 
den menschlichen Handlungen, wenn sie sich nicht immer mit 
nutzlosem, weichlichem Mitleid belüden, sondern kräftig sich 
selbst gerecht würden und dadurch auch allen anderen Men- 
schen. Gerechtigkeit ist immer aufrecht, nicht niedergedrückt. 
Mitleid ist oft nur Menschenfurcht. Wer schafft, braucht nicht 
mitleidig zu sein." 

„Aber weiß ich denn, ob ich meinem Willen je genügen werde. 
Was ich bin, entscheidet meinen Wert, nicht, was ich sein 
möchte. Wer ist mein Richter? Dieses Suchen und Schauen 
und Bilden macht das Herz erstarren und den Verstand heiß. 
Der Trieb verliert ja seine eigenste Kraft dabei: die Empfin- 
dung. Die Wurzeln verfaulen, damit oben eine Blüte kommt." 
„Du mußt nur wissen, was du mußt. Du kannst nicht anders, 
als du kannst Dein Licht mußt du in dir haben und deinen 
Richter bei denen, die dich lieben." 

Damit hob sie sich auf die Zehenspitzen, denn seit jenem ersten 
Abend , wo sie — noch halbe Kinder — vor dem Spiegel auf 
ein Haar gleich groß erschienen, war sie nicht mehr, Ludwig 
aber beträchtlich gewachsen, so daß sie sich schon ein bißchen 
ausstrecken mußte, um ihn zu küssen. Sie umschlang seinen 
Hals und sah mit teilnehmenden Augen voll und tröstend in 
die seinigen. Da spürte er Tränen aufsteigen und freute sich, 
daß er leiden konnte; indem er aber daran dachte, vergingen 
sie wieder, und seine Augen blieben trocken. 
Thea sagte: „Ich träume viel und oft von meiner Kindheit und 
von unserem alten Hause und Garten, ich sehe das alles wohl 
schöner und tausendmal köstlicher, als es wirklich vielleicht ge- 
wesen ist, weil ich das Haus und den Garten gar nicht mehr 
mit meiner Einbildung vergleichen kann. Und irgendwie kommst 
auch du dann herzu und spielst in meinen Träumen mit, als 
wärst du in so kurzer Zeit bis in meinen Schlaf hineinge- 
wachsen." 

Ludwig nickte: „Nun, was hast du wieder geträumt? Ich träume 
340 



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reiten 9 und wenn ich einmal träume, ist es meist furchtbar, 
weil mein Schlaf dann alles Gemeine und Widerwärtige mit 
Worten und Szenen wiedererlebt, was ich gesehen habe, damit 
ich es nur nicht vergesse. Das Böse, das man erlebt hat, ver- 
giftet einen bis in den Schlaf und Traum hinein, bis in das Ge- 
wissen, daher kommt es wohl auch, daß ich so viel Angst vor 
mir selbst habe. Erzähle. M 

„Ich sagte im Traum zu dir: Heute gehen wir einmal in die 
Vergangenheit. Da gingen wir in die Schottenfeldgasse. Man 
sah dort den Kahlenberg ganz nah. Er leuchtete blau« Die 
Luft war herrlich gut Die Häuser waren ganz klein, wie aus 
der Ferne, und an beiden Seiten der Straße standen Bäume. 
Wir gingen in das Haus des Großvaters und durch die Tür mit 
den bunten Glasscheiben in den Garten. Dort spielten die 
Kinder des Großvaters. Darunter ein kleines, braunes Mäderl, 
das fürchtete sich vor mir und wollte davonlaufen. Ich aber 
hielt es, hob es auf und sagte : ,Du brauchst dich nicht vor mir 
zu fürchten, Antonie, du wirst ja einmal meine Mama.' Dann 
aber fiel mir ein, jetzt wollen wir in die Zukunft gehen, und ich 
faßte dich, Ludwig, fest an der Hand. Da entschwandest du 
mir, und ich war ganz allein. w 
Ludwig schwieg. 

Thea, die den Traum lächelnd erzählt hatte, verstummte und 
wurde ernst, da Ludwig nichts sagte. 

Nach einer Weile fragte sie leise: „Nun, ist es nicht ein artiger 
Traum, du sagst gar nichts dazu?" 

Ludwig antwortete: „Wie du mich im Traume als dein ewiges 
Recht und Gut in Besitz nimmst, und wie ich dir dabei zer- 
fließe!" 

„Das ist ja das* Entsetzliche an diesem sonst so hübschen 
Traum gewesen, daß er seine Drohung hinterließ." 
„So wie das Leben." 

Thea schwieg. Sie senkte den Kopf, und Ludwig sah, wie ihre 
Lippen zuckten, eine eigentümliche Lust befiel ihn, ihren 
Schmerz zu versuchen, ihre Wehrlosigkeit zu sehen, zwischen 
sich und sie eine Entfernung zu legen, die er zuweilen wie ein 
Bedürfnis und einen Schein von Freiheit brauchte. 
Er sagte: „Im Traum weiß man wohl mehr von der Wahrheit 
als im Wachen, wenigstens bildet man sich die Antwort, die 
man sonst unterdrückt Der Traum ist unser Hofnarr, der uns 

34* 



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I 



unbegehrte Aufschlüsse gibt und am meisten verachtet oder 
mißverstanden wird, wenn er uns das Richtige vorhält" 
„Was weiß er von dir? Er kann mir freilich mit mir selbst 
Angst machen, mich mit mir schrecken, aber wenn er dich 
irgendwie anzeigt, lügt er, das heißt, er verleumdet mich, daß 
ich mich fürchte, nicht dich." 

„Die Lüge weiß mehr von der Wahrheit als die Wahrheit 
selbst." 

„So wüßte mein Traum mehr von uns beiden als wir selbst." 
„Nein, aber er weiß alles, was du weißt oder fürchtest, er weiß 
das Mögliche, das, was in dir selbst noch an Wunsch oder 
Angst, an Furcht oder Leid schlummert, und das sagt er eben. 
Er verrät es. Er könnte nichts verraten, was er nicht wüßte." 
„Ich fürchte aber gar nicht, daß du mir davon gehst oder wie 
Luft aus meinen Händen schwindest, Ludwig. Ich habe dich 
hier neben mir, und neben mir wirst du gehen, solange du lebst 
und solange ich lebe, denn ich habe dich lieb und du mich 
auch," sprach Thea lächelnd. 
„So sprichst du, wenn du wachst" 

„Du aber, Ludwig, sprichst nur, wenn du wachst, schlecht und 
arglistig, im Schlafe müßtest du besser erscheinen, so wie du 
bist Und so möchte ich dich auch in meinen Träumen sehen, 
gut, nicht von lauter Zweifeln verwirrt, denn ich weiß deine 
Wahrheit besser als du selbst. Du wirst mich immer lieben und 
kannst gar nicht anders." 

„Ich darf nichts versprechen, denn ich kann es nicht wissen." 
„Du hast wieder Furcht, du könntest dich besser macheu, als 
du zu sein glaubst, darum möchtest du dich nicht mit einem 
Wort binden und bist es doch durch dein ganzes Selbst Ich 
werde dich nicht daran mahnen, wenn du es jetzt versprichst 
und einmal nicht hältst, Ludwig, aber heute solltest du doch 
glauben, solltest mich doch so lieben, daß du es getrost ver- 
sprechen müßtest, ohne daran auch nur zu denken, was einmal 
anders werden möchte. Liebende sollten doch nur eine einzige 
Gegenwart haben. Anders als ewig dürfte sich eine Liebe gar 
nicht bekennen." 

„Anders als zeitlich kann eine Liebe aber gar nicht sein«" 
„Liebst du mich denn nicht?" Sie schmiegte sich an ihn und 
umschlang ihn und lächelte ängstlich. 
Er schwieg hartnäckig. 

34* 



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„So versprich mir doch, daß du mit mir unseres Weges gehen 
wirst, wie wir hier zusammengehen. Und sei's bloß zum Scherz 
versprochen, weil ich es so hören will, Eigensinniger. 44 
„Das kann ich nicht 4 * 

„So möchtest du mich lieber allein lassen, als daß du mir sagst, 
was ich dich bitte und von dir hören will? Möchtest du mich 
hier auf dieser Stelle eher allein lassen als mir versprechen, 
mit mir weiterzugehen und mich immer liebzuhaben? 44 
Ludwig schwieg. 

„So möchtest du vielleicht schon jetzt lieber allein gehen, als 
daß du mir versprichst, bei mir zu bleiben? 44 Sie fragte das 
mit gespannten Zügen, sie hatte sich sanft von seinen Armen 
gelöst, stand nun in einiger Entfernung von ihm und sah ihn 
mit angstvollen Blicken an. 

„Warum quäle ich sie? 44 dachte Ludwig und brachte gleichwohl 
kein Wort hervor, sie zu beruhigen und zu trösten. 
„Ist es dir so schwer, mir etwas zu sagen, was jeder Liebende 
so leicht und so gern sagt, und was immer wahr ist, wenn er es 
nur sagen kann, und was ihn doch nicht mehr bindet, als eben 
ein Wort 44 

„Ich mag nicht sagen, was ich nicht denke. 44 
„Und du mußt so vieles sagen, was du denkst. Fühlst du gar 
nicht Liebe, wenn du bei mir bist? Und gingest lieber jetzt und 
heute davon als später? Oder gingest ebenso gern mit einer 
anderen, die sich's gefallen ließe und dir gefiele? Und ich ver- 
danke deine Gesellschaft nur eben deiner Einsamkeit? 44 
Ludwig schämte sich, daß er sie so sprechen ließ und mit einer 
hartnäckigen Begierde sie so sprechen machen wollte, er litt 
darunter, Böses zu empfinden und Böses zu erwecken und es 
doch nicht lassen zu können. Eigensinnig stand er da, halb von 
ihr abgewandt, die aus immer größerer Ferne zu sprechen und 
immer mehr in Schmerz und Einsamkeit verschleiert, immer 
fremder schien wie in ihrem Traum, während seine eisige 
Selbstbeobachtung und Lust an der Zerstörung ihn selbst vor 
ihr in Luft und Dämmerung auflöste. 

Da lief sie endlich unter Tränen lachend auf ihn zu mit aus- 
gebreiteten Armen wie eine Mutter auf ein hartnäckig unge- 
zogenes Kind und rief: „So versprich mir gar nichts und mache 
dich schlecht vor dir und mir, soviel du magst, ich kenne dich 
besser und habe dich lieb, so halte ich dich schon. 44 

343 



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Später sagte Ludwig: „Ich glaube, eine böse Mutter macht ihr 
Kind böse, indem sie das Gefühl für das Mütterliche bei ihm 
vergiftet. Irgend etwas AUergeheimstes ist dann in ihm ver- 
dorben. Aber dieses Böse macht ihn wieder mit Willen das 
Gute verlangen, das ihm verkümmert worden ist So muß man 
vielleicht schlecht sein, um das Gute ganz zu erkennen und 
aus tiefster Not zu begehren, und nur der Gute bringt es wie- 
derum über sich, das Schlechte zu suchen, um es zu trösten. 
Das Gute kann nur durch das Schlechte erkannt werden und 
umgekehrt Beides hängt aneinander wie Nacht und Tag.** 
„Du bist nicht schlecht, Ludwig, du hast nur Angst, es zu sein 
und bestärkst dich darin, aus lauter Wahrheitsleidenschaft lügst 
du dir böse Wahrheiten vor und gute weg und glaubst und möch- 
test andere das Böse lieber glauben machen als dein Gutes." 
„Aber ich weiß doch, was ich denke, was ich empfinde." 
„Freilich, nur vergißt du, daß jeder Mensch alles Denkbare 
und Empfindbare denken und empfinden kann. Es kommt doch 
nur darauf an, was von deinem innersten Wesen dem anderen 
Menschen erscheint, dem, der dich liebt Wer geliebt werden 
kann, muß um seines Guten willen geliebt werden, und wüßte 
er gar nichts darum. So kenne ich dein Gutes, und du kannst 
dich bei mir nicht anschwärzen. Vielmehr sollst du dich an 
mir erkennen und deiner bei mir getrösten, nicht bei dir ver- 
zweifeln." 

„Du siehst Licht in deinem Licht, Thea." 
„Ich möchte, daß du an deine Güte glaubst, so wirst du gut 
sein, du brauchst dich aber nur immer schlecht zu machen, so 
wirst du es." 

„Man sollte sich freilich wie du in seinem Element, ohne viel 
zu fragen, bewegen können. Das ist eben der Fluch einer bösen 
Mutter, daß sie in einem Kinde all die unbefangene Sicherheit 
des natürlichen Empfindens zerstört Nur Qual und Bewußtheit 
bleibt übrig. Warum ist die Natur im Bösen genau so fruchtbar 
wie im Guten? Warum schafft sie schlechte Mütter und damit 
verfluchte Kinder?" 

„Vielleicht würdest du gar nicht so recht gut sein wollen, wenn 
du nicht so früh das Böse erkannt hättest" 
„Ich wollte, ich wäre von Natur und ohne Frage gut wie du." 
„Ei, du möchtest es bequem haben. Laß es dir nur ein biß- 
chen Mühe kosten, mein Lieber." 

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„Man möchte doch besser von Natur gesund sein, als sich erst 
mit Mühe gesund machen. u 

„Und doch kann einer nur werden, was er ist. Ein tiefes Ge- 
wissen ist eben eine tiefe Gesundheit." 

„Nun, dann hast du am Ende Aussicht, daß ich dich noch 
manchen Tag quäle und neben dir hergehe, auch wenn ich es 
nicht versprechen mag." 

„Das glaub' ich ja, w sagte Thea unter Tränen lächelnd und 
errötend und hing sich fest in seinen Arm. 

1 1. 

Vieles brach in diesen Tagen über Elisabeth Frantzl herein. 
Der Untergang der Firma fiel mit Coronas eigentumlicher Be- 
gegnung auf den Tag zusammen. Heinrich Frantzl und seine 
Brüder hatten dem lange drohenden Einsturz ihres alten Ge- 
schäftes keine Stütze mehr entgegensetzen können. Alle Arbeit 
und Mühe, die genaueste Überwachung und Ersparnis in den 
Betrieben, die Suche nach neuen Verbindungen, auch nach 
Hilfe von auswärts, Verkäufe aller Bestände mit Verlusten, um 
laufende dringende Ausgaben zu decken, ein Nachspüren in 
den Büchern, um etwa übersehene Forderungen zu finden, ein 
Hin- und Herlaufen zu den und jenen, die etwa raten oder 
helfen möchten, alles blieb vergeblich. Vielmehr erwies sich im 
Zusammenbruch eben die grausame Logik des Unglücks, die 
jeden Zug, jede Handlung und Untersuchung, aber auch jede 
Unterlassung seit vielen Jahren, das Unbeachtetste und Gering- 
fügigste als schicksalhaft verriet, als wäre auch das Leben einer 
Firma seit ihrem Bestände bis zu ihrem Untergange eine wohl 
ausgesonnene Fabel, deren jede Einzelheit von Anbeginn mit 
Bedacht an ihre Stelle gesetzt, das späteste Kommende vor- 
bereitet und begründet, denn die Geschichte einer Handlung 
verläuft eben folgerichtig wie ein Roman. Zeit und Menschen, 
Krieg und Frieden, Angebot und Nachfrage, falsche und richtige 
Berechnung, Vorhergesehenes und der Zufall spinnen unablässig 
an ihr, solange der Faden reicht. 

Elisabeth überlegte, ob und wie sie etwa helfen könne. Ihre 
Mitgift, in Anbetracht des größeren zu erwartenden Erbes vom 
Vater Erath seinerzeit sehr knapp bemessen und ausbezahlt, 
steckte in der Firma, war aber als ihr Eigentum rechtmäßig 
verbucht und blieb ihr. Auch wenn sie sie hätte opfern wollen, 

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hätte dieser vergleichsweise geringfügige Betrag nicht entfernt 
ausgereicht, den Untergang auch nur hinauszuschieben. Dieses 
kleine Vermögen konnte und mußte wenigstens dazu dienen, 
ihren Hausstand zeitweilig zu erhalten, aber es reichte für 
Corona bei weitem nicht hin, deren Glück und Zukunft davon 
abhing, ob sie die Kaution bekam, ihren Freier, den Offizier, 
zu heiraten. Das väterliche Erbteil, um das sie von Charlotte 
betrogen war, hätte beides bewirken können, die Rettung ihres 
Mannes und seines alten Geschäftes und ihrer Tochter glück- 
liche Ehe. Älter, stiller und begrenzter als früher, übertrug sie 
mütterlich die Sehnsucht nach Glück auf ihre Kinder, jetzt vor 
allem auf Corona. Würde nur diese so froh und glücklich, wie 
sie es verdiente, so hätte Elisabeth sich mit dem eigenen Un- 
genügen gern abgefunden. Charlottens entsetzliche Handlung 
hatte ihr und ihren Kindern die Zukunft mit einem Schlage 
zerstört Was sollte sie beginnen, wie konnte sie Corona 
retten, ihr zu Frieden, Glück, Ehe verhelfen, sie vor diesen un- 
heimlichen Drohungen bergen, die sich über ihren Häuptern 
zusammenzogen, seit Corona, so schön wie schuldlos, in diese 
Welt eingetreten war? Kaum an der Schwelle ihres weiblichen 
Lebens, unwissend wie ein Kind und treuherzig, begegnete 
Corona lauter Feinden. Oberall lauerten Neid, Haß, erbärm- 
liche Anschläge auf sie alle. Der Untergang ihres Hauses war 
nur ein Zeichen für viele, ein Unglück vor anderen, denn ein 
böser Geist wirkte gegen sie und ihr Geschlecht, ein böser 
Wille hing über allem, was sie liebte, lähmte ihren Arm, ihren 
Verstand, beraubte sie jeder Möglichkeit der Abwehr. Mußte 
sie denn zusehen, wie alles vernichtet wurde von dieser fremden, 
grausamen Macht! Wer war dieser Geist, dieser übermensch- 
liche Wille, der sie immer enger einschloß, dessen Würgen sie 
zuweilen am Halse leiblich zu spüren glaubte, dessen eiserner 
Reifen ihre Stirne zusammenpreßte? War es vielleicht Char- 
lotte? Wer stand hinter diesen Anzeigen in der Zeitung? Wer 
hatte es auf sie, auf Corona abgesehen? Wo war dieser Feind? 
Sie hätte mit ihm gerungen oder ihn um Gnade gebeten, wenn 
sie ihn von Angesicht zu Angesicht gekannt hätte. Er hielt sich 
aber verborgen, er ließ sich nicht einmal ahnen, er wirkte nur 
mit Vorbedacht, er kannte jeden ihrer Gedanken, er verlegte 
ihr alle Auswege, er vereitelte alle ihre Pläne, er spielte mit 
ihr wie die Katze mit der Maus, er hatte Spaß an ihrer Angst. 

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Zuweilen ließ er ihr Tage der Erholung. Schon glaubte sie, die 
Anzeigen würden endlich aufhören, sie würde aufatmen dürfen. 
Sie besann sich auf neue Hoffnung. Sie konnte wieder Arm in 
Arm mit Corona über die Mariabilferstraße Spazierengehen, 
das geliebte Kind an ihrer Seite sehen, sich an Coronas zärt- 
lichem Lächeln erfreuen, an ihrer leicht vorgeneigten Haltung 
und dem süßen Plaudern dieser klaren Stimme, sie konnte 
selbst wieder scherzen und über die sanften Scherze derTochter 
lachen, sie konnten ihre kleinen Einkäufe besorgen und eifrig 
vor der Tür eines Modeladens die Farbe eines „Zubehörs" mit 
der eines Kleiderstoffes vergleichen und abstimmen, als hinge 
von diesem Einklang der Friede ihres Lebens ab. Sie konnten 
beide die ausgestandenen Qualen so sehr vergessen, daß ihnen 
die Menschen, der Umgang, die einzelnen Erlebnisse, die ent- 
setzlichen Anspielungen und Drohungen völlig entfielen, als 
seien sie nie gewesen. 

Da kam plötzlich ein neuer Angriff und eröffnete unvermutete 
Gefahren. Der Dämon war allwissend, er war so ungeheuer 
wie der liebe Gott selbst, von dem er die Macht, nicht die Liebe, 
das Erkennen, nicht die Güte an sich gerissen hatte, er war 
so kundig jeder Falte ihrer Seele, jedes flüchtigsten Gedankens, 
den sie fassen konnte, als ob er in ihr selbst säße und seine 
Fäden aus ihrem eigenen Gehirn hervorspinne. Woher wußte 
er dies alles? Es gab im Leben wohl solche lauernde Geister, 
solche böse Spinnen verborgener Willen, die es auf einen 
Menschen abgesehen hatten und ihn sacht umzogen. Das Spiel 
mit einer Seele war wohl die Schöpfung und böse Lust dieses 
Geistes, der sich an einer Angst, an dem Irren und Flüchten, 
an den müden Blicken, an den Schäden und Unfällen, an dem 
immer häufigeren Stolpern und Stürzen erfreute, und wie er sein 
Opfer gequält tanzen machte, indem er es hetzte. Vor ihm 
gab es weder Schuld noch Unschuld, weder Recht noch Un- 
recht, denn er schaltete und weilte in der Un Sichtbarkeit irgend 
eines jenseitigen Wissens und Aufenthalts. Wo blieb aber Gott? 
Entschied nicht eines Menschen Recht und Schuldlosigkeit, ent- 
schied nicht Coronas reine Stirne, ihr helles Auge, sprach nicht 
ihre, Elisabeths, ohne böses Tun verwirkte Jugend und Ehezeit, 
daß sie niemand mit Willen Unrecht getan, keinen mit List 
gekränkt hatte, sprach nicht ihr stilles eingezogenes Leben für 
sie, bat nicht Albrechts gute Gabe für ihn, für sie alle? Wo war 

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Gott» der diesen Geist schonungslos arbeiten und sein Spiel 
treiben ließ? 

Das Geheimnis dieses Urfeindes mußte wohl in ihrem eigenen 
Geschlecht irgendwie lauern und begründet sein. Hatte sie 
nicht eine Schwester, die ihr das Schlimmste angetan, die sie 
aus dem Herzen des Vaters verdrängt, sie um ihr Erbteil ge- 
bracht, ihre Kinder mit Wissen und Willen verkürzt hatte, eine 
Schwester, an der Elisabeth seit ihrer frühesten Jugend mit 
lauter Liebe gehangen hatte, der sie stets viel gehorsamer ge- 
wesen war als sie mit ihrem Verstand rechtfertigen konnte, 
deren Wille so stark den ihrigen beherrschte, daß sie selbst zu 
Bösem fähig geworden war, wenn sie es von ihr verlangt hatte? 
Irgendwie war Charlotte mit diesem schlechten Geist verwandt 
oder verbündet, der mit Elisabeth und Corona sein Spiel trieb. 
Vielleicht flüsterte sie ihm, die Entsetzliche, zu, was er mit Co- 
rona, mit dem ganzen Hause Frantzl anstellen müsse, um es nur 
recht zu treffen. Von Charlotte erfuhr dieser fürchterliche Geist, 
dieser Böse, dieser Ungeheuere die Stellen, wo Elisabeth, wo 
Corona tödlich verletzbar waren, und traf sie an ihrer Unschuld 
und Ehre. Vielleicht nährte ihr Feuer seinen Haß, vielleicht 
war Charlotte hinter diesen Zeichen und Andeutungen. Aber 
warum? Was hatte sie ihr denn getan? War es nicht genug, 
daß Charlotte sie um den Vater, um das Erbe gebracht hatte, 
warum mußte sie sie noch um den Frieden bringen? Um das 
letzte? Wie reich blieb ein Herz noch immer an Möglichkeiten 
von Jammer und Leiden! 

Sie hatte seit jenem Leichenbegängnis Charlotte nicht mehr 
gesehen, kein Wort mit ihr gesprochen. Sie war doch ihre 
Schwester! War es denn möglich, daß eine Schwester die 
andere so verfolgen konnte? Vielleicht ließ sich alles durch 
ein Gespräch, durch eine Begegnung aufklären, vielleicht be- 
durfte die Verwirrung nur eines guten Wortes, um sich zu 
lösen. Konnte ihr Charlotte denn ruhig ins Gesicht sehen und 
im Bösen verharren, wenn sie sie offen, Mensch zu Mensch, 
Weib zu Weib, fragte, wenn sie sie um Schonung, um Erbar- 
men, um Hilfe bat? Sie liebte Charlotte wohl nicht mehr, sie 
fürchtete sie bloß, vor dem stärkeren Willen, dem sie ehedem 
unterworfen gewesen war, zitterte sie heute mit Entsetzen, aber 
müde, geängstigt um ihre Kinder, brannte sie danach, sich vor 
diesem Willen noch einmal zu demütigen, sich ihm ganz elend 

34« 



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vor die Füße zu legen, damit er seine letzte Macht genieße, 
aber endlich davon satt werde. Charlotte konnte doch der 
Schwester, der Unglücklichen, der Matter von braven Kindern, 
nicht ins Gesicht hinein böse sein, sie war doch ihres Vaters 
Tochter wie Elisabeth selbst, sie hatten doch eine lange ein- 
same Kindheit, heitere, unbefangene Mädchenjahre miteinander 
verbracht, das konnte Charlotte vergessen, wenn sie allein blieb, 
sie mußte sich dessen gleich erinnern, wenn Elisabeth vor sie 
trat, wenn sie dies alles bloß mit einem Blicke berührte. 
Brauchte sie davon noch zu sprechen, war es nicht genug, wenn 
sie vor ihr stand? In ihres Vaters Hause, in den Mädchen- 
zimmern, wo sie jedes Gerät gemeinsam gebraucht hatten, wo 
alle lieben Bilder der Jugend hingen, wo des Vaters strenger, 
friedliebender Sinn noch in der ganzen unveränderten Ordnung, 
im sorgfältig gewahrten Hausbrauche weiterlebte, mußte dieses 
widrige, feindselige Tun und Denken ohnmächtig zerfließen, 
sowie sie hinkam. Vielleicht wartete Charlotte nur darauf, daß 
sie kam, vielleicht wartete sie nur auf ihre Frage oder Bitte. 
Vielleicht erfuhr Elisabeth dort erst den Grund aller dieser 
scheinbar so grundlos feindlichen Handlungen. Vielleicht löste 
sich eine Welt von Verwirrung und Drohung in Frieden auf, 
bloß wenn sie eintrat Sollte an ihrem Stolz ihr eigenes Kind 
zugrunde gehen? Nur weil die Mutter etwas Selbstverständliches 
zu seiner Rettung unterließ? Elisabeth wurde eigentümlich 
wohl zumute, als sie sich diesen Hoffnungen, diesem Entschluß 
überließ, als stünde sie mit einem Male wieder im Schatten von 
Charlottens stärkerem Willen, sie sehnte sich beinahe danach, 
die Schwester wiederzusehen, ihre Stimme zu hören, die schar- 
fen Züge dieses entschlossenen Gesichts zu erblicken, das 
Funkeln der Augen, das kühne Zurückwerfen des trotzigen 
Kopfes mit den ungebärdigen schwarzen Locken an der Stirn. 
Liebte sie Charlotte nicht trotz allem? 

So machte sie sich auf, die verlorene Schwester wiederzufinden. 
Sie stand im Speisezimmer unter dem Bilde der schönen Sabine 
Erath, ihrer seligen Mutter, und wartete, denn sie war wie ein 
fremder Besuch angemeldet worden, es gab keinen vertrauten 
Adam Hirt mehr im Hause, und Charlotte kam lange nicht. 
Mnßte sie sich vorbereiten, die Schwester zu empfangen, mußte 
sie große Toilette machen, sich die Haltung und das Benehmen 
zurechtlegen, oder wollte sie sie demütigen, indem sie sie 

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warten und die Minuten zählen ließ? Oder kam Elisabeth die 
kurze Zeit nur so lange vor? Endlich hörte sie Schritte im 
Zimmer nebenan, endlich erschien Charlotte und blieb am Ein- 
gange in das Speisezimmer stehen, mit dem Kücken an diese 
Tür gelehnt Charlotte ging ihr nicht einen Schritt entgegen, 
sie streckte keine Hand nach ihr aus, sie beugte sich nicht ein- 
mal ein bißchen vor, sondern stand gerade, aufrecht in einem 
bösen Stolz, sehr gealtert mit brennenden, bohrenden Augen 
und fest verschlossenem Munde. Sie hatte ein weites schwarzes 
Hauskleid. Ihre Haare, an den Seiten leicht ergraut, hingen 
unordentlich wirr um den Kopf. Nur daß Charlotte in den 
letzten Jahren breit geworden und sozusagen die Form ver- 
loren hatte, daß sie klein gewachsen war, milderte ein wenig 
die Härte und starre Spannung ihrer Züge, denn man glaubt 
kleinen und dicken Figuren Grausamkeit und unbeugsame 
Leidenschaft von Zorn und Haß weniger, man traut ihrem leib- 
lich geringen Wuchs Größe der Empfindung nicht leicht zu. 
Um so schlimmer wird man gerade von ihnen enttäuscht und 
belehrt Elisabeth, die Charlotten unwillkürlich einen Schritt 
entgegengetan hatte und nur durch diesen Anblick von Unbe- 
weglichkeit gehemmt, wieder stehengeblieben war, sagte leise : 
„Grüß Gott, Charlotte.« 
Charlotte nickte nur obenhin und wartete. 
„Ich komme zu dir, ich habe dich seit damals nicht mehr ge- 
sehen,*' sagte Elisabeth. 

„Nun, und was führt dich heute zu mir? tf antwortete Charlotte 
eisig. 

„Ich wollte dich fragen, ob denn alles, was geschehen ist, und 
was weiter geschehen soll, wirklich deine Absicht und wahre 
Meinung ist, ob alles so bleiben kann, du selbst ? u 
„Ich habe keine Absicht und keine Meinung, ich habe nur mein 
Recht, wie du das deinige: Vaters Wille, schwarz auf weiß! Ihr 
habt ja den traurigen Mut gehabt, ihn anzufechten und mich wie 
eine Fälscherin anzuklagen. Nun, ihr habt gesehen, wie weit Ihr 
damit gekommen seid. Ich glaube, damit könnte es eigentlich 
sein Bewenden haben. Ich wüßte nicht, was ich noch dazu sagen 
sollte, und was wir darüber sprechen könnten.** 
„Charlotte, was mit diesem Testament gewesen und wie es da- 
mit zugegangen ist, daß unser Vater mir das hat antun können, 
mich zu enterben — u 

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„Auf den Pflichtteil zu setzen," verbesserte Charlotte. 
„Er hat mich enterbt, denn anf den Pflichtteil setzen heißt nichts 
anderes als Enterb ung, M fuhr Elisabeth fort, „kurz, wie das ge- 
kommen ist, weiß ich nicht, und ich werde es wohl nie erfahren. 
Daß er das aus freien Stücken getan hat, kann ich nicht glauben, 
denn ich habe keine Schuld gegen ihn und gegen keinen Men- 
schen, die er mich hätte entgelten lassen dürfen. Warum hätte 
er mich bestrafen sollen? Und wofür?" 
Charlotte zuckte die Achseln. 

„Also darf ich glauben, daß du ihn dazu bewogen hast und daß 
er wohl gar nicht recht gewußt hat, was er schreibt und tut" 
„Darüber brauchen wir nicht mehr zu sprechen, denn das hast 
du ja schon vor Gericht vergeblich vorgebracht." 
„Immerhin könnte ich es dir minder vergeblich sagen, wenn 
du mir Schwester wärst und nicht Feindin, denn das eben will 
ich dich fragen. Wenn du ihn dazu gebracht hast, warum wolltest 
du das? Wie konntest du bei gesundem Sinn deine Schwester, 
die Kinder deiner Schwester ihres Erbes berauben, bei hell- 
lichtem Tag um ihr gerechtes Gut bringen? Was habe ich, was 
haben meine Kinder, von Antonien zu schweigen, dir getan? 
Haben wir dich mit Worten oder nur mit Blicken, mit einem 
Gedanken gekränkt, haben wir es gegen dich an irgend etwas 
fehlen lassen? Sieh, ich will dich nicht anklagen, Charlotte, ich 
will dich verstehen, ich will eher mich selbst beschuldigen, ich 
will erfahren, was ich dir angetan haben könnte, um dich zu sol- 
chem Entsetzlichen zu veranlassen. Ich möchte es gutmachen, 
um dich gut zu machen, denn wenn ich auch dies Erbe jetzt 
sehr vermisse, noch härter trifft es mich, daß ich dich vermisse." 
„Das steht alles nicht mehr in Frage," schnitt Charlotte mit 
einer entscheidenden Gebärde ab, indem sie den trotzigen Kopf 
zurückwarf. 

„Das heißt wohl, du weißt selbst keinen Grund, oder du kannst 
ihn nicht sagen, denn er liegt nicht an mir, sondern an dir. So 
ist es möglich, daß du es bloß um des Geldes willen getan hast! 
Damit du dreimal soviel bekommst, als du sonst geerbt, aber 
auch, als du je gebraucht hättest. Denn du hättest mit deinem 
richtigen Erbteil wahrlich genug gehabt. So hast du mich um 
des Geldes willen verraten und vergessen und meine Kinder 
beraubt, denn du weißt, daß mein Mann, als er mich heiratete, 
zu stolz war, eine Mitgift zu verlangen, sondern sich mit der 

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Aussteuer und einem ganz geringen Betrage begnügt hat. Er 
ließ ja mein ganzes Vermögen beim Vater, um das ich nun ge- 
bracht bin. Du weißt es." 

„Warum sprichst du nur davon, ich habe dir schon gesagt, daß 
darüber das Gericht entschieden hat; ich habe das Gericht 
nicht angerufen, aber jetzt verlange ich, daß sein Spruch mir 
Ruhe verschafft«* 

„Aber du sollst auch wissen, was du mir und den Meinigen 
angetan hast Weißt du, daß meines Mannes Firma zugrunde 
gegangen ist?** 
„Ich weiß es.** 

„Mit meinem rechtmäßigen Gut könnte ich ihn retten«* 1 
„Noch Geld in den Zusammenbruch werfen? Hast du vielleicht 
gar so viel Freude an deinem Mann gehabt?** 
„Das geht keinen anderen etwas an. Er ist mein Mann , wir 
haben zwanzig Jahre lang zusammen gelebt, und wir haben doch 
zwei brave Kinder. Das vergißt du." 

„Die Kinder können so werden wie die Männer. Sie sollen sich 

selber helfen. Sie sind ja schon erwachsen." 

„Was soll mein Mann denn jetzt anfangen, wenn ich ihn im 

Stich lasse, er ist doch nicht mehr jung?" 

„Er soll arbeiten." 

„Du hast gut reden, die du nicht zu arbeiten brauchst Was 
soll er denn arbeiten? In seinen Jahren findet man nicht so 
leicht eine Stelle." 

„Ei, Schneeschaufeln im Winter, oder Leichenträger, was weiß 
ich." 

„Du rätst, wie du bist, du brauchst nicht zu hungern." 
„Er auch nicht, wenn er arbeitet Freilich heißt es anders leben, 
als er es gewohnt war. Er soll meinetwegen Pferdefleisch essen." 
„Ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn es sich bloß um Hein- 
rich und mich handelte, obgleich auch unser Unglück einem 
wildfremden Menschen nahgehen müßte, geschweige denn mei- 
ner leiblichen Schwester, aber meiner Kinder wegen muß ich 
kommen. Corona soll heiraten. Weißt du das?" 
„Du sagst es. Ich weiß es." 

„Und du sagst nichts anderes? Sie soll heiraten, Charlotte!" 
„Warum denn?" 

„Weil sie liebt und geliebt wird." 

»Dazu braucht man doch nur ein Herz, kein Geld." 

352 



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„Er ist Offizier. Kann sie die Kantion nicht stellen, so kann er 
nicht in seinem Stande bleiben." 

„Nun, so mag er Kommis werden. Muß sie gerade den Mann 
haben, so braucht sie doch keine Uniform. " 
„Charlotte, was mußt du erlebt haben, daß du so sprechen 
kannst? Ich schäme mich, daß ich dich bitten muß, aber ich 
schäme mich noch mehr für dich, daß du mir so darauf ant- 
wortest Du bist nicht Mutter, du könntest doch Schwester sein. 
Du hast kein Kind getragen und zur Welt gebracht und langsam 
mit Angst und Freude großgezogen." 
„Nein, das hab' ich nicht," sagte Charlotte schneidend. 
„Darum ermissest du nicht, was es heißt, sein Kind bedroht zu 
sehen. Man möchte ihm jeden Wunsch erfüllen, man möchte 
ihm jeden Stein aus dem Weg räumen, und statt dessen sieht 
man es in Gefahr, bedroht von lauter Feinden, man zittert um 
sein Leben, es soll trostlos altern und hinwelken oder einen 
andern Menschen unglücklich machen, bloß weil es um sein 
Erbteil gebracht ist, bloß weil ihm die paar Gulden vorenthalten 
sind, die es loskaufen können! Magst du denn dieses Natür- 
lichste nicht verstehen? Du hast kein Kind gehabt, ich begreife, 
daß du darüber hart und kalt geworden bist, Charlotte, aber du 
bist doch ein Weib wie ich, du hättest doch ein Kind haben 
können, so mußt du doch alles empfinden können, was eine 
Mutter fühlen kann, was deine leibliche Schwester fühlt," 
„Ich kann mir eure Lage ganz wohl vorstellen, aber ich sehe 
nicht ein, warum ihr dazu verlangt, was mein und nicht euer ist. 
Du hast in dieses Haus geheiratet und deinen Mann frei ge- 
wählt, du hast ihm deine Kinder geboren, doch nicht mir. Jetzt 
ist Corona in den Jahren, wo sie die gleiche Dummheit anstellen 
soll. Schön. Ihr müßt auch die Folgen tragen. Was habe ich 
damit zu schaffen? Was tätest du, wen würdest du ansprechen, 
wenn ich nicht wäre?" 

„Niemand, auch dich nicht, Cnarlotte, wenn ich nicht einen 
moralischen Anspruch hätte." 
„Den hast du nicht." 
„Einen Anspruch auch auf dein Gefühl." 
„Ich lasse mir mein Gefühl nicht vorschreiben." 
„Du bist arm, Charlotte, weil du so kalt sein kannst, so un- 
menschlich, so böse." 

„Ich bin meines Vaters Tochter. Dies hier, diese vier Wände 

Stoessl, Das Haus Erath 23 353 



sind unser Haus, das Haus Erath. Du und Antonie, ihr beide 
habt es verlassen, ihr seid euren Männern gefolgt, ihr habt euer 
Schicksal gewählt, ihr müßt es tragen. Ihr steht draußen, dort, 
wo ihr euch hingestellt habt Das Erathsche Haus und Wesen 
habt ihr aufgegeben. Es lag euch nichts daran. Ich bin eine 
Erath geblieben. Das ist alles." 

Elisabeth sprach nichts mehr. Sie kämpfte mit Tränen der 
Scham, daß sie gekommen war und gesagt hatte, was sie eben 
gesagt 

Charlotte, die noch immer an der Tür stand, sprach: „Aber 
ich will mir nicht vorwerfen, daß ich euch hungern lasse. 
Braucht ihr eine Unterstützung, dann sage es. Wenn ich die 
Summe angemessen finde, will ich sie auswerfen. Für eine Hei- 
ratskaution freilich oder für eine insolvente Firma habe ich 
nicht genug." 

Elisabeth wandte sich ohne Erwiderung zum Gehen. 
Aber indem sie die Klinke der Tür ergriff, schien eine unge- 
heure Einsicht sie zu packen, noch einmal zurückzuhalten, als 
erlebe sie in einem furchtbaren Absturz den ganzen Sinn ihres 
Lebens in einem Augenblick. Sie wandte sich noch einmal 
Charlotten zu und sagte entsetzt, die Schwester, den Dämon, 
den bösen Geist und Willen aus verzweifelten, großen Blicken 
anstarrend, die ihre blauen Augen fast schwarz erscheinen ließen, 
den Kopf nach ihr hinstreckend, mit zuckenden Lippen: 
„So bist du es!" 
„Was bin ich?" 

„Du weißt esl Du weißt alles I" 

„Freilich weiß ich esl" sagte Charlotte, die den Ausruf auf 
Elisabeths frühere Vorwürfe bezog. 

„Du stehst hinter allem, was uns angetan wird. Du verübst es, 
du lauerst auf uns, du fällst uns an wie ein gieriger Wolf die 
unbeschützbaren Tiere in der Nacht" 

Charlotte schwieg. Sie wollte lächeln, aber irgendwie lief es ihr 
kalt über den Rücken, so daß sie mit starrer Miene dastand 
und wartete, was die Verwirrte etwa noch sagen mochte. 
„Du saugst unser Blut aus, unser Mark aus unseren Knochen, 
unser Hirn aus unserem Kopf, unser Herz aus unserem Leib, 
du willst uns nicht leben und nicht sterben lassen, sondern daß 
wir in solcher Pein zucken, gefällt dir. Du weißt alles, du stehst 
hinter allem, du schaffst es, du erfindest es. Du bist überall. 

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Du ha9t alles so gefügt! Da verlängerst es, du hältst unsere 
Fäden in deinen Händen I Du reißest an unseren Nerven, denn 
sie sind deine Fäden!" 
„Was habe ich gefügt?« 4 
„Du weißt es. Frage nicht!** 
„Was willst du also von mir?" 

„Nichts! Nichts! Dich habe ich bitten können I Mich nur noch 
mehr verraten ! Dir nur noch neue Winke gegeben, wie du uns 
treffen kannst! Ich habe dir glauben können, nach allem was 
du uns angetan hast, du seist meine Schwester, du seist aus 
unserem Haus, unser Blut.** 
„Das bin ich auch!** 

„Ja, so wie jedes Blut sich selbst seinen nächsten Feind erzeugt, 
ein eigenes Gift, denn es wird böse in unseren Adern. So bist 
du unsere Schwester. Du bist die leibhaftige Schuld unseres 
Hauses, unserer Eltern, du bist das Böse, das wir andern alle 
nicht getan haben. Du freust dich daran, wie es sich ausbreitet 
und uns alle verdirbt. Du bist unser aller Böses, darum kennst 
du dich so gut bei uns allen aus, darum errätst du alles, noch 
bevor es geschehen ist, und sinnst alles aus, das dann getan 
wird, und flüsterst es ein und läßt es drucken und gibst es in 
die Zeitung und machst es zu unserem eigenen Schreck.* 4 
Was tue ich?** 

Du machst uns zu dir, machst uns dir gleich, du ziehst uns in 
dich hinein, in dieses verfluchte Haus zurück. Das freut dich, 
davon träumst du und machst uns träumen. Unser Jammer 
erfrischt deinen Schlaf und hält dich bei Kraft** 
„Du weißt nicht, was du sprichst. Zieh' deinen Verstand zu Rate. 
Deine und deines Hauses Angelegenheiten sind nicht so unge- 
heuer, sind keine Welt, wie du dir einbildest und in deiner Auf- 
regung so wichtig nimmst Geh, Elisabeth. Ich habe nichts 
mehr mit dir zu schaffen.** 

„Das glaubst du selbst nicht** Elisabeth riß sich endlich aus 
ihrem Anfall von Entsetzen und Gewißheit, von quälender Er- 
leuchtung los, sie fühlte sich sterbensmatt und gleichgültig. Wo 
war sie? Warum war sie hier? Was hatte sie hier tun oder 
ändern wollen, wenn alles so unabänderlich notwendig, so elend 
vorbedacht war. Sie sagte nichts mehr, sondern schüttelte nur 
den Kopf, öffnete die Tür und ging. 

Charlotte empfand einen Augenblick eine wahre Erschütterung 

355 



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I 



und ahnte die entsetzliche Zerstörung in der Schwester, ohne 
sie doch für mehr als eine augenblickliche Verwirrung zu halten. 
Immerhin sagte sie mit klarer Stimme »Leb wohl, M aber Elisa- 
beth hörte diesen Zuruf nicht mehr, und Charlotte war es zu- 
frieden. 

12. 

Wasserporten wartete auf Coronas Bescheid. Die Tage wurden 
ihm nicht zu lang, denn seitdem ihm das schöne Mädchen die 
ersehnte und kaum mehr erhoffte Begegnung gewährt hatte, 
wodurch er sie gewissermaßen endlich allen anderen Frauen 
gleichgestellt sah, war sein Gemüt beruhigt und wieder im 
Gleichgewicht Nur der Stolz, der sich versagte, die unerreich- 
bare Höhe, die Unberührbarkeit selbst bei seinem tollen An- 
griff hatten ihn im Innersten aufreizen, an sich zweifeln machen 
und dazu antreiben können, die verlorene Fassung zu suchen, 
durch einen neuen Handstreich zu erobern, was ihm durch den 
ersten entschlüpft war. Nur der Widerstand, nur das Versagte 
regte ihn auf. Sah sich seine Erfahrung bestätigt, so war seine 
Leidenschaft gekühlt. Er war ja nicht böser, nicht klüger als 
die meisten anderen jungen Leute seiner Gesellschaft, immer- 
hin soweit „anständig 4 *, daß er vor einer Frau, vor sich selbst 
nicht erbärmlich erscheinen mochte, vor allem aber, um gerecht 
zu sein, zu eitel, eine Erniedrigung zu ertragen, und eben darum 
nicht tief genug, gerade die Erhebungen der eigenen Niedrig- 
keit zu begehren, ja zu suchen, die eigene Roheit, die üble Ge- 
wohnheit seiner Berufssitten plötzlich wie eine furchtbare Ver- 
lassenheit und öde Wildnis des Herzens zu spüren und in seinem 
Abscheu sich aus eigenem Antrieb nach einem helleren, reineren 
Tun und Denken zu wenden. Er war bloß eitel, darum wollte 
er nicht schlecht erscheinen, sondern gerade vor einem be- 
gehrten Wesen möglichst vorteilhaft, wenn unbedingt notwendig 
— Corona war die erste, die dies verlangte — , sogar hoch- 
herzig und erhaben, aber er war wohl nicht eigentlich gut, 
darum begehrte er gar nicht, ernstlich zu sein oder zu werden, 
was er nur augenblicklich scheinen mochte. Ja diese Hoch- 
sinnigkeit und Hochgestimmtheit, zu der er sich genötigt fand, 
um Corona gerecht zu werden, hatte ein bißchen Unbequem- 
lichkeit für ihn, er mußte über sich selbst schier lächeln, und 
das war die schlimmste Zumutung. 

356 



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Er wartete darum gelassener, als damals auf seine Begegnung 
mit ihr, jetzt auf Coronas weitere Schritte, denn jetzt, wußte er, 
würde sie kommen, sie könne ihm nicht mehr entgehen, er 
habe sie besser, nachhaltiger, unentrinnbarer gewonnen, als mit 
dem ersten unbesonnenen Gewaltstreich seinerzeit. Er überließ 
sich darum einem wohligen Hindämmern und dehnte die lässige 
Spannung angenehm aus, soweit ihm der Dienst, ein sorgfältig 
geregeltes Nichtstun mit aller Gebärde von Eifer und Arbeit, 
dazu Freiheit ließ. Diese Spannung machte ihm eine köstliche 
Kraft fühlbar, als ob er noch nie seinen Schritt so leicht und 
sicher, seinen Verstand so scharf und bereit, seine Laune so 
munter empfunden hätte, als ginge er in einer dünnen, wohl- 
tuend kühlen, würzigen hohen Luft, die ihm eine unbestimmte 
Ferne so nahe rückte, daß er sich selbst, aber auch alle Men- 
schen verstand und erkannte, als blicke er durch Seelen wie 
durch klares Glas, und als zöge er alle Dinge der Welt an sich 
und besitze, was an diesem Leben irgend wünschbar sein kann, 
das Erreichbare und noch mehr: das Unerreichbare. Er fühlte 
seinen scharfen, harten Schritt, das Klirren seines Säbels, den 
angenehmen Rauch seiner Zigaretten, den Ton seiner frischen, 
schneidigen Kommandostimme beim Exerzieren, seine Wirkung 
auf die Leute, wie er alle ihre Seelen beherrschte und zügelte, 
er spürte den gesunden durchbluteten Körper beim Schreiten, 
Waschen und Turnen, bei den Exerzierübungen, die er selbst 
mitmachte, die volle Anmut seiner geschmeidigen Glieder, sein 
hübsches, männliches Gesicht, er war mit sich zufrieden, er 
genoß sich so unbekümmert auf der Höhe seines Lebens, als 
brauche er gar nichts mehr zu tun, als eben zu sein wie er war, 
und beherrschte alles, bloß indem er da war. 
Über die Zukunft oder überhaupt den Sinn dieses gesunden, 
großmächtigen Daseins hegte er ebensowenig Gedanken wie 
seine blendenden weißen Zähne, wenn sie einen Apfel anbissen, 
oder seine schlanken Beine, wenn sie munter ausschritten und 
seinen stattlichen Körper dahintrugen. Zu sein, wie er eben war, 
das war sein Schicksal und Glück, und das Schönste und Beste 
mit seinen Händen an sich zu ziehen, es zu ergreifen, zu ver- 
kosten, zu haben, ihm so gemäß, wie wenn Seelen, Menschen, 
Neigungen, Verlangen, Sehnsucht, Widerstreben, zarteste Emp- 
findung auch nicht mehr wären als Luft, die man atmet, selbst- 
verständliche Nahrung einer breiten Brust und rechtmäßiges 

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I 



Eigentum eines kraftstrotzenden Körpers, eines unbesorgten 
Verstandes. 

Er lag angekleidet, die Leinenbluse am Kragen offen, an einem 
Nachmittage im Frühling in seinem Zimmer auf seinem Cava- 
lett und rauchte und dachte nichts, sondern fühlte sich bloß 
gesund, frei, heiter und jung. Er sah weithin auf Gärten, die 
nächsten Höfe und Häuser lagen so weit, daß man keine Nach- 
barn merkte, höchstens an fernen Fenstern schimmernde aus- 
hängende Wäschestücke oder blitzende Metallgefäße. Die 
Bäume begannen eben zu grünen, die Luft strich noch kühl, 
doch schon leicht angewärmt vom stärkeren Schein der Sonne 
in das Zimmer und bauschte leise die flatternden Mullvorhänge 
am offenen Fenster wie Segel Sie bewegte auch die kleine 
Messingkette der Rouleauxschnur, so daß sie mit leisem Klirren 
regelmäßig an das Holz des Fensterrahmens anschlng. Von 
weitem hörte man ein Werkel spielen, der Wind trug die Töne 
herbei, und wenn er in die andere Richtung umschlug hinweg, 
so daß zwischen einem Takte und dem nächsten eine für 
das Gehör leicht peinigende Lücke einsetzte. Frühling in der 
Stadt Der Rauch seiner Zigarette zog in gedehnten blauen 
Schwaden zum offenen Fenster hinaus, um sich in die reine 
Luft aufzulösen, der Himmel sah blaßblau drein, ein kränkeln- 
der, unentschlossener Stadthimmel, weiße, gelbliche, kühn ge- 
ballte Wolkengestalten wanderten über ihn hin. Wasserporten 
überlegte, ob er ausgehen sollte. Da pochte es an seiner Tür. 
Er sprang auf, er verschloß den Kragen seiner Leinenbluse, 
dann öffnete er die Tür. Er erstarrte. Corona stand auf seiner 
Schwelle. Tief in Schwarz verhüllt, zum Umsinken aufrecht. 
Ein kurzer Ausruf des Staunens, dann eilt er zu ihr, faßt ihre 
Hand, zieht sie ins Zimmer, schließt leicht die Türe, schiebt 
ihr einen Stuhl an seinen Tisch. 

Unwillkürlich reißt er von diesem Tisch einige unordentliche 
Dinge weg und wirft sie in eine Ecke, einen gebrauchten Steh- 
kragen, ein paar schwedische Handschuhe, eine Zeitung, ein 
zerlesenes, beschmutztes, ungebundenes Exemplar von Zolas 
„Nana a , er will seine Junggesellenwirtschaft entschuldigen, aber 
was liegt daran, jetzt und hier, er spürt selbst die Aufregung in 
allen Gliedern, die Corona hergeführt haben mußte, denn sie 
brachte ihm selbst die Entscheidung. Das wußte er. 
„Verzeihung,* flüsterte das Madchen. 

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„Sie kommen selbst," flüsterte er und schämte sich, daß ihm 
gerade dies eingefallen war. 

„Ich schulde Ihnen noch Aufklärung. Ich habe sie Ihnen ver- 
sprochen. Aber ich hätte nicht schreiben können. Es wäre 
mir zu schwer geworden. Und wo hätte ich Ihnen alles sagen 
können? Niemand weiß, daß ich hierher gegangen bin, nicht 
einmal meine Mutter." * 
„Es geht auch niemand an, als mich und Sie." 
Sie seufzte leise auf. 

„Wollen Sie denn nicht Ihren Hut abnehmen, die Jacke ab- 
legen, Fräulein Corona?" 

Sie nickte nur ablehnend, aber sie schlug den Schleier zurück 
und zeigte ihr blasses, schmerzliches Antlitz, die Augen voller 
Tränen. 

„Was ist denn geschehen?" fragte Wasserporten besorgt 
„Ich muß von Ihnen Abschied nehmen," flüsterte Corona. 
„Sie haben um mich geworben, ich habe Ihnen Bescheid 
versprochen, eigentlich habe ich damit schon zugestimmt," 
— sie errötete bei diesem Eingeständnis — „nun muß ich 
Sie bitten, mir mein Wort zurückzugeben, ich kann Sie nicht 
heiraten." 

Wasserporten unterbrach sie nicht, er sah sie nur erregt an. 
„Ich bin noch viel ärmer, als ich geglaubt habe. Mein Vater 
hat in den letzten Jahren schwere Verluste gehabt, unsere Firma 
ist zugrunde gegangen, ich besitze kein eigenes Vermögen, auch 
habe ich nichts gelernt und muß jetzt erst anfangen, mir mein 
Leben selbst zu verdienen. So könnte ich Ihnen, Herr Baron, 
nur eine Last sein, keine Freude, und würde Sie hindern, statt 
fördern. Darum ist es für uns beide besser, wir gehen ausein- 
ander. Wir sind ja übrigens noch gar nicht zusammengekom- 
men," versuchte sie zu lächeln. 

„Nein, das sind wir freilich nicht. Aber das Geld macht doch 
nicht soviel aus, gnädiges Fräulein." 
„Doch. In unserem Falle alles," sagte Corona. 
„Nun, ich müßte eben anfangen wie Sie und etwas Neues lernen, 
mir mein Brot verdienen, ich bin ja gesund und werde es schon 
auch treffen wie andere." Wasserporten sprach wohl nicht 
sehr überzeugt oder überzeugend, er sagte, was sich in solchem 
Falle schickt, und hätte, beim Worte genommen, auch getan, 
was sich in solchem Falle schickt, aber daß ein Offizier über 

359 



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die Gelegenheit noch besonders erfreut sein soll, die ihn quit- 
tieren heißt, wäre zuviel verlangt gewesen. 
Corona überhörte dieses unbewußte Widerstreben in seiner 
Antwort, sie schüttelte nur entschieden den Kopf: „Nein, Sie 
könnten das kaum und dürften es auch gar nicht, ihr Leben 
wäre verdorben und ich daran schuld. Wir würden beide die 
kureen Tage eines ungerechten Glückes sehr bald verfluchen 
und einander zum Vorwurf machen müssen. Daran wollen wir 
nicht einmal denken. Wir sind für solche Anstrengungen und 
Opfer gar nicht erzogen." 

Sie sagte „wir", um seine Empfindlichkeit zu schonen. Wasser- 
porten schwieg. Er fühlte einen wahren Kummer mit einer 
wahren Befreiung, einen enttäuschten Verdruß mit einem ge- 
wissen Trost um sein Gemüt kämpfen. Corona sah so feierlich 
aus, älter, als er sie gekannt hatte, durch ihren Schmerz auch 
vor seiner, vor der eigenen Sehnsucht besser geschützt, als durch 
alles andere, sie hätte in diesem Augenblick als seine Mutter 
gelten können, so ernst und still und so von ihrem schwarzen 
Schleier umwallt, wie eine Witwe, saß sie da. 
Schon erhob sie sich: „Ich habe es Ihnen nur selbst sagen 
wollen, damit Sie mich freigeben. Ich möchte nicht schuld sein, 
daß Sie sich auch nur einen Augenblick länger gebunden 
fühlen.« 
„Und Sie?" 

„Ich? Was sollte mir die Freiheit?" 

Sie sagte das so ruhig und selbstverständlich, daß es ihn 
schauerte. In diesem Augenblicke hätte er alles opfern können, 
damit sie dies nicht mehr sagen müßte. Aber sie fuhr gleich 
fort: 

„Wir sind ja beide jung. Ich bin nicht die einzige." Sie sprach 
wieder von ihnen beiden, um nicht ihn allein zu meinen. 
„Sie werden mich leichter vergessen, das Ganze war ja nur 
eine Einbildung, ein törichter Zufall, Herr Baron. Wir dürfen 
es gar nicht anders auffassen, nicht wahr?" 
„Ich werde Sie nie vergessen, Fräulein, aber warum sollte ich 
es denn auch? Warum müßten wir uns denn vergessen? Warum 
sollten wir uns denn nie mehr wiedersehen dürfen?" 
Sie errötete bei diesen Worten und lächelte zugleich bekümmert 
und getröstet wie ein Kind, so daß in einem Augenblick über 
ihre strenge Blässe der Schein und die Wärme der wahren 
360 



1 

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Jugend wiederkamen und Wasserporten plötzlich den unver- 
geßlichen Zauber dieses rosigen Mädchenantlitzes erwachen, 
ihr Bild in seinem Innern wieder lebendig werden sah. Jetzt 
erst war ihm, als müsse er sie halten, sie an sich ziehen, die 
köstliche spröde Verheißung einer wunderbaren Jugend, die 
heut und hier in diesem Zimmer, allein bei ihm, wie ein ruhen- 
der Falter in einem Augenblick über einem menschlichen Ge- 
wissen schwebte, ergreifen, nicht für immer entlassen, als be- 
ginne jetzt erst ihre Begrüßung statt eines Abschiedes. Ihm 
war, als strecke das Bild, das er von seiner ersten Begegnung 
mit ihr im Innern trug, dieses blonde, leicht vornübergebeugte 
Wesen, das sich über ihn neigte, die Arme nach ihm aus, daß 
er es noch einmal ergreife. Wer war nun die wahre, eigentliche 
Corona: die hier von ihm Abschied nahm, oder die in seinem 
Innern nach ihm rief? -Warum müssen wir denn Abschied 
nehmen, wir gehören ja doch zusammen, Fräulein. Warum 
sollen wir uns denn nie mehr wiedersehen?" 
„Das müssen wir freilich nicht. Wer sollte es mir verwehren, 
Ihre Freundin zu sein, wenn Sie es wollen?" Damit streckte 
sie ihm herzlich und mit einem offenen warmen Blick ihre 
Rechte entgegen. 

„Meine Freundin?" fragte er lächelnd, und wieder fragte der 
Teufel aus ihm, den jeder eitle Mensch verköstigt 
„Ja, Ihre Freundin!" wiederholte Corona arglos und fuhr mit 
ihrem Taschentüchlein über die Augen. 

Da schämte er sich und sagte nicht, was dieses Wort bei einem 
jungen Mädchen und einem jungen Offizier sonst noch bedeuten 
mochte, denn für dieses Mädchen hier sagte es das Reinste und 
Beste, was sie meinen konnte und immer meinte. Er küßte ihre 
Hand, dabei sah er sie so an, daß ihr vor diesem Blick bange 
wurde, den sie erwiderte. Sie fühlte ihre Knie zittern, fühlte, 
wie eine wunderbare Versuchung und gefürchtete Leidenschaft 
sie taumeln machte, daß sie ihm ohnmächtig an die Brust ge- 
fallen wäre, wenn sie nicht sogleich ginge. Diese ganze Be- 
wegung dauerte freilich nicht länger, als er ihre Hand hielt, an 
seine Lippen führte und langsam, immer Aug* in Auge, mit sei- 
nem Blick ihre lebendige Seele aussaugend, eine Ewigkeit lang 
sinken Heß, und bis sie sie ihm, das Auge schließend, entzog. 
Sie nahm den Schleier über ihr Gesicht und verließ ihn. Er wollte 
sie nicht mehr wiedersehen. 

361 



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13- 

Albrecht Frantzl hatte gehorsam die Technik besacht und war 
Maschinenbauingenieur geworden, nicht ohne jeden Augenblick 
seiner freien Zeit für seine freie Kunst auszunützen. Er saß 
tagsüber vor seinen vielfältigen, genau gezeichneten Konstruk- 
tionen, deren verwirrtes Liniennetz ihn wie ein Spinnenbau ein- 
fing, und bemühte sich mit all seiner ruhigen, gefaßten Pflicht- 
treue, ordentlich zustande zu bringen, was ihm als Aufgabe ge- 
stellt war, er rechnete seine Sicherheitskoeffizienten und Pferde- 
kräfte aus, oder was es sonst zwischen Material und Festigkeit, 
Widerstand und Angriff zu bedenken galt Er rollte nicht früher 
die Bogen zusammen und verschloß die Tintenfässer, Lineale, 
Zirkel und Reißfedern nicht eher, als bis das vorgeschriebene 
Tages maß beendigt war. Dann zog er hurtig mit einem leichten 
Seufzer seinen Leinenkittel aus und seinen Lodenrock an, setzte 
sein Hütel auf mit einer linkisch kühnen, unwillkürlich ausge- 
lassenen Bewegung, nahm einen handlichen Malkasten, das 
übliche Klappstühlchen und einen grauen Schattenspender mit 
und fuhr irgendwo hinaus, wo er etwas Passendes erlandschaften 
konnte. Oder — bei ungünstiger Witterung und Jahreszeit — 
zog er sich in ein Atelier zurück, das er vom bescheidenen 
Ertrag seiner Arbeit in einem sechsten Stock eines Wohnhaus- 
ungeheuers unterhielt — denn trotz der Bedenken des Vaters 
brachte er auf Ausstellungen manches Bildchen um einen artigen 
Preis an den Mann — und malte hier in dem unheimlichen 
weißen, kreidigen Licht, was er draußen gesucht und gemerkt 
hatte, nichts als lauter luftige Nahrung eines hungrigen Kunst- 
gemütes, arbeitete dies alles — als außerordentlicher Hörer an 
der Akademie — mit seiner angestammten Sorgfalt und pein- 
lichen Genauigkeit, als dürfe er sich keine Linie, keinen Zug 
und Schatten, kein Licht und keinen geringsten Flecken ent- 
gehen lassen, kein Obenhin, kein dreistes Ungefähr, kein Selbst- 
verständliches, keine noch so allgemeine Abkürzung der um- 
ständlichen Mannigfaltigkeit des Sichtbaren erlauben, er wühlte 
sich ins Kleinste und Feinste aus Drang und Pein nach dem 
Größten und Freiesten. Er spürte sich auf jedem Schritt und 
Tritt Diener und willenloses Werkzeug seines Triebes, dem nur 
eine bescheidene, arme Hand zu so leidenschaftlichem Be- 
streben verliehen war. Er ächzte unter der Last auch dieser 

303 



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4 



Pflicht und wußte, daß ihm als einem bürgerlichen Kinde die 
Freiheit versagt bleiben mußte, die man niemals in der Muße 
allein, in willkürlichen und selbstbestimmten Verhältnissen, 
weder im Reichtum, noch in der Not, finden kann, wenn man 
sie eben nicht längst besitzt. Er ahnte : man trug diese Freiheit 
in sich, äußere Verhältnisse konnten sie weder geben, noch 
nehmen. Man hatte diese Freiheit in dem Blick für das Uner- 
meßliche, Zweifelhafte, Fragwürdige alles Daseins, indem ahnen- 
den Zittern des Geistes, das dürstend auffing, was als Spannung, 
angreifende Kraft, als überspringender Funke der unbegreif- 
lichen Seelenenergie von überallher im kleinsten Teilchen des 
Unermeßlichen unermeßlich lebte: Größe, Bewegung, Licht und 
Gestalt, den weitreichenden Bogen, der ohne Anfang und Ende 
aus dem Einzelnen in die Ewigkeit geschwungen war. Oder man 
hatte diese Freiheit nie, man hing wie er an das spärliche, küm- 
merliche Sträuchlein Wirklichkeit gekrallt, halb und halb zwi- 
schen den Abgründen, und starrte mit Lebensangst und Todes- 
angst auf das dürftige Bild jedes Dinges, das hart und bleiern, 
klar und begrenzt, aber eben darum schattenhaft unwahr und 
tot blieb. Bewegung allein war Licht und Wahrheit, Fülle und 
seliger Schein aller sieben Himmel. Man war frei in ihrer Mitte, 
wenn man diese Sonne, dieses Licht in sich hatte, frei, mochten 
selbst Arme und Hände und Beine und Füße und Haupt und 
Glieder mit Stricken an einen Fels gebunden sein. Man besaß 
diese Freiheit, oder man besaß sie nicht. Man log sich immer- 
hin vor, sie entziehe sich den kümmerlichen Verhältnissen von 
Pflicht und Tagesarbeit, sie winke mit goldenem Licht in der 
Ferne unbekümmerter versagter Muße und reiner Stille. Man 
log sich diesen Traum in diesem Leben vor, man glaubte, man 
könne sich ihn erarbeiten und diese Freiheit, diese Kindschaft 
des Glückes erkaufen und erwerben. Waren Gott und Gabe, 
Schicksal und Bestimmung denn ein Wucherer, der so und so 
viele Pfund Fleisch und Schweiß, Arbeit und Blut, Seufzer und 
Verzicht, Zeit und Leistung aus Leib und Seele schnitt, dann 
aber seine Ware Freiheit genau auf ein Kilo zuwog? Nein, Gott 
und Gabe waren viel ungerechter, härter und unbestimmbarer, 
sie setzten nicht ein Jenseits und eine Zukunft vor ein qual- 
volles Diesseits und Heute, sondern sie maßen von Anbeginn 
und als Verhängnis zu, was jedem einzelnen vergönnt war, sein 
Quentchen Können und seinen Zentner Müssen und seine Last 

363 



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von Wunsch und Begierde, sie erwarteten keinen Gerichtstag 
und keine Abrechnung mit ihrer Härte, es winkte einem keine • 
Erlösung, man ging unter seinem Joche und konnte es nicht 
abschütteln. Warum zog man diese Kette und wohin? Warum 
warf man sie nicht ab, man hätte bescheiden für sein bißchen 
Speis und Trank, Kleidung und Wohnung, für ein Dach über 
dem Kopfe, für ein Buch zum Lesen, für ein Bett zum Schlafen, 
für ein Licht am Abend, für ein Glas Wein im Freien, für einen 
Spaziergang im Wald, für ein Bad in der Hitze, für ein Spiel 
von Musik seine Tagesarbeit tun können wie viele Tausende 
ohne Frage lebende Menschen ringsum, und wäre dann frei 
gewesen, um sorglos allein oder mit einer kleinen Geliebten 
spazierenzugehen , in einem Gasthaus an einem sauber ge- 
deckten Tisch bei heller Beleuchtung ein anständiges Nacht- 
mahl zu verzehren und sich so gestärkt, wohlzufrieden ins Bett 
zu legen und den nächsten gleichen Tag bewußtlos in gerechtem 
Schlafe zu erwarten, bis man einmal als Vater oder als Groß- 
vater oder als Junggeselle, je nachdem, hinschlief und nicht mehr 
aufzustehen brauchte. So hätte man bei gesunder Vernunft und 
Bescheidenheit, bei begnügtem Gemeinverstande leben und 
sich anmaßend gar noch sagen dürfen: es ist gut. Aber so viel, 
so wenig Vernunft, so gutes, will sagen so übles Maß von Be- 
scheidenheit hatte man eben nicht Man führte, weiß Gott, weiß 
der Teufel woher, in seinem Blut und Hirn, in seiner Hand und 
in seinem Herzen ein kleinstes, größtes Obermaß, ein Körnchen 
Gift und Glut, Funken und Sinn, Kraft und Willen mit, und das 
machte einen bei dieser Ordnung und Grenze stumm, aber 
rasend schäumen, ausschlagen und fliehen, jagen, suchen, schwär- 
men, betteln, zagen, begehren und beben wie ein Pferd, dessen 
Flanken zittern und dessen Nüstern gehen. Man mußte wissen, 
was man wollte und nicht konnte, suchen, was einem zu rinden 
versagt war, man mußte mit Sklavenhand langsam und ängstlich 
bilden, was der Gott in einem andern mit einem frechen Nu 
hervorschleuderte, mit hartem Fleiß und ärmlicher Genauigkeit 
mußte man die Linie eines Bäumchens geduldig auf dem Papier 
hinschreiben, Strich an Strich, Gelenk an Gelenk, Knoten an 
Knoten, Ast an Ast, und siehe, es blieb ein Abbild. Dem andern, 
in dem Gott war, der maßlose, ungerecht gebende und nehmende 
Gott, der nach seiner Laune liebte und strafte, zumaß im Über- 
fluß und der Armut wegnahm, diesem andern wurde es schier 

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im Schlafe Wirklichkeit und Welt, ihm schwang sich von Ding 
zu Ding, von einem Ast und Umriß zur bewegten, durch und 
durch dringenden und bestimmenden Luft, vom Schatten ins 
Licht und zurück ins Dunkel, von einem Einzelnen zum All, vom 
Hier und Jetzt ins Dort und Oberall eine mittragende Welle, ein 
kühner, bedeutender Bogen ; sein Auge trank Seele und Wahr- 
heit, Ahnung und Gewißheit, Ungefähr und genaueste Einsicht 
im Überfluß aus jedem Geringsten und brauchte nie zu dürsten. 
Er fragte, und seine Fragen waren lauter Antworten, er suchte 
nie, aber er fand alles, das Licht seines Auges fing das Licht 
der Welt, ein Strahl den andern spielend auf, und ein unend- 
licher Glanz der Vollendung ging von allem aus, was ein solcher 
Freier berührt hatte. Welt war, was der Glückliche im engsten 
Winkel schaute, Erlebnis und All trugen ihm aus jedem Augen- 
blick allseits Bedeutung und Wirklichkeit zu. Dem Armen aber, 
den Gott ungleich als Gegensatz hervorgebracht, den er brauchte, 
um seine Gnade bei den andern in ihrer Pracht zu erstellen, 
wurde die Welt und Unendlichkeit zum toten Einzelnen, was 
sein Fleiß anrührte, erstarrte zum Abbild, sein Auge zog die 
Unendlichkeit aus den Dingen und verkleinerte sie mit tausend 
Stichen und Strichen, bis»sie in seinem engen Wesen, aber tot 
und stumm Raum fanden. Dieses Wesen mußte gleichwohl be- 
gehren, was es nie beherbergen konnte, denn Gott verlangt 
solche Ungleichheit aller als den Spielraum der Kreatur. Darum 
war Freiheit kein Besitz, den man erwirtschaften, erbitten, mit 
Fleiß und Opfern erreichen konnte, Sondern eine Gabe und 
Gnade, dem einen stand sie rechtens zu, und ihm war alles ge- 
geben, dem andern war sie versagt, und ihm war alles genommen. 
Es gab keine Stufen und Grade des Talents. Diese Lüge hatten 
Leute ausgedacht, die sich ihrer selbst getrösten wollten, es gab 
keine großen, größeren und größten oder kleine und kleinere 
und kleinste Künstler, ebensowenig wie es Mehr- oder Weniger- 
löwen gab oder Halb- und Ganz- und Viertelbienen. Nein, es 
gab Reiche und Arme, Gnade und Ungnade, Künstler gab es 
und Arbeiter! Es gab Taten hier und Arbeiten dort Jeder hatte 
alles und nichts. Entweder eine Welt oder einen Klumpen Mist, 
der eine besaß eine unsterbliche Seele und ihre Freiheit, der 
andere eine Armesünderseele, die nach Gefängnis roch. Ja, das 
paßte den Menschen freilich, alles gleich zu machen und anzu- 
schauen, die Früchte zu verteilen, die Arbeit zu bemessen, den 

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Ertrag zuzu wägen, vor allem die Pflichten zu verringern, so daß 
jeder unbesorgt auf seinem grünen Zweige von Nichtsnutzigkeit 
sitzen, sich die Federn putzen und herumäugeln konnte nach 
dem gleichen Nachbar rechts und links, und ob es denn wirk- 
lich und endlich keinen mehr gab, der noch höher oben war. 
Aber vergaßen sie denn, daß der Mensch ein Geschöpf der 
Ungerechtigkeit und Grausamkeit, von Blut und Raub, eben 
vom Menschen lebt, daß er Seelen aufzehren muß, daß er Herzen 
zum Fräße braucht, daß er zum Morde bestimmt ist und aus 
Vernichtung seine Kräfte zieht? Selbst die höchste Güte, die 
menschliche Vollkommenheit und Herrlichkeit, die Liebe der 
Nächsten, die reine Anschauung der Welt erwuchs nur aus der 
schwärzesten Finsternis des Denkens, das alles Denkbare nicht 
nur denken kann, sondern auch gedacht haben muß und von 
niedrigem Wunsch, böser Begierde, grausamer Vernichtung den 
edeln Sinn nährt. Sonne wird aus dem Dunkel offenbar, Licht 
aus Schatten, das Gute nur im Gegensatz des Schlechten er- 
lebt. In seinen höchsten Aufschwüngen kommt das Gute, wird 
Erhabenes stets aus den tiefsten Abgründen gehoben, wo die 
Ahnen, Mütter und Vorväter und die eigene Niedertracht von 
Einst als das bißchen Feld verwesen, daraus eine Lilie, mit 
den Füßen in Moder, mit dem Haupt« im Lichte, zum Himmel 
wachsen mag, zu einem unwahren, unerreichbaren, unbegrenz- 
teren, unfaßbaren, darum eben notwendig vorgestellten Himmel. 
Güte war gut, nicht gerecht. Dies aber machte Liebe so hoch und 
schmerzhaft: ihr irdischer Grund, ihre modrige, von Schlangen 
und Molchen, von Gift und Haß, von Hunger und Ekel, von 
Neid, von Ungenügen und Unfähigkeit, von ohnmächtigem Ge- 
lüst strotzende Tiefe, in der man, bis an den Hals versunken, 
gewatet sein muß, in der man Wurzeln geschlagen haben muß, 
um aus ihr an das Licht zu wachsen. Gott und Teufel waren 
nur die beiden Seiten dieses menschlichen Seelenangesichts, 
Gut und Böse seine einzige Farbe, die — je nachdem — auf- 
blühte und versank und, in tausend Farben zerspringend, den 
Schein von Unendlichem erlebte und erzeugte. Ewiges ward nur 
durch Zeitliches erschlossen, Grenzenloses aus den Grenzen, 
Heil und Erbarmen aus Nacht und Grauen, Leben aus dem Tode, 
jeder Wille mußte einen anderen erwürgen, jede Kralt eine 
andere zur Ohnmacht erdrücken, denn dies war Menschenlos 
und -dasein und -sinn auf einer Erde der Unzucht und Macht, 

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wo Zonen müheloser Fruchtbarkeit neben Eisfeldern nnd Wüsten 
schimmerten und wo alle Wesen, die wir kennen, in unendlicher 
Ungleichheit über dieses Leben hingestreut sind, friedlos den 
Frieden zu begehren, gerecht aber die Ungleichheit zu wollen, 
denn sie bleibt das Geheimnis aller Würde, der Sinn aller Kraft 
— wenn es eben eine geben muß — , der süße Kern des bit- 
teren Seins. Mitleid und Liebe betrogen die Menschen um diese 
ihre einzige Heiligung und Rechtfertigung: um ihre Ungleichheit 
Nur faule, herabgekommene, lahm gewordene Menschentiere, 
deren Zähne locker saßen und deren Krallen stumpf geworden 
waren, konnten sich in diese Armesündergleichheit und wahl- 
lose Liebe flüchten, die jeden zugleich rettete und für immer 
verstieß. Es war die Tugend und Erhabenheit, die edle Lüge 
der Großen, sich den Kleinen gleichzusetzen, die Welt in einem 
Wassertropfen, das Mögliche im Wirklichen, das Unendliche 
im Endlichen zu erschauen und zu lieben, das Unzulängliche 
aus eigenem auf das Grenzenlose zu erweitern, sie durften sich 
zur Säule machen, die eine Wölbung der Welt tragen konnten, 
aber eine Menschheit, die der Größe würdig war und noch 
fähig, aus ihren Lenden ihre Genies, ihre Erlöser, ihre Ge- 
danken, ihre Himmel, ihren Gott zu zeugen, mußte die Kraft 
aufbringen, diese Gleichheit voll Stolz und Demut zurückzu- 
weisen und sich auf die Ungerechtigkeit als auf ihre Heimat 
und Pflicht zu berufen: laßt uns unsere ungleichen Lose, be- 
dient euch unserer Leiber und Seelen, lehrt uns unsere Pflicht 
und unser Dulden und zwingt uns, denn wir wollen bezwungen 
sein und darin unser Schicksal haben, denn dies allein macht 
un9 frei, indem es uns überwältigt, nicht unser zwanglos elen- 
des Dasein, wir wollen leben, nicht sicher sein. Wir wollen im 
Versagten das Angesicht Gottes ahnen, nicht in unseren satten 
Mägen ihn begraben, wir wollen uns opfern, um uns zu ge- 
winnen, nicht uns bergen, als hätten wir alles im Trocknen, 
wir wollen Angst und Hunger, Zorn und Eifer, denn Christ und 
Antichrist, Liebe und Haß müssen in uns toben, damit unser 
Leben Gott begehrt, laß uns Heiden sein und gekreuzigt, damit 
wir glauben können und kreuzigen dürfen, wir brauchen täglich 
und stündlich unsere Opferung und unser Opfer, laß uns nicht 
vergessen, daß wir Tiere und Räuber sind, damit wir gedenken, 
Menschen zu sein. Wir können uns von uns nur erlösen durch 
Schmach und Grauen. Laß uns unser tägliches Brot und die 

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Mühsal unserer Arbeit wie auch der Dienstbarkeit und des 
Hasses, tritt uns mit Füßen und verachte uns, aber sei unser 
Herr. Wir wollen dienen und herrschen, nimm uns nicht die 
Mannheit unserer Lenden, wir wollen nicht als Kapaune das 
schmachvolle Glück von Gleichheit und den öden Frieden, der 
auf unsere unfruchtbare Sattheit starrt, sondern Ungleichheit 
und Gewalt, Beugen und Gebeugtwerden, Schaffen und Ge- 
schaffenwerden, wir wollen die Faust aufs Auge, das Messer an 
den Hals, die Frucht höher als den Sprung. Denn das alles 
heißt Liebe. Laß uns schreien und nicht wissen: ist's Jubel oder 
Angst, Dank oder Gier, Liebe oder Haß, aber nimm uns die 
Stimme nicht aus unserer Brust, denn sonst verstummt die 
Stimme über uns. Gib uns unsere Hölle, damit wir unseren 
Himmel haben. Wir wollen den wahren, den ungerechten Gott, 
nicht uns selbst als unseren armseligen mutlosen Götzen, wir 
wollen im Unfrieden ewig sein, nicht sterblich im Frieden ver- 
faulen. 

Aber die Menschen sprechen und denken nicht so, sie wollen 
nicht sich empor, sondern das Hohe zu sich hinabziehen und 
verenden in Bequemlichkeit. Liebe wird ihnen gemein, und 
was sie fassen, ekle Gleichheit, muß sie im Überdruß ersticken. 
Er aber, Albrecht Frantzl, konnte wenigstens so denken und 
leben und die Ungerechtigkeit, die ihm sein Teil vorenthielt, 
als höhere Gerechtigkeit verehren, indem er ihr unterlag, und 
darin fühlte er sich — eben indem er unzulänglich war — 
doch menschenwürdig und sprach sich des Lebens schuldig. 
Als über die Firma seines Vaters der Konkurs einbrach, hatte 
er eben seine Studien beendigt und bedurfte gar nicht erst des 
väterlichen Zuspruches oder Befehles, um einen Broterwerb 
an Stelle des fragwürdigen Malergewerbes zu suchen. Ernst und 
bescheiden begriff er sogleich, daß nun die Sorge um ein ganzes 
Haus auf seine jüngeren Schultern gewälzt war, er schob sie 
selbstverständlich und geduldig unter und trug sie mit, so gut 
und so lang er es vermochte. Er trat in ein Ingenieurbureau 
ein und arbeitete weiter, wie bisher an der Hochschule, nun- 
mehr an den gelblichen amerikanischen Schreibtischen, deren 
Rolldecken er erst nach sorgfältig vollgezeichneten Bogen mit 
saubersten Konstruktionen verschloß. Am Nachmittag legte 
er seine Reißfeder hin, putzte sie sorgfältig mit den Tuchlappen a 
aus, tat seine farbigen Tintenfläschchen, Lineale und Zirkel in 

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die Laden, hing seinen Leinenrock an den Haken, putzte seine 
Schuhe, bürstete seine nett gehaltenen Kleider und wanderte 
mit seinem Malgerät ins Freie. 

Hatte er als Knabe in einem dunkeln Vorzimmer seinen ersten 
Malversuchen räumlich beschränkt obgelegen, so ging er ihnen 
nun zeitlich beschränkt nach, aber ohne das Gefühl, damit 

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irgend jemand ein besonderes Opfer zu bringen und schwerer 
gestraft zu sein, als mit einer begrenzten Gabe für eine grenzen- 
lose Sehnsucht 

Sein Vater hatte ein bescheidenes Unterkommen in einem der 
großen gesellschaftlichen Betriebe gefunden, die den seinigen 
aufgezehrt hatten, so verdienten sie beide genug, um ihren 
ohnedies herabgeminderten Hausstand zu erhalten. War aber 
Albrecht ein Bildchen einmal halbwegs geglückt und verkauft, 
und gab es im Sommer vierzehn Tage Urlaub, so floh er allein 
und aufatmend, soweit er nur konnte, davon. Am liebsten nach 
Italien. 

Wir sehen ihn an einem Frühsommermorgen in einem roh- 
seidenen Anzug, einen breitrandigen Strohhut auf den braunen, 
langgelassenen, in den Nacken fallenden, seidenweichen Haaren, 
einen braunen Leinensack und den notwendigen Malkasten in 
der Rechten, den Eisenbahnzug aufsuchen, der innerhalb eines 
Tages aus dem kümmerlichen Gewirr unserer Heimat in das 
wunderbare, schmutzige und strotzende, aber großartige und 
unbekümmerte Wesen des Südens führt, so daß ein Tag das 
Spiel und Gegenspiel der Zeiten und Orte enthalten und dar- 
bieten konnte. Albrecht drückte sich bescheiden in ein Fenster- 
eckchen des überfüllten Wagens, denn so oft er auch in den 
letzten Jahren diesen Flug ins Abenteuer unternommen hatte, 
er schien ihm jedesmal gleich toll und anmaßend, als sei er 
ein Ausreißer, der von der Polizei gefaßt und beim „Krawattel" 
in den österreichischen Kotter zurückgeworfen werden konnte. 
War es denn nicht unbegreiflich, daß man um ein paar, freilich 
sauer ersparte Gulden gleich einen Ausflug ins Wunder machen 
durfte? Er fing den Anblick der vorüberziehenden Landschaften, 
der längst bekannten, wie den einer durch Liebe und Staunen 
verklärten Freude auf, er trank das freundliche Sonnenlicht, 
das über die in Waldungen und Weingärten sanft hingebetteten 
schimmernden Örtchen des Wienerwaldes einen Hauch von 
Ahnung des Südens, von reifender und zeugender Wärme hin- 

Stoessl, Das Haus Erath 24 369 



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goß, der ihre Waldbestände dunkler und geheimnisvoller vom 
leuchtenden blauen Himmel abhob, der ihre Wolken oben 
glänzender und bedeutungsvoller wehen und wandern ließ. Wie 
in einem wachen Traum, gewiegt von der stetigen, vollen mäch- 
tigen Melodie der unablässig rollenden eisernen Räder, schwebte 
er im sachten Anstieg der Fahrt mit einem Male in der wach- 
senden Höhe von Fels und Gebirge, der Blick sah weite mit- 
wandernde Wellen von schwarzen, grünen, blauen Bergen, die 
mit Tälern und Klüften immer näher traten, immer neue Sen- 
kungen von oben überschauen ließen, bis man am höchsten 
Saume, an den Rand geschmiegt, über der Tiefe selbst hinfuhr, 
um in raschem Abstieg in ein grünes, gleichmäßig reifes und 
üppiges Gelände zu kommen. 

Und noch in derselben Nacht fuhr man über eine hallende, 
endlose Brücke, an deren Pfeiler leise Wellen gluckend an- 
schlugen, im dunkeln Wagen. Um seine Lampe summten die 
entsetzlichen „Zanzare", so fuhr man von Mestre in Venedig 
ein und trat aus dem Bahnhofe auf eine breite Stiege vor den 
dunkeln Canal grande, in dessen schwarzer Masse wie indunkelm 
Sammet oder auf den fürstlichen Wellen schwarzer Seide glän- 
zende Lichter funkelten. 

Albrecht stand zu Mittag auf der Riva dei Schiavoni, den Hut 
in der Hand, und ließ die Sonne auf sein Haupt, auf seinen 
mageren, schlanken Körper brennen, er schaute umher, und es 
war ihm, als ob er auf einer schwebenden Brücke stünde, die 
zwischen zwei Felsen über der Unendlichkeit hing und, von 
seiner Last beschwert, unablässig und leise schwang und bebte. 
War diese Bewegung in ihm oder kam sie von außen? Löste 
diese weiße, strahlende Sonne, die auf die Fenster mit den 
blauschattenden Säulen und Gesimsen, auf die Marmorplatten 
und Statuen, auf die weißen Pflasterplatten, auf die achtlos 
wandernden und schwatzenden Menschen schien, dies alles in 
Ströme und Schwaden von unzähligen flutenden Massen auf, 
oder war es sein Blick, der vor Glut aufgelöst, in einer unge- 
heueren Anstrengung von Wahrnehmung und Einsicht keine 
ruhenden begrenzten, sondern nur uferlos bewegte Dinge er- 
kennen konnte: diesen tollen seidenen blauen Himmel, mit 
dem diamantenen, eigentümlichen Glanz auf der Höhe seiner 
Wölbung, das träge anschlagende blaue Wasser, worauf die 
Gondeln widerspenstig ritten und sich immer an die Mauer 



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der Kais antreiben ließen, um mit angebeugten Hälsen wieder 
ein Stück zurückzuschwimmen und abermals anzustoßen, hart- 
näckig wie Widder. Er sah diese bunte Komödie und Maske- 
rade von Venedig wie einen Teppich, dessen jeder einzelne 
Faden für sich kam und durch das Ganze ging und hinfloß, so 
daß die Wirklichkeit zu einem grellen Muster gelöst war und 
wiedererstand, ihm entgegenströmte und gleich darauf sich 
zurücknahm, ohne Maß, ohne Grenze, aber auch ohne Wider- 
stand, als stieße sein Blick nicht auf Dinge und Verhältnisse 
in Nähe oder Ferne, sondern über eine gleichmäßig aufgerollte 
Fläche, auf der das Licht wie auf einer stählernen Platte sich 
sammelte, und von der es blitzend in sein Auge zurücksprang, 
das ihn allmählich schmerzte. Der Himmel, das Meer, die 
weißen Bauten, die sacht anschlagende Flut, das weite Rund, 
das um ihn lag, kamen ihm, der hilflos auf seiner bebenden 
Brücke stand und starrte, mit jedem Wellenschläge näher, un- 
heimlich nahe rückten sie an ihn und zugleich unheimlich 
tiefer, als ob die Brücke, auf der er stand, sacht gehoben würde, 
während die Fläche, auf die er blickte, immer nachkam, ohne 
daß sich der Raum zwischen seinen Blicken und ihrem Muster 
etwa verringerte. Wohl aber wurde der Raum zwischen seinen 
Augen und seiner Wahrnehmung, zwischen dem Anblick und 
seinem Urteil im Hangen und Schweben immer enger, als hätte 
er immer mehr zu sehen und könne um soviel weniger fassen, 
als träte die Fläche, indem sie sich unaufhörlich aus der Tiefe 
und von rechts nach links näher an ihn schob, zugleich härter 
an ihn, er hätte sie mit den Händen abwehren, von sich weg- 
schieben mögen, nur durfte er keinen Finger rühren, um nicht 
zu stürzen, denn er war, weiß Gott, in einer gefährlichen Lage. 
Was war das für eine lächerliche Komödie, diese bunten, ab- 
gebrauchten, schmutzigen unwahren Kulissen, diese Vorder- 
gründe mit lauter grellen Ornamenten und Steinputz, diese 
Ausblicke in konventionelle blauschwarze Schattengäßchen und 
Seitenwinkel, aus denen irgend ein ungewaschener brauner 
Haderlump mit einem malerisch umgeworfenen schwarzen Man- 
tel unbegründet hervorkam 1 Aber was sollte das heißen, daß 
dieser braune Kerl immer größer wurde, je weiter er wegging, 
statt daß er nach den Regeln der Perspektive kleiner wurde, 
bis er endlich verschwand und das Auge von dieser überflüs- 
sigen Staffage befreite, aber nein, er wuchs und wuchs so lange, 

24* 371 



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das Meer, der Himmel, die Mauern von Stein, die Pflaster- 
platten, alles wuchs mit ihm so ungeheuer, daß dem Albrecht 
auf der schwebenden Brücke oben nichts anderes übrigblieb, 
als sich in Gottesnamen selbst klein zu machen und samt der 
Brücke, so gut es ging zurückzuziehen, er mußte sich bücken 
— wunderlich, dabei blieb er doch immer auf seiner Brücke, 
weit von den wachsenden Dingen, die ihn so verdrängten — , 
er kam endlich unter einen runden Steinbogen, die Marmor- 
säule, die aus lauter erstarrten Tieren und Menschenfratzen ge- 
bildet war, hatte ein Loch, gerade dort, wo auf dem Kapital 
die Wölbung zu ruhen kam. Der braune Haderlump unten 
wuchs so lange — schrie er nicht „frutti di mare M aus? — der 
Himmel und das Wasser und die hochhalsigen Gondeln mit 
ihm, und Albrecht wurde so klein, bis ihm nichts anderes übrig- 
blieb, als sich in diese Lücke einzuschmiegen, wobei er aber 
noch immer auf seiner Brücke schwankte, stöhnte und endlich 
mit den Händen um sich griff, denn, entsetzlich — er hatte 
die ungeheure Last des Riesenbaues zu tragen, er war dort ge- 
rade eingefügt, wo die Wölbung auf dem Kapital zu ruhen kam. 
Er schnitt deshalb inmitten von steinernen Gewinden, Blüten 
und Gestalten ein Gesicht voll Qual. Es lastete doch zu schwer 
auf ihm. Warum hatte er sich so unterschieben lassen und 
hockte nun, einen lebensgroßen Kopf auf einem zwergenhaften, 
gekauerten Rumpf, die Eingeweide zusammengepreßt, mit einer 
verteufelt komischen Miene in einem Loch, die anderen hatten 
leicht lachen, wenn man diesen Bogen tragen und vor Qual 
grinsen mußte, dabei hatte man keinen Halt, denn die Füße 
ruhten nirgends, die Brücke wich aus, sie glitt mit dem Bogen 
abwärts und hinweg, man hing, nein, kauerte im Grenzenlosen, 
den Bogen im Nacken, man verzog das Gehirn vor Schmerz, 
war das auch noch Pflicht, hieß das auch noch Gerechtigkeit, 
man konnte doch nicht mehr, als man konnte, was brannte 
denn die Sonne noch für ein Schandmal in diese Sklavenstirn, 
die Augen sahen ja schon nichts mehr als lauter schmerzende 
Sonnen. Er kauerte immer dichter in sich zusammen. 
Anf der Riva dei Schiavoni, an der Mauer eines Hauses, sank 
ein junger deutscher Maler in einem rohseidenen Anzug ohn- 
mächtig nieder. Niemand bemerkte ihn weiter, sein Hut lag 
unweit im Schmutz, seine braunen Locken waren vom Staub 
besudelt, um sein heißes Gesicht schwirrten Fliegen, die 

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schwarzen oder rothaarigen Frauenzimmer mit den schwarzen 
Kopftüchern und in den klappernden Schuhen pochten vorbei, 
die Arbeiter in den blauen Leinenkitteln strolchten spuckend 
und kauend einher, die Hausierer schrien ihre Ware aus, „frutti 
di mare w , oder Fruchtwasser, „molto bene, molto purgante u , 
oder boten gelbe Pomeranzen oder Rosen in Körben oder 
Maiskörner als Taubenfutter in Tüten. Die Gondelführer riefen 
mit tiefer, gaumiger Stimme ihre Fahrzeuge aus, die Wellen 
schlugen eintönig erzählend an die Mauern, niemand kümmerte 
sich um den einsamen und demütig an der schattenlosen Wand 
hingesunkenen jungen Menschen, sie mochten glauben, er habe 
sich wie einer von ihnen in die Sonne schlafen gelegt, denn sie 
schliefen am besten so, mitten auf der Straße, die Vorüber- 
gehenden machten einen kleinen Bogen, um einen nicht zu 
stören. Dann stand man nach einer Weile auf und war guter 
Dinge. 

Der Zufall wollte es, daß ein paar Wiener Leute mit Feldstechern 
und Stadtkarte daherkamen, um den Markusplatz zu erreichen. 
„Da liegt ja einer!" Sie waren als Wiener gewohnt, sich um 
derlei Zwischenfälle sehr angeregt zu bekümmern, die hier un- 
beachtet liegengelassen wurden. So versammelten sie sich gleich 
um den Ohnmächtigen und betrachteten ihn, sie erkannten 
ihn als einen Landsmann, denn dafür hatten sie wie die Tiere 
ihren Geruch und eine scharfe Witterung. „Mir scheint! 
Nicht möglich! Das ist ja der Albrecht Frantzl!" rief einer aus. 
Dann bemühte man sich um ihn. 



Seit dem Unfälle in Venedig war Albrecht Frantzl gebrochen. 
Er lebte in einem dumpfen, halbwachen Zustand, aus dem er 
für Tage oder Stunden sogar in eine scheinbare ruhige Hellig- 
keit emporfand, dann sprach er vernünftiger und mit seiner 
sorgfältigen Rücksicht auf Mutter und Schwester, die ihn nie 
verließen und sich in seine Pflege teilten. Aber er konnte nicht 
mehr malen, wenn er auch viel an Bilder dachte und von Bil- 
dern sprach. Es schnitt den beiden Frauen ins Herz, wenn er 
gelegentlich beim Spazierengehen ein Auge einkniff, wie es die 
Maler tun, und dazu mit dem ausgestreckten Daumen der 
Rechten die Gebärde machte, die hier und dort etwas Bezeich- 
nendes hervorhob und einem Umriß nachging. Wenn sie ihn 

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dann durch Fragen darauf bringen wollten, etwas über dieses 
Bild zu reden, schüttelte er bloß wehmütig lächelnd den Kopf 
und verneinte und ließ die Hände sinken, als sei alles eins. 
Noch schlimmer aber waren die plötzlichen Augenblicke seines 
Wahnsinns, die ihn so oft gerade unterwegs' befielen. 
Da sank er plötzlich mit emporgehobenen, flehenden Armen in 
die Knie, hockte sich furchtsam wie ein Kind auf den Boden 
und stemmte die Arme empor, als erwehre er sich einer unge- 
heuren Last, er wurde davon erdrückt, bis er sich auf den 
Boden legte und, Gebete murmelnd, ächzte und sich bemühte, 
durch den Bogen hindurchzukriechen, der für ihn zu eng war. 
Er versuchte immer den Kopf zu heben, ob er schon hindurch- 
gelangt war, aber er stieß sich immer wieder die Stirn an diesem 
Joch und senkte sie ächzend zu Boden. Kein Zureden half, er 
war nicht zu bewegen aufzustehen. „Seht ihr denn nicht, wie 
es mich niederdrückt?** rief er unwillig. Sie mußten dann, wo 
immer es war, auf der belebten Straße, wenn sie den kleinen 
Stadtgarten in der Nähe ihrer Wohnung nicht hatten erreichen 
können, bei ihm warten und stehen, bis er, übermüdet, sich 
endlich aufheben und rechts und links unter den Arm gefaßt, 
nach Hause führen ließ. Die Leute auf der Gasse sammelten 
sich um die Gruppe, die mit der schmerzen reichen Mutter, der 
schönen traurigen Schwester und dem von Leiden übermensch- 
lich gequälten Jüngling etwas ungewollt Heiliges hatte, das frei- 
lich von niemand so bemerkt wurde. Vielmehr lachten Kinder 
oft über den spaßigen Anblick des Mannes, der sich ächzend 
auf dem Boden wand, Erwachsene ließen sich vernehmen, daß 
solche Leute nicht auf die Gasse gehören, wo sie andere in 
Schrecken brächten und den Weg versperrten, man solle den 
armen Kerl doch in eine Anstalt geben, wieder andere rieten, 
ihn mit kaltem Wasser anzuspritzen. Da er in den vier Wänden 
gelegentlich schrie und klagte und mit Fäusten an die Möbel 
schlug und bei Nacht unruhig war, hatte man in der alten Woh- 
nung nicht mehr bleiben, sondern eine kleinere suchen müssen, 
die von der Nachbarschaft unabhängig sein mußte. So war man 
in finstere Parterreräumlichkeiten geraten, die keinen Augen- 
blick zu keiner Jahreszeit von dem kleinen hohen, schacht- 
artigen Hofe her auch nur einen hellen Sonnenstrahl empfingen. 
Dieser Schatten bleichte die Gefangenen dieser Wohnung und 
trocknete ihre Wangen, ihre Augen, ihre Herzen noch mehr 

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aus als der Kummer. Elisabeth Frantzl verfiel in aller Stille, sie 
bekam einen krummen Rücken, sie ging mit Corona gar nicht 
mehr aus. 

Elisabeth und Corona wünschten nichts anderes, als diesen ein- 
zigen Sohn und Bruder zu erhalten , solange sie konnten. So 
kochte die Mutter für ihn und wusch die Wäsche, denn sie 
hielten keine Magd mehr. Er aber saß unterdessen, wenn sein 
Zustand günstig war, vor einem Tischchen und bedeckte ein 
Papier mit lauter vierteiligen Zahlen, mit denen er endlose 
vergebliche Rechnungen pflog. Von ihrem Gelingen hing aber 
auf merkwürdige Weise, die nur er verstand und unwirsch den 
anderen versicherte, sein Schicksal ab, und daß die Last auf 
ihm richtig verteilt sei. 

Der einzige, der bei all demDurcheinander eines verwahrlosten, 
unmöglich in Stand zu haltenden und im Beisammenbleiben ge- 
mach zerfallenden Heimes, bei den traurigen Geldverhältnissen 
und dem sichtlichem Absterben seines Hauses unbekümmert, das 
heißt wenigstens halbwegs gefaßt und aufrecht blieb, war Hein- 
rich Frantzl, der von je eine Kaffeehaus- und Magazin pflanze 
gewesen war und sich bei eingeschlossener rauchiger oder 
dumpfer Luft, auch ohne viel Sonne und Pflege munter gefühlt 
hatte, wenn er nur bei Gelegenheit jemand fand, der seine 
Raisonnements über den Weltlauf oder über die neuen Moden 
der Seidenweberei oder über klassische und moderne Musik, 
über die Entwicklung des Theaters oder was immer sonst ge- 
duldig anhörte und ihm das Stichwort für seine Wortspiele und 
Sinnverdrehungen gab, in denen allein er sich ausdrücken und 
seinem Bedürfnis nach Verspottung einer unzulänglichen und 
feindlichen Welt genügen konnte. Durfte er sich und alles 
andere lächerlich machen, so war ihm wohl wie einem Kanarien- 
vogel im Bauer, wenn auch ringsum alles drunter und drüber 
geriet. Nicht, daß ihm das jämmerliche Schicksal seines Sohnes 
gleichgültig gewesen wäre. Er empfand es zwar wie eine furcht- 
bare Strafe, aber er war noch gesund genug, in seinen Jahren 
das Ungemäße einer geistigen Zerrüttung von sich wegzuschie- 
ben, sich davon nicht berühren zu lassen. Genug, daß die 
beiden Frauen an Albrechts Elend zugrunde gingen und sich 
das nicht nehmen ließen, genug, daß sie den Kranken mit all 
seinen körperlichen und geistigen Mißlichkeiten behielten, der 
ihnen jeden Augenblick der Freiheit, kümmerlichen Genügens 

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zerstörte, genug, daß er dem allen zusah und wahrlich selbst 
in seinen Gewohnheiten und Ansprüchen mehr herabgestimmt 
wurde als notwendig. Sich seelisch diesem Schicksal zu unter- 
werfen, so viel Mut der Liebe oder der Schwäche brachte er 
nicht auf. So ergab sich wiederum das alte Verhältnis zwischen 
ihm und den Seinigen, sie lebten in einem jetzt freilich er- 
schreckend gedämpften Mißverständnis und in einer Entfernung, 
als wäre zwischen ihm und seiner Frau und seinen Kindern 
ein unsichtbarer Strich gezogen. Er war verdrießlicher, be- 
kümmerter Zuschauer, dessen Ratschläge man nicht weiter be- 
achtete oder ernst nahm, höchstens mehr oder minder scharf 
zurückwies ; sie aber waren im Jammer wie früher in gesunden 
Zeiten gegen ihn verbündet. So konnte er nur die Achseln 
zucken, und wenn die Geschichte zu toll wurde, am Klavier ein 
wenig ausarten, dann aber, anstatt sich zu Hause niederzulegen 
und Ruhe zu haben, ausgehen, um in einem Kaffeehause ein 
gebildetes Gespräch und Zeitungen zu finden. 
Das ging wohl an die zwei oder drei Jahre hin, bis Frau Elisa- 
beth Frantzl an Erschöpfung, an langsam zerbrochenem Herzen 
starb, still, noch von ihrem Krankenlager den Blick unverwandt 
voll Sorge auf Albrecht gerichtet, der am Fenster bei seinem 
Tischchen saß und rechnete. Von ihm, den sie mit unsäglicher 
Liebe und Angst ansah, wandte sie ihr mattes Auge fragend 
auf Corona, die bei ihrem Bette stand und deren Hand sie 
faßte. Die Tochter lächelte unter Tränen, das heißt, es war ja 
kein eigentliches Lächeln, nur eine leise Versicherung der 
Selbstverständlichkeit und Einhelligkeit, die sich wortlos des 
Lächelns bedienen mußte, um in aller Stille das Versprechen 
zu geben, das gemeint und verlangt war. 
Nach dem Tode Elisabeths teilte Corona ihre Tage mit all ihrer 
Gewissenhaftigkeit zwischen dem Grabe der Mutter, das sie in 
der ersten Zeit täglich besuchte, und zwischen dem Bruder und 
Vater. 

Was aber die Ermüdung der Mutter nicht erlaubt hatte, mit 
Albrecht andere Gegenden, eine Landschaft mit guter Luft und 
leichterer Möglichkeit unabhängiger Unterkunft aufzusuchen, 
war jetzt zulässig, verlangte der Kranke doch selbst nach Ver- 
änderung des Aufenthalts, und der Vater Frantzl machte dagegen 
keine Einwendungen, denn so bekam er zwar keine Bequemlich- 
keit, aber Ruhe und kochte sich sein Frühstück allein, brachte 

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sein Nachtmahl selbst nach Hause, räumte die Wohnung auf und 
lebte als gerechter Junggesell im Dunkel leidlich munter dahin. 
Die beiden Geschwister aber gingen miteinander ins Gebirge, 
und man konnte das eigentümliche Paar, den gequälten jungen 
Menschen mit den ganz zerfurchten Zügen und das schlanke, 
schwarzgekleidete Frauenzimmer unbestimmten Alters — denn 
Corona hatte Tage, wo sie jung, und andere, namentlich wenn 
Albrechts Zustand sie besorgt machte, wo sie selbstvergessen, 
alt von liebreichem Kummer, wie seine Mutter erschien — , 
man konnte diese beiden über einsame Feldwege wandern 
sehen. Albrecht ein paar Schritte voraus, den Kopf zur Erde 
gesenkt, die Hände in leidenschaftlichen Gebärden des Be- 
schwörens, der Abwehr oder des Zornes beschäftigt, Corona 
hinter ihm, immer bereit, mit einem freundlichen Lächeln und 
Zuspruch zu beruhigen. Wenn einer seiner Anfälle den Kranken 
packte und niederwarf, neigte sie sich über ihn mit mütterlicher 
Duldung, sie ging auf seine Leiden ein, sie glaubte, oh, wie sehr 
glaubte sie das Joch des fremden, fürchterlichen Willens, das 
sich auf ihn niedersenkte und ihn zu Boden warf! Auch sie 
kannte dieses Joch ! Sie fragte nach allen Zeichen der Macht, 
die ihr Albrecht keuchend, atemlos vor Angst beschrieb, sie 
redete ihm nichts aus, sie klagte mit ihm, sie bat mit ihm um 
Schonung, sie rechnete auf das Mitleid des entsetzlichen Geistes, 
denn sie hatten ja nichts getan und waren beide geschlagen 
um ein Nichts! 

Die Zeitungsgeschichten hatte Corona freilich verwunden, Waren 
die geheimnisvollen Anzeigen und Anspielungen von selbst aus- 
geblieben, seit ihr unglückliches Abenteuer mit Wasserporten, 
das erste und einzige ihres jungen, unkundigen Herzens, ab- 
geschlossen war, oder hatte die Mutter, durch die Familien- 
ereignisse abgelenkt, vergessen, darauf zu achten und dadurch 
auch Corona vou diesem Druck befreit, einerlei, sie hatte jetzt 
seit Albrechts Erkrankung wahrlich keine Zeitung gelesen, und 
wenn sie den Willen über sich fürchtete, wie eh, so bedurfte 
sie keiner Inserate und solcher versteckter Drohungen, denn 
mit dem Zustande des Bruders hing ein schärferes Schwert über 
ihrem Scheitel. Ihre Haare waren nachgedunkelt 
Leider konnte sie nicht lange an einem Ort verbleiben, denn 
Albrecht ertrug keine Landschaft auf die Dauer. Nach wenigen 
Wochen bedrohte und verfolgte ihn dieses Joch wieder, dem 

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er gerade hier zu entgehen gehofft hatte, und er versprach sich 
von einer anderen Gegend Befreiung. Geduldig packte Corona 
dann geschwind ihre Siebensachen und reiste mit dem Bruder 
in langsamen Zügen in der dritten Wagenklasse unter armem 
Volk, unter Bauern, Viehhändlern, bescheidenen Bürgersleuten 
durch die Provinz nach irgend einem neuen Aufenthalt Bei 
diesen Menschen tieferen Standes und einfältigeren Sitten fand 
sie mehr als in der Großstadt Verständnis und Teilnahme für 
ihr Schicksal, für Albrecht, der, in seine Wagenecke gedruckt, 
mit finsterer Miene schwieg, wenn er nicht zum Rechnen, Beten 
oder gar Knien und Sichniederwerfen genötigt war. Die Reise- 
genossen waren eben vom Land oder aus Kleinstädten und 
nicht bei Büchern und unter den maßlosen Verhältnissen Wiens 
aufgewachsen, sie schöpften daher ihre Erfahrung aus dem täg- 
lichen Verkehr mit Menschen, sie suchten ihn, sie waren es 
gewohnt, sich mitzuteilen und andere anzuhören, sie sprachen 
ernst und interessiert mit Reisegefährten, sie erweiterten ihre 
Kenntnisse dabei, sie tauschten Ratschläge aus und erleichterten 
manchen eigenen Kummer, indem sie den fremden genossen. 
Corona lernte andere Menschen kennen als bisher und hörte 
langsam auf, ihr Großstadtbürgertum als einen noch so beschei- 
denen Vorzug zu betrachten, irgend etwas zog sie zu solchen 
offenen, einfachen Verhältnissen, und sie meinte noch nie so 
klare, durchblickende und dabei verständig -liebevolle Augen 
gesehen zu haben wie bei manchen runzligen Bauernfrauen, 
die zu ihr einstiegen, gleich zu erzählen und zu fragen begannen, 
von vielen Kindern, schweren Arbeiten, Ernte- und Viehange- 
legenheiten berichteten und daneben sehr bald Coronas und 
Albrechts Lage würdigten und mit weltkundiger Ergebung in 
solche Zustände, die nicht so selten waren, wie Corona in ihrer 
Vereinsamung geglaubt hatte, eine Art von Ehrfurcht vor dem 
Kranken verbanden, die dem Volke seit je gemäß ist, welches 
im Wahnsinn mit einem tiefen Instinkt einen Zustand von Ent- 
rück an g schätzt, der von den letzten Wahrheiten und Fragen 
des Menschen, wenn nicht des Lebens zuweilen mehr verrät 
als die gemeine Vernunft Diese Ehrfurcht, dieses selbstver- 
ständliche Eingehen ohne Feigheit taten Corona sehr wohl, und 
so konnte sie gerade aus der Unruhe der häufigen Ortsverande- 
rung wieder Beruhigung ihres Gemütes schöpfen, denn Teilnahme 
ist die einzige Nahrung und Erquickung des Kummers. 

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Auf einer dieser Fahrten kam sie in eine einsame Berglandachaft 
von Südtirol, in eines dieser hochgelegenen, runden und von 
glühenden Felsen und silberschimmernden Firnspitzen abge- 
schlossenen Täler, wo ganz in schwarzen Wald eingebettete kleine 
Gastwirtschaften um eine als heilkräftig geltende laue Quelle 
gebaut, freundliche sogenannte „Bauernbäder tf ausmachen. Im 
Sommer mochten zahlreiche Fremde hier wohnen, jetzt im Früh- 
herbst, wo die blendend klaren Tage doch schon mit scharfer 
Kälte, mit Wind, zuweilen sogar mit kurzen Schneestürmen ein- 
setzten, war es still hier, und die Wirtsleute, die außer dem Gast- 
hof ihre Felder und ihr Vieh zu besorgen hatten, versprachen 
Corona und ihrem Bruder einen ungestörten, auch nicht zu kost- 
spieligen Aufenthalt. 

Bei diesen Wirtsleuten diente ein hochgewachsener, schöner, 
rötlichblonder Mensch, ein Riese an Gestalt, von schwerfälliger, 
aber guter Haltung mit einem demütig frommen Gesicht, aus 
welchem zwei kindliche braune Augen blickten. Corona be- 
achtete ihn lange nicht, denn sie sah ja überhaupt nichts und 
niemand als ihren teuren Kranken, endlich mußte sie ihn unter 
den wenigen Menschen, die es hier gab, doch wohl bemerken, 
denn er war groß genug dazu. Und so unschuldig dieser Riese 
auch war, er wußte sich immerhin wenigstens sichtbar zu machen, 
sei es, daß er gerade das letzte Bergheu vom hochgeladenen 
Wagen in ungeheuren Fudern in die Scheune warf, wenn Corona 
fortging und also unter den Triumphbogen seiner Würfe mit 
ihrem Kranken hindurchschreiten mußte, wobei er sie von seiner 
Höhe herunter und doch so ehrerbietig grüßte, als geschehe es 
aus der Tiefe hoch hinauf, sei es, daß er eben vom Essen kam 
und mit Beil und Säge sich in den Wald aufmachen wollte, 
wenn sie zum Essen ging, wobei er sie wiederum grüßte und 
sich an die Wand stellte, um sie durchzulassen, als ob der Hans- 
flur nicht einen breiten beladenen Heuwagen, geschweige denn 
drei Menschen nebeneinander vertragen hätte. 
Aber er wagte es sogar beim Spazierengehen, wenn sie mit 
Albrecht auf einem Felsblock in der Sonne saß und ihr Kopf- 
tuch abtat, um die warme, frische Mittagsluft auf dem Haar zu 
spüren, von seinem Feld herbeizukommen. Dann pflanzte er 
sich — in der ersten Zeit — etwa einen Steinwurf weit von 
ihnen auf, die Arme verschränkt oder die Kappe in der Hand, 
und betrachtete sie, aber nicht unverschämt oder zudringlich, 

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sondern kindlich neugierig, als sähe er andächtig ein fremdes, 
schönes Bild an. Wenn Albrecht irgendwie erregt wurde und 
in Unruhe geriet, kam er vorsichtig herbei und verstand gleich, 
was hier vorging. Er half ihr dann den Bruder besänftigen, der 
vor dem rötlichen Riesenkinde keine Angst hatte, sondern ihm 
wie der Schwester von dem Joch erzählte, das wieder kam, und 
von seiner Furcht, von den nutzlosen Gebeten, die er dagegen 
aufwenden mußte. Der Riese „Josef Tobler bin ich**, wie er 
sich oftmals vorstellte, redete Albrecht die Nutzlosigkeit des 
Betens aus, denn er seinerseits hielt viel darauf, er war fromm 
und nachsichtslos gläubig wie alle Bergtiroler und stand unter 
der Strenge dieser Formen nicht anders furchtsam als Älbrecbt 
unter seinem eingebildeten Joch, nur daß er diese Strenge liebte 
und als höhere Vernunft ansah, die für ihn weise und erhaben 

* 

ausgebildet und ausgedacht war. Corona sollte mit Albrecht 
fleißig in die Kirche gehen, meinte er. Als Corona aber erklärte, 
das dürfe sie bei dieser Krankheit doch nicht wagen, zeigte er 
seine großen gelblichen Zähne, indem er ernsthaft lächelte, 
das habe er freilich vergessen, aber wo eine Frau zu leiden 
habe, sei die Mutter der Schmerzen mit den sieben Schwertern 
in der Brust nicht weit. 

Später kam er ungescheut sogleich auf sie zu und begann zu 
erzählen und zu erklären, was er hier von der Gegend und den 
Bergen, von den Kühen wußte, die mit klanghaftem Geläut auf 
den Hängen umherzogen, von den Bauern ringsum, deren Ge- 
höfte und Viehstand er zeigte und aufzählte, und seinerseits 
bescheiden, doch wißbegierig zu fragen, wie es in der Stadt war 
und was es dort alles gab. In seinem von Kenntnissen unbe- 
wohnten weiträumigen Schädel hatten sich nur ein paar schmäch- 
tige VorstelluDgen von Wien, von der Kaiserburg und dem 
Stefansturm und dem Kahlenberg von altersher seit der kurzen 
Schulzeit angesiedelt und führten, wie gering sie auch waren, 
ein klang- und ahnungsvolles Geläute aus. Zu diesen Vorstel- 
lungen trat nun Coronas feine, zarte Gestalt in den schwarzen, 
bescheidenen, aber geschmackvollen Stadtkleidern als wunder- 
bares lebendiges Sinnbild der höheren Stadtwelt, über ihrem 
Wesen lag von je ein Hauch von Wunder und Entrückung, der 
in der lauten Verwirrung und widrigen Einsamkeit der Groß- 
stadt freilich unbemerkt blieb, der einfältige Mensch aber sah 
diesen verklärenden Hauch wie einen Heiligenschein um eine 

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kunstvoll gebildete fremde Figur. Er bemerkte ihr Alter gar 
nicht, sie war wohl ein paar Jahre älter als er und durch ihre 
vielen Leiden um den Glanz ihrer Jugend gebracht, nicht nur 
im Haar nachgedunkelt, auch ihre Haut war fahl und bleich, sie 
hatte Ringe um die Augen, ihre Hände waren von den schweren 
Arbeiten rauh, sie trug gern Handschuhe. Aber hier, auf dem 
Lande, wenn sie sich auf Felsblöcke niederließ und Blumen 
pflückte, mußte sie doch die Hände frei haben, und sie pflegte, 
was sie auch als Kind schon am liebsten getan hatte, verknäulte 
Wolle oder Bindfaden stundenlang geduldig mit ihren zarten, 
zugespitzten Fingern vorsichtig aufzulösen und zu entwirren, als 
gelinge ihrer Hand mit einem Wirrwarr von Fäden, was ihrem 
Verstand mit den Verwicklungen des Geschickes nicht gelang. 
Wenn der J osef Tobler in der Nähe war — und er war es immer 
— versteckte sie aber gleich irgendwie ihre Hände, denn so 
alt sie geworden war und so einfältig ihre Unschuld und Welt- 
einsamkeit der dieses Riesenburschen glich, so viel spürte und 
wußte sie doch in einem wehmütig lächelnden Herzen — dieses 
heitere Gefühl drang gar nicht bis zu ihren Lippen — , daß der 
Bursch um ihretwillen dastand und sich versäumte und schaute 
und kam und stehenblieb und vom Wetter zu sprechen begann, 
das er mit lauter alter Bauernwissenschaft eingehend begrün- 
dete, denn hier war das Wetter noch Schicksal und bedeutete 
Brot und Milch oder Zerstörung und Teuerung. Wenn er indessen 
um ihretwillen dastand, dann mußte sie doch wissen, daß sie 
nicht mehr jung war, daß vor allem ihre Hände hätten weißer 
und zarter sein müssen, denn an denen war noch etwas zu 
ändern, aber an ihrem Gesicht und an ihrer Gestalt wohl nichts 
mehr. Sie konnte verwirrt in ihren nachgedunkelten, aber noch 
immer vollen, schweren Haaren nesteln, sei es, um die Hände 
rasch zu beschäftigen oder um die vom Wind gelösten Locken 
unter den Kranz der Zöpfe zu bringen und zu stecken. Er aber 
konnte an ihr gewiß nichts von allem sehen, was sie fürchtete, 
sondern lauter Herrlichkeiten, von denen sie kaum eine einzige 
an sich ahnte oder anerkannte. Hinwiederum hatte er natürlich 
von seiner eigenen Tölpelhaftigkeit keine besondere Meinung, 
denn man mußte doch wohl über ihn stolpern mit all seiner 
Unwissenheit, und was die Kleider betraf, so rochen sie gewiß 
Dach Stall und Schweiß, und geschmierte Stiefel trug man in 
der Stadt wohl auch nicht Aus diesem Grunde hielt er sich 

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respektvoll von ihr fern, so daß beide einander in dem Ab- 
stände achteten, der Städter und Bauern voneinander trennt 
Aber gerade dieser Abstand machte sie einander auch mehr 
schätzen, als sie sonst ihresgleichen gewürdigt hätten. 
Josef Tobler pflückte ihr Edelweiß, er kam mit Sträußen von 
Enzian und machte ein ernstes, befriedigtes Gesicht, wenn sie 
dankbar lächelte und Albrecht ihr Geschenk zeigte, der — in 
seinen ruhigen Zeiten — höflich und rücksichtsvoll wie immer 
dem „Herrn Vetter vom Lande**, wie er den Riesen nannte, 
zunickte, ihm freundlich mit der abgezehrten Hand winkend. 
Tobler brachte ihnen auch bald einen Topf frischgemolkener 
Milch zum Felsen hin, bald ein Stück weichen Käse und schwar- 
zes Brot und redete ihnen zum Essen zu, als ob sie gerade von 
diesen Dingen gesund werden müßten. 

Corona, die vor den gescheiten Leuten immer Angst gehabt 
und sich gefürchtet oder der eigenen Dummheit geschämt 
hatte, wenn sie mit ihnen ein Gespräch hätte führen sollen, 
konnte mit diesem alten Kinde ganz frei und sorgenlos spre- 
chen, ja die eigentümliche Überlegenheit, die sie vermöge 
ihres Standes und ihrer traurigen Erfahrungen hatte, in seiner 
Gesellschaft angenehm empfinden und mit ihrem lieblichen 
Zartgefühl zur Geltung bringen, bloß indem sie ihm interessiert 
zuhörte und staunend mit ihrer klaren Stimme ihr „aber, aber** 
oder „nein, nein!** sagte, wenn ihr etwas wunderbar erschien. 
Er erzählte von der Kuh „Bläuelo** oder der anderen „Schwar- 
zelo a wie von vertrauten Seelen und treuen Freundinnen, denn 
jede hatte ihren Charakter, ihre Gewohnheiten und Seltsam- 
keiten trotz einem Bauern, jede hatte manches Kalb getragen 
und geboren und Schmerzen ausgestanden, und wenn sie auf 
dem kurzen grauen Herbstgrase lagen, wiederkäuten und sich 
an der Stirn krauen ließen, wußten sie sehr viel, was andere 
nicht wußten und bezeugten es mit großen ernsten, feuchten 
Augen. Corona, die seit Jahren nichts als ihres Bruders Leid 
gekannt hatte und, bevor er noch so erkrankt war, nichts als 
seinen armen, bedrückten Kampf um die Kunst, lernte nun 
von weitem wenigstens die einfachen und schweren Verhält- 
nisse des natürlichen Lebens hier im Lande kennen und ver- 
stand so gut zuzuhören. Diese ihre freundliche Gabe schien 
nun dem Bauern vor ihr die höchste Weisheit und Herab- 
lassung eines vornehmen, entrückten weiblichen Wesens. Was 

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konnten ihr die Angelegenheiten der Wirtschaft hier ausmachen, 
wie man das Vieh aufzog und auf die Weide brachte oder wie- 
der herunterholte, was es mit dem Schnee, mit dem vielen 
Schnee auf sich hatte, und wo die Lawinen im Frühjahr nieder- 
gingen I Er wußte die vermurten Stellen zu zeigen mit den 
gebrochenen entasteten Bäumen und den Schutthaufen, oder 
die „ Marterln u an den Wegen, die den und jenen Holzfäller 
und Fuhrknecht betrafen, der eben auch sein Teil an dem 
Menschenjammer zu Tode getragen hatte. Er konnte von seiner 
Familie erzählen, die — viele Geschwister — in der Nachbar- 
schaft oder weiter weg in Diensten standen, denn nur der 
älteste Bruder besaß einen kleinen eigenen Hof, und nur die 
älteste Schwester hatte einen wohlhabenden Bauern geheiratet, 
die anderen waren wie er selbst lauter arme Leute. Corona 
hörte zu, sie fragte nicht viel, aber ihre Aufmerksamkeit mun- 
terte immerhin auf, denn er mußte doch wohl reden, wenn er 
in ihrer Nähe bleiben wollte, und es schickte sich, daß er blieb, 
denn er mußte ihr doch behilflich sein, wenn der Herr Bruder 
etwas brauchte. Im Winter leuchtete alles weiß und tief von 
Schnee hier und heulte von Lärm, denn die Winde fuhren 
durch das Holz und fingen sich im Rauchfang, der Schnee 
konnte vor dem Gasthof so hoch liegen, daß er über die Fen- 
ster bis zum Dache wuchs und man am Samstag von obenher 
eine Gasse schaufeln mußte, bis allmählich tiefer zur Türe 
hinab gegraben wurde, damit man ausgehen konnte, denn die 
nächste Kirche war weit Man hörte nicht einmal bei ruhigem 
Wetter ihre laute Glocke. Aber es war doch rund und weit 
genug hier. Er selbst war nur bis Innsbruck gekommen. Immer- 
hin wußte er, daß die Welt weiterging. Es sollte ganz andere 
Länder geben als Tirol, von Wien abgesehen, mit niedrigen 
Bergen oder ganz ohne Hügel, tagelange Ebene, gar die heißen 
Länder und die braunen oder schwarzen Menschen mit weißen 
Zähnen und ohne Kleider, pfui Teufel Man konnte auch reisen, 
wenn man wollte, das heißt, wenn man es hatte, aber so gewiß 
man ein einfältiger und herzlich ungebildeter Mensch war, die 
Menschen waren wo anders auch nur aus Fleisch und Blut und 
nicht besser oder schlechter als hier. Wenn man ein Dutzend 
beisammen hatte, gab es gewiß alles Mögliche, alles Menschen- 
mögliche zum Aussuchen; nur die Bildung machte, daß man 
mehr werden konnte, wie der Herr Albrecht zum Beispiel, dem 

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man es gar wohl ansähe, daß er mehr sei und habe, als so 
leicht zu ahnen und zu ermessen stünde. Was aber ihn und 
seine Leute anlange, so waren sie immer im Lande geblieben 
und konnten nicht mehr oder weniger sein oder werden, als 
was sie eben waren. Seine liebe Mutter, die schon lange ver- 
storben in Seis am Schiern unterm Rasen liege, sei aus ihrem 
Tale lebenlang gar nicht herausgekommen. Aber als sie schon 
ein recht altes, doch noch rüstiges Weiblein gewesen, habe er 
ihr zugeredet, sie sollte doch einmal wenigstens mit ihm auf 
den Schiern hinaufsteigen, denn es sei eigentlich ein Spott, daß 
sie nicht einmal den nächsten hohen Berg kenne, bei dem sie 
wohne. „Nun, in Gottesnamen," sagte sie gehorsam und machte 
sich fertig. Sie 1 nahm ihr schwarzes Tuch um und zog ihre ge- 
nagelten Schuhe an und bestieg rüstig mit ihm den steilen 
Berg. Er half ihr, wo der Weg schwierig wurde, aber sie hatte 
keine Furcht und ging so sicher über den engsten Steig wie 
die Ziegen, die das Klettern auch nicht zu lernen brauchen. 
Bei Nacht waren sie aufgebrochen, er hatte eine Laterne mit- 
genommen, im Morgengrauen wuchsen die Berge rundherum 
aus dem Nebel und erröteten im ersten Lichte, und als sie auf 
der Spitze waren, eröffnete sich das ganze unendliche Bild der 
glühenden Aussicht auf unendliche ineinander übergehende 
Täler, auf viele, viele schimmernde Spitzen und Schneefelder, 
auf Ströme, die einander zuflössen, auf Wälder und Weiden, 
die ruhig dalagen, und es war ein schöner Morgen ringsum. Da 
habe die alte Frau wie ein kleines Kind gejauchzt, die Hände zu- 
sammengeschlagen und gerufen: „Jesses Josele, endern Schiern 
isch a no Welt!" 

Indem er dies erzählte und sich an das kindliche Erstaunen 
seiner Mutter mit jener ^wohligen Rührung erinnerte, welche 
die demütige Überlegenheit der Kinder ausmacht, schämte er 
sich ein bißchen, daß er davon so erzählen konnte. Dabei war 
ihm aber, indem er es gerade dieser Dame hier mit den feinen 
schwarzen Kleidern und dem schön frisierten blonden Haar 
und dem sonderbaren jungen Mann erzählte, der, die Arme 
unter dem Haupt verschränkt, auf dem Felsen saß und zu 
den Bergen emporsah, als ginge es ihm selbst, dem Tobler 
Josele, vor den fremden Menschen nicht anders wie seiner 
seligen Mutter vor der Aussicht vom Schiern, er staunte be- 
klommen und ahnungsvoll, daß es jenseits dieses Tales, jen- 

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seits seiner selbst und seinesgleichen noch Welt, wanderbare 
Welt gab. 

Als Corona bald genug mit dem Bruder wieder weg und nach 
Wien zurück mußte, weil es Albrecht in diesem engen Winkel 
zu drückend wurde, er fürchtete sich vor dem Winter, der ihn 
vollends in eine Stube einschnüren mußte, belud sich Tobler 
traurig mit allem Gepäck seiDer so rasch wieder verlorenen 
Freunde und trabte mit ihnen, bald nebenher, bald voran, drei 
Stunden weit durch das enge, nur von einer Fahrstraße und 
einem raschen Bergwasser gebildete, tief eingeschnittene felsige 
Tal zur nächsten Bahnstation. Er reichte Corona noch durchs 
Wagenfenster einen Strauß Enzian und Edelweiß und stand 
entblößten Hauptes, solange er den Zug noch sah, welcher in 
langsamen Windungen aus seinen Augen kam. Hinwiederum 
schaute Corona unwillkürlich betrübt auf den Riesen zurück, 
der groß und breit, der einzige auf der kleinen Station, mit 
dem rötlichen Schimmer seines Schädels sich von der klaren, 
grauen, winterlichen Luft abhob. Sie hatte zwar auf sein letztes 
„Grüß Gott" freundlich „auf Wiedersehen** gesagt, aber wie 
sollten sie zwei gerade einander noch einmal begegnen. 

15- 

Im ersten Frühjahr 1 9 1 3 starb Albrecht FrantzL Sein unruhiges, 
infolge der langen letzten Krankheit — einer wahren Auszeh- 
rung — auch ungepflegtes mageres Gesicht schien Corona von 
dieser Erlösung des befreienden Schlummers verklärt und ver- 
schönt, und die Erinnerung an ihn gesellte sich zu der an ihre 
schwesterliche Mutter als einziger wahrer Besitz der Über- 
lebenden, den sie mit Starrsinn und Leidenschaft festhielt, 
alle m Zureden des Vaters unzugänglich. Sie konnte sich von 
der Totenkammer nicht trennen, wo ihr Bruder unter Blumen, 
ein schwarzes Kreuz in den über der Brust gefalteten Händen, 
lag, dann folgte sie schluchzend dem Sarg auf den Friedhof 
und wollte ihm am liebsten in die Grube selbst folgen, bis sie 
die Schollen auf sein Grab warf, das neben dem der Mutter 
lag, dort war auch noch Platz für sie. Die Familie Frantzl mied 
die Familiengruft in Mödling, denn mit dem Hause Erath hatte 
man nichts mehr zu schaffen. Albrecht und Elisabeth lagen in 
einem Vorortsfriedhof, aber man sah von den Gräbern weit 
auf die waldigen Hügel rundum, und Corona tröstete sich, hier 

Stoessl, Das Haus Erath 25 3^5 



läge man gut unter einem offenen freien Himmel und habe 
wohl kein Joch mehr zu schleppen und kein fremder arger 
Geist und Wille über einen Schuldlosen Macht 
Nun hauste sie mit ihrem alten Vater in der gleichen finsteren 
Wohnung, die selbst einer dumpfen Gruft glich, und wanderte 
nur taglich zu den Gräbern hinaus, wo sie Chrysanthemen oder 
die anderen Blumen hinbrachte und pflegte, die gerade blühend 
aufzutreiben waren. Der frische Hügel ihres Bruders begann 
sich langsam mit still wachsendem Efeu zu begrünen. Daheim 
kochte und wusch sie für den Vater und blieb fromm, freund- 
lich und kindlich heiter, soweit es ihre allgemeine, nun schier 
als einziger Genuß nicht anders wie das Grün und die Blumen 
auf den teuern Gräbern gepflegte und gehegte Trauer duldete, 
denn sie hatte ja noch ihren Vater zu betreuen, mit dessen 
wunderlichen Launen und eigensinnigen Wortklaubereien sie 
ebensoviel zu kämpfen hatte wie ihrerzeit ihre Mutter, den 
sie aber gerade darum aufs inständigste behütete, als ihren 
letzten, einzigen Besitz. Es war nicht leicht, ihm alles recht zu 
machen, denn er machte es ja auch ihr nicht recht, wenn er 
die Nächte lang in rauchigen Lokalen, selbst wie ein Schlot 
rauchend, zubrachte und daheim ganz unnütz und überflüssig 
gern ein paar Gläser möglichst schweren Weines trank. Die 
n Milch des Alters w , wie er sagte; sie hätte ihm lieber wahre, 
echte Milch aufgenötigt, die er verschmähte, oder wenn er ein 
paar fragwürdige Leckerbissen heimbrachte, weil ihm ihre mög- 
lichst einfache, ohne schwere Zutaten und nachdenkliche Mi- 
schungen rasch zubereitete Kost mißfiel, auf welche sie nur eben 
die nötigste, kürzeste Mühe verwendete. Weshalb sollte man 
sich denn wegen des Essens, das in einer Viertelstunde aufge- 
zehrt war, die bessere Zeit der Erinnerung verkürzen, sagte sie. 
Wozu sollte man aber leben, wenn man sich das Leben keine 
Zeit kosten lassen wollte, entgegnete Heinrich und bewies ihr 
scharfsinnig, daß alle Freuden des Lebens, wenn auch einge- 
bildet, sich doch wenigstens in der guten Vorahnung und in 
der guten Erinnerung verkosten und dadurch auch verlängern 
ließen und darum geachtet sein wollten. Der Kummer und das 
Kopfhängen seien freilich billiger und müheloser, aber selbst 
diese Genüsse könne und solle man durch eine anständige Nah- 
rung erhalten und erstrecken, wenn man sich ihnen schon wid- 
men und hingeben wolle. 

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Was sie aber am schwersten ertrag, das war sein stundenlanges, 
selbstvergessenes Klavierspiel, das, durch die kahle, dunkle 
Wohnung übermäßig verstärkt, bei dem stechenden Schein der 
Kerzen am Flügel ihr Gehirn marterte. Diese Töne, der Auf- 
ruhr, die Wehmut oder der tolle Oberschwang von Bewegung 
und Leidenschaft, die sich aus seiner Musik — er spielte noch 
in seinen hohen Jahren sicher und kunstfertig — wie eine un- 
bändige, sonst unterdrückte und nur eben von den Komposi- 
tionen befreite Seele erhoben und ins Weite strebten, schnitten 
ihr wie mit Messern ins Herz. 

Aus solchen Fluten und Massen geordneten, aber anstürmenden 
Lärmes schienen ihr Flammen und verzehrende Hitze an die 
Sinne des Hörers zu schlagen, die freie Luft zu beengen, sich 
an die gequälte Brust zu drängen und tausende Mahnungen 
und Schmerzen anzufachen/ Spielten die Hände denn auf 
metallenen Saiten und nicht vielmehr auf den blutrauschenden 
Adern in einem Leibe? Griffen sie nicht in die gespannten 
Nerven selbst? Es gab keinen Frieden mehr, wenn die Töne 
begannen! Musik war die Stimme dieses übermächtigen Willens 
selbst, den sie fürchtete und haßte, der groß und unbarmherzig 
über ihr stand. 

„Lacherlich!" sagte Heinrich Frantzl und bog sich horchend 
über die Tasten, indem er der verwickelten Führung der Stim- 
men und des Rhythmus nachging. „Lacherlich, das ist unser 
Wille, unsere Freiheit. Ohne Musik gäbe es nur wiehernde 
Pferde oder brüllende Ochsen oder gackernde Gänse. Der 
Mensch aber macht seine Götter sprechen, kurz es ist gut." 
Damit spielte er weiter. 

Sie verbrachte viel Zeit in der Kirche, sie war in den letzten 
Jahren strenggläubig geworden. Fromm war sie freilich immer 
gewesen, aber von einer gewissermaßen selbstverständlichen 
weltlich-innigen Frömmigkeit, ohne die Formen und Forderun- 
gen des Kirchenglaubens anders, denn als bloße gesellschaft- 
liche Übung zu den vorgeschriebenen Zeiten, doch ohne Eifer 
zu erfüllen wie eine Pflicht, über welche man sich keine Ge- 
danken weiter macht Seit sie aber ganz allein stand und von 
Mutter und Bruder geschieden war, zog es sie mit einer selt- 
samen Macht in die Weihrauchstille und den summenden Frie- 
den der Kirche. Und wie die Musik dem Vater, ersetzte ihr 
die leise flüsternde Stille der dämmernden Kirche die Natur 

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selbst, die grünschattende Höhe des Waldes oder die durch- 
sonnte and vom unablässigen Summen der Bienen» Fliegen, 
Käfer über den Blüten, dem silbernen Lerchenruf des Himmels 
oben als von lauter seligen Stimmen unendlich belebte Einsam- 
keit einer Wiese. War es nicht, als schlüge man mit den arg 
zerrissenen schweren Ledervorhängen des Einganges die Welt 
und ihr böses Draußen zurück und fände in eine Stätte kühler, 
sachlicher, gerechter Ruhe, wo jeder galt, was er eigentlich war, 
und mit seinem Maß gemessen werden mußte, sich selbst zu 
messen hatte? Nur Gott konnte entscheiden, solange man hier 
unter seinen Augen stand. Hier gab es keinen fremden, unbe- 
greiflichen Willen, hier entging man ihm. Corona litt unter der 
Vorstellung dieser unbestimmten, aber unablässigen Herrschaft, 
die sie über sich, in sich selbst fühlte. Sie konnte es sich nicht 
vernünftig klarmachen, so oft sfe dies bei gelassener Über- 
legung in freieren Stunden auch versuchte, denn es war eben 
nicht mit gesunder Vernunft zu fassen: diese Qual der Nerven, 
dieses Ziehen des ganzen Körpers zu einem furchtbaren Sturz 
oder Verderben hin, diese Angst vor irgend etwas Unbegreif- 
lichem, das man gleichwohl verlangte, wonach man dürstete. 
Sie schämte sich dessen oft, aber ihre Lippen, ihr Herz brannten 
nach einer Liebe, die sie einmal empfunden und doch nicht 
erlebt hatte, an der sie vorübergegangen und von der sie doch 
noch heute krank war. Sie schämte sich, aber sie dachte 
immer an den schönen, dunkeln Menschen, an diesen schlan- 
ken, gewaltsamen, lodernden, furchtbaren Offizier, an seine 
Arme, wie er sie festgehalten und angeglüht hatte, und an jenen 
Augenblick, wo sie freiwillig zu ihm gekommen war, um ihn 
freizugeben. Sie hatte ihn damals bezwungen, sie hatte sich 
selbst bezwungen. Aber was sie sich und ihm versagt, das 
glühte in ihr weiter. War es diese quälende und dürstende 
Empfindung, diese grundlose Sehnsucht, oder war er selbst, der 
Mann, war Wasserporten der unheimliche Wille, der sie be- 
herrschte und der an ihrer Qual Schuld trug, der sie nie ent- 
ging? 

Wenn sie in die Kirche trat, in diese blaue Dämmerung unter 
lauter bedrückte arme Menschen, die in den Bänken ein Weil- 
chen knieten, ruhten und ihre Lasten von der Seele abtaten, 
bevor sie sich wieder aufrichteten und getröstet in den Lärm 
draußen untertauchten, fühlte sie sich vor diesem Willen, der 

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hier ohnmächtig war, und vor sich selbst geborgen. Sie hörte 
and sah nichts als die alten ewigen und in ihrer Ständigkeit 
tröstlichen Formen von Gebet und Dienst und Handlung, das 
silberne Räucherfaßehen, aus dem der Weihrauchduft schwebte, 
die gemurmelten lateinischen Gebete, Fragen und Antworten, 
die man nicht verstand, durch welche aber alle Fragen des 
Leides und der Angst, die von einem Menschen so bitterlich 
gefragt wurden, in fremde Worte gefaßt, und dadurch wie durch 
die fremden Antworten, vom einzelnen losgelöst und der Ewig- 
keit des Sternenhimmels, der Entscheidaug und dem Wissen 
Gottes getrost zu Füßen gelegt waren. Diese Formen nahmen 
selbst in ihrer fremden Rede und Gegenrede, in ihrem un- 
wandelbaren Gange vom Leben der einzelnen alle Fragen und 
Antworten und Begierden, Leiden und Freuden und Zweifel 
tröstlich ab und taten und litten für jeden in einer dämmerigen 
Ferne und in einem jenseitigen Frieden, der keine Qual mehr 
kannte. 

Wenn dann plötzlich die Orgel zu brausen begann, war es nicht 
mehr die irdische Musik, die sie sonst fürchtete, sondern ein 
jenseitiges Dröhnen und Summen, als drängten alle die Massen 
betender und um Entlastung ringender Seelen durch ein enges 
Tor in eine ferne Freiheit, denn die Stimmen waren verschlungen 
wie gepreßte und pressende Leiber, bis sie befreit und geordnet 
und erhaben hinwandelten gleich einem Zuge reiner Seelen in 
heiterer hoher Luft 

So war das Jahr 1914 gekommen und der jähe Kriegsruf, der 
über einen blauen, glänzenden Spätsommertag doppelt furcht- 
bar, doppelt unbegreiflich hinging. Corona hatte niemals Zei- 
tungen gelesen, sich nie um Politik bekümmert, geschweige 
denn diese tückischen Pläne und Gegenpläne, diesen heimlichen 
Wettstreit um Recht und Widerrecht, um das Zuvorkommen im 
Bösen, auch nur geahnt. Von einzelnen ausgesonnen und ge- 
nährt, bezogen diese Mächte alle Menschen, Millionen argloser 
und harmloser, mit einem Male durch Leid, Haß, Eifer, Teil- 
name und vor allem durch eisernen Zwang in das gemeinsame 
Schicksal eineT Welt ein. Es war wiederum für ihren schlichten 
Verstand ein stärkerer, unentrinnbarer böser Wille, der irgendwo 
im Dunkel lauerte und seine Werke aussann, während die be- 
herrschten Menschen nach seinen Plänen, eine irrsinnige, ent- 
setzte, umhergetriebene Masse, taumelten, mordeten, litten nnd 

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1 



leiden machten und anfangs noch mit Lust und Begeisterung, 
als für das Recht Es war aber nirgends ein wahres Recht, 
sondern da und dort nur der ausgeklügelte Vorwand davon, 
der Eifer des Scheins, nicht die Ruhe der Wahrheit, denn wie 
konnten sonst alle auf jeder Seite sich allein als die wahren 
Kinder des Rechtes, als die Schützer der Freiheit und des 
Guten ansehen, die Feinde aber als die ruchlosen Vernichter 
des Göttlichen? Konnte es auf der Welt ein Recht geben, das 
Völker schuldlos oder schuldig machte und ihnen den Frei- 
brief auf Mord und Vernichtung, den anderen das Urteil auf 
Lebensun Würdigkeit ausstellen durfte? Was hatten die jungen 
Knaben getan, die aus den Schulen zu den Waffen mußten, die 
noch kaum den ersten Ruf des Lebens, den ersten Windstoß 
der Freiheit gespürt hatten? Was hatten die Mütter und Ehe- 
frauen und Bräute getan, daß sie ihr Recht oder Unrecht mit 
dem Leben, mit den gesunden Gliedern ihrer Söhne, Männer 
und Geliebten bezahlen sollten? Konnte ein Volk die Pläne 
böser Willen entgelten? Und doch mußten die Millionen büßen 
und büßen machen, was über ihnen Dämonen gegeneinander 
ausgesonnen hatten. Die ganze Erde schien von diesen höheren, 
ungreifbaren, entsetzlichen Willen gemordet, die Natur selbst 
umgebracht und geknebelt oder vergiftet, daß sie, wie die 
Mütter, das Gebären verlernte, denn dies ist die grausame Ge- 
rechtigkeit der Natur, daß sie sich weigert, der Widernatur zu 
fronen. In den Städten ging es anfangs ganz großartig heiter 
zu, jeden Tag flog ein neues Gerücht von Sieg und Herrlichkeit 
auf, es gab nur Eifer und Lust; daß jede Nachricht mit tausen- 
den Leben erkauft war, stand nicht dabei, daran dachte keiner. 
Wieder ein Schiff versenkt, wieder eine Armee gefangen! Noch 
nie war in Wien so viel gesungen und gejubelt worden wie in 
diesem Anfang. Die jungen Mädchen, deren Burschen ins Feld 
zogen, sangen die alten schönen Soldatenlieder, es kam ja auch 
viel Liebe darin vor. 

Die Eisenbahnzüge brausten mit lauter gewaffneten Männern 
vorüber, jeder mit Reisig oder Eichenlaub auf der Kappe, sie 
sangen alle, sie hatten heisere Stimmen vom Trinken und 
Hurraschreien und vom „Prinz -Eugen* 4 -Singen oder von der 
„Wacht am Rhein* 4 . Durch die Straßen zu den Bahnhöfen tau- 
melten die älteren Wehrmänner an den Armen ihrer Weiber. 
Die Begeisterung besoff sich, wo es nur anging, denn Wein und 

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Bier flössen in Strömen, um diese armen Seelen zu kaufen. 
Man übernahm sich, man zog nur einmal in den Krieg, es gab 
nicht oft im Leben Mordfeiertage. Man hemmte den Taumel 
nicht, denn die bösen Willen brauchten ihn, nur im Rausch 
vergißt man den Verstand, der feig oder widerspenstig macht, 
und nur der Rausch macht aus Knaben, aus Vätern, aus Un- 
schuldigen Mörder. Wien sang, Wien brachte Eßwaren und 
Abzeichen, endlose Ketten von Würsten und Süßigkeiten und 
Bier und Wein. 

Nicht einmal die ersten Verwundetenzüge, die sacht heimkamen, 
störten sonderlich diese Begeisterung. Die schreienden, joh- 
lenden Züge voller frischer neuer Opfer fuhren mit ihren stram- 
pelnden uniformierten Viehherden stolz an ihnen vorbei, es 
war dafür gesorgt, daß sie nicht nebeneinander hielten, die Ver- 
wundetenzüge glitten leise, langsam und wie auf Filzschuhen 
voll Scham und Schmach nach Hause zurück. 
Im Herbst dieses Jahres, noch mitten im* Rausch und Taumel 
der ersten Begeisterung dieses alten österreichischen Staates, 
der alle seine Völker zum letzten Male mit dem Messer an der 
Kehle langsam zum Ausbluten bringen mußte, bevor er an sei- 
nem Mord und Elend selbst auseinanderbrach, im Anfange 
dieser Menschenopfer, über die es begreiflicherweise ein un- 
wissendes Hallo und Hymnensingen geben mußte, bevor das 
Knirschen und Zähneklappern anfing, bekam Corona, die fremd 
und traurig durch allen diesen unverständlichen Lärm hinging, 
einen merkwürdigen Besuch. Es klopfte nämlich morgens an 
ihrer Türe, ihr Vater war nicht zu Hause, sie begann gerade 
das Mittagessen vorzurichten und glaubte, der Briefträger wolle 
ihr die Post übergeben, darum öffnete sie arglos. Da stand ein 
Riese in Uniform vor ihr: der Josef Tobler, Sanitatssoldat, 
lächelte verlegen und bat um Verzeihung, daß er störe. 
Sie ließ ihn, ganz verwirrt und doch erfreut, in die Wohnung 
und bat ihn, an ihrem Tische Platz zu nehmen. Das wies er 
aber bescheiden zurück, denn er wußte ja noch nicht, ob er 
überhaupt durfte. Er hatte nämlich eine schwere Frage auf dem 
Herzen, mit der er sie so lange in der Wienerstadt gesucht, bis 
er sie richtig ausfindig gemacht habe, überhaupt habe er noch 
etwa vier Wochen Zeit, denn er warte hier mit seinem Regiment 
auf den Abgang hinaus wieder nach Tirol gegen die „Welschen". 
Jetzt im Kriege werde schon das Ungerade gerade und das 

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Ungleiche gleich, auch eine sonst wohl unzakömmliche Frage 
vielleicht erlaubt« 

Corona lächelte, als er so hin und her redete und über und 
über rot im Gesichte dastand, indem er die Mütze in den 
Händen drehte wie ein schuldig-unschuldiges Kind vor einer 
Lehrerin. Sie freute sich nur, daß sie den treuen Riesen wieder- 
sah, so lächelte sie denn arglos zu ihm empor und sagte: »Nun, 
nun, die Frage wird doch nicht gar so groß und schwer sein, 
wenn ich kann, werde ich Ihnen schon Antwort geben, Herr 
Tobler.« 

Er faßte sich also kurz und fragte, ob denn das Fräulein Corona 
seiner großen ewigen Liebe zuliebe ihn nicht jetzt vielleicht 
heiraten möchte. Er habe alle die Jahre unverwandt an sie 
gedacht und sie und ihren Herrn Bruder sich immer leibhaftig 
vorgestellt, so schön und vornehm sie war, möchte sie viel zu 
gut für einen armen Bauern geblieben sein, aber jetzt sei wohl 
alles eins und alles recht. Deswegen hatte er, sowieso nach 
Wien einrückend gemacht, sich doch getraut, daß er es erfrage 
und recht schön bitte. Wenn sie nein sage, werde er sie gewiß 
nicht mehr belästigen, denn sie werde ihm wohl nichts für übel 
nehmen, wenn sie aber ja sage, möchte ihr vielleicht der liebe 
Herrgott es mit Frieden und Glück lohnen, wer weiß denn, ob 
es lange dauert 

Damit stand er vor ihr und senkte seinen rotblonden Kopf. 
Sie erschrak bitterlich in ihrem Herzen, was hatte sie denn ge- 
tan, um wiederum einen Menschen zu treffen, sie fühlte dabei 
heißes Mitleid und Angst in ihre Kehle, Tränen in ihre Augen 
emporsteigen, ihre Knie zitterten, sie wußte nichts von sich 
selbst, weder von Liebe noch von Gleichgültigkeit, nur von Be- 
sorgnis um den großen, armen Kerl, der nach einer Mutter, 
nach einem Weibe verlangte, denn sie war ja älter als er. Sie 
sollte besonnen sein für zwei und für zwei das Rechte tun. Sie 
schwieg verlegen. 

Da begann er wieder: „Freilich, derHeir Bruder brauche sie, 
das habe er wohl bedacht, aber er wolle sie ihm gewiß und 
wahrhaftig nicht wegnehmen, sondern geduldig warten, bis er 
wieder gesund würde. Aber das würde der Herr Albrecht schon 
erlauben, daß er ihr helfe. Er würde ihn auch mitpflegen, er 
sei überdies von der Sanität und verstünde es jetzt schon ein 
bißchen. a 

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Corona schluchzte laut auf. Da erfaßte der Riese, daß Albrecht 
tot war, er bekreuzigte sich und murmelte vor sich hin: „Mein 
Gott und Herr, schon lange ? u 

„Schon übers Jahr," klagte Corona und bedeckte ihr Gesicht 
mit beiden Händen. Er faßte sanft ihren Kopf und drückte ihn 
an sich, und sie ließ es sich geschehen, denn wie jede Frau 
jedem starken Manne gegenüber die gute Mutter sein muß und 
kann zu seiner Stunde, kann und muß sie ebensowohl zu ihrer 
Stunde das hilflose Kind sein, das einen Halt braucht und nimmt 
Sie weinte unaufhaltsam, aber immer stiller und sanfter, als 
schlummere ihr Schmerz an seiner Brust ein. Er stand unbe- 
weglich da, um nicht durch eine leiseste Bewegung ihren Kum- 
mer zu erschrecken und zu stören. Erst als sie ganz beruhigt 
war, mit einem Male zur Besinnung kam und das Haupt an seiner 
Brust spürte — sie schämte sich und wollte es sanft von seinen 
großen Händen befreien, die noch auf ihrem Haar und ihren 
Schultern lagen — , da faßte er stumm dieses Haupt fester und 
zwang es mit einer sanften Gewalt, die ihr wohltat und den 
ganzen Körper an ihn emporzog, indem er seinen ernsten, 
glühenden Kopf zu ihr hinunterneigte und sie einen Augenblick 
lang ansah, keine Antwort erwartend, sondern gebend, und sie 
danach auf die Lippen küßte. Dieser Kuß hauchte so leicht und 
zart auf ihren Mund wie eines Bruders oder einer Mutter Trost 
und Beteuerung von Liebe, dann aber löste er sich gleich von 
ihr, doch hielten seine Hände sie noch immer fest. Und wie- 
derum wußte sie nicht, ob sie wollte, was sie tat und ließ, nur 
daß sie, von einer tiefen Sehnsucht nach einem treuen Menschen, 
von Dankbarkeit oder vom Bedürfnis nach Zärtlichkeit getrieben, 
ein Lächeln auf ihrem Munde fühlte, und daß er noch einmal 
nach dem seinen hingezogen, küssend und geküßt, diesmal so 
lange verweilte, bis sie den Kopf aus seinen Händen frei bekam. 
Dann durfte er sich freilich setzen, und sie mußte es zu ihrer 
großen Verlegenheit dulden, daß er dabei ihre beiden Hände 
hielt und glücklich schwieg, er konnte kein Wort mehr sagen, 
und sie schämte sich sehr, aber sprach auch nichts, sondern 
stand neben dem Sitzenden und ließ ihm ihre Hände. 
So fand sie der Vater. Corona blieb neben dem Riesen stehen, 
per unwillkürlich ihre Hände freigegeben hatte, sie nickte dem 
Vater zu und sagte errötend: „Das hier ist mein Verlobter." 
Frantzl machte große Augen und schüttelte den greisen Kopf 

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mit dem wirbeligen, kurzen grauen Barte und sagte: „Ei, da 
habe ich also die Ehre und das unbekannte Vergnügen. Die 
freudige Überraschung macht mich so schwach, daß ich mich 
noch gar nicht freuen kann. Sie müssen mich schon entschul- 
digen, Herr Soldat, ich fühle mich sozusagen erobert.** 
„Das ist der Herr Tobler, von dem ich dir ja schon damals er- 
zählt habe, Vater, als ich mit Albrecht von Tirol zurückkam. 4 * 
„Aha, in Tirol! Herr Tobler 1 Ich verstehe. Sie haben einen 
schönen Namen, und dienen dürfen Sie auch, wie ich sehe. Da 
möchten Sie denn gleich auch noch heiraten, damit alles wenig- 
stens in einem Aufwaschen geht Nun, Sie schauen immerhin 
beruhigend aus, Sie werden es schon ertragen.** 
Der Riese lächelte verlegen, und Corona errötete, wie sollte das 
große junge Kind dieses große alte Kind verstehen! 
„Da bleibt mir folglich nichts übrig, als euch den Radetzky- 
marsch als Hochzeitsmarsch anzustimmen.** 
Er ging ans Klavier und begann damit Corona eilte hinzu und 
hielt seine beiden Hände. Er nickte befremdet und schaute 
Tobler mit unglücklichem Gesicht an: „Jetzt ist ihr das auch 
nicht recht, soll ich vielleicht einen Trauermarsch spielen, denn 
daß für eine solche Feier die Musik unentbehrlich ist, werden 
Sie mir doch zugeben. Sie Tiroler Held. Vielleicht soll ich 
euch ,Zu Mantua in Banden 4 spielen? Wenn ich nicht reden 
kann, muß ich wenigstens Musik machen. Und was das Reden 
betrifft, verschlagt es mir die Rede, muß ich sagen. Dieses 
Militär! Kaum steht die Armee im Felde, so hat sie schon einen 
Gefangenen gemacht Sie kommen ins Tagesbulletin, Herr Sol- 
dat, wie heißen Sie? Ja richtig: Herr Tobler hat einen unver- 
besserlichen Feind aufgesucht, besiegt, gefangen und allem 
Widerstande zum Trotz eingebracht Ich hoffe, Corona, du hast 
entsprechenden Widerstand geleistet Das möchte ich mir aus- 
bitten, sonst geniere ich mich für die ganze Verlobung!** 
Corona seufzte: „Aber, aber!** 

Frantzl seufzte zurück: „Des Menschen Wille ist sein Himmel- 
reich, oder seine Hölle, sein Vergnügen oder das Gegenteil, 
man kann es sagen, wie immer man es meint Oder die Ehen 
werden im Himmel geschlossen. Auch dafür kann man ein an- 
deres Lokal wählen. Nun, Herr Tobler, meinen Segen brauchen 
Sie ja nicht, geruhen Sie also in Habtachtstellung meinen er- 
gebensten Glückwunsch entgegenzunehmen. Sie sind nämlich 

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die bewaffnete Macht, und ich kann Ihnen nicht widerstehen, 
obgleich ich kein Fräule in bin, weil Sie ein Seitengewehr haben." 
Damit reichte er ihm die Hand, Tobler schlag treuherzig ein, 
und Frantzl faßte diese Rechte noch mit seiner Linken und 
schüttelte sie unter eifrigen Verbeugungen und neuen, ver- 
wirrenden Redensarten, indessen Corona das vernachlässigte 
Mittagessen beschleunigte, zu welchem Frantzl in gerechtem 
Drang nach Feierlichkeit eine Flasche Wein beibrachte, die er 
pfiffig schmunzelnd mit drei grünen Römern auf den Tisch 
stellte. „Terlan liegt doch in Tirol, rechts oder links von Ihrer 
hochverehrten Heimat, Herr Tobler." 
„Jawohl, zu Befehl." 

„Nun, diese Flasche ist hoffentlich neben einem Terlaner ge- 
legen, Sie sollen es mit Nase und Mund bestätigen, Herr Soldat 
und Schwiegersohn, verzeihen Sie, ich kann mich so schwer an 
eine Würde gewöhnen, für die ich eigentlich nicht geschaffen 
bin, denn schon Vater zu sein, ist nicht leicht, aber auf den 
Schwiegervater bin ich noch gar nicht eingeschult Nun, nun, 
Corona: Weile mit Eile?" 

Am nächsten Tage — Corona hatte in schlafloser Nacht ihre 
wunderliche Verlobung und ihr unsicheres Herz dabei viele 
Male bedacht — sprach sie zu ihrem Vater, der bei seinen 
dürftigen, abgetragenen Kleidern doch äußerst sorgfältigToilette 
machte und sich gerade vor dem Spiegel bemühte, einer blau- 
weißgetupften Satinhalsbinde einen recht ungezwungenen, nach- 
lässig künstlerischen Schwung zu geben: „Du, Vater, ich habe 
mir etwas überlegt" 

„Ei, das wäre. Du hast dir einmal etwas überlegt und gewiß 
im Nachhinein, wie ich dich kenne. Und jetzt im Nachhinein 
ziehst du mich auch ins Vertrauen, zuviel der Ehre." 
Sie umarmte ihn lächelnd: „Lieber, Guter, du mußt mir im 
Ernst eine große Liebe tun." 

„Im Ernst, nein, wenn es nicht im Spaß sein darf, freut mich 
die Liebe nicht, vielleicht darf ich dir im Spaß einen Haß tun, 
aber damit wäre dir auch nicht gedient Was seid ihr Frauen- 
zimmer für passeDde Wesen. Nun, was kann ich also tun, teure 
Verlobte meines Herrn Schwiegersohnes aus Tirol?" 
„Vater, ich bin recht unsicher." 

„Schwach im Magen, das Herz hat zu viel exerziert Vielleicht 
trinkst du einen Bittern 1" 

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„Du weißt doch, Vater, daß ich einmal geliebt habe." 
„Ja, so ungefähr, soweit ihr mich damals in diese vertrackte 
Inseratenangelegenheit eingeweiht habt Verstanden habe ich 
die Geschichte nicht Sie hat so gar kein Entweder-Oder ge- 
habt, kein gewisses Savoir vivre. Sie war ohne Anfang und ohne 
Ende, eine Zukunftsmusik ohne Gegenwart und eine Vergangen- 
heitsaffäre ohne Vergangenheit Nun, jetzt liebst du hoffentlich 
besser, obschon auch da der Aüfang im dunkelsten Tirol liegt* 4 
„Ich habe diese Zeit nicht vergessen, Vater, sie bedrängt mich 
noch heute. 4 * 

„Nun, alle Zeit ist schwer, und Nachdenken ist aller Laster 
Anfang, hingegen ist Müßiggang seines Glückes Schmied. Was 
kann ich dafür oder dawider. Glücklich ist, wer vergißt, was 
nicht mehr zu ändern ist Wo bist du und wo sind diese Inse- 
rate? Sie sind in Ehren eingeschlafen, laß sie ruhen. 4 * 
„Sie lassen mich nicht ruhen. Es gibt keine Vergangenheit, 
Vater, es gibt nur Gegenwart Das Vergangene hält als ein 
fremder Wille einen Menschen fest Ich habe diesen Mann nicht 
vergessen, ich kann mich von ihm nicht befreien, ich kenne ihn 
ja kaum, und doch glaube ich, ihn immer noch zu lieben. Wen 
verrate ich, diesen braven Tobler, oder den Offizier, den ich 
freigegeben habe? Was ist aus ihm geworden, was ist aus mir 
geworden? Wenn ich mich selbst freigeben könnte, Vater. Aber 
ich selbst bin in eines anderen Macht 4 * 
„Hast du das dem Tobler gesagt? 44 

„Aber Vater, das verstünde der doch gar nicht Der ist zu ge- 
sund dafür. Er wäre nur unglücklich, und das dürfte ich am 
wenigsten, einen guten Menschen unglücklich machen, dazu 
hab' ich mich doch nicht mit ihm verlobt u 
„Sehr schön. Aber dann scheint mir, bliebe nichts anderes 
übrig, als die andere Geschichte dort zu lassen, wo sie am besten 
aufgehoben ist, nämlich in der Vergangenheit 44 
„Und doch ist es mir, als wäre ich ihm untreu, als hätte ich es 
mir damals freilich leicht gemacht, ihn freizugeben, aber weiß 
ich denn, ob er mich nicht noch heute zum Schatten hat wie 
ich ihn. Vielleicht braucht er mich und würde mich rufen, wenn 
ich ihn nicht verlassen hätte, und ich gehe zu einem andern. 
Ich habe ihn freigegeben, als stünde das bei mir oder bei ihm." 
„Das verstehe ich nicht, Corona, das ist mir zu hoch, das ist 
zwischen Himmel und Erde gedacht, nicht auf ebener Erde oder 

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im ersten Stock. Das ist verstiegen and verzweifelt, das ist ver- 
dacht und vertan, das ist ein in Liebe stehengebliebener Regen- 
schirm." 

„Vater, ich bitte dich, suche ihn auf, vielleicht ist er in Wien, 
vielleicht findest du ihn noch, und es ist nicht zu spät Vielleicht 
habe ich etwas gutzumachen. Du sollst ihn fragen.** 
„Er wird mich wie einen Narren anschauen.** 
„Jede Güte wird als Narr angesehen, denn die Menschen er- 
tragen sie sonst zu schwer, tu mir die Liebe, Vater.** 
„Ja, um aller Heiligen willen, wie soll ich mich denn anstellen, 
was soll ich denn zu dem hohen Herrn sagen. Du bist ja das 
reine Käthchen von Heilbronn. Herr Wetter vom Strahl, Donner- 
wetter, erinnern Sie sich noch an die Corona Frantzl, die Sie 
freigegeben hat und lieber freigenommen hätte, oder was?** 
„Vater!** 

„Du hast leicht, mich groß anschauen, aber wenn er mich groß 
anschaut, muß ich mich klein machen, ich habe noch mit keinem 
Offizier Kirschen gegessen, das ist nicht gut** 
„Du brauchst ihn ja nur zu fragen, ob er mich schon vergessen 
hat, und ihn zu bitten, daß er es dir sagt, denn die Freiheit 
meines Herzens und eines andern, unschuldigen Mannes hängt 
davon ab, daß er mich vergessen hat und nichts mehr von mir 
will und braucht, nicht im leisesten Gedanken. Er soll mich 
freigeben, damit ich mich frei fühlen kann. Ich darf mich ja 
nicht hergeben, denn ich bin nicht frei, ich habe mich nicht 
selbst Du brauchst mich nicht zu verstehen, ich weiß, ich bin 
wunderlich, aber du sollst mir glauben. Hilf mir, Vater.** 
„Nun, nun, du gehörst zwar nach Berlin und nicht nach Tirol, 
mein liebes Kind, verzeih* schon, denn das ist haargenau, kurz 
und klein verrückt, aber ich will dir deinen Willen tun. Auf 
eine Dummheit mehr oder weniger kommt es mir schon nicht 
mehr an. Ich will diesen, wie heißt er doch, Baron Wasserporten 
schon aus dem Armeeschematismus ausfindig machen. Gut, 
daß bei diesem ausgefallenen Gespräch nur er und der liebe 
Herrgott zuhören wird, hoff ich, hinauswerfen darf er mich, nur 
keinen Doktor holen lassen. ** 

Corona wartete bis zum Abend in furchtbarer Spannung mit 
glühenden Wangen und gefaßt, plötzlich eine innere Stimme 
zu hören, die sie zu diesem fremden Manne abrief. 
Nachmittags erschien Tobler und setzte sich still ins Zimmer, 

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er wagte gar nicht, sie zu küssen, er schüttelte ihre Hand and 
sah ihre angstvolle Erregung, so schwieg er demütig. Sie ging 
unruhig umher und machte sich bei allen Geräten zu schaffen, 
nur um ihn zu trösten, lächelte sie ihm schmerzlich zu. Ihm 
war, als bereue sie, daß sie ihn gestern nicht zurückgewiesen 
hatte, er fürchtete, jetzt und jetzt würde sie es ihm sagen. Aber 
ihr Lächeln beruhigte ihn doch wieder. Dann begann er ihr 
etwas zu erzählen. Vom Militär, um sie zu zerstreuen. Es war 
eine arge, wüste Gesellschaft, lauter rohe, wilde Burschen, viele 
Wiener, auch ein paar Polen und Böhmen, keine Landsleute. 
Sie waren so zufällig zusammengesteckt worden, er als einziger 
älterer Mensch zu lauter jungen, zu Handwerksburschen und 
Markthelfern, das waren wohl Plattenbrüder, wie man sie hier 
nannte, unverhohlene Räuber und Messerstecher, Fabrik- 
arbeiter, die allerhand böse Reden führten, sie wollten das 
Gewehr seinerzeit schon tüchtig brauchen und den richtigen 
treffen, der nicht vorn, sondern hinten zu suchen wäre und 
dergleichen. Als er nun ohne sein Zutun nach der Abrichtung 
zur Sanitätsmannschaft zugeteilt worden war und nach Wien 
abgehen sollte, habe ihn ein junger Bursch angeredet. „Du 
Tobler, wenn du in Wien bist, geh zu meiner Alten und laß 
sie von mir schön grüßen, und daß ich ihr auf nichts komme, 
derweil ich draußen bin!" Die Alte, so nannte er seine Ge- 
liebte. „Na, wie schaut sie denn aus, deine Alte?" fragte ein 
anderer, der „Glückte", ein blatternarbiger, lustiger Mensch. 
„Schöner schon als wie du Gflickter." 
„Na, und ist sie auch eine Jungfer?" fragt der „Gßickte". 
„Ja, was denn nicht noch, unsereiner kriegt keine Jungfer, für 
unsereinen muß lang gut sein, was für bessere Leut nicht mehr 
gut genug ist. Aber mir paßt sie schon, sie hat Haar auf den 
Zähnen, und arbeiten kann sie auch, und gut sind wir schon, 
wenn wir nicht gerade raufen tun und nachher erst recht." 
„Und was hast du gesagt, Josef?" 

„Nichts, sind lauter arme Leut, Militär ist keine feine Gesell- 
schaft, sie hätten mich auch ausgelacht. ,Aber der Tobler ist 
eine Jungfer* haben sie geschrien, ,die möcht' ihn verführen, 
wenn er zu ihr käm.' Ist auch nichts mehr draus geworden, er 
hat mir ihre Adresse nicht gegeben, hat sich's überlegt. Aber 
er hat mir mit dem Schnupftuch lang gewunken, wie ich mit 
dem Zug davongefahren bin. War ein armer Teufel." Er 

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sagte es nachdenklich, aber ein bißchen überheblich, denn er 
war sehr reich, hatte er doch eine vornehme Dame, die er 
liebte nnd die ihm, dem Josef Tobler, wenigstens anverlobt war, 
eine gnadenreiche Unschuld, zu gut für einen Herrn Fürsten 
und nicht zu stolz für einen Bauernknecht 
„Der Tobler ist selbst eine Jungfer,** dachte Corona im stillen 
und schämte sich für ihre Schuld. Sie ging leicht auf ihn zu, 
doch ging sie dabei wie auf scharfgeschliffenen Messern, es 
kostete sie viel, zur Stunde so leicht zu gehen und zu lächeln, 
sie nahm seinen Kopf in ihre Hand und küßte ihn auf die bei- 
den braunen Augen. Dann machte sie das Zeichen des Kreuzes 
über diese schmale Stirn, in welche tief ein Bogen dichten röt- 
lichen Haares schnitt, und wandte sich gleich wieder ab, ura 
ihrer unnötigen Arbeit nachzugehen. 

Am Abend kam der Vater zurück, sie sah ihn ungeduldig an, 
er tat nur vergnügt und trällerte Leporellos Arie „In Spanien 
tausend und drei** ... Er ließ eine Flasche Wein aufmarschie- 
ren, der ebenfalls neben einem Terlaner gelegen war, und trank 
auf das Wohl und Wehe der verliebten Verlobten, der unver- 
wandten Verwandten, und schwatzte allerhand Doppelsinn durch- 
einander, bis sich der Herr Tobler empfahl. 
Corona wartete, bis der Vater zu erzählen anfing. Er ließ sie 
fragen, ob der Baron in Wien sei. 

„No natürlich, wo wird er denn sein, ein Baron ist immer in 
Wien, sogar beim Generalstab, da weht im Krieg die beste 
Luft, man steigt immer höher, gar keine Kugel trifft so hoch." 
„Was ist er denn jetzt? 1 * 

„Major, wenn ich nicht irre, goldener Abendstern auf einem 

goldenen Kragen.** 

„Verheiratet?** 

„Nun, so gut als wie, nein, besser als verheiratet Junggesellen- 
wohnung, aber komfortabel, für alle Fälle eingerichtet Er hat 
mich wunderlich angeschaut Er hat sich auch erinnert, aber 
nicht eben mit Vergnügen. Es schien ihm peinlich, an alte 
Geschichten gemahnt zu werden, denn er sieht gern jung aus, 
er kommt mir so verdächtig schwarz vor. Ich habe dich ent- 
schuldigt, Corona, du mußt schon entschuldigen, aber anders 
als ein bißchen irrsinnig kann man solche Anfragen doch nicht 
hinstellen, wenn man nicht selbst verrückt erscheinen soll. 
Also du seist ein wenig wunderlich, du habest viel Unglück 

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aaszustehen gehabt, und das macht dich in deiner Sorge an 
alles Mögliche und Unmögliche denken, so habest du auch an 
ihn gedacht, und es sei wohl nichts Böses dabei, wenn du nach 
so viel Jahren, jetzt, wo ein großer Krieg angehe, besorgt wärst, 
was mit ihm geschehen sei. Er werde es zuversichtlich recht 
verstehen und nicht mißdeuten, denn du wolltest nichts von 
ihm. Ich schon gar nicht. Und um deines lieben Friedens 
willen sei ich in Gottes Namen gekommen, er möchte es nicht 
verübeln. Darum hätte ich mir erlaubt, vorzusprechen und er- 
gebenst anzufragen. Um meine Tochter zu beruhigen. Aus 
keinem andern Grunde." 
„Und er? tf 

„Du hast leicht fragen: und er? Und er war verlegen. Er er- 
innerte sich schon, eine leider allzu rasch entschwundene Sache, 
eine Torheit beiderseits, von der man besser nichts mehr 
sprechen sollte, vergangen sei vergangen, und er hoffe, es sei 
dir nur zum Wohle gewesen, er dürfe auch nicht klagen, er sei 
beim Militär geblieben und habe es vorwärtsgebracht Damit 
sei wohl alles in bestem Frieden, im schönsten Kriege geordnet. 
Habe die Ehre, mich bestens zu empfehlen, ganz meinerseits, 
e8 war mir ein Vergnügen, aber ein unnötiges. tf 
Corona seufzte. So war sie frei und wieder gebunden. In ein 
paar Tagen wurde sie durch Kriegstrauung mit dem Sanitäts- 
mann Josef Tobler vermählt und begleitete ihn nach Tirol, denn 
er blieb vorerst noch in der Etappe. 

16. 

Drei Jahre lang lebte Corona in einem stillen Taumel von 
Furcht und Liebe, Hoffnung und Ergebung, sie blieb bei ihrem 
Vater. Am Fußende ihres Bettes stand ein Tischchen mit den 
Bildern ihres Mannes, ihres Bruders und der Mutter, so daß 
ihr erster Blick morgens die Blicke ihrer fernen Lieben traf. 
Der Vater machte in seinen Mußestunden Musik, und sie be- 
sorgte das Haus. Allmählich drückten Hunger und Not immer 
schwerer, der Vater und sie rannten in alle Gassen und Winkel, 
wo irgend etwas Nötiges oder Unnützes angekündigt war, sie 
standen stundenlang in Wind und Wetter vor den Läden und 
warteten auf Einlaß, statt Nahrung gab es Zeitungsstimmen von 
Siegen, und Begeisterung, obgleich nur mehr kläglich einseitig, 
wurde als Seelenfutter ausgeboten. Aber eine ganze Stadt war 

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dabei hohläugig und elend, verwahrloste und verkam in Schmutz, 
Krankheit und Gemeinheit, räuberische Kinder strolchten schul- 
frei durch die Gassen, die Frauen konnten keine andere Arbeit 
mehr leisten, als nächtelang auf dem Pflaster stehen oder sich 
hinlegen, um morgens einen Brocken Fleisch zu fangen, es gab 
keine geregelte Tätigkeit mehr, Hunger und Gier machten die 
einzigen Gedanken, die einzigen Leistungen einer dumpfen 
Menge aus, diese Gedanken waren für die Ausgemergelten Ar- 
beit genug, ganz abgesehen 'davon, daß mählich alles Material 
ausgegangen war. Man hatte keine Stoffe, um sich zu kleiden, 
man flickte zusammen und ging in anständigen Lumpen, aber 
man nähte sie mit Fäden, die man wieder aus Lumpen reißen 
mußte, denn Zwirn und Seide waren verschwunden, alle Wochen 
klaffte eine andere Lücke, nicht daß sämtliche Vorräte aufge- 
braucht waren, nein, es gab immer noch genug, aber die Wuche- 
rer, jeder einzelne, der sich auserwählt glaubte, zu rauben, wenn 
alles raubte, und kein Gewissen zu brauchen, wenn sich niemand 
eines machte, hatte irgend eine Ware des täglichen Bedarfs 
so lange zusammengekauft, bis glücklich auch darin die liebe 
Not war, die er großmütig gegen Wucherpreise brockenweise 
linderte, wenn er es nicht vorzog, sie noch weiter anzuspannen. 
Heute gab es keine Zündhölzchen mehr, morgen keine Schuhe, 
jetzt fehlte der Essig, morgen die Soda, die Seife ging aus, wie 
konnte da noch eine Farbe zu sehen sein oder ein Schuhband 
oder ein Stück Draht, ein Hemd oder ein Meter Garn. Das 
Militär, zur schrankenlosen Vormundschaft über einen bürger- 
lich wehrlosen Staat eingesetzt, der ihm alle seine Männer, 
zuletzt schon die Alten ausgeliefert hatte, zerstörte damit auch 
die Volkswirtschaft, sog sie vollends aus und zerbrach ihr 
die Knochen im Leibe, verschwendete die Steuergulden und 
trieb die Preise aller Waren freigebig auf Kosten des Staates 
in Schwindelhöhen, um alle diese Waren für einen Nimmer- 
mehrstag nutzlos aufzusparen, von Schimmel zerfressen, von 
den Feinden in Brand schießen oder ohne Schwertstreich er- 
obern zu lassen, während die Soldaten draußen darbten und 
Not litten und wie die Heimat selbst zu hungern begannen. 
Wie sollte auch die Vernichtung irgend etwas verschonen und 
zusammenhalten, wie sollte daheim hausväterlich wirtschaften, 
was draußen als Wüterich alles kurz und klein schlug. Gewalt 
machte alle Brunnen versiegen, Kinder verhungerten, Frauen 

Stoessl, Dm Haus Ermth 26 4OI 



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verdorrte die Brust und der Schoß, die Fracht ihrer Leiber ver- 
weste. Man bekam keinen Nagel mehr, kein alle rge wohnlichstes 
Gerät aus Eisen oder Holz oder Ton oder Porzellan, kein Werk- 
zeug und keine Maschine, es sei denn zu Märchenpreisen, man 
fand auch keinen Arbeiter, der einen Schuh flickte oder die 
Wasserleitung instandsetzte, es gab kein Licht, keine Kohle, 
keine Wärme, die Armut wurde verschwenderisch und warf 
mit dem wertlosen Gelde um sich, am einen jämmerlichen 
Magenbetrug, einen Nahrungsersatz, einen Sättigungsvorwand 
einzuhandeln. Arbeit ward zur seltenen Kostbarkeit, die sich 
mit Gold aufwiegen ließ, aber dabei widerwillig ächzte, die 
Leute in den Munitionsfabriken, die einzigen Arbeiter, die es 
noch gab, gut genährt und fürstlich bezahlt, weil sie die nötigen 
Mittel der Zerstörung erzeugten, praßten und ließen das Geld 
springen, sie heulten, halbwüchsige Burschen, Mädchen, be- 
trunkene Weiber und aufgeblasene Alte, durch die nächtlichen 
Gassen einer verfaulenden Stadt. Die wenigen, halb müßigen 
Arbeiter fühlten ihre Rechte, ohne Pflichten anzuerkennen, und 
verweigerten nach Laune ihre Hilfe. Indem sie den Staat mit 
den Mitteln zu seiner eigenen Zerstörung versorgten, verleug- 
neten sie ihn. Jeder überließ jedem, keiner trug die Verant- 
wortung. Ein zuchtloser Haufen von Menschen trieb wie eine 
lebendige Lawine, still anwachsend, in beschleunigtem Sturze 
zum nahen Abgrund. Allmählich schwoll der maßlose Reich- 
tum auf einer, Hunger, Armut, Laster und Entkräftung auf 
der andern Seite so ungeheuerlich an, daß die merkwürdige 
Ruhe und Teilnahmslosigkeit den Sterbenszug drohender ver- 
rieten als Auflehnung und offene Empörung. Der Reichtum 
mußte sich selbst vernichten, eine Gesellschaft, die für ihre 
Beherrscher und Nutznießer nicht nur Leib und Blut von Milli- 
onen, sondern allgemach auch alles Hab und Gut, den letzten 
Schimmer von Seele hatte hergeben müssen, um nicht einmal 
mehr einen Brocken Futter zu bekommen, erstickte diesen 
Reichtum eben in seinem eigenen Fett und verwandelte ihn zu 
Spott und Schrecken, zu der Masse bedruckten Papiers, welche 
er war, wenn nicht Arbeit und Ordnung, nicht Recht und Pflicht, 
Leistung und Gegenleistung diesen Noten Bürgschaft und Wert 
gaben. Die Hyänen hatten die Leichenfelder geplündert, sie 
hatten die Zurückgebliebenen in der Heimat ohne Schonung 
angefallen und ausgeraubt, keiner schämte sich, der Kaufmann 

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so wenig wie der Bauer, den Darbenden das Hemd vom Leibe 
zu reißen. Man bot ihnen Papier dafür, man schlug die leben- 
den und die verwesenden Leichname in Papier, es fehlte nicht 
viel, man hätte sie in Aktien und Banknoten einhüllen können. 
Wenn die Früchte der Bäume und des Feldes sonst als Zinsen 
von Gut und Arbeit flössen, so blutete jetzt das Volk, und es 
floß Papier aus seinen Wunden, als Zinsertrag des Wuchers 
und der Gewalt Hohläugige wankten dicht gedrängt mit wider- 
wärtigen, schamlos gierigen Zügen wie Tiere und mit schlaffen 
Gliedern, denn das allein hatte der Reichtum, der Raub noch 
nicht vermocht, daß die Menschen Papier fraßen. Immer noch 
konnte diese Maschine, die dem Sinn ihrer Erfinder entwuchs, 
weitermalmen, und neue Tausende wurden wöchentlich unter 
ihre Räder geworfen, denn sie durfte nicht hungern, die alle 
anderen hungern machte, obschon selbst die Mächtigen, die 
sich ihrer bedienten, allmählich vor dieser Kraft schauerten, 
die nicht mehr die ihrige war, sondern eines rätselhaft ver- 
borgenen Ungeheuers, das die Welt bezahlen ließ, was sie um 
Geldes willen verschuldet. Dem Leichengesicht des nahen Ab- 
sterbens hielt diese Maschine die papierne Fratze eines Hel- 
dengesichts hin, und keine Faust war da, dieser Fratze in die 
Fratze zu schlagen. Eine Stadt, ein Land, ein Reich, Völker 
waren wie gelähmt vor dem letzten Gerichte einer Zeit, deren 
Dämon Geld, das armseligste Werkzeug und Mittel sich über 
ihren einzigen Zweck: Menschheit erhoben hatte und dafür 
nun die Menschen zu Unrat verwandelte, wie Lumpen für die 
Lumpenmühle und für neues blankes Papier. Der Mord mor- 
dete Leiber, mordete Seelen, erwürgte das schuldlose Tier, die 
Kreatur im Schoß der Mutter, er mordete das Feld, er schlug 
den Wald, er zerwühlte die Eingeweide der Erde und brachte 
aus allen Adern des erschöpften Körpers Papier hervor. Der 
Mord buhlte mit dem Wort, die Macht mit der Lüge, und die 
einzigen Geburten dieser Ungeheuer waren Papiere. Die Mensch- 
heit konnte nicht einmal mehr röcheln, sie knisterte. Die Worte 
waren Papier, die Taten waren Papier, vielleicht mochten nächste 
Geschlechter lebendiger Menschen daran zweifeln, ob überhaupt 
geschehen war, was hier geschah, daß eine Menschheit ausge- 
mordet und ausgehungert, eine Erde geschändet, Männer, Wei- 
ber und Kinder bei lebendigem Leib zu Aas gemacht wurden, 
ob dies alles nicht auch eine tolle Lüge der Worte und des 

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frechen Papiers war, der großen Hure zuliebe, die in papiernem 
Purpur gen Himmel fuhr. 

Drei Jahre lang ging Corona still und bekümmert durch dieses 
Leben, nach je einem halben Jahre kam sie immer mit ihrem 
Manne zusammen, der in einem nassen Schützengraben Dienst 
tat, wo er den Tag lang auf dem Bauch ausgestreckt liegen, 
nur mit dem erhobenen Kopfe über den Rand spähen und sich 
nicht erheben durfte, ohne daß eine Kugel nach ihm pfiff. Er 
erschien immer recht verwahrlost von außen, in seiner schmut- 
zigen Uniform, aber immer sanfter von Herzen, freilich von 
einer düsteren, machtlos wissenden Milde, die Corona wehtat, 
er war fromm, aber bedingungslos hartgläubig, als verlangte 
dieses Schützengrabendasein, daß sich einer auch vor seinem 
Gotte bäuchlings hinwarf und nicht einmal den Kopf vor ihm 
erhob. Ein anderer hätte vor Gott gemeutert, er lag geduldig 
vor ihm in seinem Staube. Nur daß er gelegentlich eine kleine 
bescheidene Zukunft ausmalte, mit einem Stück Feld und Vieh 
und einem winzigen Hause, worin Corona mit ihm leben sollte, 
oder daß er verschiedene Käufe ausdachte mit ihrem bißchen 
Vermögen in einer fruchtbaren Ebene, oder in seiner felsigen 
Heimat, ein Stück Wald, oder ein Obstgütchen, einen Strich 
Korn oder Roggen, oder ein n Bläuelo u und „Schwarzelo" und 
ein friedliches Schwein und ein paar laute Hühner. 
Der große Mensch lebte draußen von einem recht kleinen Stück 
Brot und einer Schale Wassergemüse, zum Frühstück und Nacht- 
mahl erhielt er eine Menageschale schwarzen sogenannten 
Kaffee, er zehrte von seinem Körper und arbeitete ruhig weiter 
wie die geduldigen Pferde, die von Kräften kamen, die bei 
einem rätselhaften, gehackten Futter, das den Hunger ver- 
höhnte, abgemagert, aber mit treuem Blick und den Riesen- 
schädel schüttelnd, so lange zogen, bis sie plötzlich in den 
Lenden zitterten, standen und hinfielen. Die Kreatur, die ver- 
hungernden Hunde, die mageren Rinder mochten bebend 
staunen, was sie verschuldet, daß sie ihr Gott, der Mensch, so 
bitterlich strafte. Tobler sprach nicht viel, er traf Corona nur, 
sei es in Wien, sei es irgendwo draußen auf halbem Wege 
zwischen Wien und seiner Front, dann lebten sie vierzehn Tage 
zusammen, sie trachtete, daß er sich möglichst erholte und 
ordentlich aß und trank, und er ging still mit ihr auf den Land- 
straßen, wo die Geschütze und die schmutzigen Mannschaften 
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hinzogen, bis der Tag des Abschiedes kam und er neuerdings 
fort mußte. 

Im Frühjahr 1918 sollte er wieder vierzehn Tage Urlaub haben, 
schon hatten sie verabredet, wo sie, diesmal in Tirol, zusammen- 
treffen wollten. An seiner Statt kam eine Karte seines Offiziers : 
„Ich teile Ihnen schmerzbewegt mit, daß mein bester Mann, 
der Sanitätskorporal Josef Tobler, Ihr werter Gatte, auf den 
unbedingt und allezeit Verlaß war, gestern beim Absuchen des 
Vorfeldes nach Verwundeten oder Gefallenen von einer plat- 
zenden Granate getötet worden ist. Er hatte bereits Urlaub 
und hätte eigentlich sohon fortgehen können. Es war aber 
kein anderer Sanitätsmann da, so blieb er aus freien Stucken 
noch diesen Tag. Und gerade da ist es geschehen." 
Das war zu Vielgereuth gegenüber Italien. 

17. 

Im Sommer dieses letzten Kriegsjahres arbeiteten Thea Mai- 
none und ihr Mann in ihrem Gärtchen vor dem kleinen Hause, 
das sie sich durch jahrelange Arbeit erwirtschaftet und nach 
ihrem eigenen Plan erbaut hatten. 

Sie lebten hier einsam und waren schon ein bißchen gealtert, 
auch müde von der unausgesetzten Mühe, die sie willentlich 
auf sich genommen hatten, denn wer arm ist und gleichwohl 
eine Stätte bauen mag, der muß sie von seinem Blut, seiner 
Kraft, von seiner Hände Arbeit aufrichten, und sein eigener 
Erwerb beherrscht ihn. 

Ludwig diente als einer der unzähligen Amtsleute des alten 
Österreich, dessen eine Hälfte der Bewohner die andere ver- 
waltete, in einer jämmerlichen Brotstelie, die den Tag in fin- 
steren, schmutzigen Stuben bei verstaubten Akten zu einem 
Fluche machte und das Leben mit ständigen Floskeln und fer- 
tigen Wendungen zu Papier zerwalkte, zu Schein, zu Scheinen 
verarbeitete. Dieses Geld nährte die Mächtigen, es machte die 
Reichen noch reicher, die Armen noch ärmer, es hieß Gerech- 
tigkeit für die Starken und achselzuckende Ohnmacht für die 
Schwachen, es half das stumme und bösartige Gelichter der 
Herrschenden in zuversichtlichem Besitze befestigen, und seine 
demütigen Verwalter speiste es mit ein bißchen Spott und mit ein 
bißchen Achtung ab und zögerte ihre Jahre mit armseligen Wün- 
schen und armseligerenBefriedigungen hin. Die Arbeit aller war die 

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Mauer und d erSchutz derMacht,dieUnzähligenlagenStein anStein, 
Herz anHerz, GeistanGeist geschlichtet wie die gewaltigen Qua- 
dern unten, während oben im Licht die nutzlose Freiheit der We- 
nigen müßig ging. Die Freiheit wächst am besten über Gräbern. 
Abends aber, wenn Ludwig unter seinen Büchern bei der 
Lampe in der tiefen Stille des ländlichen Vororts am Schreib- 
tische saß, wurde sein Geist wach, der über Tag wie ein ein- 
gespanntes Tier pflichttreu sein Amt geschleppt hatte, und erhob 
sich über den Schlummer ringsum, indem er seine wunderliche 
Umwelt, seine bösartige Heimat Österreich, ein schlimmes 
Vaterland, aber doch ein Vaterland, •betrachtete wie es war, 
nicht wie es sein sollte, denn das Gegebene war das Wunder. 
Überall sprangen in diesem nächtigen Schauen der täglichen 
Welt Quellen auf und erzählten vom sinnreichen Dulder und 
Wandersmann: vom Menschen, vom liebreichen und hassen- 
den, der am törichtesten war in seiner Klugheit und der 
Weiseste in seiner Einfalt, am menschlichsten als Tier, am 
tierischsten als Mensch. Zwischen heute und morgen spann 
eine emsige unsterbliche Natur, zwischen zwei Nächten das 
leichte Gewebe ihrer Erfindungen, das ein baldiger Tod wie- 
der auflöste, als sei nichts gewesen. Natur spann weiter. In 
den Angstpausen zwischen den Schlachten erhoben die großen 
Gedanken ihre Blüten, brennende und duftende Fackeln in 
die Dämmerung von Pflicht und Arbeit 

Ludwig sah in allen Menschen, in Frauen, Männern, Kindern, 
wie sich das mannigfaltige Spiel der Schöpfung unsinnig und 
übersinnig märchenhaft zusammenschloß und wieder in Nichts 
verging. Und davon erzählte er. Um gerecht zu sein, er er- 
zählte für sich und zu seiner Lust, denn er bedurfte dieses 
Märchens, um zu leben, die Träume ernährten ihn als ein 
weißes Seelenbrot, er brauchte diese gottähnliche Willkür des 
Schreibens, um sich frei zu fühlen und zu befreien, denn er litt 
an sich selbst, nicht nur an seinem äußeren Leben. Je schwerer 
er seine Natur spürte, denn er hatte eine feindselige, angstvolle, 
bedrückte, eine mutterlose Natur, desto mehr brauchte er die 
selbstgeschaffene Welt belebter farbiger Schatten. Diese Schick- 
sale, die er zweifelnd, um nicht zu verzweifeln, entwarf, trösteten 
seine eigenen Gebrechen, Erfindung war sein Arzt und heilte 
seine Seele immer wieder vom Obel. Im Grunde lag stets das 
Böse lauernd und mit argem Blick, weil kein Wissender aas 

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Güte weiß, sondern eben kraft seiner bösen Einsicht. Denn im 
Grunde jedes Baues liegt der Gedanke, das böse Wissen, als 
ein Lebendes eingemauert, welches seine Tiefe den heiteren 
Müßigen in der Höhe mit einer trägen, aber drohenden Bewe- 
gung langsam entgegenhebt. Das Böse ist die Kraft der Schlucht 
und der Quadern und wird, gefesselt, in Dienst gezwungen, ent- 
selbstet, durch seine Qual wissend, durch sein Wissen gereinigt, 
durch seine Reinheit gut, durch seine Güte duldend für alle und 
durch sein Dulden tätig im Tragen und Denken wie im Leiden 
und Mitleiden. Dies ist der Lauf des Bösen, welcher sich wis- 
send und leidend zum Guten reinigt, wie das strömende Wasser 
von seinem unreinen. Das Sehen und das Wissen bezwangen 
dieses Böse, indem sie darstellten, verglichen, schufen, so war 
das Böse seiner selbst Herr, indem es sich wie Münchhausen 
an seinem Zopf aus dem Sumpfe hob. Freilich machte diese 
mühselige Beschäftigung argwöhnisch, und Ludwig zog sich 
menschenscheu in eine Einsamkeit zurück, die auch Thea, seine 
Frau, brauchte, um zu leben, denn sie war von Anbeginn gut und 
einer heiteren Seele, durchscheinend wie ein Kristall, aber so 
zart beschaffen, daß sie vor allen Menschen Angst hatte und 
nur bei ihren Nächsten tapfer und munter blieb, während sie 
in Gesellschaft erstarrte und schweigsam wurde. 
So wuchsen aus diesen jahrelang verbrauchten fleißigen Nächten 
nach öden, arbeitsamen, pflichttreuen und elenden Tagen wun- 
derlich schrullige Werke hervor, sorgfältig gezeichnete, alltäg- 
liche Märchen, menschliche Figuren, immer mit einem Stich ins 
Fragwürdige, Abenteuerliche, die stets am Rande der mensch- 
lichen Gesellschaft und der bürgerlichen Ordnung eigenwillig 
und tapfer, munter und ohne Furcht wie schwerbeladene 
Ameisen sich hinbewegten und aus tausenderlei Widerständen 
den Geist über die Masse siegen ließen. Wer aber sollte dem 
einsamen, eigenwilligen Schreiber „im Gehaus" diese Sorgfalt 
um die merkwürdigen Figuren, den spitzfindigen Spott und die 
herzlich-stille Laune, den Sonnenregen eines Schicksalslächelns 
danken? Oder das geduldige Dienen am Worte? Eine Welt 
etwa, die im Gröbsten nach dem Gröbsten tappte, die Geschrei 
für Leidenschaft, Ungezogenheit für Temperament, Floskeln, 
Phrasen und Zeitungsjargon für Deutsch hielt, die mit Geld 
sogar Geist und Bedeutung, geschweige denn den Erfolg kaufen 
zu können glaubte, die sich täglich irgend einen Nichtsnutz und 

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Stümper für ein Genie aufschwatzen ließ. Ober einem ver- 
wirrenden Lärm vergaß sie die Musik, sie nährte sich von Mei- 
nungen statt von Gedanken. Diese Gesellschaft ließ diesen 
ihren Beobachter unbeachtet links liegen, und er bestätigte, 
daß ihm recht geschah. Das machte freilich bitter, menschen- 
scheu, selbstgerecht und hartschalig, aber man hatte wenigstens 
keinem etwas zu danken und lebte ungestört, weder durch 
Liebe noch durch Ruhm, weder durch Haß noch durch Feind- 
schaft beirrt. Diese Freiheit kostete nur — das Leben. Aber 
da der Austausch von Geist gegen Kraft, von Anstrengung 
gegen Enttäuschung, von Qual gegen Verzicht immerhin seine 
Weile dauerte, so mochte er seine Weile haben. 
Das Häuschen lag auf einem Rasenbühl des westlichen Gebietes, 
hart am Rande der Tiergartenberge, und auf einer mäßigen 
Wiesenhöhe an der Stelle eines einstigen Weinberges, denn in 
der ganzen Gegend gediehen Reben, es war also ein Ort, wo 
viel Sonne heiß auf einen schweren Lehm- und Steinboden 
brannte. Der Horizont erstreckte sich weit über eine Weite 
hin, tiefer im nördlichen Grunde, und nordöstlich lagen die 
äußersten Fabriksviertel der Stadt, näher unten das Örtchen 
Ober-St. Veit mit einer zierlichen gelben Kirche, deren Barock- 
turm dieses freundliche Mariatheresiengesicht zeigte, mit dem 
alle Landkirchen von Niederösterreich weithin lächeln und 
winken. Aus grünen Baummassen tauchten kleine weiße Land- 
sitze hervor. Drüben, jenseits des Wientales, über der Bahn- 
linie, deren rollende, pfeifende Züge und gelegentliche Rauch- 
wolken den einzigen, aber auch geziemend abgedämpften Lärm 
herübersandteD, dehnten sich die Waldberge hin. Wollte man 
am eigenen Geiste verzweifeln, so tröstete einen die runde 
goldene Kuppel der Irrenhauskirche des gegenüberliegenden 
„Steinhofes". 

An diesem Bühel lagen lauter ähnlich geratene, kleine weiße 
Häuser inmitten kleiner, sorgfältig gepflegter Gärtchen. Im Som- 
mer, wenn der Nachmittag goldener schimmerte und die blühen- 
den Sträucher heftiger Duft atmeten und letzte Farben ergossen, 
begann es lebhaft zu werden. Die heimgekehrten Hausväter 
arbeiteten leidenschaftlich. Aus den Schläuchen strömte das 
Wasser mit plätschernden Strahlen auf alle die kleinen, zutrau- 
lichen Kulturen, die Hühner begannen eifriger zu gackern, um 
geschwind noch die gestrenge Hoffnung ihrer Herren durch 
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ein wahrhaftiges Ei zu erfüllen, oben in Lüften sangen unauf- 
hörlich die Lerchen, die kein Ende des Singens machen können, 
wenn es auch keinen Menschen mehr gibt, der ihnen zuhört, 
diese Künstler I Aus einzelnen offenen Fenstern klangen bald 
mühselig, bald geläufig Klavierstücke, über die Gartenzaune 
wurde gegrüßt und gedankt und gerufen, die Muße war im 
schönsten Gange , Kinder jagten über die Straße und stritten 
in aller Unschuld, wie später einmal die Erwachsenen in aller 
Schuld. 

Thea hockte über ihren Gemüsebeeten, die ihr jedes Jahr zu 
lauter kleinen romantischen Urwäldern gerieten, weil sie sie 
mit immer neuen abenteuerlichen Gruppierungen unvermutet 
und ungewöhnlich zusammensetzte, aber es hatte seinen Reiz, 
wenn alles so durcheinanderwuchs, wie es wollte, und war doch 
ausgesät und für den Magen bestimmt und kam schließlich 
doch in die Pfanne. Sie kämpfte mit dem Unkraut, das mäch- 
tiger war als sie. Ludwig wanderte mit seiner Pfeife im Munde 
an den sorgfältig gezogenen Obsthecken vorbei zu seiner Fels- 
partie, die, aus lauter kleinen Blöcken zusammengestellt und 
von gut bearbeiteter Erde ausgefüllt, glühende Polster von roten, 
von weißen, von gelben oder blauen Blumen und von grünen 
Blättern nebeneinander schimmern ließ und sich in eine Fläche 
senkte, wo unter einem Quittenbaume voller gelber Äpfel, einem 
wahren Adam- und Evabaume, der Phlox mit purpurnen und 
silberglänzenden, mit rosigen und kardinalvioletten Blüten still 
erglühte und duftete. Das abfallende Gelände war durch mehr- 
fache, steinerne Mäuerchen in Stufen gegliedert, diese Steine 
hatten Thea und Ludwig mühselig genug aus ihrem eigenen 
Boden gegraben, um die Erde für Obstbäume und blühende 
Stauden frei zu machen, aber sie verwendeten die Blöcke und 
Brocken gleich wieder, um die Gartenflächen zu stützen zu 
solchen Mäuerchen, zwischen denen grüne Fetthenne wucherte. 
Um die roten Blütenähren der Tamariske, die mit zarten ge- 
fiederten Wedeln über dem Felsgärtchen stand, summten die 
Bienen. Ludwig war müde von der Arbeit, er hatte einen ganzen 
Nachmittag in Sonne und Mühe gejätet und gegraben und ge- 
gossen. Nun sah er einem Rosenkäfer zu, der mit kupfrigen 
Flügeldecken laut surrend über den Phloxen schwebte und 
leidenschaftlich hartnäckig, aber wunderbar sicher seinenRüssel 
im Fluge mitten in den dünnen Kelch der Blüten wie ein langes 

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dünnes Schwert hineinstieß und ihn ebenso rasch als aus einer 
gefährlichen Flamme wieder herauszog. Die Nachbarin spielte 
dazu die „Path£tique tf , den letzten Satz, der so ungeheuer in 
qualvollem Jubel anspringt und hinauf stürmt wie ein siegreiches 
Herz über den Berg von Jammer. Und hier ereignete sich 
etwas Ungeheuerliches. Eine Hummel, eine braunhaarige, 
schwerfällige rohe Hummel flog einen „Goldball" an, sie er- 
öffnete die widerstrebende Pflanze, sie entblößte sie schamlos 
und toll von Leidenschaft, sie wühlte sich in ihr Herz ein, sie 
packte mit den festen, gekrümmten Beinen wie mit Krallen 
und Zangen die zarten Staubfäden, sie hing, man kann es ruhig 
sagen, über einem Abgrund, denn Meterhöhe bis zum Erdboden 
war für einen so verkleinerten Räuber immerhin eine Kluft 
wie für einen sinnlosen Menschen zwischen sechstem Stock und 
der Tiefe. Aber die Hummel sah ebenso wenig wie ein Mensch, 
der ein Weib über einem Abgrund umarmt Und ebenso packte 
sie diese Blüte, die dabei wahrscheinlich nur ihren Willen be- 
kam, sie besaß sie, sie hockte über ihr, sie keuchte wahrschein- 
lich, obgleich man sie nicht einmal summen hörte, es ging alles 
ganz lautlos vor sich wie die eigentümlichen Stürme zwischen 
den Menschen in abgesperrten Räumen, im Nachtdunkel, unter 
Rüstern von Liebe, die töten möchte, von Haß, der zeugt, so 
klammerten sich diese zwei göttlichen Wesen, goldener Ball 
und braune, behaarte wilde Hummel, ineinander, strömten und 
hingen zusammen und besaßen einander in der atemlosen Un- 
endlichkeit einer Minute. 

Ja, dieser Garten, fünf-, sechshundert Meter im Geviert, war 
eine ganze Welt Es gab Felspartien und Abgründe, lüsterne 
Päonien und ruhig starrende Dahlien. Es gab geduldig wach- 
sendes Obst, gab Ameisen und Bienen und diese tollen Wüst- 
linge von behaarten Hummeln, die von spröden Blüten erwartet 
und herbeigeduftet wurden, bis es zu so schamlosen Szenen 
kam vor Gott und den Menschen, deren Vor- und Ebenbilder 
sie waren, ohne sich deshalb zu besonderem Wohlverhalten 
verpflichtet zu fühlen. 

„Guten Abend, Landhaus, guten Abend, Agrarier," rief der 
Onkel Frantzl, der, über den steilen Weg langsam und unbe- 
merkt hinaufgelangt, nun durch den Zaun sah. Corona stand 
im schwarzen Elleide mit dem schwarzen Hute neben ihm. Lud- 
wig beeilte sich, die beiden Gäste einzulassen. Es war zum 

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ersten Male, daß Corona seit ihrem Unglück, seit dem Tode 
ihres Mannes, ihre Cousine besuchte. 

Weinend fielen die beiden Frauen einander um den Hals, Thea 
mußte dabei die Arme ausstrecken, um mit den erdigen Hän- 
den Corona keinen Schaden zuzufügen, das tat aber der Äuße- 
rung von Mitgefühl nicht Abbruch. 

Nachdem sie sich ausgeweint hatten, rannte Thea ins Haus, 
um sich schnell zu waschen und ein anständiges Kleid anzu- 

o 

legen und etwa den Tisch für den Abend herzurichten. Corona 
folgte ihr. 

Sie standen in der Küche beisammen. Thea schnitt und putzte 
das Gemüse und richtete etwas her, was zur Not ein Abend- 
essen vorstellen konnte, denn es ging weidlich knapp mit allem. 
Corona hatte auch ein Päckchen mitgebracht, sogar ein paar 
Eier und ein Stück Fleisch dabei, so konnte man seine Armut 
redlich miteinander teilen. Dazwischen klagte die Witwe, und 
Thea hörte still zu. 

„Weißt da, was ich glaube? Ich bin selber schuld, daß mein 
armer Mann gestorben ist." 

„Denke dir doch nicht so fürchterliche Sachen aus, Corona I" 
„Er war mir fremd, ich habe ihn ja so wenig gekannt, und wie 
gut er auch war, wir haben uns doch nicht so verstehen können 
wie gleiche. Er hat sich so sehr um mich bemüht, er war wie 
ein Kind. Und doch war ich irgendwie fremd und fern von 
ihm. Er hat mich für etwas Höheres und Besseres gehalten. 
Und nur er war es. a 

„Jeder ist der Bessere, einer für den andern, Corona." 
„Ich habe immer etwas von mir zurückbehalten, er nichts, ich 
habe nicht alles gegeben, aber alles genommen. Ich habe ihn 
arm gemacht und arm gelassen." 

„Nein, du hast ihn reich gemacht und reich gelassen, wie er 
dich." 

„Er mich? Nein. Ich bin längst wie ein wüster Stein, auf dem 
nichts mehr wächst als Angst und Kummer. Es hat mich schon 
so oft gereut, daß ich ihn geheiratet habe, nicht um meinet- 
willen, sondern um seinetwillen, denn ich konnte ihm nichts 
mehr geben. Ich bin ja weder jung noch hübsch mehr, sondern 
alt und kränklich, ich habe meine eigenen Sorgen, meine eigene 
traurige Vergangenheit gehabt, er aber war jung und stark und 
stattlich und unschuldig wie ein Kind, dessen Jahre wie Tage 

4ii 



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zählen. Wenn er auch früh Not und Plage und harte Arbeit 
gehabt hat, wie rein und schuldlos war er doch! Und gerade 
mich hat er finden und begehren müssen, warum gerade mich? 
Solange er gelebt hat, immer und immer habe ich es bereuen 
müssen, daß ich ihn nicht geben geheißen habe, solange es 
noch Zeit war, daß ich ihn genommen und daß ich mich dafür 
gegeben habe, die ich so ganz leer und stumm und verbraucht 
war. Es hat mich viel gereut Und darum ist er in Vielgereuth 
gefallen." 

n Aber Corona. Was treibst du für eine verrückte Sprachwissen- 
schaft! Vielgereuth hat nichts mit Reue zu tun, sondern mit 
Reuten und Roden, und bedeutet wohl eine Rodung oder Wald- 
lichtung, weil viel gefällt worden ist Vor langer Zeit muß dort 
ein Urwald gestanden haben. Du brauchst nicht zu bereuen, 
sondern du mußt dir sagen, daß du das einzige bißchen Glück 
warst, das dein Mann überhaupt auf der Welt fand. Ohne dich 
hätte er vielleicht keinen einzigen wahren glücklichen Tag be- 
sessen, so mußt du denken. u 

„Glaubst du, Thea? Wenn ich ihn nur glücklich gemacht habe! 
Ich hatte immer nur Angst vor uns, Angst vor diesen wenigen 
Tagen und Nächten, die wir beisammen waren, denn es war 
zwischen Mord und Jammer. Ich habe im Schlaf Verwundete 
ächzen gehört, ich habe, während er ruhig neben mir lag, ihn 
selbst in meinen Ahnungen sterben gesehen. Ich habe nichts 
als Jammer vernommen. O wie sehr habe ich gewünscht, ein- 
mal im Frieden Hand in Hand mit ihm durch einen Wald zu 
gehen. Der böse Wille hat es nicht erlaubt Glaubst du jetzt 
an diesen bösen Willen, Thea?" 

„Nein, Corona, an das Böse und an das Gute, sie gehören zu- 
sammen, zu jedem von uns, wie rechte und linke Seite oder 
wie Nacht und Tag. Eines wird durch das andere. Man muß 
es nehmen und geben, wie man es hat und wie es kommt" 
Inzwischen hatte Thea das Abendessen fertig gekocht, denn 
alles gefühlvolle Reden und Klagen und Trösten hinderte die 
beiden Frauen nicht, das Gemüse sauber zu schaben und zu 
hacken, das richtige Maß von Fett — ein sehr sparsames Maß 
— auf die Pfanne zu tun und hier einen Topf und dort einen 
anderen zu bewachen, daß nichts anbrannte, dabei Teller und 
Besteck zu suchen und einander zuzurufen, wenn Corona, die 
beim Aufdecken half, etwas Wichtiges benötigte, das Thea ver- 
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säumt hatte, denn bei ihren vielfältigen Beschäftigungen kamen 
die Gerate gern durcheinander, und man fand immerhin im Ge- 
müsegarten, was man im Schrank, oder in einer Lade, was man 
draußen vermutete. So rief immer der tätige Tag oder Abend 
heilsam seine kleinen Bedürfnisse in den größeren Schmerz 
hinein und tröstete als das unbescheidene Kind, das er war, 
wie eben die Zeit tröstet, der es niemand dankt und die auch 
auf keinen Dank weiter ansteht 

Und zwischen all diesen kleinen Hantierungen und Verlegenhei- 
ten, zwischen dem Suchen eines just im Augenblicke verlegten 
Dinges und dem Entbehren eines anderen konnten die beiden 
Cousinen doch ein und das andere Mal lachen, das klang tröstlich 
in ihrem Kummer, und sie schämten sich dessen nicht weiter. 
Thea stand beim Herde: „Du darfst ihn nicht ansehen, er ist 
nicht geschmirgelt" 

Corona tröstete : „Er ist ja auch nicht zum Ansehen da, sondern 
zum Kochen.** 

„Und so viele Wäsche liegt mir oben im Haufen. So lange schon 
bin ich nicht zum Bügeln gekommen.** 

„Bügeln! Ei, du gibst es aber nobel, Thea. Ich bügle schon 
seit mehr als zwei Jahren nicht Wenn die Wäsche nur rein 
ist, gebügelt braucht sie doch nicht zu sein.** 
„Das ist ein interessanter Trost, Corona, der Gedanke ist ver- 
lockend, aber glaubst du, daß sich mein Mann daran gewöhnen 
könnte?** 

„Freilich, das ist eine andere Frage. Du bügelst eben für deinen 
Mann,** entschied Corona, so war es nichts mit der gehofften 
Arbeitseinsparung. 

Die vier Leute saßen um den Tisch in dem weißen Wohn- 
zimmer unter der Lampe, welche, von einem gelben Seiden- 
schirm gedeckt, ein sanftes rötliches Licht verbreitete. Der 
Onkel Frantzl genoß dankbar die bescheidenen Speisen, man 
feierte allzumal ein Stückchen Fleisch und ein einfachstes Ge- 
richt aus Mehl und Fett und gar ein Ei. Man aß und sprach 
auch übers Essen, denn man dachte viel daran, man machte 
sich zwar über diese Art Unterhaltung lustig und tat überlegen, 
aber kam doch immer darauf zurück. Als die Männer endlich 
beim Rauchen waren, fing Heinrich Frantzl an, wie eben jetzt 
jedes Gespräch anfing: 
„Schön schauen wir aus." 

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„Ja, es ist wiederum einmal eine sogenannte Götterdämmerung, 41 
sagte Ludwig. 

„Nur schade, daß wir in das Nichts hinüberleben, das jetzt 
kommt, das heißt, wenn wir bis dahin nicht gestorben sind, 4 * 
sagte Thea. 

„Welche Götter meinst du? 44 fragte Frantzl. 
„Uns selbst: die bürgerliche Gesellschaft Wir stehen an unse- 
rem eigenen Grabe und können uns gerührt unseren eigenen 
Nachruf halten. 44 

„Wir haben uns ordentlich geplagt und es doch zu nichts Rech- 
tem gebracht, 4 * sagte FrantzL 

„Jeder Mensch hat einen einzigen Feind, sich selbst, und der 
war genug, uns zu verderben, 44 entgegnete Ludwig. 
„Wir leiden freilich, aber Gott wird wissen warum, und daß es 
gerecht war, 4 * sagte Corona. 

„Nun, wenn es dir ein Trost ist, Corona, daß der liebe Herrgott 
dich persönlich kennt und es immer gerade auf dich abgesehen 
hat, so soll es mir recht sein. Ich bin überzeugt, daß er mich 
nicht hört, denn so dumm können es nur Menschen unterein- 
ander anstellen. 4 * Frantzl schaute dabei aufrührerisch um sich. 
„Wir haben unseren Geist aufgegeben, und er ist mit Stank 
und Rauch hingefahren, 44 murrte Ludwig. 
„Warum aber? 4 * seufzte Thea. 

„Die bürgerliche Gesellschaft ist aus Überdruß und Ekel und 
Selbstspott, an sich selbst zugrunde gegangen, sie hat ihren 
Geist, ihr Geist hat sie aufgegeben. Und nun stehen ihre Feinde 
aufgepflanzt da. Sie haben ihre Messer in den Leichnam ge- 
stoßen und schwingen sie jetzt, daß nur das Blut so tropft, und 
gebärden sich, als hätten sie das Ungeheuer umgebracht. Und 
waren doch lauter Kinder dieser Gesellschaft, lauter mißver- 
gnügte Bürger. Die Mörder tun stolz und sind eigentlich ver- 
legen: sie haben ihren Zweck umgebracht, vielmehr ihr Zweck 
hat sich selbst aufgegeben. 44 
Frantzl schüttelte staunend den Kopf. 

Ludwig fuhr fort: „Was wir ringsum an Welt sehen, unsere 
Welt ist von uns gebaut. Die bürgerliche Gesellschaft, nicht 
die Könige oder der Adel, aber auch der Bauer nicht, ge- 
schweige denn der Proletarier, der Bürger hat unser Erden- 
haus gebaut, wo wir so lange gewohnt haben. Bürgerlich waren 
die Künste, unser waren die Baumeister über allen zufälligen 

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Bauherren, sogar die Baumeister des Staates trotz allem Getu 
und Gepränge der Großgesalbten, unser war die Salbe, wir 
haben den Purpur gewebt und die Kronen geschmiedet, unser 
waren die Dome und unser die Musik darin, aber unser war 
auch der Geist dieser Dome und ihr Inhalt, denn wir haben 
unseren bürgerlichen Glanben erdacht und unseren bürgerlichen 
Gott eingesetzt Die Siebenhimmel sind unser Gewölbe über 
unseren unendlichen Räumen. Wir haben unsere Herren über 
uns aufgestellt und haben sie entweder gekreuzigt oder haben 
uns geduldig kreuzigen lassen, denn entweder stirbt der einzige 
für die Welt, oder die Welt stirbt für den einzigen." 
„Für wen sterben wir jetzt?" fragte Frantzl. 
„Für uns, für unseren Verrat an uns selbst, für die Seellosig- 
keit und Armut unseres Geistes, für unser verwirrtes Gewissen, 
wir sterben aus Zuchtlosigkeit, aus Selbstspott, wir haben uns 
gekreuzigt und zugleich die höhnische Menge abgegeben, die 
unser Leid verlacht und unsere Schwäche mit der Geißel ihrer 
eigenen Gemeinheit schlägt. Das Sterben geht unter uns um, 
weil wir das Leben verlernt haben, das wir selbst, wir Bürger, 
von unten bis oben gebaut hatten. Wir haben die Wüste be- 
wirtschaftet und haben die Wälder urbar gemacht, unsere 
Stätten in die Wildnis gestellt und sie zu Gärten gewandelt, wir 
haben Brunnen gegraben und Weinberge angelegt und haben 
das Meer befahren, und in unserem Tun war ein hoher Wille, 
solange wir den Geist wollten, solange wir dienen konnten und 
Stufen zu setzen verstanden zwischen Mensch und Mensch, so- 
lange wir die göttlichen Unterschiede achteten, die diese Welt 
ausmachen, die aus ewigen Verschiedenheiten köstlich zu- 
sammengesetzt ist, aus dienenden und herrschenden. Wir 
haben in unserem Übermut vergessen , daß jeder Mensch nur 
ein Mittel eines größeren Werkes ist, und haben das Mittel zum 
Zweck gemacht. Wir haben aus falsch verstandenem, rohem, 
sinnlosem Mitleid die Wertlosen und Unwürdigen, die gerecht 
zum Dienen bestimmt und im ehrbaren Dienste glücklich und 
geborgen waren, überfüttert und den Pöbel zum Herrn gemacht, 
den Pöbel des Reichtums und der Armut Der hat denn dem 
Geist den Fuß auf den Nacken gesetzt. Wir haben allen unseren 
Geist in seellose Maschinen ergossen, die uns jetzt seellos zer- 
malmen. Weiß noch irgend einer von uns, wem er dient, und 
wen er beherrscht?" 

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„Die Freiheit will, daß alle Menschen einander gleicj^ten'," 
murrte FrantzL fi> ' v ?^ ^ 

„Die Freiheit ist nur so lange gerecht, Jfe^ ... ^iß, daß alle 
Menschen ungleich sind. Jed£r muß sich selbst an seine Stelle 
setzen, seine Pflicht wie sei? Recht erkennen und beides als 
Freier würdig üben. Es gibt eine Würde des Dienens, nicht 
minder groß als die des Herrschens. Solange die Bürger dies 
gewußt haben, so lange waren sie Meister. Ihr Geld, ihr Miß- 
trauen, ihr Zweifel, ihr Auffüttern aller Gemeinheit, ihr Buhlen 
mit dem Pack, ihr Versinken im Geld, verlogenes Mitleid, 
unwissende Scheingerechtigkeit, auggnverdreherische Liebe- 
dienerei hat sie zum Pöbel gemacht " 

„Ja, ja, die Ziegelsteine überheben sich und wollen nicht mehr 
geschlichtet werden. Je mehr Geld, desto weniger Geist Die 
Zeit zapft uns Blut und Geld ab. So, jetzt fanget wieder von 
vorn an!" sagte FrantzL 

„Es gibt keine Liebe mehr auf der Welt," klagte Corona. 
„Du meinst: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das könnte 
genügen, man müßte nur sich selbst richtig zu lieben wissen. 
Aber wer seiner selbst irr geworden ist, der kann seinen Näch- 
sten nicht lieben." 

„Es gibt vielleicht einen bösen Willen, der sagt: Hasse deinen 
Nächsten wie dich selbst" 

„Ja," bestätigte Ludwig, „es gibt über dem Geist und über dem 
Gemüt, unseren beiden Kräften, eine dritte, die man freilich 
nur ahnt und die uns über unseren Willen und über unseren 
Wunsch hinaus ein Drittes wissen macht, sie läßt uns an unse- 
ren Abgründen ohne Furcht gehen und setzt uns ein Ziel, in- 
dem sie selbst ein Ziel ist Du nennst Gott, Corona, dies Dritte 
ist Gott, er ist in diesem Dritten, in uns. Aber es steht nicht 
bei uns, ihn zu glauben oder zu verleugnen. Wir haben ihn, 
oder wir können ihn nie erwerben, wohl aber können wir ihn 
verlieren. Wir können ihn an unseren Verstand oder an unseren 
Trieb verraten. Ohne dieses dritte Reich in uns sind wir Tiere, 
Tiere der Vernunft oder des Triebes, mit diesem Dritten erst 
sind wir gleichgewichtige Menschen. Dann aber gilt, was wir 
tun oder leiden, Ehre oder Schande vor der Welt gleich und 
unberührbar, wie in der Ewigkeit leben wir. So lebst du, Co- 
rona, und weißt es nicht einmal. So haben Bürger einmal ge- 
lebt, und heute kann man davon nur reden wie von einer ver- 

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jnenSage. T^as Bürgertum ist untergegangen, weil es dieses 
dritte Rei ^selbst, seinen Gott, verloren und verraten 

hat, damit ~ Erlernt, Liebe und Haß in sich zu erkennen, 
in allem Verstand ist" es bewußtlos und gedankenlos geworden 
und hat sich in seine Mittel verwählt Das dritte Reich in uns 
schafft aus unserem Gedanken -und Gemüt die Tat, was wir 
aber aus dem bloßen Verstände ^tider aus dem nackten Triebe 
tun, ist nichts als eine arme Arbeit, die bloße Vernunft ver- 
höhnt uns und läßt uns uns selbst verspotten, der bloße Trieb 
verwirrt uns und jagt uns um uns selbst herum. So haben wir 
schmählich geliebt und schändlich gehaßt, wir haben die Gold- 
wage unserer Menschlichkeit vertan, wir haben Geld darauf 
gelegt statt Seele." 

„Du sagst uns freilich, was wir wissen, daß wir hin sind und 
fix und fertig und für unsere Hölle wohl verpackt," sagte Frantzl, 
„ aber es wird ja auch nachher noch immer Menschen geben, 
wenn schon keine Bürger mehr, sagen wir Arbeiter oder »Ge- 
nossen 1 , oder was weiß ich. Du meinst wohl, wir müßten zur 
Natur zurückkehren? So wie du in deinen Garten, und jeder 
ein Stück Land bebauen und sein Vieh hüten und dergleichen?" 
„Ach, die Phrase »Rückkehr zur Natur* kommt mir immer 
recht dürftig gedacht vor, wenn sie den Menschen im Gegen- 
satz zur Natur meint und verhöhnt. Es gibt vielerlei zu tun, 
das alle brauchen und das alle fördert, ohne daß es in einem 
Stall geboren und auf einem Acker gesät werden kann. Der 
Mensch ist doch selbst Natur! Vor das »Liebe deinen Näch- 
sten wie dich selbst* setze ich das alte »Erkenne dich selbst*. 
Nun sind wir bettelarm und wollen leben. Wir müssen den 
Mut zu uns selbst fassen. Wie einer sei» er sei's wissend und ' 
von ganzem Herzen» so wird er auch seinen Gott wieder ge- 
bären können aus seinem Verstand und Gemüt und aus seinem 
Leiden. Wir waren feige Spötter und wollten glücklich sein, 
als könnte man ein Recht auf Glück mit Arbeit kaufen. Mit 
der Arbeit ist nichts gesagt, das geringste, was wir leisten, sei 
von jener Ahnung eines höheren Seins gefüllt: Tat Uns Ameisen 
ist unser Hügel zerstört Richten wir ihn wieder auf. Bis zum 
nächsten Weltuntergang." 



Stoetil, Das Haus Er»th 27 4*7 



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Das UmfoSlagbild des Budies wurde entworfen 
von Hans Schloffer, Wien. — Der Einband* 
entwurf ftammt von WilhelmScheffel, Leipzig 



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Im gleichen Verlage erlebten (beben : 

Der Gezeichnete, von Georg P. M. Roofe 

Geheftet M. 11.—, gebunden M. 15.—. Auf holzfreiem Papier 
geheftet M. 13.—, in Halbfranz M. 40.— . Mit farbigem Einband 
von Profeflbr Steiner-Prag. 

Nie und nirgends finden vir die Gedankenwelt des Ober« 
natürlichen in ähnlicher Form, in ähnlicher Sprache, in ähnlicher 
Begeiferung. — Dr. Karl Blanck Ichreibt: „ . . . ,Der Gezeichnete' — 
das iß gleichfam ein Sinnbild unferes Geßhlechts, das durch alle 
Schrecken des Todes hindurchgegangen und über das gewöhnliche 
Leben hinaus zu neuen fihredklichen und erhabenen Geliebten und 
Erkenntniflen entruckt iß . . . Das Werk iß leuchtend wie der Tag 
und tief wie die Nacht ... es iß einfach wie ein Volkslied und geheim« 
nisvoll wie eine Sage aus Väterzeiten. . . . Dies iß ein wahrer und 
echter Dichter, ein Denker und Prophet, ein Träumer und Geßalter. 

. Ein klares und gefchloflenes Kunßwerk, ein freudig fihönes 
Wunder in diefer verßörten Zeit. 

Brot Und Wein, Roman von Sophie HoeAftetter 
Geheftet M. 11.—, gebunden M. 15.—. Auf holzfreiem Papier 
geheftet M. 13.—, in Halbfranz M. 40.—. Einband und Umfchlag 
von Profeflbr Georg Belwe. 

Wenn irgend ein Dichter unfrer Tage, fo iß es Sophie Hoech- 
ftetter, die um den Geiß der Heimat gerungen und die von diefem 
Geiß gefegnet wurde. Mit der Hellfichtigkeit des Künßlers zeigt uns 
die Verfaflerin hier, was Krieg und Revolution, die gewaltige Wende 
der Zeiten, in den Herzen des Volkes aufrührt, wie die Menfchen 
von den Gefchehniflen, die nicht mehr ihr Maß und ihre Formen 
tragen, getroffen, vernichtet werden und wie fic (ich doch aufrecht 
einen Weg in die neue Zeit bahnen. 

Milium HU IIIIIIIIIIIIIIIIIIHIIIIII J 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 II 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ■ 1 1 I ■• Itttl IIIIIIHIMIMI 

BÜCHERLESE-VERLAG LEIPZIG 



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Schriften von Otto Stocssl 

aus dem Verlage von Georg Möller, München 

ESSAIS: Gottfried Keller: Band 10 der von Georg Brandes her- 
ausgegebenen Sammlung „Die Literatur". - Conrad Ferdinand 
Meyer: Band 25 der gleichen Sammlung. - Lebensform und 
Dichtungsform <1917>. 

ERZÄHLUNGEN: Leile, Novelle <1898>. - „Kinderfriihling'', No- 
vellen, Reifeaugenblicke. - „In den Mauern , Roman. ~ „Sonjas 
letzter Name", eine Schelmen gefchichte. <- „Negerkönigs Tochter'. 
- Egon und Danitza". - „Allerleirauh", Novellen. — „Morgen- 
rot", Roman. ~ „Was nützen mir die fchönen Schuhe". - „Unter- 
welt'', Novellen. 

DRAMEN: „Der Hirt als Gott", eine dramatifche Sage, in der Samm- 
lung „Die Gefährten" <1920>. 



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